n =m —r (de) de) N od oO oO Fortschritte der Sy naturwissenschaftlichen Forse hung 2 herausgegeben von. E.Abderhalden, 2. Band. un nenne En Sam art anne nahe ner manner u FORTSCHRITTE NATURWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG. HERAUSGEGEBEN VON PROF. DE EABDERHALDEN; BERLIN. ZWEITER BAND. MIT 72 TEXTABBILDUNGEN UND 4 TAFELN. zactel. en URBAN & SCHWARZENBERG BERLIN WIEN N., FRIEDRICHSTRASSE 105» L., MAXIMILIANSTRASSE 4 L31T. RR Br \ E27, \ IR \ A 2, „“ £ . es f { rn y \ WAS G ALLE RECHTE VORBEHALTEN. N # «Q MERER \ Copyright, 1910, by Urban & Schwarzenberg, Berlin. Inhaltsverzeichnis. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigen- schaften von Prof. Dr. Richard Semon, München Neue Forschungen liber fossile lungenatmende Meeresbewohner von Prof. Dr. Ernst Stromer, München Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung von Prof. Dr. K. Sapper, Straßburg ı. E.. Ionen und Elektronen von Prof. Dr. Gustav Mie, Greifswald Die Nutzbarmachung des Luftstiekstoffs von Prof. Dr. C. Fren- zel, Brünn Die kretinische Degeneration (Kropf, endemischer Kretinismus und Taubstummheit) in ihrer Beziehung zu anderen Wissens- gebieten von Dr. Eugen Bircher, Aarau Über Muskelatrophien von Priv.-Doz. Dr. Robert Bing, Basel Seite Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Von Richard Semon, München. Übersicht des Inhalts. EINLEITUNG. Behandlung der Frage durch Lamarck, Darwin und Weismann . 3— 6 BABSCHNEIFE SFormulierungsder Fragen. . 22.4. ZI ITIEFEIEI0 2. ABSCHNITT: Die Frage nach der Vererbung von Verstümmelungen IE VOLLZEIT ne oe ee en. NOIR Weismanns Kritik des kasuistischen Materials. Experimente von Weis- mann, Ritzema Bos, Rosenthal, Preyer. Ergänzungsbedürftigkeit dieser Experimente. Kasuistik. Regenerationstendenz als antagoni- stischer Faktor. 3. ABSCHNITT: Vererbbarkeit bzw. Nichtvererbbarkeit von Sprache, Kenntnissen, Dressurergebnissen usw. . un... 2... RT Eigenartige Stellung des Menschen in diesem Punkt. Vererbte Disposi- tionen. Vererbung des Gesanges und der einzelnen Rufe der Vögel. Ererbte Scheu vor einer Giftschlange (Bobeachtungen von Lenz). Selektionseinwand. Dressurergebnisse. Das „Vorst.hen“ und „Auf- warten“, 4. ABSCHNITT: Wahrscheinlichkeitsbeweise für die Vererbung von funktionellen Veränderungen (Wirkung des Gebrauchs- und SEEEHERETERREHBR I. 25a U ee re I—8O Tagesperiodische Bewegungen bei Pflanzen. Vererbung von Gewohn- heiten bei Tieren. Die „Neutra“ der Insekten. Instinkte bei Hunden. Badeinstinkt bei Elstern und Hähern. Auftreten des Perforations- loches bei armlosen Bombinatorlarven. Erblichkeit der Verhornung der menschlichen Sohlenhaut. Wirkung des Nichtgebrauchs: Augen- schwund bei Bewohnern von Tiefsee und Höhlen. Beginn der experi- mentellen Behandlung der Frage (Vird, Kapterew, Payne). E. Abderhalden, Fortschritte. II. 1 (b R. Semon. „ABSCHNITT: Positiveexperimentelle Ergebnisse: I. Vererbung se- kundärer Wirkungen von Verletzung Experimente von Brown-Sequard, Westphal, Obersteiner, Sommer über „Meerschweinchenepilepsie“. Experimente an Pflanzen von Klebs und Blaringhem. 6. ABSCHNITT: Positive experimentelle Ergebnisse: I. Vererbung von verschiedenartigen Reizwirkungen Kulturexperimente von Hoffmann, Cieslar, Wettstein, Fruwirth. Experimente von Klebs, Hansen, Gaidukov, Ray, Hunger. Schmetter- lingsversuche von Standfuß, Fischer, Schröder, Pietet. Färbungs- änderung der Salamandrahaut (Kammerer). Temperaturversuche von Sumner und Przibram an Mäusen und Ratten. Erbliche Instinkts- änderungen: Versuche von Pietet, Schröder an Insekten, von M. v.Chaurin am Axolotl. Neotenieversuch Kammerers bei Alytes. Weitere Ergebnisse der Kammererschen Versuche bei Alytes: Ver- halten der Lunge. Änderung der Brutinstinkte. Auftreten von Brunst- schwielen. Aammerers Fortpflanzungsänderungen bei Salamandra maculosa und atra. Schlußergebnis. 7. ABSCHNITT: Die Hypothese von der Parallelinduktion und die Towerschen Experimente 8. ABSCHNITT: Physikalische und physiologische Undurchführbar- keit der Hypothese von der Parallelinduktion SCHLUSS Bestätigung durch die Versuche Towers. Darstellung dieser Versuche. Kritische oder sensible Perioden in bezug auf Reizwirkungen. Sen- sible Periode der Keimzellen. Erklärung der Towerschen Befunde aus der sensiblen Periode der Keimzellen und der besonderen Be- schaffenheit der von ihm untersuchten Merkmale und gewisser Eigen- tümlichkeiten seines Objekts. Reihe von Fällen. Physiologische Undurchführbarkeit. Unerläßlich- keit der Rezeption und Transformation der Reize durch die Werk- zeuge, die nur das Soma besitzt. Unanfechtbarkeit der somatischen Induktion. Die Engrammlehre könnte sich mit beiden Auffassungen abfinden; ihr Ausbau ist aber auf der Basis der somatischen In- duktion als der einzig zulässige erfolgt. Seite . 30—34 . 34—54 Kulturexperimente von Schübeler und kritische Würdigung derselben. . 54—64 Allmähliche Entwicklung der Hypothese. Ihre angeblich einwandfreie . 64—73 Nachweis von unüberwindlichen physikalischen Schwierigkeiten in einer . 73—18 Zusammenfassende Übersicht und Schlußergebnis. Vererbung erworbener Eigenschaften ist durch die Tatsachen erwiesen, sie ist aber nicht gleichbedeutend mit „Lamarckschem Prinzip“. Fernere Aufgaben. Literaturverzeichnis Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 3 Einleitung. Solange man die Konstanz der Arten als wissenschaftlichen Glaubens- satz hinnahm und die gemeinsame Abstammung der Lebewesen leugnete, hatte die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften keine Be- deutung; sie war von vornherein im negativen Sinne entschieden. Derselbe bewunderungswürdige Denker, der zuerst den Deszendenzgedanken klar erfaßte und seine wesentlichen Konsequenzen überschaute, Jean Lamarck, hat auch zuerst zu dieser Frage in bestimmter Weise Stellung genommen. Seine diesbezügliche Meinung, die eine Grundlage seiner deszendenztheore- tischen Anschauungen bildet, findet unter anderem durch folgenden Aus- spruch in seiner Histoire naturelle des animaux sans vertebres 1805 (2. Aufl., 1835, 8. 152) ihren charakteristischen Ausdruck: „Alles, was in der Organisation der Individuen im Verlaufe ihres Lebens erworben, an- gelegt oder verändert wird, erhält sich durch Fortpflanzung und wird auf die Nachkommen übertragen.“ Eine gewisse Einschränkung macht Lamarck nur insofern, als er annimmt, daß die erworbenen Veränderungen bei ge- schlechtlicher Fortpflanzung nur dann vererbt werden, wenn sie beiden Eltern gemeinsam zukommen. Indem nun Zamarck weiterhin den Einfluß der Außenwelt, die er als „modifizierende Ursachen“ bezeichnet, die Bedeutung der funktionellen Reize, des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe klar erkannte, hatte er zwei der Hauptfaktoren ermittelt, die bei der Bildung neuer Arten tätig sind: den umbildenden Faktor der Reize, die von außen her, sowie der Erregungen, die bei der Funktion der Organe auf den Organismus ein- wirken, und das konservierende Prinzip der Vererbung. Unerklärt blieb aber noch der eigentümliche Zustand vollkommener oder doch sehr weitgehender Anpassung, in dem sich uns alle Lebewesen in Beziehung auf die mit ihnen in irgendwelche regelmäßige Beziehung tretende Umwelt darstellen. Lamarck befand sich nun noch nicht im Besitz des eigentlichen Schlüssels zu dieser Anpassung, des erst viel später von Darwin entdeckten Prinzips der natürlichen Zuchtwahl, dem jeder Organismus passiv unter- liegt, und so verfiel er auf den Ausweg, in allen Anpassungen das Werk der aktiven Betätigung des Organismus zu erblicken. Dieser Ausweg führt aber in allen den überaus zahlreichen Fällen, in denen es sich um das handelt, was man jetzt „passive“ Anpassung nennt, in offensichtlicher Weise nicht zum Ziele, und so enthielt Lamarcks Beweisführung eine klaffende Lücke, deren Überbrückung durch so vage Umschreibungen, wie Trieb oder Bedürfnis sich anzupassen, der weiteren naturwissenschaftlichen Analyse keine gangbaren Wege eröffnete und das Ausbleiben einer rechten Wirkung der Gedankenarbeit Lamarcks bei seinen Zeitgenossen einiger- maßen erklärlich erscheinen läßt. 1* 4 R. Semon. Als 50 Jahre später dann jene Lücke durch Darwin ausgefüllt wurde, blieb der durchschlagende Erfolg nicht aus. Darwin fügte zum umbilden- den Faktor der äußeren und inneren Reizwirkungen und zum konservieren- den der Vererbung, die beide zusammen ein vom Zweckmäßigkeitsstand- punkt aus indifferentes Material liefern, als dritten Faktor den der natür- lichen Zuchtwahl hinzu, der aus jenem sich dabei passiv verhaltenden Material das ungeeignete ausmerzt und dadurch das herausmodelliert, was wir als Anpassung bezeichnen. Auf diesen von Darwin erkannten und des- zendenztheoretisch verwandten Faktor gehen wir natürlich nicht weiter ein; wir heben nur hervor, daß) hier, in der Erklärung der eigentlichen Anpassung, die wesentliche Differenz zwischen Darwin und Lamarck liegt. Dabei hat Darwin selbst im Gegensatz zu einigen seiner Nachfolger sich von einer einseitigen Überschätzung der natürlichen Zuchtwahl freigehalten und hat, was uns hier besonders interessiert, an der Vererbbarkeit von Reiz- wirkungen verschiedener Art sowie der Vererbung der Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe nie gezweifelt. Dafür legen viele Stellen seiner grundlegenden Werke (1842, 1844, 1859) Zeugnis ab; besonders klar und eindeutig ergibt sich das aus dem Abschnitt über Variabilität und Vererbung in dem Kapitel über die provisorische Hypothese der Pan- genesis seines „Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Dome- stikation“, 1868 (2. deutsche Aufl., 1873, 8. 420, 421). Es ist deshalb unzulässig, das Prinzip der Vererbung von Reizwir- kungen (Vererbung von erworbenen Eigenschaften) unter dem Namen Lamarcksches Prinzip oder Lamarckismus in Gegensatz zum Zucht- wahlprinzip unter dem Namen Darwinsches Prinzip oder Darwinis- mus zu bringen. Denn Darwin selbst nahm jenes fälschlich so genannte Lamarcksche Prinzip an und war also in dieser Beziehung selbst Lamarckist. Der eigentliche Gegensatz zwischen Darwin und Lamarck liegt, wie wir bereits gesehen haben, ganz wo anders: in der Erklärung des Zustande- kommens der Anpassungen. Will man also schon durchaus mit jenen unglückseligen „ismen“ operieren, so bezeichne man den Gedanken, die Anpassung auf die durch das „Bedürfnis“ geweckte Aktivität des Orga- nismus zurückzuführen, als Lamarckismus, die Zuchtwahllehre dagegen, die einen großen Teil aller sogenannten Anpassungen und sämtliche pas- siven Anpassungen auf den eigentümlichen Ausleseprozel) zurückführt, als Darwinismus. Weit besser aber wäre es, man verzichtete bei wissen- schaftlichen Auseinandersetzungen ganz auf diese vieldeutigen Schlagworte, die bereits viel Verwirrung angerichtet haben und bediente sich einer Ausdrucksweise, die die Begriffe eindeutig kennzeichnet. Lamarck sowohl wie Darwin nahmen die Vererbbarkeit von Reizwirkun- gen verschiedener Art, die Vererbung der Wirkung des Gebrauchs und Nicht- gebrauchs der Organe als unzweifelhaft gegeben an und unterscheiden sich nur darin, daß der erstere diesem Prinzip eine lediglich unmittelbare, der andere ihm eine vorwiegend mittelbare Bedeutung für die Bildung neuer Arten zuschreibt. Einer näheren kritischen Prüfung hat aber keiner von nf u Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 5 beiden dies Prinzip unterzogen, obwohl Darwin wiederholt auf die Not- wendiekeit hingewiesen !hat, besonders den Zusammenhang zwischen der Wirkung äußerer Reize und der durch sie bedingten Variabilität experi- mentell zu analysieren.) Während der großen Bewegung, die sich an das Erscheinen der „Entstehung der Arten“ anschloß, machte die wissenschaftliche Durch- arbeitung gerade der hierhergehörigen Probleme keine Fortschritte, ja es erfolgten sogar insofern bedenkliche Rückschritte, als allerlei anekdotisches Material, aus dem sich eine Vererbung von Verstümmelungen ergeben sollte, Eingang in die wissenschaftliche Literatur fand und ziemlich allge- mein für bare Münze genommen wurde. Ein Wendepunkt in dieser Sach- lage trat erst ein, als Weismann Anfang der achtziger Jahre?) diese ganze Frage einer kritischen Untersuchung unterzog und diese Behandlung in einer großen Reihe von Abhandlungen, die bis in die Gegenwart (1909) reichen, fortsetzte. Er war der erste, der das Problem mit der nötigen Schärfe formulierte, das vorliegende Tatsachenmaterial einer einschneiden- den Kritik unterzog und auch die experimentelle Untersuchung der Frage nach der Vererbung von Verstümmelungen inaugurierte. Das Verdienst, das er sich durch alles dies erworben hat, ist ein sehr großes und wird bleibend in der Geschichte der Biologie anerkannt werden. Das bedeutet aber noch nicht, daß die Endergebnisse, zu denen er gelangt ist, in der Biologie eine bleibende Geltung behalten werden. Bei näherer Prüfung stellt sich nämlich heraus, daß seine Kritik von Hause aus keineswegs auf einer unabhängig auf sich selbst gestellten Betrach- tung der Tatsachen beruhte, sondern daß sie als Dienerin einer ganz be- stimmten theoretischen Voraussetzung auftrat, die ihr eine gebundene Marschroute vorschrieb. Der Ausgangspunkt Weismanns war nämlich eine für ihn bereits feststehende Theorie der Vererbung, deren Grundgedanke der ist (1886, 1892 A, S. 19), „daß die Vererbung darauf beruht, daß von der wirksamen Substanz des Keimes, dem Keimplasma, stets ein Minimum unverändert bleibt, wenn sich der Keim zum Organismus entwickelt, und dal) dieser Rest des Keimplasmas dazu dient, die Grundlagen der Keim- zellen des neuen Organismus zu bilden. Daraus folgt nun: die Nichtver- erbbarkeit erworbener Charaktere“. ') Vgl. z.B. den Brief von Charles Darwin an die Redaktion der Zeitschrift „Kosmos“, 1. Bd. dieser Zeitschrift, Leipzig 1877, 8.173. Vgl. ferner in Leben und Briefe Charles Darwins, Stuttgart 1887, 3. Bd., S. 330—333, den Brief an J. H. Gilbert und ganz besonders den an K. Semper vom 19. Juli 1881. °) Die erste hierauf bezügliche Publikation Weismanns ist der aus dem Jahre 1853 stammende Vortrag: Über die Vererbung. In demselben Jahre äußerte übrigens auch Pflüger in seiner berühmten Abhandlunr über den Einfluß der Schwerkraft auf die Teilung der Zellen seine Zweifel an der Bündigkeit der Beweise für eine Vererbung erworbener Eigenschaften. Schon vorher hatte His (Unsere Körperform, Leipzig 1874) sich in bestimmter Weise dahin ausgesprochen, daß im individuellen Leben erworbene Eigenschaften sich nicht vererben. 6 R. Semon. Hier wird also, wie wir sehen, eine ganz bestimmte Antwort auf die uns beschäftigende Frage bereits in Gestalt einer theoretischen Fol- gerung gegeben. Auf der Theorie der Unveränderbarkeit des Keimplasmas beruht Weismanns ganze Erklärung der Vererbung, und so ist dieser Forscher von vornherein zu einem radikal ablehnenden Standpunkt allen den Tat- sachen gegenüber genötigt, die etwa dafür sprechen könnten, daß die Schicksale des übrigen Organismus nicht spurlos an seinen Keimzellen vorübergehen. Die sich hieraus ergebenden Einseitigkeiten der Weismannschen Kritik habe ich in einer früheren Schrift (1907 A) bei voller Würdigung seiner sehr bedeutenden Verdienste in dieser Frage richtig zu stellen ver- sucht. Ich kann es mir deshalb versagen, den individuellen Zügen seiner Argumentationen hier noch einmal nachzugehen, und werde bei der Größe des Gebiets und der ungeheuren Menge der für und wider herangezogenen Beweisstücke, deren Majorität sich bei schärferer Prüfung als unbeweisend oder doch zweifelhaft herausstellt, nur dasjenige berücksichtigen, was mir auch heute noch irgend ein wenn auch nur kleines Gewicht auf die Wag- schale zu werfen scheint. Diese Minderheit wirklich beweisender Tatsachen enthält immerhin noch so Vieles und Bedeutungsvolles, daß es sich em- pfiehlt, unsere Aufmerksamkeit ihnen allein, ihnen aber um so gründlicher zuzuwenden. | I. ABSCHNITT. Formulierung der Frage. Im Titel der vorliegenden Abhandlung habe ich unser Thema als die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften bezeichnet. Diese landläufige Bezeichnung genügt nun wohl zur ungefähren Orientierung, gibt aber, wie vielfache Erfahrungen gezeigt haben, das Problem nicht in der erforderlichen Schärfe wieder und hat infolgedessen schon zahlreiche Mißverständnisse verschuldet, die sowohl aus der Möglichkeit einer ver- schiedenen Auffassung des Begriffs „Vererbung“, als auch des Begriffs „erworbene Eigenschaften“ hervorgegangen sind. Beide Begriffe können nämlich in einem weiteren und in einem engeren Sinne verstanden werden; das eigentliche biologische Problem aber kommt nur dann zum richtigen Ausdruck, wenn man die Begriffe im engeren Sinne gebraucht. Dem Wortlaute nach könnte man behaupten, die Tatsache, daß es eine angeborene Syphilis gibt, sei ein Beweis für die Vererbung einer er- worbenen Eigenschaft, denn der krankhafte Zustand sei von der Mutter er- worben und eine Eigenschaft ihrer Konstitution geworden und werde von ihr auf das Kind wie andere Eigentümlichkeiten ihrer Konstitution vererbt. Hier- auf wird man mit Recht erwidern, die Infektion des Keimes durch die Mutter, die hier vorliegt und sich prinzipiell nicht von der Infektion eines selbstän- digen Individuums durch ein anderes unterscheidet, sei ein durchaus an- Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 7 derer physiologischer Prozeß als der, der bei dem uns beschäftigenden biologischen Problem gemeint ist und zur Diskussion steht. Dann soll man aber auch eine Fassung wählen, die ein solches Zusammenwerfen nicht zusammengehöriger Dinge ausschließt. Dies Ziel läßt sich erreichen, wenn man den äußerst dehnbaren Begriff „erworbene Eigenschaft“ durch einen passenderen ersetzt. Ein solche Mißverständnisse viel besser ausschließender Begriff tritt uns ganz ungesucht dann entgegen, wenn wir unseren Standpunkt nur ein wenig verändern und nicht die betreffende Eigenschaft, wie sie sich uns fertig als diese oder jene strukturelle oder dynamische Eigentümlichkeit präsentiert, ins Auge fassen, sondern indem wir auf ihre Entstehung, ihre Wurzel zurückgehen, auf das, was ihren Erwerb seitens der Mutter oder des Vaters bedingt hat. Von diesem Standpunkt aus kann man sämtliche hier in Betracht kommende erworbene Eigenschaften als Reiz- bzw. Erregungswirkungen bezeichnen. Dadurch engt man andrerseits den Begriff „erworbene Eigen- schaft“ in einer für das in Frage stehende Problem angemessenen Weise ein. Eine Infektionskrankheit, die die Mutter durch Mitgabe eines Mikro- organismus auf das Kind überträgt, fällt dann nicht mehr in den Bereich unserer Frage, ebensowenig die Mitgabe eines indifferenten Stoffes, etwa eines Farbstoffes, der von der Mutter aufgenommen und in ihren Geweben aufgespeichert, in den Nahrungsdotter des Keimes übertragen wird und später vielleicht eine ähnliche ungewöhnliche Färbung gewisser Gewebe beim Kinde bedingt, wie die Mutter sie erworben hatte. In dem Ausschluß solcher für unser eigentliches Problem gegenstandsloser Fälle ist ein ent- scheidender Vorzug unserer Formulierung zu erblicken. Denn die „Eigenschaften“, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben, sind im Grunde nur solche, durch die sich eine besondere Be- schaffenheit der reizbaren Substanz zu erkennen gibt. Bei den Eltern ist der „Erwerb“ einer hierhergehörigen „Eigenschaft“ nichts anderes als die Reaktion der reizbaren Substanz auf bestimmte Reize. Nun wird auch von den Anhängern der Lehre von der Vererbung erworbener Eigen- schaften natürlich nicht die Übermittlung der Eigenschaft als solcher, son- dern nur die veränderte Disposition behauptet, die betreffende Eigenschaft oder Reaktion zur gegebenen Zeit oder am gegebenen Ort spontan zu entwickeln. Das Wesentliche ist also sowohl bei Eltern wie bei Kindern die veränderte Beschaffenheit der reizbaren Substanz. Die „Eigenschaft“ ist nur ein äußeres Kenn- und Merkzeichen, ein Signal, durch welches sich uns die primäre Reizwirkung, die Erregung der reizbaren Substanz manifestiert. Das Ausbleiben dieses Merkzeichens, als welches sich uns in diesem Zusammenhange die „Eigenschaft“ darstellt, ist durchaus nicht immer ein sicheres Zeugnis für das Ausbleiben einer Reizwirkung über- haupt, und umgekehrt beweist das Vorhandensein eines solchen Signals zwar die Wirksamkeit gewisser Erregungsvorgänge, besagt aber noch nichts darüber, zu welcher Zeit diese Vorgänge stattgefunden haben. Wie 8 R. Semon. wir aber später (im 6. Abschnitt) sehen werden, ist diese zeitliche Bestim- mung für die Möglichkeit einer Übertragung auf die Nachkommenschaft unter Umständen von entscheidender Bedeutung. Wir fragen demnach: Vererben sich Reiz- bzw. Erregungswirkungen, die auf die Elterngeneration erfolgt sind und sich bei ihr, gewisse Aus- nahmsfälle abgerechnet, auch manifestiert haben, auf die Nachkommen? Ehe wir nun in eine nähere Untersuchung eintreten, wollen wir noch einen möglicherweise aus der Ausdrucksweise hervorgehenden Zweifel ausschalten. Wie wir im weiteren Verlaufe unserer Arbeit sehen werden, lehren die Tatsachen, daß mit der Vererbung einer Reizwirkung von einer Generation auf die andere häufig eine Abschwächung verbunden ist, falls die zweite erbende Generation dem Reiz, der auf die elterliche Generation gewirkt hat, ihrerseits nicht mehr ausgesetzt wird. Es besteht dadurch die Möglichkeit, daß eine Reizwirkung bei der Vererbung unter die Schwelle sinkt, in der sie sich unserer Beobachtung nach manifestieren kann, ohne doch gänzlich null geworden, das heißt nicht vererbt zu sein. Diese Mög- lichkeit lieet sogar sehr nahe, und wir haben zu erwarten, daß Reizwir- kungen, die bei der Elterngeneration, die den Reizen selbst ausgesetzt worden war, nur schwach in Erscheinung getreten sind, bei der nächsten (Generation überhaupt nicht mehr merklich hervortreten. Wir dürfen des- halb auch nicht erwarten, daß jede Reizwirkung in manifester Weise von der einen (Generation auf die andere vererbt wird, wir müssen viel- mehr erwarten, daß sie dies nur in günstigen Fällen tut. Unsere Frage: vererbt sie sich? soll also nicht ausdrücken: vererbt sie sich in allen Fällen in manifester Weise, sondern nur: vererbt sie sich in günsti- gen Fällen in manifester Weise? Und ferner haben wir zu berücksichtigen, daß die Manifestation einer solchen Vererbung keineswegs in einer völlig spontanen Wiederholung der betreffenden Reaktion, sei sie ein Bildungs- oder ein Betätigungsvorgang, zu bestehen braucht, sondern daß auch der Nachweis einer gesteigerten Disposition zur Reproduktion des Vorgangs genügt, um eine Vererbung der Reizwirkung nachzuweisen. Ich will dies an einem Beispiel, das in einem späteren Abschnitt noch ausführlicher wiedergegeben werden soll, klar machen. Frl. v. Chauvin (1885) hat Larven von AxolotIn, mexikanischen Molchen, die sich nor- malerweise überhaupt nicht zu Vollmolchen entwickeln, sondern als Larven geschlechtsreif werden und sich im Wasser fortpflanzen, durch besondere Maßnahmen gezwimgen, ans Land zu gehen, sich in die ausgebildete Molch- form Amblystoma umzuwandeln und so zur Fortpflanzung zu schreiten. Es hat sich nun gezeigt, daß) hierdurch auf die Keimzellen eine Reizwir- kung ausgeübt wird, und dal) sich das Anlandgehen und der damit ver- bundene Kiemenverlust nebst Metamorphose zum Amblystoma vererbt. Es vererbt sich aber nur die gesteigerte Disposition dazu, nicht der Reak- tionskomplex als ein unter allen Umständen auftretender, wie er es z.B. bei den Salamanderlarven tut, wo der Kiemenverlust und die Metamorphose Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 9 schließlich auch eintreten, wenn man die Tiere zwangsweise vom Betreten des Landes und sogar von jeder Möglichkeit, mit der atmosphärischen Luft in Berührung zu kommen, abhält. Unten bei der Besprechung der Schlafbewegungen der Pflanzen wer- den wir einen weiteren Fall kennen lernen, bei dem es sich, als Manifesta- tion betrachtet, nur um die erbliche Übermittlung einer Disposition handelt, nicht um die eines spontan unter allen Umständen auftretenden Bildungs- oder Betätigungsvorganges. Wir formulieren also nunmehr unser Problem folgendermaßen: Läßt sieh unter günstigen Umständen eine Vererbung von bei der Elterngeneration erfolgten und (besondere Ausnahmefälle abge- rechnet) auch äußerlich in Erscheinung getretenen heiz- bzw. Erregungswirkungen nachweisen, die sich entweder durch das spontane Wiederauftreten der betreffenden Reaktionen (Bil- dungs- oder Betätigungsvorgänge) oder wenigstens durch das Bestehen einer gesteigerten Disposition für ihr Wiederauf- treten bei der Deszendenz manifestiert? Unser Weg bei der Untersuchung dieser Frage soll der folgende sein. Wir wollen zunächst eine Übersicht über dasjenige Tatsachenmaterial geben, das gegen eine solche Vererbung spricht. Daran schließen wir eine Betrachtung der dafür sprechenden Tatsachen, und zwar zuerst derjenigen, die keinen lückenlosen experimentellen Beweis darstellen, so- dann derjenigen, die es tun. Hieran muß sich eine Analyse dieser letzteren Beweisstücke im Hinblick auf die Frage knüpfen, ob im gegebenen Falle die Keimzellen direkt durch den physikalischen Reiz oder aber auf dem Wege der organischen Reizleitung beeinflußt worden sind, was uns zu der physiologischen Grundfrage nach den Wegen der erblichen Übermittlung führen wird. Zum Schluß werden wir auf einige Argumente allgemeiner Art eingehen, die bei der Abwägung des Für und Wider bei unserem Problem zur Geltung gebracht worden sind. Wir werden uns aber dabei kurz fassen können, weil das Schwergewicht der Beweisführung auf die experimentelle Seite zu legen ist, und heutzutage wohl allseitig anerkannt wird, daß man nur auf diesem Wege zu einer eigentlichen Entscheidung der Frage gelangen kann. Wenn wir uns nun zunächst zu den negativen Fällen, dem Ausbleiben einer Vererbung von erkennbarer Stärke, wenden, haben wir dabei immer im Auge zu behalten, daß wir unsere Frage so formuliert haben, daß selbst ihre prinzipielle Bejahung sich nur auf besondere günstige Fälle bezieht. Sie etwa allgemein für alle Fälle zu stellen, verbietet sich des- halb, weil schon die Erfahrung des täglichen Lebens auf das unzweideu- tigste lehrt, daß in äußerst zahlreichen Fällen eine solche Vererbung, wenigstens in manifestationsfähiger Stärke, nicht erkennbar ist. Eine Auf- zählung von negativen Ergebnissen ist also auch nur wenigen positiven Ergebnissen gegenüber bei dieser Formulierung der Frage bedeutungslos. Eine kritische Würdigung der positiven Ergebnisse würde deshalb im Grunde 10 R. Semon. genügen. Nun wird aber auf zwei großen und bis zu einem gewissen Grade geschlossenen Gebieten ein absolutes Ausbleiben jeder Vererbung von Reizeinwirkungen, denen die Eltern ausgesetzt waren, behauptet. Es wird gesagt, daß Verletzungen und Verstümmelungen, die die Eltern getroffen haben, nie und unter keinen Umständen vererbt werden, und daß erfah- rungsgemäß feststände, daß von den Eltern erworbene Kenntnisse irgend- welcher Art, Sprache, Kunstfertigkeiten, Dressurergebnisse unter keinen Umständen auf die Nachkommenschaft vererbt würden. Diese beiden Unterfragen sollen uns in den beiden nächsten Abschnitten beschäftigen. II. ABSCHNITT. Die Frage nach der Vererbung von Verstümmelungen und Verletzungen. Ich will meine Behandlung dieses Problems mit einem Zitat aus meiner früheren Arbeit über unser Thema einleiten, in dem ich mich da- mals in diesem speziellen Punkte vollkommen an Weismann angeschlossen habe. Ich sagte dort (1907 A, S. 3), ausgehend von der Zeit vor dem Auf- treten Weismanns): „Das Material, welches damals als ‚Beweis‘ für die Vererbung erworbener Eigenschaften angesehen und allgemein zitiert wurde, bestand größtenteils aus einer Sammlung unbeglaubigter Anek- doten: Eine Kuh, welche sich angeblich ihr Horn abgestoßen hatte, warf ein Kalb mit mißbildetem Horn; ein Stier mit verstümmeltem Schwanz produzierte schwanzlose Kälber; eine Frau mit mißgebildetem Daumen er- zeugte Kinder mit ähnlichen Mißbildungen. Ohne Prüfung wurde in allen diesen Fällen angenommen und weiter berichtet, der Defekt bei den be- treffenden Eltern sei durch einen Unfall hervorgebracht worden und den Eltern nicht etwa schon angeboren gewesen oder bei ihnen im postembryo- nalen Leben spontan erfolgt, woraus auch auf eine angeborene Anomalie hätte geschlossen werden können. Gerade worauf es ankam, die sichere Feststellung des Unfalls, der traumatischen Erwerbung der Fehlbildung bei den Eltern fehlte durchweg, und hier konnte die berechtigte Kritik Weis- manns einsetzen und eine große Masse Spreu aus der wissenschaftlichen Literatur und den Köpfen der Fachleute und Laien fortfegen. Oben- drein bewies er noch auf experimentellem Wege, dal man ganze Reihen 1) Wie kritisch sich übrigens auch in dieser Frage von Anfang an Charles Darwin verhalten hat, kann man daraus ersehen, daß er in seinem Essay von 1844 gleich in dem einleitenden Kapitel folgendes schrieb: „Es liegt kein hinreichender Grund zu der Annahme vor, daß, sei es Verletzungen, sei es Deformationen durch mechanischen Druck, selbst wenn durch Hunderte von Generationen fortgesetzt, oder daß irgendwelche durch akute Krankheiten hervorgerufene Veränderungen vererbt werden.“ (Fundamente zu Ch. Darwins Entstehung der Arten, Leipzig 1910.) Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 11 von Generationen in frühester Jugend in bestimmter Weise verstüm- meln kann, ohne daß der so erzielte Defekt dadurch ein erblicher würde. Er tat dies, indem er 22 aufeinanderfolgende Generationen von weißen Mäusen, jedesmal bald nach der Geburt, der Schwänze beraubte. Nicht in einem einzigen Fall wurde ein Junges mit verkürztem oder gar rudimentärem Schwanz geboren. Alles zusammengenommen zeigte Weismann durch seine Kritik und seine Experimente, daß es keinen einzigen be- glaubigten Fall der Vererbung von Verstümmelungen gibt, auch nicht auf solchen Gebieten beabsichtigter und unbeabsichtigter Experimente (Verstümmelung von weißen Mäusen und von Ratten, Verstümmelung der Füße bei Chinesinnen, Beschneidung, regelmäßiges Stutzen der Schwänze bei gewissen Schafen und Hunden), auf denen die Verstümmelung durch lange Reihen von Generationen fortgesetzt worden ist.“ !) !) Ich sehe jetzt, daß ich mit obigem summarischen Urteil über die Vererbung traditionell bzw. rituell geübter Verstümmelungen voreilig gewesen bin. Besonders gilt dies für die Beschneidung, in bezug auf die einiges Material vorliegt, bei dessen Beurteilung ich durch folgende Angaben Weismanns (1892 A S. 526 Anm.) beirrt worden bin: „In bezug auf die Zirkumzision muß dieser Satz dahin erläutert werden, daß zwar aller- dings bei den Völkern mit ritueller Zirkumzision einzelne Kinder mit schwach entwiekeltem Präputium geboren werden, daß dies hier aber nicht öfter vorkommt, als bei anderen Völkern, bei welchen Zirkumzision nicht üblich ist. Ziemlich umfassende statistische Unter- suchungen haben zu diesem Ergebnis geführt. Vgl. den ausführlichen Bericht über die statistische Zusammenstellung von Dr. Ascherson und diejenige von Dr. Ziffer in Budapest, gegeben von Bonnet.“ Aus den Mitteilungen von Bonnet geht aber der hier behauptete statistische Nachweis nicht im entferntesten hervor. Bonnet sagt (1888 [1889], S. 24): „Jedenfalls steht soviel fest, daß bei näherer Untersuchung dort, wo man auf den ersten Anblick gänzlichen Mangel der Vorhaut anzunehmen geneigt ist, nur ein Teil derselben fehlt. Meist ist doch wenigstens das innere Vorhautblatt vorhanden und deckt einen Teil der oberen Seite der Eichel, und Dr. B. H. Auerbach bezeugt, daß er unter vielen hundert Kindern gar manche scheinbar beschnittene, aber nie ein wirklich beschnitten Geborenes mit totalem Defekt der Vorhaut gesehen habe. Auch Dr. Ziffer in Budapest schreibt: Unter 550 bisher vorgenommenen Zirkumzisionen ist mir ein totaler Defekt des Präputiums nur in 2 Fällen vorgekommen ... hingegen kamen partielle Defekte ziemlich oft, etwa 18mal, vor, namentlich in der Form, daß die vordere Öffnung des Präputiums so weit ist, daß es ganz leicht über die Glans reponiert werden kann, oder es war das Präputium auf zwei seitliche Lappen beschränkt. Dieselbe Defor- mität ist auch nach Prof. Dr. Schweinfurth unter der mohammedanischen Bevölkerung Ägyptens nicht unbekannt und es gibt da eine besondere Benennung für diesen ange- borenen Mangel, nämlich tohur-el-meläika= „Beschneidung durch Engel“, eine Be- zeichnung, die wohl an die von den Juden überkommene Tradition anknüpft, nach welcher diese Eigenschaft eine besondere göttliche Bevorzugung bedeute, wie denn auch nach der moslemischen Tradition die drei großen Propheten Musa (Moses), Isa (Christus) und Mohammed beschnitten geboren sein sollen. Den nach alledem bei Juden und Moham- medanern bisweilen vorkommenden Vorhautdefekt mit der Beschneidung in Kausalzu- sammenhang zu bringen, wäre man aber, wie Dr. Ascherson richtig bemerkt, erst dann berechtigt, wenn eine vergleichende Statistik bei unbeschnittenen Völkern, z. B. den christlichen Neugeborenen in Europa, ein erheblich selteneres Vorkommen des fraglichen Mangels nachweisen würde.“ Wir sehen aus diesem Zitat, daß eine vergleichende Statistik, ausderein gleich häufiges Vorkommen eines Vorhautdefektes bei beschnittenen und bei unbeschnittenen Völkern hervorginge, ent- 12 R. Semon. Der Grund, warum ich mich, als ich jene Worte schrieb, in diesem Punkte so bedingungslos an Weismann angeschlossen habe, liegt in dem Eindruck, den sein experimenteller Beweis auf mich gemacht hatte, der durch ähnliche Versuchsergebnisse von Ritzema Bos (1891), J. Rosenthal (1891) und, wie mir durch Privatmitteilungen bekannt, Preyer bestätigt worden ist. Ich hielt diese Experimente für überaus beweiskräftig. In dieser Auffassung bin ich aber mittlerweile durch gewisse Resultate der Unter- suchungen Towers (1906) erschüttert worden. Die Towersche Arbeit wird von uns unten im sechsten Abschnitt genauer analysiert und gewürdigt werden. In dem uns jetzt beschäftigenden Zusammenhang fassen wir nur die in ihr mitgeteilte wichtige Entdeckung ins Auge, daß bei der Käfergattung Leptinotarsa, der der Coloradokäfer angehört, die Keimzellen eine „sensible Periode“ durchmachen. Während dieser können sie durch Reize verhältnismäßig leicht und nachhaltig, das heißt vererbend beeinflußt werden. Die sensible Periode der Eizellen von Leptinotarsa — für die männlichen Keimprodukte ließ sich bisher keine so scharfe Abgrenzung finden — ist die Zeit ihres Wachstums und ihrer Reifung im Imagosta- dium. Es lieet nun die Möglichkeit vor, daß auch die Keimzellen der Wirbeltiere eine sensible Periode besitzen, und daß auch bei ihnen dies die Zeit der Reifung ist. Wir kommen hierauf später noch zurück und werden dann einige experimentelle Tatsachen kennen lernen, die dafür sprechen. Wenn auch zuzugeben ist, daß eine sensible Periode für die Keimzellen der Wirbeltiere noch nicht sicher nachgewiesen ist, hat man doch die Möglichkeit ihres Vorhandenseins zu berücksichtigen und diese bei der Anstellung der Experimente und der Verwertung ihrer positiven wie negativen Ergebnisse in Rechnung zu stellen. Von diesem neuen Gesichtspunkt aus ist deshalb eine Wiederholung der Verstümmelungsexperimente unter veränderter Versuchsanordnung ab- solut notwendig, denn sowohl Weismann als auch Ritzema Bos, Rosenthal und Preyer haben die Traumen immer möglichst bald nach der Geburt gesetzt und keiner von ihnen hat sich dazu die Zeit vor oder während der Reifung der Keimprodukte ausgesucht. Nun könnte man einwenden, bei den betreffenden Eltern sei ja die Verstümmelung stets auch während der Zeit der Keimzellenreifung aktuell gewesen und somit habe auch zu jener Zeit für die aus dem Defekt resultierenden Erregungen'!) die Mög- gegen der Behauptung von Weismann bis jetzt noch gar nicht vorliegt. Auch die zuweilen zitierte „historische Notiz“ von Roth (1884) enthält nicht die leiseste Andeutung einer solchen, und Virchow hat deshalb später wiederholt die Zusammen- stellung einer zuverlässigen Statistik als ein dringendes Desiderat bezeichnet. Bis es erfüllt ist, raten wir, diese Frage als eine offene zu behandeln. ') Es würde sich bei diesen durch Defekte und Deformationen gesetzten Erregungen um „Erregungsdifferentiale“ handeln, deren nähere Untersuchung ich in der Mneme und den mnemischen Empfindungen unternommen habe, worauf ich hier aber natürlich nicht eingehe. Nur erwähnen möchte ich, daß es dieselben Erregungen sind, die in dem betroffenen Organismus die Reaktionen der Regeneration bzw. Regulation auslösen. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 13 lichkeit bestanden, die Keimzellen zu dieser günstigen Zeit zu beeinflussen, falls eine solche Beeinflussung überhaupt verwirklicht werden könnte. Dem- gegenüber muß man indessen hervorheben, dal) es doch ein großer Unter- schied ist, ob seit dem Eintritt der Verstümmelung ein kurzer oder langer Zeitraum verflossen ist, und ob der Körper, falls er den Defekt nicht hat regulativ beseitigen können, Zeit gehabt hat, sich zu akkommodieren. Jedenfalls ist sehr wahrscheinlich, daß bald nach Setzung des De- fekts die Erregungsreaktion des Körpers viel stärker ist als längere Zeit nachher. Nunmehr, wo ich nicht mehr unter der Suggestion stehe, daß durch die bisherigen Experimente die Frage endgültig im negativen Sinne entschieden sei, sehe ich mich auch genötigt, meine unbedingte Zustimmung zur Weismannschen Kritik des kasuistischen Beweismaterials etwas einzu- schränken. Seine Ablehnung war in sehr vielen Fällen vollkommen berechtigt, und nach wie vor bin ich der Ansicht, daß niemals einzelne zufällig zur Beobachtung kommende Fälle, sondern nur planvoll durchgeführte Zucht- experimente einen bündigen positiven Beweis liefern können. Andrerseits kann man meiner Ansicht nach nicht sagen, die Kasuistik spreche aus- schließlich und durchaus gegen das Vorkommen einer Vererbung von Verstiimmelungen. Denn unter den von Weismann zurückgewiesenen Fällen befinden sich doch einige, bei denen seine Zurückweisung sich bei näherem Zusehen auf recht gezwungene Annahmen und Interpretationen gründet. Ich erwähne nur den Fall der durch Frostbeulen bewirkten Mißbildung des Daumens (Weismann 1889; 1892 A,S. 533) und den der traumatischen Mißbildung des Ohrs (Weismann 1889; 1892 A, 8. 535). Ich wiederhole, dal ich weit entfernt bin, derartige Fälle für positiv beweisend anzu- sehen. Ich möchte aber davor warnen, diesen Teil der Frage bereits als endgültig im negativen Sinne entschieden und alles kasuistische Material als a priori widerlegt zu betrachten. Dazu müßte bei Führung des experi- mentellen Beweises die Möglichkeit des Vorhandenseins einer nicht sen- siblen und einer sensiblen Periode der Keimzellen berücksichtigt und die Zeit der Verstümmelung dementsprechend variiert werden. Wie die Dinge liegen, muß ich also unter Modifikation meiner früheren Ansicht diesen Teil der Frage als zur Zeit noch nicht endgültig im nega- tiven Sinne entschieden bezeichnen. Trotzdem halte ich es nach wie vor für sehr möglich, daß die Entscheidung auf diesem Gebiet nach der nega- tiven Seite hin fallen wird. Es arbeiten ja der Vererbung von Defekten bei allen Organismen Kräfte entgegen, die das Bestehenbleiben solcher Defekte oft schon im Individuum selbst verhindern und ihrem Wiederauf- treten in der Nachkommenschaft noch wirksamer begegnen können. Ich habe diesen Antagonismus, in dem das allen Organismen innewohnende Regenerationsvermögen sowohl zu einem Bestehenbleiben als auch zu einer erblichen Reproduktion von Verstümmelungen steht, in meiner früheren Arbeit (1907 A, S. 44) des näheren erläutert und verweise hier auf jene aus- führlichen Ausführungen. Hieraus erklärt sich zweifellos zum grolen Teil 14 R. Semon. die ungeheure Schwierigkeit, dem Regenerationsvermögen zum Trotz durch Verletzungen erbliche Effekte zu erzielen. Die Entscheidung, ob es sich da bloß um eine Schwierigkeit oder ob es sich um eine Unmöglichkeit handelt, kann wie gesagt nur durch neue, sich über alle Perioden der Keimzellen- entwicklung erstreckende Experimente erzielt werden. Auf diejenigen Verletzungsexperimente, bei denen ein positives Er- gebnis insofern erzielt worden ist, als zwar nicht die Verletzung selbst, aber doch eine an die Verletzung sekundär anschließende Reizwirkung ver- erbt wurde, gehe ich an dieser Stelle nicht ein; ihrer Darstellung ist unten ein besonderer Abschnitt gewidmet. II. ABSCHNITT. Vererbbarkeit bzw. Nichtvererbbarkeit von Sprache, Kenntnissen, Dressurergebnissen usw. Es gibt außer dem eben besprochenen noch ein zweites Gebiet, auf dem eine Nichtvererbung erworbener Eigenschaften sich sozusagen mit Hän- den greifen läßt, und, was mehr ist, das Ausbleiben jeder Spur einer solchen Vererbung unter allen Umständen eine Regel ohne Ausnahme sein soll: unsere Sprache, unsere im individuellen Leben erworbenen Kenntnisse, die technischen, künstlerischen, sportlichen Fertigkeiten, die wir uns ange- eignet haben, vererben wir, wie man hervorhebt, nicht auf unsere Nach- kommen. Für uns, das heißt in gleicher Weise für den Kulturmenschen wie für die Naturvölker, trifft dies wenigstens insoweit zu, als eine untrüg- liche Manifestation derartiger Vererbungen in Frage kommt. Wir müssen aber berücksichtigen, daß beim Menschen die Dinge in dieser Beziehung ganz eigenartig liegen. Die menschliche artikulierte Sprache, selbst die der einfachsten Naturvölker, ist nicht nur ein sehr kompliziertes, sondern vor allem ein äußerst plastisches Gebilde, dessen Handhabung ungeheure Spezialkenntnisse voraussetzt. Bei ihrer erblichen Übermittlung könnte es sich nicht etwa bloß um die Mitgabe von einigen tausend Worten han- deln, sondern unumgängliche Voraussetzung wäre dabei eine genaue und unterscheidende Kenntnis der gesamten Umwelt und der gegenseitigen Beziehung aller ihrer Komponenten. Die Vielseitigkeit, ungeheure Zahl und besonders die Plastizität der menschlichen Verrichtungen ist überhaupt einer fix und fertigen erblichen Übermittlung äußerst ungünstig. Das Kind, das alles oder auch nur das meiste von Dem können oder wissen würde, was seine beiden Eltern, 4 Großeltern, 8 Urgroßeltern, 1024 Mitglieder seiner zehnten Vorfahrengeneration usw. gelernt und erfahren haben, wäre ein unmögliches Wesen, das bei der ungeheuren Menge der von jedem ein- zelnen Individuum hinzugewonnenen verschiedenartigen Erwerbungen, in Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 15 der Überfülle ererbter Kenntnisse und Fertigkeiten sozusagen ersticken müßte. Immerhin bleibt auch beim Menschen die Frage offen : wird von diesen Dingen gar nichts vererbt? Oder verhält es sich nicht vielmehr so wie Forel (1910, S. 382) die Sache darstellt: „Im großen menschlichen Gehirn werden überhaupt keine fertigen Instinkte mehr erblich mnemisch aufge- baut, sondern nur Anlagen, die immer noch einige gewisse Plastizität besitzen und mehr oder weniger große individuelle Übung erfordern. Aber mit solehen Anlagen ist das Menschenhirn in der Tat auf das reichlichste ausgestattet.“ Wenden wir uns nun aber vom Menschen, wo in bezug auf die Masse und die Plastizität des zu vererbenden ganz enorme Ansprüche gestellt werden würden, zu den Tieren, bei denen es sich um viel einfachere und einförmigere Erwerbungen handelt, so treten hier schon ganz andere Tat- sachen zutage. Was zunächst die natürlich unartikulierte Sprache der Tiere anlangt, so besteht kein Zweifel, daß dieselbe zum großen Teil wenig- stens durch Vererbung übermittelt wird. Was den eigentlichen Gesang der Vögel anlangt, so liegen Beobachtungen vertrauenswürdiger Forscher vor, daß unter Umständen auch der nie im individuellen Leben gehörte Ge- sang der eigenen Spezies von isoliert aufgezogenen Individuen reproduziert wird. „Couch berichtet in seinen ‚Illustrations of Instinet‘, daß er einen Stieglitz kannte, der noch nie den Gesang seiner Artgenossen gehört hatte, und ihn doch, obwohl zaghaft und unvollkommen, produzierte. Und Oberst Montagu erzählt von der Provence-Grasmücke (Sylvia undata), dal) junge Männchen dieser Spezies, die unflügge aus dem Nest entfernt worden waren, mit dem Sprossen ihrer ersten Federn zu singen begannen und ihren Gesang den ganzen Oktober hindurch manchmal stundenlang ohne Unterbrechung fortsetzten. Die Melodie war die diesem Vogel natürliche und sehr abwechslungsreiche, doch wurde sie in einem schnellen Tempo und viel leiser als Montagu sie je von alten Vögeln in ihrer natürlichen Umgebung gehört hatte, wiedergegeben.“ !) Es wäre sehr verdienstlich, dies- bezügliche Experimente mit aller Schärfe durchzuführen und dadurch den Tatbestand über jeden Zweifel sicherzustellen.°) Was die sonstige Sprache !) Zitat aus Lloyd Morgan, Instinkt und Gewohnheit, Leipzig 1909, S. 200. ®) Eine Beobachtungsreihe, die ebenfalls unbedingt erneute experimentelle Nach- prüfung verdient, ist die des als besonders zuverlässig bekannten Naturforschers Lenz, der an zwei aus dem Horst entnommenen und von ihm aufgezogenen Exemplaren des Mäusebussards, Buteo vulgaris beobachtet hat, daß seine Pfleglinge Blindschleichen und Ringelnattern ohne jede Vorsicht angriffen und töteten, sich aber in höchst ausgesproche- ner und auffälliger Weise anders benahmen, als sie zum erstenmal mit Kreuzottern in Berührung kamen. „Es war mir äußerst merkwürdig, daß diese Vögel, welche schon oft große Schlangen und Ratten bekämpft hatten, durch einen wunderbaren Naturtrieb geleitet, die Giftschlange sogleich erkannten... .. Ich hatte schon erprobt, daß sie Stückchen Kreuzotterfleisch begierig fraßen, daß ihnen das Gift nicht innerlich schadete; der Geruch der Kreuzotter konnte es auch nicht sein, der sie schrecekte, denn der Bussard 16 R. Semon. der Vögel betrifft, die verschiedenen Signale, mit denen sie sich rufen, durch die sie ihre Zufriedenheit ausdrücken, sich warnen, so kann nach dem Urteil des ebenso erfahrenen wie vorsichtigen Lloyd Morgan (a.a. 0. S. 101) .doch kein Zweifel darüber obwalten, daß die von den meisten jungen Vögeln hervorgestoßenen Laute rein instinktiver Natur und daß einige derselben von Anfang an wohldifferenziert sind. Bei dem Küch- lein des Haushuhns unterschied ich wenigstens sechs verschiedene Äuße- rungen“. Auch die Wirkung, die diese Laute der Natursprache auf die jungen Tiere hervorbringen, scheint größtenteils ererbt (oder wie meistens in diesem Zusammenhange gesagt wird „instinktiv“) zu sein und nicht auf indivi- dueller Erfahrung zu beruhen. So machte Hudson die Beobachtung, dal) ein innerhalb der Eischale pochendes Vögelchen sofort verstummt, wenn es die warnende Note des Muttervogels vernimmt. Ich weiß wohl, daß man gerade in bezug auf ererbte Hervorbringung von Warnnoten und auf die ererbte Reaktion auf dieselben den beliebten „Zuchtwahleinwand“ (vgl. meine Arbeit von 1907 A, S. 9—24) machen, das heißt die Entstehung dießer Fähigkeiten lediglich durch Ausleseprozesse von zufällig auftretenden Keimesvariationen erklären kann. Allerdings ist besonders die sofortige Reaktion auf Warnsignale für einen eben ausge- schlüpften Vogel von so großem Nutzen, daß diese Eigenschaft zweifellos Selektionswert besitzt. Anders verhält es sich aber schon mit der fix und fertig angeborenen Hervorbringung dieser und noch anderer Laute durch den Neugeborenen und vollends kann ich den vitalen Nutzen nicht ein- sehen, den der junge Stieglitz, die junge Grasmücke davon hat, daß sie ihr Liedehen schon erblich auswendig kennt, zumal als zu seiner vollkom- menen Ausbildung doch noch individuelles Studium und Nachahmung von im individuellen Leben gehörten Vorbildern nötig ist. Hier kann doch von einer vitalen Bedeutung der fertig übermittelten erblichen Mitgift keine Rede sein, und somit muß der Versuch, diese erbliche Übermittlung der primitiven Sprache lediglich der Zuchtwahl zuzuschreiben, als ein keines- wegs geglückter bezeichnet werden. Ich behaupte nun allerdings nicht, damit sei im Gegenteil ein zwingender Beweis für die Vererbung einer erworbenen Eigenschaft geführt. Ich behaupte nur, dab die Entscheidung noch aussteht, aber in keiner Weise zuungunsten der letzteren Auffassung ausgefallen ist. folgt nie dem Geruche, sondern nur dem Auge; das Auge war es, dessen Scharfblick ihm sogleich den Todfeind verriet.“ Man lese die ganzen, sehr lehrreichen Mitteilungen bei W. O. Lenz, Schlangen und Schlangenfeinde, Gotha 1870. Durch sie scheint mir die oft wiederholte Behauptung widerlegt zu werden, daß eine ererbte Reaktion auf spezialisierte optische Eindrücke (Bildreize) nicht beobachtet wird. Es gibt übrigens noch manche andere Tatsachen, die gegen diese Behauptung sprechen. Ich gedenke auf diese Frage später einmal ausführlich zurückzukommen und sie experimentell weiter zu behandeln. Ich werde dann auch nicht verfehlen, die etwas schwer zugäng- lichen Lenzschen Angaben in extenso wiederzugeben. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 17 Ganz ähnlich verhält es sich in bezug auf die Frage der Vererbung von Ergebnissen der Dressur bei Tieren. So müssen z.B. die meisten Hunde sowohl das Apportieren als auch das feste Vorstehen jedesmal erst mehr oder weniger erlernen. Es gibt aber Individuen und ganze Stämme, die diese Fertigkeiten als fix und fertige erbliche Mitgift mitbekommen und sie bei erster Gelegenheit tadellos ausüben. Man kann nun auch dies darauf zurückführen, dal man annimmt, die Hundezüchter wählten zur Nachzucht bei einigen Jagdhundrassen mit Vorliebe solche Individuen aus, die besondere Fähigkeiten zum Apportieren, bei anderen solche, die be- sondere Fähigkeiten zum Vorstehen als zufällige Keimesvariation mit auf die Welt gebracht hätten. Diese Erklärung hat aber einen schwachen Punkt. Das feste Vorstehen unter Verzicht auf das eigene Ergreifen des Wildes, wie es wirklich guten Vorstehhunden eigen ist, ist etwas der natürlichen Jagdart der Caniden so wenig Entsprechendes, etwas so auf das gemeinsame Jagen von Schützen und Hund Zugeschnittenes, daß das spontane Auftreten von Instinktvariationen in dieser Richtung, von denen doch die Auslese des Züchters ihren Ausgang hätte nehmen können, eine ziemlich unwahrscheinliche Annahme ist. Dasselbe gilt in nahezu, wenn auch nicht ganz demselben Grade vom Apportieren. Bei der weiteren Ausbildung dieser Fähigkeiten hat natürlich die Zuchtwahl eine große Rolle gespielt. Am wenigsten scheinen sich mir aber die Fälle von fix und fertig er- erbter Fertigkeit zu „Bitten“ und „Aufzuwarten“, die bei Hunden und sogar Katzen von zuverlässigen Beobachtern festgestellt worden sind), auf „zu- fällige Keimesvariation“ und „Auslese“ zurückführen zu lassen. Es liegt mir fern, solche Fälle bereits als sichere Beweise für eine Vererbung von Dressurresultaten hinzustellen, vielmehr halte ich weitere experimentelle Feststellungen gerade auf diesem Gebiet für notwendig. Aber jedenfalls neigt die Wage doch sehr viel mehr nach der Seite, die für eine solche Vererbung spricht, und von einer Entscheidung im negativen Sinne kann überhaupt nach dem Ergebnis der in obenstehendem Abschnitt gegebenen Übersicht keine Rede sein. Auch hier wird das planvoll durchgeführte Experiment das letzte Wort zu sprechen haben. IV. ABSCHNITT. Wahrscheinlichkeitsbeweise für die Vererbung von funk- tionellen Veränderungen (Wirkung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs). Meiner Ansicht nach kann die definitive Entscheidung der Frage nach der Vererbung der Reiz- und Erregungswirkungen nur auf dem Wege der Experimentaluntersuchung gegeben werden. Und wie wir in den spä- '!) Vgl. die Zusammenstellung bei Lloyd Morgan (1909, S. 329). E.Abderhalden, Fortschritte. II. >) 18 R. Semon. teren Abschnitten sehen werden, reicht das zurzeit vorliegende Material von experimentell festgestellten Tatsachen bereits zur Entscheidung der gestellten Frage aus. Unter diesen Umständen könnte es beinahe über- flüssig erscheinen, auch noch anderes Tatsachenmaterial vorzulegen, bei dem nicht jedes einzelne Glied der Beweiskette einer experimentellen Kon- trolle unterstellt werden kann. Ein solcher Standpunkt wäre aber deshalb höchst einseitig, weil wir mit unseren Experimenten überhaupt nicht oder teilweise vorläufig noch nicht an viele unzweifelhafte Realitäten des Natur- geschehens herankönnen, besonders aus dem Grunde, weil wir dabei mit ganz anderen zeitlichen Faktoren und demgemäß einer außerordentlich viel geringeren Zahl von Generationen arbeiten müssen. Auch hat man nicht selten im Dienste ablehnender Kritik das Argu- ment geltend gemacht. in diesem oder jenem Falle sei eine ungeheure Anzahl von Generationen einer bestimmten Einwirkung unterworfen ge- wesen, ohne daß sich doch eine Spur von erblichem Einfluß dieser Reiz- wirkung erkennen lasse. Wir wollen zunächst einen solchen Fall, bei dem diese Behauptung mit besonderer Zuversichtlichkeit aufgestellt worden ist, einer näheren Untersuchung unterwerfen. Bekanntlich führen die Pflanzen unter dem Einfluß des Lichtes ver- schiedenartige Bewegungen aus, die, sofern sie Reaktionen auf den täg- lichen periodischen Wechsel von Hell und Dunkel, von Tag und Nacht sind, als.tagesperiodische Bewegungen bezeichnet werden. Von diesen Bewegungen wollen wir hier nur die sogenannten Schlafbewegungen (nyk- tinastische Variationsbewegungen) berücksichtigen, und die Periodizität des Längenwachstums, weil auf den uns interessierenden Punkt hin noch nicht hinreichend genau untersucht, aus dem Spiel lassen. Als Ausdruck der Schlafbewegungen ist das nächtliche Herabhängen und die bei Tage erfolgende horizontale Ausbreitung der Bohnenblätter (Phaseolus und Verwandte), das nächtliche Zusammenlegen und die bei Tage erfolgende Ausbreitung der Blattfiederchen von Robinien, Akazien und Mimosen allgemein bekannt. Diese Bewegungen sind bereits seit langer Zeit von De Candolle, Meyen, Dutrochet, Sachs, Hofmeister, Bert und anderen eingehend untersucht worden. Eine feste Basis erhielten unsere Kenntnisse aber erst durch Pfeffers im Jahre 1875 erschienene monographische Bearbeitung der periodischen jewegungen. Als die bestimmenden Faktoren bei der Einnahme der ver- schiedenen Stellungen wurden von ihm die Einflüsse nachgewiesen, die von dem Vorhandensein und dem Nichtvorhandensein des Lichtes, von Hellig- keit und Dunkelheit ausgehen. Darin hat Pfeffer ohne Zweifel Recht ge- habt, und auch sein Satz: „Die mitgeteilten Versuche zeigen unwiderleg- lich, daß die täglichen periodischen Bewegungen den Blättern nicht als historisch gegebene Eigentümlichkeiten zukommen“ (1875, S. 36), kann noch mit dem ausdrücklichen Vorbehalt hingenommen werden, daß man den Nachdruck auf das Wort Bewegung legt und damit das völlig spon- tane Auftreten der Bewegungstätigkeit meint, das etwaige Vorhandensein Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 19 von Bewegungsdispositionen, die zu ihrer Aktivierung noch eines von außen hinzutretenden Anstoßes bedürfen, aber völlig ignoriert. Nun ist es aber unzulässig, letzteres zu tun, wenn man die Erblichkeit bzw. Nichterblich- keit einer bestimmten Eigenschaft festzustellen sucht, und angesichts meiner späteren Resultate in dieser Richtung darf man jedenfalls nicht, wie Pfeffer (1904, S. 492). das Vorhandensein einer „inhärenten Periodizität“ in bezug auf die Tagesperiode schlechthin leugnen oder (ebenda, S. 491) sagen: „Beachtenswert ist, daß die nyktinastischen Nachwirkungen ver- hältnismäßig schnell ausklingen, dal) sie also nicht erblich geworden sind, obwohl sie unter dem Einfluß des Tageswechsels in einer gewaltigen Zahl aufeinanderfolgender Generationen in demselben Rhythmus wiederholt wur- den.“ Die letzte Konsequenz aus der Darstellung, die Pfeffer der Frage der Erblichkeit der Tagesperiodizität gegeben hat, zog Weismann (1892A, S. 488) durch folgenden Ausspruch: „Also auch hier liegt ein Beweis dafür vor, daß Einflüsse, die Tausende von Generationen hindurch eingewirkt haben, keinerlei Eindruck im Keimplasma hinter- lassen haben.“ Auch ich war zunächst nicht nur von der Richtigkeit, sondern auch von der Vollständigkeit von P/effers experimentellen Ergebnissen über- zeugt, fand aber gelegentlich anderer Experimente zu meinem Erstaunen, daß Mimosen und Akazien durch Hell- und Dunkelreize, die in einem vom natürlichen Turnus von 12:12 Stunden stark abweichenden Turnus alternieren, z.B. von 6:6 Stunden oder von 24:24 Stunden, keineswegs ohne weiteres dazu zu bringen sind, ihre Schlafbewegungen nun rein und ausschließlich in dem neuen durch die jetzt wirkenden Reize induzierten Rhythmus auszuführen. Vielmehr erwies sich die unter solchen Umständen auftretende Bewegungs- folge als eine deutliche Kombination des induzierten neuen mit dem in- härenten 12:12stündigen Rhythmus (vgl. die Kurven II—IV in meiner Arbeit von 1905). Und dieses Resultat ergab sich auch bei Keim- pflanzen, die in ihrem individuellen Leben noch niemals einem 12:12stündigen Beleuchtungsturnus ausgesetzt worden waren. Daraus ergibt sich mit Sicherheit eine „inhärente Periodizität“, die in der ererbten Disposition besteht, die Schlafbewegungen in einer 24stün- digen Periode mit 12:12stündigem Turnus auszuführen, auch wenn nie- mals Originalreize in dieser Periodizität auf das Individuum eingewirkt haben, individuell induzierte „Nachwirkungen“ also auszuschließen sind. Zum Teil durch meine Publikation veranlaßt, hat dann Pfeffer seine Untersuchungen über diesen Gegenstand wieder aufgenommen und 1907 eine umfangreiche Arbeit über die Entstehung der Schlafbewegungen der Blattorgane veröffentlicht, in der er sich in umfassendem Maße der von mir zuerst angewandten Methode bedient hat, die Reize auf die Pflanzen in einem der Tagesperiode fremdartigen Turnus (6:6, 24:24, er wandte auch 3:3, 18:6 etc. an) wirken zu lassen. Seine sonstigen Resultate, so interessant sie sind, brauchen uns hier nicht zu beschäftigen. Soweit seine Untersuchungen auf die uns interessierende Frage Bezug hatten, ergaben 2% 20 R. Semon. sie eine vollständige Bestätigung meiner diesbezüglichen Angaben, eine Bestätigung, wie sie angesichts der Tatsache, daß Pfeffer seine Ob- jekte anders vorbehandelte als ich und sich während der Untersuchung stärkerer Reize bediente, überhaupt nicht vollkommener gedacht werden könnte. Denn dieser andersartigen Vorbehandlung und Reizung entsprachen in den Versuchsergebnissen Pfeffers wohl quantitative, aber keinerlei qua- litative Differenzen. So zeigte sich bei seiner Versuchsanordnung an meinem Objekt, der Albizzia lophantha, die Wirksamkeit der ererbten 12:12stün- digen Periodizität nur in Andeutungen, aber sie zeigte sich doch. Noch deutlicher trat sie bei Mimosa Speggazzinii hervor, und bei Phaseolus und Impatiens, Objekten, auf die sich meine Untersuchung nicht erstreckt hatte, trat sie in greifbarster Form in Erscheinung. Ich habe dies in einer zweiten Publikation (1908B) genau dargelegt und in seiner Antwort sagt Pfeffer darüber (1908, 8.395): „Die Möglichkeit, daß den schlaf- tätigen Organen ein heaktionsvermögen zukommt, vermöge dessen sie während eines andersartigen Beleuchtungsrhythmus und ferner bei den Nachschwingungen eine tagesperiodische Bewegungstätigkeit anstreben oder erreichen, habe ich nie bestritten, auch habe ich neuerdings (1907) in diesem Punkte keinen prinzipiellen Widerspruch gegen Semon erhoben. Viel- mehr habe ich die Existenz eines solchen, durch die Eigen- schaften der Pflanze bedingten Strebens in evidenter Weise für die Blätter von Phaseolus festgestellt (1907, S. 357, 424, 441) und somit Semons Auffassung für einen konkreten Fall be- stätigt.“ Diese erbliche Disposition nun ist es, die ich zuerst bei Albizzia auf- gefunden habe, und ihr Vorhandensein, nicht aber das einer erblichen „Bewegungstätigkeit“ schlechthin im Sinne einer spontan unter allen Um- ständen auftretenden Bewegungstätigkeit habe ich behauptet. Die gegen letztere gerichtete Polemik Zfefers ist mithin gegenstands- los. Eine wirkliche Differenz zwischen Pfeffer und mir herrscht nur über die Erklärung des Aufhörens der „Nachwirkungen“ bei konstanter Beleuch- tung oder konstanter Dunkelheit. Diese Meinungsverschiedenheiten sind für die uns hier beschäftigende Frage von sekundärer Bedeutung. Aus- schlaggebend dagegen ist es, daß Pfeffer das Vorhandensein der erblichen Disposition der betreffenden Pflanzen, „während eines anderen Beleuch- tungsrhythmus und ferner bei den Nachschwingungen eine tagesperiodische jewegungstätigkeit anzustreben“, jetzt uneingeschränkt anerkennt. Es ent- spricht also nicht den Tatsachen, wenn Weismann diesbezüglich sagt (1909, 8. 6): „Die Versuche Semons an Pflanzen sind nach dem Urteile des Botanikers Pfeffer nicht richtig“ oder Lang (1909, 8.69) den Wider- spruch des auf diesem Gebiete zweifellos kompetentesten Beurteilers Pfeffer geeven mich ins Feld führt. Ganz im Gegenteil haben die Nachunter- suchungen Pfeffers, wie wir sahen, zu einer vollständigen Bestätigung Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. > dieser meiner Angaben und Auffassungen geführt, und eine unrichtigere Information, wie sie hier von Lang und besonders von Weismann ge- geben wird, ist wohl kaum denkbar. Pfeffer macht an einer Stelle eine gewisse Einschränkung, indem er sagt (1908, 8.397): „Da aber diese besondere Disposition zur Erzielung der Schlafbewegungen auch nach Semon (1908, 8. 234) nicht notwendig ist, so kommt ihr gar nicht eine generelle, fundamentale Bedeutung zu (vgl. Pfeffer, 1907, 8. 442).“ An der von Pfeffer zitierten Stelle sowie auch schon in meiner ersten Publikation (1905, S. 252) hatte ich in dieser Beziehung gesagt: „Denken wir uns bei den betreffenden Pflanzen nun die Disposition (die erbliche Komponente des 12:12stündigen Rhythmus) ganz hinweg, d.h. versetzen wir in Gedanken diese Pflanzen mit sonst denselben physiologi- schen Eigenschaften, demselben Verhalten gegen Originalreize, aber ohne die erbliche Mitgift der 24stündigen (12:12stündigen) Khythmik unter die natürlichen Bedingungen, so werden sie sich ohne diese Disposition genau ebenso verhalten wie mit derselben.“ Diese unter normalen äußeren Bedingungen bestehende Bedeutungslosigkeit macht diese erbliche Disposi- tion aber besonders wertvoll für unsere Frage, denn sie entzieht dem ebenfalls bereits von Weismann (1906, 8.16) gemachten Einwand den Boden, daß sie wahrscheinlich als nützlich durch Zuchtwahl herangebildet worden sei. Als funktionell bedeutungslos besal) sie natürlich keinen Selek- tionswert und kann deshalb, wie ich 1907 A, S. 10—18 ausgeführt habe, nie und nimmer als Produkt der Zuchtwahl angesprochen werden. Unter allen Fällen, in denen nicht jeder Schritt experimentell her- beigeführt und kontrolliert werden kann, scheint mir im vorliegenden also der Wahrscheinlichkeitsbeweis am überzeugendsten in dem Sinne durch- geführt, daß nicht, wie Weismann früher meinte, „Einflüsse, die Tausende von Generationen hindurch eingewirkt haben, keinerlei Eindrücke im Keim- plasma hinterlassen haben“, sondern daß das Gegenteil der Fall ge- wesen ist. Ganz ähnlich steht es mit Weismanns Widerspruch gegen die Mög- lichkeit einer Vererbung alles dessen, was man bei Tieren als Gewohnheit bezeichnet. Gewohnheiten können sich nicht vererben, folglich darf kein Instinkt als ererbte Gewohnheit, sondern einzig und allein als Zuchtwahl- produkt angesehen werden, das ist das Leitmotiv, das er variiert und durch verschiedene Argumente zu belegen sucht. Der Kern der Beweisführung ist immer der: in diesem oder jenem kann ein bestimmter Instinkt nicht (besser: nicht ausschließlich) als ererbte Gewohnheit angesehen werden, folglich darf überhaupt kein Instinkt als ererbte Gewohnheit angesehen werden. Der lehrreichste und auch bezeichnendste Fall in dieser Richtung ist der der sog. Neutra der sozialen Insekten. Bekanntlich kommen bei vielen sozialen Insekten, z. B. den Termiten, Ameisen, Bienen, Meliponen, Hum- meln neben den in normaler Weise ihre Geschlechtsfunktion ausübenden 22 R. Semon. Weibchen oder Königinnen noch andere Weibchen vor, die eine mehr oder weniger hochgradige Verkümmerung ihrer Geschlechtsorgane und damit auch ihrer Geschlechtsfunktionen zeigen. Sie werden als Arbeiter bzw. Sol- daten bezeichnet und sind nicht nur durch gewisse körperliche, sondern auch durch bestimmte Instinktmerkmale ausgezeichnet. Weismann nahm an, daß sie durchgehend steril seien und argumentierte folgendermaßen: Die besonderen Instinkte der Neutra können deshalb nicht ererbte Ge- wohnheiten sein, weil ja diejenigen, die diese Instinkte ausüben, d.h. die Neutra, aus dem Zeugungskreis der Art ausgeschlossen sind. Folglich können die betreffenden Instinkte hier nur Zuchtwahlprodukte aus dem Material zufälliger Keimesvariation sein. Folglich sind alle Instinkte aus- schließlich Zuchtwahlprodukte. Die Diskussion über diese logisch durchaus nicht einwandfreien Schlußfolgerungen nimmt in den Auseinandersetzungen zwischen Herbert Spencer (1895A, 1893B, 1894) und Weismann (1893, 1894A, 1894B) einen breiten Raum ein. In der Mnemet) habe ich dann darauf aufmerksam gemacht, dab die Hauptvoraussetzung Weismanns insofern hinfällig ist, als die soge- nannten Arbeiter der Bienen und Ameisen zwar in ihrer Sexualität ge- schmälert (z. B. durch Verlust der Begattungsfähigkeit), doch durchaus nicht vollständig aus dem Zeugungskreis der Art ausgeschlossen sind. Daß Arbeiterinnen unbefruchtete Eier legen, die ihre volle Entwicklung zu normalen Insekten durchmachen, ist ein sehr viel häufigeres Vorkommnis als man früher gewußt hat. Ich habe a. a. O. in dieser Beziehung auf die neueren Entdeckungen von Reichenbach und Miss A. M. Fielde über eierlegende Arbeiterinnen von Lasius niger, Camponotus pietus und Formica argentata aufmerksam ge- macht. Ähnliches geht für die Arbeiter der Termiten aus den Beobach- tungen von Silvestri und für ihre Soldaten aus denen von Grassi hervor, und der Termitenforscher Escherich (1909, S. 51) bezweifelt nicht, dab solche Fälle sich stark mehren werden, wenn man diese Fragen einmal eingehender studieren wird. Was endlich die Bienen anlangt, so herrscht vollständige und ausnahmslose Sterilität der Arbeiterinnen nur bei einer Form, nämlich unserer Honigbiene, Apis mellifica, und selbst bei ihr finden sich bei der ägyptischen Varietät (Apis mellifica-faseiata) gewöhnlich noch in jedem Stock neben der Königin eierlegende Arbeiterinnen. Dazu kommt, daß, wie v. Buttel-Reepen (1903) angibt, bei der Honigbiene die Haupt- instinktveränderung auf Seiten der Königin liegt, „die von ihrer Höhe herabsinkt, fast alle die ihr eigentümlichen Instinkte verliert und nur noch Eierlegmaschine wird, während die Arbeiterinnen alle Instinkte ihres früheren Weibehentums behalten, also die Bau- und Fütter- resp. Sammelinstinkte usw., und nur den Begattungstrieb einbüßen“. Wenn 1) Mneme, 1904, 1. Aufl., S.289—292; 1908, 2. Aufl., S. 307—311. Wie ich nach- träglich gefunden habe, hat Kassowitz bereits früher (1899, S. 321, 380) diesen Gesichts- punkt hervorgehoben. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 23 sie, wie v. Buttel-Reepen hinzufügt, auch einige neue Instinkte hinzuge- wonnen haben, z. B. die sogenannte „Anhänglichkeit“ an die Stockmutter und die ganz besondere, abweichende Pflege derselben, so hat höchstwahr- scheinlich die Ausbildung dieser neuen Instinkte eingesetzt, lange bevor ein so völliger Ausschluß der Arbeiterinnen aus dem Fortpflanzungskreis der Art durchgeführt war, wie wir ihn jetzt bei einigen Varietäten von Apis mellifica aber einzig und allein auch hier finden. Übrigens habe ich immer (vgl. Mneme 1908A, 8. 309) die Möglichkeit offen gehalten, dab auch nach Eintritt der Sterilität eine Weiterbildung der sterilen Reihe dergestalt stattfinden kann, daß der ganze Stock oder Staat als solcher, nicht sein einzelnes Mitglied, als Zuchteinheit bei der natürlichen Auslese figuriert, wie dies von Darwin am Ende des Kapitels über den Instinkt in der Entstehung der Arten so einleuchtend auseinandergesetzt worden ist. Die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl (die allerdings keine „Allmacht ist“, wie Weismann behauptet) schätze ich sehr hoch ein. Die Zuchtwahl im Darwinschen Sinne ist aber ein Faktor, der erbarmungslos mit Sein oder Nichtsein, Werden oder Nichtwerden arbeitet, die von ihm ausgebildeten Eigenschaften müssen dementsprechend vitale Bedeutung, Selektionswert besitzen, und jedenfalls muß man überall da das Zuchtwahl- prinzip aus dem Spiel lassen, wo sich jeder Selektionswert einer Eigen- schaft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen läßt. Einen solchen Fall haben wir eben in der von uns studierten Disposition für die 12:12stündige Periodizität (Tagesperiode) kennen gelernt, für die man jeden Selektionswert mit einer, wie mir scheint, vollkommenen Sicherheit ausschließen kann. Hier handelt es sich um eine Disposition zu einem Be- wegungsrhythmus bei Pflanzen. Es gibt aber auch ererbte Bewegungstolgen bei Tieren, in bezug auf die dies mit nahezu, wenn auch nicht ganz der- selben Sicherheit geschehen kann. In diesem Sinne habe ich in meiner früheren Arbeit (1907 A) den Instinkt junger unerfahrener Stubenhunde an- geführt, beim Niederlegen auf dem blanken Fußboden oder Teppich das Lagermachen im Grase zu markieren, indem sie die Pantomime des Nieder- tretens des Grases und des Ebnens der so entstandenen Mulde mit dem Hinterteil mit größter Ausdauer, aber natürlich ohne jeden wirklichen Erfolg wiederholen, ehe sie sich hinlegen. Ich zeigte damals bereits, dal) dieser Instinkt als feste erbliche Mitgift unmöglich durch die erbarmungslos mit Leben und Tod arbeitende Zuchtwahl seine Ausbildung erhalten haben konnte, und erinnerte daran, daß sie, einmal entstanden, nach Weismannschen Anschauungen längst wieder durch „Panmixie“ hätte zerstört werden müssen, nachdem durch die Bedingungen der Domestikation die ganze Prozedur längst ihren Sinn verloren hatte, zu einer fast komischen Reminiszenz ge- worden und somit der Kontrolle der natürlichen Zuchtwahl seit ungezählten (senerationen entrückt worden war. Hier finde noch ein zweiter Fall kurze Erwähnung. Charbonnier und Lloyd Morgan (1896; 1909, S. 109) haben beobachtet, daß junge von 24 R. Semon. Menschen aufgezogene Elstern und Häher, wenn ihnen in ihrem Käfig zum erstenmal eine Schüssel mit Wasser vorgesetzt wurde und sie mit dem Schnabel die Oberfläche des Wassers berührten, außerhalb der Schüssel und ohne überhaupt ins Wasser gegangen zu sein, alle Gesten durchmachen, die ein Vogel beim Baden auszuführen pflegt: sie duckten ihren Kopf, flatterten mit den Flügeln und dem Schwanze, hockten sich hin und spreizten sich. Auch hier konnte ich (1907 A, S. 19, 20) gegen die Einwände Weismanns nachweisen, daß es sich dabei offenbar um eine ererbte Gewohnheit von keineswegs vitaler Bedeutung handelt, und daß der Versuch, für dieselbe einen Selektionswert festzustellen, mib- lungen ist. jisher haben wir in dem vorliegenden Abschnitt nur Fälle der Ver- erbung solcher funktioneller Abänderungen behandelt, die sich durch Be- wegungen irgendwelcher Art, durch Tätigkeiten manifestieren. Es gibt aber auch außerordentlich zahlreiche Belege für die Wirkung des Gebrauchs bzw. Nichtgebrauchs, die sich uns auf strukturellem Gebiet offenbaren. Ich will aus dieser großen Zahl hier zunächst auf einen besonders lehrreichen Fall eingehen, den wir den fein angelegten und ausgeführten Experimenten von Braus (1906) verdanken. Bei den meisten Frosch- und Krötenlarven entwickeln sich die vor- deren Extremitäten nicht an der äußeren Oberfläche des Körpers, sondern in einer besonderen Tasche, welche von den beiderseitigen Kiemendeckeln gebildet und Kiemensack (Peribranchialraum) genannt wird. Zur Zeit der Metamorphose durchbrechen dann die unter diesem Verschluß bereits weit entwickelten Ärmchen die Wand ihres Gefängnisses, so dab sie wie aus kurzen Ärmeln hervorragen. Dieser Durchbruch macht durchaus den Ein- druck des Gewaltsamen, sowohl durch die Art, wie sich der Ellenbogen heraus und beim Befreiungsakt vordrängt, als auch wegen der oft bedeuten- den zeitlichen Verschiedenheit des Durchbruchs auf der rechten und auf der linken Seite, als auch endlich wegen verschiedener Eigentümlichkeiten des mikroskopischen Befundes. Die Frage, ob die Extremität imstande ist, sich an jeder beliebigen Stelle — nicht nur an der Stelle ihres normalen Durchbruchs — ihren Weg durch das Integument zu bahnen, löste Draus durch Transplantations- versuche, indem er Extremitätenanlagen bei Unkenlarven (Bombinator igneus) unter eine künstlich aufgehobene Hautlamelle verpflanzte. Nach Heranwachsen der Extremität wurde alsdann ein ganz ähnlicher Durch- bruch beobachtet, wie er bei normalem Einschluß im Peribranchialraum zu erfolgen pflegt. Hierdurch wird bewiesen, daß zum Durchbruch der vorderen Extremitäten eine Vorbereitung durch spontane Lochbildung seitens der umschließenden Wand durchaus nicht notwendig ist, eine Prädisposition für eine solche also auch keinen Selektionswert besitzen kann. Wie verhält sich nun aber, wenn man die Ausbildung einer vorderen Extremität beizeiten operativ unterdrückt, die dem Defekt gegenüberliegende Stelle des Peribranchialraums? Die Experimente von Braus (1906, S. 522) Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 97 ergaben hier das außerordentlich interessante Resultat, „daß Larven ohne vordere Extremität mit übrigens intaktem Kiemendeckel und unter sonst ganz gleichen Bedingungen wie bei normalen Bombinator-Embryonen eine verdünnte durchscheinende Stelle im Kiemendeckel und innerhalb derselben ein Perforationsloch erhalten. Das letztere ist allerdings kleiner als das gewöhnliche, aber für eine Sonde frei zu- eäneig. Es kann auch gelegentlich fehlen; die verdünnte Partie im Kiemen- deckel wurde jedoch auch in diesem Fall mit großer Deutlichkeit wahr- genommen.“ Das heißt also: ohne dal in diesen Fällen ein Druck seitens der Ex- tremität ausgeübt worden sein kann, da diese ja fehlt, und ohne daß andrer- seits die spontane Lochbildung zum Durchbruch der Extremität notwendig ist, also ohne dal) sie Selektionswert besitzt, erfolgt sie dennoch in mehr oder weniger vollkommener Weise unter allen Umständen. Wir haben hier auf strukturellem Gebiet den Fall einer Disposition, der in seiner Beweiskraft wegen Ausschließbarkeit des Zuchtwahleinwandes dem Fall der Disposition zum Rhythmus der Tagesperiode bei Pflanzen nahekommt, und auch von braus, der alle in Betracht kommenden Faktoren und Erklärungsmöglich- keiten in seiner Arbeit auf das genaueste analysiert hat, als „Reminiszenz an früher einmal stattgehabte Mechanomorphosen“, also als Ausdruck der Vererbung einer ererbten Reizwirkung aufgefaßt wird. Ich will hier nur kurz einen anderen Fall erwähnen, der zwar nicht so scharf umschriebene Anhaltspunkte liefert wie der Braussche, dafür aber dem Gebiet unserer eigenen persönlichen Erfahrung näher liegt. Die Haut unserer Fußsohle zeigt eine ungleich stärkere Verhornung als andere Hautstellen, die keinem so häufigen und starken mechanischen Druck aus- gesetzt sind. In der Gegend des stärksten Druckes, an Ballen und Ferse, ist diese Verhornung am bedeutendsten und führt bei erwachsenen Männern, besonders wenn sie viel gehen und ein bedeutendes Körpergewicht besitzen, oft zur Bildung einer mächtigen Hornschwiele. Hört der Druck dauernd auf, wie es z.B. bei jahrelanger Bettlägerigkeit der Fall ist, so nimmt die Dicke der Hornschicht wieder ab; Kinder, je jünger sie sind, zeigen um so weniger von dieser Verhornung. Dieses Merkmal entfaltet sich also durchaus in gleichem Schritt mit dem durch die Funktion geübten mecha- nischen Druck, und niemand wird widersprechen, wenn man diese Schwielen- bildung am Fuß (ebenso übrigens auch an der Hand des Arbeiters, des Ruderers oder an anderen häufigem Druck ausgesetzten Körperstellen) als ein unmittelbares Reaktionsprodukt des Hautgewebes auf mechanischen Druck bezeichnet, das sich mit der Stärke der Einwirkung und der Länge ihrer Dauer proportional verändert. Bei äußerlicher Untersuchung der Haut der Fußsohle vor dem Ein- tritt der Funktion, also beim Neugeborenen und noch nicht gehenden Säugling, läßt sich keine Spur dieses Verhornungsprozesses erkennen. Die Haut ist weich und von anderen Hautpartien scheinbar nicht verschieden. Verhielte sich das nun wirklich so, so würde dies ein sehr bemerkenswerter 265 R. Semon. IV Fall von Nichtvererbung einer beständig während ungezählter Generationen aufgetretenen funktionellen Veränderung bedeuten. Nun hat bereits der alte Anatom Albinus den ihn selbst überraschen- den Fund gemacht, daß die Haut der Fußsohle und des Handtellers im Fötalleben die Haut anderer Körperstellen an Dicke übertrifft. Obwohl dieser Befund öfters zitiert worden ist, ist doch bisher eine genauere mikroskopische Untersuchung unterblieben, und in der modernen embryo- logischen und histologischen Literatur habe ich vergeblich nach präzisen Angaben gesucht, ja ich habe in dieser Spezialliteratur sogar jede Er- wähnung der Tatsache vermißt. Ich habe deshalb diese Frage eingehender untersucht und gefunden, dal der Verhornungsprozeß schon vom 5. Monat des Fötallebens an in seinen Abstufungen auf das genaueste den durch die funktionelle Inanspruchnahme vorgezeichneten Bahnen folgt, und daß sich bei genauerem Studium dieser Abstufungen bei einem und demselben Individuum sowie dem Vergleich zahlreicher Individuen auf entsprechen- den Entwicklungsstadien Gesichtspunkte ergeben, die den Ausschluß des Zuchtwahleinwands gestatten. Auf eine genauere Darstellung möchte ich aber hier verzichten, weil ich demnächst über meine Befunde in einer beson- deren durch Abbildungen illustrierten anatomischen Studie berichten werde. Alle die bisher besprochenen Fälle, mögen sich nun die ererbten Disposi- tionen in funktionellen oder strukturellen Eigentümlichkeiten manifestieren, haben das Gemeinsame, dal) die Veränderungen, um die es sich dabei han- delt, durch das Vorhandensein bestimmter Erregungen induziert worden sind, dal) sie, wo es sich um funktionelle Veränderungen handelt, Wirkungen des Gebrauchs sind. Nun ist es aber eine bekannte Tatsache, daß auch der Nichtgebrauch von Organen, die Nichtbetätigung von Funktionen zunächst einmal beim Individuum selber, bei dem dieser Fortfall stattfindet, eine abändernde Wirkung ausübt. Erworbene Fertigkeiten gehen z. B. bei Nichtge- brauch allmählich wieder verloren, und es ist geradezu erstaunlich, wie rasch die Gebrauchsfähigkeit eines Muskels leidet und ein struktureller Rückgang des- selben eintritt, wenn er auch nur 4 bis 6 Wochen lang durch einen Gipsverband gänzlich außer Funktion gesetzt wird. Es gibt eine große Anzahl von Beobach- tungstatsachen, die meiner Ansicht nach nur die eine Deutung zulassen, dal diese Wirkung des Nichtgebrauches dann, wenn sie durch eine sehr große An- zahl von Generationen akkumuliert wird, sich auch erblich bemerkbar macht. Aus dem äußerst umfangreichen Tatsachenmaterial, das man an- führen könnte, erwähne ich hier nur beiläufig die interessanten Befunde von Cunningham (1892, 1895) über das Verschwinden des Pigments von der Unterfläche der Flachfische, das sogar dann noch eine gewisse Zeit lang andauert, wenn man die sich entwickelnden Tiere an den betreffen- den, normalerweise der Lichtwirkung entzogenen Stellen zwangsweise dem Lichte aussetzt. Zur ausführlicheren Darstellung wähle ich aber nur die Resultate zweier in großartigestem Maßstabe durchgeführter Naturexperi- mente aus: die teilweise oder völlige Rückbildung der Augen infolge von Nichtgebrauch, die wir bei einem großen Teil der Bewohner der Tiefsee Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 27 und bei der Mehrzahl der Bewohner von lichtlosen Grotten und Höhlen beobachten. Was die Tiefsee anlangt, so treten uns unter den Vertretern der Fauna des Tiefseegrundes eine große Anzahl von Formen entgegen, bei denen sich alle Stadien der Verkümmerung der Augen bis zu ihrem gänz- lichen Verlust auffinden lassen. Unter den Urustaceen ist es bei einigen, z.B. bei den Eryoniden, zu einem Verschwinden jeder Spur von Sehorgan und Augenstiel gekommen. Bei anderen, so den Galateiden der Tiefsee, sind die Augen äußerlich noch wohlerhalten und nur etwas pigmentarm. (Genauere anatomische Untersuchung zeigt aber eine so bedeutende Ver- änderung ihres inneren Baus, daß daraus ihre Funktionsunfähigkeit als Seh- organ hervorgeht, und sie als solches nicht mehr bezeichnet werden können. Bei den Tiefseekrabben lassen sich nach Dojlein (1903, 1904) je nach der Spezies beziehungsweise auch je nach Standortsvarietät sehr ver- schiedene Grade der Augenrückbildung nachweisen. Bei solchen Formen, welche durch Vermittlung ihrer freischwimmenden Larven in jeder Gene- ration die Möglichkeit haben, mit dem Licht in Berührung zu gelangen, erfolgt nach diesem Autor keine stärkere Rückbildung der Augen. Weitgehender Rückbildung begegnet man auch bei den Grundfischen der Tiefsee. Unter den pelagischen Tiefseeformen ist dagegen eine Verkümme- rung der Augen viel weniger allgemein; immerhin wird sie bei vielen Crustaceen (Halocypriden, vielen Amphipoden, Sergestiden, pelagischen Eryoniden) beobachtet. Bei anderen pelagischen Tiefseeformen, die den verschiedensten Tier- stämmen, wie Crustaceen, Cephalopoden, Fischen, angehören, tritt uns da- gegen etwas anderes entgegen: die besonders hohe Ausbildung des Seh- organs zum „Teleskopauge“ und ähnlichem. Sie wird erklärlich durch die Tatsache, daß in der Tiefsee trotz der Abwesenheit allen Tageslichts doch keineswegs ein absolutes Dunkel herrscht, oder besser, daß in der dort herrschenden Nacht an vielen Stellen der Schein der zahlreichen, teilweise mit besonderen Leuchtorganen versehenen Organismen aufleuchtet. Die Augen der Tiefseebewohner sind also sei es zu Schutz oder zu Trutz diesen ganz besonderen Beleuchtungsverhältnissen durch beson- ders hohe Ausbildung (z. B. Teleskopauge) angepaßt worden, oder sie haben ihre Funktion als Sehorgane verloren und werden dann infolge des Nicht- gebrauchs auf allen Stadien der Rückbildung angetroffen. Viel allgemeiner als bei den Bewohnern der Tiefsee ist die Verküm- merung der Augen bei der Bevölkerung der unterirdischen Höhlen, in denen der Lichtmangel ein viel vollständigerer ist, weil hier eine Phos- phorescenz wenigstens mit den gewöhnlichen infraspektralen Strahlen (wir kommen unten noch darauf zurück) absolut keine Rolle spielt. Wir beob- achten hier bei Amphibien (Proteus), Fischen, Mollusken, Krebsen (z. B. Copepoden, Branchiopoden, Isopoden, Amphipoden, Dekapoden), Myrio- poden, Arachniden, Pseudoscorpioniden, Thysanuren und Käfern aller Grade 28 R. Semon. von Verkleinerung und Verkümmerung bis zu gänzlichem Schwund der Augen und endlich auch des Sehnerven und Ganglion opticum. Daß daneben auch Höhlenbewohner mit scheinbar noch normalen Augen vorkommen, ist gegenüber dieser überwältigenden Fülle der Rückbildung in den verschiedensten Tiergruppen ohne weitere Bedeutung. Denn erstens müßte in jedem dieser Fälle erst durch genauere Untersuchung festgestellt wer- den, ob wirklich an diesen Augen noch keinerlei, auch keine innere Rück- bildung eingesetzt hat, ähnlich wie bei den Tiefseegalateiden, wo wir sie oben erwähnt haben. Zweitens ist es klar, daß wir schon nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit unter den Vertretern der Höhlenfauna auch Mit- glieder finden müssen, die sich erst seit relativ kurzer Zeit unter den Bedingungen des Höhlendaseins befinden, so daß diese Bedingungen auf sie noch keine manifeste Wirkung ausgeübt haben. Hierfür sprechen be- sonders auch die Beobachtungen von R. Schneider (1885) an Gammarus pulex aus verschieden alten Clausthaler Schächten sowie die Auffindung einer Mittelform zwischen dem gewöhnlichen Asellus aquaticus und dem blinden Höhlenbewohner Asellus cavaticus durch denselben Autor (1887) an Material aus 400 Jahre alten Freiberger Schächten. Letztere Beobachtung wurde später durch unabhängig davon gemachte Befunde von Vire (1900) bestätigt. Bei Asellus aquaticus aus den unterirdischen Gewässern der Seine fand dieser zuweilen Exemplare mit verkleinerten und pigment- armen Augen. Bei Asellus aus den natürlichen Quellen der Pariser Kata- komben sind die Augen bis auf 4—5 rötliche Pigmentflecken reduziert, zuweilen fehlen sie ganz, bei dem typischen höhlenbewohnenden Asellus cavaticus sind sie durchweg rückgebildet. Endlich muß auch berücksichtigt werden, daß bei manchen Käfern, bei denen die Männchen mit Augen versehen, die Weibchen aber blind sind, z. B. verschiedene Arten der Untergattung Machaeritis, die Weibchen möglicherweise eine gewisse Phosphorescenz besitzen, die vom Männchen wahrgenommen zum Auffinden des anderen Geschlechtes dient. Dieser (redanke, den ich hier vermutungsweise auszusprechen wage, scheint mir durch unsere Tiefsee-Erfahrungen nahegelegt. Da meines Wissens bisher noch nie ein uns Menschen sichtbares Leuchten der betreffenden Käferweibchen beobachtet worden ist, müßte untersucht werden, ob nicht ultraviolette, für uns unsichtbare Strahlen ausgesandt werden, die bekanntlich stark auf das Insektenauge wirken. Vielleicht ist überhaupt ein Leuchten der Nacht- insekten in ultraviolettem Licht eine viel häufigere Erscheinung, als wir bis jetzt ahnen.!) Wie dem aber auch sei: Bei einer außerordentlich großen Anzahl von Vertretern der verschiedensten Typen führt der Aufenthalt im Dunkel der Höhlen zu einer mehr oder weniger vollständigen Rückbildung der Augen. Und dafür gibt es meiner Ansicht nach keine andere Erklärung als die der erblichen Wirkung des Nichtgebrauchs, zumal da Weismann selbst !) Vielleicht ergibt sich daraus eine biologische Erklärung des nach dem Licht Fliegens der Nachtinsekten. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 9 seine Erklärung dieser Tatsachen durch Panmixie aufgegeben und (1896, S. 59) zugestanden hat, seine Opponenten „waren auch im Recht, wenn sie die Panmixie, so wie ich sie bisher gefaßt hatte, nicht für eine ausreichende Er- klärung des Verkümmerns und Schwindens nutzlos gewordener Teile hielten“. Weismanns jetzige Erklärung des Phänomens durch „Germinalselek- tion“ darf ich wohl auf sich beruhen lassen und verweise auf dasjenige, was ich früher (1907 A, S. 36) über die Germinalselektion gesagt habe, und was wohl die allgemeine Ansicht der Biologen, auch der weitaus meisten sonstigen Anhänger Weismanns ausdrückt. Ich habe die allmähliche Rückbildung der Augen bei so vielen Tief- see- und Höhlentieren als ein großartiges Naturexperiment bezeichnet. Es unterliegt aber für mich nicht dem geringsten Zweifel, dal dieses Expe- riment bei hinreichender Beharrlichkeit und bei glücklicher Auswahl der Versuchsobjekte auch in unseren Laboratorien mit positivem Erfolge nach- geahmt werden kann, trotzdem uns bei solchen Versuchen natürlich außer- ordentlich viel kleinere Zeiträume und deshalb weniger zahlreiche Generationen zur Verfügung stehen, als sie draußen in der Natur in Betracht kommen. Einige vielversprechende Ansätze in dieser Richtung liegen bereits vor. Die Versuche von A.Vire (1900), die im Laboratorium der Pariser Katakomben besonders an Aselliden angestellt worden sind, waren aller- dings, so interessant sie in anderer Hinsicht sind, in bezug auf die Augen- atrophie nur von sehr geringem Erfolge begleitet. Es bedarf hier wohl einer erheblich größeren Reihe von Generationen, um positive Resultate zu erzielen. Dagegen gelang es Kapterew (1910) bei Daphnia pulex durch Lichtentziehung eigentümliche Veränderungen am Auge hervorzurufen und bisher zwar noch keine Vererbung dieser Veränderungen als solcher, wohl aber eine erbliche Verstärkung der Disposition für dieselbe zu erzielen. Die Kapterewschen Resultate erscheinen mir allerdings noch nicht ausge- sprochen und eindeutig genug, um sie hier ausführlich zu berichten und sie in die unten zu gebende Reihe der positiven experimentellen Ergeb- nisse aufzunehmen. Sehr interessant sind endlich die Versuche von Payne (1910), der 49 Generationen einer Taufliege, Drosophila ampelophora, im Dunkeln ge- züchtet hat. Morphologisch wahrnehmbare Veränderungen ließen sich bei Abschluß der bisherigen Versuche noch nicht nachweisen. Wohl aber trat von der 10. Dunkelgeneration an eine sehr ausgesprochene physiologische Veränderung ein. Die Drosophila sind positiv phototaktisch, und diese Eigen- schaft erhält sich auch bei den im Dunkeln gezüchteten Tieren. Die photo- taktische Reaktion verlangsamte sich aber bei diesen von der 10. Ge- neration in so auffälliger Weise, dal der Unterschied bei vergleichenden Demonstrationen auch jedem Uneingeweihten sofort auffiel. Wurde die zehnte (seneration im Licht aufgezogen, so erhielt sich der Unterschied bei ihr noch, war aber weniger ausgesprochen. Ich sehe die angeführten Versuche als vielversprechende Anfänge einer experimentellen Behandlung dieser Frage an, die sich hoffentlich bald 30 R. Semon. durch Vervollkommung der Hilfsmittel und Methoden und Auffinden gün- stiger Objekte zu einer wertvollen Ergänzung unseres übrigen experimen- tellen Tatsachenmaterials auswachsen werden. Bis dahin muß uns aller- dings als Hauptargument in dieser Frage der Zustand verschiedenartig abgestufter Augenrückbildung gelten, den wir in der geschilderten Weise bei Tiefsee- und Höhlentieren antreffen. Ich habe im Obigen nur einen kleinen Ausschnitt aus der Überfülle derjenigen Fälle gegeben, die dem Paläontologen, dem vergleichenden Anatomen und dem Tierpsychologen bei seinen Forschungen immer wieder entgerentreten und sich ungezwungen nur durch eine Vererbung funktioneller Abänderungen, höchst gezwungen aber, oder, wo ein Selektionswert augen- scheinlich fehlt, gar nicht durch die dem Darwinschen Denken so wenig kongeniale „Allmacht“, der Zuchtwahl erklären lassen, die Weismann verficht. Deshalb auch das zähe Festhalten gerade der Paläontologen und ver- gleichenden Anatomen an der Vererbung der funktionellen Veränderungen gegenüber allen sonstigen Deduktionen. Aber, so hält ihnen Tower (1906, S. 311) entgegen, dessen Worte ich hier übersetzt wiedergebe, „das geben ja alle zu, dal durch die Annahme einer Vererbung erworbener Eigen- schaften das Evolutionsphänomen erklärt werden kann); könnte nur die fundamentale Annahme selbst in einem einzigen Falle wirklich bewiesen werden“. Was hier verlangt wird, ist ein auch nur in einem einzigen Falle vollständig durchgeführter experimenteller Beweis. Auch ich bin der An- sicht, daß nur auf diese Weise die Probe aufs Exempel gemacht werden kann, und deshalb sollen der Darstellung dieser experimentellen Probe die folgenden Abschnitte gewidmet sein. Soviel aber hat jedenfalls unsere kritische Würdigung des sonstigen, nicht ausschließlich experimentellen Tatsachenmaterials ergeben, daß dieses sich durchweg nur im Sinne einer Vererbung von Reizwirkungen deuten läßt, und daß schlech- terdings keine Tatsache vorgebracht worden ist, die sich mit dieser Deutung nicht in Einklang bringen ließe. V. ABSCHNITT. Positive experimentelle Ergebnisse: I. Vererbung sekundärer Wirkungen von Verletzung. Wir haben in den vorangehenden Abschnitten bereits ein bedeutendes empirisches Material kennen gelernt, das gewichtige Belege für die Ver- erbung von Reiz- beziehungsweise Erregungswirkungen bietet, aus dem sich aber auch ergibt, daß in sehr vielen Fällen die Vererbung viel zu abge- schwächt ist, um ohne Akkumulation der Reizeinwirkung durch eine große Reihe von Generationen hindurch oder ohne besonders günstige Konstellation !) Meiner Ansicht nach aber nur bei Annahme einer Mitwirkung der natürlichen Zuchtwahl. Vgl. darüber meine Ausführungen in der Mneme, 1908, S. 330—383. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 31 (Reizeinwirkung während einer „sensiblen Periode“ der Keimzellen) sich für uns in hinreichender Deutlichkeit zu manifestieren. Wenn wir nun solche Fälle mit als Belege heranziehen, in denen die ersten Einwirkungen auf längst vergangene (Generationen stattgefunden haben, auf die Voreltern der Akazien und Mimosen, der Phaseolusarten, der Unken, der augenlos gewordenen Tiefsee- und Höhlentiere, so entzieht sich in allen diesen Fällen ein überaus wichtiger Teil des in diesem Licht betrachteten Vorgangs der experimentellen Kontrolle, wobei es nichts aus- macht, daß seine übrigen Teile auf dem Versuchswege entdeckt worden sind und jederzeit experimentell nachgeprüft werden können, wie wir dies bei der vererbten Disposition vieler Pflanzen zu einem 12:12stündigen Rhythmus der Variationsbewegungen, der Entstehung des Perforationslochs in der Wand des Kiemendeckels der Unken bei Abwesenheit der durch- brechenden Extremität gesehen haben. Die eigentliche Schaffung der betreffenden Disposition muß hier doch immer in letzter Linie erschlossen werden, in den erwähnten Fällen auf Gründe hin, die mir persönlich völlig durchschlagend erscheinen, denen ein prinzipiell Abgeneigter aber, der einen erfinderischen Kopf besitzt, doch immer Gegengründe und Zweifel ent- gegenstellen könnte. Deshalb bin auch ich der Ansicht, daß ein durch- schlagender Beweis nur auf Grund solcher Fälle geführt werden kann, in denen jede einzelne Phase des ganzen Vorgangs, vor allem der Zustand vor Eintritt der Reizwirkung sowie der Vollzug der Reizung selbst genau untersucht und unter steter experimenteller Kontrolle gehalten werden kann. Glücklicherweise befinden wir uns im Besitz einer ganzen Reihe solcher experimentell durchgeführter Belegstücke und wir wollen diejenigen, die ich für die wichtigsten halte, in den folgenden Abschnitten so genau wie erforderlich darstellen. Um strengen Anforderungen an eine experimentelle Beweisführung zu genügen, ist in jedem einzelnen Fall die Erfüllung folgender Bedingungen erforderlich: 1. Die Untersuchung der Elterngeneration vor Eintritt der betreffen- den Reiz- beziehungsweise Erregungswirkung und gegebenenfalls die Fest- stellung durch Kontrollzüchtungen, daß bei Ausbleiben der Einwirkung auch regelmäßig die betreffende Manifestation auf dynamischem oder strukturellem (rebiet ausbleibt. 2. Der Vollzug der Reizeinwirkung und die Feststellung des Eintritts der betreffenden Manifestation bei der Elterngeneration. 3. Die Feststellung des Eintritts der betreffenden Manifestation bei den Nachkommen der so vorbehandelten Generation, ohne daß diese Nach- kommen der betreffenden Einwirkung jemals selbst unterworfen worden wären, oder aber der Nachweis, daß die Manifestation bei Eintritt der Ein- wirkung bei ihnen auffallend viel leichter erfolgt (Erhöhung der Disposition). N. B. In gewissen Fällen macht sich erst, nachdem mehrere, unter Umständen eine ganze Reihe von aufeinanderfolgenden Vorfahrengenerationen der Reizeinwirkung immer von neuem ausgesetzt worden sind, die Vererbung dieser Einwirkung bei der Deszendenz in dem Grade bemerklich, daß sie 52 R. Semon. zu einer deutlichen Manifestation bei diesen Nachkommen führt. Dies dürfte sich z. B. bei Experimenten über Rückbildung der Augen durch Licht- entziehung als die Regel ergeben. Von den experimentellen Untersuchungen, die diesen Anforderungen in allen wesentlichen Beziehungen entsprechen, wollen wir im vorliegenden Abschnitt diejenigen behandeln, bei denen das erste Glied einer Kette von Einwirkungen in einer Verletzung besteht, an die sich dann gewisse Folgeerscheinungen anschließen. Wie wir oben im zweiten Abschnitt ge- sehen haben, liegen irgendwelche experimentelle Beweise dafür, daß durch Verletzung entstandene Defekte oder eine Deformität sich vererben können, nicht vor. Die bisher angestellten Versuchsreihen würden sogar endgültig das Gegenteil beweisen, wenn bei ihnen bereits auf die möglicherweise vor- handene sensible Periode der Keimzellen Rücksicht genommen worden wäre (vel. oben $. 12). Ganz anders aber liegen die Dinge in bezug auf die Ver- erbung von sekundären Wirkungen einer Verletzung. Seit langer Zeit berühmt und viel diskutiert sind in dieser Beziehung die Versuche von Brown-Sequard (1868, 1869, 1870, 1872, 1882) an Meer- schweinchen, die zur experimentellen Erforschung der Epilepsie angestellt wurden, und bei denen die Vererbungsresultate zunächst unbeabsichtigt und unerwartet in Erscheinung traten. Es gelang Brown-Sequard, Meerschweinchen durch verschiedenartige Verletzungen des Gehirns, der Medulla oder des tickenmarks epileptisch zu machen (oder bei ihnen einen krankhaften Zustand zu erzeugen, den man als „Meerschweinchenepilepsie“ bezeichnet !), und er fand, daß ein kleiner Teil der Nachkommenschaft dieser Tiere die Meerschweinchenepilepsie angeboren mit auf die Welt brachte. Westphal (1871) konnte diese Ergebnisse bestätigen; er vermochte den eigentüm- lichen epileptiformen Zustand der Eltern durch Hammerschläge auf den Kopf zu erzeugen; unter der Nachkommenschaft solcher Tiere gab es einige, bei denen die epileptische Disposition zwar schwächer als bei den Eltern, aber doch unverkennbar zutage trat. Die Kontrollversuche von Obersteiner (1875), der die Meerschweinchenepilepsie durch Exzision eines Stückes vom Nervus ischiadieus erzeugte, ergaben in der Hauptsache eine Bestätigung und sind insofern von besonderem Interesse, als in einigen Fällen (2 von 32 Jungen) die Erscheinungen bei den Jungen denjenigen bei den Eltern zwar in abgeschwächtem Maße, aber in derselben sehr charakteristischen Art und Weise entsprachen. Nicht mit Unrecht hebt dieser Forscher später (1900) hervor, daß seinen so deutlich ausgesprochenen positiven Befunden gegenüber die negativen Befunde Sommers (1900), die noch dazu an einem erheblich kleineren Material als er selbst benutzt hatte, gemacht wurden (bloß 23 Nachkommen operierter Eltern), nicht in Betracht kommen. Will man positive Resultate aner- 1) Die Frage, ob diese Meerschweinchenepilepsie mit der Epilepsie des Menschen gleichzusetzen ist oder nicht, ist natürlich für das uns beschäftigende Problem ohne jede Bedeutung. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 33 kannt zuverlässiger Forscher, wie Brown-Sequard, Westphal und Ober- steiner, durch negative widerlegen, so darf man selbstverständlich nicht an einem erheblich kleineren Material arbeiten, als jene, sondern an einem sehr viel größeren. Das Gegenteil ist bei Sommer der Fall. Eine erneute experimentelle Nachprüfung an einem großen Material und mit allen möglichen Kautelen und Kontrollversuchen ist angesichts der Bedeutung, den die Frage gerade in dieser Fassung für die Pathologie und Medizin besitzt, ein dringendes Bedürfnis. Es ist deshalb sehr erfreu- lich, daß, wie mir bekannt, eine solche Nachprüfung gegenwärtig an einem über alle Hilfsmittel verfügenden pathologischen Institut im Werke ist, und wir hier voraussichtlich bald auf einer absolut sicheren experimentellen Grundlage fußen werden. Es wird sich dann auch herausstellen, wie es sich mit dem Auftreten von verschiedenartigen anderen Störungen bei der Nachkommenschaft außer der von mir oben ausschließlich berücksich- tigten Epilepsie verhält. In Hinblick auf die gleich zu berichtenden bota- nischen Erfahrungen ist es durchaus wahrscheinlich, daß auch in den anderen von mir hier nicht wiedergegebenen Beobachtungen ein richtiger Kern steckt, der nur der sorgfältigen Herausschälung bedarf. Denn wir sind für den experimentellen Beweis, daß sich sekundäre Wirkungen von Traumatismen vererben, keineswegs allein auf die vor so langer Zeit angestellten Versuche von Brown-Sequard, Westphal und Ober- steiner angewiesen, sondern befinden uns im Besitz von neuerdings mit allen Kautelen der modernen Technik vorgenommenen Experimenten, durch die die Vererbung von sekundär an Verletzung sich anschließenden Veränderungen bei Pflanzen mit aller wünschenswerter Sicherheit festgestellt worden ist. Zunächst will ich hier auf die Versuche von Klebs (1906, 1909) hin- weisen, der allerdings neben der Verstümmelung auch noch andere Ein- flüsse wie reichliche Ernährung, Warmhaltung der betreffenden Pflanzen, mitwirken ließ. Das Hauptobjekt seiner neuesten Versuche (1909) war Sempervivum acuminatum, das reichlich gedüngt und in Warmbeeten kul- tiviert wurde. Sobald die Rosetten Inflorescenzen mit blühenden Zweigen gebildet hatten, wurden diese Blütenzwickel abgeschnitten: aus den Blatt- achseln des Inflorescenzstumpfes entwickelten sich neue Blüten. An diesen „neogenen“ Blüten trat eine Fülle der mannigfachsten Veränderungen zu- tage, vor allem starke Abweichungen in dem Zahlenverhältnis der Blumen-, Staub-, Fruchtblätter, Apetalie, Petaloidie der Staubblätter, Zwischenformen zwischen Staub- und Fruchtblättern, Zwischenformen zwischen Blattrosetten und Blüten. Von diesen Pflanzen wurden einige ausgewählt und eine An- zahl der veränderten Blüten mit dem eigenen Pollen oder doch mit dem Pollen desselben Individuums befruchtet. Bei den so erzielten Nachkommen nun trat nach mehrjähriger Kultur ein Teil der Abweichungen der Mutter- pflanze spontan, d.h. bei Kultur unter gewöhnlichen Gartenbedingungen an den zuerst entstehenden Blüten auf. Dabei fand eine Art Trennung der so induzierten Veränderungen statt. Bei dem einen Exemplar waren nur die Zahl und die Stellung der Glieder verändert; bei dem zweiten war E.Abderhalden, Fortschritte. II. 3 34 R. Semon. wesentlich eine völlige und unvollständige Umwandlung der Blüten in Ro- setten erfolgt. Diese beiden Exemplare zeigten in fast allen Blüten die Petaloidie. Einige Variationen der Mutterpflanzen, wie besonders die Ape- talie, waren dagegen bei den Nachkommen nicht nachweisbar. Bei diesen Versuchen lassen sich die Anteile, die die drei Faktoren: Verstümmelung, reichliche Ernährung, Warmhaltung, an dem erreichten Resultat gehabt haben, nicht mit aller wünschenswerten Schärfe voneinander trennen. Glücklicherweise besitzen wir aber in der ausgezeichneten Arbeit von Blaringhem (1907) eine großzügig durchgeführte Experimentalunter- suchung, wo dieser Zweifel vollkommen fortfällt, weil bei seinen Versuchen lediglich mit Verstümmelung gearbeitet und die Versuchspflanzen, haupt- sächlich Zea Mays pennsylvanica, im übrigen unter gewöhnlichen Bedin- gungen kultiviert wurden. Die Verstümmelung bestand in der Mehrzahl der Versuche entweder in einer queren Durchtrennung des Haupthalms oder in einer Längsspaltung oder endlich in einer Torsion desselben um seine Achse. Je hochgradiger die Verstümmelung war, um so größer war auch die Zahl der Pflanzen, die auf dieselbe mit Ausbildung von Anomalien reagierte. Auch erwies sich dieser Erfolg als mit abhängig von der Zeit, in der die Verstümmelung erfolgte; am größten war er in der Zeit des stärksten Wachstums. Die auf Grund der Verstümmelungen sich ergebenden Anomalien sind äußerst mannigfacher Art und betreffen Stengel wie Blätter, bewirken eine Umwandlung von Inflorescenzen in vegetative tosetten, von Blütenteilen in Deckblätter, Staubblättern in Fruchtblätter, Fruchtblättern in Staubblätter usw., sie ziehen eine Vermehrung der Knospen, eine vielfältige Veränderung ihrer Deckblätter, endlich auch eine Verände- rung der Früchte nach sich. Die Nachkommenschaft der so veränderten Pflanzen erwies sich zum erößten Teil als normal. Daneben aber fanden sich Abkömmlinge, die, ohne ihrerseits eine Verstümmelung erlitten zu haben, in abgeschwächtem Maße dieselben Abweichungen zeigten, die bei den Eltern durch die Verstümme- lung induziert worden waren. Bei einigen waren diese Abweichungen erblich vollkommen fixiert, so daß Blaringhem durch Weiter- züchtung neue und vollkommen beständige Varietäten isolieren konnte. Es sind die Varietäten Zea Mays var. pseudoandrogyna und Zea Mays var. semipraecox. Besonders interessant ist das plötzliche Auftreten einer elementaren neuen Art, die Blaringhem Zea Mays praecox nennt. Nebenbei sei erwähnt, daß derselbe Forscher ganz ähnliche Resultate auch noch bei anderen Pflanzen, Hordeum distichum und tetrastichum, Sinapis alba, später (1908) auch bei Spinacia oleracea erzielt hat. Durch diese Untersuchungen Blaringhems ist somit die Übertragung von sekundären Verstümmelungswirkungen auf die Nachkommenschaft und die Möglichkeit der Erzeugung neuer konstanter Varietäten und elemen- tarer Arten auf diesem Wege mit Sicherheit erwiesen. Auf die theoretische Bedeutung dieser Versuche werden wir unten noch an verschiedenen Stellen zurückzukommen haben. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 35 VI ABSCHNITT. Positive experimentelle Ergebnisse: ll. Vererbung von verschiedenartigen Reizwirkungen. Wir wollen diesen Abschnitt mit der Wiedergabe der ältesten expe- rimentellen Behandlung unserer Frage beginnen, den berühmten, vor mehr als 50 Jahren angestellten Versuchen von F. ©. Schübeler (1862, 1873, 1885). Es handelt sich bei diesen um hauptsächlich in den Jahren 1852—1859 durchgeführten Kulturen von Getreidearten (Weizen, Gerste, Hühnermais), auf die Schübeler dadurch verändernd einwirkte, daß er sie statt in einer südlicheren in einer nördlichen Breite, statt in Deutschland (um den 50. Breitengrad herum), von wo der Samen für diese Kulturen bezogen wurde, in Christiania bei 60° n. Br. kultivierte. Entsprechend der höheren Breite nahe der Region der Mitternachts- sonne werden die Pflanzen in Christiania in den Sommermonaten täglich viel längere Zeit dem Licht exponiert, sie können deshalb viel andauernder Kohlenstoff assimilieren und ihre Entwicklung in erheblich kürzerer Zeit vollenden, als Pflanzen außerhaib des Bereichs der „weißen Nächte“ es können. Die thermische Wirkung der längeren Tage und kürzeren Nächte arbeitet in gleichem Sinne. Die auf diese Weise erzielte Verkürzung der Vegetationszeit von Aussaat bis Reife erwies sich nun als erblich und ließ sich durch Fort- setzung der Kulturen unter den nordischen Besonnungsverhältnissen Chri- stianias während mehrerer Generationen erheblich akkumulieren. Der frisch aus Deutschland (Eldena) bezogene Samen des Sommerweizens gebrauchte in Schübelerscher Kultur in Christiania im Jahre 1857 noch 103 Tage zur Reife; im Jahre 1858 93 Tage; im Jahre 1859 nur noch 75 Tage, also genau 4 Wochen weniger als bei der ersten Kultur. Ganz ähnliche Resultate hatte Schübeler mit Viktoriaweizen. Die Vegetationszeit vom gelben Hühnermais aus Hohenheim (48° 50‘ n. Br.), der von Schübeler fast ein Jahrzehnt hindurch in Christiania kultiviert wurde, verkürzte sich schrittweise binnen 4 Jahren um 32 Tage. Den obenerwähnten, durch Kultur in Christiania während zweier Generationen veränderten Sommerweizen ließ Schübeler in der dritten Generation sowohl in Christiania als auch unter sorgfältiger Beobachtung in Breslau kultivieren. An ersterem Orte brauchte der Samen 75, an letzterem 80 Tage zur Reife, also etwa 3 Wochen weniger als unter den gleichen Bedingungen die Urelterngeneration desselben Samens, die nicht durch die Besonnungsverhältnisse der höheren Breite beeinflußt war. Dabei brauchte diese Urenkelgeneration in Breslau 5 Tage mehr zur Reife als in Chri- stiania, was leicht verständlich ist, da ja während der in Frage stehenden Vegetationsperiode in Breslau die Besonderheit der nordischen Besonnung fortgefallen war. Das Schlußergebnis ist, daß die Vegetationszeit der Des- zendenz, verglichen mit der Urelterngeneration bei der Kultur unter gleichen 3 36 R. Semon. Bedingungen, um mehr als 3 Wochen verkürzt war, und zwar verkürzt durch Einwirkungen, die die Eltern und die Großeltern, nicht die in Frage stehende Generation selbst getroffen hatten. Ich kann nicht umhin, hier auf einige Angriffe einzugehen, die diese wichtigen Ergebnisse Schübelers erfahren haben. Ich kann mich aber kurz fassen, da diese Angriffe sämtlich ohne die erforderliche genaue Kenntnis der Schübelerschen Arbeiten, und zwar besonders seiner Experimental- untersuchungen erfolgt sind, auf die es doch vor allem oder richtiger ausschließlich ankommt. N. Wille (1905, S. 568) z. B. kennt die Haupt- versuche, die unter den Augen Schübelers in den Jahren 1852—1859 in Chri- stiania ausgeführt worden sind, offenbar überhaupt gar nicht, sondern gibt fälschlicherweise an, Schübeler schlösse auf eine Verkürzung der Vegetations- dauer lediglich auf Grund von Berichten über Kulturen im nördlichen Norwegen (Alten) und auf Grund von Angaben eines alten schwedischen Journals. Wie ich ausführlich in einer Anmerkung der Mneme (2. Aufl., 1908 A, S. 86— 88) ausgeführt habe, bewegt sich Wille infolge dieser eigen- tümlichen Unkenntnis der eigentlichen experimentellen Basis, auf der Schübeler fußt, in einem vollkommenen Irrgarten, und seine ganze Argu- mentation, die das Phänomen der Verkürzung auf Zuchtwahl zurück- führen will, ist allein schon durch das hinfällig, was er selbst über das Klima des südlichen Norwegens sagt. !) Auch die Kritik, die Johannsen (1909, S. 351) im Namen der exakten Erblichkeitsforschung an der Schäbelerschen Leistung ausübt, beruht eigen- tümlicherweise auf einer wenig genauen Orientierung über die bisher auf diesem Gebiete erzielten experimentellen Ergebnisse. Der von Schübeler experimentell ermittelten Umprägung durch die Lebenslage (Besonnungs- verhältnisse) wird entgegengehalten: „Andere Forscher haben solches nicht nachweisen können, und die Schübelerschen Angaben selbst sind von seinem Landsmann Nilssen-Bodoe einer ganz vernichtenden Kritik unterworfen worden.“ Dieser Darstellung muß ausdrücklich widersprochen werden. Wie Fruwirth (1905, S. 166) angibt, läßt sich aus den Ergebnissen der umfangreichen vergleichenden Anbauversuche mit nordischem Getreide „(besonders Poppelsdorf, Proskau, Hohenheim) sowie Mitteilungen Drechslers über dieselben ersehen, daß Tendenz zu allmählicher Veränderung be- steht, so bei nordischem Getreide auf südlichem Standorte allmählich die Vegetationsdauer zu verlängern, das Korngewicht zu vergrößern. Es ist nicht nur im ersten Jahre die Vegetationsdauer auf dem neuen Stand- ı) Wille führt S. 568 aus, „daß man im südlichen Norwegen, wo man im Herbst keine Nachtfröste zu fürchten hat, das Getreide so lange stehen läßt, bis es vollständig reif ist. — Im Flachlande des südlichen Norwegens erntet man im allgemeinen nicht eher, bis alles reif ist, und da die spätreifenden Ähren oft schwere Körner enthalten, werden gerade diese hier ins Saatkorn gelangen und sich im folgenden Jahre vermehren“. Nun hat ja aber doch Schübeler gerade im Flachlande des südlichen Norwegens, näm- lich in Christiania, seine Kulturen angestellt, und die Möglichkeit einer durch zu frühes Ernten bedingten Auslese der frühreifen Individuen fällt also bei diesen Versuchen laut Willes eigenen Angaben ganz fort. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 37 ort erheblicher, sondern sie nimmt noch in den folgenden zu.“ Fruwirth berichtet ferner von ähnlichen Resultaten Körnickes sowie Schindlers. Nur über das Tempo, in dem die Verkürzung bzw. Verlängerung der Vegetations- dauer in der Generationsreihe vor sich geht, herrschen bei den verschie- denen Autoren nicht ganz übereinstimmende Anschauungen. Auch Wett- stein (1903, S. 20) gibt an, daß er bei experimentellen Untersuchungen, die er seit 6 Jahren am Lein durchgeführt habe, zu ähnlichen Resultaten gelangt sei wie Schübeler. Johannsen ist also keineswegs berechtigt zu sagen, „andere Forscher haben solches nicht nachweisen können“, zumal widersprechende Experimentaluntersuchungen überhaupt nicht vorliegen. Bei der „vernichtenden Kritik“ Nilssens handelt es sich überhaupt nicht, wie man aus den Angaben Johannsens entnehmen müßte, um einen Wider- spruch gegen die Experimentaluntersuchungen Schübelers, sondern um eine Kritik gewisser vegetations-statistischer Angaben und Generalisa- tionen, bei denen Schübeler geirrt oder nicht ganz das Richtige getroffen haben mag, die aber für die Beurteilung seiner experimentellen Leistungen vollkommen irrelevant sind. Die exakte Erblichkeitsforschung hat allen Grund, Schübeler als einen ihrer Begründer zu ehren, seinen einschlägigen Arbeiten die gebührende Berücksichtigung zu schenken und, statt sie wegzudisputieren, sie nach- zuprüfen. Bei einer solchen Nachprüfung müßten. wie ich schon in der Mneme (2. Aufl. 1908, S.87 Anm.) betont habe, die Versuche mit „reinen Linien“, mit Biotypen, nicht mit Phänotypen vorgenommen werden, auf die Schübeler seinerzeit noch angewiesen war. Daß man dabei im wesent- lichen zu ähnlichen Resultaten kommen wird wie er, erscheint mir in Anbetracht davon, daß Zuchtwahl bei seinen Kulturversuchen offenbar nicht mitgewirkt hat, und angesichts aller unserer sonstigen Erfahrungen, deren Darstellung der vorliegende Abschnitt gewidmet ist, im höchsten Grade wahrscheinlich. (rerade angesichts dieser so zahlreichen anderen experimentellen Be- lege, bei deren Gewinnung Vorsichtsmaßregeln angewandt worden sind, deren Beachtung vor 60 Jahren ein Ding der Unmöglichkeit war, könnte man den Nachdruck, den ich auf diesen besonderen Fall lege, übertrieben finden. Vielleicht ist er es auch im Hinblick auf die Entscheidung der Grund- fragen. Gerade deshalb aber, weil ich prinzipiell für die Entscheidung der Frage den Hauptwert auf die experimentelle Untersuchung lege, sehe ich mich gedrungen, gegen eine oberflächlich geübte und, wie mir scheint, sehr ungerechte Kritik der Leistungen desjenigen Mannes zu protestieren, der vor 60 Jahren als der erste von allen hier den experimentellen Weg be- schritten hat. Es gibt noch eine ganze Anzahl anderer positiver Resultate von erb- licher Veränderung der verschiedensten Pflanzenkulturen durch die Ein- flüsse der Umwelt. Ich erwähne nur die Kulturversuche von Hofmann (1887), von Cieslar (1890, 1895, 1899) mit Lärchen und anderen Nadel- 58 R. Semon. hölzern sowie von Wettstein (1902, 1905). Gewisse erbliche Beeinflussungen durch entweder frühere oder spätere, entweder dichtere oder dünnere Aus- saat wurden erzielt durch Fruwirth (1905, S. 163) bei Roggenkulturen und durch Proskowetz (1895, S.53) bei eng gepflanzten Rüben, sogenannten Stecklingsrüben. Ein Zweifel an der Tatsächlichkeit dieser erblichen Beeinflussung durch äußere Einwirkungen, wenn dieselben hinreichend kräftig sind, und ihre Wirksamkeit auf eine nicht zu kleine Reihe von Generationen be- schränkt wird, erscheint angesichts der Übereinstimmung der Resultate und der ausgesprochenen Vorsicht, womit Beobachter wie Frwwirth ihren eigenen Ergebnissen gegenüberstehen, unbegründet. Erwünscht wäre bloß bei derartigen Kulturversuchen im großen eine Nachprüfung durch Kultur elementarer Arten. An dieser Stelle will ich noch einmal auf die Arbeiten von Älebs (1906, 1909) hinweisen, die wir bereits oben bei Besprechung der Vererbung sekun- därer Wirkungen von Verletzung berücksichtigt haben. Da Klebs, wie dort bereits erwähnt, seine zum Teil erblichen Anomalien nicht allein durch Verletzung, sondern auch durch Variierung der äußeren Lebensbedingungen (Ernährung, Temperatur, Belichtung) hervorgerufen hat, so verdienen diese Fälle hier noch einmal hervorgehoben zu werden. Mac Dougals Experimente (1905. 1906), der durch Einspritzung chemisch und osmotisch differen- ter Substanzen Keimesveränderungen erzielte, liegen mir bisher in so wenig ausführlicher Darstellung vor, daß ich auf ihre Berücksichtigung verzichten muß. Ebenfalls nur kurz!) möchte ich erwähnen, daß auch bei Krypto- samen eine erbliche Veränderung der Kulturen überall da geglückt ist, wo man versucht hat, durch veränderte Temperatur, Belichtung, Ernäh- rung etc. längere Zeit hindurch systematisch auf die Kulturen einzu- wirken. Schon lange weiß man, daß es möglich ist, die Bakterien durch Kultur unter besonderen Bedingungen allmählich, d. h. im Laufe zahlreicher Generationen in ihrer Virulenz sowie in ihrer Fähigkeit, Farbstoffe her- vorzubringen, bleibend zu verändern. Gegen die Beweiskraft solcher Er- gebnisse wie auch ferner der Versuche von Hansen (1899), der bei Sac- charomyces unter dem Einfluß höherer Temperaturen asporogene Rassen gezüchtigt hat, und derjenigen von Gaidukov (1902, vgl. auch Engelmann, 1903), der bei Oscillarien durch monatelange Einwirkung farbigen Lichts komplementäre Farbänderungen erzielte, die sich in den weiterhin bei weißem Tageslicht gezüchteten Kulturen erhielten, läßt sich allerdings mit vecht einwenden, dal) bei den Bakterien, Oscillarien und asporogenen Sac- charomyces durch eine Übertragung auf besondere Keimzellen nicht ge- redet werden kann. !) Eine umfassende Zusammenstellung aller einschlägigen Arbeiten findet man bei H. Pringsheim, Die Variabilität niederer Organismen. Berlin 1910. Man vergleiche auch J. P. Lotsy, Vorlesungen über Deszendenztheorien. 1906, 1. Teil. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 39 Anders aber liegen die Dinge bei Versuchen, wie die von Ray (1897) mit höheren Pilzen, wie Sterigmatocystis, Aspergillus, Penieillium vorgenom- menen, denen sich Versuche von Hunger an Aspergillus (vgl. Errera, 1899) an- schließen. Es gelang auch hier, die Organismen allmählich an neue Ernäh- rungsbedingungen zu gewöhnen und die eingetretenen Veränderungen wurden erblich festgehalten. In diesen Fällen ist aber der Einwand, dal) bei diesen vielzelligen Pilzen eine sexuelle Fortpflanzung fehlt, ohne Bedeutung für die uns hier beschäftigende Frage. Denn der Entwicklungszyklus dieser Ascomyceten führt stets durch das Glied einer Einzelzelle, die man hier Spore nennt. hindurch. Eine solche Spore ist aber physiologisch durchaus das Äquivalent einer Keimzelle, die sich parthenogenetisch weiter ent- wickelt und für die das Problem der Übertragung der Reizwirkung genau ebenso gilt wie für irgend eine sexuell differenzierte Keimzelle. Das gleiche gilt für die ebenfalls mit positivem Erfolge ausgeführten Versuche von Klebahn (1904) an Rostpilzen (Puceinia). Wir wenden uns nunmehr zu den viel zahlreicheren in den beiden letzten Jahrzehnten zur experimentellen Lösung unserer Frage an Tieren angestellten Versuchen, und beginnen mit der großen Gruppe derer, die beweisen, daß Temperaturreize, die gewisse Insekten auf bestimmten Stadien der Entwicklung treffen, nicht nur eine veränderte Einwirkung auf das Individuum selbst haben, sondern daß entsprechende Veränderungen auch bei der Nachkommenschaft wieder auftreten, ohne daß diese selbst den betreffenden Reizen jemals ausgesetzt worden wäre. Schon seit langer Zeit wußte man aus den Versuchen von Dor/- meister, Weismann, Merrifield und Standfuß, dal man durch gewisse, die Puppe von Schmetterlingen treffende Temperaturreize sowie ander- weitige Reize die Färbung des Imago verändernd beeinflussen kann. Wir werden auf die Art und Weise dieser Beeinflussung sowie auf die ge- nauere Bestimmung des Zeitpunktes, in welchem sie erfolgreich ins Werk gesetzt werden kann (kritische Periode) im nächsten Abschnitt noch näher eingehen. Hier genüge die bloße Konstatierung der Tatsache. Standfuß (1898) war der erste, der auf den Gedanken kam, der- artig experimentell veränderte Formen planmäßig weiterzuzüchten, um fest- zustellen, ob die Färbungsaberration bei den Nachkommen wieder auftritt, wenn man ihre Puppen sich bei normaler Temperatur entwickeln läßt. Er erhielt im Jahre 1897 ein positives Ergebnis bei der Nachkommenschaft eines auf diese Weise extrem veränderten Paares von Vanessa urticae. Von 453 Faltern wichen 1 stark und 3 in geringem Grade im Sinne der Eltern von der Normalform ab. Standfuß hebt dabei hervor, .„dal) der- gleichen Individuen, wie die hier aus der Brut anomaler Eltern erhal- tenen, selbst unter ungezählten Tausenden von Tieren aus nor- maler Abstammung, die unter ganz normalen Verhältnissen heranwachsen, niemals auftreten.“ Ähnliche Experimente mit noch bestimmterem, Zufälligkeiten ganz ausschließendem Erfolg wurden dann in den nächsten Jahren von verschie- 40 R. Semon. denen anderen Forschern vorgenommen. So stellte E. Fischer (1901 B) Versuche mit dem Bärenspinner, Arctia caja, an, bei denen durch die Ver- suchsanordnung und Kontrollzüchtungen alle drei von uns oben für die Beweisführung als notwendig bezeichneten Bedingungen erfüllt wurden. 1. Die Hälfte der für diesen Versuch gesammelten Brut (54 Puppen) wurden dauernd bei normaler Temperatur belassen. Diese Puppen, mit Ausnahme von 5, die nicht ausschlüpften, ergaben Schmetterlinge, die keine nennenswerte Veränderung der Färbung und Zeichnung zeigten, weder die braunen Flecken der Vorderflügel, noch auch die schwarzen der Hinterflügel zeigten eine Abweichung gegenüber der Normalform. 2. Die andere Hälfte der Puppen (48 Stück) wurde einer Reizung, die in einer intermittierenden Abkühlung auf — 8°C bestand, ausgesetzt. Dieser Reiz wirkte auf die Individuen, die von ihm getroffen worden waren, der- art, daß fast alle ausschlüpfenden Falter (von 48 starben 7) „in verschie- denen Abstufungen, die einen mehr in dieser, die anderen mehr in jener Flügelpartie aberrativ verändert waren. Es bestand diese aberrative Bil- dung in einer Verbreiterung der dunkeln, also auf den Vorderflügeln der braunen, auf den Hinterflügeln der schwarzen Flecken...“ — „Auf der Unterseite waren diese Falter entsprechend verändert.“ 3. Es wurde nun ein sehr stark verändertes Männchen mit einem weniger stark veränderten Weibchen gepaart. Aus der Paarung dieser beiden Individuen gingen 173 Puppen hervor, die bei gewöhnlicher Zimmer- temperatur gehalten wurden. Beim Ausschlüpfen erschienen anfangs ganz normale Falter, unter den zuletzt ausschlüpfenden !) aber traten 17 Exem- plare auf, die ganz im Sinne der Eltern verändert waren, und zwar im allgemeinen in Form einer Kombination der beiden elterlichen Zeich- nungen, gewöhnlich mit Überwiegen einmal der väterlichen, das andere Mal der mütterlichen Komponente. In einigen Fällen war die Stärke der Ab- erration bei den Nachkommen fast ebenso groß wie bei den Eltern. ?) Ganz ähnliche Resultate wie Standfuß und Fischer erhielt Schröder (1903 A) bei seinen Versuchen mit Abraxas grossulariata. Durch Temperatur- reize melanotisch gemachte Exemplare dieser Motte vererbten den neuen Charakter in abgeschwächtem Maße auf einen Teil ihrer Nachkommenschaft. Pictet endlich (1905) rief durch Nahrungsveränderung der Raupen Aberrationen der Zeichnung und Größe bei Schmetterlingen hervor. Er führt dieselben darauf zurück, daß eine Ernährung mit gewissen Stoffen ungünstig wirkt, das Puppenstadium verkürzt und dadurch ein Kleiner- bleiben des Tieres und eine schwächere Ausprägung seiner Zeichnung be- !) Das späte Ausschlüpfen dieser aberrativen Formen erklärt sich daraus, daß nicht nur ihre Zeichnung, sondern auch, wie ich bereits in der Mneme (2. Aufl., 1908, S. 83, 84) hervorgehoben habe, ihr Entwicklungstempo erblich verändert war. Eine Ab- kürzung des Puppenstadiums geht nach den Versuchsergebnissen von Pietet (1905, S 35) mit melanotischer, eine Verlängerung mit albinotischer Aberration Hand in Hand. 2) Den eigentümlichen Versuch H. E. Zieglers (1905), das Ergebnis dieses Expe- riments auf eine versteckt geübte Zuchtwahl zurückzuführen, habe ich schon früher (1907 A, 8.22) widerlegt und kann ihn deshalb hier übergehen. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 4] dingt. Gute Ernährung bewirkt das Gegenteil. Gab Pietet z. B. den Raupen des Schwammspinners, Ocneria dispar, deren eigentliche Nahrung aus Eichenblättern besteht, Nußblätter zu fressen, die zunächst von den Tieren widerwillig aufgenommen werden, so beantwortet der Organismus diese unge- eienete Ernährung der Raupe mit einer Verzwergung und mit albinotischer Veränderung der Zeichnung beim ausschlüpfenden Schmetterling. Kehrt man nun in den folgenden Generationen zur normalen Eichenblätternahrung zurück, so zeigen sich dennoch in dieser normal gefütterten ersten und sogar in der zweiten Nachkommengeneration deutliche Reminiszenzen an die Ernährung der Vorfahren mit Nußblättern. Wir finden hier also eine abgeschwächte, aber unverkennbare Vererbung. Interessant ist es, dal) aber schließlich ein Zurückgehen dieser Veränderung und damit ein Hervortreten der normalen Charaktere eintritt, wenn man dauernd die aufeinanderfolgen- den Generationen mit Nußblättern füttert. Pietet erklärt dies dadurch, dab, je mehr eine Gewöhnung an die ungeeignete Nahrung und damit eine Neu- tralisation des schädigenden Reizes stattfindet, um so mehr ein Wiederein- lenken in die normalen Bahnen erfolgt. In diesem Punkte weichen die Ver- suchsergebnisse Pictets von der sonst fast immer gemachten Erfahrung ab, daß durch Wiederholung des Reizes eine Akkumulation der Wirkung er- zielt wird. Es liegen hier wohl besondere Verhältnisse vor, und die An- nahme Pictets von einer Neutralisation des schädigenden Reizes durch Adaptation trifft wahrscheinlich das richtige. Pietet fand übrigens auch, daß Spuren einer durch Veränderung der Nahrung bewirkten Färbungs- änderung der Raupen sowohl bei Ocneria dispar als auch bei Abraxas erossulariata sich in der nächsten normal gefütterten Generation wieder zu erkennen geben. An dieser Stelle würden sich die Experimente Towers (1906) an Käfern (Leptinotarsa) anschließen, die an einem sehr großen Material an- gestellt und durch eine lange Reihe von Generationen fortgeführt worden sind. Tower wendet sowohl Temperaturreize als auch Durchfeuchtung und Austrocknung an. Seine Ergebnisse bringen eine vollkommene Bestätigung, in einem bereits oben (S. 12) erwähnten Punkt aber eine sehr wichtige Ergänzung der Resultate seiner eben zitierten Vorgänger. Eigentümliche, bisher noch unbemerkt gebliebene Deutungsfehler haben aber die an sich einfache Sachlage zu einer so komplizierten gestaltet, daß wir der Wieder- gabe und Abwägung der Towerschen Befunde im nächsten Abschnitt einen besonderen selbständigen Raum gewähren müssen. Auch bei Wirbeltieren') ist es gelungen, erbliche Veränderungen der Färbung durch bestimmte Reizwirkungen auf die Vorfahrengeneration zu !) Es sei hier erwähnt, daß es H. Schülke (1906) gelungen ist, durch Einwirkung von Wärme bei gleichzeitiger reichlicher Ernährung eine rote Varietät der großen Tellerschnecke, Planorbis eorneus, aus schwarzen Stammeltern zu züchten. Systema- tisch durchgeführte Experimente fehlen hier allerdings noch. Es unterliegt aber wohl keinem Zweifel, daß sie zu ganz ähnlichen Ergebnissen führen werden, wie sie uns für erblich induzierte Farbenänderung bei Insekten und Wirbeltieren bereits vorliegen. 42 R. Semon. erzielen. Kammerer (1909B, 1910 A) konnte nachweisen, daß, wenn man die lebhaft schwarz-gelb gefärbten Feuersalamander, Salamandra atra, jahrelang auf gelber Lehmerde hält, sich ihre gelben Flecken auf Kosten der schwarzen Grundfarbe ausdehnen und an Zahl vermehren. Das Umgekehrte findet statt, wenn man die Tiere längere Zeit auf schwarzer Gartenerde hält; sie verlieren von ihrem Gelb und werden fast schwarz. Zwei Faktoren wirken dabei zusammen mit. Die gelbe Erde besitzt nicht nur ihre be- sondere Farbe, sondern sie ist auch hygroskopischer, sie hält die Feuchtig- keit besser fest, ist also unter gleichen Bedingungen stets wasserhaltiger als die schwarze, die rascher trocknet. Indem er nun die Wirkungen des Lichts und der Feuchtigkeit durch besondere Versuchsanordnung isolierte, stellte Kammerer fest, dal) die Ver- erößerung der gelben Flecken der Wirkung des gelben Lichtes, das Auf- treten neuer Flecken der Feuchtigkeitswirkung zuzuschreiben ist und umgekehrt. Von beiden Versuchsreihen, sowohl von den schwarz als auch den gelb ge- machten Eltern, züchtete Kammerer eine zweite Generation, die in einer neu- tralen Umgebung geboren wurde und ihre Larvenentwicklung absolvierte, nach Erreichung der fertigen Gestalt aber wiederum je zur Hälfte auf schwarzen und gelben Grund kam. Von der Elterngeneration auf schwarzer Erde er- hielt er erst in allerletzter Zeit Nachkommenschaft. Diese noch ganz kleinen, erst vor kurzem fertig entwickelten Nachkommen sind ausnahmslos äußerst wenig gefleckt und beweisen dadurch, daß sie die mit ihren Erzeugern vorgegangenen Veränderungen erblich übernommen haben. Fast noch deut- licher trat die Färbungsvererbung bei den Kindern der gelben Eltern her- vor. Wurden sie auf schwarzer Erde erzogen, also unter entgegengesetzten Bedingungen wie ihre Erzeuger, so war trotz dieser antagonistischen Wir- kung der Reichtum an Gelb noch immer ungewöhnlich groß: Wurden sie aber auf gelber Erde erzogen, also im Sinne einer Akkumulation der Reiz- wirkung, so übertrafen sie ihre Erzeuger in auffallendem Maße an Gelb- färbung, so daß vom Schwarz nur verhältnismäßig wenig übrig blieb. Auch war ihre Zeichnung viel regelmäßiger, der bilateralen Symmetrie entsprechen- der, als es bei ihren Eltern der Fall war. Leider hat Kammerer bei diesen Vererbungsexperimenten bis jetzt noch nicht eine Isolierung der beiden hier gemeinsam wirkenden Reizfaktoren: Licht und Feuchtigkeit, vorgenommen, sondern kann für die zweite Generation nur über die Wirkung berichten, die die Anwendung des komplexen Faktors: gelbe Erde oder schwarze Erde gehabt hat. Zweifellos wird er seine Versuche in der Richtung der in- zwischen von ihm ermöglichten Isolierung der beiden Faktoren fortsetzen, und es wird besonders interessant sein zu erfahren, ob eine lediglich durch Lichtwirkung hervorgerufene Vergrößerung oder Verkleinerung der gelben Flecken bei den Vorfahren ohne Wiederholung der betreffenden Reizwir- kung wieder auftritt. Kammerer hat ferner bei Reptilien (Eidechsen) die Färbung durch Temperatureinwirkungen zu verändern vermocht und ganz neuerdings Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 43 (1910B) berichtet er über die Vererbung einiger solcher erzwungener Farbveränderungen. So ist es bei Lacerta muralis möglich, durch Tempe- raturerhöhung den Farbentypus der weiblichen Tiere in den der männlichen überzuführen dergestalt, daß jetzt auch die Weibchen ausgerandete Rücken- binden, blaue Flecken auf den Bauchmarginalschildern und eine rote Unter- seite bekommen. In kühlere Temperatur zurückversetzt, schwindet die rote Ventralfärbung der Weibchen noch an denselben Individuen; die von der Wärme induzierte Beschaffenheit der Dorsalbinden und Lateralflecken bleibt bestehen. Trotzdem ist diese erworbene Rotfärbung, solange sie bei der Mutter persistiert, vererblich. Die erworbenen Eigenschaften nehmen bei den Nachkommen ab in dem Maße, als sie auch bei den un- mittelbar beeinflußten Müttern zurücksinken. Eine zweite Versuchsreihe Kammerers betrifft die Karsteidechse, Lacerta fiumana, deren Unterseite normalerweise beim Männchen rot, beim Weibchen gelb ist. Außer anderen Farbenveränderungen, die wir hier über- gehen, erzielt man durch Temperaturerniedrigung bei beiden (Geschlechtern an der Bauchseite das Auftreten eines unreinen, glanzlosen oder matt- glänzenden Weiß. Bei Temperaturerhöhung verändert sich die Ventralseite nur beim Männchen; es tritt ein reines und stark glänzendes Weiß auf. In mittlere Temperatur zurückversetzt, bekommen die in der Kühle bei beiden Geschlechtern, in der Hitze beim Männchen weiß gewordenen Ventralseiten wenigstens in Form eines Schimmers die früheren Farben wieder. Die erworbene Eigenschaft der weißen Bauchfärbung, mag sie als Folge erniedrigter oder erhöhter Temperatur aufgetreten sein, ist vererblich. Bei den Nachkommen kann man aber an der Beschaffen- heit des Weiß nicht erkennen, ob es durch Hitze oder durch Kälte in- duziert war. Die induzierte Eigenschaft nimmt bei Rückversetzung der Eltern in mittlere Temperaturen mit jedem späteren Gelege ab, und zwar sowohl an Zahl weißbäuchiger Nachkommen als auch an Ausdehnung und Reinheit ihrer Weißfärbung. Hier schließen sich die Versuche von Sumner sowie von Preibram an Säugetieren an, die erst in den letzten Jahren unternommen worden sind und noch nicht nach allen Seiten ihren Abschluß gefunden haben, Einige äußerst bedeutungsvolle Resultate liegen aber bereits vor. Summer hat an weißen Mäusen experimentiert und in drei Arbeiten (1909, 1910 A, 1910 B) darüber berichtet. Przibram, der seine Untersuchungen mit Ratten ange- stellt hat, hat darüber bisher nur in einem Vortrag auf der 81. Versamm- lung deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1909 in Salzburg berichtet. Da die Ergebnisse beider Forscher übereinstimmen und sich er- gänzen, teile ich sie hier unter gebührender Hervorhebung ihrer Eigen- artigkeiten in gemeinsamer Darstellung mit. Es ist eine schon lange bekannte Tatsache, daß die Vertreter einer Säugetierart, soweit sie in einem kälteren Klima leben, eine viel stärkere Behaarung besitzen als die Vertreter derselben Spezies in einem wärmeren Klima. Auch hat man beobachtet, daß letztere Vertreter bei im übrigen 44 R. Semon. geringerer Körpergröße eine größere Länge der freien peripheren Körper- teile wie Ohren, Schwänze, Hände und Füße aufweisen, wobei die Sohlen- flächen von Hand und Fuß meist haarlos sind, die der Bewohner kälterer Gegenden oft eine Haarbekleidung besitzen. Sumner (1909) konnte nun, indem er von weißen Mäusen eine Gruppe in warmen Räumen (mittlere Temperatur 26°3° C), eine andere Gruppe in kalten Räumen (mittlere Tem- peratur 61°C) aufzog, experimentell nachweisen, daß die erwähnten Diffe- renzen im Körperbau unmittelbar durch die Einwirkung der höheren bzw. niederen Außentemperatur hervorgerufen werden können. Wie weit dabei auch der, falls nicht besondere Vorkehrungen getroffen werden, mit der Erwärmung abnehmende und mit der Abkühlung zunehmende relative Feuchtigkeitsgehalt der Luft eine Rolle gespielt hat — er ist ja ein die Transpiration stark beeinflussender Faktor — wurde in den bisherigen Untersuchungen noch nicht analytisch ermittelt. Bei Sumners in der Wärme aufgezogenen Mäusen, die wir kurz „Wärmemäuse“ nennen wollen, er- langten die freien peripheren Körperteile, wie Ohren, Schwänze, Füße, eine Länge, die die der „Kältemäuse“ um 12—30°/, übertraf. Umgekehrt ver- hielt sich die Entwicklung des Pelzes, und zwar zeigte sich sowohl das Gesamtgewicht des Haarpelzes bei den Kältemäusen im Vergleich zu den Wärmemäusen um durchschnittlich 13°6°/, vergrößert, als auch ließ sich eine Vermehrung der Zahl der Haare nachweisen, wenn man die Zahlen von gleich großen sich entsprechenden Arealen verglich. Przibram hat bisher nur über seine Beobachtung an in Wärme oder vielmehr in Hitze gehaltenen Tieren berichtet. Er hielt seine Tiere in viel heißeren Räumen als Sumner, nämlich bei 30—35° C. Bei solchen „Hitzeratten“ konnte ebenfalls ein deutliches Schwächerwerden der Be- haarıng beobachtet werden; unter den Vergrößerungen der peripheren freien Körperteile war bei ihnen eine Volumenzunahme der äußeren Ge- schlechtsorgane besonders auffallend. Meiner Meinung nach handelt es sich dabei wahrscheinlich vorwiegend um eine Hypertrophie der entsprechenden Hautfalten und häutigen Bedeekungen. Deutlich ließ sich bei den Ditze- ratten eine Verringerung der Gesamtgröße des Körpers nachweisen, die bei Sumners Wärmemäusen nur schwach angedeutet war. Endlich beobachtete Przibram bei solchen Ratten einen verfrühten Eintritt der Geschlechts- reife. Wurde eine Hitzeratte in kühlere Temperatur versetzt, so begannen die Hitzemerkmale an dem betreffenden Individuum zu schwinden, was sich ohne weiteres daraus erklärt, dal) es nunmehr der entgegengesetzten Induktion unterliegt. Zog Przibram nun eine Reihe von Generationen der Ratten unter Hitzebedingungen, so ließ sich von der vierten Generation an ein Spon- tanes Auftreten der Hitzemerkmale wahrnehmen, spontan insofern, als die Mutter gleich nach der Empfängnis in kühlere Temperaturen gebracht und die Jungen von Geburt an in solchen aufgezogen wurden. Ein anderes Resultat trat allerdings ein, wenn man die Eltern län- gere Zeit vor der Paarung in kühlere Temperaturen brachte und sie Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 45 sich erst paaren ließ, wenn ihre Hitzemerkmale bereits zurückgegangen, aber nicht vollständig verschwunden waren. Dieses Resultat erklärt sich einfach daraus, daß auf diese Elterntiere eine antagonistische Einwir- kung, eine Gegeninduktion gewirkt hat, und zwar gewirkt während der Periode des Wachstums und der Reifung der betreffenden Geschlechts- zellen. Wie die im nächsten Abschnitt ausführlich zu besprechenden Arbeiten Zowers bewiesen haben, ist diese Periode für die Keimzellen der Käfer die der größten Reizempfänglichkeit, es ist ihre „sensible Periode“. Aus der eben mitgeteilten Beobachtung Przibrams läßt sich mit eini- ger Wahrscheinlichkeit schließen, daß auch die Keimzellen der Wirbel- tiere eine Periode gesteigerter Reizempfänglichkeit besitzen und daß auch bei ihnen dies die Zeit des Wachstums und der Reifung der betreffenden Zellen ist. Auch gewisse Beobachtungen Aammerers (siehe unten S. 50) sprechen dafür. Diese Frage bedarf indessen für die Wirbeltiere noch der weiteren experimentellen Prüfung; bei den Käfern ist die Tatsache sicher- gestellt. Sumner verfuhr so, daß er seine Wärmemäuse sowie seine Kälte- mäuse so lange in ihren respektiven Räumen ließ, bis sie sich gepaart hatten, und daß er die Weibchen dann in einen Raum mittlerer Tempe- ratur brachte, wo auch die Nachkommen geboren und aufgezogen wurden. Mit Hilfe genauer Messungen ließ sich bereits bei dieser ersten (Genera- tion von Nachkommen insofern eine deutliche Vererbung der Reizwir- kungen erkennen, als die Nachkommen der Wärmemäuse ein geringeres Körpergewicht besaßen, als die unter gleichen Bedingungen aufgezogenen Nachkommen der Kältemäuse; auf der anderen Seite aber ließ sich bei ihnen eine zwar nur mäßige, aber doch bei den Messungen deutlich her- vortretende Verlängerung der Ohren, Schwänze und Füße feststellen. Sumner (1910 A, 1910 B) hält bei seinen Versuchen die Möglich- keit einer unmittelbaren Beeinflussung der Keimzellen durch den Tempe- raturreiz deshalb für ausgeschlossen, weil ein warmblütiges oder besser homöothermes Tier ja vermöge seiner Fähigkeit der Wärmeregulation seine Innentemperatur, auf die es für die Keimzellen doch allein an- kommt, gegenüber ziemlich weiten Schwankungen der Außentemperatur konstant zu erhalten vermag. Die Frage ist nur, ob Sumners Versuche sich innerhalb der Grenzen, innerhalb welcher seine Versuchstiere zu regu- lieren vermochten, gehalten haben oder nicht. Da, wie erwähnt, seine Kühlräume eine mittlere Temperatur von 61°C, seine Warmräume eine solche von 26°3° C besaßen, so ist bei dem von Pembrey‘) festgestellten außerordentlich entwickelten Temperatur- Regulationsvermögen der erwachsenen Mäuse allerdings durchaus nicht wahrscheinlich, daß diese Grenzen überschritten worden sind. Eine volle Sicherheit darüber können natürlich nur weitere, mit genauen Messungen ') M. S. Pembrey, The effect of variations in external temperature upon the out- put of carbonie acid and the temperature of young animals. The Journal of Physiology, V. XVII, 1895. 46 R. Semon. der Versuchstiere verbundene Experimente geben. Bei den in viel extremeren Temperaturen (30—35°C) gehaltenen Ratten Przibrams liegen die Dinge anders. Der dauernde Aufenthalt in so heißen Räumen wird voraussicht- lich eine kleine Temperaturerhöhung zur Folge haben; es muß eben einen kritischen Punkt geben, bei dessen Überschreitung das Wärmeregulations- vermögen versagt. Nach Feststellung der Grenzen des Regulationsvermögens bei dem betreffenden Versuchsobjekt wird es sich dann für weitere Zuchtversuche empfehlen, die Wärme- und Kälteeimwirkung nur innerhalb dieser Grenzen zu variieren und damit den Einwand einer direkten Beeinflussung der Keimzellen durch Temperaturschwankung bei so günstigen Objekten, wie diese Warmblüter es sind, physikalisch exakt zu eliminieren, ein Einwand, der sich selbstverständlich bei allen Temperaturversuchen an Kaltblütern, wie Käfern, Schmetterlingen, Amphibien, Reptilien, physikalisch überhaupt nicht ausschalten läßt. Auf diesen Einwand und seine physikalische und physiologische Kritik werden wir in den beiden folgenden Abschnitten näher einzugehen haben. Wir wenden uns zur letzten Gruppe der bisher erzielten experimen- tellen Ergebnisse, derjenigen, bei der es sich zum größten Teil, wenn auch nicht ausschließlich, um durch äußere Reize erzielte Instinktsände- rungen handelt, die ohne Wiederholung der Reize bei den Nachkommen wieder in Erscheinung treten. Die Ergebnisse der Pictetschen Versuche, soweit sie sich auf erbliche Änderungen der Färbung bei veränderter Ernährung beziehen, haben wir bereits oben (S. 40) berichtet. Von besonderer Wichtigkeit ist aber ein anderes, bei diesen Versuchen hervortretendes Resultat, das Pictet durch folgenden allgemeinen Satz ausdrückt (1905, 8.58): „La connaissance d’une nourriture nouvelle se transmettait parfois par heredite et des indi- vidus dont les parents avaient eu de la peine ä s’habituer ä une alimen- tation etrangere, consommaient ces m&ämes feuilles, d&s leur eclosion, avec beaucoup plus de facilite.“ Ocneriaraupen z. B. sind anfangs nur schwer dazu zu bewegen, Nußblätter als Nahrung anzunehmen. In den folgenden (Generationen machen sie sich aber ohne Schwierigkeit an diese Nahrung. Die Raupen derselben Art haben große Mühe, sich an Mespilus germanica, Aesculus hippocastanus, Populus alba zu gewöhnen; man muß ihnen an- fangs von Zeit zu Zeit Eichenblätter, ihre normale Nahrung, dazwischen reichen, um sie am Leben zu erhalten. In der zweiten Generation aber gewöhnen sie sich außerordentlich viel leichter an jene drei Gewächse. Schröder (1903B) gelang es durch Milieuänderung, indem er näm- lich die Larven des kleinen Weidenblattkäfers, Phratora vitellinae, von ihrem gewöhnlichen Aufenthalt, den glattblätterigen Weiden, auf Weiden mit stark filzigen Blättern brachte, den Fortpflanzungsinstinkt dieses Käfers inso- fern erblich abzuändern, als die späteren Generationen mehr und mehr die fremde Weidenart für ihre Eiablage bevorzugten, was bei der ersten, verändert gehaltenen Generation nicht der Fall gewesen war. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 47 Eine weitere erbliche Instinktsänderung vermochte Schröder (1903 B) bei Gracilaria stigmatella hervorzurufen. Diese Motte pflegt die Spitzen der Weidenblätter, von denen sie sich nährt, tütenförmig einzurollen und durch ein Gespinst zu befestigen. Schnitt nun Schröder alle Blattspitzen des von den Raupen bewohnten Baumes ab, so war diese Baumethode un- möglich gemacht. Viele der Raupen rollten aber trotzdem in Ermanglung der fehlenden Spitze eines der Ränder des Blattes ober beide ein, umwickelten sie und benutzten die so gebildete Blattsaumrolle als Wohnung. Die Abkömmlinge dieser Raupen versetzte Schröder während ihres Raupenstadiums unter gleiche abnorme Bedingungen. Die Raupen der dritten Generation aber versetzte er wieder unter normale Bedingungen, das heißt er ließ sie ihre Entwicklung auf Weiden mit unverstümmelten Blättern durchmachen. Obwohl jetzt kein Hindernis vorlag, den Instinkt in der normalen, von den Ureltern ausschließlich geübten Weise zu betätigen, hielt ein Teil der Raupen an der ihren Eltern und Großeltern aufgezwungenen Einrollung des Blattrandes fest. „Von den 19 Wohnungsanlagen zählten 15 zum Typus; 4 aber stellten, wie ich besonders hervorhebe, ein- oder beiderseitige Blattrandrollungen dar, ohne daß also experimen- tell eingegriffen wäre“ (Schröder, 1905B, S. 165). — Ich möchte zu dieser zweiten Schröderschen Versuchsreihe bemerken, daß ihre Ergebnisse ganz besonders wichtig sind, weil sich hier jeder Gedanke an „Parallel- induktion“ mit absoluter Sicherheit ausschalten läßt, daß aber gerade wegen dieser Wichtigkeit eine Ausdehnung der Versuche auf weitere Ge- nerationen und überhaupt eine Verbreiterung der zahlenmäßigen Grundlage erwünscht erscheint, um jedes Hineinspielen von Zufälligkeiten auszu- schalten. Wir kommen jetzt zu dem lange Zeit hindurch in dieser seiner Be- deutung nicht gewürdigten, im Jahre 1904 aber von mir in der ersten Auflage der Mneme (S. 303, 304) als experimentelle Lösung unserer Frage zuerst verwerteten Vererbungsexperiment Frl. v. Chauvins (1885) am mexikanischen Axolotl, Siredon (Amblystoma). Diese Molche sind vor ihren europäischen Verwandten, den allbekannten Tritonen und Salaman- dern, dadurch ausgezeichnet, daß sie am Ende ihrer Embryonalentwicklung nicht das Wasser verlassen und sich nicht unter Rückbildung der Kiemen zu Landmolchen umwandeln, sondern daß sie unter gewöhnlichen Verhält- nissen im Wasser bleiben, die Kiemen behalten und als mit allen Attri- buten des Wasserlebens versehene Wasserformen, sagen wir kurz als Larven geschlechtsreif werden und sich fortpflanzen. Man bezeichnet dieses Stehenbleiben der Entwicklung auf einer vor dem Endstadium lie- genden Stufe, dieses Verharren und Geschlechtsreifwerden auf einem Lar- venstadium als Neotenie. Beim mexikanischen Axolotl ist die Neotenie als normaler Zustand zu bezeichnen. Es gibt allerdings in Mexiko auch Lokal- rassen von Axolotln, bei denen ähnliche Einwirkungen im Freileben einge- treten sind, wie die, denen Frl. v. Chauvin ihr Material experimentell ausge- setzt hat, und die, erblich fixiert, zu nicht neotenischen Rassen geworden sind. 48 R. Semon. Das Material jedoch, mit dem Frl. v. Chauvin experimentiert hat, und von dem wir hier reden, war so beschaffen, daß die jungen Tiere auf keinem Stadium der Entwicklung die Tendenz zeigten, spontan von der Kiemen- zur Lungenatmung überzugehen und sich in die Landform zu verwandeln. ei einmal geschlechtsreif gewordenen Tieren ist die Verwandlung ohne- hin ausgeschlossen. Dagegen war Frl. v. Chauvin imstande, durch Anwendung besonderer Reize die Larven in einer bestimmten kritischen Entwicklungsphase zur Lungenatmung, Rückbildung der Kiemen, Verlassen des Wassers, schließlich zu vollkommener Metamorphose zum kiemenlosen Landmolch (Amblystoma ) zu veranlassen. Die ersten Schritte auf diesem Wege sind immer das Außerfunktion- treten der Kiemen und das Infunktiontreten der Lunge, und der Reiz, durch den diese ersten Schritte hervorgerufen werden, ist die Beeinträchti- gung der Kiemenatmung, die leicht dadurch zu erzielen ist, daß man es dem Tiere erschwert, seinen Sauerstoffbedarf aus dem die Kiemen umspülenden Wasser ausreichend zu decken. Die auf diese Weise zur Metamorphose gebrachten Molche wurden dann weiter am Leben erhalten, bis sie als Landtiere geschlechtsreif wur- den und sich fortpflanzten. Auch sie legen ihre Eier ins Wasser ab und die ausschlüpfenden Larven durchlaufen wie ihre Eltern ihre eigentliche Entwicklung im Wasser. Haben sie aber die Stufe erreicht, in der der Beginn der Metamorphose überhaupt erst möglich wird — die Tiere be- sitzen dann eine Länge von 14—16 em —, und in welcher man ihre Eltern, als man die Metamorphose einleiten wollte, unter Verhältnisse bringen mußte, die der Kiemenatmung besonders ungünstig waren, so ist letzteres bei den Nachkommen nicht mehr nötig. Trotzdem Frl. v. Chauvin viele solche Larven in reichlichem luftreichem Wasser hielt, „kamen sie häufig an die Oberfläche, um Luft zu schöpfen, und hielten sich hier stunden- lang auf, ein Benehmen, welches der Axolotl nur bei vorgeschrittenem Alter und in luftarmem Wasser zu zeigen pflegt. Auch der weitere Verlauf der Umwandlung, den Frl.v. Chauwvin bei derartigen Individuen sich vollziehen ließ, war nach Art und Tempo trotz jeden Fortfalls einer äußeren Nötigung ein wesentlich anderer, viel rapi- derer, als er bei Abkömmlingen von unmetamorphosierten Axolotln in den Chauwvinschen Zuchten je eingetreten war. Frl. v. Chauvin kommt daher zu dem Schluß, dal es wohl außer Zweifel sei, „daß dieser ausgeprägte Hang zur Fortentwicklung durch Vererbung auf diese Individuen überge- gangen war”.!) !) v. Hansemann (1909, 8. 313) hat auch gegen diesen Versuch den Zuchtwahl- einwand erhoben: „Es ist nun eine Beobachtungstatsache, daß, wenn man versucht, Axolotl in Amblystoma überzuführen, das durchaus nicht bei allen Tieren gelingt, ja wenn man dieselben zwingt, aufs Trockene zu gehen, geht eine Anzahl Axolotl dabei zugrunde. Man könnte danach die Tiere in zwei Gruppen teilen, solche, die die Fähig- keit besitzen, sich in Amblystomen umzuwandeln und ans Land zu gehen und solche, Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 49 Ist bei diesem Versuche eine erbliche Beseitigung einer normaler- weise vorhandenen Neotenie erzielt worden, so liefern das Gegenstück dazu Versuche P. Kammerers (1909 A) mit der Geburtshelferkröte, Alytes obstetri- cans, bei der eine Hervorrufung von Neotenie, die bei Kröten und Fröschen in der Natur nie vorkommt, vom Experimentator durch Anwendung künstlicher Mittel erzielt worden ist. Diese experimentell erzeugte Neotenie tritt alsdann bei der Nachkommenschaft wieder in Erscheinung, ohne dab jene künstlichen Mittel wieder bei ihr in Anwendung zu kommen brauchen. Als Hauptmittel zur Hervorrufung der Neotenie bediente sich Kammerer des Kunstgriffes, die Larve vor dem eigentlichen Ausschlüpfen aus ihrer Hülle herauszupräparieren, den Embryo somit zur freien Larve zu machen und ihn dadurch zu zwingen, sich vorzeitig dem Leben außerhalb der Ei- hülle im Wasser anzubequemen. Als unterstützende Faktoren wurden aubßer- dem Dunkelheit, Kälte, Luftreichtum, große Menge und Ruhe des Wassers, in dem solche Larven aufgezogen wurden, und schmale Kost angewendet. Auf diese Weise gelang es in einem Falle, eine geschlechtsreife weibliche Krötenlarve zu erzielen, deren Larvenmerkmale (breiter Ruderschwanz, drüsenarme Haut, ausschließlicher Wasseraufenthalt) eine ausgesprochene Neotenie bezeugten. Da in allen anderen Fällen es nur gelungen war, die Metamorphose hinauszuschieben, nicht aber ganz zu verhindern, vielmehr stets bei Eintritt der Geschlechtsreife doch noch Metamorphose erfolgt war, so blieb, um die Vererbung zu prüfen, nichts anderes übrig, als die einzig vorhandene geschlechtsreife Larve mit einem gewöhnlichen vollent- wickelten Krötenmännchen zu paaren. Trotz der Ungleichheit dieses Paares hat seine gesamte Nachkommenschaft (16 Exemplare) gegenwärtig die richtige Verwandlungszeit bereits um etwa anderthalb Jahre überschritten, besitzt erst Hinterbeine, und der Verwandlungstrieb scheint ganz abhan- den gekommen zu sein; und dabei befinden sich die Larven unter Be- dingungen, welche eher dem Eintritt der Metamorphose als der Neo- tenie förderlich sind: gemäßigte Temperatur, volles Tageslicht, selbst die die Fähigkeit nicht haben. Es ist eigentlich ganz selbstverständlich, daß die ersteren diese Fähigkeit auf ihre Nachkommen übertragen und ebenso die zweiten die mangelnde Fähigkeit. Frl. v. Chauvin hat also ganz unbewußt eine Auslese getroffen und hat eine Sonderung dieser beiden Formen von Axolotl hervorgebracht.“ Es ist mir völlig rätselhaft, wie v. Hansemann es als eine „Beobachtungstatsache* bezeichnen kann, daß die Überführung der Wasserform in die Landform (Axolotl in Amblystoma) im entsprechenden Stadium „durchaus nicht bei allen Tieren gelingt, ja wenn man dieselben zwingt, aufs Trockene zu gehen, geht eine Anzahl Axolotl dabei zugrunde“. Diese Behauptungen sind dem klaren Wortlaut der Mitteilungen und der Tabelle gegenüber, die Frl. ». Chauvin in ihrer von v. Hansemann zitierten Abhandlung von 1885 gibt, absolut unrichtig. Bei den 24 Exemplaren entsprechenden Stadiums, über die Frl. v. Chauvin in jener Arbeit berichtet, gelang ausnahmslos die Erzwin- gung der Metamorphose, und nicht ein einziges dieser Tiere ging dabei zugrunde, obwohl sie sich, weil in großen Aquarien mit kühlem luftreichem Wasser aufgezogen und infolgedessen im Besitz stark entwickelter Kiemen befindlich, nur durch starken Zwang zur Metamorphose bringen ließen. (Vgl. die Tabelle S. 369 in der C'haurinschen Arbeit von 1885 und die genauen Angaben dazu S. 368—371.) E.Abderhalden, Fortschritte. II. 4 50 R. Semon. Sonnenschein, gute Fütterung, kleine Menge und seichter Stand des Wassers. Wir beobachten hier also eine ausgesprochene Vererbung der dem einen der Eltern mit Erfolg aufgezwungenen Neotenie. Dagegen konnte Kammerer eine Vererbung in solchen Fällen nicht beobachten, in denen es nur ge- lungen war, bei den Eltern die Metamorphose zu verzögern, nicht aber bis zum Eintritt der Geschlechtsreife völlig zu unterdrücken, in denen also der Eingriff bei den Eltern nur von einem verhältnismäßig geringen Erfolg begleitet war, dem naturgemäß in seinem Einfluß auf die Keim- zellen die schließlich doch noch eintretende Metamorphose entgegenwirken mußte. Auch liegt, wie ich schon oben (S. 45) hervorhob, der Gedanke nahe, daß die Keimzellen der Wirbeltiere eine „sensible Periode“ besitzen, ähnlich der bei Käfern von Tower nachgewiesenen, die uns unten noch aus- führlich beschäftigen wird. Fällt dieselbe hier wie dort in die Reifezeit der Keimprodukte, so würde dies eine weitere Erklärung dafür sein, daß die Neotenie sich nur dann manifest vererbt, wenn sie während der sen- siblen Periode der Keimzellen noch besteht.!) Kammerer hat bei seinen Versuchen mit den Geburtshelferkröten noch verschiedene andere für unsere Frage wichtige Ergebnisse erzielt, von denen wir diejenigen hier nur einfach erwähnen wollen, bei denen es durch äußere Einwirkung gelang, Zwergwuchs bzw. Riesenwuchs bei den Eltern zu erzeugen, die sich bei Fortfall jener Einwirkungen auf die spä- teren (Grenerationen vererbte. Etwas ausführlicher möchte ich auf den Versuch eingehen, das sich entwickelnde Tier zu zwingen, seine Entwicklung länger als normal auf dem Lande durchzumachen. Bekanntlich legen die Geburtshelferkröten ihre Eier nicht wie andere Kröten und die Frösche ins Wasser ab, wo sich die Entwicklung bis zur Metamorphose vollzieht, sondern das väterliche Tier leistet seinem Weibchen Geburtshilfe, indem es ihm die Laichschnur aus der Kloake zieht, sie um seine Hinterschenkel wickelt und hier so lange herumträgt, bis die Eier zum Ausschlüpfen reif sind. Jetzt begibt sich der Vater mit seiner Brut ins Wasser und die Larven sprengen hier ihre Hüllen auf einem Stadium, das ein viel vorgerückteres ist als bei unseren übrigen Froschlurchen. Die Larven besitzen beim Ausschlüpfen allerdings noch keine Extremitäten, aber bereits Hornkiefer, welche ihnen beim Durch- brechen der Hülle wichtige Dienste leisten, sowie auch innere Kiemen. Es gelang nun Kammerer durch geeignete Mittel, die Larven bis zur zweibeinigen Entwicklungsstufe auf dem Lande aufzuziehen, worauf man sie allerdings, um Absterben zu verhüten, ins Wasser bringen muß. Solche „Landlarven“ sind diekhäutiger, haben schmäleren Flossensaum, hingegen stärkere Muskelpartie des Schwanzes. Besonders interessant ist bei ihnen die abnorme Ausbildung der Lungen. Bei normal aufge- zogenen Larven stellen diese einfache glattwandige Schläuche dar; bei ‘) Dies ist die Deutung, die Kammerer selbst (1909 A, S. 529) diesem Be- funde gibt. . Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 51 den gleichaltrigen „Landlarven“ sind es bereits in Waben und Bläschen abgeteilte Säcke, die sich in Form und Struktur den Lungen der ausge- bildeten Kröten nähern. Läßt man nun die aus solchen „Landlarven“ hervorgegangenen (neben- bei bemerkt verzwergten) Kröten sich fortpflanzen, so zeigt sich bei den Nachkommen, auch wenn man sie nicht wiederum unter anormale Bedin- gungen bringt, sie also nicht als Landlarven aufzieht, sondern sie zur normalen Zeit ins Wasser bringt, außer anderem die äußerst wichtige Vererbungs- erscheinung, daß die Lunge statt den diesen Stadien entspre- chenden glattwandigen Sack zu bilden, sich durchaus verfrüht zu einem wabigen, aus vielen Bläschen zusammengesetzten Or- gan ausbildet. Ebenso wichtig als dieser ist ein anderer Vererbungsversuch Kammerers. Hält man die zeugungsfähigen Geburtshelferkröten in einer hohen Tem- peratur von 25— 30°C, so veranlaßt die ungewohnte Hitze die Tiere, sich in dem ihnen stets zur Verfügung stehenden Wasserbehälter vor einer zu großen Austrocknung der Haut zu schützen. Hier findet dann auch Be- gattung und Eiablage statt. Da nun die Gallerte der Laichschnur im Wasser sofort aufquillt und ihre gewöhnliche Klebrigkeit verliert, so ge- lingt es unter diesen Umständen dem Männchen nicht, dieselbe an seinen Schenkeln zu befestigen. Sie gleitet ab und bleibt im Wasser liegen, und die Entwicklung der Eier findet nun ohne Brutpflege und von Anfang an im Wasser statt. Hatte man durch Wiederholung dieser Behandlung während mehrerer Laichperioden die betreffenden Elterntiere an ein Aufgeben ihres Brutinstinkts gewöhnt, so daß die Ablage der Laichschnüre im Wasser zu einem immanenten Instinkt geworden war, so blieb es dabei und kam es nicht zu einem Wiedereintritt der Brutpflege, wenn in den nächsten Laich- perioden die Tiere in niedrigere Normaltemperaturen zurückversetzt wurden. Erst in späteren Laichperioden und ganz allmählich kehrten sie unter dauernd normalen Bedingungen wieder zu ihren ursprünglichen Instinkten zurück. Um die Vererbung dieses veränderten Instinkts zu prüfen, übertrug nun Kammerer die Eier so veränderter Tiere in normale Bedingungen, und jetzt trat, vorausgesetzt, dab die Instinktsänderung bei den Eltern schon feste Norm geworden war, die Vererbung in aller denk- baren Deutlichkeit hervor: die geschlechtsreif gewordenen Geburts- helferkröten der zweiten Greneration suchten, auch wenn unter ganz nor- malen Bedingungen gehalten, das Wasser auf, begatteten sich und setzten dort ihre Laichschnüre ab, ohne sich weiter darum zu kümmern. Dies tun auch Tiere, die aus Eiern stammen, die man nicht im Wasser sich hat entwickeln lassen, sondern die man, obwohl von ihren Eltern ins Wasser abgelegt, künstlich unter die normalen Entwicklungsbedingungen gebracht hat. Entscheidend für das Laichbenehmen dieser zweiten sowie auch für die Entwicklungsweise der dritten Generation ist also nur die Frage nach dem Laichbenehmen der ersten Generation. Dies wird durch wichtige Kontrollversuche AKammerers (1909 A, 8.500) erwiesen. Denn bei Nach- 4* 52 R. Semon. kommen aus Eiern, die dem brutpflegenden Männchen gewaltsam abge- nommen und im Wasser gezeitigt wurden, erhielt sich der normale Be- sattungs-, Geburtshilf- und Brutinstinkt ebensowohl in zweiter als in dritter (eneration. Dagegen trat in der dritten Generation solcher Eltern und Großeltern, die des Brutinstinkts entwöhnt worden waren, bei den Männchen folgender hochinteressanter Rückschlag zu den Merkmalen der übrigen im [Wasser kopulierenden Froschlurche ein, die den unbeeinflußten auf dem Lande kopu- lierenden Geburtshelferkröten normalerweise verloren gegangen sind: es entwickelten sich die rauhen Brunstschwielen, die bei den männlichen Anuren das Anklammern im Wasser ermöglichen, sowie die dem gleichen Zwecke dienende besonders verstärkte Armmuskulatur, welche der Vorder- eliedmaße eine mehr einwärts gedrehte Haltung verleiht. In der eben zitierten Arbeit Kammerers findet sich noch eine Fülle von Mitteilungen über andere durch äußere Beeinflussung hervorgerufene und durch Vererbung festgehaltene Veränderungen, deren hinreichend ge- naue Wiedergabe jedoch hier zu viel Raum beanspruchen würde, weshalb auf die Lektüre des Originals dieser hochwichtigen Arbeit verwiesen werden muß. Wir wollen aber schließlich noch über eine Reihe anderer fundamen- taler Vererbungsversuche Kammerers mit der nötigen Ausführlichkeit be- richten. Der bekannte Feuersalamander, Salamandra maculosa, bringt normaler- weise zahlreiche (14—72) Junge als kiementragende, durchschnittlich 25 mm lange Larven zur Welt, die ins Wasser abgesetzt werden und dort noch einen längeren Entwicklungsgang durchmachen, bis sie nach Monaten ihre Kiemen verlieren, das Wasser verlassen und sich völlig zu Landmolchen umwandeln. Kammerer (1904) glückte es nun zunächst, die Weibchen durch äußere Einwirkungen zu veranlassen, ihre Nachkommen länger als gewöhn- lich im Uterus zu behalten, dann, durch Wiederholung der Einwirkung diese Spätgeburten zu habituellen zu machen. Die Einwirkung selbst bestand in nichts anderem als einfach in der Entziehung des Wasserbeckens, in das die Weibchen die Larven hätten absetzen können. Als Hilfsfaktor wurde in manchen Fällen daneben noch das Halten der Tiere bei niedriger Tem- peratur (für gewöhnlich bei 12°, Winterschlaf bei 2—4°) angewandt. Jedoch sei hervorgehoben, daß die Temperaturerniedrigung allein angewandt nicht genügte, einen Erfolg in gewünschtem Ausmaß hervorzurufen. Bei Wieder- holung der Versuche wird es sich überhaupt empfehlen, ausschließlich mit dem einfachen Faktor der Entziehung des Wasserbeckens zu arbeiten, der ja nach Kammerer zur Erzielung des erstrebten Erfolges vollständig ge- nügt. Dadurch würde die Beurteilung dieses Falles noch vereinfacht werden, und der beliebte Einwand der „Parallelinduktion“, auf dessen Widerlegung wir im nächsten Kapitel näher eingehen, wäre auch physikalisch ausge- schlossen. Der Werdegang der Veränderung von Salamandra maculosa voll- zog sich sodann nach Kammerer (1904, 1907) in vier Stufen, die vom Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, 53 Larvengebären im Wasser, wie es bei Salamandra maculosa normaler- weise Brauch ist, zum Vollmolchgebären auf trockenem Lande, und zwar in der Art, wie es beim Alpensalamander, Salamandra atra, Brauch ist, hinführen: 1. Viele Larven von 25—30 mm Länge werden statt ins Wasser auf dem Lande abgesetzt. 2. Ebenda wird eine geringere Anzahl von Larven aber innerhalb ein und desselben Wurfes gleichen Stadiums geboren. Zugleich mit den wohlausgebildeten Embryonen gehen ziemlich viele teratologische, nicht lebensfähige Abortivembryonen ab. 3. Eine noch geringere Anzahl (höchstens 7) Larven, die knapp vor der Meta- morphose stehen, mit reduzierten Kiemen oder ohne solche, aber mit noch offenen Kiemenspalten, oder bereits frisch verwandelte Vollsalamander werden abgesetzt. 4. Auch diese geringe Individuenanzahl des Wurfs ver- mindert sich noch von einer Graviditätsperiode zur anderen, bis, wie bei Salamandra atra, die Zahl der Nachkommen konstant auf zwei (ein Fötus in jedem Uterus) stehen bleibt. Kammerer (1907) zog nun eine Anzahl von Jungen auf, die geboren waren, als ihre Mütter die höchste Stufe habituellen Spätgebärens erreicht hatten, und paarte sie untereimander. Brachte er dann die befruchteten Weibchen dieser zweiten Generation in durchaus normale Verhältnisse, also hielt er sie feucht und nicht zu kühl und stellte er ihnen dauernd ein Wasserbecken zur Verfügung, so gebaren sie, obwohl jetzt jeder äußere Faktor für das Spätgebären wegfiel, doch nicht in der für ihre Spezies normalen Art und Weise, sondern lieferten ohne Ausnahme von Anfang an Spät- und Spärlichgeburten. Es waren zwar noch keine meta- morphosierten Vollmolche, die sie zur Welt brachten, aber in allen Fällen standen sie der Metamorphose außerordentlich viel näher als die normalen Larven. Auch war die Zahl der Jungen von normalerweise 14—72 auf 5, 4 und 2 Junge bei je einem Wurf zurückgegangen. Bezüglich der eben- falls sehr interessanten vererbten körperlichen und Instinktsänderungen der Neugeborenen verweise ich den Leser auf die Originalangaben und Abbildungen Kammerers. Ein Gegenstück zu diesen frappanten Versuchsergebnissen bei Sala- mandra maculosa lieferten die Experimente Kammerers an Salamandra atra, dem Alpensalamander, der, wie schon oben erwähnt, normalerweise nur zwei bereits völlig metamorphosierte, d. h. kiemenlose, lungenatmende, mit rundem saumlosen Schwanz versehene Junge auf dem trockenen Lande absetzt. Durch äußere Beeinflussungen verschiedener Art vermochte Kammerer beim Alpensalamander Frühgeburten einzuleiten und diese stufenweise zu steigern und habituell zu machen. Auch diese Eigentümlichkeit vererbte sich auf die Jungen, die, selbst wenn man sie unter den für ihre Art normalen Verhältnissen hielt und alle jene äußeren Beeinflussungen fort- ließ, doch ausnahmslos Frühgeburten durchmachten, d. h. zahlreichere kiementragende, mit Flossensaum versehene Larven ins Wasser absetzten. Ich schließe hiermit meinen Bericht über die wichtigsten Experi- mentalbeweise, zu denen noch weiteres hinzukommt, was wir im nächsten 54 R. Semon. Abschnitt zu behandeln haben werden. Wir haben oben unser Problem folgendermaßen formuliert: Läßt sich unter günstigen Umständen eine Ver- erbunge von bei der Elterngeneration in Erscheinung getretenen Reiz- be- ziehungsweise Erregungswirkungen nachweisen, die sich entweder durch das spontane Wiederauftreten der betreffenden Reaktionen (Bildungs- oder Betätigungsvorgänge) oder wenigstens durch das Bestehen einer Disposi- tion für ihr Wiederauftreten bei der Deszendenz manifestiert? Angesichts der im vorliegenden Abschnitt vorgelegten übereinstimmenden experimen- tellen Ergebnisse, denen sich die im folgenden Abschnitt noch zu bringen- den harmonisch angliedern, muß die Antwort auf diese Frage uneinge- schränkt Ja lauten. Das Milieu, das heißt die aus der Umwelt kom- menden Reize wirken nicht nur, wie längst bekannt, in hohem Maße umbildend auf die ihnen unmittelbar ausgesetzten Orga- nismen, sondern viele der auf diese Weise erzeugten Verände- rungen der Eltern manifestieren sich deutlich, wiewohl gewöhn- lich etwas abgeschwächt bei den Nachkommen, ohne daß diese ihrerseits den Reizen von neuem ausgesetzt zu werden brau- chen. In dieser bestimmten Aussage haben wir das übereinstimmende, bei Tieren und bei Pflanzen für morphologische und dynamische Verände- rungen gewonnene Resultat der experimentellen Forschung zu erblicken. VI. ABSCHNITT. Die Hypothese von der Parallelinduktion und die Towerschen Experimente. Es läge nahe, anzunehmen, daß durch die im vorigen Kapitel be- richteten Ergebnisse der experimentellen Forschung auch die Hauptfrage des uns beschäftigenden Problems endgültig und eindeutig gelöst sei. Meiner Meinung nach verhält sich das auch in der Tat so, womit nicht behauptet werden soll, daß nicht noch wichtige Unterfragen ihrer Lösung harrten. Durch Eigentümlichkeiten der historischen Entwicklung, die unser Problem durchgemacht hat, ist es aber gekommen, daß eine bestimmte dieser Unterfragen allmählich beinahe zur Hauptfrage geworden ist und sich zu einem ganz monströsen Gebilde ausgewachsen hat. Wie bereits in der Einleitung mitgeteilt, sah sich Weismann auf (rund seiner theoretischen Auffassung der Vererbung bewogen, die Ver- erbbarkeit erworbener Charaktere a priori in Abrede zu stellen. Nach ihm beruht die Vererbung darauf, „daß von der wirksamen Substanz des Keims, dem Keimplasma, stets ein Minimum unverändert bleibt, wenn sich der Keim zum Organismus entwickelt, und daß dieser Rest des Keimplasmas dazu dient, die Grundlage der Keimzellen des neuen Organismus zu bilden. Dar- aus folgt nun die Nichtvererbbarkeit erworbener Charaktere“ Indessen erkannte Weismann, der ein ebenso kenntnisreicher wie scharfsinniger Forscher ist, von Anfang an, dal) es angesichts einer Anzahl Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 55 von schon lange bekannten Erfahrungen nicht angeht, radikal jede Mög- lichkeit einer Veränderung des Keimplasmas durch äußere Einflüsse zu leugnen. So schrieb er bereits in seiner ersten Abhandlung über Vererbung (1883, 1892A, 8. 113): „Daß z. B. reichliche Ernährung eine Pflanze nicht nur üppiger wachsen macht, sondern sie auch in bestimmter Weise ver- ändert, ist bekannt, und es würde wunderbar sein, wenn nicht auch die Samen derselben größer und mit reichlicherer Nahrung versehen sein sollten. Wiederholt sich diese Art der Ernährung, so wäre eine weitere Steigerung in der Größe der Samen und der Üppigkeit und der aus dieser resultierenden Abänderung der Pflanze, wenn nicht notwendig, so doch denkbar. Dies würde aber keineswegs eine erbliche Übertragung erworbener Charaktere sein, sondern nur die Folgen einer direkten Beeinflussung der Keimzellen und besserer Ernährung während des Wachstums.!) Eine ähn- liche Auslegung läßt sich im umgekehrten Fall anwenden. Werden gewöhn- liche Pferde auf die Falklandsinseln gebracht, so nehmen sie schon in der ersten dort geborenen Generation durch die schlechte Nahrung und das feuchte Klima an Größe erheblich ab und ‚nach einigen Generationen sind sie ganz schlecht‘. Man braucht hier nur anzunehmen, daß das für Pferde ungeeignete Klima und die schlechte Nahrung nicht bloß die ganzen Tiere, sondern auch ihre Keimzellen trifft. Auch hier handelt es sich nur um eine andere, nämlich geringere Ausstattung der Keimzellen, zu der dann noch die mangelnde Ernährung während des Wachstums kommt, nicht aber um Übertragung von bestimmten Eigenschaften durch die Keim- zellen, welche erst im ausgebildeten Pferd infolge des Klimas aufgetreten wären.“ Auf S. 119 derselben Arbeit faßt dann Weismann diese Auffassungen folgendermaßen zusammen: „Ist er (der übrige Körper des Organismus) gut ernährt, so werden es auch die Keimzellen sein, und umgekehrt, ist er schwach oder krankhaft, so werden auch die Keimzellen nur kümmer- lich heranwachsen können und es ist — wie oben schon dargelegt — auch denkbar, daß diese Einflüsse noch spezialisierter, d.h. nur auf einzelne Teile der Keimzellen wirken. Dies ist aber ganz etwas anderes, als wenn man sich glaublich machen soll, der Organismus vermöge Verände- rungen, welche durch äußere Anstöße an ihm geschehen, derart auf die Keimzellen zu übertragen, daß sie in dem kommenden Geschlecht wiederum zu derselben Zeit und an derselben Stelle des Organismus sich entwickeln, wie es bei dem elterlichen Organismus geschah.“ Die letzten Worte des Zitats enthalten in der Tat ein Kriterium, um in konkreten Fällen die von Weismann hier aufgeworfene Frage zu ent- scheiden. Man wird ihm darin Recht geben, daß durch kümmerliche Er- nährung der Eltern kümmerlich entwickelte Keime und Nachkommen; !) An dieser Stelle macht Weismann eine Anmerkung, die wir erst unten (S. 56) wörtlich zitieren wollen, weil sie die Brücke zu weiteren Deduktionen Wersmanns und seiner Nachfolger bildet. 56 R. Semon. durch reichliche Ernährung der ersteren kraftstrotzende Keime und Nach- kommen erzielt werden können, ohne daß in diesen Fällen von einer Vererbung in dem Sinne gesprochen werden darf, wie wir die Frage oben (S. 9) formuliert haben. Um eine solche Vererbung im eigentlichen Sinn zu beweisen, ist vielmehr, wie Weismann mit Recht hervorhebt, in erster Linie der Nachweis erforderlich, daß die bei den Eltern in- duzierten Veränderungen ohne Wiederholung des Reizes genau ebenso spezialisiert, räumlich und zeitlich in gleicher Weise determiniert auftreten wie bei den Eltern. Dieser Nachweis nın kann geführt werden, und damit wäre als Tat- sache erwiesen, was Weismann ehemals für unglaublich hielt. Freilich hat er sich schon damals einen Rückzug gesichert, indem er in der auf der vorigen Seite erwähnten Anmerkung folgendes ausführte: „Es wäre theoretisch sogar denkbar, daf) solche Keimzellen nicht gleichmäßig, in allen ihren Molekülen von einer Veränderung der äußeren Bedingungen betroffen wer- den, vielmehr nur partiell, in gewissen Molekülgruppen. Daraus würden dann Abänderungen nur gewisser Teile des fertigen Organismus resultieren, aber diese brauchen nicht notwendig die gleichen zu sein, welche etwa in der wachsenden Pflanze durch dieselben äußeren Einflüsse veranlaßt wür- den, und selbst wenn dies der Fall wäre, läge immer noch keine Ver- erbung erworbener Eigenschaften vor.“ In dem Maße nun, als das räumlich und zeitlich scharf umschriebene Wiederauftreten von experimentell erzeugten Veränderungen der Eltern bei der Nachkommenschaft nicht nur glaublich gemacht, sondern als un- umstößliche Beobachtungstatsache erwiesen wurde, vollzog sich im Weis- mannschen Lager ein Frontwechsel nach der von Weismann selbst zuerst nur vorsichtig angedeuteten Rückzugslinie hin und konzentrierte sich schließ- lich um die Hypothese von der parallelen Induktion. Ausgegangen wird dabei von der nicht abzuleugnenden physikalischen Möglichkeit, daß viele physikalische und chemische Reize als solche durch die Gewebe des Körpers hindurch bis zu den Keimzellen durchzudringen vermögen. Wenn man z.B. eine Pflanze oder einen Kaltblüter abkühlt, so werden auch seine Keimzellen direkt von der Temperaturerniedrigung be- troffen. Ein chemischer, den Körpersäften einverleibter Stoff kann als solcher direkt bis zu den Keimzellen gelangen usw. Derartige Reize nun wirken nach Weismann und seinen Anhängern nicht nur gesondert auf den eigentlichen Körper, das „Soma“ und auf die Keimzellen, sondern sie ent- falten bei diesem gesonderten Eintritt hier und dort auch eine korrespondie- rende Wirkung. Im Soma bewirken sie, durch spezifizierte Reizpforten ein- dringend und sich bei ihrer weiteren Ausgestaltung überall spezifizierter Apparate und Systeme bedienend, ganz bestimmte morphologische und dynamische Veränderungen. Ganz unabhängig davon sollen sie an den Keim- zellen ohne die Vermittlung solcher Apparate eine korrespondierende Abänderung der entsprechenden „Determinanten“ des Keimplasmas bewirken. Detto (1904, S. 199) hat diese hypothetisch angenommene gleichartige Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 57 Beeinflussung einerseits des Somas mit seinen komplizierten Apparaten zur Reizaufnahme und Ausgestaltung, andrerseits der Weismannschen „Determinanten“ des Keimplasmas treffend als „parallele Induktion“ bezeichnet. Trotz dieser seiner Patenschaft steht er übrigens dieser Hypo- these in der Hauptsache kritisch gegenüber. Weismann nun will nicht, daß man in den Fällen dieser supponierten Parallelinduktion von Ver- erbung spricht. „In Wahrheit ist es nicht die somatische Abänderung selbst, welche sich vererbt, sondern die ihr korrespondierende, von demselben äußeren Einfluß hervorgerufene Abänderung der entsprechenden Determi- nanten im Keimplasma der Keimzellen, der Determinanten der fol- genden Generation“ (Weismann, 1904, 2. Bd., 8. 230). Ich halte die Lehre der Parallelinduktion von Keimplasma und Soma in der Ausbildung, die sie allmählich erfahren hat, für physiologisch so völlig unhaltbar, daß ich eine ausführliche Auseinandersetzung mit ihr nicht für nötig befinden, sondern mich mit einer kurzen Darlegung ihrer Undurch- führbarkeit begnügen würde. Die Sachlage ist aber im Laufe der letzten Jahre dadurch eine eigenartige geworden, daß in einer an sich ganz aus- gezeichneten Arbeit Towers (1906) angeblich der strikte Nachweis einer solehen Parallelinduktion in einem konkreten Falle geführt worden ist. Dieser scheinbare Nachweis, der auf einem eigenartig zustande gekommenen Irrtum beruht, hat auf zahlreiche Biologen einen außerordentlich starken Eindruck gemacht, so daß sie aus diesem angeblich einwandfrei bewiesenen Fall von Parallelinduktion auf die Unmöglichkeit jeder somatischen Induktion schließen und die Nichtvererbbarkeit somatisch induzierter Veränderungen für erwiesen halten. Es wird unter diesen Umständen meine Aufgabe sein, ausführlich auf die betreffenden Towerschen Untersuchungen einzugehen und festzu- stellen, was an seinen Schlußfolgerungen begründet, was irrtümlich ist, und sodann die Lehre von der Parallelinduktion überhaupt an der Hand des uns vorliegenden Tatsachenmaterials einer eingehenderen Prüfung zu unter- ziehen. Towers Versuche, die an Käfern angestellt worden sind, knüpfen an die schon oben in bezug auf ihre Vererbungsresultate wiedergege- benen Schmetterlingsexperimente an, bei denen durch Reizung verschie- dener Art, der man das Tier im Puppenstadium aussetzt, nicht nur eine Färbungsänderung des ausschlüpfenden Imago, sondern auch eine solche seiner Nachkommen erzielt wird. Die grundlegende Entdeckung, nämlich daß es möglich ist, die Färbung des Tieres selbst durch eine auf seine Jugendstadien ausgeübte Reizung zu verändern, wurde im Jahre 1864 von Dorfmeister gemacht und außer von diesem (1879) besonders von Weis- mann (1875, 1895), ferner von Merrifield (18901894, 1897), Standfu (1891, 1894— 1899) und Fischer (1894, 1396—1899, 1901, 1902, 1907) sorg- fältig durchgearbeitet. Auf zwei wichtige, die Beeinflussung der Elterngenera- tion betreffende Resultate dieser Arbeiten möchte ich hier hinweisen: Erstens, daß dieselben Abänderungen in Färbung und Zeichnung durch verschieden- Ds R. Semon. artige Reize ausgelöst werden können. Bereits vor längerer Zeit hat Fischer (1894, 1896) nachgewiesen, daß es möglich ist, dieselben Aberrationen so- wohl durch Hitze als auch durch Frost hervorzurufen. Auch durch Zentri- fugieren der Puppen erzielte dieser Forscher (1901 A) Frost-Hitzeaberra- tionen. Dasselbe gelang ihm durch Einwirkung von Ätherdämpfen auf die Puppen. M.v. Linden (1904) erzielte durch Kohlensäureeinwirkung eine Aberration von Vanessa urticae, wie man sie durch abnorme Hitzegrade hervorzurufen pflegt. Zweitens: Um die Veränderung in Färbung und Zeichnung zu er- zielen, ist es nicht notwendig, die Tiere von der Eientwicklung an bis zum Ausschlüpfen aus der Puppenhülle den betreffenden Einflüssen aus- zusetzen, sondern es genügt, diese Einwirkung auf das Puppenstadium zu beschränken. Diesen Nachweis verdanken wir Merrifield (1895), der auch fand. daß bei Chrysophanus phlaeas nur die letzten 5—6 Tage der Puppen- zeit entscheidend für die Färbung des Imago sind und daß weder die Larven- noch auch der Anfang der Puppenperiode dabei in Betracht kommen. Bei anderen Arten glaubt Weismann (1895) die kritische oder empfind- liche Periode für den Einfluß der Temperatur auf den Beginn der Puppenzeit verlegen zu müssen. Eine allgemeine, für alle Arten geltende Regel läßt sich hier also nicht aufstellen. Sehr wichtig ist aber die später gemachte Feststellung, daß, je nachdem man die Puppen früher oder später der ungewöhnlichen Temperatur aussetzt, entweder nur die Hinterflügel oder nur die Vorderflügel am fertigen Schmetterling sich verändert zeigen. Standfuß führt dies einleuchtend auf den Umstand zurück, daß die Hinter- flügel den Vorderflügeln in der Entwicklung vorauseilen, wie sie sich denn auch früher ausgefärbt zeigen, wenn man den Falter vorzeitig aus der Puppe herausschält. Daraus erklärt es sich, daß das kritische Stadium für die Beeinflussung der Hinterflügel schon nahezu oder ganz vorüber ist, wenn das für die Beeinflussung der Vorderflügel eintritt. Die Befunde Towers an Leptinotarsa schließen sich in der Haupt- sache an diese schon lange bei Schmetterlingen bekannten Tatsachen an. Als Reize verwendete er vornehmlich Erhöhung bzw. Herabsetzung der Temperatur oder Vermehrung bzw. Herabsetzung des Feuchtigkeitsgehalts der Luft gegen die Norm. Da er nur unbedeutende Veränderungen durch Nahrungseinflüsse, gar keine durch Veränderung der Belichtung oder des Luftdruckes erzielen konnte, so spielen diese Faktoren in seinen Experi- menten keine Rolle. Seine Versuche bestätigten nun zunächst die schon von Fischer bei Schmetterlingen festgestellte Tatsache, daß dieselben Aberrationen sowohl durch Hitze als auch durch Frost hervorgerufen werden können. Ebenso, nur noch kräftiger, wirken Vermehrung oder Herabsetzung des Wassergehalts der Luft. Neu aber ist der folgende wichtige Befund. Eine mäßige Reizung, ganz gleich, ob sie in einer mäßigen Steigerung oder mäßigen Herabsetzung der Tem- peratur oder ob sie in einer mäßigen Vermehrung oder Verminderung der Luftfeuchtigkeit bestand, bewirkte eine Zunahme der Pigmentierung, sie er- Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 59 zeugte einen mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Melanismus. Bei weiterer Steigerung der positiven wie der negativen Reizgrößen nahm diese Wirkung sukzessive ab, bis sie an einem bestimmten Punkte zu Null wurde und nun in ihr Gegenteil umschlug. Das heißt, übermäßige Hitze oder Kälte, Feuchtigkeit oder Trockenheit bewirken Abnahme der Pigmentierung der Larve, sie erzeugen entsprechend dem Maße der Steigerung schwächer oder stärker ausgeprägten Albinismus, bis endlich bei weiterer Steigerung der Reizung die übergroße Mortalität der Weiterführung der Experimente eine Grenze setzt. Mit dem Melanismus ist zugleich gewöhnlich eine gute Ausbildung, zuweilen sogar eine kleine Zunahme der allgemeinen Körper- größe, mit dem durch überstarke Reize induzierten Albinismus ist fast immer, wohl entsprechend der schädlichen Wirkung solcher Reize, die die Mortalitätsziffer stark anschwellen lassen, eine noch deutlicher erkenn- bare Abnahme der Körpergröße verbunden. !) Die Larven der verschiedenen Leptinotarsaarten machen im Larven- stadium eine zweimalige Häutung durch. Beim Eintritt in das Puppen- stadium — die Verpuppung findet unter der Erde statt — erfolgt eine weitere Häutung, die die im Dunkeln lebende Puppe in ein beinah farb- loses Kleid hüllt. Die Färbung des Imago endlich entwickelt sich unter dieser Puppenhaut. Sie erreicht ihre volle Intensität aber erst, nachdem der Käfer sich aus dem Boden herausgearbeitet und einige Tage lang ge- fressen hat, das heißt also unmittelbar vor dem Eintritt der Fortpflan- zungsperiode. Wurden nun die Tiere nicht nur während der Verpuppung, sondern bereits während ihrer Larvenstadien den betreffenden Reizein- flüssen ausgesetzt, so stellte sich bei Anwendung mäßiger Reize Melanis- mus sowohl des Larvenkleides von der nächsten Häutung nach Beginn der Reizung an, als auch des Imagokleides ein; bei Anwendung starker Reize erfolgte Albinismus mit gleichzeitiger Größenreduktion sowohl der Larven als auch der ausgebildeten Käfer. Für die Färbung der letzteren macht es keinen Unterschied, ob die Einwirkung schon bei Beginn der ontogenetischen Entwicklung einsetzt und sich über das ganze Larven- und Puppenstadium erstreckt oder bloß während des späten Larvenlebens und während der Verpuppung erfolgt. Beschränkt man die Reizung auf das Larvenstadium und setzt sie im Puppenstadium aus, so unterbleibt eine Beeinflussung der Färbung des Imago; die ausschlüpfenden Käfer sind dann normal gefärbt. Diese Käfer besitzen also ebenso wie die Schmetterlinge eine kritische oder empfindliche Periode für die Beein- flussung der Färbung des Imago durch die betreffenden Reize. Sicherlich wird es für die Beeinflussung der Färbung jeder der drei sukzessiven Larvenhäute auch je drei besondere entsprechend frühere kritische Pe- rioden geben. Soweit enthalten diese Befunde Zowers nichts prinzipiell Neues im Vergleich zu den schon früher bei Schmetterlingen erzielten. Denn der ') Über die Herabsetzung der Körpergröße bei Säugetieren durch Einwirkung von Wärme vgl. die Versuche von Sumner und Przibram im vorigen Abschnitt, S. 44. 60 R. Semon. Befund, daß die Beeinflußbarkeit der Färbung der Larven einerseits, des Imago andrerseits ihre besonderen kritischen Perioden haben, entspricht im Prinzip dem bei Schmetterlingen gewonnenen, daß die früher sich ent- wickelnden Hinterflügel eine andere, und zwar frühere kritische Periode haben als die später sich entwickelnden Vorderflügel. Darüber hinaus machte nun aber Tower noch folgende wichtige Fest- stellungen: 1. Wenn er die betreffenden Reize während der ganzen Entwick- lung bis zum Ausschlüpfen oder auch nur während des Puppenstadiums allein einwirken ließ, die Käfer aber gleich nach dem Ausschlüpfen, also während der Wachstumsperiode ihrer Keimzellen den betreffenden Ein- wirkungen entzog und unter normale Bedingungen brachte, so zeigte ihre Nachkommenschaft, falls unter normalen Bedingungen aufwachsend, keine Spur der Farbenänderungen, die doch am Kleide ihrer Eltern zutage ge- treten waren. Sie zeigte sie auch dann nicht, wenn man das gleiche Verfahren in einer ganzen Reihe von aufeinander folgenden Generationen wiederholte. 2. Wenn er die Versuchsobjekte nieht während der Wachstums- und teifeperiode ihrer Keimzellen den Reizeinflüssen entzog, sondern dieselben fortwirken ließ, so traten bei. der Nachkommenschaft dieselben oder doch sehr ähnliche Abweichungen der Färbung auf, wie sie unter diesen Um- ständen am Körper der Eltern zutage getreten waren. 5. Wenn er die Elterngeneration während ihrer Puppenperiode nicht den Reizeinflüssen aussetzte, so entwickelte sie sich natürlich zu Käfern, die in ihrer Färbung nicht von der Norm abweichen. Exponierte er nun solche ausgeschlüpften und für ihre Person nicht mehr in ihrer Färbung veränderbaren Käfer während der Wachstums- und Reifeperiode ihrer Keimzellen den Reizen, so zeigten sich die Kinder und Enkel dieser nor- mal eefärbten Käfer melanotisch bzw. albinotisch verändert. Zu 3. ist noch folgendes zu bemerken. Im Gegensatz zu den Schmetter- lingen und vielen anderen Insekten entwickeln die Käfer nicht alle ihre Eier zu gleicher Zeit, sondern schubweise, dergestalt, daß bei Leptinotarsa immer die nächste Gruppe von Eiern ihre Entwicklung erst beginnt, nachdem die vorhergehende Gruppe abgelegt worden ist, so daß zwischen der Ablage zweier aufeinanderfolgender Gruppen ein Intervall von 4—10 Tagen liegt. Läßt man nun die Reize, mit denen man experimentiert, nur während der ersten Hälfte der Fortpflanzungsperiode der Tiere wirken, so zeigen sich nur die Nachkommen, die aus in dieser Zeit gereiften Eigruppen stammen, aberrativ verändert. nicht aber die Nachkommen aus den später ge- reiften Eiern. Und umgekehrt, reizt man nur in der zweiten Hälfte der Fortpflanzungszeit, so zeigen sich die Nachkommen aus der ersten Lege- periode unverändert, die aus der späteren verändert. Durch genauere Ana- Iyse der hierdurch zu erlangenden zeitlichen Anhaltspunkte konnte Tower mit Sicherheit nachweisen, nicht nur daß die weiblichen Keimzellen eine kriti- sche (sensible, empfindliche) Periode besitzen, in der ihre Reizempfänglichkeit Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 61 außerordentlich gesteigert ist, sondern auch, daß diese Periode mit der Wachstums- und Reifeperiode der Keimzellen zusammenfällt. Tower, worin man ihm nur zustimmen kann, behauptet nicht, daß die Keimzellen vor- her und nachher gänzlich unbeeinflußbar seien; er hat aber die außer- ordentlich gesteigerte Reizbarkeit der weiblichen Keimzellen während jener Periode überzeugend nachgewiesen. Was die männlichen Keimzellen an- langt, so ist für sie ein solcher strikter Nachweis bisher noch nicht gelungen. Ich sehe hierin eine Entdeckung von großer Tragweite, die uns neue Perspektiven eröffnet und geeignet scheint, manche rätselhafte Tatsachen, vor allem die scheinbare Launenhaftiekeit, mit der gewisse Vererbungs- erscheinungen auf äußere Einwirkungen hin das eine Mal auftreten, das andere Mal wieder ausbleiben, wenigstens teilweise zu erklären, das heißt einer einfachen Gesetzmäßigkeit unterzuordnen. Das Vorhandensein einer sensiblen Periode der Keimzellen, diesen neuen Schluß und nur diesen allein kann man für unser Problem aus den bisher vorliegenden Towerschen Befunden ziehen, und andrerseits erklärt diese Erkenntnis, wie wir gleich sehen werden, restlos die ganze Sachlage. Irrtümlicherweise zog aber Tower aus seinen Befunden noch weitere Schlüsse, die sich allerdings bei ihm nirgends in einer hinreichend scharfen Fassung vorfinden, weil er sich offenbar das hier vorliegende Problem nicht mit der entsprechenden Schärfe gestellt hat und er die bis da- hin vorliegenden Arbeiten, in denen es hinreichend präzis formuliert ist, Plate (1903), Detto (1904), Semon (1904), nicht kennt. Anders verhält sich dies bei Lang, der diese Arbeiten sowie die späteren von Semon (1907 A) und Kammerer (1907), in welchen die Erörterung fortgesetzt wird, bei Ab- fassung seines Referats (1909) genau gekannt hat. Da er sich in diesem Referat, in dem er sich bedingungslos an Tower anschließt, mit Vorliebe der von Detto vorgeschlagenen Terminologie (somatische Induktion und parallele Induktion) bedient, so ist es bei der hierdurch erzielten größeren Schärfe der Ausdrucksweise leichter möglich, die Wurzeln der hier ge- machten Irrtümer bloßzulegen. „Somatie modifications“ oder „somatic variations are not inherited“, somatische Modifikationen vererben sich nicht, dieser Ausspruch findet sich in unzähligen Wiederholungen in dem Towerschen Buche. Dieser Aus- druck ist so unbestimmt, man kann sich darunter so viel Verschiedenes denken, daß hier zunächst Klarheit geschafft werden muß. Was ist eine „somatic modification“ ? Zweifellos eine am Körper der Eltern auftretende Veränderung, in der wir, wenn wir sie im Hinblick auf unser Problem betrachten, eine Reaktion auf eine Reizung zu erblicken haben. Nun ist es ganz selbstverständlich, daß, wenn diese Reizung zu einer Zeit erfolgt ist, in welcher die reizbare Substanz der Keimzellen nicht oder beinahe nicht reizempfänglich war, ein Einfluß) auf sie nicht ausgeübt werden, eine Vererbung der Reizwirkung nicht erfolgen kann. 62 R. Semon. Hier könnte man folgenden Einwand machen, und dies ist offenbar auch der Gedanke, der der Auffassung von Tower und Lang zugrunde liegt: die somatische Modifikation ist doch noch vorhanden, wenn die sensible Periode der Keimzellen eintritt. Warum übt sie alsdann nicht die entspre- chende Wirkung auf die jetzt reizempfänglich gewordenen Keimzellen aus? Die Antwort ist leicht genug: weil zu dieser Zeit von der betreffenden somatischen Bildung keinerlei Reiz ausgeht. Tower und Lang vergessen ganz, daß von den Vertretern der somatischen Induktion doch immer eine Induktion, eine Reizwirkung vorausgesetzt wird. Gerade in diesen Towerschen Fällen ist aber überhaupt jegliche Möglichkeit einer von der Färbungsmodifikation ausgehenden Reizwirkung ausgeschlossen. Denn diese Modifikationen bestehen in Pigmentablagerungen in der äußeren Cuticula, welche keine Porenkanäle besitzt und also in ihrer Tiefe, wo sich die Pig- mentablagerungen befinden, außer jeder reizleitenden Verbindung mit der reizbaren Substanz des Organismus mitsamt seinen Keimzellen steht. Von dem Vorhandensein anderer morphologischer Merkmale als ge- rade der von Tower berücksichtigten können allerdings sehr wohl Erregungen ausgehen; es sind die von mir in der Mneme (1908A, 8. 237-272) aus- führlich behandelten morphogenen FErregungen, die sich uns, wie dort ge- zeigt, in besonders deutlicher Weise beim Auftreten von Regeneration und Regulation manifestieren. Es liegt in der Natur der Sache, daß diese, ich möchte sagen, chronischen Erregungen sehr viel schwächer sind als die durch äußere Reize induzierten, mehr akuten Erregungen, die zur Schaffung neuer morphologischer Merkmale führen, wie z. B. die Hitzereize, die Er- regungen auslösen, welche zur Ausbildung vergrößerter Schweißdrüsen führen. Eine solche Induktion bedingt natürlich viel kräftigere Erregungen, und diese werden naturgemäß ungleich stärker auf die Keimzellen einwirken, als die vom bloßen Vorhandensein vergrößerter Schweißdrüsen ausgehen- den morphogenen Erregungen. Besonders wird dies dann der Fall sein, wenn sich mit dem Vorhandensein nicht auch noch funktionelle Reize, wenn sich mit den morphogenen Erregungen nicht auch funktionelle ver- binden, ein Zustand, der dann gegeben ist, wenn wir z. B. derartige Tiere in kühlen Räumen halten. Auf die wichtige Frage des gegenseitigen Ver- hältnisses der bloß morphogenen und der durch äußere Einflüsse bzw. durch Funktion bedingten mehr akuten Erregungen und ihre Wertigkeit für die Vererbung möchte ich, um mich nicht zu sehr ins Theoretische zu ver- lieren, hier nicht näher eingehen. Ich behalte mir dies für eine spätere Gelegenheit vor und fühle mich zu diesem Aufschub um so mehr berech- tigt, als Towers Cutieularmerkmale, wie wir sehen, nicht einmal morpho- gene Erregungen bedingen. Es lag also für die „somatie modifications“ Towers überhaupt keine Vererbungsmöglichkeit vor, weil sie durch äußere Reize zu einer Zeit in- duziert worden sind, in der sich die Keimzellen in ihrer nicht sensiblen Periode befanden, und weil, wenn diese sensible Periode eingetreten ist, von ihnen keinerlei Erregungswirkung ausgeht. Eine derartige somatic Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 63 modification kann also schlechterdings keinen Einfluß auf die Keimzellen ausüben und also nicht zur germinal modification werden. Daß aber eine somatie modification, die aus irgend einem Grunde nicht zu einer germinal modification geführt hat, sich nicht vererbt, wird von niemand bestritten und ist nur dasselbe Ding auf zwei verschiedene Weisen ausgedrückt. Strittig ist einzig und allein die Art und Weise der Reizübermittlung auf die Keimzellen, also die Art und Weise der Ent- stehung einer „germinal modification“. Allerdings glaubt Tower auch diese Frage für sein Objekt durch seine Experimente entschieden zu haben; diese Entscheidung ist aber nur erfolgt auf Grund eines zweiten Irrtums. Tower hat, wie wir sahen, ge- zeigt, daß die sensible Periode der Keimzellen bei Leptinotarsa in die Zeit nach der Verpuppung fällt. Zu dieser Zeit nun ist eine Änderung in der Färbung und Zeichnung der Cutieularkleider der Eltern nicht mehr mög- lieh. Läßt man also alsdann die Reize einwirken, so kann man wohl einen Einfluß auf die Keimzellen ausüben, der sich später an den heranwachsen- den Nachkommen manifestiert, eine Manifestation der Reizwirkung am Cutieularkleide der Eltern ist aber unmöglich gemacht. Tower zieht hieraus implieite die Folgerung, und Lang (1909, 8. 74) spricht diese Folgerung direkt aus, dab in diesem Falle der experimentelle Faktor allein auf die Geschlechtszellen, nicht aber auch auf das elterliche Soma wirken kann, und daß somit eine somatische Induktion hier ausge- schlossen ist. Diese Folgerung ist genau ebenso begründet wie die, dal) ein Mensch, der eine starre Maske trägt und dessen Gesichtszüge deshalb keine Veränderung zeigen können, von freudigen und von schmerzlichen Eindrücken unberührt bleiben müsse. Eine kurze Überlegung zeigt dagegen, dal) unter der starren unveränderlichen Hülle der Imagocuticula die reizbare Substanz des Somas nach wie vor von Reizen beeinflußt werden kann und trotz der Maskierung durch jene starre unveränderliche Hülle, trotz des dadurch bedingten Aus- falls einer äußeren Manifestation sogar notwendigerweise beeinflußt wer- den muß. Zusammenfassend können wir sagen: Tower und seine Anhänger, wie z.B. Lang und H. E. Ziegler (1910), schlossen auf das Nichtvorkommen einer somatischen Induktion aus zwei Umständen. Erstens aus der Beeinflussung des elterlichen Äußeren bei gleichzeitiger Nichtbeeinflussung der Nachkommen- schaft im Falle einer Reizung, die höchstens bis ans Ende des Puppenstadiums und nicht auch bis zur Zeit nach demselben, der Zeit des Wachstums und des veifens der Geschlechtszellen, reichte. Zweitens aus der Nichtbeeinflussung des elterlichen Äußeren bei gleichzeitiger Beeinflussung der Nachkommen- schaft im Falle einer Reizung lediglich während der Reifezeit der Keimzellen. Beide Schlüsse sind, wie wir gesehen haben, deshalb falsch, weil sich alle diese merkwürdigen Befunde restlos erklären aus dem Vorhandensein einer sensiblen Periode der Keimzellen, verbunden mit dem Umstand. daß die Cutieularhaut des Imago starr und unveränderlich ist. Durch diese Befunde 64 R. Semon. wird wohl bewiesen, daß die Induktion, die das elterliche Äußere ver- ändert, unter Umständen zu einer anderen Zeit stattfindet als die, die ver- ändernd auf die Keimzellen wirkt. Aber keineswegs gibt, wie Lang (1909, S. 74) sagt, „dieser Umstand willkommene Gelegenheit, das Experiment einwandfrei so einzurichten, daß derselbe experimentelle Faktor das eine Mal nur auf das Soma, das andere Mal nur auf die Geschlechtszellen wirkt“. Nur der erste Teil dieser Behauptung ist richtig, der zweite ist durchaus irrtümlich. Soll man wirklich glauben, daß Hitze und Kälte, Feuchtigkeit und Austrocknung von dem Augenblick an nicht mehr auf das Soma des Tieres „wirken“, d. h. doch als Reiz wirken, Erregungen in ihm auslösen, sobald die Beschaffenheit der Cuticula es dem Tier nicht mehr gestattet, auf diese Einwirkungen mit Farbenänderungen zu antworten? Es kann doch keine Rede davon sein, daß bei dieser Versuchsanordnung die etwaige Mittlertätigkeit des Soma wirklich ausgeschaltet worden ist. Darüber also, ob die Beeinflussung der Keimzellen, zu welcher Zeit sie auch stattfinden mag, durch Vermittlung des elterlichen Soma, durch seine Reizpforten und Rezeptoren stattfindet und den Keimzellen durch organische Reizlei- tung übermittelt wird oder nicht, darüber sagen die Towerschen Befunde nicht das geringste aus. Es wird im nächsten Abschnitt unsere Auf- gabe sein, Kriterien aufzufinden und zu prüfen, die für die Entscheidung dieser Frage wirklich von Bedeutung sind. VII. ABSCHNITT. Physikalische und physiologische Undurchführbarkeit der Hypothese von der Parallelinduktion. Mit dem „einwandfreien“ Beweise Towers für das Nichtvorhanden- sein einer somatischen Induktion und für das Vorhandensein einer Parallel- induktion in den von ihm beigebrachten Fällen war es, wie wir gesehen haben, nichts. Uns bleibt jetzt noch übrig zu untersuchen, ob die experi- mentellen Tatsachen sich überhaupt durch Parallelinduktion unter Aus- schluß der somatischen Induktion erklären lassen oder ob dies sowohl aus physikalischen als auch aus physiologischen Gründen unmöglich ist. Ferner ob sich Schwierigkeiten irgendwelcher Art der Annahme einer somati- schen Induktion entgegenstellen und endlich, welche vererbungstheoretische Bedeutung diese Frage eigentlich besitzt. Schon früher (1907 A, S. 25, 1908A, S. 175—177) habe ich auf die fast unübersteigbaren physikalischen Hindernisse hingewiesen, denen eine Durchführung der Annahme von Parallelinduktion in einer Anzahl von konkreten, experimentell festgestellten Fällen begegnet. Ich habe dort ge- zeigt, daß im Chauvinschen Axolotlexperiment (vgl. oben S. 48), bei dem es sich um die Vererbung des Instinkts ans Land zu gehen und sich zu metamorphosieren handelt, die Annahme einer direkten Beeinflussung der Keimzellen auf osmotischem Wege äußerst unwahrscheinlich ist. Be- Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften, N g D> =) +) finden sich doch die Keimzellen auch der landlebenden Wirbeltiere schon an und für sich in einem feuchten Medium. „Sie lieren in einer großen serösen Höhle, der Leibeshöhle, und werden stets von der Flüssigkeit dieses mächtigen Lymphraumes umspült. Es erscheint mir des halb ausgeschlossen zu sein, daß für die Keimzellen osmotisch ein einschneidender Unterschied daraus resultiert, ob ihr Träger als Axolotl im Wasser oder als Amblystoma auf dem Lande lebt, wo er wie alle Landmolche sich übrigens auch stets vor zu großer Trockenheit des Mediums zu schützen sucht.“ Auch die Möglich- keit, daß etwa bei den wasserlebenden Amphibien normalerweise Wasser durch Kloake und Ovidukt direkt bis zu den Keimzellen vordringt, ließ sich durch Tatsachen ausschließen, und so hat denn auch Kammerer, der anfangs diese Möglichkeit nicht ausschließen zu können glaubte (1907, S. 44), auf meine Gründe hin seinen Widerspruch zurückgenommen (1909 A, S. 526). ) Noch mehr aber liegt eine solche direkte physikalische Beeinflussung der Keimzellen bei einigen der Kammererschen Salamandraexperimenten außerhalb der Grenze des Denkbaren, ganz besonders bei denen, wo eine Vererbung der Färbung, durch komplexe Licht- und Feuchtigkeitswirkung er- zielt wurde, z.B. stärkere Gelbfärbung der Jungen durch Halten der Eltern auf gelber Erde (siehe oben S. 42). Daß das verhältnismäßig nur äußerst geringe Plus an Feuchtigkeit, dem das auf gelber Erde lebende Tier im Vergleich zu dem auf schwarzer Erde lebenden ausgesetzt ist, eine Ein- wirkung auf die der äußeren Luft unmittelbar exponierte Haut hervor- bringt und auf dieses mit entsprechenden Reizrezeptoren ausgestattete Organ als Reiz wirkt, ist sehr verständlich: daß aber dieser an sich doch nur minimale Feuchtigkeitsunterschied durch die Körpergewebe hindurch auf die in den stets feuchten Lymphraum der Leibeshöhle eingebetteten Keimzellen einen bestimmenden Einfluß ausüben soll, erscheint durchaus unglaublich. In noch höherem Grade gilt natürlich alles dieses für die Lichtwirkung auf die Haut einerseits, die im Innern des Körpers einge- schlossenen Keimzellen andrerseits. Wie schon oben erwähnt, hält Sumner bei seinen Versuchen mit in der Wärme bzw. in der Kälte aufgezogenen Mäusen die Möglich- keit einer unmittelbaren Beeinflussung der Keimzellen durch Temperatur- reiz deshalb für ausgeschlossen, weil ein homöothermes Tier vermöge seines Wärmeregulationsvermögens seine Innentemperatur weiten Schwankungen der Außentemperatur gegenüber konstant zu erhalten vermag. Daß die von Sumner angewandten Temperaturen die dem Regulationsvermögen seiner Versuchsobjekte gesteckten Grenzen nicht überschritten haben, ist bei der Beschaffenheit der von ihm gewählten mittleren Temperaturen (61° C und 26°'3°C) sehr wahrscheinlich — Przibram verwendete höhere Tem- peraturen —, doch bedarf es zur endgültigen Feststellung einer erblichen Übertragung bei Reizung innerhalb der regulationsfähigen Grenzen noch einer erneuten, mit genauen Messungen verbundenen Untersuchung. Wir ') Vgl. auch das Autoreferat seiner früheren Arbeit in der Zeitschrift für in- duktive Abstammungs- und Vererbungslehre, 1. Bd., 1909, S. 133. E. Abderhalden, Fortschritte. II. 5 66 R. Semon. dürfen mit großem Interesse einer solchen Fortsetzung der Temperatur- versuche bei Warmblütern entgegensehen und erwarten, daß durch sie aus der bis jetzt nur bestehenden Wahrscheinlichkeit einer Fernhaltung jedes unmittelbaren Temperaturreizes (besonders jedes Kältereizes) von den Keimzellen eine physikalisch exakt festgestellte Tatsache werden wird. In bezug auf solche Fälle, bei denen von einer unmittelbaren Beein- flussung der Keimzellen durch einen physikalischen Reiz gar nicht die Rede sein kann, erinnere ich an die Schröderschen Experimente mit Gra- cilariaraupen (S. 47), besonders an das, bei dem er durch Abschneiden der Blattspitzen die Tiere zwang, in Abweichung von ihrem normalen In- stinkt die Blattränder statt der ihnen entzogenen Blattspitze einzurollen und durch ein Gespinst zu befestigen. Durch Wiederholung dieses Ver- fahrens bei zwei Generationen erzielte er eine erbliche Übermittlung der neuen Gewohnheit auf einen Teil der dritten Generation, obwohl diese ihrerseits dem Zwange nicht mehr ausgesetzt war und ausschließlich Blätter mit unversehrter Spitze zu ihrer Verfügung hatte. Wo steckt hier der physikalische Reiz, der die Keimzellen unmittelbar hätte treffen können? Und wo steckt er endlich bei den im VI. Abschnitt geschilderten Versuchen von Brown-Sequard und seinen Nachfolgern sowie denen von Blaringhem, bei denen aus Verstümmlungen sekundäre Wirkungen für das Individuum resultierten, die sich vererben? In diesen Fällen ist eine Über- tragung ohne Vermittlung des elterlichen Somas ebenfalls völlig ausge- schlossen — auf die Art und Weise dieser Vermittlung bei den Ver- suchen von Blaringhem und Klebs kommen wir unten zurück — und der Versuch Weismanns (1904, Bd. II, S. 57), die Brown-Sequardschen Ergeb- nisse durch Infektion zu erklären, wird selbst von seinem sonst unbe- dingten Anhänger Martius (1909, S. 360) als abenteuerlich zurückgewiesen. Bleibt also nur übrig, die Richtigkeit der Versuche anzuzweifeln. Für die Versuche über Meerschweinchenepilepsie mag dies vielleicht noch eine Zeitlang angehen (vgl. oben S. 33); die tatsächliche Richtigkeit der Blaring- hemschen Versuche steht aber außer jedem Zweifel, und folglich ist hier auch dieser Ausweg verschlossen. Erwachsen somit der Hypothese von der Parallelinduktion schon in einer großen Anzahl von Fällen unüberwindliche physikalische Schwierig- keiten, so ist die physiologische Basis, auf der sie ruht, für alle Fälle von Manifestation spezifischer Reizwirkung bei Eltern und Nachkommen, also überall da, wo wirklich parallele Induktion in Frage kommen könnte, unhaltbar. Es liegt mir natürlich fern zu leugnen, daß gewisse Einflüsse auf die Keimzellen direkt einwirken, daß z. B. giftige Stoffe, die dem Körper einverleibt werden, sozusagen passiv bis zu ihnen verschleppt wer- den können, daß sie hier eine Keimverderbnis, eine „Blastophthorie“, wie Forel (1903) sie nennt, bewirken können. Dies aber ist, so kann man unter Variierung des oben (S. 55) zitierten Weismannschen Satzes sagen, ganz etwas anderes, als wenn man es glaublich machen soll, daß äußere Anstöße direkt bis zu den Keimzellen durchdringen, und bei ihnen ohne die Vermittlung der reizempfangenden Apparate des Soma und ohne die so um Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 67 bedingten komplizierten Reaktionsketten Wirkungen hervorbringen, die genau denen entsprechen, die beim Soma nur auf Grund komplizierter transformatorischer Apparate und Prozesse und zum Teil nur auf Grund einer genauen Lokalisation zustande kommen. Es bedarf keiner besonderen Ausführung, daß in den noch um- strittenen Versuchen von Drown-Sequard und in den sich so schön er- gänzenden und bestätigenden von Klebs und Blaringhem das Soma unbedingt seine spezifischen Reaktionen hat herleihen müssen, damit die entsprechende Veränderung in den Keimzellen hervorgerufen werden konnte, und dal) hier von einer direkt durch die Verstümmelung auf die Keimzellen ausgeübten In- duktion keine Rede sein kann. Klebs hat bei seinen Versuchen nicht allein die Verstümmelung, sondern auch Einflüsse der Temperatur, der Feuchtigkeit, des Lichts, der Ernährung wirken lassen. Da aber seine Resultate prinzipiell denen von blaringhem, der die Verstümmelung als alleinigen Reiz angewandt hat, durchaus entsprechen, so sind sie ganz ebenso zu beurteilen, und kommt auch bei ihnen eine direkte Induktion der Keimzellen oder des Keimplasmas durch jene Hilfsfaktoren nicht in Frage. Nicht als passives Objekt und ebensowenig als bloßes Vehikel dient hier das Soma, wie die Parallelin- duktion es verlangt, sondern als aktives Mittelelied zwischen äußerem An- stoß und Keimzelle, indem es die nicht spezifischen äußeren Faktoren in spezifische innere transformiert. Die Art dieser Transformation, die bei den Versuchen von Klebs und blaringhem hervortritt und deren Analyse von beiden Autoren (Klebs 1906, S. 116—122, 1909, S. 7—9; Blaringhem 1907, S. 133— 155) unternommen worden ist, ist geeignet, ein Licht auf die eigentümliche Tatsache zu werfen, daß bei den Experimenten über Veränderung der Färbung (sowie noch einiger anderer Eigenschaften) bei Schmetterlingen und Käfern ‚ganz verschiedenartige Reize dieselben be- sonderen Reaktionen hervorrufen. So lösen z. B. bei den Käfern mäßige Hitze wie. mäßige Kälte, mäßige Feuchtigkeit wie mäßige Trockenheit übereinstimmend Melanismus vereint mit einer leichten Steigerung der Körpergröße aus; dieselben Reize, in größerer Stärke angewandt, lösen übereinstimmend Albinismus vereint mit reduzierter Körpergröße aus. Hierin tritt eine frappante Übereinstimmung mit den erwähnten Er- gebnissen von Älebs bei Pflanzen zutage und auch hier wird eine ge- nauere Analyse uns näheren Aufschlul über die somatischen Mittel- glieder verschaffen, die bei dieser Transformation nicht spezifischer Reize in dieselben besonderen Reaktionen eine Rolle spielen. Man vergleiche die über diese Frage bereits vorliegende Diskussion zwischen M.v. Linden (1904) und Fischer (1907). Jedenfalls haben wir aber hier einen Fall ganz besonderer Art, der sich nur aus der Eigenart der dabei in Frage kom- menden somatischen Transformation erklärt. In der Mehrzahl der Fälle von Induktion körperlicher Merkmale durch äußere Einflüsse liegen die Dinge ganz anders. Bei den Säugetieren z.B. erzeugt, wie wir sahen (8.43, 44), Kälteinduktion gerade die entgegengesetzten morphologischen Reaktionen wie Wärmeinduktion; bei Salamandra (S. 42) zieht nach Kammerer Zu- a* 68 R. Semon. nahme der Luftfeuchtigkeit gerade die entgegengesetzte Wirkung nach sich wie Abnahme, und beide Wirkungen unterscheiden sich wieder von denjenigen, die durch Lichtreize hervorgebracht werden können. Am klarsten tritt aber die vermittelnde Rolle des Soma bei der Reiz- übertragung auf die Keimzellen in den so zahlreichen Fällen hervor, bei denen es sich um ganz spezifische Wirkung von äußeren Einflüssen handelt. Der Angriff solcher Reize auf das „Soma“ erfolgt, wie wir wissen, bei höheren Organismen stets nur auf ganz bestimmte Teile, auf besondere Differenzierungen der reizbaren Substanz des Soma, die eben dieser Reiz- aufnahme dienen. Diese „Rezeptoren“ in ihrer lokalen Verteilung sind es, in denen auf Grund ihrer „spezifischen Energie“ der betreffende Reiz eine nicht nur nach sonstiger Qualität, sondern auch nach Lokalisation spezi- fizierte Erregung auslöst. Hier können also erst die Einflüsse denjenigen Stempel erhalten, der bei Induktion der Keimzellen ein Wiederauftreten „an demselben Ort“ des Nachkommen verbürgt. So wirken Feuchtigkeit und gelbes Licht, die die Färbung einer Salamandra maculosa in einer ganz bestimmten gesetzmäßigen Weise be- einflussen, nicht in summarischer Weise auf das „Soma“ als Ganzes, sondern die Wirkung ist auf ganz bestimmte Zellen der Haut lokalisiert und im Zusammenhang damit spezialisiert. Ist es nun aber denkbar, daß dieselben physikalischen Reize, wenn sie ohne die Vermittlung solcher lokalisierter und spezialisierter Rezeptoren bis zum Plasma der Keimzellen durchdringen, auf dasselbe genau dieselbe lokalisierte und spezialisierte Wirkung hervorbringen können, oder, um mit Weismann zu reden, auf die genau entsprechenden „Determinanten“ des Keimplasmas und allein auf diese in genau entsprechender Weise wirken können ? Ebenso deutlich tritt die Unmöglichkeit dieser ganzen Auffassung bei der Analyse der Versuche über Vererbung von Wärme- und Kälte- wirkungen bei Säugern hervor. Nicht allzu extreme Temperatureinflüsse auf Säugetiere wirken als solche beinahe ausschließlich auf ihre äußere Haut ein, da die Wärmeregulation des Tieres die anderen Organe diesen Einflüssen so gut wie ganz entzieht. Dementsprechend lassen sich denn auch fast alle morphologischen Reaktionen, die sich auf solche Einwir- kungen hin einstellen, auf Reaktionen der Haut zurückführen. Bei länger dauernder Wärmeeinwirkung vergrößern sich die peripher freien Teile, wie Ohren, Schwänze, Hände und Füße, Hautfalten und Hauthüllen der Geschlechtsorgane; gleichzeitig findet ein Dünnerwerden der Behaarung statt. Alles dies sind ganz vorwiegend Reaktionen des einzigen von der Hitzewirkung direkt betroffenen Organs, der Haut. Einen Hauptanstoß zu diesen Veränderungen gibt dabei wohl die durch die Wärmewirkung be- dingte mächtige Entwicklung der Schweißdrüsen und ihrer Ausführgänge, die eine Oberflächenzunahme der gesamten Haut bedingt und andrerseits ein teilweises Verdrängen der Haarbälge und ihrer Talgdrüsen mit sich bringt. Die stärkste Ausbildung der Schweißdrüsen hat, wie uns die ver- oleichende Anatomie lehrt, an den Sohlenflächen von Händen und Füßen stattgefunden; bei vielen Tieren wie auch dem Menschen ist hier völlige Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 64 Haarlosigkeit bei gleichzeitiger stärkster Ausbildung der Schweißdrüsen aufgetreten. An Händen und Füßen erfolgt denn auch bei längerer Wärme- einwirkung besondere Größenzunahme, und bei klimatischen Wärmevarietäten, wo noch Sohlenbehaarung vorhanden ist, Enthaarung, während sich bei den entsprechenden Kältevarietäten eine Haarbedeckung der Sohlenflächen vor- findet. Bei Kälteeinwirkung machen sich die entgegengesetzten Reaktionen bemerkbar, wobei übrigens nicht nur eine Reduktion der Schweißdrüsen, sondern auch eine direkt anregende Wirkung der Kälte auf das Haar- wachstum in Frage kommt. Wir finden hier also bei näherer Analyse (abgesehen von den mehr konstitutionellen Wirkungen auf Körpergröße und Entwicklungstempo) eine Menge durchaus lokalisierter und spezialisierter Wirkungen der Reize. Und bei dieser Sachlage sollen wir annehmen, daß eine Erwärmung der Keim- zellen in toto durch eine leichte (wenn überhaupt vorhandene!) Erhöhung der Gesamttemperatur, die die „Determinanten des Keimplasmas“ direkt ohne Vermittlung der lokalisierten und differenzierten Rezeptoren der Haut trifft, dennoch eine auf die Determinanten der Haut beschränkte und genau korrespondierende Wirkung hervorgebracht haben soll! Diese Spezifikation der Reizwirkung, besonders aber ihre Lokalisation auf die Haut läßt hier wieder die physiologische Hinfälligkeit des Gedankens der Parallelinduktion in besonderer Deutlichkeit hervortreten. Pictet (s. oben S. 46) berichtet, dal Raupen, deren natürliches Futter aus einer Pflanzenart mit weichen Blättern besteht, nur mit großer Schwierigkeit an eine Ernährung mit harten Blättern zu gewöhnen waren, daß es aber schließlich meist doch bei Anwendung von großer Mühe und Aufmerksamkeit gelang. Die Abkömmlinge solcher Eltern gingen dagegen ihrerseits ohne Schwierigkeit an diese artfremde Nahrung. Hier haben wir wiederum hüben eine höchst komplizierte, aus taktischen und chemischen Reizen zusammengesetzte und durch streng lokalisierte Pforten eintretende Reizung, drüben im besten Fall einen Teil dieser komplexen äußeren Reizung, die chemische Komponente, die aber auch hier wieder die Deter- minanten des Keimplasmas ohne jede Vermittlung eines Rezeptors trifft und dennoch dieselbe spezialisierte und lokalisierte Wirkung zur Folge haben, eine der ersteren parallele Induktion ausüben müßte. Dasselbe könnte man noch an beliebig vielen weiteren Beispielen, die wir besonders im zweiten Teil unseres VI. Abschnittes kennen gelernt haben, ausführen. Die eben gemachten Auseinandersetzungen dürften jedoch schon hin- reichend gezeigt haben, daß hier so fundamentale physiologische Schwierig- keiten vorhanden sind, daß sie die Annahme einer Parallelinduktion, so- weit es sich dabei um spezifische Reizwirkungen handelt, überhaupt un- möglich machen. Andrerseits ist es klar, daß diese Schwierigkeiten bei der Annahme einer somatischen Induktion, das heißt bei der einzig naturgemälen Auf- !) Wahrscheinlich war eine solche leichte Erhöhung bei den Przibramschen Ver- suchen vorhanden, bei den Sumnerschen aber wahrscheinlich nicht. 70 R. Semon. fassung des Individuums mit seinem „Soma“ und seinen Keimzellen als eines organischen Ganzen vollkommen fortfallen. Das „Soma“ liefert hier eben die unentbehrlichen Apparate zur Rezeption und Transformation der Reize in die spezifischen Erregungen für den Gesamtorganismus mit Ein- schluß der Keimzellen und damit für das Zustandekommen der Erregungs- wirkungen sowohl bei den Eltern wie bei den Kindern. Voraussetzung ist dabei nur die hinreichende Empfindlichkeit der reizbaren Substanz. der Keimzellen, auf die so übermittelten Erregungen auch anzusprechen. Die Entdeckung einer sensiblen Periode der Keimzellen ist geeignet, manche Rätsel und bisher unverständliche Launen der Reizübertragung der Er- klärung näher zu bringen. Man hat die somatische Induktion der Keimzellen für „unvorstellbar*“ erklärt. Ich möchte das Gegenteil behaupten. Meiner Meinung nach ist das gänzliche Unberührtbleiben der reizbaren Substanz der Keimzellen, zu- mal auch während ihrer sensiblen Periode, von den in der übrigen reiz- baren Substanz des Organismus ablaufenden Erregungen deshalb eine physiologisch undenkbare Vorstellung, weil keinerlei isolierende Strukturen vorhanden sind, die das Plasma der Keimzellen von dem der mit ihnen organisch zusammenhängenden Gewebe des übrigen Körpers oder „Soma“ trennen (vgl. hierüber meine Arbeit über den Reizbegriff, 1910 A). Das Recht, die Keimzellen dem übrigen Körper gegenüber auf einen Isolierschemel zu setzen, wie Weismann es tut, müßte doch anatomisch und physiologisch begründet werden. Eine solche Begründung ist nicht gegeben und läßt sich auch tatsächlich nicht geben. Dies sind die Gründe, die mich einerseits zu einer unbedingten Ab- lehnung der Vorstellung einer Parallelinduktion (nicht etwa der Möglich- keit einer direkten Beeinflussung der Keimzellen) zwingen und die mir zusammen mit den im Ill. und besonders im IV. Abschnitt mitgeteilten Tatsachen die Annahme der somatischen Induktion als in jeder Beziehung wohl begründet erscheinen lassen. Dieser Schluß ergibt sich mir also als eine unvermeidliche Konse- quenz aller einschlägigen experimentellen und nicht experimentellen Tat- sachen, ich werde aber keineswegs zu dieser meiner Stellungnahme dadurch gezwungen, daß diese Auffassung eine notwendige Voraussetzung meiner Mnemetheorie wäre. Es sei mir gestattet, hier zum Schluß noch auf diese allgemeine Seite unserer Frage einzugehen, bei deren Erörterung ich von folgendem Ausspruch von Martius (1909, 8. 451) ausgehen will: „Mit demselben logischen Zwang, mit dem die ‚Kontinuität des Keimplasmas‘ die Vererbbarkeit rein somatisch erworbener Eigenschaften ausschließt, muß die ‚Mneme‘ Semons eine solche fordern. In beiden Fällen also reine Deduktion aus dem Prinzip.“ Hierin liegt, was die „Mneme“ anlangt?), ') Was den Teil obiger Behauptung anbetrifft, der sich auf die Kontinuität des Keimplasmas bezieht, so hat Martius insofern Recht, als Weismann allerdings, wie aus seinen oben von uns S. 5 zitierten Sätzen hervorgeht, die Nichtvererbbarkeit aus einem von ihm aufgestellten Prinzip deduziert. Dazu aber war er nur durch die Fassung ge- nötigt, die er diesem Prinzip gab, um es zu seiner Erklärung der Vererbung zu ver- Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. Er eine völlige Verkennung des Tatbestandes, die freilich dureh die Darstellung, die Weismann (1906, S. 1—5) meiner Theorie gegeben hat, mitverschuldet ist, und der auch andere Kritiker, die meine Ansichten nur aus Referaten, nicht aber aus meinen Originalarbeiten kennen, zum Opfer gefallen sind. Die eigentliche Grundlage der Mnemetheorie ist erstens die Tat- sache, daß die Erregungen der reizbaren Substanz des Organismus nach ihrem „Ausklingen“ zwar als solche verschwinden, daß sie aber blei- bende Veränderungen in eben dieser reizbaren Substanz hinterlassen, die ich Engramme genannt habe. Und zweitens, daß diese Engramme in der reizbaren Substanz nicht nur des Soma, sondern auch der Keimzellen zu- rückbleiben. Dies ist durchaus das Wesentliche, das eigentliche Rückgrat der Theorie. Es läßt sich nun zeigen, daß es für diese Theorie von durchaus sekundärer Bedeutung ist, ob die korrespondierenden Engramme in Soma und Keimplasma durch einen kontinuierlichen Vorgang, der als solcher auf kontinuierlicher Reizleitung beruht, erzeugt werden oder diskontinuier- lich durch eine gesonderte Wirkung der äußeren Reize einerseits auf das Soma, andrerseits auf das „Keimplasma“. Wäre eine solche (wie wir gesehen haben durchaus unwahrscheinliche) gesonderte Erzeugung der genau gleichen somatischen und Keimplasma-Engramme erwiesene Tatsache, so würde für die Mnemetheorie daraus keine tiefergehende Schwierigkeit erwachsen, Grundbedingung für sie ist nur der Nachweis, daß die neuen Potenzen der Keimzellen als Reizprodukte oder Erregungsresiduen, kurz als Engramme erzeugt werden, und daß diese Engramme mit den somatischen Engrammen in allen ihren Eigenschaften und gegenseitigen Beziehungen übereinstimmen. Diese Grundbedingung der Engrammlehre ist aber durch die Experi- mente der letzten Jahrzehnte, besonders durch die Versuchsergebnisse von Blaringhem ,. Klebs, Chawin, Kammerer, Standfuß, Fischer, Schröder, Tower, Przibram, Sumner und vielen Anderen, die wir oben ausführlich wiedergegeben haben, über jeden Zweifel sicher erwiesen. Daß die so erzeugten neuen „Eigenschaften“ der Organismen sich bei Kreuzungsexperimenten ebenso verhalten wie diejenigen, die wir be- reits als historisch gegeben bei ihnen vorfinden, daß sie unter Umständen alternativ vererbt werden („mendeln“), wie Tower (1906) und Kammerer (1909A, 1910A) übereinstimmend gefunden haben, kann als ein weiterer Beweis für die Richtigkeit meiner Auffassung gelten, daß das Bestimmende für die „Eigenschaften“ der Organismen die sie bedingenden Erregungs- dispositionen sind und daß diese letzteren als Engramme bzw. Engramm- komplexe aufgefaßt werden müssen.!) werten, nicht aber durch das Prinzip selbst. Rignano (1906) macht mit Recht darauf aufmerksam, daß Nußbaum, der durch Aufstellung seiner Theorie der Kontinuität der Keimzellen (1880) den Anstoß zur Aufstellung der Weismannschen Theorie gab, die Vererbung erworbener Eigenschaften ausdrücklich für möglich erklärt, sie also mit seiner Theorie nicht für unvereinbar hält, worin ihm vollständig Recht zu geben ist. !) Vgl. darüber Mneme, 1. Aufl., 1904, S. 99; 2. Aufl., 1908A, S. 107, sowie die lichtvollen Auseinandersetzungen, die Francis Darwin in seiner „Presidents Adress“ 1908 über diesen Punkt gemacht hat. An einer anderen Stelle der Mneme (1908A, 72 R. Semon. In bezug auf das, was sich über die materielle Beschaffenheit dieser Engramme sagen läßt, besonders in bezug auf die Unmöglichkeit, sie als abgegrenzte selbständige Substanzpartikelchen nach Art der Weismann- schen Determinanten aufzufassen, verweise ich auf meine früheren Aus- führungen (1907, S. 36, 1908A, S. 338). Ich werde mich mit dieser wich- tigen Frage bei anderer Gelegenheit eingehend beschäftigen. Wie wir sahen, hat die experimentelle Forschung zu dem Ergebnis geführt, dal die neuen Erwerbungen der Organismen als Produkte einer wie immer zustande gekommenen Reizwirkung oder Induktion, daß sie als Engramme aufzufassen sind. Auf der Grundlage einer Engrammlehre haben wir also unter allen Umständen zu bauen. Im Vergleich damit ist es von verhältnismäßig geringfügiger Bedeutung, ob die Engraphie als ein kontinuierlicher Akt, vom Soma zu den Keimzellen fortgeleitet, zustande kommt, oder ob die Annahme einer doppelten und unabhängig nebeneinandergehenden Reizwirkung für Soma und Keimzellen zu Recht besteht. Vorausgesetzt, daß die korrespondierenden Engramme in Soma und Keimzellen die gleichen Eigenschaften und untereinander die gleichen Be- ziehungen besäßen — und dieser Voraussetzung beugen sich ja auch die Vertreter der Parallelinduktion — würde es, soweit es sich um die Wir- kung äußerer Reize handelt, für den Ausbau der Engrammlehre keinen sehr wesentlichen Unterschied machen, für welche Art des Zustande- kommens der Engraphie man sich entscheidet. Bedeutungsvoller wäre nur der Umstand, daß, wenn man eine Be- einflussung der Keimzellen lediglich durch direkte physikalische oder che- mische Reize annimmt, nicht aber durch fortgeleitete Erregungen, die erbliche Übertragung von funktionellen Veränderungen, von Gebrauch und Nichtgebrauch a priori ausscheiden müßte. Auch mit dieser Einschränkung würde die Engrammlehre sich ab- finden können, wenn die Tatsachen es erforderten. Aber, und das ist hier das einzig Wesentliche, sie tun es nicht, ja sie erlauben es S. 333—345) habe ich auch gezeigt, daß sich auf dem Boden der Engrammlehre ein tieferer Einblick in das Wesen der Mendelschen Regeln und der alternativen Vererbung überhaupt gewinnen läßt. Auf diese Ausführungen möchte ich Lang gegenüber ver- weisen, der (1909, S. 78) in einer mir nicht verständlichen Weise die Frage, ob soma- tische oder Parallelinduktion, mit der Frage der alternativen Vererbung verquickt. Was hat der Weg, auf dem die Veränderung in den Keimzellen induziert wird, mit dem späteren Verhalten dieser Veränderungen bei Kreuzung zu tun? Und ebenso unrichtig erscheint es mir. für den Fall einer somatischen Übertragung der Engramme von einer „Abbildungstheorie“ zu sprechen, wie Weismann und Lang es tun, für den Fall einer direkten Erzeugung genau derselben Engramme durch den physikalischen Reiz aber nicht. Demgegenüber muß daran erinnert werden, daß es überhaupt verfehlt ist, die Reiz- wirkungen, möge es sich dabei um aktuelle Erregungen oder um latente Engramme handeln, als „Abbilder“ der Reize aufzufassen und daß uns Johannes Müller, Hering und Mach längst von jener irrigen Auffassung befreit haben, die in dem Komplex von cerebralen Erregungen bei einer optischen Reizung die „Projektion“ des Bildehens sieht, das sich auf der Retina abzeichnet (vgl. Semon, 1909, S. 39). Mögen die En- gramme also durch somatische oder durch Parallelinduktion entstehen, sie als „Ab- bilder“ zu bezeichnen, ist in einem Falle ebenso unstatthaft wie im anderen. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 13 nicht einmal, wie viele der in unserem III. und besonders IV. Abschnitt aufgeführten Beispiele zeigen, die sich auch nicht durch Panmixie, Ger- minalselektion oder Zuchtwahl (in Fällen, wo kein Selektionswert vorhan- den ist) weginterpretieren lassen. Einzig und allein deshalb weil alle diese Tatsachen sich nur im Sinne der somatischen Induktion auffassen lassen und ferner deshalb, weil, wie wir im vorliegenden Abschnitt gesehen haben, die Annahme einer Parallelinduktion in vielen Fällen physikalisch und in allen Fällen physiologisch undurchführbar ist, mußte der Ausbau der En- grammlehre unter der Annahme einer somatischen Induktion der Keimzellen erfolgen, nicht aber auf Grund von Deduktion aus irgend einem Prinzip. SCHLUSS. Ich habe versucht, in den obigen Ausführungen eine Darstellung des gesamten zurzeit vorliegenden Tatsachenmaterials zu geben, das für unsere Frage von Wichtigkeit ist, und so den Leser instand zu setzen, sich selbst ein Urteil zu bilden. Nur auf die Frage der Vererbung von erwor- bener Immunität, mit der sich besonders O. Hertwig (1898, 1906) be- schäftigt hat, bin ich nicht weiter eingegangen. Mit Sicherheit erwiesen scheint durch die bisherigen Experimente nur ein intrauteriner Übergang der mütterlichen Antikörper in den Kreislauf des Foetus, also keine Ver- erbung in dem Sinne, wie wir die Frage formuliert haben (vgl. die Zu- sammenstellung von Morgenroth 1904). Freilich hat man bisher noch nicht mit längeren Generationsreihen gearbeitet, und es ist sehr möglich, dab man andere Resultate erhält, wenn dies geschieht. Bis dahin aber sind wir genötigt, diese Frage als eine offene zu behandeln. Nach Formulierung der Frage im I. Abschnitt haben wir uns in den beiden folgenden Abschnitten mit denjenigen Tatsachen beschäftigt, die gegen eine Vererbung von Reiz- bzw. Erregungswirkungen zu sprechen scheinen. Daß sich Verletzungen, Verstümmelungen, Deformationen als solche nicht oder doch in der großen Mehrzahl der Fälle nicht vererben, geht aus dem vorliegenden bedeutenden Material an Erfahrungs- und experi- mentellen Tatsachen hervor. Doch ist es nicht unmöglich, wenn auch nicht gerade wahrscheinlich, daß die Resultate anders ausfallen, wenn man beim Experimentieren die Möglichkeit des Vorhandenseins einer sensiblen Periode der Keimzellen berücksichtigt. Angenommen jedoch, das bisher erzielte Er- gebnis sei ein endgültiges, so darf man nicht außer Augen lassen, dal) es sich hier um ganz besondere Vererbungsbedingungen handelt. Die bei allen Organismen vorhandene Regenerationstendenz muß nämlich notwendiger- weise als ein der Vererbung solcher Eingriffe direkt antagonistischer Faktor wirken. Auf der anderen Seite ist eine Vererbung von sekundären Wir- kungen der Verletzungen durch die im V. Abschnitt mitgeteilten Experimente, besonders die von Blaringhem, mit aller erforderlichen Sicherheit bewiesen. Bedingungen ganz besonderer Art liegen ebenfalls in bezug auf die Möglichkeit einer Vererbung von Sprache, Lernergebnissen und Übungs- resultaten beim Menschen vor. Wir haben gesehen, daß es in der Natur der Sache liegt, dab hier nur Dispositionen vererbt werden können. Weit 74 R. Semon. klarere Zeugnisse einer in dieser Richtung wirksamen Vererbung lassen sich bei Tieren beibringen, bei denen es sich hierbei um viel einfachere und vor allen Dingen einförmigere Erwerbungen handelt. Diesen wenigen, von besonderen Bedingungen abhängigen Gebieten, auf denen eine derartige Vererbung nicht oder nicht greifbar nachzuweisen ist, stehen nun, wie in den folgenden vier Abschnitten gezeigt worden ist, weite (Gebiete entgegen, auf denen eine Vererbung von Reiz- bzw. Er- regungswirkungen handereiflich zutage tritt. Unser IV. Abschnitt gab die Darstellung einiger besonders eindeutiger Wahrscheinlichkeitsbeweise für die Vererbung von funktionellen Erwerbungen auf verschiedenen Gebieten. Wahrscheinlichkeitsbeweise insofern, als es sich dabei um gegebene Eigen- schaften handelt und sich deshalb die Phase ihrer Erwerbung nicht experi- mentell nachprüfen läßt. Ein Gegenbeweis, die „Neutra“ der Insekten be- treffend, konnte widerlegt werden. Ganz besonders überzeugend ist in dieser Gruppe von Tatsachen das von der Natur selbst angestellte Experiment der Augenreduktion bei den in Tiefsee und lichtlosen Höhlen wohnenden Vertretern der verschiedensten Tierklassen: Hier hat übrigens eine un- mittelbare experimentelle Nachprüfung bereits mit positivem Erfolge eingesetzt. In unserem V.—VII. Abschnitt haben wir dann die imposante Menge von Untersuchungen dargestellt, durch welche auf durchweg experimen- tellem, in allen seinen Phasen der Nachprüfung zugänglichem Wege der Nachweis geführt worden ist, daß die Wirkung von Reizen, die auf die Eitern in Anwendung gebracht worden sind, in derselben Weise wie bei diesen bei den Nachkommen wieder in Er- scheinung tritt, ohne daß diese ihrerseits den Reizen ausge- setzt zu werden brauchen. Diese Experimente beginnen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts und sind bis in die Mitte der neunziger Jahre nur spärlich. In den letzten 15 Jahren haben sie sich von Jahr zu Jahr vermehrt, haben sich in ihren Methoden immer mehr vervollkommnet und haben, da sie übereinstimmend zu denselben Resultaten führen, den Nach- weis zur unumstößlichen Tatsache erhoben, den wir im obigen, gesperrt gedruckten Satz wiedergegeben haben. Sie haben damit auch die Quelle der erblichen Variationen oder, wenn man diese Bezeichnung: vorzieht, der Mutationen nachgewiesen. Ich habe dies früher (1904, 1908 A, S. 379) durch den Satz ausgedrückt: „Die auf unserem Planeten stets wechselnde, niemals sich absolut genau wiederholende äußere energetische Situation wirkt also als Umgestalterin: die Fähigkeit der organischen Substanz, von jeder Erregung nicht nur synchron, sondern auch eneraphisch beein- flußt zu werden, wirkt als Erhalterin dieser Umgestaltung in der Flucht der Erscheinungen.“ Man sollte meinen, daß damit auch die Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften auf einwandfreiem experimentellem Wege und somit endgültig im positiven Sinne entschieden sei: Hier stoßen wir aber zunächst noch auf ein Hindernis; es ist die Hypothese von der Parallel- induktion, die behauptet, daß eine eigentliche Vererbung gar nicht vorläge, Denn die Induktion von „Soma“ und „Keimplasma“ sei ohne organischen -—- Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 75 Zusammenhang jede für sich durch die physikalisch-chemischen Reize er- folet, und dies dürfe man nicht als Vererbung bezeichnen. Wir haben diese Hypothese eingehend nach allen Seiten geprüft; zu- nächst den angeblich einwandfreien Beweis Towers, aus dem wenigstens in den betreffenden Fällen ihre Richtigkeit und die Unmöglichkeit einer somatischen Übertragung hervorgehen sollte. Eine genauere Analyse dieser an sich sehr schönen Experimente zeigte aber, daß sie gerade in bezug auf die Frage des Weges der Reizübermittlung völlig unbeweisend sind, ja nicht einmal einen Beitrag zur Entscheidung zu liefern vermögen, weil sich die Eigenart ihrer Ergebnisse durch die von Tower selbst gemachte und einwand- frei bewiesene Annahme einer sensiblen Periode der Keimzellen, in anderer Beziehung durch gewisse Besonderheiten des Versuchsobjekts und des von Tower gewählten Merkmals restlos erklären läßt. Eine weitere Prüfung der Hypothese von der Parallelinduktion im Lichte des vorliegenden experimentellen Materials zeigte dann für viele Fälle ihre physikalische Undurchführbarkeit und in fast noch eindring- licherer Weise die Unhaltbarkeit ihrer physiologischen Basis. Es ist un- denkbar, daß ein Reiz zur Ausübung einer lokalisierten und spezialisierten Wirkung auf das Soma der lokalisierten mit „spezifischer“ Energie begabten Rezeptoren dieses letzteren sowie dessen komplizierten transfor- matorischen Apparats bedarf, daß derselbe Reiz aber auf die „Determi- nanten“ des Keimplasmas in korrespondierender Weise, das heißt durch- aus spezifisch und lokalisiert wirkt, obwohl hier der ganze Apparat zu seiner Rezeption und Transformation fehlt. Einer solchen Annahme fehlt vom physiologischen Standpunkt aus jede Existenzberechtigung, und auf der anderen Seite gibt es schlechterdings keinen Grund, anzunehmen, dal) das „Keimplasma“, das doch mit dem „Soma“ organisch zusammen- hängt und von ihm durch keine isolatorischen Apparate, sondern bloß durch die rein begrifflichen Trennungen Weismanns geschieden ist, unter keinen Umständen, auch nicht während der sensiblen Periode der Keimzellen, an der durch die Organe des Soma bewirkten Transformation der Reize seinen Anteil haben soll. Die Möglichkeit einer somatischen Induktion der Keimzellen ist somit keine bloße Annahme, sondern eine physiologische Notwendigkeit. Warum erfolgt aber nun eine erbliche Veränderung nicht in allen Fällen, warum trägt die Vererbung der erworbenen Eigenschaften einen Charakter, den man von unserem kurzsichtigen menschlichen Standpunkt aus fast als einen launenhaften bezeichnen möchte. Es kann kein Zweifel darüber obwalten,. daß diese scheinbare Launenhaftigkeit eine Anzahl von strengen Gesetzmäßigkeiten in sich schließt, die wir nur noch nicht im- stande sind zu trennen und näher zu analysieren. Immerhin ist uns in letzter Zeit eine dieser Gesetzmäßigkeiten durch die Towersche Entdeckung einer sensiblen Periode der Keimzellen bei gewissen Formen bekannt gewor- den. Wir verstehen nun, warum dieselben von den Eltern erworbenen Veränderungen bei den Nachkommen das eine Mal wieder auftreten, das andere Mal nicht. Es hängt dies eben in den betreffenden Fällen davon 76 R. Semon. ab, ob zur Zeit ihrer Erwerbung durch die Eltern die Keimzellen sich in ihrer sensiblen Periode befanden oder nicht. Es ist natürlich sehr wohl möglich, daß in anderen Fällen andere Faktoren mitsprechen oder auch ausschlaggebend sind. Übrigens glaube ich nicht, daß da, wo eine sensible Periode der Keimzellen vorhanden ist, außerhalb derselben absolut keine teizempfänglichkeit besteht: sie ist wohl nur außerordentlich viel geringer. Als unzutreffend hat sich die vielfach vertretene Behauptung er- wiesen, die erblichen Variationen, die „Mutationen“ ließen sich dadurch von den nicht erblichen unterscheiden, daß sie diskontinuierlich, sprungweise aufträten. Plate hat dem bereits 1903 mit Recht widersprochen. Die neueren experimentellen Erfahrungen, wie die von Tower und Klebs, zeigen, „dab die Art der Abweichung nichts darüber entscheidet, ob erblich oder nicht“ (Klebs, 1909, 8. 22). An dieser Stelle möchte ich mit einem Wort auf eine sonderbar inkonsequente Anschauung mancher Autoren in dieser Frage eingehen. Für sie ist eine Vererbung erworbener Eigenschaften nur dann erwiesen, wenn sich die induzierte Veränderung in einer großen Reihe von aufeinander- folgenden Generationen konstant erhält. Das tut sie Ja nın auch in vielen der bekannten Fälle. Dafür ist aber natürlich Bedingung, dab man die betreffenden Objekte nicht einer antagonistischen Induktion aussetzt, die ja notwendigerweise ebenso verändernd und eventuell erblich ver- ändernd wirken muß, wie die primäre Induktion. Die Möglichkeit einer erblichen Induktion verhindert eben mit Notwendigkeit die völlige Kon- stanz irgend eines Zustandes der erblichen Übermittlung; sie bedingt mit Notwendigkeit eine jederzeitige Veränderungsmöglichkeit dieses Zustandes. Wir hatten uns die Frage gestellt, ob sich unter günstigen Umständen eine Vererbung von bei der Elterngeneration erfolgter und (besondere Aus- nahmsfälle abgerechnet) auch äußerlich in Erscheinung getretener Reiz- bzw. Erregungswirkung nachweisen läßt, die sich entweder durch spontanes Auf- treten der betreffenden Reaktionen (Bildungs- und Betätigungsvorgänge) oder wenigstens durch das Bestehen einer Disposition für ihr Auftreten bei der Deszendenz manifestiert. Diese Frage haben wir auf Grund des vorgelegten Materials und der kritischen Prüfung aller etwa zu machender Einwendungen uneingeschränkt mit Ja zu be- antworten. Ist damit nun aber auch die Berechtigung des „Lamarckismus“ oder „Lamarckschen“ Prinzips erwiesen ? Wir kommen hier zum Schluß wieder auf das zurück, wovon wir in der Einleitung ausgegangen sind. jewiesen ist durch alles dieses nur die Vererbung von Reiz- bzw. Er- regungswirkungen, kurz die Vererbung erworbener Eigenschaften, auf der Lamarck fußt, wie es auch Darwin tut, der sich hierdurch fundamental von Weismann unterscheidet. !) Bewiesen ist aber dadurch in keiner Weise ') Bei Darwin ist deshalb die Selektion immer nur ein indirekter, negativ wirk- samer, wie ein Bildhauer herausmodellierender Faktor der Artbildung. Bei Weismann, der die Vererbung erworbener Eigenschaften leugnet, wird sie zu einem selbsttätig das Neue schaffenden, positiven Faktor (Germinalselektion). Man sollte endlich aufhören, Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften. 7 die zweite Basis des „Lamarckismus“, der Gedanke, daß jede Anpassung auf die durch „das Bedürfnis“ geweckte Aktivität des Organismus zurück- zuführen sei. Die Vererbung der erworbenen Eigenschaften hat im Grunde nichts mit dem Zustandekommen der Anpassungen zu tun. Vererben sich doch, wie die Ergebnisse von blaringhem, Klebs, Brown-Sequard, Stand- fur, Fischer, Tower usw. sowie auch viele der Kammererschen Resultate zeigen, zahlreiche Veränderungen, die vom teleologischen Standpunkt aus betrachtet indifferent sind, ja die sogar schädlich sein können. Daß der Organismus in gewissem Grade zu einer aktiven Anpassung an äußere Bedingungen befähigt ist, kann allerdings nicht geleugnet wer- den. Diese sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegende direkte An- passungsfähigkeit erklärt sich, wie ich in einer späteren Fortsetzung der Mneme darlegen werde, aus der Beschaffenheit seines ererbten Engeramm- schatzes. Soweit nun der Organismus sich direkt anzupassen imstande ist, vermag er auch diese direkten Anpassungen unter günstigen Umständen auf seine Nachkommen zu vererben. Besonders einige der Kammererschen Versuche (1907, 1909 A) liefern hierfür sehr hübsche und eindeutige Belege. Diese direkte Anpassungsfähigkeit ist aber nur eine sehr bedingte, und sie versagt vollständig, wenn man sie zur Erklärung der sogenannten passiven Anpassungen heranziehen will, die sich allein durch natürliche Zuchtwahl erklären lassen. Die Verquickung der Auffassung Lamarcks vom Zustandekommen der Anpassungen, die neben einigem Richtigen so vieles Falsche enthält, mit seiner wohlbegründeten, jetzt experimentell voll bewiesenen Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften, die Zusammenfassung dieser beiden verschiedenartigen und verschiedenwertigen Bestandteile als Lamarcksches Prinzip ist deshalb zu verwerfen, und die Benutzung dieses Ausdruckes sollte als Quelle fortgesetzter Unklarheit durchaus vermieden werden. Den richtigen Teil der Lamarckschen Lehre, aber nur diesen, die An- nahme der Vererbung erworbener Eigenschaften behalten wir bei, freilich in einer etwas durch die seither gemachten Erfahrungen modifizierten Form. In dieser jetzt experimentell sicher bewiesenen Auffassung befinden wir uns in Übereinstimmung mit den Schlüssen, zu denen die Paläontologie und die vergleichende Anatomie schon lange auf ihren eigenen Wegen gelangt sind, und an denen die Vertreter dieser Wissenschaften auch meist zu einer Zeit festgehalten haben, als die experimentellen Erfahrungen noch gegen sie zu sprechen schienen. Ich nenne hier nur von Paläontologen Cope (1887, 1896, 1598) und Osborn (1888, 1889, 1891, 1893), von vergleichenden Anatomen Haeckel (1866, 1893, 1906), Gegenbaur (1892, 1898) und Für- bringer (1888, 1909). Durch die neuere experimentelle Forschung ist die Harmonie hergestellt und die Hauptfrage damit nunmehr als gelöst zu betrachten. Die Lösung vieler der zahlreichen und interessanten Unter- fragen, auf die wir gestoßen sind, muß der Zukunft überlassen bleiben. Darwin dadurch zu bekämpfen, daß man ihm letztere nicht von ihm, sondern von Weis- mann stammende und vertretene Auffassung der Selektion unterschiebt. 78 R. Semon. Das Vorhandensein einer sensiblen Periode der Keimzellen bei man- chen Formen gibt uns aber bereits jetzt einen Fingerzeig des weiteren Weges zur Erklärung des gelegentlich völligen Ausbleibens sowie der ver- schiedenen Grade der Abschwächung der Vererbung. An der Weiterarbeit wird sicherlich der experimentellen Forschung der wichtigste Anteil zu- fallen, und ohne Zweifel wird dabei die experimentelle Pathologie eine be- deutendere Rolle spielen, als ihr seit der Abschreckung durch die völlig im Banne Weismanns stehenden Argumentationen des pathologischen Anatomen E. Ziegler (1386, 1889) zuteil geworden ist. Verzeichnis der zitierten Literatur. L. Blaringhem, Mutation et Traumatismes. Bull. seientifique de la France et de Ja Belgique. 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Vor allem ist die Frage von Be- deutung, ob sie ursprünglich wasserbewohnende oder nur in das Wasser eingewanderte Tiere sind, d.h. ob die mannigfachen Anpassungen an das Wasserleben, die immer neue Studien an ihnen uns kennen lehren, von wasserbewohnenden Vorfahren übernommen sind oder sich erst im Laufe der Zeit herausgebildet haben und ob die Ähnlichkeiten, die sie vielfach untereinander und mit Fischen zeigen, auf direkten Verwandtschaftsbezie- hungen oder nur auf Konvergenz oder Parallelentwicklung infolge ähnlicher Lebensweise beruhen. Das Studium des Baues und der Lebensweise der jetzt lebenden Tiere, die vergleichend anatomische Betrachtung und die Klarlegung ihrer Ontogenie haben in bezug auf diese Fragen schon sehr wichtige Auf- schlüsse gegeben, die letzte Entscheidung steht aber der Paläozoologie zu. Sie muß uns die Vorläufer und Ahnen dieser Tiere kennen lehren und die all- mähliche Annäherung ihrer Gestalt an die geologisch jüngeren Vertreter unter schrittweiser Verfolgung ihrer zeitlichen und räumlichen Ver- breitung zeigen. Leider ist aber die Bedeutung der fossilen Wirbeltiere dadurch ein- geschränkt, dal) nur in sehr seltenen Fällen Reste der Weichteile erhalten sind. Auch die an Kalksalzen reichen Skelettelemente, die Knochen und Zähne, sind nur ausnahmsweise von einem Individuum in natürlicher Lage beisammen erhalten, häufiger mehr oder weniger durcheinander geworfen. zerquetscht und zerbrochen und unvollständig. _ Allermeist findet man sie nur vereinzelt und in Bruchstücken. Da uns also in der Regel nur ganz unvollständige Reste von Tier- leichen vorliegen, sind wir über den Bau der meisten fossilen Formen noch bei weitem nicht im Klaren, man ist auf Kombinationen und auf lange fortgesetzte Detailstudien, vor allem aber auf glückliche Funde voll- kommenerer Reste angewiesen, kann auf die Form und Anordnung der Weichteile fast nur aus derjenigen der Knochen und Zähne schließen und 6* S4 E. Stromer. muß die Funktion der Organe sowie die Lebensweise der Tiere aus ihrem Bau und der Art des Vorkommens ihrer Reste zu ergründen suchen, was stets mehr oder minder gewagt ist. Vor allem aber ist zu betonen, dal) fossile Reste von Wirbeltieren im allgemeinen sehr selten sind und meistens nur durch glückliche Zufälle in die Hände von zoologisch geschulten Sachverständigen gelangen, und daß bei der Jugend der'wissenschaftlichen Paläozoologie und ihrer geringen praktischen Bedeutung nur die Oberfläche beschränkter Gebiete der Erde, fast nur der größere Teil Europas und Nordamerikas seit längerer Zeit systematisch und genau nach Fossilresten untersucht wird. Wir stehen also in der Erforschung der fossilen Wirbeltiere noch im Anfang unseres Wissens. Große Schwierigkeiten macht auch die so wichtige Feststellung des geologischen Alters der verschiedenen Funde. Von einer nur annähernd richtigen Schätzung nach Jahreszahlen ist noch keine Rede, und man weiß bloß, daß es sich bei den Perioden der Geologie um sehr große Zeiträume, um Hunderttausende von Jahren handelt. Einstweilen kommt es nur darauf an, das relative Alter der lokalen Ablagerungen und der darin enthaltenen Fossilien zu bestimmen. Man hat nämlich in der Heimat der geologischen und paläontologischen Wissenschaft, in Europa, ein Formationsschema entworfen, das dem dortigen Wechsel der Grenzen von Meer und Land sowie dem der Faunen und Floren ent- spricht und deren zeitliche Aufeinanderfolge angibt, und muß nun die Funde ihm einzugliedern versuchen. In der folgenden Tabelle ist diese Formationsfolge, soweit sie für unser Thema Bedeutung hat, angegeben und es ist die zeitliche Verbrei- tung der hier wichtigen Wirbeltiergruppen in sie eingetragen. Wir sehen, daß man meerbewohnende Säugetiere, Vögel und Rep- tilien bis in die Tertiärzeit, respektive bis in das Mesozoikum zurückver- folgen kann. Wir wollen nun im folgenden zunächst nur die tatsächlichen Kenntnisse über die betreffenden Tiergruppen kurz darstellen, um erst danach Schlüsse zu ziehen und allgemeine Betrachtungen daran zu knüpfen. So wird das wirkliche Wissen gegenüber dem hypothetischen möglichst scharf hervorgehoben. Unter den Säugetieren sind, abgesehen von der Seeotter (Enhydra), die Robben (Carnivora pinnipedia), Wale (Cetacea) und Seekühe (Sirenia) Meeresbewohner, auch alle bekannten fossilen reihen sich in diese Gruppen ungezwungen ein. Über die Vorfahren der Seeotter, die unzweifelhaft der Unterfamilie der Fischotter (Lutrinae), also den marderartigen Raubtieren (Mustelidae) angehört, weiß man noch nichts, denn unter den bisher bekannten fossilen Lutrinae, die in Nordamerika wie in Europa sich bis in das Miocän zurückverfolgen lassen, ist keine als Ahne der marinen Form nachgewiesen. Es ist das nicht zu verwundern, weil die tertiären Ablagerungen in der Nähe des nordpazifischen Ozeans, des jetzigen Wohnortes der Seeotter, noch viel zu wenig erforscht sind. Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 85 Mesozoiecum Kaenozoicum | Trias N Jura | Kreide Tertiär — -- |— | - - _ Biel Palaeo- ® P | Alt | Jung ae: zoiecum | = 3, = =, =) e ae RI eeT = 8 2 BEE N I | 8 = 9 5 ri 4 | 8 8 j|a 8 g os ri u = © - u 2 In = 3 5 5 | ® 5 : 5 | 70 Ve 55| & EL 2 e} + | | PslE|PFIEI|$ Bi | || Carnivora: iz 1, 1,300-n, Urraubtiere _ Lutrinae — | Enhydra | | ale el Pommipedia I | un I I. ji Getacea: Mysticeti _ || Denticeti: Delphinidae Delphinapteridae Platanistidae Iniidae Physeteridae Ziphiidae Eurhinodelphidae Squalodontidae Archaeoceti: Zeuglodontidae Protocetidae Ungulata Sirenia: Manatidae Halicoridae Aves: | Flugvögel Laufvögel Spheniseidae Reptilia: Chelonia: Dermochelyidae Cheloniidae | Protostegidae ete. | Thalassemydidae Ophidia: Hydrophidae | Archaeophis | Palaeophidae | Lacertilia: Dolichosauridae | Aigialosauridae Pythonomorpha Rhynehocephalia: Champsosauria Acrosauridae Thalattosauria | I PM Crocodilia: | Alligatorellidae _ Teleosauridae [er 1 Metriorhynchidae ag az ou | | | Anomodontia : fe A ——— | \ | Placodontia am TEE Ba Kae VO Tem amer Rozoma | | Sauropterygia: — | | | Nothosauria a EEE, | Ichthyosauria: ——————LLL— nen Mixosauridae Ichthyosauridae E. Stromer. op or) Auffällig ist dagegen unsere geringe Kenntnis der fossilen Carnivora pinnipedia, deren lebende Vertreter, Robben, Seehunde und Walrosse doch die Küsten ausgedehnter Gebiete in solch großen Scharen bevölkern, dab man glauben sollte, in marinen Seichtwasser- und Strandablagerungen, die aus dem Diluvium und Tertiär reichlich bekannt und erforscht sind, viele Reste finden zu können. Man muß deshalb wohl annehmen, daf) sie früher in Gegenden lebten, deren Ablagerungen noch nicht oder zu oberflächlich durchsucht sind, also wahrscheinlich im hohen Norden, in Asien oder auch auf der Antarktis. Immerhin ist in der letzten Zeit ein erheblicher Fortschritt unserer Kenntnisse zu verzeichnen. Es sind nämlich aus dem Oberpliocän der Nieder- lande leidlich gute Reste des Walrosses (Trichechus), aus dem Obermiocän bei Wien solche des Seehundes (Phoca) und aus dem Miocän von Maryland und Oregon unvollständige Reste ausgestorbener Genera beschrieben worden, von welchen die letzterwähnten Verwandten der Öhrenrobben (Otariidae) angehören. Diese zeigen noch am meisten Ähnlichkeit mit Landbewohnern im Besitz von Ohrmuscheln und indem sie die Hinterbeine nicht nach hinten gedreht haben wie die Robben. Echte landbewohnende Raubtiere (Carnivora fissipedia) kennt man übrigens schon aus dem Öbereocän und deren primitivere Vorläufer (Creodonta) aus dem ganzen Alttertiär Europas und Nordamerikas. Die Kenntnis der fossilen Bartenwale (Mysticeti) hat leider nur sehr geringe Fortschritte durch Funde im Miocän von Patagonien und von Ungarn gemacht, die wie frühere im Miocän Europas, Nordamerikas und Patagoniens nur beweisen, daß die Unterordnung wie die der Carnivora pinnipedia schon damals entwickelt und verbreitet war, aber in nicht sehr großen Formen. Ziemlich gering ist auch noch unser Wissen über fossile Vorläufer einiger Familien der Zahnwale (Denticeti). Von Delphinen (Delphinidae) kennt man außer diluvialen und pliocänen unvollständige Reste von ober- und mittelmiocänen Europas, die fast nur in ihrer sehr geringen Größe bemerkenswert sind. Von fossilen Weißwalen (Delphinapteridae) kennt man noch weniger, doch soll der mit einwurzeligen Zähnen und unverwachsenen Halswirbeln versehene Lophocetus aus dem Miocän von Maryland hierher gehören. Sein Schädel ist in manchem iniaähnlich, aber nicht langschnau- zig. Fossile Vorläufer des Gangesdelphins, Platanista, endlich fand man überhaupt noch nicht. Dagegen sind von den ebenfalls sehr langschnauzigen Flußzahnwalen, den Iniidae, sowie von Physeteridae, Ziphiidae und Verwandten ziemlich vollständige Skelette oder Schädel und Kiefer im Pliocän und Miocän, besonders Europas, Nordamerikas und Argentiniens nachgewiesen und auch die Kenntnis der ausgestorbenen miocänen Haizahnwale, Squalodontidae, hat sich durch Funde von Schädeln, Kiefern und Zähnen speziell in Italien und Patagonien erheblich erweitert. Endlich sind oligocäne und obereocäne Urwalreste (Archaeoceti) des südöstlichen Nordamerika neu beschrieben und durch wertvolle Funde er- Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 87 gänzt worden und ganz besonders groß ist der Wissenszuwachs über die Archaeoceti des oberen und mittleren Eocäns von Ägypten. So ist es mög- lich, jetzt schon eine durch positive Befunde gestützte Vorstellung der Entwicklung der genannten Walfischgruppen sich zu machen. Schon im Untermiocän der Mittelmeerländer und Argentiniens treten uns die erwähnten Familien echter Zahnwale in mehreren ausgestorbenen Genera, also differenziert entgegen. Bei allen ist der Schädel so eigentüm- lich gestaltet wie bei den jetzigen Zahnwalen: die Nasengänge münden nahe am Scheitel bei ganz schwacher Ausbildung der Nasenbeine, der Nasenmuscheln und der (Geruchsorgane; auch ein Tränennasengang fehlt, und die Schädelknochen sind so übereinander geschoben, dal die Scheitelbeine des kurzen stark gewölbten Hirnschädels auf die Seite ge- drängt und die Stirnbeine unter den Hinterenden der langen Zwischen- und Oberkiefer und vor dem großen Hinterhauptsbein höchstens in einem schmalen Streifen sichtbar sind. Es gibt sogar schon im Untermiocän Schädel, deren Nasenregion fast so stark wie bei vielen lebenden Physe- teridae und Ziphiidae durch Verschmälerung und Verdickung der Knochen der linken Seite unsymmetrisch ist; die meisten haben nur einfache Kegel- zähne im Ober- und Unterkiefer und die in der Regel sehr geringe Höhe des Kronfortsatzes des Unterkiefers, das sehr dünne Jochbein sowie die kleinen Schläfengruben beweisen die schwache Ausbildung der Kaumusku- latur. Endlich ist nirgends etwas von einem Zahnwechsel bekannt. (ranz besonderes Interesse bietet aber die Ausbildung der Bezahnung der pliocänen und miocänen Ziphiidae und Physeteridae, deren lebende Vertreter sich durch stark unsymmetrische Schädel, teilweise verwachsene Halswirbel und als Tintenfischfresser durch starke Gebißreduktion aus- zeichnen. Bei den Ziphiidae ist nämlich nur jederseits ein Unterkieferzahn aus- gebildet, wenn auch bei manchen im Zahnfleisch der Kiefer noch weitere rudimentäre Zähnchen verborgen sind. Die noch lebende Gattung Mesoplodon ist nun zwar in allerdings dürftigen Resten schon im Pliocän und Obermiocän Europas nachgewiesen, daneben und in älteren Miocänschichten finden sich aber ausgestorbene (renera, deren Bezahnung Übergänge von normalen gleichartigen Kegel- zähnen bis zu dem jetzigen Zustand zeigen. Es schwinden nämlich bei manchen die Zahnalveolen, so daß die meisten Zähne nur locker in Kiefer- längsrinnen stecken und hinfällig werden bis auf ein Paar, das sehr groß wird. Von einem Stammbaum kann man zwar noch nicht sprechen, da die meisten Reste nur aus gleichalterigen obermiocänen Ablagerungen bekannt sind, aber der wahre Entwicklungsgang ist durch solche morphologisch vermittelnde Formen wenigstens deutlich angezeigt. In ähnlicher Weise ist durch die Funde im Miocän die anders ver- laufende Entwicklung des Physeteridengebisses zu erschließen. Im Ober- miocän finden sich Formen, die wie die rezenten nur schmelzlose Kegel- zähne im Unterkiefer haben, während die oberen rudimentär sind oder fehlen, daneben kommen aber auch solche mit Kegelzähnen im Unter-, Ober- und kalo) ey) yau ©), "ggajosfg SEyKamısuoya} zurAaMpg oaajun pun uoyaag ‘pur ‘tojery.roguf) “(6067 7297 sum) gzurdao uayaouN ‘umoorunego “Krpıqdjepouryanyy) Sn] np 1zNoI9y90,) sıydjopoummang] -uodıaayuy "L’SLd E. Stromer. Zwischenkiefer vor, wie sie auch schon im Mittel- miocän Europas in Physeterula vertreten sind. Bei den untermiocänen (Grenera Patagoniens aber sind die Kronen jener gleichartigen Kegelzähne normal mit Schmelz bedeckt. Im Schädel- und Skelettbau steht den Zi- phiidae Eurhinodelphis nahe, der bisher nur im Obermiocän Antwerpens in sehr vollständigen Resten nachgewiesen ist (Fig. 1). Er ist aber in seinen freien Halswirbeln und im Besitz gleich- artiger einfacher Kegelzähne im Ober- und Unter- kiefer den Iniidae Ähnlich, auch ist sein Zwischen- kiefer eigenartig verlängert. Die Iniidae erscheinen in manchem als den Landsäugetieren ähnlichste der lebenden Zahn- wale, so in der relativen Größe der Schläfen- eruben und des Kronfortsatzes des Unterkiefers, der sehr geringen Asymmetrie des Schädels und den eben berührten Eigenschaften der Halswirbel wie des Gebisses, in welchem die Zahnkronen nur aus Dentin und Schmelz bestehen. Sie sind jetzt nur in zwei kleinen Genera im Amazonas und an der La Plata-Mündung vertreten, man kennt fossile aber nicht nur aus dem Pliocän und Miocän Argentiniens, also aus der Nähe ihres jetzigen Wohngebietes, sondern sie sind auch zahlreich und formenreich im Miocän Europas und auch in dem von Nordamerika und Nord- afrika nachgewiesen. Gerade sie waren also im Miocän viel reicher entwickelt und formenreicher als jetzt. Bemerkenswert ist, dab im Untermiocän Patagoniens eine Gattung (Argyrocetus) Nasen- beine besitzt, die im Gegensatz zu jenen normaler Zahnwale ein wenige über die Nasenöffnungen vorragen. und dal eine andere (Diochotichus- Argyrodelphis) einen ganz squalodonähnlichen Schädel hat. Auch zeigt im Untermiocän Nord- italiens eine Gattung (Cyrtodelphis) eine für Wale starke Beweglichkeit des Schädels im Hinterhauptsgelenk und vorn stärkere Kegel- zähne mit anderen Wurzeln als hinten in den Kiefern, während eine andere (Acrodelphis) an den Zahnkronen kleine Nebenhöckerchen oder vorn und hinten Spuren von Randzähnelungen aufweist. Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 80 So sind manche Übergänge zu den auch im Miocän formenreichen und anscheinend sehr weit verbreiteten Squalodontidae vorhanden, über deren Skelett leider noch zu wenig sicheres bekannt ist (Taf. I, Fig. 2). Sie sind ebenfalls normalen Landsäugetieren ähnlich durch den Besitz freier Hals- wirbel, eines kaum unsymmetrischen Schädels, eines wenigstens etwas auf- ragenden Kronfortsatzes und in der Struktur der Zähne und bei einem Genus im Untermiocän Patagoniens (Prosqualodon) ragen die Nasenbeine auch ganz wenig vor. Vor allem aber ist ihr Gebiß bemerkenswert, denn die hinteren Zähne sind seitlich platt und am Hinterrand, manchmal auch vorn, ähnlich wie bei Robben, mit Zacken versehen und zwei- oder drei- wurzelig. Bei Squalodon, dessen Gebiß man vollständig kennt, sind im Kiefer in Reduktion der Zacken und Verschmelzen der Wurzeln alle Übergänge zu den gleichartigen vorderen Kegelzähnen vorhanden und es scheinen jederseits drei Schneidezähne, ein Eckzahn, acht bis neun vordere und zwei bis drei hintere Backenzähne (Prämolaren und Molaren) vorhanden zu sein. Unsere sehr geringe Kenntnis oligocäner Wale hat leider keinen Zu- wachs erhalten. Wir wissen deshalb nur aus dürftigen Resten kleiner Tiere aus Westfalen und Südkarolina, daß squalodonähnliche Backenzähne vor- handen waren, und ein Schädel (Agorophius) ist höchst bemerkenswert, weil er ziemlich weite Schläfengruben und eine mäßige Längsstreckung zeigt und weil bei ihm die Nasenöffnungen offenbar nicht ganz weit hinten liegen und die Scheitelbeine noch nicht zur Seite gedrängt sind, obwohl die Zwischen- und Oberkiefer hinten auf die Stirnbeine gelagert sind wie bei normalen Zahnwalen. So ist zeitlich und morphologisch der Abstand zwischen jenen und den Archaeoceti wenigstens etwas überbrückt, wozu noch Reste im Miocän von Linz (Squalodon Erlichi), des östlichen Kau- kasus (Mierozeuglodon caucasicus!), Neuseelands (Kekenodon onamata) und der antarktischen Seymourinsel (?Zeuglodon) kommen, die leider zu dürftig sind, um sichere Schlüsse auf ihre Zugehörigkeit zu Squalodontidae oder Zeuglodontidae zu gestatten. Letztere obereocäne Familie umfaßt mittelgroße bis über 10 m lange Meeresbewohner im südöstlichen Nordamerika, England und Ägypten (Fig. 34 und 32). Sie sind in der Ausbildung eines starken Schwanzes, der offenbar recht rudimentären Hinterextremitäten, in der Kürze des Armes und Halses, im Bau des Gehörs, in der Lage der Augen, in den etwas zurückverlagerten Nasenöffnungen, dem langen festen Gaumendach und anderem wie die Zahnwale dem Wasserleben angepaßt und ihnen gleicht auch das Schulterblatt und der Unterkiefer. Aber z. B. in der ge- ringen Hirnentwicklung und der damit zusammenhängenden Streckung und geringen Größe des Hirnschädels stehen sie viel tiefer und das Gebil) !) Die Ablagerung, die Reste eines Iniiden nebst denen von Mierozeuglodon enthält, das dem mittelmiocänen Neosqualodon ähnlich ist, ist wohl untermiocän und nicht eocän, wie bisher angenommen wurde. E. Stromer. 90 L ie Zeuglodon Osiris Dames (Zeuglodontidae), Obereocän, Ägypten. 1 Skelettrekonstruktion mit ergänztem Beckenrudiment und unteren Schwanzknochen in 1!/,, nat. Gr. B Schädel von oben in 1/, nat. Gr. Wichtigste Hohlräume schattiert. @ Zwischenkiefer, b Oberkiefer, c ge- streckte Nasenbeine, d Stirnbein, e Scheitelbein, f Schläfenbein, g gerades nicht sehr schwaches Jochbein, A Nasenöffnung in halber Länge der Schnauze, i Tränenkanal, k Nasenhöhle mit Nebenräumen und Muscheln, ! Raum für den sehr langen dünnen Geruchslappen des Hirns, m Loch für den Sehnerven, n Raum für das kleine und kaum gefurchte Großhirn, o sehr kurzer und breiter Raum für das Kleinhirn, p Hinterhauptsloch mit daneben rückragenden Gelenkhöckern. (Aus Stromer 1908.) Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 4] gleicht zwar dem von Squalodon außerordentlich, es sind aber wie bei primitiven placentalen Landsäugetieren nur vier Prämolaren in jeder Kiefer- seite vorhanden, und zwar bis auf den einfacheren ersten zweiwurzelige und vorn und hinten zackige. Sehr vieles erinnert noch mehr an normale Landsäugetiere, so der vollständige späte Zahnwechsel, bei dem dreiwurzelige Milchbackenzähne auftreten, die gestreckten und wenigstens bis zur halben Länge der langen Schnauze vorragenden Nasenbeine und damit der Verlauf der knöchernen Nasengänge, das Vorhandensein eines wohl ausgebildeten Geruchsorgans und von Nasenmuscheln sowie von Tränennasengängen. Auch sind die Schädelknochen normal gelagert, nicht überschoben oder asymmetrisch, die Schläfengruben sind sehr weit, der Kronfortsatz des Unterkiefers ist höher als bei Squalodontidae und die Beweglichkeit des Schädels im Halse erößer, die Ober- und Unterarmknochen sind zwar seitlich platt, aber ge- streckter und noch mit einem beweglichen Ellbogen- und Handgelenk ver- sehen usw. Leider sind die Flossen selbst noch nicht beschrieben, sie sollen otariaähnlich sein, also nicht mit kurzen vermehrten Fingergliedern ver- sehen, wie bei den Zahnwalen. Eine älteste Walform (Protocetus atavus Fraas) aus dem Mitteleocän Ägyptens, deren Unterkiefer, Extremitäten und Schwanz leider noch unbekannt sind, schließt sich speziell im Schädel- bau zwar eng an Zeuglodontidae an, gibt uns aber noch weitere äußerst wichtige Aufschlüsse (Taf. I, Fig. 4). Sie ist kleiner — ohne Schwanz nur etwa 1!/, m lang —, die Nasenöffnungen liegen ein wenig weiter vorn, die Halswirbel sind etwas länger und der Bau des Brustkorbes wie der Lenden erinnert eher an Landraubtiere, wenn auch nur ein Kreuzbeinwirbel vor- handen ist, so daß die Hinterextremitäten wahrscheinlich nur schwach waren. Am bemerkenswertesten ist jedoch das Gebiß, denn die vier Prä- molaren und drei Molaren sind nicht nur zwei- oder dreiwurzelig, sondern ihre Kronen sind konisch und mit einem hinteren Nebenhöcker und der Andeutung eines inneren versehen; es ist also eine Annäherung an die dreihöckerigen Molaren primitivster placentaler Landsäugetiere nicht zu verkennen. Sowohl bei den Zeuglodontidae wie bei den Protocetidae kennt man endlich große Formen, die in der sehr starken Ausbildung der Wirbel von der hinteren Brustregion an eigenartig spezialisiert sind, für unsere Fra- gen aber kein spezielles Interesse bieten. Die Seekühe sind wie die Wale dem Wasserleben angepaßt, insofern sie am Hinterende ihres zylindrischen, äußerlich halslosen und fast haar- losen Leibes eine horizontale Schwanzflosse als Fortbewegungsorgan be- sitzen, wobei ein Kreuzbein fehlt, Becken und Oberschenkel nur als Rudi- mente vorhanden sind und die Vorderbeine als Balancierflossen funktio- nieren. Es sind auch die Nasenbeine rudimentär und das Gebil) ist höch- stens schwach. Bei den harmlosen schwerfälligen Pflanzenfressern erinnert aber vieles, auch im Skelett und Gebiß, das einen embryonalen Zahnwechsel zeigt. an Huftiere, und die Vorderbeine dienen beim Abweiden der Wasser- 92 E. Stromer. pflanzen auch als Stützen, weshalb sie noch ein bewegliches Ellbogen- gelenk haben. Die Gruppe mit nur drei rezenten Genera hat eine diskontinuierliche geographische Verbreitung. Halicore ist ein Bewohner der Meeresküsten vom Roten Meer bis Australien, die große Rhytina lebte noch im 18. Jahr- hundert am Beringsmeer und der isoliert stehende, in vielem primitivere Manatus ist an den Küsten und in Flüssen zu beiden Seiten des tropischen Atlantischen Ozeans zu Hause. Er hat embryonal zwar noch drei Schneidezähbne, einen Eckzahn und mindestens drei Backenzähne, erwachsen aber vorn an der etwas herab- gebogenen Schnauze wie die anderen Seekühe Hornplatten und hinten zahl- reiche Backenzähne mit je zwei Querjochen, die vorn ständig ausfallen und durch von hinten nachrückende ersetzt werden. Von fossilen Vorläufern wei) man noch recht wenig, doch ist ein schon länger bekannter Schädel (Prorastomus) aus dem Alttertiär Jamaikas sehr interessant. Er ist in seiner geringeren Größe und in der kaum herabgebogenen Schnauze pri- mitiver, vor allem aber sind jederseits wohl entwickelte drei Schneidezähne, ein starker Eckzahn, fünf vordere und drei hintere Backenzähne in Funktion. Die Halicoridae unterscheiden sich in der Form des Schulterblattes. des Beckenrudimentes und in der stärker herabgebogenen Schnauze von den] Manatidae. Auch sie haben embryonale Anlagen von Schneide-, ?Eck- und vorderen Backenzähnen ; die erwachsene Rhytina ist aber zahnlos und Halicore hat in jedem Zwischenkiefer nur einen Zahn, der bei dem Männ- chen stoßzahnartig groß und nur unvollständig mit Schmelz bedeckt ist, und hinten fünf oder sechs gleichartige schmelzlose und mit Zement überklei- dete Backenzähne, die einwurzelige, nur in der Jugend mit zwei Quer- jochen versehene Stumpen sind. An diese zwei Genera fügt sich eine Reihe ausgestorbener in West- und Mitteleuropa und besonders in den Mittel- meerländern an, von welchen man Kiefer, Schädel und zum Teil auch voll- ständigere Skelette kennt und die uns erlauben, die Familie bis in das Mittel- eocän Ägyptens und Italiens, also so weit wie die Wale zurückzuverfolgen und die allmähliche Umänderung einiger wichtiger Skeletteile zu erschließen. Der Schädel, schon bei manchen miocänen Formen sehr groß, wird bei den älteren kleiner, und zwar vor allem der Hirnschädel. Die Nasen- beine sind bei den alttertiären Genera besser entwickelt und überdachen wenigstens den hinteren Teil der Nasenöffnung und die Zwischenkiefer der einen mitteleocänen Gattung (Eotherium) sind wenig herabgebogen. Bei allen ist jederseits in ihnen ein vergrößerter Zahn, ähnlich wie bei Halicore, vorhanden, aber die ältesten haben ihn mit Schmelz überkleidet und viel kleiner, und eine obereocäne wie eine mitteleocäne Gattung Ägyp- tens (Eosiren und Protosiren) besitzen daneben noch zwei kleine Schneide- zähne und dahinter einen schwachen Eekzahn.!) !) Die Reste zweier mitteleocäner Gattungen Italiens sind zu dürftig, um hier in Rücksicht gezogen zu werden. Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 93 > e 05 Was die Backenzähne anlangt, so ist ihre Auffassung noch strittie, Nach neueren Befunden sollen die Halicoridae nur drei echte Molaren haben und davor ein bis drei lange Zeit funktionierende Milchzähne und einige Prämolaren. von welchen die hintersten wie oft bei Säugetieren den Molaren gleichen. Bei dem pliocänen Felsinotherium sind wie bei der einen Halicoreart nur fünf Backenzähne vorhanden, bei miocänen Formen erscheint aber die Zahl der Prämolaren vermehrt und die Zahnkronen sind wie bei allen älteren normal mit Schmelz überkleidet. Bei dem oligocänen Halitherium Schinzi sind hinter drei einfachen vier zweijochige und mehrwurzelige jackenzähne vorhanden, bei der obereocänen Eosiren im Oberkiefer vier ein- und vier zweiwurzelige und im Unterkiefer drei einwurzelige und wohl fünf zweiwurzelige und bei Protosiren endlich scheinen oben wie unten drei einwurzelige, einfach dreispitzige vordere und vier zweiwurzelige hin- tere Backenzähne vorhanden zu sein. Letztere zeigen stets zwei Querjoche, die aus je zwei oder drei Höckern zu bestehen scheinen. Protosiren dürfte also dieselbe Zahnzahl wie der mit ihm zusammen vorkommende älteste Urwal, nämlich drei Schneidezähne, einen Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren auf jeder Seite besessen haben, seine Zahnformen lassen sich aber eher mit denen des primitivsten Elephantenahnen, des obereocänen Moeritherium, vergleichen. Der Arm der Halicoridae ist wie bei den Walen verkürzt und ver- breitert, aber die zwei Unterarmknochen liegen zwar auch voreinander. durch Krümmung der Speiche (Radius) ist jedoch ein breiter Zwischenraum zwischen beiden. Bei dem genannten Halitherium und dem mitteleocänen Eotherium nun ist der Zwischenraum schmal und bei letzterem sollen sich die zwei Knochen sogar ein wenig kreuzen, wie bei Landsäugetieren Regel ist. Ganz besonders gut läßt sich endlich die Beckenentwicklung verfolgen (Taf. II, Fig. 5). Jetzt ist jederseits nur ein schräg gestellter Stab vorhanden mit einer winzigen Facette an einer rauhen Stelle zur Gelenkung des Ober- schenkelrudimentes. Bei dem miocänen Metaxytherium ist davor noch manchmal ein Eck ausgebildet, bei der genannten oligocänen Halitherium- art ist es stärker, die Facette besser entwickelt und das Oberende des Knochens scheint an einem oder zwei Kreuzbeinwirbeln locker befestigt gewesen zu sein. Bei der obereocänen Eosiren ist die Gelenkgrube und das Eck noch besser ausgebildet und der untere Beckenteil breiter und kürzer. Das Becken des mitteleocänen Eotherium endlich zeigt, daß dieser dem Sitzbein (Jschium) und das mit ihm durch eine schmale Spange verbun- dene starke Eck dem Schambein (Os pubis) und der längere obere Teil dem Darmbein (Ilium) normaler Landsäugetiere entspricht. Sein Becken, das dem des ältesten obereoeänen Elephantenahnen (Moeritherium) ziem- lich ähnlich ist, spricht für eine vollständige Ausbildung der Hinterbeine. wenn sie auch wohl schwach waren. Primitive landbewohnende Huftiere (Ungulata) kennt man übrigens aus noch älteren Tertiärschichten Europas wie Nord- und Südamerikas in ziemlicher Zahl und in nicht unbeträchtlichem Formenreichtum. 94 E. Stromer. Unter den Vögeln sind nur Bewohner des Südens der Südhemisphäre, die Pinquine (Spheniscidae). dem Schwimmleben im Meere stark angepaßt, indem sie im Gegensatz zu allen anderen Vögeln zum Rudern umgebil- dete Flügel und in ihren kurzen Schwimmfüßen unvollkommen verschmol- zene Mittelfußknochen haben. Fossile Reste einer großen Form sind schon länger aus dem ?Miocän Neuseelands bekannt und neuerdings sind unvoll- ständige Knochen naher Verwandter im Miocän Patagoniens und der süd- lich davon gelegenen antarktischen Seymourinsel gefunden worden. Sie zeigen ein wenig mehr Ähnlichkeit mit Knochen normaler Vögel, z. B. sind auffälligerweise die Mittelfußknochen etwas inniger verbunden als bei den lebenden Pinquinen. Laufvögel fand man schon im ältesten Eocän Europas und den älte- sten sehr primitiven Flugvogel (Archaeopteryx) im dortigen obersten Jura. diese Vogeltypen sind also sehr alt. Die Reptilien sind bekanntlich eine seit der Kreidezeit immer mehr zurückgehende Wirbeltierklasse, Meeresbewohner gibt es jetzt nur in den Tropen unter den Schildkröten (Chelonia) und Schlangen (Ophidia). Die Lederschildkröte (Dermochelys) ist darunter von besonderem Interesse, weil sie, abgesehen von Eigentümlichkeiten im Schädelbau, sich von allen anderen Schildkröten durch die Schwäche ihres Panzers unter- scheidet. Er besteht nämlich nur aus vier Bauchplatten, dem Nacken- schild und einem Mosaik kleiner Hautknochen. Wenige verwandte Genera fand man im Miocän von Maryland, im Öbereocän Ägyptens und im Obermiocän bis Paleocän Europas in meist recht dürftigen Resten. Er- wähnenswert ist davon der miocäne bis mitteleocäne Psephophorus, weil sein Panzer dieker und etwas geschlossener sein soll als bei der re- zenten Form. Weiter als die Dermochelyidae gehen die Seeschildkröten (Cheloniidae) zurück. die auch Flossenfüße, aber einen, wenn auch mit großen Lücken versehenen flachen Knochenpanzer wie andere Schildkröten haben. Im Eocän und in der oberen Kreide Europas fand man schon zahlreiche Ver- wandte von ihnen, besonders aber in der oberen Kreide Nordamerikas auch ausgestorbene Familien, die ihnen nahe stehen. Erwähnenswert sind davon die Protostegidae. deren Krallen nicht so reduziert sind wie bei den jetzigen Meeresbewohnern und deren ältere Formen keinen so reduzierten ’anzer haben wie die jüngste Gattung (Fig. 6). Sie hat über den ganz schwach ausgebildeten Mittelplatten (Neuralia) des Rückenpanzers eine Längsreihe von Hautknochen, welche sich wohl mit den oberflächlichen Knochenplättehen von Dermochelys vergleichen lassen. Am beachtenswer- testen sind aber die Thalassemydidae, die vom Eocän bis in den obersten Jura verbreitet sind, weil sie im Panzerbau zwar den Cheloniidae gleichen, in ihren bekrallten Füßen aber den Emydidae, also Sumpfschildkröten. Normale, fest gepanzerte Landschildkröten fand man schon in der oberen Trias Europas. sie scheinen also weit älter zu sein als die Meeres- bewohner. Im europäischen oberen Jura fand man übrigens auch wahr- Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 95 scheinliche Verwandte dieser ältesten Schildkröten dem Leben im Meere in ähnlicher Weise wie die Thalassemydidae angepaßt. Von fossilen Schlangen ist nur sehr wenig bis in die Kreideforma- tion zurück bekannt, vor allem, weil der so leicht gebaute Schlangenschä- delÄnicht gut erhaltungsfähig ist. Deshalb kann es nicht befremden, dab man noch keine fossilen mit Ruderschwanz versehenen Hydrophidae fand, zumal da diese Seeschlangen nur im indopaecifischen, paläozoologisch noch wenig erforschten Gebiete leben. Dafür sind aber andere, isoliert stehende Fig. 6. Archelon ischyros Wieland (Protostegidae). Obere Kreide, Dakota. Skelettrekonstruktion in 1/,, nat. Gr. (aus Wieland 1909), Flossenskelett zum Teil ergänzt, die mit dem Rückenpanzer nicht fest verbundenen Bauchpanzerplatten weggelassen. Die Rippenplatten sind nur ganz oben entwickelt, auf ihnen in der Mittellinie eine Reihe sekundärer Hautplatten. Seeschlangen im Eocän gefunden worden. Davon ist die kleine Archaeophis im Mitteleocän Italiens durch fünfkantige Zähne und die höchste beobachtete Wirbelzahl (etwa 565) bemerkenswert. Die Palaeophidae aber, von welchen man fast nur Wirbel aus dem Eocän Englands, Ägyptens, Alabamas und wohl auch Frankreichs und Norditaliens kennt, haben hohe schmale Wirbel und sind sehr grob. Die den Schlangen nächst stehende Gruppe, die Eidechsen (Lacer tilia), scheint schon in dem zierlichen Euposaurus des obersten ‚Jura von 96 E. Stromer. Europa einen normalen Vertreter zu haben.!) Den Warneidechsen (Vara- nidae), die in manchem am primitivsten unter den lebenden sind, scheinen nun mehrere meerbewohnende Eidechsen nahe zu stehen, deren zum Teil sehr vollständige Skelette man in der unteren Kreide Istriens und Dal- matiens und in der oberen Englands fand. Die sehr gestreckten, wenige bis 15 dm A EN, langen Tiere hatten einen langen, seitlich platten. /AN\ Ruderschwanz, im übrigen zeichnen sich die ZN einen, die Dolichosauridae, durch einen kleinen VEN Schädel, langen Hals und sehr kurze Vorder- // N beine aus, die nur in der unteren Kreide //sD gefundenen Aigialosauridae aber durch einen //FN größeren Schädel, kurzen Hals und wenig ver- kürzte gleichlange Vorder- und Hinterbeine (Fig. 7). Solchen Eidechsen lassen sich die Pytho- /)-D nomorpha vergleichen, die in den Meeren der AN jüngeren Kreidezeit wohl universell verbreitet / IN waren und von welchen man besonders in Nord- HN amerika bis 10 »» lange vollständige Skelette y AN ‘fand (Taf. II, Fig. 8). Sie waren dem Wasser- IN leben vorzüglich angepaßt. Die schlangenartig Vs gestreckten Tiere schwammen wohl vor allem “mit Hilfe eines langen, seitlich platten Ruder- AR schwanzes. Infolgedessen ist ihr Kreuzbein ganz, Das das Becken etwas verkümmert und die Beine e sind kurz. Aber die krallenlosen Zehen sind oft & ähnlich wie bei den Walen durch Vermehrung 72 Pi ÖOpetiosaurus Buchichi Kornhuber (Aigjalosauridae). Untere Kreide, Dalmatien. Schwanzende mit starken oberen Fortsätzen, "seitlich, Gr. und unteren und Vorderfuß in !/, nat. a Oberarm, b gestreckter Unterarm, e Handwurzel, d Mittelhand, e be- krallte Zehen. (Aus Kornhuber 1901.) ihrer Glieder bis auf elf bis zwölf verlängert, so daß Ruderfüße ausgebildet sind. Eine eigentümliche, an Schlangen er- innernde Spezialisierung ist die Erweiterungs- fähigkeit des mit spitzkonischen Zähnen be- wehrten Maules. Sie wird hier dadurch bewirkt, dal die einer festen Symphyse entbehrenden Unterkieferäste in der Mitte der Länge eine Art Gelenk besitzen. Das äußerlich eidechsenähnliche Sphenodon Neuseelands wird seit längerer Zeit als letzter Vertreter einer einst reich entwickelten Ordnung (Rhynchocephalia) angesehen, weil es im Gegensatz zu den Lacertilia wie ') Der im jüngeren Paläozoicum von Texas gefundene eigentümliche Lysorophus kommt als älteste, vielleicht meerbewohnende Eidechse nach meiner Ansicht nicht in Betracht, denn sein Schädel ist zwar sehr eidechsenähnlich, aber ich konnte feststellen, daß seine Quadratbeine fest eingefügt sind. Auch sind knöcherne Kiemenbögen vorhan- den und die Hinterhauptsgelenke passen nicht gut zu Reptilien. II. Abderhalden, Fortschritte ‚„ Neue Forschungen über fossile Tungenatmende 'iromer S ’ de Zu E Meeresbewohner. 7 suy) 'aoy uoseNn Alouuı w ° JzunZıo amqyaof [ "youmyos 97297] "USIE[oMW odıjazınMm I 8-1 9 Jojary aydsımz pun ouqnzeT 498 senI9 [OPLUOS opuadeayonı y *jasduyayo egoad BD 'auı -mAaz pun u ‚u eırpoumiT * SZAUNATIAZ F zyar] 2 "zur !r eago ur ‚a Dı -usgdAdy "ur: 903014) surıg 'g snarye 204044 Taf. I. ne "usar[opt ayerd yaıpylos fodıyprz epuramyumg we pun ost IM APUW.LIOJULF UINOTZIB yrur 9927407 ‘Btfpozinatmonz ur c d uoA ‘uaımfol - * 3 5 u ‘ S ” > £ ß pun o1ego g— 1 2 (esdeyuaoyar) y LONPOyNU9[PSSIAnRgqIayuıFT y soutogjasroyag uey3ugapad eqnaduerriyog IZINMIOMZ E—T u ‘uam[omn 18-1 d ‘uyezyag > ‘sugrzapiaugag a1syun ap ur oyrag amz sop yoaısyuımy P ‘sau ng sop epuaasgurmg S -Sduryuszug ueI9go sep purniego 2 ‘oursquasen aremumsyıoa p ‘Bunuyouasex u ‘aajoıyaago q joryuoyostaz Do "uauoayugez, aodıula pun HumquaseN Jap Zunzursi aoygun H06T zur g pun Fest Aanbog ur uaanaıg pun smurduo B sautlag uoyasunpınof sap gmögesdır) wop yoru ar) "peu %, manga ut Jdamasuoyer Jopeppista/) pun [PPEUDS -TOTSANURIIPNS ‘araorufanıpt "(rpisuopoenbgs) urpimof asunrırq uopopenbg 2 D sd in Wien. Druck von Gottlieb Gistel & Cie r. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien. .—_ x ® D— i & ” e Pr =. A u g . 2 ) i * - - 5; = x \ . x i Abderhalden, Fortschritte Il. le lungenatmende OSSI Zu E. Stromer, Neue Forschungen über J Meeresbewohner. Taf. II. C6BSLT iogso suy) Yaonyyund ojıog edıyodaouy "an 'yau V/, ur 399[9yS undArpunjspfoA 4s0y u 19 OR JIOIMASUONaL 149[948 'SEsury 'aplaıy Prsgo "(eydaıouounoysig) adoy 10ojodsAp suuinwsofäf "urogzyg 2 “umqweygag d ‘oquasyusppäiynh 99 "uroquranlt 72 '(906T zua.o7 sum B ‘S06T oO una sum p ‘L06T 2agp sur /[ puna ‘g) -ax) 'yeu 8; manga ur D pun f ‘aoouısduraygagg "uuwunouumz sus wunfyy b+unnO aayasyıordopuf "usag Sıwagsun Hxo0rfeH / ‘a9 'yeu F/, wangp ur a pun » ‘uarı Teq umsorunag‘ ‘(oqy Isıojog unrIoggÄxtgoN ? ‘zumm teq umoodıpoasgun) ‘dney ızumas a umreoggen pP as) eu ®/, wage, ur 5 pun 9 ‘usgdAäy "umsoRısgO '"SAaıpuy wosqıp ueasog 2 ‘ungdAdy "uraoopayyım ‘usao wmorıdAdor umreoggog q “ar mu "7 ‘(906T saaıpuy sur) augwuogurqgdorg APIsO4]E “ursoelegg *wmLIaygLieom » “uayun uognu UOA 5 ‘uorme uoA AmyuoyDagL eyurT "SoytsısuorFynpeaueyaag]t — PrPpLIODOIHNTH p > q » "g ärg Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien. Druck von Gottlieb Gistel & Cie. in Wien. u E. Stromer, Neue Forschungen über fossile lungenatmende Mı eri she wohn« Es Taf. III. Thanumatosaurus victor E. lesiosauria). Obere Ihbdı: rhaldı N, Vollständiges Skelett von der Bauchseite ont Gr. (nach einer etwas retuschierten Phot mit gütirer Erlaubnis von Herrn Prof. aa Der kleine Kopf an dem langen Hals und den Bauchrippen bestehende Bauchpanzer, der mäßig entwickelte Schwanz ı züglich erhalten. An letzteren ist gegenüber Fig. 10 die Verkürzung und Verbı 7 wie der Mittelfußknochen und die Vermehrung der Z« Irban & Schwarzenberg, Berlin und Wien. von Gottlieb Gistel & Cie lort ehrıtti I. in Wien Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 97 die Crocodilia ein fest am Schädel eingefügtes Quadratbein, zwei knöcherne Schläfenbogen und ventrale Hautverknöcherungen, sogenannte Bauchrippen, hat. Nahe und entfernt verwandte Land- und Süßwasserbewohner kennt man schon aus dem jüngeren Paläozoicum. Zu letzteren muß man wohl auch die sehr langschnauzigen CUhampsosauria der obersten Kreide und des ältesten Tertiärs rechnen, wenn auch dürftige Reste alttertiärer Formen Westafrikas in rein marinen Ablagerungen vorkommen. Meeresbewohner waren aber die spitzköpfigen, bis 1 »» langen Acrosauridae des obersten ‚Jura Europas. Sie schwammen wohl mit Hilfe ihres sehr langen, seitlich platten Schwanzes, denn ihre Vorder- und Hinterbeine sind sehr kurz und klein. - Fraglich in ihrer systematischen Stellung sind die Thalattosauria. zwei meerbewohnende Genera der oberen Trias von Kalifornien. Ihre Nasen- löcher liegen nahe an der Basis der sehr gestreckten Schnauze, die mit teils schlanken, teils niederen platten Zähnen bewehrt ist und ihre Glied- malen sind denjenigen gleichalteriger Ichthyosauria etwas ähnlich, indem z. B. die Ober- und Unterarmknochen kurz und breit sind. Die Crocodilia waren früher auch stärker vertreten als jetzt, und zwar nicht nur im Süßwasser, sondern die ältesten, die im Jura Europas zum Teil in vollständigen Skeletten gefunden sind, nur in marinen Ab- lagerungen. Wie bei den jetzigen, sind stets die hinteren Beine länger als die vorderen, die Wirbelkörper sind aber wie bei den Rhynchocephalia vorn und hinten konkav, statt hinten konvex und der knöcherne Gaumen endet schon etwas weiter vor dem Schädelende als bei geologisch jüngeren Croeodilia. Unter den kurzschnauzigen Formen scheinen nur die Alligatorellidae des obersten Jura rein marine Tiere gewesen zu sein. Die zierlichen, nur wenige Decimeter langen Echsen hatten eine bemerkenswert schwache Panzerung, indem nur zwei Reihen von Knochenschildern ihrem Rücken entlang ziehen. Unter den langschnauzigen Krokodiliern sind zwei Familien zu er- wähnen, die, abgesehen von dem Besitz sehr weiter oberer Schläfengruben, recht verschieden voneinander sind. Die Teleosauridae, die vom oberen Teil des unteren Jura an in Europa, vereinzelt auch in der oberen Kreide Nordamerikas nachgewiesen sind, haben nur halb so lange Vorderbeine als hintere und besitzen außer zwei Reihen großer Rückenplatten noch einen festen Bauchpanzer, also eine sehr starke Panzerung. Die Meerkro- kodile (Thalattosuchia oder Metriorhynchidae) des europäischen mittleren und oberen Jura sind dagegen ganz ungepanzert. Ihr Hals ist kurz und der starke Ruderschwanz ist hinten nach unten abgebogen, trug also wahr- scheinlich oben einen wohl entwickelten Flossenlappen. Die Beine erscheinen hier zu Paddeln umgebildet, die Arm- und zum Teil auch die Unterschen- kelknochen sind nämlich kürzer als bei anderen Krokodiliern, die Mittelful)- und Zehenknochen sind aber gestreckt (Fig. 9). Bei einer oberjurassischen Gattung sind die vorderen Extremitäten sehr kurz, bei älteren leider noch nicht genau bekannt. E. Abderhalden, Fortschritte. I. 1 98 E. Stromer. Weitere marine Reptilien des Mesozoicums, die alle wie die Schild- kröten nur eine Schläfengrube und zum Teil wie die eben besprochenen Reptilien bikonkave, zum Teil vorn und hinten platte Wirbelkörper haben. lassen sich nicht rezenten Ordnungen ein- oder anreihen. DiePlacodontia, deren unvollständige Reste man fast nur in der mittleren Trias Deutschlands und der oberen Ungarns fand, dürften zu der im jüngeren Paläozoicum und in der Trias verbreiteten Ordnung Anomodontia gehören, die sonst fast nur Landbe- wohner umfaßt, doch zeigen sie im Schädelbau Ähnlich- keit mit den im folgenden zu besprechenden Notho- sauria. Sie scheinen in der Gesamterscheinung schild- krötenähnlich gewesen zu sein, hatten aber mäßig gestreckte Beine, einen h eigenartigen, aus Knochen- u) J I höckern bestehenden festen =) Rückenpanzer und bei den Fig. 9. ; er geologisch älteren Formen d & Set vorn zylindrische Schneide- RR I zähne, hinten mehrere S\ Längsreihen den Knochen aufgewachsener Pflaster- \ zähne. Das obertriassische Genus hatte jedoch nicht N nur weniger Pflasterzähne, EN N sondern auch vorn wahr- Geosaurus suevicus E. Fraas (Metriorhynchidae). Oberster Jura, scheinlich bloß Horn- Württemberg. scheiden. Linke Vorder- und Hinterextremität eines ziemlich vollständigen . Skelett« rekonstruiert in !/, nat. Gr. Vorn Armknochen, hinten Die Ordnung der Sau- Unterschenkelknochen sehr kurz. a Oberarm, b Unterarm, ce Hand- ropterygia umfaßt außer wurzel, d Mittelhand, e langer Oberschenkel, f Unterschenkel, f ji h 7 hö . . 9 Fußwurzel, A Mittelfuß. raglıchen Zuge 1orıgen ım jüngeren Paläozoicum, den Süßwasser bewohnenden Mesosauria, nur mesozoische Meeresbewohner. Die Tiere haben einen nicht sehr großen, nur äußerst selten stark langschnauzigen Schädel, dessen Kiefer spitzkonische Zähne in Alveolen tragen und dessen äußere Nasenlöcher nahe vor den Augenhöhlen, die inneren weit vorn am Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 99 Gaumendach liegen. Der Hals ist fast stets lang und der Rumpf durch starke Entwicklung der ventralen Teile des Brust- und Beckengürtels sowie der Bauchrippen ausgezeichnet; eine Panzerung fehlt aber. Der Schwanz ist nur mäßig lang und zur Fortbewegung dienten offenbar die nur fünf- zehigen, mäßig gestreckten Beine. Ihre auf die Trias Europas beschränkte Unterordnung der Notho- sauria, von welchen vor allem aus der mittleren Trias Deutschlands und der Südalpen schöne Reste bekannt sind, umfaßt wenige Dezimeter bis über 3 m lange Tiere. Ihr knöchernes Gaumendach scheint in der Mittel- linie stets geschlossen zu sein. Der Hals umfaßt nie viel über 20 Wirbel und die Beine konnten eher zum Gehen als zum Schwimmen dienen, wie die mäßige Streckung des Unterarms und Unterschenkels und die für Reptilien normale Zehengliederzahl und -form be- weist (Fig. 10). DEN. Die andere Unterordnung der Plesiosauria Pa ist in ganz dürftigen Resten auch schon in der mittleren und oberen Trias vertreten, recht gut = aber im Jura Europas und in der Kreide Nord- 5 er ER c\ \\ > amerikas. Speziell zur Kreidezeit scheint sie ziem- lich universell verbreitet gewesen zu sein. Sie um- ap faßt unter sich stark verschiedene Genera mit bis ZN ‚ 10m langen Formen (Taf. III, Fig. 11). Der Gaumen ö \\ N N % zeigt stets einige Lücken, die Zahl der Halswirbel wechselt zwischen 13 und über 70 under Bungee ne nl erscheint gedrungener und breiter als bei den Notho- Comersee, Südalpen. sauria. Vor allem sind aber Teile des Brust- und Rechter Hinterfaß (nach einem Beckengürtels an der Bauchseite als so große Platten ee ae en entwickelt, daß) sie zusammen mit den Bauchrippen us Bowlanger 1898). a Ober- 2 £ £ - schenkel, bWadenbein, cSchien- eine Art Bauchpanzer bilden und die Extremitäten bein, d erste Zehe. sind Ruderpaddeln, indem die Unterarm- und -schenkelknochen stark verkürzt, die Zehen aber durch Vermehrung der Gliederzahl gestreckt sind. Ein ganz anderer Typus sind endlich die Fischsaurier (Ichthyosauria), von welchen gerade die letzte Zeit glückliche Funde aus der Trias Kali- forniens und Spitzbergens sowie der unteren Kreide und dem unteren Jura Deutschlands brachte. In letzterem fand man sogar vollständige Ab- drücke ganz junger bis fast ausgewachsener Individuen, und schon vor längerer Zeit weibliche Tiere mit Embryonen, so daß man auch die Gestalt der Flossen, die bis auf die Vorderränder der Flossen völlige Nacktheit der Haut und die Entwicklung der lebendig gebärenden Tiere feststellen kann. Ihr Name ist, wie schon die äußere Form bezeugt, ein sehr bezeich- nender: der Skelettbau ist der von Reptilien, die Anpassung an das Schwimmen im Meer zeigt sich aber in großer Fischähnlichkeit. Ihr lang- schnauziger Schädel besitzt in den Kiefern konische Zähne und seine 7* 100 E. Stromer. äußeren Nasenlöcher befinden sich jederseits nahe vor den sehr großen Augenhöhlen und damit fast ober den inneren Nasenöffnungen, der Hals ist sehr kurz und wie die Rumpfwirbelsäule kaum beweglich, Kreuzbein- wirbel fehlen und der Schwanz ist hinten nach unten abgebogen. Letzteres hängt damit zusammen, daß eine zweilappige vertikale, also fischartige Schwanz- flosse im Gegensatz zur horizontalen der Wale und Seekühe das Hauptbe- wegungsorgan war. Während aber bei vielen primitiveren Fischen, z.B. Haien und Stören, das Ende der Wirbelsäule in den oberen Flossenlappen aufge- bogen und ein Flossenskelett ausgebildet ist, läuft es hier in die Spitze des unteren, und wie bei jenen Säugetieren fehlt ein Flossenskelett. Als Kiel wirkte wie bei guten Schwimmern der Haifische und der Wale N eine hohe, ebenso wie bei \ a letzteren, skelettlose Rük- Fig. 12. a kenflosse (Fig. 15). DR Ähnlich wie bei den N (pP Walen sind ferner die paari- e dr Va gen Extremitäten ganz als ewri er Flossen wohl zum Steuern as h 8 ausgebildet und die hin- Ei Su teren wenigstens viel schwä- B on cher als die vorderen. os Der Beckengürtel ist sehr 1 schwach. die Oberarm- und Er A Oberschenkelknochen kurz Mixosaurus 'eornalianus Bassani (Mixosauridae)? Mittlere Trias und breit und die weiteren am Luganer See, Südalpen. Knochen sind noch kürzer, Rechte Vorder- und Hinterextremität in 1/, nat. Gr. (aus Repossi die Zehen aber sind dureh 1902). Ae Oberarm, f Speiche, g Elle, h erste Zehe, Ba? Scham- E bein , b? Sitzbein,, c? Darmbein , d Oberschenkel, e Wadenbein, Vermehrung "der "kurzen 7 Barsenbein rss Zahe. Genmmänen ia 1a aa Me Vu Glieder veklängerigug ng einandergelegt, und die fünf Zehen zeigen nur eine mäßige ist ihre Zahl auch vermehrt, u die Flosse also verbreitert. Wie bei den Walen sind diese kurzen Teile nicht gelenkig miteinander ver- bunden, sondern offenbar nur durch straffes Bindegewebe und Knorpel, die Basis der Flossenhaut setzte sich jedoch anders als bei jenen an- scheinend breit an den Rumpf an. Die auf die mittlere und obere Trias Europas und Kaliforniens be- schränkten Mixosauridae sind höchstens wenige Meter lang, haben in Alveolen steekende Zähne, die hinten stumpfer als vorn und bei einem Genus in geringerer Zahl als bei den übrigen Ichthyosauria vorhanden sind, und ihr Schwanz ist hinten nur etwas nach unten gebogen. Vor allem aber sind die drei jederseitigen Beckenknochen zwar klein, aber doch mäßig breit und die Unter- arm- und Unterschenkelknochen sind fast stets etwas gestreckt und nicht dieht aneinander, die Vermehrung der normalen Zehengliederzahl ist eine mäßige und es sind nur drei bis sechs Zehenreihen entwickelt (Fig. 12). 101 Die Ichthyosauridae sind zwar schon aus der obersten Trias Europas in dürftigen Resten bekannt, im Jura und in der Kreide aber in manchen Schichten lokal sehr häufig durch die Herren = E Eu und wohl universell verbreitet. = Manche werden über 10 m 5 lang. Ihre gleichartigen und 2a meist sehr zahlreichen Kegel- ' 5% u zähne sind an der Basis oft A £ =22 mit Zement umkleidet und ’® Eis nur in offenen Längsfurchen / EB: der Kieferränder, also schwach 3: befestigt und vom oberen Jura Ber an manchmal recht klein. | 57, Die zwei ersten Halswir- s P 2 bel sind verschmolzen und die | = 82 bei jungen Tie- | Er ren schwache ass Schwanzkniekung Er Ä v e a wird bei erwach- ; / SITE ae senen stark; bei % / Bi 333° geologisch jünge- # \_ Fe IE ren Ichthyosauria Dt SS / re ist das abgeknick- EN RR. / Sr te Schwanzende \ Ce No DIN 23 aber relativ kürzer als bei älteren. AR Be2\ Ace Die Darmbeine sind ganz schwa- \ EN nn 283 che Stäbe ohne Zusammenhang \ vEN | 288 mitderWirbelsäuleund die kleinen ag = Be 53 Sitz- und Schambeine verschmel- \ = / 5, 5 a zen miteinander. Bei einer voll- = E®: ständiger bekannten Art der un- \ AR / Pr teren Kreide sind besonders die \8/ 255 \ AS / Bun, Hinterflossen, aberauch die vorde- } FE, / Ze ren kürzer als bei unterjurassi- ee [ i 38 schen. Stets sind end- Er WS 5 27 lich die Unterarm- Bi SR N x 2 und Unterschenkel- BT EN \ x 2 knochen so verkürzt, m Es daß sie mit den eben- IT \ r S 3 E falls scheibenförmi- Ds = gen weiteren Hand- ER \ FE und Fußknochen eine einheitliche Platte bilden, | 102 E. Stromer. die durch starke Vermehrung der Zehenglieder gestreckt ist und manch- mal nur drei Reihen enthält, bei anderen Arten aber bis zu zehn, so dab sie hier sehr breit ist (Fig. 13). Die Stammesgeschichte all der hier kurz beschriebenen Tiergruppen klarzulegen, ist nach dem Ausgeführten unmöglich, meist können nur Ver- mutungen geäußert werden. Es wäre ja auch naiv, zu glauben, daß die relativ wenigen Wirbeltiere, die meist mehr oder minder zufällig in be- schränkten Gebieten und in isolierten Schichten gefunden sind, stets gerade die Ahnen ihrer geologisch jüngeren Verwandten sind. Enhydra wird wohl nur ein dem Meerleben angepaßter Fischotter sein, also von Süßwasserbewohnern abstammen, die ihrerseits wahrscheinlich von landbewohnenden Urraubtieren sich herleiten. Auch die Pinnipedia zeigen mit bärenartigen Raubtieren und mit Urraubtieren so viel Gemein- sames, daß sie von einer der beiden Gruppen stammen könnten. Doch weisen sie eine viel weiter gehende Anpassung an das Wasserleben als Enhydra auf, dürften also schon länger Wasserbewohner sein und, da bärenartige Raub- tiere erst von der Oligocänzeit an sich entwickeln, eher auf Urraubtiere zu- rückgehen. Ein kürzlich unternommener Versuch, sie von einer bestimmten Gattung (Patriofelis im nordamerikanischen Mitteleocän) abzuleiten, darf als von anderer Seite widerlegt angesehen werden. Es kann also noch kein paläontologischer Beweis für jene Vermutung erbracht werden, doch widersprechen ihr die bekannten Tatsachen wenigstens nicht. Ob die Bartenwale mit den Zahnwalen nahe verwandt oder nur ein Parallelstamm sind, ist auf Grund paläozoologischen Wissens jetzt ebenso- wenig festzustellen wie ihre Stammesgeschichte Bei den Zahn- und Ur- walen aber erscheint die Abstammung und Entwicklung wenigstens in den Grundzügen geklärt. Die älteste mitteleocäne Form, Protocetus atavus (Fig. 4), ist zwar sicher schon ein Meeresbewohner, aber in so vieler Beziehung primitiven placentalen Landsäugetieren ähnlich, daß der erste Beschreiber sie direkt den Urraubtieren anreihen wollte. Andere Forscher finden jedoch mehr Ähnlichkeit mit primitiven Insektenfressern, die — von Urraubtieren wenig verschieden — ebenso wie sie schon im ältesten Tertiär vorkommen. Die obereocänen Zeuglodontidae (Fig. 3 A, B) wiederum zeigen so viel Beziehungen zu Protocetus und stärkere Anpassung an das Wasserleben, worin sie den Zahnwalen ähnlicher werden, daß man sie mit ziemlicher Sicherheit von ihm oder einer ihm sehr nahestehenden Form ableiten kann. So ergibt sich, wie ihre zackigen Backenzähne von normalen Drei- höckerzähnen sich ableiten lassen, was wohl auch mit den so ähnlichen Backenzähnen der Robben der Fall ist. Die Zahnzahl bleibt bei den Zeuglo- dontidae dieselbe wie bei Protocetus, nur sind die dort schon schwachen hintersten Backenzähne in Reduktion und die Wurzeln verschmelzen, so daß jene nur noch zwei, bei manchen Arten der vorderste Prämolar Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 103 sogar nur eine, besitzen. Sehr beachtenswert ist die Riückverlagerung der Nasenöffnung, die Verkürzung des Halses sowie die Verstärkung und größere Beweglichkeit des hinteren Teiles der Wirbelsäule, mit der wohl eine Re- duktion der Hinterextremitäten und Verstärkung der Schwanzflosse zu- sammenhing. Von Zeuglodontidae lassen sich die oligocänen Formen und die mio- cänen Squalodontidae (Fig. 2) in bezug auf das Gebiß sehr gut ableiten, denn es scheint nur die Zahl ihrer Prämolaren vermehrt und man sieht hier, wie die vorderen durch Wurzelverschmelzung und Rückbildung der Kronenzacken zu einwurzeligen gleichartigen Kegelzähnen werden. Diese entstehen also nicht etwa durch Teilung mehrwurzeliger und mehrspitziger Zähne. Die bei den Zeuglodontidae lange funktionierenden Milchzähne blieben übrigens wohl allmählich dauernd und so schwand der Zahn- wechsel. Die Umbildung des Rumpf- und Extremitätenskelettes läßt sich leider noch nicht verfolgen, wenn auch im Miocän zeuglodonähnliche Wirbel und Oberarmknochen gefunden sind, und im Schädel ist Squalodon ja schon ganz Denticete. Der oligocäne Agorophiusschädel bietet zwar in der Ver- kleinerung der Schläfengruben, dem Überschieben der Kieferknochen auf die Stirne und wahrscheinlich auch im Zurückrücken der Nasenöffnung einen Übergang von den Zeuglodontidae, aber abgesehen von manchmal ganz wenig vorragenden Nasenbeinen sind die untermiocänen Schädel so den rezenten ähnlich, daß der Abstand von den Urwalen nicht genug überbrückt er- scheint. Außerdem haben die Urwale sehr große, die Zahnwale kleine Gaumen- beine. Die wenigen bekannten Archaeoceti selbst kommen deshalb kaum als direkte Ahnen der Zahnwale in Betracht, sondern ihnen ähnliche ungefähr gleichalterige, die wir noch nicht kennen. Die Zahn- und Schädelentwick- lung hängt übrigens wahrscheinlich mit dem Schwinden der Kautätigkeit und damit der Schläfenmuskeln, der Vergrößerung des Hirns und dem Zurückdrehen der Nasengänge und dem gleichzeitigen Schwund des Ge- ruchsorganes in besserer Anpassung an das Atmen im Wasser zusammen. Wie und warum sich aber die im Untermiocän noch seltene Schädelasym- metrie ausbildete, ist noch strittig. Da in jener Formationsstufe schon mehrere Zahnwalfamilien, wenn auch in primitiveren Vertretern, festgestellt sind, können die miocänen Squalodontidae als ihre Ahnen nicht in Betracht kommen, aber speziell im Gebiß dürfen wir ihnen ähnliche Tiere wohl als solche annehmen. Die ältesten Iniidae zeigen ja im Schädel wie im Gebiß noch Über- gänge, wir brauchen im wesentlichen nur zu schließen, daß sich die Schnauze sehr streckte, die Schneide- und hintersten Backenzähne schwanden und daß die Prämolaren sich noch weiter vermehrten und zu einfachen gleichartigen Kegelzähnen vereinfachten. 104 E. Stromer. In ähnlicher Weise gingen anscheinend auch die Gebisse der primi- tivsten anderen Zahnwale aus squalodonartigen hervor, nur sind bei einigen Delphinidae und älteren miocänen Physeteridae noch Schneide- zähne im Zwischenkiefer erhalten. Die jungtertiären Physeteridae zeigen dann, wie die gleichartig gewordenen Kegelzähne bis auf die des Unter- kiefers schwinden und auch hier in der Struktur anormal werden, wäh- rend gleichzeitig bei den Ziphiidae ein Paar des Unterkiefers sich ver- stärkt unter Schwund aller anderen Zähne. Unter den Delphinidae sind endlich bei einigen rezenten und einer wohl dazu gehörigen obermiocänen Gattung dürftige Hautskeletteile nach- gewiesen und man vermutet deshalb ihre Abstammung von stärker ge- panzerten Walen. Dazu ist zurzeit nur zu erwähnen, daß auch bei großen Zeuglodonten Amerikas ein fester knöcherner Rückenpanzer vorhanden ge- wesen zu sein scheint. Im ganzen gibt so die auf Fossilfunde aufgebaute Stammesgeschichte der Zahnwale eine Bestätigung der Resultate embryologischer und ver- gleichend anatomischer Forschung, nur zeigt sich, daß die Entwicklung ihrer Familien ungefähr seit dem Mitteltertiär in getrennten Bahnen verlief. Bei den Seekühen läßt sich von den Manatiden nur sagen, daß sie auf eine alttertiire Form zurückzugehen scheinen, die ein vollständiges normales Gebiß hatte, außer daß die Zahl der Prämolaren größer war als bei primitiven Landsäugetieren. Die Gleichartigkeit und große Zahl der Backenzähne von Manatus wäre demnach etwas Sekundäres und parallel mit dem Squalodontiden- und Platanistidengebiß entwickelt, nur daß sich bei Manatus der eigenartige Zahnwechsel wohl sekundär ausbildete. 3ei den Halicoridae läßt sich die Entwicklung schon viel besser über- blicken. Auch sie finden wir schon im Mitteleocän als Meeresbewohner ausgebildet, aber wenigstens in Ägypten sind eocäne Formen vorhanden, die sich wie der älteste Wal von primitiven Landsäugetieren ableiten lassen. Ihr kleiner Schädel, das vollständige normale Gebiß und ihr Becken beweisen das genügend und besonders wichtig ist, daß sie darin den pri- mitivsten Ahnen der Elefanten gleichen, also Angehörigen einer Gruppe, deren jetzige Vertreter auch noch mit Halicoridae manche Vergleichs- punkte bieten, z. B. besonders auffälig in den Stoßzähnen der Zwischen- kiefer, und deren alttertiäre Entwicklung augenscheinlich gerade in Ägypten stattfand. Das macht äußerst wahrscheinlich, daß beide Tiergruppen aus denselben alttertiären Huftieren Afrikas hervorgingen. Bei dieser Auffassung wird auch die auf S. 92 erwähnte gegen- wärtige Verbreitung der Seekühe erklärt. Sie entwickelten sich im Mittelmeer, das zur Alttertiärzeit ein Teil des erdumspannenden Tethys- ozeans war. So konnten sich die Manatidae nach Süden in den atlan- tischen Ozean, die Halicoridae nach Osten in den indopacifischen ver- Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 105 breiten, wo sie sich erhielten, während sie im Mittelmeer selbst im Jung- tertiär ausstarben. Über die allmähliche Rückbildung des Beckens, speziell des Scham- beines und Hüftgelenkes der Halicoridae ist unter Hinweis auf Fig. 5 nichts zu sagen, als dal sie ähnlich wohl auch bei den Urwalen verlief. Auch die Reduzierung der Nasenbeine im Alttertiär läßt sich vergleichen. Die Verbreiterung des Unterarmes wird aber auf andere Weise als bei den Walen erreicht und in der Beweglichkeit des Ellenbogengelenkes das Zeuglodonstadium nicht überschritten, wohl aus dem auf S.92 angegebenen Grunde. Im Gebiß verlief die Entwicklung nur insofern ähnlich wie bei manchen Zahnwalen, als die Schneidezähne reduziert, die Prämolaren zu- nächst vermehrt und alle Backenzähne gleichartig, einwurzelig und schmelz- los werden. Aber die Stoßzähne verstärken sich, die schon im Eocän ganz schwachen Eckzähne schwinden, die Zahl der Prämolaren wird auch wieder reduziert und natürlich ist die Gebißfunktion und damit Zahn- und Kiefer- form bei den Pflanzenfressern stets eine ganz andere. Die Ausbildung der Hornplatten an Stelle der Vorderzähne und die völlige Gebißreduktion bei Rhytina ist endlich eine Parallelerscheinung zu der Bartenentwicklung der Bartenwale. Über die Entwicklung der Füße der Seekühe sind wir endlich leider so wenig unterrichtet wie über die der Cetacea. Die Funde fossiler Pinquine deuten an, daß sie sich im Süden ent- wickelten und sekundär dem Leben im Meere anpaßten. Ihre kurzen und etwas getrennten Laufknochen entstanden also wohl aus normalen ge- streckten und die Ruderflügel aus solchen von flugfähigen Vögeln. Viel besser sind wir über die Vorgeschichte der marinen Schild- kröten unterrichtet, wenn man auch erwägen muß, daß wir noch keine Stammreihen kennen und daß schwach gepanzerte nicht so gut erhaltungs- fähig sind als die fest gepanzerten Land- und Süßwasserbewohner. Jeden- falls ist nicht nur deren viel höheres geologisches Alter auffällig, sondern die älteren Meerschildkröten sind ihnen auch ähnlicher. Die ältesten Der- mochelyidae scheinen nämlich wenigstens besser gepanzert gewesen zu sein als die jüngeren und manche Formen der oberen Kreide, wie Archelon (Fig. 6), sprechen dafür, daß ihre Mosaikplatten sich erst sekundär bei und nach der Rückbildung der normalen Panzerplatten entwickelten. Vor allem aber läßt die Bepanzerung der oberjurassischen Meeresbewohner und die Ausbildung ihrer Füße wie die der Protostegidae sie als vermittelnde Formen zwischen Süßwasserschildkröten und guten Schwimmern des Meeres erscheinen. Es ist also wahrscheinlich, dal die Vermutung richtig ist, der feste Schildkrötenpanzer habe sich bei grabenden Landbewohnern ähnlich wie der Panzer der Gürteltiere entwickelt und sei bei Süßwasserformen etwas, bei Meerschildkröten mäßig bis stark reduziert worden und die Flossenfüße seien aus bekrallten Geh- und Grabfüßen entstanden. 106 E. Stromer. Die Vorgeschichte der lebenden und fossilen Seeschlangen ist noch so wenig geklärt wie die der Schlangen überhaupt. Da die ältesten be- kannten Landbewohner sein dürften und Eidechsen schon viel früher auf- treten, können sie wohl von ihnen stammen. Das ist auch für Meer- eidechsen der Kreidezeit anzunehmen und sie machen uns die Ableitung der Pythonomorpha von normalen Landeidechsen wahrscheinlich. Bei allen wäre also die starke Körperstreckung sekundär und ihre Flossen wären durch Verkürzung der Beinknochen und durch Streckung der Finger in- folee Gliedervermehrung von normalen Eidechsengehfüßen abzuleiten, wo- bei die Aigialosauridae, die noch bekrallte Füße hatten, zeitlich und mor- phologisch vermitteln (Fig. 7 und 8). Auch die meerbewohnenden Verwandten der Rhynchocephalia dürften sich aus normalen eidechsenartigen unter Körperstreckung und teils unter Extremitätenreduktion, teils unter deren Umbildung zu Flossen entwickelt haben. Wenigstens lassen sich Landbewohner viel weiter als sie zurück- verfolgen. Bei den Orocodilia jedoch sind alle bekannten ältesten Meeresbewohner und es bestehen im Schädel- und Wirbelbau Übergänge von ihnen zu den geologisch jüngeren, die amphibisch im Süßwasser leben. Die allerältesten, die Teleosauridae, waren aber wohl nur Küstenbewohner, denn ihre sehr starke Panzerung, die ganz vorn gelegenen Nasenlöcher, die Extremitäten und ihr Vorkommen sprechen nicht für ein gutes Schwimmvermögen. Sollten sie wie alle Crocodilia von Rhynchocephalia stammen, was nicht unwahrscheinlich ist, so wären sie ja auch vom Land in das Meer einge- wandert und hätten ähnlich wie die Schildkröten dort schon ihren Panzer erworben. Die Ahnen der Alligatorellidae und der Meerkrokodile sind sie gewiß nicht, diese sind unbekannt. Man kann also nur vermuten, daß bei ihnen der Panzer etwas oder ganz rückgebildet wurde und bei den Meer- krokodilen die Schwimmfübße sekundär entstanden (Fig. 9). Auch die Vorläufer der Placodontia kennt man nicht. Sie lebten wohl ähnlich wie Schildkröten und benutzten ihr Gebiß zum Zermalmen von Conchylienschalen, Krebspanzern oder auch von Stachelhäutern, worin sie manchen auch im Mesozoicum auftretenden Ganoidfischen, den Lepidotidae und Pycnodonta, gleichen. Bemerkenswert ist, dab das Gebiß der geo- logisch jüngsten Form etwas reduziert erscheint. Da die dem Leben im Süßwasser angepaßten Mesosauria als Ahnen der mesozoischen Sauropterygia gewiß nicht in Betracht kommen, weil sie ganz anders spezialisiert sind, kennt man auch deren Vorfahren nicht. Innerhalb der Gruppe kann man jedoch eine stärkere Anpassung an das Wasserleben vorzüglich verfolgen, denn die älteren und kleineren Notho- sauria sind zum Teil noch eidechsenähnlicher und haben Füße, die eher oder ebenso zum Kriechen wie zum Schwimmen dienen konnten, so dab manche schlanke Formen für Landbewohner gehalten wurden (Fig. 10). Die Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 107 jüngeren Plesiosauria aber haben. typische Ruderpaddeln, ihr Rumpf er- scheint verkürzt und ihr Hals meistens verlängert und die äußeren Nasenlöcher ein wenig zurückverlegt (Fig. 11). Höchst eigentümlich ist ihr Bauchpanzer, der wohl eine ähnliche Funktion hatte wie der von Schildkröten und Teleosauridae, aber ganz anders entstanden ist, denn die Gürtel, die bei diesen innerhalb des Panzers liegen, helfen ihn hier bilden. Ob übrigens die Plesiosauria direkt von den bekannten Notho- sauria stammen, erscheint in Anbetracht der verschiedenen Gaumenaus- bildung fraglich. Besonders gut läßt sich endlich die Entwicklung der Ichthyosauria verfolgen, deren paläozoische Vorläufer allerdings auch nicht nachgewiesen sind. Die älteren kleineren sind zwar sicher schon schwimmende Tiere, aber normalen Echsen noch ähnlicher, die Ichthyosauridae jedoch zeigen eine steigende Anpassung an das schwimmende Leben und im Hals und Gebib eine Reduktion, die sich ganz mit der gewisser Zahnwale vergleichen läßt. Letztere hängt wohl mit der Ernährung zusammen, denn sie waren wie die Physeteridae hauptsächlich Cephalopodenfresser, was aus dem manch- mal erhaltenen Mageninhalt hervorgeht. Recht interessant ist, dab die Re- duktion der hinteren Extremitäten von den Mixosauridae an nicht so weit geht wie bei Walen und Seekühen, während die Verkürzung der vorderen im Armskelett selbst die der Wale übertrifft (Fig. 12 und 13). Ganz eigenartig ist schließlich die immer stärker werdende Ab- knickung des Hinterendes der Wirbelsäule, die nur bei einem oberjuras- sischen Meerkrokodil ebenfalls nachgewiesen ist. Sie wird damit erklärt, dal) die meerbewohnenden Reptilien von Landbewohnern stammen, deren Wirbelsäule hinten schon ein wenig abwärts gebogen war und deshalb nur oben einen Flossensaum entwickeln konnte, und vor allem damit, daß diese Lungenatmer, die oft oberflächlich schwammen und zum Atmen den Kopf über den Wasserspiegel hoben, den durch die Wirbelsäule verstärkten Hauptteil des Bewegungsorganes ständig unter Wasser haben mußten und infolge der größeren Nachgiebigkeit des oberen Schwanzlappens mit dem Hinterende nach unten, also mit dem Kopf nach oben gedreht wurden, falls nicht die Vorderflossen als Höhensteuer entgegen wirkten. Diejenigen Fische dagegen, welche ein aufgebogenes Ende der Wirbel- säule haben, sollen wenigstens ursprünglich Bodenbewohner sein und vor allem am Grunde ihre Nahrung suchen, sie haben den oberen stärkeren Flossenteil dabei stets freier ober dem Boden beweglich und er wirkt als Abwärtswender des Kopfes. Überblicken wir das über die Stammesgeschichte Ausgeführte, so sehen wir, daß bei den meisten Gruppen die Abstammung nur vermutet werden kann, dal; aber selbst bei den Crocodilia Gründe für eine sekun- däre Anpassung an das Leben im Meere sich anführen lassen, während bei Denticeti und Archaeoceti, Sirenia, Spheniseidae, Chelonia, Aigialosau- 108 E. Stromer. ridae und Pythonomorpha, Nothosauria und Plesiosauria und bei den Ich- thyosauria schon positive Fossilfunde für diese Anschauung sprechen. Dazu ist noch zu bemerken, daß sie für Lungenatmer von vornherein wahrscheinlich ist und daß nirgends bei fossilen Wirbeltieren Übergangsformen zwischen Fischflossen und Gehfüßßen oder. Flossen der Plesiosauria, Ichthyosauria usw. gefunden sind, sowie daß alle Füße und Fußspuren im jüngeren Paläozoicum, die von den ältesten Amphibien und Reptilien herrühren, bis auf die der Mesosauria normale fünf- oder vierzehige Gehfüße anzeigen. Dagegen sahen wir ja, daß die Flossen der Pythonomorpha, Plesiosauria, Ichthyosauria und Meerschildkröten sich wahrscheinlich von normalen Reptilgehfüßen ableiten lassen, und können aus den erhaltenen Extremitätenresten fossiler Sphenis- cidae, Halicoridae und Urwale entsprechende Schlüsse auf deren sekundäre Flossenausbildung ziehen. Ferner finden wir nirgends Anhaltspunkte, daß die geologisch älteren meerbewohnenden Säugetiere und die jüngeren Meerreptilien sich immer ähnlicher werden, und entdecken auch keine direkten Übergänge zwischen den einzelnen Ordnungen meerbewohnender Lungenatmer. Denn wohl sind sich z.B. die ältesten Urwale und Seekühe Ägyptens in manchem, wie in der Zahnzahl, ähnlich, es hängt das aber offenbar nur damit zusammen, daß beide primitiven landbewohnenden Säugetieren angenähert sind, aber die einen Fleischfressern, die anderen Huftieren, und wenn sich die Urwale in vielem den Pinnipedia vergleichen lassen, so erscheint das mit der direkten oder indirekten Abstammung beider Gruppen von Urraubtieren erklärbar, und wohl finden wir bei den jüngeren Ichthyosauria mehr Ver- gleichspunkte mit Zahnwalen als bei den älteren, aber diese sind als An- passungserscheinungen an ein ähnliches Leben verständlich. Bei jeder Gruppe finden eben in dieser Anpassung an das Leben im Meere mehr oder minder tiefgehende Änderungen im ursprünglichen Bau statt, aber stets im Rahmen des schon Gegebenen, d.h. die Ichthyosauria bleiben trotz aller Ähnlichkeit mit Fischen und Zahnwalen im wesentlichen stets Reptilien, die Wale placentale Säugetiere. Wir sehen also bei den meerbewohnenden Lungenatmern viele präch- tige, mehrfach schon in ihrer Entstehung und Bedeutung klarzulegende Konvergenz- und Parallelentwicklungen ; bei genauerer Betrachtung finden wir jedoch, dal) jene Anpassung zwar manches Gemeinsame hervorbrachte, aber auch, daß sie zum Teil in recht verschiedener Richtung erfolgte. Mit einiger Schematisierung können wir dabei .etwa fünf Haupttypen unter- scheiden : 1. Flachboottypus (Schildkröte): Der Rumpf ist relativ breit und dorso- ventral etwas platt, oft gepanzert. Der Schwanz nicht stark, der Hals oft lang und der Kopf meistens kurz und nicht groß. Die Fortbewegung erfolgt durch Rudern mit den ungefähr gleich starken Flossen, so bei den Meerschildkröten, Plesiosauria und wohl auch Placodontia. Auch die Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 109 Pinguine und die teils mehr mit den Vorderfüßen, teils mehr mit den hinteren rudernden Öhrenrobben und Walrosse gehören hierher (Fig. 6 und 11). 2. Torpedotypus (Delphin): Der meist spitzschnauzige Schädel ist mit dem verkürzten und wenig beweglichen Hals vom Rumpf nicht deutlich abgesetzt, die Vorderflossen dienen zum Balancieren, die hinteren sind stark oder ganz reduziert und dafür ist die hintere Körperhälfte verstärkt und verlängert mit vertikaler Schwanzflosse bei Ichthyosauria und viel- leicht auch Thalattosauria oder mit horizontaler bei Cetacea und Sirenia. Die Fortbewegung erfolgt nach Art eines Schraubendampfers. Die Robben, bei welchen die nach hinten gedrehten Hinterbeine ähnlich wie eine Schwanzflosse funktionieren, können wohl als Anhang hierher gerechnet werden (Fig. 1, 3A und 13). 3. Molehtypus: Der gestreckte Körper hat einen sehr langen, seitlich platten oder doch oben mit einem Flossensaum versehenen Schwanz als Hauptbewegungsorgan. Die Vorderextremitäten sind sehr kurz, die hinteren, viel längeren unterstützen, zurückgestreckt, die Schwanzwirkung und dienen wohl auch zum Steuern, so bei Dolichosauridae und Thalattosuchia, auch bei Teleosauridae (Fig. 9). 4. Pythonomorphentypus: Der spitze Kopf mit kurzem Hals ist wohl kaum vom sehr gestreckten Rumpf abgesetzt. Der sehr lange, seitlich platte Schwanz, wohl mit Flossensaum versehen, diente als Hauptbewe- gungsorgan, wobei die ziemlich gleichstarken Vorder- und Hinterflossen zum Balancieren und vielleicht auch als Ruder mitwirkten, so bei Pytho- nomorpha und Aigialosauridae (Fig. 8). 5. Aaltypus: Der Körperbau ist im wesentlichen derselbe wie bei dem vorigen, aber die Extremitäten sind sehr stark reduziert, so bei den Acro- sauridae, oder völlig, so bei den Seeschlangen. Die Fortbewegung erfolgt hier wohl nicht nur durch Schlängeln des Schwanzes wie bei dem dritten und vierten Typus, sondern des ganzen Körpers, wobei dessen starke Streckung von Vorteil ist. Betrachten wir zum Schlusse einige der wichtigsten Anpassungs- erscheinungen, soweit sie sich auch an fossilen Resten feststellen lassen und nicht schon oben genügend erwähnt sind, so ist zunächst auf den Schwund der Hautskelettgebilde aufmerksam zu machen. Er hängt bei guten Schwimmern mit der Erleichterung des Gewichtes und zum Teil wohl auch mit der Beweglichkeit der Rumpfmuskeln beim Schlängeln so- wie mit der Verringerung der Reibung der Körperoberfläche zusammen. Die Beschuppung der Meereidechsen, Pythonomorpha und Seeschlangen er- scheint allerdings gegenüber der von Eidechsen und Schlangen kaum re- duziert und leider läßt sich weder das fast völlige Schwinden der Haare bei Walen und Seekühen, noch das der Reptilschuppen bei Ichthyosauria und wohl auch Plesiosauria verfolgen. Auch über den Panzer der Delphin- 110 E. Stromer. ‚ahnen, der Zeuglodontidae und Placodontia sind wir noch zu ungenügend unterrichtet. Dagegen ist der Krokodilpanzer bei den Thalattosuchia wohl sekundär geschwunden und bei geologisch jüngeren Seeschildkröten wird der Horn- und Knochenpanzer immer schwächer. Was die Ernährung der Meeresbewohner anlangt, so ist Lungen- atmern natürlich das Kauen im Wasser sehr erschwert. Wir finden des- halb nur im Walroß, manchen mit breiten Kiefern ausgestatteten Schild- kröten, wohl auch in den Placodontia und vielleicht den Thalattosauria und Mixosauridae Conchylien- und in den Seekühen Pflanzenfresser. Doch ist bei dem Walroß wie bei den letztgenannten, die ja nur von weichen Wasserpflanzen leben, das Gebiß sichtlich in Reduktion. Interessant ist, dal) beide im Gegensatz zu dem lockeren, fettreichen, also leichten Skelett anderer Seesäugetiere massive, schwere Knochen haben, was ihnen den Auf- enthalt am Meeresgrund erleichtert. Die meisten Lungenatmer sind offenbar Fisch- und Cephalopoden- fresser, daher werden ihre Kaumuskeln und Zähne reduziert. Bei weniger stark angepaßten Formen, wie bei Mixosaurus, den Urwalen, Squalodon- tidae und Pinnipedia, sind die Zähne in der Form noch verschieden und in mäßiger Zahl vorhanden und bei Robben, Zeuglodontidae und Squalo- dontidae dienen die seitlien platten zackigen Backenzähne (Fig. 2 und 3 A) zum Festhalten und Zerfleischen glatter Beutetiere, wie ähnlich gestaltete Haifischzähne. Sonst aber ist nur ein Zahnrechen aus gleichartigen zahl- reichen Kegelzähnen vorhanden, und auch er ist bei Ichthyosauria und besonders bei vielen Zahnwalen in weiterem Schwund begriffen. Das Maul ist bei all solchen Formen ebenso wie bei Raubfischen sehr groß, bei den Pythonomorpha sehr erweiterungsfähig und am weitesten bei den planktonfressenden, ganz zahnlosen Bartenwalen. Die bedeutende Länge oder doch Zuspitzung der Schnauze der meisten Angehörigen des zweiten bis fünften Anpassungstypus hängt aber wohl vor allem mit dem besseren Durchschneiden des Wassers zusammen (Rostrum). Der relativ leichte Nahrungserwerb, hauptsächlich aber die Verrin- gerung des spezifischen Gewichtes im Wasser ermöglichen übrigens die Erreichung besonders stattlicher Körpergröße, wie wir sie bei dem Wal- roß, den rezenten Bartenwalen, gewissen geologisch jüngeren Zahn- und Ur- walen und Halicoridae, den Palaeophidae, manchen Pythonomorpha, käno- zoischen Meerschildkröten und manchen Plesiosauria und Ichthyosauria finden. Die Ahnen solcher Riesen sind, wie auch sonst in allen möglichen Tierstämmen ein allmähliches Anwachsen der Körpergröße festgestellt ist, stets kleiner, wofür wir bei den Walen und Urwalen, Halicoridae, den älteren Chelonia, in den Aigialosauridae, Nothosauria und Mixosauridae schon Beispiele kennen. Das große Gewicht des Schädels wird nicht nur durch die Rückbil- dung der so schweren Zähne oder, wie bei den Ichthyosauria, durch man- Neue Forschungen über fossile lungenatmende Meeresbewohner. 111 gelhafte Verknöcherung des Hinterhauptes verringert, sondern auch durch Fettansammlung, z. B. bei Zahnwalen und Urwalen in der weiten Unter- kieferhöhle, bei letzteren und wohl auch bei den Jurakrokodilen in der sehr weiten Schläfengrube (Fig. 3A, B und 4) und bei Ichthyosauria wahr- scheinlich in der riesigen Augenhöhle (Fig. 13). Bezüglich der Sinnesorgane ist von Interesse, daß bei tief tauchen- den Tieren das Hören offenbar nicht mehr durch den Gehörgang und das Trommelfell, sondern durch Schalleitung vermittelst der Schädelknochen erfolgt. Es hat das bei Walen, Ichthyosauria und manchen Pythonomorpha ähnliche Umgestaltungen der Gehörregion zur Folge. Das Auge erscheint bei den meerbewohnenden Reptilien besonders häufig durch einen Ring knöcherner Selerotica gegen starken Druck geschützt, so bei Thalattosuchia, Pythonomorpha (Fig. 5) und Ichthyosauria (Fig. 13). Das Geruchsorgan ist bei den Pinnipedia, die zur Fortpflanzung und zum Ausruhen längere Zeit am Strande oder auf dem Eis liegen und bei den Urwalen (Fig. 33) normal ausgebildet, bei ganz im Wasser lebenden Tieren, die nur zum Aus- und Einatmen die Nasenlöcher öffnen, wird es aber rückgebildet wie bei den Seekühen, Zahn- und Bartenwalen. Die Atemwege neigen vielfach dazu, vom Schnauzenende, wo bei raschem Schwimmen das Wasser auf ihre Mündung drückt, zurückzuweichen, um sich mehr nach oben als nach vorn zu richten, so bei Thalattosauria, Ich- thyosauria (Fig. 13), Plesiosauria, Sirenia und besonders bei Cetacea (Fig.1. 2 und 3A, B), so dal im extremsten Falle, bei den Zahnwalen, die At- mung erfolgen kann, wenn nur der Scheitel über den Wasserspiegel ragt. Diese Drehung der Nasengänge wie die Rückbildung des Geruchsorganes ist ja auch bei Embryonen der Zahnwale nachgewiesen. Das Innenende der Nasengänge ist übrigens mehrfach, so besonders bei Crocodilia und Cetacea, aber auch bei Pinnipedia und Sirenia durch große Länge des knöchernen Gaumens weit nach hinten verlagert, doch ist das bei den süßwasserbewohnenden, geologisch jüngeren Crocodilia noch in viel höherem Maße der Fall. Bei den Urwalen und Zahnwalen läßt sich ferner beob- achten, wie der Lungenraum durch Streckung der hinteren Brustwirbel- region vergrößert und durch leichtere Gelenkung der Rippen erweiterungs- fühiger wird, um für längeres Verweilen unter Wasser mehr Luft aufnehmen zu können. Zum Schlusse ist noch darauf hinzuweisen, daß bei guten Schwimmern in Annäherung an die torpedoartige Fischform die Halsreduktion und die damit zusammenhängende Verringerung der Beweglichkeit des Kopfes ohne Schaden erfolgen kann, weil der ganze Körper leicht nach allen Richtungen sich zu drehen imstande ist. Da die Extremitäten im Wasser nicht mehr Träger sind, die den Rumpf vom Boden abheben und durch Hebelkraft fortbewegen, werden sie relativ schwach (Fig. 13). Die Befestigung des Beckens an der Wirbelsäule wird reduziert (Fig. 5) und manche Muskeln 112 E. Stromer. und ihre vorspringenden Ansatzstellen schwinden, z. B. die Schulterblatt- kante und Höcker am Oberarm der Wale (Fig. 34). Die Arme und Beine werden verkürzt und verbreitert, ihre Gelenke unbeweglich und die Krallen rudimentär und Hand und Fuß wird, bei den Ichthyosauria sogar mit dem Unterarm und -Schenkel zusammen, zur Ruderfläche (Fig. 1 gegen 3 A, Fig.8 gegen 7, Fig. 11 gegen 10 und Fig. 13 gegen 12). Das geschieht in zwei Hauptarten, denn entweder spannt sich zwischen den gestreckten und gespreizten Zehen eine Schwimmhaut aus, wie bei Pinni- pedia, Spheniscidae, Seeschildkröten (Fig. 6), Krokodilen (Fig. 9) und Pythonomorpha (Fig. 8) oder die Zehen liegen unbeweglich dicht anein- ander und ihre Glieder und öfters auch ihre Zahl ist vermehrt und ein Flossensaum umrandet die so vergrößerte und verfestigte Fläche, wie bei den Zahn- und Bartenwalen, Plesiosauria (Fig. 11) und Ichthyosauria (Fig. 12 und 13). Im Vorstehenden ist nur allzu kurz auf die Resultate der Erfor- schung der rezenten lungenatmenden Wirbeltiere eingegangen, obwohl sie selbstverständlich für den Paläozoologen von größter Bedeutung sind. Hier kam es eben vor allem darauf an, zu zeigen, wie viel die Paläozoologie trotz ihrer Jugend und Unvollkommenheit auf einem beschränkten, aber hochinteressanten (Gebiete geleistet hat. Zwar ist noch vieles ganz unklar und manches kann nur vermutet oder doch bloß mit Vorbehalt behauptet werden, ich hoffe aber doch in meiner zusammenfassenden Übersicht ge- zeigt zu haben, daß sie ungeachtet des unvollkommenen Materiales manche wichtige Frage ihrer Lösung näher brachte und schon viel Neues und Un- erwartetes zutage förderte, was neue Fragestellungen veranlaßt, und daß sie schon ein unentbehrliches Glied der biologischen Wissenschaften ge- worden ist. Wichtigste Literatur über fossile lungenatmende Meeresbewohner seit dem Erscheinen von Zittels Handbuch der Paläontologie, Bd.3 und 4, 1889—1893 und Lydekkers Catalogue of the fossil Mammalia und fossil Reptilia in the British Museum, 1885—1890: 1. Allgemeines: Abel O.: Die Stammesgeschichte der Meeressäugetiere. Meeres- kunde, Jg.1, H.4, Berlin 1907. — Fraas E.: Reptilien und Säugetiere in ihren An- passungserscheinungen an das marine Leben. Jahresb. Ver. vaterl. Naturk. 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Selbst wenn sie in geringer Intensität auftreten, pflegen sie die menschliche Aufmerksamkeit noch in hohem Maße zu wecken. Es ist daher kein Wunder, daß die Erklärung dieser Naturerscheinungen seit den älte- sten Zeiten die Phantasie und den Scharfsinn der Menschen beschäftigt hat. Auch die neueste Zeit hat den ganzen Apparat des enorm gesteigerten Wissens und Könnens in den Dienst dieser Untersuchungen gestellt, um Sitz und Ursache der beiden genannten Phänomene zu ergründen, aber mit recht verschiedenem Erfolg: es ist offenbar, dal) die Erdbebenforschung viel bedeutendere Fortschritte zu verzeichnen hat und auf sicherer begründete Ergebnisse zurückblicken kann, als die Vulkanforschung, da sie für syste- matische Beobachtung günstigere Vorbedingungen besitzt als diese. In einer Hinsicht sind beide Phänomene allerdings gleich: Ort und Zeit ihres Auf- tretens sind bisher absolut unberechenbar und daher besteht keine Mög- lichkeit, gut ausgerüstete Untersuchungsexpeditionen vor dem Zeitpunkt des Ereignisses schon an den Ort zu entsenden und dadurch eine mög- lichst erschöpfende Beobachtung des Phänomens anzubahnen. Infolgedessen ist man zumeist auf die Aussagen ungeübter Beobachter und die Unter- suchung der an der Oberfläche der Erde erkennbaren Wirkungen und Folgen des Ereignisses angewiesen, um darauf Schlüsse aufzubauen. Nun sind aber bei Erdbeben etwa hervorgerufene Veränderungen der Erdober- äche, wie Blattverschiebungen, Hebungen oder Senkungen, zumeist auf viel weitere Strecken noch nachträglich erkennbar, als die unmittelbarsten Ausbruchswirkungen der Vulkane, die gewöhnlich auf eine einzelne Aus- bruchsöffnung oder wie beim Tarawera 1886 oder beim Scaptar Jökull 1753 auf eine Linie von Ausbruchsöffnungen sich Sbeschränken ; dazu kommt, daß die weite Ausbreitung der Erdbebenwellen Beben größerer Intensität zu regionalen, nicht selten sogar über die ganze Erde hin ver- folebaren Erscheinungen macht, die denn auch tatsächlich von einer großen Zahl über die ganze Erde zerstreuter Stationen systematisch beobachtet 8* 116 K. Sapper. werden, seitdem in den letzten Jahrzehnten der menschliche Erfindungs- geist empfindliche Seismometer erfunden und das Organisationstalent eines Milne und @Gerland weitreichende Beobachtungsorganisationen geschaffen hat. Warten auch freilich noch sehr viele Fragen der Erdbebenforschung erst einer künftigen Lösung, so ist doch der feste Boden für Ansammlung des notwendigen tatsächlichen Beobachtungsmateriales gegeben. Das ist aber in der Vulkanforschung bisher nur zum Teil der Fall. Wohl unter- scheidet sich die Mehrzahl der vulkanischen Ausbrüche bezüglich der Be- obachtungsmösglichkeiten in der Hinsicht vorteilhaft von den Erdbeben, dab sie eine längere Dauer zu besitzen pflegen, auch wohl über eine größere Zahl von Tagen, Monaten und selbst Jahren an ein und demselben Feuer- berg sich hinziehen, aber die überwiegende Mehrzahl der Vulkane ist so weit entfernt von den Zentren der Wissenschaft und der Mangel einer be- sonderen Organisation zum Zweck sachgemäßer Untersuchung der Aus- brüche macht sich so sehr geltend, daß bisher nur in Ausnahmefällen dieser günstige Umstand ausgenützt worden ist oder wird, in den meisten Fällen aber die Eruptionen nur wenig Nutzen für die Wissenschaft liefern, weil sie eben nicht systematisch untersucht werden, selbst dann nicht, wenn es recht wohl möglich wäre. Sofern es sich um einen folgenschweren Ausbruch innerhalb des Machtbereichs eines der Kulturstaaten handelt, wird wohl oft noch während oder bald nach dem Ausbruch eine wissen- schaftliche Kommission zur Untersuchung hingeschickt ; unter besonderen Umständen finden sich auch wohl private Forscher oder offizielle Kommis- sionen verschiedener Nationalitäten ein, aber nur ganz vereinzelt tritt der Fall ein, daß ein Vulkan unter ständiger wissenschaftlicher Kontrolle steht, wie z. B. zeitweise der Vesuv, oder wenigstens während seiner ganzen Tätigkeits- periode sachgemäß untersucht und beobachtet wird, wie der Mont Pele auf Martinique 1902—1905. Es sind durch solche systematische Beobachtungen zahlreiche höchst wertvolle Bereicherungen unseres gesicherten Wissens erreicht worden; aber sie sind eben doch zu vereinzelt, als daß sie für den ganzen Formenkreis der vulkanischen Erscheinungen genügen dürften und leider bleibt gar manche günstige Gelegenheit zur Mehrung unseres Wissens ungenützt selbst bei verhältnismäßig leicht zugänglichen Vulkanen, die zudem im politischen Bereich europäischer Kulturnationen liegen. So ist seit Anfang August 1905 der Matavanu auf der deutschen Samoa-Insel Savaii in ununterbrochener effusiver Tätigkeit und hätte geradezu wunder- bare Gelegenheit geboten !), die Erscheinungen eines auf der Erde recht seltenen Eruptionstypus zu studieren; aber die Gelegenheit ist bisher nicht ausreichend benützt worden, und wenn auch die zum Teil ausgezeichneten und anschaulichen Schilderungen einzelner Anwohner und Besucher, sowie die Untersuchungen der für kurze Zeit anwesenden Geologen (Jensen, Anderson und J. Friedländer) manches Licht auf die stattgehabten Vorgänge ge- ') Vgl. Sapper, Der Matavanu-Ausbruch auf Savaii 1905/06, Zeitschrift der Gesell- schaft für Erdkunde zu Berlin, 1906, 8. 686—709 und Neuere Mitteilungen über den Matavanu-Ausbruch auf Savaii. Ebenda, 1909, S. 501—539. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 117 worfen haben, so haben sie doch auch viele Rätsel aufgegeben, die man ohne gründliche Beobachtungen und Untersuchungen an Ort und Stelle wohl nie mit Sicherheit lösen können wird. Noch spielen die Fontänen, noch fließt der Feuerstrom im Lavasee des Matavanu, noch stürzt die Lava von hoher Wand ins Meer hinab wie seit 41/, Jahren, aber es besteht leider noch immer keine Aussicht, daß hier eine wissenschaftliche Kontrolle der geologisch interessanten Vorgänge eingerichtet würde, obgleich man sich von derselben die wertvollsten Ergebnisse versprechen dürfte. Und wie in diesem Fall die Möglichkeit einer wesentlichen Mehrung unseres tatsäch- lichen Wissens nicht genützt wird, so ist es in vielen anderen Fällen ge- wesen und wird es wohl auch so bleiben. Das führt uns zu der Erkennt- nis, daß die Vulkanforschung unserer Tage noch immer an einem Haupt- übel krankt, nämlich an der ungenügenden Summe zuverlässiger Beob- achtungen und solcher Untersuchungen, die den Spekulationen als sichere Basis dienen könnten. Nun muß freilich zugegeben werden, daß die direkte Untersuchung der von einem Vulkan bei einem Explosivausbruch ausge- schleuderten Ausbruchswolken absolut unmöglich ist; die Energie ist selbst bei Ausbrüchen geringster Intensität viel zu groß, als daß man beim jetzigen Stand der Technik daran denken könnte, mit irgendwelchen Apparaten die mit der Wolke hervorkommenden Gase unmittelbar aufzufangen und so einer Analyse zuzuführen. Wohl kann man die Gasausströmungen der Fu- marolen, die solfatarischen Aushauchungen von Vulkanen, die Emanationen der Lavaströme auffangen und analysieren und hat es auch schon in manchen Fällen getan und vieles daraus gelernt; aber die eigentlichen Ausbruchs- wolken selbst entziehen sich dieser direkten Untersuchung völlig und Zaeroix fand es sogar schwierig, die Temperatur der absteigenden Glutwolken des Mont Pele zu bestimmen, wurde ihm doch sein Apparat zur Temperatur- bestimmung samt dem groben, tief in die Erde eingelassenen Block, auf dem er angebracht war, von einer Glutwolke einfach ins Meer hinaus- gerissen!)! Angesichts dieser Unnahbarkeit der explosiven Ausbruchswolken bleibt nichts anderes übrig, als durch genaueste Beobachtung ihrer Er- scheinung und ihres späteren Verhaltens Schlüsse über ihre vermutliche Zusammensetzung zu ermöglichen. Aber gerade sorgfältige Beobachtungen dieser Art sind nur spärlich in der Literatur zu finden und aus zahllosen Ausbruchsberichten von Augenzeugen ist nicht mehr herauszulesen als der tiefe Eindruck, den die Phänomene auf das Gemüt der Zuschauer ge- macht haben, und etwa die unmittelbaren Wirkungen, die der Ausbruch auf die ganze Umgebung des Vulkans ausgeübt hat, während über die für den Vulkanologen interessanten Einzelheiten oft völliges oder fast völliges Stillschweigen beobachtet wird. So konnte es geschehen, dal) jahrzehnte- lang von der überwiegenden Mehrzahl der Geologen angenommen werden konnte, der Wasserdampf spiele in den vulkanischen Ausbrüchen eine wich- tige Rolle oder er sei sogar die Ursache der Ausbrüche selbst, während 1) A. Lacroix, La Montagne Pel& et ses eruptions, Paris 1904, S. 216. 118 K. Sapper. in neuerer Zeit dann die Frage gestellt wurde, ob Wasserdampf überhaupt in den Ausbruchswolken vorhanden wäre; A. Drun hat diese Frage ener- gisch verneint und hat damit einer ganzen Anzahl von Theorien den Ver- nichtungskrieg erklärt, die bisher in weiten Kreisen sich großen Beifalls erfreut haben und noch erfreuen. Diese einzige Tatsache zeigt, wie un- sicher noch die Grundlagen unserer Anschauungen über die vulkanischen Vorgänge sind und beleuchtet mit grellem Schlaglicht eine Situation, die nichts weniger als befriedigend genannt werden muß. Die ganze Vulkan- forschung wird möglicherweise neue Wege wandeln müssen, wenn wirk- lich einwandfreie Beobachtungen den Drunschen Ideen Recht geben sollten — was noch abzuwarten ist. Jetzt ist noch nicht die Zeit und hier nicht der Ort zu entscheiden, ob diese revolutionären Gedanken berechtigt sind; vielmehr glaube ich, daß gerade jetzt, da der Kampf der Geister wohl bald in größerem Maßstab ausbrechen wird, es angebracht erscheinen dürfte, einen Rückblick zu tun auf die Wege und Gedankengänge, die eifrige Forscher in jüngster Zeit gewandelt sind, um die vulkanischen Probleme aufzuhellen, die uns so viele schwierige Rätsel aufgeben. Viele Forscher suchen die vulkanologischen Fragen durch unmittel- bare Beobachtung von Ausbruchserscheinungen zu lösen, andere durch Untersuchung alter Vulkane und Eruptivbildungen, wieder andere durch das Experiment; manche Forscher wenden eine geographische Methode an, indem sie Schlüsse aus dem Lagenverhältnis der Vulkane untereinander oder zu anderen Objekten ziehen, andere dagegen eine historische Methode, indem sie auf die Häufigkeit und die besondere Eintrittszeit vulkanischer Ausbrüche ihre Schlüsse gründen, wieder andere suchen die Wahrheit durch rein theoretische Überlegungen zu ergründen, die ihrerseits freilich wieder im letzten Grund auf Experimente oder Naturbeobachtungen zurückgehen können. Auf diese Weise gliedert sich der Stoff dieser Darlegungen in 6 Abschnitte, deren Grenzen freilich nicht selten verschwimmen oder über- greifen. Die vulkanischen Nebenerscheinungen, wie besondere Erstarrungs- formen der Laven, Geysergebilde, Schlammströme, sekundäre Explosionen ete., sollen dagegen in dieser Darstellung ganz übergangen oder höchstens ge- legentlich gestreift werden. 1. Ergebnisse neuerer Untersuchungen an tätigen Vulkanen. Unser Wissen von den vulkanischen Phänomenen ist in der jüngsten Zeit namentlich durch das Studium der Ausbrüche der beiden Antillen- vulkane 1902 und des Vesuv 1906 wesentlich gefördert worden. Die Ausbrüche der Soufriere von St. Vincent und der Montagne Pele zeigten vor allem, daß es neben dem längst bekannten Typus aufsteigender Ausbruchswolken bei explosiven Ausbrüchen auch einen anderen Typus gibt, der die Ausbruchswolken mit gewaltigen mechanischen und thermi- schen Wirkungen längs der Oberfläche des Vulkanberges nach abwärts jagen läßt und auf der Aktionszone alles Leben der Vernichtung zu weihen vermag. Dieser unheilvolle, gänzlich unerwartete Fruptionstypus ist zwar ee ee Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 119 nach A. Lacroix’ literarischen Quellenstudien schon früher auf den Azoren beobachtet worden (1580 und 1808 auf San Jorge !), aber die Kunde davon war völlig vergessen gewesen und so stand man denn dem Phänomen zunächst als einem großen Rätsel gegenüber. Den ersten klaren Begriff vom Wesen der absteigenden Glutwolken (nuages denses oder nudes ardentes der Fran- zosen, great black eloud der Engländer) haben die Herren Anderson und Flett?2) gegeben, welche auf St. Vincent die Wirkungen der Glutwolke vom 7. Mai 1902 sorgfältig studiert hatten und am 9. Juli 1902 eine Glut- wolke des Mont Pel& beobachten konnten. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß die Glutwolken ein sehr gewaltsam sich ausdehnendes Gemisch von hochtemperierten Steinen, Aschen, Gasen und Wasserdämpfen wären und vermöge ihrer Schwere lawinenartig abwärts flössen, wobei die schwereren Bestandteile (avalanche of dust) näher dem Boden blieben, als die leichteren (hot blast). In der Tat kann man diese Erklärung für die absteigende Glutwolke der Soufriere vom 7. Mai 1902 als richtig anerkennen, ebenso für eine Reihe von Glutwolken des Mont Pele, die zunächst senkrecht in der Luft aufstiegen, dann schwer auf die Flanken des Berges niederfielen und nun der Schwere folgend sich nach abwärts bewegten. Als ich aber am 26. März 1903 selbst einen Ausbruch des Mont Pele mitansehen konnte, erkannte ich sofort, daß für diesen wenigstens die Annahme einer bloß der Schwerkraft folgenden Masse nicht möglich war, denn die Wolke zeigte schon im Moment des Hervortretens am Fuß der großen Felsnadel eine sehr beträchtliche Anfangsgeschwindigkeit, für die ich®) einen „aus der Explosionskraft herrührenden Energierest“ annehmen zu müssen glaubte. Das Studium der großen Paroxysmen des Mont Pele hat dann A. Laeroör*) gezeigt, daß neben der Schwerkraft die Richtung der Explosion die Bahn der Glutwolken bestimmt habe; er beweist das einmal aus dem großen Sektor (fast 100°) der Zerstörungszone vom 8. Mai 1902 und aus der Tatsache, daß riesige Gesteinsblöcke über ansehnliche Täler hinweg geschleudert worden sind. Später glaubte @. Mercalli wieder für alle Glut- wolken auf die Erklärung von Anderson und-Flett zurückgreifen zu sollen. °) Laeroix zeigte aber ®) die Unhaltbarkeit dieser Ansicht für die großen Par- oxysmen des Feuerberges von Martinique. Die Zusammensetzung der Glut- wolken scheint sich nicht wesentlich von der der aufsteigenden Eruptions- wolken zu unterscheiden; Wasserdampf soll in ungeheurer Menge darin enthalten sein; von Gasen wurde zunächst nur H,S, auf St. Vincent auch SO, nachgewiesen. Im Juli 1902 aber sammelten Lacroix und Giraud Gase einer Pele-Fumarole von zirka 400°, und Moissan fand, daß sie 13:67 ©, 54.94 N, 0'71 Argon, 1538 CO,, 1:60 CO, 546 Methan, 8:12 H sowie Spuren ') Lacroir, La Montagne Pel6 et ses eruptions, Paris 1904, S. 364 ff. °) Report, Philos. Trans. Roy. Soe., Ser. A., Vol. 200. °) Verhandlungen des XIV. Deutschen Geographentages zu Köln 1903, S. 18 (Sep. A.). *) La Montagne Pel& et ses eruptions. Paris 1904. 5) I vulcani attivi della terra, Milano 1907, S. 203. °) La Montagne Pel& apres ses eruptions, Paris 1908. 120 K. Sapper. von Salzsäure und Schwefeldämpfen enthielt. Leider kann man aber nicht mit Bestimmtheit sagen, daß die Gase dieser oberflächlichen Fumarole auch durchaus denen der Glutwolke entsprochen hätten. Die Temperatur der Glutwolken war bei ihrem Austritt aus dem Berge bereits unter 1200°; die Glutwolke vom 16. Dezember 1902 hatte beim Erreichen des Meeres zwischen 210 und 230°, während die große Glutwolke vom 8. Mai in St. Pierre noch wesentlich höhere Temperaturen besaß: jedenfalls über 450° (da die ganze Stadt St. Pierre mit einem Male in Flammen aufging), lokal aber selbst gegen 800°, wie der Fund einer Flasche mit rechtwinkelig abge- bogenem Halse zeigt. !) Außer der für die Wissenschaft neuen Erscheinung der absteigenden Glutwolken, deren topographisch-erosive Wirkungen später E. O0. Hovey studiert hat, hat aber der Ausbruch der Antillenvulkane noch eine Reihe von Phänomenen zu studieren erlaubt, die vorher nicht so allgemein nach ihren Entstehungsbedingungen bekannt gewesen waren, so die oft ge- waltigen sekundären Wasserdampfexplosionen, die durch Zutritt von Wasser zu heißen Aschenmassen vielfach auf Martinique und St. Vincent entstanden, ferner das Spiel geyserartiger Explosionen in dem Krater- see von St. Vincent und die bei noch stärkeren Explosionen eintretenden Ent- leerungen dieser Wasserbecken, die man als primäre Schlammströme in Gegensatz zu den durch ablaufendes Regenwasser bewirkten sekundären Schlammströmen stellen darf. Wichtiger war aber die auf Martinique ge- botene Möglichkeit, die Entstehung eines Staukegels (Doms) im Innern des Kraters zu verfolgen: Lacroix fand, daß er, ebenso wie der Staukegel des Georgios I auf Santorin 1866, durch Injektion geschmolzenen Magmas wuchs; er kam aber ferner zu dem unerwarteten Ergebnis, daß die äußere Erstar- rungskruste des Domes aus quarzfreien festen Andesiten bestand, während im Innern zähflüssige quarzhaltige Andesite vorhanden waren.?) Esist dies das erstemal, daß die Entstehung quarzführender Laven beobachtet wurde, und zwar in sehr geringer Tiefe unter der Oberfläche. Die dünne Kruste des Doms spielte hier für die Krystallisation der Magma- bestandteile eine ähnliche Rolle, wie die Sedimentdecke eines Lakkolithen. Im höchsten Maße fremdartig und neu war am Dom die Extrusion zu- nächst einer gewaltigen Felsnadel, die vom 3. November 1902 bis zum August 1903 bestand, dann einer Reihe kleinerer (August und September 1903). Lacroiz nimmt an, daß sich die Tätigkeit auf dem Gipfel des Doms auf Extrusion soliden Magmas konzentrierte, als die Domwände stark geworden waren. Die große Felsnadel, die so lange das Wahrzeichen der Landschaft von Nordmartinique gewesen war, dürfte, da von ihrem Fuß aus auch die Glutwolken ausgingen, in der Verlängerung des Vulkanschlots gelegen haben; die Nadel bestand aus Andesit von glasigem Typus und rascher Erkaltung, ihr Hervortreten war, abgesehen vom festen Zustand, homolog dem eines '!) Sapper, In den Vulkangebieten Mittelamerikas und Westindiens, Stuttgart 1905, S. 171. ?) A. Lacroix, La Montagne Pel& apres ses Eruptions, S. 73. ee Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 121 kleinen sehr langsam fließenden Lavastroms (Maximum 10 m im Tag). Die Extrusion erfolgte stets gleichartig: Anfangs bildeten sich Sprünge mit geraden Wänden, zwischen denen die feste Masse heraustrat unter Polierung und Streifung derselben; die Form war anfangs polyedrisch; allmählich wurden Öffnung und Nadel durch Abnützung gerundet, zylindrisch. Das Aufsteigen akzentuierte sich allmählich nach einer bestimmten Richtung. Keine der Nadeln besaß eine tiefe Wurzel; sie sind nicht mit Gängen zu vergleichen, wie Heilprin wollte '), der glaubte, daß ein Kern der alten erstarrten Schlotausfüllung hier in die Höhe gepreßt wurde. Daß diese Theorie nicht möglich ist, ward mir klar, als ich in der Nacht vom 26. März 1903 glühende Linien in der Längsrichtung der Nadel und glühende, oben sich loslösende Punkte gesehen hatte. Auch J. ©. Russel hat sich in dem Aufsatz „The Pel& Obelisk once more“ energisch gegen Heilprins Idee ge- wendet (Amer. Journ. of. Science, 1904); in einem gleichnamigen Aufsatz in Science. 1905, S. 924 ff. sieht er dann Dom und Nadel als Teile der- selben massiv soliden Extrusion an. Als hebendes Agens glaubt Lacroix Magma- oder Gasdruck annehmen zu dürfen, ohne sich mit Bestimmtheit für eine der Möglichkeiten zu entscheiden.?) So viel aber war ohne weiteres klar geworden, daß die vulkanischen Agenzien viel mehr aktiv tätig sein können, als man zuvor angenommen hatte. Hat so das Studium der Antillenausbrüche in ganz bedeutsamer Weise unser Wissen über die vulkanischen Erscheinungen erweitert, so ist aber auch die letzte Tätigkeitsperiode des Vesuv, die im April 1906 ihren Abschluß fand, sehr fruchtbar gewesen. Zunächst hat namentlich die Bil- dung der großen Lavakuppel oberhalb des Vesuvobservatoriums 1895 bis 1899 allgemeine Aufmerksamkeit erweckt. Mateucei suchte die Entstehung dieses Hügels durch innere Hebung als oberflächlichen Lakkolithen zu er- klären ®), während @. Mercalli, meines Erachtens mit Recht, die Bildung auf Intrusion und Anhäufung von Strömen mit nur geringfügiger und teil- weiser Hebung der Lavakruste zurückführen möchte. +) Besonders eifrig wurden die großen Endparoxysmen der Tätigkeitsperiode im April 1906 studiert, nicht nur von italienischen, sondern auch von zahlreichen deutschen, französischen, amerikanischen, beleischen u. a. Forschern. Charakteristisch war die Änderung der Art der Tätigkeit gegen Schluß der Ausbruchszeit und Lacroix glaubt sogar), daß solche Änderungen (von strombolianischen zu vulkanianischen Ausbrüchen) den meisten eroßen Eruptionen dieses Typus eigen wären. Absteigende Wolken wurden hier nicht bemerkt, wohl !) A. Heilprin, The tower of Pel6, Philadelphia and London 1904, und The shattered ‚obelisk of Mont Pel&e (The National geographie Magazine, 1906, XVII). 2) La Montagne Pel& apres ses 6ruptions, $. 36. — Vgl. auch A. Laeroir, L’&ruption ‚du Vesuve d’avril 1906. Revue generale des sciences, 30 octobre et 15 novembre 1906 (Paris). >) Boll. Soc. geol. it., Vol. XXI, S. 413. #) Ebenda, XXI, sowie (S. 421 ff.) Vol. XXI. 5) La Montagne Pel& apr&s ses eruptions, S. 92 122 K.Sapper. aber festgestellt, daß die Schlußexplosion schräg erfolgte, wie schon mehr- fach früher am Vesuv und anderen Vulkanen beobachtet worden war. Außerdem wurde einwandfrei erwiesen, daß durch Enthauptung, Rutsche: und Gleichgewichtsstörungen große Massen lockeren, meist noch heißen Sandes und Staubes in Bewegung kamen („trockene Lawinen“) und dem Vulkankegel das Ansehen eines halbgeöffneten Regenschirms gaben, das man früher auf Erosionswirkungen zurückzuführen gewöhnt war. Einzelne Forscher benützten die Ausbruchserscheinungen des Vesuv in den Jahren 1904 und 1906 zu Beobachtungen über die Wahrscheinlich- keit oder Unwahrscheinlichkeit starken Wasserdampfgehaltes in der Ausbruchswolke, so A. Brun 1904 und 1906 1) und W. Prinz 1906.?) Beide verneinten die Wahrscheinlichkeit starken Wasserdampfgehalts energisch, während z.B. O. Jaeckel3) angesichts derselben Erscheinungen erklärt: „die: Wasserdampfexplosion ist die wesentlichste Kraftäußerung tätiger Vulkane“. Die Frage nach dem Wasserdampfgehalt der Ausbruchswolken kann weder durch diese Beobachtungen, noch durch die an manchen anderen Vulkanen gemachten Untersuchungen A. Bruns (Stromboli, Canaren, javanische Vul- kane) als endgültig gelöst angesehen werden; sie muß als eine der wichtigsten Fragen der künftigen Vulkanforschung gelten. Der Vesuvausbruch von 1906 hat aber auch noch andere wichtige Anregungen gegeben: so gab er W. Prinz Gelegenheit zu sehr dankens- werten Beobachtungen über Flußerscheinungen und mechanische Wirkungen der Lavaströme. Zugleich stellte er fest, daß die Lava nicht nur die aus dem Erdinnern mitgebrachten Gase aushauche, sondern auch als Destillations- apparat diene, wie solches schon früher Bunsen zur Erklärung des Ammonium- chlorids angenommen hatte und @uensel wie Th. Wegner auch an den jüngsten Lavaströmen des Vesuv wahrzunehmen glaubten. Julius Stoklasa, der sehr wertvolle chemische Untersuchungen im Mai 1906 am Vesuv ge- macht hat), fand aber, daß der Ursprung des Ammoniak in den che- mischen Vorgängen zu suchen wäre, die sich in der glühenden Lava ab- spielen und stellte fest, daß der Stickstoffgehalt der vom Vesuv ausge- worfenen Massen so groß war, daß eine intensive Düneung der betroffenen Felder erreicht wurde. Stoklasa weist übrigens auf die ganz unzulängliche- Ausstattung und Dotation des königlichen Vesuvobservatoriums hin und spricht sich für Umgestaltung desselben in eine internationale Versuchs- station mit geophysikalischen und chemischen Laboratorien aus. Er fährt fort: „Nur ein systematisches Studium der vulkanischen Tätigkeit wäre imstande, den Horizont unserer bisherigen Kenntnisse zu erweitern und !) Archives des sciences physiques et naturelles de Geneve, Seance du 6 octobre: 1904 und Ebenda, 1906. *) L’eruption du Vesuve d’avril 1906. „Ciel et Terre.* Bruxelles 1906. ») Bilder von der letzten Eruption des Vesuvs. Naturwiss. Wochenschr., 1906, XXI. *) Chemische Vorgänge bei der Eruption des Vesuvs im April 1906. Chemiker- zeitung, 1906, und: Über die Menge und den Ursprung des Ammoniaks in den Produkten der Vesuveruption im April 1906. Ber. d. Deutsch. chem. Ges., S. 3550 ff. Berlin 1906. Bi - Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 123 positive Aufschlüsse zu geben über das Wesen von Erscheinungen, die zu den großartigsten in der Naturgeschichte zählen.“ Man kann ihm in dieser Anschauung nur vollinhaltlich beipflichten. !) Inzwischen hat aber Frank A. Perret, einst Ehrenassistent des Vesuv- observatoriums, gezeigt, daß man selbst ohne eine derartige, gewil; höchst wünschenswerte Reorganisation des Beobachtungsinstituts durch systema- tische Untersuchung und Überwachung des Vulkans sehr wertvolles und beachtenswertes Material sammeln kann. Er weist°) darauf hin, daß beim Vesuv (der nach Mercallis Feststellungen eine ausgesprochene Periodizität in seiner vulkanischen Tätigkeit zeigt, indem nach jeder in einem Par- oxysmus gipfelnden Tätigkeitsperiode ein Zwischenraum völliger Untätiekeit sich einstelle) die Zeit der Untätigkeit besonders zu eingehenden Unter- suchungen des Vulkans benützt werden sollte, um so mehr, als während dieser scheinbaren Ruhepause die inneren Kräfte die spätere Tätigkeit an- bahnen, also die genaue Untersuchung der chemischen und sonstigen Er- scheinungen die- Anzeichen erwachender Tätigkeit feststellen könnte. Dementsprechend hat Perret, soweit es seine Zeit erlaubte, den Vesuv nach seinem letzten großen Ausbruch sorgfältig beobachtet. Er zeigt, wie nicht nur während der letzten Tätigkeit des Feuerberges von 1875—1906 die Form des Berges und seiner Umgebung sich wesentlich verändert hat, so namentlich durch Auswurf lockerer Massen und die langsamen Lava- ergüsse von 1881— 1883, 1885 — 1886, 1891— 1894, 1895 — 1899, 1903 — 1904 (die alle Lavakuppeln schufen), sowie 1905—1906, sondern daß dieselbe auch nachträglich in der Ruheperiode noch wesentliche Änderungen erfuhr. Durch Erdschlipfe ist nicht nur der Kraterrand erniedrigt und umgestaltet worden, sondern auch das Innere des Kraters, der becherförmig geworden ist und zahlreiche Schuttkegel zeigt. Die jüngsten Laven von 1905/06 am Südwesthang des Vesuv wurden auf ihre langsame Erkaltune hin unter- sucht, während von dem älteren Lavaausfluß an der NNE-Seite des Kegels angenommen wird, daß er die Bildung der V-förmigen Einschartung des Kraterrands in dieser Gegend verursacht habe. Die Fumarolen sollten, wie Perret meint, vor allem während der Ruheperiode systematisch beob- achtet werden; er selbst untersuchte nach Möglichkeit die Temperatur be- stimmter Fumarolen mit Hilfe eines elektrischen Pyrometers, sowie die chemische Zusammensetzung ihrer Exhalationen und stellte fest, daß die Temperatur primärer Fumarolen nicht gesunken ist; von Wichtigkeit ist es, darauf hinzuweisen, daß die Zu- und Abnahme der hauptsächlich Wasser- dampf liefernden Fumarolen oft nur scheinbar ist entsprechend dem je- weiligen Zustand der Atmosphäre. Die Schlammströme, die nach dem ') Auf dem internationalen Geologenkongreß, der zu Stockkolm vom 18. bis 25. August 1910 tagte, hat J. Friedländer die Errichtung eines internationalen Observa- toriums mit Laboratorien für vulkanologische Studien am Vesuv in Anregung gebracht, worauf die Versammlung beschloß, den Antrag zu befürworten. Hoffentlich gelingt es dem Antragsteller, seine Idee zu verwirklichen ! ®) Amer. Journ. of Science, Nov. 1909, Vol. XXVIIH, 10. Series. 124 K. Sapper. Ausbruch infolge von Durchtränkung oberflächlicher Aschen- und Sand- massen durch Regenwasser anfangs häufig vorkamen und deren zer- störenden Wirkungen die Regierung durch Erbauung gemauerter Dämme recht gut entgegenarbeitete, sind selten geworden; sie fließen jetzt meist langsam, eletscherartig. Diese Schlammströme stellen interessante Beobach- tungsobjekte zum Studium der Erosionswirkungen dar. — Das unter donner- artigem Getöse erfolgende Niederstürzen großer Erdlawinen im Krater erzeugt zuweilen scharf umschriebene blumenkohlartig geformte großartige Staubwolken, die in ihrer Form stark an die Glutwolken des Mont Pele erinnern. An der Außenseite des Vulkans sind die anfänglich so häufigen Erdlawinen selten geworden, ebenso die Sandwirbel, die bei rascher Rotation eine nur langsame Fortbewegung zeigen. Es ist kein Zweifel, daß durch derartige 'sorgsame geduldige Beob- achtungen die Grundlage, auf der unsere Vulkanspekulationen beruhen, wohl sicherer werden könnte, als sie bisher ist, weshalb dieses Beispiel als ein sehr nachahmenswertes zu bezeichnen ist — auch leicht nachzuahmendes, wenn in Form eines Observatoriums oder Hotels wie am Vesuv, Ätna, Kilauea, wenigstens die Möglichkeit des Aufenthaltes in großer Nähe des Beobachtungsortes gegeben ist. Das Studium der Fumarolen an verschiedenen Vulkanen hat A. Brun in den letzten Jahren mit großem Eifer und Erfolg betrieben. Er fand am Pico de Teyde auf Tenerife (Kanarische Inseln), daß der Wasserdampfgehalt der Fumarolen nicht ganz zur Sättigung des Gasgemenges hinreichte !) und daß ein niedergehender Regen den Dampfgehalt plötzlich hob. Auf Lanzarote untersuchte er (September 1907) die heißen Stellen am Timanfaya, die ich freilich nicht für Fumarolen gehalten habe, als ich sie 1906 be- suchte, weil keinerlei Gasaustritt oder -Auftrieb zu erkennen war; das Vor- kommen von Salzen ließ mich die‘Stelle als den Ort erloschener Fumarolen ansehen. Bei der Untersuchung fand Drun jedoch außer atmosphärischer Luft eine Spur von CO, und NH,: der Wasserdampfgehalt der Atmosphäre war ein wenig größer als der des Gasgemenges, woraus run den Schluß zog, dal der Timanfaya — an dieser Stelle zum wenigsten — kein Wasser abgah. Später, im Sommer 1908, setzte Brun ?) seine Studien an javanischen Vulkanen fort und erhielt namentlich am Papandajan, dessen merkwürdige Miniaturlavaströmchen schon Volz°) früher kennen gelehrt katte, sehr be- merkenswerte Ergebnisse. Brun fand, daß der Schwefel überall durch einen CO,-Strom in die Atmosphäre übergeführt wurde und stellte zudem fest; daß der Druck der Fumarolen von 92—120° plötzlich ansteige, von !) Archives des Sciences physiques et naturelles. Geneve 1908. ?) Archives des Seiences physiques et naturelles. Geneve 1909. — Über das „Ver- halten des Schwefels in tätigen Sulfataren“ vgl. auch Chemikerzeitung, 1909, Nr. 15. 3) Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie, 1906. Vgl. auch Sapper, Bemerkungen über einige javanische Vulkane. Zentralbl. £. Miner., Geol. u. Paläont., 1909, S. 609 ff. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 125 120— 270° aber ebenso plötzlich wieder falle. Auch die Dampfmengen waren bei 110—120° am größten. Brun schloß aus diesen Tatsachen, dab die wasserhaltigen Fumarolen ihren Wassergehalt lediglich dem Grund- wasser verdankten, daß also kein juveniles Wasser in den Fxhalationen enthalten wäre. Am Bromo untersuchte Brun die solfatarischen jähen Emanationen und fand, daß dieselben nicht hinreichend Wasser besaßen, um den Feuchtigkeitsgehalt im Innern der Aschenauswürfe erkennbar zu steigern. Am Semeroe gelang es Brun bis unmittelbar an die tätigen Mundlöcher des Vulkans vorzudringen und dort einen Ausbruch aus aller- nächster Nähe zu beobachten. Er stellte fest, daß die Aschen trocken niederfielen und daß) an den Steinen des Kraterrandes, die nur eine Tem- peratur von +5°ÜC zeigten, sich kein Wasser kondensiert hatte. Er schloß aus dieser Beobachtung wie aus der früheren vom Bromo oder älteren am Vesuv und Stromboli gemachten. daß die vulkanischen Gase wasser- frei seien. Nun hat er freilich auch am Semeroe Wasserdampf liefernde Fumarolen beobachtet; dieselben waren jedoch schwach und kontinuierlich — offenbar Aushauchungen atmosphärischen Wassers, das auf den Vulkan gefallen war. Indem nun Brun seine auf Java und in anderen Vulkangebieten gemachten Beobachtungen verallgemeinert und darauf hin- weist, daß die durch große Krater ausgezeichneten Vulkane oft starke Exhalationen aufweisen, glaubte er sich zu dem Schlusse berechtigt, dal) die Form und Beschaffenheit der Vulkane (ob mit oder ohne großen Krater als Wassersammler) über das Vorkommen oder Fehlen von Wasserdampffumarolen entscheide. Dieser Schluß be- darf der kritischen Nachprüfung dringend, denn wenn auch im allgemeinen zugegeben werden muß, daß die größere Zahl der Fumarolen sich bei Vulkanen mit großem Krater auf das Innere derselben beschränkt, so sind doch wasserdampfhaltige Fumarolen an den Außenhängen der Vulkane häufig anzutreffen, und selbst wenn man zugeben will — was ebenfalls noch der Nachprüfung unterworfen werden muß —, dab die Fumarolen nur vadoses Wasser von sich gäben, so wäre nicht einzusehen, warum diese an den Außenhängen der Vulkane oder selbst am Fuße derselben ganz fehlen sollten. Der sorgfältigsten Nachprüfung muß) auch der weitere und wichtigere, oben erwähnte Schluß Bruns unterworfen werden, dal die vulkanischen Gase wasserfrei seien. Ich bin zwar persönlich ebenfalls der Ansicht, dal) wasserfreie oder mindestens wasserarme Ausbrüche bei Vulkanen häufig vorkommen; so hatte ich im Oktober 1908 Gelegenheit, sehr viele Aus- bruchswolken des eben genannten Semeroe zu verfolgen und konnte fest- stellen, daß sich dieselben in der Atmosphäre nicht auflösten, wie man das von Wasserdampfwolken annehmen müßte, sondern weithin auf ihrem Weg durch die Lüfte zu verfolgen waren; ich kam dabei zur Überzeugung, daß Wasserdampf, wenn überhaupt, nur in relativ geringer Menge in diesen Wolken enthalten sein dürfte und ebenso denke ich von den tiefdunklen Aschenausbrüchen, die ich so häufig im Oktober und November 1902 am 126 K. Sapper. Santa Maria in Guatemala gesehen habe; aber ebendort schossen auch nicht selten jählings riesige, blendend weiße, sehr breite Wolken mehrere Kilo- meter hoch in dieLuft empor, die sich vollständig in. der Atmosphäre auf- lösten, also offenbar Wasserdampf waren und nichts mit Chloriddämpfen zu tun hatten, die nach Brun so oft von den Beobachtern von Vulkan- ausbrüchen als Wasserdampfwolken angesehen werden. Ob diese Wasser- dampfausbrüche auch bei anderen Vulkanen vorkommen, und ob sie als unmittelbare Förderungen des Magmas oder lediglich als explosive Befreiung des Magemas von eingedrungenem vadosen Wasser angesehen werden sollten, das sind Fragen, die nur durch weitere sorgfältige Beobachtungen vielleicht gelöst werden können. Bemerkenswert ist übrigens, daß E. Lotter- moser bei der (noch nicht veröffentlichten) Untersuchung des Regenfalls von Südguatemala zu dem Ergebnis kam, daß der Santa Maria-Ausbruch, entgegen der Ansicht der ansässigen Pflanzer, wenigstens in der weiteren Umgebung des Vulkans keine Erhöhung des Regenfalls bewirkt habe, ein Ergebnis, das mit Druns Anschauungen über das Fehlen eigentlich vulka- nischer Gewitter durchaus übereinstimmt. Die Erscheinungen der Ausbrüche des Semeroe decken sich übrigens nach A. Bruns Schüderung durchaus mit denen der Izalco-Ausbrüche, die ich im Dezember 1902 aus großer Nähe mitansehen konnte.!) Nur in einer Hin- sicht besteht ein wesentlicher Unterschied: die Zwischenräume zwischen den einzelnen Ausbrüchen waren am Izalco auffallend gleichmäßig: 14 bis 15 Minuten, während am Semeroe, wie am Stromboli, die Intervalle recht ungleichmäßig sind. Durch die Regelmäßigkeit der Intervalle erhielten die Ausbrüche des Izalco eine gewisse Ähnlichkeit mit den regelmäßigen Pulsationen eines Geysers; auch waren die Erscheinungen immer gleich- artie: Vor jedem Ausbruch „pflegte aus zahlreichen, sonst nicht sichtbaren Radialspältchen etwas Rauch auszuströmen; dann öffnete sich plötzlich mit donnerähnlich gezogenem oder kurzem knallartigen Getöse das Mundloch, und es trat entweder eine graulich-weiße Dampfwolke oder eine schwärz- liche Rauchwolke puffend hervor, um sich in wirbelnder Bewegung zu er- heben und zugleich auszubreiten. Sobald die Wolke die Höhe des Kegels überschritten hat, erfassen sie die Winde und entführen sie; man kann auf diese Weise oft eine große Zahl von Wolken in ziemlich regelmäßigen /wischenräumen in langer Reihe hintereinander am Himmel beobachten — die Zeugen ebensovieler Eruptionen. „Gleichzeitig mit den Wolken wurden aber auch Steine herausge- schossen, oft sehr stark nach allen Seiten hin streuend. Die weniger großen Steine flogen dabei anfänglich hoch über die Rauchwolke hinaus und führten oft in ihrem Gefolge eine schmale Rauchlinie.“ „Die großen Blöcke dagegen fliegen nur wenige Meter hoch oder drücken auch nur den Krater- mantel auseinander. Ein großer Teil der Auswürflinge stürzt wieder in den Krater zurück.“ 1) Centralbl. f. Miner., Geol. u. Paläont., 1903, S.104 ff. und Sapper, In den Vulkan- rebieten Mittelamerikas und Westindiens, Stuttgart 1905, 8. 99 ff.. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 127 Auch andere Beobachtungen an Vulkanausbrüchen haben manches vereinzelte Neue gebracht und damit die Summe unseres Wissens gemehrt, manchmal auch in Fällen, wo der Beobachter kein Mann der Wissenschaft war. Ich erinnere an die trefflichen anschaulichen Berichte Dr. @revels und Pater Mennels über den Matavanuausbruch auf Sawaii!), sowie an den des Bauern ‚Jose Hernandez Lopez von Los Llanos auf Tenerife über den jüngsten Ausbruch auf genannter Insel.?) Dieser Mann war bei der Arbeit nur etwa 100m von dem späteren Ausbruchsort entfernt, als die Erde erbebte und er zweimal ein Sausen hörte wie vom Fliegen einer großen Schar Tauben. „Dann erhob sich ein großes Getöse und die Büsche flogen in die Luft, wobei sie, sich überschlagend, die Höhe wie von 3 großen Kiefern — also ea. 70—80 m -— erreichten, vermengt mit Rauch und mit schwarzer und roter Erde; und zugleich kamen große Steine heraus, aber man sah kein Feuer, und alles breitete sich oben aus und es begann heißer Sand zu fallen, den man auf der Hand nicht auszuhalten vermochte“. Weiteres sah der Mann nicht, da er die Flucht ergriff; er ist aber meines Wissens der erste Sterbliche, der die Entstehung eines neuen Vulkans aus so grober Nähe mit angesehen hat. Bemerkenswert ist, daß nur von Rauch, nicht von Dampf die Rede ist; doch ist vielleicht der Zweifel angebracht, ob der Mann in diesem Momente genügend scharf zwischen Rauch und Dampf unterschieden hätte. Von weiteren lehrreichen Beobachtungen mögen folgende Beispiele noch Erwähnung finden: Im Januar 1904 wurde der Muttervulkan des Izalco, der S. Ana, eben- falls tätig; er spielte, wie Herr Hecht von Sonsonate aus feststellen konnte °), vollkommen gleichzeitig mit dem Izalco trotz der 4km betragenden Entfernung, während z. B. die ganz nahe beieinander liegenden Bocchen des Stromboli sich in ihren Ausbrüchen ganz unabhängig verhalten (nach Beobachtungen Bergeats 1894, Bruns 1901, Wegners 1906 u.a.). Der kleine Ätnaausbruch von Ende April bis Mai 1908, der, wie so oft an diesem Vulkan, mit Öffnung einer Spalte einsetzte, gab Lacroix *) die Gelegenheit zu beobachten, daß am 20. Mai vom Krater aus über die Südwestflanke des Gipfelkegels kontinuierliche Ausbruchswolken von pele- artigem Typus wenige Meter über dem Boden herabkamen mit einer Ge- schwindigkeit von 4—5 m per Sekunde; sie bildeten unten eine diffuse Wolke, die langsam ihre Asche fallen ließ. Sie bestanden aus Wasserdampf und äußerst feinem Staub; die Temperatur war nicht hoch. Die Erklärung der Erscheinung stößt zunächst noch auf Schwierigkeiten. Merkwürdig war bei diesem Ausbruch auch die Bildung eines Bruchfeldes (wie ich es ähnlich nach dem großen nicaraguanischen Beben vom 28. April 1898 am Vulkan !) Zeitschr. Ges. f. Erdk. Berlin 1906 u. 1909. ?) Lucas Fernandez Navarro, Resumen de la conferencia acerca de la erupcion volcanica del Chinyero. Bol. R. Soc, espanola Historia natural, 1910, S. 107 f. 3) Centralbl. f. Min. ete., 1904, X, S. 450 f. *) Comptes rendus des seances de l’Acad&mie des Sciences, OXLVI, S. 1134 ff. 128 K. Sapper. EI Viejo gefunden hatte) nördlich der Serra Giamicola piecola; einige Fuma- rolen begleiteten dasselbe. Die Breite betrug ca. 500 m von Ost nach West. Die Art der Bildung dieser bisher bei vulkanischen Ausbrüchen nicht abaoh- achteten Erscheinung ist zurzeit noch nicht aufgeklärt. Der jüngste Ätnaausbruch vom 23. März 1910 hatte Riccd !) Gelegen- heit geboten, aufs neue die Erscheinungen eines Radialausbruchs zu studieren, und aus seinen Beobachtungen mag hier hervorgehoben sein, daß die Bildung der 2 km langen Spalte ohne großes Getöse oder starkes Beben erfolgte und außerdem, daß die sehr geringe örtliche Ausbreitung der makroseismischen Erscheinungen auf eine sehr geringe Tiefe des Beben- herdes schließen läßt. Man darf dann wohl weiter schließen, daß der An- drang der Lava diese Beben verursacht haben dürfte. Die Lava trat zunächst aus den Öffnungen am oberen Ende der Spalte zutage (in 2550 m Höhe), später erst — und zwar die Hauptmasse — aus denen des unteren Endes in 2050 m Höhe. Ein Vergleich mit den früheren Radialausbrüchen seit 1883 zeigte Riccö ein ständiges Höheraufsteigen des Lavaaustritts, denn derselbe erfolgte: 1883 in 1050 m Höhe 1896. 1450 545 1892, 21 DB 1908, ,72390 2% ; 1910 „ 2550, später 2050 m Höhe. Daraus schloß Riceö, daß die erstarrende Lava die Spalten verfestigt hätte, so daß die Lava höher oben leichteren Austritt fand und zeigte damit, daß mechanische Hindernisse den Ort des Lavaaustritts wesentlich beeinflussen können — ein Schluß, zu dem sowohl ich wie H. Reck durch das Studium der Lakispalte auf Island ebenfalls gelangt waren.?) Da die explosiven Erscheinungen bei dem jüngsten Radialausbruch des Ätna gegen- über der Lavaförderung stark zurücktraten, darf man wohl weiter schließen, daß die relativ geringen mechanischen Wirkungen des Ausbruchs auf Rechnung der vorwiegenden Lavaförderung gesetzt werden müssen, und wenn man unter diesem Gesichtspunkt die beiden großen isländischen Vulkanspalten Eldgjä und Laki vergleicht, so versteht man nun, warum erstere, bei der die explosive Kraft enorm gewesen war, mit souveräner Verachtung des Geländes über Berg und Tal fortsetzte, während letztere, bei der die explosiven Wirkungen nur lokal bedeutend gewesen waren, durch den recht unbedeutenden Lakihügel sich zu einem Umweg, einer Umgehung, zwingen ließ). Bei der großen Häufigkeit der explosiven Ausbrüche sind übrigens diese sorgfältiger und häufiger beobachtet und untersucht worden als die effusiven. !) L’Eruzione dell’ Etna. „Natura ed Arte“, 1909/10, XIX, Nr. 11. Milano. ?) Neues Jahrbuch f. Min. ete., Beil., XXVI, $S.11; H. Reck, Isländische Massen- eruptionen. (Geol. u. paläont. Abh., Neue Folge, IX, Jena 1910, S. 155.) Zu K.Sapper: Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung Ibderhalden, Fortschritte 11. Taf. IV. Fig. 14 —— a, et scher Mantel Durchschnitt durch einen Ringwall. Nach Auerbach Fig. 16 Natürlicher Schüttungskegel auf kreisrunder Grund Schematischer Vulkan während der Tätigkeit fläche. Nach Auerbach. Feiner Sand. Nach Linck, Durchschnitt durch einen aus wechselndem Material anfgebauten Vulkan. Nach Linck lig. 18. Maare im Sand. Nach I Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien. Druck von Gottlieb Gistel & Cie. in Wien Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 129 Als Endergebnis zahlreicher Beobachtungen an tätigen Vulkanen haben A. Lacroix, @. Mercalli u. a. verschiedene Typen der explosiven Ausbrüche unterschieden. Die einzelnen Einteilungen unterscheiden sich in mancher Hinsicht voneinander, wenn sie auch im Prinzip nicht allzu sehr von- einander abweichen. Laeroix!), der die Art des Freiwerdens der Gase aus dem Magma als eine Funktion des physischen Zustandes desselben (Flüssig- keitsgrad, Zähigkeit) auffaßt, unterscheidet 4 Typen: 1. Hawaii-Typus: Größte Dünnflüssigkeit des Magmas, heftige Par- oxysmen selten; Austritt des Magmas nicht immer mit Explosion verbunden. Die blasigen Schlacken bestehen aus schwarzem Glas und können haar- förmig ausgezogen sein. 2. Strombolianischer Typus: Basaltisches Magma von geringerer Dünn- flüssigkeit als 1., aber doch hinreichender, daß es in freier Verbindung mit der Atmosphäre sein kann. Die Gasentwicklung erfolgt unter Über- windung stärkeren Widerstands; heftige Explosionen treten auf; es ent- stehen Magmafladen, Schlacken und birnförmige Bomben. 3. Vulkanianischer Typus: Magma sehr zähflüssig; zwischen zwei Explosionen an der Oberfläche völlig verfestigt; jede Explosion reißt daher viele kantige Fragmente der Kruste mit. Die Ausbruchswolken sind deshalb sehr dicht, grau bis schwarz, blumenkohlförmig, erheben sich langsam und erscheinen selbst bei Nacht dunkel. Die Lapilli sind meist eckig, die Bomben brotkrustförmig: an der Peripherie glasig, im Innern bimssteinartig. 4. Pele-Typus: Glutwolken, noch kompakter als vulkanianische, in mehr oder minder völlig verfestigtem Magma entstanden, schräg ausgeschleudert oder erst aufsteigend und dann niederfallend und wie Lawinen abwärts fließend, unter gleichzeitiger starker Ausdehnung nach oben. Zwischen den einzelnen Typen sind die verschiedensten Übergänge möglich, so daß eine kontinuierliche Reihe aufgestellt werden könnte. Laeroix warnt aber mit Recht vor Aufstellung zu vieler Typen und Zwischentypen. Die Explosionstypen hängen meist mit der chemischen Beschaffenheit des Magmas zusammen, aber nicht immer, so daß also die Kenntnis der chemischen Beschaffenheit nur einen Schluß auf die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Ausbruchsart zuläßt. Der Hawaii-Typus kommt nach Laeroix nur an basaltischen Magmen vor, der strombolianische an basaltischen und leueithtephritischen; der vulkanianische ist bei allen Vulkanen möglich, besonders am Anfang, der Pele-Typus ist bei andesitischen, labradoritischen und basaltischen Vulkanen bisher nachgewiesen. Es ist kein Zweifel, daß durch Beobachtungen an tätigen Vulkanen unsere Kenntnisse der vulkanischen Erscheinungen in hohem Grade gefördert worden sind und noch weiter gefördert werden können; aber es ist doch gerade bei Betrachtung dieses Kapitels klar geworden, daß wir über einen ganz wesentlichen Punkt, die wesentliche oder geringfügige bzw. völlig mangelnde Rolle des Wasserdampfes durch die bisherigen Beobachtungen ') La Montagne Pel& apres ses eruptions, S, 86. E. Abderhalden, Fortschritte. II. g 130 K. Sapper. noch keinen endgültigen Bescheid haben und dadurch auch die Frage- stellung bei vielen anderen Problemen nicht hinreichend gesichert finden. Unter solehen Umständen ist es auch sehr verständlich, dab zurzeit noch keinerlei Möglichkeit der Vorhersagung von Eruptionen besteht. Wohl hat es nach dem Ausbruch des Mont Pele nicht an verschiedenen Vorschlägen künftiger Vorhersage gefehlt, doch hat sich bei genauerer Prüfung bald gezeigt, daß die Methoden das Versprochene nicht halten konnten und ähnlich wird es mit den neuerdings vorgeschlagenen stehen: Sieberg hat in „Der Erdball“!) darauf hingewiesen, daß möglicherweise v. Eötvös’ Schwerevariometer gute Dienste leisten könnte und F. Königs- berger?) glaubt, daß die Errichtung einer thermographischen Station (durch Feststellung des langsamen Sichhebens der Geoisothermen mit steigender Lava) die Voraussage eines Ausbruchs ermöglichen könnte. So sehr ich nun auch glaube, dal) die thermischen Registrierungen einer solchen Station wertvolles wissenschaftliches Material liefern könnte, halte ich es doch für höchst unwahrscheinlich, daß der vorgeschlagene Widerstandsthermometer eine zuverlässige Eruptionsvorhersage leisten könnte, denn die Natur zeigt ja durch gelegentliche Ausbreitung und Wiederabnahme der Flächen, auf denen die Vegetation infolge vulkanischer innerer Wärme nicht mehr ge- deihen kann, daß die Geoisothermen sich manchmal heben und senken, ohne daß irgend welche nennenswerte Veränderung am Vulkane vor sich ginge. So konnte ich 1902 bei Besteigung des Pacaya in Guatemala fest- stellen, daß die durch vulkanische Hitze unbebaubar gewordenen Flächen wesentlich größer waren, als ich sie bei meinem ersten Besuch 1892 ge- troffen hatte; aber der Vulkan blieb ruhig und dasselbe geschah an der Soufriere von Guadeloupe, wo mir beim Besuch des Solfatarenfeldes im April 1903 die Anwohner versicherten, daß es sich in der letzten Zeit wesentlich ausgedehnt habe eine Aussage, die durch das Aussehen der Vegetation an einzelnen Flächen bestätigt wurde. Und ähnlich ist es mit anderen Anzeichen: Bildung neuer Fumarolen, Auftreten von mikro- oder makroseismischen Bewegungen, vorzeitige Schneeschmelze, Temperaturzu- nahme von Quellen u. dgl. Diese Dinge können allerdings einem Ausbruch voranzehen, aber sie können auch ohne wesentliche Änderung des Vulkan- zustands eintreten und sind daher als Alarmsignale von geringer Bedeutung.) 2. Ergebnisse neuerer Untersuchungen an älteren Vulkanen. Obgleich kein Zweifel darüber bestehen kann, dal) die Beobachtung von Ausbrüchen tätiger Vulkane die wichtigsten Aufschlüsse über vulka- nische Probleme liefern kann, so ist doch andrerseits auch sicher, dal sie allein nicht zur Beantwortung aller auftauchenden Fragen führen kann, 1) Eßlingen u. München (1909), S. 299. 2) Studien an Vulkanen in „Berichten der naturf. Gesellsch. zu Freiburg“, 1909, 3d. XVII. 3) Vgl. übrigens auch unten, S. 142. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung, 131 sondern daß das Studium älterer vulkanischer Gebilde als durchaus not- wendige Ergänzung hinzutreten muß, denn die tätigen Feuerberge ver- bergen meist mehr oder minder vollkommen ihr inneres Gefüge und die aus großer Tiefe heraufführenden Wege des vulkanischen Magmas oder der vulkanischen Gase, die dagegen bei alten halb- oder fast völlig zerstörten Gebilden oft in großer Deutlichkeit aufgeschlossen liegen können. So kommt es, daß durch sorgfältige Untersuchung von Vulkangruppen, die durch Erosion stark mitgenommen sind, die wertvollsten Aufschlüsse über die geologische Geschichte der Einzelvulkane und die geologischen Beziehungen und Wirkungen derselben gewonnen werden konnten, so z.B. von A. Bergeat über die äolischen Inseln !) oder von A. Dannenberg über den Mte. Ferru. ?) Aber auch noch ältere eruptive Erscheinungen, die in deutlichen Aufschlüssen beobachtet werden können, sind geeignet, unsere Vorstellungen von den Wirkungen der vulkanischen Kräfte aufzuklären und zu beeinflussen und haben es in der Tat in vielfacher Hinsicht auch schon getan. Namentlich hat K. @Gilberts Beschreibung der Lakkolithen der Henry Mountains (1877) die damals viel geglaubte Anschauung vom rein passiven Verhalten erup- tiven Magmas zu erschüttern vermocht und neuere Untersuchungen, so die- jenigen von W. Volz3) über die Insel Pulo Laut bei Südost-Borneo oder von Böse über den Cerro de Muleros ), haben die aktive Rolle des vulkanischen Magmas vielen ebenso wahrscheinlich zu machen gewußt, wie etwa die Untersuchungen von W. Branco (Branca) und E. Fraas im Steinheimer Becken 5) und im Ries, die durch X. Haufmanns magnetische Messungen ®) eine unerwartete Bestätigung fanden. Trotzdem vermochten diese Erklä- rungsversuche ebensowenig allgemein zu überzeugen wie etwa Molengraaff's und Spencers Mitteilungen über lokale vulkanische Hebungen auf den kleinen Antillen.’) Dagegen gelang es W. Branco durch seine sehr sorg- fältige Untersuchung von „Schwabens 125 Vulkanembryonen“ ®) den wohl allgemein anerkannten Nachweis zu führen, daß vulkanische Explosionen für sich allein imstande sind, die äußersten Erdkrustenteile zu durchschla- gen. Der Erfolg der ausgezeichneten Abhandlung wurde dadurch erleichtert, daß kurz zuvor A. Daubree durch höchst interessante Experimente die gewaltige Durchschlagskraft hochgespannter Gase nachgewiesen !) Die äolischen Inseln. München 1899. ®) Neues Jahrb. f. Min. ete., 1905, Beil. Bd. XXI, S. 1—62. 3) Neues Jahrb. f. Min.. Geol. u. Pal., Beil. Bd. XX, S. 351 ff. #) Guide du Congres geologique internationale de Mexique 1906, Excursion au Cerro de Muleros. 5) Das vulkanische Ries und das kryptovulkanische Becken von Steinheim. Abh. k. preuß. Ak. d. Wiss. Berlin 1901 bzw. 1905. ®) Magnet. Messungen im Ries u. dessen Umgebung. Anhang. Abh. k. preuß. Ak. d. Wiss. Berlin 1904. ?) Quart. Journ. Geol. Soc., Vol. LVII, pag. 534 ff., u. Molengraaff, De Geologie van het Eiland St. Eustatius, Leiden 1886, sowie Zentralbl. f. Min., Geol. u. Pal., 1903, S. 316 ff. u. 284 ff. s) Jahresh. d. Ver. £f. vaterl. Naturk. Stuttsart 1894. 9* 132 K. Sapper. hatte !), außerdem durch den Umstand, daß 4A. Geikie?) ähnliche vulkanische Durchschlagsröhren in Schottland, Bücking in der Röhn 3), andere in Süd- afrika und anderwärts nachwiesen. Minder allgemeine Anerkennung fand der weitere Schluß Drancas, dab die Erscheinungen des Uracher Vulkangebietes für völlige Unabhängigkeit der Vulkane von präexistierenden Spalten sprächen, denn es wurde nicht nur von mancher Seite auf das Vorkommen benachbarter Verwerfungen hingewiesen, sondern Ed. Süß, der für die Schußikanäle von Fife den Ursprung der Eruptionen in einer phreatischen Schicht an der Grenze des alten roten Sandsteines und des Carbon suchen möchte #), macht darauf aufmerksam), daß man da, „wo es möglich ist, sich den tieferen Zufuhrstraßen zu nähern, in der Regel zu Spalten ge- lange“. Nun hat neuerdings H. Reck”®) den Nachweis zu führen versucht, dal) der Herdubreid auf Island ein Vulkan wäre, in dem eine Spalte bis zu 300—400 m unter die Basis des Vulkans hinab nicht vorhanden sei. Tatsächlich hat er meines Erachtens aber nur festgestellt, daß eine Spalte durch zugängliche Aufschlüsse nicht bloßgelegt ist; ob aber der Vulkan- schlot nicht in größerer Tiefe sich als Ende einer Spalte erweisen würde, bleibt unbestimmt. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß hier ein ähnlicher Fall vorliegt wie am Südostrand des Coloradoplateaus, wo nach Dutton zerstreut 100—200 Hälse emporragen, die nach oben kreisförmigen Quer- schnitt zeigen, gegen unten aber sich seitlich verlängern, ja oft nach rechts und links in Gänge fortsetzen. ?) Es will mir scheinen, als ob vorsichtige und sorgfältige Untersuchun- gen der Erscheinungen, unter denen ältere und neuere Eruptivvorgänge vor sich gingen, schließlich doch im Zusammenwirken vieler Klarheit in das Dunkel bringen müßte, das zurzeit noch über die Wurzeln der vul- kanischen Baue und die Wege ihrer Materialien besteht; aber es wird das Licht wohl nur langsam hineindringen und ein einzelner wird es wohl nicht allein vollbringen können. Aber was schadet es? Die Wissenschaft hat Zeit und die Wahrheit wird schließlich siegen, auch wenn der eine oder andere mit noch so viel Energie und Fanatismus seine Ansichten durchzudrücken versuchte! Wie viel ist in den letzten Jahrzehnten über vulkanische Spalten geschrieben und gesprochen worden, aber völlig ge- klärt ist die Frage noch immer nicht, weil eben noch nicht genügende ') S. unten, 8. 138. Der etwa 18stündige Steinhagel am 25. Oktober 1902 scheint mir in ganz ähnlicher Weise den Ausbruchskanal des St. Maria zur Ausräumung ge- bracht zu haben (vgl. Sapper, In den Vulkangebieten Mittelamerikas und Westindiens, S.118 ff.). °) On the Carboniferous voleanie rocks of the basin of the Firth of Forth. Trans. rtoy. Soe., Edinburgh 1879, Vol. 29, ferner The volc. rocks of Fife. Mem. Geol. Survey, 1902, Ancient vole. of great Britain 1897. ®) Gerlands Beitr. z. Geophysik. 1903, Bd. VI. #) Antlitz der Erde, III, 2, S. 656. 5) Antlitz der Erde, III, 2, S. 657. 6) Zentralbl. f. Min., Geol. u. Pal., 1907, S. 166 ff. ") E. Süß, Antlitz der Erde, III, 2, S. 657 £. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 133 Beobachtungen vorliegen, die eine nur eindeutige Erklärung zulassen wür- den. Branca hat auf dem Internationalen Geologenkongreß zu Mexiko 1906 das Wesentlichste zusammengestellt !), was von seinem Standpunkt aus hier- über gesagt werden kann. Man wird wohl Branca zum mindesten insoweit Recht geben müssen, dal) es auf der Erde viele Vulkane gibt, deren An- ordnung keinerlei Abhängigkeit von irgendwelchen Spalten verraten. daß überhaupt das Magma unter Umständen sich selbst in Schußkanälen den Weg behren könne, sei es nun in ungestörtem oder mehr oder weniger stark disloziertem Gelände. Aber andrerseits scheinen mir die zahllosen Gänge, die z.B. auf den Kanarischen Inseln zu beobachten sind, oder der für Schott- land nachgewiesene Zusammenhang der Basaltformation mit einem Netz von Gängen doch darauf hinzuweisen, daß auch die andere Möglichkeit, das Aufsteigen des Magmas in Spalten, tatsächlich häufig vorgekommen ist und — wie historische Ausbrüche auf Island zeigen — noch vorkommt. Die Entscheidung der Frage, ob diese Klüfte oder Spalten schon vorher existierten oder erst unter dem Einfluß der vulkanischen Vorgänge sich gebildet haben, wird oft nur schwer zu treffen sein und ist mir z. B. bei Unter- suchung etlicher Vulkanspalten auf Island nicht gelungen. Dieselben sind manchmal auf längere Strecken offen, so die großen Explosionsgräben der Eldgjä im Südlande, oder sie sind angedeutet durch mehr oder minder langge- streckte Reihen von Kratern, die auch wohl wieder streckenweise in Ex- plosionsgräben übergehen oder stellenweise durch einfache Verwerfungen oder Grabenbrüche ersetzt werden ?); zuweilen ziehen die Vulkanspalten mit souveräner Verachtung des Geländes dahin, beim Laki aber wird die Vulkanreihe von 1783 durch einen geringfügigen Hügel unterbrochen und zu einem Umweg gezwungen; die Vulkanspalten einer Entstehungszeit setzen manchmal sprungweise ab, um hernach jedoch wieder dieselbe Haupt- richtung zu verfolgen — genau dieselbe Erscheinung, die sich im kleinen auch bei Erdbebenspalten zeigt), im großen bei den Vulkanen Mittel- amerikas sich verfolgen läßt.*) Man hat mehrfach eingeworfen, nur auf Karten kleinen Matstabs erschiene die linienartige, oft weithin fast ge- radlinige oder regelmäßig gekrümmte Anordnung der Vulkane, während sie auf Karten großen Maßstabs oder in der Natur selbst nicht zu er- kennen wäre. Der Einwurf eilt freilich für viele Vulkangebiete, aber be- stimmt nicht für die mittelamerikanischen Vulkane, wie die a. a. 0. gege- benen Positionen beweisen. Wie oft habe ich auf einzelnen dieser hohen Vulkanwarten gestanden und habe eine hinter der anderen in langer Reihe fast geradlinig vor mir auftauchen sehen, während zur Rechten oder Linken meist vulkanische Gebilde fehlten, abgesehen von parasitischen Vul- !) Vulkane u. Spalten. Mexiko 1907. 2) Sapper, Über einige isländische Vulkanspalten und Vulkanreihen. Neues Jahrh. f. Min., Geol. u. Pal., 1908, Beil., Bd. XXVI, S. 1 ff. ») Hobbs, The Earthquake of 1872. (Gerlands Beitr. z. Geophysik, Bd. X.) 4) Vgl. Sapper, Über die räumliche Anordnung der mittelamerikanischen Vulkane. Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., 1897. 134 K. Sapper. känchen oder vulkanischen Querlinien. Eine solche Gesetzmäßigkeit der Anordnung der Vulkane kann kein Zufall sein, sondern spricht meines Er- achtens mit Bestimmtheit dafür, daß auch in der Tiefe in der Richtung der — um mit ©. F. Naumann und Stübel zu sprechen — „topographischen Signale“ vulkanischer Herde eine Linie geringsten Widerstands vorhanden sein müsse. Die Reihung der Vulkane ist hier ebenso vollkommen wie in kleinem Maßstab bei den Vulkanreihen von Lanzarote bzw. der Umgebung der Hekla!) oder in noch kleinerem bei den so oft auf großen Vulkanen, namentlich dem Ätna, sich bildenden, mit kleinen vulkanischen Kegelchen besetzten Radialspalten, und darum ist auch der Schluß gerechtfertigt, daß die Ursachen für die gleich- artigen Bildungen auch ungefähr dieselben sein dürften. So sehr ich also auch zuzugeben geneigt bin, daß Vulkane ganz regellos zerstreut über das Gelände auftreten können, so bestimmt muß ich angesichts meiner eigenen Beobachtungen darauf bestehen, daß auch ausgezeichnete reihenförmige Anordnung vorkommt, die als Ausdruck einer in der Tiefe vorhandenen Fläche geringeren Zusammenhalts oder — um den früher gebräuchlichen Ausdruck zu verwenden — einer Spalte aufgefaßt werden muß, obgleich dieselbe oberflächlich nicht erkennbar ist, weil sie eben mit jüngeren Ge- bilden, besonders Aschen und Sanden, oder größeren Vulkanen überdeckt ist. Daß die mittelamerikanischen Vulkane über Streifen der Auseinander- zerrung stehen dürften, ähnlich wie solche nach F' v. Richthofen ?) vielfach am Westrand des pazifischen Beckens vorkommen, habe ich schon früher wahrscheinlich zu machen gesucht 3); jedoch lege ich an dieser Stelle kein (rewicht auf diesen Erklärungsversuch, sondern lediglich auf die Feststel- lung der Tatsache dieser ausgezeichneten Reihung, denn bei dem heutigen Stand der Vulkanforschung scheint mir die Hervorhebung des tatsächlich Festgestellten viel wichtiger, als jeder Versuch der Erklärung, da diese sich vielleicht einmal später nach Ansammlung reicheren Tatsachenmaterials ganz leicht und ungezwungen ergeben wird. 3. Ergebnisse neuerer experimenteller Untersuchungen im Hin- blick auf vulkanische Probleme. Bei der Unzugänglichkeit der eigentlichen Eruptivstellen im Moment der Tätigkeit, der Zufuhrwege vulkanischer Materialien aus unbekannter Tiefe und vollends der vulkanischen Herde selbst ist es verständlich, daß man versucht hat, durch Experimente im Laboratorium künstlich bis zu einem gewissen Grad die Vorgänge nachzuahmen, die im großen in der !) Es ist im höchsten Grade zu bedauern, daß den dänischen Generalstabsoffi- zieren, welche die sonst ausgezeichnete Karte der isländischen Randgebiete aufnehmen, kein topographisch geschulter Geologe beigegeben war, denn dadurch ist es nur zu ver- stehen, daß auf dem Kartenblatt Hekla die so zahlreichen und deutlichen, bald kürzeren, bald längeren Vulkanreihen im Osten und Nordosten der Hekla nicht eingetragen sind. ?) Geomorphologische Studien aus Ostasien. Sitz.-Ber. d. k. preuß. Ak. d. Wiss., 1900—1903. °) Vulkangebiete, S. 125 ff. PS Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 135 Natur in völliger Unnahbarkeit vor sich gehen, und damit einen Einblick in einzelne vulkanische Probleme zu gewinnen. Am leichtesten gelingt dies zweifellos beim Problem des Aufbaues der vulkanischen Gebilde und Reyer hat bereits 1888 in seiner theore- tischen Geologie eine Anzahl von Experimenten beschrieben, die eine gute Vorstellung von den Vorgängen und Lagerungsverhältnissen effusiver Ge- bilde gewähren. So z. B. sein Versuch a. a. 0. S. 87: Man befestige auf einem Brett einen Lehmrahmen; gieße eine Lage dunklen Gipsbrei dünn aus, darüber etwas hellere und so fort; preßt man nun ein Brett mit einer Spalte darauf, so quillt die Masse heraus und ergibt einen Fladen oder eine Kuppe. Durchschneidet man das Gebilde nach dem Erstarren, so beob- achtet man, daß die Schlierenblätter in der Nähe des Gipfels immer dünner werden, an der Basis aber verdickt sind. Am Gipfel hören sie manchmal ganz auf. Die jüngsten Nachschübe sind im Kern der Kuppe; das Ganze zeigt Zwiebelstruktur. In der Tat kann bei passivem Verhalten des Magmas sehr wohl ein derartiges Gebilde entstehen ; bei aktiver Injektion aber entstehen, wie die Beobachtungen Mercallis an der Vesuvkuppel oder Laeroix’ am Pele-Stau- kegel gelehrt haben, doch recht verschiedene Gebilde. Besser als magmatische Gebilde eignen sich vulkanische Lockergebilde zu experimenteller Nachahmung und im Jubiläumsband des Neuen Jahrh. f. Min., Geol. u. Pal., 1907, S. 91—114, hat @. Zinck eine ganz vorzügliche, auf Experimente sich gründende und sie beschreibende Abhandlung ver- öffentlicht (Über die äußere Form und den inneren Bau der Vulkane). Linck ging davon aus, dal) nach Hochstetter, Milne u. a. die äußere Vulkan- linie in einer Weise gekrümmt sein müßte, wie es auf zahlreichen Vulkan- bildern nicht zu erkennen war und er versuchte nun auf dem Weg des Experimentes das Richtige zu finden. Schon vor ihm hatte F\. Auerbach‘) auf endlich begrenzten Flächen Versuche mit Aufschüttungen gemacht und gefunden, daß die Aufschüttungslinien Hyperbeln, also in ihrem ganzen Ver- laufe konvex waren, wenn auch in den mittleren Partien fast geradlinig (Fig. 15, Taf. IV); auch bei Gleichgewichtsfiguren mit mittlerer kreisförmiger Öffnung (Krater) sind die inneren Böschungslinien ebenfalls konvex (Fig. 14, Taf. IV). Der Krater ist stärker geneigt und stärker konvex als die Außenwand. Die Normalböschung ist um so größer, je kantiger und eckiger, je dreidimen- sionaler, je kleiner und leichter das Korn und je rauher seine Oberfläche ist. @. Linck hat nun insofern seine Versuche anders eingerichtet, als er die Auswürflinge aus größerer Höhe niederfallen ließ, also den wirklichen Verhältnissen an Vulkanen mehr Rechnung trug. Er konstruierte einen Apparat, „in welchem mit Hilfe irgend eines komprimierten Gases Sand aus einer höhre ausgeblasen wird, der dann auf eine ebene Fläche rund um die Ausbruchsstelle niederfallen kann“. Durch die Öffnung einer lot- recht orientierten Röhre wurde mittelst komprimierten Sauerstoffs bei !) Die Gleichgewichtsfiguren pulverförmiger Massen. Ann. d. Phys., 1901, Bd. V. 136 K. Sapper. einem Druck von !/,—®/, Atmosphären staubfreier Sand ausgeschleudert (Fig. 16, Taf. IV). Die Höhe des dadurch entstehenden Vulkanmodells „hängt wesentlich ab von der Dauer des Experiments, d. h. von der zugeführten Sand- menge; die Neigung der Böschung vergrößert sich mit der Verkleinerung des Sandkorns; die bedeckte Grundfläche vergrößert sich mit der Vergröße- rung des Sandkorns und mit der Vermehrung der Auswurfshöhe; der Durchmesser des Kraters wird länger mit der Erweiterung der Ausbruchs- stelle, im allgemeinen auch mit der Höhe des Berges, mit der Wurfhöhe der Eruption und mit der Vergrößerung der Korngröße des Sandes“. Bei 10 mm Ausbruchsöffnung, 60 em Auswurfshöhe sowie bei 015—02 mm Korngröße 025—0'3 mm Korngröße wird der Basisdurchmesser. 35 cm 56 cm die Vulkanhöhe. . .. 35, 40 „ der Kraterdurchmesser . . 11 „ 958 Die äußere Böschungslinie wird in der Mitte fast gerade, oben konvex, aber unten konkav: die Kraterböschung wird steiler, oben konvex, dann nach unten fast gerade; ein scharfer Kraterrand bildet sich oben ebenso- wenig aus als in der Natur bei vielen reinen Aschen- und Schlackenkrater- chen, die ich in Mittelamerika beobachtet habe. Die Vulkane sind eben — nach Auerbach — keine Gleichgewichts-, sondern Abrollfiguren, denn die Auswürflinge haben im Moment des Auffallens lebendige Kraft; die Ober- fläche wird so eine Wahrscheinlichkeitskurve im Sinne Maxwells, die Innen- böschungslinie fast gerade. Dal) Vulkane in der Natur oft nicht dem schematischen Bilde ent- sprechen, hat seinen Grund darin, daß die losen Teile durch Erschütte- rungen der Luft und des Bodens gestört werden, wobei ein Nachsinken der Massen stattfindet. Auch Denudation kann Konkavität der Böschungs- linie verursachen. Der innere Bau der Aufschüttungsvulkane entspricht keineswegs den Darstellungen eines Poulett Scrope, E. Kayser, S. Günther. Indem Linck abwechselnd weißen und roten Sand bei seinen Versuchen verwendete und vertikale Glasplatten einschaltete, schuf er die Möglichkeit, die Durchschnitte genau zu studieren (Fig. 17, Taf. IV). Es zeigte sich dabei folgendes: „Während der ganzen Operation bleibt die Profillinie der Maxwellschen Wahrscheinlich- keitskurve entsprechend, die Isohypse des Kraterrandes bleibt sich immer parallel, aber der Radius dieses Kreises schwankt während der Operation, und zwar ist er zuerst relativ groß, wird dann kleiner bis zu einem ge- wissen Minimum und vergrößert sich dann andauernd wieder bis zu be- liebiger Höhe des Berges. Die Schichten haben natürlich umlaufendes Streichen und vom Kraterrand aus ein antiklinales Einfallen nach außen, ein synklinales nach innen. Die Mächtigkeit der Schichten ist stets am oerößten unter dem Kraterrand und nimmt nach außen sowohl als innen hin stetig ab, so daß sie nach dem Fuße des Berges hin papierdünn wer- Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 137 den. Die Abnahme der Mächtigkeit nach der Ausbruchsstelle zu geschieht natürlich schneller als nach außen, weil der Krater eine stärker geneigte Böschungslinie besitzt als der Wall. An dem Aufbau des Kraters nehmen aber nicht alle Schichten, also nicht die Produkte von allen Eruptionen teil, sondern dies geschieht nur so lange, bis die kreisförmige Isohypse des Kraterrandes ihren geringsten Durchmesser erreicht; von da ab rollt alles, was sich innerhalb des Kraters absetzen möchte, nach der Ausbruchsstelle zurück und wird wieder in die Höhe gerissen, bis es hinausgeschleudert wird auf den äußeren Wall. Modifikationen der Form entstehen, wenn lange Tätigkeitspausen sich einstellen, namentlich wenn Ausfüllmaterial des Kraterbodens erstarrt ist und sich nun ein Ausbruchspunkt inmitten desselben eröffnet: es ent- steht ein Zentralkegel, der den alten Vulkan überwachsen kann; hat ein Paroxysmus einen Teil des Vulkans weggeblasen, so wird sich beim Wieder- erwachen der Tätigkeit ein Ringtal, ein Atrium, bilden. Es ist recht zu bedauern, daß Zinck seine interessanten Versuche nicht weiter fortgesetzt hat; namentlich wäre es von größtem Interesse gewesen, experimentell die Vulkanfiguren festzustellen, die bei starker ein- seitiger Windbewegung oder bei schräger Stellung des Ausblasrohres ent- stehen. Freilich macht einem gelegentlich die Natur das Experiment im größten Maßstab vor, so z. B. beim St. Maria-Ausbruch im Oktober 1902, als trotz einer enormen Auswürflingsförderung von fast 5'/, ckm Volumen infolge der heftigen Windbewegung kein Hügel aufgeschüttet wurde, son- dern nur eine negative Terrainform gebildet wurde, oder aber läßt die Form der Aufschüttungsgebilde die Entstehungsgeschichte erschliefen, wie etwa bei der Lehnstuhlform des Kraters des Taburete von Salvador oder den einseitig gebauten Kratern der Umgebung von Olot, Provinz Gerona, Spanien; aber eine experimentelle Nachahmung wäre doch sehr erwünscht. Hat Zinck auch diesen Wunsch noch nicht erfüllt, so hat er dagegen in derselben Abhandlung noch gezeigt, wie man maarartige Gebilde künstlich erzeugen kann (Fig. 18, Taf. IV): Man schneidet in einer flachen Holzkiste im Boden kleine kreisrunde Vertiefungen von etwa 1 cm Durchmesser und 2 mm Tiefe ein, in die von zwei gegenüberliegenden Seiten her dünne Messingstäbe enden; man füllt diese Vertiefungen mit 0°4—0'6 g Schielipulver, die Kiste selbst bis zum Rand mit Sand; man streicht nun den Sand vollkommen eben und entzündet das Pulver durch einen elektrischen Funken. Durch die Explosion wird der Sand in die Höhe geschleudert und es entsteht ein flach geneigter Trichter mit einem niedrigen aufgeschütteten Wall am Rande. Die Weite des Trichters schwankt je nach der verwendeten Pulvermenge und ist um so größer, je mehr Pulver man verwendet hat. Hat man unten zunächst groben Sand oder Kies genommen, so sieht man nachher in dem aufgeworfenen Wall oder in dem Trichter selbst auch Stücke des gröberen, tiefer liegenden Materiales verstreut. Als Beispiele von Explosionskratern oder Maaren von entsprechend seichtem Ursprung mögen zahlreiche Explo- sionsgebilde der großen jungen Lavafelder Lanzarotes oder Islands dienen, 13 K. Sapper. oder ein Teil der von E. Ordonez‘) beschriebenen Maare des Staates Puebla, die dort Xalapazcos bzw. Axalapazcos genannt werden, je nachdem sie keinen Kratersee besitzen oder mit einem solchen versehen sind. Neben solchen Maaren von flachliegendem Ursprung kommen aber auch solche von recht tief liegendem Ursprung vor, wie die von Branco beschriebenen Maare bzw. Maartuffröhren der schwäbischen Alb. Auch deren Entstehung ist durch Experi- mente, wie schon oben er- wähnt, verständlicher gemacht worden: A. Daubree hat in seinen „Recherches experi- mentales sur le röle possible des gaz A hautes tempera- tures“?) Mitteilungen gemacht über Versuche, die bezweckten, die Wirkungsweise von (Gras- explosionen auf Gesteine zu untersuchen. In einer beson- deren kleinen Kasematte des Laboratoire central des Pou- dres et Salpötres zu Paris wurden die Versuche in einem sehr diekwandigen Stahlzylin- der (©C) vorgenommen, der oben und unten durch einen mit Schraubengewinden ver- sehenen Stahlpfropfen ver- schlossen wurde (Fig. 19). Der eine derselben (7'T) besab eine G DD | Einrichtung, um mittelst eines LG ÄR: zur Glut gebrachten Platin- UK : drahtes die Explosion zu ver- anlassen. Der andere Pfropfen (SS) nahm in einer Vertie- fung (@) das Versuchsgestein Die Zahlen bedeuten Millimeter. auf, jenseits dessen der Stahl- stöpsel durch ein Mundloch von 1 cm Durchmesser durchbohrt war, um den Gasen, die das Gestein passiert hätten, den Austritt zu ermöglichen. Kupferverschlüsse und sonstige Siche- rungen wurden außerdem angebracht. Der Probierraum (D) war 10 cm hoch und hatte 64 cm im Durchmesser, also einen Rauminhalt von 304 em®. Als Explosivstoffe wurde verwendet ein Zehntel des Probierraums voll Schieß- baumwolle und Dynamit. Als Versuchssubstanzen wurden genommen: Grob- ') Parergones del Instituto geologieo de Mexico, 1906, T. I, Nr. 10. ®) Bull. Soc. g&ol. France, 1891, S. 313 ff. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 139 kalk von Paris, harte Kieselkalke, Ton, Gips, Opal, Bergkrystall, Lignit, Basalt, Trachyt, Laven vom Vesuv und Ätna u.a. Einer ersten Reihe von Versuchen wurden Gesteinsproben ausgesetzt, bei denen eine sehr feine Spalte längs einer Diametralebene des Gesteinszylin- ders angebracht war; bei einer zweiten Reihe war eine sehr feine Perforation längs der Achse angebracht ; bei einer dritten Reihe war das Material unverletzt. Die Versuche zeigten, daß der Anprall der Gase überall erosiv wirkt, das Gestein angreift, Pulver lostrennt, Stücke herauslöst und schließlich sich einen Weg bahnt. Wo die Gase ihre erosive Kraft nicht auf einen bestimmten Kanal konzentrieren, sondern auf Flächen wirken, erzeugen sie geradlinige parallele Streifen. Branco weist aber zur Erklärung der Durchschlagsröhren nicht bloß auf diese wichtigen Experimente hin, sondern auch auf militärische Spreng- versuche, die im norddeutschen Diluviallehm gemacht worden sind; es zeigte sich dabei, daß bei Explosionen in großer Tiefe nur Hohlräume gebildet wur- den, während bei Explosionen nahe der Oberfläche ein Trichter entstand. Eine große Zahl von Experimenten ist durch die Stübelsche Vulkan- theorie!) angeregt worden, die ihrerseits wieder teilweise auf Experimente von Nieß®?) sich stützen konnte. Stübel nahm an, daß) das vulkanische Magma beim Übergang aus dem flüssigen in den festen Zustand oder bei einem bestimmten Zeitpunkt innerhalb der flüssigen Phase sich ausdehne und damit die treibende Kraft des Vulkanismus werde, während £' v. Richthofen eine Volumenvermehrung mit der langsamen und vollkommenen Krystalli- sation zähflüssiger Silikate unter der festen Erdrinde angenommen hatte.®) Stübel selbst glaubte nicht daran, dab Experimente irgend welchen Beweis für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Ansichten bringen könnten, denn er meinte, wie er mir mehrfach in Privatgesprächen mitteilte, der dem Magma innewohnende Gasgehalt könne doch bei keinem Experiment in gleicher Zusammensetzung und gleichem Mengenverhältnis nachgeahmt werden. Dölters*) und Barus Experimente sprechen gegen Stübels An- nahme, während 4A. Fleischer 5) mit künstlich gasfrei gemachtem Basalt ein Stübels Theorie günstiges Verhalten nachweisen konnte. Da aber tatsäch- lich die vulkanischen Magmen stets Gase enthalten bzw. entwickeln lassen können, so hat also Fleischer mit einem Materiale gearbeitet, das den natürlichen Verhältnissen vulkanischer Laven gar nicht entsprach, weshalb auch das Resultat des Versuches keine beweisende Kraft besitzt. £. v. Wolff ®) ist unter sorgfältiger Berücksichtigung der neueren physikalischen Unter- suchungen und Überlegungen zu dem Ergebnis gekommen, daß, wenn unter bestimmten Verhältnissen die Krystallisation der Silikate mit einer Volumen- ') A. Stübel, Über die genetische Verschiedenheit vulkanischer Berge. Leipzig 1903. 2) Programm zur 70. Jahresfeier der k. Akademie Hohenheim. Stuttgart 1880. ®) Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., 1869, S. 10 f. *#) Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., Monatsberichte, 1907, S. 217. 5) Zeitschr. d. Deutsch. zeol. Ges., Monatsberichte, 1907. S. 122 sowie 8. 321 ff. %) Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., 1908, S. 438. 140 K. Sapper. vergrößerung verknüpft ist, dies nur für größere Tiefen jenseits des maxi- malen Schmelzpunkts, also von mindestens über 150 km, zutreffe. In den Dienst der unmittelbaren theoretischen Vulkanforschung haben neuerdings Armand Gautier und Albert Brun das Experiment gestellt und eine Menge der interessantesten Tatsachen festgestellt, die zwar an sich die Probleme noch nicht mit Sicherheit zu lösen gestatten, aber wenigstens die Möglichkeit zeigen, wie ihnen auf neuen Wegen beizukommen sein dürfte. In zahlreichen kleinen, aber sehr inhaltreichen Abhandlungen in den Comptes rendus der Akademie von Paris hat Armand Gautier !) eine größere Zahl von Experimenten und Reaktionen beschrieben, die für die Kenntnis des Vulkanismus und die mögliche Erklärung einzelner Erscheinungen und Pro- dukte große Wichtigkeit besitzen. An anderer Stelle hat er dann versucht, seine Erfahrungen für den Aufbau einer Vulkantheorie zu verwerten ?) und später suchte er, 3 und 18 Monate nach dem Ausbruch des Vesuv im April 1906, durch sorgfältiges Auffangen von Gasen die Fragen zu lösen. ob der Sauerstoff, den alle Analysen der Vulkangase zeigen, etwa erst im Moment der Gasentnahme hineingekommen wäre und ob Argon und He- lium in den vulkanischen Gasen enthalten wären.?®) Er glaubt auf Grund seiner sehr sorgfältigen Auffangungen letztere Fragen bejanen zu dürfen und bestreitet den Zutritt atmosphärischer Luft zum Gasgemenge. Bei seinen Laboratoriumsexperimenten stellte Gautier fest, dab aus Granit- proben bei 100° Mineralsäuren, bei 300° selbst reines Wasser ansehnliche (sasmengen freimachen, darunter viel Wasserstoff. Dasselbe erfolgt bei an- deren Eruptivgesteinen; aber Menge und Zusammensetzung der Gase wechseln für jede Gesteinsart, ja oft sogar für verschiedene Stücke des- selben Gesteins. Beim Erhitzen zur Rotglut geben pulverisierte und bei 250— 300° getrocknete Eruptivgesteine im luftleeren Raum wechselnde Gasmengen. So gaben 1000 9 Granit im Durchschnitt 3162 cem Gas trocken kalkuliert bei 0° und 760 mm Druck (davon 2517 ccm Wasserstoff), oder das 6'7fache des Volumens des Gesteins. Außer H beteiligten sich CO;, CO, CH,, N und H,S in mäßigen bis geringen Mengen an der Zusammen- setzung des Gasgemenges. Dieselben Gase, wenn auch in anderen Verhält- nissen geben Porphyr, Ophit, Lherzolit.+) Die entweichenden Gase be- trachtete man früher als präexistierend. In der Tat finden sich in einzelnen Gesteinen Gaseinschlüsse (die CO, im flüssiger Form), aber Lherzolit und Ophit besitzen solche Einschlüsse nicht. Die Gase, die Gautier ausgezogen hat, entstehen also durch aufeinander folgende Reaktionen bei Rotglut. Außer den genannten Gasen wird bei Erhitzung von Eruptivgesteinen auf 500-—-600° auch deren Konstitutionswasser frei und bei 1000° gibt 11 Granit etwa 207 verschiedener Gase und 89 Z Wasserdampf ab, im ganzen also mehr als das 100fache Volumen Gase. Die alten Gesteine (Granit, Gneis, Porphyr) sind also explosiv, wenn man sie zur Rotglut erhitzt. 1) T.131, pag. 647,965 u. 1276; T.132, pag.58, 189, 740 u. 932; T.136, pag.16 u. a. ?2) Bull. Soc. Belge de Geologie, 1903, XVU, page. 555 ff., „Theorie des Volcans“. ®) Bull. Soc. Chimique de France, 1909, pag. 977 ff. #) C.R. Ac., T. 132, pag. 58 ff. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 141 Die bei Rotglut entweichenden Gase waren nach den Untersuchungen von A. Gautier und Tilden sehr ähnlich den von Moissan vom Mont Pele und Fougue von Santorin untersuchten Fumarolenprodukten (vgl. ©. R. Ac. Sciences, 1900, 132, 60). Granit Porphyr von Ophit von Gneis von lumarolen des Fumarolen von von Vire Esterel Villefranque Seringapatun Mont Peld 1902 Santorin 1866 (Gautier) (Gautier) (Gautier) (A. Tilden) (Moissan) (Fougqug) Freier Wasserstoff . 7730 31:09 56:29 61:9 22:30 16:12 Kohlendioxyd mit etwas Kohlenstoff- oxysulfid . . . 1480 5915 3571 31:6 4420 5041 Kohlenoxyd . . . 493 420 4'85 54 450 > MeEbanr rin 9,225 2:53 1:99 0 15:7 2:95 Schwefelwasserstoff. Spuren 00 045 00 00 Spuren Stickstoff mit Argon 083 2:10 0:68 1:6 12:20 30:32 Ammoniak. . . . Spuren Spuren Spuren — Spuren Spuren Zutritt oberirdischen Wassers ist zur Erklärung vulkanischer Explo- sionen nach obigen Darlegungen nicht nötig und einfache Erhitzung durch aufsteigendes Magma oder inneren Einsturz ete. genügt, um den unge- heuren Gasdruck der vulkanischen Ausbrüche zu erklären. Die Plötzlich- keit der Ausbrüche entsteht dadurch, daß eben die Spannungen schließlich die Widerstände überwinden. Die Masse CO, kann aber nach Gautier nicht von den alten Gesteinen allein kommen, sondern dürfte großenteils aus dem Zentralkern stammen, wo sie ebenso wie andere Gase durch den un- geheuren Druck festgehalten wird, bis schließlich die Gase die Kraft er- langen, die Lava in Spalten der Erdkruste hineinzupressen, wobei die (Gesteine erhitzt würden. Nach Gautiers Darlegungen müßte demnach Wasserdampf in großen Massen unter den vulkanischen Gasen enthalten sein; das Neue seiner An- schauungen beruht aber darauf, daß dieser Wasserdampf weder auf ober- irdisches eindringendes Wasser, noch auf Entgasung des Erdkörpers zurück- geführt wird, sondern auf freiwerdendes Konstitutionswasser alter Gesteine. Zu ganz anderem Ergebnisse gelangte A. Brun durch seine Beob- achtungen an tätigen Vulkanen und seine Laboratoriumsversuche, über die er in den Archives des Sciences physiques et naturelles von Genf 1901 bis 1910 sowie neuerdings zusammenfassend in der Revue generale des Sciences, XXI, pag. 51 ff., Paris 1910, berichtet hat.!) 4A. Brun ging von der Ansicht aus, dab das Maximum der vulka- nischen Tätigkeit mit dem Maximum der Temperatur zusammenfalle, und hebt hervor, daß Bartoli 1902 für fließende Ätnalava 1063° fand. Im Moment des Zutagetretens des Magmas kann die Temperatur nicht höher als der Schmelzpunkt des leichtest schmelzbaren, in der Lava sichtbaren Minerals sein, andrerseits aber auch nicht tiefer als die Temperatur, die noch ein Fließen der Lava gestattet. Die Temperaturen, bei denen die Krystalle 1) Les recherches modernes sur le voleanisme. 142 K. Sapper. schmelzen, sind recht verschieden: sie schwanken zwischen 1230° (Augit) und 1500° (Leueit) bzw. 1544° (Anorthit), selbst ca. 1730° (Peridot); viel geringer sind die Unterschiede der Schmelzpunkte der zugehörigen Gläser (Anorthit 1083°, Albit 1050°, Leueit zwischen 1050 und 1150°). Da nun Brun durch seine Untersuchungen zu dem Resultat kam, daß die Abgabe ‚der Gase zusammenfallen müsse mit der Schmelztemperatur der Lava, so genügte es ihm, diese und den Explosionspunkt derselben festzustellen. Derselbe überschreitet in keinem Fall 1230° und wurde nie tiefer als 870° beobachtet; im Mittel ergab sich eine Explosionstemperatur von 1067°, Diese Temperatur kann also als mittlere Temperatur des Magmas am Aus- gang des Vulkanschlots angesehen werden, während über die in größeren Tiefen vorhandenen Temperaturen keine Angaben möglich sind. (Da nun Chlornatrium sich bei 825°, Chlorkalium und Chlornatrium bei 876° in weiße Dämpfe zu verflüchtigen beginnen, diese Temperatur aber der Explosionstemperatur nahe liegt, so darf man nach Brun das Aushauchen weißer Chloriddämpfe an einem seit längerer Zeit ruhenden Vulkan als Zeichen unmittelbar bevorstehender Explosion ansehen.!) In der Tat hat dies Anzeichen mehr Wahrscheinlichkeit für sich, als die vorher er- wähnten Andeutungen, von denen Sieberg oder Königsberger sprechen, aber es ist doch noch keineswegs sicher, da ein Zurücksinken des Magmas und damit eine Rückbildung des drohenden Ausbruchs immer noch möglich ist.) Erhitzt man ein beliebiges Stück Lava, so bemerkt man gegen 900° die Emanation kleiner weißer Wölkchen; sobald die Explosivtemperatur er- reicht ist, dehnt sich der Block aus; es bilden sich Blasen, die weißen Rauch ausschleudern; die geschmolzene Lava wallt auf und tritt bald aus dem Tiegel. Bei sehr sauren Magmen kann das Volumen des entstehenden Bimssteines 20mal größer werden, als der Rauminhalt des primitiven Lava- stückes gewesen war. Einmaliges Schmelzen erschöpft die Fähigkeit der Gasentwicklung noch nicht, vielmehr wird bei mehrmaligem Erhitzen immer wieder aufs neue Gas produziert. Dasselbe ist im Moment der Produktion aufs äußerste komprimiert und besitzt daher eine riesige Spannung, die genügt, um die gewaltsamen Erscheinungen der explosiven Ausbrüche her- vorzubringen. Gesteine, die, wie Granit, Amphibolite u. a., ruhig schmelzen, unterscheidet Brum als tote Gesteine von den aktiven, die sich wie oben erwähnt verhalten. Da die Fumarolen infolge der Porosität der vulkanischen Gebilde nach Brun stets atmosphärische Luft in ihrem Gasgemenge in gewissen Mengen enthalten, die vulkanischen Gase aber vom Magma ausgehaucht werden, so suchte er dieselben rein zu erhalten, indem er Laven im luft- leeren Raum zur Explosion brachte. Folgende Tabelle gibt die Resultate der Versuche, die an recht verschiedenen vulkanischen Gesteinen gemacht wurden.?) 1) Arch. des Sciences physiques et naturelles. Geneve 1905. ?) Revue generale des Sciences pures et appliques, pag. 53. Paris 1910. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 143 I . e Eee 8 ao an 6 - Lg Bmanı won SE "sn E Gasmenge in Kubikzentimeter pro Kilo Ge- stein (0° und 760 mm) . er; 490 397 590 398 371 Salmiakmenge in Milligramm pro Kilo Ge- TRAT FEre 10 16°5 11 17 85 frelemn Chlor nn. re 5174 Kuno rE204 42 538 : 1 RER 2112 588 402 Spuren 6409 Volum- : 2.97 BEE 5 a, „u sn Spuren. 12:60. Bpuren 335] BR prozente nn LE AR SE 3 1435 Ben re 100,2 4958 _ 20:40 7 6080) N re Ba 711 764 105) 96:15 | 1618 anderen Gasen . . 2.2... 402 12:54 38 J N Außer diesen Gasen sammelt man bei den Explosionen stets auch feste Salze, die sich an den kalten Teilen des Apparates (in der Natur an kalten Lapillis) kondensieren: verschiedene Chloride sowie auch Fluo- ride, Schwefel etc. Wie Gautier für die alten Gesteine, so nimmt Brun für die aktiven Laven an, daß sie die betreffenden Gase nicht als solche enthalten, sondern erst durch chemische Umsetzungen bei hoher Temperatur bilden. Wasser fehle vollständig. Die Generatoren der Gase sind nach Brun Stickstoffeisen, ein oder mehrere Kohlenwasserstoffe, von denen er annimmt, daß sie ursprünglich in der Lava enthalten sind, Kieselchlorcaleium und Eisensilikate der Laven. Genau wie im Experiment sah Brun auch an fließenden Laven Blasen aufsteigen, die weiße Dämpfe von sich gaben, welche ebenso trocken sind, wie die Fumarolen selbst. Und wo etwas Wasserdampf mit anderen Gasen beobachtet wird, da glaubt Brum nicht an seinen Ursprung aus der Lava. Niemals hat er am Kraterrand nach Ausbrüchen Kondensationen von Wasser beobachtet (siehe oben am Semeroe) und das Vorkommen hygroskopischer Chloride im Schoß der Dämpfe beweist ihm weiter das Fehlen des Wassers. Die Wasserdampfmassen, die von wässerigen Fumarolen ausgehaucht werden, sind nach ihm, wie schon oben ausgeführt wurde, ausschließlich atmosphä- rischen Ursprungs. Auch zur Krystallisation der Gesteine ist nach ihm die Anwesenheit von Wasser unnötig, so dal) also das ganze vulkanische System des Wassers nicht bedürfe, es auch nicht besitze. Bemerkenswert sind die beträchtlichen Unterschiede, die Bruns Gas- aufsammlungen aus explosiv werdenden aktiven Gesteinen gegenüber den von A. Gautier aus alten Gesteinen in Rotglut gewonnenen zeigen, oder die bei Analysen von Fumarolen des Mont Pele oder Santorins gefunden wurden. 4. Ergebnisse vulkanologischer Forschungen nach geographischer Methode. Die Versuche, vulkanologischen Problemen nach geographischer Unter- suchungsmethode nachzuspüren, sind uralt. So haben seit Pompejus Trogus‘ 144 K. Sapper. Zeiten zahlreiche Spekulationen über die Ursache der in der Tat häufig zu beobachtenden Tatsache stattgefunden, daß Vulkane sich in unmittel- barer Nachbarschaft des Meeres oder großer Binnenseen befinden bzw. in Zonen, die in gewisser Entfernung vom Meer mehr oder weniger die iichtung der Küsten einhalten. Die Spekulationen über diesen Gegenstand sind nur deshalb in neuester Zeit ins Stocken geraten, weil man einzu- sehen beginnt, daß unsere Kenntnis der Verbreitung des vulkanischen Phänomens allzu ungenügend ist. Die Untersuchungen über eine etwaige gesetzmäßige Anordnung der Vulkane auf geraden Linien oder kreisförmig gekrümmten Kurven haben sich seit lange zumeist lediglich auf Studien gestützt, die auf Landkarten vorgenommen wurden. Der Übereifer, mit dem einzelne Forscher aus Karten kleinen Maßstabs solche Linien herausgefunden zu haben glaubten, die den Verhältnissen der Natur nicht entsprechen und deshalb auch auf guten Karten größeren Matßstabs nicht heraustreten, die Übertreibung, die einzelne im Konstruieren von Vulkanreihen bzw. Spalten ungeheurer Länge sich leisteten, haben die geographische Methode bei vielen sehr in Mißkredit gebracht; meines Erachtens mit Unrecht, denn es ist kein Zweifel, daß bei vorsichtiger Anwendung derselben auch gute Resultate damit zu ge- winnen sind und daß manche Untersuchungen ganz und gar auf sie an- gewiesen sind, weil eben im Felde selbst meist das Auge nicht weit genug reicht, um unmittelbar die ganze Kette oder Gruppe vulkanischer Erschei- nungen des betreffenden kleineren oder erößeren Gebiets überschauen zu können. So konnte ich z. B. die Reihung der mittelamerikanischen Vulkane bei der dichten Zusammendrängung der Einzelberge, wie schon erwähnt, in der Natur noch unmittelbar übersehen, aber bei den Feuerbergen der kleinen Antillen war mir das nicht mehr möglich, und so mußte denn für mich an dieser Stelle das Studium der Karten einsetzen, das mich zu dem Ergebnis führte, daß die älteren und die jüngeren vulkanischen Gebilde der kleinen Antillen sich auf kreisförmig gekrümmten Bogen, die teil- weise sprungweise etwas gegeneinander verschoben sind, anordnen, daß aber die einzelnen Ausbruchspunkte keineswegs immer auf einer Linie, sondern vielmehr nur innerhalb eines Bandes von wechselnder, aber immer nur geringer Breite liegen. Nördlich von dem Hauptbogen Granada- (suadeloupe ziehen sich zwei untereinander konzentrische Bogen Montserrat- Saba und — um ca. 50 km weiter vorgeschoben — Antigua — St. Martin dahin. „Man kann sagen, das wäre Zufall oder nur müßige auf der Karte ausgeführte Spekulation; aber die Tatsache besteht, daß sich alle eruptiven (rebilde der kleinen Antillen auf die Nachbarschaft der erwähnten Kurven konzentrieren“ ') und die Tatsache erfordert eine Erklärung, ebensogut wie viele andere ähnlicher Art, die gleichfalls nur auf Grund von Kartenstudium gewonnen werden können. Nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens ist freilich die Erklärung noch nicht mit genügender Sicherheit möglich. ') Sapper, In den Vulkangebieten Mittelamerikas und Westindiens, 8. 191 f. ana Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 145 Ganz unabweisbar ist die geographische Methode, wenn es gilt, die Verteilung der vulkanischen Erscheinungen nach bestimmten Zonen der Erde festzustellen und, sofern sich hierin eine Gesetzmäbigkeit zeigte, eine Erklärung dafür zu suchen. Eine solche Arbeit hat vor kurzem K. Schneider ausgeführt‘) und gefunden, daß die äquatoriale Zone die eigentliche Heimat der vulkanischen Erscheinungen wäre; nach Mercallis?) Vulkankatalog, der freilich bei dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens ebensowenig einwandfrei ist, wie irgend ein anderer, sind in der Tat, wie Schneider angibt, von 415 tätigen Vulkanen 238 zwischen dem 23° nördlicher und südlicher Breite vorhanden. Die Ursache für das Auftreten vulkanischer Ausbrüche glaubte Schneider in den Achsenschwankungen der Erde ge- funden zu haben ®), nachdem zuvor Milne und Cancani für die Zeit 1895 bis 1902 statistisch festgestellt hatten, daß die Zahl der Weltbeben grol) gewesen ist, wenn die Polabweichung groß war. Schneider führt als Stütze seiner Anschauungen R. Spitalers mathematisch geführten Nachweis) an, daß durch die Polschwankungen beträchtliche, teils horizontal, teils vertikal wirkende Kräfte ausgelöst werden. Nach Spitalers Ausführungen erreicht die Horizontalkraft ihre größte Arbeitsleistung um den 35. und 40. Breite, die viel kleinere Vertikalkraft zwischen dem 25. und 30.° Breite; allein durch denselben Autor wird auch hervorgehoben, dal beide Kräfte nicht nur an den Polen, sondern auch am Äquator keine Arbeitsleistung mehr hervor- bringen, so daß also nicht recht einzusehen war, inwiefern in den äquatorialen Gebieten die vulkanischen Kräfte durch Polschwankungen ge- weckt werden können. In einer Besprechung der in vieler Hinsicht inter- essanten Schrift K. Schneiders habe ich ?) auch darauf aufmerksam gemacht, daß es nicht angehe, die großen irdischen Zonen bezüglich ihres Reichtums an tätigen Vulkanen unmittelbar miteinander zu vergleichen, sondern dab innerhalb der Einzelzonen die Anzahl der Vulkane auf eine Flächeneinheit bezogen werden müsse, um vergleichbare Werte zu erhalten, und daß für genauere Untersuchungen auch kleinere Abteilungen, etwa 10° Streifen nach Länge und Breite, auf ihre Vulkanzahl untersucht werden müßten. Nun hat K, Schneider in einer neuen dankenswerten Schrift ®) genauere zahlenmäßige Untersuchungen über die Verteilung der Vulkane auf der Erdoberfläche unternommen, wobei er den Vulkankatalog Mercallis zur Grundlage seiner Berechnungen nahm. Er fand nun, dab ein tätiger Vulkan nach dieser Grundlage auf ein Areal von 1,228.800 km? käme. Die Er- gebnisse der Untersuchungen Schneiders über die Breiteverbreitung der tätigen Vulkane nach 10° Streifen sind in der auf folgender Seite stehen- den Tabelle zusammengefaßt. !) Zur Geschichte und Theorie des Vulkanismus, Prag 1908, S. 59 und 101. ®) I vulcani attivi della terra, Milano 1907, S. 286 ff., bes. 375. 9) A.a.0. S.103. #), Sitzungsber. k. Akad. d. Wissensch. Wien, math.-naturw. Kl., Abt. Ila, 116, 1907. 5) Zentralbl. f. Min. ete., 1908, 8. 528. 6) Über neue geotektonische Untersuchungen. Gaea, H. 10, 1909. E. Abderhalden, Fortschritte. II. 10 146 K. Sapper. Nimmt man die Zahl 410.900 Im? (60— 709 Zahl der in histo- Ein tätiger Vulkan n. Br.) als Einheit, rischer Zeit tätigen entfällt demnach auf Bo (erhält men fol- Vulkane Quadratkilometer ' gende Vergleichs- zahlen Nördliche Breite S0—90° ? ? ” 70—80° 1 11,594.878 28:2 60— 70° 23 410.900 10 50—60° 46 556.720 14 40— 50° 32 984.350 2:3 30—40° 45 809.000 2:0 20-30" 15 2.680.000 65 10—20° 61 701.310 IE: 0—10° 46 958.360 2:3 Südliche Breite 0—10° 75 587.800 14 10—20° 29 1.475.100 36 20— 30° 11 3.654.500 89 30— 40° 16 2,275.300 9 40—50° i 2,863.300 6:9 50 —60° 2 12,803.000 312 60—70° 0 — = 70—80° 2 5,797.439 141 80—90° ? ? ? Aus dieser Liste zieht Schneider die Schlüsse, daß das vulkanische Phänomen auf der Nordhemisphäre stärker entwickelt sei als auf. der Süd- hemisphäre, daß in dem Gürtel zwischen 20° nördlicher und südlicher 3jreite mehr als die Hälfte der tätigen Feuerberge liege, daß aber in den Streifen zwischen 20— 30° nördlicher wie südlicher Breite der Vulkanismus gegen die Nachbarzone zurücktrete; eine regelmäßige Abnahme der Vulka- nizität von den mittleren Breiten gegen die Pole trete aber nicht hervor, vielmehr befinde sich das relative Maximum gerade zwischen 60 und 70° nördlicher Breite. Trotzdem glaubt Schneider, indem er von Island absieht, dessen Stellung keineswegs geklärt sei, den Satz aufstellen zu dürfen, daß das vulkanische Phänomen seine eigentliche Heimat in den AÄquatorial- gebieten habe und gegen die Pole zu abnehme. Auch nach Meridianstreifen hat K. Schneider die Verteilung der Vul- kane untersucht und u. a. festgestellt, daß die meridionale Richtung der Vulkanreihen bevorzugt sei und, was freilich schon lange vorher bekannt war, daß der Vulkanismus auf der pazifischen Erdhälfte überwiege. Außerdem hebt Schneider hervor, daß) die Vulkane, ebenso wie die Erd- beben ihrer überwiegenden Mehrzahl nach in den großen Dislokationsgebieten der Erde auftreten und sich gerade dort besonders häufig finden, wo die Streichungsrichtung des Unterbaues eine Änderung erfahre. Aus diesen und anderen Übereinstimmungen zwischen der Verbreitung von Vulkanen und Erd- beben glaubt er schließlich auf einen Zusammenhang beider schließen zu dürfen. So interessant nun diese tatsächlichen Feststellungen und Schlüsse auch sein mögen, die man Schneiders Untersuchungen verdankt, so müssen sie doch mit großer Vorsicht aufgenommen werden, denn unsere tatsäch- liche Kenntnis von der Verbreitung der Vulkane ist recht gering, für manche Gegenden, so namentlich die noch unerforschten polaren Gebiete Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 147 gleich null; dazu kommt, daß wir die subglazialen tätigen Vulkane nur zum allergeringsten Teile kennen (Island) und noch viel weniger die gewiß zahlreichen submarinen, von denen Mercalli nur wenige aufführt. Wenn aber nur die Vulkane des festen Landes näher bekannt sind, so ist sehr die Frage, ob nicht auch nur das Areal des festen Landes in Beziehung zu diesen Vulkanzahlen gebracht werden sollte? Dann würde man sehr ver- schiedene Zahlen erhalten. Doch ist hier nicht der Ort, die Frage weiter zu verfolgen und nachzuforschen, ob auf solchem Wege überhaupt bei dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse gesicherte Forschungsergebnisse schon erreichbar sind. Beachtenswert ist die Methode jedenfalls. Auf Grund einer geographischen Methode, nämlich der Untersuchung über die räumliche Verbreitung petrographischer Typen, sind neuerdings nicht nur petrographisehe Provinzen für einzelne Teile der Erde abge- erenzt, sondern auch zwei große petrographische Haupttypen und Ver- breitungsgebiete unterschieden worden: eine tephritische, atlantische und eine andesitische, pazifische Reihe!), von denen erstere aus Gebieten des Einbruchs durch radiale Kontraktion, letztere aus solchen der Faltung durch tangentialen Zusammenschub stammen sollen. Aus den oberen leichteren Schichten der Erdkruste sollen die an Ca und Meg reicheren Gesteine der Sippe stammen, aus den an schweren Elementen reicheren tieferen Schichten die Gesteine der tephritischen Gaureihe. Süß?) glaubt auch, dal) das Zurück- treten von Ca und Meg in der atlantischen Erdhälfte mit dem Fortschreiten der Erstarrung in Verbindung stehen könnte und fragt weiter, ob die Senkung der Altaiden es war, „welche pazifische Gesteine weckte, während zugleich im Vorland atlantisches Gestein zutage trat“? Er fügt jedoch hinzu: „Mit vollem Recht sagt Becke, daß zuerst zu untersuchen ist, ob diese Trennung atlantischer und pazifischer Gesteine sich auch in älteren Eruptionsepochen geltend macht.“ So führen Untersuchungen nach der geographischen Methode zu tiefgreifenden Fragen, deren Weiterverfolgung unser Wissen von den vulkanischen Erscheinungen in fundamentaler Weise zu bereichern gestatten dürfte. 5. Ergebnisse vulkanologischer Forschungen nach historischer Methode. Seitdem #. Kluge „Über Synehronismus und Antagonismus der vul- kanischen Eruptionen“ ®) alles zusammengestellt hat, was in jener Zeit darüber zu sagen war, sind eingehende und durchgreifende Studien dieser Art meines Wissens nicht mehr gemacht worden, was man damit ent- schuldigen darf, dab eben die Ausbruchsstatistik überhaupt sehr unzuver- 1) Becke, Die Eruptivgesteine des böhmischen Mittelgebirges und der amerika- nischen Anden; atlantische und pazifische Sippe der Eruptivgesteine. (Becke, Min.-petrogr. Mitt., 1903, S. 209—265) und @, T. Prior, Contributions to the Petrology of British East Africa. Min. Magaz., 1903, XIII, S. 228 ff. 2) Antlitz der Erde, III®, S. 679. ®) Leipzig 1863. 10* 148 K. Sapper. lässig und selbst bis in die neueste Zeit hinein voll von ungenügenden oder ganz unrichtigen Angaben ist. Die Tageszeitungen berichten gar nicht so sehr selten von Ausbrüchen, die überhaupt nicht stattgefunden haben, und wenn nicht aus der betreffenden Weltgegend berichtigende Nachrichten einlaufen und die nötige Verbreitung finden, so besteht immer die Gefahr, daß auch in neuester Zeit apokryphe Vulkanausbrüche in die Ausbruchs- kataloge kommen, wie das früher zweifellos vielfach der Fall gewesen ist. Andrerseits ist zwar durch den wachsenden Verkehr die Möglichkeit ge- boten, viel vollständigere Nachrichten über die tatsächlich stattgehabten Ausbrüche zu bekommen, als das früher der Fall gewesen ist und doch entzieht sich sicher eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Ausbrüchen noch immer der Kenntnis der Wissenschaft, so daß also für Spekulationen, die sich über die Gesamtheit der Vulkane erstrecken sollen, die historische Methode nur über mangelhafte Grundlagen verfügen kann. Eine weitere Schwierigkeit für Anwendung dieser Methode besteht darin!), dal man eigentlich kein Recht hat, alle Ausbrüche mit gleichem Gewicht in die Waeschale zu werfen, liefert doch der eine zuweilen mehrere, selbst viele kubikkilometer fester Ausbruchsstoffe, ein anderer aber nur wenige Mil- lionen Kubikmeter oder noch wesentlich weniger, ja zuweilen fast gar keine; dazu kommt, daß wir nicht einmal ein Mittel haben, die Menge der geförderten Gase abzuschätzen, so daß man nicht imstande ist, die Aus- brüche ihrem Gewicht nach zu lozieren und einzurechnen. Nun wäre freilich die Möglichkeit vorhanden, nach willkürlichen Merk- malen wenigstens bestimmte Kategorien von Vulkanausbrüchen zu unter- scheiden, so etwa die Ausbrüche, bei denen die festen Ausbruchsmassen nach Kubikkilometern zählen, einer besonderen höheren Rubrik zuzuweisen als die anderen. Aber wie selten sind die Fälle, wo man verläßliche Schätzungen des Kubikinhalts der gelieferten festen Ausbruchsmassen be- sitzt oder erhalten kann”? Und ist ein Ausbruch von der Art der Bandai- san-Eruption 1888 etwa minder bedeutend deshalb, weil er nur gering- fügige Mengen festen Neumaterials geliefert hat, da doch die Gasexplosion imstande gewesen ist, so gewaltige Umlagerungen älterer Materialien zu verursachen ? Wir besitzen eben kein brauchbares Maß zur Abschätzung der in den Vulkanausbrüchen ausgelösten Energien und können sie höch- stens nach den materiellen Wirkungen und nach dem allgemeinen Ein- druck auf die Beobachter in besondere Grade einreihen. Unter solchen Umständen ist es begreiflich, daß J. Jensen, der die historische Methode neuerdings für das (Gesamtgebiet der Erde anwandte, keine Gradunter- schiede zwischen den Ausbrüchen machte, sondern jeden mit gleichem Ge- wicht einsetzte. Jensen, der auch die älteren Versuche von Spekulationen in genannter Richtung berücksichtigt, kam zunächst?) (mit Kluge) zu dem !, Vgl. Zentralbl. f. Min. etc., 1908, S. 530. ?) Possible relation between sunspot minima and volcanic eruptions. Journ. and Proe. R. Soc. of N. S. Wales, Vol. XXXVI, pag. 42—60. Zum gleichen Resultat kam auch Abbe Th. Moreux (Les tremblements de terre, Paris 1909) auf Grund einer bis 1610 zurückgeführten Statistik. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 149 Ergebnis, daß Vulkanausbrüche am häufigsten in den Zeiten der Sonnen- fleckenminima wären; als er aber später dieselbe Frage nochmals unter- suchte‘), fand er nunmehr, daß auch Beziehungen zu den Sonnenflecken- maxima bestehen könnten. Die Unsicherheit der Statistik, namentlich aber die Ungenauigkeit des von Jensen benutzten statistischen Materials, ent- kleidet aber die Untersuchungen der genügenden Beweiskraft. Die schon früher vielfach behaupteten zeitlichen Annäherungen und offenbar auch kausalen Beziehungen zwischen Erdbeben und Vulkanaus- brüchen sind durch die seismischen und vulkanischen Ereignisse Mittel- amerikas und Westindiens in so auffälliger Weise bestätigt worden, daß von verschiedener Seite direkte Beeinflussung angenommen wurde. ?) Freilich besteht über die Auffassung noch Meinungsverschiedenheit, wie die Beeinflussung zu verstehen sei und wahrscheinlich erscheint, dab so- wohl Erdbeben Vulkanausbrüche auszulösen vermöchten als umgekehrt, während Heilprin beiden eine gemeinsame Ursache zuschreiben möchte, womit er wohl in manchen Fällen Recht haben dürfte. Es ist aber offen- bar in jedem einzelnen Fall eine sorgfältige Untersuchung nötig, um dies Kausalverhältnis klarzulegen ; bei gründlicher kritischer Durchforschung der Beben- und Ausbruchsstatistik verspricht aber die Untersuchung Klärung für manche wichtige Fragen. Auch die Tatsache, daß manche Beben oder Ausbrüche mit bedeutsamen maenetischen Störungen zusammenfallen, ist geeignet, zu weiteren Untersuchungen anzuregen, um so mehr, als Creak in der Diskussion des Miölneschen Vortrags in der Geographi- schen Gesellschaft von London 1903 eine Möglichkeit andeutet, die viel- leicht auf eine richtige Spur führen könnte, indem er glaubt, dab die Zusammenpressung des Magmas die magnetischen Störungen verursachen könnte. °) Sicherere Ergebnisse vermögen statistisch-historische Untersuchungen für einzelne Vulkane und Vulkangebiete zu fördern; so hat Mercalli durch sorgfältige Analyse der Ausbruchsgeschichte des Vesuv festgestellt, daß dieser Vulkan in den letzten Jahrhunderten stets nach kürzerer Ruhe- pause wieder länger dauernde Tätigkeitsperioden zeigte, um schließlich mit einem großen Paroxysmus abzuschließen und damit in den kurzdauernden Ruhezustand zurückzukehren. Aber derartige Feststellungen, so bedeutsam sie auch sein mögen, sind nur lokal gültig, da die einzelnen Vulkane viel Individuelles in ihren Tätigkeitsäußerungen und deren zeitlicher Anordnung zeigen. Und dasselbe gilt auch wieder für größere Vulkangebiete, die zu- weilen gewisse Gesetzmäßigkeiten im Verlauf ihrer Gesamterscheinungen !) Possible relation between sunspots and voleanie and seismie phenomena and elimate (Journ. and Proc. R. Soc. of N. S. Wales, Vol. XXXVIII, pag. 740-790). 2) Zum Beispiel: A. Heilprin, The concurrence and interrelation of volcanie and seismie phenomena (Science, 1906, pag. 545 ff.). — Anderson und Flett in ihrem Report (Phil. Trans. R.Soe. London, Ser. A, V01.200, pag.532 ff.). — Sapper, Vulkangebiete, S.208 ff. — F. Milne, Seismological observations and earth physies (The Geogr. Journ., 1903, pag. 15). ») Geogr. Journ., 1903, pag. 24. 150 K. Sapper. aufweisen, wie z. B. die mittelamerikanischen Vulkane, wenn einmal nach längerer Ruhepause ihre Tätigkeit energisch erwacht ist, einen längeren Zeitraum hindurch bald da, bald dort neue Ausbrüche liefern. Es ist wohl möglich, daß aus derartigen Einzeluntersuchungen schließ- lich auch gewisse Gesetzmäßigkeiten von allgemeinerer Bedeutung sich ab- leiten lassen; doch liegen bisher nur ganz vereinzelte Daten vor. Es wird also der monographischen Durcharbeitung vieler einzelner Gebiete und ihrer Ausbruchsgeschichte bedürfen, ehe man daran gehen kann, weiter- gehende Schlußfolgerungen darauf zu gründen. Weit größere Tragweite dürften aber die auf historische Unter- suchungen gebauten Schlüsse erlangen können, bei denen die Dinge nicht mit dem menschheitsgeschichtlichen, sondern mit dem erdgeschichtlichen Auge betrachtet werden, bei denen nicht geschriebene Worte, sondern die Gesteine selbst und ihre Lagerungsverhältnisse die geschichtlichen Quellen darstellen. Wenn einmal eine große Zahl sorgfältiger monographischer Untersuchungen vorliegen werden, aus denen für ein bestimmtes Gebiet die Geschichte der eruptiven Ereignisse, die Zeitfolge der einzelnen Ge- steinsarten u. dgl. genau hervorgehen dürfte, dann wird man auch dazu übergehen dürfen, etwaige allgemeine Gesetzmäßigkeiten festzustellen sowie die örtlichen und zeitlichen Beziehungen der vulkanischen Erscheinungen zu anderen Phänomenen klarzulegen, was bisher bei dem spärlich vorlie- genden Beobachtungsmaterial ohne gewagte Verallgemeinerungen noch nicht für große räumliche und zeitliche Gebiete möglich ist. 6. Neuere theoretische Untersuchungen über die Ursachen der vulkanischen Erscheinungen. Als am Ende des vergangenen Jahrhunderts die überwiegende Mehr- zahl der Geologen die theoretischen Anschauungen eines Poulett-Serope, Ch. Lyell und Ed. Süß über die Ursachen der vulkanischen Erscheinungen teilte, wirkte es anfänglich geradezu revolutionär, als W. Branco durch die oben besprochene Untersuchung der schwäbischen Vulkanembryonen zu der Überzeugung geführt wurde, daß das Magma vermöge seines Gasge- halts sich selbst aus eigener Kraft einen Weg durch die Erdrinde bahnen könne und als wenig später Alphons Stübel auf Grund seiner Untersuchun- gen ecuatorianischer Vulkane und der dabei gewonnenen Eindrücke !) die Ansicht äußerte, daß das Magma selbst die Kraft besitze, sich einen Aus- weg an die Erdoberfläche zu schaffen und dort die verschiedenartigen Baue aufzurichten. Freilich gesteht Stübel auch dem Gasgehalt des Mag- mas eine wichtige Rolle zu. Stübel geht ebenso wie Ed. Süß von der Voraussetzung aus, daß die Erde in fortschreitendem Maße erkalte und daß die Begleiterscheinungen dieses Vorgangs unter anderem auch die vulkanischen Erscheinungen in letzter Linie veranlasse. Aber während Ed. Süß glaubt, daß Krustenbewe- !) Die Vulkanberge von Ecuador. Berlin 1897. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 151 gungen, die durch die Kontraktion der Erde verursacht wären, das Magma gewissermaßen ausquetschen könnten, schreibt Stübel dem Magma statt einer passiven eine aktive Rolle zu. Er sagt'): „Als Ursache aller vulka- nischen Tätigkeit ist, der Kant-Laplaceschen Hypothese streng Rechnung tragend, der Erkaltungsprozeß zu betrachten, welchen die glutflüssige Ma- terie des Erdkörpers durchlaufen hat und noch durchläuft, um endlich in einen starren Zustand überzugehen. Mit der Erstarrung der Materie erlischt die vulkanische Kraft: die glutflüssige Masse ist dem- nach selbst die Trägerin der vulkanischen Kraft. „Als notwendige Folge des Erkaltungsvorganges gibt sich die zeit- weilige Ausstoßung glutflüssigen Magmas aus dem Innern der Erde nach ihrer Oberfläche zu erkennen. Diese Ausstoßung ist eine unbestreitbare Tatsache, sie wird durch die direkte Beobachtung bewiesen; alle vulka- nischen Schöpfungen und speziell die große Zahl der Vulkanberge ohne Tätigkeit gegenüber der nur sehr kleinen der tätigen liefern den Beweis dafür, ebenso wie das Verhalten aller noch bestehenden Eruptionscentren. „Durch welche physikalischen und chemischen Vorgänge die haupt- sächlichste der Ausbruchserscheinungen,, die zeitweise Ausstoßung einer gewissen Menge glutflüssigen Magmas hervorgerufen wird, ist bis jetzt mit Sicherheit nicht festgestellt, aber sehr wahrscheinlich dürfte sie ihren Grund in Volumenveränderungen haben, wie sie bei jedem Erkaltungs- prozeb vor sich gehen. „Dal mit dem Übergang der Materie aus dem glutflüssigen in den festen Zustand eine Volumenverminderung hervorgerufen wird, kann als wohlbegründet gelten, nicht weniger aber darf mit größter Wahrschein- lichkeit angenommen werden, daß im Verlaufe des Erkaltungsprozesses glutflüssigen Magmas auch eine Phase der molekularen Volumenver- erößerung eintritt, die mit einer ungeheuren, sich stetig steigernden Kraft- äußerung verbunden sein kann und dal) gerade diese Phase es ist, durch welche das zeitweise Hervorbrechen glutflüssiger Materie bewirkt wird. „Zu diesem gewaltsamen Hervorbrechen trägt aber als zweiter Faktor gewiß nicht weniger der mit Sicherheit nachgewiesene überaus große Gasgehalt der glutflüssigen Materie bei. Dieser bewirkt, wenn einmal durch die allmähliche Erbohrung eines Auswegs nach der Oberfläche eine Verminderung des Druckes, der auf dem Magma in der Tiefe lastet, her- beigeführt wurde, ein förmliches Aufschäumen, welche Fähigkeit der glut- flüssigen Materie trotz ihres hohen spezifischen Gewichts unbedingt zuer- kannt werden muß, weil sie ja, wie selbst noch in ihrem erstarrten Zustande nachweisbar, durch und durch mit Gas imprägniert ist und diese Fähigkeit des plötzlichen Aufschäumens hat andrerseits die eines ebenso plötzlichen Insichzusammensinkens im Gefolge, sobald ein Teil des Gases von ihr abgegeben werden kann. Die Expansionsfähigkeit ist aber für den inneren Bau der Erstarrungskruste auch deshalb bedeutsam, weil !) Ein Wort über den Sitz der vulkanischen Kräfte in der Gegenwart, S.4f. Leipzig 1901. 152 K.Sapper. sie bei jeder Verminderung des Druckes, der auf dem Magma lastet, not- wendig in Aktion treten muß und dadurch die Möglichkeit der Entstehung von Hohlräumen infolge der Ausstoßung glutflüssigen Magmas völlig aus- geschlossen bleibt. Außerdem fordert die Expansionsfähigkeit, daß das in der Tiefe unter unermeßlichem Drucke stehende Magma ein weit höheres spezifisches Gewicht besitze als das aus ihm hervorgehende Erstarrungs- produkt, auch wenn sein Gefüge uns noch so dicht erscheint. — Wenn auch bis jetzt nicht versucht worden ist, für diese beiden Eigenschaften der glutflüssigen Materie, die molekulare Ausdehnung und die Gasexpan- sion, die Grenzen ihres Verhaltens weder im einzelnen, noch bezüglich ihres Zusammenwirkens experimentell festzustellen, so sind wir doch zu der Be- hauptung berechtigt, daß sich die vulkanischen Erscheinungen auf Grund eines solchen Verhaltens in der Eigenartigkeit ihres Auftretens am be- friedigendsten erklären lassen. Wir wollen an dieser Annahme aber auch nur so lange festhalten, bis ihre Unrichtigkeit nachgewiesen sein wird oder eine begründetere Erklärung an ihre Stelle gesetzt werden kann....“ „Es steht wohl fest, daß mit dem allmählichen Hinabrücken des Her- des nach dem Zentrum die vulkanischen Erscheinungen auf der Oberfläche eines erstarrenden Weltkörpers von der Beschaffenheit der Erde an Inten- sität zunehmen und schließlich einen Höhepunkt erreichen; nachdem dieser eingetreten ist, können Ausbrüche aus dem Innern nicht mehr erfolgen, weil dann der Widerstand der Erstarrungskruste die Oberhand über die eruptive Kraft gewonnen hat.“ Stübel findet, dad) man zu der Annahme berechtigt sei, daß der Er- kaltungsprozeß des Erdkörpers seinen Höhepunkt überschritten habe und „daß sich die gesamten Eruptionsprodukte der großen Ausbruchsperiode, die mit der Bildung der planetaren Erstarrungskruste ihren Anfang nahm, über dieser letzteren ausgebreitet und aufgeschichtet haben müssen“. Dies den Erdkörper rings umschalende System von Gesteinsbänken nennt Stübel die Panzerdecke. Innerhalb derselben nimmt er nun eine Anzahl peri- pherischer Herde (lokalisierter Ansammlungen glutflüssiger Gesteins- massen) an, die „räumlich eng begrenzt sind und daher in einer relativ kurzen Frist der Erschöpfung entgegengehen können“. Er meint freilich, „dal einige dieser Herde bis auf die Gegenwart mit dem tieferen Erd- innern in Verbindung geblieben sind und dadurch in ihrer Tätigkeit bis zu einem gewissen Grade beeinflußt werden können“. Trotz dieser Ein- schränkung glaubt er aber, daß alle unserer Untersuchung zugänglichen vul- kanischen Schöpfungen höchstwahrscheinlich ohne Ausnahme der Tätigkeit der peripherischen Herde zugeschrieben werden dürfen. Stäbe! meint nun: „Das erste Erwachen eines peripherischen Herdes scheint stets mit (rewaltäußerungen verbunden zu sein, hinter denen alle späteren Betäti- gungen des gleichen Herdes weit zurückbleiben und daher kommt es, daß der Berg, den der Herd in der ganzen Zeit seines Fortbestehens über- haupt hervorzubringen vermag, schon bei diesem ersten Erwachen in seinem Bau fast vollendet wird“ (monogene Vulkanberge). PER Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 153 „Die Mehrzahl der peripherischen Herde hat sich durch einen einzigen Ausbruch, nämlich durch die Bildung des Berges, der dem betreffenden Herde zugehört, auf immer erschöpft. Daher die ungeheure Zahl erlo- schener Vulkanberge von allen Dimensionen. Es gibt unter diesen aber auch kleine Aufschüttungskegel, Kraterbildungen und Lavaströme, für die der Ursprungsort nicht einmal innerhalb der Panzerdecke ge- sucht werden darf, sondern noch weit oberflächlicher, im Innern der Frgußmassen, vermutet werden muß, welche die peripherischen Herde selbst erst in sehr später Zeit zutage gefördert haben und die jetzt viel- leicht unter sedimentären Ablagerungen von nur geringer Mächtigkeit verborgen liegen. Eine große Zahl der peripherischen Herde läßt aber auch ein mehrmaliges Erwachen der vulkanischen Tätigkeit in den von ihnen aufgeführten Bauen erkennen.“ Die Zeitpunkte erneuter Tätigkeit sind durch längere oder kürzere Ruhepausen voneinander getrennt. Ent- weder wird durch jede nach sehr langer Ruhepause einsetzende Tätigkeitsperiode eine Neubildung geschaffen oder es wurde beim zweiten Ausbruch ein leicht gangbarer Kommuwnikationsschacht hergestellt, der den vulkanischen Kräften die „Freiheit sichert, von nun an in kleinen Pausen und auf Jahrtausende hin für ihr Fortwirken in der Tiefe bis zur Oberfläche Zeugnis abzulegen“ und die polygenen Vulkanberge (Stratovulcane) aufzubauen. Dem genetisch verschiedenen Verhalten des gleichen Herdes schreibt Stübel die Entstehung der Doppelberge vom Typus Sommavesuv !) zu. Scheint in der Tat in vielen Fällen in einzelnen Vulkangebieten oder an einzelnen Vulkanen einer massenhaften Magmaförderung eine Pe- riode vorwiegender Lockerauswürfe gefolgt zu sein, so ist doch zurzeit die Summe der tatsächlichen Beobachtungen noch zu gering, als dal) sich etwas Bestimmtes darüber sagen ließe. Wohl bin ich selbst beim Studium der mittelamerikanischen Vulkane zu der Anschauung gelangt ?), dal die Ent- stehung der mittelamerikanischen jungeruptiven Rückengebirge ähnlichen, aber zeitlich und graduell verschiedenen Ursachen zuzuschreiben wäre wie diejenige der benachbarten und gleich gerichteten Reihe von Vulkanen, wohl hat P. Grosser in einer ausführlichen Besprechung der Stübelschen Theorie ®) sich vorsichtig bereits geäußert, dal möglicherweise „die älteren (tertiären) Vulkane vorwiegend aus geflossenem, die gegenwärtig tätigen dagegen vorwiegend aus in die Luft geworfenem Material aufgebaut seien“, wohl glaubte K. Schneider auf Island, in Böhmen und Italien einen regel- mäßigen Wechsel der Phasen vulkanischer Tätigkeit +) (1. vorwiegende Magma- förderung, 2. vorwiegende Tufförderung, 3. Gasförderung, auf Island in !) Über den Vesuv hat sich später Stübel in einer nachgelassenen Schrift („Der Vesuv“, Leipzig 1909) noch ausführlicher geäußert. *) Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., 1897, 8. 681 f. 3) Himmel und Erde, 1900, VII, Heft 2. *), Vulkanologische Studien aus Island, Böhmen, Italien. „Lotos“, Nr. 7—8. Prag 1906. 154 K. Sapper. doppelter Wiederholung) gefunden zu haben, aber es empfiehlt sich beim jetzigen Stand unseres Wissens doch noch, von schematischer Verallge- meinerung abzusehen und erst noch reifere, in vielen Fällen auch zuver- lässigere Forschungsergebnisse abzuwarten. Stübels Versuch, das Phänomen der Extrusion einer Felsnadel, wie es die zweite Eruptionsphase des Mont Pele 1902/1903 gezeigt hat, zur Erklärung der Gipfelpyramiden zahlreicher ecuatorianischer Vulkanberge heranzuziehen !), scheint mir ebenfalls zu weit zu gehen, indem er allzu rasch eine Beobachtung verallgemeinerte. Es ist wohl anzunehmen, dab Extrusion nadelförmiger Gebilde in manchen Fällen die eigenartigen Gipfel- formen monogener Vulkane erklären könnte, aber wenn ich mir vergegen- wärtige, daß auf manchen der prachtvollen Stübelschen Panoramen, die im Grassimuseum zu Leipzig ausgestellt sind, die untere Begrenzung der sichtbaren Gipfelpyramiden ungefähr in dasselbe Niveau zu liegen kommt, so erscheint es mir wahrscheinlicher, daß exogene Kräfte (nach W. Reiß die Arbeit der Gletscher) die bizarren Formen herausgearbeitet hätten. Jeden- falls wären auch für diese Frage noch genauere Untersuchungen an Ort und Stelle angebracht. Wenn ich demnach zu der Ansicht hinneige, daß Stübels Theorie noch sehr der Nachprüfung bedürfen wird, so möchte ich ihr doch das Verdienst zugestehen, daß sie von einem großen einheitlichen Gesichtpunkt aus das vulkanische Phänomen zu erklären sucht und daß sie die vulka- nologische Forschung aufs neue belebt und auf andere Möglichkeiten hin- gewiesen hat. Letzteres Verdienst ist zweifellos auch der Theorie des schwedischen Physikers Svante Arrhenius zuzusprechen, die kurz nach Stübels Haupt- werk erschien und auf ganz andere Voraussetzungen aufgebaut ist. Er eeht noch von der hergebrachten Annahme von Spalten aus, deren Bil- dung Druckentlastung für das unterhalb befindliche Magma bewirke; das- selbe werde nun leichtflüssiger, dehne sich aus, steige auf und erkalte wieder; aber Arrhenius weist auch nachdrücklich auf den hohen Gasgehalt des Magmas hin, ja, bei ihm ist es hauptsächlich der Gas-, vor allem der Wasserdampfgehalt des Magmas, der das Aufdringen desselben und die vulka- nischen Erscheinungen erklären soll. Er nimmt, wie Reyer), an, daß das Wasser, von oben (vom Meere) kommend, nur in Gasform zum Magma ge- langen könnte, das er sich nicht in gesonderten Herden, sondern in zu- sammenhängender Kugelschale unterhalb der festen Erdrinde vorstellt. Nach Arrhenius’®) Ausführungen wird nun das Wasser, das bei gewöhn- licher Temperatur eine sehr schwache Säure oder Base darstellt, bei hohen 1) Rückblick auf die Ausbruchsperiode des Mont Pel& 1902—1903 vom theore- tischen Standpunkt aus. Leipzig 1904. 2) Theoretische Geologie. Wien 1888. 3) Zur Physik des Vulkanismus. Geologiska Föreningens in Stockholm Förhand- lingar, Bd. 22, S. 395 ff. Stockholm 1900. yr -- Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 155 Temperaturen zu einer starken Säure: bei 300° ist Wasser bereits eine ebenso starke Säure wie Kieselsäure, bei 1000° 80mal stärker, bei 2000° etwa 300mal stärker. Kommt also Wasser zu zähflüssigem Magma, so treibt es die Kieselsäure aus und schafft freie Basen; das Wasser macht das Magma leichtflüssiger; durch Beimischung unveränderten Magmas gehen die freien Basen in saure und basische Silikate über. Neues Wasser tritt hinzu und dieselben Umsetzungen wiederholen sich. Etwas Wasser bleibt im Magma frei, hat aber wegen starker Verdünnung sehr erniedrigten Dampfdruck. Wasser soll nun aufgenommen werden können, bis der Dampf- druck gleich der überlastenden Wassersäule von der Meeresoberfläche ab geworden wäre. Durch Aufnahme von Wasser nimmt nun das Volumen des Magmas zu um das Volumen des zugeführten Wassers. Das Magma steigt jetzt im Vulkanschlot auf und wird dabei abgekühlt; infolgedessen wird das Wasser wieder eine schwächere Säure; es wird von der Kiesel- säure schließlich wieder aus seinen Verbindungen ausgetrieben und, wenn die wasserhaltigen Lagen unter genügend geringen äußeren Druck gelan- gen, erfolgen Dampfexplosionen: das ausgeschiedene Wasser steigt gegen die Oberfläche an und geht in genügender Höhe gewaltsam in Dampf über. Ein Vulkan gliche demnach einem Geysir. Solange das Wasser im Geysir oder das wasserhaltige Magma im Vulkan unter höherem Druck steht, als der Maximalspannung des Wasserdampfes entspricht, wäre keine Explosion möglich; wird aber der äußere Druck überwunden, so erfolgt die Explosion; nach der Abkühlung tritt Ruhe ein. Ist der Vulkanschlot sehr weit, so spielt die Abkühlung des Magmas nur eine untergeordnete Rolle; gewaltsame Explosionen fehlen dann und es erfolet nur ein ziemlich ruhiges Spratzen durch entweichenden Wasser- dampf wie im Lavasee des Kilauea; die Lava fließt ruhig aus. Obgleich Arrhenius seine Theorie auf einen allgemeinen Magmaherd bezieht, läßt sie sich doch in ganz gleicher Weise auch auf peripherische Herde beziehen und das von ihm angenommene, in die Tiefe sinkende Meerwasser könnte bei Binnenvulkanen und selbst meernahen Feuerbergen, wie schon Dana glaubte, durch einsickerndes Regen-, Grund- oder See- wasser ersetzt sein. Wohl ist anzuerkennen, dab auch Arrhenius’ Theorie von großen einheitlichen Gesichtspunkten beherrscht wird, aber ein schwa- cher Punkt ist vor allem die Annahme von Spalten, die vorher gebildet worden wären und die Druckentlastung erst ermöglichten; nicht minder wird auch die Annahme des Zutritts von vadosem Wasser zum Magma vielen Zweifeln begegnen. Eine große Zahl anderer neuerer Theorien steht gerade dieser Frage ablehnend gegenüber, sei es, daß man mit Ed. Süß), R. T. Hill?), €. Dölter ?) u.a. annimmt, der Gasgehalt komme überhaupt aus sehr grober !) Antlitz der Erde, III, 2, S. 663. ®) Bull. Geol. Soc. Am., 1905, XVI, S. 243 ff. 3) Zur Physik des Vulkanismus. Sitz.-Ber. d. k. Ak. d. Wiss., math.-nat. Kl., 1903, CXII, S. 681 ff. 156 K. Sapper. Tiefe, oder daß man mit J. ©. Russel!) oder Elihu Thomson ?) glaubt, der in vulkanischen Ausbrüchen hervortretende Wasserdampf stamme aus der Gebirgsfeuchtigkeit der vom Magma berührten und darum erhitzten Ge- steinsmassen der äußeren Erdkruste, oder daß man mit Gautier den Wasser- dampfgehalt der Ausbruchsvulkane auf das Konstitutionswasser erhitzter Eruptivgesteine bezieht (siehe oben, S. 140), oder mit Brun einen Wasser- dampfgehalt der Eruptionswolken überhaupt leugnet (s. oben, S. 125, 143). Gautiers und Bruns Anschauungen stehen in einer Hinsicht auch in diametralem Gegensatz zu Stübels Theorie: dieser hält das einmal er- starrte Magma für tot, Brun aber sieht das junge, Gautier selbst das alte erstarrte Eruptivgestein als Mutter der Gasförderung an, die bei hinrei- chender Erhitzung des Gesteins einsetze. Wie und warum aber die Er- hitzung vor sich gehen soll, darüber hat sich Brun bisher noch nicht ge- äußert. A. Gautier aber meint?), daß dies entweder durch mechanische Wärmeerzeugung infolge innerer Einstürze oder durch Zutritt glutflüssigen Maemas aus der Tiefe infolge seitlicher Pressung geschehen dürfte Nun wäre aber zu erwarten, daß im ersteren Fall Beben von beträchtlicher Herdtiefe den Vulkanausbrüchen vorangehen müßten, was meines Wissens bisher noch nicht hat nachgewiesen werden können, während andrer- seits im Gegenteil die-vulkanischen Beben, soweit solche den Ausbrüchen überhaupt vorhergehen, in manchen Fällen wenigstens, offenbar in ganz geringer Tiefe ihren Sitz haben; im zweiten Fall wäre das Aufsteigen des Magemas die Folge eines gebirgsbildenden Vorganges und in dieser Hinsicht berührten sich Gautiers Anschauungen mit denen vieler anderer Forscher, aber freilich mit dem Unterschiede, dal diese das Magma selbst zur Erdoberfläche gelangen lassen wollen, während bei Gautier das auf- steigende Magma eigentlich nur die Rolle eines Heizmittels zu spielen hätte, das die Freiwerdung der vulkanischen Gase bewirken würde. Freilich hat Gautier durch seine Untersuchung nicht die Überzeugung gewinnen können, daß alle diese Gase aus den krystallinischen Gesteinen stammen würden, vielmehr glaubt er*), daß die Aushauchung von CO, und H ein kontinuierliches geologisches Phänomen wäre, das seinen Ursprung in den Tiefen der Erde besäße; er teilt diese Ansicht in gewissem Sinn mit ld. Süß, welcher der Entgasung des Tiefenmagmas eine große Bedeutung zuspricht und neuerdings die aufsteigenden heißen Gase als Ursache eines Teiles der vulkanischen Erscheinungen auffaßt, indem er ihnen die Schmelzung simischen oder salischen Gesteins zuschreibt 5) und glaubt®), 1) Voleanos of North America. Kap. 7: Theoretical. New York 1897. 2) Science, 16. Aug. 1906, XXIV, pag. 161 ff. 3) Comptes rendus Acad. Sciences, 1901, 132, pag. 58 ff. #) Comptes rendus Acad. Sciences, 142, pag. 1382. Daß aber ein Teil der 00, durch Dissoziation von Carbonaten entstehe, hat er bereits vorher (Comptes rendus, 132, pag. 189 ff.) hervorgehoben. 5) Antlitz der Erde, III, 8. 719 £. 6) Antlitz der Erde, III, S. 632 £. u. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 157 daß rhythmisch aufsteigende Gase die Wärmebringer in der vulkanischen Esse sein dürften. Andrerseits aber schreibt er doch auch der durehschmel- zenden Kraft des Magmas eine große Bedeutung zu. Er sagt von einem aufsteigenden Lakkolithen !): wenn er nicht selbst schmelzend die Ober- fläche erreicht, öffnet „sich ... sein Dach in einem Netz von Spalten und die Laven treten zutage“. Rücksichtlich der Bedeutung der schmelzenden Kraft des Magmas berührt sich E. Süß teilweise mit ©. Dölter ?), der auf solche Weise ein Zutagetreten des Magmas aus oberflächlichen (sekundären) Herden für möglich hält, aber sich ein Aufsteigen derselben aus tiefgelegenen pri- mären Herden an gebirgsbildende Vorgänge (Einsinken von Schollen) ge- knüpft denkt. Dölter kommt auf Grund sorgfältiger Überlegungen und mannig- facher Versuche zu dem Schluß, daß die Hauptursache der vulkanischen Erscheinungen die Gasimprägnation des tiefen Magmas wäre; die Gase könnten durch Druckverminderung explosiv werden; die Druckverminde- rung würde durch tektonische Vorgänge hervorgebracht, nicht durch Vo- lumenvergrößerung des Magmas, wie Stübel angenommen hatte. Beim Er- starren des Magmas könne durch Steigerung des Dampfdruckes Gas frei werden und explosiv wirken und so könnten periphere Herde kleine Vul- kane, Maare, Explosionskrater bilden. Hat sich Dölter in der Ansicht vom Bestehen begrenzter peripherer Herde dem Gedankenkreis Stibels genähert, so spricht sich dagegen A. Bergeat °) auf Grund von Überlegungen über die geographische Ausdehnung gauver- wandter Gesteine dahin aus, daß „die Tätigkeit der Vulkane von großen gemeinschaftlichen Magmazonen und nicht von individuell umgrenzten Sonder- herden genährt“ werde; er erklärt dann die geologischen Wandlungen in den einzelnen Vulkangebieten und die geologische Verschiedenheit der Laven benachbarter Vulkanschlote damit, daß hier „das Material verschieden differenzierter Teile derselben Magmazone* gefördert wurde und glaubt ebenso auch, daß „Eruptionen dort statthaben, wo dem Glutfluß gasreicher ‚Schlieren‘ der Austritt nach der Oberfläche, erzwungen oder dargeboten, offen steht“. Er fährt dann fort: „An Stelle der geschlossenen Magma- herde, die Stübel annahm, treten Magmateile, die miteinander als Angehö- rige regionaler Zonen in mehr oder weniger freier Verbindung stehen und durch dieselben Strömungen, welche die Differentiation bewirkt haben müssen, im Laufe langer Zeit ihren petrographischen Charakter ändern oder auch in sich selbst wieder magmatische Spaltungen erfahren.“ Aber nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich lassen sich Differentiationen des Mag- ') Antlitz der Erde, III, S. 693 f. ®) Zur Physik des Vulkanismus. Sitz.-Ber. d. k. Ak. d. Wiss., math.-nat. Kl., 1903, COX. 3) Betrachtungen über die stoffliche Inhomogenität des Magmas im Erdinnern. Mitt. d. geogr. Ges. in München, 1908. 158 K. Sapper. mas nachweisen, doch stellt Bergeat fest, dal) „die von demselben Schlot im Laufe seiner Tätigkeit geförderten Schmelzflüsse ihre Zusammen- setzung nur innerhalb sehr enger Grenzen verändern“ und ferner, daß der Gang der petrographischen Veränderungen nicht immer gleichgerichtet ist und daß eine kontinuierliche Zu- oder Abnahme des Kieselsäuregehaltes der Produkte mindestens für gewöhnlich nicht statt hat“, wie Bergeat an dem Beispiel der von ihm so sorgfältig untersuchten äolischen Inseln zeigt. Der Synehronismus der westindischen und mittelamerikanischen Beben und Vulkanausbrüche im Jahre 1902 brachte ihn zu der Ansicht?), daß diese Phänomene die oberflächlichen Äußerungen eines innerirdischen Vorgangs seien, dessen Sitz in beträchtlicher Tiefe angenommen werden müßte. Als eigentlichen Herd der in Form von Laven oder vulkanischem Auswurfs- material auf die Oberfläche gelangenden Schmelzflüsse nimmt Bergeat die in die Nähe der Erdoberfläche emporgepreßten Tiefengesteinsmagmen an und glaubt mit Hinweis auf die vulkanischen Gebilde des Carbon, des Rotliegenden, des Tertiär und der jüngsten Vergangenheit in unseren Gegenden, daß Epochen lebhafter vulkanischer Tätigkeit auf einem Teile der Erdoberfläche solchen einer gleichzeitigen Gebirgsbildung in demselben (rebiet entsprechen dürften. Im Gegensatz dazu hat dagegen früher A. Rothpletz?) es für wahr- scheinlich gehalten, dal) Perioden der Kontraktion und Expansion mitein- ander abwechselten und damit auch Perioden der Gebirgsfaltung und der vulkanischen Tätigkeit, indem zu bestimmten Zeiten im Kern der Erde Kontraktion und in der Erdkruste tangentiale Spannungen sich einstellten, während hernach die Wärme (durch die infolge der Wärmeabgabe der Erde nach außen im Kern einsetzende beschleunigte Bewegung hervorge- rufen) die Überhand gewinne und entgegengesetzte Bewegung erzeuge: die Erdkruste würde dann für den sich ausdehnenden Kern zu enge; es entstünden Hebungen einzelner Teile, die Kruste würde stärker erwärmt, in der Kruste entstünde statt tangentialer Spannung Tendenz zum Zer- reißen und Auseinanderweichen und die überheißen Massen des Kernes stiegen in die Region der Kruste empor. Ein Ausquetschen des Magmas unter dem Druck der niedersinkenden Erdkruste wäre also nicht anzu- nehmen. Leider sind unsere Kenntnisse der geologischen Vergangenheit in den meisten Gegenden der Erde noch viel zu gering, als daß schon jetzt die Möglichkeit bestände, besprochene Wechsel von Kontraktions- und Expan- sionsperioden auf Grund sicherer geologischer Beobachtungen zu beweisen. H. J. Johnston-Lavis stellt sich in seinen theoretischen Anschauungen wieder ganz auf den Boden der Kontraktionstheorie. Er hat im Geological Magazine (New Series, Decade V, Vol. VI, page. 433--442) sein Glaubens- bekenntnis über den Mechanismus der vulkanischen Tätigkeit niedergelegt. 1) „Aus der Natur“, 1907. Vgl. übrigens oben S. 149. ®) Über die Möglichkeit, den Gegensatz zwischen der Kontraktions- und Expan- sionstheorie aufzuheben. Sitz.- Ber. math.-phys. Kl. k. bayr. Akad. d. Wiss., 1902, XXXII. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 159 Er geht davon aus, dal die Kontraktion des ganz oder teilweise glutflüssigen Erdkerns infolge Hitzeverlustes die Faltungen und Dislo- kationen der festen Erdkruste verursache. Zufolge den Ansichten von Mellard Reade und Ü©. Davison nimmt er an, dal) man die Erdkruste theo- retisch in eine Anzahl von Kugelschalen zerlegen könne, deren äußerste an- nähernd die Temperatur der Atmosphäre angenommen habe, während die dem glutflüssigen Erdkern zunächst liegenden Kugelschalen am meisten Hitze verlören und daher die stärkste Zusammenziehung erführen. Zwi- schen beiden befinde sich eine Kugelschale, in der ein Gleichgewichtszu- stand vorliege und deshalb keine Zusammenziehung stattfinde. Beim Zu- sammenziehen der inneren Schalen entstehe die Tendenz der Sprungbil- dung von innen nach außen bis zur neutralen Zone hinauf und solche Sprünge möchten sich von unten gleichzeitig mit Magma füllen, da die Sprünge Stellen verringerten Drucks darstellten, so dal das darunter be- findliche potentiell flüssige Gestein aufsteigen könne; man könne aber auch annehmen, daß ein feuerflüssiger Erdkern oder eine Schicht feuerflüssigen Magmas vorhanden wäre und daß das Niedersinken abgekühlter, von Spalten begrenzter Krustenschollen das Magma emporpresse. Damit würde das Auftreten der Vulkane längs Gebirgszügen oder in linearer Anordnung übereinstimmen. Ist das Magma in die neutrale Zone gelangt, meint er, so kann es dort erstarren oder aber unter Umständen oberflächliche vulkanische Erschei- nungen hervorrufen. Überlegungen über die Tatsache, daß beim Vesuv und anderen Vulkanen diese Erscheinungen um so ruhiger verlaufen, je gerin- ser die Unterbrechungen der Tätigkeit waren, um so gewaltsamer und gasreicher, je länger die Unterbrechungen dauerten, brachten den Verfasser zu der Ansicht, daß wohl nur wenig Gasgehalt von den Urzuständen der Erde her im Magma aufgespeichert geblieben wäre, daß aber die Haupt- masse der Gase erst vom Magma durch die Berührung mit wasserhaltigen Gesteinen der oberen Teile der Erdkruste erworben worden seien. Beim Vesuvausbruch von 79 n. Chr. fiel zunächst leichter, weißer Bimsstein, der in der Hauptsache aus Glasmasse besteht und verhältnis- mäßig sehr große Hohlräume aufweist. Darüber lagert in mächtiger Lage schwererer, dunkler (bräunlicher bis grünlichgrauer) Bimsstein mit spär- licherer Glasmasse und kleineren Hohlräumen. Beide stellen die essentiellen Auswürflinge dar, im Gegensatz zu den akzidentiellen pulverisierten Aus- würflingen, die in der dritten, obersten Lage von grober oder feiner, großenteils aus losgelösten Mikrolithen und losen Krystallen bestehender Asche liegen. Solche Reihenfolge zeigt sich nach Johnston-Lavis bei allen explosiven Ausbrüchen. Diese regelmäßige Folge von Auswürflingen erklärt Johnston - Lavis damit, daß das aufdringende Magma, das keinen offenen Weg zur Erd- oberfläche findet, im Innern der Erdkruste von den wasserhaltigen Ge- steinen derselben im Laufe langer Zeit sehr viel Wasserdampf angenommen habe und daß das zuerst an die Erdoberfläche gelangende Magma daher 160 K. Sapper. am meisten Gase enthalte, die nun eine ungeheure Ausdehnung erfahren und daher so viel Hitze verlieren, daß die Glasmasse beim jähen Erkalten keine Zeit zur Ausbildung von Mikrolithen oder Krystallen finde. Die nachfolgenden Magmamassen, die in tieferen und darum wasser- armen Krustenteilen gestanden hatten, sollen meist ärmer an Wasserdampf sein. daher Blasenentwicklung und Glasbildung geringer werden müssen. Die letzten Magmamassen sind fast glasfrei. Die aus den größten Tiefen kommenden Magmamassen mögen in der Umgebung bereits wasserfreie Gesteine gehabt haben und können so, dank zugleich einer höheren spezifischen Hitze, als Lava ausfließen. Unregelmäßigkeiten in der Reihenfolge der Auswürflinge mögen in der Ungleichmäßigkeit der wasserführenden Gesteine in verschiedenen Tiefen ihren Grund haben. Im offenen Kanal eines chronisch tätigen Vulkans findet das aufsteigende Magma zu wenig Zeit, um viel Gasmaterial auf- zunehmen und so dem Ausbruch explosiven Charakter zu verleihen; wird aber der Ausfluß des Magmas mehr oder weniger gehemmt, so können paroxysmale oder explosive Erscheinungen auftreten. In zahlreichen anderen Theorien sind einzelne der bisher angedeu- teten Gedanken von anderen Forschern ebenfalls aufgenommen und in den verschiedenartigsten Kombinationen wieder eigenartig ausgebaut worden. Doch fehlt hier der Raum, um sie alle noch zur Darstellung zu bringen. Andere Forscher machen wieder ganz andere Ursachen für die vulkanischen Erscheinungen verantwortlich. So glaubt K. Schneider‘), daß vulkanische Kräfte durch ungleiche Verteilung der Schwere geweckt werden könnten. Nun wird man ihm wohl zustimmen dürfen, daß durch magmatische Injektionen das Gerüst der Erde verstärkt und ein vorhandener Schweredefekt entfernt werden kann, aber es erscheint doch in hohem Grad zweifelhaft, daß die ungleiche Schwereverteilung imstande sein sollte, vulkanische Ausbrüche herbeizuführen. K. A. Lotz hat daran gedacht, daß die Vulkane mit elektrischen Erdströmen zu tun hätten ?), und nach der Entdeckung des Radiums wurde von verschiedener Seite versucht, die vulkanischen Erscheinungen durch radioaktive Prozesse zu erklären, so von Dutton ®), wogegen @. D. Louderback *) zwar der Ansicht ist, daß Radioaktivität wohl einen großen Teil oder alle innere Hitze der Erde erklären könnte, nicht aber die vulkanischen Er- scheinungen; er stützt sich dabei auf Untersuchungen von R.J. Strutt °), der feststellte, daß die Basalte sehr viel weniger Radium enthielten als Gra- nite oder Syenite. ') Zur Geschichte und Theorie des Vulkanismus. Prag 1908, S.85 ff. ?) Vermutliche Ursachen des Erdmagnetismus und seiner Störungen. Charlotten- burg 1906. °) Journal of Geology, 1906, pag. 259 ff. 4) The relation of radioactivity to vuleanism. Journal of Geology, 1906, pag. 747 ff. 5) Proc. Roy. Society, A, Vol. LXXVII, pag. 472 ff. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. 161 Auch F. v. Wolf’) hat die möglichen Beziehungen zwischen Radio- aktivität und vulkanischen Erscheinungen sorgfältig untersucht, nachdem J. Königsberger gefunden hatte, dab die Abkühlungshypothese den Beob- achtungen über die geothermische Tiefenstufe nicht gerecht werde und daß andere Prozesse, wie radioaktive und chemische, zur Erklärung der Erdwärme herangezogen werden müßten. Auf Grund der Untersuchungen von Elster, Geitel, von der borne, Strutt u. a. kam v. Wolff zu dem Schluß, dab die Radiummenge auf eine Oberflächenschale von 20— 500 km be- schränkt wäre, während der Erdkern frei davon sei. Er fand ferner, dal) die Gebirgsfaltungen nach Intensität und Umfang im Laufe der Erdgeschichte abgenommen hätten und ebenso der zeitlich damit zusammenfallende Vulkanismus. Die letzte Ursache aller dynamischen Störungen der Erd- kruste wird in der Abkühlung der Erde gesucht, die aber durch die Wärme- erzeugung des in der Oberflächenschale zerfallenden Radiums und anderer radioaktiver Stoffe stark aufgehalten werde (chemische Prozesse sollen aber als Wärmequellen nur lokal von Bedeutung werden); der Abkühlungspro- zeb strebt dem thermischen Gleichgewicht zu, ohne es bisher erreicht zu haben. Die Erde wird als eine sich abkühlende Kugel mit einer ansehn- lichen Wärmequelle in ihrer äußeren Schale angesprochen und daraus ge- folgert, dal) das Ansteigen der Temperatur mit wachsender Tiefe anderen Gesetzen folgen müsse, als sich aus der Abkühlungshypothese ergibt. Auf Grund von Tamanns ?) Untersuchungen (die ergeben hatten, dab die bei gewöhnlichem Druck unter Kontraktion krystallisierenden Substanzen jenseits des maximalen Schmelzpunkts unter Volumenausdehnung krystal- lisieren) und auf Grund seiner eigenen Annahme, dab der maximale Schmelzpunkt der Silikate in Tiefen von über 150 km liegen müßte, wird nun ©». Wolff durch Überlegungen über den möglichen Verlauf der Schmelz- und Temperaturgefällskurven zu der Ansicht geführt, daß in einer Tiefe von vielleicht 50 km eine schmelzflüssige Zone vorhanden wäre, die etwa gleiche Mächtigkeit besitzen dürfte, worauf dann um den maximalen Schmelzpunkt ein krystallisierter Gürtel von vielleicht derselben Mächtig- keit wie die beiden ersten zusammengenommen folgen würde. Indem nun bei fortschreitender Abkühlung in der Tiefe Krystallisation unter Volumen- vermehrunge eintrete, werde eine allmählich wachsende Spannkraft gebildet, die als vulkanische Kraft von innen nach außen wirke im Sinne von ©. F. Naumann und F. v. Richthofen. Leider sind bei dieser geistreichen Theorie so viele unsichere An- nahmen gemacht, dal) sie zunächst als unbeweisbar gelten mub. * ’k Ye Wir sind am Schluß. Werfen wir einen Blick auf die verschiedenen Theorien, die nach Ansicht ihrer Autoren die vulkanischen Erscheinungen ') Die vulkanische Kraft und die radioaktiven Vorgänge in der Erde. Zeitschr. d. Deutsch. geol. Ges., 1908, S. 431 ff. ?) Physik. Zeitschr., 1906, VII, S. 297 ff. und Zentralbl. f. Min. ete., 1907, 5.673 ff. E. Abderhalden, Fortschritte. II. 11 162 K.Sapper. Der gegenwärtige Stand der Vulkanforschung. erklären sollen, so finden wir, obgleich zahlreiche Hypothesen keine Er- wähnung gefunden haben, recht verschiedenartige Wege, die zur Wahrheit führen sollten. Es ist auch nicht zu verkennen, daß in den meisten Theorien ein kleiner oder größerer Schritt vorwärts getan worden ist, aber in man- chen doch auch wohl ein Seiten- oder gar ein Rückschritt. Noch scheint die Wahrheit fern zu sein, so viel ehrliches Wollen und scharfsinniges Nachdenken schon aufgewendet worden ist, denn die Summe tatsächlichen Wissens ist eben noch zu klein, als daß darauf ein sicherer Bau aufge- richtet werden könnte. Vielleicht wären wir bereits weiter, wenn die gei- stige Arbeit, die auf das Ausdenken so mancher geistreichen Theorie auf- gewendet worden war, im einfachen Beobachten und Feststellen von Tatsachen verbraucht worden wäre, denn uns tut vor allem Not die Sammlung solider Tatsachen, während manche allzu eilige Verallgemeinerung einzelner Beobachtungen Verwirrung schafft und daher den Fortschritt eher hemmen als fördern dürfte. Ich sollte meinen, die Devise für die Vulkanforschung der nächsten Zukunft sollte sein: mehr jeobachtungen als Theorien, mehr Bausteine als Baupläne! er Ionen und Elektronen. Von Gustav Mie, Greifswald. Seit einigen Jahren hat in der Physik eine Entwicklung begonnen, die aller Voraussicht nach zu einer völligen Umwandlung der Grundbe- griffe der Wissenschaft führen wird. Diese Entwicklung ist zunächst für Fernerstehende noch kaum zu bemerken, aber sie muß in absehbarer Zeit auch für entferntere Wissensgebiete wichtig werden. Es handelt sich in letzter Linie um unseren Begriff von der Materie selbst oder, um es ge- nauer zu sagen, um die Beziehungen, die wir zwischen den Elementar- partikelchen der Materie und dem sie umgebenden Vakuum anzunehmen haben. Das Vakuum bezeichnete man vor kurzem noch ganz allgemein als den Weltäther; neuerdings wollen manche Forscher diesen letzten Namen, der in der Tat zu manchen irrigen Vorstellungen geführt hat, abgeschafft wissen. Ich glaube aber, dal man ohne Schaden ebensogut „Weltäther“ wie „Vakuum“ sagen darf, wenn man sich nur von vornherein strenge davor hütet, irgend welche spezielle Vorstellungen, insbesondere mechani- stische Vorstellungen, mit dem Namen zu verbinden, wenn man sich also, wie es eigentlich in der Naturwissenschaft immer sein sollte, ohne Vor- eingenommenheit nur durch die experimentell erschlossenen Tatsachen zu tiefer gehenden Einsichten führen läßt. Man weiß freilich noch nicht sehr lange, daß sich an dem Vakuum selbst wirklich experimentelle Forschungen anstellen lassen, die zu be- stimmten Aussagen über seine physikalische Beschaffenheit führen. Es war Maxwell, der zuerst zeigte, wie man die von Faraday gewonnenen expe- rimentellen Erfahrungen zu Schlüssen über die physikalische Natur des Weltäthers, wie man damals noch ganz allgemein sagte, benutzen konnte. Vor Maxwell war die Kenntnis vom Vakuum eigentlich auf das eine be- schränkt, daß die Lichtstrahlung ein Vorgang ist, der sich im Vakuum abspielt und sich in ihm nach Art von Wellen ausbreitet. Die Natur dieser Ätherschwingungen war rätselhaft und, wie es schien, überhaupt der For- schung unzugänglich. Wie konnte man hoffen, ein Medium zu erforschen, welches man niemals isoliert in abgeschlossene (Gefäße bringen kann wie die greifbare Materie, und an welchem man niemals irgend welche inneren Veränderungen beobachten kann? Denn tatsächlich haben wir unter „Va- 11* 164 Gustav Mie. kuum“ oder „Weltäther“ das zu verstehen, was in einem Raumgebiet übrig bleibt, wenn man alle materiellen Elementarpartikelchen entfernt. Es ist daher die eigentlichste Natur des Weltäthers, daß er sich selbst niemals bewegen läßt. In der Tat haben die mannigfachsten Versuche, ihn durch schnell bewegte Materie mitzureißen oder ihn durch irgend welche innere Spannungen von der Stelle zu treiben, stets zu vollständig nega- tiven Resultaten geführt. Man mülite nämlich irgend welche Strömungen des Vakuums daran bemerken können, daß ein Lichtstrahl, der durch den Raum geht, wo man die Bewegung erwartet, davon ein wenig mitgerissen wird. Aber auch die subtilsten Messungen haben niemals eine Spur von derartigen Wirkungen gezeigt. Das stimmt ganz mit der bekannten Tat- sache überein, daß sich die Materie im Vakuum ohne die geringsten Ver- luste von Bewegungsenergie hindurch bewegt, was wir aus den Gesetzen der Planetenbewegung erkennen. Ist es schon eine große Schwierigkeit für die Forschung, daß das Vakuum unbeweglich, also auch ungreifbar ist, so ist seine zweite FEigen- tümlichkeit noch schlimmer, nämlich daß) sich keine inneren Veränderungen an ihm beobachten lassen, daß es also sozusagen für sich selbst nicht wahrnehmbar ist. Das hängt mit seiner Unbeweglichkeit eng zusammen. Denn, daß sich die Eigenschaften der greifbaren Körper verändern können, beruht in letzter Linie darauf, daß sie deformierbar sind und daß die Elementarpartikelchen, aus denen sie aufgebaut sind, ihre Lage zueinan- der verändern können. Da dies bei dem unbeweglichen Weltäther unmög- lich ist, so bleiben seine Eigenschaften konstant und man kann deswegen niemals Vorgänge in ihm direkt beobachten. Trotz alledem aber müssen wir daran festhalten, daß das Vakuum oder der Weltäther ein Medium ist, das an den physikalischen Vorgängen in der Welt immer mitbeteiligt ist, obwohl wir die Vorgänge nur an den greifbaren Körpern beobachten können. Denken wir einmal an die Licht- strahlung! Was wir beobachten können ist, daß ein greifbarer Körper, ohne in Berührung mit anderer Materie zu sein, Energie verliert und daß ein anderer greifbarer Körper Energie aufnimmt. Der erste Körper strahlt, der zweite absorbiert die auftreffende Strahlung. Der Überträger der Energie ist das Vakuum, und zwar ist es bekannt, dafß) die Energieübertragung eine bestimmte Zeit dauert, während welcher die Energie von dem Vakuum aufgenommen ist. Obwohl wir also an dem Vakuum selbst nichts wahr- nehmen können, werden wir indirekt dazu gezwungen, es uns als den Schauplatz gewisser Vorgänge vorzustellen, ohne welche uns die Erschei- nungen, die wir an den greifbaren Körpern wahrnehmen, immer unverständ- lich bleiben müßten. In ähnlicher Weise führen uns die sogenannten Fernkräfte dazu, die Mitwirkung des Vakuums an den physikalischen Vorgängen festzustellen. Im allgemeinen haben wir bei dem Wort „Kraft“ an eine Wechselwirkung zwischen zwei sich berührenden Körpern zu denken. Wenn ich zum Bei- Ionen und Elektronen. 165 spiel an einem Gegenstand ziehe, so zieht dieser auch an mir in der ent- gegengesetzten Richtung. Die Kraft hat ihre Gegenkraft, die Actio ihre Reactio. Das bleibt auch so, wenn die Kraftwirkung durch Vermittlung eines dritten Körpers erfolgt. Wenn z.B. ein Pferd durch Vermittlung eines Seils am Wagen zieht, so haben wir auf der einen Seite Wirkung und Gegenwirkung zwischen Pferd und Seil, auf der anderen Seite zwischen Seil und Wagen. Dabei befindet sich das Seil, das die Kraft überträgt, in einem Zustande der Spannung, der sich darin äußert, daß der Kraftüber- träger veränderte Eigenschaften gegenüber seinem Verhalten im spannungs- losen Zustand hat: es ist deformiert, und die Deformation läßt sich auf mancherlei Art feststellen. Nun kann aber auch das Vakuum als Über- träger einer Kraftwirkung zwischen zwei greifbaren Körpern auftreten. Wir beobachten z. B., dal) ein positiv und ein negativ elektrisch geladener Kör- per beide eine Zuekraft erfahren in der Richtung ihrer Verbindungslinie, gleich als ob sie durch ein unsichtbares gespanntes Seil miteinander ver- bunden wären, und zwar wirkt diese Kraft sicher auch dann, wenn sich beide Körper in einem vollkommenen Vakuum befinden. Wir dürfen sagen, daß hier das Vakuum die Rolle des gespannten Seils übernimmt, und die Physiker sind in der Tat seit Faraday und Maxwell ganz daran gewöhnt, dem Äther einen Zustand der elektrischen Spannung beizulegen, gewisser- malen das Analogon des elastischen Spannungszustandes, der uns von den greifbaren Körpern so wohl vertraut ist. Der Unterschied ist der, daß wir am Äther selbst nichts von diesem Spannungszustand wahrnehmen und daß es keinen Sinn hat, von einer gegenseitigen Kraftwirkung zwischen dem Äther und dem geladenen Körper, der in ihm den Spannungszustand hervorruft, zu sprechen, wie bei Pferd und Seil. Denn der Begriff der me- chanischen Kraft verliert bei einem Medium von dem Charakter des Va- kuums natürlich ganz seinen Sinn. Wir können nur von einer Kraft spre- chen, die der geladene Körper in dem elektrisch gespannten Äther erfährt. Immerhin ist klar, daß dieses eine vollkommen genügt, um den elektri- schen Zustand des Äthers nachzuweisen und zu messen. Wir müssen nur die Möglichkeit haben, an die Stelle, die wir untersuchen wollen, ein elek- trisch geladenes Prüfkörperchen einzuführen. Es ist also keine Frage, daß wir von dem elektrischen Spannungs- zustand des Äthers als einer experimentell genau definierten und stets meßbaren Größe sprechen können, ohne irgend eine Hypothese zu machen. Wir bedienen uns dann nur einer besonderen Darstellungsweise der experi- mentellen Tatsachen, über deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit überhaupt nicht zu diskutieren ist, bei der wir uns vielmehr nur zu fragen haben. ob sie bequem und praktisch oder ob sie umständlich und ungeschickt ist, Bekanntlich hat man vor Maxwell einer anderen Art, die Dinge darzu- stellen, den Vorzug gegeben, die wohl noch heute jedem Nichtphysiker ge- läufiger sein dürfte als die Maxwellsche Anschauungsweise. Während wir nach Maxwell sagen müssen: „der elektrisch gespannte Äther zieht den 166 Gustav Mie. positiv und den negativ geladenen Körper zueinander hin“, sagte man früher: „der positiv und der negativ geladene Körper ziehen sich an.“ Diese ältere Art zu sprechen und zu denken nennt man auch die Theorie der unvermittelten Fernkräfte. Sie sieht zuerst sehr einfach aus, aber sie wird unbrauchbar, so bald man mehr Tatsachen als die einfachste, primi- tivste, die wir eben angeführt haben, in den Bereich der Betrachtung zieht. Die Theorie der unvermittelten Fernkräfte kann eigentlich niemals zu dem Gedanken führen, daß die Fernkräfte zu ihrer Ausbildung Zeit brauchen könnten, daß sie also außer von der Entfernung der aufeinander wirkenden Körper noch von irgend etwas anderem, z. B. von Bewegungen der Körper, abhängen könnten. Trotzdem führten schon vor Maxwell die experimentell bekannten Tatsachen einige Theoretiker dazu, unvermittelte Fernkräfte anzunehmen, die auch von der Zeit abhängen. Die Annahme soleher Fernkräfte läßt sich wohl rein formell mathematisch durchführen, aber es ist klar, daß sie strengeren Anforderungen an innere Logik nicht standhalten kann. Wie das helle Licht eines Scheinwerfers leuchtete die Forderung Maxwells in dieses dunkle Gebiet hinein, dab man das Vakuum wirklich als ein physikalisches Medium ansehen solle, das die Kraft überträgt. Das erste, was die Maxwellsche Auffassung klarstellte, war der Zu- sammenhang zwischen den elektrischen und den magnetischen Wirkungen. Das Vakuum kann außer dem elektrischen noch einen zweiten ebenso prä- zise definierten und ebenso genau meßbaren Zustand annehmen, nämlich den magnetischen. So wie im elektrisch gespannten Äther ein elektrisch geladenes Teilchen eine Kraftwirkung erfährt, so erleidet im magnetisch erregten Äther ein Magnetpol eine solche, ebenso übrigens auch ein Leiter, der einen elektrischen Strom führt, z. B. ein sogenanntes Stromsolenoid. Die beiden Ätherzustände zeigen einige Analogien und sie werden infolge- dessen von Laien oft miteinander verwechselt, aber in Wirklichkeit sind sie ganz voneinander verschieden. Der magnetische Zustand des Äthers tritt immer dann ein, wenn elektrische Ladungen sich bewegen. Zum Bei- spiel ist ein stromdurchflossener Draht von einem „magnetischen Feld“ umgeben, ebenso eine elektrisch geladene Scheibe, die man in schnelle Ro- tation versetzt. Auch das Magnetfeld in der Umgebung von Magnetstäben erklärt man sich seit Ampere dadurch, dal) man annimmt, daß um die Moleküle des Eisens oder Stahls elektrisch geladene Partikelehen schnell rotieren. Nach der Maxwellschen Auffassung ist nun der tiefere Grund für das Auftreten des magnetischen Zustandes im Äther der, dal ein elek- trisches Feld in ihm nicht verlegt werden kann, ohne daß an jeder Stelle, wo eine Änderung eintreten soll, eine besondere Ursache wirkt. Vielleicht läßt sich die Notwendigkeit, mit der sich diese Folgerung aus der Maxwell- schen Denkweise ergibt, durch ein Gleichnis aus der gewöhnlichen Me- chanik besonders klarstellen. Wir haben oben gesehen, daß ein greifbares Medium, wenn es eine Kraftwirkung überträgt, stets in einen Spannungs- Ionen und Elektronen. 167 zustand kommen muß, den wir durch die damit verbundenen Deforma- tionen direkt wahrnehmen. Nun können sich aber die Deformationen nicht ändern, ohne daß die Teilchen der Materie (wenn auch vielleicht nur kleine) Bewegungen ausführen. Wenn also in einem materiellen Medium elastische Spannungen von einer Stelle nach einer anderen verlegt werden, so müssen seine Teilchen dabei Bewegungen ausführen, welche die Ursache dafür sind, daß die Spannung in einem Raumgebiet aufhört und zugleich in einem anderen Raumgebiet neu entsteht. Nach der Maxwellschen Denk- weise hat nun das Vakuum da, wo ein elektrisches Feld ist, wirklich einen besonderen Zustand, wenn man das auch nicht an einem besonderen Ver- halten des Vakuums an und für sich bemerken kann. Dieser elektrische Spannungszustand kann sich ebensowenig wie der elastische Spannungs- zustand der greifbaren Materie verändern, ohne daß ein besonderer Vor- gang darauf hinwirkt. Dieser Vorgang ist nach der Mawwellschen Auffas- sung das, was wir als Magnetfeld wahrnehmen. Wir haben uns also zu denken, daß in einem elektrischen Strom jedes der kleinen elektrisch ge- ladenen Partikelchen, die in dem Stromleiter wandern, von einem kleinen magnetischen Feld umgeben ist, welches die mit dem Partikelchen verbun- denen Spannungszustände im umgebenden Äther in der Richtung der Be- wegung überträgt. Ohne ein solches Feld wäre die Bewegung des Parti- kelchens unmöglich, denn es kann, während es selber vorwärts geht, nicht sein elektrisches Feld zurücklassen. Ehe das Partikelchen zu wandern be- ginnt, muß demnach irgendwie der magnetische Zustand des Äthers in Gang gebracht werden und er muß dann das Partikelchen auch fernerhin auf seiner Wanderung begleiten. Der magnetische Zustand muß sich aber auch noch weiter in den Äther hinein fortsetzen und nach ganz bestimmten Gesetzen verteilt sein, damit er gerade nur die Übertragung der wandern- den kleinen elektrischen Felder besorgt, aber im übrigen keine elektrische Spannungen erzeugt. Man denke sich einmal an Stelle des Äthers ein Räder- werk, das aus einer ungeheueren Zahl ineinander greifender Zahnrädchen zusammengesetzt ist. Wenn in irgend einem kleinen Bereich ein Vorgang stattfindet, der die Rädchen dort in Bewegung bringt, so breitet sich die Rotation auf das ganze Räderwerk aus, denn sonst müßten an der Stelle, wo rotierende und nicht rotierende Rädchen ineinander greifen, die Zähne steigende Deformationen und Spannungen bekommen. Die entfernteren Räder rotieren alle nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, nämlich so, daß in den Zähnen keine wachsenden elastischen Spannungen eintreten können; wir wollen das „stationäre Rotation“ nennen. In ähnlicher Weise verbreitet sich der magnetische Zustand von dem kleinen Bereich der wan- dernden elektrischen Teilchen aus über sehr weite Gebiete, weil sonst an der Grenze zwischen magnetischem und unmagnetischem Zustand nach den Gesetzen der Ätherphysik eine stets wachsende elektrische Spannung erzeugt würde. So ist denn der stromdurchflossene Leiter rings von einem großen magnetischen Feld umgeben und dieses Feld verläuft stationär, 168 Gustav Mie. d.h. so, daß aus ihm keine wachsenden elektrischen Spannungen resul- tieren. Da dieses große magnetische Feld mit den kleinen Feldern, die die einzelnen elektrischen Partikelchen bei ihrer Wanderung begleiten, in einem ursächlichen Zusammenhang steht, so gibt seine Stärke ein Maß für den elektrischen Strom an, den es umgibt. Es ist allgemein bekannt, daß die meisten Meßinstrumente für elektrische Ströme (Amperemeter) darauf be- ruhen, daß das den Strom umgebende magnetische Feld an einer be- stimmten Stelle gemessen wird. Die Maxwellsche Art der Auffassung führt uns sofort zu der wei- teren Frage: Auf welche Weise werden die magnetischen Zustände des Äthers in Gang gebracht? Auch hierauf geben die experimentellen Tat- sachen uns die Antwort, wenn wir sie nur richtig zu deuten verstehen. Ich erinnere an den allgemein bekannten Induktionsapparat, dessen Wir- kungsweise man am kürzesten beschreiben kann als abwechselndes Ent- stehen und Aufhören eines starken magnetischen Feldes in seinem Eisen- kern. Diese Veränderungen des magnetischen Feldes sind begleitet’ von elektrischen Spannungen, die man die induzierten Spannungen nennt. Nach der Maxwellschen Auffassung müssen diese Spannungen, die in einem ur- sächlichen Zusammenhang mit den Änderungen des Magnetfeldes stehen, das sein, was das Magnetfeld erst in Gang und dann zum Aufhören bringt, und zwar haben die Spannungen, die es in Gang bringen, die entgegen- gesetzte Richtung, wie die, welche es aufhören machen. Wenn wir die beiden Pole der Sekundärspule des Induktionsapparates miteinander leitend verbinden, so rufen die mit den Änderungen des Magnetfeldes verbundenen Spannungen in der Spule einen elektrischen Strom hervor. Dasselbe wäre unmöglich zu erreichen durch die elektrischen Spannungen, die einen elek- trisch geladenen Körper umgeben. Würden wir der Spule einen elektrisch geladenen Körper nähern, so würde eine Influenzladung auftreten, aber unter keinen Umständen ein elektrischer Strom. Wir sehen also, daß die Spannungen, welche vorübergehend auftreten, wenn sich magnetische Felder ändern, nach anderen Gesetzen im Raum verteilt sind, als die stationären Spannungen, die die Umgebung elektrischer geladener Körper erfüllen. In diesem letzten Falle halten sich, wie man sagen kann, die Spannungen des Äthers miteinander überall das Gleichgewicht. Man kann die Bedin- gung, welche das Feld erfüllen muß, um im Gleichgewicht zu sein, sehr leicht mathematisch scharf formulieren. Sie kommt darauf hinaus, daß in einem ringförmigen Leiter, den man in das Feld hineinhält, niemals ein Strom hervorgerufen werden kann. Diese Bedingung ist also im den ver- änderlichen Feldern, bei deren Besprechung wir jetzt stehen, nicht mehr erfüllt, sie sind demnach nicht im Gleichgewicht, und infolgedessen erzeugen sie in dem Äther einen neuen Zustand, den magnetischen, oder bewirken die Veränderung eines vorhandenen magnetischen Zustandes. Es ist sehr naheliegend, ein Analogon aus der gewöhnlichen Mechanik anzuführen. Die elastischen Spannungen in einem Körper können nur dann unveränderlich Ionen und Elektronen. 169 (stationär) sein, wenn sie in sich im Gleichgewicht sind. Herrscht kein Gleichgewicht, so rufen sie Bewegungen in dem Körper hervor, oder sie verändern vorhandene Bewegungen. Wir sehen hier wieder die Analogie, zwischen den magnetischen Vorgängen im Äther und den Bewegungsvor- gäneen in der Materie bestätigt, von der schon oben die Rede gewesen ist. Vielleicht ist es gut, sich die Rolle, welche die elektrischen Spannungen bei den Veränderungen maenetischer Felder spielen, an dem einfachen Fall des Induktionsapparates noch etwas genauer zu vergegenwärtigen. Wird der primäre Stromkreis geschlossen, so laden sich die Endklemmen der Primärspule auf die Spannung der Batterie, die den Apparat speist. Dieser Spannung wird zunächst noch nicht durch Spannungen, wie sie bei einem stationären Strom infolge des sogenannten Leitungswiderstandes auftreten, das Gleichgewicht gehalten, sie ist außer Gleichgewicht, was man aus dem in der Sekundärspule auftretenden „Induktionsstrom“ erkennen kann, und ruft nun ein mehr und mehr wachsendes Magnetfeld in dem Eisenkern hervor. Hand in Hand damit wächst der Strom in der Primärspule, der, wie wir wissen, mit dem Magnetfeld in gesetzmäßigem Zusammenhang steht. Ist der Strom schließlich so groß geworden, dal die Spannungen, die zur Überwindung des Leitungswiderstandes nötig sind, der Klemmen- spannung das Gleichgewicht halten, so ist der Zustand stationär geworden, der Primärstrom bleibt nun konstant, und in der Sekundärspule hat der Strom aufgehört. Wenn darauf der Primärstrom unterbrochen wird, so eeht in kurzer Zeit das magnetische Feld bis auf Null herunter, es ent- stehen dabei sehr hohe Spannungen im umgebenden Raum, die sich nicht das Gleichgewicht halten und durch welche der magnetische Zustand in dem Apparat zum Aufhören gebracht wird. Man kann den Induktions- apparat vergleichen mit einem Schwungrad, das man erst in Rotation und dann zum Stillstand bringt. Wir wollen uns etwa denken, daß die Bewe- gung dadurch hervorgerufen wird, daß man an einer Kurbel dreht, die mit dem Schwungrad durch Zahnräder verkoppelt ist. Beim Andrehen treten in den Zähnen der Kopplung elastische Spannungen ein, denen keine Spannung in der Schwungradachse das Gleichgewicht hält und die infolge- dessen eine allmähliche Beschleunigung der Rotationsbewegung bewirken. Diese Spannungen, die das Analogon der elektrischen Spannungen beim Schließen des Primärstroms im Induktionsapparat sind, werden durch die angewandte Kraft hervorgerufen und können diese nicht übersteigen. Bei der Rotation treten zugleich Reibungswiderstände in den Achsenlagern auf und die Achse bekommt durch diese Gegenkräfte eine kleine Torsions- spannung; ist nun die Bewegung so schnell geworden, dab die mit ihr wachsenden Reibungswiderstände gerade der angewandten Kraft das Gleich- gewicht halten, so kann keine weitere Beschleunigung mehr eintreten, wir haben nun Kräftegleichgewicht und stationäre Bewegung. Der Reibungs- widerstand ist das Analogon zu dem Leitungswiderstand des elektrischen Stroms. Wenn wir darauf plötzlich durch eine eingeschobene Hemmung 170 Gustav Mie. das Kurbelrad zum Stillstand bringen, so entstehen in den Zahnrädern infolge des Trägheitswiderstandes des Schwungrades kurz andauernde, sehr hohe elastische Spannungen. Wenn diese Spannungen nicht eintreten wür- den, wenn z. B. die Zähne nachgiebig wären, so könnte das Schwungrad nicht zum Stehen kommen. Diese hohen Spannungen beim plötzlichen Bremsen der Bewegung entsprechen den hohen elektrischen Spannungen, die im Induktionsapparat beim plötzlichen Unterbrechen des Stromes ein- treten. Aus den bisherigen Auseinandersetzungen ist zu erkennen, wie es uns nach der Maxwellschen Auffassungsweise möglich geworden ist, die an und für sich nicht wahrnehmbaren Vorgänge im Vakuum durch die Wirkungen, die sie auf greifbare Körper ausüben, zu erkennen und in allen Einzelheiten zu untersuchen. In der Tat sind wir seit Maxwell über das gesetzmäßige Ineinandergreifen der elektrischen und magnetischen Zu- stände des Vakuums ebenso genau unterrichtet, wie über die Gesetze der mechanischen Vorgänge in der greifbaren Materie, ja man kann sogar sagen: besser, denn die Vorgänge im Vakuum lassen sich durch sehr ein- fache mathematische Formeln, wie es scheint absolut genau, beschreiben, während die an der greifbaren Materie beobachteten einfachen Gesetz- mäßigkeiten nur immer mehr oder weniger näherungsweise gelten. Wenn man in einem greifbaren Medium an einer begrenzten Stelle plötzlich eine Änderung des Spannungszustandes hervorruft, so ist es be- kannt. daß sich die Änderung nicht in der Weise über das Medium aus- breitet, daß sich alsbald wieder Spannungsgleichgewicht herstellt, sondern daß) vielmehr von dem Störungszentrum aus eine elastische Stoßwelle mit einer ganz bestimmten, theoretisch zu berechnenden Geschwindigkeit durch das Medium eilt. Komprimiert nun beispielsweise plötzlich die Luft zwi- schen den Handflächen, indem man die Hände schnell zusammenklatscht, so gleichen sich die dadurch entstehenden Luftdruckdifferenzen nicht ein- fach aus, sondern es bildet sich eine Kompressionswelle, die das Störungs- zentrum in Form einer Kugelschale umschließt, und diese Kugelschale eilt, sich radial erweiternd, nach allen Seiten mit der Geschwindigkeit 340 m/sec vor. Wenn die Kompressionswelle unser Ohr trifft, nehmen wir sie als Knall wahr. Das eigentümliche bei diesem Vorgang ist, dab hier plötzlich Druckunterschiede in der freien Luft auftreten, während man stationäre Druckänderungen nur bekommen kann, wenn man in einem ringsum geschlossenen Gefäß die Luft komprimiert, so daß die Gefäß- wände die Grenzen des Kompressionsbereiches sind. Da die Vorgänge im Vakuum, wie wir oben öfters gesehen haben, ganz ähnlich ablaufen wie die mechanischen Vorgänge in den greifbaren Körpern, so ist es voraus- zusehen, dal) auch im Vakuum Wellen von einem Störungszentrum aus- sehen können. Wenn man einen elektrisch geladenen Körper mit einem plötzlichen Ruck ein wenig verschiebt, so geht das elektrische Feld nicht im ganzen Raum momentan mit ihm, sondern es entsteht zunächst in Ionen und Elektronen. rer der unmittelbaren Umgebung des Körpers durch die Bewegung eine Ver- zerrung des elektrischen Feldes, wodurch seine Spannungen außer Gleich- gewicht gebracht werden. Infolgedessen müssen die Spannungen, wie wir gesehen haben, ein Magnetfeld hervorbringen, und dieses Magnetfeld be- wirkt, daß in der unmittelbaren Nähe des bewegten Körpers das Feld in der Weise verlegt wird, daß sich wieder Gleichgewicht herstellt. Nun kann aber einerseits das Magnetfeld nicht einfach wieder verschwinden, wenn die Bewegung des Körpers aufgehört hat, und andrerseits ist dadurch, daß die elektrischen Spannungen in der unmittelbaren Nähe des Körpers mit ihm vorgerückt sind, in größerer Entfernung aber nicht, in einer mittleren Entfernung eine Verzerrung des Feldes eingetreten, wodurch nun hier das Spannungsgleichgewicht gestört ist. Das gestörte elektrische Feld verändert den magnetischen Zustand des Äthers in der Weise, dal das vorhandene magnetische Feld weiter vom Störungszentrum wegrückt. Ohne in die Einzelheiten einzudringen, können wir hieraus schon sehen, dal) die Theorie das Auftreten einer Störungswelle in dem elektrischen Feld vorhersagt. Eine genaue mathematische Analyse ergibt, daß das bei der Bewegung des geladenen Körpers entstandene magnetische Feld sich stets in einer das Störungszentrum umgebenden Kugelschale befindet, die, sich radial erweiternd, mit enormer Geschwindigkeit nach allen Rich- tungen hinwegeilt. Diese Kugelschale ist zugleich die Grenze zwischen dem inneren Bereich, wo das Vorrücken des elektrischen Feldes in die neue, der Vorbewegung des geladenen Körpers entsprechende Lage voll- endet ist, und dem äußeren Bereich, wo das elektrische Feld noch seine alte Lage hat. In der Kugelschale selbst ist daher das Feld verzerrt und außer Gleichgewicht. Als die Geschwindigkeit, mit der sich die elektro- magnetische Störung durch das Vakuum hindurchbewegt, ergibt sich aus den uns genau bekannten Gesetzen der AÄtherphysik der kolossale Wert 300.000 km/see. Dieser Wert ist schon von Maxwell berechnet worden. Wenn wir den elektrisch geladenen Körper nicht nur einmal ruck- weise verschieben, sondern wenn wir ihn regelmäßig periodisch hin und her bewegen würden, so würden wir nicht eine einzelne Stoßwelle im Va- kuum zu erwarten haben, sondern einen regelmäßig periodischen Wellen- zug. Allerdings müßte man, um die Erscheinung beobachten zu können, wegen der enorm hohen Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wellen, die Hin- und Herbewegung in äußerst kurzen Intervallen, wenigstens viele millionen- mal in der Sekunde ausführen. Es ist bekannt, daß es Heinrich Hertz gelungen ist, wirklich derartige Experimente zu machen. Er ließ in einem Metallstab, dem Öszillator, elektrische Ladungen in Form eines hoch- frequenten Wechselstroms hin und her gehen, und es zeigte sich, daß der Oszillator nun in der Tat elektromagnetische Wellen aussendete, die mit der theoretisch berechneten Geschwindigkeit durch den Raum eilten. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, daß die Hertzschen Experimente in neuerer Zeit ihre praktische Anwendung in der Telegraphie ohne Draht 142 Gustav Mie. gefunden haben. Das Eigentümliche bei diesen regelmäßig periodischen Ätherwellen besteht, wie schon Hertz gezeigt hat, darin, daß sich in ihnen die elektrischen Spannungen sozusagen von dem Öszillator ganz ablösen und, wenigstens in größerer Entfernung von ihm, durch den Raum eilen, ohne noch irgendwie an elektrische Ladungen gebunden zu sein. Gerade so, wie wir in den Kompressionswellen in der Luft Druckspannungen haben, die nicht durch Gefäßwände begrenzt sind, so haben wir in den Äther- wellen elektrische Spannungen, die nicht an elektrischen Ladungen begrenzt sind. (serade diese frei durch den Raum eilenden Spannungen sind es, welche in dem Empfangsapparat und in dem Wellendetektor die Wirkun- gen hervorrufen, an denen man die Wellen wahrnimmt. Hier würde die Theorie der unvermittelten Fernwirkungen völlig versagen, wenn man mit ihrer Ausdrucksweise versuchen wollte, die Erscheinungen zu beschreiben. Sie ist deswegen seit den Hertzschen Versuchen endgültig abgetan, und die Maxwellsche Theorie hat überall gesiegt. ‘s ist sehr bemerkenswert, daß die Zahl 300.000 km/sec auf das genaueste mit dem Wert übereinstimmt, den man schon lange für die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtes kennt. Auch im übrigen haben Theorie und Experiment übereinstimmend gezeigt, daß die durch hoch- frequente Wechselströme hervorgerufenen Ätherwellen sich vollkommen so verhalten, wie sich eine Lichtstrahlung von sehr großer Wellenlänge ver- halten würde. Das Auge spricht also auf genügend schnelle elektro-magne- tische Schwingungen an, ähnlich wie das Ohr auf mechanische Schwin- gungen. Es kann danach keinem Zweifel unterliegen, daß die Maxwellsche Theorie nicht nur Klarheit über die elektromagnetischen Vorgänge ge- bracht hat, sondern daß sie zugleich auch zu der Aufdeckung jener bisher so außerordentlich rätselhaften Ätherzustände geführt hat, deren regelmäßig periodischer Wechsel als Lichtstrahlung bemerkbar wird. Diese Äthervorgänge sind nichts anderes als die elektromagnetischen Vorgänge, deren Verhalten uns durch die Experimentaluntersuchungen Faradays bis in alle Einzelheiten genau bekannt geworden ist, und die Optik ist für uns nur noch ein großer Abschnitt der Elektrizitätslehre, der von den äußerst schnellen elektrischen Schwingungen (mit vielen Billionen Wechseln in der Sekunde) handelt. Nieht nur über die Lichtwellen selber, sondern auch über die Art ihrer Erregung hat die Maxwellsche Theorie uns Klarheit gebracht. Natür- lich war es, so lange man überhaupt nichts Näheres über die Natur der Äthervorgänge in den Lichtschwingungen wußte, unmöglich zu sagen, wie die Atome eines leuchtenden Körpers den Äther in Schwingungen versetzen können. Eine ganz besondere Schwierigkeit lag darin, daß, wie man wußte, Materie den Äther überhaupt nicht in Bewegung setzen kann. Solange man also an mechanistischen Vorstellungen haften blieb und das Licht als Wellenbewegung des Äthers auffassen wollte, verstrickte man sich in lauter Widersprüche. Wie durch einen Zauberspruch löste die Ionen und Elektronen. 173 elektromagnetische Theorie des Lichtes dieses Wirrsal. Der Zusammenhang zwischen Äther und Materie ist überhaupt kein mechanischer, sondern das, was beide verknüpft, so daß Materie auf Äther, Äther auf Materie physi- kalisch einwirken kann, ist nur die elektrische Ladung. Es ergibt sich hieraus die Konsequenz, daß die Atome elektrische Ladungen besitzen müssen, die in ihnen oszillieren können, und zwar mit Schwinguneszahlen von vielen Billionen in der Sekunde. Wenn hiermit auch die Möglichkeit gezeigt ist, dem Problem der physi- kalischen Wechselbeziehungen zwischen Atom und Vakuum näher zu kom- men, so ist doch klar, daß die Vorstellung der im Atom beweglichen elek- trischen Ladungen noch manche Schwierigkeiten mit sich bringt. Wir wollen nun im folgenden sehen, wie die weiterschreitende Forschung diese Schwie- rigkeiten zum Teil beseitigt hat und bis zu welchem Standpunkte man gelangt ist. Die ersten experimentellen Erfahrungen über die Ladungen der Atome sind an den Erscheinungen der Elektrolyse gewonnen. Es sei mir gestat- tet, hier kurz an die wichtigsten Tatsachen zu erinnern. Leitet man einen elektrischen Strom durch die wässerige Lösung eines Salzes, einer Säure oder einer Base, so finden in der Nähe der bei- den Elektroden Zersetzungen statt, die darauf beruhen, daß) ein Bestand- teil der Lösung vermindert, ein anderer vermehrt wird. Leitet man bei- spielsweise durch eine Lösung von Kaliumsulfat (K,SO,) den Strom, so ist das, was man unmittelbar sieht, an der Anode eine Sauerstoff-, an der Kathode eine Wasserstoffentwicklung, und zwar scheidet sich von beiden Gasen gerade ein Grammäquivalent ab (d.h. 19 Wasserstoff, 1/, 16 = Sy Sauerstoff), wenn sich im ganzen die Elektrizitätsmenge 96.540 Coulomb durch die Salzlösung hindurch entlädt (1 Ampere = 1 Coulomb pro Sekunde). Untersucht man nach dem Durchgang des Stromes die Lösung chemisch, so findet man, dal) die Wasserstoffentwicklung mit einer Anreicherung von Kalium in der Nähe der Kathode Hand in Hand geht, welches in der Lösung als KOH auftritt, und die Sauerstoffentwicklung mit einer Ver- minderung des Kaliums in der Nähe der Anode und dementsprechend einer Bildung von Schwefelsäure in der Lösung. Dabei ist aber nicht nur der Prozentgehalt der Lösung an K, sondern auch der an SO, in der Nähe der Elektroden verändert. Man sieht das an den auf der nächsten Seite in einer Tabelle aufgeführten Messungsresultaten. Hieraus folgt, daß der elektrische Strom im Elektrolyten mit gewis- sen materiellen Strömungen, die im Innern der Lösung vor sich gehen, verbunden ist. In der Lösung von K, SO, strömt zum Beispiel der Stoff K im Wasser von der Anode weg zur Kathode hin und SO, in der umge- kehrten Richtung. Aus dem näheren Studium der Elektrolyse hat sich ein- wandfrei feststellen lassen, dal in der ganzen Lösung ein gleichmäßiges Strömen der beiden Stoffe in der einen und in der anderen Richtung statt- findet. Man nennt die beiden Stoffe, die im Elektrolyten wandern, die 174 Gustav Mie. Ionen, und zwar den Stoff, der in der Richtung zur Kathode geht, Kation, den anderen Anion. In unserem Beispiel ist K das Kation, SO, das Anion. Lösung von K,SO, nach Durchgang von 96.450 Coulomb. An der Anode An der Kathode Ausgeschieden . .... - #1) 1H Abnahme an Salz .... —0,3K, SO, —0,2K,S0, | Hinzugekommen . ... .| H,O, 1KOH Gesamtänderung von RK. . — 0,6 Äquivalent + 0,6 Äquivalent i 30,: : + 0.4 Aquivalent — 0,4 Äquivalent | Zersetzt.. NE: el) U HEO In der Nähe der Anode verschwindet also eine gewisse Menge des Kations und um genau dieselbe Menge desselben Stoffes wird die Lösung in der Nähe der Kathode angereichert, vom Anion verschwindet eine ge- wisse Menge an der Kathode und tritt hervor an der Anode. Rechnet man die beiden überführten Mengen des Kations und des Anions in Gramm- äquivalenten, so findet man, daß die Summe beider immer gerade dann genau ein Grammäquivalent beträgt, wenn 96.540 Coulomb durch die Lö- sung entladen worden sind. Dieser Satz, der schon aus den alten Forschun- gen Faradays über Elektrolyse hervorgeht und durch alle späteren Unter- suchungen bestätigt worden ist, gilt mit einer außerordentlichen Präzision, und ganz allgemein, gleichgültig, was für ein Salz gelöst worden ist, welche Konzentration die Lösung hat, welche Temperatur usf. Nennen wir also die bei Entladung von 96.540 Coulomb überführte Menge des Anions, gerechnet in Grammäquivalenten, nı, die des Kations ng, so sind n, und ng echte Brüche und zwar so, daß na +n« —=1. Die beiden Zahlen n, und nx nennt man die Überführungszahlen der Ionen. In dem oben gebrachten Beispiel (Lösung von K,SO,) hatten n, und nx die Werte 0,4 und 0,6. Die Methode, durch Analyse der Lösung in der Nähe der Elektroden die Über- führungszahlen zu bestimmen, ist von Hittorf erfunden und von ihm auch zuerst in zahlreichen Fällen angewandt worden. Aus dem gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Ionenüberführung und Entladung von Elektrizitätsmengen ziehen wir den Schluß, daß beides nur zwei Seiten eines und desselben Vorganges sind. Elektrische Ladungen müssen immer an materiellen Teilchen haften, denn „elektrische Ladung“ ist ja nur ein anderes Wort für das, was wir auch „physikalische Ver- knüpfung zwischen einem greifbaren Körper und dem Vakuum“ nennen könnten. Die einfachste Art der Übertragung elektrischer Ladungen in einem Stromleiter würde demnach darin bestehen, daß materielle Teilchen 4 Au Ionen und Elektronen. 175 mit den an ihnen haftenden Ladungen übergehen. In einem Elektolyten haben wir tatsächlich in den Ionen solche materiellen Träger der Ladungen zu sehen. Und zwar setzt sich der elektrische Strom in den Elektrolyten aus zwei Teilen zusammen, einem Strom positiv geladener Teilchen in der Richtung von der Anode zur Kathode (Kationen) und einem Strom negativ geladener Teilchen in der umgekehrten Richtung (Anionen). Wenn ein Strom positiv geladener Teilchen im ganzen die Ladung m von der Anode zur Kathode bringt, so kommt das für die Entladung auf ganz dasselbe hinaus, wie wenn ein Strom negativer Teilchen die La- dung —m von der Kathode zur Anode bringt. Die durch den Elektrolyten im ganzen entladene Elektrizitätsmenge ist also gleich der Summe der von den Kationen übertragenen positiven und der von den Anionen übertrage- nen negativen Ladungen. Andrerseits sagt uns das fundamentale Gesetz der Elektrolyse, daß bei der Entladung einer und derselben Elektrizitäts- menge die Summe der Mengen des überführten Anions und des überführ- ten Kations stets dieselbe ist, wenn man beide Mengen in chemischen Grammäquivalenten angibt. Hieraus folgt ohneweiters: An einem Gramm- äquivalent Ionen haftet unter allen Umständen im ganzen stets dieselbe elektrische Ladung, abgesehen natürlich vom Vorzeichen; und zwar beträgt die „Äquivalentladung“ nach den oben angeführten Zahlen 96.540 Coulomb. (sehen also nx Grammäquivalente des Kations von der positiven Elektrode zur negativen hinüber, so übertragen sie eine positive Ladung von der Größe nx . 96.540 Coulomb, gehen zugleich n, Grammäquivalente Anionen in der umgekehrten Richtung, so bringen sie eine negative Ladung von nı.96.540 Coulomb zur Anode hinüber. Die ganze entladene Elektrizitäts- menge ist dann, wenn nx und nı die Überführungszahlen der Ionen sind, also na + nx = 1, in der Tat nk . 96.540 + na . 96.540 = 96.540 Coulomb. Ein Elektrolyt ist nach alledem ein Körper, in welchem eine Menge positiv und negativ geladener Teilchen vorhanden sind, die, wenn ein elek- trisches Feld im Innern des Elektrolyten hergestellt wird, den dadurch entstehenden Kraftwirkungen folgen, so daß die doppelte Strömung ent- steht, von der wir oben gesprochen haben. Dies ist nur dann möglich, wenn voneinander getrennte positive und negative Teilchen vorhanden sind. Wären die Teilchen so aneinander gebunden, daß sie Komplexe bildeten, in denen die positiven und die negativen Ladungen sich gerade zu Null ergänzten, dann würden sich diese Komplexe in dem Felde nur in bestimmter Weise orientiert einstellen, und zwar so, dab die positiven Teilchen nach der Richtung der auf sie wirkenden Kraft zeigten, die negativen, da sie die umgekehrte Kraftwirkung erfahren, nach der anderen; es würde aber kein andauerndes Wandern der Teilchen eintreten können, wie wir es im Elektrolyten beobachten. Da die posi- tiven und die negativen Ionen nun immer Bestandteile des im Wasser gelösten Salzes sind (in dem oben angeführten Beispiel K und SO,), so ist man zu dem Schlusse gezwungen, daß die Moleküle des gelösten 176 Gustav Mie., Salzes im Wasser wenigstens zum großen Teil in zwei Bestandteile zer- spalten sind, von denen der eine eine positive, der andere eine negative Ladung trägt. Da bei der Spaltung der Moleküle stets gleiche chemische Äquivalente von den positiven und von den negativen Teilchen entstehen, so ist die Summe aller der im Wasser herumschwimmenden geladenen Partikelchen gleich Null, der Elektrolyt als Ganzes ist also ungeladen. Es hat sich als ein ganz allgemein geltendes Gesetz ergeben, daß die in dem Salz gebundenen Metallatome (bei Säuren der Wasserstoff) immer als die positiv geladenen Teilchen, die Kationen, auftreten und daß der Säurerest (bei Basen das Hydroxyl OH) die negativen Teilchen, die Anionen, liefert. Nach den allgemein akzeptierten Vorstellungen der heutigen Natur- wissenschaft haben wir unter Grammatom oder Grammolekül eines Stoffes eine Stoffmenge zu verstehen, die eine ganz bestimmte konstante Zahl von einzelnen Atomen oder Molekülen enthält. Nach einer neueren Berechnung von M. Planck und übereinstimmend damit nach verschiedenen neuen Zählun- gen, beträgt diese Zahl ziemlich genau 0,6175.10%. Unter einem Gramm- äquivalent verstehen wir dieselbe Stoffmenge, nachdem sie durch die che- mische Valenzzahl des Stoffes dividiert ist. Mit den in der Chemie ge- bräuchlichen Symbolen schreiben wir beispielsweise ein Grammäquivalent Kalium, Wasserstoff, Hydroxyl als K,H, OH, ein Grammäquivalent Barium, Zink, Schwefelsäurerest als 1/, Ba, !/; Zn, Y/,SO,, ein Grammäquivalent Alu- minium, Phosphorsäurerest !/, Al, '/, PO, usf. Aus dem allgemeinen Gesetz der Elektrolyse ergibt sich nun zunächst, dab alle einwertigen Atome und Radikale, wenn sie als Ionen auftreten, dieselbe Ladung besitzen. Man nennt die Ladung des einwertigen Atoms oder Radikals das elektrische Elementarquantum, es beträgt 96.540 :0,6175.10% = 1,564.10719 Coulomb. Alle zweiwertigen Atome und Radikale sind mit zwei Elementarquanten behaftet, die dreiwertigen mit drei usf. In den Elektrolyten zeigt demnach die elektrische Ladung ebenso wie die Materie selbst eine atomistische Zusammensetzung, und Helmholtz, welcher zuerst auf diese Tatsache hin- wies, nannte deswegen das Elementarquantum der elektrischen Ladung direkt ein Elektrizitätsatom. Die Tatsachen der elektrolytischen Leitung scheinen darauf hinzu- weisen, dal) die Verknüpfung des Äthers mit den Elementarteilchen der Materie eine feste, unabänderliche ist, deren Maß eben das Elementar- quantum der Ladung angibt. Indessen sind doch manche Tatsachen zu bedenken, die schwer mit dieser Ansicht zu vereinigen sind. Ein und das- selbe Atom kann als einwertiges und mehrwertiges Ion vorkommen, einige Atome können sogar manchmal positiv, manchmal negativ sein. Ferner können die Atome die Ladungen austauschen, denn wenn sich zum Beispiel aus einer Metallsalzlösung das Metall an der Kathode niederschlägt, so gibt es hier seine positive Ladung ab, die nun von dem Kathodenmetall aufgenommen und weiter übertragen wird. Allein schon die Tatsache einer metallischen Leitung, die von der Leitung in Elektrolyten ganz prinzipiell Ionen und Elektronen. 177 dadurch verschieden ist, daß man bei ihr niemals Übertragungen materi- eller Teilchen beobachtet, scheint zu zeigen, dab ein direkter Austausch der elektrischen Ladungen möglich sei. Wenn das wirklich so wäre, so könnte natürlich von einer konstanten festen Verknüpfung zwischen dem Weltäther und den Elementarteilchen der Materie nicht die Rede sein. Trotz alledem hat schon im Jahre 1895 H. A. Lorentz die Hypothese, daß diese Verknüpfung konstant sei, aufgestellt und ihre Konsequenzen weiter verfolgt. Natürlich mußte dabei zugleich die für die damalige Zeit sehr kühne Hypothese gemacht werden, daß der Strom in metallischen Leitern ebensogut wie in den Elektrolyten durch Wanderung materieller Teilchen mit fest anhaftenden Ladungen geschehe. Die spätere Zeit hat, wie wir sehen werden, der Lorentzschen Theorie Recht gegeben. Der nächste große Schritt, den die experimentelle Forschung auf diesem Gebiet nach der Klarlegung der Vorgänge in Elektrolyten vorwärts tat, war die Untersuchung der elektrischen Leitung in Gasen. Es gelang J. J. Thomson in Cambridge und seinen Schülern durch eingehende experimentelle Untersuchungen, die hier wegen Raummangels nicht besprochen werden können, nachzuweisen, daß Gase nur dann leiten, wenn sie, wie die Elektrolyte, freie, positiv und negativ geladene Teilchen, die Gasionen, enthalten. Die Ladung der Gasionen beträgt meistens ein Elementarquantum; sie gleichen also einwertigen elektro- Iytischen Ionen. Zu besonders wichtigen Resultaten haben Untersuchungen über den elektrischen Strom in Gasen in Form der sogenannten Glimm- entladung geführt, an denen eine große Zahl von Forschern beteiligt gewesen ist. Am schönsten und reinsten erhält man die Glimmentladung, wenn man dem Gas einen niedrigen Druck gibt, also in einer @eißlerschen Röhre. In einer einfachen zylindrischen @Geißlerschen Röhre sehen wir, wenn die Entladung hindurchgeht, zunächst zwei leuchtende Abschnitte: Die Kathode ist rings von einem bläulichen Lichtnebel, dem „negativen Glimmlicht“ umgeben, von der Anode erstreckt sich nach der Kathode hin ein langes Lichtband, die „positive Lichtsäule“, welche in Luft beispielsweise rot aussieht. Zwischen diesen beiden Lichtbereichen ist ein breiter, dunkler Zwischenraum, „der äußere oder Faradaysche Zwischenraum“. Wenn man die beiden Elektroden einer Glimmentla- dung näher und näher zusammenbringt, so verkürzt sich in demselben Malie die positive Lichtsäule, während die Leuchterscheinungen um die Kathode herum völlig ungeändert bleiben. Geht man mit der Anode bis in den Dunkelraum oder gar bis in das negative Glimmlicht hinein, so verschwindet die positive Lichtsäule ganz. Es kann also eine Glimment- ladung geben, die nur in den Vorgängen besteht, welche sich durch das negative Glimmlicht anzeigen, es ist aber keine Glimmentladung möglich in der diese Vorgänge fehlen: sie sind es, die das Wesen dieser Entladung ausmachen. E.Abderhalden, Fortschritte. II. 12 178 Gustav Mie. Das negative Glimmlicht besteht unter allen Umständen aus drei Schichten, die man besonders deutlich bei niedrigen Gasdrucken beobach- tet. Unmittelbar an der Kathode sieht man eine leuchtende Schicht, die das Kathodenmetall wie ein Mantel bekleidet, das ist der „Kathodenlicht- saum“. In Luft hat der Lichtsaum eine rötliche Farbe. Außen grenzt an ihn eine lichtlose dunkle Schicht von gleichmäßiger Dicke, der „Kathoden- dunkelraum“ (auch „innerer“ oder „HAittorfscher Dunkelraum“ genannt). Die äußerste Schicht, welche sich an den Kathodendunkelraum ansetzt, ist endlich der weit ausgedehnte bläuliche Lichtnebel, den wir speziell das „Glimmlicht“ nennen. Die Schichten des Kathodenlichtes werden alle drei um so voluminöser, je niedriger der Gasdruck ist. Da nun ohne sie keine Glimmentladung eintreten kann, so drängt sich die Frage auf, was denn wird, wenn man den Raum für sie beschränkt. Am leichtesten läßt sich die Antwort auf diese Frage finden, wenn man ein nicht gar zu großes Gefäß mit zwei Elektroden weiter und weiter evakuiert. So lange der Platz für die Ausbildung der Kathodenvorgänge noch bequem ausreicht, geht die Entladung bei einer ziemlich niederen Spannung vor sich. Wenn man die Anode immer in das Kathodenglimmlicht vorschiebt und nun die Spannung zwischen beiden Elektroden während der Entladung (die also nur in den Kathodenvorgängen besteht) mißt, so findet man bei allen Graden der Verdünnung ungefähr denselben Wert von einigen hundert Volt, so lange der Raum in dem Gefäß für die regelrechte Ausbildung des voluminösen Lichtgebildes ausreicht. Von dem Moment an aber, wo es an Platz zu fehlen beginnt, steigt die Spannung rapide und, wenn man weiter und weiter evakuiert, kommt man bald so weit, daß eine Spannung, die außen in der Luft große Funken hervorruft, noch nicht für die Ent- ladung in dem evakuierten Raum ausreicht. Man erkennt hieran wieder, daß die Vorgänge um die Kathode herum das Wesentliche an der Glimm- entladung sind. Wenn es an Platz für die normale Ausbildung dieser Vor- gänge fehlt, so bekommen sie als Ersatz dafür durch die Wirkung der hohen Spannung eine besonders große Intensität, und deswegen haben sich nun die Entladungserscheinungen in hochevakuierten Gefäßen als beson- ders wichtig für das Studium des eigentlichen Wesens der Kathodenvor- sänge bei der Glimmentladung erwiesen. In einem hochevakuierten, zu engen (refäß lassen sich schließlich die drei Schichten des Kathodenlichtes nicht mehr deutlich erkennen, man sieht nur ein allgemeines nebelhaftes Licht im Gasinhalt, aber auch dieses nur sehr schwach. Desto stärker tritt ein ganz anderes Licht hervor, welches man freilich auch als Be- gleiter des gewöhnlichen Glimmlichtes bei höheren Drucken mit einiger Aufmerksamkeit sehen kann, aber dann nur sehr schwach: Die Glaswand strahlt nämlich, und zwar bei den niedrigen Drucken außerordentlich hell, sie sendet ein gelbgrünes Licht aus, besonders stark an den Stellen der Kathode gegenüber. Dieses Leuchten des Glases wird durch ganz dasselbe Agens hervorgebracht, welches bei höheren Drucken in dem .Gase das Ionen und Elektronen. 179 blaue, weit ausgedehnte Glimmlicht erregt. Es läßt sich durch einfache Versuche streng beweisen, dab dieses Agens nicht anderes ist, als eine eigentümliche Strahlenart, welche von der Oberfläche der Kathode aus- geht. Man kann die schattenwerfende Wirkung fester Körper beobachten, die Absorption messen, die die Strahlen in verschiedenen Stoffen erfahren. und so fort. Sie zeigen durchweg ein ganz anderes Verhalten als Licht- strahlen, sie erfahren beispielsweise niemals eine Brechung und werden nicht regelmäßig reflektiert. Dagegen werden sie in einem elektrischen Feld und in anderer Weise auch in einem maenetischen Feld nach ein- fachen, quantitativ festzustellenden Gesetzen abgelenkt. Ferner erteilen sie Körpern, welche sie absorbieren, eine negativ elektrische Ladung. Alle ihre Eigenschaften lassen sich nur auf eine Weise verständlich deuten, nämlich wenn man annimmt, daß sie aus materiellen Partikelchen bestehen, welche in der Strahlenrichtung von der Kathode abfliegen, und zwar Partikelchen, die eine negative Ladung besitzen. Mit dieser Theorie stimmen alle Beob- achtungen, die man an den Kathodenstrahlen hat machen können, auf das vorzüglichste überein. Durch quantitative Versuche hat sich nun feststellen lassen, daß in allen Gasen und bei allen Kathoden, aus welchem Metall man sie auch herstellen mag, die Kathodenstrahlpartikeleken dieselben sind. Es muß sich also um Teilchen handeln, die nicht an bestimmte Elemente gebunden sind, sondern die in allen chemischen Atomen vorkommen und sich von den Atomen loslösen können. Man kann durch geeignete Messungen das Ver- hältnis der Ladung zu der trägen Masse eines solchen Partikelchens fest- stellen. Setzt man nun voraus, daß die Ladung eines einzelnen Partikel- chens, wie es bei Gasionen durchweg der Fall ist, gleich dem Elementar- quantum ist, so findet man, daß die träge Masse eines Kathodenstrahl- partikelchens nur der 1800. Teil von der trägen Masse eines Wasserstoff- atoms ist. Das Atomgewicht der Kathodenstrahlpartikelchen ist also 000055, unendlich viel kleiner als das Atomgewicht irgend eines chemischen Elementes. Durch die Untersuchung der Kathodenstrahlen ist man demnach auf einen bisher ganz unbekannten neuen Stoff gestoßen. Daß die Kathoden- strahlteilchen wirklich materielle Teilchen sind, ist wohl selbstverständlich. Sie sind greifbar, denn man kann sie in Gefäßen auffangen, sie können sich bewegen und zeigen dabei eine bestimmte, meßbare Trägheit. Damit zeigen sie also alle charakteristischen Eigenschaften der Materie. Andrerseits können wir sie aber nicht etwa als ein neues chemisches Element bezeichnen. Denn erstens lassen sie sich aus den verschiedensten chemischen Elementen abspalten, zweitens ist es unmöglich, aus ihnen allein einen großen zu- sammenhängenden Körper aufzubauen. Man hät sie nämlich, wo sie auch vorkommen, immer mit einer negativen elektrischen Ladung behaftet ge- funden, und es ist wohl als sicher anzusehen, daß diese nicht von ihnen 12% 180 Gustav Mie. zu trennen ist. Hätte man also nur Kathodenstrahlpartikelchen zur Ver- fügung, so würden die starken elektrischen Kräfte, die ihren Ladungen entsprechen, sie immer voneinander wegstoßen, so dal niemals ein zu- sammenhängendes Gebilde zustande kommen könnte. Nur als Teile der chemischen Atome, in denen sie durch positive Ladungen kompensiert sind, können sie an dem Aufbau der großen sichtbaren materiellen Körper teil- nehmen. Um den universellen Charakter der in den Kathodenstrahlen ent- deckten Partikelchen und zugleich ihre Wesenseigentümlichkeit, die in der unverlierbaren elektrischen Ladung besteht, auszudrücken, hat man ihnen den Namen Elektronen gegeben. Elektronen sind also keine Atome, sondern Bestandteil aller Atome. Seitdem man die Elektronen einmal in den Kathodenstrahlen beob- achtet hatte, gelang es, sie auch bei manchen anderen Vorgängen zu finden. So hatte man beispielsweise schon längst beobachtet, daß ein zur Glut er- hitzter Leiter geladene Partikelchen, Ionen, an die Luft abgibt, diese Ionen sind nichts anderes als Elektronen, die aus dem glühenden Körper heraus- geschleudert werden. Auf dieser Emission von Elektronen aus glühenden Leitern beruht die zweite Form der elektrischen Entladung, die Licht- bogenentladung oder Entladung bei glühenden Elektroden, welche in der bekannten Lichtbogenlampe praktische Anwendung findet. Ein an- deres Beispiel für das Auftreten von Elektronen sind die lichtelektri- schen Erscheinungen. Läßt man kurzwellige Lichtstrahlen, am besten ultraviolette |Lichtstrahlen auf eine negativ geladene Metallplatte treffen, so verliert sie ihre Ladung, selbst wenn sie sich in einem Vakuum be- findet. Diese Erscheinung, die von H. Hertz entdeckt und von Hallwachs eineehender untersucht worden ist, beruht, wie zuerst Lenard gezeigt hat, darauf, daß die ultravioletten Ätherschwingungen aus dem Metall Elek- tronen loslösen. In der Glimmentladung spielen die als Kathodenstrahlen auftretenden Elektronen die Rolle des ionisierenden Agens. Infolge der sehr schnellen Bewegung, die sie in der Kathodenstrahlbahn besitzen, zerstoßen sie die Gas- moleküle, auf die sie gelegentlich auftreffen, in Ionen und machen das Gas dadurch zu einem Leiter. Man nennt diese Erscheinung lonisierung durch Stoß. Aus den Gasmolekülen werden dabei Elektronen ausgetrieben, die durch das elektrische Feld in dem Entladungsrohr in Bewegung gebracht werden, und nun durch Stoß wiederum neue Ionen und Elektronen aus den Gasmolekülen hervorbringen. Auf diese Weise schwillt die Ionisierung, also die elektrische Leitfähigkeit des Gases, nachdem erst einmal die Elektronen- stöße begonnen haben, enorm an und der kontinuierliche Glimmlichtstrom kommt in Gang. Wie zuerst Lenard festgestellt hat, sendet ein Gas, welches Kathodenstrahlen absorbiert, ein bläuliches Licht aus. Die Stoß- ionisierung der Gasmoleküle ist also von Oscillationen in ihrem Innern begleitet. al 2 Ka Ionen und Elektronen. 1s1 Das bläuliche, weit ausgedehnte Kathodenglimmlicht ist nun nichts anderes als das durch die Kathodenstrahlen in dem Gas erregte Licht: es zeigt uns also direkt an, wo die Ionisierung durch Stoß stattfindet. Schließlich ist durch die andauernden Stöße die Energie der Kathoden- strahlen verbraucht, sie sind von dem Gase völlig „absorbiert“, es schließt sich daher an das Kathodenglimmlicht der Faradaysche Dunkel- raum an. Wird die Entladungsbahn sehr lang, so genügen die im Kathoden- elimmlicht erzeugten Ionen nicht, es treten dann in einiger Entfernung von der Kathode Gebiete sehr hoher elektrischer Feldstärke auf, wo die aus der Kathodengegend einwandernden Elektronen eine so große (re- schwindigkeit bekommen, dal) sie aufs neue eine Ionisierungswirkung durch Stoß entfalten hönnen. Auch diese Stoßionisierung macht sich durch eine Liehtemission kenntlich, die freilich aus Gründen, die ich hier nicht be- sprechen kann, anders aussieht als die in dem primären lonisierungs- zentrum an der Kathode. Solche sekundären Ionisierungszentren haben wir in der positiven Lichtsäule vor uns, die entweder ein großes zusammen- hängendes Gebiet der Stoßionisierung bildet, oder auch in eine Zahl von Teilgebieten zerfällt, den sogenannten „Schichten“, die wieder durch Dunkel- räume voneinander getrennt sind. Es ist nun aber noch die Frage zu erledigen, wie die Kathoden- strahlen, von denen der Entladungsprozeß ausgeht, denn selber entstehen, wie also die ersten Elektronen direkt an der Kathode, die sie ausschleudert. frei gemacht werden. Die Vorgänge, die zu der Erzeugung der primären Elektronen führen, werden durch den Kathodenlichtsaum angedeutet, und das Studium des Lichtsaumes hat daher auch zur Beantwortung der Frage geführt. Wenn man in die Kathode Löcher bohrt, und hinter ihr ein großes Gefäß anordnet, welches mit dem Entladungsraum nur durch diese „Kanäle“ der Kathode kommuniziert, so beobachtet man, wie zuerst Goldstein gefunden hat, daß der Lichtsaum sich durch die Kanäle hindurch in langen leuchtenden Streifen fortsetzt, welche senkrecht von der Kathode weggehen. Diese Licht- streifen bezeichnen die Bahn einer zweiten Art von Strahlen, welche eben- falls aus schnell fliegenden materiellen Teilchen gebildet werden, man nennt sie „Kanalstrahlen“. Die Kanalstrahlen sind sehr eingehend hauptsächlich von W. Wien untersucht worden. Die Partikelehen, aus denen sie bestehen. sind meistens positiv elektrisch geladen und man kann für sie ebensogut wie für die Kathodenstrahlen das Verhältnis aus Ladung und Masse be- stimmen. Es ergeben sich da Verhältnisse, wie sie geladene Atome zeigen, beispielweise wenn das Gas der Entladungsröhre Wasserstoff ist, eine Zahl, die in der Nähe von 100.000 Coulomb-Gramm liegt, ziemlich genau ent- sprechend dem Verhältnis der Äquivalentladung 96.540 zu dem Atomge- wicht des Wasserstoffes 1. Ist das (Gras Sauerstoff, so ergibt sich für das Verhältnis der sechzehnte Teil von dem in Wasserstoff, entsprechend dem 182 Gustav Mie. sechzehnmal größeren Atomgewicht des Sauerstoffes. Die Verhältnisse lassen sich nicht so scharf bestimmen wie bei den Kathodenstrahlen infolge eines sehr charakteristischen Unterschiedes zwischen beiden Strahlenarten. Während alle Kathodenstrahlpartikelchen ausnahmslos eine konstante negative Ladung haben, erweisen sich die Kanalstrahlen bei genauerer Untersuchung als ein Gemisch von positiv geladenen und ungeladenen Atomen, denen sogar noch negativ geladene beigemengt sein können. Dabei behalten die Partikel- chen keineswegs die Ladung, die sie einmal haben, konstant bei, sondern sie wechseln sie fortwährend; ein positiv geladenes Partikelchen wird also nach einiger Zeit ungeladen, lädt sich dann wieder positiv, gelegentlich wohl auch einmal negativ und so fort. Wir sehen also an den Kanalstrahl- partikelchen die schon bei der elektrolytischen Leitung (S. 176) gemachte Erfahrung bestätigt, daß die Atomionen verschiedene Ladungen annehmen können, und zwar haben genauere Untersuchungen ergeben, dal auch hier die Änderung der Ladung nicht kontinuierlich erfolgt, sondern stets so, dal das Atom ein ganzes Elementarquantum aufnimmt oder abgibt. Seine träge Masse erfährt bei dem Wechsel der Ladung keine bemerkbare Ver- änderung. Nachdem wir mit den Elektronen bekannt geworden sind, setzen diese Erfahrungen an den Kanalstrahlen der Deutung nicht mehr die mindeste Schwierigkeit entgegen. Ein Atom kann ein Elektron abspalten, es ist dann positiv geladen, wenn es vorher ungeladen war, weil die Entziehung einer negativen Ladung auf ganz dasselbe hinauskommt wie die Hinzufügung einer positiven Ladung. Nimmt das positiv geladene Kanalstrahlpartikelchen aus dem Gas, durch das es hindurchfliest und das immer Ionen, also auch Elektronen in freiem Zustande enthält, ein Elektron auf, so wird es wieder ungeladen, nimmt es ein weiteres Elektron auf, so wird es negativ elektrisch. Die Änderung der Ladung kann somit nur stufenweise erfolgen, weil ein Elektron stets die Ladung eines ganzen Elementarquantums besitzt. Die träge Masse des Atoms wird dabei nicht in bemerkbarer Weise geändert, weil die träge Masse eines Elektrons gegen die eines Atoms unendlich klein ist. Die Entstehung der Kanalstrahlen in dem Entladungsraum ist leicht zu verstehen. Durch die ionisierende Wirksamkeit der Kathodenstrahlen entstehen in dem von dem blauen Glimmlicht erfüllten Raum nicht nur Elektronen, sondern auch positive Ionen. Diese werden durch das starke elektrische Feld in der Umgebung der Kathode zu ihr hingezogen und bekommen dabei schließlich eine sehr bedeutende Geschwindiekeit. Sind Löcher in der Kathode, so fliegen einige von den Teilchen infolge ihrer groben trägen Masse geradeaus durch die Löcher hindurch und bilden so den Kanalstrahl. Die meisten aber fliegen natürlich auf die Kathode auf. Es ist nun experimentell nachgewiesen, daß die Kanalstrahlen, ähnlich wie die Kathodenstrahlen, das Gas, durch das sie hindurchfliegen, ionisieren. Außer- Ionen und Elektronen. 183 dem machen sie aus einem festen Körper, auf den sie auftreffen, Elektronen frei. So schaffen also die Kanalstrahlen aus der Kathode und dem Gas- raum unmittelbar vor ihr (dem Kathodenlichtsaum) die für die Kathoden- strahlen nötigen Elektronen, andrerseits liefern wieder die Kathodenstrahlen in dem blauen Glimmlicht, wo ihre ionisierende Wirkung kräftig eingesetzt hat, nachdem sie durch eine gewisse Strecke, nämlich den Kathodendunkel- raum, noch ziemlich frei hindurchgegangen sind, die für die Kanalstrahlen nötigen positiven Teilchen. In dieser Weise halten sich die beiden Vor- gänge, nachdem sie überhaupt einmal durch gewisse (noch nicht genau bekannte) vorbereitende Vorgänge in Gang gebracht worden sind, gegen- seitig aufrecht, und von ihnen aus werden in die ganze Entladungsstrecke die Ionen gebracht, die den Grundstock bilden für die zur Entladung not- wendige weitergehende Ionisierung durch Stob. Ehe wir fortfahren, sei noch eine sehr interessante Eigenschaft der Kanalstrahlen besprochen. Wir haben gesehen, daß sie sich sowohl vor der Kathode, in dem Lichtsaum, als auch in den langen Streifen, die sich an Durchbohrungen der Kathode ansetzen, durch Licht, welches von ihnen ausgeht, bemerkbar machen. Dieses Licht wird, wie J. Stark gezeigt hat, zum Teil von den schnell dahinfliegenden Teilchen der Kanalstrahlen selber ausgeschickt, zum Teil allerdings begleitet es auch die von ihnen hervor- gerufene Ionisierung des Gases, durch das sie hindurchfliegen. Das Licht von schnell bewegten Körpern zeigt nämlich den sogenannten Dopplerschen Effekt, d. h. eine kleine Änderung seiner Wellenlänge, welche mit der Ge- schwindigkeit der Bewegung proportional ist. Das Licht der Kanalstrahlen zeigt nun wenigstens zum Teil diesen Effekt, und man kann aus der Wellenlängenänderung auch die Geschwindigkeit der emittierenden Teilchen berechnen, es ergeben sich dann Werte, die mit den auf andere Weise (nämlich aus der Ablenkung in elektrischen und magnetischen Feldern) gefundenen Werten ziemlich übereinstimmen. Die Kanalstrahlpartikelchen emittieren also Licht, aber sie tun dies nicht dauernd, sondern nur dann, wenn ihr Ladungszustand sich ändert, und zwar leuchtet höchst- wahrscheinlich jedes Partikelehen immer in dem Moment auf, wo es ein slektron abspaltet. Das Leuchten ist danach also eine Begleiterscheinung der Ionisierung der Kanalstrahlpartikelchen. Die oben geschilderten Tatsachen führen uns ohne weiteres zu der folgenden Vorstellung von den Atomen: Jedes chemische Atom besteht aus einem großen, positiv elektrischen Stück, mit welchem eine Anzahl von Elektronen beweglich verbunden sind. Die positive Ladung des groben Atompartikels ist ein ganzzahliges Multiplum des Elementarquantums, so dal) sie durch eine gewisse normale Zahl von Elektronen gerade kompen- siert wird. Dann haben wir ein ungeladenes Atom. Durch Abspaltung von Elektronen und durch Aufnahme von überzähligen Elektronen entstehen aus den ungeladenen Atomen die positiven und die negativen Ionen. 184 Gustav Mie. Diese Vorstellung von dem Aufbau der Atome führt uns ohne weiteres zu einer einfachen Theorie der metallischen Leitung. Ein Metall- atom hat eine ganz besonders starke Neigung, Elektronen abzuspalten, in- folgedessen sind in den wässerigen Elektrolyten stets die Metallatome als positiv geladene Partikelchen vorhanden. Diese Neigung der Metallatome geht nun so weit, daß auch in dem reinen Metall von den Atomen stets Elektronen abgestoßen werden, die in den Zwischenräumen zwischen dem porösen aber festen Gerüst, das die großen positiv geladenen Metallatome bilden, hin und her schwärmen, etwa wie die Moleküle eines Gases in den Poren einer Tonmembran. Genau so, wie ein Gas durch eine poröse Ton- membran hindurch diffundieren kann, so kann auch das „Elektronengas“ in dem Metall diffundieren. Stellt man nun in dem Metall ein elektrisches Feld her, so strömen die freien Elektronen in ihm, wie die negativen Ionen in einem Elektrolyten. Der einzige Unterschied gegen die elektro- Iytische Leitung besteht also darin, daß im Metall nicht zwei Ionenarten wandern, sondern dal) gewissermaßen nur die Anionen frei beweglich sind. Diese Theorie erklärt ohne weiteres, wie es möglich ist, daß die me- tallische Leitung in einer Wanderung von Ionen besteht, ohne daß dabei an den Grenzen Stoffabscheidungen bemerkbar werden wie in den Elektro- Iyten. Der Grund dafür ist, daß die Elektronen ein Stoff sind, der in allen chemischen Elementen in gleicher Weise vorkommt. Wären die Elektronen des Kupfers etwa andere wie die Elektronen des Silbers, dann müßte man an einer Verbindungsstelle zwischen Kupfer und Silber Veränderungen be- merken, sobald ein elektrischer Strom diese Stelle passiert hätte. Bei der einen Richtung des Stromes müßten die Silberelektronen weggewandert und durch Kupferelektronen ersetzt sein, man müßte also unbedingt eine che- mische Veränderung des Silbermetalls an der Kontaktstelle beobachten, bei der entgegengesetzten Stromrichtung dagegen müßte sich eine Verän- derung des Kupfers konstatieren lassen. Wir sehen hieraus, daß die me- tallische Leitung, bei der keine Veränderung der Stoffe an den Grenzen beobachtet wird, nur deswegen möglich ist, weil es eine Ionenart gibt, die sich aus allen chemischen Elementen abspalten läßt, nämlich die Elek- tronen, sie sind die Träger der elektrischen Ladungen für die Ströme in metallischen Leitern. Die Elektronentheorie erklärt ferner auf das einfachste, wie die Atome Licht emittieren können. Die mit dem Atom verbundenen Elek- tronen haben natürlich gewisse Gleichgewichtslagen, aber um diese herum können sie kleine Bewegungen ausführen. Werden sie vorübergehend aus der Gleichgewichtslage abgelenkt, so müssen sie demnach Schwingungen von ganz bestimmten Periodenzahlen ausführen. In der Tat ist es bekannt, daß jedem Atom eine gewisse Anzahl ganz bestimmter Eigenschwingungen zukommt, deren Gesamtheit das sogenannte Linienspektrum des Atoms bildet. Die einzelnen Schwingungszahlen, die in einem Linienspektrum vorkommen, stehen in einem bestimmten gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander, Ionen und Elektronen. 185 sie bilden sogenannte Serien. Obwohl es aber gelungen ist, die Gesetze der Serien aus den Beobachtungen, also rein empirisch, aufzustellen, kann man sich noch keine Struktur der Atome vorstellen, aus der sich die Serien- gesetze auch theoretisch herleiten ließen. Nur das eine ist klar, dab die Atome jedenfalls eine sehr komplizierte innere Struktur haben. Sie sind sicher nicht die letzten Elementarpartikelchen der Materie. Dagegen stellen die Elektronen wahrscheinlich eine Art von Elementarpartikelchen dar. Was für positiv geladene Partikelchen es gibt und wie viele Arten, ist noch nicht bekannt. Es scheint unmöglich, die positiv geladenen Ele- mentarpartikelchen rein für sich ohne negative Elektronen herzustellen. Jedenfalls gibt es keine „positiven Elektronen“. Wenn man eine gasförmige Lichtquelle, die ein Linienspektrum emit- tiert, beispielsweise die positive Lichtsäule einer @eißlerschen Röhre, in ein starkes Magnetfeld bringt, so beobachtet man im Spektralapparat eine eanz bestimmte Veränderung der emittierten Lichtschwingungen, welche darauf zurückzuführen ist, daß das Magnetfeld die bewegten elektrischen Partikelchen in derselben Weise aus ihrer Bahn ablenkt, wie es bei einem elektrischen Stromleiter geschehen würde. Diese Erscheinung nennt man nach ihrem Entdecker das Zeemannsche Phänomen. Für die meisten Spek- trallinien ist das Zeemannsche Phänomen ziemlich kompliziert, was darauf hindeutet, daß die betreffende Lichtschwingung nicht einfach so zustande kommt, daß ein einzelnes Elektron für sich um eine Gleichgewichtslage schwingt, sondern daß dabei mehrere durch Kräfte miteinander verkettete Elektronen in Bewegung sind. Nur bei einem Element, nämlich dem He- lium, zeigen sämtliche Spektrallinien ein Zeemannsches Phänomen von der einfachen Form, die es zeigen müßte, wenn jedes Elektron unabhängig von den anderen um seine Gleichgewichtslage pendelte. Man kann nun aus der (Größe der Veränderung, die man bei einem bestimmten Magnetfeld beob- achtet, in diesem einfachsten Fall berechnen, wie groß das Verhältnis von Ladung und träger Masse des schwingenden Teilchens ist. Führt man die Rechnung bei den Heliumlinien aus, so bekommt man genau denselben Wert, den die Messungen an den Kathodenstrahlpartikelchen ergeben haben. Es ist danach außer allem Zweifel, daß die elektrischen Teilchen, deren Oscillationen die Lichtemission bewirken, wenigstens für die Schwingungen der Serienspektren nichts anderes als die negativen Elektronen sind. Ob und in welcher Weise in anderen Fällen auch die große positiv-elek- trische Hauptmasse des Atoms schwingen mag, müssen wir noch gänzlich dahingestellt sein lassen. Eine weitere Bestätigung hat die Elektronentheorie der Atome durch die radioaktiven Erscheinungen gefunden, die zuerst von H. Beequerel am Uran entdeckt worden sind und die besonders intensiv an dem von Frau Curie entdeckten neuen Element Radium auftreten. Die eingehendsten Untersuchungen über die radioaktiven Vorgänge verdanken wir E. Ruther- 186 Gustav Mie. ford. Nach den Untersuchungen dieses Forschers besteht das Wesen der radioaktiven Prozesse darin, dab Atome des betreffenden Elementes sich unter Freiwerden gewaltiger Energiemengen durch einen explosionsartigen Vorgang in ein neues Element verwandeln, welches wir als Zerfallsprodukt des ersten Elementes zu bezeichnen haben. Der explosionsartige Vorgang äußert sich darin, daß das Element kleine elektrisch geladene Partikelchen abschleudert, die nun, indem sie mit kolossaler Geschwindigkeit durch den Raum eilen, materielle Strahlungen, ähnlich wie die Kathodenstrahlen und die Kanalstrahlen, bilden. Man unterscheidet der Hauptsache nach zwei Arten materieller Strahlen, die «-Strahlen, die aus positiv ge- ladenen Partikelchen, und die £-Strahlen, die aus negativ geladenen Par- tikelehen bestehen. Die negativen Partikelchen der &-Strahlen sind nichts anderes als die Elektronen, von denen nun schon so vielfach die Rede gewesen ist, jedoch ist ihre Geschwindigkeit ganz enorm, viel größer als die der Kathodenstrahlen, sie liegt in manchen Fällen gar nicht mehr viel unter dem Wert 300.000 km/sec, d.h. der Lichtgeschwindigkeit. Es ist indessen sehr bemerkenswert, daß dieser Wert niemals ganz erreicht wird, wir werden darauf noch zurückkommen. Von den «-Strahlpartikelchen hat man nach ähnlichen Methoden, wie bei den Kanalstrahlen, das Ver- hältnis aus Ladung und träger Masse bestimmt und es hat sich für sie unter allen Umständen bei den verschiedensten radioaktiven Substanzen, deren man jetzt eine stattliche Reihe kennt, ein und derselbe Wert er- geben, und zwar gerade die Hälfte des Wertes wie bei Wasserstoffionen. Wären die «-Teilchen mit einem Elementarquantum geladen, so hätten sie demnach das Atomgewicht 2. Nun ist aber kein Element von diesem Atom- gewicht bekannt, dagegen wohl eines vom Atomgewicht 4, das Helium. Helium bildet sich in der Tat andauernd bei den radioaktiven Prozessen, und es ist Rutherford gelungen zu zeigen, daß in der Tat die «-Strahl- teilchen aus Helium bestehen. Es sind also Heliumatome, deren jedes mit zwei positiven Elementarquanten geladen ist. Die radioaktiven Prozesse deuten darauf hin, daß der positiv elek- trische große Kern der Atome im allgemeinen kein einheitliches Elementar- teilchen der Materie darstellt wie das Elektron. Denn sonst könnte sich nicht von den radioaktiven Atomen noch das wohldefinierte Heliumatom ablösen. Vielleicht ist der positive Kern des Heliumatoms etwas Einheit- liches und es ist desweren das Zeemannsche Phänomen bei Helium ein- facher wie bei anderen Elementen. Die »-Strahlen der radioaktiven Körper zeigen noch eine sehr inter- essante Erscheinung, aus der man direkt ihre atomistische Zusammen- setzung erkennen kann. Läßt man sie auf einen Zinkblendeschirm treffen, so erregen sie ihn zu einer hellen Phosphoreszenz. Betrachtet man nun die unter dem Einfluß einer »-Strahlung leuchtende Zinkblende mit einer Lupe, so erkennt man, daf) nicht die ganze Fläche gleichmäßig leuchtet, a Ionen und Elektronen. 187 man sieht auf ihr eine Menge einzelner Lichtpünktchen , von denen jedes kurz aufblitzt und wieder verschwindet. Man sieht also direkt, wie die x-Teilchen auf die Fläche niederprasseln, indem jedes Teilchen einen kurz- dauernden Lichtblitz erregt. Man hat nun gezählt, wie viele Lichtblitze in der Sekunde erscheinen und außerdem die positive Elektrizitätsmenge ge- messen, die genau dieselbe “-Strahlung in derselben Zeit einem Körper, auf den sie trifft, mitteilt. Dividiertt man diese Elektrizitätsmenge durch die Zahl der Lichtblitze, so bekommt man den Wert der Ladung eines einzelnen «-Teilchens. Eine sehr genaue Zählung der z-Teilchen hat für die Ladung eines Teilchens ergeben: 3,11.10=° Coulomb. Wie man sieht, ist das genau das Zweifache des Elementarquantums, dessen Wert auf S. 176 angegeben worden ist. Es ist dies die genaueste direkte Bestim- mung des Elementarquantums, die bisher gemacht worden ist. Die Elektronentheorie der Materie, die ich bisher nur ziemlich ober- flächlich skizziert habe, führt, wenn man sie konsequent durchdenkt, zu einer ganz neuen, eigentümlichen Auffassung vom Wesen der Materie. Sie schließt offenbar die Behauptung in sich, daß überhaupt keine Ma- terie ohne elektrische Ladung existiert. Wir können auch sagen: Materie ohne Zusammenhang mit dem Weltäther gibt es nicht. Die ma- teriellen Teilchen wirken aufeinander durch Vermittelung des Vakuums zwischen ihnen. Da nun die Wirkung von der Materie auf das Vakuum und von dem Vakuum auf die Materie nur durch elektrische Ladungen zustande kommt, so ist die elektrische Ladung das Wirksame oder das eigentlich Wirkliche in der Welt. Ist aber somit die elektrische Ladung das Wesentliche an der Materie, so kann man ihre Elementarteilchen, also die positiven Kerne der Atome und die Elektronen auch als bloße singuläre Stellen des Weltäthers auffassen, nämlich als die Stellen, wo die Linien, nach denen die elektrischen Spannungen des Weltäthers orientiert sind, zusammenlaufen, kurz gesagt als die Knotenpunkte der elektrischen Felder. Daß es zwei Arten von Knotenpunkten gibt, nämlich positive und negative Ladungen, das ‚liegt an der physikalischen Natur der elektri- schen Spannung, die immer eine gerichtete Größe mit Anfang und Ende darstellt; es muß also Knotenpunkte geben, aus denen sozusagen die elek- trischen Spannungslinien herauslaufen (positive Ladungen), und Knoten- punkte, in die sie hineinlaufen (negative Ladungen). Sehr merkwürdig ist es, daß diese Knotenstellen immer nur in enge Bereiche, nämlich die von den materiellen Elementarpartikelchen erfüllten Raumstellen, zusammen- gedrängt vorkommen. Nach den Gesetzen der Elektrostatik sollte man er- warten, daß die Knotenstellen das Bestreben hätten, sich über gröbere Räume auszubreiten. Es muß also das Auftreten der Knotenstellen unbe- dinet noch besondere Zustände im Äther hervorrufen, welche den Expan- sionsbestrebungen entgegenwirken und die Knotenstellen in dem engen Bereich zusammenhalten. Ich möchte diese noch ganz unerforschten Kraft- äußerungen des Äthers als die Kohäsionsdrucke bezeichnen, mit denen 88 Gustav Mie. er die Knotenstellen der Felder zusammenhält, und es scheint mir sehr wahrscheinlich, daß die Gravitation mit dem Ätherzustand. der sich in den Kohäsionsdrucken äußert, in engem Zusammenhang steht. Wenn nun also aus irgend einer Ursache ein Knotenstellenbereich nach einer Seite über seine Grenze hinaustritt, so sorgt der Kohäsions- druck sofort dafür, daß er sich auf einer anderen Stelle nach innen etwas zurückzieht, in der Weise, daß das Volumen des Elementarteilchens kon- stant bleibt. Dann verschiebt sich also der singuläre Bereich des Äthers, d. h. das materielle Elementarteilchen, durch den Äther hindurch. Eine Be- wegung des singulären Bereiches tritt immer dann ein, wenn das Feld rings um ihn herum nicht im Gleichgewicht ist. Es beginnt dann eine Umordnung des Feldes, zu welcher auch eine Verschiebung des Singulari- tätsbereiches gehört, in dem Sinne, daß die Energie des Feldes herunter- geht. Man ist aus der Mechanik gewöhnt zu sagen, daß infolge des man- gelnden Gleichgewichts im Felde eine Kraft auf das materielle Elemen- tarteilchen wirkt, die es in dem Sinne in Bewegung setzt, daß die Feld- energie abnimmt. Die Fnergieabnahme kann man als eine Arbeit be- rechnen, die die vom Feld ausgeübte Kraft hierbei leistet. Diese als Arbeit vom Feld gelieferte Energie muß dazu dienen, die Äthervorgänge in der Umgebung der bewegten Knotenstelle in Gang zu bringen, durch welche die Verlegung des von der Knotenstelle ausgehenden Feldes besorgt wird. Wir haben auf S. 167 gesehen, daß zur Verlegung elektrischer Spannun- gen das Auftreten magnetischer Vorgänge unbedingt notwendig ist. Es wird außerdem wohl noch besondere, bisher unbekannte Äthervorgänge geben, die jenen Ätherzustand, der die Kohäsionsdrucke hervorbringt, ver- legen. Alle diese Vorgänge, die die Verschiebung der Knotenstelle begleiten, erfordern Energie, und diese liefert also das ursprünglich vorhandene, nicht im Gleichgewicht befindliche Feld. Sie ist nichts anderes als das, was die Mechanik die „Bewegungsenergie* des bewegten Teilchens nennt. Die Energie des nicht im Gleichgewicht befindlichen Feldes wandelt sich also teilweise in Bewegungsenergie um. Nach unserer Auffassung ist diese aber wieder eine Energie von besonderen Vorgängen im Äther und die ganze Veränderung besteht schließlich darin, daß die Energie des ursprünglich vorhandenen, nicht im Gleichgewicht befindlichen Feldes im Äther sich umsetzt in Energie anders gearteter Äthervorgänge. Wir sehen also, daß wir bei konsequenter Durchführung der Elektronen- theorie nicht nur die materiellen Elementarpartikelchen bloß als singuläre Stellen des Äthers anzusehen haben, sondern sogar alle materiellen Vor- gänge bloß als Umlagerungen der Felder im Äther, zu denen auch Ver- schiebungen der Knotenstellen gehören. Die Ursache für diese Umlage- rungen der Felder ist immer die, daß die Ätherspannungen oder andere Ätherzustände nicht im Gleichgewicht sind. Aber auch durch die Umlage- rungen wird das Gleichgewicht niemals erreicht und so geht die Umord- Ionen und Elektronen. 189 nung immer wieder aufs neue vor sich, die Welt bleibt in Leben und Bewegung. Wenn die Bewegungsenergie nichts anderes ist als die Energie der die Bewegung der Singularitätsbereiche begleitenden Äthervorgänge, so ist auch die Trägheitsreaktion, die nach den Gesetzen der Mechanik bei jeder Änderung der Geschwindigkeit auftritt, nur als eine Kraftwirkung des Äthers auf das Teilchen zu erklären, wie ja überhaupt die Mechanik nach unserer Auffassung nur als ein großer Abschnitt der Ätherphysik zu gelten hat. Wir wollen uns noch ein wenig mit den Trägheitskräften beschäftigen, dabei aber, um möglichst klar zu sehen, die unbekannten Ätherzustände, von denen schon mehrmals die Rede war, zunächst außer acht lassen und nur das elektrische und magnetische Feld um die Knotenstelle herum ins Auge fassen, weil wir für diese die Gesetze ihrer Veränderungen genau kennen. Wenn sich die Knotenstelle, sagen wir bespielsweise ein Elektron, in Bewegung setzt, so tritt, wie wir auf S. 171 gesehen haben, eine Verzerrung seines elektrischen Feldes ein, das Spannungsgleichgewicht in diesem Felde wird gestört, und in- folgedessen wird ein magnetisches Feld in Gang gebracht. Und zwar ist das elektrische Feld in der Nähe des Elektrons, so lange die Bewegung beschleu- nigt ist, unsymmetrisch, es ist auf der Rückseite stärker als auf der Vorderseite, und infolgedessen tritt eine Kraft ein, die das Elektron zu- rückzuhalten sucht, die also der Beschleunigung entgegenwirkt. Diese Kraft, die „Trägheitsreaktion des bewegten Massenteilchens“, wie die Mechanik sagt, muß sich mit der Kraft, die das Elektron in Bewegung zu setzen sucht, gerade das Gleichgewicht halten. Die Trägheitsreaktion ist also nichts anderes als die Reaktion des im Äther entstehenden magnetischen Feldes, welches durch die unsymmetrischen Spannungen hervorgebracht wird. Infolge der unsymmetrischen Spannungsverteilung wird die Energie, die aus dem ursprünglich vorhandenen, nicht im Gleichgewicht befindlichen Feld herausgeht, dem neu entstehenden magnetischen Feld in der Umge- bung des bewegten Elektrons zugeführt. Auch wenn das Elektron sich mit konstanter Geschwindigkeit be- wegt, ist sein elektrisches Feld ein wenig außer Gleichgewicht. Denn seine Spannungen müssen alsdann für die Mitführung des begleitenden magne- tischen Feldes sorgen, sie müssen also das magnetische Feld auf der Vorderseite in Gang setzen und auf der Rückseite zum Aufhören bringen. Das Feld ist deswegen etwas verzerrt, aber doch so, dab es um das Elek- tron herum zentrisch symmetrisch bleibt, dal) also keine Reaktionskräfte wirken; das Elektron sucht daher in seiner Bewegung zu beharren. Dal aber doch immerhin bei der konstanten Geschwindigkeit eine Feldver- zerrung vorhanden ist, und zwar eine Feldverzerrung, die natürlich um so größer ist, je größer die Geschwindigkeit, führt zu einer sehr sonderbaren Konsequenz. Wenn die Trägheitswirkungen des Elektrons nur Reaktions- kräfte der begleitenden Felder sind, so müssen sie von der Beschaffenheit 190 Gustav Mie. der Felder abhängen. Das begleitende magnetische Feld muß dem elek- trischen Felde, welches es überträgt, angepaßt sein, es hat also bei großen Geschwindigkeiten ebenfalls eine etwas andere Verteilung wie bei kleinen Geschwindigkeiten, weil sich die Verteilung der elektrischen Spannungen mit der Geschwindigkeit ändert. Daraus geht hervor, daß bei großen Ge- schwindigkeiten die Trägheit des Elektrons eine andere ist wie bei kleinen. Die träge Masse der Elementarpartikelchen der Materie ändert sich mit der Geschwindigkeit. Diese Folgerung aus der Elektronentheorie der Materie, die der Auf- fassung der früheren Mechanik von der absoluten Konstanz der trägen Masse direkt widerspricht, ist tatsächlich schon mehrmals einer experi- mentellen Prüfung unterzogen worden. Die genauere theoretische Unter- suchung ergibt, dab die träge Masse infolge der Feldverzerrung mehr und mehr zunimmt und schließlich bis ins Unendliche gesteigert wird, wenn die Geschwindigkeit dem Wert der Lichtgeschwindigkeit 300.000 km/sec nahekommt. Infolgedessen kann die Materie niemals die Geschwindigkeit 300.000 km/sece vollkommen erreichen. In der Tat haben wir auf S. 186 gesehen, dal) die Geschwindigkeit der £-Strahlpartikelchen, so groß sie auch sein mag, doch immer noch etwas unter der Lichtgeschwindigkeit bleibt. Aber noch mehr! W. Kaufmann hat die Messungsmethoden, die an den gewöhnlichen Kathodenstrahlen erprobt sind, auf die schnellen £-Strahlen eines radioaktiven Körpers angewandt und durch eine Reihe außerordent- lich sorgfältiger Messungen gefunden, dal mit zunehmender Geschwindig- keit die Trägheit der £-Strahlteilchen mehr und mehr wächst. Bei den höchsten Geschwindigkeiten, die in den von ihm benutzten Strahlen vor- kamen und die nur noch um wenige Prozent von der Lichtgeschwindig- keit abwichen, war die Trägheit der Partikelchen schon etwa dreimal so eroß als in den gewöhnlichen Kathodenstrahlen, deren Geschwindigkeit man dagegen als unendlich klein ansehen kann. Die Kaufmannschen Mes- sungen sind später von mehreren anderen Experimentatoren mit etwas anderen Versuchsanordnungen bestätigt worden, bis auf kleine Abweichun- sen, über deren Ursache man noch nicht ganz im klaren ist. Innerhalb dieser Abweichungen stimmen die Messungen auch mit den Resultater überein, die eine nach den Voraussetzungen der Elektronentheorie ange- stellte Rechnung ergibt, und wir müssen sie daher als eine vorzügliche Bestätigung der Theorie ansehen. Immerhin haben sich die Messungen bisher nur auf schnell bewegte Elektronen beschränkt, weil man chemische Atome bisher noch nicht bei derartig großen Geschwindigkeiten hat beobachten können, daß eine wahr- nehmbare Änderung der trägen Masse zu erwarten wäre. Hier fehlt also noch der direkte Beweis für die Richtigkeit der Theorie. Man hat aus den Messungen an schnell bewegten Elektronen häufig den Schluß ziehen wollen, daß die ganze Trägheit der Elektronen ihren Ionen und Elektronen. 19] Sitz in dem elektromagnetischen Feld hat. In der Tat hat man die theo- retischen Berechnungen, welche durch die Messungen bestätigt worden sind, in allen Einzelheiten nur für das elektromagnetische Feld der Knoten- stelle ausführen können, weil man nur von diesem genau die Gesetze kennt, nach der die Vorgänge verlaufen. Es fragt sich noch, inwieweit die Vor- gänge, die mit dem Kohäsionsdruck der Knotenstellen zusammenhängen, an den Trägheitswirkungen beteiligt sind und nach welchen Gesetzen der auf diese Vorgänge kommende Teil der trägen Masse von der Geschwin- digkeit abhängt. Es gibt gewichtige Gründe, auf deren Besprechung hier verzichtet werden muß, die dafür sprechen, daß dieser Teil der trägen Masse sich in genau derselben Weise mit der Geschwindigkeit ändert wie die von dem elektromagnetischen Feld verursachte Trägheit. Der Wert der Lichtgeschwindigkeit hätte danach eine universelle Bedeutung für alle Äthervorgänge, d.h. für alle physikalischen Vorgänge überhaupt, er wäre der oberste Wert der Geschwindigkeiten, der niemals völlig von den ma- teriellen Teilchen erreicht werden kann. Außerdem müßten die Gesetze der uns noch unbekannten Äthervorgänge mit den Gesetzen der elektromagne- tischen Vorgänge gewisse Eigentümlichkeiten gemein haben. Diese Ansicht wird beispielsweise in der sogenannten Relativitätstheorie vertreten, einer Theorie, die unter den Physikern eine sehr große Zahl von Anhängern hat. Ist diese Ansicht richtig, dann ist es unmöglich, die elektromagne- tische Trägheit von der Trägheit, welche anderen Äthervorgängen zuzu- schreiben ist, experimentell irgendwie zu unterscheiden. Lassen wir all die Fragen, deren Entscheidung der Zukunft über- lassen bleiben muß, beiseite, so ist doch so viel als sicher anzusehen, dab die Physik im Begriff ist, auf Grund einer ungeheuren Fülle experimen- tellen Materials ein Weltbild von außerordentlicher Einfachheit und sozu- sagen mathematischer Klarheit zu konstruieren. Es soll alles auf die Vor- gänge und die Zustände in einer einzigen, nicht stofflichen Weltsubstanz, dem Äther oder Vakuum, zurückgeführt werden. Die Materie in all ihrer verwirrenden Mannigefaltiekeit soll aus Elementarteilchen aufgebaut sein, die nichts anderes sind, als Stellen eines bestimmten singulären Verhaltens im Äther. Alle Geschehnisse der Welt sollen sich eigentlich im Äther ab- spielen, und die Vorgänge im Äther sollen durch äußerst einfache und klare (Gesetzmäßigkeiten, wie es scheint mathematisch genau, bestimmt sein. Eins müssen wir allerdings bedingungslos aufgeben, wenn wir uns diese — ich möchte sagen — außerordentlich durchgeistigte Auffassung von den Dingen zu eigen machen wollen, nämlich die Forderung, daß) die Äthervorgänge uns selber sinnlich anschaulich sein sollen. Aber ist die Forderung der sinnlichen Anschaulichkeit nicht vielleicht einer von den derben Irrtümern der vergangenen materialistischen Epoche der Wissen- schaften, die sich noch in unsere Zeit hinein vererbt haben? Liegt die Sache nicht vielmehr so, dal) jede theoretische Erklärung der Natur- erscheinungen das (Gebiet des sinnlich Anschaulichen verläßt? Wir geben 192 Gustav Mie. Ionen und Elektronen. uns allerdings leicht der Täuschung hin, Theorien, die wir fortwährend und schon außerhalb der Wissenschaft im alltäglichen Leben fast unbe- wußt gebrauchen, z. B. die Theorien der Mechanik, schließlich selber auch für ebenso sinnlich anschaulich zu halten, wie die Erscheinungen, auf die wir sie anwenden. Eine Theorie, deren Begriffsbildungen uns nicht so ge- wohnheitsmäßig vertraut sind, nennen wir dann „nicht sinnlich anschau- lich“. Und so läuft denn die Forderung der sinnlichen Anschaulichkeit im Grunde auf die reaktionäre Forderung hinaus, daß wir mit unseren (sedanken immer hübsch in gewohnten, ausgefahrenen Bahnen bleiben sollen. So wird die Elektronentheorie, was auch ihr weiteres Schicksal sein mag, zum wenigsten mit dazu helfen, daß die Wissenschaft nicht materialistisch verknöchert. de Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. Von €. Frenzel, Brünn. Die Stickstofffrage. Die Bedeutung, welche dem Stickstoff in der Landwirtschaft und In- dustrie zukommt, ist bekannt genug. Der Umstand aber, daß man heute mit vollem Recht von einer Stickstoffrage sprechen kann, rechtfertigt ein näheres Eingehen auf diesen Gegenstand. Stickstoff findet sich in der Natur in ganz ungeheueren Quantitäten; die weitaus größte Menge davon bildet in elementarem, d. h. unverbundenem Zustand den Hauptbestandteil unserer Atmosphäre, welche dem Volumen nach aus einem Gemisch von rund '/, Sauerstoff und */, Stickstoff besteht. Neueren Arbeiten zufolge ist die Zusammensetzung trockener Luft die folgende; sie enthält pro Kubikmeter pro Kilogramm 78037= 97589 Stickstoff 75514 g = 60381 1 209:91= 299'84g Sauerstoff 23147 g = 16203 1 Y41= 16769 Argon 12929 = 7241 0372= 0599 Kohlensäure 046g = 6'231 Außerdem sind in der Luft geringfügige Mengen von Wasserstoff, Helium, Neon, Krypton und Xenon enthalten. Über die Höhe dieser Lufthülle unserer Erde werden sehr abweichende Angaben gemacht; während aus optischen Erscheinungen auf eine Aus- dehnung von etwa 1625 km geschlossen wurde, kann nach Schiaparelli die Höhe der Erdatmosphäre auf 300—400 km, ja nach Beobachtungen über Meteore sogar auf über 750 km veranschlagt werden. Aus der Größe der Erdoberfläche und dem Luftdruck läßt sich das Gewicht der Luft- hülle auf mehr als fünf Trillionen Kilogramm berechnen; die über jedem Quadratkilometer lastende Stickstoffmenge im ungefähren Betrag von acht Millionen Tonnen würde, den heutigen Verbrauch zugrunde ge- legt, genügen, um den gesamten Bedarf an Stickstoff für 25 Jahre zu decken. Diese ungeheure Menge würde, wie sich leicht einsehen läßt, die Zusammensetzung der Atmosphäre kaum merklich ändern. Das massenhafte Vorkommen von freiem Stickstoff hatte jedoch bis vor kurzem für Landwirtschaft und Industrie so gut wie gar keine E. Abderhalden, Fortschritte. I. 13 194 ©. Frenzel. Bedeutung, da Stickstoff in chemischer Hinsicht außerordentlich träge ist, d. h. sich nur äußerst schwierig mit anderen Elementen verbindet und für die genannten Interessengruppen nur chemisch gebundener Stickstoff in Betracht kommt. Nur in Verkettung mit anderen Elementen wie Wasser- stoff und Sauerstoff als Ammoniak NH,, Salpetersäure HNO, bzw. als Bestandteil der Salze dieser Verbindungen vermag er in den Organismus der Pflanze einzutreten und nur die Pflanze ist imstande, aus den ihr dar- gebotenen einfachen Stickstoffverbindungen die hochmolekularen Stoffe auf- zubauen, welche als Eiweißstoffe den Hauptbestandteil des Protoplasmas und die Grundlage der Ernährung von Tier und Mensch bilden. So stellt also der auf unserer Erde vorhandene gebundene Stickstoff ein überaus wertvolles Kapital vor, mit dem sparsam umzugehen im In- teresse der Fortfristung organischen Lebens gelegen ist. Tatsächlich konnte bis vor kurzer Zeit nicht daran gedacht werden, dieses Kapital auf seiner Höhe zu erhalten. Nur ein einziger wirtschaftlich möglicher Weg war bekannt, in beschränktem Maß elementaren Stickstoff der Atmosphäre in gebundenen zu verwandeln und damit einen Teil des heute schon ungeheuer großen Verbrauches an Stickstoffverbindungen zu decken. Diese Fähigkeit kommt den Leguminosen zu. Sie machen von den übrigen Pflanzen insofern eine Ausnahme, als sie auch auf Böden gut gedeihen, welche an Stickstoffverbindungen erschöpft sind. Werden diese Pflanzen eingeackert (Gründüngung), so wird auf diese Weise der Erdboden an eebundenem Stickstoff bereichert. Diese Fähigkeit verdankt die genannte Pflanzenfamilie Bakterien, welche zu ihnen in einem eigentümlichen, als Symbiose bezeichneten Verhältnis stehen. An den Wurzeln der Leguminosen verursachen diese Bakterien die sogenannte Knöllchenbildung und benutzen dann die entstehenden Hohlräume als Wohnstätte. Es scheint, daß dieses Zusammenleben von Pflanze und Bakterium auf Gegenleistung beruht; das Bakterium besorgt die Überführung (Assimilation) des freien Stickstoffs der Atmosphäre und gibt die entstandenen Produkte an die Leguminose ab, während diese für den Bedarf des Bakteriums an stickstofffreien Nähr- stoffen aufkommt. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist das Vermögen, elemen- taren Stickstoff zu assimilieren, nicht auf einzelne Bakterien beschränkt, es dürften vielmehr Spuren dieser Fähigkeit ziemlich weit verbreitet sein. Zahlreiche in dieser Richtung angestellte Versuche haben aber bis heute noch zu keinem sicheren Ergebnis geführt. Man hat seinerzeit an die durch Bakterien vermittelte Bindung des atmosphärischen Stickstoffes sehr große Hoffnungen geknüpft, die sich aber in der landwirtschaftlichen Praxis nur zum geringsten Teil verwirklicht haben. Die Gründüngung, die schon seit dem Jahre 1701 betrieben wird, kommt nur für solche Gegenden in Betracht, welche ein günstiges Klima und namentlich einen langen, warmen Herbst haben. Dann können die Stickstoffsammler als Stoppelsaat, also nach der Ernte der Hauptfrucht des Jahres angebaut werden. In rauhen Klimaten mit sehr kurzem Som- mer dagegen muß die Düngung durch den Ausfall einer vollen Jahres- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 195 ernte bezahlt werden. Dazu kommt noch, daß die Bakterien ihre Tätigkeit erst entfalten, wenn der zur Verfügung stehende Bodenstickstoff ver- braucht ist. Auf besseren, schweren Böden ist daher der Erfolg der Grün- düngung nur gering. Nur auf leichten, armen Böden bewährt sich, wie schon lange bekannt, dieses Verfahren und gibt dann allerdings vorzügliche Resultate. So rechnet man bei Anbau von Leguminosen und Einackerung derselben auf Stickstoffgewinne von 140—220 kg pro Hektar. Man könnte nun meinen, daß der gebundene Stickstoff auf seinem Weg durch Pflanze und Tier nach dem Absterben dieser Organismen wieder der Ernährung neuer Individuen nutzbar gemacht werden kann. Das ist tatsächlich der Fall und man spricht ja auch von einem Kreislauf des Stickstoffes. Denn die von der Pflanze aus einfachen anorganischen Stickstoffver- bindungen aufgebauten Eiweißkörper decken den Stickstoffbedarf der pflanzenfressenden Tiere, welche ihrerseits wieder von den Fleischfressern verzehrt werden. Die Ausscheidungsprodukte des tierischen Organismus sehen bei Fäulnisprozessen zum Teil in Ammoniak über, welches mit pflanzlichen Produkten als Stallmist, Dünger dem Boden einverleibt bei Gegenwart von Luft durch Bakterien zu salpetersauren Salzen oxydiert wird; letztere werden wieder von der Pflanze als Nahrung aufgenommen. Das ist in eroßen Zügen der Verlauf des komplizierten Kreisprozesses, den der gebundene Stickstoff in der Natur durchmacht. Aber zunächst ist hervorzuheben, daß ein derartiger Kreislauf natür- lich immer nur dasjenige wiedergeben kann, was bereits in ihm sich be- fand, ein Mehr, welches durch das Anwachsen der Bevölkerung der Erde und durch die gesteigerten Kulturbedürfnisse erfordert wird, kann aus ihm nicht resultieren. Überdies verläuft dieser Kreislauf sehr verlust- reich; sehr bedeutende Mengen von gebundenem Stickstoff gehen bei der Verbrennung im Organismus aber auch außerhalb desselben unter dem Einfluß gewisser Bakterien (Denitrifikationsorganismen) als elementarer Stickstoff verloren. Ganz ungeheuere Abgänge werden dadurch bedingt, dal in großen Städten die menschlichen und tierischen Ausscheidungs- stoffe nicht dem Ackerboden einverleibt, sondern durch Kanäle in. die Flüsse geleitet werden. So hat Boussingault berechnet, dal die täg- lich der Seine zugeführten Abfallstoffe soviel gebundenen Stickstoff fort- führen, als 200 Tonnen Natriumnitrat entspricht. Daß in dieser Hinsicht Wandel zu schaffen, schon vielfach versucht worden ist, bedarf nicht der Erwähnung. Das gleiche gilt für die organische Stoffe verarbeitenden Be- triebe, z. B. Brennereien, Zuckerfabriken ete., deren stickstoffhaltige Ab- fallstoffe heute schon zum Teil rationell verwertet werden. Außer der Landwirtschaft zehrt aber auch die Industrie an den Vor- räten an gebundenem Stickstoff. Der Bedarf der letzteren ist allerdings bei weitem kleiner, aber er nimmt von Jahr zu Jahr sehr bedeutend zu. Insbesondere seien erwähnt die Fabrikation von Schießpulver, von Spreng- ‚stoffen (Dynamit, Melinit, Ekrasit, Schießbaumwolle, rauchloses Pulver etc. ete.), 13* 196 C. Frenzel. von Teerfarben; weiters wird gebundener Stickstoff in großen Mengen als Cyankalium für die Goldlaugerei, zur Herstellung von Berlinerblau, in der Galvanoplastik und Galvanostegie verbraucht. Salpetersäure und Am- moniak finden in vielen Industrien, im Laboratorium und Haus, das Ammoniak überdies in großen Quantitäten in der Kälteindustrie und bei Fig. 20. Medikamente @ 3 Anlijebrinuswf Farbstoffe und Ferbstojfeu.s W. Medi kam £nte Azoverbindu, ag Diazeverbing () Dünger Q) Azoverbindung Mennige (©) () Diazoveräind: 290 ® Dünger een Q 2 Nairlymnekrt. . Wa sserstofjsuperoxy, Ammonial.Natroniauge. \® r Ser N X) (Cassel) q Anifrn A ER Gewöhn Spreng RohrroguKte fürechn Umseizu e ZRETER Bryra- latriumnitrat Nilroldfol Sloffe undey ax 2 IQ technische |) Barıkzsu, Ne umnıtrat Produkte | et: ne © ; Pikrın sä' Fihralsprengstoffe wie Feurkwerks Strorliumniira an ® C) Körper, Zunud (2) halecı ß B ee Diazoverbingungene Jndıgo sliumnilrat oO ® Aroverbind. ® Ze Ammggiumnitrat Ö Thefrprodukte Mrozansbaet Fanfanffe & Nitrafe se 2 ( J” Farbenindustrie [N o AL ER 0) Fologr Industrie Silbernitrat Ö = Ammoniak 5 Heditlr ® & e Ammonsulfat Rsagen Salpe ersstre XnD © D ngemiiel): Köniqawasser. Melalbeizen Or: Bean RR GalvanoplastıX und i@: We Zung Galvarıosiegie Cyanderdınd () Schwejelsäuresadri.Katioy 5 OÖ Reilgdeteitter Atrdglycerin ® Cellulo eprodufte Ö Cordit Glühlamp n Industrie Ballistit Dyne ? Nirockllulose ) Spr& elalir, Palklan ER Fologr. Jndusırse ® Coltkkıum unsteeidd ® Surrogale [ Efenbein 5 Horn, Schi! ZEN und Fologr. gduslrte\ Ohrru 2 te 4 (9) 0) Ähnliches: Salpetersäure und ihre Anwendungen in Landwirtschaft und Industrie. Nach Birkeland und Eyde. der Ammoniak-Sodafabrikation nach Solvay Anwendung. Einen vorzüglichen Überbliek über den Gebrauch gebundenen Stickstoffes in der Industrie und Landwirtschaft gibt die Fig. 20, in welcher den jetzigen Verhältnissen nicht canz entsprechend Salpetersäure als der Ausgangspunkt aller übrigen Pro- dukte hingestellt ist. Heute wird das Ammoniak durch trockene Destil- lation der Kohle in sehr großen Quantitäten direkt gewonnen. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 197 Fragen wir nun nach den Quellen gebundenen Stickstoffes in der Natur, so sind es vorzüglich zwei, die sich bis heute und auch noch für einige Zeit den ungeheuer ansteigenden Ansprüchen gewachsen zeigen — die natürlichen Vorkommnisse von salpetersauren Salzen und die Stein- kohle, deren Stickstoffgehalt allerdings nur gering ist, aber infolge ihrer massenhaften Verwendung doch sehr in Betracht kommt. Hinter diesen beiden Quellen gebundenen Stickstoffes steht eine dritte weit zurück — der Guano. Alle drei Produkte sind anzusehen als die Überreste von hochorga- nisierten Lebewesen, von Pflanzen und Tieren. Wenden wir uns zunächst dem letztgenannten Produkt dem Peru- geuano zu, so ist derselbe wie bekannt entstanden durch Anhäufung von Exkrementen, teilweise auch von Eiern und Leichen verschiedener Vogel- arten, Pinguinen und Pelikanen. Die Bildung dieser ausgedehnten Lager ist auf den fast völligen Mangel an Regen auf den Peruanischen Küsten- inseln zurückzuführen. Der Stickstoff ist im Guano zum Teil noch in Form unzersetzter Harnsäure und weiter in Form einer für den Guano charakte- ristischen Base, dem Guanin, enthalten. Von anderen stickstoffhaltigen Produkten, welche im Gegensatze zur Harnsäure leicht löslich sind, wären hauptsächlich oxalsaures und harnsaures Ammon hervorzuheben. Als Dünge- mittel kommt dem Guano ein bedeutender Wert zu, da der in ihm ent- haltene Stickstoff, dessen Menge bei besseren Sorten um 14°/, herum schwankt, der Pflanze sehr leicht zugänglich ist und überdies ein weiterer wichtiger Pflanzennährstoff, Phosphorsäure, immer in bedeutenden Mengen vorhanden ist. Die besten Sorten sollen schon abgebaut sein. Daß Guano für die Landwirtschaft heute keine erhebliche Bedeutung mehr hat, mag aus folgenden Zahlen hervorgehen: Tabelle 1. Verbrauch Deutschlands an Guano. 1893, m na, AH:963,7 7391 Mill. M. I ETC N HSRTE 6848 „ „ Ce ee il Oo ESI0r PN. AA ern, RODAU Lg 3 U er BO N 3943 420125 7, Se RE 4633 „ TSIYE I 5 ar. DO:LATE, 6303 7% TI008 2 a een 3.400% 3072, 120 a ri 4900 n 15 1 881072 K RS N Pa ee nie DOlas 21, 1I0SE a EP DL AHA DSB. =: OS u 2 RU RE DHL N a TI0HE zo ren.. AN 5 TTEL008 7800 „ T906r 22 ARE 2.515300% 5410 „ Zu einer erheblichen Steigerung des Konsums kann es nicht kommen, weil die vorhandenen Mengen beschränkt sind. 198 C. Frenzel. Die zweite Quelle gebundenen Stickstoffes sind die Steinkohlen, bei deren trockener Destillation der Stickstoff als Ammoniak abgespalten und aus dem sogenannten Gaswasser entweder in Form der Base selbst oder ihrer Salze, insbesondere des Sulfates gewonnen wird. An Steinkohlen nun besitzen wir einen derartigen Vorrat, auch noch in Europa, daß Befürch- tungen, es könnte dieses Rohmaterial einer baldigen Erschöpfung entgegen- gehen, jetzt nicht am Platze sind. Bei der trockenen Destillation der Stein- kohle wird nur ein geringer Bruchteil des Stickstoffgehaltes, nämlich 1/,—/s; in Form von Ammoniak und Cyan gewonnen, während ein sehr erheb- licher Teil als elementarer Stickstoff verloren geht und ein anderer, eben- falls beträchtlicher Teil noch in den Kokes zurückbleibt und bei der Ver- brennung derselben gleichfalls unverwertet entweicht. Die ausschließliche Verwertung der Steinkohle als Brennmaterial ist außerordentlich unrationell; in der Heiztechnik bricht sich auf Grund dieser Erkenntnis derzeit eine Bewegung Bahn, welche auf die Verallgemeinerung der Gasheizung durch Zentralisierung der Gaserzeugung und somit auf die Verringerung der bloßen Verbrennung der Steinkohle am Rost hinzielt. Die bei der Entgasung der Kohle in Gasfabriken und Kokereien gewonnenen Mengen von Ammonsulfat spielen heute im wirtschaftlichen Leben schon eine sehr bedeutende Rolle, wie aus folgender Tabelle zu entnehmen ist: Tabelle 2. Produktion an Ammonsulfat im Jahre 1907: Deutschland ee ON, Eneland. =... Se ee 30 Vereiniete Staaten =... > 2....2.60.0005 Hrankreicht/ 2. we 7222520005 Belgien und Holland. . . . . .. . 35.000 „ Österreich-Ungarn 2... . 2.222 ..228:.000 Rußland, Spanien und andere Länder 40.000 „ Summe 778.400 £ Speziell Deutschlands Produktion ist in den letzten Jahren sehr stark gewachsen: Tabelle 3 Deutschlands Produktion an Ammonsulfat. in Kokereien in Gasanstalten Zusammen 1897 9°. Sr: 000 14.000 t 84.000 Z 1898... 2.28. #84:00085 14.000 „, 98.000 „ 1899 77.2.2 EIEBLHUOE 15.500 „ 100.000 „ 190077. 2 Nor ee B8:alle 18.000 „ 106.500 „ 1901.2.2.2..2 Miss 20.000 „ 133.000 „ 190222... aD 23.000 „ 140.000 „ 190377 2 2 te 1200 26.000 „, 146.000 „ 1902 77.019000 30.000 „ 182.000 „ 190er. 202 2022 28168:00085 35.000 „ 203.000 „ kr, 38.000 „ 235.000 „ Trotz der rapid ansteigenden eigenen Produktion hat Deutschland bis vor wenigen Jahren für Zwecke seiner Landwirtschaft und Industrie Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 199 noch erhebliche Mengen vom Auslande, insbesondere von England bezogen. Erst seit 1906 vermochte es, wie die folgende Tabelle ersichtlich macht, seinen Bedarf selbst zu decken: Tabelle 4. Verbrauch Deutschlands an ausländischem Ammonsulfat. 18933 . 2 2 2 ..42.147t im Werte von 10'122 Mill. Mark Tag Sem a 3a ni EA. ROTER ee 021.007: 22 23 ill “ RO A E29:86O, 4 SURLDESNDE u ERIK Age are GONE R an 2 hell rn Me ” Re 1. UE0 5 EI RE R = DAGA BONO re Se DOLOTZA Se. “ I ANAlee 5 Bl. ae ea. si edit 2 102573 BE 20 30.DNI N n I STSONT NE N 19034. 5%. aaa Wr 29570514, a 420980, ‘ I er 2 ul Per 19057... na 1 ARE & DLOGE S IC re 0) Die Produktion an schwefelsaurem Ammoniak wird in den nächsten Jahren im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Bestrebungen der Heiztechnik sehr bedeutend ansteigen. Es wird beabsichtigt, die Kohle in der Weise auszunutzen, dal) sie nicht nur entgast, sondern auch vergast wird, d. h. ausihr durch Luftzuführung und partielle Verbrennung Generator- gas oder durch Behandeln in glühendem Zustande mit Wasserdampf, Wasser- gas oder durch Luft und Wasserdampf sogenanntes Halbwassergas ge- wonnen wird. L. Mond hat sich um die Durchführung der Vergasung von Kohle nach der letztgenannten Art sehr große Verdienste erworben. Wird der Prozeß so geführt, daß ein Teil der Kohle zur Erzeugung der nötigen Temperatur verbrannt, der größte Teil aber durch Wasserdampf zersetzt wird, so erhält man große Mengen eines zwar nicht besonders heizkräftigen, aber für alle Zwecke auch zum Betrieb von Gasmaschinen geeigneten Gases, und dieses Verfahren hat überdies den großen Vorteil, daß fast der ganze Stickstoff der Kohle in Form von Ammoniak gewonnen wird. Während die Kokerei pro Tonne nur 10—12 kg Ammonsulfat liefert, können beim Mond- gasprozeß 40—50 kg dieses wertvollen Stoffes erhalten werden. Seiner außerordentlichen Zweckmäßigkeit, ebenso aber auch seiner vielfachen An- wendbarkeit wegen hat sich dieses Verfahren sehr rasch eingebürgert und wird wohl die bisherige unrationelle Verwertung der Kohle in absehbarer Zeit verdrängen. Das gilt allerdings nur für England, wo gegenwärtig über 1 Million Tonnen Kohle auf diese Art verarbeitet werden, während der Kontinent sich zu dieser Änderung nur sehr langsam entschließt. Der Mondgasprozeß ist nicht nur zur Vergasung von Kohle anwend- bar. Durch N. Caro ist festgestellt worden, daß die Abfälle der Reini- gung der Kohlen, die im Durchschnitt 30—35°/, Kohle enthalten und sich auf den sogenannten Wäschebergen und Lesebergen als lästige Neben- 200 C. Frenzel. produkte ansammeln, verhältnismäßig viel stickstoffreicher sind, als die Kohlen selber. Diese Abfälle lassen sich nach dem Mondprozeß sehr vor- teilhaft auf ein Gas von 1000-1100 Kalorien verarbeiten, unter gleich- zeitiger (rewinnung von großen Mengen Ammoniak und eines ausge- schwehlten Rückstandes, der sofort zum Bergversatz in den Gruben Ver- wendung finden kann. Auch städtische Abfälle lassen sich, wie Caro und Erlwein feststellten, nachdem sie durch das sogenannte Kohlenbreiverfahren in einen festen und flüssigen Anteil getrennt wurden, auf diese Weise nutzbringend auf Ammonsulfat unter Kraftgewinnung verarbeiten. Weitere Mengen von Ammoniak ließen sich durch ökonomische Aus- nutzung der ausgedehnten Torflager gewinnen. Preußen allein besitzt etwa 2'/, Millionen Hektar Torfmoore, Baden 30.000 ha, Bayern 75.000 ha. Diese Anwendung des Mondgasprozesses ist von A. Frank in Vorschlag gebracht und geprüft worden. Die Resultate waren ausgezeichnete; der Ausführung größerer Anlagen steht nur der Umstand im Wege, daß in Moorgebieten kein großer Kraftbedarf vorhanden ist. Auch der sogenannte Ludwigshofer Schlich, eine Lebertorf-ähnliche Masse, welche durch Ablagerung von Wasser- tieren und -pflanzen entstanden ist, kann in dieser Weise unter Ge- winnung von Ammoniak verarbeitet werden. Schließlich wären die natürlichen Vorkommnisse von Nitraten zu be- sprechen, welche heute die weitaus wichtigste Stickstoffquelle für Land- wirtschaft und Industrie repräsentieren. Sie sind zweifelsohne als Um- setzungsprodukte tierischer und pflanzlicher Stoffe anzusehen, welche unter besonderen atmosphärischen Bedingungen durch die Tätigkeit der soge- nannten nitrifizierenden Bakterien entstanden sind. Die Möglichkeit einer derartigen, durch Schaffung von günstigen Verhältnissen beschleunigten Umwandlung ist lange bekannt; von ihr wird in den Salpeterplantagen in Schweden, in der Schweiz, in Ungarn usw. Gebrauch gemacht. Überdies läßt sich dieser Prozeß an einer Reihe von allerdings unbedeutenden Vor- kommnissen auch heute noch genau feststellen. Es finden sich Nitrate in Kalksteinhöhlen, welche massenhaft von Fledermäusen bewohnt sind, so auf Ceylon, in Italien, Arabien, Persien, an vielen Orten Amerikas ete. Bis zu den sechziger Jahren spielten die Vorkommnisse von Kali- salpeter in Indien eine große Rolle, da sich das entsprechende Natronsalz seiner Hygroskopizität wegen zur Erzeugung von Schießpulver nicht eignete. Die Einfuhr dieses Produktes bildete einen blühenden Handelszweig, hörte jedoch vollständig auf, als durch Erschließung der Staßfurter Kali- salzlager die Möglichkeit gegeben war, Natronsalpeter in das entsprechende Kalisalz in billiger Weise umzuwandeln. Man wandte sich mit einem Schlag dem Bezug des heute so wichtigen Natronsalpeters zu. Im Jahre 1900 be- trug der Verbrauch an ostindischem Salpeter bloß 20.000 t, wovon die Hälfte auf China und ein Drittel auf Großbritannien entfiel. Heute beherrschen die chilenischen Vorkommnisse den Markt so voll- ständig, daß die Ausdrücke Chilesalpeter und Natronsalpeter synonym ge- braucht werden. Die Verwendung dieses Produktes, das zunächst nur tech- LE Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 20] nischen Zwecken diente, für die Landwirtschaft datiert etwa aus dem Jahre 1860. Damals betrug der Gesamtexport dieses Salzes von der West- küste Amerikas 68.500 £; er stieg 1870 auf 182.000 t 18807, 225.000 „ 1890 „ 1,025.000 „ 1900 ,„. 1,453.000 „ und betrug im Jahre 1907 zirka 1,700.000 „ Im allgemeinen ist, von gewissen Schwankungen abgesehen, die durch Kriege und eine Reihe von anderen besonderen Ereignissen bedingt wur- den, der Salpeterbedarf in den ersten Jahrzehnten langsam angestiegen. Erst von der Mitte der Siebzigerjahre schnellte er infolge der zunehmen- den Verwendung des Produktes als Düngemittel in die Höhe. Man kann die voraussichtliche jährliche Zunahme mit etwa 50.000 f angeben. Der Verbrauch Deutschlands betrug 1893. . .. ...5351.168 2 im Werte von 62.964 Millionen Mark 1kofok U a an st |0 P5 7: VE e ”65:932 LEInRe en ER AAHDTL En “ 68225 IROOBa A399 2 ne sletleh) SI, aan AHA.02IN e 6502 15982 2 AT DEN > e „59.507 R n 1 Dis er en Elbe ke ee) = 5 100 FAN 0380:. >. 9120 - 190109 5008 4 20587:.601 N INDE 2a AHDD8T - „ 79.003 s = TOUSEa Ra AAOHATE Ser & erekrlur e . KO EP TARSHININ b „94.489 19007 Fee EDEAAO > nlaleysire‘ wovon nach ernst zu nehmenden Schätzungen etwa '!/, von der Industrie und #/, von der Landwirtschaft aufgenommen wurden. Die chilenischen Salpeterlager erstrecken sich, sofern man nur die im Abbau befindlichen und größeren Lager berücksichtigt, vom 18. bis 27. Grad südl. Breite zwischen der Quebrada de Camarones und der Que- brada de Carzival in einer Entfernung von 55—75 km von der Küste. Die größere Anzahl derselben liegt in der Provinz Tarapaca, die bis zum Jahre 1879 zu Peru gehörte, dann aber die indirekte Veranlassung und das eigentliche Streitobjekt des peruanisch-chilenischen Krieges wurde und an Chile abgetreten werden mußte; von diesem Terrain sind 472 km? im Besitz privater Industrien und 59 km: im Besitz des Fiskus. Außerdem sollen in der Provinz Autosagasta noch Salpeterterrains im Ausmale von 3730 km? sich befinden, über deren Gehalt sich allerdings nur ganz un- gefähre Schätzungen anstellen lassen. Die Gewinnung des Handelsproduktes aus dem Rohsalpeter, der Ca- liche, welcher unter einem !/, bis 1 m, selten bis 3 m starken Deckgebirge liegt, geschieht in der Weise, daß durch Deckgebirge und Caliche Bohr- löcher bis zur unteren Begrenzung getrieben werden, welche fast immer 202 C. Frenzel. durch eine Tonschicht gebildet wird. Mit einem an Ort und Stelle her- gestellten, wenig brisanten Sprengpulver werden tiefe Gruben von einigen Metern Durchmesser gebildet, aus welchem der Rohsalpeter im Tagbau gefördert werden kann. Man unterscheidet drei Qualitäten: I. Qualität mit 40—50°/, Natronsalpeter I; „ 30-407), R I „ 17-307, A Ein Rohprodukt mit einem Gehalt von 17°/, gilt schon nicht mehr als abbauwürdig, allerdings heute — es ist vorauszusehen, daß in dieser Hinsicht spätere Zeiten Wandel schaffen werden. Außer Natriumnitrat finden sich in dem rohen Produkt in schwankenden Mengen NaCl, K,SO, UaSO,, Magnesiumsalze, KNO,, außerdem jod- und borsaure Salze und manchmal auch ein Pflanzengift, das Kaliumperchlorat, KCIO,. Das Rohprodukt wird zunächst an Ort und Stelle einer mechanischen Aufbereitung unterzogen, dann auf Karren oder Feldbahnen nach den Fabriken transportiert. Hier wird das auf Brechmaschinen zerkleinerte Material in systematischer Weise ausgelaugt; die heißen gesättigten Lö- sungen werden in großen schmiedeeisernen Pfannen der Kristallisation überlassen. Der ausgeschiedene Salpeter bleibt dann einige Tage auf Trockenbühnen liegen und wird schließlich zum Transport in Säcke von 100 kg Fassung verpackt. Eine eigene Flotte besorgt von den Häfen Iquique und Pisagua aus die Verfrachtung in die ganze Welt. Wie schon erwähnt, sind die Salpeterlager Chiles zweifellos orga- nischen Ursprunges. Es ist aber bis heute nicht gelungen, zwischen den verschiedenen Theorien ihrer Entstehung zu entscheiden. Am wahrschein- lichsten ist die von Nöllner gemachte Annahme, daß die Bildung des Salpeters auf die Verwesung von großen Tangablagerungen, wie sich solche auch heute an manchen Orten (Sargassomeer) finden, zurückzu- führen sei. Diese Theorie ist insofern sehr plausibel, als sie das Vor- kommen von Jod im Chilesalpeter erklärt. Bekanntlich wurde früher beinahe ausschließlich und wird auch noch heute ein großer Teil des Jods aus Meerestangen und -algen gewonnen. Dazu kommt noch, daß man auf Tang in großen Mengen ein Stickstoff assimilierendes Bakterium (Azobacter chroococeum) gefunden hat, welches vielleicht unter günstigen Umständen imstande war, Stickstoff der Atmosphäre zu entnehmen. Die Lager von Chilesalpeter, welche man die längste Zeit als uner- schöpflich hinstellte, dürften in absehbarer Zeit abgebaut sein. Es sind von verschiedenen Seiten Schätzungen vorgenommen worden, welche zu dem Resultate führten, daß die vorhandenen Vorräte noch höchstens 25—40 Jahre reichen, um den stetig steigenden Konsum zu decken. Die erstge- nannte Zahl ist auf Veranlassung der chilenischen Regierung durch einen sehr zuverlässigen Statistiker Francesca Valdes Vergara erhoben worden und be- ruht auf der Annahme, daß in den nächsten zwanzig Jahren der Verbrauch von fünf zu fünf Jahren durchschnittlich um 10°/, zunehmen wird. Die voll- ständige Erschöpfung würde nach dieser Schätzung im Jahre 1923 erfolgen. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 2053 Auf diese Nachricht hin bemächtigte sich landwirtschaftlicher Kreise wohl gegründete Unruhe, die am deutlichsten dadurch in Erscheinung trat, dal am 30. Juli 1902 aus „deutschen landwirtschaftlichen Genossen- schaften verschiedener Organisationen“ eine Aktiengesellschaft mit fünf- zehn Millionen Mark Kapital „Deutsche Salpeterwerke, Hamburg“ zum Zwecke der Erwerbung und Ausbeutung von Salpeterfeldern gegründet wurde. Tatsächlich will man in neuerer Zeit Salpeterfunde gemacht haben, ihr Wert dürfte aber recht problematisch sein. So finden sich an- geblich ausgedehnte Vorkomnisse in der Sahara, in der Nähe der Oase Tahut, weiter sollen in Kalifornien, im Death Valley beträchtliche Ablage- rungen dieses für die Landwirtschaft unentbehrlichen Stoffes entdeckt worden sein. Die Ausdehnung der letztgenannten Felder wird mit 2240 Acres angegeben. Die Funde dürften aber teilweise der Unwirtlichkeit der be- treffenden Gegenden wegen, teilweise wegen ihres geringen (rehaltes an Natriumnitrat (10°,) nicht hoch anzuschlagen sein. Jedenfalls ist an eine ernstliche Konkurrenz mit dem Chilesalpeter nicht zu denken, der heute, wie bereits hervorgehoben wurde, nicht abgebaut wird, wenn sein Gehalt an Natriumnitrat wesentlich unter 20°/, fällt. Die Richtigkeit der Kunde von der bevorstehenden Erschöpfung der Salpeterlager schien durch die beständig anwachsenden Salpeterpreise bestätigt zu werden, um so mehr, als diese Preissteigerung ausdrück- lich auf die immer knapper werdenden Vorräte geschoben wurde. Diese Verhältnisse haben die Frage angeregt, ob es möglich wäre, für das Naturprodukt einen künstlichen Ersatz unter Heranziehung des im wahrsten Sinne des Wortes unerschöpflichen atmosphärischen Stickstoffes zu schaffen. Heute, wo das Problem in befriedigender Weise auf doppelte Weise gelöst ist, wird von Seite der Salpeterproduzenten und der chilenischen Regierung der Vorrat an Salpeter bei weitem höher eingeschätzt. Die ver- einigten Salpeterproduzenten bewerten denselben auf Grund von zuverlässi- gen Untersuchungen und — so weit solche nicht angestellt werden konn- ten — Minimaleinschätzungen der noch nicht angebohrten Felder auf: Provinz Tarapaca. privat . . . . . . 28 Millionen Tonnen 4 r Tinkalisch Serra - 2 a ANEORSgBRTa: 0 er € > Dies ergibt eine Gesamtsumme von 220 Millionen Tonnen. Nimmt man nun an, daß der heutige Verbrauch von 1'7 Millionen Tonnen jähr- lich um 50.000 £ steigt (@randeau), bis der Konsum auf 5 Millionen Ton- nen angewachsen ist, so würden die Vorräte noch bis 1972 reichen. Außer- dem sind dabei die Rückstände mit einem Gehalt von rund 15°/, Salpeter nicht berücksichtigt, von denen auch 150—200 Millionen Tonnen vorhan- 204 C. Frenzel. den sein sollen. Neben dieser Schätzung sind auch eine Reihe anderer von zum Teil hervorragenden Fachleuten angestellt worden, denen zufolge die Erschöpfung der chilenischen Lager früher erfolgen wird. Aus den Angaben einer größeren Anzahl von Sachverständigen ergibt sich als wahr- scheinlich, daß) die Vorräte rund 130 Millionen Tonnen betragen und noch etwa 40 Jahre ausreichen werden. Mehr als ein Grund spricht jedoch dafür, daß der Verbrauch an Salpeter in den nächsten Jahren mehr an- steigen wird, als dies bis jetzt der Fall war. Zunächst einmal ist das Kartell der Produzenten in die Brüche gegangen und der Preis des Salpeters sehr erheblich zurückgegangen. Andrerseits aber wird wohl Amerika, das bis jetzt geradezu Raubbau getrieben hat, in kürzester Zeit zu einem geregelten Landwirtschaftsbetrieb übergehen und dann sehr bedeutende Salpetermengen dem Markte entnehmen. Sein Verbrauch wächst in den letzten Jahren ganz außerordentlich rasch an. Er betrug im Jahre 1901 ne DE 1903 1ER CE ER 302R OR NEE VRUADEM VO Eee ers ee 230G 1000 We So A nn Ja es ist nicht ausgeschlossen, daß einmal Amerika, wenn es die Wichtigkeit der Salpeterlager für seine Landwirtschaft erkannt hat, radi- kal verfährt und den Export ganz verbietet. In den letzten Jahren sind nicht nur die bestehenden Salpeterfabriken bedeutend vergrößert worden, es sind auch eine größere Zahl neuer Unter- nehmungen entstanden, so daß die Förderung, welche im letzten Jahre schon nahezu 1'8 Millionen Tonnen betrug, bis auf 3 Millionen Tonnen ge- steigert werden könnte. Es ist wohl überaus lehrreich, daß die erste im Jahre 1825 nach Europa gebrachte Schiffsladung Chilesalpeter ins Meer versenkt wurde, weil man nichts damit anzufangen wußte. Heute, nach kaum hundert Jahren, ist uns dieses Produkt so unentbehrlich geworden, daß die in absehbarer Zeit bevorstehende Erschöpfung dieser Stickstoffquelle uns zwingt, mit allen Mitteln für einen künstlichen Ersatz zu sorgen. Der bekannte eng- lische Forscher Crookes bezeichnete bei Eröffnung der British Association im Jahre 1898 diese Angelegenheit als eine Sache auf Leben und Tod für die künftigen Geschlechter. Sie hat nach ihm nicht nur eine ungeheure wirtschaftliche Bedeutung; die Unmöglichkeit, unseren Feldern das für den heutigen Intensivbetrieb nötige Stickstoffquantum zuzuführen, könnte der weißen Rasse gefährlich werden und mit der Zeit ein Übergewicht der Reis konsumierenden Rasse über die Weizen verzehrende herbeiführen. Wenn nun auch diese Warnung vielleicht etwas übertrieben erscheint, so trifft sie doch den Kern der Sache, wie aus folgenden von dem ge- nannten Forscher angegebenen Zahlen hervorgeht: Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 209 Jahreszahl: 1871 1881 1891 1898 1901 1911 1921 1931 1941 Millionen Brotesser: 371 416 4726 8165 536.1 6037 674 7461 8192 erforderliche Anbau- fläche in Millionen Morgen. . ...12 143 167 183 190 214 239 264 290 Die Zahl der Brotesser von 1898 angefangen, in welchem Jahre die obige Aufstellung gemacht wurde, konnte Orookes natürlich nur auf Grund gewisser Annahmen einschätzen; der Weizenkonsum steigt nicht nur durch die natürliche Vermehrung der Menschheit, sondern auch dadurch, dal) manche Völker, welche früher andere Kost bevorzugten, in die Reihe der Weizenbrotesser eintreten; so ersetzten z. B. die Japaner auf Grund der im letzten Krieg gemachten Erfahrungen die Reis- durch gemischte Wei- zenkost. Bei gleichbleibender Intensität der Wirtschaft müßte das Ackerland in demselben Maße zunehmen wie die Zahl der Brotesser. Nun sind ja allerdings noch ungeheure Strecken Landes sehr wenig oder gar nicht be- baut. So soll insbesondere Südsibirien bei rationeller Wirtschaft kolossale Mengen Getreides produzieren können; allein mit der Erschließung solcher Ländereien ist wohl in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Trotzdem heute noch genug anbaufähiges Land vorhanden ist, sterben doch in Rußland und Indien jahraus, jahrein Tausende von Menschen Hungers. Ist die bebaubare Fläche gegeben, so muß der Bedarf durch gestei- gerte Intensität der Wirtschaft aufgebracht werden. Daß man durch reich- liche Düngung mit den Pflanzennährstoffen Stickstoff, Kali und Phosphor- säure dem Ackerboden tatsächlich weit größere Erträge abnötigen kann, als sie heute üblich sind, ist eine bekannte Tatsache. Sind nun die Einschätzungen von Crookes zutreffend, so würde sich daraus ergeben, daß der Weizenkonsum, welcher sich beispielsweise im Jahre 1898 auf 75 Millionen Kubikmeter belief, im Jahre 19530 entspre- chend der inzwischen erfolgten Vermehrung der Brotesser etwa 120 Mil- lionen Kubikmeter betragen wird. Rechnet man nun weiter, dab 1898 die mit Weizen bebaute Fläche 660.000 km? umfaßte, so warf die Flächen- einheit einen Ertrag von 110 m® ab; im Jahre 1930 müßte sich derselbe aber auf 180 m® belaufen, um den Bedarf zu decken. Zur Erzielung dieses Re- sultates müßte man dem Boden pro Quadratkilometer zirka 18 f Salpeter mehr, d.h. dem gesamten mit Weizen bebauten Land außer den heute angewandten Düngemitteln noch 12 Millionen Tonnen Salpeter zuführen. Das sind natürlich nur Überschlagsrechnungen, deren Ergebnisse durch mannig- fache Umstände erheblich abgeändert werden können, die aber doch einen klaren Einblick in die Wichtigkeit der Sache gewähren. Sicherlich wächst das bebaute Land von Jahr zu Jahr und damit wird eine so kolossale Ertragssteigerung, wie sie sich aus den Zahlen von Crookes errechnet, nicht notwendig — hingegen ist aber hervorzuheben, dal auch heute noch und nicht nur in Amerika, sondern auch in anderen Ländern Raubbau getrieben wird, wie z. B. folgende Angaben von Grandeau zeigen; er be- 206 C. Frenzel. rechnet, daß die französische Ernte jährlich 600.000 # Stickstoff dem Boden entzieht. Durch Düngung mit Abfallstoffen könnten dem Ackerland wieder 300.000 £ Stickstoff zugeführt werden, außerdem kauft Frankreich etwa 230.000 # Salpeter, die 31.200 2 Stickstoff entsprechen. Rund 270.000 Stickstoff werden also dem Boden nicht zurückgegeben. N. Caro hat die einschlägigen Verhältnisse speziell für Deutschland studiert, dessen Landwirtschaft ja als mustergültig anzusehen ist. Die von ihm gesammelten und zusammengestellten Zahlen geben ein überaus an- schauliches und lehrreiches Bild von der Bedeutung und dem Umfang der Stickstofffrage. In der folgenden Tabelle sind zunächst die Durch- schnittserträgnisse für die Hauptfruchtarten angeführt und weiter die Ergebnisse angegeben, die bei rationeller Stickstoffzufuhr erzielt werden könnten: in der Kolonne 7 sind die Mengen Stickstoff berechnet, die zu dem Zwecke dem Boden jährlich mehr einverleibt werden müßten als gegenwärtig. 1 2 3 ar eG 8° mseg | — 2 x © . } 2 So& | © SS 9-2 Eee Es kann die | 25 MS2 | 2 = >50 Ernteertrag S N =" oHk=$ Ü Ao Zone Stickstoff- 3 o5% 3 a8 ans mehr er- ao IS 2a En 15 BEER = zufuhr mehr E_5 Er | Fruchtsorte iS F 248%. reicht STEs HB SA2 RS En SOBErD | d betragen ee een | © SIE 208 werden = = | u z.- u. & 2A Gar NEIN N We ee ee | = As fen) F pro ha | total proha| A» 36% = a | total f kg kg kg Mill.t| kg ı Mill. t kg Roggen .. 6.000.000) 1.500 2.800—3.000 1.500) 9:0 | 60 360.000) 0:572| 25 Weizen . . 2,400.000| 1.880) 3.800—4.000) 2.000) 4'8 | 130 372.000) 2287| 15 Hafer . . . 4.000.000, 1.720) 3.500 3.800) 2.000 80 100 400.000) 0966 | 20 Kartoffel . 3,200.000| 12.990 |25.000-30.000| 12.000 40'0 | 120 |384.000) 035 | 100 Gerste ..... ‚1,000.000| 1.660) 3.200—3.500 1.500 1:5 60 60.000) 1:62 25 | Aus den vorstehenden Zahlen ist ersichtlich, daß ausreichende Stick- stoffdüngung den Ertrag des Bodens sehr bedeutend erhöhen könnte; da- bei ist natürlich vorausgesetzt, daß dem Acker alle notwendigen Stoffe, außer Stickstoff auch Phosphorsäure und Kali zugeführt werden. Während z.B. die Weizeneinfuhr sich auf 2'287 Mill. £ belief, hätte, gleichen Konsum vorausgesetzt, eine Ausfuhr in der stattlichen Höhe von 2°6 Mill. # statt- finden können. Das ist natürlich nicht beabsichtigt; worauf es wesentlich ankommt, ist, daß Deutschland bei einer solchen Intensivwirtschaft sich selbst ernährt, auch wenn seine Bevölkerung sehr erheblich wächst. Das würde allerdings, wie sich durch Zusammenzählung der Zahlen in Kolonne 7 ergibt, die Zufuhr von rund 1°6 Mill. Stickstoff oder 10 Mill. £ Chilisalpeter erfordern; es würde dann Deutschland allein etwa das Sechsfache des heutigen Weltkonsums verbrauchen. Angesichts dieser großen Zahlen ist es sehr lehrreich und interessant, von Caro gesammelte Daten, welche eine vollständige Stickstoffbilanz Deutschlands für eine Reihe von Jahren ergeben, zusammen zu lesen. a A u a En Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 207 a _—_—_—_—_—_—_>—_—L_L—__/__/—__/_/_/LLODLIL_/_L—„—L—UL/[—_—,—— —————, ———_—_—_—_—_—— — Erzeugung an stickstoffhältigen Produkten Einfuhr an Stickstoff als | 3 - 1 u 3 = | = , a -| o Ss . & WE= er Po. AO = s E Gesamtver oO | 2 28 a24 E% Z. 2 = brauch an Stick- Jahr % g CH .= Sa = a 5 stoff B ° = = am m E - a E EB San 56 C E < = 2 =] ER: T-Y Oz = £ al < S a = a Fr De, . fee] | je) | Dr7o2men ocon | | | | | 1900 700 |21.300 | 580 | 3200 | 25.780 | 70.500 | 4200 | 2600 108.000 1901 | 760 | 26.600 720 | 3300 | 31.380 | 77.000 | 6900 |ı 3400 125.000 1902 \ı 810 128.000 | 1180 ı 3800 | 33.790 | 68.000 | 7300 | 3500 120.000 1903 1020 |29.200 | 1630 | 4000 | 33.850 | 67.500 | 5900 | 3700 125.000 1904 1160 | 36.400 | 1680 | 4400 | 43.640 72.500 | 4900 | 3900 135.000 1905 1230 |40.600 | 2425 | 4900 | 49.155 | 78.200 | 4100 | 4100 146.000 1906 1360 | 47.000 | 2500 | 5700 | 56.560 | 88.000 _ 3800 160.000 | | Wie sich aus vorstehender Tabelle ersehen läßt, steigt der Stickstoff- bedarf im Mittel um 9000 ? pro Jahr, während die Stickstoffproduktion nur ein Anwachsen von rund 5000 £ zeigt. Diese Tatsachen, und zwar sowohl die augenblicklichen Verhältnisse, als auch das von Crookes entworfene und in der Hauptsache sicherlich richtige Bild einer ferneren Zukunft drängen zu der Frage, welche Maß- regeln zu ergreifen sind, um der bevorstehenden Stickstoffnot zu begegnen. Guano kommt, wie erwähnt, heute überhaupt kaum mehr in Betracht, die Salpetervorräte gehen ihrer baldigen Erschöpfung entgegen, es bleibt also nur als vorderhand wenigstens ausgiebige Quelle gebundenen Stickstoffs die Steinkohle, durch deren Verkokung ja heute schon ein großer Teil des Bedarfes an Düngemitteln gedeckt wird. Die Gewinnung von Am- moniak auf diesem Wege kann aber nicht als selbständige Industrie be- stehen, sie bildet vielmehr einen Nebenzweig anderer Betriebe, und zwar der Graserzeugung und der Kokereien. Eine Vergrößerung der Leuchtgasproduktion findet gegenwärtig in einer Art statt, die die Gewinnung von Ammoniak nicht erlaubt; es wird, um ein möglichst heizkräftiges Gas zu erzielen, die Kohle nicht mehr trocken destilliert, sondern durch partielle Verbrennung und Überleiten von Wasserdampf, Wassergas gewonnen, wobei der Stickstoff nicht als Am- moniak erhalten wird. Es kommen also nur die Kokereien in Betracht, deren Vergrößerung aber wiederum nur mit einer Vermehrung der Roh- eisenerzeugung Hand in Hand geht. Allerdings könnte die Verkokung bei rationellem Betrieb viel mehr Ammonsulfat liefern, da dieselbe heute noch zum großen Teil in Öfen vorgenommen wird, welche nicht zur Gewinnung von Nebenprodukten eingerichtet sind. Und das ist auch dort der Fall, wo es sich nicht etwa um solche Kohlen handelt, welche sehr wenig flüchtige Bestandteile geben oder so starke Dehnung zeigen, daß) eine Zerstörung der geschlossenen sogenannten Teeröfen zu befürchten wäre. Auber auf diesem Wege wäre eine Vermehrung der Ammoniakpro- duktion noch durch Einführung des bereits besprochenen Mondgasprozesses 208 C. Frenzel. bei gleichzeitiger Ausnutzung minderwertiger Brennmaterialien für Kraft- erzeugung zu gewärtigen. Überdies wird ja zweifelsohne durch rationelle Verwertung der aus landwirtschaftlichen Betrieben, wie Zuckerfabriken, Brennereien etc. resul- tierenden stickstoffhaltigen Produkte sowie der städtischen Abfälle eine ansehnliche Steigerung der Erzeugung an stickstoffhaltigen Produkten mög- lich sein. Keinesfalls aber wird ein Staat wie Deutschland in späteren Jahren, wenn Chiles Salpeterlager zur Neige gehen, imstande sein, auf den ange- gebenen Wegen auch nur annähernd die Stickstoffmenge aufzubringen, welche seine Landwirtschaft benötigt. Zwei Wege blieben dann offen, die Stickstofffrage zu lösen, entweder die Auffindung neuer Quellen gebun- denen Stickstoffs oder aber die Ausnutzung des unverbundenen atmo- sphärischen Stickstoffs. Während Versuche der ersten Art wohl wenig aus- sichtsvoll sind, haben die Bemühungen, Luftstickstoff für Zwecke der Land- wirtschaft und Industrie zu verwerten, zu glänzenden Ergebnissen und zur Schaffung nener großartiger Industrien geführt. Es haben mehrere Methoden zum Ziel geführt, zwei derselben werden gegenwärtig im größten Stil ausgeführt, andere sind wenig über das Sta- dium der Laboratoriumsversuche oder der technischen Erprobung im kleinsten Maßstab hinausgekommen. Folgende Übersicht nennt die Mög- lichkeiten der Ausnutzung atmosphärischen Stickstoffs: 1. Luftverbrennung, d.h. Verbrennung des atmosphärischen Stick- stoffs durch den Sauerstoff der Luft. 2. Bildung des Ammoniaks aus den Elementen. 3. Bindung des Stickstoffs durch Metalle. 4. Bindung des Stickstoffs durch Karbide. jevor wir uns der Behandlung dieser Methoden der Stiekstoffbindung zuwenden, möge eine ganz kurze Besprechung der gegenwärtig in großem Maßstab betriebenen Verflüssigung und Fraktionierung der Luft Platz fin- den. Sie hängt mit der Stickstofffrage eng zusammen, da die drei letzt- angeführten Wege auf der Verwendung reinen Stickstoffs basieren. Die Zerlegung der atmosphärischen Luft in ihre Bestandteile. Die Sauerstoff- und Stiekstoffindustrie hat sich trotz ihrer Neuheit eine hervorragende Stellung in der modernen Technik errungen. Die Ur- sache für diesen glänzenden Erfolg ist in mehr als einem Umstand zu suchen. Zunächst einmal hatte man für reinen Sauerstoff oder ein hoch- prozentisches Gemisch desselben mit Stickstoff schon lange vielseitige Verwendung, ja man kann sagen, daß viele Industrien auf die billige Herstellung von Sauerstoff gewartet haben, um sich heute nach Erreichung dieses Zieles rasch zu entwickeln. Die Verwendungsarten für Sauerstoff sind sehr zahlreich; insbesondere für die Sauerstoffbeleuchtung (Nürn- berglicht) ist dieses Produkt zur Lebensfrage geworden; die autogene Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 209 Schweißung (Schneiden, Bohren von Metallplatten usw.), welche das elektrische Verfahren wegen der ihm anhaftenden Übelstände sehr rasch verdrängt hat, hat eine bedeutende Zukunft vor sich; die Veredlung der Verbren- nungsluft in der Eisen- und Stahlerzeugung ist ein Ziel, dem gegen- wärtig viel Aufmerksamkeit geschenkt wird; außerdem wird Sauerstoff in allerdings geringen Mengen für medizinische Zwecke, bei Rettungs- arbeiten usw. gebraucht. War die Trennung von Sauerstoff und Stickstoff in allererster Linie zu den angeführten Zwecken angestrebt worden, so gewann sie durch die Entwicklung der Stickstoffrage und die Möglichkeit, reinen Stickstoff durch Carbide zu binden, eine ganz ungeahnte Wichtigkeit. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, auf die älteren Versuche und Verfahren, die beabsichtigte Trennung herbeizuführen, näher einzugehen. Für diesen Zweck sind sowohl chemische als auch rein physikalische Me- thoden zur Anwendung gebracht worden. Die ersteren beruhen sämtlich darauf, daß ein Körper, der im Verlaufe des Trennungsprozesses unter Oxydbildung Sauerstoff aufnimmt, diesen ganz oder teilweise wieder leicht hergibt, also in seine ursprüngliche Form zurückgeführt wird. Am bekann- testen ist das von Boussingault herrührende, von den Gebrüdern Brin im Jahre 1881 verbesserte Verfahren, welches sich auf die Eigenschaft des Baryumoxydes gründet, beim Erhitzen auf etwa 500° unter Bildung von Superoxyd Sauerstoff aufzunehmen und diesen bei noch höherer Tempera- tur wieder herzugeben. Es hat den großen Vorteil, dab man ohne jeden Verlust den Sauerstoffüberträger immer wieder gewinnen kann. Wenn dieser Prozeß auch bis jetzt nur für die Darstellung von Sauerstoff benutzt wird, so ist ja gleichzeitige Stickstoffgewinnung nur eine Frage der Be- triebseinrichtung und auch tatsächlich versucht worden. Was weiter die Anwendung physikalischer Methoden anlangt, so sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, von denen sich nur einer glän- zend bewährt hat. Er gründet sich auf die Möglichkeit, die Bestandteile verflüssigter Luft mit Rücksicht auf die verschiedenen Siedepunkte der- selben (Sauerstoff bei —183° und Stickstoff bei —196°) nach denselben Prin- zipien zu trennen und in reinem Zustand zu gewinnen, wie dies bei anderen Substanzen, z. B. Alkohol und Wasser, Benzol und Toluol usw. der Fall ist. Erst auf Grund dieses Verfahrens kann man nicht nur von einer technischen Ausnutzung der Luft, die ja schon bald nach der Lösung des Problems ihrer Verflüssigung gegeben war, sondern von einer industriellen Ausnutzung jedes ihrer beiden Bestandteile sprechen. Denn wenn der Be- darf an Stickstoff für Herstellung von Düngemitteln steigt, so wird der Preis des dabei notwendig miterzeugten Sauerstoffes, der früher Haupt- produkt war, jetzt aber Nebenprodukt geworden ist, derart verbilligt wer- den können, dal) sein ohnehin schon bedeutendes Verwendungsgebiet er- heblich wachsen wird. Die Verflüssigung der atmosphärischen Luft selbst sowie deren An- wendung soll nicht in den Kreis unserer Erörterungen gezogen werden. E.Abderhalden, Fortschritte. II. 14 210 C. Frenzel. es mögen nur die Grundprinzipien der Fraktionierung und einige nach dem Rektifikationsprinzip gebaute Apparate näher beschrieben werden. Läßt man verflüssigte Luft von gewöhnlicher Zusammensetzung ver- dampfen, so erhält man zunächst Dämpfe, welche infolge der leichteren Flüchtigkeit des Stickstoffes beinahe nur aus diesem mit 7°/, Sauerstoff bestehen. Indem nun dadurch die Zusammensetzung der zurückbleibenden Flüssigkeit geändert wird und diese sauerstoffreicher geworden ist, folgt, dal) auch die von der Flüssigkeit ausgehenden Dämpfe mehr von dem letzt- genannten Gas enthalten. So wurde gefunden, daß nach dem Verdampfen von drei Vierteln die zurückbleibende Flüssigkeit zirka zur Hälfte aus Sauerstoff besteht. Das letzte Zehntel derselben weist schon einen Gehalt von 75°/, und das letzte Fünfundzwanzigstel einen solchen 90°/, Sauer- stoff auf. Die nachstehende Fig. 21 gibt über diese Verhältnisse Aufschlub. In derselben stellt die untere der beiden Kurven den Verlauf der Veränderung in der nach Volumen gemessenen Zusammensetzung der Ver- dampfungsprodukte und die obere diejenige in der Zu- sammensetzung des jeweils noch flüssigen Anteiles dar. Dieser hat zu Anfang, wie aus der Figur zu entnehmen ist, gerade so wie die At- mosphäre einen Sauerstoff- gehalt Ad = 21°/, und die ent- weichenden Gase einen solchen von Aa = 7°). Auf diese Weise kann man natürlich weder zu reinem Zur Verdampfung verflüssigter Luft. Sauerstoff noch auch zu reinem Stickstoff gelangen; wohl aber lassen sich beliebige Mengen von sauerstoffreicheren Gasgemischen, welche mannigfacher Anwendung fähig sind, gewinnen. Wollte man sich nun auch mit diesem Resultate begnügen, so wäre es doch äußerst unökonomisch, so zu ver- fahren, daß man Luft in der hierfür geeigneten Maschine verflüssigt und sie dann einfach verdampfen läßt. Man würde so die ganze zur Verflüssi- gung aufgewendete Arbeit preisgeben. Das kann leicht vermieden werden, wenn man die tiefen Temperaturen der verdampfenden Gase dazu benutzt, um neue Luftmengen zu kondensieren (Regenerationsverfahren). Spielt sich dieser Prozeß in einem geschlossenen und gegen Wärme- aufnahme gut gesicherten Apparat ab (Gegenstromapparat), so kann man unter erhöhtem Druck so arbeiten, daß für jedes Quantum verdamp- fender Gase ein ebenso großes Quantum frisch kondensiert wird und die Kosten des Betriebes beschränken sich dann, abgesehen von den unver- meidlichen Verlusten durch Wärmeleitung- und -strahlung, lediglich auf die geringfügige Kompressionsarbeit. Fig. 21. A I WW HH Oo m m 0 a MH VO KO DO 0vM: Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. >11 In ihrer einfachsten Gestalt besteht demnach eine Anlage 1. aus der Luftverflüssigungsmaschine, 2. aus dem Gegenstromapparat, 3. aus dem Verdampfapparat. Der Gegenstromapparat für die ein- und ausströmenden (Gase besteht für die ersteren aus spiralig angeordneten Kupferröhren, die in wagrech- ter Ebene gelagert sind. Die austretenden Gase werden diesen Spiralen in Kanälen entgegengeführt; die Anordnung muß so getroffen sein, dab die tiefen Temperaturen von innen nach außen, von einer Windung zur anderen zunehmen, so daß in den äußersten Windungen Anschluß an die Temperatur der Umgebung erreicht ist. Die Kälte, welche von innen nach außen geht, wird auf diese Weise durch die in den Apparat neu eintre- tende Luftmenge aufgenommen und zurückgeführt. Diese günstigen Bedin- gungen sind natürlich für die obere und untere Begrenzungsfläche des Apparates nicht vorhanden. Um nun die Trennung noch weiter zu treiben, wurden die ursprüng- lich gebauten Apparate in dem Sinne verbessert, daß das Prinzip der Rektifikation und Dephlegmation, wie es in der Destillationstechnik ins- besondere für die Scheidung von Alkohol und Wasser im Gebrauch ist, Anwendung findet. Unter Dephlegmation versteht man die teilweise Verflüssigung in einem besonderen, vor dem eigentlichen Kondensationsgefäß liegenden Raum, dem Dephlegmator. Rektifikation nennt man die Erwärmung eines Gemisches zweier zu trennender Flüssigkeiten durch den Dampf dieses Gemisches in besonderen Gefäßen, den Rektifikatoren. In der Wirkungs- weise beider Vorrichtungen besteht kein prinzipieller Unterschied, in beiden Fällen wird die kondensierte Flüssigkeit durch Dämpfe derselben ausge- kocht, das heißt an dem schwerer kondensierbaren Anteil angereichert. Durch systematische Anwendung dieser Prinzipien war es möglich, fortdauernd ein Gemisch abdampfen zu lassen, wie es sich zu Anfang bildet, nämlich Stickstoff mit 7°/, Sauerstoff, während letzteres Gas in nahezu reinem Zustand zurückbleibt. Die von Prof. ©. v. Linde, dem bekannten Erfinder der Luftverflüs- sigungsmaschine, gebauten Apparate wurden im Laufe der Zeit so ver- bessert, dal es heute gelingt, die beiden Gase vollständig voneinander zu trennen, also nicht nur reinen Sauerstoff zu gewinnen, sondern auch reinen Stickstoff, der nur mehr 0'4°/, O enthält. Dieser Reinheitsgrad mußte von der Linde-Gesellschaft für die Verwendung des Gases zur Darstellung von Calciumeyanamid garantiert werden. Es sei zunächst das im Jahre 1905 patentierte Prinzip der Vervollkommnung kurz angegeben und dann erst auf die Beschreibung der Apparate eingegangen. Das Wesentliche der Neuerung bestand darin, dal der den Apparat zunächst mit 7°, O ver- lassende Stickstoff komprimiert und durch den Gegenstromapparat wieder eingeführt wird. Seine Kondensation findet in einem Spiralrohr statt, das in einem mit verdampfender flüssiger Luft gelegenen Gefäß gelegen ist: 14* »12 C. Frenzel. von hier gelangt dieser nunmehr flüssige Stickstoff durch eine Rohrleitung in einen Raum, von welchem aus er den aufsteigenden Dämpfen unreinen 93°/,igen Stickstoffes entgegenrieselt. Dabei findet eine neuerliche Anrei- cherung an Stickstoff bei gleichzeitiger Kondensation von Sauerstoff statt. Um nun den Betrieb mit diesen sehr vollkommen arbeitenden und wichtigen Apparaten zu verdeutlichen, sei auf die der Patentschrift ent- nommene Abbildung 22 verwiesen. In derselben ist die Rektifikationskolonne, die nach dem Vorschlag von Hempel mit Glaskugeln beschickt wird, mit g und Z bezeichnet. Mit einem durchlochten Boden schließen an dieselbe die darunter befindlichen Verdampfgefäße, welche bei dauerndem Betrieb immer mit Flüssigkeit gefüllt zu denken sind. Durch die in den Verdampf- gefäßen gelegenen Spiralrohre tritt kontinuierlich im Gegenstromapparat e vorgekühlte Luft ein und wird in diesen Röhren verflüssigt, während ein Teil der dieselben umgebenden Luft verdampft. „Die zu zerlegende Luft wird vom Kompressor «a auf mäßigen Druck gebracht, in b durch Wasser gekühlt, tauscht dann im Gegenstromappa- rat c, in die Spiralen m und » verteilt, ihre Temperatur mit den gewon- nenen Gasen aus und verflüssigt sich in den Spiralen d und o. Das Kon- densat strömt durch das Ventil / auf den unteren Teil 3 der Kolonne und rektifiziert die aus dem Gefäße aufsteigenden sauerstoffreichen Dämpfe bis auf 7°/, Sauerstoff, während die Flüssigkeit selbst als nahezu reiner Sauerstoff in das Gefäß e fließt.“ „In der im Gefäß e liegenden Spirale q verflüssigt sich der vom Kompressor s von neuem komprimierte, in den Spiralen ? und r gekühlte Teil des aus dem Apparat ausgetretenen Stickstoffes. Der so gewonnene flüssige Stickstoff strömt durch das Ventil « auf den oberen Teil Z der Kolonne und bewirkt hier die mehrfach erörterte völlige Rektifikation des Stickstoffes, indem er den von g kommenden Dämpfen ihre 7°/, Sauer- stoff entzieht und dabei selbst bis zu 21°/, Sauerstoff aufnimmt.“ „Der Teil des flüssigen Sauerstoffes, welcher nicht im Gefäße e ver- dampft, fließt durch einen Siphon in das Gefäß p, wo er vollständig ver- dampft und tritt dann, die Spirale » umspülend, durch den Gegenstrom- apparat c aus.“ „Die zur Abkühlung und ersten Füllung bei Ingangsetzung des Appa- rates sowie zur Deckung der Verluste während des Betriebes nötige flüs- sige Luft wird durch das Rohr » zugeführt.“ Die Gesellschaft für Lindes Eismaschinen A.-G. in Wiesbaden arbeitet nach diesem Verfahren, wie es scheint, in sehr befriedigender Weise. Sie betreibt außer dem Werk in Höllriegelsreuth bei München bisher fünf Fabriken in Barmen, Paris, Berlin, Birmingham und Mailand, welche Sauerstoff für den Verkauf in Stahlflaschen herstellen und nach Angabe Dr. F. Lindes mehr als die Hälfte des deutschen Bedarfes decken. Von besonderem Interesse für uns ist es, daß dieses Verfahren den für die Erzeugung von Üyanamid nötigen Stickstoff für die Cyanidgesell- schaft in Berlin und für die in Rom gegründete „Societa generale per Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 213 la cianamide“ liefert. Die erste größere Anlage derselben ist in den Ab- ruzzen (Piano d’Orte) mit einer vorläufigen Tagesproduktion von 3000 m® Stickstoff bzw. 10 £ Cyanamid errichtet worden. Der Lindesche Apparat ist im Jahre 1906 neuerlich verbessert worden. Da sich die Änderung jedoch nicht auf das Prinzip, sondern nur die Konstruktion bezieht, soll von einer Besprechung abgesehen werden. Fig. 22. j = -—> IS O0O0000000000009000000 00000000000000060000000 i Ihe 0000000 u ”L2 OO0000 Ar N) u = \ ® Neuerer Apparat von Linde. Außer Zinde haben sich an dem Problem der Luftfraktionierung noch eine Reihe anderer Erfinder versucht, Raoult Pictet, Rene Levy, Hel- bronner, Claude, Mix, Tripler u. a. Wir wollen der Vollständigkeit wegen noch einen neueren Apparat Pictets durch Abbildung (23) und Beschrei- 214 C. Frenzel. bung erläutern, der gleichfalls eine sehr weitgehende Trennung der beiden Bestandteile der atmosphärischen Luft erlauben soll. Er besteht aus zwei ungleich großen Abteilungen (3 und 4), in welchen man je eine von mehreren Rohrleitungen sieht, durch die frische, komprimierte und gekühlte Luft eingeführt wird. Wir verfolgen ihren Weg in Kammer (3). Sie gelangt durch die Schlange (6), welche von den aufsteigenden Fig. 23 Neuerer Apparat von Pictet. Destillationsprodukten umspült wird und das Rohr (8) in eine Serie von Spiralrohren (9 und 10), welche in einem zylindrischen Kasten liegen. In diesem von flüssiger Luft umgebenden Spiralrohr findet Verflüssigung statt und die Flüssigkeit strömt, nachdem sie das Kohlensäurefilter (13) passiert hat, durch Rohr (14) auf die oberste einer Reihe von untereinander an- gebrachten perforierten Platten (17), welche durch Überlaufvorrichtungen Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 215 miteinander verbunden sind. Pietet hat gefunden, dab 3—4 solcher Platten vollkommen genügen, um einen sehr vollständigen Austausch der Bestand- teile zwischen der herabrieselnden Flüssigkeit und den in kleinen Bläschen durch die Platten hindurch aufsteigenden Gasen herbeizuführen, so daß durch Rohr (32) beinahe reiner Stickstoff entweicht. Von der letzten Platte gelangt das sauerstoffreiche Gemisch durch das Rohr (20) nach dem in der Mitte des Verdampfapparates gelegenen Reservoir und durchströmt nun unter fortwährender Verdampfung die vielen Windungen der spiralig angeordneten Metallrinne (11). Von der äußersten Windung ergießt sich die Flüssigkeit als reiner Sauerstoff durch das U-förmige Kommunikationsrohr (21) in die zweite kleinere Abteilung (4) des Apparates, wo sie verdampft und durch e2 entweicht, nachdem sie ihre Kälte an die durch das Schlangenrohr (22) einströmende frische Luft abgegeben hat. Diese letztere passiert ein im flüs- sigen Sauerstoff der Kammer (4) gelagertes Spiralrohr (27), wird in dem- selben verflüssigt und gelangt dann durch Rohr (28), das Kohlensäure- filter (29) und Rohr (30) auf die oberste der Platten (17) in die Abtei- sung (3) des Apparates. Der Betrieb scheint äußerst einfach zu sein und wird bei kontinuier- licher Luftzufuhr nur durch die beiden Hähne (16 und 31) geregelt. Von großer Wichtigkeit ist es, dab der Druck in beiden Abteilungen genau gleich groß gehalten wird, weil sonst natürlich eine durch die Druckdif- ferenz bedingte Flüssigkeitsverschiebung den regelmäßigen Ablauf des Be- triebes stören würde. Schließlich möge noch hervorgehoben werden, dal man einem von H. Erdmann patentierten Verfahren zur Gewinnung reinen Stickstoffes gegenwärtig große Aufmerksamkeit schenkt. Dasselbe gründet sich auf die weit voneinander liegenden Schmelzpunkte von Sauerstoff und Stick- stoff. Während letzterer bei 210° unter Null schon gefriert, bleibt Sauer- stoff noch bei — 233° flüssige. Es hat sich gezeigt, daß die Kristallisations- kraft des Stickstoffes eine ganz außerordentlich große ist und mit Vorteil zu seiner Abscheidung und Reindarstellung verwertet werden kann. Unter 214° bilden sich prachtvoll große Kristalle, die sich von der Mutterlauge sehr leicht durch Abnutschen oder Centrifugieren trennen lassen und beim Vergasen Stickstoff von sehr hohem Reinheitsgrad ergeben. Man kann von gewöhnlicher atmosphärischer Luft ausgehen oder besser noch von einem stickstoffreicheren Gasgemisch, in welchem die Kristallisation viel leichter erfolgt: die nötigen tiefen Temperaturen werden durch Verdamp- fung flüssiger Luft in einem Vakuum von etwa 10 mm Quecksilber erzielt. I. Die Stickstoffverbrennung. Die Hauptbestandteile der Atmosphäre, Stickstoff und Sauerstoff, sind fähig, sich bei hohen Temperaturen unter Bildung von Stiekoxyd NO, d.h. im Volumverhältnis von 1:1 zu vereinigen. Diese Umsetzung geht 216 C. Frenzel. jedoch nur bis zu einer gewissen, von den Versuchsbedingungen, insbeson- dere der Temperatur abhängigen Grenze vor sich, die so gelegen ist, dab man unter sehr günstigen Verhältnissen zu einem Gasgemisch gelangt, das einen Gehalt von rund 10 Volumprozenten der genannten Stickstoff- Sauerstoffverbindung aufweist. Von allergrößter Wichtigkeit ist es, dieses Gemisch so rasch als möglich abzukühlen, weil sonst Rückbildung der Elemente statthat. Ist die Temperatur auf etwa 600°C gesunken, so be- ginnt ein weiterer Umsatz, der in Sauerstoffaufnahme nach folgender Gleichung besteht: 2’V01L. NO, 210,0, = 2 Vol NV;, also zu Stickstoffdioxyd führt, einem sehr unangenehm riechenden, rot- braunen Gas, das sich bei tieferen Temperaturen fortschreitend zu dem beinahe farblosen Polymeren N,0, kondensiert. Durch Einleiten desselben in Wasser oder Alkalilaugen erhält man Salpeter- und salpetrige Säure bzw. deren Salze, Nitrate und Nitrite. Es ist durchaus begreiflich, daß sich dem eben beschriebenen Prozesse der Gewinnung von Salpetersäure aus Luft das größte Interesse zuwendet. Er führt von den denkbar billigsten Ausgangsstoffen in sehr einfacher Weise ohne lästige Nebenprodukte direkt zu einer sehr wertvollen Verbindung, so daß die Erzeugungskosten sich beinahe nur auf den Kraftbedarf beschränken. Im Grunde genommen ist es sehr zu Stickstoffverbrennung nach Onvendish. verwundern, daß) man an eine technische Verwertung nicht schon längst gedacht hat, denn der Vorgang selbst ist sehr lange bekannt, die Wichtigkeit desselben ist aber den beteiligten Kreise erst in den letzten Jahren zum Bewußtsein gekommen. Im Jahre 1785 beobachtete Cavendish und beinahe gleichzeitig Priestley, daß beim Durchschlagen der Funken einer Elektrisier- maschine durch Luft ein chemischer Prozeß sich abspielt, der mit einer Volumverkleinerung verknüpft ist. Der Apparat, dessen er sich bei seinen Versuchen bediente, ist in der Figur 24 wiedergegeben. Die beiden Becher enthalten Quecksilber, welches auch die Schenkel des verbindenden Hebers füllt. Durch Anschluß der Quecksilbermassen an die Pole einer Elektrisiermaschine konnte das eingeschlossene Gasvolumen der Einwirkung der Funken ausgesetzt werden. In gewissem Sinne kann Oavendish sogar als Entdecker des Argons gelten, indem es ihm bei sei- nen Versuchen nicht entging, daß eine vollständige Überführung des atmo- sphärischen Stickstoffes in eine Sauerstoffverbindung nicht gelingt, sondern immer eine kleine Menge zurückbleibt, die er ziemlich richtig auf !/,s0 des Fig. 24. 0 WE, EEE EEE Die Nutzbarmachung des Luftstiekstoffs. 917 Luftvolumens schätzt. Bekanntlich haben sich Rayleigh und Ramsay zur Darstellung des Argons unter anderem auch der eben beschriebenen Me- thode in natürlich wesentlich vollkommener Ausführung bedient. Von späteren Beobachtungen Cavendishs über diesen Gegenstand seien nur folgende mitgeteilt. Er stellte im Jahre 1784 fest, dab eine Vereini- gung auch eintritt, wenn man Gemische von Wasserstoff und Luft zur Explosion bringt. Später hat Bunsen sich mit dieser Erscheinung des ein- gehenden beschäftigt, um festzustellen, unter welchen Bedingungen sich Sauerstoff bei Gegenwart von Stickstoff durch Verpuffung exakt bestimmen läßt. Er ermittelte, daß 100 Volumen Luft mit 2626 Vol. Knallgas verbrannt. . . . 100°02 rückständige Luft 34.66 „ r a ee IN VEH 5 a 4372 „ s 2 A LCRROR 2 5 or12 |, 3 . a EEHONIR e ; 6431 „ „ “ RD 9900 R Sau; . 5 est gg % > 978 „ n Ri RL 010 2 R # 22604 „ : I ne a 3 n ergeben. Die Mengen des gebildeten Stickoxydes lassen sich leicht angeben, wenn man berücksichtigt, dab dieses Gas unter den Versuchsbedingungen mit der Hälfte seines Volumens an Sauerstoff zu NO, zusammentritt und letzteres durch das aus der Knallgasexplosion stammende Wasser absor- biert wird. So sind bei dem letzten Versuche offenbar (100—8856 x ?/; — 7'635 Volumina Stickoxyd gebildet worden. Auch auf einem anderen rein chemischen Wege wurde die Stick- oxydbildung schon vor sehr langer Zeit beobachtet. So hat vor mehr als 100 Jahren Paul reinen, aus Braunstein erzeugten und hocherhitzten Sauerstoff durch einen Hahn in die Atmosphäre treten lassen und hierbei die Bildung von salpetrigen Dämpfen an Farbe und Geruch erkannt. Odier, welcher über diesen Versuch berichtet, fügt hinzu, dab sich auf diese Weise bequem und billig in großen Mengen Salpetersäure erzeugen liebe. da Braunstein die wohlbekannte Eigenschaft aufweist, an der Luft wieder Sauerstoff aufzunehmen, nachdem man ihn geglüht hat; man könnte so mit einer begrenzten Menge Braunstein aus atmosphärischer Luft unbe- erenzte Mengen Salpetersäure erhalten, welche den Vorteil hätten, voll- kommen rein zu sein. Spätere Beobachtungen über Vereinigung von Stickstoff und Sauer- stoff unter dem Einflusse von Induktionsfunken und stiller elektrischer Entladung sowie durch bloßes Erhitzen rühren von Hempel, Berthelot, Salvadori u. a. her. Sie können übergangen werden. Die Möglichkeit einer eingehenden Untersuchung der Reaktion war erst in neuerer Zeit durch die Schaffung einer hinreichend ausgiebigen Energiequelle für die Darstellung des Stickoxydes gegeben. Eine solche steht uns in der Dynamomaschine zur Verfügung, welche es eventuell unter Zuhilfenahme von Transformatoren gestattet, Ströme beliebiger 218 C. Frenzel. Spannung und Stärke für den genannten Zweck zu verwenden. Beinahe alle Forscher, welche sich mit dem Gegenstand befaßten, haben sich ihrer bedient und zwar entweder zu Heizzwecken (Widerstandserhitzung) oder zur Erzeugung von Hochspannungsbögen. Man kann letztere in unserem Falle zweckmäßiger als Hochspannungsflammen bezeichnen, da hochgespann- ter Wechselstrom sich in Luft bei hinreichender Nähe der Elektroden in Form einer ausgesprochenen Flamme entlädt. „Sie gleicht ihrer Form nach einem verbrennenden, aus einer schlitzförmigen Öffnung austretenden Gase. Man kann deutlich (vgl. Fig. 25) drei Zonen unterscheiden: im unteren Teil bemerkt man ein hell grünlichweiß leuchtendes Lichtband, welches an den Elektroden endet und schwach nach oben gekrümmt ist. Über demselben befindet sich eine mit grünlichblauem Licht leuchtende Zone, die bei einem Elektrodenabstand von 4 cm sich etwa zu einer Höhe von 5 cm erhebt und diese ist umgeben von einer blaß gelbbraun leuchtenden Zone, welche den größten Teil der Flamme TiB.2D: bildet“ (Muthmann und Ho- r fer). ı r . I, Nach Brode findet le- ee dielich in dem untersten Ta Teil I der Flamme Elektrizi- II\ tätsleitung statt; feste Gegen- nn \ IE - 5 ! NE stände lassen sich in den ß \ mie - TEEN, Teil IT und auch in den \ . . en Teil II der Flamme bringen, Wr S ———. EBEN en — ohne daß eine Änderung der Stromstärke und -spannung bewirkt wird. Eine solche tritt erst ein, wenn Teil I aus seiner Lage gebracht wird. Brode hat gezeigt, daß ausschließlich im untersten Teil der Flamme (I) Stickoxyd gebildet wird, dagegen in der Zone II die entgegengesetzte Reaktion, der teilweise Zerfall in die Elemente, sich abspielt. Wenden wir uns nun der Entwicklung zu, welche das Problem der Stickstoffverbrennung in den letzten Jahren genommen hat, so drängt sich uns eine Beobachtung auf, die man sehr häufig machen kann. Es eilte auch hier wie in so vielen anderen Fällen die Technik der Wissen- schaft voran. Die grundlegenden Arbeiten über diesen Gegenstand sind erst zu einer Zeit unternommen worden, als die ersten technischen, in größerem Maßstab ausgeführten Versuche längst im Gange waren. Ja die Erfolge der Praxis und das Aufsehen, daß sie erregten, haben erst den Anstoß gegeben, den Vorgang der Stickstoffverbrennung vom theoretischen Standpunkte zu untersuchen; dann aber wandten sich die beteiligten Kreise mit einem Schlage diesem Gegenstand zu; es erschienen im Laufe weniger Monate eine große Anzahl von Arbeiten, die zum Teil zu recht widerspre- chenden Ergebnissen kamen. Über den Einfluß der Länge der Lichtbögen, Stickstofffllamme nach Brode. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 219 der Spannung, der Periodenzahl, des Elektrodenmaterials, der Stromart, der Gegenwart von Wasserdampf usw. wurden so verschiedene Angaben gemacht, dal) es anfänglich den Anschein hatte, als ob die Stickstoffver- brennung ein ganz außerordentlich komplizierter Vorgang ist, der von einer Reihe von unbekannten Umständen abhängt. Es ist das große Verdienst von Muthmann und Hofer, die erste systematische, auf den Prinzipien der physikalischen Chemie beruhende Untersuchung über diesen Gegenstand durchgeführt zu haben. Der Wert der Arbeit wird kaum durch den Umstand geschmälert, daß die Ergebnisse derselben durch die eingehenden Studien von Nernst und seinen Schülern weit überholt wurden. Man kann wohl sagen, daß auf Grund dieser Publikationen heute nur mehr eine Frage strittig ist, die von Anbeginn an verschieden beantwortet wurde und die gleich klar hervorgehoben werden möge. Die Vereinigung von Stickstoff und Sauer- stoff ist ein wärmeverbrauchender (endothermer) Vorgang, d.h. es mub den Stoffen Wärme zugeführt werden, damit sie sich vereinigen und diese negative Wärmetönung ist ziemlich erheblich, sie beträgt nach den Mes- sungen von Berthelot 21.900, nach denjenigen Thomsons 21.500 cal. pro Molekül Stickoxyd. Stickstoffbildung nun läßt sich sowohl auf rein thermischem Wege als auch unter dem Einflusse elektrischer Erscheinungen wie Licht- bögen, Funken- und Glimmentladungen, weiter aber auch durch stille elek- trische Entladung usf. erzielen. Verfährt man auf letzterem Wege, d.h. führt man dem Gasgemisch elektrische Energie zu, so kann es zweifelhaft sein, ob die letztere spezifische Wirkungen ausübt oder ob bloß der Wärme- effekt in Betracht kommt. Die letztere Auffassung ist bis vor kurzer Zeit bevorzugt worden, die Untersuchungen von Crookes. Rayleigh, Muthmann und Hofer, Nernst und Schülern, Russ und Grau und anderen gehen von der Annahme aus, dal) die zugeführte elektrische Energie lediglich Wärmewirkungen äußert. Tatsächlich hat diese Auffassung auch zu sehr wertvollen Ergebnissen ge- führt; jedenfalls läßt sich heute mit Sicherheit sagen, daß der Prozel) der Stickoxydbildung, sofern er durch bloße Erhitzung herbeigeführt wird, voll- ständig dem Massenwirkungsgesetz gehorcht. Des besseren Verständnisses wegen mögen die für die Beurteilung des Vorganges von diesem Stand- punkt wichtigen theoretischen Grundlagen vorausgeschickt werden. Der von Berthollet zuerst ausgesprochene Gedanke, dal bei unvoll- ständig verlaufenden Reaktionen der Grad, bis zu welchem sich die an dem chemischen Prozeß beteiligten Stoffe umsetzen, abhängig ist von ihrem Mengenverhältnis, daß also die Stoffe nicht nur nach Maßgabe ihrer Qualität, sondern auch ihrer Quantität miteinander reagieren, läßt sich zwangslos als ein spezieller Fall des allgemeinen Gegenwirkungsprinzipes auffassen. Die Ausgangsstoffe setzen sich vermöge der chemischen Kräfte in be- stimmter Weise um, werden durch diese Kräfte in eine bestimmte andere Form — die der Reaktionsprodukte — übergeführt und diese Kräfte sind ihrer Größe nach proportional der Menge jedes der Ausgangsstoffe, werden 220 C. Frenzel. also in dem Maß, als die Reaktion fortschreitet, immer kleiner; demzufolge wird auch die Geschwindigkeit der Umsetzung unter sonst gleichen Um- ständen in demselben Maße abnehmen. Damit ist aber der Sachverhalt noch nicht erschöpfend dargestellt. Den treibenden Kräften erwächst in dem Maße eine Gegenwirkung, als Reaktionsprodukte gebildet werden, in- dem dieselben durch zwischen ihnen wirkende Kräfte die Ausgangsstoffe zurückzubilden suchen. Auch diese Kräfte müssen der als richtig ange- sehenen Grundanschauung zufolge ihrer Größe nach abhängig gedacht werden von der Menge dieser Reaktionsprodukte. Es ergibt sich demnach folgendes Bild: Zu Anfang des Vorganges sind die treibenden Kräfte der Ausgangsprodukte groß und gleicher Weise die Umsetzungsgeschwindigkeit. In dem Maße, als der Prozeß) sich vollzieht, fallen beide, während die Gegen- kräfte und die Geschwindigkeit der Rückumsetzung ansteigen. Es muß also zu einem Gleichgewicht kommen, welches dadurch gekennzeichnet ist, daß die abnehmenden Kräfte den ansteigenden und entgegenwirkenden Kräften gleich geworden sind. Zieht man es vor, als Kennzeichen dieses Zustandes die Geschwindigkeiten zu benutzen, so hätte man zu sagen, dab die Geschwindigkeiten von Umsetzung und Rückumsetzung gleich geworden sind oder daß in einer bestimmten Zeit gerade so viel Reaktionsprodukte gebildet werden, wie in derselben Zeit Ausgangsprodukte. Man gelangt auf diese Weise zu einer einwandfreien Darstellung der unvollständig verlaufenden Reaktionen und es ergibt sich aus derselben auch sofort, wann ein Prozeh bis zum Aufbrauch der reagierenden Stoffe fortschreiten kann: offenbar wenn die Geeenwirkung ausbleibt, also die Reaktionsprodukte in dem Maße, als sie entstehen, fortgeschafft werden (Bildung eines unlöslichen Nieder- schlages, Entweichen der gebildeten gasförmigen Reaktionsprodukte aus der Lösung usw.). Das große Verdienst Guldbergs und Waages war es, dieses „Massen- wirkungsgesetz“ klar zum Ausdruck gebracht und insbesondere gezeigt zu haben, wie die Menge eines Stoffes und dementsprechend auch die treibenden Kräfte und Geschwindiekeiten einzuschätzen sind. Sie führten für diese Menge die Bezeichnung aktive Masse ein und fanden auf experimentellem Wege, dab dieselbe anzusetzen ist, als die in der Volumseinheit des Ge- misches (Gasvolum, Lösung) befindliche Anzahl von Molekülen (die mole- kulare Konzentration) erhoben zu einer Potenz, welche gegeben ist durch die Zahl der Moleküle, mit welcher sich der Stoff an der Reaktion beteiligt. Auf den Fall der Stickoxydbildung aus den Elementen angewendet, ergibt sich folgendes: 3ezeichnet man bei gegebener Temperatur und gegebenem Druck die aktiven Massen (Konzentrationen) der beteiligten Stoffe in einem bestimmten Augenblick mit Un, . Co, ’ Uxo so ist nach dem Gesagten unter Berücksichtigung der Umsetzungsgleichung N, +0, =2N0 Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 29] die Bildungsgeschwindigkeit v, des Stickoxydes, d. h. die Änderung seiner Konzentration mit der Zeit proportional zu setzen dem Produkte der momentan vorhandenen Konzentration von Sauer- und Stickstoff: Vı = K, On, . ( Jo, die Zerfallsgeschwindigkeit, bzw. Rückbildungsgeschwindigkeit v, der Aus- gangsprodukte proportional dem Quadrat der vorhandenen Stickoxydkon- zentration: Vo = 11 Uxt )» In diesen beiden Gleichungen werden die Proportionalitätsfaktoren K, und K, als Geschwindigkeitskonstanten bezeichnet: > VA Vi _ Vo = RK Ur, Co, Ber Ks Cxo bedeutet dann die Geschwindigkeit, mit welcher die Reaktion im Sinne einer Zu- und Abnahme der Stickoxydkonzentration fortschreitet. Im Falle des Gleichgewichtes wird: 9 Ver Vo-sv=10} Kı u m K, On, - Co, K, der Quotient der beiden Geschwindigkeitskonstanten heißt die Gleich- gewichtskonstante, sie stellt für gegebene Temperatur dasjenige Verhältnis der Konzentrationen der beteiligten Stoffe dar, das, wenn Zeit genug zur Verfügung steht, immer erreicht wird, gleichgültig von welchen Konzen- trationen man ausgegangen ist. Fragt man nach dem günstigsten Verhältnis zwischen Stickstoff und Sauerstoff, so läßt sich nach bekannten hegeln aus der Gleichung unmittelbar entnehmen, dal) man am meisten Stickoxyd erhält, wenn Cxy,—=Co, ist, d. h, wenn beide Komponenten in dem Ver- hältnis vorhanden sind, in dem sie sich vereinigen. Es wird also am meisten Stickoxyd gebildet, wenn man unter Berücksichtigung, dab 2 Vol. NO +1 Vol.O, =2Vol.NO, geben, von einem Gemisch, bestehend aus 1 Volumen Stickstoff auf 2 Volumina Sauerstoff ausgeht. Im allgemeinen ist die Gleichgewichtslage von dem äußeren Druck und in besonders hohem Grade von der Temperatur abhängig. Auch hier wieder ist der Sinn. der Beeinflussung direkt anzugeben, wenn man das Gegenwirkungsprinzip als Führer benutzt. Es ergibt sich, daß eine Änderung der Temperatur oder des Druckes von einer Verschiebung des Gleichge- wichtes begleitet ist, die immer in dem Sinne erfolgt, welcher diese Ände- rungen aufzuheben sucht. Das heilt, hat man es mit einem wärmeabgebenden (exothermen) Vorgang zu tun, so bewirkt eine Temperaturerhöhung bei konstant gehaltenem Volum einen teilweisen Rückgang dieses Vorganges, der natürlich mit einem Verbrauch von Wärme (einer Abkühlung) ver- bunden ist; handelt es sich umgekehrt, wie in unserem Fall, um einen Prozeß, welcher endotherm, also wärmeverbrauchend verläuft, so hat eine bei konstantem Volumen herbeigeführte Temperaturerhöhung ein weiteres 222 C. Frenzel. Fortschreiten der Reaktion im Gefolge, weil dadurch eine Temperatur- herabsetzung herbeigeführt wird. Ein gleiches gilt für Druckänderungen. Ist der Vorgang mit einer Volumsvermehrung bzw. Verminderung ver- knüpft, so führt Erhöhung des Druckes im ersteren Falle zu einem Rück- gang, im zweiten zu einem weiteren Fortschreiten der Umsetzung. Also gerade so wie, um ein Beispiel aus der Elektrizitätslehre zum Vergleiche heranzuziehen, in einem geschlossenen Leiter, der sich in einem elektrischen Feld befindet, bei Änderung der Stärke des letzteren stets Ströme ent- stehen, welche diese Änderung rückgängig zu machen suchen, den Fall des Entstehens und Vergehens des Feldes miteingeschlossen. Fragt man nun zunächst nach dem Einfluß des Druckes auf die Stick- oxydbildung aus den Elementen, so zeigt die Gleichung 1 Vol. N, + 1Vol.0, =2 VoLNO daß eine Änderung des Volums nicht statthat, daß also die Reaktion auf eine Änderung des äußeren Druckes durch eine Gegenwirkung nicht ant- worten kann, die Gleichgewichtslage also vom Drucke als ganz unabhängig anzusehen ist. Und mit Bezug auf die Temperatur hätten wir, wie ja übrigens schon hervorgehoben, zu erwarten, daß die endotherme Stickoxyd- bildung durch Erhöhung derselben begünstigt wird, also die Ausbeute an- steigt. Wenn sich also aus diesen Betrachtungen zunächst die praktische Regel ergibt, Drucksteigerung, da sie mit Bezug auf die Gleichgewichts- lage zwecklos ist, zu vermeiden und bei möglichst hohen Temperaturen zu arbeiten, so sei zum Vergleich ein anderer technisch wichtiger Prozeß, die Bildung von Schwefeltrioxyd nach der Gleichung 2 Vol.SO, + 1 Vol.O, = 2 Vol.SO, herangezogen, welcher exotherm, also wärmeliefernd verläuft, bei welchem demnach die Gleichgewichtslage um so mehr nach der Seite der Trioxyd- bildung verschoben wird, je höher der Druck und je niederer die Tem- peratur ist. Wie man sieht, gibt die Lehre vom chemischen Gleichgewicht wichtige Aufschlüsse über die günstigen Bedingungen der technischen Darstellung. Aber man wird im allgemeinen nicht immer zu der den Versuchsbedin- gungen entsprechenden Gleichgewichtslage kommen; aus diesem Grunde sowohl als auch, weil die Gleichgewichtsformel keinerlei Auskunft über einen sehr wichtigen Faktor, nämlich die zur Erreichung des Stillstandes nötige Zeit gibt, dürfte es sich empfehlen, die Größen kurz zu betrachten, welche diesen Faktor messen, die Reaktionsgeschwindigkeiten. Diese betreffend sagt Nernst in äußerst klarer Weise: „Da das chemische Gleichgewicht sich aperiodisch herstellt, so folgt, daß es sich hier um einen Vorgang handelt, ähnlich wie die Bewegung eines materiellen Punktes mit sehr großer Reibung oder wie die Ver- schiebung der Ionen im Lösungsmittel oder die Diffusion gelöster Stoffe. In allen diesen Fällen ist die Geschwindigkeit des Vorganges in jedem Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 995 Augenblick der wirkenden Kraft direkt und dem Reibungswiderstand um- gekehrt proportional. Wir kommen also zu dem Resultate, daß auch für den chemischen Umsatz eine Gleichung von der Form chemische Kraft Reaktionsgeschwindigkeit = chemischen Widerstand gelten muß, die ein Analogon zum Ohmschen Gesetze bildet.“ Alle Erfahrungen führen zu dem Resultat, daß die „chemischen Wider- stände“ und damit auch die Reaktionsgeschwindigkeiten ganz außerordentlich stark abhängen von den Versuchsbedingungen, insbesondere aber von der Temperatur. In letzterer Hinsicht gibt es eine ziemlich gut erprobte Regel, welche besagt, daß die Geschwindigkeit einer Reaktion unter sonst gleichen Umständen für eine Temperaturerhöhung von 10° © auf etwa den doppelten bis dreifachen Wert ansteigt. Aus dem ungeheuer großen Einfluß der Temperatur auf die Reaktions- geschwindigkeiten erklärt es sich auch, daß Gasgemische gewöhnlicher Temperatur sich vollkommen indifferent verhalten können, trotzdem sie sich sicher nicht im Gleichgewicht befinden. So ist nach dem Früheren evident, daß reines Stickoxyd bei gewöhnlicher Temperatur keinen Gleich- gewichtszustand repräsentiert, sondern dieser erst erreicht wäre, wenn das Gas bis auf einen geringfügigen Bruchteil in seine Bestandteile zerfallen wäre. Wenn nun reines Stickoxyd sich bei gewöhnlicher Temperatur ohne weiteres beliebig lange aufbewahren läßt, so ist anzunehmen, dal) unter diesen Umständen die Reaktionsgeschwindigkeit ganz ungeheuer klein ist und der selbst in Jahren bewirkte Umsatz unterhalb der Grenze der Nach- weisbarkeit bleibt. Ein gleiches gilt für Knallgas, Gemenge von Kohlenoxyd und Chlor usw. Faßt man die Reaktionsgeschwindigkeiten im Nernstschen Sinne auf, also als Größen, die den chemischen Widerständen verkehrt proportional sind, so wird es leicht verständlich, daß die Geschwindigkeit der Einstellung durch Gegenwart fremder Körper, die sich scheinbar oder wirklich an der Reaktion nicht beteiligen, sehr wesentlich erhöht werden kann. Da solche katalytisch wirkende Substanzen, wie Glas-, Porzellan-, Bimssteinstücke, Platinschwamm, Feuchtigkeitsspuren usw. erfahrungsgemäß immer nur in dem Sinne wirken, daß sie zwar die Erreichung des Gleichgewichtes be- schleunigen, die Lage desselben und damit auch die Konstante nicht ändern, folgt, daß durch sie die beiden entgegengesetzt gerichteten (Bildungs- und Zerfalls-)Geschwindigkeiten in gleichem Maß) beeinflußt werden. jerücksichtigen wir den großen Einfluß der Temperatur auf die Reaktionsgeschwindigkeit, so erhellt, dal) sowohl die Messung des Gleich- gewichtes bei höheren Temperaturen als auch die Erzielung guter Aus- beuten bei der technischen Verwertung des Stickoxydprozesses auf grobe Schwierigkeiten stößt. Denkt man sich das Gleichgewicht bei irgendeiner hohen Temperatur erreicht und läßt nun das Gasgemisch abkühlen, so wird sich folgendes abspielen. Bei hoher Temperatur ist die Reaktionsgeschwindig- 224 C. Frenzel. keit sehr groß und fällt in dem Maße, als Abkühlung eintritt; gleichzeitig hat aber die Erniedrigung der Temperatur im Sinn der früheren Aus- führungen bei unserem Prozeß zur Folge, daß sich das Gleichgewicht ver- schiebt, und zwar in dem Sinn einer Stickoxydabnahme. Je langsamer die Temperaturabnahme erfolgt, desto mehr wird das Gasgemisch Zeit haben, sich der der jeweilig herrschenden Temperatur entsprechenden Gleich- gewichtslage zu nähern und umgekehrt. Mit anderen Worten, je langsamer man abkühlt, desto mehr von dem ursprünglich gebildeten Stickoxyd wird durch Zerfall verloren gehen. Denkt man sich also die Temperatur stetig abfallend, so wird eine Zeitlang die immer kleiner werdende Einstellungsgeschwindigkeit genügen, um die Gleichgewichtslage zu erreichen, bald aber wird sie so weit ab- nehmen, daß sie hinter der Temperatur zurückbleibt, d. h., es wird zwar fortdauernd Stickoxyd zersetzt, aber nicht so viel, als der jeweilig herr- schenden Temperatur, beziehungsweise der dieser korrespondierenden Gleich- gewichtslage entspricht. Dieses Zurückbleiben wird mit fortschreitender Ab- kühlung immer größer, schließlich kommt man in ein Gebiet, wo die Ein- stellungsgeschwindigkeit unmerkbar klein wird, wo also ein Gemisch, welches Fig. 26. Zur Versuchsanordnung nach Nernst. vom Gleichgewicht beliebig weit entfernt sein kann, keinerlei Veränderung erkennen läßt. Das erste Gebiet, in welchem Abkühlung und Einstellungs- geschwindigkeit gleichen Schritt halten, beziehungsweise die letztere vor- aus ist, ist für die Untersuchung und technische Darstellung das gefähr- lichste. Man muß daher trachten, über dieses Gebiet so rasch als irgend möglich hinweg zu kommen, d.h., so schnell als angängig abzukühlen. Durch Einblick in diese Verhältnisse veranlaßt, hat Henry St. Claire Deville bei seinen trefflichen Untersuchungen über den Zerfall des Kohlen- dioxydes, der schwefligen Säure und der Chlorwasserstoffsäure sich einer Vorrichtung bedient, die seither unter dem Namen „warmkalte Röhre“ zu ähnlichen Zwecken vielfach verwendet wird und in modifizierter Gestalt auch von Nernst zur Untersuchung des Stickoxydgleichgewichtes gebraucht wurde. Deville ließ die Gase durch ein weißglühendes Porzellanrohr strei- chen, in dessen Mitte ein von kaltem Wasser durchströmtes Silber- rohr angeordnet war. Auf diese Weise wird das Gasgemisch, sobald es von der äußeren Wand nach innen diffundiert, ganz plötzlich abgekühlt. Die Versuchsanordnung Nernsts wird durch obige Skizze (Fig. 26) er- läutert. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 2935 DD Das zu untersuchende Gasgemisch strömt durch eine lange Röhre hindurch, in welcher durch äußere Heizung zwischen den Punkten a und b eine Temperatur ? herrscht, bei der das Gleichgewicht untersucht werden soll; von 5 bis e fällt die Temperatur möglichst rasch ab, so daß sie ine den Wert # erreicht, bei welcher die Reaktionsgeschwindiekeit auf einen praktisch verschwindenden Betrag gesunken ist. Soll das austretende Gas- gemisch eine der Gleichgewichtstemperatur £ entsprechende Zusammen- setzung haben, so muß die Strecke «5b hinreichend lang sein, damit das Gas Zeit hat, sich ins Gleichgewicht zu setzen und weiter muß das Stück bc hinreichend kurz sein, damit das Gleichgewicht sich nicht wieder ver- schiebt. Letzteres wurde dadurch erreicht, daß bc die Form einer engen Kapillare erhielt, in welcher die Gasgeschwindigkeit und das Wärmegefälle hohe Werte annimmt. Nernst benützte elektrisch geheizte Platin- bzw. Iridiumröhren von 13—16 cm Länge und 0'8—1'3 cm Durchmesser, in welche als Stück de Quarzkapillaren eingedichtet wurden. Die Resultate bei zwei Temperaturen waren die folgenden: T (absolut) T cm? NO in Liter A033 2rrlO ca. 30 238 a 2 nme 64 ie) ea u ca. 48 2 ee ea ac 96 ZN De 87 al9Durr “1.26 80 2198... 40. DR 85 ln ee 98 OD nn ed 73 Unter = ist die Zeit in Minuten zu verstehen, welche verstreicht, bis ein Liter Luft durch den Apparat gegangen ist. Aus diesen Zahlen läßt sich unmittelbar entnehmen, daß die gebil- deten Stickoxydmengen mit fallender Geschwindigkeit der hindurchgesaug- ten Luft zunächst ansteigen, ein Maximum erreichen und dann wieder fallen. Das ist offenbar darauf zurückzuführen, daß mit abnehmender Strömungsgeschwindigkeit die Zeit, während welcher das Gas im Ofen bleibt, wächst und damit die Möglichkeit, das Gleichgewicht zu erreichen, immer mehr gegeben ist. Man kommt zu einem Maximalwert und jenseits desselben ist ein Abfallen der Ausbeute zu verzeichnen, wenn durch Ver- langsamung des Luftstromes eine starke Verringerung der Abkühlungs- geschwindigkeit in den Kapillaren herbeigeführt wird. Nernst hat auf diese Weise die Gleichgewichtskonzentrationen bei den Temperaturen von 2033 und 2195° absolut und in einer weiteren nicht besprochenen Versuchsreihe bei 1811° direkt gemessen und diese Werte sind, wenn von Luft als Stickstoff-Sauerstoffgemisch ausgegan- gen wird: hohl Gleichgewichtskonzentration 0'37 Vol. °/, 132033 * ON SITE EST A T =:9195 $ 0:97 E.Abderhalden, Fortschritte. II. 15 226 C. Frenzel. Kennt man den Einfluß der Temperatur auf das Gleichgewicht, so genügt natürlich eine einzige Bestimmung, um die Gleichgewichtskonstante für jede andere Temperatur zu rechnen und mit Hilfe des Massenwir- kungsgesetzes die zugehörige Gleichgewichtskonzentration zu ermitteln. Die durch Temperaturvariierungen hervorgerufenen Änderungen werden ganz allgemein durch eine von van 't Hoff abgeleitete, äußerst wichtige und in ihrer Anwendung fruchtbare Gleichung: dnK Q dT em darstellt, welche besagt, daß die Änderung des natürlichen Logarithmus der Gleichgewichtskonstante K mit der Temperatur gleichzusetzen ist der negativ genommenen, bei konstantem Volumen und der absoluten Tem- peratur T gemessenen Wärmetönung Q des Prozesses, dividiert durch das Produkt aus der Gaskonstanten R und dem Quadrate der absoluten Temperatur. Diese fundamentale Differentialgleichung ist nicht ohneweiters integrierbar, da im allgemeinen die Wärmetönung eines Prozesses von der Temperatur abhängig ist. In unserem Falle liegen die Verhältnisse jedoch insoferne sehr günstig, - als man Ursache hat, anzunehmen, daß diese Abhängigkeit äußerst gering ist, die Wärmetönung also ohne merklichen Fehler als konstante Größe behandelt werden kann. Bezeichnet man nun je zwei korrespondierende Werte der Gleichgewichtskonstante und der Temperatur mit K,, K, und 5 T,, so erhält man durch Integration a diesen Br e) far Re Kr: a Fa ır- DE Au SRTI TREE K T, Setzt man für Q ER Mittel aus se früher angegebenen Werten, nämlich — 21.600 Cal. und für R die Gaskonstante 1'985 m so er- gibt sich K, ER u T,—T; In K, — — 9454 7, 1: aus welcher Gleichung sich die der Temperatur T, entsprechende Gleich- gewichtskonstante K, berechnen läßt, wenn man K, kennt. Auch diese Rechnungen sind von Nernst ausgeführt worden. Er kommt unter Zugrundelegung des Wertes 0:99 Volum %/, NO bei :T = 2200 zu folgender Tabelle: Er VK ap Voium °/, NÖ 1500 2:48 010 1600 3:92 0:16 1700 4:88 0:23 1800 851 034 Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 297 T VK. 10: Volum %/, NO 1900 11°D 046 2000 153 0:61 2100 199 0:79 2200 24:9 0:99 2300 31:2 123 2400 380 150 2500 45°5 179 2600 596 2:09 2700 625 2.44 2800 720 2:82 2900 824 318 3000 93:0 357 3200 1170 4:39 Vorstehende Zahlen gelten selbstverständlich nur, wenn es sich um Gasgemische von der Zusammensetzung der atmosphärischen Luft handelt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß man die größte Ausbeute erhält, wenn auf 1 Volumen Stickstoff 1 Volumen Sauerstoff kommt. Fol- gende kleine Zusammenstellung gilt für eine Temperatur von 4500° abso- luter Zählung: Gaszusammensetzung Gleichgewichtskonzentration an NO Luft 105 Vol. Proz. 1 Vol.N, +2 Vol. O, 25 „ , 1 Vol.N, +1 Vol. 0, 13:38 Eine sehr ausführliche Arbeit über die Geschwindigkeit der Stick- oxydbildung verdanken wir Jellinek. Die Messungen wurden in ähnlicher Weise durchgeführt wie diejenigen Nernsts. Als Reaktionsräume dienten elektrisch geheizte, birnenförmige Gefäße mit zwei Ansätzen für Zu- und Ableitung der Gase. Das Material dieser Gefäße war für Temperaturen bis 1347° C Porzellan bis 1605° C Platin bis 1750° C Iridium. Zur Theorie dieser Versuche sei folgendes hervorgehoben. Nach den Forderungen des Massenwirkungsgesetzes ist wie früher auseinandergesetzt die Zerfallsgeschwindigkeit: v, = K; U?’xo; die Bildungsgeschwindigkeit: v, =K, Ex": zu setzen. Aus den inversen Prozessen resultiert eine Geschwindigkeit der Zu- bzw. Abnahme der Stickoxydkonzentration vw —- = K, U’xo = K, Cn,Co,- Bezeichnen wir nun mit Rücksicht auf unseren Fall die Anfangskon- zentration des Stickoxydes, d.h. die zur Zeit t = o vorhandene Konzen- tration dieses Gases mit a und nehmen an, daß sich zur Zeit t bereits die Menge x (natürlich wiederum ausgedrückt in Grammbolekülen pro Vo- 15* 228 C. Frenzel. lumseinheit) zersetzt habe; dann können wir v offenbar ausdrücken durch den Differentialquotienten der zersetzten Menge nach der Zeit: ve e =k(a— x)? —k, & + 5) (eo, + 5): Da nach der Reaktionsgleichung für 2 Vol. zersetzten Stickoxydes je 1 Vol. O, und N, auftritt, folgen die Konzentrationen dieser Gase wie in der Gleichung angegeben. Eine sehr wesentliche Vereinfachung tritt nun ein, wenn man die Versuchsbedingungen so wählt, daß von den beiden Reaktionsgeschwindig- keiten v, und v, die eine sehr groß gegen die andere ist. Dann reduziert sich die rechte Seite der Gleichung auf eines der beiden Glieder, während das andere zu vernachlässigen ist. Dieses wird in unserem Falle erreicht, wenn man von beinahe reinem Stickoxyd ausgeht; denn dieses Gas zer- fällt ja, wie wir gesehen, selbst bei den höchsten Temperaturen sehr weit- gehend in seine Bestandteile, so daß von den beiden inversen Reaktionen der Zerfall der weitaus vorherrschende ist und die Bildung dagegen bei- nahe völlig in den Hintergrund tritt; Bedingung für die Richtigkeit ist, wie nochmals hervorgehoben werden möge, daß man die Messungen in Gebieten ausführt, wo man von dem Gleichgewicht nach der Zerfallseite sehr weit entfernt ist. Dann wird dx dt k, (a— x)? d. h. die Reaktionsgeschwindigkeit ist proportional (k,) dem Quadrat der aktiven Masse des jeweils vorhandenen Stickoxydes. Diese Gleichung läßt sich bequem integrieren; man erhält: Kat == I und ut= a2 (a—x)2 9): Wie angenommen entspricht der Zeit t = o die Anfangskonzentration a an Stickoxyd, zu dieser Zeit ist x = o; nachdem die Zeit t verflossen ist, hat die Menge des zersetzten Gases den Wert x erreicht. Durch Ausführung der Integration zwischen diesen Grenzen erhält man den einfachen Ausdruck et x „etaas) Die direkt gefundenen Werte der Bildungs- bzw. Zersetzungsgeschwin- digkeit seien nicht wiedergegeben, dagegen seien zwei Tabellen angeführt, welche die außerordentlich starke Abhängigkeit dieser Größen von der Temperatur illustrieren. Setzt man in der obigen Formel x = 7; 50 folgt die einfache Beziehung an k.a Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 2929 in derselben bedeutet k die Zersetzungsgeschwindigkeit und t mit Rück- sicht auf die eben getroffene Festsetzung die Zeit, welche erforderlich ist, um reines Stickoxyd von Atmosphärendruck auf die Hälfte zu zersetzen. dh t in Minuten De . V901 10° LOG 5800 13007 En AB LO alS(U, 0) PA SF Re RBB, 110, WIOEe er O OO RN 117748 10,22 INTER. Dr 2 10TE 200 En AOL ZDODERE RAN. 288370, 10 0 ee 0 LOVE re. elle NE NL a ei Aus diesen Zahlen, die keine allzu große Genauigkeit beanspruchen, läßt sich der ungeheure Einfluß der Temperatur besonders deutlich ent- nehmen; die erforderliche Zeit ist bei 900° um rund zwölf Zehnerpotenzen größer als bei 2200°. In ähnlicher Weise hat Jellinek eine zweite Reihe von Zahlen er- mittelt, die allgemeines Interesse beanspruchen, nämlich die: Zeiten in Minuten, die erforderlich sind, um in Luft von Atmosphärendruck die Hälfte des möglichen Stickoxydes zu bilden. Äh t in Minuten 500. E51: Scan: 1:81,.10% LIONS Eee: lee 900.2 ae 2208 0, Dr a: a I ne- 2300 Sr Ba 3 ÜceB ZBO0E Aa: Er Hen 10 ZI er 8.70... 106 29008. 22.2 2008.24 52706107 RE le Die beiden Arbeiten von Nernst und von Jellinek sind als die Grund- lage unserer Kenntnisse der Stickstoffoxydation anzusehen. Sie zeigen, daß die Stickoxydbildung, sofern sie auf thermischem Wege herbeigeführt wird, vollständig von den Gesetzen der Thermodynamik be- herrscht wird. Ein näheres Eingehen auf eine Reihe anderer Arbeiten, so diejenigen von Muthmann und Hofer, von Mac Dougall und Howles und anderen erübrigt sich, wenn auch dieselben manches schätzenswerte Ergebnis gezeitigt haben. Es hat nicht an Vorschlägen gefehlt, bei denen es sich um tech- nische Gewinnung von Stickoxyd auf rein thermischem Wege handelt. Von denselben verdient am meisten Beachtung derjenige von F\. Häusser, welcher die Möglichkeit eines Verbrennungsmotors ins Auge gefalit hat, in welchem Stickoxyd als Nebenprodukt gewonnen wird. Hüäusser hat in 230 C. Frenzel. einer ziemlich eingehenden Arbeit die Stickoxydausbeuten ermittelt, die bei Verpuffung eines Gemisches von 14'5°/, Leuchtgas mit Luft erhältlich sind und dieselben mit den von Nernst ermittelten Gleichgewichtswerten in ausgezeichneter Übereinstimmung gefunden, wie aus folgender Tabelle sich ergibt: Explosionstemp. Stickoxydausbeute in Prozent abs. gef. nach Nernst 2130... WE ENEN ER .0E0:2E DEAN SE NER, 20 En a NEE N Bstreer | 2320... E17 902 ER TV:56 SIT EI 21084 2310-8 Fakes. 2:10:30. 2020:39 DSTORIEE FAR 00:50 Allerdings handelt es sich, wie man sieht, um sehr kleine Mengen von Stickoxyd; immerhin aber kann man an eine Rentabilität des Verfahrens denken; Häusser weist darauf hin, daß die Reaktionsgeschwindigkeit bei 1600 bis 1700° schon sehr klein ist. „Daraus ergibt sich aber für meinen .. Vorschlag der Stickoxyd- bzw. Salpetersäuredarstellung mittelst explosibler Verbrennungen die wichtige Folgerung, daß es gar nicht nötig ist, das stickoxydhältige Abgasgemisch nach erreichter Höchsttemperatur bis auf die gewöhnliche Temperatur abzukühlen; es genügte, etwa durch Wasser- einspritzung in den Zylinder das Gemisch auf ca. 1700° abs. abzuschrecken. Da es aber bei dieser Temperatur noch einen erheblichen Druck besitzt, so läßt man es noch arbeitsverrichtend wie bei einem gewöhnlichen Ver- brennungsmotor expandieren und erhält somit ein Arbeitsverfahren für Verbrennungsmotoren, bei dem sich Stickoxyd bzw. Salpetersäure als Neben- produkt ergibt.“ Bezüglich anderer Vorschläge muß auf die Literatur verwiesen werden. Die bereits zitierten Autoren haben sich mit Ausnahme Nernsts und seiner Schüler alle des Hochspannungsbogens oder der Funkenentladungen bedient, um Stickoxydbildung herbeizuführen. Wie schon erwähnt, nahm man mit Vorliebe an, daß die elektrischen Erscheinungen rein thermische Wirkungen ausüben. Der erste, welcher die gegenteilige Ansicht mit Nachdruck vertrat, daß die Stickoxydbildung unter geeigneten Umständen als typisch elektrisches Phänomen verlaufen könne und dementsprechend auch von verschiedenen F aktoren, wie Elektrodenmaterial, Elektrodenabstand, Art der Entladung, Gegenwart fremder Körper usw. abhänge, war vo. Lepel, welcher auf seinem Gute zahlreiche, aber unzulängliche Versuche anstellte, um die für die Er- zeugung von künstlichem Salpeter in kleinstem Maßstab geeignetsten Bedingungen zu ermitteln. Er dachte an die Versorgung des kleinen Landwirtes mit der erforderlichen Menge von Dungstoffen. v. Lepel glaubte zwar einen polaren Unterschied der Stickstoffverbrennung im Gleichstrom- bogen beobachtet zu haben, konnte sich jedoch zu einer klaren Fassung; seiner Anschauungen nicht durchringen. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 231 Wenn auch von mancher anderen Seite, so besonders von Kowalski und Moseicki, die Ausbeute an Stickoxyd als abhängig von der Beschaffen- heit der elektrischen Entladung angesehen wurde, so gab man doch ziem- lich allgemein der Auffassung als eines rein thermischen Vorganges den Vorzug, wohl schon deswegen, weil die allgemeinen Grundlagen für die Behandlung des Vorganges von diesem Gesichtspunkt gegeben waren. Be- stärkt wurde man überdies durch Angaben Försters, welcher bei seinen Versuchen fand, daß, gleichen Wattverbrauch und sonstige gleiche Ver- hältnisse vorausgesetzt, Gleichstromflammenbogen von ziemlicher Stromstärke und Wechselstromfunkenstrecken von sehr kleiner Intensität nahe gleiche Ergebnisse liefern. Man nahm infolgedessen an, daß die Form der Ent- ladung nur mittelbar von Einfluß ist, indem sie schnelle oder langsame Abkühlung des gebildeten Stickoxydes gestattet. Erst von Warburg ist, hauptsächlich mit Rücksicht auf die von ihm und Leithäuser beobachtete Stickoxydbildung unter dem Einflusse stiller elektrischer Entladung, bei welcher von thermischer Wirkung nicht die Rede sein kann, die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit anderer als rein thermischer Wirkungen des Lichtbogens gelenkt worden. Auch Berthelot hat 1906 entgegen seinen früheren Angaben Beobachtungen veröffentlicht, denen zufolge bei stiller Entladung in feuchter Luft direkt und ausschlieb- lich Salpetersäure gebildet wird. Außer spezifisch elektrischen sind auch photochemische Wirkungen durchaus nicht ausgeschlossen. Die Frage suchten einerseits M. Le Blanc und W. Nüranen andrer- seits A. Grau und F. Russ dadurch zu entscheiden, daß sie die Gültigkeit des Massenwirkungsgesetzes bei veränderter Zusammensetzung des Stick- stoff-Sauerstoffgemisches untersuchten; sie fanden übereinstimmend, dal) die Forderungen dieses Gesetzes erfüllt sind und nahmen dementsprechend einen rein thermischen Verlauf der Stickstoffverbrennung an. Die Angelegenheit ist durch zwei Arbeiten von Haber und König wenn auch noch lange nicht zum Abschluß gebracht, so doch sehr wesent- lich gefördert worden. Die genannten Forscher knüpfen an die durch die moderne Physik ausgebildeten Vorstellungen über den Elektrizitätsdurch- gang durch Gase an. Denselben zufolge nimmt man an, daß sowohl bei stiller Entladung und Glimmstrom als auch bei der Entladung durch Licht- bogen von der Kathode, d. h. der Austrittsstelle des negativen Stromes aus der festen oder flüssigen Stromzuleitung in das Gas eine sehr grobe Anzahl von Elektronen, d. h. Elementarquanten negativer Elektrizität fort- geschleudert wird, die durch Stoßwirkung die neutralen Gasmoleküle ionisieren, d. h. in elektrisch geladene Spaltstücke verwandeln. Ohne nun weiter im einzelnen auf die Konsequenzen einzugehen, die sich aus dieser Grund- vorstellung ergeben, läßt sich jedenfalls sagen, daß die Stoßwirkung der Elektronen geradeso die Energiequelle für den Ablauf einer endothermen chemischen Umsetzung abgeben kann wie eine Erwärmung. Haber und König konnten durch eine gleich zu beschreibende Versuchsanordnung im Lichtbogen so hohe Stickoxydkonzentrationen erreichen, daß die Deutung 232 C. Frenzel. ihrer Resultate auf rein thermischem Wege zu großen Schwierigkeiten Veranlassung gäbe. Man kann mit der van’t Hoffschen Formel aus dem Gehalt an Stickoxyd auf die Temperatur schließen, die im Lichtbogen ge- herrscht hat. Verfährt man mit den von Haber und König erzielten Stick- oxydausbeuten in der Weise, so kommt man zu Temperaturen, welche ganz unwahrscheinlich hoch sind. Außerdem ist mit Rücksicht auf die pag. 223 Fig. 27. und 224 dargelegten Verhältnisse die Erhaltung so hoher Stickoxydkonzentrationen bei rein thermischer Wirkung des Lichtbogens kaum vorstellbar. Zur Verwendung gelangten Quarz- bzw. Glas- gefäße mit eingekitteten Elektroden aus verschie- denem Material (Eisen oxydiert, Platin, Nernststifte). Das mit Gaszu- und -ableitung versehene Gefäß ist, wie aus der Fig. 27 ersichtlich, von einem äu- ßeren Mantel umgeben, durch den konstant Wasser strömt, um ein starkes Temperaturgefälle zu er- zielen. Die Gase konnten entweder, wie gleichfalls aus der Figur unmittelbar zu ersehen, entweder bei den Elektroden ein- und abgeführt werden, konnten aber auch durch den Lichtbogen geleitet werden, ohne die Elektroden zu berühren. Besondere Überlegungen führten dazu, bei stark vermindertem Druck zu arbeiten. Mit der Abnahme desselben wächst nämlich die sogenannte „freie Wegelänge*“ der Ionen und damit die kinetische Energie, welche sie bei der Bewegung durch das elektrische Feld aufnehmen können. Unter eine gewisse Druckgrenze — am günstigsten sind etwa 100 mm Hg-Druck — kann man aber nicht herabgehen, weil sich sonst die Spannungsverhältnisse in unvorteilhafter Weise ändern. Es seien nur einige wenige von den zahl- reichen Messungen in den folgenden Tabellen an- Gefäß zur Aufnahme des x > - BIRD Dach Habe eeführt. Die erste derselben bezieht sich auf Drucke von 100 mm He. Stromstärke Spannung NO-Gehalt in in Milliampere in Volt Volumprozent 80 . 6050 86 176 . 5000 23 300 . 4600 9:7 340 . 3900 9:8 405 . 4800 94 technet man von diesen Ausbeuten ausgehend zurück auf die Tem- peratur, so bekommt man Werte derselben, die insbesondere mit Rück- sicht auf die gewählten Versuchsumstände ganz unwahrscheinlich hoch sind. Überaus wichtig und wertvoll ist der Nachweis, daß man gleiche De u u EZ U Do UL Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 235 Stickoxydkonzentrationen erhält, wenn man einerseits von einem (Gemenge gleicher Volumteile Sauerstoff und Stickstoff oder andrerseits von reinem Stickoxyd ausgeht und diesen der Einwirkung des Lichtbogens aussetzt; dies geht z. B. aus folgenden Zahlen hervor. Gasgemisch: 47'5°/, O,, 52:5°/, N;: Druck Stromstärke Spannung Volumprozent in mm Hg in Milliampere in Volt NO 1 0 Ra.) 1850 145 10424232202: ..,,340 1850 149 DOSE ea 2340 1850 148 1.11 ee = 3) 1850 145 102.740 F330 1850 146 Stickoxyd Druck Stromstärke Spannung Volumprozent in mm Hg in Milliampere in Volt NO 1A 0 52 340 1800 147 ROTE. 2 2.) 1800 148 1 (0 10) 1760 146 Man gelangt also zu demselben stationären Zustand von beiden Seiten, hat es also mit einem Gleichgewicht zu tun, welches von Haber und König als elektrisches im Gegensatz zu dem thermischen Gleichgewicht bezeichnet wird und offenbar von ähnlichen Gesetzen beherrscht wird wie das ther- mische. Es kann nun offenbar das elektrische Gleichgewicht mehr oder weniger Stickoxyd liefern wie das thermische „Würde das letztere der Fall sein, so müßte man streben, die elektrischen Erscheinungen durch die thermischen zu verdecken, wie man das früher getan hat. Liegt es hin- gegen umgekehrt, so muß man die thermischen Erscheinungen zurück- drängen, um die elektrischen zur Geltung zu bringen.“ „Das Verhältnis des elektrischen Gleichgewichtszustandes zum ther- mischen hängt von der Geschwindigkeit ab, mit welcher (die Bildung und) der Zerfall des Stickoxydes bei der Versuchstemperatur auf nichtelektrischem Weg verläuft. Zwei Grenzfälle bieten sich zunächst der Betrachtung dar. Befinden wir uns in einem Temperaturgebiete, in welchem die (Bildungs- und) Zerfallsgeschwindigkeit des Stickoxydes praktisch Null ist, so wird die Lage des elektrischen Gleichgewichtes lediglich davon abhängen, in welchem Maße der Elektronenstrom bildend und zersetzend auf Stickoxyd einwirkt. Befinden wir uns andrerseits in einem Temperaturgebiete, in welchem die Zerfallsgeschwindigkeit überaus groß ist, so wird das elektrische von dem thermischen Gleichgewichte nicht merklich verschieden sein können, weil jeder elektrisch hervorgebrachte Mehrgehalt an Stickoxyd durch augen- blicklichen Rückgang auf die Konzentration des thermischen Gleichgewichtes verschwindet. Daraus folgt, dal sich die thermischen Erscheinungen zu- gunsten der elektrischen nur zurückdrängen lassen, wenn man in einem Temperaturgebiet arbeitet, in welchem die Zerfallsgeschwindigkeit des Stick- 234 C. Frenzel. oxydes noch eine vergleichsweise geringe ist..... Je tiefer wir mit der Temperatur herabgehen, um so mehr sind wir gegen den thermischen Rückzerfall des Stickoxyds gesichert.“ Wenn nun diese Anschauungen, gegen welche sich derzeit keine be- gründeten Einwände erheben lassen, den Tatsachen entsprechen, so erkennt man unmittelbar, warum so vielfach bei der Untersuchung der Stickoxydbil- dung im Liehtbogen die Forderungen des Massenwirkungsgesetzes bestätigt gefunden wurden. Das wird offenbar nur dann möglich sein, wenn das durch spezifisch elektrische Einflüsse gebildete Stickoxyd, der Sphäre des Licht- bogens entrückt, noch so heiß ist, daß Zerfall bis zu dem vom Massenwirkungs- gesetz geforderten Betrag eintritt. Jedenfalls ist die Auffassung von Haber und König nicht nur vom theoretischen Standpunkt äußerst wichtig und interessant, sie ist auch praktisch genommen sehr weittragend, da sie ge- gründete Aussicht auf Erzielung viel höherer als der gegenwärtig erreichten Stickoxydausbeuten gibt. Daß sogenannte kalte Entladungen viel bessere Resultate ergeben wie sehr heiße Lichtbögen, ist eine Erfahrung, die sich die Praxis von allem Anbe- ginn zunutze gemacht hat. So haben R. Zovejoy und C. S. Bradley, die Begrün- der der Atmospherie Produets Company zu Niagarafalls in Nordamerika, denen das unbestrittene Verdienst gebührt, den ersten wirklich ernst zu nehmenden Versuch einer praktischen Lösung der Stickstoffverbrennung unternommen zu haben, ausschließlich mit disruptiven Entladungen gearbeitet, d. h. sehr dünnen Liehtbögen, die beim Strecken abreißen und immer wieder neu entzündet werden. Wenn nun auch dieses Prinzip nicht zu leugnende Vor- teile hat und mit den von den genannten Erfindern konstruierten Apparaten sehr hohe Stickoxydausbeuten von 2:5°/, erzielt wurden, so hat man es doch ganz verlassen und bevorzugt heute Vorrichtungen, die große Energie- mengen in einer einzigen Entladungsstrecke zur Wirkung bringen. Dafür waren hauptsächlich zwei Gründe maßgebend. Fürs erste macht die elektrische Einrichtung solcher Betriebe mit vielen kleinen Funkenstrecken recht große Schwierigkeiten, die sich allerdings bis zu einem gewissen Grade beheben lassen, wie die Arbeiten von Moseicki zeigen. Andrerseits aber erfordert das Ausziehen der vielen dünnen Lichtbögen rotierende Teile in den Ver- brennungskammern, und das bedingt infolge der hohen Temperaturen und der korrodierenden Eigenschaften des Stickoxydes rasche Zerstörung der Apparate. Der Wichtigkeit der Stickstoffverbrennung entsprechend hat es nicht an einer außerordentlich großen Zahl von technischen Vorschlägen gefehlt, auf die im einzelnen einzugehen viel zu weit führen würde. Von den Verfahren, welche die Feuerprobe des technischen Großbetriebes bestanden haben, ist das älteste dasjenige von Birkeland und Eyde; es gründet sich auf eine schon ziemlich alte Beobachtung, die Ablenkung des Lichtbogens durch den Ein- fluß eines magnetischen Feldes. Es sei zur Erläuterung auf die nachstehende Fig. 25 Bezug genommen, in welcher die beiden Elektroden mit einer Induktionsspule in den Stromkreis eines Generators geschaltet sind. Senk- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 235 recht zur Zeichenebene denken wir uns einen kräftigen U-Magnet so an- gebracht, daß die Elektroden zwischen die Pole desselben zu liegen kommen, Die Wirkung des Feldes äußert sich dann dadurch, daß der zwischen den Elektroden auftretende Lichtbogen sich kreisförmig ausbaucht, wie in der Zeichnung angedeutet, nach außen wandert und schließlich reiht, sobald sich zwischen den Elektroden ein neuer gebildet hat. Dieser letztere schlägt wieder denselben Weg ein und dieses Spiel kann man je nach den Ver- suchsumständen bis zu 1000mal in der Sekunde sich wiederholen lassen; in der Praxis läßt man sekundlich mehrere Hundert entstehen. Man hat diesen Vorgang nicht unpassend als „elektromagnetisches Gebläse“ be- zeichnet, da man tatsächlich den Eindruck gewinnt, als wären die im magnetischen Felde wirkenden Kräfte bestrebt, den jeweilig entstehenden Fig. 28. Schematische Darstellung der Wechselstromflamme bei Magnetisierung durch Gleichstrom. Bogen auszublasen. Infolge der raschen Aufeinanderfolge der fliehenden Bögen, deren Bewegungsgeschwindigkeit sich leicht regulieren läßt, gewinnt das Auge den Eindruck einer leuchtenden Scheibe, die auf den magnetischen Kraftlinien senkrecht steht. Da die Bögen auf den negativen Elektroden rascher nach auswärts rücken als an der positiven, so erhält man bei An- wendung einer Gleichstrommaschine und eines Gleichstromfeldes eine Scheibe von beinahe halbkreisförmiger Gestalt, deren Mittelpunkt nach der negativen Seite verschoben erscheint. Läßt man einen Gleichstromlichtbogen in einem Wechselstrommagnetfeld brennen oder einen Wechselstromlichtbogen in einem Gleichstromfeld, so gehen die Bögen nach beiden Seiten auseinander und geben eine beinahe kreisrunde Scheibe (s. Fig. 28). Es ist einleuchtend, daß diese Anordnung dem dünnen Lichtbogen- band gegenüber außerordentliche Vorteile bietet; sie stellt einen sehr groben 236 C. Frenzel. wirksamen Raum dar, in welchem, sofern wir nur an die Erfordernisse einer thermischen Stiekoxydbildung denken, die denkbar günstigsten Ver- hältnisse herrschen; hohe Temperaturen und große Abkühlungsgeschwindig- keit der Gase lassen sich leicht vereinen. Die Scheiben lassen sich mit Durchmessern bis zwei Meter herstellen. Die folgende Fig. 29 gibt die photographische Aufnahme einer solchen Scheibe wieder, die durch Wechsel- strom von 5000 Volt Spannung gespeist wurde. Sie war mit ungefähr 350 Kilowatt belastet. Die gegenwärtigen, im Betriebe befindlichen Öfen, deren Zahl schon gegen ein halbes Hundert beträgt, nehmen jeder eine Energiemenge von rund 500 Kilowatt auf, wurden aber auch schon bis 1000 Kilowatt (1500 P. S.) beansprucht. Die außerordentliche Einfachheit Fig. 29. Photographische Aufnahme einer Wechselstromhochspannungsscheibe im magnetischen Feld. und Haltbarkeit dieser Öfen geht aus Fig. 30 hervor, welche keiner weiteren Erläuterung bedarf. Die Ausbeuten, welche erzielt werden, sind zufriedenstellend, indem die Gase mit einem Gehalt von rund 2°/, Stick- oxyd entweichen. Es sei erwähnt, daß von Thoresen und Tharaldsen eine Anordnung patentiert wurde, welche eine gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen von Birkeland und Eyde besitzt, sich jedoch wegen der Kompliziertheit für den technischen Betrieb kaum eignen dürfte. Bei derselben wird in gleicher Weise der Liehtbogen maenetisch beeinflußt, aber nicht durch ein unver- änderliches, sondern ein wanderndes magnetisches Feld. Der Apparat ent- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 237 hält einen rotierenden Teil, wodurch seine Haltbarkeit und Betriebssicher- heit jedenfalls sehr in Frage gestellt wird. Ein zweites im Großbetrieb erprobtes, den Brüdern Pauling paten- tiertes Verfahren wird von der Salpetersäure-Industrie-Gesellschaft in Patsch bei Innsbruck mit Hilfe der Wasserkraft der Sill betrieben. Es beruht im Prinzip auf der Verwendung von Flammenbogen, die durch einen auf- steigenden Luftstrom gedehnt und ausgeblasen werden. Auf diese Weise wird ein ähnlicher Effekt erzielt wie in der Birkeland-Eydeschen Scheibe. Die Elektroden haben die Form der bekannten Sie- EBEN, mensschen Hörnerblitz- | ableiter (vergl. Fig.31). Der Bogen springt an der engsten Stelle über, wird durch die von unten kräftig zuströmende Luft nach oben getrie- ben, verbreitert sich da- bei und verlöscht schlieb- lich, wenn die Länge zu erols geworden ist; ein neuer Bogen setzt dann sofort an der eng- sten Stelle wieder an, so dab das Auge den Eindruck einer Flamme gewinnt. Diese Flammen können die Höhe von mehr als einem Meter erreichen und mehrere Hundert Kilowatt auf- nehmen. Damit sie bei verhältnismäßig kleiner Spannung ruhig bren- nen und doch die zu verarbeitenden groben Luftmassen hindurchge- schiekt werden können, ist eine eigene Zündvorrichtung im Gebrauch, deren wesentliche Teile in Fig. 32 abgebildet sind. Die Hauptelektroden «a besitzen an der Stelle ihrer geringsten Ent- fernung einen senkrechten Spalt, durch welchen schmale Messer (Zünd- schneiden) 5 hindurchgesteckt sind, die vermittelst der Einstellvorrich- tung d auf eine entsprechende Entfernung genähert werden können. Der vorgewärmte Luftstrom wird durch die Düse e eingeführt. WDSSILTT. KISS (ld Schematische Darstellung eines neueren Öfens von Birkeland und Eyde 238 C. Frenzel. Diese Art der Stickstoffverbrennung gibt etwas geringere Ausbeuten als das Verfahren von Birkeland und Eyde. Man erhält nur 1—-1'5°/, Stick- oxyd. Gegenwärtig sind 24 Öfen im Betrieb, von denen jeder 400 Kilowatt bei einer Spannung von rund 4000 Volt aufnimmt. Fig. 33. Fig. 31. Stickstofflamme zwischen Hörnerblitzelektroden. Fig. 32. Schematische Darstel- lung des Schönherrschen Ofens. Züändvorrichtung für Hörnerblitzelektroden. Die besten Erfolge hat bis heute das Verfahren der Badischen Anilin- und Sodafabrik zu verzeichnen, welches auf der Verwendung von stehenden, stabilen Lichtsäulen basiert. Die Anordnung, welche von Schönherr herrührt, ist im Prinzip äußerst einfach. Zur Erläuterung sei auf Fig. 32 verwiesen. Am Ende eines langen eisernen Rohres AB, welches mit der einen Strom- zuführung verbunden ist, befindet sich isoliert angebracht die Elektrode €. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 239 /wischen Rohr und Elektrode © wird zunächst ein kurzer Lichtbogen er- zeugt, dann wird von a her Luft eingeblasen. Sie reißt den Lichtbogen mit sich, so daß er längs der Rohrwand hinaufwandert und diese erst in beträchtlicher Entfernung trifft. Man kann mit einigen tausend Volt Spannung leicht Lichtbögen von sehr großer Länge erzielen, die einige hundert Kilowatt zur Einwirkung bringen. Es kann auch so verfahren werden, daß man, wie dies übrigens in Fig. 33 angedeutet ist, das Rohr aus isolierendem Material herstellt und als zweite Elektrode D be- nutzt: dann muß natürlich zu Anfang für die Bildung eines Lichtbogens gesorgt werden. Die besten Resultate erhält man, wenn die Gase schrauben- förmig an den Wänden entlang geführt werden. Man erreicht dies durch tangentiale Einführung des Luftstromes. Der Vorteil einer solchen Anord- nung liegt hauptsächlich darin, daß dann die Gase ein seitliches Aus- schlagen des Bogens sicher verhindern; sie halten ihn in der Mitte fest, da sie eine kühlende Zone rund um ihn bilden. Die im Betriebe befind- lichen Öfen erfordern bei einer Flammenlänge von ungefähr 5m mehr als 400 Kilowatt; neue Öfen sollen mit Flammenlängen von 7 m arbeiten und eine Energiemenge von 700 Kilowatt aufnehmen. Dieses Verfahren liefert die besten Ausbeuten, nämlich 2'5°/, Stick- oxyd, desgleichen die beste Ausnutzung der aufgewendeten Energie, wie folgende Zusammenstellung zeigt: Ausbeute in Grammen HNO, Konzentration pro Kilowattstunde des Stickoxydes Salpetersäure-Industrie-Gesellschaft (Verfahren von Pauling) . . . . 60 1—1'5 Birkeland und Eyde ......7% 2 Badische Anilin- und Sodafabrik (Verfahren von Schönherr) . . . 75 2:5 Zu diesen Ausbeutebestimmungen ist zu bemerken, daß die Ausnützung der Abhitze der aus den Öfen kommenden Gase nicht mitberücksichtigt ist. Jedenfalls wird sich bei ausgiebiger Wärmeregeneration, die allseitig ange- strebt wird und vielfach auch schon in sehr zweckmäßiger Weise durchgeführt ist, die Rechnung wesentlich günstiger stellen. So wird z.B. bei dem eben ge- schilderten Schönherrschen Verfahren die Hitze der Gase benutzt, um zu- nächst im Gegenstrom die Frischluft vorzuwärmen. Nach dem Durchströmen der Gegenstromvorrichtungen haben die Gase noch immer eine so hohe Temperatur, daß sie zur Heizung von Kesseln benutzt werden; der in denselben gewonnene Dampf wird zum Eindampfen der aus dem Betriebe resultierenden Nitrat- und Nitritlaugen gebraucht und reicht auch für alle sonst noch in Betracht kommenden Zwecke, so daß die weitere Ver- arbeitung der Gase ganz ohne Kohle durchgeführt werden kann. Denkt man sich die Wärmeregeneration ideal durchgeführt, dann würde alle den Gasen zugeführte Wärme bis auf die bei der Stickoxyd- bildung verbrauchte wiedergewonnen und es rechnet sich unter Annahme 240 C. Frenzel. einer Lichtbogentemperatur von rund 4000°C und unter der Voraus- setzung, daß die Stickstoffverbrennung ein rein thermischer Prozeß ist, ein Ausbringen von etwa 2!/, kg Salpetersäure für die Kilowattstunde, während nach der obenstehenden Tabelle nur etwa 70 g im Durchschnitt, also 3°/, der theoretischen Ausbeute erzielt werden. Diese Berechnung hat jedoch heute nicht mehr die Bedeutung, die man ihr früher beilegen konnte, da die thermische Natur der Stickoxydbildung im Hochspannungs- bogen durch die Arbeiten von Haber und König sehr in Frage gestellt ist und auch die Verhältnisse der Praxis mehrfach in diesem Sinne zu deuten sind. So hat sich die Vorwärmung der Frischluft, ein Verfahren, das die nachträgliche Abkühlung des Reaktionsgemisches zweifelsohne er- schwert, als sehr zweckmäßig erwiesen. Außer den bereits früher beschriebenen Verfahren, die technisch erprobt sind, möge noch auf eine Gruppe von Erfindungen hinge- wiesen werden, die auf der Anwendung von rotierenden Bögen beruhen. Ein Gleichstromlichtbogen wird zwischen konzentrischen, ring- oder zylin- derförmigen Elektroden durch ein axiales Magnetfeld elektro-dynamisch in Rotation versetzt. Dieses vielfach vertretene Prinzip hat noch eine Er- gänzung dadurch gefunden, daß der Bogen überdies eine translatorische Be- wegung erhält, also eine Spirale beschreibt. Ein näheres Eingehen auf diese Arbeitsweise, die von Petersson, Moscicki und anderen angestrebt wird, erübrigt sich schon aus dem Grunde, weil kein derartiges Verfahren in das Stadium technischer Erprobung gekommen ist. Wenn nun auch die weitere Verarbeitung der aus dem Ofen kom- menden Gase streng genommen nicht zu dem Problem der Stickstoffver- brennung gehört, so mögen doch einige Angaben über diesen Gegenstand gemacht werden. Dem Hauptzwecke der Stickstoffaktivierung entsprechend trachtet man das gebildete Stickoxyd in ein den Chilesalpeter ersetzendes, brauchbares Düngemittel überzuführen, also wo möglich ein Nitrat zu ge- winnen und unter diesen hat sich wieder das Caleiumnitrat aus mehreren Gründen als das geeignetste Produkt erwiesen; das Calcium wird von der Natur in ungeheuren Quantitäten geboten und ist, in großen Mengen an- cewendet, dem Pflanzenwuchs nicht so abträglich wie das Natrium. Neben Nitraten kommen auch Nitrite, die wertvollen Salze der salpetrigen Säure HNO, in Betracht. Wie schon hervorgehoben, besitzt das Stickoxyd die Fähigkeit, bei mäßig erhöhter Temperatur sich nach der Gleichung 2NO +0, =2N0, mit Sauerstoff zu Stiekstoffdioxyd umzusetzen. Dieses Gas polymerisiert sich bei tieferen Temperaturen nach 3N0,=N;,0, zu Tetraoxyd und dieser Vorgang läßt sich, da NO, rotbraun, N,O, da- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 241 gegen nahezu farblos ist, mit dem Auge verfolgen. Beim Zusammenbringen mit Wasser kommen wahrscheinlich zwei Vorgänge in Betracht, nämlich 1) 200, +0+,0=2HNO, und 2) 2NO, + H,O —=HNO, + HNO,, Die Verhältnisse sind noch nicht ganz aufgeklärt, doch dürfte als ziemlich sicher anzusehen sein, dal die erstangegebene Gleichung nur unter ganz besonderen Verhältnissen realisiert wird und daß weiter neben der zweiten sich noch ein wahrscheinlich umkehrbarer Vorgang im Sinne der Umsetzung: 3HNO, = 2NO + HNO, + H,O abspielt. Nach Klaudy findet das eigentümliche Auftreten von NO als Produkt der Absorption durch Wasser nur dann statt, wenn der Sal- petersäuregehalt über ein bestimmtes Maß hinaus angestiegen ist. Es wäre nicht unmöglich, diesen Vorgang in dem Sinne zu deuten, daß im Über- schuß zugeführtes NO, auf die nach der zweiten der früher angegebenen Gleichungen gebildete salpetrige Säure oxydierend einwirkt, demnach eine Umsetzung nach der Gleichung HNO, + NO, =HNO, + NO stattfindet. Das allerdings ist nur eine Vermutung. Jedenfalls bedingt das Auftreten von NO beim Absorptionsvorgang insofern eine Komplikation, als derselbe nie auf einmal bewerkstelligt werden kann. Es muß dieses Gas erst Sauerstoff aus der Luft aufnehmen und kann dann erst wieder der Absorption zugeführt werden. Die Verarbeitung der Gase erfolet in der Praxis in der Weise, daß sie, nachdem ihr Wärmeinhalt in entsprechender Weise ausgenützt wurde, in säurefest ausgekleidete Behälter geleitet werden, in welchen die Oxydation des Stickoxydes zu Dioxyd ihren Abschluß findet. Die Um- setzung des letzteren erfolgt in einem System von Türmen, die mit einem passenden Füllmaterial beschickt sind, über welches kontinuierlich Wasser herabrieselt, während die nitrosen Gase den entgegengesetzten Weg von unten nach oben einschlagen. Das Resultat der Absorption wird nun nach den früher dargelegten Verhältnissen eine sehr verschiedene Beschaffenheit der aus den einzelnen Türmen abfließenden Lauge sein. In dem ersten Turm kommt das meiste NO, zur Wirkung, hier wird die neben Salpeter- säure gebildete salpetrige Säure nach der schon angeführten Gleichung 3HNO, = HNO, +2NO + H,0 zersetzt, hier erhält man demnach nicht nur die konzentrierteste, sondern auch von salpetriger Säure freie Salpetersäure. Das NO wandert dann von Turm zu Turm, oxydiert sich immer wieder und wird aufgenommen. Die Menge der salpetrigen Säure wächst demnach von Turm zu Turm und E. Abderhalden, Fortschritte. I. 16 242 C. Frenzel. erreicht im letzten derselben ihr Maximum. Die letzten Reste des Stick- oxydes werden durch alkalische Absorptionsmittel wie Kalkmilch gebunden. Anfangs wurde ausschließlich auf basisches Caleiumnitrat gearbeitet, welches als vorzügliches Düngemittel Verwendung findet. Vielfach wird aber heute auch Natriumnitrit erzeugt, das man erhält, wenn die noch warmen nitrosen Gase statt auf Wasser auf Natronlauge zur Einwirkung gebracht werden. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die Wege zu kennzeichnen, welche die Technik einzuschlagen hat, um eine rationelle Aufarbeitung der nitrosen Gase zu bewerkstelligen, nur so viel sei noch erwähnt, daß von mehreren Seiten der Vorschlag gemacht wurde, den Stick- stoff der Luft direkt zu solchen Verbindungen zu verbrennen, deren Ent- stehen nicht wie dasjenige des Stickoxydes Wärme verbraucht, sondern Wärme liefert. So will Rasch einen Lichtbogen zwischen einem Rohr aus Nernstmasse, durch welches Luft eingeblasen wird und Wasser bzw. einer wässerigen Lösung erzeugen. Dabei soll der Stickstoff der Luft direkt zu Salpetersäure oder einem Nitrat oxydiert werden. Die Stickstoffverbrennung spielt heute bereits eine Rolle im wirtschaft- lichen Leben. Abgesehen von der bereits erwähnten Fabrik in Patsch bei Innsbruck, die nach dem Paulingschen Verfahren arbeitet, ist das an großen Wasserkräften reiche Norwegen die Heimat dieser Industrie ge- worden. Zwischen der Badischen Anilin- und Sodafabrik als Besitzerin des Schönherrschen Verfahrens und der Norwegischen Stickstoffgesellschaft, welche die Erfindungen von Birkeland und Eyde ausbeutet, ist ein Über- einkommen getroffen worden, demzufolge heute eine einzige Gesellschaft besteht, welehe in Hinkunft dasjenige Verfahren benutzen wird, welches die besseren Resultate ergibt. Es ist projektiert, zehn Werke mit zusam- men 500.000 PS zu errichten. Im Herbst 1910 hofft man mit einer Ko- lonie von 6000 Arbeitern den Betrieb von 120 Öfen zu je 1000 PS er- öffnen zu können. Verzeichnis der wiehtiesten Arbeiten über Stickstoffverbrennung. v. Lepel, Annal. d. Physik und Chemie. 39 (1890), 311; 46 (1892), 319; Berliner Be- richte. 30 (1897), 1027; 36 (1903), 1251; 37 (1904), 712; 37 (1904), 3470; 38 (1905), 2524; Die Bindung des atmosphärischen Stickstoffes. Greifswald 1903 (Ju- lius Abel). Rayleigh, Journ. of chemical Society, 71 (1897), 181. Me. Dougall and Hoiwwles, Manchester Memoirs. 44, Nr. 13 (1900). Muthmann und Hofer, Berliner Berichte, 36 (1903), 438. Kowalski und Moseicki, Bull. d. 1. Soeiet6 internat. d. Electrieieus, 2. serie, tome III, Nr. 26 (Juni 1903). Fichter, Sitzungsber. d. naturforschenden Gesellschaft Basel. Kurzes Referat: Zeitschr. f. angew. Chemie, 1904, 5, 1181. Nernst, Nachrichten d. königl. Gesellsch. d. Wissensch. zu Göttingen. Math.-phys. Klasse, 1904, Heft 4; Zeitschr. f. anorganische Chemie, 45 (1905), 126; 49 (1906), 213. Brode, Über die Oxydation des Stiekstoffes in der Hochspannungsflamme. Halle a. S. 1905 (W. Knapp). Ki ae u nn Zu‘ Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 243 Rossi, Gazz. chim. Ital. 35 (1905), [T], 89; Ref. Zeitschr. f. Elektroch, XI (1905), 504. Stavenhagen, Berliner Berichte, 38 (1905). 2171. Finckh, Zeitschr. f. anorg. Chemie. 45 (1905), 116. Jellinek, Zeitschr. f. anorg. Chemie. 49 (1906), 229. Grau und Ruß, Experimentaluntersuchungen über die Luftverbrennung im elektrischen Flammenbogen. Sitzungsber. d. Wiener Akademie, 115 (Il a), 1906, 117 (IL a), 1908. — Über die Giltigkeit des Massenwirkungsgesetzes bei der Stickstoffverbrennung in der Hochspannungsflamme. Zeitschr. f. Elektroch., 13 (1907), 573—578. Le Blanc und Niiranen, Die Giltigkeit des Massenwirkungsgesetzes bei der Stickstoff- verbrennung in der Hochspannungsflamme. Zeitschr. f. Elektroch., 13 (1907), 297. Haber und König, Über die Stickoxydbildung im Hochspannungsbogen. Zeitschr. f. Elektroch., 13, 725 (1907); 14, 689 (1908). Holwech: Über die Beziehungen der Stickoxydbildung zu den elektrischen und thermi- schen Eigenschaften kurzer Gleichstromlichtbögen mit gekühlter Anode. Zeitschr. f. Elektrochemie. 16 (1910), S. 369. Moseicki, Gewinnung von Salpetersäure aus Luft bei deren Behandlung mittelst elek- trischer Flamme. Elektrotechnische Zeitschr., 1907, Heft 42, 43, 44. Brion, Der Hochspannungslichtbogen und seine Bedeutung in der elektrochemischen Industrie. Physikalische Zeitschr., 8, 792—799. — Experimentelle Untersuchungen über den Hochspannungslichtbogen. Zeitschr. f. Elektroch., 1907, S. 761. — Ist die Aktivierung des atmosphärischen Stickstoffs in elektrischen Gasentladungen als ein rein thermischer Vorgang aufzufassen? Zeitschr. f. Elektroch., 1908, S. 245. F. Häusser, Verhandlungen des Vereines zur Beförderung des Gewerbefleißes, 84 (1905), S. 295 und 85 (1906), S. 37. Il. Die Synthese des Ammoniaks aus den Elementen. Von den beiden Hauptquellen gebundenen Stickstoffes, welche uns zu Gebote stehen, gehen die Salpeterlager langsam ihrem Ende entgegen; dagegen dürften die ungeheuren Steinkohlenlager in Europa und Asien aller Wahrscheinlichkeit nach den Bedarf an Brennmaterial noch für einige Jahrhunderte decken, so daß trotz der Möglichkeit der wirtschaftlichen Stickstoffverbrennung die Gewinnung von Ammoniak durch trockene De- stillation der Steinkohle eine immer größere Rolle zu spielen berufen ist. Wenn nun auch heute, wie übrigens schon hervorgehoben, nur ein kleiner Teil der Kohle in rationeller Weise unter Ausnutzung des geringen, im Durchschnitt etwa 1—2°/, betragenden Stickstoffgehaltes verbraucht wird, so zeigt doch die neuere Entwicklung der hüttenmännischen Betriebe und die zunehmende Verwendung der Gaskraftmaschinen, dab eine Bewe- gung im Sinne der Kohlenvergasung bedeutende Fortschritte macht. Auch der Umstand, daß eine derartige Veränderung andere sehr wesentliche Vorteile im Gefolge hätte, wie Vermeidung der Rauchplage, Zentralisie- rung der Erzeugung von Kraft und billige Abgabe derselben, wird zur Herbeiführung des rationellen Verfahrens sehr wesentlich beitragen. Insbesondere für die Landwirtschaft, welche gegenwärtig nach 0. Witt ungefähr ein Drittel ihres Bedarfes an gebundenem Stickstoff in Form von Ammonsalzen deckt, würde durch die Erschöpfung der Lager natürlichen Salpeters der Anstoß gegeben, weit mehr Ammoniak für Düngezwecke zu 16* >44 C. Frenzel. verwenden. Auch die Industrie würde zweifelsohne den gebundenen Stick- stoff der Kohle ausnutzen, wenn es gelingen sollte, eine wirklich brauch- bare Methode der partiellen Oxydation des Ammoniaks zu Ammonnitrat ausfindig zu machen. Aus dem Gesagten ergibt sich, dal) eine direkte Ausnutzung des at- mosphärischen Stickstoffs zur synthetischen Gewinnung von Ammoniak im Sinne der Gleichung: N, +3H,=2NH, nicht gerade viel Aussicht hat. Dies um so mehr, als im Gegensatz zu der Stickstoffverbrennung, die wohl als ein gelöstes Problem anzusehen ist, die Ammoniakbildung mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hätte, wie einige neuere Arbeiten über diesen Gegenstand gezeigt haben. Die Möglichkeit der Vereinigung von freiem Stickstoff mit Wasser” stoff ist schon sehr lange bekannt und auch vielfach untersucht worden. So hat schon Regnault festgestellt, daß hierzu der Induktionsfunke ein ge- eignetes Mittel bildet. Auch Deville und Berthelot haben sich mit dieser Synthese befaßt. Man kommt jedoch auf diesem Wege immer nur zu sehr kleinen Ammoniakausbeuten, indem schon bei geringer Konzentration dieses Gases die Tendenz, in die Elemente zu zerfallen, gerade so groß ist wie das Vereinigungsstreben der letzteren. Zu günstigen Resultaten gelangt man, wenn man die jeweils entstandenen Mengen durch eine Säure absorbieren läßt. So fand H. St. Claire-Deville, daß durch den Einfluß des Induktions- funkens auf ein Gemisch von Chlorwasserstoff mit Stickstoff und Wasser- stoff in passendem Verhältnis Chlorammonium gebildet wird. Die Salzsäure als Absorptionsmittel hebt die Gegenwirkung des entstandenen Ammo- niaks auf. Auch bloßes Erhitzen führt zu einer geringfügigen Vereinigung der Elemente. Wenden wir die früher entwickelten Lehren der physikalischen Che- mie auf diesen Fall an, so ergeben sich folgende Anweisungen für die Er- zielung möglichst großer Ausbeuten. Die Reaktion verläuft nach der thermo- chemischen Gleichung: 1VolN,; +3 Vol.H,—2VolNH, +2 x 15.100 cal. Zunächst sieht man, daß die Ammoniakbildung mit einer bedeuten- den Volumverkleinerung verbunden ist, da ja 4 Volume der Ausgangsstoffe nur 2 Volume des Gases ergeben. Vergrößerung des Druckes führt also nach den früher angegebenen Regeln zu einer Verschiebung des Gleich- gewichtes im Sinne der Bildung von Ammoniak, Änderung der Temperatur hat in unserem Falle den entgegengesetzten Effekt wie bei der Bildung des Stickoxydes aus den Elementen. Letzterer Prozeß war ein endothermer, die Ammoniaksynthese dagegen verläuft exotherm. Handelt es sich also darum, möglichst weitgehende Ammoniakbildung zu erzielen, so ist es Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 245 günstig, bei erhöhtem Druck und niederer Temperatur zu arbeiten. In letzterer Hinsicht kann man aber unter eine ziemlich hoch gelegene Grenze nicht herabgehen, weil sonst die Reaktionsgeschwindigkeit so klein wird, daß die Erreichung des Gleichgewichtes zu lange dauert. Diesem Umstand läßt sich allerdings durch Reaktionsbeschleuniger: Katalysatoren, abhelfen; so ließen Haber und van Oordt die Vereinigung bei Gegenwart von auf Asbest fein verteiltem Eisen bzw. Nickel vor sich gehen. Das letztere erwies sich als der trägere, Katalysator; sehr wenig wirksam war Platinfolie. Aber selbst bei Verwendung von Eisen war es, um hinreichend rasche Einstellung des Gleichgewichtes zu erzielen, notwendig, die Temperatur nicht weit unter 1000° zu halten. Die neuesten bei Drucken von 30 Atmo- sphären mit größter Genauigkeit durchgeführten Versuche haben folgendes Resultat ergeben: In einem Gasgemisch, bestehend aus 1 Vol.N, und 3 Vol. Wasserstoff, entstehen bei Drucken von 30 Atmosphären bei 00C . 2.2.2.2.2....0654 Vol-%/, NH, ED abe gl nam zaltza, 50 Le rat Se BOT Gern are OCT wre: TR a ae tee Das Gleichgewicht ließ sich von beiden Seiten erreichen, d.h. so wie eben angegeben oder dadurch, dab man Ammoniakgas den angegebenen Temperaturen aussetzte. In beiden Fällen wurde die Menge des Ammoniaks zu übereinstimmendem Betrag gefunden. Diese für die Synthese des Ammoniaks wenig aussichtsvollen Ergeb- nisse lassen erkennen, dal) auf rein thermischem Wege nur dann an eine technische Darstellung gedacht werden kann, wenn es gelingt, einen Katalysator zu finden, welcher bei tiefen Temperaturen, bei welchen die Gleichgewichtskonzentration des NH, hoch ist, die Reaktion sehr erheblich beschleunigt; von vielen geprüften Substanzen soll sich Nickeloxyd NiO als Katalysator bewährt haben. Seine Verwendung erfolgt in der Weise, dab man es in Petroleum vom Siedepunkt 200—240° suspendiert und in die Flüssigkeit hinein das Gasgemisch leitet. a In letzter Zeit hat sich Haber ausgehend von seinen bereits erwähnten theoretischen Arbeiten sehr um die Synthese des Ammoniaks verdient ge- macht, indem er die Grundlage für ein Verfahren schuf, das gegenwärtig von der Badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen a. Rh. ausge- arbeitet wird. Die Vereinigung der Gase erfolgt bei Drucken von rund 200 Atmosphären; diese hohen Pressungen stellen natürlich an die Appa- ratur sehr hohe Anforderungen, begünstigen aber, wie bereits hervorgehoben, die Synthese in hohem Maße. Die Hauptsache war natürlich das Auffinden eines geeigneten Kata- Iysators. Zahlreiche Versuche führten zu der Erkenntnis, daß das Osmium eine ausgezeichnete Wirksamkeit entfaltet. Mit Hilfe desselben wurden aus 246 C. Frenzel. einer Mischung von 1 Raumteil Stickstoff und 3 Raumteilen Wasserstoff bei 175 Atm. Druck und einer Temperatur von annähernd 550° leicht Aus- beuten von 8°/, Volumprozent Ammoniak erhalten. Der Verwendung dieses Katalysators steht seine Kostspieligkeit und Seltenheit im Wege. Es wurde deshalb nach einem anderen Überträger gesucht und ein solcher in dem Uran gefunden. Dieses Metall zerfällt in dem Gasgemenge unter Stickstoff- aufnahme zu einem sehr feinen Pulver, welches schon bei 500° C vorzüg- lich katalytische Eigenschaften aufweist. Auch bei den hohen zur Anwendung gebrachten Drucken ist die Ver- einigung sehr unvollständig und beträgt nur wenige Volumprozente. Um die Darstellung kontinuierlich zu gestalten, ist es demnach notwendig, das gebildete Ammoniakgas immer wieder zu entfernen. Dies geschieht durch eine Zirkulation unter dauerndem Hochdruck, bei welcher das Ammoniak in einem geeigneten Gefäß durch mäßige Kühlung verflüssigt und aus diesem von Zeit zu Zeit abgelassen wird, während entsprechende Mengen von Wasserstoff und Stickstoff dem Kreislauf neu zuströmen. Der Kraftbedarf für Kompression und Bewegung der Gase, ebenso der Wärme- und Kälte- bedarf für die Synthese des Ammoniaks bzw. seine Verflüssigung sollen sehr gering sein. Der Wichtigkeit des Gegenstandes entsprechend, sind außer dem eben besprochenen neuesten Versuch auch früher schon vielfach technische Ver- fahren ausgebildet worden, die jedoch zu keinem nennenswerten Resultat führten. Bei beinahe allen war beabsichtigt, den zur Ammoniakbildung nötigen Wasserstoff durch Überleiten von Wasserdampf über glühende Kohlen zu gewinnen. Z. Mond hat viele dieser Verfahren nachgeprüft und in beinahe allen Fällen dasselbe Ergebnis gefunden; die gebildete Ammo- niakmenge blieb dieselbe, gleichgültig, ob der Prozeß bei Gegenwart oder unter Ausschluß von atmosphärischem Stickstoff durchgeführt wurde. Es handelte sich also um Ammoniakbildung aus dem Stickstoff der zur Re- duktion verwendeten Kohle. Es erübrigt sich daher, auf die Mehrzahl dieser Verfahren näher ein- zugehen, nur dasjenige von Dr. Hermann Charles Woltereck sei ganz kurz besprochen. Der genannte Erfinder sucht die Vereinigung der elementaren (rase durch passend gewählte Katalysatoren herbeizuführen. Läßt man ein (remenge von reinem, trockenem Stickstoff und Wasserstoff im Verhältnis der Vereinigung über schwach rotglühende Eisenfeile streichen, so findet deutliche Bildung von Ammoniak statt, die jedoch bald wieder aufhört. Die Wirksamkeit des Katalysators soll an die Gegenwart von Sauerstoff, wel- cher in den Eisenfeilen in Gestalt von Eisenoxyd bzw. Eisenoxyduloxyd vorhanden ist, geknüpft sein. Auf dieser Annahme basiert die zu besprechende Erfindung. Um Ammoniak auf synthetischem Wege herzustellen, soll stets Sauerstoff vor- handen sein und, um die Bildung von Ammoniak kontinuierlich fortzuführen, muß Sauerstoff in freier und gebundener Form zugegen sein, damit das durch den Wasserstoff reduzierte Oxyd durch den Sauerstoff in Gegen- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 247 wart von Wasserdampf von neuem oxydiert wird. Das Oxyd wirkt hier also angeblich nicht katalytisch, sondern chemisch, indem es zunächst re- duziert, dann wieder oxydiert wird. Aus diesem Grunde wäre es verständ- lich, daß die üblichen Kontaktsubstanzen, wie Platinschwamm, platinierter Asbest, Bimsstein, Holzkohle, hier nicht verwendet werden können, es mul zur Vermittlung der Reaktion vielmehr ein Sauerstoffüberträger, wie Eisen- oxyd, Chromoxyd, benutzt werden. Zur Weiterführung der Versuchsarbeiten und Ausbeutung des Ver- fahrens hat sich ein englisches Syndikat gebildet, welches im Norden von Irland einen Betrieb mit einem Kostenaufwand von mehr als einer halben Million Mark errichtete. Um die Anwendung des teueren Eisenoxyds zu umgehen, hat man dasselbe durch den angeblich ähnlich wirkenden Torf ersetzt. Wird über denselben bei entsprechender Temperatur ein Gemisch von Wasserdampf und Luft geleitet, so sollen aus 100 Tonnen desselben mehr als 5 Tonnen Ammonsulfat erhalten werden können; dabei sollen die Produktionskosten sehr gering sein und noch nicht die Hälfte des Markt- preises erreichen. Der Torf wird selbsttätig in die mit Druckluft arbeitenden Be- schickungstrichter eingetragen und von diesen in schneller Weise in die Öfen eingeführt, in denen er mittelst eines mit Wasserdampf geladenen Luftgebläses feuchter Verbrennung unterworfen wird. Die entwickelten Gase enthalten neben Ammoniak wertvolle Produkte, wie Paraffin, Essig- säure usw., die sich leicht gewinnen lassen und das Verfahren rentabel machen. Ebenso kann die zurückbleibende Asche, welche Kaliumsalze, Kalk und Phosphorsäure enthält, als billiges Düngemittel Verwendung finden. Inwieweit allerdings bei diesem Verfahren das entwickelte Am- moniak als aus den Elementen entstanden anzusehen ist, läßt sich wohl ohne genauere Untersuchung nicht angeben. Es ist jedoch sicher, daß die Gase, die durch trockene Destillation oder ungenügende Ver- brennung von Torf und ähnlichem minderwertigen Brennmaterial ent- stehen, geeignet sind, die Umwandlung des Luftstickstoffes in Ammoniak zu fördern. Das dürfte schon mit daraus hervorgehen, daß ähnliche Verfahren vielfach, unter anderen auch von @. W. Ireland und H. St. Sugden, paten- tiert wurden. Die genannten Erfinder arbeiten bei einer Temperatur, bei welcher Wasserdampf von erhitzter Kohle noch nicht zersetzt wird. Der Prozeß soll in aufrechten eisernen, mit Schamotte ausgefütterten Retorten ausgeführt werden, in welchen man nach der Beschiekung mit Torf das auf etwa 300°C gebrachte Gemisch von Wasserdampf und Luft eintreten läßt. Durch Regulieren der Dampfzufuhr hält man die schnell ansteigende Temperatur auf 400°. Einer gleichfalls patentierten Neuerung zufolge wird anstatt Luft- Wasserdampf besser ein Gemisch von Luft und fein verteiltem Wasser eingespritzt. Die Schnelligkeit der Luftzufuhr wird so bemessen, dal) der Torf in 3—6 Stunden aufgezehrt ist. Außer Ammoniak werden auch hier Kohlenwasserstoffe, Essigsäure ete. erhalten, die die Erzeugungskosten des 248 C. Frenzel. Ammoniaks sehr herabdrücken. Aus 300 kg Torf mit 54°/, Feuchtigkeit und einem auf Trockensubstanz bezogenen Stickstoffgehalt von 1'19°/, wur- den in 6 Stunden 12-64 kg Ammonsulfat erhalten. Das entspricht, auf trockenen Torf bezogen, einem Gehalt von rund 2°/, Stickstoff, es wären demnach mindestens 0'8°%/, elementaren Stickstoffs in Ammoniak über- gegangen. Schließlich möge noch hervorgehoben werden, dal) Ammoniaksynthese auch auf einem anderen als rein thermischen Weg versucht worden ist, nämlich durch stille elektrische Entladungen. Schon Berthelot hat beob- achtet, daß eine Vereinigung von Wasserstoff und Stickstoff auf diese Weise stattfindet. Ein Versuch, von Gasen auszugehen, welche industriell leicht und billig herzustellen sind, z. B. Dowsongas, welches aus 14 Volumpro- zenten Wasserstoff, 43°/, Stickstoff, 39%/, Kohlenoxyd und 4°/, Kohlensäure besteht, ergab jedoch weder Ammoniak, noch Ammonsalze, sondern Poly- mere des Formaldehyds. Die Westdeutschen Thomasphosphatwerke wollen gefunden haben, dal) der Verlauf der Umsetzung in hohem Maß von der Temperatur abhängt. Sorgt man dafür, daß die Temperatur des Gasge- misches auf 65, höchstens 80° gehalten wird, so kann man mit 15.000 Volt und 2—2°5 Ampere 20°/, des in dem Gas enthaltenen Stickstoffes in Am- moniak umwandeln, d.h. aus 100 Volumteilen des Gasgemisches 8 Teile Ammoniak erhalten. Verzeichnis der wichtigsten Arbeiten über die Synthese des Ammoniaks aus den Elementen: Perman, Chem. News, 90 (1904), S. 13 u. 182. — Proc. of R. Soe., Serie A, Bd. 76, S. 167. Haber und van Oordt, Zeitschr. f. anorg. Chemie, 43, S. 111; 44, S. 341; 47, S. 42. Haber und Le Rossignol, Ber. d. deutsch. chem. Ges., 40 (1907), S. 2144. — Zeitschr. f. Elektrochemie, 13 (1907), S. 523; 14 (1908), S. 181. Jost, Zeitschr. f. anorg. Chemie, 57 (1908), S. 425. — Zeitschr. f. Elektrochemie, 14 (1908), S. 373. Nernst, Zeitschr. f. Elektrochemie, 16 (1910), S. 96. Il. Die Nitride und ihre Verwendung zur Ammoniakgewinnung. Wenn auch Stickstoff im allgemeinen sehr wenig reaktionsfähig ist, so verbindet er sich doch unter geeigneten Umständen mit den meisten Elementen, ja mit einigen derselben sogar unter lebhafter Licht- und Wärmeentwicklung. Man nennt diese Verbindungen, und zwar sowohl die- jenigen mit Metallen als auch mit Metalloiden, Nitride. Sie sind vielfach zu einer direkten oder indirekten Stickstoffausnutzung für landwirtschaft- liche und industrielle Zwecke heranzuziehen gesucht worden. Wenn auch bis heute wenigstens diese Versuche nicht von Erfolg gekrönt gewesen sind, so soll doch der Vollständigkeit wegen von ihnen ganz kurz die Rede sein. Bevor wir darauf eingehen, mag hervorgehoben werden, daß die sehr stickstoffreichen Salze der Stickstoffwasserstoffsäure N, H, wohl auch Tri- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 249 nitride genannt, ihrer Entstehung und ihrem Verhalten nach mit den hier in Betracht kommenden karbidähnlichen Nitriden nichts zu tun haben. Von Metallen, welche bei Glühhitze leicht Stickstoff absorbieren und Nitride bilden, sind besonders hervorzuheben das Lithium, das Magnesium, die Erdalkalimetalle Calcium, Barium und Strontium, weiter Chrom und Titan; Eisen, Zink und Aluminium dagegen gehen derartige Verbindungen nur schwer ein. Von Metalloiden kommen hauptsächlich Bor und Silicium in Betracht. Auf die Darstellung der einzelnen Körper kann nicht näher eingegangen werden, es seien nur die allgemeinen Eigenschaften derselben nach Spiegel in folgender Weise charakterisiert: „Die Stickstoffmetalle sind sämtlich spröde, zum Teil metallglänzend krystallinische, meist aber matte amorphe Pulver. Sie sind unschmelzbar. Einige ertragen heftige Glühhitze, ohne Veränderung zu erleiden, während andere dabei in Stickstoff und Metall zerfallen, was bei der Quecksilber- verbindung schon bei 200° stattfindet. Beim Glühen an der Luft werden von den schwer zerlegbaren einige oxydiert; alle aber zersetzen sich, wenn sie mit leicht reduzierbaren Metalloxyden, also z. B. Blei-, Kupfer- oder (Quecksilberoxyd, erhitzt werden, wobei häufig Feuererscheinung eintritt. Die Verbindungen des Kaliums, Magnesiums, Zinks, Quecksilbers werden durch Wasser leicht zersetzt. Erhitztes Chlor bildet meist Chloride; Na- triumhypochlorit entwickelt in vereinzelten Fällen (Chrom) Stickstoff. Wäs- serige Säuren oder Alkalien erzeugen, wo sie zerlegend wirken, Ammoniak und Metallsalze, sind aber vielfach wirkungslos. Schmelzendes Kalihydrat entwickelt aus allen Verbindungen Ammoniak.“ Wenden wir uns nun der Frage einer möglichen Ausnutzung der Nitride für industrielle und landwirtschaftliche Zwecke zu, so lassen sich drei Wege angeben, welche vielleicht einmal zum Ziele führen werden. Man könnte zunächst daran denken, ein billiges Nitrid herzustellen und dieses dem Boden direkt zuführen. Unter dem Einfluß der Atmosphärilien würde der Stickstoff mehr oder weniger leicht als Ammoniak abgespalten und dieses dann in bekannter Weise durch Nitrifikationsbakterien in die von der Pflanze direkt assimilierbaren salpetersauren Salze verwandelt werden. Versuche dieser Art sind vielfach, insbesondere von Mehner, ange- stellt worden. Er ließ sich ein Verfahren zur Herstellung von Nitriden der verschiedensten Metalle patentieren. Die Herstellung sollte in der Weise erfolgen, daß Oxyde von Titan, Silicium, Bor, Magnesium, Vanadin usw. mit Kohle gemengt im elektrischen Ofen unter Hindurchleiten von Stick- stoff oder eines geeigneten stickstoffhältigen Gases erhitzt werden. An- wendung der von Mehner vorgeschlagenen Produkte scheint in größerem Stile wenigstens nicht versucht worden zu sein. Sollte sich ein derartiges Verfahren einmal als durchführbar erweisen, so sprächen für dasselbe die geringen Erzeugungs- und Verfrachtungskosten. Nach Mehners Angaben ist der Stickstoffgehalt mehr als doppelt so hoch wie im Chilisalpeter oder schwefelsauren Ammoniak. 250 C. Frenzel. Ein zweiter Weg bestünde darin, Nitride herzustellen und dieselben in passender Weise mit oder ohne Regenerierung des Ausgangsmateriales zur Ammoniakgewinnung zu benutzen. Für solche Prozesse wurden haupt- sächlich Magnesium, Bor, auch Silicium und Titan in Aussicht genommen. So wollte man in der Weise verfahren, dal) ein Gemenge von Magnesium- oxyd und Kohle im elektrischen Ofen geglüht und das reduzierte Metall durch darüber gebildeten Stickstoff in das Nitrid verwandelt wird. Durch Einwirkung von Wasserdampf erhält man dann einerseits Ammoniak und das wieder zu verwendende Metalloxyd. Ein näheres Eingehen auf diese Vorschläge erübrigt sich durch den Umstand, daß eine Prüfung derselben durch Z. Mond unbefriedigende Resultate ergeben hat. Erst in den letzten Jahren sind neuerdings Versuche in dieser Rich- tung durch die Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen am Rhein angestellt worden; es wurde die Beobachtung gemacht, daß sich der Stick- stoff aus Cyanstickstofftitan, Ti,, C; N,, welches durch Erhitzen eines Ge- menges von Titansäure und Kohle in Gegenwart von Stickstoff leicht er- halten werden kann, in glatter Reaktion und quantitativer Ausbeute als Ammoniak gewinnen läßt, wenn man die genannte Verbindung mit Oxy- dationsmitteln behandelt und dabei die Temperatur so niedrig hält, dab eine Oxydation des gebildeten Ammoniaks zu Stickstoff vermieden wird. Es können beliebige Oxydationsmittel Anwendung finden: Chromsäure, Braunstein, Eisen-, Kupfer-, Cer-, Quecksilberoxyd etc. Die bei der Oxy- dation gebildete Titansäure kann leicht wieder in Cyanstickstofftitan ver- wandelt werden, welches zur Gewinnung neuer Ammoniakmengen dient usw. An Stelle von Oxydationsmitteln kann man zur Abspaltung des Ammoniaks auch Wasserdampf verwenden, falls gleichzeitig Metallsalze, -oxyde oder -hydroxyde zugegen sind. Wasserdampf allein liefert nur ungenügende Aus- beuten an Ammoniak, da die Einwirkung erst bei so hohen Temperaturen erfolgt, daß das gebildete Ammoniak weiter zersetzt wird. So genügt es z. B., Cyanstickstofftitan mit der Hälfte an Ätznatron zu mischen und im Wasserdampfstrom auf 300-—-400° zu erhitzen, um allen Stickstoff in Form von Ammoniak zu erhalten. Man kommt aber auch zum Ziele, wenn man bei Abwesenheit von Oxydationsmitteln mit Säuren oder Säure abspaltenden Salzen und even- tuell mit Wasser erhitzt. Es entstehen dabei Salze der niederen Oxyda- tionsstufen des Titans. Bei Verwendung konzentrierter Schwefelsäure ge- nügt es, auf 150° 0 zu erwärmen, bis vollkommene Zersetzung eingetreten ist. Beim Verdünnen fällt alles Titan als Titansäure aus. Aus dem Filtrat kann das Ammoniak durch Kochen mit Kalk in bekannter Weise in Frei- heit gesetzt werden. Weiter wurde gefunden, daß sich die geschilderte Möglichkeit der Ammoniakgewinnung nicht auf Oyanstickstofftitan beschränkt, sondern sich alle Titanverbindungen — es sei insbesondere auf die beiden Nitride TiN, und Ti, N, hingewiesen — ganz ähnlich verhalten. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. >51 Schließlich möge noch hervorgehoben werden, daß es der Badischen Anilin- und Sodafabrik auch gelungen ist, die Darstellung der Titanstick- stoffverbindungen sehr zu vereinfachen. Es hat sich gezeigt, daß die Bildung derselben kein Erhitzen eines Gemenges von Titansäure mit Kohle im Stick- stoffstrome schon bei verhältnismäßig niederer Temperatur erfolgt, wenn man dem Gemenge ein Alkalisalz zusetzt. Dasselbe spielt anscheinend die Rolle eines Stickstoffüberträgers, wobei schon kleine Mengen genügen, die Reaktion zu beschleunigen. Über Erprobung des Verfahrens im großen ist bis nun noch nichts bekannt geworden (D.R.-P. 202.563, 203.748, 203.750, 204.204, 204.475, 204.847, sämtlich aus dem Jahre 1907). Schließlich sei noch auf einen dritten Weg verwiesen, den wohl zum ersten Mal Kaiser in Vorschlag gebracht hat und der, wenn er wirklich durchführbar wäre, sich für die Ammoniakdarstellung ausgezeichnet eignen würde. Er gründet sich auf die Eigenschaft einiger Metalle, wie Calcium, Barium, Magnesium, Mangan, Cer usw., sowohl Nitride als auch Wasser- stoffverbindungen (Hydrüre), zu bilden. Die Absicht des Erfinders war die Verwirklichung folgender Gleichungen: . 3MeH+3 N=MgN,+NH,. Es sollte also durch abwechselndes Behandeln mit Wasserstoff und Stickstoff bald das Hydrür, bald das Nitrid gebildet und in beiden Phasen des Prozesses Ammoniak gewonnen werden. Berücksichtigt man, dab so- wohl Wasserstoff als Stickstoff verbraucht werden, so handelt es sich, wenn man den Prozeß als Ganzes betrachtet, um eine Synthese des Am- moniaks aus den Elementen. Dieser Prozeß ist für das Calcium und Mangan von Haber und van Oordt für das Cer v. Lipski untersucht worden. Die Ergebnisse waren nun die folgenden: Aus Caleiumnitrid und Wasserstoff entsteht von 600° aufwärts Ammoniak. Aus Caleiumhydrür und Stickstoff entsteht hingegen keine nachweisbare Menge Ammoniak; wesentlich über 900° kann man bei Gegenwart von Caleiumnitrid nicht wohl längere Zeit erhitzen, weil diese Substanz dann schmilzt und verdampft. Dieses Resultat, daß wohl bei Ein- wirkung von Wasserstoff auf das Nitrid merklich Ammoniak gebildet wird, dagegen die zweite der früher angeführten Reaktionen das gewünschte Produkt nicht in analytisch nachweisbarer Menge liefert, erklärt sich dar- aus, daß beim Überleiten von Stickstoff über das Hydrür das Gleichge- wicht bei etwa hundertfach kleineren Ammoniakkonzentrationen als beim Überleiten von Wasserstoff über das Nitrid erreicht wird. Es scheinen bei Caleium überhaupt nicht die früher erwähnten bei- den Reaktionen in Betracht zu kommen, sondern ein Vorgang, der durch folgende Gleichung auszudrücken ist: Ca,N; + 3H, TEL 3CaH, +N, 252 C. Frenzel. _ und welcher sich mit dem gleichfalls reversiblen Ammoniakbildungsprozeß aus den Elementen 3, +N, PB 2NH, verquickt. Wenn also durch Einwirkung des einen elementaren Gases das an- dere in gleichfalls elementarem Zustand in Freiheit gesetzt wird, kann der ganze Nutzen des Prozesses lediglich darin bestehen, daß bei demselben zwei Möglichkeiten der Ammoniakbildung gegeben sind, wie aus folgendem Schema hervorgeht: N, arg od, e = DUaH, yıns Pre r Ca, N nämlich einmal der direkte Weg und weiters ein Weg, welcher über Hy- drür und Nitrid führt. Wenn das Gleichgewicht auf dem direkten Weg sich zu langsam herstellt, so kann der Umweg bedeutende Vorteile haben, vorausgesetzt, daß die Zwischenreaktionen, über welche er führt, rasch ver- laufen. Die Verfasser kommen zu dem Resultat, daß bei 800° sich zwar die Caleiumverbindungen als Zwischenkörper bei der Ammoniaksynthese aus den Elementen benutzen lassen und sich das Gleichgewicht ziemlich rasch einstellt, daß jedoch diese Temperatur viel zu hoch liegt, um er- hebliche Mengen von Ammoniak erreichen zu können. (Vgl. S. 244.) Versuche mit Mangan haben gezeigt, daß hier die Verhältnisse sehr ähnlich, aber insofern viel günstiger liegen, als man in ein tiefer liegen- des Temperaturgebiet kommt. Jedoch ist auch hier die nötige Temperatur zu hoch und die Reaktionsgeschwindigkeit zu klein, als daß praktisch er- hebliche Resultate zu erzielen wären. Bedeutend günstiger scheint sich das Cer zu verhalten. Es hat sich gezeigt, daß hier die beiden Reaktionen: 5 +CeN—=CeH, + NH, ‚+ (CeH, =CeN+ NH, und bei ziemlich tiefen Temperaturen glatt verlaufen, ohne daß, wie beim Cal- cium der Vorgang 3H, +2CeN=(CeH, +N; nebenher geht. Die für die Ammoniakbildung günstigste Temperatur liegt zwischen 200—300°C, wobei der Ammoniakgehalt des Gases leicht 1 Volum- prozent und darüber erreicht. Arbeiten über die Verwendung von Nitriden zur Ammoniaksynthese: Haber und van Oordt, Über die Bildung des Ammoniaks aus den Elementen, Zeitschr. f. anorg. Chemie, 44 (1905), 341. 1 Lipski, Über Synthese des Ammoniaks aus den Elementen, Zeitschr. f. Elektrochemie, j 5 (1909) 189. | Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs, 253 IV. Cyanverbindungen aus atmosphärischem Stickstoff. 1. Theoretisches. Die Fabrikation der Cyanverbindungen hat in den letzten Jahren nicht nur einen sehr großen Aufschwung genommen, sondern auch eine durchgreifende Veränderung erfahren. Das ist einerseits auf den sehr ge- steigerten Verbrauch an Cyankalium und andrerseits auf die Unvollkom- menheit der früher angewendeten Methoden zurückzuführen. Die sich immer mehr entwickelnde Galvanoplastik und Galvanostegie, besonders aber die in erößtem Maßstab betriebene Cyanidlaugerei gold- haltiger Erze und Aufbereitungsrückstände hat es bewirkt, daß die Welt- produktion an Cyankalium, welche bis zur Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts höchstens 100 2 betrug, im Jahre 1890 auf 750 £ stieg und im Jahre 1900 ungefähr 8500 # erreichte. Deutschland allein führte 1901 2090 t, im Jahre 1908 4890 £ Cyankalium aus. Aller- dines nahm der Konsum dann ab; das war jedoch nur auf Verbesserungen in der Cyanidlaugerei zurückzuführen und kam um so weniger in Betracht, als neben Südafrika auch Australien und Nordamerika der Goldgewinnung auf diesem Wege immer größere Aufmerksamkeit schenkten. Den gestei- gerten Konsum begleitete ein sehr erheblicher Preisrückgang. Für die Gewinnung von Cyanverbindungen war längere Zeit sowohl das alte Blutlaugensalzverfahren, das von tierischen Abfällen aller Art aus- geht, wie auch die Darstellung aus den Gasreinigungsmassen im Schwunge. Den geänderten Umständen gemäß war es notwendig, diese irrationellen Methoden ganz aufzugeben und das mußte schon aus dem Grunde ge- schehen, weil auf dem alten Wege der Bedarf überhaupt nicht mehr ge- deckt werden konnte. Auch an die Reinheit der Produkte wurden sehr hohe Anforderungen gestellt, die früher nicht leicht erfüllt werden konnten. Dies hat dazu geführt, daß man eine Menge von Verfahren ausar- beitete, durch welche diese Körper teils auf nassem Wege aus Leuchtgas usw., teils auf feurigem Wege aus Ammoniak nutzbringend dargestellt werden. Insbesondere die Fabrikation der Cyanverbindungen aus Ammoniak ist von größter technischer Bedeutung geworden, da letzteres sehr reak- tionsfähig ist und auf mehrere Arten sich in Cyan überführen läßt. Eine weitere, sehr durchgreifende Änderung in der Cyanidindustrie ist durch die Ausnützung des atmosphärischen Stickstoffes bereits zum Teil eingetreten, zum Teil ist sie in der nächsten Zukunft zu gewärtigen. Von allen Versuchen, atmosphärischen Stickstoff zu binden, sind wohl diejenigen die ältesten, bei welchen es sich um Überführung in Cyanver- bindungen handelt. Die Stammsubstanz dieser Gruppe von Körpern, das Cyan C,N, selbst, scheint sich jedoch durch direkte Vereinigung der Ele- mente nur sehr schwer oder gar nicht zu bilden, wenigstens sind dahin- eehende Angaben mehrfach bestritten worden. Die entgegengesetzte Reak- 254 C. Frenzel. tion aber, der Zerfall des Cyans in seine Elemente unter dem Einflusse elektrischer Entladungen geht mehrfachen Beobachtungen zufolge leicht vor sich. Das Cyan findet sich in Hochofengasen, zuweilen bis zu einem Be- trag von 1?/, vor; die Entstehung von Cyanmetallen bei metallurgischen Prozessen ist schon vor sehr langer Zeit festgestellt worden. Während aber die Bildung des erstgenannten Gases kaum auf eine direkte Ver- einigung der Elemente zurückzuführen ist, war es lange eine vielum- strittene Frage, ob Cyanmetalle unter Mitwirkung elementaren Stickstoffes entstehen. Die endgültige Entscheidung dieser Frage wurde hauptsächlich durch die ausgedehnten Untersuchungen von Bunsen und Playfair herbei- geführt, welche in größeren Öfen im Verlaufe von 24 Stunden bis zu 100 kg Cyanverbindungen herzustellen in der Lage waren. Wegen der außerordentlich großen Bedeutung, welche der Fixierung des atmosphärischen Stickstoffes zukommt, hat es nicht an zahlreichen Erfindungen auf diesem Gebiete gefehlt. Es handelt sich bei denselben immer darum, daß Stickstoff über ein glühendes Gemisch von Kohlen- stoff in Form von Kohle, Holz-, Zuckerkohle, Koks usw. mit einer starken anorganischen Base (Karbonate oder Hydroxyde der Alkali- und Erdalkali- metalle) geleitet wird. Durch eingehende Studien verschiedener Forscher und Erfinder sind folgende günstige Bildungsbedingungen festgestellt worden: 1. Das Gelingen des Prozesses hängt von der Natur des Metalles ab. Das Kalium erweist sich unter sonst gleichen Umständen günstiger als das Natrium, steht aber dem Barium nach. Und das gilt in gleicher Weise, ob man die betreffenden Metalle als Hydroxyde oder Carbonate in den Prozeß einführt. Der Vorzug des Baryts dürfte zum großen Teil dar- auf zurückzuführen sein, daß er bei den in Betracht kommenden Tempe- raturen nicht schmilzt, sondern porös bleibt und dadurch für die Cyanid- bildung immer eine große Oberfläche zur Verfügung steht; die leicht schmelzenden und verdampfenden Kaliumverbindungen dagegen hüllen die Kohleteilchen ein und lassen so die gewünschte Umsetzung mit dem ele- mentaren Stickstoff nur an der Grenze vor sich gehen. Die hervorragende Eignung der Baryumverbindungen für die Cyanid- bildung ist durch Marguerite und de Sourdeval, Mond und Adler dargetan worden und es fanden seither bei allen Versuchen zur technischen Dar- stellung von Cyanverbindungen auf diesem Wege beinahe ausschließlich ;aryumverbindungen Anwendung. 2. Die für einen günstigen Verlauf geeigneten Temperaturen sind recht verschieden angegeben worden. Dat) Weißglut zur Bindung des Stick- stoffes nicht notwendig ist, wie von mancher Seite behauptet wurde, wurde bald erkannt; so ist man von der Anwendung hoher Temperaturen ab- sekommen, um so mehr, als dieselben große Materialverluste durch Ver- dampfung der reagierenden Stoffe und starke Abnutzung der Apparate ..- mr « [9] ID Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. : bedingen. Dunkle Rotglut dürfte im allgemeinen genügen, jedoch wird man die richtige Temperatur immer nach den besonderen Versuchsumständen zu bestimmen haben. 3. Auch über den Einfluß von Wasserdampf sind verschiedene An- sichten geäußert worden. Der Umstand, daß Oyanide bei schwacher Rot- glut durch Wasserdampf unter Ammoniakbildung zersetzt werden, spricht dafür, die Materialien möglichst trocken zu verwenden, weil man andern- falls mit Stickstoffverlusten zu rechnen hätte. 4. Es ist beinahe selbstverständlich, daß der dem Stickstoff beigemengte Sauerstoff sowie überhaupt die Anwesenheit von Oxydationsmitteln die Cyanidbildung zurückdrängen. Gerade in dieser Hinsicht sind vielfach ganz unrationelle Vorschläge gemacht worden; man hat gelegentlich Luft absicht- lich eingeführt, um durch partielle Verbrennung des Kohlenstoffes die Temperatur zu steigern; allerdings entsteht durch Kohlenoxydbildung bald wieder eine reduzierende Atmosphäre. Jedenfalls erscheint es am rationell- sten, reinen Stickstoff zu verwenden, der ja heute in hinreichenden Quan- titäten und zu billigem Preis an Ort und Stelle erzeugt werden kann. 5. Druck scheint günstig zu wirken. Nach den Angaben von Hempel erzielt man durch Druckerhöhung einen energischen Verlauf der Reaktion. 6. Von allen Erfindern wurde übereinstimmend beobachtet, daß es keineswegs auf langandauernde Wirkung des Stickstoffes auf die Kohle an- kommt, die Berührungszeit zwischen beiden also keinen nennenswerten Einfluß auf die Ausbeute hat. Dagegen ist es von großer Wichtigkeit, für eine innige und gleichmäßige Durchmischung der zur Verwendung gelan- genden Materialien Sorge zu tragen. Was nun die theoretischen Anschauungen anbetrifft, die man sich über den Cyanidbildungsprozef) gebildet hat, so wurde früher ganz allge- mein die Auffassung von Liebig, welche sich auf den gewöhnlichen Schmelz- prozel mit eiweißreichen Abfällen bezieht, auf die Verfahren übertragen, bei welchen elementarer Stickstoff zur Cyanidbildung herangezogen wird. Man nahm dementsprechend an, daß der Vorgang sich in zwei bzw. drei Phasen abspielt. Einerseits sollte eine Reduktion des Alkali- oder Erdalkali- metalles durch Kohlenstoff stattfinden, weiter eine direkte Vereinigung von Kohlen- und Stickstoff zu Cyan erfolgen und schließlich aus den Pro- dukten beider Vorgänge das Uyanmetall hervorgehen. Diese Theorie ist, wie insbesondere N. Caro gezeigt hat, unhaltbar. Zunächst einmal vollzieht sich ja, wie schon hervorgehoben, die direkte Vereinigung von Kohlen- und Stickstoff wenn überhaupt nur sehr schwer und weiter lassen die günstigen Resultate, die man mit dem sehr schwer reduzierbaren Baryum erzielt hat, es mehr als fraglich erscheinen, ob es wirklich zu einer Reduktion kommt. Dieselbe müßte ja durch hohe Tem- peraturen gefördert werden, während praktische Versuche dazu geführt haben, dunkle Rotglut nicht zu überschreiten. 256 C. Frenzel. Man könnte nun die Oyanidbildung einerseits durch intermediäre Bildung von Nitriden, andrerseits durch eine solche von Carbiden erklären. Während die erstere Annahme die Tatsachen nicht glatt zu deuten ver- mag, spricht sehr vieles für die zweite. Schon im Jahre 1869 wurde sie von Berthelot herangezogen. Dieser Forscher zeigte, daß Acetylen sich unter dem Einfluß der dunklen elektri- schen Entladung mit Stickstoff zu Cyanwasserstoffsäure vereinigt: C,H, + N, = 2NCH. er folgerte daraus, daß bei starkem Erhitzen von Salzen der Alkalien mit Kohle zunächst die dem Acetylen entsprechende Kohlenstoffverbindung, das Carbid des Alkalimetalls, gebildet und dieses durch elementaren Stickstoff weiter in Cyanmetall verwandelt wird. Die Annahme einer intermediären Carbidbildung bei dem Cyanidpro- zesse verträgt sich mit allen gemachten Beobachtungen sehr gut. So sei insbesondere darauf hingewiesen, daß erfahrungsgemäß die Ausbeute durch Anwesenheit von leicht carbidbildenden Metallen, wie Fisen, Nickel usw., gesteigert wird, daß von den Alkali und Erdalkalimetallen gerade das Ba- ryum sich am besten eignet, weil es besonders leicht ein Carbid bildet. Einen tieferen Einblick in den Mechanismus der Cyanidbildung brachten erst die Arbeiten von Frank und Caro, die hauptsächlich aus den Jahren 1895—1902 stammen. Die genannten Erfinder gedachten die durch Moissan und Wilson in größerem Maßstab ermöglichte Erzeugung von Carbiden zum Zwecke der Cyanid- und Ammoniakgewinnung aus atmosphärischem Stickstoff heran- zuziehen. Obwohl Moissans Versuche, Absorption des Stickstoffes durch Carbide zu bewirken, ein negatives Resultat ergeben hatten, ließ sich schon im Jahre 1895 feststellen, daß Caleium-, noch mehr aber Barium- carbid Stickstoff in reichlicher Menge absorbieren. Während bei dem letzt- genannten eine glatte Anlagerung unter Bildung von Cyanmetall erfolgte, ließen sich in dem aus Caleiumearbid erhaltenen Produkt trotz scheinbar starker Absorption von Stickstoff nur geringe ÖOyanmetallmengen nach- weisen. Die weitere Untersuchung führte zu dem theoretisch und praktisch überaus wichtigen Ergebnis, daß aus Caleiumcarbid und elementarem Stick- stoff der Gleichung (al, +N,=Calh, +C entsprechend unter Abscheidung von Kohlenstoff das Calciumsalz des Oyanamides ON—NH, gebildet wird. Eine weitere sehr wichtige, von Frank und Caro gefundene Tatsache ist die, daß sich der gesamte Stickstoff des Caleiumeyanamides durch Er- hitzen mit Wasser unter hohem Druck glatt als Ammoniak abspalten läßt: CN, Ca +5 H; EIER ); un 2 NH; Br. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 257 Diese Umsetzung war es, welche die Erfinder auf den Gedanken brachte, das Caleiumeyanamid als ein für die Pflanzenernährung direkt verwendbares Düngemittel zu verwenden. Durch Umschmelzen mit Soda oder Chlornatrium lassen sich die Metalleyanamide unter Wiederaufnahme des aus dem Carbid ausgeschiedenen Kohlenstoffes (siehe die Bildungsgleichung) sehr leicht und glatt in Oyanide verwandeln: CaCN, +C=(NC), Ca. Der Zusatz der genannten Flußmittel hat lediglich den Zweck, die Masse flüssig zu machen und dadurch die angegebene Umsetzung zu er- möglichen. Aus dem rohen Produkt, welches man durch Einwirkung von Stick- stoff auf Carbid erhält, kann durch Auslaugen mit Wasser reines Dieyan- diamid nach folgender Gleichung 2CaCN, +4H,0 = 2Ca(OH), + [CN.NH;], dargestellt werden; dieses Polymere bildet Kristallblättchen vom Schmelz- punkt 205°C, während das Cyanamid selbst bei etwa 40° schmilzt. Beide Körper sind in Wasser und Alkohol löslich und unterscheiden sich dadurch, daß das Polymere von Äther nicht aufgenommen wird. Beide lassen sich vorteilhaft zur Herstellung von sehr reinen Cyanmetallen verwenden, wozu nur einfaches Umschmelzen mit Soda erforderlich ist: (CNNH,)s + Na, C0, +2C=2NaCN +NH, +H+N+3C0. 2. Bindung von Stickstoff durch Carbide. Wenden wir uns nunmehr der Technologie der Cyanverbindungen aus atmosphärischem Stickstoff zu, so sei gleich erwähnt, daß die zahl- reichen Verfahren, die im Laufe der Zeit zur Gewinnung von ÜUyan- verbindungen selbst oder ohne letztere aus der Schmelze zu isolieren, zur Darstellung von Ammoniak ersonnen worden sind, nicht näher be- trachtet werden können. Es sind ohnehin zum großen Teil nur Vorschläge, die niemals technisch erprobt wurden, zum Teil Prozesse, welche zwar kürzer oder länger in größerem Malistabe ausgeführt wurden, sich aber wirtschaftlich als unbrauchbar erwiesen. Wir wollen uns einzig und allein mit der von Frank und Caro ge- fundenen „Stiekstoffaktivierung“ durch Carbide befassen, die zur Her- stellung eines billigen und brauchbaren Düngemittels geführt hat. Ob man auf diesem Wege auch Uyanmetalle in großen Mengen dauernd darstellen wird, läßt sich wohl zur Zeit noch nicht mit Sicherheit sagen. Es wurde bereits hervorgehoben, daß schon Berthelot im Jahre 1869 aus seinen Versuchen über die direkte Vereinigung von Stickstoff und E.Abderhalden, Fortschritte. I. 17 258 ! C.Frenzel. Acetylen unter dem Einflusse elektrischer Entladungen zu dem Schlusse kam, dal) die Cyanidsynthese durch intermediäre Carbidbildung zu erklären sei. An eine Prüfung dieser Hypothese durch Versuche in größerem Maß- stab konnte man zu jener Zeit schon darum nicht denken, weil Carbide damals sehr kostbare und schwer erhältliche Körper waren, die nur von Fall zu Fall im Laboratorium dargestellt wurden. Erst durch die Arbeiten von Moissan und Wilson wurde es möglich, Carbide, insbesondere das Caleiumcarbid im elektrischen Ofen in beliebiger Menge wohlfeil zu erzeugen. Im Jahre 1895 wurde in Nordamerika (Spray) die erste Oarbidfabrik errichtet und beinahe gleichzeitig ließ sich Wilson ein Verfahren patentieren, nach welchem Cyanide durch Einwirkung von Stickstoff auf die im elektrischen Schmelzofen erzeugten Erdalkalicarbide gebildet werden sollten. Trotzdem es Moissan nicht gelungen war, Stick- stoffabsorption auf diesem Wege zu erzielen, unternahmen es Frank und Caro zu Anfang des Jahres 1895, die Bedingungen festzustellen, unter welchen die Bindung des Stickstoffes durch Carbide erfolgt. Zu- nächst wurde ermittelt, daß Moissans Angaben dann zutreffen, wenn reines, genau der Formel CaC, entsprechendes, aus reinen Materialien im elektrischen Ofen hergestelltes Caleiumcarbid der Einwirkung von Stickstoff ausgesetzt wird. Erst durch einen gewissen Gehalt an freiem Kalk, den das Handelskarbid entweder von Haus aus besitzt oder aber durch Einwirkung des Wasserdampfes der Luft erlangt, wird es zur Auf- nahme von Stickstoff befähigt. Wir übergehen die Versuche der ersten Zeit. Erst in den Jahren 1897 und 1898 gelangen wichtige Entdeckungen. Es zeigte sich, daß durch Einwirkung von Stickstoff auf das Bariumcarbid gegen alles Erwarten nur ungefähr 30°/, des Carbides in Cyanid verwan- delt wurden, während der Rest unter Abscheidung von Kohle in das Baryumsalz des Cyanamides überging: BaC, + N ——> (CN), Ba >CN,Ba+C. Das Verhältnis zwischen Oyanid und Cyanamidsalz hing im übrigen ziemlich stark von der Korngröße des Carbides ab. Gute Zerkleinerung be- günstigte die Bildung des Cyanamids, wurde das Carbid in großen Stücken angewandt, so trat die Cyanidbildung in den Vordergrund. Für jedes Carbid sind andere Temperaturen nötig, für dasjenige des Baryums 700—800°, für Caleiumearbid 1000—1100°. Die Bemühungen Franks und Caros waren zu jener Zeit nur darauf gerichtet, einen lebensfähigen Cyanidprozeß unter Ausnutzung atmosphä- rischen Stickstoffes auszuarbeiten. Derselbe sollte in der Weise durchge- führt werden, daß, wie bereits früher erwähnt, das rohe Reaktionsprodukt, welches nur etwa 30°/, Baryumeyanid, im übrigen aber das Salz des Oyanamides enthält, durch Umschmelzen mit Soda vollständig in Cyanid umgewandelt und dann ausgelaugt wird. Dieses Verfahren wurde versuchsweise einige Zeit & R4 Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 259 in Billwärder bei Hamburg ausgeführt. Im Jahre 1901 bildete sich unter Führung der Firma Siemens & Halske, die sich auch schon in mannig- facher Weise mit der Frage der Stickstoffausnutzung befaßt hatte, die Cyanidgesellschaft in Berlin, an welcher anfangs auch die Deutsche Gold- und Silberscheideanstalt in Frankfurt a. M. beteiligt war. Die Bemühungen, Cyanide als die wertvollsten Stickstoffverbindungen darzustellen, wurden hauptsächlich dadurch gestützt, daß in der Mitte der neunziger Jahre durch den neu eingeführten Mac Arthur Forrest-Prozeß der Goldextraktion mittelst Uyanidlösungen die Nachfrage und der Preis für Ovankalium sehr gestiegen waren. Als infolge des Transvaalkrieges der Goldbergbau in Südafrika teilweise eingestellt wurde, trat ein Preissturz dieses Produktes ein, durch welchen die Uyanidgesellschaft veranlaßt wurde, ihre Aufmerksamkeit der Verbilligung und Verbesserung der Fabrikation zuzuwenden. Auf den Vorschlag Pflegers wurde das teure Baryumcarbid, welches bis dahin als alleiniges Ausgangsmaterial benutzt worden war, durch das billigere und leichter erhältliche Caleiumcarbid ersetzt. Dasselbe schien zwar anfangs weniger günstig zu sein, da es trotz anscheinend starker Stickstoffabsorption nur sehr geringe Mengen von Cyaniden ent- hielt. Es zeigte sich weiter, dal) bei entsprechend hohen Temperaturen auch das Caleiumcarbid befriedigend azotiert wird, daß aber hier die Bildung von Cyanmetall ganz zurücktritt und ausschließlich das Calcium- salz des Uyanamids erhalten wird. Dieses läßt sich aber ebenso leicht durch Umschmelzen mit Alkalisalzen unter Wiederaufnahme des abgeschiedenen Kohlenstoffes in Cyanmetall umwandeln, nur hat es sich als zweckmäßig gezeigt, in diesem Falle anstatt Soda Kochsalz als Umschmelzmittel anzu- wenden. Aus dem Rohprodukt wurde durch Mineralsäuren Cyanwasserstoff- säure in Freiheit gesetzt, abdestilliert, in den Vorlagen durch Alkali ab- gesättigt und diese Laugen schließlich in Vakuumapparaten eingedampft. Aus dem Handelscarbid mit einem Gehalt von 75—80°/, erhält man auf diese Weise eine durch Kalk und Kohle verunreinigte schwarzgefärbte Calciumeyanamidmasse mit 20—23°5°/, fixiertem Stickstoff, der beim nach- herigen Umschmelzen mit Chlornatrium zu 90—95°/, zur Cyanidbildung ausgenutzt wird. Dieses Verfahren wird gegenwärtig in industriellem Maistab, und zwar in einer Fabriksanlage bei Spandau ausgeführt. Die Umwandlung des Cyanamids in Cyanid ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden, weil das gebildete Cyanid die Tendenz zeigt, sich wieder in Cyanamid und Kohle zurückzuverwandeln, so daß besondere Vorrichtungen getroffen werden mußten, um nach Vollendung des Schmelzprozesses die Rückbildung hintanzuhalten. Diese Schwierigkeit wird aber gegenwärtig überwunden, so daß die Umwandlung in Cyanid beinahe quantitativ bewerkstelligt werden kann. Später zeigte sich, dab man mit Vorteil durch einen einfachen Aus- laugeprozel) aus dem Rohprodukt Dieyandiamid (CN. NH,),* gewinnt und dieses direkt durch Umschmelzen mit Soda in ein sehr reines wert- volles Handelseyankalium überführt werden kann. Ob diese Darstellung 17% 260 C. Frenzel. sich einen dauernden Platz in der Technik behaupten wird, ist wohl noch nicht sicher. Jedenfalls kann aber das erstrebte Ziel, Cyanverbin- dungen unter Zuhilfenahme von Luftstickstoff zu erzeugen, als gelöst an- gesehen werden. Als um die Mitte des Jahres 1901 die Deutsche Gold- und Silber- scheideanstalt aus der Cyanidgesellschaft ausschied, wurde der Betrieb nach Berlin verlegt und eine größere Versuchsstation in der elektro- chemischen Abteilung der Firma Siemens & Halske in Martinikenfelde errichtet. In dieser Periode der Entwicklung wurde zunächst die Herstellung des zur Azotierung notwendigen reinen Stickstoffes wesentlich verbessert. Die beigefügte Fig. 34 stellt einen Azotierungsofen dar, wie er heute in Fig. 34. Äupfer- Retortenofen dem großen Betrieb in Piano d’Orta verwendet wird. Der wesentliche Teil ist eine mit Füll- und Entleerungsvorrichtung versehene, ganz geschlossene hetorte, welche quer in einem gemauerten Ofen liegt. Sie wird mit Carbid- pulver beschickt und auf 700—1000° erhitzt, wobei unter lebhaftem Er- glühen Stickstoffaufnahme erfolgt. Ist der Azotierungsprozel) beendet, so läßt man die den Retorten entnommene Masse unter Luftabschluß erkalten und zerkleinert sie dann. Anfangs wurde der nötige Stickstoff in einem Ofen dargestellt, der gleich- falls in Fig. 34 abgebildet ist. Derselbe bestand aus Eisenretorten, die mit besonders präparierten Kupfergranalien gefüllt waren. Solche Vorrichtungen zu Batterien vereinigt gestatten einen kontinuierlichen Betrieb, indem die Beschickung abwechselnd Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 961 durch den Sauerstoff der Luft (Stickstoffgewinnung) oxydiert und dann durch entsprechende Gase, z. B. Wassergas, reduziert wird. An die Reinheit des Stickstoffs werden sehr hohe Anforderungen gestellt. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, dal) jeder Sauer- stoffgehalt einen durch Verbrennung verursachten Verlust an Material bedingt. Das gleiche gilt für Wasserdampf, aber auch für Kohlenoxyd und Kohlensäure; die letztgenannten Gase dürfen nur in sehr geringer Menge vorhanden sein, nachdem sie Carbid gemäß folgenden Gleichungen zerstören: Cal, +C0O=Ca0+3C; 2020, +00, =20a0 +5C, aber auch fertiger Kalkstickstoff wird unter Abscheidung von Kohlenstoff durch diese Gase zersetzt. Diese Umsetzungen kommen hauptsächlich in Fig. 35. Y TI REDRREEREHEREESEDIDHE DD. Y Te I TRIER u GZZZZZUER ZA . Azotierungsanlage. Betracht, wenn reiner Stickstoff nach folgendem Verfahren von Frank und Caro hergestellt werden soll: Die in einem Generator erzeugten Gase werden durch Sekundärluft verbrannt. Die Verbrennungsgase bestehen dann haupt- sächlich aus Kohlensäure und Stickstoff, denen wenig Kohlenoxyd, Sauer- stoff und Kohlenwasserstoffe beigemengt sind. Leitet man dieses Gas- gemisch durch Retorten, die mit Kupfergranalien und Kupferoxyd beschickt sind, so wird Sauerstoff vom Kupfer aufgenommen, während Kohlenoxyd und Kohlenwasserstoffe durch das Oxyd verbrannt werden. Man hat dann nur noch Kohlensäure zu absorbieren, um vollständig reinen Stickstoff zu erhalten. Hierzu die Fig. 35. Da das Verfahren der Trennung von Stickstoff und Sauerstoff auf dem beschriebenen Weg manche Unzuträglichkeiten aufweist, wurde teil- 262 C. Frenzel. weise dazu übergegangen, die Trennung der Bestandteile der Luft durch Verflüssigung derselben und fraktionierte Verdampfung nach Linde durch- zuführen. Wegen sehr hoher Carbidpreise war die Cyanidgesellschaft eine Zeit lang gezwungen, nicht von fertigem Carbid, sondern von den Bildungsbe- standteilen Kalk, Kohle und Stickstoff auszugehen. Es wurde ein von Siemens & Halske ausgearbeitetes und patentiertes Verfahren zur An- wendung gebracht, nach welchem jedoch ein Produkt mit nur etwa 12 bis 15°/, Stickstoff erhältlich war. Es ist seither unter dem Namen Siemens- masse bekannt geworden, während man das ursprüngliche, aus fertigem Carbid hergestellte wertvollere Produkt als Frank-Pfleger-Masse bezeichnet. Beide erhielten später den leichter verständlichen Namen „Kalkstickstoff“. Als durch Verbesserungen in der Carbidindustrie das Carbid wieder billiger wurde, kehrte man zu dem ursprünglichen Verfahren zurück. Fig. 36. PESLEIEIE PL Ammoniak NIS RN überk Damp NIN SÜN Vorrichtung zur Gewinnung von Ammoniak aus Kalkstickstoff. Von größter Bedeutung wurde es, dal) man nicht nur der Fabrikation der wertvollen Oyanverbindungen, sondern auch der Herstellung von im Handel niedriger bewerteten Stickstoffverbindungen Aufmerksamkeit zu- wandte. | Zunächst zeigte sich, daß der gesamte Stickstoff des Calciumeyan- amides leicht durch gespannten Wasserdampf in Form von Ammoniak er- hältlich ist: CN, Ca+3H,0=(CaC0, +2NH, oder CN,H; + 3H,0 = (NH, ) CO;. Ein Apparat, der diesem Zwecke dient, ist in Fig. 36 dargestellt. Er besteht aus einem unten geschlossenen Behälter, in welchem mehrere Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 263 Etagen zur Aufnahme der aus den Azotierungsöfen kommenden Masse an- geordnet sind. Überhitzter Wasserdampf strömt unten in den Behälter ein und streicht dann durch und über diese Hürden, wobei sich die früher ange- gebene Umsetzung in glatter Weise mit einem Verlust von höchstens 1°/, Stickstoff abspielt. Das entweichende Ammoniak wird, wie aus der Figur ersichtlich, von konzentrierter Schwefelsäure aufgenommen und fällt als kristallisiertes Ammonsulfat aus. Das Ammoniak, welches man auf diese Weise gewinnt, hat den Vorteil äußerster Reinheit. Die Ammoniakdarstellung aus Stickstoffkalk verursacht keine besonderen Kosten. Wird überhitzter Dampf auf letzteren zur Einwirkung gebracht, so bleibt auf den Hürden der gesamte für die Carbid- und Kalkstickstoff- fabrikation angewendete Kalk und ein Drittel der zur Carbidschmelze ver- wendeten Kohle in einer Form zurück, die neuerliche Verwendung dieser Materialien zur Carbiderzeugung zuläßt. Der weitaus bedeutendste Schritt in der Entwicklung der Frank- Caroschen Entdeckungen war der Vorschlag, das rohe Calciumeyanamid als Düngemittel zu verwenden. Dieser Gedanke wurde einerseits durch die eroße Leichtigkeit nahegelegt, mit welcher dieses Produkt seinen ganzen Stickstoff als Ammoniak abspaltet, andrerseits durch das gänzliche Fehlen von giftigen Cyaniden in der Reaktionsmasse. Vielfach ist befürchtet worden, es könnte aus dem zuerst entstehenden Cyanamid Dieyandiamid und aus diesem durch Wasseraufnahme das sehr ätzende Dieyandiamidin entstehen. Diese Besorgnis ist nur zum Teil begründet. Weiter hat sich gezeigt, dab die geringen Reste von Carbid, welche im Kalkstickstoff noch enthalten sind, dem Pflanzenwachstum durchaus nicht schaden, wie man anfänglich meinte. Eine große Reihe von Vegetationsversuchen, welche für die Verwend- barkeit des neuen Düngemittels allein entscheidend sein konnten, haben im großen und ganzen gute Resultate ergeben. Die ersten derartigen Ver- suche wurden von Wagner in Darmstadt und Gerlach in Posen!) in grober Zahl und unter den verschiedensten Umständen angestellt. Der Kalkstick- stoff zeigte sich dem Ammonsulfat an Wirkung nahezu äquivalent und daraus läßt sich wohl mit Sicherheit schließen, dal) die von Frank und Caro angenommenen Änderungen des Düngemittels im Boden tatsächlich statt- finden, d. h. daß unter dem Einfluß der Atmosphärilien zunächst Caleium- karbonat und freies Cyanamid entsteht und dieses dann weiter Ammoniak abspaltet. In letzter Linie wird letzteres dann durch Nitrifikationsbakterien in Salze der Salpetersäure umgewandelt, die für die Kulturpflanzen direkt assimilierbar sind. Dort, wo solche Bakterien fehlen, wie in sterilen Sand- und sauren Moorböden, zeigt dementsprechend Kalkstickstoff nur geringe Wirkung und diese erst nach längerer Zeit. !) Die Erfahrungen über diesen Gegenstand finden sich gesammelt in M. P. Neu- mann: „Der Stickstoffkalk* und: „Neue Erfahrungen über die Düngung mit Stick- stoffkalk*. 264 C. Frenzel. Die günstigsten Bedingungen der Verwendung von Kalkstickstoff sind nach Frank die folgenden: Man rechnet pro Hektar je nach der Beschaffen- heit des Bodens 150—300 kg des Düngemittels, die zweckmäßig mit dem doppelten Quantum Erde gemischt und 8—14 Tage vor der Aussaat aus- gestreut werden. Es empfiehlt sich, um Verlusten an dem entstehenden Ammoniak vorzubeugen, den Dünger gleich nach Aufbringen durch Ein- pflügen oder Einhacken 8-—-12 cm tief mit dem Boden zu vermischen. Es möge noch hervorgehoben werden, daß die Öyanidgesellschaft auch ein Patent auf Entfernung überschüssigen Caleiumcarbids aus dem Kalk- stickstoff erworben hat. Auf diese Weise soll ein hochstickstoffhaltiges Düngemittel geschaffen werden, welches den Vorzug geringeren Kalkgehaltes hat. Letzterer ist unter Umständen abträglich, so z.B. bei Herstellung von Mischdünger mit Superphosphaten oder bei schon sehr kalkreichen 3öden. Es läßt sich nicht leugnen, daß dem Kalkstickstoff gewisse Mängel anhaften, die dem Luftsalpeter heute ein gewisses Übergewicht sichern. So wird vor allem auf die späte Wirkung der Düngung, das Versagen in manchen Fällen, seine vollständige Unbrauchbarkeit als Kopfdünger, schäd- liche Wirkungen in einzelnen Fällen usw. hingewiesen, und überdies be- tont, daß der penetrante Geruch und das starke Stauben des schwarzen Pulvers, welches leicht Augenentzündungen hervorruft, seine Anwendung beeinträchtigen. Nach Untersuchungen von I/mmendorf und Kempski scheint es übrigens, daß das Calziumeyanamid selbst sowie auch Spaltungsprodukte desselben Pflanzengifte sind. Die Anwendbarkeit als Düngemittel gründet sich darauf, daß alle diese Stoffe mit Ausnahme von Dieyandiamid sehr unbeständig sind und leicht und rasch im Erdboden unter Bildung von Ammonsalzen zerfallen. Während der kurzen Zeit ihres Bestehens werden sie durch die Absorptionskräfte des Erdbodens festgehalten und dadurch für die Pflanzen unschädlich gemacht. In tonarmen Sand- und Humus- böden tritt diese Giftwirkung auch tatsächlich auf, während in Böden mit grober Absorptionskraft sehr gute Wirkungen erzielt werden. Daraus er- gibt sich auch ferner die Notwendigkeit, das Düngemittel zeitig genug an- zuwenden, damit die Oyanamidverbindungen Zeit genug finden, die Um- wandlung in Ammoniak zu vollziehen. Schließlich sollen namentlich bei feuchter Witterung sehr be- trächtliche Verluste an Ammoniak eintreten. Eine Entscheidung über den Wert und die Anwendbarkeit wird wohl erst die Erfahrung einiger Jahre bringen. Es ist beinahe naheliegend, daß der Einführung eines künstlichen Dünge- mittels, das mit allen bisher benutzten eine so geringe Ähnlichkeit besitzt, ein gewisses Mißtrauen entgegensteht und nur viele Versuche und Beleh- rung der beteiligten Kreise über dieses Hindernis hinweghelfen können. 3ezeichnend in dieser Richtung ist die Tatsache, daß zur Zeit der Einfüh- rung der Staßfurter Kalisalze in den Landwirtschaftsbetrieb die Chlor- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 265 verbindungen des Kaliums für schädlich erklärt wurden und der Chilisal- peter anfänglich in den Kontrakten der Rübenlieferanten geradezu unter- sagt war. Jedenfalls scheint die Cyanidgesellschaft große Erwartungen zu hegen, wie dies aus ihren Gründungen hervorgeht, in welchen gegenwärtig nach N. Caro schon mehr als 100 Millionen Mark investiert sind. Abgesehen von der in Berlin betriebenen Versuchsanlage mit einer Jahreserzeugung von 500 7, wurde die erste größere Fabrik in Piano d’Orta in den Abruzzen errichtet, die gegenwärtig 4000 Z produziert. Dann folgten größere Be- triebe in Dalmatien (Sebenico) mit Ausnutzung der Kerkafälle (20.000 HP.), in Almissa (25.000 HP.), in Terni und Papigno, Martieny im Rhonetal, Briancon am Genfersee; 1907 wurde die Wasserkraft der Brahe im Osten Deutschlands nutzbar gemacht für die Erzeugung von ca. 3000 £; im glei- chen Jahre wurde eine Anlage für 18.000 £ unter Ausnutzung des Laufes der Alz von Altenmarkt bis Tacherting projektiert, weiter eine Ausnutzung der Rheinwasserkraft für etwa 1 Million HP. usw. Deutschland hat gegenwärtig schon mehr wie zehn große Betriebe, die sich mit der Erzeugung von Kalkstickstoff befassen. Die Gesamt- erzeugung aller Länder im Jahre 1908 hat schätzungsweise 45.000 t be- tragen. Es möge noch darauf hingewiesen werden, daß durch die billige und bequeme Darstellung von Uyanamid ein wichtiges Hilfsmittel für die Syn- these organischer Stoffe gegeben wurde. Durch Wasseraufnahme geht es nach der Gleichung: CN,H, +H,0=CO(NH,), in Harnstoff über. Durch Vereinigung mit Sarkosin kann man Kreatin, ferner Guanidin usw. darstellen. Auch sonst hat das Cyanamid selbst und seine Derivate schon tech- nische Anwendung gefunden; so ist das Dieyandiamid und seine Salze als kühlender, d.h. die Verbrennungstemperatur herabmindernder Zusatz bei Explosivstoffen und Schießpulver in Vorschlag gebracht worden. Durch seinen hohen Stickstoffgehalt gibt es bei der Verbrennung im Geschütz sehr starke Drucke, während es abweichend von den mehr Kohlen- stoff und Wasserstoff enthaltenden anderen Bestandteilen der Explosiv- stoffe bei seiner Zerlegung nur geringe Wärme erzeugt. Bei Pulver- mischungen kann auf diese Weise das Mündungsfeuer stark vermindert und die rasche Zerstörung des Rohres hintangehalten werden. In seiner eben angegebenen Wirkung übertrifft es das gewöhnlich gebrauchte Am- monoxalat. Eine Reihe von Derivaten des Cyanamids, wie Nitrodieyan- diamidin, Harnstoff, Guanidin und dessen Salze, werden gleichfalls schon in dem Betrieb bei Spandau fabrikatorisch hergestellt. Der Kalkstickstoff enthält freien Kohlenstoff in Form von Graphit; darauf gründet sich die Verwendung als Härtungsmittel, das unter dem Namen Ferrodur bereits seit längerer Zeit Anwendung findet. Es vermag 266 C. Frenzel: mit Flußmitteln gemengt dem Eisen Kohlenstoff zuzuführen und hat sich bei der Erzeugung von Werkzeugstählen, Gesteinsbohrern, Panzerplatten usw. auf das beste bewährt. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob sich die Cyanidgesellschaft für die Herstellung und Verwendung von Cyanverbindungen aus Caleium- carbid ein Monopol schaffen würde. Sie erwarb nicht nur alle Patente, sondern ließ sich auch die Verwendung ihres Rohproduktes als Dünge- mittel schützen. Dazu ist es aber nicht gekommen; der „Gesellschaft für Stickstoffdünger“ zu Westeregeln wurde ein von Polzenius ausgearbeitetes Verfahren patentiert, demzufolge sich sehr wesentliche Vorteile erzielen lassen, wenn man dem Carbid vor seiner Azotierung geringe Mengen von Chloriden der Alkalien, Erdalkalien oder anderer Metalle zusetzt. Ins- besondere eignet sich Chlorcaleium. Ein Gemisch von 62 9 Carbid und 18 Caleiumchlorid ergibt im Ofen ein Produkt, das infolge Stickstoffauf- nahme 100 g wiegt und welches auf das angewendete Carbid als den wert- vollen Ausgangsbestandteil bezogen rund 30°/, Stickstoff enthält gegen 20°/, beim Frank-Caro-Verfahren. Nach den Angaben, die von Vertretern der Gesellschaft gemacht wurden, setzt man dem Carbid 10—15°/, Chlor- caleium zu und außer einer kräftigeren Azotierung hat dieses Verfahren den großen Vorteil, daß die Stickstoffaufnahme schon bei 700—750° äußerst lebhaft vor sich geht, während bei Verwendung von reinem Kar- bid Temperaturen von rund 1000° zur Einleitung der exothern verlaufen- den Reaktion !) notwendig sind („Stickstoffkalk“). Die Zusammensetzung der in den Handel kommenden Produkte ist nahe dieselbe: Stiekstoffkalk Kalkstickstöff Stuckstoifur 2... 2.20.8225 200,R 20 21% Caleium .. a 40—42°/, Kohlenstoff 7 ‚Ir. nr BIN, 17—18°/, Chlor m N ne DRIN 6:53, — Verunreinigungen . . . . 3:05 19— 23%, Auch andere Zusätze wirken ähnlich, so Oxyde, Karbonate, insbeson- dere Fluoride. Allerdings ist dies nicht in so hohem Maße der Fall und speziell ist trotz entgegenstehender Patente die Azotierung bei Zusatz von Fluo- riden viel geringer als die durch Chlorcaleium hervorgerufene. Nur bei viel höheren Temperaturen von etwa 900° kommt ihre Wirkung dem Chlorealeium gleich. Eingehende theoretische Untersuchungen von Förster, Bredig und deren Schülern haben zunächst einmal die vorherzusehende Gesetzmäßigkeit bestätigt, daß die Geschwindigkeit, mit welcher Stickstoff aufgenommen wird — die Reaktionsgeschwindigkeit — dem jeweils herr- schenden Druck proportional ist; die Wirkungsweise der früher erwähnten !) Es wird die „Initialzündung“ (man könnte ebenso gut sagen Reaktionstempe- ratur) herabgedrückt. au Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs, 267 Zusätze konnte jedoch trotz mehrerer gründlicher Arbeiten über diesen Gegenstand bis heute noch nicht mit Bestimmtheit gedeutet werden. Es mögen nur einige wenige Angaben gemacht werden, welche die Kompliziertheit des Problems illustrieren. Zunächst einmal wäre hervorzu- heben, daß im allgemeinen die Azotierung um so weitgehender erfolgt, je höher die Temperatur ist. Es kann sich dabei offenbar nicht um die Ver- schiebung einer Gleichgewichtslage handeln, da die Cyanamidbildung exotherm verläuft und demnach Erhöhung der Temperatur ungünstig wirken müßte. Ein Zusatz von 15°/, Chlorcaleium bedingt schon bei 700° eine etwa siebenmal so reichliche Aufnahme von Stickstoff, als wenn in der gleichen Zeit die Azotierung bei 800° ohne jeden Zusatz vorgenommen wird. Es handelt sich jedoch durchaus nicht um eine Vergrößerung der Reaktions- geschwindigkeit, wie man eine solche bei Erhöhung der Temperatur oder Zusatz von Katalysatoren beobachten kann, sondern um eine Verminderung der Reaktionswiderstände; dafür spricht die von Förster gemachte Er- fahrung, daß man den Höchstgehalt an Stickstoff im Betrag von 23—24°/, überhaupt nicht erreicht, wenn die Azotierung bei Temperaturen unter 1100° ohne Zusatz durchgeführt wird. Es strebt dann vielmehr bei lange fortgesetzter Einwirkung von Stickstoff die Umsetzung einem mit der Tem- peratur stark abnehmenden Grenzwert zu. Daß katalytische Einflüsse kaum in Betracht kommen, zeigt auch die Tatsache, daß eine Vermehrung des Chlorcaleiumzusatzes über eine gewisse Grenze hinaus keine Vermehrung der Wirkung erkennen läßt, ja bei Fluor- caleium zeigt sich unter diesen Umständen sogar eine Abnahme des gün- stigen Einflusses, wie aus folgender von Förster und Jacoby mitgeteilten Tabelle hervorgeht: a En Een. Bann nu nu Tun ae ne nn un me rn) 2 | Am 0/, N im entstandenen Temperatur 0 Ca Fl, | Produkt nach 2 Stunden | 1 2:6 2 8 800° = 18 > (0 10 5°9 1 219 | 2) 29-3 900° ei A h ) 208 10 175 | 860° | = 175 | 10 149 Bredig hat sich bemüht, alle in Betracht kommenden Erklärungsmög- lichkeiten zu prüfen. Er findet in Übereinstimmung mit Förster, dab die von Nernst zuerst gemachte Annahme die plausibelste ist. Derselben zufolge 268 C. Frenzel. fungiert ein wirksamer Zusatz als Lösungsmittel, führt also ein Flüssig- werden der Ofenbeschickung herbei und ermöglicht auf diese Weise eine lebhafte Einwirkung des Stickstoffs. Es ist also wahrscheinlich, daß das entstehende Caleiumeyanamid eine feste Deckschichte bildet, welche das übrige Carbid vor weiterer Einwirkung von Stickstoff schützt und der Effekt von Zusätzen lediglich darin besteht, daß) die Erweichungstemperatur der Deckschichten herabgesetzt wird. Dafür spricht der Umstand, daß die Produkte gesintert sind und weiter die Erfahrung, daß Chlorealeium mit einem Schmelzpunkt von 780° sich viel wirksamer erweist als Fluorealeium mit einem solchen von 1330°. Auf die Einwände, die sich gegen diese Erklärung erheben lassen, soll nicht näher eingegangen werden, dagegen sei schließlich noch hervor- gehoben, daß nach einem Patent der COyanidgesellschaft ein Zusatz von 10°/, rohem Caleiumeyanamid ähnlich günstige Wirkungen hervorbringt und gegenüber anderen Stoffen den Vorteil hat, daß ein Produkt erhalten wird, welches keine fremden Bestandteile enthält. Im Anschlusse an das Verfahren von Polzenius mögen noch einige Angaben von Caro über den Verlauf des Azotierungsprozesses Platz finden. Denselben zufolge sind sehr hohe Hitzegrade ungünstig, indem bei Tem- peraturen über 1360° gebildetes Cyanamid wieder rückwärts in Carbid und Stickstoff zerfällt. Infolgedessen gelingt es nicht, das aus dem elek- trischen Ofen kommende glühende Carbid direkt zu azotieren. Es muß abgekühlt werden, um Stickstoff aufnehmen zu können. Für die Durch- führung des Prozesses kommt noch sehr in Betracht, daß die Cyanamid- bildung, wie bereits erwähnt, exotherm, d.h. unter bedeutender Wärme- entwicklung verläuft ; letztere zeitigt große Nachteile, wenn der Vorgang in von außen geheizten Retorten sich abspielt. Es kommt zu einer Über- hitzung der Retortenwände und demgemäß zu einem sehr starken Ver- schleiß von Gefäßmaterial. Nur durch ständige Bewegung des zu verar- beitenden Carbides, also Vermengung der äußeren sehr heißen mit den inneren kalten Anteilen können diese Übelstände bis zu einem gewissen (srade behoben werden. Es hat sich als am vorteilhaftesten erwiesen, die Erhitzung des Car- bides in der Masse selbst vorzunehmen; so wird die in der Reaktionszone entwickelte Wärme auf die nächsten Carbidteile übertragen und werden diese auf die Reaktionstemperatur erhitzt. Gegenwärtig verfährt man so, daß das Carbid in zerkleinertem Zustand in ein wärmeisoliertes Gefäß gebracht und von innen durch einen elektrisch geheizten Kohlenstab unter gleich- zeitiger Zuleitung von Stickstoff erhitzt wird. Nach einer gewissen Zeit, wenn die Peripherie des erhitzten Gemisches eine ausreichende Größe er- langt hat, wird die Erhitzung unterbrochen; die Reaktion schreitet dann von selbst weiter, bis die ganze Masse durchazotiert ist. Nach Caros An- gaben erübrigt dieses Verfahren die Anwendung von Zusatzmitteln, welche die Anfangstemperatur der Reaktion herabsetzen. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 269 Wenden wir uns nun der Wirtschaftlichkeit des Verfahrens zu, so sei hervorgehoben, daß nach theoretischer Berechnung durch ein Pferde- kraftjahr die zur Bindung von 772 kg Stickstoff nötigen Mengen von Cal- eiumcarbid erzeugt werden. Das praktische Resultat bleibt freilich mit der im besten Fall erzielten Bindung von 300—330 kg Stickstoff weit zurück; diese Ausbeute repräsentiert das Stickstoffäquivalent von 2000 kg Chili- salpeter oder 1600 k%y Ammonsulfat. Vergleicht man dieses Resultat mit den Ergebnissen der Stickstoffverbrennung, so stellt sich das Frank-ÜCaro- sche Verfahren weit günstiger; denn nach den bis jetzt bekannt gewor- denen Erfahrungen rechnet man bei elektrischer Verbrennung des Stick- stoffs auf ein Ausbringen von 600 kg Salpetersäure entsprechend 133 kg Stickstoff. Man erzielt also nach dem Frank-Caroschen Verfahren durch die gleiche Energiemenge etwa 2!/,mal so viel gebundenen Stickstoff wie durch dasjenige von Därkeland und Eyde. Diese Zahlen sind jedoch für die Rentabilität durchaus nicht entscheidend. Die Erzeugung von Salpeter durch Stickstoffoxydation erfordert außer elektrischer Energie nur die allerbilligsten Materialien, nämlich Kalk und Wasser. Die Erzeugung von Kalkstickstoff dagegen ist entweder an das Vorhandensein von Kohle gebunden oder aber muß sie von fertigem Carbid ausgehen, dessen je- weiliger Preis sehr stark in die Wagschale fällt, wie die Geschichte der Frank-Caroschen Erfindungen gezeigt hat. Dazu kommt noch. dal) der erforderliche Stickstoff aus der atmosphärischen Luft sorgfältig isoliert werden muß. Der geringe Kraftverbrauch ist demnach gewiß nicht maßgebend für die Rentabilität, aber er spielt in anderer Hinsicht eine große Rolle. Während die Luftverbrennung bei ihrem sehr großen Energiebedarf an das Vorhanden- sein bedeutender und sehr billiger Wasserkräfte gebunden ist, ist das Kalk- stickstoffverfahren sehr anpassungsfähig. Diese Industrie hat sich auch an solchen Orten als lebensfähig bewährt, wo Wasserkräfte nicht so billig zu haben sind wie in Norwegen oder den Alpen und dieser Umstand ermög- lichte die Errichtung von Fabriken sogar dort, wo die Kraft durch Ver- brennung von Braunkohlen gewonnen werden muß. Caro hat insbesondere darauf hingewiesen, daß die Verarbeitung der Waschberge nach dem Mondgasverfahren und die von ihm und Frank vorgeschlagene Ausnutzung der Torfmoore nach dem Vergasungsverfahren enorme kostenlose Überschüsse an Gas ergibt, welches zur Verwendung in (rasmaschinen und damit zur Erzeugung von Elektrizität besonders gut geeignet ist. Bei der Verarbeitung von einer Tonne Torf nach dem Vergasungs- verfahren werden im Durchschnitt 30 kg (zuweilen bis 70 kg) schwefel- saures Ammoniak aus dem im Torf selbst enthaltenen Stickstoff gewonnen. Außerdem wird aber soviel Kraft erhalten, daß man damit noch 15 /g Stickstoff in Form von Kalkstickstoff binden kann. Dagegen hat die Erzeugung von Kalkstickstoff mit dem Umstand zu rechnen, daß der Stickstoff im Salpeter viel höher zu bewerten ist als 270 C. Frenzel. im Ammoniak oder Ammonsulfat. Die Versuche, Ammoniak durch direkte Oxydation in Salpetersäure bzw. deren Salze zu verwandeln, haben bisher wenigstens noch keine befriedigenden Resultate ergeben. Gerade für die Kalkstickstoffabrikation wäre ein leicht durchführbares Oxydationsverfahren von sehr hohem Wert, um die bei der Lindeschen Fraktionierung ver- flüssigter Luft abfallenden, großen Mengen reinen Sauerstoffs an Ort und Stelle rationell ausnutzen zu können. Das von W. Ostwald angegebene Ver- fahren, bei welchem es sich um Oxydation von Ammoniak durch Luft bei Gegenwart von Katalysatoren handelt, soll heute allerdings zu den besten Hoffnungen berechtigen. Die Einzelheiten dieses Verfahrens werden ge- heim gehalten; im wesentlichen beruht es darauf, daß durch Anwendung von passenden Katalysatoren Ammoniak durch Luftsauerstoff zu Salpeter- säure oxydiert wird. Als geeignete Substanzen kommen Platin als kompaktes Metall, Iridium, Rhodium etc., ebenso aber auch ein Gemisch von Tellur- und Öeroxyd in Betracht. Dieser Prozeß, welcher ohne äußeren Energie- aufwand verläuft, wird unter Anwendung des Gegenstromprinzips so aus- geführt, daß das zuströmende Ammoniakluftgemisch die Temperatur des Katalysators automatisch reguliert. Es wird gegenwärtig in industriel- lem Maßstabe auf der Zeche „Lothringen“ in Westfalen betrieben und die Errichtung einer größeren Anlage ist geplant. Es möge noch Erwähnung finden das Verfahren von Fr. Bayer & Üo., bei welchem die Oxydation des Ammoniaks durch Luft bei Gegenwart eines Gemisches von Eisen- und Kupferoxyd (geröstetem Pyrit) stattfindet. Die Ausbeuten sollen recht befriedigend sein. Ein sehr interessantes Verfahren ist das der beiden französischen Forscher A. Müntz und Laine. Demselben zufolge soll die bekannte Nitri- fikationstätigkeit der Bakterien, welche in den Salpeterplantagen früher ausgenutzt wurde, zur Oxydation des Ammoniaks in großem Stile herange- zogen werden. Das Verfahren besteht darin, daß Torf mit einem Kalkzu- satz mit nitrifizierenden Bakterien geimpft und dann mit einer Lösung von schwefelsaurem Ammoniak getränkt wird. Der Prozeß) verläuft so aubßer- ordentlich schnell, daß pro Kubikmeter in 24 Stunden 65 kg Salpeter er- halten wurden. Es darf nur mit verdünnten Ammonsulfatlösungen gear- beitet werden, was einer wirtschaftlichen Durchführung des Verfahrens wohl recht hinderlich ist. Zu einem Konkurrenzkampf der beiden Verfahren der Stickstoff- aktivierung dürfte es bei dem ungeheuren Bedarf an gebundenem Stick- stoff nicht kommen. Jede der beiden Industrien wird sich ihren Absatz sichern können. Ja es ist sogar darauf hingewiesen worden, dal) vielleicht einmal beide Verfahren Hand in Hand arbeiten werden. Das Bindeglied würde durch den Umstand gegeben sein, dal) einerseits die Erzeugung von Kalkstickstoff an die Herstellung von beinahe chemisch reinem Sauerstoff gebunden ist und andrerseits die Stickstoffverbrennung durch Herstellung eines sauerstoffreicheren Gemisches zu wesentlich besseren Ausbeuten ge- langen könnte. In dieser Hinsicht würde also die Verflüssigung und frak- Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. 271 tionierte Destillation der atmosphärischen Luft den Mittelpunkt der ge- samten Stickstoffindustrie bilden. Weiters könnten die Salpetersäure des Birkeland- und Eydeschen Verfahrens, mit dem Ammoniak des Frank- Caroschen Prozessses vereinigt, das für viele Industrien äußerst wert- volle Ammonnitrat geben, welches sich leicht und ohne Ballast transpor- tieren läßt. Es ist nicht zu leugnen, daß wir erst am Anfang einer Entwicklung stehen. Jede Aussage über den ferneren Verlauf dieses Prozesses kann in An- betracht des ungeheueren Konsums an gebundenem Stickstoff nichts weiter sein als eine vage Vermutung, denn wie weit sich die neuen Industrien noch verbessern lassen, ist ja vorläufig nicht abzusehen, vielleicht werden sie beide aus dem Felde geschlagen durch neuere, vollkommenere Ver- fahren. Rechnen wir mit dem bisher Erreichten, so ist zunächst zu betonen, daß) es schwer möglich sein wird, die enormen Energiemengen aufzutreiben, welche zur Bindung des Stickstoffs nötig sind, den Landwirtschaft und Industrie brauchen. ©. Witt hat berechnet, daß alle Wasserkräfte Europas — es kann sich natürlich nur um eine angenäherte Schätzung handeln — nicht ausreichen, um den Weltbedarf nach dem Verfahren von Birkeland und Eyde zu decken. Deutschland allein brauchte gegenwärtig etwa 800.000 HP.. um seinen Konsum an gebundenem Stickstoff im Betrag von rund 600.000 £ Chilesalpeter auf diesem Wege zu erzeugen. Es würden demnach die gegenwärtig in Norwegen für die Erzeugung von Kalksalpeter in Aussicht genommenen 400.000 HP. nicht genügen, um Deutschland allein zu versorgen. Dabei ist nicht zu vergessen, dab nach den Erhebungen ernst zu nehmender Aerikulturchemiker Deutschland bei noch rationel- lerem Betrieb seiner hoch entwickelten Landwirtschaft das zwei- bis drei- fache Quantum an gebundenem Stickstoff aufnehmen könnte. Alle Wasser- kräfte einem und demselben Zweck dienstbar zu machen, ist ja aber wohl unmöglich. Denn in gleicher Weise wie die Stickstoffbindung sind ja auch andere Industrien und Betriebe an das Vorhandensein billiger Energie- quellen angewiesen. Es sei nur an die elektrische Stahlerzeugung, die Berg- bahnen usw. erinnert. Allerdings stehen ja heute auch noch andere wohl- feile Kraftquellen zur Verfügung, wie die Torfmore und Gichtgase, deren Ausnutzung, wie hervorgehoben, schon angebahnt ist. Ist somit die Stick- stofffrage nach einer Seite gelöst, indem verschiedene wirtschaftlich durchführbare Methoden der Stickstoffbindung gefunden wurden, so ist es Aufgabe der nächsten Zeit, dieses Problem auch nach der Seite des Kraftbedarfes zu bearbeiten, sonst wäre ja das bisher Erreichte von ver- hältnismäßig beschränktem Wert. Diese Aufgabe ist nach dem Gesagten entweder so aufzufassen, dal) an den bisherigen Verfahren Verbesserungen im Sinne eines geringeren Kraftbedarfes vorgenommen oder aber so, dal) neue bedeutende Energiequellen erschlossen werden. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß die Einfuhr von Chilesalpeter nicht plötzlich aufhören kann und wird, auch wenn die Erzeugung von künstlichen Düngemitteln mit Riesenschritten sich weiter entwickeln sollte. 973 C. Frenzel. Die Nutzbarmachung des Luftstickstoffs. Die chemische Industrie wird auf ihre Erfolge stolz sein können, wenn sie zu einer Zeit, da die chilenischen Salpeterlager vollständig erschöpft sind oder die Ausbeutung derselben sich zu schwierig gestaltet, es so weit ge- bracht hat, den Stickstoffbedarf ganz aus eigenem zu decken. Wichtigste Literaturnachweise: a) Über die Bildung von Kalkstickstoff. Zeitschr. f. angew. Chemie, 16 (1903), S. 520, 533, 536, 658, 753; 19 (1906), S. 888; Zeitschr. f. Elektrochemie, 1906, S. 551. b) Über die Wirkung von Zusätzen bei der Caleiumeyanamidbildung: ‘örster und Jacoby, Zeitschr. f. Elektrochemie, 13, S. 101; 15, S. 820. Bredig, Zeitschr. f. Elektrochemie, 1907, S. 69. Bredig, Fraenkel und Wilke, Zeitschr. f. Elektrochemie, 1907, S. 605. Kühling, Berichte d. deutsch. chem. Ges., 40 (1907), S. 310. Rudolphi, Zeitschr. f. anorg. Chemie, 54 (1907), S. 170. Die kretinische Degeneration (Kropf, endemischer Kretinismus und Taubstummheit) in ihrer Be- ziehung zu anderen Wissensgebieten. Von E. Bircher, Aarau. Selten hat ein Krankheitsbild so reichhaltige Beziehungen mit zahl- reichen anderen Gebieten der Naturwissenschaft wie die Kropfkrankheit. Ebenso selten sind aber diese Beziehungen von den Vertretern der anderen Wissensgebiete so wenig gewürdigt worden wie gerade bei dieser Krankheit. Während heute nicht nur bei Ärzten, sondern bei zahlreichen Laien eine emsige Tätigkeit zur Bekämpfung vieler Krankheiten herrscht, ich möchte nur an die Infektionskrankheiten, an Krebs und Tuberkulose erinnern, so finden sich nur vereinzelt da und dort Anläufe, die gegen die Kropfkrankheit oder, besser gesagt, gegen die ganze kretinische Degeneration ge- richtet sind. Es ist begreiflich, daß der Kampf gegen diese ganze Affektion nicht so energisch wie gegen die angeführten Krankheitsbilder geführt wird: treten doch die Zeichen der kretinischen Degeneration nicht in so augenfäl- liger und plötzlicher Weise in Erscheinung, wie dies z. B. bei der Tuberkulose oder den Infektionskrankheiten der Fall ist. Schleichend befällt die Affek- tion den Menschen , in den Jugendjahren setzt sie ein. Wohl macht sie bei dem einen nur leichte Zeichen. Er bekommt einen Kropf, den anderen trifft eine Wachstumshemmung, dem dritten aber wird sein Gehirn ver- ändert, der vierte wird taubstumm, es stellt sich Blödsinn bei ihm ein. Jahre können vergehen, ehe sich die ersten Zeichen bemerkbar machen. und dann ist es für die Heilung zu spät. Es gibt keine Heilung, es gibt nur einen Stillstand in der Krankheit. Aber nicht nur einzelne werden da- von betroffen, sondern über ganze Länderstriche herrscht wohl seit Jahr- hunderten und Jahrtausenden die kretinische Degeneration und ist im- stande, ihre Zeichen in mehr oder minder starkem Grade der ganzen Be- völkerung aufzudrücken und so die Rasse nicht nur zur körperlichen, sondern auch geistigen Degeneration zu bringen. Daneben bestehen noch andere nicht geklärte Beziehungen zu anderen Organen. Es sei nur an das immer mehr in den Vordergrund tretende Kropfherz erinnert. E. Abderhalden, Fortschritte. II. 18 274 E. Bircher. Nicht genug zu beklagen sind die national-ökonomischen Folgen der kretinischen Degeneration, die sowohl in der verminderten körperlichen Leistungsfähigkeit der betroffenen Personen sich geltend macht, als auch imstande ist, die Armenlasten in den betreffenden Gegenden wesentlich zu vermehren. Nicht zu vergessen ist. daß die Wehrkraft der Länder wie auch die Schlagfertigkeit der Heere wesentlich durch die Krankheit be- einträchtigt werden kann. Alle diese Zeichen machen sich nicht plötzlich bemerkbar, sondern treten erst im Verlaufe vieler Jahre in Erscheinung und werden darum nicht genügend gewürdigt. Die Ursachen der Krankheit kennen wir teilweise, was aber bei weitem wichtiger ist, wir sind imstande, durch geeignete Maßnahmen die Krank- heit zu verhüten und einzudämmen. Folgende Zeilen sollen über die oben erörterten Punkte Auskunft geben. Definition. Unter dem Begriffe der kretinischen Degeneration verstehen wir das- jenige Krankheitsbild, das sich in drei verschieden stark auftretenden Krankheitsformen, dem Kropfe, der Taubstummheit und dem Kretinismus, äußern kann und an bestimmte Bodenformationen gebunden ist. Jedes dieser drei Bilder kann für sich allein vorkommen, häufig ist dieses Ver- halten für die beiden letzteren jedoch nicht. In der Mehrzahl der Fälle finden sich immer Übergänge von einer Gruppe in die andere. Für sich allein kann am häufigsten noch der Kropf vorkommen, aber auch hier finden sich bei näherem Zusehen Merkmale und Zeichen, die zum Kreti- nismus und der Taubstummheit führen. Kropf. Unter dem Kropfe kann bei dem Begriffe der kretinischen Degeneration nicht jeder Kropf angenommen werden. Beim Laien werden nur diejenigen Leute gemeinhin als Kropfige bezeichnet, bei denen sich am Halse eine deutliche geschwulstartige, krankhafte Bildung findet. Unter dem endemischen Kropfe muß jede Vergrößerung der Schilddrüse ver- standen werden, die über die normalen Größen und Gewichtswerte hmausgeht. Die normalen Werte schwanken in den Angaben der verschiedenen Autoren. Im allgemeinen dürften die Zahlen de Quervains das richtige treffen, der als untere 20 g, als obere Grenze 40—50 g angibt, Zahlen, die auch wir an zahlreichen Leichenbefunden erheben konnten. Die Größe der seitlichen Lappen dürfte in der Norm 5 cm Länge, 3 cm Breite und 2 cm Höhe betragen. Beim Kropf und bei den Schilddrüsen in den Kropfgegenden werden diese Zahlen bei weitem übertroffen. Wir selbst haben einen Kropf ent- fernt, der 35 kg gewogen hat und der Halsumfang horizontal 76 cm, ver- tikal um den Kropf 75 cm betrug (Fig. 37). In der Regel finden sich aber kleinere Kröpfe bis zu Apfelgröße in den Kropfgegenden am zahlreichsten vorhanden. Der Typus eines Kropfes, Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 9275 wie ihn unsere Fig. 38 darstellen soll, ist in unserer Gegend nicht selten. Nicht alle Kröpfe können gesehen werden, viele liegen hinter dem Brust- bein, viele sind nur der palpierenden Hand zugänglich und bei den meisten Sektionen in Kropfgegenden findet sich eine kropfige Veränderung der Schilddrüse. Die Kröpfe können knotige Geschwülste bilden oder eine gleichmäßige Vergrößerung der gesamten Schilddrüse darstellen. Von diesen durch endemische Ursachen bedingten Kröpfen sind strenge jene Formen abzutrennen, die durch sexuelle Ursachen, wie Men- struation und Schwangerschaft, durch Infektionskrankheiten, wie In- fluenza etc., verursacht sind. Hierher gehören auch nicht die sicher auf neurotischer Grundlage entstandenen Vergrößerungen der Schilddrüse bei der Morbus Basedowii (Glotzaugenkrankheit). Statistik der Kropfkrankheit Fig. 37. Fig. 38. vide unten. Auch bei Tieren verschiedener Gattung ist Kropf beobachtet worden. Taubstummheit. Zu dieser rechnet man die Leute, welche infolge angeborenen oder frühzeitig erworbenen Defektes des Hörvermögens die Sprache in der gewöhnlichen Weise nicht erlernt haben oder den bereits erworbenen Sprachschatz wieder verloren haben. Als Ursachen der Taub- stummheit können verschiedene Momente in Betracht kommen. Es ist be- kannt, daß das Bild der Taubstummheit sehr häufig auf hereditär ererbter Grundlage beruht. Zahlreich sind aber nach Bezold auch diejenigen Leute, bei denen die Taubstummheit sich an Infektionskrankheiten (wie Gehirn- entzündung, Scharlach, Mittelohreiterung) anschloß. Alle diese Taubstummenformen kommen für uns nicht in Betracht. Durch H. Bircher ist seinerzeit der Begriff der endemischen Taub- 18* 276 E. Bircher. stummheit auf statistischem Wege in die Wissenschaft eingeführt wor- den. Es hatte sich gezeigt, daß die dichtesten Taubstummenherde mit den Kropfgebieten zusammenfallen, daß Taubstumme häufig Kropfträger sind oder auch kretinistische Züge tragen. So finden sich aber auch zahlreiche Kretins, bei denen in den verschiedensten Abstufungen Hördefekte nach- zuweisen sind. Zwischen der Taubstummheit und dem Kretinismus be- stehen jedenfalls enge Zusammenhänge. Wenn auch der Begriff der ende- mischen Taubstummheit im Laufe der Jahre eine Änderung erfahren hat, so ist er doch als wissenschaftliche Tatsache anerkannt. Schwendt fand 32°/,, Nager jun. 28°/, und Nager sen. 56°/, kropfiger Taubstummer. Unter der endemischen Taubstummheit können sowohl solche erworbener als auch angeborener Form angetroffen Fig. 39. werden (Fig. 39, endemischer Taub- stummer). Kretinismus. Die schwerste Form der kretinischen Degeneration stellt der Kretinismus oder, besser ge- sagt, die kretinistische Idiotie dar. Von dem Kretinismus eine scharfe, alles umfassende Definition zu geben, hält bei dem komplizierten Gebilde, welches diese Krankheitsgruppe dar- stellt, äußerst schwierig. Einen ceretin elaton, einen Mustertypus gibt es nicht. Von den am meisten in die Augen springenden Erscheinungen seien folgende erwähnt: äußeres Aussehen, Körperbau, Hautbeschaffenheit, Schild- drüse, Sinnesorgane, geistiger Zustand. Die Erscheinungen und Veränderun- gen aller dieser Momente sind in ihrer Stärke so wechselnd, daß man nach unseren heutigen Kenntnissen nur sagen kann. daß das Unregelmäßige das einzig Gesetzmäßige beim Kretinismus sei. Dem Kenner wird unter der größten Anzahl von Typen des Schwach- sinnes der Kretin sofort in die Augen fallen. Die schwerste Form des Kretinismus ist sofort zu erkennen. Der Gesichtsausdruck ist für die schweren Formen typisch. Der Kopf ist gewöhnlich abnormal groß, seltener unter die Norm verkleinert. Am Schädel,“der extrem kurz und asymme- trisch gebaut ist, spürt man deutlich die schweren massiven Knochen. Am Lebenden zeigt sich eine breite, stark eingezogene Nase, die oft aufge- stülpt ist. Sie ist sehr breit, so daß die Augen stark voneinander getrie- ben werden. Die Augen sind klein, sehen relativ oft geschlitzt aus und blicken manchmal nicht unlistig drein. Die Backenknochen zeigen sich Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 977 äußerst kräftig, stehen weit vor und nach außen, was dem Gesichte den äußerst breiten Ausdruck verleiht. Der Oberkiefer wie der Unterkiefer finden sich stark vorgetrieben, so daß ein negerhafter Zug daraus resul- tiert, da besonders oft schon weniger ein Mund als ein großes breites Maul das Bild vervollständigt. Die Stirne ist niedrig, flach und der Haar- wuchs geht weit hinab. Die Ohren finden sich meistens abstehend. Die Zunge ist dick, die Zähne stehen in unregelmäßigen Reihen. Der Hals ist dick, kurz und niedrig. Der Bau des Stammes ist ein gedrungener, der Bauch ist auffallend diek. Bruchanlagen sind fast regelmäßig vorhanden. Die Extremitäten sind kurz, die Hände relativ oft plump, hie und da zier- lich klein, mit grazilen Fingern. Der macerierte Schädel zeigt die verschiedenen Eigentümlichkeiten des Kretinengesichtes noch deutlicher. Die stark vorspringenden Backen- Fig. 40. Fig. 41. knochen, die breite eingezogene Nase, die stark vorspringende Protube- rantia oceipitalis, der massige, kolbenhafte Warzenfortsatz sind auffallend (Fig. 40 u. 41). Durch die Einziehung der Nasenwurzel entsteht ein wulst- förmiger Vorsprung am Stirnbein. Diese Veränderungen am Schädel sind, wie wir anderweitig ausgeführt haben, auf eine Verkürzung der Schädelbasis zurückzuführen, die auf einer Wachstumshemmung beruht. Damit steht auch die exzessive brachycephale Schädelform im Zu- sammenhang. Der Körperbau der Kretinen kann im allgemeinen als unproportio- nierter Zwergwuchs bezeichnet werden. Das Längenwachstum ist ein ver- zögertes, diese Verzögerung ist, wie wir nachgewiesen haben !), nun absolut ') Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen. Bd.21. Bau und Entwick- lung des Kretinenskelettes im Röntgenbilde. 278 E. Bircher. keine gleichmäßige, sondern die Verzögerung ist an der oberen Extre- mität eine intensivere als an der unteren, dagegen ist das Längenwachs- tum bis zum 18. Lebensjahre im Durchschnitt weniger gestört als die Knochenkernentwicklung, von diesem Zeitpunkte wirkt die Störung um- gekehrt. Aus diesen irregulären Wachstumsstörungen resultiert nun auch der unproportionierte Zwergwuchs des Kretinen. Der Schädelumfang nimmt im Verhältnis zur Körperlänge um 10—15°/, gegenüber dem normalen Werte zu. Die Stammlänge ist im Verhältnis zu der unteren Extremität eine zu große, d.h. die Beine sind zu kurz. Die Beziehungen der Arm- und Beinlänge zur Körperlänge sinken oder steigen gegenüber den nor- malen Werten. Bauch- und Brustumfang sind abnorm hoch. Das Becken ist im allgemeinen verengt. Der Fig. 42. Bau der Kretinen ist ein ganz un- proportionierter, unregelmäßiger. Die Hautbeschaffenheit der Kretinen ist häufig als Analogon zur Haut bei den Zuständen des Schilddrüsenmangels bezeichnet worden. Wenn man einen Kretin vor sich hat, wie ihn unsere Fig. 42, 43 u. 44 darstellen, so hat man von der Haut den Eindruck, als ob sie als Sack über das Skelett gestülpt worden sei und sich nun in zahl- reiche Falten und Fältchen gelegt habe. Die gedunsene dicke pastöse Hautbeschaffenheit mit ihrem sul- zigen Charakter, wie wir ihn beim Myxödem (dem Schilddrüsenmangel) zu sehen gewohnt sind, ist beim richtigen Kretinen nicht häufig zu konstatieren. Man kann schlechten und guten Haarwuchs konstatieren, die Haare sind manchmal brüchig, die Schweißsekretion ist oft vermindert, doch selten ganz aufgehoben, wie behauptet wird. Als wesentliches Zeichen des Kretinismus muß theoriegemäß eine Veränderung der Schilddrüse nachzuweisen sein. Man hat nur in den we- nigsten Fällen (von außen mit der Hand, ein recht unsicheres Mittel) ein vollständiges Fehlen der Schilddrüse nachweisen können, in der Großzahl der Beobachtungen findet sich die Schilddrüse vergrößert, d. h. recht häufig ein regulärer Kropf vorhanden. Wir selbst haben die nicht uninteressante 3eobachtung machen können, daß durchschnittlich bis zum 15. Lebensjahre Kropf bei Kretinen relativ selten ist, daß hingegen von diesem Zeitpunkt weg jeder Kretin zum Kropfträger wird. Jedenfalls von Schilddrüsenmangel kann keinesfalls gesprochen werden. Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 279 Das traurieste Zeichen beim Kretinismus ist jedoch die schwere geistige Entartung, die als eines der regelmäßigsten Symptome ange- troffen wird. Vor allem aus ist die Intelligenz sehr schwer geschädigt. Und unter den Kretinen sind die schwersten Formen von Blödsinn anzu- treffen. Es gibt hier bejammernswerte Typen, die weit hinter den Tieren verschiedenster Gattung stehen. Wir haben einige Fälle beobachtet, die seit der frühesten Jugendzeit, ärger als Tiere, in ihrem eigenen Unrat Fig. 43. sich bewegten, nur unartikulierte, nicht einmal tierähnliche Laute von sich gaben, und die nur auf künstliche Weise ernährt werden konnten. Neben dem Intellekte ist die Sprache und das Gehör, wie wir oben dargelegt haben, vornehmlich betroffen, auffallenderweise ist das Sehver- mögen relativ häufig gut erhalten. Die Sprache ist eine lallende, undeut- liche bei denjenigen Individuen, welche etwas sprechen lernen, vor allem wird stark „mouillierend“ gesprochen. Und wer in Kretinengegenden 280 E. Bircher. scharf beobachtet, dem wird nicht entgehen können, daß die ganze Gegend unter diesem unschönen Idioma leidet. (Geruch, Geschmack sind ebenfalls vermindert. Die Hautsensibilität ist herabgesetzt. Auch die Bewegungen von Arm und Beinen sind schwer- fällig, was allerdings häufig mit Veränderungen im Knochenbau zusammen- hängt, indem die Schenkel- und Oberarmköpfe abgeplattet sind. Im allge- meinen sind die Kretinen mehr apathisch, indem sie geistesschwach sind ; wir kennen aber auch zahlreiche Fälle, die äußerst aufgeregte Personen darstellen, die keinen Moment ruhig bleiben konnten, immer umherliefen, stets mit den Händen etwas spielen mußten. Wir haben boshafte und bösartige Kretine beobachtet, die ihren Mitpatienten Essen und Trinken und Geld stahlen, ihnen böse Streiche spielten, Tiere quälten,. wir wissen von Kretinen, die aus Rachsucht versuchten Häuser anzuzünden, die sich schwere sittliche Ver- fehlungen zu schulden kommen ließen. Es zeugt nur von feiner Beobach- tungsgabe Roseggers, wenn er sagt, daß die Kretinen aller sieben Tod- sünden fähig seien, eine Tatsache, die wir unbedingt bestätigen können, und Weygand, der sie anzweifelt, gegenüber festhalten müssen. Eine bestimmte Geisteskrankheit kann für den Kretinismus nicht nachgewiesen werden, auch hier ist das Unregelmäßige das einzig Gesetz- mäßige. Das wären im allgemeinen die Hauptzeichen des Kretinismus. Bei jedem einzelnen Falle kommen diese Zeichen in ganz wechselnder Stärke vor, so daß es schwer hält, sie alle zusammen regelmäßig nachzuweisen. Es gibt in Kretinengegenden zahlreiche Personen, die ein oder mehrere Zeichen in großer Stärke tragen, während andere vollkommen fehlend sind. Man hat diese Halbkretinen oder Kretinoide genannt. Es sind nun zwei große Gruppen zu unterscheiden, die nach dem stärkeren Hervortreten eines Symptomes gekennzeichnet werden müssen. Bei der einen Gruppe treten die kretinistischen Wachstumsstörungen stark in den Vordergrund. Es sind kleine Leute, die unverkennbar kretini- stische Gesichtszüge tragen, bei denen aber das Geistesleben ein völlig normales ist. Wir kennen derartige Personen, die es in staatlichen Stellen und in vielen Berufen zu hohen Ehren gebracht haben. Zur anderen Gruppe gehören diejenigen, bei denen die Wachstumsstörungen in den Hintergrund treten, bei denen der kretinistische Blödsinn mit all seinen Formen im Vordergrunde des Bildes steht. Es sind von der schwersten Idiotie bis zum geringsten Grade der Denkverlangsamung hier fließende Übergänge zu finden. Ganz scharf zu trennen sind beide Gruppen niemals vonein- ander, es sind immer bei genauerer Untersuchung Zeichen beider Entar- tungszustände zu finden. Zahlreiche Kropfträger finden sich dabei. Es sind hier die regellosesten Mischungen zu finden. In sehr zahlreichen Exem- plaren finden sich diese Typen in Kretinengegenden, wie sie Fig. 44 und 45 darstellen. Sie sind es, welche der ganzen Bevölkerung den Stempel einer De- generation aufdrücken, die sich nicht selten in einer unglaublichen poli- Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 28] tischen Kurzsichtigkeit, speziell was Kunst und Wissenschaft anbelangt. auch in Parlamenten geltend macht. Trefflich ist die klassische Schilderung, die Griesinger von diesen Zuständen gibt: „Übrigens ist an den Orten einer starken Endemie die ganze Bevölkerung von der Krankheitsursache betroffen. Außer den eigent- lichen Kretinen, Halbkretinen und Kropfigen findet sich eine Menge schwachköpfiger,' verkümmerter, übelproportionierter Individuen, viele Taub- stumme, Stotterer und Stammler, Schwerhörige, Schielende, es geht ein allgemeiner Zug körperlicher Degeneration und geistiger Verdumpfung durch die ganze eingeborene Bevölkerung und auch die für gesund und klug geltenden Individuen sind durchschnittlich unschön, beschränkt, träge Fig. 44 und 45. und es wimmelt von eneherzigen Philistern, die den Mangel an Geist keineswegs durch gute Eigenschaften des Gemüts ersetzen.“ Ist aber in jenen Gegenden die Demokratie die herrschende Staats- form, so wird der vorurteilslose Beobachter häufig ein Zerrbild schlimmster Sorte dieser klassischen Staatsform antreffen. So greift die kretinische Degeneration tief in das gesamte Leben eines ganzen Volkes ein. Das dürfte aber Grund genug sein, daß man dessen Ursachen nachgeht und sucht der völkerverderbenden Seuche beizukommen. Wohl kann eine mühevolle Arbeit der Volksschule viele der Mängel beseitigen und selbst schweren Kretinen die Grundbegriffe der Bildung. wie Schreiben und Lesen, beibringen, aber das Übel trifft sie an der Wurzel 282 E. Bircher. nicht. Daß es möglich ist, schweren Kretinen das Schreiben beizubringen, zeigt Fig. 46, welche eine Schriftprobe des hochgradigen Kretin von Fig. 42 darstellt. Ursache der kretinischen Degeneration. Wenn wir die Frage vorlegen, auf welche Weise entsteht der Sym- ptomenkomplex der kretinischen Degeneration, so sind wir auf Grund unserer neuesten Forschungen berechtigt, dem Trinkwasser die Schuld Fig. 46. zuzuschreiben. Wir persönlich sind in der Lage gewesen, den experimen- tellen zwingenden Beweis dafür zu erbringen. Während noch der französische Forscher Saint-Lager 42 Theorien über die Entstehung der kretinischen Degeneration aufführen konnte, so sind die meisten davon obsolet geworden. Schon H. Bircher ist in der Lage gewesen, viele der herangezogenen Theorien als unrichtig zurückzu- weisen und immer spuken wieder diese Theorien in den Köpfen einiger Forscher, die ihre Untersuchungen auf einen engen Bezirk beschränkt haben, nicht das große und ganze Auftreten der kretinischen Degeneration Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 283 im Auge behalten haben, nicht auf experimentellem Wege an die Frage herangetreten sind. Neuerdings wird von Stefano Balp, Munson und Chopinet die An- sicht vertreten, daß die soziale und ökonomische Lage der Bewohner Kropf- ursache sein könne. Schweinefleisch, Alkohol und schlechte Wohnung wer- den der Urheberschaft beschuldigt. Der abstinente Muhammedaner wird kropfig, wie der nicht schweinefleischessende Jude und Inder der kreti- nischen Degeneration anheimfallen. Der norddeutsche Schnapsbauer, der Wutki liebende Russe kennt den Kropf nicht, da er in kropffreier Gegend meistens heimisch ist. Der abstinente Alkoholgegner wird aber in Kropf- gegenden relativ oft vom Kropfe befallen, während unserer Beobachtungen gemäß der Wirt und Weinhändler häufig in unserer Gegend von der Krankheit verschont bleibt. Die kretinische Degeneration kehrt sich an keine Geburtsvorrechte. In der Kropfgegend wird der arme Bauer vielleicht häufiger kropfig, da ihm der Nervus rerum zum Alkohol fehlt. Selbst Professoren- und Ge- lehrtenkinder können von der Krankheit nicht verschont bleiben und wir kennen den traurigen Fall, daß im Hause eines Arztes ein veritabler Kretin sein Dasein fristete. Wer in Kropfgegenden Bälle besucht, der kann die fein gezogenen Linien des schönen Frauenhalses selten zu seiner Betrach- tung zählen, denn in den höchsten Spitzen der Gesellschaft finden sich manchmal die ausgesprochensten Kröpfe am Halse, die in beliebter Weise mit einem Samtbändchen verdeckt werden und nicht selten für den medi- zinischen Tänzer sämtliche Akkorde der Dyspnoe neben den schönsten Wal- zerweisen anschaulich in Erinnerung bringen. Hier hilft kein Jod und die Messer der berühmtesten Kropfoperateure — wenn auch mit der Masse der Operationen die Preise billiger werden — werden nie imstande sein, den Kropf auszurotten. Wer von Aarau nach meiner Heimat nur die Schritte eine halbe Stunde weiter lenkt in die kropffreien Juradörfer, der wird erfreut sein, wenn er die fleißige Jungmannschaft bei Arbeit oder Tanz mit ihren schlanken Hälsen sieht. Hier frische Gesichter, ein energischer Zug, ein straffer, gerader Charakter, der wohl hart und schroff sein mag, aber unbeugsam in seinem Willen, wohltuend absticht gegenüber jenem Zug von Engherzigkeit, wie ihn Griesinger so treffend für die Kropfgegenden geschildert hat. Die kretinische Degeneration trägt einen Zug von Sozialismus in sich, sie kennt keinen Rang von Amt und Stand, sie findet sich in der Villa des reichen Fabrikanten wie in der Hütte des ärmsten Arbeiters, und in unserer Nähe lebt der Sproß einer reichsgräflichen Familie, der zu den typischsten Kretinen zählt, die wir kennen. Kretinen wohnen in den schönen und weiten Dörfern des Hügellandes wie in den armseligsten Hütten ähnlicher Gebiete. Soziale und ökonomische Bedingungen können niemals die Ursache der kretinischen Degeneration sein. Warum werden denn in den Gegenden der Seuche auch Tiere, Pferde, Esel, Schweine, Hunde und Ratten von der Krankheit betroffen ? 284 E. Bircher. Die Höhenlage und die äußere Konfiguration des Bodens kann nicht in Betracht kommen, es findet sich der Kropf in der schweizerischen Hochebene, in der Rheinebene, wie auch neuerdings nachgewiesen wird, auf den Höhen von Tibet und dem Himalaja, er ist in gewissen Partien der Alpen fehlend, während andere schwer davon betroffen sind. Er findet sich in sonnigen Gegenden wie in den engen und Alpen-Tälern, es gibt sonnige und schattige Gebiete im Jura, die frei vom Kropfe sind. Er fin- det sich in warmen Länderstrichen wie in den kalten Zonen und mit klimatischen Einflüssen hat er nichts zu tun. Wer sich genauer über diese Fragen orientieren will, dem sei die gründliche Arbeit meines Vaters H. Bircher empfohlen (Der endemische Kropf und seine Beziehungen zur Taubstummheit und Kretinismus, Basel 1883). Heute bei unseren geläuterten Erkenntnissen kann nur noch das Trinkwasser als kropferzeugendes Moment angesprochen werden. Schon vor Jahrtausenden ist den Gelehrten das Wasser als Kropf- erzeuger bekannt gewesen, wenn Ulpian sagt: Foque tumido gutture laborant Alpinus incolae propter Aquaium qualitatem, quibus utuntur (Fragmenta), oder wenn Plinius in den Hist. natural. lib. IX ausführt: Guttur homini tantum et suibus intumescat, aquarum quae potantur plerum que vitio. Pitruvius war aber sicher die heute noch so berüchtigte Kropf- gegend und das Wasser der Maurienne bekannt, wenn er sagt: Aequiculis in Italia et Alpibus, nationi Medullarum est genus aquae, quam qui bibunt efficiunter turgidis gutturibus (in de architeetura). Agricola erwähnt einen heute noch bekannten Kropfbrunnen: Cujus aqua potae adeo laedunt cerebrum ut stolidos faciant (De re metallica, Basel 1657). Arnoldus Villanovanus spricht schon 1585 in seinem Breviarumi, lib. II, cap. II, vom endemischen Kropf durch das Wasser der Provinz Lucea, wenn er sagt: Fiunt nempe in quibusdam regionibus forte ex na- tura aeris vel aquarum in quibus quasi omnes mulieres vel viri sunt stru- mosi, sicut est quaedam regio quae est in comitatu eivitatis Lucae, quae dieitur cariptianae. Valeseus von Taranta kennt den Kropf in der Grafschaft Foix, der auch dort vom Wasser herrührt: Botium est morbus proprius aliquibus regionibus sicut est Savarte in comitatu Fuxi, et hoc est ratione regi- minis autratione aquarum frigidarum quas bibunt et est morbus herede- tarıus. Lanfranchi spricht in der „Chirurgia magna“, welche 1490 erschienen ist: Propter aquae grossicium que bibitur; quare in terris multeplicatur pluribus sicut in puella; in canensibus; et in yno regia. In confinibus Al- pium et planitium lambardie. Zahlreich sind aber auch die Beispiele, wo Beobachtungen von Ärzten oder Laien sichere Anhaltspunkte für die an das Wasser gebundene Kropf- ursache nachweisen. Militärscheue Individuen benutzten das Wasser der- artiger Quellen gern, um sich dem Waffenhandwerk entziehen zu können. Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 285 Eine solche Quelle wird von Lombroso für Cavecurta in der Lombardei angegeben. In Longematte (Savoyen) trat der Kropf auf, als man Sod- brunnen erprobte, ähnliches passierte in Saxon (Wallis), nach Ferrus bei Paris, als man Sod- statt Seinewasser zum Trinken verwandte. Nach Humboldt trat der Kropf in Maraquita nach Fassen von Soden auf, als man nicht mehr Flußwasser trank. Die Dörfer Saillon und Fully (Wallis) bekamen Kropfige, als sie eine Quelle etwas weiter oben in einer kropf- führenden Schicht faßten, Nottingham, als man die Sodbrunnen vertiefte, ähnlich Aguilhon und Chauriat in der Puy du Döme. Die Quellen von Argentine, Pantamafrey und Villard-Clement in der Maurienne, diejenige von St. Chaffrey bei Briangon machten dienstuntauglich. In Juju und Salta wurde der sonst immune Garicefluß plötzlich kropferzeugend, nachdem er einen Felsen durchbrochen hatte und sich dem Arios vermengte (Mantagazza), ein deutlicher Fingerzeig für die hydrotellurische Kropfursache. Die Boeotier galten im Altertum nicht umsonst als Trottel, soll ja nach Allara das Wasser des Aropos heute noch zahlreiche Kretine erzeu- gen. Im Fort Edmonton herrschte bei der Garnison, welche Flußwasser trank, stets Kropf. Ähnliches berichtet Mac COlelland vom Kemaon. Durch Röhrenleitungen konnten in Brasilien Kropfwässer immun gemacht wer- den; ähnliche Beobachtungen konnten in der Dauphine, in Piemont, in den Vogesen gemacht werden (Saint-Lager, Leclere, Guilbert). Das toxische Kropfprinzip dürfte dabei eine chemische Umwandlung erfahren. Im Dorfe Puise, Arrondissement Planaise, wurden nach Billiet alle Familien, die vom Ortsbrunnen Wasser tranken, kropfig, mit Ausnahme einer einzigen, die Regenwasser trank. Ähnliches sah Kocher im Lauter- brunnental, Delpon im Departement Lot, Meyme in einer Anzahl belgischer und holländischer (Gemeinden. Auch in Socorro trat beim Trinken von Regenwasser kein Kropf auf (Boussingault), wie auch Mottard in St. Jean de Maurienne durch Trinken von Regenwasser die kropferzeugende (Quelle Bourieux vermeiden konnte. In der berühmten savoyischen Gemeinde Bozel verschwand Kropf und Kretinismus erst, als das Wasser mit Tonnen, später durch eine Wasser- leitung aus der kropffreien Gemeinde St. Bon hergeleitet wurde (Saint- Lager). In Antignano, Asti, gab es drei Quellen, wovon zwei Kropf in mehr oder minder starkem Grade machten. Je nachdem nun die Brunnen von der Bevölkerung benutzt wurden, war auch die Zahl der Kropfigen ver- schieden. Es ist dies ein klassisches Beispiel, wo unter ganz denselben Lebensbedingungen sozialer und klimatischer Natur und bei derselben Meeres- höhe kropffreie und kropfige Personen vorkommen und nur zum Wasser ein Abhängigkeitsverhältnis nachgewiesen werden kann. In St. Michel, zwischen Salins und Arbois (Departement Jura), wird die Kropfendemie, in Mornoz, Aigle-Pierre durch die Landstraße von der kropffreien Gegend Pretin und Acsures abgetrennt. Auf jeder Seite der 286 E. Bircher. Straße findet sich eine eigene Quellwasserversorgung. Ähnliches wird von der Gemeinde Lissac berichtet. Die Bredaquellen machten nach Saint-Lager Allevard und Panchara im Departement Isere kropffrei, mit Ausnahme der Jerusalemstraße, die noch die alte Wasserversorgung benutzt. Domaine, in demselben Depar- tement, brachte die Endemie durch das Fassen einer frischen Quelle zum schwinden. Nach Villerme schwand der Kropf in Rheims, nachdem man das aus der Kreideformation stammende Veslewasser zum Trinken benutzte ; so wirkte auch das Rhonewasser in Genf durch Röhrenleitungen, das Arbin- wasser in Monmeillon. In Grozon machte das Zisternenwasser keinen Kropf, während der gerade daneben sich befindliche laufende Brunnen kropferzeugend wirkte. Im Fort l’Eeluse bekamen die Soldaten im unteren Teile häufig Kropf, während im oberen die Truppe verschont blieb. Oben trank man Wasser aus der reinen Juraformation, während unten Triasbeimischungen vorkommen. In Avillard schwindet nach Niepce der Kropf im Sommer, da man das Wasser der Schneeschmelze, also aus dem Urgestein bezieht und nur im Winter treten Kröpfe beim Trinken des Wassers aus den Ortsbrunnen auf. Umgekehrt erhielt Chamonix und Croix d’Arquebelle im Sommer kein Bergwasser und mußte das kropferzeugende Wasser der dortigen Brunnen getrunken werden. Im Fort Silberberg in Schlesien bekamen die Soldaten, die kein ge- kochtes Wasser tranken, Kröpfe. Die aus den immunen Gegenden Süditaliens stammenden Soldaten bekamen in Aosta Kröpfe. Ähnliches passiert den Soldaten und Bahnan- gestellten in Veltin. Im Kreise Bobbio war eine Quelle als schwer kropf- und kretinenerzeugend bekannt. Die im Jahre 1887 über Oberitalien erschienene Enquete über Kropf und Kretinismus weist regelmäßig auf das Wasser als Krankheits- ursache hin. So schwand der Kropf in Agria und San Pietro Sovera, als die Quellwasserleitungen geändert wurden. In Lecco hält sich der kropf- freie (San Dionigi) und kropfige Teil (Brianzola) der Ortschaft enge an die verschiedenartige @Quellwasserversorgung. Aber auch in neuerer Zeit sind einige bemerkenswerte Beispiele exakt bekannt gegeben worden, die sicher beweisen, daß die kretinische Dege- neration vom Wasser abhängt. @ernet konnte in Finnland einige Brunnen konstatieren, die kropf- erzeugend waren und von denen auch zum Zwecke der Dienstbefreiung Wasser getrunken wurde. Johannesen konnte im Blaufarbenwerk zu Modum in Norwegen drei jrunnen untersuchen, von denen zwei schwer infizierend wirkten, während der dritte, aus einem Gebirgssee stammend, immun war. Thea sah den Kropf bei der Garnison von Cuneo auftreten, so lange diese rohes Wasser trank und nicht zum dekantierten der Zivilbevölkerung überging. Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 9287 Lueien Mayet berichtet von der stark kropfig verseuchten Gemeinde Saint Andeol in der Dröme, bei der der Hof Sant Etienne, der von der übrigen Gemeinde abgetrennt auf einer anderen geologischen Formation liegt und daraus sein Wasser bezieht, völlig kropffrei ist. Planmäßig wurde die Gemeinde Rupperswil durch #. Bircher saniert. Noch Ende der achtziger Jahre betrug die Zahl der Kropfigen dort bis zu 60°/,. Seitdem eine neue Wasserversorgung eingeführt worden ist, ist Kropf und Kretinismus aus dieser Gemeinde völlig verschwunden. Unsere Nachbargemeinde Asp, die stark kropfig verseucht war, hat vor 3 Jahren eine neue Quelle gefaßt. Der obere Teil der Gemeinde, der von dieser Quelle sein Wasser entnimmt, ist heute schon sozusagen kropf- frei zu erklären, während das Unterdorf, das immer noch vom alten Wasser trinkt, die 1883 erhobene Prozentzahl bei weitem übertrifft. Wir wer- den auf die beiden Beispiele noch zurückkommen. Reid berichtet von den englischen Residenten in Purnijah, die mitten in der Kropfendemie von Bengalen sitzen müssen, daß sie sich dadurch vor der Krankheit schützen, indem sie den Trinkwasserbedarf nicht aus dem Flüßchen Caonee decken, sondern dasselbe 3 Tage weit aus dem Ganges herbeiholen lassen. Carreson beobachtete, dal der Kropf in den Tälern von Chitral und Gileit aus dem kalkhaltigen Boden durch Wasser ausgelaugt werde; so fand er am Ende der Wasserleitung größere Prozentzahlen von Kröpfen als beim Anfange, wo das Wasser gefaßt wurde. Nur ein Dorf, das eine eigene Wasserleitung hatte, wurde von der Krankheit verschont. Rossel konnte uns für zwei bündnerische Dörfer exakt den Nachweis leisten, daß durch den Wechsel der Trinkwasserquellen der Kropf zum Verschwinden gebracht werden konnte. Hugo sah neuerdings in Nepal, daß, Tiere und arme Menschen, die auf das Flußwasser angewiesen sind, an Kropf erkranken, während die teichen, die Bergwasserquellen haben können, nicht an Kropf erkranken. Claridge sah in Westafrika Kropf nur in Manipou auf Kalkboden. Wo Regenwasser getrunken wurde, konnte er keine Kropfigen nachweisen. Der Kropf kann nicht nur endemisch, er kann auch epidemisch auf- treten und auch dabei scheint er enge ans Wasser gebunden zu sein. Wir wollen hier nur die allerwichtigsten erwähnen. Kropfepidemien wurden bei der Besatzung von Nancy in den Jahren 1784—1789 beob- achtet, bei der aus der kropffreien Provence stammenden Legion du Bouches du Rhöne 1818 und 1819 in Briancon und Mont-Dauphin. Die Truppen in Straßburg und im Fort Silberberg in Schlesien bekamen in kurzer Zeit ihrer Dienstleistung Kröpfe, wie auch die brasilianischen Rekruten in Rio Umbez. Weitere Epidemien sind berichtet aus Pfalzburg, Colmar, Neubreisach, Genf, Grenoble, Thonan, Briancon, Kirinsk, Embrun. Bottini sah in den neunziger Jahren unter den Gefangenen in Pal- lanza eine Epidemie ausbrechen, als die Wasserversorgung geändert wurde. Noch 1897 konnte Colin die sichere Beobachtung machen, daß die Quellen 288 E. Bircher. von Saint Chaffrey bei Briancon und bei Bonneville in kürzester Zeit ge- radezu epidemisch Kropf erzeugten. Das 75. Infanterieregiment machte 1895 eine Epidemie in Romain durch, nachdem es nach Ferries durch Kropfgegenden marschiert und darin geübt hatte. Auch in der Drome trat nach Costa 1895 eine schwere Epidemie bei den Rekruten auf, ähnliches wurde von Caljago in Finnland beobachtet, nachdem eine kropfführende (Quelle angebohrt worden war. Neuerdings beobachtete auch Cantamassa bei einer italienischen Kompagnie Infanterie epidemisches Auftreten von Kropf, ohne daß er es auf das Wasser zurückführen möchte. Ähnlich wie bei Garnisonen sind derartige Epidemien auch bei In- stituten und Pensionen beobachtet worden. So fand sich neben den Militär- epidemien ein derartiges gehäuftes und plötzliches Auftreten von Kropf im Kollegium in Straßburg, Belfort, Autun und Clermont, in den Pensio- naten zu Lausanne, Lenzburg und Stuttgart. In St. Etienne war Kropf unter den Soldatenkindern überraschend häufig, in Briancon wurden wie die Sol- daten, die Zöglinge des dortigen Lyceums von der Krankheit ergriffen. 1877 trat unter den Besatzungstruppen der Russen in der Stadt Kokan eine Epidemie auf, die eine Dislokation nötig machte. Bei all diesem epidemischen Auftreten der Kropfkrankheit ist nun an folgenden Punkten festzuhalten, die nicht unwichtiger Natur er- scheinen. Die Epidemien sind nur an Orten aufgetreten, die innerhalb eines Kropfgebietes liegen. Sie betreffen fast regelmäßig Leute, die aus kropf- freien Gegenden hierher gelangt sind, sie können in fast allen Fällen auf die betreffenden Wasserversorgungen zurückgeführt werden. Auch der Volksmund weist dem Wasser in der Kropfursache eine Hauptursache zu. Das Volk kennt in Kropfgegenden ganz genau die- jenigen Brunnen, welche am raschesten Kropf erzeugen und meiden es, das Vieh daraus zu tränken. In unserer Nähe spricht man von einer „Gais- kropfquelle“. Die Indianer nennen in Brasilien einen Fluß den Guayque- Raro, den Diekhalsmacher. Die Haller Jodquellen in Oberösterreich werden „Kropfbrunnen“ genannt. In Steiermark kennt das Volk genau kropfer- zeugende und kropfvertreibende Quellen. So fand auch die Volksmedizin hier den richtigen Wegweiser. Nach all diesen Tatsachen lag es naturgemäß auf der Hand, experi- mentell zu untersuchen, den Kropf zu erzeugen. Es sind von A. Bircher, Lustig und Carle vereinzelte Versuche unternommen worden. Systematische Untersuchungen haben wir in dieser Richtung unternommen und sind dabei zu einem positiven Resultate gelangt. Wir haben längere Zeit, bis zu 9Monaten, weiße Ratten, Hunde und Affen mit dem Wasser verschiedener Kropfquellen getränkt und dabei eindeutig sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch allgemeine wie auch knotige Vergrößerung der Schilddrüse nachweisen können. Speziell weiße Ratten eigenen sich zu derartigen Versuchen vorzüglich. In Fig. 47 und 48 geben wir zum Vergleiche Abbildungen von Schilddrüsen bei a... Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 289 normalen Tieren, die mit erhitztem Wasser gefüttert wurden und Ab- bildungen von kropfigen Hunde- und Rattenschilddrüsen. ?) Damit ist das Schlußglied in der Beweiskette geschlossen und wir haben in erster Linie daran festzuhalten, daß das Trinkwasser als kropferzeugende Ursache angesprochen werden muß. Von selbst drängt sich dabei die Frage auf: Welche Substanz im Wasser ist es, die Kropf erzeugen kann? Man hat die verschiedensten Dinge als Erreger ausgesprochen und je nach dem Standpunkt, den der Autor zur ganzen Frage einnahm, mit mehr oder weniger guten Gründen verteidigt. Schon Boussingault und Falck wollten den Kalkgehalt des Wassers für die Endemie verantwortlich machen, da auf kalkhaltigen Formationen am zahl- Fig. 47. Fig. 48. Rattenkropf. 35 Normale Hunde- schilddrüse. en. Normale Rattenschilddrüse. Hundekropf. reichsten kropfige Personen zu finden seien. Speziell Mae Chellaud ist ein eifriger Verfechter dieser Theorie geworden, nachdem er in der Provinz Kemaon das Vorherrschen auf dem Kalkterrain nachweisen konnte. Schon von Rösch, einem genauen Kenner der kretinischen Degeneration, ist darauf aufmerksam gemacht worden, dal er viele gipshaltige Quellen kenne, die keinen Kropf machen. Ähnliche Angaben werden von Maffei und Klebs gemacht. Rossknecht sah in Mannheim mit einem stark kalkhaltigen Wasser viel weniger Kropfige auftreten als bei dem kalkarmen Heidelberger Wasser. Im Kropforte Rheinzabern findet sich fast kein Kalk im Wasser, während !) Weitere Versuche sind im Gange und zahlreiche sind bis jetzt in durchaus bestätigendem Sinne ausgefallen. E. Abderhalden, Fortschritte. I. 19 290 E. Bircher. nach Zschokke bei Genulß) von stark kalkhaltigem Biebersteiner Wasser oder nach Christener der Weißenburger Therme der Kropf zu schwinden be- einnt. Die Kropfquellen in Chambery enthalten nur Spuren von Kalk, während nach Sormani das harte, kalkhaltige Wasser von Bologna, Florenz, Rom in Vicenza und Abruzzen Kropf erzeugt, der nach Barton in den kalk- reichen Gegenden von Pennsylvanien nicht vorkommt, auch das stark kalkige Wasser der Städte Paris, Lyon, Marseille und von Orleans ville keinen Kropf macht. In unserer Gegend der Kropfendemie findet sich viel weniger Kalk im Wasser als in den kropffreien Juragegenden. Kalk als Ursache der Kropfendemie kann ausgeschlossen werden. Ganz ähnlich verhält es sich mit der von Grange als Ursache herangezogenen Magnesia, die in allen kropfführenden Schichten in Silicaten oder Dolomiten auftreten kann. Schon Ni?pce wies darauf hin, daß in vielen kropferzeugenden Brunnen der Dep. Hautes- et Basses-Alpes sich wesentlich weniger Magnesia fand als in kropffreien Brunnen. Auch Maumene, Tourdes, Moretin und Dejean konnten an exakten Beispielen beweisen, dal) die Kropfendemie unabhängig von dem Magnesiagehalt des Wassers sei, z. B. im Canton Voitem finden sich am zahlreichsten Kropfige und am wenigsten Magnesia im Wasser. An der Westküste von Mexiko, in Rodez (Dep. Aveyron), in Juggurt in Afrika, wo stark maenesiahaltiges Wasser getrunken wird, findet sich kein Kropf, während das chemisch reine Wasser von Falun in Schweden und in Pendschab Kröpfe macht. Saint Lager führt den Kropf auf den Gehalt des Wassers an Schwefel- eisen oder Kupferkies zurück, indem sich Kropfendemien speziell nur auf metallführenden Gesteinen vorfinden. Lebour ist für England dieser Ansicht beigetreten, aber schon Grange hat auf den Widerspruch hingewiesen, dab gerade in den Dep. Ariege und Gard, die Schwefeleisen im reichsten Maße besitzen, kein Kropf vorkommt, während Gegenden mit der Krankheit reich gesegnet sind, in denen keine Spur von Schwefeleisen nachzuweisen ist (Dep. Nord. et Cher). Auch experimentelle Zufuhr von Schwefeleisen ließ bei Tieren keinen Kropf erzeugen. Auch mit den von Maumene herangezogenen Florüren konnten nur negative Befunde erhoben werden, Für Chloride, die auch als Kropfursache angesehen wurden, ergeben sich gerade für die Schweizergegenden ähnliche Verhältnisse wie für Schwefel- eisen und Magnesia. Ähnlich verhält es sich mit dem von Chatin heran- gezogenen Jodgehalt des Wassers? Dejean, Germain, Niepce, Bebert, Saint-Lager fanden den Gehalt kropffreier und kropfführender Quellen an Jod äußerst wechselnd, die Aarauer und die von Nencki unter- suchten Kropfquellen des Kantons Bern enthielten nur wenig Jod. So blieb auf dem Wege per exclusionem nichts anderes mehr übrig als anzunehmen, daß der Kropf und Kretinismus auf einen organischen Erreger zurückzuführen seien. In der Tat zählt diese Anschauung zu ihren Verfechtern die bedeu- tendsten Größen der Wissenschaft: Schon Thouvenel, Troxler, Morel, Virchow, Köberle, Gugger, Berkovski, Bramleu, Hirsch, vor allem aber Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 291 Licke nahmen ein toxisches Miasma als Kropfursache an, das nach Lücke nur auf einer bestimmten Bodenformation gedeihen könne. Die kretinische Degeneration müßte daher zu den chronischen Infektionskrankheiten gerechnet werden. Es ist klar, daß man diese Anschauung um so richtiger hielt, als deren Aufstellung mit dem Beginne des gewaltigen Aufschwunges der modernen Bakteriologie zusammenfiel. H. Bircher schloß sich auf Grund eingehender Untersuchungen der An- nahme eines organischen Miasmas an und suchte auch mit dem Mikro- skope ihm beizukommen. In zahlreichen Wasseruntersuchungen konnte er nachweisen, dal) die Diatomeenflora in kropffreien und kropferzeugenden Gewässern eine sehr verschiedene ist. Kropffreie Quellen zeigen äußerst zahlreiche Meridien, während die Euceyonema Auerswaldi Kropfwässer bevorzugt und ÄAlebs in den Salzburger Kropfquellen zahllose Infusorien, Naviculae, als Erreger nachweisen konnte. Bircher betrachtet die Eucyonema nur als Leitbakterien und nicht etwa als ätiologischen Faktor: Johannesen konnte in norwegischen Kropf- quellen die Eucyonema und Naviculae ebenfalls nachweisen. Kocher glaubt, daß es Beimengungen und Verunreinigungen des Gesteins seien, denen die Hauptbedeutung zukomme, und daß es organische oder organisierte Beimengungen seien, welche für die Entstehung des Kropfes auf gewissem Boden entscheidend wirken. Von Tavel ausgeführte bakteriologische Unter- suchungen konnten keinen bestimmten Mikroorganismus als Kropferreger auffinden, nur zeigte sich, dal das kropffreie Wasser einen ganz erheb- lich geringeren absoluten Gehalt an Mikroorganismen aufweist als das kropferzeugende Wasser. Auch die bakteriologischen Untersuchungen von Lustig und Carle verliefen ergebnislos. Blum glaubt, daß Kropf und endemischer Kretinismus auf der Ein- wanderung bestimmter Mikroben in den menschlichen Darm beruhen und Ewald gelangt zu dem Schlusse, daß wir uns damit bescheiden müssen, dal) wenigstens die ersten Schrittezum Nachweis der mikroparasitären Genese des endemischen Kropfes getan sind, wenn sie auch bislang noch nicht zum Ziele geführt haben. „Es ist dies aber unseres Erachtens nur noch eine Frage der Zeit, die ihre Lösung sicher in dem Sinne finden wird, in dem alle bekannten Tatsachen sprechen und aus dem sie sich insge- samt ungezwungen erklären lassen, in dem Sinne der Infektion durch einen organischen, an bestimmte tellurische Gestaltungen gebundenen und durch das Wasser dem Menschen übermittelten Krankheitskeim.“ In unserer auf bakteriologischem Gebiete so entdeckungsfreudigen Zeit ist es auffallend, daß bis anhin noch gar keine positiven Resultate gezeitigt worden sind. Ausgerüstet mit dem ganzen großen Apparat moderner Bakteriologie ist neuerdings Kolle an das Studium der Frage gegangen, er hat die Darmbakterien mit den neuesten Färbungsverfahren durchstöbert, das Blut und die Struma kropfiger Personen durchsucht, alle die modernen Immu- nisierungen und Immunitätsreaktionen anzuwenden versucht. Sensibilisie- 19° 292 E. Bircher. rungsversuche wurden unternommen, Transplantationen von Kröpfen und intravenöse Injektionen versucht, alles umsonst. Es konnten nur negative Resultate erzeugt werden. Alle diese Tatsachen deuten darauf hin, daß es sich bei der Kropf- ursache wahrscheinlich gar nicht um einen Organismus handelt, sondern um ganz andere Substanzen. Unsere auf Anregungen von Prof. Wilms in jasel gemachten experimentellen Untersuchungen haben klar und deutlich erwiesen, daß es bei dem kropferzeugenden Agens sich um einrein chemisches Substrat handelt. Um die Bakterien auszuschalten, haben wir in sorgfältiger Weise das Wasser kropferzeugender Quellen durch die Berkefeldsche Tonkerze durch- filtriert und mit allen Kropfquellen sind wir imstande gewesen, bei Ratten Kröpfe zu erzeugen. Als Experimentum crucis haben wir die auf der Ton- kerze gebildeten Rückstände Ratten von demselben Wurfe verfüttert und damit nur negative Resultate erzielt. Wilms selber konnte ähnliche Resultate erzielen und er fand dabei, daß dieses kropferzeugende Substrat bei einer Temperatur von 70° an immun werde. Damit ist nun sichergestellt, daß das kropferzeugende Agens keinen Mikroorganismus darstellt, sondern ein chemisches Toxin, wie dies beschaffen ist, muß die künftige Forschung lehren. Es liegt nahe, dabei an die kolloidalen Substanzen zu denken, die in der mo- dernen Chemie immer mehr an Bedeutung gewinnen. Sache der Chemiker wird es sein, hier der weiteren Forschung Hand zu bieten. Komplizierter wird die Frage nach der Ursache des Kretinismus. Es hält natürlich schwer, auf experimentellem Wege Kretine zu erzeugen, doch haben wir Ansätze dazu bei einem Hunde gefunden. Nach unseren neueren Experimenten gewinnt folgende Annahme an Wahrscheinlichkeit. Der Kropf wird durch ein Toxin erzeugt, welches von einem gewissen Etwas herrührt, das sich in dem Filterrückstand befindet. Dieses Etwas nun, mit dem Filterrückstand junge Ratten verfüttert, scheint Wachs- tumshemmungen zu erzeugen, gewisse Experimente weisen darauf hin. Wir möchten diese Angabe mit aller Reserve gemacht haben. Als zweite wichtige Tatsache wäre daran festzuhalten, daß die Kropfursache im Wasser als Toxin auftritt. Versuche, ob es sich dabei um eine kolloidale Substanz handle, sind mittelst Dialysierungsappa- raten im Gange. ?) Wir haben schon oben verschiedentlich darauf hinweisen müssen, dal der Kropf an bestimmten Gegenden gebunden vorkommt. Schon früher hatte man zur Erklärung der Kropfkrankheit und der kretinischen Degeneration die geologische Bodenformation herangezogen. !) Diese neuerdings in dieser Richtung unternommenen Versuche haben unsere Vermutung bestätigt und es steht für uns unzweifelhaft fest, daß den kolloidalen Substanzen in der Kropfgenese eine entscheidende Rolle zukommt. Die kretinische Degeneration. in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 295 Unbestreitbar muß dem Boden, den der Mensch bewohnt, nicht nur in sozialer und ökonomischer Beziehung für Ackerbau und Viehzucht, sondern auch in gesundheitlicher Beziehung ein großer Einfluß eingeräumt werden. Das ist schon von Pettenkofer klar erkannt worden. Verschiedentlich kann sich der Boden in gesundheitlicher Beziehung geltend machen, indirekte Ein- flüsse zeigen sich z. B. bei Malaria, Cholera und dem Typhus, immer aber scheint das Wasser der Träger des Einflusses zu sein. Eigenartige Beziehungen sind zwischen Kropf und geologischer Boden- formation nachgewiesen worden. Schon Escherich wies 1854 darauf hin, daß die älteren geologischen Formationen von der Krankheit mehr als die jüngeren betroffen seien. Falk fand Kropf mehr auf Trias als auf vulkanischen Gebilden. Boussingault, Lebert, Niöpee, Grange wiesen darauf hin, dal) keine Formation verschont sei, dal) aber die älteren Formationen wesentlich intensiver betroffen seien als die jüngeren. Billiet fand den tonigen Sandschiefer behaftet, Jura und Kreide frei. Grange fand Meeresmolasse, Lias und Trias behaftet, Carbon und Granit frei. Elie de Beaumont fand den triasischen Dolomit behaftet. Hirsch, der sich die Sache vom grünen Tisch aus sehr leicht gemacht hat, geht einfach tabellarisch vor und sagt, keine Formation sei vorwiegend behaftet, die älteren vielleicht mehr als die jüngeren. Die Tabellen von Hirsch sind nun aber in vieler Hinsicht völlig unrichtig. So summarisch die Sache zu- sammenzufassen, wie er vorgegangen ist, ist in diesen diffizilen und immer komplizierten Fragen unzulässig. H. Bircher hat die Frage eingehend, an Hand der Literatur, aber auch auf zahlreichen geologischen Kropfexkursionen studiert und ist zu bestimmten Schlüssen gekommen, die wir an Hand neuerer Unter- suchungen nur bestätigen können. H. Bircher ging von der Untersuchung seines engeren Heimatbezirkes Aarau aus, indem er die Schuljugend der Gemeinden dieses Ortes genau untersuchte. Es zeigte sich nun nach Fig. 50, dal die rechtsuferigen Ge- meinden der Aare außerordentlich stark mit Kropf behaftet waren, wäh- rend die linksuferigen Juragemeinden bis auf eine sich kropffrei erwiesen. Diese einzelne Gemeinde war nun auffallenderweise reich mit Kropf ge- segnet und man konnte sich diese Tatsache gar nicht recht erklären, bis die geologische Untersuchung zeigte, daß diese Gemeinde ihr Trink- wasser gar nicht der Juraformation entnahm, sondern der Trias (Muschel- kalk in Fig. 50, II, zum Unterschied von Jura /, meistens Dogger und Malm). Nach diesem interessanten Resultate wurde nun der ganze Kanton Aargau daraufhin untersucht, und es zeigte sich dabei, daß das ganze Molassegebiet im Süden des Kantons schwer behaftet war, der Jura sich frei zeigte, geren den Rhein das Gebiet des Trias wiederum eine schwere Endemie trug. Mit dem Zurücktreten der Meeresmolasse gegen den Osten des Kantons zu, gegenüber der Süßwassermolasse, war auch eine Abnahme der Kropfendemie zu konstatieren. E.Abderhalden, Fortschritte. II. 19a Die Verbreitung des Kropfes in der Schweiz nach der Karte von H. Bircher, veriy Die Endemie erreicht ihren Höhepunkt auf der Meeresmolasse der Mittelschweiz, abzunehmen. Daneben ist die Trias intensiv behaftet, während die Jurc Ss INN \ t R RER IRIN IN NUÄN DRIN N N N III N N [7 RRÄÄN 4 Ye N NRZ 57 l RR 4), } DEEHZNN la; NN 2% AR ne 7,77 er $ L MR EL % (d IR OH AA « #4 > Jıluvium undaus, Talböden im E "8 en Älteres Tertiär Y; j 0 N serslpines Tertiar KA ': Kreıdelormation. Gebirge. N Subalpine miocaene = IN den Alpen. UM n Nagelfluh. ach der geologischen Übersichtskarte von Prof. C. Schmidt von Prof. Dr. E. Bircher. ren Südwesten (Untere Süßwassermolasse) und Nordosten (Obere Süßwassermolasse) tion und die krystallinischen Gesteine von der Endemie verschont sind. 50km Pe 1:1,250:000. RN RUN IR Ai ı . . N I IN R I | ee HL ER D ‘ lılı rılı 7, ]: Er IM A | IN IN NS S —; IIISTHER N ZRRDIISDA IN | Nm I ul | | | 7% K — * 7 im Exotische, inneral, Dh. Pıne und södalpi. IHhhH und. ze Carbon, Alte krystalline Ik. Sn a erm/lormahıon. ==e7 orMmanon. best eine, 296 E. Bircher. An Hand der Assentierungslisten für die militärische Rekrutierung wurde die Verbreitung der Krankheit für die ganze Schweiz untersucht. und wie ein Blick auf Fig. 49 zeigt, bot sich ein überraschendes Re- sultat dar. Nicht der verfehmte gebirgige Teil der Schweiz wies die größte Intensität auf, sondern das ökonomisch fruchtbarste Gebiet, die Hochebene.!) Ein Blick auf die Karte genügt, um zu zeigen, daß unten im Süd- westen, am Genfersee, die Verbreitung des Kropfes langsam beginnt, um dann in der Mitte der Schweiz gewaltig anzusteigen, in den Kantonen ern, Freiburg und Aargau die größte Höhe zu erreichen und nun gegen A. Bez. Aarau. Kropfendemie © bei der Schuljugend, N Ei = Ai a: Hill N r \ an) Ne, \ Kropfendemie 7 x b Mi N NIT yR tlg: al N Hi \N NN beı den Rekruten. 7 SIHnE NZ, InZz/, Imm Durchm=5% + Jetzige Quellen. 7 Densbüren (Trias). 2 Asp (Jura). 3 Rupperswil (Jura) 4 frühere Quellen. I Densburen (Jura). I Asp (Trias). IN Rupperswil(Molasse), l nS nz 2 WG den Osten zu langsam abzufallen, am Bodensee und nördlich desselben vollständig zu verflachen, d.h. aber: Im Westen auf der unteren Süß- wassermolasse findet sich wenig Kropf, um dann mit Zunahme der Meeres- molasse sich breiter zu machen, gegen den Osten, wo die obere Süßwasser- molasse immer mehr zutage tritt, abzunehmen (Fig. 51). ') Die Karte ist nach den neuesten Forschungen und nach vom Vorsteher des eidgenössischen statistischen Departements Dr. Guillaume freundlichst überlassenen Karten über die Kropfverbreitung von 1884—1891 und 1908 verifiziert worden. Die Verbreitung der Endemie ist stabil geblieben, in einzelnen kleinen Variationen. issensgzeb. r* Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen W inzelten Ausnahmen, wo sicher lokale Verhältnisse vorliegen, immun und erst in jenen Juratälern, > w Der ganze Jura zeigte sich mit ganz verc GNVT-13L11IW Ilsjeued Japueuıg uayab gdosy pun auyoıpf "NayluwunsaneL SAWSIDIPL ELLE £ e aywwnjsgna; 0% (ung my un uongdıwbag 3psan7207) unlıy ap un sıq aapınız uoa yosolspnnpsipumg '7 OUBLUNCC BUaymnSssHlun 00%, w129539 unersAsg = 6 BRUÖN <.. xnendjuag i auundseg (Bioßusg) subopıog 220 3uu012% 12307 dag sage nz assej0wsauaa aıp 34y21y9S apuasynyydosy aıp,, y UI gım M93P ASSEI0LLUSSSEMSSNE auagl a BSCEOUWFSSEHMSSNE 212U/] "FSSE/0WSEJE i 0% el -€ "SSH OULITSSENSSNTAIAGN IMIMHIIN] « yayyabeueun, 092 : i ’ ! oasseı ' eunp: „ußiaany 43p mvaroply.4u3z sun sıq usausahz OWsauaay' ApIaay | up u0a Uspag Apstuopubo sup Ipanp pyoadsmiyasypmg 'g LLC TTZ ER: j yz — — = T7 u u - DT tere Re > \ h % ' I i ! i j saslspog Yayj SO] B0svaylaı) BOWAnnz Ssmay 395 blapıeg Bas ıpedwas auiw7 guey SSVAS Buseg shorg abouay vogJy NeRYO2SIg VOY LESE Jay VABIOy LI2HIOL NY MODKON Besing nessuym uabunjouoy premiesy2e4) Binguszsemyss asuos BURBS Aug) LOPNON ABu0550, “3 E77, [777 salz Kılz E53 LTE I "assej0WLIUIaSSEMSSNg uauajun pun 13J3q0 Jap jne Saydouy Sap Dunuapusuan 9SUIPOT UMZ 527 2707 .13P Uoa Sapuop1asSSDjoJy sap Nyoalspaupsypaumg "y ('E99T safdoıyy sop Dunyaqtog) "way " yoDu oıfoadsyyruyoasyaan "19 "a EEE 1abardssasaaıy Xropf- K ich S wo noch Reste des Molassemeeres vorhanden sind, zeigen endemien. 19b II. E. Abderhalden, Fortschritte. 298 E. Bircher. Die Trias der Nordschweiz und die Triasmulden im Jura tragen eine exquisit kropfige Bevölkerung. Ganz immun erzeigte sich der Granit der Alpen, wo aber Kropf vorkommt kann er in den Alpen auf ältere Tertiärformationen oder auf die durch Dyno- und Metamorphose aus marinen Sedimenten entstan- denen metamorphen Schiefer zurückgeführt werden. Zur Entscheidung dieser Frage dürfte der komplizierte geologische Aufbau der Alpen nicht herangezogen werden, denn hier sind die Schichten so durcheinander ge- knetet und gewürfelt, daß genaue Daten gar nicht zu geben sind. So entbehren die von Kocher auf Grund seiner im Berner Ober- land an Schulkindern gemachten Untersuchungen erhobenen Einwürfe der Beweiskraft, da diese Gegenden geologisch zu kompliziert sind, und für jeden einzelnen Kropfherd Detailuntersuchungen über Quellen, Verbreitung und Einzugsgebiet, wie auch geologische Bodenformation ein wesentlich anderes Resultat ergeben würden. Die im Berner Jura liegenden Molasse- mulden sind von Kocher ebenfalls nicht genügend gewürdigt worden. Immerhin bestätigte Kocher im allgemeinen die obigen Unter- suchungen, auch er fand die Hauptverbreitungen im Molassegebiet. Für den geologisch kompliziert gebauten Kanton Graubündten fand Lorenz bestätigend, daß die marinen und triasischen Gebilde gegenüber Ur- gestein und nichtmarinen Formationen am intensivsten behaftet, nur hie und da frei sind. Vereinzelte Orte zeigten auch auf kristallinischem Gestein Kropf. Der zur helvetischen Facies der Trias gehörende Bündnerschiefer und das Eocaen finden sich in diesem Kantone behaftet, während die Granite und Gneisse frei sind. Für die Schweiz muß also an der auffälligen Tatsache festge- halten werden, daß die ganze Hochebene der früheren Molasse- meere die stärkste Kropfendemie trägt, unzweifelhaft am in- tensivsten in der Meeresmolasse; daß Trias behaftet ist, da- gegen die Formationen des Jura und die Urgesteine in den Alpen die Kropfendemie nicht mehr tragen. Diese Tatsache läßt sich nun bis in einzelne Details von Gemeinden und Häusern verwerten. So läuft in unserer Nähe im Jura auf der Staffelegg ein Bändchen Keupermergeldolomitsandstein, in dessen Nähe sich auch noch Muschelkalk befindet. Das einzige Haus, das sich auf diesem Bande befindet und das Wasser aus einem Sodbrunnen bezieht, hat kropfige Insassen, während die Bewohner der benachbarten Häuser, die ihr Wasser aus Juraschichten be- ziehen, kropffrei sind. Überschreitet man die Staffelegg, so kommt man zirka 10 Minuten weiter unten in das Unterdorf Asp; das letzte Haus, an der Hauptstraße gelegen, beherbergt Kropfige, während nur 150 m südöstlich davon in zwei Häusern nicht ein einziger Kropfiger zu finden ist. Das Kropfhaus liegt auf Muschelkalk, die anderen jenseits der Straße auf der Juraformation. Geht man auf der Straße weiter, so kommt man in die ersten Häuser Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 299 von Densbüren, die früher, als sie das Wasser aus Muschelkalk bezogen, zahlreiche Kropfige hatten, viele Jahre lang, wie der Hauptteil des Dorfes, aber Jurawasser tranken, nun kropffrei waren. Neuerdings hat die Gemeinde eine Muschelkalkquelle gefaßt. Der Kropf dürfte in absehbarer Zeit dort erscheinen. Dies ein Beispiel, wie man auf geologischen Kropfexkursionen exakt die bestätigenden Beobachtungen machen kann. Es handelt sich dabei um keine Arbeit am grünen Tische, obschon diese zum Ausbau der Theorie nicht vermieden werden kann. Sehr hübsch lassen sich diese Verhältnisse an einem geologischen Profil demonstrieren, wie wir dies in Fig. 52 dargelegt haben. Die unter- strichenen Ortschaften sind Orte der Endemie. Das Profil wurde mir von unserem ehemaligen verehrten Gymnasialprofessor Dr. Mühlberg, eine Auto- rität in der Geologie des Jura, zur Verfügung gestellt. Alle diese kropfbe- sitzenden Ortschaften im Jura liegen nun auf triasischem Gebiete, speziell auf dem marinen Muschelkalk. Nachdem diese Verbreitung des Kropfes für ein räumlich beschränktes Gebiet, in dem nicht sämtliche geologische Formationen anstehend waren, nachgewiesen war, ging man daran, die Untersuchungen auf die Ende- mien anderer Länder auszudehnen, um zu sehen, wie sich anderwärts die- selben geologischen Formationen, aber auch andere in der Schweiz nicht nachweisbare Gesteinsschichtungen verhalten. Hier allerdings mußten Literaturstudien am grünen Tische vorgenommen werden, aber auch Reisen in jenen Gegenden und einzelne Berichte neuerer Forscher bestätigten die gefundenen Tatsachen. Gehen wir so vor, daß wir, der historischen Geologie folgend, die Verbreitung des Kropfes auf der archäischen Formationsgruppe bis zu den recenten Bildungen des Kaenozoicums verfolgen, so ergibt sich folgende Be- lastung der einzelnen (Gebiete. Die Erstarrungskruste des einst glutflüssigen Erdballes, die nicht wie die sedimentären Ablagerungen organisches Leben zeigte, die jetzt in vul- kanischer Tätigkeit Eruptivgesteine zutage fördert, ist kropffrei. So finden wir die Eruptivgesteine der Auvergne, der Puy de Döme von Haute Loire, Cantal, das Vogelsgebirge, die Basalte in der Gegend von Karlsbad, im Neogrodergebirge, in den Karpathen wie auch die Tra- chyte in Südostungarn, in Neu-Granada frei vom Kropfe. Auch im Hegau zeigen sich, wie wir uns selbst überzeugen konnten, die Vulkane frei. Um den Hohentwil gibt es keine Kröpfe. Die Urgneise und Urschiefer, die ersten sedimentären Ablagerungen, sind dort, wo sie rein zutage treten, im großen und ganzen nicht behaftet. Es gibt einzelne seltene Ausnahmen. Es ist dabei nicht zu vergessen, dal) die Urgneise und Urschiefer als älteste marine Bildung der laurentischen und huronischen Formation angesprochen werden können. Das krystallinische Urgebirge der Schweizeralpen, oberes Rhonetal, der obere Teil des Kantons Uri, das Reußtal ist frei. Im Kanton Tessin 19b* Profil durch den Jura von daran bis zum Rhein. (Nach Prof. Dy. 3 F. Mühlberg.) Wasserflgh Fi 499 Amer Wolf Chaines du Jura Achenberg i Neuer Wolf Herzberg Mine de Cıman! Hungerserg Lindgraben Müttigen Egghubel Zyghubel N Kohlhalde .,® 8 A452 Ay früher behaftet, Jetzt zum großen Teile frei, u Jura tabulaire Windelenrzin Hübstel 'Herznach ; Veken UA WILASUTLILIIIIIE Le gende: Pr Malm sup. Kımmerıd. ta bu aıre fo ret Noi pe N Malm mayen Söqguanien Mum RF Heuberg Ober Karsten ; £ Öneberg —_Z2/sten Maim ink Argovien Moraines deig dernıere Naclahıon Lass 9 „.... Moraines ancıennes Öinzgen ' Ahın ; i Oxfordien, Callovion er ° Yesulien Bathonıen Auaternaire Anfante alas Hautes terrosses Bajocien- Toarcien Graviers des Plateaux IN Mollasse degu douce sup. x _ — Mollasse marine lias : Keuper Die unterstrichenen Oyte haben Kropf, Dolomite sup. » Muschelkalk iz Dotomire inf die nicht unterstrichenen sind frei davon. Tertiaine TEE Nollasse dieau douce inf Argılo salifere, JypSe etanh Yydrıde SET Bohnerz Eocene —— Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 30] sind alle diese im krystallinischen Gebiete liegenden Ortschaften, wie auch im Kanton Graubündten, Münstertal, Poschiavo und Brusio von der Eindemie verschont. Kropffrei ist die Bretagne, Nivernais, das Massiv von Beaufort, ein großer Teil von Norwegen, Schweden, das Sesia- und Anzaskatal, alle Teile von Brasilien und Peru, den Rocky-Mountains, im Himalaja und in West- australien, die auf reinen laurentischen oder huronischen Schichten ruhen. Mit dem Eruptivmaterial finden sich nun an vielen Orten mesozoische und tertiär-krystallinische Sedimente innig vermischt, und diese Bildungen mariner Natur, die metamorphen Schiefer, sind nur eine exquisit kropf- führende Schicht. Verwechslung dieser zum großen Teil tertiären Gebilde mit den reinen huronischen und laurentischen Formationen hat nun oft zu dem falschen Schlusse Anlaß gegeben, als ob die Schichten der archäischen Periode kropftragend wären. So zählt gerade Hirsch Gegenden metamorpher Schiefer für ältestes Massen- und Eruptivgestein auf. Die gut durchforschte Provinz Kemaon im Himalaja hat auf Granit und Gneis keinen Kropf. So fehlt er auch auf dem Urgebirge in Sibirien, in England, in Irland, in Nepal, Gherwal und in Hindostan. Die Granit- und Gneismassive der nordamerikanischen Staaten Maine, Rhode-Island, Westkanada, die Stämme der Algonguns, Chippeways und Dacotahs kennen den Kropf nicht, wie die auf Granit lebende Bevölkerung von Lima und Prunello. Mae Carrison berichtet neuerdings, 1906, daß auf den Gneissen von Chitral und Gilgit kein Kropf vorkomme. Ähnliches konnte Hugo in Nepal konstatieren. Dieses allgemein oder regional metamorphosierte klastische und nicht krystallinische Material, das durch hohe Temperaturen, intensive Druckkräfte oder durch hydrochemische Prozesse einen Teil ihres sedimen- tären Charakters verloren hat, zeigt nun die Endemie des Kropfes in Piemont, in den Norischen Alpen, in Siebenbürgen. im Erzgebirge, in den Sudeten, in der Auvergne, in den Vogesen und im Riesengebirge in großer Stärke vorhanden. Auch die Bündnerschiefer, die gleichen mesozoischen Ursprungs sind, zeigen in der Schweiz eine, wenn auch geringe Belastung mit Kropf. Wahrscheinlich dürfte auch die Endemie in Veltin auf derartige Einspren- gungen in die Formation der Urgneisse und Urschiefer zurückzuführen sein. So kann die Endemie auf Fort Silberberg in Schlesien erklärt werden. und auch einzelne Herde in Steiermark (Windisch-Gräz) müssen auf diese Formation zurückgeführt werden. Auf diese Weise sind sicher bei näherer Detailuntersuchung auch die von Hammerschlag für Steiermark noch un- geklärten, allerdings nur kleinen Herde zu deuten. Nach der neueren italienischen Statistik über die Kropfkrankheit in Piemont, Lombardei und Venetien finden wir in den Provinzen Cuneo, Salluzo, Susa, die Schiefer schwer behaftet, so auch in den penninischen Alpen, im Tale der Ivrea, Dora-Baltea und Biella. Ganz gleich findet sich 302 E. Bircher., der metamorphe Schiefer als Kropfursache in einzelnen Orten der Kreise Vercelli. Novara, Domodossola, Pallanza und Varallo. Ganz interessante Aufschlüsse über die Kropfverbreitungsfrage gibt nun das Palaeozoicum. Von der palaeozoischen Formationsgruppe, dem Perm, Carbon, Silur, Devon und Kambrium, findet sich in der Schweiz nur das Carbon in einer sehr geringen Vertretung. An Hand der Literatur- studien wurde auf rein theoretischem Wege die marine Bildung von Silur und Devon behaftet erklärt. Neuere, von anderer Seite in dieser Richtung gemachte Untersuchungen bestätigen vollkommen das gewonnene Resultat. Theoretisch laut der Literaturberichte ist Silur exquisit in Schott- land (Kirkendbrigeht, Dumfries, Lanark, Selkirk, Peebles), in England (Cumberland, Westmoreland), sowie in Wales behaftet. Silur trägt am Nordhang der Pyrenäen, in den Norischen Alpen, im Murtal, im Mürztal, im Pongau, an der oberen Enns, im Harz, in Böhmen; am Ladogasee, am Ufer des Swir, in den Distrikten Werchaturie und Jekaterinenburg am Ural so zahlreiche Kropfige, wie in den Silurbecken von Kanada, am Lorenzostrome, am Ontario-, Erie-, Huron-, Michigansee, so ist es auch Erzeuger der kretinischen Degeneration am Mohawk, am Tenesee, in Albany, Syracus, Buffalo und in Brasilien, in Minas Geraes und Goyaz. Aber auch in der Bretagne, aus der zur Zeit der Arbeit H. Bürchers Berichte stammen, zeigt sich neuerdings nach Mayet ein exquisiter Kropf- herd auf Silur, besonders im Departement Orne, während gegen die Nord- westküste von Frankreich eine erhebliche Abnahme der Kropfverbreitung zu konstatieren ist. Nach neueren Berichten findet sich m Livland und Esthland auf Silur die Endemie mit 19°/, (Dorpat) am intensivsten Kropf vorhanden (Zoege v. Manteuffel). Nördlich und nordöstlich des Ladogasees wie öst- lich des Päsjönesee ist Kropf in Finnland vorhanden, dessen übriges Ge- biet auf Urgestein frei ist, während er auf Silur herrscht. Nach Slawn, Thursfield, Mackenzie findet auf dem Silur, in Lanarkshire, in Selkirk und Peebles sich der Kropf in früherer Ausdehnung, er findet sich auf einer Partie Silur in Obersteiermark, äußerst intensiv in Murau. Fast alle Kropfendemien, die neuerdings beschrieben worden sind, so in Mendoza (Argentinien), Ajmarasindianer (Bolivia), in Montreal, in Hambleden, in Michigan, in Pennsylvanien, Dagestan, im Kaukasus, in Chiniot werden durch die silurische Formation erzeugt. Die neuerdings von Holmgren in Dalecarlien beobachtete schwedische Endemie dürfte un- bedingt auf Silur zurückgeführt werden. Von größter Bedeutung sind die Beobachtungen von Johannesen in Norwegen, der die Endemie am Mjösee, Randsfjord, Tyrsfjord, in Ringerike, Modum nachweisen konnte. Das Urgebirge Norwegens, das fast keine metamorphen Schiefer führt, war kropffrei, so im Rokotal. Wo Mischungen mit Silur eintraten, wie durch den Alaunschiefer in Dyreng, zeigte sich Kropf fast so ausgesprochen wie auf dem Silur von Helgö, Ringsacker, Näs, Farnäs, Wang, Stange, östlich und westlich Totem. Ru Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgeb. 303 Der kropfverseuchte Hof Höstbjör liegt auf Sparagmit und Urgebirge, bezieht aber sein Wasser aus dem Silur. Durch die Kropfendemie in Aas- bygden östlich dem Naisee konnte die geologische Karte korrigiert werden, indem hier statt des eingezeichneten Sparagmit Silur als kropfführende Schicht sich nachweisen ließ. Hier war auch die Grenze der Kropfendemie. Bei Totemwick zeigte sich nur Silur von der Krankheit betroffen, während das Urgebirge ganz frei blieb, wo silurischer Tonschiefer in den Fluß- und Bachtälern freilag, trat auch Kropf auf, während das benachbarte Urgebirge völlig frei war. Auf kleinen Flecken silurischen Tonschiefers oder Alaun- schiefers, die mitten im Urgebirge gelegen waren, wie in Halenstad und Grefsred, wurde Kropf gefunden. So konnte der Einfluß der geologischen Bodenformation für die Kropf- endemie bis ins Detail nachgewiesen werden. ks ist nicht uninteressant zu konstatieren, daß das Silur der baltisch- skandinavischen Facies, welches, von der Petschora—Cornwall (Britannien, Nordfrankreich, Belgien, Skandinavien und Rußland) eine wesentlich inten- sivere Endemie zu tragen scheint als die böhmische Facies von Bogoslowsk bis Portugal; es ist nicht ausgeschlossen, daß der palaeontologische Cha- rakter der betreffenden Facies dabei eine Rolle spielt. Devon ist kropfführend, immerhin scheint diese Formation nicht so intensiv von der Affektion betroffen zu sein wie Silur. Hie und da dürften die Endemien sowohl auf Silur als auch Devon gemeinsam zurück- zuführen sein. Devon zeigt sich in den Pyrenäen, in Berwick, Selkirk, Lanark, in Monmouth behaftet. Vor allem scheint das rheinische Schiefer- gebirge. das Devonbecken von Rheinpreußen, Westfalen und Nassau, wie auch der nach Belgien und Luxemburg davon ausgehende Ausläufer des Devons mit dem Kropfe behaftet zu sein. Ebenso trägt der Hunsrückschiefer die Endemie: Ardennen, Eifel, Westerwald sind auf Devon Kropfherde, so auch die Devongebiete in Schlesien und in Mähren, in den Allerhanies, am Ohio, in Kentucky, in Tennessee und in Kanada. Nicht uninteressant für die Beziehungen von Kropf zur Bodenfor- mation ist die Stellung der Steinkohlenformation. Palaeontologisch besteht die Steinkohlenformation aus zwei Schichtungen, aus einer teilweise rein marin-pelagischen subcarbonischen Formation und der produktiven Form, die sich in Süßwassertümpeln gebildet hat. Es ist wichtig und von prin- zipieller Bedeutung, zu konstatieren, dab die Kropfverbreitung auf diesen beiden Formationen eine ebenso wechselnde ist, wie ihre Entstehungsweise. In Northumberland und Derby sind nur die westlichen Bezirke auf dem Kohlenkalk oder Kulm behaftet und erstreckt sich hier am West- hange bis nach Lancaster hin. Staffordshire, Nottingham, Yorkshire und der westliche Teil von Northumberland wie der Osten von Westmoreland tragen die Endemie. Mit Zunahme des Subcarbons ist eine Abnahme der Endemie verbunden, vereinzelt auftretende Herde können auf eingeschobene marine Subcarbonbänke zurückgeführt werden. Die subearbonischen Gebiete in Belgien um Namur und in Irland, in Westfalen und Nassau tragen 304 E. Bircher. ziemlich große, in Schlesien, Mähren und dem Südosten von Thüringen dagegen nur vereinzelte kleinere Herde. Das berühmte industriereiche appalachische Kohlenbecken von Pitts- burg am Monongahela und Ohio, am Susquehanna, am Cheat, im Osten von Kentucky bis weit hinunter in Tennessee und Alabama sind kropfreiche (Gegenden. Es ist nun auffallend, daß aus den Gebieten der produktiven Stein- kohlenformation, z. B. von England, aus dem Osten von Northumberland und von Derby, aus Oberschlesien, aus Mains bei Belgien, aus dem Ge- samtkohlengebiete der Saar Berichte über den endemischen Kropf fehlen. Gelegentlich einer Exkursion ins Saargebiet haben wir uns von der Richtig- keit überzeugt. Nach eingezogenen Erkundigungen fehlt er auch in den Kohlengegenden von Zwickau und Lugau. In den Obercarbonbecken von Kladno-Rakonitz und von Pilsen fehlt er ebenfalls. Über die gewaltigen Kohlenbecken von Rußland und China liegen keine Berichte vor. Das Auftreten des Carbons in der Schweiz und in Frankreich ist für die Kropfendemie ohne Bedeutung. Ganz ähnliche Verhältnisse finden sich für das folgende permische System oder der Dyas, deren untere Formation, das Rotliegende, eine terrestrische Bildung, keinen Kropf trägt. So ist es frei im Saartal, im Tal der Nahe und Glan, im Plauenschen Grunde zwischen Dresden und Tharand, im Schwarz- und Odenwalde,. wie in den Vogesen. Auch Mittel- böhmen und das Saargebiet scheinen davon frei zu sein. Dagegen ist der marin entstandene Zechstein behaftet am Südrande des Harz, in der Mansfelder Gegend, in Ostthüringen. Kleinere Endemien finden sich im oberen Lahntal, im Gebiete der Werra und Fulda. In England ist der Magnesian Limeston von Nottingham nordwärts bis nach Newcastle hinauf von der Affektion betroffen. Aus Rußland fehlen zuverlässige Berichte, doch ist das große Kemgurbecken mit der Namens- geberin Perm betroffen. Das Rotliegende ist in Frankreich im Zentral- plateau frei, über die Zechsteinformationen in Amerika mangeln bezüglich des Kropfes die Berichte. Die Verbindung von Kropf und geologischer Bodenformation findet eine große Bedeutung auf den verschiedenen Formationen des mesozoischen Zeitalters: in den Sedimenten der Trias, des Jura und der Kreide. Aus den Untersuchungen der Schweiz wissen wir, daß die verschie- denen triasischen Facies auch verschieden intensiv mit Kropf behaftet sind. Während auf Keuper sozusagen keine und auf Buntsandstein nur geringe Endemien auftreten, von denen nicht ausgeschlossen ist, dab sie teilweise Einschiebungen von Muschelkalk zuzuschreiben sind, so findet sich eben dieser Muschelkalk als eine exquisit kropfführende Schichte, wie wir dies für die aargauische Trias gesehen haben. Die Trias ist zu beiden Seiten des Oberrheins bis ins Harz- und Wesergebiet, in der Rauhen Alp, Frankenhöhe, Steigerwald, Fichtelgebirge, Frankenwald, Thüringerwald, im Teutoburgerwald, Spessart, Odenwald und Schwarzwald schwer behaftet. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 305 Es findet sich aber auch linksrheinisch diese schwere Endemie, die bei Belfort beginnt, über die Vogesen bis in den Hardtwald streicht, sie findet sich bei Luxemburg, Metz, Nancy, und erzeugt hier neuerdings, nach Mayet, die schwere Verseuchung der Departements Vosges, Haut-Saone und Marne. Das Moseltal, das Meurthetal, das Tal der Sauer und Alzette und im Triasgebiet der Saargegend tritt Kropf ziemlich ausgesprochen auf. Kleinere triadische Herde trägt der französische Jura in Lons le Saunier, Poligny und St. Claud. Die Salzburger Endemie rührt vom Trias der oberen Salza her. Etwas weniger findet sich die Trias in England behaftet. In Oberitalien findet sich die Kropfendemie auf dem Trias der Provinzen Bergamo und Brescia im Dolmezzo- und Ampezzotale, in den Tälern von Agordo, Piave, Cadore, teilweise in Friaul und Krain. Auch die triadischen metamorphen Schiefer tragen, wie wir gesehen haben, die Endemie. Ebenfalls schwer belastet findet sich die alpine Trias in der Schweiz, dazu sind kleinere Herde im Bakonywald, den Karpathen und Peru nachgewiesen. Von anderen Gegenden, wie Spanien, Balearen und Turkestan fehlen in dieser Beziehung zuverlässige Berichte. Dagegen wird neuerdings von Höfler in Tölz eine vorwiegende Be- lastung der Trias seiner Gegend angegeben. Wenn alle die triadischen Endemien zusammengefaßt beobachtet werden, so zeigt sich, daß in allen denjenigen Gegenden, in denen der Bunt- sandstein oder Keuper vorherrschend sind und der Muschelkalk diesen gegen- über zurücktritt, die Kropfendemie die geringste Ausdehnung auf Bunt- sandstein und Keuper findet, dagegen am intensivsten durch den Muschel- kalk gebildet wird. Das hat sich für das Triasgebiet des Aargaus erweisen lassen, das findet auch der Beobachter in Bayern und Württemberg, wo die Endemie erst auftritt, nachdem in den Tälern der Muschelkalk und Buntsandstein durch die Flußläufe herausgewaschen worden ist. Das hat schon Virchow in Unterfranken konstatiert, neuerdings auch Höfler für den bayrischen Bezirk Tölz. Die Endemie im Gebiete der Weser und des Teutoburgerwaldes zwischen Unstrut und Saale ist gering. Im Regnitz-, Altmühl- und Warnitztale, in Nordfranken, am süd- lichen Harzrande, in Oberschlesien und Polen, in denen der Keuper vor- herrschend ist, kann nur eine sehr geringe Endemie nachgewiesen werden; vor allem aber fehlt die Endemie mit dem Muschelkalke in England in den Tälern des Ouse, Trent, Tees. Vereinzelt kommt er dort nur auf dem Buntsandstein vor, während der Muschelkalk der Sierra Nevada in Spanien wiederum behaftet erscheint. Die relative Immunität des Keupers konnten wir auch mit Tränkversuchen von Keuperwasser nachweisen. So finden wir in derselben Formation die wichtige Tatsache be- stätiet, daß deren paläontologisch marine Facies, der Muschelkalk, die Kropfendemie am intensivsten trägt, auf ihrer fast rein terrestrischen E. Abderhalden, Fortschritte. II. 20 306 E. Bircher. Süßwasserbildung zurücktritt oder wo mehr rein terrestrische Bildungen sind, ganz schwindet, während Buntsandstein als Zwischenbildung mit Strand- und Dünenbildungen eine Mittelstellung einnimmt. Die beiden gewaltigen Meeresbildungen der Kreide und des gesamten Jura sind frei von Kropf und kretinischer Degeneration. Der Jura der Schweiz, von Frankreich, von Schwaben, in Franken bis nordwärts gegen Koburg kennt keine Kröpfe und keine Kretins. Die ganze rauhe Alp ist frei davon, an deren Ostrand auf Muschelkalk und Bunt- sandstein die Endemie intensiv auftritt. Im Jura der Alpen fehlt sie eben- falls vollkommen. Sie fehlt aber auch im norddeutschen Jura von der Grenze von Holland gegen Halberstadt hin, sie fehlt im Wesergebirge, in der Porta Westfalica. auch im Jura Oberschlesiens, wie im isolierten Jura der Oder- mündungen oder in dem mediterranen der Karpathen. Frei sind auch in Nordamerika die Sierra Nevada und der Ostabfall der Rocky Mountains. Der Malm des Jura zeigt im Bresciatischen sehr geringe, sozusagen keine Kröpfe, wie der Jura von Pieve di Cadore und Longarone. Longuet fand neuerdings den Lias des Dep. Isere, Schmid den Jura im Bezirk Bracken- heim, vom Kropfe nicht behaftet. Glown, Thursfield fanden die Jura- und Kreidegegenden in England frei. Wie der Jura erzeigt sich die Kreide vollständig frei in dem Kreide- becken (Paris) von Nordfrankreich (Seine inf., Somme, Oise, Seine et Oise, Eure et Loire). Das ganze breite Band von Jura und Kreide, das von der Kanalküste in fast nördlicher Richtung bis zur Ostküste an der Nord- see reicht, das Kreidebecken der Gironne, kleinere Kreidegebiete in Bel- gien und Westfalen, Lüneburg, Rügen, Wollin, auch in Böhmen, Ober- schlesien und Polen sind kropffrei. Die Kreideformation in New Yersey, Delaware, Virginia, Carolina, am Südende des Alleghany, in Georgia und Alabama, im Mississippibecken und Texas sind so gut vom Kropf verschont wie das Kreidegebirge von Can- tabrien. Als schwere kropferzeugende Gebiete haben nun ein großer Teil der tertiiren Formationen zu gelten. Wie wir an Hand der Verbreitung des Kropfes in der Schweiz gezeigt haben, sind es vor allem die marinen Molassegebilde, die als kropfführend bezeichnet werden müssen. In dem überaus wichtigen Tertiär wechseln marine mit Süßwasser- bildungen ab. die Grenzen zwischen Festland und Meer finden sich ver- schoben, viele Tier- und Pflanzenformen sterben aus, andere treten zurück, wieder andere Tier- und Pflanzentypen beginnen sich großartig zu ent- falten. Die Schichten des Tertiärs allgemein abzugliedern stößt auf große Schwierigkeiten, und wohl selten bereiten geologische Verhältnisse derartige Hindernisse einer allgemein gültigen Deutung. Die ältesten tertiären Gebilde, das Eocän, welches rein mariner Natur ist, trägt die Endemie z. B. in den Rocky Mountains. In der Schweiz trägt der eocäne Flysch die Endemie, so auch in Vorarlberg, in Feld- Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen W issensgeb. 307 kirch, am Tegernsee, in Berchtesgaden, an der Enns, im Salzburgischen. Am Avon, am Test in der Umgebung von London, an der Schelde, an der Sambre, in den Apenninen und der Rivierra, neuerdings auch in der Ge- gend von Triest, vor allem aber in den Departements Aisne und Seine et Marne, im belgischen Hennegau, Flandern und Brabant ist das Eoeän eine schwere kropferzeugende Formation. Das Eocän von Galizien, der Buko- wina, von Kronstadt, im bayrischen Bezirke Tölz nach Höfler, bei Bassano, Belluno, Feltre, teilweise mit Kreide vermischt bei Vonzaso Mangnagio, bei Gemona sind regelmäßig Kropfträger. Die oligocänen Bildungen, die nicht in allzu großer Ausdehnung zu- tage treten, und als tongrische Stufe in der Schweiz marine Bildung, als aquitanische Stufe Süßwasserbildung sind, auch das Oligocän von Südengland wie des Pariser Beckens und des Elsaß stellen eine Mischung brackischer und mariner Bildungen dar und bei der teilweise recht innigen Vermen- gung ist es oft recht schwierig, eine Entscheidung zu treffen, wo die ma- rine untere Stufe kropfführend ist oder nicht. So ist die mehr terrestrische niederrheinische Bucht von Oligocaen südlich Bonn kropffrei, wie auch die niederschlesische Bucht, während in der thüringisch-sächsischen Bucht gegen Leipzig zu marine Ablagerungen vorkommen, die dort allerdings selten vorkommenden Kropf bedingen können. Auch das Oligocän des Elsaß bietet derartig komplizierte Gebilde dar, dal) das Auftreten von Kropf der marinen Einlagerungen nicht ausgeschlossen werden kann. Während die Braunkohle in Norddeutschland, so z.B. die Gegend von Halle vom Kropf frei ist, so finden wir die marinen Oligocängebilde, die bei Helmstedt, Doberg, Magdeburg, Osnabrück etc. auftreten können, überall aber mit zwischengeschobener Braunkohle, relativ kropffrei. Nicht unwichtig ist, daß das Mainzer Becken, welches marin war, teilweise ausgesüßt und in Brack-, dann Süßwasser umgewandelt wurde, auch nur teilweise Kropfendemie trägt, die aber auf alluviale, ange- schwemmte Kropfformationen zurückgeführt werden kann. Wie wir in der Schweiz als Beispiel gesehen haben, muß das Miocän als Kropfgebiet par excellence erklärt werden, daß aber der oberen Süß- wassermolasse einigermaßen ein kropfvermindernder Einfluß zukommt. Neben der intensiven Endemie des marinen Miocäns der oberen Meeresmolasse in der Schweiz finden wir ganz analog in Steiermark die Kropfendemie auf dem Miocän herrschend (Täler der Raab, Mur, Drau, Sau), von wo sie sich auf den gleichen Gebilden bis weit nach Ungarn hinein erstreckt (unteres Raabtal, Komitate: Eisenburg, Zala, Baraya, spe- ziell Usepely und Polak-Hedervar, Grafschaften Neutra und Sohl). Die ganze schwäbisch -bayrische Hochebene trägt die Endemie, so weit die Molassegebilde gegenüber alluvialen und erratischen Bildungen vorherrschend werden (Radolfzell, Pfuhlendorf, Tettnang, Ravensburg, Donau- kreis, Riedlingen, Ehingen, Saulgau, Achtal, Waldsee, Leutkirch, Biberach, Wiblingen, Zuflüsse der Donau, Inn, Als, Salzach, Traun, Mangfall, Vils, Isar, Paar, Lech, Günz, Iller, Wertach). 20* 308 E. Bircher. Gegen das Wiener Becken zu, in dem Flußgebiet der Donau, speziell am rechten Ufer wie auch auf den älteren mediterranen Stufen des Wiener Beckens tritt die Endemie sehr stark auf, während die halbbrackischen Bildungen der marinen sarmatischen und pliocänen pontischen Stufe die Verbreitung eindämmen können. Das Miocän Norddeutschlands, durch reichlich diluviale Bildungen bedeckt, trägt keine Endemie. Die Behaftung des marinen Mainzer Beckens, das, wie wir oben dargetan, marinen Ur- sprungs, später brackisch wurde, trägt vor allem im Oberelsaß eine schwache Endemie, die allerdings auf das nahe darunter liegende Devon und Trias zurückgeführt werden kann. Der jung tertiäre Crag Englands trägt in Norfolk auch nördlich Londons etwas die Endemie. Große Verbreitung gewinnt der Kropf auf den marin miocänen Bil- dungen in Frankreich. Er herrscht auf den miocänen Ablagerungen in den Juratälern des Departements l’Aisne, er herrscht am linken Ufer des Genfer- sees und links und rechts der Rhone, auch in den Nebentälern, in den Departements Isere, Dröme, Vaucluse und Basses-Alpes. Er herrscht im Tertiärbecken von Bordeaux, auf dem Mio- und Plio- cän des Nordhangs der Pyrenäen, in den Departements Landes, Basses- Pyrenees, Haute-Garonne, Ariege. In der Dordogne ist er ebenfalls auf den miocänen Bildungen zwischen den Gebieten der Kreide heimisch. Die Grenzen stimmen mit den Angaben, die Lucien Mayet neuerdings gibt, überein. Das marine Pliocän der Subapenninformation in Italien trägt den Kropf in Reggia, Emilia, Modena, Bologna, auf dem Miocän von Piemont (Turin, Alba, Alessandria, Acqui, Asti, Tortona). Die neue italienische Sta- tistik von 1887 bestätigt diese Verbreitung. Höfler fand im bayrischen Bezirke Tölz das marine Miocän am intensivsten behaftet. Die Süßwassergebilde der aquitanischen, tongrischen und sarmatischen Stufe sind, wie wir gesehen haben, auf der schwäbisch-bayrischen Hoch- ebene, im Wiener Becken, im Rhonetal, der Langue d’Oc, im Perigord im- stande, die Affektion einzudämmen. Dab Süßwassergebilde nicht allein im- stande sind, Kropf zu erzeugen, das beweist das Fehlen der Endemie auf dem aquitanischen Süßwasserbecken von Paris, in dem nirgends marine Tertiäreinschiebungen nachweisbar sind. Das zeigt aber auch klar und an- schaulich das Profil durch das Becken von Bordeaux (wie H. Bircher es gibt), wo die im Silur und Devon beginnende Endemie mit Zunahme der Süßwassergebilde eine Abnahme erfährt, um gegen das Departement Dor- dogne zu gegen das stärker auftretende Miocän wieder eine Zunahme zu erfahren. Ein ganz ähnliches Profil kann auch für die Schweiz konstruiert werden. Fig. 53 soll nach der in einigen Punkten verifizierten Karte von H. Bircher ein ungefähres Bild der Verbreitung des Kropfes in Europa geben. Ein Blick darauf genügt zu zeigen, dal) die Küstenstriche des Dilu- viums kropffrei sind. Die quaternären marinen Sedimente sind also nicht Die Verbreitung des Kropfes in Europa nach Dr. H. Bircher (1883), verifiziert von Dr. E. Bircher 1910. Fig. 53. f H | ii W Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. NY; a imstande, Kropf zu erzeugen. hältnisse nachweisen. € I, Mh I BR in & IN I JH 309 (Juaternär verhält es sich wie das Ur-, Kreide- und Jurameer. Auch für Amerika lassen sich ganz dieselben Ver- 310 E. Bircher. Verschieden verhalten sich die alluvialen fluviatilen Gebilde, die in Syrien, Persien, Bengalen, Assam, im Osten von Nordamerika, in Columbia und teilweise in Brasilien vom Kropfe verschont sind. In der Schweiz, in Ungarn, in der Rhein-, besonders aber in der Poebene, wo die alluvialen Gebilde aus kropfführenden Formationen stammen, finden wir auf diesen alluvialen Gebilden den Kropf häufig intensiv verbreitet. In einigen Fällen kann die Endemie jedoch auch auf darunter gelegene Molasse oder Trias- gebilde zurückzuführen sein. Zur Sicherstellung sind natürlich Detailunter- suchungen von größter Wiehtigkeit. Als dritte Tatsache der Kropfätiologie hätten wir daran festzuhalten, daß die Verbreitung des endemischen Kropfes enge mit der geolo- gischen Bodenformation zusammenhängt, vor allem betroffen sind marine Bildungen des Paläozoikums der Trias und des Ter- tiär. Alle Süßwasserbildungen sind frei, dazu die Eruptivgebilde, das kristallinische Gestein und die Sedimente des Jura- und Kreidemeeres. Die Beziehungen zwischen Kropf und Kretinismus sind, wie wir oben dargetan haben, unzweifelhaft sehr enge, es prägt sich das auch in der Ausbreitung der Endemie sehr deutlich aus. Schon Virchow konnte be- merken, „daß überall aber, wo der an territoriale Bedingungen gebundene Kretinismus vorkomme, auch der Kropf endemisch sei. Nicht überall, wo Kropf ist, findet sich auch Kretinismus, z. B. in Nordamerika. Er betrachtet daher den Kropf als das Resultat der geringeren, den Kretinismus als das Ergebnis der stärkeren Einwirkung der schädlichen Potenz. Es sind nur ganz wenig Kropfgebiete, in denen nur vom Kropfe be- richtet worden wäre, ohne daß des Kretinismus eine Erwähnung getan würde. Aus Schweden, Finnland, Alabama und Neugranada, Brasilien, Sibi- rien, England, einzelnen deutschen Gegenden fehlen allerdings Berichte über die endemische Verbreitung des Kretinismus, aber dies beweist noch nicht, daß er vielleicht dort doch vorhanden wäre. Dagegen wird von allen Kropfgegenden des kontinentalen Europas berichtet, daß der Kretinismus manchmal in erschreckender Häufigkeit vorhanden. Beim Durchgehen der diesbezüglichen Berichte ist uns nun ein Punkt aufgefallen. Die Kropfgebiete von Trias und Tertiär sind auch vorzugs- weise die Träger einer äußerst schweren Kretinenendemie, während die paläozoischen Kropfformationen Devon, Silur und Perm sozusagen viel weniger schwere Herde von Kretinismus aufweisen, obschon er auch dort vorkommt. Er fehlt auf dem Silur in Norwegen, in Deutschrußland, in Amerika wie auch auf dem Devon. Andrerseits finden sich in anderen kegenden diese Formationen. (Silur, in Schottland und Wales, teilweise Rußland, Ontario, Minas Geraes); Devon im Hunsrück und Eifel-, Aar-, Sieg-, Mosel-, Saartal, Subecarbon in England und Frankreich, vom Kretinismus verschont. Wir halten diesen Punkt aller Beachtung wert, weitere Forschungen können von hier ausgehend darauf hinführen, durch welche ätiologische Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 311 Unterschiede Kropf und Kretinismus bedingt sind. Vor allem aus scheint er auf der oberen Meermolasse und dem Muschelkalk vorzukommen. Einzelne traurige Beispiele weisen auch auf den engen Zusammen- hang zwischen Bodenformation und Kretinismus hin. So berichtet schon Virchow, dal) Beamte, aus kropffreier Gegend nach Reichenhall versetzt, kretinistische Kinder bekamen, nach weiterer Versetzung wieder normale Nachfolger hatten. Nach Morel bekam ein Leiter eines Gestütes, Departe- ment Meurthe, kretinistische Kinder, nachdem er vorher normale gehabt hatte. Nach Syrnitz, einer Faktorei in Steiermark, zog ein neuer Besitzer aus kropffreier Gegend. Seine Frau starb mit Kropf behaftet als Halb- kretin. Die zweite Frau, aus kropffreier Gegend, wurde wie auch der Mann zum Kretin, ebenfalls 5 Kinder aus erster Ehe. An diesem Orte sollen die Dienstboten und selbst das Hornvieh kretinistisch degenerieren. Wir selbst kennen eine hochgradige Kretine, deren Eltern in einer nicht Kropfgegend (Jura) normale Kinder zeugten. Nachdem sie in unsere Kropfgegend (Molasse) gezogen waren, bekamen sie, obschon selbst nicht kropfig geworden, ein schwer kretines Kind. Diese exakten Beobachtungen beweisen, daß der Kretinismus nicht nur eine hereditäre Affektion ist, sondern dem Boden zugeschrieben wer- den muß, daß die Therapie der Blutauffrischung durch Heiraten von In- dividuen aus kropffreien Gegenden nutzlos ist. H. Bircher hat an Hand verschiedener Statistiken genau nachweisen können, dal) die Verbreitung des Kretinismus in den schweizerischen Kan- tonen Aargau und Bern enge an die Kropfendemie angeschlossen ist. Im Jura gibt es keine Kretins, während diese in erschreckender Häufigkeit auf Trias, Eocän und Meermolasse vorkommen. Nach den Berichten von Meyer-Ahrens und eigenen Exkursionen, die allerdings sehr lückenhaft sind, stimmt dies für die übrige Schweiz. Die Süßwassermolasse kann im Osten der Schweiz die Endemie zur Abnahme bringen. Die Trias ist in Baden, Bayern und Württemberg, in den Vogesen, Meurthe et Moselle, im Inn- und Zillertal, Pon-, Pinz- und Lungau, in Bergamo, Brescia und dem Venetianischen schwer von Kretinismus betroffen. Die triasischen metamorphen Schiefer tragen in den italienischen Alpen und Frankreich (Departement Uantal, Correze Lozere) eine schwere Kretinenendemie. Das Eocän verschuldet in Vorarlberg, Reichenhall, Berchtesgaden, Trau-, Ennstal, Savoyen, Hautes-Alpes und Alpes maritimes, Bukowina und Galizien und an den Abhängen der Karpathen manchen Kretinen. Neben der schweizerischen Endemie ist die marine Molasse in Steier- mark und auch um den Bodensee herum, in Savoyen, Departement de l’Aisne, in der Dauphine und der Provence, im Becken von Bordeaux und in Italien als plioeäne Subapenninformation für die Affektion verantwortlich zu machen. Die Kretinenendemie in Steiermark verläuft nach den neuesten sta- tistischen Erhebungen von Scholz der Kropfverbreitung genau parallel. Wie von H. Bircher der Begriff der endemischen Taubstummheit festgestellt worden ist, so war auch er der erste, der auf Grund statisti- 33 E. Bircher. scher Erhebungen auf den engen Zusammenhang von Taubstummheit und Kretinismus hinwies. Er suchte bei seiner Statistik soweit als möglich die Fehlerquellen zu vermeiden, und dabei machte sich nun der Mangel guter Statistiken sehr fühlbar. Bezüglich Deutschland liegt eine vorzügliche Taub- stummenstatistik nun vor, es fehlt aber dort eine gleichmäßige Kropf- enquete für das ganze Reich, die in der Lage wäre, wichtige Aufschlüsse zu bringen. Wir möchten es hier nicht verfehlen, nachdrücklichst darauf hinzu- weisen, wie wichtig es wäre, wenn in Deutschland, das ja in so vielen hygienischen Fragen bahnbrechend vorgegangen ist, eine eingehende Zäh- lung und Untersuchung der Kretinen und Kropfigen vorgenommen würde. Soviel schon jetzt aus der deutschen Taubstummenstatistik zu ent- nehmen ist, so sind die zahlreichen Taubstummenherde mit dem Auftreten der Kropfendemie verbunden. Ganz sichere Befunde in dieser Richtung auf Grund allerdings nicht sanz exakter, aber doch sehr verwertbarer Statistiken besitzen wir für die Schweiz. Für den Kanton Aargau ergab sich das Resultat, das mit dem Be- funde für Kropf und Kretinismus übereinstimmt, daß das Juragebiet fast keine Taubstumme kennt, während Trias und Molasse behaftet sind. Im Süden, wo die Meeresmolasse am intensivsten auftritt, ist auch die größte Taubstummenendemie vorhanden, die gegen den Osten der Süßwasser- molasse zu rasch abnimmt. Die Taubstummenzählung vom Jahre 1870 be- stätigte die Befunde von Michaelis für das Jahr 1843 im Aargau. Die Verhältnisse sind sich also gleich geblieben. Die Zählung von 1870 für die Schweiz zeigte, daß die Taubstummen- endemie dem Kropfe ganz parallel verläuft, auf der unteren Süßwasser- molasse in der Westschweiz ist sie gering, findet ihren Höhepunkt auf der Meermolasse der Zentralschweiz, um gegen die obere Süßwassermolasse der Ostschweiz rapid abzunehmen. Ebenso sind die Trias der Schweiz behaftet. Drei Statistiken der Jahre 1846, 1868 und 1870 für den Kanton Bern beweisen, daß auch in diesem Gebiete die Taubstummheit die Mo- lasse bevorzugt und im Jura und den Alpen zurücktritt. In Unterfranken hält sich die Taubstummheit vorzugsweise an den Muschelkalk des Trias, um auf dem Keuper von Ober- und Mittelfranken, dem Jura der Oberpfalz zurückzutreten. Das Eocän von Schwaben, Ober- und Niederbayern ist vorzugsweise behaftet; ähnlich wie der Kropf nimmt die Taubstummheit auf dem Trias gegen Osten ab. In Württemberg ist auf dem Trias Kropf und Taubstummheit vorhanden, auf dem nicht ma- rinen Tertiär und dem Jura fehlt sie. In Baden, Elsaß-Lothringen, Hessen, Hohenzollern, Sachsen-Weimar und Meiningen findet sich die endemische Taubstummheit, um gegen das norddeutsche Flachland rapid abzunehmen. Hach Hammerschlag fällt die prozentuale Verbreitung von Kretinis- mus für Steiermark genau mit den Befunden für die Taubstummheit zu- sammen. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 313 Die Kretinenbezirke Murau, Judenburg, Leoben weisen am meisten Taubstumme auf. In Zisleithanien werden Kärnten, Salzburg, Steiermark von den schwersten Taubstummen- und Kretinenendemien betroffen und in den übrigen Gebieten gehen beide Affektionen einander parallel. | Genau dieselben Verhältnisse können für Frankreich und Italien nach- gewiesen werden. Die Kropfendemie wird in den Departements Hautes- Alpes, Ariöge, Isere, Basses-Alpes, Haute-Loire, Lozere, Moselle, Bas-Rhin, Haut-Rhin, Basses-Pyrenees, Hautes-Pyrenees, Meuse, Meurthe, Puy-de-Döme, Jura, Cantal von einer großen Zahl Taubstummer begleitet, während in den Departements mit sporadischer Taubstummheit der Kropf stark zurück- tretend ist. In Amerika wird die Kropfendemie in den Staaten New York, Penn- sylvanien, Ohio, Virginien, Indiana, Michigan, Illinois, Kentucky, Tennessee, Alabama, Maine, Vermont, Connecticut, Massachusetts, New Hamphsire von endemischer Taubstummheit begleitet. Von Allara ist neuerdings auch nachgewiesen worden, daß diejenigen Provinzen Italiens, die am meisten Kretine aufweisen, auch die zahlreich- sten Taubstummen besaßen. So sind in der Lombardei und Pyrmont (Son- drio, Lodi, Brescia, Pavia, Bergamo, Aosta, Cuneo) viel zahlreichere Taub- stumme anzutreffen als in Ligurien und Venetien. Dasselbe Verhältnis ergibt sich auch für ganz Italien nach der von Allara gelieferten Statistik. Überall ist die endemische Taubstummheit auch an die geographischen und geologischen Grenzen von Kropf und Kre- tinismus gebunden. Auch auf diesem Wege ist der unleugbare Zusammenhang zwischen Kropf, Kretinismus und endemischer Taubstummheit erwiesen. Wir möchten noch darauf hinweisen, dal in vielen Fällen von Taub- stummheit auch Augenstörungen, Nystagmus und Strabismus, neuerdings auch Störungen im Augenhintergrund nachgewiesen worden sind. Nicht unwichtig scheint der von Vulpius angenommene Zusammenhang zwischen Kropf und Star zu sein. Es wäre interessant zu erfahren, wie es sich mit der Verbreitung des Stars verhält. Es wäre noch einer Affektion zu gedenken, die in einem engen Zu- sammenhange mit dem Kropfe zu stehen scheint. Es ist das Kropfherz, welches von F. Kraus beschrieben, von Minnich zum Gegenstand einer Monographie gemacht worden ist. Das Kropfherz, das sowohl durch mechanische als auch toxische Mo- mente von seiten des Kropfes erzeugt werden kann, tritt nach Blauel in rund 47°7°/, bei Kropfträgern auf, wovon 31'7°/, durch toxische, 16°), auf mechanische Ursachen zurückgeführt werden müssen, Wie neuerdings Ortner hervorhebt, muß das Kropfherz strenge von dem Morbus Basedowii ab- getrennt werden. Es zeigt sich durch Kombination folgender Symptome Kropf, Herzklopfen und Zittern. Das Kropfherz tritt in den Gegenden der Kropfendemie auf und bildet hier eine weitere schwere Schädigung der Bevölkerung und muß 314 E. Bircher. auch zur Krankheitsgruppe der kretinischen Degeneration gerechnet werden. Minnich bespricht eine ganze Anzahl von Herzstörungen, die er auf die endemische Struma zurückführen konnte, so mußte er 0'83°/, der Rekruten im Bezirke Baden (Aargau) wegen Kropfherz untauglich erklären. Statistische Erhebungen über das Kropfherz sind nur wenige vor- handen. Blauel fand alle kropfführenden geologischen Formationen mit Kropfherzen behaftet, es kann das Kropfherz daher nicht auf eine be- stimmte geologische Schicht zurückgeführt werden. Wir besitzen in der Schweiz eine sehr schöne statistische Arbeit von Schultheß über die Herzkrankheiten bei der Aushebung und Ausmusterung der schweizerischen Armee in den Jahren 1895—1904. Leider hat in dieser sonst mustergültigen Arbeit der Kropf als Krankheitsursache bei Herz- affektionen keine Berücksichtigung gefunden. Immerhin kann man aus den zahlreichen Tabellen, Kurven und graphischen Darstellungen ersehen, daß eine große Zahl der in der Schweiz wegen Herzaffektionen ausgemusterten Soldaten und Rekruten ein sogenanntes Kropfherz haben, gerade die Rekrutierungskreise der Meeresmolasse zeigen wegen Herzaffektionen viel- mehr untaugliche Leute als das Gebiet des Jura und die kropffreien Ge- genden der Alpen. Dieses Verhältnis wird sofort auffällig, wenn man von den Schultheßschen Fällen diejenigen abzieht, bei denen die Krankheits- ursache, wie Rheumatismus, Influenza etc., genau erkennbar war. Der Jaxt- und Sehwarzwaldkreis, die relativ viel Kropfige haben, liefern nach Riedle (zit. nach Hüörsch) viele Herzkranke; schon Furaris er- klärte (1881 zit. nach Hirsch), dal Herzhypertrophie im Tale der Varaita (Apenninen) in gleicher Frequenz wie daselbst endemisch herrschender Kropf und Kretinismus angetroffen werde. Auch in Oberösterreich scheinen nach Ozlberger ähnliche Beobachtungen zu machen sein. Über die Entstehung des sicher mit dem Kropfe zusammenhängenden Kropfherzens herrscht zurzeit noch eine Kontroverse. Wir möchten darauf hinweisen, daß bei unseren Ratten, bei denen experimentell Kropf erzeugt worden war, regelmäßig Vergrößerung des Herzens an Gewicht wie auch in den Maßen nachgewiesen werden konnte, die auf ein experimentelles Kropfherz schließen ließen. Theoretische Erwägungen. Nach unseren Ausführungen im vorigen Abschnitt haben wir in bezug auf die Ätiologie der kretinischen Degeneration (Kropf und Kropfherz, Kre- tinismus und Taubstummheit) folgende drei Tatsachen in Erwägung zu ziehen. 1. Der Kropf wird durch das Trinkwasser erzeugt. 3. Der Kropferreger scheint nach unseren heutigen Kennt- nissen nicht ein Organismus, sondern eine toxisch wirkende Sub- stanz zu sein. 3. Die kretinische Degeneration ist an gewisse Bodenfor- mationen gebunden. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 315 In welchem Zusammenhange stehen diese drei Tatsachen nun mit- einander ? Daß der Kropf nicht durch eine gewisse mineralische Beimengung, wie Fe, Mg etc. erzeugt werden kann, haben wir nach unseren obigen Ausführungen gesehen. Die Schilddrüsenphysiologie weist darauf hin, dab die Halogene in einem engen Zusammenhange mit der Schilddrüsenfurktion stehen, ob dies aber auch für den Kropf zutrifft, dafür fehlen noch die Beweise. Immerhin möchten wir nicht verfehlen darauf hinzuweisen, dab in Kropfgegenden in den Schilddrüsen mehr Jod vorhanden ist als in kropffreien Orten, auch der Jodstoffwechsel scheint bei den verschiedenen Kropfformen ein verschiedener zu sein (A. Kocher). Aus Punkt 1 und 3 ergibt sich, daß das Quellwasser gewisser geolo- gischer Bodenformationen kropferzeugend sein muß, während das Wasser anderer Formationen keinen Kropf macht. Daß dem. in der Tat so ist, sind wir in der Lage, an sicher und genau beobachteten Beispielen zu er- weisen, und auch auf experimentellem Wege sind wir damit beschäftigt, die Richtigkeit dieser Annahme zu bekräftigen. Vorerst müssen wir das von uns schon mehrere Male beschriebene Beispiel der Gemeinde Rupperswil kurz reproduzieren. Die aargauische Gemeinde Rupperswil, die bis zum Jahre 1884 ihr Trinkwasser aus Bächen und Sodbrunnen der Meeresmolasse bezog, ent- schloß sich auf Rat ihres einsichtigen Pfarrers Müller, dem Vorschlag von H. Bircher zu folgen und eine etwas teurere neue Wasserversorgung zu erstellen und das Wasser jenseits der Aare im Jura des Malms zu fassen (Fig. 49). Sie hatte 1885 . . . . 59%/, Kropf unter der Schuljugend LBaBr re ZEN, LAGER ER IE 1 121 5 9 a ak 1 FREE ‚ R A LIEFEN EN NIIDU], . e A „keine Kre- tine mehr 1870 . . . . 120,0. Taubstumme, 7°/,, Kretine. Diese Statistik veranschaulicht nun deutlich die rapide Abnahme der Kropfendemie. Die 2°5°/, bei unserer Untersuchung im Jahre 1907 rührten von aus Kropfgegenden eingewanderten Schulkindern her oder stammten aus einem großen Gebäude, dem Kosthaus, einer Mietskaserne, die noch Sodbrunnenwasser besaß, seither ist auch dieses Haus an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen, und das Dorf weist nun kaum 1°/, Kropfige auswärtiger Provenienz auf. Kretine und Taubstumme gibt es keine mehr. Das Dorf steht über 25 Jahre von H. Bircher und mir in bezug auf Kropf unter Kontrolle, und nur noch in dem einzigen Hause, das jetzt noch nicht an der Wasserversorgung angeschlossen ist, herrscht Kropf. Wir sind nun auch in der Lage, ein zweites ganz ähnliches Beispiel, das wir seit kurzem in Beobachtung haben, anzuführen. Das Dorf Asp (s. Fig. 49), 316 E. Bircher.. auf dem Muschelkalk gelegen, im Bezirk Aarau der einzige Ort links der Aare, welcher Kropf hat, hatte im Jahre 1883 unter der Schuljugend 34°/, Kropf und $°/,, Kretine und 15°/, Taubstumme. Im Jahre 1907 wurde durch eine Privatgesellschaft eine neue Wasserversorgung dort ein- gerichtet; das Einzugsgebiet der Quelle liegt, wie Fig. 49 angibt, auf dem Hauptrogenstein im Dogger des Jura. Nur sukzessive schloß die Be- völkerung an die Wasserleitung an. Hier fanden wir nun bei unserer letzten ‘xkursion im Jänner 1910 folgendes interessante Resultat. Das ganze Dorf wies 12°7°/,,. die Schuljugend 22'2°/, Kropf auf und eine ganze Anzahl Kretine und kretinoider Kinder. An der neuen Wasserversorgung beteiligt ist vor allem das Ober- dorf, während im Unterdorf noch aus dem alten Muschelkalkbrunnen ge- trunken wird. Im Oberdorf sind 6'4°/, Kropfige bei den Einwohnern nachzuweisen gewesen, Jugendliche Kropfige gab es nur noch 5°/,, Erwachsene 8°/,. Im Unterdorf dagegen fanden sich 38°/, Kropfige bei der Bevölkerung, davon entfielen 66°/, auf die Kinder, 20°/, auf die Erwachsenen. Wir sehen also in einer und derselben Ortschaft den Kropf mit der Änderung des Einzugsgebietes der Quelle in kurzer Zeit von drei Jahren verschwinden, während der untere, allerdings kleinere Teil des Dorfes noch schwer unter der Degeneration leidet, da selbst 3 typische Kretins, 3 Kre- tinoide nachgewiesen werden konnten. Es ist interessant zu konstatieren, daß im Oberdorf einzelne Häuser erst seit Neujahr 1910 an die neue Wasserversorgung angeschlossen sind, und gerade diese Familien waren es, welche die vereinzelten Träger vom Kropf im oberen Teile des Dorfes lieferten. So macht der sogenannte Schloßbrunnen sicher Kröpfe, und auch ein Kretinoider konnte nachge- wiesen werden. Dieser Brunnen läuft direkt aus dem Muschelkalk heraus, ebenso der Schwefelbrunnen, auf den 9 Personen mit Kropf zurückgeführt werden konnten. Ein Brunnen galt früher schon als kropffrei, und seine Untersuchung ließ den entscheidenden Schluß zu, daß es sich um eine Juraquelle handle. Damit aber das Experimentum erueis nicht fehle, so hat seit Ende 1909 die benachbarte bis anhin kropffreie Gemeinde Densbüren eine neue Wasserversorgung, ohne uns zu beraten, eingerichtet und faßt jetzt das Trinkwasser mitten im Gebiete des Muschelkalks, bei einem Bauern- hofe Ofenbüel, dessen Einwohner kropfig sind. Es ist also zu erwarten, daß dieses Dorf nun der kretinen Degeneration anheimfallen wird. Tierversuche mit dem Wasser dieser Quelle sollen ebenfalls ausgeführt werden. Eine ganz interessante Beobachtung verdanken wir Herrn Dr. Rossel, der uns auf die eigentümlichen Verhältnisse des Dorfes Wiesen im Kanton Graubünden aufmerksam machte. Er beobachtete dort, daß ein großer Teil Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 317 der Bevölkerung, welche dort vor der neuen Wasserversorgung aufwuchs, kropfig ist, auf alten Photographien sah er zahlreiche kretinistische Typen. Das Wasser entstammt aus Verrucano, und Kalkstein (Sandsteine, Porphyre und Tuffe, dolomitähnliche Kalksteine und Konglomerate von Granit, Diabas, Diorit, Gmeise ete. des Rotliegenden, also einer terrestrischen Bildung) sickert nun aber durch die Rauhwacke des marinen Zechsteins durch. und wird so zum Kropferzeuger. Bei der neuen Wasserversorgung vor 17 Jahren nun wurde das Wasser direkt aus dem Verrucano und Kalk- stein gefaßt, und nach der zuverlässigen Angabe des längere Zeit dort seßhaften Dr. Rossel ist die heranwachsende Generation bis zu 183—22 Jahren nun völlig kropffrei. Ähnliche Beobachtungen vom Schwinden des Kropfes nach neuer Wasserversorgung konnte er in Igis und Zernetz machen. Schlagendere Beispiele für die hydrotellurische Kropftheorie lassen sich nun nicht geben, besonders, wenn nun auch experimentell diese Tatsachen erhärtet werden können. Wie wir oben schon dargetan haben, ist es uns gelungen, durch Tränken der Tiere mit verschiedenem Quellwasser Kröpfe zu erzeugen. Auf das Wasser der Meeresmolasse von Aarau und Rupperswil haben die Tiere prompt reagiert, ebenso ist es uns gelungen, mit dem Wasser aus Muschel- kalkquellen (Trias) Kröpfe zu erzeugen. Das dem Keuper wie dem Jura entnommene Wasser konnte keine Kröpfe machen. Wir haben versucht, Kropfwasser dadurch zu erzeugen, daß wir Mo- lassegesteine (1 m?) mit sterilem Wasser auslaugten. Der Tränkversuch mit diesem Wasser ist negativ ausgefallen. Es konnten keine Kröpfe erzeugt werden. Beweisen tut dieser Versuch absolut nichts. Wir müssen uns vor- halten, dal) die auszulaugende Gesteinsschichte viel zu gering gewesen ist, als daß die Noxe hätte daraus extrahiert werden können. Dann ist wahr- scheinlich auch die Zeit, während welcher das Wasser mit den Gesteinen in Verbindung gewesen ist, eine viel zu kurze gewesen. Wenn wir daran denken, welche Mächtigkeit diese kropf- und nicht kropfführenden For- mationen besitzen, wie vielleicht jahrelang, ja jahrhundertelang das Wasser in ihnen sich aufhält, so kann es uns nicht wundern, dal) dieser Versuch negativ ausfiel. Erfreulich und für die praktische Bekämpfung der Krankheit gewisse Aussichten versprechend ist der folgende Versuch, der bei 3 Ratten bis jetzt positive Resultate ergeben hat. Wir haben kropferzeugendes Wasser künstlich durch den Malm des Jura geschickt, und dabei ist nun bei einer Versuchsdauer von 6 Monaten niemals Kropf nachzuweisen gewesen. Sollte sich diese Tatsache in weiteren Versuchen bestätigen, so wäre damit ein einfaches und sicheres Mittel zur Besserung des kropfigen Trinkwassers gefunden. Um kropfimmunes Wasser zu erhalten, sind jetzt auch Versuche mit der Ozonisierung von Wasser im Gange, über deren Resultat jedoch noch kein Urteil gefällt werden kann. 318 E. Bircher. Ziehen wir zur Theorie die von uns oben festgelegte Tatsache eines toxinogenen Ursprungs des Kropfes herbei, so können wir zu folgenden Annahmen gelangen. Es besteht das kropferzeugende Agens präformiert im Wasser. Tritt dieses Wasser nun durch gewisse Schichten der Molasse oder der Trias, so lassen diese das Kropfagens glatt durchtreten oder aber das Wasser läuft durch Süßwasser- oder terrestrische Gesteinsbildungen, und in diesem wird das Agens an die Gesteine gebunden, d.h. das Wasser wird nicht mehr kropferzeugend. Gegen diese Annahme, wenigstens gegen den ersten Teil derselben, spricht die Beobachtung von Rossel und eine ähnliche, die von Billiet gemacht worden ist, und die wir noch kurz be- rühren werden. Dieser Anschauung gegenüber kann nun angenommen werden, das kropferzeugende Agens befinde sich präformiert in diesen gewissen geolo- gischen Bodenformationen (wahrscheinlich als kolloidale Substanz), das durch diese durchsickernde Wasser wird mit dem Agens gesättiet und wird so kropferzeugend, während gewisse Formationen dieses Agens nicht enthalten und so keinen Kropf erzeugen werden. Für diese Anschauung spricht nun recht vieles. Vor allem die oben zitierte Beobachtung Rossels, dann die Mitteilungen Billiets. Im Hofe der Normalschule von Albertville war ein 12 tiefer Sodbrunnen. Von 1840 bis 1560 war daselbst eine Mädchenschule gewesen, deren Schülerinnen stets vom Kropf verschont geblieben waren. Als 1860 einige Reparaturen am Hause vorgenommen wurden, verteilte man den Schutt im Hofe rings um den Brunnen herum, ein bis zwei Fuß hoch; dann bezog eine Normal- schule (Lehrerseminar) von 60—80 Zöglingen das Gebäude, von denen 20 oder 25 in kurzer Zeit Kröpfe bekamen. Darauf ließ der Rektor der Schule den Brunnen zuschütten und eine Zisterne graben. Der Kropf verschwand daraufhin völlig. Eine ähnliche Beobachtung konnte Gauthier im Fort de l’Eeluse machen. Die Soldaten im oberen Teile bekamen bei Zisternenwasser keine Kröpfe, während das in den unteren Teil des Forts durchsickernde Wasser Kröpfe machte. Diese drei Beispiele weisen entschieden daraufhin, daß das kropf- und kretinenerzeugende Agens in gewissen Schichten ausgelaugt wird, wenn auch unser darauf gerichteter experimenteller Versuch negativ ausgefallen ist. Gegen die Annahme eines präformierten Agens spricht auch der Umstand, daß das Regen- und Zisternenwasser niemals Kropf erzeugt hat. Die vermutliche Tatsache, daß es gelingt, durch kropffreie Forma- tionen Kropfwasser immun zu machen, spricht nicht gegen eine Auslau- gungstheorie. Es ist ja sehr leicht möglich, daß das kropffreie Gestein imstande ist, das Agens festzubinden, daß in diesem Gestein das kropf- erzeugende Agens ebenfalls vorhanden ist wie in den anderen Formationen, nur daß die Bindung eine viel festere und straffere ist, so daß das durch- Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 319 sickernde Wasser nicht imstande ist, wie bei den anderen Formationen das Agens aufzulösen und in sich aufzunehmen. Nachdem wir nun aber wissen, dal) das kropferzeugende Agens in gewissen Formationen vorkommt, so sind wir sicher auch berechtigt, uns die Frage vorzulegen, welche Beschaffenheit nun dieses Agens hat. Wir haben schon gesehen, dab es sich kaum um mineralogische Beimischungen handeln kann. Wir haben gesehen, daß es sich nicht um einen mit den heute üblichen Methoden nachweisbaren Mikroorganismus handeln kann. Aber das schließt noch nicht aus, daß es sich dennoch um einen Mikro- organismus handeln kann, der eben imstande ist, die Berkefeldtonkerze zu durchdringen. Mit dieser Möglichkeit muß unbedingt gerechnet werden, es kann sich aber, wie wir oben dargetan haben, um eine kolloidale Substanz handeln, über deren Eigenschaften wir noch herzlich wenig wissen. Es ist aber auch ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß es ein Mikroorganismus ist, der auf diesen gewissen Gesteinsformationen und, von diesen gedeckt, an ihnen festhaftet und von hier aus seine Toxine an das Wasser abgibt. Gewisse Experimente, die wir auszuführen im Begriffe sind, weisen darauf hin, daß das Toxin den Kropf und das Kropfherz er- zeugt, daß der Organismus selbst zu den Wachstumsstörungen des Kreti- nismus führt. Wie in einer neueren Arbeit Frech!) klar dartut, so müssen in der Entwicklung des Lebens geologische Triebkräfte eine große Rolle spielen. Und gerade durch diese Arbeit wird die Einsicht in die Ätiologie des Kropfes und sein Zusammenhang mit der geologischen Formation wesent- lich gefördert. So hängt der Kalkgehalt des Ozeans mit der Entwick- lung der Meerestiere zusammen. So finden wir eine zweimalige Ent- wieklung kalkabsondernder Protozoen, von Nummuliten, die in Obercarbon und im Eocän ein gewaltiges „explosives“ Auftreten fanden, wie es Frech nennt. In der Trias trifft man wiederum eine mächtige Entwicklung der kalkabsondernden Fähigkeit der Riffkorallen, deren Mächtigkeit, wie z. B. der Kropf auf dem Jura und Kreidemeer, ein entschiedenes Zurückgehen erfährt. Die Brachiopoden des Kambriums mußten der Kalkarmut des kambri- schen Meeres wegen sich mit einer Hornschale begnügen und erst im Silur konnte der Luxus einer Kalkschale gestattet werden. Auch in den abgeschlossenen Süßwasserbecken kann die Art und Varietätsbildung eingreifenden Veränderungen in kürzester Zeit unter- worfen sein. In den Binnenmeeren findet eine Abnahme der Größe der Molluskenformen statt, da sich der Einfluß von Schwefeleisen geltend macht !) Wir folgen hier den trefflichen Ausführungen, die Frech in Heft 1 und 2 des Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie gegeben hat (1910). 320 E. Bircher. und der Kalkgehalt gegenüber dem offenen freien Meere zurücktritt. Auch die mit den geologischen Zeiten in einem engen Zusammenhang stehenden klimatischen Veränderungen machen sich mit der Entwicklung des Lebens bemerkbar. Die klimatischen Veränderungen während des Mesozoicums, die enge mit der geologischen Entwicklung verbunden sind, ließen durch einen Wechsel von Wärme und Kälte, von Feuchtigkeit und Trockenperioden die Pflanzen und Amphibien des Paläozoicums erlöschen. (Betreff der Einzel- heiten sei auf die vorzügliche Originalarbeit von Frech hingewiesen.) Eine Steigerung der klimatischen Wärme machte sich zu Beginn der Trias bemerkbar, die dann langsam in Abkühlung übergeht, ohne eine Eiszeit zu erreichen. Einen Wendepunkt in der Entwicklung der organischen Welt findet Frech beim Übergang von Kreide in Tertiär (gerade wie beim Kropf), in- dem mit dem Übergang in die Neuzeit eine vollkommene Umwälzung statt- fand, indem zahlreiche Reptilienstämme mit wechselwarmem Blut vernichtet wurden und die warmblütigen Säuger und Vögel emporkamen. Aber auch die sogenannten Konvergenzerscheinungen, d. i. Wieder- holung der äußeren Form bei Gruppen verschiedener stammesgeschlecht- licher und systematischer Zugehörigkeit, sind an übereinstimmende äußere Lebensbedingungen gebunden. Frech kann an zahlreichen Beispielen den Nachweis leisten, daß in allen marinen Formationen der Einfluß schwim- mender und kriechender Bewegung auf die Meeresbewohner stets ein gleichbleibender ist. So kann Frech zahlreiche weitere Beispiele über den geologisch- geographischen Einfluß auf Rückschlagsformen und sprunghafte Artbil- dung geben. Der Schlußstein der Tierentwicklung, der Mensch, wird wohl nicht ausgeschlossen sein von diesen zahlreichen äußeren Ursachen, die Form und Gestalt bedingen. Die Bodenformation scheint aber imstande zu sein, auch ihm den Stempel ihres Charakters aufzudrücken. Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, wie auffallend oft die Unterschiede in Gestalt und Charakter der Bevölkerung sind, je nach der Konfiguration des Bodens, den er bewohnt. Der trotzige, harte Charakter des Bergbe- wohners ist ja sprichwörtlich geworden. Wie aber die geologische Formation direkt auf die Entwicklung des Lebens und somit auch auf den Menschen einwirkt, so kann ihre Einwir- kung auch eine indirekte sein. Wenn die geologische Facies imstande ist, ein Horn- oder Kalkgerüst einem Lebewesen aufzudrängen, so kann sie auch imstande sein, entweder die Lebensbedingungen der auf ihr wohnen- den kleinen und kleinsten Organismen wechselnd zu beeinflussen, oder aber sie kann imstande sein, Stoffe an das sie durchsickernde Wasser abzu- geben, die den Menschen direkt beeinflussen können. Daran müssen wir Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 391 festhalten, daß nur gewisse marine Bildungen diesen Vorgang bis jetzt offen- sichtlich gemacht haben und daß die Süßwassergebilde nichts derartiges zu tun imstande sind. Wie bei den Mollusken finden wir auch hier einen tief- ereifenden Unterschied. So stoßen wir in unserer Erkenntnis zum ersten Male auf einen unverkennbaren Einfluß der geologischen Formation, auf das Wohlbefinden des Menschen (Kropf und Kropfherz), auf die geistigen Fähigkeiten (Taubstummheit und Kretinismus), auf sein Größenwachs- tum und seine äußere Gestalt (kretinistischer Gesichtszug und Zwerg- wuchs). So weitet sich der Blick und ein neuer Weg bahnt sich in ein noch dunkles und geheimnisvolles Gebiet. Neue Geheimnisse zeigen sich, Rätsel knüpft sich an Rätsel. Wir sind uns wohl bewußt, daß die geologische Theorie der Kropf- entstehung noch an zahlreichen Mängeln leidet. Die ganze Frage steckt noch in den Kinderschuhen, aber einen wahren Kern wird auch der größte Zweifler zugeben müssen, wenn er vorerst den Blick auf das große Ganze richtet und nicht einseitig an Einzelheiten klebt. Wohl ist es auffallend, daß nur marine Formationen Kropf erzeugen, und hier wieder nicht alle. Aber gerade in den verschiedenen marinen Formationen ist Flora und Fauna eine so wechselnde, die mineralogische Zusammensetzung oft eine so veränderte, daß daraus die Unterschiede sich wohl erklären lassen. Eine weitere Klärung der Frage ist nur von einem intensiven Zu- sammenarbeiten von Geologen, Chemikern und Ärzten zu erwarten. Gerade aber die Geologen haben sich diesen überaus wichtigen Fragen gegenüber, wenn nicht ablehnend, so doch größtenteils gleichgültig verhalten, teilweise sogar das Studium des Zusammenhanges dieser Dinge fast als einen un- erhörten Eingriff in ihr Gebiet gehalten. Aber nur von einem gegenseitigen Aussprechen ist hier ein Fortschritt zu erwarten. Wohl wird die geologische Kropftheorie da und dort rektifiziert und korrigiert werden müssen, da die geologischen Grundlagen anders befunden worden sind. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß auch die Geologen sehr häufig mit theoretischen Annahmen operieren müssen, die einer späteren Nach- untersuchung nicht immer Stand gehalten haben, gerade bei ihnen dringt ins Innere der Natur kein erschaffener Geist und ihnen weist die Erde nur ihre äußere Schale. Gerade aber das Innere der Erde wird häufig für die Erzeugung von Kropfwasser entscheidend sein, und es bietet oft große Schwierigkeiten zu sagen, welche Formationen eine Quelle durchsetzt hat, welches ihr Ein- zugsgebiet ist, bevor sie ans Tageslicht tritt. Auch hier ist man häufig nur auf Mutmaßungen angewiesen. Es müssen hier gerade genaue Detail- forschungen über einzelne Gebiete, sowohl auf geologischem Gebiete, als in der Untersuchung der Quellen und deren Einzugsterrain, wie auch der Bewohner einsetzen. Wir befinden uns in der beneidenswerten Lage, E. Abderhalden, Fortschritte. TI. > 322 E. Bircher. dank der eingehenden geologischen und Quellenforschungen durch Prof. Dr. Mühlberg in unserer Gegend, derartige Forschungen durchführen zu können. Wir halten es daher geradezu für absurd, die Sache ohne näheres Studium rasch aus dem Handgelenk abzutun, nachdem so zahlreiche Mo- mente für einen gewissen selbst innigen Zusammenhang zwischen Kropf und kretiner Degeneration und geologischer Bodenformation sprechen. Jedenfalls wird die Wissenschaft mehr gefördert und der Menschheit größerer Nutzen gebracht, wenn der Sache nachgegangen in gemeinsamer Arbeit, als wenn nur öde Kontroversen darüber bestehen. Die kretinische Degeneration in ihrer Beziehung zur Volks- gesundheit und Rassenbiologie. Statistisches. Die kretinische Degeneration bedeutet in all ihren Formen, wie sie oben von uns geschildert worden sind, eine schwere Schädigung des Volks- wohles und der Volksgesundheit. und dies um so eher, da ganze Gegenden und ganze Länderteile von der Affektion in ihren wechselnden Formen betroffen werden. Dieser bedenkliche Einfluß läßt sich schwer in Zahlen ausdrücken, doch seien hier zur Veranschaulichung der weiten Verbreitung der Affektion einige zusammengestellt. Nach H. Bircher waren im Bezirk Aarau unter 3153 untersuchten Schulkindern 804 oder 25°4°/, kropfig. Unter den Gründen, die in der Schweiz zur Dienstuntauglichkeit führen, rangiert der Kropf an zweiter Stelle, d.h. 72'1%/,, oder durchschnittlich müssen im Jahre 1703 Stellungs- pflichtige militärfrei gemacht werden. Vor ihm steht nun als Untauglichkeits- grund mit 80°/,, die zu geringe Körperentwicklung. Diese mul) aber in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen auf die Wachstumsstörungen des Kretinis- mus zurückgeführt werden. So werden jährlich 1889 Mann deswegen untaug- lich. Rechnen wir nur 1000 von diesen als durch die kretinische Degeneration bedingt, so ist dies eine recht erkleckliche Zahl. Dazu kommt, daß jährlich 412 schon ausgebildete Soldaten ausrangiert werden müssen. Wegen Idiotie und Taubstummheit, die wohl zu ?/, auf kretinischer Grundlage beruhen, werden 178 beziehungsweise 79 militärfrei, das macht zusammen über 3200 Mann jährlich, die nur unsere Wehrkraft verliert oder für 10 Aus- zügerjahrgänge berechnet 32.000 Mann, d. h. 2 Armeedivisionen, ein ganzes Armeekorps oder !/, unserer Feldarmee. Und die Zahlen bleiben sich gleich wie folgende Tabelle zeigt: Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 323 Der Kropf als Dienstbefreiungsgrund in den Jahren 1886 — 1905. || Davon wegen Kropf - ——-] Tanbheit, Stammheit Pe - | ee zurückgestellt ei ZUrUCK- | leiber de — Ser, y rer Babe Total Prozent Aa | nase | Prozent t | 1 Jahr | 2 Jahre | klärt ER ı Jahr | erklärt | I} | N #32] Du = 1905 26.654 171 6 1563 1740 — 74 1904 || 26.310 187 1 1423 1611 | 2 83 We 1903 || 26.564 246 = 1443 1689 61 E= 69 0'232 | 1902 | 27.232 | 262 2 1204 | 1468 | wer vo | 1901 || 22.754 | 317 4 1289 1610 2 69 1900 | 26.282 | 360 3 | 1054 | 17 za | '48 1899 | 25.809 | 398 2 960 1360 _ 56 | 1898 || 26.457 404 6 1109 1519 5:7 ! 56 0'292 1897 | 26.362 420 21 1134 1575 — 58 1896 || 27.256 617 25 965 1607 1 60 1895 | 26.698 | 530 23 1087 1640 _ 47 | 1894 || 26.326 615 2 FLO 1760 2 47 | | 1893 || 25.241 | 568 | 22 | 827 | 12 I 60 | 1 | 4 Io 189, 1892 | 24.521 465 17 | 800 1282 — 37 | | 1891 || 24.511 | 470 33 | 1040 1543 _ 64 | 1890 | 23.265 | 482 | 37 897 | 1416 1|®& | 1889 23.009 | 441 16 | 1066 1922 — 57 “ al 1888 22.224 398 13 998 1409 zial — 50 1887 21.966 458 8 1309 1775 1 58 vu 1-86 | 22.963 409 3) 1536 1950 | 49 ı 1884—1891 nach der Statistik von Dr. Guillaume, | Chef des eidgenössischen Statist. Bureaus. . 89 An einzelnen Beispielen kann auch die schwere Schädigung ermessen werden, die der Kropf für die Wehrkraft eines Landes darstellt, wenn z. B. 1908 in Sursee von 44 Stellungspflichtigen 42 wegen Kropf militär- frei erklärt werden mußten. Aber nicht nur die Wehrkraft als solche wird durch die Kropfkrank- heit erheblich geschädigt, sondern wir haben gesehen, daß mit dem Kropf der Kretinismus innig vergesellschaftet ist, der zu Schwachsinn führt. Es ist sicher, daß von 13.155 schwachsinnigen Kindern, welche im März 1897 im schulpflichtigen Alter in der Schweiz gezählt wurden, viele die Folgen der kretinischen Degeneration darstellen. Es fanden sich darunter folgende 4 Kategorien: Schwachsinnig in einem geringeren Grade . . . 4657 E Mr höheren 3 3 219 Körperlich, gobrechlich. 1: ut 2 2:86 DIURSIETERE Ha ie a FE er 9379 Verwährlost... 121 ; 1235 Von 335.692 in den Sri. 1809 — 1904 im hoipftehägen Alter gelangten Kindern die nur aus 10 Kantonen stammen, waren 39.147 mit (rebrechen behaftet. 2 bie 324 E. Bircher. Davon waren: Blodsinnie ar 2, 3 RE en. 192 Schwachsinnig in geringem Grad a un “ „ höherem _ X. nk br a Mit Gehörorganfehlern behaftet. . . . . 4713 Sprachorganfehlern _, N ch, Gewaltig ist auch die Zahl der Taubstummen in der Schweiz, die sicher auch zum Teil auf die kretinische Degeneration zurückgeführt werden müssen. Nachstehende Tabelle gibt zugleich den Vergleich mit anderen Staaten : Die Verbreitung der Taubstummheit nach den in einzelnen Ländern vorgenommenen Zählungen. na | Taubstumme Auf 10.000 Personen der Bevöl- männ- | weib- | kerung lichen | lichen | beider = || Zähl- h Landen “ah ee ? Bevöl- | Bevöl- Ge- Jahr männ- | weib- lich lich kerung | kerung schlech-| Bor Da treffen | treffen ter Taub- | Taub- | treffen stumme |stumme| Taub- stumme IeNsTederlande 2 er 50 6297570. 3587 3242 5333 2..Belgien" . .|| 1858 | 1.134| 855| 499 | 379) 439 3. Vereinigte Sn von see . || 1870 8.916 1289| 4:57 | 3:82 | 4:20 4. England und Wales . ... . .|1.1871 6.262) 5.256 | 5:66 | 461 | 5:07 HERD nen Ark 610 5461| 6:64 | 577 | 6:20 6. Schottland -. . . 2: =. 2... „| 18%] 1.133| 954 | 707) Sage nekvankreich. „. > lee] HA 723 9.887 | 707 | 546 | 6'26 8-/Spaniens 1.02, vor TS 6.346 4.559| 819 | 577 | 6'96 Orkitalten akt.r. a pn ee See 370 8015| 856 | 610 | 734 10. Dland. . vu. 9.8 >| 187001.2:461| :2:006 | .9:32) Dre 11. Norwegen . . | |eiltele) 820 7149| 9:81 | 8:65 , 9:22 12. Deutsches Reich || keraly 2108 125 17.416 1053 | 879 | 966 Darunter: Preußen . 1: sn. 197 |10°8 9:0 9:9 Bayern 2.252] 2.129| 9°5 85 I0 Sachsen 8419| 7651| 68 5:9 63 Württemberg . 1:019| 8911123 22007138 Baden . . A 942| 8421132 |112 |122 Elsaß-Lothringen . g77| 7471129 3:9, „Ua 13ROsterreichwee. er 1869 19.701 — — 9:66 142Schweden neue EST 3” 1.887 |11'80 | 877 | 10:23 15. Ungarn mega) Re BR SO 869| 8.830 [15:51 | 11'35 | 13:43 16. Schwerz Su rer a | akerti0, 6.544 —. 12452 Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 325 Rechnen wir nur bei allen diesen Zahlen !/,—t/, als durch die Noxe der endemischen kretinischen Degeneration verursacht, so ist daraus leicht zu ermessen, welch soziales und ökonomisches Elend daraus erwachsen kann, wie schwer die Armenkassen durch diese Armen und Elenden be- lastet werden müssen. Nicht besser daran sind andere von der Endemie betroffene Ge- genden. Seit der Bearbeitung dieser Frage durch Baillarger für Frankreich im Jahre 1873 hat Lucien Maget für das Jahr 1887—1896 neuerdings die Verbreitung festgestellt. Er fand, daß sich im Laufe eines Jahrhunderts die Grenzen der Kropfendemie für Frankreich wenig verändert haben. In einigen Departe- ments konnte eine Abnahme der Kropfigen in wechselndem Grade und Intensität konstatiert werden. In anderen Departements dagegen hatte eine merkliche Zunahme stattgefunden. Die Zahl der Kropfigen berechnet er mit 375.000—400.000, glaubt aber bemerken zu müssen, daß dies die niedrigste Zahl sei, die in Be- rechnung zu bringen wäre, und daß es sich eher um eine Zahl von 600.000 Erkrankten handeln dürfte. Jedenfalls wird eine wesentlich größere Zahl angenommen; dafür spricht auch die Zahl von Kretinen und Idioten, die in Frankreich die Zahl von 122.776 erreichen. Welch gewaltiges Elend für Staat und Volk in dieser Ziffer steckt, das kann nur der ermessen, der zahlreiche Kretinen persönlich untersucht hat und weiß, wie gering deren geistige und körperliche Befähigung zu jeglicher Arbeit ist. Dazu kommt noch das große Heer der von uns oben geschildeten kretinoiden Formen und Typen, die in ihrer großen Menge einen erheblichen Anteil an der kretinischen Degeneration ausmachen, so dab das Schuldenkonto mit 1,000.000 Menschen für Frankreich zu veran- schlagen ist. Auch Italien leidet schwer unter dieser nicht sofort dem Laien in die Augen springenden Krankheit. Nach Sormani wurden in den Jahren 1863—1876 42.865 Mann oder 20°9°/, der Dienstpflichtigen wegen Kropf militärfrei erklärt. Wie wir gesehen haben, ist der Hauptkropf- und Kretinenherd in den Provinzen Piemont, Lombardei und Venetien zu suchen. Es hatten diese denn auch nach der Statistik von 1883: Piemont mit 3,070.250 Einwohnern 4718 Kretine und 18.602 Kropfige Lombardei „ 3,680.615 n 7506 N 106,151 : Venetien „ 2,814.173 P 658 R i 3.976 R 9,565.038 Einwohnern 12.852 Kretine und 128.730 Kropfige Nach der Volkszählung von 1881 gab es in Italien im ganzen 19.671 Kretine und Idioten. 396 E. Bircher. Ähnlich schwer belastet wie die Schweiz, Frankreich und Oberitalien zeigt sich Österreich. Doch fehlen dort eingehendere Statistiken über die Verbreitung des Kropfes und die letzte Statistik berichtet nur über 15.815 Kretine. Ge- nauere Zahlen über Steiermark verdanken wir einer neueren äußerst ein- gehenden Arbeit von Scholz über den Kretinismus. Im Jahre 1900 wurden gezählt in Obersteiermark . . . . . 937 Kretine oder 3:38), Mittelsteiermark. . . . . 107% e hl, Untersteiermark. . . . . 495 e „u 10807 Steiermark . !. . 9.02 12507 Kretine oder 1.84% Aber Scholz wie v. Wagner bezeichnen diese Zahlen viel zu gering und letzterer berechnet für das Jahr 1891 mindestens 8926 Kretine. Wegen Kropf wurden im Jahre 1900 untauglich erklärt in Obersteiermark „=. Wu ©... 20 Me4hoderr23917 Mittelsfelermark \...) 211,42 Wyin:nee AT, BarnaslyT Untersteiermark . . . . 2,0800 EreBen Total . . 3006 oder 145%, Taubstumme gab es im Jahre 1900 in Obersteiermark „I, x = !..,20..5 © 1,468. oder 1 099 Mittelsteiermark 2 02. 0.0 cn) 4 22291072 Umndersteiermark » =. Vs 2 ee Total ......2154 oder 1.58%; Die verschiedenen Zahlen dürften genügen, um einen Begriff davon zu geben, wie erschreckend verbreitet diese Krankheit ist. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, wer zwischen den Zeilen lesen kann oder persönlich das Elend der kretinischen Degeneration gesehen hat, der wird an diesen Zahlen einen guten Maßstab haben, wie entsetzlich die sozialen Folgen dieser schon jahrhundertelang herrschenden Volksseuche sind. Volks- wirtschaftlich werden im Kanton Aargau diejenigen Bezirke, welche am zahlreichsten Kropfige und Kretine aufzuweisen haben, durch die Armen- lasten am meisten bedrückt und die Steuerkraft jener Gegenden ist eine sehr geringe. Die Zahlen rufen auf zum Kampfe wider einen der Erbfeinde der Menschheit, er fällt nicht, wie die Tuberkulose, plötzlich den Menschen an oder fährt wie der Blitz aus heiterem Himmel ins Haus. Schleichend lang- sam sendet er sein Gift in den Organismus, er stört das Wachstum, än- dert die Tätigkeit des Herzens und kann die menschliche Form und Ge- stalt dieses Wunderwerkes der Natur zu einer scheußlichen Fratze voll von teuflischer Bosheit machen. Wenn er aber beim einen den Körper verunstaltet, so trifft er beim anderen seine geistigen Fähigkeiten. Er macht den Idioten, den geistigen Krüppel, der auf einer verschiedenen Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 327 Stufe vom tiefsten Blödsinn bis zu leichteren Störungen des Intellektes stehen kann. Tief greift er ein ins Menschenleben, und in den Ländern, wo die kretinische Degeneration endemisch herrscht, tritt er nicht nur als schwere Krankheit auf, sondern er kann geradezu, wie Griesinger so treffend aus- geführt hat, die Rasse treffen und zu deren Degeneration führen. Dem Beobachter in Kretinengegenden ist es eine geläufige Tatsache, dat) nicht nur Menschen von der Affektion, sondern auch Tiere davon betroffen wer- den. Kropf bei Hunden ist nicht selten und ist auch von uns bei ihm ex- perimentell erzeugt worden, aber auch zu Kretinen können derartige Tiere werden. Auch kropfige Pferde, Katzen, Rindvieh und Antilopen sind beob- achtet worden. Es gibt kropfige Maulesel, Ziegen und Lämmer. Wir haben selbst Kropf bei Ratten erzeugt. !) Ja nach Baillarger und Krishaber soll sogar das Federvieh kropfig werden, und in den verseuchten Gegenden das Obst und Getreide dege- nerieren, nach Ferraris gar die Pflanzen kretinisch werden, was kein Ding der Unmöglichkeit ist. So wird die Kropf- und Kretinenfrage auch den Rassenbiologen und Gesellschaftshygieniker beschäftigen müssen, denn die Noxe ist imstande die Rasse zu verändern. Wenn in der organischen Welt nach Frech die grundlegenden Änderungen der Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse auf dem Festlande, Wärmeveränderung, vor allem im Ozean, ein Aussterben überlebter Stämme bedingen und gleichzeitig in den vorhandenen adaptiv oder plastisch gebliebenen Organismen einen Anstoß zu neuen Entwicklungs- möglichkeiten geben, so ist auch der Mensch diesen Gesetzen unterworfen. Die verschiedenen Menschenrassen aber werden nur die Resultate dieser verschiedenen Einflüsse sein. Zu diesen Einflüssen muß aber auch die kretinische Degeneration gerechnet werden, denn durch das Wasser als Ursache steht sie mit den Niederschlagsverhältnissen einerseits in einem engen Zusammenhange, andrerseits aber auch durch ihr Gebundensein an bestimmte Bodenformationen. Hier können wir zum ersten Male einen bestimmten Einfluß des Bodens auf die Rasse nachweisen, eine Tatsache, die theoretisch und prak- tisch von eminenter Bedeutung ist, und weite Ausblicke in die Zukunft er- öffnet, denn durch Sanierung der Trinkwasserverhältnisse sind wir in den Stand gesetzt, die Rasse zu verbessern. In der Tat ist aber die kretinische Degeneration imstande, eines der wichtigsten Rassenmerkmale, den Schädelbau, zu beeinflussen. Wir möchten mit allem Nachdruck hier auf diesen anthropologisch so wichtigen Punkt hingewiesen haben. Es ist neuerdings von Jackmann der Versuch gemacht worden, einen Einfluß der Mikroben auf die Entstehung der Menschenrassen nachzu- ') Der amerikanische Forscher Marine konnte Kropf bei Fischen nachweisen, ein vollgültiger Beweis, daß das Wasser als alleinige Ursache in Betracht kommt. 328 E. Bircher. weisen. In der Tat muß man in vielen Punkten seinen Ausführungen bei- pflichten. Er weist erstens darauf hin, daß die Rassen den einzelnen In- fektionskrankheiten gegenüber verschieden resistent sind, indem z. B. die blonden Rassen am wenigsten von Infektionskrankheiten betroffen würden. Mit Recht macht er geltend, dal) jeder Erdteil und auf diesem wieder ein- zelne Distrikte Herde und Verbreitungsgebiete von bestimmten voneinander verschiedenen endemischen und epidemischen Krankheiten sind. Er weist dabei auf die Malaria, Gelbfieber, Beri-Beri, Pest ete. hin. Das klassische Beispiel der endemisch-kretinischen Degeneration, welche als vorzüg- lichster Beleg für seine Anschauung gelten kann, ist ihm nicht geläufig, es sei daher nachgeholt. Er weist darauf hin, dal die Farbentöne und Abstufungen der Haut- pigmentation als Anpassungserscheinungen des Blutes an bestimmte Auf- gaben je nach den Wirkungen gewisser Mikroben und deren Toxine auf- zufassen sind. Er glaubt, daß die aschgraue Verfärbung der Haut und der Iris, wie sie während und nach vielen Krankheiten beobachtet werden kann, die erste Stufe des Überganges zu einem dunkeln Typus bedeuten. Wir möchten hier aufmerksam machen, daß nach den Untersuchungen von Kollmann gerade jene Gegend der Schweiz am meisten den braunen Typus trägt, der von uns als das Gebiet der intensivsten Kropfendemie befunden worden ist, in den .endemiefreien Gegenden ist der blondere Typus vorherrschend. Ganz ähnlich ist nach den Untersuchungen von Schimmer für Österreich der blonde Typus in den Kropf- und Kretinen- gegenden zurücktretend. Es ist uns des öfteren schon aufgefallen, daß sehr selten blonde Kropfige oder Kretine uns zu Gesichte gekommen sind. jasedowkranke allerdings gehören meist dem blonden langwüchsigen Typus an (Holmgren). Wie wir oben hervorgehoben haben, führt die kretinische Degenera- tion zu Wachstumsstörungen, die sich auch am Schädel durch eine Ver- kürzung der Basis geltend machen. Wie von Scholz und uns nachgewiesen worden ist, kann für den Kretinenschädel die Brachycephalie als typisch gelten. Die exzessive ;rachycephalie ist vorwiegend vorhanden. Wir haben dies auf röntgeno- graphischem Wege wie auch an einer Serie von 20 Kretinenschädeln nachweisen können. Dazu kommt, daß wir nachweisen konnten, daß die (zesichtshöhen bei Kretinen kleiner werden, daß eine ganz erhebliche Pro- enathie eintritt. Der Sattelwinkel, der Profilwinkel, wie auch der Campersche Ge- sichtswinkel bleiben mit teilweise recht erheblichen Werten hinter dem normal angenommenen zurück. Der Augenhöhlenindex ist mehr dem eines Neugeborenen entsprechend, die Jochbogen laden breit nach außen aus. Alle diese Veränderungen des Kretinenschädels können auf die Verkürzung in der Schädelbasis zurückgeführt werden, die durch eine Schädigung an der Wachstumspartie des Knorpels bedingt ist. Diese Schädigung rührt von dem Einfluß der kretinogenen Noxe her, und macht, wie schon Vir- Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 329 chow aufgefallen war, den Kretinenschädel der Bildung eines Negers oder Malaien ähnlicher. Die kretinische Degeneration ist also imstande, die Schädelform ganz erheblich zu beeinflussen, einen Kurzkopf zu machen. Die Möglichkeit der Umbildung einer langköpfigen Rasse in eine kurz- köpfige ist demnach gegeben, eine Annahme, die schon von Virchow für die amerikanischen Schädel gemacht worden ist. Für Rassenuntersuchungen an Hand der Schädelform dürfte es in Gegenden der Kretinenendemie, wo so zahlreiche Halbkretine herumlaufen, nicht überflüssig sein, auf diese Zustände zu achten. Gerade der kurzköpfige Typus des Kretinen zeigt, daß bei der Brachycephalie nicht immer auf eine sehr hohe Geistestätig- keit gerechnet werden kann. Gerade aber hier mul) angenommen werden, daß nicht das Gehirn und seine Tätiekeit es sind, welche die Form des Schädels verändert haben, wie dies für die Entwicklung des Schädels auch von Jackmann‘) angenommen wird. Wir haben hier ein Beispiel, wo ein dem Körper zugeführtes Gift imstande ist, den ganzen Bau des Schädels in einer Richtung zu ver- ändern, und es wäre ein paralleler Vorgang anzunehmen, zu dem von Jackmann zitierten, wenn er sagt: Wird eine Rasse erst dann, wenn sie sich bereits auf höherer Kulturstufe befindet, jenen schädigenden Ein- flüssen der Mikroben ausgesetzt, so kann sie den dunklen meso- bis brachy- cephalen Typus erhalten. Für die brachycephalen Rasseninseln in Gebirgsgegenden, die Jack- mann auf ein Zurückdrängen durch langschädlige in einen Zufluchtsort zurückführen will, kann eventuell auch dort endemisch herrschende kreti- nische Degeneration angenommen werden. Wir können also sagen, daß Mikroben und Toxine, wie Jackmann annimmt, nicht nur auf nicht mehr in Übung befindliche Gehirnpartien entwicklungshemmend und zurückbildend einwirkt, sondern dal) z.B. beim Kretinismus die Einwirkung direkt das Schädelwachstum trifft. Wahr- scheinlich wird beim Kretinismus auch das Gehirn und dessen Funktionen durch die Toxine schwer getroffen und geschädigt. Vom Standpunkte der Rassen- und Gesellschaftshygiene aus scheint es von allergrößter Wichtigkeit zu konstatieren, daß wir durch richtige Anlage der Trinkwasserversorgung in den Stand gesetzt sind, diese schwere degenerative Schädigung zu mildern oder ganz aufzuheben. So greift die Lehre von der endemisch-kretinischen Degeneration weit in ein scheinbar entlegenes Gebiet ein. Beziehungen der kretinischen Degeneration zu den schönen Künsten. Auf dem Gebiete der schönen Künste stoßen wir da und dort auf Stellen, die mit dem hier beschriebenen degenerativen Prozesse in Be- '!) Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiolorie. Bd. VI, 1909. 330 E. Bircher. ziehung stehen. In Geschichte, Literatur und Malerei spielen Kropfige und Kretine eine Rolle, die in vielen Beziehungen nicht uninteressant ist. Daß die Geschichte der Medizin und auch die Volksmedizin sich mit der in Frage stehenden Affektion eingehend befaßt haben, ist selbstverständlich. Den bezüglichen Punkten sei dies daher vorweggenommen. Wir haben im zweiten Abschnitte dieser Arbeit ausführlich dargelegt, daß der Kropf schon seit undenklichen Zeiten als mit gewissen Gegenden und deren Trink- wasser verbunden bekannt war, und selbst in den Vedas der alten Inder spielt er eine Rolle. Aber auch da und dort in geschichtlichen Erzählungen finden sich Notizen, die auf den Kropf zu beziehen sind. Vom heiligen Remi berichtet Hinkmar, dab er bei drohender Hungersnot im Lande Rheims Weizen mahlen liei), daß aber die Kelten die Mühlen niederbrannten, so daß er gezwungen wurde, omnes qui hac egerunt et qui de casum genuine nati sunt fiant viri herniosi et foeminae gutturosae. Als das Grab der heiligen Gudula geschändet wurde, verfluchte der Bischof Hubert die Tiroler und verhing, dal) alle Nachkommen der Tiroler lahm (Kretine) und die Frauen kropfig werden sollten. Der Bischof von Lüttich aber meinte anfangs des VIII. Jahrhunderts, et permanent hodee multati. Über eine äußerst gelungene Kropfoperation berichtet Graser in seinem schweizerischen Heldenbuch, worin er erzählt: Herr Ulrech Philip von Sax sein Sohn, ouch ein dapfrer Held, ward anno 1543 in einer Schlacht zwischen Franzosen auff deren seiten er mannlich gefochten, ound Keyse- rischen mit einem Spiess in Hals gestochen, dass ihm sein Kropf, der gross gewesen, ausgelaffen und darauff also geheilet worden, dass er des- selben gentzlich erledigt worden. Diebold Schilling bildet die Harste der Walliser Kriegsscharen in seiner Chronik vornehmlich mit großen Kröpfen ab. Auch Napoleon ließ zahlreiche Rekruten des Schweizer Kontingentes wegen Kropf aus Belfort nach der Schweiz zurückweisen. Wenn der Historienschreiber auf derartige ähnliche Beispiele achtet, so bin ich überzeugt, dal) sich die Beobachtungen über Kropf und Kre- tinismus aus früherer Zeit rasch mehren lassen. (ranz ähnliche und zahlreiche Beispiele finden sich in der Poesie, die vom Kropfe sprechen. In den altindischen Zaubersprüchen der Athawa Veda heißt es in einer Beschwörungsformel: So wird der Kropf von hier verschwinden, der Kropf wird zugrunde gehen. Von Suzuka, einem altindischen Arzte, findet sich in der Nidana- sthana folgender Passus (zit. nach Gurlt, Geschichte der Chirurgie): It is of oblong form like the scrotum ... black venis spread overet oder der Tumor hat: The shape of a pump kin with a small root: er ist accompagnied with a peculiar change in the voice. Catull singt (Epigr. 1. 95): Non illam genetrix orienti luce revisens Hesterno poterit collum eircumdare filo. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb., 331 Ein deutlicher Hinweis auf den bekannten engen Zusammenhang zwischen Kropf und der Funktion der Genitalorgane, wie auch ähnlich Goethe in den venezianischen Epigrammen singt: Ach mein Hals ist ein wenig geschwollen, so sagte die Beste, Aengstlich-stille, mein Kind, still! und vernehme das Wort: Dich hat die Hand der Venus berührt, sie deutet dir leise, Dass sie das Körperchen bald, auch unaufhaltsam verstellt. Ganz treffend wird der endemische Kretinismus von P. Rosegger in seinen Schilderungen von Land und Leuten der Alpen charakterisiert. Wir können uns nicht versagen, die von scharfsichtiger Beobachtung zeugenden Ausführungen des gefeierten Dichters hier anzuführen. Der Kretin. „Wir finden die Kretins durch die ganze Alpenkette mit Ausnahme weniger Gegenden bis nach Savoyen hinein. Es ist gerade nicht possierlich, von den armen Wesen zu sprechen und dem Ästhetiker zulieb will ich die Leutchen nicht allzu gewissenhaft beschreiben. Es sind verkrüppelte Zwerge mit kurzen, nach einwärts ge- richteten Füßen und langen Händen; sie haben dicke Hälse und große Köpfe mit struppigem Haar, die Stirn ist niedrig, die grauen, oft schielenden Augen glotzen matt und ausdruckslos vor sich hin. Die Nase ist platt und der Mund hat stets etwas zu lachen. Im allgemeinen ist die Menschheit durch den vollständigen Gebrauch ihrer Sinne verteufelt ernsthaft geworden, nur der Seelenstumpfe und Gedankenlose lebt noch in Arkadien und freund- lich lächelt und grinst er allem zu, was er sieht. Dem Dummen gefällt die Welt noch... .. und der lachende Kretin wäre also gar nicht zu bedauern ? Doch immer lächelt er nicht. Ich will von den Qualen, die ihm seine körperliche Beschaffenheit verursacht, noch die ihm von seiner zumeist rohen und oft boshaften Umgebung zugefügt werden, nicht sprechen. Aber auf die Gewalt der Leidenschaften will ich hinweisen, welche in diesen sonst so ohnmächtigen Menschen stecken kann. Ich kannte einen Kretin, dem ein ganzes Haus untertan war; er war der Bruder des Hausbesitzers und mußte bei dem Gute versorgt werden. Niemand wagte, ihm irgendwie zu reizen, zu meistern, man fürchtete seinen Zorn, dem er mit der Stall- gabel oder mit der Holzaxt wesentlichen Ausdruck zu geben verstand. Er war verschmitzt und erfinderisch in seiner Rache, er war gefürchtet in der ganzen Gegend. Einen anderen kannte ich, vor dem ging kein Weib sicher. Er ver- stand sonst kaum, Hand und Fuß zu rühren, den Kopf ließ er hängen wie ein Gelähmter. Er kauerte stets an dem Kobel des Kettenhundes, starrte im Halbschlaf vor sich auf die Erde hin und der Hund beleckte ihm sein 332 E. Bircher. fahles Gesicht. Er war zu keiner Arbeit fähig und sonst zu keiner körper- lichen Bewegung zu bringen; kam aber eine Frauensperson in die Nähe, da traten ihm die Augen hervor, grunzend sprang er auf und das Weib hatte Mühe, ihm zu entkommen. — Es gibt keine unter den sieben Haupt- sünden, deren ein Kretin nicht fähig wäre. Anders steht es natürlich mit den Tugenden, zu deren Übung eben schon Seelenbildung und Geistesanlagen nötig sind. Trotzdem finden wir bei den Halbkretins schöne Beispiele von Eltern- und Geschwisterliebe, von Freundschaft und Treue, von Friedfertigkeit und Geduld. Vor wenigen Jahren erst war es, daß in einer Kaserne in Graz ein häßlicher, arg ver- krüppelter Knirps erschien, der sich mit seiner schweren, lallenden Zunge kaum verständlich machen konnte. Endlich brachte man es doch von ihm heraus, er war da, um den Johann Filzmoser von dem Soldatenleben zu befreien. Alles lachte laut und der Filzmoser rief dem Trottel zu: „Ja wesweg willst denn just mich auslösen, Lutz, mich hast doch nie leiden mögen ?“ „Ich Dich freilich nit, Du Büffel“, war die gröhlende Antwort, „aber die Mirzel. Und Du mußt heim zu ihr.“ Viel häufiger als die „Ganzen“ sind die „Halbnarren“, die Halb- kretins. Diese leiden gewöhnlich nur an körperlichen Gebrechen, als Ver- krüpplung der Glieder, Schwerhörigkeit, Schwachsinn, doch entbehren sie durchaus nicht des Denkvermögens. Solche Menschen, gleichwohl einiger- maßen stumpfsinnig und nicht weltläufig, sind oft mit einem gewissen Kunstinstinkte begabt. Es gibt z. B. Schnitzer und Mechaniker unter ihnen, die ihr Geschäft mit großer Fertigkeit und mit Erfolg betreiben. In einem Seitentale der Mürz steht ein Bauernhaus, in welchem es zugeht wie in einer großen Fabrik; in allen Enden und Ecken treiben Räder und Räd- chen, klappern Hämmer, bewegen sich Balken und Möbel wie durch unsicht- bare Hand. Die Dreschmaschine und die Kornmühle und die Butterrühre, die Wanduhr, die Brotaufschneide und selbst die Wiege treibt ein Wässerchen, das draußen vorüberfließt. In der schaukelnden Wiege liegt ein blauäugie Büblein, das wird allen Ansehens nach gescheiter wie sein Vater, aber so findig wird es sicher nicht. Wer seinen Vater nur des Weges trotten oder ihn im Wirtshaus stumpfsinnig vor sich hinstieren sieht, der nennt ihn einen Halbtrottel; wer ihn näher kennt, mit ihm arbeitet oder andere Geschäfte hat, der heißt ihn ein „Kreuzköpfel, das seine Sach’ unter dem Hütel hat“. Das Kreuzköpfel hat den ganzen Mechanismus, wie er in seinem Hause spielt und spukt, aus sich selber erfunden und dargestellt. Eine andere Spezies der Halbkretins sind die Rechenmeister, die Zahlen- und Kalendertrotteln. Diese haben oft ein fast unglaublich schei- nendes Zahlen-, Orts- und Namensgedächtnis. Sie wissen alle Heiligen des Kirchenkalenders und ihr Datum. Sie wissen fast niemals den Grund eines Geschehnisses, aber sie wissen die Zeit und den Ort desselben ein- für allemal. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 333 Häufig treibt man mit den Halbkretins allerlei Schabernack und die armen Geschöpfe lassen sich den Mutwillen der Rohen gefallen, sie appor- tieren wie ein Hund, sie stehen auf den Kopf, sie machen mit der Zehe das Kreuzzeichen, sie verstopfen sich mit der Zunge die Nüstern usw. Sie erwerben sich in ihren „Künsten“ oft eine große Fertigkeit, so daß sie dieselben auch gern den Fremden vormachen und damit Kreuzer er- werben. Ich kannte einen Halbtrottel, der das „Messelesen“ verstand, überall wo er hinkam, seine Messe las, und zwar in den Bewegungen und Geberden ganz genau wie der Priester am Altare. Manche glaubten an diese „Messe“ und gaben dem Halbnarren Kleingeld. Der Übergang von den kretinartigen Menschen zu jenen mit ge- sunder Vernunft ist ein allmählicher und das Äußere trügt hier oft are: nicht jeder, der die Kappe trägt, ist ein Narr. Hingegen weist der durch- aus unkultivierte Dorf- oder Waldbewohner trotz seines ausgebildeten ge- sunden Körpers oft den Stempel des Kretinismus auf der Stirn. Den Kreuzmartin hielten sie im Dorfe für einen Halbnarren seines Betragens wegen in der Unglücksstunde. Eines Tages brach nämlich im Hause des Kreuzmartin, das abseits vom Dorfe auf einem Hügel stand, Feuer aus. Die Flammen brachen zum Dach hervor; der Martin schrie gegen das Dorf hinab, was er schreien konnte: „Helfet, Nachbarn! Steht mir bei, Ihr lieben Nachbarn, mein Haus brennt mir nieder! Kommt mir zu Hilfe, um Jesu Christi willen, Ihr meine Pfarrgenossen, meine Brüder!“ Vergebens schrie er. Die Leute standen auf der Dorfgasse und be- trachteten von weitem das brennende Haus, an dem, wie sie meinten, nichts mehr zu retten war. Und als der Martin sah, sein Bitten sei ver- gebens, da schlug seine Stimmung um. „Verflucht und vermaledeit sollt Ihr sein, allmiteinand!“ rief er. „Der Teufel soll Euch holen hinab in die unterste Höllen!“ Die Hauptursache der kretinischen Anlage dürfte wohl die Kälte und Feuchtigkeit des Bodens sein. Die Kälte und Feuchtigkeit des Bodens hängt nicht allein von der Lage, den Höhen und Vertiefungen des Gebirges ab, sondern auch von der Formation desselben. Die derben und festen Ge- birgsarten, wie z. B. die quarzig-kristallinischen Urgebirg- und Grauwacken- formationen, sind nicht geeignet, die Feuchtigkeit in sich aufzusaugen, wie dies etwa bei der Kalkformation der Fall ist. Und in der Tat finden wir in den Gegenden des Urgebirges und der Grauwackenbildung die meisten kretinischen Anlagen. Die ungünstigen örtlichen Verhältnisse sind es jedoch nicht allein, welche die kretinische Anlage begründen und nähren. Der Keim derselben wird häufig schon von den Eltern auf die Kinder übertragen und durch Verwahrlosung der Kleinen begünstigt. Schlechte Nahrung, dumpfige Woh- nung, unzweckmäßige, ungenügende Kleidung, Unreinlichkeit, üble Behand- lung und allerlei abergläubische Mißbräuche sind es, die den Keim des 334 E. Bircher. Kretinismus sich entwickeln helfen. Kaum sieben Jahre alt, wird das Kind barfuß hinausgeschickt auf die einsame Weide zum lieben Vieh, mit dem es nun jahrelang umgeht. Dazu kommt der Mangel an Unterricht, an jeder geistigen Anregung. Da dürfen uns die häufigen Blödlinge in den Alpengegenden nicht wundernehmen. Indes ist die Zahl der wirklichen Kretins doch nicht sehr groß: in Steiermark z. B. werden gegenwärtig etwa 300 solcher Individuen gezählt und ist in den letzten zehn Jahren sogar eine wesentliche Abnahme der Erscheinung nachweisbar. Zur Verhütung oder wenigstens Milderung des Kretinismus wären uns verschiedene Mittel an die Hand gegeben. Vor allem ein wachsames Auge auf die Gehirnleiden der Kinder; Gehirnkrankheiten können ja in jedem Lande und unter allen Verhältnissen kretinartige Folgen nach sich ziehen. Der wirkliche Kretin muß auf humane Weise versorgt, der Halb- kretin möglichst unterrichtet und angemessen beschäftigt werden. Es kommen Anstalten auf, in welchen die armen Wesen verpflegt und möglichst unterrichtet werden, aber der Landmann gibt seine Kretins nicht gern aus dem Hause, denn es herrscht der Glaube, daß der Trottel ein Haus- segen sei und den Gottessegen in die Wirtschaft bringe. Dieser Glaube schützt die armen Geschöpfe vor mancher Mißhandlung. Die an und für sich schöne Idee der Erziehungsinstitute für Kretinkinder ist vielleicht deshalb nicht unbedingt zu empfehlen, weil, wie schon unter den Erwach- senen bekanntlich ein Narr zehn macht, der Umgang kretinischer Kinder mit- und untereinander mehr schaden als nützen müßte. Ein Mittel, um das Übel schon in seinem Keime auszurotten, wäre Kreuzung der Ehen zwischen den Gebirgs-, Tal- und Hügelbewohnern. jisher hat der Militarismus viel zur Erhaltung des Kretinismus beige- tragen. Die körperlich und geistig gesunden Männer wurden dem Lande entzogen und zuweilen als Kanonenfutter verwendet; die Krüppel und Blöden blieben daheim mit der Obliegenheit, ihre Gattung fortzu- pflanzen. Die glänzendsten Erfolge zur Verhütung und Tilgung der kretinischen Anlage müßten Turn- und militärische Übungen haben. Ich weise hier hin auf die gesunde Bevölkerung der Schweiz, in welcher die Bedingungen des Kretinismus nicht minder vorhanden als in den übrigen Alpenländern, in welcher aber nicht bloß das Unterrichts-, sondern auch das Turnwesen Ge- meingut des Volkes geworden ist.“ Wohl stimmt das über die Ursache von Rosegger angegebene mit den Tatsachen der Wissenschaft nicht ganz überein, wohl ist die von ihm angegebene Zahl von Kretinen für Steiermark viel zu tief gegriffen. Aber auch die Heilung ist nicht nur durch die’Hebung des sozialen Elends zu bewerkstelligen, und das für die Schweiz Gesagte können wir leider nicht bestätigen, denn nach wie vor leidet auch unser Land schwer unter der Seuche. Anschaulicher können aber die Verbreitung und die Formen des Kretinismus kaum dargestellt werden, als es durch Rosegger geschehen ist. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 3535 Daß eine Volkskrankheit wie der Kropf in der Volksmedizin und Poesie eine große Rolle spielt, ist selbstverständlich. Unzählig sind die Mittel, die zu seiner Vertreibung angegeben wor- den sind. Tierische und pflanzliche Mittel verschiedenster Art, selbst Leichenteile wurden zu diesem Zwecke verwendet. Die Könige von England und Frankreich sollen durch Handauflegen den Kropf geheilt haben, daher heißt der Kropf: the kings evil. Selbst Karl X. soll 1825 nach der Krönung in Rheims Kropfige geheilt haben. In Frankreich heilten auf ähnliche Weise die marcou oder Heilkünstler in ÖOrtiannais und Gatinais die Krankheit. Es würde zu weit führen, hier auf alle die volksmedizinischen Mittel hinzuweisen, die sich in dem vorzüglichen Werk von Hovorka und Kronfeld zusammengestellt finden. Es singt das Volk bei uns, endemische und kropffreie Orte wohl kennend: Maideli, wenn hürote wit. Hürot nach Oberried (Kropfort). Denn, wenn du en Chropfli wit, So mueß er d’r net zchrieg (zu Kriege). Auch die Zaubersegen im Frankenwalde (Lammert) sagen: Ich sehe dich an, du neuer Mond, mit deiner goldenen Krone, Neuer Mond ich dich sehe, Mein dicker Hals vergehe, Mein dicker Hals verschwind, Daß kein Mensch weiß, wo er hin kümmt. Amen. Einen ähnlichen Zauberspruch sagen die kropfigen Ruthenen. Auch in der bildenden Kunst, in der Malerei finden sich Kropfige, ja selbst Kretine dargestellt, man kann so entscheiden, aus welchen Ge- genden die Modelle der Künstler herstammten. Wer ein aufmerksamer Beobachter ist, der wird in den Kunstmuseen zahlreiche pathologische Abnormitäten finden, ohne sich allerdings im Genuß des Kunstwerkes stören zu lassen. Wer z.B. die Galleria Pitti oder die Uffizien in Florenz genau durch- geht, wird zahlreiche der edelsten Frauengestalten mit einem leichten Kropf behaftet finden. In den Bildern des Leonardo da Vinei können da und dort kretinistische Gesichtszüge entdeckt werden. Sicher ist, dal) zahlreiche Hofnarren zur Zeit der Renaissance Kretinen gewesen sind, und Ludovico il moro der Mailänder hatte eine ganze Anzahl derartiger Typen um sich. Die Buffonen und Witzmacher, wie sie Jakob Burckhardt in der Kultur der Renaissance einige Male zitiert, sind sicher in vielen Exem- plaren aus der oberitaliener Endemie stammende Kretins oder Kretinoide ge- wesen, und in trefflicher Weise schildert neuerdings Bernoulli in der 336 E. Bircher. Schwalbe des Leonardo einen derartigen Kretin und dessen psychisches Leben. Von einzelnen Künstlern sind diese Zustände mit Vorliebe in natur- eetreuer Weise zur Anschauung gebracht worden. So reproduziert Berard einen allerdings nur leicht kretinösen Zwerg (Le nain de Charles-Quint d’apres Moro) aus dem Museum des Louvre. Einen ganz typischen Fall von Morbus Basedowii (Glotzaugenkrankheit) hat Leonardo da Vinci mit dem der Krankheit entsprechenden Gesichtsausdrucke gezeichnet. In der kaiserlichen Gemäldegalerie in Wien findet sich ein Studien- kopf von van Dyck mit einem ausgesprochenen Kropf, wie unsere Fig. 55 beweist. Interessant ist nun der von Velasquwez gemalte Zwerg Antonio el Ingles, von welchem zwei gleiche Bilder, eines im Prado (Fig. 54) in EEE VDEBER Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen zu anderen Wissensgeb. 337 Madrid, das andere in der königlichen Gemäldegalerie in Berlin sich be- finden, als Hofzwerg von Philipp IV. Es ist interessant zu konstatieren, wie typisch die Merkmale des Kretinismus auf dem Madrider Bilde sind. Unproportionierter Armwuchs, breite, vorstehende Backenknochen, Sattelnase, breites gedunsenes Gesicht, hohe, doch flache Stirn und der Gesamteindruck lassen das Bild völlig dem Kretinismus zuweisen, man sieht deutlich, daß es sich um ein Bild nach der Natur nach einem Modell handelt. Fig. 55. Beim Berliner Bild sind die kretinistischen Gesichtszüge verwischt und treten völlig zurück, so daß der Kenner des Kretinismus daran zwei- feln muß, ob es sich hier um ein Bild nach der Natur und nieht um eine recht gute Kopie des Madrider Bildes handelt. Wir sind nieht Kunstkenner genug, um zu wissen, ob Zweifel an der Echtheit des Berliner Bildes vor- liegen, aber die nicht scharf durchgeführte Zeichnung der kretinistischen Merkmale lassen doch etwas Zweifel obwalten. In der Akademie der schönen Künste zu Wien befindet sich ein Bild des Freiburger Malers Hans Fries: Le jeune homme et la mort. Der Jüngling hat eine exqui- site Struma und es erscheint mir unzweifelhaft, dal das Modell aus der intensiven Freiburger Kropfgegend stammt. E.Abderhalden, Fortschritte. II. 22 338 E. Bircher. Die kretinische Degeneration in ihren Beziehungen ete. Dozent Dr. Springer in Prag teilt uns mit, daß es schon Michel- angelo bekannt war, dal Wasser kropferzeugend bei Tieren wirke, indem dieser an die Decke der sixtinischen Kapelle folgende Verse kritzelte: „Ein Kropf schwoll mir bei dieser Arbeit schon, Wie einer Katze nach lombardischem Wasser.“ * * * So glauben wir mit unseren Ausführungen den Beweis geleistet zu haben, daß die Frage der kretinischen Degeneration nicht nur von einem hohen medizinischen Interesse ist, sondern daß sie weit aus- und tief ein- ereift in zahlreiche andere Wissensgebiete. Zahlreich sind die Fragen, die sich beim Studium der kretinischen Degeneration dem Forscher mit auf- drängen, und in der vereinten Arbeit der Gelehrten verschiedener Wissens- gebiete dürfte es gelingen, den Schleier zu lüften und völlige Klarheit in diese kompliziert liegenden Dinge zu bringen. Über Muskelatrophien. Von Robert Bing, Basel. Unter „Atrophie“ verstehen wir einen Prozeß, der durch Verkleine- rung oder Untergang der Gewebsbestandteile zur Volumabnahme, eventuell sogar zum Schwunde eines Organes führt. Dieser Prozeß ist nicht unter allen Umständen als pathologisch aufzufassen. So fällt die senile Atrophie der Haut, der Knochen, der Muskeln usw. noch in den Rahmen des Nor- malen; nicht minder die Atrophie der Geschlechtsorgane, welche dem Klimakterium des Weibes eigen ist, oder diejenige der Thymusdrüse, die schon im Verlaufe der Kindheit den Schwund dieses in seiner Funktion noch rätselhaften Gebildes herbeiführt. Unter den krankhaften Abarten des Gewebsschwundes aber sind die Muskelatrophien weitaus am ge- nauesten studiert worden; und wenn ich in diesem Essay das Fazit aus den betreffenden Forschungen zu ziehen gedenke, so ist es in der Über- zeugung, daß sie sich in hervorragender Weise dazu eignen, eines der wichtigsten Kapitel der allgemeinen Biologie zu beleuchten, nämlich das- jenige von den Ursachen, Bedingungen und Erscheinungen der Gewebsrückbildung und Gewebsentartung. Wir beginnen unsere Ausführungen mit einer Skizze der Histologie des Muskelgewebes, wobei wir uns ausdrücklich auf die willkürliche oder Skelettmuskulatur beschränken wollen. Das eigentliche, charakteristische Element der Muskulatur ist die Muskelfaser oder Muskelfibrille. Eine große Anzahl solcher Fasern (ihre Länge erreicht mehrere Zentimeter, ihr Kaliber im Mittel 40 »., während die Extreme der Faserbreite 20 und 80 p. betragen) wird durch Bindegewebe zu Faserbündeln, Faszikeln, vereinigt, aus denen sich das Muskelfleisch aufbaut, das nach beiden Seiten hin in die rein binde- gewebigen Sehnen ausläuft. Der Aufbau der Muskelfasern ist nun, ent- sprechend ihrer hohen physiologischen Dignität als contractile Ele- mente, ein sehr komplizierter, wie Untersuchungen von Engelmann, Schwann, Waldeyer, Schultze, Kölliker, Duval, Ranvier, Wagner, Remak, Lewin, Zenker u. a. ergeben haben. Zunächst ist von der eigentlichen con- tractilen Substanz eine periphere Hülle zu unterscheiden, das durchsich- 22* 340 R. Bing. tige und strukturlose Sarkolemm, an dessen Innenfläche die stäbchen- förmigen, intensiv färbbaren Muskelkerne liegen, oft umgeben von proto- plasmatischen Körnchen, dem Sarkoplasma. An der contractilen Substanz fällt dagegen in erster Linie die eigenartige Erscheinung der „Querstrei- fung“ in die Augen. Es wechseln dunkle (stark lichtbrechende, anisotrope) und helle (schwach lichtbrechende, isotrope) Querbänder miteinander ab. Untersucht man mit bedeutenderen Vergrößerungen, so entdeckt man frei- lich, daß weder die anisotropen, noch die isotropen Bänder einheitlich sind, vielmehr einen Aufbau aus Streifen von verschiedenem Brechungsvermögen zu unterscheiden gestatten; auf diese feinsten Unterscheidungen (man spricht vom Hensenschen Streifen, von den „Nebenscheiben“ und „Zwischen- scheiben“) wollen wir hier jedoch nicht eingehen. Das hochdifferenzierte Protoplasma, aus dem die Muskelfibrille besteht, wird als Myoplasma bezeichnet. Das isotrope Myoplasma ist nun rein elastisch und läßt sich passiv außerordentlich leicht dehnen und komprimieren; dem anisotro- pen dagegen kommt die für die Muskelfunktion fundamentale Eigenschaft der Contractilität zu. Besteht doch seine Tätigkeit darin, unter Aus- stoßung einer Flüssigkeit, die seitwärts austritt, an Volumen beträchtlich abzunehmen. um, sobald die Muskeleontraction aufhört, unter neuerlicher Aufsaugung jener Flüssigkeit die ursprüngliche Masse wieder anzunehmen. Neben dieser Querstreifung ist auch eine Längsstreifung der Muskelfaser zu erkennen; es besteht nämlich letztere aus sogenannten „Primitivfibrillen “, die, Seite an Seite liegend, durch dünnste Schichten undifferenzierter Eiweißsubstanz (das bereits erwähnte „Sarkoplasma“) so fest zusammen- gekittet sind, daß diese longitudinale Striation viel undeutlicher in die Er- scheinung tritt als die transversale. In bezug auf letztere ist es bemerkens- wert, wie exakt die isotropen und anisotropen Bestandteile der aneinander- gelagerten Primitivfibrillen „ausgerichtet“ sind. Die Muskelfasern, der funktionell wichtige, „edle“ Anteil der Musku- latur, das „Muskelparenchym“, werden nun von funktionell belanglosem, lediglich „interstitiellem“ Gewebe (Bindegewebe) in der Weise durchsetzt, daß bindegewebige Scheiden (Perimysia) die Faserbündel zusammenhalten, und derartige „Faszikel erster Ordnung“ weiter zu Faszikeln zweiter, diese zu Faszikeln dritter Ordnung etc. gruppieren. So baut sich schließlich der Muskel als Ganzes auf und auch ihn umschließt nochmals eine binde- gewebige Hülle, die „Faseie“. In den Perimysien verlaufen die Blut- und Lymphgefäße des Muskels; auch etwas Fettgewebe findet sich, namentlich in den oberflächlichen Partien des Muskels, darin eingelagert. Die beigegebenen Fig. 56 und 57 mögen zur Veranschaulichung der normalen Histologie der menschlichen Muskulatur dienen. Vorbedingung für die Erhaltung dieser normalen Struktur des Mus- kelgewebes ist natürlich eine ausreichende Ernährung, die zunächst, wie bei allen Geweben unseres Körpers, durch den Säftestrom, also vor allem durch die Blutgefäße gewährleistet wird. Außerdem ist aber die Muskel- faser „trophischen“ Einflüssen des Zentralnervensystems in einer Weise Über Muskelatrophien. 341 unterworfen, die uns nötigt, ein innigstes Abhängigkeitsverhältnis der Mus- kulatur vom Nervensystem anzunehmen, ja sogar beide als etwas Einheit- liches, als den „neuromuskulären Apparat“ zusammenzufassen. Der Zu- sammenhang zwi- schen Nervensystem und Muskulatur stellt sich nämlich folgen- dermaßen dar: Von den Bewe- eungszentren der Großhirnrinde wird der „psychomotori- sche“ Impuls zu will- kürlicher Bewegung durch die sogenann- ten „Pyramidenbah- nen“ (und einige weniger wichtige Nervenfaserzüge) auf Zellkonglomerate übertragen, die sich teils im Hirnstamme, teils im Rückenmarke befinden und, mit der Muskulatur in direktester Verbindung stehend, als Muskelzentren bezeichnet werden. Die Muskelzentren des Hirnstammes senden die peripheren Ausläufer ihrer Zellen (Achsenzylinder) in die Augen-, Gesichts-, Kau-, Zungen-, Schluck- und Atemmuskulatur, diejenigen des Rückenmarkes in unsere übrigen Muskeln. Fig. 58 soll z. B. die Innervationsverhältnisse eines Oberarm- IBuDL, muskels schematisch veranschaulichen ; man bemerkt, dal) für die willkürliche Zusammenziehung dieses Muskels die Integrität zweier Nerveneinheiten (Neu- rone) erforderlich ist: 1. eines cerebro- spinalen (zentralen) und 2. eines spino- muskulären (peripheren) Neurons. Eine Zerstörung sowohl der cerebrospinalen als der spinomuskulären Verbindungen wird infolgedessen eine je nach Inten- sität und Extensität der Läsion mehr oder weniger vollständige Lähmung des betreffenden Muskels bedingen. Während aber die Zerstörung der Bahnen zwischen dem Gehirn und den spinalen Normale Muskulatur. Querschnitt. Vorgr. 150 Muskelzentren in bezug auf den Er- nährungszustand des Muskels ungefähr belanglos ist, bedeutet eine Zer- störung der spinalen Muskelzentren (sie liegen in den sogenannten Vorder- hörnern der grauen Substanz des Rückenmarkes) oder ihrer Verbindungen mit der Muskulatur (sie verlaufen in der Bahn der peripheren Nerven- Fig. 56. Muskelfaser mit Quer- und Längsstreifung, Sarkolemm und randstän digen, von Sarkoplasma umgebenen Kernen. Vergr. 600. 249 R. Bing, stämme) nicht nur Lähmung, sondern auch Atrophie, Schwund, Untergang der zugehörigen Muskelpartien (Waller, Charcot). Diese „neurogene Muskelatrophie“ kann experimentell hervor- gerufen werden, wenn entweder der zu einem Muskel hinziehende moto- rische Nerv oder dessen aus dem Rückenmarke austretende Wurzeln oder endlich die Rückenmarksvorderhörner zerstört werden, aus welchen diese ihren Ursprung nehmen. Spontan tritt sie uns bei einer ganzen Reihe von Nervenkrankheiten vor Augen; z. B. der „spinalen Kinderlähmung“ (Polio- myelitis anterior acuta infantum), der ein entzündlich-infektiöser Unter- gang der Vorderhörner des Rückenmarkes zugrunde liegt, ferner den Verletzungen, Entzün- dungen, toxischen Schädigungen der peripheren Nerven etc. Dabei Neurogene Muskelatrophie (Poliomyelitis an- terior acuta), Querschnitt. Vergr. 150. Die Muskelfasern sind größtenteils äußerst ver- dünnt, stark auseinander gerückt und von rund- lichem Querschnitte. Das Bindegewebe gewal- Schema der Innervationsbahn eines Skelettmuskels. tig vermehrt und zellig infiltriert. Am unteren Tro=trophisches Zentrum. Rande des Präparates gewuchertes Fettgewebe. sehen wir nun folgende Veränderungen im histologischen Bilde der Musku- latur vor sich gehen (Fig. 59).?) Die Muskelfasern werden dünner und dünner und können schließlich vollkommen verschwinden, wobei als ihre Überreste leere „Sarkolemm- schläuche“, durch reichliche Kerne ausgezeichnet, noch lange im mikro- skopischen Bilde zu erkennen sind. Mit dieser Rückbildung des Myoplasmas. ') Ich lege meiner Schilderung die Verhältnisse zugrunde, wie sie die mensch- liche Pathologie darbietet; die Präparate, die man nach Nervendurchschneidungen bei Tieren erhalten hat, geben ein etwas anderes, wesentlich einfacheres histologisches Bild. (Stier, Ricker, Ellenbeck, Friedrich). Über Muskelatrophien. 545 geht in der Regel der Verlust des normalen Farbstoffes (Hämoglobin) ein- her, so daß makroskopisch für derartige Muskeln ein blasses „fischfleisch- artiges“ Aussehen charakteristisch ist. Nur selten konstatiert man im Gegenteile eine gelbbraune Verfärbung durch Einlagerung von Pig- mentschollen und -körnchen (die wahrscheinlich dem zerstörten Muskel- farbstoff entstammen und aus Hämofuscin bestehen) in das noch restie- rende Parenchym. Man spricht dann von „Pigmentatrophie“. In der Regel werden nicht alle Muskelfasern gleichmäßig und gleichzeitig von der Atro- phie befallen, sondern es verteilt sich der Schwund auf die verschiedenen contractilen Elemente recht ungleich, so daß die Kaliberverhältnisse dieser letzteren meistens viel größere Differenzen aufweisen als im normalen Muskelgewebe. Mit der Verschmälerung der Muskelfibrillen geht auch eine Gestaltsveränderung ihres (@uerschnittes einher. Während sich nämlich normalerweise die Fasern gegenseitig derart abplatten, daß bei transver- saler Schnittführung ein Mosaikbild polygonaler Figuren mit abgerundeten Ecken sich darstellt, schafft die Kaliberreduktion zahlreicher Muskelfasern Raum zur Abrundung der auseinanderrückenden Fibrillenquerschnitte. In die vergrößerten Interstitien zwischen den contractilen Elementen findet aber (entsprechend einer allgemein-pathologischen Gesetzmäßigkeit) die „reparatorische“ Wucherung der „unedlen“ Elemente des Organes statt. Vor allem wuchert unter reichlicher Vermehrung seiner Zellen und Kerne das Bindegewebe der Perimysien; außerdem hat aber das Fettgewebe die Tendenz von der Muskeloberfläche her, dem Bindegewebe folgend, das Muskelfleisch mehr und mehr zu durchsetzen. Nehmen wir nun den Fall, dal) im Verlaufe dieser neurogenen Atro- phie keine Wiederherstellung der Verbindung mit den trophi- schen Zellen im Zentralnervensystem zustande kommt (also z. B. der durehtrennte Nerv nicht durch Vernähen zur Wiedervereinigung gebracht wird oder die Vorderhörner des Rückenmarks nicht lediglich geschädigt, sondern vollständig vernichtet worden sind), so kann nach dem soeben geschilderten Modus — wir bezeichnen ihn pathologisch-anatomisch als die einfache Atrophie — der totale Schwund des Muskels zustande kom- men, bis dieser schließlich durch eine Masse von Fett und Bindegewebe substituiert ist. Doch ist das selten (Beobachtungen von Chareot, Dutil ete.). Fast immer treten nämlich im histologischen Aspekte Erscheinungen auf, die wir bis jetzt nicht erwähnt haben und welche die Atrophie zu einer „degenerativen“ stempeln. Diese Erscheinungen sind: 1. Die granuläre Degeneration oder albuminöse Trübung, ein Zustand, bei dem die Querstreifung durch das Auftreten von feinsten Körnchen und Tröpfehen einer Substanz ver- wischt wird, die sich durch die Löslichkeit in Essigsäure und Kalilauge als eiweißartig erweist. 2. Die fettige Degeneration, als deren Vor- stufe die albuminöse Trübung aufzufassen ist. Hier handelt es sich um etwas gröbere Granula und Tropfen, welche die Tendenz haben, mitein- ander zu konfluieren, in Essigsäure und Kalilauge sich nicht lösen, dagegen 344 R. Bing. durch Osmiumsäure geschwärzt werden und Fettfarbstoffe (Sudan, Ponceau) annehmen. Mit der fettigen Degeneration geht eine noch markiertere Ver- wischung der Querstreifung einher, als mit der albuminösen Trübung, 3. Die hyaline oder wachsartige Degeneration, die man bei neuro- genen Muskelatrophien viel seltener zu sehen bekommt als die beiden erst- erwähnten Entartungsmodalitäten. Hierbei nimmt das Myoplasma unter völligem Verschwinden der Querstreifung ein glasig-homogenes Aussehen an und bekundet eine große Tendenz zur transversalen Zerklüftung, an ' die sich später eine weitere Fragmentierung anschließt, bis schließlich die feinsten Zerfallsprodukte der hyalin gewordenen Muskelfasern völlig resor- = Verschiedene Zustände der Muskelfaser: 7 normal; 2 granuläre Degeneration; 3 Pigment- atrophie; # hyaline Degeneration; 5 fettige Degeneration; 6 vakuoläre Degeneration; 7 „Kernzeile“; & Myoblast; 9 hypervoluminöse Faser. Vergr. 250. biert werden. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Koagulationserschei- nung mit „Denaturierung“ der Eiweißstoffe des Myoplasmas. 4. Die va- kuoläre Degeneration, durch das Auftreten von ovalen oder rundlichen, sehr scharf begrenzten, flüssigkeitshaltigen Hohlräumen innerhalb der Mus- kelfasern. Auch diese Form der Degeneration ist bei neurogener Atrophie recht selten. Ihren höchsten Grad kann man als die „röhrenförmige Dege- neration“ bezeichnen. Unsere Fig. 60 zeigt auf dem Längsschnitte die verschiedenen soeben beschriebenen Kriterien degenerativer Muskelatrophie. Um die Erforschung dieser interessanten histologischen Veränderungen haben sich unter an- deren verdient gemacht: Zenker, Vulpian, Stadelmann, Bielschowsky, Über Muskelatrophien. 345 Aufrecht, Roger-Domaschino, Meryon, Duchenne de Boulogne, Hoffmann, Lorenz, Rosenfeld. Neben den Degenerationsvorgängen führt uns aber das histo-patho- logische Studium der neurogenen Muskelatrophien auch regenerative Vor- gänge vor Augen, welche unter günstigen Umständen, die eine Wieder- herstellung des Zusamimenhanges zwischen Nervensystem und Muskulatur gestatten, schließlich zu einer Restitution, zu einer Kompensierung des Muskelschwunds zu führen vermögen. Als Ausdruck regeneratorischer Be- strebungen (mögen diese nun zum Ziele führen oder nicht) sind mit Sicher- heit die Kernwucherungen aufzufassen. Man sieht die oben geschil- derten stäbchenförmigen, an der Innenfläche des Sarkolemms gelegenen Nuclei (man nennt sie auch „Muskelkörperchen“) sich mit reichlicherem Sarkoplasma umgeben und derart vermehren, daß, wie unsere Fig. 60 es zeigt, sogenannte „Kernzeilen“ entstehen. Man kann gelegentlich solche Zeilen aus 50—70 und sogar noch zahlreicheren Einzelkernen beobachten. Zuweilen kommen auch, durch starke Anhäufung von Sarkoplasma um wuchernde Muskelkörperchen, polynukleäre Riesenzellen zustande, die als „Myoblasten“ bezeichnet werden und wahrscheinlich, neben der Neubil- dung von Fibrillen, die Aufgabe haben, die Zerfallsprodukte von solchen zu resorbieren, also phagocytäre Funktionen auszuüben. Weniger sicher erwiesen ist die von vielen Autoren angenommene regenerative Natur der hypervoluminösen Muskelfasern, die gelegentlich bei neurogenen Muskelatrophien einzeln oder zu Bündeln vereinigt inmitten atrophischer Fasern festgestellt wurden (Oppenheim, Joffroy- Achard, v. Czyhlarz-Mar- burg, Lorenz u.a.). Den Einwand des pathologischen Anatomen Schmaus, es könnte sich dabei um Kunstprodukte handeln, um Contractionszustände infolge der Einwirkung des Fixationsmittels, können wir zwar nicht aner- kennen (denn dieser fällt mit der heutigen subtilen und experimentell er- probten Fixationstechnik dahin, auf die wir hier unter Hinweis auf die Arbeiten von Halban, Hauck. Schwalbe-Mayeda u. a. nicht eingehen wol- len). Doch halte ich es, gegenüber der verbreiteten Auffassung hypervolu- minöser Fasern als Ausdruck regenerativer Vorgänge, für viel wahrschein- licher, daß sie einem Quellungs- und Schwellungsvorgang, beruhend auf trophischen Störungen geringerer, d.h. zur Erzeugung eigentlicher Zer- fallserscheinungen nicht oder noch nicht ausreichender Intensität, ihren Ursprung verdanken. Pilez hat bei Muskelatrophie spinaler Entstehung (dem Muskelschwunde, der die als „amyotrophische Lateralsklerose“ be- zeichnete Rückenmarkskrankheit begleitet) hypervoluminöse Fasern von 150— 240 ». feststellen können; und gerade diese Riesenfasern wiesen Spalt- bildungen auf, die man nur als Zeichen beginnender Entartung auffassen kann. Wir wollen bei der Schilderung der pathologisch-anatomischen Be- sonderheiten, die in den von ihren trophischen Nervenzentren getrennten Muskelfasern auftreten, nicht länger verweilen, sondern uns den merkwür- digen elektrophysiologischen Veränderungen zuwenden, welche, im 346 R. Bing. Gegensatze zu den anderen Muskelatrophien, gerade dieser ätiologischen Unterart des Muskelschwundes zukommt. Es handelt sich um die von Wilhelm Erb 1872 zum ersten Male zusammenfassend studierten und als „Entartungsreaktion“ bezeichneten Phänomene; unter den Arbeiten, die als Vorläufer der Erbschen gelten können, verdienen vor allem die Untersuchungen von Ziemssen und Weiss hervorgehoben zu werden (1868). Legen wir zunächst das normale elektrophysiologische Ver- halten der menschlichen Muskulatur fest, wie es bei der üblichen klinisch- neurologischen Untersuchung in die Erscheinung tritt. Bei dieser bedienen wir uns der sogenannten unipolaren Reizmethode, indem eine große (,„in- differente“) Elektrode auf Brust oder Rücken des Exploranden zu liegen kommt, eine kleinere (in der Regel die 3 cm? große Stintzingsche „Nor- malelektrode“) auf die zu prüfenden Muskeln oder Nervenstämme. Mus- kelzuckungen treten nun nicht etwa beim sogenannten „Einschleichen“ eines galvanischen Stromes auf, sondern nur bei Stromschwankungen (das heißt bei Unterbrechung oder Schließung des galvanischen Stromkreises, natürlich auch bei der Durchleitung des faradischen Stromes mit seinen in raschester Folge alternierenden Stromschlüssen und -unterbrechungen). Bei der Anwendung schwacher galvanischer Ströme erhalten wir aber eine Reaktion nur dann, wenn der negative Pol als Reizelektrode verwendet und der Strom geschlossen wird; diese Zuckung wird als die „Kathoden- schließungszuckung“ bezeichnet, abgekürzt KaSZ. Nehmen wir nun stärkere und stärkere Stromintensitäten, so sind bald auch eine Anoden- schließungszuckung (AnSZ) und eine Anodenöffnungszuckung (AnOZ) auszulösen (die Reihenfolge dieser beiden Reaktionen ist indivi- duell verschieden, meist kommt AnSZ vor AnOZ), erst bei noch größerer Intensität eine Kathodenöffnungszuckung (KaOZ). Prüft man nun nochmals mit der Stromstärke, die eine Ka0Z ergibt, auf Kathoden- schließung, so erhält man statt einer kurzen Zuckung eine persistierende Zusammenziehung für die ganze fernere Dauer der Stromdurchleitung: es ist dies der sogenannte Kathodenschließungstetanus (KaSTe). Noch intensiverer Ströme bedarf es zur Erzielung eines Anodenschließungs- tetanus (AnSTe), während beim normalen Menschen ein Anodenöff- nungstetanus (AnO Te) nicht vorkommt. Es versteht sich von selbst, dab die KaOZ nur dann deutlich erhalten werden kann, wenn der Muskel sich vor der Stromunterbrechung nicht in „tetanischem“ Zustande befindet; der KaSTe kann aber auch bei sehr starken Strömen vermieden werden, wenn man unter strikter Vermeidung aller Stromschwankungen mit An- wendung des Rheostaten die zur Erzielung der KaOZ notwendige Milli- amperemenge allmählich „einschleicht“. Endlich muß noch beigefügt wer- den, dal) zwischen den Ergebnissen der „indirekten“ galvanischen Reizung (Reizung vom Nervenstamme aus) und der „direkten“ (vom Muskel selbst) insofern ein Unterschied besteht, als in letzterem Falle der Effekt von Öffnungsreizen im ganzen geringer ist. Über Muskelatrophien. 547 Bei der „Entartungsreaktion“ (dem klinisch-physiologischen Kri- terium der gestörten oder aufgehobenen trophischen Verbindung zwischen Nervensystem und Muskelsubstanz) sehen wir nun, im Gegensatze zum soeben geschilderten normalen Verhalten, folgende Erscheinungen auftreten: Die galvanische und faradische Erregbarkeit vom Nerven aus nehmen ab, so daß sie nach einer Durchschneidung des zum Muskel führenden Nerven nach 14 Tagen erloschen sind. Dasselbe gilt von der faradischen Erreg- barkeit vom Muskel aus. Im Gegensatze dazu nimmt die direkte galva- nische Erregbarkeit zunächst zu, um erst nach zirka 2 Monaten, wenn inzwischen keine Wiederherstellung des trophischen Konnexes eintrat, gleichfalls zu sinken und (vorausgesetzt, daß auch später eine Wiederher- stellung ausbleibt) schließlich — nach zirka 1—1/, Jahren — zu erlöschen (siehe Fig. 61). Mit diesen quantitativen Erregbarkeitsanomalien gehen auch Fig. 61. Elektrische Erregbarkeitsverhältnisse bei „Entartungsreaktion“ (Erb). qualitative Hand in Hand. Zunächst eine Veränderung des Zuckungs- charakters bei der galvanischen Reizung; statt der normalen „blitzarti- gen“ Kontraktion erhalten wir eine langsamer ablaufende „träge“ oder „wurmförmige“ Zuckung (siehe Fig. 62); ferner aber auch eine Modifikation der sogenannten Zuckungsformel: während nämlich normalerweise die KaSZ bei geringerer Stromstärke auftritt, als die AnSZ, kehrt sich bei der Entartungsreaktion dieses Verhältnis um, was wir mit der Formel AnSZ>KaSZ andeuten. Neben dieser kompletten Entartungsreaktion kommen auch bei ge- ringeren neurogen-trophischen Störungen des Muskels verschiedene Abarten einer „partiellen Entartungsreaktion“ vor, auf die jedoch hier einzugehen uns zu weit führen würde; unterschied doch Stintzing nicht weniger als 13 Varietäten der Entartungsreaktion. Auch an den Hypothesen zur Er- 348 R. Bing. klärung dieser interessanten elektro-pathologischen Erscheinung wollen wir stillschweigend vorübergehen — es genügt, nochmals zu betonen, daß sie für neurogene Lähmungen und Atrophien infolge einer Läsion des peripheren motorischen Neurons charakteristisch ist. Wir haben noch einiger seltener Formen von Muskelatrophie zu ge- denken, die in einem etwas weiteren Sinne gleichfalls als neurogen be- zeichnet werden könnten, obwohl dies der gewöhnlichen Terminologie nicht entspricht, die sich aber von den bisher besprochenen klinisch durch das Fehlen der Entartungsreaktion, pathologisch-anatomisch durch ein viel ein- facheres histologisches Bild unterscheiden und die wir bisher unerwähnt ließen; wir meinen 1. die Reflexatrophien und 2. die cerebralen Atrophien. Für deren Pathogenese müssen wir dem auf Seite 341 Ausgeführten noch einige weitere Feststellungen über den trophischen Einfluß der peri- Fig. 62. K A K A K A Normal. MSIE ISIN K.Ar. KA, K.ArK AL Ko Entartungsreaktion. Myographische Kurven bei direkter Muskelreizung durch Stromschlüsse (galvanisch). K= Kathode, A = Anode. pheren motorischen Neurone auf die von ihnen innervierten Muskelfasern hinzufügen. Die trophischen Zentren in den Vorderhörnern des Rücken- marks stehen nämlich nicht nur mit den Pyramidenneuronen (den Über- mittlern cerebraler Impulse) im Kontakt, sondern sie werden auch von den Endverzweigungen sensibler, durch die hinteren Wurzeln ins Rücken- mark eintretender Nervenfasern umsponnen. Letztere Fasern (wir nennen sie „Reflexkollateralen“) führen den Vorderhornzellen beständig centripetale Erregungen zu, die von der Körperoberfläche, aber auch von den sensiblen Endorganen der Sehnen, des Periosts und der Gelenke herstammen. Schei- nen nun einerseits diese Erregungen, wenn sie ein gewisses normales Maß einhalten, für die Aufrechterhaltung der trophischen Funktionen in peri- pheren motorischen Neuronen erforderlich zu sein, so vermögen andrerseits, wie Vulpian, Lefort, Paget, Klippel, Raymond, Hoffa u. a. gezeigt haben, abnorme sensible Reize jenen trophischen Einfluß im Gegenteile lahmzu- Über Muskelatrophien. 349 legen und so eine „Reflexatrophie“ der korrespondierenden Muskel- partien hervorzurufen. — Auch die zentrifugalen Erregungen, welche die Ursprungszelle des peripheren motorischen Neurons treffen, sind für die trophische Leistung der letzteren nicht ganz gleichgültig. Wir schrieben auf Seite 341, daß „die Zerstörung der Bahnen zwischen dem Gehirn und den spinalen Muskelzentren in bezug auf den Ernährungszustand des Mus- kels ungefähr belanglos ist“; zur Kommentierung dieses „ungefähr“ sei hier gesagt, daß auf die Dauer der Ausfall des willkürlichen Bewegungs- impulses doch eine gewisse Beeinträchtigung der trophischen Funktionen der Vorderhornzellen (Goldscheider) und somit eine gewisse Atrophie der Muskulatur in die Erscheinung treten läßt — aber nur sehr selten erreicht Fig. 68. r betundiehe neu Mer) de scheitergelenks GelinknervenKörperchen. Schema zur Erklärung der „arthrogenen“ Muskelatrophie. diese „cerebrale Muskelatrophie“ beträchtliche Grade und noch viel seltener sind deren sogenannte „Frühformen“. Die Reflexatrophie kommt hauptsächlich bei Gelenkaffektionen zur Beobachtung; wir müssen deshalb annehmen, daß namentlich den sen- siblen Fasern aus den Gelenken und ihrer Umgebung die reflektorischen Einflüsse auf die trophischen Vorderhornzellen zukommen (siehe Fig. 63). Die Hauptursachen für diese „abarticuläre oder arthrogene Atrophie“ sind: Knochenbrüche oder Weichteilverletzungen in der Nähe eines Gelenkes, Verletzungen eines Gelenkes selbst, artieuläre Blutergüsse, rheumatische, gonorrhoische, gichtische, tuberkulöse, syphilitische Gelenksentzündungen. Mit kaum faßlicher Schnelligkeit (binnen 8—10 Tagen!) sieht man oft in solchen Fällen einen starken Muskelschwund (Reduktion um zirka 30°/,!) sich nicht nur über die Muskulatur in der Nähe des betreffenden Gelenkes, sondern selbst über den ganzen Extremitätenabschnitt oder gar die ganze Gliedmaße ausbreiten. 350 R. Bing. Es ist experimentell gelungen, durch intraartieuläre Injektion reizen- der Substanzen (Silbernitratlösung, Terpentin usw.) arthrogene Muskel- atrophien hervorzurufen (Valtat, Deroche, Hof«a),; beweisend für deren reflektorische Natur war der Umstand, daß bei Durchschneidung der in Frage kommenden hinteren Rückenmarkswurzeln die Atro- phie ausblieb. Am ausgesprochensten tritt der arthrogene Muskelschwund gewöhnlich in denjenigen Muskeln auf, welche von den gleichen Nerven versorgt werden wie die Gelenkkapsel; es sind dies die Streckmuskeln, die ja meistens auch als Gelenkkapselspanner wirken (siehe Fig.64). Heilt die Affektion aus, welche die Reflexatrophie verursachte, so bekundet letztere fast immer Fig. 64. „Arthrogene“ Muskelatrophie des Musculus deltoideus. ebenfalls eine deutliche Heilungstendenz. Entartungsreaktion wird, wie schon gesagt, vermißt; doch kann sich einfache quantitative Herabsetzung der faradischen und galvanischen Erregbarkeit finden. Charcot und Fere haben dagegen Steigerung der Erregbarkeit durch statische Elektrizität (Franklinisation) in einigen Fällen konstatieren können, ebenso erhöhte mechanische (d.h. durch Beklopfen des Muskelbauches auslösbare) Erreg- barkeit. Anatomisch ist, wie schon 1877 Valtat angeben konnte, eine ein- fache Volumverminderung der Fasern ohne irgendwelche Anzeichen von Entzündungs- oder Degenerationsprozessen die Grundlage der Reflexatro- phie; Raymond stellte fest, daß diese Verschmälerung durch Schwund des Über Muskelatrophien. 351 Sarkoplasmas zustande kommt. Es fehlt allerdings nicht an Fällen, wo auch degenerative Veränderungen nach Art der oben (8.343 u. 344) geschil- derten Prozesse sich vorfanden (Klippel, Lorenz). Doch dürfte es sich dabei stets um Toxinwirkungen handeln, die, mit der ursächlichen Gelenkerkran- kung einhergehend, das Bild der einfachen arthrogenen Atrophie modifizierten. Denn den Ergebnissen der „reinen“ Tierversuche sind diese degenerativen Erscheinungen stets fremd. Die Anschauungen über die „cerebrale Muskelatrophie“, die man gelegentlich nach Gehirnblutungen (Apoplexien) zu sehen bekommt, sind noch nicht ganz geklärt. Dies gilt namentlich von den äußerst seltenen sogenannten Frühformen, bei denen schon wenige Tage oder Wochen nach dem Schlaganfalle der Muskelschwund in den gelähmten Extremitäten eintritt (Steiner, Nonne, Darkschewitsch, (Quincke, Eisenlohr u. a.), und man somit von der Annahme keinen Gebrauch machen kann, das dauernde Ausbleiben cerebraler Impulse schwäche nach und nach den Trophismus des spinomuskulären Neurons ab (eine Annahme, die in alten Fällen auch durch den anatomischen Befund sekundärer Veränderungen in den Rückenmarks- vorderhörnern gestützt wird). Wir begegnen folgenden Theorien: 1. Es gäbe im Gehirn ein spezielles trophisches Zentrum, gewissermaßen als Ober- instanz über die Vorderhornzellen gesetzt; zerstöre zufällig eine Gehirn- blutung dieses Zentrum (das in der Nähe des Thalamus opticus liege), so könne es zu einer cerebralen Frühatrophie kommen (Kisenlohr, Quincke). — 2. Es liege den cerebralen Frühatrophien eine Störung in den vaso- motorischen Gehirnzentren zugrunde, wodurch in den gelähmten Glied- maßen eine Gefäßverengerung sich etabliere, unter der sofort die Ernährung der Muskelsubstanz schwer leide (Roth, Muratow, Rossolymo, v. Bechterew, v. Monakow). — 3. Man müsse annehmen, daß bei einzelnen Individuen die Ganglienzellen der peripheren motorischen Neurone eine ungenügende Autonomie besitzen, so dal sie ohne Zuströmen cerebraler Impulse ihrer trophischen Funktionen nicht gerecht werden können; erleidet ein solches Individuum eine Gehirnblutung, welche die Pyramidenbahnen unterbricht, so wird es das seltene Bild der cerebralen Frühatrophie darbieten. Dieser von Steiner vertretenen Ansicht möchte ich mich anschließen. Mit ihr steht die Tatsache gut im Einklange, daf) die Gehirnlähmungen des Kindesalters, in welchem die spinale Autonomie noch nicht voll ausgebildet ist, fast durch- weg beträchtliche trophische Störungen, und zwar nicht nur für die Mus- kulatur, sondern auch für das Skelett im Gefolge haben. Nur dürfen wir diese trophischen Störungen denjenigen beim Erwachsenen nicht homolo- gisieren, da es sich nicht um einen Schwund (Atrophie), sondern um ein Rückständigbleiben in der Entwicklung (Hypoplasie) handelt. — Histologisch ist die cerebrale Atrophie in der Regel eine einfache; doch kommen in einer Minderzahl der Fälle auch vakuoläre Degenerationen einzelner Fasern vor. Hie und da wird der Befund hypervoluminöser Fasern vermerkt, ebenso wie die nicht seltene Kernvermehrung wohl die Signatur reparatorischer Bestrebungen. Zöwwy beschreibt sogar sicher als regenerativ aufzufassende Teilungsvorgänge an hypervoluminösen Fasern. — Ebenso wie der Reflex- atrophie ist dagegen dem cerebralen Muskelschwunde die Entartungsreaktion fremd, wie übrigens auch allen anderen Arten der Muskelatrophie!), die wir noch Revue passieren lassen wollen. Wir führten bereits an — und es ist ja auch selbstverständlich — daß nicht nur eine intakte Verbindung mit den trophischen Zentralstätten des Nervensystems für die strukturelle Intaktheit des Muskelgewebes von- nöten ist, sondern auch eine genügende Zufuhr von Nahrungsstoffen auf dem Wege der Blutbahn. So haben wir denn natürlich nach den Muskel- atrophien als Folgen nervöser Läsionen auch die angiogenen Formen in den Kreis dieser Betrachtungen zu ziehen. Vollständige Absperrung des arteriellen Zuflusses erzeugt keine Atrophie, also keinen allmählichen Schwund der Muskelsubstanz, sondern einen sofortigen Tod derselben, eine Nekrose oder Gangrän, einen stofflichen Zerfall. Dagegen macht die lokalisierte Blutarmut (Ischämie), wie sie die dauernde Ver- engerung des Gefäßkalibers durch gewisse Erkrankungen (Endarteritis, Arteriosklerose) mit sich bringt, allmählich einen Rückgang des muskulären Ernährungszustandes möglich, der sich zu selbst hochgradiger Atrophie steigern kann. Degenerativer Zerfall eines Teiles der Muskelfasern (granulär, fettig, vakuolär, hyalin) ist dabei die Regel; nur in leichteren Fällen gehen keine Fibrillen zugrunde, sondern kommt lediglich eine allgemeine Reduktion derselben zustande. Für diese „ischämischen Atrophien“ ist besonders cha- rakteristisch, daß der Muskel nicht nur dünner, sondern auch kürzer wird. Eine solche Atrophie in der Längsrichtung führt zur Contractur, d. h. zur dauernden Behinderung in der Beweglichkeit der von den betreffenden Muskeln überspannten Gelenke. Auch nach Anlegung allzu fester, die Blut- zufuhr einschränkender Verbände (etwa nach Knochenbrüchen) kommt es nur allzu leicht zur Entwicklung ischämischer Atrophien und Contracturen, weshalb diese Krankheitsbilder am eingehendsten von Chirurgen ( Volkmann, Leser etc.) studiert worden sind. Ebenso wie eine mechanische Behinderung des Blutzuflusses kann auch die Hemmung des Blutabflusses eine Störung in der Ernährung der Muskulatur, die zu atrophischen Prozessen führt, mit sich bringen. In letzter Linie laufen aber beide Modalitäten auf dasselbe pathogenetische Moment heraus; wirkt doch die venöse Stauung indirekt ebenfalls als Impediment für den Nachschub frischen, nahrungspendenden arteriellen Blutes. Diesen „phlebogenen“ Muskelatrophien (die ziemlich selten sind, da sie einen sehr hohen Grad der Beeinträchtigung des venösen Abflusses voraussetzen, wie er z. B. zuweilen infolge ausgedehnter Blutgermnungen, 'Thrombosen, in Muskelvenenstämmen sich einstellt) geht übrigens meistens ein Stadium der Muskelschwellung voraus. Die venöse Stase bedingt nämlich zunächst ') Auf die ganz vereinzelten Beobachtungen, bei denen sich Entartungsreaktion unter Umständen angedeutet fand, unter denen sie ausgeschlossen hätte sein sollen, brauchen wir in dieser allgemein gehaltenen Studie wohl nicht Rücksicht zu nehmen. va Über Muskelatrophien. 353 einen Austritt von Serum aus den gesperrten Adern in das Muskelfleisch, eine „ödematöse Durchtränkung“ des letzteren. Es kann übrigens auch nach Ausgleichung dieser ödematösen Muskelschwellung und im Gegensatze zur phlebogenen Atrophie eine persistierende Volumvermehrung der Muskel- massen durch starke Wucherung des Binde- und Fettgewebes in die vorher von Ödem eingenommenen Interstitien zustande kommen, eine phlebogene „Pseudohypertrophie“ (Redlich, Lesage, Eulenbury). Außer durch mechanische Störungen im Verlaufe der Blutbahn kann auch durch chemische Faktoren die Ernährung des Muskels so stark leiden, daß es zu atrophischen Erscheinungen kommt. So erklären wir zu- nächst die dyskrasischen und konstitutionellen Muskelatrophien, bei denen im Verlaufe akuter oder chronischer Allgemeinerkrankungen ein in der Regel auf die Gesamtmuskulatur ausgedehnter, dafür aber kaum jemals bis zur völligen Vernichtung von Muskeln führender Muskelschwund auftritt. Die spezielle Pathogenese ist im einzelnen noch nicht genügend aufgeklärt, jedenfalls aber keine einheitliche. Es spielen, in je nach Um- ständen verschiedener Konstellation, folgende drei Faktoren eine Rolle: 1. die mangelhafte Stoffzufuhr, 2. die Inanition oder Zehrung, bei der der übrige Organismus, infolge der „Symbiose der Gewebe“ (Schiefferdecker) dem Muskelfleische Stoffe entzieht, 3. toxische bzw. autotoxische Momente, wobei abnorme, mit der Blutbahn zuströmende chemische Agentien, die Ernährungsstörung des Muskels bedingen, mögen sie nın von außen in den Organismus gedrungen, oder vom abnorm funktionierenden, d. h. kranken Organismus selbst gebildet sein. Auf toxische und autotoxische Ätiologie des Muskelschwundes werden wir in solchen Fällen namentlich dann schließen, wenn uns statt des histologischen Bildes der einfachen Atrophie deutliche Degenerationsvorgänge (wie wachsartige oder fettige Degeneration) unter dem Mikroskope entgegentreten. — Die Reihe der Zustände, bei denen dyskrasische oder konstitutionelle Muskelatrophien zur Entwicklung gelangen, ist eine recht bunte: Unterernährung (Untersuchungen von Müller und Senator an „Hungerkünstlern“, von Voit u.a. an hungernden Tieren !); Marasmus senilis; akute und chronische Infektionskrankheiten (Septikämie, Abdominaltyphus, Trichinose, Cholera, Malaria, Tuberkulose); Vergiftungen (Sulfocarbonismus, Bleivergiftung, Pellagra); Schilddrüsenanomalien (Base- dowsche Krankheit, thyreoprive Kachexie); Krebssiechtum. Eine Sonder- stellung nimmt die von Hagenbach-Burckhardt und mir beschriebene „Myopathia rhachitica“ ein. Es handelt sich um eine allgemeine, gleich- mäßige, hochgradige Verschmälerung der Muskelfasern, unter auffälligem Zurücktreten der Sarkolemmscheiden (so daß) die Muskelfasern wie aneinander- geklebt erscheinen), sowie der Querstreifung und so starker Markierung der Längsstreifung, daß man fast den Eindruck des Auseinanderfallens in Primitivfibrillen bekommt (s. Fig. 65 und 66), die bei gewissen schweren Rachitisfällen neben den Knochenveränderungen einhergehen kann. Klinisch macht sich die exzessive Muskelschlaffheit geltend, von der Fig. 67 Kunde gibt und die gestattet, den kleinen Patienten ohne Mühe, ohne Widerstand E. Abderhalden, Fortschritte. H. »3 354 R. Bing. und ohne Hervorrufen von Schmerzäußerungen „schlangenmenschartige“ Stellungen aufzuerlegen (Hagenbachsches Symptom). Schon @lisson, dem wir die erste gründliche Schilderung der „englischen Krankheit“ verdanken, schrieb 1660: „Museuli totius corporis graciles et emaciati, quasi atrophia vel tabe absumti cernuntur. Caro musculosa minus rigida et firma; arti- euli facile flexiles sunt ...*“ Die rachitische Muskelatrophie mit ihren pathologisch-anatomischen und klinischen Besonderheiten spricht für die Richtigkeit der Anschauung E. Abderhaldens, wonach die Rachitis nicht, wie noch vielfach angenommenwird, eine Knochen- krankheit, son- dern eine allge- meine Stoffwech- selstörung dar- stellt, bedingt durch den man- gelhaften Umbau der körperfrem- den Nahrungs- stoffe und speziell der Nahrungsei- Fig. 66. weißstoffe zu kör- pereigenen. End- effekt dieser Stoff- wechselstörung ist „Keine isolierte Störung des Kno- chenaufbaues, son- dern mangelhaft aufgebaute und zum Teil hungern- de Körperzellen“, Hochgradige rachitische Myopathie bei 2jährigem Kinde. Dieselbe Vergr. N specie : Muskel- Fig. 65. Normale Muskulatur eines 2jährigen Kindes. Mikrophotogramm. Zeiss Oc. 4. Apochr. Obj. 3 mm. Tubus 16cm. Camera 24 cm. fasern. In das Gebiet des Gewebstoffwechsels führt auch die Beobach- tung zweier weiterer Abarten der Muskelatrophie, nämlich der Inaktivi- täts- und Hyperaktivitätsatrophie. Jede Funktion des Muskels geht selbstverständlich mit einem Stoffverbrauche einher, für den aber unter normalen Verhältnissen ein genügender Ersatz stattfindet, ja sogar ein überreichlicher, wie aus der Kräftigung und Ernährungszunahme intensiv funktionierender Muskeln hervorgeht (Athletenmuskeln, Arbeitshypertrophie). Demgegenüber jedoch magern Muskeln, die aus irgend einem der sogleich aufzuzählenden Gründe dauernd in Untätigkeit versetzt sind, rasch ab und verfallen, histologisch gesprochen, in den Zustand einfacher Atrophie; wir Über Muskelatrophien. 39) müssen hier, wie für die Inaktivitätsatrophie anderer Organe annehmen, daß der Organismus äußerst ökonomisch verfährt, indem er seinen untä- tigen Bestandteilen die Nahrungsration viel karger zuweist, als den arbei- tenden. Als Regulatoren dieser im ein- zelnen noch dunkeln Korrelationen müs- Fig: PT sen HReflexmechanismen, zentripetale Erregungen, die vom sich kontrahieren- den Muskel ausgehen, angenommen werden. Eine der häufigsten Ursachen der Inaktivitätsatrophie sind Knochen- brüche oder nicht reponierte Gelenk- luxationen, welche die betreffende Ex- tremität und mit ihr deren Muskulatur zu langer vollständiger Untätigkeit ver- urteilen. Diese Verhältnisse finden wir schon im Hippokratischen Buche: „Über die Einrenkung der Gelenke“ namhaft gemacht: „Der Schenkel wird fleischlos (352270), muskellos (&uvov), erschlafft (ersdndusu.svov)und verdünnt (Aerrorspov), weil sein (Gebrauch unmöglich geworden. “ Auch die Muskeln amputierter Glied- maßen verfallen der Inaktivitätsatrophie, ferner diejenigen Muskeln, denen zu I orthopädischen Zwecken die Sehnen Bing). durchschnitten wurden. Andrerseits können durch Überarbeitung bestimmter Muskeln unter Bedingungen, welche infolge fehlender oder ungenügender Ruhepausen, zum Teil auch infolge prädisponierender Momente (Anämie), einen ausreichenden Stoffersatz nicht gestatten, sogenannte Hyperaktivitäts- oder profes- Allgemeine Muskelatrophie bei Tuberkulose. sionelle Atrophien entstehen. So hat Onimus die Atrophie der Delta- muskeln der Schulter bei Handlungsgehilfen auftreten sehen, welche be- ständig unter Inanspruchnahme dieser Muskeln schwere Warenballen auf Regale heraufzulegen hatten; dasselbe Symptom sah ich rechtsseitig bei 23* 356 R. Bing. einem etwas anämischen Zahnarzte durch anhaltendes Emporhalten des elektrischen Bohrers sich einstellen. Coester beschrieb Atrophien gewisser Handmuskeln (Interossei) bei Zigarrenwicklerinnen, Wertheim-Salomonson bei Diamantschneidern, @eßler bei Goldpoliererinnen. Scheele fand bei Glas- bläsern eine Atrophie der Wangenmuskeln usw. — Es muß hier ausdrück- lich betont werden, daß auch professionelle Atrophien neurogenen Ur- sprunges vorkommen, wobei der Druck, der bei bestimmten Berufsarten auf oberflächlich liegende Nervenstämme ausgeübt wird, für den Muskel- schwund verantwortlich zu machen ist. Hierher gehören z. B. die atrophi- schen Lähmungen der vom Ulnaris versorgten Muskeln, die bei Glasarbei- tern, Xylographen, Telephonisten usw. infolge des beständigen Aufstützens der Ellenbogeninnenfläche auf Tischkanten entstehen können (Bruns, Menz u.a.). Je nach der beruflichen Tätigkeit können sich auch Druck- und Strapazierungsnoxen kombinieren. Echte muskuläre Hyperaktivitätsatrophie werden wir nur diagnostizieren dürfen, wenn die für neurogenen Ursprung charakteristische „Entartungsreaktion“ fehlt, die befallenen Muskeln ihrer Gruppierung nach nicht mit dem Verteilungsgebiete eines bestimmten Nerven sich decken, objektiv nachweisbare Sensibilitätsstörungen fehlen, ein Anhaltspunkt für direkte Schädigung von Nervenstämmen durch die berufliche Beschäftigung sich nicht ergibt. Cessante causa cessat effectus: Die Hyperaktivitätsatrophien lassen sich schon durch eine den überan- strengten Muskeln gewährte gründliche Erholung rückgängig machen. Es bleibt uns nun noch die merkwürdigste Abart der Muskelatrophien zu besprechen übrig; sie entsteht auf dem Boden einer im Keime des Organismus bedingten normwidrigen Anlage des Muskelgewebes, wird des- halb als die primär-myopathische Atrophie bezeichnet und ist durch unaufhaltsame Progression sowie, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, durch hereditäres und familiäres Auftreten charakterisiert. Es handelt sich um einen Rückbildungsprozeß, der schon in frühem Alter (meistens sogar bereits in der Kindheit) auf Grund einer angeborenen Minderwertigkeit („Abiotrophie“ nach Gowers) bestimmte Muskeln einer Reihe von Individuen gewisser Familien befällt, einen Rückbildungsprozeß, der, freilich erst nach Jahren und Jahrzehnten, in vollständigem Muskel- schwund seinen Abschluß findet. Man kann diverse klinische Formen unter- scheiden, je nachdem die Rumpf-, die Beckengürtel-, die Schultergürtel- oder die Gesichtsmuskulatur zuerst und am intensivsten der Atrophie ver- fällt; die distalen Fxtremitätenmuskeln (d.h. diejenigen der Vorderarme, Unterschenkel, Hände und Füße) werden dagegen von der primär-myopa- thischen Atrophie fast immer verschont. Die charakteristische topogra- phische Auslese geht auch mit Besonderheiten des zeitlichen Auftretens Hand in Hand: so ist z.B. der „facio-scapulo-humerale Typus“ der primären Myopathie durch das Einsetzen im Kindesalter (infantile Form Landouzy-D£jerines) vom „scapulo-humeralen Typus“ unterschieden, bei dem erst im Jünglingsalter oder noch während des dritten Lebens- dezenniums das Leiden beginnt (juvenile Form Erbs). Weitere Kriterien, auf Über Muskelatrophien. 3DT denen das Differenzieren diverser Abarten beruht, sind dadurch gereben, dab bei einem Teile der Fälle alle erkrankten Muskeln direkt aus dem Normal- zustand in den atrophischen übergehen (primär-atrophische Formen), während bei einem anderen Teile gewisse Muskeln (Gesälymuskeln, Wadenmuskeln, Deltamuskeln, Lippenringmuskel, Oberarmstrecker u. a.) zunächst in ein Vor- stadium gewaltiger Volumvermehrung geraten, das lange Jahre hindurch anhalten und ein geradezu athleti- sches Verhalten der Muskulatur vortäuschen kann, wie es Fig. 69 veranschaulicht; man spricht dann von pseudohypertrophischen Er- krankungsformen. Das Epitheton „Pseudo“ ist nach den Ergebnissen der histopathologischen Untersu- chungen durchaus berechtigt, die wir im folgenden unter Hinweis auf unsere Fig. 70 und 71 kurz re- sümieren wollen. Auf Schnitten von Muskeln mit primär-myopathischer Atrophie bemerkt man zunächst die auf- fallende Ungleichheit im Kali- ber der Fasern. Während nach Erb die Extreme der normalen Faser- dicke 20 bzw. SO u. betragen und 90°/, der Fasern zwischen 20 und 60 p. messen, findet man hier neben einem größeren oder kleineren Kon- tingent derartiger normal kali- brierter Fasern massenhaft atro- phische von 7—15 u, dabei auch hypertrophische von 100, 125, sogar 200». und mehr! In der Beurteilung der Kaliberverhältnisse ist übrigens stets Berücksichtigung der Fixationsverhältnisse, der To- tenstarre usw. am Platze. Die Faser- hypertrophie scheint dem ersten Stadium ihrer Erkrankung zu entsprechen, die Faseratrophie dem späteren; sie geht schließlich in Faserschwund über, wobei nur noch leere Sarkolemmschläuche übrig bleiben. Man darf nun nicht meinen, daß in pseudo-hypertrophischen Muskeln die dieken, in makroskepisch-atrophischen Fasern die dünnen Fa- sern auffällig vorherrschen; vielmehr muß man Marie und Guinon in ihrer Behauptung Recht geben, dal) nichts dem Parenchym eines atro- phischen Muskels bei primärer Myopathie ähnlicher sieht als dasjenige Dystrophia musculorum progressiva (pseudohypertrophische Form). 358 R. Bing, eines pseudo-hypertrophischen. Ausschlaggebend für das Gesamtvolu- men ist nämlich die größere oder geringere Fett- und Bindege- webswucherung. Beide können sich in mäßigen Grenzen halten oder aber exzessive Grade erreichen, Die Muskelfibrillen zeigen fast sämtlich eine be- trächtliche Vermehrung der randständigen und der Binnenkerne. Viele sind fragmentiert, zerklüftet oder weisen in ihrem zentralen Teile runde, wie mit dem Locheisen ausgeschnittene Vacuolen auf. Die Quer- streifung ist (mag die Atrophie der Fibrille auch noch so beträchtlich sein) überall schön und deutlich erhalten. An den Stellen stärkster Erkrankung steigert sich die meist zutage tretende Längsstreifung zu eigentlicher Zerfaserung. Auf Längsschnit- Fig. 70. ten sind die Muskelfasern zuweilen rosen- - a kranzartig mit Anschwellungen besetzt. Dystrophia musculorum progressiva, Zeiss Oe. 2. Dystrophia musculorum progressiva. Leitz Oc. 2. Obj. 7. Obj. E. Hämatoxylin-Eosin-Osmiumsäure. Hämatoxylin-Eosin-Osmiumsäure. Die intramuskulären Gefäßchen unterliegen vielfach endoarteriitischen und mesoarteriitischen Veränderungen, die eine gewaltige Verdickung ihrer Wan- dung bedingen können. Im periarteriellen Bindegewebe und auch sonst im Perimysium findet man oft beträchtliche Kernvermehrung, die sich zu förm- lichen Infiltrationsherden steigern kann. Die Erkenntnis der Wesenseinheit der primär-atrophischen und der pseudo-hypertrophischen Formen der Myopathie ist jüngeren Datums. Von letzterer gab zum ersten Male der große Neurologe Duchenne (de Boulogne) im Jahre 1861 eine gute Krankheitsschilderung unter der Bezeichnung „Paraplögie hypertrophique de l’enfance“, die er später (1868) durch „Paralysie pseudo-hypertrophique ou myosclerosique“ ersetzte. Weitere Etap- “ Über Muskelatrophien. 359 pen in der Erforschung dieses Leidens stellten die Arbeiten von Griesinger und Kulenburg (1865) über „Muskelhypertrophie“ und von Seidel (1867) über „Atrophia musculorum lipomatosa“ dar. — Die ohne pseudo-hypertrophisches Stadium verlaufenden Formen der myopathischen Atrophie wurden dagegen lange mit den progressiven Formen der spinalen Muskelatrophie identifiziert, welche durch die Arbeiten von Duchenne und Aran (1849 bzw. 1850) bekannt geworden waren. Das Verdienst, hier Klarheit geschaffen zu haben, gebührt Landouzy und Dejerine, welche 1885 zeigten, dab es auch, abgesehen von pseudo-hypertrophischen Fällen, eine myopathische progressive Muskel- atrophie gibt. Diese Errungenschaft drang rasch durch und Wilhelm Erb fabßte schließlich alle myopathischen Formen, ob mit, ob ohne Pseudohypertrophie verlaufend, als Dystrophia musculorum progressiva zusammen. In nicht ganz seltenen Fällen sieht man in dystrophischen Muskeln progressive Verkürzungen sich entwickeln, wie eine solche am rechten Wadenmuskel des von mir beobachteten Falles auf Abbildung 69 sehr deutlich wahrnehmbar ist. Von einer „Dystrophia progressiva retrahens“ spricht Steinert. Bei der ischämischen Muskelatrophie, die wir auf S. 352 besprachen, lernten wir ebenfalls eine zu Muskelverkürzung neigende und zu Gelenkeontracturen führende Form des Muskelschwundes kennen. Die elektrische und mechanische Erregbarkeit der dystrophisch er- krankten Muskeln nimmt in einer mit dem Schwunde ihrer normalen Textur Schritt haltenden Weise ab, um schließlich zu erlöschen. Erb hatte dem Fehlen der Entartungsreaktion ursprünglich den Wert eines sicheren Kriteriums zur Unterscheidung von den neurogenen (d. h. spina- len und neuralen) Formen progressiver Muskelatrophie zugesprochen; er hat allerdings später einmal an umschriebener Stelle Entartungsreaktion feststellen können und ähnliches sahen Abadie, Kurt Mendel, Eisenlohr — aber Oppenheim bezeichnet diese Fälle als „meistens unrein“ und auch ich bin der Ansicht, daß dabei wohl die bei der Sektion nicht selten (von Holmes, Kollarits, Preisz u. a.) festgestellte Kombination mit spinalen Er- krankungsprozessen die Entartungsreaktion hervorgerufen hatte. Trotz speziell darauf gerichteter Untersuchungen ist mir der Nachweis von Ent- artungsreaktion bei Muskeldystrophien nie gelungen. Versuche von Seidel, Ord, Eulenburg haben ergeben, daß über in Dystrophie begriffener Muskulatur die Wärmeproduktion herabgesetzt ist. Der Verlauf dieser eigenartigen familiären Muskelerkrankung ist fast immer ein langsam und allmählich fortschreitender, doch können lang- dauernde Stillstände die Progression unterbrechen. Diese Stillstände sind zuweilen bloß scheinbar und die autoptische Untersuchung kann dann nachweisen, daß mindestens anatomisch, wenn auch klinisch noch nicht erkennbar, die Erkrankung unterdessen weitergegriffen hat (Schultze). Je später das Leiden einsetzt, desto langsamer pflegt die Progression zu sein; auch verlaufen durchschnittlich die am Becken und den Öberschenkeln einsetzenden Formen viel rascher als die an den Schultern und Oberarmen beginnenden. Zur direkten Todesursache wird die Affektion nur in den 360 R. Bing. sehr seltenen Fällen, wo sie Zwerchfell und Respirationsmuskeln angreift; da aber die Kranken gegen intercurrente Leiden äußerst widerstandslos, namentlich aber für Tuberkulose und Bronchopneumonien disponiert zu sein pflegen, erreichen sie in der Regel kein hohes Alter. Am besten steht es auch in dieser Beziehung mit der juvenilen Form („Schulteroberarm- fälle“), wozu vielleicht auch die Möglichkeit wesentlich beiträgt, sich bis in die Spätstadien des Leidens im Freien zu bewegen und die Lungen zu ventilieren. Ich kenne Fälle, die zwischen 50 und 60 Jahre alt sind, Linsmayer sah einen Dystrophiker Tljährig werden. Besonders langes (z. B. 30jähriges!), anscheinend definitives Stationärwerden der myopathischen progressiven Muskelatrophie kommt zu- weilen vor, ja in seltenen Fällen hat man von einer „Heilung“ der Dystrophie bei anfänglich typisch erkrankten Kindern sprechen können (Marina, Erb). Noch einige Worte über die Ur- sachen der progressiven Muskeldys- trophie. Nicht selten geben Infektions- krankheiten, Unfälle, Überanstrengungen das Signal zum Ausbruche des Leidens oder lösen mindestens einen progressiven Schub des Muskelschwundes nach ein- getretenem Stillstande aus. Das eigent- liche Kausalmoment liegt, worauf schon das überwiegend hereditär-familiäre Auf- treten hinweist, natürlich tiefer, ist in der Anlage des Organismus vorbedingt. Kein Wunder, daß die Dystrophie sich mit anderen, notorisch hereditär-famili- ären Affektionen, wie z.B. der „hered i- tären Ataxie“, vergesellschaften kann a nee Pr de (Bäumlin, Bing, Jendrdssik, Kollarits, Ghilarducei), oder mit der sogenannten „Myotonia congenita“ (Voß, Berg, Hoffmann, Nogues-Sirol, Pelz, Schott u. a.). Als Stigmata der endogen-degenerativen Grundlage, auf der die progressive Dystrophie zur Entwicklung gelangt, sind ferner die bei derartigen Individuen häufig zu konstatierenden Mißbildungen und Defektzustände zu be- trachten: z.B. Trichterbrust, Schädel- und Kieferdeformitäten, Knochen- atrophie, Hemihyperplasie des Skeletts (Schultze, Guinon-Souques, Marie- Onanoff, Hallion, Kollarits, Lloyd, Claude, Soica), oder überzählige Muskeln, wie einen Musculus sternalis (Oppenheim), oder angeborene Muskeldefekte (Fürstner, Oppenheim, Kalischer, Marinesco u. a.) Auch sonst bestehen zwischen den angeborenen Muskeldefekten und der progressiven Muskeldystrophie bemerkenswerte Beziehungen. Es fällt nämlich auf, dal) die Muskeldefekte in erster Linie an solchen Muskeln Fig. 72. Über Muskelatrophien. 361 zur Beobachtung gelangen, die häufig und frühzeitig bei Dystrophia mus- eulorum progressiva zugrundezugehen pflegen (Erb, Damsch, Bing). Wo Defekte ganzer Muskelgruppen auf die Welt gebracht wurden, betreffen sie vorwiegend solche Muskelkomplexe, die als typische Lokalisation der Dystrophien bekannt sind. Im Gegensatze zur Dystrophie stellt dagegen bei den angeborenen Muskeldefekten einseitiges Vorkommen die Regel, symmetrisches die Ausnahme dar. Ohne so weit zu gehen, wie Erb und namentlich Damsch, welche die Frage erwägen, ob die angeborenen Muskel- defekte nicht das Resultat einer intrauterinen Abart der Dystrophia mus- ceulorum sein könnten, darf man doch sagen, dab zwischen der totalen Bildungeshemmung einerseits und der angeborenen Anlage zu späteren dystrophischen Untergange andrerseits vielleicht nur Intensitätsunterschiede bestehen. Die Auffassung solcher Defekte als Indicatoren einer minder- wertigen Anlage des Muskelapparates ist schon a priori wahrscheinlich. In einem Falle von kongenitalem Brustmuskeldefekt habe ich diese letzten sogar anatomisch feststellen können, nämlich durch den Befund einer ab- normen, unter anderem durch Faserhypoplasie gekennzeichneten Textur in den nichtdefekten Muskeln desselben Individuums. Dasselbe hat dann Finkelnburg bei Dystrophia musculorum progressiva konstatiert! Auch die angeborenen Muskeldefekte sind endlich häufig mit sonstigen Mißbildungen allerart (Skelettanomalien, überzählige Muskeln etc.) vergesellschaftet. Als „blastophthorische Momente“, die das erstmalige Auftreten der progressiven Muskeldystrophie in einem Stammbaume erklären sollen, werden zuweilen angegeben: elterliche Blutsverwandtschaft (Londe- Meige, Perrin, Kollarits, Jendrdssik), ferner höheres Alter der Er- zeuger und große Altersunterschiede beim Elternpaare (Kollarits). Für die erdrückende Mehrzahl der Fälle treffen diese Verhältnisse nicht zu. Ob es hier, wie Massalongo meint, Infektions- oder Stoffwechselkrank- heiten eines Ahns gewesen sind, welche die Bildung und das Wachstum seiner Keimzellen derartig modifizierten, daß die vererbbare Anlage zu perversem Muskelwachstum und prämaturem Muskelschwund entstehen mußte? Möglich, jedoch vollkommen hypothetisch. Immerhin könnte ein gründliches, konsequentes Nachforschen über die Pathologie der Eltern- paare, an deren Sprößlingen das Erbübel zum ersten Male in die Erschei- nung trat, mit der Zeit hier wertvolle Fingerzeige beschaffen. Übertragen wird die Dystrophie hauptsächlich durch die Mütter, die aber selbst sehr oft der Affektion entgehen; von der pseudohypertrophischen Form be- hauptet Gowers, daß die mütterliche Übertragung ausnahmslos stattfinde: sie sei überhaupt für die früh einsetzenden heredofamiliären Leiden cha- rakteristisch, während sich bei Beginn in späterem Lebensalter paterne und materne Übertragung die Wage halten. Interessant ist auch die von demselben Autor durch das „Peerage“ (Adelsregister) dokumentarisch fest- gestellte Zusammengehörigkeit zweier dystrophischer Familiengruppen des englischen Hochadels, die beide in weiblicher Linie von einer 1774 in die Ehe getretenen Herzogin abstammten. E.Abderhalden, Fortschritte, II. 24 362 R. Bing. _ So eröffnet das Studium einer der dem Neurologen geläufigsten Krank- heitserscheinungen eine bunte Mannigfaltigkeit von Problemen, die vielfach noch der endgültigen Lösung harren. Von welcher Seite man auch die Frage betrachte — ob pathologisch-anatomisch, ob elektrodiagnostisch, ob physiologisch, ob ätiologisch, ob pathogenetisch, ob klinisch —, überall stößt man auf eine Fülle des Interessanten. Und dabei haben wir uns, dem Zwecke dieses Aufsatzes entsprechend, versagen müssen, auf die thera- peutischen Fragen einzugehen, die doch in praktischer Hinsicht an die erste Stelle gerückt zu werden verdienten. Literatur. Emil Abderhalden, Zur Frage des Eiweißbedarfes. Zentralbl. f. d. ges. Physiol. u. Pathol. d. Stoffwechsels, 1906, N. F., I, S. 561. Aran, Recherches sur une maladie non encore decrite du systeme musculaire. Arch. gen. de med., 1850, XXIV, S. 5 u. 172. Jak. Bäumlin, Über familiäre Erkrankungen des Nervensystems. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., 1901, XX, S. 265. 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