un nern mu nn men Fortschritte ‘ler naturwissenschaftlichen Forschung herausgegeben von F.Abäerhalden. 5. Band. H F | nenn nn een 1 Dr FORTSCHRITTE = ! y/ [y OF T { \ x Ü F nn 4 J nu NATURWISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNG. HERAUSGEGEBEN VON PROF. D* E ABDERHALDEN, BERLIN. DRITTER BAND. MIT 153 TEXTABBILBUNGEN. x 3a 66 36- 4 URBAN & SCHWARZENBERG BERLIN WIEN N., FRIEDRICHSTRASSE 105b I, MAXIMILIANSTRASSE 4 1911. .n a En Tau Er ea ae S 27 1 KH F£ ne Bd 3 ZI az ALLE RECHTE VORBEHALTEN. Copyright, 1911, by Urban & Schwarzenberg, Berlin. ezuE Inhaltsverzeichnis. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik von Privatdozent Dr. Alfred Wegener, Marburg Dad . Erblichkeitsforschung von Prof. Dr. W. Johannsen, Kopen- hagen Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie von Dr. Gustav Eichhorn, Zürich Richtlinien der Pflanzengeographie von Prof. Dr. M. Rikli, Zürich Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale von Prof. Dr. Hermann Klaatsch, Breslau Seite 13 7 Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphäri- schen Physik. Von Alfred Wegener, Marburg a.d.L. 1. Ergebnisse der Aerologie. Es sind gegenwärtig gerade 20 Jahre verflossen, seitdem der modernste Zweig der meteorologischen Wissenschaft. die Aerologie, begründet wurde. Ihr Name ist sogar erst ganz vor kurzem geprägt worden. Während man früher auf Beobachtungen am Erdboden angewiesen war, geht dieser neue Forschungszweig darauf aus, Beobachtungen aus den höheren Luftschichten zu gewinnen, und das Ziel, das hier angestrebt wird, ist eine dauernde Über- wachung des ganzen Profils der Atmosphäre. Wie es bei der Einführung einer umfassenden neuen Forschungsme- thode stets zu gehen pflegt, so hat auch hier die Meteorologie in den ersten Lebensjahren ihrer jungen Tochterwissenschaft eine Fülle von wich- tigen Entdeckungen zu registrieren gehabt, welche in dem Maße zutage gefördert wurden, wie die Technik der Methode ihren Aufschwung nahm. Heute fließen die Wogen schon ruhiger, man beginnt bereits die natür- lichen Grenzen dieser Entwicklung zu erkennen, und wenn es auch noch viele Fragen gibt, die wir die beste Aussicht haben, mit der neuen Me- thode lösen zu können, so sind doch solche gänzlich unerwarteten, vor- her nicht geahnten Entdeckungen, wie sie bisher gemacht wurden, wohl nur noch in geringer Zahl zu erwarten. Insofern wäre also der gegenwärtige Zeitpunkt für einen Rückblick auf das bisher Geleistete ein sehr geeigneter. Andrerseits gilt aber auch hier die allgemeine Entwicklungsregel, dal) die theoretische Verarbeitung stets nach- hinkt, und so kommt es, daß wir noch heute über das Wesen und die Ursache ganz fundamentaler Erscheinungen fast völlig im Dunkeln tappen. Bevor wir den Versuch machen, einen Überblick über die Ergebnisse dieser Forschungen zu geben, mögen noch einige Worte über die Methode oder eigentlich die Methoden Platz finden. !) !) Eine eingehende Darstellung dieser Methoden und ihrer geschichtlichen Ent- wicklung wird Assmann in einer gegenwärtig in Vorbereitung befindlichen zusammen- fassenden Darstellung der Aerologie in der Sammlung „Die Wissenschaft“ (bei Vieweg, Braunschweig) geben. E. Abderhalden, Fortschritte. III. T >) A. Wegener. Auf drei verschiedene Weisen läßt es sich nämlich erreichen, daß wir unsere vollständige meteorologische Station in höhere Schichten der Atmo- sphäre hinauf verlegen, ohne, wie bei den Bergobservatorien, doch noch am Boden zu kleben. Diese drei Methoden sind die des bemannten Freiballons, ferner die der Fesselaufstiege mit Registrierinstrumenten (Drachen und Fesselballone), und drittens die der kleinen, frei aufgelassenen Ballone mit tegistrierinstrumenten, welche nach dem Herabfallen vom Publikum auf- gefunden und zurückgesandt werden (hierfür werden jetzt überall die Ass- mannschen Gummiballone benutzt, die sich beim Aufsteigen immer mehr ausdehnen und in der größten Höhe schließlich platzen). Die älteste, weil nächstliegende Methode war die, bei welcher der Beobachter sich mit seinem ganzen Instrumentarium an Bord eines Frei- ballons begibt und nun oben seine Ablesungen selber vornimmt. Daher wurde auch die erste größere Reihe von wissenschaftlich wertvollen Beob- achtungen im Freiballon erhalten: es sind dies die von Assmann ins Werk gesetzten 65 Berliner Ballonfahrten, bei denen die Lufttemperatur zum ersten Mal mit dem gegen die äußerst intensive Strahlung in der Höhe geschützten Assmannschen Aspirations-Psychrometer gemessen wurde, so dab damit endlich die durch Strahlung stark gefälschten Angaben des Engländers Glaisher, die bereits in die Lehrbücher übergegangen waren, als falsch erkannt wurden, während andrerseits nachgewiesen wurde, daß das Mißtrauen, welches man der damals im Aufkommen begriffenen dritten Methode der Registrier- ballone entgegenbrachte, ein unberechtigtes war. Die Ergebnisse dieser 65 Fahrten sind von Assmann und Berson im Jahre 1900 herausgegeben worden und bildeten lange Zeit ein Werk von fundamentaler Bedeutung.!) Wie im folgenden noch hervorgehoben werden wird, besitzen die ver- schiedenen Methoden auch verschiedene Meßbereiche in bezug auf die Höhe. Der höchste Aufstieg im Freiballon wurde am 31. Juli 1901 von Berson und Säring unternommen und führte bis zur Höhe von 10.800 m, welche wohl die äußerste Grenze darstellt, die dem Menschen überhaupt erreichbar ist. Heute werden nur noch selten Freiballonaufstiege zu dem Zwecke unternommen, eine „meteorologische Station“ in größere Höhe hinauf zu verlegen; dazu dienen jetzt die im folgenden zu besprechenden Methoden, welche mit geringerem Kostenaufwande verbunden sind. Dagegen bildet der Freiballon nach wie vor die einzige Methode für alle Spezialuntersuchungen, weil es für diese meist keine selbstregistrierenden Instrumente gibt. ?) ‘) R. Assmann und A. Berson, Wissenschaftliche Luftfahrten. Braunschweig 1900. ”) Von wissenschaftlichen Beobachtungen, welche auch gegenwärtig noch im Frei- ballon angestellt werden, sind namentlich die luftelektrischen zu nennen; ferner die Messung der Sonnenstrahlung, der Reflexionsfähigkeit der Wolken, der Polarisation des Himmelslichtes, der Spiegelungs- und Beugungserscheinungen des Lichtes in den Wolken- teilchen, Messungen des Staubgehaltes der Luft u. a.; ferner physiologische Beobach- tungen (Bergkrankheit usw.); mehr technischer Art sind die Versuche zur astronomi- schen und zur magnetischen Ortsbestimmung im Ballon, sowie die der Funkentele- graphie. Alle diese und noch andere Untersuchungen werden gegenwärtig eifrig mit Hilfe des Freiballons betrieben. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 53 Die zweite Methode, die der Drachen und Fesselballone mit Registrier- instrumenten, ist naturgemäß viel weniger kostspielig; sobald man daher an die heute schon an verschiedenen Stellen verwirklichte Aufgabe herantrat, jeden Tag oder doch an jedem günstigen Tage regelmäßig derartige Son- dierungen vorzunehmen, mußte man zu dieser zweiten Methode greifen, die allerdings einen etwas geringeren Höhenbereich umfaßt. Der höchste bisherige Drachenaufstieg reicht nämlich nur bis etwa 7000 m (im Jahre 1908 am Mount Weather-OÖbservatorium in Amerika geglückt) und die große Mehrzahl endigt bereits unterhalb 4000 m Höhe. Fig.1. Drachenaufstieg in Lindenberg (rechts das drehbare Windenhäuschen). Auf unserer Fig. 1 sieht man einen der hierzu verwendeten Kasten- drachen, in welchem am vorderen Ende das Registrierinstrument hinein- gebunden wird. Der Drachen, der mit Schnüren an der Halteleine (aus Klaviersaitendraht) befestigt ist, wird gerade von dem drehbaren, die Winde enthaltenden Häuschen fortgetragen, um dann in einigem Abstande frei von dem Windschatten des Häuschens aufgelassen zu werden. Die Einrich- tungen an dem im Jahre 1905 eingeweihten Lindenberger Observatorium, von dem das Bild herrührt, sind die umfangreichsten und kostspieligsten, die es bisher gibt. Fig. 2 zeigt das Windenhäuschen (gleichfalls drehbar) der etwas primitiveren Drachenstation der Deutschen Seewarte in Ham- burg. Zum Aufwinden des Drahtes ist hier wie dort ein Motor vorhanden, da die Drachen einen starken Zug ausüben: es kommt nur selten vor, daß 4 A. Wegener. der Zug von 50 kg nicht überschritten wird. Allerdings sind dann hieran meist mehrere Drachen beteiligt, die nach und nach, etwa alle 1500 m, beim Auslassen des Drahtes an demselben angebracht werden und so dem obersten, dem „Apparatdrachen“, ein weiteres Änsteigen ermöglichen. Auf diese Weise werden zu höheren Aufstiegen große Materialmengen verwendet; so. hatte ich während meiner Tätigkeit am Lindenberger Obser- vatorium gelegentlich eines Aufstiegs auf 6400 Höhe nicht weniger als 7 Drachen mit 5. ca. 18 km Draht „draußen“. Wenn die Dra- chen wegen Wind- stille nicht steigen, bedient man sich kleiner Fesselbal- lone, meist von 20 m3 Inhalt (Fig. 5), von denen gleichfalls mehrere nacheinander an dem Haltedraht be- festigt werden können. Außer bei Lin- denberg und Ham- burg besitzen wir in Deutschland noch eine dritte Station in Fried- richshafen, welche regelmäßige Dra- chenaufstiege aus- führt. Diese Anzahl ist aber immer noch viel zu klein, und es wird eifrig dahin Windenhäuschen der Drachenstation' der Dentsehen Beswarte ir Großbazstet SearDeilet, ten a a vermehren. Auch außerhalb Europas gibt es bisher nur in Nordamerika (Blue Hill und Mount Weather) einige Stationen mit regelmäßigem Betrieb. Dagegen ist diese Methode auf kürzere Zeit schon mehrfach auf Ex- peditionen in Anwendung gebracht worden, so von Berson und Elias im äquatorialen Afrika und vom Verfasser auf der Danmark-Expedition in Nordostgrönland. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 5 Die dritte Methode ist, wie erwähnt, die der freifliegenden Gummi- ballone. Anfangs benutzte man Papierballone, was sich jedoch deswegen als ungeeignet herausgestellt hat, weil diese in der größten Höhe lange Zeit zu schwimmen pflegen. Bei den von Assmann eingeführten Gummiballonen wird dies durch das Platzen verhindert, nach welchem das Registrier- instrument mit Hilfe eines Fallschirms sanft herabsinkt. Diese Methode hat einen viel grö- ßeren Meßbereich als die vorangehenden. Die größte mit ihr erreichte Höhe be- trägt 29 km, und Höhen von 26 und 27 km sind bereits mehrfach erzielt wor- den. Auch diese Me- thode ist namentlich wegen der hohen und noch immer steigen- den _Gummipreise ziemlich kostspielig, hat aber den Vorteil, daß man keiner be- sonderen Stationsein- richtungen wie bei den Drachenaufstie- gen bedarf. Deswegen werden Gummibal- lonaufstiege auch an zahlreichen Stellen — wenn auch nicht häu- fig —- ausgeführt. Dabei werden inter- national vereinbarte Termine (eine durch Hergesellgeschaffene nisation) inne- Aufstieg eines Fesselballons auf der Danmark-Expedition (Nordost-Grön- Orga 8 n) ne land). Rechts die Winde, links ein als Motor verwendetes Automobil. gehalten, um auf diese Weise wenigstens für einzelne Tage ein möglichst vollständiges Material zu erhalten. Auch diese Methode hat sich auf Expeditionen bewährt, wie z.B. bei der schon genannten Afrika-Expedition von Berson und Elias. Auch hat Hergesell sie auf dem Ozean bei einer großen Reihe von Fahrten in der Weise verwendet, daß er statt des Fallschirms einen zweiten, weniger stark gefüllten und darum nicht platzenden Ballon benutzt, der nachher 6 A. Wegener. über dem auf dem Wasser schwimmenden Apparat steht und so dem suchenden Schiff den Weg weist. Das Registrierinstrument, das hier verwendet wird, ist dasselbe wie das bei den Drachenaufstiegen gebrauchte, nämlich ein sogenannter Me- teorograph, der eine vollständige kleine meteorologische Station darstellt, wo alle Instrumente, Barometer, Thermometer, Hygrometer und Anemo- meter, auf ein und derselben Registriertrommel, die durch ein Uhrwerk gedreht wird, ihre Kurven aufzeichnen. Fig. 4 zeigt einen derartigen Meteorographen nach Kleinschmidt. Die oberste Feder steht in Verbindung mit dem ganz oben rechts in dem vertikalen Röhrenansatz befindlichen Windrädchen und registriert die Wind- geschwindigkeit; die zweite Feder registriert die Feuchtigkeit und wird durch ein Haarbündel bewegt, welches (in der Figur nicht sichtbar) vertikal im Innern der halben Röhre angebracht ist. Die dritte Feder steht durch einfache Hebelübertragung mit der etwas gekrümmten Doppel- metall-Lamelle (rechts unten) in Verbindung, die aus zwei aufeinander gelöteten Metallen von verschiedenem Ausdeh- nungskoeffizienten besteht und sich daher je nach der Tem- peratur mehr oder weniger krümmt. Die unterste Feder endlich schreibt die Luft- druckkurve und wird bewegt durch die bei abnehmendem Meteorograph nach Kleinschmidt. Luftdruck elastisch sich aus- dehnenden beiden luftleeren Blechdosen, die unten in der Mitte der Figur sichtbar sind. Wie die auf diese Weise erhaltenen Registrierungen aussehen, soll weiter unten gezeigt werden. Zu diesen drei vollständigen Methoden käme nun noch eine unvollstän- dige, welche nur die Windverhältnisse in der Höhe zu ermitteln gestattet, nämlich die der Pilotballone. Namentlich nachdem Hergesell gezeigt hatte, dal die vertikale Geschwindigkeit dieser frei aufsteigenden kleinen Gummi- ballone konstant bleibt und sich vorher aus ihrem Auftrieb berechnen läßt, so dab man zur genauen räumlichen Bahnbestimmung nur von einem Punkt aus zu beobachten braucht, und nachdem de Quervain ein bequemes Winkelmeßinstrument zum Verfolgen der Ballone gebaut hatte, kam diese schon früher von Kremser vorgeschlagene Methode sehr in Aufnahme. In erster Linie dient sie allerdings den praktischen Zwecken der Luftschiff- fahrt, um nämlich die Windverhältnisse in der Höhe schon vor dem Auf- Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 7 stieg des Luftschiffes zu erfahren, doch wird sie auch zu rein wissen- schaftlichen Zwecken wegen ihrer Billigkeit überall da angewendet, wo es sich in erster Linie um die Feststellung der Windverhältnisse handelt, z. B. bei der Erforschung des Passats und des darüber wehenden Antipassats. Wir wollen nun im folgenden versuchen, einen flüchtigen Überblick über die Ergebnisse dieser neuen Forschungsrichtung zu geben. Während die Abnahme des Luftdruckes mit der Höhe sofort richtig gedeutet, ja sogar zuerst theoretisch postuliert und daraufhin erst durch die Beobachtung nachgewiesen wurde, konnte man die Tatsache, daß) auch die Lufttemperatur mit der Höhe abnimmt, nicht sogleich erklären. Dies gelang erst, als W. Thomson gezeigt hatte, dal eine von der Erde empor- steigende Luftmenge vermöge der hierbei auftretenden Expansion eine immer niedrigere Temperatur annehmen muß, wenn sie dabei nicht etwa von der Seite her erwärmt wird. Es läßt sich aus den Gasgesetzen leicht nachweisen, daf) diese Abkühlung fast genau 1° pro 100 m Erhebung be- tragen muß. Das Umgekehrte, nämlich eine Erwärmung, geschieht beim Herabsinken. Da nun fortwährend solche vertikalen Luftströme vorhanden sind, so schloß Z’homson, daß die Atmosphäre in idealem Zustande nicht, wie man früher geglaubt hatte, überall dieselbe Temperatur aufweisen müsse, sondern daß die Temperatur in ihr pro 100 m» Erhebung um 1° abnehmen müsse. Er nannte diesen Zustand das konvektive Gleichgewicht der Atmosphäre, weil es nämlich bei einer vollkommenen vertikalen Durch- mischung (Konvektion) resultieren würde. Diese Ideen wurden dann von Helmholtz weitergeführt und sind namentlich durch Bezold in die Meteoro- logie eingebürgert worden. Aber wie verhalten sich hierzu die Beobachtungen? Bereits die erste größere Reihe exakter Messungen, die vorerwähnten 65 Berliner Ballonfahrten, noch mehr aber die Tausende von Drachenaufstiegen und Registrierballonaufstiegen, die später ausgeführt wurden, zeigen auf das deutlichste, daß diese theoretische Temperaturabnahme in Wahrheit auch nicht entfernt erfüllt ist. In meiner „Thermodynamik der Atmosphäre“ !) habe ich die wichtigsten bisher vorliegenden Beobachtungsreihen, nämlich für die untersten 3000 m die Drachenbeobachtungen von Lindenberg und Hamburg, für die höheren Schichten die internationalen Registrierballon- aufstiege (die durch Wagner bereits eine sehr sorgfältige Sonderbehand- lung erfahren haben) zu einer mittleren Temperaturabnahme mit der Höhe vereinigt, welche durch die folgende Fig. 5 dargestellt wird. Die Höhe ist hier nach oben, die Temperatur nach rechts wachsend abgetragen, so daß die Kurve ohne weiteres die mittlere Temperatur in jeder Höhe abzulesen gestattet. Auf das sehr merkwürdige Umbiegen dieser Kurve bei etwa 11 km Höhe wird später ausführlich eingegangen werden. Der darunter liegende Teil der Kurve, der für uns zunächst in Frage kommt, besitzt eine schwache S-förmige Krümmung, die dadurch zustande ') Leipzig 1911, bei Joh. Ambrosius Barth. S A. Wegener. kommt. dal das Temperaturgefälle im allgemeinen nach dem Erdboden zu immer schwächer wird, in der untersten Luftschicht jedoch wieder etwas zunimmt. Über diese letztere Verstärkung des Gefälles in den erdnahen Schichten haben sich manche Diskussionen entsponnen, teils über ihre Re- alität, teils über ihre Ursache. Heute kann an ihrer Realität wohl nicht mehr gezweifelt werden, und als Ursache ist man geneigt, die Reibung der Luft am Erdboden und die dadurch zwangsweise erzeugte verti- kale Durchmischung dieser Schichten zu betrachten. Km Mit Hinblick auf das oben erwähnte „konvektive Gleichgewicht“ interessiert uns aber vor allem die Nei- gung dieser „Zustands“- Kurve als Ganzes. Da das Verhältnis der Maßstäbe in der Figur gerade so gewählt ist, dab 100 m auf der Höhenskala ebenso groß sind wie 1° auf der Temperatur- skala, so sieht man, dab dem oben erwähnten kon- vektiven Gleichgewicht von Thomson eine Gerade ent- sprechen würde, die unter 45° geneigt ist. Die wirk- liche Zustandskurve ist viel steiler, oder mit anderen Worten, die wirkliche Tem- peraturabnahme ist viel geringer. Anfangs glaubte man, dab dieser Widerspruch zwi- schen Beobachtung und Theo- Mittlere Zustandskurve der Atmosphäre. rie sich lösen würde, wenn man bei letzterer den Ein- fluß der Wolkenbildung berücksichtigte. Die T’homsonsche Betrachtung gilt nämlich eigentlich nur für herabsinkende Luft: beim Aufsteigen dagegen kühlt sich die Luft nur so lange nach dem T’homsonschen Gesetze ab, bis der „Tau- punkt“ erreicht ist, und die Wolkenbildung beginnt; nunmehr wird für jede weiteren 100 m ein gewisses Quantum Wasser in tropfbar-flüssiger Form als Wolke ausgeschieden, und damit wird eine gewisse Wärmemenge frei (die „latente Verdampfungswärme“), so daß die weitere Abnahme der Temperatur zwar nicht verhindert, aber doch verringert wird. Durch eine große Zahl sehr sorgfältiger Untersuchungen von Hann, Guldberg und Fig. 5. a N SITRERD —80°-70°-60°-50°-40°-30°-20°-10° 0° +10°+20°+30° Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 9 Mohn, Hertz, Neuhof u. a. ist der quantitative Betrag dieses Einflusses sehr genau bestimmt worden. In der Hauptwolkenzone würde die Tempe- raturabnahme in aufsteigender Luft hiernach nur noch etwa 0'6° betragen. in größeren Höhen aber sich immer mehr dem Werte 1'0° pro 100 m nähern. Wollen wir dies Resultat auf den mittleren Zustand der Atmosphäre an- wenden, so müssen wir berücksichtigen, dal) im Durchschnitt immer ebenso viel Luft herabsinken muß (ohne Wolkenbildung), wie aufsteigt, so daß im 06+190 5) Mittel in der Hauptwolkenzone —= 08° pro 100 m zu erwarten wären, in größeren Höhen aber wieder 0°9 bis 1'0° pro 100 ın. Obwohl der Sinn dieser Verbesserung nach der richtigen Seite geht, so ist sie doch gänzlich unzureichend. die Beobachtungen zu erklären, denn diese geben statt 0'S nur etwa 05° pro 100 m. Es hat sich nun gezeigt — und damit kommen wir zu einer der großen Entdeckungen, welche die Aerologie aufzuweisen hat — daß die Ur- sache dieser allgemeinen Schwächung des Temperaturgefälles in dem Auf- treten von eigentümlichen Schichtgrenzen oder Diskontinuitätsflächen zu suchen ist. Diese Erscheinung zeigt sich meist in der Weise, daß der Drachen beim Passieren einer solchen horizontalen Schichtgrenze von unten nach oben eine plötzliche Temperaturzunahme, eine ebenso plötzliche Än- derung der Windgeschwindigkeit und starken Fall der relativen Feuchtig- keit registriert. Man hat für diese Diskontinuitätsflächen den Namen „Inversionen“, d.i. Umkehrungen des Temperaturgefälles, eingeführt, da man in den häufigen Fällen, wo dieselben etwas verwaschen sind, inner- halb eines kurzen Höhenintervalles in der Tat eine Umkehrung des nor- malen Temperaturgefälles, d.h. eine Temperaturzunabme mit der Höhe, beobachtete. Diese Inversionen pflegen eine große horizontale Erstreckung zu haben und stellen offenbar die Grenzfläche zwischen zwei verschieden temperierten, verschieden feuchten und verschieden bewegten Luftschichten dar. Jede Oberfläche eines „Wolkenmeeres“ repräsentiert eine derartige Schichtgrenze; löst das Wolkenmeer sich aber auf, so bleibt die Schicht- grenze, wenn auch unsichtbar, erhalten, den Registrierinstrumenten nach wie vor durch die sprunghafte Änderung der genannten Elemente bemerkbar. Die Größe des Temperatursprunges variiert zwischen O und etwa 20°, am häu- figsten dürfte etwa 2° vorkommen. Oft sind sechs oder noch mehr solcher Sprungflächen in den untersten 10 Höhenkilometern anzutreffen; da ihre Höhenlage und ihr ganzes Auftreten starkem Wechsel unterworfen ist, so verteilt sich ihr Einfluß auf das mittlere Temperaturgefälle über diesen ganzen Höhenbereich und ruft so die allgemeine Schwächung desselben hervor. Die beifolgende Fig. 6 zeigt eine Drachenregistrierung, bei welcher der Drachen eine solche Inversion passiert hat. Ganz oben sieht man die Registrierung der Windgeschwindigkeit. Je enger die Zacken der Registrierung stehen, um so größer ist die Ge- schwindigkeit. Die darunter stehende Kurve gibt die Temperatur, und die 10 A. Wegener. folgende den Luftdruck, welcher hier lediglich zur Höhenbestimmung dient und unmittelbar ein allerdings umgekehrtes Bild von den Höhen liefert, in denen sich das Registrierinstrument befunden hat. Das horizontale An- fangsstück am linken Ende der Kurve entspricht den Vorbereitungen ENFLIERN „O DMAPAJNT 1142 ur \ (ey9H) Sl N % = = 2 | = S = \ ESQ | 8 =: PRESS 8 E ro F SR: >| en u zı = _ SS | _ Bo 2 a2 3 | Selm = \ m In | 5 5 | | SS | = a Se aus, Sal Ei | SS IS) OS > 'S3 S. | Ele Dr Sana ES Oo des Aufstieges, während welcher das Instrument sich am Erdboden befand. Der darauf folgende steile Abfall wird gebildet durch den Aufstieg des Drachens bis zur Höhe von etwa 600 m. In dieser Höhe hält sich dann der Drachen stundenlang mit nur geringen Schwankungen. Hier lag näm- Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 11 lich eine Schichtgrenze, oberhalb deren die Windgeschwindigkeit geringer war und nicht mehr ausreichte, um den Drachen weiter steigen zu lassen. Erst um 11 Uhr, als mit dem Einholen des Drahtes begonnen wurde, segelte der Drachen infolge dieser künstlichen Windverstärkung an, wie aus dem nun folgenden starken Abfall der Druckkurve zu ersehen ist, und erreichte auf diese Weise am tiefsten Punkt der Druckkurve die Höhe von 2330 m. Betrachtet man die Temperaturkurve, welche ja im allgemeinen wegen der Abnahme der Temperatur mit der Höhe der Druckkurve parallel zu laufen pflegt, so erkennt man hier an der genannten Schichtgrenze einen Temperatursprung von etwa 5°, welcher besonders schön beim Herabholen des Drachens registriert wird. Während des Aufstiegs, bei welchem der Drachen mit nur geringen Höhenschwankungen an der Schichtgrenze schwamm, sieht man eine Reihe außerordentlich starker Temperatur- schwankungen aufgezeichnet, welche dadurch erzeugt wurden, daß der Dra- chen abwechselnd in die obere warme Schicht hineinsegelte und wieder in die untere kalte Schicht zurückfiel. Vergleicht man hiermit endlich die ganz unten aufgezeichnete Feuch- tiekeitskurve, so erkennt man leicht, daß die obere warme Schicht relativ trocken, die untere kalte relativ feucht war; die hier registrierten Schwan- kungen der Feuchtiekeit entsprechen in allen Einzelheiten den Schwan- kungen der Temperatur. Über das Wesen und die Entstehung dieser merkwürdigen Schicht- grenzen tappen wir gegenwärtig noch fast ganz im Dunklen. Die Vermutungen, welche bisher über diesen Punkt ausgesprochen sind, sind alle noch nicht völlig befriedigend. Köppen hat die Ansicht geäußert, dal diese Inver- sionen die lamellenartig dünnen Überreste von einst mächtigen Schichten darstellen, welche sich immer mehr ausgeflacht haben. Doch ist es auch denkbar, daß die Ursache der Schichtgrenzen in Bewegungsunterschieden der Luft zu suchen ist, vermöge welcher sich Gleitflächen ausbilden. So- bald nämlich erst einmal ein solcher Bewegungsunterschied vorhanden ist, wird sich von selbst auch ein Temperatursprung einstellen, da die Luft- mengen, welche nun übereinander zu liegen kommen, aus verschiedenen Gegenden herstammen. Ich habe auch darauf hingewiesen, dal die Ver- teilung der Wolken nach Wolkenetagen, wie man sie aus den Höhen- messungen namentlich während des internationalen Wolkenjahres er- mittelt hat, auch für die Schichterenzen gültig sein muß, weil eben die Wolkenoberflächen derartige Schichtgrenzen repräsentieren. Indessen haben alle diese Untersuchungen noch nicht zu Resultaten geführt, welche allgemein anerkannt wären, und die Klärung dieses Problems der Inver- sionen bleibt daher im wesentlichen noch der Zukunft vorbehalten. Aber auch abgesehen von dieser wichtigen Entdeckung der Inver- sionen haben die aerologischen Experimente mannigfaltige Aufschlüsse ge- bracht. Besonders lehrreich sind die graphischen Veranschaulichungen dieser Ergebnisse, wie wir sie für einen Monat (Juli 1906) nach den Lindenberger Beobachtungen in unserer Fig. 7 dargestellt sehen. Die Höhen ‚Zraquepurgf aoqn HO6L !nf 8op BULL TgosT-uoyor A. Wegener. UEOREIUNEN HN ES SEI IENTADCCEILTITITINIEEN SE Sean veee3zzalEzae0B HR KUIRLHRRRTIINTHNHHNT HERR SRESSESE ACH EITIIDETCHENNT ZARSERETHCHILSULHTNTUNDE = Festes. ISLSNBLCELITTTTNIITE susıs SELLSSSNCENSENTN SS trsil NUM UNIITTE = OBEREERRRINTIT Ense- Eonpzgen Szdzegruzeem = HN < ANAL 7 Kauetrann AED HESI IT num] EDEN KH EEE net RSESSDN N MH SESNINTINEN SE rege EA IFEEIEILUEN ERRTLLIR Eaan RSRUN NOTEN ANKNAN SSANLLENLALELSNLLENTTTELLIEIL IE RR ER REELNETTEETT EEE EHTTT "LE Te 08'686 '88 "Lan Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 13 sind hierbei nach oben abgetragen, während die nach rechts fortschreitende Skala die Zeit repräsentiert: die bis zu wechselnden Höhen hinauf reichenden vertikalen Linien stellen die einzelnen Drachenaufstiege dar. Indem nun auf jeder dieser Linien die Temperatur bei jeder Höhenstufe notiert wird, und dann die Punkte gleicher Temperatur von Tag zu Tag miteinander verbunden werden, erhält man eine derartige Kurvenschar von Isothermen, wie sie in der Figur abgebildet ist. Die O°-Isotherme ist hierbei durch Querstrichelung hesonders hervor- gehoben; man erkennt, daß sie zu Beginn des Monats sich von etwa 1500 m bis auf 3500 zurückzog, dann nach einem schon am 14. erfolgten Vorstoß namentlich am 21. wieder tief herabkam, um später wieder in größere Höhen zurückzuweichen. Im allgemeinen verlaufen diese Isothermen mehr oder weniger parallel; namentlich zeigt sich beim Vorübergang einer barometrischen Depression sehr deutlich zunächst ein allgemeines Steigen der Isothermen, wobei auch die Temperatur am Erdboden zu steigen pflegt (wie z.B. am 18. und 19.), und darauf, sobald das Centrum vorbei ist, ein rapides Herabsinken der Isothermen in allen Höhen, einer durch- greifenden Abkühlung entsprechend. In den alleruntersten Schichten ist häufig noch der Einfluß der täglichen Erwärmung und der nächtlichen Abkühlung zu erkennen, wenn auch die Experimente im allgemeinen hierfür nicht zahlreich genug sind. Die oben besprochenen Inversionen zeigen sich meist durch ein Zurückbiegen der Isothermen, wie man es z.B. bei dem Vormittagsaufstieg am 18. in etwa 1100» Höhe erkennt. — Indessen würde es zu weit führen, hier auf Einzelheiten einzugehen. Bei der Betrachtung der mittleren Zustandskurve (Fig. 5) fällt vor allem die bereits oben kurz berührte Tatsache auf, daß die Temperatur- abnahme überhaupt bei etwa 114m Höhe vollständig aufhört, und die darüberliegenden Schichten alle die gleiche Temperatur, im Mittel etwa — 55°C, aufweisen. Noch das erwähnte große Ballonwerk, das im Jahre 1900 erschien, enthält keine Andeutung von dieser fundamentalen Schicht- grenze unserer Atmosphäre. Erst im Jahre 1902 wurde gleichzeitig von Teisserene de Bort in Paris und Assmann in Berlin diese Entdeckung mit Hilfe der Registrierballone gemacht. Nach Teisserene de Borts Vorschlag bezeichnet man den unteren Teil der Atmosphäre, innerhalb dessen die Temperatur mit der Höhe abnimmt, als Troposphäre und die darüber liegenden Schichten als Stratosphäre. Die folgende Fig. 8 zeigt die Registrierung eines Gummiballons, der bis in diese Stratosphäre vordrang. Registriert wurde die relative Feuchtig- keit, Temperatur und Luftdruck. Man erkennt wieder nach der anfäng- lichen Registrierung am Erdboden den Aufstieg des Ballons an dem Sinken der Luftdruckkurve. Das Thermometer registriert kurz darauf, ungefähr 1000 über dem Erdboden, eine der besprochenen Inversionen, welcher auch hier ein starker Fall der relativen Feuchtigkeit entspricht; darauf sinkt die Temperatur außerordentlich gleichförmig mit zunehmender Höhe, bis sie bei 12.230 m — 61'9° erreicht. In dieser Höhe wurde die Grenze der 14 A. Wegener. Stratosphäre angetroffen. Hier hört die Temperaturabnahme auf, und bis zur Maximalhöhe von 15.050 m erkennt man sogar einen geringen Anstieg auf — 577°. Bei dem darauffolgenden Herabsinken des Instrumentes ist die Uhr desselben stehen geblieben, worauf das scheinbar plötzliche Zu- rückschnellen der Federn auf ihren Ausgangswert zurückzuführen ist. Bis zur Höhe von 29 km — soweit haben diese Experimente bisher ge- führt — hat man dieselben Verhältnisse unverändert vorgefunden, und wir haben Grund zu der Annahme, daß auch die noch nicht erreichten Schichten oberhalb dieser Höhe keine wesentliche Änderung der Temperatur mehr zeigen werden. Man kann nämlich leicht einsehen, daß eine so breite Schicht konstanter Temperatur, die mindestens von 11 bis 29km Höhe reicht, allen aufsteigenden Luftströmen ein Ende setzen muß, und daher von der vertikalen Durchmischung, welche zu einer Temperaturab- nahme mit der Höhe führt, ausge- schlossen sein muß: denn nach dem Thomson- schen (Gesetz müßte man die Luft bei 11 km Höhe (wo ja m Wahrheit Tempe- Ei iR raturen zwischen = 17 — 50 und — 60° Registrierung eines in die Stratosphäre eindringenden Gummiballons (aufgestiegen herrschen) L auf am 1. Dezember 1910 am Aeronanut. Obs. zu Lindenberg. E— 180° erhitzen, damit sie die dar- überliegenden isothermen Schichten durchsteigen und bei 29km ins Gleich- gewicht kommen sollte! Durch die Untersuchungen von Gold und namentlich Humphreys, deren Durehführung in voller Strenge allerdings noch nicht geglückt ist, wird es sehr wahrscheinlich gemacht, daß sich diese oberen Schichten im Zustand des Strahlungsgleichgewichts befinden, daß ihre Temperatur sich also nur bei einer Änderung der Sonnenstrahlung ändern kann. Da diese Strahlungsverhältnisse für die verschiedenen Höhen so gut wie dieselben sind, so muß auch die Temperatur überall nahezu die gleiche sein. Man hat nicht sofort die Bedeutung dieser fundamentalen Schicht- grenze der Atmosphäre bei 11km klar erkannt. Im Anfange glaubte man, daß die Luftmassen oberhalb derselben ein Glied der sogenannten Gesamt- zirkulation zwischen Pol und Äquator darstellten, und daß sich das Fehlen der weiteren Temperaturabnahme auf den äquatorialen Ursprung dieser Fig. 8. Rel. Feuchtigkeit Grundlinie Un der Stratosphäre 12230 Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 15 Luftmassen zurückführen ließe. Gestützt wurde diese Vermutung, als Her- gesell in den Tropen auch bei 15%m Höhe noch keine Spur dieser Schicht- erenze fand. Erst nach und nach rang sich die Überzeugung Bahn, dab dieselbe geschlossen die ganze Erde umspannt, dal) aber ihre Höhe vom Pol zum Äquator sich ungefähr verdoppelt. In Pawlowsk (60° Breite) wurde sie im Mittel bei 96 kn gefunden, in Berlin bzw. in München (52 bzw. 48° Breite) bei 10'7 bzw. 10'9km, in Nordamerika unter nur mehr 38° bei 12km, und vor kurzem ist sie durch Berson und Elias auch im äqua- torialen Gebiet, nämlich über dem Viktoria-Nyanza (1° Südbreite) in der Höhe von 16—17km nachgewiesen worden. Es kann gegenwärtig kaum noch ein Zweifel mehr darüber bestehen, daß) diese Schichtgrenze die ganze Erde umspannt, und daß die über ihr liegenden Schichten von allen Vertikalbewegungen und also auch von der „Gesamtzirkulation“, die man sich früher stets bis zur äußersten Grenze der Atmosphäre fortgesetzt dachte, ausgeschlossen sind. Es ist von großer Bedeutung, daß es mit Hilfe dieser einen Methode gelungen ist, die Grenze der Troposphäre zu überschreiten und noch Be- obachtungen aus den darüber liegenden Schichten zu gewinnen. Denn erst dies gibt uns die Gewähr dafür, daß wir mit unseren Methoden die für die Witterung in Frage kommenden Schichten auch vollständig beherrschen. Die obersten Wolken, die Cirren, liegen bei etwa 10—11%km Höhe, ge- rade am oberen Ende der Troposphäre, und alles, was wir unter dem Begriff Wetter zusammenfassen, spielt sich daher in der letzteren ab, insbesondere auch die großen atmosphärischen Wirbel, die sogenannten Zyklonen und Antizyklonen. Wir sind auf diese Weise zu der Hoffnung berechtigt, daß es mit Hilfe dieser Forschungen, wenn auch wohl erst nach langer mühseliger Arbeit, gelingen wird, den wahren Sachverhalt bei den beiden großen Grundphänomenen der Meteorologie, nämlich der das Klima bedingenden Gesamtzirkulation und den das Wetter bedingenden zyklonischen Luftwirbeln, festzustellen. Erst nach einer genauen und voll- ständigen Aufnahme dieses Sachverhalts, von der wir gegenwärtig noch weit entfernt sind, wird es der Theorie möglich sein, mit Erfolg diese Probleme zu behandeln, an deren Schwierigkeit bisher alle noch so scharf- sinnigen Untersuchungen gescheitert sind. 2. Fortschritte der Wolkenkunde. Durch die neuerdings immer zahlreicher ausgeführten Ballonfahrten ist unsere Kenntnis von den Formen der Wolken außerordentlich erweitert worden; während der an die Erde gebannte Beobachter nur zu oft einen gleichmäßig grauen Himmel ohne jede Spur von Detail sieht, ändert sich das Bild mit einem Schlage, sobald er sich im Ballon über die Wolken- schicht erhebt. Denn nur an der Oberfläche haben diese Schichtwolken scharfe Begrenzungen, deren markante Formen dem Auge einen Anhalts- punkt geben. Durch die ständig wachsende Vertrautheit immer größerer 16 A. Wegener. Kreise mit dem uns früher unzugänglichen Element, dem Luftozean, wird hier im Laufe der Zeit durch unmittelbare Anschauung, ohne komplizierte Messungen, ein Material gewonnen werden und ist teilweise schon jetzt gewonnen, welches es uns ermöglichen wird, nach und nach an Stelle des früheren „künstlichen“ Systems der Wolken ein „natürliches“ zu setzen, welches die Wolken nicht nur so beschreibt, wie sie von der Erde aus erscheinen, sondern wie sie sind. Dieser interessante Übergang ist gegenwärtig noch keineswegs beendet, wir stehen vielmehr noch mitten in der Entwicklung. Die folgenden Ausführungen können daher auch nur eine erste Orientierung abgeben. Bevor wir aber auf die Formen der Wolken eingehen, müssen wir zu- nächst bei der prinzipiellen Frage verweilen, was denn die Ursache der Wolkenbildung überhaupt ist. Schlägt man ältere Lehrbücher der Meteorologie auf, so findet man noch vielfach für die Wolkenbildung die von James Hutton im Jahre 1754 gegebene Erklärung. Hutton ging von der allbekannten Beobachtung aus, dal der menschliche Atem bei strenger Kälte sichtbar ist. Da diese Wolken- bildung im kleinen offenbar auf die Mischung der warmen Luft aus der Lunge mit der kalten Außenluft zurückzuführen ist, so schloß Hutton, dab auch die Wolkenbildung in der Atmosphäre stets durch Mischung warmer und kalter Luftmassen zustande käme. Diese Annahme, welche lange Zeit in der Meteorologie herrschend gewesen ist, wurde erst durch eine Reihe sehr sorgfältiger Untersuchungen der bedeutendsten Meteorologen, wie Hann, Pernter und Bezold, als unzutreffend erkannt. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die Bedingungen für das Zustandekommen einer solchen Mischungstrübung ganz außerordentlich enge sind, und dal; sie obendrein von der Art sind, wie sie in der Atmosphäre, soweit unsere Kenntnisse reichen, noch nie beobachtet wurden. So nahe also diese Erklärung lag, so mußte sie doch als unzulänglich aufgegeben werden, und es entstand aufs neue die Frage, worauf die Wolkenbildung in der Atmosphäre in Wirklichkeit zurückzuführen sei. Es gibt jedoch noch einen anderen Vorgang, welcher gleichfalls zu einer Ausscheidung des unsichtbaren, in der Luft vorhandenen Wasser- dampfes führt, nämlich die Expansion !); und diese Expansion tritt in der !) Es sei hier an einen bekannten Vorlesungsversuch erinnert. Wenn man den Boden eines großen verschließbaren Glasgefäßes mit Wasser bedeckt, so daß nach einiger Zeit die darüber befindliche Luft in dem Glasgefäße vollkommen mit Wasserdampf ge- sättigt ist, d.h. so viel unsichtbaren gasförmigen Wasserdampf aufgenommen hat, wie sie bei der betreffenden Temperatur enthalten kann, so genügt eine verhältnismäßig geringe Expansion, um eine deutliche Nebelbildung in dem Glasgefäß hervorzubringen. Um die Expansion möglichst plötzlich eintreten zu lassen, führt man den Versuch praktisch in der Weise aus, daß man zunächst die Luft in dem Glasgefäß etwas kom- primiert, was einfach durch Hineinblasen mittelst eines angesetzten Schlauches ge- schieht. Öffnet man dann einen Hahn, so daß der Luftüberschuß plötzlich entweichen kann, so tritt sogleich die Nebelbildung ein, welche man durch eine dahinter gestellte brennende Kerze auch einem größeren Auditorium sichtbar machen kann. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 17 Atmosphäre ganz außerordentlich häufig ein, da die Luft bei jedem Auf- steigen in geringeren Luftdruck kommt und sich daher ausdehnen muß. In der Tat hat sich immer deutlicher gezeigt, daß die Wolkenbildung in der Atmosphäre fast oder sogar ganz ausschließlich in dieser Weise auf die Expansion beim Aufsteigen zurückzuführen ist. Es’ ergeben sich indessen noch verschiedene Schwierigkeiten, sobald man den Vorgang der Wolkenbildung etwas schärfer ins Auge faßt. Der englische Physiker Wilson bemerkte nämlich, daß in sorgfältig von Staub gereinigter (durch einen Wattefilter hindurchgesogener) Luft selbst bei starker Expansion keine Wolkenbildung eintritt. Es bildet sich dann nur ein Niederschlag an den Wänden des Ge- fäßes, aber im Inneren’ desselben bleibt die Nebelbildung aus. Wenn man allerdings die Expansion immer weiter fortsetzt, so gelangt man schließ- lich an eine Grenze. bei welcher nun doch wieder ein Nebel auftritt, der sehr merkwürdige physikalische Eigenschaften besitzt. Er ist nämlich elek- trisch geladen, und es läßt sich zeigen, daß sich hier der Wasserdampf statt an den gewöhnlichen Kernen an den stets in der Luft vorhandenen Ionen- niedergeschlagen hat. Man hat eine Zeitlang geglaubt, daß diese Kondensation an Ionen bei den Gewitterwolken der Atmosphäre eine Rolle spielt, und daß auf diese Weise die Gewitterelektrizität erzeugt würde. Indessen hat man diese Ansicht bald wieder aufgeben müssen, da man sich überzeugte, daß das Auftreten dieser merkwürdigen Wolkenbildung an so exzessive Bedingungen geknüpft ist, wie sie nach unseren Beobachtungen selbst in Gewitterwolken bei weitem nicht vorkommen, und die Gewitter- elektrizität bildet daher noch heutzutage ein ungelöstes Problem. Die Wolkenbildung in der Atmosphäre muß hiernach ‘stets von schon vorhandenen Kernen ausgehen und müßte ausbleiben, wenn diese fehlten. Daß es sich bei diesen Kernen nicht nur um den Staub der Zimmerluft handelt, sondern daß auch die freie Atmosphäre stets mit ihnen erfüllt ist, das zeigen die Versuche von Aitken, welcher ein Instrument erfand, das sogar die Anzahl‘ dieser Kerne pro Kubikzentimeter zu messen ge- stattet. Auch in den größten Höhen, in welchen man bisher bei Ballon- fahrten mit diesem Instrument Messungen ausgeführt hat, wurden noch immer mehrere hundert Kerne pro Kubikzentimeter gefunden. Es gibt aber eine ganze Reihe von Erscheinungen, welche direkt die Anwesenheit solcher trübenden Teilchen in der Atmosphäre dokumentieren. Bekanntlich ist ja die Durchsichtigkeit der Luft starkem Wechsel unter- worfen. Man bezeichnet diese Trübungen als „Dunst“ im Gegensatz zur Wolkenbildung. Dieser Dunst ist z. B. die Ursache davon, daß der Schatten- wurf der Wolken bisweilen räumlich sichtbar wird. Fig. 9 stellt diese Er- scheinung dar, welche im Volksmund als „wasserziehende Sonne“ oder auch als „Dämmerungstrahlen“ bekannt ist. Wenn diese Strahlen über den Kopf des Beobachters fortgehen, so sieht er sie oberhalb der Sonne; obwohl parallel, laufen sie scheinbar in ihr zusammen. Bei besonders prächtiger Ausbildung der Erscheinung lassen sich die Strahlen über den E.Abderhalden, Fortschritte. III. 2 18 A. Wegener. ganzen Himmel fort verfolgen und laufen schließlich wiederum am Gegen- punkt der Sonne in derselben Weise zusammen, wie in der Sonne selbst. Bei Ballonfahrten hat man oft Gelegenheit, diesen Dunst auch noch in anderer Weise unmittelbar wahrzunehmen. Bekanntlich neigt die Luft sehr zur Schichtenbildung, und die verschiedenen Schichten sind sehr ver- schieden durchsichtig, sei es nun, daß die Anzahl der trübenden Teilchen in ihnen verschieden groß ist, oder daß die Teilchen selber in ihnen un- gleiche Größen besitzen. So ist häufig die unterste, etwa bis 1500 m reichende Luftschicht sehr stark mit Dunst erfüllt, während die darüber liegende Schicht außerordentlich klar ist. Befindet sich nun der Ballon gerade in der Höhe der Schichtgrenze, so sieht er die Oberfläche der Dunstschicht in sehr markanter Weise als eine gerade Linie am Horizont. Fig. 9. Wasserziehende Sonne (Dämmerungstrahlen). Die Fig. 10 zeigt eine Photographie dieser Erscheinung. Hier ist dieser „Dunsthorizont“ so stark markiert, daß man, wenn man nicht besonders darauf aufmerksam gemacht wird, geneigt ist, ihn für den natürlichen Horizont zu halten, während er in Wahrheit 1500 m darüber liegt. Es gibt aber noch eine Reihe anderer sehr bekannter, ja alltäglicher Erscheinungen, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, nämlich die blaue Farbe des Himmels und die rote Farbe der untergehenden Sonne. Und damit kommen wir zu denjenigen Erscheinungen, welche den in der Physik als trübe Medien bezeichneten Stoffen eigen sind. Bekanntlich läßt sich die Vergrößerung unseres Mikroskops nicht beliebig weit treiben; selbst für das Ultramikroskop gibt es eine gewisse Größe, welche das be- trachtete Objekt mindestens haben muß, wenn es noch wahrnehmbar sein soll. Diese Erscheinung ist in der Natur der Lichtwellen begründet und läßt sich Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 19 durch keinerlei optische Systeme beseitigen. Sobald nun die trübenden Teil- chen diese kritische Grenze unterschreiten, so daß sie nicht mehr gesehen werden können, so bieten sie Anlaß für das Auftreten ganz charakte- ristischer Farben, welche eben als die Farben der trüben Medien bekannt sind. Der englische Physiker Lord Rayleigh hat die Theorie dieser Farben- erscheinungen mathematisch entwickelt und damit zugleich eine exakte Er- klärung für die blaue Himmelsfarbe und die rote Farbe der untergehenden Sonne gegeben. Die Rechnungen sind NET außerordentlich kom- pliziert, aber das zu- grunde liegende Prin- zip läßt sich durch einen einfachen Ver- gleich der Anschauung näherbringen. Betrachten wir einen großen Ozean- dampfer in dem auf- und abwogenden Meere. Die Wellen, welche von der Luv- seite gegen den Schiffs- rumpf schlagen, sind nicht imstande, den gewaltigen Koloß zu heben oder zu senken, sondern prallen zurück, und in Lee bildet sich ruhiges Wasser. Be- trachten wir gleichzei- tig eine große Flotille kleiner Ruderboote, welche auf denselben Ozeanwogen auf- und abtanzen. Sie werden . : Dunsthorizont Phot. Stuchtey. willenlos von jeder 1500 m über der Erde. vom Ballon (in gleicher Höhe) gesehen. Welle hinauf und hinab geführt, und man kann das Meer so dicht mit ihnen besetzen, wie man will, die Wogen werden stets so gut wie ungehindert weiter rollen, während die Boote diese Schwingungen passiv mitmachen; in Lee einer solchen Flotille wird daher auch niemals ruhiges Wasser erzeugt werden. Man sieht sofort, wie dieser Vergleich anzuwenden ist. Die Meereswogen sind die Lichtwellen, der Ozeandampfer stellt ein trübendes Teilchen von beträchtlicher Größe, etwa ein Wolken- I%* 20 A. Wegener. element dar. welches die Lichtwellen zurückwirft und hierdurch selbst sichtbar wird, hinter sich aber einen Schatten entwirft. Die Flotille kleiner Ruderboote aber sind trübende Teilchen von so geringer Größe, daß sie von den Schwingungen der Lichtwellen als Ganzes mitgenommen werden, diese also nicht zurückwerfen, sondern passieren lassen. Sie werfen keinen Schatten und sind auch selbst nicht sichtbar, obwohl sie aus undurchsich- tigem Material bestehen. Damit wäre nun allerdings erst soviel erklärt, daß diese kleinsten Teilchen unsichtbar sind. Wie entstehen aber die Farben? Hierzu müssen wir berücksichtigen, daß die Lichtwellen verschiedene Länge haben. Das weiße Licht besteht ja aus einer Mischung sämtlicher Farben des Spek- trums. Der roten Farbe entsprechen die langen Lichtwellen, der blauen die kurzen, während die übrigen Farbentöne mittlere Wellenlängen reprä- sentieren. Bleiben wir nun bei unserem Bilde, so hätten wir uns zu ver- gegenwärtigen, was geschieht, wenn wir eines der kleinen Ruderboote etwa auf einen kleinen Teich setzen, der nur Wellen von viel geringerer Länge auf seiner Oberfläche erzeugt. Hier wird sich bereits das kleine Boot so verhalten wie der große Dampfer in der Dünung des Ozeans: es wirft die Wellen zurück und erzeugt in Lee ruhiges Wasser. Wenn also die trübenden Teilchen eine entsprechende Größe besitzen, so werden sie zwar die „Ozean“-Wellen des roten Lichtes nicht mehr reflektieren können, son- dern sie frei passieren lassen; dagegen werden sie die kurzen „Teich “- wellen des blauen Lichtes noch in derselben Weise zurückwerfen und hier- durch selbst sichtbar werden, wie dies für sämtliche Lichtarten bei den größeren Wolkenelementen der Fall ist. Fällt also eine Mischung sämt- licher Lichtarten, d. h. weißes Licht, auf ein derartiges trübes Medium, so verhält sich dieses gegenüber dem roten Bestandteile des Lichts wie durch- sichtiges Glas, aber dem blauen Bestandteile gegenüber etwa wie Matt- glas. Die Folge davon ist, daß nur rotes Licht hindurchdringt, daß aber das trübe Medium selber in blauer Farbe sichtbar wird. !) Die Anwendung auf die Farbe des Himmels ist nicht schwer. Von dem weißen Sonnenlicht, mit dem die Atmosphäre durchstrahlt wird, pas- !) Man kann sich in sehr einfacher Weise ein trübes Medium herstellen, indem man eine Auflösung von Mastix in Weingeist unter Umrühren in ein Gefäß mit Wasser hineintropfen läßt und die Mischung am- besten filtriert. Sendet man dann mittelst einer Projektionslampe einen Strahl weißen Lichtes durch dieses Glasgefäß hindurch, so kann man den hindurch gelangenden roten Bestandteil bequem auf einem Schirm auffangen, während das Gefäß selbst in intensiv bläulicher Farbe sichtbar wird. Übrigens läßt sich z. B. auch das unter dem Namen Odol bekannte Zahnwasser und ähnliche Substanzen in gleicher Weise verwenden; auch an dem aufsteigenden Rauch der Zigarre lassen sich die Farben demonstrieren: Gegen dunklen Hintergrund gesehen erscheint er blau, gegen einen hellen Hintergrund schwach rotbraun; der aus dem Munde ausgeblasene Rauch dagegen, bei dem die Tröpfehen infolge der großen relativen Feuchtigkeit im Munde er- heblich gewachsen sind, erscheint fast rein weiß. — Eine praktische Anwendung haben diese Dinge in der Eisenbahntechnik gefunden, indem neuerdings überall rötliches Licht namentlich für Signale vorgezogen wird, da es bei nebligem Wetter weiter zu sehen ist als bläuliches. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. >] siert der rote Bestandteil ungehindert, wie man besonders schön an der kupferroten Farbe erkennen kann, welche der Mond meist bei Finster- nissen annimmt. Der blaue Bestandteil dagegen wird nicht hindurch gelassen, so dal) der Himmel, gegen den dunklen Weltraum gesehen, in- tensiv blau erscheinen muß. Die Sonne selber muß unter allen Umstän- den einen etwas gelblichen Ton zeigen: solange sie noch hoch über dem Horizont steht, und die Weglänge der Sonnenstrahlen in der Atmo- sphäre nur kurz ist, wird diese Färbung freilich nur sehr schwach sein. Je mehr sie sich aber dem Untergang zuneigt, um so länger wird der Weg, den die zum Auge gelangenden Sonnenstrahlen in der Atmosphäre zurück- zulegen haben, und um so markanter tritt hier die für trübe Medien charakteristische rote Farbe auf.) Woraus diese Kondensationskerne in der Atmosphäre bestehen, ist uns noch fast ganz unbekannt. Es deutet manches darauf hin, daß bei der Kondensation in fester Form, also der Bildung der Schneekristalle in der Luft, prinzipiell andere Kerne benutzt werden als bei derjenigen in flüssiger Form. Bei letzterer handelt es sich höchstwahrscheinlich um außerordent- lich kleine Flüssigkeitströpfchen, nämlich wässerige Lösungen hygroskopi- scher Gase, wie z. B. Ammoniak oder Salpetersäure, die sich im Regen- wasser nachweisen lassen. Man hätte sich hiernach vorzustellen, daß jedes Molekül dieser Gase auch schon in relativ trockener Luft eine Anzahl von Wasserdampfmolekülen um sich gesammelt hat und mit ihnen zusammen ein außerordentlich kleines Tröpfchen, das noch unsichtbare Dunsttröpfchen, bildet. Die Bildung der Schneekristalle scheint dagegen von festen Kernen auszugehen. Indessen sind unsere Vorstellungen hierüber, wie erwähnt, noch sehr unsicher. Nach dieser kurzen Übersicht über die Erscheinungen, die mit den stets vorhandenen Kernen der Wolkenbildung zusammenhängen, sollen nun im folgenden die Formen der Wolken selber, sowie diejenigen Vor- gänge besprochen werden, welche für die Entstehung derselben maß- gebend sind. Es ist nicht ohne Interesse, daß die noch heute an unseren meteoro- logischen Stationen üblichen Wolkenbezeichnungen im wesentlichen schon im Jahre 1805 von Luke Howard aufgestellt worden sind.?) Indessen fand die genauere Formulierung doch erst im Jahre 1886 auf Grund einer internationalen Vereinbarung — hauptsächlich auf Betreiben von Hilde- ‘) Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß Rayleigh in späterer Zeit die Hypo- these aufgestellt hat, daß nicht eigentliche Fremdkörper, sondern die Luftmoleküle selber als „trübende Teilchen“ wirken und die blaue Himmelsfarbe erzeugen. Dies könnte allerdings erst in Höhen geschehen, in denen der Abstand dieser Moleküle von einander hinreichend groß geworden ist, nämlich in den Höhen zwischen etwa 20 und 70 km. Man hat bisher wohl noch kein abschließendes Urteil über diese Hypothese ge- wonnen. ?) On the modifications of clouds, London 1803; neu herausgegeben von Hell- mann, Berlin 1894, als Nr. 3 der „Neudrucke von Schriften und Karten über Meteoro- logie und Erdmagnetismus“. 22 A. Wegener. brandsson und Abereromby — statt, nachdem eine Reihe sorgfältiger Höhenmessungen, die im Jahre 1884—1885 in Upsala angestellt worden waren, eine hinreichende Orientierung über die Höhenskala der Wolken- arten gegeben hatte, und nachdem andrerseits durch die Beobachtungen des letztgenannten Meteorologen auf seinen Weltreisen eine gewisse Kon- stanz der Wolkenformen unter allen geographischen Breiten gewährleistet war. Die hier vereinbarte Einteilung fand dann in dem 1896 herausge- gebenen „internationalen Wolkenatlas“ !) ihren Ausdruck, dessen Text in deutscher, englischer und französischer Sprache erschien, und in welchem auf 14 Tafeln im ganzen 28 sorgfältig ausgewählte Wolkenbilder repro- duziert wurden. Die zugehörige Beschreibung unterscheidet die 10 folgen- den Wolkenarten: Cirrus (ei), Cirro-Stratus (ei-str), Cirro-Cumulus (ei-cu), Alto-Cumulus (a-cu), Alto-Stratus (a-str), Strato-Cumulus (str-eu), Nimbus (ni), Cumulo-Nimbus (cu-ni), Cumulo-Stratus (cu-str). Die Reihenfolge stimmt ungefähr mit der Höhenlage überein, die größte Höhe kommt den Cirren zu. Im selben Jahre 1896 begannen die größeren meteorologischen Obser- vatorien auf internationalen Beschluß mit einem Beobachtungsprogramm, dessen Durchführung sehr wichtige Resultate gezeitigt hat. Es wurden näm- lich in diesem „internationalen Wolkenjahr“ die Höhen sämtlicher sich hierfür eignender Wolken — meist auf photogrammetrischem Wege — gemessen. Die Diskussion dieser Beobachtungen, welche namentlich Süring in sehr eingehender Weise vorgenommen hat, ermöglichte vor allem eine ge- nauere Feststellung von Wolkenetagen. Die Wolken treten nämlich, wie man sich schon durch den un- mittelbaren Anblick leicht überzeugen kann, in bestimmten Etagen auf, wäh- rend die dazwischen liegenden Schichten im allgemeinen frei bleiben. Diese Höheneinteilung bildet ja auch die natürliche Basis für die Klassifikation der Wolken. Vettin war der erste, der die Höhen dieser Etagen zahlenmäßig zu bestimmen versuchte, doch fielen seine Messungen noch allzu ungenau aus. Die ersten einigermaßen richtigen Vorstellungen gaben die schon er- wähnten Wolkenbeobachtungen in Upsala. Aber auch bei dieser sich über 1 Jahr erstreckenden Beobachtungsreihe von nur einer Station konnten die Zweifel, wieweit das Ergebnis verallgemeinerungsfähig sei, nicht beseitigt werden. So war es denn von großer Bedeutung, dal Süring an der Hand des viel reicheren Materials des internationalen Wolkenjahres die Frage aufnahm. Die Etagen zeigen sich an allen Stationen mehr oder weniger deutlich. Unter Zusammenfassung der Beobachtungsergebnisse der 7 Stationen Blue Hill, Bossekop, Manila, Pawlowsk, Potsdam, Upsala, Washington, leitete Süring sechs Etagen ab, die bei 0'6, 16, 40, 6°0, 80 und 10'0km Höhe liegen. Die Erscheinung dieser Wolkenetagen hängt aufs engste mit der Schichtung der Atmosphäre überhaupt zusammen. Denn wie schon im ‘) Atlas international des Nuages. Paris, Gauthier Villars, 1896. (Eine zweite Auflage ist soeben erschienen.) Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 23 vorigen Kapitel bemerkt war, repräsentiert die Oberfläche der an einer solchen Etage liegenden Wolkendecke die Grenzfläche zwischen zwei Luft- schichten, welche im allgemeinen mit ganz verschiedenen Temperaturen und Feuchtigkeiten begabt und auch verschieden bewegt sind. Da es bisher noch nicht gelun- gen ist, ein System in diesen Schichtgrenzen auf Grund der Drachen- und Ballonregistrierun- gen mit Sicherheit zu erkennen, so ist es doppelt wertvoll, daß die Wolkenbeobachtungen ein solches mit relativ großer Deut- lichkeit erkennen lassen. Freilich eilt dies nur für die Mittelwerte. In den einzelnen Fällen können Höhen auftreten. Fig. 11. Stratus (Hebung der Schichtgrenze) und Cumulus (Durch- brechung der Schichtgrenze). schematisch. auch die Wolkenetagen in ganz beliebigen Phot. Stuchtey. Wolkenmeer bei 1200 m Höhe, aus 1500 m Höhe vom Ballon aus gesehen. Schon bei der Betrachtung der oben genannten Bezeichnungen er- kennt man, dal) sich eine charakteristische Gegenüberstellung zweier For- men wie ein roter Faden durch die ganze Klassifikation hindurchzieht. 24 A. Wegener. Es sind dies die Formen des Cumulus und des Stratus. In der Tat ver- halten sich diese nicht nur in bezug auf ihre äußere Gestalt, sondern auch in bezug auf ihre Entstehung grundsätzlich verschieden. Wie durch Fig. 11 (auf voriger Seite) veranschaulicht wird, entsteht die Stratusform bei einer Hebung der Schichtgrenze, gehört also ganz der unteren Schicht an. Die Cumulusform dagegen stellt den Durchbruch einer größeren Luft- menge durch die Schichtgrenze hindurch dar. In vielen Fällen genügt dieses schematische Bild vollkommen; doch in vielen anderen handelt es sich um Übergänge oder Kombinationen dieser Fig. 13. an an = * . - — — e U nie DE ee. h — ha . en \ o ze - Dasselbe Wolkenmeer wie Fig. 12, aus 3000 m Höhe gesehen. beiden Grundformen, so daß es manchmal nicht leicht ist, zu entscheiden, welche Bezeichnung in dem betreffenden Falle anzuwenden ist. Die bei- folgenden Figuren, welche zunächst die Stratusform in verschiedener Aus- bildung zeigen, können bereits ein deutliches Bild davon geben. Der Beob- achtungsplatz an der Erde ist bei diesen Wolken natürlich der denkbar ungünstigste, da ihre Unterseite ohne alle scharfen Formen kontinuierlich in den darunter liegenden Dunst übergeht. Von Berggipfeln oder vom Ballon aus hat man dagegen den Anblick eines Wolkenmeeres mit mar- kanten Formen. Die Figuren 12 und 13 stellen ein und dasselbe Wolkenmeer Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmospbärischen Physik. 35 dar, welches aus verschiedenen Höhen betrachtet wird. Bei der ersten befand sich der Ballon etwa 300 m, bei der zweiten bereits 1800 m oberhalb der Wolkendecke. Man erkennt namentlich an der zweiten Aufnahme, daß die Wolkenoberfläche keineswegs ganz eben ist; sie be- steht vielmehr aus zahllosen eng zusammengedrängten Köpfen, die einzeln für sich durchaus die charakteristische Traubenform des Cumulus auf- weisen. In der Tat fehlt diese Tendenz zur Cumulusbildung nur selten an einer Wolkenoberfläche. Bei der folgenden Fig. 14 sehen wir einen Fall Fig. 14. Wolkenmeer ohne Cumulus-Tendenz, vom Ballon aus gesehen. dargestellt, bei dem fast keine Cumulusbildung vorliegt. Hier repräsentiert sich die Oberfläche in Form zahlloser kleiner und großer Rollen und Wir- bel, welche offenbar auf die verschiedene Bewegung der beiden sich hier berührenden Luftschichten zurückzuführen sind. Diese Rollen haben alle dieselbe Orientierung, was ja nach ihrer Entstehung selbstverständlich ist, aber im übrigen besitzen sie die verschiedensten Größen. Es kommt jedoch vor, daß diese kleinen Wirbel, die sich an einer solchen „Wirbelfläche“ auszubilden pflegen, einen regelmäßigen Charakter annehmen, und dann entstehen reguläre Wogen. Der bekannte Physiker 6 A. Wegener. Helmholtz war der erste, welcher erkannte, daß sich nicht nur an der Grenzfläche zwischen Luft und Wasser, sondern auch an derjenigen zwi- schen zwei verschieden warmen Luftschichten Wogen ausbilden müssen, wenn die obere Schicht sich relativ zur unteren bewegt. Diese an den at- mosphärischen Schichtgrenzen auftretende Wogenbildung gibt die Erklärung für die so häufig zu beobachtenden Wogenwolken (Fig. 15). Da nämlich bei den großen Dimensionen der Luftwogen — sie sind im allgemeinen 10.000mal so groß wie die Wasserwogen — eine sehr erhebliche Höhen- differenz zwischen dem Wellenberg und dem Wellental besteht, so ist ein- leuchtend. daß bei einer dünnen Wolkenschicht mitunter nur die Wellen- berge mit Wolken erfüllt sein werden, während die Täler frei bleiben. Die Fig. 15. Wogenwolken. Phot. Meteorolog. Obs. Potsdam. Folge ist dann, daß die langgezogenen Wellenberge in Form von parallelen Wolkenstreifen sichtbar werden. Nun gibt es aber auch noch Wellen anderer Art als diese freien Windwellen, nämlich sogenannte Hinderniswellen. Wenn ein seichter Bach über unebenen Grund strömt, so sehen wir, daß seine Oberfläche (die Schichtgrenze Wasser—Luft) deformiert wird; es bilden sich Wellen- berge und -Täler aus, die meist stationär über dem hemmenden Stein stehen, während das Wasser durch sie hindurchströmt. Ganz ähnliche Stromschnellen muß es auch in der bewegten Luft geben, welche über die Unebenheiten der Erdoberfläche dahinfließt. Und es ist einleuchtend, daß die Wellenberge dieser Hinderniswogen uns bei günstigen Feuchtigkeits- Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 97 verhältnissen in derselben Weise als Wogenwolken sichtbar werden müssen, wie es bei den freien Windwogen der Fall ist. In der Tat sind bei iso- lierten Bergen solche stationären, von der Spitze aus nach Lee hinüber- weisenden Wolkenkappen nicht selten, ja für gewisse Berge, wie den Pie von Teneriffa und den Tafelberg, geradezu typisch. Die beifolgende Fig. 16 gibt eine von de Quervain erhaltene Photographie einer solchen Wolke, welche sich am Matterhorn gebildet hat. Das dem Stratus entgegengesetzte Prinzip der reinen Cumulusbildung ist besonders schön an den beiden nächsten Figuren 17 und 18 zu erkennen, Fig. 16. Hinderniswogenwolke über dem Matterhorn. Phot. de Quervain. deren erste namentlich die große Regelmäßigkeit zeigt, mit der sich der Übertritt dieser einzelnen Luftmengen aus der unteren in die obere Schicht vollzieht. Die zweite dagegen, welche dieselben Wolken, jedoch von der Seite gesehen, darstellt, läßt erkennen, wie die Wolken in der anders bewegten oberen Luftschicht sämtlich nach einer Richtung hin ausgezogen werden, und dokumentiert auf diese Weise die Durchbrechung der Schichtgrenze. Beide Aufnahmen sind auf dem Meere gemacht, über welchem auch die unteren Schichten der Atmosphäre vollkommen ungestört verlaufen. Über dem Lande sieht man eine derartige Regelmäßigkeit in der Ausbildung der Cumulusköpfe meist nur in den höheren Schichten, während bei den “ 1) 8 A. Wegener. unteren die Unebenheiten des Bodens hier verstärkend, dort abschwächend wirken, so daß sich hier mehr vereinzelte große Cumuli bilden, die sich häufig zu Bänken zusammenschließen, während dazwischen größere Strecken ganz frei bleiben. Im Niveau des Alto-Cumulus und des Cirro- Fig. 17. Cumuli bei 700 m im Passatgebiet des Nordatlantik, Blick nach Westen. Fig. 18. Dieselben Cumuli, Blick nach Norden. Cumulus sieht man dagegen auch hier häufig sehr regelmäßige Bil- dungen. Außer den bisher besprochenen gestaltenden Einflüssen spielt aber noch eine andere Erscheinung eine außerordentlich große Rolle bei den Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 29 Formen der Wolken. Dies sind die Fallstreifen. Der Niederschlag, der sich in der Wolke bildet, sinkt ja vermöge seiner Schwere herab, verdampft aber in den meisten Fällen sogleich wieder, sobald er die untere Grenze der Wolke erreicht hat und in die ungesättigte Luft hineinsinkt. Wenn er aber schon gröbere Formen angenommen hat, oder namentlich, wenn er aus Schnee oder Eis besteht und daher nicht so schnell verdunsten kann, so sinkt er noch mehr oder weniger weit in die tieferen Schichten hinab, ehe er sich ganz auflöst. In den Fällen, wo er den Erdboden er- reicht, sprechen wir von Regen oder Schnee. Am häufigsten wird dies letztere natürlich bei den unteren Wolken eintreten. Die höher gelegenen Fig. 19. Fallstreifen, von einem Alto-Stratus herabhängend. Wolken aber werden vermöge ihres größeren Abstandes von der Erde nicht selten Fallstreifen von der Art aufweisen, bei welchen der Niederschlag verdunstet, bevor er die Erde erreicht. Schon bei den Wolken des 4000 m-Niveaus kann man bisweilen, wenn auch selten, derartige Fallstreifen bemerken (Fig. 19). Doch von den Wolken der Cirrusregionen gelangt der Niederschlag überhaupt nur außer- ordentlich selten zur Erde herab; in den allermeisten Fällen bildet er hier nur langgezogene Fallstreifen, welche sich schließlich auflösen, und diese Fallstreifen stellen die charakteristische Eigentümlichkeit der Cirrusformen dar. Das Problem, wie die bisweilen sehr wunderlichen Formen der Cirren räumlich aufzufassen seien, hat die meteorologische Wissenschaft lange 30 A. Wegener. Zeit hindurch beschäftigt. Das Verdienst, die Rolle der Fallstreifen zum erstenmal klar erkannt und ausgesprochen zu haben, gebührt vor allem Möller. Doch trotz der wertvollen Arbeiten noch zahlreicher anderer Fachleute sind wir auch heute noch über manche speziellen Gebilde im unklaren. Die beifolgenden Fig. 20 und 21 geben einige der am leichtesten zu deu- tenden Formen, bei denen die Mutterwolke von den eigentlichen Fall- streifen noch verhältnismäßig deutlich zu unterscheiden ist; bei der zweiten Aufnahme, die sehr steil nach oben gemacht ist, sind die Höhendifferenzen Fig. 20. Phot. Meteorolog. Obs. Potsdam. Cirrus mit deutlichen Fallstreifen. zwischen Fallstreifen und Mutterwolke nicht mehr unmittelbar wahrzu- nehmen: die letztere ist jedoch an ihrer detaillierten Struktur deutlich von den Fallstreifen zu unterscheiden, welche leicht an ihrem haarförmigen Aussehen kenntlich sind. Die Biegung, welche diese sämtlich in einer be- stimmten Entfernung von der Mutterwolke erleiden, entspricht offenbar dem Hineinsinken in eine tiefere, anders bewegte Luftschicht. Es kommt aber nicht selten vor, daß sich die Mutterwolke bereits längst aufgelöst hat, während die Fallstreifen nach wie vor sichtbar bleiben und in Form langgezogener Fäden den Himmel überspannen. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 3 Es erübrigt noch, diejenigen Wolken zu besprechen, welche als Böen- oder Gewitterwolken bekannt sind. Man kann sie auffassen als große Cumuluswolken, denen aber wegen ihrer Größe ganz bestimmte Merkmale eigen sind. Fig. 22 (S. 32) stellt eine Seitenansicht einer solchen Gewitter- wolke in den natürlichen Größenverhältnissen dar. Es sei indessen bemerkt, daß) es sich hier nur um eine Idealform handelt, von der die wirklichen Formen bisweilen infolge lokaler Einflüsse stark abweichen können.!) Es kommt auch oft vor, daß eine ganze Reihe derartiger Einzel- wolken nebeneinander angeordnet sind und mit denjenigen Teilen, welche Fig. 21. a N Fallstreifenstruktur des Cirrus. Phot. Meteorolog. Obs. Potsdam. einer horizontalen Ausbreitung entsprechen, in Gestalt einer Bank zusam- menhängen, aus welcher dann die einzelnen Türme (die sogenannten Hagel- türme) emporragen. Die Basis dieser Gewitterwolken liegt meist nur wenig oberhalb 1000 m, und die hier beginnende unterste Wolkenschicht ent- spricht der Etage bei 1600 m Höhe. Die nächst höhere Etage bei 4000 m zeigt meist eine große Ausbreitung der Wolke. Ein großer Teil der auf- steigenden Wolkenluft kommt schon in dieser Höhe ins Gleichgewicht, und !) Gerade über die Gestalt der Gewitterwolken herrscht in Fachkreisen noch in manchen Punkten Uneinigkeit. Die Fig. 22 ist meiner „Thermodynamik der Atmo- sphäre“ entnommen. 32 A. Wegener. nur der zentrale Teil bricht weiter empor. An dieser Ausbreitung im 4000 m-Niveau sind noch einige besondere Erscheinungen wahrzunehmen ; bisweilen sind hier Fallstreifen sichtbar, welche infolge des Zusammen- wirkens der Fallbewegung und der horizontalen Ausbreitung ‚ihrer Aus- gangspunkte zentripetal geneigt erscheinen (vgl. linke Seite der Figur). An anderen Stellen wieder, wo diese Fallstreifen fehlen, bildet sich eine eigen- tümliche Wolkenform aus, welche den Namen Cumulus mammatus be- sitzt und einem umgekehrten Wolkenmeere gleicht (rechts in der Figur). Diese große Ausbreitung im 4000 m-Niveau erstreckt sich sehr häufig so weit, daß sie dem Beobachter am Erdboden die höheren Partien der Wolke vollständig verdeckt. Dies ist z. B. anscheinend bei den Potsdamer Beobach- tungen im internationalen Wolkenjahr der Fall gewesen, wo sich als mitt- lere Höhe der Gewitterwolken 4000 m ergab, während man z. B. in Blue Hill 9000 m erhielt, Fig. 22. also offenbar den Kopf des Hagelturms gemessen hatte. In der Fig. 22 TT ist ferner dieKappen- EIN bildung angedeutet, gi Mind welche zwar auch IM ll) /Fallstreifen sonst bei Cumulus- köpfen beobachtet ZN een Fon Cu mammatus wird, am schönsten NZ ur . ae n SITE | Un DER IE ITITN | = = Obere Jnversion —_ ne DE id ER EL le ER F>) un, und häufigsten aber bei den Hageltürmen auftritt. Diese Kap- pen bilden sich, wie Ideales Profil einer Gewitterwolke. namentlich von de Quervain erkannt wurde!), oberhalb des aufstrebenden Cumuluskopfes, und zwar anfangs noch in einigem Abstande über ihm, später werden sie aber von ihm durchbrochen. Ihre Oberfläche fällt fast stets mit einer Schichtgrenze zu- sammen. Sie stellen also eine lokale Hebung einer solchen Schichtgrenze dar und sind daher zur Stratusform zu rechnen. Da an jeder dieser Schichtgrenzen der Cumulusturm eine geringe seitliche Ausbreitung erfährt, so nehmen die herabstürzenden Hagelmassen ihren Weg nicht nur durch das Innere der Wolke, sondern teilweise auch außerhalb derselben und bilden so einen mitunter sehr regelmäßig ge- bauten zylindrischen Mantel, welcher die traubenförmigen, aufquellenden Wolkenmassen verbirgt. Diese glatten Wände des Hagelturms bildeten eine Zeitlang die Ursache eines Mißverständnisses; man glaubte nämlich, daß die Wolke als Ganzes um eine vertikale Achse rotierte, und hielt dabei die Bere 1) Beiträge zur Wolkenkunde. Meteorolog. Zeitschr. 1908. S. 433. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 3 vom Hagelturm durchbrochenen Kappen für den durch die Zentri- fugalkraft herausgeschleuderten Hagel. Derartige groteske Mißverständ- nisse sind noch bis vor ganz kurzer Zeit auch innerhalb der Fachkreise verbreitet gewesen. Es dürfte unmöglich sein, mit einer einzigen Photographie alle diese Erscheinungen zur Anschauung zu bringen, selbst wenn die Ausbil- dung der Wolke einmal so regelmäßig wäre, wie in unserer Figur ange- nommen ist. Doch sieht man in den folgenden Abbildungen diese Erschei- nungen einzeln dargestellt. Gewitterwolke, Ausbreitung im 4000 m-Nivean. Phot. Clayden. Die erste Abbildung (Fig. 23) zeigt die Ausbreitung im 4000 m-Niveau. Man erkennt am Öberrand der Wolke, daß) diese hier genau horizontal abgeschnitten ist. Das zerfaserte Aussehen dieser oberen Teile ist durch die Tendenz zur Ausbildung von Fallstreifen hervorgerufen. Die nächste Abbildung (Fig. 24) zeigt den Cumulus mammatus. Diese Wolkenart kommt übrigens bisweilen auch unter anderen Bedingun- gen vor, nämlich an der Basis von Stratuswolken, wenn diese Basis mit einer Schichtgrenze zusammenfällt. Von dem Hagelturm gibt die darauffolgende Abbildung (25) eine?An- schauung, welche eine nach der Natur gefertigte Skizze darstellt.!) Das 1) Nach Streit, Meteorolog. Zeitschr. 1896. S. 14. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 3 34 A. Wegener. Fig. 24. Cumulus mammatus. [Hagelturm, nach einer Zeichnung von Streit. Phot. Meteorol. Obs. Potsdam. Bild ist sehr geeignet, zu zeigen, wieman unwill- kürlich stets seine eigene Auffassung in die Zeich- nung hineinlegt. Der Be- obachter ging nämlich von dem oben angeführten Mißverständnisse aus und glaubte infolgedessen, di- rekt die Rotation dieser Wolke und das Heraus- fliegen der Hagelkörner wahrnehmen zu können. Man sieht hier, wie un- entbehrlich die Photogra- phie wegen ihrer objek- tiven Darstellung auch auf dem Gebiete der Wolkenkunde ist. Die Kappen, welche von den aufstrebenden Cumulusmassen durchbrochen werden, sind in den folgenden Abbildungen dargestellt. Die Fig. 26—28 Fig. 26—28. 39 Serienaufnahme des Durchbruches eines Cumuluskopfes durch eine Kappe; geschlossene Wolken- decke 1600 m, Beobachter (im Ballon) 1800 m, Kappe 2200 m; Zeitintervall je 5 Minuten. 3*# 36 A. Wegener. stellen hierbei dasselbe Objekt in Intervallen von 5 zu 5 Minuten dar; man kann auf ihnen deutlich die Entstehung dieser Gebilde verfolgen. Auf der früheren Abbildung 22 (S. 32) ist aber noch eine andere Erschei- nung angedeutet, die wir bisher übergangen haben. Am Fuße des Hagel- sturzes bildet sich nämlich meist ein großer Luftwirbel mit horizontal liegender Achse aus. Die Ursache hiervon ist darin zu suchen, daß der fal- lende Hagel die Luft mit sich reißt. Bekanntlich wird ja die Geschwindig- keit eines fallenden Körpers wegen des Luftwiderstandes schon nach kurzer Zeit konstant; die noch immer wirkende Schwerebeschleunigung kann man sich dann, worauf Köppen aufmerksam gemacht hat, einfach auf die Luft selber übertragen denken, und wenn diese also eine große Zahl von gleich- förmig fallenden Hagelkörnern enthält, so ist die Wirkung dieselbe, als ob sie selber um das Gewicht dieser Hagelkörner schwerer geworden wäre, und sie wird deshalb mit großer Gewalt herabstürzen. Dicht über dem Erdboden aber muß sie umbiegen und in horizontaler Richtung aus dem Hagelsturz herausgepreßt werden. Da wegen der Windzunahme mit der Höhe die Hageltürme stets ein wenig nach vorn geneigt sind, so hat der Hagelsturz eine sehr markante vordere Grenzlinie, während er auf der Rückseite der Wolke nach und nach in schwächeren Regen übergeht. Das Herausströmen der mitgerissenen Luft wird infolgedessen auch nur nach vorn stattfinden können. Auf diese Weise entsteht der kurz vor dem Hagel einsetzende „Gewittersturm“. Da aber noch in geringer Entfernung vor demselben die „Stille vor dem Sturm“ herrscht, so ist ersichtlich, daß diese Luftmengen nach oben ausbiegen und in größerer Höhe wieder zur Wolke zurückkehren müssen, d.h. einen Wirbel mit horizontaler Achse darstellen. In seinen oberen Partien überschreitet dieser Wirbel die Wolken- basis und bildet hier eine sehr charakteristische und interessante Wolken- walze, den sogenannten „Gewitterkragen“, von dem in den folgenden Fi- guren 29 und 30 zwei Photographien gegeben sind. Durch diesen Luftwirbel, welcher bisweilen mit verheerender Gewalt den Erdboden abfegt, werden bei den sommerlichen Gewittern erhebliche Schäden angerichtet. Die erste klassische Beschreibung einer solchen Gewitterböe, welche ein englisches Schulschiff zum Kentern brachte, hat bereits 1878 Cl. Ley gegeben.!) Auf dem Festlande rührt die erste Beschreibung von Köppen her (1882), der auch eine sehr instruktive Zeichnung dieser Wolke (Fig. 51, S. 39) gab, die in mancher Hinsicht den oben genannten Photographien überlegen ist. Am interessantesten aber sind die Erfahrungen, welche von Luft- schiffern gemacht worden sind, die mit ihrem Ballon oder Luftschiff in diesen Wirbel unfreiwillig hineingerieten. So gibt Miethe eine ausgezeich- nete Schilderung einer solchen „Ballonfahrt im Gewitter“, welche wir hier folgen lassen. ?) !) The Euridiee Squall, Symons Met. Mag. Vol. XIII. 1878. p. 33. 2) Aus: A. Kirchhoff, Die Erschließung des Luftmeeres. Leipzig 1910. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 37 „An einem trüben, schwülen Sommernachmittage stiegen wir vom Übungsplatz des Luftschifferbataillons auf... Der Wind erstarb schließ- lich vollkommen, und bedrückende Schwüle umgab uns von allen Seiten... Nach einer Stunde, und nachdem sich das über uns schwebende Gewölk der Erdoberfläche noch weiter genähert hatte, befanden wir uns über einer Bruchwiese im Walde und beschlossen noch einmalige Ballastausgabe, um wieder auf trockenes Terrain zu gelangen. Durch Ausschütten eines halben Sackes erhoben wir uns allmählich vom Schlepptau und begannen unser frugales Abendbrot in aller Ruhe zu uns zu nehmen. Plötzlich empfanden Fig. 29. Gewitterkragen von vorn. Phot. Meteorolog. Obs. Potsdam. wir aber heftige Kälte. Ein Blick auf das Barometer überzeugte uns, daß wir 2000 m in die Höhe geschnellt waren und uns inmitten eines undurch- sichtigen formlosen, grauen Nebels befanden, aus dem bald vereinzelte unregelmäßige Windstöße, dann aber heftiger Regen und Hagel auf uns ein- stürmten. Zugleich begann jenes unheimliche Sausen und Knirschen, welches Wirbelbewegungen in der Luft erzeugen, und unter heftigem Donner- rollen, das von allen Seiten her erschallte, gerieten wir in eine Trombe !), !) Nach gütiger Mitteilung des Autors ist hier unter Trombe, wie vielfach üblich, nur ein echter hydrodynamischer Wirbel verstanden, ohne Rücksicht auf die Orien- tierung der Achse, welche im vorliegenden Falle wohl horizontal gelegen hat. Über die „Irombe“ im engeren meteorologischen Sinne siehe weiter unten. 38 A. Wegener. die uns ergriff und die Gondel zuerst in schwache, dann immer stär- kere Pendelbewegungen versetzte. Zugleich sanken wir plötzlich um 1000 »n, wurden dann wieder in die Höhe gerissen, und dieses Spiel wieder- holte sich eine volle halbe Stunde lang, wobei der Hagel in großen Kör- nern uns von allen Seiten überschüttete, so daß der Boden des Korbes bald mit einer fast fußhohen Schicht von Wasser und Eiskörnern bedeckt war. Die Schwankungen und Pendelungen des Ballons in den umgebenden, stürmisch erregten Luftmassen zu beschreiben, ist kaum möglich. Der Fig. 30. Phot. Meteorolog. Obs. Potsdam. Derselbe Gewitterkragen (näher gerückt), schräg von vorn. Korb pendelte so stark, daß wir uns gelegentlich in gleicher Höhe mit der Ballonhülle befanden, die knirschend und ächzend über uns schwebte, und daß gelegentlich die Taue, die Korb und Ballon verbinden, sich klingend scharf spannten oder wieder schlaff neben uns herabhingen. Endlich war der Gasinhalt des Ballons durch den Wirbelwind so weit herausgedrückt, daß der aufsteigende Luftstrom, auf dem wir wie die Glaskugel in einer Fontäne geschwebt hatten, uns nicht mehr zu tragen vermochte, und ein sausender Absturz begann. Wir fielen aus einer Höhe von etwa 2200 m mit einer Geschwindigkeit von etwa 10 m pro Sekunde abwärts, ein Sturz, der rund 3 Minuten dauerte.“ Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 39 Nur dem Umstand, daß der Ballon in einen Wald fiel, war es zu verdanken, daß die Landung ohne Unfall vor sich ging. Höchstwahrscheinlich ist auch die Strandung des Zeppelinballons „Deutschland“ am 28. Juni 1910 im Teutoburger Wald dadurch herbeige- führt worden, daß das Luftschiff in einen derartigen Wirbel mit horizon- taler Achse hineinfuhr. Nachdem es schon mehrere Stunden lang mit schweren Regengüssen und teilweise sehr heftigem böigem Wind zu kämpfen gehabt hatte, so daß der Ballastvorrat schon stark in Anspruch genommen, und das Schiff nur durch die dynamische Höhensteuerung gegen die schwere Belastung zu halten war, heißt es weiter in dem Bericht‘über den Unfall: „Plötzlich, es war gegen 4!/, Uhr, faßte ein wilder Wirbel das Schiff, hob es mit rasender Eile höher und höher, und trotzdem mit aller verfügbarer Kraft gegen diese Bewegung angearbeitet wurde, war die „Deutschland“ Fig. 31. Gewitterkragen, nach einer Zeichnung von Köppen. in wenigen Augenblicken bis auf nahezu 1100» Höhe hinaufgerissen worden. Hier tauchte das Schiff tief in dichte Wolken ein, das Wasser lief in dicken Strahlen am Ballon hinab und wurde, mit Schnee und Hagel ver- mischt, von dem Sturmwind gegen das Fahrzeug gepeitscht, so daß die Mannschaft große Mühe hatte, trotz dieses Unwetters an ihrem verant- wortungsvollen Posten auszuharren.“ Bei dem darauf folgenden Fall gelang es dann nicht mehr , das Luftschiff vor Berührung mit der Erde zu schützen, so daß die Strandung erfolgte. Es ist sehr zu wünschen, daß die Kenntnis dieser Dinge zum Ge- meingut aller Luftfahrer würde, da es nur bei rechtzeitigem Erkennen dieser verhängnisvollen Luftwirbel möglich ist, ihnen aus dem Wege zu gehen. Sehr charakteristisch ist das Verhalten des Barometers am Erd- boden, wenn ein Gewitter mit einem solchen Luftwirbel über denselben hinwegzieht. Fig. 32 gibt die Registrierkurve des Luftdruckes an einem Tage, an welchem drei schwere Hagelwetter in kurzen Abständen über 40 A. Wegener. die Station fortzogen.!) Jedesmal folgt nach einem scharfen Fall des Ba- rometers ein fast momentanes Aufschnellen bis zu einer abnorm großen Höhe. von welcher der Druck dann wieder langsam herabsinkt. Diese Schwingung wird durch den soeben besprochenen Luftwirbel verursacht, indem die aufsteigende vordere Hälfte desselben durch ihre Saugwirkung eine starke Verminde- Fig. 32. rung des Luftdruckes PU. BP. ame. „Bir An er arrndenerzense während die absteigende Hälfte durch ihre Druck- wirkung den Luftdruck» erhöht. Das fast mo- mentane Aufschnellen des Druckes entspricht dem Zeitmoment, in welchem die Achse des Barogramm während dreier auf einander folgender Hagelwetter am Wirbels gerade über 21. August 1890 zu Graz, nach Prohaska. den Beobachter fort- schreitet. Man kann übrigens bemerken, daß der Luftdruck nach einer derartigen Schwankung niemals ganz auf den früheren Stand zurückkehrt, sondern stets noch etwas höher bleibt. Dieser Unterschied ist auf die Abkühlung der Luft durch die Hagelkörner zurückzuführen, da kalte Luft schwerer ist als warme. Im Gegensatz zu dieser Regi- strierung sind in der folgenden Fig. 33. 2246810127274 6 810172234 6 KERErREREEE L.Rock Fig.33 drei andere Registrierungen des Luftdruckes vereinigt?), welche gleichfalls bei Gelegenheit von Ge- Tee | BPEREBNRE IHN» SPlonis wittern erhalten wurden, jedoch BER einen ganz anderen Charakter zei- SESEE gen. Hier handelt es sich nur um Paris eine einmalige starke Druckvermin- F derung und ein Wiederansteigen bis zum normalen Wert. Diese Er- scheinung ist charakteristisch für | ERBE BANEERUNNENENE # ie sogenannten Tromben (Wasser- Luftdruckregistrierung bei drei Tromben. hosen, Windhosen, Wettersäulen, (Die Skalenintervalle entsprechen 5 mm.) 3 . in Amerika°) auch Tornados ge- nannt). In der Figur sind die Registrierungen dreier verschiedener Erschei- !) Nach Prohaska, Die Hagelschläge des 21. August 1890 in Steiermark. Met. Zeitschr. 1891. S. 121. ?) Nach Köppen, Die Windhose vom 5. Juli 1890 bei Oldenburg und die Ge- witterböe vom 10. Juli 1896 in Ostholstein. Annalen der Hydrographie und maritimen Meteorologie. H. 10, 11 und 12. 1896. ) Die afrikanischen „Tornados“ entsprechen dagegen dem oben besprochenen Gewittersturm, der durch den Wirbel mit horizontaler Achse erzeugt wird. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 41 nungen zusammengestellt, nämlich des Tornados von Little Rock, Ark., vom 2. Oktober 1894, ferner von Saint Louis, Mo., vom 27. Mai 1896, und von Paris vom 10. September 1896. Diese Kurven geben aber schwerlich die größte, im Zentrum des Wirbelfadens herrschende Druckverminderung an. In Little Rock und Paris ging allerdings die Zerstörungsspur mitten über die Stationen fort, in Saint Louis aber war der Barograph mehr als 1 km von der Zentrallinie der Zerstörungen entfernt, wenngleich auch noch an seinem Orte orkanähnlicher Sturm auftrat. Das Wolkengebilde der Trombe wurde in keinem dieser Fälle beobachtet (in Little Rock ließ die Dunkel- heit keine Wahrnehmung zu). Der Tornado von Saint Louis war ein Glied einer ganzen Gruppe, die sich im Verlauf von 6 Stunden auf einem Raume Fig. 34. Phot. Chamberlain. Die Trombe von Cottage City (19. August 1896) nach Bigelom. von 400 km Länge und 50 km Breite abspielten und zu einem großen Ge- witter gehörten. Einige von ihnen, aber nicht der registrierte, zeigten den für Tornados charakteristischen Wolkentrichter. Es ist hiernach sehr wahrscheinlich, daß im zentralen Teile einer gut ausgebildeten Trombe eine erheblich stärkere Druckverminderung herrscht, als die Registrierungen aufweisen, die etwa 10 mm geben. In der Tat ist auf See auch bereits einmal 35 mm registriert worden. Die Figur 34 zeigt eine von Bigelow veröffentlichte Photographie einer solchen Trombe. Ganz rechts sieht man noch den herabströmenden Regen oder Hagel. Die Trombe selber stellt eine gewaltige Säule dar, welche von der Meeresoberfläche bis zu der in 1000 m Höhe liegenden Wolkenbasis hinaufreicht. Der Durchmesser dieser Säule konnte auf der Photographie aus- 42 A. Wegener. gemessen werden und ergab sich zu 75 m. Am unteren Ende sieht man noch eine große Wolke von Gischt. Die Rotation der Luft um diesen ver- tikalen Wirbelfaden herum ist eine außerordentlich schnelle. Geschwindig- keiten von 100 m per Sekunde dürften hier nicht selten vorkommen. Hierdurch wird eine gewaltige Zentrifugalkraft im Innern dieses Wirbel- fadens erzeugt, welche die Ursache für die starke Druckverminderung ist und auf diese Weise längs des Wirbelfadens eine säulenförmige Wolke er- zeugt. Befindet sich die Trombe über einer Wasseroberfläche, so äußert sich die Druckverminderung in ihrem Innern auch darin, daß sie die Wasseroberfläche an dieser Stelle um etwa 1 »» anzuheben imstande ist, und diese Druckverminderung ist es auch, welche in den obigen Registrie- rungen zum Ausdruck kommt. Die Zerstörungen, welche der Fuß des Wirbels auf der Erdoberfläche anzurichten imstande ist, spotten jeder Be- schreibung. Man kennt Beispiele, wo ganze Häuser versetzt wurden, große Fabrikschlote um mehrere Meter zur Seite gerückt oder gedreht wurden; daß die Dächer von den Häusern gerissen und weit fortgeschleudert werden, gehört zu den gewöhnlichsten Erscheinungen. Schreitet die Trombe über einen Sumpf oder einen flachen Weiher fort, so wird nicht selten das ganze Wasser desselben in Gischt verwandelt und entführt, und es kommt vor, daß auf diese Weise eine große Menge von Fröschen mit emporgerissen werden und in großer Entfernung davon wieder zur Erde fallen. Hierauf sind die „Froschregen“, „Fischregen“, „Muschelregen“ und andere merkwürdige Erscheinungen zurückzuführen. (Auch Regen von Insektenlarven, welche dicht unter der Oberfläche des Ackerbodens ihren Aufenthalt haben, sind bekannt.) Obwohl die Erscheinung an sich gar nicht selten vorkommt, so ist doch unsere Kenntnis derselben noch recht dürftig; da die Zerstörungs- spur meist nur wenige 100 m breit ist, so bleiben viele Fälle überhaupt unbemerkt, oder wenn sie nachträglich bemerkt werden, so werden sie fälschlich auf den früher geschilderten Gewittersturm zurückgeführt. In- folgedessen haben wir auch erst sehr wenige zuverlässige Beschreibungen, und die Frage, in welcher Weise diese Erscheinung mit dem übrigen Mecha- nismus der Gewitterwolke zusammenhängt, läßt sich daher mit Sicherheit heute nicht beantworten. Ich habe vor kurzem die Vermutung ausgesprochen, daß diese vertikalen Wirbelfäden nur die herabgebogenen Enden des früher besprochenen horizontalen, vor dem Hagelsturz einherziehenden Wirbels darstellen. Da nämlich derartige Wirbel nicht frei in der Luft endigen können, so werden sie sich in Richtung ihrer eigenen Achse immer mehr verlängern, bis sie in einiger Entfernung von dem Hagelsturz genügend selbständig geworden sind, um sich herabzubiegen und sich mit ihrem Ende in der Erde festzusaugen. Unter dieser Annahme läßt sich eine große Zahl von Einzelheiten erklären, für welche wir früher keine Ursache anzugeben vermochten. — Da indessen die wissenschaftliche Diskussion über diese Hypothese gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist, so kann hier auch nicht weiter darauf eingegangen werden. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 43 3. Die Erforschung der obersten Atmosphärenschichten. In allerjüngster Zeit hat sich eine Reihe höchst interessanter Unter- suchungen entsponnen, welche noch über den Bereich der aerologischen Forschungen weit hinausgreifen und sich mit der Natur der mit Ballonen nicht mehr erreichbaren obersten Luftschichten beschäftigen. Natürlich kann es sich hier nur um indirekte Aufschlüsse mit Hilfe derjenigen Er- scheinungen handeln, welche sich in für uns sichtbarer Weise in diesen großen Höhen abspielen. Unsere Schlußfolgerungen bleiben deshalb hier immer mehr oder weniger hypothetisch, und ganz besonders gilt dies noch für den gegenwärtigen Zeitpunkt. Schon im Jahre 1875 hat der bekannte Wiener Klimatologe Hann, als ihm bekannt geworden war, daß Boussingault Wasserstoff in geringen Spuren in der atmosphärischen Luft nachgewiesen hatte, darauf aufmerk- sam gemacht, daß dann die Atmosphäre oberhalb 100 km Höhe aus reinem Wasserstoffgas bestehen müßte. Lange Zeit blieb es bei diesem einen Hinweise. Als aber 1901 Gautier aufs neue eine Bestimmung ausführte, die 0:02 Volumprozente Wasserstoff in der Luft gab (was nach Rayleighs Kritik allerdings auf 0'0033 zu verbessern sein dürfte), kam Hann im Jahre 1903 nochmals auf diese Frage zurück und zeigte durch eine ausführliche Rech- nung, daß der Wasserstoff nach den Gasgesetzen schon bei 50 km Höhe etwa 14 Volumprozente, in 100 km aber 99 ausmachen müßte. Die Not- wendigkeit hiervon kann man leicht einsehen. Die verschiedenen Gase der Luft besitzen am Erdboden gewisse „Partialdrucke“, deren Summe eben den gesamten meßbaren Luftdruck darstellt. Nach den Gasgesetzen muß dieser Partialdruck für jedes Gas in einem eigenen, durch das spezifische Gewicht desselben bestimmten Tempo mit der Höhe abnehmen, nämlich bei schweren Gasen schnell, bei leichten langsam. Wenn wir also nur bis in genügend große Höhen hinaufgehen, so müssen wir schließlich an einen Punkt kommen, wo der Partialdruck des schweren Stickstoffs an dem zwar von Anfang an kleinen, aber nur sehr langsam abnehmen- den Partialdruck des Wasserstoffs vorbeisinkt, und von dieser Höhe ab muß der Wasserstoff in der Zusammensetzung den Hauptbestandteil aus- machen. Hann erkannte schon damals sogleich die große Bedeutung dieser Beziehungen, doch fehlte es ihm an Material, um die Realität dieser zu- nächst rein rechnerischen Ergebnisse zu prüfen. Auch eine Neuberechnung, welche Humphreys mit verbesserten Annahmen über die Temperaturver- teilung in der Vertikalen (auf Grund der inzwischen gewonnenen Aufschlüsse über die Stratosphäre) im Jahre 1909 ausführte, brachte die Frage nicht wesentlich weiter. Im gleichen Jahre sprach ich, ganz unabhängig von diesen theoreti- schen Überlegungen, die Vermutung aus, daß in der Höhe von etwa 70 bis 80 km eine sehr markante Schichtgrenze liegen müßte, einmal weil hier die Ausbruchswolken des Vulkans Krakatau ihr Aufsteigen beendet und 44 A. Wegener. sich offenbar seitlich ausgebreitet hatten (die noch ausführlich zu bespre- chenden .leuchtenden Nachtwolken“), und zweitens, weil hier die obere Grenze des Hauptdämmerungsbogens liegt, die Luft in dieser Höhe also aufhört, bei Durchstrahlung mit Sonnenlicht dasselbe diffus zu reflektieren. Diese Vermutung wurde mir zur Gewißheit, als sich bei nochmaligem Durch- rechnen der theoretischen Ableitungen von Hann zeigte, daß sich gerade in dieser Höhe der überraschend schnelle Umschlag in der Zusammen- setzung der Atmosphäre vollziehen muß. Aber noch von einer anderen Seite her ergab sich eine ganz uner- wartete Bestätigung für die Realität dieser oberen Wasserstoffsphäre. Und hierbei müssen wir etwas verweilen. Es existiert nämlich bereits eine große Zahl von Fällen, in denen glaubhafte Berichte über außerordentlich weite Hörbarkeit von Geschütz- donner und ähnlichen Schallphänomenen überliefert sind. v. dem Borne hat zwei derartige Fälle genauer untersucht. Besondere Beachtung hat aber die von de Quervain beschriebene Dynamitexplosion an der Jungfraubahn vom 15. November 1908 gefunden. Das Merkwürdige bei diesem Phänomen besteht darin, daß außer einem die Explosionsstelle umgebenden Gebiet normaler Hörweite ein zweites noch viel ausgedehnteres Gebiet abnormer Hörweite vorhanden war, welches von ersterem durch eine rund 100 km breite „Zone des Schweigens“ getrennt war. Wie aus der von de Quervain gegebenen Kartenskizze Fig. 35 hervorgeht, erstreckt sich das Gebiet normaler Hörweite bis etwa 30 km von der Schallquelle, ist aber einseitig nach Norden zu entwickelt. Die darauf folgende Zone des Schweigens, aus welcher zahlreiche negative Berichte vorliegen, reicht bis 140 km von der Schallquelle. Hier beginnt, etwa einen Azimutwinkel von 80° (von Norden bis Osten) umfassend, die Zone abnormer Hörbarkeit, welche etwa 50 km breit ist, und deren Innen- rand schärfer markiert erscheint als der Außenrand. Diese letztere Hörbarkeitszone führt nun v. dem Borne auf die Schall- reflexion an der in Rede stehenden Schichtgrenze zurück.!) Im Prinzip beruht dies auf folgender Überlegung: Da die Schallgeschwindigkeit in ge- wöhnlicher Luft nur etwa 330, in Wasserstoff aber 1280 »» pro Sekunde beträgt, so müßte, falls eine scharfe Schichtgrenze vorhanden wäre, schon bei einem Einfallswinkel des Strahles an der Schichtgrenze von 15° (ge- geben durch sin« = u) Totalreflexion eintreten, und der Strahl würde, 1 wenn er im übrigen geradlinig verliefe, in 40 km Abstand von der Schall- quelle wieder die Erde erreichen. Von hier ab nach außen zu läge (ohne scharfe äußere Begrenzung) eine zweite Hörbarkeitszone. Indem ». dem Borne nun einmal die Krümmung berücksichtigt, welche die Schallstrahlen innerhalb der Troposphäre wegen der hier herrschenden Temperaturab- !) v. dem Borne, Schallverbreitung bei Explosionskatastrophen. Physikal. Zeitschr. XI. 1910. Nr. 11, S. 483. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 45 nahme mit der Höhe erleiden müssen (die Druckabnahme mit der Höhe übt keine Wirkung aus), und indem er weiter in Rechnung zieht, dab die beiden Gase an der Schichtgrenze nicht scharf getrennt sind, so daß) auch keine eigentliche Reflexion, sondern nur ein allmähliches Herumbiegen der Fig. 35. 0o__10_20 ze 40 so 100 ,m « » Orte mit positiven Berichten (der Strich bedeutet die angegebene Herkunfts- + Orte mit negativen Berichten. richtung des Schalls) Strassburg® «£ ä o \” Freiburg Basel ZB, I > AR yon \ ! i ee aan x N Bern / 2 27 (N \ ı Bi i By = 2 Ara a 8 R!’ 1 ThYf* = =. ® 2 « EAN er Var + ofiger 4+ 5 Jungfrau GF St6 Schallverbreitung bei der Dynamitexplosion an der Jungfraubahn am 15. November 1908, nach de Quervain. Schallstrahlen erfolgen kann, gelingt es ihm, zu zeigen, daß hierdurch der vorerwähnte Abstand von 40 km auf etwa 120 km hinausgeschoben wird. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß diese Erklärung in einer weit vollkommeneren Weise den Erscheinungen gerecht wird als die frü- heren Versuche, dieselben lediglich aus der Windänderung mit der Höhe 46 A. Wegener. zu erklären, und damit bieten diese Rechnungen einen indirekten Beweis für die Realität einer oberhalb 70 km liegenden Wasserstoffsphäre. Es erscheint hiernach nicht ausgeschlossen, daß man diese Schall- phänomene zu einer weiteren Erforschung der genannten Schichtgrenze systematisch verwenden kann. Bei geeigneten Vorbereitungen würden höchstwahrscheinlich schon erheblich geringere Schallintensitäten, beispiels- weise einzelne Kanonenschüsse, genügen, und derartige Versuche würden sich wohl ohne allzu große Kosten auf Schießplätzen anstellen lassen. Es ist zu hoffen, daß auf diese Weise das bisher rein zufällige und mit allen Mängeln eines solchen behaftete Beobachtungsmaterial bald durch ein mehr systematisches wird ersetzt werden können. In einer neuen, größeren Arbeit!) habe ich sodann das ganze, diese Dinge betreffende Tatsachenmaterial zusammengestellt und bin dabei zu dem Schlusse gekommen, daß an der Zusammensetzung der höchsten Schichten außer dem Wasserstoff noch ein anderes unbekanntes Gas be- teiligt sein muß, welches noch leichter als Wasserstoff ist und von etwa 200 km ab aufwärts der vorherrschende, später alleinige Bestandteil der Atmosphäre wird. In der Sphäre dieses unbekannten Gases würden sich dann die höchsten Polarlichter abspielen, welche die grüne Spektrallinie von 557 vu. Wellenlänge, die sogenannte Nordlichtlinie, zeigen, und das von ihr diffus zurückgeworfene Sonnenlicht nach Sonnenuntergang würde das Zo- diakallicht repräsentieren. Da das neue Gas wahrscheinlich mit dem Coro- nium der Sonnenatmosphäre identisch sein dürfte, habe ich vorgeschlagen, es „Geocoronium“ zu nennen. Bei der Einführung dieses hypothetischen Gases muß man allerdings noch gewisse zahlenmäßige Annahmen über das Molekulargewicht und auch über die in der Atmosphäre vorhandene Menge machen, die einstweilen noch sehr unsicher sind und nur eine allgemeine Orientierung abgeben können. Unter diesen Annahmen habe ich die Zu- sammensetzung der Atmosphäre in großen Höhen wie folgt berechnet: Zusammensetzung der Atmosphäre in Volumprozenten. Höhe | Luftdruck Velumprossn & > en 6: (Geocoronium) a Helium ER | - Argon 0 760 000058 00033 | 0.0005 | 78:1 20:9 | 0937 20 417 0 0 0|85 |» = 40 192 U 1 0 88 10 _ 60 0'106 4 12 1 77 6 _ s0 0:0192 19 55 4 21 1 _ 100 00128 29 67 4 u 2 120 0:0106 32 65 3 _ E= _ 140 000900 36 62 2 | — —_ _ 200 0:00581 50 50 1 en Dee er 300 000329 | 71 29 —_ — — u la 400 0:00220 {o}5) 15 — — nn en 500 0:00162 93 7 _ — wii En ‘) Untersuchungen über die Natur der obersten Atmosphärenschichten. Physikal. Zeitschr. XII. 1911. Nr. 5 und 6. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 47 Die sonst noch in der Luft am Erdboden nachweisbaren geringen Mengen anderer Gase, wie Kohlensäure, Neon, Krypton, Xenon und Ozon, erreichen nirgends 1°/, in der Zusammensetzung. In der folgenden Fig. 36 sind diese Angaben veranschaulicht. Will man aus ihr die Zusammensetzung in einer bestimmten Höhe, z.B. bei 80 km, ablesen, so legt man durch sie die Horizontale, deren einzelne Ab- schnitte dann direkt gleich den Volumprozenten der Gase sind, in deren Feldern sie liegen. Wie man der Figur unmittelbar entnehmen kann, nimmt der Sauer- stoffgehalt sehr schnell und gleichmäßig mit der Höhe ab und verschwindet bei etwa 80 km vollständig. Dage- gen erreicht der Stickstoff bei 40 km ein Maximum von 80°/,, um dann zwischen 60 und 70 km außeror- dentlich rasch zu verschwinden. Der hier eintretende Umschlag in der Zusammensetzung ist für den ersten Anblick ein überraschend plötzlicher; die Ursache davon ist der große Unterschied der spezifischen Ge- wichte der beiden in Betracht kom- Wasserstoff menden Gase Stickstoff und Wasser- stoff. Der Gehalt an Helium erreicht bei etwa 90km ein Maximum, dessen numerischer Betrag aber infolge der Unsicherheit des Ausgangswertes für den Erdboden noch wenig zu- verlässig erscheint. Stickstoff In der Figur ist endlich ebenso wie in der Zahlentabelle das hypo- thetische Gas Geocoronium berück- sichtigt; die Verteilung der übrigen o 10 2 30 40 50 60 70 80 90 100% Gase wird hierdurch fast gar nicht beeinflußt, denn wenn man es ganz fortließe, so würde der hierdurch frei werdende Raum in der Figur dem Wasserstoff zufallen, ohne daß sich die übrigen Grenzlinien in nennens- werter Weise verschieben. Obgleich es sich hier — auch wenn man von der Realität des Geo- coroniums ausgeht — nur um rohe Schätzungen handeln kann, so ist doch leicht einzusehen, daß die in der Figur dargestellte Verteilung nicht sehr falsch sein kann, sofern überhaupt noch ein leichteres Gas als Wasserstoff in der Atmosphäre existiert. Behalten wir nämlich die eine Annahme unserer Rechnung bei, nämlich daß in 200 km 50°/, Wasserstoff und 50°/, Geo- coronium vorhanden sind, und variieren die andere Annahme, das Mole- kulargewicht betreffend, so überzeugt man sich leicht, daß selbst für ein Fig. 36. Mutmaßliche Zusammensetzung der Atmosphäre. 48 A. Wegener. Gas vom Molekulargewicht Null die schräge gestrichelte Linie sich nur ganz unwesentlich mehr neigen würde; unterhalb 200 km hätten wir dann etwas weniger, oberhalb etwas mehr Geocoronium, als in der Figur ange- gegeben. In dem anderen Grenzfall, daß sein Molekulargewicht gerade gleich dem des Wasserstoffs wäre, würde die gestrichelte Linie sich ganz vertikal stellen, es würden dann (oberhalb der unteren schweren Gase) überall 50°/, Geocoronium Fig. 37. anzutreffen sein. Man sieht also, daß eine etwaige Fehlschätzung des Molekulargewichtes des unbekannten Gases die Neigung Geocoronium der Trennungslinie Spät gegen den Wasser- stoff in der Figur nur wenig ändern würde. Ein ähnlich scharfer Umschlag in der Zusammenset- zung wie bei 70 km Höhe kann hier also nicht mehr statt- finden. er Die Frage ist et nun, wie weit uns strahlige b die Beobachtungen Anhaltspunkte über die Realität dieser doch noch auf sehr unsicherer Basis ste- henden theoretischen Berechnung liefern können. Von der Er- Querschnitt der Atmosphäre. scheinung der Schall- reflexion war bereits die Rede. Aber außerdem gibt es noch eine große Zahl anderer Erschei- nungen, die sich in diesen höchsten Schichten der Atmosphäre abspielen, und durch deren kritische Diskussion wir mancherlei Aufschlüsse erhalten können. Die obenstehende Fig. 37 stellt einen Querschnitt der Atmosphäre dar und enthält — wenn auch zum Teil nur schematisch — die hier in Be- tracht kommenden Erscheinungen in den richtigen Höhenverhältnissen zu- sammengestellt. Die ganze Atmosphäre zerfällt wie bei der vorigen Figur Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 49 in eine Geocoroniumsphäre, eine Wasserstoffsphäre und eine Stickstoff- sphäre, und letztere wieder in die Stratosphäre und Troposphäre, welche beide bereits in dem vorangehenden Kapitel über die Ergebnisse der Aerologie eingehend besprochen wurden. In der Figur sind auch die drei höchsten aerologischen Experimente, nämlich der höchste Drachenaufstieg, der höchste bemannte Ballonaufstieg und der höchste Registrierballonaufstieg eingetragen. Wie man sieht, ist die Mächtigkeit der für das Wetter allein in Be- tracht kommenden Troposphäre im Verhältnis zu den darüber liegenden Schichten fast verschwindend klein. Man würde hieraus aber ein sehr ver- kehrtes Bild von der Wichtigkeit dieser untersten Schicht erhalten, wenn man nicht auch die Luftdruckverhältnisse berücksichtigen würde. Da die Luft vollkommen kompressibel ist, so enthalten die untersten Schichten viel mehr Masse als die oberen. Schon in 5%km Höhe ist der Luftdruck auf die Hälfte gesunken, d.h. wir haben hier bereits die halbe Atmosphäre, der Masse nach, unter uns. An der oberen Grenze der Troposphäre, bei 11 km Höhe, herrscht nur noch ein Viertel des Gesamtluftdruckes, oder mit anderen Worten: die Troposphäre enthält trotz ihrer geringen Mächtigkeit bereits drei Viertel der gesamten Atmosphäre in sich verdichtet. Das übrig- bleibende Viertel ist wiederum zum allergrößten Teil in der Stratosphäre enthalten, und die Wasserstoffsphäre enthält die Gase bereits in ganz außer- ordentlicher Verdünnung. Gleichwohl spielen sich, wie erwähnt, sogar in noch viel größeren Höhen gewisse Erscheinungen ab, welche von dem Vorhandensein einer Atmosphäre Zeugnis ablegen. Die größten derartigen Höhen geben die Polarlichter, welche weiter unten ausführlich behandelt werden sollen. Zunächst mögen die übrigen Erscheinungen der Reihe nach besprochen werden. Die Sternschnuppen sind kleinste, meist unregelmäßig geformte, feste Weltkörper, die mit einer Geschwindigkeit, deren Größenordnung 50 km pro Sekunde beträgt, in die Erdatmosphäre eindringen und hier meist durch Schmelzen, vielleicht Verdampfen!) ihre Materie in Gestalt einer Wolke aus- breiten, welche nach erfolgter Abkühlung offenbar aus feinsten festen Partikeln, kosmischem Staube, bestehend zu denken ist. Die uns sichtbare Leucht- erscheinung kommt dadurch zustande, daß die vor dem Meteoriten befind- lichen Gase bei der großen Geschwindigkeit desselben nicht Zeit haben, zur Seite auszuweichen, sondern komprimiert werden. Die durch die Kompression erzeugte Wärme hat gleichfalls keine Zeit, etwa durch Leitung sich zu ver- teilen, und ist hoch genug, um die in Frage kommenden Gase der Atmosphäre zu intensivem Leuchten zu bringen. Ein großer Teil der Leuchterscheinung repräsentiert daher glühende Luft. Aber diese glühende Luft wirkt auf den Meteoritenkörper in derselben Weise wie eine Gebläseflamme, und bringt ihn wenigstens oberflächlich zum Schmelzen. Die geschmolzene Rinde wird beständig durch den starken Luftzug fortgeblasen, und auf diese Weise !) Die noch häufig anzutreffende Überlieferung, daß die Sternschnuppen ver- brennen, ist verkehrt, da in den Schichten, in denen sich die Erscheinung abspielt, kein Sauerstoff mehr vorhanden sein kann. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 4 50 A. Wegener. schmilzt der Meteorit auf seinem Laufe zusammen wie ein Stück Eis in warmem Wasser. Sein Inneres bewahrt dabei die außerordentlich tiefe Temperatur, welche er im Weltraume besaß, da die Wärme ja keine Zeit hat, einzudringen. So erzeugte z. B. ein bei Dhurmsala in Ostindien gefallener Meteorit beim Berühren ein heftiges Schmerzgefühl von Kälte. Wegen dieser Vorgänge hat man bei der Leuchterscheinung der Sternschnuppen zwei Teile zu unterscheiden, nämlich außer den leuchten- den Gasen, welche das Luftspektrum geben, noch die glühende Oberfläche des Kerns, die natürlich ein kontinuierliches Spektrum erzeugt. Ob auch glühende Dämpfe und Gase aus dem Meteoriten sich an dem Leuchten be- teiligen, muß dahingestellt bleiben. Da die Trägheit der atmosphärischen Gase somit den eigentlichen Grund für die Erscheinung bildet, die verschiedenen Gase aber keines- wegs gleich träge sind, so spielt sich auch der Vorgang in den drei Haupt- schichten: der Geocoroniumsphäre, der Wasserstoffsphäre und der Stick- stoffsphäre, in sehr verschiedener Weise ab. In der ersten treten über- haupt keine Lichterscheinungen auf, die Trägheit dieses Gases ist so ge- ring, daß eine Geschwindigkeit von einer höheren Größenordnung dazu gehörte, um es auf diese Weise zum Leuchten zu bringen. Der trägere Wasserstoff dagegen wird zum Glühen gebracht und erzeugt so die Er- scheinung der Sternschnuppen. Die vielfach gemessenen Höhen der letzte- ren liegen stets innerhalb der Wasserstoffsphäre. Brezina gab hierfür die folgende Zusammenstellung ?): Höhe des Höhe des | Aufleuchtens Erlöschens Es fanden ws N ahlder Be- Zahl der Be- I | | | Kilometer | Bears Kilometer | jobachtungen Al. Herschel aus Brandes’ und Benzen- | | | | Dergs Beobachtungen .. .....| 13 | 17 ı H. A. Newton aus en von | | | 1798—1863 (mit Inbegriff der von | | \ Herschel verwendeten) . . .. . - DB] 1672834 81 2% Secchi aus seinen eigenen Heokkth- I | | tungen „oe Ku. 220.0. ae er | 120 27 80 | ZU Im besonderen fanden: | | Weiß für die Perseiden ne | Europa ... AN er Kb u | v6 BE 49 Newton für die Derkolden: Amkrike DE | 1124 | 39 901 | 39 Newton für die Leoniden (November- | metenre) ‚+, 2 men fr el 1,549 78, .1114,197:8 78 > N B 32:5 1 4 798 4 Weiß für die Leonid j\ | | eiß für die Leoniden || 1514 | 6 | 91 se i I I !) Die Meteoriten vor und nach ihrer Ankunft auf die Erde; Vorträge d. Ver. z. Verbr. naturw. Kenntnisse in Wien. Wien 1893. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 51 Interessant ist hierbei, daß die schneller bewegten und darum auch helleren Leoniden größere Höhen für das erste Aufleuchten geben als die Perseiden. Als allgemeines Gesetz geht dies aus den Beobachtungen von Schmidt und Heis hervor; sie teilten die Sternschnuppen in vier Hellig- keitsklassen (I = hellste Klasse) und fanden die folgenden mittleren Höhen: I I Hr« IV Mittlere Hk zn u, 5. .122 119 81. 64 km Zahl der Beobachtungen . . . 14 20 24 21, Von besonderem Interesse ist auch die Frage, welches die größten noch sicher nachgewiesenen Höhen des ersten Aufleuchtens sind. Natür- lich sind sie größer als die in der obigen Tabelle gegebenen Mittelwerte. Doch sind nach Den- ning Höhen von mehr als 240 km bereits sehr selten, während er 200 km noch in 9 unter 26 Fällen fand. Übrigens ist die Höhe dieses ersten Aufleuchtens auch nach den Beobach- tungen, welche 1867 anläßlich der August- meteore von der Berliner Sternwarte veranstaltet wurden, nicht unerheblich größer als die von Brezina genannten Werte; im Mittel ergab sich das Auf- leuchten nämlich bei 180 km, während für das Verlöschen wie Fig. 38. Zeichnung eines in die Stickstoffsphäre eintretenden Meteors; der obere früher 80 km resul- dünne Teil des Schweifes liegt in der Wasserstoffzone und zeigt grünes, der untere breite (im Stickstoff) rotes Licht. tierte. Die angeführten Zahlen zeigen jedenfalls, daß sich das ganze Phäno- men zwischen rund 150 und 80 km abspielt, also ganz innerhalb der Was- serstoffsphäre zu liegen kommt. Während nun in der Geocoroniumsphäre überhaupt noch keine, und in der Wasserstoffsphäre nur eine relativ schwache Lichterscheinung auf- tritt, wird diese besonders lebhaft in den Fällen, in welchen das Meteor den Massenverlust in den vorangehenden Schichten überdauert und in die Stickstoffsphäre eintritt. Vielfach wird hervorgehoben, daß auch große 4* 52 A. Wegener. Meteore anfangs ganz das Aussehen von Sternschnuppen zeigen (grünes Licht) und erst von einem bestimmten Punkte ihrer Bahn ab, der offenbar dem Eintritt in die Stickstoffsphäre entspricht, außerordentlich an Hellig- keit gewinnen (rotes Licht), wie es z.B. auch bei dem in Fig. 38 abge- bildeten Meteor der Fall war. In der Stickstoffsphäre endigen diese Meteore meist mit einer Explosion und lassen ihre Bruckstücke zur Erde herabfallen. Die folgende Zusammen- stellung über die Explosionshöhen, welche @. v. Nießl gegeben hat, zeigt, daß diese stets innerhalb der Stickstoffsphäre liegen. Explosionshöhen von Meteoren. 12. Februar 1875, Homestead, Nordamerika . . 37 km 5. Mai 1869, Krähenbere, Bayem . . . . „ur.2.820 5. Februar 1882, Moöes, Siebenbürgen, und zwar UNE en ;, ur, Oa über Gynlateke . . . ee er 13. Dezember 1807, Weston, Nordamerika a % Juni 1866, Kuyalınya Bosam 2 2 2... 2400, 13. Juli 1847, Braunau, Böhmen . . . . . unter 148 „ 15. Juli 1878, Tieschitz, Mähren . . . . beiläufig 200 „ 14. Mai 1864, Orgueil, Frankreich . . . . ...230 „ 19. Juni 1876, Ställdalen, Schweden. . . . . . .408 „ 30. Januar 1868, Pultusk, Polen . . . ne 26. Mai 1751, Hraschina, Agram, Kroatien Te re Man sieht, daß hier sämtliche Höhenlagen innerhalb der Stickstoff- sphäre vorkommen: auch die Schichtgrenze bei 11 km Höhe stellt keines- wegs eine Grenze für diese Erscheinungen dar, wie die ersten Werte der Tabelle zeigen. Andrerseits war der Meteorit auch bei den größten hier erhaltenen Höhen doch immer schon 20 km tief in die Stickstoffsphäre eingedrungen. Die Ursache der Explosion ist übrigens noch nicht völlig aufgeklärt. Es ist nicht undenkbar, daß sie auf eine immer schneller werdende Ro- tation um eine mit der Flugrichtung zusammenfallende Achse zurückzu- führen ist, die schließlich zur Zersprengung des Meteoriten durch die über- große Zentrifugalkraft führt. Der Beginn einer solchen Rotation ist häufig daran zu erkennen, daß die Flugbahn eine schraubenförmige Gestalt hat, ähnlich den schraubenförmigen Fallbahnen der Schneeflocken (vgl. Fig. 38). Von großer Bedeutung für unser Problem ist die spektroskopische Untersuchung der Sternschnuppen, da ihr Licht wenigstens teilweise von elühender Luft herrührt. Leider liegen nicht viel brauchbare Beobachtun- gen vor. Die älteren Okularbeobachtungen (direkte Betrachtung im Spek- troskop) zeigen nur, daß der Kern ein kontinuierliches Spektrum gibt, also aus glühendem, festem oder flüssigem Material besteht, während der Schweif durch sein Linienspektrum als glühendes Gas gekennzeichnet ist. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 53 Das Spektrum zu photographieren ist bisher nur Pickering und Blajko ge- lungen. Der erstere erkennt im Spektrogramm hauptsächlich die Linien des Wasserstoffes, was mit unseren Annahmen also gut übereinstimmt. Die beiden Spektrogramme, die Blajko erhielt, sind anders; sie enthalten in einer langen Reihe schwacher Linien eine einzelne außerordentlich kräf- tige, welche wahrscheinlich dem Stickstoff angehört. Dies würde also be- sagen, daß die Blajkoschen Meteore in die Stickstoffsphäre eingedrungen waren, während das Pickeringsche sich in der Wasserstoffsphäre ab- spielte. Dämmerungserscheinungen. Ein Beobachter an der Erdober- fläche, für den die Sonne noch unter dem Horizont steht, sieht doch dar- über bereits die Atmosphäre vom Sonnenlicht durchstrahlt. In diesem Däm- merungsbogen, der auf die diffuse Reflexion des Lichtes in der Atmosphäre zurückzuführen ist, nimmt nun die Helligkeit nicht gleichmäßig von unten nach oben ab, sondern er besitzt eine Struktur, die in enger Beziehung zu den atmosphärischen Hauptschichten steht. Man kann eine Reihe von immer schwächeren Dämmerungsbögen unterscheiden, die nach Sonnen- untergang nach einander unter den Horizont herabsinken. Der erste Däm- merungsbogen, auch „helles Segment“ genannt, verschwindet nach den Mes- sungen von Miethe und Lehmann gerade unter dem Horizont, wenn die Sonne etwa 8° unter demselben steht; bei Berücksichtigung der Refrak- tion berechnet sich daraus die obere Grenze der hier in Betracht kom- menden reflektierten Schichten zu ca. 11 km, woraus hervorgeht, daß dieser Dämmerungsbogen die durchstrahlte Troposphäre repräsentiert. Auf ihn folgt der Hauptdämmerungsbogen, für den die meisten Messungen vor- liegen. Nach einer in Pernter-Exners -„Meteorologische Optik“ gegebenen Übersicht verschwindet dieser Bogen unter dem Horizont, wenn die Sonne etwa 174° unter demselben steht. Bei angenäherter Rechnung ergibt sich hieraus für die obere Grenze der betreffenden Luftschichten eine Höhe von 74km. Es handelt sich hier also um die vom Sonnenlicht durchstrahlte Stratosphäre. Aber auch nach dem Verschwinden dieses Hauptdämmerungsbogens bleibt noch ein weiterer, äußerst schwacher Lichtstreifen von bläulicher Farbe am Himmel sichtbar. Über diesen liegen bisher nur die wenigen Beobachtungen von See in Washington vor, aus welchen sich die obere Grenze dieser Schichten zu etwa 214 km berechnet. Offenbar handelt es sich hier um die durchstrahlte Wasserstoffsphäre. — Diese Stufen der Licht- reflexion sind in unserer Fig. 37 durch gestrichelte Linien markiert. Das Zodiakallicht. Das Zodiakallicht erscheint in europäischen Breiten namentlich in den Monaten Januar bis März kurz nach Sonnen- untergang und in den Herbstmonaten vor Sonnenaufgang in Form einer matten, schräg stehenden Lichtpyramide. In den Tropen soll es das ganze Jahr hindurch gleichmäßig sichtbar sein. Genauere Beobachtungen, die unter besonders günstigen Umständen ausgeführt sind, ergeben, daß der Licht- 54 A. Wegener. schimmer sich von der Spitze der Pyramide noch weiter in der Richtung des größten Kreises fortsetzt, am Gegenpunkt der Sonne eine geringe Verstärkung erfährt („Gegenschein“) und den ganzen Himmel umspannt. Die Achse des Zodiakallichtes fällt für unsere Messungen mit der Ebene des Sonnenäquators (7° gegen die Ekliptik geneigt) zusammen. Über die Natur des Zodiakallichtes standen sich lange Zeit zwei An- sichten gegenüber, deren eine es der Sonne zuwies, während die andere es als zur Erde gehörig betrachtete. Durch die neueren Forschungen, welche die obersten Atmosphärenschichten betreffen, wird dieser Streit gegen- standslos, da nunmehr beides der Fall ist: das Zodiakallicht würde hier- nach diejenigen Lichterscheinungen darstellen, welche sich in der Geoco- roniumsphäre unseres Planeten sowie ihrer Fortsetzung in den interplane- tarischen Raum abspielen, welch letztere zugleich auch die Fortsetzung der äußersten Hülle der Sonnenatmosphäre darstellt. Man kommt auf diese Weise dazu, das Zodiakallicht als einen letzten Dämmerungsbogen im Sinne des vorangegangenen Abschnittes zu betrachten. So beschreibt auch Pechuel-Loesche das Zodiakallicht mit den Worten: „Der letzte farbige Abendschimmer geht unmerklich in den milden Silberglanz des Zodiakal- lichtes über.“ Die spektroskopische Untersuchung des Zodiakallichtes zeigt, daß man es hier wie bei den übrigen Dämmerungsbögen im wesentlichen mit reflektiertem Sonnenlicht zu tun hat: es gibt nämlich ein sogenanntes kontinuierliches Spektrum. Seeliger und andere nehmen infolgedessen an, daß die Reflexion an den Partikeln einer kosmischen Staubwolke stattfindet. Da aber andrerseits Respighi, Vogel und Wright im Spektrum des Zo- diakallichtes auch die helle Polarlichtlinie gesehen haben, so ist es doch höchst wahrscheinlich, daß) wenigstens die hellste Partie dieses merkwür- digen Lichtes, nämlich die schräge, dem Horizont aufsitzende Pyramide, im wesentlichen die äußerste Gashülle der Erdatmosphäre repräsentiert, ein Ergebnis, zu dem auch F! Schmid auf Grund seiner langjährigen Beobach- tungen gekommen ist. Die leuchtenden Nachtwolken. Vom Jahre 1885 ab wurden eigentümliche cirrostratusähnliche Wolkengebilde beobachtet, welche schon durch ihre helle Beleuchtung am äußersten Rande des Hauptdämmerungs- bogens nach Sonnenuntergang eine ganz ungewöhnliche Höhe verrieten. Wenn nämlich die Dämmerung soweit vorgeschritten ist, daß bereits die ganze Troposphäre, soweit sie über dem Horizont des Beobachters liegt, beschattet ist, so sieht dieser über dem Ort der Sonne nur noch das äußerst schwache Seesche Licht über dem Horizont, das nicht hell genug ist, um die Sterne auszulöschen. Wenn nun, wie hier der Fall, im untersten Teile dieser Wasserstoffzone Wolken liegen, so werden diese ver- möge ihres starken Reflexionsvermögens intensiv hell erscheinen und sich gegen die dunkle Umgebung wirkungsvoll abheben. Fig. 39 zeigt eine Pho- tographie dieser leuchtenden Nachtwolken, welche von Störmer in Christiania in der Nacht vom 27. zum 28. Juli 1909 erhalten wurde. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 55 Die Höhe dieser merkwürdigen Wolken wurde erst von 1887 ab von Jesse und Stolze auf photogrammetrischem Wege bestimmt. Für das Jahr 1889 fand man im Mittel 83 km, für 1890 82 km; im ganzen schwankte die Höhe zwischen 70 und 83 km. Von großem Interesse ist die aus den Photographien bestimmbare Geschwindigkeit, mit der diese Wolken einherzogen. Es zeigte sich näm- lich, daß in diesen Höhen ein Ostwind von rund 100 m per Sekunde herrschte; da Ostwind immer der Rotationsbewegung der Erde entgegen- gesetzt ist, so besagt dies, daß den leuchtenden Nachtwolken eine erheb- Fig. 39. % Leuchtende Nachtwolken, Phot. Störmer. um 12 Uhr nachts am 27.—28. Juli 1909 bei Christiana beobachtet. lich geringere Rotationsgeschwindigkeit eigen war als der Erdoberfläche, und es wird hierdurch der Schluß nahegelegt, daß) diese Luftschichten die Erdrotation nicht mehr vollständig mitmachen. Da die Luftmassen an der Grenze zwischen Tropo- und Stratosphäre natürlich der Erdrotation noch vollkommen folgen müssen, so hätten wir also innerhalb der Stratosphäre eine Zunahme des Ostwindes von Null an ihrer unteren Grenze bis zu etwa 100 m pro Sekunde an ihrer oberen Grenze zu erwarten. Dieses Resultat wird auch durch die Beobachtungen der Rauch- und Aschenmengen be- stätigt, welche nach dem Krakatauausbruch sich innerhalb der Stratosphäre 56 A. Wegener. ausbreiteten und Anlal) zu den bekannten abnormen Dämmerungserschei- nungen gaben: denn für diese ergab sich im Mittel ein Ostwind von 30 bis 40 m pro Sekunde. !) Die Natur der leuchtenden Nachtwolken kann auch gegenwärtig noch nicht in allen Punkten als völlig aufgeklärt gelten. Erst mehrere Jahre nach ihrer Entdeckung wurde die Vermutung ausgesprochen, die jetzt wohl allgemein angenommen ist, daß auch diese Wolken dem Ausbruch des Vul- kans Krakatau in der Sundastraßbe, der größten Vulkaneruption der ge- schichtlichen Zeit, entstammen, ebenso wie die erwähnten Staubmassen. Während diese aber bald tiefer sanken und schließlich ganz verschwanden, wurden die leuchtenden Nachtwolken überhaupt erst 2 Jahre nach dem Aus- bruch entdeckt, blieben dann mehrere Jahre lang, wenngleich anscheinend schwächer werdend, der Beobachtung zugänglich und sind auch gegen- wärtig, wie z. B. die Störmerschen Aufnahmen zeigen, noch keineswegs als verschwunden zu betrachten. Infolgedessen ist auch der Einwand erhoben worden, daß der Zu- sammenhang mit dem Krakatauausbruch nur ein scheinbarer sei, indem man eben erst seit jener Zeit der Dämmerung und allen damit zusammen- hängenden Erscheinungen Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Indessen machen es auch theoretische Gründe in hohem Grade wahr- scheinlich, daß der Ursprung der leuchtenden Nachtwolken doch auf eine Vulkaneruption zurückzuführen ist. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die rela- tive Feuchtigkeit in jenen Höhen bereits auf unmeßbar kleine Werte ge- sunken sein muß), so daß eine freiwillige Wolkenbildung ausgeschlossen er- scheint. Da nämlich in der Stratosphäre keine vertikalen Mischungen mehr auftreten, so muß der Wasserdampf sich hier ganz ungehindert nach den Gasgesetzen verteilen, ebenso wie die anderen Gase, so daß man ihn von dieser Höhe ab bei der oben besprochenen Berechnung der Zusammen- setzung der Luft mitnehmen kann. Rechnet man das Ergebnis gleich in relative Feuchtigkeit um, so kommt man auf folgende Zahlen: LIODE Ku ar area | 1115 20 25 30 35 40 45 50km Relative Feuchtigkeit. 50 34 211 38 5 3 2 1% Wie man sieht, müßte sich die Luft mit zunehmender Höhe hiernach immer mehr von der Sättigung entfernen; so erklärt sich auch die Tat- sache, daß im allgemeinen in der Stratosphäre eben keine Wolkenbildung mehr zu beobachten ist. Aber andrerseits geht daraus auch hervor, daß bei T0—-80 km Höhe nur dann Wolken auftreten können, wenn dort irgend eine Quelle des Wasserdampfes liegt, welche bewirkt, daß der Wasserdampf nicht im Diffusionsgleichgewicht ist. Und diese Quelle kann doch wohl schwerlich eine andere sein als die des Krakatauausbruches. Wenn die un- geheuren Wasserdampfmengen, die damals zweifellos entwickelt wurden, etwa mit einem erheblichen Zusatz freien Wasserstoffes versehen gewesen 1) Kiessling, Untersuchungen über Dämmerungserscheinungen. Hamburg und Leip- zig 1888. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 97 wären (was nicht unwahrscheinlich ist, da auch bei isländischen Fumarolen und bei den Gasen des Mt. Peldee auf Martinique 20—25°/, Wasserstoff festgestellt wurden), so wären es auch verständlich, daß sie gerade die ganze Stickstoffsphäre bis zu der Schichtgrenze bei 70 km durchstiegen hätten. 4. Das Polarlicht. Das früher so geheimnisvolle Dunkel, in welchem uns das Wesen des Polarlichtes verborgen war, ist durch eine Reihe neuerer Arbeiten über diesen Gegenstand in einer Weise gelichtet worden, daß nur noch Detail- arbeit übrig bleibt. Wir besitzen nämlich in der erst vor kurzem auf- gestellten Korpuskulartheorie den Schlüssel zu einem vollständigen und exakten Verständnis des ganzen Phänomens. Da diese wichtigen Arbeiten erst der jüngsten Zeit entstammen und darum noch nicht in zusammen- fassende Darstellungen übergegangen sind, verlohnt es sich doppelt, hier etwas näher auf sie einzugehen. Bereits Angström und Paulsen vermuteten, dab das Polarlicht auf Kathodenstrahlen zurückzuführen sei, welche in der Atmosphäre absorbiert würden und dabei diese zum Leuchten erregen. börkeland war aber der erste, welcher die Vermutung aussprach, daß diese Kathodenstrahlen von der Sonne ausgesandt würden. Bekanntlich bestehen solche Kathodenstrahlen aus kleinsten, elektrisch geladenen Teilchen, sogenannten Elektronen !), welche mit außerordentlicher Geschwindigkeit von der Kathode in der Crookschen Röhre abgeschleudert werden. Auch weißglühende Körper entsenden freiwillig Kathodenstrahlen, und dies muß auch bei der Sonne zutreffen. Freilich werden diese Kathoden- strahlen in den meisten Fällen von der Sonnenatmosphäre selber absor- biert und also zurückgehalten, aber in den Fällen, wo die glühenden Massen besonders weit emporsteigen, in den als „Fackeln“ bezeichneten hellen Ge- bieten, vermögen sie anscheinend zu Zeiten diese Schwierigkeit zu über- winden und frei in den Weltenraum hinauszueilen. Es ist dabei zunächst gleichgültig, ob man an eigentliche Kathoden- strahlen denkt oder an andere materielle Strahlen ähnlicher Art. Bekannt- lich bestehen z.B. auch die sogenannten £-Strahlen des Radiums ebenso wie die Kathodenstrahlen aus winzigen, negativ elektrischen Partikeln, nur ist die Geschwindigkeit, mit der sie abgeschleudert werden, noch viel größer als bei jenen (sie kann nahe an die Lichtgeschwindigkeit heran- kommen). Auch die x-Strahlen des Radiums stellen ähnliche, außerordent- lich schnell bewegte materielle Partikel dar, doch ist ihre elektrische La- dung positiv. Es ist zunächst, wie gesagt, gleichgültig, an welche Art von Strahlen man im speziellen denkt; es darf ja keineswegs als ausgeschlossen gelten, daß es noch andere Strahlen gleicher Art gibt, die wir bisher noch nicht haben erzeugen können, und die vielleicht gerade beim Polarlicht die Hauptrolle spielen. Vor allem ist auch wohl anzunehmen, daß es sich hier nicht nur um eine einzelne Strahlenart handelt, sondern daß sämtliche oder ') Vgl. 2. Bd. der „Fortschritte“: @. Mie, Ionen und Elektronen. 58 A. Wegener. doch wenigstens verschiedene derartige Strahlengattungen in Frage kommen. Wir werden indessen der Kürze halber im folgenden nur von Kathoden- strahlen sprechen, Birkeland war, wie erwähnt, der erste, der erkannte, daß diese Ka- thodenstrahlen offenbar von der Sonne herstammen; er blieb aber bei der bloßen Vermutung nicht stehen, sondern versuchte in sehr glücklicher Weise, den Vorgang experimentell nachzuahmen. Er brachte in einer großen Crook- schen Röhre einen kleinen kugelförmigen Eisenmagneten an, welcher die Erde repräsentierte, und exponierte diesen den Kathodenstrahlen. Die Kugel war mit einer Schicht von Platinbariumeyanür überzogen, welches bekannt- lich an den Stellen, wo es von Kathodenstrahlen getroffen wird, aufleuchtet. Solange er die Versuche mit einer noch verhältnismäßig großen Kugel von mäßigem Magnetismus ausführte, erhielt er einen leuchtenden Ring um den Äquator der Kugel herum, als er jedoch eine kleinere Kugel von stärkerem Magnetismus wählte, zeigte sich, daß nur bestimmte Stellen der Oberfläche aufleuchten, die in zwei bestimmten Breitenkreisen um die magnetischen Pole herum angeordnet waren. Es trat hier also bereits dieselbe Erscheinung auf, welche beim Polarlicht als die Zone maximaler Häufigkeit bekannt ist. Die entscheidenden Berechnungen, welche alle Zweifel an der Richtig- keit dieser Hypothese beseitigen, verdanken wir indessen Störmer. Dieser führte in einer Reihe von Abhandlungen !) die sehr mühsame numerische Auswertung des Strahlenganges für eine große Anzahl von Fällen aus und konnte so zeigen, daß sich alle charakteristischen Eigenschaften des Polar- lichts vollständig erklären lassen. Auf die Berechnungen im einzelnen einzugehen, würde hier zu weit führen. Es sei nur erwähnt, daß sich die Differentialgleichungen für die Be- wegung der Elektronen nicht streng integrieren lassen, daß man also nicht imstande ist, die Gleichung ihrer Bahnkurve hinzuschreiben. Man kommt aber wie in vielen anderen Fällen so auch hier praktisch dennoch zum Ziele durch die sogenannte numerische Integration, welche zwar nur eine Näherung dar- stellt, aber doch eine Näherung, deren Genauigkeit sich beliebig weit treiben läßt. Bei diesen Operationen tritt eine gewisse Integrationskonstante y auf, die von einer besonderen Bedeutung für das folgende ist. Sie charakteri- siert nämlich eine bestimmte „Familie“ von Kurven. Wählen wir eine andere Konstante /, so erhalten wir eine neue Familie, deren einzelne Re- präsentanten zwar immer noch unendlich variieren können, sich aber von denen der ersten Familie prinzipiell unterscheiden; auf diese Weise gibt es eine kontinuierliche Folge von Kurvenfamilien, deren jede durch einen be- stimmten Wert der Integrationskonstante y charakterisiert ist, dabei aber doch über unendlich viele Einzelkurven verfügt. Die wesentlichste Eigenschaft einer solchen Kurvenfamilie ist nun die, daß alle ihre Einzelkurven innerhalb eines bestimmten angebbaren Raumes zu liegen kommen, deren Grenzen sie nicht überschreiten können. 1) Die wichtigste ist: Sur les trajeetoires des corpuscules @lectrises dans l’espace sous l’action du magnetisme terrestre, avec application aux aurores bor6ales. Arch. d. Sciences Phys. et Natur. Geneve 1907. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 59 In den folgenden vier Figuren sind z. B. diese Räume für vier ver- schiedene Familien dargestellt; den Erdmagneten hat man sich in der Mitte der Figuren zu denken, die magnetische Achse in der Zeichenebene (Rich- tung: von oben nach unten). Die Kathodenstrahlen, die in der Blickrich- tung des Beschauers von der Sonne aus auf die Erde zueilen, müssen dann notwendigerweise in demjenigen Raum bleiben, der im Querschnitt in der Figur weiß gelassen ist. Um die räumliche Form zu erhalten, muß man sich diese Figuren um die magnetische Achse der Erde rotierend denken. Fig. 40. | Fig. 42. Die zulässigen Räume (weiß) für verschiedene Strahlenfamilien (y) in der Umgebung der Erde. Man sieht, daß in den Fig. 41, 42 und 43 die weißen Räume nur in sehr feinen Ausläufern zur Erde heranreichen, und zwar stets in die Nähe der magnetischen Pole. Die erste Figur (40) aber ist deswegen merkwürdig, weil hier der innere weiße Raum ganz von dem äußeren getrennt ist. Kathoden- strahlen, welche in diesem inneren Raume sich befinden, können sich also überhaupt nicht wieder von der Erde entfernen. Dies spielt bei den später zu besprechenden periodischen Bahnen eine große Rolle. Wenn diese Figuren eine allgemeine Übersicht über die Form der Räume geben, deren Grenze die Strahlen nicht überschreiten können, so zeigt die folgende Fig. 44 nur den erdnächsten Teil, vereinigt aber dafür die Räume für die verschiedenen Strahlenfamilien. 60 A. Wegener. In dieser Fig. 44 ist auch die Größe der Erde relativ zu den Dimen- sionen dieser zulässigen Räume durch die punktierten Kreise angedeutet, und zwar würden die beiden äußeren gelten, wenn man es mit «-Strahlen des Radiums zu tun hätte, und die inneren für $-Strahlen und Kathodenstrahlen. Die räumliche Bahn. welche nun die Elektronen innerhalb dieser weißen Räume beschreiben, ist eine außerordentlich verwickelte. Störmer hat sich der Mühe unterzogen, eine große Menge dieser Bahnen zahlen- mäßig auszuwerten. und hat dieselben in Modellen zur Anschauung ge- bracht, von denen die folgenden Figuren einige Proben geben. Fig. 44. Schnitte der zulässigen Räume für die verschiedenen Strahlenfamilien y in der Nähe der Erde. Die erste Fige.45 zeigt eine stereoskopische Aufnahme eines solchen Drahtmodelles. Es ist dabei nur die eine Hälfte des Strahlenbündels berück- sichtigt, welche südlich (in der Figur oberhalb) des magnetischen Äquators verläuft. Man sieht, daß die in der magnetischen Äquatorebene gelegenen Strahlen stets in dieser verbleiben, also ebene Kurven sind, während die Kurven um so mehr „räumliche“ werden, je weiter man nach den Polen hin- geht. Man erkennt auch, daß die Kathodenstrahlen sich alle der Erde mehr oder weniger nähern, dabei bisweilen auch Schleifen beschreiben, und sie, namentlich im magnetischen Äquator, mehr oder weniger umkreisen, daß sie sich dann aber wieder von ihr entfernen. Man kann auf diese Weise auf jedem Strahl leicht denjenigen Punkt finden, der der Erde am nächsten liegt. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 61 Indessen hat Störmer gezeigt, daß es bestimmte bevorzugte Rich- tungen gibt, bei denen diese Umkehrpunkte immer näher an die Erde heranrücken und schließlich theoretisch im Erdmittelpunkt zu liegen kommen, wo also mit anderen Worten die Strahlen tatsächlich die Erde treffen. Die Fig.46 zeigt ein Drahtmodell dieser ausgezeichneten Strahlen. Geht man nun etwas weiter auf den genauen Verlauf derjenigen jahnen ein, welche der Erde so nahe kommen, daß ihr Umkehrpunkt be- reits innerhalb der Erdatmosphäre liegt, so zeigt sich, daß sich diese schraubenförmig um die Kraftlinien des Erdmagnetismus herumwinden. Das folgende Modell von Störmer (Fig. 47) zeigt z.B. einen Strahl, der sich zunächst in immer engeren Windungen dem magnetischen Nordpol (in der Fig. 45. Stereoskopaufnahme des Störmerschen Drahtmodells für den Gang der Kathodenstrahlen in der Nähe der Erde. Figur nach unten weisend) nähert, dann umkehrt und sich wiederum in ähnlichen Windungen, aber in einer anderen geographischen Länge dem magnetischen Südpol nähert, um von hier aus wiederum nach dem Nord- pol vorzudringen. Er bleibt dabei stets innerhalb des oben besprochenen weißen Raumes, etwa dem inneren Teil der Fig. 40 oder 41 entsprechend. Bei streng periodischer Bahn würde er beständig auf diese Weise zwischen Nord- und Südpol hin und her pendeln; ist die Bahn aber nur annäherungsweise periodisch, so wird er nach einigen derartigen Vorstößen schließlich durch die noch offene Verbindung mit dem äußeren weißen Raume unserer Fig.41 hinaustreten und sich nun definitiv von der Erde entfernen. In unserer Fig. 47 ist der Fall dargestellt, wo der Strahl bereits in ziemlich 62 A. Wegener. großer Entfernung von der Erde seine Umkehrpunkte besitzt; Strahlen anderer Art dringen weiter bis zur Erde vor, wo die weißen Räume immer schmaler werden, und werden damit auch selber in eine immer feinere Spitze ausgezogen, je tiefer sie zur Erde herabsteigen. Jeder einzelne Strahl einer Nordlichtdraperie stellt eine derartige, durch teilweise Absorption der Kathodenstrahlen leuchtende Bahn dar. Berücksichtigen wir, daß wir es niemals mit einem einzigen Kathoden- strahl zu tun haben, sondern stets mit einem mehr oder weniger ausgedehnten Strahlenbündel, welches wahrscheinlich von einer Sonnenfackel seinen Ursprung Fig. 46. Drabtmodell der ausgezeichneten Strahlen, welche die Erde treffen. genommen hat, so ist ersichtlich, daß diese erzeugende Stelle der Sonnen- oberfläche gewissermaßen auf der Erdoberfläche durch das Polarlicht abge- bildet wird, allerdings in einer außerordentlich verzerrten Weise; sie erscheint nämlich ausgezogen in ein überaus schmales und langes Band, eben die sogenannte Nordlichtdraperie. Störmer hat auch Zahlenwerte für die Dimensionen dieses Bandes ausgerechnet, welche in der folgenden Tabelle wiedergegeben sind. = ist dabei der scheinbare Durchmesser der Emanationsfläche (der „Fackel“) auf der Sonne, in Bogensekunden bzw. Minuten. € | Breite der Draperie | Länge der Draperie 1“ | 15 m 20 km | 10“ | 25 m 65 km 1 46 m 160 km 3 | 72 m 275 km Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 63 Diese Zahlen gelten für die Erdoberfläche. Rechnet man sie, was keine Schwierigkeit macht, für eine größere Höhe über der Erde aus, so werden sie nach dem oben Gesagten entsprechend größer. Nur in einem Punkte schien diese Theorie zunächst zu versagen, nämlich in betreff der Lage der Zone größter Häufigkeit. Diese müßte näm- lich theoretisch nur etwa 2 bis höchstens 8° vom magnetischen Pol entfernt liegen, während sie in Wahrheit etwa 20° davon entfernt ist. Störmer hat in- dessen zeigen können, daß diese Abweichung höchstwahrscheinlich auf den Einfluß der- jenigen Strahlen zu- rückzuführen ist, wel- che in größerem Ab- stand von der Erde diese in der Äquator- ebene in den früher geschilderten Schlei- fen umkreisen, ohne dabei mit der Erd- atmosphäre in Be- rührung zu kommen. In ihrer Gesamtheit repräsentieren näm- lich diese Strahlen einen elektrischen Strom, welcher in einer bestimten Rich- tung die Erde um- fließt; und dieser Strom hat das Be- streben, die Zone der größten Häufigkeitin etwas niedrigere Breiten herabzuzie- hen. Damit dürfte wohl auch dieser letzte Einwand gegen die Theorie be- seitigt sein. Es bedarf wohl keiner Erläuterung, von welcher Wichtigkeit diese exakte Erklärung des Polarlichtes auch für die benachbarten Zweige der kosmischen Physik ist. Denn nicht nur ist auf diese Weise allen meteo- rologischen Phantastereien über den Zusammenhang von Gewitter und Polarlicht ein Ende bereitet‘), sondern Störmer selbst hat auch bereits hochwichtige Schlußfolgerungen in bezug auf die magnetischen Störungen Fig. 47. Störmers Modell eines Kathodenstrahls, der sich abwechselnd dem Nordpol und dem Südpol der Erde nähert. !) Noch vor kurzer Zeit glaubte man, die Polarlichter stellten eine Art stille Ent- ladung der atmosphärischen Elektrizität dar und ersetzten auf diese Weise die Gewitter im Polargebiet! 64 A. Wegener. aus seiner Theorie gezogen. Wenn nämlich ein besonders reichlicher Schwarm von Kathodenstrahlen aus der Sonne hervorbricht (was wieder mit dem Auftreten von Fackeln und also auch Flecken auf der Sonne zu- sammenhängt), so repräsentiert er in seiner Gesamtheit einen starken elektrischen Strom um den Erdäquator herum, und zwar, wie unmittelbar einzusehen, einen außerordentlich variablen Strom. Dieser Strom muß offenbar einen „magnetischen Sturm“ auf der Erde erzeugen; gleichzeitig zieht er aber auch die Zone maximaler Häufigkeit der Polarlichter in niedrigere Breiten herab, und die Folge ist, daß wir z. B. schon in Mitteleuropa ein Polarlicht sehen. Dies scheint der Zusammenhang zwischen Polarlicht und magne- tischen Störungen zu sein. Endlich führt Störmer die von Eschenhagen ge- fundenen periodischen „Elementarschwingungen“, welche die magnetischen Instrumente zeigen, auf die nahezu periodischen Bahnen der Elektronen zurück, bei welchen diese die Erde mindestens einmal ganz umkreisen und daher nach Ablauf einer gewissen, durch ihre Geschwindigkeit gegebenen Zeit zum zweiten Mal dieselbe Störungsfigur in der Registrierkurve ver- ursachen. Es würde aber zu weit führen, hier auf alle Folgerungen dieser wichtigen Theorie einzugehen. Aber nicht nur die Frage nach der Natur der Strahlen, die das Polarlicht verursachen, sondern auch die des Spektrums ist in jüngster Zeit seiner Lösung sehr nahe gebracht worden. Das Kapitel des Polarlichtspektrums ist von jeher ein außerordent- lich schwieriges gewesen und war bis vor ganz kurzer Zeit der Tummel- platz der widerstreitendsten Meinungen. So sind speziell auch über die bekannte grüne Polarlichtlinie, deren Wellenlänge 557 wu. beträgt, die ver- schiedensten Hypothesen aufgestellt worden. Je mehr Beobachtungen zu- sammenflossen, um so deutlicher zeigte sich, daß das Polarlichtspektrum nicht nur eine außerordentlich große Zahl heller Linien aufweist, deren genauere Positionsbestimmung wegen der Lichtschwäche kaum möglich ist, sondern man erkannte auch, daß die Erscheinung überhaupt keinen völlig konstanten Charakter besaß. Bei der Beurteilung der Messungen muß vor allem Rücksicht genommen werden auf die große Ungenauigkeit; Fehler von 5 wu. (50 Ängström-Einheiten) sind nichts seltenes, so daß ein an die Genauigkeit moderner Laboratoriumsmessungen gewöhnter Spek- troskopiker überhaupt nur von Schätzungen sprechen wird. Jedenfalls sind die meisten Identifizierungen mit den Spektrallinien bekannter Elemente vollkommen illusorisch. Kayser hebt in seinem Handbuch der Spektroskopie (5. Band, Leipzig 1910) mit Recht hervor, daß man jedes beliebige, einiger- maßen linienreiche Spektrum bei einigem guten Willen im Polarlichtspek- trum wiederfinden kann. Aus diesem fast hoffnungslosen Zustand wurde das Problem des Polarlichtspektrums befreit durch die in einem der früheren Kapitel ge- schilderten Ergebnisse, zu denen die Erforschung der obersten Luftschichten gelangte. Durch die hier nachgewiesene Änderung in der Zusammensetzung der Luft, welche in den höchsten Atmosphärenschichten eintritt, wird mit einem Schlage auch der Schlüssel zum Verständnis des Polarlichtspektrums geliefert. Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 65 Von entscheidender Bedeutung muß hiernach die Höhe sein, in welcher sich die Polarlichter abspielen. Dies führt uns zu einem Kapitel, das wohl ebenso schwierig ist wie dasjenige des Spektrums; denn wenn man sich auch nicht, wie einzelne Forscher es tun, auf den Standpunkt zu stellen braucht, dal) die Höhenmessungen prinzipiell keinen physikalischen Sinn haben, so ist doch sicher, daß vielfach Irrtümer vorkommen, indem von den beiden Beobachtern nicht dieselbe Erscheinung anvisiert wird. Obwohl z.B. Paulsen in Godthaab Höhen zwischen 06 und 678 km maß (14 unter 22 Fällen gaben Höhen innerhalb der Troposphäre!), so sind doch heute noch manche Forscher geneigt, alle Messungen unterhalb etwa 40 km als irrtümlich zu interpretieren. Es herrscht hier noch der denkbar größte Widerstreit der Meinungen. Die einen berufen sich auf Lemström, welcher mit Hilfe eines auf einem kleinen Berge angebrachten Spitzen- apparates angeblich Nordlichtstrahlen von über 100 m Länge dicht über dem Erdboden erzeugte, und betrachten dies ebenso wie die oft berichtete Be- obachtung, daß leuchtende Nebel vor einer Bergwand, also in den untersten Schichten der Atmosphäre, gesehen wurden, als einen Beweis dafür, daß das Polarlicht keineswegs auf die höchsten Schichten beschränkt ist, sondern bis zum Erdboden herab auftreten kann. Im anderen Lager dagegen, zu welchem gerade die bedeutendsten Theoretiker zählen, hält man alle diese Beobachtungen für irrtümlich; man nimmt z. B. an, daß Lemström durch ein wirkliches Nordlicht, das gerade in der fraglichen Richtung am Hori- zont auftauchte, oder auch durch eine dem Elmsfeuer vergleichbare Er- scheinung getäuscht wurde; in den Fällen aber, wo ein leuchtender Nebel vor einer Bergwand sichtbar würde, kann es sich um sekundäre Reflexe eines sonst vorhandenen Polarlichts auf einer Nebelschicht handeln. Die Höhenmessungen, welche mit zwei Theodoliten von den telepho- nisch verbundenen Endpunkten einer Basis aus gemacht wurden, sind nicht nur sehr ungenau, sondern führen auch, wie erwähnt, bei der Schwierigkeit einer genauen Bezeichnung des einzustellenden Polarlichts leicht dazu, daß von den beiden Beobachtern verschiedene Punkte des Polarlichts eingestellt werden, wodurch die Messung illusorisch wird. Eine Abhilfe kann hier nur durch Anwendung der photogrammetrischen Methode erzielt werden, welche vor kurzem durch Störmer zum erstenmal hat angewendet werden können. Diese Methode umschließt wiederum das Problem der Photographie der Polarlichter überhaupt, welche bekanntlich mit großen Schwierigkeiten ver- knüpft ist. Nachdem Drendel und Baschin im Jahre 1900 die ersten, wenn auch noch sehr unvollkommenen Photographien dieser außerordentlich licht- schwachen und dabei schnell variierenden Erscheinungen erhalten hatten, wurden ähnliche Versuche, jedoch ohne nennenswerten besseren Erfolg von Westmann und verschiedenen anderen Forschern gemacht. Aber erst 1910 gelang es Störmer, hier einen wesentlichen Fortschritt zu erzielen. Da es sich hauptsächlich nur um die Lichtstärke handelte, so benutzte er ein Kinematographenobjektiv und konnte auf diese Weise bereits brauch bare Aufnahmen mit einer Expositionszeit von etwa !/, Sekunde erhalten. Unsere E. Abderhalden, Fortschritte. III. 5) 66 A. Wegener. beiden Figuren 48 und 49 geben zwei seiner besten Photographien wieder, Die zirka 150 Höhenmessungen, welche Störmer auf diese Weise erhielt, werden in kurzem publiziert sein. Wenngleich nach dem Vorangegangenen die Höhenmessung des Polar- lichts bisher noch sehr im argen liegt, so läßt sich doch eines mit Bestimmt- heit aussagen: daß sich besonders häufig und besonders einwandfrei der untere Rand der in Polargebieten so häufigen draperieähnlichen Formen zu etwa 60 km Höhe ergeben hat. Diese Höhe von 60 km besitzt aber, worauf Lenard hingewiesen hat, ein ganz besonderes theoretisches Inter- esse. Der Luftdruck dort ist nämlich gerade etwa gleich O'1 mm Quecksilber, d.h. er hat gerade denjenigen Wert, bis zu welchem wir die Crookschen Photographie einer Polarlichtdraperie. Phot. Störmer. Röhren evakuieren müssen, damit Kathodenstrahlen auftreten sollen; so- lange der Druck noch höher ist, werden diese Kathodenstrahlen sofort ab- sorbiert, die Luft ist dann völlig undurchlässig für sie. Man sieht sofort, wie dies auf die Atmosphäre anzuwenden ist: Wenn die Kathodenstrahlen, von der Sonne kommend, auf dem von Störmer berechneten Weg in die Atmosphäre eintreten, so werden sie in den obersten Schichten derselben nur zum Teil absorbiert, wobei sie dort dieGase zu einem entsprechenden schwachen Leuchten erregen. Zu je höherem Luftdruck sie aber hinab ge- langen, um so stärker wird die Absorption und die Leuchterscheinung, und in der Höhe von 60km muß dieselbe plötzlich ganz aufhören, hier muß Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 67 der letzte Rest der Kathodenstrahlen völlig absorbiert werden. Es kann als eine schöne Bestätigung der Theorie betrachtet werden, daß sich aus den Beobachtungen so häufig gerade diese Höhe von 60 km für den Unterrand der Draperie ergibt. Erinnert man sich an das, was früher über das Umbiegen der Strahlen nach einer bestimmten Annäherung an die Erde gesagt wurde, so ist ein- leuchtend, daß die eben besprochenen Strahlen, welche in 60 km Höhe voll- ständig absorbiert werden, prinzipiell zu unterscheiden sind von denen, welche bereits in größerer Höhe ihren Umkehrpunkt besitzen und die Atmo- Fig. 49. # Photographie einer mehrfachen Draperie eines Polarlichts. Phot. Störmer. sphäre wieder verlassen. Hieraus erklärt sich das verschiedene Aussehen der beiden Hauptgruppen, nämlich der Polarlichter strahliger Struktur und nicht strahliger Struktur; die letzteren, die sogenannten homogenen Bögen, welche nach Paulsens Messungen auf Island mindestens 400—500 km über der Erdoberfläche liegen, stellen solche umkehrende Strahlen dar, während die typischen Draperien bei 60 km Höhe total absorbiert werden. Die Strahlen einer Nordlichtdraperie reichen nach dem bisher Ge- sagten im allgemeinen von der Geocoroniumsphäre durch die Wasserstoff- sphäre hindurch in die Stickstoffsphäre hinein, woraus eine große Mannig- faltigkeit des Spektrums resultiert. 5* 68 A. Wegener. Im untersten Teile treten die Stickstofflinien in den Vordergrund, von denen namentlich mehrere sehr helle im violetten Teil des Spek- trums liegen; da der unterste Teil der Strahlen stets der hellste ist, so sieht man sofort, daß namentlich im photographischen Spektrum die Stick- stofflinien den Hauptbestandteil ausmachen müssen. Schon die Okularbeob- achtungen der älteren Zeit (vgl. die Tabelle weiter unten) lassen sie im sichtbaren Teil des Spektrums in voller Deutlichkeit erkennen; namentlich gehören hierher die stärkeren Linien 631, 530, 471 und 428 ve. Die letz- teren, sowie namentlich die bereits unsichtbare, aber photographisch sehr intensive Linie 391 wurden bereits von Westmann, Paulsen (der auch noch 357 und 337 erhielt) und anderen photographiert. Nachdem man die Un- genauigkeit der Okularbeobachtungen eingesehen hatte, ging man in neuerer Zeit immer mehr darauf aus, die Okularbeobachtungen gänzlich durch die Photographie des Spektrums zu ersetzen. In der Tat dürften die photo- graphischen Bestimmungen wenigstens bei den stärkeren Linien erheblich genauer sein. Es ist aber doch zu beachten, daß dies nur für die geringe Zahl derjenigen Linien gilt, die sich wirklich hinreichend kräftig in der Photographie abbilden. Auch gibt die Photographie hauptsächlich nur den violetten Teil des Spektrums. Die geringe Lichtstärke des Objekts bildet auch hier ebenso wie bei der direkten photographischen Abbildung der Polarlichter eine große Schwierigkeit, welche gegenwärtig noch keineswegs überwunden ist. Infolgedessen ist auch die vielfach zum Ausdruck kommende Geringschätzung der Okularbeobachtungen einstweilen noch gänzlich ver- früht, und eine umfassendere Untersuchung des Polarlichtspektrums muß heute noch immer im wesentlichen die Resultate dieser Okularbeob- achtungen zugrunde legen. Die größte zusammenhängende Beobachtungs- reihe hat Carlheim-Gyllenskjöld bei einer Überwinterung auf Spitzbergen geliefert. Wir geben seine Messungen, die mit zwei verschiedenen Spektro- skopen erhalten wurden, in der Tabelle auf folgender Seite wieder. Die Anzahl der Fälle, in denen eine bestimmte Linie beobachtet wurde, kann dabei als Maß) für die Intensität gelten. Die oben erwähnten Stickstofflinien sind hierin bereits sehr deutlich zu erkennen. Indessen ist ihr exakter Nachweis doch hauptsächlich erst mit Hilfe der Photographie geführt worden, da eben die markantesten Stiekstofflinien gerade im violetten und ultravioletten Teil des Spektrums liegen. Hauptsächlich den Arbeiten Paulsens ist es zu verdanken, daß die Stickstofflinien im Polarlichtspektrum als völlig einwandfrei nachgewiesen betrachtet werden können. Schwieriger gestaltet sich der Nachweis der Wasserstofflinien; da nach unseren früheren Rechnungen der Gehalt an Wasserstoff nirgends größer als etwa 60-—70°/, wird, so können auch die Wasserstofflinien nur viel schwächer vertreten sein, d. h. sie werden entsprechend seltener zur Beob- achtung kommen. Wir werden also hier etwas vorsichtiger zu Werk gehen müssen, zumal da uns die Photographie jetzt ganz im Stich läßt. Im sichtbaren Teil kommen vier Wasserstofflinien in Betracht, welche der Helligkeit nach geordnet (unter gewöhnlichen Bedingungen) bei 696 Neuere Forschungen auf dem Gebiete der atmosphärischen Physik. 69 Polarlichtspektrum nach Carlheim-Gyllenskjöld. 926 | Spektroskop I | Spektroskop II Spektroskop I Spektroskop II | | l Wellen-| Zahl der Be- || Wellen- Zahl der Be- Wellen-| Zahl der Be- Wellen- | Zahl der Be- länge | obachtungen länge | obachtungen länge | obachtungen länge obachtungen | 657 1 - | Hz 523 14 542 13 645 1 _ = 518 5 - — | | 631 11 — = 515 6 513 5 | 612 7 — — 504 2 505 b) | 604 4 ge 500 1 500 | 3 | | 594 3 595 | 1 = = 193 | 7 | 578 14 575 1 487 1 484 6 Hß | ' 566 12 — |— 480 2 N | | 557 19 558 | IcHanptlinie) || 470 1 471 |16 | | 554 3] | 464 1 464 8 | Fast! - 8% | Sam 5 — _ 458 | 3 | 548 6 | — — 485 | 3) | 545 3 ) | — _ 424 bie ı 541 Si 541 7 — .- 411 2 Hö | 538 6 J 535 9 535 9 | a l (Hz), 486 (H£), 410 (HS), 434 (Hy) liegen. Frankland und Lockyer haben indessen nachgewiesen, daß bei sehr niedrigen Drucken, wie sie für uns allein in Frage kommen, die rote Linie 656 mehr und mehr zurücktritt und die grüne 486 die hellste wird, so daß sich’ schließlich das ganze Spektrum auf diese eine Linie reduzieren kann, wie dies nach Scheiner übrigens auch bei den Sternnebeln beobachtet wird. Sehen wir von diesem Gesichtspunkt aus die angeführten Beob- achtungen durch, so finden wir diejenige der Wasserstofflinien, bei der die größte Intensität zu erwarten ist, nämlich 486, im ganzen siebenmal be- obachtet. Sie erscheint somit als relativ sicher nachgewiesen. Dagegen ist die Linie 656 auf der schwedischen Expedition nur ein einziges Mal be- obachtet worden. Die Linie 410 wurde zweimal beobachtet. Die Identifi- zierung der vierten Linie 434 stößt auf große Schwierigkeiten, einmal, weil bei ihr von vornherein keine große Intensität zu erwarten ist. so daß es fraglich erscheint, ob man ihre Anwesenheit postulieren soll, und dann, weil an dieser Stelle des Polarlichtspektrums offenbar mehrere Linien sehr dicht nebeneinander liegen, die bei der Ungenauigkeit der Messungen schlecht oder gar nicht zu trennen sind. Namentlich liegt hier eine der drei photographischen Hauptlinien, nämlich die Stickstofflinie 428. Die Wasserstofflinien können hiernach wohl auch ohne Optimismus gegenüber der Zuverlässigkeit der Beobachtungen als vorhanden gelten. Gerade der Umstand, daß diese Linien in den zu erwartenden Helligkeits- abstufungen auftreten, läßt eine Verwechslung ausgeschlossen erscheinen. Von großem Interesse ist auch die folgende Zusammenstellung von Carlheim-Gyllenskjöld, nach welcher sich der Fuß der Strahlen von den oberen Partien derselben spektroskopisch unterscheidet. 70 A.Wegener. Neuere Forschungen auf d. Gebiete d. atmosphärisch. Physik. | Zahl der Linien im Fuß der Strahlen } | Spektrum | | im Gipfel I der Strahlen Luftspektrum EI a37 38 ee 9 8 Spektrum des Stickstoffs an der Anode .. .. .. 2 4 - E 4 han Ran er | 10 14 | = = WNARSBERENIER.. «25 2 u I 3 1 Unbekamt 7 ,...2.:%.. 8 4 Il | Während also die Zahl (d.h. die Intensität) der Stickstofflinien mit wachsender Höhe abnimmt, nimmt diejenige der Wasserstofflinien zu, genau wie es nach der Theorie sein sollte. Zugleich sei darauf hingewiesen, daß auch die unbekannten Linien, zu denen namentlich die Hauptlinie 99Tup. gehört, mit der Höhe zunehmen. Die Beziehungen, welche sich für diese viel umstrittene Hauptlinie des Polarlichtspektrums ergeben, sind von ganz besonderem Interesse. Eine Reihe hervorragender Spektroskopiker, wie Huggins, Ramsay, Schuster und andere wiesen darauf hin, daß diese Linie innerhalb der Fehlergrenze mit der Hauptlinie des Kryptons zusammenfällt, und hielten sie infolgedessen für identisch damit. Diese Hypothese mußte aber aufgegeben werden, als man erkannte, daß gerade die homogenen Polarlichtbögen (ohne strahlige Struktur), die sich durch ihre große Höhe auszeichnen, nur diese eine Linie im Spektrum zeigen, ohne daß irgend welche anderen Linien hinzuträten. Durch diesen hauptsächlich aus La Cours Beobachtungen abgeleiteten Zusammenhang ist jedenfalls nachgewiesen, daß die Entstehung dieser rätsel- haften Linie gerade in den höchsten Schichten der Atmosphäre zu suchen ist; da aber das Krypton zu den schwersten Gasen in der Atmosphäre gehört, so muß der an sich schon außerordentlich geringe Betrag, den es in der Luft am Erdboden ausmacht, schon in relativ geringen Höhen ganz verschwinden. Nach einer zuerst von Scheiner ausgesprochenen und sodann von mir ausführlich durchgearbeiteten Hypothese ist die Hauptlinie des Polar- lichtspektrums auf ein unbekanntes, sehr leichtes Gas, das Geocoronium, zurückzuführen, welches in der Erdatmosphäre noch oberhalb des Wasserstoffs Platz greift und wahrscheinlich mit dem Coronium der Sonnenatmosphäre identisch ist, wie bereits in einem früheren Kapitel ausgeführt wurde. Es ist einleuchtend, daß man bei gleichzeitiger Höhenmessung und spektroskopischer Untersuchung das Polarlicht geradezu als ein von der Natur selbst im großen Stil veranstaltetes Experiment benutzen kann, um uns vollständigen Aufschluß über die Zusammensetzung der obersten Atmosphärenschichten zu verschaffen, und es ist zu hoffen, daß bald der- artige simultane Beobachtungen ausgeführt werden. Es wird dann auch möglich sein, die verschiedenen Spektra der atmosphärischen Schichten deutlicher von einander zu trennen, und vor allem auch das Spektrum des Geocoroniums mit größerer Vollständigkeit zu ermitteln, von welchem wir bisher mit Sicherheit nur eine einzige Linie anzugeben wissen. Erblichkeitsforschung. Von W. Johannsen, Kopenhagen. L Das Wesen der biologischen Erblichkeit hat man von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart meistens als einen Übertragungsvorgang aufgefaßt. Die biologischen Vererbungshypothesen haben immer und immer erklären sollen, wie „erbliche Eigenschaften“ von den Eltern beziehungs- weise Großeltern usw. auf die Kinder „übertragen“ werden können. Und dabei hat man namentlich solche Eigenschaften im Auge gehabt, welche für die betreffenden Individuen persönlich charakteristisch oder jedenfalls für die spezielle Rasse oder enger begrenzte Sippe (Familie) eigentümlich waren. Die allgemeinen Speziescharaktere dagegen interes- sierten weit weniger. Dal Menschen Menschen und Pferde Pferde erzeugen, ist wohl meistens als selbstverständlich betrachtet worden; ob, beziehungs- weise in welchem Grade, persönliche Eigenschaften aber — wie z.B. Nasenform und Augenfarbe oder etwa Schnelläufigkeit — „auf die Nach- kommen überführt werden“, solche Fragen haben immer Interesse geweckt und sind seit den ältesten Zeiten Gegenstand des Nachforschens und Nach- denkens gewesen. Schon bei Hippokrates findet sich eine Auffassung, die bei Dar- win kaum weiter entwickelt ist: „der Samen geht von dem gesamten Körper aus, gesunder von gesunden Teilen, krankhafter von krankhaften Teilen. Wenn nun von Kahlköpfigen Kahlköpfige, von Blauäugigen Blau- äugige, von Schielenden Schielende in der Regel erzeugt werden ..... was hindert da, daß von Langköpfigen Langköpfige gezeugt werden?“ Die per- sönlichen Eigenschaften werden die Beschaffenheit des „Samens“ (weib- lichen sowie männlichen) beeinflussen und solcherart die Beschaffenheit der Kinder mitbestimmen; dies ist die herkömmliche, uralte Auffassung des Vererbungsvorganges. Die persönliche Beschaffenheit des Individuums wird demnach die Hauptsache sein; man drückt den Nachkommen sein persönliches Ge- präge auf. Völlig gelingt dies aber nicht; man hat offenbar verschieden große „Vererbungskraft“, die den „Grad der Erblichkeit“ mitbestimmt. Man spricht auch hier von größerer oder kleinerer „Individualpotenz“ als 72 W.Johannsen. besondere Eigenschaft eines Zeugers — wie viel ist nicht über Indivi- dualpotenz in der Pferdezucht geschrieben —, und man hat wohl auch von Variabilität als einer der Erblichkeit entgegenwirkenden „Kraft“ oder „Fä- higkeit“ der Lebewesen geredet. Indem man nun auch bemerken mußte, daß eine Eigenschaft des Vaters oder der Mutter sich manchmal gar nicht bei den Kindern zeigte, dafür aber bei Enkeln auftreten konnte, wurden die Erblichkeitserschei- nungen noch mehr verwickelt. Man sprach in solchen Fällen von „latenter“ Erblichkeit oder „schlummernden Anlagen“, beziehungsweise von „Atavismus“ oder „Rückschlag“ auf weiter entfernte Vorfahren. Eine ganze Reihe von Kräften oder Naturwirksamkeiten scheinen bei den launischen Übertragungserscheinungen erblicher persönlicher Eigenschaften tätig zu sein. In diesem Wirrwarr waren die Ursachen bei dem einzelnen Fall der Erblichkeit nicht zu klären und ein Überblick der Umstände, unter denen größere oder geringere Ähnlichkeit zwischen Eltern und Nach- kommen zu erwarten war, war nicht zu erhalten. Die Erblichkeitsfor- schung mußte als Statistik betrieben werden, um überhaupt aus einer rein empirischen Kasuistik sich heben zu können. Der Begründer der wissenschaftlichen Erblichkeitsstatistik, Francis Galton, sagt denn auch, daß die wissenschaftliche Erblichkeitsforschung sich mit Geschwisterreihen und größeren Populationen zu ‚beschäftigen hat und diese als Einheiten behandeln muß, daß dagegen die individuellen Fälle wenig berücksichtigt werden können. Die Auffassung der Erblichkeit als Übertragung der per- sönlichen Eigenschaften auf die Nachkommen mußte zur Statistik führen und dadurch auch zu statistischen Definitionen des biologischen Erb- lichkeitsbegriffs. Erblichkeit wird als der Grad von Ähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern aufgefaßt oder, präziser ausgedrückt, als Korrelation zwischen der elterlichen persönlichen Beschaffenheit und der persönlichen Beschaffenheit der Kinder. Und in erweitertem Sinne bedeutet Erblichkeit die Korrelation zwischen dem Grade der Verwandtschaft und dem Grade der Ähnlichkeit gegebener Organismen. Die statistische Erblichkeitsforschung, von Galton eingeleitet und von Karl Pearson und seiner sogenannten „biometrischen“ Schule weitergeführt, hat vielfach höchst interessante Resultate gezeitigt. Nebst der Entwicklung verbesserter mathematischer Methoden für das Studium der Variations- erscheinungen hat die biometrische Schule namentlich auch die „Eugenic“- Bewegung in England hervorgerufen, eine Bewegung für Rassenverbesserung in den menschlichen Populationen, deren Bedeutung noch nicht beurteilt werden kann. Die Eugenicbewegung, welche über nicht geringe Mittel ver- fügt, sucht zunächst die Erblichkeitsverhältnisse der extremen Elemente der Bevölkerung klarzulegen und wird im Laufe einiger Jahre oder Jahr- zehnte unzweifelhaft über ein Material verfügen, das für soziologische Fragen hoffentlich wertvoll sein wird. Wir werden sehen, daß die statistische Forschungsweise für ein biologisches Verständnis der Erblichkeitserscheinungen ganz ungenügend Erblichkeitsforschung. 73 ist, und so mag es immerhin auch scheinen, dal die Eugenicbewegung besser täte, nicht allzu einseitig statistisch vorzugehen. Die Berechtigung dieser Aussprache wird aus dem folgenden hervorgehen. Zunächst muß daran erinnert werden, daß die Entwicklung der älteren Naturgeschichte in der Betrachtung der persönlichen Eigen- schaften der in der Natur vorgefundenen beziehungsweise gesammelten Individuen fußt. Man ordnet, beschreibt und „bestimmt“ die eingeheimsten Käfer, Schmetterlinge, Pilze oder höhere Pflanzen nach Spezies und Gattung oder gar nach Subspezies und Varietät usw. Dabei ist es zum großen Teile Konvenienzsache geblieben, was zu einer „Spezies“ gerechnet werden darf oder soll. Wir brauchen darauf nicht einzugehen. Aber die Geschichte der beschreibenden Naturstudien zeigt uns, dal) recht oft per- sönlich stark abweichende Organismen, welche zu zwei ganz verschiedenen Spezies gerechnet worden sind, dennoch als systematisch identisch anzu- Fig. 50. 30/ | AR) RAN 008 | \ \ Hyalodaphnia ceucullata. Saison-Variationen in einem dänischen See (Furesö); die Form sowie die Länge des Kopfes sind nach der Jahreszeit höchst verschieden. Die oberen Zahlen geben das Datum an, die untere Zahlenreihe bezeichnet die Wassertemperatur. (Nach Wesenberg-Lund.) r u 1 27 [e} | -1 [57 Di v - VD rt vo Do) bh fer) hd (er) jr IV er bie) er [>) vn jr 1% Zn He m or sehen sind. Wir gedenken z. B. nur der wirtwechselnden Rostpilze: daß gewisse Aecidium-,„Spezies“ mit gewissen Uredo- und Puccinia-,Spezies“ eine zusammenhängende Formserie ausmachen, ließ sich nicht aus den unmittelbar erkennbaren Eigenschaften dieser Formen voraussagen. Aus der Zoologie können wir ebenfalls viele Beispiele anführen. Betrachten wir die modernen limnologischen Planktonuntersuchun- gen, wie sie z.B. durch Wesenberg-Lunds interessante Arbeiten uns vorliegen. Hier finden wir, daß die Daphnien (Kleinkrebse) der Seen recht verschieden aussehen, je nachdem die Wassertemperatur höher oder niedriger ist. Die beistehende Fig. 50 illustriert das in sehr deutlicher Weise. Der „Typus“ der Daphnien ist innerhalb eines einzigen Sees nach der Temperatur variabel. Vergleicht man nun verschiedene Seen, so erhält man im Sommer den Eindruck, als ob recht verschiedene lokale „Rassen“ existierten; im Winter aber finden sich keine solchen Rassenunterschiede (vgl. Fig. 51). Von dem rein deskriptiven Standpunkt des hervorragenden 74 W. Johannsen. Kenners dieser Erscheinungen ist es naheliegend, diese Tatsache so aus- zudrücken: Die verschiedenen „Sommerrassen“ fallen im Winter zur selben gemeinsamen Rasse zurück. Von diesem Standpunkt aus ist eben die „Rasse“ nur der Inbegriff aller Individuen, welche nach ihrer äußeren Er- scheinung zwanglos demselben „Typus“ zugeordnet werden können. Fig. 51. IK 0900 Daphnia hyalina. Obere Reihe: Sommerformen von verschiedenen dänischen Seen. Untere Reihe: Winterformen von denselben Seen; die Winterformen haben ungefähr gleichen Typus. (Nach Wesenberg-Lund.) Die „Rasse“ ist hier ganz ausschließlich auf die rein äußere Er- scheinungsform gegründet, wie es ja auch im Anfang der naturgeschicht- lichen Forschung stets der Fall war; erst eingehendere Untersuchungen können die „wahren“ Typenunterschiede näher präzisieren. Das Wort „Typus“ gehört nun wohl zu den am meisten mißbrauchten Wörtern, und ganz besonders hat dieses Wort in der Biologie vielfach verschiedene Anwendung gefunden. Die Organismen, wie sie in der Natur auftreten oder wie sie sich in Züchtungsexperimenten manifestieren, lassen Erblichkeitsforschung. 75 sich fast immer leicht nach irgend einer Übereinstimmung ihrer äußeren Erscheinung einteilen, so daß man Gruppen ähnlicher Organismen erhält. Jede solche Gruppe hat in bezug auf die in Frage kommenden Eigen- schaften, die bei den betreffenden Individuen höchstens graduell ver- schieden sind, eine charakteristische durchschnittliche Beschaffenheit, die man eben als das „Typische“ oder den „Typus“ der Gruppe bezeichnet hat. Ganz präzis kann man einen solchen Typus als Erscheinungs- typus oder Phänotypus bezeichnen. Diese Bezeichnung präjudiziert gar nichts, indem sie ausdrücklich den rein deskriptiven Sinn des Begriffs „typische Erscheinung“ hervorhebt. Der Phänotypus ist der beobachtete Typus der Erscheinung, weiter nichts. Während das Wort „Typus“ sonst einen sozusagen tieferen Sinn haben könnte, betont das Wort Phäno- typus in schärfster Weise, daß nur von rein äußeren Erscheinungen die Rede ist. Das aber ist, wie wir sehen werden, ein sehr großer Vorteil für die weitere Diskussion über Erblichkeit. Zunächst benutzen wir das Wort Phänotypus für die in Fig. 50 und 51 dargestellten Fälle. Fig.50 zeigt, daß der Phänotypus der betreffenden Daphnien im Sommer und Winter verschieden ist; Fig. 51 zeigt Phänotypenunter- schiede bei den Daphnien verschiedener Seen im Sommer, zugleich aber, daß kein deutlicher Phänotypenunterschied im Winter zu erkennen ist. Wir können nun sagen, daß) die Naturgeschichte ganz wesentlich mit Phänotypen gearbeitet hat. Und dasselbe gilt für die Erblichkeitsforschung früherer Zeit. Es wird zweckmäßig sein, die Hauptergebnisse dieser Forschung kurz darzustellen, wie sie sich im Lichte der Galtonschen Statistik präsentieren. Die Darwinsche Lehre von der Selektion war auf die praktischen Erfahrungen der Züchter gegründet. Bekanntlich besagt sie — wir be- rücksichtigen hier nur die Erblichkeitsfrage —, daß die größere oder kleinere Abweichung vom „Typus“ der Spezies oder Rasse (wir können hier gleich „Phänotypus“ sagen), welche ein Individuum zeigt, meistens auch bei den Nachkommen des Individuums vorgefunden werden kann, wenn auch häufig in abgeschwächtem Grade. Und demgemäß kann mittelst einer durch mehrere Generationen fortgesetzten Auslese (Selektion) der in bestimmter Richtung vom „Typus“ abweichenden Individuen eine Ände- rung dieses Typus, d. h. eine neue Rasse erhalten werden. Durch Selektion läßt sich der „Typus“ in die Selektionsrichtung verschieben — das ist die fundamentale Auffassung in der Darwinschen Lehre, was die Erb- lichkeit betrifft. Es ist deshalb vollständig richtig, wenn Pearson sich folgendermaßen ausspricht: Ist der Darwinismus eine wahre Anschauung, d.h. sollen wir die Evolution mittelst natürlicher Auslese in Verbindung mit Erblichkeit beschreiben, so ist dasjenige Gesetz, das klar und bestimmt die typische Beschaffenheit der Nachkommen als Funktion der Beschaffenheit der Vor- fahren ausdrückt, ein Grundstein der Biologie und zugleich die Basis, auf der die Erblichkeitslehre eine exakte Disziplin wird. 76 W.Johannsen. Der Forscher aber, welcher das gesuchte Gesetz gefunden haben sollte, war Franeis Galton, ein Vetter Darwins. Galton betrachtet die ein- zelnen „Eigenschaften“ jede für sich, und hat besonders mit solchen Eigenschaften gearbeitet, die Gradesunterschiede bei verschiedenen Indi- viduen zeigen, also z. B. Dimensionen und anderen zahlenmäßig auszu- drückenden Charakteren. Hier trifft man die anscheinend am leichtesten zugänglichen Erblichkeitsfragen : sind die Intensitätsunterschiede in bezug auf irgend einer solchen Eigenschaft erblich? Galton (mit Quetelet u.a. als Vorgänger) lehrte die Biologen, die vorhandenen Populationen (Bestände) statistisch zu behandeln. Für die einzelne in Betracht gezogene Eigenschaft hat eine gegebene Population, falls sie überhaupt einheitlich behandelt werden kann, ein typisch-charak- teristisches Maß, die „Mediane“ Galtons, wofür wir aber jetzt den Mit- telwert aller Messungen setzen. Und die Individuen lassen sich nun meistens ziemlich symmetrisch um den Mittelwert gruppieren, derart, daß die meisten Individuen nahe dem Mittelwert stehen; je weiter vom Mittel, desto sparsamer wird die Repräsentation. Als Beispiel sei nach @uetelet der Brustumfang von 1516 Soldaten hier angeführt. Die Messungsresultate sind in Klassen mit dem Spielraum von einem Zoll geordnet, und zwar so, daß Werte von z.B. 275—285 Zoll als 28 bezeichnet wurden. Es wurde gefunden: Brustumfang in Zoll: 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 Anzahl Soldaten: 2 4 17 55 102 180 242 310 251 181 103 42 19 6 2 Hieraus der Mittelwert M=34°99 Zoll, und, als Maß der Variabilität, die Standard- abweichung s=-+ 212 Zoll. Galton führte auch eine rationelle Messung der Variabilität ein. Für diesen Zweck benutzte er die Grenzen zu beiden Seiten des Mittel- wertes, welche die beiden extremen Viertel abschneiden, und welche somit die mittlere Hälfte aller Individuen umfassen. Wir brauchen darauf nicht einzugehen. Jetzt benutzt man als Maß der Variabilität die Standard- abweichung, auch wohl „Streuung“ genannt, die als „Wurzel der mitt- leren quadratischen Abweichung vom Mittelwert“ definiert werden kann. Auch diese Bestimmung können wir hier umgehen; für nähere Studien sind die betreffenden Berechnungen aber unumgänglich. Hier sei nur her- vorgehoben, daß die als Maß der Variabilität von vielen Biologen noch immer recht allgemein benutzte sogenannte „Variationsweite“ (die Dif- ferenz zwischen dem höchsten und niedrigsten Maß der untersuchten In- dividuen, also der Spielraum, innerhalb welchem die sämtlichen Varianten sich finden) ganz wertlos ist. Die Variationsweite ist nämlich in hohem Grade vom Zufall abhängig und besonders auch von der Anzahl der unter- suchten Individuen, während die Standardabweichung — ebensowenig wie Galtons Variationsmal — diese Mängel nicht hat. Die ganze Verteilungsart in einer solchen symmetrischen Variations- reihe läßt sich am einfachsten durch ein Diagramm wie die nebenstehende Erblichkeitsforschung. eg! Fig. 52 illustrieren: in der Mitte hat man die Individuen, welche dem Mit- telwerte aller Messungen nahe kommen; nach links die „Minusabweicher“, die seltener und seltener werden, je größer die Abweichung wird, und nach rechts in entsprechender Weise die „Plusabweicher“. Die Fig. 53° stellt die ideale N „theoretische“ Variationskurve dar, N \ die sogenannte Binomialkurve, die | das Vorbild der symmetrischen Va- | riantenverteilung zu beiden Seiten | | | | des Mittelwertes abgibt, und dessen | | | | Zahlenverteilung ein wichtiger Aus- | gangspunkt für die mathematische Behandlung der Variabilität der | Organismen gewesen ist. Man sieht, | Li daß die Verteilungsart in Fig. 52 ® Ba = einigermaßen gut der theoretischen Eine Serievon Bohnen, nach Längenmaß in Klassen Kurve entspricht; und das oben ge- mit einem Spielraum von 0-5 mm geordnet und in 5 . \ umgestülpten Reagensgläschen montiert. Links die gebene Zahlenmaterial dürfte sehr kürzesten, rechts die längsten Bohnen. Halb- gut mit der Kurve harmonieren. Aarch die nach rechts runehmende Größe der Anke drese- syimmetrische und / Bet ie Koieierhr sin dene der Sara sonst auch der binomialen Kurve entsprechende Verteilung der Varianten um ihren Mittelwert hat man viel Gewicht gelegt. DieseVerteilungsart hat gewissermaßen als Ausdruck da- für gegolten, daß die betreffende Population einheitlicher Natur sei, einem Br Re SEN, ONE Fig. 53. — 30 —20 —o [A +0 +20 +30 Normale Binomialkurve oder „ideale“ Variationskurve. Auf der Grundlinie sind die Abwei- chungen vom Mittel markiert. 0 = Mittelwerte, o=die Standard-Abweichung. einzigen „Typus“ zugehörend. Wenn man Abweichungen von dieser normalen Verteilung fand, glaubte man sich berechtigt, oft recht weitgehende Schlüsse zu ziehen. Bedeutende Schiefheit in der Verteilung hat man häufig durch die Annahme zweier „Typen“ in ungleich starker Repräsentation 78 W.Johannsen. erklären wollen — und das mag in vielen Fällen auch richtig sein. Auch die besonders häufig bei Pflanzenmaterial vorkommende Erscheinung, daß die Variantenverteilung, wenn auch ziemlich symmetrisch, so doch über- mäßig „hochgipfelig“ ist (vgl. Fig. 54), hat man als Zeichen einer Hetero- genität im Material auffassen wollen. Und wo gar zwei- oder mehrgipfelige Verteilung vorkommt, war es ja ganz deutlich, daß mehr wie ein „Typus“ Fig. 54. Hochgipfelige Verteilung der Varianten, mit der normalen Binomialkurve verglichen. Nach Ludwigs Zählungen der Randblüten von Chrysanthemum segetum. Die Zahlen geben die Varianten (Anzahl von Randblüten) an (13°18 ist der Mittelwert); die Höhen der Senkrechten entsprechen der Anzahl der betreffenden Individuen. Die ganze Verteilungsart, illustriert durch die punktierte Linie, welche die „gefundene Kurve“ darstellt, weicht recht we- sentlich von der normalen Kurve ab. Die Normalkurve referiert sich selbstverständlich hier auf den gefundenen Mittelwert und die gefundene Standard-Abweichung. im Material stecken mußte (Fig. 55). Berühmt als Beispiel einer solchen zweigipfeligen Verteilung sind die von Bateson untersuchten Ohrwürmer der Farneinseln. Die männlichen Individuen zeigen hier zwei Typen von Scherenlänge, wie es die folgende Tabelle illustriert: Scherenlänge in Millimeter: 3 35 4 45 5 55 6 65 7 75 8 85 9 Anzahl der Individuen: 64 125 52 7 12 4 4242 90 684 8 6 Dem einen „Typus“ entspricht eine Scherenlänge von etwa 39 mm, dem anderen eine solche von etwa 7 mm Länge. Erblichkeitsforschung. 19 Durch das messende Vorgehen beim Studium der Variabilität erhielt der Begriff „Typus“ außer seiner älteren naturhistorischen qualitativ- deskriptiven Bedeutung nunmehr eine statistische Bedeutung als ein Zentrum, um welches sich die Variationen der in Frage kommenden In- dividuen gruppieren. Solche Zentren oder Kerne der Variation sind als das eigentlich feste oder jedenfalls charakteristische, eben „typische“ Maß der betreffenden Bestände aufgefaßt. Die persönlichen Eigenschaften werden demnach durch ihre Ab- weichung vom „Typus“ charakterisiert; und wir verstehen jetzt die Definition der Erblichkeit, wie ein früherer eifriger Anhänger der biome- trischen Schule sie geben konnte, als Korrelation zwischen „Abweichung“ der Eltern und „Abweichung“ der Kinder. Es war diese Definition, in der wir oben statt „Abweichung“ die „persönliche Eigenschaft“ einsetzten. Fig.55. | | 0 P7 70 75 20 25 30 3 40 45 P7/ 35 co 65 70 Zweigipfelige Kurve eines Gerstenbestandes, welcher mit Schartigkeit (fehlendem Korn- ansatz) in den Ähren befallen ist. Die Zahlen geben die — mit einem Spielraum von 5 geordneten — Schartigkeitsprozentklassen an; die Rechtecke entsprechen der Anzahl In- dividuen jeder Klasse (wie im Diagramm Fig. 52). Für beide Gipfelbezirke ist eine Nor- malkurve zum Vergleich eingezeichnet. Der Mittelwert des ersten Bezirks ist etwa 10°/,. des zweiten etwa 38°/,. Und nun wird es leicht, das Hauptresultat von Galtons Untersuchun- gen in seiner prinzipiellen Bedeutung zu fassen. Von der landläufigen Über- zeugung ausgehend, daß die persönlichen Eigenschaften erblich seien, suchte Galton den Grad der Erblichkeit zahlenmäßig festzustellen, indem er die „Abweichung“ der Kinder als Funktion der „Abweichung“ der Eltern bestimmen wollte. Es genügt, die Untersuchung der Körperlänge bei seinem englischen Material anzuführen. Dieses bestand aus 204 Eltern- paaren und deren 928 erwachsenen Kindern. Die Schwierigkeiten und Fehlerquellen der Untersuchung brauchen hier nicht beleuchtet zu werden, mit Ausnahme der Tatsache, daß die Frauenhöhen nicht direkt mit Männer- höhen verglichen werden können. @Galton hatte schon früher gefunden, daß die durchschnittliche Höhe (Körperlänge) der Männer 1'08mal größer als die durchschnittliche Höhe der Frauen ist; und darum multipliziert er alle Frauenhöhen mit 1'08, um sie auf Männerhöhe zu reduzieren. Die in Rechnung zu führende mittlere Körperlänge eines Ehepaares ist demnach, 80 W.Johannsen. wenn wir mit © die Höhe der Frau und mit & die Höhe des Mannes bezeichnen, (9.1085 +0G):2. Dieses Maß ist das betreffende „Elternmittel“. Galton ging ferner davon aus, daß Mann und Weib im ganzen einen gleich großen Einfluß auf die erblich bestimmte Beschaffenheit des Kindes haben (was richtig ist), und war auch davon überzeugt, daß die Körper- länge eine Eigenschaft ist, welche, insoweit Erblichkeit im Spiel ist, in allen Graden intermediär zwischen den gegebenen Extremen realisierbar ist, etwa wie alle Temperaturen zwischen 0° und 100° durch Mischen von kaltem und warmem Wasser realisierbar sind. Diese letztere Voraussetzung kann nun nicht ohne weiteres angenommen werden; es stört das aber die unmittelbaren Resultate Galtons gar nicht. Die einfachste Übersicht dieser Resultate gibt die folgende Tabelle, in welcher das Gesamtmaterial sowohl nach Elternmitteln als nach Kin- dern geordnet ist. In Galtons Originalmitteilung ist das Material nach beiden Richtungen in Klassen mit nur einem Zoll als Spielraum einge- teilt; hier ist die Tabelle mit Benutzung von 2 Zoll als Spielraum zusam- mengezogen. Aus technischen Gründen, die wir nicht zu erwähnen brauchen, wurden die Kinder etwas anders eingeteilt als die Elternmittel. Die Klassen- grenzen sind für diese 63°, 65“, 67° usw; mit 64, 66 usw. als Klassen- werte, während für die Kinder die Grenzen 597“, 61:7“, 637“ usw. sind mit 607°, 627“ usw. als Werte der Klassen. Die Tabelle sieht so aus: Körperlänge | Körperlänge der Kinder | | Mittlere Körper- der | Summe | länge der Elternmittel | 607" 697" | 647" 66:7“ 68-7" 707" | 797" 747° | Kindergruppen 64" | 2 TR I LO a LE 37 6529” 66“ 1 15 19 56 41 al 1 ı 144 66:89“ | 68" 1 19 56 | 130 | 148 | 69 al \ 430 Ga 70" 1 2 21 48 83 | 66 22 8 17251 68:97% Ze | 1 wen abejreilz 20 6317262 70:83“ TE" | | 4 | 4 (72:70*) Summe .. | 5 39 | 107 | 255 | 287 | 163 | 58 | 14 || 928 || Aus dieser Tabelle berechnet, wird der Mittelwert der Eltern 68'536“ und der Mittelwert der Kinder 68'09°. Ein Blick auf die äußerste linke und die äußerste rechte Seite der Tabelle zeigt sofort, daß mit steigender elterlicher Körperlänge — von 64” bis auf 72“ (die Repräsentation für 74“ ist zu gering, um speziell betrachtet zu werden) — eine Steigerung der mittleren Körperlänge der entsprechenden Kindergruppe parallel geht, und zwar von 65°29* bis auf 70:83. Schon die allergröbste Behandlung der Tabelle zeigt aber sogleich, daß die Steigerung der Kinderlängen nicht mit der Steigerung der Eltern- längen Schritt hält. Der Steigerung von 64“ bis auf 72“, also 8“, ent- spricht nur eine Steigerung bei den Kindern von 6529" bis auf 7083“, also 5°54“, welches rund zwei Drittel der elterlichen Steigerung aus- macht. Erblichkeitsforschung. 81 jei feinerer Behandlung des gegebenen Materials wird man fin- den, daß Elternmittel, welche vom Mittelwert der Elterngeneration ab- wichen, Kinder erhielten, die ihrerseits, durchschnittlich betrachtet, vom Mittelwert der Kindergeneration in gleicher Richtung wie ihre Eltern abwichen, jedoch in geringerem Grade, nämlich durchgehends nur 063 des Betrages der elterlichen Abweichung. Demnach „erben“ die Kinder etwa 063 der „persönlichen Beschaf- fenheit“ (Abweichung vom Typus) ihrer Elternmittel. Der Rest (0:37 der Abweichung) verliert sich bei den Kindern; d.h. die Kinder nähern sich dem „Typus“ mit dem Betrage von 0'537 der Abweichung des Eltern- mittels. Diese Näherung bezeichnet man als „Rückschlag“ zum Typus (der Rasse). Und der ganze Betrag der elterlichen Abweichung verteilt sich dem- gemäß) durchschnittlich solcherart: Erbe 063: Rückschlag 037. Galton suchte nun ferner den Rückschlag als Einfluß der früheren Generationen aufzufassen; und in rein statistischer Weise haben er und seine Nachfolger versucht, den durchschnittlichen Einfluß jeder Vorfahrengene- ration näher zu präzisieren. Darauf brauchen wir aber gar nicht einzu- gehen. Wichtiger war es, daß Galton selbst auch experimentell arbeitete, und zwar mit Samen der wohlriechenden Platterbse, Lathyrus odoratus.. Für die Erblichkeit der Samengröße fand er das Verhältnis 031 als „Erbe“ und also 0:69 als „Rückschlag“. Diese Zahlen sind andere als die für Menschen gefundenen Werte; aber sie bestätigen die Lehre vom Rückschlag und Erbe im allgemeinen und gaben der Auffassung weitere Stützen, daß die persönlichen Eigenschaften das eigentlich „Erbliche“ sind. Galtons „hRückschlagsgesetz“ (oder „Regressionsgesetz“, wie es auch genannt worden ist, indem es ja die Regression — hier in bezug auf Ähnlichkeit — der Kinder auf die Eltern präzisiert) hat man nun, beson- ders von seiten der englischen biometrischen Schule, als das Fundamental- gesetz der Erblichkeit angesehen, und es mußte als feste Stütze der Darwinschen Selektionslehre gelten, wie auch als experimentelle Grund- lage der Auffassung, daß die Evolution kontinuierlich, durch ganz gleich- mäßige Übergänge ohne sprungweise Änderungen vonstatten gehen kann. Die Auffassung der persönlichen Beschaffenheit als das „Erbliche“ hängt unlösbar mit der Auffassung einer kontinuierlichen Evolution: zusammen; und das dritte Moment in diesem Bunde ist die Lehre der Erb- lichkeit erworbener Eigenschaften, d.h. die Auffassung, daß die während der persönlichen Entwicklung von den Faktoren der Umgebung hervorgerufenen Eigentümlichkeiten erblich sind. Diese Auffassung ist als ganz selbstverständlich anzunehmen, sobald es feststeht, daß die persön- liche Beschaffenheit an sich das „Erbliche“ ist. \ Die Frage der Gültigkeit des Galtonschen Gesetzes hat deshalb unzweifelhaft eine grundlegende Bedeutung für das weitere Studium der biologischen Hauptprobleme. Es muß darum merkwürdig erscheinen, daß’ 14 Jahre vergingen, bevor eine nähere experimentelle Prüfung der Galton- schen Angaben ins Werk gesetzt wurde. Teilweise ist dies wohl dadurch‘ E. Abderhalden, Fortschritte. III. 6 82 W.Johannsen. bedingt, daß Biologen meistens eine gewisse Scheu vor Zahlen und Mathe- matik haben. In der festen Überzeugung, daß Galtons Gesetze Ausdrücke biolo- eischer Fundamentalverhältnisse seien, fing ich vor etwa 12 Jahren an, Experimente mit Bohnen, Gerste, Erbsen u. a. zu unternehmen, nicht nur um die speziellen Werte für „Erbe“ und „Rückschlag“ bei diesen Ob- jekten zu bestimmen, sondern auch um neue Beispiele zur Illustration der Galtonschen Gesetze zu gewinnen; denn Galtons für Lathyrus mitgeteiltes Zahlenmaterial war gar nicht so gleichmäßig, wie es zu wünschen war. Zunächst fand ich eine ganz gute Bestätigung der Galtonschen Angaben. Es genügt ein einziges Beispiel anzuführen, nämlich die Erblichkeit des Samengewichtes brauner „Prinzeßbohnen“ ; eine Bohnensorte, die ganz wie die von Galton benutzten Platterbsen Selbstbefruchter sind. Nach Aussaat von verschieden schweren Samen des Jahrgangs 1901 wurden 1902 Nachkommengruppen geerntet, deren Samengewichte aus der folgenden Tabelle — ein Seitenstück zu der Galtonschen Tabelle S. 80 — hervor- gehen. Erblichkeit des Samengewichts in einer Bohnenpopulation. Gewicht der Tochterbohnen in Milligramm | © Gewicht der br Te RE ER | = Mittleres Gewicht Mutterbohnen Te er (| 5 der Töchtergruppen 10| 20 30 40 50 60 | 70|80\90| a | - | al f 20 mg —| 41 161 Sol e3| 27) 180], asrang 30 1115| 5| 322| 310| a1) 2|—-|-| 835| 4447 , 40 „ 5/17|1175| 776| 956 1282| 24 | 3 | — 112238 || 46:17, 50% —| 4| 57! 305| 521 \ı196| 5ı | al —||1138| 4894 „ 60 5 —| ı/ 23| 1380| 230 |168| 46 |11|—|| 6009| 5187 , 70 5 —|-| _5| 531 175 |180| 64 |15| 2| | 5608, ! Summe . .|| 5138 |370 | 1676 |2255 |928 | 187 |33 | 25494 | Auch hier ist eine deutliche Erblichkeit zu konstatieren: Vergleicht man die beiden äußersten Kolonnen der Tabelle, so sieht man sofort, daß die Steigerung des Gewichts der Mutterbohnen stets mit einer Steigerung des Gewichts der Tochterbohnen verbunden ist, und zwar entspricht der Steigerung von 20—70, also 50 mg, bei den Mutterbohnen, eine Steige- rung bei den Tochterbohnen von 43°78—56°03, also 1225 mg. Daraus er- hält man 12'25:50 = rund '/, als Erblichkeitsziffer. Eine genauere Behand- lung der Zahlen ergibt 0'27 als Erbe (Regression) und demnach 073 als kückschlag. Das stimmt ziemlich gut mit Galtons Angaben für Lathyrus (031 beziehungsweise 0'69), und indem auch andere Objekte Resultate ergaben, die sich zwanglos den angeführten Daten anreihen, könnte man glauben, Galtons Gesetz sei ein wirklich fundamentales biologisches Gesetz. Dem ist aber gar nicht so! Galtons Gesetz ist nur ein Ausdruck dafür, daß die betreffenden Populationen nicht wirklich einheitlich waren. Denn, wenn man mit einheitlichem Material arbeitet, zeigt sich kein solches Gesetz. Durch das Studium der Arbeiten des berühmten französischen Erblichkeitsforschung. 83 Pflanzenzüchters Louis de Vilmorin beeinflußt — in welchen Arbeiten die Lehre von der Individualpotenz auf pflanzlichem Gebiet angewendet wurde — hielt ich in meinen Experimenten die Samen jeder einzelnen Pflanze getrennt für sich und wurde damit zur Arbeit mit „reinen Linien“ geführt. Die Nachkommen eines einzigen selbstbefruchteten Indi- viduums, das nicht selbst Bastardnatur hat, habe ich eine „reine Linie“ genannt. Dabei ist es Voraussetzung, daß die Nachkommen auch fortan sich selbst befruchten — sonst hört die Linie auf rein zu sein. Bei sicher selbstbestäubenden Pflanzenspezies beziehungsweise -Rassen ist es ein leichtes, reine Linien zu erhalten; jedes Individuum, für sich vermehrt, bildet den Ausgangspunkt einer reinen Linie. Und man kann sagen, daß eine Population von Selbstbefruchtern (insofern sie nicht Bastardnatur haben) eigentlich aus lauter reinen Linien besteht, deren Individuen wohl miteinander vermengt sein können, jedoch nicht mitein- ander in Verbindung treten oder sich gegenseitig „verunreinen“. So ist es eben mit der hier erwähnten Bohnenpopulation: sie besteht aus sehr vielen reinen Linien. Unter diesen mögen eine große Anzahl ganz iden- tische Beschaffenheit haben, andere aber zeigen größere oder kleinere Unterschiede. Es wurden nun aus der Bohnenpopulation gleich von Anfang eine größere Anzahl reiner Linien gebildet. Einige hatten großes Samengewicht, andere kleines; wieder andere waren mittelgroß usw. — um gar nicht von charakteristischen Formverschiedenheiten oder Dimensionen (schmal, breit, lang, kurz usw.) zu reden. Innerhalb dieser reinen Linien zeigt sich nun eine Variabilität, die nur wenig der Variabilität der Gesamtpopulation nachsteht. Somit war es sehr leicht, mit den reinen Linien ganz dieselben Erblichkeitsuntersuchungen vorzunehmen, wie sie mit den Populationen unternommen worden waren. Die Resultate einer stattlichen Reihe solcher Untersuchungen waren nun sehr schlagend. Es genügt, ein einziges Beispiel anzuführen; alle Ver- suche ergaben im Prinzip das gleiche. Aus einer reinen Linie der schon erwähnten Bohnen wurden im Jahre 1903 Sortimente verschieden schwerer Samen ausgesäet, ganz dem in der obigen Tabelle erläuterten Versuche ent- sprechend. Das Ernteresultat ist aus der folgenden Tabelle ersichtlich. Erblichkeit des Samengewichts in einer reinen Linie. = en | Gewicht der Tochterbohnen in Milligramm | = | ewicht der | Mittleres Gewicht Mutterbohnen | 10 | 90 30 | 0 50 | 60 70 | e0| 90 | & der Töchtergruppen | | 15 vr 30 mg | —|ı 1| — 2 7 15| 19 | 71 — | 51 6353; mg + 156, 40 „ —| 5| 8| 41 | 145 | 357 202| 9| — | 76719934 „ 034 | 50 „ | 1| 4| 25 | 126 | 461 [1150| 565 | 59| 312394 15951 „ £019| 60 , — 617278227329 820| 367 | 18 | — 163315914 „ + 023 hc 10% —I/—-|I 1| 8| 11] 7 39| 3I—|| 134||61:12 „ +080| | Summe. „|| ılı0| 51| 2509| 953 Ieu1alııgal ge | 34979 | 59-45 mg + 013 | ar Pe (> 9 6* s4 W. Johannsen. Ein Blick auf die beiden extremen Seiten der Tabellen zeigt sofort, daß der Steigerung des Mutterbohnengewichts hier keine Steigerung des Gewichts der Tochterbohnen entspricht! Die Unregelmäßigkeiten der rechten Kolonne sind als Zufälligkeiten zu betrachten, wie die den Mittelwerten beigefügten Angaben ihres „mittleren Fehlers“ zeigen. Genauer behandelt ergibt sich aus dieser Tabelle die Zahl O (eigentlich —- 0'013) als „Erbe* und demnach 100 als „Rückschlag“. In Worten gesagt: In der reinen Linie ist keine Erblichkeit der persönlichen Beschaffenheit gefunden: sondern alle Nachkommengruppen gehörten in gleichem Grade dem Typus der Linie an! Für Leser, die mit statistischen Methoden vertraut sind, seien hier einige Bemerkungen über die drei als Beispiele gegebenen Tabellen an- geknüpft. Diese Tabellen sind als Korrelationstabellen geordnet: die Erblich- keit tritt hier als Korrelation zwischen der persönlichen Beschaffenheit der Eltern und deren Nachkommen hervor. Mit Berechnung nach Bravais, wie sie Yule in klarster Weise organisiert hat, findet man für den Korre- lationskoeffizienten (r) und für die daraus abgeleitete Regression (R) der Kinder auf die Eltern folgende Werte: . 80 B) ‚r= +0449; R= +06 ‚r=+0336: R=-+ 0270 \r= 0011 7 Re -903 in Galtons Population in der Bohnenpopulation in der reinen Linie . N nm mnamn ws I* 8D Während also die Populationen ganz sichergestellte Korrelation und Regression zeigten, ist nichts davon in der reinen Linie zu spüren; die kleinen negativen Werte sind offenbar nichts als Ausdrücke der Variabilität im Material (der mittlere Fehler des Korrelationskoeffizienten. » = —0'011l, ist hier + 0'014!) Alle meine anderen Versuche stimmen ganz mit dem angeführten überein: in reinen Linien hat Auslese der gewöhnlichen Plus- oder Minus- abweicher niemals eine erbliche Wirkung gehabt, selbst nicht nach fort- gesetzter Selektion in vielen Generationen. Und diese Resultate haben all- mählich von recht verschiedenen Seiten Bestätigung gefunden, sowohl von biologischen Forschern als’ von seiten der rationell arbeitenden Züchter. Hier können die Arbeiten von Frumwirth erwähnt werden, die mit Erbsen u.a. selbstbestäubenden Pflanzen ausgeführt sind. Und es muß hervorgehoben werden, dal) die schwedische Saatzuchtanstalt in Svalöf schon lange ähn- liche Erfahrungen gemacht hatte, die aber natürlicherweise nicht ein wissenschaftliches Interesse beanspruchen konnten, so lange die Richtigkeit der Darwinschen Selektionslehre und des Galtonschen Gesetzes unan- gefochten dastand. Erst die rechte Auflösung des Galtonschen Gesetzes, wie wir sie gleich erwähnen werden, gibt den gelegentlich früher ge- machten Erfahrungen über Mißerfolge der Selektion ein Interesse allge- meiner Art. Ferner haben eine Reihe sorgfältiger Untersuchungen verschiedener Forscher die Unwirksamkeit der Selektion in allen näher untersuchten Fällen nachgewiesen, wo man mit wirklich einheitlichem Material arbeitete. Dieses gilt besonders für die Experimente mit den niedersten Tieren, wie Infusorien. Daphniden, Hydroiden sowie für die Arbeiten mit Bakterien und anderen pflanzlichen Mikroorga- nismen. Da alle diese Orga- nismen sich ohne Befruchtung vermehren (beziehungsweise ver- mehren können), ist es leicht, durch Isolation einzelner Indivi- duen „reine Linien“ zu begrün- den, wenn wir die Bedeutung der Bezeichnung „reine Linien“ auch auf die Nachkommen eines nur durch Teilung sich vermehrenden Individuums ausdehnen. Mit dem Infusorium Para- maecium hat der amerikanische Forscher A. 5. Jennings sehr um- fassende und höchst interessante Züchtungsversuche ausgeführt. In Zusammenhang mit unserem augenblicklichen Thema ist als Hauptresultat der Jenningschen Arbeiten anzuführen, daß auch hier innerhalb der reinen Linien die durch viele Generationen fort- gesetzte Selektion keine erbliche Wirkung hatte. Hätte man aber mit den ursprünglich gegebenen Beständen ohne vorausgehende Isolierung reiner Linien gearbei- tet, dann wäre ganz deutlich eine „Galtonsche Regression“ erhal- ten worden. Auch Wolterecks Ver- suche mit Daphnien, E. Hanels Versuche mit Hydroiden und z.B. Wolffs Versuche mit Bakterien bestätigen das völlig. Auch Pearls wichtige Arbeiten mit Eierproduktion der Hühner ge- hören hierher. Fig. 56. B D Dana I} BEEE | | | | | TER ] Te N are, | | { ! | TERN 4 A—E u % sind. Vgl. ferner den Text. Rz Sreze, I == EN = TIL IT EN 86 W. Johannsen. Somit haben wir gesehen, daß es mit dem Galtonschen Gesetz sowie mit der früher landläufigen Auffassung der Selektionswirkung eigentlich recht schlecht steht. Das Galtonsche Gesetz ist kein fundamentales biolo- gisches Gesetz; es ist nur ein statistischer Ausdruck dafür, daß in den betreffenden Populationen verschiedene biologische Typen vorhanden sind. Die Selektion aus solchen Populationen wirkt einzig und allein durch Sor- tieren der Repräsentanten schon gegebener typischer Unterschiede; wo — wie in den gewöhnlichen ‘reinen Linien — keine typischen Unterschiede vorhanden sind, wirkt die Selektion auch gar nicht. Schon daraus geht hervor, daß es nicht die persönliche Beschaffenheit ist, welche „ver- erbt“ wird, sondern daß sozusagen der Eu „Typus“ der betreffenden reinen Linie Inanııı das „erbliche“ ist. IIND Die vorstehende Fig. 56 kann als Il- 0 lustration dafür dienen, wie eine Popula- Aannnlpagannnoses: tion, die anscheinend, rein statistisch oder 066680 deskriptiv betrachtet, den Eindruck von AuaayganSünoogehe Einheitlichkeit macht, dennoch aus einem nMyamamaolt6 000904049 Gemenge „typisch“ mehr oder wenig verschieden beschaffener reiner Linien 00 NÜBBONO0® nestehen kann. Daß die fünf oberen f uas0n Serien (A, B, ©, D und E) der Fig. 56 nad 06009080 Phänotypen darstellen, die wirklich ein- TTTTTTTIKEGG heitlich sind, während die durch Ver- einigung der fünf Serien gebildete Po- hoansalanooee* pulation A—E heterogen ist, läßt sich I gar nicht ohne weiteres erkennen. In Schematische Darstellung von acht reinen Linien den reinen Linien hat Selektion der einer Paramaecium-Population. Jede Horizontal- Plus- oder Minusvarianten keine erbliche reihe ist eine Mustersammlung von Individuen 2 . e iR einer reinen Linie. Die mittlere Körperlänge jeder Wirkung, wie es näher erwähnt wurde. Linie ist mit + markiert; die mittlere Körperlänge < S R der gesamten Population ist durch die Lage der Anders aber in der Population: Hier N erofers Nach Tenning) _ sind wirkliche . „Typen“ Unterschiede vorhanden. Ein Blick auf die Figur zeigt sofort, daß bei Selektion von Plusabweichern der Population die reine Linie € besonders stark repräsentiert werden wird; bei Selektion von Minusabweichern der Population wird hingegen die Linie B am stärksten repräsentiert werden. So erklärt es sich sehr leicht, daß Selektion aus einer Population den Phänotypus derselben in der Selektionsrichtung verschieben kann. Da nun die natürlichen Populationen wohl meistens aus einer sehr großen Anzahl mehr oder weniger verschieden beschaffener „Typen“ be- stehen, wird es klar, daß mittelst einer Selektion, welche durch Genera- tionen fortgesetzt wird, der „Typus“ allmählich geändert werden muß. Da das richtige Verständnis dieser Sache von fundamentaler Be- deutung ist, soll hier zur weiteren Illustration auch ein zoologisches Objekt benutzt werden, nämlich Jennings schon erwähnte Paramaeciumlinien (Fig. 57). Erblichkeitsforschung. 87 Es geht auch aus dieser Figur deutlich hervor, wie eine Selektion in nicht einheitlichen Populationen den „Typus“ in der Selektionsrichtung verschieben muß. Es wäre ein Leichtes, durch Selektion die mittlere Kör- perlänge der Population zu vergrößern oder zu verkleinern. Aber dieses betrifft hier, wie bei den Bohnen und in allen anderen geprüften Fällen, nur den Phänotypus. Und man versteht wohl auch leicht, wie die von @uetelet herrührende statistische Auffassung, daß eine symmetrische „binomiale“ Verteilung der Varianten eines gegebenen Ma- terials (wie z. B. die Population A—E der Fig. 56) als Zeichen einer Typen- einheitlichkeit der betreffenden Population zu betrachten sei, hier die bio- logische Auffassung irre führen konnte. Es wird jetzt nötig, den Begriff „Typus“ genauer zu präzi- sieren. Die durch die eingipfelige, einigermaßen binominale Verteilung der Varianten sich zeigende Typeneinheitlichkeit betrifft eben den Phänotypus. Aber eine solche Einheitlichkeit kann, wie wir gesehen haben, eine sogar sehr große Heterogenität völlig maskieren. In der Population A—E (Fig. 56) deckt der Phänotypus die Unterschiede der 5 reinen Linien, von denen nur zwei (A und D) einander sehr ähnlich sind in bezug auf die hier in Frage kommende Eigenschaft. Die reinen Linien haben jede ihren eigenen „Iypus“, von dem Phänotypus der Population mehr oder weniger ab- weichend. Nun geht aus den Untersuchungen klar hervor, daß die Typen der reinen Linien wirklich einheitlich sind. Sie sind das Feste in den betref- fenden Populationen; die mehr oder wenig zahlreiche Repräsentation der verschiedenen Linien bedingt den Phänotypus der Population. Wie sollen wir aber solche Linientypen bezeichnen ? Zunächst sind sie auch nur als Phänotypen zu bezeichnen; die Fig. 56 zeigt also 6 Phänotypen mit ihren Variationen, nämlich 5 den reinen Linien und einen der aus diesen Linien zusammengesetzten Population entsprechend. Der Unterschied zwischen den einheitlichen Phänotypen der reinen Linien einerseits und dem nicht einheitlichen Phänotypus der Po- pulation andrerseits liegt gar nicht in der Erscheinung selbst — kein Mathematiker kann mit auch nur einiger Sicherheit den 6 Phänotypen der Fig. 56 ansehen, ob sie einheitlich oder nicht einheitlich sind. Der wirk- liche Unterschied besteht darin, dal) die Individuen einer reinen Linie alle in bezug auf Erblichkeit gleichwertig sind, während die Individuen der Population sehr verschiedenwertig sind. Die Individuen einer reinen Linie sind alle aus Geschlechtszellen (Ei- und Samenzelle) hervorgegangen, welche in bezug auf die erblichen Eigenschaften ganz identisch „veranlagt“ sind. Sie gehören demselben „Anlagetypus“ an. Verschieden beschaffene reine Linien haben verschiedene Anlagetypen, die also in der betreffenden Population in mehr oder weniger zahlreicher Vertretung vorhan- den sind. Das Wort Anlagetypus ist schwerfällig und „Anlage“ ist in diesem Falle auch keine gute Bezeichnung. Besser ist es, als Gegenstück zum „Phäno- 88 W. Johannsen. typus“ vom „Genotypus“ zu sprechen. Dieses Wort ist aus dem grie- chischen Stamm „gen“ gebildet, welchen wir aus den Wörtern Genesis, genetisch usw. kennen, die sich alle auf Entstehung, Entwicklung und Herkunft beziehen. Der „Genotypus“ bedeutet also den Inbegriff aller in den beiden Geschlechtszellen bzw. deren Vereinigungsprodukt anwesenden „Anlagen“ zu Eigenschaften, die sich als erblich zeigen. So können wir jedenfalls vorläufig den Genotypus definieren. Wir können ihn aber nicht direkt beobachten: die verschiedenen „Anlagen“ (die wir eben als „Gene“ bezeichnen), erkennen wir überhaupt nur aus den Eigenschaften der Orga- nismen, die dem betreffenden Genotypus angehören. Was wir aber konstatieren können, ist das Vorhandensein geno- typischer Unterschiede bzw. Übereinstimmung; das Konstatieren und die nähere Untersuchung solcher Verhältnisse sind die wesentlichen Ar- beiten der modernen Erblichkeitsforschung. Das Hauptwort „Genotypus“ werden wir dementsprechend nur selten anwenden können, das Eigen- schaftswort „genotypisch“ aber um desto häufiger. Indem wir nochmals die Fig. 56 betrachten, können wir jetzt sagen, dab es den dort illustrierten Phänotypen nicht direkt angesehen werden kann, ob sie genotypisch ein- heitlich sind oder nicht. Wir wissen hier im voraus, daß die reinen Linien A—E jede für sich genotypisch einheitlich sind. Daß dagegen die Population A—E keine genotypische Einheit darstellt, obwohl die ganze Verteilungsart der Individuen um den Phänotypus gar nichts von einer Heterogenität der Population andeutet. Man kann also einer Population, die sich phänotypisch als einheit- liche präsentiert, direkt gar nicht ansehen, ob sie genotypisch einheitlich oder nicht einheitlich ist; nur die Prüfung der Erblichkeitsverhältnisse kann diese Frage beantworten. Die biologische Analyse eines Be- standes fordert eine Berücksichtigung des Erblichkeitsmomen- tes; die rein deskriptive Behandlung genügt durchaus nicht. Wo man phänotypische Unterschiede beobachtet, hat man aber nicht ohneweiters das Recht, genotypische Unterschiede anzunehmen: Phäno- typische Unterschiede wie z. B. zwischen den reinen Linien A und B oder B und © können durch recht verschiedene Ursachen bedingt sein. Für die durch Fig. 56 veranschaulichten Fälle wissen wir, daß genotypische Unterschiede die phänotypischen Unterschiede bedingen. Das Material wurde unter möglichst gleichen äußeren Verhältnissen angebaut. Da sich Generation nach Generation Unterschiede zeigten, ist es be- wiesen, daß hier „tiefere“ Unterschiede, eben „genotypische“ Differenzen vorliegen. Wenn Individuengruppen aus derselben reinen Linie, also mit derselben genotypischen Beschaffenheit, unter mehr oder weniger verschie- dener Lebenslage sich entwickeln, so wird man meistens an den verschie- denen Standorten phänotypisch verschiedene Individuenserien erhalten. A, B und € der Fig. 56 könnten sehr wohl solche Serien einer und der- selben reinen Linie sein, und die beobachteten phänotypischen Unter- Erblichkeitsforschung. 89 schiede wären in diesem Falle darauf zurückzuführen, daß die Lebenslage der B-Serie ungünstig für die Entwicklung einer großen Samenlänge waren, wo hingegen die Lebenslage der C-Serie in dieser Beziehung sehr günstig war usw. Der Einfluß solcher Lebenslageverschiedenheiten hat aber keine erbliche Wirkung. Wir sehen also erstens, daß ein einziger Phänotypus die Anwesen- heit recht bedeutender genotypischer Unterschiede völlig maskieren kann (bei genotypisch nicht einheitlichen Populationen), und zweitens, dal ein genotypisch einheitliches Material sehr verschiedene Phänotypen zeigen kann (bei verschiedener Lebenslage). Alles scheint demnach im Fluß zu sein; und man versteht leicht, daß die Meinung sich verbreiten konnte: es gebe überhaupt nicht feste Typen in der lebenden Natur; alles sei ver- schiebbar, und zwar mit ganz allmählichen Übergängen ! Das feste aber in dieser strömenden Welt ist die genotypische Grundlage. In den reinen Linien ist sie konstant — bis besondere Um- stände, die wir später erwähnen, hier störend einwirken. Die Individuen einer gegebenen reinen Linie werden durch Vereinigung zweier Geschlechts- zellen gebildet, die genotypisch gleich sind. Das Vereinigungsprodukt der bei einer Befruchtung beteiligten beiden Geschlechtszellen (die Gameten) wird jetzt allgemein als Zygote bezeichnet; dieses Wort fällt leichter als „das befruchtete Ei“. Wo Gameten gleicher genotypischer Natur vereinigt werden, bildet sich eine Homozygote; wo hingegen die Gameten geno- typisch nicht gleich sind (wie z. B. bei Kreuzung), bildet sich eine He- terozygote. Die Forschung mit reinen Linien hat nun gezeigt, dab die geno- typische Grundlage homozygotischer Organismen sehr „fester“, d.h. kon- stanter Natur ist, indem die gewöhnlichen persönlichen Variationen keinen Einfluß auf die Nachkommenschaft haben: Die genotypische Grundlage, nicht aber die persönliche Beschaffenheit, bedingt die Erblichkeit. Somit ergibt sich als Resultat der Arbeit mit reinen Linien eine Definition von Erblichkeit, die völlig von der älteren abweicht: Erblichkeit ist die Anwesenheit gleicher genotypischer Grundlage in Eltern und Kindern, bzw. in Aszendenten und Deszendenten im allgemeinen. Von „Überführung“ der Eigenschaften ist hier gar keine Rede. Eltern wie Kinder der gleichen reinen Linie sind mit allen ihren persönlichen Eigen- schaften insofern völlig äquivalent, als sie alle zusammen Resultate der Reaktionen der gegebenen genotypischen Grundlage mit den Faktoren der Lebenslage sind. Soweit die Arbeit mit reinen Linien, also mit homozygotischen Organismen gleicher genotypischer Grundlage. Diese Arbeit führt zur Analyse geeigneter Populationen, und für diese „Bestandesanalyse“ ist das homozygotische Individuum (bzw. sein Genotypus) die letzte Einheit. Es versteht sich von selbst, daß ein weiteres Vordringen in der Erblichkeits- forschung notwendigerweise auf die Resultate solcher Bestandesanalysen fußen muß. Wir werden später ein Arbeitsfeld finden, bei dem dieses in sehr 90 W. Johannsen. traurigem Grade vernachlässigt ist — wo demgemäß auch die vermeint- lichen Resultate meistens ganz wertlos sind: ich meine das Problem der Vererbung „erworbener“ Eigenschaften. Ganz anders steht aber die Sache mit einer analytischen Richtung der Erblichkeitsforschung, die wir jetzt näher betrachten werden: die ra- tionelle Arbeit mit heterozygotischen Organismen. IT. Die ältere Forschung über Bastarde — mit welchem Wort man bekanntlich in populärer Weise Individuen bezeichnet, die durch Kreuzung verschiedener Spezies (bzw. Varietät oder Rasse) hervorgegangen sind — hatte gelehrt, daß solche Wesen, namentlich aber deren Nachkommen, höchst bunte Variationsverhältnisse zeigen können. Ja ein französischer Botaniker der siebziger Jahre hatte sogar eine Abhandlung mit dem recht hoffnungslosen Titel: „Über die regellose Variation der Bastarde“ pu- bliziert. Damals war aber schon die Arbeit des jetzt so berühmten Brünner Abtes Gregor Mendel ausgeführt, eine Arbeit, die als Grundlage der exakten Forschung auf diesem Gebiete zu bezeichnen ist. Mendel hat das große Verdienst, hier zahlenmäßige Rechen- schaft der Variationsverhältnisse, strenges Auseinanderhalten der verschiedenen Generationen der Bastardnachkommen und geson- derte Berücksichtigung der einzelnen Charaktere („Merkmale“) der Organismen eingeführt zu haben. Diese drei Momente bilden die Grundprinzipien des in dem letzten Dezennium äußerst wirksamen „Men- delismus“ (exakten Bastardforschung), dessen Hauptresultate im folgenden betrachtet werden sollen. Jeder Organismus, welcher durch Befruchtung entstanden ist, hat Doppelnatur, indem er durch Vereinigung zweier Gameten gegründet ist. Der Unterschied zwischen Eizelle und Samenzelle ist, in bezug auf Erb- lichkeit, wohl immer ganz unwesentlich, insofern die Zellen nicht geno- typisch verschieden sind. Man könnte ebensogut sagen, daß das Ei die Samenzelle befruchtet, als umgekehrt; für uns ist die Hauptsache, daß die durch Vereinigung der beiden Gameten gebildete Zygote die genotypische Grundlage des durch die betreffende „Befruchtung“ gebildeten Organis- mus besitzt. Die Gameten haben nun — relativ gesehen — Einfachnatur, während die Zygote Doppelnatur hat. Dieses letztere gilt fortan für alle Zellen, welche durch die Teilung und weitere Entwicklung der Zygote zu Tier oder Pflanze gebildet werden. Es zeigt sich auch ganz deutlich bei mikro- skopischer Untersuchung, daß die Zellkerne im Tier- oder Pflanzenkörper zweimal so viele charakteristische Strukturelemente (sogenannte Chromo- somen) haben, als die Gameten jede für sich. Bei jeder Zellteilung erhält jede neue Zelle des in Entwicklung sich befindenden Tier- oder Pflanzenkörpers gleich viel von den Strukturelementen, die von je einer der Gameten her- Erblichkeitsforschung. 91 rühren. Wenn das Tier oder die Pflanze Geschlechtsreife erreicht hat, wenn also in dem Organismus Gametenbildung einsetzen soll, erfolgen in den betreffenden Organen eigentümliche Reduktionsvorgänge, deren Resul- tat die Bildung von Zellen mit zur Hälfte reduzierter Anzahl Struktur- elemente ist. Diese „reduzierten“ Zellen selbst, oder aber Zellen, die nach weiteren Teilungen aus ihnen gebildet werden, sind die Gameten. Für diese ist es also charakteristisch, dal) sie gerade die Hälfte derjenigen Anzahl Kernstrukturelemente enthalten, welche für die eigentlichen Körper- zellen der betreffenden Tier- oder Pflanzenspezies eigentümlich sind. Und jetzt können die Gameten, seien sie nın Ei- oder Samenzellen, bei neuen Befruchtungen sich beteiligen — und so geht das Spiel weiter, Generation nach Generation. Von diesen Sachen kannte man zu Mendels Zeiten nichts; und die Finessen bei den Kernteilungsvorgängen können auch jetzt noch bei der eigentlichen Erblichkeitsforschung nur wenig ausgenutzt werden; aber das Angeführte bestätigt in hohem Grade die von Mendel so scharf betonte Auffassung der „Doppelnatur“ des Tier- und Pflanzenkörpers gegenüber der relativen „Einfachnatur“ der Gameten. In reinen Linien (falls nicht Störungen eintreten, die wir später be- rücksichtigen werden) müssen die Gameten genotypisch gleich sein; die Individuen sind völlig homozygotisch (gleichartig-doppelt), und bei jeder Gametenbildung werden nur genotypisch gleiche Gameten entstehen können. Kein Wunder, daß bei reinen Linien der „Typus“ fest ist: die genotypische Grundlage der Gameten bleibt ja dieselbe im Laufe der Generationen. Ganz anders aber, wenn Kreuzung, Vereinigung zweier Gameten ungleicher genotypischer Beschaffenheit, vor sich geht. Falls die Befruch- tung überhaupt zur Bildung eines lebensfähigen Organismus führt, wird dieser ungleichartig-doppelt, heterozygotisch sein. Der allereinfachste Fall ist der, daß die beiden beteiligten Gameten von miteinander so weit übereinstimmenden Organismen herrühren, dal die Gameten nur in bezug auf eine einzige „Eigenschaft“ genotypisch verschieden sind. Nur in bezug auf diese Eigenschaft ist der gebildete Organismus heterozygotisch, nur in dieser einzigen Hinsicht hat er also Bastardnatur. Mendel fing seine Betrachtungen mit solchen Fällen an. Wir folgen ihm; nur wählen wir bequemere und lehrreichere Beispiele, von der For- schung des letzten Dezenniums stammend. Werden zwei reine Linien von Bohnen gekreuzt, die eine durch violette Blüten, die andere durch weiße Blüten charakterisiert, sonst aber völlig übereinstimmend, dann findet man, daß der Bastard hellviolette Blüten bekommt — eine Farbe, die zwischen den Farben der elterlichen Blüten liegt. Sehr einfach und im voraus recht einleuchtend. Die Vorstellung, daß der Bastard eine Zwischenform, ein Mittelding der Eltern sei, ist bekanntlich recht verbreitet und paßt ja auch hier. Was nun aber die Nachkommen des Bastards betrifft, so hat man sehr lange gewußt, dal) sie „Rückschläge*“ auf den Typus der Ga- meten (der reinen Rassen) zeigen können, und für diese Erscheinung hat 92 W.Johannsen. man das Wort „Atavismus“ gebraucht, ein Wort, das vielfache Verwen- dung in der älteren Erblichkeitslehre fand. Es steht vollständig mit den älteren Erfahrungen in Einklang, wenn wir in unserem Beispiel sowohl violett und rein weiß als auch hellviolett blühende Nachkommen des Bastards finden. Hier griff nun Mendel ein. Er erfaßte das Wesen der ganzen Erscheinung und betrachtete die Zahlenverhältnisse solcher verschiedenen Nachkommen der Bastarde. In unserem Beispiel wird man 50°/, hellviolett, 25°/, violett und 25°/, rein weiß blühender Pflanzen finden — natürlicherweise mit dem Spielraum für Nichtübereinstimmung, welcher aus der absoluten Anzahl und dem theore- tischen Mittelfehler des betreffenden Verhältnisses 2:1:1 berechnet wer- den kann. Mendel wurde darüber klar, daß ein solches Zahlenverhältnis leicht verständlich ist, wenn wir annehmen, daß die einseitig der Zygote zuge- führte Eigenschaft (bzw. deren genotypische Grundlage) nur in der Hälfte der im Bastard sich bildenden Gameten vertreten ist, in der anderen Hälfte aber nicht. Bezeichnen wir in unserem Beispiel mit V dasjenige im Genotypus der Gameten, welches das Auftreten von „Violett“ bedingt, während wir mit dem kleinen Buchstaben » das Fehlen von V markieren, so sind die beiden reinen Rassen in bezug auf die hier allein zu betrach- tende Eigenschaft mit VV bzw. vv zu bezeichnen. Die zwei gleichen Buch- staben betonen die homozygotische Natur der reinen hassen. Die Gameten haben demnach die Formel V bzw. v. Und für den durch Kreuzung ge- bildeten Bastard wird die Formel Vv die heterozygotische Natur in bezug auf die hier interessirende Eigenschaft klar ausdrücken: von dem einen Elter kam V, von dem anderen aber kein V, also ». Man bezeichnet jetzt gewöhnlich die bei der Kreuzung beteiligten beiden Individuen als die parentale Generation (P); die durch die Kreuz- befruchtung gebildeten heterozygotischen Organismen, die „primären Ba- starde“, werden als „Erste Filialgeneration“ (F,) bezeichnet. Wir haben somit die folgende schematische Übersicht: Diesbeidene Z-Rormen ss re ayaondeun Die 'Gameten der’ 2-Rormen? > 2 re Varande% Der" Bastard BEI WI, PER EEE v Aachen Die Gameten des Bastards . . . . "22.7 ud» Dieses Schema drückt sozusagen Mendels Voraussetzung in der ein- fachsten Weise aus. Wo der Bastard sich selbst befruchten kann, wie bei sehr zahlreichen selbstbestäubenden Pflanzen, oder wo nur Geschwister der F,-Generation sich befruchten, wie es bei Tierexperimenten geschieht, fin- den sich nach obigem Schema 4 verschiedene Möglichkeiten der Vereini- gung der Gameten: Ei VY mit Samen V gibt die Zygote FV Vv 5 DRaTE - - Vv ) arer 5 5 vV DET, n la: . n vv Erblichkeitsforschung. 93 Da nun diese Möglichkeiten alle gleich wahrscheinlich sein müssen, erhält man das vorhin erwähnte Verhältnis 1 VV:2Vv:1 vv in der zweiten Filialgeneration (#3), d.h. unter den Nachkommen des Bastardes F'. Ist die AMendelsche Voraussetzung richtig, so ist zu erwarten, daß die violetten Individuen der F,-Generation und ebenfalls die rein weißblühenden homozygotisch sind, und also ihrerseits rein violett bzw. rein weißblühende Nachkommen erhalten — im Falle, daß nur Selbst- befruchtung oder gegenseitige Befruchtung gleicher Individuen erfolgt. Die violetten sowie die weißen Individuen der F},-Generation haben also hier dieselbe genotypische Beschaffenheit wie die Individuen der violetten Fig. 58. Kreuzung einer violettblühenden Bohnenrasse mit einer weißblühenden. Oben die beiden Eltern (die Parentalgeneration), in der zweiten Linie der Bastard selbst (die erste Filial- generation). In der dritten Linie die Bastardnachkommen (zweite Filialgeneration), welche „gespaltet“ erscheint im Verhältnis 1VV, 1 Vv, 1vV u. 1 w. Stark schraffiert bedeutet violett, schwach schraffiert hellviolett und nicht schraffiert weiß. (Schematisch.) bzw. der weißblühenden Parentalgeneration; in beiden Fällen sind die be- treffenden Formeln ja auch VV bzw. vv. Die F,-Generation zeigt sich also „gespalten“: sie besteht aus dreierlei Individuen, nämlich zur Hälfte aus Individuen mit Bastardnatur — die Heterozygoten VY» — während je ein Viertel der Individuen „rein“ weiß, vv, und „rein“ violettblühend, YV, ist. Die Fig. 58 gibt eine schematische Darstellung dieser denkbar allereinfachsten „Bastardspaltung“. Hier kann man der F},-Generation gleich ansehen, dal) sie hetero- zygotisch ist. Ein solches Verhältnis liegt aber meistens nicht vor, ja selbst bei dem erwähnten Bohnenversuch ist es nicht immer leicht, die Hetero- zygoten der F,-Generation von den violettblühenden ohne Nachkommen- prüfung zu trennen. Das weißblühende Viertel ist aber nicht mit den heller oder dunkler violettblühenden Individuen zu verwechseln und so tritt das 94 W.Johannsen. Zahlenverhältnis 3 (heller oder dunkler) violett: 1 weiß als das augen- fälligste der F,-Generation hervor. Diese Proportion 3:1 ist überhaupt die mathematische Grundlage der Zahlenverhältnisse der Bastard ‚spaltung“. Sehr häufig sieht die F,-Generation ganz wie die eine P-Form aus. Bei einer Kreuzung von rotblühendem und weißblühendem Löwenmaul (Antir- rhinum) fand Baur, dal) der Bastard ebenso rot ausfiel wie die rotblü- hende Rasse (Fig. 59). Bezeichnen wir hier die genotypische Grundlage für Rot mit R, das Fehlen derselben mit r, so hat die Heterozygote Rr ganz dasselbe Aussehen wie RR. Und die F,-Generation, aus IRR+2Rr-+1rr pro 4 Individuen bestehend, präsentiert Fig. 59. sich als 3 rot: 1 weiß. Eine Eigenschaft, die sich bei homo- zygotischer (hier RR) oder heterozygoti- scher (Rr) Auwesenheit des betreffenden genotypischen Faktors gleich stark bzw. anscheinend oder annähernd gleich stark geltend macht, wird als dominierend bezeichnet. Ob die Dominanz vollkommen ist (hier also ob Rr persönlich ganz wie RR erscheint), hat meistens kein weiteres In- % teresse, die Relation 3:1 in der F,-Gene- ration ist hier die Hauptsache. Das in Fig. 58 illustrierte Beispiel kann deshalb auch dem Schema der Fig. 59 zugeordnet werden, mit Violett, V, als dominierend. Eine Eigenschaft, die sich nur mani- £ festiert, wenn sie homozygotisch bedingt < ist, wird dagegen als recessiv bezeichnet. Kreuzung von rot- und weißblühendem ]n den beiden erwähnten Beispielen war Löwenmaul. Schraffierung bedeutet rot. n Si o c = x Fı gleicht völlig dem a weiße Blütenfarbe recessiv im Vergleich (Nach Baur.) mit Rot. Es ist durchaus nicht gegeben, daß eine dominierende Eigenschaft, wie Rot hier, immer einem positiven Faktor in der genotypischen Grundlage entspricht. Es läßt sich z. B. nicht ohne weiteres entscheiden, ob die Dif- ferenz zwischen der roten und weißen P-Form der Fig.59 durch ein Mehr bei der roten oder bei der weißen Form bedingt ist. Es könnte ja bei der weißen Form ein Faktor zugegen sein, welcher die Entfaltung der Eigenschaft „Rot“ unmöglich machte; d.h. die Reaktion „Farbstoffbildung“ kann a priori ebensogut dadurch bedingt sein, daß der weißen F-Form etwas genommen wird als durch ein Hinzufügen eines speziellen Fak- tors. Kurz gesagt, der Unterschied zwischen Rot und Weiß könnte eben- sowohl durch + als durch — auszudrücken sein. Ein schönes Beispiel aus den Forschungen A. Langs sei hier gleich vorgeführt. Die gewöhnliche Gartenschnecke Tachea hortensis kommt Erblichkeitsforschung. 9 in verschiedenen Rassen vor, z.B. mit und ohne gebänderten Schalen. Die Schnecken sind hermaphrodit; bei jeder Befruchtung treten also die beiden beteiligten Individuen zugleich als Vater und Mutter auf. Bei Kreu- zung einer (im voraus als homozygotisch erkannten) bänderlosen Schnecke mit einer gebänderten dominiert „bänderlos“ (Fig. 60); aus den Eiern beider beteiligter Tiere entwickeln sich nur bänderlos bleibende Jungen. Will man, den früheren Beispielen entsprechend, eine Formel anwenden, könnte man etwa B und 5 hier als Zeichen benutzen. Indem man nun am besten stets mit großen Buchstaben Dominanz bezeichnet, würde B bänder- los bedeuten und 5 gebändert. Demnach die P-Generation: BB und bb; die F,-Generation Bb (bänderlos dominiert) und die F,-Generation BB + 2Bb + bb, also 3 von B geprägt (bänderlos) und 1 recessiv, bb (gebändert:; vgl. Fig. 60). Fig. 60. Das Dominieren eines wirklich oder anscheinend negativen Charakters ist gar nicht selten. Auf diese Frage gehen wir später ein; zunächst müssen weitere Er- fahrungen erwähnt werden. Wenn Dominanz vorhanden ist, kann man den Individuen mit dominierender Eigenschaft nicht ansehen, ob sie homo- oder heterozygotisch sind. Eine Nach- kommenbeurteilung ist immer nötig, um die genotypische Naturzu erkennen. War ein Individuum homozygotisch, so werden (bei Selbstbefruchtung oder bei Befruchtung mit genotypisch gleichen Individuen) die Nach- Eee ee kommen gleichartig — wieder homozygo- (Nach Langs Angaben.) tisch; war das Individuum aber hetero- zygotisch, so erhält es (bei Selbstbefruchtung usw.) Nachkommen, die im Verhältnis 3:1 „gespalten“ erscheinen. Da nun die rein „abgespal- teten“ homozygotischen Formen jede für sich „reine“, d.h. genotypisch gleichartige Nachkommen erhalten, während die Heterozygoten stets „ge- spaitene“ Nachkommenserien haben, so versteht man leicht, daß die Des- zendenten eines selbstbefruchtenden heterozygotischen Individuums, wie z. B. der hellvioletten Bohne in Fig. 58, mit jeder Generation reicher an „reinen“ Individuen (hier VV und vv) werden muß. Die F,-Generation be- stand ja aus 100°/, Vv; die F,-Generation aus 50°, Vv. Die F,-Genera- tion wird — gleiche Fruchtbarkeit aller Individuen stets vorausgesetzt — aus nur 250%, Vv bestehen, die F',-Generation enthält nur 12°5°/, usw. Schon F,, wird kaum 1°/,, VYv enthalten und bald erscheint also die ganze Nachkommenschaft in die reinen P-Formen „gespalten“. Der „Rückschlag“ zu den reinen Elterntypen ist vollbracht. Ganz anders aber, wo nicht Selbstbefruchtung, sondern, wie bei den Tieren und vielen Pflanzen, Fremdbefruchtung erfolgt. Falls diese Be- 3 1 96 W.Johannsen. fruchtung ganz frei erfolgt, ist es leicht einzusehen, daß das Verhältnis 1:2:1 oder also bei Dominanz 3:1 sich unverändert halten wird. Denn die Gameten der F,-Generation sind ja zur Hälfte mit dem dominierenden Faktor versehen, ganz wie die Gameten der F,-Generation; folglich bilden sich bei freier Paarung die drei möglichen Kombinationen (z.B. VV; Vv und »») in ganz derselben Häufigkeit in jeder Generation. Die Erscheinung der Dominanz hat — wohl unter dem Einfluß des Wortes „Dominieren* — mitunter zu der irrigen Auffassung geführt, daß die relative Anzahl der betreffenden Individuen für jede Generation sich vergrößern werde. Davon ist aber, wie wir aus dem Angeführten Fig. 61. sehen können, gar keine Rede. Die angeführten Beispiele betrafen möglichst einfache Fälle: die Existenz nur einer einzigen genotypischen Diffe- renz zwischen den sich kreuzenden reinen P-Formen. Meistens finden sich mehrere, ja soger sehr viele solche Differenz- punkte. Es hat sich aber schon bei Mendels eigenen Untersuchungen gezeigt — und es wurde auch gleich bei der ver- dienstvollen Wiederentdeckung der ganz unberücksichtigt gebliebenen Mendel- schen Erfahrungen durch Correns, v. Tschermak und de Vries klar erkannt — daß die verschiedenen bei den Kreu- zungen in Frage kommenden Figen- schaftselemente sich gewöhnlich ganz unabhängig von einander auf dieGameten verteilen. Finden sich zwei genotypische Differenzpunkte zwischen den beiden P-Formen, wird F, zweifach heterozygo- Kreuzung eweier Löwenmenlrassefitawei, sch.und die>f5-Generationserscheinf Differenzpunkten. (Schraffierung bedeutet alsdann, falls für beide Differenzpunkte rot.) Hier zeigen sich deutlich die Kombi- malionen der bekrafenden Hinzeleigenkeiat Dominanz im Spiele ist, nach der Kom- (Nach Baur.) binationsformel (3:1) (3:1)=9:3:3:1 gespalten. Als Beispiel zur Illustration kann wiederum eine von Baurs Kreuzungen mit Löwenmaul dienen (Fig. 61). Ein rotblühendes Löwenmaul, pelorisch (d. h. nicht lippenförmig in der Krone), wurde mit einer weißblühenden Form, welche Lippenkrone hatte, gekreuzt. F, hatte rote Lippenkrone; F, aber bestand aus den hier möglichen Kombinationen von Kronenform mit Farbe, nämlich: Lippe mit Rot, Pelorie („nicht Lippe“) mit Rot, Lippe mit Weiß („nicht Rot“) und Pelorie („nicht Lippe“) mit Weiß („nicht xot“). Die Proportionen waren, auf 16 Individuen berechnet, 9:3:3:1. Ein solches Zahlenverhältnis in der F,-Generation entspricht immer einer Erblichkeitsforschung. 97 zweifach-heterozygotischen Beschaffenheit in F,. Und die spezielle Vertei- lungsweise zeigt ferner, daß „Lippe“ über „Pelorie* dominiert hat, wie „Rot“ über „Weiß“. Um Rechenschaft über die Sache zu führen, sei wiederum Rot mit R und Weiß mit r bezeichnet, ferner „Lippe“ mit Z und Pelorie mit / (als „Nicht-Lippe“). Für F, erhalten wir dann die Formel Rr, LI. Die mög- lichen Gametenbeschaffenheiten — wenn wir ganz freie Verteilung der genotypischen Faktoren auf die Gameten voraussetzen — sind dabei vier, nämlich R,L; R,!: r,L und r,!. Für vier Gameten sind die Kombina- tionsmöglichkeiten aber 4? —= 16, und wir werden somit folgende Möglich- keiten für die genotypische Beschaffenheit der F,-Individuen haben. I.KBR, LIE 2. RR, LI, 3. Rr, EL, 4 Ey El 5SBRhLI, 6. ER, U, 7..Br, EI, Sur, U, 9. Rr, LL, 10..Br;. DI, 11: #73, LE, 12. rr, LI, 19: kr, Bl, J4.2Rr, U, Ts. rl; 16.37, 8. Diese Möglichkeiten sind gleich wahrscheinlich und werden also im großen und ganzen gleich häufig realisiert sein mit den Schwankungen, dienach den Wahrscheinlichkeitsgesetzen vorauszusehen sind. Dominieren R und /, dann werden also die Individuen, die auch nur heterozygotisch R oder L haben, von den betreffenden Eigenschaften geprägt. Sowohl von R und L geprägt (Rot, Lippe) werden demnach 9 aus den 16 Individuen sein (näm- lich Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 7, 9, 10 und 13); 3 werden nur von R geprägt (Rot, nicht Lippe; nämlich Nr. 6, 5, 14); 3 nur von Z (nicht rot, Lippe; nämlich Nr. 77, 12, 15) und 1 Individuum aus je 16 wird weder von R noch Z geprägt werden (Nr. 16, nicht rot, nicht Lippe). Eine solche Erklärung der beobachteten Zahlenverhältnisse der „Spal- tung“ in der F,-Generation sowie der Erscheinung, daß in F, zwei „neue“ Formen auftreten, nämlich hier Rot, Lippe und Weiß, Pelorie, in welchen die Eigenschaften der P-Formen in neuer Weise kombiniert auftreten, hat schon Mendel gegeben. Und als Beispiel der wirklichen Übereinstimmung der Beobachtungen mit den geforderten Zahlenverhältnissen kann Mendels Kreuzung zweier Erbsenrassen, die eine mit glatten und gelben Kotyledonen, die andere mit runzlichen und grünen Kotyledonen, hier angeführt werden. F, war glatt und gelb; diese Eigenschaften zeigen sich also als dominierend. Die F,-Generation bestand aus 556 Samen; von diesen waren: edatksumdgelb. 2.2 ea 315 (9'06 pro 16) Glas URAN ED 108 (311 pro 16) Brmzeliscund gelb... «=... „us, 101 (291 pro 16) Bunzelig und grün... .: .... 32 (0'92 pro 16) Die Abweichungen von 9:3:35:1 fallen völlig innerhalb der theore- tischen Fehlergrenzen. In solchen Fällen zweifacher Heterozygotität, wie die Fig. 61 illu- striert, treten in der F,-Generation 4 verschiedene Phänotypen auf: und zwar mit der relativen Repräsentation von 9:3:3:1 Individuen pro 16. Das eine Individuum (Nr. 16 der obenstehenden Übersicht), welches nichts von E. Abderhalden, Fortschritte. III. r7 98 W.Johannsen. einer dominierenden Eigenschaft zeigt, mithin rein „recessiv“ geprägt ist, hat, wie es in der Natur der Sache liegen muß, homozygotische Be- schaffenheit. In den drei anderen Gruppen gibt es ebenfalls je ein homo- zygotisches Individuum. Die Übersicht weist nämlich aut daß Ne 16,11 —_ sowie die Nummer 16 — homozygotisch sind. Alle anderen Individuen sind heterozygotisch, und zwar sind Nr. 4, 7, 10 und 13 zweifach-hetero- zygotisch, ganz wie F, selbst. Nr. 3, 8, 9, 14 sind einfach-heterozygotisch in bezug auf die eine dominierende Eigenschaft (hier R) und Nr. 2, 5, 12, 15 sind es in bezug auf die andere dominierende Eigenschaft (hier 2). Abgesehen von den Individuen mit rein recessiven Eigenschaften, kann man den F,-Individuen gar nicht ansehen, ob sie homo- oder he- terozygotisch sind. Nur eine Nachkommenbeurteilung kann die genotypische Beschaffenheit näher beleuchten. Die Nachkommen von Nr. 1 (Selbstbe- fruchtung hier stets als Kontrollmittel vorausgesetzt) werden alle den Typus „Rot, Lippe“ haben; Nr. 2 wird als Nachkommen „Rot, Lippe“ und „Rot, Pelorie“ im Verhältnis 3:1 erhalten usw. Die Nummern 4, 7, 10 und 13, persönlich ganz wie Nr. 1 und 2 aussehend, werden aber — als die zwei- fachen Heterozygoten, die sie sind, — in ihren Nachkommen die ganze „Spaltung“ nach 9:3:3:1 zeigen. Die gleichen Phänotypen zeigen sich hier also mit recht verschie- dener genotypischer Grundlage, und es ist aus dem Angeführten schon klar geworden, daß nur diese Grundlage die Erscheinungen der Erblich- keit bedingt. Die Erfahrungen aus der Forschung mit reinen Linien fließen somit ganz mit dem „Mendelismus“ zusammen. Und dieses wird sich immer wieder bestätigen. Wir müssen aber jetzt an mehr komplizierte Erscheinungen gehen. Fig. 62 gibt eine von Baurs Kreuzungen mit dreifacher Heterozygo- tität. Den beiden P-Formen könnte man wohl — nach den durch die Fig. 59 und 61 gemachten Erfahrungen — ansehen, dab 3 Differenz- punkte hier zugegen sind, nämlich Rot — nicht Rot; Lippe — nicht Lippe und Gelb (in der Lippe) — nicht Gelb. Ohne solche vorausgehende Spe- zialerfahrung ist der unmittelbare Vergleich der P-Formen selbst in einem so relativ durchsichtigen Fall, wie dieser, nicht sicher. Hier wird F, Rot, mit Lippenkrone. Von Gelb wird aber gar nichts bemerkt. Überhaupt sieht F, hier genau so aus wie in den beiden durch die Fig. 59 und 61 illustrierten Kreuzungen. Erst die Beschaffenheit der F,-Generation ent- schleiert die genotypische Natur der Heterozygote. Da, wie Fig. 62 illustriert, das Verhältnis 27:9:9:9:3:3:3:1 sich bei der „Spaltung“ zeigt, ist bewiesen, daß dreifache Heterozygotität in F, vor- handen war. Wie für einfache Heterozygotität die Zahlen 3+1 die relative Häufigkeit der verschiedenen möglichen Phänotypen in F, präzisiert und B+1)®@+ND)=9+3+3+ 1 die Verteilungsart bei zweifacher He- terozygotität ausdrückt, so haben wir hier („Dominanz“ in jedem Dif- Erblichkeitsforschung. 99 ferenzpunkt vorausgesetzt) die Frmel®+1)8+)B+)=B®+V?= =27+9+9+9+3+3+353 +1 als Ausdruck der Verteilung der möglichen Phänotypen pro 64 Exemplare. Wir können wohl jetzt — im Anschluß an die für zweifache Heterozygotität durchgeführte Diskussion — ohne weiteres betonen, dab die 27 Individuen pro 64 von allen drei dominierenden Charakteren ge- prägt sein werden; die drei Gruppen ä 9 werden von je zwei dieser Cha- Fig. 62. Kreuzung zweier Löwenmaulrassen; drei Differenzpunkte vorhanden. (Nach Baur.) Hori- zontale Schraffierung bedeutet Rot. senkrechte Schraffierung Gelb. Übrigens Rot mit R, nicht Rot mit r, Lippe mit L, nicht Lippe mit ?! bezeichnet. Ferner: Nichtgelb (als über Gelb dominierend) mit @ und Gelb (als rezessiv) mit g bezeichnet. Die Buchstaben unter den Spezialfiguren der F3y-Generation geben ihre phänotypischen Charaktere an, Hier ist g mit+ und G@ mit — bezeichnet, um die „positive“ Reaktion von g gegen- über @ zu pointieren. Das rein rezessiv geprägte Individuum r/g hat selbstverständlich die entsprechende homozygotische Beschaffenheit rr, !/,gg. Von den 27 durch RL@ cha- rakterisierten Individuen hat nur ein einziges die homozygotische Beschaffenheit RR, LL, GG; die 26 anderen sind heterozygotisch, 8 sogar dreifach heterozygotisch wie F, selbst und nicht weniger als 18 enthalten g heterozygotisch. Überhaupt ist innerhalb jeder der in der F,-Generation auftretenden acht Phänotypengruppen nur je ein Individuum (pro 64 im ganzen) homozygotisch. Die übrigen 56 pro 64 Individuen sind dreifach, zweifach oder einfach heterozygotisch, raktere und die drei Gruppen ä 3 von je einem dominierenden Charakter geprägt, während ein einziges Individuum von keinem dominierenden Cha- rakter geprägt ist. Dieses Individuum ist also rein „recessiv“ charak- terisiert. Aus der Fig. 62 ersieht man nun bald, daß (wie in dem in Fig. 61 illustrierten Fall) Rot, R, über Weiß, r; und Lippe, L, über Pelorie, /, domi- niert. Ferner aber zeigt es sich hier, daß Weiß als nicht Gelb über 7 100 W.Johannsen. Gelb dominiert. Schon in F, ist Gelb nicht zu spüren (es könnte von Rot „verdeckt“ sein, aber die als Braunrot sich manifestierende Kombination von Rot und Gelb in F, beweist, daß dieses nicht der Fall ist!); und die Zahlenverhältnisse in #, bezüglich Gelb sind ganz überzeugend: Gelb ist hier recessiv. Wir sehen dieses bei dem im Verhältnis 1:64 auftretenden „rein recessiven“ gelben Individuum einerseits und andrerseits bei den 27 In- dividuen mit lauter dominierendem Charakter: hier fehlt ja Gelb! Gelb, obwohl eine sich ganz „positiv“ äußernde Eigenschaft, ist hier also nur realisabel, wenn homozygotisch repräsentiert. Der Fall entspricht völlig dem Befund bei Schnecken in Fig. 60. Es kann nicht stark genug hervorgehoben werden, daß aus der Do- minanz absolut nichts in bezug auf die positive oder negative Natur des betreffenden Charakters geschlossen werden kann. „Dominanz“ besagt nichts als Eintreten der Reaktion selbst bei heterozygotischem Bedingtsein, während Recessivität bedeutet: Reaktion nur bei homo- zygotischem Bedingtsein. Für das Rechnungswesen, besonders für das Aufstellen von Kombi- nationsschemen, ist es praktisch, Dominanz stets mit großen Buchstaben auszudrücken. In dem hier vorliegenden Fall muß man sich also stets daran er- innern, daß g „Gelb“ und @ „nicht Gelb“ bedeutet. Durch besondere Zeichen, etwa g9+ bzw. @”, könnte man dieses vielleicht näher präzi- sieren, wie es in der Fig. 62 geschehen ist. Übrigens ist die Zeichensprache der sich entwickelnden Erblichkeits- forschung eine Sache, über die man sich bald einigen muß. Sehr viele sprachliche und andere Schwierigkeiten stehen aber einstweilen solchen Vereinbarungen im Wege. Bei Mendel und im Anfange des neuen Jahrhunderts war die Auf- fassung herrschend, daß stets zwei „Eigenschaften“ sozusagen antagoni- stisch auftreten, ein Paar bildend. Gelbe Farbe und grüne Farbe der Erbsenkotyledonen sollten z. B., um ein klassisches Material aus Mendels Arbeiten zu erwähnen, bei Kreuzung ein solches „Eigenschaftspaar“ bil- den. Die eine Eigenschaft — hier gelb — sollte über den anderen „Paar- ling‘ — hier grün — dominieren. Daraus eben die Wörter Dominanz, Prävalenz u. a. m., z. B. „recessive Eigenschaft“. Jetzt aber ist man all- mählich zu der Auffassung gekommen, daß es sich bei einfacher Hetero- zygotität um die Anwesenheit oder Abwesenheit nur eines genotypischen Faktors handelt; von einer ungleichen Paarung zweier Faktoren ist nicht die Rede. Homozygotität in bezug auf einen Faktor kann also entweder da- durch bedingt sein, daß die beiden sich vereinigenden Gameten den Faktor mitbrachten oder aber, daß keine von den Gameten ihn mitführte. Heterozygotität ist dadurch bedingt, daß die eine Gamete einen Faktor mitführt, welcher der anderen Gamete fehlt. Die „Spaltung“ beruht 101 Erbliebkeitsforschung. somit nicht darauf, daß zwei Eigenschaften (bzw. deren „Anlagen“) sich trennen, sondern darauf, daß) wegen der einseitigen Zufuhr des betreffen- den Faktors nur die Hälfte der sich entwickelnden Gameten den Faktor erhalten — oder los werden — kann. Und damit sind wir zu der hier präzisierten Auffassung gekommen, daß Dominanz nicht Unterdrückung einer antagonistischen Eigenschaft ist, sondern, wie soeben gesagt, Auftreten der vom betreffenden Faktor abhängigen Reaktion, selbst wenn der Faktor nur einseitig der Zygote zugeführt ist. In den bis jetzt hier besprochenen Eigen- schaften haben wir stets leicht Charaktere prä- vl e £ zisieren können, die als „Einzeleigenschaften“ BR; auftraten, d.h. die anscheinend durch je einen N selbständigen, abspaltbaren genotypischen Faktor | Car) bedingt waren. Solche selbständige Faktoren | / N / werden wir Gene nennen; diese Bezeichnung hat sich als praktisch gezeigt und das Wort Gen (der Stamm von „Genesis“ usw.) präjudiziert gar nichts in theoretischer Richtung. Es ist nur ein neutraler, nicht durch frühere Verwendung kompromittierter Ausdruck für die jetzt ge- wonnene Erfahrung, dab der Genotypus der Organismen jedenfalls teilweise aus selbstän- digen, trennbaren Elementen („Erbeinheiten“, wie sie auch genannt werden), besteht, die wir eben Gene nennen wollen. In dem Löwenmaul-, Bohnen- und Schneckenbeispielen könnte man versucht sein, von Genen für Rot, für Lippe, für Gelb, für Violett usw. zu reden. Dies ist CcAR Kreuzung einer rotblühenden und weißblühenden Levkoje. Schwarz deutetRot an. Die Buchstaben der P-Formen geben deren hier inter- aber gar nicht berechtigt. Das Auftreten eines Charakters als „Einzeleigenschaft“ ist nämlich, ganz abgesehen vom Einfluß der Lebenslage auf die Art seiner Realisation,von den — man könnte sagen recht zufälligen — Unterschieden zwischen essierende, später zu erklärende genotypischen Beschaffenheiten an; dasselbe gilt für die Buch- staben bei F,. Dagegen bezeichnen die Buchstaben der F,-Generation deren Phänotypen. Das Verhält- nis 3:1 zeigt an, daß hier ein Fall nur einfacher Heterozygoti- tät vorliegt. den bei der betreffenden Kreuzung beteiligten P-Formen abhängig. An Hand der höchst lehrreichen Levkojenkreuzungen Miss Saunders werden wir dieses näher beleuchten. Die betreffenden Figuren (63—75) sind alle freie Kompositionen schematischer Natur, für unsere Diskus- sion der vorliegenden Tatsachen speziell ausgeführt. Auch ist die Darstel- lung der Sache unserem speziellen Zwecke angepaßt. Eine rotblühende Levkoje mit einer weißblühenden gekreuzt, kann ein Resultat ergeben, das ganz mit dem einfachen Schema der Fig. 59 stimmt; vgl. Fig. 63. In diesem Falle liegt somit einfache Heterozygotität bei F, vor. Und „Rot“ erscheint als „Einzeleigenschaft“. Die rote (sowie blaue u. dgl.) Farbe tritt im Zellsaft gelöst auf („Saftfarbe“), während z.B. 102 W. Johannsen. die gelbe oder cremeartige Farbe verschiedener Levkojenformen ihren Sitz in den plasmatischen Strukturen (Chromatophoren) haben. Wird eine cremefarbig blühende Levkoje mit einer weißblühenden gekreuzt, so kann man auch ein ganz einfaches Mendelsches Verhalten finden (Fig. 64). Nach einem solchen Versuch könnte man „Cremefarbig“ als Einzeleigenschaft ansehen. Auch die Flaumhaarigkeit verschiedener saftfarbiger Levkojenrosen kann den Eindruck einer „Einzeleigenschaft“ machen, da nämlich in bestimmten Kreuzungen die Flaumhaarigkeit in ganz einfacher Weise gegenüber Nichthaarigkeit „mendelt“ (Fig. 65). Haarigkeit, Cremefarbe und z. B. rote Saftfarbe wären demnach als charakteristische Einzeleigenschaften der Levkojenrosen anzusehen. Sehr Fig. 64. Fig. 65. ÜC,RR,HH cC,RR - 3 Yı C c ERH Chh Kreuzung einer cremefarbigen und weißen Lerv- Kreuzung einer rotblühend und flaumhaarigen koje. Punktiert gibt ceremefarbig an. Buch- Levkojenrasse mit einer rotblühenden, nicht stabenanordnung wie in Fig. 63. Hier liegt haarigen Rasse. Einfache Heterozygotität, darum einfache Heterozygotität vor, indem die F,-Gene- das Verhältnis wie 3:1 in F,. Buchstabenan- ration das Verhältnis 3:1 der auftretenden Phä- ordnung wie in Fig. 63 angegeben. notypen zeigt. bald aber zeigten sich bei den Levkojenkreuzungen Schwierigkeiten ver- schiedener Art. So konnten gewisse Eigenschaften in eigentümlicher Weise „verkoppelt“ auftreten, wie es z.B. aus Fig. 66 hervorgeht. „Rot“ und „Haarig“, obwohl jede für sich in anderen Kreuzungen als „Einfacheigen- schaften“ auftretend (Fig. 63 und 65), erscheinen hier als nur eine Ein- heit, die man deshalb als Resultat einer „Verkoppelung“ oder als Aus- druck einer „Korrelation“ ansehen könnte. Und, wie die Fig. 67 illustriert, kann es auch bei Kreuzungen vor- kommen, daß P-Formen, die, nach früheren Erfahrungen zu beurteilen, in zwei Punkten differieren sollten, dennoch als F, eine nur einfache He- terozygote bilden. In Fig. 63 war „Rot“ als Einzeleigenschaft aufgetreten, Erblichkeitsforschung. 105 in Fig. 64 war dasselbe mit „Creme“ der Fall; hier aber dominiert „Rot“ über „Creme“ — ganz der älteren Anschauung eines Eigenschaftspaares entsprechend. Und so häuften sich die Schwierigkeiten. Schon Correns und T'scher- mak hatten verdienstliche Arbeiten gerade mit Levkojen gemacht; die (relativ) vollkommenste Lösung der Schwierigkeiten gelang aber erst Miss Saunders und Bateson. Zunächst wurde die Analyse der Eigenschaft „Rot“ ausgeführt. In einer bestimmten Kreuzung von „Rot“ mit „Weiß“ (Fig. 68) wurde F,, wie es zu erwarten war, Rot; aber F, zeigte drei verschiedene Phänotypen, nämlich Rot, Creme und Weiß, und zwar im Verhältnis von 9:3:4. Dieses aber deutet zweifache Heterozygotität an. Fig. 66. Fig. 67. CC,RR,HH RR,HH Ce,RR,HH 3 1.7 cR C Kreuzung einer rotblühenden und haarigen Kreuzung einer rotfarbigen Levkojenrasse mit Levkojenrasse mit einer weißen, nicht haarigen einer eremefarbigen. Hier liegt nur einfache Rasse. Hier ist nur einfache Heterozygotität in Heterozygotität vor, wie das Verhältnis 3:1 F,, darum in F, das Verhältnis 3:1. Buch- andeutet. Buchstabenanordnung wie in Fig. 63. stabenanordnung wie in Fig. 63. Die 4 weißen Individuen pro 16 müssen nämlich verschieden sein: ein Individuum muß ja rein „recessiv“ sein. Und das ganze Resultat zeigt, daß „Rot“ hier nicht eine Einzeleigenschaft war, sondern durch (wenig- stens) zwei Gene bedingt sein muß. Man könnte nicht dagegen einwenden, daß in der roten P-Rasse das Creme vom Rot gewissermaßen nur ver- deckt war: denn wären sowohl Rot als Creme selbständige „Einzeleigen- schaften“, müßten wir hier in F, 9 Rot (mit Creme), 3 Rot allein, 3 Creme und 1 Weiß finden, ganz der Fig. 61 (S. 96) entsprechend. Dort sind ja die beiden fraglichen dominierenden Erscheinungen „Rot“ und „Lippe“ von einander unabhängig; hier aber ist „Rot“ nur als „Creme“ + „Etwas“ auf- zufassen, und wo dieses „Etwas“ allein auftritt, hat man nichts als Weiß. 104 W.Johannsen. Die vier phänotypisch gleichen Weißen der Fig. 68 fallen demnach in zwei Gruppen. Eines von den vier Individuen (pro 16) ist ganz ohne das genannte „Etwas“; von den drei übrigen enthält eines das „Etwas“ homo- zygotisch, während zwei in dieser Beziehung heterozygotisch sind. Dieses „Etwas“ kann nur als ein Faktor aufgefaßt werden, welcher für sich allein nicht speziell zu spüren war, aber, im Zusammenwirken mit dem hier die Reaktion „Creme“ bedingenden Faktor den Charakter „Rot“ hervorruft. „Rot“ ist also eine zusammengesetzte Reaktion, eine Kon- struktion wie es ausgedrückt werden kann. Dieses wird bestätigt durch die Bildung von rotblühenden Individuen mittelst Kreuzung cremefarbig blühender und gewisser weiß- en blühender Formen (Fig. 69). Während somit die Fig. 68 eine Analyse des „Rot“ durch Kreuzung darstellt, illu- striert die Fig. 69 Synthese des „Rot“ bei F\-Bildung. Derartiges Auftreten „neuer Eigenschaften“ in F, hat früher eine große Rolle als Ausdruck des „Atavismus“ gespielt; und man hat oft sehr luftige Spekulationen über x» an „Rückschläge“ zu fernen Vor- sur fahren angestellt. Solche Spe- Ni | | kulationen, die mit der ver- y? Y vr en alteten Auffassung der Erblich- keit als einen „Übertragungs- vorgang“ zusammenhängen, Kreuzung einer rotblühenden Levkojenrasse mit einer weißen. Analyse der Eigenschaft „Rot“. Zweifache Heterozygotität lassen wir hier ganz beiseite; in F,; darum Fy in dem Verhältnis 9:3:3:1 gehalten. Buch- sie fördern die Erblichkeits- stabenanordnung wie in Fig. 63. forschung absolut nicht. Die Entdeckung, dal) selbständige trennbare Einheiten die Charak- tere oder Eigenschaften bedingen, oder richtiger mitbedingen, führt zur Auffassung aller betreffenden Eigentümlichkeiten der Organismen als Re- aktionen der in Frage kommenden Einheiten der genotypischen Grund- lage. Die verschiedenen bei den Phänotypen sich manifestierenden Figen- schaften sind also als Reaktionen des Genenkomplexes zu betrach- ten; und die Bedeutung des einzelnen Genes kann offenbar recht ver- schieden sein, je nach der Anwesenheit oder Abwesenheit anderer Gene. Ein bestimmtes Gen mag viele Reaktionen im Organismus beeinflussen, und umgekehrt mag eine Reaktion durch verschiedene Gene bedingt sein. Dieses letztere ist deutlich mit dem „Rot“ der Fig. 68—-69 der Fall. Es hat dies eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verhalten chemischer Verbindungen oder Lösungen von Stoffgemischen usw. Man gedenke nur Cc,Rr CR Cr ch er Erblichkeitsforschung. 105 der berühmten Stärke-Jod-Reaktion: tiefblaue Farbe. Diese Reaktion ist eine „Konstruktion“ wie das „Rot“ in Fig. 69; Jod, braun + Stärke, weiß, gibt als „neue Eigenschaft“ Tiefblau — so in Fig. 69: Cremefarbig mit Weiß gekreuzt gibt „Rot“. Und wie man in der Chemie eine schön durchgeführte Zeichensprache hat, so ist es ein Ideal der Erblichkeitsforschung, in ähnlicher prä- ziser Weise die Genotypen der Organismen — also die Genenkomplexe, welche die biologischen Reaktionen bedingen — ausdrücken zu können. Hier stehen wir aber bei den allerersten tastenden Anfängen. Die chemischen Formeln der am genauesten bekannten Substanzen geben nicht nur die Zusammensetzung an, z.B. die prozentische Menge von Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff u. a. einer organi- Fig. 69. schen Verbindung, sondern sie deuten wenigstens die Reak- tionsnorm der betreffenden Verbindung an. Und dies ist der Hauptzweck der speziellen Formeln. Jeder kleinste Teil der betreffenden Verbindung a ‚hat die gleiche Reaktionsnorm. | Die genotypische Grund- | lage eines Organismus bedingt dessen Reaktionen, ja sie prägt alle seine Charaktere, von den morphologischen 2& Formcharakteren bis zu den l —— Al ; 3 () ) chemischen Stoffwechseleigen- Y9 13 Y tümlichkeiten einerseits und rn 6 cB Er den Instinkten und Nerven- Kreuzung einer cremefarbigen Levkojenrasse mit einer funktionen andrerseits. Inso- weißen. Konstruktion der Eigenschaft „Rot“. Zweifache He- ° . . terozygotität in F}; darum F, in 9:3:3:1 gespalten. F} ist fern macht eigentlich die gleich F, der Fig.68. Buchstabenanordnung wie in Fig. 63. genotypische Grundlage die Reaktionsnorm des Organismus aus. Was wir hier Gene nennen, sind nicht etwa Gebilde, die speziell ihren „Sitz“ in den Gameten haben und von dort aus — bzw. von der durch Befruchtung entstehenden jungen Zygote aus — die Entwicklung des neuen Individuums „determinieren“. Solche Vorstellungen sind wohl jetzt nicht mehr aufrecht zu halten, ebensowenig wie die Auf- fassung, daß die Gene nur in den Chromosomen der Kerne ihren Platz haben. Die genotypische Grundlage durchdringt offenbar den Gesamt- organismus; jeder kleinste, entwicklungsfähige Teil eines Organismus ist von der betreffenden genotypischen Grundlage geprägt, wie dies sich so augen- scheinlich bei den vegetativen Vermehrungserscheinungen der Pflanzen zeigt. Das Ideal wäre nun durchgeführte genotypische Strukturformel für die verschiedenen Rassen der Organismen, ganz den chemischen Formeln 106 W.Johannsen. entsprechend. Wie weit sind wir aber noch von diesem Ideal entfernt — wie viel komplizierter als chemische Verbindungen sind aber auch die Organismen; die Zellen sind ja eigentlich besser mit ganzen chemischen Laboratorien zu vergleichen ! Die bescheidenste Art, mit genotypischen Formeln anzufangen, ist die, daß man jeden erkannten selbständigen (d. h. bei Kreuzung abspalt- baren) Faktor, also jedes Gen, mit einem Buchstaben bezeichnet. Dabei muß man aber hervorheben, daß der unbekannte Rest das weitaus meiste aus- macht! Ein homozygotischer Organismus wird somit etwa folgende allge- meine Formel haben: AA,HBB; 1C@ BDDESMIE KR, wenn mit X der unbekannte große Rest bezeichnet wird. Ein anderer homozygotischer Organismus mag, soweit die Analyse geführt ist, etwa so auszudrücken sein: Arlenib, DD... . Nr und die Gameten dieser beiden Organismen wären alsdann mit A, B, C, Dar: Aybzwe AND, DR 2: Y auszudrücken. Das heterozygotische „Kreuzungsprodukt“ F, solcher Gameten wäre mit ARM BB, 06: DD. ACH) zu bezeichnen. Der kleine Buchstabe e wird als Zeichen benutzt, um leich- ter mit der Generation #, Rechenschaft zu halten. Mit den a priori un- bekannten X und Y ist aber nicht leicht zu operieren; sie mögen gleich sein, und dann liegt hier einfache Heterozygotität vor — das ganze Resul- tat der Kreuzung muß darüber näher entscheiden. Hier können grobe Überraschungen auftreten. Wir haben schon früher mit solchen Buchstabenformeln gearbeitet, vgl. Fig. 62 nebst Erklärung. Dort traten in anschaulicher Weise Eigen- schaften als „Einheiten“ hervor. Wir sehen jetzt ein, daß dieses nicht sicher maßgebend ist, und wenden uns an die Levkojen der Fig. 68 und 69. Das „Rot“ ist eine Konstruktion aus zwei Genen; wir nennen das eine Gen € (colour-factor nach Miss Saunders) und das andere R (reaction- factor). In Fig. 68 waren also die beiden P-Formen durch die Formeln ne 0 Ba 19 ae ©. a ee charakterisiert; der unbekannte „Rest“ scheint hier offenbar in beiden Rassen gleich zu sein. Die Heterozygote F, ist demnach sr O6 Br EN. und die Spaltung in F, leicht zu berechnen; 4 Gametenverschiedenheiten sind hier möglich, daraus 16 Kombinationen, dem Schema Seite 97 ent- sprechend; für die dortigen Buchstaben Z und 2 brauchen hier nur C und c eingesetzt zu werden. Für Fig. 69 ergibt sich genau das gleiche in bezug auf F\,; hier sind die P-Rassen mit OCEAN IR AR Erblichkeitsforschung. 107 zu bezeichnen; F, wird wiederum .. Ce, Rr... XX und die Spaltung in F, ganz wie vorher. Die faktische genotypische Beschaffenheit von F}, nicht aber die Geschichte seiner Bildung, bedingt die Beschaffenheit von F,. Der Einfluß der persönlichen Beschaffenheit der Vorfahren hat gar nichts zu sagen; in Fig. 68 mag die eine Hälfte der Vorfahren rot, in Fig. 69 creme gefärbt sein ; es ändert dieses nicht im geringsten das Verhältnis a2: 1 m. BP: Die Haarigkeit der saftgefärbten Levkojen wurde aber auch von Miss Saunders analysiert, und damit kommen wir zum Abschluf) dieser schönen, aber immerhin nurrelativen Analysen. Die Fig. 70 illu- Kig« 70. striert eine partielle Ana- CC.RR.HH Iyse des Eigenschaftskom- plexes „Rot und Haarig“. Wir wissen aus Fig. 69, dal) „Rot“ eine Konstruktion aus © und R ist. Wenn also „Rot und Haarig“ mit Creme (dessen Formel hier CC war) gekreuzt wird, so ist F, in bezug auf Rot nur einfach heterozygotisch. Wir können also in F, Rot: Creme im Verhältnis a:l erwarten. Dies stimmt auch; Fig. 70 zeigt 9+3 Rot: 3+1 Creme, also 12:4=3:1. DieHaarig- keit aber tritt in F, im Kreuzung einer rotblühenden, haarigen Rasse mit einer ereme- farbigen. Zweifache Heterozygotität. Partielle Analyse der in Verhältnis 9.7 auf und Fig. 66 als „Einheit“ auftretenden Erscheinung „Rot und = haarig“. Buchstaben näher im Text erwähnt; Anordnung wie stets nur mit Rot kom- in Fig. 63. biniert. 9:7 aber leitet sich aus 9:3:3:1 ab; Rot, unbehaart, tritt ja auch in der Dreizahl pro 16 auf. Somit ist hier in F\, zweifache Heterozygotität vorhanden; und Haarigkeit muß durch die Faktoren für Rot+ „Etwas“ bedingt sein. Nennen wir dieses „Etwas“ H (Haarfaktor), kann die Formel der P-Rassen in Fig. 70 gegeben werden, nämlich LACCHRRRHH SAX: und rIOCH DE CC,Rr,Hhv || \Y 3 \r 1 CAH CrH Crh F, wird mit 39466: Br; Hh,..28 zu bezeichnen sein, und die Spaltung ist leicht zu verstehen. Da (© über- all homozygotisch gegenwärtig ist, hat man nur mit R und H, bzw. r und h zu arbeiten, um F, in 9:3:3:1 einzuteilen. Hier in Fig. 70 treffen wir aber zwei äußerlich nicht zu unterscheidende „Creme“-Phänotypen, 108 W. Johannsen. bzw. mit und ohne AH. Wäre die Kreuzung der Fig. 70 mit Creme CC, HH statt mit CC ausgeführt, so hätte man keine Analyse der „Haarig- keit“ erhalten, sondern einfache Dominanz von „Rot haarig“ über „Creme“ etwa wie in Fig. 66. Die Spaltung der Heterozygote F, (CC, Rr, HH) würde in einem solchen Falle 3 Rote, haarig (von C, R, H geprägt) und 1Creme (C, r, H) ergeben haben. Die relativ vollkommenste Analyse wird erhalten bei der größten Anzahl Differenzpunkte der P-Rassen. Die Fig. 71 illustriert die Miss Saunderssche Analyse der roten, haarigen Levkojen. Aus“ diesem Kreuzungsversuch geht unmittelbar das Ver- Fig. 71. CC,RRHH Cc,Ar,Hh Vs CRh CrH cRH Crh chh crH Die am weitesten geführte Analyse einer rotblühenden, haarigen Levkojenrasse. Drei Differenzpunkte zwischen den P-Rassen; demnach F, dreifach heterozygotisch und Fy im Verhältnis 27:9:9:9:3:3:3:1 gespalten. Buchstabenanordnung wie in Fig. 63, also in der untersten Reihe die Phänotypen präzisierend, ohne Rücksicht auf Homo- oder Hetero- zygotität. Rund H, für sich allein oder im Verein, geben keine hier in Frage kommende Reaktion. hältnis 27 Rot und Haarig:9 Rot:12 Creme:16 Weiß hervor. Hier sind also nur vier Phänotypen in F, realisiert. Es läßt sich das jedoch aus den hier schon erwähnten Erfahrungen sehr leicht verstehen. Wie es die Buchstaben in Fig. 71 präzisieren, kommen zwei genotypisch verschiedene, aber phänotypisch gleiche, eremefarbig blühende (C-)Gruppen vor, eine mit H, eine ohne H; beide selbstverständlich ohne R, vgl. Fig. 70. Und von weib- blühenden Pflanzen kommen gar vier genotypisch verschiedene Gruppen vor, alle phänotypisch gleich; nämlich 1. mit 2 und H, 2. mit R, 3. mit H und 4. ohne beide Faktoren. Die Fig. 66 wird nun leicht verstanden: sie illustriert die Kreuzung einer homozygotisch rot und haarigen Rasse mit einer homozygotisch R und H enthaltenden, weißen Rasse. Und auch die anderen scheinbaren Erblichkeitsforschung. 109 Unregelmäßigkeiten in bezug auf „Einheitlichkeit“ der fraglichen Eigen- schaften (vgl. Fig. 63—65) werden jetzt völlig klar mit Hilfe der den Fig. 72. Cc,Rr,Hh u \ Va NS > 9002. U ee 3 Y 1 cRh CrH cHhH Crh cRh. crH crkv Konstruktion einer Eigenschaft („Haarigkeit“) durch Zusammentreten dreier Gene, und die folgende Spaltung der Fy-Generation. F, und F3"wiefin Fig.i7l. Fig. 73. Cc,RrHh CRh CrH cAH Crh chh crH erh Konstruktion von zwei Eigenschaften („Rot“ und „Haarigkeit“) durch Zusammentreten dreier Gene, und die folgende Spaltung der F,-Generation. F, und F, wie in Fig. 71 und 72. Bildern beigefügten Buchstaben, die also überall diese Bedeutungen haben: © Farbenfaktor, etwa Chromogen bedingend; R Reaktionsfaktor, etwa Oxy- 110 W. Johannsen. dase bedingend, die mit Chromogen Farbenreaktion gibt, und H „Haar- faktor“, welcher eben nur wenn zugleich auch C und R vorhanden sind (neben möglichen anderen hier nicht aufgefundenen Faktoren), eine Haar- bildung als Reaktion bedingt. Die beiden vorhergehenden Fig. 72 und 73 entsprechen, was die Phäno- typen der P-Rassen betrifft, völlig den früheren Fig. 65 und 68 bzw. Fig. 64 und 69. Während aber in Fig. 63 und 64 einfache Hetero- zygotität in F, realisiert war, und in den Fig. 68 und 69 zweifache Heterozygotität auftrat, haben wir hier dreifache Heterozygotität ganz, wie in Fig. 71. Kreuzung einer eremefarbigen Levkojenrasse mit einer weißen, Zweifache Hetero- zygotität liegt vor, kann aber direkt nicht beobachtet werden, indem F, in ein- facher Weise in 3 Creme: 1 Weiß pro 4, also 12:4 pro 16 gespalten ist. Die Beschaffenheit der verschiedenen Gruppen in F, läßt sich nur durch weitere spezielle Kreuzungen erforschen. (Z.B. Gameten mit CH geben mit R vereinigt „Rot, Haarig“; O mit R gibt „Rot“; H mit CR gekreuzt gibt „Rot, Haarig“ usw.) In der Fig.72 wird eine Eigenschaft „konstruiert“; in der Fig. 73 werden zwei Eigenschaften „konstruiert“, während in Fig. 71 nur von Ana- Iyse die Rede sein konnte, indem dort die höchste Komplikation schon in der einen P-Rasse realisiert war. Die gegebenen Levkojenfiguren illustrieren wohl zur Genüge, daß man den Phänotypen nicht immer ansehen kann, wie die betreffenden Organismen genotypisch beschaffen sind. Um aber dieses noch stärker einzuprägen, seien hier die Fig. 74 und 75 beige- fügt. Aus der ersten wird ersichtlich, daß das Zahlenverhältnis 3:1 zweier Phänotypen eigentlich gar keine Garantie gibt, daß nur einfache Hetero- zygotität in F, vorliegt. Und Fig. 75, die eine sozusagen ganz blinde Kreuzung darstellt, in welcher sogar zweifache Heterozygotität obwaltet, Erblichkeitsforschung. 111 zeigt in eigentlich fast entmutigender Weise, daß eine anscheinend ganz einheitliche Rasse aus genotypisch recht verschieden beschaffenen Indivi- duen bestehen kann, deren Unterschiede nicht durch einfache Nachkommen- beurteilung erkannt werden können. In solchen Fällen läßt sich eine Be- standesanalyse nach dem Prinzip der reinen Linien nicht ausführen. Und wird eine solche anscheinend reine Rasse zu Kreuzungsversuchen verwendet, so können sehr große Unregelmäßigkeiten auftreten, die als mit Mendels Gesetzen unvereinbar aufgefaßt werden können — bis eine durchgeführte Analyse vorliegt! Gerade mit den Albinos unter den Tieren, speziell mit Kaninchen, Mäusen und anderen Nagern, hat man sehr interessante Erfahrungen ge- „Blinde“ Kreuzung weißer Levkojen mit zwei genotypischen Differenzpunkten. Alle Individuen einem einzigen Phänotypus gehörig: anscheinend also Repräsen- tanten einer und derselben Rasse. macht. Cuenot war wohl der erste, welcher erkannte, daß Albinos recht verschiedene genotypische Faktoren der Farbenbildung enthalten können, und daß daraus bei Kreuzungen recht komplizierte Verhältnisse resultieren können. Die am weitesten durchgeführten Kreuzungsanalysen bei diesen wegen ihrer Fruchtbarkeit für die Erblichkeitsforschung besonders geeig- neten Tieren sind von dem amerikanischen Forscher W. E. Castle aus- geführt worden. Anfangs hatte es den Anschein, als ob die betreffenden Farben- Vererbungsverhältnisse nicht dem Mendelschen Schema entsprechen würden. Castle und seine Mitarbeiter haben aber jetzt in überzeugender Weise ge- zeigt, daß hier wirklich völlige Übereinstimmung vorliegt. Castle hat für die Farbeneigenschaften der Kaninchen wenigstens 8 verschiedene Faktoren (Gene) nachgewiesen, durch deren Zusammen- FI> W.Johannsen. wirken die Farben und Muster der Haare dieser Tiere bedingt sind. Es würde viel zu weit führen, hier darauf näher einzugehen; es sei aber die Gametenformel der Farbe des wildgrauen Kaninchens mitgeteilt, wie sie Castle dargestellt hat. Die 8 Faktoren, welche diese vermutlich „höchst komplizierte“ Farbe (das „Rot und behaart“ der Fig. 71 entsprechend) bedingen, sind 1. ein Farbenfaktor, mit C (Chromogen) bezeichnet; 2. ein zweiter Farben- faktor, mit Y (yellow, gelb) bezeichnet, welcher mit C meist gelbe Farbe bedingt, übrigens für alle anderen Farbenreaktionen auch nötig ist; 3. ein Faktor, welcher — mit © und Y — Braun bedingt, B’; 4. ein Faktor, welcher — mit C und Y Schwarz hervorruft, 5 (black, schwarz) und welcher, wenn B” vorhanden, das Braune ganz decken kann; 5. ein Faktor für Intensität der Farbe, J, welcher die Farbenintensität bedingt; fehlt. dieser Faktor, so wird die Farbenreaktion geschwächt, z. B. wird Schwarz blaugrau usw.; 6. ein Faktor für gleichmäßige Verteilung der Farbenreak- tionen, mit U (Uniformität) bezeichnet; fehlt U, wird das Tier gescheckt; 7. ein Faktor für die Ausbreitung der Farbe, mit E (Extension) bezeich- net; fehlt E, bleibt die braune bzw. schwarze Farbe auf Extremitäten und Augen begrenzt: die gelbe Farbe wird aber dabei nicht affiziert. Endlich ist 8. ein Faktor als Sprenkelungsfaktor zu nennen, mit A (agouti = wildgrau gesprengelt) bezeichnet, welcher bewirkt, das jedes einzelne Haar — wenn sonst Farbenreaktion vorliegt — gesprenkelt wird. Die Gametenformel für das komplett ausgestattete Tier wird nun, wie folgt, von Castle gegeben: a Hier wird zunächst die „zentrale“ Bedeutung von C angedeutet; ferner auch die Wichtigkeit von Y als Vermittler für B und B” pointiert. Daß E nur auf die durch 3 und B” bedingten Farben wirkt, tritt klar in der Formel hervor, wie auch die Bedeutung von U und J. Ob A den passendsten Platz erhalten hat, mag dahingestellt sein. Jedenfalls sehen wir hier ein interessantes, wenn auch nur proviso- risches und höchst revisionsbedürftiges Analogon zu den chemischen For- meln. Ob es nicht richtiger wäre, mit einem Faktor für Scheckung (etwa mit S als Bezeichnung) zu operieren, somit statt 7 in der obigen Formel s (fehlendes S), und ferner mit einem Faktor für Begrenzung der Farbe, etwa R (Restriktion), statt mit # — in der Formel also mit r statt E zu operieren — werden wir hier nicht diskutieren. Was als po- sitiv oder negativ angesehen werden muß, läßt sich, wie schon S. 100 ge- sagt, nicht leicht bestimmen. Die Relativität aller genotypischen Bezeich- nungen ist ja nur zu einleuchtend für den kritischen Forscher. Erblichkeitsforschung. 113 Bei Pflanzen hat Baur, in Fortsetzung seiner oben benutzten Ar- beiten mit Antirrhinum, eine große Reihe von Genen, sogar über 20, nachgewiesen, welche die Farben, Zeichnungen und Formen der Krone beeinflussen. Daß die Komplikationen der betreffenden Reaktionen dabei sehr groß sein können, ist einleuchtend. Es gehört ein kolossal großes Material dazu, alle möglichen Kombinationen realisiert zu sehen. Wenn nun auch der Umstand erwähnt wird, daß oft einige der Genen-Kombinationen weniger resistent als andere sind, bzw. nicht oder nur kurze Zeit lebensfähig sind, so wird klar, daß die Kreuzungsforschung mit großen Perturbationen ihrer Gesetze rechnen muß. Und es wird nur zu leicht verständlich, daß manchmal an die Berechtigung der Mendel- schen Grundauffassung der „Spaltungs“ursachen gezweifelt worden ist. Selbst wo die Verhältnisse relativ einfach sind, können die zufälligen Variationen im Material Störungen bedingen, die nicht gleich zu verstehen sind. In sehr vielen Fällen aber hat man so schöne Übereinstim- mungen zwischen Beobachtung und Berechnung nach den Mendelschen Voraussetzungen gefunden, daß diese jedenfalls in gar vielen Fällen als berechtigt angesehen werden müssen. In anderen Fällen hat nähere Nachforschung die speziellen Gründe der Perturbation aufgedeckt, und diese Fälle sind dadurch erst recht Bestätiger des Mendelismus ge- worden. Ein einziges Beispiel mag genügen. Correns fand gelegentlich, daß die zu erwartende Spaltung des einfach heterozygotischen Bastardes aus einem Zuckermais (mit runzeligen durchscheinenden Körnern) und Stärkemais (mit prallen nicht durchscheinenden Körnern) in drei „Stärke“ :1 „Zucker“ nicht richtig erfolgte. Von 8924 Fs-Körnern waren 7531 pralle Stärkemaiskörner, während nur 1393 runzelige Zuckermais- körner waren. Dies ergibt das Verhältnis 3376:0°'624 pro 4. Der für zu- fällige Variation erlaubte Spielraum in diesem Falle (durch den sogenannten theoretischen mittleren Fehler, hier — 0'018, gemessen) ist bei weitem nicht so groß, daß dadurch die Abweichung 0'376 erklärt werden kann. Hier stimmt ganz einfach das Mendelsche Verhältnis nicht! Correns aber zeigte, daß hier keine wirkliche Ausnahme von Mendels Voraussetzung vorliegt. Denn wurde die F,-Generation nur mittelst Pollen von Zucker- mais befruchtet, so wurden in gleicher Anzahl runzelige und pralle Körner erhalten. Und dies entspricht ja ganz den Mendelschen Voraussetzungen. Die Gameten-Genotypen, etwa A... und a.. einer einfachen Heterozygote, Aa...., müssen, mit lauter recessiv geprägten Gameten, a.., vereinigt, in gleicher Anzahl dominierend, Aa.. und recessiv, aa..., geprägte In- dividuen ergeben. Durch diese ebenso einfache als präzise experimentelle Behandlung der Frage war die Schwierigkeit hier entfernt: offenbar konnten bei der freiwilligen Bestäubung der F,-Generation die Pollenkörner mit dem Faktor der Stärkebildung schneller keimen oder sonst arbeiten als die anderen Pollenkörner. Nicht immer ist die Sache so leicht zu klären. Und viele Schwierig- keiten harren noch der Erklärung. Eine Komplikation tritt auch gar nicht E. Abderhalden, Fortschritte. III. 8 114 W.Johannsen. selten dadurch ein, daß eine einfache Heterozygote, Aa.... qualitativ sowohl von AA.... als von aa... abweicht. Solche Fälle sind als he- terozygotische Konstruktionen zu bezeichnen. Gewisse Bohnenrassen, deren Samenschale einfarbig ist, z. B. weiß, gelb, braun usw., werden, wenn sie sich kreuzen, in #, Samen bilden, deren Schale gefleckt, marmoriert, ist. Und in A, tritt diese Eigenschaft im Verhältnis 2:2 pro 4 auf. Shull hat dieses Verhalten als Ausdruck heterozygotischer Konstruktion erkannt. Meistens sind übrigens derartige Musterbildungen in der Schale Eigen- schaften, die auch sehr wohl homozygotisch bedingt sein können, also als feste Rassencharaktere auftreten können. Berühmt sind die von Bateson studierten „blauen“ Andalusierhühner, die als heterozygotische Konstruktion aus einer schwarzen und einer weiß- schwarzgefleckten Rasse gebildet werden. Sie sind nur heterozygotisch realisierbar und „spalten“ stets in 1 Schwarz: 2 Andalusier: 1 Weiß- schwarzgefleckte pro 4. Sie werden darum auch stets durch Kreuzung „gemacht“. Allmählich solche Vorkommnisse verstehend, arbeitet sich der Men- delismus rüstig vorwärts. Die Charaktere, physische wie intellektuelle und moralische, der Menschen werden jetzt auch mit sehr gutem Erfolg vom Mendelschen Standpunkt studiert. Hurst, und jetzt namentlich auch Daven- port, haben in sehr verdienstlicher Weise auf diesem Gebiete gearbeitet; auch die Pathologen haben jetzt vielfach der Sache erneutes Interesse zu- gewendet. Augenfarbe (ob rein blau bzw. blaugrau oder mit braun pig- mentiert; diese Pigmentation dominierend), Haarfarbe (mehr kompliziert; rothaarig recessiv) und eine ganze Reihe von angeborenen Fehlern (Zwei- gliedrigkeit der Finger über normal dominierend ; Nachtblindheit über normal dominierend; Farbenblindheit u. a. m. kompliziert und mit Einflub der Sexualität usw.) sind schon in ihrer Übereinstimmung mit den Mendel- schen Regeln nachgewiesen; und jetzt scheint es sogar höchst wahrschein- lich zu sein, daß die berühmte Mulattenfrage im Sinne des Mendelismus zu lösen ist. Daß die Mulattenfarbe intramediär zwischen Neger und Weiß ist, ließe sich ohne weiteres begreifen (etwa Fig. 58, S. 95 entsprechend). Die Behauptung aber, daß die Mulattennachkommen eine im ganzen konstant „halb“gefärbte Rasse bilden, und daß auch die weiteren Verdünnungsgrade der Farbe („Quarteronen“ usw. benannt) Ausdrücke ganz kontinuierlicher Übergänge der hier in Frage kommenden genotypischen Grundlage sind, steht ja recht augenfällig in Widerspruch mit dem Mendelismus. Die ganz neuen Arbeiten Davenports lassen aber keinen Zweifel mehr zu, daß wir hier nur anscheinend allmählich ineinander übergehende Gradationen haben; es dreht sich offenbar um eine Serie von Genen als Mitbedinger der Farbe. Davenport hat ganz entschieden deutliche Fälle von Abspaltung sehr heller Nachkommen aus Mulattenfamilien gefunden, und die ganze Sache erinnert an die von Nilsson-Ehle nachgewiesene genotypische Komplizität der rot- braunen Farbe der Körner gewisser Weizenvarietäten. Erblichkeitsforschung. 115 Überhaupt tritt die Frage jetzt stark in den Vordergrund der For- schung, ob es überhaupt Fälle gibt, wo Heterozygotität ohne Spaltung bei den Nachkommen möglich ist. Einige Fälle, die früher angeführt wurden, haben sich direkt als irrig erwiesen; und Langs und Easts Auseinander- setzungen und Experimente, mit den Nilsson-Ehleschen Erfahrungen über- einstimmend, weisen darauf hin, daß anscheinend „nichtspaltende intra- mediäre Kreuzungsprodukte* nur Ausdrücke unvollständig durchgeführter Analysen sind. In dieser Weise sind die von East selbst angegebenen Befunde für Mais und andere Pflanzen leicht zu verstehen; und die Castleschen Unter- suchungen mit Kaninchenkreuzungen, die in bezug auf Dimensionen der verschiedenen Organe, z.B. Ohrenlänge, anscheinend „nichtspaltende Mittel- formen“ ergaben, können der Kritik wohl nicht widerstehen. Während Castle in bezug auf Farben die schon erwähnten schönen Resultate erreichte, die für die weitere Entwicklung der Erblichkeits- forschung ganz wesentliche Bedeutung haben werden, sind seine Unter- suchungen mit den Dimensionsfaktoren schon dadurch unmaßgebend, daß sie gar nicht die naheliegende Möglichkeit berücksichtigen, daß die bei den Farbenreaktionen beteiligten Gene auch auf die Dimensionen Einfluß haben können. Sehen wir ja doch, daß, die Farbenfaktoren der Levkojen auch bei der Reaktion „Haarbildung“ beteiligt waren; und bei meinen Bohnen- kreuzungen habe ich nachweisen können, daß gewisse der farbenbedingenden Gene auch ganz bedeutenden Einfluß auf Größe und Form der Bohnen haben können. Da nun Castles zur Beleuchtung der Dimensionsverhält- nisse herbeigezogenen Kreuzungen in bezug auf Farbenunterschiede höchst verschiedengradige Heterozygotität betreffen, lassen sie sich eigentlich nicht für den Zweck verwerten. Immer und immer muß daran festgehalten werden, daß einerseits phänotypisch einheitliche Reaktionen durch die An- wesenheit mehrerer Gene bedingt sein können (wie „Haarig“ der Levkojen durch wenigstens ©, R und H, vgl. Fig. 73) und andrerseits ein ein- zelnes Gen mehrere Eigenschaften beeinflussen bzw. mitbestimmen kann (wie z.B. © oder R sowohl die Farbe als die Haarigkeit der Levkojen betrifft). In bezug auf das Vorkommen nichtspaltender Heterozygoten muß auch daran erinnert werden, daß Apogamie (hier: Bildung keimungs- fähiger Samen ohne Befruchtung, also ohne vorausgehende Gametenbildung) in bestimmten Fällen, z.B. bei Hieraciumbastarden die Nichtspaltung völlig erklärt, ohne daß damit die Mendelschen Voraussetzungen auch nur im allergeringsten affiziert werden. Die wichtigen Arbeiten von Ostenfeld und Rosenberg haben die Frage der Apogamie auf diesem Gebiete klar gelegt. Hatte ja Mendel bei seinen Hieraciumbastarden Spaltung nicht finden können, und somit selbst von seinen Regeln Ausnahmen konstatiert — die also jetzt nicht mehr als solche anzusehen sind. Die Furcht, daß die Anzahl der zu berücksichtigenden Gene ins Ungereimte anwachsen könne, ist gelegentlich ausgesprochen worden. Dabei 8* 116 W.Johannsen. ist aber zu bedenken, daf die nachgewiesenen „Faktoren“ alle ganz provi- sorischer Art sind, da das Resultat jeder Kreuzungsanalyse von der Anzahl der genotypischen Differenzpunkte der P-Formen abhängt. Höchst wahrscheinlich wird die Zukunft zeigen, daß viele bei einer „Eigenschaft“ beteiligten Faktoren auch mitwirkende Faktoren bei der Realisierung ganz anderer Charaktere sind. Ist dieses richtig, dann wird der jetzige Zustand des Mendelismus, durch die schnell anwachsende Anzahl neuer genotypischer Faktoren charakterisiert, von einer Periode abgelöst werden, in welcher viele solcher Faktoren identifiziert werden. Jedenfalls ist die genannte Furcht wohl übertrieben: die enormerweise zunehmende Anzahl der Kombinations- möglichkeiten bei Zunahme der selbständigen, abspaltenden Gene ist in dieser Verbindung auch von Interesse als beschwichtigendes Moment. Eine Frage von allergrößtem Interesse, nämlich das Problem der Ge- schlechtsbestimmung, steht jetzt im Vordergrund der Forschung. Schon Bateson hat in seinen frühesten Studien über Variationen behauptet, daß der Geschlechtsdimorphismus in Verbindung mit den diskontinuierlichen Variationserscheinungen stehen muß; und seine Schule ist es auch ge- wesen, welche die ersten einschneidenden Untersuchungen durchgeführt hat. Auf zoologischem Gebiete haben Doncaster u. a., namentlich die ameri- kanischen Forscher Wilson, Hunt Morgan und Spiüllmann, auf botanischem Gebiete besonders Correns sowie Raunkiär die Frage behandelt. Als Hauptresultat geht hervor, daß das Geschlecht einer Zygote durch die genotypische Beschaffenheit der zur Zygote sich vereinigenden Gameten bestimmt ist. Jedenfalls gilt dieses, wo von scharf getrennten Geschlechtern (wie bei den meisten Tieren) die Rede ist. Die näheren Umstände der Geschlechtsbestimmung sind in diesen Fällen vielleicht bei verschiedenen Organismen verschieden; es scheint aber, daß das eine Geschlecht homozygotisch bedingt ist, das andere dagegen heterozygotisch, und daß es sich dabei um nur einfache Heterozygotität dreht. Nach Doncaster ist anzunehmen, dal) sein Objekt, der Schmetter- ling Abraxas grossulariata, homozygotisch maskuline Männchen und heterozygotisch feminine Weibchen habe, also mit Dominanz der Weiblich- keit. Falls man bei dieser Heterozygotität das die Weiblichkeit bedingende dominierende Gen mit dem Buchstaben W bezeichnet, so wäre eine weibliche Zygote mit Ww und eine männliche mit ww zu bezeichnen, indem w ja nur das Fehlen von W rechnungsmäßig ausdrücken soll. Und wie schon früher (S.100) betont wurde, ist dabei noch gar nichts über Positi- vität oder Negativität des Faktors W gesagt. Die Befruchtung der Weibchen, Ww, von dem Männchen, ww, welche ja nur Gameten einer Art, nämlich w, führen, ergibt die beiden Kombinationen Ww und ww in gleicher Häufigkeit, was auch ganz wohl mit der Erfahrung stimmt. Für andere Fälle könnte man aber an die Männchen als heterozygo- tisch und an die Weibchen als homozygotisch denken. Wären aber beide Geschlechter ursprünglich homozygotisch, so müßten die Nachkommen ent- weder im Verhältnis 3:1 geschlechtlich differenziert sein oder in 1 männ- Erblichkeitsforschung. ER? lich :2 hermaphrodit: 1 weiblich geteilt sein; beides stimmt aber nicht mit der Erfahrung. Auf die sehr komplizierte Beweisführung Doncasters und der übrigen Forscher kann schon aus Platzrücksichten hier nicht eingegangen werden. Daß es bei gewissen Insekten schon den Gameten angesehen werden kann, ob sie feminin oder maskulin determiniert sind, indem im ersteren Falle ein überzähliges Chromosom vorhanden ist, bestätigt selbstverständlich in schöner Weise die Auffassung, dal nachträgliche Behandlung des be- fruchteten Eies oder des Fötus (etwa wie S. L. Schenk mit seinen Diät- vorschriften u. dgl. seinerzeit empfehlen wollte) gar keinen Einfluß auf die Sexualität haben wird. Aber solche Befunde beweisen ebenso selbstver- ständlich nicht, daß die betreffenden Chromosomen bzw. deren Abwesen- heit die Ursache der Geschlechtsbestimmung seien. Sicher ist nur, daß sie sehr früh erkenntliche Symptome des Geschlechtsbestimmtseins sind. Das Mikroskop kann nun einmal nicht die Erblichkeitsgesetze klarlegen, wieviel auch dieses behauptet worden ist. Gerade bei den hier in aller Kürze erwähnten Studien über Geschlechts- bestimmung wurden viele Fälle gefunden, bei denen spezielle Gene ge- wöhnlich mit dem einen der geschlechtsbestimmenden Faktoren verbunden waren, jedoch unter besonderen Umständen mit dem anderen Geschlechts- faktor vereint auftreten konnten. Dieses ganze Studium scheint sehr viel zu versprechen, wie auch die schönen Untersuchungen über Polymorphis- mus der Schmetterlingsweibehen, welche de Meijere und Punnet ausgeführt haben. Für die auch medizinisch höchst wichtige Frage der geschlechts- gebundenen Abnormitäten und für das Studium der sekundären Geschlechts- charaktere, der rudimentären Organe u.a. m. können derartige Unter- suchungen wie auch die Meisenheimerschen Arbeiten große Bedeutung er- halten. Es muß aber hier genügen, das Interesse dieser Probleme zu er- wähnen. II. Blicken wir auf die Forschung des Mendelismus zurück, so er- kennen wir, daß das Hauptresultat der gesamten Arbeit in der schönsten Übereinstimmung mit den Resultaten der Forschung nach dem Prinzip der reinen Linien steht: das feste in der unübersehbaren Mannigfaltig- keit und dem ewigen Wechsel der Organismenwelt sind die Genotypen oder vielmehr die einzelnen Gene, also die einheitlichen Faktoren der organischen Reaktionsnormen. Die berühmte „Selektion“ ist als Mittel zur Veränderung der Geno- typen völlig irrelevant; nicht die persönliche, phänotypische Beschaffenheit eines Organismus ist das erbliche, und Erblichkeit besteht nicht in einer „Überführung“ persönlicher Eigenschaften auf die Nachkommen. Die Sach- lage ist ganz umgekehrt: die persönliche Beschaffenheit ist eine Funktion der genotypischen Grundlage, die ihrerseits — in allen den hier be- sprochenen Fällen wenigstens — völlig unabhängig vom phänotypischen 118 W. Johannsen. Charakter der Eltern bzw. Vorfahrengenerationen ist! Und wir sahen, daß nicht die Geschichte der Bildung oder der Konstruktion eines Genotypus für das Verhalten der betreffenden Organismen maßgebend ist, sondern, dal) einzig und allein die tatsächlich realisierte Beschaffenheit des Geno- typus in Frage kommt. Es ist dies ganz wie mit chemischen Körpern; sie haben keine präjudizierende Vorgeschichte. Wasser, H, O, ist immer Wasser und reagiert immer als solches, wie auch die Geschichte oder die Geschichten seiner Elemente 4, H und O gewesen sind. Diese scharf radikal formulierte „ahistorische* Auffassung steht im schroffsten Wider- spruche zu den älteren Auffassungen der Erblichkeit als eine Überführungs- sache, bei welcher eo ipso die Geschichte der früheren Generationen von Bedeutung sein sollte, und für welche die Bestimmung des vermeintlichen anzestralen Einflusses von Wichtigkeit sein mußte. Alle Erfahrungen der Bestandesanalyse mittelst reiner Linien und der Eigenschaftsanalyse mittelst Kreuzung gehen samt und sonders darauf aus, dal) ein anzestraler Einfluß in diesem Sinne, ein „Atavismus“ als eine Form von „Gedächtnis“ früherer Zustände oder Reaktionen im Orga- nismus gar nicht existiert. Darbishires schöne Arbeit mit dem klassischen Objekt Mendels, grünen und gelben Erbsen, bestätigt diese Auffassung in direkter Weise. Die glatte Abspaltung der Gene redet ja auch in der allerdeutlichsten Weise dafür. Die durch Befruchtung gezeugten Or- ganismen sind als Reaktionsprodukte des in der betreffenden Zygote realisierten genotypischen Status aufzufassen, wie dieses wohl am deut- lichsten bei den verschiedenen „neuen Konstruktionen“ (vgl. die Fig. 71 bis 73) hervortritt. So liegen die Dinge in streng theoretischer Fassung. In der Natur oder in den besten chemischen Fabriken sind die chemischen Körper wohl fast nie- mals ganz rein zu haben. Die Geschichte eines Präparates mag mitunter durch Unreinheiten angedeutet werden. Es wäre aber eine schöne Chemie, die nicht von solchen wechselnden Unreinheiten abstrahieren wollte. Was die Erblich- keitsforschung betrifft, so treffen wir hier als Analogon die Frage, ob die Reaktionen der genotypischen Konstruktion einer Gamete nicht gelegentlich von zufälligen oder anhängenden „Verunreinigungen“ seitens der Eltern- individuen beeinflußt werden können. Und wir sehen sofort eine lange Reihe solcher Fälle angeführt: die vielen Beispiele sogenannter „falscher“ Erblichkeit, wie z. B. Infektionen der Gameten oder Zygoten mit den Mikroorganismen der Tuberkulose, Syphilis usw. Solche Fälle können den Eindruck „erblicher Überführung“ oder „anzestralen Einflusses“ machen —., daß sie aber auch gar nichts mit der genotypischen Auffassung der Erblichkeit zu tun haben, ist wohl jedem Unbefangenen klar. Es gibt aber auch schwierige Fälle, wie z. B. die von Correns und Baur studierte, nur durch die Mutterpflanze „überführbare“ Weißbuntheit verschiedener Pflanzen, über die aber die Akten noch gar nicht geschlossen sind. Derartige Schwierigkeiten sind aber mit Freude zu begrüßen, denn sie verschärfen die Methoden sowie die Auffassungen — und Erblichkeitsforschung. 119 der herkömmliche Begriff „Erblichkeit“ hat wahrlich sehr viel Klärung nötig. Die großen direkten Beeinflussungen in bezug auf Größe, Form und teil- weise auch auf die vorläufige chemische Beschaffenheit der Embryonen bzw. der noch zarten Jungen, welche vom mütterlichen Organismus ausgehen können — der Fötus wird ja sozusagen in der Form des mütterlichen Organismus gegossen und von ihm zeitweilig ernährt —, dürfen auch nicht mit Verer- bung in der genotypischen Bedeutung des Wortes verwechselt werden. So ist die vorläufige Immunität gegen gewisse Gifte, welche von der Mutter auf den Fötus überführt werden kann, durchaus keine Vererbungserschei- nung. Ähnliches gilt für die Samen z.B. eines Baumes, welcher hartem Klima ausgesetzt ist: die Samen reifen am Baum unter denselben klima- tischen Bedingungen und somit werden die jungen Embryonen ähnlichen Bedingungen ausgesetzt wie der Mutterbaum selbst. Haben diese speziellen Bedingungen eine bleibende Wirkung auf die in den Samen liegenden Embryonen gehabt, so ist dieses selbstverständlich nicht mit Erblichkeit seitens des Baumes zu verwechseln. Solche Verwechslungen kommen aber doch gelegentlich vor. Ist also das Hauptresultat unserer Forschung die Auffassung, daß feste „Erbeinheiten“ (Gene, genotypische Faktoren oder wie man sie nun nennen mag) die Gesamtheit der bis jetzt erkannten Manifestationen wahrer Erblichkeit bedingen, so muß man darin eine Analogie zu den Erfahrungen der Chemie sehen. Die atomistische Struktur einer Substanz bedingt deren Reaktionen, wie die genotypische Beschaffenheit die Lebens- erscheinungen eines Organismus bedingt; vielleicht aber ist es mehr adäquat, den Genotypus mit einem komplizierten organischen Molekül, zahl- reiche Radikale und Seitenketten führend, zu vergleichen. Und ein wesentlicher Zug in dieser Analogisierung ist dabei die Dis- kontinuität. Die Moleküle sind diskontinuierlich verschieden, so auch die Genotypen, wie wir sie auffassen müssen. Die Heterozygotenspaltung, das Nichtmischen der Genotypen, sondern die Unabhängigkeit und freie Kombinierbarkeit der Gene sind lauter Ausdrücke der Diskontinuität, des stoß- oder sprungweisen Unterschieds der Genotypen. Nun haben uns aber die weiter durchgeführten Bestandesanalysen gelehrt. daß in gegebenen Beständen — sogar homozygotischer Selbstbe- stäuber wie z. B. vieler Bohnen-, Erbsen-, Gersterassen usw. — weit zahl- reichere genotypische Unterschiede vorhanden sind, als man im Anfange der Analysen nach dem Prinzip der reinen Linien vermutete. Die aus einem Bestande isolierten Biotypen („reine Rassen“) sind oft in bezug auf eine gegebene Eigenschaft sehr wenig verschieden; meistens zeigen sie allerdings in bezug auf andere Charaktere größere Unterschiede — eine Tatsache, der wir hier aber nicht näher treten werden. Die genannten sehr kleinen Unterschiede für sich betrachtet, scheinen aber zu beweisen, dal ganz kontinuierliche Gradationen vorhanden sind, nicht nur zwischen 120 W.Johannsen. Individuen (vel. die Fig. 56 und 57) und Phänotypen, sondern auch zwischen den zugrunde liegenden Genotypen selbst. Räumen wir dieses auch ein (indem wir also von den anderen Eigen- schaften und ihren Korrelationen mit dem fraglichen Charakter ganz ab- sehen), so akzeptieren wir also sozusagen „kontinuierliche Übergänge“ zwischen den Biotypen. Aber „Übergänge“ ist ein sehr zweideutiges Wort. Hier ist nur von statischen Übergängen die Rede, wie wir sie in Samm- lungen aller Art sehen — von genetischen Übergängen ist dabei aber noch gar nicht die Rede! Wie Galton schon längst scharf betont hat, ist aber „Kontinuität in Museen“ durchaus nicht mit „Kontinuität im Ur- sprung“ zu verwechseln. Alle die bisher beobachteten Änderungen in geno- typischer Beschaffenheit — von den klar erkannten Abspaltungen bis zu den noch unerklärten „Mutationen“ — haben sich samt und sonders als deutliche Sprünge, als diskontinuierlich, gezeigt. So auch in meinen eigenen Untersuchungen. Aus dem status quo eines Bestandes kann nun einmal nicht ohneweiters auf dessen genetische Geschichte geschlossen werden — daß aber gerade den Museumsforschern die Vorstellung einer kontinuier- lichen Evolution nahe steht, ist recht begreiflich. Mit der Erfahrung stimmt sie aber nicht! Wir sind dabei zur Frage der Mutation gelangt. Mit diesem Worte bezeichnet man die jetzt gar nicht selten beobachteten diskontinuierlichen Änderungen des Genotypus eines Organismus. Seit dem Erscheinen des berühmten De Vriesschen Werkes: „Die Mutationstheorie“ ist diese alte Bezeichnung wieder in vielfache Anwendung gekommen. Offenbar sind sehr viele hierher gerechnete Beobachtungen als Folgen von Heterozygoten- spaltungen aufzufassen und die nähere Zukunft wird wohl hier manches klären. Selbst die schönen grundlegenden Beobachtungen von de Vries über Mutationen der Nachtkerzenspezies Oenothera Lamarckiana werden jetzt von verschiedenen Forschern als Heterozygotenspaltungen aufgefaßt, — ob diese Auffassung aber überall hier zutrifft, ist wohl ziemlich zweifelhaft. In reinen Linien meiner Bohnen- und Gerstekulturen habe ich selbst gelegentlich unzweideutige Mutationen gefunden, so — um nur ein einziges Beispiel zu nennen — in bezug auf Bohnendimensionen. Ganz unvermittelt trat ineiner bis dahin genotypisch völlig konstanten reinen Linie ein Individuum auf, dessen Samen eine andere Größe und Form hatten, als sonst für die Linie charakteristisch war. Die Beweise dafür, daß keine Kreuzung hier mit- gewirkt hat, sind zu weitläufig, um hier angeführt zu werden, nur sei gesagt, daß diese Linie die einzige weißblühende meiner Kulturen war; Kreuzung hätte also nicht unentdeckt bleiben können. Der Unterschied in der Länge der Bohnen zwischen Mutterform und Mutante könnte durch Fig. 56 A und B ganz gut illustriert sein; es dreht sich um eine deut- liche Diskontinuität. Das Prägnante der Erscheinung ist selbstverständlich die Erblichkeit: der Genotypus der Mutante ist eben vom Genotypus der Erblichkeitsforschung. 121 ursprünglichen Form diskontinuierlich verschieden. Wir kommen auf diese Frage später zurück. Wo die Mutationen unvermittelt, sozusagen „zufällig“ auftreten, ist ihre Ursache nachträglich nicht zu finden. Dal) viele Mutationen in Ver- lust eines Genes (z. B. während den Zellteilungen, die zur Gametenbildung führen) bestehen, ist ziemlich klar — Beispiele werden wir hier aber nicht anführen, indem solche zufällige Vorkommnisse wenig geeignet sind, Licht auf die hier interessierenden Grundprobleme zu werfen. Nur sei gesagt, daß Kreuzung von Mutanten mit der Ursprungsrasse oft sehr einfache Spal- tungsverhältnisse in F, zeigen. Für die Forschung viel wichtiger als die „zufälligen“ Mutationen sind die experimentell hervorgerufenen Genotypusänderungen oder also die „künstlich hervorgerufenen Mutationen“. Hier sind die Forschungen von Tower, Mac Dougal, Blaringhem u. a. sowie die älteren Arbeiten von Standfuss, Schröder, Hansen u. a. zu nennen. Es würde aber viel zu weit führen, die betreffenden Experimente hier näher zu betrachten. Wo die Versuche genügend durchgeführt wurden, zeigte sich stets bei Kreuzung der „neu hervorgerufenen Form“ mit der „Ursprungsform“ ein den Mendelschen Regeln folgendes Verhalten. Hier seien die Towerschen Experimente als die umfassendsten und lehrreichsten hervorgehoben ; einige der anderen Experimente werden wir noch später zu berücksichtigen haben. Tower arbeitete mit Kartoffelkäfern (Leptinotarsa decemlineata). Wurden diese Insekten im Puppenstadium einige Zeit einer Temperatur von etwa 35°C und trockener Luft ausgesetzt, so erhielten die fertigen Käfer eine von der normalen abweichende Farbe. Diese abweichende Farbe wird aber nicht bei den Nachkommen wiedergefunden; sie ist hier also nicht erblich, sondern nur persönlich. Wenn aber normale Käfer, in welchen die Gameten in Entwicklung waren, der Hitze und Trockenheit ausgesetzt wurden, stellte sich die Sache anders: Die erwachsenen Käfer selbst wurden in ihrer Farbe — die ja nunmehr „fertig“ ausgebildet war — nicht geändert, aber die Nachkommen erhielten das erwähnte Ge- präge der Hitze und Trockenheit, also die abweichende Farbe, als fortan erbliche Eigenschaft. Die Realisation einer neuen Eigenschaft, hier die aberrative Farbe, bei den Eltern persönlich, wurde also nicht von einer entsprechenden genotypischen Änderung der in diesen Eltern sich später bildenden Ga- meten gefolgt. Und, umgekehrt, die Beeinflussung der genotypischen Grund- lage der Gameten durch die Hitzewirkung — sozusagen quer durch die Elterntiere — kann ohne Änderung der Beschaffenheit dieser Elterntiere selbst erfolgen. Man könnte hier sagen, die Eltern seien allerdings in be- zug auf ihre Farbe nun einmal fertig, aber in ihrem „Inneren“ sind doch solche Änderungen vorgegangen, dal sie „eigentlich“ eine andere Farbe repräsentieren, was eben die Nachkommen zeigen. So aber ist es gar nicht! 122 W.Johannsen. Die Weibchen der Kartoffelkäfer legen ihre Eier nicht auf einmal; die Eier reifen vielmehr in fünf Perioden, etwa mit einer Woche Zwischenraum. Waren nun die Käfer eine Zeitlang der Hitze und Trocken- heit ausgesetzt und hatten sie in dieser Periode etwa dreimal eine Por- tion Eier gelegt — aus welchen also, selbst unter späteren normalen Ver- hältnissen viele hitzegeprägte Tiere sich entwickeln — so ließ sie Tower unter normalen kühleren Bedingungen weiter leben. Die beiden letzten Portionen der Eier, welche nunmehr produziert wurden, ergaben lauter normale Käfer. Die Hitze wirkt also direkt auf die Eier in einer bestimmten Entwicklungsphase, und zwar derart, daß die geno- typische Beschaffenheit geändert wird. Und diese Wirkung ist nicht von einer Änderung der elterlichen Beschaffenheit bedingt — denn wir haben ja eben gesehen, daß die später gelegten Eier nicht alteriert waren. Die hier in Frage kommenden äußeren Faktoren können also ent- weder die Eier genotypisch ändern, oder es werden die Individuen selbst — ohne Einfluß auf die genotypische Beschaffenheit der später sich ent- wickelnden Eier — geändert. Durch diese glänzenden Arbeiten hat man eingesehen, daß die früher oft angenommene erbliche Umprägung durch Beeinflussung des Körpers und „Überführung“ der Um- prägung auf die Eier mit allergrößter Skepsis zu betrachten ist. Dies gilt z. B. von den gerade auch durch Hitze — oder aber durch Kälte — verursachten erblichen Farbenänderungen gewisser Schmetterlinge, über welche Resultate Weismann schon längst sich im Sinne der viel späteren Towerschen Resultate ausgesprochen hat. Das allerinteressanteste der Towerschen Arbeit ist die Tatsache, daß die durch Hitze neu gewonnenen Formen, mit den ursprünglichen gekreuzt, ein einfaches Mendelsches Schema der F,-Spaltung zeigen. Hier liegt also eine künstlich hervorgerufene Mutation vor, die in der Bildung einer neuen Form mit nur einem Differenzpunkt von der Urform besteht. Und es hat sich gezeigt, daß verschiedene Mutanten auf diesem Wege ent- stehen können. Von irgend einer besonderen „Anpassung“ ist hier gar nicht die Rede, ebensowenig wie dies in den soeben erwähnten Schmet- terlingsversuchen der Fall war: Durch Hitze oder durch Kälte wurden nämlich hier stets die gleichen Aberrationen hervorgebracht, die also nicht als adaptive Reaktionen anzusehen sind, sondern als spezifische Störungen im Genotypus (insofern sie auch bei den Nachkommen auf- traten). Wir brauchen gar nicht auf die hochmodernen Versuche, durch allerlei Eingriffe wie Verwundungen (Blaringhem), Einspritzung in den (rynäceen (Mac Dougal) usw. Mutation hervorzurufen, näher einzugehen. Die Resultate sind noch nicht diskussionsreif. Die Hauptsache ist, daß alle wirklich durchgeführten Versuche, in denen genotypische Änderungen her- vorgerufen sind, stets gezeigt haben, daß stoßweise genotypische Änderungen erzeugt sind, und daß Kreuzung mit den ursprünglichen reinen Rassen Mendelsche Spaltungen zeigen. Erblichkeitsforschung. 123 Durch alle die hier erwähnten Forschungen, nach dem Prinzip der reinen Linien, nach Mendelscher Art, und mit künstlicher Hervorrufung der Mutationen, geht wie ein roter Faden, als Grundresultat und Grund- auffassung, die Einsicht, daß die persönliche Beschaffenheit eines Organis- mus für die Erblichkeit eigentlich ganz irrelevant ist: Die Ontogenese ist Funktion der genotypischen Beschaffenheit der Zygote, also der sich ver- einigenden Gameten — aber die genotypische Beschaffenheit der Gameten ist nicht Funktion der realisierten persönlichen Beschaffenheit (des Phäno- typus) des betreffenden Organismus. Dies ist das Alpha und Omega der sogenannten exakten Frblichkeitsforschung der Jetztzeit; und es dürfte richtig sein, dies immer und immer in aller Schärfe hervorzuheben. Denn diese Auffassung ist, trotz reiner Linien, Mendelismus und Mutationen, noch lange nicht bei allen Biologen durchgedrungen. Und dieses ist nur zu begrüßen, denn im Kampfe der Meinungen mehren sich die For- schungsresultate und schärft sich die Kritik. Unter den Biologen, welche die „phänotypische Auffassung“ der Erblichkeit festhalten, die Auf- fassung also, daß die während der Ontogenese realisierte Beschaffenheit eines Organismus Einfluß auf die Beschaffenheit der Gameten dieses Or- ganismus haben, finden sich viele hervorragende Forscher. In den „Fort- schritten der naturwissenschaftlichen Forschung“ (Bd. 2) hat R. Semon in ausführlicher Weise die „phänotypische Auffassung“ verteidigt. Hier ist demgemäß nicht näher auf diese Frage einzugehen; von einer Gegenschrift ist auch gar nicht die Rede. Semon ist in der Wirklichkeit ganz unbe- einflußt von dem Prinzip der reinen Linien geblieben, wie es z.B. aus seiner Herbeiholung allerlei alter Angaben in bezug auf erbliche Anpassun- gen u. dgl. (etwa Schübelers Arbeiten usw.) deutlich hervorgeht. Auch die Bedeutung der Mendelschen Spaltungen sowie der „Konstruktionen“ der Eigenschaften, wie wir sie hier erwähnt haben, hat Semon in ganz an- derer Weise wie wir erfaßt. Es möge dem Leser der „Fortschritte“ völlig überlassen bleiben, ob er die Semonschen Auseinandersetzungen gutheißen wird, oder ob er sie — mit uns — als unberechtigt oder gar ungereimt verwerfen wird. Die hier gegebene Darstellung der „genotypischen Auffassung“ der Erblichkeit ist Ja mit Semons Gedankengang, mit der Annahme einer die Erblich- keit beeinflussenden „Mneme*“ völlig unvereinbar. Auf Semons in vielen Beziehungen sehr lehrreiche Abhandlung gehen wir aber jetzt nicht mehr ein. In älterer Zeit, vor Einführung der Reinkulturen — bei Mikroorga- nismen sowie bei höheren Pflanzen — wurde höchst unrein gearbeitet. Was konnte da nicht alles als Resultat von „Anpassung“ erhalten werden. Mittelst vermeintlich „erblicher Anpassung“ und mittelst „Selektion“ konnte man aus gegebenen Beständen allerlei neue Rassen züchten. Was die Selektion betrifft, ist schon im Abschnitt I das Nötige gesagt. Und mit der erblichen Anpassung steht es genau — aber auch genau — eben- so. Vermeintliche erbliche Anpassung, wo sie überhaupt gefunden worden ist, betrifft Populationen, welche genotypische Verschiedenheiten umfassen. Die 124 W.Johannsen. schönen Arbeiten des früh verstorbenen dänischen Züchters N. P. Nielsen- Tystofte über Anpassung, z. B. des Weizens an Kälte, zeigten, daß nur von Ausmerzen der weniger resistenten Biotypen die Rede war, und daß reine Linien sich nicht erblich besser der Kälte anpassen lassen. Und was In- fusorien und Mikroorganismen betrifft — die doch vermeintlich viel leichter adaptiv umgeprägt werden sollten — steht es ebenso. Jennings Versuche mit Paramäcium, die Selektions-Unwirksamkeit ergeben (vgl. S. 85), zeigten dementsprechend auch, daß keine erbliche An- passung im Sinne der Lamarckianer realisiert wurde. Und haben nicht Hansens berühmte Hefekulturen dasselbe gesagt: Hefe einer bestimmten Reinkultur, bei etwa 7° gehalten, bildet mycelienähnliche Zellreihen; bei 32° aber runde, isolierte Zellen. Ob nun auch diese Bedingungen durch ungezählte Generationen wirkten, es wurde absolut keine „erbliche Ände- rung“ hervorgerufen. Und €. O. Jensens Arbeiten mit Colibakterien, die er in bezug auf ihre verschiedene Gärtätigkeit ausführte, zeigten mit seltener Eleganz, daß die früher von verschiedenen Verfassern angegebene sukzessive Gewöhnung an Gärtätigkeit auf der übersehenen Einmengung anderer, sehr kleiner Mikroorganismen beruhte! Und so fortan immer und immer dieselbe Sache: erbliche Selektionswirkung und erbliche Anpassung werden — ana- log den Spiritistenresultaten — stets in ihrer wahren Natur als Folgen „unreiner“ Arbeit erkannt! Das ist eine peinliche „Erbschaft“ des Darwinismus und des durch den Darwinismus wieder zutage geförderten Lamarckismus, daß „Selek- tion und erbliche Anpassung“ als Fundamentalfaktoren für die En t- stehung neuer Lebenstypen angesehen werden — ganze (Generationen von Biologen sind von diesem Dogma infiziert. Es wirkt fast wehmütig, die klareren Auffassungen hervorragender Forscher der vor-darwinischen Epoche hier zu erwähnen. So sagte De Candolle 1855, daß jedesmal, wenn vom Einfluß des Klimas auf die Pflanzen die Frage war, er sich genötigt sah, die Auffasuung zu bekämpfen, daß Akkli- matisation möglich sei, d. h. eine Änderung der Natur der Spezies, durch welche sie mehr geeignet würden, den ungünstigen Einflüssen eines Klimas zu widerstehen. Er spricht über eine solche Akklimatisation als „reine Einbildung der Kultur“. Und wenden wir uns an Lowis Leveque de Vilmorin, den großen bahnbrechenden Pflanzenzüchter, so treffen wir bei ihm die scharf- formulierte Aussprache, daß alles, was er in seiner Wirksamkeit erfahren hat, gegen die Annahme einer erblichen Anpassung spricht. Wie hat in der Zwischenzeit nicht der vereinigte Darwinismus und Lamarckismus den Gedankengang der Biologen beeinflußt! In sehr vielen Beziehungen zum Guten, aber wahrlich nicht in allen! Das gemeinsam Grundfehlerhafte des Darwinismus und des Lamarckismus ist ja eben die uralte, hippokratische, ganz naive Auffassung der persönlichen Beschaffen- heit als die bei der Vererbung „zu überführende“ Erbschaft. Erbliebkeitsforschung. 125 Nun aber, wird man sagen, es läßt sich doch, wie Tower u. A. nach- gewiesen haben, die genotypische Grundlage ändern. Streiten wir uns so- mit nur um bloße Wörter? Mit nichten. Der Streit ist ebenso scharf wie der Streit zwischen Copernicianer und Ptolemäer: Dreht sich die Erde um die Sonne oder — wie jedermann „sehen“ kann —- geht die Sonne um die Erde? Und doch, hier ist als höhere Einheit die allgemeine Gravitation gefunden. Ein besseres Bild ist die Phlogistontheorie Stahls gegen die Lavoisiersche Chemie; wahrlich Wörter sind es nicht, sondern tiefgehende Konzeptionen, deren Gegensatz in Frage kommt. Darum sind auch solche Untersuchungen, wie sie der ausgezeichnete österreichische Zoologe P. Kammerer neuerdings ausgeführt hat, mit der größten Freude zu begrüßen. Kammerer hat mit verschiedenen Tieren ge- arbeitet, vor allem mit Salamandern und Fröschen. Die am schönsten und am weitesten durchgeführten Experimente betreffen die Geburtshelferkröte, Alytes obstetricans. Bei dieser Kröte erfolgt, wie Kammerer näher beleuchtet, Umklammerung der Geschlechter und Ablage der Eier auf dem Lande; es wird dabei eine verhältnismäßig geringe Anzahl von Eiern her- vorgebracht, die aber infolge ihres Dotterreichtums groß und hellfarbig erscheinen. Die Gallerthülle, welche diese Eier zu einer Schnur verbindet, kann in der Luft nicht quellen, sondern trocknet ein und schmiegt sich dicht der Oberfläche des Eies an. Das väterliche Tier leistet seinem Weib- chen Geburtshilfe, indem es ihm die Laichschnur aus der Kloake zieht; an der Laichschnur selbst leistet es Brutpflege, indem es sie um seine Hinterschenkel wickelt und hier so lange herumträgt (Fig. 76), bis die Eier ausschlüpfreif sind. Zu diesem Zeitpunkt begibt sich der Vater mit seiner Bürde ins Wasser, wo die Larven ihre Hülle sprengen. Die aus- kriechenden Larven besitzen schon innere Kiemen, haben also hier eine relativ weite Entwicklung innerhalb der Eihülle durchgemacht. Der übrige Entwicklungsgang vollzieht sich dann wieder in Übereinstimmung mit dem der anderen Frösche und Kröten : zweibeinige Larve, vierbeinige Larve, Schrumpfen des Schwanzes und Übersiedlung ans feste Land. Kammerer gibt an, daß er den Entwicklungsgang der Geburtshelfer- kröte in dreierlei Richtung hat ändern können. Für uns hat eigentlich nur die eine dieser Versuchsserien wirkliches Interesse; hier dreht es sich um erbliche Änderung des charakteristischen Instinktes.. Hält man, sagt Kammerer, die zeugungsfähigen Geburtshelferkröten in einer hohen Tem- peratur von 25—30° 0, so geben sie die geschilderte Brutpflege vollstän- dig auf und kehren zu den primitiven Zeugungsgewohnheiten der übrigen Froschlurche zurück. Die ihnen ungewohnte Hitze veranlaßt nämlich die Tiere, in dem ihnen stets zur Verfügung stehenden Wasserbecken Kühlung zu suchen; hier finden sich jetzt die Geschlechter und eben hier finden auch Begattungen und Eiablagen statt. In dem Augenblick aber, wenn die Gallerthülle jetzt mit Wasser in Berührung tritt, quillt sie auf, verliert dadurch ihre Klebrigkeit und selbstredend ihre Eigenschaft, sich später beim Eintrocknen — welches eben gar nicht stattfindet — um die Schen- 126 W.Johannsen. kel des Männchens fest zusammenzuziehen; es ist also dem Männchen unmöglich, die Laichschnur auf seinen Hintergliedmaßen zu befestigen. Die Laichschnur bleibt deshalb im Wasser liegen, wo sich trotz der fremden Umgebung etliche Eier zu entwickeln vermögen. In dem Maße, als das Aufsuchen des Wassers und die dortige Erledigung des Fortpflanzungsge- schäftes ohne Brutpflege zur Gewohnheit wird, so daß sich die Tiere schließlich auch ohne den Zwang der übermäßig hohen Temperatur ebenso benehmen, in dem Maße treten an den Eiern und Larven gewisse Verän- derungen auf, welche weiteren Rückannäherungen zur ursprünglichen Zeu- eungsart der Kröten entsprechen. Die Zahl der Eier und ihre Fähigkeit, sich unter Wasser zu entwickeln, hat ansehnlich zugenommen; dafür sind die Wassereier dotterärmer als Landeier, daher kleiner und anders — dunkler — gefärbt. Nur dank der gequollenen Gallertschicht erscheinen sie ebenso groß wie früher. Aus ihnen schlüpfen die Larven in zeitigerem Stadium aus, nämlich wenn sie noch die äußeren Kiemen haben. Diese Anpassungsgeschichte der Individuen ist mit Kammerers eigenen Worten gegeben, und soll hier gar nicht kommentiert werden; der Leser mag sich selbst ein Urteil über diese immerhin sehr inter- essante Vorarbeit bilden. Das für uns Wesentliche sind aber die hier ge- fundenen Erblichkeitsverhältnisse. Es zeigte sich zunächst, daß die Nachkommen der in bezug auf den erwähnten Instinkt veränderten Kröten alle auch „verändert“ waren, d.h. sie legten ihre Eier in Wasser und leisteten auch keine Geburtshilfe. Kammerer führte nun Kreuzungen zwischen „veränderten“ und nicht ver- änderten, also „normalen“ Kröten aus, und zwar in den hier möglichen beiden Weisen: „verändertes“ Männchen mit „normalem“ Weibchen, sowie „normales“ Männchen mit „verändertem“ Weibchen (Fig. 76). Als diese letztere Kreuzung ausgeführt wurde und die Nachkommen (F\, der Fig. 76) sich alle als „normal“ zeigten, dachte Kammerer nichts anderes, „als daß die Instinktveränderung infolge Hinzuziehung des normalen Männchens in der Elterngeneration endgültig erloschen sei. Allein sie kam in der Enkel- generation (F,) fast genau bei einem Viertel der Nachkommen wieder zum Vorschein; die übrigen drei Viertel dieser Nachkommengeneration sind normal. Die umgekehrte Kreuzung, normales Weibchen mit abgeändertem Männchen, hatte folgendes Ergebnis : die erste Nachkommengeneration hält sich abermals ausnahmslos an das Muster des Vaters, trägt somit in sämtlichen Individuen die vom Experiment hervorgerufene Fortpflanzungs- veränderung zur Schau, die Weibchen wasserlegend, die Männchen nicht brutpflegend. Die zweite Nachkommengeneration ist zu einem Viertel nor- mal, zu restlichen drei Viertel verändert“. Und Kammerer sagt ferner, daß es ohne weiteres klar ist, daß diese Kreuzungen sich den Mendelschen Regeln einreihen, aber das dominante Merkmal bindet sich hier an den Vater, und je nachdem, ob wir ein Männchen mit dieser oder jener Eigenschaft zur Zucht verwenden, tritt ein Wechsel in der Dominanz ein. Daß dieser Wechsel mit der Ver- Erblichkeitsforschung. 127 teilung der in Betracht kommenden Instinkte auf die beiden Geschlechter etwas zu tun hat, hebt Kammerer selbst hervor. Wir berühren dabei die verwickelte Frage der Geschlechtsbestimmung, bei welcher auch sehr wechselnde Dominanzerscheinungen als Folgephänomene bekannt sind. Fig. 76. Fz Schema der Kreuzung eines „normalen“ brutpflegenden Alytes-Männchens mit einem „ver- änderten“ (in Wasser eierlegenden) Weibchen. (Nach Kammerer.) Männchen, Weib- chen. Schraffierung gibt Wasser an und bezeichnet die betreffenden Tiere als „verändert“. Für das „veränderte“ Männchen in der F,-Generation ist als weitere Signatur die unbe- achtet neben ihm liegende Laichschnur angedeutet. Es zeigt sich hier Dominanz der Eigenschaft „normal“ und demgemäß Spaltung in F, im Verhältnis 3:1. Darauf brauchen wir aber gar nicht einzugehen; sagt ja Kammerer selbst: „Doch ist dieses zunächst nebensächlich im Vergleich zu dem wichtigen Ergebnis, daß erworbene Eigenschaften sich nicht nur überhaupt vererben, sondern sich in der Mischung mit unverändert gebliebenen Merkmalen auch der Mendelschen Regel fügen; die erworbene Eigenschaft hat hier- 128 W. Johannsen. durch Gelegenheit, aus der Mengung mit anderen Eigenschaften zu einem gewissen Prozentsatz rein hervorzugehen und daher trotz jener Vermen- gung erhalten zu bleiben.“ Das ganze Resultat dieser Untersuchung hat — was die Erblichkeit betrifft — eine gewisse Ähnlichkeit mit den Towerschen Resultaten: durch Hitze und geänderte Feuchtigkeitsverhältnisse wurde eine genotypische Änderung hervorgerufen, die bei Kreuzung — wie stets bei solchen Muta- tionen — dem Mendelschen Schema folgt. Soweit die Aammerersche Schil- derung den Anpassungsvorgang der Versuchsindividuen an die geänderte Lebenslage beleuchtet, scheint es, daß diese Individuen in bezug auf Eier- ablegung und Größe (Ernährung) der Eier sukzessive geändert werden. Möglicherweise wurden also bei gewissen Individuen Übergangszustände — wohl nur phänotypisch — realisiert. Bei der Kreuzung der „veränderten“ Tiere aber ist von gar keinem Übergang die Rede, was doch wohl nach Kammerers Voraussetzungen eigentlich zu erwarten wäre. Nun, der ganzen Geschichte der „Veränderung“ der Hitzeindividuen wollen wir nicht folgen: wir gehen gerne von der Vor- aussetzung aus, daß hier anfangs genotypisch einheitliches Material vor- handen war. Nur läßt es sich hier aber gar nicht sagen, ob nicht die Eier direkt von den geänderten Lebenslagefaktoren — ganz wie bei Tower — beeinflußt sind. Der Beweis, daß die primär „veränderten“ Tiere ihre persönliche Instinktveränderung (falls sie, streng genommen, eine solche aufweisen und nicht nur zwangsweise handelten) auf ihre Gameten überführt haben, ist aber gar nicht erbracht. Und das Mendelsche Ver- halten ist ja doch ein strikter Gegenbeweis, was die späteren Generationen betrifft! Denken wir uns heterozygotisch brutpflegende Kröten, wie sie in Fig. 76 in 50°/, der F,-Generation auftreten, und folgen wir fortan nur den heterozygotischen Nachkommen weiter. Dann bildet sich Generation nach Generation in ihnen, stets nur 50°/, Gameten mit dem Gene, wel- cher bei dem Brutpflegeinstinkt (bzw. deren Fehlen) im Spiele ist — aber 50°/, der Gameten sind immer und immer wieder frei von diesem Gene! Nun kann doch offenbar eine persönliche Eigenschaft, die sogar im Zentralnervensystem irgendwie repräsentiert sein muß, und deshalb tief in dem „Wesen des Individuums“ wurzelt, unter solchen Verhältnissen gar keinen „überführenden“ Einfluß gehabt haben! In die Heterozygote wurde eben das gebracht, was später auf die Hälfte der Gameten verteilt wird; mit dem gegebenen Pfunde wurde nur in gewöhnlicher autokatalytischer Weise (wie mit allen Lebenselementen, die sich vermehren) gewuchert —, aber wo in aller Welt bleibt hier die Spur einer Überführung der persön- lich realisierten Beschaffenheit des Individuums? Die „freie“ Hälfte der Gameten sind Zeugen der gänzlichen Unfähigkeit der He- terozygote, mehr zu geben, als sie in Gametenmitgabe selbst er- halten hat. Das ist die wahre Bedeutung des Mendelschen Verhal- tens hier. Erblichkeitsforschung. 129 Die sogenannte „Mneme“lehre Semons, sowie die Auffassung verschie- dener anderer über Erblichkeit sich äußernder Schriftsteller, daß besonders die psychischen Zustände eines organischen Wesens die Nachkommen- beschaffenheit erblich mitbedingen, und daß überhaupt die Erblichkeit ge- wissermaßen als eine Art körperlichen Gedächtnisses aufgefaßt werden müsse — alles derartiges wird wohl durch Kammerers hier zitiertes Ex- periment sozusagen im Nu hinfällig. Für die Forscher, die überhaupt mit den Erfahrungen über reine Linien und sonst mit Mendelismus vertraut sind, bietet Kammerers Arbeit aber eine interessante Bestätigung der „geno- typischen“ Konzeption der FErblichkeit. Oder wollen die Psychovitalisten etwa behaupten, dal) eine arme, nur heterozygotisch brutpflegende Kröte (oder, aus anderer Kreuzung, etwa eine heterozygotisch wasserlegende Kröte) nur mit der halben Seele dem Instinkte folgt, während die harmonisch veranlagten Homozygoten nicht nur mit Leib, sondern auch mit ganzer Seele wirken? Und haben die He- terozygoten unter oder hinter der realisierten instinktiven Aktivität etwa ein ebenso mächtiges, passiv psychisches Prinzip, das genau so viele Ga- meten für sich gewinnen kann, wie das realisierte Instinkt! Ja, wer weiß, was ausgeklügelt werden kann. Wer im Banne der Überführungslehre steht, ist vor solchen Spekulationen nicht zu retten! Also, die Erblichkeit ist offenbar nicht eine Überführung per- sönlicher, psychischer oder körperlicher Eigenschaften; die persönlichen Eigenschaften sind Funktionen der genotypischen Beschaffenheit der Zygote, wie die Reaktionen chemischer Körper Funktionen des atomistischen bzw. energetischen Baues derselben sind. — Auf die Hypothesen über Natur der Gene bzw. Genenkomplexe u. dgl. kann hier nicht eingegangen werden; nur sei betont, daß der Verfasser dieser Arbeit wenig geneigt ist, an besondere Lokalisation der Gene in den Zellen zu denken. Die genotypische Beschaffenheit durchdringt wohl den ganzen Organismus. Weiter aber auf Hypothesen einzugehen, liegt nicht im Plan dieser Abhandlung, und manche hierher gehörende Frage wurde dementsprechend gar nicht berührt. Eine sehr wichtige Sache muß aber hier erwähnt werden. Es wurde gesagt, daß die verschiedenen Genotypen diskontinuierlich verschie- den sind, etwa wie chemische Körper es sind. Und eine Mutation wird demnach in einer „stoßweisen“ Genotypenänderung bestehen. Die Tower- schen Resultate sowie die hier erwähnten Kammererschen Resultate geben wohl — neben anderen — Beispiele solcher durch äußere Beeinflussungen hervorgerufenen Mutationen. Bei den in der Natur gefundenen Mutationen kennt man die Ursache der Veränderung nicht — in allen Fällen kann man sagen, daß die Genotypenänderung stoßweise, diskontinuiert vorgeht. Die Genotypen oder, was dasselbe bedeutet, die Reaktions- normen der Organismen sind demnach fest, wie etwa die Reak- tionsnormen chemischer Gebilde. Und wie ein chemisches Gebilde — etwa ein komplexes Radikal — seine feste Reaktionsnorm hat, bis E. Abderhalden, Fortschritte. III. [) 130 W. Johannsen. durch besondere Eingriffe seine eigene Konstitution diskontinuirlich alte- riert wird, so auch die Organismen. Diese Festheit der genotypischen Konstitutionen und die damit zu- sammenhängende Diskontinuität zwischen den verschiedenen voneinander sich ableitenden Genotypen, bilden wesentliche Konzeptionen der Erblich- keitsforschung, wie sie durch Mendelismus und das Prinzip der reinen Li- nien vertreten ist. Diese Konzeptionen aber, besonders die Auffassung der Diskontinuität sind — ganz abgesehen vom Lamarckismus — von ver- schiedenen Biologen sehr eifrig bekämpft worden. Unter diesen Angreifern ist wohl Woltereck der hervorragendste Forscher, den wir hier als Re- präsentanten seiner Richtung betrachten werden. In einer sehr interessanten Arbeit über Experimente mit Daphniden findet Woltereck zunächst keine Wirkung von Selektion in reinen Linien (Reinkulturen von einem Individuum stammend — hier ist von unge- schlechtlicher Vermehrung die Rede, wie in Jennings S. 85 erwähnten Ar- beiten); ferner beschreibt er selbst eine diskontinuierliche Änderung einer Rasse, also eine Mutation in dem hier erwähnten Sinne. Und seine Ver- suche, die Organismen allmählich adaptiv umzuprägen — Lamarcks An- schauungen entsprechend — gaben ihm bis jetzt kein sicheres Resultat. Alles, was Woltereck als Resultate seiner Versuche mitteilt, stimmt vor- züglich mit unserer Auffassung überein. Wie hängt aber das Gesehene von den Augen ab! Woltereck be- kennt ganz offen seinen Glauben an kontinuierliche Entwicklung und erklärt die ganze Motivierung der neuen genotypischen Auffassung als „harte Schläge“ für einen überzeugten Selektionisten. Seine Abhandlung soll derartige Schläge parieren. Nun können seine vorher erwähnten Re- sultate nicht für die Parade benutzt werden; sie stimmen ganz auffallend gut mit der zu bekämpfenden Auffassung. Seine Argumente müssen von anderen Beobachtungen genommen werden; und einige sehr instruktive Re- sultate aus Kulturen bei variierenden Lebensbedingungen haben ihm sein schweres Geschütz geliefert. In einer sehr anschaulichen Weise präsentiert uns Woltereck „Phä- notypenkurven“ verschiedener reiner Linien (Rassen). Diese Kurven sind graphische Schemen, welche für die betreffende Rasse den mittleren Grad oder Intensität irgend eines Charakters unter verschiedenen Bedingungen ausdrücken. Als Beispiel sei erwähnt die Kopflänge der Daphnien bei armer, mittelguter und reichlicher Ernährung. Derartige Phänotypenkurven der verschiedenen Charaktere einer Rasse sind offenbar von großem Wert für das Verständnis der Lebenserscheinungen der betreffenden Rasse; Figurenreihen wie unsere Fig. 50 (S. 73) sind leicht in solche Phänotypen- kurven (hier Jahreskurve) umzuschreiben. Solche Serienbeobachtungen markieren unzweifelhaft einen bedeutenden Fortschritt der deskriptiven Methoden. Die Woltereckschen Daphniaphänotypenkurven zeigen nun mitunter ziemlich konstante Differenzen zwischen den zu vergleichenden reinen Erblichkeitsforschung. 131 Rassen. Meistens aber ist dieses nicht der Fall. Speziell bei extremen Be- dingungen, z. B. bei armer oder gerade bei sehr reichlicher Fütterung laufen einige der Kurven zusammen, d. h. die verschiedenen Rassen zeigen dann keinen Unterschied. Derartige interessante Angaben entsprechen völlig den durch unsere Fig. 51 illustrierten Verhältnissen der Daphnien- formen verschiedener dänischer Seen: im Sommer großer Unterschied, im Winter kein Unterschied — zu sehen! Nun behauptet Woltereck, dal) diese Erfahrungen unvereinbar mit der Existenz konstanter Differenzen zwischen den Genotypen sind. In dieser Behauptung aber hat der ausgezeichnete Forscher nicht Recht. Denn die phänotypischen Erscheinungen bezüglich der verschiedenen Charaktere also die Reaktionen der genotypischen Konstitutionen — können unter verschiedenen äußeren Bedingungen alle möglichen Übergänge und Abstufungen zeigen, wie wir es so gut bei Fluktuationen kennen (vgl. die Fig. 56 und 57). Und dieser Umstand hat ja absolut nichts mit Konstanz oder Inkonstanz der genotypischen Differenzen zu tun. Vielleicht ist es nützlich oder gar nötig, durch Beispiele die Sache einzuschärfen. Also: die Temperatur hat großen Einfluß auf die Intensität vieler Blütenfarben: z. B. können bei Fliederblüten alle Schattierungen von gesättigtem Rotblau bis zum weißesten Weiß durch Treiben der „gefärbten“ Varietäten in verschiedener Temperatur entstehen. Die rein weiß blühenden Individuen sind — was die Farbe betrifft — phänotypisch nicht von den genotypisch „rein weißen“ zu unterscheiden. Niemand würde aber hier an genotypische Übergänge glauben. Reine Linien von Bohnen mögen in einem Jahre recht verschieden in der Größe sein, A etwa B übertreffend. Im nächsten Jahre mag B die größere sein oder beide mögen ungefähr gleich groß ausfallen (solches Ver- halten trägt selbstverständlich auch zu der S. 120 erwähnten „Kontinuität in Museen“ bei, die so viel Verwirrung gemacht hat). Bodenunterschiede bedingen ähnliche Verschiebungen der Unterschiede bei Pflanzenrassen, und es ist eine bekannte Sache, daß z. B. gewisse reine Linien von Weizen viel mehr als andere auf reichem Boden produzieren, während das Umgekehrte für mageren Boden zutrifft usw. In vier nacheinander folgenden Jahren zeigten zwei reine Linien von Gerste, beide durch eine große Neigung zur Schartenbildung (Abor- tierung der Früchte) charakterisiert, die folgenden Phänotypen, als Schar- tigkeitsprozent angegeben: Reine Einie Li 7. 30 7337 27929 BRenesEn®e’G::) N 2 DA E Die Genotypenunterschiede sind aber nichtsdestoweniger in allen der- artigen Fällen ganz konstant (bis eben Mutationen bzw. Neukombinationen bei Kreuzung und Spaltung eintreten). Die Reaktionsnormen der Woltereckschen Organismen sowie der anderen hier erwähnten Organismen sind eo ipso konstant verschieden, gerade- 9%* 132 W.Johannsen. so wie die Reaktionsnormen verschiedener chemischer Verbindungen. Die Ana- logie mit chemischen Gebilden — deren strukturelle oder konstitutionelle Differenzen als diskontinuierlich gegeben sind —, betreffend mag es vielleicht nicht überflüssig sein, zu erwähnen, daß man oft „Reaktionskurven“ haben kann, die Wolterecks „Phänotypenkurven“ ähnlich sehen. Es genügt als Beispiel die Temperaturkurven für die Löslichkeit verschiedener Natron- und an- derer Salze hier anzuführen. Diese Kurven interferieren in verschiedener Weise, schneiden sich oder fließen teilweise zusammen usw., ganz wie die Woltereckschen Phänotypenkurven. Das Wesentliche der ganzen Sache ist selbstverständlich, daß eine spezielle genotypische Konstitution immer in gleicher Weise unter identischen Bedingungen reagiert — wie alle chemischen oder physikalischen Gebilde es tun müssen. Unterschiede in genotypischer Konstitution (sowie Unterschiede in chemischer oder physikalischer Natur überhaupt) sind nicht gezwungen, sich stets — und noch weniger sich stets in gleicher Weise — zu manifestieren. Mitunter mögen sogar spe- zielle Bedingungen erforderlich sein für die Verwirklichung von Reaktions- möglichkeiten („Potenzen“, wie einige Autoren sagen), die einer besonde- ren genotypischen (oder chemisch-physikalischen) Konstitution eigentüm- lich sind. Dies ist eine altbekannte Tatsache für Physiologie und Züchtung, besonders wohl für die feinere Gartenkunst. Und namentlich Baur hat schon längst auf die Bedeutung dieses Umstandes für die Mendelsche For- schungsart hingewiesen. Wolterecks Kritik betreffend die genotypische Diskontinuität ist somit auf einem Nichtvertrautsein mit dem neuen Begriffe Genotypus basiert, Immer und immer aber treffen wir in der biologischen Literatur die Ver- wechslung von Phänotypus mit Genotypus — eben weil wir mitten in einer gärenden Übergangszeit in der biologischen Forschung stehen. En ” * Noch viele andere Erblichkeitsfragen spezieller Art hätten passend hier behandelt werden können. Das Mitgeteilte mag aber genügen, um ein Bild der Arbeitsweise und der allgemeinen Resultate der heutigen Erblich- keitsforschung zu geben. Demgemäl) haben wir nicht die Frage der vege- tativen Bastardierung berührt; es sei hier nur gesagt, dal) die vermeint- lichen Pfropfhybride sich als eigenartige „Zusammenwuchs“-Phänomene ohne gegenseitige Beeinflussung der genotypischen Grundlagen ge- zeigt haben. Nachdem Winkler zunächst neben derartigen Bildungen, „Chimären“ wie er sie nennt, auch wirkliche Pfropfhybride von Solanum nigrum und Lycopersicum (Tomate) gebildet zu haben glaubte, hat Baur durch eine Reihe weitergehender Arbeiten es höchstwahrscheinlich gemacht, daß sogar diese sehr interessanten Bildungen Winklers doch nur „Chimären“ sind. Und vor allem hat hier die jetzt kaum mehr zu be- streitende Angabe Interesse, daß Cytisus Adami, der Pfropfbastard par excellence, selbst auch nur eine „Chimäre“ ist, ein Doppelwesen, bestehend Erblichkeitsforschung. 135 aus Haut von Cytisus purpureus, Innengewebe von Cytisus Labur- num umschließend ! Auch die Transplantationen von Ovarien bei Wirbeltieren, die unter anderem mit dem Zweck ausgeführt worden sind, die erbliche Be- einflussung der sich entwickelnden Eier seitens der „Pflegemutter“ zu un- tersuchen, haben nach Castles neuen eingehenden Studien in dieser Be- ziehung rein negative Resultate ergeben. Auf diesem Wege konnte also keine Stütze für die „Überführungsidee“ gewonnen werden. Dieses war aber auch vorauszusehen, nachdem die „Überführungs“-Lehre überhaupt hinfällig geworden ist. Die alte Konzeption der „Vererbung“ ist also durch die Arbeiten des letzten Dezenniums sozusagen auf den Kopf gestellt. Man „überführt“ nicht „erbliche Eigenschaften“ auf die Nachkommen. Diese aber stimmen mehr oder weniger mit den Eltern überein, weil die genotypische Grund- lage beider Generationen mehr oder weniger gut übereinstimmt, je nach dem Grade der in Frage kommenden Heterozygotität. Diese Grundlage, der Genotypus, ist aber vom Verlauf der persönlichen Entwicklung — von der Ontogenese — ganz unabhängig. Wie aber die Ontogenese als Reaktion der die Zygote charakteri- sierenden genotypischen Beschaffenheit im speziellen verstanden werden soll, ist eben ein großes Problem — das Überführungsproblem gewisser- maßen ablösend oder ersetzend. Auch das Zweckmäßigkeitsproblem, bezüglich dessen wir mit Went harmonieren, wird sich jetzt in neuem Lichte präsentieren. Hier sei nur in dieser Verbindung wiederholt, daß ein gegebener Zustand an und für sich nichts in bezug auf seine Geschichte aussagt; aus evidenter oder ver- meintlicher Zweckmäßigkeit läßt sich nichts über ihren Werdegang aus- sagen! Die moderne Erblichkeitsforschung aber strebt rüstig vorwärts nach dem Gadbleischen Prinzip: Messe alles, was meßbar ist, und mache das nicht Meßbare meßbar. Messen allein tut es aber nicht, wie Statistik allein die biologische Analyse mittelst Reinkultur und Kreuzung nicht er- setzen konnte. Nachschrift. Durch mein Mißverständnis der betreffenden Angaben ist bei den Levkojenbeispielen (Fig. 63—75) der Faktor C als Cremefarbe bedingend dargestellt. Cremefarbe ist aber eine Sache für sich, unabhängig von dem Chromogen bedingenden Faktor ©. Da wir also von der Cremefarbe ab- sehen, sind in den Figuren die grau-punktierten Blüten (C bzw. C und H führend) als weiß zu betrachten ; die Punktierung markiert also nur die Anwesenheit von C allein bzw. € mit H. In der prinzipiellen Diskussion der Kreuzungsanalysen ändert der begangene Fehler selbstverständlich gar nichts. Cremefarbe ist übrigens recessiv gegenüber weiß, ein weiteres Beispiel der Recessivität eines „po- 134 W.Johannsen. sitiv“ erscheinenden Charakters. Und Cremefarbe kann (entgegen der Angabe S. 103) mit Saftfarbe kombiniert werden; Rot + Creme gibt gelb- rote Blütenfarbe. Einige Literaturangaben. (Auswahl der wichtigeren oder speziell benutzten Arbeiten.) Bateson W., Materials for the Study of Variation, 1894. Mendels Principles of Here- dity, 24 Edit. 1909. (Hauptwerk mit sehr ausführlichen Literaturangaben.) Ferner: Reports to the Evolution Committee of the Royal Society. (Hierin Arbeiten von Bateson, Saunders, Punnet, Hurst, Doncaster, Wheldale, Durham u. a.) I— V. 1902 bis 1909. Seit 1910 geben Bateson und Punnet die „Journal of Genetis“ aus; in dieser Zeitschrift werden fortan die Arbeiten Batesons und seiner Schule Aufnahme finden. Baur, Einige Ergebnisse der experimentellen Vererbungslehre (Beihefte zur Med. Klinik, 4. Jahrg., 1908). Vererbungs- und Bastardierungsversuche mit Antirrhinum (Zeitschr. f. induktive Abstammungs- und Vererbungslehre, 1910, Bd. 3). Das Wesen und die Erblichkeitsverhältnisse der „Varietates albomarginatae“ etc. (daselbst, 1909, Bd. 1). Ferner: Pfropfbastarde (Biol. Zentralbl., 1910, Bd. 30). In diesen Ar- beiten weitere Literatur. Baur redigiert die seit 1908 erscheinende Zeitsch. f. in- duktive Abstammungs- und Vererbungslehre, die ein Hauptorgan der Erblichkeits- forschung geworden ist. — Während der Korrektur erschien Baurs vorzüglich klare „Einführung in die experimentelle Vererbungslehre“ (Berlin 1911). Blaringhem, Mutation et Traumatismes. Paris 1907. Candolle A. de, Geographie botanique raisonnee 1855, vgl. die Seiten 1087—1088. Castle W. E., Studies of Inheritance in Rabbits (Carnegie Institution of Washington, Publication Nr. 114, 1909). Ferner: On Germinal Transplantation in Vertebrates (daselbst, Nr. 144, 1911). In diesen beiden Abhandlungen weitere Literatur. Correns C., Bastarde zwischen Maisrassen (Bibl. Botanica. H. 53, 1901). Zahlreiche Ar- beiten in Berichten der deutschen botanischen Gesellschaft, so z. B.: Scheinbare Ausnahmen von der Mendelschen Spaltungsregel (daselbst Bd. 20, 1902). Die Rolle der männlichen Keimzellen bei der Geschlechtsbestimmung usw. (daselbst, Bd. 26a, 1908). Die Bestimmung und Vererbung des Geschlechts ete., Berlin 1907; ferner: Zur Kenntnis der Rolle von Kern und Plasma bei der Vererbung (Zeitschr. f. in- duktive Abstammungslehre. 1909, Bd. 2). Cuenot in Archives de Zoologie experimentelle, T. 1 und 2, 1903—1904. Darbishire A. D., Experimental Estimation of the Theory of Ancestral Contributions in Heredity (Proceedings Royal Society B., 81, 1909). Darwin Ch., Seine Erblichkeitshypothese in „Animals and Plants under Domestication“, Kap. 27 dargestellt. Davenport G. C. and C. B., Heredity of Hair Colour in Man (American Naturalist, Bd. 43, 1909). Heredity of Skin Pigment in Man (daselbst, Bd. 44, 1910). Hier auch weitere Literatur. Doncaster in Reports to the Evolution Committee (siehe sub Bateson). East, A Mendelian Interpretation of Variation that is apparently Continuous (Ameri- can Naturalist, Bd. 44, 1910). Ehle, Nilsson-, Kreuzungsuntersuchungen an Hafer und Weizen. Dissertation, Lund 1909. Fruwirth in Archiv f. Rassen- und Gesellschaftsbiologie. 1907. Galton Fr., Theorie de l’heredit& (Revue Seientifique, 2. Serie, Bd. 10, 1876. Das eng- lische Original soll in 1875 erschienen sein). Natural Inheritance, 1889. Vgl. auch Pearson. Hanel E. in Jenaischer Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 43, 1907. Hansen E. Chr.,im Meddeleser fra Carlsberg Laboratoriet, Bd. 4—6, Kopenhague 1890 bis 1900. Erblichkeitsforschung. 155 Hippokrates, De aöre, aquis, loeis, Kap. 21 (zitiert nach R. Fuchs’ Übersetzung von Hip- pokrates sämtlichen Werken. München 1895). Hurst, Mendels Law of Heredity in its application to Man (Leicester Lit. Phil. Soe. Transaet., Bd. 12, 1908). Jennings H.S., Heredity, Variation and Evolution in Protozoa II (Proceed. Americ. Phil. Soc., Bd. 47, Nr. 190, 1908. Ferner: Experimental Evidence on the Effeeti- veness of Selection (American Naturalist, Bd. 44, 1910). Jensen C. O. in Oversigt over det Kongelige Danske Videnskabernes Selskabs Forhand- linger, 1910. Johannsen W., Über Erblichkeit in Populationen und reinen Linien. Jena 1903. Ele- mente der exakten Erblichkeitslehre. Jena 1909. Hier sehr viele Literaturangaben. Ferner: The Genotype Conception of Heredity (American Naturalist, Bd. 45, 1911). Kammerer P., Beweise für die Vererbung erworbener Eigenschaften durch planmäßige Züchtung (12. Flugschrift der Deutschen Gesellschaft für Züchtungskunde. Berlin 1910). Hier sehr umfassende Literatur, auch Angaben der ausführlicheren Arbeiten des Autors. Lang A., Über die Bastarde von Helix hortensis und H. nemoralis. Jena 1908. Ferner auch die wichtige Zusammenfassung: Über Vererbungsversuche (Verhandl. der Deutschen Zool. Ges., 1909); über Castle in Zeitschr. f. induktive Abstammungslehre, Bd. 4, 1910. Mac Dougal, The Induction of new Species. Science N. S., Bd. 23, 1906. Heredity and environie forces. Adress. Chicago Meeting, New York 1907. Meijere de, Über Jacobsons Züchtungsversuche bezüglich Polymorphismus und Verer- bung sekundärer Geschlechtsmerkmale (Zeitschr. f. induktive Abstammungslehre, Bd. 3, 1910). Meisenheimer, Über den Zusammenhang von Geschlechtsdrüsen und sekundären Ge- schlechtsmerkmalen (Verhandl. d. Deutschen Zool. Gesellschaft, 1908). Mendels Arbeiten am leichtesten in Ostwalds Klassiker d. exakt. Wiss. (Nr. 121, herausg, von T'schermak) zugänglich; siehe auch Bateson. Morgan T. H., A Biological and Cytological Study of Sex determination in Phylloxerans eet. (Journal of Experimental Zoology, Bd. 7, 1909). Sex limited Inheritance in Dro- sophila (Seience, N. S., Bd. 32, 1910). Nielsen N. P., Dyrkningsforsög med Vinterhvede (Tidsskrift f. Landbrugets Planteavl, Bd. 14, Kopenhagen 1910). Ostenfeld C. H., Further Studies on the Apogamy ete. (Zeitschr. f. induktive Abstam- mungslehre, Bd. 3, 1910). Pearl and Surface, Is there a Cumulative Effeet of Selection? (Zeitschr. f. induktive Abstammungslehre, Bd. 2, 1909). Pearson Karl, Grammar of Seience, 2 Edit.., London 1900. Zahlreiche Abhandlungen in seiner Zeitschrift „Biometrika“ (seit 1902). Über die Eugenicbewegung vgl. Galton, Essays in Eugenies, London 1909, und die Eugenies Laboratory Publications (London, Dulau & Co.). Punnet R.C., „Mimiery“ in Ceylon Butterflies ete. (Spolia Zeylanica, Bd. 7, part. 25, 1910). Vgl. auch Bateson. Rosenberg O., Cytological Studies on the Apogamy etc. (Botan. Tidsskrift, Kopenhagen, Bd. 28, 1907). Saunders in Reports to the Evolution Committee, siehe sub Bateson. Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip. 2. Aufl., Leipzig 1908. Der Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften (Fortschritte d. naturwiss. Forschung, Bd. 2, 1911.) Shull G.H., A new Mendelian ratio ect. (The American Naturalist, Bd. 42, 1908 und andere Arbeiten in dieser Zeitschrift). Standfuss M., Die alternative oder diskontinuierliche Vererbung ete. (Deutsche Ento- molog. Nationalbibliothek I, 1910). Chaerocampa (Pergesa) elpenor L. etc. und Mit- teilungen über ... Mutationen (Iris, Bd. 24, Dresden 1910). 136 W.Johannsen. Erblichkeitsforschung. Tower W. L., An Investigation of Evolution in Chrysomelid Beetles (Papers of the Station for Experimental Evolution... New York, Nr. 4, Washington 1906). Tschermak E.v., Über künstliche Kreuzung von Pisum sat. (Zeitschr. f. d. landw. Vers.- Wesen in Österreich, Bd. 3, 1900). Kreuzungsstudien von Erbsen, Levkojen und Bohnen (daselbst, Bd. 4, 1904). Die Theorie der Kryptomerie etc. (Beihefte z. Botan. Zentralbl., Bd. 16, 1903). Vilmorin, Notiees sur l’amelioration des plantes par le semis (Nouvelle Edition, Paris 1886). Vries Hugo de, Die Mutationstheorie. Leipzig 1901—1903. Hier sehr zahlreiche, nament- lich auch ältere Literaturangaben. Weismann A., Aufsätze über Vererbung. Jena 1892. Vorträge über Deszendenztheorie. 2. Aufl., Jena 1904. Went F., Über Zwecklosigkeit in der lebenden Natur (Biolog. Zentralbl., Bd. 27, 1907). Siehe auch: Untersuchungen über Podostemaceen (Verhandl. Koninkl. Akademie van Wetenschappen te Amsterdam, 2de Sectio, Deel 16, 1910). Wesenberg-Lund, Summary of our Knowledge regarding various Limnological Problems (Report on the Seientifie Results of the Bathymetrical Survey of the Scottish Fresh- Water Lochs, 1910). Winkler H. in Berichte d. Deutschen botan. Ges., Bd. 25, 1907; Bd. 26, 1908; ferner: Über die Nachkommenschaft der Solanum-Pfropfbastarde (Zeitschr. f. Botanik, 2. Jahrg., 1909). Wolff F., Über Modifikationen und experimentell ausgelöste Mutationen von Baeillus prodigiosus ete. (Zeitschr. f. induktive Abstammungslehre, Bd. 2, 1909). Woltereck R., Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung etc. (Ver- handl. d. Deutschen Zool. Ges., 1909). Yule, Udny, On the Theory of Correlation (Journ. Royal. Statistical Society, Bd. 60, Part 4, 1897). Der heutige Stand der drahtlosen Telesraphie und Telephonie. Von Dr. @ustav Eichhorn, Zürich. Einer Aufforderung des Herausgebers dieser Zeitschrift folgend, will ich versuchen, in großen Zügen eine Übersicht über den heutigen Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie oder Radiotelegraphie und Radio- telephonie, wie die neuen Verkehrsmittel seit der Berliner internationalen Konferenz offiziell genannt werden, zu geben. In dem ersten größeren Auf- satze behandle ich das Thema von einem mehr allgemeinverständlichen bzw. technischen Standpunkte, wobei die zahlreichen Illustrationen die An- schauung unterstützen sollen. Spätere Aufsätze sollen dann in wissen- schaftlich strengerer Form spezielle Fragen und Probleme erörtern. Was zunächst den historischen Entwicklungsgang angeht, so kann ich mich kurz fassen. Jeder Gebildete weiß heute, daß die Arbeiten eines der größten Physiker aller Zeiten, nämlich die klassischen Untersuchungen von Heinrich Hertz über die Ausbreitung der elektrischen Kraft, das Fun- dament bilden, auf dem in praxi aufgebaut worden ist. Hertz verifizierte so experimentell die geniale, sich auf die Anschauungen des großen engli- schen Physikers Michael Faraday stützende, Maxwellsche elektromagnetische Lichttheorie, welche alle Strahlungserscheinungen einheitlich umfaßt. Strahlen des Lichts, strahlende Wärme, Strahlen elektrischer Kraft müssen quali- tativ durchaus gleichartige Phänomene sein, sämtlich beruhend auf elektro- magnetischen Oszillationen in dem alles durchdringenden „Weltäther“ ?), in dem sie sich mit der gleichen, enormen, aber endlichen Geschwindigkeit von 300000 km in der Sekunde ausbreiten, unterschieden voneinander nur durch die Größe der Wellenlänge.?) Unser Auge, so quasi ein elektrisches !) In einem Schlußwort werde ich meinen Standpunkt zu der Weltätherhypothese darlegen, der heute infolge der Lorentz-Einstein-Minkowskischen Relativitätstheorie unter den Physikern ein geteilter ist. : 5 SR 2) Wir haben die Relation T Schwingungsdauer, n — Anzahl der Schwingungen pro Sekunde, V = Fortpflanzungsge- schwindigkeit. =nı/=\V, wo bedeuten: A= Wellenlänge, T = 138 G. Eichhorn. Organ, reagiert auf die sehr schnellen Lichtschwingungen mit entsprechend kleinen Wellenlängen von nur einigen zehntausendstel Millimetern; für den Nachweis der großen Wellen der drahtlosen Telegraphie von hunderten und tausenden Metern Länge besitzen wir in unserem Körper kein Organ, weshalb die Sache so geheimnisvoll aussieht; in diesem letzteren Falle sind wir, um die Wirkungen wahrzunehmen, auf die Benutzung besonderer „De- tektoren“ angewiesen. Hertz selbst hat, als er Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahr- hunderts den der Maxwellschen Theorie damals noch fehlenden experimen- tellen Beweis erbrachte, eine praktische Benutzung der neuen Erfindung nicht für möglich gehalten. Abgesehen von den Argumenten seiner dies- bezüglichen theoretischen Überlegungen muß man sagen, daß hauptsäch- lich ein praktisch einfacher Indicator bzw. Detektor für große elektrische Wellen fehlte. Eine Erfindung (1890) des französischen Physikers Branly führte zur Konstruktion eines ebenso empfindlichen wie einfachen Detek- tors, des sogenannten Kohärers.!) Zwischen Metallelektroden befinden sich Metallkörner und das Ganze liegt in einem schwachen Stromkreis; durch elektrische Bestrahlung sinkt der Widerstand dieses Kohärers, und er läßt nun einen merklichen Strom passieren; durch Klopfen gibt man ihm wieder seinen ursprünglichen Widerstand. Im Jahre 1895 wird bekannt, wie Popof (Kronstadt) durch Benutzung eines solchen Kohärers, dessen einer Pol an einen Blitzableiter angeschlossen, dessen anderer Pol an Erde gelegt war, in Verbindung mit einem Klopfer, Relais und Morseschreiber automatisch luftelektrische Entladungen aufzeichnen ließ. Mit prinzipiell den gleichen Anordnungen beginnt dann endlich 1895 Marconi seine Versuche auf dem Landgute seines Vaters bei Bologna. Der Marconische Sender hielt sich anfangs eng an den Hertzschen Oszillator, in der Form, wie er von Mar- conis Lehrer Righi zur Demonstration Hertzscher Versuche benutzt wurde, und ist auch in seiner weiteren Entwicklung ein solcher geblieben, denn der Luftdraht oder die Antenne an dem einen Pol einer Funkenstrecke und die Erdverbindung an deren anderem Pol, wozu Marconi schließlich geführt wurde, sind nichts anderes wie die beiden metamorphosierten Hälften eines Hertzschen Oszillators. In das Jahr 1896 fallen Marconis Versuche in England mit Unterstützung des Chefs des englischen Tele- graphenwesens Sir William Preece und in das Jahr 1897 seine Versuche im Hafen von Spezia, woselbst 15 km über Land überbrückt wurden. Mit wesentlich den gleichen Anordnungen kamen Slaby und Graf Arco kurz darauf auf 21 km durch Benutzung von 300 m langen Luftdrähten, die durch Ballons in die Höhe geführt wurden. Einer weiteren Vergrößerung der Reichweite stellten sich immer größere Schwierigkeiten entgegen. Die !) Der Kohärer wird heute nur noch wenig benutzt. An seine Stelle sind elektro- lytische, magnetische, thermische und andere Detektoren getreten. Dieses große inter- essante Kapitel der Detektoren werde ich auch erst in einem separaten Aufsatze be- handeln. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 139 Fragestellung, warum dies der Fall, führte dann Ferdinand Braun zur Einführung seiner sogenannten gekoppelten Systeme, die eine vollständig neue Epoche in der Radiotelegraphie einleiteten, und deren Benutzung die Reichweite sofort auf Hunderte von Kilometern und mit der Zeit, nach Fertigstellung moderner Großstationen, auf Tausende von Kilometern ver- größerte. Hervorzuheben ist dann die bekannte theoretische Abhandlung aus dem Jahre 1902 von Max Wien über die Verwendung der Resonanz in der drahtlosen Telegraphie, die eine gründliche Klärung der Schwin- gungsvorgänge in gekoppelten Systemen brachte, wie sie ferner auch noch von P. Drude, J. Zenneck, L. Mandelstam u. a. in einer größeren Zahl von Arbeiten erstrebt wurde. Die weitere Beschäftigung mit diesem Gegen- stand führte M. Wien in der Folge zu der eminent wichtigen Entdeckung der Stoßerregung elektrischer Schwingungen durch Verwendung kleiner sogenannter Löschfunken an Stelle der relativ großen Funkenstrecke, wie sie sonst im primären Kreis üblich ist. Der Braunsender, der in der Regel, wie nachher näher ausgeführt werden soll, zwei Kopplungswellen aussendet, wird dadurch einwellig gemacht, auch wird sein Wirkungsgrad erheblich erhöht. Die energische und technisch hervorragende Durchkon- struktion dieses Prinzips, besonders durch die Verdienste von Graf Arco und von Rendahl, führte dann schließlich zu dem neuen Telefunken- system der „tönenden Funken“, das sofort die Führung in der ganzen Welt übernahm. Eng hiermit verwandt ist eine weitere Neuheit, der Gleich- stromtonsender nach H. Rein, der von der (©. Lorenz Aktiengesell- schaft inauguriert wurde, hervorgegangen aus dem Bestreben, die elek- trischen Strahlungen in einem beliebigen Tonrhythmus zu steuern. — Die nähere Einsicht der Art der Wellenausstrahlung beim Braun-Sender , die man als eine diskontinuierliche erkannte, hatte aber auch wieder dringend darauf hingewiesen, wie wünschenswert es wäre, vollständig kontinuierlich elektrische Wellen zu erzeugen im Bereich benötigter schneller Frequenzen. Ein Ansatz dazu war schon lange historisch gegeben durch eine Entdeckung des englischen Physikers Duddell, daß solche kontinuierlichen elektrischen Schwingungen entstehen, wenn unter gewissen Bedingungen ein Schwin- gungskreis an einen Gleichstromlichtbogen angeschlossen wird. Die erzielte Frequenz erwies sich aber noch als unzureichend. Dieser Übelstand wurde erst beseitigt durch Einbettung des Lichtbogens in eine wasserstoffhaltige Atmosphäre seitens Valdemar Poulsen, der auch noch durch andere Mittel, wie die Benutzung eines transversalen Magnetfeldes, Verwendung verschiedenartiger Elektroden und einseitige Kühlung ete. die Inten- sität und Frequenz der Schwingungen steigerte. Die Erzeugung solcher kontinuierlichen elektrischen Schwingungen erschloß dann auch sofort das Gebiet der drahtlosen Telephonie, die auch zuerst von Poulsen ausgeführt wurde. — Das eigentliche Ideal dieser letzteren Schwingungsart wurde aber von den Fachleuten nicht in dieser Lichtbogenmethode gesucht, son- dern in der direkten maschinellen Erzeugung elektrischer Wellen nach dem Vorbild der Wechselstromdynamos. Bei früheren diesbezüglichen Ver- 140 G. Eiehhorn. suchen von Duddell, 8. @.Brown, Fessenden, M. Wien u. a. fehlte es ent- weder an genügender Frequenz oder Leistung. — Ganz neuerdings ist auch dieses wichtigste Problem durch Rud. Goldschmidt (Darmstadt) in seiner Hochfrequenzmaschine gelöst worden. Ich schließe hiermit die nur große Etappen charakterisierende histo- rische Übersicht ab!) und wende mich nunmehr zu Einzelheiten derselben und den technischen Ausführungen. Nur wenige Worte zunächst über den ursprünglichen Marconi-Sender. Eine etwa 1 cm große Funkenstrecke ist mit ihrem einen Pol an einen Luftdraht, mit dem anderen an Erde angeschlossen; geladen wird das System in der üblichen Weise durch ein Induktorium. Es ist klar, daß die Energiekapazität (1/; C.V2 wo C die Kapazität und V die Spannung an der Funkenstrecke bedeutet) dieses offenen Systems gering ist. Die Notwendigkeit dieses offenen Hertzschen Oszillators liegt ja eben in seinem Vermögen, die Energie auszustrahlen, wie es Hertz durch seine bekannten Strahlungsdiagramme auch direkt an- schaulich gemacht hat. Hertz hatte aber schon gefunden, dal) eine über- mäßige Vergrößerung der Funkenstrecke (zwecks Vergrößerung von V) den Funken „inaktiv“ machte; er wies bereits auf die starke Dämpfung seiner Oszillatoren hin und verglich die erzeugten elektrischen Schwin- gungen mit den schlecht definierten akustischen Schwingungen von Holzstäben. Bjerknes hatte im Jahre 1891 die Dämpfung messend ver- folgt und das logarithmische Dekrement?) für einen linearen Oszillator zu 0'26 gefunden, wenn er nur kleine Funkenstrecken enthielt. Wurde letztere aber bis auf 5 mm vergrößert, so stieg das Dekrement bis auf 040. Bei der vorhandenen kleinen Kapazität verzehrte der Funke offenbar einen großen Bruchteil der Energie. Es war seit Helmholtz, Feddersen, W. Thomson, Kirchhoff eine viel bessere Methode der Erzeugung elektri- scher Schwingungen bekannt, nämlich die oszillatorische Entladung von Leidener Flaschen. Thomson (Lord Kelvin) hatte zuerst rein theoretisch die berühmte Differentialgleichung aufgestellt, aus deren Lösung man Auf- klärungen über die Vorgänge ersehen konnte, die dann vielfach experi- mentell durch Nachprüfung bestätigt wurden. Wichtig war zunächst eine Beziehung zwischen Widerstand (W), Selbstinduktion (L) und Kapazität (C) für die Grenze, die oszillatorische und aperiodische Entladungen voneinander trennt; nur wenn W < 2 WE können Schwingungen vorhanden sein. !) Ich werde auch auf mehr oder weniger eigenartige Modifikationen der führen- den Systeme wie z. B. von Lodge-Muirhead, Fessenden, de Forest, Peukert, Badische Anilin- und Sodafabrik (Koch) u. a. nicht näher eintreten. (Ich will jedoch u. a. ver- weisen auf eine kleine Schrift: „Wireless Telegraphy. Statement by Sir Oliver Lodge with regard to Patent Nr. 11575 of 1897“, welche mir vom Verfasser in freundlicher Weise gerade eingesandt wurde und mit der er gewisse Prioritätsansprüche verficht.) 2, Das Verhältnis zweier aufeinanderfolgenden Amplitudenwerte von Schwingun- gen bezeichnet man als ihre Dämpfung und den natürlichen Logarithmus desselben als Dekrement, das als bequemes Maß der Dämpfung benutzt wird. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 141 Besonders wichtig war der Ausdruck für die Schwingungsdauer T- 2= „der in die einfache Form!) T—=2r\LC übergeht, Ken. LC 41? 2 wenn zu vernachlässigen ist, wie es meistens der Fall ist 71, gr LT (r = 3:14159....). Nach der vorher angegebenen Beziehung läßt sich dann hieraus die Wellenlänge berechnen. Der aus der Thomsonschen Formel sich ergebende Ausdruck für das logarithmische Dekrement $ = zW Ve ist nicht ohne weiteres für die Rechnung anwendbar, da in Kreisen mit Funkenstrecke W nicht einen konstanten Ohmschen Widerstand repräsentiert, sondern eine unbekannte Funktion der Elektrizitätsmenge, des Potentials und der Frequenz ist; auch sind Energieverluste, die das Dekrement vergrößern, unvermeidlich. Brauns Überlegungen gingen nun dahin, daß, wenn es gelinge, eine fun- kenlose Antenne aus einem durch eine Funkenstrecke geschlossenen Flaschenkreis großer Kapazität (der selbst nicht merklich strahlt) zu Po- tentialschwankungen zu erregen, deren Mittelwert dem der Anfangsladung im Marconi-Sender gleich ist — daß man dann einen wirksamen Sender besitzen würde. Die drei resultierenden Schaltungen, die direkte (magne- tisch-galvanische), induktive (elektromagnetische?) sowie die aus beiden gemischte, zeigten bald die Richtigkeit dieser Überlegungen in der enormen praktischen Überlegenheit der gekoppelten Systeme über den einfachen Marconi-Sender. An Stelle der schwachen stoßartigen Ausstrahlungen des letzteren traten relativ lang anhaltende kräftige Wellenzüge, deren Energie unaufhörlich aus dem großen Energiereservoir des primären Kreises nach- geliefert wurde. Durch zwangläufige Verbindung mehrerer Kreise gleicher Schwingungszahl wurde Braun dann ferner noch zu seiner sogenannten Energieschaltung geführt. Braun erkannte auch von Anfang an die Wich- tigkeit der Resonanz zwischen den voneinander abhängigen Schwingungs- systemen. Vollständig aufgeklärt wurden aber die Verhältnisse erst durch die vorerwähnte theoretische Arbeit von Max Wien, der auf eine frühere (1895) Arbeit über gekoppelte Schwingungskreise von Oberbeck rekurierte. Das Ergebnis war kurz folgendes: Sind beide Systeme — primärer Kreis und offene Antenne (sekundäres System) — auf gleiche Schwingungszahl ‘) Für die Schwingungsdauer der Unruhe einer Uhr gilt die bekannte Pendel- formel! T=2xr > setzt man an Stelle von D (Direktionskraft der Feder) die Nach- giebigkeit F = =. so lautet ie T=2r V KF, wo K das Trägheitsmoment des Rades bedeutet. Die T%omsonsche Formel ist also nichts anderes als die Pendelformel für elektromagnetische Schwingungen. ?) Die Schaltungen sind prinzipiell nicht voneinander verschieden und können theoretisch voneinander abgeleitet werden, wie es zuerst Mandelstam mathematisch ge- zeigt hat. 142 G. Eichhorn. gebracht, so resultiert trotzdem eine einzige Schwingungszahl nur dann, wenn die Kopplung zwischen beiden Systemen „lose“ ist. Die Dämpfung der ausgesandten Welle kann dann im günstigsten Falle auf den relativ kleinen Dämpfungswert (der hauptsächlich durch die Funkendämpfung be- stimmt ist) des primären Kreises herabgedrückt werden. Es sei eingeschaltet, daß jede Kopplung zwischen zwei Systemen nicht nur eine Wirkung des Primärsystems auf das sekundäre, sondern auch eine Rückwirkung des Sekundärsystems auf das primäre zur Folge hat. Ist die Rückwirkung so gering, daß sie die Schwingungen im Primär- system nicht merklich beeinflußt, so spricht man von „loser“ Kopplung, bei starker Rückwirkung von „fester“ Kopplung. Brauns Systeme arbeiten gewöhnlich mit einer mittleren Kopplung; ganz fest kann solche in ihnen überhaupt nicht sein wegen der Art der Anordnung bzw. der Selbstinduk- tion des freien Luftdrahtes. Bei festerer Kopplung tritt überhaupt nicht eine einzige Schwingung auf, sondern es sind stets zwei sogenannte Kopplungswellen vorhanden von verschiedener Schwingungszahl und Dämpfung, die um so weiter auseinan- derliegen, je enger die Kopplung ist. Da die tatsächlichen Verhältnisse sich in Übereinstimmung mit der Theorie befinden, so muß man sich natürlich fragen, wie es möglich ist, daß trotz der nach jeder Entladung offenen Funkenstrecke, die Energie zwischen den beiden Systemen hin und her pendeln kann. Die Erklärung liegt darin, daß leider nach jeder pri- mären Entladung und dem Hinüberfluten der Energie auf die Antenne bei der in Braunsystemen benutzten großen Funkenstrecke letztere niemals vollständig nichtleitend wird infolge der nicht instantan verschwindenden Ionisation. Die unmittelbare Folge dieser Eigentümlichkeit ist eine große Energievergeudung durch den beim Rückfluten der Energie wieder ent- stehenden Funken und das somit ermöglichte Auftreten der zwei Kopp- lungswellen, von denen nur die eine im Empfänger!) ausgenutzt wird, was gleichfalls wieder eine Energievergeudung bedeutet. Wir werden auf diese Umstände später bei dem Wien-Telefunken-System der „tönenden Funken“ wieder zurückkommen. Es ist klar, daß bei loser Kopplung ?) die Energieübertragung an sich reduziert wird; in diesem Falle erhält man deshalb einen schwachen, dafür aber auch schwach gedämpften Wellenzug in Analogie zu einem sanften, langsam abklingenden Stimmgabelton, der nur einen genau gleich- gestimmten Empfänger erregt. Im Falle fester Kopplung dagegen entsteht ‘) Verschiedene Versuche. z. B. von Fleming, dem wissenschaftlichen Berater von Marconi, beide Kopplungswellen im Empfänger auszunutzen, sind nicht zu allgemeiner Durchführung gelangt (vgl. Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 3. 191. 1909). °) Bei magnetischer Kopplung wird die Kopplung um so loser, je weiter man sonst unter gleichen Umständen die Systeme voneinander entfernt, bei kombinierter magnetischer und galvanischer Kopplung (direkte Schaltung). je mehr man den gemein- samen Teil der beiden Systeme reduziert. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 143 ein kräftiger, dafür aber stark gedämpfter Wellenzug, zu dem etwa ein Kanonenschuß, der weithin hörbar ist, in Analogie steht. Die ganz lose Kopplung im Sender kam wegen der resultierenden unvermeidlichen Re- duktion der Reichweite nur selten zur Anwendung. Dagegen erwies sich dieselbe im Empfänger als sehr fruchtbar. Wie zuerst von Mandelstam in Straßburg, dann auf den meiner Leitung unterstellt gewesenen Ost- seeversuchsstationen von Braun-Siemens & Halske festgestellt wurde, stieg mit loser Kopplung die Wirkung; dieses Resultat im Empfänger war nicht an die Bedingung einer ebenfalls losen Kopplung im Sender gebunden. Braun gibt hieran anknüpfend in seinem Nobelpreisvortrag!) folgende Schilderung der damaligen weiteren Entwicklung. „Aus diesen Versuchen ergaben sich zwei wichtige Resultate: 1. eine große Störungsfreiheit des Empfängers, 2. ein für die drahtlose Technik wertvolles Meßinstrument. Als nämlich Franke von der mit uns arbeiten- den Firma Siemens & Halske die Versuche sah, schlug er vor, darauf einen technisch brauchbaren Apparat zu gründen. Bisher war der Reso- nanzkreis aus vorhandenen Stücken zusammengestellt worden, je nach den vorliegenden Bedürfnissen und dem, was Passendes zur Hand war. Durch Kombination eines Köpselschen geeichten variablen Drehkondensators mit einer Anzahl berechneter Selbstinduktionen wurde ein Apparat konstruiert, welcher bequem und stetig ein großes Gebiet von Wellenlängen umfaßte. Der Stromeffekt wurde mit einem ZRießschen Luftthermometer?) gemessen, welches ich schon seit langem für die Intensitätsmessung schneller Schwin- gungen benutzt hatte. Dönitz fiel die technische Ausarbeitung zu. So ent- stand der von ihm beschriebene und meistens nach ihm benannte Wellen- messer 3), ein Apparat, welcher unter Benutzung der von Bjerknes schon im Jahre 1891 entwickelten Theorie gestattete, gleichzeitig die Dämpfung von elektrischen Schwingungen zu messen, eine Größe, deren numerische Ermittlung immer notwendiger wurde.“ Die Fig. 77 zeigt dieses wichtige Meßinstrument ®), das man also durch das zu untersuchende schwingende System erregt, z. B. induktiv durch eine im Luftdraht angebrachte Meßschleife, und auf Resonanz ein- stellt. Die Kurven Fig. 78 geben eine solche Aufnahme wieder, bei der die beobachteten Stromeffekte als Ordinaten, die dazu gehörigen Frequenzen als Abszissen aufgetragen sind. Die -. — Kurve ist der einzigen Welle bei loser Kopplung zugehörig; die stark ausgezogene Kurve zeigt die beiden Kopplungswellen bei normaler Kopplung. (Die noch vorhandene gestrichelte ’) Vgl. Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 4. 1. 1910. ?) Ist in neueren Apparaten durch empfindlichere Strommesser ersetzt. >, Die sonst noch benutzten einfachen Wellenmesser mit offener Strombahn wer- den wegen ihrer nicht genügend genauen Angaben heute nur noch selten benutzt. *) Über Wellenmesser in den verschiedenen verbesserten Modellen beabsichtigte ich mich ebenfalls erst in einem späteren besonderen Aufsatze zu äußern. Ich werde dann auch auf andere Methoden, z. B. die Nullmethode von Mandelstam und Papalexi zur Bestimmung der Konstanten elektrischer Schwingungskreise, zurückkommen. 144 G. Eichhorn. Kurve ergab sich aus einem Versuche, durch zusätzliche Dämpfung im Meßikreis zu ermitteln, welche der beiden Wellen die schwächer ge- dämpfte war.) Es ist neuerdings von Mandelstam ein Pendelmodeil!) angegeben worden, mit dem man sehr hübsch alle Schwingungsvorgänge in elektri- schen gekoppelten Kondensatorkreisen demonstrieren kann, und mit dem ich deshalb die Leser dieses Aufsatzes kurz bekannt machen will. Dieses Modell besteht gemäß Fig. 79 aus zwei Hauptpendel, welche durch ein System von Zahnrädern und ein drittes — mittleres — Pendel miteinan- der „gekoppelt“ sind (mechanisches Analogon für Brauns „direkte“ Schal- tung). In der Figur links sind ferner drei kleine Pendelresonatoren zu Wellenmesser. sehen; diese leichten Pendelchen sind auf der Achse eines der Hauptpendel befestigt und dienen zur Analyse des Schwingungsvorganges. Die Haupt- pendel sind auf der Achse befestigt und tragen verstellbare Gewichte. Das mittlere Pendel, welches die beiden Hauptpendel verkoppelt, ist so beschaffen, daß die Drehungsachse durch seinen Schwerpunkt geht. Den Mechanismus der Verkopplung zeigt deutlicher Fig. 80. Jedes der Pendel hat eine getrennte Achse, die auf derselben Ge- raden liegen. Mit den Enden der Achsen der beiden Hauptpendel sind zwei 1) Beschreibung und theoretische Erläuterung erscheinen im 5. Heft 1911 des zitierten Jahrbuches. Es ist ein willkommener Ersatz für das bisher häufig be- nutzte Pendelmodell nach Oberbeck, das den elektrischen Verhältnissen nicht recht entsprach. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 145 gleiche Zahnräder starr verbunden, deren Zähne in die Zähne eines dritten Zahnrades eingreifen, welches lose auf der Stange des mittleren Pendels sitzt und sich frei um dieselbe drehen kann. Von den kleinen Pendel- resonatoren ist das mittlere Pendelchen auf die Eigenschwingungen jedes der beiden Teilsysteme, und die beiden äußeren Pendelchen auf die nach der Verkopplung entstehenden Partialschwingungen !) abgestimmt. Es lassen sich mit dem Modell nun folgende Versuche demonstrieren : Fig. 78. Fig.79. CENT REISEN EEE TTERRORTSENTBA FERNER ERROR ORAL UN RDN Resonanzkurven. Pendelmodell nach Mandelstam. 1. Zunächst kann man die Eigenschwingung eines der beiden Teile des Systems zeigen. Bei dem elektrischen System mit Funkenerregung wird in diesem Fall der Kondensator des einen Kreises geladen, bis der Funke durch ein plötzliches Überspringen die Schwingungen auslöst. Dabei bleibt der zweite Kreis unterbrochen. Analog wird beim Pendelmodell das eine ‘) Über die rein anschauliche Auffassung der Vorgänge bei den gekoppelten Schwingungen vgl. Braun, Nobelpreisvortrag. Jabrbuch, 1. e. S. 7/9. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 10 146 G. Eichhorn. Hauptpendel (das linke in Fig. 79) aus der Gleichgewichtslage um einen gewissen Winkel herausgedreht und dann losgelassen, wobei das zweite Hauptpendel mit der Hand festgehalten wird. Man sieht dabei folgendes: Das erste Hauptpendel führt einfache Schwingungen um seine Gleichgewichtslage aus. Alle drei kleinen Pendelchenresonatoren fangen an sich zu bewegen, doch sind die Amplituden recht klein. Allmählich wächst die Amplitude des mittleren Resonators, wird viel größer als die der übrigen und bleibt eine Zeit lang konstant. 2. Um den Schwingungsvorgang bei dem gekoppelten System zu demonstrieren, bringt man eines (zweckmäßig das rechte der Figur) der Haupt- pendel wieder aus der Gleich- gewichtslage und überläßt es dann sich selbst; dabei wird aber jetzt das andere Pendel nicht festgehalten. Dies entspricht elektrisch dem gewöhnlichen Fall, daß man zwei direkt gekoppelte Kondensatorkreise hat, von wel- chen nur der eine geladen wird. Wir beobachteten am Modell nun das Folgende: Zunächst macht nur das eine Hauptpendel Schwin- gungen; allmählich kommt dann das andere Hauptpendel in Be- weeung, seine Amplituden werden erößer, indem gleichzeitig die Amplituden des ersten Pendels abnehmen, dann wieder der um- sekehrte Vorgang usw. Wenden wir uns zur Analyse der Schwin- gungen mittelst der kleinen Resonatoren, so sehen wir hier, daß zunächst wieder alle drei Pendelchen in schwache Schwin- gungen geraten, daß dann aber die Amplituden der beiden äußeren stark anwachsen, während das mittlere Pendelchen beinahe vollständig zur Ruhe kommt. Man sieht hier also unmittelbar, daß durch die Kopplung zwei Schwingungen entstehen, von denen eine tiefer und die andere höher als die Eigenschwingung jedes der beiden Teilsysteme ist. Es sei ferner schon vorweg genommen, wie man mit dem Modell auch die Vorgänge bei der Stoßerregung elektrischer Schwingungen („tönende Funken“, vide S. 154) einfach demonstrieren kann. Das Bild, welches man sich hiervon macht, ist folgendes!): Man hat zwei gekoppelte Kreise, von Pendelmodell-Kopplungsmechanismus. ‘) Faßt man die Definition der elektrischen „Stoßerregung“ wörtlich auf, so kann man davon nur bei Schaltungen sprechen, wie sie wohl zuerst von mir angegeben Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 147 denen der eine — Stoßkreis — geladen wird. Bei der Entladung geht die Energie auf den anderen Kreis über, und sobald die ganze Energie im zweiten Kreise angesammelt ist, erlischt der Funke; der Stromkreis wird somit unterbrochen und der zweite Kreis schwingt von nun an mit seiner Eigenperiode weiter. Bei dem Modell wird analog das zweite, rechte, Pendel in Schwingungen versetzt, das erste, linke, Pendel bleibt frei. Sobald dann die Amplitude des linken Pendels groß geworden ist und dagegen die Am- plitude des rechten Pendels bis zu einem Minimum abgenommen hat, wird das rechte Pendel mit der Hand festgehalten. Das linke Pendel fährt fort zu schwingen, und zwar von nun an selbstverständlich mit seiner Eigen- periode. Dies zeigen klar die kleinen Pendelchenresonatoren. Im Anfang kommen alle drei in schwache Schwingungen; sobald aber das rechte Fig.81a. Fig. 815. Luftleiter-Turm. Station Nauen. Hauptpendel angehalten ist, nimmt die Amplitude des mittleren Resonator- pendelchens sehr stark zu, während die anderen Pendelchen ganz zur Ruhe kommen. Ein Hauptrepräsentant von Stationen mit Brauns gekoppelten Systemen war die Telefunkengroßstation Nauen (die inzwischen nach dem Prinzip der „tönenden Funken“ umgebaut worden ist). In dem äußeren Aufbau der Station fällt die Anordnung des Luftleitungsbildes und der dasselbe tragende Turm, Fig. 81a und Fig. 815, auf. Der 100m hohe Turm ist in Eisenkonstruktion mit dreieckiger Basis von etwa 4m Seitenlänge ausgeführt. Die drei Seitenstreben sind durch wurden (ehemaliges D.R. P. 157.056) ; durch plötzliches Verschwinden der Strömung in einer Induktionsspule entsteht ein Öffnungsextrastrom, der sich mit vergrößerten Po- tentialamplituden (gegenüber den sonstigen Lade- oder Entladeschwingungen) in einem vollständig geschlossenen Kreise auspendelt. 10* 148 G. Eichhorn. Diagonalverspannungen untereinander verbunden und verlaufen von der Turmspitze bis etwa 6m über dem Erdboden parallel zueinander. Am Fußpunkt vereinigen sie sich in einer Stahlgußkugel, die in einer als Druckplatte ausgebildeten Lagerung beweglich ruht. Über eine zwischenge- lagerte Isolation überträgt sich der gewaltige Druck auf das Betonfundament. Der Turm wird durch isoliert angreifende Pardunen in der Vertikalen ge- halten. Das Antennengebilde ist eine Schirmantenne, bestehend aus einer großen Anzahl von in besonderer Weise verseilten Bronzelitzen, die nach abwärts wie die Rippen eines Regenschirmes isoliert gegen Erde aus- gespannt sind und eine enorme Fläche bedecken. Von der Turmspitze verlaufen alle Ableitungen des Schirmes, dem Turm entlang geführt, über eine Sammelschiene in das Stationshaus. Derartige Antennengebilde sind hervorgegangen aus dem Bestreben, zur Vergrößerung der Reichweite die Antennen große Energiemengen auf- nehmen zu lassen, ohne daß allzu große Spannungen in derselben durch Sprühen Verluste herbeiführten. So mußte man, nach Erreichung der zu- lässigen Höchstspannung, die Energie, welche die Antenne aufnehmen sollte, durch Vergrößerung ihrer Kapazität erzielen, was in solchen Schirm- antennen am besten realisiert ist. Braun führte darüber kürzlich in einigen Aufsätzen in der Frankfurter Zeitung noch folgendes aus: „In Verbindung mit dieser Änderung kam man auf große Wellenlängen. Die Praxis hat damit, von wesentlich anderen Gesichtspunkten geleitet, einen Weg be- treten, der, wie später Sommerfeld in einer ausgezeichneten theoretischen Untersuchung zeigte, anderer Umstände wegen der richtige war. Wenn diese mächtigen Antennen nun auch, absolut gemessen, viel Energie aus- strahlten, so war doch dieselbe, ausgedrückt in Prozenten der auf ihr vor- handenen Energie, geringer als bei den ganz offenen Sendern, d.h. ihre nützliche Strahlungsdämpfung wurde sehr klein. Die Erregung aus dem geschlossenen Flaschenkreis hatte dann aber für die Dämpfung der aus- gesendeten Wellen keinen Vorteil mehr, außer wenn man, wie es auch tatsächlich gelang, die Dämpfung des Kondensatorkreises wieder ver- kleinern konnte.“ Wir werden auf diesen Gesichtspunkt noch bei den ungedämpften Wellen später zurückkommen. Der Antenne entsprechend, ist ferner ein ähnliches Netz von strahlen- förmig um den Turm und das Erdreich verlegten Eisendrähten vorhanden. Über die eigentliche Bedeutung der Erdung beziehungsweise des „Gegen- gewichts“ hat zuerst Zenneck die richtigen Anschauungen entwickelt. Wir entnehmen seinen diesbezüglichen Ausführungen in seinem ausgezeichneten neueren Werke „Leitfaden der drahtlosen Telegraphie“ !) folgendes: Würde man eine Antenne, z.B. Einfachantenne, unten frei endigen lassen, so würde sich am unteren Ende ein Stromknoten befinden. Es würde dann zum mindesten mit Schwierigkeiten verknüpft sein, durch Ladung oder auch durch Kopplung mit einem Primärkreis kräftige Schwingungen auf ') Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1909. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 149 der Antenne zu erregen. Es sind deshalb folgende zwei Verfahren im Ge- brauch: 1. Erdverbindung, 2. Gegengewicht, d.h. ein isoliert von der Erde parallel bei derselben ausgespanntes Drahtnetz. Nur eine gute Erd- verbindung, d.h. ein tatsächlich vorhandenes gutes Leitvermögen des Bodens erfüllt den Zweck, daß durch sie an dem Fuße der Antenne ein Strombauch verlegt wird. Die Wirkung eines Gegengewichts auf die Stromverteilung in der Antenne ist von derjenigen einer guten Erdverbindung nicht wesentlich verschieden, gleichgültig wie der Boden beschaffen ist. Die technische Ausführung der Erdverbindung ist besonders einfach bei Schiffen; es genügt hier meistens der Anschluß an irgend einen Teil des metallischen Schiffskörpers; bei Landstationen wird eine Metallplatte in die Erde oder in das Grundwasser versenkt oder es wird ein großes Drahtnetz in die Erde verlegt, wie z. B. in Nauen, wo das kreisförmige Drahtnetz einen Durchmesser von 400m hat und 025m tief in die Erde eingepflügt ist. Zenneck knüpft hieran noch wichtige Betrachtungen über den Energieverbrauch durch die Erdströme Wenn man, wie bei der Schirmantenne, das Erdnetz so groß macht, daf) es über die Endpunkte der absteigenden Drähte noch ziemlich weit hinausragt, so werden fast alle Induktionslinien zwischen Antenne und Netz in Luft ohne jeden Energieverbrauch verlaufen. Sowohl für den Verlauf der Stromlinien im Boden und ihre Dichte als für die Energie, welche sie verbrauchen, spielt das Leitvermögen des Erdbodens eine wichtige Rolle. Wenn letztere sich ändert, z. B. durch Witterungseinflüsse, so kann die Dämpfung und unter Umständen auch die Frequenz der Schwingung eine Änderung erfahren. Die Erde stellt also (abgesehen bei Seewasser oder sehr nassem Boden) ein variables Element in der ganzen Anordnung dar.) Was die Dämpfung der Antenne angeht, so geben folgende Zahlen annähernde Werte für die Dekremente ?) der verschiedenen Antennenformen: SCHIENAMENNE 4 u 2 2 01 Einfachantenne | En Schiffs(T) antenne | 1 Harfenantenne | ni na ee © > 03—0'4 Doppelkegelantenne . . . „m. nn 05 Die folgende Fig. 82 läßt uns einen Blick in den Senderaum von Nauen tun, wo die Schwingungsenergie erzeugt wird. Der vom Generator (ver- mittelst einer 35 PS. Dampflokomobile) erzeugte Wechselstrom speist die vorne sichtbaren sechs Hochspannungstransformatoren. Der Geberkreis be- stand aus einer Kapazität von 360 großen Leidener Flaschen, ferner aus 1) Vgl. auch die Arbeiten von Sommerfeld und Epstein in Ann. Phys. 28. 665. 1909 und Jahrbuch der drahtlosen Telegraphie ete. 4. 157. 176. 1910. Obwohl für solche Betrachtungen auch das isolierte Gegengewicht keinen Unterschied machen sollte, habe ich demselben nach eigener Erfahrung doch stets den Vorzug gegeben. ?) Nach Zenneck, Leitfaden etc. S. 159. 150 G. Eichhorn. einer ringförmigen Funkenstrecke, in der die Entladungen in armdicken, weißglänzenden Funkenbändern unter donnerähnlichem Krachen vor sich gingen, und der Selbstinduktionsspule, einer aus versilbertem Kupferrohr hergestellten Spirale mit Anschlüssen sowohl für den Erregerkreis als auch zur Kopplung des Luftdrahtes und des Gegengewichts. Eine fest verlegte Meßleitung, welche zum Wellenmesser (in der Figur sichtbar) führt, er- möglichte es, jeden Augenblick die Wellenlänge und den Kopplungsgrad') Fig. 82. ‚ZVorsicht! Z 1 / Hochspannungs-/ | i Raum N “| Lebensgefahr! |) Senderaum. Station Nauen. zu bestimmen. Die Aufladung der Flaschen geschieht in der üblichen Weise durch die sekundären Wechselströme der Hochspannungstransformatoren. Infolge exakter Resonanz (die sekundäre Spule des Transformators und die sie belastende Kapazität sind so abgemessen, daß die entstehende Periode ') Für praktische Zwecke geht das schnell unter Benutzung der hinreichend ge- 2 > ı ß ee nauen Formel, nach der der Kopplungsgrad proportional ist Fre wo A, und %, 0 die beiden Kopplungswellen und %, die Eigenwelle bedeuten. Über Kopplungs- koeffizienten vgl. sonst Zenneck, Leitfaden ete. S. 77 ff. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 151 mit der Periode des primären Wechselstromes übereinstimmt) braucht zur Aufladung dieser gewaltigen Kapazität nur eine verhältnismäßig geringe Energie aufgewendet werden. Man benützt also auch hier das Schwingungs- Fig. 83. Telegraphierraum. Station Nauen. phänomen. Die Strom- und damit auch die Spannungsamplitude steigt mit jeder Periode höher an, und zwar weit über den normalen Wert der Spannung hinaus, bis schließlich die Spannung so groß geworden ist, daß 152 G. Eichhorn. der F unke durchschlägt. Die Bildung des schädlichen Flammbogens, anstatt eines knallenden Funkens, ist dadurch gänzlich verunmöglicht, auch hat man die Regulierung der Funkenzahl in der Hand. Das Abschalten der Transformatoren geschieht nicht, wie bei kleinen Stationen, durch Öffnen und Schließen des primären Stromkreises vermittelst eines Tasters, sondern durch Kurzschluß der primären Wicklung und gleichzeitig des Wechsel- stromgenerators auf Drosselspulen vermittelst eines Tasterrelais. Das Telegraphieren geschieht in einem entfernt gelegenen Empfänger- raum, wo man von dem starken Geräusch der Funkenentladungen nichts vernehmen kann. Die folgende Fig. 83 veranschaulicht die Empfangsan- ordnungen. Von oben wird der Anschlußdraht des Luftleitergebildes ein- geführt, das durch den an der Wand sichtbaren Hebel mit einem Hand- griff vom Geberkreis auf den Empfangskreis und umgekehrt umgeschaltet werden kann; gleichzeitig wird dadurch beim Empfangen der Wechselstrom- kreis durch ein Blockierungsrelais ausgeschaltet, so daß ein Geben und somit eine schädliche Einwirkung des Erregerkreises auf die empfindliche Empfängerzellen und den Detektor unmöglich ist. Was allgemein die Aus- nutzung der Resonanzfähigkeit im Empfänger angeht, so sei kurz folgendes rekapituliert: Slaby und Arco erreichten einen abgestimmten Empfänger, indem sie in ihm eine abgestimmte Spule (einen Hertzschen Resonator in Spulenform), zwischen deren Enden der Kohärer lag, anbrachten; Marconi und Braun, gleichzeitig und unabhängig voneinander, indem sie die von der Empfangsantenne aufgenommene Energie wieder — eine Umkehrung des Senders — auf einen abgestimmten Kondensatorkreis übertrugen, wo- bei von den gegebenen zwei Möglichkeiten der Ausführung zufällig Marconi die eine und Braun die andere Form wählte. Unter Anwendung der losen Kopplung im Empfänger wurde eine sichere selektive Mehrfachtelegraphie zuerst auf der vorher erwähnten Ostseeversuchsstation demonstriert. So- lange die Antenne im wesentlichen ein langgestreckter Draht war und damit eine starke Strahlungsdämpfung hatte, sind diejenigen Empfänger- anordnungen beibehalten worden, bei denen die Energie in dem sehr schwach gedämpften Kondensatorkreis lokalisiert wurde. Nach akustischer Analogie entspricht die Antenne dem Resonanzkasten, der Empfangskon- densator einer Stimmgabel. Ein prinzipieller Gesichtspunkt für den Emp- fänger ist auch, ob er momentan auf maximale Potentialamplitude oder auf Integraleffekt wirken soll, und hiernach teilen sich auch die Detektoren in zwei große Klassen, wie ich es in einem besonderen Aufsatze ausein- andersetzen werde. Der Kohärer gehört in die erste Klasse und seiner eminent hohen Empfindlichkeit allein ist es zu danken, daß in den alten einfachen Anordnungen der Empfänger auf den winzig kleinen Bruchteil Energie ansprach, der von der vom Sender ausgehenden geringen Energie auf die Fläche der Empfangsantenne entfiel. Betrachtet man die Vorgänge im Sender etwas genauer, so erkennt man die starke Diskontinuität der Energiestrahlung; bei dem einfachen Marconi-Sender hat der Wellenimpuls eine zeitliche Dauer von etwa Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 153 0000001 Sekunden, während die Pause zwischen den einzelnen Impulsen eine Zeit von etwa 005 bis 003 Sekunden in Anspruch nimmt. Der Braunsender hat zwar aus diesen kurzen Wellenimpulsen mehr oder weniger lang dauernde Wellenzüge gemacht, aber die langen Pausen nicht ver- kürzt. Rechnet man auf jeden Funken höchstens 25 Schwingungen, so sind bei etwa 50 Funken in der Sekunde also 1250 Schwingungen wirksam ; andrerseits betrage die angewandte Frequenz 500.000 per Sekunde. Es wäre dann also während Sekunde eine wirksame elektrische Strahlung [57 Kilgt A .- 399 vorhanden, während in der übrigen großen Zeit von —- Sekunden Ruhe herrscht. Durch Vermehrung des Wechsels des Wechselstromkreises steigert man natürlich die Funkenfolge und kürzt die Rnuhepausen ab; schließlich sollten sich die erzeugten Wellenzüge fast unmittelbar aneinander anschließen. Dieser Zustand ist aber, wie vorher auseinandergesetzt, mit großen Funken- strecken gar nicht zu erreichen, und die großen Pausen sind direkt not- wendig. Gerade diese Einsicht in Verbindung mit der praktischen Inan- griffnahme des Problems der theoretisch geforderten Abstimmung machte wieder darauf aufmerksam, daß nur eine ganz kontinuierliche Ausstrahlung gleichbleibender Amplitude (ungedämpft) des Senders in Verbindung mit einem schwach gedämpften Empfänger die Abstimmung zu ihrer höchsten Vollendung bringen könne. Die historische Entwicklung ist dann auch diesen Weg gegangen in der Ausbildung des Systems für kontinuierliche elektrische Schwingungen durch den dänischen Ingenieur Valdemar Poulsen, der für diese Leistung und seine Erfindung des Telegraphons bekanntlich kürzlich zum Ehrendoktor der Universität Leipzig ernannt wurde. Der besseren Übersicht wegen werde ich aber die Ausführungen hierüber zurückstellen und jetzt erst die Verbesserung des Braun-Senders durch M. Wien, be- ziehungsweise das daraus entwickelte neue Telefunkensystem der „tönenden Funken“ behandeln. Braun hatte selbst schon frühzeitig Versuche angestellt, ob es mög- lich sei, den Flaschenkreis automatisch aus dem schwingenden System aus- zuschalten, sobald die Energie auf den sekundären Leiter hinübergependelt war. Brauns künstliche Mittel?) führten jedoch nicht zum Ziel, sondern die Aufgabe wurde erst gelöst) durch Max Wien ?) vermittelst der kleinen Zisch- oder Löschfunken, die von sich aus die Bedingungen erfüllen, welche Braun künstlich herstellen wollte. In der folgenden Fig. 84 veranschaulichen die beiden oberen Kurven nochmals den Schwingun gsvorgang in Brauns gekoppelten Systemen; die beiden unteren Kurven zeigen den Vorgang bei dem Wienschen System. Ich ver- 1) Vgl. Jahrbuch 1. c. Nobelpreisvortrag. S. 19. 2) Eine andere Lösung gelang Rendahl mit der Quecksilberfunkenstrecke, die sich aber praktisch nicht bewährte. s) Vgl. Physikal. Jahrb. 1906. S. 872 und Jahrbuch. 1908. S. 469; 1909. S. 551; 1910. S. 135. 154 G. Eichhorn. weise nunmehr auf das, was ich bei der Beschreibung des Pendelmodells am Schluß über die Demonstration der Stoßerregung von Schwingungen gesagt habe. Auf der elektrischen Realisierung dieses letzten Vorganges beruht das Grundprinzip des neuen Wien-Telefunkensystems. Wien wurde zu seiner Entdeckung geführt durch seine zahlreichen Untersuchungen über die Dämpfung gekoppelter Schwingungen. Die unregelmäßige starke Dämpfung des Funkens bildete die größte Schwierigkeit, die der Vermin- Fig. 84. x Mr = LT RN Mi N | S, | ' a | u) I an hole END 'S NE LA ee al S || a ld RER Sı RE ICE; | il EN Sekurdärsysiem en 11111 WUSZSBST- USE SU Sekuzrdärsystere derung der Dämpfung in dem Braunschen Kondensatorkreis mit großer Funkenstrecke entgegenstand. Man konnte nun auf den Gedanken kommen, den Einfluß des Funkens in der Weise zu eliminieren, daß man die Schwin- gungen durch Induktion auf einen zweiten Kondensatorkreis ohne Funken- strecke übertrug. Dies schien aber aussichtslos, da theoretisch bei fester Kopplung der beiden Kreise infolge der Rückwirkung des primären Kreises die Dämpfung der Schwingungen im zweiten Kreis doch sehr groß ist, während andrerseits bei loser Kopplung die übertragene Energie zu klein wird. Wien fand dann aber, daß in diesem Falle die Dinge sich jedoch nn an Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 155 ganz anders gestalten, wenn man den primären Kondensatorkreis nicht durch die übliche größere Funkenstrecke, sondern durch kurze, sogenannte Zisch- oder Löschfunken erregt. Dann sind die sonst bei gekoppelten Sy- stemen auftretenden zwei Wellen praktisch verschwindend schwach ge- worden, dagegen tritt eine allein in Betracht kommende dritte Schwingung mit sehr geringer Dämpfung hervor, wie wenn das vollständig geschlossene Zwischensystem für sich, wie in ungekoppeltem Zustande sich ausschwinge. Als Grund dieser Erscheinung erkannte Wien sofort die starke Zunahme der Funkendämpfung während der Entladung und sprach auch gleich die Erwartung aus, daß es gelingen werde, auf diese Weise in der Praxis der drahtlosen Telegraphie schwach gedämpfte elektrische Schwingungen zu erzeugen. In der Tat nähern wir uns hier dem geschilderten Vorgang beim festgehaltenen primären Pendel. Die hauptsächlichsten Bedingungen für gutes Funktionieren der Methode sind, daß die Dämpfung des primären Kreises — auch Stoßerregerkreis genannt, im Sinne des geschilderten Vorganges der Schwingungserregung — mindestens zehnmal größer sein muß als die des sekundären Kreises, und daß die Kopplung zwischen beiden nicht zu fest sein darf; sie hat ein Optimum.!) Der Unterschied zwischen dem bis- herigen Braun-Sender und dem neuen Wien-Sender ist also, abgesehen von der Verschiedenartigkeit der Funkenstrecke, der, daß zwischen dem pri- mären Erregerkreis und der Antenne noch ein Zwischensystem eingeschaltet ist, in dem die schwach gedämpften Schwingungen erregt werden. Infolge der sehr geringen Dämpfung des Zwischensystems wird auch bei loser Kopplung mit der Antenne fast die gesamte Energie in Strahlung umge- setzt. Die Schwingungsfrequenz ist praktisch die des Zwischensystems; Erregersystem und Antenne haben nur einen geringen Einfluß. Das Zwi- schensystem kann sehr fest montiert und in geschlossenem Raume aufbe- wahrt werden, so daß eine Änderung seiner Schwingungszahl nicht zu be- fürchten ist. Bei dem Braunschen Sender ist die Antenne mit maßgebend für die Schwingungszahl der ausgesandten Wellen, was vor allem wegen 1) Bei der Wienschen Methode strömt die Energie aus dem Primärkreis je nach der Stärke der benutzten Kopplung mehr oder weniger schnell in den Sekundärkreis hinüber. In dem Augenblick, in welchem sich die gesamte Energie in dem Sekundär- kreis befindet, am Ende einer Schwebung, ist die Energie im Primärkreis ein Minimum; sie genügt nicht mehr, die Leitfähigkeit der Funkenstrecke aufrecht zu erhalten. In- folgedessen erlischt diese. Dieses Erlöschen der Funkenstrecke kann nun bei eng ge- koppelten Kreisen entweder schon nach Ablauf der ersten Schwebung oder auch erst nach einer größeren Anzahl von Schwebungen erfolgen; je kleiner diese Anzahl, um so besser wird die Löschwirkung der Funkenstrecke sein. Für gute Stoßerregung sollte das Abreißen des Funkens stets am Ende der ersten Schwebung erfolgen. Ist die Zeit für das Verschwinden der Leitfähigkeit einer Funkenstrecke gegeben, so muß man die Kopplung der beiden Kreise und damit die Dauer einer Schwebung so einstellen, daß diese gerade gleich, jedenfalls nicht kleiner ist als die Löschzeit. Je kleiner die letz- tere ist, um so engere Kopplung ist zulässig, ohne daß die reine Stoßerregung bzw. Einwelligkeit gestört wird. Bei den neuen Löschfunkenstrecken des Wien-Telefunken- systems ist die Löschzeit so, daß man bis zu Kopplungen von etwa 20°/, gehen darf (vgl. Br. Glatzel, Ann. Phys. 34. 711ff. 1911). 156 G. Eiehhorn. der Witterungseinflüsse auf die Frequenz der Antenne bei sehr scharfer Abstimmung bedenklich sein kann. Die Antenne braucht nicht auf die Schwingungszahl des Zwischensystems eingestimmt zu sein. Im Gegenteil kann dieselbe Antenne ungeändert in weiten Grenzen für verschiedene Frequenzen benutzt werden. Nur muß zur Übertragung der gleichen Energie die Kopplung mit der Antenne um so fester gemacht werden, je größer die Dissonanz ist. Die Telefunkengesellschaft läßt vorläufig das Zwischen- system noch fort, da ihr die erforderliche geringe Dämpfung des letzteren zu erreichen bis jetzt noch nicht gelungen ist und weil durch dasselbe hinsichtlich Variation der Wellenlänge und Kopplung gewisse praktische Komplika- tionen hereingebracht werden. Dieses Fortlassen des Zwischensystems ist aber nur bei Anwendung ganz schwach gedämpfter Antennensysteme möglich. Die Funkenfolge bzw. Stoßfolge kann unter Benutzung von hochfre- quenten Wechselströmen (500—2000 sekundliche Wechsel) auf eine solche von etwa 500—2000 pro Sekunde eingestellt werden, und zwar so regel- mäßig, daß die Funken einen klaren musikalischen Ton geben, weshalb für dies System auch die kurze Bezeichnung „tönende Funken“ gewählt wurde. Der Fachmann wird sofort daran denken, daß für die benötigten sehr kleinen Funkenstrecken, namentlich wenn sie in sehr großer Anzahl angewendet werden, wie dies bei großen schwingenden Energiemengen er- forderlich ist, die Gefahr vorliegen wird, daß leicht ein Festbrennen und Zusammenfritten in der Funkenstrecke (besonders bei zufällig nicht ange- schlossener Antenne) stattfinden kann. Dieser tatsächlich anfangs vorhanden gewesene Übelstand ist jetzt durch die sogenannte Serienfunkenstrecke besei- tigt (Fig. 85). Die Gesamtenergie wird auf so viel Funkenstrecken gleichmäßig verteilt, daß jede einzelne nur in zulässiger Weise beansprucht wird. Je größer die umzusetzende Energie, um so mehr Teilfunkenstrecken werden in Serie geschaltet. Die in sehr kleinen fixen Abständen gehaltenen Elektrodenplatten sind gekühlt und aus glutwärmeleitendem Material (Kupfer, Silber) her- gestellt. Es wird auf diese Weise also pro Sekunde eine große Anzahl oszillatorischer Kondensatorentladungen erzeugt; jede derselben hat eine große Anfangsamplitude, die aber sehr schnell abfällt. Die angekoppelte Antenne empfängt also pro Sekunde eine große Anzahl von Impulsen, von denen jeder in ihr freie elektrische Schwingungen von einer bestimmten Periode erregt. Man kann deshalb auch die „tönenden Funken“ bei Hör- empfang im Telephonhörer als Ton gegenüber anderen störenden Geräuschen bequem heraushören; besonders unterscheidet er sich leicht von den knacken- den Geräuschen, die durch die atmosphärischen Entladungen erzeugt wer- den und bekanntlich in den Tropen oft stundenlang den regulären Betrieb unmöglich machen. Die Anwendung eines bestimmten Tones gibt dabei jedem Sender eine gewisse Individualität; bei gleichzeitiger Mehrfachtele- graphie durch ein und dieselbe Antenne im Empfänger wird auch bei gleicher Wellenlänge einfach ein Telegraphist die Telegramme des niedrigeren Tones, ein anderer die des höheren Tones niederschreiben. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 157 Auch läßt sich ein solch flötender Ton sehr leicht an der Empfangs- stelle durch einen Resonanzlautverstärker (sogenanntes Telephonrelais) derart verstärken, daß man auch die schwächsten Signale wie die lauten Signale einer Automobilhuppe im Stationsraum objektiv ertönen lassen kann, während andrerseits der Sender absolut geräuschlos arbeitet im Ge- gensatz zu den bisherigen donnernden Funkenentladungen des alten Tele- funkensystems. Ferner wird jetzt nur eine einzige Welle ausgesandt, die in ihrer Schwingungszahl absolut konstant bleibt und infolge ihrer geringen Dämpfung eine sehr scharfe Abstimmung gestattet. Fig. 85. I aan = | ; a Be Serienfunkenstrecke für „tönende Funken“. Die folgende Fig. 86 zeigt eine komplette Telefunkenstation. Von der Apparatur sei der wichtige Hörempfänger, Fig. 57, noch etwas näher beschrieben. (Schaltung Fig. 88a und Fig. 885, a) für kurze Wellen, d) für lange Wellen.) Dieser Empfangsapparat der Telefunkengesellschaft eignet sich für alle Stationstypen, seines gedrungenen Baues wegen besonders für fahrbare und Schiffsstationen, wo der Raum beschränkt ist. Als Detektor wird ein quantitativ arbeitender verwendet, der durch die Berührungsstellen zweier geeigneter Materialien gebildet ist. Dieser „be- sitzt die Eigenschaft, die ihn durchfließenden Schnellfrequenzströme gleich- zurichten entweder durch eine Thermowirkung oder als Ventil. Der De- je do}! Rn 2 — Sicherung für Gleichstrom 40 Amp. Schalter für Gleichstrom. — Voltmeter-Umschalter. — Voltmeter 250 Volt. — Anlasser. = Tourenregulator. — Gleichstrommotor ANPRS: 110 Volt 1500 Touren. HR NZ \ J Hochfrequenzsicherungen. G. Eichhorn. 13 — Hochfrequenzgenerator 2 KW. 220 Volt, 500 Period. 15 = Schiebewiderstände für Er- regung und Hochfrequenz- Generator. 16 = Sicherungen für Wechsel- strom 30 Amp. 17 = Schalter für Wechselstrom. 18 = Amperemeter für Wechsel- strom 50 Amp. — Taster. 21 = Primärdrossel. 22 — Transformator 220/3000 Volt. 23 = Löschfunkenstrecke Steilig. 24 — Erregerkapazität zirka 24000 cm. 5 — Erregerselbstinduktion. 6 = Antennenamperemeter 20 Amp. 283 = Antennenvariometer. 30 = Antennenverkürzungskapa- zität. 33 —= Empfangsapparat. 34 — Primäre Transformatorspule des Empfängers. 42 —= Telephon. ICH U} tektor hat vor dem elektrolytischen den Vorzug, ohne hilfselektromoto- rische Kraft zu arbeiten, so daß der Empfangsapparat keine Batterie mehr Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 159 enthält und auch eine Regulierung der Batteriespannung in Form eines Potentiometers fortfällt. Bei schwacher Strahlungsintensität, also auf größere Entfernungen, zeigt dieser Detektor eine merklich größere Empfindlichkeit als der elektrolytische. Die Schaltungsweise des neuen Apparates ist ebenfalls vereinfacht. Unter dem Empfangsklapptransformator, welcher oben auf dem senkrechten Stirmbrett sitzt und äußerlich mit dem bisherigen völlig überein- stimmt, dagegen im Innern andere Wicklungen nach Windungszahlund Drahtquerschnitt trägt, erblickt man einen zweipoligen Umsehalter mit den Aufschriften „kurze und große Welle“. Bei Stel- lung „kurzeWelle“ ist die Schaltung: Luftdraht, Ver- längerungsspule, Drehkondensator, Erde bzw. Gegen- gewicht. Bei der Stellung „große Welle“ ist die Ver- längerungsspule mit dem Drehkon- densator zu einem Schwingungskreis zusammenge- schlossen und an die Pole des Kon- densators einer- Hörempfänger. seits der Luft- draht, andrerseits die Erde bzw. das Gegengewicht angelegt. Bei der ersteren Stellung (kurze Welle) können alle Wellenlängen aufgenommen werden von etwa der halben Grundschwingung der Empfangsantenne ab bis zum 1’3fachen Werte. Mit der Schaltung „große Welle“ dagegen beginnt die Wellenskala mit der 1’3fachen Grundschwingung der Empfangsantenne und reicht bis zur 4—Tfachen Verlängerung. Der Vorteil der geschlossenen Kreisschaltung Fig. 37. 160 G. Eiehhorn. (Sammelschaltung) besteht darin, daß durch Zuhilfenahme des Konden- sators die Verlängerungsspulen wesentlich kleiner werden als bei der nor- Fig. 88 a. Bin wa man a ee tesonanz-Tonverstärker für „tönende Funken“. malen Schaltung. HiB.Se2- Dies macht sich b namentlich bei An- tennen von ge- ringer Kapazität angenehm geltend. In beiden Schaltungen wird die Energie aus der primären in der Antenne lie- genden Transfor- matorspule der sekundären Trans- 7 formatorspule zu- geführt. Diese bil- det mit dem Detektor zusammen einen aperiodischen Kreis. Aus dieser verein- fachten Schaltung ergibt sich der große praktische Vorteil, daß für jede Wellen- einstellung stets nur ein Kreis abzu- stimmen ist, nämlich bei kleiner Welle der Antennenkreis, bei großer Welle der Sammelkreis. Früher waren min- destens zwei (meist lose gekoppelte) Kreise genauestens untereinander und auf die Sendewelle abzustimmen. Selbst für einen geübten Mann war diese Operation stets schwierig und wurde meistens mit ungenügender Genauig- keit ausgeführt. In konstruktiver Hinsicht hat die vereinfachte Schaltungsweise den großen Vorteil sehr kleiner Abmessung gebracht. Der Apparat ist, wie die Figur zeigt, in der Weise zusammengebaut, daß im Sockel des Apparates mitschrägliegender Achse ein Drehkondensator angebracht ist und an dem senkrechten Stirnbrett ein Empfangsklapptransformator nebst darunter liegendem zweipoligen Umschalter; zwischen beiden auf einer hori- zontalen Hartgummifläche der Detektor nebst dem Hauptschalter. Letzterer. dient dazu, während des Sendens den Detektor von den Empfangsleitungen Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 161 abzutrennen und die Primärleitung des Sendetransformators bzw. Induktors, welche auf der Figur als Starkstromstöpsel unterhalb des Kondensators sichtbar ist, einzuschalten, während beim Empfang die umgekehrten Ver- bindungen hergestellt sind. Besonders praktisch ist die Konstruktion des Luftdrahtumschalters vom Senden zu Empfang. Es befindet sich hinter der senkrechten Stirnwand ein Hochspannungspol, zu welchem der Luftdraht und die Leitung zum Sender führt. Ein Schalter, welcher die Verlängerung des im Hauptschalter befind- lichen rechts sitzen- den Handgriffes bil- det, legt sich bei Stel- lung auf Empfang in diesen Pol ein. Hier- durch ist der Luft- draht an den Em- pfänger an- und die Sendeenergie auto- matisch abgeschlos- sen. Wird der Hand- griff um 90° nach aufwärts und vor- wärts bewegt, so wird der hinten befindliche Hochspannungs- schalter frei. Der Sen- der ist automatisch mit dem Luftdraht verbunden und der Empfänger abge- trennt und die Lokal- leitungen unterbro- chen. Durch diese Konstruktion ist es Bosonanz- Tonvererkez mit Morseschreiber. geglückt, die gesamte Hochspannung von den zugänglichen Teilen vollkommen fernzuhalten und sie auf einen einzigen gut isolierten und gut geschützten Pol zu beschränken. In elektrischer Beziehung ist noch bei dem neuen Apparat hervor- zuheben die außerordentlich große Wellenskala. Die Größe derselben richtet sich in erster Linie nach den elektrischen Eigenschaften der Empfangs- antenne. Bei einer normalen Schirmantenne von etwa 1000 cm Kapazität beträgt die Wellenskala dieses Apparates 250—3000 m bei 2000 em An- tenne von 350—4200 m usw. E. Abderhalden, Fortschritte, III. 11 Fig. 89 a. 162 G. Eichhorn. Die Abstimmung des Empfängers auf eine unbekannte Welle wird folgendermaßen ausgeführt: 1. Der Empfangstransformator ziemlich fest gekoppelt. 2. Der Kondensator langsam über die Skala gedreht. Falls der Sender auf der eingestöpselten Spule nicht zu finden ist, werden nacheinander alle zugehörigen Spulen eingesetzt. Sobald der Empfang da ist, wird der Transformator loser gekoppelt und gleichzeitig die Abstimmung nachkorrigiert. Der wichtige neue Resonanz-Tonverstärker ist in Fig. 89 veranschaulicht in der Konstruktionsausführung für Schiffszwecke. An einem prismatischen Körper, welcher einerseits Fig. 90. kardanisch, andrerseits ela- stisch und gut gedämpft aufgehängt ist, sind drei in Serie geschaltete ein- zelne Resonanzrelais mit Mikrophonkontakten auf- gehängt. Zur Erhöhung der Selektion ist außer der mechanischen Abstimmung auch eine akustische in Anwendung gekommen. Das lautsprechende Telephon hat statt eines gewöhnlichen Schalltrich- ters einen kontinuierlichen variablen akustischen Reso- nator in Gestalt einer aus- ziehbaren offenen Röhre, Fig. 90. Der Tonverstärker beruht auf der Verwendung mechanischer Resonanzsy- steme geringer Dämpfung. Der rhythmisch pulsierende Detektorgleichstrom geht durch diehochohmigeWick- lung eines Elektromagneten, in dessen Felde sich ein leichter Anker mit ausgesprochener Eigenschwingung befindet, und zwar genau von der Periode des zu erwartenden Tones. Gegen diesen Resonanzanker liegen Mikrophon- kontakte, welche in Verbindung mit der Wicklung eines zweiten derartigen Elektromagneten und mit einer Lokalbatterie durch diesen einen ver- stärkten pulsierenden Gleichstrom vom gleichen Rhythmus senden und einen vor diesem zweiten Elektromagneten befestigten zweiten Resonanzanker zu verstärkten Amplituden anregen. Durch dreimalige Verstärkung wird die Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 163 Stromstärke auf einen solchen Wert gebracht, daß ein lautsprechendes Telephon, oder mit Zwischenschaltung geeigneter Relais, ein Morseschreiber (Fig. 89a) betätigt werden kann, der mit dem Kohärer'!) aus der draht- losen Technik verschwunden war. Fig. 91 zeigt die komplette Schaltung, Fig. 92 ein neueres Modell eines Tonumformers. Ferner soll Fig. 92a noch die gerade von der Telefunkengesellschaft konstruierten Demonstrationsapparate für tönende Funken veranschaulichen; von einer näheren Beschreibung möchte ich an dieser Stelle absehen. Fig. 91. Was den Wirkungsgrad des durch die Stoßerregung einwellig ge- machten Senders angeht, so mögen folgende Angaben aus einem Vortrage des Grafen Arco dienen: 1. Niederfrequenzspannung. a) Dem Motor zugeführte Gleichstromenergie . . . 2950 Watt Meer =. ...= . So Meer AB 2500 Watt b) Dem 50 Perioden-Generator zugeführte Energie . 2500 Watt Nesiunteran genaraloe:.. . = Zr. Ze a 1850 Watt 1) Der Kohärer wirkte als Relais und wurde durch eine an seinen Polen auf- tretende Mindestspannung betätigt. Die neueren Detektoren arbeiten dagegen in der Mehrzahl in der Weise, daß sie die ankommende Schwingungsenergie gleichrichten; mit dem so erzeugten pulsierenden Gleichstrom wird dann eine Telephonmembran bewegt oder ein Galvanometer betätigt. 11* 164 G. Eiehhorn. Fig. 92 FE Tonumformer. Fig. 92 a Tr en \ 4 ee | | | | | | 1} \ F3 Telefunken. Demonstrationsmodell für tönende Funken. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 165 2. Niederfrequenz-Hochspannung. Dem Induktor zugeführte Energie . . . . . . . . 1850 Vermslerm Induktonr een, . 22280 Watt Vermsrmrder Drossel ni 2720-60 1610 3. Hochfrequenzenergie. a) Dem Erregerkreis zugeführte Energie. . . . . . 1610 Verluste in der Funkenstrecke . . . . . 155 Watt Verisste ım Kondensator . nr... 63 Verluste. ın. der Selbstinducuon 272 = Sawran:42: „ Restenergie 1350 b) Der Antenne zugeführte Energie . -. . . .........1350 Antennenstrom 13°5 Ampere Antennenwiderstand (Schirmantenne) bei 1200 m Welle — 85 Ohm J®2W = Schwingungsenergie in der Antenne . . . . 1350 ; 30:1. : 4. Wirkungsgrad der Hochfrequenz-Transformation . er =,84 € ! > 1610 5 5. Wirkungsgrad des Niederfrequenz-Transformators . 1850 Sal, Der 1850475 6. Wirkungsgrad des Wechselstromgenerators . . . 5; 0” 14°), Ze) 2300 15952 DW ickuneseradı. des. Motors. ....,.2% 2. 2-0 me. 5960 856°/0 8. Wirkungsgrad von Antennenenergie bis Gleichstrom- t 1350 ER en a ee AN ö ET: 9. Wirkungsgrad von Antennenenergie bis Primär- 1350 Miechselattomenergie;... 122 pa 130 3 1850 — 3 Im vorliegenden Falle sind allerdings als „Antennenenergie“ die eigent- liche Antennennutzleistung und die Antennenverlustleistung zusammen ge- messen, während der Wirkungsgrad, wie er von Fleming!) aufgefaßt wird, sich auf die Antennennutzleistung allein bezieht. Die Scheidung dieser beiden Größen durch eine Messung ist bisher nicht möglich gewesen, da ein exaktes Meßverfahren hierfür nicht bekannt ist. Auf Grund gewisser Vermutungen dürfte der Wirkungsgrad einer guten Schiffsantenne, wenn sie etwa in der 1’3fachen Grundschwingung erregt wird, an 50°/, betragen. Der totale Wir- kungsgrad zwischen Strahlung und Maschinenleistung wäre dann etwa 40°/,. Einwandfrei und heute verhältnismäßig sehr genau ist dagegen die Messung 1) Vgl. Eleetrieian vom 24. XII. 1909. — Vgl. auch W.H. Eceles und A.J. Makower, Über den Wirkungsgrad der Löschfunkenmethode zur Erzeugung elektrischer Schwin- gungen. Jahrbuch. 4. 253. 1911 und lleetrieian vom 30. IX. 1910. 166 G. Eiehhorn. der Gesamtantennenenergie und dieser Angaben wird sich die Telefunken- Gesellschaft in Zukunft zur Bezeichnung der Senderleistungen bedienen. Wien fand neuerdings!) noch einen Weg, auch unter Beibehaltung der oroßen Funkenstrecke durch Stoßerregung den Braunsender einwellig zu machen, und zwar durch zusätzliches Einschalten (Fig. 93) einer Geissler- schen Röhre (zweckmäßig in Form wie die bekannten Kohlrauschschen Widerstandsgefäße) als „Löschwiderstand“ in den primären Stromkreis, und zwar entweder außerhalb der Zuleitungen zur Funkenstrecke oder innerhalb derselben, so daß die Löschröhre einen en Zusatz zur Funkenstrecke bildete. Die kleineren ee Schwankungen des an sich niedrigen Entladungs- potentials der Röhre kommen neben dem hohen Funkenpotential der Luftfunkenstrecke F nicht 2 in Betracht, so daß man so im Stoßkreis beliebig Lösch C hohe und dabei konstante Spannungen verwenden ER kann. Andrerseits bewirkt die ausgezeichnete L Löschwirkung der @Geisslerschen Röhre, daß ein besserer Nutzeffekt bei engerer Kopplung er- Ds Werscher reicht wird und auch bei stark gedämpftem SNOSkr ers Schwingungskreis ohne besonderen Ballastwider- stand (der den Nutzeffekt wesentlich beeinträch- tigen würde) reine Stoßerregung erzielt werden kann. Die Röhre soll zweck- mäßig einen längeren Entladungsweg haben und ihr Querschnitt darf bei stärkeren Energieentladungen nicht zu eng sein, da ein eventuelles Erhitzen der Röhre den Nutzeffekt erheblich herabsetzt. Bei dieser neuen Art der Stoßerregung liegen die Grenzen der an- wendbaren Kopplungsgrade ziemlich weit auseinander, in welchem Bereich sich die auf den Empfänger übertragene Energie nur wenig ändert; bei zu enger Kopplung tritt ein Versagen der Löschwirkung ein, welche Grenze sich unter gegebenen Verhältnissen der Konstanten des Stromkreises und der Anzahl benutzter Röhren empirisch leicht feststellen läßt. Der Nutz- effekt bleibt in weiten Grenzen der Werte der Entladungsspannungen, Kapazität, Funkenzahl und Leistung im Schwingungskreis merklich der gleiche, da wegen des schnellen Abstoppens des Stoßkreises die bekannten Energieverluste nicht entstehen können. Für kleine Stationen bis zu 1KW dürfte sich diese Methode eben- falls bald in die Praxis einführen. Das von M. Wien angegebene Verfahren der Stoßerregung von Schwin- gungskreisen zum Zweck der Erzeugung schwach gedämpfter Wellen wird sowohl für praktische Verwendung wie auch insbesondere für Meßzwecke um so brauchbarer sein, je mehr man imstande ist, sich der sogenannten idealen Stoßerregung zu nähern. Je schneller das Erlöschen der Schwin- gung im Primärkreis erfolgt, um so enger kann man den Sekundärkreis !) Vgl. Jahrbuch. 4. 135. 1910. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 167 koppeln und um so weniger braucht man auf eine genaue Abstimmung zwischen den beiden Kreisen bedacht zu sein. Bei den bisherigen Methoden der Stoßerregung mit Wechselstrom war nun die Hauptbedingung zum Her- beiführen einer guten Löschwirkung, daß die Elektroden der Funkenstrecke kräftig gekühlt wurden, so daß die in der Funkenstrecke befindlichen lei- tenden Metallteilchen möglichst schnell wieder kondensiert wurden. Ent- sprechend der so erzielten verhältnismäßig guten Löschwirkung kann man z.B. bei den nach diesem Prinzip arbeitenden Funkenstrecken der Tele- funkengesellschaft Kopplungen von maximal 20°/, erzielen, wie ich es schon vorher erwähnte. Um noch eine bessere Löschwirkung zu erreichen, schlägt @Glatzel') ein Prinzip vor, welches darin besteht, daß man die Funken in einer Wasserstoffatmosphäre übergehen läßt und gleichzeitig die Temperatur der Elektroden so einstellt, daß die durch die Entladung gebildeten Metall- teilchen sofort wieder niedergeschlagen werden, jedenfalls in Form von nichtleitenden Wasserstoffverbindungen. Bei richtiger Einregulierung aller Betriebsverhältnisse kann dann durch eine derartige chemische Bindung der Metallteilchen eine ausgezeichnete Löschwirkung erzielt und tatsächlich der ideale Stoß verwirklicht werden. Die Einregulierung der richtigen Elek- trodentemperatur erfolgt dabei zweckmäßig in der Weise, daß man zum Aufladen des Schwingungskreises einen Wechselstromtransformator benutzt, bei welchem man durch Vorschaltung geeigneter Drosselspulen den ge- wünschten Kurzschlußstrom in der Sekundärwickelung, welcher als Heiz- strom für die Elektroden der Funkenstrecke dient, einstellt. Eine künst- liche Kühlung solcher Funkenstrecken ist dementsprechend auch nicht er- forderlich, ja sie ist sogar schädlich, da hierdurch u. a. die Elektroden- temperatur auf einen zu niedrigen Wert herabgesetzt wird, bei welchem keine schnelle Bindung der Metallteilchen mehr erfolgt. Die auf diese Weise hervorgerufene Stoßerregung ist innerhalb weiter Grenzen von der Größe der Kapazität und Selbstinduktion im Stromkreis unabhängig, was für praktische Senderanordnungen u.a. wesentlich ins Gewicht fallen kann. Die bisher erreichten engsten Koppelungen betrugen 40—50°/,, ohne dab dabei die Nebenmaxima in der Resonanzkurve des dritten Kreises schon störend auftraten. Der Wirkungsgrad derartiger Funkenstrecken ist, wie vorläufige Messungen ergaben, mindestens ebenso gut wie der anderer Löschfunkenstrecken. Ebenso lassen sich auch sehr reine Töne mit einer solchen Anordnung erzielen. Äußerlich ist das Auftreten der richtigen Ent- ladungsform in der Funkenstrecke dadurch charakterisiert, daß längs der Elektroden eine Art Gleit- beziehungsweise Glimmentladung auftritt. Mit Rücksicht hierauf ist auch die Form der Elektroden insofern von Be- deutung, als sie das Auftreten einer Gleitentladung begünstigen müssen. Dementsprechend eignen sich am besten Elektroden in Stiftform, während !) Br. Glatzel, Verh. D. Phys. Ges. 12. 590 u. 830. 1910. Phys. Zeitschr. 11. 886. 1910. Jahrbuch. 4. 400. 1911. 168 G. Eichhorn. einander gegenüberstehende ebene Platten die Ausbildung der Glimment- ladung und damit reine Stoßerregung verhindern. Ohne Zweifel ist schon vor Wien gelegentlich Stoßerregung!) ange- wendet worden, ohne daß dies jedoch beabsichtigt oder erkannt war, so z.B. von Fessenden in Amerika. Auch in den Anordnungen von Marconi gemäß Fig. 94, die er auf seinen transatlantischen Stationen anwendet, ist dies vielleicht der Fall. Marconi ladet den Kondensatorkreis mit Wechselstrom oder hochgespanntem Gleichstrom: der Entladungsfunke von 1 bis 2mm Länge springt zwischen zwei Metallscheiben über, die mit aufgesetzten Höckern versehen sind. Die Scheiben rotieren gegeneinander mit einer Peripheriegeschwindigkeit von etwa 100m pro Sekunde. In einer anderen Anordnung (gemäß Figur) bewegt sich zwischen den beiden in der Zeichenebene rotierenden Scheiben eine dritte in einer Ebene senkrecht zur ersteren, so dal) zwei Funkenstrecken von je 1mm entstehen. Zwischen diesen Funkenstrecken sind die Kondensatoren geschaltet. Wenn die Mittelscheibe nicht oder nur langsam rotiert, so treten in den kleinen Funken strecken sofort ge- wöhnliche Lichtbogen auf und die Schwingungen setzen aus; die rasche Rotation verhindert dies. Es ist anzunehmen. daß bei höheren Fre- quenzen Marconis Anordnung auch wesentlich wirkt, wie Drauns ge- koppelte Systeme, so dab zwei Kopplungswellen entstehen; bei nie- deren Frequenzen (zirka 50.000 Schwingungen) jedoch scheint die sogenannte Löschwirkung mit Stoß- erregung einzutreten. Eine kritische Stellung nimmt das Lepel-System ein. E. v. Lepel er- setzte die Poulsensche Bogenlampe durch eine sehr kurze Funkenstrecke. Der Funke spielt zwischen zwei ebenen Scheiben (eine aus Kohle, die andere oder auch beide aus eventuell mit innerer Wasserströmung gekühltem Metall), zwischen denen sich eine Papierscheibe ?) (eventuell mit Kohlenwasserstoff getränkt) befindet. Lepel nahm anfangs an, daß er ein Mittelding zwischen Bogen und Funken erhalte; er steht jedenfalls heute auf dem Standpunkt, daß das neue Telefunkensystem gewisse Prioritäts- ansprüche von ihm verletze. Auf diese Streitigkeiten will ich nicht ein- treten. Sachlich ist zu bemerken. daß auch im Lichtbogen Löschfunken als 1) Solche tritt stets auf bei richtiger Kopplung und bei einem Primärsystem von größerer Dämpfung als die des Sekundärsystems. ?) Auch ohne diese Papierscheibe sollen Resultate erzielt worden sein. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 169 sogenannte Schwingungen dritter Art!) auftreten können. Das Entscheidende, ob Lichtbogen ob Löschfunken, wird in gegebenem Falle darin liegen, ob die Frequenz der Schwingungen im Sekundärsystem die des Sekundär- systems selbst ist oder die des Lichtbogenkreises; im ersteren Falle sind es Löschfunken. Wenn wir nochmals kurz die Vorzüge des neuen Prinzips der „tönenden Funken“ rekapitulieren wollen, so sind es hauptsächlich folgende: 1. Die Energie des Kondensator-(Stoß)kreises ist bis zu einem hohen Grade ausgenutzt. 2. Die Antenne gibt nur eine Schwingung von kleiner Dämpfung, daher vollkommenere Ausnutzung der Energie am Empfänger und scharfe Abstimmung. 3. Die Aufnahme mit dem Telephon gibt einen musikalischen klaren Ton und läßt die Stationszeichen von atmosphärischen Störungen derart scharf trennen, daß letztere nicht mehr stören. 4. Der Ton läßt sich variieren und im Empfänger durch Resonanzrelais verstärken. 5. Der neue vorher erwähnte Morseschreiber erlaubt eine hohe Telegraphierge- schwindigkeit. 6. Schließlich hat Telefunken eine auf dem Prinzip des Gleich- richters beruhende Anordnung ausbilden können, die wieder für Hörempfang den so wichtigen Anruf, der mit dem Kohärer verschwand, ermöglichte. Braun berichtet darüber wie folgt: In den Detektorkreis ist ein sehr empfindliches, aber sehr träges Drehspulgalvanometer eingeschaltet. Durch ein einzelnes Zeichen oder durch eine Anzahl solcher, stets wieder von Pausen unterbrochener, d.h. durch eine telegraphierende Station oder durch Gewitterstörungen kommt kein genügender Ausschlag zustande. Wird aber 10 Sekunden lang von einer Station ein ununterbrochener Strich gegeben, so macht der Zeiger des Instruments einen Ausschlag und gerät zwischen die Zähne eines sich fortwährend in einer Vertikalebene drehenden Rades; er wird jetzt von den Zähnen gepackt, mitgenommen und nach unten ge- drückt. Dadurch wird ein Stromkreis mit Glocke geschlossen, welche so lange tönt, bis der Telegraphist durch einen Hebeldruck den Zeiger wieder frei macht und nun die Depesche mit dem Hörer aufnimmt. Die theoretisch gegebene, leichte Tonvariation im neuen Telefunken- system ist aber praktisch einigermaßen schwierig. Einen wirklichen Ton- sender hat in neuerer Zeit H. Rein?) bei der ©. Lorenz Aktiengesellschaft in Berlin ausgebildet durch eine interessante Kombination der Wienschen Stoßerregung mit einem Duddellschen Schwingungskreis, der bekanntlich 1) Vgl. Jahrbuch. 2. 557. 1909 und H. Barkhausen, Das Problem der Schwingungs- erzeugung. Leipzig 1907. 2) Auch hier werden von Lepel und Burstyn Prioritätsansprüche geltend gemacht; ich verweise auf den Briefwechsel der Parteien im Jahrbuch Band 4. Heft 3 und 4. 1911. Jedenfalls hat mir die Prüfung der Sachlage ergeben, daß die beschriebene Me- thode, Tonsignale drahtlos zu übermitteln, von Rein ganz selbständig erfunden, aus- gearbeitet und auf seine Veranlassung von der C. Lorenz Aktiengesellschaft zum Patentschutz angemeldet wurde (vgl. D.R. P.a. L. 28.288 und 28.587). Die Festlegung sämtlicher elektrischer Größen, gestützt auf zahlreiche, im Laboratorium aufgenommenen Meßreihen, Entfernungsversuchen und photographischen Aufnahmen, von denen einige vorstehend reproduziert sind, sind das Ergebnis der Reinschen Arbeit. 170 G. Eiehhorn. die Grundlage des Poulsengenerators (vide folgenden Abschnitt) bildet. Ich habe im Jahrbuch nach einem Besuch auf der Lorenzschen Großstation Eberswalde bei Berlin und Besichtigung des Reinschen Tonsenders über denselben unter Zusammenfassung der historischen Tatsachen folgendes be- richtet: Poulsen hatte eine Anordnung angegeben, die nach seiner Methode er- zeugten kontinuierlichen Schwingungen zu zerteilen und durch regelmäßige Schwingungsgruppen eine sehr schön und leicht regulierbare Tonwirkung im Empfänger zu erzielen. Da sich bisher indessen keine Unterbrechungs- vorrichtungen finden, welche genügend große Lichtbogenenergien unter- brechen und schließen, und da die anderen Methoden, z. B. durch Kapazitäts- oder Selbstinduktionsvariation, wegen der möglichen geringen Verände- rungen, gleichfalls für den praktischen Betrieb nicht in Betracht kommen, war die genannte Poul- sensche Anordnung nur für kleine Reichweiten anwendbar. Hierbei ist allerdings der Ton im Empfangstelephon nicht nur außerordentlich gut und frei von allen Neben- gcräuschen,, sondern auch sehr bequem varia- bel. Die gleichen Vor- züge besitzt dieim Labo- ratorium der ©. Lorenz Aktiengesellschaft aus- eearbeitete Methode der Schwebungserregung, wobei je ein Lichtbogen- generator mit je einem Schwingungssystem zusammengeschaltet ist, welche beide gering gegeneinander verstimmt sind und zusammen auf einen gemein- samen dritten Kreis (Antenne) arbeiten. Man erhält auf diese Weise Schwe- bungen, welche einen sehr guten und gleichfalls bequem regulierbaren Ton ergeben. Ein Oszillogramm dieser Schwebungen gibt Fig. 95. Wegen der erzielten relativ geringen Reichweite wurden von der ©. Lorenz Aktiengesellschaft zeitlich nacheinander folgende Gedanken aus- geführt: 1. Es wurde ein Lichtbogengeneratorkreis angewendet, wobei dem die kontinuierlichen Schwingungen erzeugenden Gleichstrom ein Wechselstrom überlagert wurde, derart, daß eine periodische Beeinflussung der erzeugten kontinuierlichen Schwingungen stattfand und eine Tonwirkung im Empfänger erzielt wurde. 2. Unter Zugrundelegung des eben genannten Verfahrens wurde an Stelle des Lichtbogengenerators eine Metallentladestrecke, welche einen kleinen Fig. 95. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 171 Abstand zwischen den Elektroden besitzt, gesetzt. Insbesondere sollte hier- bei der dem Gleichstrom überlagerte Wechselstrom von einer Hochfrequenz- quelle erzeugt werden, wozu insbesondere ein Duddellscher Schwingungs- kreis in Betracht kommt. Es war auf diese Weise der Vorteil erzielt worden, eine Entladestrecke von etwas besserem Wirkungsgrad zu benutzen, als ihn ein gewöhnlicher Lichtbogengenerator besitzt und außerdem konnte durch beliebige Variation der Konstanten des Duddellkreises leicht eine Tonvariation erzielt werden. Alle Messungen etc. wurden von Rein, der, wie gesagt, der Vater der Idee ist, durchgeführt. Da unter Zugrundelegung von Gleichstrom zur Speisung der Ent- ladestrecke die maximal zu erzeugende Energie beschränkt ist, auf der Fig. 96. | | 8 13 | & % ) anderen Seite eine sehr leichte Tonvariation durch Variierung der Kon- stanten der elektrischen Elemente des Duddellkreises möglich ist, war die Anordnung für leichte tragbare und fahrbare Stationen prädestiniert. Die Ausarbeitung einer Sendertype für derartige Zwecke wurden von Herrn Nesper im Sommer 1910 fertig durchgeführt und zeigt an Hand des all- gemeinen Schaltungsschemas (Fig. 96) folgende Merkmale: a ist eine nach dem Vorschlage von Scheller hergestellte Entlade- strecke, welche aus zwei nahezu kugelförmig gestalteten, in geringem Ab- stande voneinander eingestellten Elektrodenkörpern besteht. Die Elektroden- körper können bequem gegeneinander verstellt werden, und es kann durch einen Spiritustropfapparat Spiritus zwischen die Entladungselektroden ge- tropft werden, um, sofort verdampft, eine wasserstoffhaltige Atmosphäre zu liefern. Parallel zur Entladungsstrecke liegt der Duddellkreis, bestehend aus einem elektrisch großen Kondensator 5 und einer in einzelne Abschnitte unterteilten, mit dünnen Eisenblechen gefüllten Spule c. Die Unterteilungen 172 G. Eichhorn. dieser Spule sind an einzelne Kontakte geführt und es können durch Be- tätigung dieser Kontakte, welche auch leicht feststellbar eingerichtet sind, entsprechende Selbstinduktionsbeträge der Spule und damit verschiedene Töne des Duddelkreises erzielt werden. Außerdem liegt zur Entladestrecke parallel der sogenannte Stoßkreis, welcher aus einem elektrisch kleineren Kondensator d, einigen Kupferdrahtwindungen e und einem Taster oder Kurzschließer f besteht. Letzterer ist mit der Antenne g gekoppelt. Durch Variation des Vorschaltwiderstandes h und eventuell Einregulierung der Drossel- spule < kann das Brennen der Entlade- strecke beeinflußt werden. Durch die kleine Funkenstrecke fließen drei Ströme: erstens der Gleich- strom der Stromquelle, zweitens der Niederfrequenzstrom des Duddelltonkreises und drittens der Hochfrequenz- strom des Stoßkreises. Die beiden ersten vereinigen sich zu einem Wellen- strom, der den Leitungszustand der Entladestrecke periodisch verändert. Beim Höchstwert ihres Widerstandes setzen die zahlreichen Entladungen des Stoßkreises ein, die so in der Antenne eine rhythmische einwellige Strahlung veranlassen. In den Zeiten des Maximalwertes des Wellenstromes muß andrerseits die Kapazitätsentladung aussetzen. Der Effekt ist also der, daß die Entladun- gen des Stoßkreises nicht mehr willkürlich vor sich gehen, son- dern durch den Ent- ladungsvorgang des Duddellkreises gesteu- ert werden. Jedesmal wenn die Stromkurveb, in Fig. 97, der konti- nuierlichen Schwingun- gen des Duddelkreises durch die Nullinie hin- durchgeht, beziehungs- weise schon vorher, setzt der Stoßkreis ein zu arbeiten und erzeugt eine Reihe von Ent- ladungen, welche die Zahl von 5000—9000 haben können. Die Komplexe a a folgen sich sehr regelmäßig und ergeben ein tönendes Geräusch; je steiler die Kurve d, um so regelmäßiger setzt der Tonkreis ein (vgl. später draht- lose Telephonie mit gesteuerten Stoßsendern). Die auf diese Weise gewonnenen Apparaturen sind außerordentlich leicht und in der Bedienung überaus einfach. Durch Betätigung der Kon- 9) W. Duddell, The Electrieian. 46. $. 269 und 310. 1900. Fig. 98. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 173 takte der Spule e können ohne weiteres verschiedene Töne erzeugt werden, Hornsignale gegeben oder auch Melodien gespielt werden. Durch Betätigung des Tasters f können Morsezeichen bei den verschiedenen vorhandenen Tönen gegeben werden. Besonders angenehm gegenüber dem gewöhnlichen Wienschen Zischfunkensender ist hierbei der Umstand, daß die an der Entladestrecke liegende Spannung keineswegs kritisch ist, daß die Kopp- lung zwischen e und g innerhalb weiter Grenzen variabel ist und daß keine absolut scharfe Ab- stimmung zwischen dr dem Stoßkreisadefa und der Antenne g not- wendig ist. Ein Oszillogra- phenbild der Funken- entladungen zeigt Fig. 98. Durch die dunklen Zwischenräu- me zwischen den ein- zelnen Entladungen geht der kontinuier- liche Schwingungsvor- gang des Duddelkreises hindurch. Die letzte Funkenschwingung eines solchen Kom- plexes sowie die auf die Pause folgende erste Schwingung ist in Fig. 99 in vergrößertem Maßstabe wiederge- geben. Bei der Vorfüh- rung kamen nachein- ander drei verschie- dene Wellenlängen zur Anwendung. Die im Telephon abgehörten musikalischen Töne des Tonsenders waren in allen Fällen von großer Klar- heit und Konstanz. Geradezu frappant wirkte die Übertragung von Horn- signalen, was besonders für militärische Anwendung des ausgezeichneten neuen Tonsenders von größter Bedeutung sein dürfte. Ich wende mich nun zu den rein kontinuierlichen elektrischen Hoch- frequenzschwingungen gleicher Amplitude (ungedämpft), deren Erzeugung von jeher das vorbildliche Problem in der Radiotelegraphie bildete. Wir werden später den Weg derLösung desselben durch Wechselstromgeneratoren verfol- 174 G. Eichhorn. gen und wenden uns zunächst zur Lichtbogenmethode. Duddel!) fand zunächst im Jahre 1899, daß in einem Schließungskreis mit Kapazität und Selbst- induktion, den man, wie es Fig. 100 zeigt, an einen Gleichstromlichtbogen zwischen Homogenkohlen anlegt, durch diesen unter gewissen Bedingungen dauernd kontinuierliche Schwingungen unterhalten werden. Der Lichtbogen vermittelt selbsttätig den Ersatz der im Schwingungskreise veranlaßten Energieverluste auf Kosten des Lichtbogenkreises, und man erhält so an Stelle von gedämpften Ladeschwingungen im Schwingungskreis anhaltend Schwingungen von stets gleichbleibender Amplitude. Man spricht deshalb auch von „ungedämpften“ Schwingungen, was streng genommen ein falscher Ausdruck ist. Selbstredend ent- steht auch hier im Schwingungs- kreis fortwährend Dämpfung durch gewöhnliche Energiever- luste und durch Energieabgabe zu Zwecken der Strahlung, aber der Schwingungskreis wird durch die Vorgänge im Licht- bogen immer wieder aufs neue angeregt, analog wie die Echap- pementvorrichtung einer Uhr immer wieder das Pendel anstößt und einen Ersatz der durch Dämpfung verursachten Energieverluste besorgt. Hinsichtlich der Vorgänge selbst brauchte Simon (Göttingen), der sich durch gründliche analytische Unter- suchungen der Anordnung sehr verdient gemacht hat, den treffenden Ver- gleich, dal die ganze Anordnung wirke wie eine von einem stetigen Luft- strom angeblasene Orgelpfeife. Die Luftlamelle, die gegen die Lippe der Pfeife strömt, hat dieselbe Funktion wie der Lichtbogen; sie leitet, und zwar im Rhythmus der Eigentöne der Pfeife, die Strömung bald in die Pfeife, bald daran vorbei. Die Trägheit der in der Orgelpfeife abgeschlossenen Luftmasse entspricht der Selbstinduktion; die Elastizität (bzw. ihr rezi- proker Wert) der Luftmasse ist das Analogon für die Kapazität. Die Bedingung für das Zustandekommen des Phänomens ist ein labiler Gleichgewichtszustand im Stromkreis des Lichtbogens und seiner Stromquelle. Der Lichtbogenwiderstand, d. h. der Quotient aus der momen- tanen Änderung der Spannung an den Bogenelektroden und der momen- tanen Änderung des Stromes, muß negativ und numerisch größer oder wenigstens gleich groß sein wie der Ohmsche Widerstand des Schwingungs- kreises.!) Auf Grund allgemeiner elektrodynamischer Erörterungen kann Fig. 100. - Er \ dv \ Sr. !) Die sogenannte Stabilitätsbedingung au + w>o ist zuerst von Kaufmann (Ann. Phys. 2. 158. 1900) ermittelt worden; sie ist der Ausdruck für den Gleichge- wichtszustand im Stromkreis des Lichtbogens und seiner Stromquelle; nur im labilen er dv : : Gleichgewichtszustand 7 + w) Vgl. J. Zenneck, Leitfaden etc. S. 200. *) Corbino und Rüdenberg glaubten vor einigen Jahren einen Weg gefunden zu haben, indem sie eine Anordnung vorschlugen, bei der in den Stromkreis einer Haupt- stromdynamomaschine ein Kondensator geschaltet wird. Sei W der Widerstand des ge- samten äußeren und inneren Stromkreises, K eine von den Wicklungsverhältnissen, den Kraftlinienwegen und der Umdrehungszahl der Maschinen abhängige Konstante, so zeigt die Theorie für den Fall W=K, der durch Steigerung der Umdrehungsgeschwindig- keit der Dynamo zu erreichen ist, eine dauernde Eigenschwingung konstanter Ampli- Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 195 Anker, der eine große Anzahl von Magnetpolen trägt. Das Prinzip der Pol- unterteilung muß aber selbst bei den durch moderne Dampfturbinen er- reichbaren hohen Umdrehungszahlen schließlich versagen, da die Pole, die auf einem im Durchmesser begrenzten Cylinder anzuordnen sind, schließ- lich so winzig klein werden, daß sie keine Kraft mehr besitzen, wodurch auch die Maschine ihre Leistungsfähigkeit, insbesondere bei den höheren Wechselzahlen, einbüßt. Braun erinnert in seinem letzten Bericht in der Frankfurter Zeitung daran, daß Patten im Jahre 1894 den Vorschlag machte, auf derselben Achse mehrere gleichgebaute Wechselstromgeneratoren anzubringen; die erste Maschine wird mit Gleichstrom erregt; der in ihr erzeugte Wechsel- strom erregt die zweite Maschine und bringt dort Ströme doppelter Fre- quenz im rotierenden Teil hervor: dieser erregt die dritte Maschine usw. Patten nahm an, daß die Frequenzen sich je verdoppelten, also die Reihe 1, 2, 4, 8 usw. durchliefen; in Wirklichkeit aber steigen sie nur additiv nach der Reihe 1, 2, 3, 4 usw. Wesentlich derselbe Vorschlag wurde im Jahre 1908 von Z. Cohen gemacht; er fügte aber Kondensatoren in die Wechselstromkreise, brachte sie dadurch auf Resonanz und gewann so steigende Frequenzen. Die eigentliche Lösung des Problems wurde aber erst jetzt durch Rud. Goldschmidt gegeben. Der Goldschmidtsche Generator benutzt gleich- falls Wechselfelder, in denen Spulen, die von Wechselstrom durchflossen werden, rotieren; er bewirkt aber die Frequenzsteigerung in einem einzigen rotierenden Teil, indem die erzielten Ströme höherer Frequenz wieder dem feststehenden Wechselfeld zugeführt werden und so fort, so daß die Pe- rioden sich gegenseitig steigern. Goldschmidt rekurriert hierbei auf eine jedem Ingenieur, der mit Einphasen-Wechselstromgeneratoren zu tun hatte, bekannte Erscheinung. Es wird also eine Gruppe von fortbestehenden Spulen (Stator) be- benutzt, zwischen denen eine zweite Spulengruppe (Rotor) rotiert. Wird durch den Stator Gleichstrom geschickt, so entstehen im Rotor Ströme von der Frequenz f, die der Rotation entspricht. Die Ströme fließen über einen Kondensator in die Statorwicklung hinein und lassen hier ein Dreh- feld entstehen, das selbst mit der Geschwindigkeit ® umläuft, und zwar muß die Zusammenschaltung von Rotor und Stator derart sein, daß das Drehfeld rückwärts rotiert und somit relativ zum Rotor die Winkelge- schwindigkeit 2. erlangt. Im Rotor entstehen hierdurch Ströme von der Frequenz 2./, die wieder in den Stator fließen, und solche von 3 .f erzeugen (immer in denselben Wicklungen, in denen also Ströme verschie- dener Frequenzen ohne gegenseitige Störung verlaufen) usf. Wenn also etwa die erste Strömung im Stator mit 1000 Perioden (Rotor) verläuft, tuden des Schwingungskreises, bestehend aus der Kapazität des Kondensators und der gesamten Selbstinduktion des Systems. Die Frequenz wäre also abhängig von der Wahl dieser Konstanten; es ist jedoch nicht gelungen, sich der Hochfrequenz zu nähern. 13* 196 G. Eiehhorn. so hat man durch einfache Rotation im Rotor und somit auch im Stator eine Frequenz von 2000 Perioden, die im Rotor eine Frequenz von 3000 her- vorruft: im Stator wird dadurch wieder ein Strom von 4000 Perioden er- zeugt, wodurch dann der Rotor schon einen solchen von 5000 Perioden führt usw. Im gewöhnlichen Wechselstromgenerator ist die Erzeugung der höheren Frequenzströme begrenzt durch den Umstand, daß die Amplituden der Reihen der harmonischen Schwingungen rapide abfallen infolge der entgegenstehenden hohen Impedanz. Um die Abdämpfung der höheren harmonischen zu verhindern, benutzt Goldschmidt Schwingungskreise (aus Kapazität und Selbstinduktion) als Nebenschlüsse!), die nach dem bekannten Prinzip elektrischer Resonanz wirken. Es werden so zwar durch die hin- und hergehende gegenseitige Induktion Wechselströme von allen möglichen Frequenzen von Null bis unendlich erzeugt, aber der Wechselstrom ge- wünschter Frequenz tritt aus dem Schwingungsgemisch durch Resonanz besonders stark hervor, während alle anderen Wechselströme möglichst schwach gemacht werden. Die elektrische Energie wird so vielmals zwi- schen Stator und Rotor der Maschine hin- ak und herreflektiert, wobei bei jeder Reflexion D die Frequenz der Schwingungen erhöht wird, bis eine Frequenz entsprechend der Frequenz ce -—-2 des strahlenden Antennensystems erreicht ist. PoY Ten) Wegen der Wichtigkeit der Sache gebe ich noch folgenden Auszug aus einem Original- bericht an das Jahrbuch von Goldschmidt ce 7 Se selbst: | = „Die in der Praxis angewandte Form c der Maschine wird durch Fig. 117 darge- stellt. Rotor und Stator tragen einphasige Wickelungen. Die Statorwicklung wird mit Gleichstrom erregt. Rotor R möge in sich kurz geschlossen sein, während beim Stator durch den großen Kondensator ( ein Kurzschluß für Wechsel- ströme hergestellt wird. Erregt man S mit Gleichstrom, so werden in R Ströme von der Fre- quenz f erzeugt. Wir betrachten jetzt $ als den primären Teil und denken uns das durch den Rotorstrom entstehende Wechselfeld in zwei mit der Geschwindigkeit ® ineinander entgegengesetzten Richtungen relativ zum ') Es ist also an die einphasige Wicklung des Stators eine Reihe von Schwin- gungskreisen angeschlossen, welche durch passende Wahl von Selbstinduktion und Kapazität auf die Schwingungszahlen 2n, 4n, 6n ... abgestimmt sind, wobei n die Grundperiodenzahl der im Rotor induzierten Ströme bedeutet. Außerdem ist die Stator- wicklung von einem Gleichstrom durehflossen. Ebenso ist an die einphasige Wieklung des Rotors eine Reihe von Kreisen angeschlossen, welche auf die Schwingungszahlen n, 3n, 5n .... abgestimmt sind. Dämpfungen und die gegenseitigen Induktionen der ein- zelnen abgestimmten Kreise sind so klein, daß man in jedem die Ströme anderer Fre- quenz, als solche, auf welche der Kreis abgestimmt ist, vernachlässigen kann. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 197 Rotor rotierende Drehfeldkomponenten zerlegt. Eine dieser Komponenten steht im Raume still und bildet die Rotorreaktion auf das durch Gleich- strom erzeugte Statorfeld. Die zweite Komponente rotiert im Raume mit der Geschwindigkeit 2.0 (= Eigengeschwindigkeit + Rotorgeschwindig- keit) und erzeugt in dem Stator Ströme von der Frequenz 2./. Mit diesen Strömen nehmen wir wieder eine Zerlegung in eine „Reaktionskomponente“ und eine „Aktionskomponente“ vor. Die letztere bedingt in R Ströme von der Frequenz 3./. Schließlich entstehen auch hier theoretisch unendlich hohe Frequenzen. Bei dieser Anordnung werden die Ströme oder elektri- schen Energiemengen durch Induktion zum Zwecke der Frequenzerhöhung vom primären auf den sekundären Teil zurückgeführt. Für diese Anord- nung ist ferner charakteristisch, daß abwechselnd Rotor und Stator zum primären Teil werden. Es möchte bei flüchtiger Prüfung erscheinen, daß man nach diesem Verfahren nur „höhere Harmonische“ erzeugen kann, d.h. relativ kleine Oberschwingungen, wie sie bei jeder Wechselstrommaschine durch das „Nichtsinusförmige“ des Feldes und der Wicklung als Nebenprodukt auf- treten, und bei Einphasen- und Wechselstromgeneratoren durch die Rück- wirkung von Feld und Anker aufeinander.!) Das ist aber tatsächlich nicht der Fall, wenn man dafür sorgt, daß die nicht ausgenutzten niederen Fre- quenzen sämtlich in wirklich kurz geschlossenen Kreisen fließen und nur die zu verwendende Frequenz dem Nutzwiderstand (Antenne) zugeführt wird. Dann findet innerhalb der Maschine eine Umsetzung der niedrigeren Frequenzen in höhere mit sehr beträchtlichem Wirkungsgrad statt, und zwar mit einer Energie, die bis zu einer gewissen Grenze mit wachsender Frequenz zunimmt, weil bei jeder Frequenzsteigerung sich immer wieder neue mechanische Energie in elektrische umwandelt. Ohne den Kurzschluß für die toten Frequenzen würden mit steigender Periodenzahl die Ströme schwächer und schwächer werden und die Erzielung von „Leistung“ un- möglich sein. Man kann Stator- und Rotorwickelung mit einem feststehen- den und einem rotierenden Spiegel vergleichen, zwischen denen die elek- trische Energie ähnlich wie Lichtstrahlen hin- und hergeworfen wird. Die Reflexion erfolgt (infolge der Relativbewegung der Spiegel) unter Frequenz- steigerung und vollzieht sich um so vollkommener, je weniger Energie die „Spiegel“ selbst verschlingen, d.h. je dämpfungsfreier die verschiedenen Schwingungskreise sind. Vielleicht wäre die Bezeichnung „Reflexionsgene- rator“ für meine Maschine angebracht. Der Umstand, daß die Frequenzsteigerung in einer Maschine vor sich geht, bringt den Vorteil mit sich, daß die Aktionskomponente der Frequenz n. von der Reaktionskomponente der Frequenz (n + 1). nahe- zu aufgehoben wird, so daß nur das letzte Feld (höchste Frequenz, Nutz- feld) in voller Stärke besteht und damit auch pur dies die vollen Eisen- verluste bedingt. Die gegenseitige Aufhebung der Felder niedrigerer Fre- t) Vgl. Arnold, Die Wechselstromtechnik. IV. S, 25. 198 G. Eichhorn. quenz ist um so vollkommener, je dämpfungsfreier die verschiedenen Ab- stimmungskreise sind. Unter „wirklichem Kurzschluß“ bei Wechselstrom ist nicht eine ein- fache Drahtverbindung, sondern ein Schluß durch einen Kondensator zu verstehen, der auch die in der Maschine selbst liegende Selbstinduktion aufhebt. Wie diese Abstimmung geschieht, soll im Prinzip an Hand der Fig. 118 gezeigt werden. Diese Schaltung illustriert am deutlichsten das Verfahren. In Wirklichkeit sind freilich nicht unwesentliche Vereinfachun- gen eingetreten. Es soll beispielsweise das Vierfache der Frequenz (4. ) hergestellt werden, die die Maschine ohne die Kunstschaltung liefern würde. Der Stator S werde über die Drosselspule D mit Gleichstrom erregt. Die Rotor- ströme von der Periodenzahl / fließen dann auf dem abgestimmten Wege R—0,— D,—(C,—R. Der Kondensator C, ist so abgeglichen, daß er die Selbstinduktionvon R aufhebt, während D, D e Arrterme wndC, bei f-Perioden gerade in Resonanz sind. Die im Stator hervorgerufenen Ströme von 2. f-Pe- rioden fließen über C, (das auf die Selbst- induktion von 5 ab- geglichen ist), D, und C,,.C, und D, sind in sich auf eine Eigenschwingung mit2. fabgeglichen. Die Rotorströme von der Frequenz 3. fließen über das ebenfalls abge- stimmte (,. Nutzbar sollen die Ströme mit 4. / verwendet werden, und diese können zwischen den Punkten a und 5 rein abgenommen werden. Da D,—C, für 4./ verstimmt sind, so fließt durch diesen Nebenschluß zur Antenne nur ein äußerst kleiner Strom vierfacher Frequenz. Diese beiden Hilfsapparate sind aber auf 2. f scharf abgestimmt, so daß zwischen a und 5 praktisch keine Spannung von 2. f-Perioden herrscht. Bei dieser Schaltungsweise ist beachtenswert, daß z. B. das Hinzufügen von (, die Resonanz für f im Rotorkreise nicht stört, ebensowenig wie die Einschal- tung der Antenne die Resonanz im Stator beeinflußt. Das liegt an den auf die Wickelungen abgestimmten Kondensatoren €, und C,, die bewirken, daß die Kreise in Resonanz bleiben, gleichgültig, ob nun D,—C, bzw. D,—C, kurz geschlossen oder offen sind. Fig. 119 stellt die erste Maschine dieser Art dar. Sie befindet sich auf der Radiostation der C. Lorenz Aktiengesellschaft in Eberswalde und Fig. 118. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 199 arbeitet hier seit April 1910. Diese Maschine liefert bei 10.000 m Wellen- länge 125 KW, bei 5000 m Welle sind immerhin noch 8—10 KW zu erzielen. Es bereitet aber keinerlei Schwierigkeiten, Maschinen für 6080 KW und mehr herzustellen, ebensowenig wie die Erzielung von Wellen mit 3000 m Länge. Der Wirkungsgrad der Maschine bei 10.000 m Welle ist etwa 80°/,. Ein besonderer Vorzug der Maschine ist, daß man ihr durch einfache Um- schaltung eine große Anzahl von Frequenzen entnehmen kann. Die feinere Abstufung der Wellenlängen erfolgt nach einem besonderen Verfahren.“ Die Goldschmidtsche Hochfrequenzmaschine wird ohne Zweifel eine neue Epoche in der Radiotelegraphie und Radiotelephonie einleiten; für letztere ist sie natürlich wegen des kontinuierlichen Charakters der er- zeugten Schwingungen auch prädestiniert. Immerhin knüpft sich ihre Fig. 119. Goldschmidts Hochfrequenzmaschine. allgemeine praktische Einführung an gewisse Voraussetzungen, zu deren Erfüllung wohl auch noch manche Erfahrung nötig sein wird. Es ist ja klar, daß ein geringes Schwanken in der Tourenzahl des (Generators jede der aufeinander folgenden harmonischen Schwingungen in der Frequenz verändern muß, so daß die schließliche Hochfrequenz nicht mehr den benötigten Wert hat. Gerade bei der großen Abstimm- schärfe würde eine Änderung der Rotationsgeschwindigkeit der Maschine um 1°/, sicher schon den ganzen Effekt illusorisch machen. Die Am- plituden der Harmonischen dürfte dann auch erheblich reduziert werden, da alle Resonanznebenschlüsse verstimmt sein werden gegen die Harmoni- schen, auf die sie abgeglichen sind, woraus sich eine beträchtliche Schwä- chung der ausgesandten Strahlung ergeben muß. Das sind aber schließlich Fragen der Technik, in deren Lexikon das Wort „unmöglich * heute nicht mehr steht. Immerhin wird auch nach Überwindungen aller technischen 200 G. Eichhorn. Schwierigkeiten die @oldschmidtsche Hochfrequenzmaschine, wenn sie hin- sichtlich des Wirkungsgrades mit den modernen Telefunkenstationen kon- kurrieren will, ihren Wirkungskreis hauptsächlich an großen Landstationen mit relativ niedrigen Frequenzen bzw. großen Wellenlängen entfalten müssen, wobei sie aber nicht als gefürchteter Konkurrent, sondern eher als ein will- kommener Gehilfe und Zuträger der Kabeltelegraphie auftreten dürfte. Die weitgehende Variation der Wellenlänge, wie sie heute bei kleinen Stationen unbedingt praktisch verlangt wird, dürfte auch mit der Maschine nicht so rasch und leicht zu ermöglichen sein wie mit den bisherigen Methoden. Wie ich soeben bereits andeutete, ist es jedem Fachmann klar, daß die Radiotelegraphie niemals die Telegraphie mit Drähten bzw. Kabeln, die mathematische Punkte miteinander verbinden, ersetzen kann (ich verweise auch auf einen übersichtlichen größeren Aufsatz. der kürzlich in der Nr. 631 der „Kölnischen Zeitung“ erschien: Seekabel und drahtlose Telegraphie); das wird auch nicht der Fall sein, wenn die sogenannte „gerichtete“ Radio- telegraphie zu einer viel höheren Vollkommenheit entwickelt sein würde, als dies heute der Fall sei; bei einer Radiotelegraphie, basierend auf den jetzt benutzten Vorgängen, kann ihrer Natur nach von einer gerichteten Tele- graphie im Sinne des Telegraphendrahtes niemals die Rede sein. Die ge- richtete Radiotelegraphie erstrebt, beim Sender die ausgesandten Wellen auf einen möglichst kleinen Winkelraum zu beschränken: tatsächlich erreicht ist, daß die Amplituden der Wellen in den verschiedenen Richtungen sehr verschiedene Werte haben. Die Verwendung von Spiegeln nach dem Vorbild der Hertzschen Spiegelversuche ist bei der großen Wellenlänge der praktischen Radiotele- graphie ausgeschlossen, da die Spiegeldimensionen groß gegen die Wellen- länge sein müssen. Einen gewissen Erfolg hatten die Abschirmversuche von Zenneck, die zeigten, daß es möglich ist, durch einen zum Sender parallelen und auf die Senderschwingung abgestimmten, geerdeten Draht die Reichweite nach einer bestimmten Richtung stark zu schwächen ohne merklichen Einfluß auf die Reichweite in der entgegengesetzten Richtung, in der man telegraphieren will. Bemerkenswert ist ferner die Doppelantenne im Abstand einer halben Wellenlänge von 4A. Blondel; die Ströme in demselben sind um 180° in der Phase gegeneinander verschoben. Für Punkte in der Ebene der An- tennen verstärken sich die gleichphasigen Felder; man bekommt also in dieser Richtung eine maximale Wirkung, während für Punkte senkrecht zu dieser Ebene sich die Felder aufheben. Sehr wichtig waren dann die Versuche von Braun mittelst mehrerer Antennen mit phasenverschobenen Schwingungen, nachdem die Hauptschwie- rigkeit, die verschiedenen Sender mit Schwingungen von vorgeschriebener Phasendifferenz zu erregen, von Mandelstam und Papalexi gelöst war. Brauns einfaches Prinzip veranschaulicht Fig. 120a. Von den drei in den Ecken eines gleichseitigen Dreiecks angeordneten Antennen A, Bund C seien A und B gleichphasig, aber gegen Ü’ um eine Viertelschwingungs- Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 201 dauer verspätet erregt; die Höhe € D des Dreiecks sei gleich einer Viertel- wellenlänge. Dann wird die Richtung CD für die Strahlung bevorzugt sein. Die von C' ausgehende Welle wird AB in dem Momente erreichen, in dem A und B zu schwingen anfangen. Fig. 120 b zeigt schematisch den Aufbau, Fig. 121 die Feldcharakteristik in der sogenannten Wellenzone; Kurve b stellt das gemessene Feld dar, die Radienvektoren die heichweite. Die Charakteristik !) zeigt also maximale Strahlung in der Richtung AB und überhaupt keine Strahlung in der entgegengesetzten Richtung. In dieser letzteren verschwand bei der praktischen Kontrolle die Wirkung nicht ganz. Indem man die Rollen der drei Sender — durch Umlegen eines Kommen- Fig. 129 a. Fig. 120 b. Te I} z l q tators — vertauscht, lassen sich Drehungen der bevorzugten Rich- tung von je 120°, auch solche von Gerichtete Radiotelegraphie nach Braun. je 60° erzielen. Eine noch günstigere Charakteristik (Kurve c) erhält man nach der Theorie mit vier geeignet angeordneten Antennen. Die praktisch größten Erfolge hat Marconi?) mit seinen geknickten Antennen erreicht. Die mit ca. 50000 Perioden arbeitenden Marconischen Großstationen für transatlantischen Verkehr enthalten (s. Schema der Fig. 122) als Antenne eine große Anzahl von Drähten, welche vom Stations- haus fächerförmig ca. 50 m oder mehr in die Höhe geführt sind, dort um- biegen und dann, einander parallel, als ein breites Band mehrere hundert 1) Man denkt sich in einer bestimmten Entfernung vom Sender, aber in ver- schiedenen Richtungen die Amplitude der Wellen gemessen und trägt diese Amplituden vom Sender aus in denjenigen Richtungen, in denen sie gemessen wurden, als Vektoren auf. Die Endpunkte dieser Vektoren verbindet man durch eine Kurve, die die soge- nannte „Charakteristik der Fernwirkung“ darstellt. Eine berechnete Charakteristik hat nur dann praktischen Wert, wenn sie für Entfernungen gilt, die, wie in der Praxis, groß sind gegen die Wellenlänge. Diese Charakteristik erhält man auch, indem man die Reichweiten des Senders (für einen bestimmten Empfänger) in den verschiedenen Richtungen als Vektoren aufträgt. 2) Ich bin selbst, wie in meinen Schriften publiziert, mehrere Jahre vor Marconi auf der meiner Leitung unterstellt gewesenen Braun-Siemensschen Ostseeversuchsstation durch besondere Umstände zur Verwendung geknickter Antennen geführt worden und habe ihre direktionselektive Wirkung erfahren, ohne daß ich jedoch damals die Bedeu- tung der Sache recht erkannte. 202 G. Eiehhorn. Meter horizontal verlaufen. In einer der Richtung des horizontalen Teiles entgegengesetzten Richtung ist die Fernwirkung am stärksten. Die von Marconi und Fleming gegebene Charakteristik war nicht für die Wirkung des Senders auf große Entfernung beweiskräftig. Der Umstand, daß aber tatsächlich dieser Sender als gerichteter Sender auch auf große Entfernung wirkt, kann, wie Zenneck zuerst zeigte, Se nur dadurch erklärt werden, daß das geringe Leitvermögen der Erde eine wesentliche Rolle spielt. !) Was schließlich die ebenfalls prak- tisch erfolgreichen gerichteten Sender von Bellini und Tosi?) angeht, so ist das Wesentliche an ihnen die Verwen- dung von zwei schiefen Luftleitern >), die entweder als Teile eines offenen Senders oder eines geschlossenen Kondensator- kreises ausgebildet sind. Solche Sender geben, wie es die Versuche zwischen den Stationen Dieppe, Havre und Bar- fleur bestätigt haben, eine maximale Wirkung in der Ebene der beiden Luftleiter, eine minimale in der Richtung senkrecht dazu. Die Fig. 123 zeigt das Innere einer neueren Station in Boulogne-sur-Mer. Von be- sonderem Interesse sind die Gerichtete Radiotelegraphie nach Marconi. in der Mitte der Abbildung sichtbaren Radiogoniometer, d.h. die Kopplungsvorrichtungen für Sender und Empfänger. Beide Kon- struktionen, die für Sender und Empfänger nur hinsichtlich der aufge- wickelten Drahtlänge und Drahtstärke voneinander abweichen, bestehen ') Vgl. Zenneck, Leitfaden ete. S. 319 ff., ferner speziell auch Jahrbuch. 4. 159. 1911, einen Bericht von Sommerfeld über eine Arbeit seines Schülers X. v. Hörschel- mann, die eine Bestätigung und Erweiterung der Zenneckschen These darstellt. Die Studie von Hörschelmann erscheint demnächst im Jahrbuch. ”) Vgl. Jahrbuch. 1. 598. 1908; 2. 381. 511. 608. 1909. °) Die Bellini-Tosische Dreiecksantenne ist nur eine besondere Form der ge- richteten Antenne. Die ideale Form besteht aus zwei vertikalen Antennen, schwingend in einer Viertelwellenlänge und von einander abstehend um eine halbe Wellenlänge; am unteren Ende sind sie durch einen horizontalen Leiter verbunden, durch den sie erregt werden können. Werden die beiden Antennen näher zusammengebracht oder geneigt, so vermindern sich Strahlung und Reichweite, zuerst langsam, dann sehr schnell. Das ganze Luftgebilde schwingt nicht in der Grundschwingung, sondern in der dritten Har- monischen. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 203 aus zwei um 90° gegeneinander versetzten festen Spulen, deren Enden mit je einer der gekreuzten Dreiecksantennen (vgl. Fig. 124) des Systems ver- bunden werden. Im Innern dieser Spulen befindet sich, mittelst eines Handgriffes drehbar angeordnet, eine kleine Spule, die beim Sender mit dem Erregerkreise, beim Empfänger mit dem Empfangsresonanzkreise Fig. 123. Bellini-Tosi-Station für gerichtete Radiotelegraphie in Boulogne. verbunden ist und dazu dient, die elektrischen Zu Schwingungen auf das Spulensystem zu über- tragen oder von diesem zu entnehmen. In Über- einstimmung mit der Theorie hat sich ergeben, daß die Richtung des resultierenden Feldes stets mit der Wicklungsebene der beweglichen kleinen Spule zusammenfällt; daß das Feld sich zwang- läufig mit ihr dreht (sein Wert bleibt stets konstant); dab für jede Stellung der beweglichen Spule die Feldintensität im Raume nach dem Sinusgesetz verteilt ist. Das beschriebene System kann als ein bilaterales bezeichnet werden, da man zwei Telegraphierrichtungen hat, die um 180° von- einander verschieden sind, für beide hat man die gleiche Stellung der Spule des Radiogoniometers im Empfänger. Es wäre natürlich wünschenswert, nur die eine Richtung zu haben, d.h. 204 G. Eichhorn. ein unilaterales System auszubilden. Das Problem wurde wie folgt gelöst: Ein Luftgebilde (für gerichtete Telegraphie), bestehend aus einem Paar vertikaler Antennen oder aus einem Rähmen, strahlt nach vorwärts und rückwärts, aber die Phase ist entgegengesetzt. Die Phasendifferenz besteht, weil die Ströme und Potentiale gleich und von entgegengesetztem Vorzeichen in den beiden Hälften des Luftgebildes sind. Eine vertikale An- tenne strahlt zirkulär, weshalb das polare Diagramm (Charakteristik) der durch die Antenne erzeugten Feldintensität durch einen Kreis dargestellt ist. Wenn man das Luftgebilde einer Sendestation bildet aus einem Paar vertikaler Antennen oder einem Rahmen und aus einer vertikalen Antenne, so setzt sich bei gleichzeitiger Erregung aller die zirkuläre Strahlung der letzteren mit der Strahlung der ersteren zusammen. Sind dieselben gleich, so ist die zirkuläre Strahlung in Phase mit der anderen Strahlung nach der einen Richtung in entgegengesetzter Phase nach der entgegengesetzten tichtung. Die resultierende Strahlung wird daher nach der einen Seite ver- stärkt; nach der entgegengesetzten ist sie Null.!) Dies gilt natürlich auch, wenn man das richtende Luftgebilde sich drehen läßt, während die vertikale Antenne ihre Lage stets unverändert beibehält. Anstatt diese Drehung wirklich auszuführen, kann man natürlich wieder zwei vertikale Luftleiter mit der kleinen beweglichen Spule des Radiogoniometers verbinden und letztere drehen. Um die einzelne vertikale Antenne zu erregen, besitzt das Radiogoniometer noch eine dritte Wicklung, die sich mit der primären Wicklung bewegt und stets gleich von dieser erregt wird, welches auch ihre Lage ist. Die Enden dieser dritten Wicklung sind einerseits mit der Erde, andrerseits durch Vermittlung einer Selbstinduktion mit der verti- kalen Antenne verbunden. Für den Empfänger gilt das Analoge. Die Diagramme der Feld- intensität und der Energie sind vollständig analog denjenigen des Sen- ders; es war zu berücksichtigen, daß die Wirkungen der vertikalen An- tenne gegen diejenigen des richtenden Luftgebildes um eine Viertelperiode differieren. Dieses unilaterale System gestattet also das Aussenden oder besser die Konzentration der Wellen, ausschließlich in der Richtung der Empfangs- station, und man ändert diese Richtung durch veränderte Orientierung der beweglichen Spule des Sender-Radiogoniometers, und hinsichtlich des Emp- fanges kann man von zwei Sendestationen, die um 180° voneinander ab- stehen und gleichzeitig geben, ausschließlich die Zeichen nur von einer Seite aufnehmen. In erster Annäherung kann man sagen, daß die Reichweite mit der Intensität des erzeugten elektromagnetischen Feldes oder mit der (Quadratwurzel aus der ausgestrahlten Energie wächst. Es ergibt sich hier- ‘) Wegen Theorie und Diagramme vgl. 1. c. Soc. Int. d. El. Extrait. S.19 bis 21. 1909. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 205 aus, daß auch die Reichweite der betrachteten gerichteten Sender der- jenigen einer vertikalen Antenne überlegen ist. Z.B. wird der früher be- trachtete gerichtete Sender, bestehend aus zwei vertikalen Antennen, die in entgegengesetzter Phase schwingen und die um eine halbe Wellenlänge voneinander abstehen, in einem gegebenen Punkte eine Energie ausstrahlen, die viermal größer ist als diejenige von der entsprechenden vertikalen An- tenne; die Reichweite wird also annähernd doppelt so groß sein.!) Auch im Empfänger kommt man zu dem Schluß, daß die erzeugte elektro- motorische Kraft bzw. die empfangene Energie in bzw. durch das betrachtete richtungsfähige Luftgebilde das doppelte bzw. das vierfache der Werte bei der entsprechenden vertikalen An- tenne betragen kann. Angenommen zwei Stationen mit je einer vertikalen Antenne könnten unter sich bis auf eine Entfernung D verkehren. Wenn man jetzt die An- tennen im Luftgebilde für gerichtete Telegraphie umändert, jedes bestehend aus zwei vertikalen Antennen, gieich der bisherigen Antenne, so wird in erster Annäherung die Reichweite auf 4 D wachsen. Die Reichweite eines Paares richtungsfähiger Luftgebilde, jedes bestehend aus zwei vertikalen Antennen, ist also erheb- lich überlegen derjenigen eines entsprechenden Paares verti- kaler Antennen; sie ist approximativ viermal so grob. Allgemein gelten für den gerichteten Empfänger ähnliche Betrach- tungen wie für den gerichteten Sender. Zu erwähnen sind die Doppel- antennen im Abstand einer halben Wellenlänge von F. Braun und v. Sigs- feld, die schiefen Antennen von Braun und von Bellini und Tosi, die Schleifenantennen von de Forest, die horizontalen bzw. geknickten Antennen von de Forest und von Marconi. Zusammenfassend wäre also zu sagen, dab in dem größeren Wir- kungsgrad, der erhöhten Reichweite, Richtungsfähigkeit, selektiver Emp- fangsfähigkeit und Richtungsbestimmungsfähigkeit die Vorzüge der An- ordnungen für gerichtete Radiotelegraphie liegen. Gerade die gerichtete Radiotelegraphie hat auch wieder die Aufmerksam- keit darauf gerichtet, wie unvollkommen unsere Vorstellung über den Ausbrei- tungsvorgang zwischen Sender und Empfänger ist. Die Erfahrung hatte ge- lehrt, daß die Länge der Antennen ?) der Quadratwurzel aus der zu überbrücken- den Entfernung proportional sein soll. Die eigentliche Begründung suchte man in der verstärkten Beugungserscheinung infolge vergrößerter Wellenlänge. Von dieser Beugungstheorie, die anfangs besonders von Poincare vertreten wurde, !) Vgl. experimentelle Bestätigung bei F. Kiebitz. Verh. d. Phys. Gesellsch. 10. Nr. 23. 1908. ?) Je länger übrigens die Empfangsantenne ist, um so größer ist die Fläche, von der die Strahlungen aufgefangen werden; wie Poincare treffend bemerkt, ist der Sach- verhalt gerade so, als wenn man ein entferntes Licht durch ein Fernrohr betrachtet, dessen Objektivöffnung sehr groß ist. 206 G. Eiehhorn. ist man jetzt etwas abgekommen. In einer anderen Theorie stellt Sommerfeld die These auf, daß die begrenzte Leitfähigkeit der Erde einen ausreichen- den theoretischen Grund liefere für die Größe der praktisch erzielten Wir- kungen, wenigstens für kleine Entfernungen. Eine dritte Theorie, die jetzt hauptsächlich von Nicholson‘) mathematisch ausgebaut wird, behauptet, daß die Schwingungen eines Senders in die obere Atmosphäre gelangen und dort auf Schichten treffen, die leitend geworden sind. Dies verursacht eine Reflexion der Wellen, so daß der reflektierte Wellenzug die Erde wieder trifft mit einer Intensität, die viel größer ist als diejenige, welche vor- handen wäre beim Fehlen einer solchen atmosphärischen Leitfähigkeit bzw. Reflexion. In guter Übereinstimmung mit der letzten Theorie steht der allbekannte Unterschied der Reichweiten bei Tag gegenüber solchen bei Nacht. So einfach, wie man sich die Sache gemäß Diagramm der Fig. 125 Fig. 125. ZISZANINN CC G vorstellte, ist der Ausbreitungsvorgang jedenfalls nicht; nach diesem Kraft- linienbild müssen die Wellen, die von der Antenne weggehen, am Erdboden entlang gleiten, d. h. der Erdboden wird in der Radiotelegraphie als Leiter benutzt, dessen gelegentliche schlechte Leitfähigkeit lediglich zu Energie- verlusten Anlaß gibt, woraus dann auch folgen würde, daß die Intensität der Wellen schneller abnimmt als umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung, und daß man über das gut leitende Meerwasser weiter telegraphieren kann als über Land, wie es die Erfahrung lehrt. Ich halte es demgegenüber für zweckmäßig, folgende allgemeine Zusammenstellung im Jahrbuch ?®) von A. Sommerfeld wiederzugeben: „Man begnügt sich für den Ausbreitungsvorgang in der Regel mit der Annahme, daß die Erde für die Frequenzen der Radiotelegraphie als unendlich guter Leiter wirke. 1) Vgl. Jahrbuch. 4. 20. 1910. 2) Jahrbuch. 4. 157. 1910. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 207 Bei ebener Erdoberfläche kann man dann nach dem Vorgang von M. Abra- ham‘) die Wellenausbreitung einfach beschreiben auf Grund der Formeln des Hertzschen Dipols, inden man zu dem Felde in Luft das an der Erd- oberfläche gespiegelte hinzudenkt und dadurch der Bedingung des voll- kommenen Leiters genügt, nach der die Kraftlinien senkrecht auf der Erd- oberfläche endigen müssen. Dieselbe Annahme wird auch bisher der Be- handlung der sphärisch gekrümmten Erdoberfläche ausschließlich zugrunde gelegt.°) Auf die Wichtigkeit der besonderen Bodenbeschaffenheit für den Ausbreitungsvorgang hat zuerst J. Zenneck ?) hingewiesen. Insbesondere ver- tritt er die Theorie, daß die Wirkungsweise des Marconischen geknickten Senders) nur durch Berücksichtigung der endlichen Leitfähigkeit des Erd- bodens verständlich werde. In einer umfangreichen Arbeit 5) habe ich selbst die erforderlichen mathematischen Entwicklungen zu einer strengen Be- handlung des Ausbreitungsproblems gegeben, bei beliebiger Beschaffenheit des Erdbodens unter vorläufiger Beschränkung auf den Fall der ebenen Begrenzung. Meine Formeln stellen eine Erweiterung der Theorie des Hertzschen Dipols dar, derart, dal) die von dem Sender ausgehende Er- regung nicht aus zwei spiegelbildlich gleichen Hälften besteht wie im Falle unendlich guter Leitfähigkeit, sondern unsymmetrisch gegen die Erdober- fläche wird mit Kraftlinien, die die Erde nicht senkrecht treffen.“ Es folgen dann von Sommerfeld Ergänzungen seiner früheren Ausführungen, insbesondere für solche Fälle des Erdreichs, in denen die dielektrische Po- larisation neben der Ohmschen Leitung nicht zu vernachlässigen ist. Ich verweise darauf sowie auf die ebenfalls im Jahrbuch erschienene Arbeit von P. Epstein, in der die Kraftliniendiagramme entworfen sind, die den verallgemeinerten Dipol in ähnlicher Weise erläutern wie die bekannten von Hertz theoretisch konstruierten Figuren den symmetrischen Dipol für die Ausstrahlung elektrischer Kugelwellen bzw. die Abschnürung_ elektri- scher Feldlinien. Über die Rolle der senkrecht stehenden Antennen ist allgemein folgendes zu sagen: Die Strahlungsquellen des Lichtes liefern Schwingungen, deren Energie nach allen Seiten gleichmäßig ausstrahlt; wir haben eine Kugelwelle, die sich nach allen Richtungen mit derselben In- tensität ausbreitet. Auch durch die elektrischen Schwingungen der Antenne haben wir in großen Entfernungen eine Kugelwelle, die in radialer Rich- tung fortschreitet, aber ihre Intensität ist nach verschiedenen Richtungen sehr verschieden. In der nutzbaren äquatorialen Richtung hat die Strahlung ®) ein Maximum bzw. es wird mehr Energie in der wagrechten Ebene als 1) Phys. Zeitschr. 2. 329. 1901. Theorie der Elektrizität. 2. $ 34 und Enzyklop. d. math. Wiss. V. Art. 18. ?®) Vgl. zusammenfassenden Bericht von J. W. Nicholson im Jahrbuch. 4. 20. 1910. 3) Ann. Phys. 23. 846. 1907. Phys. Zeitschr. 9. 50. 1908. 4) Phys. Zeitschr. 9. 553. 1908. 5) Ann. Phys. 28. 665. 1909. 6) Bekanntlich sind elektrisches und magnetisches Feld überall senkrecht zuein- ander orientiert und die Energieübertragung geschieht nach dem Poyntingschen Satz in der Richtung senkrecht zu beiden Feldern. 208 G. Eichhorn. in senkrechter oder schräger Richtung ausgestrahlt. Daraus ergibt sich die Überlegenheit der Schwingungserregung durch eine vertikale gerad- linige Antenne gegenüber Anordnungen, die die Emission nach Art des gewöhnlichen Lichtes erfolgen lassen würden. Dies wird noch erhöht durch die ebenfalls senkrechte Empfangsantenne, die die senkrechte Schwingung, die sie empfängt, ganz ausnutzt.!) Was allgemein die Strahlung angeht, so wächst dieselbe schnell mit zunehmender Schwingungszahl. Die moderne langwellige Schirmantenne hat auf diese Weise tatsächlich ein geringeres Ausstrahlungsvermögen als die frühere kleine Antennenform; da sie aber infolge ihrer größeren Kapazität viel größere Energiemengen aufnimmt, so kann man mit ihr viel stärkere Wellen in den Raum aussenden als mit anderen Antennen und so den Nachteil der langsameren Strahlung kompensieren. Es existieren da, wie immer bei Problemen, gegensätzliche Faktoren, die man von Fall zu Fall je nach dem vorliegenden Bedürfnis bald nach der einen, bald nach der anderen Seite regulieren muß. Es war schließlich noch meine Absicht, auf die „Weltäther“-Frage etwas näher einzugehen, doch muß ich darauf verzichten, da der mir zur Verfügung stehende Raum ohnehin schon überschritten ist. Ich muß mich deshalb kurz fassen mit der Bemerkung, dal) die modernen Physiker sich heute in zwei Klassen spalten. Die einen betrachten auf Grund der Lorentz- Einsteinschen Relativitätstheorie die „Äther“-Hypothese als einen über- wundenen Standpunkt. Als eine Konsequenz ihrer Anschauung müssen ihnen die Wellen des Lichts wie die die großen Wellen der Radiotelegraphie konstituierenden elektromagnetischen Felder nicht mehr als Zustände eines Mediums, sondern als selbständige Gebilde erscheinen, die von der Strah- lungsquelle ausgesandt werden 2); sie sind der Ansicht, daß der „Äther“ nur solange einen Wert für die Veranschaulichung optisch-elektrischer Vor- gänge hatte, als man solche wirklich auf mechanische Vorgänge zurück- führte Für sie hat sich der Begriff der Kraftlinienfelder in ganz beson- derer selbständiger Weise konkretisiert. Die andere Klasse von Physikern, speziell den experimentierenden, zu denen auch ich mich zähle, glauben an eine Realität des „Weltäthers* !) Über die Strahlung von Antennen vgl. auch C. Fischer, Physikal. Ztschr. 12. 295. 19M. ®) Die Emissionstheorie Newtons bezw. die Korpuskularhypothese aller Strahlungen soll also wieder aufs neue erstehen, und die Ondulationstheorie des Äthers aufgegeben werden. Anderseits ergibt sich aber, daß keine Substanz sich mit der Geschwindigkeit des Lichtes bewegen könnte; die dazu notwendige Energie müßte unendlich sein. Als Prof. Einstein, nach einem hiesigen Vortrag über seine Relativitätstheorie und ihre Konsequenzen, über diese Schwierigkeit besonders interpelliert wurde, meinte er, daß ja diese Lichtsubstanz nicht notwendig eine gewöhnliche Substanz sein müsse. Dann sieht man aber nieht recht ein, weshalb der alte Äther, der so gute Dienste geleistet hat, verabschiedet werden soll, zu Gunsten einer neuen Substanz mit nicht weniger geheimnisvollen Eigenschaften ; beide erscheinen prinzipiell gleichwertig. Durch die An- nahme eines räumlich diskontinuierlichen bewegten, durchdringlichen Äthers würde sich die Weltäther-Hypothese sehr wohl behaupten können. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 209 bzw. sie sind der Ansicht, daß noch keine zwingende Veranlassung vorliegt, auf die so fruchtbar gewesene Ätherhypothese zu verzichten; sie sind sich aber darüber klar, daß vielfach widersprechende Eigenschaften des „Äthers“ nur sui generis, nicht aber nach den Eigenschaften gewöhnlicher Materie verständlich sind, und daß die Begriffe der Mechanik überhaupt nicht ohne weiteres auf denselben angewendet werden können ; sie glauben nicht ohne diese Vorstellung des „Weltäthers“, dessen einfache Gesetzmäßigkeiten sich in den Maxwellschen Gleichungen widerspiegeln, auskommen zu können, um sich ein Bild von den Vorgängen in einer elektromagnetischen Welle zu machen. Um nur einen Hinweis zur weiteren Information zu geben, verweise ich speziell auf zwei Vorträge: P. Lenard, „Über Äther und Materie“, Rede, gehalten in der Sitzung der Gesamtakademie Heidelberg, am 4. Juni 1910 und Max Planck, „Die Stellung der neueren Physik zur mechanischen Naturanschauung“, Rede, gehalten in der 82. Versamm- lung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Königsberg, am 23. September 1910, ferner auf ein neueres ausgezeichnetes Werk von Gustav Mie: „Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus, eine Experimentalphysik des Weltäthers.“ Ich glaube hiermit meine Übersicht abschließen zu können; dieselbe muß einerseits wegen der ungeheuer großen Ausdehnung, die das Gebiet der Radiotelegrapbie und Radiotelephonie in wissenschaftlicher und tech- nischer Hinsicht genommen hat, und andrerseits wegen des mir für die Darstellung zur Verfügung stehenden knappen Raumes notwendigerweise fragmentarisch sein. Spätere Spezialaufsätze sollen da die wünschenswerten Ergänzungen bringen. Ich bin deshalb auch nicht auf Details und Beson- derheiten der Apparatur, Antennenformen, Mastkonstruktionen!) u. a. m. ein- gegangen, ebenso nicht auf die mehr oder weniger berechtigten Merkmale derjenigen sogenannten „Systeme“, die in Wirklichkeit prinzipiell alle nach dem Braunsystem arbeiten. Es erübrigt sich, auch über die heutige An- wendung der neuen Verkehrsmittel viele Worte zu verlieren. Es ist allge- mein bekannt, welche wichtige unentbehrliche Rolle dieselben heute in Heer und Marine spielen; alle größeren Festungen und sämtliche Kriegsschiffe besitzen drahtlose Installationen und die leichten fahrbaren Landstationen folgen den schnellsten Kavalleriebewegungen, wodurch eine bisher uner- reichte organische Zentralisation der Kriegführung ermöglicht ist. Aber auch sämtliche Feuerschiffe und Lotsenstationen, ferner alle größeren Pas- sagierdampfer besitzen heute ihre Radiostationen, deren Installation heute schon in einigen Ländern vom Gesetz gefordert ist und allmählich allge- mein obligatorisch werden dürfte, was im Interesse der Sicherheit des Seeverkehrs nur zu wünschen wäre Nach den jüngsten Verfügungen können jetzt auf allen Telegraphenämtern Radiotelegramme aufgegeben !) Dem Namen nach erwähnt seien wenigstens die wichtigen und interessanten Konstruktionen der zusammenlegbaren und transportablen Fontana- und Komet- Maste. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 14 210 G. Eichhorn. werden; über die Einrichtungen, Vorschriften und Kosten haben gerade die größeren Tageszeitungen ausführliche Berichte gebracht. Auch der Luftschiffahrt dürfte die Radiotelegraphie bald unentbehrlich werden, nach- dem sie sich den besonderen Verhältnissen angepaßt hat. Sehr wichtig ist auch der radiotelegraphische Zeitdienst, der heute von fast allen Hilfs- stationen, z. B. Nauen, Norddeich, Eiffelturm etc. regelmäßig ausgeübt wird, ferner der drahtlose Wetterdienst und Sturmwarnungsdienst, wie er durch die deutsche Seewarte im Zusammenschluß mit der englischen Seebehörde schon heute hoch entwickelt ist. Selbst auf einigen Erdbebenwarten, z. B. in Laibach, befinden sich jetzt schon Radiotelegraphiestationen, um sich mit anderen Warten schnell verständigen zu können und ein möglichst vollkommenes Mittel zur genauen Zeitbestimmung zu besitzen. Über sämtliche Land- und Nordstationen aller Länder, über ihre Einrichtungen und Reichweiten ete. werden vom internationalen Bureau für Radiotelegraphie in Bern Berichte veröffentlicht. Was die luftelektrischen Störungen der Radiotelegraphie angeht, so konnte ich hierauf ebenfalls wegen Platzmangel nicht eintreten. Ein zu- sammenfassender Bericht und Vorschläge zur Beschränkung dieser Stö- rungen finden sich z. B. in der Zeitschrift „Prometheus“, Nr. 1105. 31. XII. 1910; ferner erscheint demnächst im Jahrbuch ein Aufsatz von Erskine- Murray: The origin of „Atmospheries“ in wireless telegraphy. Ich hoffe auf dieses Thema und neuere Untersuchungen ebenfalls bei einer späteren Gelegenheit zurückkommen zu können. Den Abschluß dieser Ausführungen möge ein kurzer Bericht über die jüngste wichtige Neugründung der „Deutschen Betriebsgesellschaft für drahtlose Telegraphie“ bilden: Am 15. Januar 1911 hat die Tätigkeit einer neu gegründeten Radio- Telegraphengesellschaft unter dem Namen „Deutsche Betriebsgesellschaft für drahtlose Telegraphie m. b. H.“ Berlin begonnen. Wie bekannt, hatte seit längerer Zeit die englische Marconigesell- schaft eine Anzahl von Schiffen der Hamburg-Amerika-Linie und des Nord- deutschen Lloyd ausgerüstet, und die Stationen mit eigenem Personal in eigener Regie betrieben. Die mit diesen beiden Schiffahrtsgesellschaften abgeschlossenen Verträge laufen noch bis zum Jahre 1914 bzw. 1917. Der Entschluß dieser beiden größten Schiffahrtsgesellschaften Deutsch- lands, das Marconisystem zu adoptieren, war erfolgt, weil zur Zeit der Vertragsschließung mangels einer internationalen Regelung ein guter Ver- kehr mit Küstenstationen in England und anderen Ländern nur den mit Marconistationen ausgerüsteten Schiffen möglich war, denn die Marconi- gesellschaft hatte damals an den für die Schiffahrt wichtigen Stellen Stationen errichtet und weigerte sich, den Verkehr mit anderen Systemen aufzunehmen. Diese Sachlage änderte sich mit dem am 1. Juli 1907 erfolgten In- krafttreten der Berliner Konvention für Funkentelegraphie. Gemäß dieser Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. 211 Konvention haben sich mit Ausnahme von Italien fast alle Länder von Wichtigkeit verpflichtet, den Verkehr zwischen den Küstenstationen ihres Landes und vorbeifahrenden Schiffen, gleichviel mit welchem System sie ausgerüstet sind, obligatorisch zu machen. Hiermit war die Möglichkeit der Nutzbarmachung der Funkentele- graphie für die Handelsschiffahrt aller Länder unabhängig von dem Mar- conisystem gegeben. Von diesem Moment ab ist daher auch tatsächlich ein ungeheurer Aufschwung in der Benutzung der drahtlosen Telegraphie für kommerzielle Zwecke bemerkbar. In Deutschland waren z. B. am 1. Juli 1907 ca. 32 Schiffe mit Sta- tionen eingerichtet, während am 1. Januar 1911 bereits mehr als 100 Sta- tionen an Bord von Handelsschiffen in Betrieb sind. Nach Inkrafttreten der internationalen Konvention hat die Ausbreitung des Marconiystems auf der deutschen Handelsflotte keine wesentliche Zunahme mehr erfahren, sondern es ist bei den seinerzeit eingerichteten Dampfern des Norddeutschen Lloyd und der Hamburg-Amerika-Linie geblieben. Die Telefunkengesellschaft hat jedoch von diesem Augenblick an in der deutschen Handelsschiffahrt eine rege Tätigkeit mit Erfolg entfaltet, so daß man heute wohl sagen kann, die Benutzung der Funkentelegraphie an Bord deutscher Handelsschiffe ist Allgemeingut geworden. Es war jedoch nicht zu verkennen, daß die Steigerung des Betriebes noch eine ganz andere sein, und dal) die Betriebsbedingungen für die Reedereien sich bedeutend angenehmer gestalten würden, wenn sich nicht innerhalb der deutschen Handelsflotte die beiden Konkurrenzgesellschaften Telefunken und Marconi in hartem Kampf gegenüberstehen würden. Dieser Kampf um den Vorrang verschärfte sich mit der Zeit dermaßen, daß schließlich auch der Gesamtverkehr darunter zu leiden anfing und vielfach Wünsche laut wurden, der funkentelegraphische Betrieb in der deutschen Handelsflotte möge von einer deutschen Gesellschaft organisiert und ge- leitet werden, die in der Lage ist, unabhängig von dem fortdauernden technischen Konkurrenzkampf zwischen Telefunken und Marconi sich dem deutschen Funkentelegraphenverkehr dienstbar zu machen. Diese Wünsche haben mit der Gründung der „Deutschen Betriebsge- sellschaft“ (Debeg) in vollem Maße ihre Erfüllung gefunden. Die Deutsche Betriebsgesellschaft ist auf Grund eines Übereinkom- mens zwischen der Berliner Telefunkengesellschaft, der Allgemeinen Elek- trizitätsgesellschaft, der Gesellschaft für drahtlose Telegraphie System Braun und Siemens & Halske G. m. b. H. und der Compagnie de Telegraphie sans fil, Brüssel (Lizenzträgerin der deutschen Marconipatente) gegründet. Br Ihr voll eingezahltes Gründungskapital beträgt M. 900.000°—. Zum Zwecke der Ausübung des Telegraphenverkehrs auf deutschen Schiffen hat die Gesellschaft sämtliche bisher von der Telefunkengesell- schaft und der Marconigesellschaft getrennt betriebene bzw. in Ausrüstung 14* 212 G. Eichhorn. Der heutige Stand der drahtlosen Telegraphie u. Telephonie. befindliche 124 deutsche Schiffsstationen einschließlich Personal übernom- men und ist in die Rechte und Pflichten der zwischen der Telefunken- und der Marconi-Gesellschaft einerseits und den deutschen Reedern andrer- seits früher abgeschlossenen Betriebsverträge eingetreten. Um auch technisch nach jeder Richtung hin unabhängig zu sein, hat die Debeg das Recht zur Benutzung aller deutschen Patente für drahtlose Telegraphie der an der Gründung beteiligten Firmen für die deutsche Handelsschiffahrt erworben. Daß die rücksichtslosen Monopolgelüste der Marconi-Company nun endlich radikal unterbunden sind, wenigstens für deutschen Verkehr, ist um so mehr zu begrüßen, als sowohl die enorme wissenschaftlich-technische Entwicklung wie die verkehrstechnische Förderung der heute unentbehr- lichen Radiotelegraphie und Radiotelephonie zum weitaus größten Teil deutscher Intelligenz und Initiative zu danken ist. Riehtlinien der Pflanzengeographie. Von M. Rikli, Zürich. Es ist eine höchst auffällige, ja geradezu befremdende Tatsache, daß das Verständnis für pflanzengeographische Fragen und Forschungs- methoden so außerordentlich spät erwacht ist. Durehblättert man ältere Herbarien aus dem XVH. und XVIII. Jahr- hundert, so ergibt sich, daß neben dem Utilitätsprinzip, welches die Gewächse nur nach ihrer Verwendbarkeit für Ernährungs- und Heilzwecke, also nach ausschließlich praktischen Gesichtspunkten beurteilt, die Er- kenntnis der Form die Sammler beherrschte. Daher enthalten die ge- waltigen Folianten nur selten und zudem meistens nur sehr ungenügende Angaben über Standortsverhältnisse und Fundorte der eingesammelten botanischen Ausbeute. Ja noch mehr. Vielfach wurden die Pflanzen gar nicht in der freien Natur, sondern in botanischen Gärten, in Bauern- oder Pflanzgärten von Apothekern gesammelt. Meistens vermissen wir auch das Datum, unter dem die Pflanze eingelegt worden ist, und doch wäre dies insofern von Wert, als solche Angaben über den Entwicklungs- zustand der Vegetation in verschiedenen Jahren Aufschluß geben und gelegentlich sogar Prioritätsfragen zu entscheiden vermöchten. Auch der Name des Sammlers fehlt beinahe immer. Beim Durchgehen mehrerer Faszikel des im botanischen Museum der eidgenössischen technischen Hochschule in Zürich!) aufbewahrten Herbariums von Johann Geßner (1709—1790) aus der Mitte des XVII. Jahrhunderts habe ich keinen einzigen Standort verzeichnet gefunden. Und auch in dem aus dem Anfang des XVII. Jahr- hunderts stammenden, ebenfalls in Zürich aufbewahrten Herbarium von Joh. Scheuchzer (1684—1753) sind Fundortsangaben sehr spärlich. Vom pflanzengeographischen Gesichtspunkte aus ist somit all die mühsame, in den alten Herbarien niedergelegte Arbeit nahezu wertlos. Es ist dies auch ganz besonders deshalb lebhaft zu bedauern, weil wir auf Grund sorgfältiger Mitteilungen über das einstige Vorkommen von Pflanzen ein besseres Bild über den Einfluß der fortschreitenden Kultur auf das Vegetationskleid Mitteleuropas uns zu machen in der Lage wären, als dies jetzt der Fall ist, wo man in Ermangelung von Belegpflanzen und zuverlässiger Literatur vielfach auf unsicherere Quellen angewiesen ist. 214 M.Rikli. Nicht nur für Europa, auch für andere Länder, die erst viel später unter den Einfluß des Kulturmenschen und dadurch mit der übrigen Welt in Be- rührung gekommen sind, ist dieser Mangel sehr oft recht empfindlich. Die ersten brauchbaren Dokumente über die Flora von Grönland verdanken wir dem Arzt J. M. Vahl, dem Sohn des hervorragenden dänischen Bo- tanikers Martin Vahl, der in den Jahren 1828—-1836 das Land bereiste und dessen sorgfältig durchgearbeitetes und etikettiertes Herbarium eine Zierde des botanischen Museums der Universität Kopenhagen bildet. Alle früheren Forschungsreisenden bringen in ihren Sammlungen und Aufzeich- nungen beinahe gar keine Standortsangaben oder dann nur solche, die viel zu allgemein gehalten sind, wie z.B. „gefunden in Grönland“, und die daher zu eingehenderen pflanzengeographischen Studien keine Ver- wendung finden können. Dies gilt nicht nur für das älteste Grönländer Herbarium von Paul Egede (1734—1740 angelegt), sondern auch für die Sammlungen und Tagebücher der am Anfang des XIX. Jahrhunderts an der Westküste Grönlands vorgenommenen Studienreisen der Dänen Worm- skjold und Raben, vom Kapitän Hollböl und dem Mineralogen K. L. @Gie- secke. 2) Eine Reihe der von diesen Forschern aus Grönland mitgebrachten und offenbar dem Süden des Landes entstammenden Arten sind seither nie mehr aufgefunden worden, so z. B. Epilobium collinum Gmel., Oxalis Ace- tosella L., Stellaria uliginosa Murray. Vom Ajuga pyramidalis L. heißt es „only in the 60° N.“ Hierher gehört auch Calluna vulgaris, das aber im Katalog von Giesecke den Vermerk erhalten hat: „if it flourishes plentifully, the Greenlanders suppose, that the following winter will be very severe.“ 3) Diese Notiz läßt beinahe vermuten, daß die Angabe auf einer Etikettenverwechslung beruht, denn bei einer derartigen Verbreitung und Bekanntschaft der Grönländer mit der Pflanze wäre dieselbe längst wieder aufgefunden worden. Jedenfalls hätte eine einigermaßen genauere Standortsangabe die Abklärung der Streitfrage wesentlich erleichtert. Ja selbst bis weit in das XIX. Jahrhundert läßt die sachverständige Etikettierung der Herbarien noch vielfach sehr zu wünschen übrig. Für eine in jeder Hinsicht brauchbare Verwertung einer Belegpflanze bedarf es zum mindesten einer genauen Angabe von Standortsverhältnissen und Fundort. sowie des Sammlers und des Datums, unter dem die Pflanze ein- gelegt worden ist. Bei Gebirgspflanzen ist die Höhenangabe durchaus er- forderlich. Wünschenswert sind ferner Notizen über Exposition, Begleit- pflanzen und Vergesellschaftung; dazu kommen gelegentlich phänolegische und blütenbiologische Beobachtungen. Als Begründer der wissenschaftlichen Pflanzengeographie betrachtet man mit Recht Alexander v. Humboldt *) (1769—1859). Die beiden grund- legenden Werke „Essai sur la geographie des plantes“ und „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“ folgten sich innerhalb Jahres- frist (1805/06), unmittelbar nach der Rückkehr von seiner denkwürdigen, in den Jahren 1799—1804 mit Aime Bonpland ausgeführten Reise nach Richtlinien der Pflanzengeographie. 215 Süd- und Zentralamerika. Als Fortsetzung dieser Arbeiten, wissenschaftlich aber noch gründlicher und methodisch musterhaft durchgearbeitet, er- schien 1815: „De distributione geographica plantarım secundum coeli temperiem et altitudinem montium prolegomena.“ In dieser Schrift finden wir eine große Menge neuer Gesichtspunkte, wie: eine Zusammenstellung der beiden Erdteilen gemeinsamen Arten, eine Vergleichung der Tempe- raturen beider Kontinente in verschiedener geographischer Breitenlage, Beobachtungen über den Einfluß der Höhenunterschiede auf die Pflanzen- welt und über die Vegetation in verschiedenen Zonen. Außerdem wurde der Versuch gemacht, die große Mannigfaltigkeit der Pflanzenformen auf wenige (17) Grundgestalten zurückzuführen und so dem Laien die Vor- stellung seiner wirklich klassischen Vegetationsschilderungen fremder Länder nach Möglichkeit zu erleichtern. Auch Humboldt hat seine Vorläufer gehabt, doch hebt A. Engler in den „Wissenschaftlichen Beiträgen zum Gedächtnis der hundert- jährigen Wiederkehr des Antrittes von Alexander v. Humboldts Reise nach Amerika am 5. Juni 1799“ ganz richtig hervor, daß trotzdem diesem Forscher das unvergängliche Verdienst bleibt, in der Kenntnis der die Verbreitung der Pflanzen bedingenden physikalischen Verhältnisse ebenso wie in der auf weiten Reisen gewonnenen Anschauungen, namentlich aber auch in der lebendigen, packenden Form der Darstellung seiner Zeit weit vorausgeeilt zu sein, und durch seine Arbeiten die wissen- schaftliche und kulturelle Bedeutung der Pflanzengeographie ins helle Licht gesetzt zu haben.®) Und diesem Zeugnis des hervorragenden Berliner (Ge- lehrten fügen wir noch dasjenige von Ferdinand Freiherrn v. Richthofen ®) hinzu: „Beseelt von dem Trieb, die Erscheinungen der Erdoberfläche im einzelnen analytisch zu ergründen um ihren ursächlichen Zusammenhang im ganzen zu erfassen, vorgebildet durch ernste und vielseitige Studien, ausgerüstet mit der Gabe feinsichtiger Beobachtung, scharfsinniger Ver- gleichung und geistvoller Schlußfolgerung, vermochte es der jugendliche Meister, nicht nur eine glänzende Flut von Licht über vorher schwach er- hellte Erdräume zu verbreiten und der chorologischen Forschung das erste, lange unerreicht gebliebene Vorbild zu schaffen, sondern auch der Wissen- schaft von der Erdoberfläche methodisch neue Wege und neue Probleme zu erschließen.“ Trotzdem wird es sich lohnen, noch kurz auf die ersten Anfänge pflanzengeographischer Erkenntnisse zurückzukommen. Die Weltgeschichte berichtet uns von einer ganzen Reihe von Taten, durch die Europas Kultur- völker zum erstenmal mit anderen Zonen in Berührung gekommen sind. Es liegt nahe anzunehmen, daß in solchen Zeiten der Vergleich der neu erschlossenen Länder mit der fernen Heimat auch zu pflanzengeographischen Fragen und Studien angeregt hat. Wir erinnern nur an den berühmten Zug Alexander des Großen”) nach Indien (326 v.Chr.), an die erste Bekanntschaft mit Inner- und Ostasien durch Marco Polo (1270—1290), an die Ent- deckung Amerikas durch Christoph Columbus (1492), die wenige Jahre 216 M.Rikli. später erfolgte Umschiffung des Kaps der Guten Hoffnung durch Vasco da Gama (1497) und endlich an die erste Landung des Portugiesen Godinho de Eredia in Australien, ganz am Anfang des XVII. Jahrhunderts. Durch diese für die geographische Erforschung unseres Planeten so überaus bedeutungsvollen Entdeckungen wurde das Abendland mit einer stattlichen Zahl wichtiger Kulturpflanzen bekannt, die allmählich mehr und mehr (Gemeingut der breitesten Volksschichten und später zum Teil sogar in einzelnen Teilen Europas in Kultur genommen wurden. Den Er- oberungszügen Alexander des Großen verdanken wir die erste Bekannt- schaft mit dem Reis und den Agrumen, beide gelangten jedoch erst viel später, durch die Araber, zu größerer Bedeutung. Von Ostasien erhielten wir auch den Rohrzucker, der bereits im I. Jahrhundert von Dioscorides und Plinius als seltenes Arzneimittel erwähnt wird. Kaffee®) war schon 1511 in Kairo bekannt und wurde seit 1554 in Konstantinopel getrunken. 1550 kommt die erste Nachricht über die Teepflanze nach Europa, doch erst 1638 findet der Teegenuß am russischen Hof in Moskau Eingang, um bald weiter nach Westen vorzudringen.°) Infolge der Entdeckung Amerikas kommen am Anfang des XVI. Jahrhunderts Mais und Tabak (1511), etwas später auch Kakao und die Kartoffel (ca. 1560) zu uns und um dieselbe Zeit gelangt von Sibirien über Moskau die Rhabarber in den Handel. Durch die Einführung dieser und noch weiterer Nutzpflanzen frem- der Erdteile ist in Europa die Lebenshaltung in mancher Hinsicht wesent- lich bereichert und zudem auch sehr verändert worden. In der botanischen Literatur ist aber trotzdem diese Epoche nahezu spurlos vorübergegangen; alle diese Ereignisse vermochten die im Formalismus erstarrte und der Arzneikunde tributäre Botanik nicht auf eine neue fruchtbarere Bahn zu führen. Es wäre jedoch ungerecht, die Leistungen dieser älteren Schule gar zu niedrig einzuschätzen. Vergessen wir nicht, eine Unmenge unbekannter Pflanzen kommen allmählich aus den neu entdeckten Gebieten nach Europa, teils in die Herbarien der alten Universitätsstädte, teils in die bo- tanischen Gärten. Diese Arten stammten zum großen Teil aus neuen Gattungen oder gar aus bisher vollständig unbekannten Familien. Vielfach waren die Eingänge unvollständig, es fehlten Blüten oder Früchte. Da galt es zu- nächst das eingegangene Material zu sichten, in das Chaos Ordnung zu bringen und so die für jede pflanzengeographische Forschung absolut not- wendige Grundlage — sorgfältige Florenkataloge größerer oder kleinerer (Gebiete — erst zu schaffen. Wie gewaltig die zu bewältigende Arbeit war, können wir heute kaum mehr richtig beurteilen: es fehlten alle die Be- stimmung wesentlich erleichternden, zuverlässigen Vergleichsmaterialien, es fehlte vielfach die notwendigste Literatur; eine Spezialisierung nach ein- zelnen Familien oder gar nach Gattungen, durch welche solche Arbeiten, besonders bei kritischen Gruppen so wesentlich erleichtert wird, kannte diese Zeit noch nicht. Jedermann sah sich daher genötigt, sich in die ganze Richtlinien der Pflanzengeographie. =17 Formenfülle einzuleben. Die durch die heutigen Verkehrsmittel außer- ordentlich erleichterte Verbindung zwischen den einzelnen Gelehrten und Sammlungszentren war nicht vorhanden, daher war jeder Forscher mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen, und vor allem fehlte die binäre Nomenklatur, durch welche die Identifizierung der Arten so sehr vereinfacht und bedeutend zuverlässiger geworden ist. In den alten Kräuterbüchern von L. Fuchs (1543), J. Th. Tabernae- montanus (1588), bis auf T’h. Zwinger (1744) findet man bald vereinzelte, bald häufigere Angaben über Verbreitung und Vorkommen der Pflanzen, doch handelt es sich immer nur um gelegentliche Beobachtungen und Be- merkungen. Ein Versuch, diese Daten nach allgemeinen Gesichtspunkten methodisch zu verarbeiten, wurde nicht gemacht. Doch schon in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts lassen sich, wie A. Engler\°) (Berlin) hervorhebt, die ersten Anfänge der Pflanzen- geographie in der Literatur nachweisen. Tourneforts „Relation d’un voyage du Levant“ (1717) bringt Bemerkungen über die Höhengliede- rung der Flora des Ararat. Auch der große Linn hat in seiner „Flora lapponica“ (1737) und in der „Flora suecica“ (1745) Angaben über Pflanzenformationen und Verbreitungsgrenzen einzelner Arten gemacht. J. G. Gmelin gibt im Vorwort zu seiner „Flora sibirica“ (1747) Daten über die Verbreitung europäischer Pflanzen in Sibirien, über die nur in Sibirien auftretenden Arten, über die einzelnen Florenbezirken Nordasiens und über das Vorkommen derselben Arten auf den Hochgebirgen Europas und in den Ebenen Nordasiens. Diese denkwürdige, leider viel zu wenig bekannte Vorrede ist soeben in einer deutschen Bearbeitung zur Ausgabe gelangt.!!) In Mitteleuropa gab H.B. Saussure bereits 1779 in seinem Werke „Voyage dans les Alpes“ Höhengrenzen zahlreicher Alpenpflanzen. Der bedeutendste Vorläufer Alex. v. Humboldts war aber ohne Zweifel Karl Ludwig Willdenow (1765—1812). Sein schon 1792 in erster Auflage erschienener „Grundriß der Kräuterkunde“ enthält in einem beson- deren Abschnitt: „Geschichte der Pflanzenwelt“ bereits eine Fülle pflanzen- geographischer Tatsachen. Das Werk erlebte bis 1831 sieben Auflagen. Bis zu seinem Tode war der Verfasser bestrebt, seine Ideen systematisch auszubauen; schon die zweite Auflage (1798) bringt gegenüber dem Erst- lingswerk in mancher Hinsicht eine wesentliche Bereicherung. In einer ganzen Reihe von Kapiteln sucht Willdenow darzulegen, daß die Verbrei- tung der Pflanzen über den Erdball das Ergebnis einer allgemeinen Ent- wicklung sei, und daß das Klima auf Gestalt und auf die Areale der ein- zelnen Arten einen bestimmenden Einfluß ausübe. Ja, wir finden in diesen nur zu lange unbeachteten Schriften sogar Mitteilungen über die große Gleichartiskeit der Küstenfloren, über den Endemismenreichtum der Ge- birge, über die weite Verbreitung der Wasserpflanzen, über Verbreitungs- mittel, über Ähnlichkeiten der Flora Südafrikas und Australiens usw. Und dies alles bereits ein Jahrzehnt vor Alexander v. Humboldt; so dürfen wir K. L. Willdenow unmittelbar neben Humboldt stellen. 218 M. Rikli. Nachdem durch diese beiden Väter der Pflanzengeographie der Bo- tanik ein neues fruchtbares Feld eröffnet worden war, entwickelte sich die junge Wissenschaft außerordentlich rasch. Namen von bedeutendem wissen- schaftlichen Ruf wie Leopold v. Buch (1810), @. Wahlenberg (1812), Robert Brown (1814) bereicherten bereits im zweiten Dezennium des vorigen Jahrhunderts durch mehrere in rascher Folge erschienene wichtige Ar- beiten die pflanzengeographische Forschung mit einer Reihe fruchtbarer, neuer Gesichtspunkte. Bald war man in allen Kulturländern eifrig an der Arbeit. Und wenn heute der botanische Forschungsreisende fremde Länder betritt oder der Monograph einen mehr oder weniger engbegrenzten Bezirk des heimatlichen Landes bearbeitet, so sind es in erster Linie wohl immer phyto- geographische Fragen, die sich ihm aufdrängen und die ihm die Grund- linien zu seiner Arbeit liefern werden. Welche Beziehungen bestehen zwi- schen der Pflanze und dem Erdraum den sie besiedelt? Welche Gesetze bestimmen die absoluten Äquatorial- und Polargrenzen sowie die Höhen- verbreitung der einzelnen Arten? Durch welche Momente werden der all- gemeine Verlauf und die Detailgestaltung der verschiedenen Wald- und Baumgrenzen bedingt? Zeigen sich konstante Unterschiede in der Flora zwischen Nord- und Südlage? Wie vereinigen sich die Arten zu natürlichen Genossenschaften, die in so hohem Grade das Landschaftsbild beeinflussen ? Welche Rolle kommt dem Boden bei der Verbreitung der Florenbestand- teile zu? Welche Verbreitungseinrichtungen und Verbreitungsmöglichkeiten stehen jeder einzelnen Art zur Verfügung? Welche Beziehungen lassen sich zwischen einem gegebenen Florenbezirk und dessen Nachbargebiete nach- weisen ? Woher stammt unsere einheimische Pflanzenwelt? Ist sie autochthon, an Ort und Stelle aus anderen verschwundenen Typen hervorgegangen oder von fremden Gebieten zu uns eingewandert? Und sollte das letztere zutreffen, so ergibt sich sofort die andere Frage: Welches waren dann ihre Einwanderungsbahnen und zu welchen Zeiten sind die einzelnen Arten zu uns gelangt? Wie erklärt sich die Tatsache, daß einzelne Spezies über gewaltige Gebiete verbreitet sind, andere dagegen wieder sehr enge, oft fast punktförmige Areale aufweisen? Welches sind die Ursachen des En- demismus? Wie sind die einzelnen Florengebiete am naturgemäßesten ab- zugrenzen? Diese und viele andere Fragen stürmen auf uns ein. Sie sind zum Teil gelöst, zum Teil harren sie jedoch noch der methodischen Be- arbeitung. Diese wenigen Andeutungen mögen genügen, um die wissenschaft- liche, kulturelle und allgemein bildende Bedeutung der Pflanzengeographie darzulegen, als eines Forschungzweiges, der nicht nur den Fachbotaniker fesseln wird, sondern auch vielfach Fragen von allgemeinstem Interesse erörtert, deren Kenntnis mehr und mehr Gemeingut des gebildeten Laien werden sollte. An den Forscher stellt dagegen die Phytogeographie sehr hohe An- forderungen. Damit er nur Gleiches mit Gleichem vergleicht, verlangt sie Richtlinien der Pflanzengeographie. 219 vor allem eine tüchtige systematische Schulung, verbunden mit möglichst umfangreichen Formenkenntnissen. Dies ist die unverrückbare Grundlage, auf der sich unsere Disziplin aufbauen muß. Unbedingt fordert sie ferner eingehende ökologische und physiologische Studien. Auch mit den Pflanzen- typen der Vorwelt sollte der Phytogeograph wenigstens einigermaßen ver- traut sein. Seine Forschungen werden zudem vielfach in das Gebiet der Meteorologie und der historischen Geologie hinübergreifen, und die Ver- breitungsprobleme berühren öfters zoogeographische und ozeanogeogra- phische Fragen. Die Phytogeographie sucht mithin die Beziehungen zwischen der Pflanzenwelt und dem von ihr besiedelten Raum und dessen Mitbewohnern ökologisch und genetisch klarzulegen. Ihr letztes Ziel ist die Erkenntnis der pflanzlichen Besiedlungsgeschichte der Erde: die Feststellung der Bil- dungszentren der jetzigen Flora; der Nachweis der oft so verwickelten Wanderungsbahnen der einzelnen Florenelemente und die Klarlegung der Beziehungen des jetzigen Pflanzenkleides der Erde zu der Flora der Vorwelt. Um ali diesen Aufgaben gerecht zu werden, gliedert die junge Wissenschaft den zu bewältigenden gewaltigen Stoff in drei Hauptab- schnitte. 12) In: 1. Floristische Pflanzengeographie. Ihr fällt die Aufgabe zu, in sorgfältigster Weise die Materialien, auf die sich alles aufzubauen hat, zu sammeln, zu sichten und nach ihrem Wert zu klassifizieren. So ent- stehen zunächst Florenwerke, die dazu dienen können, die einzelnen Florengebiete möglichst naturgemäß zu umgrenzen und ihren Floren- bestand miteinander zu vergleichen. 2. Die ökologische Pflanzengeographie erörtert die Wechsel- beziehungen eines klimatisch einheitlichen Erdenraumes zu ihrer Pflanzen- welt und den Aufbau derselben zu sozialen Einheiten, den Formationen. 3. Die genetische Pflanzengeographie sucht endlich auf Grund der von der floristischen und ökologischen Richtung und den Hilfsdiszi- plinen der Pflanzengeographie festgestellten Tatsachen, den historischen Werdegang der heutigen Pflanzendecke der Erde darzulegen und die Er- scheinung der verschiedenen Arealumgrenzung der einzelnen Arten zu er- klären. Das Endergebnis aller drei Richtungen führt zu einer pflanzen- geographischen Gliederung der Erde, das heißt zur Abgrenzung der Floren- reiche und ihrer Unterabteilungen. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, unsere Betrachtung nach diesen weitumfassenden Gesichtspunkten aufzubauen; es würde dies weit über den Rahmen dieser Abhandlung hinausgehen. Unter besonderer Be- rücksichtigung der außertropischen Florengebiete und der neueren Literatur sollen die Arbeitsmethoden und Richtlinien der Pflanzengeographie, haupt- sächlich an Hand der pflanzengeographischen Faktoren und einzelner Bei- spiele erörtert werden. Als pflanzengeographische Faktoren be- zeichnen wir alle diejenigen außerhalb und innerhalb der Pflanze gelegenen 220 M. Rikli. Einflüsse, welche einerseits bei der Ausbreitung der Arten vom ursprünglichen Bildungsherd aus in Betracht kommen und andrerseits bei eintretenden Ver- änderungen des Milieus der Pflanze ermöglichen, den einmal besiedelten Standort zu behaupten bzw. nach ihr zusagenden Gebieten auszuwandern. Wir unterscheiden folgende Abschnitte: 1. die Wärme, 4. der Wind, 7. die Individualität, 2. die Feuchtigkeit, 5. die Bodenbeschaffen- 8. das Wohngebiet, heit, 3. das-Hicht 6. die Organismenwelt, 9. die Zeit. I. Die Wärme. Die Erwärmung der Atmosphäre hängt bekanntlich von der Dauer und dem Einfallwinkel der Sonnenstrahlung, von dem Bewegungszustand und dem Wasserdampfgehalt der Luft bzw. von dem Auftreten warmer Winde, d.h. von der Zufuhr von Wärme aus anderen Gebieten ab. Bei der an Ort und Stelle durch die Sonnenstrahlung erzeugten Wärme wer- den die höchsten Temperaturen bei ruhender, trockener Luft und absolut höchstem Sonnenstand in den Tropen und Subtropen erreicht. Aus kos- mischen Gründen muß mit zunehmender Breitenlage eine sukzessive Wärme- abnahme und die allmähliche Ausbildung eines jahreszeitlichen Wärme- wechsels stattfinden. In ähnlicher Weise wie vom Äquator zum Pol nimmt die Wärme auch vom Tiefland nach dem Hochgebirge ab. Da nun die Pflanzen thermisch sehr verschieden abge- stimmt sind, wird diese verschiedene Wärmeverteilung der Erdoberfläche zu einer pflanzengeographischen Sonderung der Areale führen müssen. Für die einzelnen Stoff- und Kraftwechselvorgänge bedarf jede Art ganz be- stimmter Wärmemengen; für jede Funktion gibt es, unter Annahme der Gleichheit der übrigen äußeren Verhältnisse, eine untere und eine obere Wärmegrenze sowie eine Temperaturgröße, bei welcher der Prozeß die größte Aktivität zeigt. Eine vorübergehende Kältestarre tritt in den Be- wegungsorganen der Mimosa pudica L.'3) unter sonst günstigen Bedingungen schon ein, wenn die Temperatur der umgebenden Luft einige Stunden unter 15° © verweilt; je tiefer die Temperatur unter 15° C sinkt, desto rascher erfolgt der Eintritt des Starrezustandes. Zuerst verschwindet die Reizbar- keit für Erschütterung und Berührung, später auch die für Lichteinwirkung. Vorübergehende Wärmestarre tritt in feuchter Luft bei 40° C innerhalb einer Stunde, bei 49—50° C schon nach wenigen Minuten ein. Auf zahlreiche tropische Pflanzen wirken schon niedere, aber immer- hin noch einige Grade über Null stehende Temperaturen abtötend. Über diese, für die Verbreitungsfrage wichtige Tatsache verdanken wir H. Molisch in Prag eingehende Untersuchungen. Wohl das bekannteste Beispiel ist die in Kolumbien heimische Gesneracee, Episcia bicolor Hook., die bei einer Temperatur unter + 5°C zugrunde geht. Bei Einwirkung dieses Wärme- grades zeigen die Blätter schon nach 18 Stunden, mitunter noch früher, Richtlinien der Pflanzengeographie. 221 zahlreiche braune Flecken. Die Pflanze sieht wie vergiftet aus; nach fünf Tagen sind die Blattspreiten abgestorben. In der zitierten Abhandlung er- wähnt Molisch 28 verschiedenen Familien angehörige Arten, die bei längerer Einwirkung von Temperaturen von + 5bis + 1°C eingehen. Die Emp- findlichkeit und das Verhalten der einzelnen Arten diesen niederen Tem- peraturen gegenüber ist sehr verschieden. Eine sehr kälteempfindliche Pflanze ist die Acanthacee Eranthemum trieolor Nichols Westindiens, welche nach 48 Stunden die ersten Schädigungen zeigt und bereits nach 4—5 Tagen abstirbt. Bei Peperomia argyreia Moor. (Piperacee) sterben die Blattstiele häufig vor der Blattspreite ab. Bei Boehmeria argentea Linden (Urticacee) sterben unter Bräunung die Knospenblätter zuerst ab, erst später die aus- gewachsenen Blattorgane, und die Composite Uhdea bipinnatifida Knuth hält sich die ersten 14 Tage scheinbar gut, verfällt dann aber geradezu plötzlich, so daß sie am sechszehnten Tage eingegangen ist. Noch weniger empfindlich ist Eranthemum nervosum R. Br., die erst nach 20 Tagen die ersten Veränderungen zeigt, um zwischen dem 30. und 35. Versuchstag mit abgestorbenen Blattspreiten dazustehen. So läßt sich in bezug auf die Kälteempfindlichkeit dieser interessanten tropischen Pflanzen eine ganze Stufenleiter aufstellen. Nah verwandte Arten verhalten sich oft sehr ver- schieden, die Folge zeigt sich in der verschiedenen Arealumgrenzung. Die individuelle Empfindlichkeit der einzelnen Arten gegen Kälte hängt aber bekanntlich sehr vom augenblicklichen Entwicklungsstadium der Pflanze ab. Gewächse in lebhafter vegetativer Tätigkeit, wie z. B. Bäume während des Safttriebes, sind in viel höherem Grade gefährdet als solche, deren Wachstum zeitweise abgeschlossen ist. Der Kältepol Eurasiens liegt noch im Waldgebiet. Für Werchojansk an der Jana in Ostsibirien wird unter 67°43° N. als absolutes Minimum — 698° C 15) angegeben, eine Tem- peratur, die von den Bäumen jener Gegend noch ohne Schaden ertragen wird. 16) Ein vorzügliches Mittel, abnorm hohen oder sehr niederen Tempe- raturen aber auch exzessiver Trockenheit zu widerstehen, ist deren Über- dauerung im Samenstadium. Raoul Pietet‘’) erzielte mit flüssiger Luft Temperaturen von — 200°C (1895) und W. Th. Thiselton-Dyer '®) mit Hilfe von flüssigem Sauerstoff sogar — 250° C (1899), dies sind Tempe- raturen, die weit unter dem absoluten Minimum liegen, das für Samen an irgend einem Punkt der Erdoberfläche eintreten kann. Gewisse lufttrockene Samen vermögen aber trotzdem solche abnorm tiefe Temperaturen, wenigstens auf kürzere Zeit, ohne Schaden zu ertragen. Sogar Samen von Avena und Triticum erwiesen sich nach 118 Tagen, nachdem sie von Casimir de Candolle\°) einer Temperatur von — 55 bis — 57° C ausgesetzt waren, noch keimfähig. Mit zunehmendem Wassergehalt der Samen nimmt die Widerstandsfähigkeit allerdings rasch ab. Es ist sehr zu bedauern, daß bisher über diese wichtigen Fragen so wenig positive Beobachtungen vor- liegen. Die hochalpine und arktische Flora scheint in dieser Hinsicht noch kaum untersucht worden zu sein. Für den Pflanzengeographen sehr 222 M.Rikli. wertvoll wären auch Daten über die mit den Entwicklungsstadien wech- selnde Widerstandsfähigkeit gegen tiefe Temperaturen. In Anbetracht der großen Frosthärte der Samen sollte man er- warten, dal Pflanzen, die periodisch sehr niederen Temperaturen aus- gesetzt sind, also besonders alpine und hocharktische Gewächse, die Kälte- perioden jeweilen vorzugsweise im Samenstadium überdauern werden, indessen ihre vegetativen Teile zugrunde gehen. Dieser Auffassung wider- spricht aber bekanntlich die Erfahrung, die uns lehrt, dab sowohl in der Arktis als im Hochgebirge die Zahl der einjährigen Arten mit zu- nehmender Breitenlage bzw. Meereshöhe rasch abnimmt. @. Bonnier und Ch. Flahault 2°) haben in den französischen Westalpen (Dauphine, Oisans) an zahlreichen Gattungen die Abnahme der einjährigen Arten im Gebirge verfolgt. Sie sind zu folgenden Ergebnissen gekommen: Zwischen 200— 600 m Meereshöhe finden sich 60°, Einjährige 600— 1800 „ e nur noch 33%, 5 über 1800 „ ” aber sogar nur 6°), a Und nach ©. Heers „Nivalflora“ hat die Hochalpenregion über 2600 m nur 3'8°/, annueller Arten. Oberhalb 3250» fehlen die Einjährigen fast ganz. Nach Kd. Rübel 2) sind sie im Berninagebiet über dieser Höhenquote nur noch durch Euphrasia minima Jacg. vertreten. Ganz ähnlich verhält sich der hohe Norden. Unter den 123 Gefäßpflanzen Spitzbergens zählt man nur 2 typische Sommerpflanzen: Gentiana tenella Rottb. und Königia is- landica L. Ja noch mehr. Vielfach kann man beobachten, wie einjährige Ebenenpflanzen im Gebirge zweijährig: Cardamine hirsuta L., Ajuga chamae- pitys (L.) Schreb., Senecio rupester W. et K., 8. vulgaris L. oder sogar aus- dauernd werden: Poa annua L. v.supina (Schrad.) Rehb., Viola tricolor L. v. alpestris DC. In Spitzbergen verhalten sich Ranunculus pygmaeus Wahlb., Oochlearia fenestrata R. Br., Sagina nivalis Lindbl., Saxifraga nivalis L. und Phippsia algida R. Br. ähnlich. Es sind dies Arten, die in guten Jahrgängen einjährig sind, bei ungünstigen Verhältnissen aber zweijährig oder gar ausdauernd werden. Spitzbergen besitzt mithin nur 1'6°%/, bzw. unter Ein- schluß der letzten fünf Arten 5'6°/, einjähriger Arten. Und unter den ca. 60 Spezies, die im äußersten Norden von Grönland den 80° N. überschreiten, finden sich nur noch zwei (3°3°/,), und zwar nur fakultativ einjährige Arten, nämlich Androsace septentrionalis L. und Phippsia algida R. Br. Wenn Polarpflanzen und Oreophyten somit den einfachen Weg der Überdauerung der jährlichen Kälteperiode durch Samen kaum wählen, so muß dieses seinen ganz bestimmten Grund haben. Unter allen Lebens- prozessen erfordert bekanntlich keiner so viele Kalorien, wie derjenige der Fruchtreife, die bei den meisten Arten erst dann vor sich geht, wenn alle anderen vegetativen und reproduktiven Vorgänge des jährlichen Vegetations- zyklus längst abgeschlossen sind. Die in beiden Gebieten der Pflanze zur Verfügung stehende Wärme reicht sehr oft nicht zur Ausreifung der Samen, ja Richtlinien der Pflanzengeographie. 233 zuweilen sogar nicht einmal mehr zur Entfaltung der Blüten aus, so dab viele Arten fast ausschließlich auf vegetative Vermehrung angewiesen sind, und nur nach langen Pausen in ausnahmsweise günstigen Jahrgängen zur Samenreife gelangen. Unter diesen Umständen ist es verständlich, dab einjährige Sommerpflanzen in diesen Gebieten fast unmöglich sind, denn ein einziger, ausnahmsweise kalter Sommer müßte deren Aussterben zur Folge haben. Nur Arten mit minimalen Wärmeansprüchen, bei denen die Temperaturschwellen der Auslösung der verschiedenen Lebensprozesse sehr niedrig und nahe beieinander liegen und die im Notfall zweijährig oder sogar ausdauernd werden könnten, dürfen es wagen, in den genannten Kältegebieten im Zustande der Einjährigkeit zu verharren. Beim Studium der Wärme als phytogeographischer Faktor hat sich der Botaniker zuerst ausschließlich an die von der Meteorologie gelieferten Daten gehalten, und auch heute ist die Pflanzengeographie dieser Hilfs- wissenschaft immer noch viel zu sehr tributär. Eine einfache Betrachtung lehrt aber, daß die üblichen Angaben der meteorologischen Stationen nur in sehr bedingter Weise für den Botaniker direkt verwertbar sind. Es ist dies einzige in Gebieten mit kontinuierlicher Vegetationstätigkeit der Fall, in denen die Temperatur während des ganzen Jahres gleichmäßig hoch ist und nie unter den Nullpunkt sinkt. Zudem muß aber noch verlangt werden, daß die Gewächse, deren Wärmebedürftig- keit studiert werden soll, sich wenigstens zwei Meter über die Erdober- fläche erheben, weil sonst die rückstrahlende Erdwärme die der Meteorologie entnommenen Temperaturen zu sehr beeinflussen und verändern würde, so daß dieselben gar nicht mehr vorhanden sind. Diese Voraussetzungen treffen beinahe nur für die Busch- und Waldvegetation der feuchten Tropen und Subtropen zu. Für alle anderen Gebiete muß der Botaniker die Klima- tologie seinen speziellen Zwecken dienstbar machen, sei es, daß er aus den meteorologischen Tabellen die notwendigen Daten sorgfältig auswählt bzw. verarbeitet, sei es, daß er mit verifiziertem Präzisionsthermometer ausge- rüstet selbst im Felde beobachtet. Da für jeden Ort innerhalb einer längeren Beobachtungsperiode das jährliche Mittel aus sämtlichen Tagestemperaturen ziemlich konstant ist, so hat die Meteorologie von je her auf die Feststellung der mittleren Jahrestemperatur großen Wert gelegt. Schon ein flüchtiger Blick auf die Jahres-Isothermenkarte der Erde, z. B. an Hand von J. Hanns Bear- beitung in Berghaus Physikalischem Atlas, Bl.-Nr. 27 (ed. 1887), zeigt je- doch, daß vom pflanzengeographischen Standpunkt die mittlere Jahres- temperatur nur eine sehr untergeordnete Bedeutung besitzen kann. Wählen wir den Verlauf der Isothermen von + 22°C, + 10° C und — 10° C. Erstere durchquert in Amerika die Wüstensteppen des nördlichen Mexikos und die üppigen Waldgebiete Floridas und in der alten Welt folgt sie den nörd- ichen Randgebieten der Sahara bis Kairo und Suez, wendet sich nach Bagdad und durch die Wüsten Zentralpersiens nach dem Tibet (etwas 224 M. Rikli. südlich von Lhassa), um die ostasiatische Küste bei Kanton zu erreichen und die Insel Formosa, annähernd in ihrer Mitte, zu durchschneiden. Welche Gegensätze vereinigt nicht schon in Europa die Jahresisotherme von + 10°C. Sie durchzieht Irland und berührt Wien und Odessa. Dort treffen wir noch einige Vertreter der Mittelmeerflora, wie den Erd- beerbaum (Arbutus unedo L.),das Venushaar Mdiantum Capillus Veneris L.), die mediterrane Heide (Erica mediterranea L.); die Myrte hält sich im Freien, aber der Sommer ist so kühl, daß der Weinstock seine Frucht nicht reift. In Südrußland dagegen bringt der Winter große Kälten (Odessa, Januarmittel — 3,7°C) und viel Schnee, doch im Sommer reift die Melone. Noch auffälliger ist der Verlauf der Jahresisotherme von — 10°C. Ihr Polarpunkt liegt im hocharktischen Gebiet, nördlich von Spitzbergen bei ca. 81° N.; der Äquatorialpunkt aber bei Jakutsk, mitten im ostsibirischen Urwald. Sehr instruktiv ist auch die folgende Zusammenstellung der Nord- und Südpunkte einiger Isothermen der nördlichen Hemisphäre der alten Welt: Jahres-Isotherme von Südpunkt Nordpunkt Differenz + 20°C bei ca. 26° N. ca. 38° 30'N. 12'/, Breitegrade + 15°C nn aA NE „a4 N. 10 & + 10°C NE „Be N. 15 i De nn 49°40'N. „ 72°40'N. 23 E — 10°C ETTTEDTN SAN. RSS EN 19 Sämtliche Südpunkte liegen im kontinentalen Asien; die Nordpunkte verschieben sich bei abnehmender mittlerer Jahrestemperatur von West- asien nach Westeuropa und Spitzbergen. Aus all diesen Daten ergibt sich mit voller Deutlichkeit, daß die Jahres-Isothermen keineswegs Gebiete mit ähnlicher oder gar mit gleicher Vegetation miteinander verbinden. Von viel größerem Einfluß auf die geographische Verbreitung der Arten sind einige andere thermische Werte, nämlich: Die mittlere Temperatur und ihre Verteilung während der Vegetationsperiode. Die Vegetationstätigkeit kann entweder durch Kälte oder durch Trockenheit periodisch unterbrochen werden. In beiden Fällen treten die Gewächse in ein latentes Lebensstadium, in denen alle Funktionen auf ein oft kaum meßbares Minimum herabsinken. Für den Haushalt der Pflanze fallen diese Perioden außer Betracht. Für sie kommt nur die Wärmemenge und ihre Verteilung während der Vegetationsperiode in Frage. Noch vor zwei bis drei Dezennien hat man sich die Beziehungen zwischen Wärme und Pflanzenleben viel einfacher vorgestellt, als dies heute der Fall ist. Die Phänologie nahm einen direkten und unveränder- lichen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Pflanzen und der auf sie einwirkenden Wärmemengen an. So kam man zur Aufstellung der Wärmesummen, das heißt der Summen der mittleren oder auch der höchsten täglichen Temperaturgrade von der Aussaat bis zur Samenreife. Richtlinien der Pflanzengeographie. 325 So bei annuellen Arten. Bei ausdauernden Gewächsen und Holzpflanzen wählt man als Ausgangspunkt den Tag,an dem das Insolationsmaximum zum ersten Mal über den Nullpunkt steigt. Diese Summen sollen für jede Art und unter jedem Klima konstant sein, oder mit anderen Worten: niedere Temperaturen lösen länger andauernd dieselben phänologischen Vorgänge aus wie höhere Wärmegrade bei wesentlich kürzerer Zeit. H. Hoffmann ?®) in Gießen hat sich in den siebenziger und achtziger Jahren sehr eingehend mit diesen Fragen abgegeben und die „thermischen Konstanten“ von einer großen Zahl von Arten unserer mitteleuropäischen Flora festzustellen versucht , sie beträgt z.B. in Celsiusgraden für das Stäuben der Kätzchen von Haselnuß 266°, bei Alnus incana 308°, A. glutinosa 576°, Salix caprea 766°, Blütenentfaltung von Prunus spinosa 1157°, Prunus Cerasus, Belaubung 1254°, erste Blüten 1196°, Birnblüte 1234°, Laubentfaltung der Buche 1254°, erste Apfelblüten 1337°, Blattentfaltung von Robina pseud-accacia 2168°, Sommerweizen (Blüte) 2668°, Fruchtreife der Heidelbeere 3029°, von Prunus Cerasus 3056°, vom Winterkorn 3218°, der Preißelbeere 3661°, von Cucumis sativa L. 4058° usw. So einfach liegen die Verhältnisse jedoch nicht. Gegen diese Auf- fassung spricht schon die Tatsache, daß viele Samen erst einer längeren Samenruhe bedürfen, ehe sie durch Wärmewirkung zu keimen vermögen. Auch die sog. „Spätlinge“, Pflanzen, die unter gleichen Verhältnissen lebend gegenüber den gleichen Arten ihrer Umgebung in der Entwicklung stark zurückbleiben, sollten zur Vorsicht mahnen. So sah ich gegen Ende Mai 1900 im korsischen Gebirgsland am Col de Foce bei Vizzavona 2°) mitten im belaubten Buchenwald hin und wieder noch einzelne, vollständig kahle oder eben erst das zarte Laub entfaltende Stämme. Die Untersuchungen von J. Sachs und F. W. Schimper **) haben ergeben, daß nicht nur jede einzelne Funktion ihre eigenen Grenzwerte und bei einer bestimmten Temperatur ihre größte Leistungsfähigkeit hat, sondern daß diese Werte nicht absolut sind, indem sie sehr durch Lichteinwirkungen, Feuchtigkeitsverhältnisse, Bodenwärme, Nachwirkungen aus früheren Vege- tationsperioden oder Standorten usw. beeinflußt werden. Daß jede Pflanze den Temperaturverhältnissen ihres natürlichen Standortes bis zu einem ge- wissen Grade angepaßt ist, ergibt sich aus der Erfahrung der Land- und Forstleute über die Provenienz der Samen. Schon H. Hoffmann ?>) hat entsprechende Versuche ausgeführt. Aus Samen der Goldrute (Solidago Virga-aurea L.) vom Riffelhaus (2570 m) und vom Zermatt (1624 m), im Herbst 1884 in Gießen ausgesät, erzielte er daselbst 1886 folgende Blüte- zeiten und Temperatursummen: Blütezeit der Samen vom Riffelhaus am 7. Juni mit der Temperatur- summe von 2238°; Blütezeit der Samen vom Zermatt am 13. Juni mit der Temperatursumme von 2473°. Wilde Pflanzen aus der Umgebung von Gießen blühten erst am 26. Juli, nachdem ihnen eine Temperatursumme von 3577° zur Verfügung gestanden hatte. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 15 296 M. Rikli. Aus diesen und ähnlichen Versuchen ergab sich: Im allgemeinen haben sich in höheren Breiten und im Hochgebirge die Pflanzen einer ge- ringeren, in südlichen Ländern einer höheren Temperatursumme angepaßt. Im Norden oder im Hochgebirge erzeugte Pflanzen eilen daher, da ihre Temperaturanforderungen rascher befriedigt werden, nach Süden oder in das Tiefland versetzt den hier erzeugten Pflanzen voraus; umgekehrt bleiben südliche Pflanzen oder Gewächse der Ebene, nach Norden oder ins Hochgebirge verpflanzt, in ihren Vegetationsphasen gegenüber denselben, aber in diesen Gebieten heimischen Pflanzen, zeitlich zurück. Cieslar ®°) (1895) und neuerdings Arnold Engler °") in Zürich (1905) kommen auf Grund von Kulturversuchen forstlicher Holzgewächse zu ähn- lichen Ergebnissen über die Bedeutung der Provenienz der Samen. Die aus Gebirgssamen gezüchteten Fichten treiben beim Anbau in Tieflagen etwas früher als die Tieflandsfichten, schließen dagegen ihr jährliches Höhenwachstum bedeutend früher ab. Die jährliche Wachstumsperiode der Hochgebirgsfichten ist also kürzer als jene der Tieflandsfichten. Aber nicht nur die Dauer der jährlichen Wachstumsperiode, sondern auch die verschiedenen Kardinalgrade der Wachstumstemperaturen sind für Tief- lands- und Hochgebirgsfichten verschieden. Die Anpassungen ihrer Lebens- funktionen an bestimmte Temperaturen und noch andere Eigentümlich- keiten werden auf die Nachkommen vererbt. Es sind dies biologische Unterschiede, die morphologisch am Fichtensamengut selbst absolut nicht zu erkennen sind. Tiefland- und Hochgebirgsfichte sind somit nicht identisch, es sind „klimatische Formen“ oder nach der Auffassung Cieslars „physio- logische Varietäten“, deren Entstehung wohl in erster Linie auf die ver- schiedenen Wärmeverhältnisse, die im Tiefland und Hochgebirge herrschen, zurückzuführen sind. Es ist für Wissenschaft und Praxis wichtig zu er- fahren, ob die Gebirgs- und Tieflandscharaktere der beiden Holzarten sich während des ganzen individuellen Lebens der Pflanzen und vielleicht durch Generationen hindurch erhalten, oder ob sie nach und nach verschwinden, wenn man Gebirgs- und Tieflandspflanzen außerhalb ihrer Heimat anbaut. 1909, nachdem die Pflanzung zehnjährig war, ergab sich folgendes Bild: Was die Benadelung anbetrifft, so haben die Gebirgsfichten in den tief gelegenen Kulturorten ihre besonderen Eigentümlichkeiten verloren; dagegen sind die Unterschiede der beiden Provenienzen im Wachstum genau dieselben geblieben. Dazu kommt noch, daß die Gebirgsfichten sich von den Tieflandsfichten durch dichte, buschige Verzweigung und schlankeren Wuchs vorteilhaft auszeichnen. Fichten des Tieflandes, die in Hochlagen angebaut werden, zeigen geringere Verzweigung und breite, niederere Ge- stalt und sind in viel höherem Maße Bruchschädigungen durch Schnee und Wind ausgesetzt. Es sind also gewisse innere Anlageverschiedenheiten zwischen Hoch- und Tieflandsfichten vorhanden, die in der ersten Gene- ration keine Veränderung erleiden. Um zu erfahren, ob die besonderen Eigentümlichkeiten der Hoch- gebirgs- und Tieflandsfichten auch auf die folgende Generation übergehen, Richtlinien der Pflanzengeographie. 997 säte Engler Samen von Gebirgsfichten, die in tiefen Lagen, und solche von Tieflandsfichten, die in Hochlagen angebaut worden waren, aus. Alle Ver- suchsserien ergaben übereinstimmend das Resultat, daß die Abkömmlinge der in Hochlagen angebauten Tieflandsfichten sich in bezug auf ihr Wachs- tum genau wie Tieflandsfichten verhalten und umgekehrt. Das längere Verweilen einer Provenienz in der Höhenlage der anderen Provenienz scheint also auf das Keimplasma keinen Einfluß ausgeübt zu haben. Diese Versuche sind vom Standpunkt der Frage der Vererbung erworbener Eigenschaften auch für die Pflanzengeographen hoch interessant. Im gegen- wärtigen Stadium der Versuchsreihen ist die Frage noch offen, immerhin ist es höchst wahrscheinlich, daß) äußere Einflüsse die genotypische Grund- lage, d. h. das Keimplasma beeinflussen können. Die definitive systematische Wertschätzung dieser Abweichungen wird vom weiteren Ergebnis der an- gelegten Kulturen abhängen. Wie außerordentlich verwickelt das Problem des Einflusses der Wärme auf die Verbreitung der Arten ist, soll noch an Hand von Calluna vul- garis (L.) Hull, der gemeinen Heide, gezeigt werden. ?®) Wie viel Wärme läßt diese Pflanze am Südfuß der Alpen scheinbar unbenutzt? Nach Hull blüht sie im nördlichen Lappland durchschnittlich am 15. August, zu einer Zeit, wo die mittlere Tagestemperatur 11° C beträgt und etwa 21/, Monate nach Beginn der Vegetationsperiode, nachdem sie erst eine Wärmesumme von ca. 850° C erhalten hat. Um Görz gelangt Calluna im Mittel Ende Juli, öfters sogar erst Anfang August zur Blüte, die mittlere Tages- temperatur beträgt alsdann 23°C und die Heide braucht hier, um das Blütenstadium zu erreichen (vom ersten Tagesmittel über dem Nullpunkt) mindestens sechs Monate; sie hat in dieser Zeit eine Wärmesumme von ca. 2600° C empfangen, indessen sie im nördlichen Lappland schon mit einem Drittel dieser Wärmemenge die Anthese erreicht. Bereits im süd- lichen Lappland blüht Calluna genau zur gleichen Zeit wie in Görz, im südlichen Schweden sogar drei Wochen früher. Nach diesen Erfahrungen wird man auf die Wärme allein nicht zu viel Gewicht legen dürfen; sie bildet zwar einen sehr wichtigen, aber eben doch nur einen, unter neun phytogeographischen Faktoren. Für die Niederungen und das Hügelland der gemäßigten Zone würde ich zur thermischen Charakterisierung einer Art verlangen: 1. Die mittlere Temperatur während der Vegetationsperiode, und zwar von der Nord-, Süd-, West- und Östgrenze ihres natürlichen Areals. 2. Die mittleren täglichen Temperaturschwankungen und die mittleren Schwankungen zur Zeit des Laubausschlages, der Blüteperiode, der Frucht- zeit und des Laubfalls. 3. Die absoluten Wärmeschwankungen. Auf Grund dieser Daten gelangt man zur Umgrenzung des pflanzen- geographischen Wärmeareals der einzelnen Arten, diese sind nicht zu verwechseln mit den physiologischen oder absoluten Wärme- arealen, d.h. mit den Gesamtgebieten, innerhalb deren die Kultur einer 15* 998 M. Rikli. Pflanze im Freien und ohne zeitweise Bedeckung möglich ist. In der Kultur werden, allein schon durch das Ausschalten der Konkurrenz, Verhältnisse geschaffen, die ganz wesentlich von der freien Natur abweichen. Doch darüber an anderer Stelle. Ganz eigenartig liegen endlich die Verhältnisse im hohen Norden bzw. in den höheren Regionen der Hochgebirge und Hochländer. Hier er- geben sich Vegetationsperioden von nur zwei bis drei Monaten, zudem mit mittleren Monatstemperaturen, die nur wenig über dem Nullpunkt liegen, so daß es unter Zugrundelegung der von der Meteorologie ge- lieferten Daten physiologisch unverständlich ist, wie unter solchen Be- dingungen höheres Pflanzenleben überhaupt noch möglich ist. Wählen wir zur Veranschaulichung dieser Tatsache einige hoch- arktische Stationen. ?°) FF FF FF zZ l Mittlere Monatstemperaturen Mittel der | { in Celsiusgraden Vegetations- \ı Breitenlage periode s ve ee) (vVI-VID 1. Gydabusen (Sibirien) || 72°20'N. — 86—15+13+17— 17+05 2.Sagastyr (Sibirien) . | 73°24'N.|— 96 O0 46| 2:9 02|+ 25 3. Barrowstraße (arkti- sches Nordamerika) . . 174° 4N.-— 106! 04 31| 16— 61-17 4. Insel Sabine (NO.- |) | | Grönland) . z I 74° 32'N.|— 54] 23| 33) 07%— 43+21 5. Insel Ly chow (Neu- | | | sibirische Inseln) . . . || ca. 75°N.—115 O0 37 11— 24-416 6. Cap Thordsen (Spitz- | bergen) . . 178028°N. — 51] 18 44 46— 14|+4 36 (Max.) 7.3C. Flora(Franz Joseph- | Band)erm ui. © 179° 56‘'N.'— 85 —04 13 02— 4 |+ 0:36 (Min.) 18. Fort Conger (Grant- | 7 land) users NBLSAEN. 84, ‚0:61 52701 020:8] Te N —m—m— Sehen wir vom C. Thordsen auf Spitzbergen, das noch unter dem Einfluß des Golfstromes steht und dessen sommerliches Temperaturmittel von + 3:6° C etwas unter der mittleren Märztemperatur von Zürich (+ 3°8° C) 3°) zurückbleibt, ab, so schwanken die mittleren Sommertemperaturen der übrigen Stationen von +06 bis 25°C, das sind Temperaturmittel, die in Mitteleuropa meist schon im Februar, ja an den maritimen Stationen bereits im Januar nicht nur erreicht, sondern sogar vielfach überschritten werden, zu einer Zeit, wo die Vegetation ;noch völlig im Winterschlaf verharrt. Zum Vergleich seien hier einige mittlere Januartemperaturen (in Celsiusgraden) notiert: Stuttgart 08, Heidelberg 15, Köln 19, Brüssel 2, London 3°5. 31) Wenn trotzdem der hohe Norden bis zu den äußersten Landmarken ein noch verhältnismäßig reiches Pflanzenleben aufweist, so ist dies neben der ununterbrochenen Assimilationstätigkeit als Folge der kontinuierlichen Belichtung während des Polarsommers hauptsächlich den lokalen Er- Richtlinien der Pflanzengeographie. 229 wärmungen zu verdanken. Auf die große Bedeutung dieser Wärmequelle für die arktische Pflanzenwelt haben die meisten nordischen Forscher der Neuzeit hingewiesen. Schon Middendorff und ©. Ernst v. Bär sind in ihren Werken der Frage näher getreten, doch verdanken wir exakte, zahlen- gemäße Angaben hauptsächlich Nathorst, O0. Kihlman und Gunnar Anders- son (1900). Im Sommer 1908 hatte ich während meines Aufenthaltes auf der dänisch-arktischen Station bei Godhavn, auf der Südseite der Insel Disko in NW.-Grönland, auch selbst Gelegenheit, mich in der Arktis von der gewaltigen Steigerung der Temperatur durch direkte Bestrahlung des Bodens und der Pflanzen zu überzeugen. G. Andersson ®) notierte in Bellsund auf Spitzbergen am 7. Juli mittags zwischen 11!/, und 12!/, Uhr, nachdem die Sonne schon 20 Stunden lang von einem fast unbewölkten Himmel herabgeschienen, folgende Temperaturen: Lufttemperatur, 1m über dem Boden . . . .+ #770 Temperatur der Oberfläche eines Polsters von Silene acaulisL. + 155° C Temperatur des Bodens in einer Tiefe von Scm, wo sich die Hauptmasse der Wurzeln befanden . . a LT In einer Tiefe von 25—30 cm lag schon das Bodeneis. Demnach ist die Wärme derjenigen Luftschicht, in der die assi- milierenden Organe der Pflanze leben, etwa dreimal so groß als die Lufttemperatur, und die Wurzeln führen ihre für die Lebensprozesse so wichtige Absorptionstätigkeit in einer Temperaturschicht aus, die ungefähr doppelt so groß ist, wie diejenige des Schleuderthermometers am betreffenden Beobachtungsort. Ja, die durch direkte Bestrahlung auf- genommene Wärme hält bei eintretender Bewölkung den Boden noch mehrere Stunden doppelt so warm als die umgebende Luft. Vom König Karls-Land berichtet @. Andersson im August 1898: Lufttemperatur 1 über dem Boden. . . 2 BG Temperatur zwischen den Blättern nach nates: Be- wolkung:.:n.: 2. a nee a EA Am 4. Juli 1908 notierte ei bei dei Miindune des Röd-Elv unweit Godhavn, etwa 50m über Meer, mittags 12 Uhr bei Sonnenschein und dunstigem Wetter: Lufttemperatur mit Schleuderthermometer. . . . .....+16C im Felsseggenrasen (Carex rupestris Bell.) auf ebenem Baal-Grußhoden "2729. 2 VE Er 3a im Felsseggenrasen wie oben, aber in Südlage . . . . . +42°C In der Literatur werden sogar Fälle erwähnt, wo die tatsächliche Nutztemperatur zwischen den Blättern der Spaliersträucher und in den dichten Rasen der Polsterpflanzen den fünf- bis sechsfachen Betrag der gleich- zeitigen Lufttemperatur erreichte. Diese Verhältnisse erklären den vor- herrschenden Zwerg- und Spalierwuchs der arktischen Pflanzenwelt, wie auch die oberflächliche Entwicklung ihres Wurzelsystems. 230 M.Rikli. Auch im Hochgebirge zeigen sich ähnliche, wenn nicht noch größere Unterschiede. Währenddem nach Frankland die Differenz zwischen der Temperatur im Schatten und der Temperatur in der Sonne eines Schwarz- kugelthermometers im Vakuum am Meeresniveau (Witby, England bei 20m) nur 5'1°C erreicht, beträgt sie bei Pontresina (1800 m) schon 175° C und auf der Diavolezza (2980 m) volle 535° C. Aus all diesen Tatsachen dürfen wir wohl den Schluß ziehen, daß es auf der Erde keine Gebiete geben dürfte, wo infolge zu geringer Wärme höheres Pflanzenleben absolut ausgeschlossen wäre. Um so befremdender waren daher die Ergebnisse der neuesten inter- nationalen Südpolarforschung (1901—1909), die uns von einem gewaltigen antarktischen Kontinent berichten, von dem bisher aber keine einzige Blütenpflanze bekannt geworden ist. Südlich von 62° 8.33) (Aira ant- arctica Hook. 33°) hat man bis heute keine Phanerogame mehr gesehen. Bis zur Expedition des Norwegers ©. E. Borchgrevink (1898 —1900) galt die Antarktis sogar für völlig vegetationslos. 3+) Zwischen Cap Adare (71°20° 8.) und Geikie-Land (71° 40° S.) sammelte dieser Forscher ®5) auf Süd-Vietorialand jedoch einige Flechten und Algen sowie je ein Moos und einen Wasserpilz. Das Moos wurde von N. Bryhn beschrieben, es erwies sich als einer neuen Gattung zugehörig (Sarconeurum antarcticum N. Bryhn); die Flechten bestimmte T%h. M. Fries und N. Wille in Christiania be- arbeitete die Algen (1902). — Die zweite englische Südpolarexpedition unter Marineleutnant #&. H. Shackleton >) verweilte ein Jahr auf der Roß-Insel (77° 30° 8.). Auf der Ostseite des Mac Murdo-Sundes fand James Murray, der Biologe der Expedition, einige Moose, Flechten und mehrere eigen- artige Algen, die auf der vulkanischen Erde wuchsen; dies ist, neben einer größeren Anzahl Schwämme, die auf einer Exkursion nach der Cap Royds-Halbinsel gesammelt wurden, das einzige Anzeichen einer Erdvege- tation dieser Breitenzone. Und die Westexpedition 37”) berichtet vom Knob Head Mountain, wo bei 750m das Lager aufgeschlagen und hernach der Berg bestiegen wurde, daß sie in einer Höhe von 950m eine gelbe Flechte, bei 1100 »» eine schwarze und bei 1290 m eine grüne Lichene be- merkten ; das war das gesamte botanische Ergebnis dieser Reise. Dabei muß hervorgehoben werden, daß die Minimaltemperaturen im Winterquartier während des Winters 1908/09 nicht unter — 50°C betrugen und daß die Südexpedition bei einer Meereshöhe von ca. 3500 m unter 88° 10°S. als absolut tiefste Temperatur — 45° R (=56!/,°C) notiert hat. Es sind dies Temperaturen, die sogar gegenüber denjenigen des Kältepoles im ostsibirischen Urwalde zurückbleiben. Im Sommer werden zudem nicht nur am Mac Murdo-Sund und am Mt. Erebus, sondern selbst an der ge- waltigen, zwischen 82 und 86°S. und 160—170°0. gelegenen Königin Alexandrakette, deren Gipfel bis über 5000 m ansteigen, größere Strecken schneefrei. Das Auffinden von Kohlen- und von Pflanzenabdrücken lehrt, daß auch dieses Land einst mit Vegetation bedeckt war, doch muß die Ver- Richtlinien der Pflanzengeographie. 231 eisung den „Kontinent des eisigen Südens“ zeitweise mit seinem weißen Leichentuch ganz bedeckt haben, denn wo auch das Land jetzt eisfrei ist, da sprechen Moränen- und Rundhöckerlandschaften von der ehemaligen Maximalvereisung. In dieser Zeit muß die höhere Pflanzenwelt zugrunde gegangen sein, denn sie konnte nicht, wie die arktische Vegetation, sich nach begünstigteren Erdstrichen zurückziehen, um von diesen Refugien aus nach dem Rückgang des Eises das verödete Land neuerdings zu be- siedeln. Auf ihrer gesamten Rückzugslinie begegnete die präglaziale antark- tische Flora einer unüberwindlichen Schranke: einem tiefen, sich beinahe überall über 20 und mehr Breitegrade erstreckenden Weltmeere. Es sind also nicht thermische, sondern wohl eher erdgeschichtliche Momente, welche die Verödung des antarktischen Kontinentes verursacht haben. So gestaltet sich die Klarlegung der Beziehungen zwischen der Wärme und dem Pflanzenkleide der Erde zu einem höchst schwierigen Problem, das zudem noch in den einzelnen Erdräumen nach speziellen Methoden behandelt werden muß. 2. Die Feuchtigkeit. Ohne Wasser kein Leben! Mit diesen Worten ist die ausschlaggebende Stellung des Wassers nicht nur für den gesamten Lebenshaushait der Pflanze, sondern auch für die phytogeographischen Verbreitungsgesetze ge- kennzeichnet. Mit ZL. Diels >) stimmen wir völlig überein, wenn er sagt: „Das Wasser entscheidet in der Pflanzenwelt am mächtigsten über die Daseinsmöglichkeit des Organismus. Es prägt ihm seine Gestaltung auf und ist der wesentlichste Faktor, der ihm seinen Wohnsitz auf der Erde anweist und abgrenzt.“ In dieser Hinsicht kommt dem Wasser womöglich noch die größere Bedeutung zu als der Wärme. Unter den auf das Pflanzenleben einwirkenden Kräften ist aber, wie T. W. Schimper 3°) bemerkt, wohl keine so klar wie die der Wasserökonomie. Feuchtigkeit und Wärme sind daher die beiden Hauptfaktoren, welche, wenigstens in den Hauptzügen, die Verteilung der Pflanzen über die Erdoberfläche in allererster Linie bestimmen. Den anderen Faktoren kommt dagegen vorwiegend eine mehr sekundäre Bedeutung zu, in- dem sie hauptsächlich die Detailgestaltung der vertikalen und horizontalen Grenzlinien sowie die Verteilung innerhalb des Gesamtareals jeder ein- zelnen Art bestimmen; doch selbst in diesen Fragen von mehr lokaler Wichtigkeit haben Feuchtigkeit und Wärme wiederum vielfach einen ent- scheidenden Einfluß. In seiner „Geographie botanique raisonnee* hat Alphonse de Candolle (1855) zum erstenmal den Versuch gemacht, auf Grund der Wärme- und Feuchtigkeitsmengen, die den Pflanzen in den verschiedenen Gebieten der Erde zur Verfügung stehen, eine pflanzengeographisch-phy- siologische Einteilung der Erde durchzuführen. Er unterscheidet sechs Gebiete‘ 232 M. Rikli. 1. Die Hydromegathermen umfassen die Länder mit hoher Wärme (Jahresmittel 20°C und mehr) und viel Feuchtigkeit; sie entsprechen in der Hauptsache den Urwaldgebieten der Tropenzone. 2. Die Xerophytengebiete oder vielleicht besser die „Xero- thermen“ sind die regenarmen bis regenlosen, warmen oder heißen Trockengebiete, die in einer breiten, nur wenig unterbrochenen Zone, als Wüsten, Steppen und Savannen die Hydromegathermen im Norden und Süden begleiten. 3. Die Mesothermen. Es sind dies ziemlich beschränkte Länder- strecken der wärmer gemäßigten und subtropischen Zone mit einer mitt- leren Jahreswärme von 15—20° GC und abwechselnden Regen- und Trocken- zeiten. 4. Die Mikrothermen gehören beinahe nur der nördlichen Hemi- sphäre an. Bei mäßiger Sommerwärme und einer winterlichen Unter- brechung der Vegetationsperiode sind die Niederschläge ziemlich gleichmäßig über das ganze Jahr verteilt. Es ist dies das Klima der sommergrünen Laubwälder und der Nadelhölzer. 5. DieHekistothermen endlich umfassen die arktisch-antarktischen Gebiete und die Hochgebirgslandschaften der Erde; ausgezeichnet sind sie durch meist spärliche Niederschläge, strenge, lange Winter und sehr ver- kürzte, meist nur 2—3 Monate andauernde kühle Sommer. Es sind die Kältewüsten der Erde. Dieses System stellt, wie sich schon aus dessen Nomenklatur ergibt, die Wärme in den Vordergrund. Die Ergebnisse der Biologie und Physio- logie der letzten drei Dezennien haben aber mehr und mehr dazu geführt, der Wasserökonomie die größere Bedeutung zuzuschreiben. In dieser Hinsicht ist die veränderte Beurteilung der arkti- schen Flora ein sehr lehrreiches Beispiel. Der hervorragende deutsche Pflanzengeograph A. Grisebach erörtert noch im I. Bd. seines 1872 er- schienenen Werkes „Die Vegetation der Erde“) die arktische Flora ganz unter dem Gesichtspunkte des Kälteschutzes. Für diese, mit unserer jetzigen Kenntnis des Haushaltes der hochnordischen Pflanzenwelt im Widerspruch stehenden Auffassung ist folgende Stelle (S.34) bezeichnend: „Die auf das äußerste getriebene Benutzung der gespendeten Sommer- wärme und der Schutz gegen die Kälte sind so sehr die überwiegen- den Momente unter den Lebensbedingungen der arktischen Flora, daß alle übrigen, Feuchtigkeit, bereite Nahrungsstoffe, angemessene physikalische Be- schaffenheit des Erdreichs dagegen kaum in Betracht kommen.“ Weder der morphologische noch der anatomische Bau der Polarpflanze lassen aber diese Auffassung als berechtigt erscheinen. Bei objektiver Beurteilung dieser Frage muß vielmehr zugegeben werden, daß fast alle arktischen Pflanzen ohne jegliche in die Augen fallenden Schutzmittel monatelang den größten Kältegraden ausgesetzt sind. Bei den geringen winterlichen Niederschlagsmengen und der äußerst ungleichen Verteilung des Schnees — eine Folge der heftigen Burane, die mit unerhörter Kraft über die Tundra Richtlinien der Pflanzengeographie. 233 dahinfahren, alle ebenen Flächen und Abhänge vom Schnee völlig ent- blößen, denselben aber in Flußtälern und muldenförmigen Depressionen in gewaltigen Mengen anhäufen — kann nicht einmal der Schneeschutz zugunsten der Kältetheorie ins Feld geführt werden. Der ausgesprochene xerophile Bau der arktischen Pflanzenwelt lehrt, daß diese Flora in hohem Maß; den Stempel des Transpirationsschutzes gegen die Vertrocknungsge- fahren des arktischen Klimas trägt, und daß) die ganze arktische Flora offenbar unter dem Gesichtspunkt des Trockenheitsschutzes und nicht unter dem des Kälteschutzes zu beurteilen ist.*) Wie bei der Wärme, so ist auch bei der Feuchtigkeit die Vertei- lung der jährlichen Niederschlagsmenge von größter Wichtigkeit. Als Beispiel wählen wir den verschiedenen Vegetationscharakter der Flora Mitteleuropas und denjenigen der Mittelmeerländer. Als Ursache dieser Er- scheinung wird gewöhnlich der angebliche große Unterschied in den Nieder- schlagsmengen beider Gebiete aufgeführt. Nun sind aber in vielen medi- terranen Stationen die jährlichen Niederschlagsmengen gar nicht so klein; sie nehmen allerdings sowohl nach Süden als auch nach Osten regelmäßig ab, doch weisen die einzelnen Beobachtungszentren oft noch recht ansehn- liche Beträge auf: Barcelona 570 mm, Genua 1256 mm, Neapel 826 mm, Philippeville 771 mm, Ragusa 1669 mm, Corfu 1559 mm, Smyrna 622 mm, Beirut 947 mm.*?) Das sind Zahlen, die mit den landläufigen Anschauungen gar nicht stimmen wollen. Noch mehr. Theobald Fischer +?) hat auf Grund eines sehr weitschich- tigen Materials für das Mittelmeergebiet eine mittlere Regenmenge von 759'4 mm berechnet, ein Mittel, das sogar nicht unerheblich das jährliche Niederschlagsmittel von Deutschland, von van Bebber zu 708'9 mm be- rechnet, übertrifft. Trotzdem besitzt der Grundstock der Flora Mittel- europas ein viel saftigeres, frisches Aussehen als die mediterrane Land- schaft, so daß man gerne bereit ist, den auffallenden Unterschied auf einen Reichtum an Niederschlägen im Norden und einen entsprechenden Mangel im Süden zurückzuführen. Die Erscheinung erklärt sich aber nicht aus der absoluten Niederschlagsmenge, sondern aus deren jahreszeitlicher Verteilung. Gegenüber Mitteleuropa mit seinen Regen zu allen Jahres- zeiten und seinen vorzugsweisen Sommerregen ist das Mittelmeergebiet, besonders in seinen südlichen Teilen, durch sommerliche Regenarmut oder sogar völlige Regenlosigkeit ausgezeichnet. Mit anderen Worten: gerade zur Zeit der größten Betriebswärme fehlt das notwendige Be- triebswasser, ein naturgemäß für die Pflanzenwelt höchst ungünstiges Verhältnis, welches dieselbe nötigt, in dieser Periode ihre ganze Lebens- tätigkeit auf ein Minimum herabzusetzen. Die größte Wärme und die aus- giebigste vegetative Tätigkeit fallen also nicht wie in dem in dieser Hin- sicht entschieden bevorzugten Mitteleuropa zusammen. Die Zeit der größten Wärme wird infolge des Wassermangels zu einer Ruhezeit und die ganze Xerophilie der Mediterranflora ist eine Folgeerscheinung dieses Mißver- hältnisses. 234 M. Rikli. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die Tatsache bestätigt, daß überall da, wo genügend Wasser zur Verfügung steht, auch in den Mittelmeerländern, die Üppigkeit der Vegetation nicht hinter unseren Brei- ten zurücksteht, ja bei künstlicher Bewässerung sie sogar erheblich über- trifft. Beweis dafür sind die Fruchtbecken der Mediterranis mit ihren alten Kulturzentren, die Gartenlandschaften der Huertas Valencias und Murcias, die Oasen von Elche und Orihuela usw. Ja, längs den zahlreichen kleineren und größeren Wasseradern und in den oft ausgedehnten Sumpflandschaften ihrer äußerst ungesunden, fieberschwangeren Mündungsebenen haben sich überall feuchtigkeitsliebende Pflanzen und laubwechselnde Bäume ange- siedelt. Gebüsche von Weiden und Erlen, Gruppen stattlicher Schwarz- pappeln, ganze Felder gelber Schwertlilien (Iris Pseudacorus L.) und periodisch überschwemmte Wiesen mit einer saftigen Teichflora verleihen solchen Ge- bieten durchaus nordischen Landschaftscharakter. t*) Nur ausnahmsweise kommen die Wärmeverhältnisse, unter denen die Pflanzen leben, in deren Bau zum Ausdruck. So ist im Bauplan der Palme *°) die Beschränkung dieses Typus auf die tropische und subtropische Zone begründet. Nur in diesen Gebieten darf der Baum es wagen, alles auf eine Karte zu setzen, denn mit der unverzweigten Säulenform der Palme ist die Ausbildung einer einzigen, mächtigen Endknospe verbunden. Die Krone der Palme bleibt stationär. In demselben Maß, als einzelne Blätter absterben, werden jeweilen wieder neue erzeugt, so daß der Wedelbestand sich immer ziemlich gleich bleibt. So wird eine vermehrte Festigkeit oder eine Vermehrung der Leitungsbahnen nicht notwendig, dafür ist aber die polare Ausbreitung der Palme in die gemäßigte Zone ausgeschlossen. Schon ein einziger kalter Winter kann das Absterben der Endknospe zur Folge haben. In Ermanglung von Ersatzknospen muß der Baum alsdann ein- gehen. Gewöhnlich aber lassen sich die Wärmeverhältnisse des Wohnortes weder aus dem Bau noch aus der Entwicklung der Pflanze mit einiger Sicherheit feststellen. Ganz anders macht sich dagegen die Wasserbilanz bemerkbar. Dem Pflanzengeographen wird es meistens nicht schwer fallen, aus dem morphologischen Aufbau oder doch wenigstens aus der anatomi- schen Struktur zwingende Rückschlüsse auf die Feuchtigkeitsverhält- nisse des Erdenraumes, den die Pflanze im Naturzustand bewohnt, zu machen. 4) Bei den Wasserpflanzen (Hydatophyten) ist die ganze Oberfläche Absorptionsorgan. Mit einer auffallend starken Oberflächenvergrößerung geht die Verkümmerung der mechanischen und leitenden Elemente Hand in Hand. Große, dünne, oft fein zerteilte, sub- oder emerse Spreiten cha- rakterisieren diesen Typus, gleichgültig welcher systematischen Pflanzen- gruppe die einzelne Art auch angehören mag. Ihnen schließen sich die Hygrophyten an, Landpflanzen, die aber in einem stets mehr oder weniger nassen oder doch feuchten Boden bei gleichzeitig hoher Luftfeuch- Richtlinien der Pflanzengeographie. 235 tigkeit leben. Starke Vergrößerung des dünnen Laubes, ungewöhnliche Ver- mehrung der Spaltöffnungen, deren oft exponierte Lage, zarte Epidermis und dünne, oft fast fehlende Cuticula sind für diese Lebensform bezeich- nend. Die Mesophyten sind an einen mittleren Stand des Wasserver- kehrs angepaßt, dementsprechend zeigt auch die Ausbildung der Vegeta- tionsorgane alle Übergänge von den Hygrophyten zur folgenden Gruppe der Xerophyten, denjenigen Pflanzen, die mit den ihnen zur Verfügung stehen- den spärlichen Wassermengen sehr haushälterisch umgehen müssen. Die Xerophyten bilden eine der ausgeprägtesten und bestumgrenzten biologischen Gruppen, die vom Äquator bis zum Pol verbreitet ist. Fast alle Familien, ja sogar die meisten größeren Gattungen liefern Xerophyten, indessen sehr oft nächstverwandte, aber andere Erdräume bewohnende Arten mesophytisch oder sogar hygrophytisch ausgebildet sind. Steppen, Wüsten-, Fels-, Hochgebirgs- und Polarflora liefern die schönsten Beispiele von Xerophyten. Übrigens zeigt dieser Typus, wie kein zweiter, eine ungeahnte For- menfülle, bedingt durch die verschiedenen zur Durchführung gelangten Prinzipien, die alle den einen Zweck verfolgen, die Wasserabgabe durch Transpirationsverlust mit dem verfügbaren Wasservorrat im Gleichgewicht zu halten. In diesem Sinn wirken: gewaltige Vergrößerung des Wurzel- systems, Verkleinerung der transpirierenden Oberfläche, also Verkiümme- rung der Blattspreiten unter Ausbildung von Nadel- und Schuppenblättern; Übernahme der Assimilationstätigkeit durch den Stengel; auf diese Weise entstehen die Rutenpflanzen und die Dornsträucher, zuweilen kommt es zur Ausbildung der Kugelform oder doch zu Annäherungsformen. Weitere Anpassungseigentümlichkeiten der Xerophyten sind: Vermehrung der me- chanischen Elemente, Verdickung der äußeren Epidermis, gewaltige Ent- wicklung der Cuticula, Ausbildung dichter Haarkleider, Wachsüberzüge, verborgene Lage und Ausbildung des Spaltöffnungsapparates usw. Bei periodischer Trockenheit kommt es öfters auch zur Anlage eines Wasser- speichergewebes oder gar eines eigentlichen Wasserreservoirs, wie dies für die eigentümlich anmutenden Blatt- und Stammsuceulenten so bezeichnend ist. Die Saftpflanzen bilden in ihren auffallendsten Typen, in ihren Säulen- und Kugelformen, das Wahrzeichen der extremsten Trockengebiete. Gattun- gen, die im System weit auseinanderstehen, werden unter dem Druck der eigenartigen Wasserökonomie dieser Gebiete zu isomorphen Gestalten um- geprägt; so bei Cacteen, bei zahlreichen Euphorbien, Stapelien, bei einzelnen Compositen (Kleinia) und Geraniaceen (Sarcocaulon Süd- afrikas). Von F. W. Schimper ist endlich (1898) noch ein letzter Typus, die Tropophyten ), die besonders der nördlich gemäßigten Zone angehören, aufgestellt worden. Fs sind Gewächse, deren Existenzbedingungen je nach der Jahreszeit diejenigen von Hygrophyten oder von Xerophyten sind. Bei ihnen ist der Aufbau der ausdauernden Teile xerophil, die der nur während der nassen Jahreszeit vorhandenen Organe dagegen hygrophil. So verhalten 236 M. Rikli. sich unsere laubwechselnden Holzpflanzen. Die einjährigen Pflanzen, die den für sie ungünstigen Teil des Jahres als Samen in einem latenten Lebensstadium zubringen, sind auch den Tropophyten zuzuzählen. Im Gegensatz zur Arktis, die man als Kältewüste bezeichnen könnte, spielen jedoch die Einjährigen in den Wärmewüsten eine viel wichtigere Rolle. Sowohl in den Steppen- als in den Wüstengebieten ist der Prozentsatz der Einjährigen recht erheblich. Es sind das diejenigen Arten, die sich auf einen harten Kampf mit dem Wüstenklima nicht einlassen, sondern ihre ganze Vegetationstätigkeit auf die kurze Zeit zusammen- drängen, in der Regen fällt, die aber beim Ausbleiben der Niederschläge zuweilen jedoch jahrelang nicht zur Entwicklung gelangen. Kommt es endlich einmal zu einem ergiebigen, warmen Regen oder zu einem kräftigen Taufall, so erfolgt das Erwachen der Vegetation förmlich explosionsartig. In extremen Trockengebieten können sogar Tau und Nebel für die Flora von größter Wichtigkeit werden. Vollens *"*) berichtet aus der Lybischen Wüste, daß die Entwicklung der zarten Frühjahrsvegetation absolut von den zu dieser Zeit gewöhnlich erfolgenden Taufällen abhängig ist. Nach H. Fitting trifft diese Angabe aber nur für das von Volkens seiner Arbeit zugrunde gelegte, schmale Randgebiet der Wüste längs dem Niltale zu. In der Sahara selbst gehören Tau und Nebelbildungen zu den größten Selten- heiten. Zu einem der trockensten Gebiete Spaniens gehört die Gegend von Cartagena. Die mittlere, jährliche Regenmenge der Periode von 18350— 1898 betrug nur 3926 mm. 1905 erlebte ich schon Ende März um die Mittags- zeit im Schatten Temperaturen von 33° C.#%) Aber jeden Abend erfolgte vom Meere eine so starke durchnässende Nebelbildung, daß man sich an einen großen Alpensee hätte versetzt glauben können, und die Vegetation von Feuchtigkeit triefte. Ein Teil der Vegetation der Namibwüste Südwest- afrikas verdankt vielleicht ihre Existenz dem Nebel, welcher von dem relativ kalten Meere gegen das Land hin aufsteigt. So dürften in sehr trockenen Gebieten Tau und Nebel gelegentlich fast die einzige Feuchtigkeitsquelle sein, auf die die Pflanzen noch mit einiger Sicherheit zählen können. Für die Wüstenbewohner sind Niederschläge irgendwelcher Art immer ein Ereignis, das an ein Wunder grenzt. Gelegentliche Regenschauer werden bis in das Herz der Sahara verzeichnet. Wer je einmal einen solchen Regenguß erlebt hat, wird die ihm zuteil gewordene Überraschung nie mehr vergessen. Wie durch Zauberschlag verwandelt sich die trostlose Wüste plötzlich in ein irdisches Paradies. Der Reisende wird Zeuge, wie gleichsam aus dem Sande die Vegetation emporschießt. Einige Stunden genügen, um das Bild vollständig zu verändern. Eine Märchenwelt entsteht, sie ist allerdings nur von kurzer Dauer: wenige Stunden später ist wieder alles verschwunden. Unter der Einwirkung des Regens keimen die un- zähligen kleinen Saatkörner, die durch den Wind mit dem Sande durch die ganze Wüste zerstreut worden sind; sie wachsen rasch empor, reifen neue Samen und sterben wieder ab. Die Sache hat so große Eile, daß das Richtlinien der Pflanzengeographie. 2331. ganze Pflänzchen zuweilen nur aus zwei bis drei Blättchen und einer einzigen endständigen Blüte besteht. Es ist eine vergängliche Miniaturflora, deren einzelne Individuen meistens nur wenige Zentimeter Höhe. erreichen, zuweilen sogar nur wenige Millimeter. Dafür aber ist ihre Individuenzahl oft geradezu rätselhaft. Der neuentstandene Same bleibt im Sande, um nach Jahren, wenn wieder einmal einer jener seltenen Regengüsse kommt, auf gleiche rasche Weise sich wieder zu entwickeln, zur ephemeren Wüsten- flora beizutragen und ebenso rasch wieder unterzugehen. Doch das kurze Leben dieser Pflanzen entrollt ein wunderbares Bild. Gazellen weiden in Fig. 126. e % | TE se Phot. Dr. Arn. Heim. 1906. Canon bei Beni Ounif, Nordrand der algerischen Sahara mit Grundwasserstrom, in den die Dattelpalmen ihre Wurzeln hineinsenken. Rudeln, bis die ewig sengende Sonne in wenigen Tagen alle Feuchtigkeit wieder aufgesaugt hat und die Wüste wieder zur Wüste wird. Die Feuchtigkeitsverhältnisse bedingen aber nicht nur die allgemeinen Grundzüge im Pflanzenkleide der ganzen Erde. In jedem einzelnen Gebiet wird die Detailgliederung der Pflanzendecke wiederum hauptsächlich durch die klimatische und edaphische Wasserökonomie der kleinen und kleinsten Raumeinheiten bestimmt. Dafür nur einige Beispiele: In der Wüste sind es die größeren Depressionen, die bei Regengüssen als Wassersammelrinnen dienen und die auch in der Trockenzeit meistens etwas Grundwasser führen. Gegenüber den benachbarten Steinwüsten be- 938 M. Rikli. herbergen sie eine an Art- und Individuenzahl erheblich reichere Vegetation, die sogar eine ganze Reihe von Bäumen aufweist. Den Wassersammelrinnen der Serir folgen am Nordrand der Sahara die undurchdringlichen, dornige Gestrüppe bildenden bis über meterhohen Sträucher von Zizyphus Lotus L. Typische Vertreter solcher Oueds sind zwei Holzgewächse: Pistacia Tere- binthus L. v. atlantica Desf. Die einzelnen Bäume nehmen sich in der baumlosen Umgebung höchst eigenartig aus, sie stehen oft kilemeterweit auseinander und lassen schon aus der Ferne den nicht selten mäanderartigen Verlauf des Oueds erkennen: Rhus Oxyacantha Cav. bildet Sträucher, die in der Trockenperiode ihr Laub abwerfen. Auch der wilde Ölbaum (Olea europaea L. v. oleaster DO) folgt im saharischen Atlas den Oueds, und wo der Grundwasserstand etwas höher steht, da stellen sich Dattelpalmen, Oleander und Tamarisken ein. *°) Und welch Gegensatz im Vegetationscharakter zeigt nicht die See- und Föhnzone der Nordalpen und das mittlere Wallis. 5%) Wir brauchen aber nicht einmal so weit zu gehen. Am Morgen botanisieren wir in den feuchtigkeitstriefenden Waldungen ob Kandersteg: großblätterige, üppige Karfluren bilden die Unterflora, und am Nachmittag des gleichen Tages sammeln wir auf der Walliser Felsenheide um Leuk die duftende Sabina, weißfilzige Artemisien, wallendes Federgras, Astragalus- und Oxytropisarten, die uns an die Steppen Osteuropas erinnern, eine Gesellschaft von Pflanzen, die schon Albrecht Haller veranlaßte, das Wallis „das schweizerische Spanien“ zu nennen. Woher aber dieser gewaltige Gegensatz? Dort, während des ganzen Sommers eine fast immer mit Feuchtigkeit gesättigte Atmosphäre, hier dagegen große Lufttrockenheit, verbunden mit gewaltiger, die Tran- spiration mächtig fördernder Insolation; dort 120—140 em mittlere jähr- liche Regenhöhe, hier im Mittel nur 54cm, ja in besonders trockenen Jahrgängen sogar nur 34 cm. Im nördlichen Teil des Kantons Zürich (Bezirk Andelfingen) wechseln auf engem Raum kleine Hügel, Moränen und Drumlings. 5!) Sie sind ge- krönt vom lichten Föhrenwäldchen, und beherbergen eine höchst bezeichnende Flora xerophytischer Gewächse, vorwiegend pontischer Einstrahlung: Carex ericetorum Poll., Anemone Pulsatilla L., Linum tenuifolium L., Cytisus sagittalis (L.) Koch, Fumana vulgaris Spach, Globularia vulgaris L. ssp. Will- kommiü Nym., Teuerium montanum L. und T. Scorodonia L., Stachys rectus Briq., Peucedanum Oreoselinum (L.) Mönch, Orepis alpestris (Jacgq.) Tausch usw. Zwischen den einzelnen Erhebungen erstrecken sich aber ver- sumpfte Ländereien: eine zum Teil bereits verlandete Seenplatte mit ent- sprechender Hydadophyten- und Hygrophytenvegetation. Der große Gegensatz zwischen Nord- und Südlage ist nicht nur eine Folge der durch die Exposition bedingten verschiedenen Wärmeverteilung, wenigstens im gleichen Grad entscheidend sind die Feuchtigkeitsunter- schiede. Oft ist damit auch noch eine verschiedene Bodenbeschaffenheit verbunden, so daß die Abschätzung des Anteils jedes einzelnen Faktors am Zustandekommen des veränderten Vegetationsbildes nicht immer leicht Richtlinien der Pflanzengeographie. 239 durchzuführen ist. Von Baden im Kanton Aargau verläuft in genau öst- licher Richtung die Lägern, der letzte Ausläufer des Faltenjuras. Die Süd- hänge sind charakterisiert durch das Auftreten von Garides ’?), mehr oder weniger offene xerophile Felsfluren vom Typus des Blauschwingelrasens. Leitpflanze ist Festuca ovina L. ssp. glauca (Lam.) Hackel, ein Gras mit derb-rigeiden, blaugrünbereiften Blättern. Charakterpflanzen sind: Melica ciliata L., die Feuerlilie Zilium bulbiferum L. v. ceroceum (Chaix) Schinz und Keller, Allium senescens L., Anthericum Liliago L. und A. ramosum L., Thalictrum minus L., Teuerium montanum L., Sedum album L. usw. Dazu gesellt sich ein lichter Heidewald, er besteht aus kleinen knorrigen Eichen. Vorherrschend ist die südliche Flaumeiche (Quercus pubescens Willd.), und hin und wieder stoßen wir auf trockene Burstwiesen mit einer aubßerge- wöhnlich reichen Orchideenflora. Die Nordseite dagegen besitzt einen reich- gemischten Bergwald mit vielen feuchten, frischen Boden liebenden Humus- pflanzen, unterbrochen von Blaugrashalden und montanen Bergwiesen, die zum Teil als Alpweide zur Sömmerung von Jungvieh dienen. Bei 720 m steht hier die niedrigst gelegene Alphütte der Schweiz. 53) Oder man konsultiere die schöne Arbeit von @. Baumgartner (1901) über „das Curfirstengebiet“.5*) Entsprechend der höheren Erhebung und größeren Ausdehnung des Gebirgszuges sind die Kontraste womöglich noch augenfälliger, sie kommen auch in der verschiedenen Bewirtschaftung der beiden Gehänge deutlich zum Ausdruck. Auf der Südseite gehen echte Kastanien und Rebe bis gegen 1000 m, der Nußbaum bis 1100 »n, Buche bis 1550 m, Wildheuplanken und Magermatten von 8S00— 1920 m, die Fichte bis 2100 m, die Arve fehlt. Vorherrschend sind der reichgemischte Laubwald und Magermatten. Auf dem gegen das Toggenburg gerichteten Nordhang liegt die Talsohle bei 900 m. Es fehlen Getreide- und Rebenkultur, Mager- matten und Wildheuplanken, Kastanie und Nußbaum. Die Buche geht nur bis 1200 m, die Fichte bis 1900 », dafür erscheint als neue Holzart von 1700—1900 m die Arve. Den größten Teil des Geländes beansprucht moosiger Nadelwald und Weide. Nicht selten erfolgt jedoch der Wechsel noch auf viel engbegrenzterem Raum. Auf höheren Juraweiden erheben sich oft in großer Zahl Höcker von 1—2 m Höhe und 50 cm bis 2m Länge. 5°) Es sind teils Maulwurfs- haufen, teils von Vegetation überzogene Steine, teils indirekt entstanden durch das Weidevieh, das die Rinnen zwischen denselben durch das Auf- treten beim Weiden immer mehr vertieft und deren Pflanzenbestand un- berührt läßt. Wie nun auch ihre Entstehungsgeschichte sein mag, immer sind diese Höcker von ihrer Umgebung durch größere Trockenheit aus- gezeichnet; ihre Vegetation besteht aus derbem Ginster, aus Heidekraut (Calluna) und Thymian und kontrastiert in sehr auffälliger Weise mit der nächstbenachbarten saftigen Weideflora. Und dort im Gebiet der Hochweide >®) ruft jede noch so kleine Terrain- welle sofort einen förmlichen Szenenwechsel hervor. Die trockenen Wellen- berge sind mit den xerophytischen Kleinsträuchern der alpinen Zwerg- 340 M. Rikli. strauchheide bestanden, indessen die dazwischen gelegenen feuchteren Mulden saftige Michkrautweide aufweisen. Dieser rasche, beständig sich wieder- holende Wechsel ist nur eine Folge der Feuchtigkeitsunterschiede, bedingt durch die Topographie des Geländes. Der Höhenunterschied zwischen Sohl- und Scheitelpunkten der Wellenberge beträgt dabei oft kaum einen Meter. So macht sich der Einfluß des Wassers überall im großen und kleinen in erster Linie bemerkbar. Das Entscheidende sind aber auch hier nicht die von der Meteorologie gemessenen absoluten Niederschlagsmengen, denn nur ein kleiner Teil derselben kommt der Vegetation zu gut. Viel wichtiger ist die Wasserabsorptionskraft der einzelnen Gewächse und das verschiedene Wasserbindungsvermögen der Böden. Erstere ist in der Konstitution der Pflanze begründet, letzteres in der Bodenart; beide stehen zur Regenhöhe einer gegebenen Gegend in keiner Beziehung, sind aber trotzdem für die wirkliche Wasserbilanz und damit für den Vegetationscharakter eines Landes von größter Bedeutung. Den wassereinnehmenden Faktoren steht die wasser- ausgebende Transpiration gegenüber, eine ebenfalls sehr komplizierte Größe. Sie ist abhängig von der jeweiligen, stets wechselnden relativen Luftfeuchtig- keit, von der Wärme, von den Windverhältnissen, von dem morphologischen und anatomischen Aufbau der Pflanze. Große Lufttrockenheit und Steige- rung der Verdunstungsgröße durch heftige, trockene Winde kann selbst einer zart gebauten Pflanze nicht schaden, so lange sie über einen reich- lichen, stets zugänglichen Wasservorrat verfügt, und umgekehrt kann eine Pflanze mit sehr wenig Wasser auskommen, wenn sie in einem mehr oder weniger mit Feuchtigkeit gesättigten Raum lebt. Es kommt also in Wirk- lichkeit weniger auf das Quantum der Wasseraufnahme bzw. Wasserabgabe an, als vielmehr auf deren Gleichgewicht, d. h. auf die tatsächliche Wasser- bilanz. Endlich besitzt das Wasser noch eine weitere pflanzengeographische Aufgabe. Die mechanische Kraft des fließenden Wassers ist einer der Faktoren, welche die Ausbreitung der Arten über ihr ursprüngliches Areal vermittelt. Jeder Gebirgsbach bringt Sämereien von Oreophyten nach der Niederung. Die wilde Sihl bei Zürich verfrachtet Alpensamen bis ins Limmattal. 5”) An ihrem Ufer sammeln wir im Sihlwald Carduus Personata (L.) Jacg. und Ranunculus aconitifolius L., oberhalb Leimbach steht Aconitum Napellus L., bei der Wollishofer Allmend Ranunculus montanus Wild. und auf einer Kiesinsel bei Altstätten unterhalb Zürich Hierochloö odorata (L.) Wahlbg. Dazu kommen noch einige mehr gelegentliche Herabschwemmungen, die nicht zu dauernder Ansiedelung geführt haben. Im Kanton Tessin gestattet die vielfach dachgähe Steilheit der Ge- hänge, verbunden mit der großen Feuchtigkeit, welche auch in den Tief- lagen angetroffen wird, vielen Alpenpflanzen bis in unmittelbare Nähe der Seen (ca. 200 m Meereshöhe) herabzusteigen. H. Christ sagt treffend: das Rhododendron hat eine kurze Reise vom Joch der Punta di Tros (1866 m) ob Locarno bis zur Schlucht bei Orselina (300 »), und auch das fließende Wasser hat einen kurzen Weg, um die Alpenpflanzen drunten aus der Richtlinien der Pflanzengeographie. 241 Wolkenregion ohne Unterlaß zu erfrischen. ®*) So liefert der Kt. Tessin zahl- reiche Beispiele außergewöhnlich tiefer Standorte von Alpenpflanzen. Auch die Alluvionen der Flüsse der bayrischen Hochebene beherbergen manche alpine Pflanze, die ihr Vorkommen der verfrachtenden Mission der Gebirgs- gewässer verdankt. 5°) Dieselbe Erscheinung kehrt in allen Gebirgen wieder. Durch die Riesenströme Nordasiens werden, wie wir durch Cajander *) und Sommier wissen, südliche Steppenpflanzen bis in die Übergangstundra, dem Grenz- gebiet von Wald- und Baumwuchs, verschleppt und gesellen sich in der neuen Heimat zu typisch arktischen und silvestren Genossenschaften. Doch muß man sich immerhin hüten, die Rolle der Gebirgsbäche als Verbreitungsmittel zu hoch einzuschätzen. Die Wanderlinien sind nur die schmalen Flußrinnen, in denen der junge Ansiedler durch die Erosionstätig- keit des Wassers und durch periodische Hochwasserzeiten in seiner Existenz stets gefährdet ist. Dem Versuch, sich außerhalb des Bereiches des fließen- den Wassers auf sichereren Boden zu retten, stehen andere Schwierigkeiten gegenüber, so daß die dauernde Angliederung der Ankömmlinge in die natürlichen Formationen, die sie in ihrer neuen Heimat antreffen, zu den Ausnahmen gehören. Ein weiteres Transportmittel sind die Meeresströmungen. Doch ist auch hier der Prozentsatz der erfolgreichen Verfrachtungen verhältnis- mäßig klein, sei es, weil die Landungsküsten des Driftgutes ein Klima auf- weisen, das von demjenigen des Ursprunglandes zu sehr abweicht, sei es, weil die Keimfähigkeit der Samen durch das lange Verweilen im Meer- wasser verloren gegangen ist. Berühmt sind eine Reihe von Fällen von Verbreitung pflanzlicher Produkte durch Meeresströmungen geworden. An den indischen Gestaden fand man die 10—15 kg schwere Seyschellen-Nub schon seit Jahrhunderten angeschwemmt, indessen die Stammpflanze (Lodoicea Sechellarum Labill) erst 1742 entdeckt worden ist. %%) Am Strande Norwegens hat schon €. v. Linne tropische Samen gesammelt und ihre Zu- fuhr dem Golfstrom zugeschrieben. Auf diese Driftprodukte gründete be- kanntlich einst Columbus seine Annahme, daß weit im Westen noch ein neuer Kontinent sein müsse. Die Jeanetteströmung führt jährlich aus den sibirischen Gewässern bedeutende Holzmengen an die Küste Grönlands. Die ganze Kultur der Eskimos beruht auf dieser Holzzufuhr. Die neuern Untersuchungen haben ergeben, daß beinahe nur Halo- phyten, besonders Strandpflanzen von Meeresströmungen mit Aussicht auf Erfolg verbreitet werden. Nach M. P. Porsilds°°) Versuchen wird bei einer Reihe dieser Arten die Keimkraft durch Behandlung mit Meerwasser sogar gesteigert, indessen Pflanzen terrestrer Vergesellschaftungen schon nach kurzer Zeit in starken Prozenten einen Rückgang der Keimfähigkeit bis zum völligen Keimverlust zeigen. Nach A. F. W. Schimper °°) besitzen viele marine Strandpflanzen besondere Schwimmorgane in Form von Schwimmblasen oder eigenartigen Schwimmgeweben. Durch die Beob- achtungen und Arbeiten von Hemsley s), Treub °) und Guppy°°) ist er- E.Abderhalden Fortschritte. III. 16 242 M. Rikli. wiesen, daß viele Strandpflanzen innerhalb ihrer Klimazone und eines herrschenden Meeresströmungssystems eine sehr weite Verbreitung be- sitzen, die auf Drifttransport zurückzuführen ist. Von fundamentaler Bedeutung ist in dieser Hinsicht die Neubesiede- lung der durch die submarinen Eruptionen vom Jahre 1883 entstan- denen Krakatauinsel in der Sundastraße. 6”) 1886 wurde die Insel von Treub besucht: er fand in der Driftzone neben Kryptogamen Keimlinge von 9 Blütenpflanzen, ferner Früchte und Samen von weiteren 7 Phanero- gamen, welche alle der typischen Strandvegetation des Malaiischen Ar- chipels entstammten. Zehn Jahre später (1897) ist die Insel neuerdings untersucht worden. Die Flora zeigte noch beinahe denselben Charakter, nur mit beträchtlich vermehrter Artenzahl. Nach Penzigs Berechnungen ®°) waren damals 32 Arten, das heißt 60°39°/, der Phanerogamenflora durch Meeresströmungen der Insel zugeführt worden. Eine dritte im April 1905 durchgeführte eingehende Aufnahme und Studie über den Florenbestand der Krakatauinsel verdanken wir A. Ernst #°) in Zürich. Das Ergebnis ist: die Strandpflanzen der neuen Krakatauflora sind vorwiegend durch die Meeresströmungen, die Binnlandpflanzen durch Vögel und Winde auf die Insel gebracht worden. Von der Gesamtzahl der Blütenpflanzen sind je nach der Art der Berechnung 39—72°/,, also jedenfalls die Hauptmasse durch die Meeresströmungen dorthin gekommen; die Anemochoren sind mit 16--30°/,, die Zoochoren (durch Vögel) mit 10—19°/, vertreten. 3. Das Licht. Neben Wärme und Feuchtigkeit. diesen an Wichtigkeit kaum nach- stehend, ist das Licht auf das pflanzliche Leben und dessen Gestaltung von entscheidendem Einfluß. Doch die pflanzengeographische Rolle des Lichtes scheint zunächst nahezu bedeutungslos zu sein. In der Hochregion der Alpen finden sich zum Teil nicht nur dieselben Arten wie im hohen Norden, viele Typen sind wenigstens morphologisch absolut identisch und bei der Großzahl der beiden Gebieten gemeinsamen Arten ist es nicht ein- mal zur Ausbildung vikarierender geographischer Rassen gekommen, so daß es z. B. auch dem systematisch geschultesten Botanikerauge nicht möglich sein wird, Loiseleuria procumbens (L.) Desv., Silene acaulis L., Empetrum nigrum L., Thalictrum alpinum L., Dryas octopetala L., Oxyria digyna (L.) Hill., Salix herbacea L. usw. arktischer und alpiner Provenienz voneinander zu unterscheiden. Und doch, welch gewaltiger Gegensatz im Lichtgenuß der beiden Landkomplexe während der Vegetationsperiode: in der südlichen Gebirgswelt der periodische Wechsel zwischen Tag und Nacht, zwischen Dunkelheit und großer Lichtintensität, in der Polarregion dagegen der einzige, ununterbrochen andauernde lange Sommertag. Größere licht- klimatische Kontraste sind kaum denkbar, trotzdem zeigen aber die beiden Gebiete teilweise denselben Florenbestand. Auf der ganzen Erdoberfläche gibt es keine Stellen, wo wegen Mangels oder zu intensiven Lichtes Pflanzenleben ganz ausgeschlossen Richtlinien der Pflanzengeographie. 245 wäre. Da die Reduktion des Kohlenstoffes aus der Kohlensäure eine Licht- wirkung ist, die nur durch Vermittlung des ebenfalls beinahe ausnahmslos an die Anwesenheit von Licht gebundenen Chlorophyllapparates vor sich geht, so sind die absoluten Dunkelgebiete jedoch einzig der heterotroph lebenden, niederen Pflanzenwelt (Bakterien, Pilze) zugänglich. Aber nicht nur der Assimilationsprozeß, sondern auch noch zahlreiche andere Stoff- und Kraftwechselvorgänge sind an das Licht gebunden. Die- selbe Kraftquelle übt einen hemmenden Einfluß auf die Spreitenentwick- lung der Blätter und die Streckung der Stengelinternodien aus. Beweis sind einerseits die gewaltigen Blattflächen und die hohen schmächtigen Stengel der Schattenflora, andrerseits die gestauchten Sprosse und die kleinen Blättchen der Lichtpflanzen. In dieser Hinsicht hat das Licht auch einige pflanzengeographische Bedeutung, indem es die Schattenpflanzen der Unterflora der Wald- und Gebüschformationen zuweist, so daß das Verbreitungsareal dieser Arten an jene Vergesellschaftungen gebunden ist. Horizontale und vertikale Waldgrenzen sind daher auch Schranken für alle diejenigen Gewächse, welche auf gedämpftes Licht von bestimmten In- tensitätsgraden abgestimmt sind. In Nord-Grönland gibt es bekanntlich keine Wälder mehr, doch bis zum 75° N., das heißt volle 12 Breitegrade nörd- licher als die absolute Baumgrenze des arktischen Landes, finden sich noch Miniaturwälder aus dichten, oft nur noch 50—100 em hohen Weidenge- büschen der Salix glauca L. Die Bodenflora besteht aus schattenliebenden Pflanzen, die, unter diesen Verhältnissen lebend, die erfolgreichsten Vor- stöße gegen Norden machen. Im tiefsten Schatten vegetieren einige Farne: Dryopteris Linnaeana 0. Christens, D. Lonchitis (L.) O. Kuntze, Cystopteris Jragtlis (L.) Bernh. Folgende Waldpflanzen sind auf Disko beinahe aus- schließlich an die Saliceten gebunden: Zästera cordata (L.) R. Br., Corallorrhiza trifida Chatelain, Lycopodium annotinum L., Stellaria borealis Big., Pyrola minor L.. P. secunda L. v. borealis Lge.'°) usw. Man wird vielleicht ein- wenden, daß nicht das gedämpfte Licht, sondern der Humusgehalt des Bodens dieser Standorte jene Pflanzen zur Ansiedelung in den Saliceten veranlasse. Dem ist aber nicht so. Auf der Zwergstrauchheide und in den Moorsümpfen, die beide humösen Boden aufweisen, fehlt diese Florula. Das Licht ist ferner bei vielen Pigmentbildungen in aktiver Weise beteiligt. In höheren Pflanzen wird die Assimilation der Nitrate durch dasselbe stark gefördert. Schwache Belichtung veranlaßt in den Wäldern vielfach das Absterben der unteren Äste. Auch der Habitus der Pflanze wird öfters durch das Licht mitbestimmt. Die Gestalt der Pinie ”') ist ein deutliches Spiegelbild des großen Lichtbedürfnisses dieses Baumes. Die zu stark beschatteten Kurztriebe werden abgestoßen, so reinigt sich das Zweig- und Astwerk; die übrigen Triebe streben dem Lichte zu. damit wird die Krone breit und abgeflacht und erinnert an einen ge- waltigen ausgespannten Sonnenschirm. Auch die Kompaßpflanzen mit ihrer festen, nach dem Meridian orientierten Lichtstellung und isolateral gebauten Blättern und die kantenständigen Blätter, wie sie besonders 16* >44 M. Rikli. für australische Kucalypten und Proteaceen bezeichnend sind, sind eine Folge spezieller Lichtverhältnisse, beide bezwecken die Abschwächung des starken Mittaglichtes, indem dasselbe unter spitzem Winkel auf die Assimilations- organe einfällt. Gleichzeitig wird auch eine Herabsetzung der Transpiration bewirkt. Bei Kultur in schwächerem Licht entwickelt die Kompaßpflanze ihre Blattorgane allseitig, nach den verschiedensten Richtungen des Raumes. Sempervivum tectorum L. ist eine typische Sonnenpflanze. Bei einer mittleren maximalen Lichtintensität, wie sie bei vielen Standorten von Schatten- pflanzen normal ist, gibt sie nach Wiesners Kulturversuchen ihre so be- zeichnende Rosettenform auf. Sie verlängert ihre Internodien, verkleinert ihre Blätter, verliert einen Teil ihres Blattgrüns. Ganz analoge Deform- mationen können jedoch bekanntlich auch durch parasitäre Einwirkungen (Endophyllum Sempervivi Lev.) entstehen. Bekannt ist, daß Sonnen- und Schattenblätter sogar derselben Pflanze (z. B. Buche) konstante Unterschiede aufweisen. Durch intensives Licht wird die Bildung der Palissadenzellen gefördert, die Intercellularen verkleinert. daher der Blattbau kompakter; das Chlorophyll ist auf das Mesophyll beschränkt, indessen bei Schattenblättern das Blattgrün außer- dem, zuweilen sogar vorwiegend, in der Epidermis auftritt. Zu ähnlichen Ergebnissen ist A. Engler (Zürich) bei seinen Studien über die Variabilität der Zapfen von Pinus silvestris L. gekommen. Die nordischen und alpinen Zapfenschuppen zeigen den Typus von Lichtblättern. Sowohl in höheren Gebirgen (von 1200 m an) als im Norden beobachtet man eine Verdickung der Apophysen, die offenbar als eine Lichtwirkung aufzufassen ist; im Norden bedingt durch die Jangandauernde sommerliche Bälichtung, in den Hochlagen der Alpen als Folge intensiverer Strahlung. Pflanzengeographisch bedeutungsvoller ist endlich noch die Tatsache, daß auch bei der Anlage und Entwicklung von Blüte und Frucht der Phanerogamen (Vöchting °?) und bei der Ausbildung der Sexualorgane niederer Kryptogamen ’®) (Klebs) das Licht eine entscheidende Rolle hat. Nach Vöchtings Untersuchungen ist erwiesen, daß bei zahlreichen Blüten- pflanzen schwache Belichtung die Blütenbildung entweder ganz unterdrückt oder daß dieselbe doch nur unvollkommen vor sich geht. An den Außenküsten Spitzbergens, die im Sommer unter einem Übermaß dichter Nebel leiden, sind eine ganze Reihe von Arten nur im vegetativen Zustand, andere nur ganz ausnahmsweise in Blüte beobachtet worden. So wurde die Moltebeere (Rubus chamaemorus L.) auf diesem Archipel bisher nur zweimal blühend (Anfang August 1883 und Ende Juli 1898), aber nie fruchtend gefunden.’#) An dieser Stelle weisen wir auch darauf hin, daß bei manchen Arten im hohen Norden die Frucht- und Samenreifung sehr oft unterbleibt oder doch nur ausnahmsweise normal vor sich geht. Sehr viele arktische Pflanzen findet man an ihren nördlichsten Stationen fast immer nur steril. Nach Nathorst ist es ferner fraglich, ob sich daselbst die Samen von B. nana L. noch vollkommen normal zu entwickeln vermögen; jedenfalls dürfte dies nur in ausnahmsweise günstigen Jahrgängen der Fall sein. Richtlinien der Pflanzengeographie. 245 Die Krähenbeere, Empetrum nigrum L., ist eine der seltensten Pflanzen Spitzbergens, deren Früchte aber nicht mehr ausreifen. Diese Beispiele ließen sich noch mit Leichtigkeit vermehren. Der Einfluß des Lichtes auf die Gestaltung der Pflanzen, wie auf deren Standortswahl, und zum Teil auch auf ihre Arealumgrenzung war schon lange bekannt, als man immer noch nicht über einigermaßen brauch- bare Lichtmessungsmethoden verfügte. Der Ausbau dieser Methoden und beinahe unsere ganze gegenwärtige Kenntnis des photochemischen Klimas ist das Ergebnis von Forschungsarbeiten, die den letzten fünfzehn Jahren entstammen. Auch in dieser Zweigdisziplin hat sich die Biologie und Pflanzen- geographie zunächst wiederum ganz an eine der Meteorologie entnommene Methode gehalten. Mit Hilfe von Sonnenscheinautographen wurde die jähr- liche Sonnenscheindauer einzelner Gebiete in Stunden festgestellt. Der Ver- gleich der Ergebnisse zeigte für das schweizerische Beobachtungsnetz eine wesentlich größere Sonnenscheindauer der Höhenstationen als in der Ebene, und eine Bevorzugung der Zentralalpen gegenüber den nördlichen Voralpen. >) So hat: Mittl. jährl. Sonnenscheinstunden Mittl. tägl. Sonnenscheindauer Zürich . . 470 m 1693°3 46 Stunden Davos . . 1561 m 17888 4:9 n Sätnis . . 2500 m 17544 48 X St. Moritz 1856 m 1854 Bla St. Moritz erfreut sich somit, verglichen mit Zürich — trotz seines beschränkteren Horizontes — einer um 11°/, höheren Sonnenscheindauer. Auf freien Grat- und Gipfelstationen müßte der Unterschied zugunsten des Höhenklimas noch auffälliger sein. Eine Vergleichung der absolut möglichen Lichtintensitäten bringt die Bevorzugung der Hochgebirgsregionen noch deutlicher zum Ausdruck. Beim Durchgang des Lichtes durch die Atmosphäre wird ein Teil der Strahlung durch die Lufthülle und durch den in ihr enthaltenen Wasserdampf ab- sorbiert. Aus diesem Grunde vermindert sich auch die erwärmende Kraft der direkten Sonnenstrahlung mit der zunehmenden Mächtigkeit der zu durchstrahlenden Luftschicht. Bei unbewölktem Himmel beträgt der Licht- verlust auf dem Gipfel des Mont Blanc (4810 m) nur 6°/,, auf dem Ber- ninapaß bei 2300 »» schon 14°/,, bei Pontresina 17°/, und in Zürich ca. 30°/,. Durch diese bedeutend erhöhte Insolation der Hochlagen wird der Ausfall an Wärme teilweise ausgeglichen, ja zuweilen sogar mehr als ersetzt. Sie erklärt uns auch die befremdende Tatsache, daß der Roggen bei 1200 m trotz der geringeren Wärmesumme rascher reift als in der Ebene, daß die phänologischen Erscheinungen der Alpenflora sich so schnell folgen und die Flora selbst trotz ihrer Kleinheit in ihrer Gesamtheit durchaus nicht den Eindruck einer Kümmerflora hervorruft. Diese physikalischen Methoden berücksichtigen jedoch nur die direkte Sonnenstrahlung, das diffuse Licht wird von ihnen ganz ver- 246 M. Rikli. nachlässigt. Das Gesamtlicht kann nur mit chemischen Methoden, welche meistens auf der Schwärzung von lichtempfindlichen Chlorsilber- präparaten beruhen, studiert werden. Diese Verfahren messen zwar nur die Intensitäten der chemisch wirksamen oder aktinischen, das heißt der stark brechbaren, blauen,‘violetten und ultravioletten Strahlen, mithin den- jenigen Teil des Spektrums, der für die Pflanzengestaltung in erster Linie maßgebend ist. Für die CO,-Assimilation kommen dagegen hauptsächlich die schwach brechbaren Strahlen in Frage, doch ergibt sich nach den Untersuchungen von Leonhard Weber '°) (Kiel) eine ziemlich vollständige Proportionalität zwischen der Stärke der aktinischen und derjenigen der roten Strahlen. Nachdem schon in den 40er und 50er Jahren des vorigen Jahr- hunderts von Draper (1845) und von Bunsen und Roscoe (1854—57) Ver- suche zur Herstellung eines Lichtmessungsapparates gemacht worden sind, die jedoch keine befriedigenden Ergebnisse erzielten, gelang es 1862 Bunsen und Roscoe, ein in bestimmter Weise zubereitetes Papier, das sogenannte Normalpapier, herzustellen.?”) Das Normalpapier wird dem Lichte aus- gesetzt und die eintretende Verfärbung unter Berücksichtigung der er- forderlichen Zeit mit einem konstanten Farbenton der Normalschwärze verglichen. Die ersten Lichtmessungen sind 1863 und 1864 in Manchester, Dingall (Schottland), Kew (1865) und in Heidelberg vorgenommen worden. Als Maßeinheit der chemischen Lichtintensität wurde die Schwärzung des Normalpapieres bis zur Normalschwärze in einer Sekunde festgestellt. Wenn die Normalschwärze auf dem Normalpapier in !/,, 1, 2, 3, 4 Se- kunden erreicht worden ist, so ist die Lichtintensität mit 2, 1, bzw. !/,, Y/3, ?/, anzugeben. Es braucht jedoch geraume Zeit, bis diese Lichtmessungsmethoden der physiologisch-pflanzengeographischen Forschung dienstbar gemacht wurden. In seiner 1878 erschienenen Arbeit „Photochemische Beob- achtungen der Intensität des Tageslichtes in St. Petersburg“ schrieb Stelling: „Wenn man erwägt, einen wie großen Einfluß die In- tensität des Lichtes auf das Wachstum und Gedeihen der Pflanzen- und Tierwelt ausübt, einen Einfluß, der sich auch in hohem Grade auf das Wohl und Wehe des Menschen erstreckt, so kann man nur lebhaft wünschen, dal die photochemischen Messungen eine größere Verbreitung als bisher finden möchten.“ Doch erst 1895 erschien auf diesem Gebiet wieder eine pflanzengeographische Abhandlung: ./. Wiesners „Untersuchungen über den Lichtgenuß der Pflanzen mit Rücksicht auf die Vegetation von Wien, Kairo und Buitenzorg“. Für die Kenntnis des Lichtklimas sind Wiesners Arbeiten von bahnbrechender Bedeutung geworden. Zur Ver- vollständigung seiner photometrischen Messungen bereiste er nicht nur Java und Ägypten, sondern auch das nördliche Norwegen, Spitzbergen und um den Einfluß der Seehöhe auf den Lichtgenuß der Pflanzen, das heißt auf das Verhältnis zwischen der auf die Pflanze oder einzelne ihrer Organe einwirkenden Lichtstärke zur Intensität des gesamten Tages- tichtlinien der Pflanzengeographie. 247 lichtes zu studieren, wählte er ein Profil, welches bis zu 3000 m empor- steigt, aber teilweise doch noch mit Wäldern bedeckt ist, nämlich das Gebiet des Yellowstone-River in Nordamerika. Die Gesamtresultate dieser Forschungen hat Wiesxer in dem Werke „Der Lichtgenuß der Pflanzen“ (1907) zusammengefaßt. In den letzten Jahren hat endlich Dr. Ed. Rübel’®) in Zürich sehr sorgfältige, sich über zwei Jahre (September 1905—September 1907) er- streckende Beobachtungen auf dem Berninahospiz (2320 m) durgeführt und damit die Grundlage zur Kenntnis des Lichtklimas der Fig. 127. Alpen geschaffen. Vom Alpen- gebiet lagen vorher nur von Th. v. Weinzierl einige photo- metrische Messungen von der Sandlingalpe vor. Eine zusam- menfassende Darstellung der Er- gebnisse der Rübelschen Studien findet sich in dessen soeben er- schienem prächtigen Werke über das Berninagebiet (1911 ”°). Auf den beiden letzten von mir ge- leiteten naturwissenschaftlichen Studienreisen nach den canari- schen Inseln (1908) und nach dem Nordrand der algerischen Sahara (1910) hat Ad. Rübel ebenfalls photometrische Messun- gen vorgenommen. Werfen wir noch einen Blick auf die verschiedenen Lichtmeßapparate und auf die vom photogeographischen Standpunkte aus wichtigen Re- sultate dieser neuesten For- schungsrichtung. Die drei gebräuchlichen Lichtmesser sind: 1. Wiesners Handinsolator (Fig.127). Er besteht aus einem mit schwarzem Papier überzogenen Brettchen von ca.10cm Länge, 8cm Breite und 05cm Dicke. Auf der einen Seite kann man, etwa nach Art der Photographie- rähmchen, Papier einschalten. Auf der Vorderseite findet sich ein offener Quer- schlitz, in welchem die Exposition stattfindet. Normalton- (1) und Zehnerton- streifen (10) werden zwischen Brettchen und Papier eingefügt und zwischen den- selben ein Streifen Normalpapier (NP). Im Augenblick, wo das Normalpapier dem Licht ausgesetzt wird, setzt man einen bis 0'2 Sekunden angebenden Wiesners Handinsolator. D48 M. Riklı. Chromographen in Gang und im Moment, wo das Normalpapier den Normalton (1) erreicht, wird der Chromograph wiederum abgestellt. So kann man am Chromograph die Zeit bis auf 02° genau ablesen. Ist die Frist zur Erreichung des Normaltons zu kurz, um genau gemessen zu werden, so fährt man fort, bis der Zehnerton (10) erreicht ist; der zehnte Teil der gebrauchten Zeit entspricht alsdann der zur Erreichung des Normaltons notwendigen Zeit. Der große Nachteil dieser Methode besteht vor allem in der rasch eintretenden Unbrauchbarkeit des Normalpapiers, das schon nach 16 bis 20 Stunden schnell an Empfindlichkeit abnimmt; daher muß dasselbe täglich neu hergestellt werden. 2. Wynnes Infallible Exposuremeter (Fig. 128) wurde nach dem Vorgang von Stebler und Volkart auch von E. Rübel mit Erfolg als Lichtmesser angewendet. Es ist ein für photographische Zwecke hergestellter Apparat in Form einer Taschenuhr, deren hintere Schale drehbar ist. Durch eine daran befestigte Feder drückt sie einen kreisrunden Wollappen und eine Scheibe lichtempfindlichen Papiers gegen eine unter dem Glas der Vorderseite liegende Metallplatte. Die Metallplatte besitzt einen kleinen Ausschnitt, an welchem das lichtempfindliche Papier exponiert wird. Zu beiden Seiten des Schlitzes sind 22 die konstanten Farbentöne angebracht. Durch Drehen WE sa) der hinteren Scheibe wird das Papier mitgedreht, so 7 daß immer neue Teile vor den Schlitz gelangen. Die Art der Beobachtung erfolgt sonst nach derselben Weise wie bei Wiesners Handinsolator. Da ein Papierscheibchen ca. 30 Belichtungen Iynnes Infallble Expo onlaubt und ein käufliches Päckchen 10 Papierscheib- chen enthält, so können mit demselben 300 Licht- messungen vorgenommen werden. Das Papier ist sehr haltbar und die Papierstreifen jedes Paketchens sind unter sich gleich lichtempfind- lich. Leider erweist sich aber die Lichtempfindlichkeit der einzelnen Pakete als ziemlich verschieden. Der grose Vorteil besteht somit darin, daß man ein dauerhaftes Papier hat, das man nicht selbst herstellen muß; allerdings wird es notwendig sein, jedes Paketchen vor und nach dem Gebrauch mit Normalpapier zu kontrollieren, um so vergleichbare Resultate zu erzielen. 3. Das Steenstrupsche Aktinometer®) (Fig. 129) besteht aus einem 20 cm langen und 2cm breiten Blechstreifen mit aufgebogenen, Damm hohen Rändern. In die Rinne kommt zuerst ein Streifen lichtempfindlichen Papiers, darüber abgestufte Lagen von Pauspapier (Fig.129e), so daß die Zahl der Papierschichten von einem Ende nach dem anderen in gesetzmäßiger Weise zunimmt. Auf der obersten Lage sind kleine, viereckige oder runde, schwarze Papierstreifen aufgeklebt. Zum Zwecke der Erreichung einer mög- lichst ebenen Fläche wird das Ganze mit einer an beiden Enden durch Federn Fig. 128. Richtlinien der Pflanzengeographie. 249 da er Fig. 129. ; H ung A ee Das Steenstrupsche Aktinometer. befestigten Glasplatte bedeckt. Diesen einfa- chen Apparat bringt man nun in eine an beiden Enden geschlos- sene Glasröhre und be- festigt diese auf einem Gestell (Fig. 129a). Mit diesem Appa- rat wird, im Gegensatz zu den beiden ersten Lichtmeßinstrumenten, während einer gege- benen längeren Zeit- spanne der gesamte Lichtgenuß gemessen, indem je nach Lichtstärke und Länge der Exposi- tion das Licht durch eine mehr oder weniger dicke Papierschicht das lichtempfindliche Papier, soweit es nicht durch die aufgeklebten schwarzen Viereckchen geschützt ist, schwärzt (Fig. 129). 250 M. Rikli. Der im deutschen Sprachgebiet viel zu wenig bekannte Apparat ist eine Erfindung des ehemaligen dänischen Staatsgeologen Dr. K. J. V. Steenstrup. Seit einer Reihe von Jahren werden damit in Kopenhagen und auf der dänisch-arktischen Station bei Godhavn (Nord-Grönland) Licht- messungen ausgeführt.°°®) Ein Vergleich der Ergebnisse beider Beobach- tungsserien ergab, daß bei vollständig wolkenlosem Himmel die Lichtmenge von Kopenhagen am längsten, 16 Stunden andauernden Tag gleich groß ist wie diejenige in Grönland unter 69° 15° N. während der 24 Stunden desjenigen Sommertages, in dem die Sonne am höchsten steht. Mit dem Apparat lassen sich auch die Lichtintensitäten bei Horizontallage, Süd- und Nordlage des Lichtmessers bestimmen. Bei starker Insolation ist der Lichtgenuß der Südlage gegenüber der Nordlage bedeutend größer; da- gegen besteht sozusagen kein Unterschied bei diffusem Licht, d.h. bei gleichmäßiger Bewölkung. Indem man den Lichtmesser in verschiedene Tiefenlagen von Seen oder Meerbuchten bringt, kann man auch die all- mähliche Abnahme der Lichtstärke nach den tieferen Wasserschichten verfolgen. Dieser Apparat wird ganz besonders bei festen Beobachtungsstationen gute Dienste leisten, dagegen wird für Forschungsreisende und Touristen heute wohl nur Wynnes Aktinometer in Frage kommen können. Die prinzipielle Frage der Lichtmessung wäre somit gelöst. Die Schwierigkeiten beruhen hauptsächlich in der Herstellung vollständig mit- einander übereinstimmender Apparate, deren Handhabung wirklich ver- gleichbare Werte liefern würden. Es ist dies nicht möglich, wenn jeder einzelne Beobachter selbst sein Normalpapier herstellt, wenn die licht- empfindlichen Papiere nicht identisch sind, und beim Steenstrupschen Lichtmesser keine Garantie vorliegt, daß das verwendete Pauspapier immer von derselben Qualität ist. Nur eine mit allen modernen Einrich- tungen ausgestattete, sorgfältig geleitete wissenschaftliche Anstalt bzw. Firma ist in der Lage, all diesen Anforderungen zu entsprechen. Es wäre daher sehr zu wünschen, daß von einer solchen Stelle aus offiziell ge- prüfte, gleichwertige Lichtmesser in den Handel gebracht würden. Die durch die bisherigen Messungen gewonnenen Einblicke in das photochemischen Klima verschiedener Erdräume sind in mancher Hinsicht bemerkenswert. Wir fassen die Ergebnisse kurz zusammen: a) Spitzbergen): Bei gleicher Sonnenhöhe und gleicher Himmels- bedeckung wurde die chemische Intensität des gesamten Tageslichtes durch- schnittlich größer gefunden als in Wien und Kairo, aber kleiner als in Buitenzorg. Bei vollkommen bedecktem Himmel wurde in der Adventbai eine mit der Sonnenhöhe so regelmäßig steigende Lichtstärke festgestellt wie in keinem anderen der untersuchten Gebiete. Für Tage gleicher mittäg- licher Sonnenhöhe ist die Tageslichtsumme im arktischen Gebiet beträcht- lich höher als in mittleren Breiten. Anfang August ist die durchschnittliche Tageslichtsumme in der Adventbai nahezu 2’5mal größer als bei gleicher Mittagssonnenhöhe in Wien (Anfang Februar oder Anfang November). Vor Richtlinien der Pflanzengeographie. 251 allem aber ist das Lichtklima dieses hochnordischen Vegetationsgebietes durch eine relativ große Gleichmäßigkeit der Lichtstärke ausgezeichnet. wie sie sonst in keinem anderen bisher untersuchten Gebiet beobachtet worden ist. Die größte Menge vom Gesamtlicht erhalten die Pflanzen an den ark- tischen Vegetationsgrenzen. Dieser grolje Bedarf an vorhandenem Licht bedingt, daß jede Selbstbeschattung der Gewächse durch das eigene Laub an den äußersten nordischen Vegetationsgrenzen nach Möglichkeit aus- geschlossen wird. b) Alpengebiet®?) (Berninahospiz). Währenddem nach Wiesner für die Vegetation der Ebene das diffuse Licht weitaus die größte Rolle spielt, kann im Alpengebiet die Lichtsumme des direkten Lichtes über den doppelten Wert des diffusen steigen. Die höchst beobachtete Mittagsinten- sität des Berninahospizes ist 1800 (Wien 1500), die geringste 85 (Wien 7). Das Verhältnis der niedrigsten zur höchsten Intensität ist 1:21 (Wien 1:214). Das Gesamtlicht ist in den Alpen höher als in der Ebene; an sonnigen Tagen ist auf Höhenstationen das direkte Licht bedeutend höher, das diffuse eher etwas niedriger. Die Intensitäten sind besonders nach reinigenden Niederschlägen höher als nach länger andauerndem schönen Wetter. In der Lichtsumme des Gesamtlichtes haben wir das Lichtklima des horizontalen sonnigen Standortes zu sehen, in der des diffusen das- jenige im Schatten. Die Südexposition weist ganz bedeutend mehr Licht auf als die Nordlage, in der Höhe noch viel mehr als im Tiefland. Dies bedingt neben anderen Faktoren den meist ganz verschiedenen Charakter der Vegetation von Nord- und Südlage, sowie den bedeutenden Unterschied in den Höhengrenzen dieser beiden Expositionen. Es ergibt sich somit, daß die Alpenpflanzenwelt als eine ausgesprochene Lichtflora zu be- zeichnen ist. c) Pik de Teydes:) (Tenerife). Bei unserem Besuch des Pik vom 6.—8. April 1908 herrschten, trotz herrlichem Wetter, nicht die erwarteten großen Lichtintensitäten, wie sie auf dem Berninahospiz bei gleicher Sonnen- höhe und Sonnenbedeckung beobachtet werden. In der Passat-Wolkenregion wurde !/,.,„—!/, des Tageslichtes, im Lorbeerwald im Mittel nur !/,—!/io notiert. d) Süd-Algerien (Nordrand der Sahara). Das Charakteristikum der Wüste ist geringe Lichtintensität bei vollem Sonnenschein. Bei be- decktem Himmel kann in der Wüste die Lichtstärke sehr gering sein (65 bei 40° Sonnenhöhe): nach Regen vermag sie vorübergehend jedoch zu beträchtlicher Höhe anzusteigen. Trotz der bedeutenden Meereshöhe dieses Gebietes (ca.900 m) zeigt das Lichtklima große Übereinstimmung mit dem- jenigen Ägyptens. Das Licht auf dem Gipfel des Djebel Mekter bei Ain- Sefra erreichte fast den doppelten Betrag desjenigen vom Fuß des Berges, reicht hingegen noch lange nicht an die durchschnittlichen alpinen Werte dieser Sonnenhöhen. Die Zahlen des Gipfels im Saharaatlas sind bei 2000 m und mit Sand in der Luft sehr ähnlich denjenigen der Chotts und des Tellatlas bei ca. 1000 (ohne Sand in der Luft) und bei ähnlichem, teil- 959 M. Rikli. weise auch ziemlich niedrigerem Sonnenstand. Das direkte Licht kann am Nordrand der Sahara das 2’8fache des Diffusen erreichen, auf dem Atlas- gipfel aber den 3’öfachen, auf der blendenden Hochebene den 4fachen und im Tellatlas den 3fachen Betrag. 4. Der Wind. Der Wind als exogener, das Pflanzenleben zuweilen fördernder, wohl häufiger aber hemmender Faktor, hat von jeher das Interesse des Pflanzen- geographen und Biologen erregt. Seine Wirksamkeit beruht zum Teil auf seiner Mission als Träger von Wärme oder Kälte, von Feuchtigkeit oder Trockenheit, die oft mit einer bestimmten Gesetzmäßigkeit von großen Entfernungen anderen Erdräumen zugeführt werden, zum Teil auch auf seiner mechanischen Leistungsfähigkeit, die sich bald als eine Pflanzen- gestalt und Physiognomik der Landschaft in auffälliger Weise beeinflussende Kraft, bald als sehr wichtiges Verbreitungsmittel von Frucht und Same erweist. Der Wüstengürtel Afrikas sendet im Sommer nach allen Richtungen Glutwinde aus. so z. B. den heißen, trockenen Scirocco nach Italien und der Adria, den Leveche nach Südostspanien. In kurzer Zeit vermögen diese Winde die ganze Oliven- und Weinernte zu zerstören. Hellmann berichtet, wie im August 1876 innerhalb 6 Stunden, zwischen Almeria und Malaga die Weinpflanzungen wenige Wochen vor der Weinlese völlig vernichtet wurden, „das Weinlaub sah nach dem Passieren des Windes so aus, als ob man es mit siedendem Wasser begossen hätte“.>5) In den Alpentälern und im schweizerischen Molasseland übt dagegen der warme, fast stets von Regengüssen gefolgte Föhn auf die Vegetation einen sehr günstigen Einfluß aus.8%) Die Hauptföhnstraßen der nördlichen Abdachung der Alpen sind durch eine Reihe südlicher Arten, die der Alpenbotaniker geradezu als „Föhnpflanzen“ bezeichnet, charakterisiert. Hierher gehören z. B.: Hypericum Coris L., Asperula taurina L., Coronilla Emerus L., Parietaria offieinalis L. usw. Auch die Arktis hat ihren Föhn. °°) Seine hohen Temperaturen bewirken ein frühzeitigeres Abschmelzen von Schnee und Eis und damit eine Verlängerung der Vegetationsperiode. Da- her sind innerhalb der Arktis polare Föhngebiete in derselben Weise begünstigt wie unsere See- und Föhnzone gegenüber dem übrigen schwei- zerischen Mittelland. Diese Föhne vermögen gelegentlich mitten im Winter die Temperatur von — 44° auf + 2°C zu heben. Während meines Sommer- aufenthaltes in Godhavn auf der Insel Disko in Nordgrönland (1908) wehte der Föhn öfters. An fünf aufeinanderfolgenden Tagen notierte ich Tem- peraturen von 16—20°C. Die bevorzugte Lage der Küstengebiete Nord- westgrönlands dürfte wenigstens zum Teil auf den zuweilen wochenlang herrschenden grönländischen Föhn zurückzuführen sein. Ähnliche föhn- artige Winde werden auch von Alaska und Ostasien angegeben. Auf die austrocknende Wirkung der Winde im Gebiet der Waldgrenze (Lappland) hat O. Kihlman in eingehender Weise aufmerksam gemacht. °®) Richtlinien der Pflanzengeographie. 253 An dieser Stelle interessiert uns aber hauptsächlich die mechanische und die pflanzengeographische Seite des Problems. Da die Geschwindigkeit des Windes und damit dessen Kraft mit steigender Entfernung vom Boden zunimmt, muß sich dessen Wirkung hauptsächlich am Baum und Strauch bemerkbar machen. An flachen, wind- offenen Küstenländern und auf ebenen ozeanischen Inseln ist der Baum- wuchs daher nahezu ausgeschlossen. Der Baum wird zum Strauch, der Strauch nimmt eine dem Boden angeschmiegte Spalierform an. Stellt sich aber dem vorherrschenden Wind irgend ein Hindernis entgegen: eine kleine Terrainwelle, ein Dünenzug oder eine Talfurche, so vermögen in den im Windschutz gelegenen Strecken die Holzgewächse sich wieder zu stattlichen Höhen zu erheben und ihre Kronen normal zu entfalten. Be- Fig. 130. Some jede A olkunacl Verlauf der Waldgrenze in Nordrußland. (Nach N. Selander.) sonders instruktiv sind diejenigen Fälle, wo nur ein teilweiser Windschutz vorhanden ist. Der geschützte Teil ist alsdann regelmäßig entwickelt, in- dessen alle über den schützenden Wall herausragenden Äste und Zweige „Windform“ angenommen haben. Von pflanzengeographischer Bedeutung wird aber der Windschutz ganz besonders in denjenigen Gebieten, wo der Baumwuchs in der Nähe einer unüberschreitbaren Grenzlirie angelegt ist, so z.B. im Gebiet der sub- arktischen Wald- und Baumgrenze s®) (Fig.130). Schon lange bevor die Wald- grenze erreicht ist, macht sich ihre allmähliche Annäherung dadurch be- merkbar, daß der Baumwuchs vor jedem noch so niederen Höhenzug zurückbleibt. So entspricht im nordischen Pionierwald jeder Hügel, jede unbedeutende Erhebung einer Tundrainsel. Und liegt die zusammenhän- gende Waldgrenze hinter uns, so gelangt nun die Tundra zur Vorherr- 254 M.Rikli. schaft: doch im Windschutz der Hügelkette läßt sich nicht selten ein mehr oder weniger breiter, zungenförmig vorgezogener Waldstreifen noch weit nach Norden verfolgen. Auf der Südseite des Großlandrückens, der sich von der Petschora bis zum Ural fast parallel zur Küste mitten durch die Tundra hinzieht, finden sich zahlreiche Waldinseln, welche vermuten lassen, daß sich hier in früheren Zeiten ein zusammenhängender Fichtenwald hingezogen hat. Windschutz gewähren in diesen Breiten auch noch die Erosions- furchen der großen Flußtäler. Jeder einzelne der nach Norden gerichteten Kontinentalströme bewirkt in Nordasien einen erfolgreichen nördlichen Vorstoß der Baumgrenze. Neben dem relativen Windschutz, verglichen mit der offenen windgepeitschten Tundra, wirken noch drei weitere Momente zusammen, um in diesen Flußtälern ein in mancher Hinsicht be- günstigtes Lokalklima zu schaffen: 1. Das verhältnismäßig warme, aus südlichen Gegenden kommende Wasser, welches durch Ausstrahlung auch erwärmend auf das ganze Flußtal und dessen Umgebung wirken muß: 2. die rasche Entwässerung des Bodens an den Talhängen und 3. die bei dem niederen Sonnenstand von den Talseiten gegenüber der flachen Tundra reichlicher absorbierte Wärmemenge. Die beiden letzteren Faktoren und der Windschutz kommen jedem eingeschnittenen Tal zu gut, auch dann, wenn dasselbe nach Westen, Osten oder sogar nach Süden gerichtet ist, so erklärt es sich, daß von den Hauptstromtälern der Wald in die klei- neren Nebentäler vordringt oder sich in ihnen öfters vom Waldgebiet los- gelöste Waldinseln vorfinden. Es ist also der durch die Topographie be- dingte Windschutz, welcher die Detailgestaltung der in mannigfachen Schlingen, Aus- und Einbuchtungen, verlaufenden Grenzlinie (Fig.130) der sub- arktischen Wald- und Baumgrenze hauptsächlich zuzuschreiben ist. Schon Th.v. Middendorff hat die Bedeutung des Windes für den Baumwuchs erkannt. In seinem großen Werke „Reise in den äußersten Norden und Osten Sibiriens“ sagt er°%): „Ich wage sogar auszusprechen, daß im Hochnorden ein günstig gestalteter Windschutz von vielfach größerer Bedeutung ist als die geographische Breite oder die Höhenlage über dem Meere. Ein Windschutz von wenigen Klaftern Höhe fördert dort den Baumwuchs mehr als 50-—-100.000 Klafter minder nördlicher Lage des Ortes.“ Im Gegensatz zu diesem Verhalten des Waldes im hohen Norden kann man in den Alpen beobachten, daß die vorgeschobensten Bäume sehr oft auf Gräten, Felskanten und steilen Felsriffen anzutreffen sind, indessen in den dazwischen liegenden und tiefer gelegenen Mulden, Abhängen und Hochflächen längst kein Baumwuchs mehr auftritt. Der scheinbare Wider- spruch findet seine Erklärung einerseits in der Tatsache, daß unsere alpine Baumgrenze eben keine natürliche, sondern eine ausgesprochen wirtschaft- liche Depressionsgrenze ist, andrerseits liegt in den Mulden öfters der Schnee so lange, daß dadurch für den Baumwuchs die Vegetationsperiode zu sehr verkürzt wird. Orkane, Wirbelstürme, wie z. B. die gefürchteten Taifune, bewirken Windwurf, brechen die dicksten Äste und Stämme gleich Streichhölzchen Richtlinien der Pflanzengeographie. 255 und lassen hinter sich ein wüstes, undurchdringliches Chaos von Riesen- bäumen. Doch diese Katastrophen haben in der feuchten Tropen- und Sub- tropenzone verhältnismäßig wenig zu bedeuten. Bei dem raschen Wachs- tum, das den Tropenbäumen eigentümlich ist, und bei dem jungfräulichen 3oden ist die Wunde in wenigen Jahren wiederum vernarbt. Mit zuneh- mender Breiten- und Höhenlage und den damit parallel gehenden, spär- licher werdenden Nach- und Zuwachsverhältnissen wirkt dagegen jeder Fig. 131. Phot. H. Okulitsch, Tomsk. Wind- und Kipparve von der oberen Waldgrenze im Altai (Sibirien). Verlust ungleich nachhaltiger, so daß in den Grenzgebieten des Baum- wuchses schen das Einbüßen kleiner Äste, Zweige und Blätter einen bleiben- den Nachteil zur Folge haben kann. Übrigens sind solche Verheerungen hauptsächlich auf Gebiete be- schränkt, wo kataklysmenartige Luftbewegungen nur ausnahmsweise vor- kommen. In Gegenden mit häufigen, heftigen Winden sind direkte mecha- nische Schädigungen verhältnismäßig selten, weil die durch konstante Windwirkungen bedingte Wuchsform, wie Hegeler gezeigt hat, eine Ver- 256 M. Rikli. mehrung ‘der mechanischen Elemente und damit eine erhöhte Festigkeit zur Folge hat. In Gebieten mit einseitig vorherrschenden Winden von mittlerer bis bedeutender Stärke kommt es zur Ausbildung von Windformen. Als ge- staltumformende Faktoren sind bei Baumstämmen "hauptsächlich Druck- wirkung, bei wachsenden Zweigen Zug und bei den Blättern und jungen Achsen gesteigerte Transpiration maßgebend. Alle diese Veränderungen bewegen sich in ihrer Gesamtwirkung nach einer Richtung hin: Die nor- male Wachstumsrichtung wird stets nach der herrschenden Windrichtung abgelenkt. Dies zeigt sich in der Kipplage der Bäume, in ein- seitig windfahnenar- tiger Ausbildung der Kronen, oder der obere Teil der Haupt- achse und das Ast- werk sind von der Windseite abgewen- det (Fig.132), einsei- tigüberhängend, oder es kommt zur Ent- wicklung buschig- dorniger, aufder Luv- seite allmählich an- steigender Hecken- dünen sowie von Matten- und Polster- formen. Aufder wind- gefegten Hochfläche Phot. G. Senn. am Aufstieg zur Lille Heckendünen von Phillyraea media L. (Oleacee). Wirkung des West- a windes. Im Vordergrund die schneeweiße Artemisia arborescens. Malene bei Godthaab (SW.-Grönland) sah ich, wie die dem Boden spalierartig angepreßten Zweige der Zwergbirke (Betula nana L.) alle in der Richtung des herrschenden Südwindes parallel ausgewachsen und mehr oder weniger peitschenartig verlängert waren. Aus der Heckenform (Fig. 132) können „Kugelbüsche“, die an vergrößerte Polsterpflanzen erinnern, dadurch entstehen, daß Winde von entgegengesetzten Seiten auf Holzgewächse einwirken. Dies ist z.B. auf der Halbinsel des Kap Pertusato, südlich von Bonifacio (Korsika), der Fall. Es wehen hier einerseits heftige, westliche Winde, andrerseits aber etwas weniger starke und weniger häufige östliche Winde. Aus diesem Grunde finden sich an der West- küste ausgesprochene „Heckendünen“, die nach Osten allmählich in Kugel- büsche übergehen, doch wird die Kugelform nicht in der Mitte der Halb- insel, sondern in windoffenen Lagen, erst weiter gegen den Golf von Fig. 132. Richtlinien der Pflanzengeographie. 257 Sta. Manza am Tyrrhenischen Meer erreicht. — Eine sehr lehrreiche zu- sammenfassende Abhandlung über die Windfrage, in der auch die umfang- reiche Literatur aufgeführt und kritisch verarbeitet ist, verdanken wir J. Früh ®!). In Gegenden, in denen so heftige konstante Winde wehen, sind auch die Kulturen gefährdet. In solchen Fällen schafft der Mensch künstlichen Windschutz, sei es durch Anlage von senkrecht zur Windrichtung angelegten hohen Mauern (Fig. 133), sei es durch Anpflanzung von Schutzstreifen (so- genannte rideaux), die aus weniger windempfindlichen Holzarten bestehen. In dieser Hinsicht zeigen die einzelnen Dr Arten gegenüber der- selben Windstärke nicht nur große Un- terschiede, auch in der verschiedenarti- gen Reaktionsfähig- keit, d.h. in der Aus- bildung der einzelnen Windformen ergeben sich oft recht auf- fällige Abweichungen. Im Mittelmeergebiet sieht man das „spani- sche Rohr“ (Arunda donax L.) häufig zur Herstellung von Windschutzstreifen verwendet °2); in der Rhoneebene zwischen 7: Windschutz der Kulturen bei Bonifacio (S.-Korsika). \ illeneuve und St. Tälchen zwischen den tafelartigen Erhebungen im Hintergrunde des Fjords D T 93 von Bonifaeio, Kulturen durch Quermauern und Arundo donax-Schutzstrei- Maurice (W aadt ) fen gegen die mechanische und austrocknende Windwirkung geschützt. und wiederum bei Martigny (Wallis) besonders Föhren (Pinus silvestris L.), Weißtannen, Fichten und Ulmen. Pflanzengeographisch spielt endlich der Wind bei einer großen Anzahl von Pflanzen teils die Rolle eines Bestäubungsvermittlers, teils diejenige eines wichtigen Verbreitungsmittels von Same und Frucht. Die honiglosen, unscheinbaren Windblütler oder anemophilen Pflanzen sind in größerem Prozentsatz vorwiegend an windexponierten Örtlichkeiten anzutreffen, so ganz besonders auf niederen ozeanischen Inseln. In den Gebirgen scheint dagegen die Zahl der Anemogamen mit der Höhe eher abzunehmen. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 17 258 M. Rikli. Zahl der unter- Wind- Insekten- suchten blütler blütler Arten Mitteleuropäisches Tiefland (nach Loewe) wa Rare on? izäl 981 InSBrozentenee ze 0 - 215 795 Alpen mach (Miller) „= 722 2.2.7699 109 590 InSRroZentene ee 16 54 Kaukasus (nach A. Günthart). . . . 1032 111 921 In);Prozenten Weiteren HR 10'7 90:3 Für den Kaukasus ergeben sich nach Regionen folgende Zahlenver- hältnisse: Zahl der unter- Wind- Insekten- suchten blütler blütler Arten a) Zwischen der unteren Grenze der alpinen Region (zirka 2000 m) bis 3500370 ee er Kar 93 780 Inw Prozente We 106 904 b) Zwischen 3050-3660 m. . 2... ..2143 18 125 Inn Prozentene are u 12:6 874 ©20Dberhalbr 3660er Sr 16 _ 16 In@Brozentene ea 0) 100 Der hohe Norden ®5) weist dagegen eine viel größere Zahl von Ane- mogamen auf, nämlich auf Nowaja Semlja 324°/,, Grönland 345°/,, Spitz- bergen 37°/, und Island 38°/,. Das Maximum an Windblütlern wird aber von den Inselfloren er- reicht: die nordfriesischen Inseln besitzen 36'25°/,, die Halligen sogar 47'3°/, Anemogamen.®) Von ganz besonderem Interesse sind in dieser Hinsicht jedoch die Kerguelen. Die ca. 25 bekannt gewordenen Blütenpflanzen dieser Insel- gruppesindalle anemophil. Der Kerguelenkohl( Pringlea antiscorbutica Hook f.), obwohl der sonst ausgesprochen entomophilen Familie der Kreuzblütler an- gehörig, ist zur Windblütigkeit zurückgekehrt und die wenigen Insekten zeigen alle verkümmerte Flugorgane. Viele Arten besitzen Samen oder Früchte, deren Aufbau erkennen läßt, daß dieselben durch Windtransport verbreitet werden. Die zu ver- frachtenden Keime sind bald staubartig klein (Farne, Orchideen), oder sie sind mit allerlei Oberflächenvergrößerungen versehen, durch die einerseits das spezifische Gewicht herabgesetzt, anderseits die Angriffsfläche des Windes vergrößert wird. Wir erinnern an die mit Federkronen ausge- statteten Achänien der Compositen und Valerianaceen, an die Weiden. Flügel kommen sowohl bei Samen (Birke, Föhre, Tanne, Bignoniaceen) als bei Früchten (Umbelliferen, Ahorn, Esche) vor, oder es sind Hochblätter (Tilia, Carpinus), die als Flugapparate dienen. Nach Dinglers Untersuchungen wird durch soiche Flugeinrichtungen die Fallgeschwindigkeit bis um das Achtfache vermindert. In Steppen- und Wüstengebieten werden auch ganze frucht- tragende Pflanzenstöcke vom Winde entwurzelt und als sog. „Steppen- läufer“ fortgeführt. Bekannt ist in dieser Hinsicht Plantago eretica L. Der Richtlinien der Pflanzengeographie. 259 Biologe bezeichnet Pflanzen, die durch Windtransport verbreitet werden, als Anemochoren. Nach P. Vogler®‘) ist in den Alpen der Prozentsatz der anemochoren Arten über der Baumgrenze bedeutend größer als unter derselben. Von den eigentlich alpinen Arten sind 595%, Windfrüchtler. Ein Jang umstrittenes Problem war die Frage der Art und Weise des Windtransportes; ob derselbe nur in kleinen Etappen, gewissermaßen schrittweise vor sich geht, oder ob innerhalb kürzerer Zeit auch Ver- schleppungen über große Entfernungen vorkommen. Vertreter der ersten Auffassung sind: A. v. Kerner ®"), De Candolle, J. Coaz, Magnin usw., in- dessen besonders P. Vogler und Treub auch für Windtransport auf große Distanzen eintreten. Die stärkeren Bewegungen der höheren Luftschichten in den Tropen sind von Beecari und später von A. Engler (Berlin) zur Er- klärung von pflanzengeographischen Vorkommnissen herangezogen worden. Zunächst muß betont werden, daß das Vorkommen von Flugeinrich- tungen auf das Vorherrschen schwächerer, aber regelmäßiger Winde hin- deutet. Bei großer Windstärke werden auch relativ schwere Samen, die keinerlei Flugmechanismen aufweisen, transportiert. In Anbetracht dieser Tatsache wäre eine Studie, ob in Gebieten mit häufigen orkanartigen Winden die Flugvorrichtungen nicht vielleicht spärlicher entwickelt sind als in Gegenden mit schwachen Luftströmungen, von besonderem Interesse. So viel mir bekannt, liegen speziell über dieses Thema keine Arbeiten vor. Zur Beantwortung der Frage des Windtransportes auf große Distanzen scheinen mir alle Erfahrungen, die aus dicht bevölkerten oder viel besuchten Gebieten stammen, nicht einwandfrei zu sein. Zu diesen Gegenden rechne ich auch das gesamte Alpengebiet. Vogler erwähnt eine ganze Reihe von Blattfunden verschiedener Laubhölzer, die auf Pässen oder Gletschern ge- macht worden sind, 10—25 km von den nächsten natürlichen Standorten der betreffenden Arten entfernt. Ein kleiner Vorfall aus dem Jahre 1903 zeigt, wie bei der Beurtei- lung der Verbreitung von Blättern durch den Wind größte Vorsicht ge- boten ist.) Bei der Überschreitung der vorderen Furka zwischen dem Pommat (Italien) und dem Val Bosco (Tessin) fanden wir in einer Höhe von 2300 m Buchenblätter. Da die obersten Buchen im Gebiet sich in der Nähe der Ausmündung des Val Campo befinden, schlossen wir auf einen Windtransport von reichlich 9 km und über eine Höhendifferenz von 1200 m. Am folgenden Tag begegnete uns aber beim Abstieg ein Mann, der einen Sack voll Buchenlaub trug, und der auf unsere Frage, wozu und wohin, zur Antwort gab: „Zum drufliege auf d’Alp.“ Damit schrumpfte der vermeintliche große Windtransport auf kaum 15 km zusammen, und wie leicht dürfte nicht an den rauhen Kleidern der Sennen das Laub weiter verschleppt werden, so daß schließlich für den eigentlichen Windtransport recht wenig übrig bleibt. Damit soll nun keineswegs gesagt sein, daß Windverfrachtung auf eroße Entfernungen überhaupt nicht vorkommt. In dieser Beziehung ver- weisen wir auf den von Vogler eingehend beschriebenen und diskutierten 17* 260 M. Rikli. Salzhagelregen am Gotthard vom 30. August 1870 und auf die Studie von Treub über die Neubesiedelung der Krakatauinsel. Die ersten Ansiedler unter den Gefäßpflanzen waren Farne, Compositen, Gräser, alles anemochore Arten, deren Keime wenigstens aus einer Entfernung von 30 km durch Luftströmungen zugeführt worden waren. So ist die Bedeutung der anemophilen Aussäugungsvorrichtung für die Entstehung der Inselfloren durch Treubs wichtige Beobachtungen endgültig nachgewiesen worden, sagt A. F. W. Schimper mit vollem Recht. Auch aus der Arktis liegen mir mehrere zuverlässige Angaben über Windtransport auf größere Entfernungen vor. Anfangs November 1869 be- fanden sich die Hansaleute etwa 3 Seemeilen (ca. 15 km) vor der Liverpool- küste Ostgrönlands, als sie auf dem nach Süden driftenden Eisfeld eine Anzahl kleiner weidenähnlicher Blätter bemerkten, die nur durch den Wind vom Land hierher gelangt sein konnten.°®) Und von der Westseite vom König Oskarland bei nahezu 78° N. berichtet 0. Sverdrup: Wir befanden uns auf dem Meereis. Überall lagen Blätter und Grashalme verstreut, auf der ganzen Fahrt fjordwärts flogen Pflanzenteile in der Luft herum. Der Wind stand quer auf unserem Weg und in den Schlittenspuren häuften sich die Blätter so dicht, daß die Geleise wie dunkle Streifen aussahen. 100) 5. Die Bodenbeschaffenheit. Die Bodenfrage ist eines der verwickeltsten Probleme der Pflanzen- geographie. Es sind besonders zwei Auffassungen, die sich von jeher gegenübergestanden haben. Die physikalische Richtung (Thurmann, A. de Candolle, Jussieu) vertritt die Anschauung, daß die physikalischen Eigenschaften des Bodens, dessen Feuchtigkeitsgehalt, die Neigung zum einfallenden Licht und damit auch dessen absolutes und relatives Wärme- absorptionsvermögen, die Durchlüftungsfähigkeit usw. in erster Linie maß- gebend seien; indessen die chemische Richtung (Unger, Nägeli, Vallot usw.) das Hauptgewicht auf das Vorhandensein oder Fehlen der nötigen Nährstoffe bzw. anderer der Pflanze zusagender oder ihr schadender Substanzen, wie z. B. auf den Kalk-, Humussäure-, Salz- oder Ammoniak- gehalt legt, und daher von Kalkpflanzen, Humuspflanzen, Salz- pflanzen (Halophyten) und Lägerpflanzen spricht. Die Schwierigkeit liegt nun hauptsächlich darin, dal jeder Boden in sich physikalische und chemische Eigenschaften vereinigt, die miteinander aufs engste verknüpft sind und sich daher einer gesonderten Betrachtung nur schwer unter- ziehen lassen. Heute ist man immerhin der Auffassung, daß weitaus die meisten Böden für die Ernährung der Pflanzen genügende Mengen lös- licher, der Pflanze zugänglicher Mineralstoffe enthalten. Stark ausgelaugte Böden kommen zwar auch vor (z. B. Heidesand, Dünen), ebenso Boden- arten, die infolge eines Übermaßes bestimmter Stoffe (z. B. Salz) für die meisten Pflanzen unbewohnbar sind, doch treten beide im Verhältnis zur übrigen besiedelten Erdoberfläche sehr zurück, so daß man jetzt Richtlinien der Pflanzengeographie. 261 eher geneigt ist, den physikalischen Eigenschaften des Bodens die größere Bedeutung zuzuschreiben. Nach unserer gegenwärtigen Kenntnis ist jedoch die Bodenfrage nicht mehr ein rein chemisch-physikalisches, sondern auch ein bio- tisches Problem. Düngungszustand und Humusgehalt weisen schon auf organogene Beeinflussung des Bodens hin, wobei derselbe aber nicht nur durch bestimmte organische Stoffe bereichert, sondern auch in seinen physikalischen Verhältnissen alteriert wird. So ist der gedüngte Boden 1°?) nicht nur durch seinen Stickstoffgehalt ausgezeichnet , sondern auch besser durchlüftet und von größerer Wärme- und Wasserkapazität. In anderer Weise modifiziert der Humusgehalt den ursprünglichen chemisch- physikalischen Bodencharakter. Immerhin lassen sich diese beiden organo- genen Bodenarten in der Hauptsache doch auf chemische bzw. physi- kalische Veränderungen des Bodens zurückführen. Anders liegen die Verhältnisse, wenn wir in Berücksichtigung ziehen, daß auch der Bakteriengehalt, das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Bodenpilze oder die von einzelnen Pflanzen ausgeschiedenen Giftstoffe (Whyte) die Verbreitung der Arten beeinflussen. Im folgenden Kapitel werden wir Gelegenheit haben, diese Seite der Frage kurz zu be- rühren. Hier soll, soweit dies überhaupt möglich ist, nur die rein chemisch- physikalische Seite der Frage (Rohboden) an einigen Beispielen erörtert werden. So wichtig vom physiologischen Standpunkt aus die Bodenfrage auch sein mag, für die Phytogeographie ist sie doch nur von mehr sekundärer Bedeutung, und dies, weil die verschiedenen Bodenarten in keiner Weise, wie etwa Wärme und Feuchtigkeit, sich geographisch nach Zonen und Höhenstufen regelmäßig ablösen, sondern in jedem Gebiete meistens innerhalb verhältnismäßig engem Raume wechseln. Wir können daher sagen, dal die Bodenbeschaffenheit für die Umgrenzung der Florenreiche und Florenprovinzen außer Betracht fällt, daß sie aber innerhalb der ein- zelnen Florengebiete in erster Linie dazu beiträgt, die Pflanzen nach Stand- orten zu sondern, und so beim Zustandekommen der natürlichen pflanz- lichen Vergesellschaftungen (Formationen, Assoziationen) wesentlich beiträgt. Eine erhöhte pflanzengeographische Bedeutung kommt der Bo- denbeschaffenheit jedoch da zu, wo die klimatischen Verhältnisse ungünstig sind und sich auf weite Gebiete annähernd gleich bleiben, wie z.B. in der Arktis und in der eigentlichen Hochregion der Ge- birge; da schafft sie im Vegetationsbild die größten Gegensätze 102) : hier flache, äußerst einförmige Moos- und Flechtentundren und dort am nahen Abhang üppige arktische Blumenmatten mit ihrem bunten, farben- prächtigen Flor. Auf einen ganz ähnlichen, auf engem Raum sich ab- spielenden Wechsel haben wir bereits an anderer Stelle, bei Erörterung der Veränderungen der Hochgebirgsflora je nach Feuchtigkeitsgehalt der Unterlage, aufmerksam gemacht. Auch in den Grenzgebieten der Floren- reiche spielt die Bodenbeschaffenheit eine pflanzengeographisch etwas 262 M. Rikli. wichtigere Rolle. Mischen sich in solchen Gebieten doch die Formationen zweier, gelegentlich sogar dreier Florengebiete. Es bedarf oft nur schein- bar geringfügiger Unterschiede der edaphischen Verhältnisse, um der einen oder anderen Formation, bzw. Formationsgruppe den Vorrang zu sichern. So begegnen sich zwischen der nordischen Wald- und Baum- grenze silvestre (Hochstaudenfluren, Waldwiesen, Auenwälder, Erlenbrüche) und arktische (Zwergstrauchheiden, Tundrenmoor, arktische Matten, Fels- fluren usw.) Formationen, ja selbst südliche xerophytische Steppenelemente vermögen hin und wieder bis in die Übergangstundra vorzudringen. Die edaphische Auslese ist ganz besonders in solchen Grenz- und Übergangsgebieten an der Arbeit, und dies, weil viele Arten auf ein be- stimmtes Zusammenwirken der exogenen Faktoren so genau abgestimmt sind, daß schon geringe Abweichungen derselben ihre Niederlage im Kon- kurrenzkampfe bedingen. Schimper !°®) weist darauf hin, daß eine solche floristische Zerstückelung des Bodens hauptsächlich durch physikalische Unterschiede bedingt ist, indem diese einen viel rascheren Wechsel und eine größere Manniefaltigkeit als die chemische Bodenbeschaffenheit auf- weisen. Zahlreiche amerikanische Forscher haben neuerdings auf einen weitgehenden Parallelismus zwischen dem Grad der Verwitterung eines Bodens und dessen Vegetationsdecke hingewiesen. Wo Primula veris L. em. Huds. und Pr. elatior (L.). Schreb. untereinander auftreten, da wird man schon von weitem an den Farbenverschiedenheiten der Blüten die von der ersteren bewohnten trockeneren von den feuchteren Stellen, welche die letztere besiedelt, unterscheiden. Schimper sah auf dem Simplon zwei zwergige Senecio-Arten, S. incanus und 8. uniflorus L., trockene, al- pine Wiesen, oft dicht beieinander, aber niemals durcheinander be- wohnen. Der großköpfige, seltene S. uniflorus L. fand sich nur da, wo der Wiesenboden sich als dünner Überzug über Steine und Felsen ausdehnte, während 8. incanus L. ausschließlich tiefere Bodenstellen bewohnte. Der Bastard der beiden Arten zeigte sich an die Zwischenstellen der Stamm- arten gebunden. In den durch das Klima bedingten Gehölz- und Grasflur- gebieten wirkt der Boden als sekundärer Faktor, der einerseits das Detail- bild der Pflanzendecke beherrscht, andrerseits im Hyerophytenklima Xero- phytenformationen ermöglicht, umgekehrt gibt es aber auch Fälle, wo in vorwiegend edaphischen Formationen dem Klima nur ein nuancierender Einfluß zukommt. Als edaphische Formation sind z. B. die Galerie- wälder der Savannen und Steppengebiete zu bezeichnen. Sie sind an das Bereich der Infiltration von Flüssen und Seen gebunden, bald gebüschartig, bald aber so üppig, daß sie den Wäldern eines ausgesprochenen Wald- klimas nicht nachstehen. Der Wald, hauptsächlich eine klimatisch bedingte Formation, kann aber lokal in sonst waldfeindlichen Gebieten eine eda- phische Formation sein, wo dann sein Vorkommen streng an oberirdische oder unterirdische Wasseransammlungen gebunden ist, welche die mangelnden Niederschläge und Luftfeuchtigkeit zu ersetzen haben. In ähnlicher Weise sind auch die Oasen eine durch lokale Bodenverhältnisse bedingte Er- Richtlinien der Pflanzengeographie. 263 scheinung, mitten hineingesetzt in die Wüste, einer klimatisch baumlosen Facies der Erdoberfläche. Dasselbe gilt für die Auen- und Steppenwälder der südrussischen Steppengebiete in der Umgebung des Schwarzen und Kaspischen Meeres. 10%) Erstere halten sich an die Flußläufe, letztere stehen auf den Höhen, in- dessen die Abhänge und Ebenen waldlos sind. Der Steppenwald besteht ausschließlich aus Laubhölzern; die wichtigsten Bestandteile sind: Quercus Robur L., Ulmus laevis Pallas, U. campestris L. em. Hudson, U. suberosa, Acer plcaanoides L., A. campestre L., A. tartarica, Fraxinus excelsior L., Tilia cordata Miller mit Corylus Avellana L., Ligustrum vulgare L., Prunus Padus L., Evonymus europaeus L. und E. verrucosus. Der Grund der Wald- losigkeit der südrussischen Steppen kann nicht im Klima liegen, denn das- selbe ist in den Waldinseln und in der dicht daneben liegenden Steppe dasselbe; dagegen ist der Boden in diesen beiden Gebieten sehr ver- schieden und darin liest die Erklärung dieses auffallenden Gegensatzes. Der Steppenboden ist salzhaltig. In den Regenschluchten und in den höher gelegenen Punkten wird der Boden zuerst ausgelaugt, indem das durch die Erde sickernde mineralstoffbeladene Wasser rascher einen Abfluß findet als auf der ebenen Fläche; auf diese Weise werden an diesen Stellen Verhältnisse geschaffen, die im sonst waldlosen, südrussischen Steppengebiet eine Ansiedlung von Wald erlauben. Daraus ergibt sich aber, dab die Wald- losigkeit dieser Ländereien nur edaphisch, nicht klimatisch bedingt ist. Der Steppenboden ist jedoch einer zwar sehr langsamen, aber bestän- digen Auslaugung unterworfen, daher muß der Wald allmählich auf Kosten der Steppe an Ausdehnung gewinnen. Dies ist nicht nur eine Hypothese, sondern eine durch die Bodenuntersuchungen des ausgezeichneten russi- schen Steppentorschers @. J. Tanfiljew (Odessa) bewiesene Tatsache. Auch die in Südrußland gemachten Aufforstungsversuche bestätigen diese Theorie. Wälder, welche zwischen 1840 und 1860 im Süden angepflanzt worden sind, zeigten 1890 noch ein gutes Aussehen, so dab selbst bedeu- tende Autoritäten für die Möglichkeit emer Bewaldung der Steppe eintraten. Doch im Verlauf der 90er Jahre begannen die Kulturen zu kränkeln und zum Teil rasch einzugehen. Als Ursache erwies sich das Erreichen einer weniger ausgelaugten Bodenschicht durch die Wurzeln. — Sorgfältige Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Bodenbeschaffenheit und Ve- getation haben hauptsächlich russische Forscher durchgeführt. Im Gegensatz zu den Beispielen, wo hygrophile Vergesellschaftungen in Trockengebieten an lokal wasserführenden Stellen auftreten, fehlt es auch nicht an umgekehrten Fällen. Stranddünen, trockene Gerölle und Felsfluren mit ihren offenen Formationen stellen sehr oft mehr oder weniger engbegrenzte, edaphisch-xerophytische Inseln dar, inmitten sonst ausgesprochener hygrophytischer Länderstrecken, die mit einer geschlossenen zusammenhängenden Vegetationsdecke versehen sind. Wo das Klima aber immer trockener wird, da gewinnen diese Bildungen mehr und mehr die Oberhand, sie sind nun nicht nur edaphisch, sondern auch klimatisch be- 964 M. Rikli. dingt. Das gilt für Inlandsdünenbezirke, für Kies- (Reg) und Fels- (Hammada) Wüsten. Auf eine für den Pflanzengeographen wichtige Tatsache hat zuerst wiederum der leider viel zu früh verstorbene geniale F. W. Schimper 1%) hingewiesen, auf den Unterschied von physikalischer und physio- logischer Trockenheit bzw. Nässe des Bodens. Ein nasses Substrat kann für die Pflanze vollkommen trocken sein, wenn sie ihm kein Wasser zu entnehmen vermag, und der uns völlig trocken erscheinende Boden kann andrerseits doch noch soviel Feuchtigkeit enthalten, daß manche genügsamen Pflanzen hinreichend mit Wasser versorgt sind. Im ersteren Fall ist der Boden physikalisch naß, aber physiologisch trocken, im letzteren Fall tritt das umgekehrte Verhältnis ein, nur daß man dann eher von „physiologisch feuchtem Boden“ sprechen wird. Es gibt drei Hauptfälle, bei denen nasser Boden physiologisch trocken ist. Dies trifft immer zu, wenn der Boden bis um den Nullpunkt abgekühlt und wenn derselbe einen bestimmten Gehalt an Humussäure oder Salz aufweist. Dauernde Ansiedler solcher nassen Standorte besitzen einen ausgesprochenen xerophytischen Bau. Falls die physiologische Trockenheit eines Bodens jedoch nur vorüber- gehend ist, zeigt die Flora nach wenigen Stunden deutliche Welkungser- scheinungen. Nur einer dieser Fälle soll noch eingehender erörtert werden. J. Vesque, Kohl und andere Autoren haben gezeigt, daß die Wasseraufnahme- fähigkeit der Wurzeln durch Abkühlung sehr stark beeinträch- tigt wird.!0%) Die von J. Sachs 1°") bereits 1860 mit Topfpflanzen vom Tabak und Raps ausgeführten Experimente ergaben, daß die Versuchs- pflanzen schon zu welken begannen, wenn der völlig mit Wasser durch- setzte Boden auf 4-—-2° C abgekühlt wurde. Es tritt bei dieser Abkühlung der Moment ein, wo der Wasserverlust der Blätter nicht mehr gedeckt werden kann. Wird die Abkühlung nicht zu weit getrieben und dauert sie nur kürzere Zeit an, so werden die Blätter mit der Erwärmung des Bodens wieder straff, weil die Wurzeln alsdann wieder genügend Wasser aufzunehmen vermögen. Nach O. Kihlmans Beobachtungen in Russisch-Lappland können Er- scheinungen des Verwelkens und Vertrocknens eintreten, wenn infolge kalter Regenschauer die Bodentemperatur stark herabgesetzt und dadurch der Saftstrom verlangsamt wird, besonders wenn gleichzeitig heftige Winde herrschen, welche die Transpiration noch steigern. — Im April 1899 hatte ich in Basel Gelegenheit an jungen Kastanien ähnliche Beobachtungen zu machen. Kaum belaubt, trat ein Temperaturrückschlag mit anhaltendem kalten Regen ein. Die Blätter wurden schlaff und welk, selbst einzelne Blattstiele fingen infolge des verminderten Turgors an, eine hängende Stellung einzunehmen. Sobald aber das Wetter wärmer wurde, nahm das Laubwerk wiederum normales Aussehen an. Die Roß- kastanie (Aesculus Hippocastanum L.), ein Baum des südlichen Balkans, zeigte sich viel empfindlicher als unsere einheimischen Baumarten, an Richtlinien der Pflanzengeographie. 265 denen der Temperaturrückschlag keine so augenfällige Veränderungen zu bewirken vermochte. Sehr anschaulich schildert Köhlmann !°s) die Wirkungen einer solchen Abkühlung auf die Vegetation als Folge eines Gewitters Ende Mai 1890 in Helsingfors, der Hauptstadt Finnlands. Nach mehrwöchentlicher Trocken- heit fiel am 22. und 23. Mai etwas Regen (1’4 mm), die gleichzeitig herr- schende hohe Temperatur hatte die Bäume zu frühzeitiger Laubentfaltung verlockt. Die Blätter von Eiche, Linde, Ahorm waren entfaltet, hatten aber noch nicht ihre normale Konsistenz erhalten, die der Roßkastanie waren teilweise in Knospenlage. Am 25. Mai nachmittags änderte sich die Wind- richtung auf O. (vorher S.), gleichzeitig wuchs die Geschwindigkeit des Windes, bis sie sich in der Nacht vom 26. auf den 27. Mai zur Heftigkeit eines Orkanes steigerte. Während des ganzen Unwetters fiel die Tempe- ratur nur auf + 21°C, durch den massenhaft herabströmenden kalten Regen (48:8 mm) wurde der Boden fast auf den Nullpunkt abgekühlt. Alle großen Waldbäume, die an nicht genügend geschützten Stellen wuchsen, waren größtenteils entlaubt; das Laubwerk der übrigen arg ver- wüstet. Am meisten befremdend aber war, daß sämtliche Blätter, die noch vom Wasser förmlich trieften, schlaff und welk herab- hingen. Die Kronen dieser Bäume hatten ganz das Aussehen, als ob sie ab- geschlagen worden und dann mehrere Stunden in brennender Sonnen- hitze gestanden hätten. Die mechanische Wirkung des Windes erfolgte erst, nachdem die Blätter durch das Welken den Turgor verloren hatten und so schlaff und welk geworden waren. Die turgescenten Blätter blieben auch mechanisch intakt. Die meisten Blätter konnten sich nicht mehr erholen. Es traten an ihnen vielmehr bald zahlreiche braune Flecken auf. Die Braunfärbung begann gleichzeitig an vielen naheliegenden, aber doch iso- lierten Stellen der jeweilen am meisten ausgesetzten Blattseite, und zwar in der Mitte der kleinsten Alveolen, das heißt an den Stellen, welche am weitesten von den leitenden Bahnen entfernt waren. Es kann sich also nur um eine Erscheinung des Austrocknens handeln, des Austrocknens bei gleichzeitig sehr gesteigerter Luft- und Bodenfeuchtigkeit. Ein sehr interessantes Kapitel ist endlich das der Bodenstetigkeit. Die Großzahl der Blütenpflanzen scheint bodenvag zu sein; doch gibt es immerhin viele Arten, die eine Vorliebe für einzelne Bodenarten zeigen oder sogar völlig bodenstet sind. Überall kalkliebend scheinen zu sein: Coronilla Emerus L. und Hippocrepis comosa L., kieselliebend dagegen: Ulex europaeus L., Sarothamnus scoparius (L.) Wimmer et Koch, Jasione montana L., Digitalis purpurea L. Die Alpenflora weist ganz besonders viele Bei- spiele von Arten, die vikarisierend auf Kalk- und Urgebirge auftreten, auf. So z.B. im: a) Kalkgebirge: b) Urgebirge: Rhododendron hirsutum L. Rh. ferrugineum L. Achillea atrata L. A. moschata Wulfen. 266 M.Rikli. a) Kalkgebirge: b) Urgebirge: Androsace Chamaejasme Host. A. obtusifolia All. Gypsophila repens L. Silene rupestris L. Soldanella alpina L. S. pusilla Baumg. Sesleria coerulea (L.) Ard. S. disticha (Wulf.) Pers. Die Bodenstetigkeit führt gelegentlich zu außerordentlich auffälligen Tatsachen. An Hand der Flora wird der Botaniker in den krystallinischen Zentralalpen das Vorhandensein einer Kalkader rascher erkennen als der Greologe. Straßburger 10°) berichtet über einen Fall von der Riviera, wo in einem schmalen, aber viele Kilometer langen Streifen Kalkpflanzen auf- traten, während die übrige Flora weit und breit auf Kieselboden hinwies. Die nähere Untersuchung ergab das Vorhandensein einer alten, mit Kalk- stein bepflasterten Römerstraße. Auf den Schlacken von Creuzot hat sich zuerst eine Kalkflora angesiedelt, als aber der Kalk ausgelaugt war, traten Kieselpflanzen auf. Der Serpentin, ein sehr schwer lösliches Magenesiumsilikat hat zwei ihm speziell angehörige Farnvarietäten, die früher als besondere Arten be- trachtet worden sind: Asplenium adulterinum Milde die Serpentinform von A.virıde Huds., von eigenartigem Habitus, ausgezeichnet durch eine starke Konvexität der Blättchen und durch ihre senkrechte Lage zur Spindel. Asple- nium serpentini Tausch gehört in den Verwandtschaftskreis von A. Adiantum nigrum L., unterscheidet sich aber durch am Grunde keilförmige Abschnitte und zartere, glanzlose, nicht überwinternde Blätter. Aus den höchst sorg- fältig durchgeführten Untersuchungen von Sadebeck 1°) ergab sich, daß nach 7 Generationen die Stammart in die Serpentinvarietät oder umge- kehrt diese in die Stammart übergeführt werden kann, womit ein direkter Einfluß des Serpentins auf die Organisation der Pflanzen erwiesen war. Nur auf Zinkboden findet sich das Galmeiveilchen (Viola lutea Huds v. calaminaria Lej. pro sp.), es unterscheidet sich durch reichere Verzweigung, verlängerte Stengel und kleinere Blüten; es ist in seinen sämtlichen Teilen zinkhaltig, dasselbe gilt für Thlaspi calaminare Lej. et Court. (Zinkoxydge- halt der Asche der Blätter: 13:12). Kehren wir noch einmal zu den Kalkpflanzen zurück, so stehen sich zur Erklärung der angeführten Tatsachen zwei Auffassungen gegenüber 111): 1. Die Kalktheorie, sie erklärt den Gehalt an kohiensaurem Kalk als maßgebend, und zwar m dem Sinn, als die Kalkpflanzen ihn in größerer Menge bedürfen bzw. ertragen, indessen die sogenannten Kieselpflanzen nach früherer Ansicht Kieselboden verlangen, nach neuerer Ansicht jedoch kalkscheu sind, das heißt, schon bei einem Kalkeehalt von mehr als 0:02—0:03°/, auf kalkfreieren Boden vertrieben werden. 2. Die Mineral- theorie. Nach dieser ist es nicht der Kalkgehalt des Bodens als solcher, sondern der mit ihm parallel gehende größere mineralische Nährstoffgehalt, welcher die sogenannten „Kalkpflanzen“ begünstigt. Demnach unterscheidet man eutrophe und oligotrophe Pflanzen, erstere bewohnen Boden mit viel, letztere mit geringem Nährstoffgehalt. Richtlinien der Pflanzengeographie. 267 Ein sehr interessantes Verhalten zeigt die zahme Kastanie. Nach Fliche und Grandeau ''?) meidet sie kalkreiche Böden, nach Chatin 213) soll ein 3°/, Kalkgehalt des Bodens auf dieselbe schon tödlich wirken; ganz allgemein ist ihre Vorliebe für kieselsäurereiche Böden bekannt. A. Engler '1%) (Zürich) hat in einer sehr eingehenden Studie über diese Frage zunächst darauf hingewiesen, daß Castanea vesca im Gebiet des Vierwaldstätter- und Zugerseegebietes fast ohne Ausnahme auf sehr kalkreichem Boden stockt. Auf Grund von vergleichenden Bodenanalysen kommt nun Engler zum Er- gebnis: Die Kastanie verlangt meistens kieselsäurereiche Böden, und zwar deshalb, weil es fast ausschließlich Silikate sind, die das Kali, diesen wichtigen und im Boden spärlich vorkommenden Nährstoff, stark absor- bieren und den Pflanzen zuführen. Wir würden daher richtiger sagen: die Kastanie ist eine sehr kalibedürftige Pflanze. In kieselsäurearmen öden unterliegt aber das Kali infolge der fortschreitenden Verwitterung sehr leicht der Auswaschung. Das trifft besonders zu, wenn der Kalk keine oder nur wenig Tonerde enthält, unsere Jura- und Kreidekalke, die Nagel- fluh und viele Kalkmergel der schweizerischen Molasse enthalten dagegen viel Kieselsäure, Tonerde und Eisenoxyd (60—96°/,) und geben daher bei der Verwitterung kräftige, stark absorbierende Böden. Schon Fliche und Grandeau haben darauf hingewiesen, daß bei Kalkreichtum des Bodens die Aufnahme von Kali beeinträchtigt wird und dies ist wohl die Hauptursache, daß die Kastanie Kalkboden meidet. Auch Engler konstatiert einen be- deutend kleineren Gehalt der auf Kalkboden gewachsenen Pflanzen an Kali, trotzdem die chemische Analyse im Kalkboden mehr Kali (0'16°/,) fest- gestellt hat als im Kieselboden (0:03°/,). Es ist also nicht der Kaligehalt an und für sich, sondern die Form, in der derselbe auftritt und mit der auch seine Zugänglichkeit für die Pflanze im engsten Zusammenhange steht. Neben der chemischen und physikalischen Bodenbeschaffenheit spielt jedoch offenbar auch noch die Konkurrenz eine maßgebende Rolle. Nach ©. v. Nägeli‘'5) sind in den Graubündner Alpen Achilles atrata L. und A. moschata Wulfen da bodenvag, wo ihr Konkurrent fehlt. Kommen aber in einem engeren Bezirke beide Arten vor, so bleibt A. atrata L. stets auf dem Kalk, indessen A. moschata streng an den Kiesel gebunden ist. Bonnier !!°) hat zuerst experimentelle Untersuchungen über den Einfluß des Kalkes auf die Pflanzenstruktur durchgeführt. Es gelang ihm nachzuweisen, daß Omonis Natrix L. auf kalkarmem Boden eine andere Physiognomie besitzt, als auf dem meist vorgezogenen Kalkboden. Nach Schimper ist die Ursache solcher Unterschiede offenbar dadurch bedingt, daß eine auf kalkreichem Substrat gewachsene Pflanze einen anders beschaffenen Organismus darstellt und daher andere physiologische Eigenschaften und eine andere Ökologie be- sitzt, als eine auf kalkarmem Substrat gewachsene. So gelangte man zur Erkenntnis, dal) das Problem der Bodenfrage verwickelter ist, als man ursprünglich annahm. Auch die Begriffe boden- vag, bodenhold, bodenstet haben meistens nur einen mehr oder weniger 268 M.Rikli. relativen Wert. In einem anderen Gebiete kann eine bei uns als kalkholde Art bekannte Pflanze bodenvag sein oder sogar vorzugsweise auf Kiesel- boden auftreten (Bonnier). Nach L. Diels 17) ergibt sich, daß die Arten im Mittelpunkt ihrer Areale edaphisch mehr oder weniger indifferent sind, da- gegen um so empfindlicher, je mehr sie sich den Grenzen ihrer Verbrei- tungsareale nähern. Aus all diesen Tatsachen müssen wir endlich den Schluß ziehen, daß chemische und physikalische Bodeneigenschaften, beeinflußt durch wech- selnde klimatische Faktoren und die Konkurrenz anderer Arten, in ver- schiedener Kombination auf die Pflanzen einwirken und sich je nach der Empfindlichkeit des Objektes auf kürzere oder größere Entfernung gegen- seitig zu ersetzen oder in ihren Wirkungen aufzuheben vermögen. 6. Die Organismenwelt. Das Studium der wechselseitigen Beziehungen der Organismen als pflanzengeographischer Faktor ist lange Zeit sehr vernachlässigt worden, ja sogar heute noch wird derselbe in seiner verbreitungsbestimmenden Bedeutung vielfach unterschätzt. Unter den exogenen Kräften, die auf die Arealumgrenzung der Arten von entscheidendem Einfluß sind, ist nach meiner Überzeugung der biotische Faktor unmittelbar nach Feuchtigkeit, Wärme und Licht zu stellen. Die gegenseitige Bedingtheit der Lebewesen und ihre soziale Ab- hängigkeit voneinander ist wohl eine Hauptursache, daß die Arten zu be- stimmten Formationen vereinigt sind, Formationen, die bald in ihrem Wechsel, bald in ihrer Gleichförmigkeit weite Länderstrecken bedecken, und in ihrer Gesamtheit die wechselvollen Vegetationsbilder, die unsere Erde aufweist, bedingen. So auffällig auch diese Verkettung bestimmter Arten zu Pflanzenvereinen ist, so wenig abgeklärt ist in vielen Fällen immer noch die Frage, ob eine wirklich gegenseitige Abhängigkeit vor- handen oder ob ihre Vereinigung nur eine Folge bestimmter äußerer Fak- toren ist, die außerhalb der zu einer Genossenschaft verbundenen Arten liegen. Wo Parasitismus und Hemiparasitismus vorliegt, wie z. B. bei chloro- phyllhaltigen Zweigschmarotzern: so bei der Mistel, Viscum album L. und bei der Riemenblume, Loranthus europaeus Jaeqg., bei chlorophyllosen Wurzel- vollschmarotzern (der Schuppenwurz, Lathraea Squamaria L.) oder bei chlorophyllhaltigen Hemiparasiten, wie es T’hesium, Euphrasia, Bartsia sind, da ist das Abhängigkeitsverhältnis des Schmarotzers von der Wirts- pflanze klar. Wenn es sich um spezialisierte Parasiten handelt, die nur auf einem einzigen Wirte oder doch nur auf wenigen verwandten Arten zu gedeihen vermögen, da ist deren Verbreitung naturgemäß an die der Wirtspflanzen gebunden und kann nicht über diese hinausgehen. Die Areale werden sich annähernd decken, falls die beiden Arten klimatisch ungefähr gleich abgestimmt sind oder wenn die Kardinalpunkte der verschiedenen Richtlinien der Pflanzengeographie. 269 Lebensfunktionen beim Parasiten eine größere Amplitude aufweisen als bei der Wirtspflanze. Ist das Umgekehrte der Fall, so wird das Areal des Parasiten innerhalb desjenigen der Wirtspflanze liegen. Im ersteren Fall ist die Arealumgrenzung des Parasiten bedingt durch diejenige seiner Wirtspflanze; bei der letzteren Annahme sind in erster Linie andere Fak- toren maßgebend. Da die meisten unserer phanerogamen Parasiten ge- wöhnlich jedoch einen ausgedehnteren Wirtenkreis besitzen, wird mithin ihr Verbreitungsareal entweder mit dem Gesamtareal sämtlicher Wirtspflanzen zusammenfallen, oder dann innerhalb desselben zu liegen kommen. Ist dieser Fall ziemlich klar, so wird die Frage schon schwieriger, wo ein solches direktes Abhängigkeitsverhältnis zweier Arten nicht vorliegt. Ich denke da etwa an die Unterflora unserer Laubholzwaldungen. So bezeichnet Höck z.B. die oberirdisch kriechende Zysimachia nemorum L., Anemone nemorosa L. mit unterirdischen Kriechtrieben, Milium effusum L., Mercurialis perennis L., der Waldmeister, Asperula odorata L., Sanicula europaea L. mit ortsstetem Rhizom, Allium ursinum L., eine Zwiebel- und Arum maculatum L., eine Knollenpflanze, als Buchenbegleiter. Oder, um gleich noch ein anderes Beispiel aufzuführen, erinnern wir an unsere Hochmoore, die eine sehr bezeichnende und immer wieder- kehrende Gesellschaft beherbergen, so z. B. Drosera intermedia Drev. und Hayne, Oxycoccus quadripetalus Gilib., Andromeda polüifolia L., Vaccinium uliginosum L., Scheuchzeria palustris L., Eriophorum vaginatum L., Rhyn- chospora alba (L.) Vahl, R. fusca (L.) R. Br., verschiedene Carices, Lyco- podium inundatum L. u. a. m. Die beiden Fälle scheinen mir prinzipiell verschieden zu sein. Die oben genannte Begleitflora des Buchenwaldes ist in der Hauptsache an zwei Standortsbedingungen gebunden: an gedämpftes Licht und an milden, humusreichen, lockeren, d. h. durchlüfteten Boden. Beide werden in unseren Breiten hauptsächlich durch die Buche geschaffen. Anders bei den Hoch- moorpflanzen. Alle diese Arten scheuen mineralreiches Wasser: die wichtig- sten bestandbildenden Sphagna sind geradezu kalkfeindlich. Nach M. Düggeli genügt eine zwei- bis dreimalige, geringe Bestäubung mit Kalkpulver, 49 auf die Parzelle von 30 cm Seitenlänge, um die Torfmoose zum Absterben zu bringen; immerhin gibt es nach Paul auch einzelne Sphagnumarten, die kalkhold sind. Es sind dies mithin in erster Linie edaphische Ver- hältnisse, die nicht erst durch die Vegetation zustande kommen, sondern schon vorher da sind, und welche diejenigen Pflanzen, denen ein mineral- reicher Boden nicht zusagt, zur Ansiedlung veranlassen. Immerhin halten sich die Hochmoorpflanzen streng an die Sphagneen. Wenn man daher von „Sphagnumbegleitern“ spricht, so hat dies Wort eine etwas andere Bedeutung als die Bezeichnung „Buchenbegleiter“. Dort ist die Vereinigung der Arten vorwiegend eine Folge einer bestimmten Bodenbeschaffenheit, hier dagegen hauptsächlich das Ergebnis biotischer Beziehungen. Der Buchenwald tritt übrigens noch in einer zweiten Facies auf, die eine recht differente Begleitflora hat. Deschampsia flexuosa (L.) Trin., 270 M. Rikli. ein fadenblätteriges, xerophil gebautes Gras, das weiche, dichte Rasen bildet, ferner der zierliche Siebenstern (Trientalis europaea L.), die Schatten- blume (Majanthemum bifolium (L.) F.W. Schmidt), der Halbparasit Melam- pyrum pratense L. und mehrere Moose, unter denen Polytrichum formosum Hedw. und Leucobryum glaucum (L.) Schimp. tonangebend sind, bilden die Bodendecke. Trockener, kompakter, saurer Rohhumusboden, durchzogen von Wurzeln und Pilzmycelien, der nicht von Regenwürmern durchwühlt und nicht durchlüftet wird, in dem daher Humussäuren entstehen können, bildet die Grundbedingung der Bildung dieser Variante. Dieser Wald ist meist offener, die Laubdecke öfters verweht. Gelegentlich stellen sich auch Calluna und Vaceinium Myrtillus L. ein, dann nähert sich der Boden demjenigen der Callunaheide. Tritt diese in reichlicherer Menge auf, so kann nach E. Warming‘ı®s) die natürliche Verjüngung der Buche nicht länger vor sich gehen. Der Buchenwald verschwindet schließlich an vielen Stellen und macht der Callunaheide Platz (P. E. Müller) — ein Vorgang, der in Norddeutschland und Dänemark häufig, im voralpinen Gebiet aber nicht vorkommt. Für das Gebundensein vieler Arten an bestimmte Formationen und damit auch an deren Verbreitungsareale gibt es noch zahlreiche Beispiele. Wir greifen zwei heraus: Lianen bedürfen der Stütze, daher sind sie hauptsächlich an den Wald oder doch wenigstens an die Gebüschforma- tionen gebunden; so vermag ihre Verbreitung nicht über diejenige des Waldareals hinauszugehen. Waldlose Gebiete entbehren der Lianen. Die Polargrenze des sommergrünen Laubwaldes wird mithin auch die absolut mögliche Nordgrenze der Lianen sein. Die meisten Schlinggewächse machen als Pflanzen von größeren Wärmeansprüchen jedoch schon vorher Halt, zu- erst Lonicera Caprifolium L. und L. Periclymenum L., später Tamus communis L., Humulus Lupulus L., Hedera Helix L. und Clematis Vitalba L. Auch unsere Halosaprophyten, die chlorophyllosen, phanerogamen Fäulnisbewohner des mikrothermen europäischen Waldes: Monotropa, Co- rallorrhiza, Epipogium, Neottia bilden eine höchst bezeichnende Florula, eine Vergesellschaftung von Arten, die wiederum an den Boden ganz be- stimmte Anforderungen stellt, welche nur durch langandauernde Lebens- tätigkeit einer üppigen Waldvegetation zustande kommen. Solche Boden- arten zeigen, da sie infolge der Zersetzung einer, wenn auch vielleicht heute verschwundenen, doch jedenfalls einst vorhandenen Pflanzendecke entstanden sind, immer einen mehr oder weniger großen Humus- gehalt. Im Gegensatz zum Rohboden, der als ein unmittelbares Ver- witterungsprodukt der Lithosphäre zu betrachten ist, sind es Humus- böden, an deren Aufbau auch die Pflanzenwelt in mehr oder weniger erheblichem Maße beteiligt ist. Alle Humuspflanzen sind in ihrer Verbreitung nicht nur an Humusboden gebunden, sondern sogar meistens an ganz be- stimmte phytogene Vergesellschaftungen, die ihrerseits wieder dem Boden die- jenigen Eigenschaften verleihen, welche deren Begleitflora erst ermöglichen. Richtlinien der Pflanzengeographie. >71 So ergibt sich eine gegenseitige Bedingtheit vieler Pflanzen. Doch auch eine Bedingtheit der Pflanzen durch Tiere spielt als pflanzengeogra- phischer Faktor eine gewisse Rolle. Unter diesen Gesichtspunkt fallen einerseits zahlreiche Fälle von Insektenbestäubung, anderseits die zoochore Ausbreitung vieler Gewächse, die oft für ganze Familien von entscheidender Bedeutung ist. Es ist eine bekannte Tatsache, daß gewisse Pflanzen in ihrer ganzen Existenzmöglichkeit an bestimmte Bestäuber gebunden sind. Die Gattung Aconitum ist zur Hervorbringung von Samen ganz auf Hummeln (Bombus) angewiesen. Einzig dieses Insektengenus vermag erfolgreiche Bestäubung zu bewirken. Da die Bombusarten auch anderen Blüten ihre Nahrung zu entnehmen vermögen, so reicht ihr geographischer Bezirk über das Areal von Aconitum hinaus, mit anderen Worten, es gibt nirgends Aconitum- arten, wo nicht auch Vertreter der Gattung Bombus vorkommen, und das Verbreitungsareal der Eisenhute liegt innerhalb demjenigen der Hummeln. Die Vanilla (Vanilla planifolia Andr.), eine kletternde Orchidee, bringt ohne Zutun des Menschen nur in ihrer mexikanischen Heimat Früchte. Nach Delteil‘1°) sollen Kolibris und Bienen aus der Gattung Melipona die Bestäubung vermitteln. In den wichtigsten Vanille-Produk- tionsländern: Westindien, Mauritius, Bourbon, Java muß die Bestäubung künstlich vorgenommen werden. Neben Wasser und Wind hat bei pflanzlichen Wanderungen und Arealerweiterungen endlich auch das Tier eine wichtige Aufgabe zu er- füllen. Ohne auf das weitschichtige Material näher einzugehen, sei nur daran erinnert, daß fleischige Früchte und Beeren hauptsächlich durch Vögel verzehrt und die von den Verdauungssäften in ihrer Keimfähigkeit nicht beeinträchtigten Samen oft weit verschleppt werden. Früchte oder Samen mit Stacheln, Widerhaken, Klebdrüsen bleiben an vorbeistreifenden Tieren haften und werden auf diese Weise in größerer Entfernung von der Mutterpflanze zur Keimung gelangen können. Zahlreiche eingehende Studien der neueren Zeit, besonders die schönen Arbeiten von Lumdström, Kerner v. Marilaun und von R. Sernander !2°) haben ergeben, dab eine ganze Reihe von Pflanzen der Ameisenverbreitung angepaßt ist. Es sind be- sonders Samen mit großer Nabelschwiele, wie das Schöllkraut (Cheli- donium majus L.), mehrere Lärchensporne (Corydalis) und Veilchenarten (Violae); Möhringia muscosa L., Cyclamen europaeum L. usw. Die Ameisen fressen nur die Nabelscheiben ab, lassen dann aber die in ihrer Keimfähig- keit nicht beeinträchtigten Samen liegen. Die Samen der Myrmekochoren sind stete Begleiterinnen der Ameisenstraßen. Wieder andere Ameisen werden durch die Nektar absondernden Haare des Wachtelweizens an- gelockt. Die coconähnlichen Samen von Melampyrum pratense werden von den Ameisen gleichzeitig mit Larven und Puppen in Sicherheit gebracht. Die Samen gleichen nach Größe, Form, Farbe und Gewicht ganz den Ameisencocons. Lundström ist der Ansicht, daß es sich in diesem Fall um 272 M. Rikli. eine Art Mimiery handelt, durch welche die Ameisen getäuscht, zur Ver- breitung der Samen veranlaßt werden. Wenn somit einerseits bestimmte Gewächse an die Anwesenheit und Verbreitung gewisser anderer Pflanzen oder Tiere gebunden sind, so kommt andrerseits auch dem umgekehrten Fall, daß sich zwei oder mehrere Or- ganismen gegenseitig ausschließen, eine nicht zu unterschätzende phyto- geographische Bedeutung zu. Das Fehlen vieler Arten ist sehr oft in der erfolgreichen Konkurrenz durch andere Pflanzen begründet. In Hoch- gebirgen nimmt mit zunehmender Meereshöhe die Menge und Größe unbesie- delter oder doch nur locker bestockter Bodenstellen zu, andrerseits vermindert sich gleichzeitig die Zahl der Bewerber um dieselben. Aus diesen Verhält- nissen erklärt sich das viel häufigere Einwandern von Ebenenpflanzen ins Gebirge, gegenüber dem verhältnismäßig selten erfolgreichen Herabsteigen von Alpenpflanzen nach tieferen Höhenstufen. L. Marret !?!) hat neuerdings wieder in eingehender Weise auf diese Tatsachen hingewiesen. Hier einige Beispiele von hohen und höchsten Standorten von Ebenenpflanzen in den Walliser und Tessiner Alpen, die wir den Katalogen von H. Jaccard !??) und P. Chenevard !??) entnommen haben. Ranunculus bulbosus L., Caralina, Kt. Tessin bis 2250 m. R. bulbosus L., auf Riffelalp bis 2300 m. Bellis perennis L., Chanrion, Val de Bagne nach R. Chodat noch bei 2400 m. Stellaria media (L.) Vill. am Großen St. Bernhard bei 2470 m. Capsella Bursa pastoris, (L.) Medikus, nach K. Hager im Val Russein bei 2250 m; am Großen St. Bernhard noch bei 2470 m. Ohrysanthemum Leucanthemum L. bis 2500 m. Silene vulgaris (Mönch) Garke am Riffel bei 2550 m. Dryopteris filie mas (L.) Schott, am Pizzo Campolungo noch bei 2640 m. Oystopteris fragilis (L.) Bernh., in den Tessiner Alpen bis 2700 m. Anthoxanthum odoratum L. bis 2800 m. Taraxzacum offieinale Weber, am Gorner Grat sogar bis 3000 m. Diese hohen Standorte sind zum Teile allerdings an Düngstellen, die unter dem direkten oder indirekten Einfluß des Menschen entstanden sind, gebunden. Umgekehrt sind rezente, tiefe Standorte echter Alpenpflanzen nicht häufig; sie finden sich in den Alluvionen von Flüssen, an Seeufern, an Felsen feuchtschattig frischer Lagen, also überall da, wo durch eine Auflockerung der Vegetationsdecke die Konkurrenz lokal vermindert ist. Das „Gäsi“, das Mündungsgebiet der wilden Linth in den Wallenstadter- see, die Schluchten und Alluvionen der Gebirgsbäche des Kt. Tessins sind zwei Beispiele von Tieflagen, die verhältnismäßig reiche Ausbeute alpiner Pflanzen ergeben. Doch nur ganz ausnahmsweise wird man Alpenpflanzen außerhalb dieser gegebenen Wanderlinien als Bestandteile pflanzlicher Ver- Richtlinien der Pflanzengeographie. 273 gesellschaftungen der Niederungen antreffen. Da Alpenpflanzen bei angemes- sener Behandlung und vor allem unter Ausschaltung der Konkurrenz in der Ebene mit Erfolg gehalten werden, so kann nicht das veränderte Klima, sondern einzig der Mitbewerb der dem Niederungsklima besser an- gepaßten Flora die Ursache dieser Erscheinung sein. 1?) Wo Alpenpflanzen wirklich zu einem integrierenden Bestandteil von Formationen tiefer Lagen geworden sind, da handelt es sich wohl fast immer um Relikten. Als charakteristische Arten der xerophilen, Steppen- charakter tragenden Felsenheide finden sich im Haupttal des Wallis, zwischen 460 und 600 m Meereshöhe, neben Stipa pennata L., Koeleria val- lesiana (All.) Bertol., Festuca vallesiaca Gaud., auch Primula hirsuta All., Saxifraga exarata Vill., Draba aizoides L. usw. Verglichen mit Belegpflanzen aus der eigentlich alpinen Heimat, zeigen diese Arten gewisse konstante Abänderungen, die zum Teile sogar zur Aufstellung besonderer Formen ge- führt haben. Daraus ergibt sich, daß diese Kolonien als Relikten zu deuten sind. Da das wallesische Rhonetal noch zur letzten Eiszeit ganz mit Eis bedeckt war, so muß dessen heutige Pflanzenwelt postglazialen Ursprungs sein. Nach L. Marret 25) findet das Nebeneinanderauftreten von so ver- schiedenen Florenbestandteilen seine Erklärung in dem mehrfachen Wechsel von feuchteren und kälteren (ozeanischen) Zeitabschnitten mit trockenen und heißen (kontinentalen) Perioden. Der auf quelligen Stellen der kiesigen Grenzzone des Bodensees bei nur 396 m auftretende gegenblättrige Steinbrech (Sazifraga oppositifolia L.) unterscheidet sich deutlich vom alpinen Typus. Die als var. amphibia Sündermann benannte Abweichung ist in allen Teilen robuster, die Rasen lockerer, die Stämmchen leicht wurzelnd, die Laubblätter spärlicher be- wimpert und die Blüten auffallend größer. Sie wird allgemein als Glazial- relikt gedeutet. Die deutliche Abweichung von der Alpenform und die Schwimmunfähigkeit ihrer Samen lassen diese Auffassung als berechtigt erscheinen. 1?) Bei Gelegenheit meiner monographischen Bearbeitung der Arve in der Schweiz bin ich der Frage der Ursache des Rückganges von Pinus Cembra L.?”) nachgegangen. Noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit war man gerne bereit, zur Erklärung solcher Tatsachen entsprechende Klima- änderungen anzunehmen. Die schönen Ergebnisse der in den letzten Jahr- zehnten ausgeführten Arvenanpflanzungen ‘und größeren Aufforstungen in den Voralpen und in vielen Teilen Deutschlands haben aber ergeben, daß das Klima auch heute in Mitteleuropa nicht nur das normale Aufwachsen der Arve erlaubt, sie bringt es hier auch zur Samenreife. Die Samen keimen und in mehreren Fällen ist festgestellt worden, daß in diesen Tief- lagen sogar wieder keimfähige Samen zweiter Generation erzeugt worden sind. Von nachteiligem Einfluß ist außerhalb des natürlichen Verbreitungs- bezirkes der Arve einzig der Mitbewerb anderer, schnellwüchsigerer Holz- arten und die üppige Begleitflora des Graswuchses oder hochwüch- sige Krautfluren. In den ersten Entwicklungsstadien werden ganz be- E. Abderhalden, Fortschritte. III. 18 274 M. Rikli. sonders die beiden letzteren Vergesellschaftungen den jungen Sämlingen verhängnisvoll, indem sie den Jungwuchs unterdrücken. Wo der Mensch durch sein zielbewußtes Vorgehen diesen Faktor ausschaltet, da vermag die Arve zu gedeihen. Es ist somit, neben der Schwierigkeit der Ver- breitung der schweren ungeflügelten Samen über das heutige Areal hinaus und neben dessen hohen Anforderungen an das Keimbett hauptsächlich der erfolgreiche Wettbewerb lebenskräftigerer Arten, die der Ausbreitung der Arve nach den tieferen Lagen im Wege steht. Für die Bergföhre (Pinus montana Miller \2®) ist P. E. Müller auf Grund eingehender Studien zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Nicht die direkten Ansprüche an Klima und Boden sind für die Verbreitung der Bergkiefer in erster Linie maßgebend, sondern die Konkurrenz anderer rascher wachsender und stark schattender Bäume, namentlich diejenige der Fichte. Ihnen gegenüber ist die Berekiefer durch ihr langsameres Wachstum und ihr größeres Lichtbedürfnis im Nachteil und wird deshalb überall auf die schlechteren Standorte zurückgedränget, wo ihre Konkur- renten nicht mehr zu gedeihen vermögen; es ist gleichsam ein Lücken- büßer, der diejenigen Räume ausfüllt, die von den anderen Holzarten verschmäht werden. Zu denselben Ergebnissen kommt St. Brunies 12°) auf Grund seiner eingehenden Studien über die Bergföhre im Ofenberggebiet. Auch pflanzliche oder tierische Schädlinge können der weiteren Ausbreitung einer Art hindernd im Wege stehen. Die Fichte fruktifiziert bis in die Nähe ihrer Polargrenze noch ziemlich häufig. Nach A. Osw. Kihlman 3°) ist aber die Zapfenbildung nicht immer mit einer entsprechenden Samenproduktion verbunden. Gar oft sind die Zapfen taub, ihre Ausbildung somit für Erhaltung und Ausbreitung der Art in diesen Kampfgebieten des Baumwuchses bedeutungslos. Die Ursache ist eine kleine Gallmücke (Ceeidomya Strobi), die ihre Larvenkammern an der Basis der Zapfenschuppen anlegt, wobei die Zapfen abortieren. So kann dieser Schädling die Samenbildung mehr oder weniger vollständig unter- drücken. Dies scheint ganz besonders in der Nähe der Baumgrenze der Fall zu sein; schon im südlichen Skandinavien ist diese Gallmücke ver- hältnismäßig selten und verursacht nie solche Schädigungen. Jeder Besucher der Alpen kennt die herrlichen Blumenmatten, wie sie uns auf der sog. Urweide, auf Wildheuplanken und Heubergen ent- gegentreten. Werden solche Stellen regelmäßig von Groß- oder Kleinvieh bestoßen, so hat dies in wenigen Jahren eine tiefgreifende Veränderung der ganzen Vegetationsdecke zur Folge. Tritt und Biß des Weideviehs, oder die mit der Bestoßung verbundene natürliche Düngung des Bodens sagen einer großen Zahl von Pflanzen nicht zu, diese gehen allmählich ein, indessen andere Arten, die diesen Veränderungen gewachsen sind oder durch sie sogar in ihrer Vegetationstätigkeit gefördert werden, mehr und mehr an ihre Stelle treten. Durch diese Eingriffe ist in der ursprüng- lichen Vergesellschaftung der zwischen den einzelnen Lebensformen im Verlauf der Zeit zustande gekommene Gleichgewichtszustand gestört Richtlinien der Pflanzengeographie. 275 worden. Das Endergebnis ist das Auftreten einer neuen Gleichgewichtslage, d.h. das Zustandekommen einer durch wirtschaftliche Verhältnisse be- dingten Halbkultur der Weide. Gegenüber dem ursprünglichen Zustand bedeutet dieser Vorgang eine Verarmung und Trivialisierung der Flora. Aus diesen wenigen Andeutungen ergibt sich somit, daß auch die Örganismenwelt in mannigfachster Weise fördernd und hemmend die Aus- breitung der Arten beeinflußt. In unserem Zeitalter des Weltverkehrs kommt aber keinem Lebewesen eine so ausschlaggebende Bedeutung auf die Pflanzendecke der ganzen Erde zu, wie dem Menschen, und dies heutzutage mehr als zu irgend einer anderen Periode. Die verschiedenen Verkehrsstraßen, die Lager- und Stapelplätze der Großstädte sind die Ein- fallstore fremder Florenbestandteile. Pontische Steppenelemente machen auf den Eisenbahnlinien, die ja mit ihren rasch austrocknenden Kiesmassen Steppenverhältnisse nachahmen, erfolgreiche Vorstöße nach Mitteleuropa. Zahlreiche amerikanische Eindringlinge werden mehr und mehr zu Neu- bürgern unserer Flora und schließen sich den einheimischen Pflanzenver- einen an. Die immer weiter fortschreitende und intensivere Ausnützung des Bodens drängt die ursprüngliche Pflanzenwelt auf abgelegene, kleiner und kleiner werdende Bezirke zurück. Die Kultur ist der größte Feind der Natur. Dieser nicht aufzuhaltende Prozeß kann den Naturfreund und Natur- forscher nur mit Wehmut erfüllen. Einigermaßen versöhnend wirken die der neuesten Zeit angehörenden Naturschutzbestrebungen, die erfreulicher- weise in den breitesten Volksschichten fast aller Kulturländer verständnis- volle und freudige Aufnahme gefunden haben. Schutz hervorragender Naturdenkmäler, Schaffung von Reservationen und Nationalparken sind ihre wichtigsten Zielpunkte. Hoffen wir, daß diese Bemühungen dazu führen, zu Nutz und Frommen der Nachwelt das einigermaßen wieder gut zu machen, was frühere (Generationen versäumt haben. 131) 7. Die Individualität. Die Individualität spielt in der Pflanzengeographie die Rolle einer noch vielfach unbekannten, unberechenbaren Größe, d.h. wenn wir auch über die exogenen Faktoren genau informiert sind, wird es doch nicht möglich sein, rein theoretisch das Verbreitungsgebiet einer Art zu be- stimmen, und dies hauptsächlich deshalb nicht, weil die verschiedenen Pflanzenspezies auf ein und dieselbe Kraft ganz verschieden reagieren, und wir in den meisten Fällen ohne eingehende, langjährige Kulturver- suche nicht in der Lage sind, aus ihrem Bau und ihrem experimentell festzustellenden physiologischen Verhalten einigermaßen zwingende Rück- schlüsse auf ihre Reaktionsfähigkeit zu ziehen. Die Erkenntnis der Amplitude der verschiedenen Reaktionsfähigkeiten ist eine Erfahrungssache, die für jeden einzelnen Spezialfall festgestellt werden muß. Nah verwandte und habituell sehr ähnliche Arten verhalten sich in dieser Hinsicht sehr ver- 18* 276 M.Rikli. schieden, indessen im System weit voneinander abstehende und differente Typen größte Übereinstimmung zeigen können. Die Zahl der Arten, bei denen der Bau der Pflanze auf deren Wohn- oebiet Rückschlüsse zu ziehen erlaubt, oder gar Fälle, im denen es möglich wäre, dasselbe einigermaßen zuverlässig zu umgrenzen, sind im Ver- hältnis zur großen Zahl der bekannt gewordenen Phanerogamen recht be- scheiden. Die Frage gestaltet sich dadurch noch schw ie- riger, als einerseits die Reaktionsfähigkeit der Pflanzen sich in ihren verschiedenen Entwick- lungsstadien ändert, und andrerseits sogar, wie die Akklimatisationen lehren, die Reaktionsfähigkeit einer Art auch wieder eine innerhalb gewisser Genzen variable Größe ist. Das tiefere Erfassen der inneren Veranlagun- gen der Pflanzen ist ein noch beinahe brach lie- eendes Arbeitsfeld, die ungenügende Kenntnis der Individualität und ihrer wirklichen Ursachen bedeutet für die pflanzen- geographischen Anschau- ungen der Wechselbezie- hungen zwischen Wohnort und Spezies eine recht empfindliche Lücke. Erörtern wir zu- Phot. Oberförster Puenzieux. nächst einige extreme Bei- Windform eines Kirschbaumes bei Yvorne. spiele: Die Figuren 134 und 135 veranschaulichen je einen allein freistehenden Kirsch- und Apfelbaum 189), aufgenommen im wallesischen Rhonetal, in der Gegend von Martigny und Yvorne. Bei Branson sah ich wenige Schritte voneinander entfernt sogar mehrere soleher Bäume demselben periodisch auftretenden Talwind ausgesetzt. Beide sind zur Windform geworden, aber wie verschieden ist doch das Fig. 134. Richtlinien der Pflanzengeographie. 277 Bild. Beim Kirschbaum ein aufrechter Stamm, mit scharf einseitiger, vorwiegend in einer Ebene windfahnenartig entwickelter Krone; es sieht aus, als ob alle Äste auf der einen Seite mit der Axt entfernt worden wären. Der Apfelbaum dagegen hat die Zweige einseitig überhängend und peit- schenartig verlängert, so daß das Astwerk des Baumes einigermaßen an eine Trauerweide erinnert. Beide Bäume waren derselben Windstärke und derselben Winddauer ausgesetzt. Die Windform an und für sich ‚ist das Fig. 135. Phot. Oberförster Puenzieux. Windform eines Apfelbaumes bei Martigny (Wallis). Produkt der Windwirkung, die Art der Windform dagegen das Resultat der verschiedenen Reaktionsfähigkeit der beiden Holzgewächse. Ein anderes, in der botanischen Fachliteratur viel zitiertes Beispiel ist das Überwintern von Cochlearia fenestrata, beobachtet von F. R. Kjellman 13°) bei Gelegenheit der Überwinterung der Vegaexpedition bei Pitlekay, an der Nordküste der Tschuktschenhalbinsel. Es gibt wenige Gegenden auf der Erde, welche ein so strenges Winterklima besitzen, wie die Stelle, an welcher die Vegaexpedition überwinterte. Die Kälte war sehr anhaltend und ging auf mehr als —46°C herab. Die beobachtete Pflanze wuchs auf dem Gipfel eines Sandhügels, dem beständigen scharfen N. ausgesetzt. 278 M. Rikli. Sie hatte im Sommer 1878 ihre Blütezeit erst begonnen, als sie vom Winter betroffen und seiner ganzen Strenge ausgesetzt wurde. Merk- würdigerweise wurde sie aber nicht vernichtet. Als der Sommer 1879 kam, setzte die Pflanze ihre Ausbildung von da an fort, wo sie zu Anfang des Winters unterbrochen worden war; die Blütenknospen schlugen aus und aus den bBlattachseln der oberen frischen Stengelblätter schossen neue frische Blütenstände hervor. Es ist zu bemerken, daß die fragliche Pflanze weder morphologisch noch anatomisch irgendwelche Schutzmittel gegen so abnorm niedere Temperaturen aufweist. Es muß also in der inneren Veranlagung der Pflanze liegen, solche Kältegrade ertragen zu können, ohne Schaden zu nehmen. Unter ähnlichen Verhältnissen würden wohl nur wenige Gewächse Mitteleuropas einen Winter zu überdauern vermögen, und doch sind diese, rein äußerlich betrachtet, nicht schlechter ausgestattet als die so fabelhaft resistenzfähige Cochlearia. Auch für die Fähigkeit ganzer Pflanzen. ungewöhnliche Trockenheit zu ertragen. gibt es zahlreiche Beispiele. Die Auferstehungspflanze (Sela- ginella lepidophylla ‘°*) Mexikos vermag völlig lufttrocken zu werden; sie scheint dann tot zu sein und kann in diesem Zustand zwischen den Fingern zu einer staubigen Masse zermalmt werden; doch bei Zutritt von Wasser beginnt ihre Lebenstätigkeit neuerdings. Die Zahl der Arten, die so weit austrocknen können ohne bleibenden Schadenjzu nehmen, ist natür- lich sehr klein. Auch hier sind offenbar nicht äußere. sondern innere, wahrscheinlich chemische Fähigkeiten ausschlaggebend. In einer soeben erschienenen, an neuen Gesichtspunkten ungewöhnlich reichen Arbeit bringt H. Fitting '°°) nicht nur den Nachweis, daß die aus- dauernden Pflanzen extrem trockener Wüstenstandorte durchschnittlich äußerst hohe, ja zum Teil ganz fabelhafte (bis über 1000 Atmosphären) osmotische Saugkräfte entwickeln, sondern daß viele von ihnen auch eine für höhere Pflanzen ungewöhnlich weitgehende Regulations- fähigkeitihrer Druckkräfte je nach der Trockenheit ihrer Standorte besitzen. So haben die Wüstenpflanzen die Fähigkeit, auch noch aus sehr trockenen Böden Feuchtigkeit herauszureißen, und zwar bald mit Kochsalzspeicherung, bald ohne solche. Die niedrigsten Druckwerte ergeben vorwiegend die Annuellen, die höchsten die Sträucher, ganz besonders Pflanzen von sehr exponierten,. wasserarmen Standorten. namentlich wenn sie auch die trockene und heiße Jahreszeit mit ihren Transpirationsflächen überdauern. Dagegen sind auf feuchtem Kulturboden die osmotischen Drucke ganz allgemein wesentlich niedriger als in der trockenen Wüste, und zwar auch bei solchen Arten, die beide Standorte besiedeln. Von ganz besonderem Interesse ist ein Vergleich der Drucke, welche typische Wüstenpflanzen auf trockenem und auf feuchtem Boden entwickeln. Da erweist sich das ungemein sroße Regulationsvermögen des Druckes bei diesen Gewächsen als eine charakteristische und sehr zweckmäßige Eigenschaft. Diese Befähigung ist bei den Perennen weit vollkommener ausgebildet als bei den meisten Richtlinien der Pflanzengeographie. 279 Annuellen ; bei salzspeichernden Formen vollkommerer als bei den übrigen. Diese Eigenschaften bedeuten eine ganz außerordentlich zweckmäßige An- passung der Wüstenpflanzen, um deren Wasserbedarf selbst noch aus sehr trockenen Böden zu decken. Und noch ein Beispiel. Wir haben einige Fälle kennen gelernt, wo durch die Konkurrenz lebenskräftigerer Gewächse andere Arten in ihrer Ausbreitung gehemmt bzw. zurückgedrängt worden sind. Es sei an das über Pinus Cembra L. und Pinus montana Miller (Gesagte erinnert; als die Hauptursache dieser Erscheinung haben wir das langsame Wachstum dieser Arten erkannt. Aber wer erklärt uns die Tatsache, dal) unter den- selben klimatischen und edaphischen Verhältnissen die eine Holzart ein um das Mehrfache rascheres Wachstum besitzt als ein anderer neben ihr stehender Baum? Es kann dies auch nur in der Art selbst seine Ursache haben, deren tiefere Erfassung ist uns aber zur Zeit noch nicht zugänglich. Diese Verhältnisse sind zwar allgemein bekannt, doch ist es auf- fallend, daß ihre Bedeutung für die Pflanzengeographie in den phytogeo- graphischen Werken öfters ganz übergangen oder doch nur gelegentlich erwähnt wird, in der deutschen pflanzengeographischen Literatur haupt- sächlich seit etwa 15 Jahren, durch F. W. Schimper, L. Diels, P. Graebner. Man unterscheidet „plastische und nicht plastische Arten“, zu den letzteren gehören diejenigen Pflanzen, die schon bei geringen Schwankungen im Feuchtigkeits- und Wärmezustand, bei einer kleinen Änderung der Boden- und Konkurrenzverhältnisse eingehen , oder man spricht von „konstitutio- neller Frosthärte“ und Schimper 136) sagt: Die Fähigkeit, große Kälte zu ertragen, ist eine spezifische Eigenschaft des Protoplasmas gewisser Pflanzen und in keiner Weise durch äußere, d.h. außerhalb der Plasma- micellen gelegene Schutzmittel unterstützt. Auch Graebner !37) schreibt: Weshalb und unter welchen Umständen die Pflanzen tiefere bis sehr tiefe Temperaturen ertragen oder warum nicht, ist ein außerordentlich inter- essantes, aber auch schwieriges, noch lange nicht in allen Punkten ge- klärtes Kapitel. Eine bestimmte Rolle kommt sicher der Beschaffenheit des Zellsaftes zu. — Und L. Diels sagt: Die spezifische Konstitution der Elemente darf nicht aus der Pflanzengeographie ausgeschaltet werden; sie muß als gleichberechtigter Faktor in die Rechnung eingesetzt werden, welche das Verständnis der Vegetation erschließen will. Erst wenn wir einen tieferen Einblick in die molekulare Struktur und in die Dynamik des Protoplasmas erlangt haben, werden diese den Pflanzengeographen so sehr beschäftigenden Probleme ihrer Lösung um einen guten Schritt näher gebracht worden sein. Die bereits erörterte Arbeit von A. Fitting bedeutet in dieser Hinsicht einen beachtenswerten Fortschritt. Neben diesen offenen Fragen gibt es jedoch noch eine zweite Gruppe von Erscheinungen, wo die Verhältnisse des Wohngebietes schon äußerlich in der Pflanzengestalt zum Ausdruck kommen. An anderer Stelle haben wir bereits gesehen, wie sehr oft Feuchtigkeitsverhältnisse in der Pflanzen- struktur ihr getreues Abbild finden. 280 M. Rikli. Neuerdings hat der geniale dänische Biologe C. Raunkiaer !3) auf einen anderen Zusammenhang hingewiesen. Raunkiaer vertritt die Ansicht, daß beim Vergleich zweier Florenbezirke die klimatischen Verhältnisse der für die Vegetation ungünstigen Jahreszeiten sich viel mehr voneinander unterscheiden als die günstigen Jahreszeiten. So zeigt z. B. der Sommer Mitteleuropas und derjenige der Mediterranis im Verhalten des Klimas zur Vegetation eine größere Übereinstimmung als der deutsche und italie- nische Winter. Im Süden ist derselbe durch bedeutende Regenfälle und nicht sehr große Kälte charakterisiert, im Norden durch Schnee und Frost, der mit Ausnahme der Coniferen alle grünen Pflanzen abtöten würde, wenn sie sich nicht gegen Kälte in irgend einer Form schützten. So werden die Einflüsse der schlechten Jahreszeit eine ganze Reihe leicht festzu- stellender Anpassungen bewirken. Von diesem Gedanken ausgehend, hat Raunkiaer (1905 und 1908) fünf Hauptlebensformen aufgestellt, die wieder in eine größere Zahl von Untertypen zerfallen, so daß im ganzen 30 Fälle unterschieden werden. Diese biologischen Typen werden auf Grund des Grades und der Art der Anpassung der Knospen oder der jüngsten Enden der Sprosse an die Überstehung der ungünstigsten Jahres- zeit charakterisiert. Wir können hier nur kurz auf die Hauptlebensformen eingehen und verweisen im übrigen auf die reich illustrierten Original- arbeiten, in denen jeder einzelne Typus an bezeichnenden Beispielen er- örtert wird. 1. Die höchst entwickelten Lebensformen sind die Phanerophyten '?°), Pflanzen mit aufrechten, mehr oder weniger hohen Sprossen, an denen die Erneuerungsknospen frei oder unter dem Schutz von Knospenschuppen die ungünstige Lebenszeit überdauern. Der Knospenschutz ist mithin sehr gering. Einzelne Untertypen besitzen die Fähigkeiten, bei eintretender Ruhe- periode die Blätter abzuwerfen oder sonstwie ihren Umfang zu vermindern. Dieser Typus zeigt die größte Mannigfaltigkeit. Raunkiaer unterscheidet 15 Untertypen. 2. Die Chamaephyten tragen ihre Erneuerungsknospen an wenig über die Erdoberfläche hervorragenden Sprossen, dieselben werden dann leicht in der ungünstigen Jahreszeit vom Schnee oder abgefallenem Laub geschützt. Infolge der geringen Erhebung über dem Boden sind die nach- teiligen Windwirkungen abgeschwächt. Nach den Wuchsformen werden vier Untertypen aufgestellt; hierher gehören z. B. auch die Polster- pflanzen. 3. Die Hemikryptophyten mit drei Untertypen, zu denen die Ro- settenpflanzen zu zählen sind, erzeugen ihre Erneuerungsknospen unmittel- bar an der Erde, in gleicher Höhe mit der Erdoberfläche. Der ganze übrige oberirdische Teil der Pflanze stirbt mit Eintritt der ungünstigen Jahreszeit ab. 4. Die Kryptophyten. Die Knospen sind in der Erde oder am (runde eines Gewässers geborgen. Alle oberirdischen Teile gehen zu Be- ginn der Vegetationsruhe ein. Diese Lebensform umfaßt sieben Untertypen. Richtlinien der Pflanzengeographie. 281 5. Die Therophyten endlich besitzen überhaupt keine Erneuerungs- knospen; sie sterben nach einer kurzen, oft nur wenige Wochen oder so- gar nur Tage andauernden Vegetationsperiode völlig ab und erneuern sich einzig durch ihre resistenten Samen. Diese Typen sind nun zwar keine idealen Lebensformen, welche die Summe aller Anpassungserscheinungen umfassen. Dies ist ein Desideratum, Fig. 136. Ta a ı). Pe: TISCHEN oem | | 69 ES: 10 ——_ 20%, Chamaephyten-Biochore ..— _——— Baumgrenze ansnseruunranernen Juli-Isotherme von 10° C. von dem wir noch weit entfernt sind. Für seine biologischen Typen hat Raunkiaer eine Gruppe von Merkmalen gewählt, die nicht nur für das Leben der Pflanze in den verschiedenen Klimaten von wesentlicher Bedeutung ist, sondern die auch die Aufstellung einer einheitlichen, fortlaufenden Reihe erlaubt, einer Reihe, die einer vergleichend-statistischen Behandlung zu- gänglich ist. 282 M. Rikli. „Wenn wir einen auf die Lebensformen gegründeten Ausdruck für das Pflanzenklima einer Gegend, für den Lebenswert eines Klimas zu bilden suchen, dürfen wir infolge der Einseitigkeit unserer Lebensformen uns nicht damit begnügen, die Lebensformen nur für einige Arten zu be- stimmen, sondern wir müssen alle untersuchen und feststellen, wie sie sich prozentweise auf die einzelnen Lebensformen verteilen. Dadurch bekommen wir eine Zahlenreihe, ein biologisches Spektrum als Ausdruck für das Klima, soweit das mit der Hilfe der angewendeten Lebensformen erreicht werden kann. Wieweit dieses biologische Spektrum ein richtiger Ausdruck für ein Pflanzenklima ist, ergibt sich daraus, inwieweit dasselbe Klima, aber in verschiedenen Erdstrichen und trotz einer in floristisch-systematischer Hinsicht ganz andersartigen Flora dasselbe Spektrum ergibt, während ver- schiedene Klimaten verschiedene Spektren aufweisen.“ 140) Soweit Raunkiaer. Die Richtigkeit seiner Annahme hat er in einer seiner letzten Arbeiten durch Untersuchung einer Anzahl von Lokalfloren verschiedener Zonen darzulegen versucht. So kam er zur Aufstellung von vier pflanzengeogra- phischen Klimareihen: a) das Phanerophytenklima umfaßt die tropi- schen Gebiete mit nicht zu geringen Niederschlägen; 5b) das Therophyten- klima das Winterregengebiet der subtropischen Zone; ce) das Hemikryp- tophytenklima den größten Teil der kalten, gemäßigten Zone; d) das Ohamaephytenklima die kalte Zone. Diese Hauptpflanzenklimate und ihre Unterabteilungen lassen sich durch biologische Grenzlinien, Biochoren, voneinander trennen, die auf exakten Zahlen aufgebaut sind, ganz analog den klimatischen Grenzlinien, z. B. den Isothermen. Auf diese Weise kann man eine biologische Pflanzengeographie auf Grund der Statistik der Le- bensformen aufbauen. Unsere Karte (Fig. 136) bringt eine kombinierte Dar- stellung des Verlaufes der arktischen Baumgrenze, der 10°C Juli-Iso- therme (nach @. Andersson) und der Raunkiaerschen 20°/, Chamaephyten- Biochore. 8. Das Wohngebiet. Jedes Florenreich, ja jeder Florenbezirk unterscheidet sich von den Nachbargebieten nicht nur durch emen ganz bestimmten Kombinations- komplex der exogenen pflanzengeographischen Faktoren, auch die Oro- graphie und Topographie des Geländes hat sehr oft einen recht bedeutenden Einfluß auf die Vegetation eines Landes, wir denken in erster Linie an die Massenwirkungen der Kontinente und Hochländer, an die Wanderungsbahnen oder -Hindernisse, welche durch Gebirge, Flüsse, Ozeane, Wüsten geschaffen werden, an die Folgen der Isolierung einer Flora auf ozeanische Inseln oder auf einzelne Gebirgsstöcke. So haben jedes Land oder Inselgruppe, viele Gebirgszüge und Tal- schaften ihre Besonderheiten, welche eine monographische Bearbeitung durchaus rechtfertigen. Ebenso aussichtsvoll sind eingehende Studien über bestimmte Formationen, die in ihren Bildungsbedingungen und ihrem wech- selnden Bestand über größere Länderstrecken verfolgt oder spezielle Ar- Richtlinien der Pflanzengeographie. 283 beiten über einzelne Familien, Gattungen und Arten, wobei jeweilen auch die pflanzengeographischen Verhältnisse eingehend erörtert werden. Solche Einzelmonographien bilden die unerläßliche Grundlage für die allgemein leitenden Gesichtspunkte der Pflanzengeographie. In dieser Hinsicht sind in den beiden letzten Jahrzehnten eine große Anzahl wichtiger und zum Teil auf sehr breiter Basis aufgebauter Publi- kationen erschienen. Von A. Engler (Berlin) und O. Drude wird seit 1896 unter dem Titel „Vegetation der Erde“ ein Sammelwerk pflanzengeo- graphischer, illustrierter und zum Teil mit kartographischen Beilagen ver- sehener Monographien herausgegeben. Das Werk umfaßt bereits 12 Bände. M. Willkomm bearbeitete die Vegetation der iberischen Halbinsel (1896), F. Pax die Karpathen in 2 Bänden (1898, 1908), G. Radde die Kaukasusländer (1899), Beck v. Managetta die Vegetationsverhält- nisse der illyrischen Länder (1901), 0. Drude den herceynischen Florenbezirk (1902), L. Diels Westaustralien (1906), K. Reiche Chile (1907) und A. Engler die Pflanzenwelt Afrikas, insbesonders seine tropischen Gebiete, 3 Bde. (1908 und 1910) und soeben gelangte zur Aus- gabe Weberbauers Vegetation der peruanischen Anden und John W. Harsh- berger, Phytogeographie Survey of North America (1911). In der Schweiz, besonders im Alpengebiet, ist man eifrig an der Ar- beit gewesen. seit dem Erscheinen von H. Christs Pflanzenleben der Schweiz (1882), einem Werk, das durch die vollständige Beherrschung des Stoffes, durch seine übersichtliche Darstellung und durch seine packende Sprache als ein Meisterwerk bezeichnet werden darf, das in der pflanzen- geographischen Literatur immer einen ersten Platz einnehmen wird. Im Jahre 1907 hat Christ 1%), unter Berücksichtigung der neuesten Literatur und Strömungen, einen sehr beachtenswerten Nachtrag veröffentlicht. Die Moore haben durch J. Früh und C. Schröter '*) eine mustergültige Dar- stellung und „Das Pflanzenleben der Alpen“ durch (€. Schröter als den berufensten Kenner der Alpenflora eine nahezu erschöpfende Behand- lung gefunden. Während dieses Werk sich vorwiegend an die schweizeri- schen Alpen hält, hat A. Engler (Berlin) bereits 1901 eine kurze zusammen- fassende Übersicht der Pflanzenformationen und der pflanzengeo- graphischen Gliederung der ganzen Alpenkette!#3) verfaßt. Ein vollständiges Bild unserer gegenwärtigen Kenntnis der Geschichte und Herkunft der schweizerischen Alpenflora!#), in der besonders die verschiedenen Florenbestandteile klarer als bisher auseinandergehalten wor- den sind, ist von Marie Jerosch gegeben worden. Über das Bodenseegebiet!#) besitzen wir eine eingehende Studie, in der auch nicht der kleinste pflanzliche Organismus unberücksichtigt ge- blieben ist, und die uns einen vorzüglichen Einblick in die gesamte makro- und mikroskopische Ökologie eines größeren Sees verschafft. @. Hegi '+®) hat das obere Tößtal floristisch und pflanzengeographisch dargestellt. Ganz besonders war es aber die Schrötersche Schule, welche sich seit einem Viertel- jahrhundert um die systematische Durchforschung der Schweiz sehr ver- 284 M. Rikli. dient gemacht hat. Aus ihr sind einerseits eine größere Anzahl floristisch- pflanzengeographischer Abhandlungen hervorgegangen, die einzelne Tal- schaften, Gebirgsstöcke oder Seengebiete betreffen, in letzterem Fall ist wiederholt auch das Plankton eingehend behandelt worden. Hierher z. B. Arbeiten von ©. Schröter, E. Geiger, A. Grisch, St. Brunies, H. Brockmann, Ed. Rübel‘+”) über verschiedene Teile Graubündens, diejenigen von Baum- garntner und M. Düggeli‘+) aus dem Voralpengebiet und die Seenstudien von W. Bally, 0. Amberg, T. Waldvogel, O. Guyer \+°) usw.; andrerseits be- treffen sie biologische Themata, wie die Verbreitungsmittel schweizerischer Alpenpflanzen 15°), die Ökologie der Felsflora 151), die ;Wuchsformen der al- pinen Geröllpflanzen 153) oder endlich wird die Flora der Vorzeit, insbesondere diejenige der Postglazialzeit und der prähistorischen Fundstellen behandelt (C. Schröter, E. Neuweiler, H. Brockmann !°3). Auch die Ruderalflora ist nicht vernachlässigt worden (M. Rikli, O. Nägeli und besonders Thellung !5*). Für die praktischen Zwecke der Alpwirtschaft und als grundlegende Ar- beiten der Formationslehre haben auch im Ausland Stebler und Schröter: Die besten Futterpflanzen und Beiträge zur Kenntnis der Matten und Weiden vielfache Beachtung gefunden. P. Jaccard 155) hat in einer ganzen Reihe von Schriften durch Aufsuchen des sogenannten Gemeinschafts- koeffizienten vergleichend-statistische Untersuchungen gleicher und ver- schiedener Formationen aus denselben oder aus entfernten Gebieten durch- geführt und ist zu recht interessanten allgemeinen Gesichstpunkten gekommen. Im Auftrag des Departements des Innern und unter Leitung des eidgenössischen Oberforstinspektors Dr. J. Coaz!5%) wurden Erhebungen über die Verbreitung der wildwachsenden Holzarten in der Schweiz ge- macht. Einen vorzüglichen Einblick in die Waldverhältnisse der Schweiz gewähren auch die Abhandlungen und Mitteilungen in der „Schweiz. Zeitschrift für Forstwesen.157) An dieser Stelle darf vielleicht auch noch an Ed. Imhofs „Die Walderenze in der Schweiz“ 5%) und an „Die natürlichen Wälder der Schweiz“ von H. und M. Brockmann- Jerosch 15°) erinnert werden. Von der Monographie der Arve ist schon an anderer Stelle gesprochen worden. Nicht weniger tätig war man in der Westschweiz. $. Aubert, A. Binz, J. Briquet, G. Beauverd, R. Chodat, H. Jaccard, E. Wilezek und F. O. Wolf '°°) haben teils Teile aus dem Kt. Wallis, aus den Voralpen und dem Jura der Waadt oder aus den angrenzenden Gebieten von Savoyen ihren Studien zugrunde gelegt, teils Fragen von allgemein pflanzengeographischer Be- deutung !#1) behandelt. Selbst der Kt. Tessin hat nicht nur einen neuen, sorgfältig,durchgearbeiteten Florenkatalog erhalten; über zahlreiche Gebiete desselben liegen nun auch}Exkursionsberichte und abgerundete Vegetations- bilder vor. In dieser Hinsicht hat die im September 1903 in Locarno ge- tagte Jahresversammlung der schweiz. naturf. Gesellschaft fruchtbringend gewirkt.1%2) Erwähnen wir endlich noch ‚die vollständige Neubearbeitung der „Flora der Schweiz“ durch H. Sehinz und R. Keller, 1909 in dritter wesentlich bereicherter Auflage erschienen, so vermag diese, noch recht Richtlinien der Pflanzengeograpbie. 285 unvollständige Übersicht doch einigermaßen ein Bild zu geben von der der- zeitigen intensivenkbotanischen Durchforschung eines kleinen, aber in seiner Mannigfaltigkeit doch sehr interessanten Erdenfleckes. Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, in derselben Weise nun alle Länder zu durchgehen, wir müssen uns mit einigen wenigen Andeu- tungen begnügen. Immerhin wäre es sehr wünschenswert, wenn die von A. Engler (Berlin) in der Humboldt-Zentenarschrift gegebene „Übersicht über die wichtigste floristische Literatur, in welcher Angaben über pflanzengeographische Gliederung und Formationen ent- halten sind“ 165), die bis 1898 geht, bis auf unsere Tage fortgeführt würde. Ch. Flahaults gediegene Übersicht über die Fortschritte der Pflanzengeographie seit 188416) entspricht insofern nicht ganz diesem Desideratum, indem-in derselben das Hauptgewicht auf den derzeitigen Stand der pflanzengeographischen Probleme und nicht auf die systematisch durchgeführte Erörterung der neuesten Literatur gelegt wird. Bei der ge- waltigen Breite, zu der sich die pflanzengeographische Forschungsarbeit entwickelt hat und bei der Zersplitterung der einschlägigen Literatur würde eine solche bibliographische Arbeit mit kurzen orientierenden Be- merkungen einem viel empfundenen Bedürfnis entgegenkommen, Ein gewaltiges Werk „Das Pflanzenreich“ 1%), allerdings vor- wiegend systematischer Natur, wird seit 1900 unter Mitwirkung eines ganzen Gelehrtenstabes von A. Engler (Berlin), im Auftrag der kgl. preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben. Bereits sind 50 Hefte, bzw. Bände zur Ausgabe gelangt? Da in diesem Sammelwerk sämtliche Arten mit Angabe ihrer Verbreitung beschrieben und bei jeder Gruppe auch die Gesamtverbreitung, ihre verwandtschaftlichen Beziehungen erörtert und die fossilen Funde erwähnt werden und zu dem öfters auch noch Ver- breitungskärtchen beigegeben sind, so wird das groß angelegte Sammel- werk auch dem Pflanzengeographen wichtige Dienste leisten. Die mit un- glaublichem Fleiß und enzyklopädistischer Gelehrsamkeit, @. Schweinfurth gewidmete „Synopsis der mitteleuropäischen Flora“ 16%) von P. Ascher- son und P. Graebner ist ein unerläßliches Nachschlagewerk, reich an phyto- geographischen Notizen. Ende 1910-lagen sechs”abgeschlossene Bände vor. Auch die „Lebensgeschichte der Blütenpflanzen Mitteleuropas“ von O.v. Kirchner, E. Löw (7) und ©. Schröter !*") muß an dieser Stelle wenigstens erwähnt werden, denn neben der Entwicklungsgeschichte und speziellen Ökologie jeder Art, illustriert durch zahlreichefzum größeren Teil Original- zeichnungen, ist auch die Verbreitung, Vergesellschaftung, Herkunft unter eingehender Berücksichtigung der Literatur erörtert. In sehr zielbewußter Weise wird von J. Eichler, R. Gradmann und W. Meigen !°®) die pflanzengeographische Durchforschung von Württemberg, Baden und Hohenzollern nach Florenbestandteilen durchgeführt. Bisher sind die alpine, die hochnordisch-subalpine, die präalpine und montane Gruppe behandelt und die Verbreitung pflanzengeographisch wichtiger Arten auf Karten dargestellt worden. R. Gradmann hat in zwei sehr anziehend ge- 286 M. Rikli. schriebenen, ungewöhnlich reichhaltigen Bändchen, die innerhalb dreier Mo- nate schon eine zweite Ausgabe erlebt haben: „Das Pflanzenleben der schwäbischen Alb“ 1%) beschrieben und „Die norddeutsche Heide“ hat in P. Gräbner !"°) ihren Monographen gefunden. In Österreich-Ungarn ist man sehr lebhaft an der Arbeit. Die Wiener Schule hat Hervorragendes geleistet, besonders durch eine Reihe sehr ein- gehender, kritischer Monographien einzelner Gruppen und Gattungen 171), wobei hauptsächlich den lokalen Rassenbildungen und dem Saisondimorphis- mus nachgegangen wurde. Die botanische Durchforschung des Landes schreitet in ähnlicher Weise vor sich wie in Deutschland und in der Schweiz. Der 1905 in Wien versammelte I. internationale botanische Kon- grei) hat in dieser Hinsicht auch noch mächtig anregend gewirkt. Der „Führer zu den wissenschaftlichen Exkursionen !’2) mit seinen 52 Lichtdrucktafeln und sechs pflanzengeographischen Abhandlungen legt ein beredtes Zeugnis für die Tatkraft der botanischen Fachkollegen der Doppelmonarchie ab. Ein Muster einer Flora ist diejenige von @. Beck von Mannagetta von Niederösterreich (1892) mit seiner kurzen und klaren Einleitung. Der Wunsch, daß dieses Beispiel für weitere Florenwerke vor- bildlich wirken möge, darf vielleicht auch hier ausgesprochen worden. Auch Rußland und die skandinavischen Länder marschieren in erster Linie. Leider ist uns Westeuropäern die Literatur dieser Länder der sprach- lichen Schwierigkeiten wegen schwer zugänglich. Wir sind daher den Fach- kollegen zu besonderem Dank verpflichtet, daß sie am Schluß ihrer Ar- beiten sehr oft deren Hauptergebnisse in einer der drei wichtigsten Kul- tursprachen zusammengefaßt haben. In Justs botanischen Jahresberichten findet man übrigens von den größeren Publikationen dieser Gebiete sehr eingehende, zum Teil fast auszugsweise Referate. Rußland hat besonders in den Acta Horti Petropolitani!’s) ein sehr vornehm gehaltenes, für die botanische Erforschung des Weltreiches äußerst wichtiges Publikations- organ; neuerdings ist für kleinere Veröffentlichungen das Bulletin du Jardin imperial de St. Petersbourg'!”*) geschaffen worden. Über eine ganze Reihe von Gouvernementen liegen *) monographische Bearbeitungen vor, sehr eingehend sind besonders auch die Kaukasusländer, die Krim, der Ural, die südrussischen und zentralasiatischen Steppenwüstengebiete durchforscht. Seit einer Reihe von Jahren bilden auch der Altai und die zentralasiatischen Hochländer ein wichtiges Arbeitsfeld, das dazu berufen ist, auch auf die postglaziale pflanzliche Besiedelungsgeschichte Mittel- europas neues Licht zu verbreiten. Erwähnen wir endlich noch die vor- zügliche pflanzengeographische Studie über die Halbinsel Kanin und das angrenzende Waldgebiet von R. Pohle. 175) In Skandinavien hat man sich in den letzten drei Jahrzehnten in erster Linie um die Erforschung der Florengeschichte der nörd- lichen Halbinsel bemüht und auf Grund der Untersuchung zahlreicher *) Z.B. A. Flerof, Flora des Gouvernements Wladimir. Schriften d. Naturf.- Gesellsch. Jurjeff, X (1902). Richtlinien der Pflanzengeographie. 287 subfossiler Lagerstätten die nacheiszeitliche Einwanderung der Flora stu- diert. Diesen Bemühungen ist es zu verdanken, daß wir heute auf Grund der Arbeiten von Nathorst, Blytt, Gunnar Andersson u.a. in der Lage sind, uns ein vollständiges Bild dieses florengeschichtlich so wichtigen Vor- ganges sowie auch des nacheiszeitlichen Klimas von Skandinavien zu machen. Immer noch wunübertroffen sind ©. Kihlmans Pflanzenbiologische Studien aus Russisch-Lappland'!?°), eine wahre Fundgrube für alle Fragen, die sich auf das Problem der polaren Waldgrenze beziehen. Von den zahlreichen neuen Bearbeitungen erwähnen wir nur noch die mit 22 prachtvollen Tafeln und Karten ausgestattete Monographie der Pflanzenwelt von Kiruna in Tornea Lappmark bei 67° 50° N. von H.@. Simmons !'7), dem verdienten Botaniker der zweiten norwegischen Polarexpedition 1898 — 1902. Wir erinnern ferner an die zahlreichen wichtigen Publikationen von H. Hessel- mann, von denen ganz besonders hervorzuheben sind die Arbeit „Über die Vegetation und den Wald der Kalkfelsen Gotlands“ 173) (1908) und die Abhandlung „Zur Kenntnis des Pflanzenlebens schwedischer Laubwiesen“ 17°) (1904), bedeutungsvoll sowohl nach ihrer physiologisch- biologischen, wie nach ihrer pflanzengeographischen Seite. Auch das Flug- sandgebiet von Röros im inneren Norwegen ist wiederholt Gegenstand pflanzenbiologischer Beobachtungen gewesen (T'h. Resvoll). Mit der immer noch viel zu sehr vernachlässigten Keimungsgeschichte der Blütenpflanzen hat sich endlich Nils Sylven in eingehender Weise abgegeben und seine Ergebnisse in der Kungl. Svenska vetenskapsakademiens Handlingar niedergelegt. 15°) In Dänemark ist unter der Leitung von E. Warming, dem hervor- ragenden Mitbegründer der phytogeographischen Biologie, eine Schule ent- standen, die Weltruf genießt und in ganz systematischer Weise an der botanischen Durchforschung des Landes und seiner Kolonien arbeitet. Ein sehr schönes Denkmal gemeinsamer Arbeit der dänischen Forscher ist die umfangreiche und völlig erschöpfende Monographie der Färöer!) eine Publikation, wie sie in ähnlicher Vollständigkeit von der einfachsten Alge bis zu der letzten Blütenpflanze wohl kaum eine zweite Inselgruppe von ähnlich beschränktem Umfang besitzt. Auch für die Erforschung Grön- lands ist in den Meddelelser om Grönland'!®) ein Zentralorgan ge- schaffen worden, daß nicht nur eine ungewöhnlich große Zahl von Ab- handlungen aus sämtlichen naturhistorischen Disziplinen umfaßt, sondern auch eine Fülle geographisch-ethnographischer Arbeiten enthält. Im benachbarten Frankreich hat hauptsächlich Ch. Flahault auf pflanzengeographischem und biologischem Gebiet Pionierarbeit geleistet und zuerst (1886) die Grenzen und Formationen des zur Mediterranis gehörigen süd- lichen Frankreichs festgestellt. Die Umgebung von Montpellier, die Camargue mit den Alluvionen der Rhone, die östlichen Pyrenäen sind von ihm schon vor 20 Jahren und mehr bearbeitet worden. Bereits 1894 hat Flahault eine carte botanique forestiere-et agricole de la France angeregt. Auch Großbritannien und Nordamerika sind nicht zurückgeblieben. Die Engländer sind Meister eingehender, sorgfältiger Formationsstudien, 988 M. Rikli. und in der Union wird mit zäher Energie das weite Land durchforscht und die Ergebnisse dieser Tätigkeit im umfangreichen, zum Teil pracht- voll ausgestatteten Werken niedergelegt. Die atlantischen Staaten, unter denen neuerdings (1910) Maryland 18°) eine botanisch-monographische Be- arbeitung erfahren hat, stehen in erster Linie, es folgen alsdann Kalifor- nien und das Felsengebirge und die angrenzenden Prärien.!#*) Diese in unzähligen Zeitschriften und Separatpublikationen zerstreute Literatur ist soeben durch Harshberger einheitlich verarbeitet worden. Eine den größten Teil des nordamerikanischen Kontinentes umfassende Flora ist dagegen schon seit einer vollen Dekade abgeschlossen. 135) Noch vor kaum einem Menschenalter war es gar nicht leicht, sich brauchbare Vegetationsbilder zu verschaffen, nicht nur von fremden Erd- teilen, sondern selbst aus vielen Gebieten Europas. Heute ist das nun freilich anders geworden. Nicht nur bringt beinahe jede größere Mono- eraphie eine mehr oder weniger stattliche Zahl von Tafeln in Lichtdruck oder Autotypie, die von Fachmännern ausgewählt oft in vorzüglicher Weise Einblicke in die Vegetationsverhältnisse der behandelten Florenbezirke ge- statten, sondern es sind in den letzten Jahren auch eine ganze Reihe von Tafelwerken entstanden, die hauptsächlich dem pflanzengeographischen Unterricht an Hochschulen dienen wollen und die ihr Hauptgewicht auf naturgetreue Wiedergabe typischer Vegetationsbilder legen, indessen der Text sich auf eine kurze Einführung in das betreffende Vegetationsgebiet und Angabe der wichtigsten literarischen Quellen beschränkt. In dieser Hinsicht vorbildlich sind die von @. Karsten und H. Schenck seit 1903 im Format 16 x 22cm herausgegebenen „Vegetationsbilder“. Die bis Ende 1910 erschienenen acht Reihen enthalten gegen 500 Tafeln, welche nicht nur Landschafts- und Vegetationsszenerien, sondern auch einzelne Baum- typen und Bilder von Kulturen und Kulturpflanzen umfassen. Sie erstrecken sich beinahe über alle Länder der Erde und sind von Fachgelehrten, die jene Gegenden bereist haben, bearbeitet. Einen ganz anderen Zweck ver- folgen die „Natururkunden“ von E. F. Schulz.‘°*) Es sind vorzüglich reproduzierte photographische Aufnahmen freilebender Tiere und Pflanzen mit begleitendem, biologisch-erläuterndem Text, gewissermaßen Urkunden- schriften, die in ihrem intimen Reiz immer neu studiert werden müssen und die einerseits zur sinnigen Naturbetrachtung, andrerseits zu deren Schutz beitragen wollen. Einen Einblick in die Pflanzenwelt des Unterlaufes des Amazonenstromes an Hand seiner wichtigsten Bäume und üppigen Landschaftstypen gibt J. Huber von Para im „Arboretum amazonicum“. 187) Die Beschreibung der Vegetation Südbrasiliens hat R.v. Wetistein mit 58 Tafeln be- gleitet. H. Schenck verdanken wir eine Serie hervorragender Landschafts- bilder der antarktischen Länder (1905) und Fedtschenko publiziert seit einigen Jahren Vegetationsbilder von Rußland. 188) Deutsch-Ost- afrika ist durch eine Sammlung von 64 Landschaftstypen von W. Goetze (1902) vertreten, den begleitenden Text hat A. Engler (Berlin) verfaßt. Richtlinien der Pflanzengeographie. 289 Selbst Japan besitzt bereits ein groß angelegtes, von Mijoshi !°%) herausge- gebenes botanisches Bilderwerk. Von ungleich größerer Bedeutung sowohl als Hilfsmittel der Forschung, als auch für Unterrichtszwecke ist die botanische Kartographie. Sie erlaubt nicht nur die denkbar klarste Wiedergabe phytogeographischer Verbreitungstatsachen; mit genügender Sorgfalt durchgeführte karto- graphische Aufnahmen können durch Vergleichung der Areale Aufschluß über pflanzengeschichtliche Beziehungen zwischen einzelnen Florenbezirken und über mögliche Wanderungsbahnen geben. oder sie erlauben. den Zusammen- hang zwischen der Pflanzenwelt und den klimatischen bzw. edaphischen Lebensbedingungen der von ihr bewohnten Erdräume zum Ausdruck zu bringen. Im Gedanken an die mehr und mehr der Kultur anheimfallenden, jetzt aber vom Menschen noch ganz oder nahezu unberührten Länderstriche haben pflanzengeographische Karten noch eine besondere Bedeutung, näm- lich die einer Inventaraufnahme des ursprünglichen Naturzustandes und der damit gegebenen Verbreitungstatsachen. Es ist daher wohl verständlich, daß unsere junge Wissenschaft ver- hältnismäßig frühzeitig die Kartographie in ihren Dienst nahm. In den drei letzten Jahrzehnten geschah dies in einer immer ausgiebigeren und zielbewußteren Weise. Doch sind wir immer noch weit von einer einheit- lichen, international anerkannten botanischen Kartographie entfernt. Fast jeder einzelne Forscher hat seine eigene Darstellungsweise, die er seinen speziellen Bedürfnissen angepaßt hat. Der Nachteil einer so weitgehenden Individualisierung liegt auf der Hand; die Karten sind nicht mehr direkt vergleichbar, jede einzelne muß nach der Bedeutung der verwendeten Farben, Farbenkombinationen, Zahlen, Buchstaben, symbolischen Zeichen usw. studiert werden, und gar oft kommt es vor, dal, ein und dieselbe Bezeichnung von den Forschern in ganz verschiedenem Sinne gebraucht wird. Es hat sich daher mehr und mehr das Bedürfnis nach etwelcher Vereinheitlichung geltend gemacht, wie sie in der Geologie für die Be- zeichnung der Hauptgesteinsarten und bei den Sedimenten für deren ver- schiedenes Alter bereits allgemein gebräuchlich ist. Doch darf nicht ver- gessen werden, daß die Geologie in einer ungleich günstigeren Lage ist, indem die Gesteine eben nach klimatischen Zonen und Höhenlagen keinem regelmäßigen, allmählich vor sich gehenden Wechsel unterworfen sind und somit die Aufstellung einer einheitlichen Skala lange nicht auf dieselben Schwierigkeiten stößt, wie dies in der Pflanzengeographie der Fall ist, ganz abgesehen davon, daß schon auf engem Raume die Mannigfaltigkeit der belebten Natur ungleich größer ist als die der Lithosphäre Als ein in dieser Hinsicht erster, vorbildlicher Versuch ist die Farben- und Zeichen- gebung, die A. Engler seiner Darstellung der tropischen Vegetation Afrikas zugrunde gelegt hat, zu erwähnen. Vorbedingungen einer befriedigenden kartographischen Darstellung pflanzengeographischer Tatsachen sind: 1. Das Vorhandensein guter topographischer Karten. Unter „gut“ ist nicht nur die richtige, dem E. Abderhalden, Fortschritte. III. 19 290 M.Rikli. Gelände entsprechende, topographische Aufnahme zu verstehen, ebenso wichtig ist die technische Ausführung. Neben scharfer Linienführung ist besonders ein heller, sauberer Ton der Kartenbilder sehr wünschenswert. Die wenig befriedigende Ausführung der österreichischen phytogeographischen Karten, hauptsächlich derjenigen der Gebirgsgegenden, ist zum guten Teil der ungenügenden Grundlage zuzuschreiben. Auch die italienischen Generalstabs- karten sind in dieser Hinsicht recht mangelhaft. Anders in Deutschland und in der Schweiz. Letzteres Land besitzt in seinem topographischen Siegfried-Atlas im Maßstab von !/z;o000 (Gebirgsteile) und !/,5000 (Mittel- land) ein Kartenmaterial. das den weitgekendsten Anforderungen vollauf zu genügen vermag. Der Erfolg, den mehrere botanische Karten schweize- rischer Forscher erzielt haben, ist in erster Linie der vorzüglichen Landes- topographie zu verdanken. Man vergleiche z. B. die Moor- (1903) und Arvenkarte (1909) der Schweiz, die Wald- und Ackerbaukarte der Land- schaft Davos (1909) und die soeben zur Ausgabe gelangte „Pflanzengeo- graphische Karte des Berninagebiets“ (1911:9%) usw. 2. Die Auswahl des den darzustellenden Verhältnissen am besten entsprechen- den Maßstabes. Für allgemeine Florenkarten oder für die Darstellung der Verbreitungsareale ganzer Ordnungen und Familien genügt ein Maßb- stab von !/,soooooo PZW. Sogar Zu Y/,oonooon- In dieser Hinsicht kann als klassisches Beispiel der Atlas der Pflanzenverbreitung von O. Drude, 1887 in Berghaus’ physikalischem Atlas erschienen, gelten. Handelt es sich dagegen um Wiedergabe der Verbreitung einzelner Arten oder gar von Formationen und Assoziationen, so ist ein Maßstab von !/;yon0 oft schon beinahe zu groß. Bei so weitgehenden analytischen Arbeiten sollte man über eine Grundlage von Y5,000 PIS Yızoon verfügen können. Im letzteren Fall wird es sogar möglich sein, die durch den Menschen verursachten Ver- änderungen im ursprünglichen Vegetationsbild wiederzugeben. An einem pflanzengeographisch-kartographischen Sammelwerk, etwa analog den „Vegetationsbildern“ von Karsten und Schenck, hat es bisher gefehlt. Um so mehr ist der erste Versuch in dieser Richtung zu be- grüßen. Es sind die „Icones florae alpinae plantarum“ von Leon Marret, deren erste Lieferung, 20 Tafeln enthaltend, soeben erschienen ist (Frühjahr 1911). Dieses Werk hat sich zur Aufgabe gestellt, die Pflanzen der alpinen Höhenstufen der verschiedenen Gebirge der Erde sowohl bildlich als auch auf den jeder Art beigegebenen Verbreitungskarten in ihrer Areal- umerenzung darzustellen, es soll ein wirkliches phototypisches Herbarium werden, das sich durch seine sorgfältige wissenschaftliche und künstlerische Ausführung sehr vorteilhaft eingeführt hat. Auf dem im Mai 1910 in Brüssel vereinigten internationalen Bo- tanikerkongreß hat ©. Schröter, nach verschiedenen Gesichtspunkten an- geordnet, eine große Sammlung pflanzengeographischer Karten ausgestellt. Die leider noch nicht erschienenen Kongreßakten werden einen eingehen- den Bericht enthalten. Immerhin bin ich bereits jetzt in der Lage, haupt- sächlich auf Grund eines in der Zürcher botanischen Gesellschaft von Richtlinien der Pflanzengeographie. 291 C. Schröter im Winter 1909/10 gehaltenen Vortrages einige Angaben über Prinzipien und Einteilung pflanzengeographischer Karten zu geben. A. Prinzipien: 1. Das ursprüngliche Kartenbild soll durch die pflanzengeographischen Überdrucke nicht beeinträchtigt werden. 2. Die aufgewendete Mühe soll dem Werte der kartographischen Dar- stellung entsprechen. 3. Als Darstellungsmittel kommen in Frage: Farben, verschieden- artige Zeichen, Worte, Zahlen, Buchstaben, Unterstreichungen, und deren Kombinationen, sowie Doppelkarten, von denen die obere durchsichtig ist. 4. Für die Auswahl der Farben soll maßgebend sein: a) Die Farbe muß das Landschaftsbild nach Möglichkeit unterstützen. b) Sie soll ferner der darzustellenden Vegetation möglichst angepaßt sein (gelb für Wüsten, dunkelgrün für Wälder usw.). c) Der Effekt soll mit bescheidenen Mitteln erreicht werden können. d) Die Farben müssen so gewählt werden, dab sie für verschiedene Maßstabe verwendet werden können. 5. Für jedes Gebiet sind Übersichtskarten in kleinem und Detail- karten in erößerem Maßstab wünschenswert. 6. Kulturformationen sind in derselben Farbe zu halten, wie die natürlichen Formationen, aus denen sie hervorgeeangen sind. 7. Auf jeder Karte ist unbedingt das Jahr der Aufnahme anzugeben. B. Einteilung der pflanzengeographischen Karten: I. Physiographische Karten: Darstellung der äußeren Faktoren und der Wirkungen ihres kombinierten Einflusses auf die Verteilung der Vege- tation. Hierher gehören z. B. klimatische und phänologische Karten, Dar- stellung des Lichtgenusses, der Windrichtung, Isohypsen, Isochionen, Wald- grenzen, Baumgrenzen, Höhenstufen, Bodenkarten. Als schönes Beispiel einer botanischen Klimakarte sei diejenige Köppens !°) aufgeführt. II. Autochorologische Karten, d. h. Verbreitungskarten systematischer Sippen. 1. Artenareale. a) Darstellung einer Art per Karte ent- weder durch die Punktmethode (mit oder ohne Quadrat), Flächenmethode oder Grenzlinienmethode. 5) Darstellung mehrerer Arten per Karte, wie sie besonders von der Wettsteinschen Schule und von vielen forst- botanischen Monographien angewendet wird. 2. Verbreitungskarten von Sippen höherer Ordnung. III. Synchorologische Karten, d.h. Verbreitungskarten von Pflanzen- gesellschaften. 1. Ganz detaillierte Aufnahmen kleinerer Flächen und Darstellung im großen Maßstab nach der Quadrat- oder Gittermethode und nach dem Aufnahmeverfahren von Blomquvist und von P. Jaccard. 2. Formationskarten etwas größerer Gebiete in großem Maßstab, so von Seebezirken, Mooren, Waldformationen, (resamtformationskarten eines Florenbezirkes. 3. Formationskarten in kleinem Maßstab. a) Darstellung einer Formation: Moorkarten, Heidekarten, Waldkarten. b) Darstellung sämtlicher Formationen eines Landes. c) Darstellung der 19* 292 M. Rikli. früheren Zustände und des Formationswechsels mit Hilfe von übereinander- gelegten durchsichtigen Paußkarten. IV. Epiontologische Karten bringen die Verbreitung und die Wan- derungswege einzelner Florenelemente zur Darstellung. V. Florenkarten gliedern einzelne Länder bzw. die ganze Erde in möglichst natürlich umgrenzte Vegetationsgebiete. Im Anschluß an diesen Überblick über die botanische Kartographie sollen endlich noch einige pflanzengeographische Tatsachen und Forschungs- richtungen, die mit den Wohngebieten der einzelnen Arten in mehr oder weniger engem Zusammenhang stehen, kurz erörtert werden. 1. Massenwirkung. Die Entwicklung der Kontinentalmassen in den nördlichen Teilen der Alten und Neuen Welt und die Massenerhebungen in allen Hochgebirgen der Erde bewirken stets eine polare bzw. vertikale Hebung fast aller Vegetationslinien. In Eurasien erreicht die arktische Baumgrenze bei 72° 40° N. ihren absoluten Polarpunkt im Mündungsgebiete der Chatanga auf der Taimyr- halbinsel, mithin da, wo Asiens Kontinentalmasse am weitesten nach Nor- den reicht. In Amerika liegt dieser Punkt unter ganz analogen Verhält- nissen im nördlichen Alaska (bei ca. TO’N.) südöstlich vom Cap Barrow. In Asien macht Larir sibirica Ledeb., in Alaska Picea alba (Ait.) Link den erfolgreichsten Vorstoß gegen die Arktotundra. 192) In den Alpen fallen die höchsten Erhebungen der Vegetationsgrenzen ebenfalls mit den größten Massenerhebungen zusammen. Sie liegen in der Schweiz mithin einerseits in den penninischen Alpen, andrerseits im Ber- ninagebiet des Oberengadins. Zur Veranschaulichung dieser Tatsache folgen hier einige Zahlen über höchste Vorkommnisse einiger Kulturen, Wald- bäume und klimatischer Grenzlinien in den Vor- und Zentralalpen. Voralpen ER t 4 2450 m (Säntisgruppe) Klimatische Schnee- | 9740 m (Diableretsgruppe) grenze (nach Jeger- | 2950 m (Finsteraarhorn- | 3200 m Monterosagruppe lehner '"°) gruppe, Maximum der Nordalpen). Zentralalpen HochstämmigeBaum- | 1650 m Säntis SEeR > ET 2350 m ob Zermatt | grenze (nach Imhof '°°) | 2050 m Grimsel 5a Pinus CembraL. (nach | 2100 m Arbenhorn, Kanton Bey so 2585 m Saastal Rıklı !?°) Bern 1800 m Berner Oberland | 2260 m Wallis (nach Picea excelsa Link nach L. Fischer !*) | H. Jaccard !??) | Faesskiiesti 1300 m Berner Oberland | 1650 m Joux brülee, Wallis | a nach L. Fischer !?*) (H. Jaccard '??) Kultur der Weinrebe 700 m (nach Christ °) f 1220 m ob Visp Richtlinien der Pflanzengeographie. 293 Auch im Mittelmeergebiet übt die Massenerhebung auf die Höhen- grenzen eine hebende Rolle aus. Es hat dies zur Folge, daß die Apennin- und Balkanhalbinsel die niedrigsten Höhengrenzen aufweisen, indessen die erfolgreichsten Vorstöße der mediterranen Flora gegen die Hochgebirgs- regionen in den Grenzgebieten des Westens, am Nordrand des afrikanischen Wüstengürtels und in der Nachbarschaft des kontinentalen Asiens zu suchen sind. M. Koch 195) entnehmen wir in Metern folgende Mittelwerte (M) bzw. Höchstwerte (H) von Höhengrenzen des Mittelmeerbeckens: | | Iberische | - Vorder | Nord- | Halbinsel | Italien | Balkan | Asien | Afrika MediterraneVegetationM.| 700 650° 2 550° IA 930 Hl. .1470 | 800; |: ) 625 | zo ee Waldgrenze:....... M.| 1820 | 1800 | 1850 | 1960 2050 H.| 2280 | 2000 2060 2600 | 2200 Arbutus Unedo: ..... M.| 8% 25 | 70 730 | 1400 | A. Andrachne. | H.|, 1200 850 750 | 980 | 1450 | Briesarborea:. ... M| 25 | Mo | 75 | "aa 7— H 1700 1200..." F78I0 9 WERE u Dibaum- 2 u. 1.720, 0M, 20 | 590 | 20 | 48 935 | H.| 1200 920 750 | 850 1280 | Steineiche:. ..... M.| 1200 900 | 1010 — 1930 H.| 1900 | 1850 | 1600 | — 2700 Pinus halepensis: . . M, 1065 | 700 | 600 20 7 1218 H.| 1200 700 1000 1137 1700 | | Die verhältnismäßig unbedeutenden Abweichungen von der allgemeinen Regel finden ihre Erklärung teils in den örtlichen Verhältnissen, teils in dem starken Zurücktreten bzw. Fehlen einzelner Arten in bestimmten Partien des Mediterrangebietes. 3. Wanderungsbahnen und Wanderungshindernisse. Meere, Flüsse, Gebirgszüge beeinflussen oft in recht augenfälliger Weise die Verbreitung der Gewächse. An dieser Stelle soll nur kurz von der pflanzengeographischen Bedeutung der Gebirge die Rede sein. Eine allgemeine Betrachtung der Verbreitungsgesetze, die übrigens auch durch theoretische Frörterungen unterstützt wird, ergibt, daß Meridiangebirge wichtige Verbreitungslinien für nordsüdliche und süd- nördliche Wanderungen arktischer Pflanzen bzw. südlicher Oreophyten dar- stellen. Kjölen, Ural, Werchojansker Scheidegebirge, Stanovoigebirge, Rocky Mountains und Allerhanies sind die wichtigsten Linien, längs denen die arktische Flora zum Teil auch noch heute in mehr oder weniger ununter- brochener Reihenfolge die erfolgreichsten Vorstöße nach Süden macht. Mit 294 M. Rikli. der Entfernung von ihrem Ausgangszentrum nimmt ihre Artenzahl natur- eemäß allmählich ab. In Norwegen erstrecken sich die südlichen Vorposten dieser Wanderuneslinie bis in die Fjeldregion des südskandinavischen Hoch- landes (ca. 59° N.); im Ural reichen sie bis zum Jremel (ca. 54° N.), im Felsengebirge bis nach Utah (38° N.) und vereinzelt sogar noch südlicher. /wischen dem Werchojansker Scheidegebirge und dem Stanovoigebirge einerseits, dem Jablonoigebirge und der mittelasiatischen Gebirgswelt andrerseits ist die Verbindung auch heute noch so intensiv, daß eine erößere Zahl von arktischen und zentralasiatischen Pflanzen hier von den Niederungen des Nordens bis zu der Gebirgswelt des Südens und umge- kehrt nahezu kontinuierlich verbreitet ist. Die Alleghanies stehen jetzt mit der arktischen Region in keiner direkten Verbindung mehr (Nordpunkt bei ca. 42° 50° N.), wohl war dies aber zur Glazialzeit der Fall. Damals gelangten arktische Pflanzen in dieses Gebirge und verbreiteten sich weiter nach Süden. Als Relikte haben sie sich daselbst vielfach bis heute zu halten vermocht. Umgekehrt bilden Gebirgssysteme, die mehr oder weniger parallel zu den Breitegraden verlaufen, das heißt von Westen nach Osten streichen, für dieses Formelement bald ein erhebliches Verbreiterungs- hindernis, bald ein Refugium. So hat z. B. das Alpensystem im weitesten Sinn des Wortes, von den Pyrenäen bis zu den transsilvanischen Alpen und dem Balkan, der Aktionssphäre der arktischen Flora Halt geboten. Nur wenige Arten haben das Hindernis zu überschreiten vermocht. Drei- mal scheint, von nördlichen Gegenden ausgehend, eine „Pflanzenwelle“sich nach Süden ausgebreitet zu haben, jedesmal hat sie an einem solchen Gebirgssystem gebrandet und damit ihre Südgrenze gefunden. Von diesen drei Pflanzenwanderungen sprechen die arktischen Florenbestandteile der Hochalpen, diemitteleuropäisch-silvestren Elemente vielerhöherer Gebirgsteile der Mittelmeerländer, die mediterrane Flora der Hochalpen des Sahara-Atlas. Letztere bildet mit zahlreichen Arten unter denen wir Rosmarinus officinalis L., Quercus Ilex L. var. ballota Desf. p. sp., Juni- perus Oxycedrus L. und I. phoenicea L. hervorheben, mediterrane Inseln (ca. 45°%/, der Gesamtflora 19%), mitten hineingesetzt in die Hochsteppen- vegetation und in die Wüstenflora des Nordrandes der Sahara. Auf dem Djebel Mekter bei Ain Sefra, dessen Gipfel 2061 »» erreicht, hatte ich am 6. April 1910 Gelegenheit, mich von dem starken mediterranen Floren-Einschlag der höheren Stufen des Sahara-Atlas aus eigener Anschauung zu überzeugen. !97) Meridiangebirge bilden dagegen öfters trennende Schranken zwischen West und Ost. Wir erinnern an das Felsengebirge und den vollständig verschiedenen Charakter der Pflanzenwelt Kaliforniens und der Prärien- eebiete des Mississippibeckens, ferner an den Ural, der für manche asiatische Arten zu einem Hindernis weiterer Ausbreitung geworden oder doch die Wanderung nach Westen verzögert hat. Pinus Cembra L. ist nach Westen nur bis zur Dwina vorgedrungen, Alnus viridis (Chaix.) Lam. u. DC. und die Pichtatanne (Abies Pichta Forbes) reichen in ihren letzten vorgeschobensten Richtlinien der Pflanzengeographie. 295 Posten nur etwa bis Mesen. Umgekehrt hat das Alpensystem die Ein- wanderung bzw. Erhaltung östlicher Steppenelemente begünstigt; es sei nur an Stipa, an das Edelweiß, an Hedysarum, an Astragalus und Oxy- tropis-Arten erinnert. 3. Florenisolierung. Da, wo durch längere Zeiträume Wanderungs- hindernisse einen Florenbezirk von seiner Verbindung mit der übrigen Welt entweder vollständig trennen oder doch die Wechselbeziehungen auf ein Minimum herabgesetzt werden, sind die Verhältnisse gegeben, die zur Sonderentwicklung einer Flora führen müssen. Solche Gebiete sind reich an Endemismen, das heißt an Arten mit beschränkten, zuweilen sogar punktförmigen Verbreitungsarealen. Ozeanische Inseln, die durch aus- gedehnte, tiefe Meere von den benachbarten Kontinenten getrennt sind, Wüsten und gewisse Steppengebiete, wo die Individuen in so lockerem Verbande auftreten, daß jedes für sich gewissermaßen ein Einsiedlerleben führt, Gebirgslandschaften, die sich nicht aus langen, zusammen- hängenden Gebirgszügen, sondern aus einzelnen, durch Niederungen ge- trennten Gebirgsstöcken aufbauen, sind die bevorzugten Bildungsherde des Endemismus. Der Prozentsatz an Endemen wird umso größer sein, je ab- gelegener der Florenbezirk ist, je ungünstiger seine Verbindungen mit der übrigen Welt sich gestalten, und je länger die Isolierung angedauert hat. Zahlreiche in ihrer Verbreitung engbegrenzte Arten, endemische Genera, deren nächste Verwandte auf verschiedenen, weit voneinander entfernten Festländern zu finden sind, und da. wo genügend Feuchtigkeit vorhanden ist, auch ein hoher Prozentsatz an Farnen sind die wesentlichen Merk- male isolierter Florenentwicklung. Hier zunächst einige Beispiele des Endemismenreichtums einzelner ozeanischer Inselgruppen. :#) In den aufgeführten Zahlen haben wir je- weilen die Anthropochoren. d. h. die nachträglich durch den Menschen eingeschleppten Arten außer Betracht gelassen. St. Helena zählt 65 Gefäßpflanzen: sämtliche 38 Blütenpflanzen sind endemisch, dazu kommen noch 12 einheimische Farne. Es ergeben sich also 50 Endemismen, d. h. 77°/, der Gesamtflora. Unter den Blütenpflanzen sind 5 endemische Genera. Von den 15 nicht einheimischen Farnen sind 10 in den Tropen allgemein verbreitet, 5 sind afrikanisch, 1 amerikanisch und Asplenium lanceolatum Huds. ist außer in Afrika auch in Europa ver- treten. Sandwich-Inseln. Von den 860 Spezies dieser Inselgruppe sind 74:6°/, endemisch; sie umfassen 155 Farne (18°/,) und 705 Blütenpflanzen, davon sind nicht weniger als 653 (92°/,) endemisch. Die Verwandtschafts- beziehungen weisen hauptsächlich auf Amerika, zum Teil auch auf Australien und Neuseeland. Juan Fernandez-Inseln, westlich von Chile. Nach Johow 1°) sind von den 143 Arten 42 Farne (29°/,). Endemismen gibt es 69 (48°/,), darunter finden sich mehrere sehr isolierte Formen, wie die Lactoris Fernandeziana Phill., die nach A. Engler2°) sogar eine eigene Familie bildet und 296 M. Rikli. Thyrsopteris elegans, ein monotyper Baumfarn von uraltem, an karbo- nische Farne anklingendem Typus. 201) Galapagos-Inseln. Sie zählen nach Hooker?":) 499 Gefäßpflanzen, davon sind 205 (41°/,) endemisch; dazu kommen aber noch 34 endemische Varietäten. Von den 52 Farnen (10'4°/,) sind dagegen nur 5 endemisch. Besonders befremdend ist jedoch die Tatsache, dab jede endemische Art in der Regel nur auf einer oder auf wenigen Inseln vorkommt und auf den anderen von differenten, aber nahe verwandten Spezies derselben Gattung vertreten wird. Mit Leichtigkeit könnten diese Beispiele noch bedeutend vermehrt werden. Von kontinentalen Endemismen, die nur ausnahmsweise die Zahlen der ozeanischen Inseln erreichen oder gar übertreffen, sei nach E. Bonnet 203) der Endemismus der Atlasländer aufgeführt: Marokko 8°/,, Algerien 15°6°/o, Tunis 1'4°/,, Tripolis und Oyrenaika 48°/,, Ägypten und Marmarika 38°). Nach Diels 2°%) zählt Westaustralien sogar 80°, Arten, die nur in diesem Gebiet autochthon auftreten und ist damit das an Endemen reichste Land der Erde. Allerdings darf man aus der rohen Statistik der Endemen nicht zu weitgehende Schlüsse über die Eigenart einer Flora ziehen, und das schon deshalb nicht, weil es recht verschiedene Grade und Arten von Ende- mismus gibt. Zur Ilustration dieser Tatsache wollen wir noch den mir aus eigenen Beobachtungen etwas näher liegenden Endemismus der Canaren, der Balearen und denjenigen Korsikas miteinander vergleichen. Nach Fr. Sauer?) um- faßt die Canarenflora 1296 Phanerogamen, davon sind jedoch 490 Spezies als eingeschleppt oder eingeführt von unserer Betrachtung auszuschalten. Die eigentliche Canarenflora zählt somit 306 Arten 20%), davon sind 414 endemisch, d.h. nur auf den Canaren, sei es auf allen, sei es nur auf einzelnen Inseln einheimisch, das sind 51°4°/,, für eine verhältnismäßig so küstennahe Inseleruppe eine ungewöhnlich hohe Zahl. Legt man der Be- rechnung die gesamten makaronesischen Endemen, d.h. alle Arten zu- erunde, die auf die atlantischen Inseln (Azoren, Madeira, Canaren, Kapverden) beschränkt sind, so erhöht sich die Zahl auf 477 207) (59/ı). Diese Endemen sind durch eine Reihe gemeinsamer,Merkmale, die man als atlantisch-insulare Facies der Inselflora bezeichnen kann, ausgezeichnet. Charakteristisch für diesen Typus sind: die Verstärkung und Verlängerung des Stammes, die Hinneigung zur starken Verdiekung oder zur Succulenz, die Rosetten- und Federbuschbildung der schmalen, öfters ebenfalls suceu- lenten Blätter; die Blütensphäre ist nicht besonders aktiv, Anthesen er- foleen oft erst nach langen Intervallen; außerordentlich stattliche Inflo- rescenzen mit meist verhältnismäßig kleinen Blüten. Entsprechend der Gleichmäßigkeit des Klimas erfolgt die Blüten- und Fruchtbildung ziem- lich regellos. Welcher Art ist nun der Insularendemismus der Canaren? Zur Be- antwortung dieser Frage wollen wir zunächst noch den Endemismus der Balearen und Korsikas, die einfachere Verhältnisse aufweisen, zu Rate ziehen. Richtlinien der Pflanzengeograpbie. 297 a) Balearen. Die spezifischen „Balearenpflanzen“ stehen in ihren morphologischen Merkmalen allgemeiner verbreiteten Mittelmeerpflanzen so nahe, daß sie nur als systematisch wenig differente Unterarten oder sogar nur als Varietäten zu deuten sind. So sind z. B.: Die Balearenpflanzen : Anderswo ersetzt durch : Cyclamen balearicum Willk. C. repandum Sibth. et Sm. Viola Jaubertiana Mares et Vig. V. odorata L. Clematis balearica Rich. C. eirrhosa L. Hippocrepis balearica Jacgq. H. valentina Boiss. Smilax balearica Willk. S. aspera L. Astragalus Poterium Vahl. A. massiliensis Lamk. etc. Die sogenannten Charakterpflanzen der Balearen dagegen sind nur relative, nicht absolute Endemismen, denn sie finden sich auch noch auf dem Kontinent und in der Tyrrhenis, erreichen aber immerhin auf den Balearen wenigstens zum Teil ihr Massenzentrum. So z. B.: Hypericum balearicum L. Auch isolierte Standorte in Italien. Ampelodesmus tenax Link. Katalonien, Atlas. Teuerium subspinosum Pourr. Lavandula dentata L. Valencia, Oran. Polygala rupestris Pourr. Ostspanien, Südfrankreich, Nordafrika. Rhamnus lyeioides L. hispano-mauritanisch. Helianthemum caput felis Boiss. Rocher d’Ifac, Oran. Kurz zusammengefaßt ergibt sich somit, daß die spezifischen Bale- arenpflanzen Neo-Endemismen sind, sie weisen auf eine geologisch ver- hältnismäbßig kurze Abtrennung der Inselgruppe vom spanischen Festlande hin. Dal einige relative Endemismen, von systematisch entschieden grö- ßerem Gewicht, auf Mallorca ihr Massenzentrum finden, deutet (für die Zukunft) einen beginnenden Reliktenendemismus an. b) Korsika. Wir unterscheiden zwischen korsischen und tyrrhenischen Endemen, letztere gehören nicht nur Korsika, sondern auch noch den übrigen Trümmern der ehemaligen Tyrrhenis (siehe Forsyth Major ?°®), d.h. Sardinien, den toskanischen Inseln, Mte. Argentario an. Die Zahl der En- demismen ist ziemlich stattlich, eine kritische Revision derselben wäre immerhin erwünscht. Ihre Zahl wird auf ca. 130 Arten angegeben. Was die tyrrhenischen bzw. korsischen Endemen fast alle auszeichnet, ist, daß es sich zumeist nicht nur um gute Arten handelt, sondern sogar vielfach um Arten, die in ihren Gattungen eine mehr oder weniger ausgespro- chene Sonderstellung einnehmen, einem besonderen Tribus zugezählt werden oder selbst Monotypen sind. Dafür einige Beispiele. Morisia hypogaea Gay ein monotypisches Cruciferengenus, nächst verwandt mit der Gattung Crambe, hat succulente fiederteilige Blättchen und gelbe Blüte, eine tiefe Pfahlwurzel und Geokarpie. Nur in Korsika und Sardinien verbreitet. 298 M.Rikli. Alyssum corsicum Duby ?%®), strauchig, an der Basis stark ver- holzt. Blätter silberglänzend, heterophyll; blüht intensiv goldgelb. Einziges Vorkommen im Val de Fango bei Bastia. Beispiel eines Lokalendemismus bei gleichzeitiger Massenverbreitung. Helichrysum frigidum Willd. „Das Edelweiß der korsischen Berge“, mit strahlenden weißen Hüllblättern, nimmt eine Sonderstellung im Tribus der „Stoechas“ ein. Die drei nächst verwandten Arten sind ost- mediterrane Gebirgspflanzen. Einzig auf Korsika. Stachys glutinosa ist eine tyrrhenische Pflanze von sehr xero- phytischem Bau, die ganz mit Harzdrüsen bedeckt ist und deren Äste verdorren. Nächst verwandte Arten auf Euböa, Kreta und den Bergen Süd- westpersiens. Linaria capraria, Strandfelsenpflanze, mit glauken, etwas suc- culenten Blättern. Nur auf Capraja, Elba und Gorgona. Der Endemismus Korsikas hat somit ein ganz anderes Gepräge als derjenige der Balearen. Der gute Artcharakter der korsischen Endemen, ihre öfters isolierte Stellung, systematisch innerhalb ihrer Gattung und pflanzengeographisch zu ihren nächst verwandten Arten, sowie ihre öfters beinahe punktförmige Verbreitung stempeln die meisten dieser Arten zu Palaeo-Endemismen mit ausgesprochenem Reliktencharakter. c) Canarische Inseln. Wie steht es nun aber mit den canarischen Endemen? Eine kritische Untersuchung ergibt, dab dieselbe mehrere ver- schiedenwertige Bestandteile umfaßt. Zum Teil sind es: I. Neo-Endemismen. Hierher. 1. Zahlreiche insular-atlantische Varietäten mediterraner Arten: Hedera helix. L. v. canariensis Webb et Berth.. Arum italicum Mill. v. canariense Webb et Berth. Notolaena Marantae R. Br. v. canariensis Buch.. Asparagus albus L. v. pastorianus Webb et Berth. usw. 2. Insular-atlantische Arten mediterraner Verwandtschaft. 307. B.: Tamus edulis Lowe, nächstverwandt mit T. communis L. Pancratium eanariense L., nächstverwandt mit P. maritimum L. Atractylis Preauxiana Sch. Bip. (Cran Canaria), nächstverwandt mit 4A. cancellata L. Artemisia canariensis Lees., nächstverwandt mit A. arborescens L. usw. 3. Die Hauptmenge der höheren Gebirgsflora: Viola cheiranthifolia H. et B. der Gipfelregion des Teyde, verwandt mit V. tricolor L. V. Palmensis W. B. von der Insel Palma, verwandt mit V. lZutea Sm. Silene nocteolens W. B., verwandt mit 5. nutans L. usw. II. Palaeo-Endemen, und zwar sind zwei Fälle zu unterscheiden: x) Relikten oder passive Endemen, vielfach Monotypen; Arten, die in ihren Formen erstarrt sind, zumeist Überbleibsel der Tertiärflora: Richtlinien der Pflanzengeographie. 299 Dracaena Draco L., Pinus canariensis Chr. Sm., Viburnum rugosum Pers., Oreodaphne foetens Nees., Pleiomeris canariensis D. C., Phoenix Jubae Webb et Berth. usw.; es sind dies Arten, die zum Teil in identischen, zum Teil in nahverwandten Formen im oberen Tertiär von Spanien und Südfrankreich nachgewiesen worden sind. 8) Aktive Palaeo-Endemen, wohl die interessanteste Gruppe. Es sind das nicht aussterbende Monotypen, die ihr Variabilitäts- und An- passungsvermögen eingebüßt haben, sondern in regem Fluß befindliche Formenkreise. L. Diels hat neuerdings (1908?!) diesen Vorgang in prägnanter zutreffender Weise als „endemischer Progressivismus* bezeichnet. So umfaßt die Gattung Sempervivum mit den nahverwandten Genera Monanthes, Greenowia, Aconium, Aichryson, nicht weniger als 59 endemische Arten; die Echien sind zu stattlichen Sträuchern geworden und zählen 13 Spezies; die Gattung Statice, die „sempervivas de mar“ weisen 9 Endemen auf, die Gattung Sonchus ist durch die endemische, 14 baumartige Typen umfassende Sektion Dendrosonchus vertreten. Die Sektion Pachyclada der Gattung Euphorbia zählt 7, die Sektion Rho- dorrhiza von Gonvolvulus 6 Endemismen. Diese Formenkreise bestehen somit nicht aus scharf ausgeprägten, systematisch isolierten Arten. Es sind nah verwandte Typen, deren gegen- seitige systematische Abgrenzung oft auf nicht unerhebliche Schwierig- keiten stößt. Doch sind viele dieser Arten von sehr beschränktem Auftreten und öfters hat jede Insel ihre ihr speziell eigentümlichen Arten, die auf den Nachbarinseln durch vikariierende Spezies vertreten sind. Ein ganz ähnliches Verhalten ist, wie bereits erwähnt, von den Galapagosinseln be- kannt. DB. L. Robinson 2!) hat den Versuch gemacht, für die Galapagosinseln eine Erklärung dieses sonderbaren Verhaltens zu geben. Er nimmt an, die Samen der gemeinsamen Muttersippe jeder solchen Spezies- oder Varietäten- gruppe seien zu verschiedenen Malen, aber in sehr langen Intervallen nach den Inseln gelangt. Die Deszendenten des zuerst gekommenen Samens haben die betreffende Insel an den ihr zusagenden Standorten besiedelt. Bei der Ankunft der nächsten Samenzufuhr sei deren insulare Anpassung schon so weit fortgeschritten gewesen, daß der neue Ankömmling nicht mehr festen Fuß zu fassen vermochte, oder doch wenigstens durch Kreu- zung in der einheimischen Rasse aufgegangen ist. In solcher Weise hätten sich auf den verschiedenen Inseln infolge zufälliger Samenzufuhr differente Rassen herausbilden können, die sich wegen ihrer Isoliertheit allmählich zu neuen Arten entwickelt haben. 4. Variabilität an der Peripherie der Verbreitungsareale. Die genauen monographischen Untersuchungen polymorpher Formenkreise haben, wie R. v. Wettstein *!?) hervorhebt, gezeigt, daß zwischen Formge- staltung bzw. Artbildung und den Lebensbedingungen, unter denen die Pflanzen leben, die innigsten Beziehungen bestehen. Diese Beziehungen äußern sich darin, daß die weiterer Ausbildung fähigen Pflanzen sich den jeweilen neuen Existenzbedingungen anpassen. Daraus ergibt sich, daß 300 M. Rikli. wenn eine Art, die ein einförmiges, in seiner ganzen Ausdehnung an- nähernd gleiche Verhältnisse gewährendes Wohngebiet besiedelt hat, sich über dasselbe hinaus horizontal oder vertikal ausbreitet, und dabei in Gebiete kommt, wo neue zonenartig angeordnete Lebensbedin- gungen herrschen, sie sich allmählich verändern wird. Umgekehrt werden die in Anpassung an räumlich bestimmt verteilte Faktoren entstandenen Arten durch analoge Verbreitung Rückschlüsse auf ihre Entstehung ge- statten. Da die (Gebiete mit verschiedenen Lebensbedingungen stets durch Übergangsregionen miteinander verbunden “sind, so werden die neu ent- standenen Arten durch mehr oder weniger breite Zonen mit nicht hybri- den Übergangsformen charakterisiert sein. Sofern die Verwandtschaft eine sehr nahe ist, grenzen sie mit ihren Verbreitungsgebieten aneinander, schließen sich aber gegenseitig aus. Es handelt sich in diesen Fällen natür- lich hauptsächlich um morphologisch sehr ähnliche, nur graduell verschie- dene, sogenannte „petites especes“ im Sinne Jordans. Zur Veranschaulichung des Gesagten bringen wir einige Beispiele. Zunächst zwei Fälle aus meiner Monographie der Gattung Doryenium. 213) Doryenium herbaceum Vill. ist eine äußerst polymorphe Pflanze, deren Massenzentrum im nördlichen und mittleren Italien, in Dalmatien und Bos- nien liegt. In der älteren Literatur findet man eine größere Zahl von Arten beschrieben, die alle diesem Formenkreis angehören. Verfügt man über ein umfangreiches Vergleichsmaterial, so kann man, vom Typus aus- gehend, nach all diesen „petites especes“ vollkommen kontinuierlich gleitende Reihen aufstellen. Wären jedoch nur die Endglieder bekannt, so würde es sich vielleicht noch rechtfertigen, sie als besondere Arten zu unterscheiden. Auf die Beschreibung des Typus und seiner Varianten müssen wir hier verzichten, Interessenten verweisen wir auf die Originalabhandlung. Uns beschäftigt nur das Ergebnis: Der Typus bewohnt annähernd das Zen- trum des Verbreitungsgebietes, öntermedium das östliche Grenzgebiet des Areals der Gesamtart, glabratum das südliche, septentrionale das nördliche Grenzgebiet. Ähnliche Verhältnisse zeigt D. hirsutum (L.) Ser. Die verbreitetste Pflanze des Formenkreises ist ohne Zweifel v. hirsutum Bikli = (Bonjeania hirta Jord. et Fourr. p. p.), sie zieht sich in einer breiten Zone mitten durch das Verbreitungsareal der Gesamtart, von Portugal bis nach Syrien, immerhin so, daß ihr Massenzentrum dem Westen (Iberien, Südfrankreich) angehört. Das Hauptcharaktermerkmal ist, dal der Stengel keine kurzen Filzhaare aufweist, sondern nur eine zerstreute, lockere bis reichlichere lang abstehende Behaarung zeigt. Im nördlichen Grenzgebiet der Art sind zwei Varianten, die sich durch ihre bedeutend dichtere Behaarung auszeichnen, zur Ausbildung ge- langt: v. incanum (Loisl.) Ser. ganze Pflanze dicht anliegend, weiß, wollig- filzig behaart und Blüten kleiner; findet sich in typischer Ausbildung nur an der Riviera und in Nord-Korsika; ». tomentosum Ri., Blätter mehr oder weniger dicht zerstreut behaart, Stengel neben der langzottigen Behaarung Richtlinien der Pflanzengeographie. 301 noch mit kürzeren Filzhaaren bedeckt. Verbreitung hauptsächlich im nördlichen Italien, in Südtirol, Istrien und Dalmatien. Diesen nordischen Pflanzen gegenüber sind noch drei mehr und mehr verkahlende südliche Varianten zu unterscheiden: v. eiiatum Ri., Blattfläche verkahlend, Be- haarung besonders am Rande und auf dem Mittelnerv dicht borstig- wimperig. In Südspanien, Balearen, Griechenland ; v. glabrescens Ri., noch weiter verkahlend, unterer Teil der Pflanze ganz kahl, obere Blätter nur am Rande und auf dem Mittelnerv zerstreut wimperig, Mogador (Marokko), also im äußersten Südwesten “des Areals der Gesamtart; v. glabrum Schmitzlein, ganze Pflanze völlig kahl; Griechenland und nach S. Sommer auch noch auf der kleinen toskanischen Insel Pianosa. Campanula rotundifolia L., eine Art, die in Eurasien, von den süd- lichsten Vorposten abgesehen, in beinahe ununterbrochener Verbreitung vom Nordrand der Sahara, von den Gebirgen Zentralasiens und von Japan bis in den Hochnorden verbreitet ist, und in Amerika bis Colorado und Nebraska ausstrahlt und sogar gelegentlich in der Prairie zu einem ton- angebenden Bestandteil wird, entwickelt sowohl in den südlichen als auch in den nördlichen Grenzgebieten, sowie ganz besonders da, wo die Art in Gebirgsgegenden eindringt, eine Unmenge von Abweichungen verschiedenen Grades, die von den Autoren bald nur als Rassen und Formen, bald als Varietäten und Subspezies taxiert werden, indessen im Hauptverbreitungs- zentrum der Gesamtart, im großen Waldgebiet der nördlichen Hemisphäre, die Art dagegen verhältnismäßig konstant ist. Grönland hat die Varietäten uniflora Lge., arctica Lge., strieta Schum., Skandinavien v. petiolata Behm und f. grandiflora L. M. Neumann; Schott- land v. hirta Koch., v. velutina DO.; im Balkan werden nach Adamovie unter- schieden: ». euxina, v. pinifolia, v. serbica; in Dalmatien v. Velebitica V. Borbas; in Sardinien v. Forsythii G. Arcangeli; in Spanien (Alicante) v. saxwicola. In Algerien als besondere Art ©. macrorhiza J. Gay., von der wieder ». subramulosa Trab. Batt. und v. jujurensis Pomel. unterschieden wurden. Auch ©. Scheuchzeri Vill. unserer Alpen ist wohl nur eine der subalpinen und alpinen Region angehörige vikariierende Art aus dem Formenkreis des die Ebene bewohnenden Typus. Diese Liste könnte noch bedeutend vermehrt werden; eine kritische Revision des ganzen umfang- reichen Formenkreises wäre dringend erwünscht und würde wohl zu interessanten Gesichtspunkten führen. Unsere Kenntnis der geographischen Rassen- und beginnenden Speziesbildung ist ganz besonders durch zwei Methoden vertieft und be- reichert worden: 1. Durch die pflanzengeographisch-morphologische Methode, wie sie durch R. v. Wettstein und dessen Schule begründet und ausgebaut worden ist. Die beiden fundamentalen Arbeiten in dieser Hinsicht sind Wettsteins „Monographie der Gattung Euphrasia“ (1896) und die Bearbeitung der europäischen Arten der Gattung Gentiana aus der Sektion Endotricha. 214) In der bereits früher zitierten Schrift hat 302 M.Rikli. Wettstein (1898) in sehr klarer Darstellung ein zusammenhängendes Bild der Art und Weise der Durchführung einer systematischen Monographie nach seinen Prinzipien gegeben. Da es kaum möglich ist, in gedrängter Form und ohne entsprechendes Kartenmaterial über diesen Forschungszweig zu berichten, verweisen wir auf die betreffende Abhandlung. Das besondere In- teresse, das sich an diese Methode knüpft, besteht darin, daß dieselbe er- möglicht, zwei Kategorien von Sippen der europäischen Flora zu unter- scheiden, einerseits ältere Sippen, die in gleicher Form schon vor der Eiszeit existierten, welche dieselbe entweder in Europa überdauert haben oder nach Ablauf der Eiszeit in unveränderter Form wiederum eingewandert sind. andrerseits jüngere Sippen, welche erst nach Eintritt oder Ablauf der Glazialperiode hier entstanden sind — so gelangt diese Methode zur Konstatierung der Zweigspitzen des Stammbaumes mit ihren letzten Ästen. 2. Durch die variationsstatistische Methode. Sie erstreckt sich auf das Studium der Gesetzmäßigkeiten der kleinsten Abweichungen, z. B. auf die Schwankung der Blütengröße, der Blattform (Verhältnis von Länge zur Breite), der Blütenform, Zahl der Blüten im Blütenstand usw. und dies auf Grund der statistischen Methode an Hand eines möglichst umfang- reichen Beobachtungsmaterials. All diese Größen ändern sich innerhalb zweier extremer Grenzwerte. Es könnte zunächst scheinen, dal) in diesem Chaos kleinster Abweichungen keine Gesetzmäßigkeit herrscht, sondern alles nur vom Zufall abhängt. Wird aber irgend ein solches Merkmal in einer sehr eroßen Zahl von Fällen studiert und einerseits die möglichen Varianten, andrerseits die Zahl der Fälle auf ein Ordinaten- und Abszissensystem ein- getragen. so kommt man für jeden Fall und jede Gegend zu einer ganz bestimmten ein- oder mehreipfeligen Kurve, deren Gipfelpunkte sich aber bei Ausdehnung der Studien über einen gröfßeren geographischen Bezirk allmählich verschieben. Hat man eine dreigipfelige Kurve gefunden, so ist es möglich, daß bei Erweiterung der Studien auf ein größeres Areal in verschiedenen Gegenden drei verschieden eingipfelige Kurven, deren Gipfel- punkte mit den drei Kulminationspunkten der ersten Aufnahme überein- stimmen, festgestellt werden. Es ergibt sich daraus, daß die erste Be- obachtungsserie keine reine „Population“, sondern drei differente Rassen umfaßt hat. Ohne die biometrisch-statistische Methode ist es vielfach kaum möglich, solche verwickelte Komplexe zu analysieren. Die Herstellung reiner Linien 21°) ist bekanntlich für die Erblichkeitslehre von größter Bedeutung geworden. Zur Veranschaulichung des Gesagten wählen wir ein Beispiel. R. Ohodat 1%) hat gegen 30.000 Blüten von Orchis Morio L. nach der Zahl der Farbflecken des Labellums untersucht. Die Variationsgrenzen sind O und 45. Im ganzen Verbreitungsareal kehren gewisse Gipfelpunkte mit großer hegel- mäßigkeit immer wieder. Der Hauptgipfel wechselt, bei Genf liegt er bei 11, gegen den Atlantischen Ozean verschiebt er sich nach 9, in Ost- europa (Breslau) gelangen die ursprünglich sekundären Gipfel 13, 15, 17 zu größerer Bedeutung. Auf Mallorca (Balearen) endlich findet sich eine reine Richtlinien der Pflanzengeographie. 303 Rasse mit dem Gipfelpunkt auf der Zahl 5; immerhin ist diese Zahl, auch in den kontinentalen Typen, besonders in den atlantischen Populationen ent- halten. Chodat spricht sich wie folgt aus: „Cette variation (insulaire) est done contenue dans l’amplitude de lespece complexe continentale; quand meme elle ne possede aucun mode ni sur 9, ni sur 11. 13 ou 17 (le maximum de taches observees etant de 10), elle appartient ä l’extreme gauche du groupement. U’est comme si elle en avait ete isolee par selection geographique.“ So hat die Variationsstatistik hier dazu geführt, eine reine insulare, durch räumliche Sonderung bedingte Rasse festzustellen. Auch in der Planktonkunde ist diese Methode wiederholt mit Erfolg angewendet worden. 5. Florenbestandteile. — Ein Abschnitt der Pflanzengeographie, dessen Ausbau hauptsächlich den drei letzten Jahrzehnten angehört, ist die Formationslehre, die sich mit dem Studium der sozialen Vereinigung der Arten zu Pflanzengesellschaften befaßt. Bei der gewaltigen Breite, die dieser junge Wissenszweig sowohl nach der analytischen und genetischen, als auch nach der methodischen Seite angenommen hat, kann es unmöglich unsere Aufgabe sein, hier auch noch deren allmählichen Werdegang zu erörtern. Einzelne einschlägige Fragen sind wiederholt wenigstens gestreift worden. Doch ein Problem ist von so allgemeiner pflanzengeographischer Bedeutung, daß wir mit einigen Worten darauf zurückkommen müssen ; es ist die Frage der Florenbestandteile oder Florenelemente. Bei Betrachtung irgend eines Florenbezirkes kann man dessen Art- bestand nach bestimmten Gesichtspunkten in einheitliche Gruppen ein- teilen. Gruppen von Arten, welche gleichen oder doch ähnlichen Charakter besitzen, bilden je einen Florenbestandteil. Das Einteilungsprinzip liefert entweder die Ökologie oder die Pflanzengeographie. Die Ökologie unter- scheidet biologische und Formationselemente. Erstere umfassen Arten von gleichem oder doch ähnlichem biologischen Gesamtcharakter, also z. B. Parasiten, Xerophyten, Tropophyten, Polsterpflanzen usw., letztere Arten, die sich zu einer einheitlichen Formation zusammenfinden. Sehr oft kommt es jedoch vor, daß eine Art mehreren Formationen angehört, und dies entweder schon innerhalb eines engbegrenzten Florengebietes oder der Wechsel im Formationsverbande erfolgt erst auf größere Entfernung. In pflanzengeographischer Hinsicht hat in der Verwendung des Wortes „Florenelement“ lange Zeit die größte Verwirrung geherrscht. Nicht nur wurde der Begriff von den verschiedenen Botanikern, sondern sehr oft sogar vom gleichen Autor in verschiedenem Sinne angewendet. Es ist daher ein großes Verdienst von M. Jerosch ?\7), in diese Verhältnisse Klar- heit gebracht und die verschiedenen Arten von Florenelementen scharf umgrenzt und definiert zu haben. Danach sind drei bzw. vier pflanzen- geographische Florenelemente zu unterscheiden: 1. Das geographische Element charakterisiert die jetzige Ver- breitung einer Art. Loiseleuria procumbens (L.) Desv., wird nach diesem 304 M.Rikli. Gesichtspunkt als arktisch-alpin, Macrochloa tenacissima (L.) Kth., das Halfagras, als iberisch-mauritanisch zu bezeichnen sein. 2. Das genetische Element sucht die Frage nach der Heimat der Arten zu beantworten oder, auf die. Gesamtflora eines Landes angewendet, will sie „die wichtigsten Stämme aufdecken, aus denen ihre Bestandteile hervorgegangen sind“. 21°) Bei der immer noch durchaus ungenügenden Kenntnis der gegenwärtigen Verbreitung vieler Spezies und ihrer tatsächlichen verwandtschaftlichen Beziehungen ist es für den größten Teil unserer Flora heute jedoch unmöglich, auch nur mit einiger Zuver- lässigkeit ihr Bildungszentrum festzustellen. Bei anderen Pflanzen ergibt sich wiederum die Frage, ob der nachgewiesene Ursprungsort wirklich der ursprüngliche Schöpfungsherd der Art, oder nur als deren sekundäre Heimat zu betrachten ist. Genetisch sind z. B. Ranunculus pygmaeus Wahlbg. und wohl auch Carex capitata als arktische Elemente zu bezeichnen. 3. Das historische Element gibt Aufschluß über die Zeit der Einwanderung der Arten in bestimmte Florenbezirke. So ist z. B. kanunculus pygmaeus Wahlbg. für die Alpen als Glazialpflanze, Doryenium germanicum (Gremli) Rony als aquilonares Element aufzufassen. Endlich kann man auch noch die Frage aufwerfen: auf welchem Wege ist die Art in die einzelnen Teilgebiete ihres heutigen Verbreitungs- areals eingewandert; so kommt man zur Aufstellung des: 4. Einwanderungselementes. Es ist klar, daß die Einwanderung einer Art in ein bestimmtes Gebiet nicht immer nur auf einer Route er- folgen muß, sondern daß dieselbe gleichzeitig oder sukzessive von mehreren Seiten aus erfolgen kann. Als Beispiel wählen wir Cytisus sagittalis (L.) Koch in der Nordschweiz. Sie findet sich massenhaft in der Ostschweiz. im Schaffhauser Becken, in den warmen Teilen von Nord-Zürich und dem an- grenzenden Thurgau, sowie wiederum in der Westschweiz, ist aber im Zwischengebiet sehr spärlich vertreten, ja fehlt sogar auf größere Strecken ganz. In Berücksichtigung dieser Verbreitungsverhältnisse und ihres Ver- haltens in den beiden Nachbarländern wird man zur Auffassung kommen, daß diese Art einerseits von Osten, andrerseits von Südwesten in das schweizerische Mittelland gelangt ist. Ein Vergleich der verschiedenen Florenelemente ergibt, daß die einen allgemeine Gültigkeit, die anderen dagegen nur einen relativen Wert haben. „Absolute Elemente“ bleiben sich für eine Art unter allen Punkten ihres gesamten Verbreitungsareals immer gleich, „relative Elemente“ können wechseln je nachdem sich die Untersuchung auf das eine oder andere Gebiet des Gesamtareals der Art erstreckt. Als solche relative Elemente sind zu bezeichnen: Das Formationselement, das Ein- wanderungselement, das historische Element; letzteres deshalb, weil eine Art zu verschiedenen Zeiten in die verschiedenen Teile ihres gegenwärtigen Wohngebietes eingewandert sein kann. Es ist ein Hauptdesideratum der Pflanzengeographie, die einzelnen Florenelemente für jede Art festzustellen. Von diesem Ziel sind wir jedoch Richtlinien der Pflanzengeographie. 305 noch sehr weit entfernt. Nur bei einer verhältnismäßig sehr beschränkten Zahl von Arten sind alle Elemente bekannt. In weitaus der Mehrzahl der Fälle trifft dies nicht zu, oder aber es ist unsere derzeitige Kenntnis eine derartige, daß wir zugeben müssen, daß die gegenwärtigen Ergebnisse nur als provisorischer Natur aufgefaßt werden können, mithin die Zu- weisung dieser Arten zu bestimmten Elementen nur mit einem Frage- zeichen geschehen kann. Über das Ziel, das in allen Fällen anzustreben ist, sollen die drei folgenden Beispiele Aufschluß geben : 1. Dryas octopetala L. in den Alpen. . Biologisches Element: xerophytischer Erdstrauch. . Formationselement: Zwergstrauchheide, Geröll- bzw. Felsflur. . Geographisches Element: arktisch-alpin. . Genetisches Element: nordisch (Schröter! Diels!). . Einwanderungselement: nordisch (7). Historisches Element: uralte Glazialpflanze (Engler!). DO um 2. Fagus silvatica L. in Mitteleuropa. . Biologisches Element: tropophyter Phanerophyt. 2. Formationselement: Leitpflanze des mikrothermen Laubwaldes. 3. Geographisches Element: europäisch-vorderasiatisch (7) mit Massenzentrum im atlantischen Gebiet. 4. Genetisches Element: Stammformen im Arktotertiären. 5. Einwanderungselement: altnordisch. 6. Historisches Element: Tertiärpflanze (?). N 3. Fumana vulgaris Spach. in Nord-Zürich. 1. Biologisches Element: xerophytischer erikoider Kleinstrauch, ausgesprochener Thermophyt. 2. Formationselement: Begleitpflanze lichter Föhrengehölze. 3. Geographisches Element. Mittel- und Nordmediterran, weit nach Mitteleuropa ausstrahlend. 4. Genetisches Element: mediterran. 5. Einwanderungselement: westliche Einstrahlung. 6. Historisches Element. Vermutlich aquilonares Element. 9, Die Zeit. Wenn zur Erklärung der Verbreitungsverhältnisse der Flora eines Landes auch alle bereits erörterten exogenen und endogenen Faktoren herangezogen werden, so bleibt trotzdem immer noch eine nicht unbe- deutende Zahl pflanzengeographischer Fragen vollkommen ungelöst. Woher E. Abderhalden, Fortschritte. III. 29 306 M. Rikli. kommt es, dal) im hohen Norden viele unserer Alpenpflanzen wiederum auftreten. getrennt durch ein gewaltiges Zwischengebiet, das sich über eine Entfernung von 2000—3000 km und mehr erstreckt und in dem diese Arten vollständig fehlen ? Ist die Alpenflora ein autochthones Produkt der Alpen, hat sie in denselben die Glazialzeit überdauert, oder ist sie erst postglazial eingewandert? Woher stammen die abenteuerlichen Ge- stalten der Canarenflora: der Drachenbaum, die Opuntia canariensis, die Plocama u. a.m.? Wie erklärt sich das Auftreten mehrerer amerikanischer Arten im Westen von Irland: Spiranthes Romanzoviana, Eriocaulon septangulare, Sisyrinchium angustifolium usw.? Wie kommt das Rhodo- dendron ponticum des Kaukasus in die Gebirge des äußersten Südwestens der Pyrenäenhalbinsel? Die Lösung dieser und noch vieler anderer ähn- licher Fragen kann nicht auf Grund der gegenwärtigen Verhältnisse, sondern nur unter Zugrundelegung der Vergangenheit gefunden werden. Es sind pflanzengeschichtliche Probleme, die nur im Lichte erdgeschicht- licher Erkenntnisse zugänglich sind. Ihre Beantwortung setzt vielfach Verschiebungen von Meereserhebungen, eine andere Verteilung von Wasser und Land, andere Feuchtigkeits-. Wärme- und Konkurrenzverhältnisse vor- aus; Verhältnisse, die sich im Verlauf der Zeit allmählich geändert haben, deren getreues Abbild das Forscherauge aber noch in der heutigen Ver- teilung der Organismenwelt erkennen kann. An einigen wenigen Beispielen soll hier nur noch auf die Quellen verwiesen werden, die dem Pflanzengeographen zur Rekonstruktion der Florengeschichte eines Landes zur Verfügung stehen. Ein weiteres Ein- gehen auf diese Fragen würde über den Rahmen dieser Arbeit hinaus- gehen. Wir halten uns ganz an die Pflanzenwelt Mitteleuropas. In meisterhafter Weise hat es unser genialer Landsmann Oswald Heer verstanden, auf Grund seiner sorgfältigen Untersuchungen der pflanz- lichen Fossilien zahlreicher tertiärer Fundstellen des schweizerischen Molasse- landes (Lausanne, Le Locle, Hohe Rone, St. Gallen und ganz besonders Öningen) ein Bild von dessen präglazialer Pflanzenwelt zu entwerfen. Besonders reich erwies sich die Miocänflora von Öningen, ihre Kalkmergel ergaben nicht weniger als 475 Pflanzenarten. Aus der langen Reihe ter- tiärer Pflanzengestalten, die Heer in lebendiger Schilderung vor unserem geistigen Auge wieder erstehen läßt, seien nur einige der verbreitetsten und bezeichnendsten Typen hervorgehoben. Der Wald war außerordentlich reich an Arten, viel reicher als heutzutage. Neben der Sumpfzypresse (Taxodium distichum), die in der Jetztzeit auf die Südstaaten der Union beschränkt ist, erhob sich die Wasserfichte (Glyptostrobus heterophyllus), heute nur noch in China und Japan zu Hause. Das Rotholz der kaliforni- schen Küstenwälder hat seinen Vorläufer im Langsdorfischen Mammutbaum (Sequoia Langsdorfü Br.). Unter den Laubbäumen finden wir sogar eine Reihe von Familien vertreten, die Europa jetzt ganz fremd sind oder doch nurin Kultur gehalten werden: nämlich die Amberbäume, die Platanen, die Brot- Richtlinien der Pflanzengeographie. 307 fruchtbäume, Nycetaginaceen und Proteaceen; andere dagegen waren wiederum in einer viel größeren Artenzahl vertreten, als dies jetzt der Fall ist, so die Cupuliferen, die Myvriceen, die Ulmen, Feigen- und Lorbeerbäume. Von einzelnen Typen seien zur Vervollständigung des Bildes aufgeführt: der Liquidamber mit seinen handförmig gelappten Blättern und kugeligen, stacheligen Fruchtkätzchen. Auch die amerikanische Platane war im mio- cänen Europa weit verbreitet, ebenso einige amerikanische Balsampappeln und die orientalische Lederpappel. Merkwürdig groß war der Reichtum an Ficusarten, von denen jedoch keine der europäischen Feige (Ficus Carica L.) entsprach. Einen noch zahlreicheren und wichtigeren Bestandteil des Ter- tiärwaldes bildeten die Lorbeer-, Zimt- und Campherbäume. Durch ihre Häufigkeit haben der tertiäre Campherbaum (Cinnamomum polymorphum A. Br.) und Scheuchzers Zimtbaum (C. Scheuchzeri Heer) die Bedeutung von Leitfossilien. Der tertiäre Campherbaum unterscheidet sich nur wenig vom jetzigen, einzig noch im südlichen Japan (besonders Formosa) und China spontan vorkommenden Campherbaume. Der häufigste Lorbeer war Laurus princeps, der dem canarischen Lorbeer, Laurus canariensis, am nächsten steht. Die Proteaceen sind heute auf Australien und das Kapland zurückgedrängt. Damit ist der Reichtum dieser durchaus subtropischen Flora noch lange nicht erschöpft. Dort erhebt sich ein Ebenholzbaum (Diospyros brachysepala), hier durchziehen Schlingsträucher (Dignonia Damaris Heer, Vitis teulonica A. Br.) das Dickicht. Der Tulpenbaum (Liriodendron Procaceinii Ung.), in einer nahverwandten Art in den Alleehanis der atlantischen Staaten der Union vertreten, fehlte auch nicht: dazu kamen Myrtenbäume, Ahorn- arten (besonders Acer trilobatum Stb.), Götterbäume (Ailanthus), zahlreiche Akazien, Caesalpinien, Cassien, Gleditschien und die eigentümliche aus- gestorbene Gattung Podogonium, sowie viele andere mehr. Doch neben diesen fremden Gestalten finden wir auch noch einige uns geläufigere Er- scheinungen, wie Weißdornarten, Kirsch-, Zwetschgen-, Mandel- bäume, immergrüne Eichen, Hopfenbuche, Haselnuß, Birke usw. Im Plioeän war das Klıma bereits bedeutend kühler, zahlreiche Arten sind verschwunden. Als Relikten aus der wärmeren Miocänzeit erscheinen noch im Val d’Arno bei Florenz Taxodium distichum und Juglans tephrodes. Deutsche Funde dagegen weisen auf eine Flora, die bereits ein der Jetzt- zeit ähnliches Klima zur Voraussetzung hat. Die Glazialzeit hat diese üppige Tertiärflora zum größten Teil ver- nichtet oder doch ihre Vertreter nach südlicheren Breiten zurückgedrängt. Aus diesen Gründen trägt unsere gesamte spontane Pflanzenwelt in ihren Haupt- zügen ein pflanzengeschichtlich recht jugendliches Gepräge. Für den Phyto- geographen ergibt sich daher das interessante Problem der Neubesiedelung des vom Eise verlassenen nackten Bodens, sei es aus den während den Eis- zeiten innegehabten benachbarten Refugien, sei es aus entfernteren Gebieten. Um die Florengeschichte eines Landes klarzulegen, stehen dem Bo- taniker hauptsächlich zwei Quellen zur Verfügung: Die Dokumente 20% 308 M. Rikli. früherer Erdepochen, wie Versteinerungen, Abdrücke, prähistorische Funde usw., und die heutige Verbreitung der Flora, welche unter gewissen Voraussetzungen Rückschlüsse auf die Arealumgrenzung der Arten in der Vergangenheit gestattet. Zur Gewinnung einer sicheren Grundlage genügt jedoch eine mög- lichst genaue Feststellung der jetzigen Verbreitungsverhältnisse noch lange nicht. Es ist durchaus notwendig, seine Schlußfolgerungen auf einer mög- lichst breiten Basis aufzubauen. Daher ist zu achten auf das Massenzen- trum der Pflanze, über die sich die Untersuchung erstreckt, bzw. des Tribus oder der Gattung, der sie angehört. Auch die systematische Stellung der Art vermag gelegentlich auf deren Ursprung und Einwanderungsge- schichte Licht zu verbreiten. Bei fossilen und subfossilen Funden ist das geologische Alter der Schicht mit der nötigen Vorsicht festzustellen. Ge- rade in dieser Hinsicht ist öfters ohne genügende Kritik vorgegangen und daher sind wiederholt verschiedenalterige Schichten identifiziert worden. Und endlich lege man einem einzelnen Aufschluß nicht zu viel Gewicht bei: er kann möglicherweise seinen spezifischen Charakter ganz lokalen Verhält- nissen verdanken, so dal) eine Verallgemeinerung nicht gerechtfertigt wäre. Von absoluter Beweiskraft sind die sicher erkannten, in der Erde liegenden Überbleibsel früherer Zeiten. Leider aber sind dieselben ver- hältnismäßig spärlich; dies gilt ganz besonders, wegen ihrer Zartheit und raschen Vergänglichkeit, für den systematisch wichtigsten Teil, die Blüte. In Norddeutschland, Dänemark, Großbritannien und ganz besonders in Skandinavien sind seit nunmehr 40 Jahren eine große Zahl intergla- zialer und postglazialer Lagerstätten mit Pflanzenresten ausgebeutet wor- den.?!?) Auch das übrige Europa hat zahlreiche glaziale Aufschlüsse ge- liefert, doch ist die Aufeinanderfolge der verschiedenen Florenbestandteile nicht so klar, wie im nördlichen Teil des Kontinentes. Als ergiebige Fundstellen erwiesen sich Süßwassermergel, Kalktuffe, Torf- moore, Schieferkohlen, feine Sand- und Lehmschichten. Die Blattreste, Holzstücke, Stengelteile, Früchte usw. der rezenten Fundstätten sind öfters so gut erhalten, als ob sie erst vor kurzem abgefallen und eingebettet worden wären. Beim Trocknen schrumpfen sie aber rasch bis zur Unkennt- lichkeit zusammen. Nur ausnahmsweise gelingt es der Präparation, die wertvollen Objekte dauernd in einem befriedigenden Zustande zu erhalten. Um die Erforschung der Glazialflora und um die Erkenntnis ihrer allmählichen Umänderung bis in die Anfänge der historischen Zeit hinein haben sich hauptsächlich nordische Forscher bemüht. Als der eigentliche Begründer dieser Richtung gilt Nathorst, er fand in A. Blytt, Gunnar Andersson, Fischer-Benzon, (0. A. Weber, R. Sernander und in anderen Autoren eifrige und erfolgreiche Mitarbeiter. In der Schweiz hat O. Heer als Pionier gewirkt, ihm verdanken wir auch die ersten bahnbrechenden Arbeiten über den Schatz an Kulturpflanzen und die Wildflora der Pfahl- bauzeit. Mit Nathorst hat C. Schröter bei Schwerzenbach im Glattal die erste schweizerische Fundstätte von Glazialpflanzen ausgebeutet. Auf die Richtlinien der Pflanzengeographie. 309 Arbeiten von E. Neuweiler und auf diejenigen von H. Brockmann-Jerosch, dessen Auffassung allerdings in manchen Hauptpunkten von der zurzeit herrschenden Anschauung wesentlich abweicht, haben wir schon an anderer Stelle hingewiesen. Für Nordeuropa, speziell Südschweden, ist durch zahlreiche Fund- stellen folgende postglaziale Besiedlungsgeschichte festgestellt worden. 1. Dryasperiode. Sie folgte in spätglazialer Zeit unmittelbar dem Rückzug der Gletscher und nahm von dem freigewordenen Land Besitz. Die Flora trägt durchaus arktisches Gepräge. Leitpflanzen sind eine Reihe von Arten, die uns als Bestandteile der arktischen Zwergstrauchheide, der Fjeldformation oder der Schneetälchenflora bekannt sind, nämlich in erster Linie die Silberwurz (Dryas octopetala L.), die in diesen Ablagerungen kaum je fehlt, alsdann eine Reihe von Gletscherweiden: die Polarweide (Saliz polaris L.), die Krautweide (Salix herbacea L.), die Netzweide (8. reti- culata L.), auch einige größere Weiden, wie $. lanata L. und $. glauca L. finden sich hin und wieder. Etwas später stellte sich auch die Zwergbirke (Betula nana L.) ein. Nicht in allen Schichten nachgewiesen, aber doch offen- bar ziemlich verbreitet, sind Empetrum nigrum L., Vaceinium uliginosum L., Oxyria digyna (L.) Hill, Loiseleuria procumbens (L.) Desv., Diapensia lapponica L., Polygonum viviparum L., Saxifraga oppositifolia L. ete. Ganz besonders muß aber betont werden, daß in diesem Horizont keinerlei Baumreste, ja nicht einmal Pollen von Bäumen angetroffen worden sind. Man muß demnach annehmen, dal Wald in nächster Nähe nicht vorhan- den war. Für die Waldlosiegkeit spricht auch das häufige Vorkommen von Renntierresten. 2. Espen- und Birkenperiode. Die ersten Bäume, die sich ein- stellten, waren Espe (Populus tremula L.) und nordische Birke (Betula pubescens Ehrh. = B. odorata Bechst.). Da beide Arten auch heute noch in den insularen Gebieten bis an die arktische Wald- und Baum- grenze vordringen, dürfen wir annehmen, daß diese subarktische Zeit einer feuchten Klimaperiode entsprach. Viele der vorher genannten Pflanzen ge- hören auch noch dieser Zeit an. daneben stellen sich jedoch neue Arten ein: hochwüchsige Weiden, die Eberesche (Sorbus aucuparia L.) usw. 3. Kieferperiode, gekennzeichnet durch das Auftreten der Wald- führe (Pinus silvestris L.). Die Stämme sind meistens in Torf einge- bettet. sie haben wohl einst auf Torfboden gestanden und sind mit zu- nehmendem Gewicht eingebrochen. Da die Kiefer in Dänemark offenbar schon früher vorhanden war. dürfte sie von dort in Begleitung vieler Sträucher und Stauden nach Skandinavien eingewandert sein. Empetrum wird noch ziemlich reichlich angetroffen, doch hat sie, wie Drude hervor- hebt, in Mitteleuropa später mit eindringenden Steppenpflanzen zu kämpfen. In dieser Schicht findet man in Dänemark die ersten Steinwerkzeuge. 4. Eichenperiode, damit bekommt die ganze Flora einen süd- licheren Anstrich. denn mit der Eiche stellten sich eine ganze Reihe wärme- bedürftigerer Laubbäume ein, so besonders die Hasel (Corylus Avellana L.), 310 M. Rikli. welche. wie die schönen Untersuchungen von @. Andersson lehren, zeitweise in Skandinavien bedeutend weiter nach Norden vordrang. als dies jetzt der Fall ist. An mehreren Profilen konnte nachgewiesen werden, wie die Kiefer von den neuen Eindringlingen allmählich zurückgedrängt wurde. 5. Die Fichtenperiode. Die Fichte (Picea excelsa Link) ist offenbar von Südosten eingewandert, daher kam sie verhältnismäßig spät nach Skandi- navien, später als nach Mitteleuropa, wo sie unmittelbar der Kiefer folgte- 6. Die Buchenperiode. Entsprechend ihrer größeren Frostempfind- lichkeit dringt jedoch die Buche, ähnlich der Eiche, nicht so weit nach Norden als die übrigen Holzarten. Das Klima dieser subatlantischen Periode war wieder feuchter. In dieser Schicht wurden in Norwegen die ersten Steinwerkzeuge gefunden. Da die Buche schon im Tertiär in Mitteleuropa vorhanden war, ist sie wohl zur Eiszeit nach SW. zurückgedrängt worden. Von diesem Refugium aus, wo sie auch jetzt ihr Massenzentrum hat, ist sie nachträglich wieder allmählich nach Zentral- und Osteuropa einge- wandert, doch fehlt sie schon dem nordöstlichen Deutschland und berührt nur noch in Polen und Schlesien russisches Gebiet. Zwischen Buche und Fichte herrscht ein lebhafter Wettbewerb. Für Süddeutschland gibt R. Gradmann eine anschauliche Schilderung des Kampfes dieser beiden Baumtypen um die Vorherrschaft 22°): „In einer Zeit, da der Urwald noch nicht durch mächtige Rodungen unterbrochen und zerstückelt war, muß zwischen Fichte und Buche, die vermöge ihres geringen Licht- bedürfnisses allen anderen Baumarten im Kampf um den Standort überlegen sind, ein unaufhörlicher Grenzstreit getobt haben. Fassen wir die gegen- wärtigen Verbreitungsverhältnisse innerhalb Süddeutschlands als Ergebnis dieses Kampfes auf, so lassen sie sich auf folgende Regeln zurückführen: In der Tiefenregion bis zu 400 m aufwärts ist die Buche unbedingt und auf allen Bodenarten der Fichte überlegen. Daher ist in dieser Re- gion die Fichte nirgends einheimisch, trotzdem sie sich in der Kultur lebenskräftig erweist. Auf der oberen Stufe der Bergregion, ungefähr von 1000 m an, ist umgekehrt die Fichte unbedingt und auf allen Bodenarten überlegen; sie herrscht in dieser Höhe auch im Jura und in den Kalkalpen. Die untere Bergregion zwischen 400— 1000 m ist der eigentliche Schauplatz des Kampfes. Für dessen Entscheidung gibt einerseits die Bodenbeschaffenheit, andrer- seits die Nachbarschaft ausgedehnter Nadelholzgebiete den Ausschlag. In erster Linie erlangt die Fichte auf Sand und sandigem Lehm ein ent- schiedenes Übergewicht, auf jedem Kalkboden kann dagegen die Buche das Feld behaupten, wenn sie nicht unter dem Einfluß der starken Expan- sionsfähigkeit des Nadelwaldes (infolge reichlicher und regelmäßiger Samen- erzeugung) so zurückgedrängt wird, daß sie sich nur auf dem trockenen Kalkboden zu halten vermag. Diese Verhältnisse erklären uns, wie die Buche im Gebiet der schwäbischen Alb in den Ruf kommen konnte, kalk- hold oder xerophil zu sein. trotzdem sie tatsächlich weder das eine noch das andere ist, vielmehr auf kalkarmen Lehmböden und in feuchtem Klima Richtlinien der Pflanzengeographie. 311 ihr treffliches Fortkommen findet und alle Wälder beherrscht. sobald sie nur von der gefährlichen Konkurreuz ihrer Nebenbuhlerin befreit ist. In der Gegenwart sind die Torfmoore im Rückgang begriffen. Auch da, wo nicht durch wirtschaftliche Verhältnisse die Moore durch Entwäs- serung und andere Ameliorationsarbeiten der Kultur unterworfen werden, beobachtet man vielfach ein Austrocknen derselben und ihre Verdrängung durch Heide oder Wald. Zum Schluß soll endlich noch an Hand weniger Beispiele gezeigt werden, wie unter Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Arten die genaue Kenntnis der jetzigen Verbreitungsverhältnisse öfter Rückschlüsse auf die Florengeschichte gestattet. In diesem Zusammenhang komme ich nochmals auf die Arve (Pinus Cembra L.) zu sprechen. Meine Studie über die Arve in der Schweiz hat nicht nur in den nördlichen Kalkalpen. sondern auch in einem Teil der Zentralalpen ein außerordentlich zerstückeltes Verbreitungsareal festgestellt. Aber fast überall war es auch möglich, durch subfossile Funde in Torf- mooren oder durch alte Urkunden nachzuweisen, dal) das Areal einst viel geschlossener war als heuzutage. Bisher war man nun stets geneigt anzu- nehmen, daß Pinus Cembra L. zur Glazialzeit von ihrer nordischen Heimat aus über Mittel- und Süddeutschland nach dem schweizerischen Molasse- land und ins Alpengebiet eingewandert, und daß nach Schluß der Eiszeit das annähernd zusammenhängende Areal infolge des der Arve immer weniger zusagenden Klimas mehr und mehr zerstückelt worden sei. Diese Auffassung muß heute als irrig zurückgewiesen werden. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dal) trotz der eingehenden monographischen Bearbeitung der Torfmoore durch J. Früh, 0. Schröter und E. Neuweiler ete., bisher im schweizerischen Mittelland noch kein einziger fossiler oder auch nur subfossiler Arvenfund gemacht worden ist. Es ist kaum anzunehmen, dab spätere Forschungen zu einen anderen Ergebnis führen werden. Dieses negative Resultat läßt nur zwei Erklärungen zu: entweder muß die Ver- bindung des nordischen und alpinen Arvenareals in eine viel frühere Zeit zurückverleet werden oder diese Verbindung hat nur im ostalpinen Gebiet stattgefunden und die Arve ist von den Ostalpen aus, längs und im Alpenzug nach Westen und Südwesten vorgedrungen, sie hat mit an- deren Worten das schweizerische Mittelland nie bewohnt. Die Tatsache, daß sich die alpine von der nordischen Arve durch eine ganze Reihe, allerdings vorzugsweise biologischer Merkmale unterscheidet, läßt die An- nahme gerechtfertigt erscheinen, daß die Einwanderung von Pinus Cembra L. aus ihrer nordischen Heimat ins Alpengebiet jedenfalls schon in den frü- heren Abschnitten der Glazialperiode erfolgt ist; die heutigen Verbreitungs- tatsachen legen ferner nahe, sich diese Einwanderung als von Osten über Waldaihöhe, Karpathen und Ostalpen und nicht vom Norden über die mitteldeutsche Gebirgsschwelle erfolgt, zu denken. 312 M.Rikli. Auf Grund sorgfältiger pflanzengeographischer und systematischer Studien über die Beteiligung des mediterranen Florenelementes am Aufbau des Pflanzenkleides der Schweiz kam H. Christ”) 1896 neben der schon früher vorgenommenen Ausscheidung des spezifisch endemischen Elementes der Mittelmeerflora und einiger Gruppen von Mittelmeergewächsen ur- sprünglich fremder Herkunft (östliche Steppenpflanzen, südliche Gebirgs- pflanzen) zur Aufstellung eines neuen, von ihm als altafrikanischer Bestandteil unserer Flora bezeichneten Elementes, einer Gürtelflora xero- philen, nicht tropischen Charakters, die einst rings um Afrika verbreitet war, aber auch tief in den Kontinent und auf die Inseln übergriff. Diese Flora ist eine Einheit, und diese Einheit wird nicht nur durch den Ha- bitus und ihre biologische Eigentümlichkeiten, sondern auch durch die systematische Verwandtschaft bezeugt. Diese Flora hat ihr heutiges Zen- trum in Südafrika. Sie hat sich überall da noch zu halten vermocht, wo der xerophile Charakter des Landes sich gleich geblieben ist, während sie da, wo die Wüste eindrang oder wo feuchte Länderstriche die äquatoriale Waldflora ermöglichten, durch andere Florenbestandteile unterbrochen worden ist. Spuren dieser Flora lassen sich nicht nur durch das ganze Mittel- meerbecken, sondern selbst noch bis ins nördliche Mitteleuropa verfolgen. Ein berühmtes Beispiel, auf das schon von A. Engler (Berlin) hinge- wiesen wurde, ist die gemeine Alpenheide (Erica carnea L.). Sie ent- stammt einer Sektion der Gattung Erica, von welcher ungefähr 50 Arten im Kapland wachsen, während die Krica carnea deren einziges, nicht afrikanisches Glied ist. Aber nicht nur in der systematischen Verwandt- schaft, auch biologisch ist diese Heide bei uns ein Fremdling: sie ist, wie Christ hervorhebt, ein Winterblütler; die Blüten sind schon im Herbst nicht nur vorgebildet, wie bei so vielen Alpenpflanzen, sondern bereits völlig entwickelt und brauchen nur die ersten Sonnenstrahlen am Ende des Winters, um in ihrer vollen purpurnen Pracht ganze Abhänge zu bedecken. Dies geschieht in günstigen Lagen und Jahren oft schon im Januar. Auch am Tafelberg Kaplands wachsen die nächstverwandten Eriken ebenfalls in der schwarzen Erde der Felsritzen, die, von der Wolkendecke befeuchtet, das Plateau des Berges beschatten. Dieselbe Bedeutung hat auch Polygala Chamaebuxzus L. Sie gehört einem ganz anderen Typus an als alle anderen Polygala Europas und erst in Nordafrika finden wir Arten aus derselben Gruppe, zunächst in Algerien und Marokko (P. Munbyana Boiss. und P. Balansae Coss.). Es sind großblütige, immergrüne, lederblättrige Sträucher, zum Teil mit Hinneigung zur Clado- dienbildung oder zur Blattlosigkeit. Auch sie ist ein Winterblütler, ähnlich der Erica, zu deren Vergesellschaftung sie gehört, so daß in den Voralpen selten die eine ohne die andere angetroffen wird. Auch die bei uns vor- kommenden Genera Gladiolus, Anthericum, Lotus neigen zur afrikanischen Flora. Aber auch die Stechpalme (Ilex agquifolium L.) gehört zu derselben räumlichen Verwandtschaft. Unser Ilex spielt mit seinem breiten immer- grünen Blatt in unserer Flora eine ganz isolierte Rolle; er ist ferner eine Richtlinien der Pflanzengeographie. 313 Pflanze des milden atlantischen Westens; die nächsten Ilex sind drei mäch- tige Bäume der westafrikanischen Archipele. Ilexz capensis kommt ihnen bis Westafrika entgegen. Unser Epheu, der als einziger immergrüner Wurzelkletterer unserer Zone und als baumartige Araliacae uns so fremd- artig anmutet, dürfte nach Christ dagegen wohl ostasiatischen Ursprungs sein. Die Danthonia provincialis DC. des Mte. S. Giorgio, die einzige euro- päische Art dieses Genus (neben der allerdings nahverwandten Triodia decumbens P. B.), gehört ebenfalls einer vorwiegend südafrikanischen Gattung von etwa 100 Arten an. Diese Liste ließe sich noch bedeutend vermehren; auch die Gattungen Asparagus, Oxalis, Tamus weisen auf diesen Ursprung hin. Nach ähnlichen Prinzipien behandelt Joh. Nevole*22) die Verbreitung einiger südeuropäischen Pflanzenarten: Nareissus poeticus L., der zahmen Kastanie, von Dracocephalum austriacum L., Erythronium Dens canis L.., Ruscus hypoglossum L., Cyclamen europaeum L. Auf Grund von deren Ge- samtverbreitung und deren verwandtschaftlichen Beziehungen kommt Nevole zum Ergebnis, daß diese Arten alte tertiäre Typen sind, die zur Ter- tiärzeit weit verbreitet waren; besonders besaßen sie damals im Alpen- gebiet und zum Teil auch in Mitteleuropa ein viel geschlosseneres Areal als dies heutzutage der Fall ist. Bei einigen dieser Typen konnte nachgewiesen werden, daß sie in der Postglazialzeit wieder an Boden gewonnen haben, so z.B. die Narzisse in Frankreich und Südostengland. Die inselartigen alpinen Reliktenstationen weisen auch auf eine postglaziale wärmere Periode hin. Ein ähnliches Ver- halten zeigt Castanea sativa Miller. Dracocephalum ist dagegen eine ter- tiäre xerotherme Steppenpflanze. Sie wurde in ihrem einstigen Gesamt- areal nur an einigen Stellen völlig vernichtet, an manchen Orten durch die Eiszeit offenbar gar nicht berührt; auch Erythronium hat durch die Glazialperiode offenbar in ihrer Arealumgrenzung nur unbedeutende Än- derungen erfahren. Die jetzigen Standorte sind teils ursprünglich, d.h. vorglazial, teils interglaziale Eroberungen. Bei Cyelamen wurde das Ge- samtareal an der Nordgrenze und mehrfach auch in den Alpen gestört: eine erneute postglaziale Ausbreitung dieser Art konnte jedoch nicht nach- gewiesen werden. Wir sind am Schlusse unserer Betrachtung. Die Pflanzengeographie hat in dem hinter uns liegenden Säkulum sich aus bescheidenen Anfängen einer ursprünglich rein deskriptiven und registrierenden botanischen Zweig- disziplin zu einem gut fundamentierten und aufgebauten Lehrgebäude ent- wickelt. Durch sie sind nicht nur viele kausale Zusammenhänge zwi- schen der Pflanzenwelt und dem von ihr besiedelten Wohngebiet klar- gelegt worden, sie verschafft auch einen Einblick in die äußerst ver- wickelten, wechselvollen, sich gegenseitig bald unterstützenden, bald mehr oder weniger aufhebenden Beziehungen der exogenen und endo- genen Faktoren, welche in ihrer Gesamtheit die Verbreitung der ein- zelnen Arten in allererster Linie bestimmen. 314 M. Rikli. Aber damit hat sich die Pflanzengeographie nicht begnügt. Mehr und mehr hat sich die Anschauung Bahn gebrochen, dal ein richtiges Ver- ständnis des heutigen Pflanzenkleides der Erde nur bei einer histori- schen Betrachtung der Dinge möglich ist, daß in der Vergangenheit der Schlüssel für viele Probleme, die sich uns aufdrängen, zu suchen ist. Die bisher in dieser Hinsicht gewonnenen Resultate, so dürftig sie auch noch sein mögen, haben doch bereits auf die Pflanzenwelt längst vergan- gener Zeiten ein ungeahntes Licht verbreitet: die Vegetation der Erde zu den verschiedenen Erdepochen ist wenigstens in den Hauptzügen bekannt, auch für die Phyllogenie der einzelnen Stämme des Pflanzenreiches haben diese Forschungen wichtige Ergebnisse gezeitigt. In den älteren Erdzeiten ist der Zusammenhang der Erschemungen noch vielfach rätselhaft ge- blieben, dagegen ist man über Arealverschiebungen und Wanderungen der Flora seit dem Ausgang der Tertiärzeit besser unterrichtet, obwohl auch hier die Anschauungen der verschiedenen Autoren öfters noch in Wider- streit stehen. Immerhin sind die Ziele überall vorgesetzt, die Fragestellung präziser, die Methoden der Forschung verbessert und die Arbeit eine viel intensivere und vor allem zielbewußtere geworden. Literaturnachweis. 1) ©. Schröter, Die Erforscher der Zürcherflora. I. 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Graf zu Solms-Laubach, Die leitenden Gesichtspunkte einer allgemeinen Pflanzen- geographie (1905), S. 133. #) N. Wille, Mitteilungen über einige von €. E. Borchgrerink auf dem antarktischen Festlande gesammelten Pflanzen. Nyt. Mag. f. Naturvidenskab., Bd. 40 (1902), 203 ff. 5) C. E. Borchgrerink, First of the Antarctic Continent being an Account of the British Antaretie Expedition 1898—1900. London 1901. 3) E. H. Shackleton, Einundzwanzig Meilen vom Südpol (1909), Bd. I, S. 285. Z)0l8 c Bd. 11,.8..94, 7 0:08.43, a N A NEST 3: #1) M. Rikli, Die Pflanzenwelt des hohen Nordens in ihren Beziehungen zu Klima und Bodenbeschaffenheit. Jahrbuch der st. gallischen naturwiss. Gesellsch., 1902/03 (1903). #2) Theob. Fischer, Studien über das Klima der Mittelmeerländer. Petermanns Mitteil., Ergänzungsheft 58 (1879), S. 50—97. le con: IT. #4) M. Rikli (1903), 8. 25. #5) C. Schröter, Die Palme und ihre Bedeutung für den Tropenbewohner. Neujahrsblatt d. Naturforsch. Gesellsch. in Zürich auf das Jahr 1901. 4) F. W. Schimper, 1.c. S.6-19; L.Diels, l.c. 8.45 -48; G. Volkens, Die Flora der ägyptisch-arabischen Wüste. Berlin (1887). 47) @. Volkens, Die Flora der ägyptisch-arabischen Wüste. Berlin (1887). I) er 334 316 M. Rikli. 48) M7. Rikli, Botanische Reisestudien von der spanischen Mittelmeerküste mit be- sonderer Berücksichtigung der Litoralsteppe. Zürich, Fäsi & Beer (1907). #) Ch. Flahault, Rapport sur les herborisations de la soc. bot. de France en Öranie. Bull. soc. bot. de France, Session extraord. en Oranie, avril 1906, p. CXLIX—CLIV. 50) FH. Christ, Das Pflauzenleben der Schweiz., ed. II (1882), S. 86ff. 51) 0. Nägeli und M. Rikli, Exkursion der zürch. bot. Gesellsch. nach Marthalen, dem Hausersee u. Andelfingen, 12. Juni 1904. — Bericht X der zürch. bot. Gesellsch. (1905). 52) M. Rikli, Das Lägerngebiet, phytogeographische Studie mit Ausblicken auf die Be- wirtschaftungsgeschichte. Berichte d. schweiz. bot. Gesellsch., Heft XVII (1907), Sep. S. 31—36. 55) F. @. Stebler, Alpen- und Weidewirtschaft. P. Parey, Berlin (1903), S. 16. 5) Im Jahrb. der st. gallischen naturw. Gesellsch. (1901). 55) M. Rikli, Beiträge zur Kenntnis von Natur- und Pflanzenwelt Grönlands. Actes de la soc. helvetique des se. nat; 92 session (1909), Lausanne, t. I, p. 164, Fußnote. 56), 0, Schröter und M. Rikli, Botanische Exkursionen im Bedretto-, Formazza- und Boseotal. Acti della soc. Elvetica di sc. naturali, Locarno 1903, 3. Sept., S. 51 ff. 57) M. Rikli, Die Flora des Kt. Zürich im geogr. Lexikon der Schweiz. Bd. VI (1910), S. 754. 58) H, Christ, 1. ce. S. 39. 5%) @. Hegi, Beiträge zur Pflanzengeographie der bayrischen Alpenflora. Sep. aus Bd. X, Berichte d. bayr. bot. Gesellsch. (1905), S. 124 ff. 60), 4. K. Cajander und R. P. Poppus, Eine naturwissenschaftliche Reise ins Lenatal. Fennia 19, 2 (1903). 61) M. Kronfeld, Bilderatlas zur Pflanzengeographie (1899), S. 45. #2) M. P. Porsild, Bidrag til en Skildring of Vegetationen paa Oen Disco. mit franz, Resume. Meddelelser om Grönl. Hefte 25 (1908), 8. 94/95. 65) A. F. W. Schimper, Indomalaiische Strandflora. Jena 1891, S. 152ff. &) W. B. Hemsley, On the dispersal of plants by oceanic currents and birds. Rep. on the sc. results of the voyage of H. M. Challenger during the Years 1873—76. Bo- tany, vol I, Appendix. 65) 7. Treub, Notice sur la nouvelle flore de Krakatau. — Annales du Jardin bot. de Buitenzorg, t. VII (1888), p. 213— 223. 6) 7. B. Guppy, The dispersal of plants as illustrated by the flora of the Keeling or Cocos Islands. Transact. of the Vicoria Institute 1890. 67) M. Treub, ].c. 68) 0. Penzig, Die Fortschritte der Flora des Krakatau. Annales du Jardin Bot. de Buitenzorg, 2. Serie, vol. III (1902), p. 92/93. 6°) A. Ernst, Die Besiedelung vulkanischen Bodens auf Java und Sumatra in G@. Kar- sten und H. Schenck, „Vegetationsbilder“, Reihe VII, Heft 1/2 (1909), Text zu Tafeln 11/12. "0%, M. Rikli, Vegetationsbilder aus Dänisch-Westgrönland. — @. Karsten und H. Schenck, Vegetationsbilder, Reihe VII, Heft 8 (1910), Text zu Tab. 44. 71) M. Rikli, 1. c. (1907), S. 11. ?2) Vöchting, Über den Einfluß des Lichtes auf die Gestaltung und Anlage der Blüten. Jahrb. f. wiss. Bot., XXV (1893). ') @. Klebs, Die Bedingungen der Fortpflanzung bei einigen Algen und Pilzen. Jena, G. Fischer (1896), S. 18—39 und S. 96—110 usw. "4) Andersson G. och H. Hesselmann, Beiträge zur Kenntnis der Gefäßpflanzenflora von Spitzbergen und Bären-Eiland, auf die Beobachtungen der schwedischen Polarexpe- dition im Jahre 1898 gegründet (schwed.). K.Svenska Vet. Akad. Handl. Bih., Bd. 26, Afd. II, N. 1 (1901). '5) J. Maurer ete., Bd. I (1909), S. 91—94 und S. 208. ”°) L. Weber, Resultate der Tageslichtmessungen in Kiel 1890—92. Schriften d. natur- wissensch. Vereins für Schleswig-Holstein, Bd. X (1893). Richtlinien der Pflanzengeographie. | 317 ”) E. Rübel, Untersuchungen über das photochemische Klima des Berninahospizes. Vierteljahrsschrift d. naturf. Gesellsch. in Zürich, Bd. 53 (1908), S. 207—280. "8, — ]. c. S. 219—230. "») — Pflanzengeographische Monographie des Berninagebietes. Leipzig, W. Engel- mann, 1911. #0) K. J. V. Steenstrup, Om Bestemmelsen af Lysstyrken og Lysmaengden; Meddelelser om Grönl. 25 Hefte (1902), S. 1-11, mit 4 Textfig. ®%) Morten P. Porsild, Actinometrieal observations from Greenland. Meddelelser om Grönland. Bd. XLVII (1911), pag. 359— 374. #1) ‚7. Wiesner, Untersuchungen über das photochemische Klima im arktischen Gebiete. Denkschriften d. kaiserl. Akad. d. Wissenschaften in Wien, Bd. 44 (1896). 82) E. Rübel (1908), 1. c. S. 276/277. #») — Beiträge zur Kenntnis des photochemischen Klimas der Cauaren und des Ozeans. Vierteljahrsschr. d. Naturf.-Gesellsch. Zürich, Bd. 54 (1909), S. 289—308. #*) — Beiträge zur Kenntnis des photochemischen Klimas von Algerien. Ebenda, Bd. 55 (1910), S.91— 102. 85, Th. Fischer (1879), 1. e. S. 39. 8) H.Christ (1882), 1. c. S. 123. 87) J. Hann, Bd.1, ed 2 (1897), S. 344. *®) O0. Kihlman, Pflanzengeographische Studien aus Russisch-Lappland. Acta Soc. pro Fauna et Flora Fennica, T. VI, Nr. 3 (1890), S. 79. #9) K. Roder, Die polare Waldgrenze. Diss., Leipzig 1895. EBQrTVst. 1, 8..683.(1867). »1) J. Früh, Die Abbildung der vorherrschenden Winde durch die Pflanzenwelt. Mit 1 Taf. und 2 Textfig. Jahresb. d. geogr.-ethnogr. Gesellschaft Zürich für das Jahr 1901/02 (1902), S. 57—153. 2) M. Rikli (1903), S. 73/74 und Fig. 11, 21 und 22. ®) Puenzieux, Contribution & l’etude du reboisement de la plaine du Rhöne. Schweiz. Zeitschr. f. Forstwesen, Jahrg. 1897, S. 5—8, 58—61 und 101—105. 9%) A. Günthart in C. Schröter, Pflanzenleben der Alpen (1908), S. 694—697. »5) 0. Kirchner, Blumen und Insekten (1911), S. 394. »°) P. Vogler, Über die Verbreitungsmittel der schweizerischen Alpenpflanzen. „Flora“ (1901), Bd. 89, Ergänzungsbd. u. Sep., S. 61 und 64. »") A.v. Kerner, Über den Einfluß der Winde auf die Verbreitung der Samen im Hoch- gebirge. Zeitschr. d. deutsch-österr. Alpenvereines (1871), S.154 u. ff. »®) C. Schröter und M.Rikli, Botanische Exkursionen im Bedretto-, Formazza- und Boseotal. Atti della societa Elvetica di science naturali, Locarno (1903), 86e sessione. ») K.Koldewey, Die zweite deutsche Nordpolarfahrt in den Jahren 1869 und 1870, Bd.1. 1 (1879), S. 82. 100) O. Sverdrup, Neues Land, Bd. II (1903), S. 161. 01) ©. Schröter, Das Pflanzenleben der Alpen. S. 70/71. 102) Siehe Note 41. 1%) Pflanzengeographie, 1. c. 102) @. J. Tanfiljew, Die südrussischen Steppen. Wissenschaftliche Ergebnisse des inter- nationalen botanischen Kongresses, Wien 1905 (1906), S. 381—388. le. SA. 1086) W. Pfeffer, Pflanzenphysiologie, Bd. I (1897), S. 212. 17) J.Sachs, Das Erfrieren bei Temperaturen über 0°. Bot. Zeitung (1860), S. 123/124. 108) O. Kihlman, ]. c., p. 94 ff. 109) Ed. Straßburger, Streifzüge an der Riviera ed II (1904), S. 178. 110) Sadebeck, Über die generationsweise fortgesetzten Aussaaten und Kulturen der Ser- pentinformen der Farngattung Asplenium. Berichte über die Sitzungen der Gesell- schaft für Bot., Hamburg III (1887), S. 4. un) C. Schröter, 1. ce. S. 72/73. 318 M. Rikli. 112) Fliche et Grandeau, De l’influence de la composition chimique du sol sur la vege- _ tation du ehätaignier. Annales de chimie et de physique, 5 ser., t.2 (1874). 115) O'hatin, Le chätaignier ete. Bull. soc. bot. France, 1870, p. 194. 113) 4. Engler (Zürich), Über Verbreitung, Standortsansprüche und Geschichte der Castanea vesca mit besonderer Berücksichtigung der Schweiz. Berichte d. Schweiz. bot. Gesell- schaft (1901), Heft XI, S. 29—35. 115) 0, v. Nägeli, Über die Bedingungen des Vorkommens von Arten und Varietäten. innerhalb ihres Verbreitungsbezirkes. Sitzungsber. d. königl. bayr. Akad. (1865) S. 367. 116) @. Bonnier, Remarques sur les differences que presente l’Ononis natrix eultive sur un sol ealeaire ou sur un sol sans caleaire. Bull. soc. bot. France, T. 41 (1894), p.-59. 116) Während des Druckes dieser Abhandlung gelangte eine für die Bodenfrage sehr wichtige Arbeit zur Ausgabe, konnte aber leider nicht mehr berücksichtigt werden: Gr. Kraus, Boden und Klima auf kleinstem Raum. Versueh einer exakten Behand- lung des Standortes auf dem Wellenkalk. G. Fischer, Jena 1911. 117) L. Diels, Pflanzengeographie (1908), 1. e. S. 58. 118) EB. Warming, Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie (1896), S. 332. 119) P. Knuth, Handbuch der Blütenbiologie, Bd. II. 120) R. Sernander. 121) L. Marret, Contribution a l’&tude phytog&ographique du Massif alpin. Diss., Paris, 26 S. (1909), vorläufige Mitteilung. 122) H. Jaccard, Catalogue de la flore valaisaune. Nouv. M&moires de la Soc. helv. des Se. nat., t. XXXIV (1895). 123) P. Chenevard, Catalogue des planles vasculaires du Tessin, t. XXI, Mem. de I’In- stitut National Genevois (1910). 124) Siehe auch: E. Gräntz, Auf- und absteigende Pflanzenwanderungen. Bot. Zentralbl. KEVIN, 8.187. 125) ]. c. siehe Nr. 121. 126) (, Schröter und O. Kirchner, Die Vegetation des Bodensees, II. Teil (1902), S. 58 bis 60, Heft XXXI der Schriften des Ver. f. Geschichte d. Bodensees u. Umgebung. 127) M. Rikli, Die Arve in der Schweiz. N. Denkschr. d. Schweiz. Naturf. Gesellsch., Bd. XLIV (1909), S. 341/342, 360/361 und 409. 128) P. E. Müller, Om Bjergfyrren (Pinus montana Mill.). Tidsskrift for Skovbrug, Bd. VIII, IX, XI und Sep. im Buchhandel. Kopenhagen 1887. 129) St. E.Brunies, Die Flora des Ofenberggebietes (Südost-Graubünden). Jahresber. der Naturf. Gesellsch. Graubündens, Bd. XLVIII (1906), S. 205— 228. 130) ]. ce. siehe Nr. 88. 131) (', Schröter, Der erste schweizerische Nationalpark Val Cluoza bei Zernez. Heimat- schutz Zürich (1910), Heft 3. — H. Conwentz, Beiträge zur Naturdenkmalpflege, Heft 1 (1907), 4 (1910); Naturschutzparke in Deutschland und Österreich, ein Mahn- wort. Stuttgart, Franksche Verlagshandlung, 1910: Jahresberichte I—\V der schweize- rischen Naturschutzkommission, Verhandlungen der schweiz. Naturf. Gesellsch., Jahresversammlung 89 (19079)—93 (1910). — Konr. Günther, Der Naturschutz. Fr. E. Fehlenfeld, Freiburg i.Br. (1910). ’s2) Die Erlaubnis zur Reproduktion der beiden in der schweizerischen Zeitschrift für Forstwesen (1897) erschienenen Bilder verdanke ich der Güte von Dr. F. Fankhauser in Bern. Ich benutze die Gelegenheit, auch an dieser Stelle auf diese reichhaltige Zeitschrift aufmerksam zu machen. 135) FR. Kjellmann, Aus dem Leben der Polarpflanzen. — Nordenskjöld, Studien und Forschungen, veranlaßt durch meine Reise im hohen Norden. Leipzig 1885. 22), PiGrabrer, 1.c- (1910), 8. 203/202 #5) Hans Fitting, Die Wasserversorgung und die osmotischen Druckverhältnisse der Wüstenpflanzen. Zeitschr. f. Botanik, Jahrg. III (1911), S. 209—275. 230) 1.10.,8746/47. el) 1.2C, 8.2190: =®) (©, Raunkiaer, Statistik der Lebensformen, als Grundlage für die biologische Pflanzen- Richtlinien der Pflanzengeographie. 319 geographie. Botanisk Tidskrift (1908), Bd. 29, in deutscher Übersetzung von @G. Tobler, Beihefte zum bot. Zentralbl., Bd. XX VII, Abt.2, Heft 1 (1910), S.171— 206. 139) F. Fedde, Biologische Charakterbilder für die Pflanzengeographie in „Aus der Natur“, Jahrg. III (1907/08). Eine freie Wiedergabe der Raunkiaerschen Arbeit, die besonders durch ihre reiche illustrative Ausstattung von Wert ist. 140) C, Raunkiaer, 1. ec. S. 204. 141) H. Christ, Apercu des recents travaux g&eobotaniques concernant la Suisse. Georg et Cie., Bäle, Geneve, Lyon (1907). 142) J. Früh und C. Schröter, Die Moore der Schweiz mit Berücksichtigung der gesamten Moorfrage. Beiträge zur Geologie der Schweiz, Geotechnische Serie, Lief. III (1904), A. Franke, Bern, 4°, 751 S., 4 Tab und 1 Karte. 143) A. Engler, Notizblatt des k. bot. Gartens u. Museums zu Berlin. Appendix, VII (1901), 14) W. Engelmann, Leipzig (1903). 145) (©. Schröter und O. Kirchner, Die Vegetation des Bodensees, 1. ce. s. Nr. !?®). 146) @. Hegi, Das obere Tößtal und die angrenzenden Gebiete, floristisch und pflanzen- geographisch dargestellt. Bull. herb. Boiss (1902). €, Schröter, Das St. Antöniertal im Prättigau. Landwirtsch. Jahrb., IX. (1895). 147) E. Geiger, Das Bergell. Forstbot. Monographie. Jahrb. d. naturforsch. Gesellsch. Grau- bündens, Bd. 45 (1901). — A. Grisch, Beitrag zur Kenntnis der pflanzengeographischen Verhältnisse der Bergünerstöcke. Diss., Univ. Zürich (1907). — St. Brunies, Die Flora des Ofengebietes. Jahresb. d. naturforsch. Gesellsch. Graubündens, XLVIII (1906). — H. Brockmann-Jerosch, Die Flora des Puschlav. und ihre Pflanzengesellschaften. W. Engelmann, Leipzig (1907). — Ed. Rübel, 1. e. (19)1). — Ferner E. Steiger, Bei- träge zur Kenntnis der Flora des Adulagebirgsgruppe. Verh. d. naturf. Gesellsch. Basel, XVIII (1906) und J. Coaz und ©. Schröter, Ein Besuch im Skarltal. Stämpfli & Cie., Bern (1905). 148) 7. Baumgartner, Das Kurfirstengebiet (1901). Bericht über d. Tätigkeit der St. gal- lischen naturwissenschaftl. Gesellsch. — M. Düggeli, Pflanzengeographische und wirtschaftliche Monographie des Sihltales bei Einsiedeln. Vierteljahrsschrift d. na- turforsch. Gesellsch. in Zürich (1903), Jahrg. 48. 149) (). Amberg, Beiträge zur Biologie des Katzensees. Vierteljahrsschrift Naturf., Zürich, Jahrg. XLV (1900). — T. Waldvogel, Das Lautikerried und der Lützelssee, ebenda (1900). — W. Bally, Der obere Zürichsee. Archiv. f. Hydrobiologie, III (1907). — O. Guyer, Beiträge zur Biologie des Greifensees, ebenda (1910). 150) P, Vogler, 1. c., Flora oder allg. botanische Zeitung (1901), 89. Bd., Ergänzungsband. 151) Max Oettli (1905). 152) E. Heß, Diss., Univ. Zürich (1909). 171 Seiten u. 37 Textfig. — Ferner L. H. Quarles van Ufford, Etude &eologique de la flore des pierriers. Diss. Lausanne (1909). 153) (, Schröter, Die Flora der Eiszeit. Neujahrsblatt Naturf. Zürich (1883). — E. Neu- weiler, Die prähistorischen Pflanzenreste Mitteleuropas. Vierteljahrsschrift Naturf. Zürich, Jahrg. L (1905); Pflanzenreste aus der römischen Niederlassung Vindonissa, ebenda, Jahrg. 53 (1908) ; Untersuchung über die Verbreitung prähistorischer Hölzer, ebenda, Jahrg. 55 (1910) usw. — H. Brockmann-Jerosch, Neue Fossilfunde aus dem Quartär usw., ebenda Jahrg. 54 (1909) und die fossilen Pflanzenreste des glazialen Delta bei Kaltenbrunn und deren Bedeutung für die Auffassung des Wesens der Eiszeit. Bericht über d. Tätigkeit d. naturw. Gesellsch. St. Gallen (1909) usw. 15) M. Rikli, Die Anthropochoren und der Formenkreis des Nasturtium palustre. Bericht der zürch. bot. Gesellsch. (1903). — ©. Nägeli und Thellung, Ruderal- und Adventiv- flora d. Kt. Zürich (1905). 155) P. Jaccard, Lois de distribution florale dans la zone alpine. Bull. soc. vaud. se. nat., vol. XXXVIII (1902) und Gesetze der Pflanzenverbreitung in der alpinen Region. Flora, Bd. 90 (1902); Nouvelles recherches sur la distribution florale. Bull. soc. vaud. sc. nat., vol. XLIV (1908), p. 223—270. 156) Liefg. 1 (1906): Kt. Genf v. A. Lendner; Il (1908), Binntal v. A. Binz. 320 M. Rikli. 157) Jahrg. I (1860), — Jahrg. LX (1910). Ed. Imhof in Gerlands Beiträgen zur Geophysik, Bd. IV, Heft 3 (1900), S. 241—230. 15%) Bericht d. schweiz. bot. Gesellsch., Heft XIX (1910), S. 171—224. 160%) Hauptsächlich niedergelegt in den naturwissenschaftl. Zeitschriften v. Kt. Wallis (Murithienne), Waadt und Genf, ferner S. Aubert, La flore de la vallee de Joux (1901). — A. Binz, Das Binntal und seine Flora. 1. Bericht der Realschule zu Basel, 1907/08 usw. 161) R. Chodat et S. Pampanini, Sur la distribution des plantes des Alpes austro-orien- tales et plus partieulierement d’un choix de plantes des Alpes cadoriques et veni- tiennes. Le Globe, t. XLI (1901). — J. Briquet, Le developpement des flores dans les Alpes occidentales. Extrait des result. sc. du Congres intern. de Bot. de Vienne, 1905, pag. 130—173 (1906) usw. ‘2) Die neuere Literatur findet sich zusammengestellt in: M. Rikli, Zur Kenntnis der Pflanzenwelt des Kt. Tessin., Bericht X, 1905/07 der zürch. bot. Gesellsch. (1907) und in P. Chenevard, ]. ce. siehe Note 123. 163) ]. ce. (1899), S. 28—159. 166) ('h. Flahault, Le progres de la g&eographie botanique depuis 1884, son &tat actuel, ses problemes. — Progressus rei botanicae, vol. I (1907), p. 243—317. 165) Liefg. 1 (1896)—49 (1910). 166) Bisher sind 73 Lieferungen erschienen (1911). 167) Liefg. 1 (1904)—14 (1911). 16%) Ergebnisse der pflanzengeographischen Durchforschung von Württemberg, Baden und Hohenzollern. Teil I—-IV, Beilagen zu den Jahresheften des Vereines für vaterl. Naturkunde in Württemberg, Bd. 61 (1905)—65 (1909). 169), R. Gradmann, Das Pflanzenleben der schwäbischen Alb. ed. 1 (1898). 170) P. Gräbner, Die Heide Norddeutschlands. — Vegetation der Erde, 1. e., Bd. V (1901). 171) A. v. Hayek, Monographische Studie über die Gattung Saxifraga (1905). 12) Wien 1905, im Selbstverlag des Organisationskomitees; Druck A. Holzhausen. 113) T. 1 (1871)—T. XXVI (1910). 174) Bull. I (1901)—X (1910). 175) Acta Horti Petropolitani T. XXI, fasc. 1 (1903). 176) Acta Societatis pro Fauna et Flora fennica, t. VI, Nr. 2 (1890). 158 177) H. @. Simmons, Floran och vegetationen i Kiruna. — Vetenskapliga och praktiska Undersökningar i Lappland (1910). 178) H. Hesselman, Vegetationen och skogsväxten pa Gotlands hällmarker. — Skogs- värdsföreningens tidskrift, 1908, S. 61—166. 179) G. Fischer, Jena 1904. 180) Nils Silven, Die ersten Erstarkungsstadien der schwedischen Dikotyledonen oder die Entwicklung derselben aus Samen bis zum Blühen. 1. c. Bd. 40, Nr. 2 (1906), mit 25 Tafeln (schwedisch). 151) Botany of Faeröes based upon danish investigations (1901/08), 1070 S. mit 24 Tafeln und 202 Textfiguren. #2) Meddelelser om Groenland. Bd. I (1890) — Bd. XLVH (1911). 155) The plant life of Maryland v. F. Shreve, M. A. Chrysler, Fr. Blodgett und T. Besley, Baltimore 1917, 533 S. mit 29 Tab. 184) Roscoe Pound and Fred. Clements, The phytogeography of Nebraska (1900). 185) N. Britton and A. Brown, An illustrated Flora of the northern United States, Canada and british possessions, 3 vol., 1896/98. 156, Verlag v. P. Parey, Berlin ; Heft 1 (1908) — Heft 8 (1910); im Format 20x28 cm. 157) Polygraph. Institut, Zürich, I. Decade (1900) — IV. Decade (1906). 188) B. Fedtschenko und Alex. Fleroff, Rußlands Vegetationsbilder, erscheint seit 1907. 18°) In kolorierten Tafeln. 190) siehe Noten 142, 127 und 79. "1, W. Köppen, Versuch einer Klassifikation der Klimate. Geogr. Zeitschr., VI. Jahrg. (1901), 45 S. u. 2 Karten. Leipzig, B. G. Teubner. Richtlinien der Pflanzengeographie. B2L. 192) 7. Rikli, Versuch einer pflanzengeographischen Gliederung der arktischen Wald- und Baumgrenze. Vierteljahrsschrift der naturf. Gesellsch. Zürich., Bd. XLIX (1904), S. 128—142 und Roder, ]. ce. siehe Note 89. 193) „J, Jegerlehner, Die Schneegrenze in den Gletschergebieten der Schweiz. Gerlands Beiträge zur Geophysik, Bd. V (1901), Heft 3. 194) L. Fischer, Verzeichnis der Gefäßpflanzen des Berner Oberlandes. 1875/76 und Nachträge 1880, 1892. 195) Max Koch, Beiträge zur Kenntnis der Höhengrenzen der Vegetation im Mittelmeer- gebiet. Halle a. d. Saale, C. A. Kämmerer & Cie., 1910, 310 S. u. 92 Tabellen. 196) B. P. G. Hochreutiner, Le Sud-Oranais. Bulletin du Conservatoire et du jard. bot. de Gen&ve, t. VII (1903), p- 21. 197) M. Rikli, C. Schröter und G. Tansley, Vegetationsbilder aus Algerien in Karsten und Schenck, Vegetationsbilder, Reihe IX (1911). 195) H. Graf zu Solms-Laubach, Die leitenden Gesichtspunkte einer allgemeinen Pflanzen- geographie (1905), S. 196— 203). 199) F. Johow, Estudios sobre la flora de las islas de Juan Fernandez, 1896. 200) 4. Engler, Lactoridaceae. — Engler-Prantl, Die natürlichen Pflanzenfamilien. III, 2., S. 19/20 (1891). >01) H. Christ, Die Geographie der Farne. G. Fischer, Jena (1910), S. 327. 202) J. D. Hooker, On the vegetation of the Galapagos Archipelago as compared with that of some other tropical islands of tbe continent of America. — Linn. Transaet., vol. XX (1847), p. 235— 262. 203) E. Bonnet, Enumeration des plantes recueillies par le Dr. Guiard dans le Sahara. Nouv. Archives du Museum d’hist. nat., 2 ser., V (1883); Geographie bot. de la Tunisie. Journ. de bot., IX/X (1896). 204) L. Diels, Die Pflanzenwelt von West-Australien. Leipzig 1906. 205) Fr. Sauer, Catalogus plantarum in canariensibus insulis. Diss. (1880). 206) Christ, Vegetation und Flora der canar. Inseln. Englers bot. Jahrb., V1(1885), S. 458 ff. 207) H. Christ, Spieilegium canariense. Englers bot. Jahrb., IX (1887), S. 86. 208) F'. Major, Die Tyrrhenis. Kosmos, Zeitschr. f. Entwicklungslehre, Bd. XIII. Stuttgart (1883), S. 1—17 u. 81—106. 208) M. Rikli, 1. e. (1903), S. 21. 210) L. Diels, 1. e. (1908), S. 26. 211) B. L. Robinson, Flora of the Galapagos Islands. Proceed. Americ. Academy of arts and sc., vol. XXXVII (1902), p. 77 ff. 212) R. v. Wettstein, Grundzüge der geographisch-morphologischen Methode der Pflanzen- systematik. Jena. G. Fischer, 1898. 213) M. Rikli, Die Gattung Doryenium. Englers bot. Jahrb., Bd. XXXI (1901), H. 3, S, 314—404, mit 4 Taf. 214) R.v. Wettstein (1897), Denkschriften der Wiener Akademie. 215) W. Johannsen, Erblichkeit in Populationen und in reinen Linien. 216) R.Chodat, La Biometrie et les methodes de statistique appliquees & la Botanique. Verh. d. schweiz. naturf. Gesellsch., 87. Jahresv., 1904, Winterthur (1905), S. 96—102. 217) M. Jerosch (1903), 1. e. S. 70—73. 218) 7, Diels, Genetische Elemente in der Flora der Alpen. Englers bot. Jahrb. XLIV, Beiblatt Nr. 102, Sep., 8. 8/9. 219) Die Veränderungen des Klimas seit dem Maximum der letzten Eiszeit. Eine Samm- lung von Berichten, herausgegeben von dem Exekutivkomitee des 11. internationalen Geologenkongresses. Stockholm 1910, 459 S. 220) R. Gradmann, Das Pflanzenleben der schwäb. Alb. ed. II. Tübingen 1900, T. I. S. 327. »21) H. Christ, Über afrikanische Bestandteile in der Schweizerflora. Ber. d. schweiz. bot. Gesellschaft. Heft VII (1897). S. 1—48. 222) Joh. Nevole, Studien über die Verbreitung von sechs südeuropäischen Pflanzenarten. Mitteil. d. naturwiss. Vereines für Steiermark. Bd. 46 (1910). S. 1—25, mit 6 Karten. E. Abderhalden, Fortschritte. III. 1 Die Entstehune und Erwerbune der Menschenmerkmale. few) ©) Von Prof. Hermann Klaatsch, Breslau. TEN. Einführung und die Geschichte der Hand. Die auffallende Tatsache, dab Charles Darwin in seinem Hauptwerk über die Entstehung der Arten den Menschen ziemlich unberücksichtigt gelassen und erst 12 Jahre später ihm ein besonderes Werk eingeräumt hat, sucht man sich wohl allgemein durch eine Art weiser Zurückhaltung des großen Engländers zu erklären. Er habe es zunächst nicht gewagt, die letzten Konsequenzen aus seiner neuen Lehre auch für die Krone der Schöpfung zu ziehen und habe damit aus Rücksicht auf religiöse Gesin- nungen seiner Mitmenschen gezögert. Diese Auffassung dürfte aber wohl nicht zu Recht bestehen, sondern, wie ich vermute, waren es sachliche Schwierigkeiten, die den weitschauenden Forscher zur Vorsicht mahnten. Hatte er doch als neues Prinzip den Kampf ums Dasein zur Erklärung der Vervollkommnung der Organismen eingeführt. Bei dem Versuch der Anwendung der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl auf den Menschen mußte Darwin einsehen, daß sich ungeheure Schwierigkeiten erheben, er hätte fürchten müssen, sein eigenes neues Ge- bäude in den Grundfesten zu erschüttern, wenn er die Darstellung der für das Tierreich klar und sicher erkannten Gesetze durch eine Heranziehung des Menschen kompliziert hätte. Deshalb zog er es vor, den Menschen später zu behandeln im Zu- sammenhang mit einem Prinzip, das dem des Kampfes ums Dasein direkt widerstreitet, dem Prinzip der geschlechtlichen Zuchtwahl, dessen schon im Hauptwerk aufgestellte Gesetze er nun in seine Einzelheiten verfolgt. Mit Erstaunen aber und wohl auch einer gewissen Enttäuschung wird mancher Laie als Leser wahrnehmen, daß in dem Buche über die Ab- stammung des Menschen mehr als die Hälfte gewissen Tierformen, nament- lich Insekten und Vögeln gewidmet ist, während dem Menschen nur ein kleiner Anteil zufällt. Auch wird der unbefangene Leser sich nicht be- friedigt erklären können durch die Anwendung des Prinzips der geschlecht- lichen Auslese auf den Menschen. Wenn es auch Darwin gelingt, eine An- zahl von Eigentümlichkeiten des Menschen durch die Darstellung der Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 323 sexuellen Zuchtwahl bei den Primaten im ganzen dem Verständnis näher zu bringen, so reicht doch diese Lehre absolut nicht aus, um den Menschen in seiner ganzen Eigenart zu charakterisieren. Es sind immer nur gewisse äußere Merkmale, die sich den geschlechtlichen Grundsätzen fügen. Die meist vortreffliche geistreiche Darstellung der Anfänge der höheren inneren Regungen, der Intelligenz und Moral hätte ganz gut als eine besondere Art von Zuchtwahl, nämlich der sozialen, aufgeführt werden können. Darwin beenügt sich aber meist mit dem Nachweis der Möglichkeit einer Heranbildung des menschlichen Zustandes aus solchen, wie sie sich bei den Tieren finden: besonders sucht er durch Heranziehung der Primaten die scheinbare Kluft zwischen der Menschheit und Tierwelt zu überbrücken. Was Darwin hauptsächlich für die geistige und soziale Sphäre ver- sucht, führte sein großer Anhänger und Kampfgenosse Th. Huxley!) zu- erst für die speziellen körperlichen Themata durch, indem er besonders das Skelett der Menschenaffen mit dem des Menschen verglich. Hierbei ge- langte der berühmte englische Morphologe zu dem Ergebnis, daß die Kluft zwischen den Anthropoiden, besonders Orang, Schimpanse und Gorilla einerseits, den niederen Affen andrerseits in der ganzen Höhe der Or- ganisation beträchtlicher ist, als diejenige zwischen den genannten Menschenaffen und dem Menschen. In einigen Punkten fand er den Menschen diesen, in anderen jenen Anthropoiden ähnlicher. Es kam auch Huxley in erster Linie darauf an, den Boden zu ebnen für die Lehre, daß der Mensch aus gemeinsamer Wurzel mit den ihm ähnlichen Säugetieren entsprang, und zugleich versuchte Huxley in weiteren Kreisen das Verständnis dafür zu fördern, daß eine solche na- türliche Auffassung von der Stellung des Menschen im Naturgange nichts Beleidigendes und Herabwürdigendes habe. Das Abstammungsproblem selbst hat er eigentlich nur ganz allgemein behandelt, indem er lediglich die Anerkennung für die Vorstellung zu er- kämpfen sucht, daß man aus der Ähnlichkeit im Bau auf eine gemein- same Abstammung schließen müsse. Er hat nicht gesagt, der Mensch stamme vom Affen ab, so unwissenschaftlich verfuhr der scharfsichtige Engländer nicht, sondern er stellt folgende Alternative auf (S. 105): Ent- weder ist der Mensch durch „gradual modification of a man-like ape“ ent- standen oder er stellt eine Abzweigung (Ramifikation) von dem mit diesen Menschenaffen gemeinsamen Urstock dar, In das eigentliche Thema selbst ist er ebensowenig wie Darwin ein- getreten, vor allem hat er gar nicht versucht, Gründe beizubringen für die von ihm aufgestellte und nach ihm benannte Huzxleysche Regel, dab die Variationen des Menschen bald an Orang, bald an Gorilla, bald an Schimpanse erinnern. Noch weniger ist Huxley dem Problem der Entstehung der eigent- lich menschlichen Eigenschaften näher getreten. Er spricht zwar wieder- ') Th. Huxley, Evidence as to Man place in Nature. London and Edin- burgh 1863. 21* 324 H. Klaatsch. holt von Darwins Selektionstheorie als derjenigen Anschauung, die am besten mit den Tatsachen in Harmonie stehe und daher vorläufig als Grundlage für die natürliche Auffassung des Menschen zu gelten habe. S. 107: „and I for one, am fully convinced, that if not precesely true, that hypothesis is as near an approximation to the truth, as, for example the Copernican hypothesis was to the true theory of planetary motions.“ Mit dieser Anerkennung der Lehre Darwins hat Huxley jedenfalls mehr die allgemeine Zugehörigkeit des Menschen zum Tierreich, als den speziellen Modus seiner Heranbildung gemeint, denn die Selektionstheorie, die doch den Kernpunkt von Darwins neuen Ideen bildete, wird von Huxleg gar nicht auf ihre Gültigkeit für den Menschen geprüft. Vielleicht waren es gerade Zweifel an der Anwendbarkeit dieses Prinzips auf den Menschen, die Huxleys Zurückhaltung einer absoluten Anerkennung bedingten ; gesteht er doch zu (S. 107), daß vorläufig noch nicht die natürliche Zuchtwahl als fähig erkannt ist, „to do all that is required of it to produce natural species“. Darwin selbst, an einer der wenigen Stellen seines zweiten Haupt- werkes, die von der natürlichen Zuchtwahl in Zusammenhang mit dem Menschen handeln, gibt zu (S. 67), daß er nach Kenntnisnahme der neuen Publikationen von Naegeli und Broca „wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe“. Er habe früher „die Existenz vieler Strukturverhält- nisse nicht hinreichend beachtet, welche weder wohltätig noch schädlich zu sein scheinen“ — „und ich glaube, dies ist eines der größten Versehen, welche ich bis jetzt in meinem Werke entdeckt habe“. Darwin operiert fortan nur noch auf indirektem Wege mit der natürlichen Zuchtwahl, indem er sie vermittelst der sozialen Fähigkeiten der menschlichen Vorfahren wirksam sein läßt. An einer Stelle sogar, die viel zu wenig bisher beachtet wurde, läßt er die natürliche Zuchtwahl nur als Konkurrenz zwischen Stämmen der Menschheit selbst gelten und gesteht hierbei ganz deutlich zu, daß unge- wöhnlich günstige Bedingungen für die Entfaltung der Menschheit m Er- wägung gezogen werden müssen. Der von verschiedenen Seiten, wie durch den Herzog von Argyll, gegen ihn erhobene Einwand, daß bei der Wehrlosig- keit des menschlichen Körpers natürliche Zuchtwahl schlecht auf ihn an- wendbar ist, ist offenbar von Darwin selbst deutlich empfunden worden. Bei der Verteidigung gegen diese Einwendungen läßt sich Darwin eine eanz sonderbare logische Inkonsequenz zuschulden kommen. Indem er davon ausgeht, daß starke Formen nicht sozial zu sein pflegen, meint er, daß, wenn der menschliche Vorfahre die Stärke eines Gorilla besessen hätte, er schwerlich sozial geworden sein würde „und dies würde in äußerst wirksamer Weise die Entwicklung jener höheren geistigen Eigenschaften beim Menschen, wie Sympathie und Liebe zu seinen Mit- menschen, gehemmt haben. Es dürfte daher von einem unendlichen Vorteil für den Menschen gewesen sein, von irgend einer verhältnismäßig schwachen Form abgestammt zu sein“ (8. 70). Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 325 Es ist sonderbar, daß Darwin hier ganz seiner eigenen Betrachtungs- weise untreu wird, indem er gar nicht die Möglichkeit in Betracht zieht, daß die Stärke des einsamen Gorilla durch natürliche Zuchtwahl bedingt sein kann, daß also die Vorfahren des Gorilla mehr sozial gelebt haben können. Hieraus geht deutlich hervor, wie wenig Darwin der Überlegung näher getreten ist, was am menschlichen Zustande primitiv und was nicht primitiv ist, eine Betrachtungsweise, ohne die überhaupt gar keine systematische Verfolgung der Umbildungen einer tierischen Ahnenform in den Menschen mösglich ist. Darwin fährt fort (S. 70): „Die geringe körperliche Kraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit, der Mangel natürlicher Waffen usw. werden mehr als ausgeglichen erstens durch seine intellektuellen Kräfte, durch welche er sich, während er noch im Zustand der Barbarei verblieb, Waffen, Werkzeuge usw. formen lernte, und zweitens durch seine sozialen Eigenschaften, welche ihn dazu führten, seinen Mitmenschen Hilfe an- gedeihen zu lassen und solche von diesen zu empfangen. Auch in diesem Satze vermissen wir die scharfe und konsequente Logik der sonstigen Ausführungen Darwins. Wenn einmal der Kampf ums Dasein ein allgemein geltendes Prinzip war, wie kamen denn die schwäch- lichen Vorfahren des Menschen so weit, daß sie allein durch ihre intellek- tuellen Kräfte sich forthelfen konnten? Um Waffen und Werkzeuge zu formen, mußten sie doch natürliche Werkzeuge besitzen, nämlich die Hände. Wie kamen sie denn zu diesem Besitz? Nirgends bei Darwin noch auch bei Huxley finden wir Andeutungen solcher Überlegung. Darwin selbst aber empfand offenbar deutlich die Schwäche seiner Ausführungen, da er im Anschluß an das bereits Angeführte zu einer Hilfshypothese greift, die geradezu eine Ausschaltung des Kampfes ums Dasein aus der menschlichen Ahnengeschichte bedeutet — an eben jener Stelle (S. 71), die ich bereits als hoch bemerkenswert kennzeichnete: „Aber selbst wenn diese Vorfahren des Menschen bei weitem hilf- loser und verteidigungsloser waren als irgendwelche jetzt existierende Wilde, sobald sie irgend einen warmen Kontinent oder eine große Insel wie Australien oder Neu-Guinea oder Borneo bewohnten (die letztere Insel bewohnt jetzt der Orang), so würden sie keiner besonderen Gefahr aus- gesetzt gewesen sein. Auf einem Bezirk, welcher so groß wie einer der genannten ist, würde die aus der Konkurrenz zwischen den einzelnen Stämmen folgende natürliche Zuchtwahl in Verbindung mit den vererbten Wirkungen der Gewohnheit hinreichend gewesen sein. um unter günstigen Bedingungen den Menschen auf seine jetzige hohe Stellung in der Reihe der Organismen zu erheben.“ Wenn auch der Ausdruck „Zuchtwahl“ hier noch vorkommt, so be- deuten doch diese Worte Darwins ein ziemlich deutliches Zugeständnis, daß der Kampf ums Dasein für die älteren Phasen der Heranbildung der Menschenmerkmale keine große Rolle gespielt haben kann. Der von Darwin nur beiläufig geäußerte Gedanke ist durch ©. Schoetensacks Theorie, daß 396 H. Klaatsch. Australien jenen Bedingungen entspreche, ausführlich ausgebaut worden. !) Wenn auch heute in der speziellen Fassung nieht mehr haltbar, hat doch die Arbeit Schoetensacks vortreffliche Anregungen geliefert, die ein ge- sundes Gegengewicht bildeten gegen die in Deutschland von allzu eifrigen Anhängern Darwins vertretene einseitige Fortbildung seiner Lehren. Obwohl, wie wir gesehen haben, weder Darwin noch Huxley Anlaß dazu gegeben haben, verdichtete sich unter Haeckels Einfluß die Idee der menschlichen Stammesgeschichte mehr und mehr zu einer Ableitung der Menschen von Menschenaffen, wobei die für letztere heute charakteri- stischen Merkmale, wie die langen Arme und die großen Eckzähne, als Vorfahrencharaktere des Menschen aufgefaßt wurden. Ja sogar die Idee des Kampfes ums Dasein als Faktor der Mensch- werdung, und zwar in einer geologisch relativ späten Zeit regte sich in vielen Köpfen. Das Hereinbrechen der Eiszeit sollte die Affenahnen des Menschen aufgerüttelt haben zu jenen Anstrengungen, denen die Anfänge einer Kultur zuzuschreiben seien. Eine solche Betrachtungsweise ignorierte gänzlich die weite Ver- breitung der Menschheit in tropischen Gegenden, wo die Eiszeit keine tolle spielte. Sie läßt ferner außer acht die mehr und mehr sich häufenden Zeugnisse dafür, daß selbst Europa schon vor der Eiszeit in der Tertiär- zeit vom Menschen bewohnt war. Die Funde von Steinwerkzeugen aus den Präglazialschichten sind trotz aller Skepsis und trotz der sich zum Teil auf recht sonderbare Argumentationen (vgl. die Kreidemühlen in Mantes und die Pseudo-Eolithen!) stützenden Gegnerschaft nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Endlich fehlte es bis vor kurzem an einer streng morphologischen Betrachtung der menschlichen Merkmale und ihrer Herkunft. Solange man in jeder Einrichtung im Menschen den Endpunkt von Entwicklungsreihen zu sehen glaubte, deren niedere Stufen bei den Affen repräsentiert seien, konnte man nicht zu einem morphologischen Verständnis des menschlichen Organismus gelangen. Erst Gegenbaur, der im Jahre 1903 verstorbene große Morphologe von Heidelberg, hat die menschliche Anatomie in dem Sinne reformiert und die frühere praktische Hilfswissenschaft der Medizin zu einer philo- sophischen Disziplin erhoben, daß er die strengen Prinzipien der ver- eleichenden Anatomie auf jedes Organsystem des Menschen anwandte. Die Methodik dieser Forschungsweise beruht darin, daß die ver- schiedenen Zustände der Ausbildung eines Teiles nebeneinander gestellt und in Reihen geordnet werden, deren Glieder sich mit Rücksicht auf ihre Ähnlichkeit miteinander anordnen. Die Endpunkte der Reihen können sehr verschieden voneinander sein, aber sie werden vermittelt durch die (Glieder der Reihen. 1) O0. Schoetensack, Die Bedeutung Australiens für die Heranbildung des Menschen aus einer niederen Form. Verhandl. d. Naturh.-Mediz. Vereins zu Heidelberg. N. F., VII. Band, 1. Heft, 1901. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 327 Ohne Vergleichung eines Objektes mit anderen können wir uns kein Urteil über dasselbe bilden; das gilt nicht nur vom Bau des Körpers, sondern ganz allgemein. Jede Abschätzung beruht auf Vergleichung. Jede Abschätzung ver- langt nun einen Maßstab, einen Gesichtspunkt, der über die Endpunkte die Entscheidung fällt, welcher derselben als Anfangs-, welcher als Endglied zu gelten habe. Bei den organischen Gebilden ist dieser Maßstab gegeben durch die Begriffe „ursprünglich“ oder „primitiv“ und nicht ursprünglich oder ab- geändert. Welcher Teil der Reihen nach dem Ursprünglichen hindeutet, ergibt sich aus einer Vergleichung der Reihen untereinander. Eine solche zeigt stets, dal) verschiedene Reihen der Zustände eines Organs oder Or- gansystems mit dem einen Ende einander immer ähnlicher, mit dem an- deren unähnlicher werden. Das erstere deutet den gemeinsamen Ausgangs- punkt an, von dem die Reihen nach verschiedenen Richtungen hin aus- gehen. Somit wird ein geschichtliches, ein genetisches Moment in die Betrachtung dieser Reihen eingeführt. Es ergeben sich Urformen und Ur- zustände, von denen aus man durch allmähliche Umgestaltungen zu den einzelnen Reihen bis zu ihren Endpunkten vorgehen kann. Sind solche Reihen mit richtiger Deutung der Tatbestände aufgestellt, so ergeben sie eine Art von Stammbäumen, denen der Tierformen vergleichbar. Wie nun für die letzteren ein rückläufiges Nacheinander undenkbar ist, so auch für die morphologischen Reihen der Körperzustände Was einmal in ge- wisser Richtung umgeformt ist, kann den Ausgangszustand nicht wieder erreichen. Verschiedene Reihen können niemals zu gemeinsamen Endpunkten führen; sie verlaufen stets getrennt voneinander, wenn sie auch sehr ein- ander genähert sein können. Nun kommt es nicht selten vor, daß Reihen, die von ganz verschie- denen Punkten ausgehen, sich in ihren Endpunkten auffällige einander nähern, so dal) man zu der Meinung gelangen kann, es müsse eine ge- meinsame Wurzel vorhanden sein; solche Erscheinungen einer „Konver- genz“ oder falscher Ähnlichkeit ergeben sich klar als solche, wenn man die Reihen in ihrer ganzen Ausdehnung vergleicht; auch zeigt meist schon eine scharfe Analyse des Tatbestandes erhebliche Differenzen trotz aller Ähnlichkeit. Oft ist es die gleiche Art der Leistung, also die physiologische Be- deutung mancher Einrichtungen, die ihre scheinbare Ähnlichkeit oder Kon- vergenz erklärt; solche Bildungen sind einander analog, wie z.B. das paarige Auge der Wirbeltiere und der Tintenfische. Dem Laien werden diese Or- gane sehr ähnlich erscheinen, aber der Fachmann erkennt sofort. daß der Bau der lichtempfindlichen Schicht total verschieden ist, daß in einem Falle die das Licht aufnehmenden Elemente nach der Außenwelt hin, im anderen Falle davon abgewendet sind. Es müssen also beide Bildungen auf ganz verschiedene Weise entstanden sein. 398 H. Klaatsch. Andrerseits können Teile, die in ihrer Leistung sich sehr verschieden voneinander verhalten, doch vom gemeinsamen Urzustand aus abzuleiten sein, sie sind einander homolog, nicht analog, wie z.B. die Krallen der Raubtiere, die Hufe der Huftiere und die Fingernägel der Primaten. Die morphologischen Stammbäume der Organe und Organsysteme bilden die Grundlage für eine wissenschaftliche Beurteilung der stammes- verwandtschaftlichen Beziehungen der Tierformen zueinander. Da ein genetisches Band in beiden Fällen vorliegt, so gibt die Ver- wandtschaft Kunde von gemeinsamer Abstammung. Jede Tierform stellt eine Kombination verschiedener Zustände dar, in einem Organ kann sie sehr primitiv, in einem anderen aber sehr ab- geändert sein. Tierformen, die äußerlich einander wenig ähnlich sehen, können doch nahe miteinander verwandt sein auf Grund der morphologischen Gleich- wertigkeit gewisser äußerlich nicht markierter innerer Zustände. Daß die Vögel den Eidechsen sehr nahe verwandt sind, will dem Laien anfangs recht sonderbar erscheinen, aber die genauere Untersuchung zeigt diese Beziehung näher als die zwischen Eidechsen und Schildkröten. Andrerseits können äußerliche Ähnlichkeiten — Konvergenzerscheinungen Verwandt- schaften vortäuschen, die nicht bestehen. So ist das australische Schnabel- tier den Vögeln nicht näher verwandt als irgend ein anderes Säugetier, obwohl es einen Schnabel hat und Eier legt. Die vergleichende Anatomie oder Morphologie arbeitet in erster Linie mit dem erwachsenen Zustand der Organismen und ist auf keine andere Disziplin angewiesen. Wohl aber können ihre Schlüsse vielfach ergänzt, unterstützt und besonders den weniger in diese Disziplin Eingeweihten verständlicher, ihre Ergebnisse handgreiflicher gemacht werden durch die Ausdehnung der vergleichenden Forschung auf die noch nicht entwickelten Formen, auf die Keime. Die vergleichende Embryologie ist ja im Grunde nur ein Zweig der Morphologie, denn eine scharfe Grenze zwischen em- bryonal, jugendlich und erwachsen gibt es Ja nicht. Eine weitere wichtige Hilfe erwächst der Morphologie aus der Palä- ontologie. Die vielfach verbreitete Meinung, als ob erst durch Aufdeckung von vermittelnden ausgestorbenen Formen in den Schichten der Erdrinde Zusammenhänge von Tierformen und Tiergruppen überhaupt bewiesen würden, ist nicht zutreffend; die vergleichende Anatomie bedarf dessen nieht; sie ist vielmehr imstande und berechtigt, die Lücken, die ihre Reihen infolge der geringen Anzahl heute lebender Formen besitzen müssen, theoretisch auszufüllen. Alsdann mag später ein glücklicher Fossilfund die Probe auf das Exempel abgeben und zeigen, ob der betreffende kühne Mor- phologe mit der Rekonstruktion seiner Zwischenformen das Richtige getroffen hat oder nicht. Der Morphologe stellt die Reihen der Entwicklung auf, unbekümmert um die Faktoren, die die betreffenden Reihen hervorgerufen haben. Das Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 329 Suchen nach den letzteren ist wieder eine Betrachtungsweise für sich. Ver- mag dieselbe sich erfolgreich der morphologischen Deduktion anzuschließen, um so besser; aber notwendig ist dieses Zusammengehen nicht. Aus diesem Grunde ist auch die ganze Zuchtwahllehre für die Mor- phologie ohne prinzipielle Bedeutung. Wohl lassen sich zahlreiche mor- phologische Reihen ganz vortrefflich mit den von Darwin in seiner „Ent- stehung der Arten“ vorgebrachten Prinzipien in Einklang bringen — die Not, der Kampf ums Dasein erscheint als umgestaltender Faktor, aber in anderen Fällen versagt dieses Prinzip gänzlich — und damit verliert es den Charakter eines Naturgesetzes, den ihm Darwin doch wohl beilegen wollte, wenigstens zu Anfang. Wir sahen ja schon oben, wie deutlich Darwin für den Menschen den Rückzug angetreten hat. Darwin war nicht Anatom, was er selbst oft bedauert hat, sonst würde er wohl die von Huxley nur eben begonnenen Betrachtungen in ihre Konsequenzen und ins Extrem ver- folgt haben. Dabei hätte ihm schwerlich entgehen können, daß auf die ein- zelnen Organsysteme verschiedene Betrachtungsweisen angeordnet werden müssen. Einen richtigen Anfang hatte er ja darin schon gemacht, indem er gewisse äußere Merkmale, wie Bartbildung, Körperhaarkleid u. a. vom Standpunkte der sexuellen Zuchtwahl aus beurteilt, aber er hätte noch weiter gehen müssen. Dabei zeigt sich, daß die Merkmale, die dem Menschen zukommen, äußerst ungleichwertig sind; daß der Mensch keineswegs Endpunkte von Ent- wicklungsreihen zeigt, sondern daß im Gegenteil viele scheinbar neue Einrich- tungen ganz auffällig an die Anfangspunkte mancher morphologischen Reihe anknüpfen, die bei anderen Säugetieren äußerst kompliziert fortgeführt sind. Der Mensch ist in manchen seiner Merkmale auffallend primitiv geblieben. Dieser Gesichtspunkt ist weder bei Darwin, noch bei Huxley, noch bei Haeckel hervorgetreten. So viel mir bekannt, bin ich der erste ge- wesen, der in allgemein gehaltenen Darstellungen des menschlichen Werde- ganges!) diesen sehr fruchtbaren Ideengang verfolgt hat, der in zahlreichen Spezialuntersuchungen über die Variationen des Menschenskeletts sich mir bewährt hatte. Zur Einführung in diese meine Lehre von der Entstehung und Er- werbung der Menschenmerkmale eignet sich am besten eine Betrachtung desjenigen natürlichen Werkzeugs, ohne das der Mensch niemals ein künstliches hätte anfertigen können — unserer Hand. Es ist ja klar, daß, wenn die Menschenahnen nicht imstande gewären wären, vermöge der Gegenüberstellbarkeit des Daumens gegen die anderen Finger Steine vom Boden zu erheben, gegeneinanderzuschlagen und Steininstrumente herzustellen — von einer Kulturentwicklung niemals etwas hätte zur Ent- faltung kommen können. 1) H. Klaatsch, Entstehung und Entwicklung des Menschengeschlechts. Weltall und Menschheit. Berlin, Bong, 1902. — Derselbe, Der Aufbau des menschlichen Organismus auf Grund seines natürlichen Werdeganges. Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens. Berlin, Bong, 1909. 330 H. Klaatsch. Nach der schablonenhaften Vorstellung einer allmählichen Vervoll- kommnung durch den Kampf ums Dasein, die früher üblich war, konnte man von der Menschenhand erwarten, daß sie die höchste letzte Blüte eines mühsamen Entwicklungsprozesses sei, zu der es eben nur die „Krone der Schöpfung“, der Mensch, zu bringen vermochte. In der Tat begegnen uns in älteren Darstellungen vielfach solche Ideen von dem allmählichen „Freiwerden“ der Hände, als der Menschenahne sich mit dem Vorderteil vom Erdboden anzuheben begann, wobei ein vierfüßiger Zustand fälsch- lich vorausgesetzt wird.!) Die Tatsachen geben nämlich nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß die Menschenhand erst in einer späten Zeit er- worben wurde, sondern im Gegenteil, die Paläontologie läßt gar keinen Zweifel darüber, daß der Besitz einer Hand eines der ältesten Erbstücke unseres Körpers darstellt, und zwar aus einer Zeit, die uns zurückführt bis zu den Anfängen der Säugetiere nicht nur, nein der Landwirbeltiere überhaupt. Die ältesten Anzeichen der Existenz von Landwirbeltieren, die wir heute besitzen, sind nicht etwa Knochenreste, sondern es sind Fährten- eindrücke, die einst im weichen Schlamm von Ufergeländern durch Tiere hervorgebracht wurden, die in der Primär- und Sekundärzeit lebten. Neuer Schlamm füllte die Vertiefungen aus und nach Erhärtung der ganzen Ab- lagerungen von Sandsteinschichten blieben die Gangspuren erhalten, wie natürliche Abgüsse oder Ausgüsse. Beim Lösen der Schichten voneinander zeigen sich nun diese Ausgüsse als Erhebungen und sie sind es besonders, die als Schaustücke in den Museen weit verbreitet sind. Auch dem Laien fallen sie auf durch die große Ähnlichkeit mit Menschenhänden. Hieraus erklärt sich auch die Bezeichnungsweise der betreffenden Fossilspuren als Handtiere oder Cheirotherien (von griechisch yet die Hand) (Fig. 157). In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde man zuerst in Mitteldeutschland auf solche Funde aufmerksam, von denen solche aus Thüringen besondere Berühmtheit erlangten. Später entdeckte man ganz ähnliche Fährtenplatten in England und auch außerhalb Europas. Es handelte sich hierbei um Schichten aus dem Beginn der Sekundärperiode (Trias). In dieser Zeit müssen diese Handtiere sehr weit. fast über die ganze Erde verbreitet gewesen sein. Wir kennen bisher kein einziges Skelettstück, das auf sie bezogen werden könnte, aber die Fährten sind genügend Zeugen zum Beweis der Existenz von Formen. die im Grundplan ihrer Gliedmaßen den Säugetieren nahegestanden haben. Noch weit älter sind ähnliche Spuren, die in neuerer Zeit wiederum in Thüringen bekannt wurden, die sog. „Tambacher Fährten“, um deren Erforschung sich besonders Dr. Pabst, der Direktor des naturwissenschaftlichen Museums in Gotha, große Ver- dienste erworben hat. Diese Spuren reichen in die Primärzeit der Erde zurück, in das „Perm“, — als die einzigen Zeugen überhaupt, daß) bereits ') Selbst noch bei Branca: „Der Stand unserer Kenntnisse vom fossilen Menschen“, Leipzig 1910, findet sich solehe Auffassung: „Indem die Hand vom niedrigen Dienste eines Gebrauchszuges befreit wurde, erhielt das Gehirn den Anstoß nachzudenken über das Wie? ihrer Verwendung“ (S. 55). Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 331 damals Landwirbeltiere vorhanden waren. Diese Tambacher Fährten zeichnen sich von den geologisch jüngeren Cheirotherien dadurch aus, daß die Ab- drücke der vorderen und hinteren Gliedmaßen einander ähnlicher sind in den Größendimensionen. Die auf der Cheirotherienplatte am meisten im- ponierenden Handgebilde gehören nämlich den hinteren Extremitäten an und übertreffen um das Doppelte die eigentlichen Hände. Wir kön- nen daraus schlie- ßen, daß die Chei- rotherien starke Hintergliedmaßen besessen haben und daß sie nur mit einem Teil ihres Fußes den Boden berührten. — Hier ist es lediglich die Hand als solche, die unser Interesse er- weckt und für diese sind die Tam- bacher Fährten die wertvolleren, nicht nur, weil sie durch die relativ bedeutenden Grö- ßen der Hand auf Formen hinwei- sen, die sich noch primitiver verhiel- ten als die Chei- rotherien, weil gleichartiger in der Organisation der vorderen und hinteren Glied- maßen, sondern Fig. 137. Eine Platte mit den Fährtenspuren der Handtiere oder Cheirotherien aus der Trias, Die größeren Gebilde entsprechen den handähnlichen Fußabdrücken. Zur Vergleichung der Größe daneben eine menschliche Hand. Die Platte stammt aus der Fundstelle am Heßberg bei Hildburghausen und befindet sich im Berliner Museum für Naturkunde. Photogr. Aufnahme von H. Klaatsch. ganz besonders deshalb, weil die Tambacher Abdrücke eine ganz auffällige Ähnlichkeit mit Kinderhänden offenbaren. Man kann sie in der Tat nicht besser beschreiben als durch eine Vergleichung mit solchen oder auch mit Embryonalzuständen des Menschen, die die Plumpheit und Derbheit der Kinderhand noch auffälliger zeigen (Fig. 158). 332 H. Klaatsch. Unter den fünf Strahlen oder Fingern, in welche die Tambacher Fährten auslaufen, ist es leicht, den Daumen herauszuerkennen, der durch einen dicken mächtigen Ballen ausgezeichnet ist und damit deutlich seine Gegenüberstellbarkeit gegen die anderen bekundet, die ihn alle an Länge übertreffen. Der vierte Finger scheint der längste gewesen zu sein. Die Unter- fläche der Finger läßt deutlich die Einkerbung erkennen, die den Ge- lenken zwischen den Fingergliedern (Phalangen) entsprechen und den Zu- ständen der Säugetiere (Dreizahl) zu gleichen scheinen. Die Fläche zwischen Daumenballen und den anderen Fingern ist sehr gering entwickelt, die Fig.138. Mittelhand (Metacarpus) ist außeror- dentlich breit, die Finger sind kurz und gedrungen — alles embryonale Merkmale der Menschenhand. Die Größe der Tambacher Hände entspricht ungefähr in der Breite der jugendlichen Menschenhand von zirka 15 Jahren während die Länge eine Vergleichung nur schwer gestattet, etwa der eines Kindes von 5 Jahren eleichkommen dürfte. Die Lage der Abdrücke ist derartig, daß man an die Fährten der jetzigen Salamander erinnert wird; die Spuren entsprechen ungefähr einer Geraden, wobei die einer Seite entsprechenden linken oder Natürlicher Abgul der Hand eines Wirbeltieres rechten Abdrücke dicht beieinander der Permperiode (Primärzeit), von dem sonstige liegen. Hieraus darf man auf eine Reste nicht bekannt sind. Links der Daumen mit dem Daumenballen. Das Original stammt aus den Gangweise schließen mit rollenden Tambacher Schichten in Thüringen und befindet sich im Museum in Gotha. Der Direktor des Mu- seitlichen Bewegungen, wie wir sie bei seums Dr. Pabst ist der Entdecker der Tambacher NT nie Fährten. Ihm verdankt der Verfasser die Photr- den geschwänzten Amphibien beob- Br achten können, denjenigen Wirbeltieren, die dem Wasser bewohnenden Vorfahrenstadium der Landwirbeltiere noch heute am nächsten stehen. Wir finden auch bei den heutigen Amphibien primitive Handbildungen noch ausgeprägt und der dicke Daumenballen läßt sich an der Hand des Frosches deutlich erkennen. Von einigen Rückbildungen abgesehen, zeigen uns dieselben den Grundplan der Hand in ihrer Überein- stimmung mit dem des Fußes sehr deutlich. Die fossilen „Stegocephalen“, die zum Teil recht großen Panzerlurche der Sekundärzeit ergänzen das Bild, das wir uns von der Urform der Landgliedmaßen — Endplatte zu machen haben. Die absolut konstante Fünfstrahliekeit. „Pentadaktylie“, ist eine funda- mentale Eigenschaft derselben und wird verständlich aus der von vorn- herein gegebenen Besonderheit des ersten inneren Strahles des Daumens. Da die Urhand bereits ein Greiforgan war, ist die Beschränkung der dem Daumen entgegenstellbaren Finger auf vier aus der Betrachtung verständ- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 333 lich, daß eine Mehrzahl die Leistungsfähigkeit des Ganzen nicht erhöhen, sondern nur beeinträchtigen könnte. Hieraus erklärt sich die Rückbildung der in der Vorfahrenreihe der Landwirbeltiere vorhandenen gewesenen Zahl von Strahlen der Endplatte. Nennen wir letztere, soweit es sich um Land- wirbeltiere handelt „Cheiropodium“, um die Doppelbedeutung von Hand (zz) und Fuß (ou) auszudrücken, so ist für deren Vorfahrenform der Ausdruck „Cheiropterygum“ — Handflosse angebracht und anerkannt. Wenn uns auch vorläufig fast jegliches Tatsachenmaterial fehlt. um die Vorgeschichte unserer Hand zu verfolgen bis zu den Ahnen. die dauernd das Wasser bewohnten, bis zum Fig. 139. Kiemenstadiumder Wirbeltiere, so ergeben sich doch einige große Züge, die noch deutlich an der Menschenhand die Erinnerung an die Meerstufe offenbaren (Fig. 139 und 140). Die embryonale Entwicklung der Hand zeigt dieselbe als Anlage einer einheitlichen Platte, deren Form durchaus an eine rundliche Flosse erinnert, wie wir sie bei manchen Fischen, den „Crosso- Fig. 140. Hand (rechts) und Fuß (links) Menschlicher Embryo aus dem zweiten Monat, mit von einem Embryo desselben Sta- handähnlicher Anlage des Fußes. Muskeln und Ner- diums (27 mm Länge) aus Koll- ven sind zum Teil freigelegt. Aus einer Publikation manns Lehrbuch der Entwick- Dr. Bardeen und Dr. Lewis (Baltimore 1901). lungsgeschichte des Menschen. pterygiern“ unter den Ganoiden noch heute antreffen. Die Dimensionen der Embryonalhand sind relativ so bedeutend, daß dagegen die anderen Abschnitte der Gliedmaßen ganz zurücktreten — der Arm stellt eigentlich das Stielgebilde dar, das erst im Dienst der Hand bedeutendere Dimensionen gewonnen hat. Die Scheidung in Ober- und Unterarm ist eine Gliederung, die sich beim Übergang vom Wasser- zum Landaufenthalt der Wirbeltiere vollzogen hat. Noch bei Amphibien erhält sich bei den geschwänzten Formen, wie Sala- mandern, viel von den fischähnlich schlängelnden Bewegungen des Rumpfes, wobei die Extremitäten als Ruderapparat funktionieren (Fig. 141 und 142). 334 H. Klaatsch. Die Geschichte unserer Hand verweist uns somit auf ein Stadium jenseits des Beginnes der Landwirbeltiere und.jes erscheint als ein sehr verlockendes Problem, eine Verknüpfung der Cheiropodien mit den Cheiro- pterygien vorzunehmen. Fig. 141. Fig.142. Uln = Radius Radiale Centrale Daumen Phalangen 2, 3, 4 Carpalia Vorderarm und Hand eines menschlichen Embryo aus einem noch etwas jüngeren Stadium als Fig. 141, näm- lich 14 mm Länge, etwas komprimiert, um die Anord- nung der Skelettanlagen besser zu zeigen. Zu beachten ist die Anlage des Centrale carpi. Aus Kollmanns Lehr- buch der Entwicklungsgeschichte. Fig. 143. Skelett eines menschlichen Embryo aus einem noch früheren Stadium als Fig. 139 u. 140, nämlich von17mmLänge. Das Skelett ist vollständig knorpelig. Vom Kopfskelett sind die Anlagen folgender Skeletteile zu sehen: n Nasenkapsel, sph Sphenoidale, pe Petrosum, squ Squamosum, oce Ocei- pitale, m Meckelscher Knorpel, Ay Zun- genbein. Zu beachten ist besonders die verhältnismäßig enorme Größe des Arm- skeletts und besonders der Hand. sc Sca- pula, coa Coracoid., h Humerus, r Radius, Eidechsenembryonen (Lacerta muralis) mit flossenartigen ü Ulnae, o/ Olekranon, ca Handwurzel, Anlagen der Gliedmaßen in verschiedenen Entwicklungs- Carpus, I—V Strahlen der Hand. Nach stadien. Nach einer Abbildung von Prof. Mollier, München. einer Publikation von W. Hagen, 1900, Die paarigen Extremitäten der Wirbeltiere II. Das Cheiro- etwas modifiziert. pterygium. Anatom. Hefte. Meckel-Bonnet, Bd.V, 1895. Aber wie gesagt betreten wir damit einen Boden, der leider noch sehr wenig durch Tatsachen gesichert ist. Es liegt dies hauptsächlich daran, daß die große Mehrzahl der „Fische“, also der kiemenatmenden, wasserbewohnenden Wirbeltiere, sich von den gemeinsamen Urformen durch Umgestaltungen weit entfernt Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 335 hat, so daß gerade für ihre Gliedmaßen sich ganz unzweideutig viele Veränderungen ergeben, die weitgehende Rückbildungen verraten. Was heute das Meer und unsere Süßwässer bevölkert. ist fast durchweg eine Schar Epigonen, die nur einen unvollkommenen Aufschluß geben über die ursprüngliche Beschaffenheit und die Anfänge der Heranbildung paariger Gliedmaßen. So kommt es, daß wir uns noch heute über die Entstehung der Extremitäten der Wirbeltiere in völliger Unkenntnis befinden und daß der Streit zwischen verschiedenen Meinungen und Hypothesen auf diesem Gebiete gar keine Aussicht auf baldige Schlichtung zeigt. Zwei große Deutungsversuche stehen schroff und unvermittelt ein- ander gegenüber. Der eine sucht die paarigen Gliedmaßen unter einen Begriff mit den unpaarigen zu bringen. Die Engländer Mivart und Balfour waren ihre Vertreter. Der andere Gedankengang rührt von Gegenbaur her, der eine Her- leitung der Fischflosse von Kiemenbogenbildungen versuchte. Die erstgenannte Theorie stützt sich in der Hauptsache auf die eroße Ähnlichkeit des Baues, der bei Fischen zwischen der großen un- paarigen Rücken und Schwanz umfassenden Flosse und der paarigen be- steht; Hautfaltenbildungen sollten auf der Ventralfläche jederseits sich er- streckt haben, ähnlich wie sie sich tatsächlich beim Amphioxus als Metapleural- falten finden, und dann in vordere und hintere Teile zerlegt worden sein. Die Ausdehnung der Flossenbildungen über eine große Zahl von Körper- segmenten bei manchen Fischen, wie bei Rochen, schien dieser Deutung günstig. Ein wichtiger physiologischer Gedanke läßt sich dieser englischen Hypothese nicht absprechen, nämlich dal) die Gliedmaßen anfangs eine Art von Balanciereinrichtung gebildet hätten zur Erhaltung der Gleichge- wichtslage des schwimmenden Organismus. Andrerseits ist bedenklich, daß gerade die Formen mit flächenhafter Ausbreitung der Flossen gar nichts Ursprüngliches darstellen, sondern wie die Rochen deutlich eine sekundäre Abplattung verraten. Die andere Theorie kann wenigstens über ein größeres Material von Tierformen verfügen, die in Betracht kommen. Gegenbaur legte ein Haupt- gewicht auf die Erklärung der Herkunft der gürtelförmigen Teile, an denen die „freien“ Gliedmaßen befestigt sind, des Schulter- und Becken- gürtels. Er wies auf die Ähnlichkeit hin, die diese Bildungen mit den Kiemenbogen der Fische haben: fehlte doch sogar nicht das Homo- logen der freien Gliedmalien, insofern die Kiemenbogen mit Strahlen be- setzt sind, die die zur Atmung dienenden Hautfortsätze tragen. Gegenbaur stellte die Hypothese auf, daß die Zahl der Kiemenbogen anfangs eine größere war, und daß einige derselben einen Wechsel der Funktion er- fahren haben. So wie der erste Kiemenbogen aus dem Dienst der Respi- ration in den der Nahrungsaufnahme getreten sei, so sollten hintere Bögen die Funktion der Fortbewegung des Körpers übernommen haben. Daher komme es, daß die vordere Gliedmaße immer direkt hinten an die Kiemen- region sich anschließt und zum Teil sogar aus Kopfnerven versorgt wird. 336 H. Klaatsch. Für die hintere Gliedmaße freilich erwuchs nun die Schwierigkeit, annehmen zu müssen, daß dieselbe ihre Lage verändert und allmählich sich nach dem Kaudalende des Körpers verschoben habe. Eine scheinbare Stütze für die Möglichkeit solcher „Wanderung“ konnten jene Knochen- fische abgeben, bei denen sich die hinteren Gliedmaßen zwischen den vor- deren ganz weit kopfwärts befinden. Man muß aber ganz offen zugestehen, daß beide Theorien höchst unbefriedigend sind. Die erste Bedingung für einen Fortschritt bei so schwierigen Problemen ist die rückhaltslose Anerkennung, daß auf den bisher eingeschlagenen Wegen nichts Positives erreicht wurde und die Er- wartung, daß möglicherweise die Lösung des Rätsels von einer ganz an- deren Seite erfolgen werde. Wenn man schon an präexistierende Gebilde anknüpfen will, so bleibt ja noch anderes übrig als Kiemenbogen und un- paarige Gliedmaßensäume. Ich erinnere nur an Tentakelbildungen, wie sie sich am vorderen Ende beim Amphioxus befinden und offenbar auch den höheren Wirbeltieren eigen waren. Das sind Anhangsorgane mit Skelettachse, die, im Dienst der Sinnes- wahrnehmung stehend, eventuell auch in den Dienst der Lokomotion treten konnten. Bei manchen Formen, wie Protopterus, treten die Anfänge der Ex- tremitäten tatsächlich als lange tentakelähnliche Fäden auf, die gar keine andere Leistung als die der Orientierung über die Körperlage, also im Sinne der Balancierung der Gleichgewichtslage haben können. Auch bei Amphibien erinnern die ersten Anlagen der Gliedmaßen an solche Balancierfäden. Ich will nun durchaus nicht damit eine neue Theorie der Herkunft der Gliedmaßen aufstellen, aber doch zeigen, dab die Möglichkeiten für ihre Erklärung noch nicht erschöpft sind. Eine Tatsache muß jedenfalls durch eine Theorie des Urzustandes der paarigen Extremitäten unbedingt klargestellt werden, wenn dieselbe überhaupt Anerkennung finden will, nämlich die Existenz vorderer und hin- terer Gliedmaßen. Dieselbe ist bei landbewohnenden Formen verständlich durch die Arbeitsteilung der Brust- und Beckenextremitäten, aber bei Fisehen nieht. In der Tat muß bei diesen der Verdacht entstehen, den Simroth bekamntlich in extremer Form zum Ausdruck gebracht hat, dab ihre ältesten Vertreter in nahverwandtschaftlicher Beziehung zu Landtieren standen und von dieser gemeinsamen Wurzel aus die beiden Extremitäten- paare übernahmen. Vermittelnde Zustände sind insofern denkbar, als die primitivsten noch heute lebenden Fische tatsächlich den Amphibien am nächsten stehen. Aus der Welt vergangener Formen ragen die_Dipnoer und die Ganoiden in die Gegenwart hinein, gleich lebenden Fossilen, wie Darwin sie geistreich genannt hat. Gerade diese uralten Fische haben eine Schwimmblasenlunge und erinnern im Bau ihrer inneren Organe vielfach ganz merkwürdig an Landwirbeltiere. Es läßt sich daher tatsächlich die Idee verteidigen, daß die Mehrzahl der Fische sich sekundär einem ausschließlichen Wasser- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 337 aufenthalt angepaßt hat, während die Sonderung von Wasser- und Land- wirbeltieren bereits in einer ganz weit zurückliegenden Zeit erfolgte, wahr- scheinlich in einem Medium, wie es etwa flache Küstengewässer oder im Meer schwimmende Wälder der Steinkohlenperiode darboten, wo der Wechsel von Luft- und Wasseraufenthalt viel leichter vor sich gehen konnte als in den heutigen Meeren. Diese ältesten Fischformen sind es daher, denen sich die Erforschung der Geschichte der Gliedmaßen mit ganz besonderem Interesse zuwen- den wird. Da finden wir unter den Dipnoern jene sonderbare Form eines australischen Fisches, den Ceratodus, der erst vor vier Jahrzehnten ent- deckt wurde und bei seiner Auffindung die Vergleichung mit ausgestor- benen Fischen der Triasperiode Europas erforderlich machte — ein ur- altes Relikt, das sich nur noch in zwei Flüssen an der Ostküste von Australien erhalten hat. Dieses Tier, das Lungen besitzt außer seinen Kiemen und dessen durch Semon erfolgreich studierte Entwicklung weit mehr einem Molch gleicht als einem gewöhnlichen Fisch. besitzt Gliedmaßen. die in der Geschichte der Morphologie eine geradezu klassische Bedeutung erlangt haben. Es war gerade in jener Zeit in den siebziger Jahren, da Gegen- baur auf Grund seiner Kiemenbogentheorie versucht hatte, eine Urflosse, das Archipterygium aufzustellen in Form eines Knorpelstrahles, der mit Nebenstrahlen besetzt ist, als jener australische Fisch bekannt wurde und in seinen Flossen ganz auffallend den Befund zeigte, den der geniale Morphologe vorausgesagt und theoretisch konstruiert hatte als Urform, von der aus man nach verschiedenen Richtungen hin die Flossenstrahlen- skelette der anderen Fische, namentlich der Selachier oder Haifische und der Ganoiden. ableiten konnte. Die reiche Formenwelt der letzteren oder Schmelzfische — soge- nannt von ihrem schmelzbedeckten glänzenden Schuppenpanzer — die in früheren Erdperioden herrschend waren, bis sie von den leichtgepanzerten Knochenfischen abgelöst wurden, zeigt in ihrem älteren, durch Versteine- rung wohl erhaltenen Vertretern solche Archipterygiumflossen. Nur ist der Achsenstrahl nicht ein schmaler Stab, wie bei Ceratodus, sondern wird durch eine breite knorpelige Platte dargestellt, die in ihrem rund- lichen freien Rande mit Strahlen besetzt ist. Solche breite Flossenbildungen haben sich unter den spärlichen heute noch lebenden Vertretern der Ganoiden erhalten, bei den sogenannten Crossopterygiern, den Dickflossern, wie sie eben auf Grund dieser ihrer Gliedmaßen genannt worden sind. Es leben nur noch zwei Vertreter dieser einst so gewaltigen Tiergruppe — Polypterus und Calamoichthys, beide in Afrika, der erstere in Flüssen, der andere in der Bucht von Ka- merun, eine ganz außerordentliche Rarität bildend. Es gelang mir vor 15 Jahren, zwei Exemplare dieses seltenen Fisches zu erwerben, wodurch ich in die Lage versetzt wurde, die sehr inter- E.Abderhalden, Fortschritte. IH. 22 338 H. Klaatsch. essante Brustflosse dieser Tiere mit der von Polypterus, der nicht so selten ist, sowie mit allen anderen Fischflossen und den Landgliedmaßen zu vergleichen. Die Resultate dieser sehr ausgedehnten und schwierigen Untersuchung wurden in der Festschrift zu Gegenbaurs TOjährigem Jubiläum niedergelegt!) und fanden um dieser Art der Publikation willen nicht die nötige Beachtung von Seiten der Fachgenossen. Erst in neuester Zeit hat sich Lubosch?) die Mühe gegeben, die Ergebnisse meiner Studien einer Prüfung zu unterziehen, wobei er, von einigen Modifikationen abgesehen, zu einem zustimmenden Ergebnisse kam in dem Sinne, dab unter allen Fischflossen diejenige der Crossopterygier die meisten Anklänge an die Landgliedmaßen darbietet. Der Bau der Urossopteryeierflosse ist im Prinzip folgender: An den Schultergürtel stoßen drei Gebilde an, eine mittlere knor- pelige Platte und zwei den Rändern derselben anliegende längliche Stücke, die von ähn- lichen, am freien (distalen, vom Körper mehr entfernten) Rande befindlichen Strahlen sich nur durch ihre Größe unterscheiden. Die Randgebilde zeigen eine knorpelige Unterlage, auf der sich Knochengewebe als umhüllende Substanz gebildet hat (Fig. 144). An diesen sind die Flossenstrahlen, die den Hautsaum stützen, befestigt. In diesen Hautsaum treten die sehnigen Ausläufer der mächtigen Muskelmassen, die die beiden Fig. 144. Skelett der Brustflosse — „Ürosso- pterygium“ — des Ganoiden Poly- pterus bichir linkerseits von der me- dialen Fläche her gesehen. 1 Meso- pterygium, Knorpelplatte mit einer Ossifikation, 2 Metapterygium, 3 Pro- pterygium, # Teil von 2 sich dem proxymalen Teil von 3 nähernd, ent- sprechend dem Stylopodium der Land- wirbeltiere, 5 Schultergürtel. Am Rand des Mesopterygiums die End- strahlen oder Actinalia. An den Rändern in der Verlängerung von Meta- und Propterygium die Epimar- ginalia, die dem Präpollex und Post- minimus entsprechen. Etwas vergrö- Bert. Abbildung aus Klaatsch 1. c. Flächen der Flosse decken, teils von diesen selbst, teils vom Gliedmaßengürtel entsprin- send. Die Verschiedenheiten innerhalb des rezenten Materials, die zwischen Calamoichthys und Polypterus bestehen, sowie die indivi- duellen und ontogenetischen Unterschiede der Einzelbefunde gestatten die Aufstellung einer teihe, die das Hervorgehen der Flossen der jetzt noch lebenden Crossopterygier aus denen der fossilen, von denen Undina besonders gut bekannt ist, gestatten. Die Hauptzüge der Ableitung des Crossopterygiums vom Archipterygium hatte Gegenbaur !) H. Klaatsch, Die Brustflosse der Crossopterygier. Ein Beitrag dung der Archipterygiumtheorie auf die Gliedmaßen der Landwirbeltiere. Leipzig 1896. S. 261—390 mit Tafel I-IV und für Carl Gegenbaur. im Text. zur Anwen- Festschrift 42 Figuren 2) W. Lubosch, Bau und Entstehung der Wirbelgelenke. Jena 1910. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 339 bereits in einer 1894 erschienenen Mitteilung skizziert.!) Er zeigte, dab die Mittelplatte, das Mesopterygium, der Achse des Archipterygiums entspricht und daß der Randbesatz von Strahlen aus dem zweireihigen (biserialen) Besatz dadurch entstanden ist, daß die am meisten proximal abgehenden sich vergrößert haben. Ich habe dieselben die Marginalia ge- nannt zum Unterschied von den kleinen distal gelegenen Actinalia. In der Ruhelage, wenn die ganze Flosse dem Körper seitlich anliegt, lassen sich die beiden Mareinalia als ein dorsales Stück oder Propterygium und ein ventrales oder Metapterygium unterscheiden. Die dem Antipterygium ent- Fig. 145. Fig. 146. 5 4 3 2 Schemata zur Ableitung der Landgliedmaßen des Cheiropodiums von einem dem Crossopterygium ähnlichen Vorfahrenszustande. Die Bezeichnung entspricht jener der Fig. 144. 1 Mesopodium —= Anlage der Handwurzel, Carpus. 2 Metapodium —= Radius. 3 Propodium —= Ulna. 4 Stylopodium aus Verschmelzung der proximalen Teile von 2 und 3 entstanden gedacht. I—V Actinalia — Metacarpalia, I = Daumenstrahl oder Pollex. Die Zerlegung der Handwurzel in ihre Elemente ist schematisch angedeutet. Zu beachten ist die Einschiebung des Intermediums in Fig. 146 zwischen die Marginalia (Vorderarmstücke) entspre- chend der ursprünglichen Lage des Mesopodiums oder Mesopterygiums. sprechende Achse verläuft in der Nähe des Metapterygium und-der Be- satz der Actinalia läßt eine Sonderung in eine kleine Anzahl, meist zwei ventraler, und eine größere, S—12 dorsaler Strahlen erkennen. Ich konnte nun zeigen, daß innerhalb des Crossopterygiermateriales sich eine Entwicklungsrichtung kundgibt, die zu einer proximalen Ver- schmelzung der beiden Marginalia führt und damit ein knorpeliges Stiel- gebilde hervorgehen läßt, das die ganze Gliedmabße trägt (Fig. 145 u. 146). 1) C. Gegenbaur, Das Flossenskelett der Crossopterygier und das Archipterygium der Fische. Morpholog. Jahrb., 1894, 1, XXI. Bd. 92: 340 H. Klaatsch. Damit ist ein Zustand erreicht, der in seinem Grundplan ganz auf- fallend demjenigen der Landgliedmaßen, des Cheiropodiums, gleicht. Die Paral- lelisierung der beiden Randstücke mit den beiden Knochen des Vorder- armes resp. des Unterschenkels ist das Erste, was sich aufdrängt; man hat für diese Stücke als eine für vordere und hintere Gliedmaßen gemein- sam geltende Bezeichnung den Terminus Zygopodium vorgeschlagen, für das durch Humerus resp. Femur gegebene Steilstück das Wort Stylo- podium. Die stammesgeschichtliche Ableitung des letzteren aus einer pro- ximalen Verschmelzung des Zygopodiums hat mehr Beifall gefunden (cf. Lubosch) als der von Emery') gemachte Versuch, den Humerus und Femur als ein vom Gliedmaßengürtel losgelöstes Stück zu deuten. Sind einmal diese Bezeichnungen angenommen, so ergibt es sich von selbst, daß das Mesopodium dem Carpus- resp. Tarsuskomplex der Landwirbeltiere entspricht, die Actinalia aber den Metacarpus- resp. Metatar- susstücken. Eine ausführliche Ausdehnung dieser Vergleichung auf Muskulatur und Nerven, für die ich auf mein Originalwerk verweisen muß, hat die Zulässig- keit derangestellten Vergleichung nach allen Richtungen hin er- wiesen. Es finden aber auch einige spezielle Punkte, die am Skelett der Landwirbeltiere bis- Fig. 147. Zwei Schnitte durch die Anlage der hinteren Extremi- her ganz unverständlich waren, tät bei einem jungen menschlichen Embryo (zweiter R “ E 4 Monat). Der Talus (Tal.) entspricht dem Intermedium auf diesem Wege befriedigende der Hand und schiebt sieh zwischen die Skeletteile en RE 5 3% = des Zygopodiums in gleicher Weise ein, wie es beim Aufklärung. Den Actinalien sitzen Mesopterygium der Fall war. Sr r ee vetrcien o Nach Henke und Reyher, Studien über die Entwick- kleine Knorpelstücke hen an, die lung der Extremitäten des Menschen. Sitzungsber. gr ae e a , der k. Akad. d. Wissensch. Wien 1814, Bd. LXX. ich Epactinalia genannt habe. Da nach meiner Lehre die Mar- ginalia den Actinalia entsprechen, so müssen auch diese die entsprechenden Knorpelstückchen besitzen, die auch tatsächlich als Epimarginalia bei Colamoichthys und Polypterus sich finden. Sie sitzen dorsal und ventral neben den Actinalien, genau so, wie an den Gliedmaßen der Landwirbel- tiere Jene kleinen Skelettstückchen, die als Präpollex und Postminimus in der Literatur eine so große Rolle gespielt haben, indem sich der Streit darum drehte, ob dieselben als Rudimente von Fingern zu deuten seien oder nicht. K.v. Bardeleben?) hat sich besonders dieser kleinen Skelettstückchen ange- !) Emery, Etudes sur la morphologie des membres des Amphibiens et sur la phy- logenie du Cheiropodium. Archives italiennes de Biologie, T. XXII, 1894. — Derselbe, Über die Beziehungen des Cheiropterygiums zum Ichthyopterygium. — Derselbe, Zur Morphologie des Hand- und Fußskeletts. Anat. Anz., X, 1890. ?) K. v. Bardeleben, Hand und Fuß. Referat, erstattet auf der achten Versamm- lung der Anatomischen Gesellschaft zu Straßburg 1894. Jena 1894. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 341 nommen. Wenn auch seine Deutung derselben als Finger sich nicht bestätigt, so liegt doch in der stammesgeschichtlichen Deutung die Anerkennung, daß es Teile von Strahlen und somit vollberechtiete normale Bestandteile des Skeletts von großer morphologischer Bedeutung sind, nicht Sesambeine oder dergleichen, wie manche Anatomen meinten. Bei der gänzlich isolierten Stellung der Crossopterygier können wir nicht erwarten, daß dieselben direkt in die Vorfahrenreihe der Landwir- beltiere gehören. Ich betrachte sie als einen der Parallelzweige, von denen viele existiert haben mögen, die uns weder fossile Spuren, noch lebende Nachkommen hinterlassen haben. Darum kann natürlich von einer direkten Ableitung des Cheiropo- diums aus dem Crossopterygium gar nicht die Rede sein. Der Jugendzustand von Calamoichthys zeigt sogar mehr Anklänge an die höheren Formen als die ontogenetisch älteren Stadien. Wohl aber darf man von einer Crossopterygierstufe als Vorfahren- stadium sprechen. Die Hauptänderungen, die von dort zur Urform des Cheiropodiums führen, sind folgende: Beschränkung der Zahl der Actinalia, Vergrößerung und Abgliederung des Stylopodiums vom Zygopodium. Relative Verklei- nerung des Mesopodiums und Zerfall der Knorpelplatte in die einzelnen. durch die Ossifikation bedingten Elemente von Carpns und Tarsus. Schwund des Hautsaumes und Ausdehnung der Epactinalia zu Phalangen mit Abeliederung derselben innerhalb der einzelnen Strahlen: Entfaltung horniger Hartgebilde an den Randteilen, Entstehung von Nagelbildungen. Es lieet nahe, anzunehmen, daß diese Änderungen mit dem Über- gang zum Landaufenthalt und zur Luftatmung sich vollzogen, aber einen Einblick in den Modus derselben haben wir vorläufig nicht. Die Landwir- beltiere weisen trotz sonstiger Differenzen zwischen Reptilien und Säugetieren bezüglich der Hand auf eine sehr scharf geprägte, einheitliche Wurzel hin. Haben wir bereits oben die Ausprägung nicht nur der Pentadaktylie, son- dern auch der Besonderheit des I. Strahles betont, so können wir nun fragen, ob die Fischstufe diese charakteristischen Punkte vorbereitet. Das ist nun allerdings der Fall. Die beiden Marginalia entsprechen den Teilen des Zygo- podiums sc, daß das ventrale Metapterygium dem Radius, das dorsale Pro- pterygium der Ulna gleichzusetzen ist. Die Berechtigung dieser Verglei- chung ergibt sich aus der Betrachtung der Amphibiengliedmaßen, wenn dieselben dem Körper seitlich angelagert sind, der Ruhelage des Crosso- pterygiums entsprechend. Nun sehen wir, daß die alte Achse nahe dem metapterygialen Rande liegt. es werden daher eine kleinere Anzahl radialer von einer großen Anzahl ulnarer Strahlen zu unterscheiden sein. Die alte Achse liegt in der Gegend des II. Strahles, des Index an der Hand. So- mit ist die Verschiedenheit der Ränder keine Neuerwerbung. sondern eine uralte, bis aufs Archipterygium zurückgehende Einrichtung. Die gar nicht seltene Verdoppelung des Daumens beim Menschen sowohl wie bei niederen Wirbeltieren (Amphibien) ist vielleicht als Erinnerung an eine alte Vor- 342 H. Klaatsch. fahrenstufe aufzufassen. Vielleicht gehört auch manches von Polydaktylie in dieses Gebiet, aber sicher und notwendig ist das nicht; ebenso berechtigt ist die Annahme ganz sekundärer pathologischer Erscheinungen partieller Doppelmißbildung. Als Grund für die so überaus scharfe Prägung der Pentadaktylie deutete ich oben schon an die Idee, dal) bei der zweifellosen Ausbildung als Greiforgan mehr als vier Finger für die Gegenüberstellung gegen Pollex und Hallux keinen irgendwie nützlichen Zustand bedeuten würden. Von diesem Urtypus der Landwirbeltiere sehen wir eine direkte Bahn zum Menschen verlaufen, dessen Hand noch in ihren Drehbewegungen, der Supination und Pronation an die alten Flossenbewegungen erinnert. Manche andere Formen haben ebenfalls einen annähernd ähnlich primitiven Zustand der Hand sich bewahrt. So einige der größeren Reptilien der Vorzeit, die daher eine auf- fällige Ähnlichkeit mit der Menschenhand erkennen lassen. Namentlich unter den Dinosauriern, die auch durch ihren halbaufrechten Gang an manche Säugetiere erinnern, finden sich solehe Menschenhände. Die Iguanodonten — jene 5m hohen Eidechsen. deren Ausstellung im Brüsseler Museum ein einzigartiges Schaustück bildet, lassen eine Sonderung der Hand in einen mittleren Abschnitt und zwei Randpartien erkennen, die dem kleinen Finger und dem Daumen entsprechen. Der letztere erlangte hier durch einen Stachel, den er trug, eine eigenartige Bedeutung als Waffe — vermutlich der männlichen Tiere. Daß die Endabschnitte der vorderen Gliedmaßen aller Säugetiere einen mit der Menschenhand gemeinsamen Grundplan darbieten und daß sie in allen ihren Verschiedenheiten Variationen dieses Planes nach den verschiedenen Richtungen in Anpassung an ihre Leistungen darstellen, bildete ein Hauptthema der morphologischen Erforschung der Säugetiere. Antfälligerweise aber ging man hierbei einer einfachen logischen Konsequenz aus dem Wege, die für die Beurteilung der Stellung des Menschen in den Vordergrund hätte gerückt werden sollen, nämlich daß die Vorfahren aller dieser einseitig gestalteten Formen sich bezüglich ihrer Hand ganz menschenähnlich verhalten haben müssen. Die Notwendigkeit dieses Schlusses wird einleuchtend durch die neueren Funde der Paläontologie, die die Er- gebnisse der morphologischen Forschung ergänzen, indem sie für die geo- logisch älteren Vertreter der heutigen Huftiere und Raubtiere tatsächlich eine menschenähnliche Hand nachweisen. Solche ältere Zustände in Ver- eleichung mit den heutigen Carnivoren bieten die „Creodonten“ der Ter- tiärperiode dar. An Stelle der „Tatze* sehen wir hier eine Hand mit wohlgebildetem Daumen. Vergleicht man damit den Befund, z. B. bei einem jetzigen Vertreter des Katzengeschlechtes, so findet man an der Stelle, die dem menschlichen Daumen entsprechen würde, einen kurzen Anhang, der mit einer mächtigen Kralle versehen ist. Durch seine abgesonderte Stellung unterscheidet sich dieser Finger deutlich von den übrigen, daß er aber tatsächlich ein dem menschlichen durchaus gleichendes Vorstadium Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 343 besessen hat, lehrt erst der Fossilbefund bei solcher alten Form, wie z.B. Patriofelis. Hier stimmt der Skelettbau bis in alle Einzelheiten mit dem der Menschenhand überein (Fig. 148). Die Knochen der Mittelhand zeigen elerantere Formen und stehen weniger gedränet als an der Tatze der heutigen Raubtiere. Am zweiten bis fünften Finger finden sich die typischen „Phalangen“ in der Dreizahl, ihre Proportionen sind noch nicht durch Anpassung an mächtige Krallenbildungen modifiziert (Fig. 149, 150). Der erste Strahl, der Daumen, hat wie auch beim Menschen nur 2 Phalangen. Zu dieser Übereinstimmung der Strahlen gesellt sich die primitive Beschaffenheit der kleinen Skelettstücke, die die Handwurzel oder den „Carpus“ zusammensetzen. Auf Grund von Carl Gegenbaurs !) bahnbrechenden Untersuchungen ergab sich die vollkommen gesetzmäßige Fig. 148. Handskelett des Menschen. Klaatsch photogr. nach Original, Anatomie Berlin. Gestaltung dieser die Strahlen tragenden Platte für alle Landwirbeltiere. Die Knochenbildung in der ursprünglich einheitlichen Knorpelplatte des Mesopodium hat bei der Urform aller Amphibien, Reptilien und Säugetiere fünf Randstücke entstehen lassen, die den Strahlen entsprechen, die „Car- palia“, die entsprechend den Fingern vom Innen- oder Vorderwand aus gezählt werden als Carpale I, II, III. IV, V. Man nennt diese Knochen- reihe die distale und die proximale nach den oben schon benutzten und für die Lagebestimmung an Gliedmaßen allgemein üblichen Bezeich- nungen, der Annäherung an den Körper oder der Entfernung von dem- selben entsprechend. Die Randstücke der proximalen Reihe nannte Gegen- baur nach den (s. o.!) Teilen des Zygopodiums Radius und Ulma— Radiale 1) Gegenbaur, Untersuchungen zur vergleichenden Anatomie der Wirbeltiere. I. Corpus und Tarsus. Leipzig 1864. 344 H. Klaatsch. und Ulnare. Zwischen ihnen entwickelt sich ein „Os intermedium‘“. Zwischen den drei proximalen und den fünf distalen Stücken liegt ein Stück in vollkommen zentraler Lage, daher „Centrale carpi“ genannt. Von diesem bei Amphibien, Schildkröten und manchen Säugetieren, wie auch den fossilen Raubtieren noch vollständig primitiv erhaltenen Zustande aus lassen sich alle jene mannigfaltigen Befunde der Handwurzel ableiten, die sich genau entsprechend der Umgestaltung und einseitigen Verwendung der Hand, zum Laufen, Graben, Fliegen etc. herausbilden. Daß die menschliche Embryonalhand noch den Urzustand rein er- halten hat, wurde durch die Untersuchungen Rosenbergs erkannt, der das „Centrale carpi“ beim menschlichen Embryo suchte und fand (Fig. 142). Auch beim Erwachsenen kann dasselbe bisweilen noch vollkommen frei er- halten sein, in der Regel aber verschwindet es, indem es sich mit dem Radiale so fest verbindet, dal es als gesondertes Skelettstück nicht mehr Fig. 149. Fig.150. Handskelette fossiler Carnivoren der tertiären Creodonten (Eocän), Oxyäna und Patriofelis, um die Menschenähnlichkeit mit den rezenten Formen zu zeigen. nachweisbar ist. Diese Verschiebung des Centrale nach der Radialseite hin hängt zusammen mit der Bedeutung der letzteren als der Trägerin des opponierbaren Daumens. Der fundamentale Unterschied in dem Wesen der Randteile der Landgliedmaßen ergibt sich schon aus der Verschiedenheit der beiden Vorderarmstücke untereinander. Ihre Leistung ist eine gesonderte. Der eigentliche Träger der Hand ist der Radius, er stellt eine Art drehbaren Stieles dar, der sich um die Ulna zu bewegen vermag, die ihrerseits die Aufgabe einer gesicherten Verbindung mit dem proximalen Stielteil des ganzen Armes, dem Humerus- Oberarmknochen zu erfüllen hat. Daß nun der Radius in direkter lokaler Beziehung mit dem ersten Strahl, dem Daumen, steht, das bestätigt aufs neue die fundamentale Bedeutung des letzteren: Die Funktion der Hand als eines Greiforganesist das Ursprüngliche und beherrscht daher die ganze anatomische Anordnung der Teile, der Knochen nicht nur, Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 345 sondern auch der Muskeln, die jene noch an die Flossenbewegungen er- innernden Drehungen der Hand bewerkstelligen. Bei der großen Mehrzahl der Säugetiere ist dieser alte Zustand verloren gegangen. Nur eine Gruppe gibt es, die die Hand in einer ganz auffällig vortrefflichen Weise sich bewahrte, es sind die sogenannten „Halbaffen“ oder „Prosimiae“, Formen, die auch sonst viel Altertümliches bewahrt haben (Fig. 151). Ihre Menschenähnlichkeit erschien Linn so bedeutend, daß er sie mit Mensch und Affen als Primaten zusammenfaßte. Ich habe vorgeschlagen, den Ausdruck „Primatoiden“ zu wählen, für die Halbaffen nicht nur, sondern auch für die fossilen Vertreter heutiger Säugetierabteilungen, soweit sich dieselben noch im Besitz derjenigen Merkmale be- finden, die bei den Primaten fortgeführt werden. Die „Pro- simiae“ haben keine spezielle Verwandtschaft mit Affen, wie der Name vielleicht glauben machen könnte, ihre Ähnlichkeit mit denselben beruhtsauf deren gemeinsamen Besitz primitiver Merkmale. In der frühesten Zeit der Tertiärperiode, dem» Eocän, befand sich ein großer Teil der Vorfahren der jetzigen Säuge- tiere auf einem ähnlichen Ni- veau und dokumentierte eben noch die Menschenverwandt- schaft, die seitdem verloren ging oder undeutlicher wurde. Für den Umwandlungs- prozeß,.den‘die Mehrzahl der uänae. (oben) und Faße (unten) von einem Halhaffen oder Fee nere miihren Gliedmaßen: *ro'mise, Zieaseh -DEOBE Beh DEpinal lim Barliner erfahren hat, können die Prin- zipien des Kampfes ums Dasein in mancher Hinsicht erfolgreich verwertet werden. Man wird dabei aber zweifeln können, ob diese einseitigen Umge- staltungen als „Vervollkommnungen“ im allgemeinen Sinne bezeichnet werden dürfen. Wohl sind sie es im speziellen Sinne — es sind Opfer, ge- bracht im Kampf ums Dasein und insofern nicht umsonst gebracht, als sie ihren Trägern durch spezielle Anpassungen an bestimmte Arten des Lebens, der Bewegung, der Ernährung, die Garantie der Existenz boten auch unter den schwierigen Verhältnissen, welche durch die enorme Entfaltung der Säugetierwelt während der Tertiärperiode hervorgerufen wurden. Es war Fig. 151. — 546 H. Klaatsch. die Konkurrenzzuchtwahl, die die einzelnen Gruppen nötigte, sich einem bestimmten Modus anzupassen — damit aber war unweigerlich der Weg zu anderen Entwicklungsbahnen abgeschnitten. Jede Spezialisierung in einer Richtung bedingt ein Auf- geben von Entfaltung nach anderen Richtungen. Dieses Prinzip, das wir durch uns selbst, durch die Berufswahl und die Konzentrierung des Interesses auf bestimmte Gebiete so leicht illustrieren können, ein Prinzip, das zum Hervorbringen großer Leistungen notwendig erscheint, dasselbe beherrscht die Umgestaltungen der Hand in der Säugetierreihe. Die Einzelheiten dieser Umwandlungen sind bekannt, wir wollen daher hier nur,-die Tatsache konstatieren, daß trotz derselben noch in der Pfote des Maulwurfs, wie in dem Flügel der Fledermaus, wie im Bein der Huftiere Fig. 152. Links Armskelett eines Affen (Cebus), rechts das einer Fledermaus, um die Veränderungen der Handskelette bei Ausbildung der Flug- haut zu demonstrieren. Klaatsch photogr. nach Original im Berliner Museum für Naturkunde. der alte Zustand sich erkennen läßt und daß oft genug auch noch die 3esonderheit der Radialdaumenseite unverkennbar ist, wenn nur der geschärfte Blick des Morphologen sich darauf richtet. Dem Beispiel, das wir oben für die Tatze der Katzen oder Feliden schon gebracht haben, seien nur einige wenige beigefügt. Der Fledermausflügel wird gestützt durch die enorm verlängerten Metacarpal- und Phalangenknochen der Strahlen, unter denen der erste sich ganz deutlich markiert, indem er stark von den andern divergiert und durch Stellung und Kürze sich als Daumen offenbart. Bekannt ist allgemein wohl, daß jener eigentümliche, rauhe, narbenähnliche Fleck, den man am Bein des Pferdes auf der Innenfläche wahrnimmt, nichts anderes ist, als der Rest des Nagels resp. Hufes des ersten Strahles des Daumens (und der großen Zehe). Als einen „Vor- Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 347 fahrenstempel“ könnte man dieses Gebilde bezeichnen, eine unaus- löschbare Erinnerung an primatoide Ahnen! In der Zeit der ersten Anwendung der Darwinschen Ideen auf die Umwandlung der Tiere spielte der Stammbaum des Pferdes eine große Rolle. Man war froh, an einer bestimmten Gruppe den Connex der ein- zelnen Glieder einer Reihe vom fünfstrahligen Phenacodon durch Orohippus, Miohippus überhaupt verfolgen zu können. Die Idee der Zuchtwahl trat dabei in den Hintergrund, aber man gab sich auch nicht Rechenschaft darüber, ob denn hier eine Vervollkommnung durch Überleben der Pas- sendsten vorliegt. Heute gehen wir darin mehr konsequent vor. Dieses Kampfprinzip erscheint als ein ruinierendes Element. inso- ferne es die Entwicklungsfähigkeit aufhebt — alle diese einseitie um- to) Oo oO gestalteten Formen bezeichnen Sackgassen — und es muß gerade als ein Hauptpunkt der Menschwerdung bezeichnet werden, daß unsere Ahnen- reihe glücklich den Segnungen des Kampfprinzipes enteing. Daß der Mensch seine Hand behielt, so einfach die Tatsache als solche erscheint, muß nahezu als ein Wunder erscheinen. Wie unendlich leicht hätte das Schicksal, die Not, die tausendmal den verwandten Formen den Anstoß zur Umbildung gab, die gesamte Primatenwelt ohne Ausnahme in ihr erbarmungsloses Getriebe zwingen können. Nach den Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung dürften theoretisch die Chancen minimal sein. daß eine so zarte und leicht modifizierbare Einrichtung, wie die Greifhand sich seit unendlichen Zeiträumen durchrettet, um durch die Kombination mit einer ganz anderen Einrichtung, nämlich der ungeheuren Entfaltung des Zentralnervensystems, eine einzigartige Bedeutung zu gewinnen. Diese Kombination ist der Zentralpunkt des Rätsels der Mensch- werdung. Wohl hat auch der Halbaffe die Hand behalten, aber sein Kopf hat anderweitige Umgestaltungen erfahren, die eine menschliche Kombination von Gehirn und Hand ausschlieben. Wie groß die Gefahr gewesen ist, daß auch der letzte Rest des primatoiden Urstocks der Säugetierwelt des Kulturorganes beraubt würde, lehrt die Betrachtung der uns nächst verwandten Formen, der Affen und besonders der Menschenafften. Der Mensch ist in der Tat der einzige Primate, der den Daumen in voller Ausbildung behalten hat. Freilich kommt der Gorilla ihm recht nahe, aber doch ist unverkennbar, daß der Daumen bereits eine absolute und relative Verkürzung erlitten hat. Die Hand des Gorilla ist als solche, wie schon Th. Huxley betont, ganz unverkennbar, aber die Finger vom HU. bis V. sind untereinander durch eine ziemlich starke Schwimmhaut verbunden, jene Membran, die ja auch beim Menschen, besonders dem Embryo, sich findet, so daß die Einzelbewegungen gehemmt werden. Die Faust des Gorilla ist eine furchtbare Waffe geworden, eine Ohrfeige damit kann tödliche Folgen haben. Man muß) die enorme Größe der Armknochen sehen, um zu begreifen, dal) hier der Kampf ums Dasein und zugleich auch die sexuelle Zuchtwahl den Arm zum Kampforgan gestaltet haben. 348 H. Klaatsch. Wird der Gorilla gereizt, so trommelt er mit den gewaltigen Fäusten die mächtige Brust und wehe dem Gegner, den sein Arm erreicht. Daß er imstande sein soll, mit seinen Händen einen Gewehrlauf zu knicken, erscheint bei schlechter Qualität des letzten gar nicht so unmöglich. Die Schilderungen von Du Chaillu über den Affenherkules, wie Heck!) den (orilla einmal sehr treffend bezeichnet hat, wurden für übertrieben gehalten, aber die Angaben von v. Koppenfels bestätigten die enormen Kraftleistungen dieser Riesenprimaten. Das Greifvermögen der Gorillahand ist keineswegs aufgehoben. Er kann Stöcke und Steine fassen und sich auch damit ver- teidieen. Als Anzeichen dafür, daß innerhalb des Gorilla-Materials Anfänge der Umgestaltungen auch anderer Finger als des Daumens auftreten, möchte ich ein eigentümliches Verhalten des III. Metacarpalknochens an- sehen. das ich an zwei Exemplaren der hiesigen anatomischen Sammlung, und zwar einem männlichen und einem weiblichen, ausgeprägt fand. Das Os metacarpi tertium ist verschmälert, ganz besonders an seinem Capitulum, das zwischen den starken Köpfchen der benachbarten Stücke eingekeilt erscheint: besonders an dem männlichen Exemplar ist der Metacarpal- knochen des Index durch bedeutende Mächtigkeit ausgezeichnet. In beiden (reschlechtern ist der dritte Metacarpalknochen etwas verkürzt, während die Phalangen nicht hinter den anderen zurückstehen; die Grundphalange der IH. ist sogar breit ausgebildet. Bei Mann und Weib zeigt die Dorsal- fläche des IV.. beim Manne auch des II. eine deutliche Abplattung, während dieser Teil am III. durch eine besonders beim Weib markierte Verschmälerung ausgezeichnet ist. An dem Material, das ich sonst vom Gorilla gesehen habe, an den Museen von Stuttgart, Berlin. Lübeck, Frankfurt u. a., habe ich eine solche Anomalie bisher nicht beobachtet. Die Vergleichung des ganzen Armskeletts vom Gorilla mit Mensch ergibt eine außerordentlich große Ähnlichkeit des ersteren mit jenem Typus. der als Neandertalrasse nun allgemein anerkannt ist. In meinen Arbeiten über die fossilen Menschenrassen ?2) habe ich den Beweis für die Richtig- keit der Annahme einer relativ nahen verwandtschaftlichen Beziehung der fossilen Neandertalmenschen mit den afrikanischen Riesenaffen ganz aus- führlich erbracht. Wenn diese meine Ansichten heute noch nicht allgemein von den Fachkollegen angenommen sind, so liegt dies hauptsächlich daran, dal) manche mit den morphologischen Besonderheiten des Extremi- tätenskeletts sich noch nicht genügend vertraut gemacht haben. Die Tat- sachen, die ich mit exaktesten Methoden, u. a. mit Hilfe der diagraphischen Technik an den Humerus, Ulna und Radius dargetan habe, sind überaus ') L. Heck, Die Säugetiere. Hausschatz des Wissens. Abt. VI. Das Tierreich. Neudamm 1897. ?®) H. Klaatsch, Die Aurignaerasse und ihre Stellung im Stammbaum der Mensch- heit. Zeitschr. f. Ethnologie. 1910. — Derselbe, Menschenrassen und Menschenaffen. Verhandl. Anthropolog. Kongr. Cöln 1910. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 549 einfach und klar und wer diese Grundlagen meiner Ansicht nicht bestreiten kann. muß sich auch den logischen Konsequenzen aus denselben beugen. Ich verweise nur auf die Krümmungsverhältnisse des Caput humeri. die Form und den Sitz der Tubercula, die Ausbildung des Epicondylus, dann auf die ganze Morphologie des proximalen Ulnaendes und auf die Ge- staltung des so auffällig gekrümmten Radius. Viele dieser Tatsachen waren schon von E. Fischer‘) erkannt, aber nicht in den richtigen morphologi- schen Zusammenhang eingefügt worden. Ich konnte so weit gehen, zu be- haupten, daß der Gorilla in diesen Merkmalen sich weiter vom Schimpansen entfernt als vom Neandertalmenschen, wie andrerseits letzterer darin mehr dem Gorilla ähnelt als der anderen fossilen Menschenrasse, die ich die von Aurignac getauft habe. Vom Handskelett der Neandertalrasse besitzen wir nur wemig Material. Die Stücke, die ich davon gesehen habe, die teils dem Material von Spy in Belgien, teils von Krapina entstammen, sind typisch menschlich, zeigen nur eine etwas kurze und gedrungene Form wie alle Teile der Skelette. Wir dürfen jedenfalls annehmen, daß sich die Neandertalmenschen darin ganz typisch menschlich verhalten. Hieraus.ergibt sich der Schluß, daß auch die gemeinsame Wurzel, die Praegorilloiden — Praeneanderthaloiden in den Proportionen ihres Armes und der Beschaffenheit ihrer Hand sich durchaus menschlich verhielten. Der weitere Schluß ist, daß die Gorillazustände eine einseitige Bahn der Umgestaltung darstellen. Es wird hiermit überaus wahrscheinlich. daß die Vorfahren die Benutzung des Steinmaterials, d. h. eine primitive eolithi- sche Steintechnik besessen haben. Zu demselben Schluß werden wir für die beiden anderen großen Menschenaffen, Schimpanse und Orang, ge- drängt. Der Schimpanse zeigt die Rückbildung des Daumens deshalb noch auffälliger, weil die anderen Finger länger und schmäler sind. Es sind das Unterschiede, wie wir sie auch zwischen menschlichen Individuen antreffen, von denen die einen mehr schmale, andere mehr plumpe und breite Hände besitzen. Die elegante Damenhand ist eigentlich etwas Primitives, das an Australier erinnert. Für den Schimpanse sind bisher spezielle Verwandtschaftsbeziehungen zu Menschenrassen im Armskelett noch nıcht erkannt, wenn ich auch schon jetzt Anzeichen dafür habe, daß unter dem als Afrikaneger zusammen- eefaßten Material‘ manche sich deutlich dem Gorilla, andere dem Schim- panse nähern, sich gorilloid oder schimpansoid verhalten. Aber für den Orang haben wir bereits solchen Konnex. Hier konnte ich die Verwandtschaft mit der fossilen Aurignacrasse deutlich nach- weisen, aber auch moderne Rassen wie Malaien und Australier als dem- selben Formenkreise zugehörig erkennen. 1) E. Fischer, Die Variationen von Radius und Ulna beim Menschen. Eine anthro- pologische Studie. Zeitschr. f. Morphol. u. Anthropol. IX, S. 144—247, 1906. 350 H. Klaatsch. Dieser Nachweis ist um so wichtiger, als die enorme Umgestaltung der Hand des Orang solche Schlüsse als gewagt erscheinen lassen könnte, hätten wir nicht das andere Tatsachenmaterial. Die Hand des Orang besitzt einen ganz rudimentären Daumen, während die anderen Finger bedeutend verlängert sind. Um so interessanter ist es, daß der Orang sich im Bau der Handwurzel ein ganz primi- tives Merkmal bewahrt. Bei allen Orangs — bisher ist mir eine Aus- nahme nicht begegnet — bleibt jenes centrale Carpi, das ich oben aus- führlich behandelt habe, als ein gesondertes Stück zeitlebens bestehen, während es bei den anderen Menschenaffen mit dem Radiale sich ver- bindet (8. 0.!). Die Umwandlungen der Oranghand erscheinen daher als nichts Funda- mentales, sondern als neueren Datums und damit stimmt auch das Ver- halten der Armknochen überein, das noch alle morphologischen Besonder- heiten menschlicher Ostrassen (von denen die von Aurignac zur Eiszeit nach Europa gelangte) aufweisen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist es klar, dab die enorme Ver- längerung der Arme des Orangs eine ganz sekundäre Erscheinung dar- stellt, die sich deutlicher als beim Gorilla als eine Anpassung an das Leben auf den Bäumen erweist, wobei das Klettern von Ast zu Ast große Spannweite erfordert. Die Hände sinken herab zu Klammern, denen der Daumen nur noch als Rudiment anhängt. Daß dennoch die Gebrauchs- fähigkeit der Hand nicht ganz verloren gegangen ist, konnte ich an einem jugendlichen Orangweibchen beobachten, daß sich m dem Institut Ge- heimrat Neissers auf Java bei Weltevreden befand. Ich sah dieses Geschöpf öfters Cocosnüsse aufmachen. Nachdem es mit den Zähnen die Faserhülle entfernt, nahm das Orangweibchen einen Geröllstein in die Hand und schlug mit sehr wohlgezielten und erfolgreichen Bewegungen auf die Stelle der Narbe ein, um die Milch zu gewinnen (Fig. 153). Der Prozeß, der die vielseitige Verwendung der Hand allmählich aufhob, ist auch bei den Gibbons eingetreten, ja er hat hier sogar das Extrem in der Verlängerung des Armes herbeigeführt, wobei der Daumen neben den riesig langen Fingern zu einem kleinen Stummel geworden ist. Die Gibbons sind äußerst gewandt im Werfen von Ast zu Ast. Sie fliegen gleich Vögeln durch die Wipfel der Bäume dahin. Vergleichen wir die Menschenaffen mit den niederen Affen, so tritt uns die auffällige Tatsache entgegen, dal keiner dieser anderen Vertreter der Primaten die Überverlängerung der Arme erkennen läßt. Es zeigt sich hingegen bei allen eine Art der Gliedmaßenproportion, die der des jugendlichen Menschenzustandes entspricht. Die vorderen und hinteren Extremitäten sind von nahezu gleicher Länge, die hinteren über- wiegen nur ein wenig. Dieses Verhältnis ist auch bei den Halbaffen vor- handen und wir dürfen hieraus schließen, daß es der allgemeine Urzustand der Urprimaten war. Hieraus ergibt sich, daß der Mensch direkt an diesen Urzustand anknüpft — die Menschenaffen haben sich davon entfernt. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. 35] Wenn man allein die Anthropoiden betrachtet, so scheint sich ein sehr deutlicher Zusammenhang zu ergeben zwischen der Rückbildung des Daumens und der Verlängerung der Arme: zieht man aber die an den Affen mit heran, so versagt dieser Konnex. Bei allen „Tieraffen“, sowohl denen der neuen. wie der alten Welt ist die Rückbildungstendenz des Daumens unverkennbar, jedoch ist dieser Weg sehr verschieden weit beschritten worden. Extreme der Reduktion treten uns bei weit voneinander entfernten Formen entgegen. Unter den amerikanischen Affen sind es besonders die Ateles, die eine hochgradige [a Skelett eines Halbaffen, um die menschenähnlichen und zugleich primitiven Proportionen der Gliedmaßen zu zeigen. Klaatsch photogr. nach Original im Museum für Naturkunde, Berlin. Rückbildung‘ des Daumens zeigen, der unter der Haut als Stummel sich birgt. Andrerseits bieten uns die Stummelaffen der alten Welt, die Sem- nopiheci ein ähnliches Verhalten dar. Andere, wie die Paviane, haben einen leidlichen Daumen behalten und auch die Fähigkeit. damit Gegen- stände vom Boden zu erheben. Die Faktoren dieser Rückbildung kennen wir vorläufige nicht, aber die Erscheinung als solche ist überaus wichtige. Wenn man auf die — tatsächlich mir öfter — vorgeleete Frage, warum denn die Affen keine Menschen geworden seien, sich verpflichtet fühlt, eine Antwort zu geben, so würde dieselbe treffend lauten: „Weil die Affen ihren Daumen verloren haben“ —. das Warum? freilich müßte ohne Antwort bleiben. Hy- 359 H.Klaatsch. Die Entstehung und Erwerbung der Menschenmerkmale. Neben dieser einen Umgestaltung haben aber die niederen Affen noch viele andere erfahren, die zeigen, daß sie, die einen früher, die anderen später, von dem gemeinsamen Urzustand abgewichen sind. Die amerikanischen Affen sind dem Menschen ähnlicher geblieben, man könnte sie fast die Anthropoiden der neuen Welt nennen. Die Menschenaffen der alten Welt zeigen sich mehr und mehr be- stimmten Typen fossiler und recenter Menschheit so nahe stehend, dab für ihre Umgestaltungen ein mehrfaches Auftreten anzunehmen ist. Gruppen der gemeinsamen Ahnenform, der Propithecanthropi oder Voraffenmenschen haben sich gespalten in Menschenrassen und Menschenaffen und dieser Vorgang ist wiederholt und unabhängig voneinander in verschiedenen (regenden eingetreten. Überblicken wir die Menschheit, so finden wir sie durchweg im Besitz der vollen Greifhand, d.h. eine Reduktion des Daumens ist nirgends fest- zustellen. Diese Erscheinung ist um so bemerkenswerter, als Unterschiede in Einzelheiten des Skeletts ebenso deutlich sind, . wie in der ganzen Ge- staltung der Hand. Es sei nur an die stärkere Ausbildung der Schwimm- häute beim Neger (cf. Gorilla) erinnert, aber auch die Morphologie der Handwurzelknochen läßt ganz deutlich Rassenmerkmale erkennen. Ich habe das an Australiern gefunden und Adacchi hat für die Japaner solche Be- sonderheiten festgestellt. Noch viel bedeutender sind die Rassenunterschiede im Armskelett. Man muß daher annehmen, dal) bereits innerhalb der Ur- primaten deutliche Verschiedenheiten der Arme und Hände bestanden, die aber physiologisch gleichgültig waren. Alle diese Tatsachen und Überlegungen führen zu einem \ deutlichen Schluß bezüglich der Rolle, die die Hand bei der Menschwerdung gespielt hat: Da ohne Hand eine Höherentwicklung ausgeschlossen ist, so konnten nur diejenigen höheren Primaten Menschen werden, bei denen die Hand keine Rückbildung erfuhr. Alle Formen hingegen, bei denen aus welchen Gründen auch immer eine Verkürzung des Daumens eintrat, schieden aus dem Begriff Menschheit aus. Mensch wurde, was die Hand behielt, Affe, was den Daumen mehr oder weniger einbüllte. Weder Mensch noch Menschenaffen sind einheitliche Begriffe. Die neue Bedeutung der Hand in Zusammenhang der spezifisch menschlichen Umgestaltung der anderen Teile des Organismus, besonders des Fußes, soll in späteren Abschnitten behandelt werden und wird uns Gelegenheit geben, manche Eigentümlichkeiten der Hand aufs neue zu beleuchten. Druck von Gottlieb Gistel & Cie. in Wien. Siafele[e[efefafe/efef sfefelafs/efefefeferereh SEARSHTELI SIOICIEH Dr Fortschritte der natur- wissenschaftlichen Forschung PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY RNIT ARSTER, dı S \ Ey7 N PN) S J a ar N ART dv; ONE ar N van "e SI IR & 67 SEN DR Fa SENSE ER OR N NERERLN, STAR) N RR 3 x RSS $ RT RER NERENN BESTER ARTE AN? 7 FAR \ SACETE N A : Dar \ J 3 FREE BER PNEN DI TERN ON, K FT r N N > IE N Rr IR Sarg Nr OWLTENE ER BIRD ERLREN 7 VARTA b SE RRLAN urire 2 REM, OR STE BER ORTEN ARTS EEE Al N REIN) 22 STR Sn, BSH Ent. Y MR ke Er 3 EN