6 SG9Z6100 19/1

EIN

Festschrift zur 84. Versammlung

Deutscher Naturforscher und Ärzte.

FFoıScHRir!

gewidmet den

Teilnehmern der 84. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Münster i. Westf.

von der

Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Gesellschaft in Münster.

Eine Sammlung wissenschaftlicher Abhandlungen.

Münster (Westf.) 1912 Commissionsverlag der Universitäts- Buchhandlung Franz Coppenrath.

. dtstnaaaod snsyt

Vorwort.

Als es bekannt wurde, daß die Stadt Münster i. W,. zum Sitz der 84. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte gewählt worden sei, legten sich die Mitglieder der medizinisch-natur- wissenschaftlichen Gesellschaft die Frage vor, in welcher Weise sie am besten die Versammlung begrüßen und zum Ausdruck bringen könnten, eine wie hohe Bedeutung sie der ersten Tagung in Münster beimessen.

Der Plan, dies durch eine wissenschaftliche Festschrift zu tun, fand einhellige Zustimmung und wurde mit Begeisterung aufgenommen. In der Stadt und der Provinz fanden sich hochherzige Gönner der Gesellschaft bereit, die Mittel unserer Gesellschaft zu ergänzen, und bald strömten der unterzeichneten Redaktion aus den Kreisen der Mitglieder unserer Gesellschaft so zahlreiche Beiträge zu, daß es notwendig wurde, nach kurzer Zeit die Aufnahme zu schließen.

So entstand unter freudiger Mitarbeit aller Beteiligten der Band, den die medizinisch-naturwissenschaftliche Gesellschaft den Teilnehmern der 84. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte als Festgabe überreicht.

Möge dieses Buch Zeugnis dafür ablegen, daß unsere im Jahre 1906 nach dem Vorbilde der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Bonn gegründete Gesellschaft ihren älteren Schwestern nicht nachzustehen gewillt ist, Zeugnis davon, daß die mannigfachen Zweige der Medizin und der Naturwissenschaften eine Pflegestatt in unserer Gesell- schaft besitzen und möge es durch seinen Inhalt zugleich den Dank der Gesellschaft an alle abstatten, die durch Rat und Tat die Drucklegung einer Festschrift ermöglicht haben!

Münster i. W., im Juli 1912.

Der Redaktionsausschuß der medizinisch - naturwissenschaitlichen Gesellschait:

Birrenbachh Busz, Konen, Spieckermann, Stempell.

\<:

| natmänte biad ba

Inhaltsverzeichnis. ;

u ETEERERLE ENTER ar

Einleitung . . P en ge

Zur Gescicte der Entwicklung die Natur- und Häilwissenschaften | in Westfalen mit besonderer Berücksichtigung der Stadt Münster. Von Geheimrat Professor Dr. F. Philippi . - a

Wilhelm Hittorf. Von Gerhard Carl Schmidt . Fe

Über die Beteiligung der Luft an der Emission des Lictbogens bei Atmosphären- druk. Von Heinrich Konen . . . . Ep EU

Über ein neues Oxydationsverfahren. Von H. Salkowski En

Die Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze von Air Art di Bindung. Von H. Ley (experimentell mitbearbeitet von cand. chem. W. Fischer)

Die Anwendung der Dialyse und die Bestimmung der Oxydationskraft als Hülfsmittel für die Beurteilung des Bodens. Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. J. König . .

Über die analytishe Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose. Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. J. König . . ur ,T

Neue Gesichtspunkte für die Analyse der Felle und’ Öl. Von A, Biiner

Beiträge zur Biologie der Fettzersegung. Von A. Spieckermann. -. . » .. .

Über Yoghurt. Von Dr. A. Scholl . . . . .

Der Nachweis von Pflanzenbeschädigungen ur Duucbenss u Staub. Von Dr. J. Hasenbäumer . .

Neue Untersuchungen über die HERE RER REN Thiel und E. Breuning. (Mitgeteilt von A. Thiel). . . . . » > ei, r

Das Ulmener Maar. Von August Thienemann . . . RR

Aristoteles und die Abwasserbiologie.e Von August imanen AZ Per

Tsumebit, ein neues WERE von Otavi, Deutsch Süd-West-Afrika. Von K. Buzz .. RE RT

Selbststerilität und Individualstoffe. en ‘c. ER wen

Die physiologische Bedeutung des Anthocyans bei Hedera. Von Prof. Dr. Fr. Tobler

Über das sogenannte sympathische Nervensystem der Musceln. Von Professor Dr. W. Stempell, Münster i. W. . . . ?

Leonardos anatomische Zeichnungen. Von Privatdozent Dr. en oe

Über Wert und Unwert der Kalorienrechnung für die Ernährung. Aus der Theorie für die Praxis. Von Otto Krummacher .

Über das Verhalten der eosinophilen ewig Biden eroupösen Lungenentzündung Von Prof. Arneth . . . .

Der Stand des Zwerchifells in seiner EEE zu hei Ben: von um neurosen. Von Dr. med. Hermann Birrenbach, Arzt für innere Krankheiten an den Raphaelskliniken in Münster i. W. -

Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Hiocrsberbeh ai Hille: Von Oberstabsarzt Dr. Bussenius . .

Über -Düindermsarkome. - Von Professor Dr. Dussindkeik; PEERIEREREER EU nierender Arzt der äußeren Abteilung

Ein Beitrag zur klinischen Beurteilung des TER EEE en Na arzt Dr. Heinrich Többen, beauftragter Dozent für gerichtliche Psychiatrie

Seite

315

vil Inhaltsverzeichnis.

Über multiple und diffuse Sclerose des Zentralnervensystems. Von Dr. H. Lachmund, Arzt an der Provinzialheilanstalt zu Münster i. W.

Über traumatische Linsenluxation. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung dr Sphink- terrisse und der Aderhautablösung. Von Dr. med. Hermann Davids, Augen- arzt in Münster i. W.

Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis ie Tara). im Drnieliniche der Dio- vinzial-Augenheilanstalt zu Münster i. W. während der enge 25 Jahre. Von Dr. Recen, dirig. Arzt. . . . is a

Die Beobachtung des VEREIN N im Stiefverfahren. Men Dr. jur. Ernst

Heinrich Rosenfeld, ordentl. Professor des Strafrechts zu Münster . .

Schwindsucht und Perlsucht. Ein Beitrag zur Frage der Beziehungen beider Suthar

zueinander. Von Dr. A. Besserer ERTEILT

Seite

Einleitung.

Zur Geschichte der Entwicklung der Natur- und Heil- wissenschaften in Westfalen mit besonderer Berücksich- tigung der Stadt Münster.

Von Geheimrat Professor Dr. F, Philippi.

Die Geschichte der Pflege der Naturkunde sowie der Entwicklung des Heilwesens in der Provinz Westfalen und besonders in der schon seit Jahrhunderten als Hauptstadt der Provinz angesehenen Stadt Münster läßt sich heutzutage weder lückenlos noch einheitlich zur Darstellung bringen.

Lückenlos kann diese Arbeit nicht geleistet werden, weil es fast durchaus an Vorarbeiten mangelt. Man wird dabei immer wieder mit den anderwärts oft genug beobachteten Vorgängen zu rechnen haben, daß sorgfältiges Studium der älteren Zeiten neue Quellen zutage fördern kann, aus denen hervorgeht, daß Entdeckungen und Beobachtungen, welche die Ruhmestitel allbekannter Gelehrten bilden, von älteren For- schern schon früher einmal gemacht worden sind, aber wieder der vollen Vergessenheit anheimfielen, weil sie nur in eng beschränktem Kreise bekannt wurden, oder weil zur Zeit der Entdeckung ihre Tragweite für die Wissenschaft nicht erkannt und sie dementsprechend nicht weiter ver- folgt wurden.

Einheitlich aber kann diese Entwicklung nicht dargestellt werden, weil der Zusammenhang der Studien, welcher in unserer Zeit dank der verbesserten Verkehrs- und Mitteilungsmöglichkeiten nicht nur für ein- zelne Länder, sondern für fast die ganze Erde angestrebt und erreicht wird, in früheren Zeiten nicht einmal für nahe beieinander gelegene Städte und Orte bestand. Die vorhandenen Zusammenhänge und gegenseitigen Beeinflussungen entstanden mehr oder weniger zufällig, indem ganze Lehranstalten und einzelne an ihnen wirkende bedeutendere Forscher zuweilen nur in ihrer nächsten Umgebung, zuweilen aber auch weit und breit zerstreut Mitarbeiter, Nachfolger und Schüler besaßen. Aber selbst solche zufälligen Zusammenhänge und Beziehungen vermag ich für West- falen in älteren Zeiten nicht nachzuweisen, weil wissenschaftliche Mittel- punkte fehlten, und die Bestrebungen, solche in „Universitates litterarum” zu schaffen, erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einigermaßen

zur Durchführung kamen.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 1

2 F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

Erst als im Jahre 1773 in Münster eine Universität, welche die ein- zige in Westfalen bleiben sollte, gegründet wurde, gelang es, einen wissen- schaftlichen Mittelpunkt wenigstens für das Münsterland zu schaffen.

Denn nicht für Westfalen, welchem damals außer den jetzt preußi- schen auch noch später hannöverisch und oldenburgisch gewordene Land- striche zugerechnet wurden, konnte diese Lehranstalt den wissenschaft- lichen Kristallisationspunkt bilden, weil damals, wie übrigens teilweise noch heute, große Teile der Provinz im Süden und Westen nach dem Rheine, im Osten nach Niedersachsen gravitieren. Auch heute noch, nachdem die Hochschule in Münster wiederhergestellt und größtenteils ausgebaut ist, hat der wissenschaftliche Einfluß der Universitäten Bonn, Marburg und Göttingen auf die entsprechenden Grenzgebiete noch nicht ganz aufgehört, wenn auch der früher stark ausgestaltete Zusammenhang mit den kleineren holländischen Nachbaruniversitäten, besonders Fran- eker und Harderwjik, jetzt vollständig unterbunden scheint.

Diese Umstände werden es rechtfertigen, wenn für die älteren Zei- ten nur wenige sich zufällig bietende Notizen mitgeteilt werden, wie die Tatsachen, daß schon im Jahre 1205 ein ausdrücklich als Laie bezeichneter Arzt (medicus) Konrad und 1255 wie 1260 ein ausdrücklich als Münster- scher Bürger bezeichneter „cirurgicus” Bertold in Münsterischen Urkunden Erwähnung finden. Über ihre Tätigkeit wird nichts gesagt; aus dem Umstande jedoch, daß sie als Zeugen aufgeführt werden, ist man zu schließen berechtigt, daß beide angesehene Leute gewesen sind. Auf- zählungen weiterer zufällig bekannt gewordener Namen von Männern, welche die Heilkunst ausgeübt oder sich dem Studium der Realwissen- schaften gewidmet haben, hier zu geben, erscheint zwecklos, wenn nicht erwiesen werden kann, daß ihr Wissen über das Mittelmaß ihrer Zeit hinausragte, oder ihre Wirksamkeit vorbildlich gewesen und besonders fördernd für die Ausbildung der Wissenschaft geworden ist.

Derartig bedeutendere Vertreter der Naturkunde und Heilwissen- schaft sind bis jetzt für Westfalen nur wenige aus früheren Jahrhunderten bekannt geworden. Ich wüßte nur etwa drei zu nennen. Und zwar sind es, was für die Anschauungen früherer Zeit bezeichnend ist, Ärzte. Das Studium der Naturwissenschaften erscheint nämlich in früheren Jahrhun- derten kaum selbständig betrieben worden zu sein: Ärzte, Apotheker, manchmal auch Philosophen beschäftigten sich damit, und zwar meist aus praktischen Gesichtspunkten, man könnte sagen im Nebenamte. Mathematik, häufig praktisch verbunden mit Astronomie und Baukunst, war daneben allerdings schon frühzeitig als selbständige Disziplin behan- delt worden: dann aber meist wesentlich zu Unterrichtszwecken oder von Offizieren und Feldmessern.

Als ersten Gelehrten, der vielleicht im weiteren Rahmen einer Er- wähnung würdig wäre, nenne ich den aus Münster gebürtigen Dr. Bernhard Rottendorf; er war Leibarzt des münsterschen Bischofs Christoph Bernhard (1650—1678), der sich nicht nur durch sein Eingreifen in die

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 3

europäische Politik berühmt, sondern auch als Landesfürst um seine Un- tertanen verdient gemacht hat. Im Auftrage seines Herrn schrieb Rotten- dorf während der Pestepidemie der 60er Jahre des 17. Jahrhunderts ein „Consilium und räthliches Gutachten”, sowie 1670 beim epidemischen Auftreten der roten Ruhr ein „Consilium dysentericum”, Er war ein Polyhistor im wahrsten Sinne des Wortes, betätigte sich als Historiker und Verfertiger von lateinischen Gedichten, sowie als eifriger Bücher- sammler. Insbesondere scheint er auch den gelehrten Paderborner Bischof Ferdinand von Fürstenberg (1661—1683) bei seinen historisch- archäologischen Arbeiten unterstützt zu haben.

Als zweiten möchte ich den etwas älteren Leibarzt der Erzbischöfe Ernst und Ferdinand von Köln, die zugleich (1585—1651) Bischöfe von Münster waren, Johannes Michael Gigas aus Lügde, nennen. Auch er war Polyhistor. An dem akademischen Gymnasium Arnoldinum in Burg- steinfurt hat er von 1607 bis 1615 die Mathematik gelehrt, zugleich auch eine Apotheke gehalten. Er wird ausdrücklich als medicus genannt und hat von Steinfurt aus benachbarte Fürsten behandelt. Bedeutsamer war seine Tätigkeit als Geograph. 1620 gab er einen Atlas der westfälischen Länder in 11 Karten heraus. Auf mehreren derselben nennt er sich aus- drücklich als Zeichner; es bedarf wohl noch einer näheren Untersuchung, ob er sie wirklich selbst entworfen oder mit Zugrundelegung älterer Vor- bilder, z. B. Mercators, ausgeführt hat. Sie liegen jedenfalls wieder spä- teren Blättern bis in die Zeit der Homänner zu Grunde und enthalten die Angaben der Längen- und Breitengrade nur an den Rändern.

Als Dritten im Bunde könnte man dann noch den allerdings aus Basel stammenden Chemiker, Goldmacher und Astrologen Leonhart Thurneysser v. Thurn (1530-1596) erwähnen, welcher 1569 in Münster weilte und hier sowohl seine „Archidoxa"” als seine „Quinta essentia” drucken ließ und herausgab. Er gehört, wie auch noch Gigas, zu jenen abenteuerlich umherirrenden Gelehrten, welche ihr Schüler- und Studentenleben vagierend fortsetzten, war aber selbst nicht ordent- lich wissenschaftlich vorgebildet.

Alte Universität in Münster,

Diese Grundanschauung, daß die mit den Realien befaßten Wissen- schaften wesentlich als Hülfswissenschaften der Geisteswissenschaften mit Einschluß der Medizin aufzufassen seien, hat auch ihre Behandlung bei der Gründung und dem Ausbau der alten münsterschen Universität (1773—1818) stark beeinflußt. Sie sind jedoch hier nicht ganz und gar zu kurz gekommen, weil der Gründer der Universität, Franz v. Für- stenberg, der nicht nur dieser seiner Schöpfung, sondern dem ganzen Geistesleben Münsters in seiner Zeit seinen ganz persönlichen Stempel aufdrückte, sich lebhaft für sie interessierte. In zweiter Linie veranlaßte dann auch noch die Art der Entstehung der Lehranstalt ihre für jene Zeit starke Berücksichtigung.

1*

4 F, Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

Die Universität stellt nämlich nicht eine vollständige Neubildung, sondern vielmehr eine Erweiterung und Ausgestaltung des alten, seit 1588 bestehenden akademischen Jesuiten-Gymnasiums dar.

Nur für die Lehrfächer, welche auf dem Gymnasium nicht gepflegt wurden, wie Rechtswissenschaft und Heilkunde, wurden sofort neue Kräfte herangezogen, Gottesgelehrtheit aber und die philosophischen Disziplinen von den altbewährten Lehrern des Gymnasiums auch auf der höheren Schule weiter gelehrt. Da schon an dieser Schule Mathematik einen besonderen Lehrgegenstand bildete, Physik und Naturwissen- schaft aber ganz vernachlässigt wurden, so ist Mathematik auch an der neuen Universität besonders vertreten worden. Daneben gab es aber für Realien nur noch einen weiteren Lehrstuhl, und zwar für Physik, dessen Inhaber Chemie mit vertreten mußte, während die eigentlichen Natur- wissenschaften zunächst unberücksichtigt blieben.

In dem vortrefflichenBerichte über dieLehranstalten des Münsterlandes, welchen Fürstenberg gegen Ende seines Lebens (etwa 1803) der preußischen Regierung abstattete, äußerte ersichüber die Bedeutung der Mathematik und Naturwissenschaften in seinem Unterrichtssysteme nach $ 23 bz. 29 folgendermaßen:

„Von dieser Seite” d. h. für die Entwicklung der Richtigkeit und Gründlichkeit des Denkens „zeigt sich der entschiedene Vor- zugder Elementar-Geometrie zur Bildung des Raisonnements. In der Verbindung der analytischen Methode der Alten mit der synthe- tischen legt sie in den fünf unteren Schulen (Klassen) den Grund zur Gewöhnung des Verstandes an Richtigkeit und zur Schärfung des Erfindungsgeistes. Sie bildet insbesondere mehr, als man sich vor- stellt, den praktischen Geschäfts-Verstand durch die deutliche Stellung der Frage, durch Auseinandersetzung, Zusammenfassung und Fol- gerung, wie mich dieses vielfältige Erfahrung gelehrt hat. Auch die zweckmäßig bearbeitete Algebra leistet hier wichtige Dienste. Ich übergehe hier die unmittelbare Notwendigkeit der angewandten Mathematik”,

und $ 29:

„Die Naturwissenschaft hat als Anleitung zur Kenntnis Gottes und als Erweiterung der Begriffe über das ganze Gebiet des Universums einen doppelten Endzweck. Der mathematische Teil wird als Anwendung mit dem Studium der höhern reinen Mathematik in den philosophischen Klassen verbunden. Dadurch wird Zeit ge- wonnen für den Teil, der an Chemie, Ackerbau und Gewerbe grenzt. Die Bearbeitung desselben im Gymnasium zielt dahin, denen, welche diese Wissenschaften zu Wissenschaften ihres Berufs machen, eine feste Grundlage mitzugeben,den künftigen Rechtsgelehrten und Kameralisten zu allen Arten von Regierungs-, Polizei- und Nahrungs-Geschäften vorzubereiten und den Geistlichen in den Stand zu setzen, seiner künftigen Gemeinde auch in Hinsicht auf ihre zeitliche Wohlfahrt

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 5

manche Vorteile verschaffen zu können. Es versteht sich, daß dieser Teil der Natur-Wissenschaften im ersten Unterrichte nicht zur Voll- kommenheit gebracht werden kann. Man muß sich begnügen, dem Schüler die Lust zu geben und den Grund zu legen, daß er sogar ohne Lehrer weiter fortrücken kann.” : Über den Unterricht in der Medizin an der Universität Münster äußert sich derselbe Staatsmann in den $$ 60--68 desselben Berichtes; 8 65 ist dabei besonders interessant, weil Fürstenberg darin seine An- schauungen über die Bedeutung der Chemie darlegt. Die $$ lauten:

S 60. „Obgleich jedes Land fähige und gründliche Aerzte for- dert, so kann doch die Zahl derselben so groß nicht sein, daß sie bei ‚allen geringern, insonderheit dem zerstreuten Landmann zustoßenden, leicht zu erkennenden und zu behandelnden Krankheits-Fällen ge- braucht werden könnten. Und da ebenso wenig diese Gattung von Krankheiten ganz ohne Hilfe, oder der Heilung von Quacksalbern überlassen werden kann, so sind zu ihrer Behandlung fähige Chirurgen unentbehrlich. Der Zweck des Medizinal-Unterrichts zerfällt daher in zwei Teile: 1. die Bildung der gründlichen Ärzte; 2. die Unterweisung der Chirurgen. Zu dieser letztern Klasse gehören auch die Geburts- Helferinnen.

$ 61. Die Grundlage aller medizinischen Bildung giebt die Ana- tomie, Bei der Bearbeitung derselben kommt es vorzüglich auf eine geschickte Auswahl des praktisch Wichtigen und auf Vermeidung des Überflüssigen an. $ 62. An die Anatomie grenzt zunächst die Physiologie. "Diese Wissenschaft fordert nicht allein die Kenntnis der Gesetze der - ehemischen Veränderungen und der Reizbarkeit, sondern auch eine gründliche Bekanntschaft mit der angewandten Mathematik und Er- fahrungs-Seelenlehre,

$63. Pathologie erfordert dieselben Vorkenntnisse, wie Phy- siologie. Man muß mit dem Kandidaten allen neueren Entdeckungen folgen, aber ihn besonders vor der täglich mehr einreißenden Hypo- thesensucht hüten und zu diesem Ende ihn vorsichtig und wachsam machen, damit er durch Neuerungssucht, Prahlerei und Wortgepränge nicht irre werde. Zur gründlichen Bearbeitung dieser Wissenschaft werden von seiten des Lehrers Beobachtungsgeist, Übung im tiefen und gründlichen Denken und Bekanntschaft mit Mathematik und Na- turwissenschaft vorausgesetzt. Eine gleiche Vorbereitung muß der- selbe in seinen Kandidaten finden. Ein vorzüglich wichtiger Teil die- ser Lehre ist die Untersuchung und Beobachtung des Kranken. Ge- übte Sinne, ein ausgeübtes Reflexions-Vermögen und Richtigkeit des Verstandes im Schließen sind hier wesentliche Erfordernisse, Am Krankenbette selbst muß der Lehrer den Kandidaten anweisen, Data aufzufinden und aus den Datis durch richtige Folgerung die so äußerst schwere pathologische Beurteilung zu ziehen. Es wäre sehr zu

6

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

wünschen, daß ein Collegium clinicum veranstaltet werden könnte. Da aber dieses noch nicht möglich gewesen ist, so muß der Kandidat den Umgang und die Anweisung erfahrener Ärzte zu benutzen und sie bei ihren Krankenbesuchen zu begleiten trachten.

$ 64. Für Ärzte sowohl als Nichtärzte ist ein Kollegium über Anthropologie von großem Nutzen. Da er die ganze Natur des Menschen in ihren verschiedenen Zuständen zu betrachten hat, so faßt es das Wesentliche der Anatomie, Physiologie, Pathologie und Psychologie zusammen und bringt auf diese Art in die Kenntnisse des Arztes Zusammenhang. Nichtärzten empfiehlt es sich durch seine Gemeinnützlichkeit nicht allein, insofern eine reiche Kenntnis des Universums und des Mikrokosmus durch Beförderung der Erkenntnis des Schöpfers und Erhebung der Seele zu ihm Verstand und Herz erweitert, sondern auch insofern es zur Erhaltung der Gesundheit, Erweiterung der Menschenkenntnis und zur praktischen Klugheit wesentliche Dienste leistet. |

8 65. Die reißenden Fortschritte, welche die Chemie in unsern Zeiten gemacht hat, haben der theoretischen Schönheit und dem praktischen Nutzen derselben eine gebührende Bewunderung bewirkt. Hier zeigt die Natur der Lehrart den Weg. Alle Subsidien der Natur- lehre kommen derselben zu statten und alle Vorsichtsmaßregeln gegen Hypothesen und Trugschlüsse sind ihr nötig. Nicht nur in Hinsicht auf Medizin und Pharmazeutik, sondern auch auf Ackerbau und Künste ist die Kenntnis derselben fast unentbehrlich. Deswegen steht dies Kollegium auch den Kandidaten der Physik zum Hospitieren offen, wenn diejenigen Erfahrungen daselbst gezeigt werden, auf welche der Lehrer der letztern sich beruft, ohne die Bequemlichkeit zu haben, sie selbst anstellen zu können.

8 66. Was die Bildung der Chirurgen als den zweiten End- zweck der medizinischen Fakultät ($ 60) betrifft, so ist denselben die Kenntnis der Anatomie und eine gewisse Bekanntschaft mit Physiologie und Pathologie unentbehrlich. Diese Kollegien werden daher von den Lehrlingen der Wundarzneikunst, insbesondere auch von den Kompagnie-Chirurgen fleißig besucht, In der Chirurgie werden die Handgriffe beim Verbande und bei den Operationen an toten Körpern gezeigt; aber zur Bildung eines vollendeten Chirurgen fehlt die Ge- legenheit, den schwierigern Operationen an lebenden Körpern bei- zuwohnen, wozu das Münsterland in dem Umfange seines Territoriums nicht Fälle genug liefert. In dieser Hinsicht muß Übung in den Spi- tälern großer Städte, unter geschickter Anweisung, zur theoretischen Kenntnis Fertigkeit und Erfahrung hinzufügen.

$ 67. Den Chirurgen der untern Klasse ist die medizinische Praxis zwar im ganzen nicht erlaubt; aber die Behandlung der ganz leichtern Fälle kann denen, welche auf dem Lande wohnen, nicht ganz untersagt werden. Es ist daher schon längst projektiert worden,

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 7

einen Medizinal-Katechismus für dieselben durch das Collegium me- dicum entwerfen zu lassen. Wwundärzte höherer Klassen üben als Medizinal-Chirurgen zugleich die medizinische Praxis aus, nachdem sie in Ansehung der dazu erforderlichen Fähigkeiten vom Collegio medico examiniert und approbiert sind.

8 68. Um den Fleiß der Ärzte zu beleben und den zu verstatten- den Umfang der Praxis mit den Fähigkeiten derselben in Verhältnis zu setzen, hat das Collegium medicum die drei Grade der Prüfung eingeführt. Für den dritten Grad fehlte es bisher an Aufmunterungs- Mitteln. Daher wurde in der Sedisvakanz durch ein Reskript des regierenden Domkapitels dem geheimen Rate aufgetragen, mittels eines Publikandums bekannt zu machen, daß auf die Ärzte des dritten Grades bei Beförderung zu Amts-Medikaten vorzügliche Rücksicht genommen werden solle, Diese zweifache Aussicht auf Ruhm und bequemes Auskommen wird gewiß Tätigkeit und Wetteifer unter ihnen veranlassen.”

Naturwissenschaften.

Die Universität war also allein als eine höhere Lehranstalt zur Bildung tüchtiger Geistlicher, Lehrer, Ärzte und Juristen gedacht; der Gedanke, sie zugleich als Forschungsinstitut auszugestalten, lag ganz außerhalb des Gesichtskreises des Gründers.

Diesen seinen Grundanschauungen entsprechend kam Fürsten- berg, der mit sehr knappen Mitteln für seine Schöpfung rechnen mußte, erst 1797 dazu, einen Lehrstuhl für Naturwissenschaften zu er- richten, welcher ganz bezeichnenderweise der medizinischen Fakultät einverleibt und dem praktischen Arzte Franz Wernekink übertragen wurde. Dieser trat erst 1818, als seine Fakultät aufgelöst worden war, in die philosophische Fakultät über.

Lehrmittel und Anschauungsmaterial sind ihm in der ersten Zeit seines Wirkens gar nicht zur Verfügung gestellt worden. Erst 1803 setzte er es bei der preußischen Regierung durch, daß der Universität ein Teil des Schloßgartens zur Anlage eines botanischen Gar- tens überwiesen wurde. Da nur sehr geringe Mittel zur Unterhaltung bewilligt wurden, mußten die Kosten desselben großenteils und zwar bis 1875 durch Handelsgärtnerei aufgebracht werden. Trotzdem sich Nees v. Esenbeck für die Anlage interessierte und seinen Gärtner Sinnig sandte, konnte nur wenig für eine wissenschaftliche Gestaltung der An- lage bei häufig wechselnder Leitung, und zwar nur zum Teil durch Lehrer der Botanik an der Akademie,‘) geschehen und auch A. Karsch, der wie allmählich alle naturwissenschaftlichen Fächer, so auch die Botanik, im Jahre 1852 die Direktion des Gartens übernahm, vermochte trotz seines lebhaften Interesses gerade für die Flora seiner Heimat wenig zu wirken.

2) Von 1825—1835 war der Regierungsrat von Boeninghausen Direktor.

8 F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

Erst seinen Nachfolgern gelang es, außer dem Garten noch Arbeitsräume in der alten Akademie, welche auch Sammlungen (Herbarien)?) auf- nehmen konnten, zu erhalten, woraus 1884 unter Brefelds Leitung das jetzt im Garten bestehende, den Forderungen der Neuzeit gemäß aus- gestattete und von Zopf und Correns erweiterte Botanische Insti- tut erwuchs,

Einen Teil der Lehrtätigkeit Wernekinks übernahm 1824 Dr. Franz Caspar Becks, welcher auch vorübergehend (1835—1847) den botanischen Garten verwaltete, und zwar zunächst die Fächer der Geologie, Mineralogie und Paläontologie; er legte den Grundstock zu den betreffenden Sammlungen, allerdings in Gestalt einer Privatsamm- lung, welche 1848 nach seinem 1847 erfolgten Tode von seiner Witwe angekauft wurde. Zu ihr traten dann wohl gleich geringe Bestände aus der noch zu erwähnenden allgemeinen Sammlung hinzu. Becks war ebenso wie sein zweiter Nachfolger Hosius an der geologischen Kar- tierung der Provinz beteiligt. Er hatte die dabei sich bietende Gelegen- heit zum Zusammenbringen entsprechenden Anschautngsmaterials aus- genutzt, aber auch bei seinem früheren Aufenthalte im Rheinlande dort gesammelt. Neben mineralogischen und petrographischen hatte er vor allem paläontologischen Objekten Aufmerksamkeit zugewendet. Karsch, der nicht nur, wie oben gesagt, sämtliche naturwissenschaftlichen Fächer, sondern auch alle einschlägigen Sammlungen übernahm, tat nichts für ihre Verbesserung und Vermehrung. Erst als die Sammlung 1862 ganz selbständig und Hosius zur Verwaltung übergeben, auch diesem Forscher 1875 ein besonderer Lehrauftrag für Geologie, Mineralogie und Paläon- tologie erteilt worden war, wurde sie neu geordnet und wieder in Stand gesetzt. Hosius verstand es vortrefflich, durch energisches Zugreifen und geschickten Verkehr mit seinen Landsleuten viele zu seiner Zeit gemachte paläontologische Funde zu erwerben und erntete 1885, als er die von ihm wesentlich erweiterte Sammlung in der mineralogischen Landesanstalt in Berlin bei Gelegenheit des Geologen-Kongresses zur Ausstellung brachte, lebhafte Anerkennung und besonderen Beifall für die verständnisvolle Art der Anordnung. Die früheren sehr beschränk- ten Räume in der alten Akademie, welche nicht einmal eine vollständige Aufstellung gestatteten, sind 1898 durch etwas bessere und größere in dem ehemaligen Appellationsgerichte ersetzt worden, so daß die auch von Hosius’ Nachfolger K. Busz gemachten Erwerbungen, besonders Versteinerungen und das Ahlener Mammut entsprechende Aufstellung finden konnten,

Verwickelter und noch enger verknüpft mit den Schicksalen der Hochschule ist die Geschichte der zoologisch-anatomischen Sammlungen, Wernekink benutzte zu seinem Unterrichte in der Zoologie

2) Es scheinen das auch Teile der unten zu besprechenden alten allgemeinen naturwissenschaftlichen Sammlung gewesen zu sein,

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 9

außer einer umfänglichen Privatbibliothek auch eine umfangreiche Privatsammlung; als er jedoch 1822 seine Lehrtätigkeit einstellte, erwarb der preußische Staat diese Lehrmittel nicht; sie gingen in den Besitz der Universität Gießen über, wo sein Sohn Mitglied der philosophischen Fakultät war. 1821 schritt man vielmehr zur Schaffung einer selbstän- digen Sammlung zunächst für das 1819 reorganisierte Gymnasium, zu welcher Doubletten der zoologischen Museen in Berlin und Bonn über- wiesen wurden; Sie enthielt auch Mineralien und wahrscheinlich Herbarien, war also überhaupt als naturhistorische Sammlung gedacht. Ein Mit- benutzungsrecht daran besaß von vornherein der Gründer Roedig auch für seine Tätigkeit als Lehrer an der Akademie sowie an der damals (1821) gegründeten und der Akademie angegliederten medizinisch- ‘chirurgischen Lehranstalt. Nach Roedigs Tode (1829) erhielt Becks auch die Leitung dieser Sammlung, aber seinen ausgesprochenen Neigungen für Geologie und verwandte Fächer entsprechend gab er sich weniger mit dem zoologisch-anatomischen Teile ab; dieser erhielt jedoch trotz- dem, weil er auch dem Unterrichte an der Chirurgenschule diente, manchen Zuwachs an dort gefertigten Präparaten. 1848 übernahm Karsch auch diese Sammlung, welche in den Räumen teils des Gymnasiums, teils der alten Akademie wechselnd untergebracht war. Damals scheint die geologisch-mineralogisch-paläontologische Sammlung abgetrennt und mit der entsprechenden Privatsammlung Becks, von der oben berichtet ist, verbunden und so vervollständigt worden zu sein, wenn die Leitung auch noch bis 1862 in einer Hand blieb. Zu Karschs Zeit wurde (1855) die Bolsmannsche Vogelsammlung angekauft und 1866 die anatomischen Samm- lungen (darunter Instrumente) der alten Universität Duisburg, welche bis dahin gesondert von Tourtual (} 1865) verwaltet waren, der Akademie überwiesen. Aber wirkliche Bedeutung erhielten sie erst, als die Ver- waltung 1871 in Landois' Hand gelegt wurde, der auch 1891 die Gründung eines Provinzialmuseums für Naturkunde durchsetzte und in dem eben- falls von ihm (1874) geschaffenen und jahrzehntelang fast allein aufrecht erhaltenen zoologischen Garten für den zoologischen Unterricht vortreff- liches Lehrmaterial schuf und die Sammlungen vielfach bereicherte. Während er anfangs die neuen Methoden wissenschaftlicher Forschung pflegte, konnte er später bei der durch seine vielen Unternehmungen bedingten Zersplitterung nicht einmal auf dem von ihm ganz besonders gepflegten Gebiete der Zoologie mit den Fortschritten der Wissenschaft Schritt halten und vor allem den anatomischen Teil nicht weiter ver- vollständigen. Das im zoologischen Garten untergebrachte Provinzial- museum für Naturkunde untersteht jetzt Dr. Reeker.

Die rein akademischen Sammlungen aber erwachten zu neuer Be- deutung erst, als 1902 die Akademie wieder zur Universität erhoben und ihr wieder (1904) wenigstens der Anfang einer medizinischen Fakultät angegliedert wurde. E. Ballowitz, Landois’ Nachfolger im Lehramte der Zoologie, wurde 1905 auch zum Ordinarius für Anatomie ernannt zur Aus-

10 F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen,

bildung Studierender der Medizin in den ersten Semestern und ihm ein Institut in der alten Kürassierkaserne von der Stadt Münster eingerichtet.

Indem er dorthin den bis dahin mit der mineralogischen Sammlung noch gemeinsam im alten Appellationsgerichte untergebrachten zoolo- gisch-anatomischen Apparat hinüberführte, wurde nun auch räumlich und vollständig die Trennung der einzelnen Sammlungen vollzogen. Das anatomische Institut wurde, soweit die alten Räumlichkeiten das zuließen, mit Seziersaal, Auditorium und den nötigen Nebenräumen aus- gestattet, welche im nächsten Jahre durch umfängliche Neubauten er- gänzt und erweitert werden sollen. Auch sind die alten Sammlungen ver- mehrt worden, sodaß jetzt ein nahezu vollständiges Museum anatomischer Präparate für den medizinischen Unterricht geschaffen ist. Nach Einrichtung der medizinisch - propaedeutischen Abteilung, im Jahre 1906, erhielt W. Stempell den Lehrauftrag für Zoologie, und es wurde auf seine Veranlassung und da die Zahl der Zoologie-Studierenden sich er- heblich steigerte, 1909 im Gebäude des ehemaligen Schillergymnasiums ein besonderes zoologisches Unterrichtsinstitut neu einge- richtet, in das auch ein Teil der alten Sammlungen überführt wurde, Die- ses Institut, dessen Lehrmittelapparat in neuester Zeit erhebliche Aus- bildung erfuhr, soll nach vielfachen Wanderungen demnächst in dem Uni- versitätsneubau an der Johannisstraße ein Heim finden.

Ebenso wie die Errichtung des anatomischen Institutes übernahm die Stadt 1904 die Ausstattung eines physiologischen Institutes in demselben Gebäude, welches R. Rosemann leitet. Auch diese Anstalt hat einen erfreulichen Aufschwung genommen und ist besonders durch einen geräumigen Laboratoriumssaal zur Abhaltung physiologischer und physiologisch-chemischer Kurse 1909 zweckentsprechend erweitert worden.

Ein weiterer Schritt zum allmählichen Ausbau der medizinischen Fakultät war die ebenfalls mit Unterstützung der Stadt 1907 ‘durch- geführte Einrichtung des zahnärztlichen Instituts, dem Apffel- staedt vorsteht.

Diese eigentlich mit Ausnahme des zoologischen Institutes rein medizinischen Anstalten sind bis auf Weiteres noch .der philo- sophischen Fakultät angegliedert; sie sind daher hier besprochen; die älteren medizinischen Unterrichtsanstalten sollen unten gesondert behan- delt werden. !

Physik war schon in der alten Universität als besonderes Unter- richtsfach vorgesehen, sein Vertreter hatte durchweg Chemie mit zu behandeln und so blieb es im wesentlichen bis 1877 (vergl. S. 4).

Ein paar kleine Zimmer in der alten Akademie waren seit 1847 W, Hittorfs Arbeitsstätte für diese zwei Disziplinen, für welche jetzt zwei große selbständige Gebäude, oder richtiger Gebäudekomplexe mit reicher Ausstattung an Apparaten zur Verfügung stehen, während er sich mit den allernotdürftigsten Hilfsmitteln, welche er sich zum Teil

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 11

erst noch nach eigenen Angaben von hiesigen Handwerkern bauen ließ, begnügen mußte.

Erst 1899 wurde unter Hittorfs Nachfolger Ketteler für Physik ein eigenes Institut mit würdiger und den Forderungen der modernen Wissenschaft entsprechender Ausstattung errichtet. Als die Zuhörerzahl der Hochschule nach ihrer Erweiterung zur Universität (1902) sich in rapider Weise steigerte, versuchte man sich erst mit kleinen Mitteln zu helfen, errichtete aber seit 1911 nach des jetzigen Direktors G. Schmidt Plänen einen großen Anbau, der wohl auf Jahrzehnte den Be- dürfnissen genügen wird.

Für chemische Lehrzwecke wurde allerdings schon 1877 dem zur Entlastung von Hittorf berufenen Oppenheim ein kleines Laboratorium in den gemieteten Räumen eines Privathauses eingerichtet, aber schon 1879 unter Beratung des jetzt noch dasselbe leitenden H. Salkowski ein eigenes chemisches Institut erbaut, welches Ende 1880 bezogen werden konnte, und der steigenden Zahl der Studierenden sowie den dem Institute zuwachsenden neuen Aufgaben zur Vorbildung von Pharmazeu- ten, Medizinern und Nahrungsmittel-Chemikern entsprechend, in den Jah- ren 1897 und 1912 erheblich erweitert und insbesondere mit dem neuen großen Hörsaale versehen wurde. In diesem Institute ist auch eine beson- dere pharmazeutische Abteilung, geleitet von G. Kaßner, untergebracht.

Medizinische Fakultät,

Die medizinische Fakultät kam unter Fürstenberg nur sehr langsam zur Entwicklung; es geschah das wohl deshalb, weil es Schwierigkeiten machte, von auswärts Lehrer zu erhalten und die einheimischen prak- tischen Ärzte sich weniger eigneten oder dem Minister nicht genehm waren. Anfangs, bis 1791, lehrte nur ein Professor (Fries) Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe, und erst in den neunziger Jahren wurden nach und nach Lehrstühle für Pathologie und Therapie, Chemie und Pharmakologie, Anthropologie und Physiologie errichtet und besetzt.

So reifte der von Fürstenberg entworfene Plan seiner Vollendung entgegen; aber die Ungunst der folgenden Zeiten, der Wechsel der Re- gierungen ließen eine weitere Aufwärtsentwicklung der Universität und damit ihrer medizinischen Fakultät um so weniger zu, als in der fran- zösischen Zeit fortwährend das Damoklesschwert der Aufhebung über ihr schwebte. Sie wäre eine sichere Folgeerscheinung der von Napoleon in Aussicht genommenen und teilweise durchgeführten Reorganisation des gesamten Unterrichtswesens gewesen.

Es ist daher sehr wohl zu verstehen, daß die kräftigen Bemühungen der 1813 wieder einziehenden Preußischen Beamten, vor allem des Ober- präsidenten v. Vincke auf eine vollständige Wiederherstellung der Uni- versität und ihren weiteren Ausbau in Berlin nicht durchdrangen, zumal damals äußerste Sparsamkeit für die preußische Verwaltung zwingendes Gebot war.

12 F, Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

Medizinisch-chirurgische Lehranstalt.

Die Universität wurde daher 1818 als „Akademie reorganisiert', indem die rechtswissenschaftliche und medizinische Fakultät aufgelöst wurden. Als Rest der letzteren blieb, wie schon oben angedeutet, eine der Akademie lose angegliederte medizinisch - chirurgische Lehranstalt (organisiert 1821) zurück, an welcher auch noch einige Mitglieder der alten medizinischen Fakultät weiter wirkten. An ihr wurde Anatomie nicht nur, wie die übrigen einschlagenden Fächer theoretisch gelehrt, sondern auch an frisch behandelten Leichen und älteren Präparaten anschaulich doziert. Auch wurde nicht nur Poliklinik abgehalten, sondern sogar ein eigenes klinisches Hospital unterhalten. Aber auch diese Anstalt starb allmählich ab und wurde 1848 aufgelöst. Ihr An- schauungs- und Unterrichtsmaterial bildete den Grundstock der jetzigen anatomischen und zoologischen Sammlungen, wie oben angedeutet (S. 9). Staatliche Fürsorge für Medizinal- und Apothekerwesen sowie für die

Gesundheitspflege.

Da die medizinische Fakultät der alten Universität für die Heran- bildung der jungen Ärzte nur wenig leisten konnte, sind die Verdienste, welche sich Fürstenberg um Gesundheitspflege und Gesundheitslehre erwarb, um so mehr anzuerkennen,

Schon früher und im weiteren Umfange hatten die verschiedenen Landesherren in der Provinz, geistliche und weltliche, das Medizinal- und Apothekenwesen geregelt, indem sie Prüfungsbestimmungen nicht nur für die Ärzte, sondern auch das niedere Heilpersonal der Hebammen °) und Chirurgen‘) erließen, wohl nicht unbeeinflußt durch die branden- burgisch-preußischen Einrichtungen, besonders die Medizinalordnung von 1685, verschärft durch das Edikt von 1725, welche ja auch das Medizinalwesen in den preußischen Teilen der Provinz (Lingen, Tecklen- burg, Minden, Ravensberg und Mark) regelten. Auch für die Apotheker wurden Prüfungen vorgeschrieben, ihre Offizinen durch die Landphysiker

visitiert und ihnen Taxen für den Verkauf der Heilmittel vorgeschrieben.

Medizinalkollegium. Besonders hervorzuheben ist unter diesen Bestrebungen die vom

Erzbischof Max Friedrich v. Köln als Bischof v. Münster auf Fürstenbergs Anregung 1773 durchgeführte Errichtung eines Medizinalkollegiums, weil

3) Die Chirurgen wurden ursprünglich überall, so auch in Münster, nach Hand- werksgebrauch bei den Chirurgengilden oder Bruderschaften ausgebildet und geprüft, Dadurch wurde die Durchführung der Aufsicht über ihre Vorbildung und Tätigkeit dem Medizinalkollegium ebenso wie den älteren staatlichen Aufsichtsbeamten sehr er- schwert.

ı) Um ihre genügende Ausbildung zu gewährleisten, wurden schon im 18, Jahr- hunderte in Westfalen Hebammenlehranstalten errichtet; in Paderborn z. B. 179,

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 13

sein erster Direktor C. L, Hoffmann als praktischer Hygieniker eine her- vorragende Stellung einnimmt. Die von ihm verfaßte Medizinal- ordnung galt für seine Zeit als ausgezeichnet und wurde der Hessischen von 1778 fast wörtlich zu Grunde gelegt. Neben diesem Werke, welches nicht unbekannt geblieben ist, verfaßte er aber zwei bis jetzt kaum be- achtete hygienische Schriften,’) die nicht nur durch Originalität und Kraft der Sprache sich auszeichnen, sondern vor allem wegen der gesunden Vernunft, welche aus allen darin den Laien gegebenen Ratschlägen spricht, als ein hervorragendes Denkmal der damaligen medizinischen Literatur bezeichnet werden müssen. Die Hauptschrift führt den Titel: „Unterricht von dem Collegium der Aerzte in Münster, wie der Unterthan bey allerhand ihm zustoßenden Krankheiten die sichersten Wege und die besten Mittel treffen kann, seine verlorene Gesundheit wieder zu er- halten nebst den Münsterschen Medicinalgesetzen”. Das Buch fand seiner Zeit Beachtung und Anerkennung. J. Möser schrieb an den Ver- fasser: „Vordem, wie man aus Mangel medizinischer Kenntnisse unmög- lich wissen konnte, ob man sein Zutrauen einem geschickten oder unge- schickten Mann schenkte, waren die Kranken in der That zu beklagen. Wenn sich jetzt aber noch einer hintergehen läßt, ist es seine eigene grobe Schuld."

Hoffmann war nicht Mitglied der medizinischen Fakultät und deren Mitglieder wurden nur zögernd in das allerdings nicht allein aus Fach- männern, sondern zum Teil auch aus Juristen bestehende Medizinal- kollegium aufgenommen. Die Behörde besteht noch heute.

Sieht man die Medizinalordnung an und prüft man die oben mitge- teilten Gedanken Fürstenbergs über den medizinischen Unterricht, so wird man mit Staunen gewahr werden, daß weder hier noch dort von Krankenanstalten oder Hospitälern die Rede ist. Diese Einrichtungen unterstanden weder der Aufsicht des Medizinalkollegiums, noch wurden sie von den akademischen Lehrern beim Unterrichte benutzt oder auch nur zu Beobachtungen herangezogen, obwohl die letzteren Maßnahmen in Göttingen, woher Fürstenberg viele Anregung empfing, schon 1733 angestrebt wurden und 1780 durch Einrichtung einer besonderen Univer- sitätsklinik zur Durchführung gelangt waren. Fürstenberg konnte 1803 nur den Wunsch der Errichtung eines collegium clinicum aussprechen (S. 5, 6); der Gedanke jedoch, dazu das damals schon vorhandene Clemens-

hospital zu benutzen, scheint überhaupt nicht einmal aufgetaucht zu sein.

Krankenhäuser usw.

Die Erklärung für diese uns auffallend erscheinende Tatsache liegt nun wohl darin, daß in früheren Jahrhunderten und besonders in katho- lischen Ländern, die Krankenpflege im Zusammenhange mit der Armen-

x °) Geheimrat Dr, Gerlach wird diesem Gelehrten einen Vortrag in der Abteilung für Geschichte der Medizin widmen.

14 F, Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen,

pflege als eine Aufgabe der Kirche angesehen wurde, welche zur Er- füllung dieser Aufgabe weniger die Hilfe weltlicher Behörden, als die Privatwohltätigkeit in Anspruch nahm, jedenfalls jedoch Eingriffe nur ungern duldete,

So ist denn auch das hiesige Clemenshospital, genannt nach dem Namenspatron seines Gründers, des Bayernprinzen Clemens August, dessen Wappen über dem Portale der herrlichen, von Schlaun erbauten Barockkapelle angebracht ist, 1751 als ein Kloster der Barmherzigen Brüder mit von ihnen geleiteter Krankenanstalt an seinem jetzigen Stand- orte seiner Bestimmung übergeben worden, nachdem Mönche desselben Ordens schon seit 1731 am Neuplatze eine provisorische Anstalt geleitet hatten. Zur Erhaltung des Spitals hatte der Magistrat der Stadt, vom Kurfürsten dazu gezwungen, einen Teil der Einkünfte alter von ihm ver- walteter Krankenstiftungen, der sogenannten Elendenstiftungen‘) her- geben müssen. Aber trotz dieser unfreiwilligen Zuwendungen und meh- rerer privater Stiftungen hatten die Brüder fortdauernd mit Geldschwie- rigkeiten zu kämpfen. Die Kriegszeiten um die Wende des 18. und 19, Jahrhunderts sowie die französische Zwischenregierung vollendeten den Rückgang des zeitweilig blühenden Instituts und führten schließlich seine gewaltsame Aufhebung herbei. Nach 1814 jedoch unterstützte die preu- ßische Regierung, welche der Krankenanstalt schon 1802—1806 lebhafte Förderung hatte zu teil werden lassen, die Bemühungen für ihr Wieder- aufleben und ihren Ausbau. Besonders wichtig war dabei, daß die Pflege den damals von Clemens August v. Droste-Vischering gestifteten Barm- herzigen Clemens-Schwestern, welche noch jetzt darin wirken, über- tragen wurde, weil dadurch auch die Aufnahme weiblicher Kranker er- möglicht war, während die ältere Stiftung nur Männern diente,

Schon am Ende des 18. Jahrhunderts erfreute sich das Spital eines ausgezeichneten Rufes und selbst der ausgesprochene Protestant Justus Gruner, der sonst durchaus keine Neigung zur Anerkennung münsterscher Einrichtungen zeigt, widmet demselben anerkennende Worte”) Es nahm seit seiner Stiftung Angehörige aller Bekenntnisse, auch Juden, auf.

°%) Diese Elenden-Stiftungen waren in Münster, wie in vielen anderen Städten die Leprosenhäuser und ähnliche Anlagen, wesentlich dazu bestimmt, mit ansteckenden Krankheiten Behaftete zu isolieren, wozu sie besonders in Zeiten von Epidemien (Pest und rote Ruhr) verwendet wurden. Großenteils von Privaten gestiftet und meist städtischer Verwaltung unterstellt, wurden sie seit dem allmählichen Verschwinden des Aussatzes vielfach ihrer ursprünglichen Bestimmung entfremdet und zu Armen- und Siechenhäusern umgestaltet, wohl auch verpachtet, um die Einkünfte daraus zu all- gemeinen Armenzwecken verwenden zu können,

7) „Unter den Klöstern der Stadt ist das unter Clemens Augusts Regierung gestiftete Kloster der barmherzigen Brüder unstreitig das interessanteste. Das Ge- bäude selbst hat Vieles von dem Mißfälligen nicht, was andere Klöster häßlich macht, und seine kleine elegante Kirche erregt einen sehr angenehmen gefälligen Eindruck. Dieser erhöhet sich zur Freude und Rührung, wenn man den übrigen Theil des Klosters besehen, die Krankensääle so äußerst reinlich, die Wartung der Patienten so sorgsam, das ganze Benehmen der Mönche so menschenfreundlich gefunden hat. Da dieser (der hohe Beruf) nicht blos auf die Verpflegung armer Kranken, sondern auch auf die

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 15

Im Laufe des 19, Jahrhunderts wurde es, als weltliches Institut, un- ter städtische Verwaltung gestellt, dem Anwachsen der Bevölkerung ent- sprechend vergrößert und nach und nach mit neueren, den Fortschritten der Wissenschaft entsprechenden Einrichtungen ausgestattet. Es wurde dann seit 1908 insofern der Mittelpunkt der hiesigen Krankenanstalten, als eine große Zahl der in Münster tätigen Spezialärzte ihre Privatheil- anstalten dem gegenüber bei dem Mutterhause der Barmherzigen Cle- mens-Schwestern eingerichteten Marienhospitale angliederten, so daß jetzt um den Kern des alten Spitals eine große Zahl von Kliniken sich gruppiert, in welchen auch die meisten Spezialfälle eine besondere fach- männische Behandlung finden können. Die Augenheilanstalt, 1886 von der Provinz gegründet und unterhalten, sowie das einer hochherzigen Privatstiftung seinen Ursprung verdankende und unter städtischer Ver- waltung stehende orthopädische Institut (Hüfferstiftung) konnten dem Spitale nicht angegliedert werden, weil sie in eigenen, großzügig ange- legten Gebäudekomplexen untergebracht sind. Weitere Krankenhäuser neueren Datums besitzen noch die Krankenschwestern des hl. Franziskus (Franziskushospital) und die evangelische Gemeinde.

Auch die von der Provinz unterhaltene Heilanstalt für nervöse und geistesgestörte Kranke (Marienthal) ist gesondert geblieben. Die Irren- fürsorge ist ja der jüngste Zweig der staatlichen Fürsorge für die Gesund- heit der Bürger. Man hatte im 18. Jahrhundert den Plan (S. 14, Anm. 7), auch diese Kranken in den allgemeinen Krankenhäusern unterzubringen, so weit man sich ihrer überhaupt annahm, sah aber bald die Undurchführ- barkeit eines solchen Planes ein. Marienthal ist eine ziemlich späte (1878) Abzweigung des ältesten westfälischen, ursprünglich privaten In- stitutes in Marsberg. Die Anstalt in Lengerich war 1867 vorhergegangen.

Es ist hier der ältesten münsterschen Krankenanstalt, welcher sich jetzt zahlreiche andere in ganz Westfalen angereiht haben, etwas ein- gehender gedacht worden, weil sie lange Zeit die einzige in Westfalen war. Justus Gruner (s. oben) empfand es bitter, daß weder im Herzogtum Westfalen, noch im Bistume Paderborn, geschweige denn in den kleineren Ländern eine solche Einrichtung anzutreffen war. Auch die preußischen Landesteile scheinen nach dieser Hinsicht nicht besser gestellt gewesen zu sein. In Paderborn wurde jedoch zu jener Zeit (1798) auf Fickers An- regung ein allgemeines Krankenhaus eingerichtet.

Erwähnt sei hier noch anhangsweise das allerdings mehr als Wohl- fahrtseinrichtung, wie als Krankenhaus anzusprechende, durch Privat- wohltätigkeit gegründete, jetzt von der Provinz verwaltete Blinden- institut, die Vinckesche Provinzialblindenanstalt mit einer katholischen

Fürsorge und Pflege Irrer und Wahnsinniger gehet, so fand ich hier mehrere solcher Unglücklichen, die mir ebenfalls mit zarter Schonung behandelt zu werden schienen. Sowohl die Krankenwärter, als der Arzt und Chirurg (alle Mönche) waren in unab- lässiger Thätigkeit, obgleich die Zahl derselben (welche man mir auf zwölf angab) wohl stärker seyn und nicht gegen Ermüdung schüzzen dürfte,”

16 F, Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

Abteilung in Paderborn und einer evangelischen in Soest, während die Taubstummenanstalten als reine Wohlfahrts- und Lehranstalten hier keine Erwähnung finden können.

Besondere medizinische Akademien, wie sie die großen rheinischen Städte im Anschlusse an ihre Krankenanstalten ins Leben gerufen haben, hat Westfalen nicht zu verzeichnen, wenn auch z. B. das große Krankenhaus in Bochum (Bergmannsheil) und in Dortmund die einheitlich zusammengefaßten Einrichtungen Grundlagen für ähnliche Institute bieten könnten.

Bäder, Mineralwässer.

Die Naturheilkräfte der Mineralwässer hat man in Westfalen nicht so frühzeitig ausgenutzt, wie in Süd- und Westdeutschland, wo ja der Ge- brauch der Heilbäder bis in die Römerzeit zurückreicht. Immerhin hat man aber schon im 18. Jahrhundert mehrfache Heilbäder eingerichtet, welche jedoch zum Teil, wie Tatenhausen, Schwelmer Brunnen u. a., wieder eingegangen sind. Die jetzt bedeutendste Heilquelle Oeynhausen wurde erst 1845 erbohrt und erwuchs dann langsam zu einem Weltbade. Driburgs Quellen sind schon seit 1593 bekannt. Der Paderborner Bischof Ferdinand von Fürstenberg (1661—1683) besingt sie in seinen „Monu- menta”. Nächst den Bischöfen bemühten sich die jetzigen Besitzer, die Grafen von Sierstorpff, sehr um die Hebung des Badeortes, und der oben schon als Urheber des Paderborner Krankenhauses genannte Dr. Ficker war dort ein gesuchter Badearzt. Lippspringes Heilquelle wurde 1832 erbohrt. Damit ist wohl die Reihe der bedeutenderen Heilbäder West- falens erschöpft, dessen Berge nicht reich an Mineralwässern sind. Die alten Salinen, hauptsächlich am Hellwege, rentierten sich in neuerer Zeit kaum mehr bei reiner Gewinnung von Kochsalz, da sie die Konkurrenz der bergmännischen Steinsalzgewinnung nicht aushalten konnten; sie nutzen daher jetzt meist ihren Salzreichtum zu Heilzwecken aus (z. B. Werne, Hamm, Sassendorf, aber auch Gottesgabe bei Rheine u. a.).

Angewandte Naturwissenschaiten.

Epochemachende Leistungen der angewandten Naturwissenschaften, besonders auf dem Gebiete der Physik und der Chemie für die Provinz Westfalen hier im Einzelnen zu verzeichnen, erscheint nach der Lage der Sache untunlich., Selbstverständlich werden in den Laboratorien und Werkstätten der in der Provinz weit verbreiteten und auf den verschie- densten Gebieten sich immer weiter ausdehnenden Industrie die Errun- genschaften der Studierstube von der Theorie in die Praxis umgesetzt, um die industriellen Verfahren zu vervollkommnen und weiterzubilden. Das- selbe gilt von den der Industrie und dem Verkehr dienenden Anlagen und Baulichkeiten. Auch sind diese Erfolge besonders auf dem Gebiete der Eisenindustrie sehr bedeutend. Aber ihre Darlegung gehört in die

F. Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen. 17

Geschichte der industriellen Entwicklung; auch wird sie sich durchaus nicht immer einfach geben lassen, weil hier die Frage des Fabrikgeheim- nisses mit hineinspielt.

Nur ein Gebiet, und ein sehr wichtiges Gebiet, auf dem außerdem die Frage des Fabrikgeheimnisses nicht hindernd in den Weg tritt, möchte ich hier erwähnen: die Förderung der Landwirtschaft durch die Wissen- schaft, und zwar aus dem doppelten Grunde, weil gerade im Münster- lande schon in verhältnismäßig früher Zeit der Gedanke, den Landwirt- schaftsbetrieb auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen, nicht nur aufgefaßt und diskutiert, sondern sogar in die Tat umgesetzt worden ist, und zweitens weil in der Stadt Münster in neuerer Zeit in größerem Um- fange Einrichtungen ins Leben gerufen worden sind, welche ein fortwäh- rendes Zusammenarbeiten theoretischer Forschung mit praktischer Be- tätigung auf diesem Gebiete ermöglichen sollten und ermöglicht haben.

Der Exjesuit und Professor an der alten Universität, Anton Bruchausen, hat außer zahlreichen einschlägigen Aufsätzen in der Mün- sterischen Monatsschrift I (1786) im Jahre 1790 „auf gnädigsten Befehl Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht Maximilian Franz als Fürstbischof von Münster” eine „Anweisung zur Verbesserung des Acker- baues und der Landwirtschaft des Münsterlandes“ herausgegeben. Man geht wohl kaum fehl, wenn man auch die geistige Urheberschaft dieses Buches dem Universitätskurator von Fürstenberg zuschreibt. Der zu Grunde liegende Hauptgedanke ist, daß der Bauer nicht im traumhaften Gange einer von seinen Eltern und Ureltern überkommenen Überlieferung seine Tätigkeit ausüben, sondern dabei bewußt und überlegt vorgehen soll. Um das zu können, muß er jedoch die Naturverhältnisse, mit welchen er zu rechnen hat, verstehen, muß die Naturvorgänge, welche er hervorrufen oder modifizieren will, sich erklären können, Dieses Verständnis soll das Buch wecken, diese Erklärung will es unter Beigabe einer großen Zahl von praktischen Einzelanweisungen geben. Wenn nun auch nicht zu ver- kennen ist, daß der Verfasser mit seinen chemischen und physikalischen Kenntnissen nicht einmal auf der Höhe seiner Zeit stand, und die natur- wissenschaftlichen Kenntnisse jener Zeit noch viel weniger, als die heu- tigen, dazu ausreichten, die beim Landwirtschaftsbetriebe zu beobach- tenden Verhältnisse und Vorgänge vollkommen und einwandsfrei zu er- klären, so verdient dennoch das in dem Buche zu Tage tretende Streben nach einer für das praktische Leben so überaus wichtigen, ja notwendigen Aufklärung um so mehr Beachtung, weil es einen der frühesten Versuche in dieser Richtung darstellt. Zudem zeichnet sich die Arbeit durch den wahrhaft volkstümlichen Ton, in welchem sie geschrieben ist, sowie durch die treffliche und übersichtliche Anordnung des Stoffes aus.

Die Sorge für eine rationelle Förderung der Landwirtschaft ist dann von den landwirtschaftlichen Vereinen während des ganzen 19, Jahrhun- derts aufrecht erhalten worden; und der Landwirtschaftliche Provinzial-

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte, 2

18 F, Philippi: Entwicklung der Natur- und Heilwissenschaften in Westfalen.

verein ist es auch gewesen, welcher 1871 die „Landwirtschaftliche Versuchsstation” ins Leben rief und J. König, welcher die Leitung dann 40 Jahre führte, dafür verpflichtete. Das Institut hat sich in diesen reichlich 40 Jahren seines Bestehens aufs Erfreulichste entwickelt. Aus einem kleinen Laboratorium in einem Mietshause zu Anfang wuchs es zu einem Gebäudekomplexe an, der neben 30 Arbeitsplätzen für Untersuchun- gen verschiedenster Art alle erforderlichen Nebenräume und einige Dienst- wohnungen enthält. Zuerst mit der Kontrolle des Handels mit künst- lichen Dünge- und Kraftfuttermitteln beauftragt, übernahm das Institut bald Versuche zur Hebung der Landwirtschaft, führte eine Kontrolle des Samenhandels ein, erhielt die Nahrungsmittelkontrolle für den Regie- rungsbezirk Münster (mit Ausnahme des Kreises Recklinghausen) über- wiesen und betätigte sich in letzter Zeit besonders in Versuchen über Pflanzenschutz und hydrobiologischen Untersuchungen für Fischerei- zwecke sowie in Untersuchungen über die schädlichen Einwirkungen der Industrie auf die Flüsse und die Vegetation. Leiter ist augenblicklich Königs langjähriger Assistent A. Bömer. Das Institut gehört jetzt der Landwirtschaftskammer der Provinz. |

Es konnten in diesem kurzen Abrisse unmöglich die Bestrebungen und Verdienste der einzelnen Vertreter der hier besprochenen Wissen- schaften auf den von ihnen angebauten Gebieten gewürdigt werden.

Den bekanntesten und erfolgreichsten Forscher W, Hittori, wird G. Schmidt unten besonders behandeln; nur eine sehr anerkennenswerte, wenn auch in weiteren Kreisen wenig bekannte Leistung eines westfäli- schen Arztes soll noch zum Schlusse erwähnt werden. Dr. Friedrich Hofmann (1806—1888) in Burgsteinfurt beschrieb 1841 einen durch- bohrten Hohlspiegel, welchen er dazu benutzte, um mittelst re- flektierten Lichtes Körperhöhlen zu untersuchen. Er durfte also, obwohl gewöhnlich diese Benutzung reflektierten Lichtes anderen For- schern als Verdienst zugesprochen wird, wohl mit Recht die Worte auf seinen Grabstein setzen lassen:

„Er war ein Freund des Lichtes und der erste, der dasselbe der Diagnostik dienstbar machte.”

Wilhelm Hittorf. Von Gerhard Carl Sehnde

Im Jahre 1818 wurde die Universität Münster aufgelöst, trotzdem sie in den letzten Jahren von einer für damalige Zeiten recht beträchtlichen Anzahl von Studenten (ca. 400) besucht wurde, Dafür wurde ein theo- logisch-wissenschaftlicher und zur Vorbereitung darauf ein philosophischer und allgemein-wissenschaftlicher Kursus für künftige Geistliche der Münsterischen Diözese, von denen ersterer durch die bisherige theolo- gische, letzterer durch die bisherige philosophische Fakultät versehen werden sollte, eingerichtet. Daß in dieser Anstalt die Naturwissenschaf- ten nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten, lag auf der Hand. Die Professur für Physik und Chemie bekleidete Roling, der sich hauptsäch- lich mit meteorologischen Fragen beschäftigte. Seine Arbeiten auf diesem Gebiet fanden in weiteren Kreisen Beachtung. Alexander v. Humboldt schreibt z. B. in einem eigenhändigen, längeren Brief vom 17. Febr. 1830: „Ihre meteorologischen Beobachtungen von 1818—1826 sind ein schöner Beitrag zur Kenntnis der Klimatologie, und gehören zu den vollständigsten, die wir in Deutschland besitzen. Hier in der Haupt- stadt liegen wir damit noch sehr im Argen.”

Nach dem Tode Rolings wurde der Privatdozent der Physik und Chemie Schmedding interimistisch mit der Abhaltung der Vorlesungen betraut. Die Klage, welche in einer Reihe von Eingaben häufig wieder- kehrt, daß man „der Anstalt nur geringe Aufmerksamkeit” schenke, kann man wohl als begründet betrachten, wenn man erfährt, daß dies Inter- regnum 14 Jahre dauerte. Nachdem Schmedding 11 Jahre die Stelle ver- waltet, bat er die philosophische Fakultät, seine Ernennung zum Professor und die definitive Übertragung des dazu gehörigen Amts beim Minister zu befürworten. Die Fakultät beschloß in Erwägung, daß Schmedding das ihm anvertraute Lehramt regelmäßig und mit anerkennenswertem Fleiße verwaltet, ferner seine Vorlesungen gut besucht seien und er die Hochachtung seiner Zuhörer und die allgemeine Zuneigung seiner Kollegen erworben habe und schließlich bewogen durch die billige Rücksicht auf die lange Dauer seiner bisherigen Stellung, ihn als außerordentlichen Professor vorzuschlagen. „Es steht ihm allerdings entgegen, so fährt der Bericht fort „daß er bis jetzt noch nicht durch ein literarisches Erzeugnis von erheblicher Bedeutsamkeit ausgewiesen, daß er auf der Höhe seiner Wissenschaft stehe und sie wenigstens in einzelnen Zweigen

2*

20 Schmidt: Wilhelm Hittorf.

beherrsche. Zu einiger Entschuldigung dient aber, daß es dem p. Schmedding auch bei seinem besten Willen mit den unbedeutenden physikalischen und chemischen Apparaten nicht möglich gewesen ist, auf eigene Versuche gegründete wissenschaftliche Arbeiten auszuführen, und nach seiner durch Belege unterstützten Erklärung seinen Bemühungen hierin von der hiesigen Königl, Provinzial-Schul-Collegio sogar vor län- gerer Zeit als Grundsatz entgegengehalten worden ist, daß der Dozent an der hiesigen kleinen Anstalt könne nicht die Aufgabe haben, durch weitläufige und kostspielige Versuche die Wissenschaft selbst weiter zu führen.”

Dem Gesuch der Fakultät wurde nicht entsprochen,

Die Frage der Besetzung der Professur kam wieder ins Rollen, als im Jahre 1847 Dr. Rinklake sich für Physik und Chemie habilitieren wollte. Die Fakultät war der Ansicht, daß dies wegen Verwaisung des Lehrstuhls nicht möglich sei. Auf die Beschwerde von Rinklake ent- schied der Minister zu Gunsten der Fakultät und forderte gleichzeitig zu Vorschlägen für die Neubesetzung auf. Die Fakultät hielt den Direk- tor der Realschule in Düsseldorf Dr. Heinen für eine geeignete Persön- lichkeit und berichtete entsprechend. Die Antwort hierauf war über- raschend. Zunächst trug der Minister „Bedenken, Heinen einem Amt zu entziehen, in welchem er sich als sehr nützlich bewährt und für welches nicht so leicht ein tüchtiger Nachfolger ermittelt werden könne. Dagegen hat der Herr Minister seine Aufmerksamkeit auf den in allen Beziehungen ausgezeichnet empfohlenen Dr. Hittorf gerichtet .... Da Dr. Hittorf bisher noch kein akademisches Lehramt bekleidet, sondern nur den Unterricht im naturwissenschaftlichen Seminare, hier aber mit entschie- dener Auszeichnung erteilt hat, so will er sich hier (d. h. in Münster) im Herbst zuerst als Privatdozent habilitieren, was auch den Wünschen und Absichten des Herrn Ministers entspricht‘, | Man kann es der Fakultät nicht verargen, wenn sie sich hiergegen mit Händen und Füßen wehrte; sie wies darauf hin, daß sie bereits einen Privatdozenten habe und daß ihr daher durch die Ernennung eines zweiten nicht gedient sei. Die Besetzung des Amts durch einen als akademischen Lehrer oder in gleichstehender Tätigkeit bereits be- währten Professor wäre ihr sehnlichster Wunsch. Sollte es nicht möglich sein, eine geeignete Persönlichkeit zu gewinnen, so bat die Fakultät zum Schluß, daß sich Hittorf auf einer anderen Universität habilitieren möge, damit er später als Professor berufen werden könne, wenn er als solcher erst sich bewährt habe. Freilich müßte dann das gegenwärtige Interim, das schon zu lange gewährt habe, noch weiter dauern.

Die Antwort lautete, daß die Gewinnung eines ordentlichen Pro- fessors der Physik und Chemie sich nicht habe verwirklichen lassen. „Was die Habilitation des Hittorf betreffe, so werde er sie bei der philo- sophischen Fakultät in Bonn bewirken, was auch an sich in Ermangelung

Schmidt: Wilhelm Hittorf. 21

eines ordentlichen Professors bei der Fakultät in Münster für dieses Fach angemessen erscheine.”

Die Habilitation fand am 11. August 1847 statt, und es wurde darüber das folgende Protokoll aufgenommen: Dr. Hittorf hielt behufs seiner Habilitation als Privatdozent eine Vorlesung „über die Bildung einiger Oxyde der edlen Metalle auf galvanischem Wege”.

Er führte darin aus und erläuterte es durch in Gegenwart der Fakul- tät angestellte Versuche, daß, wenn Sauerstoffsalze, deren Basis ein Alkali ist, am besten die salpetersauren Salze, in feuerflüssigem Zustande durch den galvanischen Strom zersetzt werden, der negative Pol, aus welchem Metalle er bestehen möge, stark oxydiert werde.

Platin gibt unter diesen Umständen ein bisher unbekanntes, blaues Oxyd, Gold das grüne Oxydul und das violette Oxyd. Zugleich bewies er, daß die Oxydation durch die Bildung der Superoxyde des Alkali- metalles bedingt werde.

Diese Vorlesung erregte das lebhafte Interesse der Anwesenden, und es knüpfte sich daran ein Gespräch über die Ursachen dieser Er- scheinungen, über die daraus zu ziehenden Folgerungen und über die mutmaßliche Zusammensetzung des neuen Platinoxydes, an welchem vorzüglich die Professoren Noygerath, Bischof und Plücker teilnahmen und worin Dr. Hittorf seine gediegenen Kenntnisse und seinen Scharfsinn bekundete, sowie die Anstellung der Versuche seine praktische Fertig- keit in Behandlung der Instrumente bewiesen hatte.

Die Fakultät war der Ansicht, daß Dr. Hittorf den Habilitations- forderungen vollständig genügt habe und mit Erfolg Vorlesungen sowohl über theoretische als auch experimentelle Physik und Chemie halten werde.

So geschehen Bonn, 11. Aug. 1847.

Über Hittorfs bisherigen Lebenslauf möge noch folgendes nach- getragen werden. Geboren am 27. März 1824 in Bonn, wo sein Vater ein Geschäft besaß, besuchte er das Gymnasium seiner Vaterstadt und studierte von 1842—1847 Mathematik und Naturwissenschaften an den Universitäten Bonn und Berlin. An ersterer wurde er 1846 auf Grund einer Dissertation, betitelt: Proprietates sectionum conicarum ex aequa- tione polari deductae zum Doktor promoviert.

Unmittelbar nach der Habilitation bewirkte Hittorf seine Über- siedelung und kam Herbst 1847 mit der Postkutsche in Münster an. Die erste Zeit ging hin mit der Ausarbeitung der Vorlesungen, Instandsetzen der kleinen Sammlung und, als im Jahre 1848 die Revolution auch in Münster einige Wellen schlug, mit der Erfüllung seiner Bürgerpflichten als Mitglied der Bürgerwehr. Da es zu keinen Zusammenstößen kam, so beschränkte sich seine Tätigkeit auf Wachestehen. Daneben fand er Zeit, wissenschaftlich zu arbeiten, wie einige in Crelles Journal und in Poggendorffs Annalen erschienene Arbeiten beweisen.

Auf Grund dieser Abhandlungen und seines guten Lehrerfolgs und

2 Schmidt: Wilhelm Hittorf.

weiter gestützt durch ein glänzendes Zeugnis von Plücker beantragte die Fakultät seine Beförderung zum a. o. Professor, die im Jahre 1852 er- folgte. Das Gehalt betrug 450 Taler.

1856 erhielt Hittorf einen Ruf nach Bern, den er aber auf die Er- klärung des Ministers, daß er geneigt sei, ihn zum Ordinarius zu befördern, ablehnte. Aus dem Gutachten, welches die Fakultät in dieser Angelegen- heit abgab, möge eine Stelle mitgeteilt werden, da sie den jungen, ganz für seine Wissenschaft lebenden Forscher gut charakterisiert: „Über die wissenschaftliche Tüchtigkeit und die ganze wissenschaftliche Haltung des Professors Dr. Hittorf können wir uns nur auf das günstigste aus- sprechen; wir. sind überzeugt, daß er auf der betretenen Bahn fort- schreitend, bald eine hervorragende Stellung in seinem Fache einnehmen wird. Der Beschäftigung mit seiner Wissenschaft und der Forschung nach neuen Ergebnissen unausgesetzt und ausschließlich, selbst mit fast zu großer Zurückziehung von aller Berührung mit dem ‚äußeren Leben ergeben, hat er schon jetzt Leistungen zu Tage gefördert, welche durch ihre Subtilität und Gediegenheit sich die WER IE ihrer rg in hohem Grade erworben haben.“

Am 19. Aug. 1856 erfolgte seine Ernennung zum ‚orlentiidliken “rn fessor der Physik und Chemie. 23 Jahre oder, wenn wir die Zeit als Privatdozent und außerordentlicher Professor hinzuzählen, 32 Jahre hat er unter den schwierigsten äußeren Verhältnissen und mit dürftigen Mitteln‘) dieses doppelten Lehramts gewaltet. Daß es auf die Dauer nicht möglich sei, beide Fächer zu vertreten, erkannte er bald, aber erst im Jahre 1877 wurde eine besondere Professur für Chemie errichtet, die Prof. Oppenheim erhielt. Nach dessen tragischem Tod im Herbst 1877 übernahm Hittorf wieder beide Fächer, bis im Jahre 1878 durch Er- nennung des bisherigen a. o. Professors in der philosophischen Fakultät der Universität Königsberg Dr. Salkowski die Trennung endgültig wurde. Hittorfs Interesse blieb auch jetzt noch der Chemie zugewandt, wie eine Reihe chemischer Arbeiten beweisen.

Aber nicht nur der Ausgestaltung seines Spezialfachs widmete sich Hittorf; mindestens eben so groß waren seine Bemühungen, die Anstalt, an der er wirkte, auszubauen. Und wenn heute Münster als gleich- berechtigte Schwester den älteren Universitäten angereiht ist, so ist das nicht zum kleinsten Teil sein Verdienst.

Noch bedeutungsvoller und nachhaltiger ist sein wissenschaftliches Wirken. „Nicht in der Zahl der in Angriff genommenen Fragen liegt seine Größe, aber in dem scharfen Blick für die Auswahl bedeutungs- voller Probleme, in der gleichmäßigen Beherrschung der chemischen, wie der physikalischen Seite, in ‘der überaus sorgfältigen und: zuverlässigen experimentellen Durchführung seiner Untersuchungen und in der eigen-

1) Noch in den siebziger Jahren betrug der Etat 200 Taler für eine Hilfskraft und 50 Taler für Apparate,

Schmidt: Wilhelm Hittorf. 23

artigen Auffassung, die, meist in schroffem Gegensatz zu den seinerzeit herrschenden Ansichten stehend, doch auf die Dauer durchdrang und sich behauptete.‘ ?)

; Man kann nach meiner Meinung Hittorfs Arbeiten nicht besser charakterisieren, als wie es der Verfasser selbst am Schluß seiner .be- rühmten Arbeit über die Wanderung der Ionen getan hat. Dort heißt es:

„Ich habe mir die Freiheit genommen, die Theorien von Forschern zu erörtern und teilweise zu bekämpfen, deren hohe Verdienste um die Wissenschaft ich nicht weniger, als die eifrigsten Anhänger derselben bewundere. Ich würde mir diese Opposition nicht erlaubt und meine individuelle Auffassung der ihrigen untergeordnet haben, wenn nicht nackte Tatsachen damit in Widerspruch gerieten. Das Bedenken, daß dennoch diese Tatsachen unrichtig sein können, suchte ich durch die Erwägung zurückzudrängen, daß der Fehler alsdann bald und leicht von dem unbefangen Prüfenden gefunden werden wird, und nur mir, nicht der Wissenschaft Nachteil bringen kann. Anders verhält es sich mit den Theorien der Autoritäten. So segensreich sie wirken, wenn sie begrün- det, so unendlich hemmen sie den Fortschritt oft Jahrhunderte lang, wenn sie unrichtig waren.”

Hittorfs Wirken bestand somit zunächst in Opposition und dann in Entwickeln von neuen Anschauungen, die von den herrschenden meist stark abwichen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß seine Arbeiten Ablehnung oder Nichtbeachtung erfuhren. Viele Jahre seines Lebens sind ihm hierdurch verbittert worden, und allmählich befestigte sich in ihm das Gefühl der Untüchtigkeit. Dies ist wohl die Hauptursache gewesen, daß sich ein nervöses Leiden einstellte, von welchem er Heilung in einem Sanatorium suchte. Als sich die Genesung hinzog, wurde ihm auf seinen Antrag im Herbst 1889 der Abschied bewilligt.

Sein Nachfolger wurde Eduard Ketteler. Als dieser im Jahre 1900 starb, hatte sich Hittorfs Gesundheit soweit gekräftigt, daß er die Vor- lesungen und die Direktion des neugebauten physikalischen Instituts übernehmen konnte. So war es ihm zum zweiten Mal beschieden, wieder das Amt seines Nachfolgers zu verwalten. Den Wunsch seiner Kollegen, die Professur definitiv zu übernehmen, lehnte er mit dem Hinweis auf seine 78 Jahre ab. Ein wie jugendlicher Geist aber in ihm steckte, be- wiesen seine bald darauf veröffentlichten Untersuchungen über die Pas- sivität der Metalle, die wieder im schroffen Gegensatz zu den herrschen- den Anschauungen standen. Aber jetzt fanden diese keine Zurückwei- sung und Ablehnung mehr; die Zeit hatte sich geändert. In immer wei- teren Kreisen der Physiker hatte sich die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß nicht nur die experimentellen Grundlagen seiner Arbeiten fest fun- diert seien, sondern daß auch seine theoretischen Ansichten so tiefgrün- dig seien, daß sich viele der später auf anderem Wege gewonnenen Er-

2) Heydweiller.

24 Schmidt: Wilhelm Hittorf.

gebnisse direkt aus ihnen ableiten ließen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Wenn man dieses Wort, das auch für wissenschaftliche Arbeiten gilt, als Maßstab der Beurteilung zu Grunde legt, so muß den Hittorfschen Arbeiten mit der erste Preis zuerkannt werden, denn nicht nur knüpfen an sie zahlreiche andere Forscher an, nein, viele seiner An- schauungen sind so Gemeingut der Physiker geworden, daß man sich große Gebiete dieser Wissenschaft ohne sie gar nicht vorstellen kann.

Es kann nicht meine Aufgabe sein, die Arbeiten Hittorfs eingehend zu schildern, nur kurz will ich, ohne auf eine strenge chronologische Reihenfolge Rücksicht zu nehmen und ohne Vollständigkeit zu erstreben,

ihre Bedeutung und das Eigenartige der in ihnen dargelegten Anschau- ungen zu skizzieren versuchen.

Hittorfs Hauptarbeiten lassen sich in folgende Gruppen einordnen; 1. Elektrochemie. 2. Chemische Dynamik. 3. Durchgang der Elektrizität BE Gase, 4, Passivität der Metalle.

Ich beginne mit seinen elektrochemischen Untersuchungen, die bis auf die erste Münstersche Zeit zurückgehen. Allgemein galt damals die Theorie von Grotthus (1805), nach der unter der Einwirkung der elek- trischen Kräfte der Elektroden die beiden entgegengesetzt geladenen Bestandteile der Moleküle getrennt werden; durch einen Austausch der Bestandteile von Molekül zu Molekül sollte dann die Elektrizitätsleitung stattfinden. Berzelius, Fechner, de la Rive, Amp£re, Schoenbein Magnus und Faraday haben die Theorie auszubauen und zu ergänzen versucht, aber ohne rechten Erfolg, denn völlig rätselhaft blieb unter anderem, weswegen neben der Ausscheidung der elektrisch geladenen Ionen, noch Conzentrationsänderungen auftreten. Hier setzt Hittorf ein. Nachdem er zunächst die Apparate und Methoden ausgearbeitet hatte, um diese Conzentrationsänderungen zu messen, untersuchte er in so mustergül- tiger Weise das ganze Gebiet, daß die Frage nach dem Vorgang, der sich bei der Wanderung der Ionen abspielt, völlig geklärt wurde. Die experi- mentellen Ergebnisse ließen sich nur deuten, wenn man annahm, daß die Bestandteile des Elektrolyts, die Ionen, nicht, wie man bis dahin still- schweigend angenommen hatte, gleiche, sondern ungleiche Wege bei der Elektrolyse zurücklegten. Es ist sein großes Verdienst, diese für die Elektrizitätslehre fundamentale Tatsache erforscht und „die Überfüh- rungszahlen“ für eine Reihe von Stoffen gemessen zu haben. Die sich hieran anschließenden theoretischen Anschauungen Hittorfs standen im schroffsten Gegensatz zu den herrschenden. Er weist darauf hin, daß die Verbindungen, deren Bestandteile nach der damaligen Anschauung durch die größte Verwandtschaftskraft vereinigt seien, am leichtesten sich chemisch austauschen, und parallel hiermit geht die elektrische Leitfähigkeit; er schließt hieraus, daß gerade bei den Verbindungen, die

Schmidt: Wilhelm Hittorf. 25

den Strom leiten, also den Salzen, die Verwandtschaftskräfte sehr klein sind.

Die Schwierigkeit der Messung, infolgedessen eine Nachprüfung nicht leicht war, und die so gänzlich von dem Hergebrachten abweichen- den Ansichten, brachten es mit sich, daß diese Arbeit kaum Beachtung fand. Erst als Kohlrausch (1874) auf ganz anderem Wege zu denselben Ergebnissen gelangte und sie erweiterte, Ostwald (1888) nachwies, daß entsprechend den Hittorfschen Ideen ein strenger Parallelismus zwischen elektrischer Leitfähigkeit und chemischer Verwandtschaft bestünde und schließlich Arrhenius in seiner bekannten Dissociationstheorie die letzten Konsequenzen aus den Anschauungen Hittorfs zog, brach sich immer mehr die Erkenntnis Bahn, daß durch die Nichtbeachtung und Ablehnung seiner Arbeiten Hittorf ein schreiendes Unrecht zugefügt sei.

Hand in Hand mit diesen elektrochemischen Untersuchungen gehen zum Teil seine Arbeiten über chemische Dynamik und Verwandtschafts- lehre. Erwähnt wurde schon, daß Hittorf auf den Parallelismus zwischen chemischer Umsetzung und Leitfähigkeit aufmerksam gemacht hat. Er hat diesen Gedanken, der sich später von großer Fruchtbarkeit erwiesen hat, nicht weiter verfolgt, wohl weil er keine von der Bestimmung der Überführungszahlen unabhängige Methode besaß, um sie zu prüfen. Er erweist sich hierin, wie in allen seinen Arbeiten, als ein überaus vor- sichtiger Forscher. Spekulationen, die nicht durch Tatsachen festbe- gründet waren, hat er nie angestellt.

In dies Gebiet fallen noch drei Untersuchungen: Über die Allo- tropie des Selens (1851), über das elektrische Leitungsvermögen des Schwefelsilbers und Halbschwefelkupfers (1851) und zur Kenntnis des Phosphors (1865). In dem ersten weist er nach, daß diese Stoffe bei be- stimmten Temperaturen Umwandlungen erleiden. Noch besser ließ sich diese Erscheinung beim Phosphor verfolgen. Von Schroetter, dem Ent- decker des roten Phosphors, war nachgewiesen, daß der rote Phosphor, welchen er durch längeres Erhitzen von gelbem auf 260° darstellte, bei höherer Temperatur wieder in gelben überging. Diese Verhältnisse untersuchte Hittorf genauer. Er stellte zunächst fest, daß der rote Phosphor, wie jeder flüchtige Stoff sich in Dampf verwandelt, bis dieser eine gewisse Dichte angenommen hat; indem der Dampf sich als gelber Phosphor verdichtet, findet die Umwandlung statt. Hittorf untersuchte weiter den Einfluß der Temperatur auf die Umwandlung; er fand, daß sich nicht nur bei 260°, wie Schroetter angab, sondern viel schneller bei höheren Temperaturen der rote Phosphor aus dem gelben bildet.

Diese Arbeiten lieferten einen schönen Beitrag zur chemischen Kinetik. Sie sind der Ausgangspunkt der umfangreichen Untersuchun- gen von Troost und Hautefeuille, Lemoine usw. geworden, die in allen wesentlichen Punkten die Ergebnisse Hittorfs bestätigt haben.

Den Höhepunkt der experimentellen Arbeiten Hittorfs bilden seine Untersuchungen über den Durchgang der Elektrizität durch verdünnte

26 Schmidt: Wilhelm Hittorf.

Gase, Bekanntlich vermag ein hochgespannter Strom z. B. eines Induk- toriums verdünnte Gase zum Leuchten zu bringen. Der Strom besteht in diesem Fall aus einzelnen Stromstößen, er ist diskontinuierlich, und allgemein war man der Meinung, daß Gase nur durch diskontinuierliche Entladung zum Leuchten gebracht werden können und daß der Strom nur diskontinuierlich durch das isolierende Gas hindurchzudringen vermöge. Wie so häufig, war Hittorf anderer Ansicht; er sah klar den Zusammenhang zwischen den in Geisslerschen Röhren leuchtenden Gasen und dem kontinuierlichen Übergang der Elektrizität in der Bogen- lampe. Um diese Ansicht zu prüfen, bedurfte er einer großen: Batterie; unter unsäglichen Mühen konstruierte. er zum größten, Teil allein seine große Chromsäuretauchbatterie. Da das Semester große Anforderungen an seine Vorlesungstätigkeit stellte, benutzte er die Ferien, und unbe- kümmert um die in dem nicht geheizten Laboratorium herrschende Win- terkälte stellte er sie zusammen. Wieviel Mühe und Arbeit diese Unter- suchung gekostet, kann nur der .ermessen, der erwägt, daß Hittorf auch alle Hilfsapparate, wie Widerstände, Elektroden usw. konstruieren und auf ihre Brauchbarkeit ausprobieren mußte, ehe.er an die eigentlichen Versuche gehen konnte. Der Erfolg lohnte die Arbeit. Nicht nur konnte Hittorf überzeugend nachweisen, daß seine Ansicht richtig war; neben vielen anderen neuen Ergebnissen fiel ihm eine große Entdeckung zu, nämlich die der von der Kathode ausgehenden Strahlen, der sogenannten Kathodenstrahlen. In so mustergültiger Weise hat er sie durchforscht, daß er alle ihre wesentlichen Eigenschaften klarlegte.

Auch in theoretischer Hinsicht bedeuten diese Arbeiten einen un- geheuren Fortschritt. Hittorf erkannte, daß der Vorgang, welcher in den durchströmten Gasen vor sich geht, analog ist dem Vorgang, den er bei der Elektrolyse aufgeklärt hatte, Diesen Gedanken drücken wir heute aus, indem wir sagen, die Gase sind ionisiert.

Auch diese Arbeit fand keine Beachtung; so konnte es kommen, daß Crookes (1874) dieselben Strahlen entdeckte und als neu beschrieb. Nur eine einzige Eigenschaft fand der englische Forscher, die Hittorf nicht beobachtet hatte, nämlich die mechanische Wirkung, und die war, wie Hittorf überzeugend nachwies, falsch.

Durch diese Arbeit hat Hittorf die bedeutungsvollen Fortschritte auf dem Gebiet der elektrischen Gasentladungen angebahnt und ermög- licht. Und wenn man erwägt, wie viele epochemachenden Entdeckun- gen sich an die Kathodenstrahlen anknüpfen ich erwähne nur die Röntgenstrahlen, die Becquerelstrahlen, das Radium, ferner unsere mo- derne Auffassung über das Wesen der Elektrizität, so kann man diese Untersuchung Hittorfs nicht hoch genug werten, Auch für viele Teile der Spektralanalyse, der Hittorf durch den Nachweis, daß ein und dasselbe Gas verschiedene Spektren auszusenden vermag, ebenfalls neue Bahnen gewiesen, bilden sie die Grundlage.

78 Jahre war Hittorf alt, als er die Direktion des physikalischen

Schmidt: Wilhelm Hittorf. 27

Instituts zum zweiten Male seinem Nachfolger, Prof. Heydweiller, über- gab. Wohl ein jeder hätte erwartet, daß er sich jetzt der wohlverdienten Ruhe hingeben würde. Doch wieder überraschte er die wissenschaft- liche Welt mit Arbeiten, deren theoretische Folgerungen im schärfisten Gegensatz zu den herrschenden Anschauungen standen. Es sind dies seine Untersuchungen über die Passivität der Metalle. So sicher schien die Hypothese zu sein, daß der passive Zustand von einer Oxydschicht herrühre, daß kaum jemand es der Mühe für wert hielt, sie weiter zu prüfen. Durch eine Reihe von Versuchen konnte Hittorf nachweisen, daß sie nicht haltbar sei. - Zu gleicher Zeit förderte diese Arbeit eine Fülle von neuen Tatsachen ans Licht. Auch an diese Untersuchung knüpfen eine große Anzahl von neuen Arbeiten an.

Überblickt man diese Leistungen, so wird man sich der Bewunde- rung nicht entziehen können. Spät ist die Anerkennung gekommen, aber dafür kam sie voll und ganz. Die hervorragendsten gelehrten Gesell- schaften des In- und Auslandes, der Orden pour le me£rite, der bayrische

iansorden usw. zählen ihn mit Stolz zu ihren Mitgliedern. Er ist Ehrendoktor der medizinischen Fakultät Leipzig und der math.-natur- wissenschaftlichen Fakultät Straßburg, und als er vor 10 Jahren sein SOjähriges Professorenjubiläum feierte, wurde er als einer der ersten von den technischen Hochschulen Berlin und Hannover zum Dr.-ing. hon. c. ernannt.

Mit Stolz und Bewunderung blickt unsere Universität auf ihn. Durch ihn ist sie berühmt geworden; durch seine Arbeiten und durch ‚seine hochherzige re ist sein Name für ewige Zeiten mit ihr verknüpft.

Wir Kollegen, die ihm auch persönlich näher treten, und seinen scharfen Verstand, seine unbeugsame Wahrheitsliebe und seinen be- scheidenen Sinn erkennen durften, werden das als einen Gewinn für Lebenszeit betrachten.

Und wenn in diesen Tagen die Physiker von nah und fern sich an seiner Arbeitsstätte vereinigen, so wird sicherlich nur ein Gefühl sie alle beherrschen, das des Dankes für die Lebensarbeit ihres großen Meisters.

Über die Beteiligung der Luft an der Emission des Lichtbogens bei Atmosphärendruck.')

Von Heinrich Konen.

Inhalt: 1. Vorbemerkungen. 2. Die benutzten Apparate. 3. Das Beobach- tungsmaterial. 4. Emission des Stickstoffs, 5. Emission des Sauerstoffs und des Wasser- stoffs, 5. Emission des Kohlenstoffs. 6. Zusammenfassung.

1. Im Folgenden soll nur die Emission des Gleichstromlichtbogens bei Atmosphärendruck behandelt werden. Eine vollständige Diskussion aller in Frage kommenden Erscheinungen würde die Heranziehung der spektralen Eigenschaften zahlreicher anderen Lichtquellen, insbesondere des Wechselstrombogens, des Funkens und der Glimmentladung bei ver- schiedenen Drucken erfordern. Davon soll an dieser Stelle abgesehen werden, |

Über die Teilnahme der Luft an der Emission von Bogenentladungen liegen bereits zahlreiche zerstreute Notizen vor, die in der Mehrzahl die Oxydationsvorgänge im Bogen sowie den Ursprung der Spektra des Cyans und des Kohlenstoffs betreffen, Weiter sind einige Male Beobachtungen über das Auftreten der Bandenspektra des Stickstoffs gemacht worden, Das Auftreten der Wasserstofflinien in einem in Wasserstoff oder Wasser- dampf brennenden Bogen ist mehrfach beschrieben worden. Endlich lie- gen einige sich widersprechende Angaben über die Emission der Wasser- dampfbanden bei Atmosphärendruck vor. Weiter unten komme ich auf diese früheren Beobachtungen noch zurück. Sieht man von den Spektren des Cyans und des Kohlenstoffs selbst (sogenannte Kohlenstoffbanden) ab, so ist jedoch das Auftreten der genannten Spektra bisher nicht genauer untersucht worden, und es scheint insbesondere nicht bemerkt worden zu sein, daß die Emission der Bestandteile der Luft im ultravioletten Teile des Spektrums bei den meisten Lichtbogen eine bedeutende Rolle spielt, ja, unter Umständen überwiegt.

2. Zur Untersuchung der Bogenspektra benutzte ich in erster Linie einen aus Mitteln der Jagorstiftung beschafften und nach meinen Angaben von Töpfer-Potsdam konstruierten Quarzspektrographen. Derselbe be- sitzt ein sehr großes und besonders gutes Cornusches Prisma und ist vor- läufig mit einfachen Quarzlinsen von 60 cm Brennweite (4 5890) ausge- stattet. Demnächst wird der Collimator mit einem Quarzsteinsalzachro-

1) Die Untersuchung ist mit Hülfe von Apparaten ausgeführt worden, deren Be- schaffung durch Mittel der Jagor-Stiftung ermöglicht wurde. Ich darf nicht unterlassen, dem Kuratorium der Jagor-Stiftung auch an dieser Stelle für die Bewilligung zu danken.

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen. 29

maten, die Camera wird mit einem Hartmannschen Chromaten, beide von Zeiß, versehen sein. Die mechanische Ausführung des Instrumentes un- terscheidet sich von anderweitig beschriebenen Instrumenten in mannig- facher Weise. Auf möglichste Stabilität und kontrollierbare Feinregulie- rung aller beweglichen Teile ist das größte Gewicht gelegt, so daß es möglich war, unter Benutzung der bei Astro-Spektrographen bewährten Methoden eine systematische Untersuchung des ganzen Instrumentes und der Funktion’aller seiner Teile durchzuführen. Über die Einzelheiten der Konstruktion, der Prüfung des Instrumentes und der Justierung soll an anderer Stelle ausführlich berichtet werden.

Weiter wurden zwei Concavgitter benutzt, von denen das kleinere von 180° cm Krümmungsradius und 20000 Strichen pro inch nach der von mir bei der Aufstellung der großen Gitter in Bonn mit sehr befriedigendem Erfolge erprobten modifizierten Abneyschen Methode montiert ist’) wäh- rend das größere, von Herrn Ames mir geliehen, aus Mangel an einem ge- eigneten Raume provisorisch aufgestellt ist. Dazu ist das Gitter auf einem steinernen Wandsockel montiert, während sich der Spalt und zwei Ka- meras auf Steinpfeilern befinden, die auf dem Boden des im ersten Stocke gelegenen Zimmers aus mehreren Stücken aufgebaut sind. Die beiden letztgenannten Instrumente sind bereits von einigen meiner Mitarbeiter benutzt und von ihnen kurz beschrieben worden.) «

Zu den Gitteraufnahmen wurden 50 cm lange Platten aus dünnem, biegbarem Glase mit passender Sensibilisierung benutzt. Die beim Quarz- spektrographen verwendeten Reproduktionsplatten haben das Format 9x 24 cm. Sie sind aus Spiegelglas, lichthoffrei und wurden besonders vorsichtig behandelt, um die bei der Schrägstellung der Platten sehr schädliche Diffusion in der Schicht und Reflexe zu vermeiden. Einzel- heiten seien an dieser Stelle wieder übergangen.

Zur Ausmessung der Platten diente eine aus Mitteln der Hittorf- stiftung beschaffte, von Heele-Berlin nach meinen Angaben gebaute Meß- maschine, Dieselbe ist bereits von Papenfus‘) in seiner Dissertation beschrieben und nach der Methode von Zurhellen°) untersucht wor- den. Inzwischen ist die Maschine jedoch durch Einbauung einer Regi- striervorrichtung, Überarbeitung der ganzen Schraube und Änderung des Mikroskopes verbessert worden. Ich habe daher die Maschine erneut untersucht, und zwar indem ich als Hülfsskala einen Zeißschen Maßstab benutzte, den mir die Direktion des Bonner physikalischen Institutes zu diesem Zwecke lieh. Es wurden so die fortschreitenden Fehler von Zeit zu Zeit gemessen und kontrolliert. Sie zeigen einen sehr gleichmäßigen Gang und übersteigen auf eine Strecke von 5 cm nicht 1 u, so daß die Schraube als sehr gut bezeichnet werden muß und Korrektionen bei der

2, H. Konen, Zs, wiss. Phot, 1, p. 325—342, 1903.

®) Vergl. z.B. H. Finger, Zs. wiss. Photogr. 7, p. 329-356, 369392 (1909). ») F.Papenfus, Zs, wiss. Photogr. 9, p. 332—346, 349360 (1910).

5) W. Zurhellen, Astron. Nachr. 172, No. 4105-4106, p. 1—20, 1906.

30 Konen: . Emission der Luft im Lichtbogen,

Messung relativer Längen unter 5 cm überflüssig sind. Dasselbe gilt für den periodischen Fehler, der mittels einer von Zeiss in 0,01 mm geteilten Glasskala gemessen wurde, wiederum nach dem Verfahren von Zurhellen.

Die Schärfe der Aufnahmen mit dem Quarzspektrographen und die Größe der Dispersion im Ultraviolett gestatten eine Genauigkeit der Aus- messung, die den Resultaten von Drei-Prismen-Spektrographen der üb- lichen Form bei astrophysikalischen Messungen im Bereiche A 4000-—4800 nicht nachsteht. Durch die neueren Bestimmungen tertiärer Normalen sind die für Messungen an Gitterspektrogrammen geltenden Genauigkeits- grenzen bekannt genug, so daß es sich erübrigt, hier darauf einzugehen.

Bei der Herstellung der Bogen wurden die meisten Elemente be- rücksichtigt. Soweit es möglich war, wurden Elektroden aus dem betr. Material benutzt, So wurden Bogen hergestellt zwischen Elektroden aus Kupfer, Silber, Platin, Magnesium, Calcium, Aluminium, Thallium, Kohle, Zink, Cadmium, Zinn, Blei, Eisen, Nickel, Cobalt, Chrom, Mangan. Andere Elemente wurden auf Kohle- oder Kupferstäbchen untersucht. Ich nenne hier besonders die Alcalien, Mangan, Silicium, Bor, Vanadium und die seltenen Erden. Die Stromstärke schwankte zwischen 1 und 20 A, Der Strom wurde dem städtischen Netz und zwar dem + 220 Zweige, ent- nommen. Die Bogenlänge wurde zwischen Bruchteilen eines Millimeters und mehreren Zentimetern variiert.

In der Regel brannte der Bogen in Luft. Doch wurden auch zahl- reiche Bogenaufnahmen hergestellt, bei denen der Bogen in trockener Luft oder in reinem Wasserdampf oder unter Wasser brannte. Ein Bild des Bogens wurde auf dem Spalt entworfen, so daß bei dem Quarzspektro- graphen, der nur einen sehr geringen Astigmatismus zeigt, die erhaltenen Spektrogramme zugleich ein Bild der Verteilung der Emission in der Ver- bindungslinie der beiden Elektroden geben. Die Expositionszeiten wur- den in weiten Grenzen variiert, In vielen Fällen wurden die bekannten Bogenlinien des betr. Elementes als Normalen benutzt. Wo dies nicht zu genügen schien, wurden mittels einer Hartmannschen Spaltblende zwei Bogenspektra des Eisens oder im Ultraviolett des Kupfers als Vergleichs- spektra neben dem zu untersuchenden Spektrum aufgenommen. Dies gilt für den Quarzspektrographen. Bei den Gittern wurde eine zweite Auf- nahme gemacht, indem eine Hälfte des Spaltes bedeckt wurde.

3, Wenn es mir auch in den meisten Fällen möglich war, durch Ver- gleich der verschiedenen Aufnahmen untereinander und mit publizierten Spektren eine sichere Identifizierung der auftretenden Linien und Banden auszuführen, so habe ich mich doch nicht damit begnügt, sondern in allen Fällen zugleich die Wellenlängen gemessen. Einige der so erhaltenen Zahlen wird man weiter unten genannt finden. Für das vollständige Ma- terial ist an dieser Stelle kein Raum, Ich begnüge mich daher mit einer Probe und wähle dieselbe aus den mit dem Quarzapparate erhaltenen Auf- nahmen. Zugleich mache ich einige Bemerkungen über die Methode der Ausmessung, die mir deshalb von Interesse erscheinen, weil Angaben über

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen. 31

die Ausmessung von Aufnahmen mit Quarzinstrumenten in der Literatur noch sehr spärlich vorliegen, weil ferner die Genauigkeit der Messung an derartigen Aufnahmen gewöhnlich unterschätzt und nicht ausgenutzt wird und endlich, weil das Verhalten der mit Quarzinstrumenten aufgenom- menen Spektrogramme: in verschiedener Hinsicht von demjenigen der so vielfach untersuchten astrophysikalischen Aufnahmen abweicht.

In der folgenden Tabelle findet man in der ersten Spalte unter R die Schraubenablesungen. Sie sind das Mittel aus vier Einstellungen mit einfachem Faden auf die Mitten von Linien, und beziehen sich auf Linien des Bogens zwischen Kupferstäben. Es ist eine Platte von mittlerer Güte gewählt. Bei viermaliger Ausmessung mit wechselnder Meßrichtung be- trägt der mittlere Fehler der unter R stehenden Werte 0,001—0,002 u bei einfachen Linien. Dabei bezeichnen die unter R stehenden Zahlen Millimeter (nicht wegen der Temperatur korrigiert). Die Zahlen wachsen mit der Wellenlänge. Es sind nur wenige gemessene Linien angeführt. Um leichter einen Vergleich mit den früheren Messungen ausführen zu können, habe ich als Normalen die Wellenlängen des Kupferbogens nach Exner und Haschek‘) benutzt. Dieselben stehen in der zweiten Spalte der Tabelle unter E. und H. Die mit Bd bezeichneten Zahlen be- deuten die Kanten von nach Violett abschattierten Banden. Von ihnen wird weiterhin noch die Rede sein.

Zur Umrechnung der Schraubenablesungen in Wellenlängen benutzte ich die Hartmannsche Formel, indem ich die vonHartmann’) selbst und von Eberhard‘) gegebenen Rechenregeln anwendete. Die Hart- mann-Cornusche Formel lautet bekanntlich:?)

c 1 et fe le

Hier bedeuten } ,c,s,und « Konstanten. Bei den meisten bisher be- nutzten Spektrographen hat « Werte zwischen 1 und 05. Nach Schnie- derjost,“) Eder und Valenta,“) Joye”) u. a. soll man bei Quarz- spektrographen mit dem Werte «=1, also der vereinfachten Formel:

c As kg

auskommen. Daß dies jedoch zum mindesten bei dem von mir benutzten Instrumente nicht zutrifft, wird sich sogleich zeigen. Auch erklärt sich

%)F.Exner-undE.Hasche k, Wellenlängentabellen etc. 2. Aufl. Wien (1911).

7) J.Hartmann, Astron. Nachr. 155, No. 3702—3704, p. 81—118 (1901).

8) G. Eberhard, Publ. Astrophys,. Observ. Potsdam, No. 54, Bd. 18, p. 1 bis 107 (1907).

9 J. Hartmann, Publ. Astrophys. Observ, Potsdam, No. 42, Anhang zu Bd. 12, P- 1-25 (1898).

ı) J. Schniederjost, Dissertation. Halle 1904.

A Rer, J. M. Eder u, E. Valenta, Beiträge zur Photochemie etc, Wien 1905,

2 :

ı) P, Joye, Diss. Freiburg (Schweiz) 1909,

32 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen,

aus diesem Umstande vielleicht die geringe Genauigkeit der bisherigen Messungen mit einem Quarz-Prisma.

Das Rechnungsverfahren gestaltet sich nunmehr wie folgt: Zur Be- rechnung der Formel wurden die Wellenlängen A =3208,30, == 2618,46 und 4 =2303,20 mit den zugehörigen in der Tabelle durch den Zusatz von * bezeichneten Schraubenablesungen R= 138,318, R= 95,373, R= 56,679 benutzt.

Es werde zunächst etwa « =0,5 gesetzt. Durch einiges Probieren findet man als plausiblen Wert für A, = 1400. Berechnet man hiermit aus der ersten und dritten Linie s,, so ergibt sich s,' =— 335,059, log (— c) —=3,9225302. Der letzte Wert liefert wiederum mit Hülfe der zweiten Linie s,” 335,049 somit sy’ 5," = 0,010.

In der gleichen Weise erhält man aus dem Änsatze 4 —= 1398,72 den Wert s,’ s,” = 0,002 während 4 = 1398,79 liefert s,’ s,”" = + 0,003. Die Anwendung der regula falsi ergibt schließlich die definitiven Werte

), = 1398,92; s, = 335,259; log (— c) = 3,923 1010.

Man findet die mit Hülfe dieser Konstanten berechneten Wellen- längen in der vorletzten Spalte der Tabelle unter 4 (@«—=0,5) eingetragen, während die letzte Tabelle die Abweichungen gegen die Zahlen von Ex- ner und Haschek angibt. Es erhellt ohne weiteres, daß von einer Darstellung der Wellenlängen durch die Formel nicht die Rede sein kann, ferner aber auch aus dem Wechsel des Vorzeichens der Fehler, daß man die Formel durch Wahl eines anderen Wertes von « verbessern kann.

Es werde daher der gleiche Versuch mit dem Werte «@ =] gemacht, der, wie oben bemerkt, bisher allein bei der Berechnung der Wellen- längen mittels Quarzspektrographen benutzt worden ist. Man erhält die folgenden Konstanten:

1, = 983,86; s, =— 257,366; log (— c) =5,423 0404.

In der Tabelle sind die mittels der neuen Formel erhaltenen Wellen- längen unter 4 («=1) eingetragen, dahinter die Differenzen gegen Exner und Haschek. Diese Spalte zeigt, daß die einfache Hartmannsche Formel die Messungen nicht darstellt, daß aber eine weitere Verbesserung möglich ist.

In der gleichen Weise erhält die Spalte unter 4 («—=1,2) die Werte der Wellenlängen, die mit dem Ansatz «—1,2 erhalten wurden, der zu den Konstanten:

1, 816,42; s, = 244,430; log (—c) = 6,080 2600

führt. Die Differenzen gegen Exner und Haschek würden sich durch die Wahl einer anderen Mittellinie noch verringern lassen, sind jedoch immer noch sehr beträchtlich. Da sie sich nur langsam mit « ändern, genügt es, für «@ einen runden Wert einzusetzen,

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen.

‘09 000 F 08'2083 000 F 08°6083 000 F 02'8083 00°0 7 08'8083 088083 619°99 « 298988 pa 01r°% 20'6982 pda 891°9 #o+ 20'6983 180 + 99°6983 130 + 08'69€3 0o— 10'0L83 166983 008°9 60T + 821683 sro+ 78'683 880 + BP’Z6E2 00 + LL'3688 88°2683 91869 171 + 68'098 swo-+ L8°9095 870+ 89'908 100 189078 08°9098 68% 1 aıH+ 03°0Fr3 80 + LU'TPPZ 180+ Ir’1972 00°0 F gL’Tprg GL Ipr8 G89"8L gr LirZ pg 8300 08'827 pa 16108 801 + 13'1673 wwo0-+ LUT6PE 950+ 861658 00F 18'367% v2'3678 g4218 192893 pa 3783 96'9693 pa 1or'E 000 + 97°8198 000 F 99°8198 000 F 99°8193 300 8P'8193 978192 E22'06 « 91.0123 pg 990° 08'082 pa 2867 BIT 68'8918 990 L11922 gu #8'9923 200-+ 679923 19'992 8L8'801 3 26'9082 860 899287 670 667283 200 349283 097283 rıg’E 98 06'9883 201 21788 190 19'£888 100+ 60'8888 01'8888 8T0'8TL ste 977963 81 £9'2968 0 86'1908 800 £8'1963 18'1963 Leg°8 183 968108 4 Ba ST’310€ 90 EI’TIOR 100+ 86°0108 66'0108 808'9 ws— 90°6808 si, + FE2808 0 G8"9808 000 7 88'9808 83°980€ 60F’8zl 183 88'9963 901 09°F908 190 CT’F908 200 998908 »9'8908 860'0 18% 879608 060 20'0608 370— F9'F608 00°0 + 317608 317608 866°T 180 EI FEIE et0— SEF6IE 170 BEFEIE 200 08P6IE SE’ 7618 198°, 000 F 08'8038 000 7 08'8088 00°0 F 08'808 000 F 08°803€ 08'8088 6IE'SET « m [ro =»]r w lı=»]y w ßı=»]r w [et=»]lr | [upun 'glr u

= EEE

Festschrift z. 84. Versammlung Deufscher Naturforscher u. Ärzte.

34 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen,

Die erneute Anwendung der regula falsi führt nun auf den Wert «—=1,5, für den sich in. der gleichen Weise wie oben die Konstanten

2,—=565,00; , =— 231,591; log (— c) =17,102 9711 berechnen.

Die hiermit ermittelten Werte von 4 findet man in der Kan Spalte unter 4 =1,5) eingetragen, dahinter wiederum die Differenzen gegen Exner und Haschek. Die Abweichungen wechseln nunmehr ohne Regel das Vorzeichen. Ihre Summe ist gleich 0,02 A. Nur zwei- mal übersteigen die absoluten Werte der Abweichungen 0,01—0,02 A. In diesen beiden Fällen liegen jedoch besondere Verhältnisse vor. Denn die Linie A 2370 fällt fällt mit einer Bandenkante zusammen und ist aus die- sem Grunde weniger genau meßbar. Die Linie 4 2392 ist aber bereits von früheren Beobachtern sehr verschieden gemessen worden. So geben Kayser und Runge A 2392,71, Exner und Haschek selbst im Funken sogar 4 2392,71, so daß der Wert der Bogenlinie bei Exner und Haschek zweifel- los zu groß ist. Der Grund für die Abweichungen liegt vermutlich in dem Auftreten einer Funkenlinie bei 4 2391,81, die im Bogen nur in der Nähe des negativen Poles oder in kurzen Bogen auftritt und bei mäßiger Dis- persion die Einstellung auf die Linie A 2391,77 erschwert, Dies äußert sich auch darin, daß der mittlere Fehler der Schraubenablesung für diese Linie ungewöhnlich groß ist und 3,5 u beträgt.

Es ist also erlaubt, die beiden genannten Abweichungen als Aus- nahmen anzusehen und außer Betracht zu lassen. Dann folgt, daß die Ab- weichungen gegen Exner und Haschek niemals 0,02 A, übersteigen. Da nun die Fehler der E.-H.-schen Normalen selbst von der Ordnung 0,01—0,02 A. sind, ja, vielfach erheblich größere Beträge erreichen, da ferner nur eine einzige Platte von mäßiger Güte in diesem Beispiel von mir benutzt worden ist, deren Expositionszeit nicht mit Rücksicht auf die Schärfe der Bogenlinien des Kupfers, sondern mit Rücksicht auf die gleich- zeitig auszumessenden Banden gewählt wurde, so folgt:

1. daß es mittels eines einzigen Quarzprismas möglich ist, unterhalb 3200 Wellenlängenmessungen auszuführen, die die Hundertel A. sicher liefern;

2. daß die Normalen von Exner und Haschek auch für die Messung mit kleinen Prismenspektrographen nicht genau genug sind;

3. daß die einfache Hartmann-Cornu'sche Formel zur Berechnung von Messungen mit Quarzspektrographen nicht genügt. Es lassen sich je- doch die Messungen innerhalb der Beobachtungsfehler und über Strecken von mehr als 1000 A., mit einer linearen Ausdehnung von über 8 cm, genau darstellen, wenn man den Exponenten « größer als 1 wählt.

Ich füge noch hinzu, daß es mir nicht möglich war, mittels der ob- jektiven Meßmethode, wie sie Joye*“) in Anlehnung an Exner und

i2) P, Joye, Dissertation, Freiburg (Schweiz) 1909,

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen. 35

Haschek benutzt hat, Wellenlängenmessungen mit Prismenaufnahmen auszuführen, die die Zehntel A. sicher gegeben hätten.

Hier habe ich nur ein einziges Beispiel angeführt. Zahlreiche weitere Messungen haben mich überzeugt, daß man bei guten Platten die Fehler- grenze bis auf wenige Tausentel A. herabzudrücken vermag. Aus Mangel an Raum übergehe ich im Folgenden die Messungen, auf die sich meine Identifizierungen stützen. Sie sollen in anderem Zusammenhange publi- ziert werden.

Dagegen bedarf es noch einer Erklärung für die mitgemessenen Ban- denkanten. Die Banden sind nach kurzen Wellen abschattiert. Je vier Kanten bilden eine Bandengruppe. Mit Sicherheit sind 9 Gruppen zu unterscheiden. Unterhalb 4 2500 sind die. Banden anscheinend vollstän- dig aufgelöst. Oberhalb 4 2500 ist die Auflösung weniger vollständig. Es fließen Gruppen von Einzellinien zusammen. Die ersten Gruppen der Banden sind von den „Wasserdampf-Banden” überdeckt, von denen wei- ter noch die Rede sein wird, und daher nur unsicher zu messen. Von den übrigen Banden wurden zahlreiche Einzellinien und die Kanten gemessen. Nur die letzteren sind in der abgekürzten Tabelle genannt. Ich stelle im folgenden die angeführten Bandenkanten mit Messungen zusammen, die Schniederjost“”) an Geißlerröhren mit Stickstoff, Eder und Valenta“) an dem Spektrum einer Ammoniak-Sauerstoffflamme aus- geführt haben, während sich die Zahlen von Deslandres“) wiederum auf eine Stickstoffröhre beziehen. Alle Messungen sind mit Prismen- apparaten ausgeführt.

Konen Schniederjost Eder und Valenta Deslandres

2720,20 2722,43 2718,3 2721,7

2710,76 2713,63 2710,0

2595,96 2595,80 2594,7 2596,8

2587,61 2587,59 2586,8

2478,80 2478,80 2478,0 2479

2477,43 2477,59 2476,6

2370,38 2370,7 2370,3

" 2369,07 2369,09 2369,9

2363,57 2363,58 | 2364,1

u. sw.

Aus der Übereinstimmung der Wellenlängen der Kanten sowie aus der Übereinstimmung der Abbildungen und Beschreibungen mit meinen Aufnahmen schließe ich, daß das im Kupferbogen auftretende Banden- spektrum dasselbe ist, das Deslandres und Schniederjost in

“#) J. Schniederjost, Dissertation. Halle 1904. Fehlergrenze + 0,1—0,2 A.

=) J.M.EderuwE.Valenta, Atlas typischer Spektren. Wien 1911. Text p. 10. Fehlergrenze 0,2 A.

“) H. Deslandres, Ann. chim, et phys. (6) 15, p. 5-86 (1888). Fehlergrenze

Br A. Siehe auch H. Deslandres u. A. Kannapell, C. R.. 139, p. 584-591

3*+

36 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen.

Vacuumröhren mit Stickstoff, Eder und Valenta in einer Sauerstoff- Ammoniakflamme beobachtet haben.

Während im Bereiche der kürzeren Wellen die Übereinstimmung zwischen den von Schniederjost gemessenen Wellenlängen und den von mir gemessenen recht gut ist, treten beim Übergang zu längeren Wellen so starke Abweichungen auf, daß sie die Fehlergrenze der Messun- gen um das Hundertfache überschreiten. Auch fehlt die Kante bei 4 2370 in meiner Tabelle. Dieser letzte Umstand erklärt sich zunächst aus der Anwesenheit der starken Kupferlinie bei A 2370, die die Kante überdeckt. Die übrigen Abweichungen sind weniger Differenzen in der Messung als Differenzen in der Auffassung der Kanten. Denn wenn man zu längeren Wellen übergeht, werden die Kanten immer undeutlicher. Ihr Zwischenraum füllt sich mit zahllosen Linien von nahezu gleicher Intensität aus, so daß man, wie so oft in ähnlichen Fällen, bei der Messung in Zweifel bleibt, welche Linie man als das Ende der Bande ansehen soll. Dazu kommt die Tatsache, daß bei den fraglichen Banden, wenn man sie im Bogen erzeugt, der Intensitätsabfall von der Kante ab ein anderer ist, als wenn man Wechselstrom-Entladungen durch Röhren mit unreinem Stickstoff gehen läßt. Ich habe über diesen Gegenstand zahlreiche Ver- suche angestellt, die ich in anderem Zusammenhange beschreiben werde. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es, daß die Unterschiede der Messungen im Bereiche der längeren Wellen in Eigentümlichkeiten der Banden ihre Ursache haben. Doch sei noch bemerkt, daß die Schwierig- keit noch vergrößert wird, wenn man statt des Quarzspektrographen ein großes Gitter anwendet. Wie schon des öfteren bemerkt worden ist, verschwindet auf derartigen Aufnahmen jede Spur der Bandenkanten.

Dies eine Beispiel mag genügen, um die Art der Messungen zu kenn- zeichnen. Ich wende mich nun zu den einzelnen Spektren.

4, Der Stickstoff der Luft beteiligt sich in mehrfacher Weise an der Emission des Gleichstrombogens. Zunächst bildet er mit einigen Elektrodenmaterialien, z. B. der Kohle, Verbindungen, unter denen das Cyan bekanntlich eine besondere Rolle spielt. Ich gehe hier auf das vielfach untersuchte Cyanspektrum nicht weiter ein und bemerke nur, daß schon die in der Luft vorhandene Kohlensäure genügt, um in den meisten Bogen die Banden des Cyans hervorzubringen. So fand ich im Bogen zwischen Kupfer-, Silber- und Platinelektroden, die, so weit es auf chemischem Wege überhaupt möglich ist, gereinigt waren, stets die Bande 4 3884 sowie Spuren der Bande 4 3590.”) Diese Banden ver- schwinden bis auf geringe Spuren, wenn der Bogen in einem von Kohlen- säure befreiten Luftstrome brennt. Entfernt man den Stickstoff, so sinkt gleichfalls die Intensität der „Cyanbanden” sehr stark, wenn es auch bei

1) A. Hagenbach schon hat diese Beobachtung gemacht (Physik. Zs. 10, p. 649—617, 1909).

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen. 37

der Empfindlichkeit der Reaktion nicht möglich ist, sie auf diesem Wege ganz zu unterdrücken.

In zweiter Linie sind die Banden zu nennen, deren Kanten bereits in dem oben besprochenen Beispiel angeführt sind. Diese Banden, die sogenannte dritte Stickstoffgruppe, werden in der Regel einer Verbindung des Stickstoffs mit dem Sauerstoff zugeschrieben. Sie treten stark auf in unreinen Stickstoffröhren, ferner in der Flamme des verbrennenden Ammoniaks, in der Cyanflamme, sowie im Wechselstrombogen bei hoher Spannung. Liveing und Dewar“) haben die Banden gelegentlich auch in einem in einem Magnesiablock brennenden Kohlebogen beob- achtet, Hagenbach*) hat sie bei verschiedenen Drucken, namentlich bei vermindertem Drucke, im Kupferbogen photographiert. Aus den obigen Messungen geht nun hervor, daß die Banden im Kupferbogen in der Tat mit den sogenannten Stickstoffbanden der dritten Gruppe identisch sind, Im Kupferbogen füllen sie den ganzen Grund des Spek- trums von 3000 abwärts bis zu der unteren Grenze des Spektrums mit ihren Linien. In der gleichen Stärke findet man sie in dem in Luft brennenden Silberbogen. Ihre Intensität wird relativ um so größer, je länger man den Bogen macht. Läßt man den Bogen in Wasserdampf oder unter Wasser brennen, so verschwinden sie. Auch der gewöhnliche Kohlebogen liefert die genannten Banden regelmäßig mit bedeutender Intensität, ferner Bogen zwischen Stäben aus Magnesium oder Calcium. Dagegen verschwinden die Banden, wenn man Alcalimetalle oder deren Salze in den Kupfer- oder Kohlebogen einführt. In den Bogenspektren des Eisens, Nickels, Thalliums, Bleis, Cadmiums, Zinks und Aluminiums konnte ich die Banden nicht oder nur spurenweise nachweisen. Auch Platinelektroden zeigten die Banden nicht; doch ist dieser Versuch wenig beweisend, da mir nur dünne Platinelektroden zur Verfügung standen und daher die Expositionszeit sehr kurz gewählt werden mußte. Eine Regel für das Auftreten der Banden der dritten Stickstoffgruppe bei gleichen Bedingungen läßt sich kaum aufstellen. Es scheint, daß das Auftreten der Banden der Spannungsreihe bezw. der Oxydierbarkeit der Metalle folgt. Je größer diese ist, um so geringer ist die Intensität der Banden. Diese Auffassung paßt zu der Tatsache, daß in Geißlerröhren die Anwesenheit von Sauerstoff für das Auftreten der Banden bei Stick- stofffüllung notwendig ist und ferner dazu, daß die Banden um so inten- siver werden, je länger der Bogen und je geringer relativ die Stromstärke ist. Es wird somit die Hypothese bestätigt, die die fraglichen Banden einer Stickstoff-Sauerstoffverbindung zuschreibt.”) Daher verhält sich der Bogen zwischen wenig oxydierbaren Elektroden, wie ein Hochspannungs-

1) J.D.Liveing and J. Dewar, Proc. Roy Soc, 34, p. 418—429 (1882). Man vergl. für die Literatur Kaysers Handbuch V, 821. - ı) A, Hagenbach, Physik. Zs. 10, p. 649-657 (1909). Arch. de Gen. (41) 26, p. 19, 1908, 2) Weitere Gründe findet man z. B. bei A, Hagenbach a. a. O.

38 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen.

Wechselstrombogen,”) eine Funkenstrecke mit kleiner Kapazität”) oder ein Funke mit großer Selbstinduktion im Entladungsstromkreis.”) In allen diesen Fällen läßt sich zugleich die Bildung von Stickoxyden chemisch nachweisen.

Endlich beteiligt sich jedoch der Stickstoff auch direkt an der Bogen- entladung. Schon Hutchins*) hat die negativen Banden in Kohlebogen bei großen Stromstärken gefunden, freilich für Cyanbanden gehalten. Dann haben Lewis und King”) nachgewiesen, daß es sich um Stick- stoffbanden handelt und King hat gefunden, daß die Banden beim An- zünden des Bogens auftreten, bei längerem Brennen verschwinden. Hagenbach*) findet sie bei vermindertem Drucke an der Anode.

Auf meinen Aufnahmen tritt die zweite positive Gruppe regelmäßig im Kohle-, Silber- und Kupfer-Bogen auf und zwar im ganzen Bogen, verstärkt an den Polen, die negativen Banden an der Kathode, Die Banden sind um so stärker, je länger der Rage und je schwächer relativ die Stromstärke ist.

Die erste positive Gruppe des Stickstoffbandenspektrums habe ich im Bogen bisher nicht photographieren können. Doch scheint sie mir nach okularen Beobachtungen vorhanden zu sein.

Im ganzen läßt sich also sagen, daß in sehr vielen Bogen, speziell in den Bogen zwischen Kupfer-, Silber-, Kohle-, Calcium- und Magnesium- Stäben die Bandenspektra des Stickstoffs anwesend sind und im Ultra- violett sogar vielfach überwiegen. Sie sind um so stärker, je länger der Bogen und je kleiner die Stromstärke ist und an die Anwesenheit von Stickstoff bezw. Sauerstoff gebunden. Je größer die Menge des anwesen- den Metalldampfes ist und je größer dessen Oxydierbarkeit ist, um so mehr treten die Stickstoffspektra zurück. Der Bogen verhält sich also auch bei Atmosphärendruck wie ein Funke mit großer Selbstinduktion im Stromkreis.

5, Emission des Sauerstoffsunddes Wasserstoffs. Der Sauer- stoff ist hier mit dem Wasserstoff zusammen genannt, obwohl ich bisher nur eine indirekte Beteiligung desselben an den Emissionsvorgängen im Bogen (sogenannte Oxyd-Spektra) gefunden habe. Eine direkte Be- teiligung an der Entladung scheint nicht zu bestehen. Dagegen bilden die Linien der Wasserstoffserie einen sehr häufigen, die Banden des „Wasserdampf"-Spektrums sogar einen regelmäßigen Bestandteil der Emission des Gleichstrombogens in Luft von Atmosphärendruck.

21) Vergl. z. B. B. Walter, Ann. d. Phys. (4) 19, p. 874 (1906).

22) J. Schniederjost, Zs. wiss. Photogr. 3, p. 202—203 (1905).

2) B, Walter, Ann. d. Phys. (4) 21, p. 223—238 (1906). A. Hagenbach, Phys. Zs. 10, p. 649—657 (1909). Weitere Literatur siehe Kayser's Handbuch, Bd. V, p. 78 ff.

23) C, Hutchius, Astrophys. J. 15, p. 310-312 (1902).

2) P, Lewis and A. S, King, Astrophys. J. 16, p. 162—165 (1902). A. S. King, Astrophys. J. 20, p. 21 (1904).

2) A, Hagenbach, Physik. Zs. 10, p. 649-657 (1909). Weitere Literatur siehe Kayser's Handbuch, Bd. V, p. 7% ff.

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen. 39

Daß die Wasserstofflinien im Bogen auftreten, wenn man Wasser in den Bogen einspritzt, haben schon Liveing und Dewar”) bemerkt. Daß ein Bogen in einer Wasserstoffatmosphäre die Linien der zweiten Nebenserie zeigt, ist vielfach beschrieben worden, ebenso das Auftreten der Wasserstofflinien in Funken zwischen nassen Elektroden.”)

Ich finde, daß schon die Feuchtigkeit der Luft genügt, um H,, H, und H; auftreten zu lassen. Namentlich eignen sich wiederum Kupfer- und Silber-Elektroden zu dem Versuche, während leichter schmelzbare und oxydierbare Metalle weniger empfindlich sind. Leitet man Wasser- dampf in den Bogen oder brennt man einen Kupfer- oder Kohlebogen unter Wasser, so werden die Wasserstofflinien sehr stark und verbreitern sich enorm, ohne jedoch sich umzukehren oder ein besonderes Aussehen zu zeigen. Sie gleichen den Wasserstofflinien, wie man sie in einem Funken in feuchter Luft sieht, wenn beträchtliche Selbstinduktion im Stromkreise vorhanden ist.

Daß man die Wasserdampfbanden in einem Kohlebogen erhalten könne, haben Liveing und Dewar”) angegeben. Es ist jedoch anderen Beobachtern nicht möglich gewesen, den Versuch zu wieder- holen”) Hagenbach“) hat die Wasserdampfbanden in einem Kupfer- bogen bei vermindertem Drucke gesehen.

Ich finde nun, daß die Wasserdampfbanden fast in allen in atmosphä- rischer Luft brennenden Bogen in großer Intensität gegenwärtig sind und zwar in der Regel die drei Banden, deren Kanten bei. 3063, 4 2811 und 4 2608 liegen. Von ihnen ist die erste die stärkste. Man findet sie z. B. im Kohlebogen, ferner in den Bogen von Kupfer, Silber, Magnesium, Calcium, Aluminium, Zink, Eisen, Nickel. Ja, man findet sie sogar in den Bogen so leicht oxydierbarer Metalle wie Blei, Cadmium, und selbst in den Bogen der Alcalimetalle, wie Natrium, Lithium, Kalium! Sie er- reichen in diesem Falle sogar eine bedeutende Intensität, wenn man den Bogen lang macht, also der Luft Zutritt verschafft.

Ich nenne hier die Banden „Wasserdampfbanden”, indem ich die seit Liveing und Dewar eingebürgerte Bezeichnung benutze. Dies bedarf einiger Rechtfertigung. Ich habe daher Versuche angestellt, um die Bedingungen des Auftretens der genannten Banden zu bestimmen.

Leitet man Wasserdampf in den Bogen (Kupfer, Kohle etc.), so werden die drei genannten Banden außerordentlich stark. Es ist sogar möglich, viele Bogen (Cu, Ag, C etc.) in einer reinen Atmosphäre aus Wasserdampf von Atmosphärendruck zu brennen. Dann findet man neben den bereits besprochenen Wasserstofflinien die Wasserdampf-

”=) G.D.Liveing and J. Dewar, Proc. Roy. Soc. 35, p. 74—76 (1883). Proc. Roy. Inst. 9, p. 674—703 (1882).

2) Literatur siehe Kayser's Handbuch, Bd. V, p. 484 £f.

®) G.D. Liveing and J. Dewar, Proc. Roy, Soc. 33, p. 274—276 (1882).

») Vergl. Kayser's Handbuch, Bd. V, p. 507.

=) A. Hagenbach, Physik. Zs. 10, p. 649-657 (1909).

40 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen.

banden sehr stark. Das gleiche ist der Fall, wenn man Bogen zwischen verschiedenen Metallen, z. B. Kupfer oder Silber, in ausgekochtem, destilliertem Wasser brennt. Wiederum treten die Wasserdampfbanden stark auf.

Erzeugt man Funken unter Wasser, so sieht man, wie ich schon vor Jahren beschrieben habe, die Wasserdampfbanden umgekehrt auf kon- tinuierlichem Grunde,

Man kann also sagen, daß alle Umstände, die die Anwesenheit von Wasserdampf bedingen, auch das Auftreten der genannten Banden be- günstigen.

Umgekehrt wird die Intensität der Banden um so mehr verringert, je mehr man den Wasserdampf ausschließt. In getrockneter Luft werden die Banden sehr schwach. Sie gänzlich zu beseitigen, ist mir freilich nicht gelungen.

Bedenkt man weiter, daß sich die Wasserdampfbanden in Fällen finden, in denen die auf Oxydationsvorgängen und der Anwesenheit von Sauerstoff beruhenden Banden gänzlich fehlen (Alcalien), so muß man schließen, daß die Anwesenheit von Wasserdampf für das Auftreten der Banden notwendig ist. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Banden dem Wasserdampfe selbst zukommen. Sie könnten z. B. bei seiner Bil- dung emittiert werden oder irgend einer Verbindung des Sauerstoffs mit dem Wasserstoff zukommen. Auch läßt sich bei der enormen Empfind- lichkeit der spektralanalytischen Reaktionen ein bündiger Beweis für die Zugehörigkeit eines Bandenspektrums zu einer bestimmten Verbindung mittels der Untersuchung von Emissionsspektren nicht geben, da man die Anwesenheit von Spuren eines Körpers niemals mit genügender Sicherheit ausschließen kann.

Ich habe daher versucht, ob sich die Wasserdampfbanden auch außerhalb des Funkens unter Wasser in Absorption nachweisen lassen. Diese Versuche stoßen freilich auf große Schwierigkeiten, da der Wasser- dampf sehr durchsichtig ist, und da die meisten Lichtquellen die Wasser- dampfbanden bereits in Emission enthalten, wenn sie im Ultraviolett die genügende Intensität besitzen. Der Kohlebogen ist unter diesen Umstän- den als Lichtquelle nicht brauchbar, auch nicht der Funken unter Wasser. Ich habe daher Versuche mit dem Nernstbrenner unter Benutzung langer Expositionszeiten gemacht. Man gelangt so bis in den Bereich der Wasserdampfbande bei 3064.

Es war mir jedoch nicht möglich, in Wasserdampf von 100° C, und Schichtdicken von 1—50 cm (Röhre mit Quarzplattenverschluß) irgend eine Absorption im Bereiche 4 3000-3200 aufzufinden. Zu einer Aus- führung der Versuche mit größeren Schichtdicken und bei höherer Tem- peratur fehlte es mir an Gelegenheit. Ich kann daher den Versuchen über die Absorption des Wasserdampfes kein entscheidendes Gewicht beilegen. Übrigens würde auch ein negativer Ausfall von weiteren Absorptionsversuchen noch immer nicht gegen die Zuweisung des Wasser-

Konen: Emission der Luft im Lichtbogen, 41

dampfspektrums an den Wasserdampf sprechen, da bekanntlich in vielen Fällen die Absorption an das Vorhandensein von Luminescenz oder loni- sierung geknüpft ist und diese bei dem obigen Versuche keine Rolle spielen kann.

Ich habe ferner versucht, ob vielleicht Wasserstoffsuperoxyd in Frage kommen könnte. Diese Substanz läßt sich freilich nur in Lösungen, nicht in dampfförmigem Zustande benutzen. Immerhin sind eine Reihe von Fällen bekannt, in denen eine Lösung Absorptionsbanden nahezu an der gleichen Stelle besitzt, wie der betreffende Dampf. So hielt ich es der Mühe wert, auch Lösungen von Wasserstoffsuperoxyd zu prüfen. Es wurde wieder der Nernstbrenner als Lichtquelle benutzt, jedoch wurden auch Kontrollversuche mit dem Kohlebogen gemacht. Das Wasserstoff- superoxyd wurde in 30 % Lösung verwendet und in paraffinierte Gefäße gefüllt, die durch Platten aus weißem Flußpat verschlossen waren, die allein nicht paraffiniert waren. Eswurden verschiedeneKonzentrationenund Schichtdicken benutzt, angefangen von einer capillaren Schicht zwischen zwei Flußpat-Platten bis zu einer Schichtdicke von mehreren cm. Es zeigte sich, daß die konzentrierte Lösung in einer Schichtdicke von 0,1 mm von 42300 abwärts absorbiert. Die gleiche Lösung absorbiert in einer Dicke von 1 cm von A 3371 abwärts alles Licht. Dabei tritt unter der Wirkung der Bestrahlung eine lebhafte Zersetzung und Entwicklung von Sauerstoff ein.

Eine Bandenabsorption war nicht nachzuweisen. Die Versuche mit Wasserstoffsuperoxyd geben also keinen Anhalt für die Annahme einer Beziehung zwischen dem sogenannten Wasserdampfspektrum und der Verbindung H,O,.

6. Über die Emission des Kohlenstoffs, soweit er aus der atmosphä- rischen Luft stammt, ist bereits bei Gelegenheit der Stickstoffspektra das nötige bemerkt worden. Es sei an dieser Stelle nur noch erwähnt, daß sich in jedem Kohlebogen und bei Anwesenheit beträchtlicher Mengen von Kohlensäure an der Kathode die erste negative Gruppe von Kohle- banden im Bereiche 4 2786 bis 4 2190 findet, die bisher nur von Des- landres*) an der Kathode von Geißlerröhren bei niedrigem Drucke wahrgenommen worden ist. Die Banden sind nach längeren Wellen ab- schattiert und schlecht erkennbar, weil sie sich mit den Banden der drit- ten positiven Stickstoffgruppe überlagern. Will man sie deutlich erhal- ten, so führt man am besten Alcalien in den Bogen ein. Dadurch werden die Stickstoffbanden zurückgedrängt, während die Kohlebanden ihre In- tensität behalten. Es ist noch bemerkenswert, daß diese Banden nicht wie die Banden des ersten Bandenspektrums der Kohle (Swan) oder des Cyans durch die Anwesenheit von Alcalidämpfen geschwächt werden.

7. Zusammenfassend kann man sagen, daß die Bestandteile der Luft: Stickstoff, Sauerstoff, Wasserdampf, Kohlensäure, sich in einem

2) Literatur siehe Kayser’'s Handbuch, Bd. V, p. 233,

42 Konen: Emission der Luft im Lichtbogen,

weit höheren Maße an der Emission des Bogens beteiligen, als es bisher meist angenommen worden ist. Die zahlreichen und kompliziert gebauten Bandenspektra der Bestandteile der Luft und ihrer Verbindungen unter- einander und mit den Materialien der Elektroden überlagern sich je nach den Umständen in verschiedenem Maße. In dem Bereiche der kürzesten Wellen kann die Emission der Bestandteile der Luft derartig überwiegen, daß bei Anwendung mäßiger Dispersion eine kontinuierliche Emission vor- getäuscht wird.

Die Emission des Bogens gleicht also in spektroskopischer Hinsicht in weitgehendem Maße der Emission von Funken mit Selbstinduktion von erheblichem Betrage im Stromkreis oder der Glimmentladung bei vermin- dertem Drucke.

Über ein neues Oxydationsverfahren. Von H. Salkowski.

Allgemein bekannt ist die Bedeutung der neueren Anästhetica wie Anaesthesin, Novocain etc. für die Operationstechnik. Da diese Präpa- rate Derivate des von mir‘) zuerst dargestellten Paraaminobenzoesäure- esters sind, so fand ich Interesse daran, mich selbst etwas mit dessen Abkömmlingen zu beschäftigen. Dazu bedurfte es zunächst größerer Mengen Paranitrobenzoesäure, des Ausgangmaterials für die Gewinnung von Paraaminobenzoesäure.,

Die in der Literatur?) beschriebenen Methoden zur Darstellung von Paranitrobenzoesäure leiden alle an dem Übelstande zu langer Dauer. Ob man nun das Paranitrotoluol das gewöhnliche Aus- gangsmaterial mit Salpetersäure oder mit Lösungen von Ka- liumbichromat, Chromsäure oder Kaliumpermanganat oxydieren mag, immer ist sehr langes Kochen oder Digerieren erforderlich und zwar einfach deshalb, weil diese Flüssigkeiten das Paranitrotoluol nicht lösen. Ich sann deshalb auf ein Lösungsmittel, welches Para- nitrotoluol löst und selbst der Oxydation nicht unterliegt und verfiel dabei auf konzentrierte Schwefelsäure neben Natriumdichromat als Oxydationsmittel.’) Ich versprach mir von dem großen Überschuß an Säure zugleich eine Beförderung des nach der Reaktionsgleichung

C,H,(NO,)CH, + Na,Cr,0, +4H,S0, = =C,H,(NO,)COOH + 2NaCr(SO,),+5H,0 verlaufenden Prozesses im Sinne des Massenwirkungsgesetzes, sowie durch die Möglichkeit der Anwendung einer höheren Temperatur, die bei den bisher angewendeten Medien, in denen die Reaktion vollzogen wurde, fortfiel.‘)

2) Berichte der Deutschen chemischen Gesellschaft 28, 1921, Anm. (1895).

2) Fischer, Annalen der Chemie und Pharmacie 127, 137 (1863); Beilstein, Wilbrand, daselbst 128, 257 (1863); Beilstein, Geitner, daselbst 139, 335 (1866); Koerner, Zeitschrift für Chemie 1869, 636; Rosenstiehl, daselbst 1869, 701; Michael, Norton, Ber. d. D. Ch. Ges. 10, 580 (1875).

®) Natriumdichromat ist wegen seiner größeren Löslichkeit hier und in andern Fällen dem Kaliumdichromat vorzuziehen.

%) Ein schon seit langer Zeit benutztes Lösungsmittel von der gewünschten Art ist der Eisessig. Derselbe scheint für die in Rede stehende Reaktion noch nicht benutzt zu sein. Da Essigsäure eine sehr schwache Säure ist, so ist auch die Tendenz zur Bildung von Chromisalz, d. h. zur Reduktion der Chromsäure viel geringer, als bei der unendlich stärkeren Schwefelsäure. Ferner erlaubt er keine erhebliche Erhöhung der Reaktionstemperatur über seinen Siedepunkt (118 9).

44 Salkowski: Über ein neues Oxydationsverfahren,

Meine Erwartungen sind in jeder Hinsicht bestätigt worden. Vor- versuche im Reagensglas zeigten, daß eine Lösung von Paranitrotoluol in konzentrierter Schwefelsäure sowohl mit eingestreutem Natrium- dichromat, als mit zugetropfter konzentrierter Lösung desselben sehr energisch, unter Feuererscheinung, reagiert. Es ist dies eine sehr hübsche Erscheinung, die sich auch zur Demonstration eignet. Um allzu heftige Reaktion, sowie die Gefahr der Bildung von Sulfosäure zu vermeiden, wurde außer Schwefelsäure etwas Wasser, sowie eine Lösung von Natriumdichromat angewendet. Dabei wurde so verfahren, daß dem Nitrotoluol etwas Wasser zugesetzt wurde und dann eine größere Menge Schwefelsäure. Durch die Mischungswärme schmilzt das Nitrotoluol und wenn es sich auch nicht vollständig löst, wird es doch sehr leicht oxydiert.

Nach der obigen Gleichung sind auf 137 Nitrotoluol 268 Natrium- dichromat und 392 Schwefelsäure erforderlich. Schwefelsäure wurde stets im Überschuß, vom Dichromat anfänglich die berechnete Menge, später etwas mehr angewendet. Eine vollständige Oxydation des Nitrotoluols gelingt auch bei erheblichem Überschuß an Dichromat nicht, der Rest desselben muß stets durch Kochen mit Wasser oder besser durch Destillation mit Wasserdampf vertrieben werden.

Im ersten Versuch wurden 4 g Nitrotoluol, 3 g Wasser und 22 g Schwefelsäure gemischt, dazu allmählich eine Lösung von 8 g Natrium- dichromat in 12 g Wasser zugetropft: unter starker Erhitzung scheidet sich sogleich Paranitrobenzoesäure aus. Dann wurden noch 2 g Dichro- mat und 5—6 g Schwefelsäure zugefügt, darauf einige Zeit auf dem Wasserbad erwärmt, was aber nicht mehr viel zu nützen schien, dann Wasser zugesetzt und so lange abdestilliert, bis keine merkliche Menge Nitrotoluol mehr überging. Ausbeute 3,65 g p-Nitrobenzoesäure.

2. 4 g Nitrotoluol, 3 g Wasser und 27,5 g Schwefelsäure. Dazu Lösung von 12 g Dichromat in 12 g Wasser. Ausbeute 4 g Nitrosäure.

3. 6,6 g Nitrotoluol, 6,6 g Wasser und 48,5 g Schwefelsäure. Dazu Lösung von 20 g Dichromat in 20 g Wasser. Ausbeute 6,8 g Nitrosäure,

Gesamtprodukt aus 14,4 g Nitrotoluol 14,45 g p-Nitrobenzoesäure statt berechneter 17,55 g, d. h. 82,3 % der theoretischen Menge. Die erhaltene Säure schmolz ohne weitere Reinigung bei 238°,

Zur Darstellung empfiehlt sich nach diesen Vorversuchen folgende Vorschrift: 1 T. Nitrotoluol wird mit 1 T. Wasser und 7,3 T. (4 Vol. T.) konz. Schwefelsäure übergossen, eine Lösung von 3 T. Natriumdichromat in 3 T, Wasser allmählich zugesetzt. Drei hiernach ausgeführte Versuche mit 20, 40 und 40 g Nitrotoluol verliefen normal. Da bei diesen größeren Darstellungen die Temperatur recht hoch steigt (bei den kleineren schon auf 130° und mehr), so empfiehlt sich die Vorsicht, die Chromatlösung recht langsam einzutragen (bei der angegebenen Menge in nicht weniger als einer halben Stunde).

Ich möchte an dieser Stelle auch meine Erfahrungen über die Dar- stellung des Paranitrobenzoesäureesters mitteilen, aus denen hervorgeht,

Salkowski: Über ein neues Oxydationsverfahren. 45

daß sich in diesem Falle die ältere Methode der Esterdarstellung (Sättigen der alkoholischen Lösung mit Salzsäuregas) mehr empfiehlt als die neueren Äbänderungen.

Kleine Mengen von p-Nitrobenzoesäure wurden in 5 bezw. 10 % HCl enthaltendem Alkohol gelöst und einige Zeit am Rückflußkühler erwärmt. Die Bildung von Ester war stets minimal: die beim Verdünnen mit Wasser 'entstehende Fällung löste sich in Natronlauge größtenteils auf und die aus der filtrierten Lösung durch Salzsäure erhaltene Fällung war wieder Nitrobenzoesäure. Ebenso schlecht war der Erfolg beim Erwärmen der alkoholischen Säurelösung unter Zusatz von konzentrierter Schwefelsäure am Rückflußkühler. ;

Etwa 10 g p-Nitrobenzoesäure wurden nunmehr in Alkohol gelöst, die Lösung mit HCI-gas gesättigt. Am nächsten Tage hatten sich spießige ‚Kristalle des Esters in ziemlicher Menge abgeschieden, die auf einem Platinkonus gesammelt wurden. Das Filtrat wurde nochmals mit HCl gesättigt in der Absicht, die Reaktion weiter zu führen, nachdem der bereits entstandene Ester aus dem Gleichgewichtszustand entfernt war. Es schied sich aber, selbst beim Stehen im Eisschrank, kein neuer Ester mehr ab. Die Lösung wurde nun aufs Wasserbad gesetzt und (mehr zu- fällig) ganz eingedampft. Der Rückstand bestand größtenteils aus dem Ester; durch Alkali wurden nur 3,35 g Säure ausgezogen. Der aus- gewaschene und getrocknete Ester zeigte nach dem Umkristallisieren aus

Alkohol den Schmelzpunkt 54°.

Darstellung von Trimellithsäure aus Pseudocumol.

Die vorstehend beschriebene Methode wird sich mit Vorteil in vielen Fällen anwenden lassen. Ich habe sie bisher nur zur Oxydation von Pseudocumol benutzt, um so zu der nicht ganz leicht zugänglichen Trimellithsäure zu gelangen. Diese Säure ist allerdings schon durch direkte Oxydation von Pseudocumol erhalten worden und zwar von G. Schultz und E. Herzfeld°) mit Chromsäure in eisessigsaurer Lösung, von W. Schultze‘°) mit alkalischer Lösung von Permanganat. Die Angaben der beiden ersteren sind nur ganz kurz; sie erhielten aus 10 g Pseudocumol 4 g Trimellithsäure. Schultze gibt an, aus 10 g Pseudocumol 11 g Trimellithsäure gewonnen zu haben, was allerdings eine enorme Ausbeute wäre, zumal es kaum möglich sein dürfte, die Zer- störung eines Teils der Trimellithsäure unter Bildung von Isophtalsäure zu vermeiden. In beiden Abhandlungen ist die Bildung von Isophtalsäure nicht erwähnt.

R. Wegscheider’) hat in einer neueren Arbeit über Trimellith- säure zur Gewinnung der Säure die alte Methode der Oxydation von

5) Berichte d. D. chem. Ges. 42, 3604 (1909). ®) Annalen d. Chem. 259, 143 (1908). 7) Monatshefte für Chemie 31, 1253 (1910).

46 Salkowski: Über ein neues Oxydationsverfahren,

Colophonium mit Salpetersäure benutzt, die nur eine Ausbeute von 6 bis 7 9% vom Gewicht des Colophoniums neben 1 bis 1,5 % Isophtalsäure liefert und sehr umständlich ist, allerdings ohne die Arbeit von Schultze zu kennen, Bei der späteren Nachprüfung der vorerwähnten Arbeiten konnte Wegscheider gleich günstige Erfolge wie ihre Autoren nicht erzielen. Bei beiden Verfahren wurde Isophtalsäure als Nebenprodukt erhalten und für die Permanganatmethode fand er, daß die Einhaltung einer bestimmten Alkalikonzentration wesentlich für die Ausbeute an Trimellithsäure ist, 21

Unter diesen Umständen erschien es mir von Interesse, das neue Oxydationsverfahren auf Pseudocumol anzuwenden, jedoch bin ich noch nicht zum Abschluß der Versuche gelangt. Die Oxydation verlief unter Anwendung von je 6 g Pseudocumol, 20 g Wasser, 120 g Schwefelsäure und 45 g Natriumdichromat, gelöst in 45 g Wasser, wie beim Nitrotoluol. Das unveränderte Pseudocumol wurde im Dampfstrom abgetrieben. Die wieder erkaltete Lösung, welche die Trimellithsäure enthalten mußte, wurde von einer schon während der Oxydation ausgeschiedenen, etwas zähen Masse abfiltriert und wiederholt ausgeäthert. Der Ätherrückstand wurde in Wasser aufgenommen (wobei ein geringer Rest ungelöst blieb), die gelöste Säure mittels Barythydrat ins Bariumsalz übergeführt. Die aus diesem durch Salzsäure abgeschiedene, mit Äther ausgeschüttelte Säure erwies sich nach ihrem Schmelzpunkt und ihrer Löslichkeit als Trimellithsäure, Die oben erwähnte etwas zähe, mittlerweile fester gewordene Masse ließ sich nur durch wiederholte Behandlung mit war- mem Ammoniak in Lösung bringen unter Zurücklassung von Chromoxyd, das ab und zu durch eine zwischengeschaltete Extraktion mit Salzsäure entfernt wurde. Der aus den ammoniakalischen Auszügen beim Ansäuern erhaltene weiße Niederschlag (0,75 g) war nach seinem Verhalten beim Erhitzen und dem Schmelzpunkt ihres Methylesters Isophtalsäure,

Die Versuche werden fortgesetzt.

Er

Die Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze von der Art der Bindung. Von H. Ley

(experimentell mitbearbeitet von cand. chem. W.Fischer).

Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zu der Frage kefern, wie die Art der Bindung eines Metalls an seinen Säurerest die Lichtabsorption des Salzes beeinflußt.

Bei den stark dissoziirten Salzen ist die Frage bekanntlich dahin beantwortet, daß die Absorption in sehr verdünnter Lösung bei fast völ- liger Dissoziation sich additiv aus der Lichtabsorption der Jonen zusam- mensetzt (Ostwald). In concentrierteren Lösungen ist noch die Farbe der undissozürten Molekule zu berücksichtigen; diese kann gleich sein der Farbe des Jons (CuSO,KMnO,) oder Verschiedenheiten davon auf- weisen (Cu{NO,),). Nach den Untersuchungen von Hantzsch‘) wird die Farbe eines Salzes durch den Prozeß der elektrolytischen Dissoziation nicht oder nur wenig geändert, falls es sich um coordina- tiv gesättigte Verbindungen im Sinne Werners handelt. Die Farb- gleichheit bei Kupfersulfat und seinen Jonen erklärt sich so, daß das eigentlich Absorbierende der gesättigte Komplex (Cu4H,O) darstellt, der sowohl dem undissozirten Molekul als auch dem Jon eigen ist. Die Farbe wird somit durch den bloßen Vorgang der Dissoziation nicht geän- dert, worauf übrigens schon früher von Kayser’) hingewiesen ist.

Ist der die Farbe bedingende, etwa zweiwertige Komplex (MeR,) in dem dissoziationsfähigen Salze (MeR,)X, mit dem Anion X verbun- den, so wird, falls die Absorption dieses Anions gegenüber der des Kom- plexes vernachlässigt werden kann, die Farbe des Salzes natürlich auch von der speziellen Natur des Anions unabhängig sein.

Ganz anders liegen jedoch die Verhältnisse bei den auch in großen Verdünnungen wenig dissoziirten Salzen; hier ist vorauszusehen, daß sich die Lichtabsorption durch die Art der Bindung des Metalls ändern wird, und daß hier ähnliche Erscheinungen anzutreffen sind, wie bei den organischen Verbindungen. Es mögen hier einige Beispiele genannt wer- den, bei denen die Verkettung eines Metallatoms mit bestimmten Säure- resten zu undissoziirbaren Verbindungen abnorme Lichtabsorptionen im Gefolge hat.

1) Berl. Ber. 41, 1216, 2) Handbuch der Spectroskopie III, 112 #,

48 Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze,

1. Das dreiwertige Eisen bildet mit manchen schwefelhaltigen Ra- dikalen sehr wenig dissoziirte Verbindungen, die wie das bekannteste Beispiel Ferrirhodanid Fe (SCN),, intensiv farbig sind.

2. Nickel und Cobalt geben mit den Anionen der Xanthogensäuren z. B. C,H,0.CS.SH intensiv farbige „Salze‘‘ von abnorm geringer Metall- jonenkonzentration.

3. Kupfer- und Nickelsalze vermögen bei Gegenwart von Alkali mit vielen hydroxylhaltigen organischen Verbindungen (Glykolen, Oxysäuren, Oxyaldehyden etc.) Verbindungen zu liefern, die eine undissoziirbare Metall-Sauerstoff-Bindung, z. B.: Cu—O—C enthalten und deren Absorp- tionsspectren von Byk°) untersucht worden sind. Diese Bindung ist op- tisch dadurch charakterisiert, daß die Absorption sehr weit nach längeren Wellen verschoben ist im Vergleich zu der Absorption der organischen Hydroxylverbindung sowie des Kupferjons.

Zu einer systematischen Untersuchung eignen sich wohl keine Salze besser, als diejenigen des Quecksilbers, bei denen sehr eigenartige Dissoziationsverhältnisse vorkommen, die in Kürze dargelegt werden sollen:

1. Die Salze des Quecksilbers mit starken anorganischen Sauerstoff- säuren, wie HNO,, HCIO, sind stark elektrolytisch (und wenig hydroly- tisch) dissoziirt, so daß die verdünnten Lösungen dieser Salze vorwiegend Merkurijon enthalten.

1a. Bei den Merkurisalzen der weniger starken Carbonsäuren CH,COOH, CH,C1COOH, CHC1,COORH etc. geht die Dissoziation der

Salze derjenigen der Säuren parallel.

2. Wenig dissozirt sind die Verbindungen des Quecksilbers mit den Halogenen CI, Br, J, sowie diesen nahestehenden Radikalen wie SCN. Obgleich deren Wasserstoffverbindungen zu den stärksten Säuren ge- hören, sind die Merkurisalze sehr wenig dissozirt.

Nach den Untersuchungen von Luther und Morse‘) ergeben sich für die Dissoziationskonstanten nach dem Schema:

Hex: Hg + X folgende Werte: Has. Hg Cl, Hg Br, Hg J, (HgXy. 3,5 x.10 0,4. x 107° 0,4 x 10713

In der Reihe vom Chlorid zum Jodid nimmt die Tendenz zur Disso- ziation somit beträchtlich ab. Den Merkurihalogenen steht in elektro- chemischer Beziehung das Merkurirhodanid Hg(SCN), nahe. Wie jene, ist dieses Salz sehr wenig dissoziirt, während die Rhodanwasserstoffsäure zu den stärksten Säuren gehört.

3) Zeitschr. phys. Chem. 61, 1. ı) Ebenda 34, 488; 36, 385.

Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze. 49

' 3, Größer als bei den bisher betrachteten Salzen scheint die Atom- affinität zwischen Quecksilber und stickstoffhaltigen Radikalen zu sein. Bekanntlich bilden Säureamide und Säureimide mit Quecksilber charak- ‚teristische, sehr beständige Verbindungen, in denen substituierte Prä- zipitate: ce cH, Cl=Hg NH, Ei-= Hg : TE CH,

karitihen und in denen jedenfalls eine Metall-Stickstoff-Bindung unzingk- men ist’)

4, Noch größere Affinität und damit geringere Tendenz zur Disso- ziation weist das Merkuricyanid auf; die Lösungen dieses Salzes werden selbst durch Jodjon nicht gefällt, wohl aber durch Schwefelwasserstoff. Die Dissoziation scheint somit noch wesentlich geringer zu sein als bei den unter 3. genannten Quecksilberstickstoffverbindungen. Durch dieses Ver- halten ähnelt das Cyanid in gewisser Weise den eigentümlichen Queck- silberalkylen und -arylen, wie Quecksilberdimethyl Hg(CH,), und Queck- silberdiphenyl Hg(C,H,),, bei denen die durch außerordentlich starke Atomaffinität ausgezeichnete Quecksilber-Kohlenstoffbindung vorhanden ist, und bei denen sich durch die gewöhnlichen Mittel keine Dissoziation nachweisen läßt. Die Annahme, daß auch im Merkuricyanid eine Queck- silber-Kohlenstoffbindung vorhanden ist, erhält durch das optische Ver- halten dieses Salzes eine wesentliche Stütze. -

Von den unter 1. genannten Salzen läßt sich beim Merkuriperchlorat ohne weiteres die Absorption des Merkurijons im Ultraviolett bestimmen, da die verdünnten Lösungen nach den Messungen von Ley und Heim- bucher‘) sehr weitgehend dissoziirt sind.

Betrachten wir ein sehr wenig dissoziirtes Salz HgX,, so wird im allgemeinen dessen Absorption von derjenigen der jonogenen Bestand- teile Hg” und 2X’ differieren. Je nachdem die Absorption des Salzes HgX, stärker oder schwächer ist als die der Bestandteile, wird die Salz- bildung von einem bathochromen oder hypsochromen Effekt begleitet sein.

Um bei den verschiedenen Merkurisalzen die Abweichungen vom additiven Schema festzustellen, wurden 1. Lösungen des Salzes HgX? bei bestimmter Konzentration und variabler Schichtdicke, 2. die hinterein- ander geschalteten Lösungen Hg‘ und 2X‘ bei entsprechenden Konzen- trationen und solchen Schichtdicken auf Absorption untersucht, daß der Lichtstrahl in beiden Fällen gleiche absorbierende Anteile durchsetzt.’) Bei diesen Schaltungsversuchen wurde als stark dissoziirtes Merkurisalz das Perchlorat benutzt, dessen Anion CIO,‘ keine merkliche Absorption besitzt, Die Lösungen dieses Salzes wurden mit denen der Kaliumsalze

5) S., z.B. H. Ley und K. Schaefer, Z. phys. Chem. 42, 690. %) Z. Elektrochem. 10, 301. ?) s. Byk, Z. phys. Chem. 61, 1; 68, 323. K. Schaefer, Zeitschr. wiss. Phot. 8, 223,

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 4

50 Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze,

KX kombiniert. Die Lichtabsorption des Kaliums kann für unsere Zwecke auch vernachlässigt werden.

Das stark dissoziirte Merkuriperchlorat ist, wie Fig. 2 ii, sehr durchlässig; es wurde in 0,1 und 0,01 molarer Lösung in Wasser untersucht.

Die Merkurihalogenide und Merkurirhodanid wurden in alko- holischer Lösung auf Absorption untersucht (s. Fig. 1). In der Reihe: HgCl,, HgBr,, Hg(SCN),, HgJ, nimmt die Durchlässigkeit beträchtlich ab und die Absorptionskurven weisen, falls man nur die größeren Schicht-

Figur 1. Hals HgknS) Haßoz Hallig de : Be m LEN + + 4 IN \ 4 S B er zu \ RR SOES Ki IS S + —. n ES F K. EN 2 Seiwine | | 3? S Ss \ fi } af ErBS ER S 02 25 Eh S Anal N ısdlie 26 SS N Q e 3 ih ü är MT x Q \ 13 1 Q 24 —I Sy‘ Ss PERS | N ö SI \ NN j er PERS \r Di a 8 A N 18 N S : 16.8 ke es S IS Bel N G ES S IN S S N I \ S EN | 40 30%: 2:4 6:50: 4000 h Schwir ngszahler. MAN

dicken berücksichtigt, einen analogen Verlauf auf. Merkurijodid’ zeigt

in alkoholischer Lösung bei 3600 (rec. Ä) ein deutliches Band, das auch in der ätherischen Lösung beobachtet wurde. Es soll besonders betont werden, daß das rote bezw. oberhalb 126° gelbe Salz in Lösung i im Sicht- baren keine Absorption aufweist, Wie Herr cand. chem. Samm fand, löst absoluter Alkohol bei höheren Temperaturen beträchtliche Mengen von Merkurijodid; so läßt sich bei 180° eine gesättigte Lösung von 36 %, bei 146° eine solche von ungefähr 20,5 % herstellen; wie. der Augenschein lehrte, sind diese Lösungen farblos. Es ist bemerkenswert, daß die Kurve

Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze. 51

des Bromids fast genau in der Mitte zwischen der des Chlorids und Jodids verläuft‘) Wie die folgende kleine Tabelle zeigt, sind die Unterschiede der Schwingungszahlen Hgl, HgCl, etwa doppelt so groß wie die ent- sprechenden Werte: HgBr, HgCl,, die Konzentration der Lösungen ist 0,01 norm. |

Schichtdicke Hg .— Hg u | | Hg Bn—HgCl,

2/3 2

hass Rn Ä) \ 100 960 500 80 970 510 63 a 980 510 50 1000 510 40 1000 520 315 1000 530 25 990 530 20 980 530 Mittel: 985 520

Die Absorptionskurve des Rhodanids verläuft zwischen der des Bromids und Jodids. Dieselbe Reihenfolge wird auch bei anderen physi- kalischen, bezw. physikochemischen Konstanten, z. B. den Löslichkeiten, Komplexkonstanten u. s. w. angetroffen. Die Bildung der undissociirten Salze HgX, aus Hg" und 2X° (X = CI, Br, J, SCN) ist in optischer Be- ziehung somit von einem bathochromen Effekt begleitet, der am stärksten ist beim Jodid und Rhodanid, geringer ausgebildet beim Bromid und am schwächsten beim Chlorid vorhanden ist.

In den folgenden Tabellen sind die den der Lösungen verzeichnet; unter I die Absorptionen der Salze HgX, (0,01 moler), unter II die Absorptionen der hinter einander geschalteten Lösungen Hg(C1O,), (0,02 moler) und KX (0,04 molar); d bedeuten die Schichtdicken in mm, die bei den Versuchen II natürlich gleich waren.

: I 1 II

Hg (Cl O,), in d /HgC,hnH,O| d H, O und Differenz KClinH, O ne... m 3920 50 4039 120 Du ISO W 3940 40 | ».2 54073 180° RE hl 4100 2 15001403 4 ET „3975 4.25 397 1 > EBENE GERGER |. ı ERS a . 3151 = 4080 16.) 2297 220 | 4 PEIIHEDEER ZI Wing 250) °- R sie 4060 4 a0llln 0429557: ‚724015 vr

zur Es ist hier vielleicht de Beinerkäns am Babes daß die Haloidverbindungen des rauchen Electroluminescenzspectren zeigen, die insofern den Absorptions- spectren ähnlich; angeordnet: sind, als dem Bromid ein- mittleres Spectrum. zukommt. Das ‚Chlorid gibt eine grüne Bande mit dem Kopf bei 564 # u, das Bromid eine grün- blaue Bande bei 503 x », das Jodid eine blaue Bande bei 445 z». Die Unterschiede der Wellenlaugen betragen: HgCl, —— HgBr; :’59 u u; HgBr, Hgl, : : 60 u u.

4*

52 Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze,

N I m ; Hg (Cl O,), in d Fu ae PS MO and! |’ Deere : H, K Br in H,O 100 3320 50 3870 550 80 3335 40 3900 565 63 3350 31.5 3960 610 50 3365 25 4030 665 40 3380 20 4110 730 31.5 3400 16 4195 795 25 3420 12.5 4980 860 20 3440 10 4300 360 Hg (CI O,), in d Fe ie n a $H, O und K J |@Difierenz aa in H, O 100 2740 50 9715 975 80 2755 40 3730 975 63 92770 31.5 3760 990 50 2790 25 3790 1000 40..| -....2815 20 3810 90x 31.5 2835 16 3830 es: 25 2860 12,5 3850 990 20 2880 10 3370 990 : Hg (ClO,), in d a cr 4 4 WO unds. | Diftefens Hs KSCN in H, O 100 3100 50 3900 800 80 3125 40 3920 795 63 3145 3151 3940 795 50 3170 25 3960 790 40 9215 20 3980 765 315 3240 16 390 |. ..750 25 3270 12.5 4000 730 20 3990 10 4030 740

Die in der Rubrik III verzeichneten Differenzen zwischen II und I bilden einen gewissen Maßstab für die Größe des bathochromen Effekts. Bei diesen Versuchen ist zu beachten, daß sich der Einfluß des Lösungs- mittels nicht gut ausschalten ließ. Die Salze HgBr,, HgJ, und Hg(SCN), mußten ihrer geringen Wasserlöslichkeit wegen in alkoholischer Lösung untersucht werden, andererseits mußten die unter II genannten Salze in wässeriger Lösung verwendet werden. Da somit die Lösungsmittel nicht identisch sind, sind auch die unter III gegebenen Zahlen nicht ganz ver- gleichbar, denn wie der Versuch mit Merkurichlorid ergab, ist die wässerige Lösung durchlässiger als die alkoholische, Für eine 0,01 molare Lösung wurden folgende Zahlen (rec. A) gefunden:

Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze. 53

Schichtdicken Wasser | Alkohol

mm

100 3920 3850 80 3940 3870 50 3980 3900 40 4000 3940 25 4040 3980 20 4060 4000 12.5 4120 4040

Die Abweichungen sind zum (allerdings geringeren) Teil auch wohl auf die Eigenabsorption des Alkohols zurückzuführen, die sich bei diesen Wellenlängen schon etwas bemerkbar macht.

Figur 2. #g-\ Ropionamzd. 7 7 wealis x; y -.— \ Ss t N | \ S f t I - L S \h x ıı ! n NS ut N S \ \ AN FE T S N «lSuccimmid. —S 1. ER rn = 2 F ; S 3 Mg Suainimid. N BS S S S N = AN N Ss EN S

0:2 . 4:.:6 0 Sehwin ZUNGSK ah ö

Von den Säureamid- und Säureimid-Verbindungen wurden Queck- silber-propionamid und Quecksilber-succinimid untersucht. Die Resultate der Messungen sind in Fig. 2 wiedergegeben. In beiden Fällen absorbieren die Salze stärker als die Wasserstoffverbindungen und es läßt sich er- sehen, daß der Quecksilber-Stickstoff-Bindung ein geringer bathochromer Effekt zukommt.

Die Absorption des Merkuricyanids im Ultraviolett ist sehr gering, jedenfalls ist es wesentlich durchlässiger als Quecksilberchlorid und Mer- kurijon. In 0,1 molarer Lösung (2,52 g Hg(CN), in 100 ccm Wasser) absorbierte Merkuricyanid bei einer Schichtdicke von 100 mm etwa von der Schwingungszahl 4460 an; von 4300 ab zeigte sich eine Schwächung

54 Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze,

der Eisenlinien; bei letzterer Schwingungszahl war übrigens auch bei reinem Wasser eine Schwächung der Linien zu beobachten, während Absorption von etwa 4600 ab erfolgte; es zeigt sich somit das immer- hin überraschende Resultat, daß Merkuricyanidlösung nicht wesentlich stärker absorbiert als Wasser, daß somit der Einfluß des Metalls in der Bindung mit dem Cyanrest bei der Absorp- tion fast völlig zurücktritt.

Wir haben ferner mit der Absorption des Quecksilberchlorids I die- jenigen des Quecksilbermethylchlorids und Quecksilberaethylchlorids II

verglichen, ya ycH, ‚Eh, I) H II) Hg Hg \cı Ncı Ncl

Verbindungen mit teilweiser Metall-Kohlenstoff-Bindung.

Wie die Absorptionskurven auf Tafel 3 zeigen, sind diese Salze wesentlich durchlässiger als Merkurichlorid und zwar absorbiert, wie zu erwarten, die Methylverbindung weniger als das Aethylderivat. In diesem Zusammenhange möge auch an die früher vonLey und v. Engelhardt ausgeführte Messung des Quecksilber-diphenyls Hg(C,H,), erinnert werden. Die Absorption dieser Verbindung ist im Vergleich mit der des Benzols nur wenig nach längeren Wellen verschoben, ein Beweis dafür, daß die Verknüpfung des Metallatoms mit Kohlenstoff selbst bei stark absor- bierenden Gruppen wie C,H, keine wesentlich bathochromen Effekte bewirkt (C,H, absorbiert wesentlich stärker als HJ, während für Hg(C,H,),. und HgJ, die Verhältnisse gerade umgekehrt liegen).

Aus allen diesen Beobachtungen ist wohl der Schluß

CHEN N=C ) He I) Hg“ CN

zu ziehen, daß dem Merkuricyanid die Formel I mit Metall-Kohlenstoff- bindung, nicht aber die Konstitution II zukommt, wofür auch andere Tat- sachen sprechen.)

Absorption des Merkurojons.

Im Anschluß an die Absorptionsmessung des Merkuriperchlorats wurde auch obgleich diese Untersuchung aus dem Rahmen der ur- sprünglichen Arbeit herausfällt die Merkuroverbindung auf ihre Licht- absorption gemessen. Da im Perchlorat eines der wenigen leicht löslichen und stark dissociirten Oxydulsalze des Quecksilbers vorliegt, hatte die Untersuchung mit Rücksicht auf die Absorption des Merkurojons Interesse,

°?) Z. phys. Chem. 74, 1. 10) Vergl. Ley und Schaefer, Berl. Ber. 35, 1311. Z. phys. Chem. 42, 6%.

Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze. 55

Die Lösung wurde aus derjenigen des Merkuriperchlorats durch längeres Schütteln mit Quecksilber erhalten; bekanntlich gehen die Mer- kurijonen unter diesen Umständen bis auf eine sehr geringe Konzentration, die dem Gleichgewichte:) 2Hg‘’ = Hg, ‘* entspricht, in Merkurojonen (Hg,)” über.

Die Untersuchung der Lösung, die 0,1 normal bezogen auf Hg, war (somit dieselbe Menge Quecksilber enthielt wie die 0,1 molare Mer-

' Figur 3.

FIIR 02) Fe ad 724

- RR er Erg Be ni 09 mel

\ = \ u \ IV \ UN | \N \ I \ \ \ \\ I Ha,(C104 ul Yr N P4 \r \ r \

VAL kMenteriäthylchlarid.

>)

Logan Ihmen d\ Schächtakcken, (mr, a\oor trrol.)

\ \inlsser es \ S \ Merruri -S \ \ ja N r I \ \ıayllk Dy swh 4 & Vo 4 Sc Bu Au Audi

kuriperchloratlösung), zeigte, daß Merkurojon wesentlich stärker absor- biert als Merkurijon (s. Fig. 3)._ Bei anderen Jonen, die in mehreren Wertigkeitsstufen auftreten, wie Fe’ und Fe’, zeigt das niederwertige Jon eine geringere Absorption als das höherwertige. Falls dieses etwa die Regel sein sollte, so würde der obige Befund beim Merkuroperchlorat eine Stütze für die Ansicht bilden, daß dem Merkurojon die Konstitution eines zweiwertigen Komplexjons: (Hg Hg)” und nicht die eines einwer- tigen Jons: Hg’ zukäme.“)

11) Ogg Zeitschr. phys. Chem. 27, 293.

56 Ley: Abhängigkeit der Lichtabsorption wenig dissociirter Metallsalze,

Methodisches,

Die Ausführung der Absorptionsmessungen im Ultraviolett geschah nach der Methode von Hartley-Baly mit Eisenbogen als Lichtquelle unter Verwendung eines großen Quarzspectrographen von Steinheil.”) Der Eisenbogen wurde mit ca. 3 Amp. betrieben und befand sich 60 cm vom Spalt des Spectrographen entfernt; unter diesen Umständen wurde 25 Sekunden lang belichtet (Colorplatten von Westendorp und Wehner),

Die auf S. 51 beschriebenen Schaltversuche wurden zuerst so aus- geführt, daß zwei Baly-Gefäße hinter einander in den Gang der Licht- strahlen gestellt wurden, später wurde das von K. Schaefer“) empfoh- lene doppelte Baly-Gefäß verwendet.

Die verwendeten Präparate wurden wiederholt umkrystallisiert und zwar das Merkuri-Chlorid, -Propionamid und -Succimid aus Wasser, die übrigen Merkurisalze aus Alkohol.

Merkuriperchlorat wurde in Lösung dargestellt. Aus einer Lösung von Merkurichlorid wurde das Oxyd mittels reiner Natronlauge ausgefällt und dieses in wässeriger Überchlorsäure gelöst, die vorher auf Absorption untersucht und als rein befunden wurde. Durch einen kleinen Überschuß an Säure, der optisch nicht wirksam ist, wird die Hydrolyse des Salzes zurückgedrängt. _Der Gehalt der Lösung, die etwa 0,3 molar war, wurde durch Ausfällen des Metalls mit Schwefelwasserstoff genau ermittelt.

Die Resultate der Untersuchung lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen;

Das Merkurijon zeigt wesentlich schwächere Absorption als das Merkurojon.

In der Reihe der Halogenverbindungen wird die Absorption vom Merkuri-Chlorid zum Jodid nach längeren Wellen verschoben, dem Bromid kommt eine Mittelstellung zu; die Bildung der undissociirten Merkurihalogenide aus den Jonen ist mit einem bathochromen Effekt verknüpft, der beim Jodid sehr beträchtlich ist.

Merkuricyanid ist äußerst durchlässig und absorbiert beträchtlich weniger als Merkurijon, was am besten durch die Annahme einer Metall- Kohlenstoff-Bindung in diesem Salze erklärt werden kann, der unter Um- ständen ein hypsochromer Effekt zukommt.

12) S, z.B. H, Ley, Constitution und Farbe (Hirzel, 1911), S, 215 £f. 18) Zeitschr. wiss. Photogr. 8, 223,

(Mitteilung aus der Landw. Versuchsstation Münster i. W.)

Die Anwendung der Dialyse und die Bestimmung der alle Ba als Hülfsmittel für die Beurteilung des Bodens.

Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. J. König.

| Seit der Erkennung der Bedeutung der Mineralstoffe des Bodens für das Wachstum der Pflanzen durch Justus v. Liebig hat die Agrikultur- chemie es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben betrachtet, die Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Bodens und dem Gedeihen der Pflanzen zu ermitteln. Es sind dafür sowohl physikalische Untersuchungsverfahren, wie Feinheitsgrad, Wasseraufsaugungsvermögen, wasserhaltende Kraft, Größe der Wasserdampfbindung (Hygroskopizität Mitscherlichs), Ab- sorption von Pflanzennährstoffen usw., als auch chemische Untersuchungs- verfahren, besonders verschiedene Lösungsmittel von größerer oder gerin- gerer lösenden Wirkung in Vorschlag gebracht worden. Aber alle diese Ver- fahren haben bis jetzt eine allgemein befriedigende Lösung der Frage nicht gebracht. Wir wissen nur so viel, daß die Menge der aus dem Boden für die Pflanzen aufnehmbaren Menge mineralischer Nährstoffe nicht nur von der Menge der im Boden vorhandenen mehr oder weniger löslichen Nährstoffe, sondern auch von vielen physikalischen Eigenschaften des Bodens gleichzeitig abhängig ist. Ich habe daher in Gemeinschaft mit verschiedenen Mitarbeitern versucht, weitere Verfahren, die einen Bei- trag zu der wichtigen Frage zu liefern imstande sind, ausfindig zu machen.

__ Zu den Versuchen dienten vorwiegend sechs verschiedene Boden- arten von folgender allgemeinen Zusammensetzung der Trockensubstanz:

Lehmiger er

; Sand- Lehm- Kalk- Ton- _|Schiefer- rn boden | >and- | }oden | boden .| boden | ‚boden

boden

RER AN 107% |17% | 217% | 485% | 212% | 332%

ee a EEE RUE TEE 0.147 10.129 0.158 „, 0.237 „10.172. 10172,

Wasserhaltende Kraft. . . |24.97, |32.28, 1/3090, 40.77, |35.00, |34.18

Hyroskopizität (Mitsh.) . . | 0.98, 1.83 3.59 415, 769» 3.47.,3

Ton (durh H, SO, aufschlies- \

ee U ae 3.84 8.33 1825» | 9.56. 193886. 13057 Gesamt-Gehalt:

Phosphorsäure . . . . . 0.116% | 0.095% | 0.114% | 0.140% | 0.077% | 0184%

nn a Er Fe 1.717, 11385, | 1.693, | 0.703, | 4120, | 2751,

Be a ri; 0.688 | 0.590, | 0.670, | 0.239. | 0.952. ! 0.857,

a Er FE TE ze 0.690 „, 0.964 1.090 30.976 1:733 » 0.896

PRESENT ee 0.314, | 0.471, 0.598 0.560 1.880 1.297

58 König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens,

Als neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens wurden erkannt:

1. Die Bestimmung der katalytischen Kraft des Bodens.‘)

Der Ackerboden hat die Eigenschaft, aus Wasserstoffsuperoxyd größere oder geringere Mengen Sauerstoff zu entbinden; die sauerstoff- entbindende Kraft ist einerseits einer Enzym-, andererseits einer Kolloid- wirkung zuzuschreiben. Der Boden liefert die sonstigen allgemeinen Enzym-Reaktionen; die katalytische Kraft kann durch Enzymgifte wie Chloroform, Jod, Quecksilberchlorid und besonders Blausäure abge- schwächt bzw. aufgehoben werden. Die durch Kolloide (Manganoxyd, Eisenoxyd usw.) bewirkte katalytische Kraft kann nur durch Blausäure zeitweilig aufgehoben werden. Im allgemeinen steht bei annähernd gleichem Gehalt an den genannten Oxyden die Größe der Sauerstoff- entbindung in fast geradem Verhältnis zum Gehalt des Bodens an Humus, wie folgende Zahlen zeigen.

Lehmiger z ® Sand- Lehm- Kalk- Ton- | Schiefer- SUONERE. PANEGRER. boden age boden | boden | boden | boden boden KRIBuB . is. a ar DEE 1.77% 2.17% 4.55% -12.12% 3.32% Entwickeltes Sauerstoffgas?) in 2 Stunden . . . . .| 6.0 ccm | 25.0 ccm | 43.5 ccm | 103.5 ccm) 67.0 ccm | 74.0 ccm Desgl. nach Behandlung mit Blausäure in 2 Stunden . | 0.0 2.5542 13.0:56: 1:60 60 u Desgl. geglüht in 2 Stunden | 0.5 _ ,„ 38. -1416.0.. 26.5 „1 LO. ..u# LED Desgl. nach . dreistündigem Dämpfen bei 3 Atm. in Sud aE z 80 5; 50',: 119852577230 ST 220

Erst durch Auskochen des Bodens mit Salzsäure verliert er die Eigenschaft, aus Wasserstoffsuperoxyd Sauerstoff zu entbinden. Hieraus und aus der Beobachtung, daß die Sauerstoff-Entbindung durch Blausäure als Enzymgift nur für den Anfang völlig aufgehoben wurde, später aber wieder schwach einsetzte, muß geschlossen werden, daß noch andere Bodenbestandteile, wie z. B. die Sesquioxyde (Fe,O,, Al,O,) bzw. ihre Hydrate und Manganoxyde, die durch Blausäure nicht wie die organischen Enzyme angegriffen werden, aus Wasserstoffsuperoxyd Sauerstoff zu ent- binden vermögen. Das hat sich auch in der Tat bestätigt. Seesand, praecipitiertes Calciumcarbonat, Kaolin, Albit und Torf sind wie der mit Salzsäure ausgezogene Boden nicht wirksam.

1) Vergl. J. König, J. Hasenbäumer u. E. Coppenrath, Landw. Versuchsstationen 1907, 66, 401. 2) Aus 20 ccm von 3prozentigem Wassersuperoxyd unter Zusatz von je 5 g Boden.

König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens. 59

2. Bestimmung der durch Oxydation des Humus löslich werdenden unorganischen Nährstoffe’) Bei der Behandlung der Böden mit Wasserstoffsuperoxyd wird ein Teil des frei werdenden Sauerstoffs zur Oxydation des Humus verwendet, dessen oxydierter Anteil durch die gebildete Menge Kohlensäure be- stimmt werden kann. So wurde für die genannten 6 Böden gefunden:

ERTL TR Zus. rg Lehm-! Kalk-| Ton- | Schiefer-

en boden bod boden | boden | boden | boden en

Gesamthumus, durch Elementaranalyse

gefunden, in Prozenten. . . . » 1.07 1.77 2.17 | 4,85 2.12 3.32% Gesamt-Kohlensäuremenge für 10g

Boden in Gramm . . . 0.1940| 0.3400 !0.3055 | 0.4735 0.3095 | 0.4445 g Letztere auf Humus Birschnätit in KPro:

2 VE TE RE ZI 0.92 1.62 1.44| 2.57 1.59 210% Also oxydiert in Prozenten des Ge-

EEE 85.9 91.5 66.2) 53.0 | 71.0 63.2%

Neben Kohlensäure bilden sich bei der Oxydation nachweisbare Mengen Ameisensäure, Essigsäure und Salpetersäure. Gleichzeitig geht auch eine gewisse Menge unorganischer Nährstoffe Kalk als Calcium- bicarbonat in Lösung, z. B. aus 100 g wasserfreiem Boden:

Lehmiger R Sand-| Sand- |Lehm-| Kalk- | Ton- | Schiefer- Mineralstoffe boden | ' boden’ ‘| boden |boden | boden | boden mg mg mg | mg | mg mg RER ig 100.0 | 9.0 | 164.7 | 3070| 41.6 | 460 ee yet 49| 107 8727| 79| 95 51 Phosphorsäure. . . . 2 2.2.. 9.3 92 601 39] 21 22

Daraus, daß durch gewöhnliches Wasser nur Spuren und durch kohlensäurehaltiges Wasser bedeutend geringere Mengen der vorstehen- den Nährstoffe in Lösung gehen, muß geschlossen werden, daß im Boden organisch gebundene oder komplexe Verbindungen (Humat-Silikat-Kom- plexenach van Bemmelen), besonders organisch gebundene Phosphor- säure bzw. organische Phosphorverbindungen im Boden vorhanden sind, die durch Oxydation zerstört und dadurch gelöst werden. Hierauf beruht zweifellos die Löslichkeit von Phosphorverbindungen in verdünntem Ammoniak (matiöre noire Grandeau'’s). Die Oxydationsfähigkeit der komplexen Humusverbindungen, welche durch Lockerung und Durch- lüftung des Bodens unterstützt wird und für die einzelnen Böden ver- schieden ist, spielt jedenfalls eine wichtige Rolle für das Gedeihen der

”) Vergl. J. König, J. Hasenbäumer u, H. Großmann, Landw. Versuchsstationen 1908, 69, 1. #) 0,471 g Kohlensäure = 1 g Humus.

60 König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens,

Pflanzen, Wir durchfeuchteten z. B. 12—15 kg von vollständig erschöpf- tem Boden, der mehrere Jahre nicht gedüngt war, zweimal mit je 500 ccm zehnprozentigem und dreimal mit je 500 ccm füniprozentigem Wasser- stoffsuperoxyd in Abständen von je einer Woche und erzielten in diesen Böden im Vergleich mit nicht behandelten Proben folgende Ernten an Hafer, auf Pflanzentrockensubstanz berechnet:

Sand- | Lehm- | Kalk- Ton- | Schiefer- Behandlung boden | boden | boden | boden boden I RR BE 40.83 g | 54.578 | 40.85 8g|43.15g | 40.508 Nichtoxydierte Reihe. . . . . .... 28.90 „| 30.19, | 32.96 | 34.57, | 34.15,

Man kann daher durch eine alleinige Behandlung der Böden mit Wasser- stoffsuperoxyd bzw. durch eine alleinige Oxydation des Humus eine Stei- gerung der Ertragsfähigkeit des Bodens erzielen, vorausgesetzt, daß er noch über eine hinreichende Menge komplexer humussaurer Salze oder Humuskolloide verfügt.

3, Bestimmung der durch Dämpien mit Wasser unter Druck löslichen Nährstofie, ! ?)

Die unorganischen Nährstoffe sind teils in adsorptivem Zustande, teils in chemischer Bindung im Boden vorhanden. Gerade von ersterer Art Bindung nimmt man an, daß sie für die Ernährung der Pflanzen be- sonders wertvoll ist. Man war daher von jeher bemüht, Lösungsmittel für die Ermittelung der in adsorbiertem Zustande vorhandenen Nährstoffe ausfindig zu machen. Als solche sind vorgeschlagen worden:

Kohlensäurehaltiges, d. h. mit freier Kohlensäure mehr oder weniger gesättigtes Wasser, 10 Kige kalte Salzsäure, 0,1—1,5 Kige Salpetersäure, 0,5 Kige Oxalsäure, 1,0 ige Essigsäure, 1,0—2,0 %ige Citronensäure, 2,0 %ige Ammoniumcitratlösung, 1,0—10,0 %ige Ammoniumchloridlösung, h 6,0 %iges Ammoniak. x

Es hat sich aber herausgestellt, daß diese entweder zu schwach (wie kohlensäurehaltiges Wasser) oder wie die übrigen Lösungsmittel zu stark wirken, indem sie nicht nur auf die adsorptiv, sondern auch chemisch gebundenenNährstoffe lösend wirken und weit mehr Nährstoffe aus dem Bo- den lösen, als die Pflanzen aus ihm aufzunehmen vermögen. Man kann aber ebenso wie durch starkes Austrocknen, so auch durch Dämpfen mit Wasser unter Druck den kolloidalen Zustand des Bodens aufheben und dadurch die vorwiegend als Humuskolloide adsorptiv gebundenen

König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens. 61

Nährstoffe in Lösung bringen. So wurden aus denselben 6 Böden durch fünfstündiges Dämpfen mit Wasser bei 5 Atm. aus je 100 g Boden gelöst:

f

Lehmiger Sand- | Sand- !Lehm-| Kalk- | Ton- | Schiefer- Nährstoffe boden! boden |boden boden boden | boden mg mg mg | mg | mg mg BR ie 2 Duikhr ke 317 |... 473. |1174 | 1298 | 888 | 60.0 a a 49 10.1 63 | 62 | 107 | 68 Phosphorsäure .. ........! «siende: era 9.3 6.6 92 | 28 18| 62 e 1) i

____ Diese gelösten Mengen Nährstoffe stimmen nahe mit den durch Oxydation gelösten überein und muß daraus geschlossen werden, daß die Humat-Silikat-Komplexe auch durch höheren Drück zerstört und durch Wasser gelöst werden können.

| "Als bemerkenswert verdient hervorgehoben zu werden, daß die Menge Kali, welche die Pflanzen aus dem Boden aufnehmen, sich in drei Ernten von drei verschiedenen Jahren nahezu decken mit der Menge, welche sich für 20 cm Bodentiefe nach dem Dämpfverfahren als löslich berechnet; so wurden z. B. in Versuchen von 1910 gefunden:

SE | Sand- | "Oni6f Lehm-| Kalk- | Ton- | Schiefer- Verhalten boden Be "boden |boden |boden boden mg bie mg.| mg | mg | mg Gelöst durh Dämpfen . . .. . 1450 | 1098. | 608 .| 1121 | 1490 1334 Aufgenommen durch Pflanzen 1155 1114 742 | 1181 | 1378| 1425

Für die anderen Nährstoffe (Phosphorsäure und Kalk) konnten wir bis jetzt solche Beziehungen nicht finden; jedoch wird sich das eine oder andere der neuen Verfahren so ausbilden lassen, daß es auch für diese Nährstoffe Anhaltspunkte liefert, ob ein Boden hierfür düngungsbedürftig ist oder nicht.

klasse stacken:slsktrischen Gleichstromen auf: den Boden}

Bringt man eine mit Wasser durchfeuchtete Bodenprobe zwischen zwei Platinelektroden und’leitet einen Gleichstrom hindurch, so über- nimmt die zwischen den Polen befindliche Bodenschicht ihrem Kolloid- gehalt entsprechend die Rolle und Funktion einer Scheidewand von mehr oder weniger hemipermeabelem Charakter, durch deren unendlich viele und feine Poren die Jonen ihren Weg nehmen. Es müssen also hier dieselben Erscheinungen auftreten, wie bei der Tonzelle, nämlich: Ein- fache Elektrolyse der gelösten Bestandteile, Fortführung des Wassers zur Kathode und Fortführung der Suspensionen und Kolloide zur Anode,

5) Vergl. J. König, J. Hasenbäumer u. C. Haßler, Landw. Versuchsstationen 1911, 76, 377, u, Zeitschrift £. angew. Chemie 1911, 24, 2341.

62 König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens.

Läßt man den elektrischen Gleichstrom (von etwa 3 Amp.) nur 'einmal einwirken, bis das Bad die Temperatur von 50° erreicht hat, so werden Mengen von Nährstoffen gelöst, welche denen durch die Verfahren No, 2 und 3 erhaltenen sich nähern; so lieferten die vorstehenden 6 Böden, nachdem sie mit Stallmist gedüngt waren, folgende Mengen gelöster Nähr- stoffe für 100 g wasserfreien Boden:

Lehmiger . Sand- Sand- |Lehm- Kalk- | Ton- |: Schiefer- Nährstoff m... boden! boden boden! boden |boden boden mg. mg. mg. | mg. | mg. mg. Be, u 0 a nn 12.6 11.3 9.1 | 15.1 | 18,8 10.6, Walk ı. > > mn 2 200 ame u dad DOG 1760 11712) Be Phöosphorsäure . . . », ....71 144 6.3 6.1 15 | 08 ER,

Als weitere Verfahren, um über den Löslichkeitsgrad der ara hestandteile sich Aufschluß zu verschaffen, können dienen;

5, Die Bestimmung des osmotischen Druckes des Bodens.)

Der Boden äußert einen dem Löslichkeitsgrade seiner Bestandteile entsprechenden osmotischen Druck, der zwar deutlich, aber langsamer als bei in Wasser gelösten Stoffen in die Erscheinung tritt. Aus dem Grunde wurde eine von früheren Osmometern verschiedene Einrichtung angewendet, bezüglich deren Einrichtung auf die Quelle verwiesen wer- den mag. Die Osmometer sind so eingerichtet, daß nicht der Druck ge- messen, sondern die Menge des vom Boden aufgenommenen Wassers fest- gestellt und als „osmotische Wasseraufnahme” bezeichnet wird. Wie empfindlich auch dieses Verfahren ist, möge folgender Versuch zeigen: Die erschöpften 6 Böden wurden für je 1 kg gedüngt mit 74 mg K;SO, 139 mg 18prozentigem Superphosphat und 120 mg NaNO;. In den er- schöpften und gedüngten Böden wurde unter sonst gleichen Verhältnissen Hafer gezogen und wurden die osmotische Wasseraufnahme und die Ern- ten an Pflanzentrockensubstanz mit folgendem Ergebnis ermittelt:

Sand- KaBeRt 'Lehm- | Kalk- | °‘Ton= ' |'Schiefer- Eriten än’ Pflanzentrocken. boden boden?) boden boden boden | boden. substanz: PERLE Ungedüngte Reihe. .......| 29408. 11.478 .'24.66g'.| 32.798. | 57. Pi 42.548 Gedüngte Reihe . * . . 51.42 » 36.49 ”» 46.49 » 55.04 y 49. 40. 7 52,46 „_ Osmotische Wasseraufnahme 1 5: für 100g Boden und 1 Tag: A Ungedüngte Reihe. . . . | 0.836, ! 0.690, | 1.240, | 2.259, | 2.864, | 1.468 re Gedüngte Reihe . .. . | 1.706, 12.088, | 2.349, | 2.598,, | 3.906, 3.220

6) Vergl, Anm. Nr, 2 u, Zeitschr, f, angew. Chemie 1909, 22, 1070. ?) Dieser lehmige Sandboden war von dem in den anderen Reihen ‚verwendeten Boden dieser Art verschieden, d. h. in weniger gutem Kulturzustande,

König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens. 63

Hier macht sich die verhältnismäßig geringe Zufuhr von löslichen Salzen zum Boden durch die größere osmotische Wasseraufnahme deut- lich geltend und’ sieht man, daß die Ernten mit der osmotischen Wasser- aufnahme im allgemeinen steigen und fallen. Wenn bei dem gedüngten Tonboden trotz größerer osmotischer Wasseraufnahme die Ernte geringer als bei dem ungedüngten Tonboden ausgefallen ist, so hat das seinen ‘Grund darin, daß dieser Boden an sich sehr reich an Nährstoffen ist und hier die weitere Zufuhr löslicher Nährstoffe als des Guten zu viel schäd- lich gewirkt hat; denn auch in anderen Versuchen haben wir gefunden, daß die Menge löslicher Nährsalze im Boden eine gewisse Grenze nicht überschreiten darf. -

6. Die elektrolytische Leitiähigkeit des Bodens.)

scher in der Ausführung und empfindlicher in den Ergebnissen als der osmotische Druck liefert die elektrolytische Leitfähigkeit einen Ausdruck für den Löslichkeitsgrad.der Bodennährstoffe, Wir bestimmten die elektrolytische Leitfähigkeit für den wassergesättigten Boden von nicht mehr als 1 mm Korngröße in mit Platinelektroden versehenen Ebo- nitkästchen von bestimmter Kapazität. Auch bezüglich dieser Einrich- tung muß auf die Quellen verwiesen werden. Indes möge aus den vielen Versuchen einer hier mitgeteilt werden, bei dem die elektrolytische Leit- fähigkeit und osmotische Wasseraufnahme in den Böden vor und nach einer Haferernte vermittelt wurde. Die Ergebnisse waren folgende:

Sand- | Lehm- Kalk- Ton- | Schiefer- boden | boden |. boden. | boden‘ |4-"boden

Vor der Ernte bei der Einsaat: Osmotishe Wasseraufnahme

für 100g Boden und 1 Tag| 1.2498 | 1.M0g | 3541g | 2.2178 .--2.540g Elektrolytische Leitfähigkeit .| 27.3X10-5 |49.9X10-5| 53.6X10-3 75. 07 41.8X10-* Geerntete ER 15!

PFRGI EEE FU PRR OL RE PER BEST PER ERTEEPRR BETERP +. 'r'!Nach der Ernte: bes Osmotische Wasseraufnahme .| 0,811 = 1.927 a 885 ;, 1217 .. 1.834 „,

Elektrolytische Leitfähigkeit .|12.5x10-®| 46. 3x0 45. 6%10-3| 59. EX10-5 31.5X10=

Die ‚elektrolytische: ‚heisläklgkeit und die .osmotische Wasserauf- nainfe stehen, wie uns noch viele ändere Versuche gezeigt haben, in naher Beziehung zueinander, was auch nicht anders als erwartet werden kann, weil-sie beide von dem Gehalt des Bodens an ‚löslichen Salzen bedingt sind, Man sieht‘aber auch, daß durch das Pflanzenwachstum vorwiegend dieser Teil’der Bodennährstoffe aufgenommen wird und insofern können auch diese beiden Verfahren für die Beurteilung der Beschaffenheit eines Bodens mit verwendet werden. Die Bestimmung: der »elektrolytischen Leitfähigkeit ‚hat 'aber vor. der der osmotischen 'Wasseraufnahme: den

®) Vergl. J. König, J. Hasenbäumer u. H. Meyring, Laciäw Versuchsstationen 1911, 74, 1 u, Zeitschr. f. angew. Chemie 1911, 24, 103,

64 König: Neue Verfahren für die Beurteilung des Bodens.

Vorzug der größeren Empfindlichkeit und der schnelleren Ausführbarkeit; sie kann uns außerdem, wie wir gleich sehen werden, über Vorgänge im Boden Aufschluß geben, die sich bis jetzt durch kein anderes Verfahren nachweisen lassen.

7. Bestimmung des Kolloidgehaltes des Bodens.)

Der Kolloidgehalt läßt sich bis jetzt nur indirekt aus seiner Ab- sorptionsfähigkeit für gewisse Farbstoffe und Mineralsalze ermitteln. Als Farbstoff hat sich am besten Methylviolett in wässeriger, 0,1—0,3- prozentiger Lösung erwiesen, indem die Menge des absorbierten Farb- stoffs auf kolorimetrischem Wege durch Vergleichslösungen von bekann- tem Gehalt festgestellt wird. Für die Absorption von Salzen wird zweck- mäßig eine N/, -Lösung: von Dikaliumphosphat (200 ccm auf 100 g Boden) gewählt, dessen Bestandteile annähernd in dem im Salze vorhan- denen Verhältnisse absorbiert werden.

Welche Verschiedenheit die Böden gegenüber diesen beiden absorp-

tionsfähigen Stoffen zeigen, möge aus folgenden Zahlen erhellen:

Lehmi |

Sand-| “sung. |Lehm-| Kalk- | Ton- | Schiefer-

100 g Boden absorbierten: boden | „,den . ‚Poden|boden | boden) boden mg mg mg mg mg mg.

1. Methylviolett -. . 2... .. 1500 | 1800 | 3800 | 3955 | 5986 | 1935

Aus der 5 Dikaliumphosphatlösung :

BR. >00 Kr il 101.0 113.0 162.5 | 154.3 ! 195.6 160.0 b. Phosphorsäure . ... .. 77.0 9.4 | 117.2 | 156.5 | 154.4 | 144.0

Auf 100 Teile absorbiertes Kali kommen absorbierte Phosphorsäure: ; ImiSis BD. 7: 76.3 84.4 721! 101.4 | 78.9 90.0

Hiernach zeigt der Sandboden mit dem geringsten Kolloidgehalt die geringsten und der Tonboden mit dem höchsten Kolloidgehalt auch die höchsten Absorptionswerte. Auch bei den anderen Böden stehen letztere in Beziehung zum Kolloidgehalt.

Der lehmige Sand- und Tonboden absorbieren Kali und Phosphor- säure nahezu in dem Verhältnis, in welchem sie im Salz vorhanden sind; wenn bei dem Sand- und Lehmboden die Kali-, bei dem Kalk- und Schie- ferboden die Phosphorsäure-Absorption etwas überwiegt, so spricht das bei den 2 ersteren von diesen 4 Böden für eine sauere, bei den beiden letzteren für eine alkalische bezw. basische Beschaffenheit der Kolloide;

Jedenfalls sind hiernach die vorstehenden neuen Untersuchungs- verfahren geeignet, unsere Einsicht in die Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Bodens und dem Wachstum der darin gezogenen Pflan- zen zu erweitern. Wir haben”) aber die Bodenstudien noch weiter verfolgt

9) Vergl. Anm, 3, 10) Ausgeführt in Gemeinschaft mit J. Hasenbäumer u, K. Glenk.

König: Anwendung der Dialyse bei der Untersuchung des Bodens. 65

und im letzten Jahre auch Versuche über de Anwendung der Dia- lyse und über die Bestimmung der Oxydationskraft als Hilfsmittel für die Beurteilung des Bodens angestellt.

8. Anwendung der Dialyse bei der Untersuchung des Bodens.

Da die Aufnahme der Nährstoffe aus dem Boden durch die Pflanzen auf einem dialytischen bezw. osmotischen Vorgange beruht, liegt es nahe, zu vermuten, daß durch die Anwendung der Dialyse ein Ausdruck für die von den Pflanzen aufnehmbaren Mengen Bodennährstoffe gewonnen wer- den kann. Inder Tat hat schon 1872 A.Petermann“) das Verfahren für die Untersuchung von Böden angewendet. Als hemipermeabele Membran benutzte er Pergamentpapier, das er mittels Platindrahtes um einen Glas- ring befestigte und die Dialyse in der noch jetzt allgemein üblichen Weise ausführte, Der Boden wurde, um eine spätere Schimmelbildung zu ver- hüten, vorher 24 Stunden bei 105° getrocknet; aus demselben Grunde wurde der ganze Apparat vor jedem Versuch mit siedendem Wasser aus- gespült und während des Versuches unter eine Glasglocke gestellt. Er fand auf diese Weise, daß nach 10tägiger Dialyse aus 100 g Boden folgende Mengen mineralische Nährstoffe in das Dialysat übergegangen waren:

Sablo- Sablo- Argilo-Sab-

Nährstoffe Scisteuse | Argileuse lonneuse

(Ciney) |(Gembloux) | (Volhynie) De 2 REIN BEER 21.5 mg 12.6 mg 8.4 mg an A ee 56.1: 44.4 92, a ee 08 2.0.» Spur

Weitere Versuche nach diesem Verfahren sind u. W. bei Böden nicht angestellt. Ich habe in GemeinschaftmitDr.J. Hasenbäumer und K. Glenk solche in der Weise wieder aufgenommen, daß ein Glasring von 16 cm Durchmesser mit Pergamentpapier bespannt und in ein unten mit Tubus versehenes Glasgefäß gehängt wurde. Nachdem das Pergament- papier auf das sorgfältigste ausgewaschen war, wurden durchweg 200 g Boden in den Dialysator auf die Membran gebracht, mit Wasser ange- feuchtet und in das äußere Gefäß soviel reines Wasser gegeben, daß die Wasseroberfläche die Membran gut berührte. Das Wasser im äußeren Gefäß wurde öfters, jeden zweiten oder dritten Tag, unten abgelassen und dureh neues ersetzt; die einzelnen Versuche dauerten 9—14 Tage, bzw, so lange, bis eine vollständige Erschöpfung an löslichen Salzen einge- treten war bzw. nach Vorversuchen angenommen werden konnte, Die gewonnene Menge Dialysat schwankte zwischen 5,5—9,5 Litern. Diese wurden von jedem Versuch für sich, in gut glasierten Porzellanschalen zu- nächst bis auf etwa 50 ccm eingedunstet, dann in Platinschalen gespült, zur Trockne verdampft, getrocknet, gewogen, geglüht und wieder ge-

1) Becherches de Chimie et de Physiologie par A. Petermann, Gembloux 1886, Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte, 5

66 König: Anwendung der Dialyse bei der Untersuchung des Bodens.

wogen. Der geglühte Rückstand wurde, um die Kieselsäure abzuscheiden, mit Salzsäure eingedampft und wie üblich untersucht.

Die zu untersuchenden Böden wurden einerseits im natürlichen trockenen Zustande verwendet, andererseits vorher bei 180°, 150° und im Vakuum-Trockenschrank bei 90%--98° getrocknet oder gleichzeitig mit Wasserstoffsuperoxyd auf 200 g Boden 200 ccm 3 Gew.-prozentiges Wasserstoffsuperoxyd behandelt. Da durch beiderlei Behandlung der kolloidale Zustand des Bodens aufgehoben bezw, für die Humuskol- loide zerstört wird, so konnte erwartet werden, daß bei den so behan- delten Böden mehr Bestandteile ins Dialysat übergehen würden, was sich auch im allgemeinen: bestätigt hat. So ergaben, auf 100 g wasserfreien Boden berechnet, Sandboden und lehmiger Sandboden:

——

Sandboden 9 Tage dialysiert Lehmiger Sandboden 2 Ge- |MitWasser- 7 % Mit Wasser- Bestandielles Natür- | trocknet |stoffsuper- | Nafür- | Bei 180° stoffsuper- ; licher h d be. | licher ge- 7 im oxyd be | oxyd be Boden | yakuum | handelt | Boden trocknet handelt mg mg mg mg mg mg Organische Stoffe . 55.0 53.6 134.2 434 | 188.1 69.3 Mineralstoffe im ganzen 64.5 66.4 113.6 77.1 157.7 8l.l Kalk . 18.0 20.2 39.2 13.7 36.6 14.8 Magnesia .. 1.6 1.5 3.0 2.5 7.2 1.8 Kali. 3.3 —_ 4.2 6.5 6.6 8.7 Natron . ; 2.3 —_ 3.3 5.4 7.1 5.5 Phosphorsäure . 2.6 2.6 3.2 0.7 1.5 0.7. Schwefelsäure 23.6 17.0 21.2 28.6 31.6 27.0 Kieselsäure 38 2.3 4.8 2.2 4.9 2.0

In derselben Weise lieferte der Sandboden, auf 100 g MERAN Boden berechnet, bei verschiedener Behandlung: Ener |

——

Natürlicher Ge- Ge- | Getrocknet bei 150°, Mit Wasser- Boden, trodnet | trodınet dialysiert 7 und |stoffsuper- Bestandteile dialysiert ek) bei 1802, 21 Tage: oeydbehan- 16. Tage 7.Tage | angewendet Boden |delt, 7 Tage 7 Tage 16 Tage dialysiert dialysiert| 700g 200g | dialysiert mg mg mg mg mg mg mg Organische Stoffe . 517 | 101.8 116.1 117.3 204.0 192.1 93.9 Mineralstoffe. 101.1 135.3 143.3 133.8 198.0 140.8 1141 Kalk . 33.8! 80.3 37.4 36.4 64.6 | 48.7 89.6 Magnesia . 1.6 1.6 1.7 2.6 2.6 2.4 2.0 Kali . 3.8 4,8 5.7 5.4 6.4 4.3 5.6 Phosphorsäure . 1.9 6.1 8.7 6.4 9.0 3.2 1.6 Schwefelsäure 14.3 31.6 27.7 25.1 48.5 24.5 230

Hieraus ist ersichtlich, daß durch das vorherige Trocknen des Bodens, wie wir schon früher durch die Bestimmung des osmotischen

König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens, 67

Druckes und der elektrolytischen Leitfähigkeit nachgewiesen hatten, die Menge der dialysierenden Stoffe zugenommen hat; aber durch Trocknen im Luftbade bei 180° und auch schon bei 150° erleiden die organischen Bestandteile des Bodens eine größere oder geringere Zer- setzung, so daß der Einfluß des alleinigen Erhitzens verwischt wird. Wir haben daher für weitere Versuche das Trocknen nur im luftverdünnten Raum vorgenommen, wobei keine Zersetzung der organischen Stoffe des Bodens eintritt; man sieht, daß auch hierdurch, wenn auch nur eine schwache, so doch deutliche Erhöhung an dialysierbaren Stoffen be- wirkt wird.

Durch Behandlung der Böden mit Wasserstoffsuperoxyd werden nach den früheren Versuchen infolge Oxydation der Humuskolloide nicht un- erhebliche Mengen Mineralstoffe gelöst. Auch bei der Dialyse gehen nach vorheriger Behandlung des Bodens mit Wasserstoffsuperoxyd durch- ‚weg mehr Stoffe ins Dialysat über. Nur die Phosphorsäure erfährt keine Erhöhung; das kann wohl nur so erklärt werden, daß die durch Oxydation aus organischem Phosphor gebildete Phosphorsäure sofort nach der Ent- stehung von kolloidalem Eisenoxyd bzw. Aluminiumoxyd oder auch von Caleiumcarbonat chemisch gebunden wird und sich in dieser Bindung der Dialyse entzieht. Wir haben’ daher die vorherige Behandlung mit Wasser- stoffsuperoxyd bei den weiteren Versuchen mit verschiedenen Boden- arten nicht mehr vorgenommen.

Im übrigen folgt schon aus diesen Versuchen, daß die Dialyse gegen- über den zuerst aufgeführten Verfahren zur Bestimmung des leicht lös- lichen Anteils der Bestandteile des Bodens keine Vorzüge besitzt und schon wegen der Langwierigkeit der Ausführung für die Praxis der Bo- denanalyse' keine Bedeutung haben wird.

9, Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens.

Über die Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens sind schon viel- fache Untersuchungen angestellt worden. Boussingault und Lewy*) ermittelten die Beziehungen zwischen dem Luftsauerstoff und der Bodenkohlensäure, währendv.Pettenkofer und seine Schüler“) aus der Menge der im Boden vorhandenen Kohlensäure auf die Größe seines Oxydationsvermögens glaubten schließen zu können, Ebermayer“) benutzte das v. Pettenkofersche Verfahren zur Bestimmung der Kohlensäure im Waldboden, Fleischer und Kißling”) desgleichen zur Stärke der Zersetzung in Niederungs- und Hochmoorboden; sie ist in Niederungsmoorboden höher als in Hochmoorboden und wird durch Be-

12) Compt, rendus 1853, 35, 765.

13) Zeitschr. f. Biologie 1871, 6, 395, 1875, 10, 392 u. v. Fodor, Untersuchungen über Luft, Boden u. Wasser, Braunschweig 1882,

44) Landw. Versuchsstationen 1873, 16, 64,

15) Landw. Jahrbücher 1891, 20, 876,

68 König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens.

sandung gesteigert, P. Petersen“) schlug dagegen einen anderen und richtigeren Weg ein, indem er durch den in einem Verbrennungsrohr be- findlichen Boden einen kohlensäurefreien Luftstrom trieb und die im Bo- den gebildete Kohlensäure durch Absorption mittels titrierter Barytlauge bestimmte. Er fand, daß Calciumcarbonat die Oxydation nicht nur von Kohlenstoff zu Kohlensäure, sondern auch von organischem Stickstoff in humusreichem Boden zu Salpetersäure beförderte.

Die weiteren Versuche über diese Frage beschäftigten sich, ER man als Ursache der Oxydation (Kohlensäurebildung) die Tätigkeit von Bakterien, die den Luftsauerstoff übertragen, erkannt hatte, mit den Be- ziehungen zwischen Bakterien und Kohlensäurebildung. Hesse”) be- nutzte letztere als Maß für die Lebenstätigkeit der Bakterien (Cholera- bakterien), Severin“) desgleichen als Maßstab für die Lebenstätigkeit der im Mist vorkommenden Bakterien. E. Wollny“) erbrachte unter vielen anderen den Beweis, daß in sterilisierten Böden die Kohlensäure-Ent- wickelung ausblieb. Auch Joh. Westhues”) stellte dieses fest und er- mittelte weiter den Einfluß der Feuchtigkeit und verschiedener Dünge- salze auf die Kohlensäurebildung. W. Thaer”) und P, Ehrenberg”) arbeiteten in derselben Richtung und konnten die Ergebnisse von West- hues bestätigen. Am eingehendsten hat sich dann F. H. Hesselinck van Suchtelen*) mit der Frage beschäftigt und die mannigfachsten Umstände in Betracht gezogen, wovon die Kohlensäurebildung im Boden abhängig ist.

Wie über die Oxydation des Kohlenstoffs zu Kohlensäure, so 'sind auch über die Oxydation des organischen bzw. Ammoniak- Stickstoffs zu Salpetersäure, über die Salpetersäurebildung (Nitrifikation) eine große Anzahl von Untersuchungen ausgeführt. Schon 1862 hat Pasteur”*) und 1873 Al. Müller”) die Vermutung ausgesprochen, daß die Oxydation des organischen oder Ammoniak-Stickstoffs zu Salpetersäure durch Mikro- organismen bewirkt werde, eine Vermutung, die sich in der Folge glän- zendbestätigthat. Winogradsky“) hat für die Nitratbildung im Bo- den ein besonderes Genus „Nitrobakter” (kurze bewegliche Stäbchen mit gelatinöser Umhüllung) reinzüchten können, während er die Nitritbildung

16) Landw.: Versuchsstationen 1870, 13, 155.

17) Zeitschr, f. Hygiene 1893, 15, 17.

18) Zentralbl. f, Bakteriologie 1904, II. Abt. 13, 616,

19) E, Wollny, Die Zersetzung organischer Stoffe im Boden. 1897.

2) Joh. Westhues,: Die . Kohlensäurebildung im Boden. . Ing. Dissertation. Münster i. W. 1905.

2a) W, Thaer, Der Einfluß von Kalk u. Humus usw. Göttingen; Preisschrift 1910.

22) Mitteilungen d. Landw. Institute d. Universität Breslau, 1908, 4, Heft III

23) Zentralbl. f. Bakteriologie 1910, 28, 45. Hier findet sich eine ausführliche Übersicht über die Literatur betreffend diese Frage,

2) Compt. rendus 1862, 54, 269.

25) Landw, Versuchsstationen 1873, 16, 273,

22) Arch. des scienc, biol, publ, ‘par 1l'Inst. imp. de m£d. exp. St. Petersburg 1892, 1, 87.

König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens. 69

der Tätigkeit zweier anderer hiervon verschiedenen Bakterien, dem Nitrosomonas und Nitrosococcus, zuschreibt. Es würde zu weit führen, hier auch nur einen kurzen Überblick über die zahlreichen Versuche zu geben, welche zur Aufklärung der Bedingungen für das Wachstum und die Wirkung dieser Bakterien im Boden angestellt worden sind. Eine ein- gehende Zusammenstellung aller dieser Versuche und ihrer Ergebnisse findet sich in dem vortrefflichen Handbuch der Landw. Bakteriologie von F, Löhnis. Berlin 1910, worauf hier verwiesen werden möge.

Uns lag daran, für die Oxydationskraft verschiedener Bodenarten unter gleichen Verhältnissen ein Verfahren ausfindig zu machen, welches möglicherweise als ein Hilfsmittel für die Beurteilung der Böden bei der praktischen Bodenanalyse Anwendung finden könnte, Ich habe daher in Ge- meinschaft mitDr.J.Hasenbäumer undK.Glenk fürdenZweck zum Teil andere Ausführungsweisen gewählt, als sie bis jetzt angewendet sind. Die Böden wurden einerseits im natürlichen Zustande (d. h. ohne einen anderen als Wasserzusatz), andererseits unter Zusatz von Glykose”) und Harnstoff*) der Oxydation bzw. der Durchlüftung unterworfen, so daß die Luft die ganze Bodenschicht durchziehen mußte. Die Versuchsanord- nung war folgende: (Siehe $. 70.)

Zu den Versuchen wurden zunächst die schon vorstehend aufge- führten 6 Bodenarten verwendet, und zwar je 1 kg, das zu jedem Versuch mit Wasser bis zu 50 % der wasserhaltenden Kraft vermischt wurde. Die Durchleitung der Luft geschah jeden Tag, vereinzelt auch nach zwei oder drei Tagen, und zwar durchweg 14—21 Tage bzw. solange, bis die Koh- lensäure-Zunahme nur mehr eine geringe war. Nach jedem Versuch wur- den bestimmt: die Anzahl der Bakterienkeime, die katalytische Kraft (bzw. Entbindung aus 3%igem Wasserstoffsuperoxyd für 5 g Boden in 2 Stunden), die elektrolytische Leitfähigkeit nach 8stündigem Stehen in Leitfähigkeitswasser, ferner der Gehalt an Ammoniak und Salpetersäure (bei den Reihen, in welchen neben Glykose auch Harnstoff verwendet war).

Die Bestimmung der katalytischen Kraft und der elektrolytischen Leitfähigkeit geschah in der bereits erwähnten Weise; Ammoniak und Salpetersäure wurden in üblicher Weise bestimmt. Zur Bestimmung der Anzahl der Bakterienkeime wurden 5 g Boden mit 500 ccm sterilisiertem Wasser durchgeschüttelt; von der Aufschüttelung wurden 5 ccm mit ste- rilisiertem Wasser auf 100 ccm verdünnt und von dieser Verdünnung wurde je 0,1 ccm in Petrischalen mit Gelatine als Nährboden angesetzt. Von jedem Boden wurden jedesmal 8 Kulturen angelegt und ausgezählt, aus denen das Mittel genommen wurde.

?”) Glykose als zu oxydierender Stoff wurde auch schon von Hesselinck van Such- telen angewendet.

22) In früheren Versuchen sind zur Bestimmung der Nitrifikationskraft des Bodens meistens Ammoniaksalze oder Harnsäure, von anderen (z. B. P. Ehrenberg, Mitteil. d. Landw. Institute d. Universität Breslau 1908, 4, 483) Mist- und Gründüngungspflanzen angewendet, während Vogel (Mitteil. d. Kaiser Wilhelms-Instituts f. Landwirtschaft in Bromberg 1910, 2, 393) für den Zweck Hornmehl empfiehlt.

Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens,

önig:

K

70

9) + A

Je 1kg des zu untersuchenden Bodens wurde in den Zylinder B der obenstehenden Figur gebracht, der oben und unten durh einen Gummistopfen mit Glasrohr für Zu- und Ableitung abgeschlossen werden konnte. Unten trat die Luft bei U ein, oben bei O aus. Unten an der Eintrittsstelle lag zunächst eine siebartig durchlöcherte Bleiplatte zur besseren Verteilung der Luft, auf dieser Platte lagerten etwa 100g groben Kieses, die ebenfalls die Luft- verteilung befördern sollten, auf die Kiesschicht folgte eine Schicht fein geschabten und gut ausgedrücten Asbestes A und hierauf kam der zu untersuchende Boden in einer Schicht von 35—45cm Höhe. Durch diesen Boden wurden mittels der Aspirator-Vorrichtung, A—A, bei jeder Kohlensäurebestimmung 101 Luft langsam hindurch gesaugt; dabei ging die eintretende Luft erst durch einen mit Kaliumhydroxydstangen und Natronkalk gefüllten Glasturm C,_ TE dann durch ein Gefäß D mit verdünnter Schwefelsäure und trat von hier in den Zylinder B mit dem Boden en. Im Glasturm C wurde die Luft von Kohlensäure, Wasser, auch Staub befreit. Die aus dem Boden in Gefäß B aus- tretende Luft ging erst durch konz. Schwefelsäure (Gefäß E), dann durch zwei Rohre mit trockenem Chlorcalium (Rohr F u. G) und weiter durch zwei Natronkalkrohre (H u. J), die jedesmal nadı dem Durdhleiten der Luft gewogen wurdenjjund welche die Menge der gebildeten Kohlensäure angaben. Die Rohre H und J waren durch ein Schutzrohr K, das zur Hälfte Natronkalk, zur Hälfte trockenes Chlorcalcium enthielt, vor Zutritt von Kohlensäure und Wasser von außen geschützt.

König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens. 71

Die ursprünglichen Böden lieferten vor dem Änfeuchten mit Wasser und vor dem Durchleiten von Luft folgende Ergebnisse:

rer | Schiefer- er Nähere Angaben | Sandboden us he Lehmboden | Kalkboden | Tonboden | "boden Feuchtigkeit . . |. 09% | 219% 3.76% |: -403% 511% |. 2.63% Auf wasserfreiem Boden berechnet: } Pa Pete PUR... .i161 61.3 873 238.6 | 159.1 163.3 ccm PN \ 1 itfähi

2. 13.84X103/29.83X.105|33.74X10 > NO 1.50 23. 89x10 > Bacterienkeime_ f.|- 0.2 mg. Boden . .| 706 872 170 154 185 189 Stickstoff in Form von: | Ammoniak | er 5 0.9 09 | 2.6 0.9 0.9 mg Salpetersäure (god 1.5 12 ayerhair ng Bo=N 18,

Diese Böden wurden dann mit 50 % der wasserhaltenden Kraft Wasser angefeuchtet und in vorstehender Weise vom 12. April 1911 an durch- lüftet. Es hatten sich folgende Mengen Kohlensäure gebildet:

| Sand. |SEEr| Lehm- | Kalk- |" Ton | Schiefer- Datum | Temperatur boden gt boden boden boden | boden Max. | Min. fo @ 8. 8. 8- 8- g 8-

13. April | 15.0 14.0 0.1167 0.1063 0.0881 0.2595 0.0830 | 0.1560 2. 16.5 14.5 0.0531 0.0881 0.0986 0.3100 0.1675 0.2027 18.2 12.5 0.0664 0.0775 0.1106 0.3497 0.1955 | 0.1965 » 19.0 12.4 0.0180 0.0296 0.0412 0.1463 0.1060- | 0.0629 20.0 12.2 0.0145 0.0419 0.0323 0.1143 0.0835 |. 0.0567 » 17.0 16.3 0.0142 0.0171 0.0238 0.0838 0.0550 | 0.0435 17.2 15.5 0.0063 0.0120 0.0239 0.0690 0.0440 | 0.0323 18.5 14.4 0.0220 0.0303 0.0398 0.1236 0.0880 | 0.0747 pr 17.0 16.2 0.0059 0.0085 0.0215 0.0771 0.0540 | 0.0239 5 15.3 14.7 0.0088 0.0095 0.0177 0.0555 0.0445 | 0.0305 PR 16.5 8.7 0.0148 0.0220 0.0280 0.0710 00440 | 0.0432 Mai 18.6 13.5 0.0320 0.0390 0.0563 0.1435 0.0825 | 0.0760

Summe: |208.7 |164.3 | 0.3727 | 0.4818 | 0.5818 | 1.8083 | 1.0475. | 1.0039 Oder im Durchschnitt der 19 Tage für jeden Tag und 1 kg. Boden: 15.7 | 19.6mg | 25.4mg | 30.6mg | 949mg | 55.1mg |52.8mgÜl. Auf wasserfreien Boden berechnet:

"ERSESSSER

Gebildete Kohlensäure für |

je ein kg. und 1 Tag 19.8 25.9 318 | 988 581 |54.3mgÜl, Von 5 gBoden entwickelter

Sauerstoff in ccm. . 19.4 61.7 102.6 | 244.1 195.6 175.9 ccmd Elektrolyt. Leitfähigkeit |24.38x103 43.14X103|55.84X103 139. 38x10 31025:X103 40.44X10 Bakterienkeime für 0.2 mg |

nn 2 | 102 | uras | os6 | ers

Stickstoff in Form von:

Ammoniak für 100 g nicht 0 nicht 0 0 (3.6)? Salpetersäure 1 Boden | bestimmt 8.1 esehani| 35.8 13.8 6.3 mg

> König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens.

Durch die alleinige Durchlüftung der Böden, die vorher längere Zeit lufttrocken im Laboratorium aufbewahrt waren, hat die Anzahl an Bak- terienkeimen, die katalytische Kraft, die elektrolytische Leitfähigkeit und nicht minder die Salpetersäure erheblich zugenommen; auch ist bezeich- nend und mit anderweitigen Ergebnissen übereinstimmend, daß diese Zu- nahme für alle Befunde beim Kalkboden am höchsten ist.

Zu den folgenden Versuchen wurden die 6 Böden einerseits für sich, andererseits unter Zusatz von je 1 g Glykose und 1 g Harnstoff auf 1 kg nebeneinander verwendet und außer auf die Menge der gebildeten Kohlen- säure ebenfalls auf katalytische Kraft, elektrolytische Leitfähigkeit, Bak- terienkeime, Ammoniak und Salpetersäure untersucht. Es wurde, auf wasserfreien Boden berechnet, gefunden: (Siehe d. Tabelle d folgenden Seite.)

Diese Ergebnisse sind nach verschiedener Richtung hin lehrreich:

1. Was zunächst die Oxydation der Glykose anbelangt, so können aus 1 g derselben, welches einem Kilo Boden zugesetzt wurde, 1,4656 g Kohlensäure gebildet werden; nimmt man an, daß die in den mit Glykose versetzten Böden mehr gebildete Kohlensäure gegenüber der aus natürlichen Böden ohne diesen Zusatz ausschließlich von oxydierter Glykose herrührt, so stellen sich bei den 6 Böden folgende Bezie- hungen heraus:

BT Sand- ee Lehm: 1, Kae -T Tea Tan a boden Br? boden | boden | boden | boden

Durch Glykose mehr gebildete | Kohlensäure . . ... 1117.1 | 6111 726.2 898.7 1046.0 | 1069.1 Oder in Prozenten der bil- | dungsmöglihen Kohlen-

Saure 4 ven Ser 76.22% | 41.69% | 49.54% | 61.32% | 71.37% | 72.94%

Hiernach hat der Sandboden die Glykose prozentual am stärksten oxy- diert; die absoluten Mengen gebildeter Gesamt-Kohlensäure sindaberbeiden anderen Böden ohne Ausnahme wesentlich höher und muß das Ergebnis wohl z. T. auch darauf zurückgeführt werden, daß nicht genug Luft durch- geleitet worden ist, um die höchst mögliche Menge Kohlensäure zu er- halten. Dieses tritt besonders auffallend beim Kalkboden hervor; er hat ohne Zusatz von Glykose 7,3 mal, nach Zusatz nur 2,4 mal mehr Kohlen- säure gebildet als der Sandboden unter sonst gleichen Verhältnissen. Auch war beim Kalkboden am Schlusse des Versuches nach dreiwöchiger Durchlüftung die Menge der gebildeten Kohlensäure noch 2—3 mal höher als bei den anderen Böden, so daß er nach genügend langer Fortsetzung der Durchlüftung auch wohl den höchsten Prozentsatz für die Oxydation der Glykose erreicht haben würde.

In dem ersten Versuch wurden alle 6 Böden unter gleichen Ver- hältnissen bei 15,7° mittlerer Temperatur auf die Kohlensäurebildung

73

Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens.

önig:

Köni

“678 sn gu Hz 97 26 sungsasyodug Bu 1’ andg andg 0'9 andg andg yeruouwmy tuoA wog up uapog 8005 UHNMPRS 7988 8998 1881 08,7 HTGEL 0099 Be a a Bu z’0 any PWwroyuoLiarseg] _OTXGE'SST| 9_OTXLT'SP | s_0TXE8°38 e-OTRIG°SIT Io _OTXIT FOL |_O1XZE BO | tree NOSBTURHIOT Ioapiorg w9 TÜST gl 2'908 ven 6'691 SWL nr nn r 09 Hoysloneg Aayfaspimuo uopog Bg uoA “8:06 6'807 0'89 688 ET g19 Bu Bel, u Su 68108 | 91888 gg1gl BOPLL 21882 E1081 | Pur uoßey sz up | “Pog Pt ı any Bunsuomyox SIOPIIqaD u9poqıoJorpg uopoquo] (usdunyuempg 03'71—8'E5 HW o2'9L anyeısdwo] S1ayıW) 6'575 6'°1 8'873 867 vs 0,8 sıngsıojodjeg 8 62 12 08 andg indg yoruounuy } !uoA unlog up Uopogg B00L Ur YOISSPHS S618 2088 8983 96L 3981 91, een uopog Bu Z'g any PWwosuaLLopeg| _01X8g’99T _OTXOE"TOL I°-OTXHE'OPT|E_OTXES'H6T | 8 _01XOBSF | _01Xs00 | rn HOBIROT ALERT w9 6'988 8'968 8.063 916 0’68L ErEL ner" w0D Hogsioneg dayaspımyuo uopogg BG uoN “gar Todl HE vEL v9 g’8E Bu Be] L ni Bu o:goLg | ran oeage | Vsonr erLsl Tioot | ‚Pu uosugng up J> "Boat. a0 OBeUoINoH MaRIITRD uspoqy[ey uopoqwy>7 (usdunyuempg op PL7g'5Z NW 09'05 anyeaodwo], Saapyın) 878 gg v8 rau 81 Pak Sıngsaogodieg Bur z’gL andg andg g8 andg andg yeruowug uoA ullog up uopogg B00L U} HOySPHS 918 0938 FrgL 098 00211 8091 arten uopog Burz’g any SWOyuoLLopTLg 3_OIK68°BEL) s-0IXLTER | a_01XSEEH | 8_01X82768 | 0_OTXIB'ST | _01X8I 9 | ° trennt MosdrypgoT Koaptaıg u 3'0Q 09, 889 98% G08 T61I re Be a a ei 409}Ss19nLGQS J9S>PIMJu9 U9pog 86 uo‘ og 829 288 0'°8 81 98T Bu Be] ı u \ Bun post | HPIBL 2809 ag 62081 8'068 Bu uoße] 1z up | “Po PA any Sunpeuoryoy SRPIIAD yoysuleyy asoskn 1oysuaey asoydın aa | By |PENZ OUyo| nu zu | By au | 9PenZ auuo :uoßunwwnsag uopogqpueg ı9Bıwy97 uspoqpuug

(uoBunyurmpg N’EI—gL Mu p'gL anperodwo], Duopyın)

ne —.-=—eGeee

74 König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens.

untersucht und folgende Verhältniszahlen gefunden, wenn man die Menge der gebildeten Kohlensäure von Sandboden = 100 setzt:

I 1 IT IV v v Sand: PRSROOE Lehm- | Kalk | "Ton: * [Saüeter- boden and“ | poden | boden | boden | boden boden Verhältnis der gebildeten Kohlensäure i 100 131 161 499 278 273

Bei den Versuchen unter Zusatz von Glykose und Harnstoff waren die Temperaturen in den 3 Versuchsreihen nicht gleich; sie betrugen für Boden I und II = 15,4°, Boden III und IV = 20,4° und Boden v_VI = 16,7° im Mittel; infolgedessen waren die absoluten Mengen gebildeter Kohlensäure bei den natürlichen Böden, besonders bei Boden HI und IV nicht unwesentlich höher; indes bleiben die Verhältnisse der Böden be- züglich der Kohlensäurebildung unter einander nahezu gleich, nämlich:

100 154 207 723 331 312: |

2. Bei der Oxydation des Harnstoffs im Boden können aus 1 $ desselben 0,7326 g Kohlensäure und 0,4665 g Stickstoff in Form von Ammoniak oder Salpetersäure bzw. von beiden gebildet werden. Nimmt man wiederum an, daß die nach Zusatz von Harnstoff zum Boden gebildete größere Menge Kohlensäure bzw. Stickstoff in Form von Ammoniak und Salpetersäure gegenüber dem natürlichen Boden ausschließlich von Harn- stoff herrührt, so ergeben sich folgende Beziehungen: |

u Sand- we Lehm- Kalk- Ton- |Schiefer-

boden boden boden boden boden

boden

a) Mehr gebild. Kohlensäure | 765.1 mg | 950.0 mg | 907.5 mg | 181.3 mg | 449.0 mg | 793.9 mg

Oder in Prozenten der bil- i

dungsmöglihen Kohlen- säure . . .1104.4% -1129.7% 1123.9% 247% 61.3% 1|108.4%

b) Mehr gebildeter Stickstoff >

in Form von

«) Ammoniak . 83 mg | 132 mg 20 mg 72 mg 60 mg | 121mg

#) Salpetersäure. 122 164 „| 448 146 29 | 214 Oder in Prozenten des Harnstoff-Stickstoffs gebildeter Stickstoff in Form von

ca) Ammoniak . 17.8% 28.3% 4.35% 15.4% 12.9% 25.9% £) Salpetersäure. 26.1, 85.2, 96.0 ,„ 31.83 6.2» 45.9 Umgesetst im ganzen | 43.9% | 63.5% |100.3% | 46.7% | 191% | 718%

Hiernach würde nur der Lehmboden eine volle Umsetzung und fast

volle Nitrifikation des Harnstoff-Stickstoffs bewirkt haben, ihm folgen zunächst der Schiefer-, dann der lehmige Sand-, Kalk- und Sandboden, während der Tonboden nur eine sehr geringe Nitrifikation bewirkt hat, Etwas anders gestalten sich die Verhältnisse, wenn man annimmt, daß

Hafer in verschieden vorbehandeltem Lehmboden.

Bei gewöhnliher | Bei 95° im Vakuum | Bei gewöhnlicher 6kg Boden 6kg Boden mit Temperatur trocken getrocknet. Temperatur feuht mit 6g Glykose 6g Gummi arab. aufbewahrt. aufbewahrt. in Lösung ver- in Lösung ver-

mischt. mischt.

König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens. 75

von allen Böden zuerst der zugesetzte Harnstoff zersetzt und oxydiert wurde, daß man also die gesamte in den mit Harnstoff versetzten Böden gebildete Menge Ammoniak und Salpetersäure als auf Harnstoff ent- fallend annehmen darf. Dann ergeben sich für die Harnstoff-Reihen im ganzen in 1 kg Boden:

av = | Sand- gen | Lehm- | Kalk- |" Fon: "| Schiefer- Ksmtntof in Eomm. von»: 2. poden nd | poden | boden | boden | boden

} boden

Ammoniak 0... 0°. 83 132 20° 11798 ©1090 600 121mg Salpetersäure. .... ... 154 248 498 | 429): |:.126 329. ri Im ganzen 237 380 » |: 518 ©] 405922 |" 186 450 mg

Hiernach würde Kalkboden an erste Stelle rücken und auch der Lehmboden sogar etwas mehr Stickstoff in Ammoniak und Salpetersäure umgewandelt haben, als der zugesetzte Harnstoff mit 466,5 mg Stickstoff verlangt. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, daß die Oxydationskraft ‚eines Bodens eine Grenze hat und innerhalb einer bestimmten Zeit für eine bestimmte zugeführte Luftmenge ein gewisses Maß nicht über- schreiten kann. Esist aber auch möglich, daß das durch die Umsetzung des Harnstoffs sich bildende Ammoniak bei dem an sich alkalisch beschaffenen Kalk- und Tonboden die Oxydation beeinträchtigt, bei den anderen, mehr sauer beschaffenen Böden dagegen unterstützt hat. Diese Frage soll noch durch weitere Versuche aufgeklärt werden.

3. Was die sonst ermittelten Größen anbelangt, so hat die Anzahl der Bakterienkeime durch Zusatz von Glykose zum Boden ganz erheblich bei Sandboden bis zum 8fachen vom unvermischten Boden zugenommen. Dementsprechend verhält sich auch die katalytische Kraft; nur bei Ton- und Schieferboden ist sie merkwürdigerweise etwas geringer als bei unvermischtem Boden.

Die mit Harnstoff versetzten Böden weisen für Bakterienkeime und katalytische Kraft keine Beziehungen auf. Bei Sand-, lehmigem Sand- und Tonboden ist die Keimzahl geringer, bei den anderen Böden größer, als bei den unvermischten Proben, während die aus 5 g Boden entwickelte Menge Sauerstoff bei allen Böden mit Ausnahme von Sandboden geringer als bei letzteren ist. Ein übereinstimmendes Verhalten zeigt aber die elektrolytische Leitfähigkeit; sie ist in allen mit Glykose versetzten Böden geringer, dagegen in allen mit Harnstoff ver- setzten Reihen größer als bei den unvermischten Gegenproben. Das erklärt sich bei den mit Harnstoff versetzten Böden aus der mehr ge- bildeten Menge von Nitraten bzw. Ammoniaksalzen; in der Tat weisen die drei Böden, Lehm-, Schiefer- und lehmiger Sandboden, bei denen der meiste Harnstoff-Stickstoff nitrifiziert ist, auch die größte Erhöhung der elektrolytischen Leitfähigkeit auf.

76 König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens,

Darnach sollte man auch in den mit Glykose versetzten Reihen mit wesentlich erhöhter Bildung von Kohlensäure, die ebenfalls zur Ent- stehung von löslichen Salzen im Boden Veranlassung geben kann, auch eine Erhöhung der elektrolytischen Leitfähigkeit erwarten. Es ist aber das gerade Gegenteil der Fall und das läßt sich nur durch die bereits bekannte Tatsache erklären, daß die elektrolytische Leitfähigkeit, wenn man einem Elektrolyten einen Nichtelektrolyten (hier Glykose) zusetzt, vermindert wird. Der Nichtelektrolyt soll, wie man annimmt, die Jonen gleichsam einschließen und an der Wanderung hindern. Da in den Gly- kose-Reihen noch nicht alle Glykose zu Kohlensäure oxydiert war, so wäre die Beobachtung sehr wohl zu erklären.”) Wir haben aber noch je 1 kg eines Lehmbodens mit je 1 g Glykose und arabischem Gummi ver- mischt und die elektrolytische Leitfähigkeit der drei Bodenproben wie folgt gefunden:

Boden vermischt für 1 kg mit 1 g Glykose | 1g Gummi

438.9 %X1073 273% 107 | 329x103

Boden unvermischt

Diese Beziehungen machen sich auch sogar beim Wachstum von Pflanzen in den Böden geltend. Von einem Lehmboden *) wurden je 12kg einmal trocken aufbewahrt, andere 12 kg wurden im Vakuum bei 95° getrocknet, desgl. 12 kg beim Aufbewahren regelmäßig mit Wasser ange- feuchtet, endlich je 12 kg des Bodens bei der Einsaat von Hafer mit 12 g Glykose bzw. 12 g arabischem Gummi in Lösung vermischt. Die Abbildung (vorstehende Tafel) zeigt die Wachstumsverhältnisse in den fünf verschieden behandelten Böden. Entsprechend dem vorstehend nachgewiesenen Ver- halten, daß durch Erhitzen des Bodens die durch Kolloide adsorbier- ten Pflanzennährstoffe löslicher werden, ist das Wachstum des Hafers in dieser Reihe auffällig besser als in den Reihen, deren Boden trocken oder feucht bei gewöhnlicher Temperatur aufbewahrt wurde. Auffallend ver- mindert ist das Wachstum in den mit Glykose und arabischem Gummi ver- setzten Böden. Man ist hiernach anzunehmen geneigt, daß Nichtelektro- Iyte auch im Boden die Wanderung der Jonen so zu hindern imstande

20) Vielleicht hängt hiermit auch die Erscheinung zusammen, daß Pflarzen auf Moorböden schon an Dürre leiden bezw. Zeichen von zu großer Trockenheit des Bo- dens bei einem Wassergehalt desselben zeigen, der für Mineralböden noch übermäßig hoch zu nennen ist, Das kann seine Ursache darin haben, daß die Bodenlösung so ge- haltreich an Humuskolloiden bezw. Humussäuren ist, daß eine Osmose mit dem Inhalt der Wurzelzellen nicht mehr vor sich gehen kann; es ist aber auch möglich, daß die starke kolloidale Lösung der Humusstoffe die Wanderung der Jonen beeinträchtigt und den Austausch mit den Jonen der Wurzelzellen verhindert. Hierüber sollen noch wei- tere Untersuchungen angestellt werden.

30) Bei einem in gleicher Weise mit Glykose versetzten Sandboden war das Wachstum besser, als in dem natürlichen Boden, offenbar deshalb, weil in ihm während der Vegetation die Glykose vollständig oxydiert wurde und durch die erhöhte Bildung von Kohlensäure die Lösung der Nährstoffe im Boden begünstigte.

. König: Bestimmung der Oxydationskraft des Bodens. 77

sind, daß dadurch das Wachstum der Pflanzen herabgedrückt wird. Es ist also sehr wahrscheinlich, daß die Nährstoffaufnahme der Pflanzen aus dem Boden auf Jonen-Austausch beruht.

Weiter aber lehren die Versuche, daß die Bestimmung der Oxy- dationskraft sehr geeignet ist, unseren Einblick in die Eigenschaften der einzelnen Bodenarten zu erweitern; als Zusatz zu oxydierender Stoffe haben sich Glykose und Harnstoff, je 1 g auf je 1 kg Boden, recht gut

(Mitteilung aus der Landw. Versuchsstation in Münster i. W.)

Über die analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose.

Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. J. König.

Man nimmt jetzt vielfach an, daß die Zellulose, die man als das Anhydrid der Glykose n(C,H,,O,) auffaßt, in der Zellmembran der Pflanze als gepaarte Verbindung mit anderen säureartigen Stoffen, gleich- sam als Ester, vorhanden ist. Man unterscheidet‘) infolgedessen:

1. Lignozellulosen, Verbindungen von Zellulose mit Lignonen bzw. Ligninsäure, z. B. in Jute, Holz- und Stroharten;

2. Pektozellulosen, Verbindungen von Zellulose mit Pektin- stoffen, z. B. in Flachs (Linum), Neuseeländer Flachs (Phormium), Hanf, Ramie, Indiafaser, Kapok, Espartogras u. a.;

3. Mucozellulosen, Verbindungen von Zellulose mit Schleim- stoffen, z. B. in Algen, Flechten, Obstfrüchten, Wurzelgewächsen, Quitte, Salep und verschiedenen Hülsenfrüchten;

4, Adipozellulosen [Korkzellulosen), Verbindungen von Zellu- lose mit Phellonsäure (C,,H,,O,) und anderen Säuren, z. B. im Kork;

5. Kutozellulosen, Verbindungen von Zellulose mit Stearocutin- säure (C,,H,,O,) und Oleocutinsäure (C,,H,,O,), z. B. in Abfällen und Staub von Flachs sowie in der Epidermis der Blätter und Stengel.

Als Hauptstütze für diese Anschauung kann man Untersuchungs- ergebnisse von F. Hoppe-Seyler und G. Lange?) ansehen, die ge- funden haben, daß man aus Buchen- und Eichenholz nach Vorbehandlung mit Wasser, Alkohol, Äther, Ammoniak und Salzsäure durch Schmelzen mit Alkali einerseits als Rückstand reine Zellulose, andererseits in der alkalischen Lösung zwei Säuren, eine in Alkohol lösliche Säure mit 61 % Kohlenstoff und eine in Alkohol unlösliche Säure mit 59 % Kohlenstoff gewinnen kann. Man kann aber auch ebenso gut annehmen, daß die Lignine oder Lignone die Zellulose in der Zellmembran nur mechanisch umschließen oder mit ihr innig durchwachsen sind, sie gleichsam inkru- stieren, ohne eine chemische Verbindung mit ihr zu bilden. Dafür sprechen verschiedene Umstände, nämlich daß die Zellmembran junger Pflanzen sowie von Pilzen aus reiner Zellulose (Glykoseanhydrid) besteht, daß die

1) Vergl, u. a, Francis J. G. Beltzer und Jules Persoz, Les matiöres cellulosiques, Paris et Liege 1911 u. Carl G. Schwalbe, Die Chemie der Cellulose. Berlin I Tl, 1910 u. I. TI. 1912,

2) Zeitschr, f, physiol, Chemie 1890, 14, 18,

König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose. 79

Lignine, die einen höheren Kohlenstoffgehalt als Zellulose besitzen, sich auch ohne vorherige Verseifung durch leichte Oxydationsmittel von der wahren Zellulose trennen lassen. Dann auch läßt sich, wie J. König und R. Murdfield°) gezeigt haben, aus den Zellmembranen, den Roh- zellulosen der verschiedensten Pflanzen nach Hydrolyse und Oxydation ein in Kupferoxyd-Ammoniak oder Zinkchlorid-Salzsäure unlöslicher Körper, das Kutin gewinnen, das für sich als ein selbständiger wachs- artiger Körper‘) sich verseifen läßt und vorher nicht mit der Zellulose verbunden gewesen sein kann.

Immerhin gibt es in der Zellmembran aller Pflanzen nur die Baumwolle kann nach bisherigen Untersuchungen als eine fast reine, wahre (gleichsam Ideal-) Zellulose angesehen werden eine Reihe von mechanisch eingelagerten oder auch in chemischer Bindung vorhan- denen Stoffen, die beseitigt werden müssen, um zu einer reinen Zellu- lose zu gelangen. Solche Stoffe sind:

‚A. Fette, Wachse, Harze sowie die sog. Inkrusten (Gerbstoffe, Bitter-

stoffe, aromatische Aldehyde, Vanillin, Hadromal, ferner bei Koni-

feren das Glukosid Koniferin, u. a.) neben mehr oder weniger Stickstoff-Verbindungen;

B. die Hemizellulosen (Hexosane und Pentosane);

C. die Lignine;

D. Kutin und Suberin, schwer lösliche wachsähnliche Stoffe.

Die Stoffe der Gruppe A lassen sich vorwiegend durch Behandlung der Pflanzenstoffe mit verdünntem Alkali, die der Gruppe B durch Hydro- lyse mit verdünnten Säuren, die der Gruppe C durch schwache Oxyda- tionsmittel (in alkalischer Lösung) und die der Gruppe D nur durch Be- handeln der Rückstände von A, B und C mit Kupferoxyd-Ammoniak oder Zinkchlorid-Salzsäure von der wahren Zellulose trennen, denn die wahre Zellulose ist nur in konzentrierten Säuren bzw, Alkali sowie in Kupfer- oxyd-Ammoniak oder Chlorzink-Salzsäure löslich und wird von schwachen Oxydationsmitteln nicht oder nur wenig angegriffen.

' Am schwierigsten sind die Lignine zu beseitigen, die sich durch ‚einen hohen Kohlenstoff-Gehalt von der wahren Zellulose unterscheiden und wahrscheinlich durch Einlagerung von Methylgruppen in die Zellulose während des Pflanzenwachstums entstehen. Früher nahm man nur ein einziges Lignin mit einem Gehalt von rund 55 % Kohlenstoff an. Es hat sich aber gezeigt, daß es recht verschiedene Lignine gibt, nämlich wie aus den Untersuchungen von R. Murdfield und mir‘) hervorgeht, solche mit 54-60 % und solche mit über 60 % Kohlenstoff, und weil die Lignine mit höherem Kohlenstoff im Kot sich ansammeln, kann man annehmen, daß die Lignine mit niedrigerem Kohlenstoffgehalt leichter verdaut werden

°) Landw. Versuchsstationen 1907, 65, 55.

| %). Vergl. auch W. Sutthoff, Zeitschr. f. Untersuchung der Nahrungs- und Genuß- -mittel 1909, 17, 662. 5) Landw. Versuchsstationen 1907, 65, 55.

König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose,

80

als die mit höherem Kohlenstoffgehalt. Dieses geht auch noch aus Ver- suchen von W.Sutthoff und mir°) hervor, in denen aus den Mengen der von sonstigen Kohlenhydraten und Fett usw. befreiten Substanz und der nach jedesmaliger Behandlung mit verdünnten Säuren und Alkalien im Rückstande gefundenen Elementarzusammensetzung der Kohlenstoff- gehalt der gelösten kohlenstoffhaltigen Substanz auf indirektem hs be- rechnet und hierfür gefunden wurde:

Roggen- | Wiesen- |Inkarnat- | Gries- | Grob- | Flug- | Reis- Gelöst durch körner heu | kleeheu | kleie | kleie | kleie | mehl II % 9% % 90 % %

1. 1:/,%ige Schwefel- säure . ; 47.61 50.43 48.96 | 47.08 |. 49.17 | 50.26 C 2. 11/,%ige Kalilauge 55.12 56.42 51.12 57.17 | 57.63 | 50.83) 57.62 C

Wenn schon durch einfaches Kochen mit 114 %iger Schwefelsäure Stoffe gelöst werden, die einen höheren Kohlenstoffgehalt besitzen, als Zellulose bzw. Hemizellulose (mit 44,4% C) oder Pentosane (mit 45,4% C) verlangen, so konnte dieses durch Dämpfen mit Glycerin unter Zusatz von 2 % Schwefelsäure bei 3 Atm. Druck um so mehr erwartet werden; ja schon durch Dämpfen mit Wasser bei 3 Atm. Druck werden aus den von Kohlenhydraten, Fett u. a. befreiten Zellmembranen Stoffe mit höhe- rem Kohlenstoffgehalt gelöst, wie folgende Zahlen zeigen: -

Grasheu- Kleeheu- ‚Bier: absslash Grasheu kot Kleeheu kot Bollmehl bh % % % % % % 1. Wasser unter Druk . 48.40 53.60 50.68 52.57 47. en 51.06 C 2. Durch an Agreine säure , . 51.73 52.94 53.09 54.76 53.00- 53.22 C

Dieselben Uindktuchnuenn wurden von Fr. Hühn und mir’) bei Holz und Pflanzenfasern, die vorher mit Wasser, Alkohol und Benzol behandelt waren, ausgeführt, indem hierbei auch der Kohlenstoff-Gehalt der durch Oxydation mit Wasserstoffsuperoxyd-Ammoniak nach der Be- handlung mit Glycerin-Schwefelsäure gelösten Stoffe ermittelt wurde; es wurde folgender Kohlenstoff-Gehalt für die gelösten Stoffe gefunden:

R Sulfit- 2 rt ee a Bucenholz | Eichenholz | Tannenholz use Bi Jute % % % %. re h 1. re nidegieh ar säure n 51.10 49.57 48.91 45.78 52.28 C 2. Oxydation u H,O, +NH;,. 59.62 57.65 60.43 66.94 45.47, C

6%) Landw. Versuchsstationen 1909, 70, 343.

7) J. König u. Fr. Hühn, Zeitschr. f. Textil-Industrie 1911, 6, 321 u. #f,; 1912, 7, 1u.ff.; auch als Sonderabdruck „Bestimmung der Zellulose in Holzarten und Gespinnst- fasern, Berlin 1912” erschienen,

König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose, 81

Man sieht hieraus; daß durch Behandlung der von löslichen Kohlenhydraten, Fett und anderen Stoffen befreiten Zellmembran durch verdünnte Säuren ja auch durch Wasser allein unter Druck neben den Hemizellulosen Stoffe in Lösung gehen, die einen weit höheren Kohlenstoffgehalt besitzen, als letztere beanspruchen, und daher den Ligninen zuzuzählen sind. - Wie hier bei Jute, so hat sich auch bei den vorhin erwähnten Untersuchungen herausgestellt, daß durch Glycerin-Schwefelsäure sogar kohlenstoffreichere Verbin- dungen gelöst werden können, als durch Oxydation. Man muß da- her wie zwischen Hemizellulosen und eigentlicher Zellulose, so auch zwischen Hemiligninen, die: schon durch Hydrolyse ohne gleich- zeitige Oxydation gelöst werden, und eigentlichen Ligninen, die nur durch Oxydation von der Zellulose zu entfernen sind, unterscheiden. Auch ist nicht abzusehen, weshalb sich nicht auch aus Hemizellulosen ebenso wie bei der wahren Zellulose durch Einlagerung von Methyl- bzw. Methoxylgruppen Lignine von leicht hydrolysierbarer Natur bilden sollten, In der Tat gehen auch durch Behandlung mit Glycerin-Schwefel- säure nicht unerhebliche Mengen Methyl- bzw. Methoxyl-Verbindungen in Lösung, nämlich in Prozenten der vorhandenen Methyl- bzw. Methoxyl- Verbindungen z. B.

Gelöst durch Eichenrinde Eichenholz Tannenholz Jute % 9% % %

1. Glycerin-Schwefel- A e 44.46 68.37 34.57 85.56 2. Durch Oxydation . 95.57 96.88 95.31 95.38

Nach Darlegung der Art und Menge der Zellmembran kann man von vorneherein den Wert der Bestimmungsverfahren der Zellulose, wovon im ganzen 37 angegeben sind?) richtig beurteilen. So können Oxydationsmittel z. B. Salpetersäure mit und ohne Zusatz von Kalium- chlorat, Chlor, Chlorkalk, unterchlorigsaures Natrium (Javelle’sche Lauge), Brom, Kaliumpermanganat, Phenol und Phenoläther, Wasser- stoffsuperoxyd und Ammoniak sowie andere Oxydationsmittel, für sich allein angewendet, wohl weiß aussehende Rückstände, aber niemals oder höchstens bei einigen wenigen Pflanzenstoffen reine Zellulose liefern. Denn sie können aus der Zellmembran durchweg nur die Stoffe der Gruppe C, nicht aber oder nur zum Teil die der Gruppe A und B (S. 79) entfernen. Wenn die nach Behandlung mit solchen Oxydationsmitteln hinterbleibenden Rückstände das weiße Aussehen der Zellulose besitzen, so ist dies eine Vortäuschung einer besseren Beschaffenheit. Durch die übliche Behandlung der Pflanzenstoffe mit verdünnten (144 %igen) Säuren und Alkalien nach Henneberg und Stohmann oder mit Glycerin- Schwefelsäure nach J. König werden nur die Stoffe der Gruppen A und B mehr oder weniger ganz, die der Gruppen C und D, welche der eigent-

®) M. Renker, Über Bestimmungsmethoden der Zellulose. Berlin 1911. Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 6

82 König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose,

lichen Zellulose ein mißfarbiges Aussehen verleihen, nur zum Teil entfernt. Deshalb werden die nach diesen beiden Verfahren erhaltenen Rückstände auch Rohfaser und nicht Zellulose genannt, Bezeichnungen, die wohl auseinanderzuhalten sind, die aber in der Literatur vielfach miteinander verwechselt und nicht scharf genug auseinandergehalten werden. Wenn man zu reiner Zellulose gelangen will, so müssen die Pflanzenstoffe mit wenigen Ausnahmen einer stufenweisen Behandlung mit letzteren Reagenzien und einer nachfolgenden schwachen Oxydation unterworfen werden und falls die Stoffe gleichzeitig nennenswerte Mengen Kutin oder Suberin enthalten, so muß noch eine Behandlung mit Kupferoxyd- Ammoniak oder Chlorzink-Salzsäure folgen, aus welchen Lösungen die reine°®) Zellulose bzw. Hydrozellulose durch Säuren oder Alkohol wieder ausgefällt werden kann.

Betrachtet man hiernach die technische Gewinnung der Zellulose aus Holzarten und Pflanzenfasern, so entspre- chen bei weitem die meisten der jetzt üblichen Verfahren den vorstehen- den Anforderungen nicht oder nur in beschränktem Maße. Auf dem In- ternationalen Kongreß für angew. Chemie in London 1909 wurde z. B. das Verfahren von Croß und Bevan,) welches im wesentlichen auf einer Bleichung mit Chlorgas und einer nachfolgenden Behandlung mit 2 %iger Natriumsulfitlösung und 0,2%iger Natronlauge usw. beruht, als das ver- trauenswürdigste erachtet, weil es einen weißen Rückstand hinterläßt. In Wirklichkeit ist der Rückstand noch lange keine reine Zellulose. So wurden in Prozenten der wasser- und aschenfreien Substanz an Pento- sanen gefunden: |

S &

8158| 0. Sulfite | Baum- Substanz 92,62 E28 Zellulose| wolle | Fadhs,) Hanf Jute ae

Al ie, a % a a Zr’

1. Ursprüngl. Substanz: ; | 28.99 | 26.88 | 13.72. | 15.66 | 1.96 | 6.56.| 4.66 | 18.86 2, In dem Rückstand nach

nach dem Verfahren von g % Croß u. Bevan . . . |] 16.17] 14.79 | 7.05 10.53 1.08 | 2.65 | 2.01 | 11.31

Also blieben von den Pentofanen in Prozenten derselben ungelöst: 155.49 | 55.02 ] 51.36 | 67.30°° }:55.01 | 40.40 | 43.17 [89:97 Also von einer reinen Zellulose, die nach diesem Verfahren erhalten werden soll, kann gar keine Rede sein, wenn der Rückstand auch. ganz weiß aussehen mag. Dasselbe ist bei anderen Verfahren der Fall, die jetzt in der Technik angewendet zu werden pflegen.

®) Unter Umständen allerdings seltenen kann diese Zellulose auch noch farblose Hemilignine einschließen, Um sich hiervon zu überzeugen, muß einer gi Bestimmung nach Zeisel u, Fanto (vergl. J. König, Chemie d. menschl, Nahrungs- und Genußmittel 1910, III. Bd,, I. TL., S. 540) ausgeführt werden. Reine Zellulose darf kein Methyl bezw. Methoxyl abenaltan.

10) Croß u, Bevan, Cellulose, 95.

König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose. 83

Zur Gewinnung der Zellulose aus Holz verwendet man jetzt meistens zwei Verfahren, nämlich: die Behandlung mit schweflicher Säure oder Calciumbisulfit, das sog. Sulfitverfahren einerseits und das Kochen mit Natronlösungen, das Natronverfahren andererseits. Beiden Vorbehandlungsweisen folgt dann, um eine ganz weiße Masse zu erhalten, eine Bleichung mit Oxydationsmitteln (wie Chlorkalk, unterchlorig- saurem Natron, Chlor u. a.). Daß durch diese Behandlungsweisen aus Holz, dessen Zellmembran in ihren Eigenschaften und Bestandteilen von der anderer Pflanzen nicht abweicht, nach den vorstehenden Darlegungen keine reine Zellulose erhalten werden kann, ist von vornherein zu er- warten. Herr stud. chem. Braun untersuchte auf meine Veranlassung 18 verschiedene Holzzellulosen des Handels, darunter eine Natronzellulose und fand in der Trockensubstanz derselben im Vergleich zu rohem Tan-

nenholz folgende Bestandteile:

Wa leyer Beat Auszug mit Hemizellulose, 5 „Substanz Alkohol-Ben- Pentofane freier Asche RN zol Rüctsand Tannenholz (rohes). . .: |-1.25—1.66 % | 13.10-14.00 % | 33.0—45.0%:1)| 0.37—0.68 % Sulfitzellulose . . 0.68—134 „.| 489—11.51 |48.33—75.85% | 0.26—1.25 Natronzellulose (aus Kie- fernholz, eine Probe) . 0.49", 8.59, 62.77, 1.45°,

„Die. unreinste Zellulose”) mit 1151 9 Pentosanen in ir Trocken- Be wurde dann noch neben Tannenholz und reiner Zellulose auf Kohlenstoffgehalt und: Wärmewert untersucht und: dafür, auf Trocken- eng berechnet, gefunden;

Wärmewert Substanz - Kohlenstoff | Wasserstoff . (kalorien für 1 Ay Tiedepbalı (rohes) „a4. len AB, 5.75 % 4898.3 cal. Sulfitzellulose, ungebleihte . . .. .| 49.23 , 5.72, 4 48704. —— (aus Baumwolle) 44.15 6.20 4275.72) ,

it Diese ungebleichte Sulfätzellulose ist daher von einer reinen Zellu- Int noch sehr weit: entfernt; sie unterscheidet sich kaum von dem rohen Tannenholz. Und doch läßt sich auch aus Holz geradeso wie aus Pflanzen- fasern, wenn auch nicht so’ leicht, eine reine Zellulose gewinnen, wie fol- gende: auf wasser- «und aschenfreie- Substanz berechneten Zahlen, die nach dem Verfahren von Tollens und Dmochowski“) (Weender

eg) Diese Zahlen ergaben sich durch Berechnungen u Unteisuchuigte; die erst später mitgeteilt werden können, : 12) Die anderen Zellulosen sollen a noch untersucht een 12) Da die theoretisch reine Zelluiose 44,44 % C und 6,17 % H enthält, so würden sich hierfür nach obiger Bestimmung 4292,1 cal. für 1 8 Substanz berechnen, 14) Journ. f, Landwirtschaft 1919, 58, 1.

6*

84 König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose,

Rohfaser-Bestimmung mit Salpetersäure), J. König”) (Dämpfen mit Glycerin-Schwefelsäuren und nachfolgende Oxydation mit Wasserstoff- superoxyd und Ammoniak) und H. Müller“) (wiederholte Behandlung mit Bromwasser) von Fr. Hühn (l. c.) gewonnen wurden, zeigen mögen:

Zeiltlose nach. lan ons Vertak:|Zeiluloser zn iVeitene, Verfahren von Tollens Ey S Substanz id Dinschbivski ren von J. König ren von H. Müller C | H |Wärmewert| © | H [Wärmewert| C | H |Wärmewert 51% cal. 1g| % 1% Keal.f.1g)| % 1% |Ccal. f. 19) Bucdenholz ,:., . 144.78] 5.81 Rn 44.43| 6.231 4290.83 44.64| 6.40| ‚4269.2 Eichenholz . .". ...!44.51/ 6.23 BER 44.11| 6.07 u 44.17 ‚6.01 Fra Tannenholz . .-. j44.22| 6.001 4237.6 44.63] 6.22) 4260.0 43.63) 6.40 . 4289.6 Sulfitzellulose . . |44.96| 6.12] 4234.0 I 4304.2 44.07 6.27) 4974.4

Selbstverständlich können die vorstehenden drei Verfahren wegen ihrer Umständlichkeit und Kostspieligkeit für die technische Gewinnung von Zellulose aus Holz nicht in Betracht kommen. Aber es gibt auch ein- fachere Mittel, um die neben der Zellulose in Holzarten bezw. in den Ge- steinstfasern vorhandenen verunreinigenden Stoffe zu entfernen. Behan- delt man das Holz einerseits mit verdünnter Sodalösung oder Ammoniak, andererseits mit verdünnten Säuren (Salz- oder Schwefelsäure), so ge- winnt man einen Rückstand, der durch Chlorlaugen gerade so gut ge- bleicht werden kann, als die nach dem Sulfitverfahren erhaltenen Rück- stände. Die gemeinschaftlich mit Herrn Braun angestellten Versuche haben ergeben, daß z. B. bei geraspeltem, rinden- und astreinem Tannen- holz durch 3—5stündiges Dämpfen bei 2 Atm. mit 1,5——2%iger Soda- lösung oder 5%igem Ammoniak die Harze, Fette oder Wachse u, a., durch ebensolanges Dämpfen mit 1,25—1,5% Salzsäure oder 2%iger Schwefel- säure alle Hemizellulosen auch die Pentosane fast vollständig gelöst werden können, um durch nachfolgendes Bleichen des Dämpfrückstandes. mit unterchlorigsaurem Natrium oder anderen Oxydationsmitteln zu einer Zellulose zu gelangen, die völlig weiß ist und ihre faserige Struktur gerade so gut bewahrt hat, als beim vorherigen Behandeln mit Sulfitlösungen. Dazu ist die Ausbeute an Zellulose mindestens ebenso groß wie bei den bisherigen Verfahren. Bei harzreichen Holzarten, wie Kiefernholz, muß man stärkere Laugen, aber keine‘ stärkeren Säuren, anwenden, Man kann aber Alkali wie Säuren mehrmals zum Dämpfen benutzen. Das neue Verfahren hat auch noch den weiteren großen Vorteil, daß sich die so gewonnenen Ab- laugen, die fast 50 % des angewendeten Holzes ausmachen und daher eine nicht geringe wirtschaftliche Bedeutung besitzen, leicht zur Verarbeitung auf ein Futtermittel aufarbeiten lassen. Die Beseitigung-der-bei-dem Sulfitverfahren abfallenden Laugen bildet nämlich für die meisten Fa- briken eine schwierige Frage.. Nur in den seltensten Fällen ist es mög-

15) J.. König, Chemie d. menschl, Nahrungs- ü. Genußmittel 1910, IH. Bd., L-TL., 451. 16) Zentralbl. f. Agrik. Chemie 1877, 6, 273.

König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose. 85

lich, die Ablaugen direkt in die Flüsse abzuleiten. Eine Reinigung durch Berieselung auf Land oder nach dem biologischen Verfahren oder die Verwendung als Düngemittel ist wegen des geringen Gehaltes an Dung- stoffen bezw. wegen der schwer zersetzlichen organischen Stoffe nicht angängig. Die Verarbeitung auf einzelne verwertbare Bestandteile z. B. Schwefel, Alkohol usw. wird zu teuer oder erzeugt neue lästige Abgänge. Am zweckmäßigsten ist daher die völlige Eindampfung und irgend eine wirtschaftliche Verwertung z. B. zur Pappe-Fabrikation, zum Gerben, als Kitt- oder Staubbindemittel oder als Futtermittel. Die Verwendung als Futtermittel muß natürlicherweise, weil die den Kohlenhydraten nahe- stehenden Bestandteile des Holzes zur Erzeugung von tierischen Produk- ten dienen können, den höchsten wirtschaftlichen Gewinn abwerfen. Es fehlt auch nicht an Vorschlägen zu dieser Verwertung; sie ist bis jetzt aber daran gescheitert, daß die vorhandene Menge schweflige Säure bei dem Sulfitverfahren sich nicht oder nur schwer beseitigen läßt, so daß alle Vorschläge dieser Art wieder aufgegeben bezw. nicht praktisch durchgeführt sind. Wendet man aber nach dem neuen Verfahren z. B. Soda und Salzsäure zum Aufschließen in nahezu stöchiometrischem Ver- hältnis an, so lassen sich die Ablaugen direkt mit einander mischen und zum Sirup einengen. Dient dagegen Ammoniak zum Lösen der Harze usw., so läßt sich dasselbe durch Destillation der Ablauge mit Kalk- milch zunächst wieder gewinnen; man hydrolysiert dann aber mit Schwe- felsäure statt mit Salzsäure und bemißt den Kalkmilchzusatz so, daß die Schwefelsäure dadurch gebunden wird ein kleiner Überschuß an Kalk ist hierbei nicht schädlich —. Auch diese Flüssigkeiten werden zum Sirup eingedampft. Der Sirup wird dann mit Trockenfuttermitteln, z. B. Kleie, Trockentreber, Trockenschlempe, Malzkeime usw., ähnlich wie Melasse mit diesen Trockenfuttermitteln, vermischt und getrocknet. Bei Anwen- dung von Soda und Salzsäure ist das Mischfutter verhältnismäßig reich an Kochsalz, in letzterem Falle bei Anwendung von Ammoniak und Schwefelsäure verhältnismäßig reich an Gips neben etwaigem kohlen- saurem Kalk. Kochsalz wird aber den Tieren zur Erhöhung der Freßlust an sich wohl gegeben und der Kalk im schwefelsauren und kohlensauren Kalk kann bei kalkarmen Futtermitteln unter Umständen ebenfalls vor- teilhaft sein. Jedenfalls werden derartige Mischfuttermittel mit Holz- laugen nach unseren Versuchen von den Tieren gern gefressen. Der auf diese Weise hergestellte Sirup ist ebenso wie Melasse reich an Zucker (hier allerdings Glykose und Xylose, dort Saccharose); man gewinnt aus 100 kg Holz 12—18 kg Zucker und mindestens 30—35 kg Extrakt. In Deutschland werden z. Z. täglich etwa 15000 t Holz auf Zellulose ver- arbeitet, die rund 43 = 5000 t oder 50000 dz Extrakt liefern. Da 1 kg Extrakt für die Fütterung auf mindestens 11 Pfg. veranschlagt werden kann, so würden diese täglich einen Futterwert von 550000 M haben, gewiß eine Summe, die alle Beachtung verdient. Die aus 100 kg Holz zu gewinnende Extraktmenge von 30—35 kg hat einen Futterwert von

86 König: Analytische Bestimmung und technische Gewinnung der Zellulose,

3,50-4,00 M; hierdurch dürften die Kosten des Abdampfens, was auch jetzt schon vielfach behufs Unschädlichmachung vorgenommen wird, ge- deckt werden, und wenn nach dem vorgeschlagenen Verfahren einmal mehr als nach dem Sulfitverfahren gedämpft werden muß und auch die Ausgaben für Alkali und Säure etwas größer sind als für die schweflige Säure bzw. den sauren schwefligsauren Kalk, so dürfte dieser Mehrauf- wand an Kosten durch die mindestens ebenso große Ausbeute an Zellulose und ihre bessere Beschaffenheit aufgewogen werden. Die Bleichungsarbeit bleibt aber nach dem vorgeschlagenen Verfahren dieselbe wie jetzt. Die Oxydationsablaugen enthalten nur verhältnismäßig wenig organischeStoffe; man wird sie daher, nachdem man sie in flachen Teichen genügend der Luft ausgesetzt hat, in den meisten Fällen direkt in die Flüsse abführen ‚kön- nen, nötigenfalls aber lassen auch sie sich eindampfen und zur Wieder- gewinnung von Soda oder zur Wiederherstellung von Bleichflüssigkeiten verwerten. Jedenfalls erscheint mir das vorstehende Verfahren nach un- seren jetzigen Kenntnissen der einzig richtige Weg, um einerseits zu einer reinen, wirklichen Zellulose zu gelangen, andererseits eine Lösung der für die meisten Fabriken schwierigen Frage der Beseitigung ‚der Bibwinaer herbeizuführen.

Nachschrift: In Fortsetzung der vorstehenden UitefeikBuigih ist es uns nach Ablieferung des Manuskriptes gelungen, in dem mit Alkohol und Benzol sowie Wasser behandelten Buchen- und Fichtenholz nach dem Vorschlage von Ost und Wilkening”) mit 72 %iger Schwefelsäure das leicht oxydierbare Lignin von der Hemi- und wahren Zellulose zu trennen. Es hatte die Struktur der Zellmembran und ergab 63—65 % Kohlenstoff. Die letztere ist daher beim Holz keine Verbindung von Zellulose mit Lignin, sondern bildet eine innige mechanische Durch- wachsung von Zellulose und Lignin in ähnlicher Weise, wie in den Knochen Leim und Kalkphosphat durchwachsen sind.

17) Chem. Ztg. 1910, 34, 461.

Mitteilung aus der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Münster i. W.

Neue Gesichtspunkte für die Analyse der Fette und Öle. VonA,Bömer. _

Die Untersuchung der Fette und Öle hat in den letzten Jahrzehnten eine große Bedeutung gewonnen, weil die Fette und Öle sehr hohe wirt- schaftliche Werte darstellen und die vielseitigste Verwendung finden. Dies gilt insbesondere auch von den zur menschlichen Ernährung dienen- den tierischen und pflanzlichen Fetten und Ölen, deren Industrie in Deutschland, namentlich infolge der starken Vermehrung der Industrie- bevölkerung, außerordentlich an Umfang und Mannigfaltigkeit zugenom- men hat. Es ist nicht so sehr der verschiedene Nährwert der Erzeugnisse der Speisefettindustrie, welcher eine häufige Untersuchung bedingt, son- dern diese wird vorwiegend veranlaßt durch die Verschiedenheit der wirtschaftlichen Interessen und Werte. Es kommt hinzu, daß die Ver- mischung und Verfälschung der verschiedenen Fette und Öle sehr leicht ausführbar ist und die Mischungen sich vielfach nur sehr schwer als solche erkennen lassen.

Die Untersuchung der Fette und Öle auf ihre Natur und Reinheit gehörte seit jeher zu den schwierigsten Aufgaben des Chemikers. Bis etwa gegen Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren es vor- wiegend die einfachsten physikalischen Methoden (Bestimmung des spezifischen Gewichts, des Schmelz- und Erstarrungspunktes, des mikroskopisch-polarimetrischen Verhaltens usw.), welche bei der Analyse zur Erkennung der Art und Reinheit der Fette und Öle Verwendung fanden. Diese Methoden ließen auch wohl die reinen Fette und Öle verschiedener Art als solche erkennen, aber sie ermöglichten nur in den seltensten Fäl- len den Nachweis selbst größerer Zusätze des einen Fettes in dem anderen.

Ende der 70er und in der ersten Hälfte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts beschrieben dann Hehner, Köttstorfer,v. Hübl und Reichert ihre bekannten Methoden, die zweifellos einen großen Fort- schritt auf dem Gebiete der Fett- und Ölanalyse bedeuteten. Diese rein chemischen Methoden beziehen sich sämtlich nicht auf den Nachweis be- stimmter kennzeichnender Eigenschaften der einzelnen Fette und Öle als solcher, sondern sie lassen uns nur einzelne Fettsäuren oder Gruppen von diesen erkennen und zum Teil auch ihrer Menge nach bestimmen. Sie sind gleichsam summarische Ausdrücke für die Menge und gewisse Eigen- schaften der Fettsäuren. Ihre Verwendbarkeit ist ebenso wie die der zuerst angewendeten Methoden zur Bestimmung der physikalischen

88 A. Bömer: Analyse der Fette und Öle.

Eigenschaften der Fette und Öle an den Vergleich mit den bei bestimmt reinen Fetten und Ölen derselben Art gefundenen Werten gebunden, deren obere und untere Grenzen man durch mehr oder weniger zahl- reiche Untersuchungen festgelegt hat. Es sind quantitative Bestimmun- gen, die jedoch meist nur einen qualitativen Wert haben und die man daher auch als „quantitative Reaktionen” bezeichnet hat.

Es ist nicht zu verkennen, daß mit Hilfe dieser Verfahren die Fett- analyse in weit sicherere Bahnen gelangte, als sie zur Zeit der Herrschaft der physikalischen Untersuchungsmethoden wandelte, aber befriedigende, hinreichend sichere Schlußfolgerungen über die Reinheit der Fette und Öle lassen auch die quantitativen Reaktionen in der Mehrzahl der Fälle nicht zu.

Es kamen dann im Laufe der neunziger Jahre des vorigen Jahr- hunderts die qualitativen Farbenreaktionen auf bestimmte Öle (Baumwollsaatöl, Sesamöl u. s. w.) hinzu, die wiederum einen be- deutenden Fortschritt bedeuteten. Mit Hilfe dieser Farbenreaktionen im Verein mit den quantitativen Reaktionen ist es vielfach gelungen, Ver- fälschungen, z. B. solche von Butter, Schweinefett, Olivenöl etc. mit Fremdfetten und -Ölen nachzuweisen.

Je mehr diese beiden Gruppen von Untersuchungsverfahren, die quantitativen Reaktionen und die Farbenreaktionen, im Laufe der Jahre aber angewendet wurden, um so mehr zeigte es sich, daß sie doch nicht mit derartiger Sicherheit den Nachweis von Ver- fälschungen gestatten, wie ihre Erfinder zunächst angenommen haben. Diese Unsicherheit ist dadurch bedingt, daß die zahlreichen Untersuchun- gen der späteren Jahre gezeigt haben, daß die Zusammensetzung der Fette und Öle des Tier- und Pflanzenreiches weit größeren Schwankungen unterworfen ist, als man zunächst auf Grund nur wenig zahlreicher Unter- suchungen von reinen Fetten und Ölen angenommen hatte. Während man z. B. zunächst die Zahl 27 als die unterste Grenze für die Reichert- Meißl'sche Zahl des reinen Butterfettes annahm, zeigten weitere Unter- suchungen, daß nicht selten auch Zahlen bis 24 herunter, ja sogar ver- einzelt auch Zahlen bis 20 und darunter bei reinem Butterfett vorkommen. Ähnlich ist es im Laufe der Jahre den Jodzahlen des Schweinefettes und Olivenöles und anderen sog. Konstanten ergangen. Je zahlreicher die Untersuchungen wurden, desto mehr schwand die Bedeutung der sog. „quantitativen Reaktionen” und ähnlich ist es auch einem Teile der Farbenreaktionen ergangen.

Diese großen Schwankungen in der Zusammensetzung der Fette und Öle des Tier- und Pflanzenreiches sind durch die verschiedensten Um- stände bedingt, Bei den Pflanzenfetten sind es die Verschiedenheiten in Klima, Standort, Vegetationsstadium bei der Ernte und insbesondere in der Art der Gewinnung (Extraktion, Pressung, Reinigung), welche die Schwankungen bedingen, doch sind diese im allgemeinen nicht von so

A. Bömer: Analyse der Fette und Öle. 89

großer Bedeutung, wie die Schwankungen in der Zusammensetzung der tierischen Fette, Bei diesen spielen Rasse, Alter und vor allem die Fütterung der Tiere die Hauptrolle unter den die Schwankungen in der Zusammensetzung bedingenden Faktoren. Was insbesondere den Ein- fluß der Fütterung betrifft, so zeigten sich auch hier nur geringe Einflüsse, so lange man die Tiere auf der Weide oder vorwiegend mit Heu, Körnerfrüchten, Kartoffeln u. s. w. fütterte; seitdem man aber infolge des intensiveren landwirtschaftlichen Betriebes außer den genannten, meist in der eigenen Wirtschaft erzeugten Futtermitteln die Kraft- futtermittel, insbesondere die Abfälle der Ölgewinnung, der Zucker- und Stärkeindustrie, zur Fütterung verwendet, zeigen vor allem auch die Fette des Tierkörpers eine sehr verschiedenartige Zusammensetzung; diese kann bei sehr starker Fütterung von Ölkuchenmehlen sich sogar so sehr verändern, daß das Körperfett in seinen quantitativen Reaktionen und Farbenreaktionen einem Gemische von normalem Fett und dem ge- fütterten Öle gleicht.

Man hat aus diesen Befunden und aus einer großen Zahl von in dieser Richtung besonders angestellten Fütterungsversuchen ge- schlossen, daß die Futterfette unverändert in das Milch- und Körper- fett übergehen können. Allein dieser Schluß ist keineswegs gerecht- fertigt; er gründet sich lediglich auf den Vergleich der Eigenschaften der Fettsäuren der Futterfette einerseits und der Körperfette bezw. Milch- fette andererseits. Aus einer Ähnlichkeit der Fettsäuren beider Fette darf man aber nur auf einen Übergang der Fettsäuren des Futterfettes in das Körper- und Milchfett, nicht aber auf einen solchen der Glyceride schließen. Dafür, daß die Glyceride der Futterfette in das Körper-

oder Milchfett unverändert übergehen, ist bisher keinerlei Beweis er- bracht. Allein auch schon durch den Übergang der Fettsäuren des Futter- fettes in das Körper- und Milchfett entstehen der Fettanalyse große Schwierigkeiten. Ein Beispiel möge dies erläutern: Das Kokosfett dient einerseits zur Verfälschung der Butter und andererseits sind die Kokos- kuchen, die fetthaltigen Abfälle von der Gewinnung des Kokosfettes, ein wertvolles Futtermittel für Milchkühe, Infolgedessen können die Fett- säuren des gefütterten Kokoskuchens in das Milchfett übergehen. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß alle Verfahren zum Nachweise einer Ver- fälschung von Butter mit Kokosfett, welche auf einer Bestimmung der Eigenschaften der Fettsäuren des Butterfettes beruhen, nicht immer einwandfrei zu einem sicheren Schlusse führen können, mag man nun die Verseifungszahl des Fettes oder das Molekulargewicht der gesamten oder der unlöslichen Fettsäuren oder deren Refraktion oder endlich eine Mengenbestimmung gewisser Fettsäuren der Beurteilung zu Grunde legen.

Gegenüber diesen auf gewissen Eigenschaften und Mengenverhält- nissen der Fettsäuren beruhenden unzuverlässigen Verfahren haben wir in der Untersuchung der Eigenschaften der Ste- rine zuverlässige Verfahren zum Nachweise von Pflan-

90 A. Bömer: Analyse der Fette und Öle.

zenfetten in Tierfetten. Es steht durch zahlreiche Untersuchun- gen der letzten 15 Jahre fest, daß die Sterine der Pfilanzenfette und -öle, die Phytosterine, selbst unter abnormen Fütterungsverhältnissen nicht aus dem Futterfette in das Körper- und Milchfett der Tiere übergehen, sondern den Tierkörper mit dem Kot verlassen. Wir haben daher in der Phytosterinacetat-Probe ein zuverlässiges und ‚sehr empfind- liches Verfahren zur Unterscheidung der Tier- und Pflanzenfette und zum Nachweise selbst geringer Mengen von Pflanzenfetten in Tierfetten. Dagegen mangelt es uns bis heute noch an zuverlässi- gen Verfahren zum Nachweise der einen tierischen Fette in den anderen, z. B. zum. Nachweise von Rinds- und Hammeltalg in Schweinefett, von Schweinefett und Talg oder Oleo- margarin in Butterfett, von Schweinefett in Gänsefett u. s, w., und doch würden Methoden zum Nachweise dieser Beimischungen für die Nahrungs- mittelkontrolle von der größten Bedeutung sein.

An der Lösung dieser Probleme zu arbeiten, erschien zwecklos, so lange man annahm, daß die tierischen Fette mit Ausnahme des Butter- fettes im wesentlichen aus Gemischen der einfachen Triglyceride der Stearin-, Palmitin- und Ölsäure beständen und daß sich die Mehrzahl der tierischen Fette vorwiegend nur durch das verschiedene Mengenverhält- nis dieser Glyceride unterschieden. Nachdem aber durch die Unter- suchungen der letzten 15 Jahre der Beweis erbracht ist, daß die natür- lichen Fette des Tier- und Pflanzenreiches nicht lediglich aus einfachen Triglyceriden bestehen, sondern daß in ihnen die verschiedenartigsten gemischten Triglyceride vorkommen, ja diese sogar in den natürlichen Fetten vorzuherrschen scheinen, durfte man wieder mit der Möglichkeit rechnen, daß es gelingen würde, auch in der Analyse der tierischen Fette einen Schritt weiter zu kommen. Freilich ist nicht zu verkennen, daß ein Teil der Untersuchungen über die gemischten Gly- ceride nicht so sorgfältig angestellt ist, daß ihre Ergebnisse als vollständig einwandfrei anzusehen sind, und es ist daher eine sorgfältige Nachprüfung dieser Arbeiten unbedingt erforderlich, ehe man die Befunde analytisch für den Nachweis des einen Fettes in einem anderen verwerten kann.

In dieser Erwägung haben wir uns seit 6 Jahren mit der Unter- suchung einer Reihe von tierischen Fetten auf ihre Glyceride beschäftigt und zwar vorwiegend mit den Glyceriden der gesättigten Fettsäuren, weil diese meist die schwerlöslichsten sind und sich daher am besten durch Krystallisation von den leichtlöslicheren Glyceriden mit einem oder mehreren Molekülen ungesättigter Fettsäuren trennen lassen.

In dieser Weise sind zunächst die Glyceride des Rinds- und Hammeltalges untersucht‘) und darin an Glyceriden gesättigter Fettsäuren gefunden worden:

1) Zeitschrift f. Untersuchung d. Nahrungs- und Genußmittel 1907, 14, %—117, u. 1909, 17, 353— 3%.

A. Bömer: Analyse der Fette und Öle. 9

Schmelzpunkt (korrig.) A a I TAN @-Palmitodistearin .-. 2: 2 2..2.. 633° Dipalmitosteatin #3%: 35 } sense SID

In derselben Weise haben wir auch Schweinefett untersucht und zunächst nachgewiesen, daß _Tristearin darin nicht vorhanden ist, ferner daß das unlöslichste Glycerid auch nicht ein Heptadekyldistearin ist, wie H. Kreis und A. Hafner’) nachgewiesen zu haben glaubten. Das fragliche Glycerid ist vielmehr ein Palmitodistearin, das aber mit dem ‚des Rinds- und Hammeltalges nicht identisch, sondern das Isomere von diesem, nämlich das #-Palmitodistearin ist. Nach unseren Untersuchun- gen sind die beiden schwerlöslichsten Glyceride des Schweinefettes folgende:

Schmelzpunkt (korrig.) 8sPalmitodistearin-,20.:15% . 0 zu: 021:685° Dipalmitostearin . . . . . 2020°.20.58,4°

Wir sehen demnach, daß die schwerlöslichsten Glyceride des Rinds- und Hammeltalges verschieden sind von dem des Schweinefettes. Diese Tatsache er- möglicht die Nachweisbarkeit von Rinds- und Hammeltalg in Schweinefett und auf dieser Verschiedenheit der Glyceride beruht auch, wie durch in Gemeinschaft mit R. Limprich?’) ausgeführte Untersuchungen nach- gewiesen wurde, das von E. Polenske*) beschriebene, rein empirisch aufgefundene Differenzzahl-Verfahren zum Nachweise von Rinds- und Hammeltalg in Schweinefett. Ebenso beruhen auf der Verschiedenheit ‚der schwerlöslichsten Glyceride die ebenfalls empirischen, aber weit un- vollkommeneren neuen Verfahren von A. Leys‘') und J. A. Emery/) die bei der Krystallisation der Fette unter bestimmten Verhältnissen für die ausgeschiedenen Krystalle, namentlich von Schweinefett einerseits und Rinds- und Hammeltalg andererseits, verschiedene Schmelzpunkte ermittelten und darauf den Nachweis letzterer Fette in Schweinefett gründeten. Auf die Einzelheiten dieser Methoden von Leys und Emery kann hier nicht näher eingegangen werden; sie werden nach ihrer ganzen Anlage bei den natürlichen Schwankungen der Fette einer eingehenden Nachprüfung zweifellos nicht standhalten.

2) Zeitschrift f. Untersuchung d. Nahrungs- und Genußmittel 1904, 7, 641-669, u. A. Hafner, Über natürlich vorkommende und synthetisch dargestellte gemischte Fett- säureglyceride, Inaugural-Dissertation, Basel 1904.

®) Arb, a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte 1907, 26, 444—463, u. 1908, 29, 272—275.

*) Compt. rend, Paris 1907, 145, 199,

®) Rundschreiben No. 132 d. Abt. f. Viehverwertung des Landw. Ministeriums der Ver. Staaten von Nordamerika; Chem. Centralblatt 1908, II, 1066,

92 A. Bömer: Analyse der Fette und Öle,

Wie schon oben hervorgehoben wurde, ist durch unsere Unter- suchungen nachgewiesen worden, daß die beiden Palmitodistearine, die des Schweinefettes einerseits und die des Rinds- und Hammeltalges andererseits, nicht identisch, sondern isomer sind und sich wesentlich durch ihren Schmelzpunkt unterscheiden. Dagegen sind natürlich die aus diesen beiden Isomeren abgeschiedenen Fettsäuregemische identisch. Auf dieser Tatsache baut sich nun ein Verfahren auf, welches ich in Gemeinschaft mit R. Limprich in letzter Zeit ausgearbeitet habe; es beruht auf der Differenz der Schmelzpunkte der Glyceride und ihrer Fett- säuren. Diese Schmelzpunkte betragen:

Schmelzpunkt (korrig.) Differenz

des Glycerides der Fettsäuren «@-Palmitodistearinaus Talg . . . 63,3° 63,2° 0,1° #-Palmitodistearin aus Schweinefett 68,5 63,4 ° 5,1°

Die Differenz zwischen den Schmelzpunkten des «-Palmitodistearins aus Talg beträgt also nur 0,1°, während sie bei dem isomeren 3-Palmito- distearin des Schweinefettes 5,1°ist. Wir haben nun durch eine Reihe von Versuchen an reinen Fetten und Mischun- gen aus diesen nachgewiesen, daß sich mittels dieser Schmelzpunktsdifferenz der Nachweis von Rinds- und Hammeltalg in Schweinefett führen läßt, und werden in Kürze dieses Verfahren, wenn es die weitere Nachprüfung besteht, den Fachgenossen bekannt geben.

Ferner beschäftige ich mich augenblicklich in Gemeinschaft mit J. Baumann mit der Nachprüfung eines auf derselben Grundlage beruhenden Verfahrens zum Nachweise von Schweine- fett in Butter, und auf Grund der bisherigen Untersuchungen hoffen wir auch hier zu einem positiven Ergebnisse zu kommen. Ein Verfahren, welches den Nachweis von Schweinefett in Butter gestattet, wäre natür- lich von der größten Bedeutung für die Nahrungsmittelkontrolle, da wir bekanntlich ein zuverlässiges Verfahren hierfür bisher noch nicht besitzen; denn das Differenzzahl-Verfahren von E, Polenske, das ja bei dem Nachweis von Talg in Schweinefett noch einigermaßen befriedigende Er- gebnisse liefert, hat für den Nachweis von Schweinefett in Butter sich bei der Nachprüfung bekanntlich nicht bewährt.

Was nun die Art der Ausführung unseres neuen Ver- fahrens zum Nachweise von Rinds- und Hammeltalg in Schweinefett sowie von Schweinefett in Butter betrifft, so ist natürlich nach Lage der Verhältnisse nicht damit zu rechnen, daß es sich um eine innerhalb kurzer Zeit ausführbare Methode handeln kann, und daß man sie etwa bei jeder Kontrollprobe wird anwenden können; immerhin ist sie aber ohne besondere Schwierigkeiten in solchen Fällen anwendbar, wo auf Grund von Vorproben, z. B. bei Butter auf Grund einer niedrigen

A. Bömer: Analyse der Fette und Öle. 93

Reichert-Meißl'schen Zahl, der Verdacht einer Verfälschung mit Schweinefett vorliegt.

Schließlich möchte ich auch noch darauf hinweisen, daß man bei der immerhin doch großen Ähnlichkeit zwischen den hier in Frage stehenden Fetten von vorneherein nicht damit rechnen durfte, daß sich etwa ähnlich wie bei dem Nachweis von Pflanzenfetten durch die Phytosterinacetat- probe 1 oder 2 % Talg in Schweinefett oder ebensoviel Schweinefett in Butterfett nach dem neuen Verfahren nachweisen ließen; man wird viel- mehr sich auch damit begnügen dürfen, wenn es gelingt, 10—15 % der fraglichen Fette sicher nachzuweisen, und das werden die neuen Ver- fahren voraussichtlich zu leisten imstande sein.

» Endlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß mit den geschilderten beiden Anwendungsweisen die Möglichkeit der analytischen Verwendung der Glyceride zur Unterscheidung der Fette und zum Nachweise des einen Fettes i im andern nicht erschöpft ist; es ist vielmehr bestimmt vorauszu- sehen, daß die weitere Kenntnis der in den natürlichen Fetten vorkom- menden Glyceride noch zahlreiche neue Gesichtspunkte für die Analyse der Fette und Öle bieten wird. Hierauf hinzuweisen war der Hauptzweck der vorstehenden Ausführungen; die bisher von uns ausgearbeiteten Ver- fahren selbst werden ausführlich demnächst an anderer Stelle veröffent- licht werden.

Beiträge zur Biologie der Fettzersetung. Von A, Spieckermann,

Fette und Fettsäuren werden alltäglich in großen Mengen aus der menschlichen Wirtschaft als Abfallstoffe ausgeschieden und letzten Endes dem Boden zur Weiterverarbeitung übergeben. In seinem hygienischen Taschenbuch berechnet von Esmarch‘) die mit den städtischen Ab- wässern täglich für den Kopf der Bevölkerung abgeschiedene Fettmenge auf 20—35 g, also 8—14 kg im Jahr; für Frankfurt a.M.hatBechthold?) durch Untersuchung des Schlammes der Kläranlage eine jährliche Ab- scheidung von etwa 31, kg Fett und Fettsäuren (als Seifen) für den Kopf berechnet. Rubner’) kommt bei seinen Berechnungen, die anscheinend die Seifen nicht berücksichtigen, auf etwa 2 kg im Jahre.

Große Fettmengen werden ferner im Müll und Kehricht entfernt, Auch in Form animalischer Düngemittel, wie Fleischmehl, Kadavermehl, Knochenmehl gelangen erhebliche Fettmengen in den Boden.

Diese Fettmengen verschwinden erfahrungsgemäß im Boden schnell, zuweilen auch schon in den Abfallstoffen während der Lagerung. So berichtet Bechthold, daß der Fettgehalt des Frankfurter Klär- schlammes bei etwa einhalbjähriger Lagerung von 11 % auf 1 % sank. Nur in seltenen Fällen, wie bei der Leichenverwesung und manchmal auf Rieselfeldern, halten sich größere Fettmassen längere Zeit.

Auch andere fettreiche Stoffe erleiden beim Lagern gelegentlich starke Verluste an Fett. So ist es bekannt, daß die als Futtermittel ver- wendeten Rückstände der Ölfabrikation schon bei einem Wassergehalt von etwa 14 % in wenigen Wochen fast ihr ganzes Fett verlieren. Klein‘) hat mitgeteilt, daß in locker gepackten Olivenpreßlingen all- mählich das Öl abnimmt.

Bei diesem Verschwinden der Fette und Fettsäuren handelt es sich lediglich um biologische Vorgänge und zwar nach den bisherigen Kennt- nissen im wesentlichen um solche pflanzlichen Ursprunges. Die früher von Nägeli°’) ausgesprochene Ansicht, daß Fette und Fettsäuren mit höherem Molekulargewicht wegen ihrer Unlöslichkeit in Wasser für die Ernährung pflanzlicher Lebewesen nicht geeignet seien, ist inzwischen

1) 4, Aufl, S. 168,

2) Zeitschr. f. angew. Chem, 1899, S. 849, ®) Arch. f, Hyg. 1900, 38, 67.

4) Zeitschr. f, angew. Chem, 1898, S. 849, 5) Vergl. Zopf: Die Pilze, Berlin 1890,

a Zi u 1 ll An a nl m LIT nal a U m en ae

DE a Are a a re N

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 95

durch eine größere Zahl von Arbeiten widerlegt worden, Als erster hat 1891 Schmidt‘) nachgewiesen, daß Ölsäure und Mandelöl, in gerin- gerem Maße auch feste Fette und Palmitinsäure von Schimmelpilzen zerstört werden. Etwa zehn Jahre später ist dann die Frage der Fett- zersetzung durch Pilze besonders von der praktischen Seite her durch Rubner und Schreiber,’) sowie König, Spieckermann und Bremer‘) untersucht worden. Erstere haben die Fettzersetzung im Boden, letztere in fettreichen Futtermitteln verfolgt. Weitere Arbeiten von Laxa,’) Rahn,”) Haselhoff und Mach“) de Kruyff”) und Bilhmsa»") u. a. haben sich daran geschlossen.

Trotz dieser vielen Arbeiten ist über die inneren Venen bei der dies : zum guten Teil wohl an den technischen Schwierigkeiten. Die ana- lytischen Verfahren für die Untersuchung der Fette sind nur wenig aus- gebildet und beschränken sich im wesentlichen auf die - Bestimmung gewisser Konstanten, die für die Beurteilung zersetzter Fette nur mit Vorsicht zu verwerten sind. Weiter bieten Ernährungsversuche mit Fetten und Fettsäuren wegen der physikalischen Eigenschaften dieser Stoffe erheblich größere Schwierigkeiten als solche mit in Wasser lös- lichen oder durch Sekrete leicht in Lösung gehenden.

‘Der Fragen, die die Fettzersetzung bietet, sind zahlreiche. Sicher

ist bisher nur, daß es zahlreiche Pilz- und Bakterienarten gibt, die Fette und Fettsäuren: zerstören ‚und daß die Fettzerstörung stets mit einer (teilweisen) Spaltung der Glyzeride in Glyzerin und Fettsäuren beginnt. Dagegen sind die Fragen nach der Art der Aufnahme der Fettsäuren und Fette in die: Pilzzelle, des,Ortes der Spaltung der. Glyzeride,.des Ver- haltens ‚der fettspaltenden Enzyme (Lipasen) gegen verschiedene Gly- zeride, des Abbaues des Glyzerins und der Fettsäuren und der Assimilier- barkeit der verschiedenen Fettsäuren bisher nicht oder unzureichend bearbeitet, oder die Anschauungen der Beobachter gehen dariiber aus- einander. Die tens ‚dieser Fragen hat mich in den’ letzten Jahren wiederholt beschäftigt. Meine Versuche sind zum größten Teile an einem aus Staub gezüchteten Penicillium „glaucum‘ ausgeführt worden. Dem Charakter dieser Festschrift entsprechend kann ich hier nur eine ge- drängte Übersicht über die bisherigen Ergebnisse meiner Untersuchungen geben. Im übrigen muß ich auf frühere und demnächst erfolgende.aus- führlichere Parolen an anderen Orten verweisen.

%) Flora 1891, 74, 300.

?) Arch, f. Hyg. 1902, 41, 328.

8) Zeitschr. f. Unters. d. Nahrungsmittel 1901, 4, 721; Landw. Jahrb. 1912, 31,88. ®) Arch. f, Hyg. 1902, 41, 119.

10) Centralbl. Bakt., II. Abt., 1906, 15, 422, 545.

11) Landw. Jahrb. 1906, 35, 445,

12) Bull. de l’Algric. aux Indes Neederland, No, IX, Buitenjorp 1907.

18) Centralbl. Bakt., I. Abt., 1901, 29, 847.

96 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

I, Die Aufnahme der Fettsäuren und Glyzeride in die Pilzzelle.

Die Aufnahme der Fettsäuren und Glyzeride in die Pilzzelle erfolgt, soweit sie in Wasser löslich sind, sicher in ihrer ursprünglichen Form oder als Salze. Betreffs der Fettsäuren und Glyzeride mit größerem Molekulargewicht, die in Wasser unlöslich sind und auch nur schwer lösliche Seifen bilden, hat Schmidt, der sich 1891 mit dieser Frage beschäftigte, die Ansicht ausgesprochen, daß diese Verbindungen als solche in Form von Emulsionen mit seifenartigen Stoffen, die in der lebenden Zellhaut gebildet werden, durch diese hindurchwandern. Er gelangte zu dieser Auffassung im wesentlichen durch die Beobachtung, daß flüssige Fettsäuren sowie Öle mit geringen Mengen freier Fettsäuren die Zellmembran grüner Pflanzen leicht, Neutralfette dagegen schwer durchdrangen und daß mit Alkanna gefärbte Öltropfen im Protoplasma gefärbt wieder auftraten. Betreffs der letzten Beobachtung hat allerdings Czapek") wohl mit Recht bemerkt, daß sie als Beweis gegen eine intermediäre Spaltung der Glyzeride nicht angeführt werden kann. Als weitere Stützen für seine Anschauung hat Schmidt die Beobachtungen ins Feld geführt, daß in Massenkulturen von Aspergillus niger auf Mandelöl stets eine starke Spaltung der Gly- zeride eintritt, daß in Kulturen im hängenden Tropfen Kristalle von festen Fetten und Fettsäuren von Pilzfäden völlig umsponnen und allmählich gelöst werden, und daß Pilze auf Oleaten, die mit Sand gemischt waren, nur sehr kümmerlich gediehen; daraus glaubte er eine Überführung der Fettsäuren und Fette in Seifen vor dem Durchtritt durch die Zellwand ausschließen zu müssen, | |

In allen späteren Arbeiten über die Fettzersetzung ist diese Frage nicht wieder berührt worden; nur Eijkmann hat sie kurz gestreift. Ich habe sie, da mir Schmidts Untersuchungen in mehrfacher Be- ziehung anfechtbar erschienen, an dem von mir benutzten Penicillium eingehender studiert.”) Zunächst ergab sich, daß Seifen nicht in dem von Schmidt vermuteten allgemeinen Sinne für Schimmelpilze als Kohlenstoffquelle unbrauchbar sind. Zwar werden Natrium- und Kalium- seifen in solchen Massenkulturen wenig oder gar nicht ausgenutzt, da die bei ihrer Oxydation zurückbleibenden Alkalikarbonate das Pilz- wachstum stark hemmen. Dagegen gedieh das Penicillium auf Calcium- und Ammoniumseifen gut und zerstörte erhebliche Mengen, wie die nach- folgenden Zahlen eines meiner Versuche ergeben, die die aus den Seifen- kulturen zurückerhaltenen Gramme Fettsäure angeben: ni

1. Ammoniumseifen. | 2. Calciumseifen. Kontrolle Geimpft Kontrolle Geimpft Myristinsäure 0,9234 0,0345 0,0230 | 0,9148 0,3165 0,5280 Erucasäure 0,9518 0,2916 0,3438 0,9327 0,3922 verloren

14) Biochemie d. Pflanzen, Bd. 1, S. 132, 15) Zeitschr, f, Untersuchung d. Nahrungs- u. Genußmittel 1912, 23, 305.

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 97

Den klarsten Einblick in die Vorgänge bei der Aufnahme der Fett- säuren und Glyzeride in die Pilzzelle ergibt die mikroskopische Beob- achtung von Pilzkulturen auf Piatten von Agar, in dem die Fettverbin- dungen möglichst fein suspendiert sind. Bei diesem Verfahren lassen sich die in der Umgebung der Pilzfädenspitzen eintretenden Veränderungen genau verfolgen, was bei den Untersuchungen im hängenden Tropfen, wie sie Schmidt vornahm, nicht der Fall ist. Wichtig ist nur, daß man mit möglichst vielen Verbindungen arbeitet, da sich nicht alle gleich gut eignen, Weiter müssen die Reaktionsveränderungen berücksichtigt wer- den, die der Pilz in den Nährlösungen hervorruft. Ich habe für meine Versuche eine Grundlösung von 0,2 % Kaliummonophosphat und 0,1 % Magnesiumsulfat verwandt, der je nachdem 0,5% Nitrate (Kalium-, Natri- um-, Calciumnitrat), oder 0,5% Ammoniumsalze (Ammoniumsulfat oder -nitrat), oder 0,5% organischer Stickstoffverbindungen (Pepton Witte Asparagin, Glykokoll) hinzugefügt wurden. Bei Anwesenheit von Nitra- ten (mit Ausnahme des Ammoniumnitrates) oder von organischen Stick- stoffverbindungen erzeugt das Penicillium in der Nährlösung alkalische, bei Anwesenheit von Ammoniumsalzen saure Reaktion. Diese Reaktions- änderung ist in den Nitrat- und Ammoniaksalzlösungen, wie ich in Bilanzversuchen über den Stickstoffhaushalt des Pilzes nachgewiesen habe, auf Elektion der NO,- bezw. NN,-Jonen durch den Pilz zurückzu- führen, wodurch sich in der Lösung im Endeffekt Alkalikarbonate bezw. saure Verbindungen (Schwefel- und Phosphorsäure sowie saure Salze) an- häufen müssen. In den Lösungen mit organischen Stickstoffverbindungen findet Ammoniakabspaltung aus diesen statt. Ähnliche Beobachtungen über Reaktionsänderungen durch Jonenelektion sind bereits von Stutzer und Burri,“) Kohn und Czapek”) und Nikitinsky*) veröffentlicht worden. Infolge dieser Reaktionsänderung wird der Agar am Rande der Pilzkolonie, wie sich durch Lackmus nachweisen läßt, al- kalisch oder sauer und diese Reaktionsänderung schreitet mit dem Wachs- tum der Kolonie fort.

Die mikroskopischen Bilder, die sich am Scheitel der Pilzkolonie in

Platten mit Fettsäuren entwickeln, sind je nach der Nährlösung sehr verschieden. In Nitratlösungen entsteht um die Pilzkolonie herum eine helle Zone, in der die feinsten Fettsäurekrystalle ohne Berührung durch die Pilzfäden gelöst sind, während am Rande dieser Zone andere größere tafelförmige Krystalle ausgeschieden werden, später aber wieder in Lösung gehen. Größere Fettsäuretropfen zeigen am Rande ebenfalls diese tafelförmigen Krystalle und verschwinden allmählich. ®) Besonders bei der Laurin- und Myristinsäure treten diese Erscheinungen

18) Centralbl. Bakter., I. Abt., 1895, 1, 412,

17) Hoffmeisters Beiträge f. chem. Physiol. 1906, 9, 307.

18) Jahrb, f. wissensch. Botanik 1904, 48, 1.

#) Photogramme dieser Erscheinungen sind am angegebenen Ort veröffentlicht. Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 7

98 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

sehr schön hervor. Bei den Säuren mit höherem Molekulargewicht treten sie mehr zurück, und hier beobachtet man die schon von Schmidt er- wähnte vollständige Umwucherung der Fettsäurekrystalle durch Pilz- fäden. Bei der nur 10 Kohlenstoffatome besitzenden Caprinsäure da- gegen erfolgt wieder glatte Lösung der Fettsäurekrystalle ohne Ausschei- dung anders geformter Krystalle.

Die in der aufgehellten Zone ausgeschiedenen Krystalltafeln sind zweifellos Seifen der Fettsäuren, die durch Auflösen der Fettsäurekry- ställchen in der alkalischen Randzone der Kolonie entstehen; sie können in gleicher Weise durch Tropfen entsprechender Alkalilösungen erzeugt werden. Gleiche Bilder erhält man in Nährlösungen mit organischen Stickstoffverbindungen.

Die Aufnahme der Fettsäuren erfolgt also unter Verhältnissen, in denen die Pilzhyphen Alkali ab- scheiden, zweifellos in Form von Seifenlösungen.

Die Umspinnung der größeren Krystalle der Fettsäuren mit höherem Molekulargewicht, deren Seifen außerordentlich schwer löslich sind, er- klärt sich ohne Zwang als Reizwirkung der in der nährstoffarmen Agar- gallerte nur in die nächste Nähe der Krystalle diffundierenden Seifen- lösung.

Ein anderes Bild ergibt sich bei Verwendung von Ammoniumsalzen als Stickstoffquelle. Auch hier entsteht in der sauren Randzone der Pilz- kolonie bei Verwendung von Laurin- und Myristinsäure eine schmale auf- gehellte Zone, in der die feinsten Fettsäurekryställchen ohne Berüh- rung durch die Pilzfäden gelöst werden. Eine Ausscheidung anderer Krystalle findet nicht statt. Dagegen werden die größeren Kry- stalle schon bei diesen Säuren von Pilzfäden vollständig eingesponnen. Geht man dagegen auf die Caprinsäure zurück, so beobachtet man hier wieder einfache Lösung der Säurekrystalle ohne irgendwelche Berührung durch die Pilzfäden.

Es werden also auch bei saurer Reaktion des Nährbodens die Fettsäuren in gelöster Form aufgenommen und zwar können die Säuren in diesen Lösungen, da eine extrazelluläre Spal- tung der sehr festen Kohlenstoffkette unter den vorliegenden Verhält- nissen ausgeschlossen ist, nur als solche vorhanden sein. Diese Deu- tung begegnet keiner Schwierigkeit, wenn man bedenkt, daß die größten Dimensionen der im Agar suspendierten Fettsäurekryställchen nur etwa ‘/ oo mm betragen und daß selbst diese Mikrokrystalle von dem Pilz nur sehr langsam und schwierig in Lösung gebracht werden.

Was den Durchtritt der Glyzeride durch die Pilz- membran betrifft, so steht der Schmidtschen Anschauung, daß sie in Form einer Emulsion mit geringen Seifenmengen stattfinde, abge- sehen von der Schwierigkeit, sich eine Emulgierung fester Fette vorzu-

a SL AR UNE

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 99

stellen, die Tatsache entgegen, daß der größere Teil des Fettes in Pilz- kulturen schon in den ersten Stadien der Zersetzung zum größeren Teile in Glyzerin und Fettsäuren gespalten wird, wie folgende Beispiele zeigen:

Baumwolle- Rüböl I Rüböl II Erdnußöl

Kon- ba Kon- | Ver- | Kon-

Verschimmeltes | Kon- Yenkpummalten trolle I ıImı m trolle | meit | trolle

1 ee A

Verlust durch | | das Verschim- meln(%) ij | 2,9 |37,5|65,5] 148,0] |18,9|29,8|38,0] | 9,4 |38,8 | 51,7 Neutralisati- onszahl 6,3 | 59,5 |119,71102,0| 2,0 155,7] 19,0 |126,61126,6/135.3! 14,9 |108,1|144,51135,8 Verseifungs- zahl 199,8/191,0|195,3|188,9|170,0|168,4|172,4172,6|168,3163,5[183,4|176,1]181,4|180,9

Auch hier geben die mikroskopischen Bilder in Fettemulsions-Ägar- platten am besten Aufschluß über die Vorgänge zwischen Fetttropfen und Pilzfäden. Wendet man Nährlösungen mit Ammoniumsalzen an, in denen also saure Reaktion entsteht, so sieht man, daß bei Glyzeriden, deren Komponenten in Wasser löslich sind, wie beim Tributyrin, um die Pilz- kolonie eine aufgehellte Zone entsteht, in der die Glyzeridtropfen ohne Berührung durch die Pilzfäden in Lösung gehen. Verwendet man flüssige Fette, die die Glyzeride fester Fettsäuren enthalten, wie Erdnuß-, Rüb- oder Baumwollesaatöl, so scheiden sich in den der Pilzkolonie nächstlie- genden Tropfen feine Krystalle aus und die Tropfen verwandeln sich all- mählich ganz in Krystalldrusen, die von den Pilzfäden umsponnen und ge- löst werden. Bei Glyzeriden flüssiger Fettsäuren, wie Triolein, werden die Fettropfen ohne vorgehende Veränderung von den Pilzfäden vollstän- dig durchwuchert und verzehrt. Berücksichtigt man bei der Deutung die- ser Bilder die oben geschilderte schnelle Spaltung der Glyzeride in Massenkulturen, so ist die einleuchtendste Erklärung wohl die, daß die ' Glyzeride unter diesen Bedingungen zunächst durch von den Pilzzellen ausgeschiedene Stoffe, als welche die verschiedentlich nachgewiesenen Lipasen in Betracht kommen, außerhalb der Zelle in Fettsäuren und Gly- zerin gespalten werden und daß erstere, wie oben gezeigt wurde, als solche gelöst in die Zelle gelangen.

Wendet man nitrathaltige Nährlösungen an, in denen also um die Pilzkolonie eine alkalische Zone entsteht, so gleicht das Bild bei Verwen- dung von Tributyrin dem soeben beschriebenen. Dagegen entsteht bei Verwendung von Erdnuß-, Rüb-, Baumwollesaatöl und Triolein um die Ko- lonie herum eine Zone weißlicher Pünktchen, die in Krystallglomerate verwandelte Öltropfen darstellen, und am Rande dieser Zone sieht man Öltropfen, die ihre Kugelgestalt zu verlieren beginnen, indem vom Rande her kleine Drusen von Krystallen sich ausscheiden; später werden

1*

100 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung,

die Krystallkonglomerate von Mycel umsponnen und langsam gelöst. Man wird diese Krystalle als solche von Seifen deuten müssen und es fragt sich nur, ob die Verseifung der Glyzeride lediglich durch das vom Pilz ausge- schiedene Alkali oder unter Mitwirkung einer Lipase erfolgt. Die Tat- sache, daß auch in Massenkulturen, in denen Alkalibildung stattfindet, große Mengen freier Fettsäuren vorhanden sind, deutet auf die gleich- zeitige Wirksamkeit einer Lipase.

Die Glyzeride durchdringen die Zellenmembran also nicht als solche, sondern nur in Formihrer Spal- tungsprodukte: Glyzerin und Fettsäuren.

Freilich zeigen die mikroskopischen Bilder nicht, ob diese Spaltung eine vollständige ist, und auch die Massenkulturen geben hierüber kein klares Bild, da auch in späten Stadien der Zersetzung eine geringe Menge Glyzeride erhalten bleibt. Es bliebe also immerhin möglich, daß ein kleiner Teil der Glyzeride als solcher in Form einer Emulsion die Zellen- membran durchdringt. Indessen muß bei der Beurteilung der Ergebnisse aus Massenkulturen beachtet werden, daß rein mechanische Hindernisse, besonders zu wenig feine Verteilung und dadurch Absperrung der Lipase von dem Innern der Fetteile, besonders bei festen Fetten, eine Rolle spie- len können und daß der bei weitem größere Teil gespalten ist. Ebenso sprechen die Bilder auf Platten mit Tributyrin und Butterfett für völlige extrazelluläre Spaltung der Glyzeride.

Die Spaltung der Glyzeride findet also, wie auch aus den Versuchen von de Kruyff mit Bakterien hervorgeht, zweifellos außerhalb der Pilz- zelle statt. Allerdings ist es bisher nicht gelungen, das spaltende Sekret, die Lipase, in der Nährlösung nachzuweisen. Schreiber schließt dar- aus, „daß die fettzersetzende Fähigkeit der untersuchten Bakterien und Schimmelpilze an die Lebenstätigkeit dieser Organismen gebunden ist“ und bezeichnet daher die Fettzersetzung als „Fettvergärung“ (Rubner). Schreiber nimmt also wohl an, daß die Spaltung der Glyzeride im Protoplasten der Pilzzelle erfolge. Das ist zweifellos ein Irrtum; auch wäre selbst dann für eine hydrolytische Spaltung einfacher Art die Be- zeichnung „Gärung“ kaum zu rechtfertigen.

Daß Lipasen im Pilzmyzel tatsächlich entstehen, ist durch Versuche verschiedener Beobachter (Gerard,”) Camus,”) Biffen,”) Spiekermann) zweifelsfrei nachgewiesen. Wässerige oder Glyzerin-Auszüge spalteten Butyrin und verloren diese Fähigkeit durch Erwärmen.: Immerhin bedarf die Lipasefrage noch einer gründlichen Bearbeitung.

Betreffs der Frage, in'welcher Form die durch die Pilzmembran ge- tretenen Seifen und Säuren in das Plasma und in den Stoffwechsel treten,

20) Compt. rend. 1897, 124, 370. 21) Grenn-Windisch: Die Enzyme, S. 235. 22) Ann, of Botany 1899, 13, 363.

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 101

läßt sich mikroskopisch nur feststellen, daß in Kulturen mit Laurin- und Ölsäure in den Fäden der Randteile der Pilzkolonie größere Fetttropfen erscheinen, die nach dem Zentrum der Kolonie zu fehlen. Das deutet vielleicht darauf, daß die als Seifen in die Pilzzelle tretenden Säuren wie- der als solche in den Stoffwechsel gezogen werden.

I. Der Abbau des Glyzerins.

Das bei der Spaltung der Glyzeride entstehende Glyzerin ist als guter Nährstoff für Pilze aller Art bekannt. Es verschwindet aus ver- schimmelnden Fetten so schnell, daß es, wie Schmidt bereits fest- stellte und ich bestätigen kann, chemisch nicht nachzuweisen ist, während die Fettsäuren sich anhäufen. Von dem in meinen Untersuchungen be- nutzten Penicillium wird Glyzerin gleich gut mit unorganischen wie orga- nischen Stickstoffquellen (Nitraten, Ammoniumsalzen, Aminen, Pepton) verarbeitet. Nur tritt in den üblichen flüssigen Kulturen auch hier eine Beeinflussung des Wachstums durch die durch Jonenelektion hervorge- rufene Reaktionsänderung ein. Doch kann diese unter natürlichen Ver- hältnissen, d. h. in Nährböden krümeliger Struktur, eine entscheidende Rolle nicht spielen, da in diesen die aus den Pilzfäden austretenden hem- menden Stoffe auf eine eng begrenzte Zone beschränkt bleiben und nicht den gesamten Nährboden „vergiften‘ können. Unter diesen Verhältnissen wird daher der Abbau des Glyzerins in derselben Weise vor sich gehen wie in stark verdünnten Nährlösungen, in denen die zur erheblichen Be- einflussung des Wachstums nötige Konzentration der Hemmungsstoffe nicht erreicht wird. Unter diesen Verhältnissen verläuft in Penicillium- Kulturen der Abbau des Glyzerins in der Weise, wie in der folgenden Bilanz dargestellt ist:

I u 11 IV V VI vi x Einge- | Kohlenstoff | Kohlen- Von 100 Teilen Kohlenstoff Stickstoff- | führter in der stoff in |Summe verbraucht Sum- quelle Kohlen-.| Atmungs- |der Pilz-| von II ps für d stoff |Kohlensäure| ernte |und Im| für die Körp eo mg mg mg Atmung aufbau Amonium- | fulfat IT | 0,1771 0,1344 0.0580 | 0,1924 75,9 32,8 108,7 | 0,1803 0,1311 0,0567 | 0,1878 72,9 31,5 104,2 Natrium- | nitrat I 0,1512 0,1149 0,0396 | 0,1545 76,0 26,2 102,2 =. u 0,1542 0,1093 | 0,0444 | 0,1537 70,9 28,8 99,7

Der Kohlenstoff des Glyzerins wird also von dem Penicillium bei der Ernährung mit anorganischen Ammoniumsalzen oder Nitraten zu etwa 30 % zum Körperaufbau verwandt, während der Rest in Form von Kohlen- säure aus dem Stoffwechsel ausscheidet. Andere Oxydationsprodukte

102 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

treten als Enderzeugnisse nicht auf, womit auch das Ergebnis der che- mischen Untersuchung von Massenkulturen auf Lösungen mit 20—30 $ Glyzerin in 1 1 Nährflüssigkeit übereinstimmen.

II. Der Abbau der Fettsäuren,

Versuche über die Assimilation der Fettsäuren sind von den meisten früheren Beobachtern ausgeführt worden. Diese Versuche beschränkten sich auf die Feststellung des Gewichtsverlustes, den Ölsäure, Palmitin- und Stearinsäure auf Nährflüssigkeiten durch verschiedene Schimmel er- leiden. Weitere Fettsäuren sind in den Kreis der Untersuchungen nicht gezogen worden.

Die Assimilierbarkeit der Fettsäuren für höhere Pilze er- streckt sich nach meinen Untersuchungen auf alle Gruppen der Fettsäuren. Es wurden geprüft von der Reihe C,H,,O, die Säu- ren mit gerader Kohlenstoffatomzahl von C,, bis C,,, von der Reihe C, H,,„-. O, die Öl- und Eruka-, sowie die stereoisomere Elaidin- und Bras- sidinsäure, von der Reihe C,H,,-, O, die Stearol- und Behenolsäure, von den Oxysäuren die von der Öl- und Elaidin-, sowie von der Eruka- und Brassidinsäure abgeleiteten Dioxysäuren, ferner die Trio- und Tetraoxy- stearinsäure, von den Ketosäuren die von der Stearol- und Behenolsäure abgeleiteten Keto- und Diketostearin- und -behensäure.

Alle diese Säuren können von dem geprüften Penicillium bei Dar- bietung des Stickstoffes als Ammoniumsalze, Nitrate oder organische Ver- bindungen mehr oder minder gut als einzige Kohlenstoffquelle verwertet werden, wenn sie dem Pilze in einer genügend fein verteilten Form ge- boten werden. Diese Form wird am besten erzielt, wenn man die Säuren nicht, wie meist üblich, in Nährlösungen aufgeschwemmt darbietet, son- dern sie in Kieselguhr aufs feinste durch Bearbeiten im Mörser verteilt und das Gemisch mit einer entsprechenden Menge Nährlösung anfeuchtet, so daß ein krümeliger Nährboden entsteht. Nur bei dieser Art der Kultur gelingt es, größere Mengen von Fettsäuren in den Stoffumsatz zu bringen, während die zersetzten Mengen bei den anderen Beobachtern auch nach Monaten meist 100 mg nicht erreichen. Noch weniger ge- eignet ist das frühere Verfahren zur Untersuchung des Verhaltens der Pilze gegenüber Gemischen von Fettsäuren, da sie aus diesen in Flüssig- keiten nach dem Sterilisieren getrennt auskrystallisieren. Jedenfalls las- sen sich aus den minimalen Gewichtsverlusten, die früher in flüssigen Kul- turen an Fettsäuren beobachtet worden sind, sichere Schlüsse weder in Bezug auf den Abbau der Fettsäuren, noch auf die Beziehungen zwischen Molekulargröße, Konstitution und Assimilierbarkeit ziehen.

Als Beispiel für die schnelle Zersetzung von Fettsäuren in diesen Kieselguhrkulturen sei folgender Versuch angeführt, bei dem 1 g Laurin- säure in 10 g Kieselguhr verteilt war. Die Nährlösung enthielt in112g

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 103

Kaliummonophosphat und 1 g Magnesiumsulfat; als Stickstoffquelle wur- den ihr je 5 g Natrium-, Kalium-, Ammoniumnitrat und Ammoniumsulfat hinzugefügt. Der Versuch dauerte drei Wochen. Der mit Aether ausge- zogene Kieselguhrrückstand wurde nach Aufschließen mit Salzsäure noch- mals mit Aether ausgezogen, um etwa als Seife festgelegte Säure aufzu-

finden,

RR Aus - f. urück- Rücstand dur Stickstoffquelle erhalten Salzsäure frei- gemacht Natriumnitrat . . .— .. 0,0237 8 0,0138 g Kaliumnitrat . . . » ... 0,0291 g 0,0128 8 Amoniumnitrat . . . .. 0,0297 g 0,0348 g Amoniumsulfat . . . = .. 0,0371 g 0,0089 g

Ein Einfluß der Stickstoffverbindungen auf den Umfang der Zersetzung ist hier also nicht zu bemerken. Bei den Säuren mit höherem Molekulargewicht tritt zuweilen in den Kulturen mit Ammoniumsalzen eine schnellere und umfangreichere Zersetzung ein als in denen mit Nitraten. Hier wirkt anscheinend das aus den Nitraten in der Kultur verbleibende Alkali, das wegen der geringen Löslichkeit der höheren Säuren schwer gebunden wird, unter Umständen etwas hemmend. Ich gebe hier nur die Zahlen, die bei einem Versuche mit je 1 g Myristin- und Stearinsäure erhalten wurden:

Natrium- Amonium-

nitrat sulfat Myristinsäure . . ... 0,1925 g | 0,1665 g Stearinsäure . . . . 0,9234 g | 0,5360 g

Doch läßt sich diese hemmende Wirkung des Alkali durch entspre- . chende Verdünnung der Fettsäuren mit Kieselguhr im wesentlichen be-

heben.

Es fragt sich nun, in welcher Weise die Fettsäuren ab- gebaut werden. Spaltungsprodukte wie flüchtige oder zweibasische Säuren sind von den früheren Beobachtern nie gefunden worden. Indessen leiden diese Versuche alle daran, daß der Stoffumsatz in ihnen zu gering war.

Ein klarer Einblick in den Stoffumsatz wird erhalten, wenn man stärker und schwächer zersetzte Fettsäuren auf ihre Zusammensetzung untersucht und Kohlenstoffeinnahme und -ausgabe genau festgestellt. Ich gebe zunächt einige Reihen, in denen die Neutralisationszahl der zer- setzten und nicht zersetzten Säuren festgestellt und auf die Anwesenheit flüchtiger und zweibasischer Säuren geprüft worden ist. Als Stickstoff-

104 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

quelle diente stets Kaliumnitrat im Gemisch mit den früher genannten anderen Nährsalzen: |

a Zurüc- Neutralisationszahl der

Säure ug erhalten | mzersetzten| zersetzten g 5 Säure Säure Palmitinsäure u. 4.4 3,0000 0,4655 216,7 198,7 Myristinsäure . . .... 3,0000 0,3810 245,7 216,2 Pa Me 3,0000 0,3270 278,9 235,3 Stearinsäufe. „...... , 2,0000 1,6890 192,6 185,7 Palmitinsäure . . 2... 2,0000 1,7670 214,5 212,5 Myristinsäure . . . 2... 2,0000 1,7030 238,8 241,4 Enksshre: ss 5,0000 2,9800 153,4 154,0 Palmitinsäure . . .... 5,0000 3,6865 212,4 196,2 Myristinsäure . . . ... 5,0000 2,3560 230,0 224,0

Aus diesen Reihen ergibt sich, daß mit der Zersetzung der Fett- säuren eine Abnahme der Neutralisationszahl einhergeht, die bei gerin- gerem Grade der Zersetzung unerheblich ist, bei stärkerem Grade aber sehr deutlich hervortritt. Diese Abnahme schließt von vornherein das Entstehen von Spaltungsprodukten mit größerer Acidität als die zersetzte Fettsäure, also von flüchtigen und zweibasischen Säuren, aus, und in der Tat sind solche Spaltungsprodukte in meinen Versuchen niemals nachzu- weisen gewesen. Das Sinken der Neutralisationszahl kann nur auf das Vorhandensein neutraler, in Aether löslicher Stoffe zurückgeführt wer- den und der Gedanke liegt nahe, daß bei dem Ausziehen der Kultur mit Aether aus dem Pilzmycal, besonders aber aus den Sporen Stoffe in Lö- sung gehen. Tatsächlich bleibt, wenn man den Aetherauszug nach dem Trocknen im Kohlensäurestrom mit Petrolaether behandelt, bei den stär- ker zersetzten Fettsäuren eine wachsartige Masse zurück, die Alkali nicht bindet.

Aus den obigen Versuchsreihen geht hervor, daß bei der Zersetzung der Fettsäuren größere Reste des Fettsäurenmoleküls jedenfalls nicht übrig bleiben, und es ist daher sehr wahrscheinlich, daß als Endprodukte der Zersetzung nur Kohlensäure und Wasser in die Erscheinung treten. Einen klaren Einblick in diese Verhältnisse geben Bilanzversuche, bei denen die bei der Zersetzung der Fettsäuren entstehende Kohlensäure, sowie der in Form von Pilzmyrel gebundene Kohlenstoff bestimmt wurde. Ich führe als ein Beispiel solcher Versuche einen mit Laurinsäure an, bei dem der Stickstoff als Natriumnitrat neben Kaliumphosphat und Magnesiumsulfat als weitere Nährstoffe gegeben wurde.

Vom wiedergefundenen Kohlenstoff Kohlenstoff waren enthalten

| eingeführt | wiedergefunden | in der erzeugten Kohlensäure | im Mycel

Versuch 1 0.3600 0.3354—=93.2% 67.1% 32.9% Versuh 2 0.3600 0.3348—93.0% 682% 318%

er

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 105

Es findet also tatsächlich eine Verbrennung bis zu Kohlensäure statt und die Verwendung des Laurinsäurekohlenstoffes im Haushalte des Pil- zes ähnelt in Bezug auf Verteilung für energetische und plastische Zwecke der des Glyzerinkohlenstoffes.

IV. Assimilierbarkeit der Fettsäuren und molekülarer Aufbau.

Beziehungen zwischen molekülarem Aufbau der Fettsäuren, insbe- sondere Molekülargröße und Konstition, und ihrer Assimilierbarkeit sind schon verschiedentlich vermutet worden. Daß Unterschiede bestehen, lassen die verschiedenartigen Veränderungen der Konstanten der Fette bei der Zersetzung durch Pilze vermuten. Exakte Versuche darüber liegen aber noch nicht vor. De Kruyff hat aus den ziemlich gleichartigen Ver- lusten, die in gleichaltrigen flüssigen Kulturen verschiedener Säuren und Glyzeride eintrafen, den Schluß gezogen, daß ein Einfluß der Molekular- größe und Konstitution nicht vorhanden sei. Da aber diese Verluste sich in Grenzen unter 100 mg halten, und in flüssigen Kulturen, wie schon Schmidt gezeigt hat, auch bei möglichst gleichartiger Behandlung sehr große Schwankungen in den Analysenergebnissen eintreten, so ist dieser Schluß wenig überzeugend. In der Tat zeigen Kieselguhrkulturen der verschiedenen Fettsäuren sowohl im Wachstum wie in der Menge der zerstörten Säuren so große Verschiedenheiten, daß man aus ihnen eher den Schluß ziehen muß, daß wesentliche Unterschiede bestehen; auch die Bilder, die man auf den früher beschriebenen Fettsäureagarplatten erhält, sprechen in diesem Sinne,

Einen klaren Einblick in diese Verhältnisse erhält man nur, wenn man Gemische verschiedener Säuren der Zersetzung durch Pilze unter- wirft, in denen die Bestandteile in gleichen Mengen und in gleicher Ver- teilung geboten werden. Die Analyse solcher Gemische bereitet aller- dings einige Schwierigkeiten. Genaue gewichtsanalytische Bestimmungen kennt man zur Zeit nur für die höheren gesättigten Säuren von C,, an, die

‘nach dem Verfahren von Hehner durch Krystallisation in bei mit der höheren Säure gesättigtem Alkohol quantitativ von Säuren mit klei- nerem Molekulargewicht und größerer Löslichkeit getrennt werden kön- nen. Dieses von Hehner zunächst für Stearinsäure ausgearbeitete Verfahren eignet sich auch für die Bestimmung der Arachinsäure. Für alle anderen Fälle ist man aber auf die Bestimmung der bekannten Kon- stanten (Neutralisationszahl, Jodzahl) angewiesen, die bei zersetzten Fettsäuren kritischere Beurteilung erfordern, da nebensächliche Bei- mengungen die Ergebnisse sehr beeinträchtigen können.

Über den Verlauf der Zersetzung von Gemischen der Säuren der Reihe C,H,,O, gibt als Beispiel folgender Versuch Auf- klärung. Die Säuren sind zu je 1 g in dem angewendeten Gemisch von 2 g enthalten. Als Nährsalze dienten Dinatriumphosphat, Magnesium-

106 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

sulfat, Kaliumnitrat. Die erste Reihe wurde nach 2, die zweite nach 4 Wochen aufgearbeitet.

Gemishh Zurüc- Neutralisa-

ua erhalten tionszahl Stearin- und Laurinsäure. Contr, 1.9640 230.4 re A i 1.1530 211.5 > x a I 0.7120 188.9 Stearin- und Myristinsäure. Contr. 1.9780 214.4 „» I 1.1750 198.6 » I 1.2720 195.7 Stearin- und Palmitinsäure, Contr. 1.9560 205.8 » 5 I 1.2795 201.7 ”„» ”„ u 1.4775 197,6 Palmitin- und Myristinsäure. Contr 1.9830 230.3 ”„ I 1.4590 221.9 S > u 1.5700 221.9 Myristin- und Laurinsäure. Contr. 1.9730 254.0 » I 1.3250 243.3 » » » I 0.5880 222.2

Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß die Fettsäurezerstörung am schnellsten und ausgiebigsten in den Gemischen erfolgt, die Laurinsäure enthalten und daß sie mit dem Steigen des Molekulargewichtes abnimmt. Hand in Hand mit dieser Erscheinung geht eine Abnahme der Neutrali- sationszahl, die wieder am erheblichsten in Laurinsäurekulturen ist und um so geringer wird, je näher sich die Molekulargröße der Säuren rückt. Aus dieser Erscheinung aber ohne weiteres einen Schluß auf eine Bevor- zugung der Säuren mit kleinerem Molekulargewicht zu ziehen, geht nach den früheren Mitteilungen über die Veränderungen der Neutralisations- zahlen der Fettsäuren beim Schimmeln nicht an.

Einen besseren Einblick gibt in dieser Beziehung die Untersuchung zersetzter Fettsäuregemische nach Hehner. Ich gebe hier eine ge- drängte Übersicht einiger Versuchsreihen, in denen Gemische von Stearin- und Laurin-, bezw. Myristinsäure, sowie von Arachin- und Palmitinsäure geprüft wurden. Die Stickstoffversorgung erfolgte zum Teil durch Na- triumnitrat (S), zum Teil durch Ammoniumsulfat (A).

Im Rückstand | Von dem Gesamtverlust Stickstoffquelle | Verlust | Stearin- oder | entfielen auf die Säure Aradhinsäure | mit kleinerem Molekül

Gemisch von Stearin- und Laurinsäure

51 44.9% 83.7% 914% S 2 45.2% 83.4% 905% A1 48.4% 82.8% 85.0% A2 379% 73.1% 88.9%

Controlle _ 50.0% —_

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 107

Gemisch von Stearin- und Myristinsäure

3.1 33.7% 57.7% 65.2%

#: 244% 60.4% 32.3%

A1 273% 59.8% 759%

A2 272% 35.7% 65,3% Controlle —_ 48.3%

Gemisch von Arachin- und Palmitinsäure

S 584% 75.5% 68.2%

Controlle —_ 489%

Aus dieser Übersicht ergibt sich, daß in den gleichaltrigen Ver- suchen der Gemenge von Stearinsäure mit Laurin- und Myristinsäure das Laurinsäure enthaltende Gemisch mehr Masse verloren hat als das My- ristinsäure enthaltende. Weiter aber zeigt sich, daß die Säuren mit kleinerem Molekulargewicht schneller zerstört worden sind als die Stearinsäure und zwar ist der Kohlenstoffbedarf des Pilzes bei Anwesen- heit von Laurinsäure zum größten Teil von dieser zu 85-91 % gedeckt worden, während bei Anwesenheit der um zwei Kohlenstoffatome reicheren Myristinsäure auch die Stearinsäure in stärkerem Grade heran- gezogen worden ist. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei dem Gemisch von Arachin- und Palmitinsäure.

Es findet also zweifellos sowohl bei Deckung des Stickstoffbedarfs durch Nitrate wie durch Ammonsalze ein schnellerer Verbrauch der Säuren mit kleinerem Molekul statt und es ist zu vermuten, daß dieses Verhältnis allgemein gilt, wenn sich auch so sichere analytische Belege wie bei der Stearin- und Arachinsäure nicht erbringen lassen.

Es fragt sich nun weiter, ob diese leichtere Assimilierbarkeit der Säuren mit kleinerem Molekulargewicht auch für Vertreter verschiedener Gruppen gilt. Hier kommen besonders die Beziehungen der wichtigsten Säuren der Reihe C,H,,..O,, der Ölsäure und Erukasäure, zu den Ver- tretern der gesättigten Säuren in Betracht.

© Als Beispiel für diese Verhältnisse seien folgende Versuchsreihen angeführt. Als Nährsalze wurden verwendet Kaliumphosphat, Magne- siumsulfat und Natriumnitrat. Die Jodzahl wurde nach dem Wijsschen Verfahren bestimmt.

- Jodzahl d Säuren Angewendet Zurück- | frischen zes) erhalten | Säuren Säuren

Ölsäure. Contr. 2,1540 2,0970. | 89,4 773

Geimpft 3,1560 1,4970 | 89,4 81,9

1. und Laurinsäure Contr. 2,1660 2,1370 46,8 41,8

Geimpft 2,0906 0,5450 47,4 64,0

Öl- und Myristinsäure Contr. 2,1790 2,0820 44,7 471

Geimpft | 2,1060 0,5510 47,9 45,7

Öl- und Palmitinsäure Contr. 4,1020 4,0790 44,5 39,9

Geimpft 4,1850 2,8910 45,4 34,1

Öl- und Stearinsäure Contr. 4,2810 4,0320 46,4 40,9

Geimpft 4,2700 2,9500 46,3 30,7

Öl- und Adissäure Contr. 2,1990 2,1280 47,4 40,6

er Geimpft 2,0790 0,9880 45,2 14,1

108 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

Die Jodzahl der Gemische ändert sich also je nach der Molekular- größe der gesättigten Säure. In dem Laurinsäure enthaltenden Gemisch steigt sie erheblich, in dem Gemisch mit Myristin- und Palmitinsäure bleibt sie in gleicher Höhe erhalten, in dem mit Stearin- und Arachinsäure sinkt sie. Die Deutung der Versuchsergebnisse in den Reihen mit Stearin- und Arachinsäure macht keine Schwierigkeiten. Ein so starkes Sinken infolge Oxydation an der Luft ist nach dem Befunde in den Kontrollen ausgeschlossen. Jodbindende Stoffe, die aus dem Mycel mit ausgezogen sein können, würden die Jodzahl nur erhöhen. Das Sinken der Jodzahl in diesen Versuchen läßt sich nur durch die schnellere Assimilierung der ungesättigten Säure erklären. Das wird bestätigt, wenn man in Ölsäure- Stearinsäure-Gemischen die Stearinsäure nach dem Hehnerschen Ver- fahren bestimmt. Bei Anwendung eines Gemisches von je 3 g der Säuren wurden in Kulturen mit Nitraten (S) und Ammoniumsalzen (A) folgende Werte erhalten:

Verlust an Fett- | Stearinsäure im Von. den verlorenen Stickstoffquelle i n Fettsäuren entfallen säuren Rückstand ia auf Oelsäure Ss 19,4% 64,1% 108,7 % A 29,2 , 70,2 ,, 99,0, Kontrolle = 46,4 ,,

Es ist also der Kohlenstoffbedarf des Pilzes in diesen Versuchen ganz oder fast ganz aus der Ölsäure gedeckt worden.

Es fragt sich nun, wie die Erhöhung der Jodzahl in dem Gemisch mit Laurinsäure und das Gleichbleiben in den Gemischen mit Myristin- und Palmitinsäure gedeutet werden soll. Die Erhöhung im ersten Gemisch etwa auf Extraktivstoffe der Pilzfäden zurückzuführen, ist nicht berech- tigt, denn es müßte bei der ebenso stark zersetzten Myristinsäure- mischung dann Ähnliches erfolgen; auch sind die Jodzahlen, die man bei stark zersetzten Säuren der gesättigten Reihe findet, meist nur niedrig. Ferner aber werden die festen Ölsäure-Laurinsäure-Gemische mit dem Voranschreiten der Zersetzung flüssig. Das alles läßt nur die Deutung zu, daß die Laurinsäure erheblich schneller assimiliert wird als die Ölsäure.

Das Verhalten der Ölsäure in Gemischen mit Säu- ren der Reihe C,H,,0, läßt sich also kurz dahin feststellen, daß sie erheblich langsamer als die Laurinsäure, etwa in gleicher Schnelligkeit wie die Myristin- und Palmitin- säure und wieder wesentlich schneller als die Stearin- und Arachinsäure assimiliert wird.

Ganz ebenso liegen die Verhältnisse bei der stereoisameren Elaidin- säure, bei der sie analytisch noch besser verfolgt werden können, da diese bekanntlich feste Säure Veränderungen durch: den Luftsauerstoff viel weniger ausgesetzt ist als die Ölsäure.

Due Zu Zu Pl, Ze in BL EZ" An 0 ST | IE a nu hie can a ip un a al 2 a rin alone un rg

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 109

Auch in Gemischen der gesättigten Säuren mit dem höheren Homo- logen der Ölsäure, der Erukasäure, tritt bei Verwendung von Laurinsäure eine sehr starke, von Myristinsäure eine schwächere Zunahme der Jod- zahl ein. Im Gemisch mit Palmitin- und Stearinsäure verändert sich die Jodzahl nicht, nimmt aber bei Verwendung von Arachinsäure ab. Die der Erukasäure entsprechende gesättigte Behensäure stand leider nicht zur Verfügung. Bei Untersuchung solcher Gemische nach dem Verfahren von Hehner ergibt sich eine starke Abnahme der Erukasäure, Es liegen also hier ähnliche Verhältnisse wie bei der Ölsäure vor.

Anders verhält sich die der Erukasäure stereoisomere Brassidin- säure, Gemische dieser Säure mit den Säuren der Reihe C,H,,O, zeigen ein Ansteigen der Jodzahl selbst noch bei der Stearinsäure. Hier findet also andauernd eine leichtere Assimilierung der ungesättigten Säure statt. Erst im Gemisch mit Arachinsäure erfolgt, wie die Analyse nachHehner zeigt, gleichmäßiger Abbau; allerdings sind die Gewichtsverluste in solchen Kulturen äußerst gering.

Es fragt sich nun, welches die Ursachen der zweifellos bestehenden Unterschiede in der Assimilierbarkeit der Fettsäuren sind. Was zunächst die Säuren der Reihe C H,O, betrifft, die konstitutionell gleichartig sind, so liegt es sehr nahe, eine verschiedene Löslichkeit der Säuren selber und ihrer Seifen und damit eine schnellere Aufnahme der leichter lös- lichen in die Pilzzelle anzunehmen. Die Lösungsvorgänge, wie sie in den Pilzkulturen vor sich gehen, lassen sich allerdings makrochemisch nicht völlig gleichartig herstellen und ich muß mich begnügen, die Löslichkeit neutraler Natronseifen in einer etwa "/,,-N-Natronlauge, die der Alkalität in Agar-Nitrat-Fettsäure-Platten entspricht und in 48,7 %igem Spiritus zum Vergleich heranzuziehen. Bei 10—12° lösten sich von den neutralen Natriumseifen folgende Mengen:

In 100 Teilen

Säure eines Spiritus von einer etwa 48,7 Gew. Proz. !/,, N-Natronlauge Laurinsäure. . . 21,3 0,51 Myristinsäure . . 3,9 0,05 Palmitinsäure . . 11 0,01 Stearinsäure . , 0,2 0,00 Oelsäure. . . . 20,8 6,44 Frukasäure . . . 1,1 0,01

Die Löslichkeit der Natronseifen sinkt also in beiden Lösungsmitteln mit dem Steigen des Molekulargewichtes und die besonders große Lös- lichkeit der Laurinseife würde mit der schnellen Assimilierung dieser Säure gut harmonieren. Man darf aus diesen Zahlen und den Bildern auf Fettsäureagarplatten wohl den Schluß ziehen, daß die verschiedene Lös- lichkeit.der Seifen für die Assimilierbarkeit eine Rolle spielt.

110 Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung.

Betreffs der Löslichkeit freier Fettsäuren in den sauren Nährlösun- gen lassen sich makrochemische Vergleiche überhaupt nicht bringen. Aber auch hier zeigen die mikroskopischen Bilder auf Caprin-, Laurin- und Myristinsäureplatten eine Abnahme der Löslichkeit mit dem Steigen des Molekulargewichtes.

Ob allerdings bei der schnelleren Assimilation der Säuren mit klei- nerem Molekulargewicht nicht auch noch eine leichtere Einfügbarkeit der kleineren Molekule in den Stoffumsatz mitspielt, ist vor der Hand nicht zu sagen. Man wird auf diesen Weg gedrängt durch die Beobachtungen . an den Gemischen von Ölsäure und gesättigten Säuren. Das Natrium- oleat erweist sich bei den Lösungsversuchen allen anderen Seifen an Lös- lichkeit erheblich überlegen, trotzdem wird die Ölsäure erheblich lang- samer als Laurin- und Myristinsäure assimiliertt. Danach muß man wohl annehmen, daß auch die Molekulargröße eine gewisse Rolle spielt. Wie weit die Konstitution der Kohlenstoffkette, besonders eine doppelte Bindung, bei gleicher Länge bei der Assimilierbarkeit wirkt, läßt sich aus den Versuchen nicht ersehen, da die Löslichkeit von Stearin- und Ölsäure zu verschieden sind, die der Erukasäure entsprechende Behensäure aber nicht zur Verfügung stand.

V, Die Veränderung der Konstanten der Fette beim Schimmeln und ihre Erklärung.

Die in der menschlichen Wirtschaft hauptsächlich verwendeten Fette erleiden durch Schimmeln eine sehr verschiedene Veränderung ihrer Konstanten. Ich gebe in folgendem eine Übersicht über einige Analysen.

DR TIEN Versei- J dzahl Verlust Acidität kirkkzahl o

Controlle -- 6,3 199,8 102,5 { 1 2,9% 59,9 191,0 104,8 1) Baumwollesaatöl 9 37,5, 119,7 195.8 99,5 3 65,5, | 103,0 188,9 88,8 A Controlle _ 2,0 170,0 100,8

9} EP | 1 52,0% | 155,7 168,4 90,8 : Controlle Kr 02 184,1 81,5 DEN ih | 1 71,1% 82,1 175,6 94,4 Controlle e— 8,4 257,3 8,0 VRR EB | 1 84,2% | 1889 | 234,0 29,2 Controlle B= 12,3 243,5 14,9 DR PURE TEN | 1 838% | 2041 | 284,7 26,7

Aus diesen Zahlen, die im allgemeinen den Typus der Änderungen der Konstanten geben, ergibt sich zunächst als gemeinsames Merkmal die schon mit dem Beginn des Schimmelns einsetzende Steigerung der

Spieckermann: Beiträge zur Biologie der Fettzersetzung. 111

Acidität, die lediglich auf Spaltung der Glyzeride zurückgeführt werden kann, da die Verseifungszahl bei den fetten Ölen annähernd dieselbe bleibt, bei den Palmfetten sogar sinkt. Dieses Sinken, das immer mit einer Abnahme der Reichert-Meisslschen Zahl verbunden ist, erklärt sich aus dem schnelleren Verbrauch der Säuren mit kleinerem Molekular- gewicht.

Die Jodzahl zeigt bei den Palmfetten eine deutliche Steigerung, wie dies auch Rahn beobachtet hat. Diese Steigerung läßt sich mit der gefundenen schnelleren Assimilierung der gesättigten Säuren mit kleine- rem Molekül gut vereinbaren. Dagegen nimmt die Jodzahl in den fetten Ölen im allgemeinen ab. Da diese Öle nur Glyzeride der gesättigten Säuren mit größerem Molekul enthalten, so harmoniert diese Erscheinung mit der früher beobachteten leichteren Assimilierbarkeit der Ölsäure in Gemischen mit höheren gesättigten Säuren.

Zu erforschen bliebe noch, inwiefern etwa verschieden schnelle Spaltung der einzelnen Glyzeride auf den Verlauf der Zersetzung Einfluß haben kann.

(Mitteilung aus der Landwirtschaftlichen Versuchsstation Münster.)

Über Voghurt. Von Dr. A. Scholl.

Das Mißtrauen gegenüber Neuerungen, welches frühere Jahre cha- rakterisierte, kennt die heutige Zeit des Fortschrittes nur noch selten. Dafür macht sich gern das entgegengesetzte Extrem geltend, die Sucht, alles Neue „mitzumachen” oft genug kritiklos. Das gilt namentlich auch für Neuigkeiten auf dem Gebiete der Körperpflege, mag es sich nun um irgend einen „Sport oder um äußerlich oder innerlich anzuwendende Heil- oder Kräftigungsmittel handeln. Kein Wunder, daß dieser Verallge- meinerungssucht des Publikums Gewerbe und Handel in jeder erdenk- lichen Weise nicht nur entgegenkommt, sondern sie noch durch übertrie- bene und vielfach geradezu irreführende Propaganda oder Reklame groß- zieht, zwar im eigenen Interesse, aber nicht in dem des Publikums. Ähn- liches haben wir in den letzten Jahren mit Yoghurt, der bulgarischen Dickmilch, erlebt, seitdem in Frankreich, basierend auf den warmen Emp- fehlungen Metschnikoffs, die „bulgarische Wunderspeise” als siche- rer Schutz gegen alle Anfechtungen unserer nervenzerrüttenden Zeit, als wahrer Jungbrunnen in Mode gebracht worden war. Auch bei uns kann man schon fast von einem Yoghurt-Sport reden, und oft genug habe ich im Tagesgespräch die Ansicht gehört, daß jeder Fortgeschrittene heutzu- tage seine Portion Yoghurt zu sich nehmen müsse.

Was Yoghurt eigentlich ist, darüber sind zwar heute die Meinungen noch nicht völlig geklärt. Das hat aber nicht gehindert, daß trotzdem be- reits eine ganze Yoghurt-Industrie auch bei uns in Deutschland entstanden ist, deren Produkte vielfach wohl recht fraglicher Natur sein dürften. Namentlich über den Wert der trockenen Yoghurt-Fermente und Präpa- rate bestehen sehr gegensätzliche Ansichten, wobei zuweilen auch die jeweiligen Handelsinteressen eine deutlich erkennbare Rolle spielen. In- dessen möchte ich nicht bezweifeln, daß diese Bewertungen trotz ihrer Verschiedenheit doch richtig sein können. Bei einem sozusagen als wis- senschaftliches Laienpräparat anzusehenden Produkt wie dem Yoghurt wird notwendigerweise nicht allein die Beschaffenheit des Rohmaterials, sondern vorzüglich auch die Herstellungsweise, d. h. die mehr oder we- niger große Geschicklichkeit und Achtsamkeit des Bereiters ausschlag- gebend sein. Das wird namentlich für die flüssigen Yoghurtzubereitungen zutreffen, und es erscheint mir, wenigstens nach dem Ergebnis meiner Erkundungen in „Yoghurt‘ selbst zubereitenden Laienkreisen, als sicher feststehend, daß vielleicht das Meiste, was da heute als „Yoghurt” be- trachtet und genossen wird, gar kein Yoghurt ist. Vermutlich dürfte das

Scholl: Über Yoghurt. 113

auch für zahlreiche in milchwirtschaftlichen oder Molkereibetrieben her- gestellte Präparate gelten, weil bei diesen die einwandfrei nicht ganz leicht auszuführende sichere bakteriologische Kontrolle zumeist fehlen dürfte. Den Trockenpräparaten wird außerdem noch zum Vorwurf ge- macht, daß sie in älterem Zustande den Bac. bulgaricus gar nicht mehr oder nur in unzureichender Menge in lebensfähiger Form enthalten, sodaß man bei ihnen mangels einer Altersangabe leicht zu Täuschungen geführt werden könne. So teilt neuerdings W. Henneberg*) mit, daß er bei eingehender biologischer Untersuchung von 8 verschiedenen Handels- präparaten, welche aus einer Apotheke, d. h. in dem für die Verwendung bestimmten Originalzustande entnommen waren, in keinem einzigen Prä- parate die typische Yoghurtbazillenart in lebendem Zustande vorfand. Die ebenfalls in jedem echten Yoghurt vorhandenen Streptokokken fanden sich nur in einem Präparat, aber auch mit diesem konnte kein „Yog- hurt‘ erzeugt werden. Zwar wurden bei der vorschriftsmäßigen Behand- lung von Milch in einigen Fällen Produkte erhalten, welche äußerlich Yoghurt ähnlich sahen, sie waren aber von letzterem durch ihren wider- wärtigen Geruch und Geschmack vollkommen verschieden. Entscheidend ist natürlich die mikroskopische Untersuchung, und wenn sich Bakterien mit Eigenbewegung, Sporen, Spindel- und Trommelschlägelformen finden, so sind fremde Pilze vorhanden. Da diese aber auch von zufälligen Infek- tionen herrühren können, so ist ausschlaggebend der Nachweis, ob Yog- hurtbazillen überhaupt vorhanden sind oder nicht. Während nun in den von Henneberg untersuchten Präparaten neben gewöhnlichen Milch- säurebakterien (Bact. lactis acidi) sich mehrere Arten Buttersäurepilze sowie Heubazillen fanden, fehlte Bacillus bulgaricus vollständig. Zu dem gleichen Ergebnis gelangte auch R. Oehler?) bei der Untersuchung von Yoghurtpastillen und Yoghurtfermenten des Handels.

Demgegenüber gibt M. Hohenadel?’) an, daß er außer „Dr. Trai- ners Yoghurt-Tabletten" und „Dr. Trainers Yoghurt-Ferment“, für deren Güte er sich in erster Linie mit verantwortlich erklärt, noch verschiedene Trockenpräparate anderer Provenienz eingehend bakteriologisch unter- sucht und „in den meisten bis jetzt untersuchten Trockenpräparaten” das Bact. bulgaricum in einwandfreier Weise nachgewiesen habe. Er sagt weiter: „Unter diesen Fabrikaten befand sich eines, welches nachweisbar über 114 Jahr alt war, und auch bei diesem war das Resultat positiv. Es ist dieser letztere Befund ein direkter Beweis der schon oft ausgespro- chenen Ansicht, daß die Yoghurtbakterien in den Trockenfermenten sehr lange lebensfähig sind, sofern letztere sachgemäß hergestellt werden. Wie bei Kefirkörnern, sind auch im Yoghurt-Trockenferment die Bakterien von einer Kaseinschutzhülle umgeben. Daß Kefirkörner, welche oft jahre- lang unbenützt liegen, nach voraufgegangener Vorbehandlung durchaus

1) Zeitschr. für Spiritusindustrie 1911, 34, 556. 2) Centralbl. Bakteriol. II, 1911, 30, 149—154. ®) Pharmazeutische Ztg. 1912, 57, 218—220.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 8

114 Scholl: Über Yoghurt.

gebrauchsfähig sind, ist allgemein bekannt. Auch bei den Trocken-Yog- hurtfermenten muß die Kaseinhülle erstmals erweicht sein, damit die Bak- terien sich entwickeln können; deshalb dauert die Säuerung der Milch länger als bei flüssigen Yoghurtkulturen.” Damit dürfte aber doch die Frage, in welchem Maße dieser Analogieschluß von den Kefirkörnern auf den Bac. bulgaricus berechtigt ist, noch nicht entschieden sein. Den vorstehenden Ausführungen von Hohenadel stimmt auch Pior- kowski‘) zu, indem er zwar zugibt, daß die Yoghurtbazillen aus Trok- kenpräparaten häufig bei der Färbung nach Gram sich negativ verhalten, was auf Degeneration zurückzuführen sei; indessen werden diese Bazil- len wieder Gram-positiv, wenn die Trockenpräparate wieder in Milch der geeigneten Temperatur ausgesetzt werden. Ihre Lebensdauer erreicht ein beträchtliches Alter, da es möglich gewesen ist, noch bei über ein Jahr alten Präparaten die Gramfärbung wieder hervorzurufen. Für die bakteriologische Kontrolle der Yoghurtfermente empfiehlt Hohenadel, zunächst das Trockenferment auf einem Objektträger mit einem Tropfen Wasser sehr fein zu zerreiben und, wie üblich, nach Gram zu färben. Hierbei findet man ohne weiteres Diplokokken und Stäbchen, welche durch die Eintrocknung der Pilzkulturen geschrumpft sind. Dann kulti- viert man zunächst in der Art der regelrechten Yoghurtbereitung, d. h. durch Bebrüten von aufgekochter und auf 45° abgekühlter Milch während 12 Stunden bei 45°. Bei der nunmehr vorzunehmenden mikroskopischen Untersuchung der geronnenen Milch zeigen sich Diplokokken einzeln oder in Reihen aneinanderlagernd sowie gefärbte Stäbchen von verschie- dener Größe. Bei Verwendung von steriler Milch soll, infolge einer Ent- wickelungshemmung der Yoghurtbakterien, deren Ursache aber nicht auf- geklärt ist, die Milch oft innerhalb 12—24 Stunden noch nicht völlig ge- ronnen sein. Die weitere Prüfung hat nachzuweisen, ob die gefundenen Stäbchen echte Yoghurtbakterien sind. Zu diesem Zwecke wird nach Vermischung einer Platinöse der bebrüteten Milch mit 1 ccm steriler Milch oder Bouillon eine Öse voll auf eine Milchagarplatte verstrichen und bei 45° kultiviert. Die Diplokokken bilden kleine, weiße, runde, et- was glänzende Kolonien, das Bact bulgar. dagegen wächst als kleine, matte, am Rande ungleichmäßige, oft gezackte Kolonie. Die nachGram gefärbten Stäbchen dieser Kolonien erscheinen unter dem Mikroskop von verschiedener Länge und Form, gerade, gebogen, verschlungen, oftmals mit deutlicher Körnung. Von den Gram-positiven Stäbchen verschiedener sporenbildenden Milchbakterienarten unterscheidet sich der Bac. bulga- ricus dadurch, daß er auf Peptonagar nicht wächst. Bei der Anlage der Milchagarplatte ist namentlich darauf zu achten, daß nicht zuviel Material auf die Platte gelangt, da sonst die anderen Mikroben den Bac. bulgar.

*) Pharmaz. Zeitung 1912, 57, 251—252. Bei früheren Untersuchungen hatte Pior- kowski (Centralbl. Bakteriol, II, 1908, 21, 95—96) ebenso wie M. Klotz (Centralbl. £. Bakteriol. II, 1908, 21, 392—398) in Trockenfermenten nur in seltenen Fällen echte Yog- hurtbakterien nachweisen können,

Scholl: Über Yoghurt. 115

überwuchern. H. Kühl?) verwendet bei der bakteriologischen Kontrolle des Yoghurt Bouillongelatine mit 2: % Milchzuckerzusatz oder Milch- serumbouillon mit etwa 1 % Milchzuckerzusatz.

Über die Bakteriologie des Yoghurt liegen zahlreiche Arbeiten vor, die Ergebnisse der Forscher sind aber sehr verschieden. Das hat seinen Grund zweifellos in der verschiedenen Herkunft der zur Säuerung be- nutzten Fermente. Es ist ja auch nicht verwunderlich, daß die Bakterien- flora eines von Laien in verschiedenen Ländern aus verschiedenem Roh- material bereiteten Milchpräparates nicht einheitlich ist. Zufällige, dem Wesen des Produktes fremde Pilzinfektionen müssen von den wesent- lichen, die Eigenart des Erzeugnisses bedingenden Arten unterschieden werden. Zu den ersteren gehören die Hefen, welche vereinzelt im Yog- hurt gefunden worden sind, Zweifellos liegt aber in dieser Beziehung ein cha- rakteristischer Unterschied gegenüber anderen Milchpräparaten (Kumys, Kefir) vor, welcher insofern wichtig ist, als von verschiedenen Forschern nachgewiesen wurde, daß reiner, echter Yoghurt keinen oder nur ganz unwesentliche Mengen von Alkohol enthält, während beim Vorhandensein von Hefen erhebliche Mengen von Alkohol, namentlich bei nicht sorgfäl- tiger ‚Herstellung gebildet werden. Allerdings schreibt Kunze‘) den Yoghurthefen eine hervorragende Beteiligung an der Aromabildung zu; hefenhaltiger Yoghurt soll einen höchst angenehmen, esterartigen Geruch besitzen und weit wohlschmeckender sein als ein mit Yoghurtbakterien allein aus steriler Milch erzeugtes Produkt. Daß hier aber von einer das Wesen des Produktes bestimmenden Hefenart nicht gesprochen werden kann, geht schon daraus hervor, daß weder Kunze noch andere For- scher Hefen in jedem „echten" Yoghurt nachweisen konnten. Da aber ein mehr oder weniger hoher Alkoholgehalt keinesfalls bei der Verwendung von Yoghurt stets gleichgültig ist, so möchte ich der. Ansicht von Hohenadel zustimmen, welcher die Abwesenheit von Hefen verlangt.

Was die wertbestimmenden Bakterien anlangt, so liegen ja über die- selben zahlreiche eingehende Arbeiten vor, ohne daß die dadurch erzielte Aufklärung völlig befriedigen könnte, Indessen kann wohl als allgemein anerkannt gelten, daß bei der Kontrolle von Yoghurt den Angelpunkt der Nachweis des Bacillus bulgaricus bildet. Denn ob man als richtigen Yog- hurt dasjenige Produkt ansehen will, welches nach Metschnikoffs Angaben durch Beimpfung von Milch mit Bact. bulgaricum und paralac- ticum erzielt wird, oder ob richtiger Yoghurt der ist, der so hergestellt ist, wie die Bulgaren ihn machen, nämlich durch Behandlung mit dem Fer- ment Maja, jedenfalls steht fest, daß es ohne Bact. bulgaricum keinen Yoghurt gibt. In dieser Beziehung teilt R. Oehler’) mit, daß bei der Kontrolle von Yoghurtproben, welche in Frankfurt a, M. handelsmäßig in Verkehr gebracht wurden, in allen Bact. bulgaricum sehr reichlich ge- funden wurde, daneben fanden sich regelmäßig der Diplostreptokokkus

5) Zeitschr. öffentl. Chem. 1912, 18, 101—104, 6) Centralbl. Bakteriol, II, 1908, 21, 737—766. ?) Centralbl. Bakteriol. II, 1911, 30, 149—154,

8*+

116 Scholl: Über Yoghurt.

von Luerssen und Kühn, ferner das Günther-Leichmann- Listersche Milchsäurebakterium und andere nicht identifizierte Diplo- kokken dieser Klasse, ferner Streptokokken und Hefen. Bezüglich des Nachweises von Bact. bulgaricum gibt Oehler an, daß die Plattenkultur mit ihrer flockigen, lockigen, milzbrandähnlichen Form am besten mit Molkenagar, hergestellt aus 3 % Fleischwasser, Agar, und Lackmusmolke von Kahlbaum (2 Teile Agar + 1 Teil Lackmusmolke), gelingt. Zur Kultur ist einige Zeit erforderlich, da ganz junge und dicht stehende Kul- turen nicht die flockige, sondern rundliche, körnige, fast glattrandige Form zeigen. Auch alte Kolonien zeigen die charakteristische Form nicht, und auch in den gefärbten Präparaten erscheinen die Bakterien bei verschie- denalterigen Kulturen nicht gleichmäßig. Alle diese differierenden Neben- formen nehmen aber beim Überimpfen in Milch die gleiche typische Form wieder an, so daß zum Nachweise vorwiegend die in Milch erzielte Wachs- tumsform maßgebend ist, und zwar spezieller diejenige, welche die Bak- terien bei 40—50 in der Zeit von der 12.—36, Stunde besitzen. In diesem Wachstumsstadium zeigen nämlich die Bakterien die von Kunze und anderen nur gelegentlich gefundenen Körner regelmäßig. Sowohl durch Neisserfärbung wie durch Gram färbung mit starker Entfärbung durch Alkohol, am schönsten aber durch Methylenblau bei kurzer Färbung oder Anwendung dünner Lösung lassen sich die Körner sichtbar machen. Vor- teilhaft ist auch die Kollodiumfixierung anzuwenden, indem man’ eine Mischung von 1 Teil Kollodium, 14 Teilen Äther und 5 Teilen Alkohob in ganz dünner Schicht über das angetrocknete Präparat ausgießt und sofort nach Verdunsten des Lösungsmittels 10—20 Sekunden in Löfflerscher Methylenblaulösung färbt und in Wasser abspült. Auch für den Nach- weis der Yoghurtbakterien im Kot empfiehlt Oehler die Vorkultur in Milch bei 50°. Mit dem Ergebnis seiner in dieser Hinsicht an Affen und Mäusen angestellten Versuche bestätigt Oehler die Befunde von A, Luerssen und M. Kühn, nämlich daß sich das Bild der Darmbak- terienflora infolge Yoghurtgenusses nicht wesentlich ändert und daß na- mentlich eine dauernde, nach Aufhören der Yoghurtzufuhr fortbestehende Ansiedelung von Yoghurtbakterien im Darm nicht stattfindet. Dieses Er- gebnis ist nicht ermutigend, denn gerade diese Ansiedelung der Säue- rungsbakterien ist ja die Voraussetzung, auf der sich BVEUESCRNENEENE ‚opti« mistische Hoffnungen gründen.

Während die bakteriologische Bearbeitung der Yoghurtpräparate von zahlreichen Forschern vorgenommen wurde, ist die chemische Unter- suchung bisher nur in geringem Umfange erfolgt. Metschnikoff°) gibt an, daß Fouard eine Lösung des Kaseins um 38 % und des Kalkphos- phates um 68 % durch'den Yoghurtbacillus fand, und daß die Milchsäure- menge etwa 1 % betrug. Auch‘ von anderen Forschern ist fast aus- schließlich der Säuregrad berücksichtigt worden. Die diesbezüglich

8) Essais optimistes, Paris 1907,

Scholl: Über Yoghurt. 117

beobachteten Schwankungen sind natürlich sehr groß, je nach der Art des Fermentes, der Dauer und Temperatur der Kultur. P. van der Wielen°) fand in von ihm selbst mit einer aus Konstantinopel bezogenen Kultur „frisch bereiteten" Yoghurt 0,5 % Milchsäure und 0,25 % Alkohol, ‚und M. Piorkowski*) ermittelte in selbst hergestelltem Yoghurt 0,5 bis 0,91 % Milchsäure. Eingehender hat die Säurebildung durch ver- schiedene aus einem Pariser Trockenferment isolierte Bakterien Guerbet“) verfolgt. In aus einer Milch mit 0,08 % Milchsäure be- reiteten Präparaten fand er mit verschiedenen Bakterien folgende Säure-

mengen: Bazillen-Molkenreinkultur nach 24 Std. 0,57%, nach 96 Std. 1,26% Streptobazillen-Molkenreinkultuvr 0,59, » » » 0,45, Mikrokokken-Molkenreinkultur can. SO iii un

Ferner fand er in zwei Proben käuflichen Yoghurts und einer mit

5 Mikroorganismen selbsthergestellten: I käuflich II käuflich Ill selbst hergestellt

ET EEE RER WON 0,560% 0,480 % 0,340 % Flüchtige Säure (als Essigsäure berechnet) 0,012 0,019 0,011 u. a Eee 0,017 0,023 0,012

Diese drei Proben enthielten auch Spuren von Aldehyd. Weiter erwähnt er eine mit Streptobazillen hergestellte Probe, welche nach drei Tagen bei 40° enthielt: Milchsäure 0,99 %, Alkohol 0,15 %. Beim Umimpfen seines Fermentes stellte er fest, daß zuerst Hefen und Yoghurt- bazillen, dann auch die Kokken verschwanden, so daß schließlich nur noch die Streptobazillen übrig blieben. Die mit diesen Kulturen erzeug- ten Proben enthielten: I, 0,34 % Milchsäure, 0,012 % Alkohol; II. 0,41 % Milchsäure, 0,019 % Alkohol; IIL 0,38 % Milchsäure, 0,016 % Alkohol.

F. Fuhrmann“) hat gleichfalls selbsthergestellten Yoghurt ana- lysiert. Er benutzte aus Paris stammende bulgarische Maya, mit welcher er auf dem Wasserbade auf ungefähr das halbe Volumen eingedickte Milch 7 Stunden bei 40° behandelte, In der Maya wies er drei Mikro- organismen nach, von. welchen zwei, nämlich. eine sporenbildende Saccharomycesart und eine Stäbchenform, nicht weiter in Betracht kamen, da die erstere nur sehr spärlich vertreten war und die letztere nicht die Fähigkeit der Säurebildung besaß. Der wirksame Bazillus war ein Streptobazillus. Die Analyse der Milch und des „Yoghurt“ ergab:

| Eingedickte Milch Yoghurt Kasein und Albumin . .. . 2... 5,090 % 4,410%

a ee ee 5,780 9,740 Mildzudier) 3, HAGE Ib 2393 7,210 6,873 Gesamtsäure, als Milchsäure berehnet 0,145 ,„ 0,344 Fettfreie Trockensubstanz . ..... 14,800 „, 14,892 „, E= 0,090 Be 200 ee == Spuren

%) Pharmaceut, Weekblad 1905, 42, 325—331.

10%) Ber. Deutsch. Pharm. Gesellsch. 1908, 18, 90—100,

4) Compt. rend, hebdom, des scöances de la Soc. de Biologie 1906, 60, 495, 12) Zeitschr. Unters. Nahr.- u. Genußm, 1907, 13, 598604,

118 Scholl: Über Yoghurt.

Weiterhin stellte Fuhrmann auch aus nicht eingedickter, sondern fraktioniert sterilisierter Milch sowohl mit Streptobazillen allein, wie auch mit der Pariser Maya Yoghurt her und fand folgende Werte:

Yoghurt

Sterilisierte Milh aus Streptobazillen aus Maya Kasein und Albumin.. . .. ... N ml. 3,685% 3,338% a EEE IT AR 1. TOR 3,121 3,089 „, na aa Aa see) yet 4,221 3,820 „, Mildsäure . . . a le ER 5 1:7 55 0,558 „, 0,620 Flüctige Säure (Essigsäure) aarseheid 0 0,017 „, 0,026 ‚, Fettfreie Trockensubstanz . . . 2 2... 9,668 ‚, 9,687 10,141 iD 2 55 In aaa 3 aa a le 0 2 0 -: 0,089 nn ee eg 0 0 - Spuren

G. Bertrand und G. Weisweiller”) teilen gleichfalls eine Anzahl von Analysen ‘von selbsthergestellten Präparaten mit, Sie arbeiteten mit einem von Metschnikoff bezogenen Ferment, welches sie auf sterilisierte Milch bei 29° (R&aumur?) einwirken ließen. Als Er- gebnisse einer Versuchsreihe teilen sie folgende Werte mit: _

Alter der Kultur in Tagen ) 1 2 B3 5 12. | 30 Kasein . . 2.2 2.0. +1811 41296 # 2,90 & |2,88 «285 #284 [2,75 % Asche des Kalkins . ...2..140,055,, 10,014 !0,029 „10,017, !0,011 0,006 „, ,.0,009 ,, Lösliher Stickstoff . . . '. 10,056 , | 0,083 |0,099 10,091, | 0,099, |0,101,, |0,103 .n Fett 5% 57% 151013 1278110,555, .10558. 15 90,515, 40525, 10,1, 1 93! 0,50 rn Zuckerverlust . . , 0,50: 12 11,8 12172 22 „ein2iabn Säurezunahme (Milchsäure) . _ 0,41 „| 3,27 ..,.11,65.,,'12,02-.,,.1222 „12,29,

Das Kasein habe die Autoren direkt gewichtsanalytisch bestimmt. Sie machen auf die Abnahme des Kasein- und die gleichzeitige Zunahme des löslichen Stickstoffgehaltes während der ersten Tage aufmerksam. Die Verminderung des Aschengehaltes des Kaseins führen sie auf eine Strukturänderung dieses Körpers infolge des Bakterienwachstums zurück. Daß das Fett eine wesentliche Veränderung nicht erfahren hatte, stellten die Verfasser durch Bestimmung des Säuregrades und der Verseifungs- zahl des Fettes fest. Aber insofern kann dem Fett ein gewisser Einfluß auf die Beschaffenheit des Produktes zugesprochen werden, als entrahmte Milch etwas stärker gesäuert wurde als nicht entrahmte. Bezüglich des Milchzuckers stellen die Autoren die Ansicht auf, daß dieser Zucker durch eine Endolaktase der Bakterien vor seiner Umwandlung zu Milch- säure in Glykose und Galaktose gespalten werde, und daß die Säure- bildung langsamer von statten gehe als die Spaltung des Zuckers. Sie schließen dieses daraus, daß die Zunahme an reduzierendem Zucker bei Säurehydrolyse mit dem Alter der Kulturen von 43,7 % am 1. Tage auf 5,3 % am 30. Tage abnimmt. Wieweit aber bei dieser Erscheinung die entstandene Milchsäure beteiligt sein kann, ist nicht festgestellt. Außer

13) Annal, Inst. Pasteur 1906, 20, 977—99%0.

Scholl: Über Yoghurt. 119

der Milchsäure fanden die Autoren auch Bernsteinsäure in einer Menge von 3 % der Gesamtsäure. Alkohol und Aceton wurden dagegen nicht gefunden. S.Sewerin‘“) hat mit zwei Arten von Bac. bulgaricus (oder Streptobac. Lebenis), nämlich mit einer schleimbildenden und einer nicht- schleimbildenden Art gearbeitet. Während Bact. lactis acidi den Säure- gehalt der Ausgangsmilch innerhalb der ersten 12 Stunden von 0,198 auf 0,567, bezw. von 0,180 auf 0,351 % erhöhte und den maximalen Säure- gehalt, nämlich etwa 0,90 %, schon nach etwa 25 Stunden gebildet hatte, trat die Koagulation mit den Bulgaricus-Arten erst viel später ein. Erst nach 15 bis 25 Stunden koennte in diesen Kulturen eine wesentliche Stei- gerung der Acidität bemerkt werden, der Milchsäuregehalt betrug nach 15 Stunden bei der schleimbildenden Art 0,216 bezw. 0,198 %, nach 25 Stunden 0,648 bezw. 0,378 %, nach 75 Stunden 2,133 %, nach 7 Tagen 2,61 %; bei der nicht schleimbildenden Art nach 15 Stunden 0,369 bezw. 0,252 %, nach 25 Stunden 0,828 bezw. 0,828 %, nach 75 Stunden 1,476 %, nach 7 Tagen 1,575 %. Ähnlich verhielten sich auch Kombinationen von Bact. lactis acidi mit den beiden Bulgaricusarten.

Eingehendere Untersuchungen über Yoghurtproben des Handels liegen nur sehr spärlich vor, erwähnt seien die Mitteilungen von A. Röhrig,”) wonach eine Handelsprobe 19,72 % Trockensubstanz, 1,89 % Milchsäure, 5,03 % Fett, 5,13 % Eiweiß, 6,3 % Milchzucker, 1,19% Asche enthielt; ferner die von R. Oehler“) angegebenen Befunde. Die von letzterem bezw. von Tillmans untersuchten Proben stammten von drei verschiedenen Lieferanten, von welchen zwei ohne Einkochen der Milch arbeiteten, während der dritte die Milch etwas einkochen ließ. Auf den Säuregehalt des Yoghurt hatte die Eindickung keinen erkenn- baren Einfluß, er schwankte zwischen 0,76 bis 1,16 % und betrug im Mittel 0,95 %. Der Trockensubstanzgehalt schwankte zwischen 10,68 und 15,76 %.

Hieraus ist ersichtlich, daß unsere Kenntnisse über die chemische Zusammensetzung des Yoghurt zur Zeit noch recht lückenhaft sind, namentlich was die Beschaffenheit der Handelsproben anlangt. Um in dieser Beziehung einen Beitrag zu liefern, habe ich drei Proben von Yoghurt des Handels eingehend untersucht. Da aber bei solchen Proben der Vergleich mit der ursprünglichen Milch fehlt, habe ich, gleichzeitig um den Wert von Trockenfermenten des Handels festzustellen, aus dem Trockenpräparat „Mayofirm” Yoghurt selbst bereitet. Sowohl bei der direkten Untersuchung dieses Präparates, wie auch bei der Prüfung des bei 40° erhaltenen Yoghurt waren Gram-positive Stäbchen in reichlicher Menge zu erkennen, auch konnten sehr deutlich die Körnchen beobachtet

14) Centralbl. Bakteriol. II, 1909, 22, 1—22.

15) Bericht d. Chem. Unters.-Anst. Leipzig 1907, 23; Ztschr. Unters. Nahr.- u. Genußm. 1908, 16, 526.

16) Centralbl. Bakteriol. II, 1911, 30, 149—154.

120 Scholl: Über Yoghurt.

werden. Der erhaltene Yoghurt besaß einen recht angenehmen Geschmack und Geruch, so daß die Brauchbarkeit des Trockenfermentes wohl zweifellos ist. Die Untersuchung wurde nach 13 und 23 Stunden vor- genommen, von einer längeren Bebrütung habe ich abgesehen, um Produkte zu vermeiden, welche von denjenigen des Handels stark abweichen.

Bezüglich der Untersuchung ist zu bemerken, daß die Herstellung einer ganz gleichmäßigen Mischung bei diesen Produkten recht schwierig ist. Einerseits scheidet sich ja beim Kochen der Milch die Albuminhaut ab, welche nachträglich kaum vollständig zu zerteilen ist. Diesen Übel- stand habe ich zwar bei den von mir selbst hergestellten Proben durch fortwährendes Rühren während des Erhitzens größtenteils vermeiden können. Wie aber in dieser Beziehung die handelsmäßig hergestellten Waren sich verhalten, bleibt zweifelhaft, da über die Höhe, Dauer und Art der Erhitzung nichts bekannt gegeben wurde. Sodann macht die Verteilung des während des Stehens im Thermostaten aufgerahmten Fettes wegen der festen Beschaffenheit des Produktes Schwierigkeiten, ich habe daher die Proben zunächst recht kräftig durchgeschüttelt und dann durch ein Metallsieb von 0,4 mm Maschenweite gerieben, wodurch anscheinend nach der sehr guten Übereinstimmung der Doppelbestimmun- gen der gewollte Zweck auch genügend erreicht wurde.

Die angewendeten Untersuchungsverfahren waren die üblichen. Die Trockensubstanz- und Aschenbestimmung wurde in flachen Platinschalen (Weinschalen) vorgenommen, die Fettbestimmung durch Extraktion der im Hoffmeister'schen Schälchen mit Sand-Gipsmischung eingetrock- neten Proben mittels Äther, die Zuckerbestimmung in der nach Ritt- hausen mit Kupfersulfat und Natronlauge gefällten Probe unter Zu- satz von Fluornatriumlösung nach A, Scheibe, die Bestimmung der Gesamtsäure nach Soxhlet und Henkel, Zur Bestimmung der flüchtigen Säure und des Alkohols wurden 200 g unter Wasserdampf- durchleitung destilliert, wobei die Probe auf etwa die Hälfte eingeengt wurde. Das Destillat wurde titriert unter Benutzung einer mit heißem Wasser hergestellten Phenolphthaleinlösung, und nach der Neutralisation abermals unter Anwendung eines stark wirkenden Rektifikationsaufsatzes in ein 50 ccm-Pyknometer destilliert. Das Destillat wurde dann auch qualitativ auf Alkohol geprüft. Der lösliche Stickstoff wurde in dem aus einer Verdünnung von 50 g auf 200 ccm erhaltenen Filtrat, nachdem bei der gekochten Milch das Kasein mit Essigsäure abgeschieden war, be- stimmt. Für die Fällung des Albumin-, Albumosen- und Peptonstick- stoffes wurde ein in derselben Weise erhaltenes, eingeengtes Filtrat ver- wendet, welches in der üblichen Weise mit Zinksulfat gesättigt und nach dem Abfiltrieren des Niederschlages mit phosphorwolframsaurem Natrium gefällt wurde. Der Kaseinstickstoff wurde nicht direkt bestimmt, da in der unlöslichen Stickstoffsubstanz ja auch das durch Kochen abgeschie- dene Albumin enthalten ist, vielmehr wurde als Kasein- und Albumin-

Scholl: Über Yoghurt. 121

stickstoff die Differenz zwischen dem Gesamtstickstoff und dem löslichen Stickstoff berechnet. ‚Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind folgende:

Selbstbereitet Handelsproben Yodlartr po 90

Bezeichnung Sa Iomaill kocte

L | 5 | m ‚lıasıaulessen | Füch

Trokensubstanz. -. 22.2... 12,98 %1036 % 1133 % 11,96 % 11,85 %|11,92 % Gesamtstikstoff -. -. . . . ... 0,558. | 0,510,,| 0,516 „| 0,525 „| 0,517 „| 0,512 Kasein- und Albuminstikstoff. . . | 0,517, 0,473,,| 0,464 „| 0,486 „| 0,473 „| 0,476 Lösliher Stikstoff. . . . . . -. 10,041 ,„| 0,037 „| 0,052 „| 0,039 „| 0,044 „| 0,036 Albuminstickstoff (gelöst) Te 0 0,008 0,001 0,004 0, 0,002 0,001

Albumosenstickstoff(Zinksulfatfällung) | 0,013, | 0,017 „| 0,019 „| 0,016 „| 0,017 „| 0,012,

_Ssäurefällung) .. .... .. . 0,025 „| 0,016 „| 0,025 „| 0,021 „| 0,024,„| 0,023 Fe a ar SAT 387 ;1278: „12.28.1200. „| 2,75 a IE ER ABIRIC N DU 3,66 „|! 287 „| 396 „| 488 „|I447 „| 418

Oiisnikerensttieherebereäne 156 „| 120 „!070 „| 013 „|! 054 „| 0,8

ae ie 0,025 „| 0,018 „| 0,052,| 0 0,002 „| 0,003 PR in re urn, % 082 „| 0,75 „| 0,77 .„|080 „!078 „| 0,76 N he 028 „|o3ı „Io „| 0 N) 0

Über die Herstellungsweise der Handelsproben ließ sieh nur fest- stellen, daß die Probe I mittels Laktobazillin Metschnikoff, die Probe II „nach Dr. Axelrodt” bereitet war. Der Geruch war bei allen drei Proben angenehm, der Geschmack ebenfalls bei allen nicht unangenehm, aber bei den Proben I und II zu sauer.

Aus den angegebenen Ergebnissen ist zunächst zu entnehmen, daß keine der Handelsproben aus eingedickter, die Probe II aber vielleicht aus teilweise entrahmter oder schwach gewässerter Milch bereitet war. Die naheliegende Vermutung, daß gelöstes Albumin nur noch in Spuren vorhanden sein würde, bestätigt sich in allen Fällen. Von einer erheb- lichen Peptonisierung kann keine Rede sein, wie namentlich auch der Vergleich zwischen der gekochten Milch und den aus ihr bereiteten Yoghurtproben ergibt. Auch das Fett ist völlig unverändert geblieben. Die Abnahme an Laktose in den selbsthergestellten Proben entspricht genau der Zunahme an Milchsäure und die Summe von Milchsäure und Laktose ist in der Milch dieselbe wie in den Yoghurtproben. Das spricht gegen die oben angeführte Ansicht von G. Bertrand und G. Weis- weiller, wonach der gesamte Milchzucker zu Glykose und Galaktose gespalten würde, da in diesem Falle die Summe der aus dem Reduktions- vermögen berechneten Laktose und der Milchsäure in dem Yoghurt größer sein müßte als in der Milch. In dem Gehalt an flüchtigen Säuren zeigen sich erhebliche Unterschiede. Während die Bildung derselben in ‚den von mir hergestellten Proben äußerst gering war, zeigen die Handels- proben verschiedene und teilweise recht beträchtliche Gehalte an flüch- tigen Säuren. Kohlensäure kann hierbei nicht in nennenswerter Menge

122 Scholl: Über Yoghurt.

beteiligt sein, da die Rückstände der Alkoholdestillation mit Kalkwasser keinen Niederschlag gaben. Der Alkoholgehalt ist in den von mir unter- suchten Handelsproben teilweise nicht unerheblich, auch in diesem Punkte herrschen Verschiedenheiten je nach der Art des verwendeten Fermentes und es ist hervorzuheben, daß in dem von mir benutzten Ferment Hefen völlig fehlten, daß‘aber gleichwohl ein recht brauchbares, befriedigendes Produkt erzielt wurde.

Selbstredend können die Ergebnisse meiner Untersuchungen nicht zu weitgehenden Verallgemeinerungen anreizen, es kann aus ihnen nur gefolgert werden, daß der Säuregehalt der einzige Bestandteil ist, welcher in chemischer Hinsicht Yoghurt sicher von Milch unterscheidet, da der Alkoholgehalt nur den Charakter eines zufälligen Produktes trägt, In bakteriologischer Hinsicht kann gesagt werden, daß es im Handel sowohl fertige Yoghurtprodukte, wie auch Trockenfermente gibt, welche billigen Ansprüchen genügen. Da aber natürlich die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen ist, daß auch andere Erzeugnisse vorkommen, so wird eine Kontrolle sowohl in bakteriologischer wie in chemischer Hinsicht notwendig sein, um den Vertrieb wertloser bezw. verfälschter Produkte zu verhindern. Vor allen Dingen aber wird es richtiger sein, die Reklame für die Yoghurtpräparate, welche heute mit meist noch sehr unsicheren und keineswegs bündig erwiesenen Behauptungen operiert und dadurch im Publikum vielfach unerfüllbare Hoffnungen erweckt, auf das richtige Maß einzuschränken.

(Mitteilung der Landw. Versuchsstation Münster i. W.)

Der Nachweis. von Pisseminsckidligunigen durch Rauch- gase und Staub.

"Von Dr. J. Hasenbäumer.

- Der ungeahnte Aufschwung, den die Gewinnung von Steinkohlen und Koks in Westfalen genommen hat und die hierdurch bedingte Ver- mehrung der industriellen Werke hat eine starke Zunahme der Pflanzen- beschädigungen durch Rauchgase und Staub hervorgerufen. Die Klagen "über derartige Schäden sind nicht neu, da schon Anfangs der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts aus Schlesien und besonders aus dem Königreich ‘Sachsen Beschwerden der geschädigten Besitzer laut geworden sind. Die Schäden traten hier so heftig auf, daß an manchen Stellen der Anbau von Nadelholz, bes. Fichten, unmöglich gemacht wurde. Auch hier in West- falen sind die größeren Schädigungen zuerst vorwiegend an Nadelhölzern beobachtet worden. Der Grund ist in der beschränkten Neubildungs- fähigkeit ihrer Blätter (bezw. Nadeln) zu suchen; gegebenenfalls hat man aber auch an fast allen Pflanzen Rauchschäden feststellen können.

Als hauptsächlichste Quelle der Rauchschäden kommt für die hiesigen Verhältnisse die schweflige Säure bezw. Schwefelsäure in Betracht, welche bei der Verbrennung und Verkokung von Steinkohlen in mehr oder weniger großen Mengen, je nach dem Gehalte der Kohlen an Schwefel, entweicht.

Jede größere Feuerungsanlage, besonders Dampfkessel, Lokomo- tiven, dann Kokereien, Ziegeleien, Kalkwerke, können diese Säuren in schädigender Weise in die Luft entsenden. Dazu kommen noch die Werke, welche Schwefelkies oder Schwefel auf Schwefelsäure und schwe- felhaltige Erze auf Metalle verarbeiten. Beim Rösten dieser Erze ent- weichen große Mengen von schwefliger Säure, die nur zum Teil aufgefan- gen und weiter verarbeitet werden können. Neben den Rauchgasen ent- weichen aus den genannten Betrieben meist noch Ruß, Aschenbestand- teile, teilweise auch teerartige Produkte und bei den letztgenannten Werken auch Flugstaub, der die Oxyde oder Sulfate von Eisen, Zink und Nickel enthält. Starke Entwicklung von Staub tritt ferner auf bei Ze- mentwerken und solchen Kalkbrennereien, die gleichzeitig gemahlenen Kalk herstellen. Die starke Anhäufung von industriellen Anlagen hat es für den eigentlichen Industriebezirk mit sich gebracht, daß man sich dort ein gewisses Maß von Belästigungen durch Rauchgase und Staub ge-

124 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

fallen läßt; erst wenn dieses sogenannte ortsübliche Maß über- schritten wird, kann man mit Erfolg gegen den Schädiger vorgehen. Kleinere Werke und einzelne Feuerungsanlagen scheiden daher fast all- gemein aus, nur die größten Werke, auf denen Dutzende von großen Dampfkesseln in Betrieb sind, dann die Erzröstereien und vor allem und in erster Linie die Kokereien wirken schadenbringend durch Rauchgase und Staub. Dazu kommen noch die Halden, welche einmal am Brennen, jahrelang brennen können und große Mengen von schwefliger Säure ent- weichen lassen. Nach Veröffentlichungen des Oberbergamtes Dortmund werden in diesem Bezirk von etwa 178 Zechen gegen 90000 000 Tonnen Kohlen gefördert und gegen 18000000 Tonnen Koks hergestellt. Nimmt man in den Steinkohlen nur 1 % Schwefel an, der bei der Verbrennung, wenn auch nur teilweise, als schweflige Säure entweicht, so ergeben sich doch ganz gewaltige Mengen, die Jahr für Jahr in die Luft entweichen.

Die schädliche Wirkung‘) der schwefligen Säure ist durch zahlreiche Versuche nachgewiesen worden, wenn auch die Art der Einwirkung noch nicht ganz sicher festgestellt ist. Am wahrscheinlichsten erscheint die ‚Annahme, daß die Säuren durch die Spaltöffnungen der Blätter ein- dringen und eine Veränderung bezw. Zerstörung des Plasmas bewirken. Eine schädigende Wirkung vom Boden aus, in den die Säuren durch Re- gen gelangen, erscheint nach den vorliegenden Beobachtungen als aus- geschlossen; die Menge der Säure ist im Verhältnis zur Bodenmenge äußerst gering und dann wird der große Überschuß an Basen im Boden bezw. Kalk die schädliche Wirkung der Säure sogleich aufheben. Eine deutliche Erhöhung des Bodens an schwefelsauren Salzen auf Grund- stücken, die von Rauchgasen getroffen worden sind, hat sich auch durch- weg nicht feststellen lassen. Hierbei ist allerdings zu bemerken, daß durch die Einwirkung der schwefligen Säure wasserlösliche Salze im Boden entstehen, die leicht in den Untergrund gewaschen werden können. In Böden, die sehr stark von Rauchgasen getroffen werden, hat man in der Tat eine deutliche Abnahme an Kalk feststellen können (A. Wieler). Auch können die Säuren indirekt dadurch nachteilig wirken, daß sie die Zersetzung des Humus im Boden beeinträchtigen.

Neben Rauchgasen wirken dann ferner schädlich auf die Vegetation Staub, welcher Metalle, Metalloxyde bezw. -Sulfate, Asche oder teerige Be- standteile enthält. Von den Metallen bezw. Oxyden kann man annehmen, da sie durch die Kohlensäure oder Salpetersäure gelöst und von den Blät- tern aufgenommen werden. Lagert derartiger Staub, besonders von Kupfer oder Blei auf Pflanzen, die als Futter dienen, so können direkt schädliche Folgen eintreten. Für Gartengewächse kommt meist noch der indirekte Schaden in Betracht, daß sich solche mit Ruß und Staub be-

1) Siehe J. v. Schröder und C. Reuss, Die Beschädigung der Vegetation durch Rauch, Berlin 1883; ferner E. Haselhoff und G. Lindau, Die Beschädigung der Vege- tation durch Rauch. Berlin 1903, 249,

Hasenbäumer: Pilanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 125

deckte Pflanzen nur schwer reinigen lassen und daher nur mit Schaden zu verkaufen sind.

Die Beschädigung an Pflanzen kann aber nur dann auftreten, wenn der Wind die Gase und den Staub von der Rauchquelle auf das betreffende Grundstück führt. Es ergibt sich hieraus, daß die Windrichtung von der größten Bedeutung für das Auftreten von Rauchschäden ist. Da im eigentlichen Industriegebiet meteorologische Beobachtungen für eine län- gere Reihe von Jahren nicht vorliegen bezw. veröffentlicht sind, so habe ich die Beobachtungen der Meteorologischen Station Münster benutzt, die auch für die dortigen Verhältnisse Gültigkeit haben. Tabelle I zeigt die Windverteilung für das ganze Jahr von 1895—19%07.

Tabelle 1. Windverteilung für das Jahr.

Jahr |NO+O|SO+S|SWLWNW-N Mir 1895 200 | 146 472 223 756 1896 142 150 477 249 737 1897 280 14 | 4ss 204 706 1898 153 189 544 200 720 1899 157 1740| 443 309 687 1900 209 186 505 193 741 1901 264 216 412 203 859 ıs0? | _260 167 485 183 833 1903 121 272 526 176 645 1904 210 188 463 221 713 1905 168 163 469 252 743 1906 135 171 466 266 659 1907 168 190 483 204 747

Mittel: 189 183 430 222 738

oderin % 18 18 42 23 —_—

» "Tabelle II bringt die Windverteilung und Regenmengen für die Mo- nate Mai, Juni, Juli und August für 1895—1907. (Siehe folgende Seite.) Aus der Tabelle I ergibt sich, daß im Jahre die SW- und W-Winde mehr als doppelt so häufig gewesen sind, als die S-, SO-, O- und NO-Winde, wäh- rend die NW- und N-Winde den S- und SO-, bezw. O- und NO-Winden in der Häufigkeit ungefähr gleich kommen. Betrachtet man nur die Mo- nate Mai bis August, in denen in erster Linie das Wachstum der Pflanze stattfindet, so verschiebt sich die Windverteilung noch mehr zu gunsten der SW-, W-, NW- und N-Winde; ihre Häufigkeit beträgt 71%, so daß für die übrigen Windrichtungen nur 29% übrig bleiben. Die von der Rauchquelle im NO, O, SO oder S liegenden Grundstücke werden daher in erster Linie unter den Rauchschäden zu leiden haben. Dazu kommt ferner, daß sowohl die Einwirkung der Säuren auf die Pflanzen bei Gegen- wart von Wasser viel energischer vor sich geht als ohne dieses, und daß

126 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub.

Tabelle II. Windverteilung für die Monate Mai, Juni, Juli, August.

Jahr |NO+0/SO-+S|SW-LWNW-EN Bogen 1895 44 27 171 95 308 1896 39 28 126 135 312 1897 73 51 - 126 116 269 1898 22 60 200 114 304 1899 70 50 107 98 231 1900 80 52 176 51 275 1901 94 86 95 84 213 1902 31 56 184 110 323 1903 38 61 185 87 329 1904 49 65 142 98 209 1905 54 56 126 | 105 220 1906 32 53 136 112 264 1907 18 44 204 75 311

Mittel: 48 53 152 98 274

oderin % 14 15 43 28 37

bei regnerischem Wetter die Rauchgase viel mehr zu Boden geschlagen werden als bei trockener Witterung. Durch letzteren Umstand wird das Gebiet der Rauchschäden noch mehr in die den SW-, W-, NW. und N- Winden entgegengesetze Richtung verlegt, da die genannten Winde sehr häufig Regen mit sich bringen. So hatte z. B. der Mai 1902 25 Regentage und 27 Tage mit den genannten Windrichtungen, der Juni 1902 nur 12 Re- gentage und 15 Tage SW- bis N-Windrichtung; ferner der August 1907 23 und 24 und der Juni 1905 11 und 14 solcher Tage.

Ebenso ergibt sich aus der Tabelle II, daß in den regenreichen Som- mermonaten die SW-, W- und NW-Winde vorherrschten, während die östlichen Winde durchweg trockenes Wetter bringen, Die hier geschil- derten Beziehungen haben sich nun in der Praxis durchaus bestätigt, so- weit das ebene Land in Betracht kommt. In mindestens 90 von 100 Fällen liegt der Rauchschaden in der eben erwähnten Richtung und in den weni- gen Fällen, wo das nicht der Fall ist, bleibt der Rauchschaden meist auf eine geringe Zone von der Rauchquelle beschränkt. In gebirgigen Ge- genden herrschen allerdings meist andere Verhältnisse, indem hier der Wind von der Lage der Täler bedingt ist und nur zwei Richtungen der Winde zur Geltung kommen können, nämlich talaufwärts und talabwärts. In diesen Fällen ist auch die Entfernung, bis zu der die schädigende Wir- kung der Rauchgase gehen kann, viel größer als in der Ebene; in engen Tälern sind sichtbare Schäden bis zu 4 km von der Rauchquelle nachge- wiesen worden. Im flachen Lande gehen die Beschädigungen in den meisten Fällen nicht so weit, oder sind doch nicht nachweisbar und fallen damit in die Grenzen des ortsüblichen Maßes, Dazu kommt, daß im In-

Hasenbäumer: Pilanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 127

dustriegebiet bei solchen Entfernungen schon ein oder mehrere neue Rauchquellen dazwischen liegen, so daß die erste nicht mehr in Frage kommt oder nur noch einen kleinen Teil der Beschädigung hervorruft. Solche Fälle können sehr verwickelt werden, da die Unterlagen, welches Maß von Beschädigung man der einzelnen Rauchquelle zuweisen soll, nur sehr schwer und meist auch nicht einwandfrei zu beschaffen sind.

Im allgemeinen kann man annehmen, daß nachweisbarer Rauchschaden bei Garten- und Feldfrüchten innerhalb 0—1000 m, vielleicht bei empfind- lichen Pflanzen auch noch bis 1500 m Entfernung auftritt, bei Waldungen wird man die Grenzenoch etwas weiter ziehen müssen, da hier häufig eine Stauung des Windes wie vor einer Wand stattfindet, wodurch die Rauch- gase zum Niederschlagen gebracht werden. Von der größten Bedeutung für den Grad und Umfang der Schädigung ist natürlich der prozentuale Gehalt der Rauchgase an schwefliger Säure bezw. Schwefelsäure und dann auch die absoluten Mengen, die aus der Rauchquelle entweichen. Mit zunehmender Entfernung von dieser werden die Rauchgase immer stärker mit Luft verdünnt, und nach einer gewissen Zeit ist die Verdün- nung so groß geworden, daß eine Schädigung der Pilanzen nicht mehr stattfindet. Die Grenze der schädlichen Wirkung ist für die einzelnen Pflanzen verschieden und ebenso sind die von verschiedenen Forschern ’) für ein und dieselbe Pflanze gefundenen Zahlen verschieden. Als unterste Grenze für schweflige Säure kann man bei dauernder Einwirkung eine Verdünnung von 1: 1000000—1 :1500000 annehmen, wenigstens soweit empfindliche Pflanzen, also besonders Koniferen in Betracht kommen.

Für Laubholz ist eine Einwirkung der schwefligen Säure in dieser Verdünnung nicht sicher erwiesen, wenn auch nicht ganz unwahrschein- lich.®) Es ist hier auch nicht ausgeschlossen, daß die Pflanzen eine be- trächtliche Menge von schwefliger Säure aufnehmen kann, ohne daß die Einwirkung sichtbar wird. Über solche unsichtbare Rauchschäden liegen Beobachtungen vor von Sorauer und Ramann sowie von Vater.

Andererseits sind uns Fälle vorgekommen, wo die äußeren Merk- male einer Rauchbeschädigung deutlich vorhanden waren und trotzdem ein sicherer Nachweis durch die chemische Analyse nicht zu erbringen war. Möglich ist auch, daß für die einzelnen Pflanzen-Individuen wie bei Tieren und Menschen eine verschieden große Empfänglichkeit für schäd- liche Stoffe, hier Rauchgase, vorhanden ist, so daß bei einem Individuum schon eine Erkrankung eintritt,, während das andere noch vollkommen gesund erscheint.

Was die äußeren Merkmale und Erscheinungen anbelangt, die durch Rauchgase hervorgerufen werden, so treten diese an den Pflanzen mit bestimmter Regelmäßigkeit auf und lassen vielfach einen

2) Siehe J. König, Die Untersuchung landw. und gewerblich wichtiger Stoffe. Berlin 1911, 1079.

®) E. Schröder, Die Rauchquellen im Königreich Sachsen und ihr Einfluß auf die Forstwirtschaft. Abhandlung über Abgase und Rauchschäden. Berlin 1908, Heft 2, 23.

128 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

Schluß auf die Beschädigung zu. Am eingehendsten‘) sind diese Erschei- nungen beim Nadelholz beschrieben worden, da hier die Beschädigungen den größten Umfang angenommen haben. Bei der Fichte werden die Nadeln zunächst grau, dann gelb, gelbrot und rot und endlich braunrot. In leichten Fällen bleiben die helleren Töne und es werden auch nur die Nadelspitzen ergriffen. Andernfalls werden die ganzen Na- deln ergriffen und es findet eine allmähliche Entnadelung des Baumes von der Krone herunter statt, während die unteren älteren Nadeln oft noch lange Zeit grün und anscheinend gesund bleiben. Die Erscheinungen an der Kiefer sind ähnlich, nur daß hier der Nadelfall nicht so leicht stattfindet.

Für das Laubholz ist kennzeichnend das Auftreten gelber, roter und brauner Flecken und Ränder, die häufig von dunklen oder hellen Säumen umgeben sind. Im Anfange der Einwirkung tritt häufig eine fahle Verfärbung des ganzen Blattes ein mit nachfolgendem Auftreten der Flecken. Ausgeprägt rotbraun sind die Flecken bei der Buche, rot besonders beim Weinstock, gelbweiß beim Hollunder. Ist die Einwirkung der Rauchgase sehr kräftig gewesen, so kann das Zellgewebe an diesen Stellen ganz zerstört werden, so daß dann die Blätter zahlreiche Löcher aufweisen. N

Was die wirtschaftlichen Folgen der Rauchbeschädigung an Nadelholz anbelangt, so kommt zunächst der sogen. Zuwachsrück- gang in Betracht, also die verminderte Produktion von Holz gegenüber unbeschädigten Bäumen. In schweren Fällen kann vollkommenes Ab- sterben der Bäume eintreten und dadurch Aufhören eines normalen Wald- betriebes. Außer diesen direkten Schäden können noch eine Reihe an- derweitiger Nachteile auftreten, auf die z. B. von E. Schröter?) und C. Gerlach °) hingewiesen ist.

Was die Folgen für Laubhölzer anbelangt, so findet E. Schrö- ter,‘) daß im Königreich Sachsen die durch schweflige Säure an Laub- hölzern verursachten Schäden fast belanglos sind. In unserm Industrie- gebiet liegen die Verhältnisse leider nicht so günstig. An zahlreichen Stellen, vorwiegend in der Nähe von Kokereien bezw. Erzröstereien, sind ganz erhebliche Schäden an Laubholz entstanden, die nicht nur eine Er- krankung, sondern vielfach auch ein Absterben der Bäume zur Folge hatten.

Bemerkenswert sind die Fälle, wo Kokereien in bis dahin indu- striefreien Gegenden in der Nähe eines Waldes angelegt worden sind, Das Erkranken und Absterben der Bäume fand zunächst nur in einem mehr oder minder breiten Streifen am Waldesrande statt, der nach

2) Außer der ang. Literatur noch: Ph. Grohmann, Abhandlung über Abgase und Rauchschäden, Berlin 1910, 6.

5) E, Schröter, Abh. über Abgase und Rauchschäden. Berlin 1908, 2, 25.

6) C, Gerlach, ebendort. 1910, 5, 80.

7) E. Schröter, ebendort. 1908, 2, 22.

Hasenbäumer: Pfilanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 129

der Rauchauelle zu gelegen war. Da man Rauchschaden nicht vermutete, wurde der erkrankte Bestand abgeholzt, wodurch aber nur erreicht wurde, daß jetzt der dahinter liegende Teil angegriffen wurde, der bis dahin durch die vorgelagerten Bäume'einigermaßen geschützt war. Dieses Spiel hat sich dann'noch einige Male wiederholt, bis man endlich die wahre Ursache erkannte.

Der Gehalt der Luft an Säuren, insbesondere schweflige Säure, muß im ganzen Industriebezirk schon eine ziemliche Höhe erreicht haben, da man von vielen Waldbesitzern Klagen hört, daß selbst die Eiche nicht mehr freudig wachsen will. Bei der Bepflanzung der öffentlichen Wege und Anlagen nimmt man hierauf schon Rücksicht und baut weniger rauchempfindliche Bäume, besonders Plantanen, Ulmen und Akazien an. Mehr oder weniger großen Schaden bringen ferner die Rauchgase den Obstbäumen und zwar einmal in derselben Weise wie beim Laubholz und dann besonders noch durch Beschädigung der Blüte. Diese Erschei- nung kann sich auf weite Entfernung hin bemerkbar machen und die Klagen über schlechten Fruchtansatz sind im ganzen Rauchgebiet allge- mein. Wahrscheinlich brauchen die Rauchgase nur kurze Zeit mit der Blüte in Berührung zu kommen, um die erwähnte Wirkung herbeizuführen, so daß auch die außerhalb der vorwiegend herrschenden Winde liegenden Baumbestände meist geschädigt werden.

Wie schon erwähnt, leiden die einzelnen Individuen ein und der- selben Baumart verschieden stark unter der Einwirkung des Rauches, in noch höherem Grade ist das für die verschiedenen Baumgattungen der Fall. Zu den empfindlichsten gehören, wie gesagt, die Nadelhölzer und von diesen wieder in erster Linie die Fichte. Für Laubholz hat man ver- schiedene Reihen aufgestellt; nach unseren Erfahrungen sind sehr un- empfindlich: Eiche, Akazie, Plantane und Birke; empfindlich: Pappel, Ulme, Esche, Erle, Birnbaum; sehr empfindlich: Rot- buche, Heinbuche, Kastanie, Kirschbaum, Pflanzenbaum, Apfelbaum, Linde und der Weinstock.

Diese verschiedene Empfindlichkeit liefert wichtige Fingerzeige bei der Beurteilung von Rauchschäden. Weisen z. B. in einem Walde die Eichen Beschädigungen auf, während etwa Buchen und Nadelholz gesund erscheinen, so kann man mit größter Sicherheit annehmen, daß Rauch- schaden nicht vorliegt.

Die Feld- und Gartenfrüchte unterliegen ebenfalls der Ein- wirkung des Rauches und zeigen mehr oder weniger deutlich die Merk- male dieser Einwirkung.

Kartoffeln. Das Laub zeigt in leichteren Fällen braune Flecken und Ränder, die mit der Zeit braunschwarz werden. In schweren Fällen kann das ganze Laub braunschwarz werden und abfallen. Der Ertrag an Knollen kann dann bis auf Null heruntergehen, während sonst wechselnde Erträge, die sich nach dem Grade der Beschädigung richten, erzielt werden.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u, Ärzte. 9

130 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

Runkelrüben. Die Blätter zeigen gelbe oder weißgelbe Flecken, die meist von ziemlicher Ausdehnung sind, häufig erscheint das ganze Blatt fahlgrau. Die Rüben bleiben in solchen Fällen klein, etwa %—U der normalen Größe; dieser Grad der Beschädigung findet sich fast nur in unmittelbarer Nähe der Rauchquelle, da gerade die Runkelrübe große Mengen von Rauch verträgt. Der im Herbst an mancher Rübe befind- liche Kranz von trockenen Blättern läßt nicht auf Rauchschaden schlie- ßen, da er an jeder Rübe vorkommen kann.

Kabbes. Die Blätter sehen wie weiß angelaufen aus, die Blattent- wicklung ist gering und es kommt nicht zur Bildung eines ordentlichen festen Kopfes. -

Von Landwirten wird bei diesen drei Fruchtarten behauptet, daß man bei ihrem Genuß den Rauch schmecken könne, von anderer Seite wird das jedoch bestritten; ich habe von einem solchen eigenartigen Ge- schmack bei verschiedenen Proben nichts wahrnehmen können.

Große Bohnen bezw. Pferdebohnen. Die Blätter zeigen schwarze Flecken und Ränder oder werden vollständig schwarz, der Fruchtansatz ist gering.

Vitsbohnen. (Stangen- oder Buschbohnen.) Die Flecken auf den Blättern sind gelbgrau bis gelbbraun, und trocknen meist schnell ein. Be- sonders die Stangenbohnen sind empfindlich, sie erreichen in schweren Fällen oft nur 13 der Höhe einer normalen Pflanze.

Gräser. Die Beschädigungen machen sich zuerst an den Spitzen bemerkbar, die weiß oder weißgelb gefärbt erscheinen, bei längerer Ein- wirkung verschwinden die guten Gräser und es tritt Unkraut und minder- wertiges Gras, besonders Honiggras, auf.

Klee. Es gibt kaum einen Fall von Rauchschaden, an dem nicht auch der Klee beteiligt wäre. Die Einwirkung macht sich bemerkbar durch gelbe bis gelbbraune Flecken auf denBlättern. Oft sind die ganzen Blätter fahl gelbbraun gefärbt und sehen wie welk aus. Dieses Bild zeigt sich im Anfang der Einwirkung, weiterhin geht der Klee meist in großen Men- gen aus und Unkräuter aller Art, wie Kamille, Myosotis arvensis, Sauer- ampfer und schlechte Gräser machen sich breit.

Die wirtschaftlichen Nachteile, die der Landwirt bei der Beschädi- gung der letzten beiden Futterpflanzen erleidet, sind besonders schwerwie- gend; einmal ist es der geringere Ertrag und dann die ungünstige Wir- kung, welche das Verfüttern solcher rauchbeschädigten Pflanzen auf das Vieh ausübt.

Solches Futter wird nur ungern vom Vieh gefressen, oft auch ganz verweigert, der Milchertrag bei Kühen wird stark, in einzelnen Fällen bis auf die Hälfte herabgesetzt. Ferner treten Darmerkrankungen auf und vielfach vorzeitiges Kalben der trächtigen Tiere. Wenn, wie häufig, das Heu noch Ruß und Steinkohlenasche enthält, so kommen zu diesen Erscheinungen noch Atembeschwerden und Hustenreiz,

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 131

Getreide. Gerade bei dieser wichtigen Frucht lassen uns die äußeren Merkmale in vielen Fällen im Stich, da einerseits die Merkmale sehr verschieden sind und andererseits noch nicht sicher feststeht, welche von diesen für eine Rauchbeschädigung entscheidend sind. So hat man beim Hafer gelb- und rotgestreifte Blätter, oder gelbe Blätter mit weißen Streifen, Spitzen und Flecken, ferner nur weißgestreifte oder grüne Blät- ter mit roten Flecken und Spitzen beobachtet;

beim Roggen Blätter mit weißen, gelben oder roten Spitzen;

beim Weizen desgl., dann auch gelb gefärbte Blätter mit weißen Rändern und Streifen beobachtet.

Vielleicht lassen sich die verschiedenen Erscheinungen durch die mehr oder weniger starke oder längere oder kürzere Zeit der Einwirkung der Rauchgase erklären. Am Wintergetreide findet man während der Wintermonate nur sehr selten Zeichen der Einwirkung, ein Umstand, der seine Erklärung wohl darin findet, daß die meisten Rauchschäden, wie A. Wieler‘) annimmt, durch Einatmen entstehen, und nicht durch direkte Ätzwirkung.

Von allen Erscheinungen lassen weiße Blätter oder grüne Blätter mit weißen Spitzen am sichersten auf Rauchwirkung schließen. Von den schädlichsten Folgen ist es, wenn der Rauch zur Zeit der Blüte die Pflanze trifft. Die Befruchtung wird hierdurch zerstört und der Körner- ansatz erheblich verringert; hierbei wird in erster Linie der obere Teil der Ähren getroffen; diese Erscheinung findet man fast stets bei durch Rauch beschädigtem Getreide und kann daher als charakteristisch ange- sehen werden. Die Verminderung des Körnerertrages kann sehr erheb- lich sein; Fälle, daß nur 6—8 Ctr. statt 16-18 Ctr. vom Morgen geerntet wurden, sind uns mehrfach begegnet. Dazu kommt die Verschlechterung der Qualität sowohl von Korn wie auch von Stroh durch den nie fehlen- den Ruß, Staub und die teerigen Bestandteile, welche das Stroh zur Ver- fütterung ungeeignet bezw. weniger geeignet machen.

Von den Feld-undGartenfrüchten istderKlee am emp- findlichsten gegen die Rauchgase, er nimmt ungefähr die Stelle ein wie die Fichte unter den Bäumen.

Dann folgen Bohnen, Erbsen, Gurken, Kartoffeln mit mittlerer Empfindlichkeit, endlich Kabbes, Runkeln, Gras und Ge- treide außerhalb der Blütezeit mit geringer Empfindlichkeit,

Der braune oder Winterkohl und die gelben Wurzeln oder Möhren scheinen gegen Rauch fast unempfindlich zu sein; mir ist noch kein Fall vorgekommen, daß an diesen Pflanzen Erscheinungen auftraten, die auf Rauchschaden schließen lassen konnten.

Von den Unkräutern sind ganz besonders unempfindlich die

©) A. Wieler, Unters. über die Einwirkung schwefliger Säure auf die Pflanzen. Berlin 1905.

9%

132 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub.

Hundskamille, der gemeine Knöterich und der Acker- spörgel. Die Kamille besonders zeigte an Stellen, wo Klee ganz aus- gegangen, Gras und Getreide sehr stark beschädigt waren, Rotbuchen am Absterben waren, keinerlei Erscheinungen, die auf Rauchschaden deu- teten.

Die Frage, ob die beschriebenen Erscheinungen an den Blättern, Nadeln und Früchten ohne weiteres hinreichen, um das Vorliegen einer Rauchbeschädigung sicher festzustellen, muß verneint werden. Eine ganze Reihe anderer Ursachen ist imstande, ähnliche Erschei- nungen hervorzurufen. Hierzu gehören z. B.:

1. Frost, Trockenheit und allzu starke Besonnung. Die Trockenheit des Jahres 1911 machte sich in diesem Frühjahr durch Rotwerden der Nadeln von Fichten und Kiefern bemerkbar.

2. Ungünstige Bodenbeschaffenheit, hervorgerufen durch Nährstoffmangel,’) zu große Nässe usw.

3, Pflanzliche und tierische Parasiten.) Manche Pilze sind imstande, auf den Blättern ähnliche Flecken hervorzurufen wie Rauch. So Peronospora und Sclerotinia Trifoliorum beim Klee, die Blattpilze beim Weizen und Roggen. Der Getreideblasenfuß (Thrips cerealium Haliday) bewirkt ein Abfallen der unteren und mittleren Ährchen beim Roggen, beim Hafer sind die untersten Ährchen taub und weiß gefärbt.

Die Runkelfliege verzehrt das Blattgewebe der Runkelblätter, so daß nur die Blatthäute übrig bleiben und das Blatt große gelbe Flecken erhält, Auf den Ertrag der Kartoffeln kann einwirken die Schwarz- beinigkeit und besonders die Kräuselkrankheit usw.

Die unter 3. genannten Erscheinungen sind vielfach schwierig zu er- kennen und machen das Hinzuziehen eines Phytopathologen notwendig.

4. In den letzten Jahren hatten wir dann noch Gelegenheit, einige Pflanzenbeschädigungen zu untersuchen, die in ihren äußeren Erschei- nungen wohl auf Rauchschäden zurückgeführt werden konnten, in Wirk- lichkeit aber andere Ursachen hatten. Die Pflanzen es handelt sich bis jetzt um Klee, Hafer, Weizen und Runkelrüben bekamen nach kurzem Regenmangel gelbe Blätter bezw. gelbe Spitzen und Flecken auf den Blättern, in ungünstigen Fällen gingen beim Hafer und Weizen die Pflan- zen ein, während die Runkeln kümmerlich weiter wuchsen und einen wenn auch geringen Ertrag lieferten. Diese Erkrankungen traten auf demselben Grundstück stets an derselben Stelle und bis jetzt alle drei lIahre hinter- einander auf. Eingehende Untersuchungen haben ergeben, daß sich an diesen Stellen in geringer Tiefe im Boden (von 0,50—1,50 m) ausgedehnte horizontale Risse vorfanden, die auf Bergbau, der dort in sehr geringer

®) Wilfarth, Arbeiten der Deutschen Landw. Gesellschaft 1902, Heft 96. 10) Pflanzenschutz, von P, Sorauer und G. Rörig. Berlin, Deutsche Landw. Ge- sellschaft 1910,

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 133

Tiefe betrieben wird, zurückzuführen sind. Diese Art Risse sind bisher kaum beobachtet worden, sondern stets Vertikal-Risse. Man muß an- nehmen, daß durch jene Risse der Zusammenhang der oberen und unteren Schichten unterbrochen und damit auch dieKapillarität desBodens aufgeho- benist. Schonnach kurzer Trockenheit werden daher an solchen Stellen die Pflanzen an Wassermangel leiden, da eine Versorgung aus dem Grund- wasser bezw. aus den unteren feuchten Schichten nicht möglich: ist. Wasser-Bestimmungen des Bodens haben dieser Annahme eine sichere Stütze gegeben.

Als wichtigstes Mittel zur Erkennung einer Rauchbeschä- digung durch schweflige Säure muß nach wie vor die Bestimmung der Schwefelsäure in den beschädigten Pflanzenteilen bezeichnet werden. Fast ausnahmslos hat man in solchen rauchbeschädigten Pflanzen einen höheren Gehalt an Schwefelsäure feststellen können, als in gesun- den, von Rauch nicht berührten Pflanzen, die in derselben Gegend und auf gleichen Boden gewachsen waren.

Ebenso haben zahlreiche Versuche, bei denen wir Pflanzen mit schwefliger Säure behandelt haben, eine Erhöhung des Schwefelsäure- Gehaltes ergeben. Von diesen Versuchen will ich nur folgenden anfüh- ren: Pferdebohnen wurden während zweier Tage der Einwirkung von schwefliger Säure ausgesetzt, die Blätter zeigten dann die bekannten Merkmale der Rauchbeschädigung. Die Pflanzen kamen alsdann in frische Luft und trieben nach einiger Zeit neue Blätter von normaler Beschaffen- heit. Die Untersuchung der Blätter lieferte folgenden Gehalt an Schwe- felsäure (SO,) in der Pflanzentrockensubstanz:

[Gesunde Pflanzen | mit schwefliger Säure beschädigte Pflanzen | kranke Blättter | neue gesunde Blätter SO;: 0.540% 1.005 % 0.640 %

Die Schwefelsäure hat hiernach in den erkrankten Blättern um 86,1 % zugenommen, während die nachträglich gewachsenen Blätter wieder einen normalen Gehalt an Schwefelsäure aufweisen. Auf diesen Punkt komme ich bei der Probenahme noch näher zurück.

Da als Grundlage dieses Verfahrens der normale Gehalt gesunder Pflanzen an Schwefelsäure zum Vergleich herangezogen wird, so ist zu- nächst zu berücksichtigen, daß für den Gehalt der Pflanzen an Schwefel- säure unter natürlichen Verhältnissen folgende Umstände in Betracht kommen:

1. Der Gehalt des Bodens an Sulfaten; er ist von sehr gerin- ger Bedeutung.

2. Die Düngung mit schwefelsäurehaltigen Düngemitteln in den in der Praxis gebräuchlichen Mengen; hierdurch wird der Gehalt in durch- weg mäßigem, bei einigen Pflanzen allerdings in starkem Grade erhöht. Besonders stark ist der Einfluß einer Düngung mit Jauche und Abwasser.

134

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

In wie weit der Boden bezw. der Gehalt verschiedener Böden an Schwefelsäure von Belang ist, möge folgender Versuch zeigen: Auf sechs verschiedenen Bodenarten, und zwar Sandboden, lehmigem Sandboden, Lehmboden, Kalkboden, Ton- und Lenneschieferboden, wurde Klee ange- baut und der Gehalt an Schwefelsäure im ersten und zweiten Schnitt fest- gestellt. Die Ergebnisse sind in der Tabelle III zusammengestellt, daneben noch der Gehalt des Bodens an Sulfaten, löslich in 10prozentiger Salz- säure und heißem Wasser:

Tabelle III.

Klee Sand- |Lehm.-Sand-| Lehm- Kalk- Ton- |Schiefer- boden boden boden boden boden boden Gehalt an SO, in % berechnet auf Trockensubstanz I. Schnitt 0.739 0.715 0.778 0.744 0.702 0.757 II. ENT ULENT 0.746 0.710 0.761 0.758 0.733 0.728 Gehalt des Bodens an Sulfaten (SO,) löslich in 10%-iger Salzsäure: . . 0.060 0.062 0.072 0.102 | 0,082 0.095 Heis. Wasser unter Druck: | 0.016 0.026 | 0.023 0.028 0.027 -0.028

“Wie man sieht, haben die Böden verschiedene Gehalte an Sulfaten. Die Menge Schwefelsäure im Klee ist dagegen in allen Proben fast gleich, und die vorhandenen kleinen Unterschiede zeigen keinerlei Beziehung zu dem Gehalte des Bodens an Sulfaten.

Der Einfluß der Düngung kann aus folgendem Versuch ermessen werden: Wiesen mit 9 verschiedenen Bodenarten wurden teils mit schwe- felsaurem Ammoniak gedüngt, teils ungedüngt gelassen. Das geerntete Grasheu von je einer ungedüngten und von einer mit schwefelsaurem Am- moniak gedüngten Parzelle lieferte folgende Gehalte an Schwefelsäure (SO,) in der Trockensubstanz:

| nadasn Hinten, PN vu | IX Ungedüngt . . ..... . 0.431 | 0.538 | 0.586 |0.477 ' 0.462 |0.414 | 0.509 |0.648 0.516 Schwefelsaures Ammoniak | 0.483 | 0.574 | 0.570 | 0.456 | 0.494 |0.472 | 0.530 | 0.639 | 0.540 im Mittel für ungedüngt . . . . . . + 0.509% % » » schwefelsaures Ammoniak ...0.529

Hiernach ist durch die Düngung mit schwefelsaurem Ammoniak eine geringe Erhöhung der Schwefelsäure in den Pflanzen eingetreten; die Pflanzen der verschiedenen Bodenarten zeigen aber keine großen Unter-

schiede im Gehalt, die etwas höheren Zahlen auf Parzelle III und VII las- sen sich ungezwungen durch eine starke Beimengung von Klee erklären.

Nachfolgend möge noch eine Reihe von Analysen angeführt werden, welche zeigen, daß der Gehalt des Bodens an Schwefelsäure auch für andere Pflanzenarten in keiner bestimmten Beziehung zu dem Gehalt an Schwefelsäure in den Pflanzen steht. Diese stammen sämtlich von ver- schiedenen Grundstücken aus dem Industriebezirk und mußten ihrem Aussehen nach als vollkommen gesund bezeichnet werden. Bei den rauchempfindlichsten Pflanzen läßt sich diese Entscheidung natürlich

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. - 135

am sichersten treffen, während bei den wenig rauchempfindlichen wiederholt auch solche als gesund angesehen worden sind, bei denen doch schon eine, wenn auch nicht sichtbare Einwirkung stattgefunden hatte.

Gehalt an Schwefelsäure (SO,) für verschiedene Pflanzen und Böden berechnet auf Trockensubstanz:

Tabelle IV. Pflanzenart: Klee Kartoffeln Grosse Bohnen Schwefelsäure in der Schwefelsäure in der Schwefelsäure in der Pflanze |im Boden Pflanze |im Boden | Pflanze |im Boden 0,703 } -0,035 1,296 0,086 I 0,725 _ 0,786 0,028 0,773 0,036: |. 0,688 = 0,558 |. 0,017 - 101 0,036 | 0,548 0,040 080 | 0084 1,175 0,045 ‘I 0,656 0,052 0,898 0,055 1,039. |" 0,039 = |’ 0,897 0,086 0,824 0,041 1,222 0,061 0,998 0,045 0,834 0,030 1,126 0,061 0,574 0,062 0,974 0,030 0,760 0,034 0,443 0,036 0,734 0,042 0,719 0,059 0,422 0,025 0,478 0,025 0,758 0,025 _ _ 0,568 0,083 1,132 0,025 = 0,522 0,083 1,143 0,090 = 0,677 0,097 1,400 0,090 _ 0,607 0,021 1,644 0,0% —_ _ Mittel: 0,713 1,085 0,661 0,661

Wie man sieht, ergeben sich zwischen Boden und Pflanze, was den Gehalt an Schwefelsäure anbelangt, keinerlei Beziehung, ein Boden z. B. mit 0,017 % Schwefelsäure liefert Pflanzen mit demselben Schwefelsäure- gehalt wie ein Boden mit 0,083 %.

Zur Erklärung könnte man vielleicht annehmen, daß das Calcium- sulfat, das wohl fast ausschließlich als Schwefelsäurequelle in Frage kommt, wegen seiner geringen Löslichkeit mit dem Bodenwasser stets eine gesättigte Lösung bildet und somit die Pflanzen unter normalen Ver-

hältnissen stets gleiche Mengen von Schwefelsäure bezw. Sulfaten vor- finden.

Bei den Getreidearten ist indes der Gehalt an Schwefelsäure größeren Schwankungen unterworfen und kann hier unter natürlichen Verhältnissen Höhen erreichen, die einen Nachweis von Rauchbeschädi- gungen sehr erschweren und unter Umständen durch die Bestimmung der Schwefelsäure allein unmöglich machen.

Recht gleichmäßig und daher zum Vergleich gut geeignet ist der Schwefelsäure-Gehalt der Blätter unserer Wald- und Obstbäume. Für Proben aus dem Industriebezirk wurde nachfolgender Gehalt an Schwefel- säure (SO,) in Prozenten, berechnet für Trockensubstanz, gefunden:

136 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. Tabelle V.

} - Hain- Apfel- Birn- Fichten | Eihen | puche |Rotbuche | bäume | bäume % % % % % % 0.584 0.498 | 0456 | 0.601 | 0.972 | 0.808 0.358 0.494 0.584 0.518 0.774 0.951 0.553 0.631 0.594 0.548 0.744 1.000 0.510 0.653 0.688 0.726 0.536 0.893 0.470 0.652 0.585 0.585 1.024 0.293 0.546 0.479 0.697 0.854 0.273 0.713 0.592 0.500 0.220 0.602 0.592 0.267 0.560 0.697

Diese Gehalte ergaben sich für Bäume, die noch völlig gesund er- schienen. Trotzdem ist der Gehalt an Schwefelsäure gegenüber Pflanzen, die aus einem rauchfreien Gebiet stammen, erheblich erhöht, wie sich aus nachfolgenden Zahlen ergibt:

Blatt-Proben aus rauchfreier Gegend:

Gehalt an A z Hain- Rot- Apfel- Birn- Schwefel- | Fichten | Eichen | puchen | buchen | bänme | bäume säure % % % % % %

0.199 0.370 0.379 0.415 : 0.269 0.317 0.180 0.403 0.352 0,3856 0.267 0.442 0.195 0.402 0.270 0,310 0.500 0.358 0.391 0.280 0.324 0.391 0.288 0.274 Mittel: 0.191 0.386 0.366 0.418 0.302 0.385

Ohne Zweifel sind die teilweise erheblich höheren Gehalte an Schwefel- säure bei anscheinend gesunden Bäumen aus dem Rauchgebiet auf den dau- ernd höheren Gehalt der Luft an schwefliger Säure zurückzu- führen. Man wird auch nur in wenigen Fällen in diesem Gebiete vom Rauch ganz unberührte Bäume finden, eine geringe Einwirkung ist fast überall bemerkbar und kann auch, wie sich aus dem Gehalte an Schwefel- säure ergibt, einen ziemlich hohen Grad erreicht haben, ehe sie sich dem Auge deutlich bemerkbar macht, da eben jede Pflanze ein gewisses Maß der Einwirkung verträgt, ohne Schaden zu leiden.

Für die Probenahme ergibt sich hieraus, daß man Pflanzen aus vollständig rauchfreiem Gebiet nicht ohne weiteres zum Vergleich heran- ziehen kann, da man’ dann die ganze Vegetation im Rauchgebiet als be- schädigt ansprechen müßte, }

Man verfährt hierbei daher am richtigsten, wenn man die ersten

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 137

Proben unmittelbar an der Rauchquelle entnimmt, weitere in einiger Ent- fernung, aber in derselben Richtung und so fort bis man zu Pilanzen kommt, die ein normales Wachstum zeigen, frei von Erscheinungen einer Raucheinwirkung. Oft gelangt man auf diese Weise nicht zu gesunden Pflanzen, da man in der nötigen Entfernung von der ersten Rauchquelle schon wieder in den Bereich einer zweiten Rauchquelle gelangt. In sol- chen Fällen erlangt man gesunde Vergleichspflanzen meistens aus der Gegend, welche der besonders beschädigten entgegengesetzt liegt bezw. außerhalb der vorzugsweise herrschenden Windrichtung. Auch ein grö- ßerer Wald ist imstande, die hinterliegenden Pflanzen soweit zu schützen, so daß man in Besitz gesunder Pflanzen gelangen kann. Die Proben ent- nimmt man von möglichst gleichaltrigen Baum- bezw. Pflanzenarten, und hiervon auch wieder nur solche Blätter, welche in ihrem Alter den der entnommenen beschädigten gleich sind oder am nächsten kommen. Es ist nämlich, wie Untersuchungen erwiesen haben, der Schwefelsäure- gehalt älterer Blätter und besonders Nadeln häufig höher, als in jun- gen Blättern und Nadeln; folgende Analysen erweisen dies deutlich:

Schwefelsäure-Gehalt von Blättern und Nadeln ein und derselben Pflanze in Prozenten:

Pflanzenart

Bohnen Kartoffeln Fichten Blätter- alte neue alte neue alte neue bz. Nadeln: 0.574 0.443 1.011 0.773 0.456 0.383 1.520 1.396 1.894 1.323 0.703 0.286 1.345 1.072 0.897 0,538 1.821 0.940 0.864 0.461 0.702 0.315

Ebenso kann man beim Klee und Gras nur Proben vom L. oder II. Schnitt mit solchen vom I. oder II. Schnitt vergleichen.

Bei den Blättern der Laubhölzer bezw. Obstbäume ist kein nen- nenswerter Unterschied im Schwefelsäure-Gehalt bei alten und jungen Blättern vorhanden; daß beim Nadelholz ein solcher auftritt, liegt wohl darin, daß die Nadeln mehrere Jahre alt werden und überhaupt mehr Nährstoffe aufspeichern, wie sich aus dem Aschen-Gehalte ergibt:

Aschen-Gehalt der Trockensubstanz von Nadeln ein und derselben Kiefer:

alte Nadeln | junge Nadeln r:» % 4.72 3.20 4.23 3.44 3.76 2.20 3.98 338 3.74 2.11

138 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

Man muß daher beschädigte junge Nadeln mit gesunden jungen Na- deln vergleichen und in gleicher Weise alte Nadeln mit alten.

Zu bemerkenswerten Ergebnissen gelangten wir, als aus stark be- schädigten Blättern die noch grünen Teile von den braunen getrennt und gesondert analysiert wurden. Nicht die braunen, sondern die grünen Teile zeigten durchweg den höheren Gehalt an Schwefelsäure.

Gehalt der Trockensubstanz an Asche und Schwe- felsäure in beschädigten Nadeln und Blättern, grüne und braune Teile getrennt:

\

braune Teile . grüne Teile Gehalt an Gehalt an Schwefel- Schwefel- säure Asche säure Asche 0.929 4.11 1.104 5.73 0.763 5.00 0.806 5.08| __ Kiefer 0.941 4.02 1.023 4.96 Eiche 1.028 4.66 1.058 5.40 0.957 5.36 1.063 pe: Buche Mittel: 0,924 4,63 1.011 5.52

Hiernach beträgt im Mittel der Gehalt an

Schwefelsäure) Asche

% % in den braunen Teilen . . 2... |] 0.924 4.63 in den grünen Teilen. . . .. . | 1.011 5.52

Zur Erklärung für diese Erscheinung muß man annehmen, daß die schweflige Säure vom ganzen Blatt gleichmäßig aufgenommen wird und nach einiger Zeit braune Flecken bezw. ein Absterben des Blattes an die- sen Stellen hervorruft; bei eintretendem Regen werden die abgestorbenen Stellen ausgelaugt und ärmer an Schwefelsäure und dann auch an Asche, wie sich deutlich aus den mitgeteilten Analysen ergibt. Daraus erklärt sich wohl auch die Tatsache, daß man häufig in stark beschädigten, fast ganz abgestorbenen Blattproben weniger Schwefelsäure findet, als in mehr grünen, dem Anschein nach nicht so stark beschädigten Proben.

Endlich hat man bei der Probenahme noch auf einen Punkt zu ach- ten, der besonders bei schnell wachsenden Pflanzen (Bohnen, Erbsen, Klee) von Bedeutung ist. Hier können sich an einer Pflanze, hervorge- rufen durch eine wechselnde Windrichtung, kranke Blätter finden mit den Merkmalen der Einwirkung, ferner solche, die schon einen erheblichen Teil an Säuren aufgenommen haben, ohne daß es jedoch schon durch

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 139

Fleckenbildung sichtbar wird, und endlich auch ganz gesunde, junge Blät- ter. Es kann auch der Fall eintreten, daß am Tage der Besichtigung erst ein Teil der Blätter deutliche Merkmale der Erkrankung aufweist, der andere Teil dagegen nicht, obschon kurz vorher die Rauchgase das Ge- lände getroffen haben. In solchen Fällen treten die Krankheitserschei- nungen meist nach einigen Tagen ein. Man würde zu einem Trugschluß gelangen, wenn man den Nachweis der Rauchbeschädigung in der Weise erbringen wollte, daß man sagt, auf dem Felde befinden sich kranke und gesunde Blätter, also müssen jene mehr Schwefelsäure enthalten als diese; tatsächlich würden aber beide Proben annähernd gleiche Gehalte auf- weisen. Kann man aber durch Windbeobachtungen nachweisen, daß die Rauchgase das Feld in den letzten 2-3 Wochen nicht oder nur ganz ver- einzelt getroffen haben, so gelingt der Nachweis sehr gut in der ange- deuteten Weise.

Einen lehrreichen Fall dieser Art habe ich vor einigen Jahren auf der Bahnhofstraße in Münster beobachtet; die dort stehenden Kastanien werden bei östlichen Winden von den Rauchgasen der in und vor dem Lokomotiv-Schuppen stehenden Maschinen getroffen und stark geschä- digt. Nach einer solchen Periode östlicher Winde zeigten die Blätter starke rotbraune Flecken und Ränder, nach dem Eintritt westlicher Winde blieben die neuen Blätter vollständig normal. Proben wurden entnom- men von beschädigten und gesunden Blättern einiger Bäume sowie von Blättern von Kastanien, die weiter von der Rauchquelle entfernt und ge- sund waren. Die Bestimmung der Schwefelsäure lieferte folgendes Er- gebnis:

beschädigter Baum

kranke gesunde neue Blätter gesunder Baum Schwefelsäure: 0,769 % 0,516 % 0,429 %

Neben Pflanzenproben empfiehlt es sich auch stets, Boden- proben zu entnehmen, die in erster Linie zur Ermittlung der vorhan- denen Pflanzennährstoffe dienen sollen, um den etwaigen Einwurf zu entkräften, daß die Krankheitserscheinungen von Nährstoffmangel her- rühren. Im allgemeinen genügt hierzu eine Probe des Obergrundes, also bis 20 cm Tiefe, in besonderen Fällen ist auch die Entnahme des Unter- grundes bis etwa 1 m Tiefe zweckmäßig. Noch weiter zu gehen und Bodenproben aus 2 und selbst 3 m Tiefe zu holen, wie das letzthin von einzelner Seite geschieht, ist überflüssig. Die Bestimmung der Schwefel- säure im Boden hat nach den vorher gemachten Ausführungen für den Gehalt der Pflanzen an Schwefelsäure keine besondere Bedeutung, eben- sowenig wird man in den meisten Fällen aus der Bestimmung der Schwefelsäure im Boden kaum eine Einwirkung der Rauchgase auf ihn ableiten können. In einigen besonderen Fällen ist ein solcher Nachweis doch gelungen und zwar unter den Kronen stark beschädigter Eichen und Buchen. Der Boden rund um den Stamm war schwarz und ohne

140 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

jede Vegetation, weiter hin zeigte sich wieder Gras oder Moos. Die Be- stimmung der Schwefelsäure in zwei solchen Böden ergab: Eiche Buche

Boden am Stamm . . „........4:! 0,162 % | 0,082 % Boden weiter von Stamm entfernt . | 0,048 | 0,024 Boden aus einem unbeschädigten Teile des Waldes . . . . 2... '.°1. 0,026 ,„ | 0,022

Die Tatsache läßt sich vielleicht folgendermaßen erklären: Der auf einen Baum treffende Regen wird zu einem großen Teil von den Blättern über die Zweige und Äste fortgeleitet und läuft am Stamm herunter. So werden auch die Rauchgase, die durch Regen auf den Baum gelangen, denselben Weg nehmen und sich in dem Boden, der den Stamm umgibt, anhäufen. Dazu kommt dann in manchen Fällen eine Auslaugung der stark beschädigten und teilweise verdorrten Blätter durch den Regen.

Die Bestimmung der Schwefelsäure in den Pflanzen für den Nach- weis einer Rauchbeschädigung hat mancherlei Kritik erfahren. Zahl- reiche Fälle aus der Praxis, von denen ich nachfolgend einige anführen will, haben aber gezeigt, daß das Verfahren durchaus zuverlässig ist; der Gehalt der durch Rauch beschädigten Pflanzen an Schwefelsäure wurde, von verschwindend geringen Ausnahmen abgesehen, stets höher gefunden, als in gesunden Pflanzen, und was noch beweiskräftiger ist, mit der Stärke der Beschädigung stieg durchweg auch der Gehalt an Säure.

Fall 1. Rauchquelle: Kokerei.

beschädigte Pflanzen gesunde Pflanzen Art Aussehen Gehalt an SO, | Aussehen Gehalt an SO, Klee ganze Blattfläche grau graubraun, wenig

Fleken und Ränder 1.542 normal 0.824 Klee wie vorstehend aber = weniger stark 1.198 normal 0.807 Hollunder Blätter, vertroc- net schwarz 2.330 normal 1.107

Fall 2. Rauchquelle: Walzwerk.

Pflanze: Fichte kranke Nadeln gesunde Nadeln Aussehen | SO, in % Aussehen SO, in % I. vollständig rot gewordene IV. anscheinend gesund nur ver- Nadeln, wenig junge einzelt rotbraune Spiten 0.293

Nadeln nur noch vorhd. 0.449 V. normal 0.273 Il. Fast nur junge, ganz rof |

gewordene Nadeln. Ein-

zelne Nadeln mit starken . roten Spiten. 0.317 v1. normal 0.220 Il, Meist grüne Nadeln mit

rotbraunen Spiten. Ver-

einzelt ganz rote junge vn. normal

Triebe. 0.415 sehr kräftig 0.267

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 141

Fall 3, Rauchquelle: Kokerei.

Pflanze : Kiefer kranke Nadeln gesunde Nadeln Aussehen SO in % Aussehen SO, in % I. Teils ganz braun, teils mit IV. hellgrün, braunen Spiten 0.876 kräftig, normal 0.286

ll. hellgrün mit mehr oder weniger starken braunen Spißen, bis zur Hälfte, einzelne auch ganz braun 0.672 Il. hellgrün, nur vereinzelte - Nadeln mitbraunen Spigen 0.413 Die Zunahme an Schwefelsäure in den beschädigten Nadeln gegen- über gesunden beträgt in diesem Falle bei I 200 % Ei u 135 2 II 44 in bester ‚Übereiastinumung mit dem Grade der Beschädigung.

Fall 4 Rauchquelle: Kokerei.

Pflanze : kranke Pflanzen gesunde Pflanzen Klee Aussehen SO; in % : Aussehen SO, in % j. Blätter mit zahlreichen vu. normal 0.568 mehroder minder grossen gelbbraunen braunen Flecken und Rändern 1.215 il. wie I, Flecken nicht zu vi. gesund 0.522 zahlreich 236 Il. nur vereinzelte schwach gebräunte Ränder 0.726 IV. Blätter mit sehr starken gelbbraunen Flecken und Rändern 0.933 V. wie Nr. IV 1.033 VI. wie Nr. IV aber etwas weniger 0.885

Die Zunahme an Schwefelsäure schwankt hier zwischen 33 und 126 % und steht durchweg in Beziehung zu dem Grade der Beschädigung.

Fall 5. Rauchquelle: Kokerei.

Pflanze: So, in % So; in 9% Kartoffeln I. Blätter teils ganz trocken V. normal teils mit starken braunen üppig 0.647 Flecken und Rändern 2.349 li. wie I aber weniger 1.361

IH. Blätter teils trocken,

tells starke braune

Ränder und Flecken 1.603 IV. wenig beschädigt 1.200

142 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub,

Vietsbohnen Kranke Pflanzen Gesunde Pflanzen VI. Blätter klein mit zahlreihen VII. Blätter gesund grün, nicht gelbgrauen Flecken 1.250 sehr üppig 0.583 Klee Aussehen SO, in % Aussehen SO, in % VIII. Blätter mit braunen Fleken 1.201 IX. gesund, normal 0.601 Weizen X. Blätter mit weissen Rändern, XII. Weizen z. T. gelbbraun nach der normal Kokerei zu 2.244 schwache weisse Ränder 1.747 Xl. wie X aber weiter von der Kokerei entfernt 1.977 XlIl. Hafer XV. Hafer Blätter zum größten Teil normal, stark, gelbbraun 2.012 grün 2.552 XIV, Blätter z. T. gelbbraun, sonst siemlich entwickelt 1.110

Auch in diesem Falle steht die Aufnahme von Schwefelsäure in Beziehung zu dem Grade der Beschädigung, nur der Hafer macht eine Ausnahme, ein Fall, auf den ich schon früher hingewiesen habe.

Fall 6. Rauchquelle: Kokerei.

————

Pflanze: Klee Aussehen SO, in % | Klee Aussehen SO, in % l Blätter meist ganz hell- II. . braun oder mit braunen normal 0.734 Rändern und Flecken 1.088 800m weiter von I entfernt I. wie I aber weniger. 0.964 durh einen Wald gegen 100m weiter von | entfernt. die Rauchgase geschütt Klee VII. Klee IV. Blätter mit starken brau- normal 0.830 nen Flecken u. Rändern 1.286 V. wie IV aber weniger 1.191 VI. wie IV’ aber weniger 1.133 Kartoffeln X. Kartoffeln VII. stark beschädigt, zahl- gesund, normal 1.039 reihe braune Flecken ' und Ränder 2.357 IX. wie VIII aber wesentlich schwächer 1.931

Hier ist besonders die Abnahme der Beschädigung und damit auch ein Sinken des Schwefelsäure-Gehaltes bei zunehmender Entfernung von der Rauchquelle erkennbar.

Fall 7. Rauchquelle: Kokerei, Walzwerk. Die Schädigungen zeigten sich auf einem Grundstück, welches durch einen hohen Eisenbahndamm von der Rauchquelle getrennt war. An dem aufstehenden Klee konnte man die Wirkungen der sauren Rauchgase

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 143

deutlich erkennen, am stärksten waren dieselben in einiger Entfernung vom Eisenbahndamm, während dicht an diesem eine Zone vorhanden war, wo der Klee nur geringe Beschädigungen aufwies und ziemlich normalen Stand zeigte. Es war dies der Teil, der im Windschatten des Dammes lag. Von dem stark beschädigten Teil des Feldes wurden die Proben I, II und Ill, Probe IV von dem geschützten Teil entnommen, während V von einem 2 km entfernten gesunden Grundstück stammt.

Die Untersuchung lieferte folgendes Ergebnis: Schwefelsäure (SO,), berechnet auf Trockensubstanz

Probe Aussehen Schwefelsäure in % I zahlreihe gelbgraue Flecken und Ränder 1,577 % n wie I 1,546 m wie I 1,487 IV nur in geringem Masse beschädigt 0,973 V normal, gesund 0,478

Aussehen und Schwefelsäure-Gehalt stimmen vollkommen überein.

Daß die Bodenverhältnisse durchaus günstige waren, ergibt sich aus der folgenden Analyse:

Boden von dem beschädigten Kleestück gesunden Kleestück Löslih in 10% Salzsäure in Prozenten:

Organische Stoffe 6,38 4,61 mit Stickstoff 0,117 0,086 Mineralstoffe 93,62 95,39

mit Kalk 0,541 0,524 Kali 0,143 0,185

. Phosphorsäure 0,122 0,078

Schwefelsäure 0,027 0,025

Der Boden von dem beschädigten Grundstück ist hiernach noch in einem besseren Düngungszustand als der des gesunden Kleestückes. Es sind uns aber auch Fälle vorgekommen, wo der Boden von beschädigten Grundstücken in hohem Grade an Nährstoffen verarmt war, besonders an Kalk, so daß der durch Rauchschaden hervorgerufene Minderertrag nur zu einem Teil auf Rauch zurückgeführt werden könnte. Man kann es aber wohl verstehen, wenn der Landwirt solche jahraus und jahrein vom Rauch beschädigte Felder nicht mehr mit der Sorgfalt behandelt und düngt wie andere Felder, da der Erfolg der aufgewandten Arbeit nicht entspricht.

Nachfolgend führe ich zwei Fälle an, in denen Rauchschaden vermutet wurde, aber sowohl auf Grund der Ortsbesichtigung als auch der Schwefelsäure-Bestimmung verneint werden mußte,

144 Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub.

Fall a) 300 Morgen Eichenwald. Bei der örtlichen Besichtigung fanden sich zahlreiche abgestorbene bezw. im Absterben begriffene Stämme vor. Auf den noch grünen Bäumen fand sich der Eichenwickler in großer Anzahl, daneben war kaum ein Blatt, das nicht vom Mehltau befallen war. Dieser doppelten Einwirkung hält kein Eichbaum auf längere Zeit stand und es mußte dieser Einwirkung allein das Eingehen der Bäume zugeschrieben werden. Eine Rauchbeschädigung konnte nicht in Frage kommen, da sich weder an den Blättern der Eiche, noch an denen der vorhandenen sonstigen Laubbäume, noch am Nadelholz die charak- teristischen Merkmale zeigten. Es wurden trotzdem von drei beschädig- ten Eichen und von einer gesunden aus einem benachbarten, nicht be- schädigten Wald Blattproben entnommen und auf ihren Gehalt an Schwefelsäure untersucht:

Schwefelsäure

Probe Eichenblätter in der Trocken- substanz I aus dem beschädigten Wald 0,598 % I » 0,528 II a 0,497 IV normal, aus nicht besch. Wald 0.494 ,

Der Gehalt an Schwefelsäure in allen vier Proben ist demnach innerhalb der zulässigen Grenzen gleich hoch und daher auch aus diesem Grunde eine Rauchbeschädigung ausgeschlossen.

Fallb) 15 Morgen Weide in der Nähe einer Rauchquelle, aber von dieser durch einen größeren Wald getrennt. Der Grasbestand der Weide war durchweg mäßig, vielfach schlecht, das Gras zeigte gelbe und vielfach auch weiße Spitzen. Eine Beschädigung durch Rauch mußte jedoch aus- geschlossen erscheinen, da an den vorhandenen Kleepflanzen keinerlei Merkmale einer Raucheinwirkung zu bemerken waren. Dieser Schluß wurde sodann durch die Untersuchung des Grases auf Schwefelsäure

bestätigt.

Gehalt an Schwefelsäure in % Probe Gras berechnet auf Trocken- substanz Il _von der angeblich beschädigten Weide 1,610 % HI ”» 1,629 2) IH ”„ 1,668 IV gesund aussehendes Gras von einer guten Weide 1,600 ,,

Die angeblich durch Rauch beschädigten Grasproben zeigen keinen höheren Gehalt an Schwefelsäure, als gesundes Gras; das schlechte Wachstum des Grases war auf Grund weiterer Untersuchungen auf die Bodenverhältnisse zurückzuführen,

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub. 145

Nachweis der Beschädigung durch Staub.

Neben der Beschädigung durch saure Rauchgase geht meist eine Einwirkung von Flugstaub (enthaltend Kohlenruß, Asche, Metalle bezw. Metalloxyde und Salze) einher. Wenn die beiden ersten Bestandteile auch keine direkt schädlichen Wirkungen auf die Pflanzen ausüben, so ist doch das Wachstum stark berußter Pflanzen nach einem kräftigen Regen wieder ein viel lebhafteres. Die Metallsalze können, auf die Blätter gebracht, in gleicher Weise wie die Rauchgase schädlich wirken, insbesondere können die Metalle und Oxyde im Boden gelöst und von den Wurzeln her schädlich auf die Pflanzen einwirken.

Sehr nachteilige Folgen können eintreten, wenn Pflanzen, denen derartiger Metallstaub anhaftet, Menschen oder Tieren als Nahrung dienen. Nebenbei erwähnt seien dann nur die Belästigungen, welchen die Bewohner der von Staub getroffenen Häuser ausgesetzt sind; ein Lüften der Zimmer ist oft tagelang unmöglich, Einrichtung und Wäsche wird verschmutzt und bei empfindlichen Personen können Erkrankungen der Atmungsorgane eintreten.

Für die Beschädigung bezw. Belästigung durch Ruß und Kohlen- asche führe ich folgenden Fall an, der eine Wirtschaft mit großem Haus- und Wirtschaftsgarten 150 m östlich einer umfangreichen Dampfkessel- anlage betraf. Bei der Ortsbesichtigung wurde festgestellt, daß in dem Wirtschaftsgarten Tische und Stühle in erheblichem Maße mit Staub (Ruß und Asche) bedeckt waren, dasselbe war bei den Blättern hier als auch im Hausgarten der Fall. Die Dachrinnen des Hauses waren bis zum Rande mit Asche gefüllt. Durch Abpinseln konnten von fünf Rhabarber- blättern 2,43 g, von einem Wirsing 7,75 g und von einer Serviette, die tagsüber gelegen hatte, 2,23 g Staub gesammelt werden. Bei einer zweiten Ortsbesichtigung trieb der gerade herrschende Westwind den Rauch der Kamine direkt über das Grundstück, und Tücher, welche in dieser Rich- tung ausgebreitet waren, zeigten sich nach kurzer Zeit (1% Stunde) stark mit Ruß und Asche bedeckt. Es wurden gleichzeitig auch einige Tücher außerhalb der Zugrichtung des Rauches ausgebreitet, dieselben blieben fast rein, ein Beweis, daß nicht der Straßenstaub, wie von anderer Seite behauptet wurde, sondern der Rauch der Kesselgase die Verschmutzung bewirkte. Die mikroskopische Untersuchung der verschiedenen Staub- proben ergab folgendes Bild:

L von den Rhabarberblättern: fast nur teilweise verkokte Kohle, etwas weiße Flugasche, einzelne Reste von Insekten und Steinstaub;

I, von einem Wirsingkopf: der Staub war ähnlich zusammen- gesetzt wie I, daneben waren noch wenig erdige Teile vorhanden;

IL aus der Dachrinne: der Staub war zusammengesetzt wie Probe I, daneben enthielt er Blatt- und Hoizreste, Kalk- und Stein- stückchen;

Festschrift z. 84. Versammlung Deurscher Naturforscher u. Ärzte. 10

146 Hasenbäumer: Pfilanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub.

IV, von einem ausgelegten Tuche: der Staub bestand fast nur aus teilweise verkokter Kohle, etwas Flugasche und einzelnen toten Insekten;

V..von einem ausgelegten Tuche: der Staub war zusammen- gesetzt wie Probe IV, nur die Insekten fehlten.

Alle Proben stimmen hiernach in der Zusammensetzung nahe über- ein, nur Probe III aus der Dachrinne, welche schon einige Wochen alt war, enthielt mehr oder weniger zufällige Bestandteile.

Die chemische Untersuchung ergab folgende Mengen verbrennlicher Stoffe (Kohle etc.) in %:

V 63,40

m | 57,26 | 76,15

1 52,25

Probe I

46,94

) Proben, die ich bei anderer Gelegenheit aus Kaminen von Kessel- anlagen aufgefangen hatte, enthielten 6065 % verbrennliche Stoffe.

Es unterliegt daher keinem Zweifel, daß der Flugstaub, der sich auf dem fraglichen Grundstück abgelagert hatte, von dem Rauch der benach- barten Kesselanlage, und nur zu einem geringen Teil von Chausseestaub herrührte,

Eine Beschädigung von Gartenfrüchten durch Metalle bezw. Metalloxyde lag in dem folgenden Fall vor: In dem an einer Messing- gießerei liegenden Garten war Aussehen und Wachstum der Pflanzen sehr ungleich. Im südlichen Teile hatten die Pflanzen durchweg ein normales Aussehen, ganz anders war dagegen das Aussehen der Pflanzen im nördlichen Teile. Die Stangenbohnen hatten hier nur eine Höhe von etwa 30 cm erreicht, die Blätter waren mit zahlreichen braunen Flecken bedeckt, zum Teil ganz abgestorben, ein Fruchtansatz hatte nur in ge- ringem Grade stattgefunden. Gleich schlecht entwickelt waren Busch- bohnen, Runkeln und Erbsen; die Gurken waren ganz eingegangen. Wie Untersuchungen ergaben, war der auffallende Unterschied im Wachstum weder auf Nährstoffmangel im Boden, noch auf Pflanzenkrankheiten zurückzuführen. Es wurden daher die Pflanzen wie auch der Boden auf pflanzenschädliche Stoffe mit folgendem Ergebnis untersucht:

beschädigte Pflanzen: gesunde Pflanzen Kupferoxyd Zinkoxyd Kupferoxyd Zinkoxyd Stangenbohnen . . . . 1,430 % 0,246 % 0,008 % Spuren Runkelrüben . 0,212 0,046 „, Spuren = Buschbohnen 0,291 {nicht bestimmt | 0,026 % r Boden mit beschädigten Pflanzen | mit gesunden Pflanzen 0,189 % 0,106 % 0,008 % 0,010 % 0,054 nicht bestimmt| 0,008 0,010

Hiernach enthielten sowohl die beschädigten Pflanzen, als auch die zugehörigen Böden erhebliche Mengen von Kupfer und Zink, während

ba a a rd ne Sn u An

een

Hasenbäumer: Pflanzenbeschädigungen durch Rauchgase und Staub, 147

die gesunden Pflanzen nebst Böden hiervon frei waren, oder doch diese Stoffe in viel geringeren Mengen enthielten. Das schlechte Wachstum der Pflanzen war daher ohne Zweifel auf die Anwesenheit dieser Metalle zurückzuführen, die sowohl vom Boden aus von den Pflanzenwurzeln, als auch in Form von Staub von den Blättern aufgenommen sein konnten. Was die Herkunft dieser Metalle anbelangt, so rührten sie von der Messinggießerei her, da bekanntlich beim Schmelzen von Metallen eine Verflüchtigung teils in Form von Dampf, teils mechanisch mit dem Luft- strome stattfindet. So enthielt der Schlamm aus der Dachrinne des Gießereihauses 11,28 % Kupferoxyd und 1,60 % Zinkoxyd, und der Staub, der sich an der Gartenmauer abgelagert hatte, 3,81 % Kupferoxyd und 0,74 % Zinkoxyd. Daß die Pflanzen nur in dem einen Teile des Gartens geschädigt waren, war bedingt durch die Lage des Gießereihauses zu dem Garten und durch die Windverhältnisse.

Diese Beispiele ließen sich noch durch zahlreiche vermehren; sie zeigen aber zur Genüge, in welcher Weise Rauch und Staub schädlich auf die Vegetation wirken und daß die Beschädigungen unter Berück- sichtigung der örtlichen Pflanzen-, Boden- und Witterungsverhältnisse mit den Hilfsmitteln der Chemie und Mikroskopie nachgewiesen werden können.

10*

Neue Untersuchungen über die Überspannung des Wasserstoffs.

Von A. Thiel und E. Breuning. (Mitgeteilt von A. Thiel.)

Das Potential, bei dem sich Wasserstoff gasförmig an einer Elektrode zu entwickeln beginnt, hängt bekanntlich von dem Material der letzteren ab und ist in der Regel verschieden von dem des ruhenden Wasserstoffs in einer Lösung von gleicher Wasserstoffionenkonzentration (und zwar unedler). Es besteht also eine Potentialdifferenz zwischen einer solchen auf das Abscheidungspotential des Wasserstoffs aufgeladenen Metall- elektrode und einer Wasserstoffelektrode in gemeinsamem Elektrolyten. Der Wert dieser Potentialdifferenz heißt die Überspannung des Wasser- stoffs an dem betreffenden Metall. Sie ist sehr charakteristisch für die einzelnen Metalle und bei den unedleren von ihnen mitbestimmend für ihr Verhalten in Säurelösungen. Ob ein Metall sich in einer Säure unter Wasserstoffentwickelung auflöst oder nicht, hängt davon ab, ob sein Potential den Wert der Überspannung nach der unedlen Seite zu über- schreitet oder darunter bleibt. Daher kommt es, daß manche recht un- edlen Metalle sich wider Erwarten in verdünnten Säuren nicht oder doch nur sehr träge auflösen. Es kommt eben als „arbeitende Spannung‘ nicht die Differenz Metallpotential-Wasserstoffpotential in Betracht, sondern die unter Umständen sehr viel kleinere (ev. sogar umgekehrt gerichtete) Metallpotential-Überspannung.

So bleiben von den 0,77 Volt, um welche Zink unedler ist als Wasserstoff beide in In Ionenlösung —, wegen des hohen Über- spannungswertes von rund 0,7 Volt (nach Caspari, s. weiter unten) nur wenige Hundertstel Volt als arbeitende Spannung übrig, woraus sich die wohlbekannte Tatsache erklärt, daß sich ganz reines Zink in ver- dünnten Säuren nur sehr langsam löst. Und beim Blei steht gar einer Potentialdifferenz von 0,15 Volt gegen Wasserstoff (Bedingungen wie vorher) ein Überspannungswert von 0,35 Volt (nach Müller, s. weiter unten) gegenüber, so daß die arbeitende Spannung sich zu 0,2 Volt berechnet; daraus geht die Unmöglichkeit der Auflösung von Blei in einer Säure, die Bleiion und Wasserstoffion in gleicher Konzentration enthält, ohne weiteres hervor. So besitzt denn die Kenntnis der Überspannungs- werte auch eine erhebliche praktische Bedeutung.

Thiel u, Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstoffs. 149

Zur Erklärung des Überspannungsphänomens wird nach Nernst angenommen, daß die Bläschenbildung eine gewisse Konzentration des Wasserstoffs im Elektrodenmetall verlangt, die ihrerseits erst unter um so höheren Drucken (und mithin um so unedleren Potentialen) erreicht wird, je weniger löslich das Gas in dem betreffenden Metall ist.

Die nachfolgenden Untersuchungen verdanken nun ihre Entstehung der Absicht, einen Beitrag zu dieser Lösungstheorie der Überspannung zu liefern. Es sollte festgestellt werden, wie sich homogene Lösungen zweier Metalle von möglichst verschiedener Überspannung verhielten, und welcher Zusammenhang insbesondere zwischen der Zusammen- setzung solcher „Lösungsmittelgemische” und der Überspannung bestände. Weiterhin sollte die Messung der Überspannung zur Erkennung der Kon- stitution von Legierungen benutzt und ein Versuch gemacht werden, der- artige Messungen als metallographisches Hilfsmittel auszubilden.

Während der Untersuchung hat sich jedoch bald ihr Ziel verschoben. Es zeigte sich nämlich, daß die bisher angewandten Methoden zur Messung der Überspannung längst nicht so genau und zuverlässig sind, daß quantitative Ergebnisse von Versuchen der angedeuteten Art zu er- warten gewesen wären. Außerdem aber erschien es wünschenswert, gewisse Widersprüche in den Resultaten der bisherigen Überspannungs- messungen aufzuklären und möglichst die Genauigkeit solcher Messungen zu erhöhen. Über diese Versuche und ihre Ergebnisse soll im folgenden in aller Kürze berichtet werden. Alle Einzelheiten müssen für die aus-

führliche Mitteilung an anderer Stelle‘) vorbehalten bleiben.

Das bisher vorliegende Material über Überspannungswerte ist recht widerspruchsvoll. Auf der einen Seite stehen die Ergebnisse der Arbeiten von Caspari?’) und von E. Müller,?) auf der andern die von Coehn (und Dannenberg)‘) Jene wurden nach der zuerst von Caspari in größerem Umfange benutzten Bläschenmethode erhalten, diese nach der Methode der Aufnahme von Stromspannungskurven (Knickmethode). Die Abweichungen zwischen den beiden verschiedenen Reihen sind er- heblich, zum Teil sogar sehr groß (beim Palladium nicht weniger als 0,72 Volt!); aber auch bei Anwendung derselben Methode treten bedeu- tende Differenzen auf die größte wiederum beim Palladium, für das Müller eine um 0,22 Volt kleinere Überspannung fand als Caspari. Coehn erklärt die Unterschiede zwischen seinen Werten und denen von Caspari durch eine Verschiedenheit der Fragestellung, die bei der Bläschenmethode laute: bei welchem Potential bildet sich die erste Wasserstoffblase?, bei der Knickmethode dagegen: bei welchem Potential scheidet sich Wasserstoff als Legierung mit dem Elektrodenmetall ab?

1) Dissertation von E. Breuning. 2) Z. f. physik. Chem., 30, 89 (1899). °) Z. £, anorg. Chem., 26, 1 (1901).

#) Z, £, physik. Chem., 38, 609 (1901).

150 Thiel u, Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstoffs,

Daß im Falle merklicher Löslichkeit im Metall der Wasserstoff nach dem zweiten Verfahren, entsprechend seiner Beobachtung, eine niedere Über- spannung zeige, als:nach ‚dem ersten, findet Coehn darum durchaus begreiflich. Unserer Ansicht nach läßt sich die Frage, bei welchem Po- tentiale die Bildung einer Wasserstofflegierung erfolgt, in dieser All- gemeinheit nicht eindeutig beantworten. Einem bestimmten Potentiale kann für ein bestimmtes Metall nur eine Legierung von bestimmter Wasserstoffkonzentration entsprechen, und letzterer wieder eine: be- stimmte Wasserstoffkonzentration in der wässerigen Grenzschicht.. Man wird jedoch die Möglichkeit der Entstehung von Wasserstofflegierungen jeder beliebigen Konzentration und darum auch bei allen möglichen Po- tentialen zugeben müssen. Fixiert. man aber weiterhin den Druck, unter dem das Metall mit Wasserstoff gesättigt sein soll, so kommt man aller- dings zu einer eindeutigen Definition der Konzentration, genau so, wie die Konzentration der. Lösung eines Gases in einer Flüssigkeit durch den Partialdruck des Gases beim Gleichgewichte festgelegt ist. Eine prin- zipielle Verschiedenheit zwischen metallischen Gaslösungen, die mit Gas von niederem Drucke in Gleichgewicht stehen, und solchen, die für das- selbe Gas von höherem Druck gesättigt sind, ist nicht einzusehen. Etwas Neues tritt erst hinzu, wenn mit der Bildung von Gasblasen gewisser- maßen ein Ventil geöffnet wird. Dann bietet sich für den Abfluß des Wasserstoffs neben den schon im Reststromgebiet vorhandenen Wegen der Auflösung, Diffusion und Konvektion im Elektrolyten, der Auflösung und Diffusion im Metall und der Depolarisation ein neuer von ungleich größerem Fassungsvermögen. Darauf wird ja auch in bekannter Weise das Verhalten der Stromspannungskurve in dem fraglichen Gebiete zu- rückgeführt. Daß für diese Ventilöffnung zunächst eine bestimmte, bei allen Metallen gleiche Konzentration des Gases im Metall und infolge der verschiedenen Löslichkeit des Wasserstoffs in den verschiedenen Metallen verschiedene Drucke und daher auch verschiedene Potentiale erforderlich sein sollen, ist ja der Kern der Nernstschen Theorie der Überspan- nung. Verzichtet man auf eine Fixierung der Konzentration z. B. auf den zur Bläschenbildung (nach Nernst) erforderlichen, bei allen Metallen gleichen Wert, so mißt man beim „Entladungspotential” nicht ein Gleich- gewicht, sondern gewisse Bedingungen eines Zeitphänomens, etwa die zu einem bestimmten Gasdrucke gehörende Geschwindigkeit der Auflösung des Wasserstoffs im Metall. Die erhaltenen Werte stehen mithin in engem Zusammenhange mit der Beladungszeit und sind nur unter Innehaltung der gleichen Zeit reproduzierbar. In der Tat gibt auch Coehn an, daß in seinen Versuchen immer genau eine Minute lang auf das jeweilige Po- tential aufgeladen wurde. Man kann unter den angedeuteten Verhält- nissen gewiß zu einer Messung des relativen Lösungsvermögens von Me- tallen für Wasserstoff kommen. Bei geringen Löslichkeiten wird unter Umständen schon während kurzer Beladung Sättigung eintreten, so daß der Knick in der Stromspannungskurve auch hier der Abscheidung von

Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstofis. 151

Gasblasen entsprechen kann. Bei großer Löslichkeit wird man erheblich tiefere Potentialwerte finden können. In der Tat liegt ein solcher Fall offenbar beim Palladium vor, bei dem die „Legierungsbildung” nach Coehn bereits bei einem gegen die Wasserstoffelektrode um 0,26 Volt edleren Potentiale einsetzt. Auch bei den übrigen untersuchten Metallen liegen die Werte nach der Knickmethode fast durchweg unterhalb der nach der Bläschenmethode gefundenen Überspannungswerte, was so zu verstehen ist, daß das Knickverfahren empfindlicher ist als das Verfahren der Beobachtung der ersten Blase. Bei letzterem spricht ja die Notwen- digkeit mit, daß.die Blase-zu einer gewissen Größe anwachsen muß, um sichtbar zu werden. Daher wird bei rascher Beobachtung nach der Bläschenmethode ebenfalls ein Zeitphänomen gemessen. Darauf ist auch schon von anderer Seite‘) hingewiesen worden. So erklärt sich der bei letzterer Methode unverkennbare Einfluß individueller Verhältnisse und damit die recht große Verschiedenheit der Resultate verschiedener Forscher.

- Einer kurzen Diskussion bedarf noch die Frage, welche Bedeutung die zur Blasenbildung erforderliche mechanische Arbeit für die beiden Methoden besitzt. Hier ist zunächst festzustellen, daß auch beim Knick- verfahren die Blasenbildungsarbeit mitgemessen wird, falls man genügend langsam arbeitet, d. h. wirkliche Gleichgewichte sich einstellen läßt; denn unter diesen Umständen kann ja die Richtungsänderung der Stromspan- nungskurve auch hier erst dann eintreten, wenn die Blasenbildung den prinzipiell neuen Weg zur Fortschaffung des Wasserstoffs öffnet. Man kommt also zu dem Schlusse, daß beide Methoden, wenn Zeiteinflüsse ausgeschaltet werden, dieselben Werte liefern müssen. Weiterhin ent- steht die Frage, welcher Überspannungswert auf jeden Fall infolge der Arbeit der Bläschenbildung auftreten muß. Eine einfache Überlegung zeigt, daß dieser von der Bläschengröße abhängt. Für Bläschen von 0,1 mm Durchmesser berechnet sich die der Blasenbildungsarbeit ent- sprechende Überspannung wir wollen sie „absolute Überspannung“ nennen zu knapp 0,0003 Volt; sie ist bei anderen Bläschengrößen dem Durchmesser umgekehrt proportional. Dabei ist allerdings angenommen, daß während des ganzen Blasenwachstums die Oberflächenspannung kon- stant bleibt, was wenigstens für das Gebiet sehr kleiner Gebilde sicher nicht zutrifft. Es ist also die Änderung der Oberflächenspannung mit der Krümmung nicht berücksichtigt, ebenso auf die Möglichkeit von Über- sättigungen keine Rücksicht genommen. Beides spielt aber. bei unserem Phänomen eine wichtige Rolle, und wenn unter bestimmten Bedingungen auch die absolute Überspannung praktisch gleich Null gefunden wurde, wovon weiter unten noch die Rede sein wird, so beweist das, daß in sol- chen Fällen relativ große Gaskeime in Wirksamkeit treten.

3) W,Ostwald, Z. f. Elektrochem. 6, 39 (1899). E. Müller, Z. f. anorg. Chem. 26, 62 (1901).

152 Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstoffs,

Wir standen nun vor der Entscheidung, welche der beiden Methoden verbessert und verfeinert werden sollte. Die Bläschenmethode erschien wegen der mannigfachen subjektiven Momente bedenklich; die Knick- methode konnte dagegen wegen ihrer relativ geringen Empfindlichkeit kaum in Frage kommen, weil scharfe Knicke nur bei der Änderung des Potentials in relativ großen Sprüngen auftreten. Eine eingehende, sehr zeitraubende und mühsame Prüfung führte schließlich zu der Erkenntnis, daß die Bläschenmethode sehr entwickelungsfähig ist, und daß sich ins- besondere die so bedenklich scheinende Willkür fast allenthalben prak- tisch vollkommen beseitigen läßt, wenn man die Versuchsanordnung zweckentsprechend wählt.

Es wurde gefunden, daß die nach der Bläschenmethode bisher er- haltenen Werte mit einer Reihe von Versuchsfehlern behaftet sind, die sich sehr gut vermeiden lassen. Hierzu gehört in erster Linie die Über- sättigung, die manche Werte von Caspari entstellt haben muß. Er ° arbeitete aus Furcht vor der Nachentwickelung, die bei fallendem Poten- tial auftritt, grundsätzlich mit steigendem Potential. Dabei entstehen nun selbst unter den günstigsten Bedingungen wie z. B. am Platinschwarz bei einigermaßen raschem Arbeiten leicht Übersättigungen, die eine Überspannung von bis zu einem halben Centivolt hervorrufen. Noch viel größere Fehler müssen an blanken Oberflächen auftreten, wie sie Cas- pari in den meisten Fällen anwandte. Hier spielen ja auch die Ober- flächenphänomene eine viel entscheidendere Rolle, ist das Ergebnis den Zufälligkeiten, die mit dem Fehlen oder Vorhandensein von Keimwirkun- gen verbunden sind, in hohem Grade ausgesetzt. Wir haben daher grund- sätzlich Kathoden mit möglichst starker Oberflächenentwickelung, d. h. im Zustande größter Rauhheit bezw. Schwammigkeit, verwendet und da- mit ausgezeichnete Erfolge gehabt. Es kam uns auch im wesentlichen auf die Abhängigkeit der Überspannung von der chemischen Natur des Ka- thodenmetalls an, während wir den Einfluß der Oberflächenbeschaffenheit erst in zweiter Linie studierten. Ferner haben wir prinzipiell mit fallen- den Potentialen gearbeitet, wodurch wir Übersättigungen praktisch voll- kommen ausschließen konnten. Natürlich haben wir uns davon überzeugt, daß sich bei der Umkehrung des Versuches in der Richtung des steigen- den Potentials, jedoch unter Vermeidung der Übersättigung, die Erschei- nungen reproduzieren ließen. Wir haben es demnach mit wahren Gleich- gewichten zu tun gehabt. Die von Caspari gefürchtete Nachentwicke- lung ist zwar vorhanden, hört aber in der Regel so rasch und unverkenn- bar auf, daß daraus nicht die geringste Störung entstand. Voraussetzung ist selbstverständlich, daß man abwartet, bis sich das Gleichgewicht tat- sächlich eingestellt hat. Selbst beim Palladium, das wegen seines großen Lösungsvermögens die längste Nachentwickelung gibt, läßt sich der ge- nannte Zustand immer mit Sicherheit erreichen. Man muß nur ein wenig von der sprichwörtlichen Geduld des Chemikers anwenden, ein Hilfsmit- tel, das auch sonst bei physikochemischen Untersuchungen schon recht

Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstoffs. 153

gute Dienste geleistet hat. Ebenso angebracht ist das geduldige Abwarten bei der Beobachtung der eigentlichen Blasenentwickelung. Bei kleineren Werten der arbeitenden Spannung kann ein einziges Bläschen zu seiner Entstehung Minuten gebrauchen. Zu rasches Arbeiten ist also auch von diesem Gesichtspunkte aus als Fehlerquelle zu betrachten. Erschwert wird die Beobachtung in der bisher üblichen Anordnung auch durch die Stellung der Kathode. Will man die Methode genauer machen, so muß man vor allen Dingen die Kathode so einbauen, daß ihre Spitze nach oben zeigt. Dann müssen alle Blasen, die sich loslösen, beim Aufsteigen das oberhalb der Spitze liegende freie Gesichtsfeld passieren und können sich nicht hinter der Kathode oder der Zuleitung zu ihr verkriechen. Wo das unbewaffnete Auge zur Erkennung sehr kleiner Blasen nicht mehr aus- reicht, ist eine Vergrößerung am Platze, und wir hätten zweifellos ohne die von uns benutzte Lupenbeobachtung die tatsächlich erreichte Ge- nauigkeit nicht erzielen können, Eine sehr schwerwiegende Fehlerquelle liegt endlich in der ganzen Art der Versuchsanordnung begründet, wenn man sich des bisher ausschließlich benutzten Verfahrens der elektro- Iytischen Abscheidung des Wasserstoffs bedient. Auch wenn man Äno- denraum und Kathodenraum nur durch eine ziemlich lange Kapillare mit- einander kommunizieren läßt, ist doch die Vermischung der Anoden- und Kathodenflüssigkeit nicht völlig ausgeschlossen. Der Zutritt von nur we- nig Wasserstofflösung zur Anode verändert aber deren Potential schon sehr merklich. Derartige Änderungen bedingen ein ganz unkontrollier- bares Schwanken auch des Kathodenpotentials, wenn man auf eine be- stimmte Badspannung eingestellt hatte. Sie erklären die große Unbe- ständigkeit und häufig sehr mangelhafte Reproduzierbarkeit der Katho- denpotentiale, die wir bei unseren ersten Versuchen, die Bläschenmethode weiter auszubauen, als lästige, den Erfolg unserer Bemühungen geradezu in Frage stellende Komplikation empfanden. Umgekehrt kann natürlich gelegentlich auch Sauerstofflösung in den Kathodenraum gelangen; doch sind davon bei der relativ recht großen Unempfindlichkeit der Wasser- stoffelektrode keine so wesentlichen Störungen zu befürchten. Wir haben die mit der Entwickelung von Wasserstoff durch Elektrolyse verknüpften Unzuträglichkeiten dadurch vermieden, daß wir auf die Elektrolyse über- haupt verzichteten und die Abscheidung des Wasserstoffs mit Hilfe einer unedleren Elektrode (amalgamiertes Zink) durchführten. Wir haben da- her vorläufig nur solche Metalle berücksichtigt, an denen die Überspan- nung unterhalb des Potentials der Zinkelektrode liegt. Die Ausdehnung auf die wenigen übrigen Fälle könnte dann mit Hilfe einer Zusatzbeladung durch Elektrolyse erfolgen. Die Löslichkeit der Anode würde auch dann das Auftreten freien Sauerstoffs verhindern. Unsere bisherige Anordnung bietet jedenfalls den denkbar größten Schutz gegen Störungen. Die Me- thode ist der von Hittorf°) zur anodischen Beladung passivierbarer

%) Z. f. physik. Chem., 30, 490 (1899).

154 Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstoffs.

Metalle benutzten nachgebildet. Sie gestattet in unserem Falle, alle Teile des Zersetzungsapparates dauernd unter einer Atmosphäre reinen Wasserstoffs zu halten, ein nicht zu unterschätzender Vorzug.

Die von uns gewählte Apparatur ist in der vorstehenden Figur schema- tisch dargestellt. Sie gestattet, die Bläschenmethode mit der Knickmethode zu kombinieren, und wir haben in allen Fällen auch Stromstärkemessun- gen ausgeführt, ohne letztere jedoch schließlich weiter zu verwenden; denn es zeigte sich, daß man mit der Bläschenmethode viel größere Ge- nauigkeiten erzielen kann, als von der Knickmethode jedenfalls zu er- warten sind. Der Zersetzungsapparat wird von drei reagensglasförmigen Gefäßen, G,, G, und G,, gebildet, von denen die ersteren beiden durch ein ziemlich weites Rohr, die beiden letzteren durch eine Kapillare mit- einander in Verbindung stehen. Das weite Rohr wird mit einem Watte- bausch verstopft, um das Eindringen größerer Mengen von Zinksalz in das Gefäß G, zu verhindern. In G, taucht eine durch ein im Gummistopfen steckendes Glasrohr geführte Stange amalgamierten Zinks (Zn), die oben durch ein auf das Rohrende aufgezogenes Stück Gummischlauch festge- halten wird. In letzterem ist sie verschiebbar; während der Versuchs- pausen wird sie hochgezogen, um unnötige Auflösung zu verhüten. Durch dasselbe Glasrohr tritt auch der Wasserstoff ein, mit dem G, ebenso wie

Bar le Es unlen Aln rn EA ni ne nk Has u 2 we

Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstofis. 155

die beiden anderen Gefäße dauernd gefüllt bleiben. In G, befinden sich zwei Spitzenelektroden, E, und E,. Erstere ist eine platinierte Platin- spitze aus 1 mm starkem, etwa 5 mm langem Draht, der in Glas einge- schmolzen ist. E, ist die Versuchskathode, ein etwa ebenso starkes, ent- weder ebenso langes oder kürzeres Stück des zu untersuchenden Metalls, in der Regel ebenfalls Draht. Es war vielfach mit einem kleinen Gummi- stopfen im Glasrohr befestigt. Durch ein bis fast zum Boden reichendes, unten fein ausgezogenes Rohr wird auch dieses Gefäß mit Wasserstoff gefüllt. G, entlich enthält die Wasserstofielektrode H, ein etwa zur Hälfte in den Elektrolyten, zur Hälfte in den Gasraum tauchendes plati- niertes Platinblech in den üblichen Abmessungen, sowie gleichfalls eine Wasserstoffzuleitung. Aus allen drei Gefäßen entweicht der Wasserstoff in langsamem Tempo durch eine vorgelegte Wasserschicht. Der Haupt-

. stromkreis führt von Zn über den Stöpselrheostaten W, nach E,. Er

dient zum Aufladen der Hiliselektrode E,. Es zeigte sich nämlich, daß eine direkte Beladung der Versuchselektrode E, von Zn aus für geringe Überspannungen ganz ungeheuer große Widerstände im Stromkreise er- forderte, daher wurde eine Nebenschlußmethode gewählt, und die Ver- suchselektrode von der Hilfselektrode her aufgeladen. Der Nebenstrom- kreis wird von W, an einem kleinen Widerstande abgezweigt und führt über den weiteren Widerstand W, nach E,. In Nebenschluß zu einem ent- sprechend gewählten Teile von W, ist das Millivoltmeter M gelegt, das hier als Strommesser dient. Zur Erzielung des gewünschten Potentials an E, kann einmal W,, ferner W,, endlich auch die Abzweigstelle des Nebenstromkreises von W, verändert werden. Wir kamen fast stets mit den ersten beiden Änderungen aus. Das Potential der Versuchselektrode wurde gegen die Wasserstoffnormalelektrode nach dem Kompensations- verfahren gemessen. Den kompensierenden Strom lieferte ein Akkumu- lator (A), der unter Vorschaltung eines angemessenen Widerstandes W, so an die Brückenwalze B angelegt wurde, daß an deren Enden entweder eine Spannung von genau 2 Volt oder eine geeignete andere Spannung lag. Das Galvanometer Ga diente immer als Nullinstrument. Das ganze Zersetzungsgefäß befand sich dauernd im Thermostaten bei 25°, Der Reinigung des Wasserstoffs wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Normalelektrode wurde von einem elektrolytischen Wasserstoffent- wickler gespeist, in dem Natronlauge zwischen Nickelelektroden zersetzt wurde. Das Gas wurde mehrfach mit alkalischer Pyrogallatlösung ge- waschen. G, und G, erhielten den Wasserstoff aus einem Kippschen Apparat, in dem mit Kupfer präpariertes, reinstes Handelszink auf ver- dünnte reine Schwefelsäure einwirkte. Dieses Gas passierte zunächst eine Chromsäureschwefelsäuremischung, dann mit Silbernitrat getränkte Bimsteinstücke, endlich ebenfalls mehrere Gefäße mit Pyrogallat. Zur Füllung aller drei Gefäße diente in allen Fällen 2n Schwefelsäure, so daß die Wasserstoffelektrode sich auf Normalpotential befand.

Der Gang eines Versuches war nun folgender: Nachdem alle Gefäße

156 Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d, Überspannung des Wasserstoffs,

mit dem Elektrolyten beschickt und mit den Elektroden versehen waren, wurde die Luft längere Zeit durch Wasserstoff verdrängt, der Gesamt- elektrolyt mit Wasserstoff gesättigt. Dann begann die Beladung von E, mit einem Potential, bei dem sich reichlich Gas entwickelte. Das Poten- tial wurde dann in anfangs größeren, später kleineren Sprüngen ernied- rigt, bis die Zahl der Wasserstoffblasen meßbar wurde. Es wurde jedes- mal die Einstellung einer konstanten Blasenzahl bei mehrfachem Abzählen in angemessenen Zeiträumen abgewartet und das zugehörige Potential sowie die Stromstärke gemessen. Daß bei der Beobachtung der Blasen- bildung eine Lupe benutzt wurde, ist schon oben erwähnt worden. Das Potential wurde dann verändert, die Messung der elektrischen Bedingun- gen und die Auszählung der Blasen in derselben Weise vorgenommen und so fortgefahren, bis die Gasentwickelung ganz aufhörte. Das Ende der Blasenbildung wurde dann als erreicht angenommen, wenn in je 2 Minuten bei längere Zeit fortgesetzter Beobachtung keine Blase mehr aufstieg. In der Regel wurde in Gebieten sehr langsamer Gasentwickelung noch mehr- fach durch kurze Zeit währende Potentialerhöhungen die Blasenbildung wieder angeregt, die Elektrode „gereizt", um Übersättigungszustände mit Sicherheit auszuschließen. In der Tat stellte sich dann nach einiger Zeit wieder der vorhergehende Zustand ein. Häufig wurde in tiefere Poten- tialgebiete herabgegangen, und dann der Punkt der wieder beginnenden Blasenbildung aufgesucht. Dabei kamen gelegentlich geringe Übersätti- gungen vor, die jedoch durch Reizen aufgehoben werden konnten. Zwi- schen der letzten deutlichen Blasenbildung und dem zweifellosen Fehlen der letzteren lag in der Regel nur eine Potentialdifferenz von höchstens einem Millivolt, in besonders günstigen Fällen sogar von nur einem Zehn- telmillivolt und weniger.

Die einzelnen Blasen einer Beobachtungsreihe waren in der Regel von recht verschiedener Größe. Infolgedessen fiel auch die Blasenzahl unter den gleichen Bedingungen in verschiedenen Versuchsreihen etwas verschieden aus. Das Aufhören der Entwickelung erfuhr dadurch jedoch keine Verschiebung. In manchen Fällen zeigte die Blasengröße eine er- staunliche Gleichmäßigkeit. An glatten Elektroden war die Beobachtung vor allem deshalb schwieriger, weil sich die Blasen vielfach festsetzten, anstatt aufzusteigen. Es blieb dann nichts anderes übrig, als die Ver- größerung vorhandener Blasen oder die Bildung neuer an der Elektrode selbst zu beobachten. Infolge dieses Übelstandes sind die an glatten Elektroden gemesenen Werte weit weniger zuverlässig und schlecht re- produzierbar.

Die folgende Zusammenstellung enthält die von uns gemessenen Überspannungswerte und zum Vergleiche die älteren von Caspari, von Müller und von Coehn und Dannenberg

Beat nF Sl A

Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d..Überspannung des Wasserstoffs. 157

Überspannung des Wasserstofis an verschiedenen Metallen.

Autor Pt Au Ag Ni Cu |: Pd. poliert | blank | platiniert | Casp. | 0,09 ca. 0,005 0,02 0,15 0,21 0,23 0.46 M. = 0,07 0,01 0,06 0,05 0,03 0,03 0,24 Ge Di: 1 Ze ı 2 0,05 0,07 0,14 0,19 |—0,236 Th.uBr) 0,06 0,0000! - 0,0165 |: 0,097-| 0,1375 |; 0,1865 | 0,0000 bis 0,08 | +0,0001 | ++ 0,0005 | -- 0,002 |+ 0,0005 |+ 0,0005 |40,0001

Über die BER seiner Platinelektrode gibt Coehn nichts Näheres an.

- Ein Überblick über die obige Tabelle zeigt, daß durchweg die nied- rigeren Werte von uns bestätigt wurden, abgesehen von dem Wert für Palladium nach dem Knickverfahren, der aber, wie oben schon erwähnt, etwas ganz anderes bedeutet. Unverständlich sind die Werte von Mül- ler für Kupfer und Nickel. Wir vermuten, daß Spuren von Platin an der unverhältnismäßig tiefen Überspannung schuld sind. Wir konnten gele- gentlich selbst die Beobachtung machen, daß die geringste Verunreinigung mit Platin die Werte anderer Elektroden gründlich verdarb. Wir haben darum zur Erzeugung des überall benutzten elektrolytischen Überzugs mit dem betreffenden Metall in lockerer Form immer nur ÄAnoden aus dem- selben Metall in reinstem Zustande benutzt. Die Unterlage für die gal- vanischen Überzüge bildete stets dasselbe Metall im Zustande größtmög- licher Reinheit.

Unser Silberwert zeigt die größten Versuchsfehler. Beim Silber gerade ist es schwierig, einen genügend lockeren und doch auch einiger- maßen haltbaren Überzug zu erhalten. Die elektrolytische Abscheidung darf nur in Lösungen reiner Metallsalze vorgenommen werden. Komplex- bildner, wie Ammoniak oder gar Cyankalium, erwiesen sich als überaus schädlich, da so gewonnene Metalle viel zu hohe und stark wechselnde Werte ergaben. Der Grund liegt zweifellos in einer Verunreinigung des Metallüberzuges.

Alle unsere Werte stellen das übereinstimmende Ergebnis mehrerer Versuchsreihen dar. Vor jeder Reihe wurde der Apparat vollkommen neu gefüllt, die Elektrode abgeätzt und neu formiert. Die Resultate stimmen gleichwohl zum Teil vorzüglich überein; dies beweist, daß es sich um vollkommen reproduzierbare Erscheinungen handelt, sobald man für Ausschaltung der Oberflächeneinflüsse sorgt. Wie sehr diese das Resultat beeinträchtigen, läßt die mangelhafte Konstanz der am glatten Platin gemessenen Werte erkennen.

Große Schwierigkeiten bereitete uns lange Zeit gerade das plati- nierte Platin. Wir führten die Platinierung zunächst, wie allgemein üblich, mit Hilfe der bleihaltigen Lösung nach Lummer und Kurl- baum aus, entsprechend der Behandlung der Wasserstoffnormalelek- trode. Die an solchen Elektroden gemessene Überspannung war aber

158 Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü, d. Überspannung des Wasserstofis.

nicht konstant zu erhalten. Sie war bald praktisch gleich Null, stieg aber häufig in einem folgenden Versuche trotz anscheinend ganz gleicher Behandlung der Elektrode beträchtlich an, manchmal bis auf fast 6 Milli- volt. Wir konnten feststellen, daß an dieser Erscheinung der Bleigehalt des Platinschwarz schuld war. Denn als wir zum Platinieren ganz reines Platinchlorid verwandten, verschwand die Inkonstanz sofort, und wir fanden den in der Tabelle mitgeteilten, von Null höchstens um 0,0001 Volt verschiedenen, vortrefflich reproduzierbaren Überspannungswert.

Weiterhin wurde untersucht, ob das Eindringen von Zinksalz in das Gefäß G, nicht Störungen hervorrufen konnte. Bei sehr langer Versuchs- dauer ist ja eine Diffusion von Zinksulfat durch die Watteschicht zwischen G, und G, immerhin möglich, und die Bildung einer allerdings wohl nur äußerst verdünnten Legierung von Zink mit dem Elektrodenmetall denk- bar, namentlich bei etwas höheren Überspannungswerten. Bei der Empfindlichkeit des Phänomens gegen kleine Verunreinigungen hätte das aber verhängnisvoll werden können. Es zeigte sich nun aber, daß bei Füllung des ganzen Rohres G, mit einer für Zinksulfat 0,01 m-n Schwefel- säure sich keine mit Sicherheit nachweisbare Erhöhung der Überspannung ergab. Gelegentlich wurde ein Wert von einigen Zehntelmillivolt ge- funden, niemals aber mehr als 0,0005 Volt. So ist denn von spurenweise herandiffundierendem Zinksalz kein erkennbarer Fehler zu befürchten. In der Tat wurde auch keine Abhängigkeit der Resultate von kürzerer oder längerer Gesamtversuchsdauer nachgewiesen.

Sehr merkwürdige Erscheinungen wurden beobachtet bei Versuchen, die Blasenbildungsarbeit durch oberflächenaktive Zusätze zu beeinflussen. Es ist anzunehmen, daß eine Veränderung der Oberflächenspannung auch die absolute Überspannung ändert. Eine Rechnung führt zu dem Schlusse, daß die Verminderung der Oberflächenspannung eine Erniedrigung der absoluten Überspannung im Gefolge haben müßte. Wir haben in der Tat einen merklichen Einfluß oberflächenaktiver Substanzen gefunden. Jedoch liegt er gerade in entgegengesetzter Richtung, als erwartet, indem die Überspannung durch bathotone Substanzen erhöht wird. Worauf das beruht, wie also dieser Widerspruch zu lösen ist, können wir noch nicht mit Sicherheit sagen. Es besteht vermutlich ein Zusammenhang mit der beobachteten enormen Verringerung der Blasengröße, die bei Gegenwart von Stoffen der genannten Art in ganz auffälliger Weise in Erscheinung tritt. Um einige Ergebnisse dieser Art zu nennen, sei hier nur mitgeteilt, daß in einer für Buttersäure In Schwefelsäure an platiniertem Platin eine Überspannung von 0,0003 bis 0,0006 Volt, in mit Heptylsäure ge- sättigter Schwefelsäure eine solche von 0,016 bis 0,017 Volt gefunden wurde. Sättigung mit Äther erhöhte den Wert für blankes Platin auf 0,097 bis 0,099 Volt, die Gegenwart von Buttersäure (1n) auf 0,173 bis 0,176 Volt. In letzterer Lösung wurde auch an Gold gemessen; der Wert betrug 0,025 bis 0,027 Volt gegen 0,0165 in reiner Schwefelsäure. Die Versuche in dieser Richtung sind noch nicht abgeschlossen.

Thiel u. Breuning: Neue Untersuchungen ü. d. Überspannung des Wasserstofis. 159

Wir behalten uns überhaupt die Bearbeitung des ganzen Gebietes vor und wollen insbesondere auf Grund der nunmehr vorliegenden Er- fahrungen versuchen, Metalle mit mechanisch in bestimmter Weise be- handelter Oberfläche in den Kreis der Untersuchung zu ziehen. Vielleicht ist es dann möglich, den ursprünglichen Plan der Untersuchung von Legierungen nach der Überspannungsmethode wieder aufzunehmen. Bei der, wie wir feststellen konnten, großen Empfindlichkeit der Über- spannung gegen substanzielle Änderungen des Elektrodenmaterials ver- spricht das genannte Verfahren ein wertvolles Kriterium für die Kon- stitution einer Legierung werden, falls es gelingt, durch mechanische Bearbeitung die Oberflächeneinflüsse entweder zu beseitigen oder kon- stant zu machen.

(Aus der Hydrobiologischen Abteilung der Landwirtschaftlichen Versuchs- station zu Münster i. W.)

Das Ulmener Maar.

Von August Thienemann.

In der Eifel zwischen dem Endertbach und der Üß, die beide in die Mosel münden, etwa 11 km östlich von Daun, liegt das Ulmener Maar.‘) Der Seespiegel liegt (nach Halbfaß) 419,7 m über NN, doch kann der Was- serstand ziemlich stark schwanken, je nach dem Wasserbedarf der Mühle, die durch den künstlichen Abfluß des Maares getrieben wird; ein Tiefstand des Maarspiegels auf 417 m über NN diese Zahl gibt von Dechen an dürfte allerdings nur ganz selten vorkommen; selbst im Sommer 1911 war das Maar nicht so tief gesunken.

Steil erhebt sich der Kraterrand rings um das Maar; an der Ostseite erreicht er eine Maximalhöhe von 483,7 m; am Westufer des Mares liegt das Dorf Ulmen, mit seiner es überragenden Kirche, am Südufer die Ruine der aus dem zwölften Jahrhundert stammenden Burg Ulmen. Zwi- schen Kirche und Burg ist der Steilrand der Devonschichten unter- brochen; die tiefste Stelle liegt hier 425,2 m über NN; bei hohem Wasser- stande floß früher häufig das Wasser durch die Dorfstraße ab; deshalb wurde ein Stollen durch den Südrand des Kraters hindurchgetrieben, der das Maarwasser der Üss zuführt. Eine nördlich des Maares über ihm ge- legene große sumpfige Wiese ebenfalls ein altes Maar entwässert in die Nordwestecke des Maares durch einen 300 m langen Stollen, durch den besonders nach Gewitterregen zeitweise große Mengen trüben Was- sers in das Maar abfließen. Während den Westrand des Maares das Dorf Ulmen mit seinen Gärten umsäumt, tritt im Norden Wiese und Feld, im Süden der Grashang, der von der Ruine herabzieht, und im Osten dichter Mischwald, der den Steilrand bis zur Höhe überkleidet, an das Maar heran. Aus diesem Walde fließen zwei ganz kleine Rinnsale in das Maar; zuweilen versiegen sie ganz oder die Quellen bringen doch so wenig

1) Vergl. zu den geologischen und morphometrischen Angaben: H. von Dechen: Geognostischer Führer zu der Vulkanreihe der Vordereifel. 2, Aufl. Bonn 1886, p. 226; 229—238. Halbfaß, Die noch mit Wasser gefüllten Maare der Eifel. Verh, Nat. Ver. Rheinl.-Westf. Bonn 1896. Bd, 53, p. 324—-326.

(1161 yandny "uunwouortL, "V I0Ud)

( uaj[ogsanyqy A9p syup uowneg uap dojun) "uowin ung Op PMS um vImos “eey ausw Sseq 'g Punpfigqy

'puea

ER ER LTE -4ojeay] PpIPAQU Jop pun JeeW woupumn segq 14 SunpfrgqVy . TUNER,

2 Re 2) ne.

"U9P-ION UOA ‘uowjp jJlogq sep pun aeey aouswin Sseq 'L Sunpjigqv

5 4qV

1 ’gqV

Thienemann: Das Ulmener Maar. 161

Wasser zu Tage; daß es im Erdseich "versichert, ehe es den Spiegel z Maares erreicht. |

= Das Ulmener Maar galt Datei Zeit als das jüngste der Eifelmaare; indes halten‘ die diesbezüglichen Untersuchungen schärferer Kritik nicht stand. Nur soviel steht fest, daß die Tuffmassen des Ulmener Kraters auf einen mit Bäumen und anderen Pflanzen bedeckten Boden gefallen sind. Der Ausbruch dieses Kraters mag also, wie der des Laacher Vulkanes, wohl in’ der a einer ‚relativ EaR Ar ren er stattgefunden

Schon früh haben '&ie Eifelmaare die Aufmerksamkeit der Geo- das erregt. Bereits im sechszehnten Jahrhundert berichtet Sebastian Munster in seiner „Cosmographey oder Beschreibung aller Länder, Herr- schaften und fürnemesten Stätten des ganzen Erdbodens“ über das Ul- mener Maar (Deutsche Folioausgabe, Basel 1592, p. 703): „Im Marh zu Ulmen ist ein Fisch, wie dann viel gesehen haben, auff dreyssig Schuch lang, und ein ander auff zwölff Schuch lang, die haben Hecht gestalt. Und so sie sich lassen sehen, stirbet gewißlich ein Ganerb des Hauß Ulmen, es sey Mann.oder Frau, ist offt bewärt und erfahren worden. Diese Marh ligen gemeinlich auff hohen Bergen. Man hat das zu Ulmen wöllen er- suchen in-seiner Tieffe, und nachdem man das Bley dreyhundert Klafftern tieff hinab gelassen, hat man. keinen Grund mögen finden.” In den zwan- ziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte ein Engländer, Thomas Dickert, ein Relief des Ulmener Maares und seiner Umgebung aus, das sich jetzt im Museum zu Weimar befindet (Halbfaß, p. 311). Im Oktober 1896 ver- maß Halbfaß, wie die anderen Eifelmaare, so auch das zu Ulmen; wir geben die von ihm gewonnenen Zahlen hier wieder:

Meereshöhe > "419,7 ' Verhältnis beider > 0,495 Größte Länge in m 325 Volumen m? 978000 „Größte Breite in m 225 Mittlere Böschung 21° 26° ‚Umfang in m 925 Böschung nach Peucker + 0,48 Umfangsentwicklung 1,128 _ Volumenhalbierende Tiefe 11,6 ‚Arealm?,.. - . 53500 Verhältnis zur größten Tiefe 0,31 „Größte Tiefeinm . . . 37. Arealhalbierende Tiefe 175 here Tiefe In m : 3 R2 18,3 Verhältnis zur größten Tiefe 0,46 Tiefe Aral, der ; Um- -% vom.| Tiefen- .' Areal % vom | Volumen | |% von! Bö- m | "Asch a fang Ges.- | stufen | in | Ges.- | in | Bed |'schungs- m | m m | Areal m m |Arcal | m. ‚-men-ı _ winkel.

d, }, "58500 1.925 1} too.| 0-10 | 18500 I'346 | 449500 -a52' 1 39 93- 10 | 35000 | 675 | 654 | 10-20 | 11000 "206° |"295000° |’sos | eis‘ 20 | 24000 | 550.:|45.0 ! 20-30 ; 11000 | 20:6. | 185000 Er | 23032: 30 35 |

|

13000 400 | 24.3 30-35 8500 | 160 | 43700 | 44°} 11° 14° 4500 | 275 | 84 | 34-37 | 4500 | 82 | 12000 | 12 | 3029 | | | | | |

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzie. 11

162 Thienemann: Das Ulmener Maar.

Danach ist das Ulmener Maar das kleinste der Eifelmaare vor allem bemerkenswert durch seine steile Böschung; sie übertrifft die aller _ anderen Maare sowie auch die'.des oberbayerischen Königssees (20° 30‘). Gleich vom Ufer weg erreicht die Böschung den hohen Betrag von 23.23‘ und selbst die Tiefenstufe von 35—37 m ist noch unter dem Winkel von 3% 29%. geböscht ‚(Halbfaß). : Bei der von uns 1910, begonnenen Unter- suchung der Eifelmaare ’).zeigte.es sich,-daß die Halbfaßschen Messungen durchweg äußerst genaue waren-und daß seit 1896 nennenswerte .Ver- änderungen in den Tiefenverhältnissen der Eifelmaare nicht eingetreten sind. Temperaturmessungen, sowie Bestimmungen der Wasserfarbe und Sichttiefe hat gerade im Ulmener Maar Halbfaß nicht angestellt. Durch unsere Untersuchungen. ergab sich, daß im Ulmener Maar Farbe und Durchsichtigkeit des Wassers wesentlich ‚anders ‚ist, als in den übrigen tiefen Maaren.). Während in den Sommermonaten die übrigen tiefen Maare: ein meergrünes bis grünlich-gelbes Wasser haben (No. VI-XIII der Forel-Ule Skala) und die Sichttiefen zwischen 3,5 und 10m schwanken, war das Wasser des Ulmener Maares braungrün (mit starker Beimischung von: Gelb) gefärbt und die Durch- s 2“ sichtigkeit war; wie die ‚neben-, Farbe und Durdsictigkeit .des Wassers im

stehende Tabelle zeigt, stets sehr _ _Ulmener Maar, 2 gering. Im Zusammenhang mit der - Er +Farbe .: | Sichttiefe in stark bräunlichen Färbung. stand se (ungefähr —) | m der. hohe, ‚Gehalt des. (Ober- 14, vun. 1910] -XVU—XVIN |, 1.1235 - flächen-} Wassers an: gelösten or-. .; 8. VII; 1911 xVI ...50 ganischen: ‚Substanzen. In den 5.-111,_1912 xVI 3.0.

übrigen Maarwässern betrug die | Re Menge des zur Oxydation der organischen Stoffe erforderlichen Sauer- stoffs für ein Liter. Wasser 2;4--3,9 mg, im. Wasser des Ulmener Maares dagegen am 8, VIII. 1911. 4,9.mg.und am;14. VIII. 1910 sogar 6,1. mg.

Von besonderem Interesse waren die thermischen Verhältnisse, Die Lage der Sprungschicht stand in allen _Eifelmaaren im August 1910 und 1911 in direktem Zusammenhang mit der Durchsichtig- keit des Wassers. In den Maaren mit großer Durchsichtigkeit lag sie in einer Tiefe zwischen 5 und 14 m, in den Maaren mit geringerer Durchsichtigkeit zwischen 4 und 10 m und im Ulmener Maar im August 1910 wie auch 1911 zwischen 2 und 7 m. Ganz merkwürdige Resultate aber ergab die Messung der Wassertemperaturen in den

2) Thienemann u, Voigt, Vorläufiger Bericht über die Untersuchung der Eifelmaare im August und September 1910. Ber. Bot.-Zool. Ver. Rheinl,-Westf. 1910,

p. 81—84, ri s) Das flache Meerfelder Maar bleibt hier unberücksichtigt.

Thienemann: Das Ulmener Maar. 163

Tiefen des Ulmener Maares, Die erste Messung, vom 14, VIII. 1910, lieferte die folgenden Temperaturen:

Om = 18° NV 1m = 6,4° 1 m = 18,2° a. i(m=_ 6,0° 2 m | 155m = 6,5’ 3m= 15,10 "20 m 6,50 4m = 11,5! N ar Bm —_ 225° 3im= 69° ar Sea (Grund)

Bis zu einer Tiefe von 10 m nahm die Temperatur in normaler Weise ab; dann aber stieg sie wieder von in 10 m Tiefe bis auf 6,9° in 25 m Tiefe und blieb von da an konstant bis zum Grunde. Diese Überschich- tung wärmeren Wassers durch kälteres konnte nur darauf beruhen, daß auf dem Grunde des Maares ein Quellwasser von ungefähr austritt, das eine größere Menge Mineralstoffe gelöst enthält, als das Ober- flächenwasser.

Eingehender wurden diese Verhältnisse im August 1911 und März 1912 untersucht; und wenn auch eine Ergänzung und Wiederholung dieser Untersuchungen noch nötig ist, so lassen sich doch schon nach den bis jetzt vorliegenden Ergebnissen die eigenartigen hydrologischen: Verhält- nisse des Ulmener Maares einigermaßen klar überschauen.

Beginnen wir mit der Untersuchung am 8,—9. August 1911. Wiederum zeigte sich das Ansteigen der Temperatur von den mittleren Schichten nach der Tiefe hin. Aber, wie die Tabelle 1 zeigt, lag die zweite, sozu- sagen inverse Sprungschicht tiefer als im Jahre vorher, und war nur 1 m dick; aber in dieser Schicht von 20—21 m Tiefe stieg die Temperatur von 5,4 auf 7,2°, und diese Temperatur von 7,2° (resp. 7°) herrschte dann gleichmäßig bis zum Grund (bis 36 m). Ganz auffallend waren die Unter- schiede, die das in den verschiedenen Tiefen geschöpfte Wasser schon bei der Entnahme bot. Das Wasser der oberen Schichten war farb- und geruchlos und zeigte keine Gasentwicklung; von 20 m an entwich bei der Entnahme dem schwach gelblichen Wasser mit der Tiefe zunehmend immer mehr Gas (Kohlensäure), gleichzeitig machte sich ein schwacher Geruch nach Schwefelwasserstoff bemerkbar. Die Resultate der von Herrn Dr. J. Kuhlmann ausgeführten chemischen Analysen (vergl. Tabelle 1—2) zeigten die Richtigkeit unserer auf Grund der Temperatur- serie vom 14, VIII. 1910 ausgesprochenen Vermutung: in den oberen Schichten von 0—15 m betrug die Menge der gelösten Stoffe im Wasser gleichmäßig etwa 180 mg pro Liter, in der Tiefe des Maares zwischen 20 und 35 (36) m jedoch ca. 400-500 mg, ist also mehr als doppelt so groß; die 15 m-Schicht nimmt eine Mittelstellung ein.

?

Thienemann:-' Das Ulmener Maar.

5) Bi

““ Ulmener Maar 8—9, VIIL 1911. = ©

Tiefe :

st

(4 h.p. m)

m

T emperatur in °C

. Dichte, auf reduz. Einzel- beobactun-

gen

Dichte, auf reduz. (Durc- schnitts- zahlen

Dichte, auf i die Tempera- turen in Spalte 2 reduziert

Abdampf- rückstand (#. Zn

mg. pro |,

Ö q

L

24,35

we „1845 116,

dee

g

n

0,99989 1,000008

1,00012 1 0,99997

1,0012

10...

10

’0,99991°

+ nf

.1,00039

1,00052

e } . ISLA, 102 13! 45 er 5 A RE ER DD -Dnirie) eirti Ari gr ir19 d9orqask gr: 199 1930 2U9/ 3 .! 77% i # ri 1 I 2.5 il Er 2 + - h 4 a ntrr ui 24 4 ; “j I S 193) rt

„185,0

4 7, - 1.77% 1: cr .n. A ud h ) . . f$ R- ir j = ı id 2s er £ \; ee; ’2 FE; 2 r . 191 1.9

Thienemann: Das Ulmener Maar. 165

Tabelle 2.

Ulmener Maar 9, VIIL 1911. Chemische Zusammensetzung des Wassers aus 1, 15 und 35 m Tiefe,

(Gemisch der je 2—3 in den betreffenden Tiefen entnommenen Wasserproben.)

Gelöste Gase nicht. bestimmt.

Tiefe 1 m | Tiefe 15 m | Tiefe 35 m r shwah |sehr schwach Reaktion gegen Lakmus alkalisch alkalisch fast neutral Gelöste Stoffe im ganzen in mg pro / 185,0 247,5 507,5 Ca © 22,5 29,2 36,7 MgO 20,3 32,6 54,6 so, 82 5,1 2,1 cl 15,6 25,5 48,2 Si O, 2,0 13,0 20,0 Na,0 37,4 68,2 126,8 K, O - 15,0 18,0 28,6 Sauerstoffverbrauh 4,9 _ 81 AlO, + Fe 0; _ „u 10,0

In der Tiefe quillt also ein salzreicheres Wasser, das den Krater- trichter bis 20 m unter dem Wasserspiegel erfüllt und von da an von einem salzarmen Oberflächenwasser überschichtet wird; neben dem Reichtum an Salzen charakterisiert Reichtum an Kohlensäure, vielleicht sogar Sättigung mit Kohlensäure dieses Tiefenwasser; die gelösten Gase konnten bisher noch nicht quantitativ bestimmt werden. Nach einer von Herrn Dr. Sutthoff freundlichst ausgeführten Berechnung entspricht das Wasser aus 35 m Tiefe einem: Wasser, das die folgenden Salzmengen enthält:

Na,S0O, : 3,7 mg pro |

NaCl : 90,4 } Na,Si0, : 40,6 5 Na,C0, 1066. -, K.CO,: : 419 R MgC0, : 1141

CaCO, : 655 F

166 Thienemann: Das Ulmener Maar.

mg pro | 10 20 30 40 50 60 70 80 90 110 10 120 130 1 \ 1 E 15 15 R- © ger R | [1 S a “| & O| 3 Pr I N S > 35 135 10 20 30 40 50 60 0 80 90 100 110 120° 130

mg pro I

Kurventafel I. Menge der gelösten Stoffe im Wasser des Ulmener Maares

am 9. VII. 1911 in 1, 15 und 35m Tiefe,

Welche Stoffe im einzelnen die Zunahme der Salzmenge mit der Tiefe hervorrufen, zeigt Tabelle 2 sowie besonders gut die Kurventafel 1. Die gewaltige Zunahme des Natrons fällt hier besonders auf; die große Menge doppeltkohlensauren Natrons stellt ein besonderes Charakteristi- kum des Tiefenwassers dar.

Durch diese Mineralquelle in der Tiefe nimmt das Ulmener Maar eine Sonderstellung unter allen Eifelmaaren ein. Dafür, daß solche Quellen etwa auch in den anderen Maaren vorhanden seien, liegen keine Anhaltspunkte vor. Wir haben aber zur Sicherheit wenigstens eine Stichprobe in dem dem Ulmener Maar annähernd gleich tiefen Gemün- dener Maar gemacht. Am 12, VIH. 1911 enthielt das Wasser dort in 1 m Tiefe 28,5 mg gelöste Stoffe im Liter, in 39 m Tiefe (Boden) 25 mg; in beiden Schichten war es klar und zeigte keine Gasentwicklung; von Tie- fenquellen ist hier keine Rede.

Mit Hilfe der Mohrschen Wage bei der Untersuchung vom 5.—6. III 1912 mit einem höchst empfindlichen Aräometer bestimmte Herr Privatdozent Dr. Matthies die Dichte des Wassers der verschiedenen Tiefen; vergl. Spalte 3-5 der Tabelle 1. Dabei ergab sich einmal, daß die Dichte dieser Wässer und selbst die des Tiefenwassers, das doch etwa 1% g Salze im Liter enthält nur ganz außerordentlich wenig höher ist, als die destillierten Wassers.) Ferner zeigt sich bei Reduktion der Dichten auf die Temperatur der betreffenden Schichten, daß das Dichte- maximum in der 30 m-Schicht liegt und daß sowohl oberhalb wie unter-

&) Die von Forel (L&man. II, p. 630) für die Dichte des Genferseewassers angeführte Zahl ist also sicher zu hoch!

Tiefe in m

Thienemann: Das Ulmener Maar. 167

halb dieser Schicht Wässer von geringerer Dichte lagen. Ob hier Un- genauigkeiten bei der Probeentnahme eine Rolle spielen, oder ob wirklich das Gleichgewicht der Schichten ein dynamisches ist, mag dahingestellt sein. Möglich wäre allerdings das letztere. Die stete Zufuhr des salzigen Wassers von unten und der Druck der süßeren Oberschicht halten sich die Wage. Wird also durch Abfluß von der Oberfläche die Deckschicht dünner, oder nimmt die Wasserführung der Tiefenquelle zu, so wird sich die Mischschicht nach oben verschieben und zugleich eine größere Dicke gewinnen. Auf Kurventafel II sind die Resultate der Untersuchung vom 8.—9, VIIL 11 graphisch dargestellt; die Temperaturkurve III vom

>=. Temperatur °C ra 3u% Sm 7)E Haute ee 7 rg 2 722 zel 25 0 . % 2 4 & 6 8 " 10 h N % 1 I 18 20 | 22 24 26 28 30 32 34 Inn nen 100 2008 300 400 500 600 Treue Tau GE Saar ar Zu Tas ua Taar - Sog mg pro 1 Dichte

Kurventafel II. Das Ulmener Maar am 8.—9. VII. 1911. I. Abdampfrücstand. II. Temperatur am 9. VIII. 11. 4.h.p.m. Ill. Temperatur am 2. IX. 11.4.h.a.m. IV. Dichte, reduziert auf die Temperatur von II. V. Dichte, reduziert auf 4°,

2. X. 11 zeigt, daß anscheinend allerdings eine Verschiebung und Ver- dickung der Mischschicht im Laufe des Sommers stattgefunden hat und daß am Ende des Sommers vielleicht Verhältnisse geherrscht haben, wie wir sie nach der Temperaturverteilung für den August 1910 annehmen müssen,

Von besonderem Interesse mußte eine Untersuchung des Maares im Winter sein. Tritt im Winter das Wasser des Ulmener Maares in die Voll- zirkulation ein, d. h. genügt die Temperaturerniedrigung in den Ober-

>

20

25

35

168 Thienemann: Das Ulmener Maar.

flächenschichten, um diesen ein so großes Gewicht zu geben, daß sie bis in die Tiefe hinabsinken und sich mit dem salzigen Tiefenwasser mischen können? Oder bleibt die für den Sommer typische Zweiteilung der Was- sermassen im Kratertrichter auch im Winter erhalten?

Da im Winter 1911—12 das Maar sich nur wenige Tage lang im Februar mit einer ganz dünnen Eisdecke überzog, so war die geplante Untersuchung des gefrorenen Maares unmöglich; doch trafen wir am 5. und 6. März 1912 im Maare noch durchaus winterliche Verhältnisse an; die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigt Tabelle 3 sowie Kurventafel II.

Die Bestimmung der Temperatur, der Dichte sowie der gelösten Stoffe zeigten in gleicher Weise, daß bis 16 m das süßere Oberflächenwasser vorhanden war, von 16 bis 20 m trat eine Mischschicht auf, unterhalb

Temperatur °C ER are

) ı 5 5 0 10 1 I 16 16 E R= © 20 20 oO E 25 25 30 30 36 & 36 38 YES 38 100 200 300 “00 500. 600 1,0000 1.0001 10002 10008 mg pro | Dichte

Kurventafel III. Das Ulmener Maar am 5.—6. IH. 1912.

I. Abdampfrücstand.. II. Temperatur in °C am 5, Ill. 12.

11.h.a.m. II. Dichte, auf 4°C reduziert. IV. Dichte,

reduziert auf die Temperatur Il.

deren das salzigere Tiefenwasser lag. Bei 16 m zeigte sich zum ersten Mal eine schwache Gasentwicklung, bei 25 m war sie stark, bei 30 und 35 bis 36 m sehr stark, Bis 20 m war das Wasser farblos, von da an mit zuneh- mender Tiefe immer deutlicher gelb gefärbt.

Thienemann: Das Ulmener Maar. 169

Es ergibt sich also hieraus, daß auch im Winter die im Sommer beobachtete Schichtung des Wassers von den mittleren Schichten an er- halten bleibt; daß jedoch die Mengen der gelösten Stoffe in den einzelnen Schichten im Sommer und Winter nicht ganz die gleichen sind; aber diese Unterschiede sind doch recht minimale (vergl. Tabelle 1 und 3). Das Dichtemaximum lag bei der Märzuntersuchung in der Maartiefe, während es im August 1911 5 m höher auftrat. Die gelösten Gase, insbesondere die Kohlensäure, konnten bisher noch nicht quantitativ bestimmt werden; indessen ergibt die Berechnung, daß sich auch bei der Annahme, die Tiefenschichten des Maarwassers seien mit Kohlensäure gesättigt, die Größenordnung der bestimmten Dichten nicht ändert.

Tabelle 3, Ulmener Maar am 5, und 6, März 1912,

5 e Tem a Rah . Dichte aufäie Tiefe Ei } Dichte auf Temperatur in m in °C. Stoffe = mg reduziert |der Spalte 2 11 h. a. m | pro Liter Jeder 0 4,9 1 4,9 157 1[0,99996] | 1[0,99999] 5 4,9 173 1/0,99999] | 1[0,99999] 10 4,7 157 = je 949 [ 1,00013 1,00013 17 4,75: 1,00008 1,00008 18 5,25 19 5,75 20 6,5 536 21 6,6 22 6,75 25. 1.5.:68 372 1,00027 1,00023 30 7,1 428 35 38 7,35 ' 439 1,00033 1,00024 37,5 7,4 Grund

Wir können die hydrologischen Eigentümlichkeiten des Ulmener Maares kurz so zusammenfassen:

In der Tiefe des Kratertrichters entspringt eine kohlensäurereiche Mineralquelle, die etwa % gr Salze im Liter gelöst enthält (haupt- sächlich Natron), und eine annähernd konstante Temperatur von un- gefähr 7°C. besitzt. Das Wasser dieser Quelle erfüllt das Maar im Sommer und Winter bis 20 m unter dem Wasserspiegel; es folgt dann eine Mischschicht, deren Dicke je nach der Jahreszeit wechselt; die oberen Schichten des Maares werden durch ein Wasser gebildet, das

170 Thienemann: Das Ulmener Maar.

im Durchschnitt etwa 170 mg Salze gelöst enthält. Diese chemische Stratifikation bringt eine eigenartige thermische Schichtung mit sich. Während im Winter die Schichtung eine katotherme ist, d. h. die Temperatur von der Oberfläche nach der Tiefe zu steigt, sind im Sommer Oberflächenschicht und Tiefenwasser wärmer als die mittleren Schich- ten:. die Schichtung ist nach der Krümmelschen Terminologie dichötherm.

Es wäre nun anzunehmen, ‚daß auch die Ablagerungen am Grunde des Ulmener Maares wesentlich.andere sind, als bei den übrigen Maaren. Tatsächlich sieht auch der Schlamm, den die Dredge aus der Tiefe des Ulmener Maares heraufbringt, recht verschieden von dem Grundschlamm der anderen Maare aus. Während er bei diesen graubräunlich oder braun- schwarz ist, hat er im Ulmener Maar eine tintenschwarze Farbe. Aber merkwürdigerweise ergibt sich aus den sehr genauen Analysen, daß die Zusammensetzung des Ulmener Schlammes kaum verschieden ist von der der übrigen Maarschlämme; nur der Gehalt an Eisen (Fe, O,+ Al, O,) ist etwas höher. Wenn man die Schlämme aus den verschiedenen Maaren unter Wasser (mit etwas Formalinzusatz) monatelang stehen läßt, so wird das Eisen in den oberen Schlammschichten allmählich zu gelbrotem Eisenocker oxydiert, Diese Oxydation beginnt bei weitem am frühesten bei dem Ulmener Schlamm und erreicht auch hier die größte Intensität.

Weit größer als die chemischen, sind die biologischen Unterschiede des Ulmener Grundschlammes und des Schlammes der anderen Maare. Eine relativ reiche Tierwelt vor allem Tendipedidenlarven aus den Gattungen Tendipes und Lauterbornia, Tubificiden, Pisidien usw. lebt am Grunde der Eifelmaare bis in die größten Tiefen; nur die Tiefen des Ulmener Maares sind fast vollständig azoisch! Die einzigen lebenden Organismen, die wir bei zahlreichen Dredgezügen aus dem Tiefenschlamm dieses Maares gewonnen haben, waren gallertige Klumpen einer blau- grünen Alge aus der Familie der Chroococcaceen (wohl eine Aphano- theceart) sowie verschiedene Diatomeenarten. Lebende Tiere fehlen ganz; nur die leeren Häute des im Sommerplankton häufigen Krebschens Bosmina longirostris lassen sich in großen Mengen aus dem Schlamm aussieben.

Auch die tieferen Wasserschichten (von etwa 20 m Tiefe an, viel- leicht auch schon von geringerer Tiefe an) scheinen ohne jedes tierische Leben zu sein; lebendes Plankton ist nur bis zur Mischschicht vorhanden. Dagegen wird die Lebewelt der oberen Wasserschichten durch das Tiefen- wasser nicht beeinflußt; das Plankton zeigt große Ähnlichkeit mit dem der anderen Maare, jedoch nicht mit dem der tieferen Maare, Das Plankton des Ulmener Maares erscheint dem des flacheren, nur 21 m tiefen Schal- kenmehrener und Holzmaares am ähnlichsten. In Bezug auf die Zusam- mensetzung des Planktons verhält sich das Ulmener Maar also so, als seien die Tiefenschichten mit ihrem salzigen Wasser überhaupt nicht vor- handen. Spätere Untersuchungen werden die Kenntnis der Beziehungen

Thienemann: Das Ulmener Maar. 171

zwischen hydrochemischem und -physikalischem Verhalten der Maare auf der einen Seite und der Zusammensetzung ihrer Lebewelt auf der anderen erweitern und vertiefen.

Naturgemäß drängt sich die Frage auf, ob ähnliche Verhältnisse wie beim Ulmener Maar auch sonst schon beobachtet worden sind.

Eine Überschichtung wärmeren, salzigen Tiefenwassers durch süße- res, kälteres, das dann wiederum durch süßes, wärmeres Wasser bedeckt wird, „kennzeichnet viele Nebenmeere der höheren Breiten im Sommer“ (Krümmel, Oceanographie I, p. 420). Das schönste Beispiel für diese dichotherme Schichtung liefert das Schwarze Meer. Die Tabelle 4 gibt die Verhältnisse im Schwarzen Meere wieder, wie sie A. Lebedintzeff im Sommer 1891 und 1892 beobachtet hat (zitiert nach Krümmel, 1. c. p. 300).

nn Pr 2 u . >

Tabelle 4. Schwarzes Meer, Sommer 1891 und 1892, # Schwefel- Tiefe | Temperatur | Salzgehalt BEREIT Tr m G o ol vo cc 0 24,0 18,1 Ge 9 21,5 18,5 er 18 12,3 18,3 ni 27 8,9 18,5 ie 91 8,0 20,6 = 183 8,8 21,6 0,39 366 8,9 22,1 1,88 1464 9,0 22,5 4.44 21209 90 22,5 6,00

Weitere Angaben über die chemische und thermische Schichtung im Schwarzen Meere bei Krümmel (Il. c. p. 467-468). Im allgemeinen scheint in der warmen Jahreszeit im Schwarzen Meere in etwa 65 m Tiefe die Minimaltemperatur von 6,5" erreicht zu werden, während in der größ- ten Tiefe Temperaturen von etwas über beobachtet werden. Bekannt- lich sind die Tiefen des Schwarzen Meeres absolut tot; doch beruht hier das Fehlen der Organismen auf dem Reichtum jener Schichten an Schwe- felwasserstoff (vergl. Tabelle5). Im Ulmener Maar ist Schwefelwasserstoff sicher nur in Spuren vorhanden, hier wirkt wohl eher die Kohlensäure in ähnlicher Weise, wie dort der Schwefelwasserstoff.

Während die Oceanographie eine ganze Anzahl von Parallelen zu unserem Eifelmaare liefert, finde ich in der limnologischen Literatur nur einen einzigen See erwähnt, der in vieler Beziehung mit dem Ulmener Maar zu vergleichen ist, anderseits aber auch beträchtliche Unterschiede von diesem Kratersee aufweist.

172 Thienemann: Das Ulmener Maar.

Das ist der „Lac de la Girotte‘; die diesbezüglichen Angaben ent- nehme ich dem Werke von Andr& Delebecque: „Les Lacs Frangais” (Paris 1898).

Der Lac de la Girotte (45° 45° 35“ n. B,; 18° 45“ ö.L. v. Paris) liegt in den Bergen von Beaufort im Departement Haute-Savoie in einer Meereshöhe von 1736 m. Er entwässert nach Norden durch die Bäche von Hauteluce, Beaufort und Arly zur Isere. Nächst dem Genfersee ist der See von la Girotte mit einer Maximaltiefe von 99,4 m der tiefste fran- zösische Alpensee. Er stellt ein etwa von Süden nach Norden gestrecktes Becken dar, dessen Länge 1350 m, dessen Breite 530 m beträgt. Im Süden münden einige unbedeutende Gießbäche in den See, seine größte Tiefe liegt nahe der Nordecke. Die Oberfläche des Sees beträgt 56,8 ha, sein Kubikinhalt 29 400 000 cbm; das Verhältnis Tiefe : YOberfläche = 1: 7,58. Der Seeboden ist eben und gleichförmig; indessen wurde am Hange der Nordwestseite bei 44,30 m nackter Fels, bei 57 m fast reiner Kies ohne Schlamm gefunden; die Ursache des Fehlens von Schlammablagerungen an diesen Stellen ist in dem Vorhandensein unterirdischer Quellen (vergl. unten) zu suchen. Entstanden ist der See von la Girotte wahrscheinlich durch einen Einsturz des von Grundwasser unterspülten Gesteins.

Der Lac de la Girotte ist ein „blauer See, seine Farbe entspricht der No. III der Forel-Skala; die Sichttiefe betrug am 25. Juli 1892 7 m.

Von besonderem Interesse sind die von Delebecque beobachteten Wassertemperaturen des Sees.

Über der größten Seetiefe wurden folgende Temperaturen gemessen:

30. Juli 1892 14. Sept. 1892

Om 16,7 O m 14,4

5 13,5 4 11,6

10 7,7 9,6 10,8

15 4,9 15 6,4 20 4,5 20 5,0

25 4,5 25 5,0

50 6,6 30 5,4

70 6,9 40 6,2

95—100 (Grund) 7,0—7,2 60 6,85

90—100 (Grund) 7,0 Weiter nach Süden zu wurden folgende Temperaturen festgestellt: Station I: 20 m = 5,2° 88 m (Grund) = 7,1° BH: 77m (Grund) „MM: 35m=4g' 69 m (Grund) = 6,9° n IE EIERN 55 m (Grund) = 6,7° ..V9: 25 m (Grund) 5,05°

5) 100 m vom Südufer. 6%) 50 m vom Südufer.

Thienemann: Das Ulmener Maar. 173

‘Nahe dem Ausfluß: 25 m =4,8° 50: m (Grund) = 6,7°

290 Ip Westufer: :25 m —=48° ©. .41’m (Grund) = 6,1°

" Während also in den oberen Schichten die Temperaturfolge eine normale ist, steigt im ganzen See in der warmen Jahreszeit von ungefähr 25 m an bis zum Grunde hin die Temperatur wieder, und zwar von 4,5 e- 5°) auf 7—7,2°. : ai

Das ist nur möglich, wenn der See von unterirdischen, etwa war- men Quellen (vergl. oben) gespeist wird, deren Wasser an sich schwe- rer ist, also mehr ‚Salze, gelöst enthält, als das Oberflächenwasser. Weitere Voraussetzung ist dabei, daß nicht starke Strömungen diese Schichtung verwischen.

Beides ist der Fall. _

Der See ist wenig ausgedehnt, rings von Bergen umschlossen; nur einige kleine Gießbäche bilden’ den oberirdischen Zufluß, so daß starke Strömungen nicht vorhanden sind.

Die chemische Untersuchung ergab folgendes:

Gelöste.

ag Br Datum Tiefe Stoffe (mg er Ba 95 pro Liter) rs 30. Juli 1892 "Om (Ausfluß) 68,8 mg 9. Sept. 1893 Om 770 5% 14. „. 1892/95 m (Mitte)| 520,6 |Om (80. Juli!95 m (14. Sept, . 1892) 1892) . GelösteStoffe 68,8 520,6 Si 0, 20 32,0 Fe, AhLO, | 15 5,0... ; CO 25,5 136,0 a Da ER: Le 57,6 So, 9,4 171 GL : Spuren sehr geringe ers: > 105 Spuren co cca 20 2 K, Oo _ 5,7 Na, O ei 11,0

Ferner wurde in dem Tiefenwasser 15,5 mg Schwefelwasserstoff ge- funden; wahrscheinlich war die Menge bei der Entnahme, bei der der Geruch nach diesem Gas sehr deutlich war, ursprünglich noch etwas größer.

Es zeigt sich also, daß das Oberflächenwasser relativ arm an gelösten Stoffen ist, daß dagegen das Tiefenwasser eine etwa 8 mal größere Menge Stoffe gelöst enthält. Diese Zunahme wird vor allem durch Gyps (und Magnesia) bewirkt, der aus dem Untergrund (Trias) gelöst ist. Sehr groß

174 Thienemann: Das Ulmener Maar.

für ein Seenwasser ist auch die Menge der Kieselsäure, Charakteristisch ist auch der Gehalt des Tiefenwassers an Schwefelwasserstoff, der in diesem Fall nicht etwa durch Fäulnis organischer Substanzen in der See- tiefe bedingt’ist, sondern von den unterseeischen Quellen dem Seewasser mitgeteilt wird.

Anhangsweise seien hier noch Delebecques Analysen des Guch schlammes des Girottesees mitgeteilt:

Tiefe In Säuren Heckpenit m unlösliher Rükstand ° Nordteil des Sees 98 78,8% Mitte 84 91,45% Nordwestteil des Sees 57 71,8% (Sand) Südwestteil des Sees 33 71,45% . Eine Analyse des löslichen Rückstandes der Je Probe ergab; Fe,Al,O, 36 % kai CaO 5,6 j Io MsO 1,714 %

Die dichotherme Schichtung der Wassermassen ist also im Lac de la Girotte ebenso vorhanden,;wie im Ulmener Maar; salziges Tiefenwasser von etwa C, das durch süßeres Oberflächenwasser überschichtet wird, ruft hier wie dort diese thermische Eigentümlichkeit hervor. Aber wäh- rend der Quelle am Grunde des Eifelkraters ein Wasser entströmt, das vor allem Natron und Kohlensäure in Menge enthält, ist das Wasser am Grunde des Einsturzbeckens jenes tiefen Alpensees durch die Mengen von Gyps sowie durch das Auftreten von Schwefelwasserstoff gekenn- zeichnet.

Die sehr einfachere Gestalt des Eifelsees läßt es möglich erscheinen, die chemischen und physikalischen Umsetzungen, die im Laufe des Jahres die Schichtung der Wassermassen beherrschen, bis ins Einzelne rechne- risch zu verfolgen. Wir behalten uns solche Untersuchungen für eine spätere, auf noch größeres Beobachtungsmaterial gestützte Arbeit vor.

er

(Aus der Hydrobiologischen Abteilung der Landwirtschaftlichen Versuchsstation zu Münster i. W.)

Aristoteles und die Aliskkerbiolögfe:

Von August Thienemann.

lie ah ende aufstrebenden Baume der Biologie, der Wissen- A vom Lebendigen, ist einer der jüngsten Äste die Hydrobiologie, die Lehre von der Eigenart des Lebensim Wasser. Noch.nicht ein Halb- jahrhundert grünt er, und doch hat er schon mancherlei Zweige und Sprosse getrieben: reiche: Ergebnisse theoretischer wie auch praktischer Art hat die hydrobiologische Wissenschaft trotz ihrer Jugend schon ge- zeitigt. 'Ein stattlicher Stab von Forschern aller Länder hat sich in ihren Dienst’ gestellt, drei’große Zeitschriften sind: ganz ausschließlich ihr ge- widmet; und schon teilt sich das Arbeitsgebiet der Hydrobiologie wieder in eine Anzahl von Zweigdisziplinen.

"Wenn der allzu früh aus dem Leben geschiedene Meister der Ge- schichte der Zoologie, Rudolf Burckhardt, die hydrobiologische Forschung „zu den geschichtlich eigenartigsten Erscheinungen der Zoographie des 19; Jahrhunderts’ zählt‘) so gilt das ganz besonders auch für den Teil unserer Wissenschaft, den wir kurz als „Abwasserbiologie" oder vielleicht besser als „die Lehre von der biologischen Analyse des Wassers” be- zeichnen können.

Daß Tiere und Pflanzen bestimmte Biledlätungeh an ihre Um- gebung stellen, daß nicht eine jede Art an jeder Stelle in dem großen Lebensraum ihr Fortkommen findet, ist eine alte, lang bekannte Tatsache. Andere Tiere und‘ Pflanzen leben auf dem Lande, andere im Wasser; Meer und Süßwasser, Alpensee und Dorfteich, Bergbach und Niederungs- fluß, alle beherbergen eine bestimmte, eigenartige Organismenwelt. Aber daß man nun anderseits aus der Zusammensetzung der Fauna und Flora eines Gewässers Jauch einen Rückschluß auf die Beschaffenheit dieses Wassers machen, und daß man insbesondere aus der Tier- und Pflanzen- welt das Charakteristische der chemischen Zusammensetzung ihres Wohnwassers ersehen kann, darauf ist man erst in der allerletzten Zeit aufmerksam ‘geworden. |

© Wir verstehen heute unter. der „biologischen Analyse des Wassers” die Beurteilung der chemischen Zusammensetzung des Wassers nach seiner Fauna und Flora und wenden diese Methode neben der

2) R. Burckhardt, Geschichte der Zoologie;‘p. 151,

176 Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie.

chemischen und bakteriologischen vor allem da an, wo ein Wasser durch ein Übermaß leicht faulender organischer Stoffe verunreinigt ist. In ihrer „Ökologie der pflanzlichen und tierischen Saprobien‘?) haben R. Kolkwitz und M. Marson, auf Grund der Arbeiten von F. Cohn, Mez, Schorler, Lindau, Schiemenz und Hofer, besonders aber ihrer eigenen, umfassenden Studien an verunreinigten Gewässern, all die Organismen, die in ihrem Auftreten besonders von der Menge der im Wasser vor- handenen zersetzlichen organischen Nährstoffe abhängig sind, in ein ökologisches (= biologisches) System gebracht und sie je nach dem Grade ihrer Anpassungsfähigkeit an die Stärke dieser Verunreinigung in Poly-, Meso- und Oligosaprobien unterschieden, und damit eine Grundlage für die praktische’ Anwendung wie auch für die theoretische Weiterbildung dieser biologischen Methode der Wasserbeurteilung geschaffen. 5 "Wo in-einen Vorfluter, z.B. in einen 'langsam - fließenden -Bach, fäulnisfähige Stoffe im Übermaß gelangen, sei es durch die Abgänge einer Ortschaft, sei es durch Molkereien, Brennereien; Cellulose- oder Zucker- fabriken, da wird die normale Organismenschar des Wassers vernichtet, und es stellt sich eine charakteristische Folge von:Pilanzen und Tieren ein. Ist die Menge’ der 'Faulstoffeim: Verhältnis zur: Wasserführung des Baches eine allzu‘große, so wird jegliches Leben unmöglich ‚gemacht; höchstens Bakterien können dann noch:'gedeihen. Hat aber die Fäulnis einen Teil dieser ‘organischen Substanzen erst öxydiert, so. bietet unser Bach ein eigentümliches Bild: wo: er langsam fließt, da. überziehen die Fäden der Schwefelbakterie Beggiatoa "wie-mit kreideweißen ‚Spinne- weben den Schlamm, und in stärkerer Strömung fluten die an Steinen und Holzteilen festgewachsenen.. weißen Fadenbakterien : der, Gattung Sphaerotilus oder höhere Pilze aus den Gattungen Mucor,-Apodya,-Fusa- rium usw., und überkleiden wohl das ganze Bachbett mit einem zottigen, vliesartigen Belag. Schreitet der Fäulnis- und damit auch Reinigungs- prozeß im Wasser noch weiter vor, so verschwinden Beggiatoa, Sphae- rotilus und die anderen Abwasserpilze, der Schlamm auf dem Bachgrund zeigt eine schwarze, durch Schwefeleisen bedingte Farbe oder überzieht sich mit den schwärzlich-grünen Häuten und Krusten von Cyanophyceen, von Oseillatoria und Phormidium. . Nun stellen sich: auch höhere Tiere ein, während bis dahin nur niederste, 'einzellige Formen in dem faulenden Wasser lebten. Die Schlammbänke durchwühlen' ungezählte, Würmer; dicht nebeneinander sitzen sieimSchlamm, strecken die vordereHälfte ihres Körpers heraus und’ schwingen: damit unentwegt ‚hin. und) herj, diese Tubifexwürmer bilden’ so blutrote Flecken auf dem-schwarzen Schlamm- grund. Aber ein Schlag mit dem Stock ins Wasser; ein Steinwurf.genügt, um dem Schlamm eine gleichmäßig'schwarze- Farbe: zu geben: blitzschnell ziehen sich‘ dan alle Tubifex indie. Tiefe “ihrer Schlämmgänge: zurück;

2) Ökologie der nn arg © Dach Bot. gemei 1908, Ba. XXVla, p. 505—519, Ökologie der tierischen :Saprobien, Int. Revue d, ges, „Hydrobiol. und Hydrograph, 1909, Bd. I, p. 126—152.

Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie. 177

erst wenn das Wasser sich wieder beruhigt hat, kommen sie von neuem hervor und setzen ihre ruhig schwingende Bewegung fort. An anderen Stellen erheben sich auf dem Schlammgrund kleine Hügel; jeder hat ein Loch in der Mitte und ähnelt dem Krater eines Miniatur-Vulkanes: das sind die Enden von Schlammröhren, die sich die roten Larven der Zuck- mücken: (Chironomus oder Tendipes) gebaut haben. Wird die Fäulnis einmal zu stark und damit die Sauerstoffmenge im Wasser sehr gering, dann verlassen auch wohl diese Larven besonders abends und nachts ihre Gänge und schwimmen mit eigentümlich schnickenden oder schlen- kernden Bewegungen im Wasser herum; bald aber bauen sie sich von neuem ihre Gehäuse, in denen sie sich auch verpuppen. Die reife Puppe steigt zur Wasseroberfläche empor; an ihrem Rücken entsteht ein Spalt, aus dem die Mücke hervorschlüpft. Ruhig sitzt diese dann auf der Ober- fläche des Wassers, bis Gliedmaßen und Flügel erhärtet sind und sie sich nun in die Luft schwingen kann. Die leere Puppenhaut aber treibt wie ein Kahn an der Wasserfläche. An ruhigen Sommerabenden schweben die Chironomusmücken oft in dichten Scharen, Rauchsäulen vergleichbar, über dem Wasser in ruhigem Fluge auf und nieder. Und an denselben Stellen, an denen aus den schmutzigen, übelriechenden Wässern die zier- lichen Chironomusmücken aufgestiegen sind, entschlüpfen auch hier und da Stechmücken der Puppenhaut; denn auch die Culexlarven leben mit Vorliebe in jenen organisch verunreinigten Gewässern. ... .

Aber was hat mit dieser „ÄAbwasserbiologie” Aristoteles zu tun!

Gewiß wird niemand behaupten wollen, Aristoteles habe die Methodik der biologischen Wasseranalyse schon gekannt! Noch wußte man ja nichts von der chemischen Zusammensetzung des Wassers; noch fehlten jene gewaltigen Abwassermengen, die heute mit ihren Faulstoffen die Gewässer weithin verpesten. Aber wo Menschen in etwas größerer Zahl beieinander wohnten, da war es doch schon damals möglich, daß Abfälle aus Haushalt und Küche oder auch aus industriellen Betrieben ins Wasser gerieten und durch ihre Fäulnis die Organismenwelt in charakteristischer Weise veränderten, ebenso wie es heute geschieht. Nur konnten es in jenen Zeiten, entsprechend den geringen Abwasser- mengen, nur kleinere Gewässer sein, in denen ein aufmerksamer Forscher die saprobischen Tiere und Pflanzen zu beobachten imstande war.

Und nun schlage man das fünfte Buch der Aristotelischen Tierkunde auf und lese im 19. Kapitel die folgende Stelle: °)

„Die Mücken‘) entstehen aus den „Askariden,’) diese aber im Schlamme der Brunnen und wo sonst Wasser sich ansammelt, welches

®) Ich benutzte die Ausgaben von Aubert und Wimmer (Leipzig 1868) sowie von Karsch (Stuttgart 1866); die hier von mir gegebene Übersetzung stimmt mit keiner der beiden Vorlagen überein. Die Kapiteleinteilung ist in beiden Ausgaben verschieden; bei Karsch steht diese Stelle im 17. Kapitel des 5. Buches.

4) Eureides

’) daxapides.

Festschrift z. 81. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Arzte. 12

178 Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie.

erdige Bestandteile absetzt. Der faulende Schlamm nimmt zuerst eine weiße Farbe an, dann eine schwarze, schließlich eine blutrote, Ist er so geworden, so wächst aus ihm etwas heraus, wie kleine rote Fäden. Diese schwingen eine Zeit lang, an einer Stelle haftend,°) dann reißen sie sich los und fahren frei im Wasser umher: das sind die sogenannten „Askariden”. Nach wenigen Tagen werden sie unbeweglich und hart und hängen senkrecht an der Oberfläche des Wassers. Darauf zer- platzt die Hülle und die Mücke sitzt darauf still, bis Sonne oder Wind sie in Bewegung bringt; dann fliegt sie auf und davon. ..... Zahlreicher und schneller entwickeln sich die „Askariden” in den Gewässern, die einen mannigfaltigen Bodensatz haben, wie es in den Äbflüssen aus Küchen’) der Fall ist. Solche gehen nämlich leichter in Fäulnis über. Auch im Herbste entwickeln sie sich in größerer Zahl; denn dann ist die Menge des Wassers geringer.)

Das fünfte Buch der Aristotelischen Tiergeschichte behandelt die Entstehung und Entwicklung der Tiere, und im 19, Kapitel werden die „Insekten“ (natürlich Insekten im Aristotelischen Sinne) besprochen. Die hier wiedergegebene Stelle hat den Übersetzern und Interpreten mancher- lei Schwierigkeiten gemacht: wenn wir sie aber im Lichte der modernen „Abwasserbiologie‘‘ betrachten und dabei auch die Entomologie des 17. Jahrhunderts zum Vergleich heranziehen, schwinden die Schwierig- - keiten und sie gewinnt mit einem Male ein ganz hervorragendes Interesse:

denn augenscheinlich wird hier zum ersten Male und zwar in durchaus klarer und treffender Weise geschildert, welche biologischen Vorgänge sich in einem durch fäulnisfähige Stoffe verunreinigten Wasser ab- spielen.

Am besten kann man, sagt Aristoteles, diese Vorgänge in selöiren Gewässern beobachten, ‚die einen mannigfaltigen Bodensatz” haben, so z. B. im „Schlamme der Brunnen”, besonders aber ‚in den Abflüssen aus Küchen”. „Denn solche gehen leichter in Fäulnis über.” Und je „geringer die Menge des Wassers” im Vorfluter ist, um so stärker ist auch seine Verunreinigung und um so bessere Lebensbedingungen finden die Saprobien. Daher „entwickeln sie sich auch im Herbste in grö- ßerer Zahl”.

„Der faulende Schlamm nimmt zuerst eine weiße Farbe an”, indem sich an ruhigeren Stellen die spinnwebartigen Überzüge der Beggiätoen, in schnellerer Strömung die Vließe der Abwasserpilze einstellen; „dann eine schwarze”, denn wo das Wasser ganz stagniert, können Beggiatoa und die Pilze nur schlecht gedeihen; und ist das Wasser stärker ausgefault, so treten die dunkelgrünen, fast schwarzen Überzüge der Oscillatorien an

6) nooonsepvxora; Gaza: „haerentia suae origini“.

%) Wir lesen mit Aubert und Wimmer statt des unverständlichen „olov Meyagoi ve yivsraı xal Ev rois doyoıs“ „olov Er vois: uayeıgeios yiverar“.

8) Auberts und Wimmers Bedenken gegen diese Stelle kann ich nicht teilen; denn die Wasserführung der Flüsse und Bäche pflegt im Herbst doch am geringsten zu sein.

Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie. 179

die Stelle der weißen Bakterienhäute und Pilzzotten. Dann „wird er blutrot” und „es wächst aus ihm etwas hervor wie kleine rote Fäden; diese schwingen eine Zeit lang, an einer Stelle haftend”.

Besser könnte auch heute ein naiver Beobachter das Auftreten der blutroten Tubifexflecke auf dem schwarzen Faulschlamme kaum schil- dern! Aristoteles nennt jene Würmer "oxaelöss und Mouffet bemerkt in seinem „Insectorum sive minimorum animalium Theatrum” (London 1634), p. 83, zu dieser Stelle: „Ascarides (sive in aquis, terra aut intestinis nascuntur) parvos significare vermiculos nemo dubitat.”

Aber nun kommt eine Verwechselung, die eines gewissen Interesses nicht entbehrt: wenn wir heute Anfänger ‚in Zoologicis” zum ersten Male im: Freien an eine Stelle führen, wo in der mesosaproben Zone eines ver- unreinigten Wassers im Schlamme die Tubifexwürmer gemischt mit den roten Mückenlarven aus der Gattung Chironomus (= Tendipes) in Mengen auftreten, so wird der Anfänger fast nie den roten Tubifex und die rote Chironomuslarve auseinanderhalten. Und so ging es auch dem, der vor Jahrtausenden seinen aufmerksamen Forscherblick zuerst auf diese Lebensgemeinschaft richtete; auch er machte keinen Unterschied zwischen den fest an einer Stelle haftenden und hin und her schwingen- den Würmern und den ebenda vorkommenden roten Larven, die häufig ihre Schlammröhren verlassen und frei dann im Wasser schwimmen, aus denen später geflügelte Mücken werden.

_ Denn nachdem Aristoteles das „Schwingen” der Tubifexkolonien beschrieben hat, fährt er so fort und schildert in äußerst anschaulicher Weise die Metamorphose der roten Chironomuslarven —: „dann reißen sich die Askariden los und fahren frei im Wasser umher. Nach wenigen Tagen werden sie unbeweglich und hart” d. h. es sind Puppen ge- worden „und hängen senkrecht an der Oberfläche des Wassers. Darauf zerplatzt die Hülle und die Mücke sitzt darauf still, bis Sonne oder Wind sie in Bewegung bringt; dann fliegt sie auf und davon.”

Hier ist Aristoteles jedoch eine zweite Verwechselung untergelaufen: während die roten Mückenlarven sicher als Chironomuslarven aufzufassen sind worauf übrigens schon Aubert und Wimmer hinweisen —, ist die Mücke, die daraus aufstehen soll, die Zureic, ebenso sicher mit der Stech- mücke, also einer Culexart, zu identifizieren. Denn wir lesen in der Tiergeschichte, I. Kap. 5, daß die Zurig ein Zweiflügler:ist, der vorn einen Stachel hat. Der Irrtum des Aristoteles ist aber entschuldbar, wenn man bedenkt, daß all diese Beobachtungen im Freien angestellt sind an Lokalitäten, an denen eben Culex- und Chironomuslarven nebeneinander leben, so daß eine Verwechselung der Metamorphosestadien beider Arten sehr leicht vorkommen konnte. Wir werden diese Verwechselung weiter- hin wohl noch milder beurteilen, wenn wir erfahren, daß noch im 17. Jahr- hundert als Larven der Stechmücken Chironomidenlarven angesehen wurden, und zwar sogar von einem Autor, der die Aufzucht der Insekten- larven in der Studierstube vornahm!

12*

180 Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie.

Der Middelburger Maler und Entomologe Joh. Goedart (1620-1668) bringt im dritten, 1669 erschienenen Teile seiner „Metamorphoseos et Historiae naturalis Insectorum” auf p. 35—41 als „Experimentum vige- simum-secundum“ ein Kapitel „De origine Culicum”, Er beschreibt darin recht anschaulich, wie Mücken ihre Eier in Regenfässer ablegen, wie daraus kleine rote Larven ausschlüpfen, die sich Gänge oder Gehäuse aus Erde bauen und wie schließlich im Juni und Juli die geflügelten Mücken daraus werden; aber wie bei Aristoteles ist es auch bei Goedart die Stechmücke, die aus der roten Chironomuslarve entsteht, und Goedart erscheint dies auch durchaus verständlich: „Quemadmodum culices ori- untur ex sanguineis vermiculis, ita quoque sanguinem atque imprimis humanum magno impetu appetunt.” Die Tafel X des Goedartschen Werkes bringt als Fig. 140 die kolorierte Abbildung einer roten Chiro- nomuslarve, einer braunen Chironomuspuppe und dazu als Imago eine männliche Stechmücke. Ausdrücklich bemerkt Goedart am Schlusse seines Kapitels „de origine Culicum”, daß er seine Beobachtungen an Tieren angestellt habe, die er in einem Glasaquarium hielt.)

Wenig später als Goedart, im Jahre 1685, hat der Züricher Arzt Joh. Jakob Wagner ebenfalls eine „Observatio de generatione Culicum” veröffentlicht [Miscellanea curiosa sive Ephemeridarum medico-physi- carum Germanicarum Academiae naturae curiosorum Decuriae Il. Norim- bergae 1685. p. 368—370]. Auch er hält Chironomidenlarven für Larven der Stechmücke, jedoch nicht die roten Larven der Gattung Chironomus (= Tendipes), wie es Aristoteles und Goedart tun, sondern gelbliche Larven der Orthocladiusgruppe; nach der für ihre Zeit recht guten Be- schreibung dürfte Wagner die Larven von Cricotopus longipalpis Kieff. beobachtet haben.

Übrigens scheint auch der Micrograph Robert Hooke (Micrographia. London 1665. Observ. XLV) eine Chironomiden- und Culexart vermischt zu haben; doch handelt es sich hier bei beiden Gattungen um Imagines; die Metamorphose beschreibt Hooke nicht,

Das Interesse für die Geschichte ihrer Wissenschaft erwacht auch bei den Zoologen und Botanikern gegenwärtig mehr und mehr, und schon

») „At objiciet aliquis quo modo ego tam accurate observare potuerim quid culices agant in fundis cisternarum? cui respondeo, me haec omnia observasse in vase vitreo, eum in finem confecto, cui imposui omnia quae in cisternis reperiri solent, nempe calcem, lapillos, terram et aquam pluvialem, quibus ante descriptos vermiculos rubros imposui. Coactus quoque fui vitreum illud vas in loco frigido collocare, aquam quoque et aörem recentem saepe admittere atque renovare. Nam experientia me docuit, vermiculos illos defectu sufficientis frigoris aut recentis et bene temperati aeris facile omnes commori,

Beneficio igitur hujus vasis vitrei et pellucidi quotidie et diligenter observavi atque annotavi, quid in eo quovis die fieret qualesque ibi mutationes contingerent.”

Thienemann: Aristoteles und die Abwasserbiologie. 181

werden historische Studien auch eines Naturforschers nicht mehr für unwürdig gehalten!

Vielleicht zeigt auch die vorstehende kleine Skizze, daß es sich wohl lohnt, die Werke der Naturforscher der Vergangenheit auch bis in die Einzelheiten zu studieren. Ein wirkliches Verständnis für den gegen- wärtigen Stand einer Wissenschaft kann nur aus tiefgehender Kenntnis ihres Werdeganges erwachsen.

Tsumebit, ein neues Blei-Kupfer-Phosphat von Otavi, Deutsch Süd-West-Afrika.

Von K, Busaz.

Durch die Firma Dr. F. Krantz erhielt ich vor einiger Zeit eine kleine Anzahl von Mineralstufen von den Erzgruben von Tsumeb, Otavi, Deutsch Süd-West-Afrika, bestehend aus kleinen Bruchstücken von rotbraunem Dolomit, die durch weiße, glänzende Krusten von Zinkspat verkittet sind. Aufgewachsen darauf finden sich einzelne große, prachtvoll ausgebildete Krystalle von Kupferlasur. Ein großer Teil der weißen Krusten wird von einem ebenfalls krustenförmigen Krystallaggregat kleiner, lebhaft glän- zender Krystalle von sehr schöner, smaragdgrüner Farbe überzogen, die an vielen Stellen auch in Form kleiner, innig miteinander verwachsener Krystallgruppen auftreten, und als solche auch auf den Krystallen der Kupferlasur aufgewachsen vorkommen.

Wir haben es also hier jedenfalls mit einer der jüngsten Mineral- bildungen dieser mineralreichen Lagerstätte zu tun. Als jüngere Gebilde wurden nur vereinzelte farblose Krystalle von Weißbleierz beobachtet, die auf den Krusten des grünen Minerals aufgewachsen sind. In der Farbe erinnerte dieses Mineral zunächst an Euchroit, aber eine qualitative Probe erwies die Abwesenheit von Arsen. Da es sich mit keinem anderen bekannten Minerale identifizieren ließ, so wurde eine genauere Untersuchung vorgenommen, die ergab, daß ein neues Mineral vorliegt, für das ich nach dem Vorkommen bei Tsumeb den Namen Tsumebit vorschlage.

a) Krystallographische Untersuchung.

Die krystallographische Bestimmung bereitete große Schwierig- keiten, einerseits wegen der sehr geringen Größe der Krystalle, die nur Bruchteile von Millimetern im Durchmesser erreichen, dann aber be- sonders dadurch, daß sie niemals einzeln aufgewachsen vorkommen, son- dern stets in größerer Zahl wirr durcheinander gewachsen sind, und endlich noch dadurch, daß die Flächen, obwohl zum Teil sehr gut glänzend, doch niemals glatt und eben ausgebildet sind, sondern gerundet oder wellig und höckerig, und daher auch keine guten Signale im Goniometer lieferten. In vielen Fällen waren Signale überhaupt nicht zu beobachten, und man mußte sich mit Einstellung auf den hellsten Lichtreflex begnügen.

Die im folgenden angeführten Bestimmungen sind daher nur als angenäherte zu betrachten, es werden daher auch nicht mehr als Minuten-

Busz: Tsumebit, ein neues Blei-Kupfer-Phosphat. 183

angaben gemacht. Hoffentlich liefert das Vorkommen in der Zukunft auch noch besser ausgebildete Krystalle, so daß eine Revision und Ver- besserung der jetzigen Untersuchungsresultate vorgenommen werden kann.

Krystallsystem: monoklin a:b: c = 0,9974 :1 : 0,8215; #3 = 81? 44’ Beobachtete Formen: a = (100) Po d = (101) Po s = (322) pP? p= 111) +P n = (221) —2P r=(9:.10-.4) —3P 2 o = (101) + Poo

außerdem waren unter dem Mikroskop noch einige winzige Flächen zu beobachten, deren Messung aber nicht möglich war.

Die Ausbildungsweise ist aus der nebenstehenden Figur ersicht- lich.

Die Krystalle sind dicktafelig nach dem Orthopinakoid, und außer den Flächen dieser Form sind die Flächen von + P (111) am größten ausgebildet. Diese letzteren zeigen auch den lebhaftesten Glanz und fallen bei der Betrachtung der Kry- stallaggregate am meisten ins Auge. Das positive Orthohemidoma er- scheint nur als schmale Fläche, lie- fert aber im Goniometer noch ver- hältnismäßig gute Bilder. Die negativen Hemipyramiden liegen mit dem negativen Hemidoma Po (101) in einer Zone, und sind parallel der Zonenachse gestreift und häufig auch gerundet; in dieser Zone waren die Messungen am wenigsten befriedigend, nur gab auffallenderweise gerade die Form mit dem komplizierten Symbole, die Pyramide r = (9. 10. 4) 53 P 2 ziemlich brauchbare Bilder, so daß ich sie trotz der wenig einfachen Indizes doch in die Formenreihe aufgenommen habe; sie bildet mit 2 P (221) einen Winkel von nur ca. und tritt als Abstumpfung der Kante dieser Fläche mit + P (111) auf. In die Figur habe ich diese

Form nicht eingetragen. Das Axenverhältnis wurde aus folgenden Messungen berechnet: ooPoo : + Poo = (100) : (101) 55° 30’ + Poo : Po = (101) : (101) 78° 51’ + Poo: + P= (101): (111) = 34° 307 Von den Messungen seien einige, verglichen mit den berechneten

Werten angeführt. Bei manchen ist, wie ersichtlich, die Übereinstimmung zwischen Messung und Berechnung nicht vollkommen befriedigend.

184 Busz: Tsumebit, ein neues Blei-Kupfer-Phosphat,

gemessen berechnet @oPoo: + P= (100) : (117) = 62° 61 Po : == 3p& (100) : (322) = 43° 4 42° 53 5P3:+P = 82): (111) —:75°,12 A Sr 3P2 : + P= (822) : (111). = 76° 44 76° 53’ 2P:+P= (221):(111)) = 65° 40' 66° 44' 2P : Po = (221) : (101) = 39° 00’ 41° 25’ 3p12: _ Po— (9. 10-4):(101)— 45° 32’ 46° 367

Bei den Verwachsungen scheinen auch Zwillingsbildungen vorzu- kommen, doch konnte durch Messungen eine Gesetzmäßigkeit nicht fest- gestellt werden.

Bezüglich der optischen Verhältnisse läßt sich auch zunächst noch wenig sagen. Das Lichtbrechungsvermögen ist beträchtlich höher als dasjenige des Canadabalsams, wie aus dem Verhalten von in Canadabal- sam eingebetteten Präparaten zu erkennen war. Es gelang, von einem kleinen Kryställchen ein Präparat ungefähr nach dem Orthopinakoid her- zustellen. Dieses zeigte deutlichen Pleochroismus von gelblichgrün bis grünlichblau. Im convergenten Lichte war der Austritt eines Axenpoles zu beobachten, und zwar waren trotz ziemlicher Dünne des Schliffes eine größere Anzahl von Kurven um den Pol zu sehen, so das also auch die Doppelbrechung stark ist. Ferner erwies sich das Kryställchen aus meh- reren Individuen zusammengesetzt, die in scharflinigen Grenzen sich be- rührten und vollkommen durcheinandergewachsen waren; vermutlich liegt Zwillingsbildung vor, und vielleicht gelingt es durch weitere Untersuchung, die gesetzmäßige Verwachsung festzustellen.

Das Mineral ist sehr spröde, Spaltbarkeit ist nicht vorhanden; Härte etwas über 3,

b) Chemische Untersuchung.

Bei der chemischen Untersuchung wurde ich von Herrn cand. rer. nat. Friedrich Rüsberg und Fräulein cand. rer. nat. Hedwig Dubigk unter- stützt, denen ich für ihre Hülfe auch an dieser Stelle besten Dank sage.

Beim Erhitzen im Kolben gibt das Mineral, ohne zu decrepitieren, Wasser ab und wird schwarz; vor dem Lötrohr auf Kohle erhält man nach längerem Glühen in der Reduktionsflamme ein ductiles Metallkorn, desgleichen beim Schmelzen mit Soda auf Kohle, In Salpetersäure lang- sam, aber vollkommen löslich; dabei verliert das Mineral nach kurzem Erwärmen die grüne Farbe, wird weiß, trübe und undurchsichtig, während die Lösung eine schwach blaue Färbung annimmt. Erst allmählich geht dann der Rest der Substanz in Lösung, in welcher Blei, Kupfer und Phos- phorsäure nachgewiesen werden konnten. Es hat hiernach den Anschein, als ob durch die Einwirkung der Säure zunächst eine Kupferverbindung in Lösung ginge. In dieser zuerst sich bildenden Lösung wurde neben Kupfer auch Phosphorsäure nachgewiesen; in der Lösung des zuerst zu-

Busz: Tsumebit, ein neues Blei-Kupfer-Phosphat. 185

rückbleibenden trübe-weißen Rückstandes trat die charakteristische Re- aktion der Phosphorsäure mit Ammoniummolybdat erst nach langem Stehen ein.

Für die quantitative Analyse stand nur eine verhältnismäßig geringe Menge Substanz zur Verfügung. Die kleinen grünen Krystallgruppen ließen sich ziemlich leicht von dem weißen Zinkspat ablösen, und bei der großen Verschiedenheit der Farbe war es auch nicht schwer, mit der Lupe reines Analysenmaterial auszusuchen.

An diesem Material wurde zuerst das spezifische Gewicht bestimmt, das als Mittel aus 6 Bestimmungen bei 18° C = 6,133 ergab.

Dann wurde das Mineral in Salpetersäure gelöst, das Blei als schwe- felsaures Blei gefällt und als Sulfat im Gooch-Tiegel bestimmt. Das Kup- fer wurde elektrolytisch abgeschieden. Die verbleibende saure Lösung wurde mit Ammoniak nahezu neutralisiert und die Phosphorsäure mittels Magnesiamixtur gefällt. Das Wasser wurde an einer besonderen Quan- tität als Glühverlust bestimmt. Das Pulver färbte sich dabei zuerst schwarz und schmolz bei längerem Glühen zu einer sintrigen Masse zu- sammen.

Für die ganzen Bestimmungen standen nur ca. 0,4 gr zur Verfügung.

Die Analyse ergab folgende Zusammensetzung:

PbO = 63,77 Mol. Verh. 0,287 CuO = 11,79 0,149 nr P,O, = 12,01 0,085 H,0.-— 12,33 0,689

Das entspricht also ungefähr der Zusammensetzung P,O,-’5{(Pb-Cu)O -8H,O, mit PbO:CuO = 2:1.

Vielleicht liegt hier ein dem Tagilit (PO,),Cu, - Cu(OH), + 2H,O ähn- liches wasserhaltiges basisches Blei-Kupfer-Phosphat vor, dem etwa die Formel zukommt (PO,), Pb, : ((Cu Pb) (OH),); + 6H,0.

Man könnte das Mineral auch als isomorphe Mischung der beiden Verbindungen auffassen: (PO,), Pb, - (Pb(OH),), #+6H,O und (PO,), Cu, (Cu(OH),), + 6 H,O Ich hoffe, daß die Gruben von Tsumeb noch weiteres Material dieses

Minerals liefern, das vor allem auch eine genauere krystallographische und physikalische Untersuchung zuläßt.

Mineralogisches Institut Münster, im Juli 1912,

Selbststerilität und Individualstoffe.

Von C. Correns.‘)

Einleitung und Literatur.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß im Tierreich wie im Pflan- zenreich den erblichen Unterschieden, die eine Art von ihren nächsten Verwandten trennen, stets stoffliche Differenzen zu Grunde liegen. Das ist bei Unterschieden in der chemischen Zusammensetzung und im Stoff- wechsel ohne weiters deutlich, wenn z. B. zwei Tierarten verschieden kristallisierende Hämoglobine besitzen oder die Verschiedenheit ihrer Blutsera durch das Ausbleiben der Präzipitinreaktion verraten. Aber auch wenn die für uns erkennnbaren Merkmale selbst nicht stofflicher Natur sind, wenn sie z. B. in Form- oder Größenunterschieden bestehen, müssen wenigstens die Anlagen, auf deren Entfaltung unter den ge- gebenen äußeren Bedingungen das Auftreten der betreffenden Merkmale beruht, chemisch verschiedene Körper sein.

Man darf also mit gutem Recht von spezifischen chemischen Stoffen sprechen; sie finden sich überall da, wo wir zwei systematische Einheiten durch konstante Unterschiede auseinander halten können, mag es sich dabei um „Arten“ handeln oder um Einheiten, die eine höhere Rangstufe einnehmen, also Gattungen, Familien etc. sind, oder um Ein- heiten, die eine niedrigere Stufe darstellen und nur den Wert von Varie- täten, Elementararten oder gar „Linien“ haben.

Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß auch ganz gering- fügige Merkmale vererbt werden, konstant sein können, Seit den 50er Jahren des verflossenen Jahrhunderts haben Alexis Jordan und andere auf botanischem Gebiet gezeigt, daß eine ganze Reihe Linn &scher „guter” Arten aus einer Menge, oft aus einer Unzahl nächstverwandter, wenig verschiedener Sippen, „Elementararten”, („petites esp£ces’‘) be- stehen, die bei der Aussaat wieder genau ihresgleichen hervorbringen.

1) Nachdem die Versuchspflanzen, auf deren Verhalten sich die nachstehende Mit- teilung gründet, den Winter von 1910 auf 1911 alle sehr gut überstanden hatten, gingen im letzten Winter mehr als zwei Drittel zu Grunde, darunter die eine unersetzliche Stammpflanze und sämtliche Ableger, die ich davon gemacht hatte, so daß ich heuer von vorn anfangen mußte. Da es mindestens zwei Jahre dauern wird, ehe ich wieder so weit bin, wie ich schon war, gebe ich hier einstweilen die gewonnenen Resultate und behalte mir vor, auf das Thema zurückzukommen. Im einzelnen noch unvollständig, sind die Ergebnisse doch im Hauptpunkt beweisend, dafür, daß die Hemmungsstoffe, die die Selbststerilität der Cardamine pratensis bedingen, nach bestimmten Ge- setzen vererbt werden und keine Individualstoffe sind.

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 187

Das Frühlingshungerblümchen (Erophila verna) und das Stief- mütterchen (Viola tricolor), sind z. B. schon von Jordan selbst so zerlegt worden, Frauenmantel (Alchimilla vulgaris) und Löwen- zahn (Taraxacum officinale) erst in neuerer Zeit. Als sich zu Anfang unseres Jahrhunderts diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt hatte, trat W. Johannsen mit dem Nachweis hervor, daß auch eine solche Elementarart noch nichts Einheitliches ist oder doch nichts Ein- heitliches zu sein braucht. Eine Gartensorte, z. B. die „braune Prinzeß- bohne”, besteht wieder aus einer Menge noch einfacherer, von einander sehr wenig verschiedener, aber konstanter systematischer Einheiten nie- drigsten Grades, „Linien”, deren Existenz sich nur durch besonders exakte Vererbungsversuche nachweisen läßt. Die Wirkung der vorüber- gehenden, das einzelne Individuum, während der Ausbildung des Merk- mals treffenden äußeren Einflüsse können viel größer ausfallen, als die Wirkung der inneren Verschiedenheiten der Linien unter sich, also der für die einzelnen Linien charakteristischen Anlagen. Die Linien sind dann als solche nicht ohne weiteres auseinanderzuhalten, sondern bilden zusammen eine „Population. Die Unterscheidung zwischen dem, was von den Eigenschaften eines Individuums durch die veränderlichen äuße- ren Einflüsse (die „Ernährung“ im weitesten Sinne) bedingt wird, und dem, was von der (säcular) unveränderlichen, inneren Beschaffenheit, den Anlagen, abhängt, tritt nach diesen Untersuchungen erst recht scharf hervor.

Solche niedrigsten systematischen Einheiten, wie die Linien Jo- hannsens, sind sicher überall im Tier- und Pflanzenreich vorhanden. Sie sind aber nur da ohne weiteres nachzuweisen, wo die Fortpflanzung ausschließlich oder fast ausschließlich durch Selbstbefruchtung oder auf ungeschlechtlichem Wege vor sich geht. Je sicherer durch Geschlechter- trennung, Selbststerilität oder auf andere Weise dafür gesorgt ist, daß die Linien fortwährend untereinander bastardiert werden, desto schwerer ist ihr Nachweis, bis er schließlich fast unmöglich wird.

Man wird mit vollem Recht selbst den Linien Johannsens spe- zifische Stoffe, „Linienstoffe”, zuschreiben dürfen, und es ist verführerisch, noch einen Schritt weiter zu gehen und als letzte Konse- quenz auch für die einzelnen Individuen einer Linie verschiedene charak- teristische chemische Stoffe, „Individualstoffe”, anzunehmen. In diesem Sinne haben sich z. B. Hamburger, Abderhalden, Jost?) geäußert. Abderhalden‘) spricht z. B. von Tatsachen, die wohl ge- eignet sind, „nicht nur jede Tierart, sondern vielleicht auch jedes Einzel- individuum als ein in seinem ganzen Stoffwechsel wohlabgegrenztes und

2) L. Jost, Über die Selbststerilität einiger Blüten. Botan. Zeitg. 1907, Heft V u. VI (1907), p. 112; hier die Citate für Hamburger (Arteigenheit und Assimilation, Leipzig und Wien 1903) und E. Abderhalden (Der Artbegriff und die Artkonstanz auf biologisch-chemischer Grundlage. Naturw, Rundschau, Bd. XIX, p. 557, 1904).

»)E. Abderhalden, Lehrbuch der physiolog. Chemie, II, Aufl., p. 891 (1909).

188 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

charakterisiertes Wesen erscheinen zu lassen.” Auch V, Haecker‘) hält sich mit R. Fick berechtigt, nicht nur von Art-, sondern auch von Individualplasma zu sprechen.

Meiner Meinung nach hat man nur dann ein Recht, von einem „,In- dividualstoff” zu sprechen, wenn man darunter einen dem betreffen- den Individuum eigenen, bestimmten chemischen Kör- per, wenn auch von sehr kompliziertem Bau, verstehen will. In diesem Sinne ist der Begriff Individualstoff jedenfalls von einem Teil der genann- ten Autoren, z. B. von Jost, verstanden worden.

Um die Möglichkeit zu beweisen, daß jedes Individuum einer Linie oder Art einen anderen Individualstoff ausbildet, hat man auf die zahl- reichen Modifikationen hingewiesen, in denen eine sehr kompliziert ge- baute organische Verbindung vorkommen kann. Miescher‘°) hat wohl zuerst in ähnlichem Zusammenhang betont, daß ein Eiweiß- oder Hämo- globinmolekül bei seiner enormen Größe und seinen vielen asymmetri- schen Kohlenstoffatomen eine kolossale Menge von Stereoisomeren er- laubt. Danach scheint es auf den ersten Blick wohl möglich, daß jedes Individuum eines größeren Artbestandes, z. B. eines Roggenfeldes, sein eigenes Isomer besitzt, wenn es auch für die Gesamtheit aller in einem Jahre vorhandenen Roggenpflanzen°) kaum möglich wäre, Überlegt man sich die Sachlage aber näher, so wird man, wie ich glaube, bald finden, daß sie nicht so einfach ist. Nur dann ist z. B. die Möglichkeit gegeben, daß jede Roggenpflanze eines Feldes auch wirklich ein anderes Isomer erhält, wenn entweder die einzelnen Isomeren überlegt auf die ein- zelnen Pflanzen verteilt werden, was natürlich ausgeschlossen ist, oder wenn, ‘bei Entstehung und Verteilung durch den Zufall, die Zahl der Isomeren unendlich viel größer ist, als die Zahl der Pflanzen. Sonst müssen sehr rasch Wiederholungen eintreten und dieselben Individuen denselben Stoff erhalten’)

%) V, Häcker, Allgemeine Vererbungslehre, II. Aufl, p. 27 (1912).

5) Fr, Miescher, Histochemische und physiologische Arbeiten, Bd, I, p. 117 (1897).

6%) Rechnet man die mit Roggen bebaute Fläche für Deutschland zu 6 Millionen Hektar, für Europa zu 41 Millionen (nach dem statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1903) und nimmt für. den Quadratmeter 100 Roggenpflanzen an, so erhält man für jedes Jahr 6 resp. 41 Billionen Roggenpflanzen,

?) Es sei die Zahl der Individuen so groß, wie die Zahl der möglichen Isomerien, nämlich n, und der Zufall entscheide nicht nur, was für ein Isomer jedesmal ent- steht, sondern auch, welches Individuum dieses Isomer in jedem einzelnen Falle erhält, so stehen für das zweite Individuum nicht mehr nIsomerien zur Verfügung, sondern nur n—1 (eine hat ja schon das erste Individuum erhalten), für das dritte n—2, für das vierte n—3 usw,, bis für das letzte Individuum nur noch ein Isomer übrig ist. Für das zweite Individuum sind die Chancen, ein anderes Isomer zu erhalten, als das erste ni für das dritte LA-V:R2) „5. f.; für das lette n! Dieser Wertn!

nn n.n»n na wird mit steigendem n sehr rasch verschwindend klein gegenüber den Potenzen

von n, Für n—2 ist die Chance, daß jedes Individuum ein anderes Isomer bekommt,

ae EIREN a 20%, .0u 720 4, fürn=3 ist sie >, für n=4 Se, für ns 45, für n=6 schon 73555 USW.

Nur dadurch, daß die Zahl der möglichen Isomerien größer ist als die der zu versehenden

Correns: Selbststerilität und Individualstofie. 189

Schon von dieser Seite-dürften der Annahme, daß jedes, oder an- nähernd jedes Individuum seinen eigenen Stoff bildet, sehr erhebliche Be- denken entgegenstehen; die Hauptschwierigkeit scheint mir aber auf einer anderen Seite zu liegen.

Die Bildung der Stoffe, die für die einzelnen Individuen charakteri- stisch sein sollen, kann nicht von äußeren Einflüssen abhängen, denn dann wären sie nicht dem einzelnen Individuum eigen, sie kann auch nicht durch Anlagen bestimmt sein, dann wären sie ererbt und würden von Generation zu Generation weiter gegeben, und es könnte sich eben- falls nicht um den einzelner Individuen eigene Stoffe handeln. Es müßte vielmehr jedesmal bei der Befruchtung, aus der das Individuum hervor- geht, eine besondere Verbindung oder ein besonderes Isomer entstehen, konstant für das betreffende Individuum denn dieses besitzt sie sein Leben lang —, aber mit dem Individuum zu Grunde gehend, wobei der „Zufall” die stets wechselnde Atomgruppierung besorgen müßte.

Nun kennen wir aber zurzeit mit Sicherheit an den Organismen des Tier- und Pflanzenreichs keine anderen Eigenschaften als solche, die ent- weder von inneren vererbten Anlagen oder von äußeren Einflüssen her- rühren, oder, richtiger ausgedrückt, wir kennen nur Eigenschaften, die auf inneren Anlagen beruhen und unter dem Einfluß der äußeren Faktoren entfaltet werden. Für Eigenschaften, die so entstünden, wie die Indivi- dualstoffe entstehen müßten, fehlen sichere Beispiele. Jost hat dies deutlich empfunden; er sagt:°) „Schwieriger ist die Frage nach der Ent- stehung immer neuer solcher Stoffe bei der fortwährenden Neuentstehung von Individuen.” Das beweist natürlich nicht, daß es solche Eigenschaften nicht geben kann, mahnt aber zur Vorsicht und fordert dazu auf, das ganze Problem der „Individualstoffe” genauer zu prüfen. Ein Versuch dazu soll im folgenden gemacht werden, durch Untersuchung der Selbststeri- lität. Wenn irgendwo, so scheint hier die Annahme besonderer, für jedes Individuum eigentümlicher Stoffe berechtigt, wie wir gleich sehen werden.

Es ist eine Anzahl Blütenpflanzen bekannt, bei denen zwar Staub- gefäße und Stempel in derselben Blüte in durchaus tauglichem Zustand ausgebildet werden, bei denen aber die Belegung der Narbe mit dem eigenen Blütenstaub völlig oder fast völlig unwirksam ist. Sie sind „selbststeril”. Dabei bleibt es sich im Wesentlichen gleich, ob der Blütenstaub aus den Staubgefäßen derselben Blüte stammt oder aus denen einer anderen Blüte desselben Stockes. Ja, auch der Blütenstaub eines anderen Individuum, das auf ungeschlechtlichem Wege, als Steck- ling, als Ableger, als Propfreis etc., aus dem ersten hervorgegangen ist oder von der gleichen, ungeschlechtlichen Herkunft ist, bleibt wirkungs- los. Mit dem „fremden‘ Blütenstaub eines anderen, auf geschlechtlichem

Pflanzen, und zwar in einem Verhältnis, das sehr viel rascher zunimmt als die Zahl der Pflanzen, kann das ausgeglichen werden. Y Le 8; 111

190 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

Wege entstandenen Individuum tritt dagegen normaler Fruchtansatz ein, Entsprechendes kommt auch bei hermaphroditischen Tieren vor; die Eier lassen sich dann durch das Sperma desselben Individuum nicht befruchten.

Diese für Pflanzen schon längere Zeit, vor allem durch Darwin,) bekannt gewordenen Erscheinungen sind zuletzt von L. Jost“) einer eingehenden Untersuchung unterworfen worden, wobei die Frage nach den Ursachen der Selbststerilität im Vordergrund stand. Jost konnte nachweisen, daß bei solchen Gewächsen der eigene Blütenstaub schon auf der Narbe und dann weiterhin im Griffel in seiner Entwicklung (bei der Bildung der Pollenschläuche) gehemmt ist, so daß die Be- fruchtung der Eizellen in den Samenanlagen des Fruchtknotens nicht oder nur ausnahmsweise eintreten kann, während der fremde Blütenstaub die zur Befruchtung nötigen Schläuche ungehindert entwickeln kann. Jost sieht als Ursache dafür die Anwesenheit „individueller Stoffe an, wie vor ihm schon Strasburger,“) wenn auch in etwas anderem Sinne, Er neigt zur Ansicht, daß die eigenen Individualstoffe gleichgiltig seien, daß dagegen die individuellen Stoffe aus einer anderen Blüte Stimu- lantia sind, und stützt sich dabei auf Erfahrungen, die er bei seinen Ver- suchen, Pollenkörner in künstlicher Nährlösung zur normalen Schlauch- bildung zu bringen, machte, Es stellte sich dabei heraus, daß das nie ge- lang. Die Schläuche blieben, auch günstigsten Falles, viel zu kurz. Das führte ihn zu der Annahme, daß ihnen in der Natur von Narbe und Griffel Stoffe geboten werden, die wachstumsfördernd wirken, und dies wiederum zur Annahme, daß bei den selbstbestäubten Blüten selbststeriler Pflanzen diese nötigen Reizstoffe für Pollenkörner und Pollenschläuche nicht vor- handen sind.

Wir wollen hier auf die Gründe für und wider nicht eingehen und ein- fach von Hemmungsstoffen sprechen, die die normale Entwicklung des eigenen Pollens verhindern, mag diese Hemmung wörtlich zu nehmen sein, oder nur auf dem Ausbleiben einer Förderung der Pollenkeimung beruhen. Darin, daß es sich dabei nicht um das Protoplasma, oder gar das Idioplasma handeln kann, sondern nur um lösliche, diffusionsfähige Stoffe, stimme ich Jost vollkommen bei.

®) Ch, Darwin, Die Wirkungen der Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pilanzen- reich. Stuttgart 1877, p. 322 u. f£.

1) L. Jost, Über die Selbststerilität einiger Blüten. Botan, Zeitg. 1907, Heft V u. VI, Die Fälle, in denen die Narbe verletzt werden muß, damit der Blütenstaub auf ihr keimen kann, wo aber, nach dieser Verletzung, fremder und eigener Pollen gleich tauglich zur Befruchtung ist, scheiden für uns aus. Hier besteht keine Selbststerilität, es muß nur überhaupt ein Insektenbesuch erfolgen, damit eine wirksame Bestäubung eintritt, Man könnte solche Pflanzen (der Goldregenbaum, Cytisus Laburnum, gehört dazu) einfach in die Kategorie der „Herkogamen” stellen.

1) E, Strasburger, Über fremdartige Bestäubungen (Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. XVII, p. 84), 886,

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 191

Es herrscht nun offenbar die Ansicht, daß der Pollen jedes frem- den (aus einem anderen Sexualakt hervorgegangenen) Individuum die Be- fruchtung ausführen kann. Jost") sagt vorsichtiger, es scheine so zu sein. Verhielte sich die Sache wirklich so, dann bliebe freilich kaum etwas anderes übrig, als anzunehmen, daß „immer neue solche Stoffe bei der fortwährenden neuen Entstehung von Individuen entstehen”.

Hier konnte das Experiment einsetzen. Auffallenderweise hat sich aber noch fast niemand mit dieser Fragestellung an die selbststerilen Or- ganismen herangewagt, und die wenigen einschlägigen Versuchsreihen sind mit Individuen angestellt worden, die aufs Geratewohl herausge- griffen und nicht unter dem Gesichtspunkt ausgewählt waren, ob die Hem- mungsstoffe vererbt oder neu gebildet würden.

- Non Darwin“) haben wir einige Angaben für die Gartenreseda (Reseda odorata), deren Individuen teils selbststeril, teils selbstfertil sind. Er führte zwischen fünf selbststerilen Pflanzen (A,B, C,D, E) fast alle möglichen Verbindungen aus, die meisten auf beide Weisen (also A2+BJ,B2 +Adetc.; es fehlt B+E), und fand sie alle fertil, während alle Selbstbestäubungen erfolglos blieben. Leider ist über die Herkunft, resp. die eventuelle Verwandtschaft der fünf Individuen gar nichts bekannt.

Vor allem ist aber hier T.H. Morgans“) zu gedenken, der bei sei- nen ausgedehnten Versuchen über die Selbststerilität der hermaphrodi- tischen Ascidie Ciona auch die Frage studiert hat, ob das Sperma eines Individuums die Eier aller anderer Individuen mit gleicher Leichtigkeit befruchten könne, Er hat zu diesem Zweck über 600 Kreuzungen zwi- schen verschiedenen Individuen ausgeführt. Das Ergebnis war, daß durch- aus nicht jede Kombination, bei der fremde Eier und Spermatozoen zu- sammengebracht wurden, den gleichen guten Erfolg (Befruchtung) hatte, ja, daß in vielen Fällen überhaupt keine Befruchtung eintrat. Zum Teil mag daran, worauf Morgan hinweist, die schädigende Wirkung des Blutes und der Körpersäfte schuld sein, deren Beimischung nicht ganz verhindert werden konnte, und deren Menge bei den einzelnen Versuchen ungleich ausgefallen sein wird. Die Unterschiede sind aber so groß, daß die Erklärung auch nach Morgans Meinung nicht ganz ausreicht. Es ist also wenigstens sehr wahrscheinlich, daß bei Ciona nicht jedes In- dividuums Eier von jedes Individuums Sperma befruchtet werden kön- nen; die von Morgan mitgeteilten Tatsachen geben aber, soviel ich

sehe, keinen Anhaltspunkt dafür, ob daran die zufällige Ausbil-

2) |, cp. -111

23) ]. c. p, 332 u. 327 u. £.

4) T,H. Morgan, Some further Experiments on Selifertilization in Ciona, Bio- logical Bulletin, Vol VIH, No. 6, May 1905, und Cross- and Self-Fertilization in Ciona intestinalis, Archiv f. Entwicklungsmech, d. Organ. XXX (Fest-)Band für Prof, Roux, II. Teil (1910).. Die erste Mitteilung aus dem Jahre 1903 ist mir unzugänglich. Die Tatsache der Selbststerilität wurde zuerst von Castle festgestellt.

192 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

dung desselben Individualstoffes Schuld ist (S. 188) oder die Überlieferung desselben Linienstoffes durch Vererbung.

Die Versuche wurden in der Weise angestellt, daß die Eier eines Individuum A z. B. auf 6 Schalen (A, A, A, A, A, A) in Seewasser ver- teilt wurden, die eines zweiten Individuum in gleicher Weise auf 6 Scha- len (B,B,B......) usw,, bis die Eier von 6 Tieren (A—F) in 36 Schalen ver- teilt waren. Dann wurde das Sperma des Individuum A dem Vas deferens entnommen und zu je einem Gefäß mit den Eiern von A, von B, von C usw. gegeben, hierauf mit dem Sperma von B in gleicher Weise verfahren usw,, bis jede der 36 möglichen Kombinationen der sechserlei Eier und Sperma- tozoen ausgeführt war. Im Folgenden gebe ich einen beliebig herausge- griffenen Versuch Morgans mit 4 Individuen wieder, der sich nach dem eben Gesagten von selbst erklärt. Die Eier sind mit großen, das Sperma mit kleinen Buchstaben bezeichnet, die Zahlen unter den einzel- nen Kombinationen geben die Prozentzahl der befruchteten Eier an, die in der betreffenden Schale gefunden worden waren:

Aa Ab Ac Ad 0 2 0 8 Ba Bb Bc Bid 100 0 50 100 Ca Cb Ce Cd 100 100 0 100 Da Db De Did 5 2 1 0

Aa, Bb, Ce, sind die resultatlos gebliebenen, auf Selbstbefruch- tung hinzielenden Kombinationen; von den auf Fremdbefruchtung hinaus- laufenden gehören immer zwei als reziprok zusammen: Ab und Ba, Ac und Ca etc, Es muß auffallen, daß diese Paare sehr oft unähnliche Resultate gegeben haben, nicht bloß in der oben reproduzierten Versuchsreihe, son- dern überhaupt. Hierbei mögen zwar ungleich starke Verunreinigungen mit Blut und Körpersäften eine Rolle gespielt haben, gewiß ist aber auch eine besondere Beschaffenheit des Sperma und Eies bei dem einzelnen Tier beteiligt. So waren in der oben mitgeteilten Versuchsreihe die Eier von A und D „poor“, wie Morgan sich ausdrückt, Vielleicht spricht sich darin der Anfang einer Geschlechtsdifferenzierung aus,

Auf die zahlreichen Versuche Morgans, den Grund der Selbst- sterilität zu ermitteln und sie womöglich zu überwinden, so daß Selbst- befruchtung einträte, kann ich hier nicht näher eingehen, so interessant sie sind; es sei nur bemerkt, daß er die Selbstbefruchtung durch künst- liche Eingriffe nicht erzwingen konnte. Er nimmt an, das Ei von Ciona verdanke seine „Immunität dem eigenen Sperma gegenüber der Unfähig- keit des Sperma, in dem Ei jene Prozesse hervorzurufen, die zur Aufnahme des Spermatozoons in das Ei führen. Es werde nicht die Aktivität des

Correns: Selbststerilität und Individualstofte. 193

Sperma vom Eie aus geschädigt, es handele sich vielmehr um eine spezi- fische Reaktion zwischen Ei und Sperma an der Eioberfläche.

Die eigenen Versuche.

L Das Versuchsmaterial.

_ Die ersten Versuche habe ich 1902 mit dem Bastard-Petunia nyctaginiflora-+ violacea angestellt, den ich 1901 erzeugt,') und von dem ich 11 Stöcke überwintert hatte, die alle Geschwister waren, wenn sie auch zum Teil P. violacea, zum Teil P., nyctaginiflora zum Vater hatten. Als ich durch Selbstbestäubung die 2. Generation her- stellen wollte, fand ich, daß sechs Individuen selbstfertil waren, I, IV, VII, IX, X, XI, drei ganz selbststeril, II, V, VII, und zwei, III und VI, fast selbststeril. Ferner wollten durchaus nicht alle Verbindungen gelingen. Ich versuchte darauf, soweit es die gegebene Blütenzahl und Zeit erlaub- ten, alle möglichen Kombinationen auszuführen. Die Ergebnisse bestätig- ten die ersten Beobachtungen. So gelang es z. B. nie, II mit V oder II mit VII zu verbinden, weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege, während andere Kombinationen stets und sehr leicht gelangen. Auch die Verbindung eines selbststerilen mit einem selbstfertilen Individuum wollte zuweilen durchaus nicht glücken.

Ich habe 1903 auch bei der zweiten Generation auf das Vermögen, mit eigenen Pollen anzusetzen oder nicht, geachtet. Es schien mir aber das Material durch das gleichzeitige Auftreten selbstfertiler und selbststeriler Geschwister und durch das Fehlen der (nicht aufgehobenen) Elternpflan- zen für die weitere Verfolgung der sofort aufgetauchten Frage nach der Vererbung der Hemmungsstoffe nicht besonders geeignet, und ich nahm mir vor, an einer anderen Pflanze, die für die erste Orientierung günstiger wäre, die Untersuchung neu aufzunehmen. Es schien mir nämlich von beson- derer Wichtigkeit, mit einem Objekt experimentieren zu können, das nicht nur das gegenseitige Verhalten der Geschwister zueinander zu prüfen gestattete, sondern auch das der Kinder zu ihren beiden Eltern. Wenn irgendwo, so mußte sich hier am ehesten die Vererbung der Hemmungs- stoffe zeigen. Die Erfahrung hat das auch bestätigt; an Hand der bis jetzt ermittelten Tatsachen über das Verhalten der Kinder untereinander wäre es mir kaum möglich gewesen, zu den später mitzuteilenden, relativ einfachen Ergebnissen zu gelangen.

Es konnte sich also nur um eine ausdauernde, wiederholt blühende Pflanze handeln. Dabei war es von Wichtigkeit, daß der Zeitraum vom Keimen der Samen bis zum Blühen nicht zu lange dauerte, Versuche, die ich 1904 mit Lilienarten aus der Verwandtschaft des Lilium bulbiferum begonnen hatte, haben aus diesem Grunde bis jetzt noch kein Resultat gegeben. Ein ganz gutes Material schien mir dagegen Cardamine

1) C.Correns, Die Ergebnisse der neuesten Bastardforschungen für die Ver- erbungslehre. Ber. d. Deutsch. Botan. Gesellsch., Bd, XIX, p. (20), 1901.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 13

194 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

pratensis, unser überall verbreitetes „Wiesenschaumkraut", abzu- geben. Daß diese Crucifere selbststeril ist, wurde 1896 von F, Hilde- brand, dem wir so viele hübsche biologische Beobachtungen verdanken, nach sorgfältigen Versuchen mitgeteilt,“) Jost”) konnte diese Angabe bestätigen, insofern die aus dem botanischen Garten der Universität Straßburg stammenden Versuchspflanzen überhaupt nicht ansetzten, ja auch am Standort sich selbst überlassen kaum Früchte ausbildeten. Jost glaubt, daß ihm eine sterile Rasse, Hildebrand aber eine fertile vorgelegen habe. Ohne eingehende Prüfung läßt sich das Verhalten der Freiburger und Straßburger Cardamine natürlich nicht definitiv auf- klären; ich halte es für möglich, daß Jost mit Individuen experimen- tierte, die auf ungeschlechtlichem Wege aus einer Mutterpflanze hervor- gegangen waren, was ja bei den Pflanzen eines Botanischen Gartens der Fall sein kann.

Bei Cardamine pratensis ist es leicht, in Jahresfrist kräftige blühende Pflanzen zu ziehen, wenn die Samen gleich nach der Reife aus- gesät werden; ohne grobe Verstöße gelingt auch die Überwinterung im Kasten leicht.

Über die Ursachen der Selbststerilität kann ich folgendes angeben: Auf den Narben der selbstbestäubten Blüten keimen die Pollenkörner zwar zum Teil, schmiegen sich auch oft mit kurzen, an der Spitze verbreiterten Schläuchen sehr eng an die Narbenpapillen an, dringen aber nicht ein. Bei fremdbestäubten Narben fand ich dagegen die Pollenschläuche schon nach 24 Stunden im Gewebe der Narbe und nach 48 Stunden im oberen Teil des Fruchtknotens, mindestens 114 mm von der Narbenoberfläche entfernt. Weiter habe ich diese Frage einstweilen nicht verfolgt; das Beobachtete genügte, um zu zeigen, daß die Entscheidung darüber, ob der Bestäubung die Befruchtung folgt, wenigstens in der Regel schon auf der Narbe selbst gefällt wird.

Die Versuche wurden 1910 mit zwei Pflanzen B und 6 begonnen, die aus den Wiesenflächen des hiesigen botanischen Gartens stammten und sich schon durch die Blütenfarbe unterscheiden ließen. Die eine, ©, blühte besonders hell lila, fast weiß, die andere, ®, hatte besonders inten- siv. lila gefärbte Blüten. Auch sonst waren sie in mehreren Punkten deutlich verschieden, Sie wurden gewählt, um sicher Individuen von ver- schiedener geschlechtlicher Herkunft zu haben, und setzten auch, in einem Kalthaus isoliert und (27. bis 30. April) von Zeit zu Zeit gegenseitig be- stäubt, sehr schöne Schoten an, während bei künstlicher Selbstbestäubung weder B8 noch ®, wie vorauszusehen war, ansetzte. Die Schoten reiften in Gazesäckchen heran (wegen des elastischen Aufspringens der Klap- pen), die frisch geernteten Samen wurden am 3. Juni auf sterilisierte Erde ausgesät, A

5

6) F, Hildebrand, Einige Biologische Beobachtungen. 1. Über Selbststerilität bei einigen Cruciferen, Berichte d. Deutsch, Botan. Gepelsch‘ Bd. AIV, p. 324, ae 17) ], c.p.9. @

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 195

B2+6dJ als No. 1,

62 +8d als No. 2.

Am 19, Juli waren die Keimlinge soweit entwickelt, daß sie (von mir selbst) pikiert werden konnten; am 24. August wurden von beiden Num- mern (unter meiner Aufsicht) je 30 Pflanzen einzeln in Töpfe gesetzt und tvon mir selbst) mit 1a, 1b, 1c .... laeund 2a, 2b,2c ... . 2ae etikettiert, Die Töpfe wurden in einen Kasten gestellt, so weit auseinander, daß die Blätter jedes Topfes nicht auf die Erde der Nachbartöpfe kommen konnten,“) und so überwintert.

Die Erde war nicht sterilisiert worden; diese Vorsicht wäre auch nicht nötig gewesen, wie die Beobachtung der Unkrautpflanzen lehrte, die sonst auf der verwandten Erde auftraten.

Die Überwinterung gelang sehr gut, und im Frühjahr 1911 standen also außer den beiden Elternpflanzen 60 Pflanzen der ersten Generation (F1) zu Versuchen bereit. Sie wurden bei Beginn der Blüte in einem ge- räumigen, 4teiligen Gazehaus untergebracht, worin sie sich ganz gut hiel- ten. Jede Bestäubung wurde womöglich an 3 Blüten ausgeführt, oft an mehr. Dabei wurden in den zu bestäubenden Blüten zunächst die An- theren der 4 längeren Staubgefäße entfernt. Diese Maßnahme schien mir wünschenswert, um den fremden Pollen bei allen Narben recht gleich- mäßig auftragen zu können und ihn nicht durch den eigenen Pollen der Blüte gewissermaßen zu „verdünnen”, was ja von Fall zu Fall hätte un- gleich stark geschehen können.

Da von vornherein sicher war, daß nicht alle möglichen Kombi- nationen (gegen 4000) ausgeführt werden konnten, entschloß ich mich, zunächst das Verhalten der Kinder und Eltern gegenüber dem Pollen zweier neuer, sicher nicht blutsverwandter Pflanzen festzustellen, dann möglichst genau das Verhalten des Pollens beider Eltern ihren sämtlichen 60 Kindern gegenüber zu ermitteln und endlich noch das Verhalten des Pollens von so vielen Kindern als möglich allen ihren 59 Geschwistern gegenüber zu prüfen. Bei der relativ kurzen Blütezeit konnte das Er- gebnis der ersten derartigen Bestäubungen keinen sicheren Fingerzeig für die Auswahl neuer Pollenlieferanten geben. Es wurden deshalb be- liebig herausgegriffene Individuen verwandt.

Die Ergebnisse entsprachen nicht ganz meinen Erwartungen; sie waren nicht so eindeutig scharf, wie ich gehofft hatte, und zwar in doppel- ter Hinsicht.

Einmal zeigte es sich bald, daß dieselbe Kombination, mit dem- selben Individuum A als Pollenlieferant und demselben Individuum B als Lieferant der Narben, unter möglichst gleichen Bedingungen zuweilen gelang und zuweilen versagte, aus Ursachen, die ich noch nicht übersehe, Um einige besonders auffällige Beispiele zu nennen, gaben das erste Mal

+42) Wegen der bekannten, ungeschlechtlichen Vermehrung durch blattbürtige Adventivpflanzen,

13*

195 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

-—

4 Blüten von 11 mit Pollen von ® ein durchaus negatives Resultat; das zweite Mal weitere 4 Blüten alle guten Ansatz. Oder es gaben das erste Mal 3 Blüten von 1r, wieder mit Pollen von B, zweimal keinen, einmal einen guten Ansatz, bei der Wiederholung weitere 6 Blüten alle einen guten usw. Es liegt nahe, an einen Einfluß des Alters der Narbe und des Blütenstaubes zu denken, doch waren diese bei einigen hierauf gerichteten Versuchen auch noch in dem ältesten Zustand, in dem ich sie bei den Bestäubungen verwendet hatte, tauglich. Hie. und da beobachtete ich bei einzelnen Stöcken eine Neigung zur Reduktion der Stempel, be- sonders bei den ersten Blüten, und dadurch mag auch ein Teil der Miß- erfolge zu erklären sein. Ganz ausgeschlossen ist es schließlich nicht, daß eine mosaikähnliche Ausbildung verschiedener Hemmungsstoffe bei demselben Individuum vorkommen kann; doch ist diese Annahme wohl sehr wenig wahrscheinlich. Daß in solchen Fällen die positiven Resultate den Ausschlag zu geben hatten, war selbstverständlich; es werden aber durch diese Erfahrungen die nur an einigen wenigen Blüten gewonnenen negativen Ergebnisse mehr oder weniger verdächtig.

Größere Schwierigkeiten für die Beurteilung der Ergebnisse bot das „schlechte“ Ansetzen; wenn z.B. in einer Schote nur einige wenige Samen oder nur einer ausgebildet wurde,) und die übrigen in gleicher Weise bestäubten Blüten gar nicht ansetzten. Lag dann wirklich ein ausnahmsweise erfolgtes Ansetzen mit dem absichtlich zur Bestäubung benutzten, sonst unwirksamen Pollen vor, oder eine zufällige Verun- reinigung des Versuches durch fremden, wirksamen Pollen? (Daß der schlechte Ansatz auf einem dritten Wege, durch Selbstbestäubung, zu- stande gekommen sei, die hie und da, trotz der Entfernung der oberen Antheren (S. 195), eingetreten sein wird, war nach dem völlig negativen Ausfall aller speziell darauf abzielenden Versuche ganz unwahrscheinlich.)

Unbeabsichtigte Bestäubungen sind nun neben den gewollten sicher unterlaufen. Das war daran zu erkennen, daß auch sonst hie und da an den Versuchspflanzen einzelne Blüten mehr oder weniger gut an- gesetzt haben, ohne daß sie überhaupt zu Versuchen verwendet worden wären. Als Ursache kommen die Manipulationen in Betracht, die beim Herausnehmen der Pflanzen behufs Bestäubens und beim Wiederherein- stellen in die Abteilungen des Gazehauses vorgenommen werden mußten, vor allem aber die unvermeidlichen Berührungen einzelner anderer Blüten bei der Kastration, der Bestäubung und vor allem der Markierung der zum Versuche ausgewählten Blüten. Auch beim Gießen der Töpfe und durch einzelne, dabei gelegentlich eingedrungene und nicht sofort be- merkte Insekten mögen die Ergebnisse gestört worden sein. 1912 habe

19) Im letzteren Falle sprangen die Schoten trotzdem ganz normal auf. Dies ist mit Rücksicht auf die VersucheK.v.Goebels, durch Abtöten aller jungen Samen bis auf einen die Schote von Sinapis arvensis zur Schließfrucht zu machen (Naturw. Wochenschr. N, F., Bd. X, S. 829, 1911), von Interesse.

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 197

ich aber auf all diese Fehlerguellen viel besser geachtet und nur noch ganz ausnahmsweise den „spontanen‘ Ansatz beobachten können. Trotz- dem erhielt ich bei den absichtlich bestäubten Blüten wieder, relativ wohl eben so oft als 1911, den „schlechten Ansatz. Wenn nun nicht noch andere, bisher nicht genügend berücksichtigte Fehlerquellen in Frage kommen, sprechen die Ergebnisse dafür, daß es wirksamere und weniger wirksame Hemmungsstoffe gibt, eine unerwünschte Komplikation des Problems. Hier können nur weitere Untersuchungen Klarheit bringen.

II. Das Verhalten der Eltern und Kinder dem Pollen anderer, sicher nicht | verwandter Pilanzen gegenüber.

Es schien mir von Wichtigkeit, festzustellen, ob unter den 60 Kindern nicht etwa einzelne völlig steril wären. Zu diesem Zwecke wurden sie und auch die beiden Eltern & und 8 mit dem Pollen zweier Stöcke be- stäubt, die sicher weder untereinander, noch mit den Versuchspflanzen blutsverwandt sein konnten. Als solche Pollenlieferanten benützte ich eine Pflanze R vom Züricher See und eine zweite MW aus Schwaben.*)

Es wurden meist je 3 Blüten bestäubt, und sie setzten sowohl bei den Eltern als auch bei sämtlichen Kindern fast ausnahmslos sehr gut an. In den wenigen Fällen, wo mir der Erfolg zunächst zweifelhaft erschien, wiederholte ich den Versuch mit neuen Blüten und erzielte dann stets einen vollen Erfolg. Ich führte mit Pflanze R auch einige Male den um- gekehrten Versuch aus, indem ich je 2 bis 5 von ihren Blüten mit Pollen von 10, 1r, 1s, iu und 2ab bestäubte. Auch so erhielt ich, von einer einzigen schlecht ansetzendeni Blüte abgesehen, lauter tadellose Schoten.

Ich verzichte darauf, die Ergebnisse einzeln wiederzugeben, weil sie eben ganz gleichmäßig und eindeutig ausfielen: alle Versuchs- pflanzen setzten, sobald sie nur mit dem richtigen Pollen bestäubt wurden, ausnahmslos und gut an, und zwar konnte der Pollen ein- und desselben Individuums sie alle befruchten. Von den Eltern und den 60 neuentstandenen Individuen hatte also keines denselben Hemmungsstoff gebildet, wie R oder W. Dies Resultat ist für die Bewertung der folgenden Versuche sehr wichtig.

II. Das Verhalten der Kinder den Eltern gegenüber.

Ich gebe zunächst das Resultat der Bestäubungen in Form einer Tabelle. Sie erklärt sich wohl von selbst (z. bedeutet ziemlich, s. sehr, schl. schlecht).

22) Die eine verdanke ich der Freundlichkeit von Verwandten, die andere der des Herrn Apothekers Völter in Nürtingen, dem ich auch an dieser Stelle noch meinen besten Dank ausspreche,

198 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe.

Tabelle 1. Verhalten der Kinder bei der Bestäubung mit dem Pollen ihrer beiden Eltern. bestäubt mit ® bestäubt mit © 7

Vers. | Zahl | Zahl Hi

ü A er pfl. | der Ergebnis der Ergebnis

Blüten Blüten Vers.-Pfl.

la |4+6| 4-+-2 nichts, 3 z. gut 4 | 3 s. gut, 1 nichts Bg 1b |4-+3| alle nichts 4 | alle gut Bg 1c !4-+-4| 4 nichts, 4 gut 4-+-3| 2 nichts, 2 +3 gut bg 1d |j4-+3| 3 nichts, 1+3 s. gut 3+4 | 3-+-3 nichts, 1 schlecht. bG le |3-+4| alle nichts 4413| 3-2 nichts, 141 z.schl. BG 1f 4 3 s. gut, 1 beschäd. 4-+-3| 4 nichts, 3 z. schlecht bG 1g 4 alle s. gut 4+3| 3+2 nichts, I+1 z.shl.| b G ih 4 alle gut 2-+-3| alle nichts bG li 3 alle gut bis z. gut 3+3| alle nichts b G 1k |4-+5| 3-+4 nichts, 1 gut, 1 schl,, 4+3| 1-41 nichts, 1-+1schl,2+1guti B G? 11 5 alle gut 3 | alle nichts bG im |4+9| 2-+-9 nichts, 2 gut 3+3| 1-43 nichts, 2 schlecht BG? in |4-+6| alle nichts 3-+3| 3+2 nichts, 1 einsamig BG 1o |4+6| 2-+4gutbiss.gut,2-+2nichts 7 5 gut, 2 nichts bg ip 4 5 s. gut, 1 mäßig 4 alle s. gut bg iqu | 4 alle s. gut 4+3 | alle nichts bG ir |3+6| 1-+-6 gut, 2 nichts 4 3 gut, 1 nichts bg 1s |4-+8| 4 nichts, 8 gut 3-+3| 3 nichts, 3 s. gut bg 1t 4+4| 4 nichts, 4 gut 4--3)| 3-+2nichts,1schl,,1einsamig b G lu /|5+5| 5-+4 nichts, 1 schlecht 3 2 gut, 1 schlecht Bg 1v /4-+56| 4 nichts, 6 s. gut 4-+-3| 4 nichts, 3 gut bg 1w |4-+-9| alle nichts 3 2 gut, 1 nichts Bg 1x 3 alle gut 3 | alle gut bg 1y |4+9| 4-+3 nichts, 1 s. schl. 3 alle s. gut Bg lz 3 alle gut 3+44| 2-+4 nichts, 1 s. schlecht bG laa |4+4| 4-+-2 nichts, 2 schlecht 83+3| 2 nichts, 14-3 s. gut Bg lab 4-+6| 4 nichts, 6 gut bis s. gut |4-+-3| alle nichts bG lac.|3+7| alle nichts 2+44| 2-+1 nichts, 2gut, Ishleht| BG lad 11 alle nichts 4 1 z. gut, 2 schledht, 1 nihtss BG lae 4 alle gut 4-+3| 4-1 nichts, 1 mit Sa, 1schl| b G 2a 3 alle gut 4 | 3 gut, 1 schleht bg 2b |4--3| alle nichts 3 alle z. gut Bg 2c |4+7| 4+5 nichts, 2 s. schl. 3 2 s. schlecht, 1 nichts BG 2d 3 alle s. gut 3-44) 2-+-4 nichts, 1 z. gut bG 2e 4 alle s. gut 5+3/5-+1 nichts, Ischl, 1z.gut b G 2f |4-+6)| alle nichts 4--4| 3-+3nichts,1s.schl.leinsam. BG 2g |3+6)| alle nichts 3 | gut bis z. gut Bg 2h |4-+38| 4-7 nichts, 1 s. schlecht | 3 |s. gut Bg 2i 3 alle s. gut 4 3 s. gut, 1 z. schlecht bg 2k |2-+5| 2-+4 nichts, 1 z. schlecht | 4 alle nichts BG 21 1|4--56| alle nichts 7 | 6 nichts, 1 s. schlecht BG 2m |4-+7]| alle nichts 3-+-3| alle nichts BG 2n |3-+7| 1-+7 gut, 1 schl., 1 s.schl.}3+3| 2-3 nichts, 1 s. schlecht bG 20 10 alle nichts 3+3' 14-3 gut, 2 nichts Bg

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 199

bestäubt mit 8 \ bestäubt mit ©

Vers. Typus

Zahl Zahl | : der pfi. | der Ergebnis der | Ergebnis Vers.-Pfl.

Blüten Blüten 2p | 10 | alle nichts bis auf 1 ein-' 3 alle gut Bg ; samige Schote 2 qu 5 alle sehr gut 3 | alle gut bg 2r )3+3| 3+2 nichts, 3 mäßig 3 | alle (z.) gut Bg 2s ul 4 alle gut 3 alle gut bg 2t .|8+7| alle nichts - 3-+4| alle nichts BG 2u /4+46| 3-46 nichts, 1 s. schl. 3 |alle s. gut | Bg 2v |4+46| 4 nichts, 6 gut 3 | alle gut bg 2w |3+47| 3+4 nichts, 3 s. sc. 4+3| 4-+1 nichts, 2 s. schlecht BG 22 dd 4 alle gut 2 alle gut bg 2y ı|3+7| 2+7 (s.) gut, 1 schleht 4 |alle s. gut bg 2z 3 2 (s.) gut, 1 nichts 3 alle s. gut bg 2aa |4-+7| 44-6 nichts, 1 schlecht 3+7| alle nichts BG 2ab 4+38| alle nichts 3 2 s. gut, 1 verwelkt Bg 2ac 4-11) 1-4 11mäßigbiss.gut,1ganz 3-+3| 3-+2 nichts, 1. schledht bG&G schl., 2 nichts

2ad 3 alle gut 3 alle gut bg 2ae | 3 | 2. gut, 1 nichts 4-13] 2-3 nichts, 2 (s.) sch. bG

Ist die Zahl der bestäubten Blüten als Summe gegeben, z. B. 4+6 oder 4+3, so war der Versuch zweimal ausgeführt worden; der erste Summand bezieht sich dann auf den ersten, der zweite auf den zweiten Versuch. Dann ist, wenn nötig, auch das Ergebnis in die zwei Summanden zerlegt aufgeführt. Die Rubrik „Typus“ wird erst später (S. 201) erklärt werden. m

Es war meine Absicht gewesen, auf Grund dieser ersten Ergebnisse im Jahre 1912 alle Kinder, soweit nötig, nochmals besonders genau auf das Verhalten dem Pollen der Eltern gegenüber zu prüfen. Das war nun leider aus dem eingangs angegebenen Grunde nicht möglich; von den beiden Eltern stand mir nur noch ein Ableger der Pflanze 8 = BÖ, und von den Kindern noch 8 Pflanzen der No. 1 und 9 Pflanzen der No. 2 in blühbarem Zustande zur Verfügung. Die Versuche, die ich damit anstellte, sind in Tabelle 2 mitgeteilt. Zum Vergleich sind die Ergebnisse von 1911 aus Tabelle 1 vorangestellt. (Tabelle 2 siehe folgende Seite.)

Wie man sieht, stimmen die Ergebnisse von 1912 sehr gut zu denen des Vorjahres. Außer der Zuverlässigkeit meiner damals gewonnenen Beobachtungen geht aus ihnen auch hervor, daß sich der Ableger (8), wie zum voraus zu erwarten war, genau so verhält wie die Stamm- pflanze (8). PR 5 SRRELA AA

Es waren 1911 auch einige Male die Eltern 8 und 6 mit dem Pollen einiger ihrer Kinder bestäubt worden nicht nur die Kinder mit dem Pollen der Eltern. Das Ergebnis bringt Tabelle 3, in der auch die rezi- proken, entsprechenden Versuche aus der Tabelle 1 zum bequemeren Vergleich nochmals aufgeführt werden.

200

Correns:

Selbststerilität und Individualstoffe,

Tabelle 2 Verhalten eines Teiles der Kinder bei der Bestäubung mit dem Pollen des Elters 8 und des Ablegers B.

v bestäubt 1911 mit ®. bestäubt 1912 mit Bd. erS. "Zahl Zahl Kon Pfl. | der Ergebnis der Ergebnis Blüten Blüten le |3-+4| alle nichts 9 | alle nichts B 1f 4 3 s. gut, 1 beschädigt 4 | alle gut b 1k |4+5| 3-+-4 nichts, 1 schl,, 1 gut 9 | nichts, nur1 Schotem.1Sam.! B 1l 5 alle gut 4 alle gut b 1s: 7438| 4 nichts, 8 gut 6 | 5 gut, 1 nichts b lu /5+5| 544 nichts, 1 schlecht 6 5 nichts, I schlecht B laa |4+4| 4-+-2 nichts, 2 schlecht 12 | alle nichts B lae 4 alle gut 5 | alle gut b 2b !4-+3| alle nichts 12 | 10 nichts, 2 s. schlecht B 2e B alle s. gut 6 alle gut b: 2g |3+6| alle nichts 9 | 8 nichts, 1 s. schlecht B 2h |4-+8| 4-7 nicts, 1 s. schl, 15 14 nichts, 1 s. schlecht Bir 2i 3 alle s. gut 2 beide s. gut bh > 2 qu 5 alle s. gut 6 | alle gut b 2r. |3+3| 342 nichts, 1 mäßig 5 |4 nichts, 1 s. schledit B 2x 4 alle gut 4 | alle sehr gut x b 2y .\34+7| 2+7 (s.) gut, 1 schlecht 2 beide ‚gut 'b Ä Tabelle 3, Reziproke Bestäubungen zwischen Kindern und Eltern, ‚Elter 8. Elter ©. ld. |Zahld | Versuch range } Versud | pe- Ergebnis.M0b4 9+g |stä ubt Ergebnis org stäubt. rge nis : lüten| Blüten! ar a B+ti1c | 3 | alle gut 6114| a 1c+8 108 # nichts, 4 gut 1c+6 |4+3;| 2 nichts, 24-5 gut E23 BHıl)| 3 alle gut 6-+11| 3 |.alle nichts 1148 | 5 alle gut 11+G | 3 | alle nichts 8-+1m| 2 4 nichts, 1 schlecht . 6-+1m| 3 2 nichts, 1 mäßig _ 1m-+8 |4+9|’249 nichts, 2 gut 1m+6|3+3| 1-3 nichts, 2 schlecht 8-11x | 2 | beide mäßig bis gut 6-+1x | 2 | beide gut 1x+8 3 | alle gut 1x+6 | 3 | alle gut ! 8+1 ael beide gut .:1©--1ae| 2 beide nihts : . _ 1ae+B| 4 alle gut ° 11ae+6|4+3| 4-1 nichts, 1 mit 1Sa., 1schl, 8-+2b | 2 | beide nichts 6 +2b | 2 | beide nichts 2b+8 |4-+3) alle nichts | ı2 b+6| 3 |allez. gu _ B8+2d | ı | gut 'Sx24 2 .|1 gut, 1 nichts u 2448 | 3 |’alle sehr gut '24+6 |3+4] 2-4 nichts, 1 2. gut _ B-+2e | 4 | 3 gut, 1 s. schlecht 6-+2e | 2 | beide nichts. 2e+8 4 alle sehr gut 2e+6 157-3 5+1 nichts, 1 schl., IE gut 8-+2t | 2 | beide nichts |6+2t 3 | alle nichts Y 2t+8 |3-+7| alle nichts j2t+6 3-+-4| alle nichts

Correns:: Selbststerilität und Individualstoffe. 201

In allen Fällen, einen ausgenommen, stimmt das Ergebnis der beiden reziproken Bestäubungen sehr gut überein, selbst darin, ob es ganz ent- scheidend ausfiel, oder etwas zweideutig blieb. Die einzige sichere Aus- nahme ist 6 +2b und 2b+6, die eine Bestäubung gab bei 2 Blüten keinen, die andere bei 3 Blüten einen ziemlich guten Ansatz. Sie konnte 1912 nicht nachgeprüft werden, weil 6 und die von ihm gemachten Ab- leger sämtlich zu Grunde gegangen waren.

Die Wiederholung im Jahre 1912 und die reziproken Bestäubungen des Jahres 1911 stimmen in ikren Ergebnissen untereinander und mit den in Tabelle 1 zusammengestellten Hauptversuchen soweit überein, daß man daraus. einige Schlüsse ziehen kann, Sie dürfen im großen und ganzen als völlig gesichert angesehen werden, selbst wenn im einzelnen die eine oder andere Pflanze falsch beurteilt sein sollte.

Diese Schlüsse sind:

1. Die Kinder lassen sich nach ihrem Verhalten einem bestimmten Elter gegenüber in zwei Klassen bringen: die Individuen der einen Klasse sind mit diesem Elter bei wechselseitiger Bestäubung fertil, die der anderen Klasse bleiben steril (oder setzen nur sehr schlecht an).

In der „Typus“ überschriebenen Kolonie der Tabelle 1 sind die Individuen, die mit dem Pollen der Eltern 8 oder © fruchtbar sind, mit dem entsprechenden kleinen Buchstaben (b oder g), die damit sterilen mit dem entsprechenden großen Buchstaben (B oder G) bezeichnet.

2. Beide Klassen sind ungefähr gleich groß.

"Zählt man die verschiedenen Buchstaben der Spalte „Typus“ in Tabelle 1 zusammen, so erhält man:

ER RRETIEE ‚„. Es sind om mit © fertil steril fertil steril F 2 „B" ; ‚g“ „a bei 1 18° 19:=>1h>| i8 17 bei 2 14 16 142 >18 bei 1. u.'2 zusammen ‚32 28 N 305.1: 30

Die beiden nach dem Verhalten gegenüber dem Elter © gebildeten Klassen sind zufällig genau gleich groß (umfassen also je 30 Individuen); die nach dem Verhalten gegenüber dem Elter 8 gebildeten Klassen sind nur wenig verschieden (32:28). Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß die Auszählung erst erfolgte, nachdem die wenigen zweifelhaften Exemplare in der einen oder anderen Klasse definitiv untergebracht deuten.

3. Das Verhalten eines Kindes gegenüber dem einen Elter ist völlig unabhängig von seinem Ver-

202 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

halten dem andern Elter gegenüber; ist es z. B. mit dem Pollen von 8 fertil, so kann es mit dem von © sowohl fertil als steril sein,

4. Es lassen sich folglich die Kinder nach dem Verhalten ihren beiden Eltern gegenüber in 4 Klassen bringen, resp. es lassen sich 4 Typen unterscheiden:

A. fertil mit beiden Eltern (mit 8 und 6) Klasse 1, Typus bg B. fertil mit dem einen, steril mit dem andern Elter: a. fertil mit 8, steril mit 6 Klasse 2, Typus bG b. fertil mit ©, steril mit 8 Klasse 3, Typus Bg C. steril mit beiden Eltern (mit 8 und 6) Klasse 4, Typus BG

5. Ist das Verhalten gegenüber 8 von dem gegenüber © völlig unab- hängig, so müssen die 4 Klassen ungefähr gleich groß sein und ungefähr je ein Viertel der Kinder umschließen. Die Auszählung der Tabelle 1 ergibt

Tabelle 5. bei 1 und 2 Exemplare bei 1 |bei 2 Bio a berechnet in vom Klasse 1| Typus bg 7 9 16 15 2 ba 11 5 16 15 3 Gb 6 8 14 15° n.4 o', «BG 6 8 14 15 zusammen 30 30 60 60

Man sieht, die gefundenen Werte stimmen mit den zu erwartenden (4 von 60 = 15) überein, zufälligerweise ganz auffallend. Natürlich wurden auch hier die Zählungen erst ausgeführt, als alle Beobachtungen abgeschlossen waren.

Die nächste Frage ist: Worauf beruht es nun wohl, wenn ein Kind mit dem Pollen eines Elters gar nicht ansetzt, während es mit dem Pollen eines anderen. Individuums völlig fruchtbar ist? Die einzige mögliche Erklärung scheint mir zu sein: es setzt nicht an, weil es den- selben Hemmungsstoff ausgebildet hat, wie dieses sein Elter. Das ist jedesmal etwa bei der Hälfte der Kinder der Fall, und kann kein Spiel des Zufalls bei einer Entstehung neuer individu- eller Hemmungsstoffe sein. Sahen wir doch, daß dieser Zufall auch nicht einem der Kinder einen der Hemmungsstoffe gegeben hat, die bei den nicht blutsverwandten Pflanzen X und W vorkommen (S, 197). Es ließe sich ferner von vornherein denken, daß eine einfache Weitergabe des Hemmungsstoffes von’ der Mutter an einen Teil ihrer Kinder vorläge. Erinnert man sich jedoch daran, daß die Hälfte der Kinder auch mit dem Pollen jenes Elters steril ist, das die Rolle des Vaters gespielt hat, also dessen Hemmungsstoff hat [die Pflanzen von Versuch 1(8® ? +6) und Versuch 2 (6 2 +30) verhielten sich ja zum Beispiel gegenüber B ganz gleich], so fällt diese Annahme ohne weiters hin. Die männliche

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 203

und die weibliche Keimzelle sind offenbar hierin völlig gleich. Für die Ausbildung der Hemmungsstoffe müssen richtige „Anlagen“ vorhanden sein, sie werden einfach auf die Hälfte der Nachkommen ver- erbt. Es fehlt jede Berechtigung, die Hemmungsstoffe als Individual- stoffe in dem früher (S. 188) definierten Sinne anzusprechen. Es handelt sich vielmehr um Stoffe, die den niedrigsten systematischen Einheiten wir wollen sie mit Johannsens Linien identifizieren eigen sind: die Hemmungsstoffe sind Linienstoffe.,

Die Tatsache, daß dasselbe Kind mit seinen beiden Eltern steril bleiben kann, während diese doch miteinander angesetzt haben, lest ferner die Annahme nahe, daß ein Individuum mindestens zwei gleich- zeitig wirksame Hemmungsstoffe hervorbringen kann, einen, der den Pollen des einen Elters, und einen, der den Pollen des anderen Elters an der normalen Weiterentwicklung hindert.

' Es ist weiterhin daran zu erinnern, daß die Kinder, die mit dem Pollen eines ihrer Eltern oder mit dem beider Eltern ansetzen, also die wirksamen Hemmungsstoffe der Eltern nicht besitzen, doch selbststeril sind, folglich andere aktive Hemmungsstoffe ausbilden als diese: Hemmungsstoffe, die entweder völlig neu sind, oder die bei den Eltern zwar der Anlage nach vorhanden waren, aber nicht wirklich ausgebildet, nicht wirksam wurden, die, mit einem Wort, bei den Eltern „rezessiv' waren. Die erste Annahme, daß es sich um völlig neue Stoffe handle, scheint mir wenig wahrscheinlich, schon deshalb, weil wir bei den Geschwistern dieser Pflanzen vererbte Hemmungsstoffe auf- treten sehen, und wir dann zweierlei Stoffe ganz verschiedener Herkunft bei den nächsten Verwandten demselben Zweck dienstbar gemacht fänden. Wahrscheinlicher ist die zweite Annahme, daß es sich um die Entfaltung von Anlagen handle, die bei den Eltern rezessiv vorhanden waren. Daß jedes Individuum mehr als eine Anlage für Hemmungs- stoffe besitzt, geht ja, sobald man deren erbliche Übertragung überhaupt zugibt, sogleich daraus hervor, daß jedes Individuum aus der Vereinigung der Keimzellen zweier anderer Individuen hervorgeht, die mindestens je einen besonderen Hemmungsstoff gebildet haben müssen (hätten beide den gleichen ausgebildet, so hätte ja die Befruchtung nicht eintreten können, aus der das neue Individuum hervorging).

Berücksichtigen wir endlich noch die Tatsache, daß die Hälfte der Kinder denselben Hemmungsstoff wie das eine Elter, die Hälfte einen oder einige andere ausbildet, so können wir uns aus all dem etwa folgen- des, in einem Punkte freilich noch unklares Bild von der Vererbung der Hemmungsstoffe machen:

Jedes der Eltern bildet mindestens einen aktiven Hemmungsstoff aus, in unserem Fall das eine 8 den Stoff B, das andere & den Stoff G. Außerdem ist bei jedem noch mindestens eine Anlage für einen anderen Hemmungsstoff im inaktiven Zustande vorhanden (als nicht entfaltete Anlage); wir wollen den des einen Eiters b, den des

204 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe.,

anderen g nennen, Die „Erbformeln‘ wären dann Bb für das eine und Gg für das andere Elter, Bei der Keimzellbildung tritt nun eine Spaltung ein; das eine Elter bildet zur Hälfte Keimzellen mit der Anlage B, zur Hälfte solche mit der Anlage b, und das andere Elter zur Hälfte Keim- zellen mit der Anlage G, zur Hälfte solche mit der Anlage g. : Bestäubt man nun die beiden Eltern wechselseitig mit einander, : so sind 8 Kom- binationen gleich gut und gleich oft möglich:

Tabelle 6. Resultat a Vürk Komb.| Eten 892 +67 (Kinder) Io mb.; Etem 69 +8Bd (Kinder) Keimzellen Keimzellen h 1 B+G BG 5 G+B BG 2 B+g Bg 6 G+b Bg 3 b+G. bG 7 g+B bG 4| b+g bg 8 g+b bg

Daß B mit b und G mit g wieder zusammen kommen, ist durch die Selbststerilität verhindert, die keine Vereinigung der Keimzellen des- selben Individuums zuläßt, gleichgültig, was für eine Anlage sie über- tragen.”) B

Das Ergebnis sind die 4 gleich großen Indiricueiichenweh die wir tatsächlich beobachtet und in Tabelle 1 unter der Rubrik „Typus“ auch vorweg mit denselben Buchstaben bezeichnet haben. Das Verhalten den beiden Eltern gegenüber erklärt sich auch ohne weiteres, wenn man im Sinne behält, daß B und G die Anwesenheit der Hemmungsstoffe der Eltern bedeutet, b und g deren Fehlen. B verbunden mit'B muß also z. B. ohne Ergebnis bleiben, b mit B ansetzen.

Tabelle 7. bestäubt bestäubt Kinderklasse || mit dem | Resultat || mit dem | Resultat Elter | . Elter BG nn Be Bg B 1 G 7 bG + bg | + +

Klasse BG ist also mit beiden Eltern steril, Klasse bg mit beiden fertil, Klasse Bg nur mit G, Klasse bG nur mit B fruchtbar.

21) Es ist vielleicht nicht überflüssig, noch besonders darauf hinzuweisen, daß dar- über, ob eine Befruchtung erfolgt oder nicht, die Beschaffenheit der beiden Eltern- pflanzen entscheidet, nicht die Beschaffenheit der Anlagen, die den Keimzellen im unentfalteten Zustande mitgegeben werden.

Correns: Selbststerilität und Individualstofie. 205

So gut all das zusammenpaßt, in einem Punkte herrscht doch Unstimmigkeit. Um zu erklären, daß die Individuen der Klasse BG mit dem Pollen beider Eltern nicht ansetzen, müssen wir annehmen, daß sie die Hemmungsstoffe dieser beiden Eltern auch wirklich ausbilden, B darf weder über G dominieren, noch ihm gegenüber rezessiv sein. Um- gekehrt mußten wir aber annehmen, daß von den Hemmungsstoffen, die sowohl das eine als das andere Elter (P,) von seinen beiden Eltern (P,) (den Großeltern von BG, Bg etc.) überkommen haben, der eine entfaltet, der andere inaktiv geblieben ist. Sonst hätten wir das Ansetzen von bg mit beiden Eltern nicht erklären können. Hier müssen weitere Unter- suchungen, besonders über das Verhalten der Kinder unter einander und der Enkel gegen ihre Eltern und Großeltern, Klarheit bringen, Unter- suchungen, die wohl Komplikationen ergeben, aber den Grundgedanken der Vererbung der Hemmungsstoffe nach dem Spaltungsgesetz bestehen

lassen dürften.

IV. Das Verhalten der Kinder untereinander.

Meine Beobachtungen hierüber gehen einstweilen noch nicht weit, reichen aber doch für einige Schlüsse aus. Von den 3540 möglichen Ver- bindungen der 60 Kinder untereinander habe ich 1911 nur 720 ausgeführt und zwar so, daß immer das Verhalten des Blütenstaubes eines Kindes allen seinen 59 Geschwistern gegenüber geprüft wurde. Nach und nach konnten so 12 beliebig herausgegriffene Individuen als Pollenlieferanten benutzt werden; der Zufall fügte es insofern recht günstig, als sich nach- träglich herausstellte, daß alle 4 oben genannten Klassen (BG, Bg, Gb, bg) darunter vertreten waren. Dagegen konnten jedesmal nur wenige Blüten für einen Versuch verwendet werden, meist nur 3, und die Versuche konnten auch nicht wiederholt werden, so daß die Ergebnisse auf völ- lige Genauigkeit noch weniger Anspruch machen können, als die der schon besprochenen Versuche, wo die Kinder mit dem Blütenstaub der Eltern bestäubt worden waren. Immerhin treten auch hier sehr deutliche Gesetzmäßigkeiten hervor, sobald man die Ergebnisse so zusammenstellt, daß man die Wirkung ein und desselben Blütenstaubes auf die Ge- schwister derselben Klasse leicht überblicken kann. Das ist in dem nach- folgenden Tabellen geschehen. (s. bedeutet sehr, z. ziemlich, schl. schlecht, f. fast, g. ganz oder gut, n. nichts, mäß. mäßig.)

Tabelle sA—D. Kinder unter einander bestäubt.

206 “Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, Tabelle 8A. Kinder vom Typus bg als Pollenlieferanten, bestäubt mit Versucs- 1c 1p 1x Pflanze |Zahl.d. Zahl Zahl Typus No. best, Ergebnis der Ergebnis der Ergebnis Blüten Blüten Blüten > a 3 | 2schlecht,1 nichts 3 | alle gut 1o 4 2 gut, 2 nichts 3 1 gut, 2 nichts 3 alle nichts 1p 3 |) alle s. gut 6 |alle nichts 3 |2z. gut, 1 nichts Ir 2 beide nichts 3 2 gut, 1 nichts 3 alle nichts ls 3 | alle nichts 3 alle gut 3 | 2 gut, 1 nichts iv 6 3 gut, 3 nichts 3 2 nichts, 1 einsam.) 3 2 nichts, 1 einsam. 1x 2 beide gut 3 alle s. gut 3 alle nichts bg! 2a 7 6 gut, 2 nichts 4 allez.gut b. mäßig 5 | 4 mäßig, 1 nichts 2i 4 | alle gut 2 alle gut 3 alle nichts 2quf 2 beide gut 3 2 nichts, 1 g. schl.| 8 alle nichts 2s 3 alle gut 5 alle nichts B 2 nichts, 1 schl. 2v 3 alle gut 3 alle gut 3 2 nichts, 1 s. schl. 2x 3 \ alle s. gut 2 | beide gut 2 | 1. gut, 1 schlecht 2y 3. | alle nichts 3 alle sehr gut 3 | alle nichts 2z 3. | 2 gut, 1 nichts 2 | beide gut 4 | 3 gut? 1 nichts 2ad | 3 alle gut 3 alle gut 4 | 3 nichts, 1 s. mäßig 1d 4 alle nichts 2 1 nichts, 1 s. schl.! 3 alle s. gut 1f 4 | alle nichts 2 beide nichts 3 nichts ig 3 alle nichts 3 2 gut, 1 nichts 8 s. gut ih 4 | alle nichts 3 | alle nichts 3.2 gut, 1 nichts li 6 | 4nichts,1z.g.,1f.n.| 3 alle nichts 2 | beide gut 1l 3 2 nichts, 1 f. nichts 3 2 nichts, 1f. nichts; 4 3 gut, 1 nichts iqul 3 alle nichts 3 2 nichts, 1 schl. 3 12 z. gut, 1 nichts pa!’ 1t 3 alle nichts 3 alle nichts 3 alle gut lz 3 alle nichts 2 | beide nichts 3 alle gut bis s. gut lab 4 alle nichts 3 alle nichts 3 alle sehr gut 1.ae 3 2 nichts, 1 einsam. 2 beide nichts 3 alle gut 2d 4 alle nichts 3 2 s. schl., 1 nichts) 3 2 nichts, 1 mäßig 2e | 2 | beide nichts 5 | 4nichts,1einsamig 3 | 2 gut, 1 nichts 2n 3 alle nichts 4 alle gut 3 alle gut 2acı| 3 |alle nichts 2 | I nichts,1 schlecht) 3 ‘| alle sehr gut 2adl 3 | alle gut 3 alle gut 4 13 nichts, 1 s. mäßig ‚la 4 | alle nichts 3 | alle s. gut 0. 1b 4 | alle gut 3 | alle schlecht 3 | alle gut iu 3 1 gut, 2 nichts 3 |1s. schl,, 2nichts| 3 |alle s. gut iw 3 | 2 gut, 1 nichts 3 | alle gut ° 3 12 gut, 1 schlecht Bg! 1y 3 alle s. gut 2 beide gut 3 alle s. gut 1aa 4 alle gut 3 alle gut 4 alle gut 3b 3 alle s. gut 3 alle z. schlecht 3 alle nichts 28 3 alle gut 3 alle z. gut 3 alle gut %h 4 alle s. gut 2 beide nichts 3 alle z. gut bis gut 20 4 2gut,1schl.,inichts| 2 beide gut 8 alle gut 2p 3 alle nichts 2 beide gut 3 alle gut 2r 15-+3! 5 nichts, 3 gut 3 |alle gut 4 | alle gut

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 207 bestäubt mit Versuchs- 1c | 1p | 1x Pflanze |Zahld. Zahl Zahl Typus No.) best. Ergebnis der Ergebnis der Ergebnis Blüten lüten lüten 2u 5 !alle s. gut 3} 1 sehr gut, 2 nich 2 beide gut ai \ 2ab) 4 |1gut,3s. en 3 11 s. schl,, 2 nich 3 | alle gut 1 e 3 [alle nichts 3 | alle s. gut 3. |. alle s. gut 1k 3 2 gut, 1 nichts 3 1 gut, 2 nichts 3 2 gut, 1 nichts im 3 alle gut 2 beide gut 3 alle gut in 3 | alle gut 2 | beide gut 3 2 gut, 1 fast nichts 1ac 3 2 gut, 1 nichts 3 alle gut 3 1 gut,1schl.,inichts ad! 2 | beide z. gut 3 alle 3 gut 3 alle s. gut 2c 2 | beide gut 3 alle 3 gut u alle gut BG, 2f 4 | 3 nichts, 1 schl. 2 | beide gut 6 3 gut, 3 nichts 2k 9 | 8 nichts, 1 mäßig) 2 |; beide gut 3 ; alle gut 21 4. \ alle nichts 3 alle gut 3 alle gut 2m |4-+3| 4 nichts, 3 gut 3 alle gut 4 alle gut 2t 3 | alle nichts 3 | alle gut 3 | alle sehr gut 2w 5 | alle nichts 3 | 1schl.,1s.schl,1n.| 3 | alle gut 2aa 4 | alle nichts 2 beide nichts 3 alle gut Tabelle 8B. Kinder vom Typus Bg als Pollenlieferanten. bestäubt mit Versuchs- 2b | 2u Pflanze |Zahld., 'Zahld. Typus No, best. Ergebnis km Ergebnis ‚Blüten lüten E 3 2 z. gut, 1 nichts 3 alle gut lo B alle fast gut bis gut 5 alle gut 1p 2 .| beide. gut 8 alle gut Ir 3 .| alle z. gut bis gut 4 alle gut 1s 8 | 2 gut, 1 z. schlecht 4 | alle gut lv 3 alle gut 6 alle gut 1x 8 alle gut 5 alle gut J2a |. 2 ‚| beide,gut, 3.:| 2 z. gut, 1 nichts bes; 2 beide gut 5 alle z. gut bis sehr gut 2quji 2 | beide gut, . 4 | alle gut 2s | 2 | beide gut . 4 | alle gut 2v 3 | alle gut 6 | allegut _. 2x 3 2 gut, 1 nichts 4 1 mäßig, 2 schlecht, 1 nichts 2y 3 | alle gut _ 4 | alle gut. 2z 3. .| alle sehr gut ch. 3 alle gut (2ad | 3 | alle gut 6 | alle z. gut bis gut | 1d 3 2 mäßig, 1 nichts 4 alle z. gut bis gut pa} ıf 3 alle nichts 4 1 gut, 3 nichts I} g 3 alle nichts 6 alle sehr gut 1h 3 alle nichts 4 alle gut

208 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, | bestäubt mit Versuchs- 2b 2u Pflanze |Zahld. Zahld. Typus No. best. Ergebnis best. Ergebnis Blüten Blüten li 2 alle nichts 3 alle gut 1l 2 1 ganz schlecht, 1 nichts 6 5 gut, 1 schlecht ilqu\ 3 alle nichts 6 2 gut, 4 nichts 1t 3 1 ganz schlecht, 2 nichts 6 alle gut lz 3 alle nichts 3 alle gut pa}! ab 3 alle nichts 6 alle gut lae 3 2 schlecht, 1 nichts 2 beide z. gut 2d 3 alle nichts 6 alle gut

2e 2 beide nichts 3 | z. gut 2n 3 alle nichts 6 alle gut 2ac 3 1 schlecht, 2 nichts 4 alle gut 2ad | 3 alle gut 6 alle z. gut bis gut

\

[1a 3 1 z. schlecht, 1 fragl., 1 nichts) 4 2 schlecht, 1 fraglich, 1 nichts 1b 3 | alle nichts 3 | alle nichts lu 3 alle nichts 5 1 einsamig, 4 nichts iw 3 alle nichts 4 1 fragl., 3 nichts 1y 3 2 schlecht, 1 nichts 5 4 s. schlecht, 1 nichts laa 4 2 schlecht, 2 nichts 4 alle nichts

Bo! 2b 2 beide nichts 3 2 nichts, 1 einsamig

e\2g | 3 | alle nichts 5 | alle nichts 2h 2 1 fast nichts, 1 nichts 3 1 s. schlecht, 2 nichts 20 3 alle nichts 4 2 schlecht, 2 nichts _ 2p 2 1 nichts, 1 schlecht 7 2 (s.) schlecht, 5 nichts 2r 2 beide nichts 4 1 s. schlecht, 3 nichts 2u 2 beide nichts 4 alle nichts 2ab | 3 alle nichts 4 1 s. schlecht, 3 nichts

[1e 2 beide nichts 4 alle nichts! 1k 2 beide nichts 5 1 s. schlecht, 4 nichts lm 3 alle nichts 5 1 s. schlecht, 4 nichts In 3 alle nichts 6 alle gut lac 3 alle nichts 4 alle nichts lad 2 1 z. gut, 1 nichts 3 alle nichts 2c 3 1 schlecht, 2 nichts 4 1 s. schlecht, 3 nichts

BG\2# | 3 | alle nichts 5 | alle nichts 2k 2 beide nichts 2 beide nichts 21 2 | beide nichts 5 | alle nichts b 2m || 2 | beide nichts 4 | alle nichts _ 2t 2 beide nichts 4 alle nichts 2w 2 beide nichts 4 alle nichts 2aa |) 3 1 ganz schlecht, 2 nichts 7 2 schlecht, 5 nichts

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 209 Tabelle 8C. Kinder vom Typus bG als Pollenlieferanten. bestäubt mit Versucs- 11 | 1 ae | 2d | 2e Pflanze 3 FE FE FE Typus No Zu Ergebnis ehr Ergebnis er Ergebnis er Ergebnis |< $ SH Na N.Z “y 4 |2 gut, 2ni 2 1 gut, 1 nichke) 3 |2gut, 1 nichts, 2 | beide nichts 10 | 2 |1gut, I nichts) 2 |beide gut 3 |2gut, Inichts| 3 | 2 gut, 1 schl. lp | 2 |beide sehr 2 |beide gut 3 alle gut 2 | beide gut lr 2 1 gut, 1 nie 2 |beide gut 3 /alle sehr gut | 2 | 1 gut, 1 schl. 1s | 2 |1gut, Inichts| 2 |beide nichts | 3 |2 gut, I nichts, 2 | 1 gut, 1 nichts lv || 2 |beide gut 2 |beide nichts | 2 | beide nichts 1x | 2 beide gut 2 beide sehr gut 2 | beide gut 2 | beide gut bg! 2a || 2 |beide gut 2 |beide gut 1 |gut 2 | beide gut 2i 2 |beide gut 2 |beide s. gut | 2 | beide gut 3 | alle gut 2qu | 3 alle gut 2 |beide gut 2 |beide gut 2 | beide gut 2s | 3 alle gut 2 |beide gut 3 alle gut 2 | beide gut 2v | 3 |alle gut 2 |beide gut 3 alle gut 2 | beide gut 2x | 3 |alle sehr gut | 2 | beide gut 3 'alle gut 2 | beide gut 2y | 3 alle sehr gut | 2 1 gut, 1 nichts 2 alle beide gut! 2 | 1 gut, 1 nichts 2z | 3 |alle gut 2 |beide (s.) Ps 2 |beide sehrgut| 2 | 1 gut,1s.schl. 2ad | 3 alle gut 2 |beide gut 3 |alle gut 2 | beide gut 1d 3 alle nichts 2 beide nichts 3 |1z.gut,1mäß.,! 2 | beide nichts 1 nichts 1f 5 |4gutod.z.gut,, 2 beide nichts | 3 |alle gut 2 | beide gut 1 nichts ig | 3 |1scl.,2nicts| 2 |beide nichts | 3 Jalle sehr gut | 2 | beide nichts ih | 3 alle nichts 2 F g. schl., 1 n.| 4 |3 gut, I nichts! 2 | beide nichts li 3 |alle nichts 2 |beide nihts | 2 |beide nichts 2 | beide nichts 1l 2 |beide nichts | 2 | beide gut 3 |1 g. scl., 2n.| 2 | beide nichts bG\iqu| 2 |beide nihts | 2 |beide nihts | 2 |1z.gut,inichts | 2 | 1z.gut, Inichts 1t 2 |beide nihts | 2 |beide nichts | 2 |beide nichts 2 | beide nichts lz | 4 alle nichts 2 beide nichts || 3 |alle nichts 2 | 1 gut, 1 nichts 1ab | 2 |beide nichts 2 |beide nichts 3 jalle nichts 2 | beide nichts lae | 2 |beide nichts | 2 beide nihts | 3 |1scl.,2 nichts! 2 | beide nichts 2d 3 alle nichts 2 |beide nichts 3 |1s.gut,2nichts | 2 | beide nichts 2e | 3 |1schl,2nichts 2 |1g.schl.,, 1 n.| 2 |1z.gut,ig.schl. 2 |1g. schl,1n. 2n | 3 [alle nichts | 2 |beide nichts | 3 |allenihts | 2 |1s.schl,1n. 2ac | 3 |alle nichts 2 beide nichts | 3 |2schl,1Inichts | 2 | beide nichts 2ad | 3 alle gut 2 |beide gut 3 |alle gut ı 2 | alle gut - la |, 4 /alle sehr gut | 2 |beide s. gut | 3 alle sehr gut| 2 | beide gut 1b | 3 /1schl,2 nichts} 2 |beide nichts | 3 alle gut _ lu || 2 |beide gut 2 |1 gut, 1 nichts) 3 alle nichts 3 | alle sehr gut Bg. 1w | 2 |beide s. gut | 2 |1 gut, 1 nichts] 3 |alle nichts 2 | beide gut |ıy | 2 |beide sehr gut 2 |beide sehr gut) 2 |beide sehrgut| 2 | beide gut laa | 2 |beidesehrgut 2 |beide nichts | 3 alle gut 2 | beide s. gut 2b | 2 beide sehr gut 2 | beide sehr 3 |2s.gut,1s.schl.| 2 | beide s. gut 28 3 lalle (z.) gut | 4 |2 gut, 2nichts! 3 |alle sehr gut || 2 | beide gut Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte, 14

210 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, bestäubt mit Versucds- 11 1 ae 2d 2e Pflanze |5:5 55 55 55 cr : on - on : on Typus No. Ergebnis iR Ergebnis |”; Ergebnis vR) Ergebnis on on ch? CH Na Na Na Na 2h | 3 Jalle gut 2 | beide sehr gut 3 |alle sehr gut | 2 | beide sehr gut 20 | 2 |beide gut 2 |beide nichts 3 alle gut 2 | beide nichts Bg! 2p | 3 |alle sehr gut | 2 |beide gut 3 |alle gut 2 | 1 gut, 1 nichts 2r 3 |1gut,1schl.,in.| 3 |alle gut 3 alle gut 2 | beide gut 2u | 5 alle gut 2 |beide sehr gut 2 |beide sehr gut | 2 | beide gut 2ab | 3 |alle sehr gut | 2 | beide sehr gut 2 |beide sehr gut | 2 | beide sehr gut [ie | 2 |1schl,1 nichts) 2 |beide nichts | 3 |alle sehr gut | 2 | beide nichts 1k 3 |2 gut, 1 nichts! 3 |1 gut, 2 nichts 3 |2 gut, 1 nichts 2 | 1 g. schl., 1n. im | 2 |beide nichts 2 |1schl.,1 nichts) 3 |1gut,2f.nichts | 2 | beide nichts In 2 |beide nichts 2 |beide nichts 3 |2scl.,1 nihts|| 2 | beide nichts lac | 2 |beide nihts || 2 |beide nichts 3 |alle sehr gut | 2 | 1 gut, 1 nichts lad | 2 |beide gut 2 beide gut 2 |beide gut 2 | beide gut 2c | 2 |beide gut 2 \1scl.,inichts| 3 |sehr gut 2 | beide nichts 2f 2 !1 s. schl., In.| 2 |beide nichts 2 |beide gut 2 | 1 gut, 1 nichts BG’ 2k || 2 |beide nichts || 2 |beide nichts || 2 |1z.gut,inichts | 3 | alle nichts 21 2 |beide nihts || 2 |beide nichts || 2 | beide nichts 2 | beide nichts 2m | 3 |1 z. gut, 1 s.| 2 |beide nichts 2 |beide nichts 2 | beide nichts schl., 1 nichts 2t 3 |1ganzschledht,) 2 | beide nichts 3 alle nichts 2 | beide nichts 2 nichts 2w | 3 |1 mäßig gut,) 2 |beide nichts 3 |alle nichts 2 | beide nichts 2 nichts 2aa | 3 |1 gz. schledt,| 3 alle gut 3 Jalle gut 2 | beide nichts ] 2 nichts Tabelle 8D. Kinder vom Typus BG als Pollenlieferanten, bestäubt mit Versucs- 1m | 2m 2t Pflanze |Zahld. Zahld. Zahld. Typus No.| best. Ergebnis best. Ergebnis best. Ergebnis Blüten Blüten Blüten lc 2 |1 gut, 1 nichts 3 alle nichts 2 beide gut 1o 3 Jalle s. gut 3 1gut, 1schl.,Iinihts) 3 2 gut, 1 nichts ip 3 alle gut 4 alle gut 3 alle gut lr 2 11 s. gut, 1 nichts 3 alle (s.) gut 3 alle gut bg! 1s 3 |2z. schl, 1 nichts} 3 |Jalle gut 3 alle gut iv 2 1 gut, 1 nichts 3 alle gut 3 alle gut 1x 2 |beide sehr gut 3 alle gut 3 alle gut 2a 2 beide z.gut bis guti 2 beide mäßig 2i 2 |beide gut 2 beide gut 2 |beide s. gut [2qu | 8 alle gut 2 beide gut 3 alle s. gut

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 211 bestäubt mit Versuchs- im 2m 2t Pflanze |Zahld. d. Zahld. Typus No.| best. Ergebnis ve Ergebnis best. Ergebnis Blüten Blüten lüten 7 2s 2 |beide gut 3 alle gut 3 alle gut 2v 3 ‚alle gut 3 alle gut 4 alle gut pg} ?* 2 1 gut, 2 z. gut 3 1 gut, 2 z. gut 2 beide gut 2y 2 alle gut 3 alle gut 3 2 gut, 1 nichts 2z 3 lalle sehr gut 3 alle sehr gut 3. alle s. gut 2ad| 3 Jalle gut 3 alle gut 2 alle gut 1d 2 |1 mäßig, 1 s. shl| 4 |3 nichts, 1 mäßig 3. ]1 gut, 2 nichts 1f 2 |beide gut 3 12 gut, 1 nichts 3 |alle nichts 1g 2 beide nichts 3 |1 gut, 2 nichts 3 |2 mäßig, 1 nichts ih 2 |beide nichts 3 .Jalle nichts? 3 |2 nichts, 1 gut 1i 2 1 siher n,„ieins.?]| 2 2 schlecht, 1 nihts| 3 alle nichts 1l 2 beide nichts 8 1 z. gut, 2 nichts 3 alle nichts lqu)j 2 beide nichts 3 |alle nichts 3 12 nichts, 1 schlecht pG!’1t 2 beide nichts 3 11 mäß,1scdl,1in. 3 |alle nichts lz 2 |1s. schl, I nihts | 3 1 schledt, 2 nichts); 3 |alle gut lab| 2 |1s.scl, 1 nihts! 3 |1s. sl, 2 nich 4 |1gut,1scl.,2 nichts lae| 2 1. f.nichts, 1 nihts; 4 3 nichts, 1 einsami 3 !2 nichts, 1 s. schl. 2d 2 beide nichts 3 alle nichts 83 |1 schlecht, 2 nichts 2e 2 beide gut 3 ı1s.schlect,2nich 2 beide nichts 2n 2 beide nichts 4 1 z, gut, 3 nichts 3 |1 z. gut, 2 nichts 2ac | 2 11 gut, 1 nichts 2 |1 schlecht, 1 nichts} 3 |2 nichts, 1 mäßig 2ad| 3 |2 gut, 1 nichts |} 3 alle gut 2 beide gut [1a | 2 |beide nichts 3 1 z. gut, 2 nichts | 3 |alle nichts 1b 2 |beide nichts 3 alle nichts 3 alle nichts lu 2 beide nichts 3 alle nichts 4 alle nichts lw 2 beide nichts 3 alle nichts 4 |1s. scl,, 3 nichts ly 3 |1s. schl.,, 2 nichts| 3 |alle nichts 6 alle nichts Be! laa| 2 |beide nichts 3 12 schlecht, 1 nichts} 4 |alle nichts 2b 2 |beide nichts 3 alle sehr gut 3 |alle nichts 28 2 beide nichts 1 nichts? (welk) 2 |beide nichts 20 2 beide nichts 2 |1s. schl., 1 nichts! 2 |beide nichts 2p 2 !1s. schl., I nichts! 3 alle nichts 3 11 schlecht, 2 nichts 2r 2 |beide nichts 2 beide nichts 2 |beide nichts 2u 3 alle nichts 3 ı1 z. gut, 2 nichts 2 beide nichts ; 2ab| 3 1 schlecht, 2nichts|; 3 alle nichts 3 alle nichts f le 2 beide nichts 3 |alle nichts 8 alle nichts 1k 2 beide nichts 4 alle nichts 2 beide nichts im 2 beide nichts 3 |alle nichts 3 alle nichts BG’ıin 2 beide nichts 3 alle nichts 3 alle nichts lac 3 alle nichts 3 ‚alle nichts 3 alle nichts lad 2 beide nichts 3 alle nichts 2 beide nichts 2c 2 |beide nichts 3 |1 s.schl., 2nichts| 2 beide nichts ı2f 2 beide nichts 4 (alle nichts 2 beide nichts

14*

212 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

bestäubt mit Versuchs- im 2m 2+ Pflanze |Zahld. Zahl d. Zahld. Typus No.| best. Ergebnis best. Ergebnis best. | Ergebnis Blüten Blüten Blüten 2k 2 |beide nichts 2 beide nichts 2 |beide nichts 21 3 alle nichts 2 beide nichts 2 |beide nichts BG: 2m 3 alle nichts 3 alle nichts 3 alle nichts 2t 2 beide nichts 3 lalle nichts 2 beide nichts 2w 2 |beide nichts 8 alle nichts 3 alle nichts 2aa 6 Jalle nichts 8 alle nichts 8 alle nichts h

Einzelne Versuchspflanzen mögen nicht in die richtige Kategorie eingereiht worden sein.

Es war natürlich meine Absicht, die Versuche heuer zu wiederholen und zu vervollständigen. Ich konnte aber mit den Resten der vorjährigen Versuchspflanzen nur wenige Bestäubungen vornehmen, wobei andere Pollenlieferanten, je einer aus den Klassen Bg, bG, bg verwendet wurden. Die Resultate stimmen im allgemeinen bei jeder Klasse gut mit den Ergeb- nissen des Vorjahres überein. Es zeigte sich z. B. dort, wo ich 1911 mit einer Klasse, je nach den Individuen, verschiedene Resultate erhalten hatte, auch diesmal wieder ein ungleiches Verhalten. In Tabelle 9 sind die neuen Ergebnisse zusammengestellt.

Tabelle 9.

Kinder unter sich.

bestäubt mit ec (bg) 2i BG)1a Be) 2h Pflanze |Zahld. Zahld. ,.. ‚Zahld. Typus No. best. Ergebnis | best. Ergebnis best. Ergebnis Blüten Blüten Blüten : 1p 7 6 gut, 1 nichts 5 1 s. schl., 4 nichts) Rn 1s 5 4 z. schl., 2nihts | 3 2 gut, 1 einsamig 2 beide gut bg } 2i 4 alle nichts 8 alle gut 3 alle z. gut 2qu) 4 2schledht, 2nichts | 5. | alle gut 1 gut 2x 4 alle gut 3 alle nichts 3 2 gut, 1 nichts 2y 3 alle nichts 3 alle mäßig gut 2 beide nichts - 1f 1 (z.) gut E— 1 (z.) gut 1l 2 1 gut, 1 nichts 1 nichts 2 beide gut? bGi 1ab| 4 3 gut, 1 nichts u 2 1 gut, 1 schlecht lae| 3 2 gut, 1 nichts 1 schlecht (zweisam.)| 2 1 gut, 1 nichts 2e 4 1 dreisam., Snichts 5 2 gut,2fragl.,inich 3 alle gut

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe, 213

bestäubt mit Versuchs- (bg) 2i (bG) 1ab | (Bg) 2h H Pflanze |Zahld. Zahld. 'Zahld. Typus No.! best. Ergebnis best. Ergebnis | best. Ergebnis Blüten ‚Blüten Blüten [lu |) 5. | 4 gut. 1 nichts 6 | 3 gut, 3 nichts e er laa! 4 alle gut 4 alle mäßig 3 alle nichts Be’ 2b ! 3 | alle gut 3 | alle gut 2 .| 1 einsam., 1 nichts 2q 4 | alle gut 5 alle gut bis mäßig 1 nichts 2h 3 alle gut _ _— 3 1 einsam., 2 nichts 2r _ 3 alle nichts _ u gas le | 3 | alle gut 2:1 zschl,1 re 2 | 1 einsam., 1 nichts Lik | 6 | 5 gut, 1 nichts 4 |2 gut, 2 nichts 3. | alle nichts Einstweilen lassen sich aus den Versuchen der beiden Jahre wohl folgende Schlüsse ziehen:

1. Auch untereinander sind die Kinder lange nicht alle fertil. Ein guter Teil setzt mit dem Blütenstaub bestimmter Ge- schwister nicht (oder nur sehr schlecht) an, während er mit dem Pollen anderer Geschwister vollkommen fruchtbar ist,

2. Das Ansetzen und Nichtansetzen der Kinder un- tereinander steht sicher im Zusammenhang mit ihrem Ansetzen und Nichtansetzen mit dem Blütenstaub der Eltern.

So waren (Tabelle 8D) alle Versuche, die 14 zur Klasse BG ge- zogenen Pflanzen mit dem Pollen dreier Pflanzen aus derselben Klasse (1m, 2m 2t) zu befruchten, völlig vergeblich; keine der je 2 bis 6 Blüten umfassenden 39 Bestäubungen (die 3 Selbstbestäubungen sind schon ab- gerechnet) hatte Erfolg. Dagegen setzten mit dem Pollen derselben 3 Pflanzen die 16 zur Klasse bg gerechneten Individuen fast ausnahmslos gut, zum Teil sehr gut an; von den 47 Versuchen mit je 2 bis 4 Blüten (eine Bestäubung wurde aus Versehen nicht ausgeführt) gelang nur einer (3 Blüten, 1c2 + 2m J) gar nicht. In diesen Fällen liegt auch die Er- klärung ganz nahe, Die Pflanzen der GB-Klasse setzen mit dem Pollen anderer, derselben Klasse angehörigen Individuen nicht an, weil sie alle zusammen die gleichen zwei Hemmungsstoffe, B und G, haben. Die Pflanzen der bg-Klasse dagegen lassen sich mit demselben Pollen erfolg- reich bestäuben, weil ihnen allen diese beiden Hemmungsstoffe fehlen. Auch die reziproken Bestäubungen, bei denen die 14 Pflanzen der BG Klasse den Pollen dreier Pflanzen der bg Klasse (1c, 1p, 1x) erhielten (Ta- belle 8A), gaben dementsprechend fast durchgängig ein positives Re- sultat; nur mit dem Blütenstaub von 1c wurde eine Anzahl negativer Re- sultate erzielt.

Bei anderen Klassen waren die Resultate augenscheinlich nicht ein- heitlich., So kam es vor, daß von den zu einer Klasse gerechneten Pflan-

214 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe.

zen die einen mit dem Pollen eines bestimmten Individuums steril blieben, während die anderen damit ansetzten, selbst wenn der Pollenlieferant derselben Klasse angehörte. Von den 15 Pflanzen der Klasse bg, die mit dem Blütenstaub von 1c bestäubt worden waren, gaben z. B. 3 kein Re- sultat, 12 ein mehr oder weniger gutes, von den 16 Bestäubungen in der- selben Klasse mit dem Pollen von 1p 5 kein Resultat, 11 ein gutes und von ebensoviel Bestäubungen mit dem Pollen 1x 10 keines und nur 6 ein gutes. Dabei gehörten die Pollenlieferanten 1c, ip und 1x ebenfalls zur Klasse bg. Es kam aber auch vor, daß bei sämtlichen Vertretern einer Klasse das Resultat mit dem Pollen der einen Pflanze positiv, mit dem der anderen negativ ausfiel, obwohl beide Pollenlieferanten zur selben Klasse gerechnet worden waren. So gaben z. B. die 16 Pflanzen der Klasse bG, die mit dem Pollen von 2b fast ausnahmslos steril blieben (nur bei 2ad setzten die drei bestäubten Blüten gut an), mit dem Pollen von 2u fast durchgängig gute Resultate (nur zwei Kombinationen blieben zweifel- haft, 1 2 + 2u J : 1 gut, 3 nichts, und 1qu 2 + 2ud’: 2 gut, 4 nichts). 2b und 2u gehörten in die Klasse Bg.

Zweifellos sind also die Klassen Bg, bG und vor allem bg hinsichtlich ihrer Hemmungsstoffe nicht einheitlich, und es liegen ihrem Verhalten noch besondere Gesetzmäßigkeiten zu Grunde. Wie viel aber von den zurzeit vorliegenden Daten durch die drei Fehlerquellen: zufälliges Ver- sagen von Kombinationen, die eigentlich gelingen sollten, unbeabsichtigte Bestäubung und endlich Einreihung der einen oder anderen Pflanze in eine unrichtige Klasse, bedingt wurde, läßt sich, wo die Mehrzahl der Ver- suchspflanzen zu Grunde gerichtet ist, nicht mehr ermitteln und muß des- halb dahingestellt bleiben. Ich verzichte einstweilen darauf, diesen Fra- gen im einzelnen weiter nachzugehen, ehe ich neues Material habe.

V. Das Verhalten der Enkel.

„Enkel“ will ich ganz allgemein die Individuen der dritten Gene- ration nennen, gleichgiltig ob sie aus der Verbindung zweier Kinder unter sich oder aus der eines Kindes mit einem der Eltern hervorgegangen sind. Es war meine Absicht gewesen, ihr Verhalten den Eltern und Großeltern gegenüber zu prüfen, und ich hatte deshalb 1911 einzelne von den gelun- genen Bestäubungen gesäckt, und die Samen ausgesät. Es waren alle vier Klassen vertreten gewesen; von den verschiedenen so erhaltenen neuen Versuchspflanzen konnte ich aber dieses Frühjahr nur noch wenige prüfen.

Zunächst die Enkel, die zwei Kinder aus der Klasse bg (1c und 1p) mit dem Pollen ihrer beiden Eltern und 6) gegeben hatten, auf ihr Ver- halten gegen den Pollen eines dieser Eltern. Die Zahl der Versuchs- objekte war leider sehr gering geworden; die Ergebnisse bringt Tabelle 10.

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 215

Tabelle 10. Verhalten der Enkel, die durch Bestäubung der mit beiden Eltern fertilen Kinder (Klasse bg) mit diesen Eltern entstanden waren, dem Pollen des einen Elters (®, resp. 85) gegenüber.

A. (bg -+%) bestäubt mit 8 B. (bg +6) bestäubt mit 8 58 |Zahld. 158 |Zahld. NEE ne Ergebnis em 5 | best. Ergebnis No. \ZE Blüten °. 1,9% (Blüten 5 | Es wi Herkunft 1 3 alle nichts ‘Herkunft 1 2 | beide nichts 1c+8| 2 4 | alle nichts I1c4®6! 2 2 | 1 gut, 1 einsamig 3 3 alle nichts 4 2 | beide gut | | 5 4 alle gut E:} 9 Herkunft 2 3 alle nichts Herkunft. 1p+8| 3 2 | beide gut hp+6| ı 5 | alle gut I 4 2 beide nichts | | 2 2 1 einsamig, 1 nichts I 6 6 alle nichts I |

Dann standen mir noch die Nachkommen einer Pflanze der Klasse bG (11), die nur mit dem Pollen des einen Elters (®B) angesetzt hatte, zu Ver- suchen mit dem Pollen dieses Elters resp. eines Ablegers davon bereit. Auch hier war die Zahl der verwendbaren Versuchsobjekte recht gering geworden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 11 zusammengestellt.

Tabelle 11.

Verhalten der Enkel, die aus der Verbindung eines nur mit einem Elter fertilen Kindes (11, Klasse bG) mit diesem Elter 8 entstanden waren, dem Pollen des einen Elters (®, resp. 85) gegenüber.

(bG + 8) bestäubt mit Bd

Zahld. Zahld. EN Ergebnis ee Ergebnis Pllanze Blüten Pflanze |Bjüten 1 8 alle nichts 8 5 1 einsamig, 4 nichts 4 4 alle sehr gut 9 5 alle nichts 5 3 alle sehr gut 10 3 alle gut | 3 | alle nichts 11 1 | nichts 2=..h118 alle nichts 12 4 2 s. gut, 1 z. scl., 1 nichts

Besonders augenfällig ist, daß (wie Tabelle 11 zeigt) die mit dem Pollen eines der Eltern erzeugte Nachkommenschaft eines Kindes hin- sichtlich der Hemmungsstoffe ungleichförmig ausfällt oder doch so aus- fallen kann. Sie besteht dann wieder aus zweierlei Individuen, von denen die einen mit diesem Elter steril, die anderen fertilsind; und beide Klassen dürften ungefähr gleich groß sein. Das weist darauf hin, daß bei dem Kind aufs neue ein Spalten vorgekommen ist, in dem Sinne, daß es mindestens

216 Correns: Selbststerilität und Individualstoffe,

zweierlei Keimzellen gebildet hat. Man kann sich das vorläufig in fol- gender Weise zurechtlegen:

Eltern: B 6

JAN A deren Keimzellen: B b Gg daraus entstehen die (viererlei) Kinder: (BG) gr (Bg) (bg)

deren Keimzellen: b G wieder bestäubt mit dem Pollen von 3

respektive mit dessen Keimzellen: B b es entstehen 4 gleich

häufige Kombinationen Bb BG bG bb als Enkel.

Diese Enkel verhalten sich gegenüber dem Pollen von 8 (mit dem Hemmungsstoff B) in folgender Weise:

Enkel Großelter

Bb B BG B Y setzen nicht an, weil beiderseits B ausgebildet ist.

bG B bb f B } setzen an, weil der Hemmungsstoff B bei den Enkeln fehlt.

Schluß.

Im Vorstehenden glaube ich den Nachweis geliefert zu haben, daß die Hemmungsstoffe, auf denen die Selbststerilität der Cardamine pratensis beruht, keine richtigen Individualstoffe sind, d.h. keine chemischen Verbindungen, die für das einzelne Individuum charak- teristisch wären, die bei seiner Entstehung neu entständen und mit seinem Untergang spurlos vergingen. Wir müssen vielmehr in den Hemmungs- stoffen Linienstoffe sehen, deren Ausbildung auf der Anwesenheit einer Anlage beruht, die vererbt wird, die sogar wahrscheinlich dem Mendelschen Spaltungsgesetz folgt.

Wenn im allgemeinen die aus dem Freien geholten, nicht auf ungeschlechtlichem Wege auseinander hervorgegangenen Stöcke der Car- damine pratensis, untereinander bestäubt, fertil sind, rührt das. vom Vorhandensein zahlreicher solcher Linien her, die gerade infolge der Selbststerilität fortwährend untereinander bastardiert werden. „Reine“ Linien können nicht bestehen, weil Pflanzen mit denselben Hemmungs- stoffen miteinander keine Nachkommenschaft geben können. Der Kampf ums Dasein, der nur je ein Kind an Stelle eines Elters treten läßt, verhin- dert (ohne Selektion), daß derselbe Bastard und damit dieselbe Kombi- nation von Hemmungsstoffen mehrfach auf demselben Standort vorkommt. Die Existenz der vielen Linien mit verschiedenen Hemmungsstoffen müssen wir als gegeben hinnehmen, wie die vielen Linien einer Bohnen- Rasse Johannsens, nur daß eben bei Cardamine die Linien nicht rein vorkommen wie bei den Bohnen, sondern durcheinandergemischt,

Correns: Selbststerilität und Individualstoffe. 217

infolge der Selbststerilität und der dadurch bedingten fortwährenden Bastardierung der Linien untereinander.

Im übrigen sind bei unserem Versuchsobjekt nicht bloß hinsichtlich der Hemmungsstoffe Linien vorhanden, sondern auch hinsichtlich zahl- reicher äußerer Merkmale. Keines der 60 Geschwister war einem an- deren oder den Eltern völlig gleich; sie unterschieden sich z. B. in der Größe, in der Farbe, in der Umrißform und in der Orientierung der Blu- menblätter, in der Farbe des Pollens, in der Länge des Fruchtknotens, in der Größe des Narbenkopfes, in der Länge und in der Färbung der Schote, wobei die Extreme durch deutliche, oft durch mehrere Zwischenstufen verbunden waren.

Ich stehe nicht an, die bei Cardamine pratensis gewonnenen Erfahrungen zu verallgemeinern und nicht nur auf die Hemmungsstoffe anderer selbststeriler Pflanzen und Tiere auszudehnen, sondern auch auf die übrigen Fälle, wo man die Existenz von „Individualstoffen” angenom- men hat, selbst auf die Ausbildung der Riechstoffe, die es zum Beispiel dem Hunde ermöglichen, die Fährte eines bestimmten Individuum aus einer großen Zahl anderer menschlicher Fährten herauszufinden und zu verfolgen. Eingehende, experimentelle Untersuchungen darüber sind mir nicht bekannt, jedenfalls vermag der Hund, wenigstens in der Regel, auch die Kinder desselben Elternpaares am Geruche zu erkennen. Das Be- kannte fügt sich unschwer unseren an Cardamine gewonnenen ÄAn- schauungen, wenn wir annehmen, daß der Geruch des Einzelindividuum nicht von einer einzigen chemischen Verbindung hervorgebracht wird, sondern sich aus verschiedenen selbständigen Riechstoffen zusammen- setzt, die von Individuum zu Individuum teils selbst verschieden, teils ver- schieden kombiniert sind. Wie wir annehmen dürfen, daß all die ver- schiedenen Gesichter um uns herum durch die Kombination zahlreicher der Individuenzahl gegenüber aber wahrscheinlich verschwindend weni- ger Züge entstehen, die getrennt vererbt werden können und wirklich so vererbt werden, dürfen wir auch annehmen, daß relativ wenige Riech- stoffe, deren Entfaltung von vererbten Anlagen abhängt, in verschiedener Weise ausgelesen und kombiniert, genug differente Gesamtgerüche geben, daß der Hund die Fährten auseinander halten kann.

Dem Individuum eigen sind nicht einzelne Stoffe: eine bestimmte Kombination von Stoffen ist für das Individuum charakteristisch. Die Ausbildung jedes einzelnen Stoffes beruht auf einer Anlage, die in den Keimzellen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Sie ist etwas Spezifisches, nicht etwas Individuelles. Die Kombination der Anlagen und damit die der Stoffe aber fällt immer wieder bei jeder Befruchtung verschieden aus als Spiel des Zufall. Die Kombination entsteht jedesmal bei der Entstehung des Individuums und geht wieder mit ihm zu Grunde: sie ist das Individuelle,

Die physiologische Bedeutung des Anthocyans bei Hedera.

Von Prof. Dr. Fr. Tobler.

Die roten im Zellsaft der Pflanzen gelöst auftretenden Farbstoffe, denen die Bezeichnung Anthocyane gegeben zu werden pflegt, haben die Pflanzenphysiologie schon oft und vergeblich beschäftigt.

Ihr Vorkommen ist auf so heterogenen Stellen des Pflanzenkörpers lokal beschränkt bekannt, wie wenig andere Stoffwechselprodukte, die eben durch den Ort ihres Vorkommens schon Hinweis auf ihre Ent- stehung und Bedeutung geben. Abgesehen von den Blüten, in denen (vermutlich im Dienst der Fortpflanzung) sich die Farbstoffe der Pflanzen fast alle hie und da vertreten finden, kennen wir ein rotes Änthocyan in der Oberhaut von Laubblättern, an Früchten, auf der Unterseite von Blättern mancher Wasser-, Waldpflanzen u. a. (Nymphaea, Hepatica, Cy- clamen), sowie auch vielfach in Stengeln. Besonders häufig zeigen Pflan- zenteile in der Jugend und vorübergehend die rote Farbe (Frühjahrs- knospen, junge Triebe, erste Blätter), andererseits gehören aber auch die roten Töne der herbstlichen Laubfärbung in dieselbe Gruppe von Stoffen.

Es ist daher von jeher schwer gewesen, eine passende, d. h. allerorts beim Vorkommen der Farbstoffe einleuchtende, Erklärung für die Bedeu- tung dieser Erscheinung zu finden. Um so größer ist die Zahl der auf- gestellten Mutmaßungen und die Literatur darüber. Das umfassend die Frage darstellende Werk von Buscalioni und Pollacci (1902)') kennt schon 866 Nummern. Großer Anerkennung erfreute sich die Licht- schirmtheorie Wiesners (1876), nach der die Anwesenheit des roten Farbstoffes das Chlorophyll vor zu starker Insolation zu schützen im- stande sei. Andererseits hat aber die Erscheinung, wie Stahl (189%) zeigte, zugleich den Effekt, daß durch die Extinction von Strahlen des Spektrums eine Temperaturerhöhung in den durch rote Farbe gekenn- zeichneten Pflanzenteilen statthaben muß. Dadurch dürfte die Transpi- ration lokal beschleunigt und der Stoffwechsel gesteigert werden. Natür- lich ist eine Grenze für derart günstige Wirkung gegeben, die die Tem- peratur dabei nicht überschreiten darf, ohne Schädigung der Pflanze zu bedeuten.

1) Buscalioni, L. u. G. Pollacci, Le Antocianine e il loro significato biologico (atti dell’Ist. Bot. di Pavia N. S. VIIL, Milano 1902), eine Kritik von mir in Englers botan, Jahrbüchern XXXVIIL. 1906, S. 5 des Litt. Ber.

Fr. Tobler: Die physiologische Bedeutung des Anthocyans bei Hedera. 219

Diese Stahlsche geistvolle Idee hat den Vorzug, eine Fülle von Beobachtungen bequem zu erklären, so das Vorkommen der Farbstoffe an den jungen Organen im Frühjahr, wo eine Schutzwirkung damit ver- einigt gedacht werden kann, Andererseits aber bleibt das Auftreten der Färbung auf der Sonnenseite von Früchten damit nicht vereinbar, auch auf der Unterseite der Blätter ist keine derartige Bedeutung abzusehen.

Eine spätere Klärung der komplizierten Sachlage schien von anderer Seite zu kommen. Nachdem schon früher (Pick 1883) eine Beziehung der roten Farbe gewisser Organe zur Stärkewanderung erkannt worden war, erbrachte Overton (1899)?) den Nachweis, daß eine Anhäufung von Zucker der Produktion von Anthocyan günstig ist. Damit fiel nicht nur ein Licht auf manches lokale Erscheinen des Farbstoffes, sondern auch wieder auf die Beziehungen zur Temperatur. Denn niedere Tem- peratur begünstigt unter Verhinderung der Stärkeproduktion die Anhäu- fung von Zucker. Hierzu paßten viele noch genauer zu erörternde flo- ristische Angaben. Es lag nahe, im Anschluß hieran Experimente auszu- führen, wie die doch stets schwankend vorhandene Anthocyanbildung sich unter verschiedenen Temperaturen entwickele. Solche Beobachtun- gen stellte Katic (1905)°) an. Wären seine Versuche einseitig ausge- fallen, und zwar im Sinne der durch Overton gerechtfertigten Vermu- tungen, so hätte die Frage als wesentlich weiter gelöst angesehen werden können. Leider war das nicht der Fall. Während er bei Rosa und Saxi- fraga Röterwerden bei niederer Temperatur fand, ergaben andere Ob- jekte dasselbe Resultat bei höheren Temperaturen.

Es bedurfte demnach weiteren Materiales zur Beleuchtung der Be- ziehung zwischen Temperatur und Anthocyanbildung. Daß alpine Pflan- zen (übrigens allgemein xerophile auch) dazu neigen, in ihren Organen roten Farbstoff reichlich zu bilden, ist länger bekannt. Wenn man dies Faktum hätte noch mit der starken Belichtung im Sinne einer anderen {oben erwähnten) Theorie erklären wollen, so ging das nicht mehr an, als man auch die arktische Flora zur Anthrocyanbildung stark hinneigend erkannte, und zwar bei Verhältnissen, die eine recht geringe Belichtung einschlossen.*)

Trotzdem aber mußte es auffallen, daß von vielen Pflanzenarten oder Gattungen rote Rassen existieren, die in einer Gemeinschaft mit andern nicht dazu neigenden Pflanzen oder sogar mit nicht roten Rassen derselben Art vereint in Erscheinung treten. Diese Tatsache scheint alles vorher Gesagte auf den Kopf zu stellen.

Ich bin nun, denke ich, in der Lage, aus dem gesichteten Material einer Gattung zeigen zu können, wie diese Verhältnisse liegen. Es ist das

2) Overton, F., Betrachtungen und Versuche über das Auftreten von rotem Zellsaft bei Pflanzen. (Jahrb. f. wiss. Bot. 1899, XXXII, S. 173.)

®) Katic, L., Beitrag zur Kenntnis des roten Farbstoffs (Anthocyan) in vegeta- tiven Organen bei Phanerogamen. (Hallenser Diss. 1905.)

*) Wulff, Th., Botanische Beobachtungen auf Spitzbergen (Lund 1902), $S. 62.

220 Fr. Tobler: Die physiologische Bedeutung des Anthocyans bei Hedera,

der von mir an anderem Ort?) ausführlich behandelte Efeu, die Gattung Hedera,

Unter den bei uns frei oder in Gärten vorkommenden Formen der Efeupflanze fallen uns viele der Sorten durch starke Rötung der immer- grünen Blätter auf. Ja, es gibt gärtnerische Bezeichnungen im Handel, wie H. purpurea, atropurpurea, die rotgrüne Spreiten, oder marginata rubra, die weißbunt geränderte Blätter mit rotem Ton am Rande zeigen. Sonst fällt noch auf, daß diese gärtnerischen Formen durchweg der sog. kleinblättrigen Art des Efeus angehören, d. h, der H. helix L. typica und daß solche markanten Formen nicht vorkommen unter der an Gar- tensorten so reichen H. helix L. var. hibernica Kirchner. Und endlich kann der Besitzer oder Käufer solcher roten Formen sehr enttäuscht werden, wenn er die Pflanzen im Sommer beobachtet. Dann schwindet ihr Anthocyanbesitz oft fast ganz, resp. nimmt ab je nach dem Standert, mehr an hellem warmen, als an dunkelm kalten Orte.

An typisch roten Exemplaren zeigt sich der Beginn des Rot- oder Röterwerdens an sonnenarmem Standort im September schon an, er weicht sichtlich vom Mai an zurück; das Maximum der Entwicklung liegt im Dezember-Januar. Das gilt für alle im Besitz roten Farbstoffs befundenen Individuen in gleicher Weise; oft sind vorher freilich nur Spuren merkbar. Die Eigenschaft der Anthocyanbildung unter diesen Umständen ist eine wirklich vererbbare, ein Merkmal, das bei Aussaaten von Früchten einer damit behafteten Pflanze stets vom Keimling an bei einer Anzahl von Individuen bemerkbar wird.

Eine weitere und eigenartige Beziehung der roten Färbung zur niederen Temperatur kann ich vielleicht noch in dem Zusammenhang mit der von mir bei Hedera als Psychroklinie beschriebenen Erscheinung sehen. Es handelt sich da um die Beobachtung, daß die Blattspreiten von H. helix-Ranken sich, frei über einer Stein- oder sonst wenig Wärme strahlenden Unterlage schwebend, im Winter mit der morphologischen Oberseite dieser Unterlage zukehren. Dieser Krümmungsprozeß der Stiele geht zeitlich Hand in Hand mit dem Auftreten des Anthocyans, und ich fand ihn nur an starke Rötung zeigenden Sorten. Da diese Psychroklinie selbst aber ein unklarer und ohne Analogon dastehender Vorgang ist, so enthalte ich mich aller Deutungen, die etwa daran an- geknüpft werden könnten, daß durch Ausführung der Krümmung die stärker rote (weniger grüne) Unterseite des Blattes nach oben oder außen gekehrt wird.

Wie steht es nun mit den rein grünen Efeusorten bei uns? Es gibt unter H. helix typica, dem kleinblättrigen Efeu, bei uns in Mittel-, Nord- deutschland und nördlicher überhaupt keine rein grünen Rassen, Alle in Gärten oder verwildert vorkommenden, das ganze Jahr durch rein-

5) Die Gattung Hedera, Studien über Gestalt und Leben des Efeus, seine Arten und Geschichte. (Jena 1912.)

De St "u ca Sa ld nks Miraknn ae Dh 2, DE un aa me u Pu el

a

% @ = & 2 > = E E: E = # 4

Fr. Tobler: Die physiologische Bedeutung des Anthocyans bei Hedera. 221

grünen (meist auch heller grünen) Efeus sind Angehörige der var. hiber- nica. Deren Heimat dürfte in Irland und südlicher zu suchen sein. Einige der reingrünen Sorten unserer Gärten gehören auch den Arten H. cana-

. riensis Willd. und H. poetarum Bertol. an, die in Nordafrika resp. Süd-

osteuropa zu Hause sind. Von diesen beiden Sorten kenne ich überhaupt keine roten Formen, von var. hibernica wenige.

Es ist dagegen feststehend, daß alle H. helix, die in Mittel- oder vor allem Norddeutschland und nördlicher (Südskandinavien) vorkommt, rötlichen Ton oder die Eigenschaft seiner Hervorbringung unter gewissen Bedingungen zeigt. Auch diese Art ist in Norddeutschland nicht mehr ganz gut entwickelt, aber sie hält im Freien meist aus, ohne zu erfrieren, während die an sich an geschützten Orten selbst in Preußen kultivierte var, hibernica leichter erfriert unter den gleichen Bedingungen (über die man sich aber leicht täuscht, weil die var. hibernica als Zierpflanze viel- fach geschützteren Standort hat!).

Die gar nicht anders als grünen Arten besitzen noch weniger Fähig- keit nördlichen Gedeihens. Sie kommen in England allenfalls noch vor, wo übrigens viele heller grüne, von rot freie Sorten die Hauptrolle in Gärten spielen.

Die weiteren Arten H. colchica Koch und himalaica Tobler, die ich lebend kenne, passen sich in ihrem Verhalten dem Rahmen obiger Betrachtung ein. H. colchica ist bei uns empfindlicher als H, helix und wohl stets frei von Anthocyan, vielmehr tief grün. Ihre Heimat ist der Kaukasus, besonders sein Südabhang, wo eine in manchem der Mittel- meerflora ähnliche Vegetation herrscht. H. himalaica besitzt bisweilen sehr geringe Rötung der jüngsten Blätter, sie ist die Hochgebirgsform der indischen Gebirge (Kaschmir), also möglicherweise ähnlicher Vege- tation wie H. colchica angehörig. Bei uns ist sie zarter als die meisten andern. Der Besitz des Anthocyans könnte sich dem ähnlichen Charakter alpiner Pflanzen anschließen.

Wir sehen aus alledem, daß Fähigkeit der Anthocyanbildung in einer Gattung sowohl als in den Formen einer Art sich als Merkmal erweist, daß sie von der niederen Temperatur zur Entwicklung gebracht wird, und daß diese Eigenschaft in enger Beziehung zum Verbreitungs- gebiet steht. Die mit der Eigenschaft der Anthocyanbildung versehenen Sorten sind am weitesten nach Norden vorgedrungen und am besten imstande, niedere Temperatur zu ertragen.

Über das sogenannte sympathische Nervensystem der Muscheln. (Mit 8 Figuren.)

Von Prof. Dr. W. Stempell, Münster i. W.

Wenn man die bisherigen Angaben über das Nervensystem der Lamellibranchier einerseits und der übrigen Mollusken (Amphineuren, Gastropoden und Cephalopoden) andererseits vergleicht, so fällt vor allem auf, daß für die Lamellibranchier so wenig sichere und überein- stimmende Aussagen über Innervationscentren des Darmkanals, der Ge- schlechtsorgane, der Nieren und des Herzens existieren, während für alle übrigen Molluskenklassen wenigstens klare Angaben über die Nervencentren des Vorderdarms, die sogenannten Buccalganglien, vor- liegen. Das angebliche Fehlen solcher spezifischen Vorderdarmganglien bei den Muscheln hat man dadurch erklären wollen, daß diese infolge Anpassung an rein planktonische Ernährungsweise keines muskulösen Pharynx bedürften, und daß ihnen daher auch die betreffenden Nerven- centren entbehrlich seien. Dahingestellt blieb, ob solche Buccalganglien bei den Vorfahren der Lamellibranchier vorhanden waren und später rückgebildet wurden oder ob sie ihnen überhaupt von vornherein fehlten. Letztere Annahme, welche die andere involvieren würde, daß die Muscheln sich schon früher als alle anderen Mollusken von den Stamm- formen losgelöst und eigene Wege der Entwicklung eingeschlagen hätten, kann aber wohl nur sehr geringe Wahrscheinlichkeit für sich bean- spruchen. Grade die vergleichend-anatomische Betrachtung des Mollus- kenstammes führt uns ja klarer und überzeugender als diejenige irgend eines anderen Tierkreises zu der Konstruktion einer für alle Mollusken einschließlich der Lamellibranchier geltenden Urform, des viel genannten „Urmollusken”, der in seiner allgemeinen Organisation, z. B. in dem Besitz einer Kriechsohle, viele Anklänge an den heutigen Gastropodentypus zeigte und sehr wahrscheinlich, wie dieser, auch einen muskulösen Pharynx mit Kiefern und Radula besaß‘) Daß auch die Muscheln als Descendenten dieses Urmollusken aufgefaßt werden müssen, ist bisher von den meisten Autoren ohne weiteres angenommen worden. Es ergibt sich am klarsten aus dem Bau der primitivsten aller heute le- benden Lamellibranchier, der Nuculiden und Solemyiden,’) welche durch

1) Vergl. darüber z. B. Lang, 1900, p. 34. 2) Vergl. darüber meine Arbeiten 1898 und 1899 a,

Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln, 223

ihre fiederförmigen Kiemen, die Kriechsohle des Fußes,?) die Mundtentakel, den Besitz gesonderter Pleuralganglien‘) und vieles andere so mannig- fache Anklänge an jene Urform aufweisen. Um so auffallender mußte es erscheinen, daß von den für alle übrigen Mollusken typischen Buccalganglien, deren Vorhandensein wir auch bei dem Urmollusk vor- aussetzen dürfen, so lange keine Spur gefunden wurde. Es blieb also nur die Annahme übrig, daß sie sich bei den Lamellibranchiern rückgebildet hätten.

Da sich nun bekanntlich rudimentäre Organe mit großer Zähigkeit zu erhalten pflegen, so lag es nahe, einmal systematisch nach solchen Rudimenten zu suchen. Bei den vergleichend-anatomischen Lamelli- branchierstudien, welche hauptsächlich an dem von Plate in Chile°) und von mir in Neapel gesammelten Material von mir und meinen Schülern seit einer Reihe von Jahren veranstaltet worden sind, haben wir nun unser Augenmerk auch auf diesen Punkt gerichtet, und es ist uns in der

Tat gelungen, das allgemeine Vorkommen von Buccalganglien und zwar keineswegs überall in rudimentärer Form bei den Muscheln nachzuweisen.

3) Allerdings sagt Thiele (1912, p. 35) in einer neuerlichen Besprechung der Pel- seneerschen Bearbeitung der Muscheln der Siboga-Expedition: „Als die ursprünglichste Form des Fußes betrachtet Pelseneer noch immer den Fuß der Nuculiden, von So- lemya und Pectunculus, der mit einer „face plantaire” endige; doch ist dieser Fuß, wie jetzt zur Genüge bekannt sein dürfte, sicher kein Kriechfuß mit einer Sohle, sondern ein Grabfuß.' Sollte Thiele mit dieser Bemerkung wirklich bestreiten wollen, daß der Fuß der Nuculiden morphologisch und phylogenetisch primitiv ist, so müßte dem energisch entgegengetreten werden. Denn selbst angenommen, alle Autoren seien mit Thiele und Drew (1899, p. 496, 497; 1900) über den „Grabfuß"” einig was keines- wegs der Fall ist (vergl. meine Ausführungen 1898, p. 374, 375) —, so dürfte doch aus dieser Funktion immer noch nicht geschlossen werden, daß die Fußsohle kein phylogenetisch primitiver Charakter sei. Wohin sollen wir kommen, wenn wir bei vergleichend anatomischen Betrachtungen Analogie und Homologie vermengen?

#) Angesichts der zwei Connective, welche von der supraoesophagealen Ganglien- masse zu den Pedalganglien ziehen, kann doch wohl nicht daran gezweifelt werden, daß die von Pelseneer (1891, p. 166, 1911, p. 104, 105) und mir (1898, p. 404) vertretene Auffassung jener Ganglienmasse als verschmolzene Cerebropleuralganglien zu Recht besteht. Erhält doch diese von Drew (1901, p. 374 u. 1907) und Burne (1904) mit Unrecht bestrittene Deutung neuerdings wieder eine wichtige Stütze dadurch, daß Igel (1908, p- 33) bei Phaseolicama magellanica in der gemeinsamen Ganglienmasse deutlich zwei Centren unterscheiden konnte, aus denen das hier scheinbar einheitliche Pedalconnectiv jeder Seite mit 2 getrennten Wurzeln entsprang. Und ähnliche Fest- stellungen sind noch an mehreren anderen Muscheln (Kellya, Jousseaumiella, Pecten etc.) gemacht worden! (Vergl. darüber Pelseneer 1911, p. 105) Wenn Drew (1901, p. 374) meint, der von mir (1898) als Pleuropedalconnectiv bezeichnete Nervenstrang sei vielleicht der Otocystennerv, so ist dem entgegenzuhalten, daß der betreffende Strang dafür viel zu dick ist (vgl. Fig. 1) und ferner, daß als Otocystennerv ja mit viel größerer Wahrscheinlichkeit der von mir (1898, Fig. 37) mit x bezeichnete Nerv in Frage kommt (= not der Fig. 1). Die Homologisierungen des Nervensystems der Muscheln endlich, welche Burne (l. c.) auf Grund vereinzelter Befunde vornimmt, stehen, wie alle derartigen Vergleiche zwischen wenig nahe verwandten Formen, auf zu unsicherem Boden, um ihnen zuliebe so nahe liegende Deutungen wie die Pelseneer'sche aufzugeben.

5) Eine systematische Übersicht des Plate’schen Materials habe ich 1899 (b) gegeben,

224 Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln.

Daß diese Dinge den bisherigen zahlreichen Beobachtern nahezu vollkommen entgangen sind, und daß selbst ein so ausgezeichneter Be- obachter wie Pelseneer ihr Vorkommen noch neuerdings (1911, p. 108) als „tres douteuse” bezeichnen kann, liegt jedenfalls an den nicht ganz uner- heblichen technischen Schwierigkeiten, mit denen ihr Nachweis auch bei größeren Formen verknüpft ist. Wirklich exakte Untersuchungen des Nervensystems sind ja gerade bei den Lamellibranchiern nur mittels‘ lückenloser Schnittserien möglich. Diese werden nun gewöhnlich in transversaler Richtung geführt, weil so eine leichtere Orientierung und Reconstruction möglich ist, und weil bei größeren Formen diese Schnittrichtung überdies die geringste Schnittdicke zuläßt. Grade bei einer Transversalschnittserie liegt aber die gesuchte Buccalcommissur in der Schnittebene, und wenn sie, was gewöhnlich der Fall ist, nicht genau gradlinig, sondern auch nur ein wenig wellig verläuft, erhält man von ihr auf den Schnitten immer nur einzelne längsgeschnittene Bruch- stücke, aus denen sich meist nur sehr schwer in einwandfreier Weise eine ununterbrochene Quercommissur reconstruieren läßt. Bei kleinen Muscheln, wo diese Quercommissur winzige Dimensionen aufweist, wäre ihr exakter Nachweis vollends unmöglich, wenn man hier nicht im Stande wäre, genügend dünne Sagittalschnitte herzustellen, an denen sich dann bei gut konserviertem Material auch die feinste quergeschnittene Com- missur bei einiger Übung stets mit Sicherheit verfolgen läßt.

Zuerst gelang es meinem damaligen Schüler J. Igel (1908, p. 35, 36, Fig.12), bei Phaseolicama magellanica Rousseau echte Buccal- ganglien nebst ihrer suboesophagealen Commissur aufzufinden, und dieser Feststellung sind dann im hiesigen zoologischen Institut zahlreiche ähn- liche bei den verschiedensten anderen Muscheln gefolgt.°) Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, welche mit Ausnahme der Igel'schen noch nicht publiziert sind, fasse ich im Folgenden kurz zusammen, indem ich für die Reihenfolge im allgemeinen das Pelseneer'sche System (1889, p. 51, 52; 1891, p. 275—279, 1894, 1911) zu Grunde lege.

1. Protobranchiata.,

Für die allgemeinen Verhältnisse des Nervensystems verweise ich auf meine oben citierten Arbeiten (1898 u. 1899a), sowie auf die Figuren 1 und 2.) Feststellungen über das buccale Nervensystem konnte ich neuerdings bei Leda sulculata Gould und bei Solemya to- gata Poli machen. Bei ersterer Muschel entspringt nämlich, wie man

6) Von E. Grieser bei Chama pellucida, von J. Lange bei Mytilus chorus, von J. Kaspar bei Cyamium antarcticum, von B. Stechele bei Lutraria tenuis, von F, Hoffmann bei Tagelus dombeyi und von mir selbst bei Leda sulculata und Solemya togata.

7) Meinem Assistenten, Herrn Dr. H, Jacobfeuerborn, der die meisten in dieser Arbeit publizierten Zeichnungen in so mustergültiger Weise für die Wiedergabe um- arbeitete, spreche ich dafür auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aus,

(Hoqay aop $niyag CHaqay CHaqay ap Inga

we Bunıppylousyp1lzZ) '(gO6L) Jap gngyPs we Bunappyuousypz) (euro) we Bunappylausy919Z) (Jeurdlıg) "L:pg "uayaJod [28f f wen 1:08 uayasad 'L:08 "uayasad Sne YAOS[ESIOA A9p UOoA woyjsÄs sne Sıas[eijugA J9p UoA SWOFSÄSUDAIIUJLAUIN sne Sosje1yus\ Jap UoA woysÄs -U9AION sa[e1}U9) 104 83030} eAusjog sap [OL 4919PAIOA 'pinon eJjeindIns ep97 -UMAON SO[LUU) "neassnoy 2 | voruejjedew vwedljoose

ug] ooseyq e

Ps Kr ni 3%

Stempell: Sezaibischen Nervensystem der Muscheln. 225

ch an ER REREETE äle auch besonders an Sagittalschnitten ein- wandfrei.nachweisen kann, dicht an der Wurzel des hier ja sehr starken Nervus 'appendicis buccalis, also an der hinteren medialen Ventralseite jedes Cerebropleuralganglions, ein dünner Nerv, der sich innerhalb der Hautmuskulatur medialwärts und etwas dorsalwärts wendet und in der muskulösen Hinterwand morphologisch Ventralwand des Oesopha- gus continuierlich in. den entsprechenden Nerven der Gegenseite über- geht. (Fig. 1cb.) Es scheint, als ob von dieser Quercommissur mehrere sehr feine Nerven zur Muskulatur des Oesophagus abgehen. In einzelnen Fällen glaube ich festgestellt‘ ‚zu haben, daß diese Commissur jederseits mit zwei - allerdings sehr nahe beieinander liegenden _ Wurzeln aus en und Verfolgung der Commissur war nur bei iR da sulcu- lata und auch hier nur unter Zuhülfenahme einer Oelimmersion möglich; bei den anderen von mir daraufhin untersuchten Nuculiden, Leda pella L. und Malletia .chilensis Des Moulins, konnten nur Andeutungen gefunden werden. Es unterliegt aber wohl keinem Zweifel, daß Pelseneer die Buccalcommissur bei Leda pella-gesehen hat, da er (1899, p. 61, Fig. 196, IV) für diese eine „„‚commissure labiale" beschreibt und abbildet: er hat indessen später (1911, p. 5, 108) die Richtigkeit dieser Beobachtung selbst wieder bestritten.

Auch bei Solemya togata Poli liegen insofern ungünstige Ver- hältnisse vor, als bei dieser Muschel ja eine Sonderänpässung an das Leben’ in der Tiefe des Sandes und Schlammes stattgefünden hat, die mit starker Reduktion des’gesamten Darmkanals und der Mundanhänge ver- bunden ist (vergl. meine Arbeit 1899 a). Es läßt sich daher selbst an gün- stigen und tadellos konservierten Serien mit Sicherheit nur feststellen, daß von der medialen Seite jedes Cerebropleuropedalconnectivs, und zwar dicht hinter dessen Ursprung aus dem Cerebropleuralganglion, ein schwacher Nerv medialwärts zum Oesophagus verläuft. (Fig. 2 nb.) Hier verästelt er sich, und es zieht ein relativ starker Ast zur Ventral- seite des Oesophagus; doch war eine Verbindung mit dem der Gegen- seite, also eine eigentliche Quercommissur, nicht sicher nachweisbar, und zwar wohl nur deswegen, weil die betreffenden Nerven so überaus fein sind, daß sie durch die in gleicher Richtung ziehende, meist etwas kontra- hierte oesophageale Ringmuskulatur verdeckt werden. Ich muß daher die Frage, ob die Buccälcommissur von Solemya’ so fein ist, daß sie sich der Beobachtung entzieht, oder ob sie infolge Reduction des Inner- vationsgebietes ihre rg wirklich verloren hat, offen lassen.

2. Filibranchiata.

„Sichere Engehbinen liegen, wie schon bemerkt, für Phaseoli- cama magellanica Rousseau vor, bei der Igel (1908) nicht nur eine Buccaleommissur, sondern sogar deutliche Buccalganglien nachgewiesen

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 15

226 Stempell: Sympathisches Nervensyetias: der Muscheln.

hat, Ich habe mich selbst von der Richtigkeit seiner Angaben uniiuen Es entspringt‘ (cf. Fig. 3) aus jedem Cerebropleuralganglion medial und etwas ventralwärts sein ziemlich starker, kaum zu übersehender Nerven- strang (Fig. 3 bglk), der ‚unmittelbar an seiner Ursprungsstelle eine recht erhebliche: gangliöse Anschwellung (Fig. 3 bgl) aufweist und sich’an der Ventralseite des Oesophagus mit'dem entsprechenden Nerven der Gegen- seite vereinigt» Es’kann; wie schon Igel: (l. c.) hervorgehoben hat, gar keinem Zweifel unterliegen, daß'wir in jenen’ gangliösen Anschwellungen die Homologa «der Buccalganglien anderer Mollusken und in dem sub- oesophagealen Verbindungsstrang beider ‘die Buccalcommissür vor uns haben.>:Der ganze Nervenapparat ‘steht’ ‘auch hierin inniger Beziehung zum Vorderdarm; denn einmal geht vonjedem Buccalganglion ein kleiner Nerv (Fig:3 nb) zur Mundöffnung'ab, der wahrscheinlich die Mundlappen innerviert, und ‘ferner gibt jedes Buccalganglion noch einen’ Nerven ab, der zunächst. der Buccalcommissur dicht angelagert ist, sich aber’dann nahe:der Medianebene' von ihr trennt um vereint mit’dem der Gegenseite an:der Ventralseite des Oesophagus entläng nach hinten’ zw laufen, der sog. Nervüs'sympathicusfFig: 3: ns) nach der:Nomenklatur'von Igel. Daß bei-Ph.:magellanica das buccale:Nervensystem so deutlich .hervor- tritt, würde gut zu der von Igel hervorgehobenen Tatsache stimmen; daß diese Muschel auch im übrigen primitivere Verhältnisse des’ Nerven- systems; :wie:z.. B..die schon. erwähnte innerliche Trennung der 'Cerebral- und Pleuralganglien, aufweist.

Ähnliche, ‘wenn auch bei weitem ‘nicht. so deutliche und klare Ver- hältnisse wie bei, Phaseolicama liegen bei.den Mytiliden, vor. Bei Mytilws chorus,Molina (Fig. 4) findet sich‘nach den Feststellungen meines Schülers J. Lange ein relativ starker Nerv (nsy), welcher an der Ventralseite. des Oesophagus. bis in die Magengegend verläuft und dem N. sympathicus von. Phaseolicama..homolog. sein dürfte, An seinem Vorderende, von dem drei schwache Nerven zum Oesophagus, der Mund- öffnung und den Lippen ausstrahlen, 'steht, er. beiderseitig durch eine dünne, schwer aufzufindende Commissur mit den vorderen, -medial-ven- tralen Partieen der. Cerebropleuralganglien in Verbindung. Wir. werden diese. Commissur zweifellos als: eine’ sehr rudimentäre Buccalcommissur aufzufassen.-haben und, annehmen müssen, ‚daß die Buccalganglien hier jederseits.mit den Cerebropleuralganglien. verschmolzen sind ein Pro- zeß, der jabei Phaseoliciama.schon durch.ihre Lage angedeutet war.

3. Pseudolamellibranchiata.

Für diese beine liegt nur eine ältere Angabe von a (1886, p. 100) über Meleagrina:margaritifera L. vor, die allerdings durch keine Abbildung belegt war, und deren Richtigkeit später von Pelseneer (1891, p. 199, 1911, 9.108) kurzerhand bestritten wurde, Danach sollen sich bei Meleagrina besondere Buccalganglien finden, diedurch je ein kurzes Connectiv mit den Cerebropleuralganglien verbunden sind.

I

ou dJadu \ N

CHaqay a9p $nypg ue Bunappsjua -uay91Z) WOSILUND ‘fr uoA dunuy9l9Z aojıaızııgndun "EN "L:LL "Uayasaß sne Has[usıol] 19p uoA waysÄs "MAN SOfeyu9) diaspoag epronjjod eweyn

'S andıy nz

CHoqay a9p $njyog we Bunappyuo -uay9l9Z) 'o8ur] 'p uoa Bunuydraz Jaj1a1zıgndun you "1:08 'uayasad sne Syosjerjus‘ dop uoa swoJsÄsusadadu -Teyu9T sap [OL AO1apao\ "eurfoy snaoy> snıyAy

IF

If eh)

Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln. 227

Von. diesem: Connectiv soll jederseits eine Commissur ausgehen, welche ventralwärts vom Oesophagus verläuft und zahlreiche Nerven zur Darm- wand abgibt. Diese Angaben, die zeitlich ersten und die einzigen, welche vor Igel: über, das; Vorkommen: eines -Buccalnervensystems bei einer Muschel in der Literatur existierten, bedürfen zwar noch genauer Nach- prüfung, döch haben sie-durch die neueren Befunde an anderen Muscheln, besonders durch die erst mitzuteilenden, auffallend ähnlichen bei Cya- mium antarcticum,-ohne Zweifel sehr:an Wahrscheinlichkeit ge- wonnen,, 2 | |

En -, 4, Eulamellibranchiata,

0. Besonders klare Verhältnisse: zeigt das buccale Nervensystem bei Chama pellucida Broderip. Die darauf gerichteten Untersuchungen meines Schülers E. Grieser, welche demnächst in der „Fauna chilensis“ (Zool. Jahrb.) veröffentlicht werden sollen, und von deren Richtigkeit ich mich ebenfalls selbst überzeugt habe, ergeben als wichtigstes Resul- tat, daß hier zwei von der cerebropleuralen Ganglienmasse noch voll- kommen getrennte, ziemlich große Buccalganglien (Fig. 5 bg) vorhanden sind. Dieselben haben eine längliche Gestalt, liegen lateral von den Cere- bropleuralganglien und sind mit letzteren durch ein kurzes, wahrschein- lich zweiwurzelig aus den Cerebropleuralganglien entspringendes Con- nectiv verbunden. .Jedes Buccalganglion. entsendet zwei Nerven. zu den Mundlappen (Fig.5 nbs und nbi) und hängt durch eine ventralwärts vom Oesophagus liegende, langgestreckte Buccalcommissur (Fig. 5. cb) mit dem der. Gegenseite zusammen. ' Von. der. Commissur entspringen mehrere, den Oesophagus nach hinten begleitende Nerven, von denen zwei lateral- wärts. verlaufende, größere’ sich. bis zum Magen verfolgen lassen: die Nervi sympathici.

Weiterhin hat Grieser bei Chama'pellwcida noch eine’ zwi- schen dern beiden Cerebropleurovisceralconnectiven verlaufende Quer- commissur aufgefunden. Dieselbe liegt etwa am Anfang des hintersten Viertels der Connective, entspringt lateralwärts von ihnen und gibt nahe ihrer Ursprungsstelle jederseits einen Nerven zur äußeren Geschlechts- öffnung und einen solchen 'zum Renopericardialtrichter ab (cf. Fig. 5 epvec). Bekanntlich sind bei zahlreichen Muscheln (Unio-, Cardium- und Mya-Arten) an ungefähr der gleichen Stelle der Connective gang- liöse Verdickungen, bei Dreissensia polymorpha sogar deren zwei Paar aufgefunden worden; doch nur bei letztgenannter Muschel exi- stiert gleichzeitig auch eine Quercommissur zwischen dem hintersten Paar, welche dicht vor den Visceralganglien liegt. Andererseits soll bei den Pholadiden und Terediniden nur eine Quercommissur vorhanden sein.‘) Der Versuch, alle diese Ganglien mit den Parietalganglien der

*) Vergl. darüber Moquin-Tandon (1854, p. 265), Drost (1886), Babor (1895), Latter (1903, p. 623) und Lang-Hescheler (1900, p. 224-226). 15°

auch. die-Kiemen innervierenden vorderen Paars von Dreissensia vornehmlich die Geschlechtsorgane versorgen, während die Innervation der Kiemen gewöhnlich’ von: den ‚Visceralganglien ausgeht, die demnach als verschmolzene Visceroparietalganglien gelten könnten. Wenn man also alle, diese in den Verlauf der 'Visceralkonnective eingeschalteten Ganglien nicht als Bildungen sui generis auffassen will, so kann man in ihnen eigentlich nur nach hinten verlagerte Sondercentren des’ sym- pathischen Nervensystems erblicken, die sich vielleicht deswegen bei den Muscheln ausgebildet haben, weil die meist langgestreckte Körper- gestalt derselben die Schaffung besonderer Centren im hinteren Körper- abschnitt erforderte.

| Außer bei: Chama sind noch bei. drei weiteren: Eulamelli- branchiaten der verschiedensten ‚Gruppen Buccalganglien und Buccal- commissuren von mehreren meiner Schüler im hiesigen zoologischen Institut festgestellt worden, nämlich bei Cyamium.antarcticum Philippi,, Lutraria tenuis Philippi und Tagelus, dombeyi (Lamarck), und ich habe mich in allen diesen: Fällen von der Richtigkeit im wesentlichen überzeugen können. et |

Bei’Cyamium’antarcticum fand J. Kaspar jederseits ein deutliches, ventralwärts und etwas medial vom Cerebropleuralganglion gelegenes und mit ihm durch ein kurzes Connectiv verbundenes Buccal- ganglion (Fig. 6 bg). Dasselbe ist ziemlich langgestreckt und "besitzt einen "lateral "von ’der Müundöffnung am Epithel der Mundlappenbasis endigenden, vorderen Fortsatz.' Das sehr kurze Cerebropleurobuccal- connectiv (Fig. 6 cpbc) entspringt in der Nähe des N, appendicis buccalis, und: unmittelbar neben: seinem. Eintritt in das-Buccalganglion geht von diesem - medialwärts die: ziemlich starke suboesophageale. . Buccal- commissur ab (Fig. 6 cb), welche in ähnlicher Weise wie bei: Phaseo- licama:uünd Mytilus mediän einen ansehnlichen, scheinbar einheit- lichen 'N,-sympathicus an der Ventralseite des Oesophagus nach hinten entsendet (Fig. 6 sy). ' Möglich ist, daß außerdem’ noch eine 'zweite, viel schwächere, die beiden Buccalganglien verbindende, suboesophageale Commissür besteht; wenigstens laufen von jedem Buccalganglion. außer- dem 'mehrere Nerven zur Ventralseite des Oesophagus (cf. Fig..6). Auf der. rechten Seite des einen, genauer untersuchten Exemplars entsprang übrigens’ die starke 'Buccalcommissur ‚direkt aus dem kurzen Cerebro- pleurobuccalconnectiv und! entsandte ‚einen Ast. zur Dorsalseite .des Oesophagus (dieser: ist in’ die sonst symmetrisch gezeichnete Figur 6 rechts eingetragen); doch sind derartige kleine Asymmetrieen am Nerven- system der Lamellibranchier ja ziemlich häufig. Bemerkenswert ist noch, daß aus dem vorderen, medialen ‚Teil der Cerebropleuralganglien ein Nervus dorsalis entspringt, der mit dem der Gegenseite dorsalwärts vom

A sn Fe U 5 A u

Cyamium antarcticum Philippi. Cen- trales Nervensystem von der Dorsalseite aus gesehen. 40:1. Nach unpublizierter Zeichnung von J Kaspar. (Zeichen- erklärung am Schluß der Arbeit.)

DD fe)

\- 9220

Lutraria tenuis Philippi. Centrales Nervensystem von der Dorsalseite aus gesehen. 16:1. Nach unpublizierter Zeichnung von B. Stechele. (Zeichen- erklärung am Schluß der Arbeit.)

Figur 8.

Tagelus dombeyi (Lamarck). Centrales Nervensystem von der Dorsalseite aus gesehen. 5,5:1. Nach unpublizierter

Zeichnung von F. Hoffmann. der Arbeit.)

(Zeichenerklärung am Schluß

N uw

En

SeinilB Sympathisches Nervensystem der Muscheln, 229

RER eine 'Quercommissur bildet (Fig. 6 nd). hen hier aus wird auch der. dorsale Mantelrand innerviert.

‚Die. Cerebropleurovisceralconnective zeigen bei orifindes Muschel insofern ein: eigenartiges Verhalten; als sie’ etwa im dritten Viertel ihres Verlauf einander dicht angelagert sind. Die Visceralganglien entsenden unter anderen Nerven nach vorn jederseits zwei ventralwärts von-den Connectiven liegende, age Bienhie zu den Geschlechts- organen (Fig..5 go und go:).--

„Bei Lutraria tenuis fand mein Schüler B. Stechele ebenfalls zwei. venträl- und lateralwärts den Cerebropleuralganglien aufsitzende Buccalganglien (Fig. 7 bg).' Das sehr kurze Connectiv (cpbc) entspringt auch hier wahrscheinlich zweiwurzelig aus dem Cerebropleuralganglion, die Commissura buccalis ist sehr dünn’ (cb), und es entspringen aus ihr mehrere Nerven zur Dorsal- und Ventralseite des Oesophagus, unter denen sich zwei nahe der Medianebene, aber getrennt von einander entstehende Nervi sympathici (n s) durch Größe auszeichnen. (Sie sind oft auf beiden Seiten verschieden stark.) Einmal wurde auch ein vom Cerebropleurobuccalconnectiv entspringender Oesophagealnerv beob- achtet. Jedes Buccalganglion entsendet lateral zwei Nervi appendicis buccalis. Relativ stark ist rechtsseitig ein Nervus dorsalis (Fig. 7 nd dext) entwickelt, der unterhalb des Ligamentes ein merkwürdig strukturiertes Ganglion von unbekannter Funktion bildet (Fig. 7 gl).) Im einzelnen ist grade das Nervensystem von Lutraria durch viele Varianten und Asymmetrieen ausgezeichnet.

Das Buccalnervensystem, welches endlich F. Hoffmann bei Ta- gelus-dombeyi konstatierte,: ist prinzipiell ebenso : gebaut. Die ovoiden Buccalganglien (Fig. 8 bg) liegen ungefähr an der gleichen Stelle wie die von Lutraria; aber es ist nur ein N. appendicis buccalis vor- handen (Fig. 8 nab). Auch hier entspringen zwei Nervi sympathici von der Buccalcommissur (Fig. 8 cb) auf beiden Seiten der Medianebene; doch vereinigen sie sich bei ihrem Verlauf nach hinten bald zu einem größeren Nerven, welcher sich bis zum Magendarm verfolgen läßt (Fig. 8 ns). Von den Cerebropleurovisceralconnectiven entspringen hinten zwei Nierennerven (Fig. 8 nr), die nicht mit einander anastomo- sieren, und außerdem entsenden die Visceralganglien noch jederseits einen langen Nerven nach vorn, der den Vorhof des Herzens und vielleicht auch die Niere innerviert (Fig. 8 na).

Zusammenfassung und allgemeine Schlußfolgerungen.

Wenn wir die Ergebnisse der mitgeteilten Untersuchungen kurz überblicken, so läßt sich sagen, daß bei allen daraufhin genauer unter- suchten Muscheln ein meist sehr deutliches buccales Nervensystem ge-

®) Ob er vielleicht auch mit dem von Hardiviller (1893, p. 250) bei Mactra beschriebenen, ebenfalls nur rechtsseitigen, aber zum Verdauungstraktus und Ventrikel gehenden Nerv zu homologisieren ist, steht dahin.

230 Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln.

funden ‚wurde, und man braucht kein großer Prophet zu’ sein, um zu behaupten, daß sich mehr oder minder deutliche Reste eines solchen auch bei allen anderen Lamellibranchiern finden werden. Zweifel an der Natur dieser Elemente wären 'nur'in denjenigen Fällen möglich, ‘wo lediglich eine suboesophageale Commissur, aber keine Spur von Buccalganglien gefunden würde, wie »unter dem vorliegenden Material bei Leidä’und Mytilus. Daß es sich’ aber'auch hier’ um eine wirkliche Buccal- commissur und nicht etwa nur um unwesentliche, sekundäre Anasto- mosen von Oesophagus-Nerven handelt, ergibt sich doch wohl zweifel- los aus der vergleichenden Betrachtung der anderen Fälle,’wo die verschiedensten:Stadien mehr oder minder vollkommener Verschmelzung der Buccalganglien mit den Cerebropleuralganglien vorliegen. Man ist daher, wenn vergleichende Anatomie überhaupt einen Sinn hat, ohne weiteres berechtigt, ‚auch hier 'eine Reihe aufzustellen und jene Fälle scheinbar vollkommenen Fehlens der Buccalganglien (Leda, Mytilus, vielleicht auch Solemya) so zu erklären, daß diese Ganglien hier eben vollkommen mit den Cerebropleuralganglien verschmolzen sind. Daß es sich in:den anderen Fällen, wo deutlich gesonderte, kleine Ganglien vorhanden sind, wirklich um Buccalganglien und ‘um nichts anderes handelt, würde aus ihrem Innervationsgebiet auch dann klar hervor- gehen, wenn die charakteristische suboesophageale Commissur zwischen ihnen nicht vorhanden wäre. Denn es’ kann ja bei vergleichender Be- trachtung der oben mitgeteilten Befunde über das Verhalten der Nervi sympathici gar keinem Zweifel unterliegen, daß diese nicht, wie es in einzelnen Fällen auf den ersten Blick erscheint, aus der Commissur, sondern stets aus jenen kleinen Ganglien entspringen und die Commissur nur mehr oder minder weit begleiten (vergl. z.B. Tagelus, Lutraria und Phaseolicama).

Von vornherein könnte es ja allerdings auffallen, daß wir grade bei den Nuculiden, diesen sonst in vieler Hinsicht so ursprünglichen Muscheln, hinsichtlich des: Buccalnervensystems weniger primitive Verhältnisse finden, als bei vielen Eulamellibranchiaten (z. B. besonders Chama). Indessen darf nicht vergessen werden, daß uns ja in den heute lebenden Nuculiden, wenn sie auch den Urtypus am reinsten bewahrt haben, doch in Wirklichkeit auch schon keine reine Urformen mehr, sondern bereits caenogenetisch modifizierte Formen vorliegen, wie ich das auch in meiner Nuculidenarbeit bereits mehrfach (1898 p. 433): betont habe. Eine be- sondere Eigentümlichkeit dieser Nuculiden, deren hohe Ausbildung wohl sicherlich auf caenogenetischen Ursachen beruht, ist z. B. der sogenannte Mundtentakel, der zusammen mit den Mundlappen durch den: Nervus appendicis buccalis innerviert wird. In den meisten anderen mitgeteilten Fällen, we deutliche’Buccalganglien vorhanden sind, sehen wir nun, daß dieser Nerv in naher Beziehung zu den Buccalganglien steht, daß er nämlich entweder in der Nähe der Cerebropleurobuccalconnective ent- springt (Cyamium) oder sogar direkt.aus dem Buccalganglion hervor-

Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln. 231

geht (Chama, Lutraria, Tagelus und vielleicht auch Phaseoli- cama)... Man könnte sich also vorstellen, daß bei Leda sulculata das Buccalganglion sozusagen ganz in ihm aufgegangen sei; seine auf- fallende Stärke (cf. Fig. 1) und die Tatsache, daß er im Mundtentakel teilweise markstrangähnlichen Charakter annimmt (cf. meine Arbeit 1898 p. 403), lassen. wenigstens diese Annahme einigermaßen plausibel er- scheinen. - - Alhe

Immerhin wird es noch weiterer vergleichend-anatomischer Unter- suchungen innerhalb der Gruppe der Protobranchier bedürfen, um diese Spezialfragen endgültig zu klären, und vollends beiden Solemyiden und auch bei den Mytiliden —, wo offenbar stärkste Rudimentation vor- liegt, und der hier sehr schwache Nervus appendicis buccalis weit getrennt von der supponierten, bez. gefundenen Buccalcommissur ent- springt (vergl. Fig.:2 und 4), lassen solche Erklärungsversuche uns im Stich. |

"> Auch bei den anderen Lamellibranchiern mit deutlicherem buccalen Nervensystem werden, wenn die Hauptfrage nunmehr auch gelöst ist, noch zahlreiche Einzeluntersuchungen nötig sein, um die sogleich auf- tauchenden Einzelfragen zu entscheiden. Alles in allem scheint aber, so weit man nach vorliegendem, aus den verschiedensten Gruppen stammenden Material schließen kann, bei den höheren Muscheln doch hinsichtlich des buccalen Nervensystems eine größere Einförmigkeit zu herrschen als bei den niederen.

Einiges Licht werfen die mitgeteilten Ergebnisse auch auf das schwierige, noch ganz ungeklärte Gebiet der sogenannten Mediangang- lien und Mediancommissuren der Cerebropleurovisceralconnective, Es war hinsichtlich dieser früher zuweilen die Ansicht vertreten worden, sie seien nach hinten verlagerte Teile des buccalen Nervensystems {ef. Lang-Hescheler 1900, p. 225 u. 226). Angesichts des Befundes bei Chama pellucida, wo neben einer solchen ‚„Mediancommissur” noch eine deutliche Buccalcommissur mit Buccalganglien vorhanden ist, kann diese Deutung natürlich nicht aufrecht erhalten werden; aber andererseits wäre es doch wieder verfehlt, das Kind mit dem Bade aus- zuschütten und jenen scheinbar weit verbreiteten Medianganglien und Mediancommissuren jede Beziehung zum „sympathischen“ Nervensystem abzusprechen. Daß sie keine Parietalganglien sein können, habe ich ja oben bereits auseinandergesetzt; wohl aber könnten sie, wie ebenfalls schon angedeutet, nach hinten verlagerte „sympathische“ Sondercentren für Niere, Geschlechtsorgane und Enddarm sein, wofür ja ihr Innervations- gebiet spricht. Möglich ist auch, daß dieses hintere Centrum gar nicht von vorn nach hinten verlagert worden ist, sondern sich selbständig hier entwickelt hat, und wir hätten dann, wenn wir hier denselben Maßstab anlegten wie an das vordere System, diejenigen Vorkommnisse, wo Nierennerven, Geschlechtsnerven etc. direkt aus den Visceralganglien entspringen (z. BB Cyamium, Tagelus, Mytilus), etwa in

232 Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln.

Parallele zu setzen mit den für Nuculiden und Mytiliden En Verschmelzungsprozessen des vorderen Systems mit den Cerebropleural- ganglien, d. h. anzunehmen, daß hier die hinteren sympathischen Centren mit den Visceralganglien verschmolzen sind. Also zwei „sympathische“ Nervencentren, ein vorderes und ein hinteres, die morphologisch ebenso unabhängig von einander wären, wie Cerebropleural- und Visceralgang- lien von einander und die vielleicht auch phylogenetisch gar nichts mit- einander zu tun hätten.

Eine ganz andere Frage ist die nach der Funktion. Was diese anbe- langt, so dürften beide Systeme viel Gemeinsames haben. Allerdings wissen wir darüber zur Zeit noch herzlich wenig. Denn ob es sich bei allen diesen hier unter dem Sammelnamen „sympathisches Nervensystem” besprochenen Nervencentren und Nervenbahnen wirklich um Elemente handelt, welche den sympathischen Nervensystemen anderer Tiere wie der Gliedertiere und Wirbeltiere ohne weiteres analog sind, ist eine Frage, die sich natürlich niemals allein durch vergleichend anatomische Untersuchungen, sondern nur durch das physiologische Experiment beant- worten lassen wird.

Die Entscheidung dieser Frage könnte hier aber auch ein großes vergleichend-anatomisches Interesse haben, weil sie eventuell die ganze Fragestellung verändern würde, Denn Centren sogenannter autonomer Sondernervensysteme, wie es ja doch die sympathischen Ganglien anderer Tiere sind, finden sich deutlich ausgeprägt cum grano salis meist nur bei höherstehenden, spezialisierteren und wohl immer phylogenetisch jüngeren Formen als Ausdruck einer Arbeitsteilung im Nervensystem. Von diesem Standpunkt aus könnte die oben der vergleichend ana- tomischen Betrachtung zu Grunde gelegte Annahme, daß ein ausgeprägtes Buccalsystem als primitiver Zustand, ein nicht ausgeprägtes Buccal- system dagegen als ein sekundär abgeleiteter Charakter zu gelten habe, leicht in ihr Gegenteil verkehrt werden, daß nämlich diese Centren keine rudimentären, sondern eigent- lich werdende Organe sind. Bei solcher Grundvoraussetzung würde es ganz natürlich erscheinen, daß die primitiven Protobranchier eben noch kein hochentwickeltes derartiges System besitzen, während die auch im übrigen hoch entwickelte Chama ein solches bereits erworben hat. Das Gleiche würde natürlich mutatis mutandis für das hintere System gelten, und auch hier ließe sich für Chama das nämliche kon- statieren.

Man sieht schon aus diesen Beispielen, daß diese Erklärungsweise sehr viel Bestechendes hat und weniger Hülfsannahmen erfordert als die zuerst gegebene. Welche von beiden zutrifft, kann vielleicht der physio- logische Versuch entscheiden, der allerdings erst nach sehr gründlicher morphologischer Durchforschung möglich sein dürfte.

Natürlich schließt auch die zuletzt skizzierte Bötrachtungeweiße keineswegs aus, daß wie eingangs angenommen die Vorfahren der

_ Stempel: Sympathisches Nervensystem der Muscheln, 233

Lamellibranchier schon autonome Nervenzentren besessen haben; man müßte nur annehmen, daß sie auf einer sehr viel primitiveren Stufe stan- den, wie diejenigen der heutigen Gastropoden, vielleicht in ihrer Ausbil- dung denjenigen der heutigen Protobranchier nahekamen,

Ei

1891.

1893.

1894. 1895.

1898. 1899,

189,

1899a.

1899b.

1900.

1900.

1901,

1903. 1904. 1907.

1908.

1911.

1912,

Verzeichnis der zitierten Literatur.

Moquin -Tando n, Note sur une nouvelle paire de ganglions, observ&e

dans le systöme nerveux des Mollusques ac£phales; in: C. R, Ac, Sc. Tome 39, Drost, Über das Nervensystem und die Sinnesepithelien der Herzmuschel (Cardium edule); in: Morph. Jahrb. Bd. 12.

Mayoux, L’existence d'un rudiment c&phalique d'un systeme nerveux stomato- gastrique et: quelques autres particularit&s morphologiques de la Pindatine; in: Bull, Soc. -Philomath. Paris (7) Tome 10,

Pelseneer, Sur la classification phylogönätique des P&l&cypodes. Comm. prel. in: Bull. sc. France Belg. Vol. 20.

Pelseneer, Contributions & l’&tude des Lamellibranches; in: Arch. d. Biol. T. 11.

Hardiviller, Sur quelques faits, qui permetteut de rapprocher le systöme nerveux central des Lamellibranches de celui des Gasteropodes; in C. R. Ac. Sc. Tome 117.

Pelseneer, Introduction ä l’&tude des Mollusques. Bruxelles.

Babor, Über das Centralnervensystem von Dreissensia polymorpha; in: $. B. d. Königl. böhm. Ges. d. Wiss. math. nat. Kl. Bd. 48.

Stempell, Beiträge zur Kenntnis der Nuculiden; in: Zool. Jahrb. Suppl. IV. Bd. 1. Heft 2.

Drew, Some Observations on the Habits, Anatomy and Embryology of Members of the Protobranchia; in: Anat. Anz. Bd, 15. No. 24.

Pelseneer, Recherches morphologiques et phylogönätiques sur les mollus- ques archaiques; in: Mem. cour. Acad. Sc. Belg. Tome 57.

Stempell, Zur Anatomie von Solemya togata Poli; in: Zool. Jahrb., Abt. £. Anat. u. Ontog. d. Tiere. Bd. 13, Heft 1.

Stempell, Die Muscheln der Sammlung Plate; in: Zool. Jahrb. Suppl. IV. Bd. 2. Heft 1.

Drew, Locomotion in Solenomya and its Relatives; in: Anat. Anz. Bd. 17. No. 15.

Lang, Lehrbuch der vergleichenden Anatomie der wirbellosen Tiere. Liefg. 1: Hescheler, Mollusca.

Drew, The Life history of Nucula delphinodonta Mighels; in: Quart. Journ. Micr. Sc. Vol. 44.

Latter, The nervous System of. Anodonta cygnea; in: Nature Vol 68. Burne, Notes on nervous system of the Pelecypoda; in: Proc. Mal. Soc. Vol. 6.

Drew, The circulatory and nervous system of the giant Scallop; in: Biol. Bull. Woods Holl Vol. 12,

Igel, Über die Anatomie von Phaseolicama magellanica Rousseau; in: Zool.

Jahrb. Abt. f. Anat. u. Ontog. d. T. Bd, 26. Pelseneer, Les Lamellibranches de l’Expedition du Siboga; Partie anato- mique; in: Siboga Expeditie LI a.

Thiele, Referat über Pelseneer, Les Lamellibranches de l’Expedition du Siboga. Partie anatomique; in: Zentralbl. f. Zoologie, allg. und exper. Biologie. Bd. 1. Heft 1.

234 Stempell: Sympathisches Nervensystem der Muscheln; | Zeichenerklärung für die Figuren. R

a " Anus; Re no Nervus opticus. ag Analganglion. not . otocysticus. jR bg Buccalganglion. npa pallialis anterior. bgl Buccalganglion. npad pallialis anterior dorsalis, bglk Buccalgangliencommissur. npam „.. pallialis anterior major. cb Buccalgangliencommissur. „.npama „w.. pallialis anterior major. cg Cerebralganglion. npami „« pallialis anterior minor. cepbe _ Cerebropleurobuccalconnectiv. npas „.pedalis anterior. superior. cpc Cerebropedalconnectiv. npavma „.. pallialis anterior ventra- cpg Cerebropleuralganglion. lis major. eplgl Cerebropleuralganglion. npavmi '„ pallialis anterior ventra- eplpc Cerebropleuropedalconnectiv. lis minor. eppc * Cerebropleuropedalconnectiv. npda „'" pallialis dorsalis anterior. cpvc Cerebropleurovisceralconnectiv. npp .pallialis posterior. cpvcc . Commissur zwischen den Cere-: nppm "pallialis posterior major.

bropleurovisceralconnectiven. .npvp pallialis ventrelis poste- gl Ganglion ligamenti. rior. go Gonadennerv. np: „.. pedalis., go: Gonadennerv. nr renalis., na Nervus atrii. ns sympathicus. naa aductoris anterioris, nsy sympathicus. nab appendicis buccalis. oes Ösyophägus, nad adoralis, osphrg Osphradialganglion. nada adductoris anterioris. pdg Pedalganglion. nadp "adductoris posterioris. pgl Pedalganglion. nap adductoris posterioris. ppc Pleuropedalconnectiv. nb » bucealis. pg Pleuralganglion. E nbs buccalis superior. siphn Siphonalnerv. nbi .buccalis inferior. so Sinnesorgan. tr nbr branchialis, sy Nervus sympathicus, nd „.. dorsalis, vg Visceralganglion. nd dext dorsalis dexter. vgl Visceralganglion. ndsi .dorsalis sinister.

Leonardos anatomische Zeichnungen. Von Privatdozent Dr. Bro d ersen.

Bi Kardinal Ludwig-von Aragonien besuchte am 10. Oktober 1517 re da Vinci in Amboise in der Touraine, Der Begleiter des Kardi- nals, :;Antonio de Beatis, schreibt darüber: „Dieser Edelmann hat über Anatomie so außerordentlich mittels der Demonstration durch die Malerei komponiert, sowohl der Gliedmaßen als der Muskeln, Nerven, Venen, Ge- lenke, Eingeweide und kann darüber so viel sprechen, sowohl von den Körpern. der Männer als der Frauen auf eine Art, wie es noch niemals von irgend einer anderen Person geschehen. Welches wir mit eigenen Augen gesehen haben und er sagte, daß er bereits mehr als dreißig Leiber, männ- liche und weibliche jeden Alters, seziert habe." Leonardo war damals 65 Jahre alt; 145 Jahre später, am 2. Mai 1519, starb er. Das früheste Datum, das .auf,einem Blatt der anatomischen: Hinterlassenschaft zu- sammen mit zwei Schädelfiguren zur Demonstration einiger Kopfvenen steht, ist der 2.. April 1489; zu der Zeit war er 37 Jahre alt. Also die zweite Hälfte seines Lebens, mindestens dreißig Jahre, hat er sich mit der Anatomie des Menschen beschäftigt. Neben diesem letzten Datum steht: Buch, betitelt:: Von der menschlichen Gestalt. Demnach hat er schon 1489 den Plan gefaßt, die Ergebnisse seiner Studien in einem Lehr- buch niederzulegen. _ An anderer Stelle sagt er, die 120 von ihm verfaßten anatomischen Bücher sollten ein Urteil darüber abgeben, ob er mit Liebe, Geduld, Fleiß, Verständnis und zeichnerischer Begabung gearbeitet habe.

Ein derartiges Lehrbuch hat er uns aber nicht hinterlassen. Was in der Königlichen Bibliothek zu Windsor, in der Bibliothöque National und der Bibliotheque de l'Institut de France zu Paris sowie in der Ambrosiana zu Mailand aufbewahrt wird, sind Studienblätter zur Anatomie des Men- schen, ein Durcheinander von Zeichnungen und Notizen. Man sieht ihn förmlich studieren, sich mit dem großen Stoff vertraut machen und den Plan des Lehrbuchs im einzelnen konzipieren. Viele Irrtümer sind darin, manche werden erkannt und verbessert. Das Neue für jene Zeit ist die große Zahl von Abbildungen, über 900; an Leonardo freilich überrascht uns das nicht. Vasari sagt, Leonardo habe alle diejenigen Berufe ausge- übt, die auf dem Zeichnen beruhen. Es wird uns auch nicht wundern, daß die Zeichnungen schön sind und viel feines Naturgefühl verraten. Das Wichtigste ist uns aber doch, ob die Abbildungen genau den natürlichen Verhältnissen entsprechen, ob hier Beobachtungen eines scharfen oder nur feinempfindenden Geistes vor uns liegen.

236 Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen.

Wie hat er den Bau des Menschen studiert? Aus seinen Anfüh- rungen anatomischer Schriftsteller (Galenos, Avicenna, Mondino u. a.) und aus seinen physiologischen Anschauungen geht hervor, daß er die Li- teratur durchgesehen hat. Ich gebe nur einiges zum Beweise: die Nerven sind Röhren. Das ist eine alte griechische Anschauung, die verständlich wird, wenn man erwägt, daß der galvanische Strom, der durch einen so- liden Strang geleitet werden kann, unbekannt war, daß man sich demnach das durch die Nerven zu Leitende als Luft oder Flüssigkeit vorstellte, die nur in Röhren geleitet werden konnte. Die Venen führen das Blut zu den Organen, die Arterien Blut und Luft gemischt. Wiederum eine griechi- sche Anschauung, die aus Sektionsbefunden erklärlich ist. Die Hohlvene entspringt aus der Leber und teilt sich in einen aufsteigenden Ast, der zum Herzen und weiter zuKopfund Hals und Armen geht, und einen ab- steigenden, der sich an die Seite der Aorta legt und die Organe des Bauches und die Beine versorgt. Das ist die Auffassung Galens. Die bild- liche Darstellung der Hohlvene ist bei Leonardo dementsprechend. Man kann demnach nicht sagen, daß Leonardo unbeeinflußt von fremden Mei- nungen ans Studium gegangen ist. Es ist aber nicht zu bezweifeln, daß er durch eigene Präparationen menschlicher Leichen sich auch eigene An- schauungen zu bilden suchte. Die sorgfältig ausgeführten Präparate, die er abzeichnet, können nicht von der unzarten Hand des „Chirurgen“, eines Prosektors mit Baderbildung, angefertigt sein. Freilich ist zu erwägen, ob sie nicht von dem Anatomen zu Padua (später zu Pavia) Marc Antonio della Torre stammen. Es steht fest, daß er mit diesem, wenn auch nur kurze Zeit, zusammengearbeitet hat. Da die Blätter des anatomischen Nachlasses nicht mit Jahreszahlen bezeichnet sind (mit Ausnahme von dreien 1489, 1510 und 1513), so ist es unmöglich zu sagen, welche unter Mithilfe Marc Antonios entstanden sind. Da Leonardo aber sich etwa 20 Jahre vor dem Zusammentreffen mit Marc Antonio schon mit Anato- mie beschäftigt hat, und zwar nicht nur in Mailand, zu dessen Herrschaft Pavia gehörte, sondern schon in Florenz in dem Hospital Santa Maria Nuova, das Besitzer des Hauses war, in dem Leonardo seine Jugend ver- lebte, so ist es nicht gut denkbar, daß alle Zeichnungen auf Präparate des Paduaner Gelehrten zurückzuführen sind. Dazu kommt, daß Leonardo an mehreren Stellen sich über seine Präparationsweise ausläßt und wir keinen Anlaß haben, diese Behauptungen für unwahr zu erklären. Um einen wahren und vollen Begriff von den Venen zu bekommen, habe er mehr als zehn menschliche Körper zerlegt, alle übrigen Glieder zerstö- rend, mit den winzigsten Teilchen alles Fleisch vernichtend, so sich rings um diese Adern befand, ohne sie blutig zu machen, außer etwa mit der unmerkbaren Beblutung der Kapillargefäße; und ein Körper genügte nicht für so lange Zeit, so daß er nach der Reihe an so viel Körpern fort- schreiten mußte, damit man die völlige Kenntnis beendige; was er zwei Mal wiederholte, um die Unterschiede zu sehen. Bei der Klarstellung des Austritts der Gehirnnerven aus dem Schädel ermahnt er sich zu folgen-

Brodersen:: Leonardos anatomische Zeichnungen. 237

dem Verfahren: „Du wirst: die Gehirnsubstanz bis auf die dura mater, die sich zwischen Schädelbasis und Gehirn befindet, zerstören; dann notiere alle die Stellen, wo diese dura mater die Basis durchsetzt, zusammen mit den von'ihr und der pia mater bekleideten Nerven; und diese Kenntnis wirst du dir mit Sicherheit erwerben, wenn du diese pia mater (er meint wohl die dura) sorgfältig und allmählich aufhebst, indem du von außen beginnst und von Teil zu Teil die Lage der erwähnten Durchbohrungen notierst, anfangend zuerst auf der rechten oder linken Seite, indem du es ganz darstellst und dann auf der Gegenseite, die dir die Kenntnis ver- schaffen wird, ob das Vorhergehende richtig ist oder nicht und außerdem wird sie-dir zeigen, ob die rechte Seite gleich der linken ist und wenn du sie verschieden findest, sieh in den andern Anatomien nach, ob diese Variation allgemein in allen Männern und Frauen vorkommt.“

"!" Er'hat zunächst systematisch präpariert. Knochen, Muskeln, Ge- fäße, Nerven, Eingeweide, jedes System für sich.

©s Er hat aber nicht die’einzelnen Teile benannt, höchstens hie und da einige Buchstaben angewandt. Das war schon beim Studium sehr hin- derlich. Wo Worte fehlten, mußten immer wieder Zeichnungen helfen. Bei der Anatomie des Bewegungsapparates tritt das besonders deutlich hervor. Die Muskelursprünge und Ansätze, die am Knochen als Höcker, Leisten, Linien usw. auftreten, sind nicht bezeichnet. Infolgedessen :no- tiert er nicht bei der Muskelpräparation Ursprung und Ansatz. Es fällt ihm dann auf, daß er die Bedeutung mancher Besonderheiten am Knochen nicht kennt, muß sie bei einer neuen Zergliederung nachprüfen und kommt schließlich zu der Überzeugung, daß es besser wäre, jeden Knochen ein- zeln mit dem Muskel, der’von ihm entspringt, zu zeichnen. Selten stellt er einen Knochen allein dar, meistens im Zusammenhang mit den anliegen- den. Freilich ermahnt er sich des öfteren, jeden Knochen einzeln vorzu- nehmen. Der Zusammenhang der Teile interessiert ihn zu sehr.

"0 Die Bewegungsfähigkeit der Gelenke studiert er mehr als ihre anato- mischen Grundlagen: Gelenkflächen, Bänder, Kapsel bildet er selten ab.

"An den Muskeln beschäftigt er sich in gleicher Weise mit ihrer Form und ihrer Lage wie ihrer Funktion. Erst wenn ihre Funktion ganz klar ist, will er ihnen darnach Namen geben.

"Gemäß seiner vorhin angegebenen Präparationsweise der Gefäße erforscht er sie'in ihrer Verzweigung ohne anzugeben, zu welchen Or- ganen die Äste gehen. Da er meint, daß die Venen den Organen Nahrung zuführen, verwendet er auf sie die größere Sorgfalt. © © Ebenso’ betrachtet er die Nerven: Ursprung, Verzweigung und Lage der Äste innerhalb des Umrisses der Gliedmaßen. = «Die Physiologie der Eingeweide interessiert ihm lebhafter als ihre Form: sehr viel Text findet man in diesem Abschnitt, wenig Abbildungen, sehr viel Gedanken, wenig Beobachtung.

"> "Die Resultate seiner Studien sind in den Zeichnungen niedergelegt, weniger im Text, der um die Zeichnungen herumgeschrieben ist, der neue

238 Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen.

Fragen, Pläne für die Abfassung des Lehrbuchs, sowie Fire he physikalische und philosophische Erörterungen enthält.

Als ich zum ersten Mal hörte, daß Leonardo anatomische Zeichisihe gen gemacht habe, und daß sie sorgfältig ausgeführt seien, war-ich be- gierig zu sehen, welche Reize der große Künstler den anatomischen Prä- paraten abgewonnen haben könnte. Denn es steht ja außer aller Frage, daß auch diese Präparate von hoher ästhetischer Wirkung sein können, die zu erkennen und zu genießen freilich nicht jedem möglich ist. : Man denkt an die Zeichnungen in den Werken des Albinus und vor allem des Santorini, die durch ihre Sorgfalt, Treue und Zartheit erfreuen müssen. Was wird dagegen Leonardo geleistet haben, wie sehr wird er jedenfalls in künstlerischer Hinsicht alles vor ihm und nach ihm übertreffen. ‚Aber der erste Anblick des anatomischen Nachlasses Leonardos enttäuscht. Da weht ein anderer Geist. -'Formenschönheit ist hier nicht gesucht. Hier dringt ein Forscher auf das Wesentliche; hier müht er sich immer wieder, den funktionellen Zusammenhang der Teile zu erfassen undihn auf:Kosten der schönen natürlichen Form darzustellen. Hier hat er den’leidenschaft- lichen Wunsch, den Körper des Menschen in seinem’ Aufbau zu durch- schauen, alle Teile zu sehen als wenn sie durchsichtig: wären und: wenn auch die Muskeln dabei dünn wie Stricke werden und wenn auch im In- teresse dieser Transparenz die Organe nicht ganz in richtiger Größe und Lage gezeichnet werden. In eine verstandesmäßige Anschauung soll der komplizierte Bau übersetzt werden. So:allein glaubt er der großen Viel- heit und Mannigfaltigkeit Herr zu werden. Ist es doch überall'sein Be- streben, die Dinge im Geiste zu besitzen und zu behalten. Im Traktat von der Malerei sagt er, der Maler muß die Formen der Natur im Geiste sehen und von hier abzeichnen. wschie

Die meisten von den Bildern seiner anatomischen Blätter wollen; so beurteilt sein. Nur wenige sind in dem Bestreben gemacht, die Natur aufs genaueste nachzubilden. An diesen vergewissert man sich dann doch wieder, daß Leonardo selbstverständlich ein vor ihm stehendes Objekt getreu abzeichnen konnte. Aber die meisten Zeichnungen sind nicht so entstanden oder es sind so grobe Fehler wie die Verwechslung der Lage der Unterschenkelknochen, die Vernachlässigung der Arteria pulmonalis, die Lageverschiebung der Trachea mit den Bronchien über den Aorten- bogen, die Zusammenziehung der drei Arterien des Aortenbogens auf eine und vieles andere unverständlich. Er macht sich seine anatomischen An- schauungen beim Präparieren und diese stellt er dar. Zum: Beispiel die Lage und die Verzweigungen der Gefäß- und Nervenbäume innerhalb eines Organs oder einer Gliedmaße ist, wenn er alle übrigen Weichteile zerstört hat, wie er sagt, nicht mehr im Präparat herzustellen. Wenn er sie doch zeichnet, so zeichnet er eine Anschauung, die er auf Grund der Präparation gewonnen hat. Auch die Muskulatur sieht in der Leiche an- ders aus als er sie darstellt; sie ist erschlafft und je nach der Lage auf der Beuge- oder Streckseite faltig. Er aber rekonstruiert ihr Aussehen nach

Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen, 239

Alliscichiiunigen 1 im lebenden, gespannten Zustand. Wo er aus der Erin- nerung heraus seine Zeichnungen entwirft, sieht man freilich häufig, daß sich Irrtümer eingeschlichen haben. Er zeichnet etwa die Venae lumbales ascendentes, diese sind ihm die Hauptsache. Dabei erhöht er aber die Zahl’der Lumbalwirbel auf sechs, Muß man wirklich ein so strenger Kri- tiker'sein wie Roth, der es: unerhört findet, wenn Leonardo die Zahl der Halswirbel nicht immer richtig angibt, wenn er 8, ja 10 und 11 zeichnet? In’ der Hauptfigur zur Wirbelanatomie (A8v) ist die Zahl richtig; daran muß mänssich halten. Noch ist zu bedenken, daß sich diese anatomischen Studien auf viele Jahre hinzögen, daß sie nur im Winter betrieben werden konnten und wenn er in dreißig Jahren dreißig Leichen seziert hat, wenn also durchschnittlich in jedem’ Winter eine Leiche zur Präparation kam und’ diese wieder schnell präpariert werden mußte, weil man sie nicht konservieren konnte die öffentlichen Sektionen dauerten nur 3 bis 4 Tage, wobei noch die Nächte eventuell zu Hilfe genommen werden mußten 80 begreift man, daß von einem gemächlichen, fortwährenden Studium keine Rede sein konnte, 'Um so begreiflicher ist auch, daß wenige Zeich- nungen Leonardos direkt nach der Natur gemacht sind.

= Am besten sind die Zeichnungen der Knochen und oberflächlichen Muskeln. Das ist leicht einzusehen. Die Knochen konnten dauernd auf- bewahrt werden, die “oberflächlichen Muskeln waren verhältnismäßig rasch präpariert: von beiden konnten Zeichnungen nach dem Objekt in Ruhe entworfen werden. Leonardo beschränkt sich dabei nicht auf eine Ansicht, sondern gibt zum Beispiel die Armmuskeln in acht ver- schiedenen Bildern von vorn und hinten, dreimal von außen, dreimal von innen, und will, wie der Text besagt, noch weitere acht hinzufügen, näm- lichin anderer Stellung der Gelenke. Sehr selten finden sich Abbildungen einzelner Knochen und einzelner Muskeln, Ein abschließendes Urteil kann man sich darum nach den Zeichnungen nicht über Leonardos Wissen in diesen beiden Gebieten erlauben. Ich habe um so weniger Veran- lassung dazu, als gerade diese Frage in der Kontroverse zwischen Roth und Holl eingehend erörtert ist.

Nächst dem Bewegungsapparat hat Leonardo am meisten Mühe und Sorgfalt auf die Klarlegung des Gefäßsystems verwendet. Die Zeichnun- gen des Herzens überraschen durch Einzelheiten und lassen im ganzen doch zu wünschen übrig. Am meisten interessieren ihn die Klappen, so- wohl die der Arterien als die der Atrioventrikularöffnungen. Hier, wo die anatomischen Verhältnisse sich so günstig für mechanische Auffassung und Erklärung darbieten, verweilt Leonardo am längsten. ° Die Klappen zeichnet er in geschlossenem und geöffnetem Zustande; ‘oft und gern zeichnet er die Blutwirbel, die bei diesem Spiel entstehen müssen. Die Papillarmuskeln schematisiert er etwas. Richtig und gut stellt er die Koronargefäße dar; aber die Form des Herzens wird nicht genau gegeben und die Vorhofsverhältnisse leiden unter verkehrten physiologischen An- schauungen. So’münden die Venae pulmonales dextrae in den rechten,

240 Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen,

die sinistrae in den linken Vorhof (G4v). Hieraus wie aus. den bezüg- lichen Textstellen ergibt sich, daß ihm der Blutkreislauf nicht klar war, In Behandlung der Vena.cava inferior traut er ebenfalls der Überlieferung mehr als seinen Augen. Sie kommt nach seinen Zeichnungen als kurzer, dicker Stamm aus der Leber und geht mit einem oberen Ast am Herzen vorbei direkt in die Vena cava superior über, aber doch so, daß sie,sich breit'ins Herz öffnet, und mit einem unteren Ast in das Abdomen (NVir,.5r, G4v). Und so ist auch die Richtung des Blutstroms in ihr. Am Aortenbogen kehrt auf mehreren Zeichnungen eine Stammarterie statt der drei bekannten wieder, die aber auch richtig in B33r gezeichnet werden. Der Fehler klärt sich auf; wenn man Bi1r betrachtet. Hier ist die Aorta in Parallele gesetzt mit der Vena cava superior, die Aorta descendens der Vena azygos verglichen und die Äste des Bogens in einen zusammenge- zogen, und dieser ist. dem Stück der Vena cava oberhalb der Einmündung der Azygos gleichgestellt. Manche Fehler der Gefäßlehre erklären sich so, daß Leonardo zu einer Vene eine Begleitarterie zeichnet, auch wenn es keine gibt. Eine Erfahrung, die er an vieleniVenen gemacht hat, über- trägt er, wenn er'aus der Erinnerung zeichnet, auf’ alle; Die, Arteriae vertebrales hält er offenbar für Nerven, da er sie, in Verbindung mit Rückenmark und Spinalnerven darstellt. Man ist versucht, zu glauben, daß er gedacht hat, alles, was von der Wirbelsäule umfaßt 'und geschützt wird; gehöre zum Nervensystem, Übrigens sind es schematische Figuren; die nachträglich konstruiert sind. Die feinere Topographie .der Gefäße verletzt er häufiger. So geht in NVir und 'G4v.die Arteria subclavia dextra vor der Vena jugularis interna und links liegt die Vena-jugularis interna medial statt lateral von der Arteria carotis sinistra... Und doch, wie viel'fein und richtig Präpariertes und Gezeichnetes ‚steht dem-gegen- über. Gerade darum sind die Fehler um so' auffälliger und mehr: zur Erklärung reizend, als das Richtige und Schöne zu einer enthusiastischen Würdigung, die auf die Dauer doch nur ermüden könnte,

Die Anatomie des Zentralnervensystems ist wieder wegen: der man- gelnden Konservierung unbedeutend. Da er, wie.300 Jahre später Soem- mering, glaubt, den Sitz der Seele in die Flüssigkeit der Ventrikel ver- legen zu müssen, so schenkt er diesen seine. besondere Aufmerksamkeit und stellt sie wenn auch nicht ganz richtig, so doch mit bewundernswerter Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse dar, Er läßt nun.aber'auf schematischen Zeichnungen von den Hirnhöhlen Nerven entspringen, und zwar von der ersten (die die beiden Seitenventrikel umfaßt) den Opticus, von der zweiten den Olfactorius, von der dritten den Vagus (RB7v). Man sieht, wie die physiologische Idee ihm eine Binde um die Augen legte. Von den Hirnnerven wird der Vagus mit’ seinen: Ästen an die Trachea,: Oeso- phagus und Magen ganz gut gegeben, wenn auch der Nervus recurrens dexter sich nach vorn um die Vena subclavia statt nach hinten um die Ar- teria subclavia schlingt (B33v). Vom Trigeminus finde ich in NV10r und RB7v sowie B12v nur den zweiten Ast dargestellt, Anscheinend aber ist

Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen. 241

der erste noch in B35r zu sehen. Das ist alles: erster, zweiter, fünfter und zehnter Hirnnerv. Der Phrenicus kommt vom 5, statt vom 4. Cervical- nerven (B33v) und liegt vor der Vena subclavia. Die Gliedmaßennerven werden in ihrer Verzweigung abgebildet, aber nicht mit ihrem Eintritt in die Muskeln (mit Ausnahme von RB3r). Der Deutung dieser Stränge stehen darum einige Schwierigkeiten entgegen. Immerhin glaube ich, sagen zu können, daß der Plexus brachialis in B3v gut gezeichnet ist, und zwar mit den Stümpfen des dorsalis scapulae, suprascapularis, axillaris, radialis, musculocutaneus, medianus, cutaneus antebrachii medialis und ulnaris. Die weitere Verfolgung der Nerven ist unzureichend. Er be- schränkt sich auf ihren gröberen Verlauf und verwendet besondere Sorg- falt auf ihre Lageverhältnisse zum Skelet.

Der Plexus lumbalis entsteht auf B6r aus den letzten drei Lumbal- nerven und dem 1. Sacralnerven statt aus den ersten vier Lumbalästen. Vom Plexus sacralis finde ich nur grobe schematische Bilder. Vom Fe- moralis sind die oberflächlichen Äste besser dargestellt als die tiefen. Ausführlicher ist der Ischiadicus behandelt. In B3v scheint auch der sympathische Grenzstrang im Brustabschnitt, aber ohne Ganglien, abge- bildet zu sein.

Bedeutend weniger aber als die Anatomie des Bewegungsapparates, der Gefäße und der Nerven befriedigt die der Eingeweide. Ich habe schon angedeutet, worin das begründet sein mag: unrichtige physiologische Vor- stellungen, die größtenteils von den Alten übernommen waren, wurden der reinen anatomischen Erkenntnis hinderlich.

Mandeln, Thymus, Pankreas, Nebennieren, Prostata habe ich nicht gefunden. Auf die genaue Form der Eingeweide ist kein Gewicht gelegt. Das Zungenbein zeigt keine kleinen Hörner in A3r, ja es liegt offenbar über der Zunge, die von ihm und dem Schildknorpel entspringt. Unzu- reichend ist auch die Abbildung der Zungenmuskeln NV7v. Der Muscu- lus palatoglossus inseriert am großen Zungenbeinhorn, der Palatopharyn- geus am oberen Schildknorpelhorn (A3r). Der Magen hat einen wenig ausgeprägten Fundus. Er liegt mitten vor der Wirbelsäule (B4v, 22v, 33v). Das Duodenum ist als flacher, nach rechts unten sehender Bogen abge- bildet in B34v. Die Windungen des Dünndarms wie des Dickdarms sind schematisch in B4v. Etwas besser ist der Dickdarm in B22v, wo er aber vom gut gezeichneten Netz bedeckt wird. Eine schematische Figur der serösen Häute, Pleura und Peritoneum ist in NV4r vorhanden. Die Milz ist zu groß und liegt dem unteren Teil der Curvatura major an (Bi1v, 37v,4v,22v). Die Leberform ist wenig beachtet. In B37v sieht ihr vor- derer Rand nur wenig unter dem unteren der rechten Lunge hervor. Gal- lenblase, ductus cysticus, hepaticus, choledochus gut in G2r.

Die Knorpel des Kehlkopfs sind entweder unrichtig oder undeutlich abgezeichnet. Nur die Epiglottis ist sehr gut. Stimmbänder und Taschen- bänder wie der Ventriculus laryngis sind gut in einer Figur, wo der Aditus laryngis in der Ansicht von hinten gezeigt ist (A3r). Die Schilddrüse ist

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 16

242 Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen,

schematisiert. Die Trachea ist oft zu lang (B37v,33v), ihre Verzweigung zu regelmäßig dichotomisch. Die Bronchien am besten unterschieden in Civ. Die Form der Lungen gibt G4v einigermaßen gut. In B37r und NV4r liegt der Hilus an der Spitze. Die Form der Nieren ist gut in Bi1v. Von der Vesica geben drei Bilder eine passable Anschauung (B37v). Frei- lich die Einmündung des Ureters ist innerhalb der Blasenwandung nach oben gekrümmt. Zwei Röhren führt der Penis statt einer (G7v). Die Ve- sicula seminalis ist eine horizontal liegende Erweiterung des Vas deferens, der Länge nach in dessen Verlauf eingeschaltet, wie die Erweiterung einer Pipette (G4v). Das Vas deferens entspringt vom oberen Pol des Testis mit einer erweiterten Windung. Am Uterus ist Cervix und Corpus von einander geschieden. Zwei gestreckte, drehrunde Stränge entsprin- gen vom Corpus auf gemeinsamem Stamm. Der eine geht aufwärts und lateral in die Gegend der Tailleneinziehung, der andere abwärts und lateral unterhalb der Spina iliaca ant. sup, endigend. Ihre Deutung ist mir nicht gelungen. Das Ovar ist durch ein Band mit der Mitte der Cervix verbunden. Sogenannte Menstrualvenen ziehen vom Uterus zur Mamma (Th1Pr).

Von den Sinnesorganen ist nur das Auge mit Zeichnungen bedacht. In RB6r liegt die Linse mitten im Glaskörper. Die Zeichnungen, die Ra- vaisson-Mollien gibt, sind nicht besser.

Die richtige Form der Eingeweide und ihre Topographie zu ermit- teln, war nicht leicht, weil die härtenden Konservierungsmittel nicht vor- handen waren. Man hätte es nur durch Gefrieren erreichen können. Viel- leicht aber legte Leonardo auch mehr Gewicht auf den Zusammenhang der Organe, wie er durch Ausführungsgänge und Blutgefäße hergestellt wird. Denn das ist die makroskopische Grundlage für alles weitere phy- siologische Denken. Aber auch hierin irrt er öfter, weil er vorgefaßte Meinungen hegt.

Ich habe versucht, Leonardos anatomische Zeichnungen vom moder- nen Standpunkt aus zu beurteilen, und halte das auch für durchaus be- rechtigt, da er sich der modernen Forschungsweise durch eigenhändige Zergliederung bedient. Was er Richtiges und Gutes geleistet hat, mußte ich von diesem Standpunkt aus als selbstverständlich ansehen. Will man jedoch erfahren, wie sehr Leonardo seine Vorgänger und Zeitgenossen an anatomischer Einsicht überragte, so vergleiche man seine Abbildungen mit denen, die es zu seiner Zeit gab. Man lese Choulant’s Geschichte der anatomischen Abbildung und den Aufsatz Sudhoffs über Tradition und Naturbeobachtung.

So sehr es mir und vielleicht auch den Lesern dieser Abhandlung Vergnügen machen würde, zu einem endgültigen Urteil über Leonardos Anatomie zu kommen, so sehr möchte ich hierfür die größte Vorsicht empfehlen. Ganz abgesehen davon, daß nicht einmal der ganze Text ent- ziffert vorliegt, ist man genötigt, anzunehmen, daß uns nicht alle Zeich- nungen Leonardos zur Anatomie erhalten sind. Er, der sich immer wieder

Brodersen: : Leonardos anatomische Zeichnungen, 243

ermahnt, alles zu zeichnen, der an vielen Stellen seines Nachlasses sich neue, aber in der Folge nicht erledigte Aufgaben stellt, wie kann er ganze Gebiete vernachlässigen, keine einzige Zeichnung von ihnen anfer- tigen, wie zum Beispiel von den tieferen Armgefäßen, wie ist es möglich, daß er fast keinen Knochen einzeln, keinen Muskel einzeln, kein Gelenk abbildet, wo er doch des öfteren sich dazu auffordert. Und endlich sind von den vorhandenen Zeichnungen nur wenige so ausgeführt, daß sie zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sein konnten. Wieviel durchgreifende Veränderungen hätte er wohl noch vorgenommen, wenn er zu der endgül- tigen Abfassung seines großartig geplanten Werkes gekommen wäre, da wir ihn doch jetzt schon sich oft verbessern sehen. Wir müssen auf das lebhafteste bedauern, daß dieses Werk nicht geschrieben, gezeichnet und herausgegeben worden ist. Es wäre ein Markstein anatomischer For- schung geworden und zugleich ein menschliches Dokument ersten Ranges.

Quellenmaterial und Literatur,

Etwa 900 Zeichnungen Leonardos zur Anatomie des Menschen sind 1898 und 1901 von Th. Sabachnikoff und 1901 von E. Rouveyre veröffentlicht worden. Davon sind zu der vorliegenden Untersuchung verwandt: Fogli A und B (zitiert als A. und B.), Recueil B. und E (RB, RE). Generation (G.), Nerfs et vaisseaux (NV.), Coeur (C), Thorax et l’Abdomen (Th.), Rouveyres Recueil C und D sind ganz in Sabachnikoffs Fogli B ent- halten, die Bände über Physiognomonie, Attitudes, Mesures et proportions enthalten reine Künstleranatomie und sind nicht berücksichtigt worden. Richter bringt keine neuen Zeichnungen. Ravaisson-Mollien hat wenig Anatomie, hauptsächlich über das Auge. Der Text der Sabachnikoffschen Ausgabe ist entziffert und ins Neuitalienische sowie Französische übertragen; der Text der Rouveyreschen Bände wird erst jetzt in einer Neuausgabe unter dem Titel Quaderni d’anatomia in englischer und deutscher Übersetzung gegeben.

1. I Manoscritti di Leonardo da Vinci della reale Bibliotheca di Windsor. Dell’Ana- tomia: Fogli A Parigi 1898, Fogli B Torino 1901. Pubblicati da Teodoro Sabach- nikoff. 2. Leonard de Vinci. Feuillets inedits, reproduits d’apr&s les originaux conserves ä la Bibliothöque du chäteau de Windsor. Paris 1901. Ed. Rouveyre &diteur. Croquis et dessins de Nerfs et Vaisseaux. Notes et dessins sur la Generation et le M&canisme des fonctions intimes, Notes et dessins sur le Thorax et l’Abdomen, Notes et dessins sur le Coeur et sa constitution anatomique, Fragments. Etudes anatomiques. Recueil B. Fragments. Etudes anatomiques. Recueil E. Notes et croquis sur la Physiognomonie, Notes et dessins sur les Attitudes de l’"homme, Sur le corps humain, des mesures et proportions. Fragments. Etudes anatomiques. Recueil C. Fragments. Etudes anatomiques, Recueil D. z

The literary works of Leonardo da Vinci, compiled and edited from the Original Manu- scripts. London 1883,

Leonardo da Vinci, Buch von der Malerei, herausgegeben von Heinrich Ludwig. Quel- lenschriften für Kunstgeschichte, herausgegeben von Eitelberger von Edelberg. Bd. 15—18,

Leonardo da Vinci, Quaderni d’anatomia I. Pubblicati da Ove C,L, Vangensten, Chri- stiania 1911.

Les manuscrits de L&onard de Vinci publi&s par M. Charles Ravaisson-Mollien. Paris 1881—1891. 6 Bände.

16*

244 Brodersen: Leonardos anatomische Zeichnungen,

K.

Arm Pr Bir E28

Von der Literatur führe ich nur an:

‚Roth, Vesal, Estienne, Tizian, Leonardo da Vinci L

Holl, Leonardo da Vinci und Vesal. Holl, Die Anatomie des Leonardo da Vinci, Alle drei Aufsätze im Archiv für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 1905.

‚Roth, Vesal, Estienne, Tizian, Levnardo da Vinci IL. Archiv für Anatomie und

Entwicklungsgeschichte, 1906.

.‚ Roth, Die Anatomie des Leonardo da Vinci. Archiv für Anatomie und Entwick-

lungsgeschichte, Supplementband 1907.

. Holl, Untersuchung über den Inhalt der Abhandlung Roth’s: „Die Anatomie des

Leonardo da Vinci.” Archiv für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 1910.

.‚Holl, Leonardo da Vinci. Quaderni d’Anatomia L, Archiv für Anatomie und Ent-

wicklungsgeschichte, 1911. Choulant, Geschichte und Bibliographie der anatomischen Abbildung. Leipzig

1852,

‚Sudhoff, Tradition und Naturbeobachtung. Studien zur Geschichte der Medizin.

Heft 1. Leipzig 1907.

. Fr. H. Marx, Über Marc Antonio della Torre und Leonardo da Vinci, die Begründer

der bildlichen Anatomie. Abhandlungen der Kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. 4. Band. 1848-50. Göttingen.

Sudhoff, Ein Beitrag zur Geschichte der Anatomie im Mittelalter speziell der anatomischen Graphik. Studien zur Geschichte der Medizin. Heft 4. Leipzig 1908.

W,v. Seidlitz, Leonardo da Vinci. Berlin 1909,

Über Wert und Unwert der Kalorienrechnung für die | Ernährung. Aus der Theorie für die Praxis.

Von Otto Krummacher.

Seitdem Liebig zu Anfang der vierziger Jahre gelehrt hat den Nähr- wert nach chemischen Gesichtspunkten zu beurteilen, haben sich unsere Anschauungen über den Stoffwechsel mehrmals gründlich geändert, so daß heutzutage in dem ganzen Lehrgebäude kaum noch wenige Steine die Hand des großen Meisters verraten. Liebig ließ nur das Eiweiß am Stoff- wechsel teilnehmen, C. Voit zeigte hingegen, daß die stickstoffreien Nähr- substanzen in vielen Fällen das Eiweiß vollständig ersetzen können, ja, daß sogar das Fett in mancher Hinsicht dem Eiweiß überlegen ist. Aber erst das von H. v. Hößlin zuerst bestimmt ausgesprochene, von M. Rubner experimentell begründete Gesetz von der isodynamen Vertretung hat uns ein gemeinsames Maß für alle Nahrungsstoffe in die Hand gegeben. Eine eingehendere geschichtliche Darstellung würde noch deutlicher als diese aus der Entwickelungsreihe herausgegriffenen Wendepunkte beweisen, wie trotz der vielgerühmten induktiven Methode der Fortschritt zunächst immer nur darin bestand, daß ein neuer Irrtum den alten verdrängte. Wer bürgt uns aber dann dafür, daß nicht die neueste Mode den Nähr- wert nach Kalorien zu berechnen vom gleichen Schicksal ereilt werde?

Bei dieser Sachlage dürfte es daher keine undankbare Aufgabe sein, einmal in gedrängter Form einem größeren Leserkreise auseinanderzu- setzen, welche Bedeutung der Verbrennungswärme für die Ernährung zu- kommt, was sie uns lehrt, und wo diesen Lehren ein Ziel gesetzt ist.

Ausführung der Brennwertbestimmung.

Um aber die folgenden Erörterungen auf möglichst anschauliche Vorstellungen zu gründen, müssen wir uns zuvörderst mit der Methode bekannt machen, die zur Bestimmung der Verbrennungswärme dient. Heutzutage verwendet man wohl ausschließlich die von Marcellin Ber- thelot in Paris erfundene kalorimetrische Bombe. Sie besteht aus einem aus Stahl gefertigten dickwandigen Hohlzylinder, der durch einen auf- schraubbaren Deckel völlig luftdicht verschlossen werden kann. Innen ist das Gerät mit Platin ausgekleidet, um die Verbrennung des Stahls zu verhüten, außen vernickelt. Vor dem Versuch wird die Bombe mit einer abgewogenen Menge der zu prüfenden Substanz beschickt, der Deckel zu-

246 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

geschraubt und nun aus einem Stahlbehälter verdichteter Sauerstoff durch ein Zuleitungsrohr eingeführt, bis im Innern ein Druck von 20 Atmosphä- ren herrscht. Nach Verschluß eines Ventils läßt sich die Bombe ohne Sauerstoffverlust vom Leitungsrohr entfernen. Das so hergerichtete Ge- rät kommt in einen Wasserbehälter, das Kalorimeter, derart, daß es nahe- zu vollständig von Wasser bedeckt ist. Die Entzündung der abgewogenen Substanz geschieht mittels eines galvanischen Stromes, der außerhalb der Bombe durch einen Kontakt geschlossen wird. Im selben Moment gerät im Innern ein in den Stromkreis eingeschalteter Platindraht ins Glühen um sofort durchzuschmelzen. Die dabei entwickelte Wärmemenge genügt, um bei dem hohen Sauerstoffdruck die Verbrennung einzuleiten. In we- nigen Minuten ist der Prozeß vollendet und die gebildete Wärme dem Kalorimeter mitgeteilt. Ihr Zahlenwert ergibt sich aus der Temperatur- erhöhung, zu deren Messung ein besonders genaues Thermometer erfor- derlich ist, und der Wärmekapazität des Apparates. Die durch den elek- trischen Strom zugeführte Wärmemenge ist von einer Größenordnung, welche gegenüber der Verbrennungswärme nicht ins Gewicht fällt.

Bei dem geschilderten Verfahren verbrennt schließlich der Wasser- stoff zu Wasser, der Kohlenstoff zu Kohlensäure, der Schwefel zu Schwe- feltrioxyd, während der Stickstoff als Element abgespalten wird, d. h. wir erhalten die Wärmemenge, die durch vollständige Oxydation entsteht.

Welche Bedeutung kommt nun der so ermittelten Größe zu?

Ohne Bedenken wird man zunächst einmal einräumen, daß sie unab- hängig sei von der Schnelligkeit des Prozesses. Wir müssen offenbar die- selbe Wärmemenge gewinnen, ob die Verbrennung stürmisch oder ge- mäßigt verläuft, da die geringere Intensität durch die längere Dauer aus- geglichen wird. Was aber der so gewonnene Wert mit den im Organis- mus sich abspielenden Vorgängen zu tun hat, die doch im wörtlichen Sinne gar nicht einmal als Verbrennungen bezeichnet werden können, das ist ohne weiteres nicht einzusehen, . Es seien daher, um den zugrundeliegen- den Gedanken klar zu stellen, einige Worte über die Energie hier ein- geflochten, indem ich natürlich den wesentlichen Inhalt des Energie- gesetzes als bekannt voraussetze. ')

1) Der neuerdings in physiologischen Schriften mit Vorliebe gebrauchte Name „Kraft für Energie erscheint mir zum mindesten unzweckmäßig und geeignet, Verwir- rung zu stiften. Wenn auch R. Mayer und Helmholtz zu einer Zeit, da die Begrifis- bildung noch nicht abgeschlossen war, sich dieser Bezeichnung bedienten, wenn auch Spannkraft und lebendige Kraft sich schwerlich ausrotten lassen, so verbindet man doch heutzutage in der Physik mit dem Worte „Kraft” immer nur ein ‚und denselben Sinn, nämlich Masse X ‘Beschleunigung, in Dimensionen ausgedrückt mit -2, während der Energie die Dimensionen ml?t-? zukommen. Eine Vertauschung der Worte kann leicht bei Ungeübten auch eine Verwechslung der Begriffe herbeiführen. Jedenfalls müßte man den Unterschied des 'Begriffsinhaltes auf irgend eine Weise kennzeichnen durch den Druck oder Anhängung einer Silbe, um sein für allemal deutlich zu machen, daß die physikalische Kraft sich zur gemeinten Größe verhält, wie ein Meter zu eine

Quadratmeter.

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 247

Gesetz v. Heß.

Für unsere folgenden Ueberlegungen ist es vor allem wichtig zu ver- stehen, daß die bei irgend einem Prozeß chemischer oder physikalischer Natur in Freiheit gesetze oder gebundene Energie nur vom Anfangs- und Endzustande abhängt, nicht dagegen von den Zwischenstufen. Wenn wir also beispielsweise Zucker einmal unmittelbar verbrennen, ein andermal ihn zuerst zu Alkohol und Kohlensäure vergären lassen und dann den Alkohol verbrennen, so muß nach dem Gesagten die im Ganzen ent- wickelte Wärmemenge in beiden Fällen gleich sein, d. h. die Verbren- nungswärme des Zuckers muß gleich sein der Gärungwärme vermehrt um den Brennwert des Alkohols.

Dies Gesetz ist für chemische Prozesse bereits im Jahre 1839 von dem Petersburger Forscher H. Heß auf Grund thermochemischer Messun- gen ausgesprochen worden, also vor Entdeckung der Energiekonstanz. Es läßt sich aber auf alle Energiearten ausdehnen, da es unmittelbar aus jenem Erhaltungsgesetzt fließt. Besonders einfach liegen die Dinge in der reinen Mechanik, da hier die Schlußfolgerung schon in der Definition enthalten ist. Handelt es sich beispielsweise um Arbeiten, lediglich unter dem Einfluß der Schwere, so ist die potentielle Energie eines Körpers eindeutig bestimmt durch Gewicht und Höhenlage. Einem Körper von p Kilogramm, der sich 10 m über dem Erdboden befindet, kommt die poten- tielle Energie 10 Kilogrammeter zu. Fällt er 8 m. herab, so besitzt er danach nur noch die potentielle Energie 2 Kilogrammeter, er hat also 8 Kilogrammeter verloren. Dabei ist es natürlich gleichgiltig, ob er schnell oder langsam, ob in senkrechter Richtung oder längs einer schiefen Ebene herabsinkt, Bei unserer Begriffsbestimmung müssen dieselben Anfangs- und Endzustände immer die gleiche Differenz liefern.

Nicht so durchsichtig gestaltet sich der Beweis für andere Energie- arten. Denken wir uns z. B. eine bestimmte Menge Knallgas werde in Wasser verwandelt. Dabei entsteht ein ebenfalls genau bestimmtes Wärmeguantum, von dem wir annehmen wollen, wir könnten es voll- ständig in einem Behälter sammeln. Um unsere Behauptung zu beweisen, müssen wir den Prozeß wieder rückgängig machen, wozu sich mehrere Möglichkeiten bieten. Wir benutzen die bequemste: wir senden aus einem Element von konstanter elektromotorischer Kraft, z. B. einem Da- niell-Element einen galvanischen Strom durch das gebildete Wasser, bis durch Zersetzung desselben der ursprüngliche Zustand wieder erreicht ist. Der Anfangszustand ist aber keineswegs durch die chemische Beschaffen- heit allein gekennzeichnet; vielmehr müssen wir den Prozeß so leiten, daß auch die physikalischen Zustandsgrößen Druck und Temperatur wieder ihren ursprünglichen Wert annehmen. Bei der Rückverwandlung wird natürlich vom Element elektrische Energie hergegeben, die sich bekannt- lich aus Spannung, Stromstärke und Zeit ergibt. Im Knallgas selbst hät aber die vorübergehende Umsetzung in Wasser nicht die geringsten Spu-

248 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

ren hinterlassen, es ist genau dasselbe Ding wie vorher. Von den che- mischen Änderungen können wir daher in unseren weiteren Überlegungen völligabsehen. Dagegen finden sichin der Umgebung folgende bleibenden Änderungen. Bei der Verbrennung ist eine gewisse Wärmemenge W neu entstanden, bei der Spaltung des Wassers umgekehrt ein gewisses Quan- tum elektrischer Energie verschwunden, das wir mit E bezeichnen wollen. Setzen wir zunächst den Fall, die gelieferte Verbrennungswärme sei ihrem Energiebetrage nach größer als die im Element verbrauchte elektrische Energie, m. a. W. Gewinn und Verlust höben sich nicht auf, sondern die Differenz W—E hätte einen positiven Wert, so wären wir imstande, durch Wiederholung unseres Kreisprozesses ins Unbegrenzte Energie zu schaf- fen, und zwar aus nichts, denn irgend welche sonstigen Änderungen, die als Quelle der gewonnenen Energie dienen könnten, sollten ja ausge- schlossen sein. Diese Folgerung widerspricht natürlich dem Energie- gesetz, das nur dann erfüllt sein kann, wenn W und E sich zu Null ergän- zen, wenn also ihre Zahlenwerte bis auf das Vorzeichen gleich sind. Wür- den die Prozesse in derselben Richtung sich vollziehen, so müßten natürlich auch die Vorzeichen gleich werden. Damit ist unsere Behauptung be- wiesen, Die in Freiheit gesetzte Energie ist also unabhängig von der be- sonderen Art des Vorgangs und einzig und allein bestimmt durch den Anfangs- und Endzustand. Diese Erkenntnis bildet die Grundlage aller kalorimetrischen Untersuchungen.

Sollten in den erwähnten, zu einem Kreisprozeß sich verbindenden Vorgängen noch äußere Arbeiten wie Überwindung von Druck oder He- bung von Lasten auftreten, so müßten ihre kalorischen Werte ebenfalls in Rechnung gestellt werden. Natürlich bleibt das abgeleitete Resultat nicht auf die chemischen Spannkräfte beschränkt, vielmehr lassen sich für alle übrigen Energieformen entsprechende Beispiele ersinnen, wie denn überhaupt die ganze Beweisführung nur eine schärfere Formulierung des Energieprinzipes ist, aber keinen neuen Erkenntnisgrund liefert.

Auf Grund des Gesetzes von Heß muß es nun auch möglich sein, den Energiewert der im Organismus verlaufenden chemischen Prozesse zu messen, falls wir nur imstande sind, dieselben Vorgänge außerhalb des Tierkörpers hervorzurufen, so zwar, daß Anfangs- und Endzustände die gleichen sind wie im lebenden Geschöpfe.

Die chemische Energie des Tierkörpers.

Das auffallendste Merkmal der höheren Tiere ist neben der willkür- lichen Bewegung unstreitig die Wärmebildung, die auch schon lange den Forschergeist gefesselthat. Der naheliegende Gedanke, daß es sich dabei um langsame Verbrennungen, also Umsetzungen unter Mitwirkung des Sauerstoffes handele, hat sich je länger, je mehr bestätigt. Verdankt aber die Körperwärme ihren Ursprung chemischer Spannkraft, dann ist es nur eine logische Forderung, alle Leistungen des Organismus aus derselben

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 249

Quelle abzuleiten. Sind es doch auch im wirtschaftlichen Leben vorwie- gend Oxydationsprozesse, die uns Wärme und Arbeit liefern; ja selbst die sich immer mehr hervordrängende elektrische Energie wird heutzu- tage noch größtenteils aus Brennmaterialien und Sauerstoff erzeugt, Aber man muß sich doch vor der Meinung hüten, als wäre der Sauerstoff un- bedingt nötig, um chemische Spannkraft in Wärme und andere Energie- formen überzuführen. Wir brauchen nur an die heftige Reaktion zwi- schen Chlor und Wasserstoff zu denken, um die Einseitigkeit einer sol- chen Auffassung sofort zu erkennen. Aber nicht allein bei der chemischen Bindung, sondern auch bei der Spaltung kann Energie entfesselt werden; so u, a. beim Zerfall des Chlorstickstoffes und des Jodstickstoffes. Danach ist es also keineswegs zu erwarten, daß alle Energie der Lebewesen ihre Quelle in Verbrennungsvorgängen habe, wie früher wohl irrtümlich ange- nommen wurde. In der Tat sehen wir z. B. die Hefezellen ihren Energie- bedarf aus dem Zerfall des Zuckers in Alkohol und Kohlensäure schöpfen. Ähnliches gilt von dem im Darm des Menschen und der Säugetiere para- sitisch lebenden Spulwürmern. Eine konsequente Anwendung des Ge- setzes von Heß erlaubt aber auch in diesen Fällen die Energieentwick- lung als Differenz der Brennwerte zu bestimmen. Rubner hat auf diese Weise die Lebensenergie der Hefe und mancher Bakterienarten ermittelt, Weinland und ich sind seit einiger Zeit bemüht, den Kalorienverbrauch der Spulwürmer festzustellen. Wir brauchen demnach über die Natur derim Körper verlaufenden Prozesse garnicht unterrichtet zu sein; die Kenntnis des Anfangs- und Endzustandes ist völlig genügend. Wer also etwa mit Liebig eine Energieaufspeicherung in unbekannter Form annehmen wollte, oder mit Pflüger geneigt wäre, dem lebenden Eiweiß eine höhere Spann- kraft als dem leblosen zuzuschreiben, er müßte dennoch zugeben, daß alle zwischen den Anfangs- und Endzustand sich einschiebenden positiven oder negativen Energiebeträge das Endresultat nicht beeinflussen könnten.

Energiequellen nicht chemischer Natur.

Bei alledem ist allerdings stillschweigend vorausgesetzt, daß die Spannkraft der Nährstoffe die einzige Energiequelle für den Organismus bilde, eine. Voraussetzung, die zwar nicht in absoluter Strenge, wohl aber praktisch zutrifft, Die mit Licht- und Schallstrahlen absorbierten Energie- mengen sind unter gewöhnlichen Umständen jedenfalls viel zu gering, um sich in der Bilanz irgendwie bemerkbar zu machen. Sollte. indessen ' die durch die direkte Sonnenstrahlung zugeführte Wärme einen nennens- werten Betrag erreichen, wie es an Orten mit Höhenklima wohl der Fall sein kann,?) so brauchen wir diesen Posten nicht besonders zu buchen, da er durch die entsprechende Verminderung der Wärmeabgabe schon mit

berücksichtigt wird.

?2) Rubner, Lehrbuch der Hygiene, 8. Aufl, 1907, S. %, Leipzig und Wien.

250 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

Quellungs- und Lösungswärme.

Wenn wir uns aber auch auf die Nährstoffe beschränken, so bleibt immer noch die Frage offen, ob denn mit der chemischen Spannkraft derselben, die wir mit Hilfe der Verbrennungswärme messen, ihr gesamter Kalorien- inhalt erschöpft ist, oder ob sie etwa noch sonstige Vorräte an potentieller Energie enthalten. Rubner hat in dieser Hinsicht wohl zuerst auf Quel- lungs- und Lösungswärme aufmerksam gemacht. Wir genießen unsere Nahrung im gequollenen oder gelösten Zustande, während die Verbren- nungswärme an getrocknetem Material bestimmt wird. Und in der Tat zeigen die bei der Quellung und Lösung auftretenden Wärmetönungen, daß zwischen dem trockenen Zustande auf der einen, dem gelösten und gequollenen Zustande auf der andern Seite Energiedifferenzen bestehen. Aber auch diese Beträge haben nach den bis jetzt vorliegenden Unter- suchungen‘) nur die Bedeutung von Korrekturgrößen, die in der Regel vernachläßigt werden können und nur bei genauen Bilanzversuchen be- rücksichtigt werden müssen.

Entwickeln osmotische Vorgänge Energie?

Schließlich wäre noch an die Energiequelle osmotischer Vorgänge zu denken, wie sie sich bekanntlich in großer Anzahl im Tierkörper ab- spielen. Jede Lösung ist ja imstande bei ihrer Verdünnung Arbeit zu lei- sten, ebenso wie zur Erhöhung der Konzentration Arbeit verbraucht wer- den muß. Somit könnte es auf den ersten Blick scheinen, daß die in den Lösungen schlummernden osmotischen Spannkräfte ingleicher Weise wiedie chemischen bei der Energiebilanz in Rechnung gestellt werden müßten, eine Anschauung, die in der Tat seinerzeit ihre Vertreter gefunden hat. Aus dem von van 't Hoff geführten Nachweis der vollkommenen Analogie zwi- schen verdünnten Lösungen und Gasen folgt jedoch, daß die Energie der osmotischen Arbeiten aus Wärme stammt, wenigstens unter den hier in Frage kommenden Konzentrationsverhältnissen, d. h. also auf den Tier- körper angewandt, aus der chemischen Energie der Nährstoffe. Und da wir diese schon mit der Verbrennungswärme gebucht haben, so wäre es fehlerhaft für die osmotischen Vorgänge einen besonderen Posten ein- zusetzen. !

Die chemische Spannkraft der Nährstoffe und der physiologische Nutzwert. Aus der Verbrennungswärme*) und den sonst noch hieiekantenee den Wärmetönungen muß sich demnach der für den Organismus maß-

3) Tigerstedt, R., Handbuch der physiol. Methodik I, 3. Abt., S. 170 u. 172.

4): Freilich ist auch die. Verbrennungswärme keine absolute Konstante, sondern neben dem Aggregatzustand noch abhängig von Druck und Temperatur. Streng ge- nommen sollte also auch die Bestimmung des Brennwertes unter dem mittleren Luft- druck und bei Körpertemperatur ausgeführt werden. Im anderen Falle müßten Kor- rekturen angebracht werden. Doch haben wir es auch hier mit Größen zu tun, die praktisch fast immer zu vernachlässigen sind, Vgl. Krummacher, Zentralbl. f. Phys., Bd. 25, Nr. 23, S, 17.

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 251

gebende Energiewert, der sogen. physiologische Nutzeffekt der Nährstoffe berechnen lassen, wenn wir ihre Verbrennungsprodukte kennen. Dies ist bei Fetten und Kohlenhydraten offenbar der Fall; denn sie verbrennen im Organismusnicht anders als in der kalorimetischen Bombe zu Kohlen- säure und Wasser. Zwar gilt auch diese Auffassung nicht in aller Strenge. Es ist eine bekannte Erfahrung, daß bei Überschwemmung des Körpers mit Kohlenhydraten immer Zucker im Harn erscheint; ja der hohe Brenn- wert des Harns, wie er auch bei Abwesenheit von Dextrose nach Kohlen- hydratfütterung gefunden wird,’) läßt darauf schließen, daß wohl stets ein gewisser Bruchteil des Zuckers in Gestalt noch unbekannter Abbaupro- dukte in den Harn gelangt. Bei der Zersetzung der Fette schei- nen derartige Zwischenprodukte nicht aufzutreten. Wir dürfen aber an unserer der Wahrheit jedenfalls sehr nahekommenden Vorstellung, Fette und Kohlenhydrate verbrennten im Organismus glattauf zu Kohlen- säure und Wasser, ohne Bedenken festhalten. Denn, wenn wir damit einen nennenswerten Fehler begingen, so könnten die später noch zu bespre- chenden kalorimetrischen Messungen am lebenden Menschen, wie sie von Atwater und seinen Mitarbeitern ausgeführt wurden, unmöglich den aus der Verbrennungswärme abgeleiteten Wert liefern. In diesen Ver- suchen stimmte Rechnung und Beobachtung mit aller nur wünschenswer- ten Genauigkeit überein, während doch jeder Fehler im Ansatz sich auf- fällig hätte bemerkbar machen müssen.

Nach Zerstreuung aller geltendgemachten Bedenken sind wir also zu der Behauptung berechtigt, daß ein Gramm Fett im Organismus nicht mehr und nicht weniger Energie entwickeln kann als 9,5, ein Gramm Stärke nicht mehr und nicht weniger als 4,2 Kalorien. Wie steht es aber mit dem Eiweiß?

In unserem Verbrennungsapparat verbrennt es bekanntlich zu Koh- lensäure, Wasser und Stickstoff. Im Organismus entstehen bei seiner Zer- setzung neben Kohlensäure und Wasser amidartige Verbindungen, haupt- . sächlich Harnstoff, also Substanzen, die alle noch beträchtliche Spann- kräfte enthalten. Wären die Endprodukte des Eiweißstoffwechsels nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ genau bekannt, so ließe sich auch hier wiederum das Gesetz von Heß anwenden: wir brauchten nur den Brennwert der Endprodukte vom Brennwert des Eiweißes abzuziehen, um die dem Organismus nutzbar gewordene Energie zu erfahren. Allein bis jetzt ist es noch nicht gelungen, den komplizierten Vorgang der Eiweiß- zersetzung in chemische Formeln zu fassen.

Um diese Lücke auszufüllen, hat man wohl die Annahme gemacht‘)

®) Ich fand nach reichlicher Stärkefütterung im Hundeharn 10,6 Cal. für 1 gr N, Tangl im Menschenharn nach Kohlenhydrataufnahme 11,5—11,9 Cal (Archiv für Anat. u. Physiol., physiol. Abteil. 1899, S. 261). Rubner beobachtete dagegen geringere Werte. Zeitschr. f. Biol. 42, S. 304,

°) F. Bidder u, C. Schmid, Die Verdauungssäfte und der Stoffwechsel. Mitau u. Leipzig 1852, S. 353,

252 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

der Stickstoff des Eiweißes werde vollständig als Harnstoff abgespalten, der Rest verbrenne zu Kohlensäure und Wasser. Unter dieser Voraus- setzung ließe sich natürlich die nutzbare Energie leicht ermitteln, aber das Verfahren kann deshalb keine richtigen Resultate liefern, weil außer Harnstoff noch andere stickstoffhaltige Zersetzungsprodukte im Harn auf- treten. Vorläufig gibt es nur einen Weg, der zum Ziel führt, nämlich die kalorimetrische Untersuchung des aus dem Eiweiß gebildeten Harns, der natürlich vor der Verbrennung getrocknet werden muß. Selbstverständ- lich ist Sorge zu tragen, daß der auf seinen Brennwert zu prüfende Urin auch wirklich von der aufgenommenen Nahrung herrühre, eine Forderung, die sich indessen unschwer erfüllen läßt. Rubner hat auf diese Weise die nutzbare Energie des Eiweißes zu 4,1 Cal. pro Gramm berechnet. Aus meinen Untersuchungen über den Nährwert des Leims läßt sich dieselbe Zahl auch für den Leim ableiten.) Somit ergeben sich für den Energie- wert der drei Nährstoffgruppen im Tierkörper nach einigen unerheb-

lichen Abrundungen folgende auf 1 Gramm Trockensubstanz bezogene Zahlen:

für Fett 9,3 Cal, für Kohlenhydrat, Eiweiß und Leim 4,1 Cal,

Diese Energiebeträge führen nach Rubner den Namen Bruttowerte., Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei noch ausdrücklich bemerkt, daß der Verlust durch den Stuhl dabei nicht berücksichtigt ist, weil eben der resorbierte Anteil keinen konstanten Wert besitzt, sondern für jede Kost- form verschieden ist.

Übereinstimmung der nach außen abgegebenen Energie mit der Kalorienmenge der zersetzten Nährstoffe,

Allen bisherigen Überlegungen diente das Gesetz von Heß, in letzter Beziehung also das Energieprinzip als Grundlage, und wenn wir auch dessen Giltigkeit für den lebenden Organismus nicht bezweifeln, so wer- den wir doch auf die Bestätigung durch den Versuch nicht verzichten wollen. Diese zuerst geliefert zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst Rubners,®) der 1894 zeigte, daß die tatsächlich vom Tiere abgegebene Wärme mit der aus der Verbrennungswärme berechneten überraschend gut übereinstimmt. Nach außen geleistete Arbeit muß dabei natürlich in Wärmemaß umgerechnet werden, Ähnliche Versuche sind dann später von Atwater°) und seinen Mitarbeitern auch an Menschen ausgeführt wor- den, und zwar mit demselben Erfolge. '

7) O. Krummacher, Zeitschr. f. Biol. 42, S. 242,

8) Rubner, Die Quellen der tierischen Wärme. Zeitschr. f. Biol, 30, S. 73.

®) Atwater und Rosa, Neue Versuche über Stoff- und Kraftwechsel im menschl. Körper. Ergebnisse der Physiol. v. Asher u, Spirio. I, Jahrg. 1904.

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 253

Anwendung auf die Praxis.

Wer meinen Ausführungen bis hierher gefolgt ist, wird sich ohne Frage von der hohen Bedeutung der festgestellten Resultate überzeugt haben, aber doch nicht ohne Grund bezweifeln, ob sie sich denn auch für die praktische Ernährungslehre verwerten lassen. Eine einwandfreie Be- rechnung der im Körper entwickelten Energie ist offenbar nur dann zu erwarten, wenn der Umsatz der einzelnen Nährstoffe nach Art und Menge genau bekannt ist. Dieser läßt sich aber nur mit Hilfe der Stickstoff- und Kohlenstoffbilanz feststellen, nicht aber aus der Zufuhr ableiten. Denn es liegt auf der Hand, daß die aufgenommenen Nahrungsmengen keines- wegs mit den zersetzten übereinzustimmen brauchen; es kann mehr zer- setzt werden als verzehrt wurde; dann schießt der Organismus aus seinen eigenen Vorräten zu; eskann aber auch weniger zersetzt werden; dann wird Nährmaterial aufgespeichert. Über diese am Körper sich vollziehenden Än- derungen gibt uns auch das Körpergewicht wegen der unkontrollierbaren Wasserschwankungen nur unsicheren Aufschluß, so daß wir in allen grundlegenden Versuchen über den Energieverbrauch nicht auf die Stick- stoff- und Kohlenstoffbilanz verzichten können. Die vielen hierzu nötigen Analysen sind aber im klinischen Betriebe meist nicht auszuführen; somit wäre der aus Theorie der Praxis zufließende Gewinn gering, wenn wir hier dieselben Anforderungen stellen wollten.

Bei freigewählter Kost wird indessen im großen und ganzen die Nah- rung gerade dem Bedarf entsprechen, wenigstens mit der für praktische Zwecke anzustrebenden Genauigkeit. Schreiben wir dagegen die Kost- rationen vor, so wird uns die Konstanz des Körpergewichtes in längerer Versuchsreihe doch hinlängliche Gewähr bieten, daß Einnahmen und Aus- gaben sich decken. Unter diesen Bedingungen würde sich also der Energieumsatz ergeben aus dem Brennwert der Nahrung und dem Brenn- wert des Kotes. Da aber auch die Bestimmungen der Verbrennungswärme große Übung erfordert und kostspielige Apparate voraussetzt, so wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den Brennwert der Nahrung allein aus der chemischen Analyse zu ermitteln. Wie nahe wir mit diesem Ver- fahren ans Ziel kommen, hat Rubner“) durch mehrere vergleichende Un- tersuchungen gezeigt, die unter verschiedenen Bedingungen, bei fett- reicher und fettarmer Diät angestelltwurden. Der Energieverbrauch wurde einerseits durch die Verbrennungswärme direkt bestimmt, anderseits aus den aufgenommenen Nährstoffmengen mit Hilfe der S. 252 erwähnten Bruttowerte berechnet. Die gute Übereinstimmung zwischen den direkt und indirekt gewonnenen Ergebnissen mögen nachstehende, beliebig herausgegriffene Zahlenwerte vor Augen führen:

40%) Rubner, Der Energiewert der Kost des Menschen. Zeitschr. f. Biol. 42, S. 293,

254 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

Kalorienverbrauch in 24 Stunden.

; Durh Bestimmung Kostart a. n sera der Verbrennungs- alyse.herechnet, wärme ermittelt. fettarm 2376 2400 fettreich 2610 2550

Ist der Nährwert allein durch den Energiegehalt bestimmt?

In den vorstehenden Zeilen haben wir die Methoden kennen gelernt, den Energieumsatz im lebenden Körper festzustellen. Nun erhebt sich aber die weitere Frage: „Ist denn der Nährwert einzig und allein durch den Energieinhalt bestimmt?" Daß die wichtigste Aufgabe der Nahrung darin bestehe, dem Körper Energie zuzuführen, wird heutzutage nicht mehr be- zweifelt, und wir wollen, um den stufenmäßigen Aufbau unserer Darstel- lung nicht zu stören, zunächst einmal von allen sonstigen Aufgaben ab- sehen; dann bliebe immer noch zu erörtern, ob es nur auf die chemische Spannkraft oder auch auf die Qualität der Nährstoffe ankomme, Ob wir unsere Öfen mit Kohlen oder Torf von gleichem Brennwert heizen, ist keineswegs gleichgültig; auch wenn die Bedingungen für eine vollständige Verbrennung beider Stoffe gegeben sind, so braucht sie nicht in derselben Zeit zu erfolgen. Im einen Fall wird vielleicht mäßige Wärme von längerer Dauer entstehen, im anderen große Hitze von kurzer Dauer. Ebenso könnte es sich auch mit den einzelnen Nährstoffen verhalten. Es wäre von vornherein wohl denkbar, daß z. B. der leicht oxydable Trauben- zucker viel schneller im Organismus verbrennte als das widerstands- fähigere Fett. Auf den ersten Blick scheint freilich die konstante Tem- peratur der warmblütigen Tiere gegen diese Möglichkeit zu sprechen; denn, da der Organismus bald vorwiegend von Fett lebt, bald Eiweiß, bald Kohlenhydrat als Nährmaterial bevorzugt, ohne daß die Körpertemperatur eine Veränderung erkennen ließe, liegt der Schluß nahe, daß in gleichen Zeiten auch stets die gleichen Wärmemengen gebildet würden und daß es somit auf die Qualität des Brennmaterials gar nicht ankomme, Diese Überlegung wäre aber ein Trugschluß, denn der Organismus verfügt be- kanntlich über physikalische Vorrichtungen, sich der überschüssigen Wärme zu entledigen. Ob also die Energie der einzelnen Nährstoffe im Körper wirklich die gleiche Wirkung habe, ist eine Frage, die sich nur durch den Versuch entscheiden läßt. Aus dem Energiegesetz läßt sich diese Folgerung jedenfalls nicht ableiten, da dies überhaupt keine Be- stimmung über die Reaktionsgeschwindigkeit enthält,

Das Gesetz der isodynamen Vertretung.

Die schon in der Einleitung gestreiften Versuche von Rubner über die isodyname Vertretung der einzelnen Nährstoffe“) haben nun in der

11) Rubner, M, calorim, Untersuchungen. Zeitschr. für Biol, 21, S. 377,

Krummacher: Wert und Unwert der Kälorienrechnung. 255

Tat bewiesen, daß der Kalorienverbrauch sich nicht ändert, ob 100 gr Fett, 225 gr Eiweiß, oder 256 gr Dextrose im Körper verbrannt werden. Die Nährstoffe vermögen sich also gegenseitig in Gewichtsmengen zu ersetzen, welche die gleichen Vorräte an nutzbarer Energie enthalten. Das Wesentliche dieser Entdeckung liegt nicht etwa darin, daß diese äquivalenten Gewichtsmengen die gleiche Energie erzeugen, sondern daß sie dieselbe auch innerhalb der nämlichen Zeit hergeben. Der Organismus ist somit einem Ofen vergleichbar, dessen Wirkung unabhängig ist von

der Beschaffenheit des Brennmaterials. Aber nicht allein in Bezug auf die zu liefernde Wärme, die im ruhen-

den Organismus den bei weitem größten Anteil aller Leistungen ausmacht, haben isodyname Gewichtsmengen dieselbe Bedeutung, auch für die äußere Arbeit gilt nach N. Zuntz und seinen Mitarbeitern das gleiche Gesetz.)

Angesichts dieser Tatsachen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Nahrungsbedürfnis doch im wesentlichen ein Verlangen nach Energie sei.

Freilich herrscht das Gesetz der isodynamen Vertretung nicht mit unumschränkter Gewalt. Unter abnormen Bedingungen, bei hoher Um- gebungstemperatur und bei einer den Bedarf überschreitenden Zufuhr macht sich die Besonderheit der einzelnen Nährstoffe geltend. Diese Abweichungen von der Regel heißen nach Rubner spezifisch dyna- mische Wirkungen. Aber selbst wenn wir von diesen Ausnahmen absehen, enthält das Gesetz der Vertretungswerte immer noch einen hypothetischen Bestandteil. Es besagt doch zunächst nur, daß die gefundenen Zahlenwerte stets auftreten, wenn überhaupt ein gegenseitiger Ersatz stattfindet. Unter welchen Bedingungen und in welchem Umfange aber der Organismus von dieser Wahlfreiheit Gebrauch macht, ist eine Frage, die dabei noch offen bleibt. Werfen wir einen Blick auf die Kost der einzelnen Volksstämme, so lassen sich quantitativ aller- dings die größten Unterschiede beobachten: bald herrschen Eiweiß und Fett, bald Kohlenhydrate vor. Aber auch der an animale Kost gewöhnte Eskimo nimmt doch mit der Milch Milchzucker auf, mit dem Fleisch Spuren von Glykogen und Traubenzucker, so daß es den Anschein ge- winnt, als sei keiner der drei Nährstoffe gänzlich zu entbehren, wenig- stens nicht für den Menschen. Andere Erfahrungen liefert das Tierreich. Die von Fleisch und Fett lebenden Raubtiere können im ausgewachsenen Zustande vermutlich ohne nennenswerte Kohlenhydratmengen in der Nahrung auskommen, doch beweist der Lactosegehalt der Raubtiermilch, daß auch ihrem Organismus Kohlenhydrate keine fremdartigen Stoffe sind.

Diese Unterschiede in der Zusammensetzung der Nahrung lassen sich befriedigend aus der Eigenart der Organismen erklären. Wie die eine

12) Zuntz, N., Bedeutung der verschiedenen Nährstoffe als Erzeuger der Muskel- kraft. Archiv für die gesamte Physiologie 68, S. 191.

255 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

Maschine für Petroleum, die andere für Leuchtgas eingerichtet ist, so sind offenbar im Organismus des Pflanzenfressers günstigere Bedingungen für die Verwertung der Kohlenhydrate, im Körper des Fleischfressers gün- stigere Bedingungen für die Verwertung des Fettes gegeben.

Alle diese Erscheinungen wären verständliche, auch wenn wir die Nah- rung wie bisher nur als Betriebsmaterial betrachteten, doch reicht selbst unter dieser Annahme, wie man sieht, der bloße Kaloriengehalt zur Be- urteilung des Nährwertes nicht aus. Es ist nicht möglich, das Fett im Futter des Löwen durch Zucker zu ersetzen. Und wie schwer es beim Menschen hält, den Genuß der Kohlenhydrate einzuschränken, ist jedem Arzte bekannt.

Die Nahrung als Baustoäii.

Ohne Frage dient aber die Nahrung nicht ausschließlich als Brenn- material, sondern hat noch andere Aufgaben zu erfüllen. Wenn auch die lebenden Gewebe nicht in dem Maße zerstört werden, wie es sich seiner- zeit Liebig vorstellte, so ist doch manchen Zellen nur eine kurze Lebens- dauer beschieden. Um nur zwei besonders augenfällige Beispiele heraus- zugreifen, so werden rote Blutkörperchen beständig in der Leber eingeschmolzen, und die Epithelzellen der Milchdrüse sehen wir bei ihrer Tätigkeit in großem Umfange zerfallen. Von anderen Drüsen dürfte ähn- liches gelten. Zum Wiederaufbau aller dieser Gebilde ist nicht etwa nur Eiweiß erforderlich; wissen wir doch, daß auch Nukleine, Lecithin, Cholesterin und Salze zu den integrierenden Teilen aller entwicklungs- fähigen Zellen gehören und daß für manche auch Fette und Kohlenhydrate unentbehrlich sind. Wie es nun für die Erhaltung einer Maschine nicht genügt, das erforderliche Betriebsmaterial zu beschaffen, sondern die schadhaft gewordenen Teile von Zeit zu Zeit der Erneuerung bedürfen, so müssen wir auch für das nötige Baumaterial der neuzubildenden Zellen sorgen. Daß hier von einer gegenseitigen Vertretung der Nährstoffe nicht die Rede sein kann, versteht sich von selbst. Das Eiweiß des Proto- plasmas kann immer nur wieder durch Eiweiß, die Nukleinensäure in den Kernen nur durch Nukleinsäure ersetzt werden, und ebenso verhält es sich mit den Mineralbestandteilen. Zur Deckung aller dieser Verluste sind mit anderen Worten nur Stoffe der gleichen Zusammensetzung geeignet, oder um allen Einwänden aus dem Weg zu gehen Substanzen, die ihrerseits das verlorene Material chemisch zu bilden vermögen.

Freilich läßt sich von vornherein nicht einsehen, warum die Gewebs- trümmer nicht zum Aufbau der neuen Gewebe verwendet werden können. In der Tat gibt es Fälle, wo ein Organ sich auf Kosten des anderen ver- größert. So beobachtete Miescher, daß die Geschlechtsorgane des hun- gernden Rheinsalms erheblich an Masse zunehmen, während die Musku- latur in gleichem Grade schwindet. Offenbar handelt es sich aber bei der Wiederherstellung der untergegangenen Gewebe um recht verwickelte chemische Vorgänge und wie im Laboratorium die Ausbeute einer Syn-

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 257

these niemals’ 100:% erreicht, so wird auch im Organismus immer nur ein bestimmter Bruchteil des zur Verfügung stehenden Materialsan der gerade günstigen Reaktionteilnehmen können. Soist es auch verständlich, warum anorganische Salze, die beim Zerfall der Gewebe in den Säftestrom ge- langen, durch Harn und Kot ausgeschieden werden, obwohl sie doch genügend Baustoff für die neuzubildenden Zellen bieten könnten. Die Stoffe sind vorhanden, nicht aber die en sie an Ort und Stelle zu aiistiieibeg.

"Neben den Sirtähzreriten aus zerstörten Geweben sind unter a rein stofflichen Abgaben die Rückstände der Verdauungssekrete zu nennen, insbesondere die Reste des Magen- und Pankreassaftes, die mit dem Kot den Körper verlassen. Alle diese Ausgabeposten fassen wir nach Rubner unter den Begriff der Abnützungsquote zusammen, gleich- viel, ob sie auf organisierte Gebilde oder auf formlose Massen zu beziehen sind. Zum Ersatz muß natürlich dem Körper mindestens ebensoviel Material durch die Nahrung wieder zugeführt werden, wie ihm entzogen war. Und so könnte man wohl für jeden einzelnen Nährstoff einen Mindestbetrag in der Nahrung fordern. Praktische Bedeutung hat aber diese Größe nur für das Eiweiß, das als Baumaterial alle übrigen Nähr- stoffe bei weitem überwiegt, ‘und in gewissen Fällen auch für die anorganischen Salze. Die zur Wiederherstellung der untergegangenen Zellen notwendigen Fett- und Kohlenhydratmengen sind augenscheinlich so gering, daß wir für ihre Zufuhr in der Nahrung nicht zu sorgen brauchen, denn bekanntlich läßt sich ein Fleischfresser ausschließlich mit magerem Fleisch ernähren, und für den Menschen würde jedenfalls dasselbe gelten, wenn die‘ Verdauungsorgane die den Bedarf deckenden Quantitäten be- wältigen könnten.

Die unentbehrliche Eiweißmenge.

Um nun die unentbehrliche Eiweißmenge, die wir für jede Nahrung Kissen müssen, zu finden, bietet sich zunächst der Hungerzustand. Auch im Hunger wird ja bekanntlich fortgesetzt Harn und Kot gebildet und man sollte denken, wenn wir so viel Eiweiß mit der Nahrung zuführen, wie im Hunger aus dem Körper entfernt wird, so wäre damit dem Bedürf- nis gerade genügt.‘ Dieser Schluß ist indessen verfehlt. Auffälligerweise läßt sich nämlich der Stickstoffverlust im Hunger durch Darreichung von stickstoffreiem Nährmaterial, insbesondere von Kohlenhydraten, noch weiter einschränken, der deutlichste Beweis, daß auch hier der aus- geschiedene Stickstoff nicht ausschließlich auf Baumaterial, sondern daneben auch auf Brennmaterial zu beziehen ist.

. ‚Da übrigens die Eiweißzersetzung im Hungerzustande von der voran-

gegangenen Ernährungsweise sowohl wie vom Fett- und Glykogen- gehalt des Körpers abhängt, kann sie gar nicht als unveränderlicher Normalwert gelten.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 17

258 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

Sicherer gelangen wir zum Ziel, wenn wir uns die Frage stellen: wieviel Eiweiß: ist mit der Nahrung zuzuführen, um einen Verlust von Körpereiweiß zu verhüten? Bekanntlich läßt sich der Organismus mit den verschiedensten Eiweißmengen ins Stickstoffgleichgewicht bringen, indem ‘bei gleichbleibender Ernährung sehr bald ein stationärer Zustand eintritt, wo innerhalb eines Tages ebenso viel Eiweiß zersetzt wird wie in der Nahrung enthalten war. Offenbar muß es aber in der Eiweißzufuhr eine Grenze geben, unterhalb welcher ein Stickstoffgleichgewicht nicht mehr zu erreichen ist. Dieser Grenzwert ist natürlich nichts anderes als die gesuchte Größe, deren Feststellung ohne Schwierigkeit gelingt. Wie aber. unter anderen die sorgfältigen von E,,.Voit und A. Korkunoff‘) an Hunden angestellten Untersuchungen.beweisen, handelt es sich auch hier nicht; um .eine absolute Konstante;; das physiologische Eiweiß- minimum läßt sich vielmehr durch Darreichung von Kohlenhydraten und Fetten noch weiter vermindern, ‘wie folgende Zahlen vor Augen führen: ee N

Die geringste zum :Gleichgewicht führende Stickstoffmenge betrug nach Versuchen an ein und demselben Hunde

bei’ Fütterung mit Eiweiß allein 12 gr, bei. gleichzeitiger Zufuhr ‚von: Fett 6—7.gr, bei Zugabe von Kohlenhydraten 5 gr.

Diese auf den ersten Blick auffallenden Resultate lassen sich dem Verständnis näher bringen, wenn wir mit Voit und Korkunoff die beiden wichtigsten Grundgesetze der Chemie zu Rate ziehen, die Gesetze der chemischen Verwandtschaft und der Massenwirkung.

Im Hunger lebt der Organismus bekanntlich hauptsächlich von Körperfett. Reichen wir dagegen Eiweiß, so wird dies wegen seiner größeren Zersetzlichkeit in großem Umfange als Brennmaterial ver- braucht, so daß zum Aufbau der Gewebe nur ein geringer Bruchteil übrig bleibt, während der Hauptteil dieser Bestimmung entgeht. So erklärt sich also zunächst, warum bei Zufuhr von Eiweiß allein verhältnismäßig so große Mengen zur Erzielung des Stickstoffgleichgewichtes erforder- lich sind.

Bieten wir aber Eiweiß und Kohlenhydrate zugleich, so hat der Körper zwischen drei Nährstoffen als Betriebsmaterial zu wählen, dem Eiweiß, Kohlenhydrat und Fett. Da nun die Kohlenhydrate gleichfalls leichter zerfallen als Fett, wird auch von ihnen ein beträchtlicher Anteil der Zersetzung unterliegen und dadurch indirekt eine gewisse. Eiweiß- menge vor der Zerstörung schützen. Darum brauchen wir auch jetzt weniger Eiweiß zuzuführen, um das Stickstoffgleichgewicht zu erreichen. Das Endresultat ist also bestimmt, nicht allein durch die größere oder geringere Zersetzlichkeit der Nährstoffe, sondern daneben auch durch

13) E, Voit u. A, Korkonoff, Über die geringste zur Erhaltung des Stickstoffgleich- gewichts nötige Eiweißmenge. Z. f, Biol, 32, S. 102,

Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung. 259

die Mengen, in welchen sie den tätigen Geweben zuströmen. Die Zer- setzlichkeit können wir auf eine Stufe stellen mit der chemischen Affi- nität; im Einfluß der dargebotenen Mengen erkennen wir unschwer das Gesetz der Massenwirkung wieder.

Am besten lassen sich die hier herrschenden Gesetzmäßigkeiten an einem einfacheren Beispiel aus der anorganischen Chemie übersehen: Es sei die Frage gestellt: was wird geschehen, wenn 1 Äquivalent Salpeter- säure auf 1 Äquivalent Natriumsulfat wirkt? Nach der früheren, den Tatsachen keineswegs gerecht werdenden Regel von Bergmann müßte die Salpetersäure als die stärkere die schwächere Schwefelsäure voll- ständig aus der Verbindung austreiben. Bei unbefangener Betrachtung sieht man aber sofort, daß sich die Sache so: nicht verhalten kann; die chemische Anziehung der Schwefelsäure muß sich ebenfalls geltend machen; beide Säuren werden sich in die vorhandene Alkalimenge teilen nach Maßgabe ihrer Stärke und Menge, und zwar reißt unter den an- genommenen Bedingungen die Salpetersäure % Äquivalent des Alkalis an sich, während 4 mit Schwefelsäure verbunden bleibt, ein Ergebnis, das durch Messungen W. Ostwalds festgestellt wurde. Da beide Säuren in äquivalenten Mengen zugegen sind, ist die Wirkung der Masse hier ausgeschaltet; die erhaltenen Zahlen drücken lediglich die chemische Verwandtschaft der beiden Säuren zum Natron aus, Wir haben es aber offenbar in der Hand, durch Hinzufügen von Schwefelsäure das Teilungs- verhältnis zu ihren gunsten auf Kosten der Salpetersäure zu verschieben; sagt uns doch schon die einfachste Überlegung, daß unter sonst gleichen Umständen 2 Äquivalente Schwefelsäure mehr Alkali in Beschlag nehmen müssen als 1 Äquivalent.“) Ähnlich haben wir uns die Verteilung des durch die Zellen aktivierten Sauerstoffs auf Eiweiß, Fette und Kohlen- hydrate zu denken.

Die Schwankungen des physiologischen Eiweißminimums, wie sie in den angeführten Versuchen am Hunde auf das deutlichste hervortreten, können sich übrigens in der gemischten Kost des Menschen viel weniger bemerkbar machen. Worauf es uns bei praktischen Vorschriften in letzter Linie ankommt, ist ja auch viel weniger der niedrigste Eiweißbedarf über- haupt, als der niedrigste zulässige Eiweißwert bei den üblichen Nahrungs- gemischen.

Der Eiweißbedarf des Menschen.

Über die geringste Eiweißmenge, welche die Nahrung enthalten muß, ist bekanntlich ein langer Streit geführt worden, wobei aber, wie Rubner *)

14) Auch unsere moderne Vorstellung von der elektrolytischen Dissociation der gelösten Stoffe vermöchte bei aller Verschiedenheit der Auffassung weder den be- herrschenden Gedanken, noch das Endresultat dieser Überlegung wesentlich zu ändern; darum konnte mit gutem Grund davon abgesehen werden.

15) M. Rubner, Volksernährungsfragen. Leipzig 1903, S, 4. Der Leser findet eine eingehende Kritik der einschlägigen Versuche in dem angef. Werk von Rubner, sowie bei O. Cohnheim, Die Physiol. der Verdauung u. Ernährung. Berlin-Wien 1908, S. 43,

14”

260 Krummacher: ‚Wert und: -Unwert der .Kalorienrechnung.

bemerkt, die: theoretische und praktische Seite der. Frage nicht immer auseinander gehalten wurde, Und doch. ist hier eine strenge: Scheidung geboten. Denn angenommen, wir: hätten die unersetzliche Eiweißmenge mit der größten Genauigkeit bestimmt, so wäre ‚es doch. gewagt, sie.als Kostnorm aufzustellen. Ein wohlwollender Haushalter wird: stets‘ einen Überschuß fordern, ‘damit nicht geringe: Abweichungen von jenem Schwellenwerte Eiweißverluste im Gefolge haben, zumal schon nach den bisherigen Darlegungen‘ von einer absoluten Konstanten doch nicht. die Rede sein kann. Dazu kommt: nun noch die erst in jüngster. Zeit klar erkannte Tatsache, daß die Eiweißkörper in ihrer Fähigkeit, den Eiweiß- verlust zu verhüten, keineswegs gleichwertig sind. In dieser Hinsicht erwies sich nach Rubners‘) Untersuchung das Eiweiß der. vielge- schmähten Kartoffel allen anderen Eiweißarten überlegen. Die nahelie- gende Annahme, daß durchgängig die pflanzlichen Proteine minderwer- tiger seien, ist danach unzutreffend, eine Schlußfolgerung, zu der auch die vor kurzem von E. Voit und: J. Zisterer"”),an Hunden angestellten Ver- suche führen. Die Erklärung für das verschiedene Verhalten der einzelnen Eiweißstoffe liegt auf der Hand.: Zur Bildung des Zelleiweißes sind nur ganz bestimmte Atomgruppen tauglich, so daß immer ein größerer oder geringerer Bruchteil des resorbierten Materials als unbrauchbar abfällt und als Brennstoff verwandt wird. |

Wenn wir nun die Nutzanwendung aus allen Untersuchungen ziehen, so dürften etwa 100 gr. resorbierbares Eiweiß als Kostmaß für einen Men- schen von 70 kg nicht zu hoch gegriffen sein; es versteht sich aber von selbst, daß ein zwerghafter Japaner mit entpincbenkl geringeren Mengen reichen wird.

Haben wir somit unter den organischen Nährsubstanzen das Eiweiß als den einzigen Baustoff kennen gelernt, für dessen Zufuhr besonders zu sorgen ist, so sind noch einige Worte den anorganischen Nahrungsstoffen zu widmen. Daß auch diese immer in genügenden, den: Verlust decken- den Mengen dargereicht ‚werden müssen, bedarf keiner Begründung. Wollten wir vollständig sein, so wären hier zu nennen: der Sauerstoff, das Wasser und die Salze. Praktische Bedeutung haben indessen. nur die Salze, da uns Sauerstoff und Wasser fast immer in reichlichen Mengen zur Verfügung stehen und sich überdies ihre Aufnahme von selbst durch Reflexe und Triebe regelt. Hierzu bedürfen wir keiner Vorschrift.

Bedeutung der Nährsalze.

Doch an Salzen könnte es unter Umständen fehlen. Wird zu wenig Eisen aufgenommen, so leidet die Blutbildung; mangeln Kalk- salze in der Nahrung, so werden Knochen und Zähne geschädigt. Ob

16) M. Rubner, Velksernährungsfragen, S. 20. 17) E, Voit u, J. Zisterer, Bedingt die verschiedene Zusammensetzung der Eiweiß- körper auch einen Unterschied in ihrem Nährwert? Zeitschr. f, Biol. 53, S. 158.

Krummacher: Wert und: Unwert der Kalorienrechnung. 261

freilich die freigewählte Kost einen derartigen Mangel an 'Mineral- bestandteilen jemals befürchten läßt, ist wenig wahrscheinlich, wenig- 'stens wenn wir ünsere Betrachtungen auf:den erwachsenen Menschen ‚unter normalen Bedingungen beschränken. : Um aber darüber ent- ‚scheidend urteilen zu können, müßte jedenfalls zunächst einmal der Bedarf des Organismus an den einzelnen Mineralbestandteilen iest- gelegt werden, eine Aufgabe, zu deren Lösung die umfangreichen Unter- suchungen von G. v. Wendt‘) in Helsingfors einen wertvollen Beitrag liefern; dann erst ließe sich die weitere Frage prüfen, ob unter den ge- gebenen Bedingungen der Salzgehalt der Nahrung stets genügt oder nicht. Dagegen ist es natürlich gänzlich verfehlt, den Wert eines Nahrungsmit- tels lediglich nach der prozentischen Menge seiner Bestandteile zu be- messen, mag es sich dabei um organische oder anorganische Stoffe

handeln. n Genußmittel.

-. .. Daß endlich in einer zureichenden, allen Anforderungen genügenden Nahrung auch die Genußmittel nicht fehlen dürfen, brauche ich nicht aus- zuführen, da dieser Gegenstand gerade in der letzten Zeit wiederholt be- handelt worden ist. Und man sieht auch sofort, daß alle hier in Betracht kommenden Reize nichts mit dem Energieinhalt der wirkenden Stoffe zu tun haben.

Fassen wir zum Schluß die Ergebnisse unserer Erörterungen kurz zusammen, so lassen sich folgende Forderungen für eine zureichende Nah- rung aufstellen:

1. Der Brennwert der organischen Nährstoffe, Eiweiß, Fett und Kohlenhydrat, muß den Energiebedarf decken. Eine Nahrung, die nicht die nötige Kalorienzahl aufweist, ist unter allen Umständen unzulänglich, mag sie sonst noch so viele Vorzüge haben. Dabei möchte ich noch einen Punkt besonders hervorheben, der bei der Beurteilung der Kostraktionen vielfach übersehen wird. Da natürlich nur die resorbierten Nahrungs- mengen dem Körper zugute kommen, darf der Verlust durch den Kot nicht außer acht gelassen werden. Die vielen heutzutage vor- liegenden Ausnützungsversuche, wie sie u. a. von Rubner und Prausnitz bei verschiedener Ernährungsweise angestellt wurden, haben uns indessen eine reiche Fülle von Zahlenwerten an die Hand gegeben, die für die meisten Fälle des praktischen Lebens genügen dürften; nur ausnahms- weise wird es nötig sein, die Verbrennungswärme des Kotes zu bestimmen.

Eine Nahrung mit ausreichendem Kaloriengehalt braucht aber noch

keineswegs den übrigen Anforderungen zu genügen, wir müssen

2. verlangen: eine genügende Eiweißmenge, für einen Er- wachsenen mittlerer Größe etwa 100 gr.

18) G. v. Wendt, Untersuchungen über den Eiweiß- und Salz-Stoffwechsel beim Menschen, Scandinavisches Archiv f. Physiol. 17, 1905, $, 212,

262 Krummacher: Wert und Unwert der Kalorienrechnung.

Endlich ist 3. für die nötigen Mineralstoffe und Genußmittel zu sorgen.

Es ist wohl überflüssig, darauf hinzuweisen, daß sich der Bedarf nach den Leistungen richtet, daß also ein arbeitender Organismus mehr Kalorien braucht als ein ruhender, ein wachsender und ein durch Krank- heit heruntergekommener verhältnismäßig mehr Baumaterial bean- sprucht, als ein gesunder, ausgewachsener Körper. Für alle hierher- gehörenden Fälle liefert die moderne Stoffwechselphysiologie die wissen- schaftliche Grundlage zur Aufstellung von Kostregeln. Doch muß ich auf eine Erörterung derselben, als außerhalb des Themas gelegen, verzich- ten. Wer sich darüber zu unterrichten wünscht, wird in den einschlä- gigen Lehrbüchern alles Wissenswerte finden. Im Wesen meiner Aufgabe konnte es nicht liegen, bestimmte Vorschriften zu geben, meine Absicht war vielmehr durch Erörterung der Leitgedanken, welche die heutige Ernährungslehre beherrschen, dem Praktiker das eigene Urteil zu erleich- tern, damit der schon von Kant bekämpfte Gemeinspruch: „es mag etwas in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis”, immer mehr an Geltung verliere.

Aus der medizinischen Klinik des städtischen Krankenhauses,

Über das Verhalten der eosinophilen Leukozyten bei der croupösen Lungenentzündung. Von Prof. Arneth.

"Sämtliche Studien über das Verhalten der eosinophilen weißen Blut- körperchen bei der akuten croupösen Pneumonie, die bisher ausgeführt worden sind, betreffen ausschließlich deren quantitatives- Verhal- ten. Es handelt sich also dabei um einfache Zählungen der in den ver- schiedenen Phasen der Pneumonie im Blute zirkulierenden eosinophilen Zellen.

Die Situation in dieser Hinsicht ist eine ähnliche, wie sie vor ca. 8 Jahren ganz allgemein bezüglich der neutrophilen Leuko- eyten war. Auch da hatten die quantitativen Verhältnisse die sämtlichen Untersuchungen beherrscht, nur mit dem Unterschiede, daß man bereits auf das Vorkommen von neutrophilen Markzellen bei einer Anzahl von Erkrankungen aufmerksam geworden war, ohne jedoch diese Beobachtung zum Ausgangspunkte eingehenderer qualitativer Studien zu machen. Ich habe dann in einer Reihe von Arbeiten, denen sich zahlreiche von anderen Autoren angeschlossen haben,‘) die Verhältnisse bei den neutrophilen Leukocyten, der nume- risch wichtigsten Klasse der weißen Blutkörperchen, festzustellen ver- sucht. Eine große Reihe neuer Gesichtspunkte, besonders auch mit Rück- sicht auf die bisher geltenden Anschauungen über das Wesen der Leuko- cytose und Leukopenie sowie damit zusammenhängende Fragen, wurden dabei gewonnen.

Wie notwendig auch unsere bisherigen Anschauungen über das Ver- halten der eosinophilen Leukocyten einer durchgreifenden Revision zu unterziehen sind, soll Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Mit Vorliegendem soll der Anfang dazu gemacht werden durch möglichst er- schöpfende Klarstellung der Beziehungen, die sich zwischen dem quanti- tativen und qualitativen Verhalten der eosinophilen Leukocyten bei der croupösen Pneumonie ergeben.

Wir übergehen hier eine ausführliche Berücksichtigung des Verhal- tens der Gesamtleukocytenzahlen im Verlaufe der croupösen Pneumonie. Ich habe im Jahre 1904 davon eine zusammenfassende Darstellung °) ge- geben, die auch heute noch giltig ist und auf die verwiesen sei. Es ergab sich ein durch die allerschärfsten Gegensätze gekennzeichnetes Bild ihres

1) Die diesbezügliche Literatur wird von mir demnächst an der Hand eines Refe- rates eingehender in den „Beiträgen zur Klinik der Infektionskrankheiten und der Im- munitätsforschung” besprochen werden.

?2) Die neutrophilen weißen Blutkörperchen, Jena 1904, Seite 24,

264 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung,

Verhaltens, das nur mit Hilfe der qualitativen Untersuchungsmethode dem Verständnisse näher gerückt werden konnte.

Was die speziellen Mischungsverhältnisse der eo- sinophilen Leukocyten, die uns hier vor allem interessieren, be- trifft, so ist die von mir (l..c.) seinerzeit gemachte Zusammenstellung der Ansichten der Autoren ebenfalls noch gültig, etwas wesentlich Neues ist auch hier nicht hinzugekommen. Wir müssen sie unseren weiteren Aus- führungen vorausschicken: |

Die-Eosinophilen sind auf der Höhe der Erkrankung fast verschwunden

und kehren meist vor der Krise wieder, so daß ihr Auftreten eine günstige Be- deutung haben könnte.

Das Verschwinden der Eosinophilen auf der Fieberhöhe ist unabhängig von dem Verhandensein oder Fehlen der Leukocytose; wenn aber eine solche besteht,

so scheint die absolute Verminderung so lange anzuhalten, bis die. Zahl der Weißen wieder zur Norm zurückgekehrt ist.

Die Eosinophilen kehren oftmals, aber nicht konstant, schon 1 bis höchstens 2 Tage vor Beginn der Krise, so gut wie immer aber gleichzeitig mit dieser oder mit dem Beginn der Lysis in spärlicher Zahl zurück und nehmen dann ungleich rasch zu. Sie können selbst beträchtlich vermehrt sein; gewöhnlich bedeutet ihr Auftreten, daß die Infektion den Höhepunkt überschritten hat, es ist darum prog-

nostisch günstig; wenn sie hohe Zahlen erreicht haben, kann man wohl mit Sicher- heit die Infektion für erloschen betrachten.

Nach anderen treten die Eosinophilen erst nach überstandener Krisis wieder auf.

K. Meyer hat im Jahre 1905°) eine sehr eingehende, im wesent- lichen literarische Studie über „die klinische Bedeutung der Eosinophilie“ veröffentlicht; sie berücksichtigt nur die RER, Verhältnisse.

Das gleiche Thema hat dann Stäubli*) neuerdings mousigarhinch behandelt. ‘Er hat zwar meine damals soeben erschienene Arbeit über das normale eosinophile Blutbild (s. u.) im Literaturindex erwähnt, ist . aber im Texte nicht darauf eingegangen. Ich habe in dieser Arbeit’) über das normale eosinophile Blutbild durch die Feststellung dieses den Maß- stab für die Beurteilung von Veränderungen desselben unter pathologi- schen Verhältnissen angegeben. Das Nähere hierüber s. u.

Die einzige Arbeit, die sich im Anschlusse an meine Arbeit bereits mit qualitativen Studien bei den Eosinophilen beschäftigt, ist die von Roth.) Roth hat jedoch nur das Blutbild bei Scharlach und Leukämie untersucht.

Naegeli (Blutkrankheiten und Blutdiagnostik, II. Aufl., 1912) schil- dert das Verhalten der Eosinophilen bei der Pneumonie wie folgt:

„Die Eosinophilen fehlen völlig oder sind enorm selten bis gegen die Zeit der Krise. Oft tauchen die ersten Exemplare einen Tag, seltener

3) Von der mediz; Fakultät der Univ. Rostock preisgekrönt. Berlin, S. Karger. 106 S. Ausführliche Literatur bis 1905 (414 Nummern).

#) Ergebnisse der inneren Medizin und Kinderheilkunde, VI Bd. J. Springer, Ber- lin. Literatur bis 1910 (101 Nummern).

5) Deutsches Archiv für klin. Medizin 1910, 99, Bd., 1. u. 2. Heft.

6) Deutsches Archiv für klin, Medizin, 102, Bd., 1911.

Ameıh: Die dovinophileis Leukozyten‘ bei der croup. Lungenentzündung. 265

zwei Tage vor der Krise auf, nehmen nach der Enitfieberung zu und führen zu postinfectiöser Eosinophilie. An sich ist das Auftreten dieser Zellen günstig, da sie eine Abnahme der Intoxikation anzeigen.”

"Türk (Klinische Hämatologie 1912, II, 1, S. 271) betont, daß die Eosinophilen bei akuten bakteriellen Infektionen eine dem Verhalten der Neutrophilen geradezu entgegengesetzte Rolle spielen. Sie verschwinden entweder ganz aus dem Blute oder sind nur sehr spärlich vorhanden. Bei der croupösen Pneumonie kehren sie kurz vor der Krise wieder. In der Rekonvaleszenz kann sehr häufig eine ganz ausgesprochene, wenn auch selten höhergradige Vermehrung eintreten = postinfectiöse Eo- sinophilie. Eine auffällige, frühzeitige und starke Eosinophilie scheint nach Türk s Beobachtung gelegentlich einen abortiven Krankheitsverlauf anzeigen zu können.

In dem Lehrbuche von Grawitz (Klinische Pathologie des Blutes, 4. Aufl., 1911) finden sich keine weiteren Details.

Begreiflicherweise war es nicht verlockend, an Untersuchungen zu gehen, bei denen von vorneherein mit einem Verschwinden oder sehr spärlichen Auftreten der zu untersuchenden Zellen gerechnet werden mußte, Die Feststellungen gestalteten sich denn auch sehr mühsam und schritten nur langsam vorwärts. Es mußten für jede der zahlreichen Ein- zeluntersuchungen immer in mindestens je zwei Präparaten (zusammen- gehörige Deckglaspräparate vonder Größe 21:26 mm) behufs Feststel- lung des Prozentsatzes der Eosinophilen 500 Leukozyten gezählt werden; meist wurde der Prozentsatz, um möglichst zuverlässige Resultate zu er- halten, aus 1000 gezählten Zellen berechnet.

Zur Auffindung einer genügenden Anzahl von Eosinophilen zur An- legung des Blutbildes oder behufs Feststellung, ob sich überhaupt eosino- phile Zellen im Blute befänden, mußten sehr oft die ganzen Präparate von

der ersten bis zur letzten Zelle mit dem Kreuztische aufs Genaueste durchmustert werden.

Die Anlegung der eosinophilen Blutbilder geschah nach denselben Gesichtspunkten wie bei den neutrophilen.

Es handelt sich um eine Klassifizierung der Zellen in 1-5 Klassen auf Grund der Beschaffenheit des Kernes, d. h. je nachdem der Zellkern aus 1, 2, 3, 4 etc, Kernteilen zusammengesetzt ist, wird die betreffende Zelle in die 1., IL. III IV. etc. Klasse eingereiht. Die Kernteile können eine runde Form (K) oder eine mehr oder weniger ausgesprochene Schlin- genform (S) haben. Die besonderen Eigentümlichkeiten der Kernbeschaf- fenheit der Eosinophilen gegenüber der der Neutrophilen sind in meiner Arbeit über das normale eosinophile Blutbild (l. c.) besprochen. Die fei- nen Verbindungsbrücken der einzelnen Kernsegmente dürfen bei der Be- stimmung einer Zelle nicht berücksichtigt werden, was als der wichtigste Grundsatz gelten muß. Meist erhalten wir im Gegensatz zu den Neutro- philen, wo das Blutbild mehr „nach rechts”, bis in die 4. und 5. Klasse ent-

»

266 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

wickelt ist, bei den Eosinophilen nur 3 Klassen von Zellen, gelegentlich auch deren 4.

Die I. Klasse enthält in den vorliegenden Untersuchungen fast aus- schließlich nur eine Art von Zellen, nämlich solche, deren einziger Kern- teil eine Schlingenform aufweist, die aber viel einfacher gestaltet ist, als bei den entsprechenden neutrophilen Zellen; bei diesen hatten wir die Zellen wegen der tiefen Einbuchtung des Kernstabes (polymorphkernig) als T-Zellen bezeichnet. Obwohl es sich bei den Eosinophilen also nicht um so tiefeingebuchtete Kernteile wie bei den Neutrophilen handelt, ha- ben wir doch diese Bezeichnung der T-Zellen in der I. Kl. der Einfachheit halber beibehalten, Myelocyten = M-Zellen:haben sich bei sämtlichen Untersuchungen überhaupt nicht gefunden und nur ganz vereinzelt W- Zellen (Kern wenig eingebuchtet, nicht bis zur Mitte des rundgedachten Zellkerns). Es konnten daher in der I. Kl. die Kolumnen für diese beiden Zellarten ganz weggelassen werden (siehe jedoch Fall 2). |

Aus dieser Einengung des Blutbildes nach rechts und nach links er- gibt sich also von selbst, daß der Schwerpunkt des eosinophilen Blutbildes um die II. und III. Kl. balanciert. In diesen beiden Klassen sind daher meist alle Unterabteilungen besetzt. Klasse Il hat die 3 Unterabteilungen:

2K (Kern aus zwei rundlichen Kernteilen), 2S (Kern aus zwei schlingenförmigen Kernteilen), ° 1K1S entsprechend.

Die Klasse III hat deren 4: 3K, 3S, 2K1S, 2S1K.

Die Klasse IV 5: 4K, 4S, 3K1S, 3S1K, 2K2S,.

Für das normale eosinophile Blutbild beim gesunden Er- wachsenen haben sich folgende Durchschnittswerte ergeben:

I. Ki. II. Ki. II. Ki. IV. KL 11% 69 % 19 % 1%

Die folgenden 16 Pneumoniefälle sind zum Teil in Münster beob- ‚achtet, zum größeren Teil entstammen sie noch dem Material des Julius- hospitals in Würzburg. Es sind dieselben, die ich in meiner Arbeit über die Neutrophilen’) untersucht habe, von denen also auch die neutrophilen Blutbilder genauestens bekannt sind. Aus dem Vergleich der beiden Blut- bilder werden sich gleichzeitig interessante Beziehungen ableiten lassen.

Die tabellarischen Angaben enthalten bei jedem Falle alles Wissens- werte über genauen Zeitpunkt der Blutuntersuchung, Gesamtleukocyten- zahl, Prozentsatz der Eosinophilen, absolute Zahl der Eosinophilen im ccm, und dann das ausführliche eosinophile Blutbild mit Angabe der Zahl der zu seiner Aufstellung im Mikroskope aufgesuchten Zellen. Soweit es möglich war, wurden immer je 50 eosinophile Zellen zu einem Blutbilde verarbeitet. Meist konnte in 2 zusammengehörigen Präparaten diese Zahl aufgefunden werden. Wo dies nicht möglich war wegen des allzu niedrigen Prozentsatzes, ist immer aus der letzten Rubrik genau zu ersehen.

?) Gustav Fischer, Jena, 1904,

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 267

Öfter konnten überhaupt keine eosinophilen Zellen aufgefunden werden, ‚selbst in 4 und mehr Präparaten nicht, zuweilen nur vereinzelte. Da sich natürlich einige wenige Zellen ohne große Fehler nicht zur Aufstellung eines auf 100 Prozent berechneten Blutbildes eignen, so wurde immer, wenn die Zahl der aufgefundenen Zellen 25 nicht erreichte, von der Be- rechnung auf 100 abgesehen. Eine gewisse Ungleichheit der Tabellen konnte so allerdings nicht vermieden werden.

- - Entsprechend dem außerordentlich mannigfachen Verlauf der crou- pösen Pneumonie bieten die beobachteten bezw. aus dem untersuchten Material ausgewählten Fälle genügend Variationen, wie aus folgender kurzer Zusammenstellung ersichtlich ist.. Es sind beobachtet:

Eintägige Pneumonien = Fall 1 und 2 Dreitägige ri =... 38 Viertägige " = 4 Fünftägige = ER BB Sechstägige . ==. 6 Funds Siebentägige = |

Neuntägige os u,

Pneumonien mit chronischem Verlauf, bezw. verzögerter Lösung und Komplikationen (dazu auch Fall 6) = Fall 11, 12, 13, 14 und 15.

. 1 tödlicher Fall (nach der Krisis) = Fall 16. Es sei noch daran erinnert, daß normalerweise bei 0,5—3,0 % Eosinophilen und 5--6000 Leukocyten (morgens) die absolute Zahl der Eosinophilen im Blute zwischen 25 und 180 pro cmm beträgt.

1. W., August, 42 Jahre, Kutscher, eingetr. am 2. III. 03.

Auf dem Kutscherbock morgens plötzlich erkrankt, kann gerade noch ins Hospital fahren, wo unter unseren Augen heftiger Schüttelfrost einsetzt, um 10 h vormittags. Stechen beim Atmen, Husten schmerzhaft.

Über dem Mittellappen besteht bei dem sehr kräftigen und gut genährten Manne mäßige Dämpfung, Knistern, auch hinten über dem rechten Unterlappen leichte Schallabkürzung. 39,3° i. an. nach dem Froste. Kein Sputum. Blut- untersuchung zwei Stunden nach dem Schüttelfroste (12% h). Um 2 h nachm.

starker Schweißausbruch, darnach 37,8 i. an. Abends und die ganze Nacht hin- durch Schweiß. (Krisis.)

3. HI. 37,0° morgens. Dämpfung über dem Mittellappen stark, wenig deutlich über dem Unterlappen, Knistern reichlich in der Achselhöhlengegend.

6. III. Unterlappen frei, über Mittellappen Schall noch nicht aufgehellt; anhaltendes Knistern. Eiweiß nie im Urin. Normal bleibende Temperatur.

10. III. Die Aufhellung des Mittellappens macht nur geringe Fortschritte: Knistern, auch Reiben, sehr deutlich in der Achselhöhle bis zur Mamillarlinie hin.

18. III. Immer noch Knistern und Reiben, manchmal hörbar. Atmungs- geräusch wieder vorhanden. Schall fast hell.

29. IV. Entlassung in bestem Wohlbefinden auf Wunsch; vollständig hell und voll ist der Schall aber immer noch nicht.

268 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung,

. _

SEE BES. nn 3 LE Tages- Erz & „92 S Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum „1884180 05° : /bilde ver- zeit SENSE jv; arbeiteten 2 0 Sa Ur mer. ki | Zellen T|2K|2Sj1K1 SET 3S|2K 15125 IKSK 1S 2. Il. 03 112!/,h | 4000 In mehreren Präparaten 2 Zellen =1K1S 3. II. 03) 1%/,h| 5100 | 0,6% 31 7148] 20 1201—| .7 3 | 130 (meh- rere Prä- parate) 6. 11. 03112'/, h! 5100 | 0,44% 22 I—\ 113 31-1 1 a BE 8 10. III. 031123/;h| 5000 | 0,7%! 35 |1ı—| 2 2 111-1 | 5 18. III. 03|112%/,h | 6000 | 0,2% ı2 I—|1| 1 1!—|—| 11 I 4 29. III. 03112! h| 5800 | 1,0%. 58 I | 3 3 7:—1-1 1 | 1 14

Der Fall (4stündiger Verlauf) ist an sich ein sehr seltener und nur durch Zufall beobachtet. Bei einem im Schüttelfrost eingetretenen Pa- tienten wird zwei Stunden nachher die 1. Blutuntersuchung ausgeführt; weitere zwei Stunden später schon typische Krise; verspätete postkri- tische Infiltration, die sich aber bald wieder aufsaugt; bei sämtlichen Untersuchungen „normale‘ Leukocytenzählwerte, bei der 1. Untersuchung verminderte Zahl; nur geringe Verschiebungen im neutrophilen Blutbilde nach links {l. c.); bei den Eosinophilen kein vollständiges Ver- schwinden aus dem Blute in der Mitte des nur 4stündigen Verlaufs, aber ein äußerst niedriger Prozentsatz; nach der Krise erhebt sich die Zahl der Eosinophilen nicht über die niedrigsten Normalwerte; innerhalb drei Wochen nach der Krise ist keine nennenswerte Änderung zu verzeichnen. Besondere Beachtung verdient das Blutbild am 3. IIL, das wir als „nach rechts“ (I, Klasse fehlt, III. ist zahlreicher) entwickelt bezeichnen. Eine Beteiligung der Eosinophilen während der ganzen Dauer kann also nicht angenommen werden, im Gegenteil sehen wir eine Hypernormocytose (nach der bei den Neutrophilen eingeführten Ausdrucksweise) mit Ent- wicklung nach rechts; es ist dies ein Befund, den wir bei den Neutro- philen gleichfalls nur dann erhoben, wenn wir ihre Tätigkeit beschränkt (Hungerzustand) annehmen mußten oder ihr Betroffensein nicht in Frage stand (perniciöse Anaemie).

2. Schm., Leonhard, 26 Jahre, Hausdiener, eingetr. am 12, IV. 03.

Immer gesund, sehr kräftig; seit 14 Tagen an Nasenkatarrh leidend; am 12. IV. vormittags (um %10 h) Schüttelfrost, dann Fieber (39,5°), Schmerzen beim Atmen links, Husten, Erbrechen, Kopfschmerz. % St. nach Schüttelfrost (10 h) bereits blutiges Sputum.

Ein Lungenentzündungsherd ist nirgends nachweisbar, doch beweist das exquisite reichliche pneumonische Sputum. das Vorhandensein einer solchen (central). 1. Blutuntersuchung 7 Std. nach Schüttelfrost bei 38,9° i. a.

13. IV. In der Nacht Krisis; 36,8° am Morgen. Die Schmerzen in der linken Seite bedeutend geringer, Sputum noch recht pneumonisch, rostbraun, zäh, reichlich; kein Lungenbefund (nirgends Bronchophonie). Abends 36,8 °.

16. IV. Bis jetzt Auswurf noch rubiginös. Heute erstmals links hinten unten Befund: relative Dämpfung mit tympanitischem Beiklang, leises exspira- torisches Bronchialatmen, schwache Bronchophonie,

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten. bei der croup. Lungenentzündung. 269 BR 17. IV. Kein BETT SEEE RER ER

.18. IV. Gestern und heute Zunahme der Dämpfung, die nun vom Schulter- blattwinkel ab stärker entwickelt ist; schwache Bronchophonie, schwaches Bron- chialatmen, abgeschwächter Pektoralfremitus; Probepunktion negativ.

20. IV. Vereinzelt deutliches Knistern, Schall noch etwas relativ gedämpit;- leises. Bronchialatmen, schwache Bronchophonie; Pektoralfremitus abgeschwächt.

24. IV. Alle Erscheinungen über dem Unterlappen sind verschwunden, nur noch etwas verschärites Vesikuläratmen.

2. V. Entlassung als geheilt. Im ganzen Verlaufe nur eine Spur Eiweiß. Die Temperaturen waren: 16. IV. 36,6 °—37,1°; 17. IV. 37,1° früh und abends; 18. IV. 36,8°—-37,3°; 19. IV. 36,6°-37,4°; 20. IV. 36,8° 37,1% 21. IV. 36,6° bis 36,7°; von nun ab unter 37,0°.

BE - e s= 2 Ei Zahl der Saden Biss Een 2 ZSSS| _Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum | Tageszeit 58 E 3 ERS Bi bilde ver- ab AeR 358 > IF „© arbeiteten . 2 & Sä8SZELKL CK | I. Kl. Zellen ak EIER TE: 3K\3Sj2K1S) 25 1K| 12. 1V.03 ı/,4h_ | 13600 1 Zelle in mehreren Präparaten = 2S 1K 13. 1V.03 | 111% h | 6400 | 32% 1s0 | 15 | 7lsol wm |I2el2el 3 | 2 40 14.1V.03 | 11%/,h | 6100 | 4,5%] 274 | 12 \16]a0| 2 |6|—| 2 | 2 50 | Wit | ‚19.IV.03 | 12:/,h | 7000 | 88%] 620 | 21a 01a] 22 |2|2| 2 | 2 50 21.1V.03 | 12 m [5400 [10,2% 540°) 6 | 8[50| 28 1—|—| 4 | 6 50 25.1V.03 | 11%,h [5200 | 84%| #7 | 6 | oje] 0 1—|—| 2 | 2 50

_ Auch in diesem Falle (Pneumonie von ca. 12stündiger Dauer) sind 7 Std. nach dem Schüttelfroste die Eosinophilen nicht ganz verschwunden; am-folgenden Tage sind sie in normaler Zahl bereits wieder im Blute, ihr Blutbild ist hochnormal; das neutrophile Blutbild (cfr. meine Mono- graphie) zeigte im Gegensatze an diesen beiden Tagen seine stärkste Schädigung, also wiederum ein gegensätzliches Verhalten, das sich nun auch im Verlaufe weiter gegensätzlich verhält; denn während das neutro- phile Blutbild zugleich mit Rückgang der Gesamtleukocytenzahl zur Norm

sam. zurückkehrt, haben wir bei den Eosinophilen einen Umschlag ins Pathologische: mit einer Vermehrung der Zellen („Eosinophilie”) bis zu 10,2 % tritt eine Verschiebung des Blutbildes nach links zutage; beide Veränderungen sind auch bei Abschluß der Untersuchungen noch nicht wieder verschwunden. Diese eosinophile postpneumonische Hypo- hypercytose bestand also noch 12 Tage nach der Krise. Es handelt sich um einen Zustand, der als postinfectiöse Eosinophilie bekannt ist. Wir werden dieselbe noch öfter bei den folgenden Pneumoniefällen vorfinden, es sei aber hier betont, daß sie in keinem der anderen wieder so ausge- sprochen zur Beobachtung kam; in keinem der anderen Fälle wurden auch, wie hier, W-Zellen dabei gefunden.

3. L., Heinrich, 58 Jahre, Bergmann, jetzt Invalide. Eintritt am 13, VII. 11. Früher „fliegende Gicht”, Rippenfellentzündung, vor 2 Jahren Lungenentzündung, letztes Jahr Rheumatismus. Nach Erkältung am 11. VII. am 12. VII. Schüttel- frost, Kopfweh, Husten, Schmerzen in der linken Brustseite beim tiefen Atmen.

270 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

Mittelkräftiger, mäßig gut genährter Mann. Temp.: 39,5°, Puls: 120. Links hinten von Mitte des Schulterblatts ab relative Dämpfung, nach unten zu absolut. Überall feines Knistern neben mittelgroßblasigen Rasselgeräuschen. Pektoral- fremitus leicht verstärkt (I. Stadium). Wenig Albumen.

14, VII. Deutliches Bronchialatmen.

15, VII Kritischer Temperaturabfall; Aufhellung der Dämpfung von oben her, überall Knistern, unten noch relative Dämpfung.

18. VIL. In Handbreite noch hinten unten relative Dämpfung, überall Knistern. Eiweiß seit 16. VII. verschwunden.

20. VII. Nahezu normaler Perkussionsschall, etwas Knistern, Aalen) Vesikuläratmen. 24. VII. Noch vereinzeltes kleinblasiges Rasseln, sonst normaler Befund.

Seit Krisis normale Temperatur.

14, VIII. Geheilt entlassen. = |®3 EE Zahl der ES 275888 Eosinophiles Blutbild zum Blut- „Datum |Tageszeit SE 992159 er bilde ver- 58|8,26,.s arbeiteten RER 3 - SE l. Kl. I. Kl. I. Kl. Zellen | T.|2K|2sj1K1sj3k|3sj2K 18/25 1K| In mehreren Präparaten keine | 14. VII. 11| 121), h | 15400 eosinophile Zelle In mehreren Präparaten nur 15. Vil.11| 1%, h .| 12200 1 eosinophile Zelle = 25 18. Vll.11} 5%/, h | 5200) 1,4% | 73 4 112136] 32 1 —|—| 16 | 25 20. VII.11| 11%, h | 7800| 0,4%. 31 14 11.6.1541 18 12|2|14 | 1% 50 22. VII. 11| 111, h | 7700| 0,2% | -15 19.116142] 3.1—|— |-— | 38 _ 24. VII. 11| 11%, h 5400 | 0,2% | 11 12 112)64 | 8 I —|—| 4 235 27.Vll.11l 122 h 9600 | 0,2% | 19 4|12|48| 16 |8 | 4 4 4 25

Dieser dreitägige Pneumoniefall zeigt auf der Höhe der Erkrankung (14. VIL) keine Eosinophilen im Blute, aber schon unmittelbar nach der Krisis sind sie in vereinzelten Exemplaren wieder vorhanden.

Wie in den beiden ersten Fällen und auch in allen diesbezüglich in Betracht kommenden (die meisten), so ist auch hier ersichtlich, daß die ver- einzelt vor bezw. kurz nach der Krisis aufgefundenen Eosinophilen nicht etwa der I., der am jugendlichsten Klasse, sondern fast samt und sonders der IL, III. und IV. Klasse angehören; würde man immer genügend Zellen auf- finden können, so dürfte demnach mit Sicherheit gesagt werden, daß es sich vor und kurz nach der Krisis immer um ein stärker nach rechts ent- wickeltes oder doch normales Blutbild bei äußerst reduzierter Gesamtzahl der Eosinophilen handelt (Hyperhypocytose bezw. Normohypocytose).

Daß dieser Befund in den folgenden Tagen nach der Krisis immer gegeben ist, haben wir schon bezüglich des 1. und 2. Falles betont; auch hier ist es wieder der Fall, indem der Blutbefund am 18. VIL als eine leichte Hypernormocytose zu betrachten ist. Es ist dies auch in den folgenden Fällen immer wieder so, ein sicherer Beweis, daß auf der Höhe der Pneumonieerkrankung und kurz vor und nach der Krisis keinerlei qualitative Schädigung der Eosinophilen besteht, vielmehr im Gegenteile

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 271

nur eine Weiterentwicklung, nur eine stärkere Fragmentation des Kernes. Der Beweis hierfür wird später bei den chronischen Pneumonien auch noch direkt zu führen sein, da wir dort in der Lage waren, mehr Zellen im Blute aufzufinden.

Der weitere Verlauf des 3. Falles weist nun nicht wie der zweite Fall eine postpneumonische Eosinophilie auf, sondern im Gegenteil fort- laufend bis 14 Tage nach der Krise eine Verminderung der Zahl und da- bei ein durchgehends stärker nach links verrücktes Blutbild (Anisohypo- cytose). Ob bei weiter fortgesetzter Untersuchung nicht noch eine Eo- sinophilie zu verzeichnen gewesen wäre, muß dahingestellt bleiben. 4. H. Amalie, Näherin, 64 Jahre, eingetr. am 27. XI. 11. Als Kind Lungen- ‚en zündung, sonst immer gesund. Am 26. nachm. Schüttelfrost, Erbrechen, Seiten- „stechen, Husten. sstocırRechter Unterlappen gedämpft, besonders stark nach unten zu; lautes Bron- ""chialatmen;' Pektoralfremitus fast aufgehoben; charakteristisches Sputum. 29, XI. Herpes labialis. Im ganzen Dämpfungsbezirk Knistern. 30. XI. Krise.

0,5 Die Temperatur, die bisher um 39,0° verlief, schwankt noch mehrere Tage zwischen 36,8° und 37,6°. Gleichzeitig Aufhellung des Klopfschalles, Bronchial- atmen fast gänzlich verschwunden, nur noch spärliches Knistern, verstärkter Pektoralfremitus. Ab 6. XII. gänzlich fieberfrei.

Am 10. XII. plötzlich Temp. von 38,8°, aufgetriebener Unterleib, Ileus; durch Opium: Erscheinungen nach drei Tagen wieder verschwunden. Wegen dieser interkurrenten Affektion wurden die Blutuntersuchungen sistiert.

17. 1. 12. Geheilt entlassen.

——

zes GsE Zahl der Tages-| 58 23 532° Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum „SE Jegal58 bilde ver- zeit = 3 s Bir: N IV. arbeiteten | 38 25 B5Z uk. M.KL | UK |) Zellen | T |2K|2S1K1S|3K|3S|2K1S'’2SIK|4K | In mehreren Präparaten keine 28. X1. 11 |111/; h 22400 eosinophile Zelle SER 1211277 Hl 18 re el oe [= hr [>= |20Inmeh- | reren Prä- \ " I paraten 2X. | 1 Al1s600l0a%| 82 | 2 12|a aslı2] 5| 12] 5 —_| 4 4. X11. 11 124, h] 15000] 12% | 180 | 12 Is |a2l 10 J12| 2| 10 | 6 —|- x 8.X11.11 |12'% h| 7200| 1,0% | 72 41-730 28 | 210] 10 | 121 2 40

Für diesen 4tägigen Pneunomiefall gilt alles für den Fall 3 Gesagte: Kurz nach der Krisis einige Zellen im Blut, in den Tagen nach der Krisis in Bezug auf die Eosinophilen zunächst eine leichte Hypernormocytose (2. XIL), dann ein Grenzwert für eine Normohypercytose (4. XIL), am 8, XII. eine ausgesprochene Hypernormocytose. Auch hier rasche Resorp- tion des Exsudates. Bis zu dem Zeitpunkte, wo die beiden Patientinnen als klinisch geheilt entlassen wurden, war eine postpneumonische Eosino- philie nicht vorhanden; am 4. XII. war allerdings im Falle 4 der Grenz- wert der noch normalen Zahl der Eosinophilen erreicht.

272 Arneth: Die eosinophilen keukauran:) bei der croup: unsemneszieslung.

5.:Cz;, ‚Frau, ‚44 en RER am 6. ‚IX. 11. Pneumonie (rechter Unterlappen).

Oberlappen links vorne gedämpft, verbreitetes Knistern.

7. IX. Lautes Bronchialatmen, Typisches Sputum.

8. IX. Auch hinten oben Dämpfung, Knistern, Bronchialatmen schwach.

Gleichzeitig Aufhellung des Schalles vorne (leicht tympanitisch, Knistefh).

der Nacht zum 10. IX. starker Schweiß mit: Abfall der Temperatur, die- bisher , ni

38,6° und 39,6° verlief, auf 37,8° (Krisis).

unter 37,0°.,

Vor 6 Inhrau eroupöse Am 5.:1IX. abends Schüttelfrost.-

Am 15. IX. ist der Lungenbefund nahezu ee normal. 7.. X. Geheilt entlassen.

In

Vom 12. IX. ab Temperatur

ee lus Es8 Zahl der Tages- es 35 ar Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum i SE 892588 bilde ver- zeit.| &5 5 „ars E 5 Li arbeiteten 38.03 333. kl]. A KL.) IV.Kl Zellen 2K|2 3K]3S12K T 2K 25145 5K|35 1511 Kı4Kl#S4 slixlas 15 (2 Prä- 7.1X.11.\.12h |‚19400 38) he | | 3 en IIn mehreren Präparaten keine eosinophile Zelle- 10.18.11 [12 5} 2300) | |—j-]-]-1-1-1-1-1=1—-1=/=]-17 12.1X.11)12%/; h| 20200) 1,2% 1240 6 2 |s8J221l02 | 6] 811012 |-|4 ||| 50 14.18.11, 4; h| 162002,2% 1856| 6 2 128J16| 4]12]12]14 | =] Ja je] 2 50 16. 1X. 11 .12%/, h| 142001 2,6% 8691 41164] 6] 214] 9117 I] hell 50 18.IX.11° 1 hi 12600] 0,8% | 101 || 8 I—142122| 2P6Fafı41 =} | —1-— 12 50 21.IX.11 121, h 12800] 1,8%. 230 1 61—150| 81 2112] 8] 8! —I1—121212])--50 25.1X.11/ 1%/,h| 9800| 24% | 285 | 4 I—146| 61 651212 | 121—I—| 2 | —|— 50 29.1X.11.|12:/,h| 8400| 4,6% 886: | 6.1—140|10|| 2124| 2] 141-121 —I— | 50 5..X.11 81/5hv.) 7700| 9,8% | 755 | 6 i— 1441201 —| 6| 6/1121 —|—|—|2|4 50 Aus den Tabellen dieses unkomplizierten Falles ist zu entnehmen,

daß am zweiten Tage nach initialem Schüttelfrost noch Eosinophile im Blute gefunden werden können. Es wurden von uns noch mehr Fälle als in dieser Arbeit angegeben, in Einzeluntersuchungen in den ersten Tagen der Pneumonie daraufhin bearbeitet, der vorliegende Fall ist aber der einzige geblieben, der bei einem länger dauernden Verlauf am 2, Tage der Erkrankung noch Eosinophile im Blute enthielt. Am Tage der Krisis (10. IX.) war keine Eosinophile aufzufinden, Nach der Krisis setzt in dem Falle eine ausgesprochene absolute eosinophile Leukocytenvermehrung unmittelbar ein, zunächst mit niedrigem Prozentsatz bei hohen Leukocy- tenwerten und dann umgekehrt. Bis zum Ende der Untersuchungen 4 Wochen lang dauert dieser Zustand an; bei Abbruch der Unter- suchungen, als Patientin geheilt entlassen wurde, wurden sogar 9,8 % Eosinophile gezählt. Auch hier hat die postpneumonische eosinophile Leukocytose ein Blutbild, das durchgehends stärker nach der rechten Seite entwickelt ist; es handelt sich also um eine lang anhaltende Hyper- hypercytose in Bezug auf die Eosinophilen.

8) Kernstab bes. stark eingebuchtet.

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 273

6. H., Hermann, 10 Jahre, eingetr. am 5. IX. 11. Am 4. IX. mittags Schüttel- frost, Husten, Seitenschmerzen. Temp. 40,0°, Puls 128. Kein Auswurf. Rechtsseitiger Unterlappen absolut gedämpft, in den untersten Partien Bronchialatmen, abgeschwächter Pektoralfremitus. 10. IX. vorm. Krisis mit starkem Schweißausbruch. Seitdem normale Temperatur. ah IX. Schall vom unteren Drittel des Schulterblatts ab gedämpft-tym- panitisch. Neben dem Bronchialatmen gröberes Rasseln. 14. IX. Rasselgeräusche verschwunden, nur noch leicht abgekürzter Schall und unbestimmtes Atmen. 19. IX. Fast normaler Lungenbefund. Vom 17. ab Hinzutreten einer Otitis media suppurativa, die zur Perforation des Trommelfells führt. 6. X. Geheilt entlassen.

53 5: <EE hiles Blutbild Blut ie 235N-56 Eosinophiles utbi zum - ET ae Er FREI ä bilde ver- zeit 25 385,5 1} arbeiteten m il I 3% 45 Big um II. Kl. v.xı. Zellen T|2k|2s]1K 1sl3K|3S/2K 1S'2S 1Kl3S IK In mehreren Präparaten keine 6.1X.11 |12:/, h' 16000 eosinophile Zelle 11.1X. 11 8, hv.] 21400 | 1,6% || 342 Jısi—I58l al—I-| 21 2} 47 13. IX. 11 12%/ h| 16000 | 22% | 370 | 4\—140| s0lıo]l 2| 6 49) 50 16. IX. 11 81), hv.|12900 | 2,4% || 310 | 8! ala) al sl el 2| 0 50 18.1X.11|) ih |11800| 1,0% | 118 | 4/4 || ı6| al | | m ie 25 21. 1X.11 |12:/, hl 14200 | 0,8% | 114 | 4) [24] 16 4| % 7 95 | 3K[2K 25.1X.11|12:/,h]12900| 1,2% | 145 | 21 —|42] 20"—| 4] 16 | 10 1323| 50 2]4 29.1X.11| ih |12300| 2,6%! 320 |—\ 2138| 22/10) 2| 2 | 14 | 50

Der Fall reiht sich, was den Befund am Tage nach der Krisis anlangt, und in Bezug auf die an diesem Tage bereits einsetzende stärkere Eosino- philie (absolute Zahl), dem vorhergehenden als identisch an. Beide Fälle haben das Gemeinsame, daß sie nach der Krisis noch längere Zeit hohe Gesamtleukocytenwerte aufweisen und bezüglich des Verlaufs zeichnet sich auch der vorliegende durch dieselbe rasche Resorption des Exsudates aus. Die postpneumonische Eosinophilie ist zunächst bei jeder Blutunter- suchung bis zum 16. X. vorhanden, das Blutbild ist fortlaufend ganz nor- mal (also Normohypercytose), da geschieht es am 17., daß sich eine Otitis media suppurativa komplikatorisch hinzugesellt, und es ist interessant zu sehen, daß bei dem Hinzutreten dieser infektiösen Erkrankung die Eosino- philen sofort fast um das Dreifache im Blute vermindert werden, daß aber eine ÄAlteration des Blutbildes in keiner Weise erfolgt; im Gegenteil, in den folgenden Blutuntersuchungen tritt unzweifelhaft sogar eine Verschie- bung nach rechts auf. Diese zufällige Beobachtung ist deswegen so be-

%) Darunter eine Riesenzelle. Festschrift z. 81. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 18

274 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup, Lungenentzündung.

merkenswert, weil die Infektion bei einer Bluteosinophilie hinzutrat, was wohl schuld war, daß die Eosinophilen nicht wie gewöhnlich vollständig aus der Blutbahn verschwanden, sondern sich nur um ca, 200 % verrin- gerten, und es so ermöglicht wurde, die qualitativen Veränderungen des eosinophilen Blutbildes genauestens bei einer akuten Infektion zu stu- dieren. Nach Ablauf der Otitis stellte sich dann auch wieder eine neue postinfektiöse Vermehrung der Eosinophilen (29, IX.) ein bei nach rechts verschobenem Blutbilde. Der Fall zeigt also bei Hinzutritt der Otitis ein Umschlagen der Normohypercytose in eine Hyperhypercytose, die aber hier pathologische Dignität besitzt, und nach Ablauf der Otitis wieder eine Hyperhypercytose,

7. Sp., Wilhelm, 37 Jahre, eingetr. am 21. XI. 11. Vor neun Jahren rechts- seitige Lungenentzündung. Am 19. XI. abends Schüttelfrost, Schmerzen in der linken Seite.

Mittelkräftiger Mann. Über dem linken Unterlappen fast absolute Dämpfung und Bronchialatmen. Vereinzeltes klingendes Rasseln. Rostbraunes Sputum, (mehr schaumig-serös). Temp. 40,1°, Puls 120, etwas Albuminurie. Temp. bis zum 25. XI. über 39,0°, am 25. XI. zwischen 37,0° und 38,0° (Krise), ab 26. XI. unter 37,0°; von da ab kein Eiweiß mehr. Nur allmähliche Aufhellung des Schalls, Bronchialatmen ist bis zum 4. XII. noch zu hören. Vom 12, XII, ab ist auch das Atmungsgeräusch nahezu normal. Am 28. XII, geheilt entlassen.

WR Bi eE |®2& 80 Zahl der Tages- 88 35 5 SS 5 Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum BERSTIHFRL-1ERF- bilde ver- zer 58 6.090,06 ı arbeiteten 38 ES Z3ELK KL | KL | AV.KL | Zellen | IK 2KI2S 5K|2 In mehreren Präparaten keine 24.X1.11 | 12h | 18600 eosinophile Zelle 26. X1.11 12'/, hi 10700 | 3,2% 1 342 | | 8126116 | 6| 816/161 2 | 2 |— 50 29.X1.11] 1h | 9200| 2,8% | 258 || 4 1 2142122 4| 4| 8| 8] 2|2|2 50 3.XlL.11| 12h | 8500| 2,4% | 204 | 4 | —[56|18|| 4] 2112| 21—|2 I 50° 6.X11.1112°/,h| 6800 10,6% 1 411 4 112120] 8] 41 4120/41 | —I— 25 11.XIl.11 )121/,h| 6200| 1,6% | 99 | 4 I—148| 6|| 4|16/10/10/—|— | 2 36

Der Fall ist ein Parallelfall zum vorigen im ersten Teile seines Ver- laufes: Nach der Krisis absolute Eosinophilie längere Zeit, mit anfänglich sogar stark nach rechts verschobenem eosinophilem Blutbild (I. Kl. iehlt ganz) Hyperhypercytose,

Bemerkenswert für den 2. Teil des Verlaufes (ab 6. XIL) ist, daß die Zahl der Eosinophilen stark herabsinkt. Vielleicht ist die mangelhafte Lösung des Infiltrates (s. folgende Fälle) der Grund dafür gewesen, daß die Eosinophilie nicht wie z. B. im Falle 5 längere Zeit anhielt.

8. G., Georg, Taglöhner, eingetr. am 11. XI. 02. ' Am 10, früh 5 h Schüttel- frost; Erkältung vorausgegangen.

Sehr gut genährter und kräftiger Mann. Pneumonie des rechten Mittel- und Unterlappens. Am 14. auch Pneumonie des rechten Oberlappens.

Arneth: Die eosinophilen Inkonyten' bei der eroup: Lungenentzündung. 275

Am 16. XI. gegen Ende des hohen Fieberstadiums 1. Blutuntersuchung. Entfieberung mehr Iytisch.

In den drei folgenden Tagen rasche Rückbildung bis auf die Infiltration des Mittellappens. Über den beiden anderen Lappen ist am 19. XI. nur mehr ver- schärftes Atmen zu hören. |

Seit 18. XI. völlig fieberfrei. 2. Blutuntersuchung am 19. XI.

23. XL Über dem Mittellappen ist der Schall nur etwas aufgehellt; zu- weilen Bronchialatmen noch hörbar; auch Bronchophonie und verstärkter Pek- toralfremitus besteht.

53 g2.82, Eosinophiles Blutbild Bir 5) ITages-i ' 5, 5100 osinophiles utbı "zum - Datum . SE EBElERfel Fe 2 8 8,e,. = | | : 3%a5 5 ml na | mm I. "Ze Zellen

T |2K |28 IK 1S| 3K | 3S |2K 1S|SK 18;

In mehreren Präparaten nur eine | 16.X1.02 | 12 h 19100 Zelle = 2s | x 1 | 7

19.X1.02 | 12 h ea he u BE 1 | 3 | 1 he

2: er

Im vorliegenden Falle, der vom 6. Wade ab mehr lytisch entfieberte, wurde im fieberfreien Stadium deswegen eine Blutuntersuchung gemacht, weil die Lösung der Pneumonie länger: ausblieb. Es zeigte sich, daß die Eosinophilie nicht nur nicht ausgeblieben war, sondern im: Gegenteil so- gar eine prozentuale Verminderung gegenüber der Norm bestand. Das Blutbild kann als nicht verschoben bezeichnet werden. -Zur Zeit der Lysis fanden sich Eosinophile schon vereinzelt im Blute,

9. M., Isidor, 16 Jahre, Hausbursche, eingetr. am 5. XII. 02. Angeblich

zweimal Halsentzündung in diesem Jahre. Am 3, XII. Frost, gleichzeitig Schmer- zen beim Schlucken, Kopfweh, Schwindel, Husten.

Beim Eintritt zunächst nur Lakunärkatarrh nachweisbar, mit dem besonderen Sitze in. den Follikeln der hypertrophischen Seitenstränge; auf der Lunge keine Veränderung. Kräftige Konstitution.

7. XIL Die vereiterten Follikel sind nur noch in Überresten vorhanden. Zwei Blutuntersuchungen, mittags und abends, nachdem auf 0,75 Phenacetin die Temp. von 40,3° auf 37,8° gesunken.

9, XII. Seit Mittag Pneumonie des rechten Unterlappens nachweisbar, rostbraunes Sputum.

10. XII. Krisis ohne besonderen Schweißausbruch. Blutuntersuchung ca. 10—12 Stunden nach Beginn der Krise bei 37,5°.

18. XIL Aufsaugung der pneumonischen Infiltration so gut wie beendet. 5. L Geheilt entlassen.

‚. ‚Die Temperaturen verliefen vom 5.—10. XII. zwischen 38,8° und 40,6°, am 10. XII. Absturz von 39,0° auf 37,6°, vom 11. XII. ab normal.

18*

276 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

53 152.8 T Eosinophiles Blutbild zum Blut T. # een 8 osinophiles utbi zum Blut- Datum er 5: 5 88 S Sc $ bilde ver- zeit 205 |nYZeEue heitet sn 12,29 ,.X% arbeiteten 3% a3 282.Kl ı.Kı. | mx | 1. KL | Zellen 1 2K|2S 5K rlarlasııs 5K 35,5 4K 4K 75 |9K In mehreren Präparaten keine 7.X11.02| 1h |12600 eosinophile Zelle In mehreren Präparaten keine 7.X11.02 | 3'/,h |129000]| eosinophile Zelle. 10. XI. 02112%/,h] 12400 | Sehri | I—| —I 432 1—1—-|-1—1—1-—14 (2 Prä- geri parate) 18. XI1. 02/12 hi 6000| 0,6% || 36 | || 1| 2 —i—| 11 —i—|—-|—16 @ Prä- parate) 23. XII. 02112 hi10900 | 0,9% | 18 1ı—| 5| 11 —|2| 2| 21—|I1|— 14 4.1.03 |11'1/,h| 7200| 1,2% | 86 3 110| 35] 13} 7] 3 |15| 8[| 21|2|12 40

Zehn Stunden nach der Krisis treffen wir auch hier nach sieben- tägigem Verlaufe die Eosinophilen im Blute wieder an. Bis zur Beendi- gung der Aufsaugung des Exsudates, was acht Tage nach der Krisis erst der Fall ist, aber auch späterhin ist keine Vermehrung der Eosinophilen eingetreten. Vom 23. XII. ab war das neutrophile Blutbild wieder ganz normal, die Eosinophilen blieben aber noch an der unteren Grenze bezüg- lich der Zahl, im Blutbilde trat keinerlei Verschiebung zutage, soweit dies aus den aufgefundenen Zellen zu beurteilen ist. Am 4. I, ist das Blutbild bei normaler Zahl der Eosinophilen als entschieden stärker nach rechts entwickelt zu bezeichnen..

10. V., Johann, 54 Jahre, Taglöhner, eingetr. am 15. XII. 02. Bereits vier-

mal Lungenentzündungen, 1872 das erste Mal, zuletzt vor 2 Jahren. Am 14. XII. abends Schüttelfrost, Fieber, Hustenreiz, Schmerzen in der Seite,

Robuster Mann, schwer ergriffen, beginnende Infiltration des linken Unter- lappens; wenig Eiweiß; keine Milzschwellung; Puls gut. Leichtes Lungen- emphysem. Blutuntersuchung genau 24 h nach Frost.

18. XII. Pneumonisches Sputum. Stärkste Infiltration des ganzen Unter- lappens. Sehr schweres Bild. Puls kleiner, weich; Sputum etwas flüssig. Kampfer zweistdl.; Digitalis.

20. XII. Höhepunkt. Cyanose. Orthopno&. Puls sehr weich, jedoch nicht zu sehr beschleunigt, relativ voll.

23. XII. Bronchialatmen, Dämpfung nach wie vor; Iytische Ent- fieberung.

27. XII. Seit 24. fieberfrei. Aufsaugung des Infiltrates im Beginn: überall Knistern.

14. 1. 03. Aufsaugung hat nur langsame Fortschritte gemacht, jetzt so gut wie beendet.

21. I. Geheilt entlassen.

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 277

ez les Es Zahl der n Tages-| 58 EEE Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum „l8E lön=l30E bilde ver- zeit |£9 15,560, © arbeiteten 8848 Ei SZ.K) Kl. IN. Kl. Zellen T laklaslık 1sja3K|3s|2K 1S| 2S1K | 8 (in meh- | 4| 2 1 ı | rerenPrä- 15. XII. 02|8 hAb.| 15400 paraten) | In mehreren Präparaten keine 18. XII. 027 hAb.| 11700 eosinophile Zelle. _ 20. XI. 02| 6/,h | 20700 !—-I-| 1 11—-|1—-| _|2(inmeh- ; | Sehr rerenPrä- ge- paraten | ring. 351KI2R2$ 23. XII. 02| 12h | 18500 {— 1-23] 20 180] 3] 17 | 4 | 3 30!) 27. XII. 02|112*/, h| 10700 1 1-| 5] 2/-|—| —_ 7 (meh- rere Prä- parate) 4.1.03 | 12h | 7400| 1,6% | 118 | 3| 743) 20J1I—| 17 [80 (meh- rere Prä- parate) 14.1.08 | ı2h | 6200| 6,5%) 403 J 1a | elas| 331 —|-| | 50

Bei dem Falle mit ca. 9tägigem Verlauf zirkulierten noch 24 Stunden nach dem Schüttelfroste relativ zahlreiche Eosinophile im Blute, dann aber verschwanden sie auch hier. Zur Zeit der Lysis wurde nun absicht- lich, als die Zellen wieder spärlich im Blute anzutreffen waren, ein aus- führliches Blutbild angelegt (s. Bemerk. oben). Dies Blutbild zur Zeit der Krisis ist beweisend; es weist wiederum die Verschiebung nach rechts auf (1. Kl. fehlt ganz). Noch drei Wochen vergehen nach der Krise die Ex- sudataufsaugung ging langsam vor sich —, bis die postpneumonische Eo- sinophilie einsetzt, hier mit einer unzweifelhaften Verschiebung nach links = Hypohypercytose.

'11. W., Johann, 52 Jahre, Holzspalter, eingetr. am 6. II. 03. Starker Potator, Delirium tremens. Pneumonie des ganzen rechten Unterlappens. In der Nacht vom 7.—8, Il. Krisis, langer Schlaf; seitdem völlig fieberfrei. Im Gegensatze dazu steht der Befund auf der Lunge, der selbst am 24. II. noch un- verändert wie zuvor besteht: absolute Dämpfung, Bronchialatmen, Bronchophonie.

Durch Wochen hindurch ausgesprochenstes Knistern hörbar. 16 Tage nach Krisis 1. Zählung.

18. III. 8 Pfund Gewichtszunahme bisher.

28. III. Entlassung: über dem rechten Unterlappen Schall relativ gedämpft, unbestimmtes Atmen, vereinzeltes Knistern und Reiben.

410%) Aus einer größeren Anzahl von Präparaten zusammengesucht in der Absicht, auch bei der sehr niedrigen Zahl der Eosinophilen wenigstens in einem Falle ein gut besetztes Blutbild zu erhalten.

278 Arneth: : Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

NN x r= x E RER: Sch] £ »o 50 Zahl der Tages- €3 355 58 Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum te E = 535 bilde ver- zeit | 5 Salze) | ' arbeiteten 38 65 Bszım) Ko) mE. Zellen | T |2K|2S|1K1S|3KI3S|2K1S|2SIK) 24.11.03) 1h | 7700 | 2,4% | 185 | | 8 |46 | 30 | 6 8.10 50 18, IIL:08| 12h | 5650 | 42% || a73 | 8 | 20136| 26 16|-| 2 2 50 28. 11::08| 12h | 51001] 4,4% | 2240| 8112 || 32 |6|—| 4 4 ‚50 ,;.

Es handelt sich hier um einen Fall mit sehr verzögerter Lösung des Exsudates; 16 Tage nach der Krisis, bei noch kompleter. Infiltration, wurde die erste Untersuchung gemacht und schon da eine Vermehrung der Eosinophilen vorgefunden, die dann bis zur Entlassung (über 1 Monat) anhielt bei normaler Leukocytenzahl. Das eosinophile Blutbild neigte am 24. mehr nach rechts, dann ausgesprochen nach links. Das neutrophile war bei der ersten Untersuchung bis zur letzten ganz normal, so daß der Blutbefund eigentlich während der ganzen Dauer der verzögerten Lösung

hauptsächlich durch die absolute Vermehrung der Eosinophilen sich aus- zeichnete,

12. J., Johann, Ausgeher, 33 Jahre, eingetreten am 4. II. 03. Herditär tuberkulös schwer belastet. Selbst noch nie krank. Am 26. I. mit Seitenstechen, Husten, Schmerzen, Atembeschwerden erkrankt. Am 28. und 30. je ein Schüttelfrost.

Kräftiger großer nn, Die ganze linke Lunge hinten wie vorne absolut gedämpft, starke Bronchophonie und lautestes Bronchialatmen, Pektoralfremitus im ganzen Bezirk fast völlig aufgehoben. Beide Brusthälften von gleichem Um- fange (47 cm). Kein Auswurf, auch späterhin nie, nur zuweilen etwas Schleim (keine T.-bc.).

Bis 18. Il. Fieber zwischen 37,6° und 38,6 °, bis 21. zwischen 38,0% und 39,6 °, dann mit rapidem Absturz eine fast fieberfreie Periode bis zum 12, III. In dieser Zeit bedeutende Aufhellung des ganzen linken Oberlappens und Verschwinden des Bronchialatmen sowie Auftreten unbestimmten Atmungsgeräusches; gleich- zeitig starke, grobe Reibegeräusche vorne unter dem Schlüsselbein, Verstärkung des Pektoralfremitus.

Am 13, III. plötzlich wieder 40,0° und von da ab zwischen 39,0° früh und 40,0° abends; dann sehr steile Kurven (früh meist etwas unter 37,0°, abends bis 40,0°); starke Nachtschweiße; vom 2. IV. ab Abendtemperaturen niedriger, typisches hektisches Fieber aber auch weiterhin; dazwischen gelegentlich. höhere Temperaturen. Kein Exsudat (Punktion). Nie T.-bc. gefunden.

Am 13. III. gleichzeitig wieder Zunahme der Dämpfung über dem linken Oberlappen, exspiratorisches Bronchialatmen. Zunehmende Schrumpfung der linken Brustseite, geringe Bewegung bei der Atmung.

Ende Mai exsudative Pleuritis links; Punktion (800 ccm, serös, spez. Gew. 1015). Kurz darauf Austritt.

Bei späterem Eintritte (4. XI. 03) wegen nunmehr Peckimseitiäpe seröser Pleuritis zeigt sich ein sehr starkes Retr&cissement der linken Brusthälfte,

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 7279

ir 7) sE der zum Tages- &3 B.888 Eosinophiles Blutbild en Datum N SE swelsge Zellen (aus zeit 35 3,0, 8 | n 3: 58 Bm um | ck | Präparaten) | T |2K |2S/4K1S|3K3S| 2K1S/2S1K| 17.11.03 | 12h 17000 1128 | ia lisl-5 Jslıl2e | —| 18 27.11:03-4-12 h 15000 | 14% | 70 1 316|7| 3 j2J—} ı | 22 17.11.08) 12H | 3600 10221 2 I -—Iı]|2| -- I-I—| | 3 25. 11. 08 112%/, hl:5600.1 12% 1 2 |— | —-|ı| Jılıl 2 | 5 5.IV.03| 12h | 4600. 10,8% 1.37 —!—|3| 2 JI1l—|.4 1 12. 1V.03| 12h | 4100 [0,6% | 25 1 —i—|6| 2 |1|-| 3 _ 12 15. 1V.03) 12 h | 4600 [0,6% 1.8 | 1 1 -|4| 3 I-|-| - | 2 10

' Dieser klinisch schwer verlaufene Fall von ausgedehnter chronischer Pneumonie mit Schrumpfung ist fortlaufend zwei Monate hindurch unter- sucht worden; es ergab sich immer genau derselbe Befund: bei einer nor- malen, meist subnormalen Gesamtleukocytenzahl eine absolute Zahl der Eosinophilen, die die untere normale Zahlgrenze nicht überschreitet, da- bei ein eosinophiles Blutbild, das, abgesehen vom Befund am 27. IL, sicher als normal, wenn nicht als nach rechts entwickelt zu bezeichnen ist. Die Gesamtaddition aller Blutbilder ergibt wenigstens ein bedeutender nach rechts entwickeltes Durchschnittsblutbild.

Es liegt also eine langanhaltende Normonormo- bezw. Hyperhypo- cytose bezüglich der Eosinophilen vor. Eine Vermehrung der Eosinophilen konnte bei dem schweren Verlauf und anhaltenden Fieber nicht erwartet werden und ist auch nicht eingetreten. Dazu kommt und das gilt in gleicher Weise auch für den folgenden Fall daß die pneumonische In- filtration nicht nur nicht fortbestand, sondern sich auch noch ausdehnte (13. IL und im Fall 13:17. XL). Das neutrophile Blutbild zeigte im Gegen- satze dazu von der 1. bis zur letzten Blutuntersuchung, jedenfalls auch noch länger, eine starke Verschiebung nach links.

13. A., Andreas, Schutzmann, eingetr. am 5. XI. 02. Früher immer gesund. Am 4. XI. abends Schüttelfrost mit den charakteristischen Beschwerden.

Es findet sich eine Pneumonie des rechten Unterlappens, nur in dessen unteren Hälfte voll entwickelt. Am 6. XI. über den ganzen Unterlappen aus- gebreitet. Wenig pneumonisches Sputum, keine Milzschwellung, etwas Nucleo- albumin. So bleibt der Befund bis zum 17. XI., wo mit einem Male auch eine Infiltration des Mittel- und Oberlappens Hinzutritt,

19. XI. Pneumonischer Auswurf. Trotz stärkster Dämpfung nie Bronchial- atmen, vorne meist tympanitischer Schall. Die rechte Lunge bleibt bei der Atmung sehr stark zurück.

27. XI. Erstmals Hebätfrel: auch weiterhin.

Am 1. XII. grobes Reiben über Ober- und Mittellappen. Hinten von oben Bi unten Dämpfung, kein Atmungsgeräusch, abgeschwächter Pektoralfremitus; vorne relativ gedämpft-tympanitischer Schall über dem Oberlappen, mehr noch über dem Mittellappen, die Lunge bleibt bei der Atmung zurück. .Probepunktion negativ. Nie T.-bc. im Auswurf.

12. XII. Entlassung; der Befund hat sich wenig geändert.

280 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung,

18. I. 03. Eine Nachuntersuchung ergibt überall relative Dämpfungen, mäßige Einziehung der rechten Thoraxhälfte, Zurückbleiben bei der Atmung, abgeschwächtes, unbestimmtes Atmungsgeräusch,

SEA: un Zehl der Tages- 53 225 332 Eosinophiles Blutbild zum Blut- Datum £ SE |un=sg bilde ver- zeit | 20 IST. 1 beitet So ° au ° a l arbe en 3% a8 3 3 I.Kl. I. Kl. II. Kl. Zellen T| 2aK|2s JıKıs| 3K|3s |2K1Ss In mehreren Präparaten keine 8.XI.02| 12h | 4600 eosinophile Zelle 14.X1.02| 12 h | 7500 | 02% | 15 | 11 2 4 - I 2 5 25.X1.02| 12 h | 5800 | 02%| 1212| 1 4 2 1 1 2 13 18.1.08 11°, hi 6400 | 24% | 154 | 3 | 6 | 12 2 -I1-| 23 (Nur ein Präparat zur Ver- fügung.)

Der Fall trägt dieselbe Signatur wie der vorausgehende: chronische Pneumonie mit nachfolgendem Retrecissement. Der Blutbefund ist eben- falls derselbe: bei der in einem Monat zweimal ausgeführten Untersuchung normale Werte der Gesamtleukocyten und verringerte Zahl der Eosino- philen, das eosinophile Blutbild normal (Normohypocytose), das neutro- phile schwer geschädigt. Bei einer Nachuntersuchung normale Zählwerte, doch ist das eosinophile Blutbild auffallend nach links verrückt. Das neu- trophile war inzwischen ganz normal geworden.

14. Sch., Georg, 53 Jahre, Dienstknecht, eingetr. 30. I. 03. Am 28. I. mittags Schüttelfrost, am 29, I. blutiger Auswurf.

Beim Eintritt fast voll entwickelte Pneumonie des linken Unterlappens, wenig Eiweiß,

Am 1. II. Pseudokrise, am 2. II. neues Knistern, Delirien.

Nach Iytischem Abfall seit 6. II, fieberfrei; nur am 19. II, abends noch 39,0°®. Es besteht am 24. II. noch eine relative Dämpfung über dem ganzen Unterlappen; exspiratorisches Bronchialatmen unten, unbestimmtes Atmen oben.

5. III. Entlassung. Nur mehr schwache Verkürzung des Schalls, kein Bronchialatmen mehr.

N: EE a2: Eosinophiles Blutbild an Br Datum A Erz B) 83 88 E RT bilde ver- zeit 33 S Sas, 5 arbeiteten 3 63 1232 um | II. Kl. | IV. Kl. | Zellen 2K|2sj1K 1S|3K|3S|2K 1S|2S IK|4K|3S IK 24.11.03| 12h | 6600 | 3% | 178 |4 |s6| 2 !2|4| 14 | 14 12] 2 50

Da hier ca, drei Wochen nach Abfall der Temperatur die Lösung noch sehr im Rückstande war, wurde eine Blutuntersuchung ausgeführt, wobei sich eine reichlich normale Zahl der Eosinophilen und ein zimlich normales Blutbild der Eosinophilen (Normonormocytose) ergab. Das neu- trophile Blutbild war um ganz dieselbe Zeit noch nicht ganz zur Norm zurückgekehrt,

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 281

15; A., Josef, 17 Jahre, Bergmann, eingetr. am 9, IV. 12. Immer gesund bisher. Am 6. IV. mehrere starke Fröste, desgleichen am 8. IV., hohes Fieber, Husten, Schmerzen in der rechten Seite beim Atmen und Husten.

Kräftiger junger Mann, leicht benommen, 40,8°, Puls 120; rechts hinten unten Knistern, keine deutliche Dämpfung.

11. IV. Ganzer rechter Unterlappen gedämpft, lautes Bronchialatmen, Temp. 39,5°, bis zum 13, zwischen 39,5° und 40,0°, von da bis 17. um 39,0°, vom 17.—20. zwischen 38,0° und 39,0% vom 20.—28. allmählicher Abfall zur Norm.

12. IV. Bilutiger Auswurf; schwere Benommenheit und Delirien, die die folgenden Tage anhalten.

20. IV. Beginn der Lösung, Knistern über dem Unterlappen, der noch gedämpft ist.

22. IV. Schall etwas aufgehellt an der oberen Grenze. Herz gut. Bis 26. IV. ständige schwere Diarrhöen, bis zehnmal täglich.

1.V. Der Unterlappen ist besonders in seiner unteren Hälfte noch gedämpft, daselbst verstärkter Pektoralfremitus, unbestimmtes, abgeschwächtes Atmen, ganz unten etwas gröberes Rasseln; Temp. unter 37,0°. Immer noch geringe Be- nommenheit.

Am 4, und 5. V. geringe Temperatursteigerungen (bis 37,9 °).

12. V. Unterlappen relativ gedämpft, Pektoralfremitus nicht mehr ver- stärkt, abgeschwächtes Atmen, etwas gröberes Rasseln. Probepunktion negativ.

17. V. Andauernd feineres und gröberes Rasseln wie auch Knistern hinten unten hörbar.

3. VI. Über dem ganzen rechten Unterlappen ist der Schall kürzer; oben scharfes Atmen, unten Knistern. Atmungsgeräusch unten schwach zu hören. Keine Bronchophonie, Stimmfremitus nicht verstärkt.

6. VI. Entlassen auf Verlangen. Befund unverändert. Seit 28. IV. fieber- frei. Vom 13, V. bis 6. VI. 18 Pfund Gewichtszunahme.

! 2 33 SEE E hiles Blutbild ae T = seNnNas osinophiles utbi zum Blut- Datum _ Age 583 58 e bilde ver- zeit | 95 SS als „© arbeiteten 3 a8 WZ8ZLKl KK. III. Kl. Zellen T |2K |2s |1K1s|j3K|3s|2K1s|2s1K In mehreren Präparaten keine 10. IV. 12 12"), h | 10500 eosinophile Zelle In mehreren Präparaten keine 12. 1V.12| 5'/,h} 11000! eosinophile Zelle. In mehreren Präparaten 1 Zelle 19.IV.12|6 hj 980! .- = i = In mehreren Präparaten keine 23.1V.12| 6?,h] 1460| = eosinophile Zelle. _ i . In mehreren Präparaten keine 30.1IV.12/12 h/20800| _ eosinophile Zelle. _ In mehreren Präparaten 3 Zellen 4. V.02 11:/,h]1430| ae ER _ 11. V.12| 6, h[14000| Auf | |— |] 1| 81 3]-]2| | |14 (meh- 1000:0 rere Prä- parate) 17. V.13|6 hi] 9800| 34% | 333 | 4 | 2140| 38 10 2 50 25. V.12| 6',h|12000 | 3,8% | 456 | 2 110 |44 | 20 | 2 b. #8 | 12| 2 50

282 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

‚Die Krankengeschichte' ist dieseines sehr schweren Falles. Fast volle vier Wochen ist im Blute keine eosinophile Zelle anzutreffen, nur einmal (19. IV.) fand sich eine einzige Zelle der III. Klasse, Der Patient schwebte Wochen zwischen Leben und Tod. Mit der Rückkehr normaler Temperaturen und beginnender Lösung sehen wir die Eosinophilen ver- einzelt (4. V. und 11. V.) in Exemplaren meist der Il. und III. Kl. wieder- kehren, und vom 17. ab, wo die Rekonvaleszenz im flotten Gange war, in vermehrter Zahl bei normalem Blutbilde (Normohypercytose). Es liegt somit eine postpneumonische Eosinophilie vor. Die Zellen der I, Klasse sind zum guten Teile in die II. Klasse abgewandert, ohne daß an der III. und IV. Klasse eine weitere Verschiebung nach rechts zu konstatieren wäre, Es ist dies auch in den anderen Fällen öfter der Fall gewesen und darf wohl so gedeutet werden, daß das Blutbild stark nach rechts neigt.

Der folgende und letzte Fall ist der einzige tödlich verlaufene, bei dem fortlaufend bis zwei Tage vor dem Tode Blut-Untersuchungen ge- macht wurden.

16. Schm., Thomas, 18 Jahre, eingetr. am 5, II. 03. Kräftiger Bäckergeselle. Vor 2 Jahren croupöse Pneumonie, laut Krankengeschichte damals tagelanges Phantasieren, profuse Diarrhöen, Puls anfangs 166, Krisis am 7. Tage, Aufsaugung in 8 Tagen.

Jetzt Schüttelfrost am 5. IL. Wieder benommen, Puls sehr beschleunigt und weich; über Mittellappen beginnende Pneumonie, keine Milzschwellung, rost- braunes Sputum.

6. II. Schwerster Collaps beim Umbetten, alle Stimulantien notwendig. Diarrhöen. Delirien. Zweistdl. Kampfer.

7. II. Ausbreitung der Pneumonie auch über den rechten Unterlappen (untere Partien).

8. II. Fieber hoch bleibend, Delirien in einem fort; Puls erheischt 1 stdl. Kampfer. Ganzer Unterlappen infiltriert. Viel Eiweiß und Zylinder (granuliert und epithelial). Profuseste Diarrhöen.

10. II. Seit gestern Abend Beginn einer neuen Pneumonie (mit frischem Sputum) im rechten Oberlappen, vorne und hinten. Alle schweren Symptome fortbestehend.

11. II. Ganze Lunge voll infiltriert. Miserabelster Puls; in einem fort die stärksten Durchfälle.

12. II. Noch kopiöses rostbraunes Sputum; Sensorium etwas freier. Hinten feuchtes grobes Rasseln, Bis jetzt in einem fort Kampferspritzen erhalten.

13. II. Fieber noch hoch; Puls kräftiger, Sensorium noch nicht frei, begin- nende subkutane Phlegmone am linken Vorderarm (von den sehr vielen Injektio- nen her).

14. II. Krisis (Abfall auf etwa 37,0°); Sensorium fast frei. Lungenbefund unverändert. ;

15. II. Bewußtsein zurückgekehrt. Viel Nucleoalbumin.

16. II. Klares Bewußtsein, kein Fieber, guter Puls. Relatives Wohlbefinden. Lunge jedoch noch komplet infiltriert. Um 10% h früh, nachdem Patient die Bett- schüssel benutzt hat, tritt beim Hinaufrücken im Bett schlagartig der Exitus leta- lis ein.

Die Sektion ergab die totale Infiltration der rechten Lunge, eine Endocar- ditis der Aorta, eine akute parenchymatöse Entzündung der Leber, Niere, eine akute Darmentzündung, Mesenterialdrüsenanschwellung, akuten Milzinfarkt; am

Arneth: 'Die.eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 283

Herzmuskel: -körnige Trübung der Muskelfasern, Schwund der Quertreibung, be- ginnende Verfettung, sehr deutliche Fragmentatio myocardii.

= Datum , Tageszeit er i 5.103 | 19, h 31900 6.1.03 | 121, h 21800. 7.1.03 | >12], h 17800 $ 81:03. |. 121% h 12800 9.1.03-| ı2 h 7200 10.1.08-| 2 h 7900 1.m0o8 | ı2 h 10000 12.10 oh 4600 1.1.03) 11h 8200 14.1.03 |, Ph 9300

= In keinem der zahlreichen durchsuchten Präparate wurde von Anfang bis Ende der Erkrankung auch nur eine einzige eosinophile Zelle gefunden. Es besteht also kein Zweifel, daß, je schwerer die Erkrankung, desto länger die Eosinophilen aus dem zirkulierenden Blute verschwunden bleiben und selbst am Tage nach der Krisis noch nicht erscheinen.

Aus den vorstehenden Untersuchungen ergibt sich:

1. Die Eosinophilen verschwinden durchaus nicht immer bei der croupösen Pneumonie bis auf die letzte Zelle, vor allem nicht bei ein- tägigen Pneumonien (Fall 1, 2), aber auch sonst nicht (Fall 13 und 15: im Verlauf, Fall 5 und 10: am 2. Tage nach dem Schüttelfrost, im Fall 12 [ehron. Pneumonie] immer vorhanden). Da nur in 11 Fällen während des Verlaufes Untersuchungen gemacht wurden, so würden es immerhin über 50 % der Fälle sein, bei denen Eosinophile, wenn auch meist vereinzelt, im Verlaufe aufgefunden wurden. Nach der Natur dieser Fälle sind es besonders die leichteren, und die von kürzerer Dauer, umgekehrt aber auch die mit chronischem Verlauf, die dabei in Betracht kommen. Je ‚schwerer der Fall, desto mehr ist mit einem vollständigen Verschwinden der Zellen im Verlaufe zu rechnen oder es finden sich nur ganz kurz nach dem Schüttelfrost noch einige Exemplare.

2. Für die Beurteilung, zu welchem Zeitpunkte die Eosinophilen wieder im Blute erscheinen, ob schon vor der Krisis, oder mit ihr, oder ‚nachher, lassen sich nur 7 Fälle (3, 4, 5, 9, 10, 15, 16) verwenden. Meist sind erst am Tage nach der Krisis, einmal auch vor der Krisis, Eosinophile wieder im Blute erschienen.

3. Bei dem Wiedererscheinen der Eosinophilen im Blute, sowie auch .da, wo Zellen im Verlaufe gefunden wurden, waren es teils solche Zellen, ‚die einem qualitativ nach rechts entwickelten Blutbilde (Fall'1, 3, 4, 7, 9, 10), oder auch einem normal entwickelten (Fall'2, 5, eventuell 12, 15) angehörten. Fall 8, 11, 13, 14 scheiden aus, Nur im:Fall 6 (bei einer Untersuchung, dann nicht mehr) war die Entwicklung des Blutbildes nach ‚links, Wenn wir: die sämtlichen hierher gehörigen Untersuchungen zu

284 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

einem Gesamtblutbilde addieren, weist das Durchschnittsblutbild eine Entwicklung nach rechts auf.

4. Es handelt sich somit bei den Eosinophilen während der Pneu- monie um Veränderungen, wie wir sie bei den Neutrophilen ausgesproche- ner z. B. im Hungerzustande beobachtet haben, oder bei der perniziösen Anämie. Wegen der gleichfalls starken Verminderung der absoluten Zahlen bei der Überreifung des Blutbildes haben wir damals angenommen, daß die Ursache dafür in einem sehr geringen Bedarf an solchen Zellen zu suchen sei und deswegen eine stärkere Kernsegmentierung der länger- lebigen Zellen erfolge.

5. Wir können daher annehmen, daß der Bedarf an Eosinophilen während der Pneumonie im Körperhaushalte außerordentlich reduziert ist und müssen uns vorstellen, daß die Produktionsstätten im Marke infolgedessen ihre Tätigkeit sehr einschränken. Es müßte sich hierfür auch der histologische Beweis am Marke erbringen lassen, ähnlich wie bei den Neutrophilen.

6. Postpneumonische Eosinophilie trat auf in den Fällen 2, 4, 5, 6, 7, 10, 11, 14, 15; nicht in den Fällen 1, 3, 8, 9, 12, 13;, Fall 16 scheidet aus. Sämtliche beobachtete Eosinophilien waren nur relativ geringgradige; es ist ferner bei ihnen die obere Grenze der normalen Eosinophilenzahl (0,5—3,0 %) meist nicht sehr bedeutend überschritten worden (nur im Fall 2 Werte bis 10,2 %).

Das Blutbild fand sich nach rechts verschoben bei Fall: 5 und 7, ) war normal bei Fall: 4, 6, 14, 15,,11.

nach links verschoben bei Fall: 2 und 10. | Fall 2 ist der Fall, bei dem die höchsten Eosinophilenwerte gefunden wurden, daher die Verschiebung erklärlicher ist. Im Falle 10 wurde nur eine einmalige Untersuchung gemacht. Es handelt sich also bei der post- pneumonischen Eosinophilie, jedenfalls wenn sie keine höheren Werte erreicht und dann wegen des stärkeren Mehrverbrauches eine Höher- stellung des Blutbildes eintritt, gewöhnlich um keinerlei Schädigung des Blutbildes: das Blutbild ist bei ihr meist normal, ja sogar überentwickelt.

7. Ein Hauptbeweis dafür, daß die Eosinophilen durch den Pneu- monieprozeß keinerlei Schädigung erfahren bezw. nur negativ beteiligt sind und es sich demnach nicht wie bei den Neutrophilen um ein Zugrunde- gehen von Zellen bei ihrem Verschwinden aus der Blutbahn handelt, liegt neben obigem auch darin, daß sie bei ihrem ersten Wiederauftreten im Blute mit einem nach rechts verschobenen Blutbilde, also überreif er- scheinen. Nach den bei den Neutrophilen gemachten Beobachtungen und nach den experimentellen Tierversuchen hatten wir eigentlich das Gegen- teil erwartet, so daß die Befunde uns eine Überraschung bereiteten. Hier sei auch angeführt, daß wir in Schnittpräparaten pneumonischer Infiltrate nie eosinophile Zellen fanden.

8. Bei der Pneumonie ist die Auffassung der Eosinophilie als bio- logische Reaktion daher eine andere wie bei der neutrophilen Leuko-

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 285

cytose, da die Eosinophilie bei der Pneumonie sich meist im physiologischen Rahmen des Blutbildes abspielt, ähnlich wie die Neutrophilie bei der Verdauungsleukocytose oder der nach heißen Bädern, körperlichen An- strengungen und dergl., die neutrophile Leukocytose bei Infektionskrank- heiten aber im pathologischen. Oft setzt die Eosinophilie so spät im Verlauf ein oder auch gar nicht, daß es auch deswegen sehr fraglich ist, ob die Eosinophilie überhaupt etwas mit dem Infektionsprozeß bei der Pneumonie zu tun hat. Wir müssen aus dem Verhalten der Eosinophilen bei der Pneumonie schließen, daß sie zu dem Kampf gegen die Infektions- erreger und zur Schutzstoffbildung kaum eine Beziehung haben, zumal sie meist erst zur oder nach der Krisis wieder im Blute auftreten. Türk (1912, II,, S. 286), der die Eosinophilie als biologische Reaktion voll- kommen in Parallele zur Neutrophilie gestellt hat, wird also hier bei der Pneumonie sogleich seine Anschauungen korrigieren müssen.

Die Eosinophilie ist von ganz verschiedener Dauer. Ich möchte deswegen vorschlagen, die Eosinophilie nach der Pneumonie nicht mehr als eine postinfektiöse, sondern als eine postpneumonische zu bezeichnen, wodurch nichts präjudiziert ist.

9, Weitere Beobachtungen müssen ergeben, ob es richtig ist, wie im Falle 10, daß nach öfterem Überstehen von Pneumonie späterhin auch während des akuten Stadiums die Eosinophilen nicht mehr ganz aus dem Blute verschwinden, ob also quasi eine Art Gewöhnung an das Pneu- moniegift eintritt.

10. Die postpneumonische Eosinophilie ist demnach auch kaum als eine (auf das Verschwinden der Eosinophilen hin) reaktive (Stäubli) aufzufassen. Einmal braucht sie gar nicht einzutreten, dann tritt sie oft erst ein, nachdem lange vorher die Eosinophilen nach der Krisis wieder im Blute erschienen waren. Das Verschwinden aus dem Blute ist eben nicht auf Schädigung, Zerstörung der Eosinophilen zurückzuführen, und darum in diesem Sinne für eine Reaktion kein Grund gegeben. Nur der Verbrauch an Zellen entscheidet für ihre spätere mehr oder minder starke Neubildung, nicht chemotaktische Einflüsse, genau wie bei den Neu- trophilen.

11. Wenn wir aus sämtlichen Untersuchungen das am meisten nach

rechts und das am meisten nach links entwickelte Blutbild gegenüber- stellen,

1.Kl, IL. Kl. II. Kl. IV. Kl

T I2K/28/1K1S|3K | 35 |2K1S|2S1K3S1K | 2K 2S

Am weitesten rechts (Fall 3, 22. VI) 1 19116 | 2 | 3 I | | _ Am weitesten links (Fall 10, 23. XI) \— | |23| 20 1130| 3 17 _ 4 3

so ergibt sich, daß eine maximale Differenz in der Verschiebung von 57 %

286 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

beobachtet wurde, was doch sehr bemerkenswert ist. Da die Ver- schiebungen meist in viel geringerem Umfange stattfinden, ist es nötig, die einzelnen Klassen bei den Eosinophilen auszuzählen und nicht, wie es bei den Neutrophilen vielfach geschehen ist, sich nur mit der Aus- zählung der I, oder der I. und II, Klasse zu begnügen, Besonders die II. Klasse, um die das Blutbild gravitiert, ist wichtig; wir dürfen aus der Zahl in der Klasse I bei den Eosinophilen durchaus nicht über das ganze Blutbild urteilen. i

12. Die Umsetzungen innerhalb der Eosinophilen sind während der Pneumonie als ganz unbedeutend gegenüber den gleichzeitig im Blute vor sich gehenden gewaltigen ‚Veränderungen der Neutrophilen zu be- zeichnen, wie wir diese in früheren Arbeiten festgestellt haben.

Das so absolut gegensätzliche Verhalten der Neutrophilen und Eosinophilen im Verlauf: der Pneumonie bis zur Krise ist mit das inter- essanteste Ergebnis unserer Untersuchungen. Im Höhestadium der Pneu- monie schwerstes Betroffensein der Neutrophilen, das sich in einer oft enormen Blutbildschädigung mit Hyperleukocytose und selbst in gleich- zeitiger Hypoleukocytose äußert und dagegen absolut normales, ja überentwickeltes Blutbild bei den Eosinophilen und ihr nahezu kompletes Verschwinden aus dem Blute!

Ich betone dies deswegen ganz besonders, weil eine ganze Reihe von Autoren (besonders Türk, Schilling, Naegeli) bezüglich der Neutro- philen behauptet haben, daß ein Teil der von mir als jugendlich bezeich- neten Zellen bei der Verschiebung des neutrophilen Blutbildes nach links gar keine jugendlichen Zellen seien, sondern toxisch degenerierte reife neutrophile Zellen, deren Ausbildung nach Naegeli (S.235) schon im’ Knochenmark eine schlechte ist. Schilling”) spricht daher sogar von einer „degenerativen‘ Verschiebung des Blutbildes, findet sie aber seinerseits nur bei Typhus, Kalaazar, Beri-Beri, Tuberkulose (rein), bei dem Gros der von mir untersuchten Infektionskrankheiten, bei der Pneu- monie z, B., aber nicht. Die andern Autoren generalisieren.

Wollte man bei der Pneumonie von einem derartig degenerierten Blutbild sprechen, so wäre es doch sehr schwer verständlich, warum nur gerade die Kerne der Neutrophilen toxisch degenerieren sollten und nicht auch die der Eosinophilen. Diese Anschauung von der toxischen De- generation der Zellkerne litte also hier an einer bedenklichen Inkonse- quenz; man kann sich kauım vorstellen, warum nur bei einzelnen toxischen Erkrankungen diese Degenerationen eintreten sollten.

Ähnlich verhält es sich mit dem Hauptpunkt der Lehre von Brugsch,*) der die Fragmentierung der Kerne der Neutrophilen als ein Kunstprodukt infolge der Einwirkung des Fixierungsverfahrens betrach- tet, Auf die Kerne der Eosinophilen würde also nach Brugsch die

11) Tol, haematologica I, Teil. Archiv, Bd. XII, 1912. 12) Zeitschr, für klin, Medizin 1907, 64. Bd.

Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung. 287

Fixierung dann im umgekehrten Sinne wirken müssen, was ‘doch ganz unmöglich ist.

Auch was Grawitz, der übrigens auch der Brugsch'schen Anschauung zustimmt (S. 250, 4. Aufl., 1911), mir gegenüber noch ins Feld geführt hat, daß die jugendlich erscheinenden Kernformen der Neutro- philen ebensogut amöboide Bewegungsphänomone der Kerne sein können, wird durch die Beobachtung der gleichzeitig zu beachtenden Kern- beschaffenheit der Eosinophilen unverständlich.

Im übrigen habe ich mich mit der Widerlegung der Ansichten der zuletzt angeführten Autoren bereits ausführlich früher beschäftigt.

"= Bezüglich der toxisch degenerierten Kerne der „jugendlichen“ Zel- len sei nur noch betont, daß ihre Erklärung natürlich dann erst recht nicht möglich sein wird, wenn gar keine Toxine als Ursache der Blutbildver- schiebung in Betracht kommen.

13. Auch nach Ablauf des akuten Stadiums der Pneumonie, also nach der Krisis, bleibt der gegensätzliche Charakter des Verhaltens der beiden Zellarten in der Hauptsache gewahrt, indem nach der Krisis die Neutrophilen an Zahl zurückgehen und das Blutbild sich früher oder spä- ter bessert, während die Eosinophilen sich vielfach erst dann vermehren (Eosinophilie), das Blutbild ist jedoch nicht oder nur wenig verändert. Nur in einem einzigen Falle (Fall 3) haben wir 8 Tage nach der Krisis eine stärkere Verschiebung des eosinophilen Blutbildes bei verminderter Zahl bei zwei aufeinanderfolgenden Untersuchungen gefunden, die einzige Hypohypocytose unter sämtlichen Untersuchungen. Daß derartige Aus- nahmen von der Regel vorkommen, bestätigt nur die Notwendigkeit der qualitativen Untersuchungsmethode, die nur allein das Verständnis für solche Befunde an die Hand liefern kann.

14. Nach unserer bei den Neutrophilen eingeführten Bezeichnungs- weise sind im Verlaufe der Pneumonie mit Bezug auf die Eosinophilen ge- funden worden die sämtlichen Formen von:

Normohypocytose Hyperhypocytose Hypohypocytose, Normonormocytose Hypernormocytose Hyponormocytose, Normohypercytose Hyperhypercytose Hypohypercytose. Demnach verlaufen die Umsetzungen bei den Eosinophilen in dem- selben allgemeinen Rahmen wie bei den Neutrophilen, nur folgen sie ganz anderen biologischen Gesetzen im Haushalte des Körpers, und sind ihre Zustandsveränderungen wegen ihrer geringen Zahl oft recht mühsam fest- stellbar. Wo es sich um bedeutendere Eosinophilien handelt, bei denen bis über 50 % Eosinophile im Blute vorkommen können, ist die Unter- suchung natürlich ein leichtes; ich konnte bereits bei der stärksten abso- luten Vermehrung der Eosinophilen, bei der myeloiden Leukämie, aus- führliche Blutbilder entwerfen.“) Auch bei der Leukanämie, Iymphatischen

2) Diagnose und Therapie der Anämien, Würzburg, C. Kabitzsch, 1907: myeloide Leukaemie (Tafel IX, X, XD), Leukanaemie (Tafel XII), lymphatische Leukaemie (Taf. VII), lienale Pseudoleukämie (Taf. XIV), perniziöse Anaemie (Taf. V).

288 Arneth: Die eosinophilen Leukozyten bei der croup. Lungenentzündung.

Leukämie, Pseudoleukämie und perniziösen Anaemie wurden von mir die Blutbilder auf Tafeln wiedergegeben. Hierüber a. a. O.

Die vorliegenden Untersuchungen sind zugleich die beste Stütze für den Wert und die Richtigkeit unserer Untersuchungen bei den Neutro- philen. Was hinter den Koulissen der einfachen Leukozytenzählungen im intimeren Zelleben der Eosinophilen bei der Pneumonie vor sich geht, ist zwar nicht so gewaltig und imponierend wie bei den Neutrophilen, aber interessant und eigenartig genug, und wirft so wichtige Schlaglichter auf das biologische Verhalten dieser Klasse von Blutzellen, daß sich weitere, wenn auch mühsame Untersuchungen, sicherlich reichlich lohnen werden.

Der Stand des Zwerchfells in seiner Beziehung zu gewissen Formen von Herzneurosen.

Von Dr. med. Hermann Birrenbach, Arzt für innere Krankheiten . an den Raphaelskliniken in Münster i. W.

Unter Herzneurosen oder besser cardiovasculären Neurosen (Kraus) versteht man im weitesten Sinne des Wortes einen Symptomenkomplex, der sich in einer funktionellen Störung der Herz- und Gefäßinnervation kundgibt, ohne daß eine nachweisbare orga- nische Schädigung des Herzens oder der Gefäße vorhanden ist. Der Begriff der Herzneurose ist wie derjenige der Neurose überhaupt ein komplexer und wird von den verschiedenen Autoren mehr oder weniger weit gefaßt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es echte Herz- neurosen gibt, die sich namentlich durch ihre Inkonstanz dokumentieren und Teilerscheinung einer allgemeinen neurasthenischen Veranlagung sind. Es ist auch klar, daß ein Organ, das in so reicher Wechselbeziehung zu anderen Organen steht, und das ein so kompliziertes Nervensystem besitzt, in seiner Tätigkeit direkt oder indirekt von außen beeinflußbar sein muß. Aber wie eine scharfe Grenze zwischen normalem und patho- logischem Seelenieben nicht gezogen werden kann, so ist auch eine strenge Scheidung zwischen rein funktionellen und organischen Herz- störungen im klinischen Sinne und zum Teil auch pathologisch-anatomisch infolge unserer unzureichenden Untersuchungsmethoden heute noch nicht möglich. Diese Tatsache ist natürlich für die Klinik von größter Be- deutung, um so mehr, als wir täglich in der Lage sind, Kombinationen von organischen und rein nervösen Herzstörungen zu beobachten, so daß, wie man zu sagen pflegt, die Herzneurose die organische Erkrankung überlagert.

Es ist fast jedem in der Klinik der Herzerkrankungen erfahrenen Arzte schon oft vorgekommen, daß er im Laufe einer längeren Kranken- beobachtung sich gezwungen sah, seine erstmalige Diagnose zu korri- gieren, indem er sich allmählich überzeugte, daß der anfänglich scheinbar unschuldigen Neurose die sich vielleicht nur durch vereinzelte Extra- systolen dokumentierte doch eine ernstere Erkrankung des Herz- muskels oder des Herznervenapparates zugrunde lag, und ebenso ist es mir schon häufiger passiert, daß ich Patienten untersuchte, denen von ersten klinischen Autoritäten vor längerer oder kürzerer Zeit wegen Herzstö- rungen eine üble Prognose gestellt worden und denen ein ernstes Herz- leiden vindiziert worden war, bei denen ich nach Jahresfrist oder noch längerer Zeit nichts Krankhaftes mehr nachweisen konnte,

Diese Schwierigkeiten machen uns die Klinik der Herzneurosen überaus interessant, müssen aber ebenso uns veranlassen, mit allen Mit-

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 19

290 Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen,

teln eine feinere Erforschung dieses diffizilen Gebietes der Herzpathologie anzustreben.

Vielleicht ist das Elektrokardiogramm berufen, uns über feinere Störungen in den ‚komplizierten Vorgängen des Regulations- systems der Herzbewegung Aufschluß zu geben. Seitdem wir aber wis- sen, daß auch bei nachweisbaren schweren organischen Herzveränderun- gen u. U, eine normale elektrokardiographische Kurve möglich ist, daß z. B. bei schwerster Herzmuskelinsufficienz eine normale Nachschwankung F vorhanden sein kann, daß sie bei klinisch normalem Herzen völlig fehlen kann, scheint die Zuhilfenahme dieses neuesten diagnostischen Hilfsmittels für die Klinik der Herzstörungen vorläufig noch nicht reif zu sein.

Mit Recht betont, A, Hoffmann ‚in seiner: Funktionellen Diagnostik und Therapie .des. Herzens -.und der Ge- fäße, daß wir über die eigentliche Funktion der intrakardialen Ganglien und Nerven sichere Kenntnisse,nicht besitzen, daß.aber gerade die genaue Kenntnis dieser physiologischen Tatsachen für. die Klinik der Herzneu- rosen von größter Bedeutung sei.’ Auch ist in vielen Fällen gar nicht fest- stellbar, ob bei Störungen der Herztätigkeit, welche. vom Verdauungs- apparat ausgehen, reflektorische oder toxische Einwirkungen in Betracht kommen.

"Bei unserer beschränkten Kenntnis von der Klinik der Herzneu- rosen ist der Versuch einer Klassifizierung derselben ein überaus schwie- riger, und die verschiedenen Autoren haben dabei die differentesten Ge- sichtspunkte zugrunde gelegt.

Man kann unterscheiden:

1. Herzneurosen als Teilerscheinung einer allgemeinen Neurose (Neu- rasthenie, Hysterie etc.);

2. Herzneurosen als Folge von Störungen im Herznervenapparate;

3. die sogen. Herzsche Phrenocardie und

4, reflektorische bezw. toxische Herzstörungen.

Aus diesem großen Kapitel möchte ich eine Form einer speziellen Betrachtung unterziehen, welche zweifellos eine große praktische Bedeu- tung hat und viel häufiger vorkommt, als im allgemeinen angenommen wird, Jedenfalls habe ich, seitdem ich darauf aufmerksam geworden bin, sie häufiger beobachtet und kann daher aus persönlicher Erfahrung über einige klinische Gesichtspunkte bei derselben referieren.

‚Es ist selbstverständlich, daß die Lage des Herzens und damit seine Bewegungsfreiheit innerhalb der Brusthöhle wesentlich beeinflußt wird durch den Stand und die Beweglichkeit des Zwerchfells. Das Herz ist im Brustraum einmal an der Aorta und der Arteria Pulmonalis fixiert, weiter durch die großen einmündenden Venen. Wie schon De- termannin seiner Arbeit (Deutsche Med. Wochenschrift 1900, Nr. 15) nachgewiesen hat, zeigt bei den Bewegungen längs der Brustwand die Herzspitze die größte Exkursionsfähigkeit.. Es kommen .als fixierendes Moment ' des weiteren die elastischen, den Brustraum erfüllenden Lungen

Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen. 291

in Betracht, nicht minder aber das die Brust von der Bauchhöhle abschlie- ßende Diaphragma, insbesondere das Zentrum tendineum des- selben.

Während beim Neugeborenen die Herzbeweglichkeit gleich Null ist, nimmt die Mobilität mit den Jahren immer mehr zu, so daß man bei Er- wachsenen nur in seltenen Fällen eine seitliche Verschiebung gänzlich vermißt. Bei schwächlich ernährten Personen sind häufig Differenzen der Herzperkussionsfigur in den verschiedenen Körperlagen um mehrere Zen- timeter nach rechts und links feststellbar. Besonders kann man diese Beobachtung an jungen, muskelschwachen Individuen, namentlich weib- lichen Geschlechts, machen. Eine wesentliche Beeinflussung der Lage des Herzens ist aber, wie schon gesagt, durch den Stand des Zwerchiells bedingt, und hier muß man, um anatomische Daten zu rekapitulieren, den Stand des Diaphragma in der Leiche von dem situs des Lebenden unter- scheiden. Während man in Gefrierschnitten feststellen kann, daß die Lage des Zwerchfells in der Leiche stets bedingt ist durch eine forcierte Ex- spirationsstellung, kann man unseren Betrachtungen am Kranken nur einen mittleren Stand bei mäßiger Exspiration zugrunde legen. Natur- gemäß müssen die seitlichen Teile des Zwerchfells bei der Atmung eine stärkere Lageverschiebung erleiden, als die als Zentrum tendineum be- zeichnete Mitte. Die seitlichen Teile verlieren ihre Wölbung, entfernen sich von der seitlichen Thoraxwand und die Lungen erfüllen in größerem Maße den sogen. Sinus costo-diaphragmaticus. Aber die Be- weglichkeit und der Stand des Zwerchfells wird des weiteren beeinflußt durch den Füllungszustand der Baucheingeweide, und hier kommt unter normalen Verhältnissen neben der Leber der Fundus des Magens und die Milz in Betracht. Eppinger sagt in seiner allgemeinen und speziellen Pathologie des Zwerchfells (Supplement zu Notnagels Handbuch): Für den Stand des Zwerchfells müssen wir folgende Momente berücksichtigen:

1. den Lungenzug,

2. den Druck im Abdomen,

3. den Tonus des Zwerchfells,

4. den Bau der Thoraxapertur und 5. den Atmungstypus.

Normaliter bedingt schon die Ausdehnung der soliden Leber einen Hochstand der sogen. rechten Zwerchfellkuppel, die ein bis zwei Inter- kostalräume höher als die linke stehen kann (rechts vierte, links fünfte Rippe). Wenn nun das Centrum tendineum auch im Verhältnis zu den seitlichen Teilen des Zwerchfells die geringste Beweglichkeit hat, so muß andererseits eine Erhöhung des Volumens der Baucheingeweide eine to- tale Verschiebung des Zwerchfells nach oben zu Wege bringen. Zunächst wird der Hochstand des Zwerchfells bei Steigerung des intraabdominellen Druckes sich nach links bemerkbar machen, indem sich der Stand beider Zwerchfellkuppeln ausgleicht. Die Form der linken Kuppel, sagt Ep- pinger, kann sich im Sinne einer gespannten Blase im Röntgenbilde gleich-

19*

292 Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen,

mäßig nach oben kuppelförmig darbieten. Denn rechts bleibt die Form im Prinzip gewahrt, da hier das Zwerchfell den Conturen der Leber sich anpaßt. Damit wird aber das Herz auf dem planum cardiacum ge- hoben, eventuell an den Gefäßen abgeknickt und bei respiratorischen Be- wegungen mit seinem rechten unteren Rande in den Spalt, der durch die vordere Brustwand und die vordere Partie der pars verticalis des Zwerch- fells gebildet wird, hineingeschoben.

Diese anatomischen Tatsachen lassen es ohne weiteres ersichtlich erscheinen, daß zwischen normaler Herzlage und abnormen Zuständen ein

V

> um m mn mn mel m am

» | I er’

Schwankungen des Transversaldurchmessers 1 und v bei verschiedenem Zwerchfellstand im Orthodiagramm.

Herzlage bei normalem Stande.

BAR AR N * niedrigem Stande.

eoooes00 MM höherem Stande. v v‘ v“ entsprechende Abstände rehts. M M' Mittellinie.

Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen. 293

großer Spielraum sein muß und daß pathologische Verhältnisse notwendig zu Störungen in der Herzaktion und den Kreislaufverhältnissen führen müssen. Damit ist aber auch erklärt, daß wir bei abnormem Zwerchfell- stand bei Hochdrängung des Zwerchfells, wie auch bei abnormer Ab- flachung desselben Veränderungen in der Perkussionsfigur sowohl des Herzens, wie auch der Projektionsfigur des Gefäßschat- tens erhalten müssen, so daß ein Zwerchfellhochstand im Röntgenbilde eine diffuse Aortendehnung vortäuschen, bezw. eine vorhandene verstär- ken kann. Eppinger sagt l. c.: „Indem das Herz zwischen vorderer Thoraxwand und vorderer Abdachung des hochgestellten Zwerchfells ein- gekeilt liegt, liegt es einerseits mit breiter Fläche dem Diaphragma auf und andererseits werden für die Lungen insofern ungünstige Verhältnisse geschaffen, als die unteren Ränder behindert werden, sich gegen den ster- nalen Pleurasinus vorzuschieben. Es findet daher die bei Hochstand des Zwerchfells sich darbietende Vergrößerung der absoluten Herzdämpfung ihre Ursache nicht nur in der mangelhaften Bedeckung des Herzens durch Lungenpartien, sondern auch in der Verbreiterung der Herzfigur im gan- zen Durchmesser, was hauptsächlich daran zu erkennen ist, daß der Herz- spitzenstoß beträchtlich nach außen zu liegen kommt.”

Wir beobachten pathologischen Hochstand des Zwerch- fells 1. bei gesteigertem Abdominaldruck (Ascites, Tumoren, Meteorismus, Gravidität); 2. bei gesteigertem Lungenzug a) Schrumpfung der Lunge und Pleura, Williams-Phänomen, b) Bronchialstenosen; 3. Lähmung oder Parese des Zwerchfells;

4. zu schmaler unterer Thoraxapertur.*)

Im Gegensatz hierzu beobachten wir pathologischen Tief- stand 1. bei vermindertem Lungenzug (Emphysem, Pneumonie, Pleuritis, Pneumothorax); 2. bei erhöhtem Tonus des Zwerchfells; 3. bei weiter unterer Thoraxapertur (Tumoren, Enteroptose, Ab- magerung). Es ist klar, daß bei tiefem Stande des Zwerchfells der Neigungs- winkel der Längsachse des Herzens kleiner wird und umgekehrt. Wir

*) Während der Korrektur hat Byloff, Mitteil, der Gesellschaft für innere Medizin und Kinderheilkunde. Wien 11, S. 92-94, 1912, noch auf eine besondere Form von Zwerchfellhochstand aufmerksam gemacht, welche er als Stigma degenerationis auffaßt.

Hier spielen weder Schrumpfungsprozesse im Brustraum, noch erhöhter intra- abdomineller Druck eine aetiologische Rolle. Es findet sich der Hochstand des Dia- phragma auf beiden Seiten bei Erkrankungen, die erfahrungsgemäß auf degenerativer Basis sich entwickeln: Basedow, orthotische Albumiumie etc. Byloff konnte derartige Fälle demonstrieren. Mir fehlen persönliche Erfahrungen über derartige Beobachtungen.

294 Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen.

können diesen Zustand häufig bei Emphysematikern beobachten, wenn gleich derselbe im Anfang durch die Vergrößerung des rechten Ventrikels verdeckt wird und erst in späteren Stadien deutlich in die Erscheinung tritt. Auch bei dem sogenannten Cor pendulum, wie auch beim Krausschen Tropfenherz haben wir ein mehr längsgestelltes Herz und damit eine Verkleinerung des Transversaldurchmessers. Häufig fin- det sich das Cor pendulum mit allgemeiner Splanchnoptose kompli- ziert, wie wir sie namentlich bei mageren, zarten Frauen, die oft geboren haben, beobachten können.

Ich möchte aber besonders die Aufmerksamkeit auf einen Zustand lenken, den vorkurzem Pal in Wien als Pneumatose des Magens mit Dyspnoe (Med. Klinik Nr. 50, 1912) beschrieben hat, und der, wie er in seiner Arbeit hervorhebt, zu richtigen cardial-asthmatischen Zuständen führen kann. Der Begriff des Asthmas dyspepticum, welcher althergebracht und besonders von Heubner für besonders charakteristische pädiatrische Fälle eingeführt ist, deckt sich jedoch nicht mit dem, was Pal als Pneuma- tose bezeichnet, und sicherlich spielen beim Asthma dyspepticum auch der Erwachsenen noch andere Momente eine Rolle als lediglich die Raumbe- schränkung des Herzens. Meiner Auffassung nach ist der Begriff des alten Asthma dyspepticum viel weiter zu fassen, so daß man die verschie- densten schädigenden Einflüsse auf das Herz dafür verantwortlich machen kann, Ja, es gibt sogar reine Fälle von dyspeptischem Asthma, bei denen Hochstand des Zwerchfells klinisch nicht beobachtet wird.

Es fragt sich, ob man vielleicht in den meisten Fällen die mit Hoch- stand des Zwerchfells und Pneumatose einhergehenden kardialasthmati- schen Anfälle aufzufassen hat als eine Teilerscheinung der sogen. Ort- nerschen „Dyspragia intermittens angiosclerotica in- testinalis“. Dieser Gedanke liegt nahe, weil wir öfter in der Lage sind, diesen von Ortner beschriebenen Krankheitstyp unter fast denselben Symptomen zu beobachten.

Ich habe aber häufig Fälle von nervösen Herzstörungen im Gefolge von Zwerchfellhochstand beobachtet, wo eine Arteriosclerose der peri- pheren Gefäße namentlich auch im Splanchnicusgebiet sicherlich auszu- schließen war. Und wenn auch nach unseren heutigen Anschauungen die Arteriosclerose nicht mehr ein Privileg des vorgerückten Alters’ist, so war durch die Eigenartigkeit des Verlaufs und namentlich auch die Perio- dizität der Anfälle sicherlich ein Beweis für die Tatsache erbracht, daß Arteriosclerose ausgeschlossen war.

Die Krankheitssymptome traten häufig ganz unerwartet, plötzlich, kürzere Zeit nach der Nahrungsaufnahme auf. Oft werden die Patienten fast täglich von derartigen Anfällen belästigt. Ich will gleich bemerken, daß in diesen Fällen aetiologisch besonders Aerophagie in Betracht kommt. Oft aber können Monate zwischen den einzelnen Anfällen ver- gehen, Ich selbst beobachtete eine Dame, welche, neuropathisch veran- lagt, nach jeder psychischen Erregung zweifellos mit einigen tiefen Atem-

Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen. 295

zügen sich den Magen voll Luft pumpte, und dann an schweren Erschei- nungen cardialer Dyspnoe erkrankte, so daß der unerfahrene Beobachter die Auffassung haben konnte, es mit einer schweren, echten Stenocardie zu tun zu haben.

Meist ist der Puls klein und frequent. Kalter, klebriger Schweiß bedeckt oft Hände und Gesicht. Es besteht eine riesige Herzangst mit motorischer Unruhe, Die Herztöne sind leise, frequent, oft metallisch klingend, das Zwerchfell steht abnorm hoch, und meist ist eine Verbrei- terung der tiefen Herzdämpfung nach links bis über die Mamillarlinie hin- aus feststellbar. Oft kann die Herzdämpfung auch durch die Pneumatose völlig verdeckt sein. Pal hat röntgenologisch festgestellt, daß hauptsäch- lich die linke Zwerchfellhälfte an diesem Hochstand beteiligt ist, da, wie schon bemerkt, die rechte Kuppel durch die anliegende solide Leber un- beweglicher ist, und mit Recht vermutet er, daß weniger die Einengung der Lungen als die Bewegungsbeschränkung der Herzkammern und hier namentlich des linken Vorhofes an den Erscheinungen die Schuld trägt. Das Herz ist dann horizontal gelagert und wir bekommen im Röntgenbilde Bilder, wie wir sie beim sogenannten Greisenherz sehen, wo das Herz infolge der Verlängerung der atheromatös erkrankten Aorta auf dem Planum inclinatum des Zwerchfells nach links verschoben ist. Man kann dann auch feststellen, daß im Gegensatz zur Norm, weit mehr als zwei Drittel der normalen Herzsilhouette links von der Mittellinie liegt. Der ganze Zustand kann, wie gesagt, klinisch das typische Bild einer ech- ten Stenocardie verursachen. Die Schmerzen werden meist unter das Brustbein verlegt, wie bei der echten „Brulure retrosternale“, und in zwei Fällen konnte ich auch ausstrahlende Schmerzen in den linken Arm bei jugendlichen Individuen ohne Arteriosclerose beobachten. Ist der Puls nicht zu klein und jagend, so vermag man öfters vereinzelte Extrasystolen festzustellen, die sich entweder durch einen plötz- lichen Ruck oder das Gefühl von plötzlichem Herzstillstand dem Patien- ten kundgeben.

Über die Blutdruckverhältnisse im Anfall vermag ich Angaben nicht zu machen, da ich bisher bei Krankenhausmaterial einen Anfall nicht

beobachtet habe.

Einen zweifellos echten Fall von cardialer Dyspnoe, welcher auf Pneu- matose beruhte, beschreibt Chlepovski (No. 18d. Literatur). Er ver- lief unter den Erscheinungen einer echten paroxysmalen Tachy- cardie. Die einzelnen Systolen folgten so schnell aufeinander, daß ein positiver systolischer Venenpuls feststellbar war.

Hier scheinen die die einzelnen Extrasystolen hervorrufenden Reize sich so gehäuft zu haben, daß die Vorhofsystole zeitlich sich der Ventrikel- systole immer mehr näherte, so daß schließlich der Vorhof bei der systo- lischen Kontraktion sich nicht mehr in den noch kontrahierten Ven- trikel entleeren konnte. Es bestand das Bild, das Wenckebach als

296 Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen,

„Vorhofpfropfung bei Coinzidenz von As und Vs” beschrie- ben hat. Das Blut wurde systolisch ventrikulär in die Venen geworfen.

Ich habe bei meinen Fällen besonders auf hyperalgetische Zonen in der Herzgegend geachtet. Nur in einem Falle konnte ich eine Hyper- aesthesie im Bereich der Herzdämpfung feststellen. Ich glaube aber, daß Hyperaesthesien häufiger bei unserer Erkrankung beobachtet werden können, da die peripheren sensiblen Nervenäste zweifellos in enger Be- ziehung zu den autonomen Herznerven, dem Sympaticus und Va- gus, stehen.

Sekretorische Reflexe, wie sie bei echter Stenocardie mit gestei- gerter Ausscheidung von Speichel und Urin beobachtet wurden, habe ich nicht gesehen. Im Urin fanden sich niemals pathologische Bestandteile.

Es ist sicherlich bei den Fällen von Pneumatose mit kardialer Dyspnoe noch manches Interessante feststellbar. Aber da fast alle Fälle bei ambulanter Klientel beobachtet werden, so kann man auch bei der Kürze der Dauer des Anfalls meist nur ein kurz umrissenes Krankheits- bild geben, das auf wissenschaftliche Exaktheit weniger Anspruch machen kann.

Was die Aetiologie unserer Krankheit anlangt, so ist sicherlich in vielen Fällen eine echte Aerophagie verantwortlich zu machen, und, wie ich schon andeutete, habe ich selbst einen Fall beobachtet, wo ge- wohnheitsgemäß Luft geschluckt wurde.

Es wäre interessant, an einem größeren Beobachtungsmaterial bei unseren Fällen Magensaftuntersuchungen anzustellen, da mit der Mög- lichkeit zu rechnen ist, daß die Pneumatose auch auf einem Pyloro- spasmus infolge von Hyperacidität beruhen kann. Pal gibt. an, bei sei- nen Fällen nennenswerte Abweichungen von der Norm nicht gefunden zu haben. Zweifellos kann bei abnormen Darmgärungen eine Pneumatose ent-

stehen, meist aber hat die Luftbildung im Magen selber ihren Sitz, und zwar ist auch hier wohl der atonische schlaffe Magen eher disponiert als der normale mit kräftigem peristolischem Kontrak- tionsvermögen. Ob auch ein Krampf der Cardia eine Rolle in der Aetiologie spielt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Man könnte sich auch denken, daß durch allmähliche Zunahme des Gasfüllungszustan- des des Magens der Mageneingang an der Plica cardiaca bei hoch- steigendem Fundus (Magenblase) gegen den subdiaphragmalen Teil des Oesophagus abgeklemmt wird.

Das Krankheitsbild dauert im allgemeinen nur kurze Zeit. ‘In zehn Minuten bis zu einer Stunde wird durch den Brechakt oder durch einige starke Zwerchfellkontraktionen die Luft entleert, dann treten allmählich Wohlbefinden, eine ruhigere Herzaktion und normale ‚physikalische Ver- hältnisse'ein. Die Diagnose ist meist leicht zu stellen, wenngleich das be- ängstigende Aussehen der Kranken zunächst an’ ein ernstes Leiden den-

ken läßt. | ed

Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen, 297

Differentialdiagnostisch kommt neben echter Stenocardie infolge von Coronarsclerose namentlich die schon erwähnte Ortnersche Dyspragia angiosclerotica intermittens intestinalis in Betracht, in deren Verlauf starke Schmerzen im Abdomen bei Hoch- stand des Zwerchfells in die Brusthöhle projiziert werden können. Bei vorgerücktem Alter der Patienten ist jedenfalls Coronarsclerose, Myocarditis, die Ortnersche Dyspragie, bei jüngeren Leuten auch Angina pectoris spuria infolge von Nicotinabusus mit in den Kreis der Erwägung zu ziehen. Eine weitere differentialdiagnostische Erörterung verdient noch die von Herz in Wien beschriebene Phre- nocardie. Bei ihr ist aber ein abnormer Tiefstand des Herzens in den meisten Fällen nachweisbar (Herzsche Atemsperre). Herz glaubt, die Schmerzen bei der echten Phrenocardie auf klonische Zuckungen der am Rippenbogen inserierenden Zwerchfellteile zurückführen zu müssen. "Auch sei noch erwähnt, daß häufig der sogen. Phrenocardie sexuelle Mo- mente zugrunde liegen oder der ganze Symptomenkomplex Teilerschei- nung einer hysterischen Veranlagung ist.

Was nun die Therapie der Pneumatose mit cardialer Dyspnoe an- langt, so ist prophylaktisch zur Vermeidung der Anfälle anzustreben, jeg- licher abnormer Gasansammlung im Magen und Darm vorzubeugen. Na- mentlich die Aerophagie, welche häufiger vorkommt, als man anzunehmen geneigt ist, muß mit allen Mitteln bekämpft werden. Mathieu empfiehlt dem Patienten den Mechanismus der Aerophagie zu erklären und damit das häufige Luftschlucken zu verhindern (Atemgymnastik).

Zweig empfiehlt Kompressionsmassage des Magens bei tiefer Ex- spiration; des weiteren Elektrotherapie,: physikalische Behandlung mit Wasser, auch Brom, Validol etc. In einer kürzlich erschienenen Arbeit hat His-Berlin bei ähnlichen Zuständen den Gebrauch einer Karell- Kur empfohlen, welche namentlich abnorme Gärungen verhindern soll.

Im Anfang muß man alle Mittel benutzen, um bald die Eingeweide von ihrem abnormen Inhalte zu entleeren. Dahin gehören Brausepulver, Erregung von Brechreiz, Menthol, Magnesia perhydrol etc,

Eventuell ist man gezwungen, bei bestehender starker Dyspnoe einen Magenschlauch zur Entleerung der Luft einzuführen, nach vorhe- riger Injektion einer kleinen Morphiumdosis. Man informiere sich aber stets, ob man es auch sicherlich nicht mit einem auf Arteriosclerose be- ruhenden krankhaften Zustande zu tun hat.

Die Anwendung von Herzmitteln ist meist unnötig. Doch habe ich einmal, nach Entleerung der Luft aus dem Magen, mich gezwungen ge- sehen, eine Digaleninjektion zu machen, weil zweifellos infolge des längeren Hochstandes des Zwerchfells und der damit verbundenen Abknickung, das Herz vorübergehend geschädigt war. Gegen abnorme Gasansammlung im Darm (Meteorismus) habe ich die sogen. Goldham- merschen Pillen häufig mit Erfolg angewandt. In den meisten Fällen wird die eben erwähnte Behandlung in kurzer Zeit den gewünschten Ef-

298 Birrenbach: Zwerchfellstand und Herzneurosen.

fekt haben. Aber man muß sich doch immer bewußt sein, daß häufig sich wiederholende Attacken imstande sind, durch die damit verbundene, wenn auch nur kurz dauernde Ernährungsstörung des Herzmuskels oder die Er- müdung desselben, eine dauernde Schädigung des Organes herbeiführen können. Daher ist es durchaus empfehlenswert, auch in anfallsfreien Intervallen das Herz- und Gefäßsystem einer genauen und ernsten Unter- suchung und Funktionsprüfung zu unterziehen, um vor einer unerwarteten Katastrophe geschützt zu sein, wo man berechtigt zu sein glaubte, eine rein funktionelle cardio-vasculäre Störung anzunehmen.

Literatur.

1. Hoffmann: Funktionelle Diagnostik und Therapie der Erkrankungen des Herzens und der Gefäße,

2. O. Rosenbach:. Herzkrankheiten.

3, Mackenzie: Diseases of the Heart.

4. Broadbent: Herzkrankheiten.

5. Determann: Deutsche Med. Wochenschr. 1900, Nr. 15.

6. Pal: Über Magenspannung (Pneumatose). Med. Klinik 1911, Nr. 50.

7. Eppinger: Allgemeine und ze. Pathologie des Zwerchfells. (Supplement zu Nothnagels Handb.) H

8, Herz: Erfahrungen aus der EÄEREREER bei Herzkrankheiten.

9. Handbuch der Pathologie, Diagnostik und Theraphie der Herzkrankheiten. Hg. v. Jajic. II. Bd, 1. Teil.

10. Vogt: Pathologie des Herzens.

11. Ergebnisse der Pathologie. 4. Jahrg. (Herzkrankheiten).

12, Boas: Verdauungskrankheiten.

13. James Mackenzie: Krankheiten und ihre Auslegung. Hg. v. Joh. Müller.

14, Cherechevski: Gaz. med. de Paris. 1887.

15. Rumpff: Verhandlungen des 6. Kongresses für innere Medizin 1888,

16. L. Braun: Über Herzbewegung und Herzstoß, Ztbl, f. i. Med. 1902, Nr. 35.

17. Ortner: Zeitschr. f, ärztl. Fortbildung. 1910,

18. Chlepovski: Przegl. Lek. Krakau 1907 (Referat).

19, Korning: Lehrb. d. topographischen Anatomie,

20. Huchard: Herzkrankheiten,

21. Romberg: Herzkrankheiten.

22. Byloff, Karl: Über Zwerchfellhochstand als Ausdruck von degenerativen Veränderun- gen, Mitt. d. Gesellsch. £. innere Medizin u. Kinderheilk. Wien 11, S., 92—94, 12. Refer. i. Centralbl, f, die gesamte innere Medizin u. ihre Grenzgebiete, Band II, Heft 6.

Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersat und Heeresdienst.

Von Oberstabsarzt Dr. Bussenius,

Es dürfte wohl kaum ein Spezialgebiet der inneren Medizin geben, das im letzten Jahrzehnt intensiver bearbeitet wäre, als das der Arte- riosklerose. Auf den wissenschaftlichen Kongressen aller Kulturländer war dieses Krankheitsbild Gegenstand eingehender Besprechungen. In den letzten Jahren ist, wie Huchard') schreibt, im Übermaß von ihr die Rede, Überall will man sie erblicken, und es ist fast, als wäre sie nir- gends. Eine neue Krankheit ist daraus entsprungen, die Arteriosklero- sophobie. Noch drastischer drückt sichBurwinkel aus, wenn er sagt, die Arterioklerose ist der große Topf geworden, in welchen alle nicht ganz durchsichtigen Krankheitsbilder geworfen werden.

- Als ich anfangs 1910 den IL Ergänzungsband zur Deutschen Klinik am Eingang des XX. Jahrhunderts in die Hände bekam, las ich in einem Aufsatz Otfried Müller's über Arteriosklerose etwa folgenden Satz: „Die alte Auffassung der Arteriosklerose als eine Alterserscheinung ist im Hinblick auf ihr neuerdings in sehr jugendlichen Jahren häu- fig beobachtetes Vorkommen verlassen.” Dieser Satz machte mich stutzig und veranlaßte mich zu eingehenden Nachforschungen und Unter- suchungen. War er richtig und er findet sich schon viel früher ausge- sprochen, ich nenne Weiß?) Windscheidt/) Hirsch‘) Krehl/) so mußten doch bei der amtlichen Tätigkeit der Militärärzte, von denen eine größere Reihe auch für Untersuchung von Herz- und Gefäßstörungen spe- zialistisch ausgebildet ist, und denen im Laufe der Jahre viele hundert- tausende Leute in jugendlichen Jahren zur Untersuchung zur Verfügung stehen, entsprechende Beobachtungen gemacht sein.

Daß die Arteriosklerose sich nicht eines häufigen Vorkommens im militärischen Leben rühmen kann, dürfte schon daraus hervorgehen, daß ihr weder im alten Rapportschema, noch in der späteren Übersicht der im Lazarett und Revier behandelten Krankheiten eine besondere Nummer eingeräumt ist, in der über sie zahlenmäßig berichtet werden könnte. Sie

2) Huchard, Allgem. Betrachtungen über die Arteriosklerose. Sammlung kl. Vor- träge. Innere Medizin, Nr. 175.

2) Weiß, Die Heilkunde 1902, 2. Heft.

%) Windscheidt, Münch. med. W.-Schr. 1902, Nr. 9,

%) Hirschh München 1907.

®) Krehl in v. Mehring’s Lehrbuch der inneren Medizin,

300 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz.

muß sich in der Rubrik „andere Krankheiten der Blut- und Lymphgefäße” verstecken. Dieser Umstand bringt es auch mit sich, daß aus der so lehr- reichen Arbeit Schwiening's und Nicolai's‘) über die Körperbe- schaffenheit des zum Einjährig-freiwilligen-Dienst berechtigten Ersatzes zwar ersichtlich ist, daß von 52 640 jungen Leuten durch Krankheiten des Herzens und der Gefäße 2707 dem Dienst entzogen wurden, ob unter letzteren aber Arteriosklerotiker waren und in welchem Prozentsatz, er- fährt man nicht.

Durchmustert man die Sanitätsberichte über die Preußische Armee von den letzten 20 Jahren, so ist das beigebrachte Material, das auf ein Vorkommen der Arteriosklerose in der Armee hindeutet, ganz erstaun- lich gering. Jahre hintereinander fehlt jeder Hinweis, oder er betrifft alte Leute; so starb ein Musikdirigent mit Arteriosklerose an Lungen- embolie, ein alter arteriosklerotischer Wallmeister an Altersbrand usw. Als positiver Befund bleibt eigentlich nur die Bemerkung aus dem Sani- tätsbericht von 1901, daß bei zwei Leuten des ersten Dienstjahres, die weder Alkoholiker noch Syphilitiker waren, Schlagaderverhärtung beob- achtet sei und daß in einem Fall Wadenkrämpfe eines Rekruten wahr- scheinlich durch entzündliche Veränderung der Arterienwand bedingt

gewesen seien.

In einem gewissen Gegensatz hierzu steht ein kurzer Aufsatz Drenkhahn's,) der von einem gehäuften Auftreten von Arteriosklerose in dem Oberschlesischen Heeresersatz berichtet. Von 256 Rekruten des Regiments No. 38 hätten 33 13,3 % Andeutung von Arteriosklerose ge- zeigt. Er habe mehrere deshalb zur Entlassung vorschlagen müssen. Daß diese auffallende Beobachtung von anderer Seite bestätigt wäre, ist mir nicht bekannt geworden.

Bei dieser Sachlage trat ich in eigene Untersuchungen ein. Zunächst wollte ich den Heeresersatz prüfen und benutzte dazu die Aushebung 1910, wo mir aus den Bezirken Hagen, Gelsenkirchen, Recklinghausen über 9000 junge Leute vorgeführt wurden, die in der schwersten körper- lichen Berufsarbeit standen. Natürlich durfte eine eingehende Unter- suchung nicht stattfinden, da ja sonst das Aushebungsgeschäft gestört wäre. Ich hatte mich deshalb darauf eingeübt, bei jedem vor mich Hin- tretenden auf Schlängelung und Hervortreten der Schläfenarterien zu achten und gleichzeitig schnell beim Anfassen des Radialpulses festzu- stellen, ob die Radialarterie als strangartiges Rohr tastbar blieb, sobald der Fingerdruck den Pulsschlag zum Verschwinden gebracht hatte, oder ob das Arterienrohr dann für den Finger untastbar im umgebenden Gewebe verschwand. Bei diesem, durch die Verhältnisse bedingten kursorischen Vorgehen mag mir ja manches entgangen sein; auch war mir Fischer's

6) Schwiening, unter Nicolai’'s Mitarbeit, Veröffentlichungen aus dem Gebiet des Militärsanitätswesens, Heft 40. ?) Drenkhahn, D. milit. Zeitschr. 1905, Heft 7.

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 301

und Schlayer's’) Warnung, aus der Fühlbarkeit der Arterien allein schon die Diagnose auf Arteriosklerose zu stellen, sehr wohl bekannt. Tatsache ist jedenfalls, daß ich nur dreimal Schlängelung der Temporal- arterien gesehen und einmal eine deutliche Verhärtung der Radialarterie gefühlt habe. Bei letzterem Manne (Pferdeknecht) bestand gleichzeitig eine Perforation der Nasenscheidewand. Von den drei erstgenannten Leuten waren zwei Feuerarbeiter, der dritte Zuschläger von Beruf.

Bei etwa 500 jungen Leuten, die zwecks’Eintritt zum Einjährig-frei- willigen-Dienst sich meldeten, habe ich nur einmal bei einem Studenten im 9. Semerster (25 Jahre alt) eine Schlängelung der verhärteten und her- vorstehenden Schläfenarterie gesehen bei gleichzeitig verstärktem und verbreitertem Herzstoß. Der Untersuchte sagte mir unaufgefordert so- fort, diese Schläfenaderschlängelung hätten alle Mitglieder seiner Familie, die wäre vom Vater ererbt, der an Nierenentzündung und Wassersucht gestorben sei. Er selbst sei nicht etwa ein Alkoholiker.

Diese Angabe des jungen Mannes bestätigt die Beobachtung Land- graf's,) daß sich bei im Soldatenalter stehenden Söhnen von Vätern, welche ausgesprochene Arteriosklerose hatten, Herzstörungen feststellen ließen im Sinne erhöhter Reizbarkeit bezw. mangelhafter Funktion. Dabei zeigten diese jungen Leute auffallend geschlängelte und hart anzufüh- lende, aber nicht stark gespannte Radialarterien und häufig stark ange- füllte Temporalarterien.

Daß aber nicht nur etwa das. kursorische Durchmustern dieser jungen Leute die Schuld an dem geringen Prozentsatz aufgefundener Gefäßkranker bedingt, dafür ist die Tatsache beweisend, daß unter den eingestellten Rekruten der Jahrgänge 1910 und 1911 rund 550 Mann aus allen Teilen Deutschlands sowie unter 100 zum Einjährigen-Dienst zugelassenen Volksschullehrern, die in aller Ruhe und mehrfach unter- sucht wurden, nicht ein einziger gefunden wurde, der sklerotische Ver- änderungen an dem Gefäßsystem dargeboten hätte.

Wenn ich also aus der großen Masse von über 10.000 jungen Leuten, die zum größten Teil dauernd schwere körperliche Arbeit geleistet hatten, zum guten Teil auch energisch Sport getrieben hatten, und von denen sich doch etwa 600 auch erheblichen geistigen Strapazen Examina u. s. w. unterworfen hatten, die ferner einerseits als Arbeiter genötigt waren, sich abzuhetzen und sich zu ermüden im Kampfe ums Dasein, andererseits aber gerne bekannten, daß sie auch die Freuden des Lebens in jeder Hinsicht genossen hatten und weiter genießen wollten, noch nicht 3% %,. Gefäßkranker herausfinden konnte, wie stimmen dazu die zahl- reichen gegenteiligen Äußerungen in der Literatur? Sagt doch zum Bei-

®) Fischer und Schlayer, Arteriosklerose und Fühlbarkeit der Arterienwand. D. Arch. f. klin, Med. 98, 1909, S, 164.

®) Landgraf, Veröffentlichungen aus dem Gebiet des Militärsanitätswesens, 22. Heft, und Handbuch von Villaret-Paalzow, Kap. 9, Abschn. 4.

302 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz.

spiel Windscheidt,') man brauche nur nachzuforschen, um bei relativ jungen Leuten, die entweder beruflich schwere körperliche Arbeit ge- leistet, oder intensiv Sport getrieben hätten, schwere Arteriosklerose zu finden. Hirsch“) betont in seinem Aufsatz über Arterienverkalkung, daß die immer mehr um sich greifende unhygienische Lebensweise, das Rennen, Jagen und Hasten nach dem Erwerb, die Überanstrengung und Überreizung des Nervensystems, die unzweckmäßige Ernährung, die Ver- kürzung des Schlafes, kurz die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse zu einem frühen Auftreten der Arteriosklerose geführt hätten. Ja noch weiter geht Saltykow,') wenn er schreibt, daß der Beginn der Arterio- sklerose, die keine Alterskrankheit sei, im jugendlichen Alter zu suchen sei. Die Arteriosklerose sei sogar als juvenile Krankheit zu bezeichnen,

Gleichwohl trage ich auf Grund meiner eigenen Untersuchungen keine Bedenken, es offen auszusprechen, daß bei dem Heeresersatz bisher die Arteriosklerose keine nennenswerte Rolle spielt. Der Satz: „Im militärpflichtigen Alter kommt die Arteriosklerose nicht in Frage” ist auch in der Sitzung”) des wissenschaftlichen Senates der Kaiser Wilhelms- Akademie am 31. 3. 1903 unwidersprochen geblieben.

Wir haben nun noch folgende Fragen weiter zu prüfen: Ändert sich das Verhältnis während der einjährigen und zweijährigen Dienstzeit?

Wie ist das Untersuchungsergebnis in dieser Hinsicht bei den zur Übung einberufenen Reservisten und Landwehrleuten? Eine Frage, die im Mobilmachungsfalle eine erhebliche Rolle spielen würde.

Wie steht es in dieser Beziehung mit den Berufssoldaten, die ihre Dienstzeit bis zum vollendeten 12. Dienstjahr und länger fortsetzen?

Eine Beantwortung dieser Fragen setzt meines Erachtens zunächst Klarheit darüber voraus, was man unter Arteriosklerose verstanden wissen will, denn sie kann auch heute durchaus noch nicht als ein be- stimmt abgegrenztes Krankheitsbild gelten. Wie weit sind die Grenzen, wenn Ch. Bäumler“) unter dieser Bezeichnung alle diejenigen Veränderungen zusammenfaßt, welche sich durch Schlängelung und Verdickung der Arterien und nicht bloß vorüber- gehende Spannungserhöhung derselben zu erkennen geben und bei län- gerem Bestehen und weiterer Verbreitung des Leidens mit Hypertrophie des linken Ventrikels sich verbinden; oder wenn Jores”) das Wesen der Arteriosklerose in einer infolge vermehrter funktioneller Inanspruch- nahme auftretenden Hypertrophie gewisser Schichten der Gefäßwand und deren späteren Degeneration sieht. Wie anders dagegen die Defi- nition Huchard's, der unter ihr eine disseminierte Erkrankung ver-

10) Windscheidt, Münch, Med. W,-Schr, 1902, Nr, 9,

11) Hirsch, München 1907.

12) Saltykow, Korrespondenzblatt für schweiz. Ärzte 1911, Heft 27.

13) Vergl. Seite 41 des Heftes Nr, 22 der Veröffentlichungen aus dem Gebiet des Militärsanitätswesens.

12) Ch. Bäumler im Handbuch Penzoldt-Stiizing, III Bd., 1910,

15) Jores, Wesen und Entwickelung der Arteriosklerose, 1903, S. 156.

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz, 303

schiedener Organe und zwar speziell Herz und Nieren durch Ver- mittelung der sklerotischen. Arterien großen und besonders mittleren Kalibers verstanden wissen will, eine Erkrankung, wobei die wertvollen Bestandteile dieser Organe durch Narbengewebe ersetzt werden. Daher ein allmähliches Versagen des Herzens, des zentralen Motors des Kreis- laufes, und auch der Nieren, dieser säftereinigenden Organe, die uns von den eingeführten oder in.uns selbst gebildeten Giften zu befreien haben. "Weit entfernt aber, daß diese Definitionen Anerkennung gefunden hätten! Man hat gesagt, das von Huchard geschilderte Krankheitsbild sei nur ein partieller Symptomenkomplex der Arteriosklerose, die soge- nannte „Organsklerose”. Gegen Bäumler wendet man ein, daß ein dauernd erhöhter Gefäßtonus durchaus nicht zur Arteriosklerose gehöre [Clifford-Albut, Rudolf,“) van Spanje”)]. “© Mein verstorbener Lehrer Senator pflegte die Arteriosklerose als eine Erkrankung der Gefäßwände zu bezeichnen, mit Elastizitätsverlust der Schlagaderwandungen beginnend und zur Wandverhärtung und Ge- fäßverengerungen führend, die zur Folge hat zentralwärts eine übermäßige Inanspruchnahme des linken Herzens Dilatation und Hypertrophie und peripherwärts eine abnehmende funktionelle Energie, ja schließlich Atrophie der Organe. Diese Definition, wie sie ähnlich übrigens schon 1879 von Quincke im Ziemßen’schen Handbuch ausgesprochen ist, hält Ursache und Wirkung gut auseinander, und man kann sie wohl auch heute noch als zutreffend akzeptieren. Erwähnt mag schließlich noch werden, daß man das Wort „Arteriosklerose jetzt häufig verdeutscht durch „Schlagaderwandentartung”, wobei man mit dem Ausdruck „Entartung” alle im Laufe der Arteriosklerose vorkommenden krankhaften Ver- änderungen der Gefäßwand Elastizitätsverlust, Verengerung, Ver- dickung, Verkalkung, Verhärtung, Schlängelung u. s. w. zusammen-

fassen will.

Nehmen wir nun zunächst meine Behauptung als richtig an, daß junge Leute mit sogenannter juveniler Arteriosklerose, auch gelegentlich „Praesklerose” genannt, im allgemeinen nicht zur Einstellung gelangen, bringt dann die zweijährige Dienstzeit Gelegenheitsursachen zur Ent- stehung einer Gefäßerkrankung?

Es kämen hier naturgemäß junge Leute besonders in Gefahr, die eine erbliche Veranlagung zur Gefäßwandentartung besäßen. Letzteren Moment aus dem Gebiet der Ätiologie der Arteriosklerose, auf den schon Landgraf hingewiesen hat, glaube ich ganz besonders hervorheben zu müssen, da er meiner Änsicht nach immer noch nicht die gebührende Würdigung für die Frühformen der Arteriosklerose findet. Wollte ich hier eingehend auf die Ätiologie unserer Krankheit eingehen, würde ich

16) Rudolf, Über den erhöhten Blutdruck bei der Arteriosklerose, : Brit, med, J. 26. 11. 1910, 17) van Spanje Tizdschr. voor. Genesk 1911,

304 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz,

zu weit von meinem Thema mich entfernen. Erwähnt sei hier nur kurz das Ergebnis einer von Herz‘) bei den österreichisch-ungarischen Ärzten angestellten Sammelforschung über die Häufigkeit der verschie- denen Ursachen der Arteriosklerose: psychische Ursachen und Schä- digungen des Nervensystems: 748 mal Altern: 455 mal Alkohol: 451 mal, dann folgen der Reihe nach in abnehmender Häufigkeit: Syphilis Stoffwechselkrankheiten körperliche Arbeit Tabak: 339 mal Erblichkeit Infektionskrankheiten: 104 mal Kaffee, Tee: 62 mal Temperatureinflüsse: 53 mal.

Diese Zusammenstellung von ätiologischen Momenten vermeidet mit großem Geschick die Einfügung der primären Blutdrucksteigerung als Entstehungsursache der Arteriosklerose, Ich muß aber kurz. auf diesen Punkt eingehen, weil Blutdrucksteigerung für den Dienst des Frontsoldaten eine Rolle spielt. Die Annahme, daß dauernde oder vor- übergehende, aber sich öfter wiederholende (also starke Druckschwan- kungen) erhebliche Steigerungen des Blutdruckes in einzelnen Gefäß- gebieten zur Wandentartung führen könnten, stützte sich nicht zum wenigsten auf die Beobachtung, daß Holzhauer, Zuschläger, Schmiede u. s. w.im Schlagadersystem des vorwiegend gebrauchten Armes Gefäß- wandveränderungen zeigten. Im Sinne einer zu starken Inanspruchnahme der Gefäßwand soll eine 'hypertrophieartige Wucherung der Intima ein- treten, etwa wie eine schwielige Hautverdickung”) an der Hand des Arbeiters; durch diese Degeneration sei die Funktion der Gefäßwand herabgesetzt, nicht aber etwa die Leistungsfähigkeit erhöht, wie etwa die Kraft eines Muskels durch Hypertrophie gestählt und vermehrt würde.

Früher spielte abnorme Gefäßspannung und erhöhter Blutdruck die Hauptrolle in der Ätiologie der Arteriosklerose. Ich erinnere an die Äußerung Senhouse-Kirkes:”) „Die permanent hohe Spannung im Aortensystem hat die Entwickelung der Sklerose zur Folge“, oder die Angabe Traube's: „Wo abnorm hohe Spannung längere Zeit besteht, wird Sklerose der inneren Gefäßhaut gefunden”, oder schließlich an den Fundamentalsatz Edgren's,*) daß die Pathogenese der Arteriosklerose wesentlich mit der Pathogenese der arteriellen Drucksteigerung zu- sammenhänge, Später wird das Wort abnorme Gefäßwandspannung und Blutdrucksteigerung als Entstehungsursache der Arteriosklerose mehr allgemeiner und vorsichtiger eingeschätzt. So spricht Jores”) in seinem verdienstvollen Werk über das Wesen und die Entwickelung der Arterio- sklerose nur davon, daß eine vermehrte funktionelle Inanspruchnahme der Gefäßwand zum Zustandekommen der Arteriosklerose ein notwen-

18) Herz, Wiener kl, Wochenschr. 1911, Nr, 44,

12) Vergl. Romberg, Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße 1909, S. 434,

2%) Senhouse-Kirkes und Traube, Gesammelte Beiträge zur Pathologie und Phy- siologie, Bd. 3,

21) Edgren, Die Arteriosklerose. Leipzig 1898.

22) Jores, Wesen und Entwickelung der Arteriosklerose. Wiesbaden 1903.

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 305

diger Faktor sei, und ergänzt, als Lubarsch”) auf der Rheinisch- westfälischen Gesellschaft für innere Medizin und Nervenheilkunde am 20. 6. 1909 sich auf Grund eigener Tierversuche gegen die Bestrebungen ausspricht, als hauptsächliches Moment für die Entstehung der Arterio- sklerose die Erhöhung des mittleren Blutdruckes anzusehen, in der Dis- kussion seine früheren Angaben dahin, daß er damals diese in der Literatur vorhandene Auffassung als mit seinen Befunden im Einklang stehend anerkannt habe, er habe sie aber nicht ohne Einschränkung akzeptiert; vielmehr habe er mit voller Absicht davon gesprochen, daß der Erkrankung eine funktionelle Überanstrengung der Arterien zugrunde liegen müsse, An die hervorragende Rolle, die die Überlastung der Gefäßwand für das Zustandekommen der Arteriosklerose spiele, glaube er noch heute. Er wolle aber nicht ablehnen, daß neben der funktionell- mechanischen Einwirkung noch andere Einflüsse von pathologischer Be- deutung sein könnten.

"Damit ist ja dann wieder an Stelle der Blutdrucksteigerung, die bereits von Thoma hervorgehobene Abnutzung der Gefäßwand als ätio- logisches Moment getreten und die Arteriosklerose wieder der Ausdruck für die Abnutzung der Schlagadern geworden, die durch Altern, sowie durch eine Reihe mechanischer und chemischer Schädigungen ein- treten kann. | | Die Blutdrucksteigerung bei dem tätigen Soldaten kann durch kör- perliche Muskelarbeit 1. eine vorübergehende sein, sie ist dann eine physiologische und als

. im Gebiet des Gesunden gelegen zu bezeichnen; "2. kann sie auch zu einer dauernden werden, sie ist dann pathologisch. sr Wir sprechen sie dann auch nicht mehr als entstanden durch '»° "Müskelärbeit an, sondern durch Überanstrengung, durch Über- eJ:® training. N Auch die schwerste bürgerliche Berufsarbeit kann nicht ohne weite- res mit dem Militärdienst, speziell mit der Rekrutenausbildung verglichen werden.’ Abgesehen von ganz besonderen Umständen kann jeder Zivil- arbeiter Erschöpfung durch selbstgewählte Ruhepausen vermeiden und sich durch Bequemlichkeit in Stellung, Kleidung u. s. w., sobald er es für tunlich erachtet, Erleichterung bei der Arbeit verschaffen. Anders der Soldat. Kleidung, Stellung, Ort und Dauer der zu leistenden Arbeit ist seinem'Willen entzogen. Er muß aushalten. Dies trifft besonders für den schwersten Dienst des Soldaten zu seine Marschfähigkeit unter Belastung mit dem vorschriftsmäßigen Gepäck. Nach Gewaltmärschen, oft in der Sonnenhitze, mit voller Gepäckbelastung, ungestärkt durch ausreichende Speise und Trank und genügenden Schlaf, sofort ohne vorausgehende Ruhepause am Ort der Entscheidung im sprungweisen Vorgehen über Sturzacker und im ansteigenden Gelände den Gegner

22) Lubarsch, Münch. med. W.-Schr. 1909, Nr. 35. Festschrift z. 34. Versammlung Deutscher Naturforscher ü. Ärzte. 20

306 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz,

kraftvoll zu packen, das ist mehr wie eine sportliche Leistung. Da klopfen die Adern und hämmert das Herz, welches ja durch die dicken Massen der so schwer arbeitenden Muskeln das arterielle Blut hindurch- treiben soll, um'ihnen den jetzt reichlich benötigten Sauerstoff zuzuführen und um Kohlensäure und sonstige Verbrennungsschlacken herauszuspülen. Durch solche Muskelarbeit, sagt Leitenstorfer,’*) wächst der Blut- druck in den Arterien und steigern sich die Widerstände in der Blutbahn. „Je mehr Muskelgebiete an der Arbeit sich beteiligen, desto höher wird natürlich der Blutdruck, desto‘ mehr Widerstände hat das Herz zu über- winden."

"Das erscheint alles so selbstverständlich und klar, aber trotzdem ist dem nicht so, Aus Schwiening's”) Arbeit über die Hygiene des Dienstes ersehen wir etwa folgendes. Mit Beginn der Muskeltätigkeit nimmt die Zahl der Herzkontraktionen zu. Noch intensiver auf Stei- gerung der Herzfrequenz wirkt die Belastung des Körpers des Soldaten mit dem Gepäck. Nach Zuntz und Schumburg”) verlangsamt sich dabei allmählich die Kontraktion des Herzmuskels, so daß sich die Zeit für die. Diastole verkürzen muß (Ermüdungssymptom). Da die beiden genannten Forscher regelmäßig sahen, daß eine Pulskurve aufgenommen von einem mit Vollgepäck marschierenden Soldaten nach einem Marsch von 25 Kilometer starke Entwickelung der Dikrotie erkennen ließ, so schlossen 'sie als Ursache auf eine erhebliche Herabsetzung des Blut- druckes und der Arterienspannung. Es sei diese Herabsetzung um so größer, je größer die Marschleistung und die Gepäckbelastung des Sol- daten war. Die arbeitenden Muskeln deckten also ihren erhöhten Blut- und Sauerstoffbedarf dadurch, daß der vasomotorische Tonus, d, h. die durch Wirkung der Gefäßnerven bedingte Spannung der Gefäßwand, nachließe und der Blutdruck sinke; gerade hierdurch steigere sich der Zustrom des sauerstoffhaltigen Blutes. Auch nach den Versuchen Karrenstein's”) soll Muskelarbeit den Blutdruck erniedrigen,

Dagegen fand Löhe*) bei 40 Soldaten nach Ausführung von je 10 Kniebeugen den Blutdruck stets erhöht, und zwar, nach Riva-Rocci gemessen, bis zu 30 mm Hg. Druckzunahme. Löhe glaubt, daß die Ver- schiedenheit des Untersuchungsergebnisses dadurch bedingt sei, daß die von Karrenstein nach einer Marschleistung untersuchten Soldaten eine gewohnte Arbeit ausführten, während seine 40 Soldaten eine einmal ver- langte ungewohnte Arbeit leisten mußten. Bei den Löhe’schen Versuchen

24) Leitenstorfer, Das militärische Training. Stuttgart 1897, S,. 13, 25) Schwiening, Die Hygiene des Dienstes. Lehrbuch der Miltschrieen von

Hoffmann und Schwiening, 3. Bd., 2. Abschn. 26) Zuntz und Schumburg, Stadieh zu einer Physiologie des Marsches. Bibliothek

v. Coler - v. Schjerning, Bd, 6. ?”) Karrenstein, Blutdruck und Körperarbeit. Zeitschrift für kl, Medizin ‚1903,

Band 20. 25) Löhe, Über den Einfluß körperlicher Bewegung auf Pulsfrequenz und Blut-

druck beim Soldaten, D. milit, Zeitschr, 1907, Heft 4.

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 307

ist interessant, daß auch nach längerer Arbeit (20 Kniebeugen und mehr) der Blutdruck sich steigert, und daß die Erhöhung des Blutdruckes auch dann eintrat, wenn sich die Pulsfrequenz nicht vermehrte,

In der vonRosemann bearbeiteten 12. Auflage des Landois’schen Lehrbuches wird der Einfluß der Muskelarbeit auf den Blutdruck als ein wechselnder bezeichnet. Er habe während der Arbeit die Tendenz zur Steigerung mit dazwischenliegenden Remissionen. Die Steigerung hänge vom Tempo, von der Arbeit im Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Muskeln und von der Übung ah.

Aus meinen Kontrollversuchen, die noch nicht abgeschlossen sind und über die ich an anderer Stelle berichten werde, ergibt sich bis jetzt für mich folgendes:

1. Bei kleiner und mittlerer Arbeitsleistung tritt eine Erhöhung des Blutdruckes ein, die aber nach beendeter Arbeit schnell absinkt.

2. Bei schwerer Arbeitsleistung kommt es auf den Zeitpunkt der Blutdruckmessung an. Wird er gemessen, während der Soldat noch auf der Höhe der Leistung ist, so ist er erhöht; waren schon Zeichen der Er- schöpfung eingetreten, obwohl sich der Arbeitende noch weiter quälte, so wurden niedere Druckwerte gefunden. Wurde nach Beendigung der Arbeit auch nur wenige Minuten mit der Messung gezögert, so konnte der Blutdruck schon unter die Norm gesunken sein, selbst wenn die schwere Arbeit den sie Leistenden nicht erschöpft hatte, Mir kam oft der Gedanke, daß schon das Gefühl der Befriedigung, die Arbeit ab- geleistet zu haben, reflektorisch eine schnelle Senkung des Blutdruckes zuwege brachte.

3. Bei Rekruten war die Blutdrucksteigerung stets beträchtlicher als bei trainierten Soldaten des 2, Jahrganges; bei letzteren fehlte sie gelegentlich, doch habe ich eine ausgesprochene Drucksenkung nicht gesehen. Daraus folgt: je mechanischer, je automatischer die Arbeit ge- leistet wurde, je weniger war der Blutdruck erhöht.

4. Unlust-, Angst- und Schmerzgefühle einerseits, Zuversicht und Gleichgültigkeitsgefühl andererseits, überhaupt Willensimpulse, die an sich zur Arbeitsleistung nicht gehören, stören augenscheinlich reflek- torisch in unberechenbarer Weise gelegentlich die Untersuchungs- ergebnisse.

Ich glaube auf Grund eigener Untersuchung der Ansicht von Moritz”) zustimmen zu können, wenn er sagt: „Die stärkste Durch- flutung eines Gefäßgebietes wird eintreten, wenn, gleichzeitig mit seiner Erweiterung, andere Gefäßprovinzen sich verengen. Dieser Fall scheint vor allem bei der Hyperämie gegeben zu sein, welche die Tätigkeit der Muskeln begleitet, da hier ganz regelmäßig eine bedeutende allgemeine Blutdrucksteigerung gefunden wird.

2) Moritz, Deutsche Klinik 1907, IV. Bd., S. 462. 90%

308 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz.

Für die Schnelligkeit, mit der die Blutdruckerhöhung verschwindet, gibt es ja eine ganze Reihe Hilfsmomente teils nervöser, teils mecha- nischer Natur; zu ersteren gehören das antagonistische Verhältnis zwischen dem Splanchnicusgebiet, dem Hauptblutreservoir des gesamten Kreislaufes, und zwischen dem peripheren Gefäßsystem, das Balancement der Franzosen; ferner der Regulationmechanismus unter Kontrolle des Zentralnervensystems zwischen den einzelnen Gefäßprovinzen durch konstriktorische und dilatatorische Fasern, der nicht nur bei der Arbeits- leistung der vorhandenen Herzkraft entsprechend dem Gefäßdurchschnitt einstellt, sondern auch bemüht ist, nach der Arbeit Herzkraft und Gefäß- blutdruck möglichst bald wieder in die physiologischen Grenzen zu bringen, und schließlich die Anspruchsfähigkeit der nervösen Vaso- motorenzentren und besonders der Hauptzentrale in der Medulla für alle möglichen Reize teils nervöser Natur (Reflexe) auf der Nervenbahn, teils chemischer Natur, durch die Blutbahn an die Zentren herangebracht. Ich verweise des näheren auf die Arbeit von R. von den Velden”)

Als Hilfsmomente mechanischer Natur sind zu erwähnen: die Ent- leerung der mit Klappen versehenen Venen nach dem Herzen zu durch die Arbeit der Muskeln; das energische Ansaugen des Venenblutes nach dem rechten Vorhof infolge der vertieften Atmung und wahrscheinlich auch durch eine von dem Respirationsmechanismus unabhängige aktive diastolische Aspiration des Herzens (Homburger,”) Tigerstedt”) und schließlich die aktive Anteilnahme der Gefäße an der Blutbewegung, die nach Grützner”) als accessorische Herzen die Tätigkeit des Herzens unterstützen.

Wir können nach diesen Feststellungen zunächst ohne Bedenken als sicher annehmen, daß die stets schnell schwindende physiologische Blutdrucksteigerung nach. vorübergehender körperlicher Arbeit das Ge- fäßsystem des Soldaten nicht schädigt. |

Anders steht es mit der pathologischen Drucksteigerung, die leicht zu einer dauernden wird. Hier müssen wir folgende Erwägungen an- stellen. Sobald die körperliche Arbeit eine gewisse Grenze an Intensität und Zeitdauer überschreitet, macht sich Ermüdung bemerkbar, der bald Erschöpfung folgt. Unsere Zivilarbeiter, sagt Hasebrock,*) sind gewohnt, auf die Notsignale des Kreislaufsystems zu achten; sie ruhen sich aus und vermeiden es, die gefährliche Grenze zu überschreiten, wo die forcierte Benutzung der Kreislauforgane zu einer irreparablen Ab- nutzung derselben führt. Gewisse Sportleute glauben jedoch von ihrem Körper Unmögliches verlangen zu können und überschreiten aus Mut-

%) von den Velden, Koordinationsstörungen des Kreislaufes. Marburg 1907.

3) Homburger, Eine neue Kreislauftheorie, Halle 1908.

”) Tigerstedt, Physiologie des Kreislaufes,

8) Grützner, Deutsch. Archiv für klin. Med., Bd. 89.

%) Hasebrock, Die Blutdrucksteigerung vom ätiologischen und therapheutischen Standpunkte. Wiesbaden 1910.

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 309

willen unter dem Antriebe des Wettkampfes, oder aus einer unverstän- ‚digen Renommagesucht die durch die Natur gesetzten Grenzen der 'Arbeitsmöglichkeit.

2 Unfreiwillig wird in diese Kategorie der Soldat geraten, der unter dem Druck der eisernen Disziplin die Warnungen des Sicherheitsventils der Ermüdung und Erschöpfung nicht beachten darf, vielmehr leisten muß, was von ihm verlangt wird, besonders dann, wenn der aus- bildende Offizier in unsystematischer Steigerung des Truppentrainings übertriebene Anforderungen an die Körperkräfte bezw. die Leistungs- fähigkeit der Kreislauforgane der Auszubildenden stellt. Für die Truppe bringt ein derartiges Übertrainiertsein stets dienstlichen Mißerfolg,*) für den einzelnen oft bleibenden körperlichen Schaden.

Von alters her und auch heute noch ist man gewohnt, unter Ver- kennung der Tatsache, daß Herz und Gefäße zwei nicht trennbare Kom- ponenten des Kreislaufgeschäftes sind, die Folgen eines solchen Über- trainings oder auch eines normalen Trainings, das zu schwach veranlagte oder durch Krankheit geschwächte Kreislauforgane traf, nur am Herzen zu suchen. Ich erinnere nur an die Arbeiten von Leyden,*) Fräntzel,”) Thurn“) und anderen, die von den Herzkrankheiten nach Überanstrengung sprechen, obwohl schon Traube und später auch Fräntzel selbst daran gedacht hatten, daß die Blutdruckerhöhung auch peripheren Widerständen und nicht bloß der Herzhypertrophie ihre Ent- stehung verdanken könnte. Auch heute noch verlassen Soldaten renten- berechtigt den Dienst mit funktioneller Herzmuskelschwäche, chronischer Insuffizienz der Herzkraft und Herzneurose. Von der chronischen Gefäß- insuffizienz und zwar, wie Hoffmann”) sie nennt, von ihrem spasti- schen Typus, der Hypertension, oder besser noch, um die Komponenten Herz und Gefäße nicht zu trennen, von einer chronischen Kreislauf-

insuffizienz, verlautet noch nichts.

Ich für meine Person bin überzeugt, es wird darin Wandel eintreten, sobald der so handliche Apparat von Riva-Rocci zur Messung des systo- lischen und diastolischen Gefäßdrucks erst im Instrumentarium aller Ärzte sich Bürgerrecht erworben hat. Im Laufe des Jahres 1911 habe ich in etwa anderthalb Tausend Rentenlisten, die mit Erlaubnis des Korps- arztes durch meine Finger gingen, einmal Blutdruckbestimmungen bei mehreren Nachprüfungen gefunden. Bei dem wegen funktioneller Herz- muskelschwäche entlassenen Mann bestand jahrelang eine Blutdruck- erhöhung über 160 mm Hg, eine eigentümliche Lederhärte der Speichen-

3) Vergl. Leistenstorfer, Loco citato, S. 102.

#) Leyden, Herzkrankheiten infolge von Anstrengung. Berlin 1886.

#) O. Fräntzel, Über Entstehung von Hypertrophie und Dilatation der Herzven- trikel durch Kriegsstrapazen. Virchow’s Arch., Bd. 72, Heft 2. Idiopathische Herzver- größerung. Berlin 1889.

%#) Thurn, Marschdilatation. Mil. Zeitschr. 1872.

®) Hoffmann, Funktionelle Diagnostik und Therapie der Erkrankungen des Her- zens und der Gefäße. Wiesbaden 1911, S. 324.

310 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz,

schlagadern und geschlängelte Schläfenarterien ein typischer Fall von Praesklerose bei einem 26jährigen Mann. Dabei ist hervorzuheben, daß Nephritis bei diesem Manne nicht in Frage kam, weil auch heute noch die Ansicht verbreitet ist, daß man aus erhöhtem Blutdruck mit oder ohne deutlicher Herzhypertrophie nicht ohne weiteres auf Arteriosklerose schließen dürfe, man müsse vielmehr an eine komplizierende Nieren- entzündung denken (Haller).“) Und doch hat schon Traube“) vor Jahrzehnten gesagt, Arteriosklerose und Herzvergrößerung sind nicht Ursache und Wirkung, sondern Folgen einer und derselben Ursache, näm- lich der abnormen Spannung im Aortensystem. | Die 19 Fälle von Herzhypertrophie bei Soldaten durch Kriegsstrapa- zen, über die Fräntzel in Virchows Archiv Band 72 berichtet und die er als entstanden durch Drucksteigerung in den Arterien infolge über- mäßiger anhaltender Anstrengungen der Körpermuskulatur beschreibt, bezeichnet Romberg”) als Arterioklerose jugendlicher Personen. Diese interessante Tatsache anzuführen, wollte ich mir nicht versagen.

Was nun die Häufigkeit des Vorkommens der frühzeitigen Arterio- sklerose oder der in mehr latenter Form auftretenden Präsklerose während der ein- und zweijährigen Dienstzeit der Soldaten anbelangt, so müßte sie nach der Sanitätsstatistik der Armee ganz ungemein selten sein. Zweifel- los ist sie gelegentlich verkannt und als reine Herzkrankheit zur statisti- schen Verwertung gelangt. Auch ich, der ich intensiv auf ihr Vorkommen geachtet habe, kann nur bestätigen, daß sie nicht häufig vorkommen kann. In der Garnison Münster ist seit Jahren kein Rekrut oder ausgebildeter Soldat wegen dieses Leidens entlassen worden, obschon hier der Riva- Rocci ein vielgebrauchtes Instrument ist, dessen Anwendung es zu ver- danken ist, daß zwei Fälle von Geisböck’'scher Krankheit, der Polycythae- mia hypertonica, rechtzeitig erkannt und sofort entlassen werden konnten.

Ziehen wir die von Friedrich“) und anderen veröffentlichten allgemeinen Statistiken über Arteriosklerose zum Vergleich heran, so stellt sich trotz der eigenartigen körperlichen und geistigen Strapazen des Heeresdienstes der Soldatenstand während der Militärpflichtjahre (20. bis 22. Lebensjahr) günstiger, natürlich nur schätzungsweise gerechnet, weil genaue Morbiditätszahlen fehlen. Die Rombergsche Statistik, nach der von 744 männlichen Arteriosklerotikern der Marburger Poliklinik 4,89% das 29, Lebensjahr nicht überschritten hatten, läßt sich nicht recht zum Vergleich heranziehen.

Man könnte nun einwerfen: Trotz des ausgesuchten Materials, welches

20) Haller, Die Arteriosklerose des Herzens usw. Referat im Centralblatt f. Herz- krankheiten. Wien 1909,

#4) Traube, zitiert nach Hasebrock loco citato —, $. 87.

#2) Romberg, Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße. Stutt- gart 1909, S. 173,

#3) Friedrich-Budapest, Die Arteriosklerose im Jugendalter. Centralblatt für Herzkrankheiten 1910, Nr. 1 und 2,

Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 311

nach wiederholter ärztlicher Untersuchung zu’ den Fahnen einberufen wird; erkrankt doch eine Reihe junger Leute während der Militärzeit. Die Krankheitserscheinungen sind vorläufig nur nicht objektiver Natur, sie werden während der zwei Dienstjahre nicht erkannt.

In dreifacher Weise kann man die Erheblichkeit dieses Einwandes prüfen. Ist er richtig, so wird eine Durchsicht der Rentenlisten Auskunft darüber geben, ob nachträglich (nach der Entlassung) von Reservisten wegen einer Erkrankung an Kreislaufinsuffizienz Rentenansprüche an den Militärfiskus geltend gemacht sind. Bei einer dahingehenden Prüfung (rund 1300 Aktenstücke über anerkannte Rentenempfänger oder behaup- teter Berechtigung zum Rentenanspruch) ergab sich fünfmal ein derartiger Anspruch und zwar im einzelnen: a) Leute, die ihfen Anspruch auf eine Schädigung während ‚der ein- oder zweijährigen Dienstzeit gründeten. ... =0 'b) Leute, die an einemLeiden der Kreislauforgane, welches den Verdacht von Arteriosklerose erwecken konnte, erkrankt "sein wollten während einer Reserveübung . Au su a ER einer Landwehrübung . . . . EENA EZ

<J) Angehörige des Unteroffizierpersonals, die u Renten-

‚anspruch auf eine im Dienst entstandene Schädigung der Kreislauforgane nachträglich zurückführten . . ...=3

Dabei sind schwere Neurasthenien und Herzneurosen, welche durch eine versteckte Arteriosklerose verursacht sein konnten, mit berück-

Die weitere Prüfung des oben erwähnten Einwurfes beruht auf Un- tersuchung der Übungsmannschaften und der Berufssoldaten. Wie steht es zunächst mit dem Befund sklerotischer Gefäßveränderungen bei den Reservisten und Landwehrleuten? Drei Kategorien kommen hier in Betracht:

1. Übungsleute, die beim Oberersatzgeschäft als krank vorgestellt werden.

2. Übungsleute, die sich einige Zeit vor Beginn der Übung beim Be- zirkskommando krank melden und deshalb untersucht werden.

' 3 Die Gesamtheit der Übungsmannschaften, welche im Standort des Bezirkskommandos am ersten Übungstage vor dem Abtransport zum Truppenteil untersucht wird.

Die von mir vorgenommenen Untersuchungen führten zu folgendem Resultate:

Tatsächlich kamen bei Leuten in dem in Frage stehenden Lebens- alter von 23—32 Jahren einzelne Fälle von ausgeprägter Arteriosklerose zur Beobachtung aber immerhin nur 9 Fälle bei weit über 1000 Übungs- mannschaften. Alle 9 Fälle betrafen den Zeitraum vom 28.—32 Lebens-

jahre.

312 Bussenius: -Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz.

Von den 9 Leuten waren;

Beruf: Wahrscheinliche Ursache: Lokomotivführer I 7 Lokomotivheizer 2 | f Heizer an einer Kesselanlage 1 = Feuerarbeiter. Bäcker 1 Ä Restaurateur 1 = Alkohol. Kaufmann (starker Raucher) 1 Nikotin. Gymnasiallehrer kiaa 1225 hekäadt Bergmann Lılaa an erEnEr

Wir sehen also auch hier wieder Ursachen, die im m jn liegen und keine Beziehungen zum Militärdienste haben.

So bleiben schließlich nur noch die Erfahrungen zu besprechen, welche sich aus Untersuchungen von Berufssoldaten sammeln lassen. Das Unteroffizierpersonal kommt bekanntlich alljährlich bis zum 12. Dienst- jahr gelegentlich der Kapitulationsverlängerungen zur Untersuchung, außerdem natürlich bei jeder Krankmeldung oder bei der Notwendigkeit einer Attestausstellung über sie.

Zufällig wurden bei den ersterwähnten ie bei zwei Unteroffizieren deutliche objektive Anzeichen beginnender Skle- rose gefunden. Die Leute hatten keine Klagen und blieben im Dienst. Einer, ein aus Bayern stammender Musiker, der übrigens seine Dienstzeit 115 Jahr unterbrochen hatte, äußerte solche auf Befragen nicht, der. zweite gab eine Reihe neurasthenischer Beschwerden zu; gelegentlich. fanden sich bei.letzterem Eiweißspuren im Urin.

Bei zwei älteren Unteroffizieren und einem Militärbeamten wurde gelegentlich: der Untersuchung bei der Krankmeldung bezw. beim..Aus-. scheiden aus dem; Militärdienst Arteriosklerose festgestellt.

Auf die sehr interessanten Krankengeschichten will ich an: diesef! Stelle nur ganz kurz eingehen:

a) Vizefeldwebel G. im 46. Lebens- und 24. Dienstjahre, Früher- viel rheumatisch krank. Erkrankte vor einem Jahre plötzlich mit starken Herzschmerzen, die nach dem linken Arm ausstrahlten. Außerdem bereits zwei Schwindelanfälle; bei einem derselben war er zusammengestürzt mit mo- mentaner Bewußtlosigkeit. Oft Wadenkrämpfe, Kältegefühl in Händen und Fußsohlen mit gleichzeitigem Kribbeln darin und dem Gefühl des ‚Absterbens hinderten ihn schon seit Monaten am Einschlafen. Vor kurzem. auch ein- Schmerzanfall, den er in der Magengrube lokalisierte mit Auftreibung des Lei- bes und Durchfall kurz nach dem Essen. Seit dieser Zeit hütet er sich, große Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Außerdem Anfälligkeit für Lungenkatarrhe. Reizbarkeit der Schleimhäute für Schnupfen und Husten. Während. der La- zarettbehandlung wiederholt starkes Schwindelgefühl im Bett. a

Befund: Ausgesprochene periphere Arterienwandverhärtung. Spei- chen- und Armschlagadern mehr lederhart, in den Temporalarterien auch Kalkeinsprengungen. Hypertrophie des linken Herzens, Verstärkung des zweiten Aortentones. Puls zwischen 58 und 128 wechselnd. Wechselnd ist

Bussenius: Die Se der Arteriosklerose zum Heeresersatz. 313

auch der Blutdruck, und zwar zwischen 135 ur 160 mm Hg. Wiederholt ‚kleine Eiweißmengen im Urin, keine Formelemente, keine Vermehrung der Menge. In der Folgezeit unter entsprechender Behandlung geringe Besserung Tiger Symptome; es tritt jedoch trotz guter Ernährung Blutarmut und Hin- "> Halligkeit hinzu

© p) WachtmeisterSchr. Erblich nicht belastet, war niemals krank. " Während der Herbstübungen 1910 fühlte er sich matt, hatte beim Reiten einige- »male Schwindelanfälle und war appetitlos. Nach den Herbstübungen 1910 ‚wurde er ärztlich untersucht, weil er nach vollendeter 12jähriger Dienstzeit „ausscheiden wollte. Dabei fiel das blasse, etwas gedunsene Gesicht und der halte ankhafte Gesichtsausdruck auf. Starke Verbreiterung des Spitzenstoßes die linke Warzenlinie hinaus. Hypertrophie des linken Ventrickels. Am "Herzen, und zwar am deutlichsten über dem Brustbein zwischen den Ansätzen der 3. Rippen, ein systolisches und ein diastolisches Geräusch. Puls sehr hart, si gta sr rar allseitig verhärtet und. geschlängelt. Oberarmarterien gänse- lartig. Blutdruck bis 220 mm Hg. Urin: spezifisches Gewicht 1009, bis 2300 ccm in 24 Stunden, etwa 4,5 %/,, Eiweiß, hyaline und granulierte

R zinder Augenhintergrund regelrecht. Tod nach 4 Monaten an Urämie.

. ce) Militärbeamter X. 49 Jahre, hat 12% Jahr als Soldat und 16 Jahre als Beamter gedient. Vielfach Mandelentzündung und rheumatische "Beschwerden. Soll seit 1908 neurasthenisch sein. Im letzten Jahre eigen- tümliche Hirnerscheinungen, Kopfdruck beim Bücken, oft anfallsweise schwere ‚Kopfschmerzen mit: Schwindelgefühl und Schlaflosigkeit. Sein psychischer Zustand ändert sich, er wird vergeßlich, unduldsam gegen die Ansichten von _ Kameraden ‚und Vorgesetzte, ist leicht gereizt, beschwert sich über Vorge- setzte, quäruliert über Sachen, die ihn an sich nichts angehen, fühlt sich zu- ' rückgesetzt, weitgehende Überschätzung der eigenen Person und erworbener Verdienste, gelegentlich kleine Bewußtlosigkeiten. Hervorzuheben ist, daß diese psychischen Störungen sehr flüchtiger und unbeständiger Natur sind. Befund: Geringe Hypertrophie des. linken Ventrikels, alle Schlagadern eigentümlich lederhart, ohne feststellbare Kalkeinlagerungen. Blutdruck dauernd bis auf 160 mm Hg. erhöht. In der letzten Zeit oft ohne ihm bekannte Ursache plötzlich Durchfälle. Urin eiweiß- und zuckerfrei. Regelrechte Pupillenreaktion.

Wir haben somit im Falle a) eine allgemeine diffuse Arteriosklerose mehr peripheren Charakters und daran anschließend den Zustand, den Huchard als Cachexie arterielle bezeichnet; ferner im Falle b) die Kom- bination von Arteriosklerose und Schrumpfniere, nämlich die sklero-val- vuläre Form der kardio-renalen Sklerose; und schließlich im Fall c) die Initial-Erscheinungen der cerebralen Arterioklerose, wie sie neuerdings von Pick, Weber und Patschke, früher von Windscheidt, Cramer und Naunyn beschrieben sind. Also drei ganz verschiedene Krankheitsbilder, zwar alle auf Gefäßsklerose beruhend, aber mit scharf unterschiedlicher Lokalisierung derselben. Sehen wir von der nicht nachweisbaren erb- lichen Disposition ab, so kann die Krankheit sowohl durch die Eigenheiten des lange Jahre hindurch ausgeübten Militärdienstes erworben sein, wie auch durch Gelegenheitsursachen, die während der Dienstzeit, aber unab- hängig von dieser einwirkten. Auf Grund meiner eingehenden Beobach- tungen halte ich ersteres für möglich, letzteres für wahrscheinlicher.

314 Bussenius: Die Beziehungen der Arteriosklerose zum Heeresersatz.

Das Ergebnis vorstehender Arbeit ist also kurz folgendes:

Obwohl Blutdrucksteigerung bei zu langer Andauer und zu häufiger Wiederholung (im Sinne einer Abnutzung der Gefäßwände) einer früh- zeitigen Entstehung der Arteriosklerose Vorschub leistet, und obwohl der Militärdienst, namentlich bei den noch untrainierten Leuten, zu öfteren und andauernden Blutdrucksteigerungen zweifellos Veranlassung gibt, so haben doch meine Untersuchungen, wie auch die vorhandenen sparsamen statistischen Angaben die Bestätigung nicht bringen können, daß tatsäch- lich die Ausübung des Soldatenhandwerkes für die Mitglieder des Wehr- standes die Gefahr involvierte, frühzeitiger oder öfter und etwa in eigen- artiger Weise von der Arterioklerose befallen zu werden, als die Ange- hörigen anderer Berufsarten.

Gleichwohl müssen wir Ärzte aber uns stets bewußt sein, daß die Arteriosklerose in den letzten Jahrzehnten ein auffälliges Anwachsen zeigt. Konnte doch Bahrdt“) auf dem 21. Kongreß für innere Medizin in Leipzig 1904 bereits die überraschende Mitteilung machen, daß in den Jahren 1893—1903 von 10093 bei der Leipziger Lebensversicherung Ver- sicherten 2152, also rund 22 %, an Arteriosklerose gestorben waren. Für das Jahr 1903 allein war die Mortalitätsziffer für Arteriosklerose bereits auf 25 % gestiegen, während Tuberkulose in derselben Zeit nur 7 % hin- weggerafft hatte.

„Die Menschen leben das Leben ihrer Arterien," sagt Cazali. Geben wir Ärzte acht, daß wir die Kreislauforgane sich uns Anvertrauender rechtzeitig vor Schaden bewahren!

#) Bahrdt, zitiert nach Smith, Die Gefäßentartung. Berlin 1908.

Aus dem Garnisonlazarett in Münster i. W.

Über Dünndarmsarkome. {Mit einer Abbildung im Text und einer Tafel.)

Von Professor Dr. Rammstedt, Oberstabsarzt und ordinierender Arzt der äußeren Abteilung.

'Die malignen Geschwülste, welche im Verdauungstractus vorkom- men, sind in der übergroßen Mehrzahl Carcinome, während Sarkome und ‚vollends primäre Sarkome nach dem übereinstimmenden Urteile aller Au- toren selten sind. Die Carcinome bevorzugen bezüglich des Sitzes den Magen und Dickdarm, die Sarkome hingegen den Dünndarm.

Die Kenntnis des Dünndarmsarkoms ist verhältnismäßig jung, wir verdanken sie den im Jahre 1892 von Madelung‘) und seinem Schü- ler Baltzer’) erschienenen Mitteilungen. Seitdem ist man eigentlich erst auf dieses Leiden aufmerksamer geworden, und neben einzelnen ka- suistischen Fällen sind eine Reihe wichtiger Arbeiten darüber erschienen, die sich an die Namen v. Miculicz-Kausch,’) Krüger‘) Siegel/) Rheinwald) Steinthal,] Weller,‘) Munk°) und andere knüpfen.

Zwei innerhalb der letzten 5 Jahre im Lazarett behandelte Fälle gaben mir Veranlassung, die Literatur des Dünndarmsarkoms genauer zu studieren und mit meinen Beobachtungen zu vergleichen.

In den eben erwähnten Arbeiten finden wir die Klinik des Dünn- darmsarkoms erschöpfend beschrieben, nur soweit es zur Beurteilung des Krankheitsbildes nötig ist, wollen wir auf die bekannten Tatsachen zu- rückblicken.

Die Seltenheit der primären Dünndarmsarkome erhellt daraus, daß

1) Madelung, Über primäre Dünndarmsarkome, Centralblatt £. Chir. 1892, Nr. 30.

2) Baltzer, Über primäre Dünndarmsarkome. Archiv f. Klin, Chir. 1892, Bd. 44.

®) v. Miculicz-Kausch, Chirurgie des Magens und Darms. Handbuch der prakt. Chir. von v. Bergmann, v. Bruns, v. Miculicz, II. Bd., IH, Aufl, 1907.

*) Krüger, Die primären Bindegewebegeschwülste des Magendarmkanals. Dis- sertation. Berlin 1894, !

5) Siegel, Über das primäre Sarkom des Dünndarms. Berlin, klin, Wochenschr. 1899, Nr. 35, Rd °) Rheinwald, Über die Sarkome des Dünndarms. Beitrag zur klin. Chir. 1911,

and 30,

?) Steinthal, Zur Prognose des Dünndarmsarkoms. Münch. med, Wochenschr. 1904, Nr. 17,

©) Weller, Zwei Fälle von primärem Darmsarkom. Inaugural-Dissert. Jena 192.

®) Munk, Über das Sarkom des Darmes. Beiträge zur klin. Chir. 1908, Bd. 60.

316 Rammstedt: Über Dünndarmsarkome,

z.B. Kausch bei 100 Fällen von Darmcarcinomen der Breslauer Klinik nur 5 Fälle von Sarkomen beobachtete.

Die Träger derselben sind meistens männliche Individuen im jugend- lichen Alter von 20—30 Jahren, selten vor dieser Zeit oder im höheren Alter; nur ganz vereinzelt wird das weibliche Geschlecht befallen,

Die Aetiologie ist dunkel und stützt sich im wesentlichen auf Ver- mutungen, aber da in einigen Fällen Traumen vorangegangen sind, ist man geneigt, einem solchen, oder wenigstens einem traumatischen Reiz die Entstehung zuzuschreiben, zumal das Dünndarmsarkom hauptsächlich bei der arbeitenden Klasse vorkommt, die ja ebenso wie Soldaten, einem Trauma leichter ausgesetzt sind, als alle anderen Berufsklassen. In we- nigen Fällen hat man Tuberkulose des Darmes gleichzeitig gefunden. Hier liegt der Gedanke nahe, sie als Ursache zu bezeichnen, sicher gestellt ist das indessen nicht, und gewichtige Stimmen, wie v. Miculicz, haben sich dagegen ausgesprochen. ;

Die Sarkomgeschwulst nimmt in der Regel ihren Ausgang von der Submucosa, wuchert schnell in der Mucosa und Muskularis, und läßt merkwürdigerweise im Gegensatz zum Carcinom auch bei vorgeschritte- nem Wachstum die Serosa häufig ganz frei, so daß dem Auge der Sitz der Geschwulst innerhalb des Darmes zuweilen nur durch eine Ausweitung desselben und durch eine blassere Farbe der Serosa erkennbar zu sein braucht. In seltenen Fällen sitzen die Sarkomknoten der äußeren Darm- wandung auf; sie sind aber auch dann vom Darmserosa überzogen, ein Beweis, daß sie ihren Ursprung von der Muscularis bezw. Submucosa nehmen.

Die Sarkomknoten vergrößern sich immer überaus schnell, oft bis zu erheblicher Größe, nehmen, wenn sie multipel sind, längere Strecken der Darminnenwandung ein und können diese, indem: sie konfluieren, streckenweise in ein starres Rohr verwandeln. In der Regel bedecken sie jedoch nicht die ganze Circunferenz des Lumens, sondern lassen die gegenüberliegende Wandung desselben frei.

Man sollte glauben, daß die Sarkomknoten bei weiterem Wachstum die Darmlichtung verengern und wie der Cancer Stenosen verursachen. Sicher trifft dies auch für einzelne Arten des Dünndarmsarkoms zu, die Regel wie beim Krebs ist es aber nicht. Der Krebs macht trichterförmige Stenosen, indem er alle Darmschichten ringförmig und gleichmäßig durch- wuchert; das Sarkom hindert wohl durch sein wallartiges, in die Darm- lichtung vorspringendes Wachstum die Passage, verlegt sie aber nicht vollkommen, weil der Darm sich in ganz charakteristischer Weise aus- weitet, aneurysmatisch, wiees Madelung treffend bezeichnet hat.

Der genannte Forscher und sein Schüler Baltzer sehen mit Recht gerade in dieser Eigenart der Dünndarmsarkome ein wichtiges Unter- scheidungsmittel gegenüber dem Carcinom.

Wie schon erwähnt, gilt dies natürlich nicht für alle Dünndarm- sarkome;. wirkliche Stenosen kommen ebenfalls vor und sind von

ee)

LAN

Claroomlnolen

WEB

en %

Rammstedt: Dünndarmsarcom, '/s der natürlichen Größe.

Zeichnung von Frl. Schlick.

Rammstedt: Über Dünndarmsarkome. 317

vw, Miculicz, Siegel, Rheinwald, Weller und anderen beschrie- ben. Soweit ich die Literatur verfolgen konnte, war jedoch in mindestens 75 % keine Stenose vorhanden, welche beim Krebs die Regel ist.

Verwachsungen der Darmsarkome mit benachbarten Organen, Ge- kröse, Netz, Blase, Bauchdecken und anderen Darmabschnitten entstehen nur im vorgeschrittenen Stadium, wenn die Tumoren schließlich doch den Bauchfellüberzug des Darmes durchbrechen; hingegen treten Metastasen im allgemeinen frühzeitig auf, so in den Mesenterialdrüsen, im Netz, in der Milz, Leber, Nieren, Lunge usw.

Histologisch sind alle Sarkomarten nachgewiesen, am häufigsten Lympho- und kleinzellige Rundzellen-Sarkome, seltener Spindelzellen-, Gallert-, Myo- und Melano-Sarkome.

Das Symptomenbild des Dünndarmsarkoms ist auch heute noch ein höchst unklares, obwohl Madelung und Baltzer versucht haben, esin schärfere Umrisse zu fassen. Aufgefallen war es beiden an verschiedenen Fällen, daß die Symptome im Gegensatz zu der Schwere des Leidens sehr geringfügig sind. Appetitlosigkeit, zeitweise Übelkeit, Erbrechen, unregel- mäßige Verdauung, wechselnd mit Verstopfung und Durchfällen, gelegent- lich Schmerzen im Leibe, weisen zwar auf das Darmleiden hin, sollen sich aber nie zu eigentlichen Erscheinungen einer Darmverengerung oder gar des Darmverschlusses, wie beim Carcinom, steigern. Diese Ansicht wird gestützt durch die Erfahrungen von Treves und Nothnagel. Des weiteren bleiben die Sarkomgeschwülste dem Kranken selbst lange Zeit unbemerkt und sind im beginnenden Wachstum meist auch für den Arzt schwer nachweisbar, weil sie ja innerhalb des mit intakter Serosa ver- sehenen, also vollkommen glatten Darmes sitzen und entweder gar nicht oder nur undeutlich. durch die Bauchdecken zu fühlen sind und dann leicht, besonders wenn Verstopfung besteht, für feste Scybala gehalten werden können, zumal sie bei Betastung auch schmerzlos sind.

Bemerkenswert ist ferner, daß die Dünndarmsarkome höchst selten Darmblutungen verursachen, die beim Carcinom nicht ungewöhnlich sind und auf die Vermutung einer bösartigen Neubildung im Inneren des Dar- mes führen können, obwohl doch gerade die Sarkome im vorgeschrittenen Wachstum zu Zerfall und Blutung neigen.

_ Die Dauer des Leidens ist kurz; noch bevor operative Eingriffe im Bereiche der Möglichkeit liegen, stellt sich rapider Kräfteverfall mit wäch- sener Anämie ein, und die Kranken sterben an Entkräftung, zuweilen plötzlich im Collaps, längstens in 6-9 Monaten.

In einzelnen Fällen hingegen werden sie nicht durch das eigentliche fortschreitende Leiden hingerafft, sondern durch plötzlich eintretende Komplikationen, z.B. durch Ruptur des Tumors mit Ver- blutung in die Bauchhöhle, durch tödliche Peritonitis infolge Durchbruch in die Bauchhöhle, durch Invagi- nation, Abknickung und Achsendrehung des Darmes.

Spontanblutungen in die Bauchhöhle aus länger bestehenden

318 Rammstedt: Über Dünndarmsarkome,

ulcerierten Tumoren kommen öfter vor, sind aber sehr selten durch Ruptur von Geschwulstknoten, die noch jüngeren Datums sind, und sonst auch keine Anzeichen von Zerfall haben.

Demmin*) beschrieb erst kürzlich einen Fall einer Spontanblu- tung in die Bauchhöhle aus einem Dünndarmsarkom, den ich genauer referieren möchte, da er auch sonst für die Klinik der Dünndarmsarkome

charakteristisch ist.

Eine 42jährige Tischlersfrau fand am 11. 11. 1911 in der Königlichen Augenklinik in Greifswald Aufnahme wegen schneller Abnahme der Sehkraft des rechten Auges. Anamnestisch war nichts besonderes zu erfahren. Die Untersuchung der Augen ergab auf dem rechten Auge „Reifer Star”, auf dem linken Auge „beginnender Star”. Kein Eiweiß, kein Zucker. Mäßiger Ernäh- rungszustand. Innere Organe gesund.

Verlauf. Am 15. 11. 1911 Staroperation rechts, gute Heilung.

6. 12. Im Anschluß an Genuß von Wurst und Käse, die ihr von Hause zugeschickt waren, heftiges Erbrechen, Mattigkeit. Besserung unter Bettruhe und Camphorinjektionen.

8. 12, Erneutes Erbrechen. Blässe. Tod im Collaps.

Sektion. Bauchhöhle mit reichlichen dunkelflüssigem Blut und vielen Blutgerinseln angefüllt. Links von der Wirbelsäule zweifaustgroßer Tumor, der eng mit einer Dünndarmschlinge zusammenhängt und an dessen unterem Ende ein 1,7 cm langer zackiger Einriß sichtbar ist, der noch dunkele Blut- gerinsel enthält. Der Tumor sitzt am Darm in 4,5 cm Länge auf, ist 9 cm lang, ebenso breit und 5 cm dick, von grauweißer Farbe und hat einen auf den Darm continuirlich übergehenden glatten Serosaüberzug, von dem sich sehr dicke dunkelblaue Venen abheben. Die Oberfläche ist grobhöckerig, die Consistenz ziemlich weich. Der Darm ist auch ander Ansatzstelledes Tumors völlig unverändert und zeigt intakte Schleimhaut, es besteht keine Verengerung, vielmehr ist das Darmlumen um die Hälfte erweitert. Der Tumor hat sich unter der Mucosa entwickelt, ohne diese, noch die Serosa in Mitleidenschaft zu ziehen. Nirgends Metastasen, Alle übrigen Organe gesund.

Mikroskopisch: ' Spindelzellensarkom aus der Muskulatur: der Darmwand (Myosarkom.) hervorgegangen.

Zwei Fälle von akuter tödlicher Peritonitis erwähnt Krü ger

(Fall 16. 23).

Die Möglichkeit dieser Komplikation liegt nahe, weil einmal bei multiplen Sarkomknoten, die von diesem nicht ergriffene Darmwandung stellenweise, besonders zwischen den zerklüfteten Geschwulstknoten, fast nur aus Serosa besteht und papierdünn ist, andererseits, wie ich mich auch bei der Operation meines Falles überzeugen konnte, das Sarkomgewebe selbst überaus brüchig ist. In der Regel bildet sich die Perforation mit zunehmendem Zerfall der Neubildung wohl langsam, und es entstehen ab- gekapselte, kothaltige Abcesse in der Nähe der sarkomatös entarteten Stelle,

Größeres Interesse bieten die beim Dünndarmsarkom vorkommen- den Einklemmungen, seies durchInvagination, Abknickung

1%) Demmin, Ein Fall von Spontanblutung aus einem Dünndarmsarkom mit töt- lichem Ausgang. Ärztl. Sachverständ.-Zeitung 1912, Nr. 4.

Rammstedt: Über Dünndarmsarkome. 319

ie FEREBESVERTERE des Darmes, die dann natürlich Stenose- erscheinungen bezw. Ileus verursachen.

Folgende Fälle sind beschrieben: I. Invagination der sarkomatösen Darmpartie. Fall1i. Wallenberg.“) Schon bei Baltzer, Weller, Krüger in Extenso beschrieben. 21jähriges Mädchen leidet schon seit 3 Tagen an Verstopfung, bekommt dann Darmkrampf, Erbrechen und Diarhoe, am 5. Tage Ileuserscheinungen mit ' Kotbrechen. Nach einem warmen Bade und 8 Klysmen eine aus dünnem Eiter bestehende Entleerung, in welcher sich ein über 1 Fuß langes sarkomatöses Darmstück befindet. Tod im Collaps. Bei der Sektion fand man an der _ Übergangsstelle des Ileums in das Coecum eine Einstülpung, von welcher sich das mit Sarkom durchsetzte Invaginatum abgestoßen hatte. e21:'2 Stere”] 57jähriger Mann leidet seit 4 Monaten an anfallsweise auftretenden Ko- likschmerzen. Stuhlgang täglich, aber nur durch Abführmittel, bald fester, bald flüssig ohne Bluibeimengung. Aufnahme am 19. 7. 1909. Stark abge- magerter Mann. Leib meteoristisch aufgetrieben. Starke Darmsteifung bei _ Betastung. In der rechten Fossa iliaca apfelsinengroßer beweglicher Tumor fühlbar. 21. 7. Bauchschnitt. In der rechten Iliacalgegend kleinkindskopf- großer Tumor, durch Invagination des Ileums in das Colon ascendens ent- standen. Resektion. Darmnaht. Heilung. | Der resezierte Darmabschnitt hat folgenden Befund: Das Ileum, 30 cm lang, ist in das Colon ascendens invaginiert. Die Spitze des Invaginatums bildet ein harter apfelgroßer Tumor, in dem eine für einen dünnen Bleistift "durchgängige Darmlichtung noch vorhanden ist. Mikroskopisch erwies sich der Tumor als ein von der Submucosa ausgehendes Rundzellensarkom, das sich gleichmäßig in der ganzen Zirkumferenz des Darmes ausgebreitet hat. I. Abknickung bezw. Achsendrehung der sarkomatösen - Schlinge. 2 Fälle. Waldenström und Ackerberg.*) 36jähriger Bauer mit lange bestehendem Bruch, früher leicht reponierbar, _ dann einmal Reposition durch den Arzt. 7 Monate später erneuter Vorfall, * Zurückbringen unmöglich, Erbrechen, Windverhaltung. Linke Hodensackhälfte ' zweifaustgroß, enthält festere Massen, die für Scybala gehalten werden. Teil- weise Reposition bis auf die festen Teile. Im Bruchsack Darmschlinge mit ' sarkomatöser Neubildung, die einer vergrößerten Gebärmutter ähnlich ist. Darm an dieser Stelle halb um die Achse gedreht, verengt, aber doch für Blei- ‚stift durchgängig. Tod 10 Stunden nach der Operation. Mikroskopisch: Sarkom. Ein Pendant zu den eben beschriebenen Fällen ist mein Fall 1, den ich hier folgen lasse: Musketier Tr., 20 Jahre alt, früher angeblich stets gesund und ohne erb- ' liche Belastung, erkrankte im Februar 1911 angeblich infolge von Erkältung - mit Husten und Seitenstichen, meldete sich jedoch erst 4 Wochen später krank, nachdem er im Dienst schlapp geworden war. Einige Tage später, am 11. März 1911, Aufnahme ins Lazarett.

+ #4) Wallenberg, Ein Fall von Invagination infolge eines Sarkoms im Ileum. Berl. klin. Wochenschr. 1864, S. 497. _ , %) Stern, Invaginatio ileocolica eines Sarkoms des Ileums, Berliner klin, Wochen- schr. 1909, Nr. 37. #2) Waldenström und Ackerberg, zitiert'nach Baltzer.

320 Rammstedt: Über Dünndarmsarkome.,

Befund: Eigentümlich livide aussehender, ziemlich abgemagerter Mann. Temperatur 38,8°. Im Bereich des linken Unterlappens zwischen 7. und 10. Rippe verkürzter Klopfschall, unbestimmtes Atmen mit Knistern und klingen- dem Rasseln. Rechts hinten unten leichtes Giemen. Herztöne rein. Leib weich, nirgends druckempfindlich. Leber und Milz nicht vergrößert. Urin frei von abnormen Bestandteilen.

Diagnose: Akuter Luftröhrenkatarrh links.

Behandlung: Bettruhe, Expectorans.

Verlauf: 12. 3. Kein Fieber mehr. % Liter seröseitriges Sputum. Wohlbefinden.

13. 3.—20. 3. Zunächst noch reichlich Auswurf, der allmählich geringer wird. Lungenbefund links bessert sich, Verdauung vollkommen regelrecht. Starker Appetit, zuweilen Heißhunger; Patient kaum zu sättigen.

21. 3.—25. 3. Patient außer Bett, Wohlbefinden, immer noch enorme EBlust, bei guter regelmäßiger Verdauung.

26. 3.—29. 3. Patient klagt am 26. 3. erstmals über Schmerzen in der rechten Lendengegend und: hat einmal galliges Erbrechen, welches sich am 27. 3, wiederholt. In der rechten Bauchhälfte eigentümliche Knollen fühlbar, die für Kotmassen infolge Koprostase angesehen werden. Stuhl reich- lich, teils fest, teils diarrhöisch. Appetit hat aufgehört. Kein Fieber.

30. 3. Vermehrte Leibschmerzen. Durch hohen Einlauf größere Mengen festen, gewöhnlichen Stuhles entleert. Kein Er- brechen. Es wird deshalb noch abgewartet. Morphium, Leib heute links vorgewölbt, hier tumorartige Anschwellung fühlbar, die sich aber bei der schmerzhaften Spannung der Bauchdecken nicht deutlich bezüglich Ausdeh- nung und Consistenz abtasten läßt.

31.3. Vermehrte Anschwellung des Bauches, besonders links, Erbrechen, zunehmende Windverhaltung. Keine Temperatur. Rectaluntersuchung ne- gativ. Leib allgemein gespannt, schmerzhaft. Einzelheiten deshalb nicht durchfühlbar. Da mehrere hohe Einläufe ohne Wirkung, zur Operation nach Station A verlegt.

In Narkose fühlt man zum ersten Male deutlich eine umfangreiche Ge- schwulstmasse, die von der linken Fossa iliaca herzukommen scheint und bis zum linken Rippenbogen reicht; sie läßt sich ausgiebig seitlich, nicht nach oben oder unten verschieben und Fluctuation, sowie gurrende Geräusche erkennen, während der Klopfschall darüber gedämpft tympanitisch ist. Neben dieser Geschwulst fühlt man in Höhe des Nabels eine: zweite, etwa gänseeigroße, harte Geschwulst, die zwar leicht verschieblich, aber von der größeren Ge- schwulst nicht sicher. abzugrenzen ist.

Die Anschwellung in der linken Seite erinnerte lebhaft: an das Hirschsprung'sche Krankheitsbild. Die schnelle Entwickelung des- selben ließ mich indessen einen Volvulus des S Romanum vermuten, welches vielleicht um die Fußpunkte gedreht, durch Anfüllung mit Gasen, flüssigen und klumpigen Kotmassen ausgeweitet war.

Bei der Eröffnung der Bauchhöhle auf der linken Seite zwischen schiefen und geraden Bauchmuskeln quillt reichlich trübe, sanguinolente Flüssigkeit heraus und es drängt sich sofort eine dunkelrote, über mannesarmdicke, kolossal geblähte Darmschlinge her-

vor, die zunächst wegen der enormen Größe für Dick-

Rammstedt: Über Dünndarmsarkome. 321

darm gehalten wird, dann aber bei weiterem Hervorziehen aus der Wunde sich als eine Dünndarmschlinge entpuppt, welche an ihren Fuß- punkten um etwa 90° um die Achse gedreht und auf diese Weise von dem übrigen Dünndarm ausgeschaltet ist. Nun fühlt man auch in ihrem Inneren zahlreiche größere und kleinere, ziemlich harte Geschwulst- massen, welche die Serosa vollkommen intakt gelassen haben; nirgends sieht man auch nur die Anzeichen eines Durchtretens der Geschwulstmassen durch die zwar dunkel gerötete, aber spiegelglatte Serosa. Erst nach Vergrößerung des Schnittes gelingt es, die etwa 1 m lange Schlinge vor die Bauchdecken zu bringen und aus ihrer Verschlingung zu entwickeln. Nun zeigt sich hinter der von der Neubildung ergriffenen Masse ein zweiter, grau-weißer, grobhöckeriger Geschwulstknollen von Gänseei- größe, welcher innerhalb der Gekrösewurzel der Wirbelsäule fest anliegt, aber keinen Zusammenhang mit der Darmgeschwulst hat.

Eine radikale Operation erscheint ausgeschlossen, doch muß auf irgend

eine Weise der Versuch gemacht werden, eine vorübergehende Besserung zu schaffen.

Nach Lösung der Achsendrehung zeigt die strangulierte Schlinge erheb- liche Ernährungsstörungen; daher wird die Resektion ausgeführt. Schon wäh- rend dieser Operation ist der Kranke sehr schwach, die Darmenden werden deshalb zum Anus präternaturalis zunächst in die Wunde eingenäht.

Trotz Exitantien trat 10 Stunden später der Tod an Herzschwäche ein.

Sektion von den Angehörigen nicht gestattet.

Beschreibung des Präparates:

Die excidierte Darmschlinge ist fast 1 m lang, stark ausgeweitet bis zu Mannesarmdicke, Nirgends ist die Serosa verändert, sondern überall glatt und spiegelnd. Angefüllt ist die Schlinge mit fast 11% Liter stark bluthaltiger, kotiger Flüssigkeit. An den Enden wird der Darm geöffnet, man sieht nun breit aufsitzende, wulstig-höckerige, zerklüftete Ge- schwulstmassen von graurötlicher und dunkelroter Farbe, welche das Lumen vollkommen auszufüllen scheinen, in Wirklichkeit jedoch keine Stenose verursacht haben, weil der Darm sich stark ausgedehnt und aneurysmatisch ausgeweitet hat. Im Gegensatz zum Carcinom, welches alle Schichten infiltriert, sieht man, daß die Geschwulstent- wickelung sich nur auf das Innere des Darmes beschränkt, zwar die Muskelschicht durchwuchert, aber den Peritonealüberzug des Darmes jedenfalls frei läßt. Dies kann man deutlich erkennen an dem mittleren

Teile des Präparates, der noch nicht aufgeschnitten ist. (Vergleiche Tafel 1.)

Die mikroskopische Untersuchung (Professor Dr. Schridde-Dortmund} ergab Folgendes:

Die Geschwulst setzt sich in gleichmäßiger Weise aus mittelgroßen Zellen zusammen, die große Ähnlichkeit mit Lymphocytenkernen besitzen. In den Zellen finden sich zahlreiche Kernteilungsfiguren. Intercellularsubstanz re in geringem Grade entwickelt. Es handelt sich also um Lymphos-

om.

Festschrift z. 834. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 21

322 Rammstedt: Über Dünndarmsarkome,

Bei einem untersuchten kleinen Knoten erkennt man, daß das Tumor- gewebe in der Submucosa gelegen ist. Von hier aus dringt es infiltrierend tief in die Wandmuskulatur vor. Die Schleimhaut über dem Knoten ist atro- phisch, die Serosa völlig intakt.

Epikrise.

Bei einem anscheinend vorher gesunden Musketier hat sich ein Dünndarmsarkom zu gewaltiger Ausdehnung symptomlos entwickelt, bis eine hinzugetretene Komplikation schwere lleuserscheinungen verursachte, indem die von zahlreichen großen Sarkomknoten angefüllte Dünndarmschlinge sich durch ihre übermäßige Schwere zunächst wohl verlagerte und dann allmählich an den gezerrten, aber noch gesunden, die Fußpunkte bildenden Darmteilen um ihre Achse drehte. Anfangs war die Darmpassage noch vorhanden, wenn auch behindert, und die Sarkomknoten imponierten als Kotballen, zumal durch Einläufe noch feste Kotmassen abgingen. Schließlich trat aber Achsendrehung ein und damit vollkommener Darmverschluß, In der stark ausgeweiteten Schlinge sammelte sich durch Stauung der Gefäße eine reichliche Menge von Blut an, welches zusammen mit flüssigem Kot bei der Betastung des Leibes- in Narkose die Plätschergeräusche verursachte,

Bei dem vorgeschrittenen Leiden war eine Heilung durch radikale Operation ausgeschlossen, auch die Excision der Darmschlinge unter An- legung eines künstlichen Afters war für den geschwächten Organismus des Kranken zu viel, so daß schon am Abend der Tod eintrat.

Die Krankheitserscheinungen waren höchst unklar, erst die Unter- suchung kurz vor der Operation ließ neben der als Volvulus der S förmigen Krümmung angesehenen Geschwulst einen zweiten harten Tumor in der Nabelgegend erkennen, der auf die Vermutung einer malignen Neubildung hätte führen können. Das von Madelung aufgestellte Krankheitsbild . war mir damals nicht gewärtig, in dessen Rahmen dieser Fall in jeder Be- ziehung hineinpaßt. Trotz umfangreicher Tumormassen, die den Dünn- darm in Ausdehnung von fast 1 m einnehmen, finden wir keine Ver- engerung und keine Obturationserscheinungen; im Gegenteil, der befallene Darmteil ist enorm ausgeweitet und seine Passage nicht unter- brochen bis zu dem Zeitpunkte der Achsendrehung.

Fall 2. J.K., 25jähriger Unteroffizier in B., erkrankte am 21. 8. 1907 angeblich plötzlich mit heftigen Schmerzen im Leibe und Verstopfung. In das Lazarett aufgenommen, machte er von vornherein einen sehr leidenden Ein- druck. Es fand sich ein großer Tumor im kleinen Becken, anscheinend von der Vorsteherdrüse ausgehend, mit der Umgebung fest verwachsen, der schon damals inoperabel erschien. Im weiteren Verlaufe bildete sich unter zuneh- mender Abmagerung ein chronischer Darmverschluß aus, Zwecks operativer Beseitigung desselben wurde der Kranke am 7. 11. 07 dem Garnisonlazarett Münster überwiesen.

Befund bei der Aufnahme am 7. 11. 07:

Stark abgemagerter, blasser Mann, klagt über Stuhlverhaltung und zeit- weise auftretende Kolikschmerzen. Bauch weich, gar nicht gespannt, läßt im

Rammstedt: Über Dünndarmsarkome. 323

Bereich des ganzen Dickdarms, besonders aber in der linken Seite, zahlreiche, steinharte, tauben- bis hühnereigroße Knollen durchfühlen, die unschwer als alte Scybala zu erkennen sind. Oberhalb der Symphyse und beiderseits neben der Blase ist eine grobhöckerige, wenig schmerzhafte, über straußeneigroße Tumormasse fühlbar, die sich ins kleine Becken fortsetzt und dieses, wie man per rectum erkennen kann, vollkommen ausfüllt; eine Abgrenzung von der Vorsteherdrüse gelingt nicht, geringe Verschieblichkeit bei bimanueller Unter- suchung in der Frontalachse des Beckens erscheint möglich. Blähungen gehen ab, auf Einlauf aber nur ganz minimale Mengen Stuhl. Ein weiches Mastdärmrohr läßt sich nur 6 cm hoch im Mastdarm emporführen, stößt dann offenbar gegen die Geschwulst und knickt sich um. Urinlassen etwas er- schwert, aber gut möglich. Übrige Organe gesund.

Diagnose: Große Geschwulst im Becken, anscheinend Sarkom.

Behandlung: Radikaloperation ist ausgeschlossen, es soll ein künst- licher After angelegt werden. Operation am 11. 11. 07. Medianschnitt. Das kleine Becken ist bis zur Symphyse ausgefüllt mit einem grobhöckerigen, grau- weißen, ziemlich weichen Tumor, der die Blase nach oben und den unteren Teil der Sförmigen Krümmung, sowie den Mastdarm gegen das Kreuzbein gedrängt hat. Die oberste Kuppe der Geschwulst ist mit einem, den Dünndarmin Ausdehnung von etwa 12cm Länge einnehmenden zweiten Geschwulstknoten verwachsen, doch ist dieser von Tumorgewebe eingenommene Teil des Dünndarms nicht verengert, obwohlerineinstarres Rohr verwandelt ist, denn oral von demselben-ist der Dünn- darm absolut nicht gebläht und enthält dünnflüssigen Kot in nor- maler Menge; hingegen ist der Dickdarm, wenn auch nicht übermäßig, erwei- tert, und enthält die oben beschriebenen massenhaften harten Kotballen. Sonst sind im Darmtraktus keine weiteren Geschwulstknoten nachzuweisen. cfr. Abbildung 1.

Tumor de s Tejunum Ss

Br

324 Rammstedt: Über Dünndarmsarkome,

Bei der Untersuchung reißt die sarkomatöse Dünndarmschlinge von dem Haupttumor ab, infolge großer Brüchigkeit des Gewebes und im Darm entsteht ein Loch. Es bleibt nun nichts weiter übrig, da es sich um eine hochgelegene Jejunumschlinge handelt, welche zum Anus praeternaturalis nicht benutzt wer- den kann, die von Sarkom eingenommene Stelle zu resezieren und wieder zu vereinigen (End zu End). Vernähung des Medianschnittes. Anlegung eines künstlichen Afters von einem zweiten seitlichen Schnitt links durch Einnähung der Sförmigen Krümmung, sofortige Eröffnung und Entleerung zahlreicher steinharter, braunschwarzer Kotballen. K. übersteht den Eingriff sehr gut, er- holt sich zunächst, stirbt dann unter zunehmender Kachexie am 8. Febr. 1908.

Leichenöffnung: Großer, verjauchter, das kleine Becken voll- kommen ausfüllender Tumor, dessen Ursprung unsicher. Der untere Teil der S förmigen Krümmung und das Rectum sind durch die Geschwulst gegen die hintere Beckenwand gedrückt, selbst aber von der Neubildung nicht ergriffen. Zahlreiche Metastasen finden sich in Milz, Niere, Leber und Lunge vor. Die mikroskopische Untersuchung ergab: Kleinzelliges Rundzellensarkom.

In dem eben beschriebenen Fall handelt es sich zwar nicht um ein primäres Dünndarmsarkom, sondern zweifellos um eine Metastase des großen Beckentumors. Es ist dies aber wohl für die Beurteilung der Dünndarmsarkome ohne Belang. Auch hier sehen wir an der von Sarkom befallenen Stelle des Dünndarms, obwohl diese in Ausdehnung von 12 cm in ein starres Rohr verwandelt und obendrein noch mit dem Beckentumor verwachsen war, keine Verengerung wesentlichen Grades und keine Obturationserscheinungen oberhalb der der Peristaltik beraubten Stelle, sondern die Stuhlbeschwerden sind verursacht durch Kompression des Rectums seitens des Beckentumors, der sich unmerklich und anfangs ohne Beschwerden zu verursachen, entwickelt hatte,

Meine Beobachtungen, wie auch der Verlauf des von Demmin kürz- lich veröffentlichten Falles, sprechen also durchaus für die von Made- lung und Baltzer aufgestellte Ansicht, daß die Dünndarmsarkome im allgemeinen Symptome der Darmverengerung oder des Darmver- schlusses nicht machen.

Die Behandlung der Dünndarmsarkome kann in wirksamer Weise nur eine operative sein, aber leider ist ihre Entwickelung schlei- chend, und die Erkennung des Leidens gerade in dem Stadium, wo noch ein operativer Eingriff möglicherweise erfolgversprechend wäre, überaus schwierig, so daß nur in wenigen Fällen glückliche Operationen berichtet sind, so von v. Miculicz, Hahn, Steinthal, Stern. In den vor- geschrittenen Fällen sind wir leider auf symptomatische Behandlung und palliative Eingriffe angewiesen.

Die Prognose ist also, vereinzelte Fälle ausgenommen, sehr ungünstig. Nach Steinthal istin zwei von ihm operierten Fällen an dem günstigen Resultat der spezifische Charakter der Neubildung schuld: „Es hat sich, wie er sagt, um stark stenosierende, nicht zum Zerfall neigende solitäre Neubildungen gehandelt.“ Dies soll auch aus der Statistik Rhein- wald's hervorgehen. Danach neigen die Lympho- und Rundzellensarkome

Rammstedt: Über Dünndarmsarkome, 325

eher zu einer Erweiterung des Darmes; die prognostisch günstigeren Spindelzellensarkome mehr und eher zu einer Verengerung des Darmes, Dieser Umstand bewirkt, daß die stenosierenden Sarkome früher ent- sprechende Symptome machen und demzufolge eher zur Operation kommen. Für letztere Fälle scheint dann auch die Prognose nicht so ver- zweifelt zu sein, wie für die Sarkome, welche keine Obturationserschei- nungen im Darme verursachen,

Ein Beitrag zur klinischen Beurteilung des krankhaften Wandertriebes.

Von Nervenarzt Dr. Heinrich Többen, beauftragter Dozent für gerichtliche Psychiatrie.

Die Poriomanie, jener unbegreifliche Wandertrieb, der viele Menschen oft monatelang unstät in der Welt umherirren läßt und lebhaft an die legen- denhaften und mythischen Gestalten von Kain, Ahasver, den fliegenden Hol- länder und so manche der wandernden Derwische erinnert, die fast ihr ganzes Leben hindurch in düsterem Schweigen auf der Landstraße dahin- ziehen, ist schon seit längerer Zeit wiederholt Gegenstand klinischer Be- arbeitung gewesen. |

Als erster beschäftigte sich in Deutschland ausführlicher mit dieser Frage E. Schulze, der im Jahre 1898 in der Jahressitzung des Vereins deutscher Irrenärzte in einem Vortrag über drei Kranke berichtete, die in einem Zustande traumhaft veränderten Bewußtseins weite Reisen unter- nommen hatten. Er kam zu dem Schlusse, daß die Kranken Epileptiker waren und faßte die Reisen als epileptische Äquivalente auf. In der folgen- den Diskussion betonte Fürstner-Straßburg, daß auch bei verschiedenen Formen des Jugendirreseins die Neigung, Reisen anzutreten, vorkomme.,

Früher war man unter dem überragenden Einflusse des großen fran- zösischen Klinikers Charcot allgemein dazu geneigt gewesen, in allen Fäl- len planlosen Reisens an Epilepsie und besonders an epileptische Aequi- valente zu denken.

Allmählich kam man aber doch zu der Überzeugung, daß diese Auf- fassung eine irrige gewesen war, und schon im Jahre 1899 spricht Do- nath‘) den Satz aus: „Krankhaftes Wandern findet sich auch bei den Degenerierten, Schwachsinnigen und Blödsinnigen, ferner bei Paralyti- kern, Alkoholisten und Hysterischen.” _

Die Frage der Zugehörigkeit krankhafter Wanderungen zur Epi- lepsie hat am klarsten und eingehendsten Heilbronner’) beleuchtet in seiner wertvollen Arbeit über Fugues und fuguesähnliche Zustände.

Er kommt an der Hand eines umfassenden Materials darin zu dem Ergebnis, daß nur etwa bei einem Fünftel aller an Fugue-Zuständen lei- denden Individuen einigermaßen sichere epileptische Störungen nachweis- bar sind, und daß es daher nicht zulässig ist, alle anfallsweise auftretenden Wanderzustände als epileptische Aequivalente aufzufassen. Viel häufiger

1) Donath, Der epileptische Wandertrieb. Archiv für Psychiatrie und Nerven- krankheiten, 32, Bd., 2. Heft.

2) Heilbronner, Über Fugues und fugueähnliche Zustände. Jahrbuch für Psy- chiatrie, 23, 1903.

Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes. 327

als Epileptiker fand er dabei Leute mit hysterischen Symptomen und all- gemein degenerativ veranlagte Individuen, welche schon durch unbedeu- tende Momente oder durch autochthone Verstimmungen, durch dyspho- rische Reize und durch ganz kleine Anlässe des gewöhnlichen Alltags- lebens zum Fortlaufen gezwungen werden.

Rückhaltlos anerkannt wird die Anschauung Heilbronners in dem interessanten Aufsatze von Ewald Stier°) über: „Fahnenflucht und unerlaubte Entfernungen“, welcher als sehr häufige Ursache der Porio- manie die Hysterie, die Degeneration, den Schwachsinn und den Alkohol- mißbrauch bezeichnet.

In Anlehnung an die zuletzt genannten Autoren schreibt Leu- poldt*), Epileptiker und Nichtepileptiker böten in ihren Wanderungen keine Unterschiede, welche Schlüsse auf die Grundkrankheit gestatteten. Gegen diese letztere Auffassung wendet sich wohl nicht ganz mit Unrecht Raecke,') wenn er ausführt, daß es vorsichtiger gewesen wäre, nicht zu sagen, daß die Wanderzustände der Epileptiker und Nichtepileptiker sich in keinerlei Weise unterscheiden, sondern zu sagen, daß wir die Un- terschiede nicht hinreichend kennen und deshalb die Unterschiede auf intervalläre Symptome stützen müssen. Raecke beobachtete neben „epi- leptischen und hysterischen” auch „neurasthenische” Wanderzustände, bei denen jede Bewußtseinstrübung fehlte und nur eine Reaktion auf dys- phorische Reize im Sinne Heilbronners in Frage kam.

Hervorgehoben sei in diesem Zusammenhange auch die Ansicht von Voigtels,’) daß ein periodisch sich wiederholender Wandertrieb allein genüge, um die Annahme einer geistigen Störung zu begründen.

Dieser Standpunkt dürfte jedoch schon deshalb zu verwerfen sein, weil er eine Rückkehr zu der längst begrabenen Lehre Esquirols von den Monomanien bedeutet und auf den doch stets notwendigen Nachweis der Grundkrankheit völlig verzichtet.

Beachtenswert ist auch die Arbeit des Franzosen Ducost& über: „Les fugues dans les psychoses et les demences”. Er sah, abgesehen von den Wanderzuständen bei Epileptikern, Hysterischen und Degenerierten, Fugues bei Alkoholikern, bei Cirkulären in der manischen Phase, bei mo- ralisch Defekten, bei Paralytikern, bei Dementen und bei Patienten, die an Dementia praecox und Intoxikationen litten.

In seiner im Jahre 1908 erschienenen Inauguraldissertation gibt Wil- helm Fabricius’) dem Gedanken Ausdruck, daß zwar im Verlaufe einer

®) Ewald Stier, Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Halle a. S. 1905. Ju- ristisch-psychiatrische Grenzfragen.

#) Leupoldt, Zur klinischen Bewertung patholog. Wanderzustände. Zeitschrift für Psychiatrie, 62. Bd., S. 303,

5) Raecke, Über epileptische Wanderzustände (Fugues, Poriomanie). Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 43. Bd., 1. Heft.

©) von Voigtel, Vier Fälle von krankhaftem Wandertrieb. Deutsche militärärztl. Zeitschrift 1903, S. 5.

”) Wilhelm Fabricius, Ein Beitrag zur klinischen Beurteilung des krankhaften Wandertriebes. Bonn 1908.

328 Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes,

Unmenge anderer pathologischer Zustände krankhaft begründete Reisen und Wanderungen vorkämen, der Einfluß der Epilepsie aber doch noch zu gering eingeschätzt würde.

In psychologischer Hinsicht von ganz besonderem Interesse ist die Tatsache, daß eine Unterform der Poriomanie, die Desertion, sehr häufig ihren Beweggrund hat in der Sehnsucht nach der Gattin, oder der fernen Liebsten, oder auch nach der Heimat. Stier weist in seiner oben ange- führten Arbeit darauf hin, daß beide Motive in unseren alten Volksliedern oft dichterisch verwertet werden und zitiert zum Beweise das Lied: „Das Grab auf der Heide“:

„Was stell'n sich die Soldaten auf? Was eilt das Volk so wild zuhauf? Rosen blühen auf dem Heidegrab.

Gar finster blickt der Kommandeur hinab zum jungen Deserteur.

Rosen blühen auf dem Heidegrab.

Von einsam ferner Wacht entflohn, wird nimmer dem Soldat Pardon. Hier, wo du kniest, hier, wo du stehst, vom Leben du zum Tode gehst.

„Zum Tode geht's, ich hab's gewußt, lebt wohl, ihr Brüder, hier die Brust! Kommt zu der fernen Heimat ihr,

so grüßt die Herzgeliebte mir.

Ich hatte auf der fernen Wacht herzinnig just an sie gedacht,

da ging ein Wanderbursch’ vorbei,

der sang ein Lied von Lieb’ und Treu‘; das Lied, es klang so wohlbekannt,

es war ein Lied vom Vaterland,

's war jenes Lied, das sie mir sang,

als noch mein Arm sie oft umschlang, es klang so süß, ich hielt’s nicht aus, eh’ ich's gedacht, war ich zu Haus, Das Lied, es hat's mir angetan,

Schuld hat allein der Wandersmann. Zum Tode geht's, ich hab's gewußt,

lebt wohl, ihr Brüder, hier die Brust!” Stillschweigend winkt der Kommandeur, ein Jünglingsherz, es schlägt nicht mehr. Rings wird es still, die Nacht beginnt, mit Gras und Blumen spielt der Wind. Rosen blühen auf dem Heidegrab.”

Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes. 329

Während man in Frankreich und Italien vielfach das Heimweh als eine selbständige psychische Krankheit ansieht, hat sich, wie Stier sagt, der Begriff des Heimwehs als einer geistigen Erkrankung in der deutschen Armee nicht einbürgern können!

In diesem Zusammenhange möge eine Beobachtung des Unterzeich- neten wiedergegeben werden, die einen Beitrag zur klinischen und psy- chologischen Beurteilung des krankhaften Wandertriebes liefern dürfte.

Vor etwa 2 Jahren erschien in. meiner Sprechstunde der 52 Jahre alte Schneider W.K. und überreichte mir ein sorgsam zusammengestelltes und sehr umfangreiches Manuskript mit der Bitte, „den in diesem Schrei- ben behandelten Fall mit Ruhe und Bedacht zu lesen und sich dabei nicht der so leicht aufsteigenden Meinung zuzuneigen, man habe es hier mit einem an Sinnestäuschungen oder an Verfolgungswahn leidenden Men- schen zu tun.”

Der Inhalt dieses Manuskriptes soll nachstehend auszugsweise und möglichst wortgetreu wiedergegeben werden: „Meine Eltern und ich, ihr Sohn, wohnten in den Jahren 1876—77 bei einem Gärtner in der Marienthalstraße; die Wohnung über uns hatte K. B. inne, der tagsüber als Schreinergeselle beim Tischlermeister E. im Katthagen ar- beitete. Obschon mein Schulkollege, tat er doch von Anfang an: ganz fremd. Ich war ein leidenschaftlicher Leser wissenschaftlicher Bücher und saß oft halbe Nächte und studierte. Eines Nachmittags gehe ich in meine Schlafstube, und in derselben auf dem Tische liegt Schulz’ kleine Grammatik.

- Ich nehme das Buch, und der erste Satz, der mir in die Augen fällt, ist: „Maria, die Meere.” In demselben Augenblick höre ich diesen Satz laut und deutlich sprechen. Ich bin im ersten Augenblick wie perplex. Dann reiße ich aber die Fenster auf und sehe nach, ob vielleicht durch Zufall ein Student den Satz laut gesprochen hat. Keine Menschenseele ist zu erblicken; ich gehe etwas verstimmt wieder in die Werkstube. Von da ab enthielt ich mich des Lesens. Denn das schien mir die Ursache meiner Sinnestäuschung zu sein. Da kommt eines Tages meine Mutter von einem Ausgang zurück und sagt, B.'s Schwester habe ihr mit- geteilt, über uns könne man alles hören, was wir sprächen. An einem Nachmittag kommt F. B. und läßt sich von meinem Vater Maß zu einer Jacke nehmen. Dabei sieht mich der Bursche mit solch’ einem nieder- trächtigen Blick an, und ich denke: „Was hat denn der gegen dich?” Von da ab stellte ich Beobachtungen an. Zuerst machte ich in einen Hammer einen halbmeterlangen Stiel; damit wollte ich, so nahm ich mir in Ge- danken vor, dem K. B. den Kopf einschlagen. Am nächsten Mittag stellt sich der betreffende B. draußen vors Haus und ruft seiner Frau zu: „Ka- tharine, schmeiße mal den Hammer herunter!” Dabei sah er finster nach unserm Küchenfenster, vor dem ich stand. Von dieser Zeit an hörten wir ständiges Skandalieren und Toben über uns, so daß mein Vater infolge-

330 Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes,

dessen die Wohnung kündigte. Im Sommer 1879 hörte ich mehrere Men- schen laut schimpfen, Gemeinheiten, Unflat, worüber sich meine Feder sträubt, sie hier wiederzugeben. Das Unglaublichste dabei ist, daß ich sie hören mußte, ich mochte mich dagegen sträuben, wie ich wollte, Ich ver- stopfte die Ohren mit Watte, es nutzte nichts, ich mußte sie hören, Tag für Tag, Nacht für Nacht ohne Unterbrechung. Man löste sich förmlich im Schimpfen ab. Ich konnte alle die Stimmen unterscheiden, kannte aber keine davon. Mir galt es, das stand fest. Einen Monat ging das so fort, dann sprach man mir meine Gedanken nach. Keine Minute Ruhe, kein Schlaf. Es war mir rein unmöglich, auch nur eine Minute zu schlafen. Diese Marter war entsetzlich. Was hatte ich doch diesen Unmenschen zu leide getan. Ich hielt meine Gedanken fest. Vergeblich, ich mußte dann denken, was sie mir sagten. Die Augen traten mir dick unterlaufen vor. Wie wahnsinnig lief ich des Nachts umher und legte mich draußen hin, um etwas Ruhe zu bekommen, Bitterlich weinend bat ich meine Peiniger um Erbarmen. „Wir wollen Gnade vor Recht ergehen lassen,” hieß es dann. „Im Grabe ist Ruhe!” Auf meine Bitten erhielt ich von meinen Eltern die Erlaubnis, zu einem Arzt zu gehen und ging zum Herrn Dr. Vohrmann und erzählte dem mein Leiden. Wie vorauszusehen, hielt mich der Herr für verrückt, sprach von Halluzinationen und verschrieb mir Medikamente, die mir aber nichts halfen. Ich flüchtete in der Nacht nach Westbevern zu meinen Verwandten und hielt mich daselbst 8 Tage auf und dachte, durch die Entfernung würde es auf- hören. Dem war aber nicht so, ich mußte die Schurken auch da hören. Mit der Bahn fuhr ich nach Mesum, auch da hörte ich sie.

Ich stahl meiner Mutter in meiner Angst und Not die sauer erspar- ten Taler und fuhr nach Osnabrück. Ich verstopfte mir vorher die Ohren. Ach Gott, auch da hörte ich es, nur etwas schwächer. Ich ging viel nach benachbarten Dörfern, um mich da hinter Wallhecken und in den Wäldern etwas auszuruhen. Auf einer solchen Tour ergriff mich der Gendarm H. bei Hiltrup, der mich freundlich wieder mitnach Münster nahm. Alles nutzlos, keine Ruhe wegen dieser Halunken. Man wird mir den Vorwurf machen, ich hätte mich davon überzeugen sollen, woher die Stimmen kamen. Auch das tatich. Dieselben kamen aus dem Hause der Frau F. aus der Ritterstraße, Mehrere Male ging ich in das Havs, dann hörte ich nichts mehr. Entfernte ich mich wieder aus dem Hause, dann begann wieder mein altes Leiden. In dem Hause wohnte die Familie B., wovon der eine K. B. früher die Wohnung über uns in der Marien- thalstraße inne hatte. Das höhnische Lächeln, wenn mir einer aus der Familie begegnete, zeigte mir genug. Im Frühjahr des Jahres 1880 lag ich wegen meines Leidens im Klemens-Hospital. Die ersten drei Tage und zwei Nächte ließ man mir Ruhe. Welches Glück, ich konnte wieder schlafen! Daß ich, wenn die Schurken mich in Ruhe ließen, mit der Zeit wieder gesund wurde, schien durchaus nicht in ihren Plan zu passen. Denn in der dritten Nacht begann man wieder mit teuflischer

Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes. 331

Bosheit zu schimpfen und meine Gedanken nachzusprechen. Nach 14tä- gigem Aufenthalt verließ ich das Krankenhaus und besuchte den mir be- kannten Herrn Sanitätsrat Dr. Bahlmann. Demselben erzählte ich mein Lei- den, verschwieg ihm aber, daß schuftige Menschen mir das antäten, denn es ist zu empfindlich, im voraus für verrückt gehalten zu werden. Der Herr Rat verschrieb mir zuerst Bromkali. Ich gebrauchte dieses Mittel einen Monat lang, ohne danach Schlaf zu bekommen. Dann erhielt ich Chloral- hydrat, das half aber nur für die Nacht, und am Morgen hörte ich das Ge- sindel wieder. Ferner gebrauchte ich noch andere narkotische Mittel, um Abwechslung im Einnehmen zu haben, aber ohne dauernden Erfolg. Meine ganze Hoffnung setzte ich nun auf eine weite Reisein betäubtemZustand. „Je weiter du reisest,desto schwächer wird der Reiz, und durch die Entfernung hörst du das’ Gesindel nicht mehr, und dann bist du wieder frei," so dachte ich.

Im Jahre 1880 prellte ich meine Mutter um 5 Taler zu einer Reise nach Köln; mit welcher Empfindung ich das Geld nahm, darüber will ich schweigen. Als ich am Pfingstsonntag ins Koupee stieg, betäubte ich mich durch 3 g Chloralhydrat, das ich vorher in einer Flasche aufgelöst hatte, In Köln hörte ich die Schurken noch, wenn auch nicht so stark. Das Geld war bald verausgabt, und ich kam wieder und hörte auch die Stimmen wieder. Im Januar 1882 begann ich einen Hausierhandel, um viel herumreisen zu können. Wiederum war mein Sinnen und Trachten auf eine weite Reise gerichtet, um dadurch meine Freiheit wieder zu er- langen, aber woher die Mittel'nehmen. Ich kam auf die Idee, ein Ver- hältnis mit einem vermögenden Frauenzimmer anzuknüpfen. Das war nicht edel gedacht, aber das einzige Mittel, um von diesen Teufeln in Menschengestalt loszukommen.

Da ich von Beruf Schneider war, hielt ich es für das beste, nach Dresden zu reisen und dort die Zuschneidekunst zu erlernen. Aber auch in Dresden hörte ich die Schurken und weinte in dem Gasthaus zur „Deutschen Marine“ über mein Unglück. Ich überlegte, wohin ich jetzt weiter flüchten sollte und suchte mir soviel Geld zu erwerben, um später nach Nordamerika zu gehen. Zunächst fuhr ich unglücklich nach Münster zurück und trat dann im Juli 1891 meine Reise über Bremen,Nordenham und über den Ozean nach New York an. Nun wird mich aber jeder für verrückt halten und sagen: „Der Mensch leidet an Verfolgungswahn”, wenn ich schreibe, daß ich die Schurken während der ganzen Fahrt über den Ozean und auch in New York noch hörte, wenn auch leise, Ich zweifelte selbst an meinem Verstand, und dennoch ist es Tatsache und keine Einbildung, denn gegen eine solche jahrelange ununterbrochene Reizung gibt es kein Flüchten. Da ich meinen Zweck nicht erreicht hatte, dampfte ich der deutschen Heimat wieder zu. Je näher ich der deutschen Heimat kam, desto lauter hörte ich das Ge- sindel schimpfen oder meine Gedanken nachsprechen. In meiner Woh-

332 Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes,

nung in Münster wieder angelangt, ging ich mit mir zu Rate; was ich wei- ter tun sollte zur Erklärung. Nachdem die Reisen nichts genutzt haben, istaber alles vergebens! Mein Gehirn wird jetzt offenbar von Schurken rui- niert, und ich bin der laute Denker. Die Ärzte und Geistlichen halten mich für verrückt, und wenn mir jemand erzählte, ihm würden die Ge- danken nachgesprochen, so würde ich denselben auch für verrückt halten. Aber auch ich habe mich anfangs für verrückt gehalten. Da die Stimmen jedoch auch dann noch ertönen, wenn ich beide Ohrmuscheln mit Watte und Polsterung verstopfe, müssen es doch die Schurken sein, die mir meine Ruhe rauben. Ich stehe ohne Halt in der Welt und werde syste- matisch zugrunde gerichtet."

Aus der Anamnese des Schneiders W. K. ist hervorzuheben, daß über eine erbliche Belastung und über Entwicklungsstörungen in der Ju- gend, sowie über schwere körperliche Erkrankungen nichts bekannt ge- worden ist. Epileptische oder hysterische Anfälle sind bei ihm niemals aufgetreten, und die körperliche Untersuchung ergibt keine krankhaften Veränderungen, insbesondere keine Zungenbisse und keine hysterischen und degenerativen Stigmata. Der Untersuchte ist ein 52 Jahre alter Mann, bei dem sich vor vielen Jahren, und zwar wohl zuerst schon im Jahre 1876, Sinnestäuschungen des Gehörs, sogenannte Phoneme, ent- wickelt haben. Für diese Phoeme, die wir mit Wernicke als Reizerschei- nungen der zentralen Projektionsfelder des Gehörs aufzufassen haben, suchte der Kranke vergeblich nach einer Erklärung und kam dann, in der Annahme, daß die Stimmen aus seiner Umgebung heraus von einer ihm feindlichen Seite ertönten, auf den an sich nicht ganz unsinnigen Gedan- ken, ob es nicht möglich sei, durch eine Reise sich diesen Stimmen zu ent- ziehen. Dieser Gedankengang war dann die psychologische Triebfeder für die vielen Reisen, welche den unglücklichen Menschen ruhelos umher- trieben und ihn zunächst in verschiedene Orte des Münsterlandes, dann nach Köln und Dresden und endlich sogar über den Ozean nach Amerika führten.

Nachdem dann alle diese Reisen vergeblich gewesen waren, da natürlich infolge der Erkrankung seines Gehirns die Hallucinationen nicht aufhörten und an keinen Ort gebunden waren, suchte der Patient stets nach neuen Erklärungsversuchen für jene Phoneme und baute dabei ein Gedankengefüge auf, das trotz eines gewissen Sinnes im Wahnsinn und trotz einer vorübergehenden Einsicht für den Zustand durchaus nach der krankhaften Seite verschoben wurde und sich systematisch zu echten, un- korrigierbaren Verfolgungsideen entwickelte. Es handelt sich im vorlie- genden Falle um eine psychische Erkrankung, die durch krankhafte Eigen- beziehung, durch Gedankenlautwerden, sowie durch eine Verfälschung des Vorstellungsinhaltes durch hallucinatorisch gefärbte Wahnideen ein ebenso eigenartiges wie charakteristisches Gepräge erhält und in der me- dizinischen Wissenschaft als chronische hallucinatorische Paranoia be- zeichnet wird,

Többen: Klinische Beurteilung des krankhaften Wandertriebes. 333

Dieser Fall liefert insofern einen Beitrag zur klinischen Erklärung des krankhaften Wandertriebes, weil durch ihn bewiesen wird, daß die Poriomanie auch bedingt und psychologisch verständlich gemacht werden kann durch die Sinnestäuschungen eines Paronoikers und die hieran sich anschließenden Versuche, sich diesen belästigenden und den Schlaf und die Ruhe raubenden Stimmen, denen der von mir beobachtete Kranke ratlos gegenüberstand, durch kleinere und größere Reisen zu entziehen. In der einschlägigen Literatur habe ich mich vergeblich nach einem ana- logen Fall und einer entsprechenden psychologischen Erklärung umge- sehen, ;

Über multiple und diffuse Sclerose des Zentral- nervensystems. Von Dr. H. Lachmund,

Arzt an der Provinzialheilanstalt zu Münster i. W,

Das Krankheitsbild der .multiplen Sclerose”, durch den französischen Neurologen Charkot in seinen Grundzügen (Intentions- tremor, Nystagmus, scandierende Sprache etc.) zuerst festgelegt, ist im Verlaufe der letzten Jahrzehnte durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten immer klarer herausgearbeitet worden, so daß heutzutage dem Neurologen die klinische Diagnose meist keine besonderen Schwierig- keiten zu bieten vermag. Immerhin sind wir noch weit davon entfernt, in das innere Wesen dieser eigenartigen Krankheit, die so manches Opfer fordert, und deren erkennbare Ursache in multiplen, über das ganze Nervensystem ausgebreiteten, das Nervenparenchym destruierenden Krankheitsherden besteht, eingedrungen zu sein. Schon bezüglich ihrer Ätiologie tappen wir noch ganz im Dunkeln; wir wissen nicht, ob infek- tiöse, ob toxische oder welche sonst gearteten Einflüsse für das Zustande- kommen der sclerotischen Plaques verantwortlich zu machen sind. Ihre pathologisch-histologische Anatomie harrt auch noch der Klärung mannig- facher Fragen. Weiter sind die Beziehungen der multiplen Sclerose zu ähnlichen, dem Verlaufe nach ihr nahestehenden, jedoch auf anderen organischen Ursachen beruhenden Krankheiten, der Pseudosclerose und der diffusen Sclerose noch sehr wenig erforscht. Auf ihren Zusammen- hang mit der letzteren vermag ein in mehrfacher Beziehung interessanter Fall, den ich längere Zeit in der hiesigen Provinzialheilanstalt zu beob- achten Gelegenheit hatte, der später hier auch zur Obduktion gelangte, einiges Licht zu verbreiten.

Frau Elisabeth K., bei der Aufnahme in die hiesige Provinzialheil- anstalt im Juli 1907 30 Jahre alt, angeblich ohne hereditäre Belastung, in kleinbäuerlichen Verhältnissen groß geworden, hat keine schwereren Krankheiten durchgemacht, insbesondere keine Lues acquiriert und keinen Unfall erlitten; sie ist Mutter zweier gesunder Kinder von 5 und 4 Jahren. Das letzte, 1903 geboren, nährte sie nach dem ärztlichen Auf- nahmezeugnis 2 Jahre lang, ohne daß die Menstruation wiedergekehrt wäre; erst noch ein Jahr später stellte sich diese wieder ein, jedoch spärlich und mit langen Pausen. Zugleich entwickelte sich folgendes Krankheitsbild: Pat. klagte über Kopfschmerzen und Schwindel, die Beine zeigten eine gewisse Schwäche und Steifheit, der Gang wurde unsicher

Lachmund: Über multiple und diffuse Sclerose des Zentralnervensystems. 335

und schwankend; dabei wurde sie still, war gedrückter Stimmung, gab in langsamer, anstoßender Sprache kurze Antworten, stierte vor sich hin, wurde hochgradig schwachsichtig, schlief viel, das Gedächtnis nahm ab. Wegen dieser bei ihr zu Tage tretenden geistigen Schwäche kam sie in der hiesigen Anstalt zur Aufnahme.

Hier bot Frau K. folgenden Befund (April 1908): Innere Organe ohne nachweisbaren krankhaften Befund, Puls regelmäßig, Urin frei von Eiweiß und Zucker.

Nervensystem: Keine Degenerationszeichen. Schädel ohne Narben, nicht klopfempfindlich. Größter Umfang 56 cm. Der Kopf ist, wenn ihn Pat. anlehnt und nicht bewegt, in Ruhe. Bei jedem Versuch, ihn zu be- wegen, setzt sofort ein charakteristischer Intentionstremor ein. Dabei sind die Kopfbewegungen nach allen Richtungen etwas beschränkt, bei stärkeren passiven Bewegungen wird über Schmerzhaftigkeit im Nacken geklagt. Die Halswirbel sind auf Druck stark empfindlich. Augen: Die Pupillen sind rund, gleich groß, reagieren aber auf Lichteinfall und Con- vergenz nur spurweise, Augenbewegungen: Es besteht Blicklähmung nach oben. Bei Seitwärtsbewegung der bulbi nach rechts und links er- heblicher Nystagmus. Pat. fixiert gewöhnlich nur mit dem linken Auge, das rechte weicht nach außen etwas ab. Augenhintergrund: Die Papillen erscheinen teilweise abgeblaßt, doch ist die Untersuchung wegen des Nystagmus und Kopftremors sehr erschwert. Der Trigeminus erscheint sowohl in seinem sensiblen wie motorischen Teil frei (später stellte sich eine Erschwerung des Mundöffnens und des Kauens ein). Mimisch tritt öfters lebhaftes Zwangslachen auf; das Gesicht bleibt dabei aber so starr, daß schwer zu sagen ist, ob Pat. krankhaft lacht oder weint. Beide Faciales zeigen beim Pfeifen, Lippenspitzen, Zähnefletschen, Backen- aufblasen eine deutliche Schwäche. Die Zunge kommt gerade, wird höchstens spurweise nach rechts abgelenkt. Das Gaumensegel wird beim Intonieren nur schwach, aber gleichmäßig gehoben. Die Sprache ist ver- waschen, oft heiser, überkippend. Die Arme weisen keine Atrophie, kein Zittern oder Wogen der Muskulatur, dagegen vermehrten Tonus, Steigerung der Sehnen- und Periostreflexe, ausgesprochenen Intentions- tremor, dabei statische und Bewegungsataxie, links mehr wie rechts, auf. Aufrichten von der Lage zum Sitz ist ohne Hilfe der Hände möglich; der Gang ist spastisch-paretisch, dabei stark schwankend. An den unteren Extremitäten sind die Sehnen- und Periostreflexe ebenfalls stark erhöht, es besteht beiderseits Babinski, Patellar- und Fußklonus. Das Beinheben und die Dorsalflexion des Fußes geschieht rechts schwächer als links. Die Sensibilität (Berührungs- und Schmerzempfindlichkeit) ist an den unteren Extremitäten etwas herabgesetzt. Im weiteren Verlauf der Krankheit wurde der Gang immer unsicherer, schließlich unmöglich. Es stellten sich Blasenstörungen ein, so daß Pat. bei ihrer Unfähigkeit, Urin zu lassen, ständig katheterisiert werden mußte, ebenso Mastdarmstörun- gen. Auffallend waren auch Störungen der Zähne, offenbar trophischer

336 Lachmund: Über multiple und diffuse Sclerose des Zentralnervensystems,

Natur; sie wurden reihenweise cariös, legten sich zum Teil ganz um, so daß sie wagerecht aus dem Munde herausstanden, die an sich durch die Trigeminusbeteiligung schon behinderte Nahrungsaufnahme weiter er- schwerten und entfernt werden mußten. Nebenhergehend hatten sich auf den Lungen Tb-verdächtige Erscheinungen eingestellt und weiter eine schwere Cystitis, die dann auch den Exitus let. herbeiführten.

Nach dem ausführlich beschriebenen objektiven Befunde mußte bei unserer Kranken die Diagnose „multiple Sclerose" gestellt werden. Auffallend und über das Bild der m. Scl. hinausgehend war nun aber das psychische Verhalten der Patientin. Schon nach verhältnismäßig kurzem Bestehen der Krankheit, spätestens 1 Jahr nach Beginn derselben traten eine allgemeine Apathie und Indo- lenz, Desorientierung und Gedächtnisabnahme so sehr in den Vorder- grund, daß zur Einlieferung in die hiesige Heilanstalt geschritten werden mußte. Hier war Pat. zuerst noch einigermaßen componiert, antwortete sinngemäß auf leicht verständliche Fragen, und war in ihrem Verhalten

geordnet. Jedoch war sie bereits in jeder Beziehung desorientiert, ver-

kannte ihren Mann und ihren Bruder, nannte sich bei ihrem Mädchen- namen und ließ große Defekte der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses erkennen. Dazu kamen allerhand delirante Zustände mit vereinzelten Gehörshallucinationen, so daß sie zeitweise ganz das Bild der „Korsakoff- schen Psychose” bot. Weiter trat dann Perseveration einzelner Ant- worten, weiter amnestisch-aphasische Störungen auf, und im September 1909 bekam sie einen Anfall von totaler motorischer Aphasie, der sich nach einiger Zeit wieder zurückbildete. Die psychischen Erscheinungen gingen dann immer mehr in terminalen Blödsinn über. Die oben erwähn- ten Lungen- und Cystitischen Erscheinungen führten schließlich im Ja- nuar 1910 zum Exitus. Die Obduktion hatte folgendes Ergebnis: Tuberkulose beider Lungenflügel, im linken etwa walnußgroße Caverne, Milztumor. Pyelon- ephritis beiderseits und Cystitis ulcerosa. Rückenmark: Durch die Rückenmarkshäute schimmert in der Lumbalgegend eine Partie von ca. Pfennigstückgröße gelblich durch; das Rückenmark selbst erscheint hier, oberhalb der Lumbalanschwellung, eingeschnürt, das Mark selbst zeigt einen Erweichungsherd von breiiger Consistenz; sonst keine makroskopischen Herde erkennbar. Gehirn: An den Hirnhäuten nichts Auffallendes. Das Gehirn hat äußerlich normale Configuration und Con- sistenz, bis auf einzelne Stirnhirnpartien, die sich deut- lich härter anfühlen wie das übrige Hirn, und deren Windungen etwas verschmälert erscheinen. Bei der Zerlegung des Hirns finden sich im ganzen Hirn regellos zerstreut sclero- tische Herde von kleinstem bis größerem Umfange, die sich von der Umgebung scharf abgrenzen, sich härter wie das um- gebende Gewebe anfühlen und einen gelblich-bräunlichen Farbenton haben. Sie sind sowohl in der Mark- wie in der grauen Substanz, beson-

en a DE a en nn ut re nn „# u A

ee

rn de U U Su dr ein

Lachmund: Über multiple und diffuse Sclerose des Zentralnervensystems. 337

ders zahlreich im linken, mehr noch im rechten Stirnhirn- verteilt; in beiden Stirnhirnen fühlen sich außerdem ganze Partien ebenso derb an, wie die sclerotischen Plaques, sind sichtlich trocke- ner, wie die sonstige Gehirnmasse, und von lederar- tiger Konsistenz; die hier deutlich verschmälerte Marksubstanz hat einen gelblichen Farbenton und unterscheidet sich auch dadurch von der weißen Farbe der gesunden Marksubstanz. Nirgends Spuren eines Tumors, niegends Erweichungen, keine Ependymgranulationen.

In Kürze wiederholt entwickelte sich also bei einer jungen Frau vom Lande im Verlauf mehrerer Jahre eine nervöse Erkrankung, die man bei dem Bestehen von charakteristischem Intensionstremor, Nystagmus, Augenmuskel- und Sprachstörungen, spatisch-paretischen Erscheinungen an Armen und Beinen, Babinski, Patellar- und Fußklonus, weiter nach dem ganzen, durch einzelne Schübe gekennzeichneten Verlauf als multiple Sclerose ansprechen muß. Die Obduktion hat die Diagnose bestätigt. Ob das Fortbleiben der Menstruation nach Geburt ihres zweiten Kindes (meh- rere Jahre hindurch) mit der Ursache ihrer Erkrankung in Zusammen- hang zu bringen ist, bleibt eine offene Frage; die zeitliche Coinzidenz ist jedenfalls vorhanden; 1903 war die Geburt des Kindes; sie nährte es bis 1905; erst 1906 trat die Menstruation spärlich und mit langen Pausen wieder ein; zugleich entwickelte sich bis 1907 die Krankheit soweit, daß sie zur Aufnahme in die hiesige Heilanstalt Veranlassung gab. Während der hiesigen Beobachtung war nun u. a, interessant das oben beschriebene Verhalten der Zähne; vor kurzem hat v. Wagner-Jauregg in Wien darauf aufmerksam gemacht, daß man gerade bei m. Scl. häufig ausgebrei- tete cariöse Zerstörungen antrifft; interessant war ferner die Starre des Gesichts bei dem zwangsmäßigen Lachen resp. Weinen der Kranken, wo- bei man nicht unterscheiden konnte, ob es ein Zwangslachen oder Zwangs- weinen war. Am meisten ins Auge fallen mußte aber bei unserer Kran- ken das psychische Verhalten, das, wäre nicht der objektive Nervenbe- fund so eindeutig gewesen, Zweifel an der Diagnose hätte erwecken kön- nen. Es stellten sich im weiteren Verlauf der Krankheit nämlich, wie ge- sagt, schwere psychotische Erscheinungen ein, wie sie bei m, Scl. ganz ungewöhnlich sind, teils Korsakoffsche Symptome, schwere Desorientie- rung, Merkfähigkeitsdefekte, hallucinatorische delirante Zustände, weiter Perseveration, amnestisch aphasische Störungen, eine schubweise auftre- tende totale motorische Aphasie, schließlich völlige Demenz. Daß die m. Scl, wenn auch in selteneren Fällen mit einzelnen Störungen der psy- chischen Funktionen, wie allgemeiner Apathie und Interesselosigkeit, Ge- dächtnisschwäche, einzelnen Halluzinationen und deliranten Zuständen einhergehen kann, haben in letzter Zeit verschiedene Autoren gezeigt (Nonne u. a.). Es wurde daher angenommen, daß eine besonders große Anzahl sclerotischer Herde, und hauptsächlich Rindenherde, als Ursache für die schweren psychischen Ausfallserscheinungen vorhanden sein müß- ten. Die Obduktion ergab nun zwar in der Tat den erwarteten Befund,

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 22

338 Lachmund: Über multiple und diffuse Sclerose des Zentralnervensystems,

ergab aber weiter noch eine Sclerosierung ganzer Rin- denpartien in beiden lob, front, also eine auf Teile des Stirnhirns beschränkte diffuseHirnsclerose neben den multiplen, disseminierten sclerotischen Herden,

Der Ausdruck diffuse Sclerose ist früher auf recht verschiedene Zu- stände angewandt worden. Erst Heubner umgrenzte den Begriff und son- derte differential-diagnostisch die diffuse von der multiplen Sclerose ab; nach ihm kennzeichnet sich das Leiden durch fortschreitende Parese der Beine, dann der Arme und durch Eintritt von Apathie, die'in Demenz übergeht; ‘anatomisch entspricht diesem Prozeß eine Consistenzvermeh- rung höheren Grades der ganzen Hemisphäre, des Balkens, während Pons und‘ Medulla geschrumpft, verkleinert, induriert erscheinen. In unserm Falle ist nur ein verhältnismäßig geringer Teil des Hirns diffus sclerotisch, während das übrige Hirn normale Konsistenz hat, die nur von echt scle- rotischen Herden durchsetzt ist; 'es besteht also ein Nebeneinander von typischer disseminierter Sclerose und partieller diffuser Sclerose des Gehirns. Auf das Konto der letz- teren sind nunooffenbar die bei der disseminierten Sclerose ungewöhnlichen Störungen auf psychischem Gebieteim vorliegenden Falle zu setzen, und es ergibt sich daraus, daß bei solchen Kranken, bei denen nach dem klinischen Bilde und dem ganzen Verlauf eine multiple Sclerose sicher nachgewiesen ist, und bei denen dann später erheblichere psychotische Erscheinungen und terminale Demenz eintritt, an das Bestehen diffuser sclerotischer Prozesse neben der disseminierten multiplen Sclerose gedacht werden muß.

Über traumatische Linsenluxation.

a er ein Beitrag zur Entstehung der Sphinkterrisse und der Aderhautablösung.

‚Von Dr. med. Hermann Davids, Augenarzt in Münster i. W.

Im Altertum und im Mittelalter operierte man bekanntlich den grauen Star, indem man die getrübte Linse entweder herabdrückte oder umlegte. Die Resultate, die mit der Depression und mit der Reclination erzielt wurden, waren bei glattem Operationsverlauf zunächst überraschend gute, denn es wurde durch diese Methoden sofort eine absolut klare Pupille geschaffen, was bei der heute am meisten geübten Staroperation im allgemeinen nicht der Fall ist. Aber der Erfolg war meist nicht von langer Dauer. Abgesehen davon, daß die Linse jederzeit wieder an die alte Stelle rücken und somit den Erfolg plötzlich zu nichte machen konnte, stellten sich in vielen Fällen langwierige, schmerzhafte Erkrankungen ein, die schließlich das Auge zugrunde richteten. Die Ursache dieser Nacherkrankungen ich sehe ab von den Infectionen war die Linse selbst, die ja nicht wie bei der modernen Staroperation aus dem Auge entfernt wurde, sondern im Innern des Auges sich selbst überlassen blieb. Diese Tatsache, daß die verlagerte Linse im Auge meist schlecht ver- tragen wird, macht auch die Linsenluxation, wie wir sie häufig nach einem Trauma beobachten, zu einer sehr schweren Verletzung auch dann, wenn dem Auge durch das Trauma sonst keine dauernden Schädigungen zu-

gefügt wurden.

Dietraumatische Luxation derLinse,die übrigens auch bei Tie- ren beobachtet wird (Schimmel),‘) kann direkt durch eine perforierende Verletzung entstehen, viel häufiger jedoch wird sie hervorgerufen durch eine Kontusion des Bulbus. Oft sind es Holzstücke, die beim Holzhacken gegen das Auge fliegen, dann auch Steine, Metallstücke usw. In anderen Fällen handelt es sich um eine Verletzung des Auges durch Faustschlag, durch einen Schlag mit einem Stock, einer Flasche oder anderen stumpfen Gegenständen oder auch um einen Stoß gegen stumpfe Körper. In selte- nen Fällen war ein Sektpfropfen, der gegen das Auge flog, Ursache der Linsenverschiebung.

Die Häufigkeit der Luxation der Linse nach Kontusion wies Herrmann’) nachan den Patienten der Leipziger Augenklinik, Er fand unter 90517 Patienten Dislokation der Linse in 0,065 % aller Augen- erkrankungen und in 0,7 % aller Augenverletzungen.

29%

340 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

Der Luxation liegt eine Zerreißung der Zonula zugrunde. Ist nur ein partieller Riß entstanden, so wird eine starke Verlagerung der Linse nicht möglich sein, ist jedoch die ganze Zonula zerrissen, so kann die Linse die tellerförmige Grube vollständig verlassen. Neben diesen Veränderun- gen wird man nach einer Kontusion des Auges noch weitere mehr oder weniger schwere Folgen der Verletzung finden, die die Diagnose er- schweren, die Therapie und Prognose beeinflussen. Auf diese soll hier nicht ausführlich eingegangen werden.

Der Mechanismus, durch den die Veränderungen im vorderen Bulbusabschnitt nach einer Kontusion des Auges bewirkt werden, ist viel- fach erörtert. Von vornherein muß man die Veränderungen, die direkt an der Stelle der Einwirkung entstehen, trennen von denjenigen, die entfernt von der Angriffsstelle liegen. Die ersten entstehen infolge der plötzlichen Einknickung und des darauf folgenden Zurückschnellens der von dem Fremdkörper getroffenen Stelle. So lassen sich die Iridodialyse und die Zerreißung der Zonula als direkte Veränderungen erklären, wenn der Fremdkörper an dieser Stelle den Limbus getroffen hat. Noch vor kurzer Zeit sah ich einen solchen Fall. Der Fremdkörper hatte den Limbus oben außen getroffen, ohne eine Perforation hervorzurufen. Genau hinter dieser Stelle lag eine Iridodialyse und eine partielle Zer- reißung der Zonula.

Schwieriger zu erklären sind die Veränderungen, die wir entfernt vom Angriffspunkt im vorderen Bulbusabschnitt nach Kontusionen finden, bei denen eine Berstung der Lederhaut nicht eintrat. Die bekanntesten Erklärungen mögen hier erwähnt werden.

1. Nach v. Arlt?°) ist der Erweiterung des Corneoscleralringes große Bedeutung beizumessen. Bei einer plötzlichen Abplattung der Hornhaut muß eine Formveränderung des Auges eintreten, da der Inhalt nicht kom- .promierbar ist. Infolge der plötzlichen Erweiterung des Corneoscleral- ringes können Risse in der Iris auftreten, vor allem erklärt sich dadurch leicht die Iridodialyse. Auch die Zonula kann aus demselben Grunde zer- reißen, wodurch Lageveränderungen der Linse ermöglicht werden.

Während Stoewer‘) und Fuchs’) die Ansicht v. Arlts teilten, hielten Kern‘) und Müller’) sie für unmöglich. Letzterer glaubte, daß selbst bei starken Kontusionen die Erweiterung des Corneoscleralringes äußerst gering ist, bei leichteren Kontusionen aber, nach denen man oft Iridodialyse beobachtet, überhaupt nicht stattfindet.

Berlin°® und Caillet?) beobachteten bei Versuchen am Kaninchen, daß unmittelbar nach einem Schlag gegen das Auge eine starke Verenge- rung der Pupille eintrat. Hierdurch sollen Zerreißungen der Iris ermög- licht werden. Dieser Ansicht haben sich andere angeschlossen. Franke") schreibt der plötzlichen Verengerung der Pupille eine besondere Bedeu- tung zu bei der Entstehung der Sphinkterrisse.

Nach Förster“) muß dem rückwärts ausweichenden Kammer- wasser ausschlaggebende Bedeutung beigemessen werden. Trifft ein Stoß

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 341

die Hornhautmitte senkrecht, so wird die Hornhaut abgeplattet, und das Kammerwasser sucht nach der Stelle des geringsten Widerstandes zu ent- weichen. Die Vorderkammer wird nach hinten begrenzt durch die Linse und die Iris. Infolge des Stoßes wird nun die Iris gegen die Linse gepreßt und findet an ihr einen Halt. Hinter dem periphersten Teil der Regen- bogenhaut liegt jedoch nur die hintere Kammer und die zarte Zonula. Hier ist nach Förster die Stelle des schwächsten Widerstandes, daher drängt das Kammerwasser hier die Iris zurück, so daß eine sackartige Einbuchtung der Irisperipherie entsteht. Die dadurch notwendige Ver- drängung des Glaskörpers wird nach Förster durch eine geringe Nach- giebigkeit der Lederhaut ausgeglichen.

Dem zurückweichenden Kammerwasser ist auch von anderer Seite Bedeutung beigemessen. Müller nimmt an, daß infolge der Abplat- tung der Hornhaut das Kammerwasser gegen die Iris und Linse gepreßt wird und diese zurückdrängt. Dadurch sollen Sphinkterrisse und Linsen- luxationen entstehen können. Nach Schirmer“) wird die Iris an der Stelle gegen die Linse gedrückt und festgehalten, über welcher die Abplattung der Hornhaut infolge des Anpralles erfolgt. Der gegenüber- liegende Teil des Sphinkters aber wird durch das ausweichende Kammer- wasser stark nach dem Ciliaransatz gedrängt, so daß leicht radiäre Risse des Pupillarrandes entstehen können.

DieFörstersche Erklärung ist nicht unwidersprochen geblieben. So ist Stoewer der Ansicht, daß sie physikalisch unmöglich ist. St. führt aus, daß die Fortpflanzung des Drucks durch eine Flüssigkeit eine ganz gleichmäßige ist, so daß also der Druck in der hinteren Kammer nicht ge- ringer sein kann, sondern ebenso hoch wie in der Vorderkammer sein muß, wodurch eine sackartige Ausbuchtung der Irisperipherie nach hinten verhindert wird. Wie schon erwähnt, ist St. ein Anhänger der v. Arltschen Erklärung.

Die Ansichten über die Entstehung der Veränderungen im vorderen Bulbusabschnitt gehen also weit auseinander. Die Beurteilung der in Frage kommenden Verhältnisse ist auch fraglos schwierig. Vor allem wird man vermeiden müssen, sich zu sehr an die im Einzelfall entstande- nen Veränderungen zu halten, da man dann leicht Gefahr läuft, gegen an- erkannte Regeln der Physik zu verstoßen. Will man sich die Wirkungen eines plötzlichen Stoßes gegen das Auge klar machen, so geht man m. E. am besten auf ganz einfache Verhältnisse zurück. Drückt man auf einen mit Wasser gefüllten, elastischen Ball, der einer Unterlage aufliegt, so entsteht an der Stelle des Druckes eine Delle und unten eine Abplattung. Durch die Veränderung der Wandung müßte eine Raumbeschränkung im Innern hervorgerufen werden, wenn der Inhalt komprimierbar wäre. Da das aber nicht der Fall ist, so muß die Flüssigkeit nach den Seiten aus- weichen, wodurch eine seitliche Ausbuchtung des Balles hervorgerufen wird. Der flüssige Inhalt des Balles erleidet also eine Verschiebung nach den ausgebuchteten Seiten zu. Übertragen wir diese Tatsachen auf das

342 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

Auge, so müssen wir auch hier bei einer plötzlichen Einbuckelung resp. Abplattung der Hornhautmitte ein Zurückweichen der vorn verdrängten Flüssigkeit nach den Seiten zu und eine entsprechende, seitliche Aus- buchtung der Lederhaut erwarten. Nun stellt aber das Auge keinen einheitlichen Raum dar, sondern es handelt sich im wesentlichen um zwei Räume, die in der Mitte durch die Linse und an den Seiten durch die Regenbogenhaut getrennt sind. Will nun bei einem plötzlichen Druck von vorn gegen die Mitte der Hornhaut das Kammerwasser seitlich nach hinten ausweichen, so muß es die Regenbogenhaut vor sich hertreiben. Hierzu kommt noch, daß der Glaskörper eine festere, weniger bewegliche Masse darstellt als das Kammerwasser. Wird dieses zurückgedrängt, so wird es dem Glaskörper seitlich ausweichen, indem es bestrebt ist, dort- hin zu fließen, wo es den geringsten Widerstand findet.

Die Linse wird bei einem Stoß von vorn gegen die Mitte der Horn- haut nach hinten gedrückt, und zwar soweit, als der Gegendruck von hin- ten es gestattet. An der seitlichen Ausbuchtung resp. Dehnung der Le- derhaut wird auch der Corneoscleralring teilnehmen; er wird dabei wie man leicht an einem Modell erkennen kann etwas zurückgelagert und vergrößert. Durch diese Erweiterung des Corneoscleralringes wird die Zonula gedehnt und kann reißen. Sie muß zerreißen, wenn die Iris durch das Kammerwasser eine starke Ausbuchtung nach hinten erfährt, oder wenn sie sogar über den Linsenäquator zurückgedrängt wird. Ist die Einwirkung des Stoßes vorüber, so werden die gedehnten, seitlichen Wandungen wieder zurückschnellen und den Glaskörper seitlich zusam- mendrücken, wodurch die Linse dann wieder vorgetrieben wird.

Legen wir diesen Mechanismus, gegen den Bedenken von seiten des Phy- sikers nicht erhoben werden, zugrunde, so erklären sich leicht die Verände- rungen, die wir bei der Kontusion im vorderen Bulbusabschnitt beobachten. Wird die Mitte der Hornhaut senkrecht getroffen, so buchtet das seitlich nach hinten drängende Kammerwasser die Irisperipherie nach hinten aus. Hierdurch wird die Pupille erweitert, und es werden durch die plötzliche Spannung des Irisgewebes Risse ermöglicht. Tritt ein Riß in der ausge- buchteten Irisperipherie ein, so entsteht eine Iridodialyse. Drängt das Kammerwasser gleichmäßig stärker nach hinten, so wird die Irisperipherie immer mehr nach hinten ausgebuchtet. Schließlich kann der Pupillarrand über den Linsenäquator gleiten, so daß die Iris nunmehr hinter der Linse liegt. Es kann sogar bei sehr starkem, plötzlichem Zurückdrängen des Kammerwassers eine vollständige Umstülpung*) der Iris nach hinten er- folgen. (Siehe Abb. auf der folgenden Seite.)

Das Zustandekommen der Zonularisse wurde schon besprochen, Ob eine Luxation der Linse nach hinten oder nach vorn oder ob eine Ein-

*) Übrigens kann, worauf Oguchi2) hinweist, eine Umstülpung der Iris dadurch vorgetäuscht werden, daß sich infolge der Verletzung der Ziliarkörper mit der Iriswurzel ganz von der Corneoscleralgrenze ablöste und die Iris mit nach hinten hinter die Sclera zog.

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 343

klemmung der Linse in die Pupille erfolgt, hängt ganz davon ab, wie weit die Iris vom Kammerwasser zurückgedrängt wird. Die häufigen Varia- tionen im Befunde erklären sich dadurch, daß der Stoß nicht immer gerade von vorn kommt, und daß er nicht in allen Fällen die Hornhautmitte trifft. Sodann können sich auch an demselben Auge neben den Veränderungen, (die durch Fernwirkung hervorgerufen wurden, solche finden, die direkt an der Aurel entstanden.

1 2a

IN

(Schematische Darstellung.)

1. Normales Auge. 2. Stoß von vorn gegen die Mitte der Hornhaut. a) Gleichmäßige Zurückdrängung der Regenbogenhaut durch das Kammerwasser. b) Luxation der Linse in die vordere Kammer. ‚.c) Umstülpung der Regenbogenhaut nach hinten. 3. Schräger Stoß gegen einen seitlihen Hornhautbezirk. (Regenbogenhaut ungleich- mäßig zurückgedrängt, teilweise nach hinten umgestülpt; Schrägstellung der Linse.)

Hier möchte ich eine Beobachtung einfügen, die die Entstehung der Sphinkterrisse infolge Dehnung des Irisgewebes deutlich veranschau- licht. Kürzlich operierte ich einen Diabetiker am grauen Star; die Pu- pille war nicht künstlich erweitert, auch wurde keine Iridectomie gemacht. In:dem Augenblick, als die voluminöse Linse durch die Pupille trat, sah ich deutlich, wie das Irisgewebe um die Pupille herum zunächst stark gedehnt wurde, und wie dann plötzlich mehrere Sphinkterrisse entstanden. Nach der Operation blieb die Pupille wochenlang etwas erweitert (ohne Atropin), die Reaktion war völlig aufgehoben. Diese Erscheinungen gingen dann allmählich zurück. Auf Atropin erweiterte sich die Pupille rasch und blieb nach einmaliger Einträufelung auffallend lang maximal weit. Es liefert diese Beobachtung also gleichzeitig einen

344 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

Beitrag zur Entstehung der traumatischen Mydriasis, die in diesem Fall leicht in der lokalen Schädigung des Sphinkters ihre Erklärung findet,

Die Luxationindievordere Kammer entstehtentwederdirekt bei der Verletzung, oder sie geht später hervor aus einer Luxation in den Glaskörper oder einer Subluxation. Das Bild einer in die Vorderkammer luxierten, klaren Linse ist sehr charakteristisch, Der Linsenrand gibt einen goldgelb glänzenden Reflex, und man hat ganz den Eindruck, als wenn ein Öltropfen in der Vorderkammer läge. Dabei erscheint der Äquatorialdurchmesser der Linse verkleinert. Es kommt dies daher, weil die Linse nach Zerreißung der Zonula ihre Form verändert und sich der Kugelform nähert. Die Vorderkammer ist vor allem unten auffallend tief. Die Pupille ist weit, reagiert schlecht oder gar nicht. Die stärkere Konvexität der Linse zusammen mit der Verlagerung nach vorn bewirkt weiter, daß das Auge stark myopisch wird. Dabei ist die Akkommodation natürlich aufgehoben. Da die Linse in der Vor- derkammer als Tampon wirkt und gleichzeitig durch Reizung der Iris und des Corp. cil. Sekretionsvermehrung hervorruft, so tritt meist rasch Druck- steigerung ein. Wird nicht eingegriffen, so trübt sich die Hornhaut stärker, nachdem das Endothel der Descemet durch die anliegende Linse ge- schädigt wurde, und es kann Perforation eintreten. Die Linse selbst trübt sich mehr oder weniger schnell, nur vereinzelt blieb sie längere Zeit klar, so in einem Fall von Fischer“) 3 Jahre und in einem vonRecordon”) 4 Jahre. Völlige Resorption scheint nach den Beobachtungen von Da vis“) und Lindner”) möglich zu sein; man wird in diesen Fällen eine Zer- reißung der Linsenkapsel annehmen müssen. Auch eine vollständige Hei- lung soll vorkommen können. Hoering“) teilt mit, daß eine in die Vor- derkammer luxierte Linse nach Erweiterung der Pupille hinter die Iris zurückgebracht werden konnte, durch Eserin zurückgehalten wurde und an normaler Stelle anwuchs. Im allgemeinen ist aber die Prognose, wenn die Linse in der Vorderkammer bleibt, schlecht, und eine Rettung des Auges nur möglich durch schleunige Entfernung der Linse. Die vorsichtig ausgeführte Extraktion verläuft meist gut, wenn auch Glaskörperverlust nicht ganz zu vermeiden ist. Vor der Operation wird die Pupille durch Eserin verengt, der lappenförmige Cornealschnitt wird am besten nach unten angelegt. Tritt die Linse nicht von selbst aus, so entfernt man sie mit Schlinge oder Häkchen, Grubel*)undElschnig?) empfehlen bei ju- gendlichen Individuen einen Linearschnitt, da dieser weniger klafft und besser heilt. Vatier”) extrahierte mit der Schlinge, nachdem die Linse vorher mit Hilfe einer Diszissionsnadel angespießt war. Auch nach glatt verlaufener Operation können Drucksteigerungen wiederkehren. Heucke?*) berichtet über 6 Fälle von vollständiger oder unvollständiger Luxation in die vordere Kammer. Trotz gelungener Extraktion gingen 3 Augen verloren, in einem dieser Fälle trat sympathische Ophthalmie auf dem anderen Auge auf.

Davids: Über traumatische Linsenluxation, 345

Wie schon erwähnt, kommt zuweilen keine vollständige Luxation in die Vorderkammer zustande, sondern die Linse wird in der Pupille festgehalten. Meist wird dabei Schiefstellung der Linse beobachtet. Ich sah einen Fall, bei dem die Linse unten auf der Iris stand, während der obere Rand hinter der Iris lag, die übrigens fast ganz nach hinten umgeschla- gen war. Infolge der Schief- resp. Schrägstellung der Linse ist die Vorder-. kammer ungleich tief. Die Schiefstellung der Linse kann sehr aus- gesprochen sein. Riedel”) berichtet über einen Fall, bei dem sich die Linse vollständig gedreht hatte, so daß die hintere Fläche nach vorn ge- richtet war. Drehung um sahWagenmann{Behm”) 1903), der Linsen- äquator berührte bei diesem Patienten die Hinterfläche der Hornhaut. Veasey*) berichtet über einen ähnlichen Befund. Wie in meinem, trat auch in den meisten anderen Fällen infolge der durch die Einklemmung der Linse gestörten Kommunikation zwischen hinterer und vorderer Kammer rasch Drucksteigerung ein. In einem Fall von Bader jedoch wurde nach dem Bericht Beckers“) die Einklemmung längere Zeit ver- tragen, die Linse nahm Biskuitform an. Therapeutisch wird man am besten zunächst versuchen, die Linse durch Erweiterung der Pupille mittelst Atropin frei zu machen und wenn möglich durch Beugen des Kopfes eine Luxation in die Vorderkammer herbeizuführen. Gelingt dies, so wird man Eserin geben, um die Linse in der Vorderkammer festzu- halten und von hier operativ zu entfernen. Fällt die Linse nach der Er- weiterung der Pupille in den Glaskörper, so ist wie in dem Fall Hoering-—-eine Wiederholung der Einklemmung zu befürchten. Gelingt es nicht, die Linse frei zu mächen, so extrahiert man sie am besten mit der Schlinge, nachdem man den Cornealschnitt an der Stelle angelegt hat, an welcher der Linsenrand vor der Iris liegt, um zu verhüten, daß die Linse durch die Schlinge zurückgestoßen wird. Ein größerer Glas- körperverlust wird sich bei der Extraktion oft nicht vermeiden lassen. (Vergl. S. 349 u. £.)

Die häufigste Luxation der Linse ist die in den Glaskörper. Man findet in diesen Fällen die Vorderkammer gleichmäßig vertieft, die Iris schlotternd, die Pupille tiefschwarz, also völlig klar. Die Linse sinkt der Schwere nach und liegt im allgemeinen unten im Glaskörper. Bei einem Patienten, den ich kurz nach der Verletzung sah, lag sie horizontal hinter der Pupille, so daß sie noch bei seitlicher Beleuchtung sichtbar war. Mit dem Augenspiegel sieht man die Linse, so lange sie klar ist, als runde, durchsichtige Scheibe mit schwarzem Rand. Ist die Zonula vollständig zerrissen, so schwimmt die Linse bei Bewegungen des Auges frei im Glas- körper herum, um sich in der Ruhe wieder auf den Boden zu senken. Häufiger fand ich eine beschränkte Beweglichkeit der Linse, indem die Zonula unten erhalten war, und die Linse wie an einem Scharnier auf und ab klappte. In diesen Fällen liegt die Linse der unteren vorderen Bulbuswand an und ist oft nur beim Blick des Patienten ganz nach unten sichtbar. Die in den Glaskörper luxierte Linse trübt sich meist mehr

346 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

oder weniger schnell und geht dann allmählich in Schrumpfung über. Sie kann aber auch jahrelang durchsichtig bleiben. Eine Spontanresorption wird vor allem dann möglich sein, wenn bei einem jugendlichen Individuum zusammen mit der Luxation ein Kapselriß entstand. Aber auch eine sekundäre Schädigung der Kapsel einer der Bulbuswand anliegenden Linse ist möglich, so daß auch Resorption eintreten kann, wenn die Kapsel zunächst intakt blieb. Snell”) beobachtete Resorption der luxierten Linse in 11% Jahren, Augstein und Ginsberg*) fanden 2 Jahre nach der Verletzung nichts mehr von der Linse im Glaskörper. 11 Jahre nach der Verletzung starb dieser Patient; die nunmehr vorgenommene Unter- suchung des enukleierten Auges ergab, daß keine Spur mehr von der Linse oder der Kapsel zu finden war. Indessen ist diese Beobachtung nicht ganz einwandfrei, da Austritt der Linse durch Bulbusruptur nicht völlig ausgeschlossen erscheint. Nicht immer ist die Linse im Glaskörper beweglich, zuweilen liegt sie der Bulbuswand fest an. Ich sah einen Patienten, bei dem die kataraktöse Linse an der vorderen unteren Bulbus- wand festsaß. ya

In einer Reihe von Fällen wird die Linse im Glaskörper reizlos ver- tragen, so daß der Verletzte nur durch die Aphakie belästigt wird. Suker”) fand 30 Jahre nach der Verletzung die getrübte Linse im Glas- körper. Das Sehvermögen betrug m. + 6,0 DS=*/,,. Es kann also bis ans Lebensende das Auge von Komplikationen frei bleiben. In vielen Fällen stellen sich jedoch allmählich oder auch ganz plötzlich schwere Folgezustände ein, unter denen die Drucksteigerung an erster Stelle zu nennen ist. Diese wird hervorgerufen durch Reizung des Corpus cil. und die dadurch bedingte Hypersecretion. Weiter finden wir, begünstigt durch die meist frühzeitige Verflüssigung des Glaskörpers, Netzhaut- ablösung. Auch Cyclitiden und Chorioiditis kommen vor infolge Reizung der Bulbusinnenwand.

Eine große Gefahr besteht auch darin, daß die Linse oft sehr be- weglich ist. So kann es vorkommen, daß eine Linse, die lange Zeit reiz- los im Glaskörper vertragen wurde, bei einer entsprechenden Bewegung des Kopfes in die Vorderkammer vorfällt oder sich in die Pupille ein- klemmt und plötzlich Drucksteigerung hervorruft. Auch ich sah einen Fall, bei dem die frei bewegliche Linse durch Beugen des Kopfes in die Vorderkammer gebracht werden konnte. Bei aufrechter Haltung oder Rückenlage sank sie wieder in den Glaskörper zurück. Bei einem anderen Patienten, auf den ich weiter unten zurückkommen werde, klemmte sich die Linse schräg in die Pupille ein, was sofortige Drucksteigerung zur Folge hatte und Entfernung der Linse notwendig machte.

Stöwer,?”) der eine größere Erfahrung auf diesem Gebiete sammelte, äußert sich sehr pessimistisch zur Prognose der Linsenluxation in den Glaskörper. Er sagt: „Die Aussichten, von Glaukom frei zu bleiben, sind daher nach meinen Erfahrungen nicht nur für Augen mit Luxation der Linse in die vordere Kammer, sondern auch für solche mit Subluxation

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 347

sobald sie erheblich ist und Luxation in den Glaskörper recht ge- ringe.” Auch Grob“) ist der Ansicht, daß das Schicksal der mit Linsen- luxation behafteten Patienten mit geringen Ausnahmen ein sehr trauriges ist, wenn die Affektion sich selbst überlassen bleibt. Nach Elschnig”) ist nachfolgende Drucksteigerung oder Auftreten schleichender Irido- eyclitis nahezu die Regel.

Fehlen Komplikationen, so ist eine Therapie zunächst nicht not- wendig. Man tut aber gut, den Patienten eventuell unter Anwendung von Eserin oder Pilocarpin in Beobachtung zu halten. Der Ansicht Stoe- wers, daß es kein Fehler ist, bei reizlosem Auge zu operieren, möchte ich nicht beitreten, da die Extraktion der Linse aus dem Glaskörper doch ein sehr ernster Eingriff ist. Tritt Drucksteigerung auf, so kann man zunächst die Mittel anwenden, die überhaupt für die Behandlung des Glaukoms in Frage kommen. Eserin und Bettruhe, werden zuweilen die Drucksteigerung beseitigen, aber im ganzen ist der Erfolg dieser Therapie nicht ermutigend, so daß man meist gezwungen ist, operativ einzugreifen. Aber auch die Iridectomie, die oft schwer anzuführen ist, und die Sclero- tomie sind meist’ nicht imstande, Dauerheilung herbeizuführen, was ver- ständlich ist, da ja die Ursache der Drucksteigerung, die Linse, dadurch nicht entfernt wird. In vielen Fällen wird man daher nicht zum Ziele kommen, wenn man nicht die Linse extrahiert. Dieser Eingriff wird ebenfalls notwendig sein, wenn Cyclitis und Chorioiditis sich einstellen.

Die Entfernung der Linse aus dem Glaskörper ist schwierig, sie kann so schwierig sein, daß sie dem geübtesten Operateur mißlingt. Dabei bedeutet die Operation einen sehr ernsten Eingriff, da immer die Gefahr eines starken Glaskörperverlustes vorliegt. Dadurch wird aber der Wundschluß erschwert, eine Infektion erleichtert und eventuell Netzhautablösung herbeigeführt. Wie schwierig der Eingriff ist, erkennt man am besten an der großen Zahl der Operationen, die zur Entfernung der nach hinten luxierten Linse vorgeschlagen sind. Dujardin,?) Deutschmann (Münch. med. Wochenschrift 1897), v. Arlt®) Krüger,*) Meyhöfer*) u. a. rieten, bei weiter Pupille durch Lagerung des Patienten die Luxation nach hinten in eine Luxation nach vorne zu verwandeln, die Linse in der Vorderkammer durch Ver- engerung der Pupille festzuhalten und von hier zu entfernen, was ja im allgemeinen nicht schwierig ist. Auch mir gelang es bei einem Patienten, die Linse auf diese Weise einzufangen und bis zur Operation festzuhalten. Aber dieses Manöver wird nur in den wenigsten Fällen Erfolg haben. Im allgemeinen wird es doch notwendig sein, die Linse direkt aus dem Glaskörper zu extrahieren. v. Arlt,”) Noyes,®) Hock,*) Terson,*) Koster (Zeitschr. f. Augenheilk. II, 210) u. a. schlugen vor, die Linse vor Ausführung des Extraktionsschnittes mit einer Nadel, die durch die Sklera eingeführt wurde, zu fixieren. Agnew*) bediente sich eines besonderen, gabelförmigen Instrumentes. Knapp*) verwarf die Anwen- dung von Nadeln und empfahl, die Linse durch äußeren Druck zu ent-

348 Davids: Über traumatische Linsenluxation,

fernen. Seine Methode war folgende: Nach Anlegung des Hornhaut- schnittes hielt er mit dem Zeigefinger der einen Hand das Oberlid und drückte mit dem Daumen der anderen das Unterlid unten gegen die Sklera. Auf diese Weise gelang es ihm, die Linse durch die Pupille zu bewegen und schließlich aus der Wunde herauszudrücken. Folgt die Linse nicht, so ist sie mit einem Draht- oder Metalllöffel zu extrahieren. Die Knapp- sche Methode fand viele Anhänger (Eversbusch”), jedoch ist von vorn- herein klar, daß ein Herausdrücken der Linse nicht möglich ist, wenn nicht gleichzeitig eine mehr oder weniger große Menge Glaskörper geopfert wird. Meyer”) benutzte bei der Extraktion mit Erfolg die Webersche Schlinge, Kuhnt*) bediente sich einer Modifikation dieser Schlinge und operierte bei künstlicher Beleuchtung, da hierbei die Linse gut zu sehen ist. Stoewer versuchte bei einem Patienten, die Linse wegen Druck- steigerung nach Art des Cysticerkus durch die Sklera zu entbinden. Er spießte zunächst die Linse an, um sie gegen die Skleralwunde drücken zu können, legte dann unten temporal nach Abpräparieren der Conjunctiva einen 1,2 cm langen meridionalen Skleralschnitt an. Beim Versuch, die Linse mittels der Nadel in die aufgehaltene Wunde zu schieben, glitt je- doch die Nadel aus, und trotz Erweiterung der Wunde durch einen äqua- torialen Schnitt von 6 mm Länge gelang es unter Kontrolle des Augen- spiegels nicht, die Linse mit Haken, Pinzette oder kleiner Zange zu fassen. Glaskörperblutung und Schmerzen zwangen zum Abbruch der Operation. Das Auge mußte später wegen erneuter Schmerzattacken und chronischer Cyclitis enukleiert werden.

Nach Grob,*) der die Fälle der Züricher Klinik zusammenstellte, sind die Resultate der Extraktion schlecht, vor allem wegen des oft er- heblichen Glaskörperverlustes und der dadurch verursachten Disposition zur Netzhautablösung, dann aber auch zur Iridocyclitis, die unter 21 Ope- ‚rierten 3 mal sympathische Ophthalmie verursachte. Die schlechten Er- folge veranlaßten Haab, Versuche anzustellen, die Linse dauernd zu fixieren. Er perforierte die Bulbuswand der Lage der Linse entsprechend mit der Glühschlinge oder injicierte einige Tropfen Alkohol. Der Erfolg war kein dauernder, es traten sogar Glaskörpertrübungen auf.

Um größeren Glaskörperverlust nach Möglichkeit zu vermeiden, kann man vor Ausführung des Cornealschnittes Fäden anlegen, die sofor- tigen Wundschluß während und nach der Operation ermöglichen. A. v. Hippel legte zwei prophylaktische Suturen an, und zwar wurde jeder Faden durch die oberen Lagen des Sklera und Cornea gezogen. Die auf der Gegend des zu bildenden Lappenschnittes zwischen den Einstich- stellen liegenden Fadenschlingen wurden zur Seite geschoben, so daß sie die Lappenbildung nicht hinderten. In einem schwierigen Fall, den ich vor einiger Zeit operieren mußte, legte ich auch einen Faden an, jedoch in anderer Weise. Ich will auf diesen Fall, der auch sonst interessante Einzelheiten bot, näher eingehen: Es handelte sich um einen 42jährigen Arbeiter, der im Streit einen heftigen Schlag mit einer Flasche gegen das

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 349

rechte Auge erhielt. Die Lidverletzung wurde von einem Kollegen genäht. Als ich den Patienten kurz nach der Verletzung sah, war das Auge heftig gerötet. Vom Innern des Auges war infolge starker Blu- tung nichts Genaues zu erkennen. Erst in den nächsten Tagen, nachdem sich das Blut z. T. resorbiert hatte, konnte ich folgenden Befund aufneh- men: Die Iris war ringsherum nach hinten umgeschlagen, und zwar der- art, daß nur noch ein schmaler, peripherer Saum von ihr zu sehen war. Die Breite dieses Streifens war nicht überall gleich, Ciliarfortsätze waren nicht sichtbar. Unten vorn im Glaskörper lag die klare Linse, sie schwappte bei Bewegungen des Auges auf und ab. Die Zonula war unten also erhalten. Gröbere Fundusveränderungen waren nicht sichtbar. Ich verordnete Bettruhe, feuchtw. Verband, Eserin. An den folgenden Tagen lag die Linse infolge der Rückenlage des Patienten zeitweilig horizontal hinter der Pupille. Die Lage der Iris blieb vollständig unverändert. Schmerzen bestanden nicht, das Auge blaßte gut ab. In der Nacht vom 7. zum 8. Tage nach der Verletzung traten plötzlich heftige, halbseitige Kopfschmerzen auf, und am andern Morgen bemerkte ich, daß sich die Linse in die Pupille eingeklemmt hatte. Unten stand sie auf dem schma- len Irisrand, auf halber Höhe’ kreuzte sie beiderseits die Iris; der obere Rand der Linse war leicht nach hinten geneigt und stand tiefer als die untere Begrenzung des Irissaumes, so daß hier ein klarer Spalt vorhanden war. Im übrigen war das Auge stärker gerötet und der Tonus deutlich erhöht. Da eine Befreiung der Linse nicht möglich war, die Erscheinungen aber heftiger wurden, so schlug ich dem Patienten am folgenden Tage die Extraktion der Linse vor, in die er unter der Bedingung einwilligte, daß ohne Narkose operiert würde. Indem ich danach trachtete, Glaskörper- verlust nach Möglichkeit zu vermeiden, schlug ich folgenden Weg ein: Nach Cocainisierung, und nachdem ich dem assistierenden Kollegen genaue Anweisung gegeben hatte, legte ich oben im Limbus einen Schnitt mit breiter Lanze an. Es floß ein wenig Flüssigkeit ab. Nun legte ich durch die Mitte dieser Wunde eine Sutur und übergab die Enden der nicht ge- knoteten, gekreuzten Fäden dem Assistenten. Sodann erweiterte ich die Wunde beiderseits durch einen Scherenschlag, während der Assistent ein Klaffen der Wunde vermittelst der gekreuzten Fäden vermied. Nachdem ich nun die innen liegende Schlinge der Sutur vorsichtig gelockert und zur Seite geschoben hatte, ging ich mit der Weberschen Schlinge zwischen Iris und oberen Linsenrand hindurch hinter die Linse, was glatt gelang. Nun hob ich die Linse gegen die Hornhaut und suchte sie in die Wunde zu schieben. Die Linse folgte jedoch nicht, sie glitt auf der Schlinge hin und her, so daß ich deutlich das Gefühl hatte, daß sie unten noch fest saß, In diesem Augenblick machte der Patient eine ungeschickte Bewegung, die Linse glitt nach außen in den Glaskörper. Während ich die Schlinge sofort herauszog, schloß der Assistent im selben Augenblick die Wunde. Der Glaskörperverlust war nicht nennenswert. Ich befürchtete jedoch, die Operation nicht ohne Narkose fortsetzen zu können. Der Wundschluß

350 Davids: Über traumatische Linsenluxation,

war aber so fest, daß zunächst eine genaue Untersuchung bei künstlicher Beleuchtung möglich war. Die Linse war gut zu sehen, sie lag außen im Glaskörper, der innere Rand zeigte nach vorn. Ich lockerte die Sutur von neuem ein wenig und führte unter künstlicher Beleuchtung die Schlinge wieder ein. Es gelang mir, die Linse sofort wieder hinter die Hornhaut zu bringen. Auch jetzt glitt sie eine Weile auf der Schlinge hin und her, dann aber verspürte ich einen kleinen Ruck, worauf die Linse langsam auf der Schlinge durch die Wunde glitt. Direkt hinter der Linse schloß der Assistent die Wunde, ich knotete die Fäden, womit die Ope- ration beendet war. Die Heilung erfolgte glatt, das Sehvermögen betrug bei der Entlassung 0,7—0,8 m. + 9,0 D komb. m. + 3,0 cyl. hor.

Die von mir angewandte Methode hat den Vorzug, daß sie leicht auszuführen ist, und daß man jederzeit Herr der Situation ist, indem man augenblicklich exakten Wundschluß herbeiführen kann. Liest man die Operationsberichte in der Literatur, so findet man, daß meist schon bei der Bildung des Lappenschnittes Glaskörper in mehr oder weniger großer Menge austrat. Der von mir gewählte lineare Schnitt der Lanze neigte nicht zum Klaffen, auch in unserem Fall blieben die Wundränder gut aneinander liegen. Ich machte den Einschnitt oben, weil ich annahm, hier leichter hinter die Linse kommen zu können als unten, wo die Zo- nula noch erhalten war, und keine freie Lücke zwischen Iris und Linsen- rand vorhanden war. Sonst wäre es wohl richtiger gewesen, von unten zu operieren, da der untere Linsenrand ja vor resp. auf der Iris stand. Die Anlegung der einen Sutur machte keine Schwierigkeiten, da die Wunde ja nicht klaffte. Ist sie aber gelegt, und sind die gekreuzten Fäden dem Assistenten übergeben, so gewährt die Sutur während der Operation große Sicherheit. ‘Die Erweiterung der Wunde ist dann leicht. Auch während der Extraktion empfindet man die Möglichkeit des sofortigen Wundschlusses sehr angenehm. In unserem Fall wäre sicherlich bei der ungeschickten Bewegung des Patienten ein größerer Glaskörperverlust unvermeidlich und vielleicht Aufgabe der Operation notwendig gewesen, wenn der Assistent nicht sofort die Wunde geschlossen hätte. Die Wund- ränder lagen nun so gut aneinander, daß eine Unterbrechung der Operation und genaue Untersuchung bei künstlicher Beleuchtung möglich war. Nach- dem so die Lage der Linse bestimmt war, konnte man, da nennenswerter Glaskörperverlust nicht erfolgt war, ruhig einen zweiten Extraktions- versuch machen. Von großem Vorteil erwies sich auch, daß hart hinter der Linse sofort exakter Wundschluß herbeigeführt werden konnte.

Linsenluxationen gehen häufig hervor aus Subluxationen. Man spricht von einer Subluxation, wenn die Linse die tellerförmige Grube nicht ganz verlassen hat. Die Stärke der Verlagerung hängt im wesent- lichen davon ab, in welcher Ausdehnung die Zonula zerrissen ist. Die Ver- schiebung der Linse erfolgt von der Rißstelle weg, zugleich ist die Linse mehr oder weniger um ihre Achse gedreht. Bei hochgradiger Verschie- bung sieht man mit dem Augenspiegel den vom Ciliarkörper abgerückten

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 351

Linsenrand als schwarze Bogenlinie in der normal weiten Pupille, bei geringer Verschiebung nur bei erweiterter Pupille. Ist die Verschiebung sehr gering, so kann man zuweilen den Linsenrand überhaupt nicht sehen. Liegt der Linsenrand hinter der Pupille, so tritt bekanntlich monokulares Doppeltsehen auf, indem der Patient einmal durch den Linsenrand sehen kann, dann aber auch durch den linsenfreien Teil der Pupille. Ein ent- sprechendes Konvexglas macht dieses Bild oft schärfer als jenes ist. Liegt der Linsenrand nicht hinter der Pupille, so können wir eine Er- höhung der Refraktion konstatieren, da die Linse infolge der Zonulazer- reißung, wie schon oben erwähnt, stärkere Konvexität annimmt. Aus demselben Grunde ist die Akkommodation beschränkt oder auch ganz aufgehoben. Die Drehung der Linse bewirkt unregelmäßigen Astigmatis- mus, Weiter findet man bei der Subluxation ungleiche Tiefe der Vorder- kammer; sie ist tiefer dort, wo die Zonula zerrissen ist, flacher an der Stelle, nach der die Linse zu verschoben ist, da letztere hier die Iris vor- drängt. Da die Linse nicht mehr durch die Zonula in ihrer Lage gehalten wird, schlottert sie, wie auch die Iris, meist deutlich.

Nach Behm*) gehen die Subluxationen fast immer in totale Luxa- tionen über. In einer Reihe von Fällen bleiben sie aber unverändert. War die Linse nach der Verletzung klar, so kann sie bei diesen Patienten klar bleiben. Auch eine Art Dauerheilung ist beobachtet. Possek*) teilt mit, daß bei einem Patienten die nach oben verschobene Linse später dauernd normale Lage einnahm. Ähnliche Beobachtungen machten Wagenmann,*) Grob, Dufour [(Nagel's Jahresb. 1875, p. 485), Grandcel&ment (Rec. d’ocul; 1894). Man kann in diesen Fällen natür- lich nicht von einer wirklichen Heilung sprechen, da die zerrissenen Zonulafasern nicht wieder heilen können. |

A.v.Graefe*) hat schon darauf aufmerksam gemacht, daß die Sub- luxation häufiger Glaukom herbeiführt als die vollständige Luxation der Linse in den Glaskörper. Stoewer beobachtete unter 4 Fällen dreimal Glaukom, im 4. Fall, der 10 Jahre frei von Beschwerden blieb, war die Verschiebung nur gering. Von den 9 Fällen, die Behm veröffentlichte, bekamen 6 Glaukom, 2 der übrigen Fälle waren aber nur 2 Monate in Beobachtung. Daß die Drucksteigerung noch recht spät auftreten kann, beweist ein Fall Fischers.“) Es handelte sich um eine leichte Sub- luxation nasalwärts. Das Auge blieb 101% Jahre reizlos, dann trat eine Glaskörperblutung auf und ein halbes Jahr später Glaukom. Da Pilo- carpin ohne Erfolg angewendet war, wurde eine Iridectomie gemacht. Nach 5 Jahren wieder Glaukom; inzwischen hatte sich die Linse getrübt, das Sehvermögen war fast erloschen. Das Auge mußte enukleiert werden.

Das Auftreten des Glaukoms bei der Subluxation erklärt sich ein- mal aus der mechanischen Reizung des Ciliarkörpers zu Sekretions- steigerung, dann aber auch aus der Vorbuckelung der Iris, die eine partielle Verlegung des Kammerwinkels mit nachfolgender Infiltration zur Folge hat, wie Priestley Smith,*) Lawford,*) Stoewer,

352 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

Behm u. a. nachweisen konnten. Beccaria“) konnte bei seinen Patienten beliebig Drucksteigerung hervorrufen, wenn er durch Beugen des Kopfes oder Lagerung des Körpers ein Andrängen der Linse gegen die Iris bewirkte. Ist ein Kapselriß vorhanden, so können die sich auf- lösenden Linsenmassen natürlich auch einen chemischen Reiz hervorrufen.

Um Drucksteigung nach Möglichkeit zu verhüten, kann man pro- phylaktisch Miotica geben. Ist Drucksteigerung schon vorhanden, so wird man mit Eserin mit Pilocarpin im allgemeinen auf die Dauer nicht aus- kommen, sondern man wird auch hier operativ eingreifen müssen. Als Operation kommt vor allem die Extraktion der Linse in Betracht. Um Glaskörperverlust nach Möglichkeit zu vermeiden, würde ich in der von mir oben angegebenen Weise operieren. Den Schnitt wird man an die Stelle legen, an der der Zonulariß erfolgt ist. Sclerotomie und Iridectomie können auch in einzelnen Fällen mit Erfolg ausgeführt werden, jedoch wirkt die Extraktion viel sicherer. Elschnig hält die Zyklodialyse (Heine) für die beste Operation bei Sekundärglaukom infolge partieller Linsendislokation. |

Ist die subluxierte Linse getrübt, so kann man versuchen, durch optische Iridectomie das Sehvermögen zu bessern, sonst ‘wird man die Linse extrahieren müssen. Auch die Discission ist angewandt. Nach dem Bericht Grobs wurde in der Züricher Augenklinik in einem Fall eine Discission der Linse mit Erfolg vorgenommen, bei einem andern Patienten jedoch trat keine Quellung ein. Schon Sattler beobachtete schlechte Quellung. Es ist schwierig, die Kapsel ausgiebig zu öffnen, da die Linse leicht ausweicht.

Die Symptome der Subluxation sind im allgemeinen so eindeutig, daß die Diagnose leicht ist. Dennoch kommen Fälle vor, bei denen die Diagnose Schwierigkeiten macht, so sind geringe Verschiebungen der Linse zuweilen schwer festzustellen, was auch folgender Fall zeigt: Ein Schlackestück war einem Gärtner gegen das rechte Auge geflogen und hatte den Bulbus oben innen im Limbus getroffen. Eine Perforation fand nicht statt. Die Vorderkammer war mit Blut angefüllt. Als sich dieses zum Teil resorbiert hatte, konnte man der Anprallstelle ent- sprechend oben innen eine kleine Iridodialyse feststellen. Nach erfolgter Heilung war der Befund folgender: Das Auge ist reizlos und frei von Schmerzen. Das Kammerwasser ist klar.: Die Tiefe der Vorderkammer ist normal. Die Regenbogenhaut ist frei von entzündlichen Erscheinungen. Die Pupille ist fast rund, durch mehrere hintere Synechien fixiert. Oben innen liegt eine kleine Iridodialyse. Es besteht kein Schlottern der Iris oder der Linse, Die Linse ist klar, ebenso der Glaskörper.‘ Durch die Iridodialyse ist der unbewegliche, obere innere Linsenrand sichtbar. Der Fundus zeigt keine gröberen Veränderungen. Trotzdem beträgt das Seh- vermögen des vorher normalsichtigen Auges nur 0,2 bis 0,3. Gläser bessern nicht. Die genauere Untersuchung ergab, daß das geringe Seh- vermögen auf unregelmäßigen Astigmatismus infolge Schiefstellung der

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 353

Linse zurückzuführen war. Wenn auch die Iridodialyse auf eine Zer- reißung der Zonula' hindeutete, so finden wir in diesem Fall von den erwähnten Symptomen einer Subluxation ausgesprochen nur die geringe Schiefstellung der Linse. Diese Feststellung war aber von großer Be- deutung, da der Verletzte Entschädigung für den Unfall verlangte, und da die Prognose einer Subluxation immer unsicher ist, indem ja jederzeit eine Zunahme der Dislokation der Linse eintreten kann. Warum ein Schlottern der Iris und der Linse nicht beobachtet wurde, ist leicht zu verstehen. Zunächst war der Zonulariß gewiß klein, denn man konnte ja den Linsenrand noch durch die Iridodialyse sehen, dann aber verhinder- ten die hinteren Synechien sichtbare Bewegungen der Linse und der Iris.

Ist infolge der Kontusion der Augapfel geborsten, so finden wir die Skleralruptur fast immer oben innen 1—2 mm vom Limbus entfernt, konzentrisch zum Hornhautrand verlaufend. Wir finden in diesen Fällen fast immer eine Dislokation der Linse, meist erfolgt Austritt aus dem Auge. Nach Praun*) ist der totale Austritt der Linse ebenso häufig wie der subkonjunktivale, nach Wagenmann ist er sogar häufiger. Subluxationen kommen auch vor, die Linse ist dann meist nach der Ruptur zu verschoben. Zuweilen liegt sie auch zwischen den Wund- rändern und nimmt Sanduhrform an. Weiter wird Luxation ir den Glas- körper beobachtet, sehr selten scheint Luxation in die Vorderkammer zu sein Bodeewes).“)

"Die Ursachen dieser Verletzungen bilden äußerst heftige Traumen; sehr häufig handelt es sich, wovon ich mich besonders als Assistent der Gießener Augenklinik überzeugen konnte, um Kuhhornstoß. Selbst- verständlich sind neben der Ruptur und der Linsendislokation andere, schwere Veränderungen häufig. In der Mehrzahl der Fälle geht das Seh- vermögen daher auch verloren, häufig tritt Phihisis bulbi ein. Auch sind nach anfänglich gutem Heilverlauf spätere Verschlechterungen nicht selten.

War die Bindehaut mit zerrissen, so kann Infektion und eventuell sympathische Ophthalmie sich einstellen. Doch auch bei intakter Binde- haut wurde sympathische Entzündung des andern Auges beobachtet. Elschnig ist sogar der Ansicht, daß dieser Fall häufig vorkommt. Schirmer“) stellte 27 solcher Fälle aus der Literatur zusammen. Er ist der Ansicht, daß man wohl auch bei scheinbar intakter Bindehaut kleinste Einrisse oder Epitheldefekte annehmen muß. Auch an endogene Infektion könnte man denken. Ask“) fand in einem Fall von subkon- junktivaler Linsenluxation die für das sympathisierende Auge charakte- ristischen, anatomischen Veränderungen innerhalb der Uvea nebst starker Rundzellinfiltration um die Linse, sowie im Gebiet der Ruptur.

» Wenn die Prognose für das verletzte Auge im ganzen auch nicht günstig ist, so sind doch Fälle bekannt, die einen so guten Verlauf nahmen, daß der Ausgang dem Erfolg einer idealen Staroperation nicht nachstand.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 23

354 Davids: Über traumatische Linsenluxation.,

Vossius beobachtete sogar bei beiderseitiger, partieller Zerreißung der Iris und Aphakie fast normales Sehvermögen (S = 6/7,5) auf beiden Augen.

Die Lage der Linse ist bei Skleralruptur vor allem anfangs oft schwer zu bestimmen, da starke Blutungen und sonstige Veränderungen den Einblick ins Innere verhindern. Ist die Bindehaut mit gerissen, so wird man natürlich immer daran denken müssen, daß die Linse vielleicht ganz aus dem Auge herausgeschleudert wurde. Zuweilen wissen die Ver- letzten selbst zu berichten, daß die Linse herausflog. Ich fand bei einem Verletzten kurz nach dem Trauma die Linse im Konjunktivalsack. Daß man in der Beurteilung der Erscheinungen anfangs vorsichtig sein muß, zeigt auch folgender interessante Fall: Einem 51jähr. Kaufmann war ein großer eiserner Haken, .auf. den er, ohne ihn festzuhalten, mit. einem Hammer schlug, gegen das rechte Auge geflogen. Die Kontusion war so- stark, daß der Verletzte zurücktaumelte. ' Einige Stunden 'nach.dem Trauma nahm ich folgenden Befund auf: Typische ‚Skleralruptur oben,innen mit Irisprolaps, die Bindehaut ist mit gerissen.!, Obere Hälfte der Hornhaut getrübt.. ‚Die. Vorderkammer.ist mit Blut; angefüllt, . S=Lichtsch.,.Proj. erhalten. _Ich.itrug dem Prolaps ‘ab. und. vernähte; ‚die ‘Wunde. Am zweiten Tage war das Blut. in der Vorderkammer soweit resorbiert, daß ich oben innen ein traumatisches Kolobom erkennen :und: Blutungen im Glaskörper ‚unterscheiden, konnte, Auch bemerkte. ich. außen im. Glas- körper einen dunklen, glatten Rand, der der Größe und Form nach‘ voll- ständig dem Rande der, Linse entsprach. Eine genauere Untersuchung war noch nicht möglich. Einige Tage später, als sich das Blut in der Vorderkammer zum großen Teil resorbiert hatte, stellte ich fest, daß die Linse an normaler Stelle lag, jedoch war. die Vorderkammer fast auf- gehoben. Der Tonus war deutlich herabgesetzt, Das Gebilde im Glaskör- per konnte ich nunmehr als Aderhautablösung erkennen, ‚Übrigens bestand nicht nur dieser eine Buckel, sondern es war unter.ihm noch ein zweiter kleinerer sichtbar, vom ersten durch einen tiefen Einschnitt getrennt. Sehr interessant war nun, daß die Vorderkammer um so flacher war, je stärker die Aderhaut sich vorbuckelte.e In demselben Maße, als schließlich die Aderhautablösung zurückging, vertiefte sich die Vorder- kammer wieder, um dann unverändert zu bleiben. Das Sehvermögen wurde wieder ganz normal m. 1,0 D. Da das Auge vorher nicht kurz- sichtig war, und die Vorderkammer etwas seichter blieb als auf dem ge- sunden Auge, so nehme ich eine Erschlaffung der Zonula im Sinne Wagenmanns”) an.

W. fand pathologisch - anatomisch neben einer partiellen Trido- dialyse einen zirkulären Einriß des Kammerwinkels und eine spalt- förmige Gewebstrennung bis in den Ciliarkörper hinein, was nach W, eine Lockerung des Zonulaansatzes in sich schließt. Ich glaube einen ähnlichen Befund auch für meinen Fall annehmen zu müssen, um so mehr als er den Weg weist, wie.das Zustandekommen der Aderhaut- ablösung und der Wechselbeziehung zwischen ihr und der Vorderkammer

Davids: Über traumatische Linsenluxation, 355

zu FEERR ist, Ich nehme an, daß durch die Verletzung eine Gewebs- trennung erfolgte, die dem Kammerwasser gestattete, in den Supra- chorioidealraum abzufließen, daß also eine Kommunikation zwischen der Vorderkammer und dem Suprachorioidealraum geschaffen wurde. Erst als sich dieser Spalt wieder allmählich schloß, ging die Aderhautablösung zurück und die Vorderkammer wurde tiefer. Ich zweifle nicht daran, daß viele Aderhautablösungen, die bisher eine andere Erklärung fanden, auf diese Weise zustande gekommen sind. Daßsolche Verhältnisse tatsächlich vorkommen, beweisen auch die anatomischen Untersuchungen von Fuchs,*) Teich“) Oguchi*)undIrene Markbreiter.”) Fuchs beschäftigte sich eingehend mit der Ablösung der Aderhaut nach Staroperation. Diese entsteht nach Fuchs ‘dadurch, daß'sich infolge’ Zerrung bei der Operation eine Lücke in’der’ Anheftung des Ciliarkörpers bildet und das Kammer- wasser in’den Perichorioidealraum eindringt.: Auch bei drei Verletzungen in'der'Gegend des Ansatzes der Iris’ und des Ciliarkörpers fand Fuchs anatomisch Aderhautabhebung. Der'von Teich untersuchte Fall wies neben anderen Veränderungen auch eine Abhebung des Ciliarkörpers und des angrenzenden Teiles der Aderhaut auf. Im Falle Oguchis bestand eine Abreißung des Ciliarkörpers unten und totale’ Ablösung’der. Ader- haut, Unter den acht Fällen von’ traumatischer Zyklodialyse Irene Markbreiters fand sich dreimal Ablösung der Chorioidea. >

"+ Liegt die Linse unter der Bindehaut, so ist die Diagnose im all- gemeinen leicht. Meist liegt sie auf der Ruptur, diese deckend.' Ver- lagerungen der Linse kommen vor, sind aber nicht häufig. Die sub- konjunktivale Luxation erfolgt meist in der Kapsel, diese ist aber häufig zerrissen. Zusammen mit der Linse fallen Glaskörper und Uvea vor, auch erfolgt meist eine größere Blutung unter die Bindehaut, die die Unterscheidung, wie im Falle Bentzen,*) erschweren kann. Im allge- meinen ist aber die Linse an ihrer charakteristischen Form und gelblichen Farbe gut zu erkennen. Ist sie klar, so kann man zuweilen durch sie hindurch die dunkle Ruptur der Sklera sehen. Später trübt sich’die Linse und wird zum Teil aufgesaugt, auch kommen Verkalkungen vor. Parlato*) berichtet von einem Fall, in dem die Linse nach 7 Monaten noch wenig getrübt war. Ich fand bei einem Landwirt, der eine subkonjunktivale Luxation nach Kuhhornstoß erlitten hatte, die Linse stark verkleinert und in eine weiße, bröckelige Masse verwandelt. Ein anderer bemerkens- werter Fall möge hier ausführlich Erwähnung finden: Ein Kollege hatte auf einer Säbelmensur eine schwere Verletzung des linken Auges erlitten. Wenige Stunden später'kam er in meine’ Behandlung mit folgendem Be- fund: Quetschwunde in der Mitte des Oberlids, keine Perforation. Bulbus mittelstark gerötet. Cornea’'streifig getrübt. Oben innen an typischer Stelle eine ausgedehnte Skleralruptur und über dieser eine starke Vor- buckelung der unversehrten Bindehaut. Der Inhalt des Buckels ist klar, goldgelb gefärbt. DieForm entspricht vollständig der Gestalt der Linse; Bei geschlossenen Lidern treibt der Buckel das Lid deutlich vor und verändert

23*

356 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

bei vorsichtigem Betasten durchs Lid nicht die Form.-Durch den Buckel hindurch sieht man deutlich die dunkle Skleralruptur. : Vorderkammer ist mit Blut vollständig angefüllt. Die Projektion nach außen ist unsicher. Am folgenden Tage fandiich: Starke Chemosis der Conjunktiva bulbi, so daß die Cornea fast ganz überlagert war, nur ein kleiner, zentraler Bezirk war noch sichtbar. Am vierten Tage’ notierte ich: Chemosis 'geht zurück, Projektion prompt. Am sechsten Tage war die Chemosis geschwunden, der Buckel jedoch war unverändert geblieben sowohl der Größe wie der Form nach, die Farbe der vorgebuckelten Bindehaut war ganz leicht bläulich. ‘Der Bulbus war noch stark: gerötet, das Blut in. der Vorder- kammer befand sich in Resorption. Oben innen war ein traumatisches Kolobom sichtbar. Im Pupillar- und Kolobomgebiet ein dünnes Exsudat und Blutreste. Keine Anzeichen für das Vorhandensein ‚einer Linse an normaler Stelle. Im Glaskörper dichte, ‚bewegliche, dunkle Trübungen, sodann unbewegliche, strahlenförmige Trübungen von der Wundgegend ausgehend. S= Erkennen v. Fing. vorm Auge. Am neunten Tag: Buckel hat sich plötzlich abgeflacht.. Frische Blutung, von oben: innen in die Vorder- kammer hinunter fließend; Vom Fundus stellenweise rötlicher Reflex erhält- lich. Am zwöliten Tag war der Buckel vollständig: verschwunden, die Con- junctiva lag der Ruptur ganz glattan., Cornea.noch streifig getrübt. Blut in der Vorderkammer in Resorption. Im Pupillar- und Kolobomgebiet noch ein dünnes Exsudat. Linsenrandim Kolobomgebiet nicht sichtbar. Vorder- kammer ist tief. Purkinje-Sansonschen Bildchen sind wegen des Exsudats nicht zu erkennen. Starlinsen bessern nicht, bringen aber, auch: keine Verschlechterung. Es gelang also nicht, sichere Anhaltspunkte für ‚die Anwesenheit der Linse an normaler Stelle zu finden. - Nach drei Wochen konnte Patient in seine Heimat entlassen werden, wo.er sich sofort wieder in die Behandlung resp. Beobachtung eines Augenarztes begab. Bei der Entlassung war das Auge gut abgeblaßt und schmerzlos: Der-Tonus war noch etwas herabgesetzt. Durch die glatt anliegende Bindehaut: war die Skleralruptur gut sichtbar. Die Cornea war klarer, die Vorderkammer war tief, das Kammerwasser klar. Der Glaskörper hatte sich etwas auf- gehellt. Das Sehvermögen betrug Erkennen von Fingern in 1 Met. ‚Sonst waren die Verhältnisse unverändert, der Nachweis der Linse an normaler Stelle konnte auch jetzt nicht geführt werden. An diesem Fall ist bemerkenswert, daß sich über einer und Skleralruptur ein Buckel der Bindehaut befand, der nach Form und Aus- sehen des Inhalts wohl durch die luxierte Linse hervorgerufen sein konnte, zumal der Nachweis der Linse an normaler Stelle nicht gelang. Als der Buckel jedoch nach 11 Tagen plötzlich verschwand, mußte diese Ver- mutung fallen gelassen werden, und man mußte mehr zu der. Annahme neigen, daß die Linse, trotzdem sichere Anzeichen dafür fehlten, dennoch an richtiger Stelle lag. Den Inhalt des Buckels mußte man nunmehr als Glaskörper ansprechen. Daß der Nachweis der Linse zu dieser Zeit nicht möglich war, geht auch daraus hervor, daß der Kollege, der den Patienten

Davids: Über trenmatische EEE 357

nach mir behandelte, mir sofort schrieb: „Wo istdenn die Linse?” Erst später, als ich den Patienten nach. "Wochen wiedersah und das Kolobom- und Pupillargebiet ganz frei von Trübungen waren, konnte ich deutlich erkennen, daß die Linse tatsächlich an richtiger Stelle lag. Vielleicht bestand eine geringe Verschiebung nach der Skleralruptur zu. Im übrigen erkannte man die Linse: jetzt deutlich an zarten, speichen- förmigen Trübungen, die sie durchzogen. Das Sehvermögen hatte sich bedeutend gebessert, es betrug mit starkem Cyl-Glas 0,3 vom normalen.

Wie erwähnt, erfolgt der Austritt der Linse gewöhnlich durch die an typischer Stelle innen oben ‚gelegene Ruptur der Sklera. Es sind jedoch auch Fälle. beobachtet, in denen die Linse durch eine weiter hinten

gelegene Ruptur im Bulbusäquator oder im hinteren Bulbusabschnitt aus- trat; die Luxation erfolgt dann in den Tenonschen Raum. Solche Fälle sind beschrieben von Wadsworth,®) Montagnon,*) Müller,’) Schlodtmann,”) Ask.*)

Bei der Behandlung der Linsenluxation bei Skleralruptur steht zu- nächst die Frage im Vordergrund, ob eine Mitverletzung der Bindehaut stattfand oder nicht. Handelt es sich um eine penetrierende Wunde, so wird die Behandlung dieselbe sein, wie bei allen Verletzungen, die eine Eröffnung des Bulbus zur Folge haben. Liegt die Linse unter der Binde- haut, so soll man sich nicht mit der Extraktion der Linse beeilen, sondern lieber warten, bis die Skleralwunde geheilt ist. Diesen Standpunkt hat schon Manz“) vertreten, worauf Plitt*) neuerdings wieder aufmerksam machte, Die Gefahren der Extraktion sind ja heute, nachdem wir gelernt haben, anti- und aseptisch zu operieren, geringer als früher, aber ich halte es doch für einen Fehler, die Wundheilung zu stören, wenn nicht heftige Schmerzen oder starker Reizzustand des Auges die Entfernung not- wendig machen.

Bisher war nur von Verlagerungen der Linse die Rede, die nach Verletzungen erfolgten, welche das Auge selbst betrafen. Der Voll- ständigkeit halber mag hier noch darauf hingewiesen werden, daß auch nach starken Erschütterungen des ganzen Körpers oder nur des Kopfes Linsenverschiebungen vorkommen. Der Mechanismus dieser Verschiebungen ist nach dem Beharrungsgesetz leicht zu erklären. Aber auch nach geringfügigen Veranlassungen werden Linsendislokationen be- obachtet, so nach Husten, Niesen, Bücken u.s.w. Wir müssen für diese Fälle eine besondere Disposition der Luxation annehmen.

Literatur,

1. Schimmel, Beiderseitige Solutio retinae und Luxatio lentis bei einem Fohlen. Österreich. Monatsschr. f. Tierheilk. S. 107. 1908.

2. Herrmann, Die Kontusionsverletzungen in klinischer und pathologisch-anatomischer Beziehung. Inaug.-Dissert. Leipzig 1906.

3. v. Arlt, Über die Verletzungen des Auges. Wien, Braumüller, 1875.

4. Stoewer, Zur Mechanik der stumpfen Bulbusverletzungen. Arch. f. Augenheilk. XXIV. S. 255. 1892,

358 Davids: Über traumatische Linsenluxation.

5. . Kern, Über den Entstehungsmechanismus traumatischer Rupturen am Augapfel,

26.

27.

32,

33,

Fuchs, Lehrbuch d. Augenheilk. 10. Aufl. 1905. S. 392, Deutsch. militärärztl, Zeitschr. 1886.

. Müller, Über Ruptur der See TEEN durch stumpfe EBEN Wien,

Deuticke, 1895,

. Berlin, Zur sog. Commotio zohlune, Klin. Monatsblätter f£, Augenheilk. XL S, 42.

1873.

. Caillet, Des ruptures isol&es de la choroide, These de Strasbourg. 1869. . Franke, Über Risse des Sphincter iridis nebst Bemerkungen. über die Mechanik re

Aderhautrisses.. v. Graefe's Arch. f, Ophth. XXXI, 2, S. 261. 1886.

. Förster, Über die traumatische Luxation der Linse in die vordere Kammer. Bericht

über ‚die 19, Vers..d. ophth. Ges. 'S.. 143,’ 1887,

, Schirmer, Über indirekte Verletzung der vorderen Linsenkapsel und des Sphincter

Iridis, Klin. Monatsbl. f, Augenheilk. XXVII. S. i61. 1890.

. Oguchi, Über die traumatische Ablösung und Verschiebung des Ziliarkörpers mit

der Iriswurzel und das dadurch entwickelte Iriskolobom. "Klin. Monatsbl. £. Augenheilk. . XLVIL..S, 616, . 1909, |

. Fischer, Arch. gener, Janvier. .p. 40. 1861. . Recordon, Ann. d’oculist. XXVII. p. 233, . Davis, Dislocation of the crystalline lens. St. Louis Med. and Surg Journ. Vi.t.

Ref. Klin..Monatsbl, f. Augenheilk., S.. 191. 1869,

. Lindner, Ein Fall von Linsendislokation mit vollständiger Resorption der Linse.

Allgem. Wiener med, Zeitung No. 15. S. 237. 1873.

. Hoering, Reponierte Luxation der Linse. Klin. Monatsbl. f, Augenheilk. 'S, 347, 1869. . Grubel, Über ‚die. Luxation der Linse, in die vordere Kammer. Inäug.-Dissert.

Rostock 1902.

. Elschnig, Die Pathologie und Therapie der Verletzungen des Auges. Deutsche Med.

Wochenschr. No, 3, 1911.

. Vatier, Extraction d’une cataracte lux&ee dans En chambre anterieure, Recueil

d’Opht. p. 324. 1910.

. Heucke, Beitrag zur Lehre von der Ätiologie und Behandlung der Tlkäkond da,

Krystalllinse. Inaug.-Dissert. Straßburg 1893.

. Riedel, Ein Fall von traumatischer Linsenluxation in die Pupille mit Umdrehung der

Linse. :Inaug.-Dissert, Greifswald 1894.

. Behm, Über die traumatische Linsenluxation. Inaug.-Dissert. Jena 1903, . Veasey, Traumatic Luxation of the crystalline lens; secondary glaucoma, extraction

without loss of vitreous; recovery with normal vision. Ophth, Record. p.: 8 u, 42, 11.

Becher, Pathologie und Therapie des Linsensystems. D. Handbuch. 1. Aufl. V, Kap. VII, S. 297. 1877.

Snell, Lens dislocated into vitreous becoming cataractous and undergoing abaoıp- tion. . Ophth. Review. p. 400. 1882.

Augstein und Ginsberg, Über die Resorption der Linse und der NR bei

Luxation in den Glaskörper. Centralbl. f. prakt, Augenheilk. XX, S. 356. 1896.

. Inker, A dislocated lens in the vitreous of thirty years standing in one eye; an

optic neuritis with subsequent optic atrophy in the. other; both conditions duc to a like injury received ab different intervals. The Ophth, Record. p. 462 1902.

. Stoewer, Zur Prognose und Therapie der traumatischen Linsen-Luxation. Zeitschr.

f. Augenheilk. B, V, p. 3, 1900.

. Grob, Über Lageveränderung der Linse in ätiologischer und therapeutischer Be-

ziehung. Inaug.-Dissert. Zürich 1902,

Dujardin, Luxation traumatique du cristallin. Journ. des scienc.; med. de Lille. Decembre No. 23, 1883,

Noyes, Luxation der Linse in das Corpus vitreum.. Bericht über die XVIL Vers. d. ophthalm. Ges. Heidelberg. S. 90, Diskussion v. Arlt, Kuhnt, Meyer, Krüger, Hock, Meyhöfer.

Terson, Remarques sur l'’extraction de diverses variet&es de cataracte. Clin. opht.

No. 20. 1898,

Davids: Über traumatische Linsenluxation. 359

35. Aquew, An operation with a double needle, or bident, for the removal of a cry- stalline lens dislocated into the vitreous chamber. Transact. of the americ. ophth. soc. Twenty first meeting p. 69 u. Med. News XLVII p. 284.

36. Knapp, Über Extraktion in den Glaskörper dislozierter Linsen. Arch. f. Augenheilk. XXI. S. 171. 1890.

37. Eversbusch, Operative Behandlung der in den Glaskörper dislozierten Linse, München. med. Wochenschr. S$. 1195. 1895.

38,-Possek, Spontane Reposition einer traumatisch subluxierten Linse. Klin. Monatsbl. f, Augenheilk. XLIV.N.F.L S. 381. 1906.

39, Wagenmann, Zur pathologischen Anatomie der Aderhautruptur und Iftodiklyse. Bericht über die 30, Vers..d. ophth. Ges. S. 278. 1902. =

40. v. Graefe, Beiträge zur Pathologie und Therapie des Glaukoms v. Graefe’s Arch. f. Ophth. XV, 3, S.:108. 1869. - -

41. Fischer, Beitrag - zur Kenntnis der Spätfolgen von Pb bulbi. Inaug.-Dissert. Jena 1908,

42. Praöuey Smith, Lateral Dislocation of the lens with secondary glaucoma; patho- » logie Ophth. Review II, p. 257. 1883,

43, one ne Curator's pathological repert; on cases of: dislocation of the cristalline lens. The Ophth. Hosp. Reports XI, p. 327, 400. 1887.

44, Beccaria, Sul glaucoma secondario consecutivo a lussazione del cristallino. Annali

di: Ottalm. XXI, p.:115. Ref. Michel's Jahresb. S. 531. 189,

45. Praun, Die Verletzungen des Auges. Wiesbaden, Bergmann, 1899.

46. Bodeewes, Statistisch-kasuistischer Beitrag zu den traumatischen Linsenluxationen.

Inaug.-Dissert. Gießen 1904,

47. Schirmer, Sympathische Augenerkrankung. Graefe-Saemisch, VI, 2, S. 57 u, £. 1900.

48. Ask, Linsluxationernas patologiska anatomi._ (Sitz.-Ber. d. Schwed. augenärztl. Ver. Lund.) 1910,

49, Wagenmann, Verletzungen des Auges. Graefe-Saemisch, IX, 5, S. 469.

50. Fuchs, Ablösung der Aderhaut nach Staroperation. Arch. f. Ophth. LI, S. 199, 1900, u. LII, S. 375, 1902

51. Teich, Traumatische Iridodialysis (Subluxation . der Linse, Fuchs’sche Abhebung des Ciliarkörpers und der Aderhaut, Blutpigment unter der Linsen- 'kapsel.) Arch, f. Augenheilk. LII; S. 261.

52. ‚Msghheeiter. Traumatische Zyklodialysis. Klin. Monatsbl. f. Augenheilk. XLVI,

137. 1908. 53. Bentzen, Demonstration eines Falles mit subkonjunktivaler Linsenluxation. (Sitz,- = Ber. d. Ophth. Ges. zu Kopenhagen.) Hospitalstidende p. 224. 1910,

54. Parlato, Subkonjunktivale Linsenluxation. Archivio di Oftalm, XVI, S. 525. 1909,

55. Wadsworth, Luxation of lens beneath Tenon’s capsule. Amer. Journ. of Ophth. Vol, II, p. 144, 1885.

56. Montagnon, Luxation rare du cristallin. Arch. d’Opht. VII, p. 204. 1887.

57. Schlodtmann, Über einen Fall von Luxation der Linse in den mesibs Raum bei äquatorial gelegenem Skleralriß. v. Graef. Arch, f. Ophth. XLIV, 1, S. 127. 1897,

58. Manz, Zwei Fälle von traumatischer Bulbusruptur. Klin. Monatsbl. £. Augenheilk. II, S. 170. 1865.

59. Plitt, Soll man subkonjunktival luxierte Linsen entfernen? Klin, Monatsbl. £. Augen- heilk. XLVII, S. 84. 1909.

Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom) im Praxisbezirke der Provinzial-Augenheilanstalt zu Münster i. W. während der letjten 25 Jahre.

Von Dr. Recken, dirig. Arzt.

Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom) gehört un- streitig zu den wichtigsten Erkrankungen in volkswirtschaftlicher Bezie- hung. Schon den alten Ägyptern, Indern und Griechen bekannt, ist ihre Aetiologie bis auf den heutigen Tag nicht völlig einwandsfrei erbracht worden trotz der überaus zahlreichen und eingehenden Forschungen. Der im Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts von Sattler und Michel aufgefundene Micrococcus, ein dem Neißerschen Gonococcus ähn- licher Coccus, schien der lang gesuchte parasitäre Erreger der Körner- krankheit zu sein, zumal seine Entdecker von positiven Impfversuchen berichten konnten. Aber die Hoffnungen gingen nicht in Erfüllung. Dem gleichen Schicksal verfiel der von Müller 1897 gefundene stäbchenförmige Bacillus. In den letzten Jahren widmeten sich neben andern der Erfor- schung der Aetiologie des Trachoms besonders Halberstädter und v. Pro- wazek sowie Greeff. Sie fanden unabhängig von einander sowohl in den Epithelzellen wie im Bindegewebe eigentümlich gelagerte Körperchen, welche sie als die Erreger des Trachoms ansahen. Diese Befunde wur- den von den verschiedensten Seiten, auch hier, bestätigt, aber es ist noch unentschieden, ob es sich bei diesen Körperchen um Reaktionsprodukte oder um Microorganismen handelt. Unter Berücksichtigung aller Arbei- ten für und gegen die Trachomkörperchen als Erreger der Erkrankung muß man heute noch sagen, daß der strikte Beweis noch nicht erbracht und somit die Frage nach der Aetiologie des Trachoms noch nicht gelöst ist. Im wesentlichen sind wir noch immer bei der Diagnose der Erkran- kung auf die Symptome und den Verlauf derselben angewiesen.

Was die geographische Verbreitung des Trachoms anbetrifft, so hat die Behauptung, daß das Trachom in Gegenden über 400 m Höhe nicht existieren könne, den Tatsachen nicht standhalten können. Zeigte sich doch der Kaukasus in ziemlich hohem Grade verseucht. Wenn Tirol und die Schweiz fast vollständig frei vom Trachom sind, so finden wir hin- wiederum auch größere Landstriche ohne Bodenerhebung frei von der Krankheit, so in Frankreich und auch in Deutschland, Hier sind zumeist die östlichen Provinzen heimgesucht, wie überhaupt der Osten Europas, die Donaustaaten, am stärksten befallen sind. Wenn die höher gelegenen Länder im allgemeinen weniger ergriffen sind, so ist dabei der Umstand

Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom). 361 zu berücksichtigen, daß die Leute dort nicht so enge zusammen wohnen und der Verkehr ein geringerer ist, wodurch die Übertragung naturgemäß erschwert wird. So werden bei dem gesteigerten Verkehr in der Schweiz auch schon Mahnrufe zur Abwehr des Trachoms laut. Aber auch das dichte Zusammenwohnen und die niedere Lebenshaltung, welche meist mit Unsauberkeit einhergeht, können die geographische Verbreitung des Trachoms nicht allein erklären; große Strecken Mitteldeutschlands und Bayerns sind trachomfrei, obwohl die Lebenshaltung keine bessere ist als in manchen Gegenden der Rheinprovinz, welche unter Trachom nicht unbedenklich leiden.

Auch die Immunität einzelner Rassen Juden, Neger ist behaup- tet, aber bald widerlegt worden.

Das Trachom darf mit Recht als eine Erkrankung der ärmeren Be- völkerung bezeichnet werden, zumal einer solchen, welche zusammenge- drängt und schlecht wohnt, und bei der eine niedrige Lebenshaltung Man- gel an Sauberkeit bedingt. Kommt hier die Übertragung zustande, so ist die Erkrankung schwer auszurotten, zumal wenn ungünstige klimatische Verhältnisse hinzutreten Staub in den Sandwüsten und miasmatische Einflüsse in den Mooren und Brüchen —, welche entzündliche Zustände an der Bindehaut hervorrufen.

Im Praxisbezirke der Provinzial-Augenheilanstalt ist die Körner- krankheit während der letzten 25 Jahre zwar keine besonders häufige, aber doch auch keine seltene Krankheit gewesen. Das zahlenmäßige Auf- treten ergeben die folgenden zwei Tabellen. Ich habe den ganzen Zeit- raum in 2 Abschnitte eingeteilt, weil mit dem Jahre 1900 eine sichtliche und stete Abnahme der Erkrankung eintritt.

Tabelle 1. Anzahl der Trachomfälle in den Jahren 1887—1899, Anzahl Anzahl Prozentsat Jahr der der der Patienten |Trachomfälle | Trachomfälle 1887 1640 Aly.ulı 235% 1888 2061 53 | 28, 1889 2001 a re 1890 1980 47 > 784% 1891 1856 Wr Abb ‚BR; 1892 1945 61 ie 1893 2009 62 Ps 1894 - 1958 vr Sale aa = ai 1895 1961 68 POrEg® 1896 2148 85 40, 1897 2488 73 3,0, 1898 2592 75 29, 1899. 1.00 24, 1887—1899 | 27274 805 3,0%

362 Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis Knaleee; FenahasoR

Tabelle II. Anzahl der Trachomfälle in den Jahren 1900-1911: Anzahl Anzahl Prozentsat

Jahr. der der der

Patienten |Trachomfälle | Trachomfälle

1900 2640 45 a ai 1901 2640 41 1,65 1902 3037 48 1,6 1903 3090 57 1,8, 1904 3098 52 17; 1905 3418 67 20- 1906 3549 ge rc = 1907 3606 48 5, 1908 3610 39 ET. 1909 3788 ser 40 1jb; 1910 4203 30 9,74 1911 4038 24 0,6,

1900-1911: | 40 717 537 1,3% 5

Während in den Jahren 1887—1899 auf 27277 Patienten 805 Fälle von Trachom kamen, betrug die Anzahl in den Jahren 1900—1911 nur noch 537 bei 40 717 Patienten. Der mittlere Prozentsatz stellte sich im 1. Abschnitt auf 3 %, in 2. auf 1,3 % und ging in den beiden letzten Jah- ren auf 0,7% resp. 0,6% zurück. Das Trachom ist demnach in den letzten 2 Jahren auf ein Viertel bis ein Fünftel der Anzahl der Fälle in den Mer Jahren zurückgegangen.

Die Steigerung in der Mitte der Wer Jahre ist auf den a des Ka- nals von Dortmund nach den Emshäfen zurückzuführen, bei welchem zahlreiche Polen und auch Italiener beschäftigt waren, welche bei Augen- erkrankungen der Provinzial-Augenheilanstalt überwiesen wurden. Die Leitung des Kanals hatte, von meinem Vorgänger und mir frühzeitig und wiederholt auf die Gefahr der Einschleppung der Krankheit aufmerksam gemacht, die Untersuchung aller eintretenden Arbeiter auf den Zustand ihrer Augen angeordnet. Wenn trotzdem bei der hohen Zahl der Ar- beiter jährlich ca. 10-20 Fälle von Trachom zur Behandlung kamen, so kann hieraus der Tätigkeit der Ärzte kein Vorwurf gemacht werden. Die Fälle wurden frühzeitig erkannt und zur klinischen Behandlung geschickt, und es wurde erreicht, daß während der ganzen auf 4-5 Jahre sich er- streckenden Bauzeit kein Fall von Verseuchung einer der zahlreichen Baracken (Schlafstellen) noch eine Übertragung auf die einheimische Be- völkerung festgestellt werden konnte. Über die Art und Weise der Über- tragung sowie die Größe der Gefahr der Ansteckung gehen die Ansichten noch immer auseinander. Noch im Jahre 1895 behauptete Blauw in Am- sterdam, in einer Stadt, die unter Trachom stark leidet, daß die Körner- krankheit nicht infectiös sei; ich glaube nicht, daß zurzeit auch nur ein Augenarzt dieser Ansicht beipflichtet. Die Körnerkrankheit ist parasi-

Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom). 363

tärer infectiöser Natur. Ich kenne einen Fall der Übertragung durch Ein- spritzen von-Follikelinhalt beim Ausquetschen der letzteren. Trotzdem das Auge sofort mit Sublimat ausgewaschen wurde, traten am 10. bis 12. Tage nach .der Einspritzung entzündliche Erscheinungen von seiten der Bindehaut auf, welche in einigen Tagen die Diagnose „akutes Tra- chom” unzweifelhaft machten. . Auch die Übertragung der Erkrankung auf das gesunde Auge, welche ca. drei Monate später erfolgte, war trotz aller Vorsicht nicht zu verhindern. Auch in zahlreichen anderen Fällen konnte ich, ohne den Zeitpunkt genau bestimmen zu können, die Über- tragung. von Person zu Person, von der Mutter auf die Tochter, von der Magd auf die Herrschaft, feststellen. Hinwiederum ist mir, zumal aus den erheblich verseuchten holländischen Grenzbezirken, eine Reihe von Fällen. bekannt, wo der Mann oder die Frau seit 10--30 Jahren an Tra- chom litten, ohne daß eine Übertragung der Erkrankung auf andere Fa- milienmitglieder stattgefunden hätte. Eines nach dieser Richtung hin ganz besonders eklatanten Falles möchte ich noch Erwähnung tun. Bei der Revision’einer Blindenanstalt, eines Internates es sind fast 20 Jahre her fand ich einen 12jährigen Zögling mit stark secernierendem Tra- chom und Pannus vor, der schon über zwei Jahre in der Anstalt verweilte. Die „Triefaugen” hatte der Zögling schon beim Eintritt in die Anstalt gezeigt. Und das Resultat der Untersuchung sämtlicher Zöglinge und Lehrer! Eine Übertragung der Erkrankung hatte nicht stattgefunden. Nun muß man sich den intimen, wenn ich so sagen darf, stark körper- lichen Verkehr der kleinen Blinden vorstellen. Auch entdeckte ich im Hausflur eine gemeinsame Trink- und Waschvorrichtung mit einem Hand- tuche zum gemeinsamen Gebrauche. Dazu lag die Anstalt außerhalb des Münsterlandes in einer mit Trachom nicht unerheblich verseuchten Stadt mittlerer Größe. Wie soll man sich dieses verschiedene Verhalten er- klären? Man denkt an die verschiedene Immunität bei Infektionskrank- heiten, Masern und Scharlach. Nach den neueren Forschungen und der Feststellung, daß die sog. Trachomkörperchen, welche die Erreger der Erkrankung sein sollen, besonders häufig in den frischen Fällen gefunden werden, während sie später oft ganz fehlen, will man die Gefahr der Übertragung im wesentlichen nur bei den frischen Fällen suchen. Er- fahrungsgemäß sinkt die Gefahr der Ansteckung mit dem Aufhören der Absonderung und mit der beginnenden Vernarbung der Bindehaut auf ein Minimum herab, ohne jedoch gänzlich zu verschwinden. Und bei dem Trachomfalle in der Blindenanstalt handelte es sich um eine zwar schon lange bestehende, aber immer noch floride Erkrankung mit starker Sekretion, Follikeln und Pannus. So vermag ich bis heute eine stich- haltige Erklärung über das verschiedene Verhalten bei der Übertragung nicht zu geben.

Nicht unerwähnt will ich lassen, daß bei den 1342 Trachomfällen der letzten 25 Jahre kein Jude war, obwohl man bei dem Prozentsatz der Juden zur Gesamtbevölkerung auf 5—10 Fälle rechnen müßte. Ich

364 Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom).

schließe hieraus nicht auf die Immunität der jüdischen Rasse gegen Tra- chom, führe die Tatsache vielmehr auf die höhere Lebenshaltung und zumal die besseren Wohnungsverhältnisse der hiesigen jüdischen Be- völkerung zurück. Wo die Juden schlecht wohnen und ihre ‘Lebens- haltung eine niedrige ist, findet sich bei ihnen, wie Gunning im Jahre 1895 im Judenviertel zu Amsterdam feststellte, das Trachom sogar recht häufig vor. el

Das weibliche Geschlecht zeigte sich wesentlich stärker betroffen als das männliche; ich führe das darauf zurück, daß die Frauen ihre Arbeit weit mehr im Hause haben und sich mit der Pflege bei Erkrankungen befassen.

Was die lokale Verbreitung der Körnerkrankheit anbetrifft, so hat der Praxisbezirk zwei Gebiete, wo die Erkrankung stärker auftritt, und zwar die Kreise, welche an Holland angrenzen und das Gebiet der Lippe.

Am stärksten verseucht sind die an Holland grenzenden hannover- schen Kreise Lingen und Bentheim, sodann die preußischen Grenzkreise Ahaus, Borken und Recklinghausen. Im. Gebiete der Lippe nenne ich besonders Olfen, Lünen, Camen, Werne, Hamm und Lippstadt. Auch vom Flußlauf der Ems kommen regelmäßig einzelne Trachomfälle,. so besonders von Warendorf und Telgte. Das eigentliche Münsterland ist frei von Trachom, doch finden sich vereinzelte alte Erkrankungsherde an zerstreuten Orten, so in Herbern, Nordwalde und‘ nahe der Grenze im hannöverschen Glandorf. ' Die Stadt Münster ist frei; wenn dieselbe jährlich einige Fälle liefert, so handelt es sich um hinzugezogene Patien- ten, die nun seit Jahren in den Büchern immer wiederkehren, sowie um den einen oder anderen frischen Fall von auswärts, ‚Eine Übertragung der Erkrankung auf die ortsansässige Bevölkerung habe ich in all den Jahren nicht gesehen; kam ein Ortsansässiger mit Trachom in meine Be- handlung, so war die Ansteckung auswärts in mit Trachom verseuchter Gegend erfolgt. Ein erheblicher Teil der Trachomfälle, zumal der letzten Jahre, wird der Provinzial-Augenheilanstalt zur klinischen Behandlung überwiesen durch die Ortsarmenverbände, den Landarmenverband: und die Landes-Versicherungsanstalt Westfalen. Sie stammen fast ausschließ- lich aus der polnischen Bevölkerung des Kohlenbezirkes, aus dem Sauer- lande (Meschede) und dem Wesergebiete (Kreis Höxter). Endlich sind noch die hannoverschen Kreise Meppen, Aschendorf und Hümmling (Sögel) zu erwähnen, welche jährlich mit mehreren Fällen vertreten sind.

Betrachten wir das eigentliche Münsterland, so war schon vor 20 Jahren zu erkennen, daß das Trachom im Westen Halt macht an einer Linie, welche etwa von Haltern im Süden nach Burgsteinfurt im Norden zieht. Auf dieser Linie wechselt im großen und ganzen die Boden- beschaffenheit; westlich derselben haben wir Heide, Sand, Moor und Brüche wie in den Grenzbezirken Hollands, während östlich der bessere und besser kultivierte Boden des eigentlichen Münsterlandes beginnt.

Recken:- Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom). 365

Die an Holland EIEZERER EEEEN Kreise Lingen und. Bent- heim'sowie die Kreise Meppen, Aschendorf und Hümmling zeigen im wesentlichen dieselbe Bodenbeschaffenheit wie die westfälischen Grenz- bezirke, nur daß hier in den am stärksten verseuchten Bezirken Gildehaus und Nordhorn sowie weiter zur Ems hin Moor und Sümpfe noch stärker auftreten. Die Form der Körnerkrankheit ist in allen diesen Grenz- bezirken fast ausschließlich die chronische, die man auch als Conjunc- tivitis granulosa simplex bezeichnet. Die Granula sind zahlreich, groß und treten deutlicher hervor als bei der akuten Form. Kommt es dabei nicht zur: Bildung allzu zahlreicher Körner und zum Übergang in die akute Form, so tritt, wie ich häufig zu beobachten Gelegenheit hatte, ohne jegliche Behandlung vollkommene Ausheilung ein. Die Leute be- streiten, daß sie je an den Augen gelitten hätten, und doch ist aus der vernarbten Bindehaut und den oft erheblich kahnförmig gekrümmten oberen Augenlidern die Diagnose „abgeheiltes Trachom“ mit Sicherheit zu stellen.

"Was das Lippegebiet anbetrifft, so herrscht hier die akute, stärker dasidnlereiueis die‘ sog. papilläre Form des Trachoms vor, welche der Behandlung weit größere Schwierigkeiten bietet als die Conjunctivitis Pen simplex.

"Wie .erklärt sich nun die lokale Verbreitung der Körnerkrankheit hu ‚Münsterland und in seinen angrenzenden Bezirken? . Für die Grenz- bezirke Hollands ist die Erklärung leicht zu finden. Die holländische Armee war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahr- hunderts sehr stark von der Körnerkrankheit befallen. Im Jahre 1834 wurde Jüngken aus Berlin nach Brüssel berufen; nach ihm sollen bis zum Jahre ‘1834 in der holländischen Armee infolge von Trachom 4000 Sol- daten ganz und 10000 halb erblindet gewesen sein. Die Höhe der Zahlen wird zwar: von anderer Seite bestritten, jedenfalls aber hat es sich um eine sehr schwere Trachom-Epidemie gehandelt. Jüngken gab den Rat, die an Trachom erkrankten Soldaten in ihre Heimat zu entlassen. Der Rat wurde befolgt, und die Folge war, daß die Zivilbevölkerung Hollands ebenfalls von der Körnerkrankheit stark ergriffen wurde. Es liegt auf der Hand, daß durch den Grenzverkehr die Seuche auf die benachbarten hannoverschen resp. preußischen Bezirke übertragen wurde, zumal da- mals, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, die preußische Grenz- bevölkerung zur Zeit der Heuernte sowohl als zum Torfstechen des höheren Lohnes halber vielfach auf Wochen und Monate nach Holland ging. Mein Vorgänger Josten hat in einem Jahresbericht der achtziger Jahre hervorgehoben, daß zur Zeit seiner Niederlassung in Münster Anfang der sechziger Jahre die Trachomfälle zu zwei Dritteln aus den holländischen Grenzbezirken gekommen seien. In der Mehrzahl der Fälle habe es sich dabei um Männer in den vierziger bis fünfziger Jahren gehandelt. Daß die Erkrankung sich in diesen Bezirken erhielt und bis heute nicht völlig zum Aussterben gekommen ist, führe ich auf die Boden-

366 Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom),

beschaffenheit, die schlechten Wohnungsverhältnisse und die ärmliche und auch vielfach unsaubere Lebensweise zurück. Der Heide- und Moor- boden gab nur kümmerliche Erträge; die Bevölkerung lebte schlecht’ und recht von Kartoffeln und Buchweizen, zu denen bei der spärlichen Vieh- haltung nur selten Milch und ein Stück Schweinefleisch ' hinzukamen, Bargeld war äußerst rar und an eine Verbesserung der Verhältnisse‘nicht zu denken. Die Wohnungen waren zumeist elende Hütten, welche‘ in vielen Fällen nicht einmal einen Schornstein hatten. ' Das Brennmaterial war Torf, dessen beizender Rauch einen chronischen Katarrh der Binde- haut unterhielt und die Übertragung des Trachomvirus nur zu sehr'erleich- terte. Wasser war spärlich vorhanden und noch spärlicherim persönlichen Gebrauch. Die Heimat der Leute war mit der Nase zu bestimmen, da der Torfgeruch den Kleidern anhaftete, welche nur höchst selten durch neue er- setzt wurden. Für die Mitte des vorigen Jahrhunderts’male ich mit diesen Worten nicht zu schwarz, und die Verhältnisse blieben im allgemeinen dieselben bis zu den achtziger Jahren. Nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß diese Bezirke auch von der Tuberkulose ‘sehr 'stark 'heim- gesucht sind, ja’ daß’ sie zu den Bezirken Deutschlands‘ gehören: welche die größte Verbreitung der Tuberkulose aufzuweisen haben. rar

Erst im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts machten ’sich auch hier die wirtschaftlichen Folgen der Gründung des deutschen Reiches bemerkbar. Der steigende Wohlstand des Landes gab Veranlassung, daß Staat und Provinz durch Hergabe von Geldmitteln und technische Unter- stützung den armen Gemeinden auf dem Wege der Genossenschafts- bildung die Urbarmachung ihrer großen Ödländereien ermöglichten. Dazu kamen die Fortschritte in der Landwirtschaft, die rationellere Bewirt- schaftung, die Gründüngung und der künstliche Dünger für den leichteren Sandboden. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist nicht ausgeblieben; schon jetzt sind die Heide- und Moorbezirke vielfach nicht wieder zu erkennen. An Stelle der Heide- und Moorflächen erblickt das Auge wogende Roggenfelder und üppige Wiesen, Der Wohlstand hat sich gehoben, die bebaute Fläche ist erheblich größer geworden, und die vorhandenen alten Gebäulichkeiten genügten nicht mehr dem vergrößerten Betriebe, "So verschwanden die alten schlechten Wohnungen ‘und machten’ neuen besseren Platz. Luft und Licht hielten ihren Einzug, und auch mit'dem Wasser ist die Bevölkerung vertrauter geworden dank der Schule als der Vermittlerin hygienischer Kenntnisse und der Erweiterung des Gesichtsfeldes infolge des erweiterten und leichteren Verkehres, "Die Bedürfnisse wuchsen, und die Lebenshaltung wurde eine bessere, da die Möglichkeit der Hebung in dem steigenden Wohlstande' gegeben "war. So ist es nicht zu verwundern, daß gerade in den Grenzbezirken die Ab- nahme des Trachoms in den letzten 10 Jahren’ und“zumal in der aller- letzten Zeit am allerstärksten zu bemerken ist, und’ ich 'glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich mich dahin ausspreche; daß in diesen Be- zirken nach weiteren 25 Jahren die Körnerkrankheit eben so selten’ sein

Recken: ' Die Könsöikraikbent: (Conjunctivitis Branalöeh; Trachten]; 367

wird wie heute die vor 50 Jahren noch stark verbreitete Malaria. Die erhebliche Abnahme des Trachoms wurde auch auf der Versammlung der rheinisch-westfälischen Augenärzte zu Essen im Jahre 1902 besonders von Miayweg betont und auf die fortschreitende Kultur zurückgeführt. Aus der Bonner Universitäts-Augenklinik berichtet Saemisch, daß der Prozentsatz an Trachom ‘von 15,9 % in den Jahren 1863—65 auf 13 % im Jahre 1875, 11 % im Jahre 1897 und 3,6 % im Jahre 1902 zurückging.

Schwieriger zu erklären ist das Vorkommen des Trachoms an den Flußläufen der Lippe und der Ems. Auch sonst hat man die Beobachtung gemacht, daß in Flußtälern das Trachom stärker aufzutreten pflegt. Wenn es sich bei den Flüssen um eigentliche Verkehrsstraßen handelt, wie beim Rhein, so läge die Sache einfacher. Als solche kann man aber die Lippe und zumal die Ems in ihrem oberen Laufe zur Zeit nicht an- sprechen. Aber man muß hier weiter zurückgehen auf die Zeit vor der Erbauung der Eisenbahnen, ja auf die Jahre der Befreiungskämpfe von der französischen Fremdherrschaft. Da spielten für die kleinen Streifs- korps die Wasserstraßen doch noch eine andere Rolle, und es ist wohl

denkbar, daß hier durch mit Trachom verseuchte Truppen Ansteckungs- herde zurückgeblieben sind. So wurde auch von meinem früheren Lehrer Michel hervorgehoben, daß in Nürnberg endemisch Trachom vorkomme in einigen früher durch durchziehende Truppen verseuchten Herbergen. Das Trachom soll sich dort lange gehalten haben, doch habe ich während meiner Ässistententätigkeit in Nürnberg 1890/91 keinen Fall von Trachom gesehen. Mein Vorgänger will beobachtet haben, daß nach Überschwem- mungen der Lippe das Trachom stärker aufgetreten sei; eigene Erfahrun- gen habe ich nach dieser Richtung hin nicht machen können. Im übrigen ist auch an diesen Flußläufen das Trachom in merklicher Abnahme be- griffen, und ich glaube, daß auch hier das Wohnungswesen, dieses ebenso schwierige wie wichtige soziale Problem, sicherlich an dem Rückgange beteiligt ist.

Die Hauptgefahr, die dem Münsterlande und ganz Westfalen in betreff der Körnerkrankheit noch fortwärend droht, ist die Gefahr der Einschleppung der Erkrankung durch von auswärts eingeführte ver- seuchte Arbeiter, deren die Kohlenindustrie und auch die Landwirtschaft bedarf. Es handelt sich hierbei besonders um Polen, Galizier, Ungarn und Italiener. Diese Arbeiter müssen mitsamt ihren Familienangehörigen an der Grenze sachgemäß untersucht und rücksichtslos zurückgewiesen werden, wenn Trachom bei ihnen vorliegt. Freudig zu begrüßen ist in dieser Hinsicht auch die fast überall durchgeführte Anstellung von Schul- ärzten, deren Untersuchungsergebnisse zu weiteren Untersuchungen in der Familie Veranlassung geben müssen. Als das beste Mittel aber be- trachte ich die staatlich angeordnete Anzeigepflicht des Trachoms, die, wie mir scheint, noch nicht genügend durchgeführt wird. Die Anzeige bei Trachom muß streng gehandhabt werden, damit die zuständige Polizei- behörde am Orte der Erkrankung die notwendigen Maßnahmen in An-

368 Recken: Die Körnerkrankheit (Conjunctivitis granulosa, Trachom).

wendung bringen kann, Liegen doch auch in den Städten die Wohnungs- verhältnisse der Arbeiter noch vielfach sehr im argen.

Erfüllen Ärzte und Behörden ihre Pflicht, so halte ich auch die Gefahr der Verseuchung von auswärts für durchaus abwendbar und die Zeit nicht mehr fern, daß man in Westfalen und speziell im Münsterland einen Trachomfall als seltenen Fall betrachten wird.

Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. Von Dr. jur. Ernst Heinrich Rosenfeld, ordentl. Professor des Strafrechts zu Münster.

I.

Nur vereinzelt finden sich in den heutigen Strafprozeßgesetzen oder -entwürfen Bestimmungen, die eine Beobachtung des Beschuldigten in einer Irrenanstalt ermöglichen. So in der norwegischen StrPO. von 1887, in der bulgarischen von 1897, in dem italienischen und dem österreichi- schen Entwurf (1905 bezw. 1909/12).) Das erste Vorbild hat in dieser Rich- tung unsere deutsche Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877, in Kraft seit 1. Oktober 1879, gegeben. Zwar enthielten die drei Entwürfe nichts Einschlägiges; aber der Kommission des Reichstags gehörte ein Arzt Dr. Zinn an, der in der Sitzung vom 17. Juni 1875 die Einstellung eines $ 77a beantragte, aus dem dann der $ 81 der heute geltenden StrPO. her- vorgegangen ist.) Der Redaktionsausschuß der 1. Lesung gab dem mit 22 gegen 4 Stimmen in der Kommission angenommenen Antrag folgende Fassung (nunmehr $ 71b), die ich mit der unten mitgeteilten des heutigen Gesetzes zu vergleichen bitte:

„Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be- schuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen oder von Amtswegen anordnen, daß der Beschuldigte in eine Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde.”

Zur Begründung hatte Dr. Zinn vorgetragen, die Beurteilung des Geisteszustandes sei ohne eine unausgesetzte längere Beobachtung oft nicht möglich, eine solche aber sei nur in einer Anstalt für Geisteskranke durchführbar. Namentlich die Entlarvung von Simulanten sei sonst sehr schwer zu erreichen. Der Anstaltsaufenthalt sei aber ohne gesetzliche Vorschrift nicht erzwingbar; man sei auf den guten Willen des Beschul- digten angewiesen.

Besonders wirksam erscheint auch die demonstratio ad hominem, die Dr. Zinn vornahm: in der von ihm geleiteten Irrenanstalt befänden sich Dutzende von Personen, die erst auf dem Umweg über die Straf- anstalt hineingekommen seien! In unserer heutigen Terminologie reden wir hier von „geisteskranken Verbrechern". Aber die Geisteskrankheit

1) Norw. $ 210, Hagerup, Forelaesninger, p. 231, 411. Bulg. „Bemerkung” zu Art. 169. Ital. art. 233 f,, Relazione Ministeriale, p. 326. Österr. $ 134 (dazu Begründung 1912, S. 80, Beilagen zu den Protok. des Herrenh., Nr. 93),

2) Protokolle S. 87, bei Hahn, Gesamte Materialien III, 620.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 24

370 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

bestand schon vor der Verurteilung; der Richter hat sie nur nicht erkannt und hat die Irren als zurechnungsfähig mit Freiheitsstrafe belegt. Durch einen Justizirrtum sind sie aus „verbrecherischen Geisteskranken” zu „geisteskranken Verbrechern” geworden.) Es ist klar, daß dies nicht nur wirtschaftlich und gesundheitlich für den Betroffenen ein verhängnis- volles Mißgeschick sein kann, sondern daß auch die Gesamtheit einesteils wegen des unnützen Zeit- und Kraftaufwandes und der Verschwendung von Personal und Geld sozialpolitisch und nationalökonomisch, andern- teils wegen der Herabminderung des Ansehens der Obrigkeit durch fehl- greifende Richtersprüche und durch Antagonien zwischen verschiedenen Behörden sozialethisch an der Beseitigung solcher Übelstände in- teressiert ist. Dazu wird in einem gewissen Umfang auch eine Institution beitragen können, die es ermöglicht, die Prüfung des Geisteszustandes krankheitsverdächtiger Personen durch Anstaltsbeobachtung exakter und sicherer zu gestalten. Die Notwendigkeit solcher Maßnahme hängt na- türlich ganz vom Einzelfall ab, aber die Möglichkeit muß jedenfalls offen stehen. Dazu drängen nicht bloß die großen Grundgedanken des moder- nen Strafverfahrens, die Ideen der sachlichen Wahrheit und der freien Wahrheitserforschung, sondern auch soziologische Erwägungen anderer Art und sogar eine rein naturwissenschaftliche Betrachtung im Sinne der Energetik, wie ich sie oben anzudeuten gesucht habe: die Maßnahme liegt in der Richtung des kleinsten Kraftverlustes.

Es ist daher verständlich, daß die werbende Macht des Zinn'schen Vorschlages Gegengründe sozusagen gar nicht auftauchen ließ, Und doch war ein starkes Gegengewicht vorhanden in der verfassungsmäßig garan- tierten Freiheit der Person, Erst der weitere Verlauf der parla- mentarischen Beratung brachte diese zweite Hauptidee, der das Gesetz Rechnung zu tragen hatte, überhaupt auf den Plan. Für das Ergebnis der ersten Lesung hingegen ist bezeichnend der Mangel an Restriktionen für ‚den Gebrauch der neuen Freiheitsentziehungsart: 1. keine Beschränkung auf bestimmte Frist; 2, keine Einengung auf ein Verfahrensstadium, in dem sich der Tatverdacht schon mehr verdichtet hat; 3. keine Sorge für die Wahrnehmung der bedrohten persönlichen Rechte, also für eine Vertei- digung; 4. kein Rechtsbehelf gegen die Einsperrung; 5. keine Aufschubs- möglichkeit gegen die richterliche Verfügung; 6. keine Differenzierung unter den Anstalten, in die die Einweisung erfolgen kann. Man könnte noch hier anfügen: auch keine Differenzierung unter den Sachverstän- digen, von denen der Anstoß zu der Einweisung ausgeht. Man sollte doch erwarten, daß nur ein Psychiater von Fach die Initiative ergreifen dürfte, Aber diese Beschränkung wäre bei dem mitgeteilten $ 71b gegenstands-

2) Zu der formalistischen Unterscheidung, die aber in verwaltungsrechtlicher Be- ziehung eine technische Grundlage abgibt, vgl. Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 1903, S, 153 f,, und namentlich in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allg. Teil, Bd. I, 1908, S. 81 ff,, 92 ff., 108, Pollitz, Psychologie des Verbrechers, 1909 (Aus Natur und Geisteswelt), S. 63.

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 371

los gewesen. Denn nach jener Fassung kann das Gericht die Beobachtung in der Anstalt auch „von Amtswegen” beschließen; es braucht eine An- regung von außen überhaupt nicht abzuwarten. Der Redaktionsausschuß hat diese Möglichkeit der Anordnung ex officio hineingesetzt und hat da- mit, über seine Rolle hinausgehend, den Vorschlag auch sachlich ge- ändert; freilich ohne bleibenden Erfolg, was sehr zu bedauern ist.

Fast ein Jahr später, am 7. Juni 1876, wurde der Paragraph von der Reichstagskommission in 2, Lesung beraten. Die Verhandlungen‘) zei- gen jetzt deutlich die Rücksichtnahme auf die persönliche Freiheit, um deretwillen der Antrag Herz-Klotz-Eysoldt sogar die Bestimmung einfach streichen wollte. Man machte geltend: a) daß die Verwahrung in der Anstalt den Betroffenen wirtschaftlich ruinieren könne, da nach der Volksanschauung ein tiefer Schatten selbst dann auf ihn falle, wenn er gesund befunden werde; b) wenn der zugezogene Experte kein Psychiater sei und grundlos an der Gesundheit des Beschuldigten zweifle, so könne ein unabsichtlicher Mißbrauch mit der Vorschrift getrieben werde, für den dann niemand schadenersatzpflichtig gemacht werden könne. c) Man führe hier zur Bequemlichkeit der Sachverständigen eine neue Art von Untersuchungshaft ein, ohne sie mit den sonst bei Verhaftung gesetzlich gebotenen Kautelen zu umgeben. d) Endlich stehe die Schwere des Ein- griffs bei geringfügigen Delikten außer Verhältnis zum Untersuchungs- zweck.

Von diesen Einwürfen kann der unter a) am wenigsten Eindruck machen: gegen unglückliche Volksvorurteile muß man ankämpfen und für Aufklärung sorgen, nicht aber ihnen resigniert nachgeben. Es ist eben keineswegs alles Bestehende vernünftig. Der Einwand b) hat mehr Ge- wicht; doch schließlich können Mißgriffe bei jeder Institution vorkom- men; außerdem würde Ignoranz oder eine Leichtfertigkeit, die mit Be- suchen in der Wohnung, Exploration im Termin usw. sich zu begnügen ohne alle Not verschmähte, eine zivilrechtliche Verantwortung des ärzt- lichen Antragstellers in der Tat begründen. Denn nach der Regel des Lebens und der täglichen Erfahrung ist bei solchem Antrag die gericht- liche Anordnung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Anregung des Sachverständigen und der Einweisung in die Anstalt ist ein berechenbarer. Wir sprechen hier von typischem oder adäquatem Kausalzusammenhang, der durch den da- zwischen liegenden Gerichtsbeschluß nicht beseitigt wird.

Die obigen Gegengründe c) und d) sind dagegen sehr beachtlich; sie sind auch durch den weiteren Verlauf der Beratungen und durch die heu- tige Gestaltung noch nicht erledigt. Erst der Entwurf vom Jahre 1909 trägt ihnen in verstärktem Maße Rechnung. Sie führen zu Forde- rungen, die wir durch die Schlagworte festlegen können: Subsidiarität der

%) Protokolle S, 829-833, bei Hahn, a. O. IH, 1233 ff, 24*

372 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

Anstaltseinweisung Kautelen nach Analogie der Verhaftung Pro- portionalität des Eingriffs und des drohenden Strafübels.

Der mittleren dieser Forderungen kamen die eigenen Zinn'schen Amendements entgegen; von den oben (S. 370) vermißten Restriktionen brachten sie die Nrn. 2—5. Von anderen Seiten wurden die Restriktionen Nr. 6 und Nr. 1 vorgeschlagen. Alle diese Kautelen wurden angenommen, während die Bestrebungen auf gänzliche Streichung des neuen Institutes Ablehnung fanden. Abgelehnt wurden auch zwei auf weitere Einengung abzielende Amendements Herz-Klotz-Eysold: die Beschränkung auf den verhafteten Angeschuldigten und die Beschränkung des Antragsrechts auf Irrenärzte. Zu dem letzteren Punkte erklärte allerdings Dr. Zinn, daß auch er nur an Psychiater denke; dieser Gedanke hat aber in seinem Vor- schlag und demzufolge auch im Gesetz keinen Ausdruck gefunden. Nach dem heutigen Rechtszustande ist daher „jeder beliebige Arzt‘ befugt, die Anstaltsverbringung zu beantragen. Das ist um so bedeutsamer, als die im Beschluß erster Lesung stillschweigend aufgetauchte Alternative, nämlich die Anordnung von Amtswegen, durch die Vorschläge und Ab- stimmungen zweiter Lesung ebenso stillschweigend wieder beseitigt worden ist.

Wenn die völlige Streichung des $ 71b in der Kommission keinen Anklang fand, so dürfte dies vor allem den Laskerschen Ausführungen zuzuschreiben sein. Er wies darauf hin, daß der Zweifel über den Geistes- zustand, wenn der Sachverständige erkläre, kein Gutachten abgeben zu können, weil ihm das unerläßlich erscheinende Mittel der Untersuchung versagt werde, zur Freisprechung führen müßte, Dadurch werde die Simulation begünstigt, zumal „oft der Grad der Simulation unglaublich hoch sei”. Aber auch die entgegengesetzte Gefahr drohe, daß jemand wegen unzureichender Vorbereitung des Gutachtens fälschlich für geistig gesund erklärt und demgemäß verurteilt werde.

Diesen letzteren Gesichtspunkt, daß die Anstaltsbeobachtung auch den Interessen des Angeklagten diene, hob wirkungsvoll auch Miquel (der. spätere Oberbürgermeister von Frankfurt und preußische Finanz- minister) hervor. „Erfahrungsmäßig” so betonte er „nehme bei schweren Verbrechen das bloße Vorhandensein der Entrüstung erregen- den Tat die Geschworenen dergestalt gegen den Angeklagten ein, daß sie sehr geneigt seien, auch bei zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit schuldig zu sprechen. Dies werde verhütet, wenn die Sachverständigen durch die denkbar gründlichste Beobachtung in die Lage versetzt werden, ein sicheres Urteil über den Geisteszustand des Angeschuldigten ab- zugeben."

Von verschiedenen Seiten wurde auch darauf hingewiesen, daß das unerquickliche Schauspiel einer Diskussion der divergierenden Ärzte in der Hauptverhandlung vermieden werden müsse. Auf Grund unvoll- ständiger Beobachtung und lückenhafter Kenntnis des Materials habe jeder eine andere Ansicht gewonnen, und nun komme es zum Kampfe der

a 5 3 are Dur un nl rn Hi na Ba ln a nu

Ba El Te nl Sa En u NarEn na 1 a al nl Dunn na u na en > 9 te a

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im. Strafverfahren. 373

Meinungen vor Jury und Publikum. Dadurch gerate die ganze Wissen- schaft der Psychiatrie in Mißkredit,

Das weitere Schicksal der neuen Bestimmung verlief ganz glatt. Der Bericht der Reichsjustizkommission gibt ebenso objektiv den Stand- punkt der Mehrheit, wie den der Minderheit wieder. In der zweiten und dritten Beratung des Reichstagsplenums und in den Beschlüssen des Büundestates ist überhaupt keine Bemerkung mehr zu dem Gegenstand laut geworden. Der $ 81 des geltenden Gesetzes hat danach den folgen- den Wortlaut:

Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Ange- schuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach An- hörung des Verteidigers anordnen, daß der Angeschuldigte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde.

Dem Angeschuldigten, welcher einen Verteidiger nicht hat, ist ein solcher

zu bestellen. Gegen den Beschluß findet sofortige Beschwerde statt. Dieselbe hat aufschiebende Wirkung. Die Verwahrung in der Anstalt darf die Dauer von sechs Wochen nicht _ übersteigen.

Das Mittel der Wahrheitserforschung, das wir durch diese Ent- stehungsgeschichte für unser geltendes Recht gewonnen haben, und das seitdem von andern Rechten nachgeahmt worden ist und auch unserm künftigen Strafverfahren erhalten bleiben wird, stellt nun nicht etwa eine überlebte heuristische Methode dar, deren man nach dem heutigen Stand der Psychiatrie entraten könnte, Wenn wir die Methodik psychiatrischer Untersuchung nach irgend einer neueren Darstellung ins Auge fassen’) so werden allerdings folgende Erkenntnisquellen von einer Anstalts- beobachtung ganz unabhängig sein: 1. Familiengeschichte einschließlich den Charakterzügen, Neigungen, Belastungen, Verwandtenehen, Krankhaftig- keiten zur Zeit der Zeugung oder der Schwangerschaft usw.; 2. Vorleben des Untersuchten, Läsionen beim Geburtsvorgang, überstandene Krämpfe, Krankheiten, Kopfverletzungen u. ä., Schul- und Lehrgang, Verhalten zu Mitschülern, Lehrern, Behörden, Ausbildungs- und Berufsschicksale, Ent- gleisungen, einsetzende Unstätigkeiten u. dgl.; 3. körperlicher Befund nach konstanten Größen (Schädelform und -maße, Winkelgrößen, Gaumen- wölbung, Ohren, Zähne, „Degenerationszeichen”, Reflexe, einfachere Reaktionen, Hautnachröte u. s. f.). Ebenfalls ohne Anstaltsbeobachtung werden auch folgende Quellen ergiebig sein: 4. Sprache, Schrift und andere Ausdrucksbewegungen; doch können hier schon veränderliche Momente einsetzen; 5. variable Bestandteile des körperlichen Befundes, die etwa eine systematische, in Beobachtungsreihen ununterbrochen niedergelegte Ernährungs- und Gewichtskontrolle, Überwachung des Schlafes und der Ermüdungserscheinungen nötig machen. Bei regel- mäßigen Besuchen und unter Zuziehung von geschultem oder leicht anzu-

5) Kräpelin, 6. Aufl, Bd. I, S. 260#. Hoche in seinem Handbuch, S, 532 ff. Straßmann, Medizin und Strafrecht, 1911, S, 251 ff,

374 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

weisendem Personal dürfte hier noch Anstaltsaufenthalt entbehrlich sein. Zur Erschließung dieser Erkenntnisquelle allein würde daher die An- wendung der scharfen Maßnahme des $ 81 nicht angemessen sein. Die Linie läuft durch eine weitere Erhebungsgruppe: die Aufnahme der geistigen Persönlichkeit. Wir scheiden deshalb hier 6. Prüfung des Wissensschatzes, der schulmäßigen Kenntnisse, der Informiertheit und Auffassung über das eigene Selbst (Niederschreiben des Lebenslaufes u. ä.), der Merkfähigkeit, Verstandestätigkeit, des Rechnens, der Differen- zierungs- und Urteilskraft, der Kombinationsfähigkeit lauter Dinge, die eine ein- oder mehrmalige „Intelligenzprüfung” an den Tag legen kann. Daneben steht 7. die Gruppe der wechselnden psychischen Züge, der abnormen Phänomene, deren flüchtige oder feststehende Art erst herauszubringen ist, des langsam zu erschließenden Gesamthintergrundes der Seelenvorgänge. Also beispielsweise: Sinnestäuschungen, Bewußtseinstrübungen (Desorientiertheiten und unzulängliche Kausal- erfassungen eingeschlossen), Gedächtnislücken, mangelnde Auffassungs- und Verarbeitungsfähigkeit, Sprunghaftigkeiten, Stimmungs- und Trieb- anomalien. Daneben in forensischen Fällen besonders bedeutsam: die Höhe der sittlichen Auffassung, die Stärke und Gefühlsbetontheit der allgemeinen Hemmungsvorstellungen, die Einankerung der Motive, die Verknüpfung der Straftat mit dem Charakter und die vielleicht auffallen- den Züge bei der eigenen Bewertung der Tat, die Stärke der Impulse überhaupt und die sittliche Kraft zur Regulierung des Trieblebens..

Freilich, vieles davon ist im Grunde nur das Ergebnis eines An- näherungsschlusses, aber die exakten Prämissen dafür können eben oft genug weder durch noch so gut bezeugte Fremdbeobachtung, noch auch durch noch so verständnisvoll geschultes Personal gewonnen werden. Hier liegt die letzte und feinste Aufgabe des Psychiaters, an deren Lösung er schlechthin nur seine eigene Erfahrung, Kenntnis, Intelligenz, Begabung und sittliche Persönlichkeit setzen kann. Hier ihm weiteste Freiheit zu Beobachtungen innerhalb des Rahmens des staatlichen Zweckes zu schaffen, muß dem Juristen gern geübte Pflicht werden.

IL

Wir wenden uns nunmehr der Besprechung der Schwierigkeiten zu, die unsere Gesetzesstelle veranlaßt hat, und der Streitfragen, die sich an sie knüpfen. Wir werden dabei auch die Bestimmungen der Militärstraf- gerichtsordnung vom 1. Dezember 1898, namentlich den parallelen $ 217, vergleichend heranziehen.

1. Nur gegen einen „Angeschuldigten“ ist die Anordnung statthaft. Das ist ein Beschuldigter, gegen den die öffentliche Klage erhoben ist, StPO. $ 155. Die Klagerhebung geschieht entweder durch Antrag auf Eröffnung der Voruntersuchung, oder durch Einreichung der Anklage- schrift bei Gericht mit dem Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens, StPO. 88 168 II, 196 II, 197.. Eine Verbringung in die Irrenanstalt ist

u a a u a dee

Zn en

al al Sn

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 375

sonach ausgeschlossen im vorbereitenden Verfahren, d. h. während des Stadiums, in dem der Staatsanwalt oder Amtsanwalt der selbständige Herr des Ermittlungsverfahrens ist. Die Vorgeschichte unserer Stelle zeigt deutlich, daß man eigentlich eine noch größere Einschränkung ins Auge gefaßt hatte, Ursprünglich stand im Antrag Zinn erster Lesung zwar schon „Ängeschuldigter”; dies hatte aber damals keinen besonderen Sinn, sondern bedeutete ganz dasselbe wie Beschuldigter, Bezichtigter, Verdächtigter oder dgl. Bei der Redaktion wurde deshalb das Wort mit „Beschuldigter“ vertauscht und steht so im $ 71b (oben S.369) zu lesen; denn inzwischen hatte der Ausdruck „Angeschuldigter” seinen heutigen technischen Sinn gewonnen, und bei der zweiten Lesung wurde diese Terminologie sogleich durch die Anfangsbeschlüsse festgelegt‘) Jetzt war es also eine Beschränkung der Anwendbarkeit der Maßregel, als der neue Vorschlag Zinn statt der Wendung „Beschuldigter” aufs neue den Terminus „Angeschuldigter‘ einsetzte. Man hat sich dabei aber, wie die Ausführungen von Zinn und Becker’) zeigten, zu viel vorgestellt. Man war von der Idee geleitet, damit eine ähnliche Einengung zu schaffen, wie bei der Verhängung der Untersuchungshaft, nämlich daß bereits dringende Verdachtsgründe für die Täterschaft des Bezichtigten sprächen oder doch wenigstens ein zur Eröffnung des Hauptverfahrens hinreichender Verdacht vorliegen müßte. Das stimmt nun gar nicht. Nur beim Eintritt in das Hauptverfahren wird durch den Eröffnungsbeschluß ein „hinreichender“ Verdacht festgestellt. Dagegen ist die Eröffnung der Voruntersuchung durch den Untersuchungsrichter von irgend welcher Stärke des Verdachts völlig unabhängig. Die bloße: Behauptung des Staatsanwalts genügt. Selbst wenn der Untersuchungsrichter nach Lektüre der Akten gar keinen Verdacht gegen die inkriminierte Person hegen sollte, muß er doch die Voruntersuchung eröffnen.

Mir erscheint der hier untergelaufene Irrtum insofern sehr bedeut- sam, als er beweist, daß man die Beobachtung während des Hauptverfah- rens als den Normalfall des $ 81 ansah, während die heute herrschende Meinung gerade während des Hauptverfahrens die wichtigste Kautel der persönlichen Freiheit, die $ 81 enthält, ausschließen will, nämlich die Beschwerde. In voller Reinheit wäre der leitende Gedanke verwirklicht worden, wenn man „Angeklagter” gesagt hätte. Dann würde die Ver- bringung in die Anstalt während der Voruntersuchung ebenfalls unstatt- haft sein, und es müßte bereits Eröffnungsbeschluß vorliegen.

Genau das ist die Lage der Dinge im Militärprozeß. Der Gerichts- herr kann die Einweisung in die Anstalt erst anordnen, nachdem er die Anklageverfügung erlassen hat. Sie ist also ausgeschlossen während des „Ermittlungsverfahrens”, das mit dem vorbereitenden Verfahren plus der Voruntersuchung des bürgerlichen Prozesses zusammenfällt, Die Anklage-

®) Kommission, 1. Lesung, $ 119a. Protok. 2, Les., S. 791. Hahn, a. ©. II, 2180, 1201 £. |

?) Prot. S. 830, 833, Hahn, a. ©. 1230.

376 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

verfügung kann erst erlassen werden, wenn gegen den Beschuldigten „hinreichender Verdacht einer strafbaren und militärgerichtlich verfolg- baren Handlung‘ vorliegt, Somit entspricht die Anklageverfügung als Konstatierung eines gewissen Verdachtgrades dem bürgerlichen Eröff- nungsbeschluß. Oder, anders ausgedrückt: nach den Intentionen der Antragsteller sollte die Einsperrung in der Irrenanstalt von einer be- stimmten Stärke des Tatverdachtes abhängen, wie es heute im Militär- verfahren wirklich zutrifft; nach dem Inhalt des Gesetzes ist ünlegeä der Verdachtsgrad völlig gleichgültig.

2. Nur das „Gericht” kann die Anordnung beschließen; demnach in der Voruntersuchung nicht der Untersuchungsrichter.‘) Vielmehr hat er die Sache zur Beschlußfassung an die Strafkammer abzugeben. Darin liegt auch eine Verschiebung der Beschwerdeinstanz vom Land- an das Oberlandesgericht.

Die Militär-StGO. gibt die Tukupeie der Anordnung sundeäcklich nur dem Gerichtsherrn; jedoch zweifelt niemand daran, daß in der Haupt- verhandlung auch das erkennende Gericht dasselbe Recht hat.’) Aber eine merkwürdige Ausnahme macht die Praxis des Reichsmilitärgerichts für die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil geschlossenen Verfahrens. Zu den Beweisen, deren Aufnahme das Reichsmilitärgericht veranlassen kann, soll dann schwer begreiflicher Weise die Unkerkeinitung in einer Irrenanstalt nicht gehören.)

3. Wir haben in der Vorgeschichte gezeigt, daß das Gericht zwar nach der ersten Kommissionsfassung auch von Amtswegen die Verbrin- gung beschließen konnte, daß indessen in der endgültigen Fassung dies

8) Anders nur Stenglein, Kommentar, 3. Aufl., 1898, S, 216, Anm. Er wer- kennt, daß dem Untersuchungsrichter über zahlreiche Punkte die Gewalt entzogen ist. Die „Vorbehalte“ für die Strafkammer bei Rosenfeld, Lehrb. des Strafproz., 4, und 5. Aufl., S, 212.

0) RMilGer., Entsch, Bd. 6, S. 125. Romen-Rissom S$. 508.

10) MilStGO. 207, 298; 4455. Romien-Rissom S$. 374, 829, RMilGer,, Entsch. Bd. 10, S. 43, Bd. 12, S, 7. Im letzteren Falle hatte der Gerichtsherr. zu ansten eines Verurteilten Wiederaufnahme beantragt, weil dieser bei der Straftat unzurechnungs- fähig gewesen sei. Das RMilGer. ordnete Einholung von Gutachten eines Oberstabs- arztes, eines Stabsarztes und eines Psychiaters an; als letzterer wurde zuerst ein Oberarzt an einer Bezirks-Heil- und Pflegeanstalt, sodann ein ‚Professor an, einer Provinzialirrenanstalt bestellt. Die erstgenannten beiden Militärärzte erklärten: der Angeklagte leidet von Jugend auf an Schwachsinn und ist unheilbarer Geisteskrankheit verfallen. Die beiden Psychiater erklärten, ohne Anstaltsbeobachtung könne das Gut- achten nicht erstattet werden. Nunmehr wurde der Angeklagte durch seinen heimat- lichen Amtsvorsteher protokollarisch vernommen und erklärte, er habe kein Interesse an. der Wiederaufnahme und weigere sich, freiwillig zur Beobachtung in die Provinzial- irrenanstalt zu gehen. Hierdurch sieht sich das RMilGer. für gebunden an und streckt die Waffen. Die Erklärung des Verblödeten ist nicht nur rechtlich bedeutsam, sondern sie läßt auch jedes staatliche Interesse an der Wiederaufnahme entfallen! Eine Pflicht des Staates zur Beseitigung erkannter Justizirrtümer gibt es offenbar nicht. Dabei hätte das Gutachten der zwei Militärärzte zur Anordnung einer erneuten Hauptver- handlung nur darum handelte es sich ja vorderhand doch wohl ohnehin ausgereicht, Das RMilGer. verwarf indessen den Wiederaufnahmeantrag des Gerichtsherrn: es blieb also bei der Verurteilung des Schwachsinnigen.

2 rer A ee a be rn Sl Ba ul aaa u U uni

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 377

geändert ist. Somit ist der „Antrag eines Sachverständigen, der (eben- falls nach der Vorgeschichte) kein Psychiater zu sein braucht und in sehr vielen Fällen, namentlich auch vor Militärgerichten, nicht sein wird,*) unerläßliche Voraussetzung. Wird der Antrag nicht gestellt, so bleibt es bei dem vielleicht ganz unzulänglichen Material, das bisher zu eruieren war; dem Gericht sind die Hände einfach gebunden.”) Das kann dem Inkulpaten unter Umständen den Kopf kosten, wie in einem mir bekann- ten Falle, Der Angeklagte, anfangs der zwanziger Jahre, vielfach vor- bestraft, unter Polizeiaufsicht, hatte mehrere Lustmorde begangen. Sein 'Geisteszustand erschien dubiös. Einer der Gutachter hielt ihn für zu- rechnungsfähig, da er Recht und Unrecht zu unterscheiden wüßte. Der ‚andere, Leiter einer öffentlichen Irrenanstalt, erklärte, die Geistesgesund- heit nicht bestimmt bejahen zu können, ebensowenig aber die Geistes- gestörtheit. Auf die ausdrückliche Frage, ob er Beobachtung in der Anstalt beantrage, erwiderte er, einen solchen Antrag wolle er nicht stellen. Da die Verbrechen des Angeklagten die größte Erbitterung in der Bevölkerung hervorgerufen hatten, und die Stimme der öffentlichen Meinung so vernehmlich sprach, daß z. B. kein Anwalt sich zum Wahl- verteidiger bereit gefunden hatte, so geschah, was zu erwarten war: die Geschworenen sprachen ihr Schuldig und der Angeklagte wurde hin- gerichtet. Man braucht kaum hervorzuheben, daß die rechtsgelehrten Richter sich der Zweifelhaftigkeit der Situation wohl bewußt waren, aber sie stießen hier an eine Schranke der freien Wahrheitserforschung.”) Es scheint mir notwendig, daß .diese Schranke im künftigen Recht fällt. Erst dann ist die Regelung im Einklang mit dem unsern ERS ERR sonst be- herrschenden „Prinzip der materiellen Wahrheit.“

04 ‚Wenn der Antrag des Sachverständigen vorliegt, so un das Gesicht die Verbringung anordnen. Genötigt ist es nicht dazu; ist es nach freiem Ermessen der Meinung, daß die Beobachtung sich ohne eine Freiheitsentziehung durchführen läßt, so wird es den Antrag ablehnen. Ja, es könnte auch stillschweigend darüber hinweggehen; denn. der Sach- verständige ist keine Prozeßpartei mit Prozeßbetriebsrechten, er ist auch kein „Betroffener“ ,“) da in irgend welche rechtlichen Beziehungen, die ihm zustünden, nicht eingegriffen wird. Der Antrag macht also auch keine Frage hängig, so daß das Gericht zu seiner Bescheidung genötigt würde. Er ist nichts anderes als das „Verlangen‘ in StPO, $:80 I, als eine Änregung zu einer Gestattung in $ 80 IL Wohl aber erwächst in.dem-

11) Das kann leicht zur Folge haben, daß der Nichtfachmann, dem Erfahrung, Blick und Übung abgeht, unnötigerweise Anstaltsbeobachtung beantragt. Die Subsi- diarität des Freiheitseingriffes ist also nicht gewahrt.

12) RGer. Entsch. Bd. 20, S. 378.

13) Allerdings wäre es dem Gerichi wohl möglich gewesen, entweder 1. das Gut- achten für ungenügend zu erklären und eine neue Begutachtung durch andere Sach- verständige anzuordnen, StPO. $ 83 I; oder 2. das Gutachten einer Fachbehörde (Fakul- tät, Wissenschaftliche Deputation) einzuholen, $ 83 II.

14) Richtig Stenglein, a. ©. S. 217, gegen John, Kommentar, Bd. 1, $. 711.

378 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

selben Augenblick, wo der Staatsanwalt, der Verteidiger, der Angeklagte diesem uneigentlichen Antrag beitritt, ein wahrer Anspruch auf Beschei- dung. Dann liegt ein Beweisantrag einer Prozeßpartei vor, und den darf das Gericht nicht einfach ignorieren.) Will es ihm nicht stattgeben, so muß es ihn durch Beschluß ablehnen, und es muß Gründe dafür angeben. Das Gericht ist also in der Lage, für Einhaltung der Subsidiarität der An- staltseinsperrung zu sorgen. Es wird ihm auch nicht verwehrt sein, der Proportionalität ebenfalls Rechnung zu tragen, also etwa zu sagen: dem Angeschuldigten drohen ohnehin höchstens ein paar Wochen Freiheits- strafe; es erscheint daher nicht gerechtfertigt, ihm ein gleichgroßes oder größeres Übel durch die zeitweise Verwahrung in der Anstalt zuzufügen.) Es bedarf ja keiner Ausführung, daß eine wochenlange Zusammensper- rung mit Geisteskranken, und zwar, wie der Zweck der unausgesetzten Beobachtung vielfach benötigen wird, in einem gemeinschaftlichen Saal, den meisten Laien, gebildeten wie ungebildeten, viel schrecklicher vor- kommen wird, als die Einzelzelle des Untersuchungsgefängnisses. Nicht zu vergessen ist auch, daß die Wochen in der Anstalt keine Unter- suchungshaft darstellen und deshalb auf die spätere ‚Strafe nicht an- rechenbar sind.)

5, Nicht unzweifelhaft ist die Frage, welchen Zwecken die Maß. regel des $ 81 dienstbar gemacht werden darf. Es ist bestritten, ob je- mand, der gegenwärtig einwandfrei geistig gesund ist, der Anstalt über- wiesen werden darf, weil er möglicherweise früher im Augenblick der ver- brecherischen Tat geisteskrank war.“) Es will mir logisch nicht einleuch- ten, daß eine „Beobachtung“ gar nichts Gegenwärtiges zum Gegenstand haben, sondern nur auf Eruierung vergangener Zustände gerichtet sein könne; man kann historische Forschungen nicht auf dem Wege der Beob- achtung betreiben. Der Begriff erheischt also, daß doch irgend etwas Gegenwärtiges zweifelhaft sei. Andererseits scheint mir der Fall medi- zinisch nicht recht vorstellbar, daß ein Gutachten dahin geht: „Jetzt ist der Angeklagte unzweifelhaft gesund, vielleicht war er früher einmal gei- stesgestört; um das herauszubringen, möchte ich ihn einige Wochen in der Anstalt haben. Was soll denn dann vorausgesetzt daß wirklich die geistige Persönlichkeit intakt ist in der Anstalt geschehen? Es könnte sich nur um den körperlichen Befund handeln, und zwar soweit er nicht konstante Größen, sondern variable und schwankende Daten auf- weist (Ernährungs-, Gewichts-, Ermüdungserscheinungen u, ähnl.). Dazu reichen aber regelmäßige Arztbesuche oder Besuche beim Arzt oder von

15) StPO. $ 243, RGer. Entsch. Bd. 27, S. 348.

12) OLG. München, zit. bei Löwe-Hellweg, Kommentar, Note 1 a, E.

7) Rosenfeld in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und aus- ländischen Strafrechts, Allgem. Teil, Bd. III, S. 164.

1) Dafür Stenglein, Bennecke (1. Aufl), Löwe-Hellwig (neuere Auflagen) und, in einer gelegentlichen Bemerkung, ‘das RG., Entsch. Bd. 20, $S. 378. Dagegen v. Kries, Bennecke-Beling [2. Aufl), Löwe fältere Auflagen).

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 379

einem geschulten Pfleger aufgenommene Tabellen usw. aus, eine Frei- heitsentziehung allein zur Erhebung gedachter Art wäre, wie oben (S. 374) betont, ungerechtfertigt.”) Somit bleiben m. E. nur zwei Situa- tionen für $ 81: 1. der Angeschuldigte ist jetzt zweifelhaft oder jetzt geisteskrank, und es fragt sich, ob er zur Zeit der Tat geisteskrank war; 2. es ist jetzt zweifelhaft, ob der Angeschuldigte geistesgesund und dem- nach verhandlungsfähig ist. Kann nicht mit ihm verhandelt werden, so folgt Einstellung des Verfahrens; ist er verhandlungsfähig, bestand jedoch Geisteskrankheit während der Tat, so ergeht Freisprechung.

Wenn in dem vorher erörterten Falle nur die Beobachtung außer- halb der Anstalt verbleibt, so ist das keineswegs die einzige derartige Lagerung, und jedenfalls eine, in der die Anstaltsbeobachtung weit un- wichtiger ist, als unter Umständen etwa in folgenden Fällen, die ein psy- chiatrisches Gutachten im Strafprozeß erforderlich machen können und wo man sich ohne Anstaltsbeobachtung behelfen muß: Es fragt sich, ob ein Mißhandelter infolge der Körperverletzung in eine (heilbare oder un- heilbare) Geisteskrankheit verfallen ist, ob also das Verbrechen des StGB. $ 224 vorliegt. Es-handelt sich darum, ob eine zum außerehelichen Beischlaf mißbrauchte Frauensperson geisteskrank war (StGB. $ 176, Z.2). Es werden Bedenken gegen die Beeidigung eines Zeugen erhoben, da er wegen Verstandesschwäche von der Bedeutung des Eides keine ge- nügende Vorstellung habe (StPO. $ 56, Z. 2). Es wird Geisteskrankheit eines Sachverständigen behauptet, die ihn als solchen (nach richtiger An- sicht) unfähig machen würde.”) Es fragt sich, ob ein Privatkläger, Neben- kläger, Bußkläger geisteskrank- und deshalb prozeßunfähig ist. Endlich . hängt die Möglichkeit, Untersuchungshaft, Freiheitsstrafen, Todesstrafe zu vollstrecken, von dem Geisteszustand des Betreffenden ab.

6. Die Einweisung kann nur in eine „öffentliche“ Irrenanstalt er- folgen. Ausgeschlossen sollen dadurch die privaten sein, einschl. der von Orden und Vereinen geleiteten; hier liegt ein konzessionspflichtiger Ge- werbebetrieb (Gew.-Odg. $ 30) vor. Die Terminologie der beiden Gesetze weist auf die Korrelation hin: wo keine Konzessionspflicht, da Einwei- sungsmöglichkeit. Ob die Anstalten staatliche (staatsanstaltliche, wie Universitätskliniken, einbegriffen), städtische, Kreis-, Bezirks-, Provin- zialanstalten sind, begründet keinen Unterschied; ebensowenig, ob die

ı%) Allerdings weist man auf Fälle epileptischer oder epileptoider Zustände hin, wo ein Anfall oder ein Äquivalent bei dem zur Zeit ganz intakten Individuum doch während der 6 Wochen eintreten könnte. Aber dann verschiebt sich der gesetzliche Zweck des $ 81. Die Einweisung geschähe gar nicht zur gegenwärtigen Beobachtung, sondern zum Abwarten einer Möglichkeit künftiger Beobachtung. Solch blasser Chance gegenüber wiegt die persönliche Freiheit denn doch mehr.

22) Es könnte auch darauf ankommen, ob der vernommene Zeuge oder Sach- verständige nach seiner Aussage geisteskrank geworden ist; die Aussage würde dann nach StPO. $ 250 verlesen werden dürfen. Geisteskrankheit des Richters würde ihn zu seinem Amt unfähig und das von ihm gesprochene Urteil unheilbar nichtig machen; Behauptung, daß ein Richter psychisch gestört sei, könnte dazu führen, ihn abzulehnen.

380 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

Benutzung unter gewissen Voraussetzungen dem Publikum offensteht, oder ob sie im Interesse des öffentlichen Dienstes steht.) Danach ge- hören m. E. auch die Irrenannexe der preußischen Strafanstalten in Grau- denz, Moabit, Münster, Breslau, Halle und Cöln, sowie die festen Bewahr- häuser für verbrecherische Geisteskranke, wie sie die Provinz Westfalen in Eickelborn, die Rheinprovinz in Brauweiler”) errichtet hat, zu den öffentlichen Anstalten im Sinne des $ 81. Umsomehr, als wenigstens jene Abteilungen der ersten Kategorie ihrem Zweck nach gerade Beobach- tungsanstalten sind.) Allerdings, ob man hier zur Aufnahme von Ange- schuldigten bereit sein würde, das ist eine Frage für sich. Aber eine Ver- ständigung mit der Anstaltsdirektion muß ja in allen Fällen vorhergehen, schon im Interesse eines freundnachbarlichen Verkehrs der Behörden untereinander.*)

7. Wenig geklärt scheint die Frage nach der Natur der verfügten Freiheitsentziehung und nach der Art ihrer Durchführung. Man muß da- von ausgehen, daß eine Untersuchungshaft hier nicht in Frage steht. Nach der Entstehungsgeschichte ist das ganz klar, und niemand bezweifelt es. Auch Straf- oder Zivilhaft ist es nicht. Es ist nur ein dem Psychiater zu seinen gutachtlichen Zwecken zur Verfügung gestelltes Mittel, dessen Be- nutzungsart und -dauer (maximal begrenzt) ihm freigegeben ist. Demge- mäß ist vor allen Dingen der Explorand kein „Gefangener", dessen Be- aufsichtigung oder Bewachung der Anstaltsleitung amtlich oder außeramt- lich aufgetragen oder anvertraut wäre. Somit kann ein strafbares Ent- weichenlassen im Sinne von StGB. 88 121, 347 nicht in Frage kommen. Dies Ergebnis ist insoweit angemessen, als der größte Teil der öffentlichen Irrenanstalten nicht Gefangenenhäuser sein sollen und sein wollen und die Überwachungs- und Zurückhaltungseinrichtungen medizinische (diag- nostische und therapeutische) Zwecke‘ verfolgen, nicht aber admini- 'strative oder sonstige sozialrechtliche. Anders steht es nur mit den Irrenannexen und den festen Bewahrhäusern, Diese würden daher her- vorragend geeignet sein, um eine psychiatrische Beobachtung an verhaf-

21) Eine Unterscheidung im Sinne der „res publicae” und der „res publicae publico usui destinatae‘ hat die StPO. nicht gemacht.

22) Bisher in Düren. Vgl, Flügge, Monatsschrift für Kriminalpsychologie I, 349 (1905), Geller, ebenda V, 14 (1909). Aschaffenburg, Vergleichende Darstellung, a. O, I, 91£. Berücksichtigt im österr. Entw. 1912, $ 134 III,

2) Aschaffenburg, a. ©. I, 89

24) Hierauf weisen in Preußen Verfügungen des Ministeriums des Innern, des Kultus- und des Justizministeriums hin, so vom 14. April bezw. 10. Mai bezw. 20. Ok- tober 1908, Just. Min. Blatt S. 368. Es geht nicht, daß ohne alle Ankündigung ein Untersuchungsgefangener der Provinzialirrenanstalt zugeführt wird. Es geht aber auch nicht an, daß diese den Ankömmling einfach postwendend zurückspediert und von sich aus gar keine weiteren Schritte unternimmt. Es ist erst recht unzulässig, wenn die Anstalt die Aufnahme von der Zusicherung der Ernennung bestimmter Beamten zu Sachverständigen Eingriff in die richterliche Beweisfreiheit, StPO. $ 73 I! oder gar von der Zusicherung bestimmter Bezahlung abhängig macht. Das grenzt ja fast an das Unternehmen, durch Drohung eine Behörde zur Vornahme von Amtshandlungen zu nötigen, StGB. $ 114.

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 381

teten Angeschuldigten unter Aufrechterhaltung der Unter- suchungshaft durchzuführen. Im übrigen aber ist die Einlieferung Verhafteter in die Irrenanstalt eine Unterbrechung der Untersuchungs- haft, mag eine solche nun ausdrücklich verfügt oder eben in dieser Gestalt faktisch vorgenommen werden.”) Von dieser Anschauung gehen auch die früher zitierten Ministerialerlasse vom 10. Mai und 20. Oktober 1908 aus. Für den Betroffenen ist dabei nur ungünstig die Unmöglichkeit, daß die Anstaltszeit als Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet wird. (StGB. $ 60.)

Indessen, die hier vertretene Auslegung des Begriffs „Gefangener” ist durchaus bestritten.”) Für die uns interessierende Frage ist das Kri- terium daraus zu entnehmen, welches der übergeordnete Zweck der Frei- heitsentziehung nach $ 81 ist. Das ist aber die Beobachtung und nicht die Festhaltung. Die letztere ist nur eine Begleiterin, ein Schatten der erste- ren, und steht in deren Diensten. Verträgt es sich besser mit dem Zweck der Beobachtung, keinerlei Einengungen anzuwenden, so ist der Anstalts- leiter voll dazu berechtigt. Ist die Beobachtung abgeschlossen, so ist der Festhaltungszweck erloschen, und der Anstaltsleiter ist berechtigt und sogar verpflichtet, den Exploranden zu entlassen.) Die entgegengesetzte Auffassung müßte dazu führen, unter allen Umständen und in erster Linie Einsperrungszwang und mechanische Restriktionen zur Fluchtver- hütung zu verwenden, selbst wo der Forschungszweck darunter litte, Nach

=) Wenn die Untersuchungshaft ausdrücklich aufrecht erhalten wird und wenn die Irrenanstalt sich bereit erklärt, anomalerweise Untersuchungshaft zu vollstrecken, also sich unter die Regeln des $ 116 StPO. und unter die Direktiven des Richters (z. B. Beschäftigung, Fesselung u. a.) zu stellen, dann ist es natürlich etwas anderes,

®) Wie hier v. Liszt 568, John {v. Holtzendorff, Rechtslexikon), Binding, Lehrb. II, 584, Anm., M. E. Mayer, Befreiung von Gefangenen, 1906, S. 7, Meyer- Allfeld ®566. Dagegen Olshausen-Zweigert, Frank, Rüdorff-Steng- lein; nicht ganz sicher Oppenhof-Delius und H. Hofmann, Gefangenenbe- freiung, 1903, S. 32, Gründe sind meist nicht angegeben. Man setzt Gefangenschaft und Freiheitsentziehung durch ein Organ der Staatsgewalt einfach einander gleich, und ge- langt zu der schönen Konsequenz, daß Kinder im Schularrest „Gefangene“ sind. Das ist jus vigens in Bayern. Daß gemeingefährliche Geisteskranke aus öffentlichen Ir- renanstalten nicht entlassen werden können, weil ein Widerspruch der Verwaltungs- behörden, insbesondere in Preußen des Regierungspräsidenten, erfolgt, macht die Inter- nierten noch nicht zu „Gefangenen“. Denn es fehlt wenigstens in Preußen noch zur Zeit an jedem gesetzlich geregelten und mit der Verfassung ver- träglichen verwaltungsrechtlichen Internierungsverfahren; von Boxber ger, Zentralblatt £. freiwill. Gerichtsbarkeit, 1909, S. 217, 269; 1910, S.387. Mit dem auf Grund der Runderlässe der Ministerien von 1901 zurückgehaltenen Kranken hat der Anstalts- leiter nur als Arzt und nicht als Gefangenwärter zu tun, Aschaffenburg, Ver- gleichende Darstellung a. O. I, 94. Die Möglichkeit, daß ein Gefangener einmal unter Aufrechterhaltung dieser Eigenschaft an eine Kranken- oder Irrenanstalt abgeliefert wird, besteht allerdings, und StrPrO. $ 493 trägt ikr Rechnung. Durchaus auf dem gleichen Boden steht das Reichsgericht in dem im Archiv für Strafrecht, Bd. 50, S. 104, mitgeteilten Fall.

””) Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß der Arzt, falls der Beschuldigte in die Untersuchungshaft zurück soll, selbstverständlich zunächst die- betr. Gefängnisleitung oder die Polizei benachrichtigen muß.

382 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

unserer Meinung dagegen bleibt der Beobachter Herr im eigenen Haus, und vor allem: er bleibt Arzt, er wird nicht Büttel,

Eine Ausnahme bildet, abgesehen von den oben erwähnten zwei be- sonderen Kategorien von Anstalten, die Ergreifung des Angeschuldigten durch den vollstreckenden*) Staatsanwalt oder die von ihm beauftragte Polizei zum Zwecke der gewaltsamen Zuführung an die im Gerichtsbe- schluß bezeichnete Irrenanstalt. Hier ist der Gesichtspunkt des staat- lichen Interesses und des öffentlichen Dienstes bis zur Ablieferung der übergeordnete. Solange ist der Angeschuldigte also entweder „Gefan- gener”, oder er ist noch „Untersuchungsgefangener“.

Eine unangenehme Konsequenz unserer Ansicht ist die Straflosig- keit der Beihülfe, die Dritte zur Selbstbefreiung leisten, und der Entfüh- rung des Exploranden von außen her. Doch wird in den meisten Fällen Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung gegeben sein.

8, Seit den Entscheidungen des Reichsgerichts vom 12, August 1891 und 13, Juli 1892 (Jur. Woch.-Schr. 1891, S. 504, Entsch.-Bd. 23, 209) hat die Praxis und die überwiegende Meinung in der Literatur daran festge- halten, daß die Höchstdauer der Freiheitsentziehung 6 Wochen unter kei- nen Umständen überschreiten dürfe, Es wird zuzugeben sein, daß eine Verlängerung nicht stattfinden darf.”) Zunächst wird also das Gutachten, das möglicherweise auf ein Non liquet hinauskommt, schriftlich oder mündlich, im Hauptverfahren mündlich,”) erstattet und vom Richter ge- würdigt werden. Vielleicht reicht es ihm zur Bildung seiner Überzeugung, namentlich zur Fällung eines freisprechenden Urteils aus. Andernfalls wird ein Beschluß auf neue Begutachtung zu fassen sein, $ 81 Dann kann das folgt aus dem Begriff der neuen Begutachtung auch eine neue Vorbereitung und zu diesem Ende eine neue Anstaltsbeobachtung ‚angeordnet werden. Das Reichsgericht aber läßt als neue Begutachtung nur eine unvollkommene, des wichtigsten Hilfsmittels beraubte, zu. Dann wäre die ganze Bestimmung wertlos, da ja etwas Ungenügendes nicht durch etwas noch Ungenügenderes verbessert werden kann, Eine Umgehung

28) Denn, sofern der gerichtlichen Anordnung nicht freiwillig gehorsamt wird, be- darf sie der Vollstreckung. Dann hat nach StrPrO. $ 36, Satz 1, die Staatsanwaltschaft das Erforderliche zu veranlassen. Doch steht nach Abs. III auch dem Untersuchungs- richter (während der Voruntersuchung) und dem Amtsrichter (in Schöffensachen) die Befugnis zu, unmittelbar die Vollstreckung zu veranlassen (durch Anweisung an Ge- richtsdiener oder Requisition von Verwaltungsbehörden). Im übrigen vgl. Beschluß des OLGer. Düsseldorf im Arch, £, Strafr., Bd, 58, S. 257.

2) Jedoch ist es möglich, die ganze Zeit nicht auf einmal zu verbrauchen, Das Gericht weist z. B. nur auf 4 Wochen ein. Dann könnte um 2 weitere Wochen verlän- gert werden. Oder der Sachverständige erstattet das Gutachten schon nach 3 Wochen; dann stünden auch nach herrschender Ansicht für einen Gegen- oder Obergutachter im- mer noch 3 Wochen Beobachtungstrist frei.

3) StrPrO $ 82 gilt nur für das Vorverfahren. In dem Hauptverfahren sind schriftliche Gutachten nur benutzbar, wenn sie von öffentlichen Behörden erstattet sind, Ss 255,

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 383

eines gesetzlichen Verbotes liegt auch nicht vor, weil $ 83 I ausdrücklich verstattet, als Neubegutachter denselben Sachverständigen zu wählen. Nach Zusammenhang und Stellung bezieht sich $ 83 auch auf $ 81 mit zurück und gilt also auch für die Exploration des Geisteszustandes. Das wird auch vom Reichsgericht zugegeben, aber eben nur halb.

Nun sei dem Reichsgericht eingeräumt, daß man in der Reichsjustiz- kommission die Maximalbegrenzung aus der Leitidee des Schutzes der persönlichen Freiheit heraus aufgestellt hat. Man ist sich aber des Zu- sammenhanges mit $ 83 nicht bewußt geworden. Wäre man es geworden, so würde man vielleicht die Präponderanz des $ 81 IV gewollt und zum Ausdruck gebracht haben. Das ist nicht geschehen, Es gilt aber nur der aus dem Gesetz selbst zu ermittelnde Sinn und nicht der, überdies nur mutmaßliche, Wille seiner Anreger und Veranlasser.

Dazu kommt noch Folgendes: ein Sachverständiger kann durch die Parteien abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der ein Mißtrauen gegen seine Unbefangenheit und Unparteilichkeit zu rechtfertigen geeig- net ist (StPO. $$ 74, 24). Ein präkludierender Zeitabschnitt, eine Bin- dung an eine Frist existiert für die Ablehnung nicht. Nehmen wir an, ein Psychiater sei nach 6wöchiger Beobachtung zu dem Schlusse gekommen, daß der Angeklagte unzurechnungsfähig ist. Nunmehr ermittelt der Staatsanwalt ältere freundschaftliche Beziehungen des Arztes zu der Fa- milie des Inkulpaten. Er lehnt deshalb nach Erstattung des Gutachtens den Sachverständigen ab und dringt damit auch beim Gericht durch. Das ist genau der Fall des $ 83 II: es kann (und muß) mithin Begutachtung durch andere Sachverständige angeordnet werden. Das alte Gutachten ist hiermit gänzlich hinfällig geworden; seine Benutzung ist verboten. Am richtigsten wird es ganz aus den Akten entfernt werden. Was nun? Nach dem Reichsgericht ist die Frist verbraucht, und folglich kann überhaupt kein brauchbares Gutachten mehr gewonnen werden, Im gedachten Fall leiden darunter die Interessen des Angeklagten vielleicht schwer. Außer- dem aber wäre hier einem rabulistischen Feldzug gegen unbequeme Gut- achten Raum eröffnet, Ein unbedenklicher Verteidiger würde etwa alle Hebel in Bewegung setzen, um eine Ablehnung des Psychiaters, der den Klienten für geistesgesund erklärt, durchzudrücken. Das ungünstige Gut- achten verschwindet in der Versenkung, ein neues kann nicht mehr dro- hen, und Zweifel müssen dem Angeklagten zugute kommen. Eine Ab- schwächung dieses Übelstandes kann allerdings dadurch erreicht werden, daß mehrere Ärzte der Anstalt als Mitgutachter bestellt werden.

Im Militärstrafverfahren ist wieder (wie oben S, 376) zwischen Ge- richtsherrn und Gericht zu scheiden. Jener ist durch $ 217 an die sechs Wochen gebunden. Dieses dagegen soll es nach der einmütigen Meinung der Ausleger“) nicht sein. Es herrscht hier also weit unbeengtere Frei-

s) Romen-Rissom, S, 508,

384 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren.

heit der Wahrheitserforschung, als im bürgerlichen Strafprozeß.”) Damit wird so zweifelhaft die Gesetzesauslegung sein mag— auch den Bedürfnis- sen der psychiatrischen Praxis entgegengekommen. Denn der Fall kann vorkommen, wiewohl nicht allzu häufig, daß die sechs Wochen nicht aus- reichen, so bei periodischen Geistelstörungen, vor allem dem manisch- depressiven Irresein, bei den Remissionen der Paralytiker, bei der Epilepsie. Gerade dieses Beispiel zeigt freilich, daß die Aushülfe durch Neubegutachtung recht prekär ist. Wer steht dafür, daß ‚während. der neuen Frist, zumal in dem günstigeren, Alkohol, Unfälle, Dienstanstren- gung, Ärger, Schreck usw. fernhaltenden Anstaltsmilieu, ein Anfall oder ein Äquivalent auftritt? Und dann ist man so klug wie vorher.) An- dere Beispiele, wo verlängerte Beobachtung angezeigt sein kann, bietet der Verdacht der Simulation; oder umgekehrt der dissimulierende Para- noiker: Verstellung und Verleugnung (Kräpelin); der Querulant (vgl. Ort- loff, Gerichtssaal [1883], Bd. 53, S. 459), wenn es sich fragt, wie tief sein Wahnsystem greift, zumal wenn ihm etwa ursprünglich wirklich Unrecht geschehen war; sodann die epileptischen Dämmerzustände oder die aufge- stellte Behauptung eines ähnlichen Dämmerzustandes, ein dem An- schein nach mehr in Mode kommender Fall.*) Es erscheint mir als ein Mißgriff des Entwurfes 1909, daß er den bekämpften Auslegungsfehler des Reichsgerichts verewigt.

9, Weitere Streitfragen, die an $ 81 sich anknüpfen, betreffen nur das rein juristische Gebiet und sind für die medizinische Seite ohne Inter- esse. Gilt die „notwendige“ Bestellung eines Verteidigers nur für das Unterbringungs- und Verwahrungsverfahren, oder darüber hinaus für den ganzen Prozeß?*) Darf der Verteidiger auch gegen den ausdrücklichen

32) Zu welchen gezwungenen Umwegen man seine Zuflucht nimmt, lehrt deutlich die RGer.-Entsch., Bd. 34, S, 307. Um der wissenschaftlichen Deputation für das Me- dizinalwesen zu einer dauernden Beobachtung zu verhelfen, soll gegen einen Freige- sprochenen ein Haftbefehl erlassen und er dann aus dem Hirschberger in ein Berliner Untersuchungsgefängnis übergeführt werden! Dagegen ist zu sagen: 1. eine Unter- suchungshaft zum Zweck weiterer ärztlicher Beobachtung (so Löwe-Hellweg) ist gesetzwidrig; 2. gegen den Freigesprochenen dürfte kaum dringender Tatverdacht vor- liegen; 3, Fluchtgefahr war im konkreten Fall durch den Aufenthalt in der Provinzial- irrenanstalt ausgeschlossen; 4, kein Untersuchungsgefangener braucht sich explorieren zu lassen: er hat das Recht, auf alle Fragen zu schweigen, und zu körperlicher Durch- suchung bedarf es eines besonderen und von genauen gesetzlichen Gründen abhängigen Beschlusses; der Hinweis des RGer. auf StrPrO. $ 116, II, ist verfehlt, eine ärztliche Be- obachtung wird niemals durch den Haftzweck (Flucht- und Kollusionsverhütung) und nur bei akuten Störungen durch die Aufrechterhaltung der Ordnung im Gefängnisse gerechtfertigt. Nur beschränkt gestattet die Überführung österr. Entw. 1912,

3) Die Zwischenzeiten können ja Monate und Jahre dauern; 4 Jahre bei dem von Siemerling erwähnten Schutzmann, Schmidtmann (Casper-Liman), Handb. der gerichtl. Med., 9. Aufl, 1906, III, 619.

34) Straßmann, Medizin und Strafrecht, 1911, S. 399,

5) Letzteres ist de lega lata das Richtige, so RGer., Bd. 37, S. 21. Für Ersteres Löwe-Hellweg, Glaser, aber jetzt auch der Entwurf 1909; gegen ihn v. Hip- pel in Mittermaier-Liepmann, Schwur- und Schöffengerichte, Bd. II, S, 51, 81.

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 385

Willen des Angeschuldigten die sofortige Beschwerde ergreifen?) Greift, wenn das erkennende Gericht die Unterbringung anordnet, ebenfalls die Beschwerde nach $ 81 III Platz, oder ist sie nach $ 347, Satz 1, ausge- schlossen? ”) Gibt es gegen die Ablehnung der Anstaltsverbringung kein Rechtsmittel, oder sofortige Beschwerde, oder einfache Beschwerde? *)

IL

Wir haben bei den bisherigen Darlegungen uns mit voller Absicht auf das geltende Recht beschränkt, da ihm aller Voraussicht nach noch eine Lebensdauer zumindest ven 6-7 Jahren beschieden ist, nachdem die Beratung der vorgelegten neuen StPO. im Frühjahr 1911 vom Reichs- tag abgebrochen worden ist. Werfen wir zum Schluß aber noch einen Blick auf das künftig zu erwartende Recht. Die 1903-05 im Reichs- justizamt tagende Kommission hat sich mit $ 81 nicht befaßt. Dagegen brachten die Entwürfe vom September 1908 und vom März 1909 dieser war die Vorlagean den Reichstag bedeutsame Abänderungen im Sinne einer Verstärkung der Kautelen, sowie der Subsidiarität und der Pro- portionalität des Eingriffs in die persönliche Freiheit. Die Begründung *) betont ebenfalls diese Ziele: die Zwangsmaßregel soll, so lange es an- gängig ist, nicht verhängt, sondern durch andere Vorkehrungen ersetzt werden: Beobachtung in der Häuslichkeit, in einer andern Anstalt, wo der Angeschuldigte gerade interniert ist, freiwillige Aufnahme in eine ge- eignete (wenn auch private) Anstalt Vertrauenswürdigkeit des Sach- verständigen natürlich vorausgesetzt.”) Dem Gutachter wird die Pflicht eingeschärft, die Unterbringung nicht über das Maß des Explorations- zweckes auszudehnen. Schon hervorgehoben war, daß der Entwurf in der starren Festlegung der Höchstgrenze leider dem Reichsgericht bei- tritt. Dagegen desavouiert er den Standpunkt des höchsten Gerichts- hofes in einer andern Beziehung: die Beschwerde ist auch gegen den Beschluß des erkennenden Gerichtes unmittelbar zulässig, und es wird sogar eine weitere Beschwerdeinstanz gegeben. Diese neue Kautel hat freilich nur Bedeutung, wenn in erster Instanz das Schöffengericht (oder der Amtsrichter) tätig war. Denn über das Oberlandesgericht geht die Beschwerde nie hinaus. Das Reichsgericht wird deshalb künftig über-

®) Nein; a M. Löwe-Hellweg, v. Kries und die meisten.

87) Sie greift Platz, denn $ 81 II ist lex specialis. Ebenso: Rintelen, Dalcke, Beling, Köhler, Löwe (ältere Auflagen). Dagegen u. a. RGer., Bd. 20, S. 378._ Die Ober- landesgerichte schwanken, zuletzt dagegen Marienwerder am 9. Nov. 06, Arch. f. Strafr., Bd. 54, 102; dafür Darmstadt am 7. Juni 00, Arch., Bd. 48, 456, und Bayrisches Oberstes Ländesger. am 16. Febr. 11, Seufferts Blätter, Bd, 76, S. 399,

®) Die erste Ansicht teilen Löwe-Hellweg, Rintelen, Isenbart; die zweite Ben- necke, Stenglein, Köhler; die dritte und richtige John und Beling. Die Zweifel sind be- hoben in Militär-StrGerOdg. $ 217, IH.

%) Reichstag, 12, Legisl.-Per., I. Session, Drucks, 1310, Beigabe A, S. 87£.

4) Insoweit wird die Erhebung der öffentlichen Klage nicht vorausgesetzt. Aber insoweit kann das Gericht äuch nur zulassen, nicht zwingen.

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Ärzte. 25

386 Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren,

haupt nicht mehr in die Lage kommen wozu es gegenwärtig per abusum gelangt war —, in das Unterbringungsverfahren hineinzureden.

Der Wortlaut des neu vorgeschlagenen $ 80 war:

Ist zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Be- schuldigten nach Erklärung des Sachverständigen eine Beobachtung erforder- lich, so hat der Richter dem Sachverständigen, soweit tunlich, dazu Gelegenheit zu geben.

Erklärt der Sachverständige, daß die erforderliche Beobachtung nur in einer Anstalt möglich ist, und läßt sich der Beschuldigte nicht freiwillig in eine dazu geeignete Anstalt aufnehmen, so kann, wenn die öffentliche Klage schon erhoben ist, das Gericht anordnen, daß der Angeschuldigte in einer bestimmten öffentlichen Irrenanstalt untergebracht und beobachtet wird. Vor der Anordnung ist der. Verteidiger zu hören; hat der Angeschuldigte keinen Verteidiger, so ist ihm ein solcher für das Verfahren über die Unterbringung zu bestellen. Gegen die Anordnung ist sofortige Beschwerde zulässig; die Beschwerde hemmt die Vollstreckung.

Sobald die Beobachtungen für das Gutachten ausreichen, hat der damit betraute Sachverständige dem Gericht Anzeige zu machen. Die Unterbringung in der Anstalt darf, auch wenn sie in demselben Verfahren oder in einem andern Verfahren, das dieselbe Tat zum Gegenstande hat, wiederholt ange- ordnet wird, ohne Einwilligung des Angeschuldigten insgesamt nicht über sechs Wochen dauern.

Im Verfahren auf Privatklage und in Sachen, die in erster ee vor den Amtsgerichten ohne Schöffen zu verhandeln sind, darf die Unterbringung

in einer Öffentlichen Irrenanstalt nicht angeordnet werden.

Die 7. Kommission des Reichstags, die den Entwurf in zwei Lesungen durchberaten hat, ist noch zu etlichen Änderungen gelangt, die aber mehr redaktioneller Art sind,“) bis auf die Schlußbeschränkung, die außer in Privatklage- nur in Übertretungssachen gelten soll.”)

Es sind hiermit noch nicht alle gerechten Wünsche erfüllt, wenn auch in dem Antagonismus der Kräfte, die auf freie Wahrheitsermittelung einerseits, auf Achtung der persönlichen Freiheit andrerseits hinstreben, im allgemeinen die richtige mittlere Linie gefunden ist. Wir fassen zum größten Teil schon Gesagtes zusammen, wenn wir noch folgenden For- derungen Gehör erbitten: |

I. In Abänderung des Entwurfes von 1909 möge eine Atsdährbi keit der Unterbringung auch über 6 Wochen hinaus erfolgen. Doch soll das nur in Ausnahmefällen auf ein eingehend begründetes Gutachten der vernommenen Sachverständigen durch erneuten Beschluß des Gerichtes zulässig sein, und nur ganz subsidiär, wenn andere Mittel sich als nicht ausreichend erwiesen haben.

4) Einsetzung des Ausdrucks „Beschuldigter” da Gerichtshängigkeit ver- langt wird; sachlich nichts Neues. Anhörung der Staatsanwaltschaft vor der Anord- nung bereits geltendes Recht nach StrPrO $ 33, Drucks. Nr. 7, 4, Teil, Zusammen- stellung S. 757.

#2) Abgelehnt wurde eine in 2, Lesung vorgeschlagene neue Kautel,; daß nämlich vor der Unterbringung.auf Verlangen des Beschuldigten noch ein zweiter Sachverstän- diger gehört werden müsse, Drucks. a, O., 1. Teil, S. 195; vgl, öst, Entw. 1912,

Rosenfeld: Die Beobachtung des Geisteszustandes im Strafverfahren. 387

II. In Ergänzung des Entwurfes von 1909:

1. Der Richter soll auch von Amtswegen die Unterbringung anord- nen dürfen, nachdem ein Gutachter zwar gehört worden ist, aber keine bestimmte Ansicht ausgesprochen hat.

2. Der Aufenthalt in einer öffentlichen Irrenanstalt muß in der Regel auf die etwa verhängte Strafe angerechnet werden; der freiwillige Aufenthalt in einer privaten Anstalt darf angerechnet werden.

3, Die Verbringung ist nur bei nicht ganz unerheblichem Tatverdacht statthaft.

4, Nach bisherigem Recht ist die natürliche Voraussetzung der ganzen Maßregel zu wenig gewahrt, nämlich daß die psychiatrische Vor- begutachtung auch in den richtigen Fällen angeordnet werde. Heute ist das ganz dem laienhaften Ermessen des Richters überlassen. So können etwa selbst Taubstumme trotz StGB. $ 58 ohne irrenärztliche Unter- suchung und nach künftigem Recht, da StPO.$ 140 Z. 1 insoweit nur noch Ordnungsvorschrift sein soll, sogar ohne Verteidiger abgeurteilt werden. Irgend einen Hinweis auf die Wichtigkeit der Heranziehung eines Psy- chiaters müßte daher das Gesetz enthalten, und neben der generellen Klausel müßten einige Beispiele angedeutet sein. Zu denken wäre etwa an die Sittlichkeitsverbrechen der Greise über 70 Jahren, an Eifersuchts- delikte von Alkoholikern, an halbwüchsige Kindermädchen, die Brand- stiftungen oder Vergiftungen begehen, an Warenhausdiebinnen, die ihre Beute nutzlos aufspeichern. Alle Mordfälle sollten obligatorisch hierher gezogen werden. Jedenfalls könnte einiges nach dieser Richtung durch Anleitung des Richters im Gesetze geschehen; denn die Zahl der zu Frei- heitsstrafen verurteilten Geisteskranken wird kein Kundiger gering ver- anschlagen, so sehr auch die Angaben und Schätzungen etwa von Aschaffenburg, Bonhöffer, Näcke, Krohne von einander ab- weichen. Des weiteren aber belehren uns die Beispiele, von denen die Bücher etwa von WilmannsundErnstSchultze*) erfüllt sind, daß der zuzuziehende- Arzt nicht ein beliebiger Zivil-, Militär-, Amtsarzt sein darf, sondern ein Psychiatiker von Fach sein muß.

Nur dann werden wir der gesteigerten Bedeutung gerecht werden können, die der Beobachtung des Geisteszustandes im zukünftigen Straf- recht erwachsen wird, wenn es sich an die längst brennend gewordene Frage der geistig minderwertigen Verbrecher begibt.

=) Wilmanns, Zur Psychologie des Landstreichers, 1906. E. Schultze, Psychosen bei Militärgefangenen, 1904; weitere Beobachtungen, 1907. Vergl. auch Gruhle, Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität, 1912,

25*

Schwindsucht und Perlsucht.

Ein Beitrag zur Frage der Beziehungen beider Seuchen zueinander.

Von Dr. A, Besserer.

Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich auf eine Reihe von experimentellen Versuchen, die ich im Laufe der letzten drei Jahre än- stellte. Angeregt würden sie durch den Vorschlag Robert Kochs in Washington 1908), bei möglichst vielen Fällen von Lungentuberkulose die Art des Erregers genau festzustellen.

Es war bis dahin in der Literatur das Vorkommen von rinderviru- lenten Tuberkelbazillen bei allen möglichen Tuberkuloseformen des Men- schen beschrieben, bei den 90 daraufhin untersuchten Fällen von Lungen- tuberkulose indessen nur einmal ein solcher Stamm herausgezüchtet wor- den.) Auch bei diesem konnten möglicherweise Versuchsfehler mit unter- laufen sein. | :

Das Zahlenverhältnis war auffallend. Sollte es sich bestätigen durch eine größere, mit allen Kautelen angestellte Versuchsreihe, so war vor allem einmal ungefähre Klarheit über das quantitative Vorkommen finder- virulenter Stämme im Menschenkörper geschaffen. Denn die Schwind- sucht beherrscht das epidemiologische Bild der Menschentuberkulose,

In den ersten Jahren nach dem bekannten Vortrag Kochs in London 1901°) war natürlich untersucht worden, ob rindervirulente Bazillen über- haupt den Menschen infizieren können. So hatte man in erster Linie primäre Darmtuberkulose, tuberkulöse Hautveränderungen und dergl. bevorzugt, jedenfalls immer eine bestimmte Wahl getroffen. Dies drohte dem praktischen Endziel gefährlich zu werden, nämlich ein Urteil über die Häufigkeit und Schwere der Infektion durch Milch, Butter oder Fleisch tuberkulöser Rinder zu gewinnen, um danach seine Verhütungsmaßregeln zu bestimmen.

Die Versuche‘) mußten so angestellt werden, daß eine Verunreini-

1) Vergl. Pannwitz, Berliner klinische Wochenschrift 1908, H. 44, '

2) Dieterlen, Tuberktlosearbeiten a, .d. Kaiserlichen Gesundheitsamt, Heft 10.

3) Deutsche mediz. Wochenschrift 1901, 33,

*) Dem Zwecke der Festschrift entsprechend habe ich von der Mitteilung aus- führlicher Versuchsprotokolle u. dergl. Abstand genommen. Der Arbeitsplan richtete sich genau nach den Grundsätzen, die am 21. XI. 1908 und 23. II, 1910 im Kaiserlichen Gesundheitsamt festgelegt wurden, um einheitlich vergleichbare Resultate zu ermög- lichen. (Näheres s. Möllers: Veröffentlichungen der Robert Koch-Stiftung, Heft 1, 1911.) Die von den ersten 10 Lungenkranken gewonnenen Reinkulturen wurden ausführlich beschrieben in einem amtlichen Bericht, Januar 1911. Seitdem habe ich noch 9 Fälle untersucht. Vier dieser letzteren habe ich nicht berücksichtigt, da die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Nach Beendigung dieser Versuchsreihe wird ein weiterer amtlicher Bericht erstattet werden, Es ist dann beabsichtigt, die Resultate im Zusam- menhang mit gleichartigen Versuchen zu veröffentlichen.

\

a ln Lan ln ana a nm

u

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 389

gung der im Auswurf der Schwindsüchtigen vorhandenen Tuberkel- bazillen mit etwa aus der Nahrung des Kranken stammenden Perlsucht- bazillen (Milch, Butter) unbedingt ausgeschlossen war. Der Auswurf wurde mindestens zweimal (in vier Fällen dreimal) entnommen im Zwischenraum von 8—10 Tagen. Nur bei einem Kranken war dies nicht ausführbar wegen vorzeitiger Entlassung aus dem Krankenhause unmittel- bar nach der ersten Entnahme. Im Meerschweinchen wurden die jeweils in einer Probe enthaltenen Bazillen so lange fortgezüchtet, bis Klarheit über die Art der Reinkultur gewonnen war. In diesem Tier halten sich erfahrungsgemäß die Bazillen unverändert; auch bei etwa vorliegender Mischung verschieden virulenter Stämme unterdrückt nicht der eine Stamm den anderen, wie z. B. im Kaninchenkörper. So gelang es jeder- zeit, auf die Ursprungsverhältnisse zurückzugreifen, falls Zweifel ent- standen und Auswurf dann nicht mehr zu erhalten war.

Es wurden möglichst solche Kranke (nur Erwachsene, mit typischer schwerer Lungentuberkulose) bevorzugt, die in ihrer Anamnese nicht mit Sicherheit auf familiäre Infektion hinwiesen. Eine Person führte ihr Leiden mit Bestimmtheit auf den Genuß roher Kuhmilch zurück. Die Familie wies hier keine manifeste Tuberkulose auf; auf dem betr. Hofe konnte die hiesige Tierseuchenstelle beim Stallvieh mehrere Fälle von Perlsucht feststellen. Es sei schon hier betont, daß der aus dem Auswurf dieser Person gezüchtete Stamm nicht aus dem Rahmen der übrigen Rein- kulturen herausfiel. Auf die Angaben der Kranken über die Entstehungs- art ihres Leidens ist m. E. herzlich wenig zu geben.

Von den 15 Schwindsüchtigen (A—P) züchtete ich 34 Reinkulturen (6 davon sind „Duplikate”, d. h. aus derselben Auswurfprobe, aber ver- schiedenen Meerschweinchen gewonnen. Diese Kulturen wurden nur hinsichtlich ihres Verhaltens bei Impfung auf Glyzerinbouillon geprüft, nicht im Tierversuch). Der Besprechung unterziehen möchte ich ferner noch 9 Stämme, die aus folgenden Tuberkulosefällen gewonnen wurden;

Q. Kind, Halsdrüsentuberkulose: 1 Kultur.

R. 13jähriges Mädchen, gestorben an subakuter Meningitis tuber- eulosa; Sektion ergibt: alte Darmtuberkulose, Peritonitis chron. tuberc.,; teilweise verkalkte Mesenterialdrüsen; in beiden Lungenspitzen mehrere kirschgroße, teils verkalkte Herde; Bronchialdrüsen: alte Tuberkulose, schiefrige Induration; 3 Kulturen: je eine aus Mesenterialdrüse, Lunge, Gehirn. (Familie angeblich gesund. Kind soll in der Jugend viel rohe Kuhmilch getrunken haben.)

S. Kind, Solitärtuberkel im Gehirn: 1 Kultur.

T. Mann, Nierentuberkulose: 1 Kultur aus Urin.

U. 3 Kulturen, aus Auswurf Schwindsüchtiger mittelst Antiformin direkt, ohne Tierimpfung gewonnen.

Bei allen Versuchen wurde zum Vergleich eine Kultur herangezogen, die ich aus dem Institut für Infektionskrankheiten als „typus bovinus” erhielt. Mit dieser Kultur wurden während der Versuchszeit im ganzen

390 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht.

3 Kaninchen subcutan geimpft (0,01 g). Sie starben nach 54, 95, 67 Tagen an Tuberkulose der Drüsen, Lungen, Nieren. Diese Tiere wurden streng isoliert gehalten. Die räumlichen Verhältnisse gestatteten nicht die Isolierung aller Versuchstiere, Ergaben sich aber aus dem Wachstum auf der Glyzerinbouillon Verdachtsmomente auf „typus bovinus”, so wurden die mit dieser Kultur geimpften Tiere ebenfalls isoliert. Tier- versuche mit Perlsuchtmaterial habe ich absichtlich nicht angestellt, auch die Impfungen mit dem oben genannten ‚„typus bovinus” auf das notwen- digste eingeschränkt, um möglichst das Entstehen einer spontanen Perl- sucht bei meinen Versuchstieren zu verhüten. Wie leicht diese eintreten kann und wie unangenehm sie dann wird, zeigen ja mehrfache Beob- achtungen.’)

In allen Fällen gelang die Reinkultur. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, wollte man einen Versuch aufgeben, weil die Kultur aus den ersten Tieren noch nicht herausgezüchtet werden kann. Denn gerade bei er- schwerter Züchtung könnte der typus bovinus in Frage kommen. Ich habe aus dem Grunde auch zunächst reines Rinderserum neben dem Glyzerinserum als erstes Nährbodenmaterial verwandt. Vorteile habe ich davon nicht gesehen. Späterhin habe ich nur dann reines Serum mit- benutzt, wenn die Kultur auf Glyzerinserum zunächst nicht recht gelingen wollte, Einen Stamm, der deutlich besser und üppiger auf reinem Serum wuchs, habe ich nicht beobachtet.

Für den Gang der Untersuchung war in erster Linie bestimmend die Frage, ob die gewonnenen Reinkulturen sich zwanglos in eine der beiden von Kossel, Weber und Heuß°) aufgestellten Typen der Tuberkel- bazillen unterbringen ließen, oder ob sog. atypische Stämme sich vor- fanden. Gefordert wird für eine solche Untersuchung die Prüfung des Wachstums auf Glyzerinbouillon (3 %, amphoter) und der Kaninchen- versuch (subcutane Impfung von 0,01 g trockener Bazillenmasse). Die intravenöse Impfung wäre wohl besser bei vergleichenden Arbeiten größerer Ausdehnung völlig auszuschalten. Es scheint mir, daß gerade durch sie, die mit der wechselnden toxischen Wirkung der Tuberkel- bazillen rechnen muß, so mancher Widerspruch in die Literatur herein- gekommen ist, der die Frage nach der Berechtigung der Typenabgrenzung und der praktischen Bedeutung des Kaninchenversuchs an Stelle der Rinderimpfung unnötig erschwert hat.)

Als drittes Unterscheidungsmoment habe ich dann noch die Be- stimmung der Säurebildung nach Smith°) hinzugenommen und kann

5) Burckhardt, Deutsche Zeitschrift f. Chirurgie, Bd. 106, S. 122. Rothe, Deutsche med, Wochenschrift 1912, 642.

6) Tuberkulosearbeiten aus dem Kaiserlichen. Gesundheitsamt, H. 1 u. 3,

?) Vergl. z. B. Fibiger u. Jensen, Berl. klin. Wochenschrift 1908, S. 1980.

8) Weber, Handbuch der pathogenen Microorganismen von Kolle-Wassermann, I. Ergänzungsband 1907, und Ref. Centr. £. Bact. I, Bd. 49, 465.

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 391

diese Methode nur empfehlen wegen ihrer relativ leichten Ausführbarkeit und, wie ich glaube, auch Eindeutigkeit. Sie wird jetzt, namentlich in Deutschland, nur wenig benutzt. Es scheint ja, daß gelegentlich Stämme sich finden, die eine charakteristische Kurve vermissen lassen ’) und daraufhin m. E. mit Unrecht als Übergangsformen angesprochen werden zwischen typus bovinus und humanus. Nun kann ich hierin vielleicht kein genügendes Urteil abgeben, da ich nur den einen Ver- gleichsstamm als bovinen Typus benutzte, im übrigen aber, wie ich gleich betonen möchte, bei sämtlichen Untersuchungen nur den typus humanus vorfand. Kämen solche Stämme wirklich vor, so würde dies nur dann den Wert der Säurebestimmung herabsetzen, wenn man sich allein auf sie verlassen würde bei der Typentrennung. Das wäre natürlich falsch. Unbequem ist freilich eine genaue Festlegung der Säurekurve, namentlich bei beschränktem Brutschrankraum, durch die größere Zahl von Bouillon- kulturen, deren man bedarf. Es genügt aber wohl für praktische Zwecke eine zweimalige Bestimmung der Acidität, etwa nach 4 und nach 10 Wochen. Vorbedingung ist m, E. gutes Wachstum, wenn ich auch nicht die Meinung teile, daß lediglich Differenzen in der Wachstumsüppigkeit die verschiedene Reaktion bedingen (Griffith“). Berücksichtigt muß die Größe der Verdunstung werden; zweckmäßig bringt man dazu einen un- geimpften Erlenmeyerkolben mit der gleichen Bouillonmenge als Kon- trolle mit in den Brutschrank. Die Verdunstungsgröße ist nach meinen Versuchen in allen Kölbchen praktisch gleich, ob sie nun halb oder ganz bewachsen, von einer dünnen oder dicken Haut überzogen sind, wenn nur die gleiche Kolbenform gewählt wurde. Die Verdunstung steigert natür- lich den Aciditätstiter, wenn derselbe, wie stets bei meinen Versuchen, über 0 blieb, Nur dadurch kann ein leichtes Ansteigen der Kurve erklärt werden, das mitunter bei dem zu jedem Versuch mit zugezogenen Kontrollstamm beobachtet wurde. Bei einer Versuchsreihe ergaben sich beispielsweise folgende Werte:

Bouillon 4% Glyzerin, Anfangsacidität 2,5% Norm. NaOH. (Indikator Phenolphthalein)

Nach 20 34. | 50 | 62 Tagen Stamm E 2,1 15.135 3,5 2 F 1,8 1,2 3.2 3,8 a 24 1,4 1,4 3,3 a; 1,6 1,7 3,7 3,6 6 1,8 14 17 2,9 zu K 2,0 2,1 2,6 4,0 Typus bovinus 2,0 0,8 0,7 0,8 Wachstum a7 PR 7 Base 7 PRER 1,

®) M. Grund, Orig. Ref. Centralblatt f. Bact. I, Bd. 52, S. 7. 1%) Royal commission on tuberculosis, London. Second interim report. Ref. Cen- tralbl. £. Bact. I, Bd. 42, S. 3.

392 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht,

Die hier benannten Stämme E—K stammen alle von Phthisikern. Ich habe von jedem Kranken (mit Ausnahme der 3 oben sub U. aufgeführten Antiforminstämme) mindestens eine Kultur geprüft, von einigen zwei, von der oben unter R erwähnten 13jährigen Person alle drei Kulturen, da dieselben unter einander bemerkenswerte Differenzen boten, die zunächst den Verdacht erweckten, daß eine Mischkultur oder atypische Kultur in der Mesenterialdrüse enthalten war. (Näheres s. unten.) Sämtliche Kulturen unterschieden sich deutlich von dem „typus bovinus“ durch ihre nachträgliche Säurebildung. Nicht immer überschritt sie, wie in dem obigen Beispiel, die Anfangsacidität. Die Verdunstungsgröße betrug nach 50—60 Tagen etwa 1. Sie wird die Differenz zwischen den Typen natur- gemäß verschärfen, indessen zeigt in obigem Beispiel die Kultur 8, daß ihr Einfluß auch paralysiert werden kann. Ich glaube aber nicht, daß deshalb diese Kultur gesondert werden muß von den übrigen. Wenn man sich nur an das Gesamtbild der Kurve hält und vor allem eine größere Zahl von Stämmen gleichzeitig prüft, wird man meiner Erfahrung nach immer ein brauchbares Urteil über die Zugehörigkeit der Kultur zu einer der beiden Typen fällen können. Die zum Versuch benutzten Stämme dürfen nicht zu alt sein. Zweckmäßig ist es, um rasch über den Charakter einer Kultur orientiert zu sein, gleich die erste Aussaat vom Serum her auch auf eine solche Bouillon vorzunehmen, die zur Säurebestimmung verwertet werden kann. Das langsamere und oft schubweise erfolgende Wachstum solch erster Bouillonkulturen stört kaum, wenn es nur nicht zu früh zum Stillstand kommt.

Der zu allen Versuchen mitbenutzte Kontrollstamm änderte sich in seiner Säureproduktion nicht während der langen Versuchszeit, abgesehen von ganz unwesentlichen Schwankungen. Seine Virulenz schwankte deut- licher (vergl. die obigen Angaben über die 3 mit dem Stamm geimpften Kaninchen). Auch das Wachstum auf Bouillon war verschieden, die Haut manchmal papierdünn, doch ziemlich zäh, dann wieder mehr feinkörnig, leicht auseinanderfallend bei leichten Bewegungen des Kolbens. Bei ge- störtem Wachstum konnte auch zuweilen die Bildung ziemlich dicker warziger Massen erfolgen. Eine zunehmende „Verwilderung” des Stammes konnte ich aber nicht beobachten, obwohl ich eine Kultur bisher niemals durch den Tierkörper hindurch geschickt, sondern nur von Bouillon zu Bouillon weiter gezüchtet habe. Eine wesentliche Ver- änderung habe ich jedenfalls an der Kultur nicht wahrgenommen, die etwa als Neigung zur Umwandlung in den anderen Typus aufgefaßt werden könnte.

Auf die Morphologie der untersuchten Bazillen (Präparat von ca. 4 Wochen alter Bouillonkultur) will ich hier nicht näher eingehen.

Erfahrung nicht. Ob es, wie Weber berichtet,“) möglich ist, in den

11) Centralbl. f. Bacteriologie I, Orig. Bd. 64, S. 258.

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht, 393

meisten Fällen schon aus dem Präparat die richtige Typendiagnose zu stellen, kann ich wegen mangelnder Erfahrung in der Morphologie einer größeren Zahl von Perlsuchtkulturen nicht beurteilen, sondern nur be- tonen, daß ich relativ häufig in meinen Kulturen plumpe, dicke, gerade Stäbchen mit schlanken, zarten, leicht gekrümmten antraf. Meist aller- dings waren letztere allein vertreten, mitunter beherrschten jedoch auch erstere fast das Bild, trotzdem hier ebenfalls typus humanus vorlag. Die Glyzerinbouillonkultur hat in der letzten Zeit stei- gende Bedeutung für die Typentrennung erhalten. Es sind jetzt sichere Beobachtungen darüber veröffentlicht, daß erhebliche Schwankungen in der Virulenz vorkommen bei Stämmen, die unzweifelhaft dem typus bovinus entsprechen.”) Es muß also in Zukunft bei Annahme einer atypischen Kultur das Fehlen nicht nur einer Mischkultur, sondern auch einer Virulenzabschwächung ausgeschaltet werden. Die Stellung der Gegner einer Typenabgrenzung resp. der Verteidiger einer Typenumwandlung ist dadurch erheblich erschwert, andererseits aber auch der Wert einer sicher nachgewiesenen atypischen Kultur erhöht worden. Es steht logisch nichts im Wege, den Begriff der Virulenz- abschwächung so weit auszudehnen, daß darunter auch Stämme fallen würden, die ganz avirulent für Rind und Kaninchen sind: sobald sie typisch bovines Wachstum hätten, müßten sie dem typus bovinus zugerechnet werden. Bisher ist dies meines Wissens noch nicht sicher beobachtet, ich wüßte aber keinen Grund, der zur Ablehnung dieser Konsequenz be- rechtigte, falls ein solcher Stamm beispielsweise bei Untersuchung der Lupusbazillen einmal gefunden würde. Je weiter aber die Typen- theorie ihre Erklärung auf solche abnormen Stämme ausdehnt, um so empfindlicher wird sie auch gegen vereinzelte Ausnahmen von der Regel.

Jedenfalls wird man von jetzt ab zur Feststellung eines typus huma- nus nicht nur die mangelnde Tiervirulenz heranziehen dürfen, sondern muß gleichzeitig auch die Bouillonkultur heranziehen. Dies gilt vor allem von Auswurfuntersuchungen, wo die Gegner der Typentrennung mit einem gewissen Recht auf das lange Verweilen der Bazillen im Körper und damit auf erhöhte Möglichkeit einer Virulenzabschwächung hinweisen können. Der Nachweis, daß eine Reihe von Kulturen bekannt sind, die trotz langen Verweilens im Körper ihre Virulenz nicht einbüßten, ändert an dieser Forderung wenig. Jeder einzelne Fall kann hier anders liegen.

Auf die Unregelmäßigkeiten des Aussehens der Bouillonkultur ist nun vielfach die Annahme des Vorhandenseins atypischer Stämme mit- gegründet worden. Nach meinen Erfahrungen an den 43 Reinkulturen kann ich nur sagen, daß alle ohne jeden Zwang von dem Kontrollstamm (typus bovinus) zu unterscheiden waren und das üppige, faltige Wachstum zeigten, wenn man nur den Versuch nicht zu frühzeitig, event. erst nach Wiederholung beurteilte.

12) Weber, Centralbl. f. Bact. I, Orig. Bd, 64, S. 250.

394 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht.

Schwierigkeiten ergaben sich zunächst einmal daraus, daß ich aus äußeren Gründen gezwungen war, öfter mit der Bouillon zu wechseln, Je seltener dies erforderlich, um so besser für die Vergleichung, da mitunter trotz tadelloser Herstellung Bouillon vorkommt, die zum Wachstum nicht recht geeignet ist. So traf ich eine Bouillon, auf der der Bovinusstamm ziemlich schnell und gut wuchs, ein sehr feines, dünnes Häutchen bildend. Drei gleichzeitig angesetzte, bereits als typus humanus bestimmte Stämme wuchsen aber auch fast in gleicher Weise als zarte Häutchen, und ebenso ein vierter Stamm, der noch nicht bestimmt war. Nun hatte ich diese Er- scheinung schon einmal beobachtet bei einer anderen Bouillon, hier war das Wachstum mit zunehmendem Alter der Kultur jedoch noch typisch geworden. Hingegen war auf der erstgenannten Bouillon das Wachstum bald zum Stillstand gekommen und unverändert zart geblieben. Erst Übertragung auf eine andere Bouillon brachte Klarheit.

Wichtiger noch sind die Differenzen, die sich nach der ersten Über- tragung auf Bouillon oft einfinden und die sicher allein von deren tech- nischer Ausführung abhängig sind. Meine Erfahrungen stimmen hier in den Hauptpunkten mit denen Burckhardt’s") überein, der eine anschau- liche Schilderung der möglichen Modifikationen gibt. Wer keine größere Erfahrung in dieser Sache hat, sollte jedenfalls immer erst die zweite Bouillonkultur zur Beurteilung heranziehen, die dann von jungen, frisch- entstandenen Häutchen der ersten Generation anzulegen wäre. Der großen Mehrzahl solcher unregelmäßig, schubweise gewachsenen Kulturen sieht man leicht an, daß grob physikalische Bedingungen, nicht der innere Wachstumcharakter Ursache ihres eigenartigen Aussehens sind, Hier wird man zu frühzeitige Beurteilung leicht vermeiden können.

Gelegentlich wird aber doch die Entscheidung schwieriger. Ich be- obachtete einen Fall (s. oben R), wo nach anfänglich zögerndem Wachs- tum von der leicht verdickten Impfstelle aus schnell in 4 Wochen ein gleichmäßig dünnes, glattes Häutchen die Bouillon überzog. Die Parallel- kulturen wiesen diesen Charakter zwar nicht so ausgesprochen auf, zeig- ten aber doch im ganzen ähnliches Verhalten. Es handelte sich um eine Kultur aus der Mesenterialdrüse eines 13jährigen Mädchens. Die Mög- lichkeit einer Mischkultur lag vor; daher wurde frühzeitig von der ver- dächtigen Kultur auf Kaninchen übergeimpft; eines der beiden Tiere (2450 gr schwer) wies, nach 4 Monaten getötet, wohl die schwerste Tuberkulose auf, die ich unter meinen Versuchen abgesehen von den 3 Bovinustieren beobachtet habe: Impfherd handtellergroß, mit käsigem Brei schlaff gefüllte Höhle mit dünnen, fibrösen Wänden, leicht lösbar von der Fascie. Drüsen: in der linken Achselhöhle (der Impfstelle entsprechend) drei linsengroße Drüsen, eine davon mit kleinem Käseherd. Nieren, Le- ber, Milz: o. V. Lungen: zahlreiche Tuberkel, über beide Unterlappen

13) |, c. S. 89 und Orig. Ref. Centralbl. f. Bact. I, Bd. 48, S, 417.

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 395

gleichmäßig verstreut, meist etwas über miliar, doch nicht verkäst. In den Oberlappen weniger Tuberkel.

Das zweite Tier (nur 2020 gr schwer bei der Impfung) wurde erst neun Monate nachher getötet. Befund: Impfstelle zwei 3X 3 cm im Um- fang betragende, harte, fibröse, mit einzelnen Käseherden durchsetzte Knoten. Drüsen, Nieren, Leber, Milz: o. V. Lungen: 3 linsengroße, tuber- kulöse Herde: 2 hinten, unten links, 1 am Hilus rechts, alle geschrumpft und fibrös.

Der Gegensatz zwischen den beiden Tierbefunden ist auffallend. Die Unberechenbarkeit des Ausfalles, bedingt durch die individuelle Verschie- denheit der Kaninchen, ist allerdings bekannt.) Ich führe hier die beiden Befunde nur an, weil ich auf Grund der ersten Tiersektion, namentlich be- wogen durch den Käseherd in der einen Drüse, mich veranlaßt sah, diesen Fall noch weiter zu verfolgen hinsichtlich der Frage der Atypie. Inzwi- schen war nämlich durch längere Beobachtung der fraglichen Bouillon- kulturen festgestellt, daß sie nach zweimonatlichem Wachstum durchaus humanen Charakter angenommen hatten. Die zweite Bouillongeneration wies nun aber wiederum zunächst die gleiche Eigenart auf, um erst relativ spät durch Verdickung und Faltenbildung der Haut den humanen Typus anzunehmen; erst die dritte Generation wuchs schnell üppig und faltig. Hier lag zweifellos eine Eigentümlichkeit der Kultur selbst vor, die frei- lich noch nicht berechtigte, eine atypische Form anzunehmen. Weitere Impfungen von dem zuerst getöteten Kaninchen wurden daher vorgenom- men. Leider stand bei der Tötung des Tieres gerade kein Kaninchen zur Verfügung. So wurde ein Meerschweinchen mit derDrüse und einem Stück der Lunge geimpft, dann von diesem Tier direkt ohne Kultur wieder- um zwei Kaninchen. Diese wurden nach 41% Monaten beide getötet: Wiederum fand sich eine nicht unerhebliche Differenz: das eine Tier ganz frei von Tuberkulose, das andere mit einer größeren Zahl kleiner Lungen- herde und vier stecknadelgroßen Tuberkeln in der Milz behaftet. Ein ‘von diesem letzteren Tier weitergeimpftes Kaninchen wies nach drei Mo- naten keine Tuberkulose auf.

Eine Mischkultur konnte dies nicht gewesen sein, sonst wäre der bovine Charakter durch die Tierimpfungen allmählich schärfer herausge- treten. Auch wäre mit ihrer Annahme die Eigenart des Bouillonwachs- tums nicht recht zu erklären. Denn in der Kultur unterdrückt der typus humanus den bovinus. Es muß sich hier um eine individuelle Besonder- heit eines Stammes gehandelt haben, eine Besonderheit, die nach der Seite des typus bovinus hinneigte, aber doch noch nicht aus den Grenzen des typus humanus herausfiel. Für diese Annahme spricht noch eins: die bei- den anderen Stämme, aus der Lunge und dem Gehirn der Leiche gewon- nen, hatten andeutungsweise auch die Eigentümlichkeit im Bouillonwachs- tum; der Lungenstamm teilte mit dem Mesenterialdrüsenstamm ferner

#4) Fränkel u. Baumann, Zeitschr. £, Hygiene 1906, 54.

396 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht.

noch die Neigung zur Bildung von multiplen Lungenherden im Kaninchen- körper.

Mit den drei Stämmen sind im ganzen 14 Kaninchen geimpft worden. Ich muß es mir hier versagen, weiter auf diesen Fall einzugehen, nur so- viel sei bemerkt, daß auf irgendwelche Regelmäßigkeit im Ausfall der Tierversuche nicht zu rechnen war (s. oben die beiden Versuche). Dafür sprach ja schon die Impfmethode, indem die Mehrzahl der Tiere (9) nicht mit abgewogenen Mengen Reinkultur, sondern mit Organteilen anderer Versuchstiere und der Leiche selbst geimpft wurden, eine Methode, die an sich ungenauere Resultate geben muß. Trotzdem kann man meiner Ansicht nach ein ungefähres Gesamturteil in der Richtung abgeben, daß diese Stämme relativ mehr als andere von mir geprüfte zur Bildung mul- tipler Lungenherde im Kaninchenkörper hinneigten.

Wenn man von einem und demselben Kranken mehrmals Auswurf in kurzen Pausen entnimmt und so mehrere Reinkulturen sicher gleicher Natur erhält, kann man noch am besten individuelle Eigentümlichkeiten des betreffenden Stammes erkennen. Von vier Kranken habe ich nun je drei Kulturen, von fünf Kranken je zwei Kulturen in dieser Weise vergleichen können. Ich konnte da beobachten, daß manche Stämme die Eigenart der eben näher besprochenen drei Stämme teilen und mehr als andere dazu neigten, Lungenherde beim Kaninchen zu bilden; trotz des auch bei Einspritzung desselben Materials schwankenden Ausfalles des Tierversuches trat dies hervor. Das Wachstum solcher Stämme war um nichts weniger üppig wie das der anderen.

Auch individuelle Besonderheiten der Bouillonkultur konnte ich be- obachten. Die Bazillen eines Kranken bildeten in den Kölbchen nicht die sonst fast immer nachweisbaren Falten, sondern mehr dicke, schollige, auf der Oberfläche fast glatte Massen, die erst nach Bedeckung der ganzen Fläche einige plumpe Furchen durchzogen. In den späteren Generationen schwand dieser Charakter allmählich. Daß es sich hier nicht; wie man wohl zunächst glauben sollte, um anomales Wachstum handelte, bedingt durch die physikalischen Hemmungen bei der ersten Aussaat auf Bouillon, bewies eben der einige Tage später aus der zweiten Auswurfsprobe des- selben Kranken gezüchtete Stamm. Er zeigte die gleiche Eigentümlichkeit.

Die Kenntnis solcher geringfügigen Schwankungen um den Durch- schnittstypus herum beeinträchtigt natürlich nicht den Wert der Typen- trennung. Zu den schweren progressiven Veränderungen, die die mit dem typus bovinus geimpften Tiere darbieten, führt kein Verbindungssteg hin- über. Aufgefallen ist mir allerdings, daß meine Kaninchen nicht die schweren Lungenveränderungen darboten, wie sie Burckhardt“) in seiner Arbeit abbildet als Folgen der Impfung mit dem typus humanus. Auch Möllers“) hat, wie aus den Versuchsprotokollen hervorgeht,

15) |, c.

6) Veröffentl. der Robert Koch-Stiftung, H. 1.

er BURGER und Perlsucht. 397

meist Pe Lungenveränderungen gefunden, als Burckhardt. An der Technik kann der Unterschied kaum liegen. Vielleicht am Material? Möllers und ich haben Auswurfsproben, Burckhardt chirurgische Tuber- kulosen untersucht. Es ist mir dies besonders interessant mit Rücksicht darauf, daß der oben erwähnte Fall von Gehirn-, Lungen- und Darm- tuberkulose mein virulentestes Material lieferte, wenn ich so sagen darf. Sollte diese Differenz auf Abschwächungen des typus humanus auf dem Wege von der Kindheitsinfektion zur Phthise des Erwachsenen hindeuten? Für die Frage der Typenumwandlung bietet sie sicher kein Material, da Burckhardts Fälle alle einwandfrei sich in einen der beiden Typen unter- - Abgesehen von den drei Tieren, die mit dem Kontrollstamm (typus bovinus) geimpft wurden, habe ich im ganzen 116 Kaninchen zu Versuchen benutzt; davon erhielten 67 abgewogene Mengen Reinkultur. Die intra- venöse Injektion wurde nicht angewendet; ich bin, wie ich bereits sagte, der Ansicht, daß sie für vergleichende Untersuchungen besser ganz weg- fiele, Die Tiere erhielten also 0,01 gr subcutan. Von allen diesen 116 Kaninchen verlor ich kein einziges an Tuberkulose; 16 Tiere starben spon- tan, meist an Coccidiose, einzelne auch an Pneumonie und Seuche. Einen Einfluß dieser interkurrenten Erkrankungen auf den Tuberkuloseverlauf habe ich nicht nachweisen können. Die Beurteilung der Stämme wurde durch diese Ausfälle nicht nennenswert beeinflußt, da stets Kontrolltiere zur Verfügung standen. = In einem hohen Prozentsatz der Fälle (ca. 40 %) fanden sich tüber- kulöse Veränderungen der Lungen, die aber in der Regel auf vereinzelte, submiliare bis stecknadelkopfgroße, nicht verkäste Tuberkelwucherüng sich beschränkten, während nur selten zahlreichere Herdchen oder größere confluierende bis linsengroße Veränderungen, diese dann mit zen- traler Verkäsung, beobachtet würden, Die mit Reinkulturen geimpften Tiere lieferten in etwa demselben Prozentsatz Lungenherde, wie die mit Sputum, Meerschweinchen- oder Kaninchenorganen geimpften. Letztere wiesen allerdings im Durchschnitt etwas schwerere Veränderungen auf, was zum’ Teil auf dem Impfmaterial, zum anderen Teil darauf beruhen wird, daß diese Tiere meist länger am Leben gelassen wurden, als die mit Reinkulturen geimpften Kaninchen, die in der Regel im vierten Monat ge- tötet wurden. Den wichtigsten Einfluß auf die Entstehung von Lungenher- den hat m. E, die Individualität des Stammes, weniger die des Impitieres.

' Bei den später getöteten Tieren zeigten sich oft deutliche Heilungs- vorgänge, 'Im großen und ganzen habe ich nicht den Eindruck, wie Bürck- hardt, gewinnen können, daß die Tiere schließlich meist an ihrer Tuber- kulose sterben, wenn man sie nur genügend lange leben läßt.

Eine Tuberkulose der Drüsen und der Nieren, die döch bei den mit typus bovinus geimpften Tieren so prägnant in Erscheinung tritt, beob- achtete ich nie, abgesehen von dem kleinen Käseherd in der einen Drüse bei dem oben erwähnten Tier des Falles R. Die regionalen Drüsen

398 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht,

schwellen allerdings nach der Impfung meist beträchtlich an, diese Schwel- lung ist mitunter zur Zeit der Sektion noch angedeutet vorhanden, aber sonst weisen auch diese Drüsen keine mikroskopisch sichtbaren tu- berkulösen Herde auf. Bazillen werden sie freilich öfter enthalten. Ich habe nicht konstant daraufhin untersucht, da eine solche Feststellung für die hier interessierenden Fragen keine Bedeutung besaß.

Schließlich noch ein paar Worte über die drei mittelst Antiformin gewonnenen Reinkulturen (U.). Es waren meine ersten Versuche, Ich dachte, aus den zahlreich mir zur Verfügung stehenden Auswurfproben durch eine einfache, nicht zu kostspielige Vorprüfung auf Perlsuchtinfek- tion verdächtige Fälle ausfindig zu machen, um von solchen Kranken dann einwandfreies Material zur genauen Untersuchung einzufordern. Die Sputa direkt auf Kaninchen zu überimpfen verbot sich, da voraussicht- lich zu viele Tiere an Sepsis etc. eingegangen wären, ‚Ich wählte die Antiforminmethode (5% 24 Stunden lang einwirkend), um schnell eine Reinkultur zu gewinnen. In 10 Fällen mit reichlichem Bazillengehalt ge- lang das mir dreimal, einmal entstand eine Mischkultur von Tuberkel- bazillen und säurefesten Stäbchen, die bereits bei Zimmertemperatur ge- diehen.

. Die drei Reinkulturen wuchsen nun durchaus typisch für humane Bazillen auf Glyzerinbouillon, und ich fand insofern keinen Anlaß zum Verdacht auf Perlsuchtinfektion. Ich impfte jedoch noch je ein Kaninchen subcutan mit 0,01 gr Kultur. Es ergab sich, daß alle drei Tiere nach drei Monaten keine Spur von Lungenherden aufwiesen. Dies mag ein Zufall sein, läßt aber doch die Frage entstehen, ob nicht das - Antiformin die Virulenz herabgesetzt hat. Das Bouillonwachstum brauchte deshalb nicht notwendig mitbeeinflußt zu sein. Daß das Antiformin schädigt, beweisen die sechs negativen Versuche, Ich bin auf dieses Verfahren später nicht wieder zurückgekommen. Es scheint mir jedenfalls unzulässig, durch Antiformin gewonnene Reinkulturen zur Typenbestimmung zu benutzen, wo Virulenzunterschiede eine so ausschlaggebende Rolle spielen. Ich möchte daher auch diese drei Stämme nicht mit Bestimmtheit als reine, d. h. nicht mit kaninchenvirulenten Bazillen vermischte humane Typen ansprechen; rein bovine Typen waren es natürlich auch nicht,

Im übrigen trage ich kein Bedenken, alle von mir geprüften 19 Fälle darunter 15 von Lungenschwindsucht als solche zu bezeichnen, die durch Infektion mit Tuberkelbazillen vom typus humanus verursacht wa- ren. Ich habe weiterhin während der ganzen Versuchszeit wohl vorüber- gehend Zweifel an der sicheren Einreihung einzelner Stämme gehabt, in- dessen niemals einen bestimmten Anhalt für das Vorliegen oder die Hinneigung zu atypischen, nicht mit dem Begriff der Typentrennung ver- einbaren Merkmalen.

Dreißig Jahre sind vergangen seit der Entdeckung des Tuberkel- bazillus durch Robert Koch. Der Vortrag des Jahres 1882 über die Aetio-

3 is

Wr ya hin ann 2 le Zr Te a un

De

17

u

a er) Ze RN er a N a R ai ee et, ge Br re a nn RL Saal Dad ul. a NE a a a > Ta BI an a u a Be ek a N nie,

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 399

logie der Tuberkulose gründete seinen Weltruhm. Es war nicht allein die Schärfe in der Erfassung und Durchführung des wissenschaftlichen Pro- blems, sondern auch die geradezu intuitive Klarheit, mit der Koch aus sei- nem Forschungsergebnis den für die Praxis bedeutsamsten Kern heraus- zuschälen wußte, was diesem Vortrag sein Gepräge gab. Mehr oder minder tragen alle Arbeiten Kochs diesen Stempel und bedingen dadurch nicht zuletzt seine Eigenart als Forscher. i

Solche Mischung theoretischer Gründlichkeit mit vollendetem Durchschauen der Forderungen des Tages bedingt es aber auch, daß gerade Koch öfter als andere große Forscher neben freudiger Zustimmung hef- tigen Widerspruch erregte. Seine Schlußfolgerungen tragen eben meist eine Formulierung, die sich nicht restlos aus den wissenschaftlichen Vor- arbeiten ergibt, sondern aus dem vielleicht unbewußten, aber sicher rich- tigen Gefühl mitbedingt ist, daß der praktische Erfolg anderen Gesetzen gehorcht, wie die reine Wissenschaft. Exaktheit ist hier oberster Ge- sichtspunkt, Einfachheit dort. Nur so wurde Koch recht eigentlich der Schöpfer unserer modernen Seuchenbekämpfung.

Ein Verkennen des Charakters solcher Schlüsse wird von seiten der Theorie her leicht zu dem Vorwurf führen, sie seien zu wenig begründet, zu apodiktisch, zu weitgehend. Wie weit aber eine solche Vereinfachung für die Zwecke der Praxis zu gehen hat, ist nur zum Teil durch wissen- schaftliches Beweismaterial zu erledigen, letzten Endes jedoch von ande- ren Faktoren abhängig. Vor allem wird der für die Praxis schaffende Mann sich wehren, schwierige, in absehbarer Zeit noch nicht zur Lösung zu bringende theoretische Probleme ohne Not mit der gerade ihn interes- sierenden Frage zu verknüpfen.

Dürfen wir die Frage nach der Verschiedenheit von menschlicher und tierischer Tuberkulose vereinfachen auf die Frage nach dem Unter- schiede zwischen Schwindsucht und Perlsucht? Koch hat nicht gezögert, diesen Schritt zu tun”), in konsequenter Verfolgung der auf dem Londoner Kongreß 1901 zuerst ausgesprochenen Ansicht von der Verschiedenheit der menschlichen und der Rindertuberkulose. Die Schwindsucht be- herrscht das epidemiologische Bild der menschlichen Tuberkulose, Keiner bezweifelt, daß die Mehrzahl aller Infektionen vom menschlichen tuberkel- bazillenhaltigen Auswurf herrührt. Ist es aber nun nur ein einfacher Kreislauf von Mensch zu Mensch, den der Tuberkelbazillus durchmacht, so daß bei Unterbrechung desselben an einer Stelle der circulus vitiosus endgültig zerstört wird? Oder wäre nicht daran zu denken, daß die Perl- suchtinfektion immer neue Quellen liefert, der Kampf gegen die Infektion von Mensch zu Mensch also ohne gleichzeitige Beschränkung der Perl- suchtinfektion eine Art Sisyphusarbeit wäre?

Die Bedeutung der Infektion in der frühesten Kindheit für die Patho- logie der Tuberkulose und nicht zuletzt auch der Schwindsucht der Er-

17) Vergl. Pannwitz |. c.

400 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht.

wachsenen ist uns erst durch die Arbeit der letzten Jahre recht klar ge- worden. Einen großen Teil dieser Infektionen vielleicht den größten können wir nur durch Tuberkulinreaktionen, besonders durch die Ku- tanreaktion erkennen, aber nicht durch Reinzüchtung des Erregers ge- nauer auf ihre Entstehungsart hin festlegen. Wieviel Perlsuchtinfektionen sind darunter? Ist nun die Schwindsucht ganz unabhängig von der Kind- heitsinfektion oder steht sie in mehr oder minder direkter Abhängigkeit von ihr? Letzteres wird immer wahrscheinlicher, nur ist die Art des Zusammenhangs noch sehr umstritten. Direkt entgegengesetzte An- schauungen werden vertreten, der Kindheitsinfektion eine Art immuni- sierender Kraft gegenüber einer späteren Reinfektion zugeschrieben und umgekehrt. Verhält sich hier die Perlsuchtinfektion anders wie die humane Infektion? Lauter Fragen, die so bald nicht ihrer Lösung ent- gegengehen werden. Durch die genaue weitere Verfolgung des Gesund- heitszustandes der Personen, die mit Hilfe der Sammelforschung des Kaiserlichen Gesundheitsamts **) festgestellt wurden, wird sicher wert- volles Material zur Beurteilung dieses Problems gewonnen werden, Es handelte sich bekanntlich darum, durch Umfrage im ganzen Reich Fälle ausfindig zu machen, in denen rohe Milch nachweislich eütertuberkulöser Kühe längere Zeit von Menschen genossen war. Es ergab sich, daß die unmittelbare Gefahr, die dem Menschen durch den Genuß solcher Milch droht, als geradezu auffallend gering bezeichnet werden muß. Aus dieser Statistik könnten sich m, E. sogar Zweifel erheben, ob wir berechtigt sind, jeden beim Menschen gefundenen typus bovinus als Perlsuchtstamm anzusprechen, Um alle Einwände zu widerlegen, namentlich den, daß die Tuberkuloseinfektion zunächst nur latent sei und später bei diesen Personen doch zur Entwickelung von Lungentuberkulose führen werde, verlangt man nun mit Recht,') daß sie auf Jahre hinaus weiter beobachtet werden, Schwindsüchtig werden wohl einige werden, aber welcher Prozentsatz? Es dütfte allerdings schwer fallen, alle Infektionsmöglich- keiten des späteren Lebens abzuwägen und die Zahl ist einstweilen noch zu gering, als daß nicht geringe Beobachtungsfehler allzu scharf intieiiee in Erscheinung treten würden.

Es gibt Länder, wo die Schwindsucht verbreitet ist, wie bei uns, wo aber die Perlsucht dabei keine Rolle spielen kann, da dort entweder die Rinder fast frei von Perlsucht sind,”) oder die Milch kein Volks- nahrüngsmittel ist.) Dieses beweist nun zwar, daß nach. Beseiti- gung der Perlsuchtinfektion bei uns die Schwindsucht noch ganz den gleichen Charakter unserer schwersten: Seuche tragen würde, kann aber nicht umgekehrt verwertet werden in dem: Sinne, daß die Schwind-

18) Tuberkulosearbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt, Heft 10, und Kossel, Deutsche mediz. Wochenschrift 1910, 349,

19) Kossel 1, c.

20) Brewer, Ref. Centr. f. Bact. I, Bd. 50 S. 327.

21) Kitasato, Zeitschr. f. Hyg. u. Infektionskrankheiten, Bd, 63, S, 517.

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 401

sucht schon aufhört, wenn man die Ansteckungsquelle von Mensch zu Mensch verstopft. Zuzugeben ist freilich, daß solche Beobachtung stutzig machen und an dem gefährlichen Einfluß der Perlsuchtinfektion auf die Schwindsucht zweifeln lassen muß.

Koch hat 1901 seine Schlüsse in erster Linie auf die Verschiedenheit in der Virulenz der Erreger gestützt. Nun kennt jeder Bakteriologe und kannte selbstverständlich auch Koch die Inkonstanz gerade dieses Zeichens bei vielen Bakterien. Die Frage der Variabilität hat er mit Absicht ausgeschaltet aus seiner auf die Praxis hinzielenden Arbeit. Er sagte sich mit Recht, daß ihm unter seinen Versuchen dann ein Stamm wenigstens aufgestoßen wäre mit mittlerer Virulenz für Rinder. Man könnte nur einwenden, daß er Material von Schwindsüchtigen benutzte, also von Tuberkulosefällen, wo der vermutete Umwandlungsprozeß sein Ende bereits erreicht hätte. Über die Häufigkeit latenter und leichtester Kindheitsinfektion war damals noch nichts bekannt und die Nichtberück- sichtigung solchen Einwurfs daher verständlich. Der Hauptgrund dafür liegt aber wohl in der Eigenart des Forschers Koch begründet, in seiner Abneigung, praktische Probleme durch alle immerhin möglichen, aber zunächst sehr unwahrscheinlichen, jedenfalls ganz unbewiesenen Hypo- thesen zu verwässern und dadurch tatsächlich für die Zwecke der Seuchenbekämpfung auszuschalten. Es ist erstaunlich, daß er auf relativ wenige Versuche hin es wagte, so weitgehende Schlüsse zu ziehen, er- staunlich aber auch, wie zwanglos die weiteren experimentellen und epidemiologischen Feststellungen an das von ihm gelieferte Gerüst sich anfügten.

Die Anregung, nach rindervirulenten Stämmen beim Menschen zu fahnden und von ihrem Vorhandensein dann auf Perlsuchtinfektion zu schließen, wurde auch von den Gegnern der Typentrennung übernommen, obwohl eigentlich mit Leugnung praktisch konstanter Unterschiede zwischen den Tuberkelbazillen auch die Berechtigung zu einer solchen Annahme wegfallen sollte und die ganze Frage der Verschiedenheit menschlicher und tierischer Tuberkulose dann nur noch einen epide- miologischen, keinen bakteriologischen Charakter mehr trüge. Nach den Forschungen auf ersterem Gebiet wäre aber anscheinend noch eher die relative Harmlosigkeit der Perlsuchtinfektion zu vermuten, wie nach dem jetzt vorliegenden Material der Bakteriologie.

Nach diesem sind rindervirulente Bazillen bei primärer Darm-, Hals- drüsen-, Knochentuberkulose in einem beachtenswerten Prozentsatz der Fälle gefunden worden (5—10 %). Durchschnittlich sind es freilich die leichteren Fälle mit Neigung zur Ausheilung. Nur selten kommen pro- grediente oder gar tödliche Infektionen mit typus bovinus vor. Es läßt sich auch heute noch nicht sagen, ob nicht mehr oder minder bewußt Auswahl zu Gunsten der bovinen Infektion stattgefunden. In den ersten Jahren geschah dies sicher. Wie schwer es aber ist, gleichmäßig vor-

Festschrift z. 84. Versammlung Deutscher Naturforscher u, Ärzte. 26

402 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht,

zugehen, zeigt unter anderen Burckhardt,?) der zwar wahllos alle chirur- gischen Tuberkulosefälle untersuchte, aber mit Recht betont, daß der Chirurg eher die leichter verlaufenden Fälle in seine Klinik bekommt und damit wahrscheinlich relativ öfter die Perlsuchtinfektionen.

Entscheidend war hier Koch's Hinweis 1908, der Schwindsucht die ihr gebührende Beachtung wieder zuzuwenden. Nun liegen zahlreiche (ca. 800) derartige Untersuchungen von den verschiedensten Seiten vor.”) Rindervirulente Bazillen fanden sich nur in 0,6 %. Meine eigenen Er- fahrungen decken sich mit diesem Gesamtresultat. Die Lungentuberkulose nimmt aber in Preußen etwas über 90 % aller Todesfälle an Tuberkulose in Anspruch, sie bildet zudem allein die Quelle für die Infektion von Mensch zu Mensch. |

Wenn wir die Konstanz in den Unterschieden der beiden Bazillen- typen, die Perlsucht einerseits, Schwindsucht andererseits hervorrufen, anerkennen, wäre mit obiger Feststellung das Problem so weit gelöst durch die Wissenschaft, daß nun die Praxis allein entscheiden kann, ob sie mit Koch unsere verheerendste Volksseuche, zu deren Bekämpfung leider noch immer allzu beschränkte Mittel uns zu Gebote stehen, unter- drücken will durch weise vorläufige Beschränkung auf die Hauptgefahr, oder ob man sogleich gegen beide Fronten sich wenden soll. Die An- sichten werden hier stets divergent bleiben. Nur darf man nicht erwarten, mit einer einfachen Propaganda für das Abkochen der Milch die Perl- suchtinfektion nennenswert beeinflussen zu können, sondern muß dann auch die weittragenden Konsequenzen einer wirklich scharfen Beauf- sichtigung des gesamten Milchhandels auf sich nehmen. Vielleicht zwingen uns in absehbarer Zeit die immer häufiger auftretenden Typhusepidemien infolge Milchgenusses und die zunehmende Verseuchung unseres Vieh- bestandes mit Perlsucht durch die Verfütterung der Milchabfälle ohnehin dazu. Dann wird die alte Streitfrage nur noch akademisches Interesse auslösen. Einstweilen, glaube ich, muß jeder, der die Schwierigkeiten in der Tuberkuloseprophylaxe aus eigener Erfahrung kennt, dem alten praktischen Medizinalbeamten Koch beipflichten, wenn er ruhig das Nebensächliche zunächst unbeachtet läßt, um „sich nicht auf Seitenwege zu verlieren” (London 1901).

Es fragt sich nur, ob wir berechtigt sind, die Erreger beider Seuchen für verschieden zu erachten, denn darauf baut sich ja obige Statistik von der ausschlaggebenden Rolle des Bazillen des typus humanus für die Schwindsucht und damit für die Tuberkulosebekämpfung auf. Auch hier, glaube ich, müssen wir Koch folgen. Durch die Aufstellung der Typen bestätigte sich seine Ahnung, daß den Virulenzunterschieden diesmal weitergehende Bedeutung zuzusprechen sei, als bei manchen anderen Bakterien. Die Ergänzung durch das Kulturverfahren wurde zur Not-

22) ]. c. 23) Kossel, Deutsche med, Wochenschrift 1912, S. 740,

ul an a Due re ur a u mie m a

Besserer: Schwindsucht und Perlsucht. 403

wendigkeit, als die Frage der Virulenzabschwächung und der Mischkultur die Typenumgrenzung zu verwischen und zur Verwechselung mit echter Atypie zu führen drohte. Eine weitgehende Vereinfachung der Ansichten ist im Sinne der Typenabgrenzung besonders dadurch erfolgt, daß die englische Kommission in ihrem Schlußbericht die Mehrzahl ihrer ‚‚inter- mediären” Stämme als Mischkulturen bestimmen konnte.”)

Atypische Kulturen sind in den letzten Jahren viel seltener gefunden als früher. Das liegt sicher zum großen Teil daran, daß die Versuchs- bedingungen einheitlicher durchgeführt werden. Will man Ausnahmen von einer aufgestellten Regel nachweisen, so muß natürlich zunächst bis ins kleinste der Versuchsplan des Vorgängers innegehalten werden, sonst wird nicht Atypie, sondern nur Variationsmöglichkeit bewiesen. Diese letztere ist von sekundärem Interesse, da sie mehr theoretischer Art ist. Ganz so gering bewerten, wie Koch, möchte ich diese Frage allerdings nicht, liefert sie doch einiges, wenn auch nur sehr lockeres Material für die Frage der Typenumwandlung. Die bekannten Versuche Eber's”) haben aber bisher nicht bestätigt werden können.”*) |

Umwandlung kann nur bewiesen werden durch Beobachtung eines und desselben Stammes im Menschenkörper über Jahre hinweg. Soweit hier sichere Beobachtungen vorliegen sie sind noch spärlich ergibt sich, daß Virulenzschwankungen (abwärts, aber auch wieder aufwärts) vorkommen können, daß sonst aber der Typencharakter mit einer über- raschenden Zähigkeit festgehalten wird.”) In gleichem Sinne sind ein- malige Befunde von vollvirulentem typus bovinus in tuberkulösen Herden, die jahrzehntelang bestanden, zu bewerten.

Durch Nachweis der Atypie einer Kultur wird an sich nichts für die Umwandlungshypothese bewiesen, sondern nur die Berechtigung der Typenabgrenzung mehr oder minder erschüttert. Sollte diese wirklich fallen, so läge die Beweislast dafür, daß Perlsucht- und Schwindsucht- erreger identisch sind, noch gerade so schwer auf den Gegnern. Durch die neueren Arbeiten steht jedoch der praktische Wert der Typen- abgrenzung wesentlich fester wie vor einigen Jahren. Die große Mehr- zahl der Untersucher hat, wie auch ich in meinen Versuchen, keine ernst- haften Schwierigkeiten gehabt, alle ihre Stämme zu klassifizieren. Nur der Lupus nimmt eine Sonderstellung ein”) Wahrscheinlich ist aber auch hier Virulenzabschwächung, nicht echte Atypie, Ursache der schwierigen Bestimmbarkeit der Erreger. Jedenfalls ist es nicht berech- tigt, bei der klinischen und anatomischen Eigenart dieser Erkrankung, von

2?) Royal Commission on Tuberculosis, London. Final Report. Ref. Centralbl. £, Bact. I, Bd. 50, S. 321.

25) Centralbl. f. Bact. I, Orig.-Bd. 59.

2) Weber, Centralbl. f. Bact. I, Orig.-Bd. 64, S. 252.

27) Weber I. c., S. 250.

2) Royal Commission. Final Report. 1. c.

26*

404 Besserer: Schwindsucht und Perlsucht.

ihr aus allgemein gültige Schlüsse auf andere Tuberkuloseformen zu ziehen.

Der Lupus wird dem Anschein nach fast ebenso häufig durch bovine Bazillen bedingt, wie durch humane.”) Es bedarf freilich der Be- stätigung der bisher noch zu spärlichen Untersuchungen, Sollte diese in gleichem Sinne ausfallen, so wäre sicher der bovinen Infektion eine er- höhte Bedeutung zuzumessen. Es ist nur schwer zu sagen, welche Ab- wehrmaßnahmen man einschlagen soll, zumal die Unsicherheit über die Entstehung des Lupus ob hämatogene oder Wund-Infektion vorliegt noch zu groß ist. Mit zu allgemein gehaltenen Ratschlägen und nament- lich solchen, die durch ihren Umfang die für die gesamte Tuberkulose- prophylaxe zur Verfügung stehenden Menschen und Mittel einseitig absorbieren, ist dem Praktiker nichts geholfen.

Das gerade wußte Koch ja so gut; er kannte die Gefahr der Zer- splitterung; in der weisen Beschränkung auf die Hauptgefahr zeigte er sich als Meister der Praxis.

2) Royal Comminion. Final Report. |. c.,

Abderhalden, E. 187.

Ackerberg 319.

Agnew 347.

Apffelstaedt 10.

Aristoteles 177—179.

Arlt, v. 340, 341, 347.

Arneth 263, 264, 266, 287.

Aschaffenburg 370,380, 381, 387.

Ask 353, 357.

Atwater u. Rosa 252.

Aubert u. Wimmer 177.

Augstein 346.

Babor 227.

Bader 345.

Bahrdt 314.

Ballowitz, E. 9.

Baltzer 315, 317, 324.

Barmherzige Brüder 14.

Barmherzige Clemens- Schwestern 14.

Bemmelen, Se 59, Bennecke - Beling 378, 385

Bentzen 355.

Berlin 340,

Berthelot 245.

Bertold, Chirurg. 2.

Bertrand u. Weisweiller 118,

Bevau 82,

Personen-Register.

Bidder u. Schmid, C.

Boeninghausen, von 7.

Boussingault 67.

Bozberger, von 381.

Braun 83.

Brefeld, A. 8,

Bremer 9.

Breuning 148, 149, 157.

Brewer 400.

Bruchhausen, Ant. 17.

Brugsch 286.

Burckhardt, R. 175.

Burckhardt 390, 394, 396, 402.

Burne 223.

Burri 97.

Burwinkel 299.

Buscalioni 218.

Busz, K. 8.

Byloff 293.

Cailles 340. Camus 100. Caspari 148, 149, 152,

Chirurgen in Münster 6.

Chlepowsky 295.

Choulant, L. 242, 244,

Clifford-Albut 303.

Cohn, Ferd. 176.

Coehn 149, 150, 151, 156, 157.

Cohnheim, O. 259.

Correns, C. 8.

Cornu, A. 31.

Cramer 313. Crookes 26. Cross 82. Czapek 9%, 97.

Dannenberg 149, 156, 157. Darwin, Ch. 190 u. £. Davis 344. Dechen, H. von 160. Delebeque, A. 172. Demmin 318. Deslandres, H. 35, 41. Determann 29%. Deutschmann 347. Dewar, J. 37, 39. Dickert, Th. 161. Dieterlen 388. Dmochowski 83. Donath 326. Drenkhahn 300. Drew 223. Drost 227. Droste-Vischering, Clem. Aug. 14. Dufour 351. Dujardin 347.

Eber 403.

Eberhard, G. 31.

Ebermayer 67.

Eder, J. M. 31, 35, 36.

Edgren 304.

Ehrenberg 68.

Eijkmann 95, 96.

Elschnig 344, 347, 352, 353

Emiery; EA: At.

Eppinger 293. Esmarch, v. 94.

406

Personen-Register.

Everbusch 348, Exner, F, 31, 32, 34.

Fabricius, Wilh. 327.

Fibiger 390.

Fick, R. 188,

Ficker, Arzt 15, 16.

Finger, H. 29.

Fischer 300.

Fischer 344, 351.

Fleischer 67.

Forel, F, A. 166.

Förster 340, 341.

Franke 340,

Fränkel, 395.

Fräntzel 309;

Friedrich 310.

Fries 11.

Fuchs 340, 355.

Fuhrmann, F. 117.

Fürstenberg, Frz. von 5:51.

Gerard 100, Gerlach, C. 128. Gigas, J. M. 3. Ginsberg 346. Glenk 65, 69. Göbel, K. von 196. Goedart, Joh. 180, Graefe, A. von 351. Grandclöment 351. Grandeau 59, Grawitz 265, 286. Grieser 224, 227. Griffith 391.

Grob 347, 348, 351, 352,

Grohmann, Ph. 128. Grubel 344.

Grund 391. Grützner 308, Guerbet 117.

Haab 348, Häcker, V. 188. Hafner, A. 91.

Hagenbach, A. 36-39,

Hahn 324,

Halbfaß 160. Haller 310. Hamburger 187. Hardiviller 229. Hartmann, J. 31. Haschek, E.. 32, 34.

Hasebrock 308. Haselhoff, E. 95, 124. Hasenbäumer 65, 69. Hehner 105. Heilbronner 326. Heine 352. Heinen 20. Henneberg, W. 81, 113, Herrmann 339, Herz 297, 304. - Hescheler 227, 231. Hess 247. Hesselinck van Such- telen 68. Hencke 344, Heubner 294, 338, Heuss 390, Heydweiller 23, 27. Hildebrand, Fr. 194, Hippel, A. v. 348, Hirsch 299, 302. Hirschsprung 320. Hittorf, W. 10, 11, 19 2, 188, Hock. 347. Hofer, Bruno 176. Hoff, van 't 250. Hoffmann, A. 290; Hoffmann, C. L, 13. Hoffmann 224, 229, 309, Hofmann, Frdr. 18. Holl, M. 239, 244. Homburger 308. Hooke, Rob. 180. Hoppe-Seyler 78. Hoering 344, 345. Hosius, A. 8. Hösslin, O. 245. Huchard 299, 302. Hühn 80. Humboldt, v. 19, Hutchius, C. 38,

Igel 224, 225.

Jacobfeuerborn 224. Jensen 3%. Johannsen, W. 187 u.£. Jordan, Alexis 186. Jores 302.

Jost, L. 187 u. £. Joye, P. 31, 34,

Kannagpell, H. 35. Karrenstein 306.

Karsch, A. 7, 8, 9, 177.

Kaspar 224, 228.

Kassner, P. 11.

Katic 219,

Kausch 315, 316.

Kayser, H. 37, 38, 39, 41,

Kern 340,

Ketteler 11, 23.

King, A. S. 38.

Kissling 67.

Kitasato 400.

Klein 94,

Knapp 347.

Koch, Rob. 387, 399, 401.

Kohlrausch 25.

Kohn 97.

Kolkwitz, R. 176.

König, J. 18, 95, Bu.

Konrad 2,

Kossel 390, 400, 402.

Koster 347.

Kraus 289, 294.

Krehl. 299,

Kreis, H. 91.

Krohne 387.

Krüger 315, 318, 347.

Krummacher 250, Pr 252,

Krümmel 170, 171.

Kruyff, de 95, 100, 105.

Kühl, H. 115.

Kuhlmann, J. 163.

Kuhnt 348.

Kunze 115.

Landgraf 301. Landois, H. 9, rolım: Lang 222, 227, 231. Lange 78, 224, 226. Lasker 372. ° Latter 227. Lawford 351.

Laxa 98. Lebedintzeff, A. 1m. Leitenstorffer 306. Leupoldt 327.- Lewis, P. 38.

Lewy 67. Leyden, v. 309. Leys, A, 91.

Liebig 245, 249, Limprich, R. 91.

Personen-Register.

407

Lindau 124, 176.

Lindner 344.

Liveing, J. D. 37, 39.

Löhe 306.

Löhnis 69.

Löwe-Hellweg 378, 384, 385.

Lubarsch 305.

Ludwig, Hch. 243.

Mach 9%.

Madelung 315—17, 324,

Manz 357.

Markbreiter 355.

Marsson, M. 176.

Marx, K. Fr. H. 244.

Mathieu 297.

Matthies, W. 166.

Mayoux 226.

Meyer, K. 264.

Meyer 348.

Meyhöfer 347.

Mez 176.

Miculicz, v. 315—17, 322

Miescher, Fr. 188, 256.

Miquel 372.

Mitscherlich 57.

Möllers 387, 396.

Montagnon 357.

Moquin-Tandon 227.

Morgan, T. H. 191 u.f.

Moritz 307.

Mouffet 179.

Müller, Alfred 299,

Müller, Al. 68.

Müller, E. 148, 149, 151, 156, 157.

Müller, H. 84.

Müller, Leop. 340, 341, 357.

Munk 315.

Münster, Bischof Cle- mens August v. 14. Münster, Bischof Chri-

stoph Bernhard v. 2. Münster, Bischof Max

Friedrich v. 12, Munster, Seb. 161. Murdfield 79.

Näcke 387. Nägeli 94. Naegeli 264, 286.

Naunyn 313.

Nees von Esenbeck 7. Nernst 149, 150. Nicolai 300. Nikitinsky 97. Nothnagel 317.

Noyes 347.

Oguchi 342, 355.

Oppenheim 11, 22.

Ortloff 384.

Ortner 294,

Ost 86.

Ostwald, W. 25, 151, 259.

Overton 219.

Pal 294.

Pannwitz 287, 399. Papenhus, F. 29. Parlato 355. Pasteur 68. Patschke 313. Pelzeneer 223—226. Petermann 65. Petersen 68. Pettenkofer, v. 67. Pick 219, 313. Piorkowsky, M. 114,

Plücker 22. Polenske, E. 91, 92. Pollacci 218. Possek 351.

Praun 353. Prausnitz 261. Priestley Smith 351.

Quincke 303,

Raecke 327. Rahn 95, 111.

Ravaisson-Mollien 243,

Recker, H. 9. Recordon 344, Reuss, C. 124. Rheinwald 315, 317. Richter, J. P. 243, Riedel 345. Rinklake 20. Roedig 9,

Röhrig, A. 119,

Roling 19.

Romberg 304.

Romen-Rissom 376, 383.

Rörig, G. 132.

Rosemann, R. 10, 307.

Rosenfeld, E. H. 376, 378.

Roth, M. 239, 244, 264.

Rothe 390.

Rottendorf, B. 2.

Rouveyre, E. 243.

Royal Commission on Tuberculosis 391,403, 404,

Rubner 94, 100.

Rudolf 303,

Sabachnikoff, Th. 243, Salkowski 11, 22. Saltykow 302. Sattler 352. Schiemenz 176. Schilling 286. Schimmel 339, Schirmer 341, 353. Schlayer 301. Schlodtmann 357. Schmedding 19, Schmidt 95, 96, 101, 105. Schniederjost, J. 31, 35, 36, 38, Schorler 176. Schreiber 95, 100. Schröder, E. 127. Schröder, J. v. 124. Schröter, E. 128. Schultze, Ernst 387. Schumburg 306. Schwiening 300. Seidlitz, W. v. 244, Senator 303, Senhouse-Kirkes 304. Severin, S. 8, 119, Siegel 315, 317. Siemerling 384. Sinnig 7. Smith 314, 390. Snell 346. Sorauer, G. 132. Spanje, van 303. Spieckermann 95, 100. Stahl 218, Stäubli 264, 285. Stechele 224, 229,

408

Personen-Register.

Steinthal 315, 324.

Stempell, W. 10.

Stern 319, 324.

Stier, Ewald 327.

Stohmann 81.

Stoewer 340, 341, 346, 347, 348, 351.

Strasburger, E. 190.

Strassmann 373, 384.

Stutzer 97.

Sudhoff, K. 242, 244,

Sulzer 346.

Sutthoff 80, 165.

Teich 355. Terson 347. Thaer 68. Thiel 157. Thiele 223, Thoma 305. Thurn 309. Thurneysser v. Thurn 3, Tigerstedt 308. Tollens 83. Tourtual 9,

Traube 304. Treves 317. Türk 265, 285, 286.

Valenta, E. 31, 35, 36. Vangensten, Ove 243. Vatier 344.

Veasey 345.

Vehler, R. 113, 115, 119, Velden, von den 308, Vincke, v. 11. Voigt, W. 162. Voigtel, v. 327.

Voit, C. 245.

Voit u. Korkonoff 258, Voit u. Zisterer 260. Vossius 354,

Wadsworth 357.

Wagenmann 345, 351, 353, 354,

Wagner, Joh. Jak. 180,

Waldenström 319.

Wallenberg 319.

Walter, B. 38.

Weber 313, 349,

Weber, A. 390, 392, 403,

Weiss 299,

Weller 315, 317.

Wendt, G. v. 261.

Wenkebach 295,

Wernekink, Fr. 7, 8,

Westhues 68,

Wielen, P. van der 117.

Wieler, A. 131.

Wiesner 218,

Wilfarth 132,

Wilkening 86.

Witmanns 387.

Windscheidt 299, 302,

Winogradsky 68,

Wollny 68.

Wulff 219.

Zinn 369, 372, 375. Zopf 8.

Zuntz 306, Zurhellen, W. 29. Zweig 297.

Ablehnung eines Sach- verständigen 379, 383,

eines Richters 379,

des Wasserstoff- superoxyds 41. Abwasserbiologie, Ari-

stoteles u. die: 177. Aderhautablösung 354, 359, Aequivalent 379, 384. Aerophagie 294, Alcalienbogen 39, Allotropie des Sehens

25, Aluminiumbogen 37. Ammoniakflamme 35. Analyse des Wassers,

biologische 175, 176. Angeschuldigter 374, Anklageverfügung 376. Anleitung des Richters

im Gesetz 387. Anthocyan 218, Antiforminmethode 398, Antrag des Sachver-

ständigen 377. Aphasie 336. Arteriosklerose, Aetio-

logie der: 304.

, Anwachsen der:

314, ;

—, Definition der: 302, —, Erblichkeit der:

303,

und Blutdruck 304, und Heeresersatz

299,

und Militärdienst

Muskelarbeit

Sachregister.

Askariden 177—179. Asche, Wirkung auf Pflanzen 124. Atemsperre, Herzsche

297.

Bacillus bulgaricus, Kultur 114, 116, Bäder 16. Bandenkanten 36. Bandenspectra 35, Begutachtung (wieder- holte) 382, 384. Beobachtung im Straf- verfahren 369, 373, 377, 378, 380, 381, 385. Beobachtungsanstalt 380. Beschwerde 373, 375, 376, 385, 386. Bleibogen 37. Blei-Kupfer-Phosphat 182, Blutdruck-Messung 309. -Steigerung, patho- logische 308, —, physiologische 308

Boden, Dialyse des: 65. —, Einfluß d. elektr. Gleichstroms. 61. —, Elektrolytische Leitfähigkeit 63. —, Katalytische Kraft 58

‚Lösung von Nähr- stoffen durch Dämpfen 60,

—, Bestimmung des Kolloidgehaltes 64.

—,— des osmotischen

Druckes 62.

—,— derOxydations-

kraft 67.

Bogenspectra 30.

Brauweiler 380.

Buccalganglien 222,

Butter-Untersuchung 92,

Cachexie arterielle 313,

Cadmiumbogen 37.

Cardamine pratensis 186.

Cardium 227.

Chama 227, 230-232,

Chironomus (— Tendi- pes) 177, 179, 180.

Chromat 29,

Ciona intestinalis 191.

Colobom, traumatisches 354, 356.

Comparator 29.

Concavgitter 29,

Conjunctivitis granu- losa 360 ff.

Cricotopus longipalpis Kieff 180.

Culex 177, 179, 180,

Cyamium 228, 231.

Cyan 36.

Cyanbanden 36.

Cyclamen 218,

Depression bei Cata- ract 339,

Dipalmitostearin 91, 92.

Dolomit 182.

Dreissensia 227.

Driburg, Bad 16.

Dünndarmsarkome, Ae- tiologie 316.

—, Behandlung 324.

—, Blutungen 318.

—, Ileus 319-321.

—, Komplikationen 317—319.

—, Peritonitis 318,

—, Prognose 325.

—, Sitz und Ausbrei- tung 316, 317,

410 Sachregister. - —, Stenose 316—317, —, Assimilierbarkeit Hauptverfahren 375, 324, 105. 376, 382, —, Symptome 317—21. —, Aufnahme in Pilz- Hedera 218,

Dyspragia intermittens etc. 294,

Eickelborn 380, Eisenbogen 37. Eiweißbedarf 260. Eiweißmenge, unent- behrliche 257.

Eiweißminimum, phy-

siologisches 258. Electrocardiogramm

290. Empfindlichkeit der

Pflanzen 129 ff.

Emission 28.

des Kohlebogens 40.

Energie, chemische 248, 250.

nutzbare 252, Energiequellen 249. Eosinophile, biolog. Be-

deutung d, Verhal- ten b. d.. Pneumo- nie 284, 285.

—, normales Blutbild 266.

—, Blutbilder bei der Pneumonie 263 bis 288,

(Literatur): 264. —, Ei Vergleich ih- res Verhaltens mit dem der Neutrophi- len 287.

—, Schlußfolgerungen (Verhalten im Ver- lauf, bei und nach derKrisis) 283—85.

Eosinophilie, postpneu- monische 285.

Epileptoide Zustände 379, 384,

Fahnenflucht 327.

Farbstoffe der Pflanzen 218,

Fettanalyse 87.

Fette, Veränderungbeim Schimmeln 110. Fettsäuren, Abbau der

102,

zelle 96. Fettzersetzung, Biologie der: 94 —, durch Penicillium glaucum 95. Flugstaub und Pflan- zenbeschädigungen 145, Franeker Universität 2, Freiheit, persönliche, 370, 375, 383, 385, - 386. Freiheitsentziehung 370, 379, 380, 382, Fugues 326. . Funke unter Wasser 40. Funkenemission 38,

Gefangener 380. Gefäßwand-Abnutzung 305. Geisböck'sche Krank- heit 310, Geisteskranke Verbre- cher 369. Geisteszustand i. Straf- verfahren 369, Gemündener Maar: Wasserproben 166. Genußmittel 261. Gerichtsherr 375, 383. Gesetz von Hess 247. —, der isodynamen Vertretung 255. Gewerbeordnung 379. Girotte, lac de la 172 bis 174, Gleichstromlichtbogen 28. Glyzeride, Aufnahme in die Pilzzelle 96. Glyzerin, Abbau durch Penicillium _glau- cum 101, Greisenherz 295.

Harderwjik Universität 2.

Hartmannsche Formel 31,

Hemmungsstoffe 190, Hepatica 218. Herz’sche . Atemsperre

287. Herzhypertrophie 310, Hirnsklerose, : diffuse

334, ee Humus 59,

Individualstoffe 186.

Intelligenzprüfung 374.

Iridodialyse 340, 342, 352, 353.

Irrenanstalt 369, 371, 373, 376, 378, 381, 384.

—, öffentliche 379,382, 385, 387.

Jagor-Stiftung 28. Jousseaumiella 223.

Kaninchenimpfung 390, 395, 396, 397. Kathodenstrahlen 26. Kellya 223, Körnerkrankheit 360 ff. Kohlebanden 41. Kohlebogen 37.

. Kohlebogenemission 40.

Kohlenruß, Wirkungauf Pflanzen 123, 145, Kohlenstoffemission 36. Korsakoffsche Psychore 336. Kreislaufinsuffierung 309, Kriechsohle der Proto- branchier 223, Kupferbogen 30, 37. Kupferlasur 182.

-Lamellibranchiata 222,

Leda 224, 230, 231.

Leitungsvermögen 25,

Leonardo, Forschungs- reisen 236,

, anatom, Zeichnun- gen 238,

Sachregister. 411 —, Anatomie des Be- —,—ı: Prognose 353, Nährsalze 255. wegungsapparates 354, Nahrung als Baustoff 239. —, —: Theraphie 357, 256. ‚— der Eingeweide =, —: Ursache 353, Nernstbrenner 40. 241. | —j—: Verlauf 355. Nervensystem, sympa- —,— des Gefäß - Sy- thisches 222. ©. stems 239, Mac#ra 229, Nervensysteme, auto- zn koren - des Heih-Sy- Magnesiumbogen 37. nome 232, . stems' 240, Malletia 225. | Neurose, cardiovascu-

ze -d. een

Lichtabsorption v. Me- ‚tallsalzen 47. Lichtschirmtheorie 218. Lilium bulbiferum 193.

Linien 187. Linienstoffe 187. Linse, totaler. Austritt 353,354, —,-——, Diagnose 353, 033. O3 Ar! —, Prognose 353, —, Ursache 353. a —;, Verlauf 353. Einkletimung der 353. ‚Bi ii Linsenluxätion, traum.: Mechanismus 340 "bis: 343, ; ; _—— Ursache 339 bis { 13897..! ==, Vorkommen 339

Lippspringe, Bad 16.

Lösungswärme 250. een bei: 403. Lutfärin: 229-231. Luxation'i. d. Glaskör- „ee ‘Diagnose ni -: Prognose 346, £ >? £ + 3415 3 1 „> —: Theraphie' 347 ‘bis 350; —: Verlauf345, 346. in den Tenonschen Raum 357. in die Vorderkam- mer: Diagnose etc. '—, subkonjunktivale: » Diagnose 353, 355, 356.

Meleagrina 226. Mercurisalze, Lichtab- sorption der: 48. Meßmethoden 34. Metalle, Wirkung auf Pflanzen 124, 146, Metalloxyde, Wirkung auf Pflanzen 146. Milchgenuß, Beziehung zur. Schwindsucht 400, Milchverkehr, Beauf- . sichtigung des 402. Militärstrafprozeß 375, 376, 383, 385. Mineral, neues (Tsume- bit) 182,. Ministerialverfügungen (betr. Beobachtung i. d. Irrenanstalt) 380. Mollusken, . NEFTRORT stem 222. ; Münster i..W. Su. —, Augenheilanstalt 15 —, Clemenshospital 14 —, Hüfferstiftung_ 15. —, Landwirtsch. Ver- suchsstation 18., _ —, Marienhospital 15. —, Medizinalkoll. 12; al, aan: -chirurg. tehr anstalt 9, 12. —, Pflegeanstalt 'Ma- rienthal: 15, z alte‘ Universität 3. Muscheln 222, i Muskelarbeit u, Arte- riosklerose 305, :\© und Pulsfrequenz 306. Mya 227. Mydriasis, traumatische Mytilus 226, 230, 231.

läre 289. Nickelbogen 37. Neuculiden 222, 224,

230, 232. Nymphaea 218.

Oberlandesgerichte 376,

on 87. Oeynhausen, Bad 16. Ophthalmie, sympathi- sche 353. ,

Orden 379, Otavi (Trumebit) 182. gi 38.

Paderborn, : Kranken- haus 15. Palmitodistearin 91, 92. Paranitrobenzoesäure

43, : Paranitrotoluol, Oxyda- tion 43. Passivität. 27. > Pecten 223. Pectunculus 223. Petunia 193, Perlsucht, spontane, bei Kaninchen 390. Pflanzen, alpine 219, —, arctische 219, —, Erscheinungen‘ bei Rauchschäden 128, —, Empfindlichk. geg. schwefl; Säure 129, Pflanzenbeschädigung durch Rauchgase und Staub 123. Phaseolicama 224, 225, 230, 231. | Phosphor 25. Phrenocardie: 297, Phytosterinacetat 90. Platinbogen 37.

412

Sachregister.

Pleuralganglien der Muscheln 223, Pneumatose d. Magens

294,

Pneumonie, croupöse, Verhalten der Eo- sinophilen 263 bis 288.

Polycythaemia hyper- tonica 310.

Praesclerose 303.

Privatklagesachen 386.

Provinzial - Blindenan -

stalt, Vinckesche 15. Pseudocumol, Oxyda- tion 45.

Psychoklinie 220.

Quarzspectrograph 28. Quellungswärme 250.

Rauchschäden 123.

äußere Merkmale bei Pflanzen 127.

‚Beispiele aus der Praxis 140.

—, Probenahme bei: 136.

Rechenschema 32.

Reclination bei Catar- act 339,

Regenmengen, : Bezie- hung z.' Windrich- tung 125.

Reichsgericht 377, 378, 382, 384, 385. Reichsmilitärgericht376 Reichstag, Kommission,

Redaktion 369, 371, 373, 375, 376, 385. Reseda 191. Riechstoffe 217. Rosa 219.

Sachverständiger 370, 371, 377, 379, 383, 385.

Saprobien: Reihenfolge derselben im Bach 176—-177.

Sarkom siehe Dünn- darmsarkome Sauerstoff-Emission 37,

38,

Saxifraga 219, Schraubenfehler 29, Schwarzes Meer 171. Schwefelsäure, Bestim- mung der Pflanzen 133, —, Gehalt der Pflan- zen an: 133. Schweflige Säure, Her- kunft 123, —, Grenze der Ein- wirkung 127. —, Wirkung auf Pflan- zen 124, 129, Schweinefett-Glyzeride 91. Untersuchung 91. Schwindsucht, Auswahl des Untersuchungs- Materials 389, —, Häufigkeit boviner Infektion bei: 402, Scleralruptur 353—357. Sclerose, cerebrale 313, —, cardio-renale 313, —, multiple 334, Selbststerilität 186. Silberbogen 37. Simulation 369, 372, 384, Solemya 225, 230. Soolbäder 16. Spaltblende (Hartmann- ‚. . sche) 30, Spannung, arbeitende 148, Spectrogramme 3. Sphinkterrisse 34044. Staroperation 339, Staub, Pflanzenbeschä- digung durch 145. Stereoisomere 188, Stickstoff 28. ---Emision 36,. 38. —-Spectra 35. Strafkammer 376. Strafprozeßentwurf, ‚deutscher 1909 371, 384, 385. —, italienischer 1905 ‚369; Strafprozeßentwürfe, österreich, 1909,

. 1912 369, 380, 384, 386. Strafprozeßordntung, bulgarische 369. —, deutsche 369. —, norwegische 369. Subluxation, » Diagnose 350-353, —, Prognose: 351. , Therapie 352. —, Verlauf 351, 352, Swan-Spectrum 41, Sympathisches Nerven- system 222.

Tagelus 229—231. Tagilit 185. Talg-Glyceride 90, Taubstumme 387. Tendipes (= Chirono- mus) 177, 179, 180, Trachom 360 ff. Triglyceride, gemischte - 90,

Triniellithsäure 46. Tristearin 91. Tsumebit 182,

Tuberkelbazillen, atypi- sche Stämme 403, —, Glyzerinbouillon-

"kultur: 393,

—, individ. Differenzen innerhalb des typus humanus 395, : 396. nme nn 1395, 397.00 —, Mischkültur 394. —, Morpholögie 392,

—, Säurebildung ' nach ‚Smith 390.

—, Typentrennurg

+: 402,

—,typus bovinus 389, 392, 401.

—, typus humanus 398, 402.

—, Umwandilungs- hypothese 401, 403.

—-, Variabilität 403.

—, Virulenzabschwä- chung 393,.'403.

Tuberkulose, Häufigkeit boviner Infektion 401.

Sachregister.

413

—, Kindheitsinfektion 397, 400. Tubifex 176—179.

, Messung durch „Reizen” 156.

bei Auflösung un- edler Metalle 148.

, Definition 148.

, Einfluß oberflä- chenaktiver Stoffe 158.

—, Einfluß von Verun- reinigungen 157.

—, Erklärung 149.

—, Meßmethode 149, 154.

—, Nachentwickelung der: 152.

—, Tabelle 157.

u. Bläschengröße 151.

u. Oberflächen- beschaffenheit 152.

u. Übersättigung =, 332.

—, Versuchsfehler 152, 153,

von Legierungen 149, 159.

, Zeitphänomen, Messung der 151.

Übertretungssachen 386,

Ulmener Maar, Dichte des Wassers 164, 16667, 168—69.

—,Farbe u. Sichttiefe 162,

—, Geographie u. Ge- ologie 16061.

—, Morphometrie 160.

—, Schichtung 163 bis 170,

—, Tiefenschlamm 170.

Ultraviolett 40.

, Absorption v. Mer- curisalzen im: 47.

Umstülpung der Iris 342, 349.

Unio 227.

Universitätsklinik 379,

Untersuchungshaft 371, 375, 378, 379, 381, 384, 387.

Untersuchungsrichter 376.

Urmollusk 222.

Venenpuls, positiver, systolischer 295. Verbrecherische Gei- steskranke 370. Verbrennungswärme, Bestimmung 245, Verdacht, hinreichen- der, dringender 370, 375, 387. Verteidiger 370, 378, 383, 384, 387. Vorhofpfropfung 295. Voruntersuchung 375, 382,

Wandertrieb, Klin. Be- urteilung des: 327.

—, epileptischer 326.

, krankhafter 327.

Wanderzustände, epi- leptische 327.

klin. Bewertung 327.

Wasserdampf im Bogen 40. Wasserdampfbanden 28, 35, 39. -Emission 38. Wasserstoff-Emission 38, Wasserstofflinien 39. Wasserstoff-Superoxyd 41. Wechselstrombogen 37. Weißbleierz 182. Wellenlängen 31. Wellenlängenmessung 29, Wellenlängennormalen 34, Willensimpulse u. Blut- druck 307. Windrichtung, Bedeu- tung für Rauch- schäden 125.

Yoghurt, bakteriolog. Kontrolle 114, 116.

—, chem. Untersuchun- gen 116-122.

Yoghurtbakterien 113 bis 116.

hefen 115.

trockenpräparate 113, 114.

Zellulose, Analytische Bestimmung 78. —, Arten der: 78. —, Technische Gewin- nung 82. Zinkbogen 37. Zinkspat 182, Zonula-Erschlaffung 354, 355. Zyklodialyse 342, 354, 355.

Druc der Westfälischen Vereinsdrucerei vorm. Coppenrathschen Buchdrucerei, Münsteri. W

n I : le Br: Re Be old #1) ee

al En.

ll

en Tee

Ba Re a en L z wi ä

n

a

Br REN > ee, ash

ne ee ee ee

Ben, ®., :n BE 5%

; gi FR Sunrise ae

erde

u 21 f s #

AR Te%

PB

RER Ei )

ar

Vers Bra

= r x: E EEE 3 uw: Ts Ar UNIVERSITY

Q Medizinisch-Naturwissen- ı7ı schaftliche Gesellschaft MAL zu Münster i. W. Festschrift P&A Sci,

PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET

UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY

BE LE

0%

ET

RR N N

EEE ERICH. IR

Sr .

SÜSSER

ES REN SE EHN N x SEN Saisiay

RK PP, Beik Rz, x

N DEREN MARI

RR SCH

AN RNISECH nr ae

x

x ® KESOSREN 3 IS KR x Yre) a RR AMR NRERREN $> & IR Ai DRG RER ade Ts R% Y EL x LT x

(38, 2

ar EISEN, EHE

S2 e Kr

Ne N

2 RE, TIRRIRE

SR RER s NR

iR LTE Le

EEE

IR

30 >20

&

SR De Et ae ER BE r

y RER 2 2% ER BER: EEE EN Eh EV & RE ;

BL Sa

nl) er PER BR,

u

Br) 2 &

« ades

s 2

Mn Be nn

de

RR, arte

alas

ne

DER TAN SR e 0:60

%

yes er Ve

ar

er ee

Du

[? ra

RR 4 RL hung

YRzL San dgn A Fe

% Er