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LIBRARY

UNIVERSITY Of CALIFORNIA

KtVERSIDE

jPS:

Fichtes Idealismus und die Geschichte

Von

Dr. Emil Lask.

Tübingen und Leipzig.

J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1902.

Meinen Eltern gewidmet.

Vorwort.

FicHTEs Geschichtsphilosophie darf in ihren wesent- üchen grossen Zügen als bekannt gelten. Um trotzdem das Berechtigte einer eingehenderen Behandlung zu begründen, muss ich über die eigentümlichen Gesichtspunkte Rechen- schaft ablegen, unter denen eine Darstellung der Geschichts- ])hilosophie des deutschen Idealismus hier von Neuem ver- sucht wird.

Dievorliegende Arbeit verdankt nämlich ihre Ent- stehung den modernen Untersuchungen über die logische Struktur des Historischen. Vor allem hat die von Rickert unternommene Übertragung der exakt methodologischen Forschungsweise von der Methode der Naturwissenschaften, auFTTie sie bisher fast ausschliesslich angewandt worden war, auf die der_ Geschichtswissenschaften den Wunsch wachgerufen, die Ansätze einer logischen Erfassung des Historisclien^auch in der früheren Philosophie zu verfolgen. Nun hat sich zwar die Spekulation unserer klassischen Epoche um eine kritische Analyse der geschichtswissen- schaftlichen Begriffsbildung noch kaum gekümmert. Aber nichtsdestoweniger tauchte bereits damals die Furage auch nach der logischen Eigentümlichkeit des Gegenstandes der Geschichte auf.

Aus dieser Beobachtung erwuchs die Aufgabe, die An- fange einer geschichtsphilosophischen Begriffsbildung in jener Zeit genauer zu untersuchen und infolgedessen grade die_formale, begriffliche Seite des geschichtsphilosophi- schen Denkens oder gleichsam die Logik des Wertens in (^rGeschichtsphilosophie des deutschen Idealismus mit bewusster Einseitigkeit herauszuarbeiten. Ich bin mir also vollkommen darüber klar, überall nur die logische Struktur

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der geschichtsphilosophischen Weltanschauung enthüllt, die ganze Spekulation nur in methodologischer Beleuchtung behandelt zu haben. Auch wo der Gegenstand meiner Dar- stellung nicht Methodologie der Geschichte ist, wurde darum das Verfahren meiner Untersuchung zu einer Metho- dologie der Geschichtsphilosophie.

In der „Einleitung" wird auseinandergesetzt, warum die Klarlegung des erkenntnistheoretischen Unterbaus von FiCHTES Geschichtsphilosophie einen so breiten Raum einnimmt. Auch hierbei kam es mir in erster Linie auf eine scharfe problemgeschichtliche Kennzeichnung gewisser logischer und erkenntnistheoretischer Principien des deut- schen Idealismus an, so dass dieser Bestandteil der Schrift ebensosehr als ein Beitrag zur Geschichte des logi- schen In dividualitäts- und Irrationalitätsproblems wie als eine Specialuntersuchung über Fichte angesehen sein will. Da ich vor allem versuchen wollte, die Wirk- samkeit einzelner erkenntnistheoretischer Tendenzen, die über Fichte hinausweisen und die Wissenschaftslehre in den Zusammenhang der gesamten neueren theore- tischen Spekulation einreihen, um ihrer nicht blos histo- rischen, sondern sachlichen und systematischen Bedeutung willen aufzudecken, musste ich die scheinbare Kontinuiei- lichkeit von Fichtes philosophischer Entwicklung arg zerstören, sowie das durch die Persönlichkeit so geschlossen auftretende System viel stärker in seine latenten und un- persönlichen Komponenten zerlegen und viel rücksichtsloser bis zu seinen letzten, oft gleichsam nur in problemgeschicht- lichem Sinne gesondert existierenden Faktoren vordringen, als dies bisher hinsichtlich Fichtes erstrebt worden ist. Die strenge Durchführung des problemgeschichtlichen Cha- rakters zwang daher aus unvermeidlichen methodischen Gründen zu einer gewissen Gleichgiltigkeit gegen die ur- sprüngliche lebendige Einheitlichkeit des Fichteschex Den- kens. Weil es sich ausserdem um lauter Probleme der theoretischen Transscendentalphilosophie handelte, musste an vielen Punkten die überragende Stellung Kants deutlich hervortreten. Die verhältnismässig geringe Beachtung, die grade die von mir behandelten Gegenstände bei Fichte bisher gewöhnlich erfuhren, machte ein etwas reichliches eitleren erforderlich.

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Zum Schluss spreche ich auch an dieser Stelle denen meinen Dank aus, deren akademischer Unterricht in der Philosophie für mich von entscheidender Bedeutung wurde, nämlich den Herren Professoren Rickekt, Windf:lband und Hensel. Vor allem aber möchte ich auch hier meinem Lehrer, Herrn Professor Rickert, danken, der mir zu Be- .ginn meines Studiums den Sinn für philosophisches Forschen erschloss, auf meine wissenschaftlichen Bestrebungen den bestimmenden Einfluss ausübte, und dessen unermüdlicher Hilfe ich stets ganz unvergleichliche Förderung verdankte.

Emil Lask.

Inhalt.

Einleitung*. Die Log-ik des Wertens in der Geschichts- philosophie des deutschen Idealismus i

Kant: Feststellung des Wertmomenles lür den Kultur- und Gesc'hichtsbegriff ( 4). Rationalismus in der Me- thode des Wertens (— 10).

Hegel: Die Wertung des Einzelnen in seiner Einmaligkeit ( 13). Gegensatz zum kulturphilosophischen Rationa- lismus und Atomismus ( 16). Die verschiedenen Be- deutungen von ..Individualismus" und .,Universalismus" in der Geschichte des Kulturproblems 18). Fichte: Reginnende Untersuchung der logischen Struktur des Geschichtlichen ( 21). Feststellung der wichtigsten logischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen von Fichtes Geschichtsphilosophie als Hauptaufgabe dieser Arbeit (—22).

Erster Teil. Die log-ischen Voraussetzung-en von Kants und Heg-els Rationalismus und die Einordnung* Fichtes in den Entwicklung-sg-ang- der deutschen Spekulation 23

Vorläuiige Unterscheidung der analytischen und der emanatistischen Logik ( 26).

I. Kapitel. Kants analytische Logik des trans- scen dentalen Begriffs 26

A. Die logische Struktur des tra nsscen den- talen Begriffs im Allgemeinen 26

Übertragung der analytischen Logik auf das transscendentale Gebiet ( 30). Die Analyse der Erkenntniswirklichkeit und der Dualismus der Erkenntnisfaktoren ( 33).

B. Der transscendentallogische Zufallsbe- griff " 33

Die Unableitbarkeit aus dem transscendental Allgemeinen als „Zufälligkeit'* des individuellen Erkenntnisinhaltes ( 39).

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C Die iVI a l h e ni a l i k a 1 s M i 1 1 e 1 g 1 i e d z w i s c h e n analytischer und e manat istisc her Logik 31) Die Möglichkeit der „Konstruktion" als Voraus- setzung lür die vollständige Rationalität des Individuellen ( 44). Maimon ( 46). Subordi- nation und Koordination in der Logik der Mathe- matik (—51). D. Die ideale Logik des intuitiven Ver- standes •')!

Die Idee eines intuitiven Verstandes als neue Beleuchtungsart der Irrationalität. In der Unend- lichkeit liegende Überwindung deiKlurt zwischen Hegrill" und Anschauung. Mathematische Ana- logien ( 56). II. Kapitel. Hegels emanatist ische Logik ... 5t) Polemik gegen die Trennung von Form und Inhalt ( - 58;. I^ndgiltige Lösung des transscendentallogischen Zul'alls- und des metaphysischen P^ndlichkeitsproblems durch die Lehre vom dialektisch bewegten, die Wirk- lichkeit aus sich entlassenden ..Hegriir' ( 62). (legen logischen Atomismus ( 63). Hegels Begrillslehre in logischer Hinsicht der reife Abschluss aller Iriiheren Metaphysik (—67). III. Kapitel. Fichtes Stellung in der Entwick- ln n g s r e i h e d e r r a l i o n a 1 i s t i s c h e n S y s t e m e . . G8 Ist Fichte kritischer Uationalist wie Kant oder abso- luter wie Hegel? ( 72). Wandlungen innerhalb der älteren Wissenschaltslehre ( 74). I'roblemgeschicht- licher (>harakler unserer Ausl'ührungen ( 75).

Zweiter Teil. Fiehtes Rationalismus und die Irrationa- lität des Empipischen 77

Erster Abschnitt. Die Begr iindu ng des kritischen Antirationalismus durch den Umschwung von 1797 77 Das „System der Vernunft". Verträglichkeit des Systemati- schen mit der analytischen Logik ( 83).

I. Kapitel. Der transscenden tallogische Emana-

tismus von 1794 83

Typisch nachkantischer Emanatismus durch llyposta- sierung eines erkenntnistheoretischen Formalen ( 86). Mathemalische Methode ( 88). EmanatistischeF"assung des Individualionsproblems ( 92). Ansätze des Ge- wahrwerdens der Irrationalität ( 93). Vermischung von reinem Ich und Idee ( 95). IL Kapitel. Der Ichbegriff von 1797. Das reine

Ich und die Idee 95

Gegenüberstellung der blossen Form des Ich und der Idee (—100).

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III. Kapitel. Der a na 1 v l i seh -sx sie nia t ischc .Stand- punkt *....' 100

Antipsychologistische Tendenz ( 104). Die Nernunlt- formen als analytisch-logische Abstraktionsbegrill'e

( 110). Gegen Liebmanns, Cohens und P»ieiils Heur- tcilung Fichtes (lll).

IV. Kapitel. Der transscendentallogische /u-

fallsbegriff lU

Dualismus von Form und Materie, Begrill' und An- schauung; Irrationalität des Materialen (117). Fichtes Auseinandersetzung mit dem intellektualistischen Rationalismus Becks ( 121). Nicht Heck, sondern Maimon ein Vorläufer Fichtes ( -123).

V. Kapitel. Das Ding an sich und die Irrationa-

litätdeslndividuellen 124

Die doppelte Problemverschlingung von Ding an sich und Irrationalität dui'ch Fichte aufgehoben ( - 131). Gegen Windelbands Vorwurf des absoluten Rationalis- mus. Fichtes Stellung in der nachkantischen Fnt- wicklung des Irrationalitätsproblems ( 134).

Zweiter Abschnitt. Die Steigerung des Anti-

rationalismus 1798—1801 135

I.Kapitel. Der transscende ntale Empirismus

und Positivismus 13(i

Einseitige Betonung der empirisch-irrationalen Seite des Erfahrungs- und Realitätsbegriffs (— 141). Nomi- nalismus und Positivismus. Die Passivität des Er- kenntnisinhaltes ( 147). 11. Kapitel. Die erkenntnistheoretische Werl- in dividualität 147

Die positive Wertung des Individuellen (—152). Der intelligible Empirismus (—156).

III. Kapitel. Philosophie und Leben 157

Die Wissenschaftslehre als blosse transscendentale Theorie (—161). Hinausstreben über den Transscen- dentalismus ( 164).

Dritter Abschnitt. Die Lehre von der Irrationa- lität des Individuellen in der metaphysischen

Periode 164

Kritische und metaphysische Fassung des Individua- litätsproblems; dadurch gleichzeitig kritischer Anti- rationalismus und metaphysischer Universalismus (- 167). I.Kapitel. Das Fortbestehen der kritischen

Fassung 16'^

Der Hiatus irrationalis und die „Gesetzlosigkeit" des Individuellen (— 172).

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II. K a p i t e 1. Übergang zur metaphysischen

Fassung 172

Die Irrationalität als „Unendlichkeit" und das „ge- schlossene Ganze" des Wissens ( 179) III. Kapitel. Die metaphysische Fassung .... 179 Die Antinomie von Unendlichkeit und (leschlossen- heit ( 182). Die Unableitbarkeit des Endlichen aus dem Unendlichen (188).

Dritter Teil. Fielites Geschichtsphilosophie 191

I. Kapitel Die metaphysische Methode der

nachkantisc heu Kulturspekulation 191

Die analytische Logik als rationalistisch bekämpft ( 196). Übertragung der Wertindividualitätsstruklur auf die Methode (— 200). II. Kapitel. Die geschichtsphilosophische Wert- individualität 201

Das Einzelne als (ilied einer einmaligen Gesamtent- wicklung ( 206). Die sinnliche und die ideale Indi- vidualität (—211).

III. Kapitel. Die Geschichtsmethodologie und

die Irrationalität 211

Verbindung von Wertindividualisierung und ana- lytisch-logischer Charakterisierung ( 214). Polemik gegen Kants ethischen Formalismus Geringe Be- deutung des Ästhetischen ( 218). Methodologische Ansätze in den „Grundzügen" ( 222). Wertung des Irrationalen in den daran {'folgenden Schriften ( 228). Die gewertete Irrationalität als Gegenstand der Ge- schichtsmethodologie von 1813 ( 240).

IV. Kapitel. Die methodologischen Beziehungen zwischen Geschichte und Gemeinschaft. Der

Begriff der Nation 240

Kants logische Analyse des Begrill's der „Gattung"

(— 245). Keine Begründung einer Socialethik ( 249). Fortsetzung bei Fichte ( 250). Das rein sociale „Ganze" als abstrakte Teilstruktur der geschicht- lichen „Totalität" (— 254). Die „Nation", unter- schieden von der systematisierbaren Form des Staats- lebens (—257). Die Nation, ihrer Struktur nach ein überindividuelles organisches Gesamtgebilde (—261). Grundlegende Bedeutung der Unterscheidung zwischen überindividuellem Allgemeinem und überindividu- ellem Ganzem (— 262). Die Nation als politische Individualität und als geschichtliche Einheit (—269). Durch die Stellung zum Politischen die Versöhnung von Wert undWirklichkeit von Neuem bestätigt (—270).

Einleitung.

Die Logik des Wertens in der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus.

Der von Ka\ r eingeleiteten Epoche einer „idealistischen" Geschichtsphilosophie ptlegt von den meisten Darstellern die Üherwindiing der einseitigen geschichtsfreniden Anschau- ungen des Aufklärungszeitalters nachgerühmt zu werden. Die Einsicht in die wahre Bedeutung dieser Überwindung hat man jedoch leider nur zu häufig mehr einem richtigen unmittelbaren Eindrucke als der Aufdeckung der letzten dabei zu Grunde liegenden philosophischen Prinzipien über- lassen. Aufklärung und deutscher Idealismus gehen nun aber grade auf geschichtsphilosophischem Gebiete mit un- merklichen Unterschieden in einander über. So erwecken denn auch die meisten zusammenhängenden Darstellungen über diesen Gegenstand die Überzeugung, als habe man es in Kant mehr mit dem letzten, folgerichtigen Verlreter eines älteren, als mit dem Begründer eines neuen Zeitalters der Ideeen zuthun. Ein Blick auf Kants geschichtsphilosophische Gelegenheitsschriften scheint diese Auffassung nur zu be- slätigen. Findet sich da nicht eine mosaikartige Zusammen- setzung längst bekannter Vorstellungen über das Wesen der Kulturentwicklung statt neugeprägter Grundbegriffe \' Denn dieVorstellungein^reinheitlichen, gemeinsamen Endzwecken iji einmaliger Entwicklung zustrebenden Menschheit, diesen tiefsten Grund einer hislorischen Weltanschauung, hat das Christentum geschaffen und stets aufrechterhalten. Sie gehört zulTen aeläufiasten Ideeen auch der Aufklärung und bietet

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für die kritische Auseinandersetzung der Spekulation mit dem Geschichtlichen doch gewiss nur ein der Erfüllung mit hestimmtem Gehalt noch sehr bedürftiges Schema. Jeden- falls teilt Kant diesen Gedanken mit Männern wie Roisseai, Lessing, Herder. Mit den Vertretern der Aufklärung hat er sodann auch die An'sicht gemeinsam, dass die fortschreitende Ausbildungder menschlichen Vernunftanlagen als Wert- messer der Entwicklung des Menschengeschlechts anzusehen sei- Allerdings hatte die ..Vernunft'", die dabei den Mass- stab der Beurteilung lieferte, grade durch Kant soeben eine ungeheure, auch für das Verständnis der „Kultur"^ höchst fruchtbare Vertiefung erfahren. Aber sollte seine Originalität als Geschichtsphilosoph darin aufgehen, dass er der auf- klärerischen Vernunft die Kantische als Wertmesser der Geschichte unterschob .* Darf man ihn deshalb als den Über- winder des früheren geschichtsphilosophischen Denkens feiern ?

Das wäre eine gewaltige Überschätzung methodisch un- wesentlicher Nebenpunkte. Das eigentlich Bedeutsame an Kants geschichtsphilosojjhischer That erschliesst sich uns vielmehr nur durch Aufzeigung der von Kant selbst nicht hervorgehobenen Verbindungslinien, die seine geschichts- j)hilosophischen Gelegenheitsschriften mit dem Grundprinzij) des Kriticismus verknüpfen. Dieses besteht aber in dem Dualismus erklärender und wertbeurteilender Methode M. Durch ihn ist Kant ein Neubegründer auch der Geschichts- philosophie geworden. Indem er überall das wertmessende Verhalten von dem rein erklärenden scheiden lehrte, hat er, wie sich noch genauer zeigen wird, sozusagen unser philosophisches Gewissen über die Anlegung eines Mass- stabes der Beurteilung auch in der Geschichte beruhigt und dadurch nichts Geringeres als eine philosophische Recht- fertigung und allererste Begründung jenes geschichtsphilo- sophischen Minimums geleistet, dessen die Aufklärung sich noch „dogmatisch'" bedient hatte.

Auf eine genauere Darlegung der angedeuteten Zu- sammenhänge darf an dieser Stelle verzichtet werden. Nur an Folgendes sei kurz erinnert. Ivant behauptet aus-

1) WiXDELBAXD, Präludien. „Was ist I^hilosophie?", „Immanuel Kanl", „Kritische oder genetische Methode?".

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drücklich die Ausdehnbariveit der erklärenden Methode auf die Gebiete des Psychischen, des „Geistigen ". .,Ph3^siologie " bedeutet ihm noch gleichmässig die naturwissenschaftliche Ivörperlehre und die naturwissenschaftliche Seelenlehre ^). Der naturwissenschaftlichen Behandlungsart vermag sich kein ()])jekt der Erfahrung zu entziehen. Theoretische J^hilo Sophie ist das Herausschälen der theoretischen Werte oder der spekulativen Vernunft aus dem Spiel unserer Vor- stellungen, das aber zugleich auch Gegenstand einer „phy- siologischen Ableitung" -) sein darf, praktische Philo- sophie das Herausheben des ethischen Grundwertes, der praktischen Vernunft aus der Bethätigung unseres Wollens, von dem wir aber zugleich „die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen"') dürfen.

Dass K AN T den Dualismus d e r INI e t h o d e , die doppelte Behandlungsart eines und desselben Gegenstandes auch für die Untersuchung des menschlichen Gattungslebens ausdrücklich postuliert hat, ist viel zu wenig beachtet worden. Schon den BegrifT der menschlichen Gattung selbst will er - irT^reTThterbegriffe physische oder Natur- oder Tiergattung und sittliche Gattung einteilen*). Die Lehre vom Menschen soll demgemäss entweder in „pFysiologischer" oder in „pragmatischer Hinsicht" abgefasst sein'). Stets ist das- selbe Gebiet der Wirklichkeit zugleich Natur und „Ver- nunft", je nach der Methode, der es unterworfen ward. Um aber die Vernunft aus dem unmittelbar Gegebenen herauszuheben, muss man schon mit einem Massstab an die Dinge herantreten. In der gegen Werte gleichgiltigen Wirklichkeit erzeugt man den (legenstand der Betrachtung durch den Gesichtspunkt der Betrachtung. Was Inhalt der Wertbetrachtung sein soll, kann deshalb nie aus der er- klärenden Wissenschaft desselben Wirklichkeitsgebietes entnommen, z. B. die sittliche Vernunft des Menschen als Emzelwesen nicht aus der Anthropologie, die der mensch- lichen Gattung nicht aus der anthropologischen Natur-

1) S. z. li. W. W. [Hartenstein 2] III, 277, 556, 605, IV, 275, 357.

2) III, 108.

3) Ibid. 381 vergl. 528, IV, 143, dazu Dilthey, Leben Schleier- machers, I, 96.

*) IV, 322 f. s) VII, 431.

geschichte der Menschheit oder einer sonstigen „physio- logischen" Disciplin abgelesen werden.

Aus diesem methodologischen Grundsatze ergiebt sich das für uns Bedeutsame an Kants Geschichtsphilosophie. Die Vernunftbethätigung der Gattung nämlich, d. h. der Inbegriff des aus ihr als absolut wertvoll Herausgehobenen ^ ist „Kultur", die Kultur in ihrer Entwicklung Geschichte. Auch die Grenzen dessen, was Kultur und Geschichte ist, wollen erst gezogen werden, und ziehen kann sie wiederum nur, wer mit irgend einem einheitlichen Gesichtspunkt an das Gewirr des an Menschen irgendwie sich vollziehenden Geschehens herantritt. Vortrefflich hat deshalb Kant sein kulturphilosophisches Apriori einen Leitfaden genannt, der dazu diene, „ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen, wenigstens im Grossen, als ein System dar- zustellen''\).

Kant, so können wir seine Leistung jetzt kurz zu- sammenfassen, hat die Geschichte besser verstanden als seine Vorgänger. Er gelangt durch sein ganzes Denken zu dem, wovon die Aufklärungsphilosophie mit unkritischer 1 Sorglosigkeit ausgegangen war: zu der Unentbehrlichkeit eines mit Bewusstsein angelegten Massstabes dafür, worauf es denn bei Kultur und Geschichte ankomme. Jetzt erst verstehen wir, was Geschichte ist, denn wir kennen jhreii Begriff. Wie die kategoriale Notwendigkeit den Begriff der „Erfahrung" ausmacht, so begründen als formales Apriori die Vernunfterzeugnisse der menschlichen Gattung den Begriff der Geschichte.

In dieser kritischen Festlegung des Begriffs der Ge- schichte erblickten wir die Grösse von Kants Geschichts- philosophie. In der Art aber, wie er sich mit einer solchen formalen Abgrenzung des geschichtlichen Gebietes begnügte, müssen wir nun auch die Grenze seiner Spekulation zu erkennen suchen.

Auf den ersten Blick scheint allerdings der einzige historische Begriff, den Kant untersucht, nämlich der des einheitlichen Fortschritts der menschlichen Gattung, eine wirkliche historische Weltanschauung unmittelbar aus sich erzeugen zu müssen. Denn in der einmaligen Entwicklung,

1) lY, 155.

so meint man, sollte doch jedes einzelne Vernunftgebilde seine einmalige unersetzliche Stelle haben, in ihr sollte es darum auch einen einzigen, unvergleichbaren Wert dar- stellen. Aber grade diese scheinl^ar so streng sich ergebende Folgerung hat Kant nicht nur zu ziehen unterlassen, sondern gradezu unmöglich gemacht. Der Grund dafür liegt in einer unlebendigen Erfassung des Gedankens der Vernunfttotalität. Dies Endziel der Kulturarbeit, dessen Erringung als eine in" die- Unendlichkeit der Zeit sich ausdehnende AufgaJ)e der Menschheit zufällt, bedeutet den Inbegrif!" aller Werte. Ihn können wir nicht wirklich denken, sondern nur durch die Andeutung einer unvollzie"hbaren, ihrer Tendenz nach aber eindeutigen Aufgabe charakterisieren. Dagegen können wir wohl gewisse allgemeine Merkmale angeben, denen dieser Begriff auf jeden Fall genügen muss. Als deren oberstes giebt Kant die Verwirklichung des ethischen Grund- wertes an, der „Freiheit ", d. h. des sittlich guten, nur durch das Pflichtbewusstsein bewegten Willens. Aus ihm ergiebt sich für die Gattung als Postulat die Vereinigung der Frei- heit aller: eine gerechte bürgerliche Verfassung und ein weltbürgerlicher Völkerbund. Neben der Aufzeigung dieser formalen Erfordernisse tritt für Kant die Thatsache ganz zurück, dass die Gesamtheit der Werte vor allem auch als unendlich mannigfaltige Inhaltsfülle, als nur einmal vor- handene und sich entwickelnde Wertgrösse angesehen werden muss. Die schematisch gehaltene Umschreibung dieser absoluten Inhaltlichkeit durch einige charakteristische, aber abstrakte Merkmale genügt ihm, als wäre sie schon ein er- schöpfendes, allen methodischen Anforderungen genügendes Eindringen. Da wir vom Kulturganzen nur soviel formu- lieren können, als sich auf einen einfachen Ausdruck bringen lässt, glaubt Kant, nur soviel Wesentliches enthalte auch seine ganze unendliche Wirklichkeit. Er betrachtet das Ganze nicht als sich selbst genügende Totalität, sondern ausschliesslich als Träger gewisser abstrakter Werte. Dadurch ist aber die Wertung auch des Einzelnen, als eines unersetzlichen Gliedes in einem grossen einheitlichen Zusammenhang, in der Wurzel zerstört. Denn auch dieses kann dann nicht als Individualität betrachtet werden, sondern ebenfalls nur als Träger formaler Werte, und noch dazu jedes Einzelne als Träger immer derselben formalen Werte, die zugleich

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für den Begriff des Ganzen bestimmend gewesen waren. Ist es nun zwar begreiflich, aber doch schon falsch und irreführend, wenn man sich dem Begriff der ^YerttotaUtät nur durch Angabe seiner formalen Merkmale nähern will, so wird es vollends unerträglich, auch jedes einzelne geschicht- liche Ereignis nur nach denselben allgemein gehaltenen Massstäben gemessen zu sehen. Denn das Ganze können wir ja in der That gar nicht anders als durch Angabe formaler Bestimmungen charakterisieren, nicht aber anschaulich als Totalität erfassen; das Einzelne dagegen sind wir im Stande, in seiner vollen Individualität unmittelbar nachzuerleben. Bei der Beurteilung des Ganzen scheint uns deshalb die Beschränkung auf das Formale entschuldbar, bei der des Einzelnen dagegen fordern wir eine Würdigung der ganzen Individualität in ihrer unersetzlichen Eigenart. Wird die viel- gestaltige Mannigfaltigkeit des besonderen Kulturgeschehens einzig und allein nach gewissen abstrakten Momenten dar- gestellt, so empfinden wir die ganze Dürre und Trostlosigkeit eines schablonenhaften, alles nivellierenden Absprechens.

Es folgt dann daraus der Rationalismus mit seiner Un- fähigkeit, dem Historischen gerecht zu werden, mit seiner Armut an Ansatzpunkten der Beurteilung^). Wie ist eine un- befangene Würdigung geschichtlicher Dinge möglich, wenn die historische Persönlichkeit nur nach ihrem Verhältnis zum kategorischen Imperativ, die That des Staatsmannes nur danach geprüft wird, wie weit sie die Macht „in die Hände eines vernünftig eingerichteten gemeinen Wesens" gab, das historische Ereignis nur darauf hin angesehen wird, ob es „das allgemeine Wohl der Menschen im bürgerlichen Zustande weitergebracht habe-)'? Charakteristisch für diesen Rationalismus ist Kants ausdi-ückliche Vorschrift, dass auch die Geschichtsschreibung nach dem Vorgange der Geo- graphie — sich als Prinzip der Forschung einen Allgemein- begriff suchen solle, dem alle einzelnen Thatsachen sich subsumieren lassen^).

Kants Verdienst um die Belebung des Verständnisses

0 Vgl. dazu Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilo- sophie 82 fr.

2) Reflexionen zur Anthropologie (hrsg. von Erdmaxx) 215, 216.

3) Ibid. 208 f.

für Geschichte und die gleichzeitigen Schranl<^en dieses Ver- dienstes findet man vielleicht nirgends anschaulicher aus- geprägt, als in der auf den Historiker Chistoph Fhiedhich Schlosser ausgeübten Wirkung der kritischen Philosophie. Die Monographien von Ün/rHEY\) und Lorenz-) haben nicht nur überzeugend dargethan, dass Schlosser bei seiner scharfen Wertbeurteilung durchweg die ethischen und poli- 4ischen Massstäbe der Kantischex Spekulation entnimmt, sondern sie haben diesen Einfluss auch nach seiner begriff- lichen und methodologischen Seite beleuchtet. Dass durch Kant die Frage nach dem geschichtlichen Werte zum ersten Mal mit Bewusstsein aufgeu^orfen sei, darin sieht Lorenz sogar die „Grundlage der neueren Geschichtschreibung." ^) Aber auch das Ungenügende der ganzen Kantlschen Wert- messung gegenüber den konkreten Aufgaben des Historikers tritt in Schlossers wissenschaftlicher Persönlichkeit mit erschreckender Deutlichkeit hervor,*). Denn wo über alles nach einem einzigen abstrakten Schema gleichförmig ab- geurteilt wird, da ist eine unbefangene Versenkung in die historische Wirklichkeit von vorn herein vereitelt. „Bevor noch die Handlung eines Menschen in ihrer historischen Verzweigung nach allen Seiten hin beobachtet und dar- gelegt wurde, wird sie bereits von dem Schicksal des gleich- sam im Hintergrunde lauernden Bigorismus erfasst und sittlich vernichtet"^). Es fehlt „ein starker Sinn für das Positive in allen Bestrebungen", „der Sinn für das prin- cipium individui." ") Diese Ausführungen von Dilthey und Lorenz sollten nur zur genauen Bestätigung unserer bis- herigen Ergebnisse dienen, die sich jetzt leicht in die all- gemeine Formel zusammendrängen lassen: Kants Grösse in der Hervorhebung des Wertmomentes fürden" Begriff der Geschichte, seine Grenze in der Beschränkung auf

^) Preussische Jahrbücher, Bd. IX.

2) Die Geschicht-swissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben. I. Abschnitt. Die philosophische Geschichtschreibung.

3) A. a. O. 18, vgl. besonders noch 56 f., 69. Schiller in dieser Hinsicht mit Schlosser zusammengestellt von Lorenz in Tomaschek, Schiller in seinem Verhältnis zur Wissenschaft 129, Geschichtswissen- schaft usw. 17.

^) Lorenz, Geschichtswissenschalt 66 f.

s) Ibid. 67.

^) DiLTHKV, a. a. O.

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formale Werte, in der Gewohnheit, das Einzelne lediglich als Träger von Wertall geni ei nheiten zu beurteilen.

Allein es sollte andrerseits nie übersehen werden, wie eng sogar die Dürftigkeit der logischen Struktur des Wert- momentes, die sich uns als una])trennbar von den bahn- brechenden Anfängen kritischer Erfassung des Geschicht- lichen erwies, mit den wertvollsten Ergebnissen der Ver- nunftkritik verwachsen ist. Nach kritischer Methode nämlich wird überall aus einem vorliegenden empirischen Material der in ihm steckende „Yernunffgehalt oder das apriorische Element durch philosophische Analyse herausgelöst ^). Dar- aus ergiebt sich notwendig die Scheidung in den überall gleichbleibenden Wertfaktor und in das überall wechselnde empirische Material. Das Empirische oder das aposteriori ist die individuelle Gestaltung, die das apriori in jedem einzelnen Falle annimmt; das ajiriori also ein gemeinsames Merkmal am aposteriori; ein Allgemeinbegriff, für den die Mannigfaltigkeit des aposteriori den empirischen Um- fang, die subsumierbaren Exemplare liefert-). Da nun K.WTS Untersuchung ihrer ganzen Absicht nach sich nur auf den apriorischen Bestandteil richtet und in ihm den überempirischen Erkenntniswert erljückl, so verteilen sich notwendigerweise Wert und Nichtwert folgendermassen auf die logischen Gegensätze des Allgemeinen und des Be- sonderen: nur das Allgemeine gilt zugleich als über- empirischer ^Yert, das Konkrjete oder Individuelle an den Erkenntnisobjekten dagegen als für sich^wertlos und wird höchstens als Träger jener allgemeinen Werte einer mittelbaren Wertung fähig. Diese mit genauer Folge- richtigkeit aus der kritischen Betrachtungsweise hervor- gehende Wertverteilung bestimmt endgültig das Problem des Individuellen bei K.\xt und liefert den tiefsten Grund dafür, warum für ihn wie für den LKUixiz- Wolffischen Rationalismus das Individuelle immer nur das rein Faktische und „blos" Empirische, das Wertlose xoct s^o/r/-' bedeutet. Ka.nt hat zwar die unvermeidliche und nicht rationalistisch hinwegzudeutende Gebundenheit der apri- orischen Elemente an empirisches Material besonders auf

') Vgl. ob. S. 10 f.

2) Vgl. die genauere Ausführung darüber unten, erster Teil. Kap. I,.\.

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theoretischem Gebiet sehr stark berücksichtigt. Aber dieses intelligible oder transscendentale Fatiim, diese brutale Un- entbelirlichkeit des Empirischen, durfte ihn über dessen prinzipielle Wertlosigkeit nicht hinwegtäuschen.

Mit psychologischer Notwendigkeit musste aus so tief eingewurzelten Gewohnheiten des Denkens, das, was uns heute als Einseitigkeit erscheint, nämlich die Überzeugung von der innersten und eigentlichen Wertlosigkeit des Em- pirische.n, Individuellen dem Philosophen sich aufdrängen und von der theoretischen Transscendentalphilosophie auf das ethische, rechts- und geschichtsphilosophische Gebiet sich übertragen. So wird in der Ethik zwar zugegeben, dass sich das Sittengesetz nicht anders als in den Hand- lungen einzelner Personen verwirklicht; aber gewertet wird nur das Formale; die Würde der Persönlichkeit und des sittlichen Thims beruht ausschliesslich auf der allgemeinen Bedingung derPtlichtmässigkeit ^). Ebenso soll in der Rechts- lehre das an sich gleichgiltige positive Rechtsinstitut und Rechtsverhältnis seine Existenzberechtigung einzig und allein der Möglichkeit einer Subsumption unter die abstrakte Vernunftregel (die Koexistenz freier Wesen) verdanken -). Dieselbe Beschränkung auf formale Werte wird endlich auch durch die rationalistische Staats- und Geschichts- auffassung bestätigt.

So ist es gekommen, dass der Überwinder der Auf- klärungsphilosophie eine typische Grundanschauung jedes unhistorischen Aufklärertums wieder zu Ehren gebracht hat, nämlich die schroffe Entgegensetzung von Vernunft- massigem oder Rationalem und blos Faktischem oder Em- pirischem. Durch alle Schriften Kants zieht sich diese LEUiMz-WoLFFiscHE Unterscheidung hindurch, und mit ihr wird ausserdem die Gleichsetzung von „Empirisch" und .,His fori seh" übernommen. Zwei Begriffe der Ge- schichte begegnen sich dadurch in unversöhnbarer Ge- schiedenheit in Kants Denken: ein Kulturbegriff der Geschichte und ein logischer Begriff des Historischen, der

^) Vgl. auch SiMMEL, Einleitung in die Moralwissenschaft II, 21fr., 34 ir., 54 ff.

2) Dies mit gleichzeitiger Erkenntnis des überall bestehenden Zusammenhanges von Wertallgemeinheit und Atomismus scharf und lief erfasst von Stahl, Philos. d. Rechts, 5. Aufl. 1, 213 ff., 259 ff., 282 f.

L a s k , Fichtes Idealismus und die Geschichte. 2

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dieses einfach mit dem unmittelbar Thatsächlichen gleich- setzt. Kant legt wohl, so können wir auch sagen, den Kulturwert in seiner Allgemeinheit philosophisch fest, ver- mag ihn aber noch nicht mit der historischen Wirklichkeit zu verbinden. Denn die zeitlosen Werte weisen keine in ihnen selbst angelegte Beziehung zu irgend einer konkreten Besonderung der Wirklichkeit und Geschichte auf. Es besteht deshalb auch zwischen philosophischer Behandlung der Geschichte und „blos empirisch abgefasster Historie", die auf eine chronikartige Aufzeichnung schlimmster Art hinauslaufen müsste, genau dieselbe Kluft, wie zwischen Wert und Faktischem überhaupt. Zu einer methodologischen Erfassung der Geschichtswissenschaft bringt es weder seine formale Abgrenzung des Kulturgebietes noch seine Kenn- zeichnung der logischen Struktur des ..Historischen". Die, beiden von einander unabhängigen Leistungen, diekultur- philospphische und die geschichtslogische, lassen sich nicht zu einer Kultur-Logik verschmelzen.

Ein prinzipieller Fortschritt über das durch Kant er- reichte Stadium der Geschichtsphilosophie konnte allein erfolgen durch bewusste Überwindung der ganzen Wer- tungsart des Rationalismus, durch Einsicht in die Unzu- länglichkeit und Einseitigkeit der rationalistischen Wer- tungslogik. Denn selbst die auch bei Kant nicht fehlende, aus Erinnerungen an die theoretisch feststehende Unentbehrlichkeit des empirischen oder individuellen Fak- tors stammende Besinnung darauf, dass die zeitlosen ab- strakten Werte sich nur in einer zeitlichen Aufeinander- folge besonderer Verwirklichungen ausleben können, mag zwar ein gewisses Gefühl für den W^ert des Konkreten erwecken, zur philosophischen Durchdringung des Pro- blems genügt sie nicht. Denn wird auch bei solcher Er- kenntnis das empirisch Gegebene als konkreter Wert ge- fasst, so fehlt doch nie der Nebengedanke, dass es sich da- bei in letzter Linie lediglich um die Exemplifizierung eines allgemeinen Wertes handelt. Das abstrakte Schema, nach dem das Einzelne nur als Exemplar einer Wertallgemein- heit erscheint, bleibt auch dann noch unangetastet und gilt als erschöpfender logischer Ausdruck für die Bedeu- tung des Individuellen. Aber historische Erscheinungen,

11 -

wie etwa einzelne Persönlichkeiten, lassen sich niemals dadurch erschöpfend würdigen, dass nachgeprüft wird, wie weit sie den Satz des Widerspruchs oder den kate- gorischen Imperativ in konkreter Gestalt in sich verwirk- licht hahen. Es reicht eben nicht aus, Wertallgemeinheit und einzelne Wertkonkretion in kritischer Analyse zu sondern und das historische Einzelgebilde dann als reale Verschmelzung beider, als individuellen Niederschlag oder bestimmten Komplex in die Konkretheit eingegangener, ihrer selbständigen Bedeutung nach aber abstrakter Werte zu betrachten. In der historischen Individualität liegt stets mehr. Es muss der Gedanke hinzutreten, dass die be- stimmte Wertgrösse um ihrer Individualität willen, in ihrer unersetzlichen Einmaligkeit, gewertet wird. Nach Kantischer Art zu werten, kann das Wertwesent- liche jedenfalls nie in den individuellen Diffe- renzen, sondern nur in dem überall identischen Vernunftfaktor bestehen. Die Wertung dringt hier nicht in den Kern der Individualität ein, sondern haftet an einem Teil, an einem Merkmal, das unzähligen Exem- plaren derselben Wertungssphäre gemeinsam sein muss. Um dieses Gemeinsamen, nicht um seiner indivi- duellen Eigenart willen, erhält das Objekt seinen Wert. Es erscheint zwar als ein einzelnes Wertvolles, aber nicht als wertvoll in seiner Einzigkeit 0-

Nennen wir ein nach der vorher angedeuteten, von Kant abweichenden Art gewertetes Gebilde eine „Wert- individualität", so geben wir damit erstens zu erkennen, dass dabei die Wertung sich nicht auf einen Teil, sondern mit einem Schlage auf das Ganze erstrecken soll, und" zweitens schneiden w ir zugleich jene andere Betrachtungs- art gradezu ab, die sich beim Werten des Einzelnen immer auf ein über das unmittelbar Gegebene hinaus-

1) Der Verfasser steht bei diesem Versuch, Kants Wertungsart als abstrakten Universalismus zu begreifen, unter dem entscheidenden Einfluss von Gedanken Rickerts. Dessen Schrift „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begrift'sbildung" s. bes. 4. Kap., II, III enthält eine erste bewusste spekulative Polemik gegen den jahr- tausendealten Piatonismus des Wertens, der in der Spekulation aller Zeiten noch viel tiefer wurzelt als seine blosse Unterart, der logisch-metaphysische „Realismus".

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weisendes Formales richtet 0- Ein solches Hinausgehen nämlich wird dann zur Unmöglichkeit, wenn ein Ding als Ganzes, in der Zusammengehörigkeit aller seiner Teile, gewertet wird, da es in diesem Fall garnicht als Exemplar einer Gattung, als Träger allgemeiner Werte auftreten kann; denn seine ganze Individualität hat es mit keinem andern Dinge gemein. Die abstrakte und diese neue Wertungsmethode erweisen sich somit als disparat, d. h. der Wert, um dessen Willen uns etwas zur Wertindivi- dualität wird, ist nicht etwa nur relativ individuell, so dass er sich in andrer Hinsicht zugleich als Wertallgemein- heit, wenn auch ganz geringen Umfanges, denken Hesse. Die „Wertindividualität" ist dadurch genau unterschieden von jeder individuellen Wertgrösse mit blosser Träger- schaft abstrakter Werte, mögen diese auch von noch so geringer Allgemeinheit sein. Als disparat sind die beiden Wertungsmethoden aber auch komjjrädikabel, d. h. auf dieselben Gegenstände neben einander anwendbar und infolge der selbständigen Bedeutung, die jeder zufällt, durch einander unersetzbar^).

Kants Wertungsart wird darum nie durch die andere überflüssig gemacht werden, nur grade für die Geschichts- philosophie leistet diese zweite die besten Dienste. Und darum ist ihr grösster und typischer Vertreter, Hegel, der in entgegengesetzter Einseitigkeit die abstrakte Wertungsart ganz verwirft, als Uberwinder von Kants rationalistischer Geschichtsphilosophie zu betrachten^). Von dem ersten

1) Ansätze zu einer Durchbrechung seiner sonstigen Wertungs- gewohnheit finden sich übrigens in Kants Ästhetik. Schon das ästhetisch bewertete Objekt, sodann aber das ..Genie" selbst stellt eine richtig gebildete Wertindividualität dar, da es als in seiner Originalität exemplarisch gelten soll; vgl. zweiten Teil, Kap. II, dritten Teil, Kap. 1; über das ..Genie" bei Fichte s. dritten Teil.

2) Diese Möglichkeit des Zusammenwii-kens beider Methoden verkennen nicht nur Schellixg und Hegel, sondern auch die Ver- treter der sog. genialen Moral. Shaftesbury, Jacobi, die Romantiker und andere empfinden richtig, wenn sie meinen, durch das unter- schiedslose Beugen unter allgemeine Maximen gelange der Eigenwert der bedeutenden Persönlichkeit nicht zu seinem Recht; aber sie irren, wenn sie daraus als notwendige Konsequenz die Verdrängung der formalen Wertbetrachtung überhaui)t ableiten.

3) Allerdings kann Hegel, dessen Logik sich ja jenseits des in unserem Sinne Individuellen und Allgemeinen bewegen will (s. ersten

~ IB -

Beginn eigener Spekulation an ergeht er sich in heftiger Polemik gegen die Trennung eines gegen jeden Wert in- differenten Stoffes und einer dem Konkreten fremd gegen- überstehenden abstrakten Wertallgemeinheit. Bei ihm kündigt sich die beabsichtigte vöüige Versöhnung der Spekulation und der Geschichte schon in der Aufgabe an, die er dem Geschichtsphilosophen zuweist: die Vernunft in der Ge- sdiichte aufzusuchen, in ihrer Durchdringung auch des Einzelnen und Kleinsten. Versöhnt werden dabei mit ein- ander auch die bei Kant auseinanderfallenden Begriffe der Kultur und des „Historischen" M. Das Kulturganze wird als der mit voller Wertinhaltlichkeit ausgestattete objektive Geist aufgefasst, in den Begriff des historischen Einzellebens wird andrerseits die innigste Wesensgemeinschaft mit den grossen Kulturzusammenhängen aufgenommen. Wir lernen damit zugleich noch eine neue Eigentümlichkeit der mit Wertindividualitäten operierenden Methode kennen. Beim abstrakten Wertschema wird das Wertexemplar mit dem Wert all gemeinen, beim Hegelschkx Verfahren Wertindividualität mit Wertindividualität, nämlich einzelne Gliedindividualilät mit der sie realiter umfassenden Ge- samtindividualität in Beziehung gesetzt. Das Einzelne ist nicht als Exemplar einer Gattung untergeordnet, sondern aTs Bestandteil einem Wertganzen eingegliedert. Nicht nur die Wertindividualität, sondern auch das eigentümliche Verhältnis der Einzel- zur Gesamtindividualität, zuni Wejt- ganzen, erweist sich als Kennzeichen dieser neuen Wertungs-

c^t^y.

Es ist notwendig, den dabei waltenden inneren Zu- sammen h a n a zwischen We r t i n d i v i d u a 1 i t ä t und

Teil, Kap. II), nur indirekt als typischer Vertreter der Wertung des Individuellen bezeichnet werden. Aber da die konkrete Allgemein- heit, die er an Stelle des Abstrakten setzen will, auch zur Würdigung des in unserem Sinne Individuellen führt, so darf er gleichwohl für uns wenn auch nicht nach seinem eigenen philosophischen Bewusstsein als Wertungsindividualist gelten.

1) Vgl. ob. S. 9 f.

■-) Kant und Hegel liefern in ihrer Einseitigkeit gradezu Muster- beispiele für diesen Unterschied der Wertungsarten: bei Kant er- scheint z. B. die Persönlichkeit und ihr Handeln nur als Exemplar, einzelner Eall usw. des Sittlichkeitsbegriffs, bei Hegel nur als Glied einer „sittlichen Totalität".

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Tendenz der Einordnung in reale Werteinheiten kurz anzudeuten. Geht die Untersuchung (wie heim ah- strakten Wertschema) niclit von einem konkreten Wert- ganzen, sondern von einem Gattungshegrilf aus, dann stösst sie mit logischer Konsequenz nur auf isolierte, ledig- lich durch die gemeinsame Unterordnung unter denselhen Gattungshegriff zu einer gedachten Einheit verbundene Exemplare '^). Das abstrakte Wertschema führt deshalb zur Vereinzelung der Objekte. Mit besonderer Deutlich- keit macht sich dies Ergebnis fühlbar, sobald die abstrakte Methode sich auf die Untersuchung von Kulturobjekten erstreckt. Indem nämlich hierbei das, was wir sonst in realen Zusammenhängen zu sehen gew^ohnt sind, lediglich als unter Gattungsbegriffe (z. B. auch unter abstrakte Ge- setze) subsumiertes Exemplar betrachtet wird, gebietet die Methode gradezu, die Aufmerksamkeit von den realen Beziehungen der Dinge zu einander und ihrer Einordnung in konkrete Kulturzusammenhänge abzulenken und bei allen einzelnen Gegenständen stets nur auf ihr immer gleiches Verhältnis zum Begriff zu reflektieren. Dadurch zerfällt naturgemäss die ganze Beobachtungssphäre (als „Umfang" des Begriffs) in ein unverbundenes Aggregat gegen einander gleichgültiger Einzelrealitäten. Die durch das Wesen des Gattungsbegriffs logisch geforderte Vereinzelung der Unter- suchungsobjekte verwandelt sich in diesem Fall, sobald das abstrakte Wertschema wie bei Kant auch auf geschieht s- und rechtsphilosophischem Gebiet allein herrschend wird, in die Auflösung historischer Zusammenhänge und die Atomisierung aller sozialen Gebilde. So stehen auf der einen Seite abstrakte Wertungsart und Atomismus in innerem Zusammenhang. Wo dagegen andrerseits die Einzelwirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Wert- individualität angesehen wird, der Gedanke des Allge- meinen also garnicht herangetragen werden darf, da muss die Untersuchung, sofern beim Einzelnen nicht stehn- gebUeben werden soll, auf ein umfassendes, reales Wert- ganze hingelenkt werden, als dessen Glied das Einzelne erst verständlich ist. Umgekehrt kann man sagen: wer von

1) Vgl. den ersten Teil, Kap. I, A, über die Begriffslehre der formalen Logik.

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einein realen Kulturganzen ausgeht, wird auch das Einzelne in seiner Beziehung nicht zu einem Allgemeinen, sondern ehen zu diesem Ganzen, und deshalh, da diese Beziehung das Einzelne in seiner Konkretheit und Einmaligkeit er- greift, dieses nicht als Wertexemplar, sondern als Wert- individualität begreifen. Aus diesem Grunde werden Wert- individualitäten nicht in dem unverbundenen Zustand gleich- giltiger Koordination zusammengedacht, sondern in ihren lebendigen Beziehungen zu anschaulichen Totalitäten be- trachtet 0-

Es wird sich darum die W^ertbetrachtung unter dem Gesichtspunkte der Individualität stets im Gegensatz wissen zu den atomisierenden Bestrebungen der abstrakten Rich- tung. Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge und das unablässige Ringen, den Gesichtspunkt der Wertindivi- dualität und Werttotalität gegenüber einem jahrhunderte- langen Verfahren der vorangegangenen Philosophie wieder zur Geltung zu bringen, gehört zu den wertvollsten und gewaltigsten Bestandteilen von Hegels Denkarbeit. Eine genauere Darstellung hätte zu zeigen, wie Hegels Stellung in der Geschichte der Kulturprobleme, insbesondere auch der Rechts- und Staatsphilosophie, ganz und gar auf seiner Polemik gegen die abstrakte Wertlogik beruht -). Statt

V) Diese bisher fast stets vernachlässigten Unterschiede zwischen überincUviduellera Allgemeinem und überindividuellem Ganzem, deren unvergleichliche Fruchtbarkeit liir die geschichts- und social- ])hilosophische Forschung sich in der Zukunft immer deutlicher herausstellen dürfte, sind durch Rickerts logische Untersuchungen klargelegt und für die geschichtsphilosophischen Probleme verwertet worden: les quatres modes de l'universel en histoire, Revue de Syn- these historique 1901 und Grenzen der naturwissenschaftlichen Begrilfs- bildung, 4. Kap., IV „der historische Zusammenhang". Vgl. dazu ausser- dem noch die kurzen, andeutenden Bemerkungen Simmels, sociale Differenzierung 15 IT., Philosophie des Geldes 466 und die wertvollen Untersuchungen Kistiakowskis, Gesellschaft und Einzelwesen, bes. 5. Kap.

2) Sie hätte zugleich den engen Zusammenhang von Hegels eigener Wertlehre mit seiner Logik zu verfolgen. Dabei würde sich herausstellen, dass wertvollste kulturphilosophische Ergebnisse oft in innigstem Zusammenhang mit Spekulationen stehen, die vom rein logischen und erkenntnistheoretischen Standpunkt aus zu verwerfen sind; vergl. den Anfang des „ersten Teiles" und Ivap. II (Hegels Pole- mik gegen den Atomismus).

- IG

dieses Nachweises, der hier unterhleiben muss, soll zur Rechtfertigung unserer ganzen wertlogischen Betrachtungs- art wenigstens andeutungsweise daraufhingewiesen werden, welche Klarheit über den geschichtlichen Gesamtverlauf der Wertprobleme durch unsere Unterscheidung der beiden Wertungsarten sich gewinnen lässt, und wie insbesondere die Berücksichtigung des Zusammenhanges zwischen ab- straktem Wertschema und Atomismus einerseits, zwischen dem Gesichtspunkt der Wertindividualität und dem des Wertganzen andrerseits, es erst ermöglicht, die in der Ge- schichte des Wertens aufgetretenen verschiedenen Bedeu- tungen von „Individualismus" und „Universalismus" aus- einanderzuhalten. Diesem Zwecke diene folgende schema- tische Übersicht: man kann unterscheiden

1. einen Individualismus (1), der die Selbständig- keit des isolierten Individuums gegenüber allen (historischen wie socialen) Zusammenhängen, also gegenüber dem Wert- ganzen behauptet, gegenüber dem Wert all gemeinen dagegen eine das Individuum fast erdrückende Unter- geordnetheit zulässt, mithin: Atomismus auf abstrakter Grundlage. Vertreter: Rationalismus der Aufklärung auf allen Gebieten und zu allen Zeiten (bei dem in der That mit der Empörung des Einzelnen gegen das Ganze die weitgehende Unterwerfung unter eine abstrakte Gesetzlich- keit fast stets Hand in Hand ging).

Wo dabei der Schwerpunkt auf die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Einzelnen gegenüber den abstrakten Werten gelegt wird, da wird dieser Individualismus gradezu zu einem Universalismus (1) hinsichtlich des Allge- meinen. Besonders typisch: Neuplatonismus, deutsche Mystik (Gegenüberstellung des Ewigen und des Historischen, zugleich individualistischer Gegensatz gegen den Gedanken der Gemeinschaft).

2. einen Individualismus (2), der die selbständige Bedeutung der Wertindividualität gegenüber allen blos abstrakten Werten verficht, dagegen die Eingliederung in eine Werttotalität behauptet. Vertreter: Christentum (Wert der Einzelseele, daneben Idee der Gemeinschaft), moderne historische Weltanschauung (Äusserung auf ein- zelnen Gebieten: historische Rechtsschule, geschichtliche Nationalökonomie u. s. w.; deren Gemeinsame Polemik

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gegen den abstrakten Rationalismus und „Atomismus"), ferner Pliilosophen wie Schi.p:ikhma(:hp:h.

Wird dal)ei die Einordnung des Einzelnen in das Wertganze übermässig gesteigert, so wird dieser Indivi- dualismus geradezu zu einem Universalismus (2) hin- sichtlich des Wertganzen. Besonders typisch: im Christen- tum z. B. ArcirsTiN, ferner Philosophen wie Plato [in der Staatslehre Ol imd HE(;i:r/-).

3. einen Individualismus (3), der nicht nur die Selbständigkeit des Einzelnen gegenüber den allgemeinen Werten behauptet, sondern auch gleichzeitig jede Ein- ordnung in eine Werttotalität ablehnt. Vertreter: geniale Moral z. B. der Stürmer und Dränger, Herrenmoral der griechischen Sophisten und Nietzsches.

4. einen Universalismus (3), der die Individuali- täten lediglich zum Mittel eines Ganzen herabdrückt, sie aber gleichzeitig nach atomistisch-rationalistischem vSchema nur als gleichgültig nebeneinander gereihte Durchschnitts- exemplare gewissen abstrakten Merkmalen und Erforder- nissen unterworfen wissen will. Vertreter: Socialismus, besser Kollektivismus genannt.

Nach den Andeutungen dieser Übersicht lässt sich jetzt unsere Charakteristik von Hegels Geschichtsphilo- sophie noch in einigen Punkten genauer formulieren und ergänzen. Es muss auf den ersten Blick im höchsten Grade befremdlich scheinen, eine Lehre als Standpunkt der Wertindividualität charakterisiert zu sehen, als deren iiervorstechendes Merkmal bisher stets die Leugnung des Individuellen gegolten hat. Allein unser Begriff der Wert- individualität umfasst gleichmässig die Bedeutungen von Gesamtindividualität und Gliedindividualität. Unter rein wertlogischen Gesichtspunkten muss deshalb eine Speku- lation auch dann noch als Vertreterin der Wertindividualität angesehen werden, wenn sie die konkreten Gesamtgebilde

') Es muss ausdrücklich bemerkt werden, dass Pl.vto in der Kulturphilosophie nicht wie in der Metaphysik Universalist hinsicht- lich der Alliijemeinbegrilie ist; vgl. dazu die Austuhrungen bei Stahl, Phil. d. Rechts 1, 8 21.

2) Eine übereinstimmende Unterscheidung zweier „Formen des Individualismus" bei Simmel, Philosophie des Geldes 374, Halb- monatsschrift „Das freie Wort" 19U1, No. 13, 397— 4U3.

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der Kultur einseitig bevorzugt und das Einzelne als für sich wesenloses Moment in „sittliche Totalitäten'' ganz einzuordnen geneigt ist, wenn sie also in einen „Uni- versalismus" hinsichtlich des Kulturganzen umschlägt. Auch die umfassenden Gesanitgebilde der Kultur sind ja Wirklichkeiten von einmaliger und lebendiger Wertfülle, und deshalb steht auch dieser Universalismus in scharfem und bei Hegel sogar bewusstem Gegensatz zur abstrakten kulturphilosophischen Methode. Zuzugeben ist allerdings, dass diese ganze Errungenschaft des konkreten Wertens von Hegels eigener panlogistischer Metaphysik immer wieder unterwühlt wird (vgl. S. 12, Anm. 3 u. S. 15, Anm. 2).

Wie in der Entwicklung der nachkantischen Speku- lation überhaupt, so erscheint Eichte als Mittelpunkt auch in der Reihe der geschichtsphilosophischen Systeme. Insbesondere darf er in der Methode des Wertens als ])hilosoj)hisches ^Mittelglied zwischen der a])rioristischen Philosophie einerseits, und Hegel, sowie der historischen Rechtsschule andrerseits gelten. In seinen Versuchen einer P)egritfsbestimmung des Geschichtlichen nimmt zwar zunächst die Kanlische Auffassung des b]inzelnen als einer konkreten Verwirklichung allgemeiner Werte noch einen grossen Raum ein. Ueber Kant hinaus aber ging er dadurch, dass er zuerst damit Ernst machte, die vom einheitlichen Menschengeschlecht übernommene Ver- nunftaul^abe als in ihrer Einmaligkeit wertvolle Ent- wicklung zu betrachten, das Einzelne deshalb vor allem in seiner einzigartigen Stellung innerhalb des Gesamlver- laufes zu würdigen. So hat er den Gesichtspunkt der Wertindividualität von der Gesamtheit der Kultur bereits auch auf Teilerscheinungen übertragen und ins])esondere das Wesen der Nation, zum Teil auch schon das der historischen Persönlichkeit zu untersuchen begonnen.

Zum besseren Verständnis von Fk.htes geschichtsphilo- sophischer Leistung muss an dieser Stelle eine allgemeinere Bemerkung eingeschoben werden. Die Spekufation des deutschen Idealism.us erstrebte bei ihrem Vertrauen auf ein die einzelnen Wissenschaften verdrängendes „Svstem

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der Vernunft' nicht ein Verständnis der positiven Ge- schichtswissenschaft, sondern richtete die philosophische Forschung sozusagen unmittelhar auf Wesen und StolT der Geschichte sell)st. Nicht die Geschichtswissenschaft, sondern die Geschiclite woHte man verstehen. Man untersuchte nicht kritisch (He vorliandenen historischen BegrilTe, sondern erzeugte selbständig geschichtsphiloso- phlsche Begriffe. Oder besser: es entwickelten sich die Begriffe Im Zusammenhang mit der ganzen Philosophie. Die Herausarbeitung dieses in den geschichtsphilosophischen Spekulationen steckenden Begriffsapparats bildete die Auf- gabe unserer bisherigen, kurz andeutenden Übersicht. Aber wir konnten lediglich die Bildung solcher Begriffe des Ge- schichtlichen, die Anwendung gewisser Wertungsarten ver- folgen und aus dem Grundcharakter der verschiedenen philosophischen Systeme auch verstehen; keineswegs aber durften wir zugleich behaupten, dass die zu einer Kenn- zeichnung des Historischen thatsächlich führende geschichts- philosophische Wertung, deren logische Struktur wir in jedem einzelnen Fall erst feststellen mussten, zur Klarheit bewusster Reflexion emiDorstieg und so zum methodologi- schen Verständnis der Geschichte benutzt wurde. Vielmehr wird man den Satz aufstellen müssen: nach der logischen und erkenntnistheoretischen Struktur des Ge- schichtlichen wird in der klassischen Epoche unserer Philosophie garnicht oder in unzulänglicher Weise ge- fragt.

Diese Bemerkung musste zur besseren Würdigung von FiCHTES Geschichtsphilosophie an dieser Stelle eingeschoben werden. Denn grade in ihr beobachten wir den bedeut- samen Anfang der Erscheinung, dass die bewusste philo- sophische Forschung sich auf den logischen Gehalt des Historischen selbst richtet. Zwar wirkt auch bei Fichte Kants Gleichsetzung des Historischen mit dem „blos" Em- pirischen noch so stark nach, dass er die Wolffische Ent- gegensetzung von Historischem und Rationalem nie ganz überwunden hat. Aber einen wesentlichen Fortschritt über den Kriticismus hinaus macht die Wissenschaftslehre da- durch, dass sie die Einsicht in die Unentbehrlichkeit des empirischen Faktors, in die Gebundenheit des Allgemeinen oder der „Formen" an konkreteVerwirklichung, vonder theo-

20

retischen Transscendentalphilosophie ausdrücklich auf das moralphilosophische Gebiet überträgt. Die Notwendigkeit

! eines sittlichen Materialen folgte zwar schon aus Kants Fest- leauns auch nur des formalen ethischen Wertes; aber nichtsdestoweniger gebührt erst Fichtk das Verdienst, diese Folgerung in den Vordergrund geschoben und dadurch in

1. eine ganz neue Beleuchtung gerückt zu haben. Denn die Unentbehrlichkeit konkreter Realisierung des Formalen wird jetzt nicht mehr nur als unvermeidliches intelligibles Fatum empfunden, sondern als lebendiger Zusammenhang end- licher Beschränktheit und übersinnlicher Werte freudig begrüsst. Das Konkrete erhält einen tiefen Sinn, es wird ..das versinnlichte Materiale unserer Pflicht", die Offen- barung unserer individuellen sittlichen „Bestimmung".

Damit aber ist die einfache Identifikation von Histo- rischem und Empirischem überwunden. In den Begriff des Historischen wird vielmehr der Wertfaktor jetzt bereits mit aufgenommen und mit dem formallogischen Charakter des Besonderen oder Bestimmten verschmolzen. Auch vor der tiefsten Spekulation soll das Historische eine urs])rüng- liche und selbständige Bedeutung bewahren. Noch besteht zwar, wie wir sahen, das alte Vorurteil, dass in dem In- dividuellen in letzter Linie nur ein aus dem Formalen abgeleiteter Wert erblickt werden dürfe. Allein die Ver- bindung des Individuellen mit dem Wert überhaupt ist jedenfalls schon angebahnt. Das Kulturproblem erhält damit eine Vertiefung durch die scharfe logische Durchdringung, Kants logischer Begriff des Historischen erhält eine Be- reicherung durch die beginnende Verbindung mit dem W^ert- faktor. Die volle Einsicht in das Wesen des Historischen ist noch nicht gewonnen denn der Gedanke der Wert- individualität bleibt im Grossen und Ganzen noch logisch unbegriffen , aber Elemente der Gesamtstruktur des Cieschich fliehen werden bereits richtig erkannt. Ist somit die Untersuchung noch unzureichend, so ist es doch Fichtes bleibendes Verdienst, wenigstens einen Anfang gemacht, zum ersten Mal alle Mittel eines grossen Systems zur begriff- lichen Festlegung des Geschichtlichen aufgeboten zu haben. In seiner (ieschichtsphilosophie beginnt die abstrakte Spe- kulation sich mit der Thatsache des Historischen aus- einanderzusetzen, sich dieser Thatsache durch Einordnung

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in umfassende begriffliche Zusammenhänge logisch-metho- dologisch zu bemächtigen.

Die Ergebnisse unserer bisherigen Darstellung lassen sich folgendermassen zusammenfassen: Kants Hauptleistung besteht in der formalen Festlegung des Wertgesichtspunktes für den Kultur- und Geschichtsbegriff; für Hkgkl ist die Anwendung der Wertindividualität und des Wertganzen besonders charakteristisch ; Fk.htp: endlich gebührt das Verdienst einer ersten methodologisch bedeutsamen Besinnung auf die logische Eigenart des Geschicht- lichen, (irade diese Seite seiner Geschichtsphilo- sophie ist gegenüber seiner bekannten Geschichts- metaphysik viel zu wenig beachtet worden. Und doch verdient sie eine eingehende Würdigung. Einen wie festen und wichtigen Bestandteil des ganzen Fichteschen Systems sie bildet, davon überzeugt man sich jedoch erst, wenn man verfolgt, wie sie ihre Wurzeln bis in die letzten Prinzipien der Wissenschaftslehre erstreckt. Bei der Auf- suchung der hierbei entscheidenden erkenntnistheoretischen Grundlagen glaubt nun der Verfasser auf Bestandteile der Wissenschaftslehre gestossen zu sein, die nicht nur für das Verständnis der durch sie geschaffenen Begriffsbestimmung des Historischen unerlässlich sind, sondern auch für die Würdigung Fichtes und seiner ganzen Stellung in der Geschichte des Idealismus eine selbständige Bedeutung beanspruchen. Diese Beobachtung hat schliesslich dazu ge- führt, dass in der vorliegenden Arbeit die Darstellung der erkenntnistheoretischen Grundlagen gesondert von der ausführlichen Behandlung der Geschichtsphilosophie selbst herausgegeben wird. Darum ist der grösste Teil dieser Untersuchung eigentlich nur alsVorarbeit anzusehen, aller- dings als die bei weitem wichtigste und schwierigste Vorarbeit für eine Darstellung von Fichtes Kultur- und Geschichtslogik. Denn nur gewisse Bestandteile seiner ge- schichtsphilosophischen Leistung verlangen und verdienen eine so straffe Einordnung in die Grundprinzipien der Wissenschaftslehre. Infolge von Zusammenhängen, die erst aus dem letzten Teil dieser Arbeit ganz ersichtlich werden, weist nämlich vor allem Fichtes rein logischer Begriff des Geschichtlichen über sich selbst hinaus und wird zur un- widerstehlichen Veranlassung, Fichtes Lehre von der em-

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p irischen Wirklichkeit und seine Behandlung gewisser logischer (irundi)rol)lemc eingehend zu untersuchen. Haupt- sächlich zur Kenntnis der transscendentalen Logik des deutschen Idealismus wird deshall) diese Schrift einen Beitrag zu liefern suchen; sie wird aher ausserdem auch die Wechselwirkung aufzuzeigen hahcn, die zwischen den kulturphiloso])hischen Spekulationen und der rein er- kenntnistheoretischen Fassung des Individualitäts- l)rol)lems, inshesondere der Lehre von der logischen Irrationalität des Individuellen, stattgefunden hat.

Unsere Einleitung hat zunächst die geschichtsphilo- sophischen Schöpfungen des deutschen Idealismus lediglich als eine Entwicklung verschiedener Wertungsarten zu he- greifen versucht. Indem dabei das Hauptaugenmerk nicht auf die inhaltlichen Ergebnisse der Spekulation, sondern mehr auf deren Form und Methode gerichtet war, musste notwendig überall die Frage nach der logischen Struktur des Wertmomentes in den Vordergrund treten. Von der Wertlogik glitt schliesslich die Betrachtung kurz andeutend auf das Gebiet rein logischer Probleme hinüber, die wir ein- leitend als letzte erkenntnistheoretische Grundlagen einer Geschichtsphilosophie kennzeichneten, um sie dabei gleich- zeitig als selbständigen und für sich behandelten Gegenstand unserer Arbeit festzustellen.

Nur bis zu dem so angedeuteten und in den richtigen Problemzusammenhang eingeordneten Thema unserer Ab- handlung sollte die Einleitung orientierend hinführen. Über den genaueren Inhalt selbst giebt der erste Teil durch Ausführungen über die Logik des deutschen Idealis- mus und durch vorläufige Einstellung Fichtes in den Entwicklungsgang der hier erörterten Spekulationen die weitere Aufklärung. Der zweite Teil enthält sodann den Nachweis der am Schluss des ersten über die Wissenschafts- lehre aufgestellten Behauptungen. Lediglich ein Ausblick auf Fichtes Geschichtsphilosophie, wie sie sich auf den nachgewiesenen erkenntnistheoretischen Grundlagen auf- baut, kann endlich im dritten Teil gegeben werden.

Erster Teil.

Die logischen Voraussetzungen von Kants und

Hegels Rationalismus und die Einordnung Fiehtes

in den Entwicklungsgang der deutschen

Spekulation.

In der Einleitung war bereits an mehreren Stellen die Gelegenheit geboten, auf die innige Wechselwirkung zwischen der Kulturphilosoj)hie und der Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus hinzuweisen. Gegenüber dieser Thatsache historisch gegebener Gedankenzusammenhänge kann nun Her Kritik die eigentümlicbe A'uT^abe erwachsen, eine notwendige, sachliche Zusammengehörigkeit der in den verschiedenen Systemen faktisch miteinander ver- bundenen Denkbestandteile zu leugnen. So werden wir die logischen Voraussetzungen von Kants Transscendental- philosophie billigen dürfen, ohne den psychologisch aus ihr hervorgehenden einseitigen Formalismus des Wertens gutzuheissen. So werden wir umgekehrt Hegels Theorie' vom Begriff ablehnen können, ohne doch seine frucht- bare Schöpfung neuer Wertbegriffe verkennen zu müssen^). Dieses kritische Verhalten findet dann seine einzige Recht- fertigung darin, dass wir an eine mögliche Vereinigung der Kantischen Theorie vom Begriff mit der Bildung der Hegelschen Wertbegriffe glauben.

Wir können aber auch noch einen Schritt weiter gehen und den Satz aufstellen: die Kantische Logik sei sogar

') V«l. ob. S. 15 Anm. 2.

24

(He einzige, iinerlässliche und ausreichende Vor- l)edingung,zwar nicht zur vollkommenenBegrilYshestimmung des Historischen, wohl aher zur Erfassung gewisser not- wendiger Elemente dieses Begriffs, also zu einer Leistung, die wir andeutungsweise hereits als Eichtes geschichts- logische Hauptleistung hezeichneten.

Jene Kant und Heg?:l voneinander scheidenden logi- schen und erkenntnistheoretischen (irundansichten machen wir nunmehr zu einem seihständigen Gegenstand der Untersuchung, und zwar mit der ehen geforderten gänz- lichen Herauslösung aus der Verllechtung in die ver- schiedenen Wertungsarten und mit alleiniger Zuspitzung auf das, was sich uns als der eigentliche Mittelpunkt der Prohleme ergehen wird, auf die Lehre von der Irratio- nalität der empirischen Wirklichkeit, auf die rein logische Behandlung des Individuellen. Unser „erster Teil" soll somit nur den prohlemgeschichtlichen Ort für diejenigen logischen und erkenntnistheoretischen (iedanken- gänge feststellen, die im „zweiten Teil" als rein theoretische Grundlage von Eichtes Begriff des Historischen ausführlich hehandelt werden^). Eine so genau orientierende Dar- stellung dieser Prohleme muss aher deshalh vorausgeschickt werden, weil nur bei ganz scharfer Herausarheitung des (iegensatzes zwischen Kaxtischem und Hegelschem Ratio- nalismus Eichtes Stellung in der Entwicklung des Irra- tionalitätsprohlems und damit die Bedeutung seiner ge- schichtslogischen Leistung 2) zum Verständnis gebracht werden kann.

Es wird sich bei dieser (iegenüberstellung von Kants und Hegels Philosophie hauptsächlich um die Theorie des Begriffs handeln. Darum erscheint es zweckmässig, vor der ausführlichen Behandlung der beiden Svsteme das der

^) Aucli in der heutigen Metliodologie der Geschichtswissenschait erscheint die Irrationalität der individuellen empirischen Wirklichkeit als weitester rein logischer Begriff des „Historischen"; so bei RiCKERT, Grenzen, Kap. llf. Die Unableitbarkeit des Indi- viduellen aus den allgemeinen Gesetzen als eigentliches Charakte- ristikum des Geschichtlichen ferner bei Simmel, Probleme der Ge- schichtsphilosophie, bes. 41 ff. und Windelbaxd, Geschichte und Naturwissenschaft (Rektoratsrede); vgl. ob. S. 21 f.

2) Deren Zusammenhang mit dem Irrationalitätsgedanken be- sonders m Kap. III des „driUen Teiles" dargestellt wird.

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Yergleichung zu Grunde gelegte Lehrstück wenigstens in vor- läufigen Umrissen klarzustellen.

Nach der Entscheidung der Frage, welcher Wahrheits- ^JU)^^ w.'C und Wirklichkeitsgehalt den Gattungsbegriffen zuzuer- Jd^^^t

kennen ist, lassen sich alle von jeher aufgestellten Begriffs- ^

theorien in zwei Hauptgruppen teilen. Die Anhänger der einen halten das logisch Untergeordnetste, das Inhaltreichste,, das, was der Stufenfolge der Begriffe nach unten hin eine Schranke setzt, kürz die unbegrenzte Zahl der Einzeldinge^ däs~einpirTsch unmittelbar Erlebbare, für die einzige Wirk- lichkeit^ für die unverrückbare Basis, von der alle Begriffs- ^If) \ lU>J[\ bildung ihren Ausgang nimmt. Das EmpiriscTie wird ihnen zur einzigen und vollen Wirklichkeit; der Begriff zu einem Ivünstlich ausgesonderten Teilinhalt ohne eigene Existenz- fähigkeit, der durch Autlösung des ursprünglich Verbundenen entsteht und^sich lediglich als Produkt des Denkens erweist. Die Begriffsbildung vollzieht sich hier durch Analyse des unmittelbar Gegebenen ; wir können die Logik, die auf diesem Standpunkt steht, kurz die analytische Logik nennen. Die Jlir entgegengesetzte Richtung deutet die logische Herr- schaft des Begriffs über das Einzelding zur realen Macht einer höheren Wirklichkeit um, der gegenüber die Welt des Empirischen zu einer niederen und abhängigen Daseins- form herabgedrückt wird. Diese Richtung hat einen grossen Formenreichtum entwickelt, bei dessen Erzeugung mannig- fache metaphysische und erkenntnistheoretische Gedanken wirksam gewesen sind. Es lässt sich aber zeigen, dass diese alle auch einem rein logischen Ideal des Begriffs zustreben, das seiner Struktur nach dem Begriff, wie ihn die analytische Logik fordert, in wesentlichen Punkten ent- ^ gegengesetzt ist. Bei diesen Theorien nämlich muss der Begriff stets inhaltsreicher als die empirische Wirklichkeit , ausfallen, nicht als deren Teil, sondern umgekehrt so ge- dacht werden, dass er sie als seinen Teil, als Ausfluss seines überwirklichen Wesens umfasst. Beziehungen zwischen Begriff und Einzelnem werden dann nicht etwa durch ein die Begriffe erst bildendes Denken ermöglicht, sondern ent- stammen einer realen Abhängigkeit des Besonderen, einer „organischen" innigen Durchdringung von Gattung und Einzelwirklichkeit. Da hierbei der Begriff den besonderen Yerwirklichungsfall sozusagen aus seiner überreichen Fülle

Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. 3

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26

entlässt, mag die solche Ergebnisse hervortreibende An- schauungsweise eine emanatistische Logik genannt wer- den. Schon diese kurze Ül^ersicht niuss gezeigt haben, dass das Princip der Einteihing in die Ijeiden Arten der Logik gebildet wurde durch ein verschiedenes Verhältnis des Begriffs zur empirischen Wirklichkeit, zu der er sich nämlich das eine Mal als unterwirklicher Teilinhalt, das andere Mal als überwirklicher Urgrund verhält.

L Kapitel.

Kants analytische Logik des transscendentalen

BegrifTs.

A. Die logische Struktur des transscendentalen Beg-riffs im

Allg-emeinen.

Dass Iv.\NT als der typische Vertreter einer analy- tischen BegrilTstheorie gelten darf, zeigt sich zunächst ganz deutlich auf dem Gebiet der formalen Logik, auf dem wir ihn als Anhänger gewisser Hauptstücke der traditionellen Lehre finden. Der Gattungsbegriff, als fertiges Gebilde ge- fasst, ist das Produkt einer Reflexion auf die mehreren \ er- gleichbaren Vorstellungen gemeinsamen und einer Absonde- rung der individuell verschiedenen Merkmale. Seine All- gemeinheit, d. h. seine Anwendbarkeit auf viele Einzelvor- stellungen, verdankt er lediglich seinem abstrakten (>harakter, d. h. seiner Losgerissenheit aus dem ungeteilten Ganzen der „Anschauung". Er stellt eine erst durch das Denken geschaffene Koncentration von Merkmalen und deshalb nur eine begriffliche, nicht eine reale, anschauliche Grösse dar. Auch mit jeder Vorstellung einer realen Abhängigkeit des Einzelnen, das nur „unter'" dem Begriff steht, von der Gattung muss daher gebrochen werden ^). Wie zwischen Exemplar und Gattung keine reale Abhängigkeit, so findet aber ferner zwischen den Exemplaren derselben Gattung unter- einander auch keine reale Verbundenheit statt. Das Band, das den empirischen Umfang eines BegrifTs ums])annt.

1) Vgl. zu allem Kants Logik, WW VIII.

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ist nur der Gedanke ihrer gemeinschaftlichen Unterordnung. Der empirische Umfang ist eine Summe, ein l)losses Aggregat von Exemphuen, üher deren unhegrenzte Anzahl der Begriff blos verstreut ist^). Wie die Subordination keine reale Wirkung, der BegrilY seihst keine reale Substanz, so ist die Koordination keine reale Einheit.

Gemäss dieser analytischen Begriffstheorie lehrt Kant in rein logischem Betracht die Inhaltsleere und deshalb in erkenntnistheoretischem Betracht die Unwirklichkeit des Begriffs. Er gelangt so notwendigerweise zu einem ge- wissen Nominalismus und Empirismus. Dieser aber scheint sich im Widerspruch zu befinden mit seinem „Bationalis- mus", nach dem die Gegenständlichkeit oder Objektivität grade aus den reinen Denkformen stammt, mithin aus einem Allgemeinen, das dem empirischen Wahrnehmungs- material entgegengesetzt ist. Es scheint demnach, als ol) die erkenntnistheoretischen Gattungsbegriffe, dietrans- scen dentalen Allgemeinheiten, sich der analytischen Logik nicht einfügen. Wir wollen nun versuchen, die Verträg- lichkeit der analytischen Logik mit der kritischen Erkennt- nislehre dadurch darzuthun, dass wir diese von jedem vorkantischen Bationalismus unterscheiden und dabei die logische Struktur des rationalen Eaktors, wie ihn der Kriticismus lehrt, genau feststellen.

Den vorkantischen Bationalismus finden wir zu- nächst auf dem Boden einer dogmatischen Metaphysik. Der Bationalist erfahrt die Unangemessenheit des sich empirisch darbietenden Erkenntnismaterials gegenüber den letzten Bestrebungen unserer Vernunft, die ihm auf Ver- einheitlichung und Begreiflichkeit hinauszulaufen scheinen. Was sich ihm nun bei seiner von den Vernunftzielen ge- leiteten Bearbeitung des Materials als Wesenhaftes ergiebt und sich vom Zufälligen scheidet, das sieht er nicht ledig- lich als ein Erzeugnis seiner die „P>scheinungswelt" über- windenden Denkthätigkeit an, sondern zugleich als Abbild einer zweiten und wahreren Wirklichkeit. Da er Werte des Erkennens in Wirklichkeiten umwandelt, muss ihm der Sinn des Erkennens stets in der Abbilduna einer

') Vgl. z. B. die bekannte Stelle III, 60 im 4. Raumargument. VI, 476 Anm. „Inbegriti", „complexus", „aggregatum" identiliciert.

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Wirklichkeit bestehen. Er gelangt so notwendig zu einer auf die Abbildtheorie aufgebauten Zweiweltenlehre. Einer- seits ist also bei ihm das Erkennen ganz abhängig vom absoluten Sein, denn es ist seine getreue Kopie; andrer- seits ist aber wieder das absolute Sein ganz vorgezeichnet durch das Erkennen, denn seine jedesmaligen Erkennt- nisziele hypostasiert ja der dogmatische Rationalist zu der metaj)hysischen Realität. Denknotwendigkeiten, Ideale des Erkennens werden bei ihm zu inhaltlich bestimmten übersinnlichen Ciegenständen, zur naturphilosophischen '^•P"//h ^11 Platonischen Ideen, mittelalterlichen Universalien, Naturgesetzen und Atomen, zur Spinozistischen Substanz, zu allen den rationalen Dingen der L?:ibxiz-Wolffischex Philosophie. Der vorkantische Rationalismus ist gekenn- zeichnet durch die Abbildtheorie und die Hypostasierung von Erkenntniswerten zu inhaltlich bestimmten Realitäten. Kant ist der Zerstörer der Abbildtheorie; darin besteht seine ivo])ernikanische., That. Sein, Realität, Gegenständ- lichkeit ist eine Regel der Vorstellungsverbindung, eine Notwendigkeit und Allgemeingiltigkeit des Urteilens. Ver- nichtet ist damit, was wir die Abhängigkeit des Denkens vom Sein nannten, zugleich aber auch, so scheint es zu- nächst, die letzte Schranke des Rationalismus hinweggeräumt. Allein Kant greift ebenso die andere Lehre der Meta- physiker an, nämlich ihre Verwandlung von Erkenntnis- werten in inhaltlich bestimmte Realitäten. Er leugnet zwar das absolute Sein und führt die (iegenständlichkeit auf eine Notwendigkeit des Urteilens zurück. Aber dieser Erkenntniswert der Notwendigkeil begründet nach ihm nur Gegenständlichkeit, nicht inhaltlich bestimmte (Gegen- stände. So ist denn auch die metaphysische Eassung der Abhängigkeit des Seins vom Erkennen beseitigt. Die kritische Eassung gestattet nur den Wert oder die Dignität oder die Notwendigkeit des (iegenständlichen aus dem Erkennen entspringen zu lassen, und erlaubt nicht nur, sondern fordert demgegenüber die volle Selbständigkeit des inhaltlich Restimmten oder Emj)irischen. Sie fordert sie; denn jene Notwendigkeit, die das Erkennen erzeugt, ist eine Eorm ohne Inhalt. Existieren aber können in der empirischen Vväe in der transscendenten Welt nie blosse Gegenständlichkeiten als Allgemeinbegriffe, sondern nur

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sinnliche oder übersinnliche Gegenstände. Schon dadurch lässt sich einsehen, dass der Kaxtiscih-: Rational isimis einen gewissen Empirismus, eine gewisse unersetzliche Selb- ständigkeit des Empirischen nicht nur duldet, sondern be- gründet.

Jedenfalls zeigt sich unsdieStellung zur em])irischen Wirklichkeit von einer ganz ähnlichen ausschlaggebenden Wfchtigkeil, wie vorher für den Gegensatz der beiden Arten von Logik, so jetzt auch für den Unterschied des Kaxtischkx Rationalismus von der vorkantischen rationalistischen Metaphysik. Es eröffnet sich dadurch zugleich eine Aus- sicht darauf, dass mit dem kritischen Rationalismus die analytische Eogik verträglich ist, ja dass sie auf das trans- scendentale Gebiet sich übertragen muss. Denn wo dei' apriorische Erkenntnisbestandteil als blosse inhaltsleere Eorm gefasst wird, da erscheint er doch bereits als in hohem Grade den übrigen Gattungsbegriffen angeähnelt Wir werden schon hier auf das erst im Eolgenden genauer begründete Ergebnis vorbereitet, dass nach transscenden- taler Methode das apriori lediglich als Produkt erkennt- nistheoretischer Analyse anzusehen istund die reinen Denkformen als nach den Vorschriften einer ana- l^ischen Eogik richtig gebildete transscendentale Gatt ungs begriffe "sich erweisen.

"Obgleich die Verträglichkeit des die analytische Logik begleitenden Empirismus mit dem Kantischex Rationalis- mus jetzt principiell feststeht, so muss trotzdem zugegeben werden, dass die Anwendung der analytischen Theorie auf das Transscendentale ein verwickeltes Ineinander- greifen logischer und erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte mit sich bringt. Denn da jene reinen Erkenntnisformen, die als blos abstrakte GattungsbegritTe auftreten sollen, selbst als eigentliche Erzeuger der Realität und Objek- tivität gelten: wie ist es möglich, dass ihnen die ,,emj)irische Wirklichkeit" ganz in demselben Sinne wie beliebigen anderen AllgemeinbegrilYen gegenübertritt, mit dem An- s])ruch auf selbständige Bedeutung? Denn um etwas über- haupt Gegenstand nennen zu können, muss man Kategorien ja schon mitdenken. Allein dieser Überlegung dürfen wir von rein logischem Standpunkt aus P'olgendes entgegen- halten: ganz ebenso wie beim Erkennen eines Dinges

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überhau])t die transscendentale Eigenschaft, die Kategorie, so wird irgend eine beliebige em])irische Eigenschalt, z. B. die der Schwärze, schon mitgedacht bei der Auffassung eines schwarzen Dinges, oder anders ausgedrückt: in dem- selben Sinne wie in jedem schwarzen Ding die P^igen- schaft der Schwärze, so verwirklicht sich in jedem Ding überhaupt, sofern es „Erfahrungs"objekt ist, individualiter die allgemeine Kategorie der Realität. Für unsere rein logische Betrachtung giebt es somit in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen dentransscendentalenund allen sonstigen (iattungsbegriffen ^). Grade im Kriticismus so können wir diese Betrachtung vorläufig abschliessen muss daher die analytische Logik ihre höchsten Triumphe feiern; denn in ihm werden sogar die den Erkenntniswert des inhaltlichen Denkens begründenden „synthetischen" Formen, die in ausdrücklichem (iegensatz stehen zu den blos formallogischen Denko])eralionen, streng als blosse Formen, als abstrakte Erkenntniswerte gefasst, ohne Hypo- stasierung zu selbständigen Realitäten.

Aus demselben Grunde kann sich darum in der nach- kantischen Gedankenbewegung auch der alte Gegensatz ana- lytischer und emanatistischer Logik fortsetzen, nur unter veränderten, nämlich verwickeiteren Bedingungen. Um Hegels Hinausgehen über Kant mit genügender Schärfe erfassen zu können, müssen wir uns jetzt die kritische Lehre in ihrer doppelten Verschlingung von Logik und Erkenntnis- theorie etwas genauer vergegenwärtigen.

Auszugehen ist dabei von Kants Leugnung eines „an- schauenden Verstandes". Aus dem diskursiven Charakter unseres Erkennens wird nämlich zweierlei gefolgert. Erstens das allgemein logische Schicksal, dass für alles Erkennen der Wirklichkeit die Scheidung in „zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren"^), unerlässlich sei, und zweitens die Übertragung dieses allgemein lo- gischen Phänomens speciell auf das Erkennen des Erkennens selbst, d. h. auf die Methode der transscen-

1) Vergl. dazu Kants Logik § 5; Kuxo Fischer, Anti-Trendeienburg 18 23, Vaihinger, Ivommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft II, 209 f.

2) V, 414 vgl. VIII, 36, 88.

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dentalen Untersuchuni>. Die volle Erkenn tn iswirklich- keit, so können wir auch sagen, erschliesst sieh ehensow enig einer „intellektuellen Anschauung" wie die Wirklichkeit üherhaupt. Auch des Transscendentalphilosophen Aui'gahe hesteht in einer Zerlegung, durch die der im liegriile der „Erfahrung" steckende Wertgehalt der Notwendigkeit und Allgemeingiltigkeit herausgelöst, die Erkenntnis auf ihre apriorischen Elemente hin gej)rriftwirdO. Dasaher mussauch hierhei festgehalten werden: verwirklichen können sich die so gewonnenen Erkenntniswerte nur auf empirischem Schau- platz, mag auch ihre Bedeutung gar nicht aus dem zu er- messen sein, was ehen nur Schauplatz ist. Als Gehilde philosophischer Analyse setzen sie notwendiger W^eise etwas voraus, aus dem sie durch die Analyse gewonnen sind'). Derjenige Erkenntnishestandteil nun, der ührig hleiht, wenn man vom Apriorischen ahsieht, ist das Aposteriorische, das Materiale oder rein Empirische; das Apriori und das Aposteriori hilden eine unauflösliche, nur durch die Kritik zersetzhare Einheit. Für uns ist die Scheidung aher auch notwendig, da wir das, was in der Vereinigung und Durch- dringung heider enthalten ist, wohl erlehen, aher nicht in seiner Bedeutung für die Zwecke der hewussten transscen- dentalen P2rkenntnis unmittelhar durchschauen, da wir nur einzelne Bestandteile der Einheit und diese nicht anders als gesondert denken können.

Wie alle Wirklichkeit muss somit auch die Erkenntnis- wirklichkeit analysiert werden, und wie alle Wirklich- keit zerfällt' ferner auch die Erkenntnis in die Bestandteile

^) Vgl. RiEHL, Der ptiilosophische Ivriticismus I, 343: „Diesen' Weg nimmt Kant, den Weg einer rein begrifflichen Analyse der Vorstellungen, um die Thatsache des Apriori zu begründen." In der Transscendentalphilosophie den Standpunkt einer „analytischen" Logik zu erblicken, ist um so mehr berechtigt, als Kant selbst sein „Verfahren der Scheidung des Empirischen vom Rationalen" mit der chemischen „Analyse" und „Reduction" verglichen hat, s. III, 20 Anm., 554, V, 169 und vgl. dazu Riehl I, 344, auch Erdmann, Grundriss II, 388, 511 (4. Aufl.).

2) Zum Verständnis unserer bewusst einseitigen Darstellung der transscendentalen Methode muss wiederum daran erinnert werden, dass es sich für uns hier nur um eine Kennzeichnung der logischen Struktur des transscendentalen Apriori handelt, gleichsam um die formale Logik der „transscendentalen Logik".

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des „Begriffs" und der Anschauung '^ oder nach Kants Logik des Allgemeinen und des Besonderen. Es ver- hindet sich demnach mit der transscen dentalen Schei- dung der heiden Erkenntnissjihären einerein logische Ent- gegensetzung. Das Apriorische nämlich ist der allenthalhen sich gleichhleihende, das Empirische der üherall verschieden gestaltete Erkenntnishestanclteil. Die Vernunftnotwendig- keiten, z. B. die Kategorieen und die aus ihnen sich er- gehenden Grundsätze des Verstandes, können darum als das Gemeinsame oder Allgemeine angesehen werden, unter das sich der individuelle Bestandteil als Exemplar suhsumieren lässt. An den im ührigen unendlich ver- schiedenen Empfmdungsinhalten treten als erkenntnis- theoretische Gattungscharaktere Begrilfe wie Suhstantiali- tät und kausale Verknü])lung auf Jedes ^^'ahrnehml)are Kausalitätsverhältnis z. B., etwa das zwischen Sonne und erwärmtem Stein, ist nur einzelner Verwirklichungsfall der Kausalität üherhaupt (des Kausalitätshegrifls). Die Anwen- dung der Kategorien auf die Gegenstände der Erfahrung gilt deshalh hezeichnender Weise als Geschäft der das Be- sondere unter das Allgemeine suhsumierenden Ur- teilskraft. Kant gliedert die den Inhegriff der erfahrharen Gegenstände, die „Natur", konstituierenden Eaktoren meist nach drei Hauptstufen der Allgemeinheit. Den „allgemeinen Naturgesetzen", die nur die ahstrakt gefasste, allgemeine Gesetzlichkeit, den „allgemeinen Begriff" der Natur^) dar- stellen und die nur üher die Dinge „ihrer Gattung nach", aher nicht als „s])ecifische" -) etwas aussagen, ordnet er die hesonderen, also nur relativ allgemeinen Naturgesetze 0 unter. Den relativ allgemeinen Naturgesetzen steht als unterste Stufe der Allgemeinheit das nur noch Indivi- duelle, gar nicht mehr Allgemeine gegenüher, das „Mannich- faltige", „Besondere" oder der unter die transscendentale „Regel" suhsumierhare „Eall"*).

Nachdem nun einmal ersichtlich geworden ist, dass die

•) V, 186.

n Ibid. 190.

•") Das „Verschiedene, für jede Species zwar Allgemeine", ibid. 192.

^) V, 192 vgl. über die allgemeinen und besonderen Naturgesetze, die natura formaliter spectata und die natura materialiter spectata, nofth III, 153 f., 583 f., IV, 44 f., 54 f., über die „Specification" III, 443 ü\

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logisclie Erfassung der Iraiisscendentalen Begrifiswoll iiiclil etwa eine dieser fremde und nur äusserlich an sie heran- getragene Betrachtungsweise darstellt, wird von Jetzt an eine vollkommene Auseinanderhaltung rein logischer und rein transscendentaler Frohleme unmöglich. Vielmehr lieferte uns einerseits die logische Beleuchtung hereits den wichtigsten Beitrag zum Verständnis der transscendentalen Methode und herührte, wie wir sahen, gerade sozusagen die Lehen'sfrage des Kantischex Bationalismus, den Punkt, der diesen von allen anderen rationalistischen Systemen unterscheidet. Andrerseits wird sich im Folgenden deut- lich herausstellen, dass Kants Theorie des transscenden- tal Allgemeinen zugleich seine Lehre vom Begriff üher- hauj)t und seine ganze analytische Logik immer klarer zu enthüllen im Stande ist. Aus der innigen Durchdringung des Logischen und des Transscendentalen erhalten wir somit Kants Theorie der transscendentalen Begriffs- hildung, d. h. einer BegritTshildung, deren leitende Prin- cipien die transscendentalen Erkenntniswerte sind.

B. Der transscendentallog-ische Zufallsbeg-riff.

Aus der logischen Struktur des Bationalen und dem diskursiven Charakter unsereSi Denkens folgte für den in- dividuellen Erkenntnisfaktor his jetzt jedenfalls schon soviel, dass wir die Wirklichkeit nie in ihrer unmittelharen (iegehenheit hinnehmen dürfen, sondern für Erkenntnis- zwecke sie stets in eine Disjunktion auseinanderlegen müssen, deren eines Glied das Allgemeine oder Ahstrakte ist. Auch das war ferner hereits festgelegt worden, dass das dadurch ins Lehen gerufene Verhältnis des Einzelnen zum Allge- meinen entgegengesetzt werden müsse einer thatsächlichen und metaphysischen Eingliederung.

Aher die analytische Logik fordert noch weitergehende Einschränkungen des Erkennens; sie rauht dem Allgemein- hegriff nicht nur die metajihysische Würde einer höheren Realität, sondern deckt auch gewisse Schranken seiner logischen Bedeutung auf. Indem sie so logische Mängel des Begriffs hlosslegt, leidet sie dahei in gewissem Sinne an einer selhstgeschaffenen Schwierigkeit; denn die ehen angedeutete Unvollkommenheit verrät der Begriff grade

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in seinem Verhältnis zum Empirischen, zu dessen Erfassung und Bewältigung doch er seihst e])ens() wie der ganze Dualismus des Allgemeinen und Besonderen erst künstlich erzeugt war. So gerät das dein unmittelharen Erlehnis so leicht sich erschliessende Einzelne oder Empirische auf dem (iehiete der Bellexion durch das eigens für die Zwecke des Denkens geschafTene „Allgemeine" in eine eigentümliche und prohlematische Beleuchtung; und hier stossen wir endlich auf den Punkt, an dem der tiefste Zusammenhang des erkenntnistheoretischen Wirklichkeits- und Indi- vidualitätsprohlems mit der Natur des transscendentalen Ahstraktionshegritfs sich aufhellt.

Üher das alte (irundverhältnis des Besonderen zum Allgemeinen finden wir nämlich hei Kant die richtige An- sicht ausgehildet, dass die grössere Inhaltsfülle, die das Besondere vor seinem GattungshegrifTe auszeichnet, aus diesem für unsere Erkenntnis sich nicht ahleiten lässt, das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen mit Bücksicht auf unser Begreifen also irrational genannt zu werden verdient. Das Besondere ist nicht logisch in dem All- gemeinen enthalten, unter dem es doch steht, es ist deshalh mit Bücksicht auf den Begriff .,zu fällig". Die in dieser Irrationalität sich offenharende Unfähigkeit unseres Er- kennens begründet den logischen Zufallshegriff ^). Da- durch dass Kant ihn wiederum überall auf die Verhält- nisse des transscendental Allgemeinen übertrug, hat er eine besondere Anwendung oder Abart von ihm, näm- lich den transscendentallogischen Zufallsbegriff, ge- schaffen. Seine vielbesprochene und oft missverstandene Lehre vom Zufall ist zumal in der endgiltigen Fassung^ die sie in der „Kritik der Urteilskraft' gefunden hat nicht nur streng kritisch, sondern gehört sogar zu seinen grossen und fruchtbaren Leistungen^).

1) Diese von \\'indelbaxd, I.eliren vom Zufall 68 IT., aufgestellte Lehre ist von i^rundlegender Bedeutung aucli für die Klärung trans- scendentalphilosophischer IVobleme.

2) Dies gilt ohne Einschränkung von der „Kritik der Urteils- kraft", während in der „Kritik der reinen Vernunft" neben der richtigen Hinsicht sich störende Reste Leibnizischer tlNIetaphysik er- halten haben, die auch Wixdklband a. a. O. 74 erwähnt, ohne doch an dieser Stelle Kants Verdienste um den Zufallsbegrifl" hervor- zuheben.

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Aber grade diese streng logische Begründung l)ei Kant ist viel zu wenig beachtet worden ' ). Und doch linden wir sie bei ihm mit aller erdenklichen Schärle herausgearbeitet. Insbesondere ist der noch bei Leibniz aultretende (iedanke eines im absoluten, dogmatischen Sinne Zulälligen durch die kritisch gelasste Relalivität des Zufalls, nämlich durch dessen Beziehung lediglich auf unsere Erkenntnis, über- wuTiden. Denn das Zufällige wird von Kant nicht als eine ])hysikalische oder metaphysische, sondern ausschliesslich als eine transscendentallogische, die Fähigkeiten unseres Erkennens, die logische Struktur des Al)straktionsbegrifres betreffende Thatsache gedeutet. Für unsere Vernunft, für unseren „diskursiven Verstand" ist es unmöglich, über den Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen hinwegzu- kommen, und mit dieser nie überwundenen Zwiespältigkeit ist auch der Umstand unauflöslich verknüpft, dass für uns der Übergang von der „Unbestimmtheit der logischen Sphäre in Ansehung der möglichen Einteilung"^) zu einem specifischen Inhalt unbegreiflich ist, dass „das Besondere als ein Solches in Ansehung des Allgemeinen etwas Zufälliges enthält '^) und durch das Allgemeine „unbestimmt" gelassen wird*). ..Unser Verstand ist ein Vermögen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zufällig sein muss, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden und das unter seine Begriffe gebracht werden kann"^). Der logische Zufallsbegriff ist der spekulative Unterbau der ganzen „Kritik der Urteilskraft".

^) Trotz der Schriften von Cohen, Stadler, Riehl und Windel- band, in denen ausser dem transscendentallogischen Charakter der Vernunftkritik grade die Berechtigung des Zufallsbegriffs als einer (irenze des Rationalen einen angemessenen Ausdruck gefunden hat. Aul" die Ansichten dieser Autoren wird noch an mehreren Stellen einzugehen Gelegenheit sein.

2) III, 443.

-) V, 417 vgl. lY, 493 Anm.

1) III, 303, V, 419, 420, 186.

^) Ibid 418/19 vgl. 414 11". „Unser Verstand nämlich hat die Eigen- schaft, dass er vom Analytisch-Allgemeinen (von Begriflen)

zum Besonderen (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muss; wobei er also in Ansehung der Mannigfaltigkeit des letzteren

nichts bestimmt " 420 vgl. 418, 186, 189. Diese Gebundenheit

unserer Vernunft nennt er 417: „Eigentümlichkeiten unseres (selbst

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Seine Anwendung auf die transscendentalen Verhält- nisse ergiel)t jetzt folgendermassen den oben angekündigten endgiltigen Aulschluss ül)er das Proljlem der empirischen Wirklichkeit. Es stehen einander gegenüber Form und In- halt des Erkennens, der Inbegriff des Aj)riori, der zugleich das Allgemeine, und der em])irische Schauplatz, der zugleich das Besondere abgiebtM. Dem formalen Element fällt die Rolle des alle Erkenntnis bedingenden und insofern un- erlässlichen oder notwendigen Faktors zu. Aus ihm ist das Zufällige nicht al)leitl)ar, es selbst aber ist das Wider- spiel des Zufälligen, das Notwendige. Auch die Not- wendigkeit ist nicht eine Aussage über die Dinge, sondern über eine Beschaffenheit unseres Erkennens. Wie die Zu- fälligkeit einen Mangel, so bezeichnet die Notwendigkeit eine Macht unserer Erkenntnis. Die „allgemeinen Natur- gesetze" heissen notwendig, weil sie ..der Natur

notwendig zukommen " '), als aus ihrem Begriff hervor- gehende, wesentliche Merkmale^). Das für die Natur Not- wendige ist, da die obersten Grundsätze nach Art und Zahl nicht vom empirischen Material abgelesen werden, zugleich das für die Vernunft Notwendige, aus dem Wesen der Ver- nunft Ableitbare, mithin das Rationale. Es begründet die rationale Erkenntnis, und von ihm lässt sich einsehen, dass es eine solche Erkenntnis begründen müsse. Es ist das unabhängig von der Erfahrung für alle Erfahrung ..Anti- cipierbarc", ohne das Erfahrung gar nicht gedacht werden kann. Dieser von K.wt bei den „Anticipationen der Wahr- nehmung" gebrauchte, aber auch zur Bezeichnung des

des oberen) Erl^enntni.svermögens, welches wir leiclitlich als objek- tive Prädikate auf die Sachen selbst überzutragen verleitet werden."

^) Vgl. ob. S. 32.

-) V, 193 vgl. 189. „Zulällig" wird im (iegensatz dazu mit „apriori nicht erkannt werden können" gleichgesetzt.

3) Diese Bedeutung hat die „Notwendigkeit" dann, wenn sie nicht als die nur in der Idee einer systematischen l^inheit der Er- fahrung vorstellbare Krkenntnisweise, in der die Zufälligkeit bis auf den letzten Rest überwunden ist, also nicht als der in der Unendlichkeit liegende Ersatz der Zufälligkeit gefasst wird, sondern als deren auch für unsern Verstand bestehender (Iegensatz, wenn Notwendig- keit und Zufälligkeit als nebeneinander bestehend und auf ver- schiedene Gebiete verteilt gedacht werden. Vgl. dieses Kapitel unter 1).

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Formalen iiberhau])t M verwertete Ausdruck liefert ein vom psychologistischen NeJjensinn freies logisches Princij) für die Einteilung in Apriorisches und Empirisches.

Für seine Hegreiflichkeit büsst nun allerdings das For- male nach echt analytischer (irundvoraussetzung notwendi- gerweise durch seine hochgradige Inhaltslosigkeit. Es bildet gleichsam nur ein „Schema zur möglichen Erfahrung"-), und- über den einzelnen Kategorien erhebt sich noch als höchster transscendentaler Abstraktionsbegriff, als oberste, allgemeinste und darum auch inhaltsärmste Bedingung des Erkennens die transscendentale A])perception^).

Infolge seines genauen Gegensatzes zu allen diesen Eigenschaften lässt sich das Materiale jetzt leicht als das transscendentallogischZu f ä 1 1 i g e charakterisieren . En t- sprechend der Abstufung nach den drei Graden der Allge- meinheit (vgl. ob. S. 32 f.) trifft das Los der Zufälligkeit die besonderen Naturgesetze mit Rücksicht auf die allge- meinen, die ^^'ahrnehmungen mit Rücksicht auf die be- sonderen Naturgesetze*). Wohl wird alles, auch das Ein- zelne und Kleinste, von der Gesetzlichkeit beherrscht, aber das unter die Gesetze Fallende kann in seiner Besonderheit nie aus eben den Gesetzen abgeleitet und begriffen werden, ist logisch nicht in ihnen enthalten. „Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betretTen, können davon" nämlich von den allgemeinen Naturgesetzen „nicht vollständig abgeleitet ^^ erden, ob sie gleich alle insgesammt unter jenen stehen"^). Das „Mannigfaltige der Anschauung" erweist sich als logisch aus den formalen Elementen nicht hervorgehende, sondern ganz neu zu ihnen hinzutretende, darum nur auf empirischem Wege erfassbare^ ..gegebene" Inhaltsfülle*'). Sieht man von allem Begreif- lichen ab, so bleibt die Empfindung übrig als dasjenige,

1) III, 159, 215, 357.

2) III, 210 und sonst.

s) Sie heisst „ärmste Vorstellung" 111, 279, „an Inhalt gänz- lich leer" 590, conceptus communis 117 Anm., sie liegt allen Begritlen zu Grunde 572, muss alle Vorstellungen begleiten können 115.

-') Vgl. die au! den vorigen Seiten angeführten Stellen, dazu noch i)esonders V, 186 ll'., 189, 191^1.

^) 111, 134 vgl. WixDELBAXD, Gesch. d. Phil., 2. Aufl. 462.

«) Dies der wahre kritische Sinn des Satzes, dass das Mannig- laltige „gegeben" sein muss, vgl. z. B. III, 77, 98, 117 11., 1301'., 481 ir.

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„was gar nicht anticipiert" oder apriori Ijestimmt werden kann^), als irrationaler Rest. Zufälligkeit oder Irra- tionalität ist der eigentliche Sinn des Materialen, des „für uns so verworrenen (eigentlich nur unendlich mannigfalti- gen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffes"^): Zufälligkeit oder Irrationalität ist auch das letzte Wort, das der Rationalismus, der darum ehen zugleich „kritischer Antirationalismus"^) wird, über das Problem der empiri- schen Wirklichkeit und des Individuellen zu sagen hat. Was hier unter „\\'irklichkeit" verstanden \a ird, darf nicht etwa mit der „Dignität" der Gegenständlichkeit ver- wechselt werden, die vielmehr eine Verstandesnotwendig- keit bedeutet. Rei jeder Erkenntnis stellt die Ciegenständ- lichkeit als synthetische Funktion des Verstandes grade das aus den Denkformen Ableitbare, empirische Wirklich- keit dagegen den aus den Formen unableitbaren Rest dar. Da der formale und der materiale Krkenntnisfaktor realiter miteinander verschmolzen sind, so darf man sagen, dass in jedem einzelnen Erkenntnisgegenstande, insofern er nicht nur „Wahrnehmung", sondern „Erfahrung " sein soll, seine ^^'irklichkeit zugleich mit dem Charakter der Gegenständ- lichkeit ausgestattet sein oder umgekehrt die Gegenständ- lickkeit in ihm sich individualiter verwirklicht haben muss. „Wirklichkeit" deutet also nur jenes Unsagbare und Un- ergründliche an, das die Eigenart des Individuellen um- s])ielt, zugleich die starre Restimmtheit und das unverrück- bare Sosein, an das man denken muss, wenn man den Namen „Wirklichkeit" ausspricht.

Auch für die erkenntnistheoretische Regriffstheorie hätten wir somit die empirische Wirklichkeit als den festen und absoluten Mittelpunkt aller Regriffs])ildung nachge- wiesen. Der transscendentale Regriff ist dementsprechend so können wir unser Ergebnis zusammenfassen das ab- strakte und deshalb realiter nicht selbständig vorkommende Produkt einer Analyse der vollen Erkenntniswirklichkeit,

') S. z. B. III, 159, 483.

2) V, 192.

3) Vgl. WiNDELB.WD, Gesch. d. neueren Fhilos., 2. Autl. II, 337 fr.; über den Zufallsbegriff besonders 153 f. Am eingehendsten behandelt UiEHL Kants Lehre von der Unableitbarkeit des Besonderen aus den allgemeinen Formen, s. Abschn. 1, Kap. V des zweiten Teiles.

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die inhaltsreicher als er, aus ihm una])leitl)ar und für ihn un- errcichhar, sich nur dem unmittclharcn Krlehen erschliesst.

C. Die Mathematik als Mittelgrlied zwischen analytischer und emanatistischer Log-ik.

Immer wieder muss J)eloDt werden, dass für den analy- tisclrcn Logiker diese Inkommensura])ilität des Individuellen nicht etwa" eine Lnangemessenheit der Wirklichkeit gegen- üher unsern logischen Idealen, sondern umgekehrt eine ewige Unvollkommenheit unseres Begreii'ens gegenüher der Wirk- lichkeit hedeutet. Kant hat das Unvermögen menschlicher Erkenntnis sehr eindrucksvoll dadurch eingeschärft, dass er ihm das Bild eines das (ian/e der Erkenntnis und jedes Einzelne erschöpfend und mit einem Schlage durchdringen- den „intuitiven" Verstandes, als in unendlicher Eerne liegende Idee entgegenhält. Und es könnte inderThat der analytischen Logik die emanatistische, sozusagen als die Logik eines üher- menschlichen Verstandes, jetzt unmittelhar entgegengestellt und ehen durch diese Entgegensetzung hegreitlich gemacht werden. Von der kritischen Ansicht aus lässt sich die un- kritische vollkommen ühersehen und konstruieren. Est enim verum sui index et falsi. Allein es lässt sich ausserdem noch zwischen das heschränkte und das ahsolute ein in der Mitte liegendes Begreifen, nämlich das mathematische, einschiehen. Dadurch gewinnen wir den Vorteil, an einer von uns noch völlig heherrschten Wissensart doch gewisse Anfangsgründe jener ü])erirdischen Logik zu studieren.

Die Mathematik nahm hereits in Kants vorkritischer Spekulation seit der herühmten Preisschrift vom Jahre 1764 in methodischer Hinsicht eine wichtige Stellung ein; eine ganz andere allerdings als in der nachfolgenden kriti- schen Periode. Denn in jener Zeit gab Kant die Existenz eines synthetischen Apriori nur auf einem einzigen Gebiete (dem der Mathematik) zu und liess daneben nur eine analy- tische Bearbeitung des zuletzt ., unauflöslichen" Materials der Erkenntnis und ausserdem die reine Empirie gelten. Eine Übertragung des synthetischen Apriori auf die Philosophie musste ihm darum damals gleichbedeutend mit den verwerf- lichen rationalistischen Versuchen der „mathematischen Me- thode" sein. Darin tritt mit dem Kriticismus eine voll-

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kommene Änderung ein. Denn ausserhalb der Mathematik giebt es jetzt ein zweites berechtigtes synthetisches Apriori, und zwar in der Philosophie selbst. Aber nun galt es, von diesem nachzuweisen, dass seine Annahme trotzdem nicht einen Rückfall in die „mathematische Methode" mit sich bringe. Und diese Aufgabe konnte jetzt am besten durch Vergleichung der beiden nunmehr bestehenden Arten des synthetischen Apriori gelöst werden. Das Mathematisch- Transscendentale wird darum in der kritischen Epoche nicht wie früher nur dem „analytischen" ^) Apriori und der blossen Empirie entgegengesetzt, sondern vor allem dem syntheti- schen Apriori der Philosophie. Dadurch wird es aber zur scharfen Beleuchtung cler ti^ansscendentalen Er- IVihrungsbegriffe und der mit ihnen unauflöslich Verknüpften IrrafTönalität geeignet. So erhält die Mathematik eine ganz neue methodische Bedeutung in dem neuen System der Erkenntnistheorie.

Dass in der kritischen Epoche Kants die Vergleichung philoso])hischer und mathematischer Vernunfterkenntnis in den Dienst des Irrationalitätsproblems gestellt wird, dafür bietet insbesondere der letzte Teil der Vernunftkritik, die hierfür zu wenig beachtete „transscendentale Methoden- lehre', einen klassischen Belegt). Der Hauptinhalt der unser Problem berührenden methodischen Ausführungen lässt sich dahin zusammenfassen: die für die begriffliche Erkenntnis bestehende Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem, mithin die Irrationalität, wird in der mathematischen An- schauung überbrückt durch die Möglichkeit der Kon- struktion. Dje ej^nzelnen Verwirklichung.sfälle des mathe- matischen Begriffs können durch den Begriff selbst erzeugt \yerden. Vom Begriff des Kreises aus gelangt man durch Konstruktion zur mathematischen Individualität des ein- zelnen Kreises, dringt also vom Allgemeinen her bis zum letzten Rest des Individuellen vor^). Das Anschauliche und Mannigfaltige ist ebenso wie der allgemeine Begriff beherrsch-

^) .,Analvtisch" hier im Sinne K.WTs, als (Gegensatz zu „sviithelisch".

2) S. 111,^477—485.

3) Nicht zur mathematischen Individualität gehören die rein empirischen Hilfsmittel der Zeichnung wie l^apier, Tinte, Wandlaie!. Kreide etc. Vgl. K.wt III, 478, VI, 8 f. und M.\i.mon, Versuch üb. d. Transscendentalphil. 43, Krit. Unters. 77.

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41

bar und herechenl)ar in einer Krkenntnis, die „ledi<^lic'h aul' Qnanla" geht'). Auch in der Mathematik ist das anschau- liche Objekt ein Einzelnes, Konkretes, „Gegebenes", aber ein a])ri()ri, nicht ein aposteriori (iegebenes-) wie das Maleriale der Eni])findung; es ist ein logisches Unikum! in-

dividuell, einmalig und doch zugleich apriori konstruier- bar^). Bei dem apriori (iegebenen kann man das Mannig- faltige vom Begriff, von der allgemeinen Regel aus ent- stehen, lassen*), bei dem aposteriori Gegebenen dagegen stösst man bei dem Versuch, es entstehen zu lassen, auf den harten Kern logischer L'ndurchdringlichkeit''). So liegen die Verhältnisse von der allgemeinen Regel aus gesehen; aber diese logischen Beziehungen müssen sich auch in ihrer L mkehrung, also von der Mannigfaltigkeit aus betrachtet, bewahrheiten. Im Falle der aposteriorischen (iegebenheit ist dann das Mannigfaltige entsprechend seiner Undurch- dringlichkeit für den Begriff auch unauflöslich, im anderen Falle dagegen durchsichtig und auflösbar in die allgemeinen Regeln; denn was unsere eigene logische (konstruierende) Thätigkeit hineingelegt hat, kann sie leicht wieder heraus- holen. So schauen wir im einzelnen mathematischen Ge- bilde zugleich den Begriff an.

Diese Beleuchtung durch das Mathematische, diese Gegenüberstellung intuitiv- und diskursiv-transscendentaler Methode verbreitet rückwirkend eine so grosse und neue Klarheit über den Irrationalitätsgedanken, dass dadurch zugleich die Grundfragen der Vernunftkritik einer schärferen Erfassung; zugänglich sind.

1) III, 478 unten.

2) Der bei Maimon so wichtig gewordene Terminus „apriori gegeben" bei Kant z. B. III, 98, 481 ff.

3) „Zur Konstruktion eines Begriffs wird also eine nicht empiri- sche Anschauung erfordert, die folglich, als Anschauung, ein ein- zelnes Objekt ist, aber nichtsdestoweniger als die Konstruktion eines Begriffs (einer allgemeinen Vorstellung), x\llgemein- gültigkeit für alle möglichen Anschauungen, die unter denselben Begriff gehören, in der Vorstellung ausdrücken muss." 478, ebenso 47y ff. an zahlreichen Stellen. Vgl. Shiwart, Logik, 2. Aufl., I, 263, 389, HiCKKKT, zur Lehre von der Dcllnition 59.

*) Man denke z. B. an die Natur der mathematischen Formel!; über deren „konkrete Allgemeinheit" vgl. auch Drobisch, Logik, 5. Aull., 22 f.

5) III, 482, 3. Absatz u. 483. Lask, Fichtrs Idealiamus und die Geschichte. A

42

Beim diskursiv-transscendentalen Apriori erhebt sich folgende l)ekannte Schwierigkeit; wenn die transscen- dentalcn Errahrungsl)egrift'e, die Kategorien, durch die Khil't der hTationahtät von der empirischen Mannigfaltigkeit ge- trennt sind, deren sie doch zu ihrer konkreten Erfülhing bedürfen, wie lässt sich dann ihre Anwendung auf die Er- fahrungswelt ])egreifen'? Aus dieser Schwierigkeit findet Kant allerdings im ,, Schematismus" der reinen Vernunft den Ausweg, dass sich zwischen die Kategorien und das rein a])osteriorische Element das apriorisch-sinnliche Ver- bindungsglied der Zeit einschieben lasse. Allein auch durch sie ist eine mittelbare Anwendbarkeit der Kategorien auf das Empirische doch nur in so weit gesichert, als diesen ihr Anwendungsmaterial nicht von der unendlichen Mannig- faltigkeit der Empfindungen geliefert, sondern lediglich durch den a])riori gegebenen Stoff (im obigen Sinne, s. S. 41) der Zeil selbst verkörpert wird. Der Schematismus verbürgt also nur ein Vordringen bis zu a])riorischen Bedingun- gen der Sinnlichkeit. Grade von hier aus aber zeigt sich dann die fatale Verzweigung der Wege. Von der a])riori- schen Vermittlungsschicht aus gelangen wir nämlich zum Individuellen, Konkreten nur unter der Bedingung, dass dieses ein apriori konstruierbares Mannigfaltiges, also ein mathematisches und d. h. grade ein ausserhalb der em- pirischen Wirklichkeit Liegendes sei. Nur für diesen Fall ziehen sich uns die apriorischen Bedingungen zur konkreten Besonderung zusammen; dagegen grade für die Gegenstände, die wir in der Naturwissenschaft zu beherrschen streben, verharren sie auch nach der Vermittlung durch die Zeit in unüberwindlich formaler Allgemeinheit. Der Schematismus versöhnt wohl Begriff und Anschau- ung, aber nicht Begriff und empirische Anschau- ung, nicht Begriff und individuelle Wirklichkeit. Für die Anwendung auf das Empirische verhilft er uns im Gegenteil nur zu formalen Principien, die von all- gemeinem, aber eben darum nicht von individuellem (ie- brauch sind, zu obersten Grundsätzen, Analogien, Postulaten; ganz im Gegensatz zur Mathematik, wo sich lauter einzelne Sätze gewinnen lassen, die den Anforderungen des strengen Apriorismus genügen. Begriff -j- Anschauung apri- ori, diese unsere (irundbedingung, ist eben in der Malhe-

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inatik ül)erall, in der reinen Naturwissenschaft nur hei den Grundsätzen anzutrefTen. In der Mathematik gieht es einzelne synthetische Urteile apriori, in der reinen Naturwissenschaft nur synthetische (Grundsätze apriori. „Den mathematischen Begriff eines Triangels würde ich konstruieren, d. i. a priori in der Anschauung geben, und auf diesem Wege eine synthetische, aber rationale Eiienntnis bekommen. Aber wenn mir der transscenden- tale Begrifl' einer Realität, Substanz, Kraft u. s. w. gegeben ist, so bezeichnet er weder eine empirische noch reine An- schauung, sondern lediglich die Synthesis der emi)irischen Anschauungen (die also a priori nicht gegeben werden können), und es kann also aus ihm, weil die Synthesis nicht a priori zu der Anschauung, die ihm korrespon- diert, hinausgehen kann, auch kein bestimmender synthetischer Satz, sondern nur ein (irundsatz der Synthesis möglicher empirischer Anschauungen entsprin- gen'^). So wird die klassische Grundfrage nach der Mög- lichkeit synthetischer Urteile apriori erst genau beantwortbar, wenn man den gemäss dem Postulat absoluter Rationalität geforderten Unterschied zwischen Mathematik und reiner Naturwissenschaft berücksichtigt und dabei dem Grundsatze treu bleibt, dass in der Möglichkeit aj)rioristischer Erzeugung das für transscendentale Ästhetik und Logik gleichmässig geltende Kriterium für die im einzelnen Fall erreichbare und völlig rationale Einsehbarkeit und Nachweisbarkeit synthetischer Urteile a priori zu suchen ist.-) Schärfer

') III, 483 vgl. 491: „. . . zwar sichere Grund.sätze . . . ."

, nicht ein einziges direlvt synthetisches Urteil aus Begriflen

....". 482: , nichts weiter als die blose Regel der Syn--^

thesis ....". 481: „Nun enthält ein Begriff apriori .... ent- weder schon eine reine Anschauung in sich, und alsdann kann er konstruiert werden; oder nichts als die Synthesis möglicher Anschauungen ....". Bereits in der „Einleitung" die charak- teristische Unterscheidung, dass mathematische Urteile „insgesamt synthetisch" seien, Naturwissenschaft dagegen synthetische Urteile apriori als „Principien" in sich „enthalte". 42, 44. Ferner die Gegen- überstellung mathematischer und philosophischer „Analogie", wonach bei jener sich das fehlende (ilied „konstruieren" lasse, bei dieser da- gegen aus drei gegebenen Gliedern nur das Verhältnis zu einem vierten, nicht aber dieses selbst folge, 167 f. In der Naturwissenschaft lässt sich darum dasFlinzelne nicht berechnen wie in der Mathematik.

■-) 111, 19 (Vorede zur zweiten Ausgabe).

u

als in der ..Kritik der reinen Yernunlt" hat K.\nt in der „Kritik der Urteilskralt" den Gedanken des Schematismus mit dem der Irrationalität verbunden. Ausdrücklich weist er auf die Schranke der durch den Schematismus ver- mittelten Anwendbarkeit der Kategorien hin, die nur bis zu „notwendigen" Grundsätzen, nicht aber bis zu „zufälligen" empirischen Gesetzen reiche 0. Nur vom Postu- lat absoluter Begreiflichkeit des Individuellen aus ist ferner Kants Ansicht verständlich, die Naturlehre enthalte so viel eigentliche Wissenschaft, als in ihr Mathematik anzutretfen sei. Denn hier wird für ihn wieder der Gedanke ent- scheidend, dass allein die Mathematik zur Rationalität des Individuellen, die begritfliche Erkenntnis lediglich zur Rationalität eines schematisch Allgemeinen führet).

Die schärfste Herausarbeitung dieser bei Kant immer- hin nur angedeuteten Beziehungen der intuitiv-transscenden- talen Methode zur Irrationalität lindet sich bei Maimon. Da der Nachweis historischer Wirksamkeit eines Problems zur Klärung der Sache selbst dienen kann, sei an dieser Stelle kurz auf das starke Fortwirken des durch die Mathe- matik kenntlich gemachten Zufallsbegritfs bei diesem Schüler Kants hingewiesen. Die ganze Spekulation Maimoxs lässt sich nämlich einheitlich begreifen aus der ausschliess- lichen Beschäftigung mit dem einen (iedanken der Irratio- nalität^). Sein Skepticismus richtet sich nicht gegen die Allgemeingiltigkeit des A priori er war ja ..Dogmatiker

J) S. V, 189.

-) „Die Möglichkeit bestimmter Naturdinge kann .... nicht aus blossen Begritlen erkannt werden." „Also wird, um die Möglich- keit bestimmter Naturdinge, mithin um diese apriori zu erkennen,

noch erfordert, dass der Begrill' konstruiert werde. Nun ist

die Vernunfterkenntnis durch Konstruktion der Begrille mathematisch. Also mag zwar eine reine Philosophie der Natur überhaupt, d. i. diejenige, die nur das, was den Begritl" der Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathematik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre), ist nur vermittelst der Mathematik möglich." IV, ii6ü. *) Der genauere Nachweis dieser Behauptung müsste einer aus- führlicheren Darstellung überlassen werden. Durch die hier folgenden \Yinke und Belege dürfte indessen alles für uns Wesentliche angedeutet sein.

- 45

im Uationalcn" - sondern i>e<*en die Jiegrei 11 iehkeit des Überganges vom Ra t ionalen zum Em])irischen'). Kr l)ezweirelt aueh nicht die Verwirkliehung des A|)riori im Aposteriori, sondern nur die Krkennharkeit dieser N'erwirk- lichung in irgend einem einzelnen Falle oder die praktische Anwendbarkeit des Apriori. Die Anwendbarkeit ist grjidezu das Problem in Maimoxs Spekulation. Ihn beun- ruhigt, nicht die Frage „quid iuris" im Sinne Kants, d. h. \\'ie die (ieltung der Kategorien für die Erfahrung über- haupt sich begründen lasse (Kants Deduktion), sondern ei' befürchtet vielmehr, dass die Gesetzgebung des A])riori, deren Rechtmässigkeit er nicht bezweifelt, praktisch zur Unwirksamkeit verdammt sei, indem das Indi^'iduelle, Fak- tische den allgemeinen (iesetzen sich nicht subsumieren lasse; ihn beunruhigt die Frage „quid facti "-). Von diesem Gesichts])unkt der Anwendbarkeit und Darstellbarkeit des Ai)riori aus wird er wie Kant zu dem Ergebnis gedrängt, dass nur die Mathemathik als Vorbild absoluter I^ationalität, als ein Gebiet, auf dem wir „Gott ähnlich ■^) sind, zu gelten habe. Sie allein gewährt durch Konstruktion den Fall einer berechtigten, nämlich durch und durch einsehbaren Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere, einer aj)riorischen Erzeugung des Individuellen*). So wird für Maimon die x\nforderung, das Mannigfaltige müsse ein „apriori Gegebenes ", ein apriori Erzeugbares und Beherrsch- bares sein, zum alleinigen Kriteriimi des „reellen", d. h. des

0 „Die Philosopliie .... liat noch keine Brücke aufbauen können, Avodurcli der Übergang vom Tran ssc enden taten zum I^e- sonderen mögticli gemaclit würde." Über die l'rogressen der l^liilo- soptiie 16 (1. Abli. der „Streifereien i. (lebiete d. I^liilos.")

-) Versucli über die Transscendentalphilosoptiie 48 II"., 70 ff., 128 ir., 186 i"., 192, pliilosophisclies Wörterbucti 167, Progressen 56, Versucli einer neuen Logil< ;]Ü1;2, 330, I\ritisclie Untersucliungen 55 tr., 144.

•') Progressen 20.

■•) „Nur die Matliematik kann sicli eines Übergangs vom All- gemeinen zur Erfindung des Besondern rühmen." Progressen 14. Versuch 20 IT., 49,82, l^rogressen 15 ff., I\rit. Unters. 2lH"., 96 f. Dass der Schematismus zur einseliljaren Anwendbarkeit der I\ategorien nur auf ein apriori Anschauliches, nicht auf ein Elmpirisch-Indi- viduelles führt, wird schärfer herausgehoben als bei Kant, s. Ver- such 38 f., 41, Kategorien des Aristoteles 229 IT., Krit. Unters. 1191"., 126 ff.

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zugleich aprioristischen und konkreten Denkens M. Viel kühner und rücksichtsloser als Kant selljst zieht er sodann die sich aus einem so radikalen Apriorismus notwendig ergel)cnden ..skeptischen" Konsequenzen. Nur die Mathe- inatik kann reelles Denken enthalten, nicht die Natur- wissenschaft. Ausschliesslich die mathematischen Begriffe sind von reellem, die reinsten und höchsten Natur])egrilfe nur von formalem Gebrauch"). Die klare Einsicht, dass der Parallelismus in der nachweisl^aren (Geltung syntheti- scher Urteile apriori bei Mathematik und Natur\N issenschaft sich nur mit einer Einschränkung durchführen lässt (vgl. ob. S. 43), ist ein unbestreitbares Verdienst Maimo.ns. Schärfer als bei Kant prägt sich uns die wichtige Lehre ein, dass man in der diskursiv-transsccndentalen Methode mit abso- luter, auf Rationalität beruhender Sicherheit blos bis zu den .synthetischen Grundsätzen, nicht bis zu einzelnen Er- fahrungssätzen gelangt^).

Nachdem unsere i)isherigen Ausführungen gezeigt haben, init welcher Deutlichkeit die Mathematik als eine von dem Verhängnis der Irrationalität befreite Er- kenntnisart den Zufallsbegrilf des diskursiv-transscenden- talen Erkennens hervortreten läs.st, soll im Folgenden der Nachweis weiter fortgesetzt werden, inwiefern darum die Logik des mathematischen Begriffs als ein Verbin dungs- glied zwischen analytischer und emanat istischer Logik angesehen werden darf. Zunächst müssen wir da- bei eines Einwandes gedenken, der sich gegen die behauptete Rationalität des Überganges vom mathematisch Allgemeinen zum einzelnen Exemi)lar richten könnte. Sieht man näm- lich von den empirischen Hilfsmitteln der Zeichnung einer

1) S. z. H. Streifercien, 3. Abh., 19311'., Kategorien 208 ll'., 249 II., Logik 404 ff., Krit. Unt. 94 IV.

2) s. z. B. Sü-eil'ereien 203fT., Logik 43L Krit. Unt. 55, 94, 109 f., 147. 5) S. bes. Logik 416 f., 430 11". : „\Yir wissen blos von synthetischen

Urteilen in Beziehung auf Objekte einer möglichen Erfahrung überhaupt, nichts aber von synthetischen L'rteilen, die sich auf bestimmte Objekte wirklicher Erfahrung beziehen.'" 430, Krit. Unters. 150 f. „Erfahrung im strengen Sinne" d. h. einsehbarer Über- gang vom transscendental Allgemeinen zur empirischen Einzelheit kann deshalb nur eine „Idee" sein. I\rit. Unt. 154. Kurze Nachträge zu dieser Skizzierung von Maimoxs Philosophie am Schluss des IV. und des V. Kap. im 1. Abschn. des zweiten Teiles.

47 -

Figur (wie elwa Pa])ier, Wandtafel, Kreide ii. s. \v.)') ah, so lässt sich doch nicht leugnen, dass die (1 rosse z. B. des Radius eines Kreises, die zweilellos auch zur mathe- matischen Individualität (nicht l)h)s zur empirischen) ge- hört, durch den Begrifl" des Kreises aj)riori nicht heslimml werden kann. Es ergä])e sich damit eine im (iattungs- hegrifT des Kreises nicht ausdrücklich vorgesehene unend- ITche Variahilität wirklicher Kreise, eine irrationale Khilt zwischen begrilllicher Möglichkeit und konkreter Reali- sierung. Allein dieser Einwnrf lässt sich leicht beseitigen. Denn die nnendliche Unbestimmtheit und Variabilität, die sich über den empirischen Umlang eines mathematischen Regriffs erstreckt, ist zwar als Thatsache zuzugeben, al)er nicht als Gefährdung der Rationalität. Sie ist nämlich eine Variabilität lediglich der Grösse nach, und Grössenunter- schiede sind beliebig beherrschbar und berechenbar-). Hat man den Allgemeinbegriff des Kreises, so führt die Kon- struierbarkeit nicht nur zum einzelnen Kreis, sondern dehnt sich beliebig über den ganzen empirischen Umfang aus, der eben dadurch in Wahrheit nicht mehr ein empi- rischer, sondern selbst ein konstruierbarer Umfang ist; ebenso sind in der allgemeinen ..Formel' alle Einzelfälle ihrer Anwendung potentialiter enthalten; Regriff und An- schauung nicht nur, sondern auch Regriffsinhalt und Be- griffsumfang, sind durch Konstruktion, also durch voll- ständigeRationalität, mit einanderverknüpft. Eine doppelte Abweichung von der analytischen Logik liegt somit hier vor: wir sehen nämlich erstens das Verhältnis des ein- zelnen Exemj)lars, wie das aller Exemplare zur (iattung sich ganz anders gestalten als dort, und wir erhalten daj durch, wie sich im Folgenden zeigen wird, zweitens ein ebenso abweichendes Verhalten innerhalb des Umfanges d. h. der Exemplare zu einander oder der Koordination. Kant hat bereits im ersten Hau])tteil der Vernunftkritik, in der transscendentalen Ästhetik, beide Punkte berührt. In den beiden letzten Raumargumenten werden RegrifT und Anschauung apriori in der Art mit einander verglichen,

1) Vgl. ob. S. 40 Anm. 3.

2) Über die Aufhebung der Irrationalität in der „übersehbaren" mathematischen Mannigfaltigkeit s. Rickert, Grenzen d. naturw. Be- gritlsbildung, 89 93.

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dass bei dem logischen Begriff nur auf das Verhalten der Gattung gegenüber ihren Exemplaren, bei der reinen An- schauung nur auf das Verhältnis des Raumes zu den Raumteilen Rücksicht genommen wird. Die Exemplare nämlich stehen ..unter' dem Begriff, die Raumteile werden in dem „einigen allbefassenden" Raum lediglich als Ein- schränkungen von ihm angeschaut. Nur „unter sich" und nicht „in sich'M enthält somit die Gattung ihre Exemplare, d. h. diese können aus ihr nicht geschöpft werden, sind durch den ewigen Abstand der Unableitbarkeit von ihr getrennt. Die Irrationalität heftet sich an das begriffliche Verhältnis des „Unter", nicht an das anschauliche des „In ", an die begriffliche Allgemeinheit (universalitas), nicht an die anschauliche Allheit (universitas)^).

Allein diese Gegenüberstellung des Anschaulichen und des Begrifflichen hört sofort auf befriedigend zu sein, so- bald man bedenkt, dass auch innerhalb der begrifflichen Erkenntnis eine universitas vorkommt, ein Analogon der Beziehunö zwischen Teil und Ganzem, nändich die zwischen einzelnem Exemplar und Gesamtheit des empirischen Umfangs. Jedoch auch von dieser universitas, nicht nur von der universalitas, ist nach Kants Ausführungen die Anschauungstotalität genau unterschieden. Die Gesamtheit des Umfangs eines Begriffs nämlich ])ildet ein zusammen- hangsloses Aggregat •^), der Raum hingegen nicht ein aus diskreten Einheiten zusammengesetztes kollektives („com- positum ■ ), sondern ein kontinuierliches Ganzes ( totum "), ein Ganzes, das nicht Produkt, vielmehr Voraussetzung der einzelnen Teile ist, die darum nicht als selbständige isolierte Einheiten, sondern nur als Einschränkungen des Raumes gedacht werden können *).

Um den Vergleich analytischer und mathematischer Logik weiter fortzusetzen, können wir diese Ergebnisse

1) III, 60. „Der niedere BegrifT ist nicht in dem höheren

doch unter demselhen enthalten." VIII, 96 vgl. Ku\o Fischer, Gesch. d. neuer. Phil., Jubiläumsausgabe, IV, 369.

2) S. dazu Vaiiiixcier, Kommentar II, 212.

3) Vgl. ob. S. 26 f.

*) S. die zahlreichen interessanten Belege bei Vaihixgkh II, 21 6 f. Von der Zeit gilt dasselbe wie vom Raum; die Zahlenreihe unter- scheidet sich vom blossen „compositum" durch die Berechenbarkeil der Beziehungen zwischen ihren gleichartigen Elementen.

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der transsccndeiitalcn ..Aslheük" so iiinroriiien, dass sie die vSprache der transscendentalen ..Methodenlehre " annehmen, dass also die Entgegensetzun*^ von reiner Ansehaiiimi* und Begriir wieder in die vergleiehende Untersuchung zweier BegritTsarten, in die Neheneinanderstel Uing des Be- griffs vom Int uiti ven und des diskursiv geh ildeten I3egriffs vom empirisch Wirklichen, einmündet. Denn ehenso \vie Kant in der ..Methodenlehre " zum Zwecke der Methoden vergleichung inncrhalh des Mathematischen noch zwischen Begriff und Anschauung, Allgemeinem und Be- sonderem unterscheidet, so lässt sich auch zweifellos un- beschadet der richtigen Einsicht, dass der ..allgemeine'' Baum reine Anschauung und nicht Begriff ist, trotzdem vom Baum und von den einzelnen Bäumen ein Ahstrak- tionshegriff ..Baum" bilden M. Alle räumlichen Gebilde einschliesslich des (lesamtraumes würden dann in logischem Sinne den Umfang dieses f^egrifts ausmachen; für die Beziehungen der Begriffsexemj)lare zu einander, also für die logische Struktur ihrer Koordination wäre dabei die vorher erwähnte Kontinuierlich keif des Bauiues von ent- scheidender Bedeutung. Die zuletzt vorgenommene Ent- gegensetzung kollektiver und kontinuierlicher Totalität Hesse sich nämlich sodann in die tran.sscendentale Vergleichung analytischer und mathematischer Logik in der Weise hin- einarbeiten, dass man sie als (iegenüb erstell ung der beiden Umfangs arten eines analytisch-logischen und eines mathematischen Begriffs auffasst. Halten wir mit dieser Kontinuierlichkeit des mathematischen Begriffsum- fanges ausserdem seine vorher erläuterte ..Konstruierbar- keit" (s. S. 47) zusammen, so wird uns sofort der ganze Unterschied von mathematischer Koordination der einzelnen Exemplare und dem Verhalten der einzelnen Fälle sonstiger Gattungsbegriffe klar. Denn der Koordination mathematischer Gebilde haftet nicht die Isoliertheit an, die wir bei sonstigen Begriffsexemplaren feststellen mussten, sondern der empirische Umfang eines mathematischen Be- griffs lässt sich vielmehr als ein festes Gefüge, als ein starres System vorstellen, in dem jedes Einzelne mit jedem andern durch eindeutige, anschauliche Beziehungen in dem einen

i) Vgf. V.\ihin(;i:k II, 209.

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mathematischen Raum verliunden ist. Der mathematische Umfang ist nicht ein Aggregat, sondern ein anschauliches, durch Konstruierl)arkeit nach allen Richtungen in sich verhundenes Nel)eneinander hestimmter räumlicher Ver- hältnisse M. Das Vorhild, den letzten Grund und den ver- einfachten Fall alles ührigen geometrischen Verhaltens weist der mathematische Regriff des Raumes sell)st auf. Dessen Umfang nämlich hildet nicht nur einen Gegensatz zu aggre- gatartiger Vereinzelung, sondern nimmt ausserdem noch dadurch eine hesondere Stellung ein, dass seine einzelnen Exem|)lare, die I^äume, nicht nur ein starres System hilden, sondern in ihrer Gesamtheit wiederum ein jedem einzelnen gleichartiges kontinuierliches Ganzes ausmachen, dessen durch Einschränkung erst entstandene Teile sie sind.

Es mag künstlich, vielen vielleicht sogar irreführend erscheinen, wenn in dieser Weise hei anschaulichen Gehilden noch zwischen Regritf und Anschauung, Allgemeinem und Resonderem unterschieden wird. Nichtsdestoweniger hat Kant selbst (ebenso Maimox) diese Unterscheidung durch- geführt und ihreZweckmässigkeit für die kritischen Probleme glücklich dargethan. Nur unter diesem (iesichts])unkt ist es ferner auch ausführbar, Kants auf verschiedene Stellen verteilte Erörterungen über die Logik der Mathematik so einheitlich zusammenzufassen, wie es in unserer Darstellung versucht wurde.

Mathematische Subordination und mathemalische Ko- ordination werden sich uns als vorbildlich für die ema- natistische Logik erweisen. Auch nach der Ansicht dieser soll sich aus dem Regriffsinlialt jeder einzelne Verwirk- lichungsfall sowie der ganze Umfang konstruieren lassen, soll ferner der Umfang als ein in sich verbundenes Ganzes gedacht w^erden. Zwar die letzte geheimnisvolle Konsequenz, bis zu der sich, wie später gezeigt wird, der Emanatismus versteigen kann, die Identifdvation des Inhalts und Um-

1) Mit l^eclit nennt VAinixdKi? II, 213 Lotzk.s Ausführungen (Mikrokosmus 3. Aufl. III, 494fl"., Metaphysik 2. Aufl., 197 199) eine „Weiterbildung^' der Kantischex Lehre. Der Allgemeinbegrifl" „stiftet" nach LoTZE „keine inhalt volle Beziehung'" zwischen seinen einzelnen Exemplaren, das „Gesetz des Nebeneinander" dagegen ge- stattet gar nicht, irgend einen Fall seiner Anwendung zu denken, der ..isoliert wie in einer Well lür sich existierte".

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fangs und die sich daraus ergebende Folgerung, dass das den Umfang umspannende Hand in dem blossen Iidiall des Begriffs sell)st gesucht werden müsse, wird in der Mathe- )iialik nicht vollkommen erfüllt; aber immerhin erscheint die konstruktive Herstellung des ganzen Umfangs als der des Inhalts gleichartig, als ihre blosse Fortsetzung und als potentiell in ihr enthalten 0. Also nur an ein unmittel- llares Enthaltensein der E\emj)lare im Begriffsinhall darf noch nicht gedacht werden.

Das lehrreiche logischeZwischenstadium der Mathematik dürfte darum durch folgende al)schliessende Sätze zu charak- terisieren sein: die Kluft der Irrationalität zwischen Begrilf und Anschauung ist hier beseitigt, die Vereinzelung der Exemplare aufgehoben, eine Identität von Allgemeinem und Besonderem, Inhalt und Umfang dagegen noch nicht an- zunehmen.

D. Die ideale Log-ik des intuitiven Verstandes.

Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass nach IvANT sich die spekulative Vernunft gemäss dem Unterschied intuitiver und diskursiver Methode in z\vei Richtungen be\N'egt und dadurch in ein an die Irrationalität gebundenes und in ein von ihr befreites Erkennen zerfällt. Da aber das Individuelle der empirischen (qualitativen) Wirklich- keit ganz ausser dem Bereich der reinen Grössenlehre liegt, so ist die Unbegreitlichkeit des Empirischen nur unschäd- lich für die Mathematik, nicht aber von ihr überwunden, folglich überhaupt unüberwindlich für das menschliche Be- greifen. Diese Unzulänglichkeit der Erkenntnis hat Kant, wie an anderer Stelle schon bemerkt wurde-), eindringlich zum Bewusstsein gebracht durch die dagegen gehaltene Fiktion eines göttlichen Verstandes. Im „intuitiven Vernunft- gebrauch" der Mathematik fehlt die Irrationalität, im in- tellectus intuitivus ist sie überwunden. Man kann sich den letzteren darum als ein Erkennen der Wirklichkeit nach Analogie der Mathematik denken. Wie die mathe- matische Intuition lediglich mit reinen Grössen arbeitet.

1) Man denke wieder an das Wesen der mathematisclien F'ormel I

2) Vgl. ob. S. 39.

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ganz el)enso müsste ein intuitiver Verstand mit aller Wirklichkeit verfahren 0- Ks ist deshalh tief begründet, wenn uns nicht nur in der emanatistischen Logik, sondern auch in der kritischen Vorstellung eines intuitiven Ver- standes mathematische Analogien begegnen.

Wer wie Kant die Zufälligkeit oder Irrationalität der empirischen \\'irklichkeit im kritischen Sinne behau])tet, ver- einigt mit ihr nicht wie der dogmatische „Irrationalist" -) den Ungedanken einer absoluten Unvernünftigkeit des in der Vernunft nicht aufgehenden Individuellen, sondern er stellt nur fest, dass an diesem irrationalen Rest auch die Erklärung ihre Grenze findet, die noch am tiefsten einzu- dringen vermag, nämlich die transscendentale Erklärung der Erkenntniskritik. Die eben erwähnte Aufstellung einer Idee des vollkommenen AN'issens bedeutet darum nichts weiter als einen die Relativität des ZufallsbegrilTs notwendig ])egleitenden Hintergedanken; zugleich allerdings auch das untrügliche Anzeichen des Eingeständnisses einer für uns unübersteiglichen Schranke. Die Zufälligkeit Hesse sich nun- mehr auf verschiedene Weise transscendental beleuchten: erstens durch den Hinweis auf die logische Struktur unseres Erkennens, also auf die Thatsache der Unableitbarkeit des Besonderen aus dem Allgemeinen ; zweitens durch die contra- stierendc Entgegenhaltung eines Erkennens, dem die Mängel unseres diskursiven Verstandes nicht mehr anhaften. Als dritte Releuchtungsart käme freilich die Mathematik in Be- tracht. Da diese aber mehr eine Sphäre ausser als über der Irrationalität darstellt und, unabhängig von ihrer Ver- wendbarkeit für die erkeuntniskritischen Zwecke der Ver- gleichung, eine selbständige Bedeutung besitzt, die Idee einer unbegrenzten Erkenntnis dagegen in einem streng kritischen System ausschliesslich zum Behüte transscendentaler Ver-

i) Vgl. Maimox, Progressen 36: „Cioü bringt die Objekte der Natur auf eben die Art wie wir die Objekte der Mathematik durchs reelle Denken, d. h. durch Konstruktion hervor." Ebenso charakteri- siert ScHOPEXHAUEH WW (Ghisebach) III, 151 Aum. die nach intui- tiver Logik gedachte Platonische Idee: „Die Platonischen Ideen lassen sich allenfalls beschreiben als Normalanschauungen, die nicht nur, wie die mathematischen, für das Formale, sondern auch für das Materiale der vollständigen Vorstellungen giltig wären." Vgl. auch Kaxt VI, 467 f.

■■') WiXDELBAND, Gcsch. (1. n. Phil. II, 345 f.

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gleichiinj^ ersonnen wird, so ist klar, dass diese Idee in einem noch viel engeren Sinne als die Mathematik einen Hilfs- l)egritr zur Erlassung der „Zulälligkeit" des Empirischen ah- geben muss.

Kant hat diesen Zusammenhang der Idee mit dem Problem des Individuellen durchaus beabsichtigt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es grade die Re- flexion auf die Irrationalität des materiellen Krkenntnis- faktors ist, durch die wir zu dem Gedanken eines „Ganzen der Erfahrung" fortgetrieben werden ^). So bedeutet ihm denn auch die Idee des „Unbedingten" die vollendete Aufhebung der Irrationalität, den Triumph der „Notwendigkeit" über die gänzlich verdrängte Zufälligkeit-). „Notwendigkeit'" er- hält dadurch eine andere Bedeutung, die der neuen Be- handlungsart der Zufälligkeit entspricht. Sie bezeichnet nicht das für uns Rationale, also die Sphäre des Formalen, sondern die absolute Rationalität, neben der es gar keine Zufällig- keit mehr geben soll; mithin nicht den auch für uns be- stehenden Gegensatz zur Sj)häre des Unbegreiflichen, sondern den in die Unendlichkeit verlegten absoluten Er- satz des Zufälligen (vgl. ob. S. 36, Anm. 3). Unter ZulälHg- keit ist stets dieselbe transscendentale Eigentümlichkeit ge- meint, aber je nachdem man sie transscendental beleuch- tet, kann man sie als Gegensatz zur Notwendigkeit in dem einen oder anderen Sinne betrachten. Diese Doppeltheit der kritischen Betrachtungsweise, unter die bei Kaxt die Zufälligkeit fällt, mit dieser entsprechenden z^^'eifachen Entgegensetzung einer Notwendigkeit, ist viel zu wenig be- achtet worden. Da man den logischen Zufallsbegriff bei Kaxt, wie er aus der Prüfung der Erkenntniskraft des reinen Verstandes entspringt, übersah, wurde die „Zufälligkeit",' soweit man sie überhaupt beachtete, meist nur in dem zuletzt besprochenen Sinne gewürdigt und lediglich als Abstand von der Idee, d. h. als Begriff gefasst, der sich nur durch einen Ausblick auf die Ansprüche der Vernunft ver- stehen lässt-^).

>) S. III, 399.

2) S. z. B. 388 ff., 419 ff., V, 415.

3) Es ist besonders ein Verdienst Cohens, auf den Zufallsbegriff von dieser einen Seite her aufmerksam gemacht zu haben, s. Kants Theoried. Erfahrung, 2. Aufl., 499 f., 502 ff., ferner 5U6 f., 522 ff., Begründung.

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Am glücklichsten hat Kant die Ziilalligkeit in dieser letzteren Hinsicht durch die Fiktion einer „intellektuellen Anschauung", eines „intuitiven Verstandes" zu erläutern gewusst. Schon aus der Bezeichnung lässt sich der Sinn dieses kritischen HilfshegrifFes erraten. Eine Überwindung der Irrationalität nämlich kann nur mit gleichzeitiger Aufhebung des Dualismus von Begriff und Anschau- ung gedacht werden^). Für den besonnenen Kritiker liegt die Beseitigung dieser S])altung unseres Erkennens erst in der Unendlichkeit. Aber trotzdem muss man andrerseits sagen, dass der Idee gegenüber dieser Dualismus sell)st, diese ganze Organisation unseres Denkens, doch wiederum einen Schein von Vergänglichkeit und Belativität erhält. Ja sogar die transscendentalen Allgemeinbegriffe müssen im idealen Erkenntniszustande als wegfallend gedacht werden, und Kant hat ausdrücklich erklärt, dass für einen intuitiven Verstand die Synthesis des Mannigl'altigen als „besondrer Aktus" bedeutungslos werden müsste-). In der Idee einer vollendeten Erkenntnis wäre das riegensatz])aar des All- gemeinen und des Besonderen gänzlich verdrängt durch das andere des Teils und des (ianzen, des Endlichen

der Ethik, 30 11"., . . . es ist die uiivermeidliclie Aufgabe der Ver- nunft; es ist die liedect^ung des Aligrundes, den die intelligible Zu- fälligkeit aufdeckt". 34, Ästhetik 118 f. Worin aber diese „intelligible Zufälligkeit" besteht, wird bei Coiikx nicht durch die Unableitbarkeit desMaterialen ausdeniFormalen klargemacht. C.ohkn zeigtfernerauch, dass die Idee einer „systematischen Einheit" im Zusammenhang mit dem inhaltlichen lu-kenntnisfaktor steht, s. Theor. d. Erf. 508 If. Hier wird der Gedanke der Zufälligkeit im Sinne der Unerklärbarkeit aus dem Formalen allerdings gestreift, aber wieder nicht ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich dabei um die logischen Beziehungen zwischen Besonderem und Allgemeinem handelt, vgl. noch 55(i 11'., Begründ. d. Ästhetik 113 f., ferner Theor. d. Erf. 524 tf., Ethik 65 II" Auch Stadler hat in seinen vortretllichen Ausführungen über das Zufallsproblem bei Kant dieses hauptsächlich unter dem (iesichts- punkte der Idee verständlich gemacht und es deshalb zu den Fragen gerechnet, die „nur der Gericlitsbarkeit der Vernunft anheimfallen". Kants Teleologie, bes. 61 tf. Die rein logische Begründung bei Kant wird bei ihm auch nur gestreift, s. 63 f., vgl. 32 f., 54.

J) S. z. B. III, 79, 117 tr., 123, 129 tt\, V, 41511", 4191"., 421. An der letzten Stelle kommt das kritische Motiv vorzüglich zum Ausdruck: der intellectus archetypus nur „in der Dagegenhaltung" unseres dis- kursiven Verstandes!

2) S. III, 119, 123.

55 -

und des Unendlichen. Die vollstündif^e I)ureiidrinf^un<4 des Individuellen, die radikale Vertili^ung des irrationalen Elementes, kann nur als abgeschlossenes „(ianze der Er- lahrung" gedacht werden, nicht als universalitas, sondern als universitas^), in der das Einzelne eine bestimmte Stelle einnimmt und nicht wie bei der diskursiven Verstandes- erkenntnis in einer „Unbestimmtheit" gegenüber dem Be- griiTe schwebt'^). „Unser Verstand nämlich hat die Eigen- schaft,, dass er in seinem Erkenntnisse z. B. der Ursache eines Produkts vom Anal ytisch- Allgemeinen (von Be- griffen) zum Besonderen (der gegebenen empirischen Anschauung) gehen muss; wobei er also in Ansehung der Mannigfaltigkeit des letzteren nichts bestimmt." „Nun können wir uns aber auch einen Verstand denken, der, weil er nicht, wie der unsrige, diskursiv, sondern intuitiv ist, vom Synthetisch-Allgemeinen (der Anschauung eines (ian- zen als eines solchen) zum Besonderen geht, d. i. \om Ganzen zu den Teilen; der also und dessen Vorstellung des Ganzen die Zufälligkeit der Verbindung der Teile nicht in sich enthält, um eine bestimmte Eorm des Ganzen möglich zu machen"^). Überall, wo Kant die logische Struktur dieses Erkenntnisideals zu zeichnen versucht, drängen sich ihm mathematische, insbesondere räumliche Analogien auf. So wird das Verhältnis des Einzelnen zum „All der Bealität" genau so wie das Enthaltensein des Baumteils im Baum der Subsumtion des Besonderen unter den Begriff entgegen- gesetzt*). So soll die der Totalität eingegliederte Einzel- wirklichkeit nicht als selbständige Grösse, sondern nur als Glied des Ganzen gedacht, das Ganze nicht von den Teilen, sondern die Teile vom (ranzen abhängend vorgestellt werden, genau wie der Baumteil nur durch Einschränkung des Einen Baumes entsteht ^). In dieser Logik eines intuitiven Ver-

0 S. 262, 394, v^l. oId. S. 4«, Aiim. 2.

2) 393, völ. 394, 396 If.

3) V, 420.

^) „Also ist der transscendcntale Obersatz der durcligängigen Bestimmung aller Dinge nichts anderes, als die Vorstellung des In- begriffs aller Realität, nicht blos ein Begriff, der alle Prädil^ate ihrem transscendentalen Inhalte nach unter sich, sondern sie in sich begreift." III, 396.

^) S. besonders V, 420, 421. Weitere Stellen bei Vaihixger, Kom- mentar II, 220.

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Standes gilt Spinozas Satz: omnis deterniinatio est negatio^). Da ferner alle Teilrealitäten untereinander und zum Ganzen in festen Beziehungen stehen, so bildet diese „organische" ^) Erkenntniseinheit, ebenso wie das anschauliche Nebenein- ander im mathematischen Raum, den schärfsten (legensatz zu der aggregatähnlichen Vereinzelung der Exemplare eines Begriffs. Eben deshalb dürfen wir nach Kant, entsprechend unserer beschränkten, nicht-intuitiven Erkenntnis, die Welt nicht als Totalität fassen, da wir dem Einzelnen wohl das Allgemeine, nicht aber das abgeschlossene (lanze ent- gegenzusetzen haben.

So postuliert der kritische Philoso|)h für die Idee ein Stadium der Erkenntnis, das der unkritische ..emana- tistische' Logiker schon für uns herbeizuführen wähnt.

II. Kapitel.

Hegels emanatistische Logik.

War Kant nur ein konsequenter Vertreter der analy- tischen Begriffstheorie, so tritt uns in Hegel nicht bloss ein Anhänger, sondern zugleich der klassische Vollender der emanatistischen Logik entgegen. Denn so sehr wir auch in der kraftvollen Bildung und Verwertung einer neuen Art von Kulturbegrilfen einen revolutionären und höchst zu- kunftsreichen Anfang erblicken mussten (s. d. Einleitung), in der Theorie des Begriffs scheint uns Hegel gleichwohl ein Ende zu bedeuten, über das man nie wird hinausgehen können^).

Durch vielfache Andeutungen aus den vorherigen Ab- schnitten sind wir in den Stand gesetzt, einige Elemente der emanatistischen Logik von vornherein zu erwarten und zu postulieren. So kann es für uns nichts Auffallendes mehi* haben, wenn wir bei Hegel den von seinen ersten bis zu seinen allerletzten Schriifen unaufhörlich sich wiederholenden Vor-

1) S. bes. III, 396.

2) S. V, 420.

2) Die folgende Darstellung verfolgt lediglich den Zweck, aus der Gesamtheit von Hegels logischen Lehren den „emanatistischen" Charakter der BeeriHstheorie herauszuheben.

57

N\ Uli' gegen die Kantischk Philosophie anlrefTen, dass in ihr ein unerträglieher Zwiespalt in das Erkennen hinein- getragen werde dnrch Entgegensetzung des reinen BegrüFs, der ., absoluten Leerheit ", des „Unend liehen" und des Em- pirisch-Konkreten, des Endlichen, aus dem der Begrif!" doch erst seinen ganzen Inhalt durch Abstraktion erhalte*). L)ic kritische Lehre wird der Standpunkt der Entzweiung^) ge^nannt, auf dem ein „gleichgültiges " Gegenüberstehen, eine völlige Entfremdung von Form und Inhalt notw^endig erfolge^). Wo einmal die absolute Totalität durch die iso- lierende Thätigkeit der Reflexion und Abstraktion in die „Retlexionsprodukte des Unendlichen (Begriff) und End- lichen gespalten ist, da wird, wie He(;kl richtig erkennt, die Kluft der Irrationalität unentrinnbar. .,Vom Unend- lichen giebt es keinen Übergang zum Endlichen, vom Un- bestimmten keinen Übergang zum Bestimmten"*). Alle Grundvoraussetzungen der analytischen Logik sehen wir hier bekämj)ft: den Charakter der abstraktiven Analyse selbst, die Inhaltsarmut des Begriffs, die Irrationalität und den Dualismus. Letzterer werde durch den unendlichen Progress und das „absolute Jenseits' der Idee nur „be- schönigt", nicht überwunden*). Hegel beansprucht die Logik des intellectus intuitivus für uns, an Stelle des Dualis- mus fordert er die „absolute Mitte" des anschauenden Ver- standes. In der Aufstellung dieser Idee sieht er deshalb auch den einzigen „Keim des Spekulativen" im kritischen System und hebt ausdrücklich hervor, dass dadurch in der Kritik der Urteilskraft „der Gedanke eines anderen Ver- hältnisses vom Allsemeinen des Verstandes zum Be-

M S. Hegels Werke I, 911., 13«"., 34 fl"., 47, 501"., V, 19 ü"., 47 vgl. VI, 398.

-) I, 177, der „formale Idealismus", „Dualismus" z. B. I, 31, 35.

') Das „äusserliche", „gleichgültige" d. h. eben logisch nicht ein- sehbare Verhältnis von F'orm und Inhalt wird beständig gerügt. Zur „formalen Identität" des Selbstbewusstseins „muss ein Plus des Em- pirischen, durch diese Identität nicht Bestimmten, auf eine un- begreifliche Weise als ein F'remdes hinzutreten." I, 46, vgl. 120 und sonst.

^) Ibid. 255. Über eine analoge Auseinanderreissung von Form und Inhalt in der Moralphilosophie Kants und Fichtes, s. z. B. 350 IT., 357 f.

*) S. z. B. 1, 47 f., 129 f., 137, 155, 177, 225, 245, III, 142 ff., 270 f., V, 23, 238 f.

L a s k , Fichtes Idealismus und die Geschichte. 5

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sonderen der Anschanung" erreicht sei, ..als in der Lehre von der theoretischen und praktischen Veriuinlt zu (irunde liegt" 1).

Die Logik des ..bornierten Verstandes"-) führt not- wendig zu einem ..Realismus der Endlichkeit", für den es nur ein absolut gesetztes Kmj^irisches giebt, das sich in einem ihm entgegengesetzten Begriff in unsäglich verdünnter Gestalt widers])iegelt^). Dieser Xominalismus hängt auf das Engste mit den kahlen Begritfsabstraktionen zusammen, denn je leerer einem der BegrifF wird, desto mehr be- geistert man sich an den schönen Konkretheiten des Em- pirischen*). Die echte Philosophie dagegen wählt nicht die empirische Wirklichkeit, sondern das wahrhalt All- gemeine zum Princip und vermag in der wahren ..Apriori- tät" die ..Möglichkeit der A])osteriorität selbst"^), in der Unendlichkeit den Keim alles Einzelnen und Endlichen zu finden. Dieser Forderung kann allerdings nur dann ge- nügt werden, wenn man, anstatt Generelles und Partiku- läres zu trennen und einander zu entfremden, den Aus- gangsjjunkt bei der ..Identität", ..hidifferenz", Durchdringung beider nimmt, also bei einem Princip, das nicht ein A 1 1- gemeines, sondern ein realesGanzes, nicht eine ..formale", sondern eine ..organische Einheit""), eine geschlossene Totalität alles unter und zugleich in ihm Befassten dar- stellt. So ist es immer grade das Problem des Dualismus und der aus ihm hervorgehenden Irrationalität gewesen, durch das Hegel die Überzeugung von der Unzulänglichkeit der bisherigen Logik schöjifte und durch das er von Anfang an zu dem Versuch einer rein logischen Überwindung der Irrationalität angetrieben wurde.

Es wäre eine reizvolle Aufgabe, zu verfolgen, wie die Schöpfung einer neuen Logik, insbesondere einer neuen Lehre vom Begriff, in allmählichem Fortschritt immer stärker als notwendige Aufgabe von Hegel empfunden wird.

i) I, 33, 39 n., VI, 116 fr., vgl. V, 26. 3) I, 38.

3) S. bes. 1, 9 ir.. 13 1. 1) S. V, 19 f.

*) Auch dafür fänden .sich bereits Ansätze bei K.vnt, s. I, 33. «) S. über diesen Gegensatz z. li. I, 42, 44, 214 vgl. V, 27 und sonst häuliy;.

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In seinen ersten Schrillen nämlich lässt er es sich noch mit einer Polemik ge<>en die Art des Kantiscim-.x Philosophierens genügen, und an die Stelle der S])altung von Hegriil' und Anschauung weiss er im Wesentlichen noch nichts anderes zu setzen als das Scfiki.mxc.schk A])Solute, das er auch als ..Totalität" oder ..System" im Gegensatz zur hlos hegritl- lichen, formalen Einheit charakterisiert. Eine neue Fassung dts ..Begrirt's" setzt er jedoch der Begriffstheorie der analy- tischen Logik noch nicht entgegen. Dann aber - den Wendej)unkt bezeichnet die „Phänomenologie" bricht immer klarer die Überzeugung durch, dass zur Lösung des Irrationalitätsproblems auch das Absolute im Sinne der s])ekulativen Philosophie nicht ausreicht. Denn mag es immerhin keine blos formale Identität l^edeuten wie der leere Begriff, sondern eine Totalität, so ist es doch als fertiges, starres Ganzes gedacht, eine höchst unfrucht])are Totalität, und das Hervorgehen des Endlichen aus diesem Unendlichen ist ebenso undenkbar, wie das Hervorgehen des Einzelnen aus dem Allgemeinen^). Bei der „Starrheit" des Absoluten, der ..unbewegten Identität" der Spinozistischen Substanz ist die einzelne Modifd-cation „verschwindend", nicht „werdend', der „Fortgang des Absoluten zur rnwesentlichkeit" ebenso unbegreiflich wie der transscendentallogische Zufall, die Substanz selbst gleichsam nur der „tinstere, gestalt- lose Abgrund, der allen bestimmten Inhalt als von Haus aus nichtig in sich verschlingt"-). Wie die Irrationalität des Besonderen das ungelöste Bätsei der analytischen Logik, so ist das Problem des Endlichen die Kli])pe der akos- mistischen Metaphysik'). Es muss darum was kein früherer Denker je gewagt hatte in das Princip sel])st eine ursprüngliche Wandelbarkeit als Grund aller Ver- änderung verlegt werden. Das Starre muss in Bewegung versetzt, das Fertige in einen Entwicklungsprozess hinein- gezogen, das Substantielle muss zum „Subjekt" erhoben werden, damit es als wahrer „Begriff" im neuen Sinne*)

i) Die Andeutung eines von Schellixg abweichenden Stand- punktes schon 1801 s. I, 177, Kuxe Fischeh, (iesch. d. n. Phil. VIII, 242 vgl. VII, 145. Die berühmte Stelle in der Vorrede der „Phäno- menologie" II, 13 f., Kcxo FiscHHH, VIII, 292 1".

2) III, 296, IV, 196 f., VI, 308.

3) Vgl. VI, 300.

1) II, 14, III, 55. V. 9.

5*

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alles Einzelne wahrhaft durchdringe. Es genügt nicht, dass wie in Kants Idee eines intuitiven Verstandes und bei dem metaphysischen (redanken eines Absoluten das Verhältnis des Besonderen zum Allgemeinen einfach ver- nichtet und durch das des Endlichen zum unendlichen Ganzen ersetzt wird. Es muss vielmehr an die Stelle nicht blos der früheren Logik, deren Unhaltbarkeit fürHEGEL ja be- reits in der ersten Phase seiner philosophischen Entwicklung feststand, sondern auch der bisherigen emanatistischen Metaphysik^) die emanatistische Logik des sich dialek- tisch bewegenden Begriffs gesetzt werden. Nur wenn die Begriife selbst sich wandeln, wenn in sie das Werden und die unendlich schmiegsame Abstufbarkeit des Lebens ver- legt wird, verschwinden die abgehackten Begriffe alten Styls, an denen die Wirklichkeit niemals gemessen, mit denen sie niemals ausgeglichen werden kann^). Der Be- grilf wird dann seine eigene Selbst Verwirklichung in der ..Erscheinung", jede einzelne Wirklichkeit eine Phase der Begritfsentwicklung, eine „Stelle des Ganzen", aber eines ..(lanzen der Bewegung"^). Nur bei dieser Auffassung ist gleichzeitig die transscendentallogische Irrationalität und der metaphysische Akosmismus vermieden. Denn aus der innigen Durchdringung des „sich selbst bewegenden Ge- dankens" und der einzelnen emanatistisch daraus folgenden konkreten Realisation*) ergiebt sich die dialektisch „ver-

') Auf die „orientalische Vorstellung der Emanation" geht Hegel bei Besprechung des Spinozismus ein, IV, 197.

■^) S. bes. V, 48 H". . . . . Dies Fixe besteht in der betrachteten Form der abstrakten Allgemeinheit; durch sie werden sie" (sc. die Bestimmtheiten) „unveränderlich". „Wenn nun am reinen Be- griüe diese Elwigkeit zu seinc-r Natur gehört, so waren seine abstrakten Bestimmungen nur ihrer Form nach ewige Wesenheiten; aber ihr Inhalt ist dieser Form nicht angemessen; sie sind daher nicht Wahrheit und Unvergänglichkeit", sondern müssen sich „aullösen" lassen und in ihr Gegenteil „übergehen".

3) II, 36 r., 42, VI, 318, 367.

•*) Die Identität des Endlichen und Unendlichen schon in den ersten Schriften, s. z. B. 1, 148; später kehrt der Gedanke fortwährend wieder (s. z. B. II, 328 u. sonst), nur modificiert durch den Gesichts- punkt der dialektischen Bewegung, z. B. VI, 390 f.

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mittelte" völlige Rationalität^) des Überganges vom lii- endlichen zum Kndlichen, und andrerseits verschwindet das Endliche nicht im Absoluten, sondern stellt ein not- wendiges „Moment" im Prozesse des Ganzen dar^).

Durch diese Hegriflslehre wird Hkgkl zu dem der analytischen Logik entgegengesetzten Ergebnis gedrängt, dass je allgemeiner der Begriff ist, er desto konkreter sein müsse, dass mit dem Umfang der Inhalt wachse-^), die höchste Stufe des Allgemeinen zugleich die höchste Stufe der Konkretheit darstelle*). „Allgemeinheit" in Hegels Sinne bedeutet gleichzeitig die Anwen(ll)arkeit auf eine Menge von Exemplaren als logische Qualität des l^egritfs- inhalts und das die Exemplare realiter umfassende Sich- Erstrecken über die Umfangsgesamtheit, wodurch also die Identität von Inhalt und Umfang gelehrt wird. Hegel warnt deshalb davor, das „abstrakt Allgemeine", „blos Gemeinschaftliche ' mit dem „wahrhaft Allgemeinen, dem Universellen" zu verwechseln'^). Vom abstrakt All- gemeinen ist das Besondere durch den A])stand der Un- begreiflichkeit getrennt, mit dem wahrhaft Allgemeinen dagegen nach Art der emanatistischen Vorstellung ver- schmolzen. ..Es kann hiernach auch gesagt werden, die absolute Idee sei das Allgemeine, aber das Allgemeine nicht blos als abstrakte Eorm, welchem der l)esondere Inhalt als ein Anderes gej^ienübersteht, sondern als die absolute F'orm, in welche alle Bestimmungen, die ganze EüUe des durch dieselbe gesetzten Inhalts, zurück ge- gangen ist" '').

Die Beziehungen der Hegelschen Logik zum Irratio-

M Die Dialektik steht im Dienste eines absoluten Rationalis- mus. S. V, 330: kein Objekt, das von der dialektischen Methode „nicht durchdrungen werden könnte"; 251'.: „Herleitung des Reellen" aus dem Regritf, vgl. 20 I.

•') S. 11," 48 und die Citate ob. S. 60 Anm. 3.

•'•) VI, 316 vgl. V, 41, 349, 352 der sich begreilende Hegrill",

das Sein als die konkrete, ebenso schlechthin intensive Totalität."

*) YllI, 435.

^) 11, 35911"., 111, 320 tr., V, 39—42, 64, 334; ebensowenig wie den abstrakten Begriffsinhalt darf man den Umfang im gewöhnlichen Sinne, die „Allheit", mit der wahren Allgemeinheit verwechseln, s. V, 97, VI, 339.

«) VI, 409.

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nalitätsprol)leni müssen Jetzt klar geworden sein. Das Verlangen nach absoluter Hegreif lichkeit alles Einzelnen, völliger Ahleitbarkeit aus Vernunftprincipien erweist sich zunächst als spekulativer Beweggrund, dem BegrifT das rein logische Merkmal zu verleihen, dass er inhaltsreicher sei, als jeder unter ihn su])sumierbare Einzelfall seiner Realisierung; denn nur unter dieser Voraussetzung kann die wegen ihrer Gleichgültigkeit gegen das Konkrete und Einzelne absolut verwerfliche Leerheit vermieden werden bei gleichzeitiger Wahrung der „Allgemeinheit" des Be- griffs; aus demselben Erfordernis einer alles Einzelne durch- dringenden Rationalität ergiebl sich sodann das Merkmal dialektischer Selbstbewegung und schmiegsamer Konkret- heit. Was aber reicher ist als alle empirische Wirklich- keit, muss ferner ebenso real oder vielmehr von höherer Realität sein ; es ergiebt sich daraus die Eigenschaft meta- phvsischen Eigenlebens, eine höhere Wirklichkeit als Ueber- l)au über der blos emj)irischen, und es folgt daraus, dass der dialektische Prozess zugleich Weltprozess, die Logik zugleich Metaphysik und ()nloh)gie ist. Umgekehrt ver- band sich uns ja mit der lidialtsarmut des Abstraktions- begritfs die Unfähigkeit zu selbständiger Existenz. Hkgki. hat diese Verbindung des rein logischen Emauatismus mit der metaj)hysischen Rangordnung der Realitäten an vielen Stellen vorzüglich zum Ausdruck gebracht, aiu besten in der ..Encyclopädie" : „Es ist verkehrt, anzunehmen, erst seien die Gegenstände, welche den Inhalt unserer Vor- stellungen bilden, und dann hinterdrein komme unsere subjektive Thätigkeit, welche durch die vorher erwähnte Operation des Abstrahierens und des Zusammenfassens des den Gegenständen Gemeinschaltlichen die BcgrifTe derseli)en bilde. Der Begriff ist vielmehr das wahrhaft Erste. . . In unserem religieusen Bewusstsein kommt dies so vor, dass wir sagen, Gott habe die Welt aus nichts erschaffen, oder, anders ausgedrückt, die Welt und die endlichen Dinge seien aus der Eülle der göttlichen Gedanken und der göttlichen Ratschlüsse hervorgegangen"').

i) VI, 323 vgl. 316: „Allerdings ist der Begritl' als Form zu be- trachten, allein als unendliche schöpferische Form, welche die Fülle des Inhalts in sich bes(-'hTi7vss"t inid zu gleich aus sich e n tTä s s l7''

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Da OS nur unsere Auri>al)e war, das rein l()<*ische Ge- ripj)e VOM Hec.kls Ik'grin'slehre aulzuzeigeii und i^et^en die analytisehe Logik scharl' al)zugrenzen, so nuisste aul" den Nachweis verzichtet werden, einen wie entscheidenden Kinfluss die IkM'ücksichtigung von Norm- und Wert- l)egritTen aul' die Ausl)ihhmg der enianatislischen Begrifls- theorie ausgeü])t hat. Welch grosses Verdienst insbesondere in der Polemik gegen den kulturj)hiloso])hischen Atomisnius l)esteht,' wurde ja in der Einleitung bereits angedeutet. He(;kl ])ekänij)ft die abstrakten Wertallgenieinheiten und durchschaut ihren unvermeidlichen Zusammenhang mit der Neigung zum Atomisieren. Aber wie die Wertbegritfe bei ihm aul" die logische Theorie einwirken, so will er leider umgekehrt auch wiederum die Kulturphilosophie durch rein theoretische und formallogische Spekulationen stützen und demgemäss auch den gegnerischen Standpunkt einer individualistischen Kulturi)hilosophie auf einen Ato- mismus rein logischer Art zurückführen. Der letzte spekulative (irund seiner Polemik ist mithin nicht die methodologische Besorgnis, dass das nur in seiner Einheit- lichkeit verständliche konkrete Kult urganze durch die atomisierenden Bestrebungen zerstückelt, sondern die meta- physische I^esorgnis, dass das überempirische Ganze des Begriffs, das Metaphysisch-Konkrete atomistisch vernichtet werde. Denn von Atomismus auf logischem (iebiet kann doch nur unter der einen Voraussetzung geredet werden, dass man, wie Hegel es eben thut, den Begriff selbst zu einer metaphysischen Bealität hy])ostasiert, die ihre einzelnen Verwirklichungsfälle zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügt. Nur unter dieser Voraussetzung könnte die von der analytischen Logik behau])tete Isoliert- heit der einzelnen Partikularitäten eine unberechtigte Ver- einzelung, eine Atomisierung der Wirklichkeit genannt werden. Nur dann wird erklärlich, warum Hegel in jeder Einzelwirklichkeit nichts anderes als ein aus einem intelli- giblen Kontinuum herausgerissenes Stück, ein lediglich durch abstrakte Isolation verselbständigtes Atom zu er- blicken vermag').

f>

') S. z. B. 9f}., 119, .,ein Reich einheitsloser Empirie und zu- lalliiier Manniglaltigkeit" 128, vgl. 250, .,Kinheit slosigkeit des Mannigraitigeii" V, 49, derselbe Vorwurf des Atomismus gegen Ficiites

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Dies antiatomistische Ergel)nis erinnert wieder an mathematische Analogien. Der Umfang des emanatisti- schen HegrifTs soll nach Art der anschaulichen Beziehungen innerhall) des mathematischen Umfangs als in sich ver- hundenes (ianzes gedacht werden (s. oh. S. 491".). Wie aus dem Mathematisch-Allgemeinen soll sich ferner aus dem Be- griff jede einzelne Wirklichkeit konstruieren und herechnen lassen. Das klassische Vorhild für einen solchen von allen Anhängern einer ..mathemalischen Methode'" vertretenen Bationalismus ist jedoch nicht Hegel, sondern Spixoz.\; die nur mathematisch orientierte Metaphysik darf deshalh höchstens als Vorläuferin von Hecels Logik angesehen werden. Wie im mathematischen (lehilde einzelne konkrete Anschaulichkeit und hegriffähnliche Allgemeingültigkeit zu- sammenfallen^), so sollen iiu System Spinoz.\s die end- lichen Dinge in realer und zugleich zeitloser Ahhängig- keit aus der (irottheit folgen-). Auch im Ührigen ist in der

Sitten- und Rechtslehre, ausdi-iuklich in Verbindung gebracht mit dem Wesen des abstralvten (iattungsbegritts. ..Aber jener Verstandes- Staat ist nicht eine Organisation, sondern eine Maschine; das Volk nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atom istische lebensarme Vielheit, deren Elemente absolut entgegengesetzte Substanzen .... Elemente, deren Feinheit ein Begriff." ..Diese absolute Substantialität der Punkte gründet ein System der Atomistik der praktischen Philosophie" I, 242 gl. 243 f., 152 f. Über die abstrakte, zum Atomismus führende Methode des naturrechtlichen Rationalismus eingehend 332 tf.. 367 f., über die ..atomistische Ansicht im Politischen" VI, 193. In der ..Phänomenologie" s. bes. 3f)0tr. ..das reine leere Eins der Person". Durch die ganze ..Philosophie des Rechts" zieht sich der Nachweis des engen Zusammenhanges zwischen der individualistischen Rechtskonstruktion und dem Haften an der ..formellen Allgemein- heit", s. z. R. Vlll, 63, 221. 247. Der Vertrag erscheint dabei als ein ,.blos (iemeinsames des Willens" ..Gemeinschaftliches- 116.314, so schon 1, 243: ..das fixierte Abstraktum des gemeinsamen Willens".

1) Vgl. darüber Sch()PEXH.\ueu. Werke (CiP.iskb.vch) 111, 151, Sic- WART, Logik I, 389 Anm.

■-) Das Wesen von Spinozas Pantheismus erfasst man deshalb am tiefsten durch Berücksichtigung der mathematischen .\nalogie, s. WixoKLBAM), Präludien 97 f., 101 fl'., (lesch. d. neuer. Philos. I, 203 f., 207 11'., Gesch. d. Philosophie 342, mit dem Hinweis auf Schopkn- H.^uPHs „Satz vom Grunde des Seins". Unter den neueren Meta- physiken! hat besonders Schellin(; die Vorbildlichkeit der Mathe- matik für die Spekulation hervorgehoben: in ihr werde „die Identität des Allgemeinen und Besonderen", die „in der Anschauung darge-

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Spekulation vor Hk(vkl der Kinlliiss niathematiseher Ver- hältnisse auf die metaj)hysisehe h'assuni> des Hndliehkeits- prohlems bemerkbar. In der Mathematik l)esteht, wie oben gezeigt wurde, zwischen dem Hegritt' und dem Kxemplar, das unter ihn lallt, eine ähnliche Konstruktionsmöglichkeit wie innerhalb des gesamten Umlangs, in den das Einzelne sich einfügt. Dem genau entsprechend leitet die hier allerdings nur postulierte! aprioristische Konstruktion einmal von dem in al^strakter Punktualität gedachten Un- endlichen zur einzelnen Endlichkeit hinüber, und zweitens breitet sie sich gewissermassen flächenartig ausdehnend das Absolute über den ganzen Umfang seiner einzelnen F>- zeugungen aus. Daraus folgt für das metaphysische Princij) ein eigenartiges Schillern nach der Bedeutung des Allge- meinen wie des Cianzen hin, und das Verhältnis des End- lichen zum Unendlichen stellt eine nicht recht fassbare Mitte zwischen dem des Besonderen zur (lattung und dem des Teils zum Ganzen dar. Dieses Ineinandergehen der Be- deutungen ist allerdings auch für viel ältere metaj)hysische Sj)ekulationen charakteristisch und spielt in der ganzen Geschichte des Piatonismus, insbesondere im Universalien- streit ((iattung^ Su])stanz), eine wichtige Bolle. Von diesen Beobachtungen aus eröffnet sich uns, wie hier nur angedeutet sein mag, der Ausblick auf eine umfassende Ge- schichte deslogisch-meta])hysischenIndivi(lualitäts])roblems. Ihre Aufgabe bestände in der Untersuchung, ^^•ie weit in den einzelnen Systemen das Individuelle als Exemplar von Gattungsbegriffen und wie weit es als Glied ^'on erfahr- baren oder metaphysischen Totalitäten gedacht wird. Sie hätte sodann zugleich den an die beiden Gegensatzpaare immer wieder sich heftenden Irrationalitätsgedanken in seinen beiden Hau j)t Verzweigungen zu verfolgen, nämlich in der Eorm der logischen Zufälligkeit und des metaphysi- schen Endlichkeitsbegriffs. (irade in der Durchführung dieser bis jetzt nicht vorgenommenen Sonderung der Probleme würde sich das Berechtigte einer solchen Unter- suchung zu zeigen hal)en M.

stellte Idee" erkannt. Über Konstruktion in der t^hilosophie WW V, 12511'., Vorlesungen über d. Meth. d. akad. Studiums, ibid. 251 tl".

1) Da die vorliegende Arbeit einen kleinen Beitrag zur (ieschichte des Irrationalitätsproblems zu liefern sucht, wird später noch von

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Soviel aber miiss schon jetzt unl)ez\veitell3ar geworden sein, dass in Hegels Logik die Spekulation einen wesent- lichen Schritt über alle früheren rationalistischen Systeme hinaus gethan hat, eine Gedankenschicht noch über der durch mathematische Analogien charakterisierten Metaphysik dar- stellt. Wenn das Ziel spekulativer Überwindung der Irratio- nalität überhaupt erreichbar wäre, dann hätte einzig und allein Heciel errungen, wonach alle früheren emanatisti- schen Metaphysiken verge])ens gestrebt hatten. Er bezeichnet darum mit Recht deren tyj)isches Geisteserzeugnis, die ..Sub- stanz" SinN()z.\s, als die unvollkommene Vorstufe des sich .selbst bewegenden Begrilfs. wie er ihn lehrt M- Seine Lehre ist in der I.ösung des logischen Individualitäts])rol)lems das Hegreifen und die Vollendung aller früheren Metajjhysik, insbesondere des Piatonismus und des Spinozismus.

Auch für Plato nämlich werden zwar die (iattungs- begriffe zu überempirischen Realitäten, aber sie bleiben unveränderliche spröde Formen, denen die „unendliche'' Yivsa'.c unbeherrschbar, irrational gegenübersteht. Die Einzel- dinge sollen lediglich ein ..Teilnehmen" an ihrer Inhalt.s- fülle darstellen, während wir sie uns höchstens als Teil ihres Umfanges denken können und immer in Versuchung geraten, umgekehrt die Ideeen als Teil der Wirklichkeit zu betrachten. Die Substanz bei Spinoza andrerseits soll gar nicht ein Allgemeines, sondern eine metaj^hysische Totalität darstellen. Aber mag sich Spinoza noch so sehr gegen die Hypostasierung der (lattungsbegriffe sträu])en, grade die Substanz verflüchtigt sich ihm zu ganz inhaltsleerer All- gemeinheit. Sie ist umfassendste Umfangsgesamtheit mit denkbar geringster Inhaltlichkeit. An ihr erfüllt sich so recht der Fluch der traditionellen Logik. Plato will mit der Idee den reichsten Inhalt, für den uns schliesslich der Umfang sich unterschiebt: Spinoza will mit der Substanz den Umfang, ohne dabei aber die leerste Abstraktheit

einzelnen Perioden der Gesamtentwickluni^ dieses Problems die Rede sein. Man sieht übrigens leicht, dass die im Text angedeutete (ie- schichte des Individualitätsproblems die logisch-erkenntnistheo- retische und metaphysische Parallelarbeit und (Grundlage einer geschichtlichen Behandlung der in der Hinleitung angedeuteten (s. ob. S. 16f.) verschiedenen Arten des Wertungsindividualismus und -Universalismus abgeben könnte und vielleicht müsste. 1) VI, 301 vgl. 'v, 9 ir.

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des Inhalts vermeiden zu köinien. Im höchsten Princip dieser Systeme l)egegnen sieh ohne i^e^enseili<^e Durch- dringung die ])eiden Hedeutungen des Allgemeinen und des Ganzen, und zwar üherwiegt die erstere hei Plaio, die letztere hei Spinoza. Die i'ür jeden I^manalismus unver- meidliche Konsequenz a])er, dass das Princip, das Allge- meine, das Ahsolute inhaltsreicher zu denken ist, als die einzelne em])irischeWirkIichkeit, wird von keinem der heiden Denker kühn luid rücksichtslos gezogen. Idee und Suhstanz sind ehen unzulängliche Vorläufer von He(;i:ls „Begritt", mit denen nicht erreicht ist, was die Denker mit ihnen he- a])sichtigt hahen. In völligen Einklang lassen sich Inhalt und Umfang nur hringen, wenn man sie gleichsetzt und so den Unterschied von Allgemeinheit uncrrotalität üherwindet. Der Umfang ist dann der sich verwirklichende Inhalt, der Inhalt die durch den ganzen Umtang hindurchgehende lehendige Bewegung; mit dem Wachsen des Umfangs ver- hindet sich die Steigerung des Inhalts und umgekehrt.

Aus dieser Identität von Inhalt und Umfang wird klar, warum uns in dem letzten Teil der Darstellung von flix.KLS (iedanken mathematische Analogien ganz verliessen. Sie waren noch ausreichend zur Uharakterisierung der emana- tistischen Metaj)hysik, der He(;kl seihst anfangs als Anhänger ScHELLiNGS uahestaud; sie w^erden aher ungenügend, sohald wir uns den letzten Ergehnissen der dialektischen Theorie zuwenden. Von neuem l)ewährt sich die mathematische Methode als ein Mittleres zwischen analytischer und emana- tistischer Logik.

Auch vom kritischen Standpunkt aus wird darum Hegel eine Sonderstellung in der Geschichte des Irra- tionaliläts])r()])lems einzuräumen sein. Zweifellos hat es nie vor oder nach ihm einen stärkeren, eindringenderen Rationalismus gegehen. Und doch war nie ein philo- sophisches System weiter von einer Verkennung der Irra- tionalität entfernt als seine Lehre. Auch der Kritiker wird Hegel darin Recht gehen müssen: wenn die dialektisch sich wandelnden Begriffe annehmhar sind, dann und nur dann gieht es eine Ue])erwindung der Irrationalität. In dieser Einsicht steckt ohne Zweifel eine ungeheure spe- kulative Leistung. Aher der Kritiker leugnet allerdings die Bedingung des Vordersatzes: die Begriffe im Sinne Hegels.

(58 III. Kapitel.

Fichtes Stellung in der Entwicklungsreihe der idealistischen Systeme.

Unsere Gegenüberstellung der analytischen und enia- natistischen BegrifTstheorie sollte nur mittelbar einen Bei- trag zur (leschichte der Logik liefern, in erster Linie da- gegen die Entwicklung des Rationalismus in der deutschen Philosophie erleuchten. Wir haben den mit einem gewissen Empirismus verträglichen kritischen Rationalismus von dem absoluten Rationalismus vorkantischer Metaphysik dadurch unterschieden, dass bei dem letzteren inhaltlich bestimmte übersinnliche Gegenstände durch hypostasierte Erkenntnisideale geschaffen werden, bei Kant dagegen der Erkentniswert nur inhaltsleere Formen darstellt (s. S. 27 f.). Insofern müsste zunächst Hhx.ELS Lehre wenigstens mit Rücksicht auf Empirismus und Irrationalität mit der vorkantischen Metaphysik zusammengestellt und in Gemeinschaft mit ihr dem Kriticismus entgegengesetzt werden. Es ist jedoch von grosser Wichtigkeit, den Ein- schnitt so anzid)ringen, dass zunächst dogmatischer (vor- kantischer) und idealistischer (kantischer sowie nachkanti- scher) Rationalismus auseinanderfallen und dann die beiden Hauptgruppen in weitere Unterarten zerlegt werden. Das, was den dogmatischen vom idealistischen Rationalismus unterscheidet, ist die Abhängigkeit des Erkennens vom Sein, die Abbildtheorie (s. S. 28). In deren Beseitigung sind nändich kantische und nachkantische S|)ekulation einig, insofern also beide idealistisch. Innerhalb des idealistischen Rationalismus bilden sich sodann die weiteren Gruppen nur nach den verschiedenen (iraden der Abhängigkeit des Seins vom Erkennen. Während also der Kriticismus von der rationalistischen Metaphysik sich nach zwei Rich- tungen abhob, erhalten w'w für den kantischen und nach- kantischen Rationalismus eine nach den Graden der Rationalität eindeutig abgestufte Entwicklungsreihe.

Für eine solche scharfe Scheidung innerhalb der Folge dieser idealistisch-rationalistischen Systeme giebt nun der Gegensatz der analytischen und emanalistischen Logik ein vorzügliches |)rincipium divisionis ab. Durch ihn wurde eine

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Prüfung der logischen Struktur des Apriori, eine exakte Messung des rationalen Faktors, mithin der Al)hängigkeit des Seins vom Erkennen, ermöglicht. Der logische (Cha- rakter durfte jedoch dahei nicht als ein äusserliches nehen- sächliches Beiwerk gefasst, sondern musste als wesentlicher Bestandteil, als eigentlicher Kern des hetretfenden Ratio- nalismus hegriffen werden. So brachten wir den formalen Apriorismus Kants ja erst dadurch auf seinen schärfsten Ausdruck; dass wir den apriorischen Bestandteil als nach den Vorschriften einer analytischen Logik richtig gebildeten Iransscendentalen Gattungsbegrif!" verstehen lernten; so kennzeichneten wir den absoluten Apriorismus He(;kls am genauesten als emanatistische Logik. Auf diese Weise Hessen sich die einzelnen Systeme nach festen logischen Massstäben auf ihren rationalistischen Gehalt prüfen.

Nun giebt es für diese ganze Richtung der idealistischen Spekulationen, die das Erkennen über das absolute Sein stellen, im Grunde genommen nur eine Frage von funda- mentaler Wichtigkeit, nämlich die: ist die Macht des Er- kennens schrankenlos oder an Schranken gebunden? Ist die Abhängigkeit des Seins vom Denken absolut zu verstehen oder in ihrer Bedeutung begrenzt'.* Die beiden einzig konse([uenten Antworten darauf sind Kants und Hegels Philosophie. Beide sehen die drohende Irrationalität des Individuellen. Nur: der eine hält die Schranke für unüber- windlich, der andere in letzter Linie für aufhebbar.

Wie stellt sich so fragen wir jetzt Fichte zu diesem grossen, alles entscheidenden Gegensatz? Ist die Wissenschaftslehre absoluter Rationalismus oder statuiert sie eine Grenze des Rationalen? Gehört sie bereits ganz der von den Bahnen des Kriticismus abgewichenen deutschen Spekulation an oder nicht? Dies sind die Fragen, die unser „zweiter Teil" beantworten soll, dies das Hauptthema unserer Untersuchung.

Oder ist vielleicht ein Zweifel garnicht mehr möglich? Scheint es doch, als ob das Urteil der Geschichtsschreibung bereits endgültig darüber entschieden habe, dass auf Kants „Kritik" der Erkenntnis, also auf die sondernde Scheidung, die Herauslösung der formalen Erkenntniswerte, schon mit Fichte und grade durch ihn eine ganz andere Methode gefolgt sei, nämlich die alles Gegebene ver-

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Richtende und in einen zeitlosen Vernjinjtzusammenhang einordnende „Konstruktion". Galt es doch schon l)ei P^iCHTKs Zeitgenossen als unljestritten, dass die Wissen- schal'tslehre einen verwegenen Idealismus lehre, in dem die Unterschiede zwischen ..Form" und „Inhalt" des Wissens sich verwischen und alles aus einer „hohlen Xuss der Sell)ständigkeit"0, dem reinen Ich. deduciert und kon- struiert werde.

Dass die kritische Methotle \ on einer anderen, neuen ahgelöst wurde, darüher herrscht kein Zweifel. Ferner wird niemand das unleughare Bestrehen des deutschen Idealismus in Ahrede stellen, sich in immer höherem Grade mit stolzem Bewusstsein auf die ahsolute Selh- ständigkeit und die erkenntnistheoretische Priorität des Wissens vor dem Sein zu hesinnen. Aher darin kann man ja immer noch lediglich die Enthüllung des tiefsten Sinns grade von K.wrs ..Apriori"' erhlicken. Denn für jeden idea- listischen Denker hedeutet dieses ..Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit ". unhedingten und höchsten Erkenntnis- wert, das schlechthin Oberste im Beiche des Denkens, ein Unabhängiges sogar vom Drucke eines absoluten Seins. Neben dieser Unabhängigkeit nach oben gebührt ihm ferner auch nach K.\nt so könnte man weiter argumentieren die Herrschaft nach unten. Zwar tritt es nach unten, d. h. innerhalb seines Geltungsbereiches, in der Menge der Denk- inhalte, nur als Form auf; aber diese Form ist dafür un- entrinnbar. Doch muss andrerseits und darin grade besteht die kritische Zurückhaltung - auch streng darauf geachtet werden, dass diese Herrschaft des Apriori nach unten nicht über seinen rein formalen Gharakter hinweg- täuschen darf. Da der rationale Bestandteil nie eine ein- zelne Bestimmtheit aus sich erzeugt, bedarf er stets eines konkreten Anhaltes, eines Substrates, einer Verwirklichung auf empirischem Schau])latz. Und an diesem entscheidenden Punkte das ist allerdings zuzugeben hat die (ieschichte der deutschen Philosoj)hie bewiesen, dass es nicht gelang, den formalen Bationalismus in Strenge aufrechtzuerhalten und mit der Besinnung auf die Selbstherrlichkeit des Denkens ein kritisches Verständnis der Herrschaft des

1) Fr. H. .UcoBi. \V\V III, 37.

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Ai)ri()ri ..nach unten ' /u veil)indcn. Die Nachr()l<^L'r K.w rs haben der Versiichiin<> nicht ^s•i(le^slehen können, (iie (iewalt des Apriori auch nach unten bis zu einer das Einzehie sogar seinerin dividuali tat nach völli<>l)estim nien- den Herrschaft zu steigern, sie hal)en den kritisch-formalen RationaUsmus {ilhnähhch in einen enianalislischen um- gewandelt.

'Eine auch nur tlüchtige Kenntnis der eisten grund- legenden Schrüten Fich tks scheint nun zu genügen, um das Urteil ü])er den Urheber der Wissenschaftslehre und seine Stellung in dieser Entwicklung fällen zu dürfen. Im ersten Entwurf des Systems finden sich sollte er auch sonst Berechtigtes enthalten jedenfalls wenige Spuren jener massvollen Erkenntnislehre Kax rs, die diesem gebot, in der reinen Vernunft nur erkenntnisbegründende, abstrakte, inhaltslose Formen zu erblicken. Die Yernuni't erscheint hier vielmehr als das absolut schö])ferische Welt- princip, als reine ursprüngliche deistigkeit, als dolthril und Abscdu^tes; mithin als der metaphysische Überbau über der empirischen Wirklichkeit, dessen Annahme die ständige Begleiterscheinung jeder emanatistischen Logik sein muss. Die ganze mühsame Arbeit kritischer Zerlegung scheint überflüssig gemacht zu sein bei dem glücklichen Besitz einer „intellektuellen Anschauung", durch die Inhalt und Form gleichmässig durchdrungen werden, somit der von Kant für die Methode der transscendentalen Unter- suchung festgestellte Dualismus verschwindet. Bei einer solchen Ansicht vom Wesen der Vernunlt ist es frei- lich unmöglich, in der Wissenschaftstheorie noch irgend welche Schranken des Begreifens anzuerkennen. Dement- sprechend erklärt denn auch der Verfasser der Wissenschafts- lehre selbst ..mit dürren Worten'", dass auch das Mannig- faltige der Erfahrung „von uns durch ein schö])ferisches Vermögen produciert werde "')• Für den emanatistischen Logiker verwandelt sich eben die abstrakte Vernunftform Kants in ein (iebilde von meta])hysischer Lebendigkeit. Auch wer ferner damit einverstanden sein sollte, dass Fichtk die Kategorien oder überhaupt die formalen Bedingungen

0 Leben und Briefwechsel, herausgegeben v. .1. H. Fichtk, 2. Aufl., II, 166.

der Erkenntnis, die bei Kam als fertige Thatsachen hin- genommen werden, aus einem höehsten (irundsatz al)leiten will; auch wer in seinem Versuch, das Wesen der Vernunft als einheitlichen Zusammenhang nntereinander dm'ch immanente Notwendigkeit verbundener Vernunftfunktionen zu begreifen, eine tiefgehende ])hilososphische Leistung, ja eine bis jetzt noch ungelöste, aber weit in die Zukunft hinausweisende Aufgabe sieht^), kann sich doch der Ein- sicht nicht verschliessen, dass Fichte dabei weit über die (irenzen jeder möglichen Konstruktion hinausgeht, das Em- pirische l)is auf den letzten Rest durch das Apriorische zersetzt, das Individuelle der Wirklichkeit mit in den dialektischen Prozess hineinzieht-), kurz, in die Bahnen der emanatistischen Logik gerät. Auch wer es gar wohl zu beachten versteht, dass von Anfang an die Kon- struktionen der Wissenschaltslehre nicht etwa dem ge- wöhnlichen Standpunkte angemutet werden, kann doch nicht leugnen, dass die unverkennbare Grundtendenz der Wissenschaftslehre dahin geht, durch das Apriorische das Emjurische gänzlich verdrängen und aufsaugen zu lassen, damit die Eine absolute Vernunft wie in ethischer, so auch in logisch-begritflicher Hinsicht alles in allem sei. Schon die zeitgenössischen Gegner haben ihre Angriffe hauptsächlich gegen die 1794 entworfene Dar.stellung der Wissenschaftslehre gerichtet. Aber auch auf Anhänger wie ScHELLiNG, Reixhold, Schlegel hat die erste Gestalt der Wissenschaftslehre einen entscheidenden Einfluss ausgei^ibt, Hegel und Herbaht haben grade von ihr nachhaltige An- regungen empfangen^). Wegen dieser grossen historischen Wirksamkeit hat denn auch der von gewaltiger Originalität zeugende erste kühne Entwurf seine Alleinherrschaft bis auf den heutigen Tag behauptet. In der ganzen Geschichts- schreibung der Philosophie orientiert man sich bei der Darstellung der früheren, also im achtzehnten Jahrhundert vertretenen Wissenschaftslehre fast ausschliesslich an der ,, Grundlage'' von 1794*). Man verfolgt wohl die Vertiefung,

J) S. WixDELBAXD, Gesch. d. neueren Philosophie II, 204 ff. Prä- ludien 274 tl.

2) Ibid.

3) S. HIrdmaxx, Grundriss II, 444 f.

*) Hinzugenommen wird etwa die „erste Kinleitung" und der „sonnenklare Bericht".

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die gewisse Lehren in allmähliclier Entwicklung durch die Begründung der Sittenlehre und der Religionsphilosophie erfahren hahen; aher dass danehen sich eine Wandlung im eigentlichen Kerne der Wissenschai'tslehre seihst vollzogen, dass Fichte, der rastlos Weiterschreitende, auch die Funda- mente seiner Philosophie unterdessen erschüttert hahen könnte, daran wird von niemandem gedacht M.

Und doch ist die Auffassung, dass Fichtks 1794 ver- tretener Standpunkt als kennzeichnend für die ganze ältere Wissenschaftslehre gelten darf, als ganz unhalthar aufzu- gehen. In n erhall) der älteren Wissenschaftslehre, die ja allein den echten Idealismus vertritt, also in der vor dem grossen Einschnitt von 1800 gelegenen Phase, hat viel- mehr — schon nach ganz kurzer Zeit ein Umschwung nicht in nebensächlichem Beiwerk, sondern in der er- kenntnistheoretischen Grundlegung stattgefunden.

Der durch ihn in der „zweiten Einleitung'' (1797) be- gonnene Prozess der x\bkehr von dem Geiste der früheren Lehre zeigt allerdings neben grosser kritischer Besonnenheit weniger Kühnheit als der erste Entwurf, auch nicht eine so hohe Originalität, sondern eine stärkere Anlehnung an Kant. Wenn wir nun grade diesen neuen und späteren Anlauf von Fichtes Lehre in den Mittelpunkt unserer Darstellung zu rücken gedenken, wenn wir von dieser Revision der erkenntnistheoretischen Principien eine über Fichtes eigene philosophische Entwicklung hinausragende, auf seine ganze Stellung in der Geschichte des deutschen Idealismus sich erstreckende Bedeutung ableiten, dann scheint doch ein solches Verfahren künstlich ganz heterogene, dem Geiste der Wissenschaftslehre fremde, deshalb un- wesentliche, ja irreführende Gesichtspunkte einzuführen, die das Bild von Fichtes Denken nur entstellen. Gegen- über diesem Einwand können wir uns vorläufig lediglich auf die Ausführungen des ,, zweiten Teiles'' berufen: aus

1) Auch der jüngere Fichte hat nur darauf aufmerksam gemacht, dass die erste Darstellung noch vieler Verbesserungen bedurfte und die in ihr am meisten gebrauchten Formeln wie „Setzen" des Ich und des Nicht-Ich u. s. w. aufgegeben wurden, aber er hat nicht zu zeigen vermocht, welche wichtigen Veränderungen eingetreten sind; s. Leb. I, 227 f, Sämtl Werke I, Vorwort S. VIII, X ff. Vgl. Ehdm.\nx, Grundriss II, 444.

Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. ß

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ihm wird man die Ül)erzeugimg gewinnen, dass das Fort- wirken gewisser Ergebnisse des strengsten Kriticismns ])ei Fichte bisher el)en nur wider Gel)ühr u nterschätzt wurde und un])eachtet gel)lieben ist.

Und andrerseits ist zu betonen, dass wir ja überhaupt von dem Wahne weit entfernt sind, als ob durch die Klar- legung der logischen wSlruktur, die in den verschiedenen Systemen der rationale Faktor annimmt, die Gedankenfülle der dabei betrachteten Philosophieen irgendwie sich er- schöpfen Hesse. Noch viel weniger kann es uns daher einfallen, durch Hcraushebung gewisser Probleme, Fichtks Denken in seiner ganzen Anschaulichkeit und Originalität erfassen zu wollen. Nicht nur die ganze, Fichtes Welt- anschauung bestimmende praktische Philosophie bleibt un- berücksichtigt, sondern auch so manche für ihn eigen- tümliche und fruchtbare That auf rein theoretischem Gebiet. Wir verfolgen ja blos, wie sich das Irra- tionalitätsproblem durch die ganze Entwicklung des deutschen Idealismus hindurchzieht, und be- trachten dabei etwas genauer den Weg, den es bei diesem F o r t g a n g d u r c h d a s G e b i e t d e r F i c h t e s c h e n Philosophie nimmt.

Aber eben daraus muss doch auch verständlich werden, warum der Irrationalitätsgedanke, grade in seiner proldemgeschichtlichen Isolation und herausgelöst aus der lebendigen Verkettung mit anderen Bestandteilen der Wissen- schaftslehre, uns doch dazu dienen kann, Fichte in dem

'T.^ Werdegang der deutschen Sj)ekulation wenigstens eine sichere Stelle anzuweisen. Denn daran halten wir aller- dings fest, dass unsere logische Messung des Rationalis- mus, mag ihr auch nicht der Wert eines erschöpfenden

li Eindringens und allseiligen Yerstehens gebühren, dennoch das beste und berechtigtste Mittel einer Gliederung oder

; Periodisierung jener ganzen geschichtlichen Phase der Philosophie abgiebt. Unter diesen Voraussetzungen werden wir, sollte der Nachweis gelingen, dass Fichte die trans- scendentale Methode Kan rs mit klarem Bewusstsein von deren Tragweite in sich aufgenommen hat, unsere Vorstellung von dem Entwicklungsgang der nach- kantischen Philosophie entsprechend berichtigen müssen. Der Schritt, den Fichte über Kant hinaus thut,

/o

darf dann, was auch sonst mit ihm verknüpft sein ma<4, jedenfalls nicht als Abfall von der Schärfe der kritischen Betrachtnno- ansgele^t werden. Dass der deutsche Idealis- mus die grossen fruchtbaren (Irundgedanken der Er- kenntniskritik wieder verdunkelt nnd zu metaphysischen Vorstellungen zurückgedentet hat, diese im Übrigen rich- tige Ansicht würde für den ersten grossen Nachfolger Kants, für Fichtk, noch nicht zutreffen. Fichte wird nns im Gegenteil in seiner eigentlich kritischen Periode mehr als Transscendentalphiloso])h nnd analytischer Lo- giker denn als Metaphysiker nnd logischer Emanatist er- scheinen. —

Wie dieEinleitnng eine problemgeschichtliche Skizze der Wertlogik, so gab der erste Teil eine ])rol)lemgeschichtliche Zusammenstellnng ans der Logik des dentschen Idealis- mus. Und wie die Einleitung nur bis zu den rein logischen Problemen durch Einordnung in den richtigen Problem- zusammenhang orientierend und vorbereitend heran- reichte, so sollte der „erste Teil" nicht weiter als bis zur Andeutung \'on F i c h r e s Stellung zu diesen r e i n logischen und transscen dentalen Problemen uns hinführen. .

Zweiter Teil.

Fichtes Rationalismus und die Irrationalität des Empirischen.

Erster Abschnitt.

Die Begründung des kritisclien Antirationalismus durcli den Umscliwung von 1797.

In unserm „ersten Teil" wurde der Versuch semacht, bei der Charakterisierung der idealistischen Systeme von Kant bis Hp:gkl die in ihnen zur Anwendung kommende Methode des Rationalismus in den Vordergrund zu rücken und infolgedessen die Entwicklung der Spekulation als eine allmähliche Wandlung der logischen Struktur des rationalen Faktors zu begreifen. Bei solcher Auffasssung dürfte als das methodisch Wesentliche des Fortganges über Kant die Richtung auf das System zu betrachten sein. Von der kritischen Analyse wurde zur systematischen Kon- struktion übergegangen, auf die Kritik folgte das System der reinen Vernunft.

In Kants Philosophie selbst liegen sachliche An- knüpfungspunkte für diese Umbildung. Die transscen- dentale Analyse spaltet die ganze Erkenntnis in die beiden Bestandteile des Apriori und des Aposteriori oder was nach unserm Nachweis dasselbe bedeutet des Ratio- nalen und des Irrationalen. Nun ist durch die kritische Methode zwar die Bedeutung des einzelnen rationalen Faktors und sein Verhältnis zum Empirischen zur Genüge klar gelegt, aber nicht gleicherweise der Inbegriff der apriori- schen Vernunftfunktionen als eine zusammengehörige

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Einheit begriffen. Und doch wird durch die Aufgabe der Transscendentalphilosophie auch nochdiese weitere Leistung dringend gefordert. Denn es soll ja nach Kants eigener Ansicht von allen Bestandteilen der apriorischen Sphäre begriffen, apriori anticipiert werden können, dass sie als allgemeine Yernunftgesetze den Gegenständen der Erfahrung „notwendig" zukommen (s. ob. S. 36). Der Sphäre des Begreiflichen sollte dann als Rest das Reich der „zufälligen", irrationalen Empirie gegenüberstehen. Aber schwebt nun nicht diese ganze Unterscheidung in der Luft, wenn es nicht einen einheitlichen Massstab für die genaue Abgrenzung beider Sphären giebt, ein apriori- sches Kriterium dafür, was in den Bereich des Ratio- nalen einzul)eziehen ist, und was nichtV Aus dem em- pirischen Material selbst lässt sich die Gliederung seines ', überempirischen Gehaltes nicht einfach ablesen, weshalb ja auch Kant sich um eine systematische Anordnung der reinen Yernunftformen eifrig bemüht hat, deren Princip der reinen Logik und den immanenten Gesetzen der reinen Yerstandesthätigkeit entnommen sein soll.

Der Weg einer ausschliesslich induktiven Feststellung des apriorischen Erkenntnisgehaltes muss grade dem am ungangbarsten und zweifelhaftesten erscheinen, der den streng kritischen Gedanken der Irrationalität nach allen seinen Konsequenzen in Erwägung zieht. Das logisch fremde Gegenüberstehen von Form und Inhalt, der zwischen beiden ausgebreitete Abstand der Unbegreitlichkeit, lässt es als undenkbar erscheinen, dass allein aus der Struktur der unmittelbar gegebenen Wirklichkeit die gegenseitigen Beziehungen der einzelnen Yernunftbestandteile innerhalb der Region des Apriori je erraten werden können. Yiel- mehr folgt aus der Irrationalität des Überganges vom transscendental Allgemeinen zum Besonderen konsequenter Weise nur die kritische Skepsis Maimons, die ja nicht die Möglichkeit und überempirische Geltung des Aj)riori, wohl aber das Faktum einer apriorischen Erkenntnis im Einzelnen, eine wirkliche, in irgend einem Falle mit absoluter Sicherheit aufweisbare Yerschmolzenheit des Formalen und Materialen, also die Möglichkeit einer un- angreifbaren Abgrenzung der absolut a])riorischcn Bestand- teile gegen die aposteriorischen in Zweifel zieht. Dem

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äiisserlichen Endergel)nis, nicht dvv liegriiiulung nach stimmt dieser Standpunkt mit Himks, die N()l\vendl<Jkeit ül)erall in gesteigerte (iewohnheit auflösender Skepsis üherein. Der Unterschied besteht el)en darin, dass Hi mk die IkM'echtigung eines analytiscli unbegreiflichen Apriori überhauj)t leugnet und deshalb für die inhaltliche l^^r- kenntnis etwas anderes als nur relative Allgemeingültigkeit von "vornherein abschneidet; Maimon dagegen grade von der absoluten (leltung synthetischer Krkenntnisformen aus- geht, dann aber in der noch so sehr gesteigerten Emj)irie immer die Gewährleistung für eine absolute Notwendigkeit, die Möglichkeit, das A])rioii zu erkennen, gleichsam schmerzlich vermisst.^) Das Schicksal, das der Kriticismus bei Maimox erfuhr, zeigt so recht, wohin das blos induk- tive und „rhapsodische''-) Verfahren, in dem doch auch Kant noch stecken blieb^), notwendig führen musste; es lehrt, dass auf dem Boden des blos Empirischen über den Unterschied von komparativer und absoluter Allgemein- gültigkeit nichts entschieden, dass auf diesem Boden nie mit gutem Gewissen ausgemacht werden kann, wo die Grenzlinie zwischen Empirischem und wahrhaft Apriori- schem zu suchen sei. An die Vernunftnotwendigkeiten wird nur geglaubt, sie können aber nicht begründet werden; mit Recht nennt sich Maimon einen ,,Dogmatiker'' im Ra- tionalen. Durfte dieser Dogmatismus das letzte Wort bleibend Ihn überwinden, hiess ja grade eine Vertiefung, eine Refestigung des Kriticismus selbst anbahnen.

Wer nun einen festen Halt gegen den Einbruch des Skepticismus für die apriorische Welt erstrebte, der konnte, wie aus dem Vorangegangenen verständlich wTrd7 '"ilLein im systematischen Aufbau^ das Heil zu tinden_ glauben und musste versuchen, einen nur aus der eigenen Bedeutung der apriorischen Elemente folgenden, deshalb aposteriori unangreifbaren i m m a n e n t e n Z u s a m m e n h a n g der reinen

1) Maimox, Streifereien, 3. Abli., 188 f., 191 fl".

2) Vgl. Kant W^Y III, 101.

^) Fichte an Reinhold: Kant „...nimmt die Denkformen auf einem h euri sti.schen Wege; errät nur die Formen der Anschauung und führt den Beweis durch Indukt ion." Leben und Briefwechsel II, 215, vgl. Sämtl. Werke VIII, 362 und Kabitz, Studien zur Entwicklungs- geschichte der Fichteschen Wissenschaftslehre 74 f., Anhang 25.

80 -

Vernunftfunktionen aufzudecken und mit Vertilgung aller hypothetischen Elemente durch Konstruktion und De- duktion aus ohersten Grundsätzen das zu einem festen und einheitlichen Gefüge zusammenzuschliessen, was bei Kant noch beziehungslos auseinanderfieP).

Auf der Gemeinsamkeit dieser systematischen Tendenz beruht die unverkennbare Verwandtschaft der nach- kantischen Systeme, insbesondere auch von Fi(;htp:s Wissenschaftslehre und von He(;els Dialektik. In der Me- thode des Rationalismus muss somit Fichte in gewisser Hinsicht zweifellos mit Hegel zusammen- und gemein- schaftlich mit ihm Kant gegenübergestellt werden. Aber zur Lösung unserer Aufgabe genauer Einordnung Fichtes in den Entwicklungsgang der theoretischen idealistischen Spekulation bedarf es noch einiger Unterscheidungen innerhalb der systematischen und dialektischen Methode selbst, die schliesslich zu dem Ergebnis führen werden, die Zusammengehörigkeit von Hec.el und Fichte wieder zu lockern und die Behauptung einer Abweichung "Fichtes von der kritischen Philosophie auf ihr richtiges Mass zurückzuführen.

Zunächst allerdings scheint ja jeder Versuch, die Be- ziehungslosigkeit der traiisscendentalen Begriffe und den Cha- rakter blos „kollektiver"-) Einheit der Vernunftfunktionen durch systematische Konstruktion zu überwinden, eine An- näherung an Hegels Logik herbeizuführen, deren Streben ebenfalls dahin geht, das gleichgültige Nebeneinander durch vermittelnde t^bergänge zu einem Ganzen dialektischer Entwicklung umzuwandeln. Aber trotz aller Gleichheit dieses Grundzuges lassen sich zwei ganz verschiedene Ausgestaltungen des dialektischen Verfahrens scharf auseinanderhalten. In dem einen Fall nämlich macht sich die Tendenz dialektischer Vermittlung nur in einer Sphäre reiner Begriffe geltend, der gegenüber eine ganze Region des blos Empirischen unberührt und dia- lektischer Durchdringung unfähig gegenübersteht. In dem andern Fall dagegen den wir bei Hegel kennen gelernt haben soll durch dialektische Eigenbewegung der

1) S. dazu Wixdelhaxd, Präludien 272 tl".

2) S. Kuxo Fischer, desch. d. n. Phil. V, 627 f.

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BegrifT selbst so verfeinert werden, dass er fähig wird, auch das Einzelne und Kleinste mit in den dialektischen Prozess hineinzuziehen ; mit der Vermittlung der BegrifTe untereinander geht dann eine vollständige Ausgleichung von BegrifT und empirischer Wirklichkeit Hand in Hand. Hier ist die Trennung in zwei Begionen gänzlich ver- schwunden, und die ganze Erkenntniswelt stellt sich als eifie einzige unterschiedslose dialektische Masse dar. Es kommt somit darauf an, ob der dialektische Prozess alles gleichmässig ergreift oder ob er, nur in der Begion der Begriffe heimisch, einen Dualismus von Begriff und em- pirischer Wirklichkeit noch immer zulässt. Mit diesem Dualismus wird dann auch die Möglichkeit gegeben sein, dass das Verhältnis des Begriffs zur Einzel Wirklichkeit nach den Vorschriften der analytischen Logik gedacht wird, dass mithin trotz allen Bationalismus innerhalb der apriorischen Welt doch das Emj)irische durch die Kluft der Irrationalität von dieser getrennt wird und trotz aller Deduktion ein undeducierbarer Best übrig bleibt. Damit ist aber bewiesen, dass der Gegensatz analytischer und emanatistischer Begriffstheorie entscheidend auch in die dialektische Methode hineinragt und in ihr dadurch zwei Unterarten erzeugt, dass die Dialektik ent- weder eine analytische Logik neben sich duldet oder sie ganz verdrängt und durchweg emanatistisch vorgeht.

Alle weiteren unterschiede Hessen sich nun leicht daraus ableiten, dass die eine Bichtung analytisch- systematisch, die andere emanatistisch-systematisch verfährt. Der systematische Charakter bringt zwar beide in gemeinsamen Gegensatz zu dem „rhapsodischen" Verfahren Kams. Aber es ist eben genau zu beachten, dass die analytisch-systematische Methode neben der dia- lektischen Verbindung zwischen den Begriffen dieUn- verbundenheit und Vereinzelung zwischen den ein- zelnen empirischen Exemplaren, die je einem Begriff untergeordnet sind, bestehen lässt. Ob man also die trans- scendentalen Begriffe rhapsodisch aufstellt wie Kant, oder systematisch anordnet wie Fichte, „Atomist" im Sinne Hegels kann man in beiden Fällen bleibend; und es darf

M Wie ja Hegel.s Polemik gegen logischen .\tomismus sich auch gegen Fichte richtet.

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daher der Gegensatz von rhapsodisch und systematisch nicht mit demHEGELSCHExvon atomistisch und organisch verquickt werden! Ein vollendetes System der Begriffe ist noch nicht ein dialektischerOrganismus der gesamten Wirklichkeit. Auch die in unserem „ersten Teil" l)eo])achtete unvermeidliche Verknüpfung logischer Lehren mit metaphysischen Konsequenzen muss sich innerhalb der svstematischen Theorien wiederholen. Konsequenter Weise darf nämlich vom analytisch-systematischen Stand- punkt aus die Sphäre des Apriori nur als eine blos ab- strakte Begriffswelt ohne metaphysisches Eigenlehen, als ein zeitloser Vernunftzusammenhang gefasst werden, eben- so wie ihr ja auch in methodologischer Hinsicht die ab- solute Selbständigkeit, die autarke Fähigkeit zur Her- stellung des systematischen Baues, abgesprochen werden muss und ihr ein })eständiges Bücksichtnehmen auf das unersetzliche und nicht rationalistisch anticipierbare em- pirische Material nicht erspart werden kann. Umgekehrt muss vom emanatistisch-systematischen Standpunkt aus die dialektische Begriffsentwicklung zugleich der alles durchdringende Weltprozess sein.

Mit dem Nachweis, dass auch innerhalb des syste- matischen Standpunktes der Gegensatz analytischer und emanatistischer Logik seine entscheidende Wichtigkeit behält, haben wir die leitenden Gesichtspunkte für die genaue Einstellung Lichtes zwischen Kant und He(;el festgelegt. Denn wir können nunmehr unbeirrt durch den Umstand, dass Fichte durch Aufstellung eines ,, Systems der Vernunft" über K.wt hinausgegangen ist, den Schwer- punkt unserer Untersuchung darauf legen, wie die Wissen- schaftslehre sich zu dem Gegensatze der analytischen und der emanatistischen Logik verhält.

Indem wir ferner der herrschenden Ansicht, die in der Wissenschaftslehre von 1794 die eigentliche und einzige Quelle von F'ichtes theoretischer Philosophie sieht, die Behauptung entgegenstellen, dass sich schon wenige Jahre danach ein Umschwung in der erkenntnistheoretischen Grundlegung vollzogen hat, wird zugleich auch im Ein- zelnen der Gang der folgenden Darstellung klar vorgezeichnet. Wir zeigen nämlich zunächst, wie der von jeher gegen die Wissenschaftslehre erhobene Vorwurf des schrankenlosen

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lUitionalismiis nur l'ür deren Aniangssladiiini zutrilTl (Ka- j)itel I), um darauf durch Feststellung der mit dem L'm- schwung von 1797 gewonnenen Ergebnisse die Einseitigkeit der Eich 1 1: zuteil gewordenen Beurteilung deutlich hervor- treten zu lassen (Kapitel II-V).

. - I. Kapitel.

Der transscendentallogische Emanatismus von 1794.

Beim ersten Beginn eigener Spekulation sehen wir EicuTK noch ganz beherrscht von dem einen Gedanken, das Envollendete und Fragmentarische von Kants Lehre zu beseitigen und durch umlassenden systematischen Aus- bau für die idealistische Philosophie eine unzerstörbare (irundlage zu schaffen. Aber bei dem Uebermass des svstematischen l^edürfnisscs sah der Begründer der ^^'issen- Schaftslehre nur verschwommen die Schranken, in die jedes L nterneKmen dieser Art unerbittlich eingeschlossen ist. So geriet er sofort an die äusserste Grenze, bis zu der je die rationalistische Konstruktion gelangen kann: er verfiel in den absoluten Bationalismus der emanatistischen Logik. Darin besteht ja grade das Eigentümliche von Fi(.irn:s individueller Entwicklung, dass y<^w^ sie umgekehrt verläuft wie die Gesamtentwicklung der ^ -pu^ tk Philosophie, dass bei ihr zu Anfang ein spekulatives ' j^ ^, Stadium anticipicrt wird, das_ini späteren Verlaufe der l^hilosophie wieder auftaucht, nachdem Fichte selbst auf dem Höhepunkt seines kritischen Denkens sich bereits von - ihm losgemacht hattet. Zwar könnte man einen Ausgleich zwischen dem ersten Entwürfe der Wissenschaftslehre und den späteren (bis 1801 reichenden) Umbildungen durch den Hinweis darauf versuchen, dass zuerst eben nur der Schwer])unkt auf die systematische Konstruktion gelegt wird und dass erst allmählich ergänzend die Berücksich- tigung der Stellung hinzutritt, die das Problem des End- lichen und Individuellen im Svstem verlangt. Allein

^) Als vorhegelscher Emanatismus ist jedoch Fichtes Stand- punkt von 1794 immerhin noch durch das Überwiegen der mathe- matischen Analogie gekennzeichnet, vgl. darüber ob. S. 64 fl".

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so viel Richtiges auch in der Behauptung einer solchen kontinuierlichen Entwicklung liegen mag, unsere folgende Dai'stellung wird zu zeigen hahen, dass am Anfang eine 7. scharfe Erfassung des Endlichkeitsproblems noch gar nicht möglich, nach den späteren kritischen ^Yandlungen da- gegen unvermeidlich war. So werden wir als tiefsten I Grund des sich zurKlarheit herausarbeitenden Irrationalitäts- gedankens den Übergang vom transscendental- logischen Emanatismus zur analytischen Logik nachweisen und dabei die letzten Wurzeln der beiden verschiedenen Phasen von Fichtes Idealismus aufdecken. Da der Kernpunkt aller Umwandlungen, denen Fichtks Philosoi)hie unterworfen war, in der eigentümlichen Ent- wicklungsgeschichte ihres höchsten Prinzips, des Ichbegrifts, liegt, müssen wir unsere Aufmerksamkeit zunächst auf den für die Wissenschaftslehre von 1794 charakteristischen Begriff des Absoluten richten.

Von dem, was Fichte mit dem „absoluten Ich'' meint, steht zunächst soviel fest, dass es die oberste Spitze der trans- scendentalen Begriffspyramide darstellen soll und somit seiner Struktur nach durchaus der formalen, gänzlich inhalts- leeren transscendentalen Apperccption Kants (vgl. ob. S. 37f. ) ents])rechen müsste. Diese Auffassung ist nicht etwa eine dem ursprünglichen Denken Fichtes fremde, nur von der analytischen Logik erborgte und eigensinnig übertragene Folgerung, sondern sie ist ein allerdings in andersartige und damit unverträgliche Gedankenmassen eingebetteter Bestandteil der damaligen Wissenschaftslehre selbst. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dass am Anfang der Hauptschrift von 1794 das von allen fremden Bestand- teilen gereinigte, von allem Inhalt entblösste „Sich-Setzen" des Ich als abstrakter transscendentaler Allge- meinbegriff gedacht und als letztes und darum inhalts- losestes, allem „zugrunde liegendes'', in allem „enthaltenes" Ich-, Bewusstseins- oder Vernunflmoment richtig gekenn- zeichnet wird^). Wäre Fichte dieser Fassung des trans- scendentalen Abstraktionsbegriffs treu geblieben, dann hätte er allerdings seine Schrift nicht über ,^ 3 fortsetzen können. Denn zugleich mit den Ausführungen des ,, dritten

') S. bes. I, 91 ..Retlexioiv, ..Abstraktion-. 92, 95, 134. vu}- 96 f, 102.

/ v-. ..

Grundsatzes" beginnt eine mit dem Vorangegangenen sach- lich nicht verbundene, ganz neue Gedankenschicht. Hier ereignet sich nämlich jenes für den ausschliesslich kritisch geschulten Leser höchst überraschende, dem Kenner der emanatistischen Logik jedoch als deren echtes Kennzeichen wohlbekannte Phänomen: die Umsetzung höchster Begriffe, letzter Erkenntniswerte in inhaltsvollste Gebilde, in realste i'sl >"«^- Potehzen, die Umdeutung des Abstrakt-Formalen in &!^a-^. ein Konkret-Materiales. Insbesondere wird die Hypo- stasierung des Allgemeinbegriffs „Ich" zur Totalität der Vernunft die Grundlage einer emanatistischen Dialektik. Deren verräterisches Symptom ist die den Gedanken der Irrationalität an seiner rein logischen Wurzel angreifende Ersetzung des Verhältnisses von Gattung und Exemplar durch das von Ganzem und Teil. Aus den transscendenlalen geraten wir in metaphysische Bahnen, wenn wir auf einmal die logische Übergeordnetheit und Herrschaft des erkenntnistheoretischen Gattungsbegrilfs in eine absolute Inhaltsfülle des Seins, in die „Totalität der Realität", umschlagen sehen ^).

In typischer Reinheit zeigt sich dabei die Eigentümlich- keit grade des nachkantischen Emanatismus, indem nicht die einfache Hypostasierung eines Begriffs, sondern die meta- physische Umdeutung eines transscendentalen Begriffs, eines erkenntnistheoretischen Formalen vorliegt. Darin T)estand ja die grössere Kompliziertheit der transscendentalen Begriffstheorie (vgl. S. 29 f.), dass in ihr selbst die realität- erzeugenden Formen des inhaltlichen Denkens nicht zu in- haltlichen Realitäten gemacht werden durften. Grade dieser Gefahr ist Fichte erlegen. Denn daraus, dass der Erkennt- nisbegriff oder die formale Kategorie der Realität im Ich begründet sein soll, leitet er ab, dass das Ich die Realität im materialen Sinne, als ein Ganzes umfasse-). Durch diesen Uebergang oder vielmehr Sprung zur Bedeutung der Totalität ist aber der Begriff der blossen Form un- möglich geworden und damit zugleich die Spaltung in Form und Materie, diese notwendige Bedingung des Be- merkens der Irrationalität, von vornherein vereitelt. Die

1) Die Identifikation des formalen „Sich-Setzens" mit der Tota- lität besonders deutlich I, 129 ob., 137, 192.

2) Vgl. die beiden Stellen 99 und 109 über ..Realität".

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Überwindung des Dualismus, die in unendliche Ferne hinausgerückt sein sollte, erscheint in die Gegenwärtigkeit philosophischer Konstruktion hineinversetzt. Von der Form gelangt man zur Idee, zum Ganzen der Vernunft, auf dem Wege schneller Umdeutung, statt auf dem Umwege über die Thatsache des Individuellen oder des Inhalts. Die Endlich- keit wird dabei ganz eigentlich übersprungen. Derartiger Verworrenheit entstammen dann doppeldeutige Wendungen wie: der letzte Grund von allem müsse in das Ich gesetzt, alles müsse aus dem Ich erklärt werden. Diese brauchen erstens weiter nichts als das Bekenntnis des konsequenten ^ ' Idealismus zu enthalten: nichts entzieht sich dem Schicksal,

Bewusstseinsinhalt zu sein; Ichheit, Wissen sind die höchsten philosophischen Abstraktionsbegriffe; was ist, ist für das Ich, oder im Ich, alles ist ichhaft; Ichheit ist das trans- scendental Allgemeine, unter dem alles besondere em- pirische Wissen steht. Aber wie die Bedeutung des reinen Ich in die der Totalität hinüberschillert, so nehmen jene Wendungen zweitens den Sinn an, das Individuelle sei als solches, in seiner Besonderheit im Ich enthalten, als eingeordnete G 1 i e d i n di v i d u a 1 i t ä t in einer umfassenden Gesamtindividualität oder als Teil im Ganzen des Wissens. Das allgemeinste Prinzip des konsequenten Idealismus f,,,^,v},u, \ wird damit unabtrennbar von der Behauptung, auch das

jl^}j,>^Ai-\ ! Empirisch-Individuelle sei tkducierbar, durch dialektische ^, ' Spekulation beherrschbar; die Ichheit, unter der aber

^- ,v.. getrennt durch die Kluft der Irrationalität das Besondere

„/vu-^i^ ,fU^ f- steht, verwandelt sich in das Ich, in dem es bereits voll- , (. .«yi^i 4w> ^^ ständig enthalten ist. So wird die empirische Wirklichkeit k^uArU^' aus einem dialektisch erschlichenen Begriff (der Totalität ' des Wissens) durch dialektische Künste hervorgezaubert.

Die Wissenschaftslehre von 1794 stellt somit den für Hegels Dialektik vorbildlichen Versuch dar, die von Kant für die Idee postulierte Logik des intuitiven Verstandes aus der unerreichbaren Ferne mitten in die wissenscTiaft- liche Wirklichkeit hineinzuversetzen. Dass aber die in- tuitive Methode nur auf eine Welt des rein Quantitativen anwendbar und deshalb, wiewir sahen, keine emanatistische Logik denkbar ist ohne verstohlene Ausnutzung mathe- matischer Analogien, das bewahrheitet sich so recht an der Wissenschaftslehre. Denn erst tlie Veranschau-

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lichung durch die Raumverhältnisse ist es, die ehcn- so wie für den Pantheismus Spinozas (vgl. oh. S. 64), so auch für den Panlogismus der Wissenschaftslehre das eigentliche Verständnis ermöglicht'). Wir können genau verfolgen, wie Fich ie sich genötigt sah, an die emanatistischen Hypostasen einen anschaulichen (Charakter heranzutragen und darum die formale Ichheit gradezu in eine alles umfassende „Sphäre" umzudeuten, aus der das Besondere durch Einschränkung, wie heim Räume, hervorgeht. .... Es ist nicht das Handeln üherhaupt, sondern es ist ein hestimmtcs Handeln: eine unter der Sphäre des Handelns üherhaupt enthaltene hesondere Handelsweise. [Ziehet eine Zirkellinie = A, so ist die ganze durch sie eingeschlossene Fläche = X entgegengesetzt der unendlichen Fläche im unendlichen Räume . . . .J"'') Der ,, dritte Grundsatz'', mit dem der emanatistische Abschnitt beginnt, hat deshalb bezeichnender Weise die wichtige methodische Bedeutung, dass er in die transscendentalen ßegriffsverhältnisse das Prinzip der „Quanlitätsfähigkeit" einführt. Durch bilderreiche logische Umdeutungen ver- wandelt sich die Kluft zwischen Allgemeinem und Be- sonderem in einen durch (juantitative Bestimmungen ausdrückbaren Unterschied. Der Begriff des Ich erscheint als das die Sphäre ganz Ausfüllende, das Nicht-Ich als das nur einen Teil der Sphäre Einnehmende, aus ihr Heraus- gegriffene, als beschränktes Quantum, als Individuelles, Besonderes. So wird der qualitative Gegensatz oder der unübersteigliche Abstand zwischen Nicht-Empirischem oder rein Begrifflichem und Empirischem oder subsumier- barem Exemplar zu einem „quantitierbar en", und wir befinden uns mitten in der beherrschbaren Welt des Grösser und Kleiner^). Aus dem kontradiktorischen

') Vgl. dazu auch die auf bislier ungedruckte Stücke aus Fichtes Naclilass sich gründenden Ausführungen und Stellennachweise bei Kabitz, Studien z. Entwgesch. der Fichteschen ^Yissenschaftslehre 61 f!", Anhang 25.

2) I, 14Ü f., vgl. 191 ff. und sonst.

^) Das Setzen des Ich und des Nicht-Ich kann nur so vereinigt werden, dass beide „sich gegenseitig einschränken". Im Begriffe der „Schranke" aber liegt der der „Teilbarkeit", ..Quant i tat s- fähigkeit", 108 f. vgl. 109 tf; das Nicht-Ich als „Quantum Thätig- keit'-, als ..Verringerung" 139 f. vgl. 133 f.

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Gegensatz von Ich und Nicht-Ich (das immer das Empirische bedeutet) ist der konträre von Unendlichkeit und Endhch- keit, von Substanz und AccidensM geworden, infolge dessen aus dem „unter'* das ,,in" der Ichheit, aus der logischen Opposition eine Realrepugnanz-). Die Logik, die hier ge- trieben wird, passt in der That nicht mehr für den mensch- lichen, sondern nur für den anschauenden Verstand. Der kann allerdings von der Totalität ausgehen und durch Determination eine Verminderung des Inhalts, durch einfache Einschränkung also die empirische Wirklichkeit erreichen, da er ja nicht das inhaltsleere, blos logische Allgemeine, sondern die absolute Inhaltsfülle eines ema- natistisch gefassten Begriffs zu determinieren hat und ihm somit das Nicht-Ich als verminderte, nicht aber wie uns als angewandte, d. h. grade inhaltsreichere Ichthätigkeit erscheinen muss^). Für uns aber ist ein solches Schöpfen aus dem Vollen unmöglich: wir verfallen dann unfehlbar dem echt emanatistischen Beginnen, die empirische Daseins- fülle aus logisch-metaphysischem Urgründe ganz eigentlich ,, herauszuklauben".

Wie stets in der emanatistischen Logik verschlingen sich in der älteren Wissenschaftslehre metaphysische An- schauungen mit Ergebnissen rein logischer Art zu einer ein- zigen unanalysierbaren Vorstellung vom Individuations- problem. Das Individuelle darf vom Emanatisten nicht als isoliertes, in sich abgeschlossenes Gebilde gedacht werden, sondern nur als unselbständiges Glied, als herausgerissene Teilrealität eines überindividuellen Ganzen, das sich als meta- physischer Überbau über der Menge der empirischen Einzel- dinge erhebt. Dieses Ganze aber ist, wie in der mathema-

1) 142.

"■] ..Alles im Ich, was nicht unmittelbar im: Ich bin liegt; nicht unmittelbar durch das Setzen durch sich selbst gesetzt ist," also kontradiktorisches Gegenteil! ..ist für dasselbe Leiden (AfTektion überhaupt)." Also plötzlich konträres Gegenteil! 135. Aus dem kontradiktorisch Entgegengesetzten ist ..gleichsam eine reale Negation (eine negative Grösse)" geworden 133 tr, 137 fF. Im dritten Grund- satz zaubern ferner die Künste der Dialektik aus der logischen Un- verträglichkeit des einander Entgegengesetzten ein gegenseitiges reales Sich-Einschränken und -Pressen, ein Sich-Bedrängen gegen- sätzlicher Glieder hervor.

*) Vgl. dazu oben S. 55 und 60 f.

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tischen Anschauung und in Kants Logik der hiee, vor den Teilen, nicht ein „compositum ", sondern ein „totum" (vgl. oh. S. 55 ff.), nicht das Produkt, sondern der letzte Grund seiner Teile, die lediglich „Einschränkungen " von ihm sind. Daraus folgt, dass auf diesem Standpunkt das Individuelle nie unter dem logischen Gesichtspunkt des Partikularen, sondern ausschliesslich unter dem metaphysischen des EndMchen erscheint und sich nicht anders erläutern und hegreifeii llisst, als durch den Gegensatz zum Unendlichen, das als absoluter Massstab für seine ontologische Charak- terisierung stets im Hintergrunde mitgedacht werden muss. „Um sich ein Quantum rhätigkeit denken zu können, muss man einen Massstab der Thätigkeit haben: d. i. Thätigkeit überhaupt, (was oben absolute Totalität der Realität hiess) ". ^) Das Besondere (in analytisch- logischem Sinne) lässt sich als Besonderes vorstellen, ohne dass man den Gedanken des Allgemeinen heranträgt, denn es ist der Ausgangspunkt für die Bildung des Allgemeinen; das Endliche (in metaphysischem Sinne) indessen lässt als Endliches sich nicht denken ohne Dagegenhallung seines Gegensatzes, des Unendlichen. Das Unendliche ist das Posi- tive, das Endliche das Negative, -) „absolute Endlichkeit " ein „sich selbst widersprechender Begriff",^) „schlechthin" ein Endliches zu setzen, ist ein „offenbarer Widerspruch'.*) Die analytische und die metaphysische Logik unter- scheiden sich nicht nur durch die Verschiedenheit dessen, womit sie das Individuelle in Gegensatz bringen, sondern auch noch dadurch, dass bei der einen das „Mannig- faltige der Erfahrung", bei der anderen das Unendliche den absoluten Ausgangspunkt für ihre logische Orien- tierung abgiebt. Den ersteren Weg beschritt Kant; aber auf ihm, wendet Fichte ein, „lässt sich zwar ein kollek- tives Allgemeines, ein Ganzes der bisherigen Erfahrung, als Einheit unter den gleichen Gesetzen, erklären: nie aber ein unendliches Allgemeines, ein Fortgang der Er- fahrung in die Unendlichkeit. Von dem Endlichen aus giebt es keinen Weg in die Unendlichkeit; wohl aber giebt

1) 139 vgl. 137 fr, 140 f.

') Z. B. 138 ir. vgl. auch 214 1".

3) 185.

*) 187.

Lask, Fichtes Idealismus imd die Geschiclue.

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es umgekehrt einen von der iinbestiinmten und unbe- stimmbaren Unendlichkeit, durch das Vermögen des Bestimmens zur Endlichkeit (und darum ist alles Endliche Produkt des Bestimmenden ). Die Wissenschaftslehre, die das ganze System des luenschlichen Geistes umfassen soll, muss diesen Weg nehmen, und vom allgemeinen zum besonderen herabsteigen". M

In die grössten Schwierigkeiten verwickelt sich das Individualitätsproblem noch überdies durch den gleich- falls für He(ikl vorbildlich gewordenen (vgl. ob. S. 61 u. (56 f.) formallogisch unbegreillichen Versuch der Identifikation von Inhalt und Umfang. In lang- wierigen Untersuchungen hat Fichte sich bemüht, die aus der Umdeutung des formalen ..Sich-Setzens", des ..blossen Begriffs", wie es ausdrücklich heisst-), in die alles um- fassende „Sphäre oder absolute Totalität sich ergebenden Konsequenzen zu entwickeln, insbesondere über das „Ent- haltensein" des Einzelnen im Allgemeinen eine genauere Aufklärung zu geben. ^) Aber da in fortwährender Be- griffs Verwirrung die ..S])häre" des Allgemeinen bald als blos begrifflicher Inhalt, bald als U mfangstotalität ge- dacht wird, kommt es zu keinem befriedigenden oder auch nur verständlichen Ergebnis. Wie der Begriff der ..Substanz" bei Fichte mit den verschiedenen Bedeu- tungen, die er in der Geschichte der Philosophie ange- nommen hat, belastet ist, so erscheint auch das Endliche als „Accidens" in doppelter Bedeutung, bald als das in der „den ganzen schlechthin bestimmten Umkreis aller Bealitäten umfassenden" Substanz enthaltene, bald als das ausserhalb des ., Wesens" liegende, von dem „Urbegriffe" ausgeschlossene [d. h. eben im Inhalt des Begriffs nicht enthaltene *) ., Accidens". ^) So schiebt sich dem meta- physischen Gegensatzpaar des Endlichen und Unendlichen doch hie und da wieder unvermerkt das logische Ver- hältnis des Besonderen zum Alli>emeinen unter. Aber die

1) 333.

2) Z. B. 192.

3) S. bes. 137 ir., 191 il".

*) Aus dieser Einsicht schon damals die Ansätze des Irrationalitäls- gedankens, vgl. das Folgende. s) S. 142, 1G5.

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(ladiirch notwendigen Folgerunj^en der Irralionaliläl werden niehtsdesto\veni(*er unterdrückt, und es soll die Klult, der „hiatus" zwischen Ich und Niclit-Ich, wie mit Anwendung eines an antike Enianationslehren erinnernden Bildes ausgeführt wird, durch die Möglichkeit eines kon- tinuierlichen Überganges beseitigt werden ^}. Indem Fichte die kontinuierliche Abstulbarkeit der unter die Begriffe lallenden realen >Yelt der Dinge zuweilen auch auf den L'bergang vom Begriff zur einzelnen Wirklichkeit übertragen will, zeigen sich bei ihm bereits die ersten Sj)uren jener Anschauungsweise Hf-:c.p:ls, nach der Begriff und Wirklichkeit zu einer ununterscheidbaren Masse schmiegsamer Konkretheit verschmolzen werden -).

Es ist deshalb keineswegs die Annahme verstattet, im ersten Entwurf derJWissenschaftslehre sei es dem Philo^ /^/A sophen lediglich auf^ eine Gesamtkonstruktion der Ver- /ic, nunfffunktionen angekommen. Vielmehr glaubte Fichte, wie soeben gezeigt wurde, mit der Überwindung Kaxtischer Systemlosigkeit gleichzeitig das für Kant noch unlösbar ^ gebliebene Problem des Individuellen richtig und end- i \ ^ gültig gelöst zu haben. Heisst es doch in demselben Brief ' an Beinholi), in dem die „heuristische" Methode (vgl. ob. S. 78 Anm. 3) gerügt wird: ..Die Hauptfrage, mit der die Wjssenschaftslehre sich weiterhin beschäftigt und die im theoretischen Teile nur bis zu einem gewissen Punkte, in dem praktischen aber ganz beantwortet wird, ist die: wenn das Ich ursprünglich nur sich selbst setzt, Avie kommt es denn dazu, noch etwas anderes zu setzen, als f^^L-.. ihm entgegengesetzt? aus sich selbst herauszugehen'"?"'^) Und auch sonst hat Fichte in Briefen und Schriften (s. z. B. ob. S. 89 Anm. 1) dieses Ausgehen vom Ab- soluten, das sich hier schon in der Fragestellung an- kündigt, als richtiges und einziges Mittel zur Behand- lung des Individualitätsproblems ausdrücklich in Ge- gensatz gebracht zu Kants analytischer Methode. Der grösste Teil der Wissenschaftslehre will ja verstanden w^erden als ein Aufsuchen des „letzten Grundes, warum das Ich aus

0 S. 144 f.

2) Mit 144 f. vgl. bes. 2071.

^) Leben II, 214.

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sich selbst herausgeht", und es waltet überall die Ansicht ob, dass die empirische Wirklichkeit, als Keim bereits im Absoluten enthalten, nur dialektisch daraus entwickelt zu werden braucht M. Das sich selbst bestimmende Ich I erfasst und bestimmt in sich zugleich die Möglichkeit des Jn ' Materialen. Sein Herausgehen aus sich selbst kann darum nur als eine freiwillige Selbstbeschränkung, das Nicht-Ich nur als Produkt einer schöpferischen Thätigkeit des Ich gedacht werden'^).

Es soll nun keineswegs geleugnet werden, dass Fichtk schon in der Wissenschaftslehre von 1794 sich an ein- zelnen Stellen zur Anerkennung der Irrationalität gedrängt sah. Darin zeigt sich aber nur die Unklarheit des ganzen damaligen Standpunktes, die Unausgeglichenheit der zn Grunde liegenden Prinzipien. Die Wissenschaftslehre von 1794 bringt eben nicht ein einheitliches System zur Dar- stellung, sondern esjstossen mit der dialektischen Haupt- richtung bereits die Ansätze des später klar heraus- gearbeiteten Empirismus in unversöhnbarem Widerstreit zusammen. Überall da nämlich muss die Irrationalität sich geltend machen, wo hinter den metaphysischen Konstruktionsgebilden wieder die reinen Abstraktions- begriffe erscheinen und dadurch die rein logischen Be- ziehungen zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen sichtbar werden'^). Indem die theoretische Unbegreiflich- keit des empirischen „Anstosscs" (der hier das Prinzip der Individuation verkörpert) zugegeben wird, treibt die Spekulation auf das ])raktische Gebiet hinüber; die voll- endete Begreillichkeit wird als Aufgabe, als ..unendliche Idee" erkannt, „durch welche demnach das zu erklärende nicht sowohl erklärt, als vielmehr gezeigt wird, dass und

1) S. bes. I, 272 ü".

•-') S. bes. 214 iY.

3) Die irrationale Kluft zwischen Ich und Nicht-Icli ist an einigen Stellen klar erkannt. „Dass jedes Setzen, welches nicht ein Setzen des Ich ist, ein Gegensetzen sein müsse, ist schlechthin gewiss: dass es ein solches Setzen gebe, kann Jeder nur durch seine eigene Er- fahrung sich darthun". ..Das Objekt ist nicht a priori, sondern es wird ihr erst in der Erfahrung gegeben; die objektive (iülligkeit liefert jedem sein eigenes Bewusstsein des Objekts, weh-hes Hewusst- sein sich a priori nur postulieren, nicht aber deducieren lässt." 253 vgl. 252, 27b.

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warum es niclit zu erklären sei, der Knoten nielil sowohl i^elöst, als in die Unendlichkeit hinein gesetzt \\'ird" '). Ist die Irrationalität einmal zugegeben, so kann eben das absolute Ich oder die Totalität des Wissens nicht als Prinzi]), sondern nur noch als von diesem unterschiedene Idee gelasst werden.

3Ianche der kühnsten dialektischen Wagnisse des ersten Entwurfes, erscheinen übrigens in anderem Licht, sobald man bedenkt, dass die „Deduktionen" oft teleologisch oder j)raktisch gemeint sind und durch diesen (Charakter das Geständnis der theoretischen Unerklärbarkeit grade ein- schliessen. Allerdings lässt sich eine scharfe Grenzlinie nicht ziehen, sondern diese Deduktionen brechen verheerend auch in das Gebiet der theoretischen Probleme ein. Zudem zeigen sich die Ergebnisse der antidialektischen Richtung oft nur in recht unklaren Umrissen, ohne sichere speku- lative Begründung, mehr als Gebilde unmittelbarer An- schauung und der Phantasie^). Sie tauchen w^ohl auf, be- ruhen al)er nicht auf festen Prinzipien, nicht auf dem Grundcharakter der damaligen Spekulation.

Bei der Darstellung der Kantischkx Philosophie ergab sich, dass die für uns geltende Unüberwindlichkeit der Spaltung des Erkennens in Eorm und Materie ihren kritischen Ausdruck darin fand, dass die Überwindung des Dualismus in die Unendlichkeit verlegt wurde. \Yie die Kluft zwischen Form und Materie ist darum die Ent- gegensetzung von reiner Form und Idee in der Form und Inhalt ausgeglichen sind ein Kriterium des kritischen Standpunktes. Da in der Wissenschaftslehre das transscendentale Apriori durch den Ichbegriff einheitlich repräsentiert wird, muss der unkritische Standpunkt in der Zusammenrückung von formalem Ich und Idee sich zu erkennen geben. In der That enthält diese Vermischung von abstraktem Ichbegriff und Idee in einfachster und

') I, 156, vgl. 177 unten; über die „Idee" vgl. bes. 248 tT., 254 fr.; damit übereinstimmend ferner eine frühere Äusserung, abgedrucl^t bei Kabitz, Studien z. l^Jitwg. d. PMchtesehen Wissenschaftslehre 96. -} Vhcv die „produlvtive I^inbildungslvraft" vgl. unten die Aus- füllrungen über I^'icHTES Stellung in der (leschichte des Irrationalitäts- problems im letzten Teil von Kap. V und den Schluss von Kap. I des "2. Abschn.

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koncentriertester Form den Grund der emanatistischen Logik und die Quelle aller übrigen Begriffsvcrmengungen. Nur ein anderer Ausdruck für sie war die bereits be- sprochene Umdeutung des formalen Apriori in die Totalität des realen Inhalts, mit der unmittelbar daraus folgenden Überspringung des Individuellen. Denn um ül)erhau])t die Kluft zwischen Allgemeinem und Besonderem über- brücken zu können, muss man stets zugleich die Idee in den Bereich des für uns Möglichen ziehen und C.hiliasmus treiben auf logischem Gelnet. Demgemäss linden wir in der Wissenschaftslehre von 1794 dem empirischen Ich zwar das überemj^irische gegenübergestellt, vermissen aber inner- halb des letzteren eine weitere Sonderung in das formale Ich und die Idee. Der Satz: ..Das Ich setzt sich selbst schlechthin", soll, wie Fichte ausdrücklich erklärt, dadurch verständlich werden, dass hierbei nicht das ,.im wirklichen Bewusstsein gegebene Ich", sondern eine „Idee des Ich" gemeint sei'j. Das überempirische Ich wird somit zwar als Gebilde philosophischer Bellexion erkannt; aber aus der Unerreichbarkeit für die nicht])hiloso])hische Aulfassung wird ohne (irund geschlossen, dass es Idee sein müsse, während später vielmehr die Ansicht herrscht, dass es als nur dem Philosophen anzumutende Abstraktion, als oberste, also unbedingte Bedingung des Wissens dem gewöhnlichen Standpunkte entzogen ist. Ausgangspunkt, transscenden- taler Begriffsapparat oder Prinzip der Philosophie und letztes Ziel alles Frkennens ruhen in Fichtes früherer Spekulation noch ungeschieden bei einander. Die „Form des reinen Ich", die „blosse Ichheit", die rein formale Unbedingtheit und Identität, soll zugleich die ..letzte Be- stimmung aller vernünftigen Wesen" sein-j; und umgekehrt sinkt die Idee zur blos formalen Identität herab. Vom absoluten Ich aber soll ferner noch die Idee der Gottheit, „ein Ich, dem nichts entgegengesetzt wäre", ein Ich also, das gar nicht aus sich „herausgeht", bei dem das Problem des Individuellen gänzlich in Wegfall kommt, unterschieden werden ^).

2) S. bes. VI, 296 fT.

») I, 253, 254,vgl. jedoch 23, Lebeiill, 16(;,K.VBiTZ,SUulion u.s.w , 100.

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Das „absolute, durch sich selbst gesetzte" ^) Ich darf somit in der Gestalt, in der es Fichte gewöhnlich dem emj)irischen entgegensetzt, strenggenommen weder als mit dem formalen Ich, noch als mit der Idee ganz «leichbedeu- tend, sondern eigentlich nur als Indifferenz beider gedacht werden; es liegt w«eder über der Individualisierung als Allgemeines, noch lässt es das Individuelle ganz hinter sicirals endgiltige göttliche Überwindung aller Beschränkt- heit, sondern es muss, wie der Hegklsche „Begriff", als absolute Indifferenz und Identität aller herausgetretenen und dialektisch wieder vereinigten Gegensätze verstanden werden^).

Das verworrene (iemisch verschiedener erkennt- nistheoretischer und metaphysischer Motive, das nach der ersten Darstellung dem Gedanken des absoluten Ich zu Grunde lag, ist bisher stets als Kennzeichen und Grundbegriff der Wissenschafts- lehre überhaupt ausgegeben worden. Wenn wir den Wandlungen nachspüren, die sich grade an diesem Knotenpunkt aller Verwicklung vollziehen, werden wir am besten einen Einblick in den Fortgang der Fichte:schex Spekulation gewinnen.

II. Kapitel.

Der Ichbegriff von 1797. Das reine Ich und die Idee.

Wie im Ichbegriff von 1794 der Quellpunkt aller Ver- wicklungen des früheren Standpunktes gefunden wurde, so muss sich jetzt in dem geklärten Ichbegriff der neuen Lehre von 1797 der tiefste Grund aller Entwirrung der Probleme aufweisen lassen; Es erwächst daraus die Pflicht des

1) Diese Zusainmenstelluiii^ ausdrücklich 248.

2) Eine vorzügliche indirekte Bestätigung unserer Darstellung liefert Hegel, wenn er grade diese Ansätze einer emanatistischen Logik bei Fichte von seinem allgemeinen Tadel der Wissenschafts- lehre ausnimmt und sie als Standpunkt der ..Vernunft" oder ..Speku- lation" von der sonst in der Wissenschaftslehre herrschenden An- sicht des ..Verstandes" oder der ..Reflexion" unterscheidet, s. bes. WW I, 208 f.

DG

Nachweises, dass in der ..zweiten Einleitung", in der wir den bedeutsamen Anfang der neuen Pliase erl)licken, durcli Entmischung des vorher in unklarer Vermengung Zu- samniengedachten die Klarheit des kritischen Stand])unktes nachträglich gewonnen wird. Vor allem muss sich zeigen lassen, dass der scharfen Heraushebung des formalen Ich aus dem ungeschiedenen Komplex des früher im Ich- begritf miteinander Verbundenen eine ebenso scharfe Aus- scheidung der hlee entspricht, dass somit jetzt endlich die bewusste Zerlegung in das Ich als reine Form und in das Ich als Idee stattfindet.

Durch die weiteren Ausführungen (Kap. III u. IV) wird die grundlegende Bedeutung dieses einen Schrittes immer stärker hervortreten. Denn erst nachdem einmal der BcgrifT eines rein formalen Ich in der Tiefe der Spekulation errungen, als unverlierbarer Bestandteil der transscendentalen Betrachtung herausgearbeitet ist, kann auch die Kluft zwischen Form und Inhalt dem kritisch gewordenen Bewusstsein sich aufdrängen. Erst bei so geebnetem Boden ist eine (irundlage geschaifen und ge- sichert, auf der der Irrationalitätsgedanke sich erheben kann. W^e also der Emanatismus von 1794 in dem ver- schwommenen Ichbegriff gij)felte, so werden wir aus dessen Klärung umgekehrt die Notwendigkeit der analytischen Logik ableiten können.

Die prinzipielle und gradezu klassisch formulierte Klarlegung des Ichbegriffs findet sich in der „zweiten Ein- leitung", die ül)erhau])t in allen ihren Teilen, was sich später auch in anderen Punkten bewähren ward, eine un- \'erkennl)are Rückkehr zu kritischer S})ekulation aufweist.

Mit einer überraschenden Einfachheit, in der sich die neu errungene Klarheit deutlich widerspiegelt, wird das Ergebnis des neugewonnenen Standpunktes in wenigen Sätzen zusammengefasst: „Noch gedenke ich mit zwei Worten einer sonderbaren Verw^echslung. Es ist die des Ich, als intellektueller Anschauung, von welchem die Wissen Schaftslehre ausgeht, und des Ich, als Idee, mit w^elchem sie schliesst. Im Ich, als intellektueller An- schauung, liegt lediglich die Form der Ichheit, das in sich zurücköehende Handeln, welches freilich auch selbst

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zum Gehalte desselben wird')." „Darin aber sind beide entgegengesetzt, dass in dem Ich, als Anschauung, nur die Form des Ich liegt, und auf ein eigentliches Material des- selben, welches nur durch sein Denken einer Welt denkbar ist, gar nicht Piücksicht genommen wird: da hingegen im letzteren die vollständig-e Materie der Ichheit gedacht wird'^)." Bewunderungswürdig ist die Durchsichtigkeit, mit der hier die Verteilung von Form und Inhalt auf zwei gesonderte Begriffe einleuchtend gemacht wird, die An- schaulichkeit, mit der gleichsam die Entrückung des In- haltlichen aus dem Bereich der Wissenschaftslehre und dessen Übertragung auf die von dem Ichbegriff nunmehr sich loslösende Idee sich offenbart. Da nur das Ich als intellektuelle Anschauung „Grundbegriff'" der Wissenschafts- lehre sein soll, so liegt in dieser Trennung ein unwider- sprechliches Zeugnis dafür vor, dass nach der Meinung des Philosophen der für die transscendentale Konstruktion allein verfügbare Begrilfsapparat nicht ausreicht, um daslnhaltliche der empirischen Wirklichkeit zu erklären. „Nur die Form des Ich" ., vollständige Materie der Ichheit", diese eine knappe Entgegensetzung sollte alle weiteren Erörterungen eigentlich überflüssig machen.

FicHTHhat aber ferner auch wie Kant den rein logischen Zusammenhang des Begriffs der Idee mit dem Problem der empirischen Wirklichkeit erkannt und ausdrücklich die beiden Ichbegriffe nach ihrem Verhältnis zur Thatsache des Individuellen charakterisiert und angeordnet. Beide^ das formale Ich wie die Idee, bedeuten eine überindividuelle Vernunft, aber doch in ganz verschiedenem Sinne, näm- lich die intellektuelle Anschauung das formale, noch nicht individualisierte, die Idee das von der Individuation schon befreite Ich. „Die Idee des Ich hat mit dem Ich, als Anschauung, nur das gemein, dass das Ich in beiden nicht als Individuum gedacht wird; im letzteren darum nicht, weil die Ichheit noch nicht bis zur Individualität bestimmt ist, im ersteren umgekehrt darum nicht, weil durch die Bildung nach allgemeinen Gesetzen die In-

V) 1). h. der blosse Akt des Sich-Setzeiis macht den j^aiizen In- lialt des reinen Ichs aus; dieses ist „Thathandlung", idealistische causa sui.

2) I, 515 f.

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dividualität verschwunden ist." Als principiiim in- dividuationis und darum auch als Grund des Dualismus in unserem Erkennen gilt nämlich wie bei Kant die Sinn- lichkeit, die Idee deshalb als Ueberwindung von beidem,

als „das Vernunftwesen, inwiefern es aufgehört

hat, Individuum zu sein, welches letztere es nur durch sinnliche Beschränkung war." In der Idee muss die Spaltung von Allgemeinem und Besonderem, von Begriff und Anschauung als beseitigt gedacht werden, muss mit der Partikularität des Individuellen auch die Allgemeinheit des Begriffes geschwunden sein; denn diese hat nur Sinn für einen zugleich an die Thatsache des Individuellen ge- bundenen Verstand, als Abstraktion von diesem Indivi- duellen ^), für einen Verstand, der das Einzelne nicht als Glied- individualität in einem intelligiblen Kontinuum, sondern nur vereinzelt denken kann, der darum ,, diskursiv" Begriffe bilden muss. Trotzdem ist Fichtks (wie bereits Kants) tiefbohrende Spekulation zu dem richtigen Ergebnis ge- kommen, dass für uns die Aufstellung der Idee eine nähere Beziehung zum Individuellen oder Inhaltlichen haben muss (vgl. ob. S. 53). Zwar auch das abstrakte oder reine Ich ist ein durch Analyse des empirischen Wissens ge- wonnenes Gebilde, kann und muss aber seiner Bedeutung gemäss nach einmal vollzogener Analyse rein gedacht werden, ohne dass auf das Empirische, aus dem es heraus- gelöst ist, also auf das „Material desselben'', noch „Bück- sicht genommen" wird. Dagegen ist die Idee für uns anders nicht einmal vorstellbar denn als vollständige rationale Bewältigung „auch" (so müssen wir ja sagen) des Inhaltlichen oder als Totalität des „Materialen''; daher wir denn auch die Thatsache des Individuellen als ihre Voraus- setzung stets mitdenken müssen, obwohl wir dabei eigent- lich einen für die Kenntlichmachung des Problems aller- dings durchaus notwendigen logischen Anthropomorphis- mus begehen. Sogar nach vollendeter Erfassung des Gedankens der „Idee" durch den Philosophen ist es unver- meidlich, mithin in deren blossem Begriffe oder in deren er- kenntnistheoretischer Bedeutung liegt es schon, dass von

1) Dieser nominalistischen Tendenz giebt sich Fichte jetzt ganz hin, s. Abschn. 2, Ivap. I.

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ihr Kndlichkeit und Individualität nicht weggedacht werden kann. Darum hat Fichte mit Hecht die blosse Anschauung die Form, die Idee die vollständige Materie des Ich genannt, in dem einen das inhaltslose Allgemeine, in dem an- deren die absolute Inhallslotalität gesehen. Ebendarum hat er sich auch dahin entschieden, dass nur das formale Ich ausschliesslich dem Philosoj)hen angehöre, die Idee dagegen dem „natürlichen'' Standpunkte erreichbar sei. Nur dem reinen Ich gebührt die zeitlose Geltung wie jedem Abstraktionsgebilde, jeder philosophischen Kon- struktion; die Idee dagegen muss als ein zu verwirk- lichender Zustand, also als eine freilich unerreich- bare — Wirklichkeit gedacht werden. Dem reinen Ich kommt zeitlose Geltung zu, die Idee liegt in unendlich ferner Zeit^).

Die blosse Aufstellung der Idee ermöglicht schon jetzt eine scharfe Abgrenzung von Fichtes neuem, an Kant angenähertem Standpunkt nach zwei Seiten hin, nämlich gegen den absoluten Irrationalismus auf der einen, gegen den absoluten Rationalismus auf der anderen Seite. Der Irrationalist verkennt den Zusammenhang zwischen der Irrationalität und den Bedingungen unseres Krkennens; ihm muss man das kritische Bewusstsein wecken, indem man ihm bedeutet, dass die Zufälligkeit nur eine Schranke unseres Krkennens sei, und indem man zur Bezeichnung dessen oder zum Vergleiche die Idee eines vollkommenen Wissens der menschlichen Be- schränkung gegenüberstellt. Der Rationalist dagegen ver- kennt überhaupt das Vorhandensein und die Unvermeidlich- keit des Zufallsbegriffes; ihn muss man zur kritischen Be- scheidenheit zurückführen, indem man ihm einschärft, dass die vollendete Rationalität nicht Prinzip, sondern nur Idee des Idealismus sein könne, dass die restlose Über-

^) Die Unterscheidung zwischen reinem Ich und Idee in der „zweiten Einleitung" w ird von HIrdmaxn, Spekulation seit Kaxt I, 620 Überweg-Heixze, Grundriss, 8. Aufl., in, 2. Abt., 11, Falckexberg, Geschichte der neueren Philosophie, 3. Aufl., 357 f. Anm. erwähnt, von diesen aber nicht zur Darstellung von FicnxEs Philosophie verwertet. Genauer geht dagegen auf diese Stelle ein Aufsatz von Kllex Briss Talhot ein, s. Kantstudien IV, 186 310, in dem richtig erkannt wird, dass die Parallele zu KAXTS„intelIektueller Anschauung" in der Wissen- schaf Islehre nur das „Ich als Idee" sein könne.

100

wiiulung der Schranke in der Unendlichkeit liege. Gegen- ül)er diesen beiden extremen Standpunkten bekennt man sich selbst zum kritischen Antirationalismus. Insofern man nämlich in der Unableitbarkeit des Indi\ iduellen nur eine Begrenzung der menschlichen Vernunft sieht und durch sie hindurch den Ausblick auf die Idee freilässt, giebt man zu verstehen, dass man auf dem Boden, nicht eines absoluten Irrationalismus, sondern eines kritischen Antirationalismus steht; insofern man andrerseits sich dessen bewusst ist. dass das völlige Begreifen nur in der unerreichbaren Ferne der Idee liegt, lehnt man den ab- soluten Rationalismus ab und vertritt den kritischen Anti- rationalismus. — Ein erster vorläufiger Beitrag zur (Charakterisierung von Fk.hths Rationalismus, also zur Er- füllung der Aufgabe unseres ganzen ..zweiten Teiles'", ist durch diese dojjpelte Gegenüberstellung bereits geleistet.

III. Kapitel.

Der analytisch-systematische Standpunkt'».

Der pragmatische Zusammenhang zwischen der Ent- gegensetzung von Ich und Idee und dem Bemerken der Irrationalität ist durch die Ausführungen des „ersten Teiles^' und die bisherigen Andeutungen des ., zweiten Teiles" zur (ienüge aufgehellt. Nur wer eme Grenze des Begreifens aneikennt, verlegt die Idee in das unerreichbare Jenseits und umgekehrt: nur wer die Kluft zwischen Form und Inhalt leugnet, vernichtet den Abstand von der Idee. Wie sich also aus der Zusam menrückung von Ich und Idee die emanatistische Vernichtung des transscendentalen Zufalls ergab, so verlangen wir jetzt mit der Auseinander- half u ng beider den kritischen Gedanken der Irrationalität durchl)rechen zu sehen. Denn die Umwälzung, die im

All O'

. II centralen BegritT der Wissenschaftslehre stattgefunden hat.

>) In den folgenden Kapiteln dieses .\bschnittes werden zwar zahlreiche Stellen auch aus den zwischen 1798 und 18ül erschienenen Scliriften mit herangezogen, aber nur insofern sie wesentliclie l^e- lege für den Umschwung von 1797 liefern. Das für die Entwicklung nach 1797 noch Hinzukommende behandelt erst der ..zweite Abschnitt".

101

wird uns erst dann überzeugend und werlvoll, wenn wir nachhaltige Einwirkungen von ihr auf alle Gebiete der theoretischen Philosophie zu verl'olgen im Stande sind und wenn aul" die vorangegangene Prinzii)ienvermischung eine Entwirrung und Klärung von Grund aus, eine Einheit- lichkeit des ganzen Denkens folgt. Während also bisher nur das eine Ergebnis des neubegründeten Stand- punktes, nämlich die Ausschaltung des (iedankens der Idee aus" (fem Ichbegritf, berücksichtigt wurde, muss Jetzt festgestellt werden, dass ihr in der That als Korrelat- erscheinung die exakte Isolation des blos formalen Ich entspricht und gleichzeitig damit der dialektische Monis- ' fi I7f'^ mus in einen kritischen Dualismus umschlägt.

Aber diesen Fortschritt Ficmtks über sich selbst hin- aus gilt es wiederum zugleich als einen Fortschritt in der gesamten Entwicklung der deutschen Spekulation zu ver- stehen. Beides ist hier in der That untrennbar verknüpft gewesen. Denn erst in der Verbindung mit dem neuer- rungenen transscendentalen Formalismus enthüllt ja auch die S y s t e m a t i s i e r u n g d e r V e r n u n f t w e r t e , diese eigent- liche ThatFicHTEs auf theoretisch-methodologischem Gebiet, ihren gediegenen Wert. Die Herabstimmung des Über- masses der konstruktiven Tendenz zu kritischer Besonnen- heit bedeutet uns darum nicht einfach ein Zurückgehen auf, sondern zugleich ein Hinausgehen über Kant, und unsere Darstellung möchte die Überzeugung wecken, dass die Wissenschaftslehre in ihrer eigentlich kritischen Epoche gradezu einenHöhepunkt trän sscen dental er Begriffs- bildung darstellt.

An einer früheren Stelle (s. ob. S. 76 ff.) wurde bereits ausgeführt, wie die kritische Fragestellung selbst die syste- matische Tendenz in sich barg. Aber das Verdienst Fichths, dass er mit der ganzen Lebendigkeit seiner philosophischen Fberzeugung für den Gedanken eintrat, die Formen des Erkennens nicht nur als ein vom empirischen Material ab- j ^.

gelesenes Aöarej^at, sondern vielmehr als durch die Zwecke!^ *- ,,.. der Vernunft gegliederten „Organismus" zu begreifen'), konnte in seiner Reinheit erst völlig zur Geltung

') Vergl. WiXDELHAXD, (lesch. ci. lU'iier. l'liilos. 11. 204 \X.. Pri'i- ludien 274 If.

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kommen, nachdem der Philosoph auch das Gebundensein des Formalen an das Inhaltliche auf das Nachdrücklichste betont hatte. Erst bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Unentbehrlichkeit des Materialen vermochte er es, ohne rationalistische ÜbergrifTe in dem Merkmal der Deducier- barkeit von einem einzigen höchsten Grundbegriffe das die Sphäre des Apriori zusammenhaltende Band und damit das unentbehrliche einheitliche Kriterium dafür zu finden, was dem transscendental Allgemeinen und was dem trans- scendental Besonderen zuzurechnen sei. Die Aufgabe war so jedenfalls richtig gestellt, und ein Einbruch in den Bereich der blossen Empirie nicht mehr zu fürchten, sofern nur der methodische Grundsatz streng gewahrt wurde, dass I sich die Untersuchung der Wissenschaftslehre lediglich so- /T/?'-: w^eit zu erstrecken habe, wie die Möglichkeit der Ableitung ' aus dem formalen oder vorbildlichen Wesen des Wissens

reicht. Das System der reinen Vernunft musste sich nun- mehr in einer vollständigen Darstellung des lediglich aus der blossen Form des Wissens Ableitbaren er- schöpfen.

Mit dieser systematischen Vereinheitlichung und Kon- centration der Vernunftfunktionen verknüpft sich auf das Engste ein weiteres Verdienst der Wissenschaftslehre in der Gesamtgeschichte des Idealismus. Nach kritischer Methode sollten die den Begriff der Erfahrung begründenden Faktoren einer überindividuellen Notwendigkeit durch die transscendentale Untersuchung herausgelöst werden. Aber die empiristische Ausdrucksweise Kants drohte immer wieder die Grösse und die Klarheit des kritischen Gedankens zu verdunkeln und die überindividuelle Vernunft zur Be- deutung eines blos „Subjektiven" oder gar Psychischen, einer im „Gemüt" bereit liegenden Form, herabzuziehen. Gegen solche Umdeutung war Fichtes dem Empiristischen abgeneigte Denkungsart von vornherein gewappnet. Über das blos Psychologische hatte sich seine Spekulation stets erhoben, anfangs allerdings mehr in transscendentes als in transscendentales Gebiet. Aber später durchdrangen und befestigten sich gegenseitig grade die systematisch-aprio- ristische Konstruktion und der transscendentale Forma- lismus. Denn schon durch die Systematisierung des Apriori in einem geschlossenen S} stem war alles sogleich in

103

eine abstrakte S])häre versetzt; der Charakter des Unper- sönlichen, Unlel)endigen, Unpsychologischen ergab sich wie von selbst. Aber Fichte hat, besonders den Kantianern gegenüber, seine antipsychologistische Gesinnung sogai- aus- drücklich hervorgekehrt. Wenn er auch zur Bezeichnung des reinen Ich sich psychologischer Prädikate nicht ent- halten hatM, so tritt doch die sachliche Abgrenzung gegen das Psychische scharf hervor. Das reine Ich soll nicht als Bewusskseins-, sondern als Wissenselement, als der in alles wirkliche Bewusstsein hineinragende Vernunftbestandteil gelten. Mit gutem Recht konnte Fichtk diesen Faktor des überindividuellen Ich seinem Auftreten im wirklichen Be- wusstsein, wo er stets sozusagen angewandt, mit einem empirischen Inhalt, einem Stück Seelenleben verschmolzen auftritt, also kurz den psychischen Grössen entgegensetzen. „Es" das Zurückgehen des Ich in sich selbst ..ist ,, „, ^

sonach auch kein Bewusstsein, nicht einmal ein '->- «A

Selbstbewusstsein -). Er spottet derer, die das reine Ich für eine „psychologische schreibe psychologische Täuschung" halten und es „ursprünglich im Gemüt" auf- gewiesen haben wollen als ein ..zusammenfallendes und in sich zurückgehendes Ding, ungefähr wie ein Einlege- messer". Seine Stellung zur Psychologie fasst er etwas kurz in die Worte: „Die Wissenschaftslehre ist nicht Psycho- logie, welche letztere selbst nichts ist^)." Das Psychische gehört in demselben Sinne wie das Physische zur objek- tiven, „wirklichen Welt", zur Sinnlichkeit, zum „Nicht-Ich". Die empirische Wirklichkeit ist ein ..Widerstehendes im Raum" oder ein „Beharrliches in der Zeit", „und in dieser Beziehung wird es eine Seele"*). Da das individuelle Ich wie jede Wirklichkeit bereits eine Synthesis des reinen Ich mit einem sinnlichen Bestandteil enthält, so entsteht, wie Fichte ausdrücklich l)emerktO, das reine Ich erst durch eine x\bstraktion auch von der inneren Sinnlichkeit.

^) S. darüber Windelb.vxd, Gesch. d. Phil. 484 Anm. 1. i r

2) I, 459, noch deutlicher II, 14. Fichtes Idealismus ist weit ent- '^^•' -L fernt von Berkeleys System, das für ein ..dogmatisches, und keines-

weges ein idealistisches" erklärt wird. I, 438.

3) II, 365, vgl. 369, 413, 509 f. *) S. 1, 494 i., vgl. 474.

s) 476.

104

Das „Ich des wirklichen Bewusstseins " ist ein abge- schlossenes Ganzes, eine „Person", das Ich der Wissen- schaflslehre dagegen ein philosophischer Begriff, „und zu dieser Absonderung mussmansich erst durch Abstraktion, von allem übrigen in der Persönlichkeit, erheben"\). Aus diesen Ausführungan kann man den ungeheuren Abstand der Wissenschaftslehre von Descahtks ermessen: durch das transscendentale cogito soll ein psychisches sum durch- aus noch nicht gewährleistet sein.

Die höchsten Abstraktionsbegriffe, zu denen die Speku- lation sich erheben kann, sind somit nicht die psycho- logischen, sondern die transscendentalen Kategorien, bei denen von allem psychischen ebenso wie von allem phy- sischen Inhalt abgesehen werden muss, die deshalb ebenso hyperpsychisch und über])e\\'usst wie hyperphysisch sind. Erst bei Fichtk sind die transscendentalen Kategorien ganz das geworden, was Kant unter ihnen verstanden wissen wollte; StammbegrifFe des Erkennens, absolut höchste All- gemeinbcgriffe, die von jedem Denkinhalt gelten müssen. Der Anspruch auf diese absolute flerrschaif erwächst ihnen aus dem Umstände, dass sie die blosse Thätigkeit des Denkens selbst, das reine „Thun" des erst bei Fichte einheitlich gefassten überindividuellen Ich, das für alle einzelnen Inhalte vorbildliche Wesen des Wissens überhaupt darstellen. Während in den empirischen Wissenschaften eine unendliche Variabilität des Vergleichungs- und Abstraktions- verlahrens herrscht, giebt es in der Transscendental])hilo- sophie, infolge der Eindeutigkeit des die BegrifFsbildung lei- tenden Prinzipes, den festen und in sich geschlossenen Bestand einer über allen Einzehvissenschaften stehenden Begriifs- welt^).

! ') II, 382 vgl. I, 502-505, IV, 18 IV.

*) Hei der Untersuchung, was für das einzelne Wissen vorbildlich ist, wird z. B. als Formel alles Wissens die Gespaltenheit in Subjekt und Objekt gefunden, woraus sich zwar für einen einzelnen He- wusslseinsinhalt nichts folgern, wohl aber im allgemeinen einsehen lässt, dass jedes Objekt als (legenstand des auf einen bestimmten Punkt gerichteten oder sich zusammenziehenden Bewusstseins eine bestimmte, individuelle Koncentration des Ich bedeuten müsse. Denn alle diese Verhältnisse stecken schon in der ursprünglichen Subjekt- objektivität, der Identität von Subjekt und Objekt, wo das Denken nur sich selbsl zum Gegenstande hat, s. z. B. I, 461 il'., 477, 522 ff.,

105

Wir hal)en nunmehr zu zeigen, wie mit dieser Heraus- aii)eitung des Gedankens der blossen Erkennlnisform FicHTKS Idealismus jenen n üchternen transscenden- tallogischen Charakter annimmt, den wir (im „ersten Teil") als Kennzeichen der kritischen Richtung bezeichnet haben, und ^^ ie sich ihm dadurch die Notwendigkeit der analytischen Methode immer mehr aufdrängt.

Durch die ganze „zweite Einleitung" zieht sich der Gedanke einer erkenntnistheoretischen Zerlegung des Wissens in Bestandteile, von denen zugleich gesagt wird, dass sie nie in wirklicher Isolation vorkommen, sondern erst durch das Abstraktionsverfahren des Kritikers geschieden werden, für die Zwecke philosophischer Retlexion jedoch gar nicht anders als in solcher Sonderung sich zum Be- wusstsein bringen lassen \). Mit dieser jetzt herrschend gewordenen Auffassung verbindet sich notwendig die Ein- sicht, dass das reine Ich als ein Ergebnis erkenntnis- kritischer Analyse, als^e|n Gebilde philosophischer Abstrak- tion, „blos einen Teil und einen nur durch den Philo- sophen abzusondernden, nicht aber ursprünglich abgesonderten Teil der ganzen Handlung der In- telligenz . . . ." bedeuten dürfe ^). Ausdrücklich wird auch für die transscendenfale Begiifl'sbildung das Yergleichungs-

524 f., 528 f., IV, 1 If., vgl. die vortrefl'liclien Auslülirungen darüber bei LÖWE, die I^hilosophie Ficlites, 61 If.

') „Vielleicht ist es nur dies, was die Eiferer gegen die in- tellektuelle Anschauung einschärfen wollen, dass nämlich dieselbe

nur in Verbindung mit einer sinnlichen möglich sei

Wenn man aber dadurch sich für berechtigt hält, die intellektuelle Anschauung abzuleugnen, so könnte man mit demselben Rechte auch die sinnliche ableugnen, denn auch sie ist nur in Verbindung

mit der intellektuellen möglich " „Aber, wenn zugegeben

werden muss, dass es kein unmittelbares, isoliertes Bewusstsein der intellektuellen Anschauung giebt " I, 464; in- dem er unterscheidet, was in dem gemeinen Bewusstsein vereinigt vorkommt, und das Ganze in seine Bestandteile auflöst." Ibid 465, vgl. 473, das Selbstbewusstsein sei nur ein „not- wendiger Bestandteil", wodurch das vollständige Bewusstsein „erst

möglich werde", vgl. ferner IV, 91., II, 3H0 lY. z. B. 382:

Elemente, durch deren Vereinigung erst ein abgesondertes Ganzes des wirklichen Bewusstseins überhaupt entsteht."

2) I, 459.

Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. 8

106

und Abstraktionsverfahren gefordert^). Insbesondere giebt die Wissenschaftslehre von 1801 -) eine vorzügliche Dar- stellung von der Aufgabe des Philosophen, die in einer Rellexion auf den abstrakten und in einem „Absehen" vom blos empirischen Wissensfaktor bestehe. Welche Klarheit Fichte über die Methode der Transscendental- philosophie gewonnen hat, zeigt sich auch darin, dass er seine Uebereinstimmung mit Kants Lehre von der transscendentalen Apperception grade durch den Hinweis auf die für das formale Apriori charakteristischen Merkmale begründet und deshalb auch seinerseits das Produkt der transscendentalen Analyse als die oberste, allgemeinste, überall gleiche Bedingung alles einzelnen Wissens dar- stellt^). Mit noch grösserem Nachdruck als Kant hat er ferner einen genauen Parallelismus der analytisch -trans- scendentalen Methode in der theoretischen und der prak- tischen Philosophie durchzuführen gesucht*).

Dass die Konstruktionen der philosophischen Spekulation sich in einer dem gewöhnlichen Bewusstsein verschlossenen

1) II 6 f. Die intellektuelle Anschauung, welche der

Transscendentalphilosoph jedem anmutet, der ihn verstehen soll, ist die blosse Form jener wirklichen intellektuellen Anschauung; die blosse Anschauung der inneren absoluten Spontaneität, mit Ab- straktion von der Bestimmtheit derselben. Ohne die wirkliche wäre die philosophische nicht möglich; denn es wird ursprünglich nicht abstrakt, sondern bestimmt gedacht." IV, 47 f. vgl. 24, 25 „Ab- straktion von allem Fremdartigen", 30: „willkürliche Abstraktion", 78: „durch Abstraktion, durch Analyse", vgl. ferner 61, 90, II, 15: „. . . nur eine Abstraktion von allem besonderen des Wissens."

-) In ihr finden sich neben den metaphj'sischen Hauptpartieen vorzügliche Reste der kritischen Wissenschaftslehre; die Anfänge dieser Schrift reichen ja auch in die Zeit vor 18Ü0 zurück, s. z. B. Lei». 1,328.

3) S. I, 472 IT. 475 f. „Und in welchem Verhältnis denkt K.vxt, in den angeführten Worten, dieses reine Ich zu allem Bewusstsein? Als dasselbe bedingend." „Nach der Wissenschaftslehre ist alles Bewusstsein durch das Selbstbewusstsein bestimmt, d. h. alles, was im Bewusstsein vorkommt, ist durch die Bedingungen des Selbst- bewusstseins begründet, gegeben, herbeigeführt!" Ibid 476 f. vgl. 462.

*■) S. z. B. IV, 14 tf, 37 f., 78, V, 362, 368. Zahlreiche andere Belege aus der „Sittenlehre" an verschiedenen Stellen dieses und des fol- genden Kapitels (vgl. z. B. ob. .\nm. 1).

- 107

Sphäre bewegen, hatte allerdings schon die Wissenschafts- lehre von 1794 versichert. Aber zu einer vom nüchternen transscendentalen Gesichtspunkt aus geforderten und irgendwie klaren erkenntnistheoretischen Scheidung war es damals noch nicht gekommen; der dialektische Trieb konnte sich trotz alledem noch in grösster Ungebundenheit entfalten. Der eigentliche Grund, dass hiermit später auf- geräumt wurde, der wirklich neue und wichtigste metho- dische Fortschritt der veränderten Lehre liegt darin, dass Fichte jetzt zum ersten Mal den Dualismus des trans- scendental Allgemeinen und transscendental Be- sonderen in die Untersuchung einführt. Erst durch die innige Durchdri ngung des transscendentalen und des rein logischen Gegensatzes (vgl. S. 32 f.) erhält der ganze Gedanke einer Spaltung des Wissens in zwei durch die Reflexion trennbare Sphären seine scharfe und un- erschütterliche Begründung. Jetzt erst gelangt die Einsicht Kants zum Durchbruch, dass die Gebilde der philo- sophischen Konstruktion ihre Rationalität und Deducier- barkeit mit ihrer hochgradigen Inhaltslosigkeit ent- gelten. Jetzt erst, mit Hilfe dieser neuen logischen Er- gebnisse, erscheint das reine Ich wirklich als blosse Form, als gleichbleibende Formel des Wissens, als wahrhaft abstrakter, inhaltsarmer Allgemein begriff. Jetzt erst kann ferner das rein logische Gegensatzpaar aufgestellt werden: „Wissen überhaupt" „Wissen von Etwas". „Wenn es auch bei dem bleiben sollte, was einem jeden schon der Augenschein giebt, dass alles unser wirkliches Wissen ein Wissen von Etwas sei diesem Etwas, welches nicht ist jenes zweite oder jenes dritte Etwas; so ist doch ohne Zweifel jeder vermögend, die Betrachtung anzustellen und zu finden, dass es nicht ein Wissen von Etwas sein könnte, ohne eben überhaupt ein Wissen, schlechthin blos und lediglich als Wissen, zu sein. Inwiefern es ein Wissen von Etwas ist, ist es, in jedem andern Wissen von jedem andern Etwas, von sich selbst verschieden; inwiefern es eben Wissen ist, ist es sich selbst in allem Etwaswissen gleich, und durchaus dasselbe, ob auch dieses Etwaswissen in die Unendlichkeit fortgehe und insofern in die Unendlichkeit hin verschieden sei. Zu diesem Denken des Wissens nun

lOS

als des Einen und sich selbst gleichen in allem besonderen Wissen, und wodurch dieses letztere nicht dieses, sondern eben überhaupt Wissen ist, ist der Leser hier ein- geladen Es ist nicht ein Wissen von Etwas,

noch ist es ein Wissen von Nichts (so dass es ein Wissen von Etwas, dieses Etwas aber Nichts wäre); es ist nicht einmal ein Wissen von sich selbst; denn es ist überhaupt kein Wissen von noch ist es ein Wissen (quantitativ und in der Relation), sondern es ist das Wissen (absolut qualitativ).'*')

Man kann in dem Ausdruck ,, Wissen überhaupt" auch die Formulierung der idealistischen Überzeugung sehen, dass der letzte philosophische Abstraktionsbegrift' nicht „Ding", sondern „Wissen" lautet. Versenkt sich die idealistische Betrachtung, bei der Abwendung von allem Individuellen und Materiellen, in diesen Allgemeinbegrii!" „Wissen", achtet sie lediglich auf die Thätigkeit des Denkens selbst-), dann entsteht die eigentlich philosophische Anschauung, die „intellektuelle Anschauung", die aus- schliesslich dem idealistischen Philosophen möglich und anzumuten ist. Sie bedeutet bei Fichte seit 1797 nur das transscendentalphilosophische Ergreifen des reinen Wissens- faktors oder der intellektuellen Form, der reinen Subjekt- objektivität, des sich selbst setzenden reinen Ich^). Sie ist das selbst von dem Charakter der ,,rnerschütterlichkeit und L nwandelbarkeit des Vorstellens" begleitete Erfassen oder kurz das ., Wissen" vom Wissen überhaupt. „Alles Wissen ist nach dem (Jbigen Anschauung. Daher ist das Wissen vom Wissen, inwiefern es selbst ein Wissen ist, Anschauung, und inwiefern es ein Wissen vom Wissen ist, Anschauung aller Anschauung; absolutes Zu- sammenfassen aller möglichen Anschauung in Eine"*). So wahr unter Kants „transscendentaler Apperception" nur eine formale Einheit, ein Allgemeinbegriff gemeint ist, so w^ahr hat auch Fichte von dem Ich als intellektueller Anschauung jede Beziehung zum Inhaltlichen der Erkenntnis ängstlich ferngehalten. In der „zweiten Einleitung"

1) II, 14 f.

2) Vgl. dazu SiGWART, kogik II, 39.

") S. bes. I, 459 fl'.. 463. H, 7 iL vgl. 38ö 1'. *) II, 9, vgl. lÜ.

10<)

wird ausserdem der „intcllckluellen Anschauung", in der lediglicli „die Form der Ichheif' liege, ausdiiicklicli ein Ich- begriff entgegengesetzt, der genau dem entspricht, was bei Kant „intellektuelle Anschauung" heisst, nämlich das Ich als IdeeM. Die Vermengung der l)eiden HegrilFe nennt Fichte mit I^echt „eine sonderbare Verwechshmg" (vgl. ob. S. 95). Beim Vollziehen dieser „intellektuellen Anschauung" richtet sich das Wissen auf sich selbst, zieht es sich auf sich selbst zLU'ück, wird es ,, Wissen vom Wissen", ,, Anschauung aller Anschauung'' oder ,, Wissenschaftslehre". „Wissen vom Wissen'' ist darum die in ein einziges Wort zusammen- gedrängte Untersuchungsart der Wisscnschaftslehre und ausserdem das Geständnis ihrer prinzipiellen Beschränkung auf das rein Formale, für alles inhaltliche Wissen Vor- bildliche. „Da die Wissenschaftslehre eben nur die An- schauung des unabhängig von ihr vorausgesetzten und vorauszusetzenden Wissens .... ist, so kann sie kein neues und besonderes, etwa nur durch sie mög- liches materiales Wissen (Wissen von Etwas) herbei- führen, sondern sie ist nur das zum Wissen von sich selbst, zur Besonnenheit, Klarheit und Herrschaft über sich selbst gekommene allgemeine Wissen. Sie ist gar nicht Objekt des Wissens, sondern nur Form des Wissens von allen möglichen Objekten. Sie ist auf keine Weise unser Gegenstand, sondern unser Werkzeug, unsere Hand, unser Fuss, unser Auge, ja nicht einmal unser Auge, sondern nur die Klarheit des Auges." ^) „Wissen nur vom Wissen überhaupt", so etwa lautet die kürzeste Zusammenfassung des neuen Standpunktes der Wissenschaftslehre.

Das bis jetzt beobachtete Ergebnis des Umschwunges von 1797 berechtigt jedenfalls zu dem Urteil, dass auch Fichte zur Ausbildung einer Transscendentalphilosophie gelangt ist, bei der das Apriori sich als ein nach den Vorschriften einer analytischen Logik richtig ge-

1) Vgl. ob. S. 95 ft., ferner die S. 104 Anm. 1 angeführten Citate, in denen die Inhaltslosigkeit der abstrakt gefassten „intellelituellen An- schauung" klar zum Ausdruciv kommt; sowie die schon öfters er- wähnte Gleichsetzung mit Kants „transscendentaler Apperccption", bei gleichzeitiger Betonung grade des formalen Charaliters.

2) II, 9 I'.

I

1^'

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bildeter, d. h. durch Analyse aus der Erkenntnis- oder Wissenswirklichkeit gewonnener abstrakter G a 1 1 u n g s b e griff darstellt.

Diesen problemgeschichtlich so wichtigen Wand- lungen in FicHTES Denken ist leider bis jetzt nur eine allzugeringe Beachtung geschenkt worden. Grade hervor- ragende Forscher haben ausschliesslich für den ersten, vielleicht eindrucksvollsten, von Fichte selbst aber bald wieder aufgegebenen Entwurf Verständnis gezeigt. Von diesem allein glaubten sie Fichtes Steihmg in der nach- kantischen Spekulation abhängig machen zu sollen und übersahen so über dem, was Fichte von Kant trennt, ganz die weitgehende Übereinstimmung gewisser beiden Denkern gemeinsamer (irundanschauungen. So dürfte auch die bekannte Darstellung der unglücklichen Schick- sale von Kants Philosophie, die Liermann in seiner Schrift „Kant und die Epigonen" gegeben hat, nicht für die Wissenschaftslehre überhaupt, sondern nur für deren allererste Anfänge zutrefTen. Liebmann 0 glaubt nämlich, im ..reinen Ich" Fichtes eine ..besondere Spezies der Gattung Ding an sich" sehen zu müssen, weil es weder räumlich noch zeitlich, noch den Kategorien unterworfen, kurz „von allen Formen des Vorstellens emanzipiert" sei. Allein grade diese Bestimmungen machen den kritischen Charakter des Ichbegriffs aus. Das Ich tritt darum nicht in das wirkliche Bewusstsein ein, weil es allem wirklichen Bewusstsein als ein nur durch philosophische Abstraktion abzusondernder Bestandteil zu Grunde liegt; und es ist über Baum, Zeit und Kategorien erhaben, weil es allgemeiner und deshalb inhaltsärmer ist als die einzelnen Formen des Vorstellens, genau ebenso wie bei Kant die Apperception noch über den Kategorien steht. Die klare Gleichsetzung des Ichs mit einer abstrakten Form lässt gar keinen Zweifel darüber aufkommen, dass es nicht ein qualitätsloses metaphysisches Etwas bedeuten kann. Dass Fichte das Apriori ..immer nur im meta- physischen Sinne zu bestimmen vermochte, als eine Wurzel des Geistes, als eine Grundbedingung des Selbst- bewusstseins" -), meint selbst Cohen, der andrerseits Fichte

1) 81 ff.

2) Cohen, Kants Theorie der Erfahrung 581 vgl. 583, 590.

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das Verdienst der „tiefen Ergründung der letzten Denk- hedingungen in allem Bewusstsein " ') zuerkennt. Dieser Auf- fassung darf man entgegenhalten, dass Ficn tk sich hei der kritischen Neuhegründung seiner Lehre grade iiher die(iefahr des psychologistischen Missverständnisses klar wurde (s. ob. S. 101 ff.) und deshall) die F'uuktion des Apriori um so schärfer im Sinne der transscendentalen und formalen Begrün- dung des Wissens erfasste. Cohkx versteht eben, wie bisher fast alle Beurteiler Fichtks, unter dem reinen Ich immer die „Wurzel und ausreichende Quelle für allen Inhalt der Erfahrung"-), im Gegensatze zu Fichtk selbst, der in ihm lediglich eine des Inhalts völlig entleerte Form erblicken will. Demnach ist Cohens Behauptung, Fichte sei in den „Cartesianismus des Denkens" zurückgefallen, ebenso wie ein ganz ähnlicher Vorwurf Riehls^), gegen- über dem Umschwung von 1797 nicht mehr aufrechtzu- erhalten. — Dadurch, dass die Wissenschaftslehre sich gegen die Angriffe sogar der Forscher verteidigen lässt, die den erkenntniskritischen Gedanken am schärfsten vertreten, ist die beste Gewähr geleistet, dass Fichte in dieser seiner reifsten Zeit des Abfalls vom Kriticismus nicht geziehen werden darf.

IV. Kapitel.

Der transscendentallogische Zufallsbegriff.

Bei der Darstellung des Kantischen Rationalismus hatte sich uns bereits ergeben, dass die analytische Grund- anschauung notwendig in dem Satz von der transscen- dentallogischen Zufälligkeit des Empirischen gipfeln müssß. Nachdem nun auch bei Fichte die ..intellektuelle An- schauung'ihres absolut rationalistischen Charakters entkleidet und zu einer kritisch fassbaren Funktion um- gearbeitet war, musste auch für ihn die ausdrückliche

0 Ibid. 581.

2) Ibid. 590.

3) Fichte habe das ,,B<?^vus.st.sein überhaupt", anstatt es als ..AbstraTUion vom inneren Sinn" zu begreifen, zu einem meta- pfTyslschen Wesen gemacht. Philosophischer Kriticismus II. Bd., Z.Teil, 1J6 Anm. Demgegenüber s. ob. S. 102 f.

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Übertragung des diskursiven Charakters auf das Er- kennen des Erkennens, also auf die Wissenschaftslehre, eine unvermeidliche Konsequenz werden. In dem blossen Gedanken eines Apriori, das erst durch Abstraktion her- ausgeschält sein soll, liegt ja schon die Anerkennung eines empirischen Materials, aus dem es gewonnen worden ist; ebenso in der PZrkenntnis der Inhaltslosigkeit des All- gemeinen das Zugeständnis, dass der Raum zur Erfüllung mit dem Inhalt leer gelassen ist^). Das Prinzip der früheren Wissenschaftslehre liess nur die Eine absolute Vernunfttotalität zu, das Prinzip der neuen Lehre fordert umgekehrt einen unvermeidlichen Dualismus. Deshalb jetzt überall eine Doppeltheit der Begründung des ge- samten Erkenntnis])rozesses, eine beständige Gegenüber- stellung von ..Eorm" und .,Materie'', von Allgemeinem und Besonderem, von „überhaupt'" und „gerade so ', von über- all Gleichem und unendlich Verschiedenem^). Wer aber einmal diese Ges])altenheit des Erkennens zugegeben hat, wird von da aus zu einer bestimmten logischen Be- leuchtung des Individuellen, zu einer bestimmten Eassung des Wirklichkeitsproblems weiter getrieben. Für die logische Charakterisierung des Empirischen wird nämlich jetzt die Anerkennung der für unseren Ver-

i) Vgl. z. B. ob. S. 108 das Citat II, 9/10.

2) S. be.sonders ..zweite Einleitung", ..Sittenlelire •, „Wissen- sc'haftslehre" von 1801. Auf den Mangel einer Unter.scheidung des Formalen und Materialen, die sich docli durch die ganze Schriften- gruppe von 1797 1801 hindurchzieht und der neuen Lehre gradezu das Gepräge giebt, gründet Dilthey den Abfall Fichtks von Kant. Dieser Vorwurf trifft so genau das Wesentliche, dass seine Berechti- gung der älteren, seine Haltlosigi^eit der jüngeren Wissenschaftslehre gegenüber den Abstand zwischen beiden und das entsprechende Verhältnis zur kritischen Philosophie vorzüglich beleuchtet: „Aber er will von diesem Prinzip aus" dem schöpferischen Vermögen des Ich „auch die Materie der Flmpfindungen erklären und so den kritischen Idealismus vollenden. Das konnte nur geschehen, indem er den die ganze Kaxtische Philosophie ermöglichenden und begründenden Unterschied aufhob: den Unterschied zwischen dem Was der Kmpündungen, ihrer Einzelgegebenheit, und den in der Einheit des Selbstbewusstseins gegründeten, mit dem (Charakter der Allgemeinheit und Notwendigkeit ausgestatteten Bedinguiigen des Bewusstseins, unter welche diese Empfindungen einheitlich ge- ordnet und so zu allgemein gültigen Erfahrungen erhoben werden". Die Rostocker Kanthandschriften, Arch. f. Gesch. d. Phil. II, 605.

stand unüberwindlichen Kluft zwischen allgemeiner Form und sj)ezifischem Inhalt entscheidend. Wie der Philosoph ein „neues Gebiet anlegen" niusste'), um sich zum reinen Ich zu erheben, so muss er auch von jener Sj)häre aus in eine andersartige Welt sich wieder herablassen, so])ald er sich zur Mannigfaltigkeit des Inhaltlichen zurück- wendet. Das Ein/eine ist nicht so in den Formen ent- halten, wie nach metaphysisch-emanatistischer Anschauung der besondere Bewusstseinsinhalt in der Totalität des Wissens, sondern es kann nur als unmittelbar gegebene Thatsache entgegengenommen oder erlebt werden. Diese Begründung der Selbständigkeit des empirischen Faktors wuchs, wie sich später zeigen wird, allmählich gradezu zii einem ausgesprochenen Empirismus aus (s. Abschn.2). Für uns kommt hier vorläufig nur das Eine in Betracht, dass, sobald die Bedeutung des Formalen ganz durchschaut ist, auch das Individuelle eindeutig gegen das Allgemeine abgegrenzt, seine transscendentallogische Bedeutung ent- deckt werden konnte. Während früher bei der ver- schwommenen Anschauung vom Wesen der Abstraktions- gebilde und der meta])hysischen Fassung des Individuali- tätsbegrift's der dialektische Trieb es zu keiner klaren Erfassung der materiellen Wissenselemente kommen liess, gelangt Fichte jetzt durch die Möglichkeit scharfer logischer Kontrastierung zu einer, wie der weitere Verlauf seiner Philosophie zeigt (s. Abschnitt 2 und 3), entscheidenden und für immer beibehaltenen Stellungnahme gegenüber dem Endlichkeitsproblem. In dem individuell Bestimmten der Einzelgegebenheit, dem unmittelbaren „Gefühl", der Empfindung erblickt er das jedem Begreifen unzugängliche (iebiet; in der empirischen „Wirklichkeit"-) erkennt er einen selbst aus den erschöpfend deducierten und begreif- lich gemachten Formen des Ich unableitbaren, also irrationalen Rest, eine für jede transscendentale Erklärung unübersteigliche Grenze an. So besteht das Cieheimnis der empirischen Wirklichkeit jetzt für ihn wie schon für Kant in der Zufälligkeit oder

1) Vgl. I, 449.

'■) Dieser bei Kant zur Charakterisierung der empirisclien I^inzelfieit selten gebrauchte Ausdruck findet sich in diesem besonderen Sinne häufig bei Fichte, s. bes. unt. Abschn. 2, Kap. I.

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Irrationalität. „Bei dem iinmittell)aren (leiühle hat alle transscendentale Erklärung ein P]nde." „Alle Beschränkt- heit ist, zufolge ihrer Anschauung und zufolge ihres Begriffs, eine durchgängig hestimmte, nicht aber etwa eine Be- schränktheit überhaupt. Es ist, wie wir sehen, aus der Möglichkeit des Ich die Notwendigkeit einer Beschränktheit desselben überhaupt abgeleitet worden. Die Bestimmtheit derselben kann daher nicht abgeleitet werden, denn sie selbst ist ja, wie wir sehen, das Bedingende aller Ichheit. Hier sonach hat alle Deduktion ein Ende. Diese Bestimmtheit erscheint als das absolut Zufällige und liefert das blos Em|)irische unserer Erkenntnis. Sie ist es z. B., durch die ich unter den möglichen Yernunftwesen ein Mensch bin, durch die ich unter den Menschen diese bestimmte Person bin u. s. w." ') Die empirische Wirk- lichkeit erscheint hier als das rein transscendentallogische Problem ohne jede Nebenbedeutung, als der blosse (legen- satz zum Eormalen, als Unerklärbarkeit oder „Zufälligkeit" des Individuellen, als ursprüngliche unbegreifliche Bestimmt- heit oder ..Beschränktheit". „Die Welt ist nichts weiter, als die nach begreiflichen Vernunftgesetzen versinnlichte Ansicht unseres eigenen inneren Handelns, als blosser Intelligenz, innerhalb unbegreiflicher Schranken, in die wir nun einmal eingeschlossen sind, sagt die tran.s- scendentale Theorie." ^)

Auch die Relativität des Zufallsbegritfs und dass es sich bei ihm lediglich um ein Verhältnis zum transscen- dental Allgemeinen handle, hat Eicurn durch die Unter- scheidung des für das reine Ich „Zufälligen" und „Wesent- lichen" richtig angegeben. „Zuvörderst, der Naturtrieb, als grade so bestimmter Trieb, ist dem Ich zufällig. Vom transscendentalen Gesichtspunkte aus gesehen, ist er das Resultat unserer Beschränkung. Nun ist es zwar not-

1) I, 489 f. Dass von Fichte die Unerklärbarkeit des „Faktisclien" betiauptet werde, hat Loewe in seinem vorzüglichen Buche ..Die Philosophie P'ichtes", 44, festgestellt, allerdings ohne ausführlicher auf diesen Punkt einzugehen; ebenso Bergmann, Gesch. d. Phil. 11, 215 f; über Windelband s. Kap. V.

3) V, 184, vgl. II, 302: übereinstimmende unbegreifliche

Beschränkung der endlichen Yernunftwesen unserer Gattung . . . antwortet die Philosophie des blossen reinen Wissens, und muss dabei, als bei ihrem Höchsten, stehen bleiben." Vgl. IV, 101.

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wendig, dass wir überhaupt hescliränkt seien, denn ausser- dem wäre kein Bewusstsein möglicli; ai)er es ist zu lall ig, dass wir grade so beschränk! sind. Der reine 'J'rieb hingegen ist im Ich wesentlich; er ist, in der Icbheit, als solcher gegründet"^). ..Diese besondere Beschränkt- heit ist es, die sich a priori aus der allgemeinen nicht ableiten lässt . . . ."-). Typisch für die Beur- teilung, die Fichte von seinen Zeitgenossen erfuhr, und eben. deshalb ungerechtfertigt erscheint somit der Vorwurf Mellixs^), dass in der Wissenschaftslehre die von Kant vertretene „Zufälligkeit" der Empfindung aufgegeben sei. Mit der Unterscheidung von „Form" und „Materie' des Erkennens kreuzt sich bei Kant in äusserst ver- wickelter, zum Teil nur durch Berücksichtigung der In- auguralschrift verständlicher, schwerlich ganz entwirrbarer Gedankenkombination der Dualismus von Verstand und Sinnlichkeit, Spontaneität und Beceptivität. Aus dem dadurch entstehenden Gemisch erkenntnistheoretischer An- deutungen lässt sich aber ein für das Irrationalität.sproblem bedeutsamer kritischer Gehalt scharf herausheben. Die Sinnlichkeit spielt nämlich in der kritischen Philosophie die Holle eines transscendentalen principium individuationis, eines die formale Allgemeinheit determinierenden, ..speci- ficierenden ", individualisierenden Momentes, während auf Bechnung des Verstandes das Allgemeine oder Begriffliche im Gebiet der Erkenntnisfaktoren zu stehen kommt. Darum musste sich mit der Überzeugung, dass unser Erkennen an die Gespaltenheit von Allgemeinem und Besonderem unentrinnbar gebunden sei, die Einsicht in die Dualität von Verstandesbegriiren und sinnlichen Anschauungen notwendig verknüpfen. Aber die geheimnisvolle Andeu- tung einer „gemeinsamen Wurzel" wurde eine unwider- stehliche Verlockung für die Nachfolger, es nicht bei

1) IV, 141.

2) Ibid. 225. ..Die Individualität kann auch in ihrem Fortgange bestimmt sein, nicht lediglich durch die Freiheit, sondern durch ur- sprüngliche Beschränktheit; die jedoch nicht zu deducieren, sondern eine besondere, und in dieser Rücksicht für uns auf dem (iesichtspunkte der Erfahrung zufällig ist." Ibid., vgl. 100 f., 254, X. III, 121.

■^) Q^^ii- A. MELLixJncycIopädisches Wörterbuch der kritischen ^'fi Philosophie, VI, 294.

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diesem Dualismus bewenden zu lassen. Am kühnsten war auch hierin Fichte vorgegangen. Wie die Form, so sollte auch der Inhalt man weiss nicht recht, ob in dem- selben Sinne M durch eine produktive Kraft der Vernunft erzeugt sein. An dieser Lehre hat man mit Recht Anstoss genommen, da sie zum mindesten unklar, missverständlich und gänzlich ungeeignet ist, das kritische Problem des In- dividuellen erkennbar hervortreten zu lassen. Fichte aber glaubte damals, die Zerstörung des Ding-an-sich-Begriffes vollzöge sich nur in einer restlosen Auflösung des Ma- terialen durch die Vernunftproduktivität. Nach derselben Richtung trieben ihn Anregungen, die er von Maimoxs Skepsis erfahren hatte-). Auch in den auf den ersten Ent- wurf unmittelbar folgenden Schriften wird auf die Un- möglichkeit, Form und Stoff auseinanderzureissen, auf die reale Untrennbarkeit beider häufig hingewiesen. Der in- dividuelle Inhalt ist ein best immt er Komplex von Hand- lungen des Ich. Sieht man auf das Handeln des Ich, dann denkt man es als ..Subjekt" und hat den ..Begriff", reflektiert man dagegen auf die bestimmte Gestaltung des Vorstellungskomplexes, dann hat man das ..Ding " oder die ,,Anschauung''. In dieser Verschmolzenheit mit den Formen werden die Objekte „hingeschaut'', als „Anschau- ung" hingeworfen^).

Bei der einseitigen Beachtung grade solcher Lehren, die Fichte selbst später am besten widerlegte, hat man in der Wissenschaftslehrc stets den Höhepunkt jener mit Reixhüli) und Maimüx beginnenden, von Beck am stärk- sten vertretenen Bewegung erblickt, die den Dualismus von

') Denn,,be\vusstlos'' geschieht auch das Producieren der Formen, s. den Vergleich mit Maimox am Schluss dieses Kapitels.

-') Die sich ja grade auf die Kluft zwischen den transsccndentalen Formen und deren empirischer Anwendung stützte, s. I, 387, vgl. 227 u. ob. S. 44 f. Auf den grossen Finfluss, den Maimon auf die Gestaltung des Irrationalitätsproblems bei Fichte ausgeübt hat, Ivann hier wie an einigen späteren Stellen nur hingedeutet werden; vgl. FiCHTES Äusserungen: I, 29, 99, 101, 120 Anm.. 387 (vgl. dazu 227), Leb. II, 205 f., ferner Krumanx, Spekulation seit Kant, I, 596 f., 605, 615, 629, 632, (Irundriss II, 453, Dilthey, Arch. f. Gesch. der Phil., II, 605 f., Behgmaxn, Gesch. d. Phil., II, 219, Moeltzxer, S. Maimons erkth. Verbesserungsversuche d. Kantischen Philos. 31 f., Kabitz, Studien z. Fntwgesch. d. Fichteschen Wissenschaftslehre 62, 78.

3) III, 4, 58,' vgl. 1, 374, 387.

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Verstand und Sinnlichkeit ohne die nötige kritische Vor- sicht aufzuhehen trachtete. Hierhei hat man wiederum ühersehen, wie sehr grade Fichte dazu gedrängt wurde, die Sonderung im kritischen Interesse aufrechtzuerhalten und seine anfangs vertretene Ansicht von der Verwisch- barkeit des Gegensatzes aufzugeben. Neben die Betonung des realen Verwachsenseins von „Begriff' und „Anschau- uiig" tritt nämlich jetzt die Erkenntnis ihrer kritisch ge- forderten Dualität, die Einsicht, dass nichtsdestoweniger für die philosophische Abstraktion eine Trennung geboten ist, für die transscendentale Erklärung eine Unersetzlich- keit des Anschaulichen durch das Begriffliche be- steht. „Nur ist dabei," so heisst es jetzt in der „zweiten Einleitung", „so wie allenthalben, also auch hier, nicht aus der Acht zu lassen, dass die Anschauung die Unterlage des Begriffs, das in ihm Begriffene, ist und bleibt. Wir können uns nichts absolut erdenken oder durch Denken er- schaffen, nur das unmittelbar Angeschaute können wir denken; ein Denken, dem keine Anschauung zu Grunde liegt, das kein in demselben ungeteilten Momente vorhandenes An- schauen befasst, ist ein leeres Denken, ist eigentlich gar kein Denken." 0 Auch hierfür wird wieder ausdrücklich die Übereinstimmung mit Kant hervorgehoben; Begriff und Anschauung sind nicht isoliert auftretende Gebilde, sondern es gilt der Satz Kants: die Anschauung ohne Begriff ist blind, der Begritf ohne Anschauung leer-). Diese zur Betonung der sachlichen Diskrepanz von Begriff und An- schauung führende Gedankenbewegung läuft auf dasselbe Ergebnis wie die Unterscheidung von Formalem und Ma- terialem, nämlich auf die Lehre von der transscendentalen Selbständigkeit und Irrationalität der Empfindung hinaus. An der Stelle der ,, zweiten Einleitung", an der sich der Umschwung in Fichtes Denken am entschiedensten ankündigt, hat er seine Überzeugung von der selb- ständigen und durch alle transscendentalen Konstruktionen unantastbaren Bedeutung des rein Empirischen oder der Empfindungen zugleich mit einer polemischen Absicht vorgebracht, durch die uns sein eigener Standpunkt noch

') I, 492. •■') Ibid. 473

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um vieles schärfer und unzweideutiger entgegentritt. Schon damals, in den ersten Jahren der Verbreitung seiner Phi- losophie, hat er sich bemüht, der irrtümlichen Auffassung zu begegnen, als ob von ihm die Grenze der rationalen Deduktion geleugnet werde, schon damals hat er dabei Worte der AlDwehr und der Berichtigung vernehmen lassen, die aber ungehört verhallen sollten. Es ist nicht ohne einen gewissen Beigeschmack philosophiegeschichtlicher Ironie, wenn er grade das bei einem seiner Anhänger als Missverständnis kennzeichnet, grade das bei einem anderen Philosophen als Fehler rügt, was ihm selbst in der Folge- zeit so oft zur Last gelegt worden ist, nämlich die Ver- wischung des Unterschiedes von Verstand und Sinnlichkeit. Zwei Erscheinungen insbesondere haben damals seinen Widerspruch hervorgerufen : die Standpunktslehre von Beck und die von Reixhoi.d im zweiten Teil seiner ,,ver- mlscliten Schriften" (1797) gelieferte Darstellung der Wissen- schaftslehre. Beide wollen die Selbständigkeit des nur Empfindbaren verkümmern, und intellektualistisch zer- setzen, beide verkennen den im Begriff der ..Affektion" verborgenen kritischen Sinn, den erkenntnistheoretischen Wert des unmittelbaren „Gefühls''. „Dieses ursprüng- liche Gefühl vergessen führt auf einen bodenlosen transscendentalen Idealismus und eine unvoll- ständige Philosophie, die die blos empfindbaren Prädikate der Objekte nicht erklären kann. Auf diesen Abweg scheint mir Beck zu geraten und Reinhold die Wissenschaftslehre zu vermuten \)." Für einen wie beachtenswerten und tiefeingreifenden Bestandteil seiner Lehre Fichte die Unableitbarkeit der individuellen Be- stimmtheit jetzt angesehen wissen will, entnimmt man der Ankündigung dieser ganzen Stelle der „zweiten Einleitung", die sich in einem Briefe an Reinhold findet: „Es wird soeben eine Abhandlung von mir abge- druckt, in welcher ich mich über mehreres, was Ihr Brief enthält, nach Ihren Äusserungen in den vermischten Abhandlungen im zweiten Teile erkläre. Es hat mir geschienen, als ob Sie wirklich an die entgegengesetzte Klippe, von der Sie in Ihrem Briefe sprechen, geraten

1) I, 490.

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könnten, eine Klippe, an der Bkck wirklich scheitert, indem Sie das Setzen des Nicht-Ich in der Wissenschaftslehre wohl zu absolut nehmen. Ich haheindieser Abhandlung, die w^ohl bald nach dem Briefe bei Ihnen ankommen wird, diesen Punkt klarer zu machen gesucht, als ich es bisher im Drucke gethan habe^).*' Bkck gebührt zwar Dank für seine Einsicht, dass die kritische Philosophie nicht Dog- matismus, sondern Idalismus lehre ^). Aber er ist dafür, wie FicHTEs Kritik in der ,, zweiten Einleitung" ihm vor- wirft, in den entgegengesetzten Fehler verfallen: er ver- nachlässigt und vertlüchtigt „die blos empfindbaren Prä- dikate der Objekte''; die Empfindung ist die „entgegen- gesetzte Klippe", an der er scheitert^).

Obwohl nun auch Reixhold gleich Fichte Becks Ver- mengung von Verstand und Sinnlichkeit in seinen „ver- mischten Schriften" zurückweist*), so ist sein Standpunkt dennoch in Fichtes Augen nicht empiristisch genug. Reinhüld hatte sich zwar zur Wissenschaftslehre bekehrt, über nur zur Wissenschaftslehre von 1794. Während Fichte in der Zwischenzeit die empiristischen Ansätze, die bereits der erste Entwurf enthält^), bis zu ihrem völligen Über-

1) Leb. II, 287 f., vgl. I, 488: ..Da Hr. Beck, wenn ich ihn recht verstanden habe, diesen wichtigen Umstand übergeht und auch Hr. Reinhold (in seiner Auseinandersetzung der Hauptmomente der Wissenschaftslehre, in den oben angezeigten „Vermischten Schriften") auf dasjenige, was das Setzen eines Nicht-Ich bedingt, und w^odui'ch allein es möglich wird, die Aufmerksamkeit nicht genug hinleitet ..."

2) I, 444 Anm.

'} Dieser Ausdruck bezieht sich auf eine Stelle in Reixholds „Vermischten Schriften", II, 323. Sciiellixg, damals noch Kommen- tator der Wissenschaftslehre, folgte in einer Abhandlung WW I, 403«; die gleichfalls durch Reixholds „Vermischte Schriften" ver- anlasst wurde (s. ibid. 409), Fichte auch in der Beurteilung von Becks Idealismus, dem vorgeworfen wird, dass er „den von K.\xt so oft eingeschärften Unterschied zwischen transscendentaler Sinnlich- keit und transscendentalem Verstand völlig verschwinden lässt" und „vergeblich sich bemüht, das Reale, d. h. die Empfindung in unseren Vorstellungen zu erklären". Ebenso wie Fichte hält Schellixg dieser Vermischung den Abstand zwischen „Anschauung und Begriff" entgegen. Ibid. 423. Gegen die Entstellung der Wissenschaftslehre zum „unsinnigsten Idealismus", ibid. 413.

1) Verm. Sehr. II, 295.

s) S. ob. S. 91 f.

- 120

gewicht iil)er die entgegengesetzten Tendenzen ausgebildet hatte ^), legte Reinhold bei seiner Darstellung das Haupt- gewicht grade auf die jetzt in den Hintergrund gedrängten Elemente der Wissenschaltslehre. Darum vermochte Fichte in den „vermischten Schriften" nicht mehr eine ange- messene Wiedergabe seiner Lehre zu erblicken, und die Differenz zwischen ihm undREixHüLi) im Jahre 171)7 ist genau die Differenz zwischen der neubegrün- deten und der älteren Wissenschafts lehre. Die von Fichte bei seinem Anhänger jetzt bekämpfte Behandlung des Endlichkeitsproblems gie])t in der That nur eine ge- treue Nachbildung der fundamentalsten Sätze seiner eigenen früheren Lehre wieder. In den „vermischten Schriften" wird nämlich als Verdienst der Wissenschaftslehre hervor- gehoben, dass sie „den Unterschied und Zusammenhang zwischen dem Transscendentalen und Empirischen" „völlig befriedigend" aus „dem Unterschied und Zusammenhang zwischen den ursprünglichen Funktionen" der absoluten Thätigkeit erklärt^), das Problem des Empirischen also durch rein dialektische Spekulationen gelöst habe.^) So soll auch die für die transscendentale Erklärung so grosse Schwierigkeiten bereitende Thatsache der „Afl'ektion", die in der Empfindung vorzuliegen scheint, durch „die Ent- deckung der ursprünglichen Antithesis" glücklich weg- gedeutet sein.*) Derartige Ausführungen hat Fichte vor- nehmlich treffen wollen, wenn er das Setzen des Nicht-Ich, wie Rein'hold es autfasst, „zu absolut" findet und die voll- ständige intellektualistische Beseitigung des (iedankens der „Affektion'' nicht billigt. Während die „vermischten Schriften" die dialektische Seite der Wissenschaftslehre so stark betonen, lassen sie andrerseits die empiristischen Ansätze des ersten Entwurfs dass der Anstoss sich wohl „postulieren, nicht aber deducieren" lasse (vgl. ob. S. 91, Anm. 3) nicht nur unberücksichtigt, sondern sie i)olemi- sieren sogar ausdrücklich gegen sie. (iegen solche ver-

') Fichte war übrigens nach kurzer Zeit mit der „Grundlage der gesamten AVissenschaltslehre" nicht mehr zufrieden. S, z. B. Leb. II, 236, 237.

^) Verm. Sehr. 11, 339 If, vgl. 325 tF., 336 ü'., 340, 359 ff.

^) Vgl. z. B. ibid. 327 If,

1) Ibid. 300/1.

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ächtlichc Abweisung des blossen ,,P()sluberens" der Kinj)rin- dungsinhalte^) wendet sich in der ,, zweiten Einleilnn^'' die Berichtigung Fichtes: „Bei dem unmittell)aren (lelühle hat alle Iransscendentale Erklärung ein Ende.'' Biiixnou) emplindet eben den Zusammenhang seiner IVüheren An- schauung vom „gegebenen Stof!'' mit der dogmatischen Lehre vom Ding an sich noch so leibhaft, dass er, an die „CHtgegengesetzte Klii)])e'' geratend, das Materiale der Emptindiing ganz in die ajirioristische Konstruktion aul- gelöst wissen will. War er vorher „Kantianer'', so will er sich Jetzt möglichst weit von Kant entfernen, während Fichte, der dieses Stadium schon durchgemacht hat, sich umgekehrt Kant wieder stark nähert. Dass T'^ichte durch die treue Darstellung seiner eigenen urs])riinglichen Lehre mitdenBekennern eines „bodenlosen Idealismus" zusammen- geworfen zu werden fürchtet, ist der unmittelbare Ausdruck dafür, dass sich bereits Umwandlungen in seinem Denken vollzogen haben.

Will man deshalb Fichtes Lehre von der Empfindung und überhaupt die nachkantische Entwicklung des Irratio- nalitätsgedankens richtig erfassen, so darf man nicht, wie die herrschende Autfassung will-), in Beck, sondern höch- stens in Maimox das problemgeschichtliche Mittelglied zwischen Kant und Fichte erblicken. Als der einzige unter den Denkern vor Fichte vertritt Maimox eine auch in systematischer Hinsicht beachtenswerte Vereinigung von konsequentem Idealismus und gleichzeitiger Betonung des Gegeljenheitscharakters der Erfahrungsgegenstände. So^^'eit er sich allerdings von der intellektualistischen Meta- physik Leibmzens beeinflusst zeigt, versucht auch er den. Gegensatz von Begritf und Anschauung durch den noch stark im Psychologischen steckenden Gedanken einer kon- tinuierlichen Abstufung der „Bewusstseins"grade zu ver-

') Ibid. II, 320.

2) S. z. H. Vaihix(;ek, Komnienlai- I, 486, II, 20, 2211". Die von Vaihingek angeführten Stellen aus späteren Schriften Fichtes be- handeln das Problem zum Teil nach ganz anderen metaphysischen (lesichtspunkten, zum Teil polemisieren sie nur gegen Kants „induktives" Verfahren.

Lask, Kichtes Idealismus uud die Geschichte. i)

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wischen^). Allein es finden sicli bei ihm daneben die Ansätze zu einer streng kritischen Auffassung, die mit Fichtp:s s])äterer Ablehnung jeder ])sych()logistischen Uni- deutung wohl bestehen kann. Er geht nämlich davon aus, der Transscendentalphiloso])h dürfe sich nicht, wie die Denkart des Lel)ens es thut, bei dem Umstände beruhigen, dass das empirisch Anschauliche sich ja dem unmittelbaren Erleben erschliesst, und er meint, der Philosojih müsse vielmehr mit dem Vorurteil vollständiger Hegreillichkeit an alles herantreten und demgemäss auch das Unmittelbare der Empfindung an diesem Ideale messen, es danach trans- scendental ausdrücken und veranschlagen. Rationalität ist ihm demnach transscendentale (irösse; Irrationalität das Iransscendentale Unendlich-Kleine oder der transscenden- tale Grenzbegrilf; Unmöglichkeit der rationalen Erzeugung ist ein Differentiale der Erzeugung, ein Differentiale des logischen Bewusstseins, Unauflöslichkeit ein Differentiale der Auflösung ^). Nur wenn wir die Empfindung als Differentiale fassen, wird sie für uns durch transscenden- tale Merkmale ausdrückbar. Nur so wehren wir den (ie- danken einer absoluten Irrationalität ab und gelangen zum Verständnis der kritischen Irrationalität, d. h. der Inkommensurabilität für unser Erkennen. Um das noch besonders hervortreten zu lassen, können wir die Unaul- löslichkeit unendlich herabgemindert oder aufgehoben denken in einem göttlichen Verstände und unser Verhältnis zu diesem intellectus intuitivus als unendliche Aufgabe ansehen, diese Unauflöslichkeit zu beseitigen'^). Der Trans- scendentalphiloso])h erblickt in dem Materialen der Em])fin- dung nicht wie das naive Bewusstsein in sich ruhende Objekte, sondern „Ideen, worin zuletzt die NN'ahrnehmung aufgelöst werden muss"*). Die ganze Bedeutung dieser

i) Dass „Spontaneität' und „lUn^^ptivität" niclit als psycho- logische Unterschiede des lUnvusstseinsgrades zu deuten sind, wird von F"iCHTE ausdrücl<lich festgestciU, s. II, 217.

-ä) Versuch über die Transscendentalphilosophie, 27 11', 33 IV. Über die Beziehungen auch dieser kritischen Fassung des Irratio- nalitätsbegrills zur Philosophie Lkibxizexs, s. Wixdelband, Gesch. d. n. Ph. ' II, 154 Anm., 198 1'., 338, Gesch. d. Phil. 462 Anm. 1, 472 Anm. 2.

3) Versuch 227, 366, 419 f.. 443.

^) Ibid. 205. Philos. Wörterbuch 169.

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Gedanken Maimoxs wird sich indessen erst l)ei der Er- örterung des Transscendenzprol)lems genügend würdigen lassen (s. den Schluss d. nächsten Kap.) Hier sollte Maimon nur als Glied einer zu Fichte aufstrchenden Entwicklungs- reihe verstanden werden, in der Kanis Lehre von der Begrenzung des Erkennens durch die Sinnlichkeit in rein logischem Sinne fortgebildet wird.

"* Zum Schluss sei noch kurz darauf hingcNN'iesen, dass dieselbeli F'orscher, die Fichte schon das Verständnis der transscendentalen Methode gänzlich absprachen, ihm folgerichtig auch die vollkommene Zersetzung des mate- riellen Erkenntnisfaktors zutrauen mussten. „Die Vernach- lässigung," sagt RiEHE, „oder doch zu geringe Berücksichti- gung des materiellen Faktors des Erkennens neben dem ideellen" (bei Kant) „begünstigte die spätere Ungeheuer- lichkeit, den ersteren völlig zu beseitigen." ') Ebenso meint , auch Cohen, dass bei Fichte „aus dem Ich denke ein Be- j wusstsein geworden" sei, „welches das Ich empfinde und | ^"^-'^^y nehme wahr einschliesst und zur Voraussetzung hat" -).

Gegenüber diesen Urteilen verweisen wir noch einmal auf das durch die beiden letzten Kapitel gewonnene Er- gebnis, dass Fichte nicht nur die Zweiheit der Erkenntnis- faktoren anerkannt, sondern auch durch Fortbildung des kritischen Gedankens der Irrationalität den Dualismus von Verstand und Sinnlichkeit aus der metaphysisch-psycho- logistischen in die transscendentale Fragestellung verwiesen hat. ~ Eine gute Bestätigung unserer Autfassung dürfen wir auch noch darin erblicken, dass Hegee bei seiner Polemik gegen die abstrakte Logik Kant und Fichte grade in den wesentlichen Punkten durchaus in eine Linie stelljt und von der Lehre beider Denker seinen emanatistischen Standj)unkt durch eine gleich weite Kluft getrennt wissen will. Auch Fichte wird der „formale Idealismus", die „absolute Leerheit und Unbestimmtheit des Wissens", der dann die empirische Manniglaltigkeit „fremd" und unbe- greiflich gegenüberstehe, kurz die analytische Logik und die der emanatistischen Lehre schroff ent-

0 Philos. Kritic. I, 13, vgl. 14, 338.

2) Theor. d. Erf. 590 1'., vgl. 587. Ähnlich urleill Dilthev, Arch. f. G. d. Phil. II, 644.

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gegengesetzte Lösung des logischen Individuali- /i/;p , . tätsproblems, Ijeständig zum Vorwurf gemacht').

V. Ka])itel.

Das Ding an sich und die Irrationalität des Individuellen.

Nicht eine immanente, sachliche, sondern eine mehr durch historische Thatsachen aufgezwungene Notwendig- keil macht es erforderlich, die Stellungnahme von Fich ins Idealismus gegenüber der Lehre vom Ding an sich einer Prüfung zu unterziehen. Eine für die Geschichte der kri- tischen Philosophie bedeutsam gewordene ,,Problemver- schlingung" hat nämlich die Lehren von der Zufälligkeit und vom Ding an sich derart mit einander verbunden, dass auch bei einer Klarstellung des in der Wissenschaftslehre auftretenden h-rationalitätsgedankens von dieser Vertlech- tung nicht abgesehen werden kann. Da die Zufälligkeit sow^ohl den Abstand von der Idee als die Nichterfassbar- keit durch das Formale bedeutet, so kann auch das Ding an sich dements])rechend in der Vermiscfiung sowohl mit der Idee als mit der Unbegreifhchkeit aus dem For- malen auftreten.

Die letztere Möglichkeit ist mehr für die Kantianer, die Ver([uickung des Ding-an-sich-Begriffs mit der Idee da- gegen mehr für Kant selbst charakteristisch gewesen. Aus der Reflexion auf die Begrenzung unseres Erkennens er- wuchs ihm eines der theoretischen Motive, die in ihrem Zusammenwirken mit anderen, praktischen die Lehre vom Ding an sich verschuldet haben. Kant hat es doch nicht überall vermocht, die Dinge konsequent Koj)erni- kanisch um das Erkennen zu drehen und den Unterschied einer begrenzten und einer unbegrenzten Vernunft nur als solchen zu fassen. Unser beschränktes Erkennen galt ihm vielmehr zugleich als Beschränkung durch eine transscen-

1) Vgl. die meisten der im „ei'slen Teil" aiigerülirten Stellen und besonders WW I, 118 If., 128 II.. 2Ü9--272.

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(lente Mncht undniiC die lü-scheiminifswell; die Idee cinos uneingeschränkten l^rkennens zugleich als die Helreinng aus der Erscheinungswelt und als Erlassen des transscendenten Seins selbst. Die schon in den Anfängen der Spekulation massgebende (irundanschauung der Zweiweltenlheorie, nach der den verschiedenen (haden des Erkennens ver- schiedene Arten der Wirklichkeit entsprechen M, bricht hier noch einmal durch. Rückhaltlos hatte sie noch in der Inauguralschrift geherrscht; durch die Sinnlichkeit wird die phänomenale, durch den Verstand die intelligible Welt ert'asst. In der Kritik der reinen Vernunft ist dieser Stand- l)unkt verlassen: das .,Ding" an sich v»'ird sinnlos, da die „Gegenständlichkeit" in einer synthetischen Funktion des Verstandes bestehen soll. Aber die Zweiweltentheorie hat sich dennoch eingeschlichen. Nur dass hier Erscheinung und Ding an sich nicht den beiden Erkenntnisarten der Sinnlichkeit und des Verstandes, sondern denen des an die Sinnlichkeit gebundenen und des ohne Sinnlichkeit an- schauenden Verstandes zugeordnet werden. Das Ding an sich geht nicht mehr aus der Hypostasierung der eine ])los immanente (ieltung beans])ruchenden, als leer und inhalts- los erkannten Verstandesformen hervor, also nicht ein einfacher Rückfall in den Standpunkt von 1770 findet statt sondern es wird als Gegenstand eines von der

Sinnlichkeit wie den hohlen Verstandesformen gleichmässig emancipierten Erkennens gedacht-'). Wenn also das Nou- menon nur als Folie, als ..(irenzbegriff" ^'), als die ..unver- meidlich mit der Einschränkung unserer Sinnlichkeit zu- sammenhängende Aufgabe, ob es nicht von jener ihrer Anschauung ganz entbundene Gegenstände geben möge" ^), oder als Problem^) gelten soll, so wird zwar dadurch der Gedanke der „Idee" in die richtige kritische Beleuchtung ge- rückt, aber unangetastet bleibt hierbei der Grundsatz einer Korrespondenz von Erkenntnis und Gegenstand,

') Vgl. ob. S. 27 f.

■) Um die Verwirrung voll zu machen, treibt allerdings zu- weilen auch die alte Entgegensetzung von Sinnlichkeil und Verstand ihr Unwesen, s. z. B. W V III. 129, iv, 35.

3) III, 221.

1) Ibid. 241.

■') Ibid. 22\. 235 V, 415.

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die Auffassung, dass der unsinnlichen Erkenntnis ein über- sinnliches Objekt, einem zwar problematischen anschauen- den Verstände ein e])enso ])roblematischer intelligibler Gegenstand entspreche: dass das vollkommene Erzeugen und Durchschauen des Inhaltlichen demnach als ein Er- kennen der Dinge an sich gedeutet werden müsset. Der- selbe Antagonismus kritischer und dogmatischer Gedanken- gänge zieht sich durch die ganze Dialektik hindurch. Es wird der Sache nach stets folgender Satz aufgestellt: wenn es einen anschauenden Verstand dieser ist aber nur Problem, Aufgabe u. s. w. gäbe, so würden durch ihn Dinge an sich erkannt werden. In diesem hypothetischen Erteile wird aber nach einer bekannten Eehre der Eogik von den beiden problematischen Hypothesen das Verhältnis einer notwendigen Folge ausgesagt. Dass Dinge an sich einem anschauenden Verstände entsprechen, wird nicht problematisch, sondern apodiktisch behauptet. Das Ding an sich mag zuweilen als problematisch erscheinen, die Zweiweltentheorie nie. Nur diese Eigentümlichkeit Kants, die ihn an die gedachte Aufhebung der Zufälligkeit zu- gleich den Gedanken der transscendenten Realität knüpfen lässt, sollte von uns hier festgestellt werden-). Man kann

1) Hieran wird durcli die zweite Auflage, etwa durch die Unter- scheidung des Noumenon in positiver und in negativer Bedeutung, nicht das Mindeste geändert. Ganz abgesehen davon, wie es über- haupt mit dem Unterschiede von ,.nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung-' und ..Objel^t einer nichtsinnlichen Anschauung" steht, (^s. darüber Volkelt, Kants Erkenntnistheorie 112, vgl. 110), ist soviel gewiss, dass auch vom Noumenon in negativer Bedeutung der Ge- danke jener Korrespondenz nicht ferngehalten wird: ein Verstand, für den ein Noumenon „gehörte", soll zwar ein „Problema" sein, aber dass es für einen solchen problematischen Verstand gehört, ist nicht ein Problem, s. III, 222, vgl. V, 421 '2: „. . . korrespondierende intellektuelle Anschauung-'. Auch sonst herrscht überall die Vor- stellung, dass der an die sinnliche Anschauung gebundene Verstand die Dinge erkennt, wie sie erscheinen, dagegen der ohne Sinnlich- keit anschauende, wie sie an sich selbst sind, s. z. B. III, 77, 123, 129, 130 f., 351 ff., 388 ff., vgl. 466.

■-) Cohen, der den Beziehungen zwischen Zufälligkeit, Idee und Ding an sich sehr genau nachgegangen ist s. bes. Theor. d. Hlrf. 5U2ff., 505 fr., 507 ff., 512, 518f., Begr. d.Kthik 18—116, Begr. d. Ästhetik 118 - glaubt das Ding an sich, ohne von Kants eigener Ansicht ab- zuweichen, restlos in kritische Probleme auflösen zu können. Ob- gleich mm die „Äquipollenz der folgenden Begriffe . . .: des Ding

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sie vielieiclit nin besten so formulieren: \\äliren(l Kant einerseits die Sinnlosii^keit des „Iransscendenlen Walir- heitsbe<jrif!s"" eingesehen liatM, vermag er sieh andrerseits doeh inkonsequenter Weise die ideale Erkenntnis eines intuitiven Verstandes nieht ohne diese Voraussetzung zu denken.

Unbeirrt chueh das Schwanken des KAxriscHHX Buch- stabens gehorcht I^'ichte folgerichtig dem Kaxtischen Geist. In der Beschränkung unserer Vernunft, die auch er zuge- steht, glaubt er nicht eine Begrenzung durch ein Ding an sich, sondern eine Begrenzung nur in dem Sinne erblicken zu dürfen, dass ihr die Idee eines unbegrenzten Erkennens gegenübergestellt werden kann. Dem Dogmatismus setzt er seine Einweltentheoiie entgegen^). Dass er mit der Idee nicht das Ding an sich vermengt, in ihr nur eine gedachte Art des Erkennens und weiter nichts erblickt hat, dieses Abweichen vom Buchstaben der ..Kritik der reinen Ver- nunft" ist kein Abfall vom Kriticismus.

Das werden auch wenige behaupten wollen. Schwie- riger steht es jedoch mit FicFrrES Ablehnung auch des zweiten 1 alles einer Vermengung von Ding an sich und Irrationalität, also mit seiner x\blehnung auch des Ver- suches, das Ding an sich durch eine Bellexion auf die Unab- leitbarkeit des Individuellen aus dem Allgemeinen zu recht- fertigen. Dem konsequenten Idealismus wird ja nur dann Genüge gethan, wenn die Gesamtheit des Individuellen als ein Vorstellen des Ich gefasst, die Korrelativität von Objekt und Subjekt streng gewahrt wird. Darin spricht sich lediglich das Princij) des Idealismus aus, dass der letzte philosophische Abstraktionsbegriff,, Ich'' oder,. Wissen" lautet (vgl. oi)., S. 85 und 107), dass alles für das Ich, eirf Ichhaftes ist, unter dem Allgemeinbegriff Ichheit steht. Hier gilt es nun eben zu entscheiden, ob man mit dieser Zer-

an sich, des Unbedingten, der Idee, des Grenzbegrift's, der systema- tischen Einheit" (Theor. d. Erf. 512j unbedingt auch als Kants eigene Meinung - zuzugeben ist, so wird dadurch trotzdem der für Kants Denken so wichtige Grundzug der Zweiweltentheorie nicht in Frage gestellt.

J) S. darüber Windelband, Gesch. d.n. Phil., II, 79 f., Präludien, 1251'.

2) S. die vorzügliche Ablehnung der bei K.\nt in dem Begriff der inteilektuellen .\iischauung steckenden Zweiweltentheorie I, 471 f.

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Störung des Ding-an-sich-Begriffcs gleichzeitig dem abso- luten Rationalismus Tliür und Thor öffnet. Wird etwa mit dem idealistischen Satz: alles ist für das Ich zu- gleich behauptet, dass alles im Ich enthalten sei, mit rest- loser Begreiflichkeit das Besondere aus einem absoluten Ich herausgeholt werden könne? Wer das meint, steckt selbst noch tief in der Verwechslung von formalem Ich und Idee. Wer sich aber von diesem Irrtum befreit hat, wiespäterFiCHTE, siehtein, dassderkonsequenteldealismus nicht zum absoluten, alles Empirische zersetzenden Ratio- nalismus führt, sondern dass innerhalb auch des kon- sequenten Idealismus der kritisch antirationalistische Grund- satz zu Recht besteht, in der nur erfahrbaren und er- lebbaren Wirklichkeit einen (iegensatz zwar nicht zum Ich. wohl aber zum formalen Ich anzuerkennen. Von Fichtp: zu verlangen, er solle Idealist nur hinsichtlich der Formen sein, ist ganz ungerechtfertigt. Denn nicht die Immanenz oder den Idealismus, sondern den transscendentalen Rationalismus gilt es auf die Formen einzuschränken. Nicht der Macht des Bewusstseins, sondern der Macht des rationalen Bewusstseins ist das Empirische entzogen. Man muss sich nämlich davor hüten, für das Princip des Idealismus oder der Immanenz die formale begreifliche Ichheit, die Wissensform in ihrer Abstraktheit, unvermerkt einzusetzen. Auch der einzelne Inhalt unserer Vorstellungen ist nur idealistisch aufzu- fassen, denn er ist weiter nichts als ein Fall empirischer Verwirklichung des „Wissens", also nur ein Stück Wissen. Allerdings steckt in ihm mehr als in der begreiflichen Wissensform, die sich in ihm blos verwirklicht; aber dies mehr ist nur seine em])irische Besonderheit, seine Eigen- tümlichkeit, individuell und deshalb unableitbar zu sein, nicht irgend etwas Transscendentes. Man weiss wohl, worauf sich der transscendente Realismus gern berufen möchte: auf die Unbcherrschbarkeit und starre Undurch- dringlichkeit des Empirischen, auf seine alles Formale fesselnde Bestimmtheit. Aber was berechtigt ihn, diese für unser Erklären unüberwindliche Härte, diese logische Thatsache als eine darunter verborgene Zähigkeit des Dinges an sich zu deuten? Gelangt er etwa durch seine transscenden- tale Untersuchung zu diesem Ergebnis? Gewiss nicht; denn

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diese lehrt ilin nur einen ninterialcn von einem formalen Parken ntnislaktor scheiden. Der 'l'ransscendenlalphilosoph sieht sich vergebens in dem ganzen Umkreise des vom kritischen Standpunkt aus Möghehen um, das Ding an sich ist und bleibt ihm unverständlich. Mit „(legensländ- lichkeit" kann es nichts zu thun haben, denn die ist eine Funktion des Verstandes; mit dem (ieheimnis der indi- viduellen „Wirklichkeit" auch nichts, denn dieist lediglicheine logische Thatsache. Wii'd dennoch (He Annahme des Dinges an sich auf den Unterschied von Form und Inhalt gestützt, so ist klar, dass hier einfach eine Umdeutung der „Zu- fälligkeit' in die Transscendenz vorliegt, ein kritisch nicht gerechtfertigter Versuch, die begritTliche Unableitbar- keit und UnaJihängigkeit vom Formalen des Ich in eine Jenseitigkeit gegenüber dem Ich überhau])t, eine logische Eigentümlichkeit also in das Hineinragen einer transscen- denten Realität, zu verwandeln. Statt der Vermengung von Idealismus und Dogmatismus muss es darum bei dem mit einem kritisch antirationalistischen Element verbundenen konsequenten Idealismus bleiben, alles ist nur idealistisch zu deuten, denn das Allgemeine ist Bewusstseinsform, das Besondere Bewusstseinsmaterie; allerdings lässt sich diese idealistische Materie aus dieser idealistischen Form nicht ableiten. Aber soviel bleibt dabei gewiss: materialer und formaler Bestandteil stehen nicht in dem Verhältnis von Ding an sich und ,,Bewusstsein'\ sondern in dem rein immanenten zweier „Bewusstseins'iaktoren zu einander^). Fk:hte hat nun das Verdienst, die Erkenntnis der Irrationalität beibehalten und sie zugleich aus der Ver- schlingung mit dem Ding an sich gelöst zu haben. Ei~ hat eingesehen, dass die transscendentallogische Be-

') Über den Zusammenhang von Iri'ationalität und Ding an sich bei IvAXT, .s. Windelband, Gesch. d. n. Philos., II. 337 und die ein- gehenden Ausführungen Riehls im ersten Band des „philosophischen Kriticismus"; s. bes.'ssifl., 389ff., 428 IT., 431fr., 446 f. Obgleich nach unseren obigen Auseinandersetzungen keineswegs zugegeben werden kann, dass Kant in der Sache mit dem transscendenten Realismus recht hat, so liefert Riehls ..realistische" Auffassung dennoch nicht nur zum Verständnis von Kants sonst meist zu wenig beachtetem logischem Zufallsbegriff, sondern schon allein wegen der starken Betonung der Irrationalität des individuellen Denkinhaltes auch zur svstematischen Hrkenntnistheorie wertvolle Beiträge.

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dciitung des Unterschiedes von Form und Inhalt nicht zn einem Auseinanderreissen des ?"rkennens in eine ideaüstiscli nnd eine dogmatisch erklärhare Hälfte berechtige. Er hat aber ausserdem die Theorieen vom „StoflF'\ wie sie ihm bei den Kantianern entgegentraten, nicht nur abgelehnt, sondern gleichzeitig die Ursache für den Hang zum Dog- matismus in der Verquickung mit demhTationalitätsgedanken nachzuweisen verstanden. In das Faktum der jede Retlexion fesselnden, auch für die idealistische Erklärung harten „Wirk- lichkeit'', des unmittelbaren oder ,. ursprünglichen Gefühls", in dem sich „meine Beschränktheit in ihrer Bestimmtheit" offenbart, flüchtet sich nach seiner richtigen Ansicht der Dogmatismus der Kantianer M.

Erst durch Berücksichtigung dieser Zusammenhänge mit dem Transscendenzproblem wird der Gedankengang der öfter erwähnten wichtigen Stelle in der „zweiten Ein- leitung", an der Fichte seine Ansicht von der Grenze der rationalen Erkenntnis entwickelt, vollständig aufgehellt. Zunächst wird dort festgestellt, dass das ..blos Empirische unserer Erkenntnis" Jedenfalls nicht als Affeklion durch ein Ding an sich gedeutet werden darf. Vielmehr ist, wie sodann gezeigt wird, der Schein einer transscendenten Ver- ursachung durch Erweckung des richtigen Verständnisses der ..Bece])livität", nämlich durch den Hinweis auf die Irrationalität, zu erklären und damit zu zerstören (vgl. ob. S. 112 f.)-). Eine doppelte Aufgabe hat also dieser Hinweis zu erfüllen: er schützt auf der einen Seite vor dem Dogma- tismus, er warnt auf der anderen vor dem intellektualistischen Übersehen der Selbständigkeit des Empirischen. Schon durch eine markante Formulierung hat Fichte seine eigene Meinung gegen diese beiden gleich falschen Theorieen der Schüler K.WTS abgehoben: ..dieses ursprüngliche Gefühl vergessen'"

1) I, 488 ir., vgl. auch 443 und IV, 100 f.

-) I, 490. In der Frage, ob F"ichte berechtigt war, Kant den (ilauben an eine AITektion durch das Ding an sich abzusprechen, muss man sich durchaus V.\ihin(;i:us Darstellung (Kommentar II, 45 ff.) anschliessen (vgl. Erdmaxx, Spekulation I. 50U, Volkelt, Kants Krkenntnistheorie 156); daraus folgt aber nicht, dass P^ichte in der Sache unrecht hat und den Fehler begeht. ..einen Gedanken an- zufangen und ihn in der Mitte abzubrechen (Komm. II. 49), wenn er eine für das Begreifen unerreichbare Bestimmtheit des Fm])irischen behauptet und doch die Aflektion duich ein Ding an sich leugnet.

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der l)0(lcnloso Idealismus Hiocks, ..dieses urs|)rriii<4lielie (ielühl aus der \\'iiksanikeil eines Klwas weiter erkläicii zu wollen" der Dogmatismus der Kantianer'). Von diesen beiden „Klippen" hält sich die Wissenschaltslehre f^leich fern. So wird die ganze naehkanlische Kntwicklung bis Fichte, soweit sie für (Heses Problem in Betracht kommt, i{ier in knappster und glücklichster Fassung zusammen- gestellt: 1. der unkritisch antirationalistische l)ogmatismus jder friUiere Reixhof.d und die Kantianer], 2. der unkritisch rationalistische Idealismus |1^e(:k-) und Reinhold in den ..vermischten Schriften" |, 3. der kritisch antirationalistische Idealismus | Fichte p).

Da Fichte in derHervorhebung des undeducier])arenFr- kenntnisfaktors nicht so originell ist wie auf anderen Ge- bieten, so lässt sich sein kritischer Antirationalismus ganz nur innerhalb einer Geschichte des Irrationalitätsgedankens ver- stehen. Am meisten Beachtung hat die Entwicklung dieses Problems zweifellos beiWixDELHAXD erfahren; hier finden wir. seine Verzweigung nach zwei Hauptrichtungen hin verfolgt: wie nämlich einerseits die Irrationalität von den kritischen Antirationalisten und absoluten Rationalisten als Schranke des Begreifens anerkannt, andrerseits von den dogmatischen Irrationalisten, besonders von Scheeling, zur Behauptung einer übervernünftigen oder unvernünftigen Weltpotenz umgedeutet wird*). Windeehaxd hat ferner auch gesehen, dass F'icHTE in dieser Bewegung mitten inne steht und ihm

1) I, 490.

2) \\^ährend F'ichte an die Stelle des Dinges an sicli die Unmittel- barkeit und Irrationalität der Empfindung setzt und so den Glauben an die Begründung durch das Transscendente verständlich macht, hat Beck dui'ch die Vermischung von Sinnlichkeit und Verstand sogar das Problem unkenntlich gemacht, l^iesen Vorwurf macht ihm ganz im Sinne P^ichtes Schelling in der ob. S. 118 Anm. 3, genannten Schrift (WW I, 432 f.\

3) Zu dieser Ivategorie würde ausserdem jM.\imon gehören. Zur Ergänzung unserer früheren Andeutungen ist nämlich noch hinzuzu- fügen, dass auch für ihn grade die Ersetzung des I3ing-an-sich-Be- gritfes durch die Irrationalität charakteristisch ist. Die .,Gegebenheit" darf nur als Unkonstruierbarkeit, nicht als Transscendenz gedeutet werden. S. bes. Versuch 161, 20111". 377, 384, 419, Philos. Wörterbuch 161 f., Kategorien 20311"., Logik 33711, Krit. Unt. 65, 191.

') (iesch. d. n. Phil. II, 337ir., in dem Paragraphen ..Der Irratio- nalismus-. Vgl. 15311., 19811"., 3221"., Gesch. d. Philos. 462, 472.

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ein hervorragender Platz in ihr eingeräumt werden muss. Er bemerkt darum zu FiciriKs Lehre, dass die Besonder- heit der einzelnen Empfindung durch eine ..grundlose" Handlung des Ich produciert werde: ..Alle Versuche des Rationalismus, aus dem Wesen des Bewusst- seins, aus seinen Formen und Gesetzen auch den Inhalt des Denkens herauszuklauhen, werden hier an einer noch viel tieferen Wurzel abgeschnitten als bei Kani"^). Damit ist schon für die Anfange von Eich ri:s Denken ein anllTrrtiTTnTdT.stTsTHe^slilTemenf festg^^ Es muss aber andrerseits durchaus zugegeben ^^ erden, dass dieser drenzbegriff recht ungeeignet zur Kennzeichnung der Irrationalität ist, da er, als schö])ferische That der über- individuellen Vernunft gefasst, in gewissem Sinne den Rationalismus grade vollkommen abschliesst-). Aus unseren Ausführungen hat sich jedoch ergeben, dass Eichte all- mählich zu der Aufstellung eines kritisch schärferen, nicht mehr missverständlichen Grenzbegriffes fortge- schritten ist. In dieser neuen Lösung des Individualitäts- problems liegt es denn auch begründet, dass er zumal in der Zeit \()n 179(S bis 1801 die Eigentümlichkeit der Vernunft])roduktivität gar nicht mehr wie früher mit den inhaltlichen Elementen in Zusammenhang brachte, sondern sie ausschliesslich auf die reinen Formen über- trug, das F]m])irische dagegen grade als Passivität betrachtete (s. Abschn. 2). Aus alledem dürfte hervor- gehen, dass auch Wini)i:ij5ani)s F^inordnung Fichtks in die F2ntwicklung des nachkantischen Denkens, seine Behauptung, die Wissenschaftslehre sei durch Beseitigung des irratio- nalen Faktors l^ereits vom Kriticismus abgeschwenkt, dann nicht mehr als zutrelfend angesehen werden darf, wenn man den Umschwung von 171)7 gebührend berücksichtigt. Nach WiXDELBAXDS Ansicht giebt nämlich nur der Ratio- nalismus K.\NTS die Thatsache der Irrationalität unum- wunden zu. Darauf beruhe der „tiefste Sinn der Lehre vom Ding an sich". Mit der Zertrümmerung dieses Begriffs aber, also schon bei F'ichte, falle auch die damit ver- bundene „kritische Restriktion " fort •^). Allein dieseRestriktion,

') Ibid. 214, V!4l. 338 und 2]3ir., 322/3, (iesch. d. l>hilos. 502. -') Gesell, d. n. Phil. 338. 3) Ibid. 337, 219.

13B

so können wir niinmelir cntj^egnen, wird mich von Ficii te gemacht, nur dass er dahei die falsche und unverständ- liche Umdeutung in die Transscendenz vermeidet. Die Ablehnung des Dinges an sich bedingt eben nicht, wie WixDHLiiAXi) meint, die Annahme einer ..absoluten W'ell- erkenntnis, weil wir die Welt bis auf den letzten Rest aus dem Ich erzeugen" M.

~ Die von Windhlbaxd unternommene Darstellung bedarf somit' einer Berichtigung und Ergänzung, und zwar durch den Hinweis auf die Thatsache, dass nicht nur Kant (und Maimox), sondern auch Fichte als kritischer Anti- rationalist im strengsten Sinne anzusehen ist. Erst dadurch wird eine ganz richtige Einstellung Eich pes in die Entwicklung des Irrationalitätsproblems möglich sein. Die ganze Grupi)e der von Kant zu Eichte führenden und für die Klärung transscendentalphilosoj)hischer Probleme immerhin beachtenswerten Spekulationen lässt sich nämlich, soweit sie sich auf theoretischem Gebiet bewegen, am besten übersichtlich anordnen und nach streng kritischen Mass- stäben messen, wenn man sie um die Irrationalität als den Schwingungsmittelpunkt der Probleme einheitlich gruppiert. Dann würde die auf do])pelte Weise mögliche Yerschlingung der Lehre vom Ding an sich mit dem Irrationalitätsgedanken als die eigentlich treibende Kraft all dieser Systeme sich aufdecken lassen. So Hessen sich z. B. Reixholds Theorieen vom Noumenon und vom Ding an sich in der Weise ver- stehen, dass hier die Verschlingung der Transscendenz mit dem Begriff der Idee bereits ganz fallen gelassen, dagegen die mit der Enbegreiflichkeit aus dem Eormalen noch zäh festgehalten wird; während im letzteren Punkte die Ver- knüpfung sich grade umgekehrt bei Beck wirksam zeigt, der mit der Beseitigung des Dinges an sich auch die Irrationalität rationalistisch aufhebt^). Die rein j)roblem- geschichtlich, wie auch wegen ihres Einflusses auf Eichte^) und die Anfänge Scheleixcs - entwicklungs-

1) Ibid. 219 f. Hier wird zugleicli das aprioristische „Erzeugen" als .,allgemeines Kriterium der Kantischen Erkenntnistheorie" aner- kannt und auf die l'arallele mit der Mathematik hingewiesen.

2) Elementarphilosophie und Slandpunktslehre, die beiden „Klippen", vor denen Fichte warnt!

3) Vgl. ob. S. 115, Anm. 3.

184

geschichtlich hedeutsaniste Erscheinung würde in diesem Zusammenhang Maimon darstellen, dessen ganze Lehre sich genau aus Kants transscendentallogischem Zufallsl)egrifT heraus entwickelt. Von Kant und Maimon führen endlich mehrere l'ür die Geschichte des Irrational itätsi)ro])lems wichtige Verbindungslinien ausser zu 1 ichtk auch zu ScHELLiNC. und Hegel.

Die Ablehnung des Ding-an-sich-Begriftes hat sich somit nicht nur in ihrer ^'erträglichkeit mit der Lehre von der h-rationalität des Empirischen erwiesen, sondern es hat sich sogar gezeigt, dass erst innerhalb der konsequenten Imma- nenzlehre der logische Zurallsbegriff in völliger Reinheit gedacht werden kann. Die Irrationalität lässt sich entweder rein dogmatisch als unbegreifliches Hervorgehen des Einzel- dinges aus der Totalität des Seins, oder rein idealistisch als Unableitbarkeit der individuellen Ichkoncentration aus dem allgemeinen Ich, aber niemals synkretistisch fassen. Wir müssen deshalb neben der einheitlichen systematischen Konstruktion und der vom psychologistischen Nebensinn unbeirrten Herausarbeitung der transscendentalen Begrifl's- welt die radikale Ausmerzung des transscendenten Asyls der Irrationalität als dritten principiellen Fortschritt über Kant hinaus anerkennen und den Höhepunkt der transscendentalen Methode in einer Lehre er- blicken, für die es in theoretischer Hinsicht nur Ich- koncentrationen, nur eine Bewusstseins-, Wissens- oder Erkenntniswirklichkeit giebt, aus der ana- lytisch (wenn auch mit hinzutretender systemati- scher Anordnung) die transscendentalen Begriffe der „Wissenschafts"lehre gebildet werden. Indem unsere Auffassung grade diesen gewaltigen und nicht metaphysischen Schritt über Kan r hinaus ganz zu würdigen vermag und ihm entscheidende Bedeutung beizulegen zwingt, stellt die hier unternommene Verfolgung nur des einen isolierten Problems dennoch den Verlauf des Irrationalitäts- gedankens zugleich in die lebendige Gesamtentwicklung der Philosophie und wehrt schon dadurch den Verdacht künst- licher und einseitiger Beleuchtung ab.

135 2. Abschnitt.

Die Steigerung des Antirationalismus 1798 1801.

Die den rnisclnvung von 1797 l)e<^riin(len(lc' stärkere Berücivsiclitigunu; der niaterialen I^»venntniseleniente ordnete sicli insofern nocli vollständig der frülieren Lelire unter, als dem a])riori unal)leitl)aren Reste, den Enii)findungen, im Gesamtgefüge des Vernunftsystems immerhin eine nur bescheidene Holle angewiesen wurde. Es sollte lediglich die Grenze gegen die gewöhnliche, ausserhalb j)hilos()phi- scher Deducier])arkeit liegende Erfahrung a])gesteckt, dem rein Em])irisclien sein Recht gesichert werden. Die darauf folgenden Jahre dagegen zeigen das deutliche Bestrel)en, die für jede rationale Erkenntnis gleichmässig gebotene Unantastbarkeit der reinen und blossen Erfahrung in ihrer Bedeutung für die ganze Philosophie immer mächtiger liervortreten zu lassen. Wir haben hier nicht nur eine Ergänzung des früheren Entwurfes mit seiner Richtung auf umfassende Systematik, sondern auch der Schwer- punkt der transscendentalen Wertung verschiebt sich von den allgemeinen Yernunftformen auf die Unmittelbarkeit der Empfindungen. Das 1797 Erworbene wird nicht nur zum sicheren Besitz, der wieder hervorgeholt werden kann, sondern es steigt in den nächsten Jahren zum Lieblingsgut empor, hinter dem alles andere zurücktritt. Die scharfe kritisclie Sonderung des Formalen vom Materialen, die für das Jahr 1797 nachgewiesen werden konnte, und die von hier aus auf die Fassung auch der letzten Erkenntnis- prinzipien ausstrahlende Wirkung musste sich allerdings rest einmal durchgesetzt haben, wenn diese weitere Um- kij5pung überhaupt möglich werden sollte. Aber nachdem nun einmal die glückliche Vorbedingung gegeben war, be- deutet die stärkere Betonung des Empirischen und Individuellen doch wieder eine neue Epoche. Die äusseren Erlebnisse im Atheismusstreit sind dabei nicht gleichgültig gewesen. Die Verachtung gegen seine vornehmlich der Aufklärungsphilosophie angehörenden Ankläger riss den leidenschaftlichen Denker zu einem ganz persönlichen er- bitterten Hass gegen alles hin, was irgendwie nach ratio- nalistischer Metaphysik klang. Wir werden den eigentüm- lichen Vorgang kennen lernen, dass moral- und religions-

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philosophische Ansichten in die Ausbiklung des erkenntnis- theoretischen Empirismus und Individualismus hineinragen. Man sollte nun glauben, dass bei der damit verbundenen grösseren Verwicklung und feineren Verästelung der anti- rationalistischen Hanj)tlinien die einzelnen Teilj)robleme sich nicht mit derselben Energie hätten geltend machen können. Dies trifft jedoch weder für die Probleme der })raktischen Philosophie, noch für die transscendentale Lehre von der Unmittelbarkeit des Empfindungsgehaltes zu. In der starken und auffällig hervortretenden Weiter- bildung, welche in so \'eränderter Umgebung die Theorie von der Ursprünglichkeit des ., Gefühls " jetzt erfährt, dürfen wir eine neue und unmittelbar aus der lebendigen Ent- wicklung von FiCHTEs Denken selbst geschöpfte Bestätigung unserer Ansicht erblicken, dass wir es bei dem für das .fahr 1797 festgestellten Umschwung nicht mit einer flüch- tigen Übergangsstufe zu tluin hatten, sondern mit einem wichtigen Wendepunkt im Denken des Philosoj)hen. Und andrerseits ist ja das Verständnis auch nur der Möglichkeit solcher empiristischer Fortbildungen und ihrer Verträglich- keit mit den Grundprincijiien der Wissenschaftslehre für jeden von vornherein ausgeschlossen, der nicht den Um- schwung von 1797 als spekulatives Bindeglied in Bücksicht zieht. Für uns dagegen kann der stark ausgeprägte Eni])i- rismus dieser Jahre nichts Überraschendes und Unvermitteltes mehr haben; wir verstehen in ihm vielmehr die vorwärts- . drängende Gewalt tief angelegter Denkantriebe.

I. Kapitel.

Der transscendentale Empirismus und Positivismus.

Die eben erwähnte Fehde gegen die Po])ularphilosophie ^^'urde für FiCHTr:s s])ätere Entwicklung dadurch von vor- bildlicher Bedeutung, dass in der Zeit nach 1800 der Empirismus und Antirationalismus, soweit er ül)erhau])t vorkommt, gew öhnlich von Auseinandersetzungen mit der Aufklärungsphilosophie begleitet wird, l^esonders aber hat sie den Schriften von 1798 bis 1801 ein eigentümliches Gepräge verliehen. Von jetzt an galt es nämlicb. das für

1.S7

die Erklärung Unzugäii^liclu' nicht mehr wie in der „zweiten Einleitung" Seaen den „ixxlenlosen Idealismus", wie ihn Beck und der auf Abwege geratene Rkixhold') vertrat, zu verteidigen, sondern gegen den Rationalismus des Wolffischen Systems, (legen einen so nahestehenden Denker wie Beck konnte die Wissenschaftslehre ihre Behauptungen nicht anders als durch die feinsten Unterscheidungen, durch ganz scharfe hegritfliche Entwicklungen rechtfertigen, (ianz anders jedoch durfte man sich den Wolffianehn gegenüber verhalten, bei denen man das Verständnis des transscenden- talen Idealismus gar nicht voraussetzte. Hier war es oft mehr geboten, nur die eigenen Ergebnisse von denen des (iegners eindrucksvoll abzuheben. Eiir unsere entwicklungsgeschicht- liche Betrachtung aber wird es nun grade von hoher Wich- tigkeit, dass der Em])irismus schon so eindeutig als fest- stehendes und für den Idealismus charakteristisches Er- gebnis gilt. Ausserdem sehen wir dadurch den kritischen Stand])unkt wie vorher gegen den idealistisch-absoluten, so Jetzt gegen den dogmatisch-absoluten Rationalismus in einen Streit sich verwickeln und erleben so, dass die in der Theorie schon als notwendig erkannte Abgrenzung des Kriticismus nach diesen beiden Richtungen hin (vgl. S. 27 f. u. S. 68 ff.) sich auch als bewusster geschichtlicher Kami)f abspielt. In der „zweiten Einleitung" richtete sich die Polemik gegen die "idealistische Erzeugung der Ichmaterie aus der Verstandesform, in dem darauf folgenden Zeit- abschnitt gegen die dogmatische Hy])ostasierung von Er- kenntnisformen zu absoluten Realitäten. In beiden Eällen aber musste sich das gleiche Endergebnis herausstellen, dass nämlich infolge der polemischen Gegenüberstellung die empiristische Seite des Kriticismus kräftig zum Durchbruch gelangte. Gegen das Treiben der Tagesphilos()])hie sollte noch einmal die zermalmende That von Kants „trans- scendentaler Dialektik" heraufbeschworen werden'^). Bei dieser Abwehr der rationalistischen Methaphysik hatte ja die kritische Philosophie schon bei ihrem Begründer die

') Dieser hatte sich inzwischen durch den Flinfluss Jacobis ~ s. „Sendschreiben an J. C. Lavater und .1. G. Fichte" und „Über die Paradoxien der neuesten Philosophie" auch die empirislischer gewordene Wissenschaftslehre von 1797 ganz zu eigen gemacht.

2) S. FiCHTES Äusserungen, z. B. \', ;-i40 11'. Lask, Fichtes Ideaü.smas und die öeschichte. 10

1B8

empiristische Tendenz ganz an die Oberfläche ziehen müssen, wälirend dieselbe Riclitung sonst zn weilen als etwas Selbst- verständliches und als aufgehobenes Moment in dem ü])er- geordneten Standpunkte behandelt werden konnte. Gegen- über den vermeintlichen rationalen Wissenschaften war es eben wichtig, geltend zu machen, nicht nur, dass die ..Ver- knüpfung aller realen Eigenschaften in einem Dinge" eine für die formallogische Änalysis unerreichbare Synlhesis voraussetze, sondern auch, dass für die Wirklichkeit eines Dinges das Eingeflochtensein in den ..Kontext der gesamten Erfahrung", der Zusammenhang mit einer Wahrnehmung „nach empirischen Gesetzen" unerlässlich sei M.

Es ist nach dem Vorangegangenen leicht einzusehen, warum für Eich i e jetzt, da er sich vorwiegend gleichsam im (iedankenkreise der ..transscendentalen Dialektik" be- w^egt, die empiristisch - irrationale Seite des Er- fahrungsbegriffs ganz in den Vordergrund tritt und die in diesem ausserdem noch steckende, mehr von der ., trans- scendentalen Analytik" verkündete Bedeutung des über- individuellen Erkenntnisgehaltes fast vollständig verdunkelt. Die dadurch hervorgerufene Wendung in seinem ganzen Denken spiegelt sich auf das Deutlichste in der Answahl dessen wieder, was er Jetzt als das Wesentliche seiner und der Kantischen Philosojjhie bezeichnet. Wenn in früheren Schriften der leeren „Eormular])hilosophie" das „reelle" Denken der Wissenschaftslehre entgegengehalten wurde, so war damit der Eortschritt Kants über die formale und die Schöpfung der transscendentalen Logik gemeint, die Kopernikanische That, dass (iegenständlichkeit eine Regel der Vorstellungsverbindung sei; die „reelle philosophische Wissenschaft" war ihm damals noch die, welche im Gegen- satz zu den zwecklosen Abstraktionen des logischen Forma- lismus in der „Vernunlt" ein (lefüge notwendiger und all- gemeingiltiger Funktionen zn erblicken vermag-). Unter Erfahrung verstand er noch in den beiden Einleitungen das „System der von dem Gefühl der Notwendigkeit be- gleiteten Vorstellungen" '), also das von der überindividuellen

1) Kant, \VW III, 410. •^) S. z. B. III, 1 ]r. 3) I, 423 II'.

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Funktion Erzeugte im Gegensatz zum willkürlichen Spiele der „Wahrnehmungen" (nach Kants Terminologie), das allem mannigfachen Inhalte Gemeinsame, Formale. Jetzt hingegen wird ihm für den Erfahrungshegriff und zugleich für die Eigenart der Transscendentalphilosophie grade das Materiale, Bestimmte, Individuelle wesentlich, also das für den transsccndentalen Idealismus „Zufällige''.

-In tyj)ischer Form zeigt sich diese Schwerpunkts- verlegung hesonders an dem Begriff der Realität. Die heiden im Kriticismus möglichen Bedeutungen dieses Wortes, nämlich Dignität des „Gegenständlichen'" und Zufälligkeit des „Wirklichen", wurden in der Wissenschaftslehre von 1794 noch in sorgloser Beziehungslosigkeit neheneinander gehraucht. Bald soll das Reale als Erzeugnis des Verstandes die Gesetzlichkeit bedeuten, durch die das Erkenntnismaterial „verständigt" wird; bald als Erzeugnis der Einbildungskraft ein „der Rellexion Gegebenes", den „Stolf der Vorstellung" ^). Neben entgegengesetzten Gedankenreihen zeigen sich also schon hier die ersten Ansätze, das Problem des „Wirklichen" grade im Gegebenheitscharakter, in der absoluten Bestimmt- heit zu suchen. Am besten kommt dies Bestreben in den P2rörterungcn über den Wahrheitsgehalt der Empfindungen zum Ausdruck. Diese sind als etwas nur Erlebbares und nicht einmal Mitteilbares zweifellos „subjektiver" Natur. Aber um ihrer „Bestimmtheit", um ihres Grade -so -Seins willen hat es dennoch Sinn, ihnen „Objektivität" zuzu- schreiben-). Allein diese Bedeutung der Objektivität frucht- bar zu machen, daran hinderte noch die starke dialektische Strömung jener Zeit. Erst in der „zweiten Einleitung" wird wieder mehr Gewicht darauf gelegt, dass der ..Realis- mus" des gewöhnlichen Lebens auch von der Wissenschafts- lehre bestätigt werde, da ja Philosophie wie Leben bei dem Individuellen als bei einem Letzten und Unerklärbaren gleichmässig beruhen müssen^). In noch höherem Grade gelangt dann in der „Sittenlehre" (1798) die empirische Konkretheit als das für die Realität wesentliche Moment zur Anerkennung. Das charakteristische Merkmal einer „reellen Philosophie" wird nicht mehr wie im ..Naturrecht"

^) Man vergleiche die beiden Stellen I, 227 u. 233. 2) S. I, 313 f., vgl. auch 268. ^) I, 490, 514.

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in der Erkenntnis des überempirischen Notwendigkeits- charakters der Gegenständhchkeit gesehen, sondern darin, dass man alles Bewusstsein von einem ..Wirklichen", un- mittelbar Wahrgenommenen ausgehen lasse M.

Mit dieser klaren und einseitigen Heransbildung des RealitätsbegrifTs nach der einen Richtung hin musste eine entsprechend scharfe Abgrenzung der anderen Bedeutung Hand in Hand gehen. Bedenkt man, dass die von der Kinbildungskraft ..hingeschaute ' Realität als das Ich im Zustande der ..Anschauung" gilt, so folgt schon aus dem .seit 1797 bemerkbaren Bestreben, die Verschiedenheit von ..Anschauung" und ..Begriff" in den Vordergrund zu rücken (vgl. oben S. 117), eine entsprechend strengere Scheidung der Anschauungsrealität von der durch den Ver- stand erzeugten. Auf den Dualismus von Begriif und An- schauung oder Subjektivem und Objektivem'^) wird jetzt aber zugleich die vollständige Andersartigkeit von Leben und Spekulation gegründet, so dass sich hier zwei Haupt- bestrebungen der empiristischen Epoche: die Auseinander- haltung der ])eiden Bedeutungen von Realität und die Trennung von Leben und Philosoj)hie, an ihrem Kreuzungs- punkt antreffen lassen'^). Ja, noch eine letzte Steigerung in der Auseinanderreissung der beiden Bedeutungen des Seinsbegriffs ist jetzt eingetreten: Realität in dem konkreten Sinne soll gar nicht mehr der Spekulation, sondern nur der Erfahrung und dem Leben erschliessbar sein. ..Ausdrück- lich und ganz bestimmt durch das Nichtphilosophieren . . . entsteht uns alle Realität*)."" Bei dieser Ansicht hat es keinen Sinn mehr, wie früher von einer „reellen philosophischen Wissenschaft " zu reden, da jetzt das .,reelle Denken" mit dem ..gemeinen Denken" und nur mit ihm gleichgesetzt wird^). Die bewusste Abweisung jedes spekulativen Ein- griffes in das Gebiet des materialen W^issens konnte dabei glänzend durchgeführt werden"). Die andere, nicht mit der

') S. z. B. IV, 15, 92, 219. -) Über diese Gleichsetzung vgl. ob. S. 116. 3) V, 343, vgl. Kap. III. *) V, 342.

^) S. z. B. Wendungen, wie „das gemeine und reelle Bewusstsein", „das gemeine und allein reelle Denken", V. 340 ff. u. s. w. e) Vgl. Kap. III.

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Unmittelbarkeit des Individuellen ziisammenliäiif*ende. Jetzt streng geschiedene Seite des Healitätsbegritfs J)estehl in der lormalen Bedeutung der Dinghaltigkeit, der Subslanlialität. In genauem Gegensatz zu der nur im Leben erl'assbaren „Wirklichkeit" erscheint nunmehr das die Mannigfaltigkeit „fixierende" und die „Substanz" erzeugende Denken aus- drücklich als der erst durch den Philosophen künstlich isolierte transscendentale AbstraktionsbegritT\).

Es hat fast den Anschein, als ob die Unersetzlichkeit des Empirischen durch Begriffe das einzige Ziel geworden ist, dem in rein theoretischem Betracht Fichtes Untersuchung jetzt zustrebt. Da ist es nun von Wichtigkeit, einzusehen, \ dass nicht der transscendentale Idealismus, wie Fichte will, sondern allein die über dem Gegensatz von Idealismus und Dogmatismus stehende analy- tische Logik der tiefste Grund dieses immer stärker anschwellenden Emj)irismus sein kann. Hatte doch Kant lange vor der Erreichung des kritischen Standpunktes bereits den Beweis unternommen, dass vom Begriff nicht auf das Dasein geschlossen werden könne, die Existenz nicht ein Merkmal, ein emanatistisch herausklaubbarer Teil des Begriffs sei, die Wirklichkeit vielmehr umgekehrt dei- Bildung der Begriffe zu Grunde liege ^). Diese in der analy- tischen Logik tief angelegten Konsequenzen dringen jetzt auch bei Fichte immer mehr durch. Man darf gradezu von dem starken Hervortreten einer nominalistischen Cirundrichtung reden. „Alle blosse Möglichkeit gründet sich," so wird jetzt an zahlreichen Stellen ausgeführt, „auf die Abstraktion von der bekannten Wirklichkeit"^). Nur das unmittelbar Wahrgenommene, das Besondere oder^ Individuelle, hat Anspruch auf den Titel der „Wirklich- keit", nicht das „Überhaupt", die Allgemeinbegriffe, Abstrak- tionen*). Deshalb stellt jetzt nicht mehr die Wirklichkeit,

0 V, 208, 359 IT., 366 fl., vgl. IV. 20.

■•ä) „Der einzig mögliclie I5eweisgrund zu einer Demonstration für das Dasein Gottes." 1763.

'^) lY, 219, vgl. 79: „Vermögen" nur ein „Produkt des Denl^ens", um daran, „da die endliche Vernunft nur diskursiv und vermittelnd denken kann", eine Wirklichkeit „anknüpfen" zu können.

*) ..In der philosophischen Abstraktion zwar lässt sich von einem Wollen überhaupt, das eben darum unbestimmt ist. sprechen:

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die auigehört hat als determinierte Endlichkeit (vgl. ob. S. 89) zu gelten, das Negative dar, sondern grade der Begriff, und zwar als abstrakte UnwLi'klichkeit.

Fichte ist zuweilen geneigt, diesen im Grunde doch vorkritischen Empirismus, der höchstens ein Moment im kritischen System bedeuten darf, lur den eigenthchen Kern der Transscendentalphilosophie zu halten. .Jch erkläre sonach hiermit öffentlich," heisst es im „Sonnenklaren Bericht", „dass es der innerste Geist und die Seele m e i n e r P h i 1 o s o p h i e sei : der Mensch hat überhaupt nichts, denn die Erfahrung, und er kommt zu allem, wozu er kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. Alles sein Denken, sei es ungebunden oder wissenschaftlich, gemein oder transsccndental, geht von der Erfahrung aus und be- absichtigt hinwiederum Erfahrung" ^). ^Yie er ausschhess- lich gegen vorkritische Gegner sich wendet, so legt er auch auf die Übereinstimmung mit einem gleichfalls nur vor- kritischen Bundesgenossen, mit Jacobi, einen übergrossen Wert. Auch dieser hatte ja entscheidende Einflüsse grade von Kants vorkritischer Leugnung der Begreiflichkeit des „Daseins" erfahren^). Mit besonderer Bücksicht auf ihn (vgl. darüber Kap. 111) suchte Fk.htk in seinen ..Bück- erinnerungen" (1799) seinen Empirismus in voller Schärfe auszuprägen. „Die Philosophie, selbst vollendet, kann die Empfindung nicht geben, noch ersetzen"'). Damit nimmt er das Ergel)nis der ..zweiten Einleitung" wieder auf. Als Kantianer im strengen Sinne lässt er nichts für reell gelten, „das sich nicht auf eine innere oder äussere Wahrnehmung gründet"; nur durch die Wahrnehmung wird das, ..was wirklich ist," erfasst*). Während in der „zweiten Ein- alles wirkliche wahrnehmbare Wollen aber ... ist notwendig ein bestimmtes Wollen, in welchem etwas gewollt wird.'- IV, 23, ebenso V, 364 mit Berufung auf d. ,. Sittenlehre" u. II, 264: „kann ich wollen, ohne etwas zu wollen?" .,Jede Empfindung ist eine bestimmte. Es wird nie nur blos gesehen oder gefühlt oder gehört, sondern immer etwas Bestimmtes, die rote, grüne, blaue Earbe u. s. w." II, 206. „Es giebt nichts Sichtbares oder Eühlbares überhau])t, weil es kein Sehen oder Fühlen überhaupt giebt." II, 209/10.

1) II, 333, ähnlich 395.

2) S. Jacobi WW II, 189 IT., vgl. IV, 1. Abt., 72 und Kuno Fischer, Gesch. d. n. Phil. IV, 234.

3) V, 343.

*) Ibid. 340, 360.

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leitunt^'" die EiTipfiruliin<^eii noch die jjescheidene Iiolle des von der Erklärung ül)ri(>gelassenen Restes spielten, sind sie jetzt der eigentliche Mittelpunkt der Philoso])hie geworden, die feste, „für alle Ena igkeit gegehene " (irundlage alles Denkens, die wir nur weiter entwickeln können, „wie sie ist"\); der Kern aller Wahrheit, von dem erst alle andere ^^'ahrheit, als lediglich vermittelte, ihre Berechtigung em- ])4angen muss, will sie nicht dem ..Gel)iete der Chimären und Hirngespinnste" anheimfallen.

Wir müssen uns jetzt aber auch darüber klar zu werden suchen, warum diese Verschmelzung des vorkritischen Empi- rismus mit der kritischen Philosophie in streng problem- geschichtlicher Hinsicht eine ganz neue und dritte Stufe in der Entwicklung der NMssenschaftslehre hervorruft. Es ist bereits bemerkt worden, dass der UmschM'ung von 1797 nur dasAbstreifendestransscendentallogischenEmanatismus, eine klärende Grenzberichtigung zwischen Empirischem und Rationalem, einen ersten Schutz der Irrationalität überhaupt, mit sich gebracht hatte. Die Wahrheit, dass die empirische Wirklichkeit auch für die transscendentalphilosophische Spekulation als die feste Grundlage aller I3egritfsl)ildung anzusehen ist, wurde damit zwar schon in der Tiefe be- gründet, aber noch nicht sozusagen an die Oberlläche her- angezogen, vielmehr noch dadurch verdeckt, dass der Schwerpunkt des spekulativen Interesses ganz im syste- matischen Aufbau lag. Sobald nun dieser- Interessen- schwerjnmkt sich verschob, mussten die gleichsam ge- bundenen Kräfte der analytischen Logik frei werden und deren innere Beziehungen zu einem empi- ristischen Positivismus sich enthüllen. Zu einem Positivismus, nicht nur zu einem Em])irismus! Denn für den Leugner der emanatistischen Logik wird der von Hegel bekämpfte ..Atomismus' auf rein logisch-theoretischem Gebiet oder der „Realismus der Endlichkeit " zu einer unver- meidlichen Konsequenz. Es giebt für ihn keine gleichsam über den Köpfen der Einzeldinge sich erhebenden über- empirischen (lebilde, keine supra- und intra-individuellen Zwischensubstanzen, keine metaphysischen Interpolations- realitäten. Nur das unmittelbar Erlebbare und in seiner

1) Ibid. 252, vgl. II, 335.

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vollen Bestimmtheit niemals zu einem Begritfssystem Zii- sammenschliesshare existiert, und über ihm erheben sich allein die Gebilde der Abstraktion. Diesen gegenüber verhält sich aber die empirische Wirklichkeit nicht etwa wie ein unvollkommener Abglanz oder blosser Ausfhiss niederen ontologischen (irades, sondern wie der gegebene Ausgangspunkt, wie die einzige und unverrückbare Basis. Bis zu einer so radikalen Erkenntnistheorie hat Fichte sich besonders im „Sonnenklaren Bericht" hindurchgerungen. Die empiristischen und nominalistischen Tendenzen gipfeln hier in einem extremen Positi vismus. Das Gebiet des Materialen oder der Emplindungen, die' ursprügliche „Aus- stattung", erscheint wie in den „Bückerinnerungen" als die feste (irundlage aller Spekulation. Das „wirkliche Beeile' ist das, was du „wirklich lebst und erlebst", die „die ab- lliessenden Momente deines Lebens füllende" Begeben- heit, das Sichvergessen und Yersunkensein in hingebender Anschauung. ..Sonach wäre der gesuchte Grund deiner Urteile über Wirklichkeit und Nicht Wirklichkeit ge- funden. Das Selbstvergessen wäre CMiarakter der Wirklichkeit; und in jedem Zustande des Lebens wäre der Fokus, in welchen du dich selbst hineinwirfst und vergissest, und der Fokus der Wirklichkeit Eins und Eben- dasselbe" ^). Die Summe der wirklichen Empfindungen bildet die „erste Potenz" des Bewusstseins, die „Grund- bestimmungen" oder das „Grundleben". Das in dieser Sphäre Liegende nennt man auch „Bealität", ..Thatsache des Bewusstseins" oder ..Erfahrung"^). Es giebt zwar keine transscendente Wirklichkeit, die das Wissen abzubilden hätte, aber es giebt gegenüber den Bearbeitungsfunktionen des Denkens, den Deduktionen der Wissenschaftslehrc ebensogut wie den Syllogismen der formalen Logik und demonstrierenden Metaphysik, ihnen gegenüber giebt es: „dein Einsenken des Be^^■ussstseins in seine niedrigste Potenz." In ihm ist eine feste Grundmasse gegeben, an deren Lndurchdringlichkeit jede Erklärung abprallt, ..der eigentliche Fuss und die Wurzel alles anderen Lebens"; eine Grundlage, über der sich „in Bücksicht des Hinauf- steigens" die freie Bellexion ins Unbegrenzte emporheben

') II, 338, vgl. 335 tr., 3431. n Ibid. 3441'.

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darf, aber zugleich eine (ircnze. an der die Reflexion .,in Rücksicht des Hinahsteigens" „beschränkt und be- fangen" ist^.

An Stelle der Annahme eines metaphysischen UJ)er- baues über den Einzeldingen gilt für diesen Positivismus der Grundsatz, dass nur das der unmittelbaren Erfahrung hingeworfene, begrifflich unverbundene und unberechen- bare Material Anspruch auf den Charakter der Wirklich- keit habe, und dass darüber hinaus alles nicht unmittelbar Erlebte nur als mögliche Begebenheit des eigenen Lebens, als Ergänzung stattgefundener Wahrnehmungen, zur Wirk- lichkeit gerechnet werden könne. „Du sagst sonach durch die Behauptung einer Begebenheit ausser deinem Leben doch nur eine Begebenheit deines eigenen Lebens aus, ein mögliches Eorttliessen und Gefülltsein dieses Lebens . . . ; du supplierst und setzest hinein eine Reihe möglicher Beobachtungen zwischen die Endpunkte zweier wirk- lichen" ^).

Dass sich der hier vertretene „Realismus" grade mit dem konsequenten Standpunkt der „idealistischen" Imma- nenz verbindet, darin besteht wieder der Fortschritt über Kant hinaus. Die Schwierigkeit, die durch das unbeug- same Festhalten an dieser Fassung des Wirklichkeits- charakters in das System der Immanenz hineingetragen wird, und die in ihm eine dem dogmatischen Dualismus von Denken und Sein vergleichbare Kluft hervorzurufen droht, wird mit grosser Schärfe erörtert. Wie sonst über- all verbindet sich dabei mit der durch die historische Stellung gegenüber dem Kantianismus bedingten Ab- lehnung der Transscendenz die gleichzeitige völlige Wür- digung der innerhalb des Idealismus sich erneuernden Zwiespältigkeit zwischen j)assivem Bewusstseinsmaterial und aktiven Erkenntnismitteln. Auch die sozusagen kom- pakte, für das Wissen undurchdringliche Realität erweist sich vor der idealistischen Besinnung zunächst als ein „System von Bestimmungen eures Bewusstseins" , wenn dieses „nur eins aus der beschriebenen ersten Potenz, ein

1) Ibid.

=) Vgl. ibid. 340—343.

uo

durchgängig bestimmtes" ist'), liul doch iniiss wiederum auch der Idealist zugehen, dass der ..zweiten Potenz", in der wir uns als das Wissende in jenem Grundhewusstsein ergreifen, noch in einem höheren Grade und in einem anderen Sinne die Eigentümlichkeit des Bewusstseins zu- zukommen scheint. .,Hs ist uns freilich sehr wohl bekannt, dass, wenn ihr über jene Bestimmungen des Bewusstseins wiederum urteilt, also ein Bewusstsein der zweiten Potenz erzeugt, auch dieses nun in diesem Zusammenhange ganz besonders als Bewusstsein, und als blosses Bewusstsein, abgehoben vom Dinge, erscheint; und euch nun jene erste Bestimmung, in Rücksicht auf dieses blosse Bewusstsein, als blosses Ding erscheint'-). Die unmittelbar erlebbaren Objekte, die der Denkthätigkeit ein Material der Bearbeitung liefern, sind mithin einerseits zwar Wirklichkeit, aber doch immanente Wirklichkeit, und andrerseits zwar Bewusst- sein, aber doch passives, gegebenes Bewusstsein.

Die Lehre von der produktiven Einbildungskraft, als der Erzeugerin des besonderen Erkenntnisinhaltes, wird damit ganz in den Hintergrund gedrängt. Die Irrationalität des Individuellen wird nicht mehr wie früher durch die Vernunft ])roduktivität, sondern grade durch die Passi- vität charakterisiert. Umgekehrt gilt der Verstand, der früher als ., blosser Behälter des durch die Einbildungs- kraft Hervorgebrachten", als ein „ruhendes, unthätiges Ver- mögen des Gemüts"^) angesehen wurde, jetzt grade als eine Eunktion spontanen Erzeugens*). Das Merkmal des „Er- zeugens" hat sich somit folgerichtig in die Region des reinen Ich und der blossen Vernunftformen zurückgezogen, ebenso N\'ie ja auch der PhiIoso])h nur den freien Akt hervor- ])ringen kann, vermöge dessen er sich zur intellektuellen Anschauung, zum Wissen des Wissens, emporschwingt').

1) II, 400.

■') Ibid. 401.

3) I, 233.

*} II, 216fr. Diese Umdreliuni^ der Funktionen bedeutet den Höhepunkt der Annäherung an Kant, auch in der äusseren Dar- stellung, s. bes. II, 216 fr.

s) „Die Philosophie kann nur Fakta erklären, keineswegs selbst welche hervorbringen, ausser dass sie sich selbst, als Thatsache, her- vorbringt." V, 178.

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Die geläufige Ansiehl, dass Fichtes Erkenntnislehre nur Spontaneität und Produktivität kennt, ist somit als gänzlich verl'ehll zurückzuweisen. Wo hei ihm der Begriil' des „Thuns' in weiterer Ausdehnung vorkonmit als hei Kant, widerspricht er dennoch nicht dem Kriticismus. Vielmehr hat Fichtp: was die heiden nächsten Kapitel von neuem hestätigen werden mit Ahweisung aller- dings des sinnlosen Rückfalls in die transscendentc Realität, in so diohem (irade wie kaum ein anderer Philosoph die „(legehenheit des individuellen Rewusstseins- in halt es anerkannt und sich zum Prohlem gemacht.

II. Kapitel. Die erkenntnistheoretische Wertindividualität.

Eine noch weitere Steigerung des „Empirismus" ühei- das bis jetzt bei Fichte nachgewiesene Mass hinaus scheint gänzlich ausserhalb des Bereiches transscendentalphilo- sophischer Möglichkeit zu liegen. Allein hier erhebt sich die Frage, ob denn der Begründer der Transscendental- philosophie selbst bis zur denkbar höchsten Stufe der Anerkennung vorgedrungen ist, die in einem kritischen System der individuellen empirischen Wirklichkeit zu teil werden kann.

Zu ihrer Beantwortung müspn wir uns noch einmal an die in der „Einleitung" dargestellten allgemeinen Eigen- tümlichkeiten von IvAxrs Wertungsmethode erinnern. Dort ergab sich uns, dass Kant zwar die unvermeidliche Ge- bundenheit der abstrakten Werte, also insbesondere auch der Erkenntniswerte, an empirisches Material und die Selb- ständigkeit oder logische Unableitbarkeit des individuellen Erkenntnisfaktors sich mit höchster Klarheit zum Bewusst- sein gebracht hatte, dass aber aus der Erkenntnis dieser Unentbehrlichkeit für ihn durchaus nicht eine selbständige Wertschätzung des Aposteriorischen zu folgen brauchte (s. S. 8f). Die noch so starke Betonung der Irrationalität oder Zufälligkeit des Individuellen (die unser „erster Teil" eingehend nachgewiesen hat), darf also nicht ohne weiteres

h'

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einer erkenntnistheoretischen Wertiuif* gleichgesetzt werden. Vielmehr erscheint das „Materiale" der Kmpfinching (hihei immer noch lediglich als der gleichgiltige Verwirk lichungs- lall kategorialer Formen, als der „blos" faktische, empirisch beschränkte Schanplatz zeitloser Werte, und es darf seiner Einmaligkeit oder Individualität in rein theoretischer Hin- sicht kein P2igenwert beigelegt werden Trotz alles Kmj)iris- nuis und aller Anerkennung der Irrationalität bleibt Kants Lehre erkenntnistheoretischer Wertungsuniversa- lismus.

Dieser ^Standpunkt muss ja auch unvermeidlich das Endergebnis jeder Erkenntnistheorie sein, die sich wie die Lehre Kants von vornherein ausschliesslich die Er- gründung der formalen und rationalen Erkenntniswerte zum Ziel setzt'). Denn dann kann das Individuelle, mag es im Übrigen noch so stark berücksichtigt werden, immer nur eine negative Bewertung erfahren, als Unreines, Schranke, Irrationalität u. s. w. gefasst werden 2). Eine Änderung kann darin erst dann erfolgen, wenn neben dieser einen Fragestellung neue, von der aprioristischen Tendenz unabhängige Ansätze erkenntnistheoretischer For- schung auftreten, die vom Individuellen ausgehen und es dadurch einer positiven Bewertung zu unterziehen im Stande sind. Durch irgend ein Interesse erkenntnistheoreti- scher Be.sinnung muss also das Individuelle aus der Stellung eines bescheidenen Grenzbegrilfs in das ('.cntrum kritischer Wert])eleuchtung gerückt werden. Das Originelle eines solchen Standjumktes würde dann darin bestehen, dass der einzelne Inhalt nicht nur als konkrete Realisation eines Abstrakten, sondern ausdrücklich in seiner Einmaligkeit und als Besonderheit einen Erkenntniswert erhält, und wir würden somit bei dieser Anschauungsweise die Aner- kennung einer rein erkenntnistheoretischen „Wert- individualität" (s. ob. S. 11) antrelfen müssen.

Nun ist es zwar leicht verständlich, dass in der methodo- logischen Besinnung auf dieStruktur der empirischen Einzel- wissenschaften die Aufdeckung einer Wertindividualität von

0 Vgl. HiKML, Philosophisctier Ki-itic-isnius, I, 12 f., II. 1. Abt., 17 11".

*) Noch weiter gellt der eiuanatislisch-metaphysische l'niversa- lisinus, der diese Bedeutungslosigkeit des IiKÜvidiiellen zu einer ontologischen Negativität steigei-t, s. ob. S. 89.

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rein wissenschaftlicher Bedeutung gelin«^t, aher keineswegs, dass das Gleiche in der allgemeinen Theorie des Erkennens selbst geschieht. Vergegenwärtigen wir uns nämlich die von ihrer Komj)rädikal)ililät nnahtrennliche I)isj)aralheil der beiden früher einander gegenübergestellten Werlungs- methoden (vgl. ob. S. 12), so erkennen wir, dass durch den Gedanken der erkenntnislheoretischen Wertindividualität dem Transscendentalphilosophen zugemutet wird, bei der Bewertung eines Individuellen jede Reflexion auf ein über das unmittelbar (iegebene hinausweisendes Formales aus- drücklich auszuschalten (s. S. 11 f.). Dieser Konsequenz dürfen wir uns auf keinem \\'ertungsgcbiet, also auch nicht auf dem der theoretischen Philosophie, entziehen. Nun gilt aber grade seit Kant eine notwendige und allgemein- giltige Wertung, die sich gleichzeitig auf einen individuellen und in sich geschlossenen Inhalt richtet, als Kennzeichen nicht der theoretischen, sondern der ästhetischen Ver- nunft. Eine unmittelbare Wertung des Individuellen wurde darum stets nicht als Sache des erkennenden, sondern nur des ästhetischen Verhaltens betrachtet; und daraus folgte bis in die Gegenwart die so zähe Verschlingung des Ge- dankens der Wertindividualität mit der Eigenart grade und ausschliesslich des ästhetischen Anschauens\). Als Organ dieser Wertungsart galt bekanntlich das „Gefühl", und nur in der Theorie des apriorischen Gefühls durch- brach deshalb auch Kant selbst sein sonst überall ange- wandtes abstraktes Wertungsschema mit der Lehre, dass die Objekte des ästhetischen ..Geschmacks" nicht durch ihre Übereinstimmung mit einem „BegritT", sondern in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit Gegenstände eines all- gemeingiltigen Wohlgefallens seien (vgl. ob. S. 12, Anm. 1>. So enthüllten sich bei Kant auf das Deutlichste die auch sonst in der Geschichte der Philosoi)hie beobachtbaren

0 Erst jetzt beginnt der Walin zu schwinden, dass das Indi- ' viduelle nur Gegen.stand der Kunst und niemals Ziel eines rein wissenschaftlichen Erkennens sein dürfe. Dieser Umschwung vollzieht sich in Rickert's Untersuchungen über die Methode der Ge- , Schichtswissenschaften; hier wird in bewusstem Gegensatz gegen den j | /.\i^^ uralten Piatonismus oder Universalismus des Werfens (vgl. ob. S. 11, , Anm. 1) das in seiner Einmaligkeit und Einzigkeit auf allgemein- } giltige Werte bezogene Individuelle als wissenschaftlicher Be-j griff des Geschichtlichen festgestellt.

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inneren Beziehungen des ..(iefühls" zur Wertindi- vidualität.

Wo darum aucli auf theoretischem Gebiet die Wert- individuaUtät heimisch werden sollte, da musste bezeich- nender Weise sogar das Erkennen unter den Gesichtsi)unkt getühlsmässiger Erfassung des Wahrheitsgehalts geJH^acht werden; neben das ästhetische, moralische und religiöse musste das theoretische (lefühl treten und eine erkenntnis- theoretisc he Gefühlsphilosop hie sich auslnlden. Auch Fichte:s erkenntnistheoretischen Individualismus werden wir deshalb mit eiuer Annäherung an die sogenannte (xlaubensphilosophie verknüpft sehen.

Allein weder bei den Glaubensphilosophen noch bei Fichte tritt die theoretische Wertindividualität in scharfer Ausjjrägung auf, sondern es schieben sich der Feststellung des theoretischen Wertes zum Teil moral- und religionsphilosophische Betrachtungen unter. Zum Ver- ständnis der gefühlsphilosophischen Strömungen inner- hall) der Wissenschaftslehre müssen wir deshalb jetzt diesen Zusammenhang mit der Moralphilosophie kurz andeuten.

Wie bereits in der Einleitung (S. 19 f.) bemerkt worden ist, hat Fichte die Einsicht in die Unableitbarkeit und Selbständigkeit des materialen Faktors von der theoretischen Transscendentalphilosophie ausdrücklich auf die Sittenlehre übertragen und infolgedessen die Forderung aufgestellt, dass man, um einer „formalen und leeren" Metaphysik der Sitten zu entgehen, das Formalprincip „handle nach deinem Gewissen ' ergänzen solle durch das Materialprincip: handle nach deiner individuellen Bestimmung^). Nun geht aller- dings an sich diese Gegenüberstellung von formaler Pflicht- mässigkeit und konkretem Pllichtinhalt durchaus noch nicht über den Rahmen der abstrakten Kantischex Wertungs- methode hinaus. Allein wenn wir jetzt das Ineinander- greifen des praktischen und des theoretischen Pro])lems der „Gegebenheit" verfolgen, wird sich uns etwas principiell Neues in Fichtes Spekulation, ein grundsätzliches Ab- weichen von den Bahnen Kantischer Wertungsart heraus- stellen.

Fichtes ethisch -teleologische Auffassung, deren An-

1) S. bes. IV, 76, 166, vgl. 131, 147f., V, 209, 362, 364.

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fange sich ja l)ereits bei Kani vorfinden, gebietet ihm, in der Unerlvlärbariveit des Enipirisciien die Stelle zu er- blicken, an der die praktische Betrachtung einzusetzen halM- Er lehrt demnach, dass die theoretisch unbegreifliche Einzel- heit der uns umgeljenden Welt für uns die praktische ..Be- deutung" gewinne, dass sich in ihr unsere individuelle Pflicht offenbare. Die empirische Wirklichkeit erweist sich soiijit als „die fortwährende Deutung des Ftlichtgebots, der lebendige. Ausdruck dessen, was du sollst, da du ja sollst", als das „versinnlichle Materiale unserer Pllicht" -). In das unmittelbare Erfahren der individuellen sinnlichen Aussen- welt werden die überempirischen \\'erte unserer höheren Bestimmung hineingedeutet, und diese teleologische Anschauung erzeugt in ihrer Verbindung mit dem starken Empirismus dieser Epoche die Möglichkeit einer erkenntnistheoretischen Wertindividualität. Dabei darf aber wohlgemerkt die in der theoretischen und praktischen Philosophie jetzt gleich starke Hervor- kehrung der Unableitbarkeit des Konkreten nur als eine conditio sine qua non für den eigentlichen Individualis- mus des Wertens betrachtet werden. Das, worauf es für unser Problem ankommt, findet dagegen seinen eigent- lichen Grund erst darin, dass das Anschauliche des indi- viduellen Eindrucks nicht mehr, wie es bei Kant stets der Eall war, lediglich als ein seiner individuellen Eigenart nach unw^esentlicher Träger eines Abstrakten allgemein- giltige Werte irgendwie l)los an sich aufweisen, sondern dass es sie als abgeschlossene Individualität und um der Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit seines Inhaltes willen in sich selbst verkörpern soll. Und so sehr ferner auch eine solche Auffassungsart als mit praktischem Gehalt durchtränkt erscheint, es soll schliesslich dennoch ein rein theoretisches Verhalten daraus als Endresultat gefolgert werden. Denn wie sich bei Fichte im Allgemeinen die Lehre vom Primat der i)raktischen Vernunft dahin zu- spitzt, dass auch hinter der Anerkennung der logischen Normen das Gewissen steht^), so meint er jetzt sogar, dass

1) S. I, 490.

2) Wobei „Materiale" nicfit einfacti „Material", sondern aus- drücklicli den Gegensatz zum „Formalen" bedeutet, V, 184 f., vgl. 211.

3) S. darüber I^ickeht, Fichtes Atheismusstreit und die Ivantische Philosophie. Eine Säliularbetrachtung; bes. 5 18.

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in jedem einzelnen empirischen Wahrnehmiings- und Er- kenntnisakt unbeschadet seiner rein theoretischen Funktion ein praktischer Gei'ühlskern stecke. Seine Erkenntnis- theorie erhält dadurch ihr individualistisches (nicht nur empiristisches) Gepräge, und sein Empirismus, für dessen Aufrechterhaltung gleichsam die ganze Wucht der prak- tischen Philosophie mit in die Wagschale fällt, nimmt einen supranaturalen (Charakter an. Wir erleben durch dieses Einströmen praktischer Elemente die Ansätze zu einer neuen und eigentümlichen Umbildung des Erfahrungs- begriffs. Das rein Faktische oder Individuelle erfährt eine ungeheure Bereicherung, es enthält in seiner Indi- vidualität und durch sie zugleich die Verwirklichung über- sinnlicher Bedeutungen. Ein Ül^erwiegen der receptiven Erkenntniselemente tritt dadurch in viel höherem Grade ein, als es allein durch die Reflexion auf den transscenden- talen Zufallsbegriff je möglich gewesen wäre. Denn das Individuelle wird dabei nicht nur wie schon bei Kant als der unumgängliche Verwirklichungsschauplatz, sondern in seiner einzigartigen Individualität als der eigentliche und letzte Grund des überempirischen Erkenntniswertes betrachtet.

Indem so die konkrete Wahrnehmungsthätigkeit und die unmittelbare Gefühlsäusserung immer mehr zu dem allein Gewissheit Gewährenden, zu dem Angelpunkt aller Erkenntnis gemacht werden soll, gelangt Fichte, in sach- licher Hinsicht wie nach seiner eigenen persönlichen Em- j)fmdung, allmählich zu einer Annäherung an Jacobi und den ganzen Gedankenkreis der Glaubensphilosophie. Er erkennt Jacobi nicht nur als Bundesgenossen im Kampfe gegen die demonstrierende Metaphysik an^), sondern folgt auch, wie noch genauer zu zeigen sein wird, im Einzelnen den Argumentationen seiner Schriften. So bedient er sich jetzt vorwiegend der .Iacübischen Fnterscheidung von un- mittelbarer und mittelbarer Gewissheit (vgl. Kapitel III) und wählt für seinen supranaturalen Erfahrungsbegriff mit N'orliebe die Bezeichnungen, die in der Glaubensphilosophie vorherrschend waren. Insbesondere hat er in jener ent-

') Vgl. Leb. II, 167, 278, Werke I, 483, 508, V, 232, 343 f.; II. H34, VIII, 32; dazu Klxo Fischer, Gesch. d. n. Phil. VI, 120 f., 551

153

scheidenden Ausführung, in der gezeigt wiid, w ie das He- wusstsein unserer materialen Pflicht sich in den (daul)en an die ReaHtät der Sinnenwelt verwandelt, ein Sticliwort der Glaubensphilosophie („Offenbarung") ausdrücklich be- stätigt. Und auch sonst merkt man an zahlreichen Stellen seinem (iel)rauche der Ausdrücke .,(ilau])e"" und .,Offen- barung" den bea])sichtigten Hinweis auf die Lehre der Ge- firhlsphilosophen deutlich an^). Die unverkennbare sach- liche Übereinstimmung mit Jacohi liegt aber darin, dass jetzt das praktische Moment nicht nur in der Gestalt eines durch abstrakte Analyse herauslösbaren Faktors auftreten, sondern dass das unmittelliare Gefühl, im einzelnen F'all und als in sich ruhendes Ganzes betrachtet, als Erkenntnis- quelle gelten soll-).

Am deutlichsten zeigt sich dieser „supranaturale Sen- sualismus"-^) und Em])irismus in der Durchführung des Parallelismus von sinnlicher und übersinnlicher Erfahrung. Ohne weiteren Zusatz werden jetzt die Termini ..Em- pfindung' und „Wahrnehmung'' gebraucht, um mit ihnen das Vernehmen des Ul)ersinnlichen, das Empfangen des Intelligiblen zu bezeichnen. Sinnliche und intellektuelle ..Anschauung", „äusserer" und „innerer Sinn ", sinnliches und intellektuelles „Gefühl" werden genau wie bei Hamann und Jacobi als unmittelbare Erkenntnis nebeneinander- und aller lediglich vermittelten Gewissheit gegenübergestellt*).

^) Vgl. besonders mit den Stellen V, 182, 185 Jacobis Briefe „über die Lehre des Spinoza", WW IV, 1. Abt., 223. Den Ausführungen dieser Schrift hat Fichte sich auch in anderen Punkten sehr genau angeschlossen, vgl. unt. Kap. III. Die Verwertung des HuMEscHE>r „belief" erfolgte übrigens bei Jacobi durch die Anregung Hamanns, wie aus einer Vergleichung des Briefwechsels beider Männer mit der Schrift Jacobis über Spinoza entnommen werden kann. Über Fichtes Gebrauch von Jacobis Terminus „Glauben" vgl. Reinholds Brief Leb. II, 244 u. „Sendschreiben an J. C. Lavater und J. G. Fichte" 79 f. Am auffälligsten hat Fichte seiner Annäherung an Jacobi im dritten, „Glaube" überschriebenen Buch der „Bestimmung des Menschen- Ausdruck gegeben, vgl. darüber J. H. Fichte, Leb. I, 172, Anm. II, 255 ein wörtliches Citat aus Jacobi WW IV, 1. Abt., 210.

2) S. bes. II, 263, 301 f.

3) Windelbaxd, Gesch. d. Phil. 469.

*) V, 260, 268, 343, 347, 355 f., 360; der Parallelismus des sinnlichen und übersinnlichen Gefühls bei Jacobi z. B. WW II, 59 f. Dieser Sen-

Lask, Fichtes Idealismus uud die Geschichte. H

154 -

Dal)ei wird diesem intelligil)len Kmpirisiiuis derselbe trans- scendentale Ort angewiesen, wie dem danebenhergehenden gewöhnlichen. Es besteht ein genauer Parallelismus in der (iewinnung des Substanzbegriffes aus den sinnlichen und aus den übersinnlichen unmittelbaren Erlebnissen; oi) sich aus Wärme- und Kälteemplindungen das feste Denkgebilde einer substantiellen, „ausser uns vorhandenen Wärme oder Kälte" verdichtet, oder ol) aus intelligiblen Erlebnissen sich der Begriff einer substantiellen Gottheit niederschlägt'); immer sind es auf der einen Seite unmittelbare „Akte", „Begebenheiten ", auf der andern Seite ein mittelbares, ..an sich nicht not\\'endiges, nicht konkretes, sondern abstraktes" Denken^). Das Verhältnis von ..Begriff" und „Anschauung", das für diesen ganzen Zeitabschnitt charakteristisch ist, ])e- währt sich so auch in der Lehre vom intelligiblen Gefühl-^). Dieser intelligible Em])irismus, d. h. die starke Wert- betonung des Empirischen als Empirischen oder in seiner princii)iell unsystematisierbaren Unmittelbarkeit bedeutet in rein erkenntnistheoretischer Hinsicht den weitesten, von Fichte jemals erreichten Abstand von der ursprünglichen Yerabsolutierung der abstrakten Vernunftform.

Die wichtige Rolle, die jetzt dem „Gefühl" zugeschrieben wird, erscheint um so auffallender, als sie damals gradezu eine Stellungnahme in dem Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn bedeutetet und weil sie sich ferner gegen Fu:htes frühere wie gegen seine späteren Ansichten scharf abhebt. In der ganz auf den Begriff der Spontaneität auf- gebauten Wissenschaftslehre von 1794^), ebenso wie in dem

sualismus stammt gleichfalls von Hamann, vgl. z. B. Jacobi W\V I, 385, 387 mit IV, 1. Abt.. 234 fr.

1) V, 208, 214, 263 fr. Pliysisctie.s und Psychisches werden hier- bei vom transscendentalen (iesichtspunkt aus wieder völlig gleich- massig behandelt; auch die „Seele" gehört zur Sinnlichkeit, als ein „zwar nicht im Räume, aber doch in der Zeit .\usgedehntes" (264).

2) Vgl. ibid. 366 fi". ä) Ibid. 208.

■•) Mit ausdrücklichem Hinweis darauf z. B. ibid. 344; vgl. auch die Polemik gegen Ebki\hakd, 351 ff'., der Fichte wegen seiner ,.mysti- schen Gefühlstheologie" in zwei Schriften angegrifTen hatte.

*) Mit Recht spricht Volkmann, Lehrbuch der Psychologie, 3. .\ufl., II, 307 vom „schärfsten Gegensatze zu Jacobi" grade in der Lehre

155

späteren Rationalismus dei- nielaph} sischen Ej)()che konnte das Gefühl nur eine untergeordnete Stelle eiiuiehmen ^). Allerdings ist auch in der Zeit der grössten Annäherung an Jacobi die Übereinstimmung nicht vollständig gewesen, da das Passive der mystischen Stimmung sich nie ganz be- friedigend mit dem Postulat absoluter Selbstthätigkeit ver- einigen liess-), und sich so bereits damals jenes später in immer neuen F'ormen wiederkehrende Ringen zwischen dem Titanismus des Willens und der religiösen Sehnsucht nach einem Zustande in sich vollendeter Seligkeit vor- bereitete. Jedenfalls stösst Fichte in dieser Zeit überall, in der theoretischen wie in der praktischen Philosophie, auf das Problem der Passivität.

Es wäre somit allerdings eine irreführende Übertreibung, die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Fichte und der (ilaubensphilosophie in eine völlige Gleichsetzung beider umzudeuten. Denn auch in rein problemgeschichtlicher Hinsicht besteht der schwerwiegende Unterschied, dass die Ergründung eines abstrakten Erkenntniswertes bei der echten Gefühlsphilosophie von vornherein und mit ursprünglicher Blindheit abgelehnt, nach Fichte dagegen neben der andern Wertungsart als mit ihr verträglich und als gleichfalls J)erechtigt immerhin noch geduldet werden muss. Aber trotzdem darf auch andrerseits nicht übersehen werden, dass, soweit Fichte sich wirklich in jenem glaubens- j)hilosophischen Gedankenkreise bew egt, völlig neue, ihrer logischen Struktur nach andersartige Bestandteile dem bis- herigen System sich angliedern. Es wird dadurch eine Betrachtungsart gewonnen, die nicht wie die Wissenschafts- lehre von 1794 den Unterschied von Form und Inhalt des Erkennens verwischt, auch nicht wie Hegels Emanatismus ihn verwirft, sondern neben dem anerkannten Dualismus noch einen Standpunkt über ihm für möglich hält. Also nicht das für uns widerspruchsvolle Gebilde eines intuitiven Verstandes, sondern neben dem dis-

vom Gefühl. Anklänge an Jacobi allei'dings schon 1794, s. Kuno Fischer VI, 381, 551 f.

1) S. bes. VII, 302 il., IV, 493 fl".

2) Deshalb gelegentlich auch eine heftige Zurückweisung von .\nsichten Jacobis, s. z. B. Leb. II, 27811".

11*

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kursiven Verstand das intuitive Erkenntnisgefühll Nicht grade eine Verdrängung der kritischen Betrachtungs- weise, sondern nur eine Vermehrung der transscendentalen Erkenntnisorgane! Dass durch Einführung dieses „genialen" Erkennens, wie man es nach dem Vorl)ilde der „genialen Moral" nennen könnte \), ganz neue Ansätze der Spekulation beginnen, hat Fichte sel])st deutlich gesehen^). Zwar stellt der durch sie geschaffene (iedanke einer intelligiblen Indivi- dualität das Wertproblem nicht in seiner völligen Reinheit dar, weil in die Wertung des Einzelnen um seiner selbst willen eben zugleich die metaphysische Vorstellung eines übersinnlichen Grundes der Erscheinung mit hineinspielt •^); aber nichtsdestoweniger zeugt diese Vorstellung auch noch in ihrer metaphysischen Einkleidung von der starken Be- achtung, die nunmehr dem Individuellen geschenkt wird. Dass die philosophische Forschung sich mit einer grund- sätzlich neuen Art des Wertens vertraut gemacht hat, zeigt sich überdies noch an andern typischen Merkmalen. Die tiefangelegte Tendenz nämlich, das in seiner einmaligen Individualität bewertete Einzelne nicht nur als isolierte Erscheinung zu verstehen, sondern es in eine Werttotalität einzugliedern (vgl. S. 13 ff.), bewahrheitet sich jetzt sofort auch an Fichte. Nach seiner Beligionsphilosophie steht die wertvolle Einzelgestalt mitten in einem umfassenden Wert- zusammenhang; als „bestimmte Stelle in der moralischen Ordnung der Dinge", als ein Resultat seiner „Lage in der gesamten Vernunftwelt". Diese ihre Glieder umspannende Gesamtindividualität wird nun wiederum bald nur als Wert- grösse gefasst, als „Ordnung", mit ausdrücklicher positivisti- scher Beschränkung des Seinsbegriffs auf das Empirische*), bald zugleich als metaphysische Realität'*).

So gelangt Fichtes theoretische Spekulation vom trans- scendentallogischen Emanatismus durch den kritischen Anti- rationalismus und Positivismus hindurch schliesslich zu dem eigentümlichen erkenntnistheoretischen Standpunkt einer positiven Wertung des Individuellen.

1) Als solches wird es von Kant bekämpft, ^Y\Y VI, 465 ff.

2) Vgl. den Schluss des nächsten Kapitels.

3) S. z. B. V, 210, 268, II, 301 f. *) S. bes. V, 260 f.

^) S. bes. V, 185, 188, 211, 365, II, 283, 298 ff., 3091'.

157 - III. Kapitel.

Philosophie und Leben.

Wie die analytische Methode der \\'i.ssenschaftslehre eine J)estinimte F'assiinif des Irrationaliläls|)rol)lenis l'orderle (1. Abschnitt), so wird umgekehrt die steigende Helommg des Individnellen und Konkreten (2. Abschnitt, Kaj)itel 1 u*II) eine noch weitere Klärung und vielleicht sogar Uni- bilduiig^ der transscendentalen Theorie zur Folge haben müssen. In der That beobachteten wir ja J)ereits in der nominalistischen Tendenz (S. 141) und in dem Zurück- treten des Produktivitätscharakters (S. 145 ff.) eine Fort- setzung jenes Läuterungs])rozesses, durch den die über- individuelle Vernunft von ihrer früheren metaphysischen Ausgestaltung immer mehr zur Bedeutung der abstrakten und un lebendigen Wissensform überging. Wir können jetzt aber noch einen Schritt weitergehen und den Satz aufstellen, dass mit der wachsenden empiristischen Tendenz ein Höhe- punkt in der gesamten kritischen Weltanschauung erreicht worden ist. Denn in dieser jede Hypostasierung zeitloser Frkenntniswerte verbietenden immanenten Philo- sophie des unmittelbar Gegebenen ist das Setzen des Nicht- Ich im Ich zu gänzlicher Unlebendigkeit herabgesunken, und der „Idealismus" darf hier nicht, wie er immer wieder zuerst von Schellixo umgedeutet wurde, als Ein- führung eines idealistischen Weltprincips, sondern nur als blosser Standpunkt einer kritischen Reflexion verstanden werden.

Nichts erscheint in den religionsphilosophischen Schriften der Jahre 1798—1800 auffälliger als diese klare Heraus^ arbeitung eines blossen .,Transscendentalismus" M. Trans- scendentalphilosophie soll lediglich Theorie sein, „Be- schreibung und Darstellung" des „natürlichen Bewusstseins", das sie in seinem ..wahrhaft menschlichen, darum not- wendigen und unvertilgbaren Bestand" einfach anzuerkennen hat 2). Objekt der transscendentalen Betrachtung ist das „Leben", und ihr oberster Grundsatz die Trennung, der Gegensatz von Philosophie und Leben. Die Theorie

') Leb. II, 333

2) V, 339, 340 f., 342, 345 IV.

- 15S

miiss stets über das Leben, um es als Objekt vor sieh hin- stellen zu können, hinausgehen und kann mit ihm nie in Streit geraten, da sie sieh „in einer andern Welt", „auf einem ganz andern Felde" bewegt*).

Auch hier müssen wir wieder auf eine grosse Entwick- lungstendenz in FiCHTES Philosophie aufmerksam werden: innerhallj einer gewissen Betrachtungsweise werden Leben und Spekulation zu Korrelaterscheinungen; je voller und unmittel])arer die mächtige Wirklichkeit und das Leben emporsteigt, desto machtloser, desto blasser und unlebendiger tritt ihm die Spekulation entgegen. Dieser Prozess wird in hohem Grade noch verstärkt, wenn die Sphäre des Lebens nicht nur eine dem abstrakten Denken undurchdringliche konkrete Masse darstellt, sondern sich infolge der beginnenden Anerkennung von ^Yertindividuali- täten zugleich immer mehr mit Wertgehalt erfüllt. Nicht allein die Kluft der Irrationalität wird dann das Trennende zwischen Lel)en und Philosophie sein, sondern es kommt noch der viel eindrucksvollere Abstand zwischen lebendigem Wert und kalter, gleichgültiger Reflexion hinzu. Dadurch, dass das Leben jetzt als in sich abgeschlossene, völlig un- antastbare und unerreichbare W^ertindividualität oder Wert- wirklichkeit der Philosophie gegeniiliersteht, muss die denkbar stärkste Auseinanderreissung beider, die abstrakteste Entleerung und Verarmung der Philosophie erfolgen. Es gehört zu den auffälligsten Veränderungen in der Entwick- lungsgeschichte FiCHTEs, dass derselbe Denker, der früher wie kein anderer die Philosophie als Sache des ganzen Menschen behandelte und auf den Charakter, auf eine prak- tische Notwendigkeit gründen wollte, jetzt umgekehrt mit fast fanatischer Einseitigkeit die Unabhängigkeit der Wissen- schaftslehre von jedem jjraktischen Interesse hervorhebt und erklärt: „Philosophie auf Denkart und Gesinnung be- zogen, ist mir absolut nichts^)." Es ist in höchstem Grade erstaunlich, dass dieser schroffe, unüberbrückbare Gegen- satz von FiCHTES früherer und seiner jetzigen Ansicht über die Bedeutung der Wissenschaftslehre in den meisten Dar- stellungen unberücksichtigt geblieben ist. Was früher in

') V, 342, 347, 367 f., Leb. I, 179. 2) Leb. II, 250, ebenso 248 tT., 253 1.

159

der Wissenschnflslehrc selbst in iin<^escliie(leiu'r l'jiiheil otil- halten sein sollte, tritt Jetzt als „Phil()S()])hie" und ..Lel)eir" auseinander. Dabei wird die lel)endige Wirklichkeit, früher blosse Schranke des reinen Ich, zum Inbe<^ritf aller kon- kreten Werte, die Philosoj)hie hingegen zu einer lediglich retlektierenden S])ekulation ül)er Werte, der die Fähigkeit fehlt, scll)st Werte zu ])egriinden. Sie ist Erkenntnistheorie, Moraltheoric, Religionstheorie M, aber immer nur theoreti- sche .Registrierung und (Charakterisierung, „Wissenslehre", nicht „Weisheitsschule", nur Mittel, das Le])en zu „er- kennen", nicht es zu „bilden"-). Dieses Verfahren des „ab- strahierenden Denkens", also der Analyse des unmittelbar Vorgefundenen, soll ausdrücklich auch auf die Untersuchung der religiösen Lebenswerte ausgedehnt werden^), und Fichtk entwirft jetzt den grossartigen Plan eines über alle Wert- gebiete sich erstreckenden Systems rein durch Analyse und „Al)straktion" gebildeter transscendentaler Regriffe, die ledig- lich die Aufga])e haben, der Welt des Wirklichen den trans- scendentalen „Ort" anzuweisen*).

Die Reschränkung der Transscendentalphilosophie auf die rein theoretische Funktion wird jetzt in dem Masse auf die Spitze getrieben, dass die schon durch gemeinsame Anerkennung der Wertindividualität sachlich gerechtfertigte Annäherung an .Iacobi wiederum deutlich hervortritt (vgl. ob. S. 152 f.). Das Leben sei durchaus für das Höchste zu halten, nicht die Spekulation; nur was aus^dem Leben hervorgeht, wirkt auf das Le])en zurück''), und mit fast wörtlicher Anlehnung an J.xcobi heisst es, dass man sich „weise und gut nicht vernünftelt, sondern lebt" ^). Wie •I.xcoBi es ausgesprochen hatte, dass die Spekulation nicht zum (iottesbewusstsein führen könne, so meint auch Fichi k: „der Philosoph hat gar keinen Gott und kann keinen haben . . .

') ..Theorie" des ..religiösen Sinnes" V. 345, vgl. die nächste Anm.

3) Y, 339 f., 344 f., 349 f. (..nur Theorie der Lebensweisheit"), 369 f.

3) S. bes. ibid. 366 370.

*) 385 ff., 394 f., vgl. dazu besonders Rickert, Fichtes Atheismus- streit 29 ff

s) V, 351 f.. 369 f.

«) II, 332, vgl. 396; dazu das damals vielbesprochene s, WAV IV, 2. Abt., 163 Wort Jacobis: WW IV, 1. Abt., 232.

160

Gott und Religion giebt es nur im Leben" ^). Dadurch, dass alle Wahrheit und aller Wert von der Philosophie in die Sphäre des Lebens allmählich übergeht, droht die Wissen- schal'tslehre zu einem Schattenbilde ihrer früheren Bedeutung herabzusinken. Die Theorie ist blosse Em- ])fänglichkeit für das allein Schöpferische und Lebendige, ist „tot an ihr selber"^). Ausdrücklich Jacohi gegenüber wird in einem unvollendet gebliebenen Schreiben diese bescheidene Rolle der Spekulation, dass sie „nur das Zu- sehen" hat, „überall zuletzt kommt", zugestanden^), wobei zu beachten ist, dass noch im Jahre 1812 für Fic;hte grade in dem Merkmal des blossen „Zusehens" die Eigentümlichkeit von Jacobis Auffassung der Philosophie zu bestehen schien \). Auch im Übrigen findet die sachliche Übereinstimmung mit der Glaul)ensphilosophie ihren Ausdruck in der Ähnlich- keit der Gleichnisse, die für das Verhältnis von Spekulation und Leben ge])raucht werden, so wenn die philosophischen Begriffe ein blosses ..Instrument" der Zusammensetzung oder ein künstliches „(ierippc" im Gegensatz zur lebendigen ^^'irkHchkeit genannt werden^). Während ferner zwar im Allgemeinen der Gharakter des Produktiven für das Funktio- nelle im Wissen festgehalten wird (vgl. S. 146), soll doch zuweilen in der mit Jacobi gemeinsam geführten Polemik gegen die „erschaffende" Meta])hysik das blosse Aullösen und „Anderszusammensetzen" des Gegebenen wieder ganz im Sinne einer mit dem blos vorkritischen Empiris- mus sich verbindenden analytischen Logik (vgl. S. 141) - als erschöpfende Definition der 4'ransscendentalphilosoi)hie angesehen werden"). Ein noch liebevolleres Eingehen auf

1) V, 348, vgl. die ganze Schrift ..l^ückerinnerungen", ibid. 337 bis 373; bei Jacobi z. B. WW IY, 2. Abt., 156 u. sonst häufig; besonders charakteristisch ferner Fichte, Leb. II, 250 und Jacobi WW III, 6.

2) V, 351.

3) Leb. I, 179, ebenso V, 352 in den „Rückerinnerungen", die ja zum Teil im Hinblick auf Jacobi verfasst waren, s. V. 339, Anm., Leb. II, 171 ff.

*) N II, 344, vgl. z. B. Jacobi WW IV, 1. Abt., 214. 243, I, 387 (Hamann).

*) „Instrument", „Modell eines Körpers-', „nackte Gerippe", V. 341; „künstliche Werkzeuge", „scheussliches Gerippe", Jacobi WW 111, 26, I, 242 f.; „anatomisches Gerippe", Hamann WW 11,35.

6) „Trennen und verknüpfen", V, 352, „Zerlegen und Anders- zusammensetzen des Gegebenen", II, 331, „ins Unendliche trennen

161

die Ansc'lKUiiingon (Um- (K>fühls|)hi]()S()|)luMi vcnäl die ;tiis- gcdehnte Anwendung der Unlerseheidiing von unmiüell)arer und mittelbarer Gewissheit, die Fichte ja ausdrücklieh als ein Verdienst Jacobis rühml '). Diese Entgegensetzung aber führt in ihrer ('hertragung auf das Verhältnis von Sj)eku- lation und Leben gleichfalls zu einer Wertherabsetzung des ])hilosophischen Wissens, die weit über das im kritischen .Interesse erforderliche Mass hinausgeht. Denn während früher die Sätze der Wissenschaftslehre recht eigentlich im Brennpunkt der unmittelbaren (lewissheit stehen sollten^), wird jetzt jedes, auch das transscendentale Wissen, als nur „vermittelndes Denken", als „freies, auch zu unterlassen- des Raisonnement ' der „unmittelbaren Erkenntnis", dem „System der (Gefühle und des Begehrens" gegenüber- und dadurch mit den Syllogismen der Wolffischex Metaphysik fast auf eine Stufe gestellt^). Die Bellexion auf die Irra- tionalität und Unmittelbarkeit der individuellen Inhalte und die dadurch sich aufdrängende Einsicht in die logische Struktur des transscendentalen Abstraktionsbegriifs droht den ursprünglichen „Kopernikanischen " Sinn des syntheti- schen Apriori gänzlich zu verdrängen.

Damit ist Fichtes Denken zu einer eigenartigen Krise herangereift: grade durch die überscharfe Herausarbeitung, die übertriebene Ernüchterung der kritischen Lehre ent- steht als notwendiger Rückschlag eine Unzufriedenheit mit den „bisherigen Principien des Transscendentalismus "*). Denn dieser gewährt nur Wissen, aber das blosse Wissen vermag der undurchdringlichen „Realität", der lebendigen Wertfülle des Lebens nicht gerecht zu werden, nicht „Wahrheit' , sondern nur ein kaltes, gleich-

und verbinden", aber nicht „erschaffen", ibid. 395, vgl. 331, 398; der- selbe von Kants „Preisschrift" (1763) beeinflusste vorkritische f:mpiris- mus bei Jacobi (vgl. S. 142, Anm. 2), z. B. WW IV, 1. Abt., 72 f., 236, 2. Abt., 150, vgl. 132.

1) I, 508; hier eine genaue Reproduktion von Jacobis Ausfüh- rungen WW IV, 1. Abt., 210; gegen den unendlichen Progressus der Syllogismen, die ihren Inhalt durch unmittelbares „Gefühl" und „Glauben" in den „Prämissen" empfangen, Fichte IV, 147, 169 f., 172, V, 182, 353, 353 f., 356, 358, II, 25211'., Jacobi WW IV, 1. Abt., 32, 2101'.. I, 366 f., Hamann WW VII, 69, 326.

2) S. bes. 1, 23, 48, aber auch noch V, 181, Anm.

3) V, 352, 367 f. M Leb. II, 333.

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giltiges ..Bild' alles Wirklichen zu geben. „Ein System des Wissens ist not^^ endig ein System blosser Bilder, ohne alle Bealität, Bedeutung und Zweck" M. So fällt in der „Bestimmung des Menschen" die (Charakteristik derselben Wissenschaftslehre aus, die nach der früheren Autfassung die „Vernunft'" in ihrem grossen immanenten Zusammen- hang erfassen sollte. Was vorher als Inbegriff von Vernunft- werten gegolten hatte, wird Jetzt zu einer Schein- und Schatten weit, in der alle Realität sich in einen „Traum" verwandelt. (ienauer konnte des Glaubensphilosophen J.\(.()Hi Beurteilung der ^^'issenschaftslehre nicht bestätigt werden^). In die wahre „ausser dem Wissen liegende" und ..von ihm völlig unabhängige" Realität dringt nur das intuitive Erfassen durch den „Glauben" ein, wie das dritte Buch der ,, Bestimmung des Menschen" lehrt, das nicht nur in seiner Überschrift, sondern häufig selbst in der feineren Ausführung eine auch von den Glaubensphilosophen und andern Zeitgenossen bemerkte Annäherung an .Iacoiu zu erkennen giebt^- Das „durchgeführte, blosse und reine Wissen'' führt zu der Erkenntnis, ,,dass wir nichts wissen können". ,, Meine Philosophie hat ihr Wesen so gut im Nichtwissen'', sagt Eichtk, „als die J.\(;obis(:he"*).

i) II, 246, vi^l. 254 fr.

-) II, 241 f., 245 ff.; gradezu zu einem psychologischen Idealismus und Illusionismus wird genau wie in Jacobis Schriften die Wissen- schaftslehre entstellt, s. bes. 24C 247, 259 iY.

») Von 247 an; nur ein „anderes Organ" als das Wissen kann „Wahrheit" geben und die „Realität" ergreifen; ebendahin geht .UcoHis (irundanschauung, dass der „Ort des Wahren" ein höherer Ort sei als der des Wissens, s. z. B. WW III, 5/6, 26/7, 90 ff., 41, 44 ; vgl. dazu Je.\n Pauls Brief an Jacobi, Jean Paul WW (1841), XXIX,

284 u. Jacobis Antwort , fast abgeschrieben aus meinem Briefe

S. 26 u. 27." (Gemeint ist der „Brief an Fichte".) R. Zöppritz, Aus Fr. H. Jacobis Nachlass, 1, 240; übertreibend der dänische Dichter Baggesex, s. seinen Briefwechsel II. Teil, 292 f. „Er hätte es rein heraus sagen sollen: ich las und las wieder meinen Jacobi an Fichte, und die Beilagen, und auf einmal ging mir ein Licht auf . . . ." Vgl. 286, 290, 298. Vgl. ob. S. 152, Anm. 1, dazu noch J. H. Fichte, Beitr. z. Char. d. neueren Phil., 2. Aufl., 527 f., Anm. vgl. 521 ff., KuNO Fischeh, VI. 551 f., Windelband, Gesch. d. neuer. Ph., II, 288, Bergmann, Gesch. d. Phil., II, 205.

*) II, 254, Leb. II, 278, zugleich eine Bestätigung von Reinholds Äusserung, ibid. 244 und „Sendschreiben an J. C. Lavater und J. (i. Fichte", 79.

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Diese rn/ufVicMloiiheit mit der als leei'e abstrakte Re- tlexion endlich entlarvten Transscen(lentalphil()S()j)hie steigert sich zu einem immer kräftiger hervortretenden Bedürfnis nach einer ganz neuen S])ekulation darin besteht zweifellos der gewaltige, oft geleugnete, aber niemals hinwegzudeuteiide Umschwung in Fichtp:s Denken um die Wende des Jahi- hunderts. Und grade das Individuelle, früher als ,, Schranke" des F'ormalen ein bescheidener (irenz- begriff, erhält hier die Bedeutung einer das ganze System um gestalten den Kraft. Denn die Unzulänglichkeit des blossen Wissens soll sich grade darin zeigen, dass es das Individuelle nicht anders transscendental zu charakteri- sieren weiss, als durch die Aussage der Irrationalität. „Es ist dies eine übereinstimmende unbegreifliche Be- schränkung . . . ., antwortet die Philosoi)hie des blossen reinen Wissens, und muss dabei als bei ihrem Höchsten stehen bleiben'' V). An dieser von der früheren Theorie offen gelassenen Stelle hat nun der neue Individualismus des Intelligiblen einzusetzen; er fängt genau da an, wo die alte Spekulation notwendig aufhören muss. „Nämlich Wissenschaftslehre .... oder transscendentaler Idealismus genommen als das System, das innerhalb des Umkreises der Subjektobjektivität des Ich als endlicher Intelligenz und einer ursprünglichen Begrenzung desselben durch materielles Gefühl und Ge\^'issen sich bewegt und inner- halb dieses Umkreises die Sinnenwelt durchaus abzuleiten vermag, auf Erklärung jener ursprünglichen Be- schränkung selbst aber sich durchaus nicht ein- lässt: bleibt immer die Frage übrig, ob nicht, wenn nur erst das Recht, über das Ich hinauszugehen, aufge- wiesen wäre, auch jene ursprünglichen Beschrän- kungen erklärt werden können, das Gewissen aus dem Intelligibeln als Noumen (oder Gott), die Gefühle, welche nur der niedere Pol des ersteren sind, aus der Manifestation des Intelligibeln im Sinnlichen"-). Zur Er- reichung dieses Zieles, das der S])ekulation ganz neue Aufgaben stellt, bedarf es einer „noch weiteren Ausdehnung der Transscendentalphilosophie, selbst in ihren Prin-

1) 11, 302, ebenso V, 184 f., vgl. ob. S. 114.

2) Leb. II, 321.

164 -

cipien''^), und mit diesem Eingeständnis l)eginnt die neue metaphysische Epoche von Fichtes Philosophie.

Die tiefgehende spekulative Umwälzung aher, die sich hierhei vollzieht, und die sich uns in ihrem Kernpunkt als die neue AYertung des Individuellen darstellen wird, soll in ihrer ganzen Bedeutung erst zu Beginn des „dritten Teiles" gewürdigt werden, nachdem im nächsten Ahschnitt zuvörderst die weitere Ausgestaltung des alten transscendentalen Irrationalitätsprohlems innerhalb der metaphysischen Periode verfolgt worden ist.

Dritter Abschnitt.

Die Lehre von der Irrationalität des Individuellen in der metaphysischen Periode.

Die Lehre von der Irrationalität des Individuellen in der letzten Phase von Fi(:htp:s philosophischer Entwicklung zu verfolgen, bietet darum so grosse Schwierigkeiten, weil sich hier der für alle Gebiete seiner Spekulation beobachtbare Umstand geltend macht, dass die älteren Auffassungen nicht einfach durch neue abgelöst werden, sondern dass neben ihnen andere, sie nicht grade verdrängende, wohl aber mannigfach verschiebende und herabdrückende Be- arbeitungen von früher schon vorhandenen (iedanken auftauchen. Auch in der logischen Behandlung der empi- rischen Individualität ist diese gefährliche Vervielfältigung der Gesichtspunkte, nicht aber eine vollständige Verwand- lung eingetreten. Von einem gänzlichen Verlassen des früher eingenommenen Standjninktes könnte offenbar nur dann die Bede sein, wenn von jetzt an die Formen des Wissens, das Ableitbare, transscendental Begreifliche, über- haupt das Formale, Allgemeine zum Bange der alleinigen Bealität erhoben worden wäre, auf Kosten des ^Empirischen und Individuellen; wenn also die auf den kritischen Zufalls- begriff sich gründende .. n om in allst i sehe" Tendenz in ihrer Wurzel angegriffen worden wäre. Allein eine Strömung,

0 Ibid. 333. scheinbar widerrufen 34'2. vgl. Schellings richtige Bemerkungen ibid. 350 fT. und Jean 1\\uls Bericht über Äusserungen Fichtes, WW XXIX. 304.

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die sich grade gegen den Xoniinalismus rielüete, isl nicht aufgekommen. Trotzdem ist die Stellnng, die in der S])ekulation der letzten Jahre die emj)irische \\'irklichkeit einnimmt, von Grund aus erschüttert, trotzdem soll jetzt der hesonderen Bestimmtheit der Charakter echter Realität ganz ahgesprochen werden. Das geschieht aher nicht infolge einseitiger Betonung des ahstrakt A 1 1 g e m e i n e n, des -Unhestimmten, des „Üherhaupt", sondern zu dunsten eines üherempirischen Ganzen, einer ahsoluten Realität; also von einer ganz neuen meta])hysischen Grundlage aus.

Eine starke Komplicierung hedeutet es für die Auf- fassung der empirischen Wirklichkeit, dass durch meta- physische Beleuchtung das Endliche und Besondere noch in einen ganz anderen Gegensatz hineingezogen wird, als in den zum ahstrakten Allgemeinhegriff, wie es hisher der Fall war, und dass die alte kritisch hestimmte Gru])])ierung sich so mit einer neuen metaphysisch hegründeten he- gegnet. Diese an den Standpunkt von 1794 erinnernde Zerklüftung des vorher einheitlich gefassten logischen Indi- vidualitäts- und Zufallshegriffs wird wiederum durch das Nebeneinanderbestehen jener beiden Hauptbehand- lungsarten erklärbar, denen nach unseren früheren Aus- führungen das erkenntnistheoretisch-metaphysische Individuationsproblem unterworfen werden darf (s. S. 65). Man kann ja entweder die Beziehungen des Be- sonderen zum Allgemeinen, der einzelnen Dinge zu den reinen Formen, untersuchen oder das Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen, des Teiles zum Ganzen, des Vielen zum Einen, erörtern. Der streng kritischen Behandlung liegt das erstere Schema zu Grunde, während die anderen Fragestellungen erst in einer metaphysisch bestimmten Denkungsart auftreten können. Ein Verhältnis des Endlichen zum Unendlichen lässt sich nämlich nur dadurch gewinnen, dass der Gedanke der anschaulichen „Universitas'" auf rein begriffliche Verhältnisse übertragen^), die „Idee" einer vollendeten Erkenntnis zugleich als Erfassen des Absoluten gedeutet wird.

Durch diese Doppeltheit der Betrachtung wird ein unver- söhnlicher Zwiespalt in die ganze Spekulation hineinge-

1) Vgl. S. 54 fl", 64 tr.

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Israelit. Denn wenn auch durch sie nicht eigentlich die „nominalistische Tendenz zurückgedrängt wird es handelt sich ja nicht um eine Hy])ostase des Allgemeinen so stellen sich doch alle jene pantheistischen und monisti- schen Spekulationen unfehlhar ein, die die Selbständigkeit des Individuellen von einer andern Seite her stets zu ver- nichten drohen. In der ganzen Periode nach 1800 ver- wandelt sich denn auch die schon vorher J)ei Fichte stark ausgeprägte ethische Priorität des (iattungszweckes, dem das Individuum sich aul'zuopfern hat, also auch aul ethischem (lebiet nicht die Hypostasierung eines Allge- meinen, sondern eines üherindividuellen Ganzen in einen metaphysischen und ontologischen Universalismus M. Die Platonische und Spinozistische Grundanschauung, dass das Endliche die meta])hysische Sünde oder der Abfall vom Absoluten ist und dass sein Wesen allein in der Sehnsucht nach dem Unendlichen besteht, bricht vollständig durch. Vor dem wahren durchdringenden Schauen ver- schwindet die in unendliche Teile zersplitterte empirische Wirklichkeit; sie entlarvt sich nicht nur als das Wert- lose, sondern auch als das Nichtseiende, das Widerspruchs- volle, als Schein, als ein von der wahren Logoss])ekulation als solches erkanntes Truggebilde. Diese Begründung einej- „Phänomenologie"^) scheint nun allerdings auch den kriti- schen Antirationalismus völlig unterwühlen zu wollen. Allein durch die am Schluss des vorigen Abschnittes (vgl. S. 160 ff.) erwähnte Herabdrückung der Bedeutung des Wissens wird ein Zusammenbestehen, eine gegenseitige Anpassung der einander widerstrebenden Antriebe möglich gemacht. Jenes unmittelbare Schauen des göttlichen Lebens nämlich, der „Gedanke", die Vernunft (^^o-^o,-) ist jetzt neben das „Wissen" im älteren Sinne getreten und ihm über- geordnet. Was sich darum vor einem höchsten Schauen als wesenloser Schein verflüchtigt, braucht von dem Wissen in dem gewöhnlichen und nüch-

i) Dieser Universali.smu.s liinsictitlich des Ganzen ist wohl zu unterscheiden von dem K.wtischex Universaiismus hinsichtlich des Allgemeinbegriffs.

•^) Dieser Ausdruck z. B. Nil, 195 ri804); schon 1802 wird er von Reixhold gebraucht, s. Beiträge zur leichteren Uebersicht des Zustandes der Philosophie u. s. w. Heft IV, 104, 109 ff.

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ferneren Sinne noeli nicht in seiner relativen Selb- ständigkeit nnd Irrationalität geleugnet und über- sehen zu werden. Denn das diskursive Wissen wird ja nicht gradezu vernichtet, sondern nur einer höheren Intuition untergeordnet. So erlel)en \n ir den merkwürdigen Vorgang, dass die empirische Wirklichkeit einerseits pantheistisch weggedeutet, andrerseits aber doch wieder kritisch und iintirationalistisch als l'ür das „Wissen" unübersteigliche Grenze nachdrücklich hervorgehoben wird.

Durch den dargelegten Thatbestand wird zugleich der Weg, auf dem man sich am besten die also verwickelte Lehre von der individuellen empirischen Wirklichkeit ver- gegenwärtigt, klar vorgezeichnet, t^s wird erforderlich sein, sich zunächst von dem Fortbestehen der kritischen Richtung zu überzeugen, sich dann den Übergang zur meta])hysischen Fassung begreiflich zu machen, endlich innerhalb der letzteren selbst die Spuren einer Betonung der Irrationalität aufzusuchen.

I. Kapitel.

Das Fortbestehen der kritischen Fassung.

Durch das Fortbestehen kritisch-irrationaler Elemente inmitten universalistischer Leugnung der Sonderexistenz bewährt sich von Neuem die nachhaltige Bedeutung der um 1797 festgelegten transscendentallogischen Grund - anschauung.

Mit der Beibehaltung des alten Dualismus von Form und Materie wird dem Empirischen auch jetzt noch eijie selbständige Bedeutung gewahrt und die empiristische Tendenz in die neue Spekulation hinübergerettet. ..Das Empirische ist zwar seinem Dasein nach, durchaus aber nicht seiner Bestimmtheit nach begreiflich" ^). Hier liegt noch der alte Gegensatz von Bestimmtheit überhaupt (., seinem Dasein nach") und besonderer Bestimmtheit, von vorbildlicher, „gleichsam ein Gesetz" vorschreibender Be- wusstseinsthätigkeit^) und einzelnem Verwirklichungsfalle

») X I, 314.

'■*) II, 49, vgl. 133: „lediglich i'ormale Gesetzgebung im Wissen."

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zu (irunde. Der nominalistische Gedanke besteht noch, dass, soll es zu einem „wirklichen " Wissen kommen, die unbestimmte Unendlichkeit sich zu einem ..bestimmten Quantum" determinieren muss\), das Wissen sich nur in einzelnen ..Punkten des Sichergreifens' zu ..realer An- schauung" verdichtet-) und die absolute Bestimmtheit „erste Grundlage und ursprünglicher Entzündungspunkl alles Wissens" ist"). In dem ..Koncentrationspunkte " des Wissens, den Fichtp: wieder Gefühl nennt, soll das ..Princip der Individualität" entdeckt sein*).

Von der individuellen Bestimmtheit aus lässt sich der Begriff als unendliche Unbestimmtheit oder als blosse ., Bestimmbarkeit ^) verstehen, in der für eine mögliche Bestimmung der Platz ins Unendliche ..leer gelassen'" wird*'). Ihm gegenüber erscheint dann wiederum das Individuelle gleichsam als das Ergebnis eines unendlichen Bestimmungs- processes, als das durch und durch Gestaltete, individuell Ausgeprägte. Der „zu gestaltende Stotf ') des freien Kon- struierens und Erzeugens, die form- und ([ualitätslose Wissens -uXr, wird hier als an feste Bestimmtheit gebunden gedacht. Man kann den Unterschied der Wirklichkeit vom Formalen transscendental symbolisieren als ein kräftiges Sich-Losreissen des Wissens von dem haltlosen Schweben über der unendlichen Unbestimmtheit-). Ein Denken, das sich nur in der Sphäre der Unbestimmtheit hält, ist leer und zerstreut, schwebt in dem Standpunkte des Absoluten, „wo es aber vor lauter Absolutheit zu gar nichts " kommt^).

Diese klare Veranschaulichung des Unterschiedes zwischen Allgemeinem und Besonderem drängt wiederum unmittelbar zu der Einsicht in den zwischen beiden be- stehenden, für jedes Begreifen unauf hebbaren Abstand.

') S. z. B. 11, 112. 2) Z. B. ibid. 84, 112. :<) Ibid. 43.

*) Ibid. 1121'., vgl. 63911"., wo der actus concentrationis dem actus individuationis gleichgesetzt wird; vgl. ferner ibid. 116, 121.

5) Leb. II, 343.

6) S. z. B. II, 102, 243, vgl. I. 116. ') N I, 55, vgl. II. 121.

8) Vgl. ibid. 102, 133. ^) Ibid. 58.

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Für uns hat der einzelne Wirklichkeitsj)iinkt kein festes, angel)bares Verhältnis zu der all<*enieinen Form, deren Koncentration er doch darstellt, er ist „ein Punkt zwar, der aber nirgends steht, sondern in dem unendlichen leeren Raum flattert'^). Das Hervorgehen des Bestimmlen aus der Bestimmbarkeit ist eben das Geheimnis der einzelnen Wirklichkeit. Von der Unbestimmtheit den Faden des Be- greifens fortzuspinnen bis zur Bestimmtheit, d.h. bis zur individuellen, konkreten Bestimmtheit denn eine andere giebt es nicht - liegt nicht mehr in der Machtsphäre der philosophischen Deduktion. Der Unentschiedenheit unseres Denkens muss eben die Brutalität der Wirklichkeit ein Ende machen. Brutalität ist das „Gesetz" der Wirklich- keit, das einzige und absolute^). Die Brutalität hat lerner zur Folge, dass die Wirklichkeit in ihrer Unberechenbar- keit nur abgewartet und hingenommen werden kann, stets „neu" und überraschend sein muss^). Dieses plötzliche Abreissen aller Fäden der Spekulation bei der Thatsache der brutalen Wirklichkeit nennt Fichtk den absoluten, durch keine Reflexion auszulüllenden, sondern eben das Letzte, Unerreichbare des Wissens selbst ausmachenden „hiatus"*). Die Wirklichkeit mag man sich darum zwar als „Produ- cieren" durch das Ich denken, aber wohlgemerkt als Produ- cieren eines Objekts, „über dessen Entstehen keine Rechen- schaft abgelegt werden kann, wo es demnach in der Mitte zwischen Projektion und Projektum finster und leer ist, wie ich es ein wenig scholastisch, aber, denk ich, sehr bezeichnend ausdrückte, die proiectio per hiatum irrationalem " '^).

Die absolute „Fakticität" ist sich selbst höchstes und einziges Gesetz, d. h. sie ist der gewaltsame Bruch mit allen (lesetzen; die Fakticität ist als Brutalität des Wirk- lichen „eben die Gesetzlosigkeit selbst'*'). Da der Begriff der Gesetzlosigkeit auch für Fk.htes Geschichts- betrachtung von grosser Wichtigkeit geworden ist und da seine geschichtsphilosophische Theorie das Individuelle dem

i) Ibid.

2) N I, 313, 351.

3) II, 123, vgl. V 442, N I, 429 u. sonst. *) II, 121, vgl. 40, 53, N I, 185.

s) NU, 210. Ferner: 200, 203, 212 ff., 216 ff. 8) NI, 319, ebenso z. B. 313, 550.

Lask, Fichtes Idealismus uud die Geschichte. 12

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.,Gesetzlichen" gegenül)erstellt '), so imiss der kritische Sinn dieses Begriffs schon hier genau festgestellt und vor Missdeutungen geschützt werden. Durch die Lehre von der Gesetzlosigkeit des Besonderen wird vor allem nichts darüher ausgemacht, oh das Individuelle unter Gesetze falle oder nicht; sondern es wird nur hehauptet, dass wir in- folge der eigentümlichen logischen Organisation unseres Erkennens es in seiner Einzigkeit und Einmaligkeit aus den Gesetzen, unter die es fällt, nicht ahzuleiten ver- mögen. Die einzelne Wirklichkeit hefolgt Gesetze, aher sie folgt nämlich für unser Begreifen nicht aus ihnen'-). Um dieses Xichtfolgen des Wirklichen aus dem Eormalen auszudrücken, dient auch in der späteren Zeit noch die Behau])tung der transscendentalen „Zufällig- keit"').

Obwohl Eichte sich mit der Logik der Naturwissen- schaften fast gar nicht beschäftigt hat, so wurde er dennoch durch seine transscendentale Spekulation an einigen Stellen dazu geführt, das Verhältnis der „Vernunftgesetze" zum besonderen Erkenntnisinhalt auch auf die analogen Be- ziehungen zu übertragen, die zwischen den Gattungsbegriffen des Geschehens, den Naturgesetzen, und der empirischen Wirklichkeit bestehen. .\uch innerhalb der naturwissen- schaftlichen Begriffswelt lässt die vollständige Kenntnis der Gesetze uns nie bis zu ihrer einmaligen Äusserung im konkreten Ealle vordringen. Dass die Inhalte der unmittel- baren „Gefühle" „Resultat der Wechselwirkung des Ein- zelnen mit dem Eniversum sind, sagt das sich selbst er- klärende Wissen. Wie nun aber die Naturkräfte es machen, nach welcher Regel und Gesetz, um sich grade so zu äussern, wird keiner sagen können, und dies ist eben der beschriebene absolute hiatus'*).

1) Vgl. S. 21/22, 24, Anm. 1 und Kap. III des „dritten Teiles".

2) N I, 515, vgl. ibid. 264/5 über das Verhältnis von Rauni- konstruktion und Qualität: es besteht zwischen ihnen „keine Folge des Einen aus dem Andern", „keine konstruierbare und sichtbare Gesetztheit des Einen durch das Andere".

3) Vgl. II, 136/7, 40, 84: Zufälligkeit = hiatus; Wissenschaltslehre von 1804: „Nichtgenesis" = hiatus irrationalis; NM, 438: „Wirklich- keit" als Unkonstruierbarkeit.

') II, 123, vgl. NI, 433, 515.

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Ks imiss zu den l)leil)eii(lcMi Verdiensten der Wissen- schaftslehre gerechnet werden, dass sie den unansgleicii- l)aren Gegensatz zwischen den „Gesetzen" im weitesten Sinne, d. h. dem Allgemeinen im Wissen, und der indi- viduellen Wirklichkeit so klar erkannt hat. Gesetz und Wirklichkeit hleihen gemäss dieser Einsicht inkommensu- rahle (irössen. Das „Anschmiegen" M des Gesetzes an die -Wirklichkeit ist unbegreiflich. Allerdings droht zuweilen die iiiietaphysische Leugnung der Einzelwirklichkeit sogar die transscend entalePassung des Irrationalitätsgedankens zu vernichten-); allein andrerseits fehlt es doch grade auch in der metaphysischen Epoche nicht an unzwei- deutigen Erklärungen, dass sogar von Seiten der tiefsten Spekulation dem Individuellen eine selbständige Bedeutung zuzuerkennen sei-^). Eine besonders wichtige Äusserung für das weitere Eesthalten am kritischen Antiratio- nalismus findet sich in einem Briefe an den damaligen Hauptvertreter des Irrationalismus, an Jacobi: ..Koeppexs ganze Weisheit nämlich scheint mir darauf hinauszulaufen, dass dem Wissen immer etwas vom Begriffe durch- aus nicht zu Durchdringendes, ihm Inkommensupables und Irrationales übrig bleibe; . . . wie wäre es, wenn grade in dieser Einsicht das Wesen der Philosophie läge und diese ganz und gar nichts anderes wäre als das Begreifen des Unbegreiflichen als solchen? ... Wie wäre es, wenn grade darin, dass weder Kant noch die Wissenschaftslehre als dieses gefasst worden, von Ihrer Seite das an uns ausgeübte Missverständnis bestände'?"*) Hätte sich mit der metaphysischen Er- drückung des Individuellen durch das Absolute ein ent- sprechendes Überwiegen der allgemeinen Eormen ülfer den empirischen Erkenntnisfaktor eingestellt, dann müsste Fichte jetzt dem ..bodenlosen " Idealismus eines Beck ver- fallen sein. Aber grade einen solchen ., leeren und formalen" Idealismus lehnt er auch in der späteren Zeit nachdrück- lich ab, und zwar oft mit schroffer Wendung gegen die universalistische Ausmerzung des Individuellen^).

i) II, 136.

2) S. z. B. II, 117, 640 ff.

s) Z. B. V, 459, vgl. auch VII, 127.

1) Leb. II, 176f.; vgl. noch N I, 299f., 319, 428 f., Nil, 217.

•■*) S. besonders N f, 437 f., vgl. 307.

12*

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Zur Hypostase des Absoluten gesellt sich somit nicht ein „Realismus" der Formen. Ficht?: unterscheidet sich des- halb auch in seiner metaphysischen Periode von Schelling, der mit der Hypostase des Absoluten noch die Substan- tiierung der ., Ideen" verbindet, und ähnelt am meisten Spinoza, der zwar den Begrif! der Einen Substanz, die nicht ein Allgemeines, sondern ein Ganzes bedeutet, auf- stellt, die Verdichtung der Gattungsbegriffe (notiones uni- versales) zu Realitäten dagegen ablehnt'). Fichtk huldigt zwar einem monistischen Eleatismus^), vor dem plura- listischen Eleatismus Platos, vor der Hypostasierung der Gattungsbegriffe bewahren ihn dagegen noch die Nach- wirkungen des früheren ..Positivismus und .. Xomina- lismus".

11. Kapitel. Übergang zur metaphysischen Fassung.

Die metaphysische Fassung des Endlichkeitsproblems tritt bei Fichte nicht unvermittelt neben die Ergebnisse der kritischen Forschung, sondern erweist sich als hin- durchgegangen durch die transscendentale Fassung des Irrationalitätsgedankens, als durchsetzt mit kritischen Ele- menten und deshalb als sehr unterschieden von den ge- wissermassen naiven Fragestellungen der älteren Speku- lationen über das Individualitätsproblem. Aus diesem Grunde wird die Aufdeckung der bei Fichte wirksam ge- wordenen Vermittlungsglieder zwischen Transscendental- ])hilosophie und Metaphysik erforderlich.

Der transscendentallogische Zufallsbegriff beruhte auf dem Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen. Allein wir haben bereits eine zweite Beleuchtungsart der Irratio- nalität, nämlich den Vergleich unseres Erkenntniszustandes mit der Idee, kennen gelernt (s. S. 51 ff.), durch den ver- ständlich wird, dass man ohne Überschreitung der trans- scendentalen Bahnen zu einer Behandlung des Problems

ij Vgl. jedoch ob. S. 66.

2) Dass ScHELLiNü die Existenz der räumlichen und zeitlichen Dinge leugnet, nennt Fichte den „Standpunkt der echten Spekulation". N III, 377, vgl. 385.

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gelangen kann, für die der alte Gegensatz des Formalen und des Inhaltliclien jedenfalls bedeutungslos wird. Da- durch ist die Aussieht auf ein noch weiteres Fortgleiten, mitten in die metaphysische Fragestellung hinein, eröflnet. Der Zersetzungsprozess selbst aber, dem die kritische Scheidung in formale und inhaltliche Bestandteile verlällt, verläuft in seinen Anfangsstadien noch ganz innerhalb der Ji^ritischen Grenzen. Es gelingt nändich, durch den Hin- weis auf die „Unendlichkeit" des Wissens ein Übergangs- glied zu ermitteln, das sich einesteils eng an den hiatus anschliesst,andernteils aber doch denCiedanken der logischen Zufälligkeit so umformt, dass er von selbst auf den meta- physischen IndividualitätsbegrifT hindrängt.

Dass grade der Begriff der l'nendlichkeit sich für das Irrationalitätsproblem fruchtbar machen lässt, kann leicht durch die irrationale Wurzel in der Arithmetik klar gemacht werden, bei der durch eine unendliche Reihe, also durch Annäherung ins Unendliche, eine positive Grösse ausgedrückt wird M. In analoger Umschreibung darf die irrationale ^YissensgrüSse, die Inkommensurabilität von Wissen und Wirklichkeit, durch eine unendliche Reihe des Begreifens dargestellt werden. .,Es könnte nun wohl sein, dass in dieser Unbegreiflichkeit, die als Unbegreiflich- keit eben dennoch wieder begriffen würde, die Er- scheinung unendlich wäre, und dass sie so eine unendliche Reihe des Begreifens (der Unbegreiflich- keit nämlich) beschriebe . . ."-). Die Verwandlung der Unbegreitlichkeit in die Unendlichkeit des Begreifens ist blos eine neue Wendung dafür, dass der transscendentale ZufallsbegrifT nicht eine mystische Zuftilligkeit, sondern nur eine Beziehung zum Wissen oder Begreifen ausdrückt. Der Gedanke der Inkommensurabilität gerät dadurch in engsten Zusammenhang mit der Forderung unaufhörlichen Strebens, die der NMssenschaftslehre von vornherein eigentümlich war; die Thatsache des hiatus ist der beständige Hinweis auf ein unendliches Fortschreiten des Wissens, das sich nicht anders als in einem unabschliessbaren „Svstem des

1) Vgl. Leben II, 345.

2)NI, 412, ähnlich bereits I, 143 0".; der Vergleich mit der .Jrrationalzahl" auch bei Schellixg W W I, 314, 451 f.

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Werdens' ^) vollziehen kann. Hegels Polemik gegen den ..unendlichen Progress" und die ..schlechte Unendlichkeit" heweist darum wieder deutlich den weiten Ahstand zwischen Panlogismus und Wissenschaftslehre.

Repräsentiert somit jeder individuelle Wissensinhalt als irrationale Grösse schon für sich eine unendliche Reihe des Begreifens, so steht er überdies noch mitten in einer unahgeschlossenen Gesamtheit des ..Werdens": und da- durch überträgt sich das Merkmal der „Unendlichkeit" auch noch auf dieses sein Verhältnis zum Ganzen. Denn innerhalb der zertliessenden Unendlichkeit ist auch eine feste Einstellung der konkreten Einzelbestimmtheit un- denkbar. „Mit dem Unendlichen", sagt Eichte, ..giebt es gar kein Verhältnis"-). Da das geschlossene Ganze fehlt, in das das Einzelne als Teil fest eingegliedert werden könnte, so sind unberechenbar viel neue Er- scheinungen möglich, denen gegenüber durch eine Ab- grenzung jedesmal ein Scherflein zur genaueren Durch- dringung des in Frage stehenden Einzelinhaltes beigetragen würde. Die Einzelbestimmtheit kann mit der sie um- gebenden Unendlichkeit nicht anders in Beziehung ge- bracht werden, als durch einen ins Unendliche immer weiter gehenden, immer genauer eindringenden Process der Determination. Das Individuelle wird deshalb aus einer unendlichen, d. h. für unser Begreifen unbeherrsch- baren Fülle von Beziehungen zu den unendhch vielen anderen Dingen zusammengesetzt, und bei jedem wieder- holt sich dieselbe Schwierigkeit. Bereits in der „Grund- lage" von 1794 hatte Eichte versucht, das ,,unendliche" Urteil dadurch für die Transscendentalphilosophie frucht- bar zu machen, dass er es als Annäherungsprocess, als „ins Unendliche fortgesetztes negatives Bestimmen" fasste-^).

Der Begriff der Unendlichkeit prägt sich dadurch

') S. NI, 339. vgl. II, 106, 124, 126, 127.

2) N I, 237. Diese ganze Verwertung des l'nendlichkeitsbegriHs erinnert wieder stark an M.\imon, vgl. ob. S. 122.

3) I, 321 f. Besonders deutlich 117,118: K.vxt und seine

Nachfolger haben daher diese Urteile sehr richtig unendliche ge- nannt . . ." Unter den .,Nachf olgern" ist hauptsächlich Maimon ge- meint, dessen Lehre, vom unendlichen Urteil auch Schellixg (WW I, 221) besonders hervorhebt. ~'

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allmälilich in zwei f^anz verschiedonen Hodoiit ii n^en ans. „Unendlich" heisst erstens das schleehliiin Allge- meine, das Allernmlassendste, das völlig l'nbcslinimle, nnd bildet so den Gegensatz zn endlicher Bestimmtheit. Zweitens aber bedeutet „unendlich" grade die überreiche Fülle, die unendlich leine Gestaltung des Individuellen, im Ciegensatz zu dem abgeschlossenen, also endlichen Wissen .eines fmgierten Ideals der Erkenntnis. Die zweite Bc- deutiung gehört mehr der sj)äteren Zeit an, in der die rnbegreif'lichkeit des Anschaulichen durch die ., unendliche Reihe des Begreifens" ausgedrückt wird. Darum heisst es jetzt: „unendlich und unerschöpfbar ist blos die An- schauung" M. In die bestimmte und unendlich gestaltete W' irklichkeit muss sich nach dieser Auffassung das Wissen bis in alle Unendlichkeit versenken; das Individuelle stellt ein „in seinen Einzelnheiten" Unendliches^), ein „unendlich Mannigfaltiges" oder „ins Unendliche Mannigfaltiges" dar^), die konkrete Wissensverwirklichung eine „unendliche Fakticität des einzelnen Wissens"*).

Bevor gezeigt wird, wie dieser zweite Unendlichkeits- begriff den Gegensatz von Form und Inhalt zersetzt, soll sein Hineinpassen in das ältere transscendentale Schema noch an einem andern Punkte erprobt werden. Da Unerschöpf- lichkeit mit Inkommensurabilität zusammenfällt, so kommt die Eigenschalt der Unendlichkeit grade der von der for- malen Gesetzgebung übriggelassenen, von ihr durch den hiatus getrennten Region zu. Der Gegensatz von Form und Inhalt, von Begreiilichkeit nndUnbegreillichkeit,Durchdring- barkeit und Undurchdringbarkeit, lässt sich somit jetzt zu- gleich auf den von Endlichkeit und Unendlichkeit zurückführen. In der Unbegreiflichkeit beschreibt die Er- scheinung eine „unendliche Reihe des Begreifens ", „während sie in Absicht des eigentlich und durchaus positiv Be- greiflichen an sich endlich wäre, und das Begreifen durchgeführt und zu Ende gebracht werden könnte, was ja ohne Zweifel die Wissenschaftslehre sich anmutet, und in derLösung welcher Aufgabe ihr Wesen wohl bestehen dürfte."

0 N I, 336.

*0 N III, 386.

•") S. z. B. II, 243, 374, N I, 349, X II, 335 C, 481.

1) II, 55.

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Ausdrücklich wird zwischen „unendlichem Begreifen (der Unbegreiflichkeit als solcher)" und endlichem Be- greifen unterschieden^). Den Gegensatz zur Unendlichkeit bildet demnach nicht nur die „Idee " eines vollendeten Wissens, also die al)Solutc Vernichtung der Inkommensurabilität und Unendlichkeit; sondern noch innerhalb unseres E^rkennens besteht neben der Irrationalität des Faktischen die abge- schlossene Wissenssphäre des „Systems ", die sich aber nur auf die lediglich formale Gesetzgebung zu erstrecken hat'^). Soweit diese Beschränkung des Systematischen oder ..End- lichen" auf das formale A])riori streng festgehalten wird, kann der Wissenschaftslehre nicht mehr der Vorwurf gemacht werden, dass sie durch gewaltsame und übertriebene Syste- matik der harten Wirklichkeit Herr zu werden trachte. Ein vollendetes System nur der Begriffe ist eben nicht ein panlogistischer Organismus der gesamten Wirklichkeit (vgl. S. 82)'').

Von diesem selbständigen Werte, den der Begriff" des Unendlichen als noch ganz kritisch bleibende Erläu- terung der Inkommensurabilität beansprucht, ist kaum seine andere Funktion zu trennen, in der er nämlich das Übergangsglied zu einer nicht mehr kritischen Fassung dieses Problems werden kann. Soll das Verhältnis des einzelnen Wissenspunktes zur (jesamtheit der Empirie nicht als ein ins Unendliche zerlliessendes gedacht werden, so werden wir damit eben auf die ..Idee" einer sicheren Einstellung in ein geschlossenes Ganzes unmittelbar hin- gewiesen. Überall, wo von der Unendlichkeit die Bede ist, ruht diese Vorstellung im Hintergrunde: „Das unend- liche Mannigfaltige der Gesichte würde wenigstens in der Idee (auszuführen ist es freilich nicht wegen seiner Unendlichkeit) eine organische Einheit, aus deren jedwedem Teile sich herstellen Hesse das Ganze " 0- Fak- tische Unvollendbarkeit der Erfahrung ist ganz dasselbe wie in der Unendlichkeit liegende Vollendung und Ge- schlossenheit.

1) NI, 412.

2) S. vor allem VII, 107, ferner II, 49, N I, 336, N II, 335.

3) Ausdrücklich hervorgehoben N I, 551. 1) N II, 481.

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Dadurch hnt aljer der Unendlichkeitsljc^rifT die lie- trachtuiig von der alten kritischen Unlerschei(king zwischen Form und Inhalt des Erkennens al)gelenkt. Denn dass in dem Gedanken des geschlossenen Ganzen die Dualität des Allgemeinen und des Besonderen in der That fallen gelassen ist, folgt am einfachsten aus der Überlegung, dass die vollendete Erkenntnis in der „Idee" nicht etwa ^ein System von Gesetzen sein kann. Grade für das Be- greifeji der Individualität als solcher ist nämlich nichts geleistet, wenn auch die gesamte Wirklichkeit ausnahms- los unter Gesetze gebracht und vollständig systematisiert worden wäre, da dann immer noch ein Besonderes einem Allgemeinen unableitbar gegenüberstände. Vielmehr nur nach Analogie der für uns allein möglichen, nämlich auf das lediglich Formale anwendbaren Systematik, nur als deren tingierte Ausdehnung auch auf das Inhaltliche, also als vollständige Konstruierbarkeit und Berechenbarkeit der gesamten Erfahrung, als völlig abgeschlossenes und doch völlig erschöpfendes Erkennen, ist jenes Ideal zu denken. An die Stelle der Kluft zwischen Form und Inhalt, zwischen Allgemeinem und Besonderem, ist dann ein unmittel- bares BegrifTensein alles Einzelnen in der Gesamtheit des Wissens getreten^). Die Einzel Wirklichkeit oder das Einzelwissen verhält sich dabei zu der geschlossenen Summe des Wissens wie der Teil zum Ganzen oder der Modus zur Substanz.

Wird nun gleichzeitig das in der Idee liegende. „Ganze' des ^^'issens zu einer metaphysischen Bealität hypostasiert, so ist damit die Möglichkeit der meta- physischen Fassung des Individualitätsproblems in ihren einfachsten Grundlinien verständlich gemac-ht. Wir beobachten demgemäss überall bei Fichte, dass die Umdeutung der logischen Irrationalität in das meta- physische Verhältnis von Einzelding und ..Universum" durch die H y p o s t a s i e r u n g d e r g e s c h 1 o s s e n e n W i s s e n s - totalität vermittelt wird-). Die ideale Logik eines intuitiven Verstandes ist dadurch wiederum zu einer für uns mög- lichen metaphysisch-emanatistischen Logik geworden.

i) Die Idee wird darum häufig das „Ganze des Wissens" genannt, s. z. B. II, 110.

2) S. z. B. die ausführliche Stelle II, 105 tl".

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F"s ist jedoch von Wichtigkeit, vor der I)etrachtiing dieses metaphysischen Ahschwenkens den kritischen Aus- gangsj3unkt des ganzen Gedankenganges festzustellen. Er lässt sich dahin zusammenfassen: soll die individuelle Bestimmtheit vollständig, d. h. nicht mehr als ins Un- endliche noch weiter charakterisier])are, sondern als ahge- schlossene, fest umgrenzte Wirklichkeit hegriffen werden, so muss als Hintergrund für sie eine Bestimmtheit im (irossen, ein ..geschlossenes Ganzes" des Wissens konstruiert werden, wodurch jene individuelle Bestimmtheit als GHed einer ühersehl)aren Gesamtheit begriffen und eindeutig innerhall) dieser umfassenden Einheit lokalisiert wird. Man kann kurz sagen: so wahr es eine geschlossene Einzelwirklichkeit giebt, so wahr muss es für die Idee eine geschlossene Gesamtheit geben. (Vgl. zu diesen Aus- führungen Abschn. 1, Kap. I, D.) Zur Wahrung der streng kritischen Betrachtungsweise ist es deshalb zunächst er- forderlich, dass man von der geschlossenen Einzel- bestimmtheit, der endlichen empirischen ..Wirklichkeit des Wissens" ausgeht und sich dann von ihr aus zum geschlossenen ..Ganzen", das erst in der Unendlichkeit liegt und nur als Idee aufzufassen ist, forttreiben lässt. Dieser Ausgangspunkt wird denn auch von Fichte selbst häufig als das eigentlich Entscheidende erkannt und sehr klar hervorgehoben. ..Ganzes wurde es ja sichtbar dadurch, dass das einzelne Wissen sich eben als ein geschlossenes Einzelnes auffasste, welches, da esBesultat einer Bestimmung durch alle anderen sein soll, doch nur einer geschlossenen Summe Resultat sein kann"'). Wo dagegen der meta- physische Dogmatiker das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen behandelt, schlägt er einen ganz andern Weg ein und lässt sich nicht zum Ganzen forttreiben, sondern geht, wie Fichte selbst früher (s. S. 88f), vom Absoluten aus. Ihm ist es verborgen, dass das, was er für eine starre, absolute Realität ausgiebt, im Grunde lediglich das

M^k^TlO, vgl. 106 7, N 1, 237, II, 118. Das geschlossene Ganze stets ..organisiert" oder ..organisch" (s. z. B. II, 105, vgl. bereits IV, 109, 113 0, in späteren Schriften (Wissenschaftslehre 1801) auch .,Universum" genannt, oder „Sinnenwelt" (N I, 313). Es ist eben- sowohl als psychisch, wie als physisch, als ..Welt der Iche", wie als ..Welt der Objekte des Bewusstseins dieser Iche" zu denken, s. N I. 313.

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verdichtete und mir nicht als solches eikanntc (iehihie seines eigenen Streifens ist, „etwas Absolut- Erstes, eine höchste Einheit" in die Mannigfaltigiveit der Erfahrung zu bringen'). Trefflich hat deshalb S(:mklm\(;, als er noch Anhänger der kritischen Wissenschaftslehre wai-, bemerkt, dass man zwar vom Unendlichen nicht zum Endlichen, aber umgekehrt vom Endlichen zum Unendlichen über- gehen dürfe-).

. Allerdings ist Fichte , wie bereits bemerkt wurde (S. 177), bei dieser kritischen Kennzeichnung des Problems nicht stehen geblieben. Das vom kritischen Standpunkt aus allein zulässige Fortgleiten der transscendentalen Über- legung von der Si)altung zwischen Form und Inhalt zur Idee und die dadurch eindeutig vorgeschriebene Reihen- folge der (iedanken, nach der wie dem Allgemeinen so auch dem Ganzen gegenüber die individuelle Einzehvirklich- keit den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt bilden muss, hat er nicht streng befolgt. Sonst hätte er die meta- physische Fassung des Endlichkeitsproblems nur ver- ständlich machen dürfen, sie aber zugleich verwerfen müssen. An Stelle der Meiai)hYsik des Irrationalitäts- gedankens hätte er der Analytik eine Dialektik dieses Problems folgen lassen müssen; da er dies nicht mehr ver- mochte, sehen wir die frühere Einheitlichkeit seiner Er- kenntnistheorie sich in einen unversöhnlichen Antagonis- mus verwandeln.

III. Kapitel.

Die metaphysische Fassung.

Bei dem engen Zusammenhang der metaphysischen Ausgestaltungen des Irrationalitälsproblems mit Gedanken-

1) Vgl. I, 121.

2) WW I, 314 f. „Kein System kann jenen Übergang vom Un-

endliclien zum Elndlichen realisieren; kein System kann

jene Kluft ausfüllen, die zwischen beiden befestigt ist." Hierbei mag ein Ausspruch Jacobis, auf dessen Gedanken Schellixci in diesen Ausführungen ganz ausführlich eingeht, vorgeschwebt haben. Er lautet: ,.Aber wie hat das Zeitliche von dem Ewigen erzeugt werden können; welch ein mögliches Verhältnis beider zu einander lässt sich, menschlicher Weise, denken? Diese Kluft füllt keine Philosophie Jacobi, W W 1, 248.

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gangen der Transscendentalphilosophie müssen zunächst noch einige Verwicklungen ins Auge gefasst werden, die der kritische Begritf der Unendlichkeit notwendig im Ge- folge hat.

Wieder werden Fichtes Erörterungen darüber am besten durch mathematische Bilder veranschaulicht. Wie in der Mathematik durch eine endliche Linie dasselbe sich geometrisch darstellen lässt. was sich arithmetisch in eine unendliche Reihe verwandelt, so kann sich dem .,Geführ" oder der ..Anschauung" unmittelbar etwas erschliessen, dem sich eine ..unendliche Reihe des Verstehens" immer nur anzunähern vermag 0- Diesem Antagonismus zweier Ich- oder Wissensfaktoren lässt sich nicht durch die Aus- llucht begegnen, der Widerstreit sei nur in unserm Er- kennen der Wirklichkeit, nicht in der Wirklichkeit selbst begründet. Denn eine solche Lösung beruht auf der still- schweigenden Voraussetzung des transscendenten Realismus. Für den Idealisten ist ja die empirische Wirklichkeit auch nur eine Art Wissen, und grade das ..Wirkliche" an ihr besteht in einer Inkommensurabilität des \Mssens oder in einem unendlichen Begreifen. Die eben erwähnte Ausflucht wäre also nichts als ein identischer Satz, eine blosse, leicht erkennbare Umschreibung der Schwierigkeit, die gelöst werden sollte. Wenn deshalb dasselbe, was einerseits nur durch einen unendlichen Prozess des Wissens, eine ins Unendliche führende Aufgabe des Bestimmens sich aus- drücken lässt, doch andrerseits zugleich als bestimmte und abgeschlossene Wissensgrösse erscheint, so muss man viel- mehr in der Wissenswirklichkeit eine faktisch hinzu- nehmende unbegreifliche Verschmelzung zweier in- kommensurabler Wissensfaktoren eingestehen. Grade wer den Bealismus bis auf den letzten Rest vernichtet, wird, wie wir so häufig (s. z. B. S. 145 f.) hervorheben musslen, desto nachdrücklicher auf einen Widerstreit im Reiche des Wissens .selbst hingewiesen. Die alte, den Standpunkt der analy- tischen Logik stets begleitende Schwierigkeit, dass die zur Bewältigung des unmittelbar Gegebenen erst gebildeten Be- griffe sich dann als unzulänglich zur Erfüllung grade der

1) Leb. II. 345: ..faktisch, nicht genetisch cliuchdringlich", II, 13.5, VI, 365, V, 544.

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Aufgabe erweisen, um deren willen sie geschaffen sind (vgl. S. 33 f.), kehrt in einem konsequenten System des imma- nenten Idealismus in dieser eigentümlichen Gestalt einer Gegensätzlichkeit der Wissensfaktoren wieder.

Als anschauliche Symbole für dies Zusammenbestehen von genetischer Undurchdi'iuglichkeit und faktischer Kr- lebbarkeit dienen nun die mathematischen Antinomieen, "nach denen eine unendliche Mannigfaltigkeit innerhalb einer ^ endlichen Grösse gedacht werden muss. Mit der unendlichen Teilbarkeit und Mannigfaltigkeit ist ja die „Gediegenheit", der (Charakter des Ruhenden und Stehen- den, die „Kontinuität" des Raumes, der Linie, des Körpers verbunden. Auch hierbei ist eine Unendlichkeit in einer fertigen Geschlossenheit niedergelegt, eine „Agilität" einer konkreten (iediegenheit hingegeben, ganz ebenso wie die in sich vollendete einzelne Wissenswirklichkeit gleich- zeitig durch die beiden transscendentalen Charakteristika des unendlichen Begreifens und des abgeschlossenen un- mittelbaren Erlebens sich ausdrücken lässt. ^)

Wird nun ausser Acht gelassen, dass die vollendete, also endliche Abgeschlossenheit des Wissens nur für die Idee postuliert werden kann, so scheint die für die einzelne Wissenswirklichkeit nachweisbare Antinomie von unend- licher Mannigfaltigkeit und endlicher Geschlossenheit sich genau entsprechend auf das „Ganze des Wissens" über- tragen zu müssen. Dabei wäre eben übersehen, dass nur für die einzelne Wissensverwirklichung ein antinomisches Aufeinanderfallen der beiden sich entgegenstehenden Merk- male (des Unendlichen und des Endlichen) stattfindet, für das (lanze des Wissens dagegen das Merkmal der Unendlichkeit ganz einseitig innerhalb, das der End- lichkeit ebenso einseitig ausserhalb unseres Erkennens als für uns unerreich])are und lediglich postulierbare „Idee" zu stehen kommt. Ein Hinüberspielen der Antinomie auf das Ganze des Wissens setzt deshalb voraus, dass man den Unterschied der beiden Sphären, in denen unser Erkennen und die „Idee" liegt, vernach-

i) S. z. B. II, 92 tr., lOüir., 544 ob., N I, 250 f. I^^iciites Spekula- tionen über den Raum scheinen von Anfang an abhängig von \L\imu\ gewesen zu sein; vgl. darüber auch Erdmann, Grundriss II, 453.

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lässigt. Hvpostasiert man ausserdem noch die Idee eines geschlossenen Ganzen zu dem Einen A])soluten, so erhält man für die absolute Wirklichkeit ein genaues Spiegelbild der inkommensurablen Verschmolzen- heit, wie sie kritisch gerechtfertigt, bei der einzelnen empirischen Wissenswirklichkeit vorliegt.

Durch Vermittlung solcher Gedankenreihen wird in FiCHTES späterer Spekulation die kritische Inkommen- surabilität der Wissensfaktoren in ein antinomisches Sichdurchdringen von Totalität und Unendlichkeit im A])soluten umgedeutet, weshalb nach dieser Ansicht .,das Verhältnis jedes Einzelnen zum Ganzen und das Universum selbst ebensowohl in sich geschlossenes, vollendetes, als ein unendlich wechselndes ist innerhalb jener Vollendung \)." Dadurch wird es denn auch ver- ständlich, dass die der Behandlung des kritischen Zufalls- begriffs so vorzüglich dienende Vorstellung der „Idee" später so leicht grade in das metaphysische Endlich- keitsproblem, nämlich in die Fragestellung umschlagen konnte, wie in dem Einen, einfachen, wandellosen Sein zugleich das Viele, das unendlich Mannigfaltige und Wandel- bare enthalten sei.

Der im Absoluten enthaltene Faktor der „Unend- lichkeit" bedeutet somit als „schlechte Unendlichkeit" (Hegel) grade das Princip der Endlichkeit, den Ur- grund der aus der „ewigen Substanz" hervorgehenden „unendlichen Reihe endlicher Modifikationen". Fichtes Spekulation müht sich hierbei an dem uralten metaphysi- schen Rätsel ab, wie es zu denken sei, dass die endlichen Dinge irgendwie mit dem Absoluten zusammenfallen und sich doch gleichzeitig irgendwie von ihm unterscheiden. Er knüpft dabei an Spinoza an, um sich mit ihm über die Verträglichkeit, den „Übergangs-, Wende- und realen Identitätspunkt" von Totalität und Unendlichkeit, von Einheit und Allheit auseinanderzusetzen^). Vornehmlich die gleichzeitigen Schriften Schellinos scheinen ihn zu einer Erörterung des Individualitätsproblems, das ihn auch in der metaphysischen Gestalt stark beschäftigte, angeregt zu

') II, 106, vgl. 110, NU, 335 r.

2) II, 88 IT., 110, Leb. II, 358, 366 1"., 371.

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haben. Von S(;hhi.mn(. wird gesagt: .. Docli wie er jene Formen auf eine gründliche Weise in jenem l'n\vandell)aren, Einen, hegreif Ucli machen, d. h. überhaupt eine Endlich- keit aus dem Ewigen herleiten will, darauf ist Acht zu geben; denn diese Herleitung ist eben die Aufgabe der Philosophie" ^).

Durch diesen Sprung ins Metaphysische verbindet sich mit dem Verlassen der kritisch allein zulässigen Gedanken- folge,, nach der man sich zum Begriffe des Absoluten erst forttreiben lassen muss (vgl. bereits S. 178 f.), ausserdem noch der unkritische Versuch, die Diskrepanz unseres und des idealen Erkenntniszustandes in eine A u s e i n a n d e r r e i s s u n g von zwei Arten der Wirklichkeit zu verwandeln. Während nämlich der Kritiker lediglich untersucht, wie man neben die thatsächliche „Unendlichkeit" mittelst einer fiktiven Projektion die Idee der Einheit hinstellen darf, wirft der Metaphysiker vielmehr die Frage so auf, wie von dem Einen Absoluten zur unendlichen Mannigfaltigkeit der endlichen Dinge sich eine „Hrücke" schlagen lasse.

Der zu Ende gedachte monistische Eleatismus, dem Fichte jetzt zuweilen ganz anzuhängen scheint, ver- nichtet im Grunde jedes ehrliche und gewissenhafte Ein- gehen auf das Endlichkeitsproblem. Wenn Fichte trotz- dem von der spekulativen Würdigung des Individuellen auch jetzt nicht lassen kann, so macht sich hierbei neben andern Einflüssen (vgl. darüber den „dritten Teil", Kap. II und III) von Neuem das zähe Wurzeln auch seiner meta- physischen Spekulation in den ursprünglichen, kritischen Gedanken der Wissenschaftslehre geltend. Einer der Gründe für die stärkere Beachtung des Individuellen liegt nämlich darin, dass sein Begriff des Absoluten zwar aus einer Hypostase hervorgeht, aber aus einer Hypostase der Idee und nicht des formalen Ich. Denn das grade wird Schp:i.ling von Fichtf:, wie später von Hegel (vgl. ob. S. 59), ausdrücklich zum Vorwurf gemacht, dass bei ihm das Absolute eine nur „formelle" Absolutheit und Unbedingt- heit sei, die blosse Identität, causa sui, ein nur begrifflich

1) N III, 378, vgl. N II, 328 f., VIII, 399, Leb. II. 358. Vgl. die ähn- liche Fragestellung in der früheren Zeit, ob. S. 91. Ebenso wird in der ..Anweisung zum seligen Leben'- die Unterscheidung von ..Sein" und ..Dasein- als eine der Hauptaufgaben der Philosophie hingestellt.

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Geltendes, die „Gemeingültigkeit" eines Gesetzes M, und dass er dieser Abstraktion nur durch Erschleichung die Bedeutung von Totalität, Universum, also absoluter Inhalts- fülle unterschiebe-). Hier trifft Fichte in der That den wundesten Punkt jedes Begriffs einer absoluten Substanz, nämlich dessen notwendige Inhaltslosigkeit und Kahlheit (vgl. ob. S. 66). Zugleich wird damit an der schon 1797 beginnenden Polemik gegen die Verabsolutierung des lediglich Formalen auch noch inmitten meta- physischer Spekulationen treu festgehalten. Die „formelle Bedeutung" des Absoluten, die Absolutheit und Unbedingt- heit, wird von dem Absoluten als Ganzem scharf unter- schieden. Durch diese Fnterscheidung aber und darin besteht ihre Bedeutung wird wenigstens soviel gewonnen, dass die Thatsache der Endlichkeit nicht einfach unter- drückt und verschwiegen werden kann; denn der Weg vom formalen Prinzip des Absoluten zum materialen führt stets durch die empirische Wirklichkeit hindurch (vgl. ob. S. 1)8 f.). Darum sehen wir Fichte gegen Schellixg den Vor- wurferheben, dass er sich um die „Ableitung der Fakticität" nicht kümmere. Wenn auch für den „Standpunkt der ab- soluten Totalität" alles durch einen einzigen durchdringenden Blick des Erkennens erschlossen wird, vor dem die einzelnen Dinge „als Einzelnes" verschwinden, so sei damit „noch das Princip der Endlichkeit, des ewigen Werdens und Vergehens nicht abgeleitet". Obgleich also auf diesem Stand- punkt das Endliche mit Becht als das eigentlich Nicht- seiende erscheine, so sollte dessenungeachtet das „Diffe- rente", ..das nur infolge faktischer Erfahrung angenommen werden kann", doch wenigstens begreiflich gemacht werden-^). In der Unendlichkeit mag sich die Verschiedenheit der Dinge zur „Indifferenz" ausgleichen, aber eben erst und aus- schliesslich in der Unendlichkeit. „Also in der That nicht

M N III, 374 5. Wenn Fichte das Schweben im Allgemeinen und Unbestimmten „den Standpunkt des Absoluten' nennt, „wo es aber vor lauter Absolutheit zu gar nichts' kommt (II, 58, vgl. ob. S. 168), so hat er bei dieser an Hegels bekannte Äusserung von der ..Nacht des Absoluten" erinnernden Kritik gleichfalls Schelling im Auge gehabt.

2) N III, 372 f.

^) N III. 372 f., 378, 380, 384 T, 388.

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ausgeglichen, sondern unendliche Rechnung, die nie rein aufgeht " \).

So kann denn auch auf metaphysischem Boden trotz des individuahtätzerstörenden UniversaHsmus die Irrationalität des Individuellen nicht umgangen werden. Nur dass jetzt an Stelle der Unahleitbarkeit des besonderen Inhalts aus der allgemeinen Form die Un- -hegreiflichkeit des einzelnen Endlichen aus dem Abso- luten^, des ..Daseins" aus dem ..Sein", der ., Offenbarung" oder „Äusserung" aus dem göttlichen Leben selbst treten

muss-). ,,Keinesweges aber kann dieses Wissen

in ihm selber begreifen und einsehen, wie es selber entstehe, und wie aus dem innern und in sich verborgenen Sein ein Dasein, eine Äusserung und Olfenbarung des- selben folgen möge, wie wir denn auch oben . . . aus- drücklich eingesehen, dass eine solche notwendige Folge für uns nicht vorhanden sei^)." Apriori ableiten so wird ähnlich wie nach früheren, hiermit vergleichbaren kritischen Grundsätzen jetzt gelehrt lassen sich nur die allgemeinen Erscheinungen an dem durch Spaltung aus dem Absoluten Entstandenen, unbegreiflich dagegen bleibt das Hervorgehen des Individuellen*). Nur für die „Eine, ab- solute und in sich vollendete" Wissenschaft, also in der Idee, enthüllt sich das „Wie dieses Zusammenhanges" im Einzelnen^). Diese Unahleitbarkeit des Endlichen aus dem Unendlichen war von der früheren Metaphysik wenn auch wider W^illen in Spinozas Lehre von der doppelten Kausalität anerkannt worden. In der unendlichen Folge der endlichen Dinge auseinander erkennen wir nach dieser Lehre nur ihre endliche Verkettung, nicht aber ihre un- mittelbare Verursachung durch Gott. Es verrät darum den Drang nach Erlösung von der „Zufälligkeit", also die Anerkennung der Zufälligkeit, wenn man es mit diesem ewigen Kreislauf des Werdens nicht bewenden lassen will und die Idee einer unmittelbaren Abhängigkeit des end- lichen Einzeldinses vom absoluten Sein aufstellt. Auch

0 N III, 385, vgl. 382, 383, 385 unten.

2) S. ausser der „Anweisung" z. B. VI, 351, 361 f.

3) V, 442.

*) Ibid. 459/60, 442/3, VII, 297.

5) V, 472.

Lask, Fichtes Idealis^mus uud die Geschichte. 13

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in dieser metaphysischen Gestalt hat Flickte später das Irrationalitätsproblem behandelt. M.

Wenn durch alle diese Zugeständnisse sogar für die vollendete Erkenntnis die Unausfüllbarkeit der Kluft zwischen „Metaphysischem" und „Empirischem" anerkannt wird^), so können schliesslich doch die für jede pan- theistische Metaphysik in dem Endlichkeitsproblem sich auftürmenden Schwierigkeiten nur verdeckt, nicht aber be- wältigt werden. Denn irgendwie wird durch die Lehre von der logischen Unbegreiflichkeit des Individuellen auch eine gewisse ontologische Selbständigkeit der endlichen Einzelheit gegenüber dem Absoluten zugegeben, und diese Auffassung stösst hart und unversöhnbar mit der anderen zusammen, dass das Absolute in jedem Sinne alles in allem sei. Die alte Erkenntnistheorie bedrängt immer wieder den Universalismus der neuen Metaphysik. Solchen Einwir- kungen konnte sich Fichte nie ganz entziehen. Obgleich seine Ansicht eigentlich dahin geht, das endliche „Dasein" als ungestörtes und inniges Ruhen in Gott „ohne eine zwischen beiden liegende Kluft oder Trennung, oder dess etwas" zu denken^), so sieht er sich doch andrerseits zu der Lehre gedrängt, dass Gott zum Teil, nämlich inwiefern es Selbstbewusstsein wird, sein „Dasein" „von sich aus- stösst"*), dieses sich also als Abfall vom Göttlichen darstelle und ganz Platonisch in der Sehnsucht') nach dem Ewigen bestehe. Um solchen Zugeständnissen einer ontologischen Selbständigkeit des Individuellen zu entgehen, verfällt der Philosoph zuweilen auch in das andere Extrem. Er lässt die Thatsache des Endlichen einfach unberücksichtigt und bringt das Element der unendlichen Mannigfaltigkeit, das besonders in den ersten Jahren als verschmolzen mit der „Totalität" gedacht wurde (vgl. ob. S. 182), ganz aus dem Begriff des Absoluten heraus*^), so dass dieser jeder Inhalt- lichkeit beraubt wird und jene schematische Blässe erhält, aus der sonst Spinoza und Schelling ein so schwerer Vor-

1) II, 106, V, 438, 511, VII, 371.

2) V, 445 f., 450, 530.

3) Ibid. 450, ebenso 441, 444. *) Ibid. 455, vgl. 512. 5) Ibid. 407. «) S. z. B. VII, 370 f.

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wiirf gemacht wirdO. An kritischer Schürfe im Erhhckcn der Schwierigkeiten ist somit Fichte diesen beiden Denkern zwar überlegen, in der Problemlösung aber vermag er als Metaphysiker nicht mehr zu leisten als sie. Hinter Hegel endlich steht er auch in der Metaphysik dadurch zurück, dass er dem Kriticismus noch nicht eine neue Logik ent- gegensetzt.

Die universalistisch-metaphysisclie Tendenz treibt ihn trotz "aller selbsterhobenen kritischen Einwände oft zu der einzig folgerichtigen Behauptung, dass alles Endliche Schein sei^). Nun verbindet er aber andrerseits, wie wir sahen, mit dem Empirischen stets die Merkmale der Inkommen- surabilität und „Unendlichkeit". Diese wieder stammen aus nichts anderem als aus einer Unvollkommenheit unseres Wissens. Also ist das Wissen die Quelle des „Scheins" oder der empirischen Mannigfaltigkeit, und die „formale Freiheit des Wissens" ist, wie später bei Schelling, das principium individuationis oder der Grund der End- lichkeit^). Nur in der Reflexion und durch sie erscheint das Eine Sein als in unendliche Strahlen gebrochen*), erst das Wissen bringt das Verhängnis der „Unendlichkeit" mit sich. Unendlichkeit ist hier stets gleichbedeutend mit Ruhe- losigkeit und Zersplitterung des Irdischen. Der Begriff er-

') S. besonders wieder die „Anweisung-', z. B. V, 444 fF., 458.

2) So besonders in der „Anweisung" und den darauffolgenden Schriften, aber auch schon vorher.

3) S. II, 85 ir., 89, V, 440 f. Hiermit ist die von Schelling in seiner Schrift „Philosophie und Religion" (1804) vertretene Freiheits- lehre, nach der gleichfalls die „Freiheit" des Wissens als principium individuationis auftritt, bereits vorweggenommen. Schelling erkennt auch an, dass Fichte ihr am nächsten gekommen sei, \VW VI, 42 f. Allein wenn er in der „Darlegung des wahren Verhältnisses der Natur- philosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre" (1806) Fichte be- schuldigt, die „spekulative Theorie der Freiheit" von ihm entlehnt zu haben (WW VII, 82 f.), so beruht das auf einem argen, aber er- klärlichen Irrtum, da Schelling nämlich die Wissenschaftslehre von 1801 (die in den „Sämtlichen Werken" zum erstenmal gedruckt worden ist), noch nicht kannte. In der Darstellung seiner Gedanken mag übrigens Fichte öfter von Schelling beeinflusst sein. Gegen Schellings Lehre vom „Abfall" des Endlichen von der Gottheit, der er doch selbst so nahe kam, polemisiei't er deutlich V, 441, 444, 450, 452. VII, 298, vgL VIII, 399.

1) V, 452 ff., 458, vgl. II, 507, 513.

13*

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hält so den Sinn wieder, den er bei Plato hatte und den er später beiHEGELwieder gewinnt^). Während dem kritischen Denker das an der Unbegreiflichkeit des Empirischen sich abmühende Wissen als der uns allein mögliche Zustand, zugleich freilich als ein Zurückbleiben hinter einem ge- dachten Ideale gilt, wird in der metaphysischen Betrachtung dieser Abstand in einen Abfall von dem wahren ,, Denken" und „Schauen", in eine Verdeckung und Zers])litterung der hypostasierten wahren Wirklichkeit verwandelt (vgl. S. 183). Diese Lehre vom Wissen kann dennoch in gewissem Sinne als der verdichtete Ausdruck des von uns festgestellten Verhältnisses zwischen metaphysischem und kritischem Irrationalitätsproblem angesehen werden. Selbst in der metaphysischen Formulierung, nach der das Endliche ge- leugnet, das Problem des Endlichen eigentlich vernichtet wird, macht sich noch die Wahrheit geltend, dass die Irrationalität des Besonderen nur als eine Beziehung zum Wissen Sinn hat und darum das philosophische Verstehen dieser Irrationalität nur innerhalb des kritischen Idealismus möglich ist, dass also in unserem Falle die Metaphysik jede fruchtbare Behandlung dieses Gedankens im Grunde der vorangegangenen kritischen Epoche verdankt. Darin besteht ja überhaupt die hohe problemgeschichtliche Be- deutung dieser ganzen Phase von Fichtes Philosophie, dass die sonst in der Geschichte gesondert auftretenden kritischen und metaj)hysischen Spekulationen über die Un- begreiflichkeit des Individuellen hier in lebendiger Wechsel- wirkung beobachtet werden können.

Die rein erkenntnistheoretische Behandlung des Indi- viduellen, die wir in den Systemen des transscendentalen Idealismus verfolgt haben, hat uns bis jetzt zwei Haupt- ausj)rägungen der philosophischen SteHungnahme zum Individuaiilätsproblem gezeigt: die Lehre von der lo- gischen Irrationalität und die positive Wertung

1) Besonders V, 456 tf., VII. 370 ft". Unendlichkeit giebt es nur in der Erscheinung oder „Ersichtlichkeit" des Absoluten, das Absolute selbst hingegen ist „mehr denn das Unendliche".

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des Individuellen. Allein die ..erkenntnistheoretische Wertindividualität" ist nie ganz streng in ausschliesslich erkenntnistheoretischem Sinne gedacht worden ( vgl.S.löOfF.); sie weist vielmehr stets üher die Erkenntnistheorie auf andere Wertungsgebiete hinaus. Wenn wir darum im ..dritten Teil" auch noch Fichtes kulturphilosophische Beleuchtung des Individuellen darstellen, so liefern wir damit eine notwendige, schon durch die rein erkenntnis- Iheoretischen Spekulationen über das Individuelle geforderte Ergänzung und Fortsetzung der bisherigen Ausführungen. Umgekehrt wird sich andrerseits herausstellen müssen, dass die Kenntnis von Fichtes logischer und erkenntnis- theoretischer Fassung des Wirklichkeitsproblems die uner- lässliche Grundlage für das Verständnis seiner Geschichts- philosophie bildet (vgl. S. 21 bis 24). Denn grade das Ein- geständnis einer rein logischen Irrationalität ist stets die Vorbedingung für die hinzutretende Wertung des Indi- viduellen gewesen (vgl. S. 151 ff.). Die gegenseitigen Be- ziehungen zwischen Wert und Unbegreiflichkeit des Be- sonderen werden darum den Hauptinhalt auch des „dritten Teiles" ausmachen; und wie wir bisher auf den trans- scendentalen Idealismus stets nur, soweit er sich als Indi- vidualitätslogik betrachten Hess, eingegangen sind, so wird sich uns auch die Geschichtsphilosophie Fichtes in ihren methodisch bedeutsamen Bestandteilen als Indivi- dualitätsphilosophie darstellen.

Dritter Teil.

Fichtes Geschichtsphilosophie.

I. Kapitel.

Die metaphysische Methode der nachkantischen Kulturspekulation.

Die Ausbildung von Fichtes Geschichtsphilosophie fällt in jene Epoche der Abkehr von den Principien des Kriticismus, die fast ausschliesslich von solchen Denkern eingeleitet wurde, deren Bildungsgang grade von der Kantischen Philosophie entscheidende Einflüsse erfahren hatte. Da von diesem weltgeschichtlichen Prozess auch das System der Wissenschaftslehre in seinen Tiefen er- grilTen wairde, so muss als grundlegende Bedingung jedes Verständnisses von Fichtes geschichtsphilosophischem Werten eine Klarheit darüber erstrebt werden, warum in jener Zeit die reine und blosse Transscendentalphilosophie wieder einer Metaphysik weichen musste, die zu einem grossen Teil von kulturphilosophischen Interessen ge- leitet war.

Nun hatte uns bereits der Entwicklungsgang der Wissenschaftslehre in seinen rein logisch-erkenntnistheo- retischen Bestandteilen bis zu einem Punkt geführt, an dem das Problem des Individuellen eine tiefgehende Unzufriedenheit mit dem transscendentalen Apriorismus hervorrief. Das Individuelle, im ersten Entwurf der Wissenschaftslehre gleich der nur quantitativen und mathe- matischen Individualität rationalistisch zersetzt und dem Absoluten emanalistisch preisgegeben, errang erst durch

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den Umschwung von 1707 eine bescheidene Selbständigkeit und zwar als Gegensatz zu den wertvollen rationalen Vernunftformen, als Schranke somit, aber eben „nur" als Schranke. Und erst in dem weitergehenden Antirationa- lismus der darauffolgenden Jahre tritt der irrationale Faktor als das „Unmittelbare" dem von aller metaphy- sischen Verlebendigung nunmehr gänzlich gereinigten Wissen entgegen. Dieser Verlauf des Irrationalitätsgedankens ist deshall) von ungemein wichtiger Vorbedeutung für die spätere Geschichtsphilosophie geworden, weil in ihm die Leistung, die von der blossen Logik und Erkenntnis- theorie für die Lösung des Individualitätsproblems zu er- warten stand, in erschöpfender Vollständigkeit dargeboten zu sein schien. Diese ganze Bemühung der Logik musste nun aber gleichzeitig mit einem entscheidenden Umschwung in der Gewohnheit des Werfens als völlig unzulängliche und unfruchtbare Arbeit empfunden werden, in dem Augenblicke nämlich, da das Einzelne seinen Wert nicht mehr einer über ihm stehenden Allgemeinheit entlehnen, sondern ihn aus seiner eigenen Individualität schöpfen sollte. Denn die in dem Dualismus des Abstrakten und Konkreten, des Allgemeinen und Besonderen stets stecken- gebliebene Erkenntniskritik steht ja dann der eigentüm- lichen Wertfülle des Einzelnen, die nur jenseits dieser Scheidung erfassbar wird, aus principiellen, nämlich methodologischen Gründen ohnmächtig gegenüber. Das Höchste, zu dem sich der blosse „Transscendentalismus" aufzuschwingen vermag, war das Zugeständnis der Unsag- barkeit und Unbegreiflichkeit des empirisch Wirklichen, also der Verzicht auf jedes weitere Eindringen, das ver- zweifelnde oder gleichgiltige Stehenbleiben vor den Pforten der Individualität. Diese These der Irrationalität erscheint plötzlich als im Grunde genommen durch und durch rationalistisch; sie hält ja den Beichtum des Wirklichen an ein Ideal des Erkennens und Deducierens, in allem erblickt sie einen besonderen Fall des allgemeinen Wissens. Sie ist nur Wissenschaftslehre, „subjektiver Idealismus". Welch ungeheure Wandlung! Derselbe Denker, der früher aus Bationalismus die Irrationalität verkannte, kennzeichnet sie jetzt, nachdem er sie anerkannt, als noch zu rationalistisch ( vergl. den zweiten Teil, Abschn. 2, Kap. 111). Wegen dieser

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iiiivüllkommenen Bewältigung des Individualitätsproblenis verwirft er nun aber zugleich die ganze frühere Methode des „blossen Wissens", und anstatt die bisherige Trans- scendentalphilosophie zu ergänzen, glaubt er sie ablösen zu müssen durch eine grundsätzlich neue Spekulation, die den Schwierigkeiten, denen das ältere Denken unter- lag, ein ganz neues Organ entgegenbringen und demgemäss die wertvolle Einzelgestalt nicht als ein undurchdringliches "Objekt der Reflexion sich gegenüber stellen, sondern sich sei bsl ganz mit ihr durchdringen, die Struktur der „Wert- individualität" sozusagen schon in dieMethode auf- nehmen soll.

An dieser Stelle treffen wir auf einen Ivreuzungspunkt der Wertungsarten, die unsere „Einleitung" auseinander hielt, und der logischen Theorieen, die unser „erster Teil" ausdrücklich ohne Verflechtung mit jenen darstellen wollte (s. S. 23). Denn ofTenbar wird hier durch ein Bedürfnis des Werfens die analytische Logik als mit diesem unver- einbar abgestossen und dadurch der ganzen Erkenntnis- theorie die Grundlage entzogen. Um diese eigenartige, keineswegs sachlich unvermeidliche Gedankenverkettung, die die deutsche Spekulation etwa an der Scheide des 18. und 19. Jahrhunderts aufweist, in ihrer ganzen Tiefe zu würdigen, müssen wir uns noch genauer die historische Situation vergegenwärtigen, der sie entsprang. Erst dann kann verständlich werden, was es mit der Übertragung der Wertindividualitätssfruktur vom Objekt auf dieMethode für eine Bewandnis hat.

Für Kant war Philosophie gleichbedeutend mit der Abgrenzung der auf den verschiedenen Gebieten herrschen- den Vernunftwerte gewesen. Jedes der hierbei gewonnenen formalen Kriterien, das erkenntnistheoretische, das ethische, das ästhetische, repräsentierte in philosophischer Abstrak- tion befrachtet und als Gebilde transscendentaler Analyse, seiner logischen Qualität nach einen AUgemeinbegriff, der auf jeden einzelnen Fall der Erkenntnis-, der ethischen, der ästhetischen Wirklichkeit anwendbar sein musste. Dergestalt in transscendentaler Isolation einander gleich- gestellt, unterschieden sich jedoch diese drei Wertarten, sobald man ihr innerhalb der Vernunftwirklichkeit that- sächlich eingenommenes Verhalten verglich. Während

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nämlich der theoretische und der ethische Wert auch im einzelnen Yerwirklichungsfalle sich gegenüber der Einzel- heit, die ihn blos trug, noch in spröder Allgemeinheit verhielt, und ohne innere Beziehungen zu deren besonderer Individualität und deshalb von ihr loslösbar, nur an ge- wissen allgemeinen Merkmalen haftete, konnte im Gegen- satz dazu der ästhetische Wert, mochte er auch als trans- scendental-analytisch gebildeter Begriff gleich dem theo- retischen und dem ethischen abstrakt formulierbar sein, sich im einzelnen Verwirklichungsfalle dennoch nur in inniger und unlösbarer Verschmelzung mit der besonderen Eigentümlichkeit seines Jedesmaligen Schauplatzes offen- baren. Dies wurde besonders durch das Wesen des Genies bestätigt, das seinen exemplarischen Wert grade der unver- gleichlichen Originalität seines einzelnen Auftretens ver- danken sollte. Massgebend für Kants ganze Weltanschauung ist nun, wie unsere „Einleitung" bereits ausführte, nicht die inhaltliche Eigenart der ästhetischen, sondern die der theoretischen und der praktischen Vernunft geworden, oder noch besser die logische Struktur der begrifflichen Analyse selbst. Die in allen drei Kritiken gleichmässig ausgeübte transscendentale Methode ist ihm, um einen auch hierauf passenden Ausspruch Schlegels anzuwenden, .,auf die inneren Teile geschlagen", d. h. sie hat seine ganze Wertungsgewohnheit endgiltig bestimmt. Auch dieser nur psychologisch erklärbare Zusammenhang, dem aber auf theoretischem und ethischem Gebiete eine sachliche Bestätigung entgegenzukommen schien, wurde bereits in der Einleitung angedeutet (s. S. 8 f.). Wir können ihn |1 jetzt dahin formulieren: Kaxts analytische Logik des ^Y transscendentalen Begriffs - denn darin besteht die „Methode" erzeugt den Wertungsuniversalismus. Weil in der transscendentalen Analyse alle Gebilde die logische Form der Allgemeinheit annehmen, glaubt Kant, sie müssten auch nach ihrem inhaltlichen Gehalt und ihrer thatsächlichen Funktion als Werterscheinung ausschliesslich die Struktur der Allgemeinheit repräsentieren; als Objekte einer allgemeinen Theorie müssten sie allgemeine Objekte sein; er überträgt also die Struktur der Methode auf die Struktur der Objekte. Jede Analyse scheint ihm deshalb auf allgemeine Begriffe von Objekten stossen zu müssen.

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deren inhaltliche Bedentung zugleich lediglich auf einer Wertallgemeinheit beruht; an den Charakter der Analyse als solcher fesselt er den nur die Wertallgemeinheit gelten lassenden Formalismus des Werfens und damit den t)ua- lismus von Wertallgemeinheit und besonderer Exempli- fikation.

In dieser historisch-psychologischen Bedingtheit ging das Gesamtbild des Kriticismus in das Bewusstsein der 'Nachfolger Kants über. Diese vermochten die darin steckenden fundamentalen Problemverschlingungen nicht zu lösen und machten für das abstrakte Wertungs- schema die abstrakte Methode der Transscen- dentalphilosphie, die abstrakte Logik verantwort- lich. Da die transscendentale Analyse nicht zur Lösung aller Aufgaben ausreichen wollte, verkannten sie auch ihre innerhalb einer gewissen methodischen Begrenzung unver- gleichlich hohe Bedeutung, ebenso wie Kant ja umgekehrt gegen jede methodologische Begrenzung in der Brauch- barkeit seiner Grundprincipien blind gewesen war. Die Transscendentalphilosophie erachteten sie deshalb nicht für nur ergänzungsbedürftig, sondern sie hielten sie als solche, als blossen „Transscendentalismus", für verwerflich; das Verständnis insbesondere der Wertindividualilät er- schien ihnen nicht durch eine weitere Ausdehnung des analytischen Verfahrens, durch eine speziellere, auf die inhaltlichen Werte gerichtete Kritik gewährleistet, sondern allein durch die I^reisgabe der kritischen Methode selbst. In die alten Schläuche schien der neue Wein sich nicht füllen zu lassen. Man sehnte sich darum nach einer anderen Methode, nach einem neuen „spekula- tiven" Organ. Hatte Kant die Methode auf das Obj^d wirken lassen, so schien folgerichtig mit der veränderten Struktur des Objekts auch die ihm angemessene Methode von Grund aus sich wandeln zu müssen. In diesen durch die unvollkommene historische Erscheinungsform der Kantischen Philosophie hervorgerufenen Verwicklungen steckt der tiefste Grund für die metaphysischen Umwäl- zungen der nachkantischen Spekulation.

Zu fast gleicher Zeit haben Fichte, Schelling, Schleier- macher und Hegel ein Ziel angestrebt, das von der tradi- tionellen Schulphrase die Überwindung des blos „subjek-

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tiven Idealismus" oder mit besserem Recht die beginnende Versöhnung der Spekulation mit dem ..Gegebenen" genannt zu werden pflegt. Die hierbei gewöhnlich zu Grunde liegende enge Auffassung der Transscendentalphilosophie verleitet häufig auch heutzutage den Historiker der Philo- sophie zu der falschen Meinung, als ob, blos als oberster Leitsatz der Erkenntnistheorie genommen und bei strenger Einhaltung der methodischen Schranken, der Standpunkt der Immanenz oder des ..Subjektivismus" einer Ergänzung und Bereicherung durch philosophische Spezialdisciplinen irgendwie im Wege stehen könnte. Die damalige Generation vollends sah im Idealismus nur die schablonenhafte Kon- statierung der allgemeinen Ichhaftigkeit, das System des ver- standesmässig zerlegenden, kritisch analysierenden Wissens mit seiner Leerheit, mit seiner aus der abstrakten Me- thode folgenden Resignation gegenüber den unbegreiflichen Schranken der Individualität. So verbindet sich, wie stets in der Geschichte der Philosophie, der (Charakter des Ver- standesmässigen mit der abstrakten Tendenz, während die theoretisch unert^ründliche Wertindividualität in geheimnis- volle Beziehung zum unmittelbaren ..Gefühl" tritt (vgl. auch ob. S. 149 f. ). Fichte selbst, der Idealist, der Wissen- schaftslehrer, hat als einer der ersten in der ..Bestimmung des Menschen" das Bedürfnis nach einer über das Wissen sich erhebenden Spekulation ausgesprochen, und Schelling griff begierig diese Bestätigung seiner eigenen Ansicht auf, dass die bisherige Wissenschaftslehre auf dem Reflektier- standpunkt stehen geblieben sei').

Überall erwacht jetzt eine Entrüstung gegen das gleichgiltige Wissen, das wie ein Spiegel teilnahmslos alle Gegenstände an sich vorüberziehen lässt, unfähig, dem unendlichen Reichtum des Lebens sich verständnisvoll anzuschmiegen. Statt kalter Reflexion wird auch für die Philosophie unmittelbares Fühlen, Anschauen, Ergriffen- sein, Erleben gefordert. Es vollzieht sich das vorher er- läuterte Überströmen der Wertindividualität vom Objekt in die Methode. So werden auch bei Fichte ..Realität" und ..Leben" aus ihrer Trennung von der Philo- sophie erlöst und von einem .Jiöheren Realismus", einer

i) In seinen Briefen an Fichte, Leb. II, 350 f., 353.

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neuen ..Lebenslehre" innig durchdrungen. So unendlich abgestuft wie die lebendige wertdurchtränkte Wirklichkeit selbst soll die ihr angemessene Spekulation werden. Die berechtigte Auflehnung gegen den in einseitiger Abstrakt- heit steckengebliebenen Kantianismus wird dabei durch einen Ekel an aller Analyse, einen nicht nur historisch veranlassten, sondern originär metaphysischen Trieb auf tlas Lebhafteste unterstützt. Hatte doch Fichte noch kurz vor . dem entscheidenden Umschwünge von einer Aus- dehnung der transscendental-analytischen ..Theorie' auf alle unmittelbaren Lebenswerte, auch auf die religiösen, das Heil der Philosophie erhoffen können (s. S. 158 f.). Aber bald drang auch bei ihm die intelligible Individualität aus dem perceptum in das percipiens. Die ganze in das 19. Jahrhundert fallende metaphysische Phase wird durch diese Eigentümlichkeit einer wertindividualistisch-intuitiven Spekulation gekennzeichnet. Und erst in dieser Zeit kam, was bisher stets missverstanden wurde, auch über Fichte der Geist der „intellektuellen Anschauung", während das Verlassen des Grundsatzes der Diskursivität in den An- fangsstadien der Wissenschaftslehre viel mehr durch das Pathos des einheitlichen Systematisierens, des aprioristischen und rationalistischen Deducierens verschuldet wurde. Jetzt stellte er sich selbst mitten in jene Bewegung, deren Ziel das Hinausgehen über jede blosse „Wissenschaftslehre" war. ScHELLiNG wurde der Anführer in dem Kampf gegen den transscendentalen Idealismus, für den im Bewusstsein das Ursprüngliche und Voraussetzungslose besteht, die Fülle der Wirklichkeit, Natur und Geist, zur bloss „phäno- menalen" Existenz eines „Objekts" herabsinkt. An die Stelle der schematischen und sterilen Subjekt-Objektivität hat, wie auch Schleiermacher lehrte, das absolute Erkennen des Absoluten zu treten. Die alte Furcht der gefühls- und glaubensphilosophischen Bichtung vor der Zerstörung der nur in ihrer Unmittelbarkeit sich offenbarenden intelligiblen Individualität durch die zersetzende Abstraktion und durch die Scheidung von Form und Materie, sowie durch den Dua- lismus des Allgemeinen und Besonderen, kehrt in den verschiedenartigsten Um])ildungen bei den nachkantischen Metaphysikern wieder. Schellixg setzt die „intellektuelle Anschauung" dem dualistischen und vermittelnden Erkennen

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der Wissenschaffslehre, Thoxleh das Urbewusstsein oder unmittelbare Wissen dem reflektierenden und diskursiven Bewusstsein mit ausdrücklichem Hinweis auf Jacobi ent- gegen. Berger stellt den unmittelbar vernehmenden Ver- stand über die abstrakte oder blos formale Erkenntnis- weise, Krause die unbedingte, urwesentliche Erkenntnis, die Wesenschauung über die nur begrifflichen Erkenntnisse, SoLGEi\ bekämpft den Dualismus des Allgemeinen und Besonderen, Baader den des Apriori und des Aposteriori^). Überall eine gleichsam geniale Eikenntnistheorie, die eine Wertindividualität in rein methodisch - spekula- tivem Sinne konstruiert! Auch für Fichte endlich hat sich in der ganzen metaphysischen Epoche die Welt des niederen Wissens in eine Schein- und Schattenwelt, eine Region blosser Schemen und Bilder verwandelt. Auch er sieht „im Hintergrunde der Form und nach ihrer Zer- störung erst die wahrhafte Realität", glaubt an eine Intuition unmittelbar anschaulicher Werte. Wie das Absolute, das Eine göttliche Leben, so muss auch das Erleben, der „Gedanke ', die „Sehe" den Charakter der Wertindividuali- tät an sich tragen-).

Man sollte über der metaphysischen Umhüllung, über der ungerechtfertigten Verachtung aller kritischen Analyse, also über der unvollkommenen Problemlösung nicht die richtige Problemstellung, die berechtigten Motive, den Tiefsinn jener nachkantischen Spekulation verkennen. Die Sehnsucht, eine neue Stellungnahme zum Individualitäts- l)roblem zu gewinnen, entsprang sehr berechtigten kultur- philosophischen Interessen. Ein ungeheures Verdienst lag in dem dunklen Gefühl, dass der doch nun einmal abstrakt gebliebene Kriticismus nicht alle Aufgaben gelöst habe und dass die Durchdringung der individuellen Wert- wirklichkeit einen anderen Ausgangspunkt als den dua- listischen erheische. Mit gutem (irund durfte Schellixg das stolze Wort aussprechen, dass mit der Überwindung

J) Schellixg WW I.Abt., IV, 249 f., 253 f., 340 ff., 353 f., V, 249 f., 273 f., VI, 22 ff., Ekdmaxx, Spekulation I, 296 If., II, 260 f., 424 f., 447, 596 f, 646, 651.

2) L'eb. II. 278, 321, N II, 213, 290 f., VIII, 364 f., 367 f., 370, 372, V, 410, 418, 445, 448, 462, 541 f., 553, N III, 257 ff., VII, 305, II, 685 f., 690 f., IV, 370.

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der „aller Wirklichkeit entfremdeten Philosophie" ..der Durchbrach in das freie offene Feld ol)jektiver Wissen- schaft" errungen sei. In den „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" hat er das Bild einer in alle Offenbarungen des Absoluten eindringenden, in den positiven Disciplinen objektiv gewordenen Ver- nunftwissenschaft entworfen. Eine Potenzierung dieser Tendenz, gradezu eine auf Erfahrung und transscendente Thaisächlichkeit abzielende Richtung, eben einen „meta- physischen Empirismus", stellt endlich ScHELLixcs ..positive" oder „geschichtliche" Philosophie dar. In umgekehrtem Sinne wurde Schlegel ein Beweis für die engen Beziehungen zwischen der metaphysischen Methode und dem neu- erwachenden Sinn füi" die Erforschung des Gegebenen, indem seine geniale Fähigkeit des Xacherlebens geschicht- licher Wirklichkeit schliesslich in der Theorie eines speku- lativen Erfahrungswissens einen philosophischen Ausdruck suchte^).

Als der Höhepunkt dieser ganzen Bewegung muss aber Hegel begrifTen werden. Das Bedürfnis nach der Prägung neuer Kulturbegriffe setzt sich bei ihm un- mittelbar in eine neue logische Theorie vom Begriff um; und grade die für seine Weltanschauung am bedeutsamsten gewordene Struktur der Werttotalität, wie sie etwa der „sittliche Organismus" des Staates aufweist, gab das Vor- bild für die logische Struktur des Begriffes ab, weshalb er z. B. auch den abstrakten kulturphilosophischen Indi- vidualismus auf einen rein logischen Atomismus zurück- zuführen vermochte (vgl. S. 63). Reiht er sich so in der rein spekulativen Ausfüllung der von der abstrakten Methode freigelassenen Lücken den übrigen Metaphysikern an, so ragt er doch gleichzeitig weit über sie hinaus, da er sich nicht mit einer Negation der analytischen Logik oder einer blossen Herabdrückung der Bedeutung des niederen Wissens samt seiner verhängnisvollen Irrationalität begnügt, sondern nun seinerseits das für die Vertreter der intuitiven Meta- physik unlösbar gebliebene Kantische Irrationalitätsproblem mit den Mitteln einer eigenen Philosophie in Angriff nimmt und durch die Schöpfung einer neuen Logik bewältigt.

1) Vgl. Erdmann, Grundriss II, 484.

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Er befreit dadurch zugleich das spekulative Erfassen der Wertindividualität aus seiner Verschlingung mit der meta- physischen Intuition. Nur wenn man Hegels System so als das Zusammenwirken des Ringens mit der logischen Irrationalität einerseits und der tieferliegenden kultur- philosophischen Triebkräfte andrerseits würdigt, vermag man ihm in seiner unvergleichlichen Mischung von Ra- tionalismus auf der einen, von Tiefe und Gediegenheit des konkreten Wertens auf der anderen Seite gerecht zu werden. Er erscheint dann als das einzige ebenbürtige Gegenbild zu Kant. Denn er verwirft nicht nur die dualistische Logik als unverträglich mit der intuitiven Erfassung der Wertindivi- dualität, sondern unterbaut vielmehr sein antidualistisches Werten des Individuellen durch eine antidualistische Logik, sowie bei Kant umgekehrt die dualistische und forma- listische Erkenntnistheorie im Einklänge mit dem ab- strakten Werten gestanden hat. Auch darin sind beide Denker miteinander zu vergleichen, dass ihr kulturphilo- sophisches Werten in letzter Linie doch einer gleichsam nur automatischen Übertragung aus ihrer Erkenntnistheorie verdankt wird. Kants geschichts- und rechtsphilosophischer Rationalismus erwies sich ja als einseitige, aber psycho- logisch verständliche Folgerung aus gewissen transscenden- talen Begriffsverhältnissen. Entsprechend wird Hegels kon- kreteres Werten nicht gleichzeitig von einem darüberstehen- den kritischen Bewusstsein erleuchtet, sondern erfolgt ohne das Aufgebot seiner speziell kultur])hilosophischen Besinnung und ergiebt sich wie von selbst aus einer metaphysischen Logik.

So erhalten wir hier einen Einblick in die zum Teil durch die Sache, zum Teil aber durch die Macht der Problemverschlingung gestifteten gegenseitigen Be- ziehungen zwischen den logischen Theorieen, die unser „erster Teil", und den Wertungsarten, die unsere „Einleitung" noch ganz gesondert von ein- ander behandelt hatte.

Die Eigenart von Fichtes Stellung in der klassi- schen Epoche der deutschen Geschichtsphilosophie beruht nun in methodologischer Hinsicht darauf, dass er zwar auch im Banne der spekulativen Methode gestanden, daneben aber die analytische Logik dennoch nicht

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aufgegeben hat. (Vgl. auch den 3. Abschnitt des zweiten Teiles.) Seine neue Metaphysik bringt ja nicht einen einlachen Rückfall in den transscendentallogischen Emanalismus von 1794 mit sich, durch den damals auch er (wie später Hegel) die analytische Logik einfach zu ersetzen gedachte. Immerhin mag aber auch an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die um 1800 er- folgende schroffe Wendung gegen einige prinzi])ielle Fol- gerungen aus der analytischen Logik, insbesondere der Rückschlag gegen die Wissenschaftslehre als eine dua- listische Reflexionsphilosophie eine Selbstbeurteilung, die doch in den ersten Jahren ganz undenkbar gewesen wäre für jeden völlig rätselhaft bleiben muss, der nicht die von uns aufgedeckten grundlegenden Wandlungen, die die W^issenschaftslehre inzwischen durchzumachen hatte, in Rücksicht zieht.

Nachdem jetzt die für kulturphilosophische Zwecke methodisch bedeutsamen Tendenzen auch in der Metaphysik nachgewiesen und damit endlich alle Re- dingungen der allgemeinen Erkenntnistheorie beigebracht sind, kann nunmehr verständlich gemacht werden, welche Form der Geschichtsphilosophie auf diesen allgemein philo- sophischen Grundlagen aufgebaut wurde.

II. Kapitel.

Die geschichtsphilosophische Wertindividualität.

Über FicHTES Fortsetzung der Kantischen Geschichts- metaphysik darf diese Darstellung flüchtig hinweggehen, unserer ganzen Absicht gemäss (s. ob. S. 21) und weil dieser Teil seiner Geschichtsphilosophie, in dem man ja seine geschichtsphilosophische Leistung beschlossen glaubte, genügend gewürdigt zu sein scheint. Ein unbe- streitbares Verdienst Fichtes besteht hierbei zunächst allerdings darin, dass er die Tendenz der Kantischex Ge- schichtsphilosophie, in der wir deren „Grösse" erblickten, nämlich die Erkenntnis des Wertmoments im Kultur- und Geschichtsbegriff, weiter verfolgt und fruchtbar macht

Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. 14

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(vgl. ob. S. 4). Aber dadurch treten gleichzeitig grade auch die Gefahren des rein spekulativen Verfahrens be- sonders scharf bei ihm hervor. Da die Geschichtsphilo- sophie nicht als logische Specialdisciplin, sondern als ein den übrigen spekulativen Wissenschaften koordinierter Bestandteil der einen metaphysischen Grundwissenschaft gedacht wird, so muss der Versuch gewagt werden, den „Sinn der Geschichte als eines Ganzen, den „Weltplan", in unmittelbarer Anschauung zu umfassen. Diesem Beginnen aber haftet unabtrennlich der Mangel an, dass die konkrete Gesamtheit des Kulturgeschehens in Formeln eingezwängt und zu metaphysischen Abstraktheiten verflüchtigt wird, für die Wertstruktur des Geschichtlichen aber kein eigent- liches Verständnis dabei herauskommt.

Wird somit in den folgenden Ausführungen auf den genaueren Ausbau von Fichtes Geschichtsmetaphysik kein grosses Gewicht gelegt, so bleibt trotzdem die im vorigen Kapitel charakterisierte metaphysische Methode auch für die von uns versuchte Behandlung von F'ichtes Geschichtsphilosophie ein unentbehrliches Orientierungs- mittel. Denn sie erscheint doch so sehr als der allgemeine spekulative Rahmen und die bestimmende Grundströmung, dass wir alle Ansätze eines nicht metaphysischen Ein- dringens in das Wesen des Geschichtlichen immer nur als trotz Metaphysik und durch Metaphysik hin- durch sich emporarbeitend richtig werden würdigen können.

Als die dem Geschichtlichen von vornherein günstige Kehrseite der nachkantiscben Spekulation haben wir bereits im Allgemeinen die bedeutsame Eigentümlichkeit kennen gelernt, dass in ihr nicht abstrakte und formale Erkenntnis- werte, letzte ethische oder religiöse Ideale zu inhaltlichen Cbersinnlichkeiten umgedeutet (vgl. darüber S. 28), sondern Werti n d i v i dual i te n metaphysisch hypostasiert werden. Auch Fichtes Kultur])hilosophie ist grade dadurch vor der Einseitigkeit des die Wirklichkeit übersehenden (in doppeltem Sinne!) und überfliegenden Blickes bewahrt worden und hat trotz der danebenhergehenden aprioristi- schen Tendenz gleichzeitig das Gepräge einer nur am Konkreten sich sättigenden, wenn auch sublimierten Er-

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fahriing und eines immillelharen Erlebens zwar ins Trans- scendente verlegter, aber dennoeb inballlieber Werte er- halten können. Ohne deshalb die Bedingtheit dieser Vor- züge durch ihre metaphysische Einklei(hing vergessen zu wollen, werden wir Ficmik einen ungeheuren I'orlschritt über Kant darin zugestehen müssen, dass er aus den formelhaften Begritfsnetzen sich gerettet, zum ersten Mal .den Ton darauf zu legen gewagt hat, dass das Ganze der. Geschichte eine einmalige, eigentümliche Ent- wicklung darstelle M. Schon in dieser Überführung schema- tischen Umschreibens in unmittelbareres Em])finden steckt, wie nebenbei bemerkt werden mag, zweifellos wenn auch noch latent eine richtige Einsicht auch in die Struktur des Geschichtlichen.

Es lässt sich genau ])eobachten, dass diese Umsetzung des Inbegriffs der Werte, des Ganzen der Gattungsaufgabe, des „Einen göttlichen Lebens " aus aljstrakter Unbestimmt- heit oder gestaltloser Verschwommenheit in den Gedanken des über die Generationen sich erstreckenden lebendigen Wertverlaufs stets dann gelingt und ausdrücklich zum Bewusstsein kommt, wenn grade die einzelnen Individuen als Glieder und Träger dieses Werdens betrachtet werden. An der einzelnen Wertindividualität und durch sie offenbart sich auch das Ganze als Werttotalität; Gesamt- und Gliedindividualität werden mit einem Schlage erleuchtet. Den einzelnen Trägern der Gattungszwecke, den von ihrer höheren Bestimmung „begeisterten Menschen" wird nämlich die Aufgabe zuerteilt, die Welt nach der göttlichen Idee „fortzuentwickeln" und Gottes ewigen Rat- schluss „von einer anderen, bis Jetzt völlig verborgenen Seite" zu denken, ihn „eine neue (lestalt" in sich gewinnen zu lassen. Dass dem Denker so an der bedeutenden Einzel- gestalt auch das Ganze als eine von Individualität zu Indi- vidualität schreitende Fortentwicklung aul^eht, ist tief in der Sache begründet. Denn da wir die Vernunfttotalität als ein wahrhaft gefülltes Ganzes irgendwie zu erfa.ssen gar nicht im Stande und deshalb nur allzuleicht versucht sind, sie in einer inhaltsleeren Formel zu umschreiben

1) Vgl. Natalie WiPPLiNGER, der Entwicklungs - BegrifT bei Fichte. Freiburger Dissertation, bes. 39 f., 53 fT., 74 fT.

14-^

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oder in der die Wirklichkeit verkürzenden Perspektive eines Endziels erschauen zu wollen, so müssen wir immer wieder durch die greifbare Fülle des Einzelnen uns zur Erinnerung an des Ganzen lebendige Gesamt- wirksamkeit zurückführen lassen. Auch bei Fichte wird ja die konkretere Fassung des Entwicklungsgedankens zwar meist nicht mehr durch tötende Abstraktionsbegriffe, wohl aber durch den die ..unendliche" Veränderlichkeit des ..Mannigfaltigen" als blossen Schein leugnenden starren Eleatismus und Monismus immerwährend bedroht, und nur in beständigem, nie geschlichtetem Streit mit diesem absoluten Akosmismus vermag sich bei ihm der Glaube an ein wahrhaftes ewiges Fortschreiten des ^ursprüng- lichen Lebens" durchzusetzen. Erst vor der lebendigen Auffassung des Kulturverlaufes, in den der „einzelne Aus- erwählte", der ., göttliche Mensch" eintritt als hervorbringend das „Neue, Unerhörte und vorher nie Dagewesene", der „wie jede Individualität nur einmal gesetzt sein kann in der Zeit, und in derselben nie wiederholt werden", schwindet die universalistische Metaphysik zu leerer Bedeutungs- losigkeit zusammen. „Jeder ohne Ausnahme, sage ich, erhält seinen ihm ausschliessend eigenen, und schlechthin keinem andern Individuum ausser ihm also zukommenden Anteil am übersinnlichen Sein, welcher Anteil nun in ihm in alle Ewigkeit fort sich also entwickelt, erscheinend als ein fortgesetztes Handeln, wie er schlechthin in keinem andern sich entwickeln kann; was man kurz den individuellen Charakter seiner höheren Be- stimmung nennen könnte." Mit solcher \Yürdigung der unvergleichbaren Einmaligkeit des historisch Bedeutsamen geht die konkretere Behauptung Hand in Hand, dass stets die in einzelnen Persönlichkeiten wirksam gewordenen Verkörperungen der Gattungszwecke, dass Beligiosc, Heroen, Künstler, Wissenschaftler über den Fortgang des Menschen- geschlechtes entschieden haben ^).

Wenn nun so das Einzelleben zwar der Erkenntnis- grund des Gesamtlebens werden kann, so ist Fichtes An-

1) YII, 41, 45 ff., 49, 119, 237, VI, 352, 356, 368 f., 370, 386, 4061"., Y, 465, 530 ff., 572, N III, 192; II, 86, 115, 117 ff., VI, 369, V, 445, 458 f., 471 ff., VII, 368, 374, II, 600 ff.. 639 ff".

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sieht doch stets dahin i>egan«en, dass in lelzler Linie der Wertgrund aiicii für das Einzehie aussehUessHch im Ganzen zu suclien sei. Wir haben früher eingesehen, dass die Wertindividualität zur Eingliederung in eine Wert- totalität gradezu auffordert (s. S. 13 ff.). Fichtk gehl weiter: nur die in ein W^ertganzes sich eingliedernde Indi- vidualität hat nach ihm überhaupt Ansj)ruch auf .den Rang der Wertindividualität. So wirkt der meta- physische Universalismus in abgeschwächtem (irade als Werttotalismus nach, aber ohne in dieser Gestalt der Individualität des Einzelnen noch gefährlich werden zu können. Denn obgleich diese zwar einen vom Gesamt- zweck erst übertragenen Wert erhält, so wird dadurch ihrer Eigentümlichkeit und Unvergleichbarkeit doch um keines Haares Breite Abbruch gethan, da sie, wenn auch als Glied, so doch als unersetzliches und un vertausch- bares Glied und als einmaliges, individuelles Gebilde in die einmalige Entwicklungslinie fest und sozusagen un ver- schiebbar eingestellt wird. In praktischer Hinsicht folgt daraus die Aufopferung aller persönlichen Zwecke und die Hingabe des Individuums an die Gattung. Der Ein- zelne „betrachtet seine individuelle Person selbst als einen Gedanken der Gottheit" oder als ..Offenbarung des sitt- lichen Endzwecks von einer neuen, bis jetzt durchaus un- sichtbaren Seite". Somit erscheint das Individuelle zwar nur als Bruchstück, Durchgangspunkt, Fragment; aber doch als eigenartiges und unverwechselbares Fragment mit einem ., eigentümlichen Anteil am übersinnlichen Sein", als ein Schau])latz göttlichen Lebens, „wie es lediglich in ihm und seiner Individualität sich entwickeln kann und soll". ..Jeder soll das, was schlechthin nur Er soll, und nur F> kann .... nur Er und schlechthin kein anderer; und das, wenn er es nicht thut, in dieser stehenden Gemeinde von Individuen wenigstens gewiss nicht geschieht." Eine eigen- artige Lösung des Individualitätsproblems hat Fichte hier gefunden: das einzige selbständige und in sich vollendete Individuelle ist das ganz Universale, und jedes Einzel- gebilde weist über sich hinaus, aber nicht auf ein Allge- meines, das sich in ihm verkörpert und das im Grunde gleichgiltig sein müsste gegen seine Einmaligkeit und Einzigkeit, sondern auf ein Ganzes, das mit seiner

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Individualität die des Gliedes umfängt und be- stätigt^).

Der tiefste Punkt des Eindringens in das Problem des Individuellen kann sich uns aber erst erschliessen, wenn wir aufdecken, wie Fichth bereits eine Versöhnung der widerstrebenden Richtungen des Akosmismus und Indivi- dualismus anzubahnen, ein spekulatives Verbindungsglied zwischen ihnen aufzutinden vermochte. Der letzte tief- sinnige Hemmungsgrund, aus dem heraus er nur zögernd und widerwillig, unter stetem Ringen mit entgegengesetzten Antrieben, den Wert in die Individualität eingehen und sich von ihr durchdringen lässt, beruht auf der richtigen Überlegung, dass in der Individualität blos als solcher, d. h. lediglich in der empirischen Unterschiedenheit des Einzeldings von allen anderen, in dem brutalen Grade- So-Sein nicht die geringste Legitimation einer Wertung anzutreffen sei. Soll trotzdem das Individuelle nicht blos den gleichgiltigen Schau])latz, sondern den wesentlichen Grund des in ihm verkörperten Wertes abgeben, so muss doch in gewissem Sinn erst einmal über die blosse Indi- vidualität hinausgegangen und innerhalb ihrer zwischen Wertzufälligem und Wertwesentlichem unterschieden wer- den, zwischen dem, was die Hülle oder das blosse Substrat und dem, was den Kern oder den ewig giltigen, aber gleichfalls individuellen Bestandteil repräsentiert, im Ver- hältnis zu dem dann das Übrige an der Individualität als vergänglicher Erdenrest erscheint. Blosse Individualität als gemeinsame Struktur alles Wirklichen steht ja in der That der besonderen Auszeichnung durch den Wert noch als ,. zufällig" gegenüber. Nicht einen Individualismus, nein, einen Fanatismus des ^^'ertens würde predigen, wer leugnen wollte, dass die Individualität als solche eine unterhalb des Wertes gelegene Sphäre bedeutet. Für diese Region, aber auch nur für sie, behält denn auch der akosmistische Universalismus das letzte Wort mit seiner Behauptung, dass alles Individuelle gleich und gleich-

1) YII, 56, VI, 356, 377, 383 f : ..jedes besonderen Individuums Leben ein besonderes, ihm allein zukommendes und von ilim allein gefordertes Resultat'-, 386, 393 f., 4061"., II, 66311., z. B.: „die Entstehung eines Individuums ist ein besonderes und durchaus bestimmtes Dekret des sittlichen Gesetzes überhaupt."

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massig nichtig ist. l^^s gieht nur Bestiiiimthcit übcMhaiipl, nicht besondere Bestimmtheit! so wird vom Wertungs- standj)unkt aus die auch jetzt nicht fallen gelassene rein logische These (vgl. oh. S. 1671".) gradezu umgekehrt. Die Spaltung des Individualitätsbegriffes, die Scheidung in eine individuell-vergängliche und in eine darauf ruhende individuell-ewiggiltige Schicht, mit der daraus erklärbaren Verträglichkeit von Akosmismus und Indivi- dualismus des Wertens, diese, wie es scheint, in ihrer Bedeutung noch nicht genügend gewürdigte Leistung FicHTES, giebt den tiefsten Aufschluss über die F'assung des Individualitätsproblems in der ganzen metapliysischen Epoche der Fichteschen Philo- sophie. „Jedes Individuum erhält nun eine doppelte Bedeutung. Es ist teils ein Empirisches, Darstellung der leeren Form eines Sehens. Insofern ist es allen übrigen schlechthin gleich .... teils ist es etwas an sich, ein Glied der Gemeinde .... Soviel aber ist klar, dass, da diese Gemeinde ein aus solchen Individuen zusammengesetztes organisches Ganzes ist, jedes Individuum seinen Anteil an jenem Sein und Lehen der Gemeine haben werde, worin schlechthin kein anderes ihm gleich ist". Das überempi- rische Element unseres individuellen Wesens wird nun gemäss der vorher geschilderten Grundanschauung stets als eingeordnetes Glied in einem umfassenden Wert- zusammenhang gedacht; es soll also aus dem blos Empirischen eine Welt von übersinnlichen Individuali- täten herausragen, die, nur an einzelnen Punkten die breite Masse der sinnlichen Individualität berührend, im übrigen nach eigenen Gesetzen ein von der Zu- fälligkeit ihres emi)irischen Erscheinens unbeeinflusstes Dasein führt. Mit der Klarlegung dieses Gedankens hat Fichte an einer klassischen Stelle zugleich eine Ausein- andersetzung mit den Romantikern verbunden und dabei in höchst prägnanter Form neben seinen individualität- zerstörenden Monismus die neue spekulative Wertung des Individuellen gestellt. Denen, die sich durch das „Stich- wort von Individualität'- blenden lassen, sei entgangen, „dass wir unter Individualität lediglich die persönlich sinnliche Existenz des Individuums verstehen, w'ie denn das Wort allerdings nur dies bedeutet; keinesweges aber

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leugnen, sondern vielmehr ausdrücklich erinnern und ein- schärfen, dass die Eine ewige Idee in jedem besonderen Individuum, in welchem sie zum Leben durchdringt, sich durchaus in einer neuen, vorher nie dagewesenen Gestalt zeige; und dieses zwar ganz unabhängig von der sinnlichen Natur, durch sich selber und ihre eigene Gesetzgebung, mithin keines weges bestimmt durch die sinnliche Individualität, sondern diese vernichtend und rein aus sich bestimmend die ideale Individualität, oder, wie es richtiger heisst, die Originalität" \).

Mit diesem Begriff der Originalität beginnt ins Leben gerufen durch die neuen kulturphilosophischen Probleme! eine zweite Welle des Wertungsindividualismus, nach- dem die ersten Ansätze eines intelligiblen Individualismus des „Lebens" um 1800 von der absolutistischen Metaphysik rasch im Keime erstickt worden waren. Das Unterscheidende von dem abstrakten Universalismus der früheren Zeit, wie von dem starren ontologischen Eleatismus der metaphysi- schen Epoche besteht in einer grundsätzlich neuen Art, im Individuellen den empirischen und den überempirischen Faktor zu sondern. Die alte Verschlingung von em- pirisch und individuell, von überempirisch und allgemein wird nämlich durch den mühsam heraus- gearbeiteten Gedanken der überempipischen Individua- lität vollständig zerstört. Aller Wert ruhje_nach der^ früheren Anschauung in der unindividualisierten allge- meinen Vernunft, deren konkrete Realisation im empiri- schen Ich ebenso wie die Specifikafion jedes Allgemein- Begriffes zwar als unerlässlich galt, wobei jedoch in der Einzelheit des Verwirklichungsfalles lediglich der gleichgiltige Inhaltsüberschuss über das Allgemeine erblickt wurde-). Daraus ergab sich dann auch jener abstrakte oder atomistische Individualismus, von dem unsere „Einleitung" bereits gezeigt hat, dass er mit einem abstrakten Universa- lismus zusammenfällt (S. 16). Auch nach der späteren Ansicht soll zwar das „Zufällige" oder unwesentlich

i) II, 86, 115, 117 ff., 600 ff., 639 ff., VII, 69, 110, VI, 386, 389, V, 530 f., N III, 65. Durch diese Spaltung des Individualitätsbegriffs wird, wie in einer ausführlichen Darstellung zu zeigen sein würde, auch FiCHTES Unsterblichkeitslehre verständlich.

2) IV, 141, 231, 254, vgl. N III, 121.

209

Individuelle an der Individualität einem über ihm siehen- den Wert bis zu seiner eigenen Verniehtung sieh aulbplern, aber diese höhere Bestimmuni*, der es dient, wird jetzt als ein wesentlich Individuelles in das Individuum selbst verlegt. Dadurch geht zugleich die ., atomist ische" Beziehungslosigkeit und Unverbundenheit der Individuen in eine feste Gliederung innerhalb des sich entwickelnden Vernunftorganismus über. Wir stossen hier auf eine von der früheren ., Sittenlehre' ihrer Struktur nach völlig ab- weichende Gedankenschicht in Fichtes Moralphilosophie, insofern jetzt eine ethische Norm denkbar wird, die nicht mehr ausschliesslich in einem Inbegriff von abstrakten Vernunftwerten, sondern vielmehr in einem über die sinn- liche Individualität sich heraushebenden Kosmos von Wert- individualitäten ihren Ausdruck findet. In dieser ethischen Beleuchtung geschichtsphilosophischer Probleme erkennt man leicht ein Wiederaufleben jener bereits um 1798 zuerst auftauchenden Idee einer intelligiblen Ordnung, in der der Einzelne eine bestimmte Stelle einnimmt. Nur wer ausschliesslich die ältere Epoche der Wissenschaftslehre berücksichtigt, kann deshalb meinen, Fichte habe nie- mals das „Pathos des Allgemeinen" überwunden M.

Freilich darf auch diese spätere Lösung des Indivi- dualitätsproblems keineswegs etwa mit dem Individualismus Schleiermachers und der Bomantiker verwechselt werden. Was Schleiermacher unter „Eigentümlichkeit des Einzel- wesens", Schlegel unter „Genialität", Novalis unter „heiliger Eigentümlichkeit" versteht, das stellt eine Wertindividualität dar, in die das wertende Bewusstsein analog dem ästhetischen Verhalten wie in eine abgeschlossene Welt sich versenken darf, (irade diese selbstgenügsame Isoliertheit schliesst Fichtes Begriff der Originalität aus, indem er die Eingliede- rung in eine Totalität fordert. Schleiermachers ethisch-indi- vidualistischer Imperativ lautet: bilde dich zu einem eigen-

i)_So für 1798 mit Hecht Dilthey, Leben_Schleiennachers I, 342 ff. Als übereinstimmend mit der Auffassung des Textes besonders her- vorzuheben Tempel, P'ichtes Stellung zur Kunst (Strassburger Dissertation), z. B. 54«"., 91 tf., 101 ff., 129fr. Hier wird bereits an einigen Stellen der in Fichtes Philosophie sich vollziehende Um- schwung des Werfens, insbesondere die Lehre von der idealen Persönlichkeit, vorzüglich erörtert.

210

tümlichen (ianzenl; Fichtes gleichfalls individualistische Forderung dagegen nur: werde eigentümliches (unersetz- liches) Glied eines Ganzen! ^) Für ethische und ästhetische Zwecke mag dieser Individualismus sich als unzulänglich herausstellen. Aher vielleicht trifft er genau das letzte Geheimnis grade der historischen Beurteilung, die darin ihr Wesen hat, dass hei der unmittelbaren Wertung des Individuellen in seiner nur ihm angehörenden Indi- vidualität dennoch das Einzelne seinen Wert lediglich seiner Stellung in einem Ganzen der Wertentwicklung verdankt^). So steht Fichtes geschichts])hilosoi)hischer Individualismus in der Mitte zwischen dem abstrakten Atomismus der ge- samten Aufklärungsphilosophie und dem absoluten Indi- vidualismus Schleiermachers und anderer Ethiker des 19. Jahrhunderts^).

Dieser wertungsindividualistische Fortschritt Fichtes über den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und Kants wird, wie bereits hervorgehoben, durch das Hineinragen der Metaphysik zwar nicht vernichtet, wohl aber ungemein erschwert. Denn infolge der Hypostasierung der übersinn- lichen Eigentümlichkeit zu einem von der irdischen Welt abgeschiedenen Dasein dringt der Wert blos bis zur Indi- vidualität, aber nicht bis zur empirischen Individualität oder bis zur empirischen Wirklichkeit herab. Sinnliche

1) Auch diesen Imperativ kennt selbstverständlich Schleier- macher.

2) Zum Verständnis dieser Charakterisierung des geschichts-, philosophischen Wertens muss bemerkt werden, dass die für die obige Darstellung ebenso wie für unsere .,Einleitung" massgebend gewordenen methodologischen Voraussetzungen in dieser Schärfe erst in den neueren von Rickekt unternommenen geschichtsphilo- sophischen Untersuchungen anzutreffen sind. In ihnen wird durch kritisch-methodologische Forschung das Ergebnis gewonnen, dass die historische Begriffsbildung in der Beziehung der durch ihre Einzigkeit bedeutsamen Individualität auf allgemeingiltige W^erte und in der gleichzeitigen Einordnung der einzelnen Wirl'ilichkeit in konkret - „allgemeine" Entwicklungs - Zusammenhänge besteht; vgl. auch S. 12, Anm. 1, S. 15, Anm. 1 und Rickert, Grenzen der natur- wissenschaftlichen Begriffsbildung, 4. Kapitel, besonders II V.

'^) Schleiermacher W W, 3. Abt., 1, 366 f., Erdmaxx, Spekulation I 699. Den geschichtsphilosophischen „Individualismus", der in einen konkreten Universalismus umschlägt, vertritt nur in unendlich feinerer Ausgestaltung, allerdings mit gleichzeitiger Unterwühlung durch eine emanatistische Logik - auch Hegel.

211

iiiid ideale Indivuliialiläl stehen sieh wie zwei Wellen gegenüher, so dass, trotz der Individnaiisiernni^ des Wertes, aus der Region des nnmittell)ar Erlebharen, des „Lel)ens", wie es vor 1800 hiess, aller Wert wieder herausgesogen wird und Wert und Wirkliehkeit auseinanderlal len. In den letzten Jahren jedoch, etwa seit 1<S10, bemerken wir beachtenswerte Versuche, die Kluft zwischen den beiden Welten zu überbrücken und die unmittelbare Wirklich- keit, a 1 s V e r w i r k 1 i c h u n g v o n W e r t e n zu verstehen . Die empirische Individualität erhält gradezu die Aulgabe, die Wertindividualität aus der transscendenten Region in die „Sichtbarkeit" des zeitlichen Daseins überzuführen; die „Individuen-Welt" soll die „absolute Vereinigung und das wahre Mittelglied der beiden Welten, der unsichtbaren und der sichtbaren", darstellen. Der daraus folgende praktische Imperativ, die Wirklichkeit nach den „Gesichten" der über- sinnlichen Welt zu gestalten, darf wiederum keineswegs mit der älteren Anschauung verwechselt werden, nach der das empirische Ich das abstrakte überempirische Ich in sich zur Herrschaft zu bringen hat, sondern er bedeutet, dass in der sinnlichen Partikularität die ideale Indivi- dualität herausgebildet werden solle. Dadurch wird aber der Kosmos der Werte in eine so eindeutige und unver- schiebbare Beziehung zur Region der emjiirischen Indivi- dualitäten gebracht, wie sie früher ganz undenkl)ar war. In den allerletzten Schriften beginnt denn auch eine neue, durch den Tod schnell beendete Phase in der rein sjieku- lativen Behandlung des Individualitätsproblems, und Fichte hat es zu wiederholten Malen ausdrücklich zugestanden, dass grade zur Lösung dieser Aufgabe die bisherigen Princi- pien noch nicht ausreichten \).

III. Kapitel.

Die Geschichtsmethodologie und die Irrationalität.

Erscheint somit nach den letzten Ausführungen die gradezu eine neue Epoche des Philosophierens ein- leitende Individualisierung des Wertes vor dem über-

1) II, 660 ff., 665, 669, N III, 160-194, VII, 593 II", N III, 302 ff., 330, 341, IV., Vorr. XIX.

212

schauenden Blick schliesslich als die notwendige Vor- hedingung der Versöhn iing von Wert undWirklichkeit, so wird schon dadurch von vornherein J)egreiflich, dass in der Entwicklung der Fichteschex Kulturphilosophie, von den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" an, sich mit der beginnenden Wertdurchtränkung der Wirklichkeit die (iel)urt der historischen Weltanschauung in der Speku- lation vorbereitet.

Aber diese gesteigerte Schätzung der empirischen ..Fakticität" müssen wir nunmehr in ihrer von dem Be- ginn einer neuen Wertungsart zunächst unabhängigen rein method ischen Bedeutung zu würdigen suchen. Sie hat nämlich eine in den tiefsten Principien gelegene Ände- rung dadurch nach sich gezogen, dass durch sie zum zweiten Mal das Individuelle grade im Sinne des blos Faktischen, d. h. in seinem empirischen Grade-So-Sein, in seiner unbe- greiflichen Bestimmtheit und Begrenztheit, ganz ausdrücklich in den Kreis der Spekulation rückt. Mit dieser Wendung erhalten nun, wie sich zeigen lässt, zugleich die nur durch die analytische Logik und das blosse „Betlektiersystem " ausdrückbaren rein logischen Qualitäten an der Wirklich- keit von Neuem eine erhöhte Bedeutung. Das beginnende Zusammenrücken von Wert und Wirklichkeit im historischen Material erzwingt für die geschichts- philosophische Beurteilung ein Zusammengehen der Wertung wie der spekulativen Methode mit der analytischen Logik. Was bei Kant als Kultur- begriif des Geschichtlichen und logischer Begriff des „Historischen" unversöhnbar auseinanderfiel (vgl. S. 10), schliesst sich bei Fichte bereits zu einer beginnenden Kultur- Logik zusammen. Es wird somit zu zeigen sein, wie bei ihm sich die Erkenntnis der Möglichkeit, ja der Notwendigkeit einer Ausdehnung der analytisch-logischen Charakterisierung auf Wertgebilde anbahnt. Dadurch büssen einerseits die spekulative Methode und die transscendente Geschichtsi)hilosophie ihre Alleinherrschaft ein, indem die Irrationalität des Empirischen als unerlässliches Element im (iesamtbegriff des Geschichtlichen an- erkannt,die Wertindividualität also aus ihrer metaphysischen Lnzugänglichkeit gleichsam bis in die empirische Begion hinabgezogen wird. Andrerseits aber befreit sich durch diese

213

vornehme Gemeinschaft die analytisch-logische (Charakteri- sierung selbst und im Gefolge davon das also (^harakteri- sierbare, nämlich das blos Faktische, aus seiner ratio- nalistischen Entwertung, indem es seinerseits zur Höhe der Wertindividualität em])orrückt. Erst durch diese gegen- seitige Durchdringung kann der Geschichtshass des auf- klärerischen Radikalismus in der Tiefe der Spekulation überwunden werden. Diese Aufrechterhaltung des Irralio- nalitätsgedankens erscheint um so bedeutungsvoller, wenn man bedenkt, wie stark ihm doch die intuitiv-speku- lative Strömung der neuen Metaphvsik entgegenarbeitet (vgl. S. 192 ff.).

Grade in dieser Vereinigung von Wertindividuali- sierung und logischer Besinnung dürfte die unter- scheidende Eigenart von Fichtes Stellung in der Entwicklung der deutschen Cieschichtsphilosophie zu suchen sein (vgl.d. Einleitung u.S.200f.), während der Um- schwung desWertens, für sich genommen, mehr von den Per- sönlichkeiten ScHLEiEHMACHERS uud Hegels getragen vArd. Durch das Hinzutreten formallogischer Überlegungen nämlich strebt Fichte zugleich erfolgreich über die unkritische Nai- vität des intuitiv-spekulativen Verfahrens hinaus und krönt das Verdienst eines richtig gefühlten Bedürfnisses durch den streng systematisch wohl noch höher stehenden Vor- zug einer kritischen Reflexion. Bei ihm beginnt die ein- seitige Verachtung, die der Kriticismus von Seiten der in- tuitiven Metaphysik zu erdulden hatte, der Einsicht in den unersetzlichen und unüberholbaren Wert erkenntnistheore- tischer und logisch-methodologischer Analyse wieder Platz zu machen. Dadurch, dass sich vor dem jetzigen Gesamt- überblick eine so hohe methodische Bedeutung der ana- lytischen Transscendentalphilosophie von Neuem heraus- stellt und die Spekulation über das Irrationalitätsproblem nicht nur einen Beitrag zur transscendentalen Logik und ein unvermissbares Glied für das Verständnis von P^ichtes philosophischer Entwicklung liefert (vgl. S. 201), sondern auch in dem ganzen geschichtsphilosophischen Gedanken- bau ersichtlich eine hervorragende Funktion erfüllt, erhält unsere ausführliche Behandlung der analytischen Tendenz innerhalb der Wissenschaftslehre (im „zweiten Teil") eine abschliessende Rechtfertigung (vgl. auch S. 189).

214

Hat einmal die logische Besinnung im geschichts- philosophischen Denken wieder eine höhere Stellung eingenommen, so muss sich mit ihr allmählich auch die hewusste Erforschung der logischen Struktur des (ieschichtlichen verhinden. Während im übrigen die Kulturphilosophie des deutschen Idealismus es meist nur his zu einer aus der Gesamtspekulation automatisch hervor- gehenden Anwendung verschiedener Wertungsarten gebracht hat (vgl. S. 19 u. 200), wird bei Fichte das Werten immer mehr in eine hewusste Strukturforschung hineingezogen. Nachdem die Wertung sich einmal bis dahin entwickelt hatte, dass von ihr otfenbar die Sphäre des rein Empirischen mitergritfen wurde, mussten zum mindesten Elemente in der Struktur derartig gewerteter Gebilde deutlich hervor- leuchten, und es konnte nicht ausbleiben, dass die An- wendbarkeit der analytischen Logik auf sie irgendwie auch eine hewusste Durchdringung ihrer Wertstruktur nach sich zog.

Um den mit den ..Grundzügen des gegenwärtigen Zeit- alters" beginnenden Prozess des gegenseitigen Sich- Suchens, -Annäherns und -Findens von Wert und Strukturlogik anschaulich zu machen, kann man von jedem der beiden Extreme von der unreflektierten Wertung, wie von der nicht wertenden Logik ausgehen und dann zeigen, wie das eine stufenweise mit dem anderen verschmilzt und reichere Synthesen daraus hervorgehen.

Es soll nun zunächst der eine Teilprozess verfolgt, also untersucht werden, welche Momente auf Seiten der Wertung für die Klarheit logischer Charakterisierung günstig waren.

Zweifellos steckt schon in der blossen Herausarbeitung des Werttotalität und Wertindividualität miteinander ver- knüpfenden (iedankens der einmaligen Entwicklung im- plicite eine Überwindung des Kantischen Rationalismus, in der blossen Herausarbeitung des Begriffs der Originalität aber bereits sogar ein Minimum von bewusster Einsicht in die Struktur. Fichte ist jedoch über diese blosse Voll- ziehung des Wertungsumschwunges noch erhcl)lich hinaus- gegangen durch eine ausdrückliche und wohlüberlegte methodische Ablehnung des Ivan tischen und seines eigenen früheren Wertunösuniversalismus. Ganz [djweichend von

215

der .sonstigen Manier der intuitiven Metaphysik lial er dabei die Bereclitigung der nioral])liilosophischen Analyse und der transscendentalen Konstruktion einer „Form der Moralität" oder eines ethisclien .,Ahstraktionsl)egrifFes " anerkannt. Kr verwirft also nieht das analytische Verfahren als solches, sondern mit bewusster Würdigung seiner methodisch begrenzten Zulässigkeit hält er es nur für unzulänglich .und ergänzungsbedürftig. Lediglich dagegen erhebt er Widerspruch, dass die „gewöhnliche Sittenlehre" bei der Herauslösung einer „blos formalen Gesetzmässigkeit" als bei ihrem Höchsten und Einzigen stehen bleibe. Schon in der „Sittenlehre" von 1798 hatte er vor der Einseitigkeit einer „blos formalen und leeren" Moralphilosophie gewarnt (vgl. ob. S. 150), war aber damals mit seiner Forderung, in der empirischen Individualität die konkrete Verwirklichung der abstrakten Vernunft darzustellen, immer noch im „Pathos des Allgemeinen" stecken geblieben. Jetzt dagegen mündet überall die bewusste Ablehnung des abstrakten Formalis- mus in die dadurch gleichfalls bewusste Entgegenhaltung der Wertindividualität. Insbesondere bedeutet die bekannte Unterscheidung von „niederer" und „höherer Moralität" in der „Anweisung zum seligen Leben" die Entgegensetzung zweier Arten von Wertstruktur. Die mächtige Sehn- sucht, die der ganzen philosophischen Bewegung jener Zeit das Gepräge giebt, nach einer Befreiung aus dem Bann des allen Kulturinhalt zu kahler Abstraktheit unerträglich ver- dünnenden Bationalismus iindet in der Gegenüberstellung der blossen „Form der Idee" und der „qualitativen und realen Idee selber" einen trotz seiner Unbeholfenheit un- verkennbaren Ausdruck. Bricht hierbei vor allem das Ver- langen nach der Aufstellung inhaltlicher, objektiv gewordener Ideale, eines „Heiligen, Guten, Schönen" durch, so wird an anderen Stellen die „dem Zeilalter so gut als ganz ver- borgene" Weltansicht der „höheren Moralität" ausdrücklich der Fähigkeit gleichgesetzt, in den einzelnen persönlichen Trägern der höchsten Werte „Genialität", d. h. das un- mittelbare Walten „derjenigen Gestalt" zu verehren, „welche das göttliche Wesen in unserer Individualität angenommen". Nach dieser neuen Weltanschauung erhält die Form die Bedeutung einer blossen Teilfunktion und erscheint als ein „lediglich das Vorhandene ordnender" Begulator. während

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das ihr entgegengesetzte Wertprincip als ein „das Neue und schlechthin nicht Vorhandene erschaffendes" und in der Sphäre der Sinnlichkeit „herausarbeitendes" Gesetz charak- terisiert wird. Hierbei werden die Rollen von Form und Inhalt gegen früher gradezu vertauscht; denn nach der älteren Auffassung galt die reine Form als der Endzweck aller individuellen Inhalte, während sie jetzt, als lediglich „negativ" und als technische Vorbereitung betrachtet, zum blossen ..Mittel' und zur Begleiterscheinung einer inhaltlich wertvollen Gestaltung des menschlichen Gattungslebens herabsinkt, die uns in ruhiger Anschaulichkeit als zu ver- wirklichendes „Bild einer sittlichen Ordnung " vorschweben soll. Fortan gelten die formalen Werte als künstlich isolierte Teilerscheinungen einer Totalität, als ein erst nach ab- straktiver Zerlegung aus der allein lebendigen Wertfülle herausholbares Gerippe. Dadurch erreicht Fichte bereits ein ungemein feines Eindringen in die Struktur- verhältnisse jener den verschiedenen Betrachtungsweisen ents])rechenden Wertfaktoren, die im gewerteten Objekt realiter ineinandergreifen, die jedoch von den beiden kom- prädikablen Wertungsarten (s. S. 12) nach ihrer sachlichen Bedeutung auseinandergehalten werden.^)

Es Hesse sich im einzelnen zeigen, wie dem „qualitativ" Wertvollen, dem Konkreten und fest Begrenzten eine immer stärkere Beachtung zuteil wird, die schliesslich in der be- wussten Kennzeichnung der Struktur durch den Irratio- nalitäts])egriir gipfelt; allein der weitere Nachweis der gegenseitigen Durchdringung von Wert und Logik soll hier abgebrochen und erst in einem späteren Zusammenhange, nämlich bei der Darstellung des umgekehrt, also von der Irrationalität zur Wertung fortschreitenden Prozesses, fort- gesetzt werden. Statt dessen sei an dieser Stelle die all- gemeine Bemerkung eingeschoben, dass der ganze Um- schwung im Werten, insbesondere das neue Verständnis für das Begrenzte und Anschauliche, für das vom Werte Gesättigte, ohne Frage durch den Einlhiss ästhetischer Strömungen bedeutend gefördert wurde '^). Man darf sich

i) VII, 55 fr., 233 f., 243 f., VI, 367 ff., V, 4661".. 469 f., 516, 523 f., 526 f., 532 ff., VII, 291 f., N III, 25 ff., 68 ff., IV, 561 f.

2) S. WiNDELBAXD, Gesch. d. neuer. Phil. II, 287 f., (lesch. d. Phil. 494 1'.. Te.mi'El, Fichtes Stellung zur Kunst.

217

al)er dadurch nicht zu cnier UberschätzAing der ästhetischen Richtung bei P'ichte verleiten lassen. Wenn auch die Be- griffe ..Kunst", „Künstler" und „Genialität" hei ihm zuweilen eine hohe Rolle zu si)ielen scheinen, und wenn auch die für einen Anhänger Kants so naheliegende Verschlingung der Wertindividualität mit der Eigenart grade des ästhetischen Verhaltens (vgl. 8. 149) vielleicht nicht völlig vermieden wird, so kann doch keine Rede davon sein, dass die neue Wertungsart, die sich in seiner mit geschichtsphilosophi- schen und politischen Idealen immer inniger verschmelzen- den „höheren Moralität" verkörpert, das besondere Gepräge eines „ästhetischen Idealismus" verrät V). Von jener Ästheti- sierung aller Kulturinhalte, die das Zeitalter der Romantik auszeichnet, war Fichte vielmehr stets weit entfernt. Das Hinausstreben über den jede Wertindividualität negieren- den Kantischex Dualismus zwar ist ihm mit allen Ver- tretern einer ästhetisierenden Philosophie gemeinsam; allein grade die charakteristische Eigentümlichkeit der ästhetischen Beurteilung, die wertvolle Einzelgestalt als in sich vollendete Welt und als in ihrer Isoliertheit exemplarische Verwirk- lichung der Vernunft zu verstehen-), wird nicht weniger als durch den Kantischen Formalismus durch Fichtes Ver- fahren, das Einzelne als blos dienendes Glied in die Totalität einer Entwicklung hineinzureissen, erbarmungslos zerstört (vgl. ob. S. 209 f.). Der specifisch geschichtsphilosophische Individualismus oder das eingliedernde Werten ist für ihn so sehr das einzig Ausschlaggebende geworden, dass die ästhetische Charakterisierung überall, wo sie vorkommt, nicht sowohl als Mittel eine relativ hohe Bedeutung erlangt, als vielmehr zu einem untergeordneten Faktor herab- gedrückt wird; selbst die „Vernunftkunst" des ethischen Endzustandes bedeutet im Grunde genommen blosse Kunst- fertigkeit, ein technisches Mittel nicht viel anders als das „ordnende" Gesetz! zur Verwirklichung von Zwecken,

1) Dass vielmehr grade eine Abschwächung der ästhetischen Richtung eintritt, bemerkt mit Recht Hexsel, Carlyle 149, vgl. auch 13(3.

■^) Dieser Unterschied der ästhetischen Wertung von jeder Ein- gliederung in Zusammenhänge wird am eingehendsten behandelt und am schärfsten herausgearbeitet von Cohn, Allgemeine Ästhetik 23 ff., 241 ff., vgl. bes. noch Münsterberg, Grdz. d, Psycho!, I, 121 ff., 145 ff.

Lask, Fichtes Idealisnms und die Geschichte, 15

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die dann grundsätzlich jenseits aller ästhetischen Wertung liegen, nämlich um die Menschheit „zum getrolfenen Ab- bilde, Abdrucke und zur Of!'enl)arung des inneren göttlichen Wesens" zu machen. Mit dieser Auffassung stimmt denn auch die niedrige Stellung, die dem Ästhetischen in der Stufenleiter der Werte ausdrücklich zugewiesen wird, auf das Genaueste überein. Fichte unterscheidet sich grade dadurch nicht nur von den übrigen Romantikern, sondern auch von Denkern wie Schellixg und Schleiehm.xcher, dass bei ihm das Ästhetische den Zutritt in das Innerste und Heiligste des absoluten Wertes nicht zu erlangen vermag^).

Wir wenden uns nunmehr der Darstellung des umge- kehrt verlaufenden Prozesses zu, der von der bewussten logischen Charakterisierung und Irrationalitätsbetrachtung allmählich zu einer Logik der Wertstruktur führt.

Die „(irundzüge des gegenwärtigen Zeitalters' be- zeichnen das Anfangsstadium auch dieser Entwicklung, den dem Kantischp:x Rationalismus am meisten angenäherten Tiefstand der Geschichtslogik. Hier wirkt die alte Leu^niz- WoLFFiscHE und Kaxtische Association des „Historischen" mit dem bloss Empirischen oder Faktischen noch so stark nach, dass der Stoff des Geschichtlichen ohne Weiteres dem in der Vernunftwissenschaft oder ..genetischen Evidenz" unauflöslichen Rest gleichgesetzt wird, wie denn dem Re- griff „historisch" bei Fichte fast stets eine verächtliche Nebenbedeutung anhaftet. Der Philosoph hat aus dem Gesamtverlauf der Kulturentwicklung den vernünftigen oder „apriorischen" Restandteil herauszuheben und ihn in der abstrakten Formel des durch die „fünf Zeitalter" hindurch- gehenden Weltplans zu fixieren. Alle einzelnen an Ort, Zeit und „besondere Umstände" gebundenen Gestaltungen dagegen, die der Weltplan bei seinem wirklichen Hervor- treten annimmt, gehen aus seinem Regriff keineswegs

^) S. z. B. vir, 58, V, 526 f.: Schönheit als „niedrigste Form der Idee". Dieses grundsätzliche Losgelöstsein des höchsten Wertes von aller ästhetischen Wertbarkeit bei Fichte verkennt Wixdelbaxd, wenn er (Gesch. d. Phil. 495) von der „Vernunftkunst" meint: „Es ist das Ideal der , schönen Seele' auf Politik und Geschichte über- tragen." Ganz einseitig versucht Tempel, a. a. O., jede bei Fichte auf- tauchende Wertung des Konkreten und Individuellen ins Ästheti- sierende uiTJzudeuten:

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hervor: „sie sind das in ihm L'nl)egrif!'ene, und da er der einzige Begriff dafür ist, das überhaupt L^nhegrifTene, und hier tritt ein die reine Empirie der (icschichte, ihr aposte- riori: die eigentliche (ieschichte in ihrer Form''. In der unl)egreiflichen Einzelheit des Geschehens aber vermag der Philosoph lediglich „Hemmungen und Störungen" des Absoluten, dieEndlichkeit und „Beschränktheit ' des mensch- lichen Lebens zu erblicken. Darin zeigt sich jene echt rationalistische, die Begreiflichkeit zur einzigen und ab- soluten Norm erhebende Betrachtungsweise, die früher (1797) auch Schelling zu dem Ausspruch verleitet hatte, dass wir Geschichte haben, sei ein Werk unserer Beschränkt- heit. Ganz folgerichtig muss bei dieser Anschauung das Beich der irrationalen Thatsachen dem „empirischen Historiker", dem „Sammler der blossen Fakten" preisgegeben werden; Vernunftwissenschaft und Annalistik fallen wie bei Kant (vgl. S. 10) völlig auseinander, da ihre Objekte, „das All- gemeine, Absolute und ewig sich Gleichbleibende" auf der einen, „die stets veränderliche und wandelbare Sphäre" auf der andern Seite, sich ganz beziehungslos gegenüber- stehen und wie zwei Welten von einander geschieden sind^).

Merkwürdiger Weise ist stets übersehen worden, dass sich bereits in den „Grundzügen " neben dieser einen Ten- denz eine andere geschichtsphilosophische Bichtung an- kündigt, die mit jener nicht ganz in Einklang gebracht werden kann. Die Abweichung lässt sich vorläutig dahin angeben, dass die Aufgabe der Vernunftwissenschaft keines- wegs in der Konstruktion des Weltplanes beschlossen sein soll, vielmehr gefordert wird, dass eine eingehende lo- gische Analyse der „allgemeinen Bedingungen des empirischen Daseins" als des Materials der geschicht- lichen Darstellung hinzuzutreten habe. Schon allein durch diese Beziehung zur positiven Wissenschaft wird zum Min- desten die völlige Unbekümmertheit der reinen Spekulation

') S. bes. VII, 139 fT.; Lichtstrahlen aus Fichtes Werken (hrsg. v. Eduard Fichte) 81; VI, 363 ff., Schelling, \VW 1. Abt. I, 461fr.; über den Gebrauch des Terminus „historisch" s. z. B. N III, 122, V, 337, III, 391, II, 404, 411, VII, 23, 30, 32, 84. 124, VI, 392, 401, 403, V, 404, 419 f., 508, 568, 573, VII, 286, 332, 339, II, 647/8, VIII, 362, N II, 93, IV, 397, 484,

15===

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um alles Empirische beseitigt. Die logische Untersuchung darüber, welche Bewandtnis es mit dem Irrationalitäts- charakter des Empirischen habe, wird ausdrücklich dem Philosophen selbst zugewiesen. So vermag das ..Histo- rische" (in diesem empirischen Sinne), viel stärker als es bei Kant und der Aufklärung möglich gewesen war, in den Blickpunkt der Philosophie zu rücken. Wie wenig es vor dem Eorum der Spekulation einfach abgewiesen, wie sehr es wenigstens einer genauen logischen Erforschung würdig erachtet werden soll, zeigt sich denn auch sofort darin, dass zur C.harakterisierung des Geschichtlichen jetzt eine fein ausgearbeitete Theorie der Irrationalität in An- wendung kommt. Die zum Nachweis dessen erforderliche Vorarbeit wurde von uns durch die Darstellung des rein erkenntnistheoretisch gefassten Irrationalitätsproblems in der metaphysischen Phase bereits an einer früheren Stelle ge- leistet (im zweiten Teil, Abschn. 3); sie braucht jetzt nur durch den im Eolgenden sich immer mehr bestätigenden Hinweis darauf ergänzt zu werden, dass seit dem Beginn der kulturphilosophischen Spekulationen der Irrationali- tätsgedanke ganz in den Dienst der Logik des ..Historischen" tritt.

Mit dem Sturz des zeitlosen Seins oder des göttlichen Lebens in das irdische Dasein oder das .,fortfliessende Zeit- leben" verbindet sich, wie in den „Grundzügen" ausgeführt wird, „Unendlichkeit" und Irrationalität für das Wissen. Die das Beharrliche und periodisch Wiederkehrende des Daseins ermittelnde Empirie heisst Physik, die auf die Er- füllung der Zeitreihe gerichtete Wissenschaft Geschichte. Mit dieser Festlegung vollzieht sich die nächste und elemen- tarste Aufgabe des Philosophen, nämlich die Auffindung des transscendentalen Ortes für den Begriff des Geschichtlichen^). Während nämlich der Historiker das faktische Dasein einfach als solches hinnimmt, nuiss der Philosoph, seine logische Struktur durchschauend, es in seiner Unbegreiflichkeit be- greifen und den Schein seiner „Zufälhgkeit" aus der „Un- begriffenheit" erläutern. Die Aufgabe einer Grenzsetzung zwischen Spekulation und Empirie fällt somit ganz deutlich der Philosophie zu, die dadurch den Gharakter einer me-

1) Vgl. S. 24, Anm. 1.

221 -

thodologischen Stellungnahme erhält^). Ihre kritische Thätig- keit soll jedoch nach Fichtks Meinung keineswegs mit der Erkenntnis der Irrationalität erschöpft sein. Vielmehr sind mit dieser noch andere logische Vorhedingungen des Em- pirischen verwel)t, üher die „als ehen hinausliegend über alles faktische Dasein und alle Empirie" der Philosoph „Rechenschaft zu geben" hat. Insbesondere hat Fichte mehr angedeutet allerdings als ausgeführt, dass der Geschichte von der Vernunftwissenschaft „die Mythen ü])er die Ur- anfänge des Menschengeschlechts" „abgenommen" werden. Diese ganze Strukturarbeit des Geschichtslogikers wird dann folgendermassen zusammengefasst: „Welches nun diese Be- dingungen des empirischen Daseins seien, was daher für die blosse Möglichkeit einer Geschichte überhaupt voraus- gesetzt werde und vor allen Dingen sein müsse, ehe die (ieschichte auch nur ihren Anfang finden könne, ist Sache des Philosophen, welcher dem Historiker erst seinen Grund und Boden sichern muss". Dass Fichte mit der „realen Philosophie", die das ganze Gebiet der Wissenschaften über- sieht und „das, was jede einzelne leisten müsse, bestimmt", eine andere Art der Geschichtsspekulation, als man bei ihm gewöhnlich vermutet, nämlich eine rein methodologische geahnt und erstrebt hat, geht ausser aus dem schon An- geführten noch aus einer Stelle hervor, wo in verheissungs- vollen Worten der Philosophie folgende Aufgabe zugewiesen wird: „Sie erhält einen bestimmten Begriff davon, wonach die Geschichte eigentlich frage, und was in sie gehöre, nebst einer Logik der historischen Wahrheit: und so tritt selbst in diesem unendlichen Gebiete das sichere Fortschreiten nach einer Regel an die Stelle des Herura- tappens auf gutes Glück". Wenn die in den „Grundzügen" zerstreuten Ansätze einer logischen Besinnung auf das Wesen des Historischen noch äusserst dürftig ausgefallen sind, so muss hierbei wohl beachtet werden, dass Fichte selbst auf

') Diesen methodologischen Sinn der geschichtsphiloso- phischen Fragestellung verkennt Fester (Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie 132), wenn er Fichte den Vorwurf macht, er überschreite mit der Forderung, die „Bedingungen des empirischen Daseins" einer logischen Analyse zu unterwerfen, die vorher in der Unableitbarkeit des Endlichen aus dem Unendlichen von ihm selbst für unser Begreifen festgesetzte Grenze.

222

eine Ergänzung und Erhärtung der im populären Vortrage nicht «genauer ausführl)aren Andeutunöen durch strenge wissenschaftliche Bearbeitung ausdrücklich hingewiesen hat. Und diese problemgeschichtlich sehr interessanten Versuche wären unmöglich einer so völligen Vergessenheit anheim- gefallen, hätte man nicht die in der „Staatslehre" von 1813 ausgeführte (ieschichts])hilosophie gleichfalls ganz unbe- achtet gelassen; in ihr löst nämlich Fichte seine früheren Versj)rechungen zum Teil ein und nimmt, wie wir zeigen werden, durch einen neuen Anlauf der Geschichts- logik die Spekulation genau an dem Punkte auf, wo er sie 1805 unterbrochen hatte^).

Trotz der Dürftigkeit der damaligen ersten Ansätze einer Begriffsbestimmung des (ieschichtlichen darf man vielleicht schon allein in dem Umstände, dass überhaupt das Bedürfnis gefühlt wird, das Historische in den Kreis eingehender logi- scher Erörterungen einzubeziehen und es als Objekt metho- dologischer Forschung zu legitimieren, bereits ein Minimum auch von Würdigung und Wertung des geschichtlichen Stoffes erblicken, wie ja gleichfalls in den „Grundzügen" die gegenüberliegende Seite, nämlich die Wertung, mit dem Be- griff der ..Originalität" ihr Minimum von Strukturerkenntnis erreicht hat (vgl. ob. S. 214). Allein diese beiden Minima standen sich damals noch unverbunden gegenüber. Erst in den Schriften der darauffolgenden Zeit beginnt ein An- näherungsprozess auf beiden Seiten.

Wie durch die bereits dargestellte Polemik gegen den morali)hilosophischen Formalismus die neue Wertung des Individuellen bis zu einem gewissen Grade schon von der Klarheit der logischen Reflexion eingeholt wird, so beginnt auf der andern Seite der irrationale Best der Wirklichkeit ganz ausdrücklich in die Region des Wertes emporzutauchen, ohne dass allerdings die methodologische Untersuchung gleichzeitig fortgesetzt wird. An eine schon in den „Grund- zügen" angedeutete, terminologisch wohl nicht blos zufällig stark an Jacobi erinnernde Entgegensetzung von „Vernunft"- und „Verstandesreligion" anknüpfend, unterscheidet Fichte

1) VII, 105 ff., 129 ff.; Ansätze einer Beachtung von Fichtes Ge- schichtsmethodologie bei Makschxeh, Kritik der Geschichtsphilo- sophie .1. G. Fichtes in Bezug auf deren Methode. Oberrealschul- programm. Wien. 1884.

2^3 -^

zwischen der Rationalität der „allgemeinen (iesetze und Regeln", die den begreillichen Wertgehalt der Kultiirent- wicklung ausmachen, und der Irrationalität der „besonderen" Inhalte. Nach der aprioristischen Tendenz der ,,("irundzüge" hätte sich nun alles si)ekulative Interesse ganz eindeutig an die allgemeine Vernunftgesetzlichkeit heften müssen. Allein jetzt tritt die höchst bedeutsame Erscheinung ein, dass sich ■die Herabsetzung des individuellen Faktums zur Bedeutung der bhossen „Schranke" oder „Hemmung" nicht unangefochten durchsetzen kann, sondern dass gleichzeitig durch den hinein- ragenden Gedanken der übersinnlichen Individualität grade die einzelne Besonderung einen ungeheuren Wert erhält. Die Möglichkeit einer spekulativen Überwindung dieses an- scheinend unlösbaren Widerspruchs eröffnet sich dadurch, dass ähnlich wde in der positivistischen Periode um 1799 durch das Zauberwort des „Unmittelbaren" für das blos Empirische wieder eine gewisse Stimmung erweckt und sogar eine gewisse Wertbetonung gew^onnen wird. „Es bleibt durch den ganzen unendlichen Zeitfluss hindurch in jedem einzelnen Teile desselben am menschlichen Leben etwas übrig, das im Begriffe nicht vollkommen aufgeht, und eben darum auch durch keine Begriffe verfrühet oder ersetzt werden kann, sondern das da unmittelbar gelebt werden muss, wenn es je in das Bewusstsein kommen soll; dies nennt man das Gebiet der blossen und reinen Empirie oder Erfahrung." „Diese unabänderlich bestimmte und lediglich durch unmittelbare Auffassung und Wahrnehmung zu ergreifende Weise, dazusein, des Wissens, ist das innere und wahrhaft reale Leben an ihm." Noch einmal muss daran erinnert werden, dass solche Er- gebnisse sich nur in hartem Widerstreit mit dem akosmisti- schen Eleatismus und Doketismus durchsetzen können. Die „wirklichen Gestalten", in die das Eine und an sich unwandelbare Sein sich nun einmal in der Reflexion zer- splittert, ,, lassen sich nur im wirklichen Bewusstsein, und so, dass man sich demselben beobachtend hingebe, leben und erleben; keinesweges aber erdenken und apriori ableiten. Sie sind reine und absolute Erfahrung, die nichts ist denn Erfahrung; w^elche aufheben zu wollen wohl keiner Spekulation, die nur sich selber versteht, jemals einfallen wird; und zwar ist der Stoff dieser Erfahrung an jedem

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Dinge das absolut ihm allein Zukommende, und es individuell Charakterisierende; das in dem unend- lichen Ablaufe der Zeit nie wiederkommen, auch niemals vorher dagewesen sein kann". „Es ist das Grundgebrechen aller ihre Grenzen verkennenden, vermeintlichen Wissen- schaft (des transscendenten Yerstandesgebrauchs), wenn sie sich nicht begnügen will, das Faktum rein als Faktum zu nehmen, sondern es metaphysiciert. Da unter der Voraussetzung, dasjenige, was eine solche Metaphysik auf ein höheres (iesetz zurückzuführen sich bemüht, sei in der That lediglich faktisch und historisch, es ein solches, \\'enigstens im gegenwärtigen Leben uns zugängliches Gesetz nicht geben kann: so folgt daraus, dass die beschriebene Metaphysik, willkürlich voraussetzend, es finde hier eine Erklärung statt, welches ihr erster Fehler ist, sich noch überdies auf das Erdichten legen und durch eine will- kürliche Hypothese die vorhandene Kluft ausfüllen müsse, welches ihr zweiter Fehler ist." Vor dieser Auflehnung gegen den rationalistischen Apriorismus und metaphysischen Monismus, der die logische Erörterung zugleich eine so glückliche und scharfe Herausarbeitung der Irrationalität verdankt, ständen wir wie vor einem unauflöslichen Rätsel, wenn wir nicht als eigentliche Triebfeder den dahinter- stehenden Zwang begritfen, der jetzt von den kulturphilo- sophischen Problemen, diesen Zuchtmeistern zur Wirklich- keit, ausgeübt wird^J.

Dass in der geschichtsphilosophischen Idee der über- sinnlichen Individualität der letzte Grund für die den Ratio- nalismus umstossende Wertung des im Welt])lan „Un be- griffenen" zu suchen ist, beweist am besten der Regriff, in dem die Vereinigung von Wert und Irrationalität einen angemessenen und in mancher Hinsicht abschliessenden Ausdruck erhalten hat, der Regriff der ,, Offenbarung". „Offenbarung" nämlich zeigt als Trägerin des Neuen, durch Regriffe nicht Anticipierbaren oder „Verfrühbaren" eine Tendenz nach der Irrationalität und als Verkündigung des Göttlichen eine Tendenz nach dem absoluten Wert. In dem Gedanken der Offenbarung verschmilzt die logische Form des Irrational-Empirischen mit dem

1) VII, 242 fr., VI, 364 fr, V, 442-460, 567 fT.

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(rehalt des ül)ercmj)irischcn Wertes. I);i das Sein Gottes „nur diireh das aJ)S{)liit in sich gegründete göttliche Wesen von der einen, und durcli die im wirivlichen Dasein nie aulzuhisende oder zu endende Form der Unendlichkeit von der anderen Seite, bestimmt ist, so ist Ivlar, dass durch- aus nicht mittelbar und aus einem anderen, und so apriori, eingesehen werden könne, wie dieses Sein auslallen werde; sondern dass es nur unmittelbar erfasst und erlebt .... werden- könne. Der von Gott Begeisterte wird uns offen- baren, wie sie ist, und sie ist, wie er es ofTenbaret, des- wegen, weil Er es ofTenbaret; ohne innere OfTenbarung aber kann niemand darüber sprechen". Der Begriff der Offenbarung hat auch bei vielen andern geschichtsphilo- sophischen Denkern, z. B. bei Schelling, eine entscheidende Rolle gespielt; Fichtes eigentümliches Verdienst besteht nur darin, dass bei ihm die religiöse und kultur])hilosophische Bedeutung wiederum auf das Engste mit den rein logischen Problemen verflochten wird. Es mündet also jetzt nicht nur die Polemik gegen den ethischen Formalismus, sondern auch die ausdrückliche logische Charakterisierung durch die Irrationalität in die Weltanschauung der Wertindividualität ein. Die typische Betrachtungsweise der analytischen Logik ist schon so sehr in den Mittelpunkt der kulturphilosophi- schen Wertspekulation hineingerückt, dass man an einigen Stellen fast von einem l^athos der Irrationalität reden möchte. Die stärkste und lebendigste Mahnung, dass das nur „Fak- tische" in der Entwicklung des Menschengeschlechts nicht mit rationalistischer Verständnislosigkeit ohne weiteres dem „Annalisten" preisgegeben werden dürfe, erwuchs Fichte aus der Betrachtung des Ghristentums. Auch hierbei stellt er gleichsam mit einer gegen seinen eigenen Rationalismus, der sich am liebsten dagegen aufgelehnt hätte, unerbittlichen Logik zunächst fest, dass die Gestalt Jesu als einer histori- schen Persönlichkeit so einzig und einmalig und deshalb von der allgemeinen Gesetzlichkeit und Begreiflichkeit des göttlichen Lebens so ausgeschlossen sei „wie jede Indivi- dualität". Das ganze Individualitätsproblem wird bei dieser Gelegenheit nach seinem Wertungs- wie nach seinem rein logischen Gehalt wieder aufgerollt. Auch wird wiederum gegen die rationalistische Metaphysik polemisiert, „die das Faktum überfliegt und zu metaphysicieren begehrt das nur

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Historische". Bei dieser wohlüberlegten Reflexion auf den Individiialitäts- und Irrationalitätscharakter wird gleichwohl der Ausspruch des Evangelisten gutgeheissen, dass in der Persönlichkeit Jesu das unmittelbare Dasein (lottes ,,Fleisch geworden" sei, die „vollkommene sinnliche Darstellung des ewigen Wortes" sich verwirklicht habe. Auch die reli- giöse Spekulation erzwingt somit ebenso wie die kultur- philosophische eine Anerkennung nicht nur der Individuali- sation, sondern auch der Versinnlichung, d, h. der end- lichen und „historischen" Verwirklichung unend- licher Werte ^).

Damit haben wir zugleich wieder berührt, in eine wieviel tiefere und schwerer erreichbare Schicht des philo- sophischen Nachdenkens uns die Idee der Offenbarung führt, im Vergleich mit dem weiteren Begriff der Wert- individualität überhaupt. Denn bei dem letzteren handelt es sich nur um die Synthese von Wert und unvergleich- barer Individualität, bei der Offenbarung dagegen um die bereits früher davon noch unterschiedene (s. S. 210f.) Ver- einigung von Wert und Wirklichkeit, oder, was jetzt für uns stets dasselbe bedeutet, um die Versöhnung des Wertes mit dem ausdrücklich als irrational und empirisch Gekennzeichneten. Damit hat sich aber die Wertung noch entschiedener von der Weltanschauung des 18. Jahrhunderts losgerissen; sie hat das Empirisch- Irrationale vom rationalistischen Vorurteil befreit. Wir beobachteten zwar früher, dass grade die beginnende Wertung des Individuellen die These der Irrationalität als rationalistisch (vom Standpunkt desWertens aus) empfinden musste, weil sie durch sie die Fülle der Wirklichkeit ein- seitig an einem Ideal des Begreifens gemessen sah (vgl. ob. S. 192f.). Wir werden aber jetzt zugeben müssen, dass von Rationalismus dann keine Rede mehr sein kann, wenn gleichzeitig eine ursprüngliche Wertung des als irrational Betrachteten hinzutritt. Im Gegenteil, die Behauptung der Irrationalität an und für sich für rationalistisch und für ein blosses Reflektieren in einer niederen Region zu er- klären, wäre selbst Rationalismus, da ein solcher Stand- punkt die hinzukommende Wertung des Irrationalen nicht

J) V, 482 lY., 523^537, 567-574.

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vermissen, sondern seinerseits sell)st für unmöglich halten würde. Das berechtigte Misstrauen gegen die Alleinherr- schaft des Irrationalitätsgedankens würde sich in eine rationalistische Unduldsamkeit gegen das Irrationale als solches verwandeln. Die Irrationalität für nicht ergänzungs- bedürftig und für nicht ergänzungsfähig zu halten, ist somit gleich rationalistisch. Das Heil der Geschichtslogik kann deshalb nur darin gesucht werden, dass man die Irrationalität als einElement in den Begriff des Historischen aufnimmt^).

In den „Grundzügen ' war zweifellos die (iefahr noch nicht überwunden, die Irrationalität für das Ganze des Geschichtsbegriffes anzusehen, obgleich bereits einige ge- heimnisvolle Andeutungen darüber gefallen waren, dass die methodologisch feststellbaren „Bedingungen des empi- rischen Daseins" noch andere Struktureigentümlichkeiten in sich enthalten möchten als blos die Irrationalität. Jeden- falls bedeutet es einen Fortschritt, wenn in den darauf- folgenden Jahren über dieses Minimum von ^Yürdigung des Historischen hinausgeschritten wurde und das als irrational scharf Gekennzeichnete ausdrücklich in die Begion des Wertes emporstieg. Aber schliesslich war doch auch hiermit nur eine gelegentliche und mehr blitzartig auftauchende Berührung zwischen Irrationalität und Wert, ein Sich-drängen- und -zwingen-lassen zu gewissen Konsequenzen erreicht, und noch nicht eine auf dies thatsächliche Zusammentreffen gerichtete Überlegung. Erst in der Geschichtsphilosophie von 1813 wird auch eine darüberstehende logische Besinnung als Ergebnis dieses Gährungsprozesses sichtbar. Die rationalistische Unduld- samkeit gegen das Irrationale hört als Thatsache zwar schon früher auf, aber die Berechtigung dieses Aufhörens wird erst jetzt zum Problem gemacht. Mit Becht haben wir deshalb an einer früheren Stelle die bewusste speku-

1) Auch für diese Auffassung haben die geschichtsmethodo- logischen Untersuchungen Rickerts die entscheidende Anregung gegeben; erst in ihnen wird die Vereinigung der logischen Kenn- zeichnung durch die Irrationalität mit der Kultur wert- Betrach- tung und damit die eigentliche Begründung einer kritisch-methodo- logischen Geschichtsphilosophie erreicht, vgl. S. 11, Anm. 1 und S. 24, Anm. 1 ; über Simmels und Wixdelbaxds Charakterisierung des Historischen durch die Irrationalität s. S. 24, Anm. 1.

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lative Versöhnung von Wert und empirischer Wirklichkeit erst in diese späteste Phase (seit 181Ü) verlegt (vgl. ob. S. 211). Mit schematischer Kürze lässt sich nunmehr dieser ganze Entwicklungs])rozess folgcndermassen skizzieren. In den Schriften der Jahre 18Ü5 1809 wird die in den „Grund- zügen" noch nicht überwundene Beziehungslosigkeit der beiden ..Minima" thatsächlich aufgehoben, indem das seiner logischen Struktur nach als irrational Erkannte aus- drücklich mit dem Wert versehen wird; dagegen erst in der allerletzten Phase wird die Wertung des als irrational Begriffenen wiederum ausdrücklich ins Bewusstsein er- hoben, also ein seiner Struktur nach irgendwie Erkanntes nicht blos gewertet, sondern eine Wertstruktur erkannt, oder, wie wir auch sagen können, auf ein analytisch- logisch (Charakterisiertes die Wertung nicht nur angewandt, sondern die Anwendung zum Problem gemacht. Damit geht aber eine Vertiefung der logischen Charakterisierung selbst, eine Wiederaufnahme der methodologischen Bestrebungen von 1805 Hand in Hand.

Die in der ..Staatslehre" von 1813 dargestellte Ge- schichtsphilosphie macht es sich nämlich zur obersten Aufgabe, die 1805 begonnene „Logik der historischen Wahr- heit" fortzusetzen und der Unklarheit über das Wesen des Geschichtlichen durch feste Einordnung in ein System endlich ein Ende zu machen. „Ein besonderes Geschicht- liches ist verständlich nur durch Geschichte überhaupt; diese wiederum nur verständlich durch ihren Gegensatz, das Gesetzliche, streng wissenschaftlich zu Erkennende^). Solch eine Ableitung derselben aus dem Gesamten der Erkenntnis heraus tlieht man gewöhnlich." Und am Schlüsse des ganzen Abschnittes wird wiederholt: „Ein geschichtlicher Zustand war zu erklären: dies nur dadurch, dass die Geschichte überhaupt verstanden würde, d. i. das Grundgesetz des gegebenen Seins aufgestellt." Aber im Unterschiede von den ..Grundzügen" bleibt die Untersuchung bei der Bezeichnung des transscendental- logischen Ortes lediglich durch das Merkmal der Irratio- nalität nicht mehr stehen, sondern sie strebt darüber sofort durch die Überlegung hinaus, dass der „Stoff" des Geschicht-

') Vgl. dazu ob. S. 169 f.

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liehen nicht in der hiossen „Gegebenheit" l)estehen könne, sondern viehnehr in der „gegebenen Freiheit", in der irrationalen Menschheits- oder Kultiirentwieklung, d. h. in einer Synthese von Wert nnd Irrationalität, zu suchen sei^). Hier erst vollzieht sich also die wahrhaft speku- lative, zur bewussten geschichtslogischen That gewordene Durchdringung von Logik und Wert, hier erst der durch alles Vorangegangene allerdings vorbereitete Schritt, dass äer Wert Charakter ausdrücklich zu einem Objekt der methodologischen Erforschung des Historischen gemacht wird. Alle früheren geschichtsphilosophischen Erörterungen können jetzt zu Bestandteilen einer methodologischen Be- trachtungsweise umgewandelt werden.

Die Frage, wie Geschichte ihrer Form oder Struktur nach möglich ist, koncentriert sich zunächst in dem Be- griff der „gegebenen Freiheit". Auch in methodologi.scher Hinsicht beansprucht ja stets bei Fichte das Ethische die Hegemonie im Reiche der Werte. Darum spitzt sich jetzt die geschichtsmethodologische Untersuchung zu der einen Schwierigkeit zu, wie die faktische Verwirklichung oder die „Gegebenheit" des Freiheitswertes als Thema der Menschen- geschichte möglich sei. Damit werden zugleich ältere, ursprünglich ohne Rücksicht auf eine geschichtsphiloso- phische Verwertung unternommene Spekulationen wieder aufgenommen. Schon in der „Sittenlehre" von 1798 be- schäftigte Fichte das später häufig wiederkehrende Problem, wie es denkbar sei, dass die Freiheit an ihr eigentliches Gegenteil, an Bestimmtheit und festumrissene Gestaltung gebunden sein könne. Es besteht das Postulat, seine In- dividualität mit Freiheit zu „machen", während andrerseits grade das Individuelle des Charakters schon ohne Freiheit vorausgegeben sein soll. Bei seiner damals noch streng Kantischen Beschränkung auf einen formalen und funk- tionellen Sittlichkeitsbegriff musste er zu dem Ergebnis gelangen, dass das principium individuationis für den Freiheitswert ausschliesslich in der specialisierenden Kraft seines sinnlichen Substrates, in der „Natur" oder in dem „System der Triebe und Gefühle" liegen könne (vgl. S. 98, 114 f.). Sogar die Besonderheit der sittlichen Bestimmung

') IV, 458 495.

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wurde allein auf Rechnung des ..Naturtriebes" gesetzt. Jedoch schon damals schien diesesAbwälzen allerlndividualisierung auf die Sinnlichkeit nicht zu genügen, und es regte sich das Bedürfnis, in der P>eiheit selbst das principium in- dividuationis begründet zu sehen. Da half sich nun Fichte mit der Vorstellung, dass es die prädeterminierende That des intelligiblen Charakters sei, die der sittlichen Bethätigung durch einen nicht formalen, sondern Inhalt und indivi- duelle Eigentümlichkeit erzeugenden Schöpfungsakt die ihr notwendige Individualisation entgegen- oder vielmehr mitbringe. Das für unsere Zwecke Bedeutsame liegt wieder- um darin, dass hier vor dem abstrakten Universalismus des Werfens in der intelligiblen Individualität eine Bettung gesucht wird. Wir müssen deshalb frühere Bemerkungen noch dahin ergänzen, dass auch Kants ganzes Wertungs- schema nicht nur durch den Begriff des Cienies im tiefsten Grunde erschüttert wird (vgl. S. 12, Anm. 1, 149, 194), sondern auch durch die Lehre vom intelligiblen Charakter, der denn auch in Kants Denken ebensowenig eine eigent- liche Heimstätte findet wie die Vorstellung einer indivi- duellen unsterblichen Seele in den Systemen des Piatonismus. Bei Fichte wird nicht nur der von Kant hierbei verschwiegene Individualitätscharakter aufgedeckt, sondern es wird aus- drücklich der Zusammenhang mit der Irrationalität oder der „ursprünglichen Beschränktheit" von vornherein ins Auge gefasst. Um nun die Möglichkeit der in individueller Ge- staltung auftretenden Freiheit zu erklären, findet bereits die „Sittenlehre" neben der Annahme eines intelligiblen Ur- bildes auch noch einen andern Ausweg in der Vorstellung einer Vorbildlichkeit von ?vlusterindividuen innerhalb der Menschheitsentwicklung selbst. Diese „Muster" liefern in dem sonst leeren und formalen Freiheitsgewebe den kon- kreten und individuellen Einschlag, den ursprünglichen Inhalt, der von der formalen Funktion ergriffen und dann von Individuum zu Individuum, von Generation zu Gene- ration fortgetragen, „nacherfunden", „nachkonstruiert" wird. In diesen Uranfängen aller Kulturentwicklung wohnt die Sittlichkeit unretlektiert und unentstanden, urwüchsig, wie „Natur", d. h. als Freiheit, die aber gleichzeitig ihr prin- cipium individuationis, ihre Krystallisationsmöglichkeit in sich selbst trägt und darum dieselbe Konkretheitsfülle und

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inhaltliche Bestimmtheit aiil\veist, die nach der früheren AulTassungallein dem specialisierenden Faktor des Sinnlichen und Empirischen, der „Natur", verdankt werden konnte. Diese Verlegung der individualitätschaffenden Kraft aus der intelligiblen vSphäre in die historische Wirklichkeit muss in geschichtsphilosophischem Betracht als ein Fortschritt angesehen werden, da die ausschliessliche Lösung des Problems durch den intelligiblen Charakter doch allzusehr die Angst und Batlosigkeit des Rationalismus gegenüber dem inhaltlichen Wert und seine Flucht vor diesem ins Trans- scendente verrät. Aber auch noch die ins Irdische ver- legten Anfangspunkte der Sittlichkeit bleiben ein „Wunder" wie alles Unmittelbare, und insbesondere ein Wunder für eine Philosophie, die ausschliesslich vom Formalen und Funktionellen auszugehen gewohnt war^).

Würdigt man diese allgemeine, die Struktur der Wert- wirklichkeit erleuchtende Bedeutung des Problems der „gegebenen Freiheit", so wird es begreiflich, dass Fichte diesen Begriff jetzt für eine Grundlegung der Geschichts- methodologie verwerten kann. Die Staatslehre von 1813 bemüht sich denn auch vor allem, diesem Gedanken „seine Stelle im System" anzuweisen. Die Leerheit und Gestalt- losigkeit des sittlichen Gesetzes liedarf der Ergänzung und „Gestaltung" durch einen „sittlichen Stoff". Als un vermiss- barer F'aktor in der Struktur des sittlichen Lebens muss deshalb ein ursprünglich sittlicher Wille, ein bestimmtes inhaltliches „Bild des Sittlichen" angenommen werden, das von der an sich unfruchtbaren und lediglich funktionellen Freiheitsbethätigung nur nachgebildet zu werden braucht. Ohne die Annahme eines solchen absoluten Querschnittes würden wir „ins Unendliche vorwärts getrieben werden und niemals zu einem Anfang kommen". Ein Anfang der sittlichen Welt aber „setzt einen Willen, der qualitativ in seiner eigenen Anschauung sittlich ist, ohne durch eigene Freiheit sich dazu gemacht zu haben, durch sein blosses Dasein, durch seine Geburt; der in der Anschauung seines Willens die Welt in einer sittlichen Ordnung erfasst. So nur ist der Hiatus zwischen der absoluten Bild-

') Vgl. bes. IV, 100 f., 109 fT., 127, 150 ft'., 204 f., 220 fF., 224 fr., VII, 54, 237, VI, 350 f., V, 482 ff., 571 ff.

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losigkeit des Sittlichen und der Bildlichkeit, die es in der Wirklichkeit annehmen soll, ausgefüllt." Dadurch, dass das ,, Wunder" der qualitativen Sittlichkeit zum Objekt rein methodologischer Forschung geworden ist, verliert es seine frühere Bedeutung eines blos sporadisch auftretenden Anfangspunktes der Kulturentwicklung und wird zu einem konstanten Faktor in der Struktur der Wirklichkeit gemacht. Wie klar Fichte sich über den Inhalt dieser Wandlung gewesen ist, geht aus dem Hin- weis darauf hervor, dass der Begriff der qualitativen Sittlich- keit ein Produkt des analysierenden Verstandes sei, und aus der sich daraus ergebenden häufig eingeschärften metho- dologischen Regulative, das Vorhandensein einer „sittlichen Natur" genau soweit anzunehmen, wie es durch die Zwecke der Erklärung erforderlich wird. Durch die ganze Schrift zieht sich diese Umbiegung des früheren Wunderproblems hindurch, das dadurch zur Aufnahme in die formalen Be- dingungen des Geschichtlichen tauglich wird. „Eine solche sittliche Beschaffenheit der gegebenen individuellen Willen liegt in dem formalen Gesetze des göttlichen Erscheinens, wie in ihm liegt Ichheit, Verstand, Sinnenwelt und alles Übrige." „Nach unserer Idee haben wir diese Sittlichkeit der Natur gleich aufgenommen in die notwendige Form der Erscheinung." Ausdrücklich wird deshalb auch aus- einandergesetzt, dass die Eigentümlichkeit der sittlichen Natur als in der Mitte liegend „zwischen dem absolut (ie- gebenen und dem Produkt der absoluten Freiheit" den von der geschichtslogischen Forschung gesuchten „Stoff" der Menschheitsentwicklung angemessen charakterisiere, „zur Geschichte als einer Darstellung des also Gegebenen, sich qualificiere"^).

Durch die Methodologisierung des Wunderproblems wiederholt sich auch innerhalb dieser Gedankenreihe die stufenweise fortschreitende Überwindung derTransscendenz des Wertes und die innigere Versöhnung von Wert und empirischer Wirklichkeit, wodurch gleichzeitig unsre frühere Behauptung über die Tendenz der letzten Phase seit 1810 sich von Neuem bestätigt (vgl. ob. S. 211). Das ., Wunder" des individuellen Wertes erscheint nicht mehr nur an ein-

') IV, 448—469, 471 f.

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zeliuMi aiilhlitztMiden Punkten, sondern durchzieht die «ge- samte „P'akticität . Nielit nur die Sinnenwelt, sondern auch der gegebene Zustand der „Freiheitswelt'' soll der „Sichtbarkeit" ewig giltiger Werte dienen (vgl. ebenda). Dadurch, dass jetzt die „Bestimmtheit der gegebenen indi- viduellen Willen" oder die ..(iesetzmässigkeit der nicht auf den klaren Begritfdes Gesetzes zurückgehenden menscli- Jichen Entschliessungen" den Hauj)tinhall der göttlichen Weltrt^gierung ausmachen soll, wird das nach der früheren Auffassung im „Welt])lan" grade Unbegriffene nicht nur gewertet, was ja schon vorher geschah (vgl. ob.S. 224f.), sondern es wird die ge wertete Unbegreiflichkeit in die Strukturlogik hineingearbeitet und ausserdem das früher aus dem Weltplan grade Ausgeschlossene jetzt ausdrücklich in ihn aufgenommen und zum methodologischen Problem gemacht. Fichtk selbst hat angedeutet, dass damit eine neue Ära geschichtsphilo- sophischer Besinnung für ihn beginne; er hat die in den „(irundzügen versuchte Fassung des Weltplans mit ihrer rationalistischen Unduldsamkeit gegen das Irrationale aus- drücklich desavouiert. ..Aber ist in diesem Elemente des Unbegreiflichen, Unverstandenen nicht zugleich ein Welt- plan, drum allerdings eine Vorsehung und ein Verstand? Welches ist denn das Gesetz der Weltfakten, d. i. des- jenigen, was der Freiheit ihre Aufgabe lieferte Diese Frage liegt sehr tief: bisher habe ich durch Igno- rieren und Abs|)rechen mir geholfen." Dass diese Wendung der geschichtsphilosophischen Spekulation mit der gleichzeitig erfolgenden Neubelebung des Individualitäts- problems auf das Engste zusammenhängt, hat Fichte bei der zum Teil sehr dunklen und unfertigen Erörterimg über „Zufall, Loos, Wunder" selbst bemerkt. ..Ich habe oben faktische Gesetze für die Erhaltung der ganzen Mensch- heit zugegeben; erstreckt sich dies nicht auch auf den Einzelnen? Überhaupt: was gilt der Einzelne? . . . Die bisherigen Princij)ien scheinen nicht hinzu- langen, dies zu erledigen." Und an einer späteren Stelle heisst es: „Dies gäbe eine durchaus veränderte An- sicht .... vom Princip der Individualität.' Die Ver- söhnung von Wertindividualität und Wirklichkeit und die Durchdringung von Wert und Irrationalität wirken zu dem

Lask, Fichtes Idealismus uud die Geschichte. 16

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einen Endergel)nis zusammen, dass der ganze in den „(irundzü gen" noch völlig von der universalistischen und intuitiv - spekulativen Methode heherrschte Gedankenkreis, der sich auf den „Welt])lan" hezieht, jetzt in die f r ü h e r ihm noch u n v e r b u n d e n gegen- übergetretene methodologische Fragestellung ein- gegangen istO.

Ein weiterer Schritt in der Umformung der älteren geschichtsphilosophischen Ideen und ihrer Umbiegung ins Methodologische gelingt Fichte durch die Übertragung des ^Yunderbegriffs vom Individuum auf die Gesellschaft. Genau ebenso wie ein individuelles Vorbild für die Sittlichkeit des Einzelnen wird das sociale Vorbild eines ganzen Volkes für die Sittlichkeit der Gesamtheit postuliert. Und die aus der Strukturzergliederung gewonnenen beiden Fak- toren der absoluten Bildlichkeit und der unendlichen Freiheit, deren Entgegengesetztheit wieder ausdrücklich als „höchst wichtig für die Einsicht in das ganze System" abgeleitet wird, verteilen sich dabei auf die beiden Urge- schlechter, aus deren Vereinigung erst die Struktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit erklärbar sein soll. Um der Sichtbarkeit der Freiheit willen muss in dem einen Urvolk die Sittlichkeit als ..uranfängliches Sein" herrschen, und um derselben Sichtbarkeit willen muss diese koncentrierte und verabsolutierte Inhaltlichkeit, diese gleichsam gebun- dene und erstarrte Produktivitätsfülle durch die schranken- lose und für sich gleichfalls unfruchtbare Freiheit eines zweiten Urgeschlechts wiederum erst in Fluss gebracht werden. Hier ist die Behandlung der Urvolkshypothesc völlig zu einer phantastischen Mythologisierung rein logischer Probleme geworden. So merkwürdig, ja unbegreiflich diese ganze Konstruktion auch erscheinen mag, wir dürfen dennoch aus ihr den bedeutsamen Kern herausheben, dass die früheren Theorieen vom Vernunft- instinkt und vom Normalvolk in eine der Absicht nach methodologische Charakterisierung des geschichtlichen Stoffes hineingezogen werden. Denn nach Fichtes Meinung gehört die gegebene Freiheit des Urgeschlechts genau in demselben Sinne wie die sittliche Natur der Individuen

0 IV, 462 tT., 466 IW, VII, 574—596.

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zu den „formalen Be(lingun<^en" des Kultiirgeschehens, und seine Annahme ist deshalb „eine blosse Analyse des Ist der göttlichen Erscheinung'! \n dem „Zu- sammentreten" der l)eiden Urgeschlechter „ist der Anfangs- punkt der (ieschichle, ihr eigentlicher Geist und ihr Grundgesetz, und alle Hauptmomente, die in derselben sich ereignen müssen, gegeben; und dies lässt sogar a priori -sich erkennen. Mit einer solchen Erkenntnis haben wir als. Philosophen es einzig zu thun."^)

Indem so der tiefe nicht eigentlich unhistorische, sondern Liberhistorische Grundzug der Kaniischen und früheren Fichteschen Weltanschauung, für die das „Machen" mit Freiheit die einzige würdige Lösung auch des Kulturproblems sein musste, jetzt durch das Mysterium der Gegebenheil und des ursprünglichen Seins erschüttert wird, steigt Fichte mit Hewusstsein auf den Boden einer historischen Welt- anschauung herab und wird dadurch wie durch das er- wachende Verständnis für den „qualitativen" Wert ein Vor- läufer Hegels. Durch das Rechnen mit konkreten Werten anticipiert er auch Hegels Vorstellung, dass die Kulturent- wicklung, einer Spirale vergleichbar, immer zu den Punkten ursprünglicher Gegebenheit zurücklaufe. Dieser Gedanke war das Schema der „Grundzüge" gewiesen, und er wurde später in der Annahme einer individuellen sittlichen Natur wie in der Urvolkshypothese noch einmal lebendig.

Wir können die Überlegenheit der Spekulation von 1813 gegenüber allen früheren Ansätzen, insbesondere gegenüber der dürftigen Methodologie von 1805, am schärfsten in dem Satz zusammenfassen, dass für die geschichtsphilosophische Erörterung jetzt eine verwickeitere und prägnanteste Form der Irrationalität oder eine Irrationalität höherer Ordnung entdeckt worden ist. Die trans- scendentallogische Unableitbarkeit, die Unmittelbarkeit des nur Erlebbaren, das Geheimnis der gegebenen Freiheit sind als untrennbare Bestandteile und blosse Momente in einer neuen Fassung des (iedankens der Unbegreiflichkeit gleich- massig untergegangen, nämlich in der Idee einer Irrationalität, die in ihrem Begriff bereits im genauen Gegensatz zur früheren Auffassung die Beziehung zu einer Wertverwirk-

i) IV, 469—494, VIII, 166.

16*

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lichung einschliesst. Die irrationale Faktieität wird hierbei mit dem aller (iesetzlichkeit stets entschlüpfenden ursprün<>- lichen Freiheitsinhalt identiticiert; die „unerklärlichen und auf kein Gesetz zurückzuführenden Begebenheiten an der Freiheit" werden zugleich als das Neue, Schöpferische, nie Dagew'esenes in die Zeit Hineinerschaffende gewertet. Dadurch erhält die Gegenüberstellung von ..(iesetzlichem ' und ., Historischem" eine ganz andre Bedeutung als die, w^elche das Zeitalter der Aufklärung für allein möglich gehalten hatte. Zwar ist der alte Sinn dieser Entgegen- setzung noch nicht verschwunden, nach dem auf die Seite der (iesetzlichkeit der Inbegriff der Vernunftwerte, auf die der Gesetzlosigkeit der gleichgiltige Bodensatz des Empiri- schen zu stehen kommt'). Aber daneben arbeilet sich jetzt eine von ganz andern Gesichts])Mnkten bestiiumte Weit- verteiking em])or, die zur Erhöhung grade des Gesetzlosen führt. Wie K.wt gegen Mendelssofix, Schelling gegen SciiLEC.EL die Meinung vertreten hatte, dass die Geschichte nicht in periodischen ..Zirkeln" verlaufe, sondern in ein- maliger Entwicklung fortschreite, so polemisiert auch Fichte besonders in den „Beden an die deutsche Nation" gegen die ., undeutsche" Geschicht.sphilosophie, die an .,Still- stand, Bückgang und Zirkeltanz", an entwicklungslose Natur- gesetzmässigkeit statt an ewiges Fortschreiten unseres (ie- schlechtcs glaube. Auch diese neue F'orm einer Ent- gegensetzung des Einmaligen und des Wieder- kehrenden rückt in den letzten Jahren in die methodologische Strukturforschung hinein. Es tritt nämlich jetzt das Geschichtliche nicht mehr als das Wert- los-Gesetzlose der Vernunftgesetzlichkeit, sondern als In- begriff des Neuen und Schöpferischen der Gleichförmigkeil und .,Un Veränderlichkeit", dem bloss ., stehenden Sein" der Natur entgegen. Dadurch wird zugleich die in den „Grund- zügen" gegebene Gliederung der Wissenschaften aufgegeben, nach der Geschichte und Physik sich nur als die beiden empirischen Disciplinen vom Successiven und vom Be- harrenden von einander unterscheiden. Von Neuem be-

\) Und demgemäss das Individuelle als ..Schranke" und blosser „Fall" eines Gesetzes betrachtet wird, vgl. S. 219, ferner 11, 63911'.. 644. IV, 376 ff.

2B7

sUilii^t sich auch hier die sleif^fcnde Wertl)ct()niini^ des Kiri- malii^en und „Gesetzlosen"').

Der Nachweis des Verwachsenseins von W'eitun«^ und Methodologie wird als abgeschlossen zu ])elrachlen sein, wenn sich noch zeigen lässt, dass auch der speci lisch ge- schichtsphilosophische Hegrill" der in die Werllotaliläl ein- gegliederten „Originalität" ausdrücklich in die ))ewusste Strukturlogik aufgenommen wird. Eine gelegentliche Ver- einigung von Irrationalität und Originalität haben wir bereits bei dem Oedanken der., Ollen barung" kennen gelernt (vgl. ob. S. 224 f.). Wir können jetzt noch hinzufügen, dass als drittes Glied dieser gelegentlichenSynthe.se an den Hau])tstellen sich der Wunderbegriff hinzugesellt. So wird besonders in der „An- weisung" das religiöse Leben in der Gestalt Jesu als unmittel- bares qualitatives Sein gekennzeichnet-). Gleichzeitig mit der für 1(S13 nachgewiesenen Methodologisierung des Wunderproblems rückt nun auch der Offenbarungsbegriff in die Logik der historischen Wertstruktur hinein. Der (Charakter des Offenbarungsmässigen vermag nunmehr aus den logischen Qualitäten des Historischen sogar ab- geleitet zu werden. Und grade die Reflexion auf die That- sache des für den Begriff „Unendlichen", das noch in den „Grundzügen" eindeutig dem nur Empirischen gleichgestellt wurde (vgl. S. 219), führt jetzt zur Einsicht in die Un- zulänglichkeit des blos Begrifflichen oder in allgemeinen Reaeln Ausdrückbaren und zur Anerkennung des unersetz- liehen Wertes der geschichtlichen That. Wiederum wendet Fichte die Methode der Strukturzergliederung an, und zwar an der Gesamtheit des ])olitischen Geschehens, das die „Errichtung des Vernunftreiches" zum Ziele hat. Er unter- scheidet da einen „streng demonstrativ", durch „absolute Sätze", durch ..objektiv giltige Begriffe" erkennbaren und einen „rein faktischen, dem Begriffe undurchdringlichen" Bestandteil, bei dem lediglich „Beurteilung eines Gegebenen" durch ,, Annäherung ins Unendliche" stattfinden könne. ,,Nur der formale, in der reinen Wissen.schaft aufgestellte Begriff ist endlich, denn er ist der Begriff eines Gesetzes: die Be-

i) Kant, WW VII, 393 11'., Schellixc;, WW 1. Abt., I, 461 ll"., Fichte VI, 103, VII, 366 il"., 374 f., 380 fT., 447, II, 631, 643 f., 648 f., IV, 385 tt'., 416. •^) V, 483 f., 567 574.

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iirteiliing des faktisch Gegebenen aber ist unendlich; denn sie geht einher nach dem in ihr selbst herrschenden, ewig verborgen ])leibenden Gesetze: quillt ewig neu und frisch. Aus jedem Punkte entwickelt sich ja durch Hinzutritt des Gesetzes die Ewigkeit, und so in jedem folgenden Zeit- momente." An dieser Irrationalität des Individuellen erweist sich nun das Unzulängliche der blossen Yernnnftgesetz- lichkeit und das absolute, über alle Begreiflichkeit hinausliegende Recht der unmittelbaren histo- rischen Wirklichkeit. Denn wo „der Verstand durch- aus am Ende ist und das absolut faktisch Gegebene an- geht", wo die Begriffe unvermögend sind, „das Recht im höheren Sinne, dieZeitbestimmung des Volkes" zu beurteilen, da muss ein „Oberherr", ein „Zwingherr" zum Recht, der höchste menschliche Verstand seiner Zeit und seines Volkes, sich „unmittelbar bewähren durch eine schöpferische, allen ofTenbare und faktische, sinnliche Gewissheit tragendeThat", durch eine „That von Gottes Gnaden". „Ein Mensch muss reden; Gott selbst steigt nicht zur Entscheidung herab." Erst jetzt tritt somit die früher mit dem Begriffe der (Jffen- barung nur thatsächlich ausgeübte Wertung der ein- maligen irrationalen geschichtlichen Begebenheit in den Zusammenhang der methodologischen Erörterungen. An diesem Punkte ziehen sich grade in den letzten Jahren alle Fäden der Spekulation zusammen. Denn ebenso wie das Problem des Wunders und des im Welljjlan Unbegriffenen, so mündet der Gedanke der in jeder Hinsicht ins- besondere auch transscendentallogisch und vernunftgesetz- lich — irrationalen Offenbarung jetzt gleichfalls in die geheimnisvolle Frage nach der Bedeutung der einzelnen Individualität ein (vgl. S. 211 u. 233). Auch hierbei weist Fichte wiederum darauf hin, dass er dies „Durchbrechen" absoluter Werte an der individuellen Erscheinung bis in die tiefsten Principien zu verfolgen sich nunmehr zur Auf- gabe machen wolle.

Erst in dieser Phase des Fichteschex Denkens erscheint somit, was bei Kant noch unversöhnbar auseinanderklaffte, der logische Begriff des ,, Historischen" als des Empirischen, Irrationalen und der Kulturbegriff der Geschichte als einei- Wertentwicklung, zu einer wirklichen Kultur-Logik ver- schmolzen. Entgegen seinem eigenen sonstigen vSj)rach-

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gel)raiich enlschliessl sich darum Ficht?: in den ielzlen Jahren nicht nur von „ewig gültiger historischer Wahrheil" zu reden, sondern er wagl es auch endlich, die ganze Welt- anschauung des achtzehnten Jahrhunderts so weil hinler sich zu lassen, dass er die „(leschichte", ohne sie erst im Sinne der Aulklärung zu legitimieren, d. h. durch eine Schema tische Formel zu rationalisieren, viel- mehr als die unmittelhare zeitliche Folge irrationaler Be- gebenheiten und nicht als von eines darüberstehenden ab- strakten Verstandes, sondern als von „Gottes Gnaden" wertet und verklärt. Er erkennt jetzt was Kant sich nie zum Bewusstsein brachte , dass die Aufstellung von End- zielen wie „Erziehung zur Freiheit", „Erziehung zur Klar- heit", lediglich die Bedeutung einer allgemeinen, um- schreibenden Formulierung beanspruchen könne. „Beides aber ist nur formal. In der Thal bleibt nämlich der unendliche Inhalt jener Freiheit, die sittliche Auf- gabe, etwas Unbegreifliches, das Bild Gottes eben darum, weil dieser schlechthin unbegreiflich ist, und nur zu er- leben in den Offenbarungen der Geschichte." Es muss „gleichsam ein ewig lebendes Gedächtnis des Ge- schlechts" geben. „Dies ist das historische Menschen- geschlecht, welches bedingt ist durch ruhiges Beisammen- leben, Überlieferung und ihre Mittel, wie Schrift u. dgl.; an welcher Historie das Beste ist, nicht was man lernt, sondern inwiefern man darin selber durch seine Abstammung hineingeboren wird. Die kultivierte Menschheit ist die der Geschichte, und Geschichte bekommen und Kultur be- kommen (keinen gev/onnenen Schritt verlieren) ist eigent- lich einerlei."^)

Durch den Inhalt der beiden letzten Kapitel werden die Ausführungen unseres ersten Kapitels, wenigstens soweit sie Fichte betreffen, stark moditiciert und zum Teil wieder in Frage gestellt. Denn infolge der rein methodologischen Behandlung befreit sich die Struktur der Wertindividualitäl aus dem naivmetaphysischen Latenzzustande, den sie im intuitiven Verfahren annimmt, und tritt der bewussten philosophischen Beflexion als erforschbares Objekt gegen-

I) Zu den beiden letzten Absätzen: IV, 440—458, 536 If., VII, 574—596, NIII, 73 f., 10311"., 114.

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über. F'icHTE gehört somit im Unterschiede von Hegel zu den Denkern, liei denen sich ein Stadium der Philosophie, wenn auch nur in allerersten Ansätzen, vorbereitet, in dem eine nicht a])strakte Wertungsart und eine neue Welt von Kulturbegritfen mit der Autrechterhaltung wissenschafts- kritischer Analvse zusammenbestehen.

IV. Kapitel.

Die methodologischen Beziehungen zwischen Geschichte und Gemeinschaft.

Der Begriff der Nation.

Um die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus, die wie jede Geschichtsphilosophie socialphilosophische Keime in sich enthält, ganz kennen zu lernen, müssen wir noch ihre bis Jetzt mit Absicht übergangene, dem Ge- meinschaftsleben der Menschheit zugewandte Seite hervor- treten lassen \).

Die enge Berührung des geschichts- und des social- philosophischen Denkens entsj)ringl tiefbegründeten Be- ziehungen zwischen den Begriffen der (leschichte und der Gemeinschaft. Der blosse Gedanke des realen geschichtlichen Werdens, der Entwicklung als nur succes- siver Einheitlichkeit, scheint nämlich die Vorstellung von irgend welchen koexistenten Zusammenhängen zwischen den einzelnen Trägern der Entwicklung not- wendig zu machen, von irgend einer nicht lediglich in der Successivität sich manifestierenden Einheitlichkeit dessen, was als Subjekt der Entwicklung unabhängig vom Werden und Vergehen der einzelnen Individuen in koexistenter Verbundenheit beharren muss. Ohne die Voraussetzung eines solchen zusammenhaltenden Bandes, ohne das Entgegenkommen einer gleichsam gegebenen und von selbst sich vollziehenden Gruppierung, würde jede

1) Die Ausdrücke „Gemeinschart", .,Gcsellschaft", ..social" usw. werden in diesem Kapitel in einem so weiten Sinne gebraucht, dass sie das organisierte („Staat"!) wie das unorganisierte ..gesellschaft- liche" Leben gleichmässig umfassen.

24 1 -

A'^cranlassung fehlen, gesondert existierende Einzelgebilde zu (iliedern einer und derselben Gesamtentwicklung zu- sammenzufassen. Die Einheitlichkeit des Werdens würde sich in jedem Augenblick zu einem zufällig zusammen- geratenen (iellecht einzelner, von einander unabhängiger successiver Reihen zu zersetzen drohen.

Hier enthüllt sich wieder der fundamentale Gegensatz des geschichtlichen Denkens zu jener Atomisierung der Wirklichkeit, wie sie der Subsumtion unter allgemeine Begriffe anhaftet. Bei der abstrakt-begrifflichen Betrach- tungsweise müssen und dürfen die einzelnen Exemplare deshalb in aggregatartiger Vereinzelung verbleiben, weil über ihre rein logische und nicht reale Zusammengehörig- keit das Ziel einer Begriffssystematik als einzig bestimmendes Princip zu entscheiden hat. Die Betonung einer realen koexistenten Verbundenheit hebt somit die dem abstrakten Atomismus entgegengesetzte Tendenz des Geschichtlichen besonders stark hervor; man kann gradezusagen, derGemein- schaftscharakter quillt unmittelbar aus der Struktur des Historischen, er repräsentiert das Problem der historischen Einheitlichkeit, nur nach einer gewissen Richtung hin noch weiter ausgesponnen; in ihm gewinnt ein isoliertes Element, eine einzelne Dimension oder ein Attribut der Gesamt- substanz des geschichtlichen Lebens ein besonderes Dasein, das, sobald man es in seiner Bedeutung verselbständigt denkt, als specifisch genossenschaftliches, staatliches, poli- tisches Moment des geschichtlichen Stoffes hervortritt. Mit dieser begrifflichen Deduktion aus dem Wesen der (xeschichte soll jedoch, wie hier ausdrücklich bemerkt werden mag, nur die dem Historischen zugewandte Seite des socialen Faktors angedeutet und keineswegs behauptet sein, dass er in allen seinen Eigentümlichkeiten von der historischen Wertung aus sich durchdringen lasse. Viel- mehr dürfte er, was sich an einer späteren Stelle deut- licher zeigen wird, ausserdem noch eine ganz selbständige, auf die Struktur des (ieschichtlichen garnicht zurückführ- bare Eigenart aufweisen und deshalb auch nur durch eine ganz andere, der historischen Betrachtung ebenbürtige kulturwissenschaftliche Disciplin erfassbar sein.

In der gesamten Spekulation des Christentums hatte sich der Zusammenhang zwischen Geschichte und (iemein-

- 242

Schaft darin gezeigt, dass mit der Vorstellung des gött- lichen Weltplans und der einmaligen Entwicklung stets die Idee eines einheitlichen Menschengeschlechtes auf das Engste verknüpft war. Diese universalgeschichtliche Eorm des Gemeinschaftsgedankens ühernahm auch Kant. Das Subjekt des geschichtlichen Eortschrittes soll nicht der Ein- zelne, sondern die „(lattung" sein. Aus dieser Vorstellung ergiebt sich ihm sodann auch die einzig mögliche ethische Begründung des Socialen. Da das Endziel aller Kultur- arbeit nicht durch die nur addierten Kräfte der Einzelnen, sondernalleindurchdie „Vereinigung" der Menschen zu einem „moralischen (ianzen" erreicht werden kann, so muss die „lediglich ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit" nach- trachtende Ereiheit der Individuen so weit beschränkt und discipliniert werden, dass sie mit den pllichtmässig anzu- strebenden Zwecken eines „ethischen gemeinen W^esens" oder eines „ethischen Staates" übereinstimmt. Eichte hat auch diesen Kaxtischen GrundbegrüT einer die Generationen umspannenden unsterblichen Gattung beibehalten. „Wir reden hier nur vom Eortschreiten des Lebens der Gattung, keinesweges von dem der Individuen," so kündigt er den Inhalt der „Grundzüge" an. Da bei ihm wie bei Kant die Menschheit nicht das anthropologische, sondern das durch die gemeinsame Arbeit an der Vernunftaufgabe zusammen- gehaltene Ganze bedeutet, so wird die „Gattung" in diesem Sinne häufig gradezu mit den grossen Kulturaufgaben oder den „Ideen" identitlciert^).

Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus ist nun keineswegs bei der blossen Eestlegung der sach- lichen Beziehungen zwischen dem Entwicklungsganzen der Geschichte und der Einheitlichkeit des Menschengeschlechts stehen geblieben, sondern sie hat bereits mit Kant ihr Augen- merk auch auf die logische Struktur des (iemeinschafts- begriffs zu richten begonnen. Die „(iattung" ist der ein- zige Kulturbegriff gewesen, der in der Philosophie Kants einer logischen und methodologischen Untersuchung unterworfen worden ist. Im Zusammenhange mit dieser fast

') S. z. B. IvANT WW IV, 145 fr., 281 fl"., V, 445 ff., VI, 190—200, 342 ff.; vgl. auch Schellino WW 1. Abt. I, 469, IIT, 591 1'., Fichte III, 7 f.. 23 ff., 35 ff., VI, 362 f., N III, 6.') IT., 1031.

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unbeachtet gebliebenen Leistung zeigen sich gleichzeitig ge- wisse Ansalze bei Kant, die ihn zum Vorläufer Hegels in der Polemik gegen den abstrakten Individualismus der Auf- klärung machen, dem er ja sonst im (irossen und (ianzen noch selbst verfallen vs'ar (vgl. die „Einleitung"). Und zwar hat er grade den Punkt ])artieller Strukturgemeinsam- keit, der das Geschichtliche und das Sociale verbindet, richtig zu treffen gewusst. Angeregt durch den Vorwurf Herders, er wandle „auf den Wegen der Avehhoischen Philo- sophie", da er die Kulturentwicklung statt durch die ein- zelnen Individuen durch das „Geschlecht" und die „Gattung" vollzogen denke, die doch nur „allgemeine Begriffe" seien, unterscheidet K.\nt in seiner Entgegnung z w e i B e d e u t u n ge n des Wortes „Gattung"; die Gattung im abstrakten Sinne oder „das Merkmal, worin grade alle Individuen unter- einander übereinstimmen müssen", und die Gattung im konkreten Sinne oder das „Ganze einer ins Unendliche (Unbestimmbare) gehenden Beihe von Zeugungen". Von der „Menschengattung" in diesem letzteren Sinne, die also im Gegensatz zum Allgemeinbegriff Mensch inhaltsreicher ist als der Einzelne und eine universitas, nicht eine uni- versalitas (vgl. ob. S. 48) darstellt, ist es nicht mehr ein Widerspruch, zu behaupten, „dass kein Glied aller Zeugungen des Menschengeschlechtes, sondern nur die Gattung ihre Bestimmung völlig erreiche". In seinen späteren Schriften hat Kant diese Unterscheidung zwischen dem „Gattungs- begriff (singulorum)" und dem „Ganzen der gesellschaft- lich auf Erden vereinigten . . . Menschen (universorum)" an mehreren Stellen ausdrücklich bestätigt^).

Diese Auseinanderhaltung zweier Bedeutungen des Wortes „Gattung" und die daraus folgende Entgegensetzung des kulturwissenschaftlichen und des abstrakt-begrifflichen Verfahrens wird um so bedeutungsvoller, wenn man be- denkt, \\'ie vorzüglich Kant dieser Unterscheidung bei'cits durch die scharfe Abgrenzung der analytisch-logischen Be- gritfsbildung gegen die „Logik der Mathematik" und die des „intuitiven Verstandes" vorgearbeitet hatte. Die an- schauliche universitas des räumlichen Umfassens und das metaphysische „All der Bealität" liefern ja bei ihrem gemein-

') WW IV, 190 r., 321 f., 476, VII, 393, 398.

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samen Gegensatz gegen den Abstraktionsl)egriff vorzügliche Analoga und dauernd frucht])are Orientierungsniittel für die methodologische Erfassung des geschichtlichen und socialen „Ganzen". Die Struktur-Verhältnisse der Koordination unterschieden sich nach unsern Ausführungen (S. 49 f.) auf den(iebieten des Diskursiven und des Intuitiven als aggregat- artige Vereinzelung und als festgefügte Verbundenheit der einzelnen Exemplare. Auch das Kulturganze lässt sich am kürzesten durch die Gharakterisierung logisch umschreiben, dass es ein tot um und nicht wie der Umfang eines Abstraktionsbegriffs ein compositum oder eine blosse Aggregation darstelle. Darum die auf den ersten Blick auffallende, aber sehr tiefsinnige (Gewohnheit Kants, die Menschen, nach ihrem GattungsbegritT betrachtet, stets als „singuli" zu bezeichnen, im Gegensatz zu ihrer Existenz als ..universi in einem GemeinwesenM. Wenn unsein Allgemein- begritf begegnet, muss nämlich sofort der Umstand einfallen, dass sein Umfang eine blosse Summe („aggregatum", s. S. 27, Anm.) einzelner Exemplare darstellt, deren vereinheit- lichendes Band lediglich in der gemeinsamen Subsumier- barkeit unter einen abstrakten Begriff besteht. Sollen im Gegensatz dazu Individuen als eine Gesamtheit oder als ,,universi" betrachtet werden, so müssen sie durch eine nicht blos begriffliche, sondern reale Einheit zu- sammengehalten werden, realiter mit einander ver- bunden sein. Solche reale Ganzheit hat Kant durch die Merkmale der ,, Vereinigung'' oder des ,, Kollektiven" aus- zudrücken versucht. Er spricht von der Menschheit „im Ganzen ihrer Gattung, d. i. kollektiv genommen (univer- sorum), nicht aller Einzelnen (singulorum), wo die Menge nicht ein System, sondern ein zusammengelesenes Aggregat abgiebt"^). Er giebt aber ferner dem socialen ., Ganzen"

J) Vgl. neben der oben citierten Stelle z. B. noch VI, 345: ..Menschheit im (ianzen ihrer Gattung" .,Menschen, abge- sondert betrachtet".

2) Wie weiltragende und auch noch für unsere Zeit durchaus massgebende methodologische Hrkenntnisse von Kant hier bereits geahnt werden, entnimmt man am besten aus den fruchtbaren Unter- suchungen von KisTiAKOwsKi in der Abhandlung ..(iesellschaft und l-jnzelwesen", besonders 118 133 (vgl. ob. S. 15, ,\nm. 1); die in dieser Schrift durchgeführte Unterscheidung zwischen den durch „rein begriffliche Zusammenfassung" gebildeten „Summen" oder „(iesamt-

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(lacliirch oinen besonderen, von der l)lo.s nialliemaliseh oder melaphysisch anschaulichen (ianzheit unterschiedenen rein kulturphilosophischen Inhalt, dass er zum (Charakter der blossen Kollektivität als weiteres Merkmal das Zusammen- gehaltensein durch eine gemeinsame Vernunftaufgabe hinzu- lügt. Krst aus der Synthese der beiden Merkmale reale Verbundenheit und Kulturwert ergiebt sich ihm die Struktur X^ines ,, moralischen (ianzen", eines „Systems" social ver- einigter Menschen.

In diesen Untersuchungen kündigt sich, wie bereits angedeutet, eine erste schüchterne Erhebung über den ge- sellschafts-wissenschaftlichen Atomismus der Aufklärung an. Dass die „singuli" zugleich die isolierten egoistischen Individuen der naturrechtlichen Konstruktionen bedeuten, wird besonders durch den an Hoisskai s (x)ntrat social anknüpfenden Versuch einer juristischen Unterscheidung zwischen der „distributiven Einheit des Willens aller" und der „kollektiven Einheit des vereinigten Willens" bestätigt. Als Begleiterscheinungen des Individualismus sollen ferner stets Utilismus und Hedonismus gelten. Allein nicht nur der utilistische Egoismus, sondern auch der abstrakte Indivi- dualismus der Kantischkx Moral selbst wird durch die ethische Begründung des Socialen (s. S. 242) in seinen tiefsten Grundlagen erschüttert, wenn auch nicht wirklich überwunden. „Es ist von der moralischgesetzgebenden Vernunft ausser den Gesetzen, die sie jedem Einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, aus- gesteckt, um sich darunter zu versammeln." Die Pflicht, einen „ethischen Staat" herbeizuführen, nennt Kant in der religionsphilosophischen Haui)tschrift „der Art und dt^m Princip nach von allen andern unterschieden" und be- zeichnet sie als eine Pflicht ,, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst". Es schwebt hierbei zweifellos überall die Idee eines moralischen „Ganzen" vor, das nicht aus isolierten Gebilden erst zusammengestückelt, sondern, vergleichbar dem Einen Räume oder dem intelligiblen Kontinuum, als

hciten" und den „realen Einheiten" oder gesellscliaftlichen „Kollektiv- wesen" liefert einen überaus wichtigen Beitrag zu einer zukünftigen Logik der Sociahvissenschaften.

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Realität von selbständiger Bedeutung, den einzelnen Teilen überbaut ist. Darauf deuten auch alle jene Bezeich- nungen des „Kollektiven", die nach Kants Terminologie keineswegs mit dem zu identificieren sind, was wir unter Kollektivum verstehen, sondern grade den Gegensatz zu dem blos „distributiven" Aneinandergereihtsein diskreter Ein- heiten ausdrücken ^). Und doch ist es Kant trotz dieses soci- alen Überbaues, der am meisten in den letzten Schriften sicht- bar wird, nicht gelungen, die atomistisch-individualistische Grundlage seines gesamten Denkens zu verleugnen. Alle „Vereini«unö" der Menschen wird ihm schliesslich doch immer nur zum Mittel für die Sittlichkeit der Individuen, nicht für die Herausarbeitung von Kulturaufgaben, die allein der über den Individuen stehenden Gesamtheit zufallen. Eine charakteristische Spiegelung dieses allgemein kultur- jihilosophischen Standpunktes enthält vor allem seine Rechtsphilosophie, in der er sich vergebens bemüht, den juristischen Atomismus der Naturrechtslehre begrifflich- systematisch zu überwinden^). Er konstruiert in letzter Linie alles aus den Zwecken des Individuums und vermag deshalb auch nicht eine echte Socialethik zu begründen; es giebt für ihn kein selbständiges Ethos des Ge- meinlebens ^).

Nur in diesem Sinne behaupten wir die Einseitigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der Kantischen Ethik. Wir werfen Kant keineswegs vor, dass er das konkrete „Ganze der (Gattung" nicht zu einer metai)hysischen, neben und über den Individuen existierenden Realität hypostasiert habe. Nicht um die Realität in erkenntnistheoretischer oder in metaphysischer Bedeutung handelt es sich hierbei,

1) Das gehl aus der Verwendung dieser Termini in rein logisch- metaphysischem Sinne hervor, s. z. B. WW III, 400.

2) S. bes. GiEHKii, Johannes Althusius, 120 11., 207 f. Die gedrängle Übersichl unseres „dritten Teiles" gestattet auch hierüber nur an- deutende Bemerkungen. Eine kompetente Darstellung wäre allein von einer die geschichts- und die rechtsphilosophischen Probleme vollständig in einander arbeitenden bis jetzt noch nicht versuchten Behandlung der Kulturphilosophie des deutschen Idealismus zu erwarten.

•) WW IV, 146, 190, 281 ff., 321 f., VI, 190—200, 327, 342 f., 438, VIT, 653 1., 393, 398, 401, 635, 656 IT.

247

sondern allein darum, dass Ka\ r in der konkreten (iallMn<f auch nicht eine besondere „Realität" in ethischer und socialphilosophischer, kurz in methodologischer Hinsicht zu erblicken vermochte. Die gerügte Unzulänglichkeit besteht somit darin, dass er für die Gemeinschaft keinen eigenen Kulturinhalt gewinnt, ihr vielmehr nur die Aufgabe zuweist, die Freiheit der Individuen als Kinzel- ivesen zu verwirklichen. Insofern bedeutet ihm die Ge- meinschaft in letzter Linie doch nur ein „Aggregat" ethi- scher Atome und eine abstrakte Gemeinsamkeit, nicht aber ein selbständiges oder „reales'', d. h. vom Aggregat wie von der abstrakten Allgemeinheit unterschiedenes, als ein- heitlicher Träger des Wertes den Einzelgebilden analoges und als „Wertganzes" diese in sich eingliederndes Kulturgebilde.

Die im Gegensatz zu dieser Auffassung in neuerer Zeit vielfach vertretene Ansicht, dass Kant vor allem als Be- gründer einer Gemeinschaftsethik anzusehen sei, beruht auf einer ungenügenden Sonderung der verschiedenen Be- deutungen, die in dem ethisch-socialen Begriff des „All- gemeinen" bei Kant enthalten sind. Die „Allgemeinheit" des Sittengesetzes bedeutet nämlich erstens die Allgemein- giltigkeit des absoluten ethischen Wertes, seine Unbedingt- heit und Objektivität; zweitens aber die formallogische All- gemeinheit, d. h. die Anwendbarkeit des abstrakten Merkmals der Sittlichkeit auf alle sittlichen Einzelinhalte, mithin die „Natur" oder den Allgemeinbegriff des Moralischen. Diese beiden begrifflich streng zu scheidenden Bedeutungen des Allgemeinen treten in sachlicher Hinsicht stets zusammen an denselben Inhalten auf; denn nach Kants ganzer Wertungs- art kommt dem transscendentallogisch Allgemeinen grade auch der allgemeingiltige Wert zu. Das einzelne Individuum gewinnt eine ethische Bedeutung nur als Subjekt des Sitten- gesetzes, als Verwirklichungsfall der „vernünftigen Natur". Kant ordnet also allerdings den Menschen der Menschheit unter. Aber „Menschheit" bedeutet bei ihm nicht die konkrete Menschengemeinschaft, sondern den ab- strakten Menschenwert. Nicht dass wir Glieder, sondern dass wir Repräsentanten der Menschheit seien, fordert der kategorische Imperativ. Auch in diesem Falle erscheint Kants Werten, begrifflich und nach seiner logischen

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Struktur betrachtet, nicht als Eingliederung in eine Totalität, sondern als Subsumtion unter einen All- üemeinbeariff. Indem Kant das Verhältnis der Person- lichkeit zum allgemeinen Sittengesetz untersucht, abstra- hiert er grade von jeder realen Verbundenheit oder Ge- meinschaft der Individuen untereinander. Der abstrakte Universalismus, der seine ganze Weltanschauung beherrscht, steht darum jenseits des Gegensatzes von „Socialismus'^ und Anarchismus. Ja, die Alleinherrschaft dieses Uni- versalismus führt gradezu zur Vernachlässigung und Zer- störung des socialen Zusammenhanges und insofern zum extremen „Individualismus" (vgl. ob. S. 16).

Trotz dieser zweifellosen Disparatheit von abstrakter „Allgemeinheit" und ..Allheit oder ..Totalität M hat aller- dings Kant selbst den Gedanken der (iemeinschaft in die Begründung des formalen sittlichen Wertes mit hinein- gezogen. Er hat nämlich neben den beiden, durch die ganze Methode der Transscendcntalphiloso])hie gerecht- fertigten Bedeutungen von Allgemeinheit noch eine dritte Art von Allgemeinheit eingeführt und zwar die eines ..Ge- setzes" in einem intelligiblen „Beich' . Durch diese meta- physisch-juristische Umdeutung des ., Vernunftgesetzes'' konnte freilich leicht die Vorstellung einer Gemeinschaft oder eines .,Beichs der Zwecke' gewonnen und für eine blosse Eolgerung aus dem formalen Sittengesetz ausgegeben werden. Auch in den sonstigen Erörterungen über den kategorischen Imperativ bildet die in diesem Zusammen- hange völlig unbegründete Idee eines geschlossenen (iemein- wesens die stillschweigende Voraussetzung. Häufig wird ja besonders bekanntlich in den ..Beispielen" die Absolutheit des ethischen Wertes und seine Notwendigkeit für jedes moralische Bewusstsein in die davon ganz ver- schiedene gleichzeitige Ausführbarkeit einer bestimmten Handlung durch alle Mitglieder eines gedachten Gemein- wesens umgedeutet. Es handelt sich demnach hierbei nicht um eine formale Allgemeingiltigkeit des sittlichen Willens, sondern um die Möglichkeit einer Verallgemeinerung, um die Ausführbarkeit der ganzen Handlung ihrem Inhalte nach. Von den daraus sich ergebenden Folgen für die

') Diese Unterscheiduns{ ausdrücklich IV. 285.

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(icsellschart wird die sittliche Qualität der Handlung ab- hängig gemacht; während der Absicht nach ein formales Kriterium der Filichlmässigkeit gesucht wird, erhält so das sittliche Thun seine Sanktion in letzter Linie von dem inhaltlichen Wert des Gemeinwesens, dessen Bestehen mit unkritischer Naivität und im Widerspruch mit der ganzen Fragestellung als endgiltiger Massstab aufgestellt wird. Der (iemeinschaftsgedanke wird in allen diesen Aus- führungen teils durch willkürliche Umdeutung erschlichen, teils ohne jede Begründung von vornherein vorausgesetzt. Trotz aller Ansätze zu einer ethischen Begründung des Socialen ^) vermochte demnach Kant den mit der transscen- dentalen Methode so eng verknüpften „Atomismus" niemals in der Tiefe der Spekulation zu überwanden.

Viel gründlicher, als es Kant gelungen war, entzieht Fichte dem abstrakten Individualismus seine spekulative Basis, indem er in der Zeit nach 1800^) über den Ivantischen Formalismus hinausgeht und so im Stande ist, den metho- dologischen Gedanken des ..realen" Kulturganzen viel tiefer zu begründen. Es braucht deshalb, da der geschichts- philosophische Begriff der „Werttotalität" bereits behandelt wurde, nunmehr lediglich auf die socialphilosophische Aus- prägung dieser philoso])hischen Wandlung eingegangen zu werden. Einen mit unzulänglichen Mitteln unternommenen Versuch, auf juristischem Gebiet über den Individualismus hinauszukommen, zeigt bereits das „Naturrecht" von 1790^. Gegen die individualistische Wirtschaftspolitik richtet sich der „geschlossene Handelsstaat". In den späteren Schriften wird stets wie bei Kant die Abwendung von den Ange- legenheiten der „Gattung" und das Verfolgen von Sonder- interessen als niedriger Utilismus des „isolierten Indi- viduums" gegeisselt. Daneben werden aber auch die methodologischen Untersuchungen Kants fortgesetzt. Die

^) Am liöclisten stellt in dieser Hinsiclit die religionspliilo- sopliisclie Hauptsclirirt, vgl. ob. S. 245.

2) Über die früliere Zeit dagegen, in der Fichte bei dem social- ptiilosopliisclien Individualismus Kants stehen blieb, „der Gemein- schal't als solcher keinen selbständigen Wert neben und über dem lndi\ iduum beimass"' und dem Staat „keine überindividuellen, nur von der Gesamtheit als solcher realisierbaren Kulturaul'gaben" zu- wies, s. M.\RiANNE Weber, Fichtes Socialismus, bes. 2811"., 34 11".

3) Vgl. GiERKE, Althusius 119 f., 205 f.

Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte. 17

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besten Bemerkungen enthält wiederum l)ereit.s das „Natur- recht" von 1796. Hier tritt mit voller Klarheit der Gedanke des von der Summe der einzelnen Individuen unterschie- denen Ganzen hervor, wobei gleichzeitig für die Unter- scheidung vom Allgemeinbegriff die Kantischen Termini totum und compositum verwertet werden. Das „nicht blos eingebildete", sondern „reelle Ganze'" ist dasjenige, vermittelst dessen alle Individuen „in Eins zusammen- fliessen; und nicht mehr in einem abstrakten Begriffe, als ein compositum, sondern in der That vereinigt sind als ein totum". „Man hat, soviel mir bekannt ist, bis jetzt den Begriff des Staatsganzen n u r d u r c h i d e a 1 e Z u s a m m e n - fassung der Einzelnen zu Stande gebracht, und dadurch die wahre Einsicht in die Natur dieses Verhältnisses sich verschlossen. Man kann auf diese Weise alles mögliche zu einem (ianzen vereinigen. Das Vereinigungsband ist dann lediglich unser Denken .... Eine wahre Vereinigung begreift man nicht eiier, bis man ein Vereinigungsband ausser dem Begriffe aufgezeigt hat."' Diese Polemik gegen den methodologischen Individualismus und blossen Kollektivismus wird in mehr gelegentlichen Äusserungen der späteren Schriften wieder aufgenommen. ..Die Gattung," heisst es in den ..Grundzügen", „grade das einzige, was da wahrhaft existiert, verwandelt sich ihm in eine blosse, leere Abstraktion, die da nicht existiere, ausser in dem durch die Kraft irgend eines Individuums künstlich ge- machten Begriffe dieses Individuums; und es hat gar kein anderes Ganzes, und ist kein anderes zu denken fähig, ausser ein aus Teilen zusammengestücktes, keinesweges aber ein in sich gerundetes organisches Ganze." „Man hüte sich nur, den Staat nicht zu denken, als ob er in diesen oder jenen Individuen, oder als ob er überhaupt auf Individuen beruhe und aus ihnen zu- sammengesetzt sei: fast die einzige Weise, wie die gewöhnlichen Philosophen ein Ganzes zu denken ver- mögen " \).

W'ährend Kant mit seinen social i)hilosophischen An- sätzen nur einen ersten und unsicheren Schritt über das abstrakte Schema der Kultur[)hilosophie hinaus gewagt

i) III, 195—209, VII, 2211'., 144 11'., IV, 402 11'.

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hat, erscheinen bei Fichti: cliesell)en (iedankengäni^e in eine umfassendere historische Weltanschauung eingeonhiet und getragen von den geschichts|)hiloso|)hischen hleen des quaUtativen Ivulturwertes und der von Individualität zu Individualität sich fortentwickelnden inhaltsgefüllten ., Ordnung". Nur Fichte, hei dem das Element des Socialen in ein volleres geschichtliches Leben eingebettet wird, konnte es eben deshalb als blosse Teil struktur des Historischen, als herausgesonderte Ader im Gesamtorganismus des Ge- schichtlichen begreifen, während für Kants unlebendige Auffassung die Geschichte fast gänzlicli mit ihrem poli- tischen Apparat zusammenfällt. Fichtk hat deshalb auch, soweit er von letzten ge schichtsphilosophischen Ge- sichtspunkten aus das Wesen z. B. des Staates untersuchte, stets dessen dienende Stellung gegenüber der Gesamtheit der Gattungszwecke und seine Rolle als mehr vorbereitende Organisation hervorgelioben \). In diesem Zusammen- hange erscheint der Staat als Vorstufe, Mittel, festes Rück- grat oder blosses „Gerüst" der einzig lebendigen Gesamt- wirklichkeit, als eine „Einrichtung' oder „künstliche An- stalt, alle individuellen Kräfte auf das Leben der Gattung zu richten"; darum darf er keineswegs mit dem End- zustande der Erfüllung selbst verwechselt werden, sondern er repräsentiert nur die Maschinerie der Wechselwirkung, die Technik des Zusammenfassens, somit immerhin etwas Formales und Abstraktes im Unterschiede von der indi- viduellen geschichtlichen Wirklichkeit, an der sich die politische Gestaltung jedesmal realisiert^).

Denn bei dem isoliert gedachten Faktor des Socialen liegt ja, wie man sich stets gegenwärtig halten muss, der Ton ausschliesslich auf einer gewissen Struktur oder Form, die als blosses Gerippe die im übrigen vielgestaltige Wirklichkeit durchsetzt. Erst durch diese Erkenntnis fangen wir an, in das Verhältnis dieses for- malen gesellschaftlichen „Ganzen" zur unmittelbaren ge- schichtlichen Totalität, also in die Art der nur partiellen Strukturgemeinsamkeit zwischen beiden, einen Einblick zu

^) Die Wandlungen innerlialb der Staatslehre können dabei für uns ganz unberücksichtigt bleiben.

2) Vgl. bes. VII. 144 r., VI. 369, N III, 174 1".

17*

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gewinnen. Bis jetzt ist diese ])egnffliche Verwandtschaft nnr logisch umschriel)en worden und zwar durch den Nachweis, dass die Gemeinsamkeit lediglich auf dem Charakter der „Ganzheit" und dem daraus hervorgehen- den gleichen Gegensatz zur ahstrakten atomistischen Zer- stückelung beruhe. Aber jetzt muss von diesen logisch allerdings sehr interessanten Beziehungen einmal abgesehen und vielmehr darauf hingewiesen werden, dass das rein Gesellschaftliche in einer viel abstrakteren oder formaleren Region liegt, in einer Region, die in ihrer Verselbständigung, d. h. wenn man sie von allen fremden Bestandteilen los- gelöst denkt, niemals an die unmittelbare und unvergleich- bare Voll Wirklichkeit des Geschichtlichen heranreicht. Da auch bei der Bildung eines gesellschaftlichen Ganzen stets ein Kulturwert massgebend sein muss (vgl. S. 245), können wir ein solches Gebilde eine „Wertganzheit" oder ein „Wertganzes im engeren wSinne" nennen, im Unterschiede von der lebendigen geschichtlichen „Werttotalität"; so dass das Wert- oder Kulturganze im weiteren Sinne „Wert- totalität" und „Wertganzes im engeren Sinne' umfasst, letzteres jedoch der ..Werttotalität" koordiniert ist. ..Wert- totalität" darf demnach nur da.sjenige ^^'ertganze genannt werden, das sich vor der methodologischen Untersuchung nicht als abstrakte Teilwirklichkeit, sondern als durch unvergleichbare Individualität eigentümliche Vollwirklich- keit erweist \). Durch die Charakterisierung des Socialen als lediglich formaler Organisation gelangt allerdings auch Fichte zu dem Ergebnis, die socialen und organisatorischen Bil- dungen als Mittel für gewisse Zwecke zu postulieren, aber nicht wie K.\nt als Mittel für die in der ])hilosophischen Kon- struktion am Ende doch ausschliesslich wertvoll und ohne Einschränkung souverän bleibenden Individuen^), sondern

^) Nur die Werttotalität, niemals aber ein blosses Wertganzes im engeren Sinne, fällt deshalb unter den Begriff der Wertindivi- dualität, der ja stets ein einzigartiges, einmaliges, nicht auf eine Viel- heit unmittelbarer Wirklichkeiten anwendbares Gebilde bezeichnet. '■') Genauer (zur Abwehr von Missverständnissen): für die ohne Einscliränkung durch die selbst ändigen Zwecke einer über ihnen stehenden Societas souverän bleibenden Individuen, die aber gleich- wohl in ihrer atomistischen Isoliertheit der ganz unpersönlichen und überindividuellen Norm eines abstrakten Sittengeselzes unter- worfen sind, vgl. S. 247 f.

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zur Verwirklichung eines Urbildes des (lenieinlebens und einer über die Zersplitterung der Individuen erhabenen idealen Gesamtentwicklung des Weltgeschehens. Nur für die Erreichung dieser Ziele wird, solange die Zwecke der einzelnen Persönlichkeit und die objektiven Ideale der Kultur sich nicht restlos durchdringen, die gleichförmige Herrschaft socialer Einrichtungen als unerlässliches Ilills- mittel postuliert.

Zur Erläuterung der eigentümlichen methodologischen Zwischenstellung des socialen Faktors kann man vielleicht am besten den vorher l)egonnenen Vergleich mit der Mathe- matik (vgl.S. 243 f.) w^eiter fortsetzen. Den socialen Gebilden haftet nämlich eine von der sonstigen Begritfssystematik verschiedene, wohl aber in gewisser Hinsicht mit der mathematischen vergleichbare Abstraktheit an. Wie in der Mathematik aus der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit eine Welt der reinen Grössen, so wird in den Gesellschafts- wissenschaften \), die somit gleichsam eine Art Kultur- mathematik darstellten, eine Welt socialer Formen heraus- präpariert-). Wir erhalten an dieser Stelle wiederum (vgl. S. 241) die hier nicht genauer zu untersuchende Hindeutung darauf, dass die gesellschaftswissenschaftliche Betrachtungs- art wohl in besonderen, der historischen Wertung eben- bürtigen methodologischen Eigentümlichkeiten ihren Grund haben wird, die socialen Erscheinungen also, abgesehen davon, dass sie als Wertganzheiten eine Teilstruktur des Geschichtlichen enthalten können, noch von einer anderen Seite beleuchtbar sind und dann als selbständige Objekte einer selbständigen und ganz anders gerichteten Forschungs- weise erscheinen mögen. Ist diese Vermutung zutreffend, so bestände die Gesamtheit der positiven kulturwissen- schaftlichen Disciplinen in einem System von Wertungs- arten, innerhalb dessen eine geschichts- und eine im weitesten Sinne gemeinschaftswissenschaftliche Richtung sich als zwei aufeinander nicht zurückführbare Tendenzen

1) Im weitesten Sinne! vgl. die Anmerkung am Anfang dieses Kapitels.

■-) Vgl. auchi Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Hechte, 13 ß", Recht des modernen Staates, I, 28 lt., 144 11"., Simmel, Schmollers Jahrbuch f. Gesetzgeb., Verw. u. Volksw., XVIII, 1304 f.. XXII, 589 f.

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unterscheiden Hessen. Auch die geschichtswissenschaftliche Tendenz, die in ihrer Yerselbständigung und Isoliertheit die Geschichte im engeren Sinne giebt, bedeutet im Orga- nismus der Kulturwissenschaften überhaupt lediglich ein einzelnes Glied, nimmt aber dadurch unter den anderen kulturwissenschaftlichen Disciplinen eine besondere Stellung ein, dass sie die Wirklichkeit nicht zu einer ähnlichen Abstraktheit verarbeitet wie diese. Es war zwar auch von einer specifisch historischen Wertstruktur die Rede, und die Geschichtslogik hatte die geschichtliche Wertindivi- dualität als herausgehol)en aus der indifTerenten Masse der „empirischen Individualität" und somit als methodisch bereits bearbeitete Wirklichkeit zu kennzeichnen; allein diesem Ergebnis darf jetzt die weitere Erläuterung hinzu- gefügt werden, dass die so herausgearbeiteten Gebilde dennoch stets dazu geeignet sein müssen, die volle und unmittelbare Wirklichkeit in ihrer einmaligen und unver- gleichlichen Individualität irgendwie zu repräsentieren \). Die Wertstruktur steht hier im Dienste einer Dar- stellung der Wirklichkeit. Grade in diesem Punkte nun verhält es sich anders mit den Wissenschaften, die eine blosse, stets auf eine Vielheit unmittelbarer That- sächlichkeiten anwendbare Form des Socialen aus der Gesamtheit des Kulturgeschehens herauslösen wollen. Hier wird die Struktur um der Struktur willen gesucht und in einen gegliederten systematischen Zusammenhang eingestellt. Diese gesellschaftswissenschaftlich herausgear- beitete und nach eigenartigen systematischen Gesichts- punkten angeordnete Welt soll gar nicht wie die ge- schichtswissenschaftlich erforschte eine sich selbst ge- nügende, einmalige und volle Wirklichkeit trefTen oder ersetzen.

Die ganze Spannung und Entfremdung einerseits und die ganze Fülle der Beziehungen andrerseits zwischen historischer und gemeinschaftswissenschaftlicher Jk^rach- tungsweise enthüllt sich in der späteren Fichteschen Philo- sophie am deutlichsten da, wo die Gediegenheit der histo- rischen Weltanschauung grade an den typischen Objekten

') Vgl. RicKERT, Grenzen der naturwissenschaftlichen BegriHs- bildung. 4. Kapitel, II— VI.

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der ahsfrakten (iemeinschaftswissenscluiri sich bewährt. Von jeher hat am aiüTälliifslen der Staat in dem Schnitt- punkt der l)eiden kulturwissenschaltlichen Forschungs- methoden gelegen, und grade um ihn ist darum zwischen den gleichmässig einseitigen und l)linden Vertretern des formalistischen und des historischen Doktrinarismus eine erbitterte Fehde entljrannt. Wie wir stets nur die der Ge- schichtsphilosophie zugewandte Seite beachten, so wollen wir ,auch im Folgenden lediglich das Erwachen eines rein geschichtlichen Verständnisses der politischen Gebilde bei Fichte herausheben, wodurch wir zugleich den Rückweg zu den im engeren Sinne geschichts- philosophischen Problemen finden werden.

Der Prozess der Ausbreitung des historischen Verständ- nisses auf politische Gebilde lässt sich mit unseren Be- zeichnungen jetzt kurz so formulieren: es gilt hierbei ein Wertganzes zur Werttotalität zu erheben! Da- durch erhielten wir nämlich eine eigentümliche Species der Gattung Werttotalität: eine Werttotalität mit socialem oder politischem Vorzeichen, bei der der Charakter ge- sellschaftlicher Wertganzheit immer noch mitklingt, aber so, dass dennoch dci' Grundton die lebendige geschicht- liche Wirklichkeit bleibt. Ins Konkrete übersetzt, würde dieselbe Formel lauten: es gilt den Staat als Nation zu begreifen! Denn „Staat" bedeutet eine formale ge- sellschaftliche Organisation, „Nation" ein geschichtliches Entwicklungsganzes. P2s ist Fichtes unvergängliches Verdienst, dass er seit dem Zeitalter der Aufklärung auf dem Gebiete der reinen Spekulation der erste war, der den Schritt vom Staat zurNation gewagt hat.

Der Begriff der „Nation" ist von so grosser Kem- pliciertheit, dass seine Merkmale sich nur allmählich in der Darstellung entfalten lassen. Denn auf ihn findet nicht nur alles, was vorher von der geschichtlichen Welt im allgemeinen ausgemacht wurde, seine Anwendung, sondern er wird ferner und zwar grade wegen der zum Teil hindurchblickenden Ganzheitsstruktur nicht anders als in beständiger Abgrenzung gegen die Region der blossen Struktur, der Struktur um der Struktur willen, verständ- lich. So kann man zunächst einmal, um grade diesen einen Gegensatz scharf hervortreten zu lassen, in polemischer

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und indirekter Form, durch eine Auseinandersetzung mit einseitig rationalisierenden und formalistisclien Tendenzen, für den BegrifT der Nation den Charalvter der vollen Wirk- lichkeit, der historischen Realität, verfechten. Nun lag in der Gesellschaftsphilosophie der Aufklärung eine Staats- lehre vor, die sich dem Nationalitätsprincip nicht etwa aus methodologischen Gründen verschloss, sondern ihm aus urwüchsiger Blindheit von vornherein in allen ihren Konstruktionen, in ihrer ganzen Weltanschauung keine Stelle freiliess. Kein Wunder, dass Fichte in einer solchen Epoche der Rechtslehre schon gegen die blosse Rechts- systematik als solche, gegen den blossen juristischen und ökonomischen Formalismus, den Vorwurf rationalistischer Einseitigkeit und Leblosigkeit erhebt; der Verdacht war ja berechtigt, dass diese Dogmatik alles zu sein, die volle Wirklichkeit zu ersetzen gedachte. Und dass die blosse Rechtsordnung oder die schematische Formel für das Zusammenwirken aller, diese „genaue Berechnung" der Pflichten und „gesetzmässige Verteilung der Lasten" als „stehende und feste Form" nicht stets die einzige und höchste Instanz für das Handeln der Gesamtheit abgeben kann, das oftenbart sich dem Denker in jenen grossen Augen- blicken, in denen ein Volk sich zur Selbstverteidigung aufrafft und der ganze Staat in eine .,revolutionäre Spannung" gerät. „Die gesellschaftliche Ordnung, wie dieselbe im blossen klaren Begriffe erfasst, und nach Anleitung dieses Be- griffes errichtet und erhalten wird," erscheint dann als „nur Mittel, Bedingung und Gerüst dessen, was die Vaterlandsliebe eigentlich will, des Auf])lühens des Ewigen und Göttlichen in der Welt'-, ^^'enn es gilt, über neue, nie also dagewesene Fälle „ohne einen klaren Ver- standesbegriff von der sicheren Erreichung des Beab- sichtigten" zu entscheiden, dann müssen .,alle Zwecke des Staates im blossen Begritf; Eigentum, persönliche Freiheit, Leben und Wohlsein, ja die Fortdauer des Staates selbst" aufs Spiel gesetzt w^erden, alle die (iüter, in deren blosser Erhaltung „kein rechtes eigentliches Leben und kein ur- sprünglicher Entschluss" w^ohnt, und in deren Besitz die Zeitalter „gläubig fortgehen auf der angetretenen Bahn". Die Thatsache der aus aller begrifflichen Systematik her- ausfallenden grossen politischen Wandlungen im Leben

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der Völker vertiel'l Ficmti: hier zu dem (iedankcn des wunderbaren Urrechts der ursprünglichen histo- rischen Entwicklung gegenüber der systematisiei - baren Form, in die sie sich stets kleiden muss, die aber wandelbar ist und sich immer von Neuem nach der unberechenbaren Wirklichkeit zu richten hat. Die histo- rische Weltanschauung wird bei Fichte eben nicht zu einer Restaurationsphilosophie entstellt; sondern w^ährend der Rationalismus der Aufklärung die geschichtliche Wirklich- keit durch eine schematisch blasse Vernunft zu revolu- tionieren sich vermass, glaubt Fichte die rationalisierbare und von abstrakten Regeln beherrschte Seite des öffent- lichen Le])ens umgekehrt durch die ewig frische Wirk- lichkeit revolutionieren und verjüngen zu müssen. Diese ÜJjerzeugung ])estimmt auch in den „Reden an die deutsche Nation die Gegenüberstellung der ])eiden Arten von Staats- lehre, von denen die eine einen künstlichen Mechanismus an die Stelle des Febens setzt, die andere dagegen auf die ursprüngliche Febendigkeit der geschichtlichen Entwicklung zurückgeht \).

Mit solcher Polemik gegen die Alleinherrschaft des Formalismus ist jedoch der Ort für das Wesen der Nation vorläufig nur limitativ festgestellt. Um einen greif- bareren Inhalt zu gewinnen, muss man dieser noch unbe- stimmten Charakterisierung die weitere Überlegung nach- folgen lassen, dass die Nation trotz ihres Gegensatzes zur lediglich abstrakten Form der Organisation doch andrerseits auch eine scharf ausgeprägte Struktur aufweist, dass also die geschichtliche Wirklichkeit des Nationalen mit einem Ganzheits- und Einheitscharakter ausgestattet ist, der diesen Faktor der geschichtlichen W^elt noch auffälliger als das sonstige historische Material von der Diskretheit der natürlichen, d. h. nicht kulturwissen- schaftlich betrachteten Wirklichkeit unterscheidet. Ja, wir werden wohl noch einen Schritt weitergehen und zugeben müssen, dass grade in diesen eigentümlichen Gebilden, in denen sich geschichtliche Totalität und Ganzheitscharakter innig durchdringen, in diesen wirklichen und leben- digen Ganzheiten, das gesamte Problem der Ganzheit,

1) S. bes. NIII, 248 f., Reden an die deutsche Nation, 7. und 8. Rede. N III. 427 f., VII, 563.

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auch in der Gestalt, die es in den abstrakteren Regionen der juristischen, gesellschafts- und wirtschaftswissenschaft- lichen Begriffswelt annimmt, irgendwie seinen Ursprung und letzten Grund findet. Denn unbeschadet ihrer metho- dologischen Eigenart können ja diese Disciplinen in ein- zelnen Partieen ihrer Begriffsbildung sich manchen Eigen- tümlichkeiten der konkreten und unmittelbar geschicht- lichen Wirklichkeit eng anschmiegen und sie innerhalb ihrer abstrakteren Sphäre in genauer Spiegelung nach- bilden. Daraus wird sofort begreiflich, dass auch von der geschichtlichen Wertung der unmittelbaren Kultur- wirklichkeit aus darüber gewacht und ein Interesse daran gewonnen wird, dass sogar bis in die abstrakten Disci- l)linen hinein die Selbständigkeit der Gesamtgebilde, d. h. der von der Zusammenfassung von Einzelgebilden unter- schiedenen Ganzheiten, eine gebührende Beachtung erfährt und gleichsam einen Abglanz ihrer ursprünglichen Be- deutung bewahrt.

So ist von einer andern Seite wiederum verständlich geworden, warum es nicht eine |j.3Taßaj'? 3u: a/.Ao ysvoc ist, wenn Fichtk von der geschichtlichen Erfassung der Natio- nalität aus zunächst die zeitgenössische Staats- und Rechts lehre angreift. Während im Kampfe gegen die Übergriffe des Formalismus lediglich die Besorgnis zum Ausdruck kommt, es könnte die geschichtliche Wirklich- keit — einfach als das lebendige letzte Substrat aller übrigen wissenschaftlich konstruierbaren Kulturgebilde durch das darüber ausgebreitete Begriffsnetz ^'erdunkelt werden, gesellt sich im weiteren Verlauf dieser Polemik noch der Angriff gegen die auch durch die Zwecke der ab- strakt-gesellschaftswissenschaftlichen Begriffsbildung nicht gerechtfertigte, sondern aus einseitigen (irundprincij)ien entspringende Vernachlässigung und Zerstörung einer be- stimmten Struktur der Kulturwirklichkeit hinzu. Hierbei ist es demnach nicht mehr die formale Abstraktheit und blosse Struktur als solche, die vom Standpunkt der volleren Wirklichkeit aus als etwas Sekundäres hingestellt und als geschichtsfeindlich beargwöhnt wird, sondern innerhalb des Bereiches der Struktur wird ein Mangel an Gestaltungskraft gerügt. Allerdings werden wiederum örade Eigentümlichkeiten des historischen Substrates sel])sl

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durch (Hose Inziilänglichkcil der bekämpften Struktur em- ])findlich getrolTcn, Eigentümlichkeiten, deren Wirksamkeit sich durcli alle kulturwissenschaftlichen Disciplinen hin- durch erstrecken sollte. Während also hierbei auf den ersten Anblick nur die eine Struktur gegen die andere auftritt, schiebt sich doch gleichzeitig der berechtigten und ver- teidigten Struktur sofort ihr wahrer Urgrund und letzter Träger nämlich die unmittelbare Wirklichkeit unter, und. dadurch wird diese ganze Polemik in ihrem innersten Kern dennoch zu einem Kampf der wirklichkeitsfreund- lichen Richtung gegen eine Verkennung historischer Reali- täten durch gewisse Tendenzen der systematisierenden Wissenschaft. Denn auch im Bereiche der Rechtslehre hatte sich der atomisierend-individualistische Geist der Aufklärung in der begrifflichen Zertrümmerung aller ge- nossenschaftlichen Rechtsgebilde gezeigt. Aus den eben dargelegten Zusammenhängen wird es nunmehr ersichtlich, warum von Fichte gegen diesen naturrechtlichen Ato- mismus, dessen Bekämpfung eigentlich zunächst nur social- recht liehe Gedanken gegen die einseitig individualrecht- lichen hätte hervortreiben sollen, unmittelbar gleichsam mit Übers])ringung dieses Mittelgliedes das lebendige Nationalitätsprincip ausgespielt wird. Es erneuert sich damit von der historischen Weltanschauung aus mit grösserer Lebendigkeit die bei Kant für die .Sphäre der formalen Gesellschaftsganzheit bereits begonnene Auflehnung gegen den atomistischen Individualismus. Wir finden in der Tbat ganz allgemein mit dem Erwachen der geschicht- lichen Weltanschauung im 19. Jahrhundert überall auch in den abstrakteren Wissenschaften der Jurisprudenz und Nationalökonomie, insbesondere der Staatslehre, eine sttirke Betonung der selbständigen Gesamtgebilde Hand in Hand gehen, sowie eine Reaktion gegen die Verabsolutierung des abstrakten, aus allen Zusammenhängen herausgerissenen Individuums.

Ein spekulativer Vorläufer dieser historischen Richtung ist Fichte geworden. Auch er bezeichnet als Weltan- schauungsgrundlage der von ihm bekämpften Staatslehre den individualistischen Utilismus, der es unternimmt, aus gleichartigen Elementen, nämlich den glücksuchenden Individuen, „alles Leben in der Gesellschaft zu einem grossen

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und künstlichen Druck- und Räderwerke zusammenzu- fügen". Den Bürger fesseln nach dieser utilistischen An- sicht nicht die persönlichen Bande der Liehe und Be- geisterung an den Staat: gilt doch die Staatsgewalt ledig- lich als der „Diener" der Eigentümer, „der von ihnen für diese Dienste hezahlt wird". Welche Staatsgewalt ihm diese Dienste leistet, oder welche „ihm durchaus nichts verschlagende Person" dahinter steht, darum hraucht der Einzelne sich nicht zu kümmern. In einem Komplex privatrechtlicher Beziehungen giebt es eben nur Träger abstrakter Eunktionen, und alle individuellen Unterschiede werden bedeutungslos. Dieser verwerflichen Konstruktion des Staates stellt Eichte seine eigene Lehre entgegen. Herrschte in jener die Auflösung aller umfassenden Zu- sammenhänge, die Verabsolutierung des gesellschaftlichen Atoms und deshalb trostlose, ungeschichtliche Abstraktheit, so zeigt die wahre Struktur Verbundenheit, Einheit, Ganz- heit, ü])erindividuellen Zusammenhang. ..Dies nun ist in höherer .... Bedeutung des Wortes ein Volk: das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen." Die Ausdrücke „Volk" und „Nation" bedeuten bei Eichtp: keineswegs lediglich die ethnische Grundlage des Staates, sondern die politisch geeinigte Menschenmenge. Sie wollen also vor allem die vorbildliche Struktur hervorheben, die des staatlichen (iemeinwesens ebenso wie die der unmittell)ar geschichtlichen Wirklichkeit seines nationalen Substrats. Durch diesen Nationalitätsbegriff, wie durch die sich daraus ergebende Polemik gegen den Rationalismus und atomisierenden Individualismus in der Staatslehre, berührt sich Eichtp: auf das Engste mit einem anderen Vorläufer der historischen Schule, mit Adam Heinrich Müller \).

Als ein über den natürlichen und rechtlichen Einzel- personen stehendes Gesamtgebilde hat Eichte den Staat

') I^olemik gegen den Rationalismus bei Müller, z. B. Elemente der Staatskunst (1809) I, 21 tl"., 2711"., 371"., 94, gegen die atomistisch- mechanische Konstruktion („Räderwerk"), 3 fl"., 21 tL, 52, III, 220; Forderung ursprünglicher „Bewegung", I, 5 IT., 17 tr., 43 ti".; mit Fichte übereinstimmende Definition der Nation, 51, 84, Vorlesungen übei- die deutsche Wissenschaft und Litteratur (1806), 142 f.

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iiocli dadurch l)os()nd(Ms i^likklich gekennzeichnet, dnss er häuiig vor der Verwechslung des Staalssubjekls niil den persönlichen Trägern der Staatsgewalt warnt und heftig gegen das Patrimonalprincip polemisiert, nach dem das Land „Privateigentum", der Unterthan „dem i)ersönlichen Willen" des Herrschers unterworfen ist. So führt der allgemein kulturphilosophische Gedanke des von der Summation von Kinzelgebilden verschiedenen Ganzen auf dem staatsrechtlichen Gebiet bereits zu der freilich noch nicht systematisch begründeten Einsicht in die Erhabenheit der Staatsso uveränetät über blosse flerrscher- oder Yolkssouveränetät\).

Vergleichen wir diese Spekulationen über Volk und Nation mit dem durch Kant repräsentierten Stadium der Ethik und I\)litik, so ergiebt sich als eigentliche social- philoso]3hische That F'ichtes die Übertragung der Struktur des gesellschaftlichen „Ganzen" auf die unmittelbare histori- sche Wirklichkeit. Erst durch diese Hinein Verlegung der Ganzheitsstruktur in das letzte Substrat aller socialen und politischen Gebilde, erst durch diese geschichtliche Ver- lebendigung des „Kulturganzen" konnte es gelingen, das überindividuelle Allgemeine und das überindividuelle Ganze genügend scharf von einander zu scheiden (vgl. auchS.257f.); erst jetzt konnte neben und über das Einzelindividuum eine wirklich reale Gesamtindividualität, ein wahrhaft Konkret-Allgemeines gestellt werden, dem das Individuum nicht wie dem Abstrakt-Allgemeinen als isoliertes Exemplar, sondern dem es als unvertauschbares Glied gegenübersteht^). Nicht Kant, sondern erst Fichte gebührt darum das Verdienst, die spekulative Überwindung des kultur- philosophischen Atomismus angebahnt zu haljen. Wir müssen an dieser Stelle wiederum an die Bemerkungen unserer „Einleitung" (S. 13—18) anknüpfen und von Neuem darauf hinweisen, dass alle jene dem „Individualismus" entgegengesetzten „socialen" Ideen von der „Allgemeinheit", der das Individuum gehorchen, oder von „überindividuellen" Zusammenhängen, denen es sich einordnen soll, nur durch

1) VII, 362 ff., 381 f., vgl. 146 f., 548, IV, 402 ff., N III, 426.

2) Vgl. dazu RiCKERT, (irenzen dei' naturwissenschaftlichen Be- griflfsbildung, 4. Kapitel, IV, ..der historische Zusammenhang" und 716 ff.

ganz scharfe Kontrastierung des „überindividuellen" Ganzen und der gleichfalls „überindividuellen" abstrakten ethischen Norm, von ihrer bisherigen Verschwommenheit befreit werden können. Auch die geschichts- und socialphilo- sophischen Grundbegriffe des deutschen Idealismus lassen sich in ihrer rein spekulativen und insbesondere in ihrer methodologischen Bedeutung nur dann richtig würdigen, wenn man zur logischen Klärung vor allem erst einmal diesen feinen begrifflichen Unterschieden nachgeht. Es war die einheitliche Tendenz unserer gesamten Aus- führungen, auf die Unerlässlichkeit dieser Auseinander- haltung des Abstrakt- und des Konkret-Allgemei- nen hinzuweisen, und wir haben diese auch für das Individualitätsproblem entscheidende und bisher fast stets vernachlässigte Entgegengesetztheit zweier Strukturen so- gar bis in die reine Erkenntnistheorie und Metaphysik verfolgen können \).

Bisher wurde Fichtes Nationalitätsphilosophie im Wesentlichen als Herausarbeitung einer gewissen, gegen die Zerstörungswut des atomisierenden Individualismus verteidigten Struktur gekennzeichnet, und ausserdem wurde nur im Allgemeinen die Hauptleistung Fichtes da- hin bestimmt, dass er die geschichtliche Wirklichkeit gegenüber der aus Begriffen aufgebauten Welt wieder zu Ehren gebracht hat. Wir können nunmehr aber auch noch genauer verfolgen, wie Fichte den Wirklichkeits- charakter der Nation, dessen lediglich negative und mehr gefühlsmässige Abgrenzung gegen das blosse „Gerüst " der gesellschaftlichen Organisation vorher gezeigt wurde (S. 256 f.), bereits einer eingehenderen Begriftsbestimmung zu unterwerfen wusste. Alle Wirklichkeit hat Individua- lität und Geschichte. Deshalb wird erst durch die Auf- zeigung dieser beiden Erfordernisse des NationalitätsbegrifTs unsere Behau])tung, bei Fichte sei die philosophische Be- handlung der politischen Gebilde von der historischen Weltanschauung durchdrungen gewesen, ihre inhaltliche Bestätigung erhalten. Zugleich werden wir dabei die Über- tragung der individualitätsphilosophischen und methodo-

') Vgl. ülien S. 12 1'., 16 f., 48. 54 IT.. 57 f., 65 IT.. 85—89, 99, 165 IT.. 172, 177, 183 1'., 205, 290 294.

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logischen Ergehnisse auf die sociali)hilos()j)hischcn Hegrilfe kennen lernen.

Aus der rationalistischen und individualislischeu Staats- aulTassung folgte die Gleichgiltigkeit gegen die individuellen Unterschiede des geschichtlichen Daseins, das sich etwa hinter den im Begriffe erfassharen rechtlichen und öko- nomischen Beziehungen verhirgt. Dagegen findet nun- mehr die Theorie vom lebendigen Organismus des Staats- 'lebens in dem Princip der Nation als der politischen Individualität ihren notwendigen Abschluss. Während in den „Grundzügen' der Kosmopolitismus des 18. Jahrhun- derts noch rückhaltlos anerkannt wurde, bringen die .,Reden an die deutsche Nation" den entscheidenden Umschwung dadurch, dass durch Übertragung des Princips der Wertindividualität auf das Politische dem er- wachenden Nationalgefühl jener Zeit der tiefste Aus- druck verliehen, der grösste und wirksamste kultur- philosophische Gedanke des 19. Jahrhunderts in die Weltanschauung der deutschen Philosojihie aufgenommen und mit der Klarheit der begriff- lichen Spekulation formuliert wird. Ja, in der Wür- digung der nationalen Individualität, der Individualität im Grossen, hat Fichte vielleicht noch siegreicher die Welt- anschauung des 18. Jahrhunderts überwunden und noch glänzender das Princip der Wertindividualität angewandt, als es ihm bei der historischen Einzelpersönlichkeit gelang, (ilaubte er doch in dem Aufblühen j)olitischen Lebens zu gesonderten und unvergleichbaren ., Eigentümlichkeiten" gradezu ein selbständiges Ziel der geschichtlichen Ent- wicklung, ein „höchstes Gesetz der Geisterwelt" entdecken zu können. „Die geistige Natur vermochte das Wesen der Menschheit nur in höchst mannig-faltig-en Abstufung-en an Einzelnen, und an der Einzelnheit im Grossen und Ganzen, an Völkern, darzustellen. Nur wie jedes dieser letzten, sich selbst überlassen, seiner Eigenheit gemäss, und in jedem derselben jeder Einzelne jener gemeinsamen, so wie seiner besonderen Eigenheit gemäss, sich entwickelt und gestaltet, tritt die Erscheinung der Gottheit in ihrem eigentlichen Spiegel heraus, so wie sie soll .... Nur in den unsichtbaren und den eigenen Augen verborgenen Eigentümlichkeiten der Nationen, als demjenigen, wo-

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durch sie mit der Quelle ursprünglichen Lehens zusammen- hängen, liegt die Bürgschalt ihrer gegenwärtigen und zu- künftigen Würde, Tugend, Verdienstes; werden diese durch Vermischung und Verreihung ahgestumpft, so entsteht Ah- trennung von der geistigen Natur aus dieser Flachheit, aus dieser die Verschmelzung aller zu dem gleichmässigen und aneinanderhängenden Verderben. " Die spekulative Wür- digung des Individuellen setzt sich sofort in die praktisch- ])olitische Forderung der nationalen Selhsterhaltung, der Überlieferung ursprünglicher nationaler Eigenart an die Enkel um; und aus diesen Pllichten ergiebt sich auch ..der Begriff des wahrhaften Krieges". Mit solcher Indi- vidualisierung des Wertens verbindet sich wiederum die logische Charakterisierung durch die Irrationalität. Die Nation als ..besondere geistige Natur der menschlichen Umgebung", als „besonderes Gesetz der Entwicklung des Göttlichen' erscheint dem abstrakten Verstand als ein aus den allgemeinen ., Gesetzen der Ersichtlichkeit" uner- klärbarcr Bestandteil der Wirklichkeit, als ein „Mehr der Bildlichkeit, das mit dem Mehr der unbildlichen Ursprüng- lichkeit in der Erscheinung unmittelbar verschmilzt" und deshalb „niemals von irgend einem, der ja selbst immer- fort unter desselben ihm unbewussten Einflüsse bleibt, ganz mit dem Begriffe durchdrungen werden kann''^.

Grade und ausschliesslich auf politischem Gebiet streift somit Fichte an Schleiermachehs Princip der ..Eigentüm- lichkeit", nach dem die bedeutende Individualität als Selbst- zweck, als Ganzes, als in sich geschlossene Welt gewertet wird. Bei der ihm eigentümlichen Wertungsgewohnheit der Eingliederung des Einzelnen in einen umfassenden Zweckzusammenhang liegt es ihm auch nahe genug, die Nation, die ja, ähnlich dem höchsten Inbegriff der Kultur- werte, eine die einzelnen Individuen in sich eingliedernde Gesamtindividualität darstellt, als sich selbst genügendes (ianzes gelten zu lassen: leichter als bei der Einzelpersön- lichkeit wurde es ihm darum bei der Nation, davon ab- zusehen, dass auch sie sich als Glied eines noch höheren Ganzen denken lässt. Im Zeitalter K.wrs wollte das Indi-

i) Reden an die deutsche Nation, 8. Rede, lerner 371 f., 398, 467, 5631., „Staatslehre", 2. Abschnitt (IV, 401 II'.).

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viduum die „menschliche Gattung" als einzige in sich geschlossene Wertlolalität über sich anerkennen, die ein- zelnen Staaten aber lediglich als vorläufigen Notbehelf daneben dulden. Hei Fichte ist bereits der ungeheure Fortschritt in der Individualisierung des Wertens eingetreten, dass zwischen den Elinzelnen und die Menschheit dieNation als selbständiges Wertgebilde eingeschoben wird^). Freilich ist dadurch auch lür Fichte die Möglichkeit keineswegs aufgehoben, die Nationen als^ blosse Gliedindividualitäten in die Gesamtheit der Kulturentwicklung einzustellen. Dem einzelnen Volk wäre dann im „ewigen Entwurf eines Menschengeschlechtes im Ganzen" eine ebenso unersetzliche „Bestimmung" zuzu- weisen wie dem einzelnen Individuum im einzelnen Volke. „Die Volksform selbst ist von der Natur oder Gott: eine gewisse hochindividuelle Weise, den Vernunftzw^eck zu befördern. Völker sind Individualitäten, mit eigentümlicher Begabung und Bolle dafür." Wer so den universalen Kosmos der Kulturziele als eine aus den unvergleichbaren nationalen Gliedindividualitäten sich bildende Gesamtindividualität erfasst, für den wird der wahre „Kosmopolit " sich als Patriot bethätigen und echter „Patriotismus"" in „Kosmopolitismus" einmünden müssen. Die scheinbare Unbestimmtheit in Fichtes Stellung zum Kosmopolitismus erklärt sich zum grössten Teil aus dieser früher im Allgemeinen von uns charakterisierten, auch auf das Politische angewandten Methode des Eingliederns von Fragmentindividualitäten in eine Totalität, obgleich aller- dings auch zuzugeben ist, dass das Nationalitätsprincip bei ihm häufig durch eine metaphysische Verabsolutierung des j Deutschtums durchbrochen wird-).

Dass Fichte es wirklich vermochte, trotz seiner das Entstehen fruchtbarer kulturphilosophischer BegritYe fort- während bedrohenden Hinneigung zu dem eleatischen Princip eines gestaltlosen Absoluten, dennoch eine konkrete Fassung des Nationalitätsgedankens w^enigstens anzubahnen, das eraiebt sich am deutlichsten aus der in den letzten

0 Vgl. dazu MÜLLER, Eleni. d. Staatskunst I, 107 f., 109 f., 115 f., 282 ff., III, 223 IT., 251.

•^) VII, 181, 188, 193, 197, 200, 212, N III, 228f.. 248, 266, 423, 4261'., VII, 380 IT., 464, 471 f., 533.

Lask, Fichtes Idealismus uud die Geschichte. 18

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Schriften beobachteten Klärung und schärferen Heraus- arbeitung des Momentes, auf das alle Ansätze der poli- tischen Spekulation seit 18ü6 ja bereits hindrängen, näm- lich aus der Charakterisierung des Volkes als geschicht- licher Einheit. In der Betonung dieses Faktors voll- endet sich die Beleuchtung des Wirklichkeitscharakters der Nation. Wie Fichte für dns Volk die individuelle Eigentümlichkeit noch rückhaltloser zugestand als für die einzelne Persönlichkeit, so hat er sich auch der Anerkennung nicht verschliessen können, dass der ins Unendliche gehen- den politischen (lestaltungskraft des menschlichen Willens die konsolidierende Macht einer geschichtlichen Volks- grundlage als ein „von der geistigen Natur Vorausgegebenes" zu Hilfe kommen müsse. Das Wunder der ..gegebenen Frei- heit" taucht hier als Antinomie von politischer Selbst- thätigkeit und geschichtlicher Gewordenheit wieder auf. Bereits in den ..patriotischen Dialogen" von 1807 war ge- legentlich ausges])rochen worden, die Nation müsse ..Natur", d. h. geworden und gewachsen sein. Aber während noch in den ..Beden" die Sprache als höchstes, ja einziges nationales Einheitsband gilt, linden wir in den letzten Schriften die Mittel nationaler Einigung viel eingehender untersucht und ihre Notwendigkeit viel stärker hervor- gehoben. Hier wird neben der Sprache vor allem eine gemeinsame Geschichte genannt. An ihr sei besonders das lehrreich, „wodurch eine Menge sich selber begreift als Eins, und zum Volke wird im eigenen Begriffe: entweder durch hervorstechende Ereignisse, gemeinschaft- liches Thun und Leiden . . . . durch Gemeinschaftlich- keit des Herrschers, des Bodens, der Kriege und Siege und Niederlagen und dergleichen; oder auchderblos.se Begriff andrer von ihnen als Eins giebt ihn ihnen selbst". „Eine Menschenmenge durch gemeinsam sie entwickelnde Geschichte zur Errichtung eines Beiches vereint, nennt man ein Volk." „Gemeinschaftliche Geschichte oder trennende entscheidet also für die Bildung zum Volke." Bei dieser viel realistischer gewordenen Vorstellung wird auch der Krieg als völkerbildendes Element gewürdigt. Wenn Fichte von seinem Begriff der Nation aus den deutschen Terri- torialstaat nicht als selbständiges und berechtigtes Staats- gebilde gelten lassen wollte, so darf man darin nicht ein

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blindes Eifern wider den Schollenpatriolisimis erl)lkken, sondern muss vielmehr die tiefgehende, von ihm häufig aus- gesj)rochene Einsicht erkennen, dass jeder Staat im tiefsten (Irunde krankt, bei dem ])olilische Organisation und „Volks- geist" sich nicht decken. Grade ein solches Auseinander- fallen, bei dem die Nation nicht als ein über alle künst- liche Abgrenzung erhabener überindividueller Zusammen- hang gewertet werden kann, verleitet ja auch zu der von Fichte so heftig l)ekämpften Denkart, die den Fürsten der Nation als ein Jenseitiges gegenüberstellt, ihn „vor das Vater- land setzt, als ob er selbst keins hätte", und den Staat als seinen Privatbesitz betrachtet wissen wilP). Wo derartige Auffassungen durch die ])olitische Entwicklung bestätigt werden, hat sich das wahre Verhältnis grade umgekehrt: die leere Form des Staates triumphiert über die Realität des nationalen Daseins^).

Von dieser Idee des geschichtlich gewordenen Volks- geistes, zu der sich die politische Spekulation in den aller- letzten Jahren offenbar zuspitzt, sticht nun die über alle empirischen Schranken hinausgehobene Sonderstellung merkwürdig ab, die Fkihte dem deutschen Volke zuweist. Zunächst darf freilich auch hierbei nicht übersehen werden, dass für die Erklärung der Zerrissenheit und Nationalitäts- losigkeit Deutschlands der im Vergleich mit der Auf- fassung der „Reden" vertiefte geschichtsphiloso])hische Volksbegriff als Kriterium festgehalten wird. Von den

Deutschen heisst es: keine gemeinsamen

Thaten und Geschichte, durchaus kein Unternehmen der Art. Höchstens Stamm- und Spracheinheit, nicht Volks- und Geschichtseinheit." „Und das ist eben die Merkwürdigkeit: der Charakter anderer Völker ist gemacht durch ihre Geschichte. Die Deutschen haben als solche in den letzten Jahrhunderten keine Geschichte." Aber die Deutschen vermochten es so wird nun weiter gefolgert im Widerspruch mit der feindlichen historischen Wirk- lichkeit kraft ihres übergeschichtlichen „metaphysischen"

') Vgl. dazu besonders L.\ss.\lles Festrede „Die Philosophie F"ichtes", die wohl das Beste enthält, was über Fichtes Politik gesagt worden ist.

2j N III, 232, VII, 266 f., 392 f., 460, 463 f., 465 ff., IV, 412—420.

18*

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Daseins den „Einheitsbegriff eines deutschen Volkes " aiil- rechtziierhahen, und grade in dieser „Existenz ohne Staat und über den Staat hinaus" besteht der „merkwürdige Zug" in ihrem Nationalcharakter. Sie allein sind deshalb im Weltplan dazu ausersehen, „in rein geistiger Ausbildung" sich zu einem Volke erst zu machen, ihr Sein, wie die Wissenschaftslehre es fordert, aus der reinen Innerlichkeit aufzubauen. „Dem metaphysischen Volke die metaphysische Aufgabe! "M „Der Einheitsbegriff des deutschen Volkes ist noch gar nicht wirklich, er ist ein allgemeines Postulat der Zukunft. Aber er wird nicht irgend eine gesonderte Volkseigentümlichkeit zur Geltung bringen, sondern den Bürger der Freiheit verwirklichen." Hier beansprucht in der That das ethische Postulat der Selbstthätigkeit nicht nur eine überhistorische Bedeutung, sondern es steigert sich gradezu zur metaphysischen Leugnung des Histo- rischen, zur hy]K)stasierenden Erzeugung einer überge- schichtlichen individualitätslosen Realität.

Allein wenn auch ohne weiteres zuzugeben ist, dass das Gesamtbild der bei Fichtk ja erst im Entstehen be- grifTenen historischen Weltanschauung an einzelnen Stellen immer wieder von anderen spekulativen Schichten stark verdunkelt wird, so muss man sich doch davor hüten, die Kluft zwischen der metaphysischen Ausgestaltung des Nationalitätsprincips und der wahrhaft historischen Be- trachtungsweise allzusehr zu erweitern. Man wird sich vielmehr daran zu erinnern haben, dass nach Eichte der Begriff der Geschichte nicht nur das Gewordene, sondern ebenso das lebendige Werden selbst umfasst, seine histo- rische Weltanschauung deshalb, anstatt zu einer das Be- stehende vergötternden Restaurations])hilosophie herabzu- sinken, sich vielmehr zu der Verkündigung einer grund- sätzlichen Revolution gegen die erstarrten Formen der Gegenwart emporhebt. Das wird ja an den überlebten föderalistischen Formen des deutschen Reichs grade ge- rügt, dass sie Kunstprodukte seien, durch die niemals der belebende Hauch wahrer Geschichte geweht habe. Diese limpörung gegen das Bestehende ist somit von echt ge- schichtlichem Gefühl getragen und steht, auf ihre letzten

') Worte Lassalles, a. a. ü. 24.

269

spekulativen Motive hin an<i;eselien, im schroiren Gegensalz zum aufklärerischen Radikalismus. Dass Ficirn: diesen Vergangenheit und Zukunl't umfassenden, Tür das 18. Jahr- hundert völlig unhegreilliehen Begriff von „Geschichte" auch wirklich vertreten hat, dafür liefert grade die ent- scheidende Stelle einen untrüglichen Beweis, an der er Deutschlands Ausnahmestellung und Pflicht zu nationaler Urzeugung am stärksten hervorheht. Denn dort hat er den postulierten Prozess sclhstthätigcr (iestaltung zum Volke ausdrücklich in den Umfang des Ge- schichtshegriffes gestellt. ..Dies alles hat die Deutschen hisher gehindert, Deutsche zu werden : ihr Charakter liegt in der Zukunft: jetzt hesteht er in der Hoffnung einer 'neuen und glorreichen Geschichte. Der Anfang der- selben — dass sich selbst mit Bewusstsein machen. Es Vv^äre die glorreichste Bestimmung."^)

Aber von Neuem bestätigt sich uns durch die Berück- sichtigung der Nationalitätsphilosophie, dass Fichtes ge- schichtsphilosoj)hische Weltanschauung ganz andere Wurzeln hat als jenes mit der ästhetischen Stellungnahme so nah verwandte hingebende Verständnis für alle einzelnen und entlegensten Äusserungen des geschichtlichen Lebens der Völker, das als zweite ursprüngliche Quelle des historischen Sinnes der Neuzeit von Hkrüer ausgeht und die gesamte Romantik beherrscht. Dem Philosophen aus der Kantischex Schule konnte erst durch das Nachdenken über das Werden und die Erhaltung der grossen politischen Organismen klar werden, dass die überempirischen Werte in den zeit- lichen, irdischen Verlauf, in historische Gestaltung hineingebannt sind. Und indem ihm so auf dem Um- wege über das Politische die Versöhnung von Wert und Wirklichkeit in ihrer greifbarsten Gestalt sich offen- bart, wird er zugleich der klassische Ausdruck seiner Zeit, in der der Ideenreichtum einer „staatlos" entstandenen Kultur mit den harten Realitäten des politischen Lebens sich berühit. Durch die schweren Schicksalsschläge des eigenen Volkes gemahnt, postuliert nun plötzlich auch der Philosoph: ..Selbst das Schweben in höhern Kreisen des Denkens spricht nicht los von dieser allgemeinen Verbind- lichkeit, seine Zeit zu verstehen. Alles Höhere muss ein-

i) VII, 547—573, IV, 422 f.

270

greifen wollen aiil" seine Weise in die unmittelbare Gegen- wart. " ')

So vollendet sieh die Erkenntnis des BegrifTs der Ge- schichte erst durch den Einblick in die Zusammenhänge mit dem Begriff der i)()litischen Gemeinschaft. In der Nationalisierung der früher ausschliesslich weltbürgerlich gedachten politischen Ideale lernen wir wiederum ein gewaltiges neues Mittel zur Erreichung jenes Zieles kennen, nach dem Fichtes Geschichtsphilosophie auf verschiedenen Wegen in hartem Bingen mit der rationalistischen Welt- anschauung — hinstrebte, jenes Zieles, das in der Ver- söhnung der abstrakten gestaltlosen ..Vernunft" und der individuellen Wirklichkeit des Geschichtlichen besteht.

Als besonders charakteristische und vor allem auch von Hegel unterscheidende Eigentümlichkeit von Fichtes Spekulation dürfen wir aber bei einem letzten Bückblick den Umstand noch einmal hervorheben, dass sich mit dieser Schöj)fung einer neuen geschichls])hiloso])hischen Gedankenwelt gleichzeitig ein starkes Wurzeln in der Kaxtischex Logik verbindet. Denn erst durch den logi- schen Begriff des Historischen, durch die aller Ver- nunftgesetzlichkeit ewig unerreichbare Irrationalität des Individuellen gilt, wie wir sahen, dem Transscendental- philosophen der kulturphilosophische Gedanke des Frrechts der geschichtlichen Wirklichkeit gegenüber jedem For- malismus des Wertens als so weit gerechtfertigt und gesichert, dass sich dabei das Bedürfnis nach letzter er- kenntnistheoretischer Begründung zu beruhigen vermag. Ein wertvoller, ja unentbehrlicher Baustein in der Grund- legung einer von Kant abweichenden kulturphilosophischen Weltanschauung entstammt somit doch wiederum den un- erschöpflichen Tiefen Kantischeia Erkenntnistheorie. Auch in der Geschichtsphilosophie erscheint darum Fichte als der wahre Jünger Kants, als der ..Grösste aller Kantianer", der das dauernd Wertvolle des Meisters behält, um doch mit schöj)ferischer Kraft über ihn hinauszugehen.

J) VlTT 447 vgl. 379 fT., 451 IT. Ähnlich wiederum :Müller, z. B. Vorles. üb. d. deutsche Wissenschaft u.Litt. 136, 161, Klem.d. Staatskunst I, 42. Bereits Gentz spricht von der ..auffälligen Übereinstimmung" der im Text citierten Stelle, „sogar in einigen entscheidenden .Uisse- rungen uiul ^Yorten'•. niil Mllleu, s Briefwechsel zwischen Gentz und Mllleh 148.

Namenverzeichnis.

Beck 116, 118—121, l3Üf., 133, 137. Hamann 153 Anm., 160 Anm., 161

Anm. Hegel 12—18, 23 f., 56—67, 68 f.,

80 fr., 86, 90 f., 95, 1331"., 174,

1871"., 195, 1991'., 210 Anm., 235. Herder 243, 269. Hume 79. Jacobi 12 Anm., 142, 152—155,

159—162, 179 Anm., 198, 222. Kant 1 14, 23f., 26—56, 571"., 68 tl'.,

77 fr., 89 tr., iiötr., 124—127, 129

Anm., 130 Anm., 132, 137 fr., 142,

147—152, 19311"., 200, 2171', 230,

236, 242—249, 270. Leibniz - Wolf fische Philosophie

8f., 34 Anm.. 35, 121, 122 Anm.,

137, 1601., 218. Maimon 40 Anm., 44 ff., 52 Anm.,

781"., 116 Anm., 12111"., 131 Anm.,

1331"., 174 Anm., 181 Anm. Mendelssohn 154, 236. Müller, Adam Heimich 260, 265

Anm , 270 Ainn. Plato 17 Anm , 52 Anm., 661"., 166,

172, 186. Reinhold 118—121, 131, 133, 137

Anm. Schelling59r., 64 Anm., 119 Anm.,

131 Anm., 172, 173 Anm., 179,

182, 18311"., 1861"., 195, 19711"., 218,

219 236 Schlegel 199, 209, 236. Schleiermacher 17, 195, 197, 209 f.,

218. Schlosser 7.

Schopenhauer 52 Anm., 64 Anm. Spinoza 591., 64"f., 661"., 166, 172,

182, 185 fr.

Infolge einer technischen Änderung während des Druckes sind folgende

Berichtigungen notwendig geworden:

S. 91 Z. 23 lies 79 statt 78

. 31 .

90

89

. 101 .

30 .

77

76

. 109 .

7

96

95

. 36 .

105

104

.112 .

. 24 .

109

108

. 120 .

. 33 .

92

91

. 127' .

. 31 .

. 86, 108 .

85, 107

. 131 .

. 33 .

119

118

. 133 .

. 41 .

116

115

Ausserdem :

. 99

. 40 .

. 286

186

, 103

. 35

. Anni. 2 .

Anm. 1

Gedruckt bei Imberg & Lefson in Berlin S^X '., Bernburgerstr. 31.

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DATE DUE

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PRINTED IN U S.A

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