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GENETHLIAKON

CARL ROBERT ZUM 8. MÄRZ 1910

GENETHLIAKON

ÜBERREICHT VON DER GRAECA HALENSIS

BERLIN

WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG

1910

Alle Rechte vorbehalten.

EAAAAIKOY0IAZOYnPflTOZnOPEKAI(I)IAETAIPE XAIPE(|)IAOIZETEaNEZTEAE2AZAEKAAAZ

INHALT

Seite Benedictus Niese, Drei Kapitel eleischer Geschichte 1

Georg Wissowa, Naevius und die Meteller 49

Friedrich Bechtel, Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones

Graecae 65

Otto Kern, Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs (mit einer Tafel) 87

Karl Praechter, Richtungen und Schulen im Neuplatonismus 103

Eduard Meyer, Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschen- geschlechtern 157

Ulrich Wilcken, Die attische Periegese von Hawara (mit einer Tafel) . . . 189 Benno Erdmann, Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre

Spinozas 227

Drei Kapitel eleischer Geschichte

von

Benedictus Niese.

Graeca Halensis.

Die nachfolgende Abhandlung, lieber Freund, ist bestimmt, meinen Glückwünschen zum Geleit zu dienen, die ich Dir zu Deinem sech- zigsten Geburtstage von ganzem Herzen darbringe. Dabei darf ich der längst vergangenen Zeiten gedenken, als wir im Sommer 1870 uns in Bonn zuerst kennen lernten und später in Rom in gemeinsamem Leben und Streben unsere Freundschaft befestigen konnten, und ich be- trachte es als eine besonders günstige Fügung, daß mich das Ge- schick jetzt an dieselbe Universität mit Dir zu gemeinsamer Wirk- samkeit zusammengeführt hat. Dem verdanke ich es, daß ich die Freude habe, an diesem Bande mitzuarbeiten, den Dir Deine Hallischen Freunde zum sechzigsten Geburtstage widmen. Ich habe dazu etwas aus Elis beigebracht; denn ich weiß, daß auch Du Dich gern mit dieser Landschaft beschäftigst, und würde mich besonders freuen, wenn meine Ausführungen, mit denen ich jetzt beginne, nicht nur Dein Interesse erregten, sondern auch Deinen Beifall fänden.

1. Elis und seine Periöken.

Du weißt, daß die Landschaft Elis, das Gebiet der Fleier, zu der Zeit, wo wir es näher kennen lernen, d. h. am Ende des fünften Jahrhunderts, die ganze Küstenlandschaft umfaßte, die zwischen Achaia und Messene, oder richtiger damals Lakonien lag, ungefähr also das Land, das auch Pausanias als Elis bezeichnet. Im Norden und Süden bildeten zwei Flüsse die Grenze, gegen Achaia der Larisos, gegen Lakonien oder Messene die Neda, im Osten gegen das Binnenland Arkadien. Es was das größte Gemeinwesen, das im Peloponnes außer Sparta existierte.

Es bildete aber keine politische Einheit, sondern setzte sich aus zwei ungleichen Teilen zusammen, dem Gebiet der herrschenden Gemeinde, dem sogenannten hohlen Elis {xoilr} 'Hhc), und dem

4 B. Niese

Untertanen- oder Periökenlande, der ^regior/Jg^); in dieser Beziehung war Elis ähnlich zusammengesetzt wie Lakedämon.

Das hohle Elis bildete, solange wir davon wissen, eine einzige Gemeinde, war aber in älterer Zeit ganz ländlich und ohne städtischen Mittelpunkt; damals wird das Heiligtum in Olympia in vielen Stücken die Stelle der fehlenden Stadt ersetzt haben. Erst nach den Perser- kriegen, nach Diodor Olymp. 77, 2, 471/0 v. Chr., ward ein städtischer Mittelpunkt gegründet, der nun den Namen der Landschaft, Elis, empfing. Eine Anzahl Dörfer ward dahin zusammengelegt. '^) Die Stadt war zunächst unbefestigt'») und hat auch später keine größere Bedeutung erlangt, da die Eleier das Landleben vorzogen, und nach der bekannten Schilderung des Polybios noch um 220 v. Chr. viele von ihnen nie in die Stadt gekommen waren. ^) Das Land war da- her dicht bevölkert und voll von Dörfern und Heiligtümern, •'^j Unter der großen Zahl der Ortschaften 6) gab es einige größere, 'befestigte Plätze, unter denen an der Küste der Hafen Kyllene und viel- leicht Phea zu nennen sind, im Binnenlande Pylos und Thalamai. ") Selbstverständlich waren das keine eigenen Stadtgemeinden; denn es gab außer dem einen Elis ebensowenig eine andere Stadt, wie in Attika außer Athen ^); sondern sie können am besten mit den attischen Demen verglichen werden.

1) Thukyd. II 25, 3 TcJr ix rijs xoi/.ris'HhS'os xal rcöv avTÖd'ev ix irjs ns(>ioixiSos.

2) Strabo VIII 336. Diodor XI 54, 1. Nach Pausan. V 4, 3 sind es die nächst- gelegenen Dörfer gewesen, die man zusammenlegte, was richtig sein kann. Anachro- nistisch verlegt Pausanias samt den übrigen Mythographen die Stadt Elis schon in die älteste Zeit vor Oxylos. Pausan. V 4, 3. VI 23, 8. Ephoros fr. 29 bei Strabo X463f. Diodor IV 33, 4. ApoUodor bibl. II § 140. Die Annahme einiger neuerer Historiker, daß sich an Stelle der Stadt Elis in älterer Zeit eine Herrenburg befunden habe, ist ohne tatsächliche Begründung.

3) Xenophon Hell. III 2, 27. Ephoros fr. 15.

4) Polyb. IV 73.

5) Strabo VIII 343. Eine Erläuterung dazu bildet der Feldzug der Makedonier von 219/8, wo als Lagerplatz Philipps erst ein Dioskurion, dann ein Artemision angegeben wird. Polyb. IV 73, 4 f.

6) Wir kennen eine Anzahl Namen, die Clinton, fasti Hellen. II 429 zusammen- gestellt hat; es ist sicherlich nur ein kleiner Teil der wirklich vorhandenen. Pausan.

V 16, 6 gab eine Liste von 16 Namen, von denen aber nur der erste, Elis, erhalten ist, und dieser steht mit den übrigen nicht auf gleicher Linie.

7) Xenoph. Hell. VII 4, 16. 26, Polyb. IV 75, 2ff. Diodor XIV 17, 9. Pausan.

VI 23, 3. Pylos lag am Ladon, 70 oder 80 Stadien von der Stadt Elis entfernt; wo Thalamai lag, steht nicht fest.

8) Daher die Stadt Elis bei Xenophon Hell. III 2, 26 rd äan heißt.

Drei Kapitel eleischer Geschichte.

Von dem hohlen Elis, der eigentlichen Gemeinde, ist der zweite Bestandteil, das Periökenland, politisch und örtlich geschieden. Die Periöken leben in einer größeren Zahl kleinerer Gemeinden, die als Städte {fcöUig) bezeichnet werden und ähnlich wie die lakedämo- nischen Periöken') jede für sich standen, aber von Elis abhängig waren. Sie mußten den Eleiern persönlich Heerdienst leisten und überhaupt zu den Kriegslasten beitragen.-) Teilweise hatten sie auch regelmäßige Abgaben zu entrichten 3); ob jedoch dieser Punkt ein- heitlich und gleichmäßig geregelt war, ist unbekannt.

Der Umfang des Periökenlandes ist verhältnismäßig ansehnlich. Das Ganze ist aber nicht auf einmal, sondern zu sehr verschiedenen Zeiten an Elis gekommen, und man kann drei Gruppen der Periöken unterscheiden. Im Osten an der arkadischen Grenze ist es die Akroreia, an die sich weiter die Stadt Lasion anschließt. An der Küste liegt das Periökenland zu beiden Seiten der Alpheiosmündung und reicht im Norden bis etwa Pheia oder Phea, dessen Umgebung schon dazu gehörte. ^) Südlich schließen sich als die dritte Gruppe die sechs Städte an, die nach Herodots bekannter Erzählung-^) von den aus Sparta auswandernden Minyern gegründet wurden. Sie be- saßen den südlichen, schmalen Teil der Küstenlandschaft bis zum Grenzfluß Neda hin. Alle insgesamt werden sie politisch zu Elis im weiteren Sinne gerechnet und gehen unter dem Namen der Eleier; zum guten Teil ferner sind sie desselben Stammes wie die Bürger der herrschenden Gemeinde und reden denselben Dialekt. Dies ist wenigstens sehr wahrscheinlich von den beiden ersten Gruppen, der Akroreia und den an beiden Seiten des unteren Alpheioslaufes wohnenden Periöken, den unmittelbaren Nachbarn des hohlen Elis. Dagegen die Minyerstädte hatten eine zugewanderte Bevölkerung und können den Eleiern nicht ursprünglich stammverwandt gewesen

1) Nachrichten der K. Ges. d. Wiss. zu Göttingen, phil.-hist. Cl. 1906, S. 101 ff.

2) Thukyd. II 25. V 31. Aus letzterer Stelle geht hervor, daß die Lepreaten zu den Lasten des attischen Krieges mit beitragen mußten; denn sie haben aus diesem Grunde die Zahlung des Tributs eingestellt.

3) Davon spricht Strabo VIII 355. Über Lepreon vergl. Thukyd. V 31. Aus Xenophon Hell. III 2, 30 erfahren wir, daß die Eleier Epion für 30 Talente gekauft hatten. Wahrscheinlich hat letzteres dafür eine Abgabe entrichten müssen, die etwa der Verzinsung dieser Summe entsprach.

4) Thukyd. II 25. Phea selbst scheint nicht periökisch gewesen zu sein. Xenoph. Hell. III 2, 30.

5) Herodot IV 148. VIII 73.

b . B. Niese

sein. Vor den Minyern haben hier nach der Überlieferung >j Paro- reaten und Kaukonen gewohnt, die man wohl mii Recht für Ver- wandte der Arkader hält.-)

Wie diese Periöken den Eleiern Untertan wurden, war schon den Alten nur zum Teil bekannt. Die Eleier behaupteten ohne Unterschied, sie nach dem Kriegsrecht durch Eroberung zu besitzen. ■') Aber wie und wann die Erwerbung geschah, können wir nur noch bei den südlichsten, den Minyerstädten, hinreichend erkennen, die zuletzt einverleibt wurden, Herodot erzählt uns, daß diese Städte, nämlich Lepreon, Makistos, Phrixai, Pyrgos, Epion, Nudion, zu seiner Zeit größtenteils von den Eleiern verheert, also bekriegt und wahrscheinlich erobert wurden; denn es ist nicht anzunehmen, daß die Eleier Städte verheert haben, die ihnen schon angehörten.^) Aus der Lebenszeit Herodots folgt, daß dies erst nach den Perserkriegen, nach 480 v. Chr. sich ereignet haben kann, was dadurch bestätigt wird, daß eine von ihnen, Lepreon, als selbständige Stadt und Spartas Bundesgenosse an den Perser- kriegen teilgenommen und ihr Kontingent zum peloponnesischen Heere gestellt hat.^) Auch gilt es nur für die Mehrzahl, nicht für alle; und dazu stimmt, daß in der Tat Lepreon ein besonderes Schicksal hatte, über das wir durch Thukydides näher unterrichtet sind. Die Lepreaten waren mit den benachbarten Arkadern in Krieg geraten und hatten die Eleier angerufen, diese hatten Hilfe gebracht und sich dafür die Hälfte des Landes ausbedungen, überließen aber das Abgetretene den Lepreaten gegen Zahlung eines jährlichen Zinses, einer Art Pacht, an den Zeus in Olympia.*') Die Lepreaten wurden also den Eleiern tributpflichtig und zugehörig"), scheinen aber im übrigen ihre Autonomie, und vielleicht auch ihr Bundes- verhältnis zu Sparta erhalten zu haben.

Eine andere der Minyerstädte, Epion *), das zwischen Makistos

1) Herodot a. O.

2) Die Kaukonen sind allerdings wohl kein historischer, sondern nur ein dich- terischer, der Odyssee / 366 entlehnter Begriff.

3) Xenoph. Hell. III 2, 23 indrjtäus yii^ i%oie7' ras nölets.

4) Herod. IV 148 roiirmv 8k ras rrlfvras in* iiieo ^HXdoi iTtö^dtjoav.

5) Herodot IX 28. Ihr Name steht daher auf der delphischen Schlangensäule, Dittenberger Syll. 1-7.

6) Thukyd. V31. Vgl. Grote, history of Greece VI 288 f.

7) Die Lepreaten gelten daher für Eleier. Vgl, Pausan. V5, 3. Inschrift, von Olymp, n. 155.

8) Der Name wird in doppelter Form überliefert "Entov oder Aimur bei Hero-

Drei Kapitel eleischer Geschichte.

und dem arkadischen Heraia lag, hatten die Eleier nach ihrer eigenen Angabe von den Besitzern gekauft. ') Wer die früheren Besitzer waren, wissen wir nicht; aber der oben erwähnte Angriff der Ar- kader auf Lepreon kann uns vielleicht den richtigen Weg zeigen. Ich vermute, die Arkader hatten sich der Stadt bemächtigt, und von ihnen kauften sie die Eleier. Phrixa (oder Phrixai), ebenfalls einender minyeischen Städte, die später zu den eleischen Periöken gehört 2), wird von Pherekydes zu Arkadien gezählt 3) und scheint also zur Zeit des Pherekydes, um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., oder auch etwas früher den Arkadern angehört zu haben. Auf Grund dieser An- zeichen vermute ich, daß die Minyerstädte, ehe sie in den Besitz der Eleier übergingen, von den Arkadern angegriffen wurden, daß sie zwischen Arkadern und Eleiern streitig gewesen sind ^) und so teils durch Waffengewalt teils durch Abkommen in den Besitz der Eleier gelangt sind.

Zwischen Arkadern und Eleiern muß es überhaupt in älterer Zeit manche Streitigkeit gegeben haben, wie sie unter Grenznachbarn in Hellas so häufig waren. Leider haben sich keine bestimmten Nach- richten darüber erhalten.«'^) Bestimmt wissen wir aber, daß der Besitz Lasions den Eleiern von den Arkadern bestritten ward. 6) Zwischen den beiden Nachbarvölkern bestand daher keine Freundschaft, und mit Vergnügen benutzten die Arkader die Gelegenheit des lakedä- monischen Feldzuges unter Agis um in Elis tüchtig zu plündern. '') Ich bemerke noch dazu, daß die hier in Betracht kommenden Ar-

dot IV 148 und Polybios IV 77, 8. 80, 13 und "HTieiof bei" Xenophon, Hell. III 2, 10. Vielleicht ist letztere Form vorzuziehen.

1) Xenoph. Hell. III 2, 30: "Hneiov fievroi liiv nera^v nöliv '^H^alas xal May.i- firov ■^^iovv Ol HleZoi s%6iv' nQiaa&ai yäg ecpaaav rrjv %d)oav naod rßv rore i%6%- rwv ri^v TtöXtv roiäxorra raXävTcov xai rd aQyvQiov Ss8(oxsvat.

2) Xenophon a. O.

3) StephanOS ByZ. S. <I>gi^a . . . 0fgexv§r]S Sk '^gxaSiaS avrrjv yQÜcpei.

4) Eine Erinnerung daran hat sich vielleicht bei Diodor XV 77, 2 erhalten, wo- nach sich Arkader und Eleier schon früher um Triphylien gestritten haben. Auch Strabo VIII 337 spricht von öftern Zwistigkeiten, meint aber wohl nur den mit 370 V. Chr. beginnenden Streit um Triphylien.

5) Eine dunkle Erinnerung an derartige Streitigkeiten spricht sich vielleicht in der Gründungslegende des Kultes der Sosipolis an. Hierbei ist von einem arka- dischen Heere die Rede, das in Elis einrückt. Pausan. VI 20, 4. Robert, Athen. Mit- teil 18 S. 39.

6) Xenoph. Hell. III 2,30: Aaai&va rdv vn' !^oxd6'Mv dvrdeyöuevov. Vgl. VII 4, 12

7) Xenoph. Hell. III 2, 26.

8 B. Niese

kader nicht die gesamte arkadische Nation sind, sondern nur die an Eiis angrenzenden westlichen Gaue '), über deren ältere Geschichte ein fast vollständiges Dunkel schwebt.

Die Erwerbung der Minyerstädte durch die Eleier und die ihr vorausgehenden arkadischen Angriffe fallen, wie gesagt, nach den Perserkriegen. Lepreon, das zuletzt kam, muß doch schon einige Zeit vor dem Anfang des Peloponnesischen Krieges den Eleiern zugefallen sein, also spätestens um 440 v. Chr., vielleicht aber noch früher^). Vielleicht kann man die Vorgänge am besten mit den kriege- rischen Unruhen in Verbindung bringen, die zwischen der platä- ischen Schlacht und dem dritten messenischen Kriege den Pelo- ponnes heimsuchten'^), als fast ganz Arkadien außer Mantineia im Bunde mit den Argivern sich gegen Lakedämon erhob und die Lakedämonier zwei große Schlachten gegen sie zu schlagen hatten^). Unter der wahrscheinlichen Voraussetzung, daß die Lepreaten und die anderen Minyerstädte damals an Sparta festhielten, erklären sich die arkadischen Angriffe, die nun den Eleiern Gelegenheit gaben, sich der Städte zu bemächtigen. Denn Elis blieb damals den Lake- dämoniern treu und war in dieser Zeit, wo zuerst der arkadische Aufstand und darnach der dritte messenische Krieg die Spartaner beschäftigte, ein doppelt wertvoller Bundesgenosse. Die Lake- dämonier mußten es daher dulden, daß zuletzt auch Lepreon von Elis abhängig ward, haben es aber nicht gern gesehen. Es wider- sprach ihrem sonstigen Verfahren; denn stets pflegten sie die Kleinen gegen die Großen zu schützen und dafür zu sorgen, daß keiner der peloponnesischen Bundesgenossen zu mächtig würde. Sie be- nutzten daher die erste Gelegenheit, die sich bot, als der Friede des Nikias dem Kriege gegen Athen ein Ende gemacht hatte, sich der Lepreaten anzunehmen, was sie um so eher durften, als das Bündnis mit Lepreon immer noch bestand^).

1) Es sind etwa die Arkader, von denen die älteren Münzen mit A^xaihxov herrühren, die nach der Ansicht der Kenner in Heraia geprägt sind. Head, historia numorum S, 373..

2) Thukydides V 31, 3 sagt, die Lepreaten hätten bis zum attischen Kriege ihren Tribut regelmäßig bezahlt.

3) An die Zeit des dritten messenischen Krieges denkt Beloch, Rivista di filol.

IV (1876) 228. Vgl. E. Meyer, Geschichte des Altertums 111 S. 514 f.

4) Herodot IX 35.

5) Zu derselben Zeit gingen sie ganz ähnlich gegen Mantineia vor. Tluikyd.

V 29. 33.

Drei Kapitel eleischer Geschichte.

Die Lepreaten hatten während des attischen Krieges die Zahlung des Pachtzinses eingestellt; sie sahen sich nun von den Eleiern mit Zwang bedroht und riefen die Entscheidung der Lakedämonier an. Auch die Eleier erklärten zunächst, daß sie sich dem Spruch der führenden Macht fügen wollten. Da sie jedoch ein ungünstiges Urteil befürchteten, so nahmen sie ihre Zustimmung zurück und brauchten gegen Lepreon Gewalt. Nichtsdestoweniger fällten die Lakedämonier ihren Spruch, der den Eleiern Unrecht gab und die Autonomie Lepreons anerkannte. Zugleich schickten sie zum Schutze der Stadt eine Besatzung hinein ']. Die Eleier sahen darin einen Akt der Feindseligkeit und beschlossen nunmehr, dem peloponne- sischen Sonderbündnisse der Korinther, Argiver und Mantineer bei- zutreten, das bekanntlich durch den Zutritt Athens zum offenen Kriege gegen die Lakedämonier führte und in der Schlacht bei Mantineia 418 v. Chr. sein Ende fand.

Vorläufig hatten also die Lakedämonier Lepreon befreit und unter ihre Obhut genommen. Indessen muß es später wieder den Eleiern zugefallen sein, die es bis zum Feldzuge des Agis wieder besaßen -). Wahrscheinlich haben die Spartaner beim Ausbruch des dekeleischen Krieges, als sie alle Kräfte sammelten und alles brauchten, den Eleiern die Stadt zurückgegeben und den Zustand vor 421 v.Chr. wiederhergestellt 3).

Nach dem Ende des Krieges jedoch kehrten sie wieder zu ihrer alten Politik zurück. Sie hatten den Eleiern das Geschehene nicht vergessen; diese waren ihnen zu mächtig, und sie beschlossen sie zu demütigen. Diesmal begnügten sie sich nicht mit Lepieon, sondern verlangten von den Eleiern die Befreiung aller Periöken, und als die Eleier sich nicht gutwillig fügten, erschien König Agis mit Heeresmacht, um sie zu zwingen, was in einem Feldzuge vollständig gelang (402 v. Chr.). Hierüber haben wir den recht ausführlichen Be- richt Xenophons, der als ein gut unterrichteter Zeuge anzusehen ist; denn er hat bekanntlich selbst eine Reihe von Jahren in der Gegend,

1) Thuliyd. V 31. 34.

2) Xen. Hell. III 2, 25. Es kann hier hinzugefügt werden, daß auch bei Aristo- phanes in den Vögeln v. 149 (aufgeführt 415/4 v. Chr.) t/ ov rdv ^Hltiov Aetiqsov oixi^f.Tor die Stadt als eleisch bezeichnet wird.

3) Denn wenn die Eleier sich auch anfangs beim Wiederausbruch des Krieges zurückhielten, so müssen sie sich doch nachher wieder auf lakedämonischer Seite daran beteiligt haben.

10 B. Niese

in Skillus, gelebt und muß die eleisclien Veriiältnisse gut l<ennen '). Sein Bericiit gibt uns zugleich die Möglichkeit, den Umfang des damaligen Periökenlandes genauer zu bestimmen, und soll daher jetzt eingehender erläutert werden.

Agis rückt von Süden, von Aulon her, ins eleische Gebiet ein. Sofort traten Lepreon und weiter Makistos zu ihm über; es folgen bei weiterm Vorrücken Epitalion und, während er über den Alpheios geht, Letrinoi, die Amphidoler und MarganeiS'^). Er ist also bei Epi- talion, das am unteren Laufe nicht weit von der Mündung des Alpheios nahe an einer Übergangstelle lag»), über den Fluß gegangen, und es folgt weiter, daß Letrinoi, die Amphidoler und Marganeis zunächst an der Übergangsstelle, aber westlich von Olympia lagen, wohin sich der König nachher wendet, und dieses stimmt zu dem, was wir sonst wissen^). Von Olympia setzt sich Agis, nachdem er dem Zeus ein Opfer dargebracht hatte, gegen die Stadt Elis in Bewegung, plündert das ganze eleische Gebiet weithin aus, worin ihn beutelustige Freiwillige aus Achaia und Arkadien unterstützen, und zieht ab. Er hinterläßt in Epitalion am Alpheios eine Besatzung, bestehend aus Peloponnesiern und eleischen Parteigängern; denn während des lakedämonischen Ein- bruchs war in Elis eine Erhebung der Oligarchen erfolgt, die zwar überwähigt wurden, aber zu den Lakedämoniern entkamen und mit ihnen den Krieg gegen ihre Landsleute führten. Diese Besatzung setzte während des Winters die Plünderung des Landes nach Kräften fort, und als der nächste Sommer ins Land kam und ein neuer Feldzug in Gefahr stand, da waren die Eleier mürbe •geworden und fügten sich den Forderungen der Lakedämonier, d. h, sie erklärten sich bereit, die Befestigungen Pheas und Kyl- lenes zu schleifen und die triphylischen Städte, ferner Phrixa,

1) Xenophon Hellen. III 2, 25f. 30. Der parallele Bericht Diodors XIV 17 ist zwar in vielen Dingen stark entstellt, stimmt aber in den hier betonten Fragen mit Xenophon überein.

2) So Ma^yareTs ist bei Xcnophon überliefert. Bei Strabo VIII 349 wird Mä^- yaXa geschrieben, bei Stephanos Byz. s. v. Magyaia, was aus MAQvava oder MAo- yaXa verderbt sein wird.

3) Xenoph. III 2, 29. Strabo VIII 343. 349.

4) Letrinoi lag am unteren Wege von Olympia nach Elis, 120 Stadien von Olympia, 180 Stad. von Elis entfernt, nicht weit vom Alpheios. Pausan. VI 22, 8.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 11

Epitalion, Letrinoi, die Amphidoler und Marganeer '), endlich die Akroreia und das von den Arkadern bestrittene Lasion abzutreten 2). Sie baten, ihnen nur eine zu lassen, Epion, eine der sechs Minyer- städte, weil sie diese durch Kauf, also rechtmäßig erworben hätten. Aber auch diese mußten sie opfern; dagegen Olympia und die Vor- standschaft der olympischen Spiele blieb ihnen 'O-

Aus Xenophons Erzählung folgt, daß die Eleier alle ihre Untertanen abtreten mußten, wie es vor Ausbruch des Krieges gefordert war, daß ihnen keine blieben-»), und ferner, daß die von Xenophon auf- gezählten Orte die ganze damalige Periökenschaft bedeuten. Dem- gemäß, und dies ist von Bedeutung, gehört Olympia mit seiner nächsten Umgebung nicht zu den Periöken, was bei seiner Stellung schon an sich unwahrscheinlich sein würde, sondern zur herrschenden Gemeinde, dem hohlen Elis ^). Xenophon hat jedoch nicht alle Periöken- gemeinden einzeln aufgezählt: es fehlen die meisten Minyerstädte,

1) Xenoph. III 2,30: <I>eas rs tiT/,oS ne^ulelv xat Kvllr.t-rjs xai ras Toicpv- U8as nöXsis ätpelvac (y.ai) 0^l^av y.ai ^Eniräliov xai AstqIvovS xai AucpiSölovS xai MaQyaveae, nods Se rairais aal l^xpoi^t^ois xai ylaaicöva rdv vn Apy.äofov dvTiAe-

yousvov. Hier ist freilich eine Korrektur nötig gewesen; 'Pia? hat L. Dindorf für das überlieferte, schon von Pausanias III 8, 5 gelesene acpias hergestellt, Kvllrivris^ O.Müller für KvUiivtjr. Beides ist notwendig; ofsas würde heißen, daß die Eleier ihre eigenen Stadtmauern niederreißen sollten, was unmöglich ist, da Xenophon kurz zuvor (§27) gesagt hat, Elis habe keine Mauern. KvUtjrrjv würde die Abtretung Kyllenes be- deuten, wovon keine Rede sein kann, da es nicht zu den Periöken gehörte; also muß es sich um die Entfestigung der Hafenstadt handeln. Das y.ai vor <pQ(^av hat Grote, hist. of Greece IX 48 Anm. 3 vorgeschlagen: auch dies muß Xenophon ge- schrieben haben; denn sonst würden die nachfolgenden fünf Namen sämtlich zu Triphylien gerechnet werden, was nach einer späteren Stelle desselben Xenophon (Hell. IV 2, 6) unmöglich ist; denn es folgt daraus, daß Letrinoi, Marganeis und die Amphidoler nicht zu Triphylien gehörten.

2) Diodor a. O. fügt diesen Bedingungen noch die Auslieferung der Kriegs- schiffe hinzu.

3) Xenophon a. O. vgl. Diodor XIV 34, 1.

4) Es heißt bei Xenophon III 2, 23 ras TieptoixcSae Tiöhis, ebenso bei Diodor XIV 17, 5. 34, 1.

5) Daran ändert auch der von Xenophon hinzugefügte Satz> nichts, daß die Lakedämonier das olympische Heiligtum den Eleiern nicht genommen hätten, weil diejenigen, welche Anspruch darauf erhoben, nicht geeignet gewesen seien, es zu verwalten. Denn diesen Zusatz hat Xenophon, wie ich weiter unten nochmals be- merken werde, mit Hinblick auf die späteren Ereignisse von 365 und 364 v. Chr. ge- macht. Es ist eine rückblickende Betrachtung des Historikers. Aus seinem Bericht geht hervor, daß über das olympische Heiligtum damals nicht verhandelt worden ist; auch Diodor weiß nichts davon.

12 B. Niese

es fehlt das von ihm selbst kurz zuvor erwähnte Epitalion und das später einmal genannte Skillus '). Dagegen erscheint hier zuerst ein neuer Begriff, die triphylischen Städte^), den wir bisher noch nicht kannten. Xenophon hat damit, wie ich schon hier bemerken kann, der Zukunft etwas vorgegriffen und die Neuordnung, die mit den Städten vorgenommen wurde, vorweggenommen. Denken wir uns dies hinweg, und folgen wir der älteren Anschauung, so er- halten wir aus seinem Bericht folgendes Verzeichnis der eleischen Periökenstädte:

1. Die Minyerstädte , soweit sie noch existierten; Xenophon macht Lepreon, Makistos, Phrixai und Epion namhaft.

2. Die Städte am unteren Alpheios, Skillus, Epitalion, Letrinoi, die Amphidoler und Marganeis.

3. Die Akroreia, die mehrere Städtchen zählte. Xenophon nennt hier keine, aber später einmal Thraustos. Aus Diodor kennen wir außerdem Opus und zwei andere^).

4. Lasion, das also nicht zur Akroreia gerechnet werden darf, an die es jedoch angrenzt.

Die sämtlichen, den Eleiern entrissenen Periökenstädte wurden jetzt autonom und traten als selbständige, stimmberechtigte Glieder in den lakedämonischen Bund ein. Sie kamen damit in ein ganz neues Verhältnis. Überhaupt werden sie vermutlich auch in ihrem Innern, in dem Bestand und Besitz der Bürger durch die Auflösung der zum Teil sehr alten Verbindung mit Elis manche Veränderungen erlitten haben. Die Besitzungen der Eleier in den befreiten Gemeinden gingen ohne Zweifel verloren, und vielleicht wurden neue Kolonisten angesiedeh. Ich erinnere nur an die Ansiedlung und Ausstattung Xeno- phons in Skillus. Doch das entzieht sich im einzelnen unserer Kenntnis, wir können es nur ahnen. Was wir erkennen, ist, daß aus ihnen sechs Gemeinden gebildet wurden, die wir aus ihren von Xenophon bei Gelegenheit der Schlacht am Nemeas aufgezählten Kontingenten kennen lernen ^). Es sind die Triphylier, Akroreier und Lasion, die Hopliten

1) Xenoph. Hell. VI 5, 2.

2i rds ToKfvliSas Tzöleis III 2, 30. Oben S. 11 Anm. 1.

3) Xenoph. Hell. VII 4, 14. Diodor XIV 17,8 nennt H^aToror, Uhov, EvTxnyior, Onovs. Wesseling vermutete 'Etzitü/uov für Evnfiyioi; aber Epitalion paßt nicht hier- her. Pylos gehörte nicht zur Akroreia. Diodor a. O. Xenoph. Hell. VII 4, 16. 26

4) Xenoph. Hell. IV 2, 16.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 13

stellen '), und die Marganeer, Letriner und Amphidoler mit zusammen 400 Schleuderern. Die Triphylier sind ein neuer Begriff, den Xeno- phon, wie gesagt, schon beim Friedenschluß erwähnt, der aber erst nachher sich gebildet haben kann. Vorher hat er jedenfalls noch nicht existiert; denn sonst hätte ihn Herodot bei der Gründung der Minyer- städte kennen und nennen müssen 2). Es ist ein Begriff, der sich damals beim Eintritt der Periöken in die peloponnesische Bundesgenossen- schaft gebildet haben muß^). Hauptsächlich sind es die Minyerstädte, aber nicht allein; denn damals müssen die beiden Orte hinzugelegt worden sein, die wir später als triphylisch kennen, Skillus und Epita- lion^), wodurch nun der untere Lauf des Alpheios in seiner ganzen Ausdehnung die Nordgrenze der neuen Landschaft ward. Die Lake- dämonier haben also das den Eleiern entrissene Gebiet südlich vom Alpheios zu einer größeren Syntelie zusammengelegt und neu be- nannt. Die Landschaft, die vordem keinen einheitlichen Namen besaß, heißt fortan Triphylia, die Bewohner nennen sich Triphylier.

Die übrigen Periöken sind unverändert geblieben; die Akroreier und Lasion bleiben auch jetzt getrennt; Letrinoi, Marganeis und die Amphidoler bilden drei besondere Gemeinden ; sie sind, da sie zusammen nur vierhundert Schleuderer, keine Hopliten geben, offenbar recht unbedeutend und stellen vielleicht nur vereinigte Dorfschaften dar.-^)

DieserZustand, wie ihn die Lakedämonier begründet hatten, dauerte

1) Zusammen mit den Eleiern stellten sie 3000 Hopliten; es wird also auf sie etwa ein Drittel, 1000 Mann, fallen.

2) Herodot IV 148. Auch Thukydides kennt ihn nicht.

3) Wie er sich erklärt, steht nicht fest. Die gewöhnliche Herleitung von den drei Stämmen, die das Land nacheinander besetzten, den Epeiern, den Minyern und den Eleiern oder auch den Arkadern (Strabo VIII 337), ist gelehrten Ursprungs und nicht überzeugend. Polybios IV 77, 8 leitet den Namen von dem Eponymen Tri- phylos ab; denn selbstverständlich wird Triphylien nunmehr in das fernste Altertum zurückversetzt. Vgl. unten S. 14.

4) Über Skillus s. Pausan. VI 22, 4, Epitalion Polyb. IV 80, 13. Strabo VIII 349, der es zur Makistia rechnet. Die Makistia bedeutet bei Strabo hier soviel wie Tri- phylien. Vgl. weiter unten.

5) Ich halte es für sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß jede der genannten drei Gemeinden mehrere Dörfer umfaßte. Als ein solches kann man sich das wieder- holt genannte Dyspontion denken (Strabo VIII 357, Pausan. VI 22, 4, Stephanos Byz. s. dvaTiövTiov), das vielleicht in dieser Gegend lag. Ebenso scheinen sich die Amphidoler aus mehreren kleinen Orten zusammenzusetzen; vielleicht gehörte der Marktflecken der Alasyer (Alaavfjs) zu ihnen (Strabo VIII 341). Strabo VIII 349 rechnet ihnen auch Margala (Margana) zu, hierin von Xenophons Zeugnis abweichend. Die Grenzen dieser kleinen politischen Gebilde haben sich offenbar später verwischt.

14 B. Niese

bis zur Schlacht bei Leuktra. Als damals Spartas Macht zu Ende ging, dachten die Eleier, wie sich von selbst versteht, sogleich daran, sich wieder in den Besitz ihrer früheren Untertanen zu setzen. Schon bei den ersten Versuchen, mit denen Athen die Peloponnesier fürseinen Seebund zu gewinnen trachtete, stellten sie diese Forderung'); sie machten dieRtickerwerbung ihrer Periöken zur Bedingung ihres Ein- tritts in den attischen Bund, und da die Athener hierauf nicht eingingen, lehnten sie ab. Es ist möglich, daß sie gleich anfingen, wenigstens einen Teil ihrer Periöken sich wieder anzueignen; es gibt eine Nach- richt, daß sie gegen Skillus zogen und es eroberten und zerstörten 2); indeß, erst nach dem Einrücken der Thebaner in den Peloponnes, Winter 370/69 V. Chr., ward diese Angelegenheit mit vielen andern geregelt, aber nicht nach dem Wunsche der Eleier. Nur die nördlich vom Alpheios wohnhaften Periöken, also Letrinoi, Amphidoler, Marganeer und die Akroreia wurden wieder eleisch, vielleicht auch das soeben erwähnte Skillus und etwa Epitalion^), dagegen Lasion und der größte Teil Triphyliens, namentlich Lepreon, fiel dem arkadischen Bunde zu. Bei den Triphyliern bestand eine starke Abneigung gegen die Eleier; es hatte sich bei ihnen bereits ein triphylisches Stammesgefühl ent- wickelt, und sie rechneten sich den Arkadern zu^); ihr Heros epo- nymos Triphylos, den sie sich anschafften, ward der arkadischen Genealogie eingefügt^). Von der Rückkehr zu den Eleiern wollten sie nichts wissen, und daher haben die Lepreaten zunächst, noch im Winter 370 v. Chr., mit einigen arkadischen Gemeinden den Lake- dämoniern Heeresfolge geleistet'*), um sich jedoch nach dem Erscheinen der Thebaner sogleich dem neuen Gemeinwesen der Arkader anzu-

1) Xenophon Hell. VI 5, 2.

2) In der Biographie Xenophons, der bis dahin in Skillus lebte, bei Diogen.

La. 11 53: 'Z//.f/ois rc OTparevaanii ois e/s rdv ^xM.ovvtu ß^aSvrövTwv imv yiaxi- baittovliov i^eXilv rd '/toqlov, ore aal rovS viias avTOv eis ^ingsov v7ze^e?.&elv fter' d/.tyiov oixeTcüv, Kai avrdv EsvocpcävTa eis f^v 'H).iv noöreQOV, elra eis ylingeov ngds rois nalSas, xäxeJd'tv avv avrols tie Kögivd'ov Siaawd-fji'at. Durch das ßoaSrvörratr

röiv Aay.ihaiuovloiv wird das Ereignis auf die Zeit vor Einrücken der Thebaner in den Peloponnes bestimmt.

3) Dieses halte ich jedoch für recht zweifelhaft.

4) Xenoph. Hell. VII 1, 26.

5) Triphylos, Sohn des Arkas bei Polyb. IV 77, 8. Das älteste Zeugnis des Namens auf dem delphischen Weihgeschenk der Arkader von 369 v. Chr. Pausan. X 9, 5. Pomtow. Athen. Mitteil. 14, 25 f. Vgl. Hermes 34, 522 Anm. 5.

6) Xenoph Hell. VI 5, 11.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 15

schließen, mit denen sie sich an dem lakonischen Feldzuge beteiligten'). Mit ihrem Eintritt in das Arkadikon haben sie vermutlich auch ihre Verfassung etwas geändert. Sie werden fortan von der größten Stadt Lepreon vertreten; die Begriffe Triphylien und Lepreon fallen damit zusammen; bald wird das eine, bald das andere gebraucht.

Mit dieser Ordnung jedoch gaben sich die Eleier nicht zufrieden; sie erhielten ihre Ansprüche auf Triphylien und Lasion aufrecht, konnten aber bei den Arkadern nichts erreichen, obwohl die The- baner wahrscheinlich in diesem Punkt auf ihrer Seite standen. Als nun auch der Großkönig in seiner Abrede mit Pelopidas sich zu ihren Gunsten erklärte 2), griffen sie selbst zu und besetzten Lasion 3), und dies ward der Anlaß zu ihrem Kriege mit den Arkadern, der bald auch andere Teile der Peloponnes ergriff und weiterhin die wichtigsten Folgen hatten. Der Krieg war für die Eleier sehr un- glücklich. Die Arkader nahmen ihnen nicht nur Lasion wieder ab, sondern auch den größten Teil der Akroreia-*) und besetzten weiter Olympia. Auch Margana ward erobert, ging freilich bald wieder verloren.'^) Olympia und Umgegend nahmen sie an sich und bil- deten daraus eine neue Gemeinde, die unter dem Namen der Pisaten oder Pisäerß) dem arkadischen Bunde beitrat.') Die Arkader nahmen auch den olympischen Tempel in Besitz und benutzten den Tempelschatz, s) Ohne Zweifel in ihrem Auftrage haben als- dann die Pisaten, zu denen vielleicht auch die Akroreia gehörte, als 364 V. Chr. die Zeit der Olympien kam, die Festleitung als ihr altes Recht in Anspruch genommen; sie behaupteten, daß ihnen die Pflege des Tempels ursprünglich zu eigen gewesen sei. Die Eleier ver- suchten freilich sie mit Waffengewalt zu vertreiben, aber sie wurden abgeschlagen und mußten den Widersachern das Feld räumen. Arkader und Pisaten haben diese Olympiade, die 104., ausgerichtet.-')

1) Wie aus demS. 14Anm.5 erwähnten delphischen Weihgeschenli hervorgeht.

2) Xenoph. Hell. VII 1, 38.

3) Xenoph. Hell. VII 4, 12.

4) Thraustos blieb eleisch. Xenoph. Hell. VII 4, 14.

5) Xenoph. Hell. VII 4, 14. 26. Diodor XV 77.

6) Beide Namen sind gleichwertig. Pausanias braucht ausschließlich Uiaaioi, schon Pindar und später Polybios, Diodor und Strabo haben das Ethnikon UiodTrjs, das auch in der gleichzeitigen Inschr. v. Olympia Nr. 36 erscheint.

7) Vgl. Hermes 34, 523.

8) Xenoph. Hell. VII 4, 33.

9) Meist werden beide, Arkader und Pisaten, zusammen genannt, zuweilen nur

16 B. Niese

Die Pisatcn betrachten sich als eine richtige Stadtgemeinde; sie haben Hellanodiken gewählt, Münzen geschlagen') und Beschlüsse gefaßt'^), aber sie hatten nur kurzen Bestand. Der Zwist, der bald darnach unter den Arkadern entstand, hatte zur Folge, daß man mit Elis Frieden schloß ; Olympia und vermutlich auch die Akroreia kehrten zu den Fleiern zurück, und die Gemeinde der Pisaten löste sich wieder auf 3). Tri- phylien dagegen und wahrscheinlich Lasion blieben arkadisch, und dieser Zustand ward ohne Zweifel auch im Frieden von 362 v. Chr. nach der mantineischen Schlacht bestätigt. Triphylien oder Lepreon ist von jetzt ab, wie aus vielen Zeugnissen hervorgeht'), über ein Jahrhundert arkadisch gewesen.

Die Fleier waren weit davon entfernt, diesen Zustand anzuer- kennen; welche griechische Stadt hätte wohl je, so lange Hellas noch lebte, alte Rechte, wirkliche oder vermeintliche, vergessen? So be- hielten auch die Fleier ihre Ansprüche auf Triphylien und Lasion stets im Sinne; dies ist der Punkt, um den sich ihre Politik dreht. Aber sie mußten sich gedulden.'^) Sie konnten mit eigener Kraft das Ziel ihrer Wünsche nicht erreichen und waren auf fremde Hilfe an- gewiesen. Diese fanden sie erst um die Mitte des 3. Jahrhunderts, um 245 v. Chr., bei den damials mächtigen Ätolern, denen sie sich verbündet hatten. Durch sie gewannen sie nicht nur Triphylien und Lasion, sondern im Anschluß daran die benachbarten arkadischen

die Arkader, die in der Tat das Beste dabei taten. Xenoph. Hell. VII 4, 28 ff. üiodor XV 78. Pausan. VI 4, 2. 8, 3. 22, 3. Eusebios (Chron. I 205) nennt nur die Pisäer.

1) R. Weil, Zeitschr. f. Numismatik 22 (1900), S. Iff.

2) Inschr. von Olympia 36, wo die Pisaten zwei Sikyonier zu Proxenoi und Thearodokoi machen. Ein anderes Denkmal derselben Zeit ist Nr. 31, wahrscheinlich ein Ehrendekret der Arkader, datiert nach den Hellanodiken.

3) Xenoph. Hell. VII 4, 33 ff. In die Zeit des Friedenschlusses setzt man die Inschrift ßaltimv Tieoi öi/oyo/ao (Inschr. V. Olymp. Nr. 260). Sicher ist diese Beziehung nicht; man kann auch an die Beilegung innerer Zwistigkeiten und Parteiungen denken.

4) Skylax peripl. § 44 mit Müllers Note. Dicäarch. fr. 73 (FHG II 267) bei Cicero ad Att. VI 2, 3. Dittenberger, syll. I- n. 106, 20. Kallimachos, Hymn. 1, 37 f Die Alexandriner bezeichnen bei Strabo VIII 350 das Nestorische Pylos, das sie bei Lepreon ansetzen, synonym als triphylisch, arkadisch und lepreatisch )?«' 9-«,//^'

TfJKfvliavidi' Uvluv xai 'AoxaSixdv xai .ifTiQsarixöi: PliniuS h, n. IV 14 und 20 führt

Pylos einmal als eleisch, dann als arkadisch auf. Als Beweis der Selbständigkeit Lepreons kann noch angeführt werden, daß Aristoteles auch eine .ItTxoeaToif nohreia herausgegeben hat. Heradid. FHG. II 217. Vgl. Niebuhr, Kl. Sehr. I 117. Meine Geschichte der griech. und makedon. Staaten II 258 f.

5) Um 352 v. Chr. stellten ihnen die Lakedämonier Stücke Triphyliens in Aus- sicht. Demosthen. XVI IG.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 17

Gemeinden Psophis und AHpheiraJ) Damit hat Elis seinen größten Umfang erreicht, aber wiederum die auf Kosten der Nachbarn ge- machten Erwerbungen nicht lange behaupten können. 219/8 v. Chr. nahm Philipp V. von Makedonien ihnen in einem raschen Winter- feldzuge das Gewonnene wieder ab.

Wir kennen dies Ereignis durch den genauen Bericht des Poly- biosIV77ff. Da wir dabei etwas Näheres über den Zustand Triphyliens erfahren und zugleich auf die Vergangenheit einiges Licht fällt, so darf ich vielleicht etwas dabei verweilen. Polybios zählt zehn triphylische Städte auf, Samikon, Lepreon, Hypana, Typaneai, Pyrgos, Aipion (Epion), Bolax, Stylangion (Stylagion), Phrixa und Epitalion.2) Das Land reicht, wie die Lage Epitalions beweist, nordwärts bis an die Mündung des Alpheios, hatte also die Ausdehnung, die, ihm wahrscheinlich die Lakedämonier bei der Konstituierung gegeben haben (oben S. 13). Es bildet aber keine Einheit mehr, wie früher im arkadischen Bunde, sondern ist in zehn kleine Stadtgebiete zerfallen.^) Offenbar ist dies bei der letzten Einverleibung durch die Eleier geschehen; sie haben Triphylien in den älteren Zustand zu- rückversetzt und die einzelnen Orte wieder zu Periöken gemacht. Aber das Frühere ist nicht unverändert geblieben. Es gab nur sechs Minyerstädte, Lepreon, Makistos, Phrixa, Pyrgon, Epion, Nudion.'*) Von diesen sind zwei verschwunden, Nudion, das überhaupt nach Herodot nicht mehr genannt wird, und Makistos. Letzteres wird noch von Xenophon (oben S. 10) genannt und muß seitdem unter- gegangen sein. Wie K. O. Müller richtig gesehen hat, ist an seine Stelle Samikon getreten. ^) Vier von den alten Städten der Paroreaten

1) Meine Geschichte der griech. und maltedon. Staaten II 259. Polyb. IV 70, 4. 77, 10.

2) Nach Polyb. IV 77, 6, wo neun Namen aufgeführt werden ; aus IV 80, 13 kommt dann Epitalion noch hinzu.

3) Unter denen aber Lepreon immer noch die ansehnlichste gewesen sein muß. Dies folgt aus Polyb. IV 80, 14.

4) Herodot IV 148.

5) Orchomenos 272. Vgl. E. Curtius, Peloponnesos II 83. Die Vermutung, daß Makistos etwa als Vorort noch weiter bestanden habe, ist unbegründet. R. Kiepert zu den Formae orbis antiqui XIII S. 3 hat zu Unrecht ein gleichzeitiges Bestehen von Makistos neben Samikon angenommen. Auch Strabo VIII 349 sagt, es sei nicht mehr bewohnt, und wenn er daneben gelegentlich von der Makistia spricht, so meint er damit Triphylien. Der Name Samikon hat die Homeriker und nach ihnen Strabon verleitet, hier eine alte Stadt Samos zu vermuten, die in Wahrheit nie existiert hat.

Graeca Halensis. 2

18 B. Niese

sind noch erhalten, Lepreon, Pyrgos, Aipion (Epion), Phrixa; außer Epitalion sind neu hinzugetreten Typaneä, Hypana, Bolax und Stylangion. Die beiden ersteren müssen nach der Erzählung des Polybios nahe der arkadischen Grenze zwischen Lepreon und Alipheira gelegen haben'); vielleicht sind sie, wenn eine Ver- mutung gestattet ist, an die Stelle Nudions getreten. Bolax und Stylangion müssen im nördlichen Teil Triphyliens gelegen haben. Da die Lage Phrixas am Alpheios und nahe der arkadischen Grenze feststeht und Aipion (Epion) ganz in der Nähe, aber etwas weiter südlich gesucht werden muß, so werden Bolax und Stylangion weiter west- lich zu setzen sein, da, wo früher Skillus lag, das zur Zeit des make- donischen Feldzuges nicht mehr bestanden haben kann; sonst müßte es Polybios genannt haben. '■^)

In den reichlich 200 Jahren, die zwischen der Besetzung der minyeischen Städte durch die Eleier und dem makedonischen Feld- zuge vergangen sind, haben also in Triphylien bedeutende Ver- änderungen stattgefunden. Einige Orte sind verschwunden, andere an ihre Stelle getreten. Wie in der früheren Zeit ist das Land unter eine größere Zahl kleinerer Städte verteilt; diese haben sich sogar noch vermehrt, und man wird daraus schließen können, daß die Bevölkerung eher stärker als schwächer geworden ist.

Die Zerteilung, in der hier Triphylien erscheint, bleibt auch nach der makedonischen Eroberung. Zunächst nahm Philipp das Land so wie es war in eigene Verwaltung. 3) Dann gelangte es nach dem 2. makedonischen Kriege 196 v. Chr. in den achäischen Bund^), und auch hier wird nicht etwa die Einheit Triphyliens wiederher- gestellt, sondern jede für sich treten die einzelnen Gemeinden den Achäern bei.-') Als dann der achäische Bund 146 v. Chr. aufhörte, haben die Römer nunmehr Triphylien wieder mit Elis vereinigt, gewiß mit

Es ist sehr bezeichnend, daß, wie Strabon selbst mitteilt, die ns^inloi, die Küsten- beschreibungen, nichts von ihr wußten. Strabo VIII 346. 347.

1) Über die Lage dieser Orte vgl. Partsch, Olympia, Textband I S. 9.

2) Auch Pausanias V 6, 4 erwähnt nur Trümmer von Skillus. Bei Strabo VIII 344 ist nur noch der Name der Athena Skllluntia vorhanden.

3) Polyb. IV80, 14 f.

4) Meine Geschichte der griech. u. makedon. Staaten 11 608. 652.

5> Dies zeigen die Münzen. Das triphylische Hypana hat eigene Bundes- münzen geprägt. Weil, Zeitschr. f. Numismat. 9 (1882) 199 f. Meine Gesch. d. griech. u. mak. Staaten 111 37.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 19

Berücksichtigung der alten eleischen Ansprüche. Aber es geschah nun ganz anders als früher. Die triphylischen Orte wurden nicht mehr Periöken, sondern als vollberechtigte Glieder in die Gemeinde Elis aufgenommen; ohne Zweifel geschah auch dies auf Anordnung der Römer. Erst jetzt also, in der Römerzeit, bildet die ganze Landschaft zwischen den Flüssen Larisos und Neda eine wirkliche politische Einheit. Es ist das Elis Strabos und des Pausanias. Für Triphylien hatte dies die Folge, daß seine Städte allmählich eingingen. Sie wurden zu Dörfern und verfielen. Die Begüterten werden in die Stadt Elis übergesiedelt sein, und das Land verödete. ^ Dies geht schon aus Strabos Beschreibung hervor, bei dem Lepreon vielleicht schon der Vergangenheit angehört.-) Zur Zeit des Pausanias ist der Verfall vollständig; von Lepreon gab es nur kümmerliche Reste, und von den übrigen triphylischen Städten scheint keine mehr existiert zu habend). In dem eigentlichen, hohlen Elis war es nicht anders. In dieser einst mit vielen Städtchen und Ortschaften bedeckten Landschaft gab es außer der Stadt Elis und Olympia, das zu den Festzeiten immer noch viel Leben zeigte, keinen größeren Ort mehr, ^) Auch die sonst so zahlreichen Heiligtümer waren verfallen. Außerhalb Olympias und der Stadt Elis hat Pausanias nur wenige noch auf- recht gefunden, die meisten lagen in Trümmern. 5)

2. Elis bei Homer.

Die Zeit der Unterwerfung der eleischen Periöken können wir nur bei den Minyerstädten, den späteren Triphyliern annähernd be- stimmen. Dagegen über die älteren Teile der Periökis wissen wir nichts. Auch die Inschriften von Olympia geben uns keine Auf- klärung. Nur aus dem Gesetz für die Skilluntierß) sehen wir, daß

1) Aus Strabo VIII 344 geht hervor, daß Hypana sogleich in Elis aufging, während Typaneai noch weiter bestand. Pausanias i<ennt weder das eine noch das andere. Auch der Dienst des Poseidon auf Samil<on ward nach Elis verpflanzt. Pausan. VI 25, 6. Meine Geschichte III 355.

2) VIII 344 ^v xal avzrj nuhe vneQ ttjs d-alärrris und 345 icÖQav ^" el%ov evSatuovn ol AsTT^fäTat.

3) Pausan. V5, 3ff. Die Trümmer Phrixas werden V 21, 6 erwähnt.

4) Von Harpina und Pylos gab es nur Trümmer. Pausan. V 21, 8. VI 22, 5. Letrinoi hatte nur noch wenige Häuser Nur Herakleia und Kyllene standen noch aufrecht. VI 22, 7. 26. 4.

5) Ruinen eines Artemis- und Heraklestempels. Pausan. V 22, 1. VI 21, 3.

6) Inschrift, v. Olymp. Nr. 16.

2*

20 B. Niese

diese Stadt damals bereits zu den Untertanen gehört. •) Die Akroreia muß schon zu Pindars Zeit zu Elis gehört haben; denn der bei ihm erwähnte Epeier Opoeis^) ist sicherlich der Eponym des akro- reischen Opus (oben 12). Aus geographischen Gründen muß ange- nommen werden, daß Lasion erst gewonnen ward, als die Akroreia bereits eleisch war.-^) Aber im übrigen ist nicht einmal eine Ver- mutung möglich, da die ältere Geschichte von Elis ein weißes Blatt ist. Die älteste Kunde wird nur durch Homer vermittelt, der Elis im Schiffskatalog aufführt und diese leider nur kurze Beschreibung durch einige andere Stellen seiner Dichtung ergänzt, wobei jedoch nicht zu vergessen ist, daß wir es mit Dichtung zu tun haben, und die Dichter sich mit den Ortsnamen manche Freiheit nehmen.

Homer nennt die Landschaft mit dem Namen, der auch später be- stand, Elis (HXi(^), und als ihre Bewohner die Epeier^), neben denen je- doch schon die spätere Benennung Eleier erscheint.-^) Im Schiffskatalog führt er das Land und seine Krieger folgendermaßen auf 615 ff.): Ol (5' ägcc BovjcQccoiöv t€ y.al "Hliöu öiuv evcciov öoaov £Cf' 'YQf.iivij vmI Dlvgoivog ioxarötoGa TteTQT] T ' 'Q'lsvir] xai ylXrjOiov evrög iegysi, Täiv a-ö reOGCiQsg dg^ol e'aav, ösym 6' dvögi eyAoti^ vfjsg eifovTO Soai, Ttoleeg d Ef-ißatvov 'Eneioi. Es folgen die Namen der vier Führer, Amphimachos, Thalpios, Diores und Polyxenos.

Zunächst kann die Frage gestellt werden, ob der Dichter viel- leicht eine Vierteilung der Landschaft habe andeuten wollen; denn

1) Vielleicht kann man ferner den Bundesvertrag {avuuaxla) zwischen Elis und den Evßaoioi (Inschr. v. Olymp. 9) als eine Art Unterwerfungsvertrag einer Periöken- stadt auffassen; denn daß es sich um eine im Machtbereiche der Eleier befindliche Stadt handelt, folgt daraus, das beide Teile sich verpflichten, im Falle der Über- tretung die Strafe dem Zeus in Olympia, dem eleischen Heiligtum zu zahlen. An das arkadische Heraia ist schon aus diesem Grunde, von anderen abgesehen, nach meiner Meinung nicht zu denken.

2) Pindar Olymp. 9, 59.

3) Lasion scheint recht alt zu sein, und schon der Verfasser der Eöen hat es wohl gekannt; dort wird nämlich unter den Freiern der Hippodameia, unter denen manche Eponyme sind, auch ein Lasios erwähnt, wohl der Eponym Lasions. .Pausan. VI 21, 10.

4) Odyss. o 298.

5) II. A 671. Die beiden Benennungen sind wahrscheinlich gleichwertig: Epeier ist der eigentliche Stammname, der später dem von der Landschaft abge- leiteten weichen mußte. Vgl. meine Entwicklung der homerischen Poesie S. 214.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 21

wie vier Führer, so nennt er auch vier Ortsnamen. ') Dies scheint jedoch nicht die Absicht gewesen zu sein; die vier Orte sollen offenbar die Grenzen der Landschaft, aber keine Bezirke andeuten. Die Vierzahl wird eben so zu beurteilen sein wie die fünf Fürsten der Böoter, die zwei der Orchomenier und die zwei von Trikka-), d. h. als eine dichterische, auf poetischen Erwägungen beruhende Fiktion.

Neben der Landschaft Elis erscheint eine zweite Buprasion; denn ohne Zweifel hat dies für eine Landschaft zu gelten, die von den Alten ins spätere nördliche Elis, am Wege zwischen der Stadt Elis und Dyme gesetzt ward^j, womit eine zweite Erwähnung Bu- prasions in der Ilias übereinstimmt, wo es als weizenreich TtolvnvQog bezeichnet wird, was auf eine Lage in der Ebene hinweist^).

Das Land der Epeier besteht also im Katalog aus zwei Land- schaften, Buprasion und Elis, und letzteres scheint demnach ur- sprünglich eine engere Bedeutung gehabt zu haben s), um sich dann auf das Ganze auszubreiten. Dies ist ohne Zweifel eine Folge der politischen Entwicklung der Gemeinde Elis; und eben dadurch wird auch der alte Volksname der Epeier durch den jüngeren der Eleier verdrängt worden sein, ähnlich wie in Argos der Volksname der Danaer dem der Argiver Platz machen mußte.

Nach der Landschaftsbezeichnung werden vier Orte genannt, Hyrmine, Myrsinos, der Olenische Fels und Alesion, die ohne Zweifel, wie schon bemerkt, bestimmt sind, die beiden vorgenannten Landschaften ungefähr zu begrenzen <')• Für uns ist jedoch die Be- grenzung nicht leicht darnach auszuführen^}. Zunächst ist als sprachlich auffallend hervorzuheben die Präposition scp {icp 'YqixLviq), die nur anastrophisch zu verstehen ist^); denn sonst hat evtdq eegyei, dessen

1) Die Vierteilung nehmen an Strabo VIII 340. 352. Pausan. V 3, 4. E. Curtius und andere Gelehrte sind dem gefolgt.

2) i?494f. 511 f. 729f.

3) Strabo VIII 340, vgl. X 453. Andere hielten es für eine Stadt oder auch

einen Fluß. Stephanos Byz. Bovnoäaiov nölis xai Tiorauds xai %woa rijs "ffleCaS.

4) Ilias yt 756 ff. vgl. U 631. '

5) Vorausgesetzt, daß Buprasion wirklich den nördlichen Teil des späteren Elis einnahm und nicht außerhalb der Grenze lag. Unten S. 24.

6) Dieses ist auch die Ansicht alter Erklärer. Schol. II. 615: ö^iois Se avzovs TiFOiygA^ii uT) d'ilwv XtTzroloyeir xard ^ue^os.

7) Schon Strabo VIII 340 hat dieses bemerkt.

8) Vgl. Schol. zu V. 6l6f. gegen Zenodot, der i^p ^YQfilvrj las, also ebenfalls Anstoß nahm.

22 B. Niese

Bedeutung ja nicht erläutert zu werden braucht, den Objektsakkusativ bei sich, wie gleich unten ii 845:

ciitäQ QQTiucig ^j' I4y.ä^iüg yctl IlelQOog rjgiog öaaovg 'EXki^GTtovTog dydQQOog ivtdg iegyei und A 404:

ovif öoa ).äivog oiuödg d(frjTOQog ivrdg iegysi Ooißov IdnölXojvog IIv&oi ävi ^cerQrjeaar] und JS- 512 =X 121:

y.rf^Giv öor]v rcrolJed-Qov iitriqarov ivrdg ÜQyoi endlich -Q 544:

öaaov yleoßog ävoi Mäxagog nöXig ivrdg Hgyei y.ccl 0Qvyir] xa^VTtSQd^s v.al 'EXXi^GTtovrog aTtsigcov, röiv 0£, ysQOv, ftXovroi re ymI vtäai cfaal y.exdad-ai. Es ist daher wohl möglich , daß eine alte Textverderbnis vor- liegt '). Da es aber für eine Verbesserung an jeder Grundlage fehlt, und da ic/ öaov ivrdg iigysi zur Not sich erklären läßt, so muß man sich wohl bei dem Überlieferten beruhigen.

Leider ist uns auch dieses wenig klar und nicht leicht zu deuten. Die alten Erklärer setzten Hyrmine nach dem späteren Hormina, einer Landspitze {dy.Qcori]Qiov) bei Kyllene^). Während hier die Namens- ähnlichkeit eine gewisse, wenn auch nicht völlige Gewähr für die Richtigkeit der Bestimmung gibt, ist dies bei dem nächsten Namen Myrsinos schon in geringerem Maße der Fall. Die Alten setzten es gleich Myrtuntion, einem Ort an der Küste zwischen Elis und Dyme, 170 Stadien, etwa 32 km von der späteren Stadt Elis entfernt, also nahe an der achäischen Grenze^). Hyrmine und Myrsinos liegen demnach nahe beieinander. Weiter den Felsen von Olenos {^irgt] 'll/.evh]) hielten die alten Erklärer für die Skollis, das Grenzgebirge zwischen Achaja und Elis-"). J. Partsch hat jedoch die Richtigkeit

1) Varianten, die ernstlicli in Betracht zu ziehen wären, gibt es nicht. Am ein- fachsten würde es sein, das anstößige i(p' mit dem Nachfolgenden zu ^EfvQuivr} zu verbinden; aber dadurch würde ein ganz unbel<annter Name entstehen; denn der Anklang an das angeblich eleische Ephyra kann uns nicht viel helfen.

2) StraboVIII 341. Stephanos Byz. s. 'y^,///v»7. Auch Pausan. V 1,6. 11 erwähnt den Ort, ohne jedoch die Lage zu bestimmen. F. v. Duhn, Athen. Mitt. 111 (1878) 76 nimmt an, daß Hormina dicht neben Kyllene lag, dem heutigen Kunupeli.

3) Strabo VIII 341. Steph Byz. ?. M^qoivos.

4) Für die Alten war vielleicht auch ./ 756 maßgebend, wo der Fels von Olenos nochmals erwähnt wird zusammen mit Buprasion, also dem nördlichen Teile der Landschaft; aber diese Stelle hat nur geringen geographischen Wert.

Drei Kapitel eleisclier Geschichte. 23

dieser Bestimmung in Zweifel gezogen \\ und gewiß ist es nur eine alte Vermutung. Partsch selbst, der in der /rergr] 'ülsvlrj eine Ort- schaft sehen will, entscheidet sich für eine Felsenburg, die zwischen dem späteren Elis und Olympia beim heutigen Olena lag, über dem Thale des Enipeus und nahe bei dem Orte, wo man Alesion suchte. ■■^) Ich glaube nicht, daß er damit das Richtige getroffen hat 3), weiß freilich selbst nichts Besseres. Nur daß ich die ^cstqio 'Qlsvlr] für einen Berg oder eine Berggruppe ^), und eine gewisse Beziehung zum achäischen Olenos für wahrscheinlich halte ^). Der vierte und letzte Ort ist Alesion *^), den die alexandrinischen Grammatiker in einem Orte der Alasyer, einem Marktflecken in der Umgegend der Amphidolis, an der Straße von Olympia nach Elis wiedererkannten^)? Es handelt sich also um einen Ort nicht weit von Olympia, viel- leicht auch des eleischen Periökenlandes; denn die Amphidoler waren Periöken (oben S. 12).

Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß die Bestimmung der im Katalog genannten Orte sehr unsicher ist. Einen höheren Grad

1) Olympia, Textband I S. 4f.

2) IL -/ 757 wird 'Alrjoiov xoltbvr^ zusammen mit der nsror] ''QXevlr] genannt.

3) Was Partsch für seine Ansicht anführt, nämlich die Nachbarschaft Alesions, so daß der Dichter, wie in Hyrmine und Myrsinos, so in dem Olenischen Felsen und Alesion zwei nahe benachbarte Orte zur Bestimmung gewählt hätte, spricht eher dagegen. Denn wenn man zur Begrenzung einer Landschaft vier Punkte nimmt, so ist es sehr unzweckmäßig, diese so auszuwählen, daß je zwei dicht nebeneinander liegen, weil dadurch die begrenzte Fläche zu sehr eingeengt wird. Der Namens- anklang an Olena, der Partsch gelockt zu haben scheint, ist nicht nur ohne Wert, sondern eher nachteilig für seine Ansicht. Soviel ich sehe, ist in Elis kein antiker Name erhalten geblieben, was kein Wunder ist, da im Mittelalter die ganze Land- schaft slavisch ward.

4) Man könnte an den Araxos denken, der später die achäische und eleische Küstenlandschaft begrenzt.

5) Allerdings ist das achäische Olenos dem Homer unbekannt.

6) Denn Alrjaiov scheint die richtige, von Stephanos Byz. s. lilrjaiov überlieferte Schreibung; sie ist notwendig, wenn der Name, wie wahrscheinlich, dem späteren Alasyon entspricht (s. folg. Anm.). Gewöhnlich wird 'Alsiaiov oder 'Aliaiov geschrieben.

7) Sirabo VIII 341, wo es nach der handschriftlichen Überlieferung heißt 16

b'^A),lai6v iari rd vvv ^A).aiava((uv %MQa negi rriv 'AutfiSo/.iSa, iv /; xai xard urjva

A'/oqAv avväyovaiv ol Titqioixot. Wie Kirchhoff und Blass bemerkt haben, ist hier ^Alaaviv>v ZU schreiben nach einer Inschrift, wo die \4laavfi's mit den Akroreiern eine Widmung machen. Samml. griech. Dial. Inschr. I Nr. 1167. Inschr von Olymp. Nr. 238. In eine andere Gegend würde IL -/ 757 weisen, wo Alesion oder richtiger l4).rjaiov xold)V7] und die TiBTorj 'iilsvlri mit Bupraslon zusammengestellt werden. Aber ich glaube nicht, daß sich diese Verse geographisch verwerten lassen.

24 B. Niese

von Wahrscheinlichkeit hat nur der Ansatz von Hyrmine und Alesion. Zudem ist der Dichter allzu wortki^rg gewesen und hat nicht einmal alles gegeben , was er sonst weiß; Verschwiegen ist der Hafenort Kyllene, der doch, wie schon die alten Erklärer sahen, dem Dichter nicht unbekannt war, da er den Kyllenier Otos als Anführer der Epeier einmal nennt '). Ebenso kann man den anderen Hafenort Phea vermissen, den die Odyssee wie die Ilias erwähnen''^), wenn man ihn anders in die Grenzen des homerischen Elis setzen will. Offen- bar hat also der Katalogist nur eine Auswahl gegeben, unter der sich keine Ortschaft befand, deren Name unverändert auf die Nachwelt kam und eine dauernde Bedeutung behielt. Einen wirklich bedeutenden Ort gab es in der homerischen Zeit überhaupt wohl nicht; denn auch später vor der Gründung der Stadt Elis finden wir dort nur Dörfer oder Demen, so daß wir im Verhältnis zur Größe der Landschaft nur wenig namhafte Orte kennen, und es ist darum kein Wunder, daß der homerische Dichter nichts Bedeutendes zu nennen hatte.

So lassen sich denn die Grenzen des homerischen Elis nur un- vollkommen bestimmen. Im Norden bildete später der Fluß Larisos die Grenze gegen Achaja, ob jedoch schon in homerischer Zeit, kann vielleicht bezweifelt werden. Es kommt dabei in Betracht, daß auch das Nachbarland, Achaja, noch nicht seinen späteren Umfang hat. Die im Schiffskatalog v. 573 ff. zusammen mit Mykene, Korinth, Sikyon usw. genannten achäischen Orte schließen mit Helike ab, gehen also nicht über Rhion hinaus; die spätereren westachäischen Städte Paträ und Dyme fehlen; in der Karte des Schiffskatalogs ist hier ein weißer Fleck, dessen Zugehörigkeit unsicher ist, und es muß als möglich ins Auge gefaßt werden, daß zur Zeit der home- rischen Dichter der spätere Westachaja zu Elis, oder besser den Epeiern gehört habe. Vielleicht ist Hekatäos dieser Meinung ge- wesen, wenn er Dyme zugleich epeisch und achäisch nannte =»). Wir

1) II. O 518: IlovlvSdi/a? 8' 'LItov KvUiji^iov d^evfipi^ft' <Pv),etStm irnpov

usyad-vufov äp-/,öv 'Eneiöir. Vgl. dazu die Scholl. und Strabo VIII 337. Pausan. VI 24, 5.

2i Homer Odyss. o 297 nach dem von Strabo VIII 350 und Schol. Jl. // 135 bezeugten Texte. Die meisten Hss. haben dort <Pfoäs, und so las schon der Hymnus auf Apollo v. 427; es ist also eine sehr alte, aber wertlose Variante. II. 7/ 135 ist fPfiäs überliefert, aber es gab auch dazu Varianten. Vgl. Strabo VllI 346. Schol. Townl. z. d. St.

3) Strabo VIII 341 tadelt ihn zwar deshalb, hält es aber doch für sehr möglich,

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 25

hätten in diesem Falle die Landschaft Buprasion noch über den Larisos hinaus zu erstrecken.

Ebensowenig wie im Norden lassen sich Grenzen gegen Osten nach Arkadien hin erkennen, und auch südwärts ist nur eine an- nähernde Bestimmung zu erreichen. Hier stößt an Elis das von Nestor beherrschte Reich der Pylier, dessen Städte der Schiffskatalog schon früher aufgezählt hat. ') Der Katalog verbindet Pylos nicht etwa mit Elis, sondern er läßt den Pyliern erst Arkadien folgen, um darnach Elis anzuschließen. Die Städte und Orte, die er aufzählt, sind Pylos, Arene, Thryon, Aipy, Kypariseeis, Amphigeneia, Pteleon Helos und Dorion. Jedoch ist leider eine topographische Bestimmung dieser Namen unmöglich , und wenn es auch im ganzen feststeht, daß das spätere Triphylien mit Hinzunahme des nordwestlichen Mes- seniens und vielleicht der anstoßenden arkadischen Bezirke das Reich Nestors ausmacht, so ist doch im übrigen alles unsicher; denn keiner der genannten Orte, auch nicht einer, hat sich bis auf die spätere Zeit erhalten. Da es zugleich kein Zweifel ist, daß wir es im Kata- log mit wirklichen Städten und nicht mit Orten der Phantasie zu tun haben, so muß nach der Zeit des homerischen Dichters einmal eine Katastrophe über diese Gegend hereingebrochen sein und das Frühere zerstört oder geändert haben. 2) Das Alte ist verschwunden. Weder Pylos, dessen Lage bekanntlich stark umstritten war 3), noch Arene ^) noch irgendeine andere der Nestorschen Städte hat eine Spur von sich zurückgelassen. Nur von Thryon steht fest, daß es am Alpheios lag.^) Und dies ist nun für die Begrenzung von Elis, auf die es hier ankommt, von Bedeutung; wir dürfen darnach den

daß die Epeier einst bis Dyme herrschten. Hinzufügen will ich noch, daß der Dichter Antimachos Dyme kaukonisch nannte und es damit in gewissem Sinne an Elis angliederte; denn man dachte sich die Kaukonen als ältere Bevölkerung des ganzen Elis. Strabo VIII 345. 387.

1) II. jS 591 ff.

2) Als solche ist neben der Unterwerfung Messenes durch Lakedämon vermut- lich die Einwanderung der Minyer anzusehen, von der Herodot IV 148 erzählt. Vgl. Hermes 42, 457.

3) Strabo VIII 349f.

4) Das man bei Samikon vermutete, hauptsächlich nach II. A 723. Strabo VIII 346. Pausan. V 6, 2.

5) B 592 Hai Oovov ^Ahfsiolo txöqov, WOZU II. .1 721 stimmt, wenn nämlich das hier genannte Thryoessa mit jenem Thryon identisch ist. Die Erklärer hielten Thryon für Epitalion. Strabo VIII 349. Schol. II. B 592.

B. Niese

Alphcios als die Grenze zwischen Elis und Pylos setzen.') Ich werde unten noch zu erwähnen haben, daß die alexandrinischen Grammatiker freilich anderer Meinung waren und das Reich Nestors noch über den Alpheios ausdehnten. Sie suchten das pylische Aipy nördlich vom Alpheios.'^) Aber dies ist ohne jede Gewähr'*), und da wir das eleische Alesion wahrscheinlich in die Nachbarschaft Olympias, also nicht weit vom Alpheios, zu setzen haben, so sind wir zu der An- nahme berechtigt, daß der Alpheios die Südgrenze der vereinigten Landschaften Buprasion und Elis bildete, und also die Stätte Olym- pias schon zur Zeit des Schiffskatalogs den Eleiern angehörte.

3. Eleier und Pisaten.

Von einem Punkt ist bisher noch nicht die Rede gewesen, der in unsrer Überlieferung wie in sämtlichen neueren Darstellungen den Hauptinhalt der älteren Geschichte von Elis bildet 4), nämlich der Gegensatz zu den Pisaten. Die Pisaten stehen nach allgemeiner Ansicht von Anfang an als selbständige Gemeinde neben den Eleiern; sie sind sogar die altern, die den einwandernden Eleiern oder Äto- lern vorangegangen sind; man hält sie wohl für Achäer oder Ar- kader oder wen man sich sonst als die älteste hellenische Bevölkerung denkt. Als ältere Einwohner und zugleich nächste Nachbarn Olym- pias nehmen sie das dortige Heiligtum und die Spiele für sich in Anspruch und geraten darüber mit Elis in Streit. . Zeitweilig gelingt es ihnen wirklich, ihr Ziel zu erreichen, die Eleier zu verdrängen und selbst die Leitung der Olympien zu übernehmen. Dies pflegt mit

li Wenn man will, kann man dazu die Erzählung Nestors von seinem eleischen Kriegszuge. II. yl heranziehen. Thryoessa, das man für "dasselbe hält wie Thryon, wird als pylische Grenzstadt bezeichnet (i'eäxri Ilvlov rjtad-ösvxos v. 712), und man hat aus der Erzählung durchaus den Eindruck, daß der Alpheios Grenzfluß ist. V. 725 ff.

2) BeiMargala oder Margana im späteren eleischen Periökengebiet. Strabo VIIl 349.

3) Andere suchten Aipy bei Epitalion. Selbst über den Namen der Stadt be- standen verschiedene Ansichten: den es gab Leute, die nicht ivxnrov Älnv lasen, sondern Evxtitov ainv, also den Ort Euktiton nannten. Strabo a. O. Schol. A zuß 592.

4) Ich begnüge mich, einige der neuesten Darstellungen anzuführen: Swoboda. Pauly-Wissowa RE V 2, 2383 ft. Busolt. Griech. Gesch. I 224 ff. 664. 705 ff. (wo weitere Litteratur). E. Meyer. Gesch des Altertums II S. 285. 438. 541. Wiederholt hat Ernst Curtius den Gegenstand behandelt: Peloponnesos 11 43 ff. Gr. Gesch. P 208. Hermes XIV 129ff Sitzungsber. d. Berlin. Akad. 1895 S. 793. 1896 S. 239f. Olympia. Text- band I S. 16ff. Unkiitisch ist der neueste Versuch von Louis Dyer, Harvard studies in classical philol. XIX 1909 S. 4 ff.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 27

den messenischen Kriegen und anderen Ereignissen des Peloponnes kombiniert zu werden, und tiberhaupt spielt dieser pisatisch-eleische Streit in der älteren Geschichte keine geringe Rolle, auch für die Chronologie; denn durch die Verbindung mit den Olympiaden er- halten wir einige feste Zeitangaben, die in mancher Hinsicht Angel- punkte der peloponnesischen Zeitrechnung geworden sind. So dürfte es nunmehr an der Zeit sein, in dieser Erörterung eleischer Ge- schichten auch hierüber ein Wort zu sagen. '

Nach meiner Überzeugung beruhen die Nachrichten über die Kämpfe zwischen Eleiern und Pisaten nicht auf alter, echter Tradi- tion, sondern auf späterer Erfindung; sie sind eine Geschichtskon- struktion, die nur den Wert einer historischen Hypothese hat. Eine selbständige Gemeinde der Pisaten und Pisäer hat es vielmehr in der älteren Zeit neben Elis nie gegeben, sondern nur einmal 365 und 364 v. Chr , als die Arkader unter diesem Namen einen Teil von Elis abtrennten und ihrem Bund einverieibten (S. 15). Dieses Gemeinwesen hat nur kurz bestanden; bald kehrten die Pisaten wieder in den Schoß von Elis zurück, aber durch den Streit, der sich damals um Pisa und Olympia erhob, haben die Pisaten ihren Schatten weithin in die Vergangenheit zurückgeworfen und haben auf diesem Wege in die ältere Geschichte von Elis, wie sie uns später überliefert wird, Aufnahme gefunden.

Um diese Sätze zu erweisen, wird es zuerst nötig sein, das Ob- jekt der Untersuchung ins Auge zu fassen, und da die Pisaten oder Pisäer von Pisa ihren Namen haben, so fragen wir zuerst, was Pisa ist. Diese Frage wird verschieden beantwortet und ist nicht ohne Bedeutung.

Schon im Altertum war man sich über Pisa nicht einig. ^) Einige hielten es für eine Quelle, die man später bei dem Städtchen Kiky- sion östlich von Olympia unter dem Namen Bisa wiederzufinden glaubte. Andere glaubten eine alte Stadt darin zu sehen und beriefen sich auf Stesichoros, der einmal Pisa eine 7cöhg nannte, wie ähnlich auch später zuweilen geschieht. 2) Sie lag nach einer Meinung

1) Die verschiedenen Ansiciiten bei Strabo VIII 356, und kurz zusammengefaßt

bei Stephanos Byz. S. Ulaa 7i6),is xai xoijirj Tfjs Olvunlas , fori xai %o)qIov iv o) 6 Tov Jids vads i^pvrai xal ö ^0).vu7iiax6s dycbv iTtiTelelrai. Xenophanes bei Athen.

X 414 AC spricht von einem Fluß Iliaris bei Olympia.

2j Wie bei Diodor IV 73, 1 in der Geschichte des Oinomaos Pisa Stadt ge-

.28 B. Niese

auf einer Höhe zwischen zwei Bergen, Olymp und Ossa genannt.') Heute setzt man gewöhnlich die Stätte von Pisa etwas östlich von Olympia bei dem Grabmal desOinomaos. Zur Zeit der Pausanias warderOrtvon Weingärten besetzt'^); von einer früheren Stadt waren keinerlei Reste mehr vorhanden, wie denn auch in unserer Zeit bei den Ausgrabungen in Olympia von einer Stadt Pisa weder an dem von Pausanias be- zeichneten Ort noch in Olympia etwas gefunden worden ist. Von einer Stadt Pisa war also schon im Altertum keine Spur mehr vor- handen. Der Name befand sich auch, wie ausdrücklich bezeugt wird 3), nicht unter den acht Städten, die man später in der Pisatis annahm, und daher ward schon von den Alten die Existenz einer Stadt Pisa bestritten, und wenn Stesichoros Pisa eine Stadt nannte, so erklärte man dies aus der bekannten dichterischen Freiheit, die das Wort rröhg auch zuweilen auf eine Landschaft iyÜQCi) anwandte.^) Offenbar trifft diese Kritik das Richtige, und mit gutem Grund hat daher G. Busolt die Vorstellung einer Stadt Pisa mit Nachdruck zurück- gewiesen.'') Die entgegengesetzte Meinung vertreten namentlich Ernst Curtius und neuerdings Swoboda und Frazer.6) Sie halten Pisa für eine Stadt, den ehemaligen Mittelpunkt einer selbständigen pisa- tischen Landschaft, und berufen sich siegesgewiß auf eine der alten Inschriften aus Olympia, wo von einem Landstück in Pisa die Rede ist. ■') Aus dieser Inschrift folgt aber mit nichten, daß Pisa eine Stadt war, sondern nur, daß es eine Örtlichkeit war, die den Chaladriern zugehörte, die mit dieser Urkunde dem Deukalion ihr Ortsrecht und das verleihen, was man später yf^q eyxxr]oiv zu nennen pflegte. ^) Pisa

nannt wird und Plinius hist. nat. IV 14 von dem Pisaeorum qiiondom oppidiim bei Olympia spricht. Vgl. Mela II 42.

1) Strabo a. O.

2) Pausan. VI 22, 1. Vgl. unten S. 37. Nach den Schol. Pindar.Olymp. 10, 51, 55ac war die Entfernung Pisa's von Olympia drei oder sechs Stadien.

3) Strabo VIII 356.

4) Strabo a. O.

5) Busolt, Die Lakedämonier und ihre Bundesgenossen 153, und mit einigen Einschränkungen Forschungen zur Griech. Gesch. I S. 47ff. Vgl. meine Schrift Der homer. Schiffsi<atalog S. 37.

6) Pauly-Wissowa, RE V 2382 Z. 28. Frazer, Pausanias vol. IV p. 95.

7) Inschr. von Olympia Nr. U: ä ß^äroa rato Xa/.acf^ifup xai Juxaltiovi. Xaldöpiov ^u€v avtdv xai yövov /ioottqö^si ov /laoSdiitooyöv, räv 8i yä[r] l^iv rdv ii- ninni. at Si Tis avlfUi] /epr]r airdr Ttordv -t(n, tl tiij (täitoi Soxiot.

8) Die weitgehenden Schlüsse, die Kirchhoff (Archüol. Zeit. 35 (1877) 198 u. Busolt

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 29

ist hier nichts anderes als d^s, was es auch sonst bedeutet, näm- lich eine Landschaft.

Daß dies die Bedeutung Pisas ist, ergibt sich aus den älteren Zeugnissen mit genügender Deutlichkeit. Pisa ist der Name der Flur oder des Bezirkes, in dem Olympia lag, der Tempel des Zeus wie der Festplatz der olympischen Spiele. Es ist soviel wie Olym- pia '), und wenn auch in Wahrheit sich die beiden Begriffe nicht decken und Olympia nur einen Teil Pisas einnimmt, so fällt doch im Sprachgebrauch beides zusammen. 2) Niemand lehrt das besser als Pindar. Die olympischen Siege werden bei ihm in Pisa gewonnen, in Pisa liegt der heilige Hain des Zeus 3), in Pisa hat Herakles aus der von Augeias gewonnenen Beute die ersten Spiele gegeben. •*) Hier wohnt nach der Dichtung Oinomaos, und nach Pisa geht da- her Pelops, um mit seinen Flügelrossen den ersten Wagensieg und damit die Hand der Hippodameia zu gewinnen. ^) Dasselbe bestätigt Herodot an der bekannten Stelle, wo er die Wegelänge von dem Zwölfgötteraltar in Athen bis nach Pisa und dem Zeustempel in Olympia auf 1485 Stadien bemißt. Das Zusammenfallen Pisas mit Olympia kann nicht deutlicher ausgesprochen werden, als es hier von Herodot geschieht. '^)

Dieses Pisa gehört weiter, wie die oben erwähnte Inschrift aus Olympia lehrt, zum Demos der Chaladrier, und mit diesem zur Ge- meinde oder wenn man lieber will zum Staat Elis. Dies bezeugte

(Forschungen z. griech. Gesch. 60 f.) aus der Urkunde abgeleitet haben, als werde die Zerstörung von Pisa vorausgesetzt und handle es sich um das aufgeteilte Land der Pisaten, entbehrenjeglicher Begründung : alles dieses ist von außen hineingetragen.

1) Stephan. Byz. S. 'OXv^mla rj npört^o?' nXaa leyouivr].

2) Plutarch bei Gellius n. a. I 1, 2 curriculiim stadii qiiod est Pisis apud loveni Olympinm. Das Zeusbild in Olympia und andere Weihgeschenke stehen daher in Pisa. Plut. Pericl. 2, de Pyth. orac. 13 p. 400 E.

3) Ol. 3, 9 ntaas evSeiSpor bti ]A}.(pew älaos.

4) Pind. Olymp. 2, 4. 10, 43. Vgl. Ol. 13, 29. 44, 33.

5) Eurip. Iphig. Taur. 1 ; Helen. 386. Vgl. Apollodor Epit. 2, 4 p. 183 Wagner.

6) Herodot II 7 : eoti Si dSds is H/.lov nö).iv und ü'aldaarjS avoi iövTi naQan/.rjoit] rd i/rfxos rfj i^ 'Ad'rjviojv öSöJ rf] and rwv d'vwSexa &eä}v rov ßatuov (psQovan es re Jllaav xai ini rdr vrjdp rov ^ids rov Ol.vfinlov j . . ri ftev yaQ es Ulaav i^ 'A&i^i'iaiv xaraStl TievrexalSexa orablo)V iifj cirai neiraxoaiov y.al yiUrov USW. Hierdurch wird

zugleich auf das bündigste bewiesen, daß Pisa unmöglich da gelegen haben kann, wo man es heutzutage zu suchen pflegt (oben S. 28); denn wenn Pisa auch nur wenige Stadien von Olympia entfernt gewesen wäre, hätte sich Herodot nicht so ausdrücken können.

30 B. Niese

der Perieget Polemon , der Pisa einen Ort in Elis nannte.') Pole- mon ist jedoch ein jüngerer Schriftsteller, und so will ich mich lieber auf Pindar berufen, der keinen Zweifel darüber läßt, daß er Pisa für ein Stück von Elis hält, ein dxQa)ti]Qiov "AUöoq, wie er Olymp. 9, 7 sagt. Oinomaos, der in Pisa wohnt und also ein Pisate ist, lebt zugleich in Elis; denn als Pelops zu ihm fahren will, fleht er zum Poseidon, ihn nach Elis zu bringen. 2) Damit gleichbedeutend sind ihm die Eleier die Inhaber und Verwalter 01ympias.='j

Da nun Pisa der Ort der olympischen Spiele war, die von Tausenden aus allen Teilen von Hellas besucht wurden, so ist er der wichtigste und zugleich bekannteste Teil der Landschaft Elis, ja sogar vor der Gründung der Stadt Elis, also vor 470 v. Chr., der einzige namhafte Ort. Also ist es unschwer zu verstehen, daß es als der Hauptort, der Vertreter der ganzen Landschaft angesehen ward und die Begriffe Elis und Pisa zusammenfielen. Strabo bezeugt, daß dies bei den nachhomerischen Dichtern und Schriftstellern, den sogen. vEcbtEQoi geschah.^) Ein Beispiel bietet wiederum Pindar. Oinomaos ist bei ihm, wie schon erwähnt Pisate •^), und ebenso sind die Pisaten, die er in der neunten olympischen Ode unter den Ansiedlern des lokrischen Opus nennt, nur eine andere Bezeichnung für Eleier oder Epeier. **) Diese Identifizierung von Elis und Pisa, Eleiern und Pisaten, dauert bis in die späteren Zeiten und findet sich, wie be- greiflich am häufigsten bei den Dichtern, griechischen wie römischen.')

1) Polemon fr. 19 (beim Schol. Pind. Ol. 1, 28 a) FHG III 121: ntoa TÖnos iv

H/.iSt ■6nd vxprß&v tx&cov nt^cf/^öfievos.

2) Pind. Ol. 1, 67 ff. 77: iuk S'ini rayvr&rcov tcöqsvoov a^uännv is 'Af.iv.

3) Pind. Isthm. 2, 23 ff. anovSotpÖQot Kpovlöa Zrjvds 'AleToi . . . vtv aanä^ovTo . . . yalav avä acpsreguv^Täv 8t) aaleoiatv^Olvfjiniov Jids äXoos.

4) Strabo VIII 356 evwi S'e^g ravzd ovvj]yayov i&vrj. Er bemerkt es mit Rück- sicht auf seine homerische Geographie tadelnd.

5) Olymp. 1, 70.

6) Oiymp. 9, 68. Zeus raubt die Tochter des Opoeis, Königs der Epeier, und zeugt mit ihr einen zweiten Opoeis, den Heros Eponymos des lokrischen Opus. Pindar will eine Brücke zwischen Lokris und Elis schlagen. Der Epeier Opoeis ist offenbar der Eponym der eleischen, in der Akroreia gelegenen Sfadt Opus. Oben S. 12 20.

7) Diese Tatsache ist sehr bekannt und ich kann auf Beispiele verzichten. Vgl. Schol. Pind. Ol. 10,55. Ich erwähne nur, daß auch in den Inschriften von Olympia aus römischer Zeit Pisa für Elis sich findet. Inschr. von Olymp Nr. 239. 482. Aitolos. der Stammvater der Aetoler und Eleier muß bekanntlich aus Elis auswandern (Strabo X 463). Dafür setzt ein anderer Bericht Pisa ein. Stephanos Byz. s. Airaiiia. Selbstverständlich bleibt daneben Pisa der Ort der olympischen Spiele.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 31

Natürlich erhielt Pisa auch einen Eponynien, Pisos, der schon auf der Kypseloslade in der dem Orte durchaus angemessenen Funktion eines Wagenlenkers erscheint, ^j

Bei alledem gibt es von einer neben Elis bestehenden selb- ständigen Gemeinde Pisa oder der Pisaten in der älteren Über- lieferung keine Spur. Homer kennt weder Pisa noch Olympia; er scheint aber die Gegend bis an den Alpheios zu Elis zu rechnen (S. 26); aber auch wenn man dies nicht annimmt, so ist doch klar, daß im Schiffskatalog zwischen Elis und dem Reiche der Pylier für ein drittes Volkstum oder Gemeinwesen kein Platz ist. Die spätere Dichtung und Sagengeschichte, namentlich Pindar, weiß nichts von selbständigen Pisaten, ebensowenig wie die älteren Historiker, Hero- dot, Thukydides und Xenophon vor dem Jahre 365 v. Chr., und das gleiche gilt von den ältesten Inschriften von Olympia, in denen die Eleier ausschließlich herrschen. 2) Wohl ist es aber bei der hervor- ragenden Bedeutung, die Pisa und Olympia in Elis einnahmen, leicht erklärlich, daß ein Dichter, wie Stesichoros, Pisa als Stadt be- zeichnen konnte. Gleich natürlich ist es, daß die Arkader, als sie die Umgegend Olympias von Elis trennten, zu einer eigenen Ge- meinde machten und zu benennen hatten, dafür den Namen der Pisaten wählten.

Ebensowenig weiß die ältere Überlieferung etwas von alten An- sprüchen der Pisaten auf Olympia und die olympischen Spiele. Diese gelten vielmehr als unbestrittenes, heiliges Recht der Eleier. Pindar kennt, wie schon gesagt, die Eleier als Inhaber Olympias 3), allerdings ohne das Recht besonders zu betonen, was nicht ver- wunderlich ist; denn ein Recht, das nicht bestritten wird, pflegt nicht besonders hervorgehoben zu werden. Bestimmt läßt sich ferner behaupten, daß Lakedämon stets die Eleier als die rechten Inhaber und Leiter des Heiligtums und der Spiele anerkannt habe. Vor allem wird dies durch den Vertrag des Eleiers Iphitos mit dem Lake- dämonier Lykurgos bewiesen, der die Ekecheiria, den Gottesfrieden für die olympischen Spiele, festsetzte und verbürgte, und der als

1) Pausan. V 17, 9.

2) Und es darf schließlich erwähnt werden, daß auch in der ältesten uns er- haltenen Geographie, dem Periplus des sogen. Sltylax, Pisa keine Erwähnung findet, sondern nur Elis (cap. 43).

3) Isthm. 2, 23.

32 B. Niese

eine der ältesten Urkunden auf dem berühmten Diskos im Heraion eingegraben war.') Die Lakedämonier würden diesen Vertrag in alter Zeit, etwa um die Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr.'^), nicht ge- schlossen haben, wenn sie nicht von dem Recht der Eleier überzeugt gewesen wären, oder wenn gar, wie die spätere Überlieferung er- gibt, die Pisaten damals Olympia besessen oder beansprucht hätten. Sie sind auch später immer darnach verfahren, selbst in dem uns genau bekannten Streit um Lepreon (oben S. 9f.), wo es nahe ge- legen hätte, den Eleiern Schwierigkeiten zu machen, ist kein Zweifel an ihren Rechten laut geworden, und ebensowenig unter Agis in dem späteren Kriege mit Elis. Auch Herodot weiß nur von eleischen Rechten in Olympia. Er läßt^») die Eleier in ihrer Eigen- schaft als Leiter der Olympien eine Gesandtschaft nach Ägypten schicken, zu König Psammis, Nechos Sohne, ^j Diese Geschichte ist sicherlich eine Fabel, aber ein vollgültiges Zeugnis für die An- schauung des Historikers, die noch deutlicher an einer anderen Stelle hervortritt, wo er berichtet, wie Pheidon von Argos den Eleiern die Agonothesie in Olympia entriß und die Spiele selbst feierte. Dabei wird Pheidon als der größte Frevler in Hellas bezeichnet^'), aus keinem anderen Grunde, als weil die Leitung der olympischen Spiele für ein geheiligtes Recht der Eleier galt. Im 5. Jahrhundert weiß niemand davon, daß die Rechte der Eleier auf Olympia zweifel- haft seien, und dies wirkt noch viel später bei Ephoros nach, der allerdings schon von einer Pisatis spricht; denn er kennt die Er- eignisse von 364 V. Chr.; aber er hat doch an dem Recht der Eleier keinen Zweifel. In seinem bekannten Fragment 15'') über-

1) Aristoteles bei Plutarch Lyk. 1. Pausan. V 10, 10. 20, 1. 26, 2. Hieronymos bei Athen. XIV 635F. Polybios (VI IIa, 3l u. a. Autoren bei Euseb. chron. I p. 193. Die Urkunde wird von einigen Gelehrten, auch von Swoboda RE V 2, 2385, 59 ff. für unecht erklärt, jedoch ohne triftigen Grund. Man muß aber ihre Be- deutung richtig erkennen; denn sie war nicht die Stiftungsurkunde der Spiele, sondern enthielt nur die Bestimmungen der Ekecheiria, setzt also die Spiele selbst als bestehend voraus.

2) Vgl. meine Bemerkung im Hermes 42 (1907) 446 ff.

3) II 160.

4) Dieser regierte 595—589 v. Chr., zu einer Zeit, wo nach der späteren Über- lieferung nicht die Eleier, sondern die Pisaten im Besitz der Agonothesie waren.

5) Herodot VI 127, 3 (Pe/drovos tov vß^fiaarroe fteyiaia ^») ändfTuti''^EH.rivo>t . ÖS i^aiaaTrjaas xovi 'IlXtliov &/o>roff-iras avrds rdr ir 'OXvunir Aytüra I9^xf.

6) Bei Strabo VIII 357f. FHG I 236.

Drei Kapitel eleisclrer Geschichte. 33

nimmt nach dem Einrücken in Elis Oxylos die Verwaltung des olympischen Heiligtums; ganz Elis wird durch allgemeine Übereinkunft für heilig und unverletzlich erklärt, und erst Pheidon stört gewaltsam die Rechte der Eleier. Von einer Agonothesie der Pisaten ist keine Rede.

Erst in späterer Zeit tauchen die Erzählungen von den Pisaten auf, von ihren Ansprüchen auf das olympische Heiligtum, ihrem Streit mit Elis, ihren Königen und ihrem Ende. Diese Nachrichten, die wir bei Strabon, Pausanias und in den dürftigen Resten der Olym- pionikenverzeichnisse bei Eusebios finden, müssen nun besprochen werden. Du wirst sehen, daß sie stark voneinander abweichen, und schon deshalb ihre Zuverlässigkeit sehr zweifelhaft ist.

Zuerst ist der Umfang der Pisatis oder Pisäa zu untersuchen. Nach Xenophons Erzählung i) ist es die nächste Umgebung Olympias, dazu vielleicht die Akroreia. Die Periöken hingegen, die unterhalb am nördlichen Alpheiosufer wohnen, haben nicht dazu gehört; die einzige Periökengemeinde, die den Arkadern in die Hände fiel, Mar- gana, ward ihnen noch vor der Feier der Olympien von den Eleiern wieder entrissen. Die Pisatis von 364 v. Chr. reicht also nicht bis ans Meer, sondern besteht nur aus dem an Arkadien angrenzenden südöstlichen Teile des damaligen Elis, dem, wie ich erinnere, Triphy- lien damals nicht angehörte.

Viel weiter dehnt Strabon seine Pisatis aus. Selbstverständlich rechnet er Olympia dazu2), außerdem aber noch ein gutes Stück der Meeresküste zu beiden Seiten der Alpheiosmündung. Seine Pisatis fängt gleich südlich vom Chelonatas an, oder wenigstens bei Phea (denn darüber waren die Gelehrten nicht einig), und ging über den Alpheios hinaus bis zum Anfang der Makistia»), und dies ist die Grenze, die auf allen unseren Karten des alten Hellas, soweit ich sie kenne, eingezeichnet wird. Diese Pisatis war in acht Städte oder Gemeinden geteilt, von denen uns Strabon die meisten namhaft macht, Salmone, Herakleia, Dyspontion, Harpina und als die größte Kikysion, dazu vielleicht Alesion (oder Aleision).*) Für die

1) Hellen. VII 4, 14 ff. Vgl. oben S. 15.

2) Strabo VIII 353. 355.

3) Strabo VIII 342 f.

4) Strabo VIII 356 f. 341. Dyspontion, Herakleia, Salmone werden auch von Stephanos Byz. s. v. zur Pisäa gezählt.

Graeca Halensis. 3

34 B. Niese

übrigen hat man die Wahl etwa zwischen Letrinoi, Margana (Mar- gala), Epitalion oder Skillus, aber es können auch andere gemeint sein. ')

Strabon hat also die ursprüngliche Pisatis von 364 v. Chr. er- heblich, bis ans Meer hin erweitert. Um dies richtig zu verstehen, müssen wir erwägen, daß er hier ganz von den Erklärern Homers abhängt, insbesondere von ApoUodors Kommentar zum Schiffskatalog. Maßgebend ist für seine Anschauung der Umfang, den die Home- riker für das pylische Reich Nestors ermittelt zu haben glaubten. Die nachhomerischen Dichter und Gelehrten, zu denen z. B. Pindar gehört, pflegten Nestor als Messenier zu bezeichnen und ließen sein Reich mit Messene znsammenfallen. Hiergegen traten die alexandri- nischen Grammatiker auf. Sie beriefen sich vor allem auf den homerischen Vers, nach dem der Alpheios durch das Land der Pylier fließt 2); denn darnach mußte sich das Reich Nestors viel weiter nach Norden erstrecken und beide Ufer des Alpheios um- faßt haben; und dasselbe ergab sich aus der Erzählung Nestors über seinen Kriegzug gegen die Epeier oder Eleier^^), wie aus der Reise des Telemachos in der Odyssee. Im einzelnen wird endlich diese Anschauung an den im Schiffskatalog genannten-*) Orten durch- geführt, von denen einzelne nördlich vom Alpheios gesucht werden. ■■•) Dieser Ansicht kam eine besondere, von Elis getrennte Pisatis sehr zu statten. Man nahm an, daß die Pisatis schon zu Nestors Zeiten, also vor der dorischen Wanderung, existierte und zusammen mit Triphy- lien das pylische Reich ausmachte. **) Dies gilt als sichere Tatsache, und Strabo unterläßt nicht, die strenge Unterscheidung der pylischen Pisatis von dem hohlen Elis einzuprägen und die Nachhomeriker, die vscbtBQOL, zu tadeln, wenn sie Elis und Pisa in eins zusammen-

1) Letrinoi fehlt bei Strabon, Margala wird VIII 349 beiläufig genannt und nicht zur Pisatis gerechnet; beiläufig ist auch die Erwähnung Epitalions (S. 343. 349), und von Skillus ist nur der Name der skilluntischen Athena übrig geblieben. Man könnte an Lenos denken, das nach Stephanos Byz. s. .Jfjvos ein pisatischer Ort war. Die Vermutungen von Louis Dyer a. O. S. 13, der Skillus, Lepreon und das arkadische Heraia zu den acht pisatischen Städten zählen will, gehen ganz ins Blaue.

2) Ilias .E545 ^AXtptiov 8or' ev^i ^iti Ilvliotv d'cA yairjS.

3) II. ^670 ff.

4) B 591 ff.

5) Strabo VIII 339 f. 356. Dazu die Erörterung über die Lage von Pylos S. 349 ff.

6) Strabo VIII 354. 357.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 35

fassen ^) oder miteinander verwechseln und die Pisaten Salmoneus und Oinomaos über Elis, den Augeias über Pisa herrschen lassen 2). Elis und Pisa sind scharf auseinanderzuhalten.

Es ist wahrscheinlich, daß diese gelehrten und in ihrer Art scharfsinnigen Ausführungen der alexandrinischen Grammatiker sehr dazu beigetragen haben, die Ansicht von einer selbständigen Pisatis zu befestigen und unter den Schutz des großen Namens Homer zu stellen. Aber sie ruhen in diesem Falle auf ganz schwachem Fun- dament; denn Pisa oder die Pisatis mit Olympia bleiben ja bei Homer vollkommen unerwähnt, und die topographische Bestimmuung der pylischen Orte ist so unsicher (oben S. 25), daß die Begren- zung der von Nestor beherrschten Landschaft und die daraus abge- leiteten Folgerungen der Grammatiker als willkürlich bezeichnet werden müssen. 3)

Für Strabon ist noch zu bemerken, wie wenig er auf dasjenige Elis und Triphylien eingeht, das in historisch greifbarer Gestalt be- stand. Was wir noch heute aus unsern altern Historikern über die Ge- schichte von Elis und Triphylien und über den topographischen Be- stand der Landschaft ermitteln können, scheint ihm größtenteils un- bekannt geblieben zu sein, und so ist seine Darstellung nicht nur historisch sondern auch topographisch recht mangelhaft. Das er- klärt sich eben daraus, daß sich sein Interesse fast ganz auf die Fragen der homerischen Geographie richtet, wie er sie bei Apollodor

1) Dieser Sünde hat sich auch Ephoros schuldig gemacht, wenn er den Salmoneus als König von Elis und Pisa bezeichnet. Strabo VIII 357 (FHG I 236 fr. 15 zu Anfang).

2) Strabo VIII 337. 356. Die Homeriker versuchten mehr Ordnung in diese Dinge zu bringen. Augeias gehört nach Elis und hat mit Pisa nichts zu tun. Man darf daher, so schließt Strabon weiter, aus dem Wettrennen, das Augeias einmal bei Homer II. A 701 f. veranstaltet, nicht folgern, daß es damals schon olympische Spiele gegeben habe. Strabo VIII 355. Schol. B zu II. A 701. Dies ist dann einer der Gründe, aus denen Strabon, wiederum nach den Homerikern, die mythische Stif- tung der olympischen Spiele durch den idäischen oder thebanischen Herakles ab- lehnt. Die älteren Schriftsteller, bei denen Elis und Pisa noch ungeteilte Begriffe sind, verfahren viel freier, und z. B. Hekataios (Strabo VIII 341) macht sich nichts daraus, die Epeier dem Herakles gegen Augeias und die Eleier Beistand leisten zu lassen.

3) Der oben zitierte Vers der Ilias^545 beweist nicht, daß Pylos nördlich noch über den Alpheios hinaus ging. Aus einer andern Stelle könnte man socrar abnehmen, das noch die sieben Städte, die Agamemnon dem Achilleus verspricht (II. i 150. 292), zu Pylos gehörten, dieses also bis an den Taygetos reichte, was wieder nicht mit anderen Zeugnissen übereinstimmt. Aus solchen gelegentlichen Äußerungen der Dichter darf man nicht zu viel schließen.

3*

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fand. Gegenwart und nähere Vergangenheit hatten für ihn geringere Bedeutung. Zu seiner Entschuldigung dient es, daß er das Land selbst nicht besucht hat, und daß es dort zu seiner Zeit kaum noch etwas anderes gab als die Stadt Elis und Olympia. So koinmt es, daß sich ihm die verschiedenen Zeiten der Vergangenheit stark ver- wirren und er allerlei Versehen begeht. Die Makistia, das Gebiet der Stadt Makistos, die schon um 220 v. Chr. nicht mehr existierte, bedeutet bei ihm ganz Triphylien; er rechnet auf der einen Seite Epitalion am Alpheios dazu und läßt sie sich südwärts bis über die Neda hinaus erstrecken. ') Sein Bild von der Landschaft Elis, das kann man wohl behaupten, ist unklar, und die gelehrten Er- örterungen haben mehr verwirrend als aufklärend gewirkt.

Pausanias hat viel mit Strabon gemeinsam. Bei ihm tritt gleich- falls, wenn auch in anderer Weise, das Älteste in den Vordergrund, und von den Schicksalen des Landes in der historischen Zeit weiß er wenig. Er läßt, wie Strabon, die Pisatis schon vor Oxylos be- stehen-) und stimmt in der Gesamtanschauung mit seinem Vorgänger überein. Er läßt zwar nicht viel davon merken, ist aber doch mit den Problemen der homerischen Geographie nicht unbekannt, wobei ich es unerörtert lassen kann, ob er etwa zuweilen den Strabon be- nutzt hat. So kennt er den Streit um die Lage des homerischen Pylos=^), und streng nach der Regel der Homeriker unterscheidet er zwischen Pisa und Elis. Oinomaos wie Pelops regieren in der Pisäa *), und der zauberkräftige Knochen des Pelops wird daher den vor Ilion streitenden Achäern aus Pisa zugesandt.^) Aber er folgt den Homerikern nicht überall; die mythische Vorgeschichte der Olympien, die Strabo als unbeglaubigt bei Seite läßt, wird ohne

1) VIII 349 S. 129, 17 Kramer: xahlTui Si tvv 'ETmäXioi- rrjs Maxiar/as -ji^tuQiov und S. 130, 10: 6 di KvTcaotaoi^eis iari tikv negi ttjv Tt^öre^ov MaHioriav, ■fjrixa xai TiBQav Trjs NeSae ^v »y Maxiaria.

2) So erzählt er V 3, 1, daß bei dem Kriege des Herakles gegen Augeias die Pisäer den Eleiern halfen, aber trotzdem auf Weisung eines Orakels von Herakles verschont wurden.

3) Pausan. VI 22, 6. Sonderbarer Weise denkt er es sich in dem Pylos, das südöstlich von Elis, also mitten im Lande, am Ladon lag, während gerade dieses Pylos für das nahe dem Meeresstrande gelegene Pylos Nestors nicht in Betracht kam und bei Strabon nicht erwähnt wird.

4) V l,4ff. 25,5. VI 21, 11.

5) V 13, 4.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 37

ein Wort des Zweifels von Anfang, von der Zeit des Kronos an- gefangen, berichtet. ')

Vor allem begrenzt er das Gebiet der Pisaten anders als Strabon. Damit berühre ich freilich eine Streitfrage, deren Schwierigkeit Du vor kurzem vortrefflich entwickelt hast.2j Denn Pausanias hat über die Lage Pisa's und der Pisatis ganz eigenartige Vorstellungen ^j; sein Pisa scheint nicht neben Olympia zu liegen, sondern gegen- über. Indes darf ich diese Frage hier bei Seite lassen; es genügt der Hinweis, daß er die Pisatis auf die nächste Umgebung Olympias beschränkt und das eleische Periökenland nicht dazu rechnet; es zeigt sich, daß nach ihm weder Skillus noch Dyspontion noch Letrinoi zur Pisäa gehören ^), diese also nicht wie bei Strabon bis ans Meer reicht. Pausanias kommt damit den Grenzen der Pisatis, wie sie 365/4 V. Chr. bestimmt wurden (S. 15. 33), sehr viel näher.

Ähnlich, ja noch stärker weichen die beiden Autoren über die Geschichte der Pisaten und ihres Streites mit den Bleiern vonein- ander ab, dem ich mich jetzt zuwenden muß. Nach Strabon-^) hat sich die Sache so zugetragen, daß die einwandernden Ätoler unter Oxylos, also die Eleier, den Pisaten ein großes Stück ihres Landes abnehmen, darunter Olympia, und hier bereits die Spiele einrichten. Weiter haben die Eleier auch noch die ersten 26 Olympiaden nach der Olympiade des Koroibos (776 v. Chr.) geleitet, darnach aber, zu- erst also Ol. 27 (672 v. Chr.) haben die Pisaten ihr Land zurück- gewonnen und die Leitung der Spiele an sich gebracht, die in- zwischen zu solchem Ansehen gelangt waren. Als dann später die Pisatis an die Eleier zurückfiel, übernahmen diese auch wieder dieAgo- nothesie, wobei ihnen nach der letzten Vernichtung der Messenier»*) die Lakedämonier beistanden, denen die Eleier ihrerseits gegen Messene Hilfe geleistet hatten. So ward das ganze Land bis an die Grenze Messeniens zu Elis geschlagen und hieß Elis, und die Pisaten, Tri-

1) V7, 6ff. Auch Augeias erscheint dabei unter den Spielgebern. V 8, 3. Oben S. 35 Anm. 2.

2) C. Robert, Pausanias als Schriftsteller S. 235 ff.

3) VI 21, 3ff.

4) V 6,4, VI 22, 3 ff. vgl. V 10,2.

5) VIII 354 ff.

6) Strabon meint damit ohne Zweifel den zweiten, nicht den dritten messenischen Krieg. Er denkt sich Triphylien lange vor der Gründung der Stadt Elis (471 v. Chr.) von den Eleiern erobert. VIII 337.

38 B. Niese

phylier und Kaukonen, so schließt Strabo, sind zugrunde ge- gangen und niciit einmal ihr Name ist geblieben.!)

Mit der strabonischen Darstellung sind am nächsten verwandt die Beischriften zur Olympionikenliste in der Chronik des Eusebios. Hier wird gesagt, daß die 28. Olympiade (668 v. Chr.) von den Pisäern gefeiert ward, weil die Eleier damals in einem Kriege gegen Dyme beschäftigt waren. -) Zwei Olympiaden weiter heißt es zur 30. Olympiade (660 v. Chr.), daß die Pisäer von Elis abgefallen seien und diese und die nächstfolgenden 22 Olympiaden gefeiert hätten, also bis zur 51. Olympiade, die Eleier demnach erst mit der 52. Olympiade (572 v. Chr.) die Vorstandschaft wiedergewannen. 3) Dies weicht ja von Strabo etwas ab, bei dem die 27. Olympiade, nicht die 30., die erste pisatische ist^), und die Zahl der pisatischen Olympiaden nicht genannt wird, kommt ihm aber doch nahe. Beide Quellen sind wenigstens darin einig, daß die Pisaten eine Anzahl Olympiaden hintereinander im Besitz der Spiele und also auch des olympischen Heiligtums gewesen seien.

Die Richtigkeit dieser Nachricht unterliegt jedoch schweren Be- denken und steht mit dem, v/as uns sonst aus guter Quelle über die Geschichte der olympischen Spiele bekannt ist, in einem nach meiner Meinung unlöslichem Widerspruch. Daß die Pisaten 22 Olympiaden, also mindestens 84 Jahre in Besitz Olympias und der Spiele gewesen seien, ist nach dem, was wir über die Rechte der Eleier aus älterer Überlieferung hören (oben S. 31), undenkbar und vereinigt sich in keiner Weise mit der Geschichte der Spiele bei Pausanias V 8, 5ff., die mit Recht als urkundlich und zuverlässig angesehen wird und mit seiner Geschichte der Pisaten in keinerlei

1) Strabon wirft die Pisatis und Triphylien zusammen, aus denen ja das Reich Nestors bestand, an das er hier immer denkt.

2) Euseb. chron. I S. 197 f. Schöne: raiTtjv ^^av Hiaaiot ''HXsitov daxolovuevotv Sid rdr Ttods Jvtiaiovs Tiöleuov. Hierauf bezieht man, jedoch ohne Gewähr, Apol- lodors Fragment bei Stephanos Byz. s. Jvur]. Jacoby, Apollodors Chronik S. 237.

3) Womit man verbinden kann, daß in der 52. Olympiade nach längerer Zeit wieder ein Eleier als Sieger im Stadion, also gleichsam als eponymer Sieger, er- scheint. Eusebios I S. 201 f.

4) Ed. Schwartz, Hermes 34 (1899) 431 Anm. liest daher bei Strabo VllI 355 statt der zweimal bezeugten 26. die 27. Olympiade, -/.X statt xs. Dann würde die 28. Olym- piade die erste pisatische sein. Damit ist aber nichts geholfen; denn der ersten pisatischen Olympiade bei Strabon entspricht nicht die 28., sondern die 30. des Euse- bios. Über andere I^mendationsvorsuclie vgl. unten S. 39 Anm. 3.

Drei Kapitel eleisciier Geschichte. 39

Zusammenhang steht. Stetig und ohne Unterbrechung geht die Vermehrung der Spiele und Wettkämpfe vor sich , und es ist sehr unwahrscheinlich, daß hier eine so schwere Störung eingetreten sein sollte, wie sie der Übergang der Spielleitung von den Eleiern auf die Pisaten und von diesen wieder auf die Eleier mit sich bringen mußte. Denn nur auf dem Wege der Gewalt ist ein solcher Über- gang möglich.

Dasselbe folgt aus der Geschichte der Hellanodiken, der Kampf- richter.') Zuerst war es, wie Pausanias sagt, nur einer 2), der den Nachkommen des Oxylos entnommen ward, dann seit der 50. Olym- piade zwei aus allen Eleiern, aus der ganzen eleischen Bürgerschaft erloste. Diese Ordnung ist ganz undenkbar, wenn in der 30.— 51. Olympiade die Spiele wirklich von den Pisaten wären ausgerichtet worden, und um diese Schwierigkeit zu beseitigen, hat man einen wahren Rattenkönig von mehr oder minder willkürlichen Vermu- tungen ausgeheckt, die doch nicht zum gewünschten Ziele führen und nur neue Widersprüche erzeugen. Namentlich sucht man sich mit der Annahme zu helfen, daß Eleier und Pisaten die Agonothesie gemeinsam gehabt hätten. '-'') Dies ist aber ' nirgends überliefert,

1) Pausan. V 9, 4.

2) Bestätigt durch die Inschrift von Olympia Nr. 2 Z. 5.

3) Pausan. V 9, 4 sagt: Tisvri^xoar^ S'i ölvuTitdSi ävS^äai Svo «I &7iävrtov /.a'iovoiv HXelojv ineTQaTTr] noirjaai ra 'O^.ij/uTiia xai int TrXeZarov d.td ixfivov Sie-

/teive räjv ayo}vo&eräiv 6 d^id-uds rcöv §^o. Um die Übereinstimmung mit Eusebios herzustellen, schlug Schubart vor, nevTtjy.oarTi in nsuTTrrj xai fixoor?] zu verwandeln, Kayser vermutete t?; Öt sixoarf:. Einen anderen Weg versuchte Hugo Förster (de hellanodicis Olympicis, diss. Leipzig 1879 S. 14 ff.). Bei Eusebios soll nicht die 30., sondern die 28. Olympiade als die erste der 22 pisatischen gerechnet werden, so daß Olymp. 49 die letzte sein und also in der 50. Olymp, die Wiederherstellung der eleischen Agonothesie mit der Erlösung der beiden Hellanodiken zusammen- fallen würde. Er denkt sich, schon Olymp. 28 seien die Eleier ausgeschlossen worden und hätten dies später beschönigend auf den Krieg mit Dyme geschoben. Der Ausschluß sei unter Beihilfe Pheidons erfolgt, dessen Eingreifen mit Falconer und Weißenborn in die 28. Olymp, gesetzt wird, nicht, wie der Text des Pausanias gibt, auf die achte. Dann sei in der 30. Olympiade zwischen Eleiern und Pisaten ein Abkommen geschlossen und gemeinsame Festleitung eingeführt worden ; jeder Teil habe einen Hellanodiken gestellt, und dies meine auch Strabon mit seinem owrehlv. Ich will hier nur bemerken, daß Strabon an eine gemeinsame Feier nicht denkt, wie sich aus dem Zusammenhang seiner Sätze sofort ergibt, Strabo VIII 355: iyyvriQo) Se

nioreros, ort, fiiyoi rijs Exrrjs xai elxoartjs ^OlvuniäSos and rfjs TtQtörrjS, iv f} KoQoißos

ivixa aräStov ^Hletos^ rrjv nooaraalav tl-/,ov rov re Isoov xai rov dyäivos ^Hlsloi

jusrd 8k xi]V ixrrjv xai eixoQxi]v^OXx\unia.8a ol Uiaärai, rrjv oixsiav änoXaßövTBS avroi

B. Niese

steht also mit sämtlichen Quellen in Widerspruch; denn diese lassen keinen Zweifel, daß sie sich jene Olympien von den Pisaten aus- schließlich geleitet denken; auch hilft uns die gemeinsame Agono- thesie nicht viel. Denn wir haben ferner die Erscheinung, daß in dieser ganzen Zeit von Pisaten in Olympia keine Spur ist; in all den 22 angeblich pisatischen Olympienfeiern ist kein pisatischer Olympionike verzeichnet"), was doch sehr auffallend sein würde, wenn die Pisaten dort so lange Zeit das Regiment gehabt hätten. Endlich ist nicht zu verschweigen, daß Strabon, auch hier wohl dem Apollodor folgend, seine Geschichte der Olympien keineswegs als sicher hinstellt; was er von dem Wechsel zwischen Elis und Pisa sagt, ist zwar glaubhafter, eyyvTEQio vügtsioq'^), als die mythische Stiftungslegende, aber er ist sich deutlich bewußt, wie unsicher diese Kunde ist, und nicht mit Unrecht. Auch was er weiter berichtet, daß die Lakedämonier aus Dank für den ihnen gegen Messene ge- liehenen Beistand den Eleiern bei der Unterwerfung der Pisaten und Triphylier geholfen hätten, darf nicht etwa als gut überliefert angesehen werden. Ephoros berichtet ganz anders; er leitet die lakedämonische Hilfe von dem gemeinsamen Kampfe gegen Pheidon ab''), und als Tatsache liegt beiden Erzählungen nur die enge Verbindung zwischen Lakedämon und Elis zugrunde, die in dem Diskos des Iphitos ihren sichtbaren urkundlichen Ausdruck fand. Die Kombi- nation mit den messenischen Kriegen wie mit Pheidon ist sicher- lich nicht mehr als eine Vermutung.-*)

Die Unsicherheit wächst noch mehr, wenn wir uns nunmehr

avv£ri).ovv röv dycDva doöivTsS tvSoaiuovvra' yoivoiS 8^ ßarepov ueraTtsaovaris naf.iv rfji UcaariSoS eis rovi H'/.elovS iieTiTieaev eis avzovs naliv yiai »f Aywvod'tata. Förster

sucht mit gewaltsamen Mitteln unvereinbares zu vereinigen,

1) Der einzige Pisate aus alter Zeit ist Hypenos bei Pausan. V 8, 6; dieser ge- hört jedoch der 14. Olympiade an, fällt also noch in die Zeit der eleischen Vorstand- schaft, wird aber bei Eusebios I 195 f. als Eleier bezeichnet. Außerdem kann -man vielleicht den W.eios i/. Jvor^ovrlov der 2. und 27. Olympiade (Steph. Byz. s. Jio- Tiövriov) nennen, wenn nämlich Dyspontion zur Pisatis gehörte. Dies ist aber nicht sicher (oben S. 37), und das Ethnikon macht keinen sehr altertümlichen Eindruck. Die Olympionikenlisten sind zuweilen von gelehrter Hand überarbeitet.

2) Strabo VIII 355 S. 139, 6 Kramer.

3) Ephoros fr. 15, FHG I 237. Strabo VIII 358.

4i Für ihre Beurteilung kommt sehr in Betracht, daß damals Elis nicht an Messene grenzte, sondern die Minyerstädte, die späteren Triphylier, dazwischen lagen. Die gemeinsamen Interessen der Lakedämonier und Eleier lagen wahrscheinlich in Arkadien.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 41

der ganz abweichenden Darstellung zuwenden, die Pausanias von dem Streite der Eleier und Pisaten gibt. Es ist schon oft bemerkt und leicht zu sehen, daß er sich auf den eleischen Standpunkt stellt, die Pisaten als zu Elis zugehörig und ihre Erhebung als Abfall an- sieht; durch ihre Ansprüche auf die Leitung der Olympien und ihre Verfeindung mit den Eleiern haben sie ihren Untergang selbst ver- schuldet. 0 Von einer längeren Reihe pisatischer Olympiaden, wie Strabon und Eusebios, weiß er nichts, sondern kennt nur drei einzelne, durch lange Zeiträume voneinander getrennte, zuerst die achte (748 V. Chr.), wo die Pisaten den Tyrannen Pheidon von Argos herbei- rufen, die Eleier verdrängen und selbst die Olympien begehen, dann die 34. Olympiade (644 v. Chr.), in der sie unter ihrem Könige Pantaleon, Omphalions Sohne, mit Hilfe der Nachbarn den Eleiern die Leitung der Spiele gewaltsam entreißen 2), drittens die 104. Olym- piade (364 V. Chr.), die sie mit den Arkadern feiern. Alle drei werden nach Pausanias von den Eleiern als nicht vorhanden, als dvolv^Ttiäösg betrachtet.

Dies ist ein ganz anderes Bild der Ereignisse, aber es ist darum nicht besser beglaubigt. Daß die 104. Olympiade von den Pisäern ausgerichtet ward, steht freilich fest; auch die Olympionikenliste be- merkt es. 3) Was von den beiden anderen berichtet wird, steht ganz allein und unterliegt dringendem Zweifel. Von Pheidon erzählen allerdings auch Herodot und Ephoros"*); Pausanias lehnt sich sogar wörtlich an Herodot an; daß aber Pheidon von den Pisaten ge- rufen worden, weiß keiner der beiden älteren Historiker. Bei ihnen ist es Pheidon selber, der die Olympien feiert; die Pisaten sind also bei Pausanias erst durch einen späteren, willkürlichen Zusatz hinein- gekommen. Daß ferner die 34. Olympiade von den Pisaten ausge- gerichtet sei, berichtet sonst niemand. Man könnte darin freilich eine gewisse Übereinstimmung mit der strabonischen und eusebischen Überlieferung finden, insofern als jene Olympiade in die Reihe der

1) Pausan. VI 22, 2 ff.

2) Hierzu gehört die Geschichte von Chamynos, den der Tyrann Pantaleon tötet, weil er den Abfall von Elis zu verhüten sucht. Seine Habe wird eingezogen und davon ein Heiligtum der Demeter gebaut, die den Beinamen Chamyne erhält. Pausan. VI 21, 1.

3) Euseb. I 205 f., wobei diese Olympiade ebenfalls als Anolympias bezeichnet wird, aber nur diese; bei den beiden andern ist kein Vermerk. Vgl. Diodor XV 78, 3.

4j Herodot VI 127. Ephoros fr. 15 bei Strabo VIII 358.

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pisatischen fällt, die mit Olymp. 27 oder 30 ihren Anfang nehmen. Allein es ist klar, daß Pausanias sich diese Olympiade wie die beiden anderen pisatischen als vereinzelt denkt und also einer ganz anderen Überlieferung folgt. ')

Auf die Olympiaden der Pisaten folgt bei Pausanias sogleich die Geschichte ihres Unterganges.-) In der 48. Olympiade (588 v. Chr.) regiert in Pisa Damophon, Pantaleons Sohn. Er wird des Ab- falles verdächtig, die Eleier rücken in sein Land ein, lassen sich jedoch durch seine Bitten und eidlichen Verheißungen wieder zum Abzüge bestimmen. 3) Ihm folgt sein Sohn Pyrrhos, und unter diesem König erklären die Pisaten, verbündet mit Makistiern, Skilluntiern und Dyspontiern den Eleiern den Krieg, werden aber samt ihren Ver- bündeten vernichtet. ^) Über die Art und die Zeit dieses Ereignisses weiß Pausanias nichts zu sagen; wir hören nur, daß aus der Sieges- beute der olympische Tempel gebaut worden sei. •') Dies letztere hat sich jedoch längst als Irrtum erwiesen; denn der Tempel ist erst nach den Perserkriegen erbaut, ß) Ebensowenig zutreffend ist die Nachricht von dem Untergange der Stadt Skillus, die noch lange weiter bestand. Pausanias läßt sie dem Xenophon zu Liebe, der bekanntlich einige Zeit hier lebte, wieder aufgebaut sein'), aber die Inschriften von Olympia haben uns gelehrt, daß sie auch in der Zwischenzeit existierte.^) Sie kann also in der von Pausanias angedeuteten Zeit nicht zerstört worden sein. Von einer den Eleiern zuteil gewordenen Hilfe der Lakedämonier ist bei ihm keine Rede, und offenbar mit gutem Be- dacht; denn bei Pausanias helfen im 2. messenischen Kriege die Eleier den Messeniern"), sind also Lakedämons Feinde. Auch

1) Daher jeder Versuch, durch Änderung des Textes zu helfen, von vorn- herein aussichtslos ist, z. B. wenn E. Schwartz (oben S. 38 Anm. 4) bei Pausanias statt der 34. die 30. Olympiade liest, / statt l§.

2) Pausan. VI 22, 3.

3) Auch bei Pausan. V 16, 5 wird Damophon als Tj'rann der Pisäer genannt, der den Eleiern viel zu Leide getan habe. Nach seinem Tode gelingt es aber den Frauen von Elis, eine Versöhnung zwischen Elis und Pisa herbeizuführen. Dies ist eine ätiologische Geschichte, die sich mit dem später folgenden kaum vereinigen läßt.

4) Pausan. VI 22, 4. Die Zerstörung von Skillus auch V 6, 3.

5) V 10, 2.

6) Vgl. Pausanias ed. Hitzig u. Blümner II 1 S. 318. Frazers Pausanias 111 492 f. Olympia, Textband I 40ff.

7) V 6, 3.

8) Inschriften von Olympia 16.

9) Pausan. IV 15, 7. 16, 1. 17. 7.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 43

hier liegen ihm also von Strabon ganz abweichende Überliefe- rungen vor.

Werfen wir nach dieser langen Erörterung noch einen Blick zurück auf die verschiedenen Darstellungen des eleisch-pisatischen Streites, so konstatieren wir, daß sie ebenso sehr der älteren Anschauung wider- sprechen, wie sie untereinander in einem Gegensatze stehen, der weder durch starke noch durch sanfte Heilmittel beseitigt werden kann.^) Überdies sind unsere Hauptquellen, Strabon und Pausanias, von der eigentlichen Geschichte der Landschaft Elis nicht gut unterrichtet. Ganz unhistorisch ist bei beiden die aus der homerischen Geographie entlehnte Verkoppelung der Pisatis mit Triphylien, die schließlich in die gleichzeitige, gemeinsame Einverleibung beider Landschaften in Elis ausläuft. Die Einverleibung Triphyliens wird viel zu früh angesetzt 2), keiner von beiden erinnert sich, daß die minyeischen Städte erst nach den Perserkriegen den Eleiern zugefallen sind (oben S. 6). Wir haben es mit einer späteren, willkürlich zugerichteten und daher ganz unbeglaubigten Überlieferung zu tun, deren abweichende Gestalt sich daraus erklärt, daß die gestellte Aufgabe, die Ansprüche der Pisaten auf Olympia in der Vergangenheit zu begründen, von den verschiedenen Historikern verschieden gelöst worden ist.

Ausgangspunkte dieser Ansprüche und der daraus folgenden historischen Fiktionen waren, wie schon bemerkt, die Ereignisse von 365 und 364 v. Chr., die Einverleibung Olympias und Pisas in das Arkadikon und die gewaltsam erzwungene Feier der 104. Olympiade durch die neugebackenen Pisäer und den arkadischen Bund. Damals zuerst entsteht die Behauptung, daß der Tempel in Olympia mit seinen Spielen ursprünglich den Pisaten gehört habe und die Eleier ihn zu Unrecht besäßen. Allerdings ist schon früher einmal bei Gelegenheit des spartanischen Feldzuges gegen Elis davon die Rede. 3) Xenophon bemerkt, die Lakedämonier hätten

1) Die O. Müllersche Hypothese, die von der Erzählung des Pausanias (V, 16) von der Feier der Heräen durch 16 eleische Frauen ausgeht, in denen Müller 8 Eleerinnen und 8 Pisatinnen sieht, kann ich mit allen ihren Folgerungen als auf unhaltbaren Voraussetzungen beruhend bei Seite lassen. O. Müller, Rhein. Mus. II (1834) 167 ff.

2) Bei Strabo VIII 337 lange vor den Perserkriegen (oben S. 37 Anm. 6). Nach Pausan. V 6, 3 hat sogar schon Oxylos, der Zeitgenosse der dorischen Wanderung, das eleische Gebiet bis an seine spätere Grenze, die Neda, vorgeschoben.

3) Oben S. 11.

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die Vorstandschaft des olympischen Heiligtums den Eleiern damals nicht genommen, obwohl sie ihnen ursprünglich nicht zukäme, weil diejenigen, welche Anspruch darauf machten, nur kleine und nicht leistungsfähige Landgemeinden gewesen seien. ') Wahrscheinlich sind damit die Pisaten gemeint, die 364 v. Chr. die Olympien feierten. Aber es ist sehr zu beachten, daß Xenophon über die Vorstand- schaft des olympischen Tempels nicht etwa zwischen den Lakedä- moniern und Eleiern verhandelt sein läßt, sondern es wird bei ihm wie bei Diodor von den Lakedämoniern nur die Befreiung der Periöken gefordert.^) Xenophon hat vielmehr diese Bemerkung oder besser Be- trachtung von sich aus hinzugefügt mit Hinblick auf die Ereignisse von 364 V. Chr., um die Haltung der Spartaner in Sachen des olympischen Heiligtums gegenüber den Arkadern in ein vorteilhaftes Licht zu rücken, und ich halte es nach dem oben (S. 31 f.) Ausgeführten für sehr un- wahrscheinlich, daß damals schon die Rechte der Eleier angefochten worden seien; dies geschah vielmehr, wie gesagt, erst im Zusammen- hange mit dem arkadisch-eleischen Kriege. Der damalige Gewalt- streich, zugleich ein Ausbruch der alten Feindschaft zwischen Eleiern und Arkadern, ward auf der einen Seite, wie wir aus Xenophon er- sehen, als eine frevelhafte Verletzung geheiligter Rechte, als eine Gottlosigkeit angesehen-^), auf der anderen Seite bemühten sich die Arkader und Pisaten, ihre Ansprüche als begründet zu beweisen. Letztere behaupteten, nicht die Eleier, sondern sie seien die ursprüng- lichen Eigentümer des Heiligtums gewesen ^), und die Arkader sagten, Pisa gehöre ursprünglich ihnen zu. Diese Ansprüche sind allem Anscheine nach mit dem bald erfolgenden Frieden mit Elis und der Rückgabe Olympias durchaus nicht erloschen. Die Arkader zerfielen ja in zwei Parteien, die eine, die thebanische, vor allem Megalopolis, war gegen den Frieden mit Elis und hielt wahrscheinlich die arka- dischen Forderungen aufrecht. Noch Polybios spricht von dem Streit um Lasion und die Pisatis in einer Weise, daß man sieht.

1) Xenoph. Hell. III 2, 31: rov uavrot Trooearavai rov -/lös rov 0).v/u:Tiov iepov xalneQ ovx a^'/^alov ^H).eloiS övros ovx, dTiTJlaaav avrovs votii^orres Tovä dvrtTtoiov- uivovs yoi^iras tlvai xai ovx Ixaroii nooforövai.

Diodor XIV 17, 5. 34, 1. Hier wird Olympia überhaupt nicht erwähnt.

3) Daher bei Xenophon VII 4, 32 die Eleier, die ihr Recht erkämpfen wollen, geradezu als Streiter Gottes erscheinen.

4) Xenophon Hell. VII 4, 28, vgl. III 2, 31. Diodor XV 78, 2.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 45

wie er längere Zeit lebendig gewesen sein muß'), und wenn wir auch nicht wissen, ob er nochmals wieder zum Austrag kam, so hat er doch wahrscheinlich in der Litteratur sein Leben weiter gefristet.

Womit die Arkader ihre Ansprüche auf die Pisatis begründeten, wissen wir nicht; es ist ja aus den arkadischen Geschichten fast nichts erhalten. Wahrscheinlich gingen sie in die mythische Zeit zurück 2j, wie von den Pisaten ausdrücklich bezeugt wird, daß sie ihre Ansprüche auf die olympischen Spiele aus den Mythen und Geschichten der alten Zeit ableiteten. 3) Wir dürfen dabei annehmen, daß der Streit um Olympia nach der Sitte der damaligen Zeit von Rednern und Schriftstellern der pisatischen wie der eleischen Seite mit Eifer geführt worden ist, ähnlich wie der Streit um Messene in dem noch erhaltenen Archidamos des Isokrates und dem Messeniakos des Alkidamas, denen eine Reihe anderer Schriften gefolgt sind, in die Litteratur gekommen ist.

Späterhin, als die Leidenschaften sich gemildert und die Pisaten ihre Ansprüche vergessen hatten, haben die Antiquare und Historiker, die auch in Elis nicht fehlten^), die Fäden weiter gesponnen und das Angefangene in verschiedener Richtung ausgebaut. Auch hier bietet die messenische Geschichte einen passenden Vergleich ; auch sie hat auf dem Wege von Isokrates bis Pausanias immer neue Wandelungen durchgemacht. Die starken Abweichungen unserer Historiker weisen darauf hin, daß verschiedene Hände nacheinander daran gearbeitet haben, zur Begründung oder Abweisung entgegengesetzter Behaup- tungen oder auch in vermittelndem Sinne; denn wie die Reste zeigen, hat es auch daran nicht gefehlt.'^)

1) Polyb. IV 74, 1 Siot ttjv 'AQxd§a>v niicpioßrjTrjaiv nt^l yiaaitSvos xal rfjs Iliaä- riS'os näarjs USW.

2) Vielleicht gehört hierher die Notiz der Schollen zu Pindar Ol. VI 55 (34), wonach Pisa einst arkadisch war. Quelle ist Didymos, der seinerseits aus dem 5. Buch der Eliaka des Istros schöpfte. Vgl. Wilamowitz, philol. Untersuchungen IX 175.

3) Diodor XIV 78, 2: Uionrai fiki' araveowäpfvoi naXaiöu ä^hofta rfjs narQi- bog y.al Tioi uv&ixalä y.ai ualaiaZs dnofiel^eai yochftevot, rfjv d'iaiv rrjs 'Olv.uniafjs nav- rjyvQeois avrols TtQoorjxeiv dneffaivovto.

4) Außer Hippias kennen wir mehrere, wie die Eleier Aristodemos und Teupalos (FHG III 308. IV 509), welch letzterer Name an den Eleier Teutiaplos bei Thukyd. III 29, 2 erinnert, den Kaliimacheer Istros (FHG 1 424); ferner Komarchos und Echephy- lidas (FHG IV 403), dazu kommen die Schriftsteller über Olympia, unter denen auch Polemon sich befindet.

5) Phlegon fr. 1.

46 B. Niese

Was uns dabei von Olympien der Pisaten nach der Olympiade des Koroibos, also in der bezifferten Reihe, berichtet wird, ist offen- bar an und für sich und allein nicht geeignet, ihre Ansprüche zu begründen; denn auch im günstigsten Falle blieb doch immer die Tatsache bestehen, daß die ersten gezählten Olympiaden den Eleiern gehörten. Iphitos und Lykurgos waren ein starker Beweis für die eleischen Rechte. Jene Olympiaden .konnten daher nur aus- hilfsweise, zur Bestätigung schon erwiesener Rechte verwandt werden, und so ist es wahrscheinlich, daß die Pisaten, als sie 365 v. Chr. mit den Arkadern ihre Ansprüche begründeten, hauptsächlich auf die Mythen zurückgriffen, wie dies Diodor ausdrücklich bezeugt (oben S. 45 Anm. 3), auf die Salmoneus, Oinomaos, Pelops und vielleicht noch höher hinauf, i) Vor allem war es aber nötig, Pisaten und Pisatis als besonderes Gemeinwesen neben Elis in die älteste, vordorische Zeit zu setzen, und dies ist, wie schon bemerkt, ziemlich allgemein durchgedrungen.') Erleichtert ward es durch die bevorzugte Stelle, die Pisa und Olympia im eleischen Staat einnahmen, und aufs kräftigste ward diese Vorstellung von den alexandrinischen Gramma- tikern unterstützt, die aus ihrem Homer herauslasen, daß die Pisatis zusammen mit Triphylien das Reich des Nestor gebildet habe und des- halb von dem eigentlichen, hohlen Elis bestimmt zu scheiden sei. Dies darf man als die Grundlage der pisatischen Ansprüche ansehen.

Das Material zur weiteren Geschichte der Pisaten nahm man aus dem, was sonst Dichtung und Geschichte von Elis -zu erzählen wußte; denn die Geschichte der Pisaten ist ein Ableger der eleischen, wie die messenische der lakedämonischen. Selbst der Vertrag des Iphitos mit Lykurgos, dieses Bollwerk der eleischen Rechte, eignete man den Pisaten zu und schob neben jene beiden als dritten Paciscenten den Pisaten Kleosthenes ein, den Sohn des Kleonikos.^) Bekannt ist ferner die zuerst von Ephoros in Umlauf gesetzte Erzählung, wonach Elis bald nach der dorischen Wanderung durch Übereinkunft

1) Bei Phlegon fr. 1, FHG III 603 (vgl. Schol. Piaton. Republ V p. 465D) er- scheint Peisos oder Pisos als erster Stifter der Olympien. Pausanias kennt ihn nicht als solchen, aber es lag so nahe, diesen schon vorhandenen (S. 31) Eponymen zu verwenden, daß diese Version sehr gut älter sein kann.

2) Pausan. V 1, Hff. 3, 1. Strabo VlII 355.

3) Phlegon fr. 1 oben Anm. 1. Dieses ist eine sehr junge Nachricht, die E. Meyer, Forschungen zur alten Geschichte I S. 241 f. nicht hatte dem 4. Jahrhundert zuweisen sollen.

Drei Kapitel eleischer Geschichte. 47

aller Peloponnesier für heilig und neutral erklärt und jeder Angriff auf das Land mit dem Fluche bedroht ward. ') Dies ward auf Pisa an- gewandt. Die Pisaten, so erzählte man, seien für heilig erklärt worden und hätten deshalb nicht am trojanischen Kriege teilgenommen, wo sie bekanntlich nicht erwähnt werden. 2) Aus der eleischen Ge- schichte kannte man ferner den Pheidon, den bösen Tyrannen 3); auch ihn reihte man der Geschichte Pisas ein, stellte ihn in den Dienst der Pisaten und machte ihn zu ihrem Bundesgenossen ■*), und eben- daher stammt ohne Zweifel auch der schon erwähnte Pantaleon, Omphalions Sohn, der nach Pausanias den Bleiern in der 34. Olym- piade die Vorstandschaft der Spiele gewaltsam entreißt und nach Strabon als Feldherr der Pisaten den Messeniern gegen die Lake- dämonier zur Hilfe kommt. ^) Dieser Pantaleon ist nach älterer Überlieferung ein Eleier; wir lernen ihn aus den Exzerpten aus Herakleides rtsgl tcoIltslwv, d. h. aus Aristoteles, als einen gewalt- samen, rohen Tyrannen von Elis kennen c); und so erscheint er auch in der pisatischen Umbildung des Pausanias als Tyrann, der nach PheidonsVorbilde die Eleier aus Olympia verdrängt und sich auch sonst wie ein richtiger Tyrann aufführt. ') Nur seine Nachfolger Damophon undPyrrhos ^) lassen sich in der eleischen Geschichte nicht nachweisen; ich halte mich aber auf Grund des Gesagten für berechtigt zu der Ver- mutung, daß auch diese beiden sich als ursprüngliche Eleier entpuppen würden, wenn wir mehr von der eleischen Überlieferung wüßten, wenn uns z. B. die Politie der Eleier von Aristoteles erhalten wäre.

1) Strabo VIII 358. Vgl. Diodor VIII 1. Polyb. IV 73, 9f. Phlegon fr. 1.

2) Strabo VIII 355 (S. 135, 14 Kramer): cpaai 6'i tovS Jliadras nii usraa^üv rov

Tgwixov Tioliitov Uqovs vouta&Evras rov Jt6?. Die Ansicht der alexandrinischen Grammatiker war dies nicht; denn bei ihnen gehören die Pisaten zum Reiche Nestors, nehmen also am Kriege teil. Strabo V 222.

3) Oben S. 32.

4) Oben S. 41.

5) Pausan. VI 22, 2 f. Strabo VIII 362. Bei Strabon werden gleich darnach einige Verse des Tyrtaios zitiert, und bei flüchtigem Lesen kann man denken, der Name Pantaleon sei bei dem Dichter genannt worden. Dies würde jedoch ein Irrtum sein; Tyrtaios soll nur bezeugen, daß es zwei messenische Kriege gegeben und er selbst am zweiten teilgenommen habe.

6) Heraklid. c. 6: (FHG II 213) 'HltUov' JJavxaUov ißaaü.ivasv iv rovrois vßQiorrjS y.ai yal.enös. o-^tos noeaßeis nods avrdv eld'öi'Tus iHZfucbv rjvdvxaae y.aza- (payiXv TOVS no-^fis.

7) Pausan. VI 21, 1 oben S. 41.

8) Oben S. 42.

Naevius und die Meteller

von

Georg Wissowa.

Graeca Halensis.

So dürftig auch unsere Kenntnis von den Lebensschicksalen des ersten Dichters italischer Nationalität Cn. Naevius ist, die Tatsache, daß er durch kecke Angriffe auf mächtige Persönlichkeiten mit der römischen Polizei in Konflikt geriet und seine rca^QrjöLa im Gefäng- nisse büßen mußte, steht durch Fragmente seiner Komödien und die von den Alten richtig gedeutete Anspielung im Miles gloriosus des Plautus (v. 211 f.) fest'); daß seine Fehde aber speziell der Familie der Meteller gegolten habe und es dieses mächtige Haus gewesen sei, dessen Rache der Dichter zum Opfer gefallen sei, wird nur durch die Geschichte von den beiderseitigen Streitversen bezeugt, die uns allein die gewöhnlich mit dem Namen Pseudo-Asconius bezeichneten Sanctgallener Schollen zu Ciceros Verrinen I 29 S. 140, 10 Or. über- liefern: dictum facete et contiimeliose in Metellos antiqimm Naevii est: fato Metelli Romae fiunt consules. cui tiinc Metelliis consul iratus oersii responderat senario hypercatalecto , qui et Satiirnius dicitur: dabant malum Metelli Naevio poetae; dazu kommt die Notiz der Chronik des Hieronymus z. J. Abr. 1816 (II 125 d Schoene): Naevius comicus Uticae moritur pulsus Roma factione nobilium ac praecipue Metelli und für den Drohvers der Meteller die weiter unten näher zu würdigenden Zeugnisse der römischen Metriker. Über die Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte und der Echtheit ihrer dichterischen Belege, die vor nahezu 80 Jahren laut geworden sind, scheint man gegenwärtig zur Tagesordnung übergegangen zu sein; denn die Literaturgeschichten verwenden die Erzählung ohne Andeutung eines Bedenkens für die Darstellung der Lebensgeschichte des Dichters ■■^), und selbst ein so gründlicher und gewissenhafter Forscher wie F. Münzer hat in seiner das ganze Quellenmaterial zusammenfassenden Darstellung der Familiengeschichte der Caecilii

1) Leo, Plautin. Forschungen S. 67.

2) Teuffel-Schwabe, Rom. Lit.-Gesch. § 95, 3. M. Schanz, Gesch. d. röm. Liter. F S. 61f. O. Ribbeck, Gesch. d. röm. Dichtung I 23.

4*

52 G. WissowA

Metelli während der republikanischen Zeit ') solche Zweifel der Erwäh- nung nicht für wert gehalten. Und doch sind die Gründe des Zweifels so gewichtige, daß man sich ihrer Bedeutung unmöglich verschließen kann. Es war Karl Gottlob Zumpt, der bei Gelegenheit der Erklärung derselben Verrinenstelle^), an die auch der Scholiast die erwähnte Notiz anknüpft, die Bemerkung hinwarf, der Hohnvers fato Metelli Romae fiiuit consiiles könne unmöglich von dem Dichter des Bellum Poenicum herrühren, da die Familie der Meteller erst im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts v. Chr., also über zwei Generationen nach dem Tode des Naevius, im ölfentlichen Leben und in der höchsten Magistratur des Staates eine solche Rolle zu spielen be- gonnen habe, wie sie dem in jenem Verse enthaltenen Angriffe zur Voraussetzung diene. Dieses Bedenken besteht noch heute in un- geminderter Kraft; denn weder die unmittelbar an Zumpts Behaup- tung sich anschließende Polemik von Franz Ritter 3) noch die späteren Ausführungen von C. Wende ^) können Anspruch darauf erheben, eine befriedigende Lösung der von Zumpt hervorgehobenen Schwierig- keiten gegeben zu haben. Beide beziehen den Spottvers auf das Consulat des Q. Caecilius Metellus (Nr. 81) im J. 548 = 206, und diese Meinung scheint allgemeine Billigung gefunden zu haben >^), obwohl sich nicht nur nichts Positives zu ihren Gunsten anführen läßt, sondern sie auch bei genauerer Prüfung als mit den Tatsachen unvereinbar sich herausstellt. Der äheste Zeuge, zwar nicht für den Verfasser, aber für die Existenz und Popularität des Verses über die Consulate der Meteller ist Cicero, der mit offenbarer Anspielung auf ihn in der (ersten) Anklagerede gegen Verres dem designierten Consul für 685 = 69 Q. Caecilius Metellus Creticus (Nr. 87) entgegen-

1) Pauly-Wissowa, Real-Encyklopädie III Sp. 1202 ff.; der Einfachheit wegen setze ich im Texte den Namen der einzelnen Meteller die Nummern der Münzer- schen Bezifferung bei.

2) In der großen Ausgabe von Ciceros Verrinen (Berolini 1831) S. 72; zustimmend H. Düntzer und L. Lersch, De versu quem vocant Saturnio (Bonnae 1838) S. 24. Bern- hardy, Rom. Lit.-Gesch.^ S. 417 Anm. 297.

3) Zeitschr. f. d. Altertumswissensch. Vlll 1841 S. 329ff.; im gleichen Sinne E. Klußmann, Cn. Naevii vita et carmin. reliqu. (Jena 1843) S. 16 ff. J.A.Pfau, De numero Saturnio specimen primum (Quedlinburg 1846) S. 11.

4) De Caeciliis Metellis I (Dissert. Bonn 1875) S. 31-34.

5) z. B. K. Neumann, Gesch. Roms während des Verfalls der Republik 1 51. Münzer a. a. O. Sp. 1207. Teuffei, Schanz, Ribbeck aa. 00.; Drumann, Gesch. Roms ir- S. 15 nennt „die ersten Consuln aus dieser Familie",

Naevius und die Meteller. 53

hält 29) : nam hoc Verrem dicere aiebant, te non fato, ut ceteros ex vestra familia, sed opera siia consiilem factum. Der Gegensatz von opera siia läßt über die Bedeutung des Instrumentalis fato keine Unklarheit aufkommen; der Sinn ist: es ist eine unentrinnbare Schicksalsfügung, daß die Meteller in Rom Consuln werden müssen, ganz ähnlich wie es bei Livius XXXI 48, 12 heißt data fato etiam quodam Furiae gentl Qalllca bella oder bei Plinius epist. VIII 18, 15 fiiit alioqui fratribus Ulis quasi fato datum ut divites fierent in. vitissimis (iis), a quibus facti sunt; keineswegs ist fato, wie Wende (a. a. O. S. 32) es auffassen möchte , gleichbedeutend mit fortuito, vielmehr liegt in dem Hinweise darauf, daß für die vom fatum der- artig Begünstigten eigene Tüchtigkeit und eigene Verdienste, durch welche andere sich einen Anspruch auf das Consulat erwerben, ent- behrlich und ausgeschlossen seien, die schwere Beleidigung. Nun läßt aber, was uns von der Person des Consuls von 548 = 206 und den näheren Umständen seiner Wahl überliefert ist, den herben Spott des Pasquills in keiner Weise gerechtfertigt erscheinen; denn daß er zum Consulate gelangt ist, ohne die Prätur bekleidet zu haben, hat für die damalige Zeit ebensowenig etwas Auffälliges und An- stößiges wie der Umstand, daß er bei seiner eigenen Wahl als Ma- gister equitum des die Comitien abhaltenden Dictators fungierte i). Er war seit zehn Jahren Pontifex, hatte in zwei aufeinanderfolgenden Jahren beide Ädilitäten bekleidet-^) und sich nachher ebenso wie sein Kollege im Consulate L. Veturius in den Kämpfen am Metaurus hervorgetan, so daß sowohl die römische Ritterschaft wie die ruhm- reichen Sieger von Sena, C. Claudius Nero und M. Livius Salinator, für die Wahl beider Männer lebhaft eintraten, die dann auch glatt und, soviel uns bekannt, ohne Kampf vor sich ging. Danach ent- behrt alles, was man zur Erklärung eines so heftigen Ausfalles, wie es der Spottvers ist, beigebracht hat 3), der tatsächlichen Unterlage.

1) Vgl. Mommsen, Staatsrecht I- S. 512. 520.

2) Münzer a. a. O. Sp. 1206 macht versehentlich aus der plebeischen Ädilität des Jahres 545 = 209 (Liv. XXVII 21, 9) das Volkstribunat.

3) Wende a. a. O. S. 32 : nam Q. Metellus anno demum 545j209 aedilitatem gesserat atqiie eum solis equitum consulumque commendationibus consulem creatum esse in annum 548/306 quis non intelligat? Quid? De re publica merita num potuit afferre? Certe nulla, nisi forte animum ac fortitudinem in proelio ad Metaurum commisso atque patris res gestas laudesque; tamen factus est consul, non tam opera sua, ut Cicero ait, sed fato.

54 G. WissowA

Nun soll gewiß die Möglichkeit nicht in Abrede gestellt werden, daß bei der Waiil oder während der Amtsführung ') des Q. Metellus Dinge vorgefallen sein können , die in unserer Überlieferung keine Spur zurückgelassen haben und geeignet gewesen sein könnten, jene Verhöhnung hervorzurufen. Aber auch bei einer solchen, doch nur auf einer recht vagen Möglichkeit beruhenden Annahme bleibt die zweite größere Schwierigkeit ungelöst. Will man nicht annehmen, daß der Verfasser des Hohnverses einen Einzelfall in einer Weise verallgemeinert habe, die seinen Angriff um alle Wirkung bringen mußte, so muß es, wie der Plural Metelli'^) zeigt, zur Zeit der Ent- stehung dieses Verses schon mehrfach vorgekommen sein, daß An- gehörige des Metellerhauses wenigstens nach der Ansicht ihrer Gegner durch Glück ohne Verdienst zum Consulat gelangt waren, und so hat es auch Cicero aufgefaßt, wenn er ceteros ex vestra fa- milia dem Metellus Creticus gegenüberstellt, also das fato consules fieri als eine Familieneigenschaft der Meteller bezeichnet. Das paßt aber in keiner Weise auf das Jahr 548 = 206, in welchem überhaupt erst der dritte Meteller zum Consulate gelangte und die Consulate der beiden Vorgänger um eine und zwei Generationen zurücklagen-^). Darüber aber, daß Naevius den einzigen Consul dieser Familie, der außer Q. Metellus noch in seine Lebenszeit fällt, nämlich dessen Vater, den ehrwürdigen Pontifex maximus und Sieger von Panormus L. Caecilius Metellus (Nr. 72), Consul 503 = 251 und 507 = 247, in seinen Spott nicht mit einschließen konnte, gibt es keine Meinungs- verschiedenheit: hatte er doch selbst die Ruhmestaten dieses Mannes zu verherrlichen Gelegenheit gehabt. Der Versuch Wendes, den Plural daraus zu erklären, daß im Consulatsjahre des Q. Metellus ein andres Mitglied derselben Familie, M. Caecilius Metellus (Nr. 76), Prätor war, während ein dritter, L. Caecilius Metellus (Nr. 73), acht Jahre vorher die Quästur bekleidet hatte, so daß man von beiden (wahrscheinlich Brüdern des Consuls) eine voraussichtlich erfolgreiche Bewerbung um das Consulat für die nächste Zeit habe erwarten

1) Keinesfalls bildet die Tatsache, daß die vom Senate angeordnete Rückführung der Bauern aus der Stadt auf ihre verlassenen Güter den Consuln manche Schwierig- keiten machte und nicht ohne Widerstand vor sich ging (Liv. XXVIII 11, 8 f.), einen Beweis für die Unfähigkeit oder Unwürdigkeit des Consuls Metellus.

2) Ihn als sog. generellen Plural 'Leute wie Metellus' zu fassen, wird wohl nicht leicht jemandem in den Sinn kommen.

3) Siehe die Stammtafel bei Münzer a. a. O. Sp. 1229 f.

Naevius und die Meteller. 55

können, beruht auf ganz willkürlichen und künstlichen Voraus- setzungen; der letztgenannte L. Metellus konnte zudem nach seinem früheren skandalösen Benehmen (s. darüber Liv. XXII 53. XXIV 18. 43) in so ernster Zeit als Bewerber um das Consulat gewiß nicht in Frage kommen, und tatsächlich ist keiner von beiden ConsuP ge- worden.

Wir kommen somit auf keinen Fall um die Tatsache herum, daß es zur Lebenszeit des Cn. Naevius keine Mehrzahl von Metellern ge- geben hat, denen der Spott der Gegner nachsagen konnte, sie seien nicht durch Verdienst, sondern xaxä jtsTtQtofxsvov Consuln in Rom geworden. Ganz anders liegen die Verhältnisse zwei bis drei Gene- rationen später, in der Zeit der gracchischen Wirren und des jugur- thinischen Krieges, wo die sechs Urenkel ') des Consuls von 548 = 206, nämlich die vier Söhne des Q. Caecilius Metellus Macedonicus (Nr. 94) und die beiden Söhne des L. Caecilius Metellus Calvus (Nr. 83) in rund 20 Jahren (von 631 = 123 bis 652 = 102) sechs Consulate und vier Censuren bekleideten und fünf Triumphe feierten, so daß Velleius (II 11, 3) daran die Bemerkung knüpft: iit paulo ante Domitiae familiae, ita Caeciliae notanda claritudo est. qaippe intra duodecim ferme annos hiilus temporis consules fuere Metelli aut censores aut triumpharant amplias duodecies, ut appareat, quem- admodum arbium impenommque, ita gentium nunc florere fortunam, nunc senescere, nunc interire. Daß ein solches außergewöhnliches Hervortreten einer einzelnen Familie bei persönlichen und politischen Gegnern Äußerungen mißgünstiger Kritik hervorrufen mußte, liegt so nahe, daß wir es auch ohne ausdrückliche Bezeugung anzunehmen geneigt sein würden. Bekannt ist der ausgesprochene Gegensatz, in welchem der jüngere Africanus zu dem Macedonicus und seiner Familie stand, und wenn auch Cicero (de off. I 87) nur von einer sine acer- bitate dissensio spricht, so zeigt doch die von ihm selbst mitgeteilte sehr boshafte Bemerkung Scipios über den jüngsten (vierten) Sohn des Macedonicus, C. Metellus Caprarius (Nr. 84), daß die Äußerungen dieser ,Meinungsverschiedenheit' zuweilen recht giftiger Art sein

1) Ich halte es mit Wende a. a. O. S. 37 f. für unmöglich, daß die beiden Brüder Q. Metellus Macedonicus und L. Metellus Calvus Söhne des Consuls von 548 = 206 gewesen sein könnten; der allzu große Zeitabstand (zwischen den Consulaten des Vaters und des älteren Sohnes würde ein Zeitraum von 63 Jahren liegen) nötigt dazu, sie trotz Plin. n. h. VII 142 um eine Generation abzurücken.

56 G. WissowA

konnten: die Söhne dieses Hauses, so meinte Scipio, stellten in ihren geistigen Fähigkeiten derart eine absteigende Entwicklungsreihe dar, daß man annehmen müsse, falls ihre Mutter noch einmal geboren hätte, würde sie einen Esel zur Welt gebracht haben '). Nach einer neuerdings ausgesprochenen, sehr einleuchtenden Vermutung 2) ver- dankt Cicero die Kenntnis dieses Witzwortes dem Lucilius, in dessen Satiren ja dieser Gegensatz der führenden Männer und Familien seinen literarischen Ausdruck gefunden hatte, und der, wie Horaz (sat. II 1, 67) zeigt, bei der Nachwelt als der Mann der Polemik gegen die Meteller fortlebte. Den Caprarius hatte er, wie die Fragmente er- kennen lassen, in einer Satire des 5. Buches zur Zielscheibe seines Spottes genommen und aus dem designierten praetor urbaniis einen praetor riisticus gemacht 3), während die Ehesatire des 26. Buches eine Verhöhnung der Bemühungen um Förderung der Eheschließungen darstellte, welche die Censur des Macedonicus erfüUten^).

Wer sich die Rolle, die das Haus der Meteller gegen Ausgang des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts im Staate spielte, und die Anfeindungen, die es aus diesem Grunde erfuhr, vergegenwärtigt, kann sich der Schlußfolgerung nicht entziehen, daß der Vers fato Metelli Romae fiiint consiiles nur in dieser Zeit der claritiido Caeci- liae familiae entstanden sein kann. In erster Linie würde man geneigt sein, Lucilius selbst für den Verfasser zu halten, der sich des Verses weder dem Inhalte noch der Form nach zu schämen hätte. Aber ein wichtiges Moment spricht dagegen. Man hat den Vers früher für einen Saturnier gehalten und, da er sich in der überlieferten Form selbst bei dem weiten Spielräume, den die , Gesetze' dieses Versmaßes ließen, nicht wohl als solcher darstellen ließ, durch Umstellung der Worte nachgeholfen^), ein Verfahren, das um so weniger Berechtigung hatte, als der Ciceroscholiast durch die Art und Weise, wie er den Gegen- vers der Meteller einführt {ciii tunc Metellus consiil iratus versa

1) Si quintiim pareret mater eins, asiniim fiiisse parituram, Cic. de orat. II 267.

2) C. Cichorius, Untersuchungen zu Lucilius S. 279.

3) F. Marx, Lucil. 1 S. XLVII. Cichorius a. a. O. S. 278f.. vgl. 87 f.

4) Sehr schön dargelegt von Marx a. a. O. S. XXXI ff. ; vgl. Cichorius a. a. O. S. 133 ff. F. Münzer in llbergs Neuen Jahrbüchern XXIII 1909 S. 192 ff.

5) Lucian Müller (Der saturnische Vers und seine Denkmäler S. 145, vgl. 167) und Baehrens (Fragm. poet. Rom. S. 52) schreiben fato Metelli Romae consiiles fiiint, Zander (Versus Italic! antiqui S. 111) fato fitmt Metelli consiiles Romae.

Naevius und die Meteller. 57

responderat senario hypercatalecto, qiii et Satiirniiis dicitur), deut- lich erkennen läßt, daß für ihn bzw. seinen Gewährsmann wohl dieser, nicht aber der vorausgehende Vers des Naevius ein Saturnier war; außerdem war doch zu bedenken, daß Naevius, wenn er der Verfasser war, einen solchen Ausfall nur in einer Komödie, also im Versmaße der Bühnendichtung, machen konnte. Tatsächlich ist der Vers ein tadelloser Senar älterer Bauart, den Lucilius verfaßt haben könnte. Aber Gedichte in Senaren finden sich bei diesem nur im 28. und 29. Buche, und die Abfassung dieser Bücher fällt nach den ausge- zeichneten Darlegungen von Cichorius ') vor das Jahr 631 = 123, in welchem die erste, die Bücher 26 30 späterer Zählung umfassende Sammlung der Satiren veröffentlicht wurde; man wird sogar, da die Abfolge der Bücher dieser Sammlung eine chronologische ist, für Buch 28 und 29 noch um ein paar Jahre hinaufgehen müssen. Da aber der älteste von den Söhnen des Macedonicus, Q. Metellus Baliaricus (Nr. 82), erst 631 = 123, der ältere Sohn des Calvus, L. Metellus Delmaticus (Nr. 91), erst 635 = 119 Consul wurde, so waren damals die Voraussetzungen noch nicht gegeben, unter denen wir uns den Spottvers entstanden zu denken haben. Diese lagen erst vor, als die ganze Reihe der Brüder und Vettern mit unwider- stehlicher Folgerichtigkeit die höchste Staffel der römischen Ehren- leiter erstieg, und eines der letzten Consulate dieser Generation, etwa die Wahl des Caprarius für 641 = 113 oder des Q. Metellus Numidicus (Nr. 97) für 645 = 109 wird diese Äußerung des neidischen Hasses gegen die über Gebühr bevorzugte Familie ausgelöst haben: die leidenschaftliche Wut, mit der die römische Volkspartei den Nu- midicus verfolgte, gibt uns einen Fingerzeig dafür, aus welcher Richtung der Pfeil kam.

Trifft diese Vermutung das Richtige, dann müssen wir freilich die Hoffnung aufgeben, den Dichter des Spottverses bei Namen nennen zu können; denn von der Dichtung der auf Lucilius folgen- den Generation wissen wir blutwenig und nichts, was für unsere Frage förderlich wäre. Es ist aber auch sehr zweifelhaft, ob wir überhaupt für einen solchen Spottvers nach einem bestimmten Dichternamen suchen sollen und ihn nicht vielmehr jener autorlosen Poesie zuzurechnen haben, deren aus der Stimmung des politischen

1) a. a. O. S. 68 ff.

58 G. WissowA

Tageskampfes geborene Erzeugnisse rasch Verbreitung und Beliebt- heit gewinnen, dann aber freilich auch ebensoschnell wieder ver- gessen werden und es nur einem glücklichen Zufall verdanken, wenn das eine oder andere von ihnen auf die Nachwelt kommt. Dies letztere ist z. B. der Fall gewesen bei den von Gellius (XV 4, 3) mitgeteilten Versen, die man im J. 711 =43, als der aus niederem Stande emporgestiegene P. Ventidius Bassus Consul geworden war, an allen Straßenecken angeschlagen lesen konnte: conciirrite omnes aiigures hamspices, portentum inusitatum conflatum est recens: nam miilos qiii f ricabat, consul f actus est. Mit diesen Versen möchte ich fato Metelli Romae fiunt consules auf eine Stufe stellen. Vergleichen lassen sich auch Spottverse wie lacerat lacertum Largl mordax Memmius und Aemilius fecit, plec- titur JRutilius i), die zwar von bestimmten Persönlichkeiten herrühren, aber offenbar im Tone volkstümlicher Spottverse, wie sie im Wahl- kampfe üblich waren, gehalten sind. Daß das Versmaß überall das gleiche ist, ist kein Zufall: so bescheiden auch die Ansätze zu poli- tischer Satire in der römischen Komödie geblieben sind, so haben sie doch ausgereicht, um dem politischen Pasquill zu einer seiner Ausdrucksformen zu verhelfen.

Außerhalb der Erwägung gelassen habe ich die gelegentlich hingeworfene Ansicht 2j, der ganze Vers könne eine spätere Erfin- dung und nur aus den Worten Ciceros herausgesponnen sein. Um diesen haltlosen Einfall zu widerlegen, genügt es darauf hinzuweisen, daß einmal Ciceros Worte garkeine Hindeutung auf einen Vers enthalten, also auch keinerlei Anlaß boten, einen solchen zu erfinden, und sodann, daß die Gegenüberstellung von fato und opera sua bei Cicero eine Albernheit wäre , wenn das fato consules fieri der Meteller nicht etwas Gegebenes, sondern erst zum Zwecke der Gegen- überstellung erfunden wäre. Cicero und seine Zuhörer im J. 684 = 70 kannten also den Vers, ob auch den Verfasser, läßt sich aus

1) Cic. de orat. II 240. 280; der erste rührt von dem Redner L Licinius Crassus her, der ihn einem Bürger von Tarracina als Ausdeutung der Abkürzungen eines an den Häusern angeschlagenen Wahlprogramms in den Mund legt, der zweite hat einen römischen Ritter C. Canius zum Verfasser.

2) L. Lersch a. a. O. S. 24 erklärt sowohl den Vers des Naevius wie die Drohung der Meteller für lusus otiosi alicuiiis liuii magistri. unter Zustimmung von Düntzer ebd. S. 72 f.

Naevius und die Meteller. 59

den Worten nicht entnehmen, jedenfalls liefern diese kein Zeugnis für die Urheberschaft des Naevius; ein solches gibt erst der Verrinen- kommentar, dessen Quelle nicht zu ermitteln ist. Aber eine indirekte Bezeugung für den Vers und seinen naevianischen Ursprung haben wir in dem Gegenverse der angegriffenen Meteller malum dabiint Metelli Naevio poetae, der jenen zur Voraussetzung hat und den Namen des Dichters nennt. Dieser Vers erscheint als Schulbeispiel des Idealsaturniers zuerst bei Caesius ßassus G. L. VI 266,7, ein- geführt durch die Worte: quem Metelli proposiiemnt de Naevio aliquotiens ab eo versa lacessiti, und danach später noch häufig in der metrischen Überlieferung. Für die Quellenanalyse des Caesia- nischen Abschnittes de Satiirnio versa hat F. Leo in vorzüglicher Weise die Richtungslinien vorgezeichnet i), und nur in einem Punkte scheinen mir seine Ergebnisse einer Korrektur zu bedürfen. Das Kapitel beginnt mit einer Polemik gegen diejenigen Gelehrten, welche Satarniam versam existimaverant proprium esse Italicae regionis: da dies die Ansicht des Varro war (de lingua lat. VII 36j, so unter- liegt es keinem Zweifel, daß er hier gemeint ist. Dann kann er aber nicht die Quelle sein für die im folgenden Passus 265,9 266,3 gegebene Gleichsetzung des Saturniers mit drei griechischen Versen, nämlich den von den griechischen Metrikern als EvQiTtidsiov, 'AqxlIö- xsiov und EirtoliösLov bezeichneten Formen, wenn auch die als Be- lege angeführten Saturnier der Triumphaltafeln und des Naevius ge- wiß aus Varros Schriften entnommen sind. Die lateinischen Muster- beispiele der verglichenen griechischen Versmaße sind erfunden, und zwar sicher erst nach Varro, da das eine turdis edacibus dolos com- paras amice (265, 16) nach Horaz (epod. 2, 34), das zweite (265, 18) quem non rationis egentem vicit Archimedes nach Vergil (Aen. VIII 299) gebildet ist; daß Caesius Bassus selbst diese Verse gemacht habe, ist ausgeschlossen, weil die ganze hier vorgetragene Ansicht nicht die seinige ist, und man doch gewiß nicht annehmen wird, daß er sich die Mühe genommen habe, für eine von ihm verworfene Theorie selbst neue Musterbeispiele zu erfinden. Denn abgelehnt wird diese ganze Erklärungsweise des Saturniers vom Verfasser deut- lich im dritten Abschnitte seiner Darstellung, welche mit der Er- klärung beginnt (266, 4), daß alle die angeführten Saturnierbeispiele

1) Hermes XXIV S. 281 f. Anm. 2; Der saturnische Vers [Abhandl. d. Kgl. Ge- sellsch. d. Wiss. zu Göttingen N. F. VIII 5] S. 7 ff.

60 G. WissowA

asperrimi et ad demonstrandum nünime aecomodati seien, und ihnen als optimus den Vers maluni dabiint Metelli Naevio poetae gegen- überstellt, der als Zusammensetzung aus der zweiten Hälfte des iambischen Septenars (hipponacteus quadratus iambiciis) und dem Ithyphallicus {phallicon metriim) erklärt wird. Sollte das hier (266, 10) benutzte Musterbeispiel des iambischen Septenars quid immcrentibus noces , quid invides amicis wirklich das varronische sein, so würde das natürlich gar nichts für die Herkunft dieses ganzen Abschnittes aus Varro beweisen, da solche Musterbeispiele oft in Erörterungen von ganz abweichender Richtung übernommen werden; aber mir scheint trotz Diomed. 515, 5 die Zurückführung dieses Verses auf Varro deshalb bedenklich, weil der Anklang an Horaz epod. 6, 1 quid immerentis hospites vexas canis doch wohl mehr als Zufall ist. Aber sei dem wie es will, jedenfalls spricht nichts gegen die durch den ganzen Aufbau der Auseinandersetzung ge- botene Annahme, daß die hier an letzter Stelle vorgetragene Er- klärung des Saturniers Eigentum des Caesius Bassus selber ist, der, wie Leo richtig gesehen hat, häufiger als seine Vorgänger mit der concinnatio operiert. Wir haben also drei Schichten in zeitlicher Abfolge: zuerst Varro, dessen Theorie des Versmaßes wir nicht er- fahren, der aber wahrscheinlich den Saturnier ebenso aus dem Senar durch adiectio einer Silbe ableitete '), wie den iambischen Septenar durch Anhängung eines trisyllabus pes oder den Oktonar durch Vorsetzung von duo iambi pedes (Diomed. 515, 3.9); dann ein ungenannter nachvarronischer Metriker, der unter Annahme großer Freiheiten im Versbau der altrömischen Dichter die Vorbilder des Saturniers apud Euripidem et Callimachum et quosdam antiquae comoediae scriptores nachweisen zu können glaubte 2) ; endlich der Zeitgenosse des Nero, der in dem Saturnier die Zusammensetzung zweier Kola, eines iambischen und eines trochäischen, sah und dem es

1) Diomed. 512, 18 addita una syllaba ad iambicnm vcrsiim; vgl. Pseudo- Ascon. a. a. O. senario hypercatalccto. Für die Geschichte des Saturnierproblems ist es von Interesse zu erwähnen, daß Friedrich Blass diese Erklärung des Saturniers bis an sein Lebensende mit leidenschaftlichem Eifer verfochten hat.

2) Es sei daran erinnert, daß Gerhard Schultz im Hermes XXll S. 260ff. in dem Kapitel de versäum generibus des Diomedes (p. 506—518) für die Darstellung der metra Horatiana einen auch von Caesius Bassus benützten nachvarronischen römischen Metriker als Quelle nachgewiesen hat, nach Leos ansprechender Vermutung (Hermes XXIV S. 293 Anm. 1 Remmius I^ilaemon.

Naevius und die Meteller. 61

vorbehalten blieb, dafür ein Schema von so idealer Reinheit zu er- finden, wie es nur der aufstellen konnte, dem die Reste der satur- nischen Poesie nur aus den spärlichen Anführungen der Hand- bücher bekannt waren, und der sich die Mühe ersparte, nachzuprüfen, inwieweit die erhaltenen Verse durch die Formel ihre Lösung fanden. Der Mustervers malum dabunt Metelli Naeyio poetae 'hat lauter reine Senkungen, Einschnitt nach der zweiten Hebung beider Kola, im ersten Kolon auch nach der ersten Hebung; er bildet die zweite Hälfte beider Kola durch je ein Wort; weder Hiat noch syllaba an- ceps': daß es diesem Muster völlig entsprechende Beispiele ab- gesehen von einem zweifelhaften Verse des von Varro und Caesius Bassus nicht benutzten Livius Andronicus (20, 1 Baehrens) in unserem Saturniervorrat überhaupt nicht gibt, hat Leo gezeigt •). Was ist nun wahrscheinlicher: daß es Caesius Bassus, um dessen Bekannt- schaft mit der altrömischen Dichtung es sehr trübselig steht, gelang, das einzige, sonst nirgendwo nachweisbare Beispiel eines in allen Punkten tadellosen iambisch-trochäischen Saturniers aufzutreiben, oder daß er sich dieses Beispiel, das viel zu musterhaft ist, um echt zu sein, selbst fabriziert hat? Wer sich gegenwärtig hält, daß es eine feststehende Sitte der römischen Metriker ist, die besprochenen Versmaße mit fingierten Musterbeispielen zu belegen 2j, und daß wir gerade für den Saturnier noch bei den späteren Metrikern eine Anzahl neugebildeter Beispiele finden 3), dessen Entscheidung wird nicht lange schwanken. Und gerade die Hinzufügung der Worte quem Metelli proposuerunt de Naevio aliqiiotiens ab eo versa lacessiti verstärkt den Verdacht: um Sinn und Gedankenzusammen- hang der als metrische Beispiele angeführten Verse kümmern sich doch die Grammatiker sonst nirgends, aber bei einem nicht der Tradition entnommenen, sondern für eine neue Theorie neu ge. schaffenen Musterverse schien eine solche Einführung sich zu em- pfehlen. Für den Inhalt des neugebildeten Verses den Stoff aus dem Leben des Naevius zu nehmen, lag nahe, da dieser für die Zeit des Metrikers der einzige dichterische Vertreter des Saturniers war, und wenn Caesius Bassus den Vers fato Metelli Romae fiunt con-

1) Der Saturnische Vers S. 16; vgl. H. Bergfeld, De versu Saturnio (Dissert. Marburg 1909) S. 52 f.

2) Leo, Hermes XXIV S. 287.

3) Leo, Der Saturnische Vers S. 7 Anm. 2.

62 G. WissowA

siiles als naevianisch kannte, so brauchte er seine Erfindungsgabe nicht in große Unkosten zu stürzen, um eine Antwort der Ange- griffenen nach Art des vorliegenden Drohverses herzustellen. Die Frage, auf welche Weise eigentlich die Meteller ihren Drohvers ver- öffentlichten, wird ihm kein Kopfzerbrechen gemacht haben, die Neueren, die den Vers als authentisch hingenommen haben, hätten an ihr nicht vorbeigehen sollen. Wenn die öffentliche Meinung einen Angriff gegen einen einzelnen oder eine Gruppe von Personen richten wollte, so konnte das durch den Mund des Schauspielers von der komischen Bühne aus geschehen oder durch Anschlag von unbekannter Hand an den Häusern [iit viilgo per vias iirbis versus proscriberentiir Gell. XV 4, 3) oder durch mündliche Verbreitung eines Spottverses, den, ohne daß man wußte, woher er kam, die Jungen auf den Straßen sangen {versus hie scite f actus cantatusque esse a pueris urbe tota fertur Gell. IV 5, 5), der Angegriffene aber besaß kein Organ, um zu replizieren einen Marforio, der mit Pasquino Zwiesprache hält, kennen wir im alten Rom nicht , und wenn er zudem nichts anderes zu entgegen hatte als die Drohung, daß er es dem Angreifer heimzahlen werde, so tat er besser zu schweigen, denn er hätte sich von einer solchen Erwiderung keine große Wirkung auf das Publikum versprechen können.

Der vorgetragenen Hypothese, daß der Vers malum dabunt Me- telli Naevio poetae erst in Neros Zeit von Caesius Bassus als Muster- beispiel des Idealsaturniers erfunden worden ist, ist die sonstige Überlieferung dieses Verses durchaus günstig. Nirgendwo erscheint er in einer mit Umgehung des Caesius Bassus direkt an Varro oder ältere Quellen anknüpfenden Tradition, alle Stellen der lateinischen Metriker, an denen er vorliegt, gehen auf Caesius Bassus zurück, wobei die Zwischenautoren für uns ohne Bedeutung sind i). Also erst für die neronische Zeit ist bezeugt, daß der Vers fato Metelli Romae fiunt consules als ein Produkt des Naevius galt, zwischen Cicero und Nero, wohl nicht gar zu lange vor der unteren Grenze

1) Durch eine Mittelquelle (Leo, Hermes XXIV S. 283 Anm.) Terentian. Maur. V. 2517, aus ihm Aphthonius (Mar. Vict.) 139, 19, der zugleich Caesius Bassus selbst benützt (vgl. G. Schultz, Quibus auctoribus Aelius Festus Aphthonius de re metrica usus Sit, Dissert. Breslau 1885, S. 12);^ vgl. ferner Mar. Plot. Sacerd. 531, 17. Atil. Fortun. 294, 4. Die Abweichung dabunt malitm Metelli (Terent. Maur., Atil. Fortun., auch Pseudo-Ascon. a. a. O.) hat nichts zu besagen.

\

Naevius und die Meteller. 63

dieses Zeitraumes, hat der bekannte Horror vacui der Grammatiker, der kein herrenloses Gut duldet, dem anonymen Verse durch Kon- jektur zu einem Verfasser verholten. So wenig man auch seit der augusteischen Zeit um die alte Poesie sich kümmerte, die Kenntnis davon, daß Cn. Naevius mit den Großen des Staates manchen Streit ausgefochten und dafür hatte büßen müssen, war auch damals nicht verloren gegangen'); so erscheint der Irrtum des Mannes, der auf ihn als den Verfasser riet, wohl begreiflich.

1) Verrius Flaccus kennt noch die Beziehung der Plautusstelle auf Naevius, Paul. p. 36. Bei Hieronymus (oben S. 51) geht vielleicht die Angabe piilsus Roma factione nobilium auf gute alte Überlieferung zurück, während der Zusatz praecipue Metelli auf der Kenntnis des Drohverses beruht.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae

von

Friedrich Bechtel.

Graeca Halensis.

Jedem neuen Bande der Inscriptiones Graecae gegenüber fühle ich die Verpflichtung ihn auf die Personennamen zu prüfen, die er enthält. Denn jeder bringt neues Material oder doch neue Lesungen, so daß das Namenwörterbuch gleichzeitig Bereicherung und Korrektur empfängt. An die Durcharbeitung der von Max Fränkel besorgten Bearbeitung der Inscriptiones Graecae Aeginae Pityonesi Cecryphaliae Argolidis bin ich erst jetzt gekommen, sieben Jahre nach ihrem Er- scheinen. So werde ich vielleicht manchem Dinge sagen, die er schon weiß. Dies kann mich nicht abhalten das Ergebnis meiner Prüfung in extenso vorzulegen. Auf Vollständigkeit erheben meine Mittei- lungen keinen Anspruch: nur wer schon herausgegebne Inschriften noch einmal publiziert, pflegt die Herausgeber, mit deren Arbeit er sich auseinander zu setzen hat, Wort für Wort zu kontrollieren; und wer Kritik üben will, soll sie nur da laut werden lassen, wo er einen Gegenvorschlag zu machen weiß.

Ich will zuerst von dem sichren Gewinne sprechen, den der neue Band bringt, dann die Vorschläge Fränkels vor Augen führen, mit denen ich nicht einverstanden bin.

I.

Der Gewinn besteht zunächst darin, daß drei Namen, deren Bil- dung oder Bedeutung Anstoß erregte, nach der erneuten Prüfung der Steine gestrichen werden müssen.

1. 31s XtS-i]v.

So setzte man an auf Grund des von Le Bas gelesnen Genetivs 3l£li&fivoc auf der phleiasischen Grabschrift Smlg. 3172. Nach Fränkel (no. 452) steht vielmehr MEAlOHi lOS. auf dem Steine, d. h. Blelii^i]- oioc. In dieser Form sehe ich, abweichend von Fränkel, keinen Nominativ, sondern den Genetiv eines Femininums, sei es zu Meli- O-'^Qog (einer, dem die Jagd am Herzen liegt), sei es zu MeXiO^rjgiöag. Gegen Fränkels Auffassung spricht die Ableitung auf -log, die an zweistämmigen Namen historischer Zeit selten ist, und die von Fränkel

5*

68 F. BncMTEL

selbst bemerkte Tatsache, daß auf den Grabsteinen der Phleiasier der Name des Toten gewöhnlich in den Genetiv gesetzt wird.')

2. riv civ^ T]Q.

Diesen Namen hat Prellwitz Smlg. 3325 u aufgenommen, wenn auch nicht ohne Bedenken. Schon Kaßßaöiug und Baunack haben vermutet, daß Evdv^r^g gemeint sei. Diese Vermutung wird von Fränkel, der die Spuren des E auf dem Steine gefunden hat, be- stätigt (no. 1484 41).

3. 0i'/.oy.ä).ccc.

Auf demselben Steine gelesen von Kaßßadiug{Z. 90), von Baunack in ffh'/.oy.ä{ö)aQ verändert, wofür man (iHloxddqg zu erwarten gehabt hätte. Fränkel bezeugt (l)IAOKAI . A^ und ergänzt (DLloyJü\ö]ag, das Patronymicum zu (Oilovlog, einer bisher noch nicht bekannten zwei- stämmigen Koseform zu Oüo/J.f]g.

Ungleich größer aber ist die Zahl der in dem Bande vereinigten neuen Namen, die nicht hinter Lesefehlern versteckt sondern von Anfang an in sichrer Lesung vorlagen und im Namenbuche nur darum fehlen, weil sie erst nach Abschluß seiner letzten Redaktion bekannt wurden. Ich führe hier die vor Augen, die sprachlich oder sachlich interessant sind, ich füge in die Auslese aber auch einzelne schon länger bekannte Namen des Gebietes ein, die mir Anlaß zu einer Bemerkung geben.

A. Vollnamen. -aqevg ZU uqi] Schaden.

Mri G L-aoevg (Epidauros) 1 484 lo.

Die Lesung scheint sicher, da auch Fränkel zu ihr gelangt ist. Das Verbum ui]douai bezieht sich fast immer auf Er- sinnung von Schädlichem; daher definiere ich den JIi]aiaQ€vg als den Mann, der eLn)oaro dQi]v. Ich bemerke, daß wir durch den Vollnamen 3h]aiüQsvg den Schlüssel zu dem spar- tanischen Namen L4q£vg erhalten, der bisher nur lose unter- zubringen war. 2)

1) Durch die Beseitigung von Mr/.ti^tjr wird auch die GP- 146 vorgeschlagne Deutung von Me/.i&äir in Neapel hinfällig. Man wird jetzt MeXt&täv zu Jet&üiv stellen.

2) Zu Mtiaüuyus und Miiatuptvs gehört als Koseform Mrjats, bezeugt durch

I

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 69

Eiyii- zu styog.

Evxi-y.'/.f^g (Epidauros) 1492 17.

Das Element svy^L- liegt neben dem 5-Stamme e^xeo- (vgl.

Juvyr^g, 'ETtsvxrjg, Uolvevxqg) wie ^XsFi-, xQun-, y.vdi- usf.

neben y.leßog, ygärog, xvöog. Bisher war es nocii nicht zu

belegen.

Zev§i- zu Zev^cti.

Zfü^-avAog (Epidauros) 1492 22.

Bezeichnet wohl den Mann, der verschiedene uijloi zur aUgiyB verbindet, um auf ihr zu blasen. Der Name knüpft also an eine Liebhaberei oder Kunstfertigkeit an.

-d-av (lavT og Part. Perf. zu d-avßaivco. '^-d-ccv fiavTog (Epidanr OS) 9882.

Neben 'Ad^civixavrog steht Qch^avroQ, vertreten durch Qio- fxdvTcc 1) (Phleius) 462. Qcouavxog bezeichnet den, über den man sich wundert oder den man bewundert; also wird man auch 'Ad-avuavrog nicht in aktivem Sinne nehmen.

-d-BQGrjg zu -d^egaog.

0 LÄo-d-egor^g (Epidauros) 1485 119.

In der Landschaft Argolis wird diese Vokalisation des Ele- mentes bevorzugt: QiQOavÖQog 'AUv.ög 952 69.73.7., Oegoav- dgog in Trozen 823 32. 3s, Oegolcov in Argos 529 is. Gagalag und Qagovrag in Hermion 729 10. 6 weisen auf d-agavg = d^gccGvg. Also ist Evd-d[gorjg] 1549 3 keine wahrscheinliche Ergänzung. Zu Qega- in der Argolis stimmt &egG- in Arkadien: &£g- olag Smlg. 1224.

Koigo- zu ""yotgog ij) Heer.

KoLgö-f-Luyog (Euripos in Akarnanien) 1504 Ii:,. Nachweise der Sippe und Rechtfertigung des angenommenen Appellativums xoLgo- bei Solmsen Glotta I 76 ff.

Aeo- im Sinne von tb'Uo-.

yleö- cpgiov MetanovTLvog 1215.

Dieser Name war aus den Handschriften längst bekannt. Man

hat aber der Überlieferung nicht geglaubt; daher hat er eine

MeTote in Oropos (IG VII 455). Den Namen hat Kalbe! gefunden (Epigr. Gr. 144), wenn auch nicht erklärt.

1) Daß (-Jouävras Genetiv zu Orofiüvra, nicht Nominativ eines Maskulinums Ocofiüvras ist, wie GP- 141 gelehrt wird, hat Fränkel gesehen.

70 F. Bechtel

wahre Leidensgeschichte durchgemacht. Ich setze die kri- tische Bemerkung August Naucks zu dem ^töcpgiov Kqoxw- vicai]Q her, der bei lamblichos Ihgl rov nvOayoQiy.ov ßiov Kap. 36 erwähnt wird:

^^eöcpQiüv] yJecbq'Qwv aut Neöcf^wv coni. Keil Anal, epigr. p. 228. Vitiosa scriptura ^iaöcpQiov item tradita est in Athen. I p. 3E, \\\)\ ^<lEcb(pQtov aut ^laöcfQiov corogl iussit Casau- bonus '). Descripsit Athenaei locum Suid. v. 'AO^i)vaLog, cui ylsöcpQiüv formam non debebat adimere Bekker. Angesichts der Schreibung des Steines, der nach dem Ur- teile Fränkels spätestens dem Anfange des 3. Jahrhunderts angehört, müssen die Zweifel für immer verstummen. Aeo- ist das gleiche Element, das in ).€Oikr]g- Tsleicog i^d)?.r]g (lies.), leuhlv Smlg. 4140 enthalten und von Fick Beitr. 29, 268 ff. besprochen ist. -f-iavögog zum Namen einer kleinasiatischen Gottheit. 'AQyJ-aavÖQog (Epidauros) 149621. Das erste mir bekannte Beispiel eines mit diesem Elemente gebildeten Namens aus dem Mutterlande. Er ist sicher nicht in Epidauros selbst gewachsen, sondern importiert. Der Zu- fall will es, daß er in der Heimat, in Vorderasien, bisher noch nicht zutage gekommen ist, sondern am Orte der Ent- lehnung zum ersten Male begegnet. ^X£- zum Aorist von eyco.

^Xe-f^iaxog (Epidauros) 1115.

Das Element ays- erscheint hier außerhalb des Kompositums; mit dv{ä) komponiert liegt es in dem sikilischen Worte dayj- öcoQog (den Spieß bestehend) vor: Kretschmer KZ. 36, 267. Fick Beitr. 26, 238. Durch das Auftreten von aye- rückt nun auch -oyog in Aäoayog {^reiguvg BGH 13, 432 no. 5) in ein neues Licht: früher wollte ich -oyog durch Verkürzung aus -GysTog hervorgehn lassen, jetzt zeigt sich, daß es mit oyf- korrespondiert. Mit ^ye-ixuyog berührt sich 'loyj-fxaixog) auf

ll Der neueste Herausgeber des Athenaios, Kaibel, hat yJeüifpior von Casau- bonus übernommen. Für diesen zweiten Leophron, den Sohn des Anaxilas von Rhegion, hat Simonides das Lied auf die deUonöSmf d-öyar^fi iTinoir (Bergk' Fragm. 7) gedichtet: vgl. von Wilamowitz Sitziuigsber. 1901. 1303.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 71

Münzen von Chios (Löbbecke, Ztschr. f. Numism. 14, 153. Imhoof-Blumer Kleinas. Münzen I 102 no. 2).

B. Koseformen.

lÄyq'nciq (Aigina) 47.

Dieser Name bildet eine willkommene Ergänzung zu dem bereits bekannten 'AyqoLrag. Das Paar Idygirag : LdyQoLrag hat eine Reihe von Parallelen: 'Innixag, (wenn die Überlieferung bei Polybios 5, 37 richtig ist) neben 'iTCTtoLri^g, Msvirrig neben MEvoLti^g, OiUxag neben (DiloLrag.'^) Die Ansicht, daß -oirag ein selbständiges Element reprä- sentiere, gebe ich zugunsten der zuerst von Crönert (Herm. 37, 218), jetzt auch von Solmsen (Beiträge z. griech. Wortf. I 51) vertretnen auf, nach der -oi zum Stamme gezogen werden muß. Neben dem Namen ^InTcirag liegt das Appellativum iTtTtirag in der Glosse imiirccg In- yrocfogßög (Hes.).

'AgOLvidag (Epidauros) 894 II i4.

Patronymikum eines Namens, der eine doppelte Deutung zuläßt: man kann ihn als zweistämmige Koseform von \4qoivoog verstehn, also mit E^vog, Aäoog, "Aly.L&og gleichstellen, aber auch als ein- stämmige Koseform betrachten, so daß er Aqolvog zu betonen wäre.

Evcpqog (Aigina) 83 ^.

Zweistämmige Koseform zu Evcpqwv. Die Überlieferung ist von Fränkel, wie ich unter II ausführe, verkannt und verdorben.

'leqcoväg (Epidauros) 1437 2.

Zweistämmige Koseform zu dem auch für Epidauros bezeugten Namen 'leqüwfiog (1087; 'laqtbwfxog 1113. 1485 120).

KlsiTaqdi'^) (Epidauros) 1114. .

Zweistämmige Koseform zu Kleiraqetr). Der Kksi,ad^€vr]g, der an der Weihung beteiligt ist, ist vermutlich Bruder der Klsnaqcb.

AdxqLg (Epidauros) 894 1c. 971. 972. 979.

Zweistämmige Koseform, vermutlich zu einem der ebenfalls für Epidauros bezeugten Namen Ady.qirog und Acrxqhijg. Der Vater des Aäxqig heißt 971. 972 AäcpsLdrjg; diese Tatsache hätte Fränkel davor bewahren können ^lä/.qig zu betonen.'^)

1) Zu den GP^ 223 genannten Namen auf -oiras kommt Bioiras wegen Bwins in Eretria (Blinkenberg Eretr. Gravskr. no. 21).

2) Fehlt im Index.

3) Der Genetiv AaxQari^os 728g hat dazu verleitet den Index mit einem Namen

72 F. Bechtel

3l£kdveioc: (Hermion) 732 IV 2.

Vermutlich Weiterbildung eines aus ])hlävL7t7Toc:, MeXävio^tog verkürzten Namens *M€)Mvog, eine Weiterbildung der gleichen Art wie TifieioQ (Trozen) 807, (Di'UiOQ (Epidauros) 894 III ■•. Diese Namen sind von Haus aus patronymische Adjektiva, die, wie die Patronymika auf -öug, zu Individualnamen wurden. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß die Bildungen auf -öuq in der Argolis ihre ursprüng- liche Bedeutung gelegentlich noch erkennen lassen: Gedgijc Geagi- dag (Hermion) 728 4, IJävTig KalhfictxLdag (Trozen) 757 B 21. Ich würde auch ein patronymisches Adjektiv auf -log in dieser Geltung nennen, wenn ich an die Form KUioi^evuoQ {Klscovidag KlsiGirevaog 757 £42), die zuerst Baunack so definiert hat, neben durchgehendem KleiaS^s- vi]g^) glauben könnte; ohne Zweifel war KXsiad^eveog beabsichtigt.2)

Mevi]rioQ (Hermion) 729 1 2.

Dieser Name hätte schon GP^ 203 genannt werden müssen. Er stellt eine Weiterbildung von Mevrjz- in Mevijg vor; auch er ist also wohl ursprünglich patronymisches Adjektivum gewesen, das die Zu- gehörigkeit bezeichnete. Genau von der selben Bildung, nur daß das mit MsvrjT- gleichstehende Grundwort fehlt, ist XcnQvriog in Athen (Kirchner Prosopogr. Att. II 413). Und diese Bildungsweise reicht in die epische Zeit hinauf, denn der Name 'AQrjxLddrjg ist an ihr beteiligt. Über den ursprünglichen Sinn von '^Q7]riddr]g belehrt die 'AoTtLg: 57 "^^Og xal Kv'/.vov enecpvsv, 'AQrjTiddrjv pLEydiHpiov' £^QS ydg iv rsfievsi iyiatrjßöXov 'AnöXkiovog ccÖTÖv YMi Tcareqa öv, 'Agrjv, darov noXe^oio. Man nimmt in '^Qr^nddr^v die nämliche Suffixhäufung wahr wie in Ta'/Mfxioviddr^g und andren.

HoQfiidöag (Epidauros) 1342 2.

Die erste Koseform der Gruppe -og^wg, die ich zu belegen vermag. Sie schließt sich zunächst an ''Og^iiag an.

Aax^aTeis auszustatten. Mit dem gleichen Rechte hätte aus KhoittiSrjos 731 Is eine Namenform Kleomjd'fije gefolgert werden können; aber der Index berücksichtig S. 392 diese Zeile nicht.

1) Nach dem Index begegnet KXeiod-evrii in Trozen (82342), Epidauros (894 hj. 41. 9254J Add. 971. 972. 1114). Das Zitat Ibl Br., durch das KLio&enjs der nilmlichen Urkunde zugewiesen wird, die KletoiHvaos bietet, ist irrig, da die Zeile nicht existiert.

2) Darf man <l>i).fiu (Argos) 5274 als patronymisches Adjektivum auffassen? Der Index betrachtet <l>dtia als Genetiv zu <hdeiai:, was man als <Püiai ver- stehn müßte.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 73

'Oglccq (Epidauros) III 894 e.

Der Name lehrt, daß das Wort öaiog in der Namengebung be- nutzt worden ist. Bisher war nur ein xogavXrjg "Ooiog Uegya^irivög aus später Zeit (IG VII 1773 23) bezeugt.

(Dilrjrdöaq (Hermion) 729 1 0.

Die Verbindung OccQovrag Oilritäda, in der der Name hier auf- tritt, macht es im höchsten Grade wahrscheinlich, daß in Oih^jäöag das gleiche Ableitungselement vorliegt wie in Oagamag, mit andren Worten, daß (Dur^Tccöag Patronymikum zu Oilijzag ist. Die Möglich- keit des Namens (DiXi]rcig hat Crönert für die ältre Zeit bezweifelt (Hermes 37, 213). Wer aber 'Ovärag für einen alten Namen hält (und dies wird doch Crönert tun), und wer bedenkt, daß schon das Epos Vvi]TioQ kennt, wer also nicht leugnen kann, daß 'Ovürag und Ovrj- TioQ, ursprünglich Appellativa, die den Vollender einer Handlung be- zeichnen, seit alter Zeit als Namen verwendet werden: der wird auch zugeben müssen, daß neben dem schon der epischen Namengebung geläufigen Namen (DLh'jnoQ bereits 'vor Menander' ein Name Oilrj- rag gedacht werden könne; denn morphologisch stehn 'Ovtjtcoq und 0ih]TiüQ, 'Ovdzag und 0üi]Tag völlig gleich. Die mit (Dih)Tag kon- formen Bildungen hat Crönert nicht erkannt, weil er die Ableitungen, denen sie zugrunde liegen, unrichtig bezogen hat. AiGyrjTädTqg, Xa- QrjTdörjg gehn nicht von "'Atoyrjg und Xägr^g aus, die, als t- Stämme aufgefaßt, nur Aioyri'iiör^g und XaQrjTidrjg liefern können, tatsächlich zum Teil auch liefern, so wenig wie XaqLvädrig von XctQlvog und XaQfj.ädr]g von Xdgßog. Sie schließen sich vielmehr an Aloyjixug, XuQijrag an, und es ist gleichgiltig, daß ich von diesen beiden Namen nur den zweiten nachzuweisen vermag: man findet ihn auf der späten Inschrift aus Termessos CIG 4366 w 43.

C. Einstämmige Namen.

Aq iGTSQlVOg KOQivd^LOg 1208.

Ich verstehe AQiorsQivog als den Mann, der dQLOTsqevei, links- händig ist. Man könnte an Verkürzung aus dQiOTSQÖ-yeiQ denken ; aber bei Benennungen nach äußerlichen Auffälligkeiten ist gerade der einstämmige Spitzname beliebt. Fränkel hat von Kaßßaöiag die Worilorm AQiareQtvög übernommen. 1) Diese ließe sich durch Berufung

1) Auch die ganz unsichire Ergänzung [^ni/äo]aTos im Anfange der Zeile ist in Fränkels Text übergegangen, jedoch nicht in den Index.

74 F. Bechtel

auf dXrj&ivög, 7C£divög rechtfertigen; im allgemeinen aber ist mit den abgeleiteten Adjektiven auf endbetontes -ivög der Begriff eines Zeit- verhältnisses verbunden : eccQivög, IfiQivög, önioQtvög, yji/j.£Qivög, öq- ihqivög, i)^i£Qiv6g, vvxreQivög usf. Theoretisch wäre auch Entstehung aus einem Ethnikon möglich; aber dies Ethnikon müßte dann dem Westen des Sprachgebietes angehören, denn auf ihn sind Ethnika wie TuQiivTiYog, 'Pi]yii'og, ^laovrTvog beschränkt (Dittenberger Hermes 42, 230). Nur wenn sich eine Örtlichkeit '^QiotsQivä nachweisen ließe, dürfte die Einschränkung wegfallen.

'EluLovö log (Kalaureia) 850 4.

Durch glückliche Emendation aus EAAIEY hergestellt. Das Ethnikon, aus dem der Eigenname hervorgegangen ist, könnte sich an den Namen der argolischen Stadt 'Elaiovg anschließen und so die spärlichen Zeugnisse für sie vermehren.

'El/uoTiog (Trozen) 823 34. ' So steht auf dem Faksimile, während auf der Umschrift und im Index der Name in 'Ellönog verdorben wird. 'Elhbriog heißt der, der am Feste der 'ElXönuc geboren ist; er hätte GP- 299 erwähnt werden sollen.

KLi>iog (Mykenai) 492 7.

Hier kann ich nur eine unsichre Vermutung vortragen. Gehört xi^- zu gheidh- in got. gaidv {vaTeQi]ua), mhd. gJt, lit. geidziii (ver- lange nach)? Ist also Kii>Log einstämmiger Spitzname für den in irgendwelchem Sinne Begehrlichen?

Kirog (Hermion) 729 II u, Epidauros (933 4).

Wiederum kann ich nur mit allem Vorbehalte reden. Sollte der Name mit y.oiTca' ywaixöiv irni^viiiai (Hes.), darum auch mit altpr. quäits (Wille), lit. kvhti (einladen), die Hoffmann verbunden hat (Beitr. 18, 287), und mit y.iGoa, das Solmsen zu dieser Gruppe ge- zogen hat (KZ 33,294), im Zusammenhange stehn? Der Wortform nach wäre altind. givä- neben ^eva-, got. heiva- in heivafraiija (oi- ■KoösorcöTTqg) ZU vergleichen, der Bedeutung nach die Namen der prii- rientes, die ich Spitznamen 61 ff., Glotta I 73 behandelt habe.

yliyjov ^/iyiQnrag 1423.

Zusammenhang mit liyvög liegt am Tage. Abermals also ein einstämmiger Spitzname.

2idcfig (Hermion) 732 II 4.

Zu :Sc(7iff(b, H't('jr(fcb, H'capioY. Der attische Demenname 'Vacpic

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 75

ist zuerst von Prellwitz herangezogen worden (GGA 1887, 44i), Fick hat die Vergleichung mit Wcocpig hinzugefügt (Beitr. 26, 115), Solmsen an iiiacfccQög erinnert (Rhein. Mus. 56, 502, 1). Meine frühere Deutung von Vdcfcov hat Solmsen mit Recht getadelt; die Vermutung, daß die Personennamen Leute bezeichnen sollen, die „durch Trockenheit, Sprö- digkeit ihres Haares oder ihrer Haut auffielen", verdient Beachtung.

^vfiddag (Phleius) 451.

Zu dem Typus der Namen Bgeioädag, Kgioddag, Oaqädag, 0s- Qädag, Qrjßüdag, der im Peloponnese sehr spärlich vertreten ist.

II.

Ich führe nun eine Auswahl der Namen vor, gegen die ich Ein- wendungen zu erheben habe. Eine Auswahl, weil ich meine Bedenken nur in den Fällen äußern will, wo ich etwas Bessres an die Stelle des Zweifelhaften oder sicher Falschen setzen zu können glaube; aus meinem Schweigen zu nicht wenigen Zumutungen Fränkels schließe man also nicht, daß ich sie nicht als solche empfinde oder über sie hinweggelesen habe. Bedauerlich ist, daß Fränkel so sparsam mit dem Nehmen von Abklatschen gewesen ist, wir daher recht oft ledig- lich auf Abschriften angewiesen sind; diese Tatsache ist mir durch Hiller von Gärtringen bekannt geworden, dessen Hilfe ich in einigen mir besonders dringend scheinenden Fällen angerufen und erhalten habe. Ich folge in meiner Kritik den Nummern des Corpus.

Zu 83.

Z. 5 ist . Y())POY überliefert. Dies ist Genetiv zu einem bisher zwar nur durch dies Beispiel vertretnen, aber völlig korrekt gebil- deten Namen E'öcfQog, auf den ich schon S. 71 aufmerksam ge- macht habe. Fränkel schreibt [E]v(fQ[l]ov und macht für seine 'Re- stitution' die Form EvcpQiog auf der kyrenäischen Münze Smlg. 4866, 1 1 geltend. Prüft man aber die Form der Beamtennamen auf den übrigen Münzen der Stadt Kyrene, so sieht man, daß sie fast überall in den Genetiv gesetzt sind. Also wird man Ev(pQLog als Genetiv des GP- 119 belegten EtcpQig betrachten.

Zu 103.

Auf einer der Wände eines Grabes zu Aigina steht

A nEAAAlOS

AMVNTO . /

Fränkel umschreibt die Inschrift mit .^. . . . TlslXaiog iä(xvvro[v], und

76 F. Bechtel

der Index verlangt, daß riellcilog als Ethnikon gefaßt werde. Viel- mehr waren in der ersten Zeile zwei Personen genannt, vielleicht zwei Söhne des IJuvvtccc. Und da ein IhV.cüoc: zwar möglich, aber noch nicht bezeugt ist, wohlbezeugt aber l-lyrsU.uiog und überall da bodenständig, wo der 'ATtsXXalog ixriv im Kalender geführt ward, so zweifle ich nicht daran, daß als zweiter Name [^J/rt/Ät^'oc zu denken sei.

Zu 201.

Z. 3 hat Monceaux Ev-Kliddcig gelesen. Fränkel nimmt an dem Namen Anstoß und will Evycli(a)öaQ schreiben. Nichts nötigt dazu die Überlieferung zu verlassen. Einen Megarer Evy.Uag kennen wir aus den Steinen IG VII 4 u. 5 i4. 6 u. 150. Sobald aber Ev/.Uag fest steht, findet EiiyJudöag seinen Anschluß. Zu verstehn aber ist Ev- y.Uag wie E&/.)Jvog in Epidauros (1484 272. ase): von dem dreistämmigen EvyM7C7cog aus, dessen Beliebtheit in Epidauros aus Fränkels Index ersichtlich wird. Die Beziehung dieser -Namen untereinander war schon GP- 119 richtig dargestellt.

Zu 308.

Aus EYnATINOZ der Abschrift Turners stellte Böckh Ed7ra{Ä)i- vog her. Fränkel hält diese Emendation für zu gewaltsam und schlägt seinerseits Ei)7t(Q)cc{^)rvog vor, muß diese Änderung also für weniger gewaltsam gehalten haben. Aus Theben (IG VII 3656. 2466 4) und Lindos (IG XII 1 no. 761 3. u. 764 st) ist Ildycov bekannt geworden. Bedenke ich, daß Cyriacus auf der zweiten thebanischen Inschrift DATÜN statt nAr:fiN gelesen hat, so scheint es mir am geratensten Turner den gleichen Lesefehler zuzutrauen und Ev;raiy)rvoc zu schreiben. Hiermit wäre der Schlüsselname zu dem einstämmigen Udycüv gefunden; der Zusammenhang von EvTtaylvog mit £V7cciyr^g liegt auf der Hand.

Zu 210.

Fränkel hat nicht erkannt, daß (^ivloidag der Mann ist, der xi- loiöiäi'. sonst hätte er nicht zweimal, hier und no. 325, (^vlotdag schreiben und im Index festhalten können.

Zu 304.

Aus den Zeichen AP^TAA - - liest Fränkel einen Namen lV(j/;- Td(5[ac,'] heraus. Ich weiß wohl, daß ein Name 'AQr}T(xöi]g überliefert ist, aber die Überlieferung ist falsch: der Grammatiker, der in den Scholien des Vcn. A zu il 110 '^Qrjjdörig, in den Scholicn zu r34l

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 77

'^Q-ATiädT]g genannt wird, hat doch wohl den homerischen Namen !jQr]Tiddr]Q geführt.i) So verständHch '^jQ7]Tiädr]g ist, so unverständ- lich würde '^Qrjxdöaq als Name eines Korinthiers des 5. Jahrh. sein. Gegen '^Q8Täö[ag] dagegen wäre nichts einzuwenden.

Zu 350.

Da Fränkef Namenformen, die ihm unrichtig erscheinen, zu emen- dieren pflegt, so hätte er (Didlag nicht ohne die Bemerkung passieren lassen sollen, daß der Künstler irrig ^ statt ^^ geschrieben hat. Das war schon von Kretschmer (Griech. Vaseninschr. 36) ausgesprochen.

Zu 424.

Die Künstlerinschrift EX^EKIA^/AEPOIE^E umschreibt Fränkel mit 'Eiey.Lag ß hioirjös, und der Index verzeichnet dementsprechend einen Namen 'E^exiag. Es genügt jetzt auf die Zusammenstellungen Kirchners Prosop. Att. I 314 zu verweisen, die 'Eti^vÄag als attischen Namen kennen lehren. Schon vorher war von Kretschmer (Griech. Vaseninschr. 74, 4) alles Nötige gesagt, und etwa gleichzeitig war GP- 51 auf die entscheidende Verbindung 'Eirj-ASGrog 'EBr]y.lov auf- merksam gemacht.

Zu 446.

Von den fünf Namen dieses Steines, deren Spuren wir aus Fourmonts Abschrift kennen, ist nur der erste sicher, "AvrarÖQog, den Carl Keil hergestellt hat. Die Vorschläge, die Fränkel zu den vier

andren gemacht hat, sind teils unverbindlich, teils falsch. In ZI I.IPI

will Fränkel die Spuren von ^i]QL7r7cog erkennen. Da müßte doch aber erst gezeigt werden, daß 2 in der Argolis zur Darstellung von O verwendet wird. Es liegt wohl am nächsten &i]Qi7t7tog zu vermuten, weil die obre und untre Kurve eines unklaren O leicht als Hori- zontallinien aufgefaßt werden konnten. Sonst würde man an Ti)li7t- ■jtog denken müssen.

Zu 488.

Der unvollständige Name --APIAA^ (Z. 2) darf zu \^E\^qilctg ergänzt werden. Einen 'EÖQi-ccQxog bezeugt der Stein IG XII 3 no. 93 für Nisyros.

Zu 527.

Z. 1 liest der Herausgeber, wenn auch nicht ohne Bedenken, - - vag Mtöia, indem er A aus A herstellt. Durch die Änderung wird

1) Wegen des angeblichen l4pr]TäSt]s aus Knidos sieli den Artikel Knaacks Pauly-Wissowa Suppl. I 125.

78 F. Bechtel

nichts erreicht, als daß ein unmöglicher Name erzeugt wird, wo, bei andrer Worttrennung, ein möglicher zu gewinnen war. Spitznamen 72 habe ich die Belege im l'uüug und 2iiiilijv mitgeteilt; dazu tritt jetzt ^fiiXiac, sobald man - - va 2:uilLu liest.

Z. 8 steht APKE/A. Der Vorschlag 'AQyJ[cc\ wird der Zeichnung nicht gerecht; wohl aber tut dies '^lQy.E}.[cc\ oder 'AQy.lll\ov\. Der Voll- name i/QyJXag, ZU dem "^Qy.e/j.oQ die zweistämmige Koseform vor- stellen würde, ist noch nicht belegt, aber neben 'Agy.eaÜMog und den Koseformen l-iQyJag, 'AoyUov, 'Agyvlog^) mit Bestimmtheit zu erwarten.

Z. 11 läßt sich keine andre Ergänzung finden als [yJ]a(pdrjg. Für eine Inschrift aus Argos liegt sie um so näher, als wir einen argi- vischen Tyrannen ylacpdrig durch Pausanias II 21, 8 kennen. Hinter diesem Namen gibt das Faksimile E5: . . A//y. Korrigiert man den als unsicher bezeichneten zweiten Buchstaben in T, so kommt man auf 'Et[s'\ä[Qyiov'] oder 'Et[e\cx[vdQov]. Es ist schade, daß von dieser In- schrift kein Abklatsch vorhanden ist: an ihm ließe sich diese Ver- mutung prüfen.

Z. 18 erweckt die gleiche Klage. Das Faksimile bietet OKA . O//// hinter dem Genetive -yleiöa. Man würde gern erfahren, ob das vor K stehende Zeichen nicht denselben Wert haben könne wie das in der nächsten Zeile erscheinende ®, das der Apparat keines Wortes würdigt, das also doch wohl von einem Loch im Steine herrührt. Der Namenrest 'O/.l . o - -, mit dem nichts anzufangen ist, würde dann anspruchslosem KÄ[£]o - - weichen.

Z. 20 enthält nach dem Faksimile die Zeichen ~ONO(|)EAA//,^ ATIAAI. Fränkel umschreibt sie mit -ov, '0(p£lä[g\ ll[i\iöd[uov]. Nach-or, dem Rest eines Frauennamens, sucht man zunächst einen Genetiv. Dieser kann mit 'Ocpslä gegeben sein. Stünde mir nun ein Abklatsch zur Verfügung, so könnte ich entscheiden, ob die Lücke, in die Fränkel ein y. setzt, groß genug wäre, um KP aufzunehmen. Und wenn dies, so würde ich [Kq\aridapL[og\ schreiben.

Zu 529.

Bruchstück eines Kataloges von Freigelassnen, der so angeordnet ist, daß an erster Stelle der Zeile der Name des Freigelassnen im Akkusative, an zweiter der des Freilassenden im Nominative steht. Der Zeichenkomplex TEAAEA/ eröffnet die Zeile 5, er muß also als

1) Über "Aqkos urteile ich jetzt so wie Preuner Mitteil. 27. 343.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 79

Rest eines Akkusativs aufgefaßt werden. Dies führt auf T£lkedö[av], oder, falls es sich um eine Sklavin handelt, auf Te?2eccd[a\. In Fränkels Umschrift begegnet dafür die Form Te'/Ma, und aus dem Index ist zu ersehen, daß der Herausgeber dies für den Akkusativ eines Namens T€?J.€vg gehalten hat, den wir sonst nicht kennen.

Zu 614.

Den Namen [B]öTQc<g (Z. 2) würde ich nicht einmal mit einem Fragezeichen aufgenommen haben. Was an seine Stelle zu treten hat, läßt sich nur im allgemeinen sagen: die zweistämmige Koseform eines Vollnamens, dessen erstes Element auf -o schloß und dessen zweites mit tq- anlautete, also die Verkürzung eines Namens wie z/iOTQerfr]Q.

Als Namen der nächsten Zeile gibt die beste Abschrift, die von Roß, [.3](y[öja«oc an die Hand. Fl an erster und T an dritter Stelle ruhen einzig auf Fourmonts Gewähr; der wenig glaubhafte, von Fränkel freilich ohne Bedenken geglaubte Name nözaiiiog ist also nicht ausreichend bezeugt. Ficks Vorschlag noTäi.uov (GGA 1883, 117) steht im Widerspruche damit, daß Roß als letztes Zeichen M gibt.

Z. 6 halte ich an dem Xccqcov der Roßischen Abschrift fest. Fränkel gibt dem O, das Gell an erster Stelle gelesen hat, den Vorzug und gelangt so zu dem Namen Qüqcov, der als Gägocov verstanden werden müßte. Aber die Namen QuQovTccg und Oagolag 729 g. lo zusammen mit den S. 69 unter Otlo^eQorjg zusammengestellten weisen darauf hin, daß Qo in der Argolis wie in Arkadien festgehalten wird ; eine Namen- form QdQQcov würde die Regel durchbrechen.

Z. 9 liest man in Fränkels Umschrift ^htcov. Warum, da Roß an erster Stelle K gibt und die Namenform Mivrcov von Prellwitz gut erklärt wird?

Zu 616.

Ich weiß nicht, warum Z. 2 aus ANAI der entlegne Name ^'Ava- Y.og und nicht der sich von selbst aufdrängende 'Avainog herge- stellt wird.

Zu 727.

Kol. A Z. 2 steht AIONYSO^ vor einer Fehlstelle von etwa 9 Zeichen, dahinter lOY. Fränkel umschreibt dies mit Jiöwoog iov, hält also für möglich, daß die Trozenier des 3. Jahr- hunderts einen Menschen mit dem Namen des Gottes Jiöwoog be- zeichnet haben. Richtiger scheint es an einen Namen wie Jlowgo-

80 F. Bechtel

a\^£vt]Q] oder Jtovvoöo\TQceTog] zu denken; daß ich keinen von beiden belegen kann, macht mich nicht irre.

Zu 7'M).

Eine der Inschriften, die nur aus den Papieren Fourmonts be- kannt sind. Sichre Emendationen sind da selten möglich, weil man bei der Häufung der Lesefehler nicht wissen kann, wo die Korrektur einzusetzen hat. Gleiciiwohl meine ich in einigen Fällen Bessres geben zu können als Fränkel.

Kol. I Z. 8 nATQNinE, von Fränkel naT[Q]d)vi[og] gelesen: „HE est DC". Der wahre Name ist sicher mii lIa{i)(bvi(og) getroffen; für Epidauros bezeugt ihn 894 II 37.

Kol. I Z. 11 gibt KAKOrriKTOCKAA.OY die Basis für die Restitution Kcc[i']y.o[a9-€vi]og Ka[lcc]ov, die in ihrem ersten Teile ge- radezu wild ist, in ihrem zweiten die Überlieferung ohne Not ver- läßt. Gegen Kciö[fi]ov wird nichts zu sagen sein; dem ersten Zeichenkomplexe möchte ich K{'l€)öaTQ{a)Tog entnehmen.

Kol. II Z. 5 CYPTONIKOY, von 'Fränkel, wie schon von Böckh, beibehalten, wenn auch nicht ohne Bedenken. Ich schreibe dafür ^{T)Q{a)rovixov.'i)

Kol. III Z. 2 ist nPOMIO vermutlich als nPOMHO zu deuten, der Name also in ngofirjO^kov oder nQo/.irjü^iör]g zu vervollständigen; wegen des dialektwidrigen ?; vgl. 'Aoiddijg II 2. Der Name llQöuiog hat kein Existenzrecht, so lange kein bessres Zeugnis für ihn existiert als dieses.

Kol. III Z. 3 würde ich in APOKYAOE lieber Jogy.vlog sehen als mit Fränkel Jow^rvkog. Bei der Häufigkeit, mit der auf Steinen Buchstaben vertauscht werden, braucht man hier nicht einmal einen Lesefehler anzunehmen.

Kol. IV Z. 5 befremdet 2coy.()cn[ac neben OiXoxQärsa III 7, Ev/.qcc- reag Vs; ich halte daher I für unvollständiges E und streiche die Namenform :^(t)y.QäTu< aus der Inschrift und aus dem Index.

Zu 731.

Auf die Fragezeichen, die ich hinter nicht wenige Namen dieses Verzeichnisses gesetzt habe, ließe sich vermutlich antworten, wenn ein Abklatsch zu Rate gezogen werden könnte. So komme ich nur

1) Gut ist die Restitution {A)n[K](i[a]i/o}' II 1, die durch Änderunj^ von A in A gewonnen ist. Vgl. Jnuöxoouue GP- 95.

Die Personennamen im vierten Bande des Inscriptiones Graecae, 81

teilweise aus der reinen Negation heraus; positive Vorschläge habe ich zu vier Namen zu machen.

Kol. II Z. 1 TAANn das Faksimile, Tl[a\v(h die Umschrift. Daß hier ein Fehler vorliegen muß, ist klar. Die Heilung bringt ein mir brieflich mitgeteilter Vorschlag Hillers von Gärtringen so gut, daß ich eine eigne Vermutung unterdrücke: auf dem Steine steht TA ANH. Der Name rXavcb ist ein Spitzname, der sich formell zu ylävog ver- hält wie rvQivvcb zu yvQLvog, zu dessen Beilegung dichtes, rauhes Haar geführt haben kann.

Kol. II Z. 19 1. '^cfQoöiT{i)ccg? "AcpQodLTLCi steht auf dem Frei- lassungsverzeichnisse 529 in, andre Urkunden schreiben 'Acpqodiaia\ 'AcpQoöLra nur hier.

Kol. II Z. 20 [Ms\lc(Givog gegen die Sprache und wohl auch gegen den Raum. Mit {re]lc(OLvog werden beide Anstöße vermieden.

Kol. II Z. 21 AAMAFA mit der Bemerkung: „versus Ultimi paene certa est lectio". Ergänzt man A zu A, so ist die Herstellung nicht zu verfehlen: Ja(.iäya[d-og] oder eine weibliche Form.

Zu 732.

Kol. II Z. 27 hat Fränkel von Böckh die Ergänzung [rvn\väGLov übernommen, obwohl vor dem A seiner eignen Abschrift, das als Rest von A angesehen werden muß, höchstens drei Zeichen Platz finden. Kombiniere ich seine Abschrift mit den ältren, so scheint mir nur [M]vaGuov oder []M\väoLov zulässig.

Kol. IV Z. 4 ändert Fränkel MY2IOZ in M[0]YZI0Z und be- trachtet MovoLog als Genetiv zu Movoig. Aber die Buchstaben sind auf diesem Teile des Kataloges durch so große Spatien getrennt, daß die Einfügung des O ganz unwahrscheinlich ist. Ich bleibe also bei der Überlieferung stehn und betrachte Mvaiog als Nominativ. An der Bedeutung dieses Namens kann kein Zweifel sein : Mvaiog heißt so zu Ehren der z/r]fx)]TQia BTvala, deren Cultus Pausanias für Argos be- zeugt (II 18, 3 ^yrö ÖS raJv KqiCöv .... nQOsl^ovaiv öliyov eorlv ev ccqi- OT£Qäi ycoQiov Mvoicc y.al Ji]f.ir]%Qog DIvoiccg leQÖv), auf den auch das Relief aus Lerna 664 hinweist, i) Vielleicht ist es kein Zufall, daß auf unsrer Liste dem Blvoiog ein JafiärgLog unmittelbar vorangeht: die beiden könnten Brüder sein.

Kol. IV Z. 15 setzt Fränkel einen Frauennamen ^AQartla in die

[1) Über die Jrjf/rirola Mvaia jetzt Malten Arch. f. Religionsw. 12, 296 ff.]

Graeca Halensis. 6

82 F. Bechtel

Umschrift; die naheliegende Konjektur [:i]c<Qa7ria lehnt er mit der Bemerkung ab: „sigma non erat in lapide'. Wieder vermißt man auf das schmerzlichste einen Aklatsch, mit dessen Hilfe sich fest- stellen lassen müßte, ob für ^ Raum vorhanden ist oder nicht; der Zeichnung nach scheint dies möglich.

Die Zeilen 18—24 hat Fränkel zu umschreiben vergessen. Auch im Index sind sie nicht berücksichtigt.

Zu 7;u.

Z. 12 kommt als Name des Vaters nur n[Q]öv[ofxog] oder J7[^]d- v[oog] in Betracht.

Zu 735.

Z. 3 ist TIM El A überliefert. Fränkel ändert dies in Tifx{a)icc und bemerkt dazu: „emendavi; Tiusia dubitans Boeckh". Er hätte sich an die Namen Tiueiog, Wileiog seines eignen Corpus (über sie S. 72) erinnern und Tiusia schreiben sollen.

Zu 757.

Seite A Z. 24 ist -ovi]rov als Namenausgang erhalten. Man sieht nicht ein, warum Fränkel hieraus [0£]o[;']r?jToi' macht, wo y^<:pd-\o- vrjtov zur Verfügung stand.

Ebenda Z. 37 ist die Ergänzung von --A . . YAEO^l zu [A'jf^i^- y]vd€og nur eine von verschiednen Möglichkeiten. Unter Festhal- tung des A kann man z. B. auch ['^y]?.[iox]vdsog herstellen.

Seite B Z. 24 wagt Fränkel die Ergänzung ]Se[i/.o]ö(ÖQov. Da dicht vor dem unvollständigen Namen 0iöcovi[öa]g geschrieben ist, in Z. 28 ['^4]XcpioöiüQov, so versteht man nicht, warum Fränkel nicht bei N£[r/.o]öd)Qov geblieben ist.

Zu 774.

Aus ZKAA-- (Z. 5) entnimmt Fränkel einen mit ^/./mq-- begin- nenden Namen, als ob das Wort OAlrjQög ionisch -attisches, nicht gemeingriechisches r] hätte: ay.hjQäg i?Miag Find. Ol. VII 29, eu/is/mo- y.ÖTog duiv y.ülqov oyJ.tjgoC Smlg. 5104 r off. (Olus). Etwa 2:yfi?.[aßig] aus :SyMlaßd>Tug wie Kd?Mßig in Gortys (Smlg. 50304) aus Kalaßcorag?

Zu 79(1.

Z. 2 gibt das Faksimile die Namenform BITON. doch mit schraf- fiertem B: „deprehendisse mihi videor vestigia litterae B", sagt der Herausgeber. Da für Hermion und Epidauros der Name Kirog ge- sichert ist (S. 74), so erhebt sich die Frage, ob er durch die vor- liegende Inschrift nicht auch für Trozen erwiesen werde.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 83

Zu 823.

Fragm. A Z.2 ist erhalten OPOAYKnNO^. Fränkel umschreibt dies mit -xq\6Tco{:v) ^Ivvxovoq, nimmt also entweder Darstellung des unechten ov durch O oder einen Fehler des Steinmetzen an. Das eine wie das andre läßt sich umgehn, wenn man POAYKnNO?; als Einheit faßt: Ilo/.vy.cov kann zu IloAv/J.f^g, nolv/.Qdxrig, nolvxQixog als zweistämmige Koseform gehören; direkt bezeugt ist der Name für Tanagra durch IG VII 1340. Das erste O, das von Prott gelesen hat, ist wohl Rest von %ö.

Ebenda Z. 27 erscheint TEAni hinter einem Bruche. Es ist also sehr gewagt daraufhin einen sonst nicht bekannten Namen TeloQ anzusetzen; besser denkt man mit Prellwitz an den Rest eines Namens auf -xelog.

Zu 853.

Z. 4 ergänzt Fränkel ^udQLOTo[ddß]ov. Aus dem Faksimile würde ich eher auf 'AQL(jTol[o\yov schließen: A ist vorhanden, die Hasta \ steht zu schräg, um als Rest von M wahrscheinlich zu sein, und der Raum, der zwischen A und \ angegeben wird, scheint für die Ein- setzung des A und der linken Hälfte des M zu klein.

Z. 7 steht auf dem Faksimile AINEZTPATOY, auf der Umschrift ALvEOLOtQdTov. Ich verdanke Hiller von Gärtringen die Mitteilung, daß der Abklatsch ^AQ^sozQäxov erkennen läßt.

Z. 10 eher 'Ovii\o\ÜM als 'Ovci\xoQ\L^u, wofür der Raum zu knapp ist.

Zu 894.

Kol. II Z. 34 EPnA:^I^N, von Fränkel ohne Bedenken mit 'Eq- naoUov umschrieben. Wir kennen "Egyaoog, 'Egyaoliov (GP- 128); den zweiten Namen stelle ich auch hier her,

Kol. III Z. 4 AA(t)IPAÄAS, von Fränkel ebenfalls beibehalten. Der sinnlose Name wird verständlich, sobald man I und P umstellt; ein AafQiüdag ist ein Mann, der im Apollon Aäq^Qiog seinen Ahn- herrn verehrt.

Kol. III Z. 5 stoße ich mich an dem Namen KQaxrjalviog. Ent- weder ist das zweite I aus der vorangehenden Silbe wiederholt, oder der Steimetz hat K hinter ihm übersprungen.

Zu 925.

Die anstößigen Namen der auf diesem Steine vereinigten Akten- stücke sind bei der durch Kaßßaöiug Publikation angeregten erneuten

84 F- Bechtel

Prüfung des Abklatsches, von der die Addenda Rechenschaft ablegen, fast alle verschwunden. Es bleibt aber TvxavLöctg Z. 40, was offenbar auf dem Steine steht, da auch KaßßcediaQ so liest. Hier liegt ein Fehler des Steinmetzen vor, der TvyavÖQiöag oder Tv/uvogiöag durch Überspringen zweier Buchstaben verdorben hat.i)

Zu 920.

Was sich Fränkel unter dem \'E]t£6tv).oc: , den er Z. 42 herge- stellt hat, gedacht hat, vermag ich nicht zu sagen. Ich finde nur die Übersetzung: 'einer, der einen wahrhaftigen Wulst hat', die das Ver- langen wachruft, den Wulst zu operieren. Wie mich Hiller von Gär- tringen belehrt, ist das zweite Zeichen nach dem Abklatsch eher r als T, braucht man auch an das erste O nicht zu glauben, da an der Stelle Risse sichtbar sind, so daß, was jetzt O scheint, ebenfalls von einer Beschädigung herrühren kann. Ich vermute jetzt [A\y£- [ö\tv/.ov\ vgl. 'AyeoTuuc 16 XII 1 no. 1044.

Z. 57 ist Fränkel zu Stais' Evöllag zurückgekehrt, wofür ich KvöLluQ gefordert hatte. Meine Vermutung ist später von Kaßßaölag und Baunack bestätigt worden, und jetzt bestätigt sie Hiller von Gärtringen aus dem gleichen Abklatsche, dem Fränkel das sinnlose Evdi/.ccQ entnommen hat.

Zu 1178.

Z. 1 liest Fränkel ['^arv]?M[t]örjg. Weder ist bekannt, wie viele Zeichen im Anfange fehlen, noch ist zwischen A und A Raum für I vorhanden. Man kann also nur sagen, daß in der Zeile ein Name auf -kdörjg gestanden haben muß.

Z. 1360.

Der Zeichenkomplex - \EANIK- (Z. 1) scheint mir nur als -z/.«« Nr/.- verstanden werden zu können. Mit Fränkels [Kl]£avrA- wüßte ich nichts anzufangen.

Zu 1879.

Die links unvollständige Basis hat mit einem Namen begonnen, von dem -ay.iiov erhalten ist. Seine Ergänzung ['HQ]axiiüv hätte Fränkel nicht ohne Vorbehalt einführen dürfen. Denn selbst wenn man zugibt, daß nicht mehr als zwei Zeichen abgebrochen sind,

1) Hiller von Gärtringen teilt mir mit, daß Z. 14 hinter StrofüirToi zu lesen ist dx r6).y,.,r. Fr.inkels Text bietet dafür rsQiövwr, in den Addenda wird dies zu- gunsten des von KaßßaÜlae empfohlenen Bf^oiaior aufjrcgeben.

Die Personennamen im vierten Bande der Inscriptiones Graecae. 85

bleiben noch andre Möglichkeiten als die von Fränkel ausschließ- lich bevorzugte; ich greife aufs Geratewohl ['E^]ax/wv heraus.

Zu 1484.

Glücklicherweise ist ein Abklatsch dieser Inschrift vorhanden, der in Beziehung auf die Namen, die ich hier zur Sprache bringe, von Hiller von Gärtringen geprüft worden ist.

Z. 18 enthält Fränkels Umschrift einen Namen ["E](pa?,Tog, an den ich nicht glaube. Seine Vorgänger Kaßßaöiag und Baunack hatten ['Aa]cfalrog gelesen. Fränkel selbst hat statt des (p nur I ge- sehen; selbst wenn man I zu ^ ergänzt, kann doch ['Aa]cfC(}.Tog nicht in Betracht kommen, weil zwischen I und dem Ende des vorangehen- den Wortes nur für ein Zeichen Raum ist. Da Fränkel statt <P nur I zu erkennen vermocht hat, bin ich auf den Gedanken gekommen, von . lAATOS: auszugehn und [3I\iXarog zu vermuten. Hiller von Gärt- ringen hält diese Vermutung für möglich.

Z. 32 setzt Fränkel den Namen Ja[fiöx]oog in den Text; von M und X gibt das Faksimile Reste an. Es ist mir unbegreiflich, wie Fränkel sich bei dem 'Volksgießer' beruhigen konnte. Von den mit Ja(xo- beginnenden und auf -oog schließenden Namen bieten sich Jafxö&oog und Jccuövoog zur Auswahl. Der zweite ist herzustellen: was Fränkel für den Rest eines X gehalten hat, ist der Querstrich eines N ; von den beiden senkrechten Hasten des N hat Hiller von Gärtringen die zweite noch ganz, von der ersten das untre Ende auf dem Abklatsche gelesen.

Zu 1504.

Kol. I Z. 9 ist AAIPPOS: überliefert. Dieser Name ließe sich durch den Hinweis auf 'htTcölag rechtfertigen. Da er aber bisher nicht zutage gekommen ist, wohl aber JaCitnog, sollte nicht auch hier A statt A beabsichtigt gewesen sein?

Kol. II Z. 25 ist Q\E6Tq6\(pog keine glückliche Ergänzung, da man nach JioTQecprjg, '^EQfioTQecprjg, Zr}voTQScpidr]g eher QEoxQEcprjg erwarten würde. Mit bessrem Rechte kann man an Q[vii6ao]cpog denken; ein Zeugnis für diesen Namen ist GP^ 148 beigebracht.

Die Herkunft des orphischen Hymnehbuchs

von

Otto Kern.

Noch immer ist es der Forschung nicht gelungen, die Zeit des Hymnenbuchs zu bestimmen, das in den Handschriften die Über- schrift trägt: 'ÖQcpicoQ jiqöq Movocüov £vtv%oiQ xQcj etuiQS. Auch diese Abhandlung wird da weder Neues noch Abschließendes bringen. Denn es bleibt der Spielraum vom zweiten vorchristlichen Jahr- hundert bis zum dritten oder vierten nach Christus, wenn auch die frühere Abfassung oder Redaktion dieser orphischen Hymnen, die Albrecht Dieterich in seiner ausgezeichneten Habilitationsschrift De hymnis Orphicis, Marburg 1893, vertreten hat, wahrscheinlicher ist als die spätere, der ein Meister unserer Wissenschaft wie Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (Griechische Literaturgeschichte i 185} wieder das Wort geredet hat. i) Was einst schon Chr. Petersen 2) hervorhob, daß jede Spur des Kaiserkults in ihnen fehlt, erklärt sich durch die Annahme ihrer Entstehung in vorchristlicher Zeit. ^) Daß aber die ägyptischen Götter wider Erwarten in der 87 Hymnen umfassenden Sammlung kaum erwähnt werden^) und keinem einzigen ein be- sonderer Hymnus gilt, erklärt sich schwerlich durch die Zeit ihrer Abfassung, sondern allein durch den Ort ihrer Entstehung.

Dieterich vertrat den Standpunkt, daß die Hymnen entweder an den Küsten Kleinasiens oder in Ägypten entstanden seien, hat dann aber gegen Ende seiner Schrift (S. 52) aus allgemeinen Gründen den ägyptischen Ursprung hervorgehoben. Er erinnert an das Blühen des Dionysoskults in Alexandreia, an die Beziehung der Götter zu Alexandros und den Ptolemäern, an die Ausbildung des Thiasos nach dem indischen Feldzug und schließlich an des Dionysios Baoaa- Qi/.ä und des Nonnos Jtovvoiay.d. Dem gegenüber läßt sich aber

1) E. Bethe urteilt in seiner Geschichte der griechischen Poesie bei Gercke- Norden I 326 ebenso.

2) Philologus XXVII 1868, 410.

3) Über Hadrian und den ftvoTi/.ds aywv in Ankyra vgl. W. Weber, Unters. zur Geschichte des Kaisers Hadrian 1907, 124.

4) 'Anöüwv MeuflrrjS Hymn. XXXIV 2.

90 O. Kern

leicht auf die Ausdehnung des Dionysoskults in der gesamten grie- chischen Kultursphäre hinweisen und, was wichtiger ist, eben auf das auffallende Schweigen über die ägyptischen Gottheiten. Isis erscheint nur XLIl 9 f. als Mutter der Mise, voraus nimmermehr auf alexan- drinischen Ursprung geschlossen werden darf »), und Ammon, Osiris, Sarapis, Harpokrates werden nirgends erwähnt. Ägypten wird außer in dem Hymnus auf Mise nur noch in dem auf Aphrodite neben Syrien erwähnt (LV 19). So lohnt es sich vielleicht, den Dieterich- schen Gedanken an Kleinasien als Entstehungsort dieser liturgischen Dichtungen aufzunehmen. Neue Funde helfen.

Den österreichischen Pionieren archäologischer Forschung in Kleinasien, denen wir so viele schöne Aufschlüsse seit langen Jahren verdanken, ist der Fund zweier Inschriften gelungen, von denen als festen Punkten für die vorliegende Frage auszugehen ist. Mit dem letzten der beiden sei begonnen, weil er der wichtigere und von Josef Keil in seiner Bedeutung sofort anerkannt worden ist, so daß er ihn aus der reichen Ernte seiner im Jahre 1908 mit A. von Premerstein ausgeführten zweiten lydischen Reise 2) herausnahm und im Eranos zur Grazer Philologenversammlung 1909, 102f. veröffentlichte. Zwei Weihinschriften an die JLjttjq "Inra, von denen die eine, in Gjölde bei Kula gefundene längst bekannt war, die andere im Dorfe Menje, das noch den Namen der alten Stadt Maionia bewahrt, eben entdeckt worden ist, beweisen, daß der XLIX. Hymnus nicht der Hippa gilt, wie in unseren Ausgaben und Handbüchern ■'■) zu lesen ist, sondern der Hipta, einer Form der großen Mutter Kleinasiens, die wie die anderen Brechungen dieser Gottheit ihren Namen von einem be- stimmten Lokal, wahrscheinlich einem Berge in der Landschaft Maionien, erhalten hat. Bei dem jämmerlichen Zustande der Kritik der orphischen Hymnen wissen wir nicht, ob die Handschriften die echte Namensform der maeonischen Gottheit bieten; daß aber die Überlieferung des Proklos, in dessen Kommentar zum Timaios Hipta zweimal ') erwähnt wird, zu dem Zeugnis der Inschriften stimmt, hat

1) Vgl. E. Maaß, Orpheus 196.

2) Die Publikation ihrer Ergebnisse wird erfreulicher Weise in nahe Aussicht gestellt (Klio IX 1909, 137).

3) Eine Ausnahme macht Eisele in seinem Artikel Sabazios bei Röscher 1\' 237, der die Konjektur ''Inna wenigstens auf dem Stein von Kula verschmäht und 'InTä liest. S. auch ebenda S. 261.

4) S. unten S. 92.

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 91

Keil sofort bemerkt. Außer in dem ilir gewidmeten Hymnus er- scheint Hipta aucti in dem voriiergehenden (XLVIII), der dem Saba- zios gilt. Da mir dieser noch nicht richtig verstanden zu sein scheint, setze ich ihn hierher:

Klv&i, näxEQ, Kqövov vie, ^aßdLis, xvdi/iis öcx^iov, dg Bä'/.%ov z/iövvGov, SQißgofxov, slQacfKbrrjv liirjQCp iyxciTSQccipag, Ö7icog TsteX€Gf.i6vog eX&i] Ti.iGiXov ig ^yä&sov rcaqd O- "Itctcccv xaHindQ-i^ov. dkld, (.id'/.aQ, 0Qvyirjg (xedioiv, ßccGilevTare ndviiov, svfieveiov STtccQcoyög erteX^oig fxvaxLTtöXoLGiv. Seit Lobeck nimmt man den Ausfall eines Verses zwischen V. 3 und 4 an, der etwa gelautet habe:

(.irjGi 7i£OL7ilo}.ievoLg, '/ml {xiv raxecog ixö/.itGGag. Völlig unnötig; denn der Sinn ist klar: Höre, o Vater, Sohn des Kronos, ruhmreicher Gott, der du Bakchos Dionysos, den lautlärmen- den, den £lQacfid)rrjg in deinen Schenkel eingenäht hast, damit er als ein Geweihter komme auf den hochheiligen Tmolos zur schön- wangigen Hippa. Aber, Seliger, Phrygiens Herrscher, König der Könige, komme als gnädiger Helfer zu den Mysten'. Hier fehlt kein Gedanke, alles ist in Ordnung; denn Dionysos ist reTslsGfxkvog, weil er in dem Schenkel des Sabazios eingenäht ist, dessen relsrai in Hymn. XLIX 2 ausdrücklich erwähnt werden, i)

Die beiden Hymnen gehören eng zusammen, entstammen dem- selben Gottesdienst und ersetzen einen Hymnus auf den Dionysos dieses maeonischen Kults; denn XLV gilt dem Dionysos BaGoaQsvg TQLETTiQiy.ög, XLVI dem Dionysos ^Jixvhrjg, XLVII dem thebanischen Perikionios 2), L dem Lysios Lenaios, LI den Nymphen als Ammen des Dionysos, LII dem TQi€tr]QrAög, LIII dem 'Ai.icpisri]g und LIV dem Silen, den Satyrn und Bakchen. Vorangeht dieser Gruppe von Hymnen auf Dionysos, die mit voller Absicht des Zusammenstellers den Mittelpunkt der ganzen Sammlung ausmachen, der Hymnus auf

1) Scaliger hat übersetzt (Hermann Orphica 581):

qui Brumum streperum insubulum inseruisti in femore, ut qui postidea maturus adiret in Tmolum sanctum, ubi habebat equiria polcra. Er gibt reTfleaiih'o> freilich durch maturus wieder, nimmt aber auch so keinen Aus- fall eines Verses an.

2) Jahrbuch des archäol. Instituts XI 1896, 113 ff.

92 O. Kern

Semele. Der Hymnus XXX Jiovvoov scheint an eine falsche Stelle geraten zu sein, während der auf den HQioröyovog (VI) selbstver- ständlich an seinem richtigen Platz stellt.

Die Inschrift der Votivstele in Gjölde lautet: 3I)]TQi "hcta y.td /tut ^a-

[ßaUo) ]

Neben der Mutter Hipta Zeus Sabazios, also der mit Zeus nicht nur hier i) identifizierte alte phrygische Gott. Die sehr viel ältere Identifizierung dieses Phrygergotts mit Dionysos ist in diesem maeonischen Kult also nicht erfolgt^), sondern Dionysos gilt da als Sohn des Sabazios und als Pflegekind der Hipta, wie Hymn. XLIX (vgl. auch XLVIII 4) beweist, in dem letztere auch als x^ovir] /nrjTr^Q angerufen wird. Die Beziehung zur Erde tritt dann bei dieser alten phrygischen Bergmutter noch deutlich in einer orphischen Tradition hervor, die wir aus dem Kommentar des Proklos, zum Timaios kennen

S. 124 C (I 407 f. Diehl): 6 ös 'Oqcpsvg tq67iov (tsqov' alX s'i

TL fxs öei TOvy.dv £L7teLv, öiä TOiJTtov y.cd fj tov d-eo/.öyov didvoia yi- yverai Y.ura(favrig. ^ iihv yaQ "Inra rov ncivrdg O'ÖGa ipvyij ymI ovtio y£xXr]f4,£vr] Ttagd to7 S-eo/.öyco rciya f^^iev ön vmI iv dy.ucuoTdrcug '/.lvi)- GEOiv al voTqöeiQ ccuTf^g ovouovrai, rdya ds y.al diä ttjv 6ivTdrr]v rov ^cavTÖg (fOQdv, \g iariv uiria, )U/.vov ijcl rrjg y.£(paXfjg ^€fi€vr] yMi ÖQdxovTL avzd TrsQiaTSipaau rov xgceötaiov VTroöeyercti JlövvgoV r(Z yoLQ iavtf^g O^SLordri^ ylyverai rf^g vosgäg otjoiag vnodo'/ij y.al öeys- Tcu TOV lyy.öajxiov vovv. ö öh dnö rov fir]Qov tov Jiög -iiqö^iglv etg airrjv {'^v yaQ iy.ei ovvr]vcofx€vog) xai jCQoeX^oiv y.al {.le^eyiög avri]g ysyovoyg inl vorjröv ü'izrjv dvdyei y.al rrjv iuvrov mqyiqv irtsLysxaL y.al TCQÖg ttjv fxr]T€Qa töjv ^edv yal rrjv "ldr]v, dcf' t]g 7tä0a töv rpy^Cüv i] oeiQd. diö y.al ovlla/ußdveiv '^"hcra keyerai Tiy.xeiv JlL. iog yaQ s'iQrjrai vtQÖrsQov , vovv ävsv ij-iv/fig ddvvazov jcaQayeveod-ai Tiij, Tovro de ö/noiov reo jtaQ' 'ÖQrfSi'

y kv y. 6 Q ö V de r ey.og J lög eiBv.aXelTO , TOVTO de T^v 6 y.oour/.ög vovg Jiiog üv, y.ard röv iv xip f.ieivavrct 7tQ0E'ki>(hv. Vgl. Procl. III 200 D (II 198, 8 Diehl), wo mit der enl Tf]g y.E(palfig cpiQovoa töv d^söv die ii^rrjQ "Ititu gemeint ist und III 171 F

1) S. Eisele a. a. O. 236.

2) Vgl. über diese Dinge Eisele a. a. O. 257 ff., der mir aber in seinem Skepti- zismus zum Teil zu weit zu gehen scheint.

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 93

(II 106, 1 Diehl), wo des Orpheus ^cegl rrjg "tTtrag löyoi erwähnt wer- den, i) Hipta trug nach dieser Überlieferung also den kleinen Dionysos in einem von einer Schlange umgebenen Liknon auf dem Kopfe. Außer einer schon von O. Gruppe 2) verwerteten Münze aus Isinda in Pisidien (Imhoof-Blumer, Kleinasiatische Münzen II 374, 7 Taf. XIII 12) ist uns die Beziehung der Schlange zur kleinasiatischen Meter nicht bekannt, wohl aber längst vertraut aus den Kulten des Sabazios so- wohl wie des Dionysos. Unzweifelhaft gehören aber die von Proklos noch benutzten 'köyoi tcsqI rfjg "Inrag in denselben Kreis wie die beiden orphischen Hymnen. Sie mit Abel und anderen ohne weiteres der alten rhapsodischen Theogonie zuzuweisen, liegt kein Grund vor. Diese Xöyoi könnten auch Hymnen in der Art von XLVIII und XLIX gewesen sein.

Keil und v. Premerstein haben nun aber auch schon auf ihrer ersten lydischen Reise im Jahre 1906 einen Stein gefunden, der von großer Wichtigkeit für die Frage nach der Herkunft der orphischen Hymnen ist, weil hier zuerst der Name des Dionysos 'HgcxsTtaZog inschriftlich erscheint. 3) Es ist ein Rundaltar aus Hierokaisareia, der folgende mit Buchstaben des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts eingemeißelte Inschrift trägt:

Eni IsQocfdvTov

^QTSfJLidÜtQOV TOV L^7foA-

XüyvLov I\Ir]vö(fi?.og, IIsqi]- ?Uag xal ^exovvöog ^^rcol- 5 XiovLov OL Gvvysvsig /lio- vvaoj 'HgrAs^rako %öv ßcofiöv.

Die Lesung ist Z. 6 nach dem Faksimile absolut sicher. So ist also der Kult des Dionysos Erikepaios für eine lydische Stadt urkundlich bezeugt, und zwar erfreulicher Weise sofort auch für einen Mysten- verein (iinl IsQocpdvrov Z. 1). Die orphischen Hymnen sind nach Dieterichs unumstößlichem Beweise für eine Kultgemeinde dionysischer Mysten bestimmt, 'Hgizercaiog erscheint in unserer Sammlung nicht

1) Abel fr. 207: dazu auch noch Prokl. III 208 C (II 222,18 Diehl). Vgl. auch Ed. Lübbert, Commentatio de Pindaro theologicae Orphicae censore, Bonner Index 1888/1889, XX.

2) Griechische Mythologie und Religionsgeschichte 1423, 5.

3) Denkschriften der Wiener Akademie. Phil. hist. Kl. Uli 1907, 54 Nr. 112.

94 O. Kern

nur VI 4, wie man nach Abels Index annehmen muß, sondern auch LIl 6. Durch Hipta und Erikepaios aufmerksam geworden, werden wir vertrauensvoll noch nach anderen kleinasiatischen Spuren in unserem Hymnenbuch suchen.

In Pergamon ist ein Zaubertisch gefunden worden, den mit anderem Zaubergerät R. Wünsch im VI. Ergänzungsheft des archäol. Jahrbuchs 1905, 1 1 ff. publiziert hat. Die Verwandtschaft der orphischen Hymnen mit den Zauberpapyri ist oft hervorgehoben worden. Aber wichtig ist, daß ein kleinasiatisches Zaubergerät mit Inschriften wahr- scheinlich aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. die Verbindung mit einem orphischen Hymnus herstellt. Der Tisch stammt aus dem Zauberdienst der Hekate, wie die Inschriften beweisen. In einem Nachtrag wird Hekate als Pasikrateia, Pasimedusa, Persephone, Melinoe und Leukophryene angerufen. Leukophryene weist nach Magnesia am Maiandros; Weihungen an sie sind aber auch aus Paladari in Mysien und dem Heiligtum des Zeus Panamaros bekannt geworden (Inschr. v. Magnesia XVII Nr. LXIII). Es kann wohl kaum ein Zweifel sein, daß trotz des starken ägyptischen Einflusses, den Wünsch festgestellt hat, der Zaubertisch in Kleinasien fabriziert ist. Nun hat Wünsch selber an den orphischen Hymnus LXXI an die Mr]ltvör] (so die Überlieferung wie auf dem Zaubertisch; Meilivör] Lobeck) erinnert, der uns ganz in die nächtliche Zaubersphäre der Hekate führt. Er war bisher das einzige Zeugnis für die nun auch von dem pergamenischen Zauber her bekannte 31r^/.ivör^. V. 9 dr- rciiciig icfööoiGt- v.arä Lo^osidea vvxrcc erinnert an die Meter Antaia, der Hymnus XLI gilt, i) Auch bei Pasikrateia und Pasimedeia sind Wünsch Epitheta aus den orphischen Hymnen mit Recht eingefallen: navroy.QäreiQu heißt 0vGig X 4, und 14 at^sgir] yßovii] xe y.ai eivalh] /Lisöeovaa. Unterlassen hat er aber, auf Dione hinzuweisen, die mit Phoibie und Nychie die Dreigestaltigkeit der Hekate auf dem Zauber- tisch ausdrückt (Wünsch S. 23) und auch in der sog. Evxrj rrgdg Movoaior, dem Einleitungshymnus unserer Sammlung Vers 19 er- scheint, der übrigens wohl zu lesen ist:

1) Mir scheinen außer der Meter Antaia Arraioi:, tv&vrrjToi usw. auch beson- ders für Kleinasien zu sprechen. Auf das häufige Vorl<ommen dieser Worte in den orphischen Hymnen hat schon Dieterich a. a. O. 14 f. hingewiesen. Hin neues Zeugnis für die in)Tnif '>kt>" tvävTrjjos gibt eine in Kula von Keil und v. Preuierstein ge- fundene Weihinschrift (a. a. O. 82 Nr. 179). Siehe auch unten.

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 95

ylrjtd) X ' svTiköxafxov, Gelrjv i) os/uvrjv ts /icbvr]v. Dione in der rliapsodischen Theogonie aucii fr. 95 Abel.

Man liest seit Lobeck öfters, daß die alte orphische Theogonie den Phanes bereits mit Priapos identifiziert hätte, hat aber dafür kein weiteres Zeugnis als den Hymnus VI 8. 9:

lafXTCQÖv dyiov cpdog äyvov, äcp^ ot Gs Oävrjra yuythjöxo)

rjdk TlQLrjTCOv dvaxra xal Avravyrjv eXiKto/rov. Ich halte es für sehr viel richtiger, diese nur hier vorkommende Gleichung auf das Konto der kleinasiatischen Mache der orphischen Hymnen zu setzen. Der große Gott von Lampsakos wird hier jetzt so wenig überraschen wie die Melinoe Pergamons. Daß er aber ganz besonders auch in Lydien (Hypaipa) verehrt worden ist, muß hervorge- hoben werden, Weihinschriften scheinen für Priap daher allerdings nicht bekannt zu sein, aber es genügt auch der Hinweis auf Petron. Sat. 133, S. 100,8 Bücheier 3. 2) Wer der Meinung ist, daß die Seegötter in den orphischen Hymnen ganz besonders berücksichtigt sind, mag sich der aus der Anthologie bekannten Epitheta des Priapos lifxe- vlrrjg, hiisvoQfilrrjg , Tcovroi^ieötov USW. erinnern und glauben, daß auch deshalb Phanes mit Priap identifiziert worden ist. Auch der Hymnus auf Apollon XXXIV zeigt mehr als mancher andere klein- asiatischen Erdgeruch: wir notieren die Beinamen rgweiog, ^^iivO^svg (V. 4), BgdyxLog xal JiÖvixevg, ncnaoi]i'og (V. 7). Auch der Hymnus auf den Keraunos (so, wie auf der Inschrift aus Mantinea, auf die Hiller hinweist, nicht Jidg Kegawiov ist überliefert) klingt nament- lich nach Kleinasien und im speziellen noch nach Maeonien (Stellen in Roschers Lexikon II, 1118f. [Hoefer]). Über Mise (XLII), = Bliöa &eög, deren Hymnus auf den der firjrrjQ 'Avrala folgt, braucht man wohl nach Dieterichs schönen Darlegungen im Philologus N. F. VI 1893, 5ff. (vgl. auch Roschers Lexikon II 3023 ff.) in diesem Zusammen- hang kaum ein Wort mehr zu verlieren. 3) Und schließlich Hekate, die nirgends eifriger verehrt worden ist als in Kleinasien, wie schon die für die Religionsgeschichte noch lange nicht ausgenützten Per- sonennamen beweisen! Ihr gilt der Eingangshymnus. Denn daß die seit Gottfried Hermann beliebte Trennung der Anrufung der Hekate

1) Nicht d-ilrjv, wie G. Hermann und Abel gedruckt haben.

2) Vgl. O. Jessen bei Röscher III 2972.

3) Widerspruch gegen Dieterich bei Kretschmer Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache 196.

96 O. Kern

von der luxr völlig verfehlt ist, leuchtet ein: die große kleinasiatische Zaubergöttin eröffnet die ;rävi>£iog relsr'^. i)

Lukian sagt an einer in neuerer Zeit mehrfach behandelten Stelle negl üQXTi'joeioQ 79"^): i) fiev ye Bcix/r/.}) ÖQ^rjOig iv 'hovia fiäXiOTa '/.ui iv növTL^ a7COvdaCofievi], YMiroi aatvQiy.rj oijaa, ovtco xeysiQtoTai rovg dv- ^Qd)7rovg Tovg ixBi, wäre v.uxä röv rsrayixevov iy.aoroL y.aiQÖv catävrojv iTtilad^ÖLiEvoL TCüv äl'Atov y.ä^r]VTcci di' i^^u€qc<q Tträvag y.cil KoQvßavrag y.ai ^ccTVQOvg y.al ßovy.öXovg ÖQcövrsg. y.cd ÖQyovvrui ye ruvxa ol evys- VEOTUTOL y.al TTQCOTevovTeg iv iy.darrj tcöv jVÖIscov ovx ÖTttog aidovue- roi, d?j.cc y.al neya cfQovovvzsg i^cl r(^ TCQdyf.U(ri fxdXkov rjnsQ in ivysveiaiQ y.al /.eirovoyiaig y.al diubaaGi ^rQoyovr/.oig. Hiermit ist namentlich der Hymnus auf die Korybanten (XXXVIII) zu vergleichen, der uns freilich nicht direkt nach Kleinasien, aber doch nach der berühmtesten Insel des Kleinasien eng benachbarten thrakischen Meeres führt. Er gilt den samothrakischen Göttern, und auch hier wird wie auf allen in Samothrake gefundenen Steinen der Name der hohen Kabiren vermieden. Aber ein Vers (20) mahnt an eine auf Imbros gefundene Urkunde (IG XII 8, 74):

KovgfjTeg KoQvßavreg, dvdy.TOQsg svdvvaroi rs iv ^auod^Qcr/.rj dvay.reg . Denn die von Conze entdeckte Inschrift lautet: QeoI Msyd/.oi, Geol JvvaToi, iayvQQol y.al KaOfisils ävai, ndT\QL\oi Koiog, Kgeiog, 'Yjte- QsUov, EiansTög, Kgövog.^) Den ^sol Jvvaroi^) und dem ävaS. ent- sprechen die dvdy.roQEQ evövvaroi re iv ^afxo^Qdyrj ävay.Teg. In der orphischen Sprache begegnet das Wort svövvarog noch mehrfach, z. B. in dem durch Wiels und Abels Kritik stark zerrütteten Pro- oimion der Argonautica v. 17 BgiuoCg r svövvdroio yovdg, und LXXVI in dem Hymnus auf die Musen heißt es nach der Aufzählung von acht Musen: Ka}J.iÖ7Trj ovv /iir]TQl y.al evövvdrr] ^e^ ayrr]. Kalliope wird Mutter genannt als Mutter des Orpheus wie am Schluß des Hymnus XXIV 10 ff. auf die Nereiden:

1) Vgl. Dieterich, De hymnis Orpliicis 44 ff.

2) Vgl. W. Weber a. a. O. 124.

3) Ich gebe Fredrichs Text, obwohl ich weder seine Abweisung des !4i«| noch die der /7dT[«xJo« für richtig halte. Aber hier kommt nichts drauf an.

4) Vgl. hierzu Wissowa Gesammelte Abhandlungen zur römischen Religions- und Stadtgeschichte 115.

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 97

vfxstg yaQ jtqöjtch Tslerrjv dvsdsi^axe üsfxvijv eviegov Bäxioio ymI dyvfjg 06Qa€cpoveir]g KcclXiöfCj] Gvv fXTjTQl xai '^TtökXiovi dvaxTi, WO Orpheus' Eltern ausdrücklich genannt werden. In LXXVI sollen die Musen zusammen mit Kalliope ymI evöüvärrj d^sa äyvfj zu den Mysten {dllä ixöIolte, ^sal, (ivöicag) kommen. Es wird nicht an- gehen, das svdvvätrj d-eq dyvfj auf Kalliope zu beziehen: ein neuer Name wird nach dem Tenor des Verses verlangt. Aber die Höre Evvofxiri kühn in den Vers zu bringen, liegt kein Grund vor (vgl. auch Maaß, Orpheus 184, 21), und eine Göttin Evöwärrj wird wenig Glauben finden, trotzdem man an die Nereide Jwa^ievr] denken kann. Aber auch wenn man evdvvärrj als Adjektivum faßt, kann die Überlieferung bestehen bleiben, da die i^sd 'Ayvri gar keine Schwierig- keiten macht und man in dem Kultbuch einer orphischen Gemeinde namentlich zwischen Demeter und Persephone schwanken wird, die ja bekanntlich beide unter dem Namen der Heiligen verehrt worden sind. Jrjfzijrr]Q dyvonölog kommt im Hymnus auf Pluton XVIII 12 vor. Man könnte wohl auch an die ^vbvvaxog Bgiiidt denken, für die ich allerdings das Beiwort ayvi) nicht nachweisen kann. Der orphische Dichter hat dann an Bqi^co als Mutter des Bgifiög gedacht ([Hippolyt] omn. haeres. refut. p. 115 ed. Miller). Ob aber Brinio, ob Köre, ob Hagne, die Göttin bleibt hier immer dieselbe, die Heilige, die erst später mit anderen Göttinnen identifiziert ist. Vielleicht ist in diesem Hymnenbuch auch der Gedanke an Hekate nicht ganz abzuweisen als eine evdvvarog d-ed 'Ayvi]. Jedenfalls gilt es auch noch manche andere Möglichkeit erst ernst zu erwägen, bis man das an die Oeol dwaroi von Imbros gemahnende Beiwort einer Göttin durch Konjektur beseitigt. Überhaupt ist zu beachten, daß das Wort evövvuTog in den orphischen Hymnen oft erscheint: es stammt wie 6vävTr]Tog aus der Kultsprache i). So heißen die Musen LXXVI 6 voov evöwdroio xaifr]yi]T€iQaL dvaa- oca al T eher dg d^vrjrolg dveöeiicne ßv ör inolevrov g und Mne- mosyne LXXVII 5 evövvuTOv •/.garegöv ^vrjTCöv aviovoa loyi(Jf.i6v. Daß LXXVI 10 auch Mnemosyne mit der (-n]TrjQ gemeint ist, scheint mir schon wegen der aus dem Nereidenhymnus beigebrachten Parallele ausgeschlossen zu sein, nlovnov evdvvarog XXIX 20; NUr] evdvvarog XXXIII 1; Kgövog evövvarog LXXXIV 1.

1) Daher wohl auch xspde/fTiooog Hymn. XXVIII 6; vgl. Hiller von Gaertringen zu der thasischen Inschrift IG XII 8, 581.

Graeca Halensis. 7

98 O. Kern

Die vorliegende Fassung unseres Hymnenbuchs ') ist nach meiner Überzeugung also für einen dionysischen Mystenverein Kleinasiens bestimmt, der in einem Isgdg ohog oder ßcrAxeiov seinen Kult aus- übte. Beispiele für diese Mysten aus Kleinasien und von den Inseln aufzuzählen ist kaum mehr nötig. Fast jede neue Sammlung klein- asiatischer Inschriften bringt dafür neues Material. Was mir gerade aus neuen Editionen zur Hand ist, sei nur schnell notiert: die Weih- inschrift des Athenaios Chareinos' Sohn .Jiovvoin '^Qxi[ß]d'/.yip xcd ToFg nvoTuig aus Seleukeia am Kalykadnos (Heberdey und Wilhelm Denkschriften der Wiener Akademie Bd. XLIV 1896, 104 Nr. 183); die Ehrung für einen Mysten ex Tijg dicnd^swg €7tLixElr}i)-ivTiov rwv 7T£Qi Töv Kai>rje!.iöva Jlövvoov livotcöv aus Philadelphia bei Keil und V. Premerstein a. a. O. S. 28 Nr. 42); der Mystenverein des Dionysos im legög oLv.og rcov iv Klidwvi zu Magnesia am Maiandros (Inschr. Nr. 117); iegüTccrov veov Bciy.ytov auf Thasos (IG XII 8,387); die Weihinschrift des räl'og Koi[?u]og TldvxaQuog -D-eio Jiovvo^) y.al rolg cv Tip TÖ/foj LivoTuig auf Peparethos (IG XII 8, 643) usw. Auch an das Uqöv äyvöv an der Westtorstraße in Priene (Inschr. Nrr. 205. 206) mag erinnert sein. Neue Zeugnisse für ßov/.ö'ioi aus Kleinasien scheinen nicht gefunden zu sein außer der pergamenischen Inschrift Athen. Mitt. XXIV 1899, 179,31.2) Aber die ßovy.Shc aus Kenchreai IG IV 207, 3 sei zu Dieterichs Sammlung noch schnell hinzugefügt.

Schließlich fügt sich in den Zusamenhang dieses Aufsatzes noch gut eine neue Behandlung des Orakelspruchs von Tralles ein, dem nach den ersten Publikationen im Movoeiov y.al Bißlio^i^xr] Tijg siay- yel. oyoh]g rfjg ^iJ,vQvr}g 1880, 181 (nach Abklatsch von Mich. Pappa- konstantinu), von Hauvette-Besnault und Dubois in Bulletin de cor- resp. hellen. V 1881, 340 und Mich. Pappakonstantinu ^i/ Tgäkketg fjoL Gvlloyri TQCilhavwv ijtiygacpGiv Athen 1895, 39, Nr. 52=') erst wieder E. Ziebarth (Programm des Wilhelm -Gymnasiums zu Ham- burg 1903, 7 ff.) im Verein mit Joh. Geffcken einige Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ich habe dabei einen Abklatsch von Mich. Pappa-

1) Daß ich die Anspielungen auf die rhapsodische Theogonie heut anders be- urteile als vor zwanzig Jahren, möchte ich aussprechen, ohne näher darauf einzugehen.

2) Zu dem diaTu^i[(i^)/u^] dieser Inschrift Z. 10 vgl. /'x rr;» ^unäin,,^ auf der Mysteninschrift aus Philadelphia oben.

3) S. auch Archilol. Anz. XI 1896, 40.

i

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 99

konstantinu benutzen dürfen, dessen Sendung Herr Dr. Josef Keil freundlichst vermittelt hat, und Lesungen von Kubitschek, die sich auf einer Schede des Wiener Apparats finden, leider aber nur die ersten Buchstaben der Zeilen 1. 2. 8. 9. 10. 12 betreffen. Für die Mitteilungen der letzteren bin ich Herrn Professor Dr. Joh. Oehler in Wien zu Dank verpflichtet. Nach dem Abklatsch von Pappa- konstantinu ist die Tafel hergestellt.

Die Inschrift ist bereits 1880 gefunden worden €7ci rov dvazo- XtY.ov fieqovc, rcöv Tgälleiov jtQÖg yMTiocpEQkc; ßSQog tfiQ noög Blnowäg odov. JScpCsrai ijfxiav zov xvXivÖqlxov öyxov, rov etegov rjfxiöeog drroö7taüd-evTog v.a&EttoQ Ttqög rrjv ßccGiv icf' ot vrcijQisv €V£Qa iniyQcecfrj, r^g dXLya iiovov yQccfifiaza dicr/.QivovTai TtQÖg ccqi- oregä xf^g rrgoxeifievr^g ev eS,ai.LexQCi) ijitygacfi'jg i). Die Schrift stimmt zu dem Ansatz der Inschrift in das II. Jahrhundert n. Chr. Geburt, der durch die genauen Forschungen von E. Groag (Österr. Jahres- hefte X 1907, 282 ff.; vgl. das Stemma S. 290) jetzt sichergestellt ist. Von der anderen verlorenen Inschrift, die Pappakonstantinu erwähnt, sieht man links auf unserer Tafel die kümmerlichen Reste. Der Epi- graphiker von Tralles bemerkt dazu noch an einer anderen Stelle derselben Seite, indem er auf den Inhalt von v. 12 hinweist: "lowg 6 Vfivog fjTO y.sxaqay(.iivog inl xfjg «Te(>ag TtlsvQäg xf^g avxijg oxxjlrjg, 07]- fiEQOv dnoA.6a^€ior]g. Elvai ßeßcaov öxi vcaQaxrjQEiTca etcI xov avxov XL&ov, dQioxEQodsv xfig iicLyQaipfjg, xelog noXXCöv dviGtov ygafx- fxcöv, dsYM evvea xöv aQLÖ^fxöv övaxvxßg dXiydQtd^fxov xcöv svöia- XQixcov ygafifiäxcov öev €7CLXQen£t vd ßsßaKbaj] xig özi slvai OTty^oi.

XQTqOfxög xov Ilv&iov

öodelg KIelxog^svel x(^

Ieqel roß Jiög vtceq r^g

otoxr]Qlag xfjg TCÖlEiog.

5 XsiXiExEg fxrjVELixu TidxQrjg Jiög i^avaXvoag

fxsiXtyJrj ^£Loi%i)ovL ev aXosi ßcojudv ivEigag

■d-'^EO, ixi] ÖlEQEVVlO lil' (b 7t6Xig, EivaXlip vvv

ivvofxiTjv Kgoviör], cpoißfj %eqI Öe dgrjxfjQog,

8 stro'/a fiT) Pappakonstantinu; evroua [ytai] Geffcken. x9V Pappak., %£ot

schon Hauvette und Dubois

1) Ich zitiere die Worte von Pappakonstantinu Äl Tuulhis 40, weil diese Publikation des verdienstvollen Mannes in Deutschland so sehr selten ist.

7*

100 O. Kern

tcvqQv y.ttl yMQJiGiv r' fTtiÖQäyinaTce rtävtct' y.aXelad^io 10 dGcpäXioc,, rs/ii€vovxog, d/cÖTQO/rog, hfniog, dqyiqq' (bös, rcöXig, dh vfivelrs öeÖQcey/nevov elcfi ßsßoJxa O'ö TS ßdO^Qip yvxveiov öooi yegag dficfiTceveo^s SV X0Q<^ £^ aivsiv ^ELoL^O^ova ycd z/[/]a MEIAAZ.

9 nilQN Kubitschek; auf dem Abklatsch sind die ersten zwei Zeichen unsicher. TEDliXPArMATA. Über Lesezeichen auf Inschriften vgl. Wilhelm, Beiträge 159 ff.

10 [(iv]äX[i\os die Früheren; äo^ahos sicher. 11 nOAlI AE sicher; so schon Geffcken vuvetre sicher, ebenso flcfc 12 öV 7i[q]oo^ü) Pappak.; AOPO Hauvette und Dubois; OPn"l"/AO Kubitschek; ov re ßäd-QM auf dem Abklatsch; TG zuerst von Hiller erkannt. /<i!x[/]£/or Geffcken : mir scheint aber xvxveiov sicher zu sein.

13 l'eiaixd'ora Hai Jla Hauvette u. Dubois; 2eiaiyßov[a (f]aiS[o]a Pappakonstan- tinu. Iriaix'^ovos, was ich auf dem Abklatsch las, habe ich nach der Anfertigung eines Lichtbildes verwerfen müssen.

Dieser yQrjOfxdg Tov Tlvd-iov in Hexametern aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert hat manche Geschwister, so das viel- behandelte Dionysosorakel von Magnesia (Nr. 215), das Orakel der Demeter Chloe aus Athen (Athen. Mitt. XVIII 1893, 192), die scharfsinnig von Hiller als Orakel erkannten ersten drei Verse einer Grabschrift aus Kasikli in lonien (Petermanns Mitteilungen 1909, 268) und schließlich die von Ziebarth nach Cyriakus' Abschrift a. a. O. publizierte Orakelinschrift aus Tralles, deren Überschrift ganz ähnlich wie die unseres Orakels gelautet haben muß. Wie so oft tritt der pythische ApoUon auch in unserem Falle für einen anderen Gott ein, dessen Kult in Vergessenheit geraten war, die dann an einem Unglück, das die Stadt anbetrifft, Schuld gewesen sein soll. Hier handelt es sich um den Erderschütterer Poseidon i) und ein Erdbeben, das wieder Kleinasiens fruchtbare Gefilde verwüstet hatte. Überliefert ist dies Erdbeben in geschichtlicher Tradition nicht; über- liefert ist ja neben vielen anderen auch das nicht, das den gewal- tigen Bau des Hermogenes am Ufer des Lethaios einst niederge- streckt hat. Kleinasiens Ruinenstätten bezeugen so manches Erd- beben, von dem die Tradition nichts mehr weiß. Als eine Zornes- äußerung des Zeus deutet Delphi das neue Beben. Der Gott des Erdbebens, Poseidon, muß durch einen Altar in einem Hain ver-

1) Den Poseidon nofahioe zusammen mit der Kaij{noifö^o>i] betrifft auch das in Delphi gefundene in Prosa abgefaßte Orakel für Kyzikos, wenn die Krganzung des französischen Herausgebers in Zeile 6. 7 [tuH Kv'i,i\>itjvo'ir: Rullotin de corrosp hellen. VI 1882, 454, 87 wirklich das Richtige trifft.

Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs. 101

söhnt, die Erstlinge des Feldes ihm dargebracht werden, ihm, dem dacfäXiog, T£f.isvovxoQ, drcözQoyrog, ImtiOQ, a()j'j)c: als solcher soll er in einem Hymnus besungen werden und dazu noch als öedQciYf.ie- vog, EicpL ßsßcbg. Wer denkt bei dieser Häufung der Epitheta nicht an einen Hymnus etwa von der Art unserer orphischen? Von den v. 10 genannten Beiwörtern kann ich dnörgorcog und dQyi)g für Poseidon sonst nicht nachweisen. In den orphischen Hymnen heißt die Ovoig X 10 dQp]g und der Meeresgott Palaimon LXXV 6 ivaQyi]g. Für TSfisvovxog sei an den Poseidon TSfxeviTrjg von Mykonos erinnert (Dittenberger, Syll. II-^ 615, 6). Die beiden letzten Verse, deren sicheres Verständnis noch nicht ermittelt isti), gelten den Sängern eines Hymnus auf Poseidon und den Zeus Larasios.

Mit Freude habe ich, lieber Lehrer und Freund, mich wieder in die Studien versenkt, die ich in einer glücklichen Studentenzeit unter Deinen und Diels' Augen getrieben habe. Möge Dir dieser Fest- gruß ein kleines Zeichen für die Dankbarkeit Deines alten Schülers sein, der hier besonders gern die Beiträge unseres Hiller aufge- nommen hat, an dessen Doktorschmaus Du einst das schöne Wort gesprochen hast: 'Das sind mir die liebsten Schüler, die dem Lehrer nicht Alles glauben.'

1) Es hängt jetzt nur noch von dem letzten Wort des letzten Verses ab. luzlat ist sicher; aber es scheint vergebliches Bemühen zu sein, den Taxus in die Kon- struktion zu bringen. Entweder ist /ufüa^ ein uns noch unbekanntes Adverbium oder es bringt die Bestätigung für folgende Glosse des Hesych, auf die mich Bechtel

verweist, S. V. ulla^' rjXixia. EviOi de i/e^J.n^' xai nao 'E^ftinnio iv Oaul?, dyi'oij- a<ts A^TEfiiSoi^oe' ixal yäo inlä^ eoTir. Srjlol Sk röv St/i/otixSt (Vgl. Meineke

FCG II 1, 392). Bei dem Schwan, an dem Geffcken ohne Grund Anstoß genommen hat, braucht man nur, um in der Sphäre des Poseidon zu bleiben, an den neben Eumolpos auf der Hieronvase (Mon. d. Inst. IX 43) sitzenden Schwan zu erinnern. Aber die Beziehung des Schwans zum Gesang war ja damals überhaupt allbekannt.

Nachtrag.

Dieser Aufsatz war schon gedruckt, als mir Hiller von einem Vortrag Mitteilung machte, den H. Hepding in der Februarsitzung der Berliner Archaeologischen Gesellschaft soeben gehalten hat. Zu den schönen Ergebnissen der Ausgrabungen im Demeterheiligtum von Pergamon gehört der Fund eines Altars der Mise. Hepding hat dabei nicht unterlassen auf den orphischen Hymnus ausdrück- lich hinzuweisen. Unsere Untersuchungen habenalso wieder eine Bestätigung aus dem unerschöpflichen Boden Kleinasiens gefunden.

KtRN. Die Herkunft des orphischen Hymnenbuchs.

Orakelinschritt aus Tralles.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus

von

Karl Praechter,

Durch Zellers Darstellung in seinem großen Werke wie in seinem Grundriß hat sich die Unterscheidung dreier Schulen innerhalb des Neuplatonismus allgemein verbreitet, die zugleich den wesentlichen Stufen und Richtungen der neuplatonischen Lehrentwicklung ent- sprechen sollen. Den Anfang macht die Schule Plotins, in der nach dem Begründer Porphyrios die erste Stelle einnimmt. Es folgt die syrische Schule des lamblichos. Den Schluß bildet die Schule von Athen, deren Entwicklung in Proklos ihren Höhepunkt erreicht. Plotin begründet das System, Porphyrios überarbeitet es formell und führt es in untergeordneten Punkten weiter aus, bleibt aber, obwohl er in gewissem Sinne die Richtung der iamblichischen Schule vor- bereitet, in der Hauptsache doch der Grundrichtung seines Lehrers treu. Charakteristisch für diese ist, daß die Lehre im wesentlichen von wissenschaftlichen, nicht von religiösen Interessen beherrscht wird. Eine Wendung beginnt mit lamblich. Das philosophische Interesse wird jetzt vom positiv religiösen überflügelt. „Die Restau- ration des Polytheismus wird der neuplatoriischen Schule zur Haupt- sache, und an dieses Bestreben schließen sich auch Änderungen des metaphysischen Systems an, die seinem wissenschaftlichen Charakter keineswegs zum Vorteil gereichen" J). lamblich verdankt sein An- sehen „weniger seinen wissenschaftlichen Leistungen als seinem theo- logischen Charakter, den Aufschlüssen über die höhere Welt, die man bei ihm zu finden glaubte, dem Verkehr mit Göttern und Dämonen, den man ihm zutraute, den Wundern, über welche schon seine nächsten Bekannten sich die abenteuerlichsten Dinge erzählten. Auch der stehende Beiname des Göttlichen, welchen er bei den späteren Neuplatonikern führt, bezieht sich ohne Zweifel zunächst hierauf" 2). Was wir von lamblich wissen, „zeigt uns in ihm weit

1) Zeller, Philos. d. Gr. Ill 2" S. 499.

2) Ebenda S. 738f.

106 K. Praechter

weniger den Philosophen, dem es um wissenschaftliche Schärfe und Konsequenz, als den Theologen, dem es um eine spekulative Be- gründung der positiven Religion und ihrer Dogmen zu tun ist" ')• Erst in der Schule von Athen kehrt die neuplatonische Lehrbildung zur strengeren Wissenschaftlichkeit zurück. Gefördert wird diese neue Wendung durch die intensivere Beschäftigung mit den aristo- telischen Schriften, die eine Steigerung des dialektischen Interesses und Besserung des methodischen Verfahrens zur Folge hat. Aber der religiöse Vorstellungskreis des lamblich und seine polytheistische Tendenz werden deshalb nicht wieder ausgeschieden. Die Eigentümlich- keit dieser Schule besteht vielmehr darin, daß sie die ganze religiöse und philosophische Errungenschaft der Vorzeit in einem umfassenden, methodisch gegliederten System vereinigen will -). So wird Proklos, der in seinem Wesen logische Meisterschaft mit religiöser Begeis- terung, den Sinn für nüchternste Dialektik mit der Neigung zur phantastischsten Mystik verbindet, zu dem großen Scholastiker, dessen Streben ist, neben den philosophischen Dogmen seiner Vorgänger auch die theologischen Offenbarungen der Orientalen und der Grie- chen mit dem Netze eines dialektisch einwandfreien Systems zu um- spannen »).

Eine ähnliche Periodisierung, durch die Zeller möglicherweise beeinflußt wurde, gibt Vacherot im Vorwort zum ersten Bande seiner Histoire critique de l'ecole d'Alexandrie p. V. Er unterscheidet eine Periode der Entwicklung, vertreten durch Ammonios Sakkas (den er entsprechend der herkömmlichen, durch Zeller bekämpften Ansicht für den Begründer des Neuplatonismus hält), Plotin und Porphyrios; eine Periode des Verfalls mit lamblich, Chrysanthios, Maximus, Julian; und eine Periode der Erneuerung, hervorgerufen durch die athenische Schule. Wie bei Zeller so ist auch hier die zweite Periode durch ihre religiöse und theurgische Richtung gekennzeichnet. Bei der Bearbeitung des zweiten Bandes, der den nachplotinischen Neu- platonismus behandelt, hat sich aber dies Gesamtbild in merk- würdiger Weise wieder und wieder verschoben. Jetzt gehört lam- blich bald zur ersten Periode, bald nimmt er zwischen der ersten und zweiten eine Mittelstellung ein, bald zeigt er sich mehr als Priester

1) Ebenda S. 743.

2) Ebenda S. 499. 805 f.

3) Ebenda S. 841 ff.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 107

denn als Philosoph, müßte also wieder der zweiten Periode zuge- wiesen werden ').

Was bei der zellerschen Darstellung auffällt, ist ein Anklang an die hegelsche Geschichtsauffassung. Zu dem rein wissenschaftlichen methodisch nüchternen Denken Plotins verhält sich die religiöse und mystische Spekulation lamblichs wie die Antithesis zur Thesis, und die Vereinigung und Ausgleichung beider Richtungen in der wissenschaftlichen Verarbeitung des religiösen wie des philosophischen Lehrbestandes durch Proklos bietet dazu die Synthesis. Man wird kaum fehlgehen, wenn man diesen Anklang nicht für zufällig hält. Zellers „Philosophie der Griechen" ist in seiner hegelschen Periode entstanden. Sein überall hervortretender Takt für das Wesen ge- schichtlicher Verläufe bewahrte ihn selbstverständlich davor, philoso- phische Lehrentwicklungen ohne weiteres in das starre Schema einer rein logischen Konstruktion einzuzwängen, aber Anlehnungen an hegelsche Gedankengänge und z. T. vielleicht unbewußte Ein- wirkungen seiner Theoreme konnten kaum ausbleiben"-). Wie dem auch sei, jedenfalls ist es angezeigt Zellers Auffassung der Geschichte des Neuplatonismus nach ihren wesentlichen Entwicklungsphasen einmal auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Widersprochen hat ihr bis jetzt meines Wissens nur C. H. Kirchner^), der in lamblich das Haupt der 'gesamten jüngeren Generation, wie in Plotin das der älteren erkennt und die Unterscheidung dreier Schulen, bei der dem Proklos der wissenschaftliche Abschluß der ganzen Lehre beigelegt wird, für völlig willkürlich erklärt, da weder im Gehalt noch in der Behandlung der Philosophie seit lamblich irgendeine nennenswerte Änderung eingetreten sei. Kirchner hat aber seiner Position dadurch geschadet, daß er in ungerechtfertigter Weise eine bestimmte Einzellehre

1) Vgl. p. 62f. : Ammonius, Plotin, Amelius, Porphyre, Theodore, lamblique

appartiennent ä la premiere periode de la philosophie Alexandrine Apres eux

l'ecole d'Alexandrie entre dans une phase nouvelle; eile quitte les hauteurs de la speculation philosophique ; eile descend dans les temples et se mele ä la foule. P. 66: lamblique marque la transition d'une epoque ä l'autre. Encore philosophe et dejä pretre etc. P. 120: lamblique et surtout Maxime et Chrysanthe sont moins des philosophes penetres des idees de l'ecole d'Alexandrie que des pretres convain- cus avant tout de la verite des mythes et des mysteres et de l'efficacite des pratiques.

2) Die in Rede stehende Periodisierung selbst findet sich in Hegels Vorlesungen über Geschichte der Philosophie nicht.

3) Die Philosophie des Plotin, Halle 1855 S. 215f.

108 K. Praechter

des Proklos schon für laniblicli in Anspruch nahm, indem er, ohne sich auf ein antikes Zeugnis stützen zu können, auf Grund einer Konjektur Taylors zu Procl. in Tim. I p. 308, 21 die vorjtol ymI vofooi U^eol zwischen die voipol Dtoi und die voeqoI Osol bereits durch lamblich eingeschoben sein ließ. Zellers abweisende Replik') ist in diesem Punkte vollkommen berechtigt. Wieweit Kirchners Einspruch sonst begründet ist, wird sich uns später ergeben.

Prüfen wir Zellers Darstellung zunächst an den Tatsachen der äußeren Schulgeschichte, so steigen einige Bedenken auf, deren Beur- teilung aber z. T. im letzten Grunde wieder von der Auffassung der inneren Entwicklung, der Ausbildung der Lehre, abhängt -). Gegen die Abtrennung der iamblichischen von der plotinisch-porphyrischen Schule wird sich aus äußeren Gründen nichts einwenden lassen. Plotin und Porphyrios wirken im Westen, ersterer in Rom, letzterer in Sizilien, zeitweise vielleicht ebenfalls in Rom. lamblichs Tätigkeit spielt sich in Syrien ab. Seine Schule gründet er wohl in seiner Vaterstadt Chalkis. Er hat zwar den Unterricht des Porphyrios und seines Schülers Anatolios genossen, aber als vielgefeiertes Haupt einer eigenen zahlreichen Anhängerschar gewinnt er die Bedeutung eines neuen selbständigen Mittelpunktes. Wenn aber mit ihm sämtliche während des vierten Jahrhunderts in Vorderasien lebenden Neu- platoniker unter der Überschrift „lamblich und die syrische Schule" zusammengefaßt werden, so erwacht das erste Bedenken. Von Theodoros von Asine, Dexippos, Sopatros und einigen anderen wissen wir nichts Näheres über den Ort ihrer Wirksamkeit. Für die beiden Erstgenannten läßt sich immerhin ein Wahrscheinlichkeitsargument dafür beibringen, daß sie nicht zu der gleich zu erwähnenden per- gamenischen Schule gehörten. Eunapios nämlich gibt über diese Schule, der er selbst zuzuzählen ist, besonders eingehende Nachrichten. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er Theodoros mit der kurzen Er-

1) Die Phil. d. Gr. III 2" S. 751 Anm. 3. 807 Anm. 1.

2) Formell unrichtig, aber sachlich ohne Belang ist es, daß S. 735 f. neben lamblich auch die sonstigen Schüler des Porphyrios in dem Kapitel „lamblich und die syrische Schule" besprochen werden, statt in einem Anhange des Porphyrios betreffenden Abschnittes eine Stelle zu finden. Dasselbe gilt, wenn $. 773 ein zweiter Teil des genannten Kapitels die Überschrift trügt ,,Die neuplatonische Schule nach lamblich", wahrend es sich tatsachlich nur um die weitere Geschichte der syrischen, nicht auch um die Geschichte der attischen Schule handelt, der ein besonderes Kapitel gewidmet ist.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 109

wähnung bei lamblich p. 12 abgetan und Dexippos ganz übergangen haben würde, wenn Pergamon Schauplatz ihres Wirkens gewesen wäre. Theodoros zumal gehörte zu den Großen und hätte in die Liste S. 48 unbedingt aufgenommen werden müssen. Für Dexippos kommt dazu noch ein weiteres Moment, dessen geringe Entschei- dungskraft nicht bestritten werden soll, das aber doch bei dem Fehlen anderer Instanzen angeführt werden darf. Mitunterredner in des Dexippos Kommentar zu den aristotelischen Kategorien ist Seleukos, wie Zeller wohl richtig vermutet, ein wirklicher Schüler des Dexippos. Der Name weist aber mehr auf Syrien als auf das westliche Klein- asien hin. Sopatros' Verhältnis zum Hofe Konstantins I. führt für eine gewisse Zeit seines Lebens jedenfalls nach Byzanz, und zwar scheint er diese Stadt unmittelbar nach lamblichs Tode aufgesucht zu haben '). Der größte Teil der übrigen 2) gruppiert sich um ein neues und zwar kleinasiatisches Zentrum. Aidesios, lamblichs Hörer 3), eröffnet eine Schule in Pergamon. Hier sind Maximus, Chrysanthios, Priskus und Eusebios seine Anhänger^), hief sucht ihn der spätere Kaiser Julian auf und genießt auf sein Betreiben den Unterricht des Eusebios und Chrysanthios^), um dann in Ephesos zunächst den von Pergamon dorthin übergesiedelten Maximus, weiterhin neben diesem auch Chrysanthios zu hören, der auf Julians Wunsch eben-

1) Vgl. Eunap. p. 20 f.

2) Unter denen aber Themistios aus diesem Abschnitt einfach zu streichen wäre. Er ist zugestandenermaßen überhaupt kein Neuplatoniker und verdankt seine Auf- nahme in dieses Kapitel nur dem in der Darstellung der Geschichte der griechischen Philosophie hergebrachten Fehler, die späteste Entwicklung ganz im Neuplatonis- mus aufgehen zu lassen, so daß für einen Peripatetiker wie Themistios keine Rubrik übrig bleibt. Vgl. darüber Byzant. Zeitschr. 18 (1909) S. 534.

3j Nach Eunapios p. 19 auch sein Nachfolger in der Leitung der Schule: t/.- bi-^srai be irjv ^laußXlyov Siargiß-qi' xni öuildav is tov9 erai'oovi AcSeaios 6 äx KaTZ-

TiaSoxlas. Gemeint ist aber nicht eine unmittelbare StaSoy,^ in üblicher Weise. Nach lamblichs Tode zerstreuen sich seine Schüler nach allen Richtungen (p. 20 f. '/«w-

ßXi'iov Sk xriTaliTtövroe rd nv&od>7ZFiuv älloi ttsv d?J,ayfj d'ieaTräurjoni' , Vgl. auch

p. 19 am Ende des Abschnittes über lamblich). Aidesios zieht sich nach p. 26f. einem Orakelspruche folgend nach Kappadokien in die Einsamkeit zurück und will hier als Hirte sein Leben verbringen. Die nach seiner Weisheit Verlangenden zwingen ihn aber, sich dem Verkehr mit ihnen zu widmen, und so eröffnet er eine Schule in Pergamon (die Übersiedelung dorthin ist auch p. 19 erwähnt). Es handelt sich bei dieser also um eine Neugründung, nicht um eine einfache Fortführung und Ver- pflanzung der iamblichischen Schule.

4) Eunap. p. 38. 48. 66. 108. 117.

5) Eunap. p. 48f.

110 K. Praechter

falls seinen Wohnort gewechselt hat ')• Später zieht er Maximus und Priskus an den Hof nach Konstantinopel '-). Schüler des Chrysanthios war auch Eunapios 3), jedenfalls im westlichen Kleinasien, entweder in Pergamon oder in Sardes, nachdem Chrysanthios zum Oberpriester von Lydien erhoben worden war^). Angesichts dieser Tatsachen wird man fragen und nach inneren Kriterien entscheiden müssen, ob nicht dieser pergamenische Kreis auch in der Darstellung zur Einheit einer Schule zusammenzufassen sei, deren Verhältnis zur syrischen Schule des lamblich (ob Unter- oder Nebenordnung) eben- falls wieder nach ihrem inneren Charakter zu bestimmen wäre. Am auffallendsten ist, daß die Besprechung der Hypatia, des Synesios und des älteren Olympiodor, denen auch der später als Glied der Schule von Athen ausführlicher behandelte Hierokles an- geschlossen wird, dem Kapitel „lamblich und die syrische Schule" einverleibt ist^). Nachweisbare Verbindungsglieder, die den Zu- sammenhang mit dieser Schule vermittelten, fehlen. Antoninos scheint ausgeschlossen, da er nach Eunapios'^) den in Kanobos ihm zuströmen- den alexandrinischen Studenten zwar in logischen Fragen die plato- nische Lehre übermittelte, über metaphysische Probleme aber keine Auskunft gab. Daß Klaudianus, Maximus' Bruder, der in Alexan-

1) Eunap. p. 51.

2) Eunap. p. 55 f.

3) Eunap. p. 13. 20. 107. 114.

4) Daß Chrysanthios auch in Sardes als Lehrer wirkte, zeigt Eun. p. 117: eis

T(is Tia'/.atäs ^doÖeii afixero (scil. ''EÜ.rjanöi'Tios) StA xrv Xovaavd'lov awovoiav.

Ebenso Eun p. 119.

5i A. a. O. S. 801 ff. In der ersten und zweiten Auflage des Werkes war der ältere Olympiodor in dem Kapitel über die Schule von Athen besprochen; ebenda hatte in der zweiten Auflage auch Hypatia, die in der ersten fehlt, ihre Stelle ge- funden, und Hierokles war nur in diesem Kapitel berücksichtigt. Der ganze Abschnitt S. 796 „Mit Julians Tod" bis S. 805 „formellen Vollendung" mit Ausnahme des erst in der dritten Auflage eingefügten Passus über Synesios gehört in der zweiten zum Kapitel: „Die Schule von Athen". (Von der dritten zur vierten Auflage ist in der Disposition nichts geändert. i Auch in diesem Schwanken verraten sich die Schwierig- keiten, in die man gerät, wenn man die Alexandriner als Anhang der iamblichischen oder als Vorbereitung der athenischen Schule zuweist.

6) P. 43: Zvrovalas ö'i ä^tioO^iiTte oi /ikr loyixdr Tr^ößXrjiia npod'iueiot difd'6-

vfos xai Afd-ö^ioe (so ist wohl mit Boissonade S. 272 zu schreiben) rijs n/.aTo»rixrji

irfCfoQovi'To aocpla?, ol Si rütv d'tioTEOtitv n TTOoßä'/.Xoi xti än^oicivTi avyeriiy^arov' ovxovi- icpd'iyytro TiQÖs nvTfiir ovttsi n, liXld rd öiiuant anjoa* xai äiaLhujoniS ti» rdf ovpatdr SravSoe ly.Ftro xai dTt/xroS ovSi Tis flSey aiiid»' Ttf^i rcHf TotovTioy ^qiiiiiis rts Aiii'/.iar ild'öiTu livOoiiinfor.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 111

dreia lehrte O, iamblichische Einflüsse dorthin trug, ist möglich, aber nicht zu erweisen. Natürlich kann gleichwohl die Lehre des Syrers auf uns' unbekannten Wegen nach Alexandreia gelangt sein. Die Entscheidung hierüber liegt in der Prüfung des Systems. Aber selbst wenn diese einen sehr weitgehenden Zusammenhang ergeben sollte, werden wir uns doch bedenken, jene in einem alten selbständigen Zentrum wissenschaftlicher Bewegung lebenden alexandrinischen Philosophen von diesem Zentrum loszulösen und zur Schule lam- blichs zu schlagen. Hypatia ist nach dem Kirchenhistoriker Sokrates 7, 15 Diadochos der auf Plotin sich zurückleitenden platonischen Schule, mit ihr ist Synesios als ihr Schüler engstens verbunden.

Umgekehrt wird man gerade unter dem zuletzt erwähnten Ge- sichtspunkte von vornherein geneigt sein, der Abtrennung der athe- nischen von der syrischen, bez. syrisch-pergamenischen Schule zu- zustimmen. Ist auch ein äußerer Zusammenhang mit der letzteren gewiß vorhanden bestimmte Verbindungsglieder mit Sicherheit namhaft zu machen ist nicht möglich 2) , so ist doch die athenische Akademie der altehrwürdige Mittelpunkt platonischer Lehre, und wir würden uns sträuben, auch bei sehr starker innerer Abhängigkeit ihrer Dogmatik von lamblich den Schluß der akademischen duidoxi] in der syrisch oder syrisch-pergamenischen Schule aufgehen zu lassen. Was von Alexandreia galt, gilt hier in noch weit höherem Maße von Athen.

Innerhalb des Abschnittes über die athenische Schule aber stoßen wir wieder auf zwei Tatsachen, die uns befremden. Inmitten der athenischen Diadochen begegnen wir einer beträchtlichen Anzahl von Männern, die in Alexandreia wirkten, z. T. auch dort gelernt hatten. Das gilt von (dem schon früher bei der syrischen Schule berücksich- tigten) Hierokles und seinem Schüler Theosebios, von Hermeias und seinem Sohne Ammonios sowie des letzteren Sippe, die von den beiden Asklepios, dem Kommentator und dem Arzt, ferner Theodo- tos, dem jüngeren Olympiodor und dessen Schülern Elias und David gebildet wird 3). Der Alexandriner Asklepiodotos lehrte im karischen

1) Eunap. p. 47.

2) Vgl. darüber Zeller S. 805 Anm. 1.

3) Dazu käme noch als unmittelbarer Schüler des Ammonios der Christ Johannes Philoponos. Schüler des Ammonios sind auch Damaskios und Simplikios. Doch hörte ersterer neben ihm noch die Athener Marinos und Zenodotos und weist durch

112 K. Praechter

Aphrodisias und, wie es nach Suidas scheint, in Alexandreia. Nun haben freilich Hierokies, Hermeias und Ammonios in Athen studiert. Aber der Schwerpunl<t ihres Lebens liegt doch in ihrer alexandri- nischen Lehrtätigkeit. Von Asklepiodotos, der Schüler des Proklos war, läßt sich wenigstens das Negative sagen, daß sein Wirken nicht nach Athen fiel. Von der gesamten oben angeführten Sippe des Ammonios vollends fehlt uns für einen direkten Zusammenhang mit Athen jeder Belegt- Wir werden auch hier wieder ein abschlie- ßendes Urteil bis nach Prüfung der philosophischen Theoreme ver- tagen. Aber das eine ist schon jetzt festzustellen, daß dem Neben- einander athenischer und alexandrinischer Diadochen und ihrer An- hängerkreise unter der Spitzmarke „Die Schule von Athen" vom Standpunkte der äußeren Schulgeschichte schwere Bedenken ent- gegenstehen. Läßt sich auch nicht beweisen, daß es die alte plato- nische Lehrkanzel der Hypatia war, auf der Hierokies, Hermeias und seine Nachfolger wirkten, so bleibt es doch bis zum Nachweise des Gegenteils das Wahrscheinliche. Und so wird in Zellers Darstellung die Kette der alexandrinischen ÖLudoxi] zweimal, vor Hypatia und vor Hierokies, zerrissen. Die ganze Sukzession fällt in drei Teile aus- einander, von denen nur der erste an seinem Platze bleibt, der zweite der syrischen, der dritte der athenischen Schule zugeteilt wird ^).

seine Stellung als akademischer Diadochos (Zeller S. 901 Anm. 1) nach Athen. Sim- plikios studierte auch bei Damaskios und ist, wie schon seine Teilnahme an der Auswanderung der Akademiker nach Persien zeigt, ebenfalls den Athenern zuzu- rechnen.

1) Für David und Elias , die Schüler des um 564 oder später (Zeller S. 918 Anm. 4 zu S. 917) schreibenden Olympiodor, ist ein solcher Zusammenhang schon aus chronologischen Gründen sehr unwahrscheinhch. Die athenische Schule wurde 529 geschlossen. Die literarische Tätigkeit des Simplikios fällt nun allerdings, wie Zeller S. 917 zeigt, jedenfalls überwiegend in die Zeit nach seiner Rfickkehr aus Persien (frühestens 533). Daß er daneben seine philosophische Lehrtätigkeit in privater Weise wieder aufgenommen hätte, ist unerweislich, und wenn es geschah, bleibt fraglich, ob sich diese Tätigkeit bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts erstreckte.

2) Gegen Zeller läßt sich ein von ihm selbst benutztes Argument wenden. S. 807 Anm. 1 bemerkt er gegen Kirchner, daß die 'AttixoI i^riyijral (über die jetzt O. Immisch, Philol. 63 [1904] S. 31ff. zu vergleichen ist) an mehreren Stellen von Philop de an. als eine eigene Schule angeführt werden, also von lamblich und seinen Nachfolgern zu trennen sind. Da nun diese Bezeichnung bei einem Alexan- driner sich findet, wären mit noch größerem Rechte die Attiker von den Alexandrinern zu sondern.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 113

Ein zweiter Anstoß betrifft die Aufnahme der Männer des latei- nischen Westens, Marius Victorinus, Vettius Praetextatus, (Albinus,) Marcianus Capella, Macrobius, Chalcidius und Boethius in diesen Abschnitt. Mit der Schule von Athen haben sie nichts zu tun. Das ist auch nicht die Meinung Zellers i). Sie sollen vielmehr nur als letzte Ausläufer der neuplatonischen und der antiken philoso- phischen Entwicklung überhaupt hier am Ende des Neuplatoniker- kapitels und damit am Schlüsse des ganzen Werkes ihren Platz finden. Man kann aber zweifeln, ob nicht Boethius bei seiner eigen- artigen Stellung als Vermittler zwischen Griechenland und Rom, Altertum und Mittelalter, hellenischer Philosophie und christlicher Scholastik eine selbständigere Besprechung in einem eigenen Ab- schnitte verdiente, in den er die übrigen Vertreter des Westens mit sich ziehen könnte. Näheres wird auch hier der Charakter der Dog- matik lehren.

Fassen wir nun die Entwicklung der neuplatonischen Lehreins Auge, so ist unleugbar, daß in ihr lamblich einen wichtigen Mark- stein bedeutet. Durch die Einarbeitung pythagoreischer und chal- däischer Überlieferung in das System, die umfassendere Berück- sichtigung der hellenischen Religion, die Vermehrung der Hypo- stasen zwischen dem über alles Sein und Denken erhabenen Ureinen und der Materie, vor allem aber durch die unten zu besprechenden Prinzipien seiner Piaton- und Aristotelesexegese geht lamblich weit über Plotin und Porphyrios hinaus und gibt dem Neuplatonismus ein neues Gepräge. Daß an der dabei zutage tretenden mystischen Tendenz, der Überschwänglichkeit und Phantastik die orientalische Herkunft des Philosophen ihren Anteil hat, ist nicht zu bezweifeln"-^),

1) Vgl. S. 921 Anm. 1 Mitte.

2) Den Einfluß orientalischer Ansciiauungen im einzelnen festzustellen dürfte scliwer sein. Zeller füiirt S. 745 die gegenüber Plotin und Porphyrios kompliziertere Gliederung des Reichs der überweltlichen Wesenheiten auf den Einfluß orientalischer Systeme zurück, von denen wir aber nicht mehr bestimmen könnten, inwieweit sie selbst unabhängig von der neuplatonischen Philosophie waren. Zur Begründung kann aber der Hinweis auf lamblichs XalSaixij relfiordrr] d-eoloyia, von deren In- halt wir abgesehen von der einen einzelnen Punkt betreffenden Angabe bei Damas- kios, dub. et so), p. 86, 3ff. R. nichts wissen, keineswegs genügen. Wenn Zeller S. 749 Anm. 1 bemerkt: „An die Chaldäer wollte sich ja lamblich in der Theologie vorzugsweise anschließen", so darf man das nach dem Titel der XalS. rel. d-Fol. allerdings voraussetzen. Was er aber unter einem solchen Anschluß verstand, ist eine andere Frage. Er wird seine eigene Lehre in die chaldäischen Vorstellungen

Graeca Halensis. 8

114 K. Praechter

und so findet die Bezeichnung „syrische Schule" auch in dem Wesen der Lehre, die sie vertritt, eine Stütze. Mit lamblich beginnt eine neue Richtung, nicht nur eine neue Schule. Eine andere Frage ist aber, ob diese Richtung derart von dem bisherigen Gange der neu- platonischen Lehrentwicklung abweicht, daß wir mit Zeller sagen dürfen, durch lamblich sei der Neuplatonismus aus einer philoso- phischen Lehre zu einer theologischen i) Doktrin geworden '^), und während bei Porphyrios der philosophische Geist des Plotinos immer noch über das positive theologische Element überwiege, sei durch lamblich und seine Schule der Schwerpunkt der neuplatonischen Philosophie grundsätzlich auf diese Seite verlegt worden ■'>). Es ist wahr, bei lamblich spielt das theologische Element in Form einer Eingliederung gegebener Vorstellungen der positiven Religion in das System eine Rolle wie bei keinem seiner neuplatonischen Vorgänger. Durch eine kühne Allegorese hat er in weit höherem Maße, als es vor ihm geschehen war, in den Gegenständen des griechischen Kultus und ihren Beziehungen untereinander und zur übrigen Welt Begriffe und Lehrsätze seiner Metaphysik verkörpert. Allen Göttern und Dämonen ist auf diese Weise der Weg in sein System bereitet. Aber das religiöse Interesse kommt dabei nur als mitwirkend, nicht als letztes Motiv in Frage. Dieses letzte Motiv war mit dem Wege, den Plotin und vor ihm schon Philon von Alexandreia betreten hatten, unmittelbar gegeben: es galt nach dem Vorgange dieser Philosophen das über aller Berührung mit der Welt stehende Ureine möglichst

so gut hineininterpretiert haben, wie in die orphischen und pythagoreischen und in die platonischen Schriften. Übrigens wird es sich unten zeigen, daß die i<ompli- ziertere Gliederung bei lamblich vielmehr aus den Grundvoraussetzungen des neu- platonischen Systems herzuleiten ist. Für die im Schema der voepoi i^foi angesetzte Hebdomade, bei der man mit Zeller S. 749 Anm. 1 an die sieben Planetengöttcr wird denken dürfen, könnte sich lamblich nach den von Zeller a.a.O. erwähnten Stellen auf die Chaldäer berufen haben. Aber auch hier läßt sich zweifeln, ob er nicht in die chaldäische Überlieferung Griechisches hineintrug, um diesem damit den Nimbus altorientalischer Urvveisheit zu geben. Vgl. F. Boll, Neue Jahrb. 21 (19U8) S. 116 Anm. 1 a. E.

1) Theologie im üblichen Sinne einer wissenschaftlichen Bearbeitung positiv gegebener religiöser Anschauungen. Nach einer anderen Bedeutung des Wortes ist allerdings lamblich tatsächlich ü'ro/.öyos durch und durch, nämlich im Sinne einer philosophischen Spekulation über die höchsten Wesenheiten, wobei er sich freilich auch der positiven Religion für seine Zwecke bemächtigte.

2) A. a. O. S. 773. 3i A. a. O. S. 735

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 1 15

weit abzurücken von allen nach ihm kommenden Hypostasen, den Weg von jenem Ureinen zu den untersten Staffeln der ganzen Skala des Seienden durch Vermehrung der Staffeln so weit als möglich auszudehnen und den Übergang von oben nach unten durch eine möglichst große Zahl von Vermittlungen sich vollziehen zu lassen. Die für das metaphysische System bedeutsamsten Neuerungen lam- blichs sind nur ein Fortschreiten auf diesem Wege. Hatte bei Plotin das Bereich des Übersinnlichen das Ureine, den Nus und die Seele umfaßt, so tritt jetzt zwischen das Ureine und die nächstfolgende Hypostase noch eine zweite Einheit. Die Sphäre des Nus zerlegt sich: unterhalb des y.öafwg votjtöq schiebt sich der xöof.iog voeqöq ein; ein weiterer Nus bildet die Vermittelung zu den Seelen; statt der einen Seele Plotins erhalten wir deren drei. Überall zeigt sich in der Zerspaltung des früher Einfachen in Triaden, die selbst wieder triadisch geteilt werden, das Streben nach Vervielfältigung. Das oben erwähnte metaphysische Bedürfnis, das zu diesen Zerlegungen führte, wurde durch ein logisch-methodisches unterstützt. Es regt sich die echt scholastische Lustan immer feinerer Differenzierung der überkommenen Begriffe, an immer weiterer Zerspaltung dessen, was gröberem Blicke als Einheit erscheint, an dem immer vollständigeren Nachweis der innerhalb einer Vorstellung möglichen Nuancierungen, die der Vor- gänger unbeachtet gelassen hatte i). Bemerkenswert ist, daß gerade einige der wichtigsten von lamblich neu angesetzten Hypostasen in der positiven Religion gar keinen Anknüpfungspunkt finden, so das zweite Eine, die Annahme eines besonderen, unmittelbar über den Seelen stehenden Nus und dreier Seelen. Hinsichtlich des Nus gibt lamblich selbst eine Begründung ganz im plotinischen Sinn. Er be-

1) Diese Neigung besteht solange, als es philosophische Meister gibt, die Systeme entwerfen, und Schüler, die sie ausbauen Man kann an die Entwickelungs- geschichte der unter Piatons und Aristoteles' Namen gehenden Siatoeaeis erinnern, die H. Mutschmann S. XIX seiner Ausgabe wohl richtig so darstellt: Videtur igitur inde a Piatone in Academia et apud Peripateticos ars dividendi exercitata esse. Atque mihi quidem videntur omnia illa vnouvrjuara tali modo nata esse, ut sui quisque magistri divisiones primum enotaret, tum augeret vel prout videretur immutaret. Auch die Einteilungsfreudigkeit in manchen der bei Stobaios erhaltenen Neupytha- goreerfragmente gehört hierher. Die Tendenz mußte wachsen, je mehr sich die Masse des überkommenen Gedankengutes vergrößerte und so den Trieb zum Syster matisieren und Schematisieren anregte. Der Neuplatonismus bot zudem durch seine Forderung eines durch viele Intermedien vermittelten Übergangs vom Einen zu- Materie einen besonders günstigen Boden.

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116 K. Praechtf.r

kämpft diejenigen, die mit dem vollkommenen Nus die Seele ') in Verbindung bringen : öeiv yaQ firj di^göav yheoOai Tr]V fxerdßaOLv dirö Töiv e^i^Q)jii€vu)v iiil fiCTSxovra , d?JM fieaag sTvai rag avvTeray- fiivag roiQ fierexovoiv ovoiag 2).

Dieser Sachverhalt verbietet, lamblich als Theologen aus der philosophischen Entwicklung des Neuplatonismus herausfallen zu lassen. Wenn wir in ihm den Begründer einer neuen Richtung er- blicken, so geschieht es nicht in dem Sinne, daß sich mit ihm eine (.uräßaaig slg ällo yevog vollzöge, daß er von der Wissenschaft zur Religion, von der Theorie philosophischer Spekulation zur Praxis des Kultus und der Theurgie abböge, sondern nur in dem, daß er von den philosophischen Grundvoraussetzungen des Neuplatonismus ausgehend die religiösen Überlieferungen und Anschauungen in einem bis dahin unerhörten Umfange und mit einer von den Früheren nicht ins Auge gefaßten Konsequenz prinzipiell und systematisch in •sein Lehrgebäude einbezieht und dem Neuplatonismus damit eine wesentlich veränderte Gestalt gibt 3). Eine starke religiöse Unter-

1) D. h. die erste, aus der die beiden anderen hervorgehen.

2) Procl. in Tim. II p. 313, 19 ff. fvon Zeller S. 745 Anm. 3 und 751 Anm. 1 angeführt!.

3) Im Rückblick S. 77'2f. hat Zeller seine Darstellung des iamblichischen Stand- punktes etwas nuanciert. Er gibt hier zu, daß lamblich allerdings auch philosophische Gründe zu seinem Verfahren hatte und bemerkt: „Der Übergang von der reinen Einheit zu der idealen Vielheit des plotinischen Nus mochte ihm zu schroff scheinen, er zog es daher vor, den letzteren in seine Bestandteile zu zerlegen, um so in all- mählicher Abstufung von dem Einen zum Vielen zu gelangen. Aber in der Wirk- lichkeit ist die Vielheit der intelligibeln und intellektuellen Götter, die er auf das Eine folgen läßt, und die Zweiheit der Urwesen selbst viel bedenklicher als die Vielheit in dem plotinischen Nus; denn dort stehen die vielen als Hypostasen neben- einander, während sich bei Plotin ihr Unterschied unmittelbar wieder in die Einheit der intelligibeln Welt auflöst." Aber auch bei lamblich löst sich das koordinierte Viele jeweilen in eine übergeordnete Einheit auf und in der Hypostasicrung des Vielen ist keine Schwierigkeit für seine Zurückführung auf eine Einheit zu erkennen, das rein logische Subordinationsverhältnis vielmehr auch für die hypostasierten Begriffe bestehen zu lassen war das antike Denken seit Piaton gewöhnt. Aber selbst wenn lamblich die Vervielfältigung auf Kosten der Einheitlichkeit übte, so ist damit immer noch nicht bewiesen, daß nicht sein letztes Motiv das schon bei Plotin wirk- same, rein philosophische Streben nach Milderung des Übergangs von den höchsten zu den niederen Stufen gewesen sei, und daß die polytheistische Richtung seines Denkens den letzten Grund enthalte für die Veränderungen, die er mit der neuplato- nischen Lehre vornahm (Zeller S. 773l. Ebensowenig möchte ich mit Zeller (S. 77l?) in der Verdichtung der Bestimmungen, die das Wesen des Göttlichen und sein Ver- hältnis zum Endlichen ausdrücken, zu selbständigen Gestalten ein Kennzeichen dafür

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 117

Strömung in seinem Geistesleben soll damit nicht in Abrede gestellt werden. In lamblichs Bahnen bewegt sich Theodoros von Asine i). Anders freilich scheint es mit dem Teile der geistigen Nachkommen- schaft lamblichs zu stehen, der sich um Pergamon gruppiert. Der Charakter, den Zeller zu Unrecht lamblich und der Gesamtheit seiner Anhänger zuschreibt, eignet, wenn nicht alles täuscht, diesem Zweige in der Tat. Für uns ist die greifbarste Gestalt dieses kleinasiatischen Kreises Julian. Daß für ihn die Religion Ausgangspunkt und die Restauration des Polytheismus die große Aufgabe war, in deren Dienst er die neuplatonische Philosophie stellte, ist eine unumstöß- liche Tatsache. Wir müssen uns nun freilich hüten, was von ihm gilt, ohne weiteres auf den ganzen Kreis zu übertragen. In unserer Perspektive wird Julian durch seine bedeutsame geschichtliche Stel- lung und dadurch, daß wir von ihm allein einen umfangreicheren Nachlaß in Händen haben, leicht zum Mittelpunkte und zum Typus der ganzen Philosophengruppe, mit der er in Zusammenhang steht. Es fragt sich, ob er das wirklich gewesen ist. Dafür sprechen in der Tat gewichtige Gründe. Eunapios' Bericht hat in diesem Punkt als historisches Zeugnis allerdings geringen Wert. Daß er von allen Männern dieser Gruppe gar keine philosophischen Lehrmeinungen verzeichnet, daß er bei ihnen überhaupt verhältnismäßig selten von einer philosophischen Betätigung spricht 2) und zumeist nur Wunder- taten und theurgische Leistungen als bemerkenswert meldet, fällt zunächst auf. Vergleicht man aber seine Ausführungen über Plotin, Porphyrios und lamblich, so ergiebt sich, daß er es hier ebenso macht. Aber als Symptom ist diese Gleichgültigkeit des Eunapios gegen das Philosophische, für die wir in den Berichten über die drei eben Genannten die Kontrolle besitzen, von Wert. Denn er gehört als Schüler des Chrysanthios eben diesem kleinasiatischen Kreise

erblicken, daß wir es in lambliclis Lehre mehr mit Religion als mit Philosophie zu tun haben; es sei denn, daß man das gleiche Kriterium mit der gleichen Folgerung auch auf Plotin anwende (vgl. übrigens über diesen Zeller S. 675 f.).

1} Für das Tatsächliche genügt es, auf Zeller S. 783ff. zu verweisen.

2) Als Philosoph gelehrter Richtung tritt bei ihm besonders Eusebios hervor (p. 49 ff.). Chrysanthios studiert zwar Piaton und Aristoteles und vernachlässigt kein Gebiet der Philosophie (p. 108), genießt auch Ansehen als Dialektiker (p. 112f.), aber alle anderen Studien sind ihm nur ein Vorstadium für die Vertiefung in die Weisheit des Pythagoras und seiner Nachfolger, des Archytas, -des Apollonios von Tyana und seiner Anhänger.

118 K. Praecmter

an. Wichtiger ist, daß auch die Späteren, darunter Gelehrte wie Proklos und Simplikios, die sich wieder und wieder mit ihren Vor- gängern auseinandersetzen, von den Männern der pergamenischen Gruppe nur äußerst selten etwas zu sagen haben. Plotin, Porphy- rios und lamblich treffen wir hier auf Schritt und Tritt. Auch von Theodoros von Asine ist häufig die Rede. Aus dem kleinasiatischen Kreise wird von Maximus ein Kommentar zu Aristoteles' Kategorien bei Simplikios erwähnt ')• Eine Behauptung auf dem Gebiete der Logik kennt von ihm Ammonios. Von Sopatros führt Suidas eine Schrift jceQi jcQOVoiag y.al tüv 7tüQd rijv d^lav evTtQcr/ovvTiüv ?] dvG- jtQccyovvTcüv an. Sonst herrscht tiefes Schweigen. Was uns an Werken aus dieser Sphäre noch vorliegt, läßt uns nicht darüber er- staunen. Daß in Julians Schriften die Religion im Vordergrunde steht, ist leicht zu erkennen. Philosophisch sind sie ganz abhängig von lamblich. Mag Sallusts Abriß der neuplatonischen Lehre, wie Zeller ^) vermutet, im Dienste der julianischen Restauration ge- schrieben sein oder nicht, jedenfalls bietet er nur eine Zusammen- stellung längst bekannter neuplatonischer Lehren. Eunapios' Bio- graphien endlich sind das charakteristischste Denkmal einer im letzten Grunde auf das Religiöse und nur mittelbar auf das Philo- sophische gerichteten Denkweise.

In Anbetracht dieser besonderen Eigenart empfiehlt es sich ge- wiß, der pergamenischen. Schule, die den Ausgangs- und Mittel- punkt des kleinasiatischen Kreises bildet, auch für die Darstellung ihren Zusammenhang zu wahren und nicht ihre Anhänger einzeln in der iamblichischen Gesamtschule sich verlieren zu lassen. Anderer- seits fordert die Herrschaft, die lamblich, soweit das Philosophische in Frage kommt, auch in dieser Schule ausübt, daß man sie als einen Zweig der iamblichischen betrachte, dieser also unter- und nicht nebenordne. Ganz ohne Schwierigkeit ist freilich auch diese Darstellung nicht. Daß der gelehrte Aidesiosschüler Eusebios durch seine dialektische Kunst glänzte, daß er die sittliche Reinigung ötd Tov löyov vollzogen wissen wollte und alle Theurgie als Gaukel- werk bekämpfte ■'), ist allerdings kein Gegenargument gegen die

1) In Catcg. 1, 15. Die Stelle ist bei Zeller S. 789 Aiim. 2 nachzutragen.

2) A. a. O. S. 793.

3) Vgl. Ennap. p. 49 ff.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 119

naturgemäß a potior! zu treffende Charakterisierung der Schule. Eine Unbequemlichkeit aber bereitet Sopatros. Er hat mit der pergame- nischen Schule, soviel wir wissen, auch nicht einmal mittelbar etwas zu tun, bewegt sich aber doch als Förderer des Polytheismus im Kampfe gegen das Christentum am kaiserlichen Hofe in ihrer Rich- tung. Wegen dieser Übereinstimmung und da er im Westen tätig ist, wird er in dem den Pergamenern gewidmeten Kapitel ein Unter- kommen finden dürfen. Eine gewisse Schwierigkeit liegt auch darin, daß wir Theodoros von Asine, den Fortsetzer der iamblichischen Rich- tung, dem sein Schüler Peisitheos anzuschließen wäre, und Dexippos nicht mit Sicherheit lokalisieren und somit auch nicht ohne weiteres von der pergamenischen Schule ausschließen können. Man darf hier aber die oben S. 108f. angegebenen Wahrscheinlichkeitsgründe betonen, die sich gut mit dem vereinen, was uns sonst über die von der iamblichisch-theodorischen abweichende Art der pergame- nischen Schule bekannt ist.

So wenig lamblich, mit Plotin und Porphyrios verglichen, aus der wissenschaftlichen Entwicklung des Neuplatonismus ausbiegt, so wenig ist in der athenischen Schule ein Gegensatz zu lamblich, eine Rückkehr zu den wissenschaftlichen Prinzipien des Plotin und Porphyrios zu bemerken. Die Richtung der Athener stimmt mit der des lamblich vollkommen überein. Der philosophische Aus- gangspunkt ist der gleiche wie bei jenem. Die Neuerungen, die er Plotin und Porphyrios gegenüber getroffen hat, bleiben bestehen. In der Vervielfältigung der Wesenheiten geht Proklos über seinen Vorgänger noch hinaus. So werden zwischen die vor]rol d^soi und die voegol ^sol eingefügt die ^eol vorjrol vml voegoi. Die athenische Schule fährt mit vollen Segeln im Fahrwasser des Syrers. Man kann sich hierfür auf Zellers eigene vortreffliche Darstellung der proklischen Lehre und der geistigen Eigenart ihres Urhebers be- rufen. Die ganze, aus philosophischen und religiösen Elementen gemischte Vorstellungsmasse des iamblichischen Neuplatonismus treffen wir auch bei Proklos. Von einer Ernüchterung, einer Tendenz zur Ausmerzung der aus der Volksreligion, aus pythagoreischen und orientalischen Quellen geschöpften mystischen Elemente ist keine Rede. Es besteht auch kein Widerspruch der Gesamtrichtung der Schule gegen diese Bestandteile ihrer Lehre, wie man ihn nach Zeller voraussetzen

120 K. Praechter

müßte, wenn er sagt i): „nicht einmal zur Überwindung der unreinen Elemente, welche sich aus der positiven Religion eingedrängt haben, reicht ihre (der Schule; Kraft aus." Das Einzige, was die athenische Schule neben ihrem dogmatischen Fortschritt in der Richtung des lamblich von diesem noch unterscheidet, ist die straffere und kon- sequentere Durchführung des scholastischen Schematismus, der durch Proklos seine höchste Vollendung erreicht. Wegen dieses gradu- ellen Unterschiedes aber die athenische Phase der Lehrentwicklung als eine dritte und letzte Form des Neuplatonismus 2) anzusetzen, geht um so weniger an, als wir nach dem Verlust gerade der großen und entscheidenden Werke des lamblich keine Kenntnis davon haben, wieweit dieser auf dem Wege der dialektischen Ausgestaltung seiner Lehre vorgeschritten war, wenn wir auch nach dem Erhaltenen an- nehmen können, daß er hinter Proklos zurückstand. Auch die Be- schäftigung mit den aristotelischen Schriften, in der Zeller wohl mit Recht eine Hauptquelle der dialektischen Bildung der athenischen Schule erkennt, läßt sich nicht zugunsten einer Überlegenheit dieser Schule über die iamblichische geltend machen. Zeller meint zwar 3), die aristotelischen Schriften seien von lamblich und seinen Schülern im Vergleich mit den orientalischen Systemen und den neupytha- goreischen Lehren verhältnismäßig vernachlässigt worden. Aber dabei spielt wieder die Voraussetzung eine Rolle, daß lamblich sein Interesse wesentlich und in höherem Grade als Proklos dem Mystisch- religiösen zugewandt habe. Hinsichtlich des Verhältnisses der aristo- telischen zu anderweitigen Studien haben wir kein Recht, für lamblich und seine wissenschaftlich gerichteten Schüler von der perga- menischen Gruppe ist natürlich abzusehen andere Voraussetzungen zu machen als für Proklos. Absolut betrachtet aber scheint die Beschäftigung des Syrers mit Aristoteles sogar intensiver gewesen zu sein als die des Atheners. Während wir von dem letzteren nur hören, daß er sich in seinen Studienjahren mit Aristoteles abgegeben habe, ohne daß von ihm ein Kommentar zu einer aristotelischen Schrift bekannt wäre, besaß man solcher Kommentare von lamblich sicher drei, vielleicht noch weitere. Günstiger stehen freilich einige andere Athener. So verfaßte Plutarch wenigstens einen, Syrian

1) A. a. O. S. 499.

2) So Zeller a. a. O. S. 806f.

3) A. a. O. S. 805.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 121

mindestens sieben aristotelische Kommentare i). Daß auch lamblichs Schüler auf diesem Gebiete nicht müßig waren, zeigt der uns er. haltene Kommentar des Dexippos zu den Kategorien, denen wahr- scheinlich auch Theodoros von Asine ein Werk gewidmet hat.

Nach allem ist Kirchner m. E. völlig im Rechte, wenn er in lamblich den Führer des gesamten späteren Neuplatonismus, soweit wir ihn bis jetzt untersucht haben, also der syrischen und der athenischen Phase, erkennt und die Ansetzung einer mit der athe- nischen Schule beginnenden dritten Richtung innerhalb der neu- platonischen Lehrentwicklung bekämpft. Gleichwohl möchte ich in Übereinstimmung mit dem oben S. 111 Bemerkten die letzten athe- nischen Diadochen nicht schlechthin zur syrischen Schule schlagen, sondern der äußeren Kontinuität der Akademie Rechnung tragen. Die Darstellung wird sich also von der Schule lamblichs zur athe- nischen Akademie zu wenden, für diese aber festzustellen haben, daß sie in ihrem letzten Entwicklungsstadium durchaus die durch irgendwelche uns unbekannte Zwischenglieder ihr vermittelte Rich- tung lamblichs vertritt.

Unsere bisherige Prüfung der inneren Geschichte des Neuplato- nismus ging im wesentlichen von der Dogmatik aus, die oft zum Gegenstande geschichtlicher Darstellung gemacht worden ist. Das Ergebnis dieser Prüfung wird bestätigt durch eine andere Betrach- tungsweise, die m. W. in größerem Zusammenhange auf den Neu- platonismus noch nie angewandt worden ist, von der aber natur- gemäß jede Geschichte des Neuplatonismus auszugehen hätte. Der Neuplatonismus will nichts anderes sein als die Lehre Piatons. Sein Substrat sind die platonischen Schriften, neben diesen auch die aristotelischen, insofern die letzteren die Vorbereitung zum Ver- ständnis Piatons bieten und, wie wenigstens ein Teil der Neupia- toniker behauptete, eine mit der platonischen im wesentlichen über- einstimmende Lehre vertreten, dazu endlich noch neupythagoreische, orphische und andere Literatur, deren offene oder verborgene Lehren mit der platonischen Philosophie zusammentreffen sollten. Alles kommt also an auf die richtige Erklärung dieser Schriften. Und so besteht die philosophische Arbeit der Schule großenteils in der

1) Von Hermeias und seinen Nachfolgern sehe ich ab, da sie nicht zur athe- nischen Schule zu zählen sind. S. unten.

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Kommcnticrun»^ platonischer und aristotelischer Werke und der angeblich im Inhalt verwandten Literatur. Die Exegese, nicht der Aufbau eines Systems, bildet den Ausgangspunkt. Diese Tatsache müßte auch die Geschichte des Neuplatonismus im Auge behalten. Keine Darstellung einer Dogmatik, die sich auf litera- rische Quellen als ihre urkundliche Grundlage beruft, kann sich der Pflicht entziehen, zunächst die Methode zu untersuchen, mittels deren die Dogmen aus jenen Quellen hergeleitet sind. So hätte auch die Geschichte des Neuplatonismus mit einer Prüfung der auf die grundlegende Literatur angewandten Interpretationsweise zu be- ginnen. Das ist bisher nicht geschehen. Die gangbaren Werke lassen zwar erkennen, daß die allegorische Deutung platonischer wie neupythagoreischer, orphischer u. a. Werke eine Hauptstütze des Neuplatonismus war, und hinterlassen im Leser den allgemeinen Eindruck, daß sich mit ausgedehnter Anwendung dieser Deutungs- weise nach Belieben alles aus allem, also auch Neuplatonismus aus Piatonismus machen lasse. Aber eine genauere Erforschung der Einzelheiten dieser Deutungsweise steht noch aus. Sehr zumSchaden der Sache. Denn erst durch die Erkenntnis der exegetischen Me- thode erhalten die uns noch vorliegenden Kommentare, auf denen unser Wissen vom späteren Neuplatonismus wesentlich beruht, ihre volle Beleuchtung. Wir -lernen einsehen, daß auch hier Prinzipien und Gesetze in Frage kommen, zu denen die verschiedenen Philo- sophen eine ganz verschiedene Stellung einnehmen, und gewinnen einen tieferen Einblick in die geistige Werkstätte dieser Männer, deren Arbeit Jahrhunderte hindurch nicht nur für die antike Philosophen- schule, sondern auch für die christliche Kirche bedeutsam gewesen ist. Der erste Neuplatoniker, von dem wir exegetische Arbeiten be- sitzen, ist Porphyrios. Sein dialogischer Kategorienkommentar ist durchaus nüchtern gehalten und vermeidet es, ins metaphysische Gebiet abzuschweifen und neuplatonische Lehren in den aristotelischen Text hineinzutragen. Ganz anderer Art ist die Exegese in der Ab- handlung über die homerische Nymphenhöhle i). Ich gebe aus ihr

1) Es handelt sich um die Stelle r 102-112:

AvTciü ini xQardi Xiiiirus rnrv^vlloe dlaitj,

ludv vvurp&oiv ai rrjtäSre xaXiovTai.

iv Sk xgrjrfjoie re xai Aii(pi<fv^ijfi faoif

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 123

einiges wieder, was in seiner Vereinigung für die porphyrische Inter- pretationsweise charakteristisch ist. Die Höhle ist, so wird c. 5f. ausge- führt, Symbol der (sinnlichen) Welt, wie alte Kulte beweisen. Dunkel ist wie die Höhle so die Welt, insofern sie aus Materie besteht, der diese Eigenschaft deshalb zukommt, weil sie an sich der sichtbar machenden Form entbehrt. Das fließende Wasser deutet auf die Unbeständig- keit der immer wechselnde Gestalten annehmenden Materie. Die Festigkeit des Felsgesteins, das die Höhle bildet (hier kein An- knüpfungspunkt in der Homerstelle), versinnlicht die Trägheit der Materie und ihr Widerstreben gegen die Form. Eine zweite Auf- fassung erscheint in c. 7. Auch sie soll bereits von Früheren ver- treten sein: die Höhle ist in ihrer Dunkelheit zugleich auch ein Symbol der (innerweltlichen, vgl. p. 62, 10) unsichtbaren Kräfte i). Zu diesen Auf- fassungen kommt in c. 9 noch eine dritte : Die Höhle versinnbildlicht die vor]Tri ovGia oder den vorjxdg xöGßog. Dann müssen die Eigenschaften der Höhle anders gedeutet werden als beim atad-rjTög xöoßog. Hier ging die Dunkelheit und das Felsige, wie schon gesagt, auf den Gegensatz der Materie zur Form. Beim vorjrög y.öainog zielt die Dunkelheit darauf, daß er nicht sinnlich wahrnehmbar ist, das Felsige auf die Festigkeit und Sicherheit (d. h. die Unveränderlichkeit) seines Wesens. Unter diesen beiden Deutungen wird in c. 10 für die homerische Höhle zugunsten der den aio^rjrdg y.öof.iog symbolisierenden ent- schieden, weil ihr stets fließendes Wasser zur vor]zij ovoLa nicht passe 2), natürlich insofern dieses Wasser an den ewigen Fluß der mate-

Xaiioi' erd'a S lireira rid'aißcöaoovat iieliaaai. hv S lOTol Xid'eoi 7ie^ii/r]xt£Sj erd'a rs vv^t(pat (pÖLQB^ v(pairovaiv alinÖQcpvQrt, Qavua iSäad'ai. iv S vSar aevaovra. Svo) Se re ol d'vQat ttalvj ai uev n^ds ßooiao xaraißarai atd'ownoiaiv, al 8 av nQOS lörov eiai d'eeitTf^ai' ovSe ti nflrrj ävSosS iaeoyovrai, cü.K a&aväroiv dSös iari?'.

1) C 7 Anf. Ov //örov 6" MS i(fauEV aöauov aiußolov [fiioi yevvrixov del. Hercher] aio&ijrov avrqov iTioiovvro, ä).l ^Srj nai naacöv rtnv do^ärov Svväuecnv av- rqov aiußol.ov naQeXdu ßavov Siä rd axoreivä akv elvai rd ävroa d<pavke xäv ovvdtifoiv (rd) ovoicöSes.

2) C. 10 Anf. JtnKov Ö öfToS ävxQov ovxbti tovto inl rijs ror^rrfs dlXd Ttjs atad'riT^s naosl.du ßavov (SC. vi ü'eolöyoi) ovalas^ (bs xai rd rvv 7iaQalrj(pdkv §id rd £-/elv vSara deväovra ovx äv eir] rfjs vorjxrjs vnooTäaso)?, dX).d rrjs irvXov <fEQoi> ovaias avußolov. Dementsprechend ist auch die S. 62, 15 beim aiad-r]rös ■y.öauus erwähnte und gedeutete Feuchtigkeit der Höhle bei der Beziehung der letzteren auf den torjrds xöaiio^ p. 62, 17 unberücksichtigt geblieben

124 K. Praechter

riellen Dinge erinnert (vgl. S. 59, 13f.). Durch diese vöuxu devdoviu ist die Höhle als Heiligtum der vv^cpai vatdsg gekennzeichnet. Diesen Namen führen zunächst im besondern die die Gewässer beherrschen- den Kräfte, dann im allgemeinen alle (aus der unveränderlichen Welt des Seins) in den Bereich des Werdens herabsteigenden Seelen '), deren Beziehungen zu Wasser und Feuchtigkeit aus überkommenen religiösen und philosophischen Anschauungen ^) beleuchtet werden. Diese doppelte Deutung auf Naiden und Seelen wird im weiteren Verlaufe der Schrift festgehalten (vgl. c. 13 Anf., 19 Ende, 24 Mitte [p. 72, 23 f.]; an diesen Stellen sind im Widerspruch mit p. 63, 7 ff. Naiden und ins Werden herabsteigende Seelen als getrennte, ein- ander koordinierte Wesensgattungen aufgefaßt), nur bleiben die Naiden gegen den Schluß hin unberücksichtigt. Demgemäß werden auch in c. 13 ff. die bei Homer aufgeführten Geräte in ihrer sym- bolischen Deutung an die beiden Kategorien verteilt -). Die steinernen Mischkrüge und Henkelgefäße werden den Naiden zugewiesen und vergegenwärtigen das Hervorgehen des Wassers aus dem Felsge- stein. Die steinernen Webebäume hingegen sollen den ins Werden eintretenden Seelen zukommen und das Knochengerüst bedeuten, das mit Fleisch umsponnen wird i). Letzterem entsprechen die pur- purnen und dadurch an das Blut erinnernden Gewänder. Die in den Gefäßen bauenden Bienen erinnern an die reinigende und Fäul- nis verhindernde Kraft des Honigs und an die Werdelust, die er symbolisiert (c. 15ff. p. 67, 2ff.; 68, 16 ff. i. Auch hier beruft sich Porphyrios auf die Deutung der Theologen, auf Kultus und Mytho- logie. Den Naiden kommt der Honig zu mit Rücksicht auf die durch Fäulnis unberührte Reinheit der Gewässer, die ihrer Herr-

1) P. 63, 7 ff. Nvtiifas de vatSas l.iyoutv xai ras rcöv vSütmv Tc^otaTtöaai Svid- iitis id/os, lleyoi' Ss nai ras e/s yerfoir xartovaas yt^ni xotriös ÜTtciaas.

2) U. a. im Anschluß an Numenios aus der biblischen Vorstellung von dem über dem Wasser schwebenden Geiste Gottes.

3) P. 65, 16 ff. Thu ovy rjulv Ö triff oua avtißo/.a, iiif Tiods tA» if'i-j(ds draift- QÖiifva 6k .Tods T«S iv vSaai dvräiieis , i'ra xoirdi' &u(foxiQatS xaO'ifQüad'at id

AiTQov ■bnoXäßcoufv; worauf die Ausdeutung der Xäuoi x^aTtj^is re xai äfX(ft(fopi'fg und der iaroi Ud-fot mit den tjdofu dXtnöQifvoa folgt.

4) P. 66, 4. 5 haben rovroir und tovtois im Vorhergehenden keinen Beziehungs- punkt. Die ).(f>noi xQnrfjQis xai diitfifpooti^ sind durch den Zusainnienhang aus- geschlossen. Ist die Überlieferung in Ordnung, so ist den iiit. xoar. x. tiuf. der allgemeine Begriff Ui^oi zw entnehmen, bei welchem speziell an die taxoi idi^ioi gedacht wird.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 125

Schaft unterstehen, und auf ihre Beihilfe zum Werden, die von ihnen auszusagen ist, insofern das Wasser zum Werden beiträgt. Daher bauen die Bienen in den Mischgefäßen und Henkelkrügen, die die Quellen und das aus ihnen geschöpfte Wasser symbolisieren (p. 68, 19ff.). Nun wird aber die Beschränkung auf die Naiden aufgegeben. Quellen und Wasser, heißt es p. 69, 4ff., eignen erst recht den Seelen i), und diese wurden von den Alten als Lusterzeugerinnen Bienen genannt. So wird denn am Schlüsse von c. 19 gesagt: cpegouv (av) ovv y.r]Qla xai cd ^lelioocci ot'/.etcc ov^ßoXu vxd xoivd vÖQid- diov wf-Kfcöv y.al ilwxwv etg ysvsoiv vvf.icfevo/.i€vcov, während in C. 13 (p. 65, 19ff.) die die Bienen enthaltenden Gefäße als spezielles Attribut der Naiden erschienen.

Im weiteren Verlaufe der homerischen Schilderung wird die Zwei- türigkeit der Höhle wieder in Anlehnung an Frühere auf einen dop- pelten Weg der Seelen bezogen: durch die nördliche Türe treten sie ein in das Reich des Werdens, durch die südliche erheben sie sich aus diesem zu den Göttern (c. 22 f.). Die Naiden bleiben dabei völlig außer Betracht. C. 24 ist noch einmal erwähnt, daß die Höhle den Seelen und Naiden geweiht ist, aber die weitere Deutung ver- läuft so, als wäre von den letzteren nie die Rede gewesen. Die symbolische Bedeutung der Zweitürigkeit wird im folgenden (c. 29f.) erweitert. Im ganzen mit der exe^öTrig beginnenden Reiche der (pvoug herrscht überall die Doppelheit, die die Theologen in dem öLd^vgov symbolisiert finden. So stehen einander gegenüber vorjröv und cüaS-ijTöv, innerhalb des letzteren wieder Fixstern- und Planetensphäre, Unsterbliches und Sterbliches usw. So gehört von den zwei Türen der Höhle der eine den Göttern und den Guten, die andere den Sterblichen und Schlechteren (p. 77, 11 ff., vgl. p. 76, 10 f.).

Die Exegese wendet sich alsdann (c. 32 f.) zu dem am Hafen stehenden Ölbaum, der auf die in Athena verkörperte (pQövrjoig ge- deutet wird, und schließt mit einer ethischen Forderung (c. 34 f.). Man soll allen äußeren Besitz in der Höhle ablegen und nackt und in Bettlersgestalt nach Zerschlagung des Leibes, Abwerfung alles Überflüssigen 2) und Abkehr von der Sinnenwelt unter dem Ölbaum sitzend mit Athena Beratung halten, damit sie die auflauernden

1) Wobei jedenfalls das p. 63, lOff. Bemerkte vorschwebt.

2) In Ttt^ixTcoua soll dabei die Vorstellung von Unrat mitklingen.

126 K. Praechter

Leidenschaften der Seele alle vernichte. Dieses Gebot wird gestützt durch die auf Numenios zurückgeführte Auffassung der Fahrten des Odysseus als einer Durchschiffung der durch Meer und Wogen- brandung symbolisierten yeveoig in den jenseits aller vAt] gelegenen Hafen.

Die Eigenart dieser Allegorese wird erst durch den Vergleich mit der iamblichischen zu voller Klarheit gelangen. Ich will aber doch das Wesentliche gleich hier zusammenfassen. Erstens werden für den gleichen Gegenstand mehrere symbolische Deutungen, größten- teils im Anschluß an frühere Auslegungen, Kulte usw , nebenein- andergestellt, ohne daß eine Vermittelung zwischen ihnen versucht würde. Die Höhle bezeichnet den aio^Tjrdg y.öo/uog, sie bezeichnet auch den voi]töq y.öauoc, auch die ccöqutol öwäf^eig. Aber eine Brücke vom einen zum anderen wird nicht geschlagen, es heißt nicht etwa, daß die eine Interpretation mit der andern gegeben sei, daß ihrer je zwei sich verhalten wie Avers und Revers einer und der- selben Münze. Im Gegenteil. Die eine Ausdeutung, die auf den rorjTög y.öonog, wird schließlich ausdrücklich abgelehnt. In anderen Fällen bleiben zwei Deutungen nebeneinander bestehen, aber wieder ohne eine unmittelbare innere Verknüpfung, Die beiden Türen sind bald die Pforten der auf- und der absteigenden Seelen, bald die der Götter und der Sterblichen i). Das Nämliche wie von den Gegen- ständen gilt von den Eigenschaften, denen eine symbolische Bedeu- tung zugeschrieben wird. Die Dunkelheit der Höhle und ihre fel- sige Beschaffenheit bezeichnen ganz Verschiedenes, je nachdem die Höhle den vorjxdg xöauog oder den ciioO-rjög y.öofiog vergegenwärtigt 2). Eine Überleitung von der einen zur anderen Bedeutung ist auch hier nicht gegeben. Zweitens fehlt es in der symbolischen Auslegung

1) Vgl- P- 71, 22 ff. X«* öod'üis Tov ävToov at Txoöi ßooqäv ni'l.ai xaraßaral ctv&Qiönot? , ra Si rörin ov xf'e&v, aXXa rtöv eis &eovS nriovOMv. 8ia rriv nvTi;r S' airiai' ov d'ewr icpt] ödii?, d/J. dO'ardTon', ö xoirdv xui irrt xpvji^üif ij ovocöv xai''"' avrd ^ T^ ovala dd'aväxMV, und dann wieder p. 77, 11 ff. Tianaiov Tolfvv TOV $t&v- ^ov yj'öaetos övTo? avuß6),ov elxoxots xal ävToov ov lUoröd'vQOv , d).).A Sio tj^o-y &ljpae dtaavrtos rols nQdyuaaiv i^riXKayftivas xal rds itir d'sols re xai zols Aya- d'ols TCQoatjxovoas tAs Sk roXs d'rr/Tol» xai (pavf.oTeoon.

2) Vgl. p. 62, 9ff.: die Theologen deuteten die Höhle auf den [niad-iqTdi) xö-

aiios und die iyxvatnoi Svvüitfiü, ferner auf die lorj??'; ova/n, ix <)tn<pt>(>t'>r nervo* xai ov Toiv avTför ivvoiiür dpuduterut, womuf die verschiedene Auslegung» der Eigenschaften der Höhle folgt.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 127

nicht an Unklarheiten, Widersprüchen und Willkürlichkeiten. Die beiden Wesensgattungen, denen die Höhle geweiht sein soll, er- scheinen wie bemerkt bald in einem Subordinations-, bald in einem Koordinationsverhältnis. Man fragt sich ferner, weshalb denn der Dichter oder diejenigen, die die von ihm beschriebene Höhle ge- weiht hatten (vgl. c. 4), nur diese beiden Kategorien, Naiden und Seelen, aus der Gesamtheit der Wesen herausgegriffen haben sollten. Sie allein bevölkern nicht den alaO^rjrög aöa^iog. Die Naiden sind nur eine untergeordnete Spezies der bwIol &soi. Es scheint will- kürlich, gerade sie allein mit den Seelen zusammenzufassen. Daß die Naiden schließlich ganz aus dem Auge verloren werden, ist oben schon bemerkt worden, ebenso daß in der Zuteilung der Attribute Inkonsequenz herrscht. Drittens schwebt die ethische Exegese am Schlüsse der Schrift in der Luft, da ein Handeln, wie es hier vor- geschrieben wird, aus der homerischen Höhlenbeschreibung- nicht abzuleiten war. In der Tat stützt sich Porphyrios hier, wie schon ge- zeigt wurde, auf den sonstigen Inhalt der Odyssee und berührt die vorliegende Stelle nur nebenher (p. 79, 12ff. etg xovro ccvtqov dno^EGO^ca xrl.\ p. 79, 16ff. ßovXeveod-ai ^exä Tfjg 'Ad-r^väg Y,a&et6- LLBvov oi'v avxfi VTTÖ Ttv^^eva i?Miag: p, 80, 9 ?j V7td rfj eXcüa y.a^edqa). Das ganze Verfahren des Porphyrios hinterläßt den Eindruck des Unharmonischen. Einzelne Beziehungspunkte werden bald hier bald dort aufgegriffen, aber es fehlt die Einheitlichkeit eines konsequent durchgeführten Gesamtplanes. Es kommt ihm vielmehr darauf an, daß überhaupt von einem Punkte der Dichterstelle zu einer philo- sophischen Vorstellung jeweilen ein Faden gesponnen werde, als daß diese Fäden sich zu einem glatten und lückenlosen Gewebe vereinigen. Das exegetische Kunstmittel ist noch nicht gefunden, das ein solches Gewebe schafft. Daß es aber noch nicht gefunden ist, hängt aufs engste mit zwei bekannten Seiten in der geistigen Eigenart des Porphyrios zusammen, seiner Gelehrsamkeit und seiner Hochschätzung der Ethik i). Das Bestreben, seine Deutungen auf Dichter und Theologen, auf Mythus und Kultus zu stützen, bildet ein Hemmnis für eine einheitlichere Gestaltung seiner Exegese. Sein gelehrtes Interesse ist befriedigt mit dem Nachweise, daß die Deu- tungen a, b, c usw. sich in dieser Weise belegen lassen. Die Frage

1) Über den letzteren Punkt Näheres bei Zeller S. 701 f.

128 K. Praechter

wie sie sich zusammenschließen, drückt ihn nicht. Eine von prinzi- piellen philosophischen Gesichtspunkten beherrschte Exegese würde ihn zwingen, den festen Boden der Tradition zu verlassen und ins uferlose Meer freierfundener AUegoresen hinauszusteuern. Der Ethi- ker aber, der das Tfjg ipvyjig Tcäi>og ixßdkXeiv und die ii'vyf^g oioTi'Qia als Ziele der Philosophie mit Nachdruck betont, vertritt seinen Standpunkt auch auf dem Gebiete der allegorischen Inter- pretation. Diese muß jedem Schriftstücke auch ethische Wahrheiten abzuringen wissen, mögen diese sich ihm auch noch so schwer entnehmen und noch so wenig mit der metaphysischen und physi- kalischen Erklärung in Einklang bringen lassen.

Daß die porphyrische Allegorese in anderen Schriften die gleichen Grundzüge zeigte wie in der Abhandlung über die Nymphengrotte, ist aus den zahlreichen Mitteilungen zu erkennen, die Proklos in seinem Kommentar zum platonischen Timaios über die Erklärung dieses Werkes durch Porphyrios macht. Hier lernen wir zugleich den Gegensatz kennen, in welchem die iamblichische Interpretations- methode zu der des Porphyrios steht. Dieses Gegensatzes ist sich lamblich voll bewußt. Er polemisiert gegen Porphyrios, z. T. in sehr scharfem Tone, und läßt dabei den prinzipiellen Unterschied, der ihn in der Exegese von seinem Vorgänger trennt, aufs deut- lichste zutage treten. Auf dem Einblick, den uns der proklische Timaioskommentar in diesen Streit gewährt, beruht wesentlich die große Bedeutung, die ihm als Quelle für die Geschichte der grie- chischen Kommentartechnik zukommt i).

Leitender Grundsatz für lamblich ist Konsequenz und Einheit- lichkeit der Exegese ^j. Für jede Schrift wird ein Zielpunkt {ay.ojiög), d. h. ein Grundthema angesetzt, das bei der Deutung des Einzelnen

1) Wie wenig Proklos' Timaioskommentar für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Porphyrios und lamblich bis jetzt verwertet worden ist, zeigt u. a. eine Bemerkung Zellers S. 774 Anm. 1 , wo zugunsten der Aberkennung der Schrift de mysteriis gesagt ist: „auch mag man immerhin fragen, ob dieser (niimlich lamblich) wohl seinen Lehrer Porphyr in einem solchen Ton angegriffen und geschulmeistert haben würde, wie dies unser Buch tut." Dabei ist übersehen, daß bei Prod. in Tim. I p. 153, 9f. lamblich eine Interpretation seines Lehrers mit den Worten kriti- siert: ovtfi fi/.fiaocfos d ToÜTios vörus ttjs O'fiopitts , ci/./.n jfinoßn^ixiji <i).n^uiiia>

l/fOTOS.

2) Das Folgende berührt sich in mehreren Punkten mit meinen Ausführungen in den üütt. gel. Anz. 1905 S. 525 ff.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 129

überall im Auge behalten werden muß i). Zum Widerspruch gegen übliche Verfahrungsweisen führte dieses Prinzip sofort bei der Aus- legung der Proömien platonischer Dialoge. Die Erklärer pflegten, soweit sie das Proömium nicht einfach unberücksichtigt ließen 2), dieses für die Exegese von dem Hauptteil des Dialogs zu trennen gemäß dem besonderen Zwecke, den sie ihm zuschrieben. Nach den einen dienten die platonischen Proömien der dramatischen Unterhaltung des Lesers, nach den anderen waren sie als geschicht- liche Erzählungen aufzufassen, eine dritte Kategorie sah Anweisungen aus dem Gebiete der Pflichtenlehre darein eingekleidet. lamblich und ihm folgend die großen Exegeten der athenischen Schule, Syrian und Proklos, fordern, daß die Interpretation das Proömium dem oxo7iög des ganzen Dialoges unterordne. Liegt dieser beispielsweise auf dem Gebiete der Physik, so ist auch das Proömium physikalisch, nicht ethisch zu deuten 3). Den Gegensatz zwischen lamblich und Porphyrios, der natürlich auf der Seite der Ethiker stand, gibt Procl. in Tim. I 19, 24 ff. deutlich an: xca o%eööv äicccvra %d jtQO rfjg cpvaio- loyiccQ (d. h. das ganze Proömium) 0 ^ev e'irjysiTat 7colLTty.d)TEQov, 6 IIoQCfVQiog, eig rag d^erdg dvacf£QCOv y.al rd Äsyö/j.sva xa^tjyovra, 0 de (lamblich ist vorher genannt) rynf atz wT£(>oj'" öeiv ydg rcp HQOY.sifjevq}

1) Schon lamblich mag sich wie manche seiner Nachfolger dabei auf Piat. Phaedr. 264 C berufen haben. Vgl. Procl. in remp. I p. 6, 26 ff.; 11, 9 ff., in Parmen. p. 659, 15ff. (Ausg. V. 1864). Herm. in Phaedr. p. 9, 8f. 11, 17f. Proleg. philos. Piaton. 21 p. 214, 31 Hermann (das Zitat auch 15 p. 209, 15). Die Stelle ist auch gemeint bei Elias in Porph. Isag. p. 41, 17 f., wo Busse mit Unrecht auf die vorher in anderem Zusammenhange zitierte Stelle Plat. Phaedr. 237 BC verweist.

2) Vgl. Procl. in Parm. 658, 36 f., in Tim. 1 204, 17. Gott. gel. Anz. 1909 S. 539.

3) Über die verschiedenen Richtungen in der Erklärung der Proömien s. Procl. in Alcib. p. 308f., in Parm. 658 f. Das Prinzip des fk axonös z.B. auch Procl. in

remp. I p. 6, 24 ff. (7, 3 f. Kai dno>s eis rdv era ßlinfi nävra axonöv). lamblich Syrian und Proklos als Vertreter dieses Prinzips Procl. in Tim. I p. 77, 25 ff : d^doKei

oi TovTio (seil. ^laitß/.iy^cp) rs nai reo ■^ueripaf y.ad'rjysiiovi rrjv iravTlioaiv ravrrjv

(nämlich der Atlantiner und Athener) ovk en' dd-eTtjaei rröv (faivouivcov (d. h. die sinnlich geschichüiche Bedeutung der Erzählung soll nicht geleugnet werden) rov- ravtlov ittv o-vv^ ineli'oiv Tiät'Tots btboyf/eviov cos yeyovörotv, ä/.l' eös eldid'aftsv rd nod

räiv vTzoxsiuevofv rois Sialöyois (d. h. das Proömium, das der Behandlung des eigent- lichen Gegenstandes vorangeht. Radermachers Konjektur n^cörov vnoxsiueva ist

verfehlt) drdyeiv eis rdv avrdv rois Sealöyois OHonöv doeaxet ctrj o-vr ovriool xrl.

Folgt eine physikalische bez. metaphysisch-physikalische Ausdeutung. Wenn Procl. in Parm. 659, 11 f auch die ethische Erklärung nicht ausschließen will, so findet das in dem, was unten S. 137 f. über die universalistische Seite in lamblichs Verfahren gesagt werden wird, seine Rechtfertigung.

Oraeca Halensis. 9

130 K. Praechter

oy.07rip jidvtu öV(.i(piüV(c elvai. (pvGixög ös 6 iJmÄoj'oc: (der Timaios), «AA' ov/. i]i}Ly.6g. Aus den Beispielen, die sicli für diese Differenz bei Prol<los finden, sei nur das eine herausgegriffen, das zu der eben angeführten metliodologischen Bemerkung Anlaß gegeben hat. Nach Procl. in Tim. 1 18, 31 ff.; 24, 12 ff. erkannte Porphyrios bei Plat. Tim. 17 Ai) die Angabe dreier ■KuOrixovicr. Nur körperliche Krankheit ist ein genügender Grund, Gesprächen, wie sie hier geführt werden, fernzubleiben. Von Freunden muß nach Möglichkeit der eine den andern verteidigen, wenn dieser anscheinend einen Fehler begangen hat. Freunde müssen einander nach Möglichkeit ergänzen. Dieser ethischen Erklärung setzt lamblich p. 19, 9 ff.; 24, 17 ff. eine physi- kalische und zwar zunächst psychologische entgegen. Die zur Be- trachtung der voi]Tä Geschulten sind ungeeignet zur Beschäftigung mit den aiaü^rjrd. Das ist die doO^eveue des ausgebliebenen Vierten, in Wahrheit eine övvdfiswg vjisQßoXi), y.a^' f^v v7csQexei rf]Q nagovoijg lf^6ioQiag ip. 19, 19 f. 2). Wie aber die Naturerzeugnisse bei aller ihrer Minderwertigkeit gegenüber dem wahrhaft Seienden doch eine Ähn- lichkeit mit diesem besitzen (oder, wie es sonst heißt, sein Abbild sind), so hat auch die Betrachtung der Natur teil an dem Wissen der vorjrd, und dies ist mit der dvanh]QiooLQ angedeutet (insofern die anwesenden Beschauer der aioOr]rd den abwesenden Betrachter der vorjrd vertreten). Von weiteren Fällen vergleiche man etwa noch p. 116, 27 ff.; 117, 18 ff., wo es wieder heißt ö ye ^rjv (pilöooffog Idjiiß/.ixoc ipvöiy.wQ rciviu dSiol O^eioQeiv, d?.X oir/. Tqi^L'ACög. Bei der p. 171, 17 ff. wiedergegebenen ethischen Deutung des Porphyrios ist die Gegnerschaft des lamblich angemerkt (p. 171, 22 f. yxd v/reg ys TöJv doyt-idzcüv rovtiov ev^vvag /ncQeoieTO [scil. 6 no{)tpvQLog'\ r(^ iier ctixöv e^r]yr]Tf]) , ohne daß dessen Interpretation, die sich übrigens wohl im wesentlichen mit der vorher gegebenen des Proklos deckte, berichtet wird 3).

1) Auf Sokrates' Bemerkung, daß der vierte der Mitunterredner fehle, entgegnet

TimaiOS: ""Aa&ii rts hvtiö oifenfoer, di ^cöxoaTs?' ov ynp Stv t'xiov 7ija$f <i7te).ei- Ttero rijs aviova/af. Worauf Sokrates: Ovxoifv adr r&rSi re ioyov xni rd {'Trio toS dTiövros d.rn7xXr]goiiv uioo?.

2) Zum Gedanken' vgl. p. 22, 25; 62, 31. Herrn, in Ptiaedr. p. 41, 23f.

3) Eine ethische Deutung des Porphyrios liegt, ohne daß ihr eine andere Inter- pretation des lamblich gegenübergestellt würde, noch vor I p. 27, 22 ff. (vgl. dazu p. 217, 8f.; 353, 14 f.). Auch p. 29, 31 ff. geht ohne Zweifel auf Porptiyrios; s. u. S. 140 Anm. 2. Ebenso ist wohl bei den ein t^i^^txug anoSöaetq Zurückführenden 111 168, 4 in erster Linie an ihn gedacht.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 131

Dies exegetische Gesetz der Einheitlichkeit gilt natürlich erst recht für den auf das Proömium folgenden eigentlichen Dialog. Seiner Anwendung stand aber auf dem einen wie auf dem andern Gebiet eine große Schwierigkeit entgegen. Wie wenn einem physi- kalischen Dialoge ethische, metaphysische oder mathematische Er- örterungen eingefügt sind, oder wenn dessen Proömium, wie es beim platonischen Timaios der Fall ist, augenscheinlich ethische Aus- führungen enthält? Was berechtigt, auch in solchen Fällen die phy- sikalische Deutung platzgreifen zu lassen? Welches ist der Weg, der von dem ethischen, metaphysischen oder mathematischen Wort- sinn hinüberleitet zur physikalischen Erklärung?

Zur Beantwortung dieser Fragen läßt sich ausgehen von Procl. in Tim. II p. 23, 9 ff. Es handelt sich hier um die Erklärung des Mathemati- schen in Tim. 32 A, für die sofort p. 20, 19 ff. das Programm aufgestellt worden ist: ügcörov stTtslv xgrj -/cegi tovtcov f^a&rj/nuTLxcög , eftsita,

Ö7TEQ /.idAlOTCC TTQÖXSLTÜi, q'v'oiV.GJQ' OV ycCQ djtlQQTiJGd^CXl l) ÖÜ TÖV lÖyOV

T'^g ■/rQoy.Eii.ievrjg rjfiiv ^ecoglag (d. h. das Prinzip des slg oy.onöo. ist maßgebend). Demgemäß fährt Proklos nach der mathematischen Erklärung p. 23, 9 ff. fort: DIsto. Öt] ttjv j.iaO'i^f.LaTr/.i^v avdliqiliiv röv Qrjfxdrcov tovtcov evtl xr^v (pvGivJ^v dsl TQe-rreod-ai O^siOQiav. ovts ydg TOig fj.ai)^rjfxccaiv eyxaTaf.i€vstv 7rQ0orjy.€i töv köyov dnxtQTüvTag {ffvGi- y.og yaQ 6 ÖLdXoyog) ovxe df-ieXslv xCiv Xöycov exeiviov itqbg a'C- od^r^oiv ßövov irciLrjTOvvTCcg, dlXd dei ovvd-rcTeLv di.i(fÖTSQa ymI gv^i- 7tXev.€iv del to. cfvGixd TOig /^(ad-r]fj.aTixorg, ügtisq y.al avTa Ta 7t qdy f.iaT a Gvf.i7cXeysTat xa l e G t lv ö i^io ysvfj y cd d ö s Icp d y.ard Ti]v djcö vov nQöoöov. Daß Proklos hier in den Spuren des lam- blich geht, ist leicht zu erweisen. II p. 36, 20 ff., wo ebenfalls einer mathematischen Interpretation eine physikalische angeschlossen wird, heißt es: '^7id de tovtcov ÖQßr]ü^€VT£g yMTlöcof.i£v öjicog ycd Ta cpvGiyd du(Voi]fxccTa GVßCfcovcc TOVTOig sgtI ycd ToTg i/ciGrrjixovixoig löyoig Toig siyöTccg (wie sie in bezug auf die cpvGig allein möglich sind) GvvaQfxöGcofMsv yai 7CqGtov, tl eTtiTcedov cpvGixöv xai 7T.G)g ircl tov- tcov [xLcc f.i€GÖTr]g, ovo ös ert' avTcöv twv GTegeoeiöCiv. 6 [.uv d^siog 'Idfz- ß liXog ovTog y uq 6 dvij q ö la cp s q övTcog dvxekdßsTO xijg T0ic(VTr]g d- SCO Q Lag tcöv äXlcov ÜG 7t eg yciihevöövTcov '/.al 7tSQl

1) 'ÄTiagräv in der bei Prolilos mehrfach zu belegenden (s. Diehls Index) ge- wöhnlichen (vgl. z. B. Demosth. de cor. 59) Bedeutung „entfernen" „wegleiten".

9*

132 K- Praechter

f^ite d-7] ucerLy.dr y.a ?.iv öov /^leriov fiövov dia'Agivfiv uoi do- Ksi xt/. (folgt eine physikalische Erklärung, bei der auch physika- lische eninedu eine Rolle spielen i)- Die Auffassung, die am Schlüsse der zuerst ausgeschriebenen Stelle (23, 9 ff.) zutage tritt, ist nun für das exegetische Prinzip des lamblich grundlegend. Es ist die sachliche Verwandtschaft zwischen den verschiedenen Gebieten, der Mathematik, Physik, Metaphysik {0-soloyLa) und Ethik, mit der seine Methode steht und fällt. Die Mittelstellung, die schon Piaton dem Mathematischen zwischen den Ideen und der sinnlichen Welt zugewiesen hatte, erhält die Bedeutung die natürlich lamblich schon bei den Pythagoreern findet , daß das Sinnliche et-Aüv des Mathematischen (dieses also .rccQäösiyna des Sinnlichen), das Mathe- matische aber fiy.cov des Übersinnlichen sei ^). So kann die Ex- egese vom einen zum andern übergehen, sie kann in der sly.ojv das TTaQccÖEiyfia versinnbildlicht finden und für die slxcbv Aufklärung ge- winnen aus dem yragäöeiyua. Ein gleiches Verhältnis besteht aber auch zwischen dem Mathematischen und dem Ethischen''). Natürlich kann auch mit Umgehung der mathematischen Zwischenstufe ohne weiteres das Übersinnliche als Tragddeiyfxa des Sinnlichen und dieses als siy.cöv des Übersinnlichen gefaßt und so metaphysische Wahr- heiten in physikalischen Ausführungen und umgekehrt gefunden werden ^) und ebenso das Ethische in unmittelbare Beziehung zum

1) Auch sonst wird die mathematische Erklärung einer Stelle des öfteren der physikalischen oder philosophischen (d. h. metaphysischen) oder sachlichen gegen- übergestellt, so II 174, 15ff. (vgl. 193, 7. 9i; 212, St.; 237, Uf.; III 145, 30f. (vgl. 149, 23); 337, 25 f. Vgl. auch II 261, 20. 29ff.; III 74, 32; II 39, 16.

2) lambl. de comm. math. scient. 15 p. 56, 24 ff. Festa: ^Emxotvmvfi Sk (seil.

>J rrjs uad'rjitarixrj? ovaia) tiqös aird (SCil. f'^Qf} t^» <ft/,ooo<fiaS), xad" 8aov My^et ttva TiQds avTo. öuoiörrjxa xai avvriJ.eiav ngds avrd Ttapi'/erai rr,v Siaßtßät,ovaav npds avrd xai öStjvovaai'. xai nods ubv ra eoTrjxÖTa xai (bpiaaeva ewrj xai ov notk utv Svra nork de ufj Sita del re (hierfür dei di}) waavTos {%orra (d. h. das Meta- physische) dvaifE^Fiv xai avväytiv ni<pvx(v t&s Ar dnoXemoiiivri avrcär TtXeiörqri xai xad'apÖTrjTi xai Ttj rrjs daoyftarias tV o^tois einoiiev ),enrÖTt]Ti, duuiovral {ditoi- öixal ist unmöglich) tf Tipds avjd tbs nods vnegiyfivra' tcöv Si iv yeviatt iviiXwv eiSäv xMQcard rdv aotudrutv TcaQaB r ly u ax a TtooTtlvei iv eiSeai itad'tj/taTixoIi, xai oßTfos avvsQyet npös du<pdTfQa. Vgl. 34 p. 97, 2 ff. iröfti^ov (scil. ol Jlvi^ayö^fioi) di y.ai xdXliara naoaSelyiiara tlrai, rd iv to?» uaO'rjuaot tüv rfjSe (Procl. in Tim. II 39, 18f. xai ydo rd (fvaixd rtöv iiad'riiiarixäiv fixdrfS fto/).

3) Vgl. lambl. de comm. math. scient. 15 p. 56, 8 ff.; 34 p. 96. 20 ff.

4) Procl in Tim. 1 p. 24, 20 ff. xAv dnoXfiTrrjTai id yeiTtjuma rd n'i tfihifiui Tüiv drxoii ÖrTtor, d)J.d naQaanärnl rirn dn' avTÖiv di/otiiri/Ta Tt^df aird (SO schreibe

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 133

Metaphysischen und Physischen gesetzt werden i). In jedem dieser Reiche herrschen Verhältnisse, die denen der anderen analog, aber je nach dem Charakter dieses Reiches besonders modifiziert sind, und die Aufgabe der Exegese ist es, den Text zur Beleuchtung dieser Analogien und Modifikationen zu benutzen 2). Das All gleicht so einem gewaltigen Gebäude, dessen in verschiedenen Stockwerken gelegene Räume die gleiche Verteilung und Einrichtung aufweisen, nur daß vom obersten (dem Metaphysischen) zum zweiten (dem Physischen) und von diesem zum dritten (dem speziell Menschlichen, wie es der Gegenstand der Ethik ist) ein ständiges Abnehmen der Vollkommenheit sich geltend macht, und jedes ergiebigere Textesstück hat, iamblichisch interpretiert, die Bedeutung eines das Gebäude in seiner gesamten Höhe durchgleitenden Aufzuges, der uns die Mög- lichkeit gibt, die verschiedenen Stockwerke in der Betrachtung zu verbinden und ihre übereinstimmenden und unterschiedlichen Eigen- tümlichkeiten kennen zu lernen. Dieses fortwährende Hinüberspielen vom Sinnlichen ins Übersinnliche, von der kosmischen Natur zum Menschen ist der Grundcharakter der allegorischen Exegese lam- blichs, und er hat damit eine neue, weit von Porphyrios wegführende Bahn betreten. Es liegt auf der Hand, daß auf diesem Wege die Fehler der abspringenden und widerspruchsvollen, bald diese bald jene Einzelheit aus dem einen oder dem andern Gebiete symboli- sierenden Methode des Porphyrios leicht zu vermeiden waren. Wäh- rend letzterer bei irgendeiner besonderen Instanz in der Skala der Wesenheiten stehen bleibt, von der er keinen Weg nach oben oder unten zu finden weiß 3), hält sich lamblich durch die exegetische

ich für avTÜ)' xarä rd avrä Sk xai rj neQi rfjv (fvaiv arQSffouirri d'eniQla uexsy^ct 7i(oS rfji i7itart]ur]S rüiv vo^xcHv. Das beschränkende nva vor duoiörr^ra soll nur

den Abstand an Vollkommenheit betonen, der nicht hindert, daß zwischen beiden Reichen die weitgehendste Analogie besteht.

1) Vgl. besonders die Deutung Procl. in Tim. I p. 30, 2 ff. die unten (S. 140, Anm. 2) als iamblichisch erwiesen werden wird.

2) Bei Procl. in Tim. I p. 87, 9 ff. stellt lamblich der Interpretation des Textes

U. a. die Aufgabe, zu sehen, ol avxoi löyoi nöai^v i^allayrjv inirpalvovoiv älhos iikv dvres iv ro) i'iij rov navrös, äV.ojS, Se iv rrj ^uyfj xai ä)J.(os iv rfj cpvaee xai ea^d- Tfos iv vir] yeyovdxes xai ad rcfoi ttji' vlrjv uerd rrjs öiioiörriTos rrauTiöllriv tfiv ire- pörrjTa Seixvivres.

3) Nichts ist für Porphyrios' Verfahren charakteristischer als daß er p. 63, 2ff. die Beziehung der Höhle auf den r^/^rös- xöaitos ausdrücklich ablehnt, und daß er für diesen mit dem stets fließenden Wasser nichts anzufangen weiß.

134 K. Praechter

Verwendung des Verhältnisses von /raQdösiyina und sly.cbv das ganze Gebiet des Seienden in weitestem Umfange zur Verfügung und sichert sich so die MögHchl<eit, die Wesenheiten und Beziehungen, die er symboHsiert finden will, so zu wählen, daß Widersprüche ver- mieden werden und die Deutungen sich zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügen. Nur einmal nimmt Porphyrios in der Schrift über die Nymphengrotte einen Anlauf zu iamblichischer Interpretations- weise, aber gerade da ist es klar, wie weit er von der systematischen Handhabung dieser Methode bei lamblich entfernt ist. Es ist die Stelle, an welcher die Zweitürigkeit der Höhle auf die überall die Natur durchziehende eTsgörrjQ gedeutet wird (c. 29 p. 76, 12ff. ; s. o. S. 125). Angeführt werden der Gegensatz des Übersinnlichen und des Sinn- lichen und innerhalb des letzteren der der Fixstern- und der Planeten- sphäre; dann der des Unsterblichen und des Sterblichen. Das Verhält- nis dieses Gegensatzes zu den vorangehenden bleibt unklar. Tat- sächlich ist er ihnen weder ko- noch subordiniert, sondern kreuzt sich mit ihnen. Es folgen die Gegensätze an der Himmelskugel, nördlicher und südlicher, östlicher und westlicher Pol; dann links und rechts, Tag und Nacht. Hier fehlt jedes Prinzip und System. Es sind einfach unter teilweiser Anlehnung an die pythagoreische Kategorientafel einige Gegensätze, wie sie sich gerade darboten, als Beispiele der überall herrschenden Zweiheit zusammengestellt.

Um den Abstand zwischen Porphyrios und lamblich schärfer hervortreten zu lassen, will ich eine in iamblichischer Weise angelegte Allegorese der Nymphengrotte der des Porphyrios entgegenstellen, lamblich würde etwa folgendermaßen interpretiert haben. Die Höhle bedeutet den a(.a&r]rög yiöo^og, der uns zugleich als Abbild des vorjTög y.üaaog auch diesen vergegenwärtigt. Die Dunkelheit ist die im Gesamtbereiche des Seienden herrschende. Dem ror;röc y.öauog eignet sie lediglich gegenüber unserer Betrachtung, die ihn nur unvollkommen erfassen kann. Je mehr wir in der Stufenfolge des Seienden herabsteigen, desto mehr wird aus dieser subjektiven Dunkelheit eine objektive. Vollkommen objektiv ist sie bei der Materie infolge ihrer Formlosigkeit i). Das ewig fließende Wasser

1) Das bei Homer nicht bclonte, aber bei Porpiiyrios mclirfacli lierangezogene nfTOfädfä ließe sich nach lambiicli deuten auf den Widerstand aller Hypostasen gejion das ihrem Wesen nicht Entsprechende, so der oberen gej^en Vernichtunjj oder \'er- änderung überhaupt, der Materie gegen die Form.

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symbolisiert den durch das All hindurchgehenden, jeweilen durch eine höhere Hypostase die nächstuntergeordnete hervorrufenden Zeugungs- prozeß. Dieser vollzieht sich in der übersinnlichen Welt ewig und unveränderlich (für diese Region ist das dsl prägnant), die sinnliche Welt vermag die Wirkungen nur in der Form des Wechsels und der Veränderung aufzunehmen (für sie hat das vdsLv eine intensive Bedeutung; Heraklit: ndvra qsiI). Die Wassernymphen sind die im ganzen All wirkenden erzeugenden Kräfte, ihre Attribute die für Wasser und Wein (Dionysos Förderer des Naturgedeihens!) be- stimmten Gefäße. Der durch die Bienen vergegenwärtigte Honig symbolisiert die in der sinnlichen Welt herrschende Werdelust, die in der übersinnlichen an dem Streben jeder unteren Hypostase aus der obern hervorzugehen ihr Analogon hat. Die Webstühle und Gespinnste deuten auf die im ganzen Gebiete des Erzeugten von oben nach unten abnehmende Unverhülltheit und Reinheit der vor]zr] ovaia. Die südliche, den Göttern geöffnete Türe versinnlicht den wirkenden Eintritt der oberen Kräfte in den aiodrjrdg xöofiog, die nördliche, den Menschen zukommende, also geringere, den Fortgang dieser nach dem Eintritt in den ata^r]TdgyJo/.toc in unvollkommeneren Formen wirkenden Kräfte zu der unterhalb des xöoßog liegenden, noch ungeordneten Materie, die der Gestaltung erst unterworfen werden soll. Insofern der aioO-iqxog x6af.iog Abbild des voijTög xöG^iog ist, gilt das Symbol der zwei Türen auch für diesen und bezeichnet in analoger Weise das wirkende Eingreifen einer oberen Instanz in den Bereich einer untern und ihren Fortgang zu einer noch tiefer stehenden. Der Ölbaum versinnbildlicht die cfQövrjoig der Athena (wie bei Por- phyrios). Wie sie unberührt außerhalb des atoO^rjrdg xöoinog steht, so überhaupt durchweg die oberen Hypostasen außerhalb der unteren. Zahlreiche Fälle, in denen Proklos über die Timaiosauslegung des Porphyrios und ihre Kritik bei lamblich berichtet, bestätigen das oben besprochene Verhältnis. Nach I p. 77, 22 bezog Porphyrios mit anderen die platonische Atlantiserzählung auf den Gegensatz böser herabziehender Dämonen und der nach oben strebenden Seelen. Dagegen erhob lamblich Einspruch. Nach seiner von Syrian und Proklos gebilligten Erklärung handelt es sich um den die ganze Welt durchlaufenden Gegensatz des Selbigen zum Andern, der Be- wegung zur Ruhe usw. Der menschliche Staat hat im Kosmos sein Analogon, und so muß die Exegese den bei Piaton auf dem Gebiete

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des staatlichen Lebens sich abspielenden Kampf im All wiederer- kennen 1). Plat. Tim. 24 AB sah Porphyrios nach Proklos I p. 152, 12 ff. in den Kategorien der Ugsic, dr]i.iiovQyoi, voiJ.eiQ usw. verschie- dene Gattungen von Engeln und Dämonen und wurde dafür von lamblich aufs schärfste gegeißelt (p. 153, 9 ff.) Dieser bezieht die isQsiQ auf alle zweiten Wesen und Kräfte, die die ihnen übergeord- neten Ursachen verehren, die vo^eiq auf alle Wesenheiten, die in der Welt das zum Körper hinneigende Leben beaufsichtigen usw. Plat. Tim. 24 B sollten nach Porphyrios die do/riösg das oiöf.ia, die öögara den ^vfiöQ bezeichnen (Procl. I p. 156, 26 ff.). Der Exeget blieb da- mit im Gebiete der sie yevsaiv ftsGÖvrce y.cd ewla 7roüyf.iaTa. lam- blich deutete die caj;/-/(Jfc auf die Kräfte, durch die die Gottheit ihre Leidenslosigkeit und Reinheit bewahrt, die dögara auf die Kräfte, die die Gottheit unberührt und unter Abwehr des Werdenerzeugen- den durch alles hindurchgehen lassen. Erst vermittelterweise zeigen sich diese Kräfte auch in gewissen Seelen. Plat. Tim. 24 D sind nach Porphyrios bei Proklos I p. 165, 16 ff. mit den der Athena Ähnlichsten Seelen gemeint, die vom Monde, dem Sitze der Athena, herabsteigen und, da sie zugleich das ^v^oeidsg und das jigdov be- sitzen, (füoaocfoi und (filorcf'jleaoL sind. Darob wird Porphyrios wieder von lamblich getadelt, der in dem 7c6l£fiog den Vernichtungs- kampf gegen die ganze üxuvaoc, y.al yrlrjfifisXrjQ xai evvXog cpvoig, in der Gocficc die dvlog vötjaig xal xiogiori) erkennt, die beide in Athena ihre Ursache haben (in den rpilonöleuoi und cfUöooifoi also jeden- falls universelle Wesenheiten, die diesen jrölsfxog und diese oocpla vertreten). Von weiteren Beispielen vergleiche man etwa noch I 147, 6 ff. (wo aber lamblichs Auffassung nicht im einzelnen angegeben ist), 306, 32 ff., II 250, 22 ff., III 167, 32 ff.

Aus dem Angeführten heraus ist nun auch das zweite generelle Urteil des Proklos (in Tim. I p. 204, 24 ff.) über porphyrische und iamblichische Ausdeutung des Timaiosproömiums zu verstehen: llo()-

1) Vgl. p. 78, 12 ff. (im Kerne jedenfalls nach dem 77, 25 angeführten lamblich):

Kai /uijv xai el r^v noliZfiar dv('t).u'.or ir TiavTc Tiö xöaitcp Tn'hd/tfiht ^ iitl ^iJTioi' xai rdf n6).euoi> rovtov iv ndarj t/} ifvaet xa'f'opäi' ivövrn, und p. 79, 22 ff. (prok-

lisch, aber in Ausführung des iamblichischen Grundgedankens): "^ Si) xai ö lUdrotv

tbe ui d'eohöyoi xaridcbr döi'^ws nod t/Js luäs xuaitvnoiiai ti)v nfTilijiivouivtiv jin^u- SiSoiiS xai n^d tcüv öloir fieorj xai iv flxöai ravTn nQÖ Töiv •^a^aSttyiiäriDV tv^un in ai' d'pcÜTt tuv raTirrjv Tj)r ii'avri (oa iv f^Fuioel ffjv nväXuyof xai i> rote Slois o^oar. S. auch unten S. 140.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 137

(pvQLOQ Öe xal ' IdfxßXixog tjj rtdoi] zov dutlöyov jcqod^iosi ovf.L(piovov d7tecfr]vav (scil. td 7CQOoii.iiov), 8 f.iev fisgizcbregov o de i/ro/rzixWTSQOv. Zunächst ist hier ein Widerspruch gegen die frühere Angabe (p. 19, 24 ff. s. 0. S. 129) festzustellen, wonach Porphyrios das Proömium mehr politisch deutete, indem er darin Beziehungen auf Tugend- und Pflichtenlehre erkannte also nicht ovfufcbvcog zfj rcdot] xov öialö- yov 7iQod-ea£i— lamblich hingegen mehr physikalisch. Flüchtigkeiten dieser Art sind bei Proklos gäng und gäbe i). Insoweit aber Por- phyrios neben dem Ethischen auch das Physikalische berücksichtigt, besteht das Urteil zu Recht. Er verfährt fisQixcbreQov, d, h. er kon- struiert Beziehungen bald auf diesen bald auf jenen Teil der Ge- samtnatur, lamblich hingegen deutet eTconrLyxbreQov, indem er zu den letzten metaphysischen Gründen aufsteigt und so eine universellere Auslegung ermöglicht 2). Vermöge der zwischen den Reichen der Meta- physik, Mathematik, Physik und Ethik bestehenden Analogie ist er, wie sich aus dem obenS. 131ff. Bemerkten ergibt, auch wo ein platonischer Dialog physikalisch ist, keineswegs gezwungen, sich auf die physika- lische Deutung zu beschränken (daher p. 19, 27 nicht cfvoixöig sondern cpvoiy.(J)T€Qov). Er kann vom ethischen oder mathematischen Wortsinne ausgehen und von hier die Brücken schlagen ins Physikalische und Metaphysische. Die zahlreichen Stellen bei Proklos und Hermeias, an denen aufgezählt wird, was aus einem Passus für die Metaphysik

1) Vgl. Gott. gel. Anz, 1905 S. 532 ff.

2) Ungern entschlägt man sich des Gedankens, daß hier in bnonTixös neben dem gewöhnlichen aus dem Mysterienwesen hergeleiteten Sinne „in die letzten Gründe eindringend-', „metaphysisch", noch ein anderer mit efooär und enomos weniger mittelbar verknüpfter mitklingt, wonach inonrixös derjenige ist, der die Überschau ausübt, also einen höheren Standpunkt einnimmt, von dem ihm das Ganze zu überblicken möglich ist. Der Gegensatz iie^ixwts^ov scheint diese Be- deutung zu erfordern. JJf^iainrj in analogem Sinne ist ein beliebter Ausdruck des Proklos. Bemerkt sei übrigens noch, daß lamblich nach Procl. in |Tim. I p. 174, 28ff. in einem Falle seinem Prinzip in merkwürdigerweise untreu wurde, indem er aus Widerspruchs- geist, nachdem seine Vorgänger ufoixcoTEoov interpretiert hatten den Streit der Athener und Atlantiner xarä rd cpiuviuerov ^ also nach dem Wortsinn genommen wissen wollte. Die Ausnahme verhilft uns zugleich zu einer Bestätigung der Regel durch Proklos. Übrigens liegt allem Anschein nach nur ein Mißverständnis des letzteren vor, das aus dem p. 77, 27 Angeführten {ovk in aihrtian iwv (faaouivMv, natürlich aber so, daß daneben die gleich darauf angegebene metaphysische Er- klärung platzgreift) zu erklären wäre. P. 117, 20 ff. wird der ethischen Erklärung des Porphyrios nur eine niedere physikalische, die sich an die (faul /itva hält, entgegen- gestellt. Nach Proklos scheint er eine andere nicht hinzugefügt zu haben.

138 K. Praechter

(O-eoloyia), die Physik und die fitliik zu gewinnen sei i), können wohl auf lambUcii zurückgehen. Die WahrscheinHchkeit wächst im ein- zelnen Falle, je mehr das Analogieprinzip dabei klar hervortritt.

Der universalistischen Exegese lamblichs entspricht es, daß er den oxo/iöQ einer Schrift möglichst allgemein und umfassend anzusetzen und sich so für das Hinauf- und Hinabsteigen zwischen oberen und unteren Instanzen freieste Bahn zu schaffen pflegt. So stellte er nach Herrn, in Phaedr.9, 9f. (vgl. ll,19f.; 13,6) für den platonischen Phaidros den vielen vor ihm getroffenen -^'xo/cdc-bestimmungen i7i:e()l iQtoToc, negl ^rjxoQixfiQ, iceql ipvxiy^fjg agyr^g USW.) eine andere weiteren In- haltes entgegen: der Phaidros handelt nach ihm .rsol jov navro- öanov y.alov. Ihm gehört zweifellos auch die nähere Ausführung p. 13, 6ff. : TtEQl roü 7iC(VTodc(7iov y.cckov 6 oxorcög, iCQibrov lov ev cttod^riGEi y.cu x-rj (pvosi, üxa rov ev xoic löyoiQ '/xd dvcoregcü tov iv ipvxf] xca ijcLoxrjfxaig xcd enixrjöevi-iaai (vgl. das platonische Symposion) YML ixi dvioxegco xov ev rw y.ai xeXevxaTov xoü iv Ü^eoTg. Über den axo7iög der aristotelischen Kategorien wurde viel gestritten. Nach Porphyrios handelten sie rregl cpiovcov uövcov, nach Herminos fcegi 7CQayßäxcov fxövtov, nach Alexander 7r6Ql vor](xdxiov fiöviov. lamblich vereinigt die drei Themen. Nach ihm schrieb Aristoteles in dem Werke jcegl xaiv xgicöv ("ci.ia, ffojvcov, vo7]fidxcüv, 7CQayudxwv (Olymp, proleg. p. 18, 23 ff. Busse, Philop. in Cat. p. 8, 27 ff., Elias in Cat. 129, 9ff.; 136, 29ff.; eine andere Auffassung Simpl. in Cat. 13, 16f.).

Besonders bemerkenswert ist, daß lambligh sein Verfahren auch auf die Aristoteleserklärung angewandt hat. Porphyrios' erhaltener Kategorienkommentar enthält sich, wie schon gesagt, aller metaphy- sischen Erörterungen. Das nämliche muß nach der gleich zu er- wähnenden Simplikiosstelle von dem verlorenen größeren Kommen- tar zu demselben Werke gelten. Ganz anders die Schrift des lam- blich. Von ihr bemerkt Simpl. in Categ. p. 2, 9ff. : 3Ieiä xoüxov (seil. UoQffVQiov) de .6 ^eiog 'idf^ißlixog jcoXvoxlxov v.cd avxög 7rQCty- fiaxeiav elg xovxo ßißXiov y.axeßdXero ^ikv 7ro?.Xd xoTg Uoq- ffvQiov yMi «7f' ai)xfig xf^g Xe^eiog yMxayolovd-uJv , xivd ök i/riyginov ixeiviov xai ötag^gcöv dycQißeoxegov /<£zd xov ovarekletv xi)v (hg ev

1) Vgl. z. B. Procl. in Tim. 1 p. 15, 26; 16, 20; 17, 9. 24, 29; 25. 7. 8. 14. 27, 22. 25. 26. 30 (für das Ethische ist hier Porphyrios zitiert). Herni. in Phaedr. 15. 13. 19. 28; vgl. 28, 24. 25. - 54, 19. 23. 25. S. auch Procl. in Parm. p. 677, 13. 14. 678, 11.23; in Alcib. 297, 1.2.5.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 139

ayoXuZg nqöo. rdg svoTccoeig ^cr/.QoXoyLav , rcavraxov öe ttjv vos- Qccv d-ecoQiav ey.a.arcü ox^öov rcäv xsifccÄaicov ert lt iO-elc: xal TL y.cd äXXo TCQÖg tovxolq yQi]Gii.iov reo avyyQdfxi.taTL ycQooriO-aig xrl. Simplikios hat mehrere Beispiele dieser voegd ^etoQut seinem Kom- mentar einverleibt. Sie bestätigen, was von vornherein anzunehmen war, daß es sich um Überleitung vom Logischen ins Metaphysische handelt, wozu die Berechtigung aus der Korresponsion von cptoval, vorij^iaTu und TTQäyuata, die alle nach lamblich den oxo/cög des Kategorienwerkes bilden, zu schöpfen war. So verbreitet er sich p. 216, 6ff. über die metaphysischen Voraussetzungen der uoiöTrjg, 361, 7ff. über Fragen des Raumes, 374, 7 ff. über Grund und Funk- tion des £X£iv im Weltganzen i)-

Das beschriebene exegetische Verfahren des lamblich ist nun auch das des Syrian und des Proklos. Eine diesen drei Philo- sophen gemeinsame charakteristische Bestimmung des azo7fdg von Piatons Philebos teilt Olympiod. in Phil. p. 238 mit; darnach han- delt der Dialog negl rov did jidvTcov öirjxovtog dya^ov .... tcqoo- TCOiSLTüi fxsv ydg iregl rov dv&gojTclvov Lrjrsiv ö ^coxQdTr]g, dvdyei 6k triTrifia sig xb tc avt ay^ov tolovtov, olov ymI ev voTg vmI iv -ß^eoig ßsyQi Tfjg 7CQ(x)Tr]g dgxfjg vml ev roig ioydtoig fisyQ^ '^^'? i'Xrjg. Am klarsten liegt das Verhältnis zutage bei Proklos. Viel- fach mag er in seinem Timaioskommentar aus lamblich direkt oder durch Vermittlung des Syrian Erklärungen übernommen haben, ohne deren Herkunft ausdrücklich anzugeben. Auf jeden Fall ist sein Kommentar im ganzen und im einzelnen durchaus von der iambli- chischen Methode beherrscht, und nicht anders ist es bei den Kom- mentaren zum Parmenides, zum I. Alkibiades und zur Republik. Im Timaioskommentar zeigt sich diese Abhängigkeit sofort in den Angaben über den oxo7cög der Schrift p. 1, 17ff.: xal ö ov^rcag o-örog öidloyog vxiiy^ öKov eavrdv ttjv cpvoioloyiav äyßi oy.o/töv, rd avrd y.cil iv siy.öoi xal ev /r aga ö slyßcc aiv oqojv y.al ev rolg öXoig y.al ev ToZg /negeoi. Und zwar (p. 4, 8 ff.) ev dQyfj 1-'^^'^ ^^' «^"'^o-

1) Auch hier spielt wieder das Analogieprinzip seine Rolle. Vgl. 116, 25 ff. Siä ndai]S ovalai xard avaloylav Siajtlvov iSioiua rovro Trjs ovaiaS y.r/..', 363, 9 ff. Sei oiv, (frjaiv 6 lau ßXiyoSj intSiareZi'at etp' 3).a önioaovv ävra (bs Sreoa iv ereoois rrjv 3),r]v rov rönov cpvai,v. 374, 24ff. X'^v 3Xr]v airov (SC. rov £%eiv) (pvaiv, cprjaiv

Idußliyoe, ovx i^ i^uüif xai rov rjuEri^ov awfiaroq lorävttv %Qrj ävo>TSQo>

c^i in xrl.

140 K. Praechter

vtüv i) Tov jiavTÖg e/cLÖEi'/.vvrciL r«^tc;, cv /.isüoig öe r) (SVf.uccc(Ja xoo- (.loyroiict frafjaöiöorai, jiQÖg 6k t(^ tikei rd fiSQr/.ä xal rd Tekrj rfiq ör]^iiovQyUtQ ovvv(faivETC(i roig öXoig. Der mit ev dQyjrj bezeichnete Teil umfaßt die Rekapitulation der Politeia und die Atlantiserzäh- lung (p. 4, 11 ff.), also das, was in das Gebiet der Politik, mithin der Ethik, gehört und nur als ety.cöy physikalisch und metaphysisch ge- deutet werden kann. Der Staat ist ein Bild des Alls i) nach seiner Einheit, der Kampf der Athener und Atlantiner vergegenwärtigt die Teilung und den Gegensatz der beiden Prinzipienreihen tv y.ai vrli]- ^og, 7ceQag y.ai chceiQov usw ^). Im physikalischen (kosmologischen) Teil (p. 4, 26ff.i findet auch der Mensch nach seinem Zusammen- hang mit dem Weltganzen seine Stelle, und das Analogieprinzip führt hier ganz von selbst auf die alte Mikrokosmostheorie (p. 5, 11), die wieder exegetisch fruchtbar gemacht wird (p. 5, 17 ff.): et roivw

1) Vgl. Procl. p. 33, 24 f. ov v«^ tiov uiy.ods uEv xdauos 6 äv&Qfonoq, ov%i Sk

fdXQös Tj nölis xfioi/os, was im folgenden speziell für den platonischen Staat näher ausgeführt wird.

2) Diese Grundlegung für die Interpretation des Proömiums entstammt ohne Zweifel lamblich, wie sich aus p. 29, 31 ff. dartun läßt. Die einen, so berichtet hier Proklos, deuten die Rekapitulation der Politeia mehr ethisch; sie soll zeigen Sn dsz

rd rjd'rj xexoatirjiiEvovS änread'ai rfji d'ew^ias röJv olcm-, die andern d^iovaif ws eiaöva rrjs tov navTds Staxuaieijafios n^oxtlad'ai rfj'S avunaat]? ifvaioloyia?. Daß bei

jenen in erster Linie an Porphyrios, bei diesen an lamblich gedacht ist, wird schon durch die bei Proklos häufige Entgegensetzung des ethisch deutenden Porphyrios und des physikalisch interpretierenden lamblich nahe gelegt. Für Porphyrios läßt es sich zudem strikte beweisen: p. 202, 5 ff. wird dieselbe ethische Deutung ausdrücklich Porphyrios zugeschrieben. Es folgt p. 30, 1 1 ff. eine genauere Schilderung der physi- kalischen E.xegese des Proömiums, wobei die p. 4, 8. 13 unter (V/ flxövtov zusammen- gefaßten Teile desselben, die Rekapitulation der Politeia und der Atlantismythus, in der Weise gesondert werden, daß jene Rekapitulation fiKovcxcös, die Atlantiserzählung hingegen aviißuhn(7)s das physiologische Problem erörtern soll (unbestimmter p. 355» 20. 22). Der Exeget beruft sich dabei auf die pythagoreische Sitte, vor der wissen- schaftlichen Behandlung die Probleme <V/ä riär öuohor xai röir fiy.ötotv darzulegen und alsdann (V,« tä^ avußdlor darüber zu belehren. Auch das erinnert an lamblich, der seine Lehre zu einem guten Teile bei den Pythagoreern gefunden haben will und eines seiner Hauptwerke awayoty-fj lütv Hid-ayo^fimv tSoyftäro>v betitelt (in lamblichs Leben des Pythagoras wird die bildliche und symbolische Ausdrucksweise der Pythagoreer p. 46, 12; 47,5; 75,20,- 77,5; 158,7 berührt, aber die bei Proklos behauptete Reihenfolge [p. 30, 7 uexh ravrri%^ hat hier keine Parallele). Die An- gaben über diese Auslegungsweise gipfeln p. 30. 15 f. in dem echt iamblichischen Ge- danken: üars flvai id (f laioloyixöp tSiä nniros tov d'iu/.öyof i)ifJxov, <i)J/ oi^ iiiv äkhiis ov d'i älXio'ä xard ToiiS tiiiKföooi^i T^xiTTors rij^ Tiaoaiidofoit!. /a\ p. 4, 17 ist

weiter hervorzuheben, daß die hier vorgetragene Allegoresc des Atlantismyttuis uns schon als iamblichisch bekannt ist; s.o.S. 135. Hei Proklos erscheint sie auch l p. 130, 9ff.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 141

eöei 7roXXa%öig O^ecoQfjOaL rcäv xal ev rcp vor]T(p xai. ev rcp atod-rj- xu) 7iciQad£iy^ccxLy.cög etxoviyccög, öltyccög fxSQixcög, e'5 äv äyoi v.cii ö tisqI dvS^Q(b7rov rpvoetog löyog iv rf] toü itavxbg S-eioqia xslecog iBsQyct- G^eig, WOZU man I p. 202, 25 ff. III p. 172, 8ff.; 355, 7ff. vergleiche. Das Analogieverhältnis von vorjxd und cpvoixä (mit der Zwischen- stufe der fiadrji-iaxixd), vtaQadsLyfxaxa und stxövsg, oXa und ;tt£(»?j oder, wie es auch dargestellt wird, das Ineinandersein der verschiedenen Bereiche i), und dementsprechend für die Exegese die Parallelen des iyto'koyiY.dg (metaphysisch) und cpvOLYMg, /raQadsiyjnaxixcog und elxo- viy.ßg {ovf.ißolLxGjg), ölLv.cög und f^isQLxtög bilden auch weiterhin die Grundlage der proklischen Timaiosinterpretation. Beispiele, die ich beliebig herausgreife, finden sich I8,4ff.; 37, 18ff.; 40, 24 ff.; 42, 14 ff.; 44, 6 vergl. mit 43, 27; 46, 16ff.; 47, 9ff.; 48, 22ff.; 51, 8f.; 52, 14ff.; 53, 24ff.; 63, Iff.; 67, 25 ff.; 82, 21ff.; 171, 31f.; 193,20. Das Prinzip dieses Verfahrens ist III p. 173, 2 ff. ausgesprochen, wo nach Er- örterung des Ineinanderseins von Himmel und Erde fortgefahren wird: dlld xovxo fxkv jcaQccfxvdiag öXcog xivög dS,Lovv jreQiSQyov elO^L- Guevovg xd avxd navxay^ov "/.ax d dvd Xöyov xystogeiv, iv voiqxolg, iv voegoig, iv vneQxoo^iiotg, iv ovqüvm, iv xf] yeviosi xaxd xijv oiy.eucv evMGxov xd'Siv. Der platonische Timaios soll uns lehren xd cpvGiy.d ov (pvGixöJg jiiövov , dXXu vml ^soXoyixcog vostv (I p. 8, 4). Ganz in iamblichischer Weise polemisiert Proklos auch in eigenem Namen vom Standpunkt des elg Gy.orcög gegen Porphyrios I p. 57, 4ff. , wie er sich denn auch p. 77, 28 ff. zu denen rechnet, die in Übereinstim- mung mit lamblich das Proömium auf den Gxojtög des Dialogs be- ziehen. Seine Abhängigkeit in dem gleichen Punkte betont er auch p. 174, 31 ff.

Für unser Hauptproblem gewinnen wir aus dieser Untersuchung der exegetischen Methode zweierlei. Erstlich bestätigt sich, daß man lamblich als Philosophen nicht unterschätzen und seine Be-

1) P. 8, 17 ff. Jca« yäo iv roZS vor^rols dp')(rjyixcös TTpoi'^sarrjxe rd re fttaa xai eay^ara xai iv roTs ua&rjfiarixoTs aiKpÖTepä iariv , sixovtxws tiev rd TtQÜTa naoa- oetyuaTixcös Sk rd rglra^ xai ir rdls (pvaixoZs iartv ivSähtara rwi' npd avrdiv, WO-'

von sogleich die exegetische Nutzanwendung gemacht wird: elxözcns Sjjnov xai 6

Tlftatos zrjv xpvyjiqv ixpiards Sid r&v uad'rjuarixcöv övouärMV ivSelxvvrai t«s re §vvd- fieis avrfjs xai tovS Xöyovs xai rd oToi%ela, Uldxwv 8e dnd räiv ayr]udrmv rcöv ytco- ueTQixüiv rde loiÖTrjras avrr's d(poQLt,sTai xai xovxoiv ^vitndvrotv iv reo rotjzoj xai SrjuiovQyixw viö rds airias dnoXelnei TiQovnaQ%ox)Oa? aQy^oeiScös. Vgl. auch p. 13, 9 ff. III p. 172, 18 ff.

142 K. Praechter

deutung nicht wesentlich in seinem Wirken für die positive Religion suchen darf. Piaton - und Aristotelesexegese ist die philosophische Haupttätigkeit dieser Zeit. In dieser Exegese hat er einen ganz neuen Weg eingeschlagen. Zweitens erhält, was oben über lamblichs Ver- hältnis nach rückwärts zu Porphyrios, nach vorwärts zur athenischen Schule gesagt wurde, eine weitere Stütze. Von Porphyrios trennt ihn auf dem Hauptgebiete philosophischer Arbeit eine tiefe Kluft, hingegen ist von ihm zu Proklos vollkommen ebene Bahn. So oft lamblich seinen Vorgänger tadelt, so ungeteilt ist sein Lob bei den Späteren, von denen er wieder und wieder (.leyug, ^av^daioc, dcu- ftöviog und besonders häufig ^etog genannt wird i). Den Grund dieser Begeisterung werden wir jetzt anders als Zeller 2) bestimmen. Nach ihm hätte lamblich sein'Ansehen mehr als seinen wissenschaft- lichen Leistungen seinem Verhältnis zur polytheistischen Religion, seinem angeblichen Verkehr mit Göttern und Dämonen und den von ihm erzählten Wundern zu verdanken, und darauf ginge zu- nächst auch der stehende Beiname des Göttlichen. Für das Lob im Munde eines Julian und Eunapios mag diese Erklärung zutreffen. Ganz unglaublich ist sie aber für Männer wie Syrian, Proklos, Da- maskios und Simplikios, deren Schwerpunkt bei aller Innigkeit ihrer Beziehungen zur positiven Religion doch in Dialektik und Metaphysik liegt, und die nichts von theurgischen Leistungen und Wundertaten des lamblich zu rühmen wissen, hingegen an ungezählten Stellen das lobende Beiwort brauchen, wo sie von Auslegungen und philo- sophischen Behauptungen ihres Vorgängers berichten. Bei dem Christen Philoponos vollends ist das Motiv von vornherein ausge- schlossen. Man könnte bei ihm nur annehmen, daß er das übliche ^sToQ gedankenlos nachspricht, ohne sich über die Gründe klar zu sein, die die Früheren zur Anwendung dieses Epithetons veranlaßtcn. Die wahre Ursache von lamblichs Ruhm liegt in dem Verdienst, das er sich durch seine exegetische Methode um die Fortbildung des Neuplatonismus erworben hat. Sein Lob ist vom Standpunkt der Schule vollkommen berechtigt. Es ist kein Wort darüber zu ver- lieren, daß er sich mit seinem Auslegungsverfahren weiter als irgend einer seiner Vorgänger von einer gesunden, den authentischen Sinn

1 ) Nachweise bei Zeller n. a. O. S. 738 Anni. 2. S. auch die Indiccs der tuniercn Ausgaben s. v. 'inußhyoe.

2) A. a. O. S. 738. S. o. S. 105.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 143

eines Textes feststellenden Erklärung entfernt hat. Darauf kommt es aber der Schule nicht an. Der Neuplatonismus gibt sich als Plato- nismus. Seine Lehren sollen in den Werken Piatons und den da- mit übereinstimmenden Äußerungen anderer mit Wahrheit begnadeter Männer niedergelegt sein. Es gilt das Ergebnis einer langen in weitgehendsten Synkretismus ausmündenden philosophischen Speku- lation in alten um viele Jahrhunderte zurückliegenden literarischen Quellen wiederzufinden. Dieses anscheinend Unmögliche möglich zu machen, hatte die Allegorese schon lange gearbeitet. Erreicht hat das Ziel erst lamblich. Er hat der Deutung freieste Bahn ge- schaffen, doch so, daß er sie aus Willkür und Zufall heraushob, ihr Regel und System verlieh und damit den Charakter eines wissen- schaftlichen Verfahrens aufprägte. Die Mittel, deren er sich dazu bediente, die Theorie von yrccQdöetyfia und etxcbv, ölov und ixegog usw., lagen in der neuplatonischen Metaphysik bereit. Daß er sie zum exegetischen Zwecke verwendete, ist sein Verdienst. Er hat die Allegorese zu dem alles vermögenden Werkzeug umgebildet, dessen sich die Späteren mit Eifer bedienen. So sehr uns Modernen diese ganze Art der Auslegung ihrem innersten Wesen nach widerstrebt, auch wir können uns gleichwohl eines gewissen Gefühls der Be- wunderung nicht erwehren angesichts der niederzwingenden Energie und rücksichtslosen Konsequenz, mit der hier geschichtlich Gegebenes einem großen spekulativen Gedanken unterworfen wird. Eine ähn- liche siegesfrohe Gewalt, wie sie bei Hegel Netur und Geistesent- wicklung unter das Joch einer logischen Idee beugt, unterwirft hier literarische Dokumente der Herrschaft eines metaphysisch begründeten exegetischen Prinzips und zwingt sie damit weiterhin in den Dienst eines philosophischen Systems. Unter den Wirkungen dieses Prinzips ist es aber besonders eine, die seinenUrheber als einen neuplatonischen Chrysippos, als einen zweiten Begründer des Systems erscheinen läßt. Durch seine Methode wird überall der Weg ins Metaphysische ge- bahnt, und so bietet sie die Möglichkeit, gerade diesen höchsten und wesentlichsten Teil des neuplatonischen Gedankengebäudes weiter auszugestalten. So wird lamblich zum ävriQ rojv ■i/suov 7rQay(.idtiov äD.cov re v.cd rüiv voeqGjv dQiOTog eS.i]yi-jTrig , er und die in seinen Spuren gehenden Athener Syrian und Proklos sind die eigentlichen Metaphysiker, die i)^eol6yoi yMx' eS,oxi]vy deren Deutungen und Spekulationen Licht verbreiten über die höchsten Wesenheiten. Mit

144 K- Praechter

iv^ovg 6 ^i'Qog, jio).v(.ic(i)r)Q ö (Doivii sollte das pythische Orakel lamblich und Porphyrios charakterisiert haben, was beztiglich des ersteren David in Porph. Isag. p. 92, 6 f. so deutet: äv^ow dk wötöv Xeyet, eirfiöii iregl i>eut evrjayoXiiTO ').

Mit Syrian und Proklos sind die anderen in Athen wirkenden Neuplatoniker z. T., wie insbesondere Damaskios und Simplikios, nachweislich durch Dogmatik und Methode aufs engste verbunden 2), 2. T. soweit wir bei dem Mangel literarischen Nachlasses und der Spärlichkeit der Tradition über sie zu einem sicheren Urteil nicht in der Lage sind ist uns doch wenigstens von ihnen nichts be- kannt, was aus der von iamblichischem Geiste durchtränkten Lehr- gemeinschaft der Schule hinauswiese. So bleiben noch die Philo- sophen der alexandrinischen Sphäre, die Zeller der athenischen Schule zugeteilt hat. Mit ihnen verbinden wir die Alexandriner, die bei Zeller in dem Kapitel „lamblich und die syrische Schule" behandelt sind. Der Chronologie folgend, beginnen wir mit den letzteren. Um über die Färbung des Neuplatonismus der Hypatia zu urteilen, hält Zeller das vorhandene Material nicht für ausreichend. Sie ist nur durch ihren Schüler Synesios mit in das lamblichkapitel hineinge- zogen worden, den Zeller nach seinem philosophischen Standpunkt hierher stellen zu sollen glaubt. In der Tat läßt sich iamblichischer Einfluß auf Synesios schwerlich in Abrede stellen. De prov. 1, 9 findet sich zwar eine sehr einfache Form neuplatonischer Lehre. Wenn hier p. 97 B das yävog O^ecov vyrsQ'/.ooi^iiiov 0 oweyei uev jidvra fxeygig eaydrtov övtü in den Bereich des vorjxöv verlegt wird, so erscheint diese Übergehung der vosqoI ^eoL zunächst uniamblichisch. Aber auch bei Julian or. 4 p. 171, 9 reicht der voriröc: xöguoq un- mittelbar an den aialir^röQ heran. Hier wo es auf das Genauere nicht ankommt, wird an dem alten Grundgegensatze festgehalten. Greifbar lamblichisches enthalten die Hymnen. Die Trinitätslehre wird man zwar aus christlicher Einwirkung herzuleiten haben. ») Im

1) Dieselbe Charakteristik bei Aineias v. Gaza Theophr. p. 14 Boiss. d no).i-

fj.a&Tje üvQcfv^ios xai ö Ivd'ovs läii ßXiyof,

2) Daß bei Simplikios daneben noch ein anderes Moment in Betracht kommt, wird am Schliissc gezeigt werden.

3) Verfehlt sind m. E. die Aufstellungen von Car. Schmidt, Synesii philosophU' mena eciectica, Ilaiis Sax. 1889, derS. 13ff. diese Lehre K-diglich aus philosophischen Quellen geschöpft sein lilßt. Solange keine Parallelen zu äyia nnnd innerhalb der antiken Philosophie nachgewiesen sind, ist an dem christlichen Ursprung festzuhalten.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 145

zweiten Hymnus, der sonst nichts spezifisch Christliches enthält, ist V. 28 ff. die Rede von ßvd-dg Ttargc^og, xvöißog viög und äyia jtvoiä. Methodisch richtig scheint es mir, dementsprechend auch hymn. 1, 66 TQixöQv/iißov dlxäv ebenfalls auf die christliche Trinität zu beziehen i). Das Neuplatonische mag hier also z. T. durch christliche Lehre ver- mittelt sein. Bemerkenswert ist immerhin, daß hymn. 1, 63ff. auf das iamblichische zweite Eine zu gehen scheint; unbedingt geboten ist diese Deutung allerdings nicht, und die Vorstellung bleibt jedenfalls un- klar. Aber sicher tritt uns lamblich in der Scheidung der vo^qo. und Torixd hymn. 2, 23 (vgl. auch 3, 177f., 231ff.) entgegen. Daß die Be- schreibung der Wirksamkeit des Sohnes im vierten Hymnus dem ähnelt, was Julian in seiner vierten Rede von Helios rühmt, hat schon Zeller bemerkt. Inwieweit hier für Synesios etwa christliche Quellen inbetracht kommen und die Ähnlichkeit eine zufällige oder durch ältere Quellenzusammenhänge vermittelte ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Alles in allem genommen tritt lamblichisches bei Synesios nicht sehr stark, in seiner vorchristlichen Zeit, um die es sich für uns in erster Linie handelt, sogar überhaupt nicht hervor. Hierokles, den Zeller hier nur nennt und bei der athenischen Schule ausführlicher bespricht, wird im Zusammenhange mit der letzteren behandelt werden. Den älteren Olympiodor kennen wir nur als Kom- mentator aristotelischer Schriften. Eine Beziehung zur iam^blichischen Schule ist weder überliefert noch zu erschließen. Was die der athe- nischen Schule zugewiesenen Alexandriner betrifft, so muß schon dem Leser Zellers auffallen, daß sie sich in eigentümlicher Weise von den Athenern abheben. Während unter diesen alle diejenigen, über die wir nach von ihnen erhaltenen philosophischen Werken ein Urteil haben, etwa mit Ausnahme des Simplikios, von lamblich, Syrian oder Proklos ausgehend die neuplatonische Lehre in der gegebenen Richtung weiterbilden, weiß der Historiker von den Alexandrinern in dogmatischer Hinsicht teils gar nichts Bemerkens- wertes zu melden, teils greifen sie nach seinem Berichte zu einer einfacheren Form des Neuplatonismus zurück und sind so lamblich, Syrian und Proklos gegenüber heterodox. Hermeias gibt nur Syri- anisches •;). Ammonios und Olympiodor bringen keine neuen Ge- danken, höchstens zeigt Ammonios, indem er die phantastischen und

1) So auch V. Wilamowitz, Sitz. d. Berl. Akad. 1907 S. 284.

2) Vgl. unten S. 150 Anm. 2.

Graeca Halensis. 10

146 K. Praechter

mystischen Elemente des damaligen Piatonismus verhältnismäßig zurücktreten läßt, eine Neigung zur Rückbildung. Greifbarer ist diese bei Hierokles. Er tut „merkwürdiger Weise der überweltlichen Götter nirgends Erwähnung, deren Aufzählung und Beschreibung die übrigen Neuplatoniker jener Zeit sich so angelegen sein lassen; und ebensowenig findet sich bei ihm eine Hinweisung auf die Eigen- schaftslosigkeit des Urwesens oder sonst eine von den Bestimmungen, welche den neuplatonischen Gottesbegriff vom platonischen unter- scheiden"')- An mehreren Stellen wird „von dem Willen, der Macht und Weisheit Gottes in der gewöhnlichen Weise gesprochen"^). „Auch in der praktischen Philosophie des Hierokles treten die unterschei- denden Eigentümlichkeiten des Neuplatonismus gegen diejenigen Lehren zurück, welche schon seit Jahrhunderten zum Gemeingut der griechischen Wissenschaft geworden waren" ^). Schon die starke Beto- nung des Ethischen selbst erinnert an die Richtung des Porphyrios. Von Asklepiodotos bemerkt Simplikios (in Phys. p. 795, 15), daß er von Proklos abwich und y.cuvoreQoig eyuioe ööy^iaoiv^). Nach Damaskios Vit. Isid. 126 ließ er auf dem Gebiete der ^eiörsga tüv jrQuyuchiovy ÖGCi dcfüvfj xai voi]rd -/mI t^c nidTtovog itaigsra diccvolag, seine sonstige Tüchtigkeit vermissen, und noch mehr galt das in bezug auf die orphische und chaldäische Weisheit. In der Ethik versuchte er als Neuerer ^iQÖg y.arco y.ai ffaivöueva ovörelXeiv ttjv ^eto- QLciv ovöev ixev d)g enog sljislv tcHv dg^aiiov vorjudnov drcoiyovofiov- Lievog, jcdvTu de owioO-Qv v.cci y.ardyiov sig rijvds tyjv cfvoiv Trjv 7rsQi- y.öaf.iiov (im schärfsten Gegensatz zur iamblichischen Richtung). „Uns wird dieser Tadel eher beweisen", bemerkt dazu Zeller-'), „daß sich Asklepiodotus durch eine nüchternere Denkweise zu seinem Vor- teil von der Masse der damaligen Neuplatoniker unterschied und nicht allein den theologischen Spekulationen, sondern auch den theurgischen Überschwänglichkeiten der Schule abgeneigt war."

Was der Leser Zellers nach dessen Darstellung vermutet, be- stätigt sich bei einer genaueren Untersuchung der von den Alexan-

1) Zeller a. a. O. S. 814.

2) Zeller a. a. O. Anm. 2.

3) Zeller a. a O. S. 816.

4) Bei Damaskios, von dem Simplikios den gleichen Abfall berichtet, lag dci Grund in seiner i/i).o7coria und node rn 'laufiUiuv aiunäO'un. Er blieb also di>ch der Gesamtrichtung treu.

5) A. a. O. S. 897.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 147

drinern hinterlassenen Kommentare: diese Männer stehen im Flusse einer anderen Tradition als der iamblichisch-proklischen. Ihre Inter- pretation der logischen Schriften des Aristoteles ist nüchtern und beschränkt sich auf die Exegese des vorliegenden Textes nach seinem natürlichen Sinne, ohne in iamblichischer Weise Schritt für Schritt das Metaphysische heranzuziehen. Lehrreich ist ein Vergleich der Kategorienkommentare des Ammonios, Philoponos, Olympiodoros und Elias auf der einen , des Simplikios auf der andern Seite. Bei Ammonios ist lamblich überhaupt nicht genannt, bei den andern Alexandrinern lediglich da, wo von dem ov^oitöo. der Schrift die Rede ist, den sie lamblich entnehmen; nur Elias hat noch eine neben- sächliche weitere Erwähnung. Dagegen bringt Simplikios eine Fülle von lamblichzitaten, er schließt sich diesem Vorgänger mit Vorliebe an und berichtet insbesondere reichlich über dessen vo^qä ^scoQla i). Gleich nüchtern sind die alexandrinischen Kommentare zu Por- phyrios' Eisagoge und die diesen Kommentaren vorangeschickten Einleitungen in die Philosophie. Den Hauptprüfstein aber bildet die Auslegung Piatons, der der iamblichischen Methode einen geeigneteren Boden darbot als Aristoteles. Auch hier besteht der nämliche Unterschied, wie ein Vergleich der olympiodorischen mit den proklischen Kommen- taren ergibt. Im einzelnen sind freilich die Philosophen der iamblichi- schen Richtung von Olympiodor vielfach berücksichtigt. Der Ruhm lam- blichs und der großen attischen Exegeten strahlte so hell, daß kein Aus- leger an ihnen vorübergehen konnte. Aber die Mitteilung ihrer Er- klärungen geschieht zu einem guten Teil in gelehrter, zu einem Teil auch in polemischer Absicht. Es fehlt der Trieb, in der gleichen Richtung weiterzuarbeiten. Der Aufschwung zur vosQd d^eiogia ist erlahmt. Die Gewichtsverteilung in der Exegese ist eine andere. Bei lamblich und den Attikern liegt der Schwerpunkt in der metaphysi- schen Spekulation, derPlaton die Unterlage liefern muß, bei Olympiodor in der schulmäßigen Piatoninterpretation, bei der vom gelehrten Exege- ten zu verlangen ist, daß er auch die Deutungen Früherer berichte und werte. Auch hier läßt wieder eine Gegenüberstellung der Parallel- kommentare den Sachverhalt klar hervortreten. Von Proklos und von Olympiodor liegen uns Kommentare zum ersten Alkibiades noch vor. Der Unterschied springt sofort in die Augen. Man vergleiche beispiels-

1) S. 0. S. 139.

10*

148 K. Fraechter

weise die Behandlung des ersten Lemmas w 7cui Kleiviov, oliiui oe ihciVf-ta^siv ÖTi jcQöiTog eQcearrjg aiov yevöfxsvog rcöv äXXiov 7t€7eavfi£vo)v fjovog ovy. ditccXXaTrofxaL bei Proklos p. 308 ff . und Olympiodor p. 13 ff. Nach einer methodologischen Bemerkung über die Erklärung platonischer Proömien im allgemeinen nimmt der erstere sofort seinen Flug nach oben. Der Dialog Alkibiades, so etwa argumentiert er, gilt der Selbsterkenntnis, also zunächst der jrqög eavTÖv ejciorqocpri. Mittels dieser aber führt das Lemma sogleich hinauf -/.cd dg rrfv rfig ^iDy.Qcerrxi'jg eniGTi]iir]g 7ceQU07ciqv (p. 309, 18 f.), und weiterhin ergibt sich, daß ?; 7TQÖg iavxö yml yrgdg y.QsnTov {iTtiorgoq'r]) ovv. iv (/a- Xcäg soTi [lövaig, äXXä xal iv avxoTg roig ^eioig, wofür auf den pla- tonischen Parmenides verwiesen wird (p. 309, 35 ff.); 7rQdg eavid i^Eiov inEOTQcciTtcii uud Eig 10 7TQÖ IciVTov, uud SO kauu Sokrates am Schlüsse des Dialoges sagen töv eig icivröv eTtioxqarpevru -/.cd ictvtov yevöfxsvov ^eioQov evtEvd^ev xal ^eiov aTtav xaröifJsaO^ai xcd öid rf^g TTQÖg iavröv iTTLOTQoq'fig üojisq ßaü^iiiov rivog dvctyioyov /nsraarrjaea&ai -/tgög zijv rov ^siov 7r£QLC07fi)v (p. 312, 1 ff.). Es folgt der Unterschied der Erkenntnisweisen für vorjxä und alod^rjTd (p. 312, 22 ff.) und der Ausdrucksweisen für die beiden Gebiete im An- schluß an das ol^ai des Lemmas (p. 313, 12ff.). Nach einigem Ele- mentareren über dieses offica wendet sich der Kommentator zu der Aufnahme des Vaternamens in die Anrede (t5 7T.cä Klsiviov); sie ist ein Gviiißolov Tijg iTil töv dlr]&ivdv fiarega rQv \pv%Giv dvay.Xriösiog (p. 317, 9 f.), ein ovvO^rjfia rf^g (ttl rag dcfavsig ceiriag rcöv il'vyöJr TT.sQiaycoyfjg (p. 317, 19 ff.). Sie paßt ferner hier beruft sich Proklos auf lamblich für Reden über den Eros: ydg dQQevcortöv n]g dkrj&ovg iQCOTi'/.fjg ycd iyrjyeQjusvov a/rö riig vlr^g '/.cd dgccarv- QLOv 1] dTtö rov jcccrgög evöeiy.vvrca xXfjOig. nal dXcog, iTTSidi] 7Täou tj iQcoriy.Tj rd^ig dTtö rov Ttargög rov vor^rov ttqösigiv (p. 317, 29 ff.). Daran schließt sich eine sehr eingehende Auseinandersetzung über die Beziehungen des zu interpretierenden Dialoges zur Erotik, wobei wieder der Gedanke an die nach oben ziehende, zum voijtöv yd'/.Xog und den Göttern hinwendende Bedeutung des Eros eine Rolle spielt (p. 324—332). Es folgen teils elementarere, teils ins Metaphysische greifende Erörterung^en über den Unterschied des 'hiog und des 7rdvöt]fiog {(poQtiy.bg) e()acTri]g (p. 332 ff.), über die Frage, inwiefern beide trotz ihres Gegensatzes mit dem gleichen Namen igaorai be- zeichnet werden (p. 349 ff.), über Sokrates als fiövoc ^Qixaii]c des

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 149

Alkibiades (p. 353 f.K Den Schluß endlich bilden die djcoQQyjTÖxaQct über den Eros, die wieder ganz von voeqä ihsLOQia beherrscht werden (p. 356 f.). Olympiodor bezieht in die Erklärung noch die nächst- folgenden Worte des platonischen Textes ein. Stellt man zusammen, was dem Textstück in der proklischen Umgrenzung entspricht, so zeigt sich sofort das niedrigere Niveau, auf dem der Alexandriner seine Exegese hält. Der ganzen oben skizzierten Stoffmasse stehen bei ihm gegenüber einige kurze, an das Nächstliegende sich haltende Bemerkungen über Unterschied und Namensgemeinschaft des evd-eoQ und des (fOQtixdg igaarvig, über den Vaternamen in der Anrede, das o^f^al, das d-ciVfiaCsiv als Grundlage der Philosophie i) und die Worte ÖTi TtQCxJTOQ iQccGTrjg Gov y€vöfi€vog. Alle voegä d-scoQuc fehlt, und daß es sich dabei um eine prinzipielle Ausschließung handelt, wird da- durch klar, daß Proklos benutzt ist. Olympiodor hat ihm nur ent- nommen, was für die elementarste Exegese geeignet schien. Be- merkenswert ist auch die Verengung des oy.07cug des Dialogs p. 5 f. lamblichische Art war es, wie oben S. 138 gezeigt ist, den Gv.ojcog möglichst weit zu fassen. Demgemäß formulierte ihn Proklos für den Alki- biades: 7reQl Tov yvüjvccL eavTor. Eine Verengung traf hier allerdings schon der Athener Damaskios, der den Dialog 7teQi tov no^urixcog yvcövai iciVTÖv handeln ließ (p. 4). Ihm schloß sich Olympiodor im wesentlichen an, so freilich, daß er auch Proklos nahe zu bleiben suchte; so behauptete er: jisgl %ov jcoXiTiXiüg yvwvca iavtöv ioxiv 6 GY.oitög TTQorjyovusviog. Rückhaltsloser verengte Olympiodor mit seinem Lehrer Ammonios den von lamblich, Syrian undProklos aufge- stellten Gy.onög des platonischen Philebos. Nach den letzteren handelte das Gespräch 7t6Ql TOV reXixov airiov TtäGi Toig o'Sglv, ö sgxl 7csqI tov ölo. 7cävTiov diriy.ovTog dyud^ov. Die Alexandriner behaupten in aus- drücklicher Polemik gegen diese Vorgänger, daß der Dialog ovx cmLiäg biä 7idvziov if/.ov i7CiC.r]Tei dyaO^öv, dlld bid 7cdvTcov ^(bcov S-Euov TS y.al fiexQi tcöv io^dTiov, eucsq ea vov ymI rjöovfjg GvviGxrjGi (xixTÖv Tslog, Ö7CSQ €GtI tov OQey.Tiyt.ov xcd yLyvüoxovTog' yiyvd) Gy.'si ÖS ovT £ Ta €7t€y.siv a TO V v ov ovt e rd ertl rdö s tcHv dkoytov 'Cditov rj et ßovlei TcSr cfvTwv (Olymp, in Phileb. 238) ~). Wir

1) Wohl nach Procl. in Ale. p. 341. Dazu fügte Olympiodor noch Aristot. Anal. post. 2, 1 p. 89 b 29. Vgl. auch Elias in Isag. 40, 18.

2) Verwendung ist davon gemacht in Ammonios' Erklärung S. 239 unter dem

Lemma did ri ävnoyos xrk.

150 K. Praechter

kehren damit zu dem Standpunkt des Porphyrios zurück: keine Deutung, die den Text auf einen vollen Längsdurchschnitt durch die gesamte Skala des Seienden abzielen läßt, sondern eine iieQLxfj f^iiyrjoic, die wie Porphyrios bei der Deutung der Nymphen- grotte auf den vot^töq odei ata^rjrdQ y.öo^oq behauptet: das eine wohl, das andere nicht. Zu diesem allem stimmt die Kritik, die Olympiodor gelegentlich an lamblichs Eigenart übt. Im Phaidon- kommentar p. 104, 7 f. heißt es von ihm: 6 ds luyag 'Mußhyoc, oloc e/.flvov liJ-vuög, v7ceq fay.ccfiueva jrrjöi'jaag v.x}.., und p. 45, 9 f. wird eine seiner Deutungen verworfen mit der Begründung: xuvtu yuQ ivd-ovoicövTog zard jcsQUOTtriv cprjGiv, olog iy.Eivov ^vfxog, ov fii^v rij /Jtsi TuvTcc oiy.eia. So haben wir wohl in erster Linie an Alexan- driner zu denken, wenn Damaskios vit. Isid. 34 behauptete ön ov/. ö/.iyovg rwv cfiXoGocpovvriov öqöjuev v.cd dy.ovouev rovg uev äßarov elvai röv 'ldfiß?uyov oLo^evovg, rovg ök av&döei ^eyalrjyoQia Xöyiov 7T?Jov i) d?.rjO^£i(( 7rQciyfxättov e7raioöiisvov um SO mehr, als ebenda 36 in dem vom athenischen Standpunkt aus gefällten Urteile ein Mann jenes Kreises mit Namen genannt ist, indem es heißt: rdv öe v€ioT€Qii)v ^leQOx/Ja v.cu €1 Tig öuoiog ovöev iihv eXXsLTCOvrcig sig rrjv dvd-Qtojrivrjv 7caQaoy6vrjv , rdv de fiaxagkov vorjudrcov 7ro?JMxf^ rrol- /.cöv irössig ysvojiievovg (frjaiv i). Den Gegensatz bilden hier nach dem Anfang des Paragraphen Porphyrios, lamblichos, Syrianos und Pro- klos. Von denselben Anschauungen ausgehend schätzt Proklos' Schüler Marinos die Alexandriner trotz des c. 9 von dem älteren Olympio- dor berichteten y.UoQ svqv nicht hoch. In der Biographie seines Lehrers c. 10 läßt er diesen aus dem Unterricht der Alexandriner Nutzen ziehen y.a^öaov avroi dvvd^uog elyov. Damit die platonische Nachkommenschaft rein und unverfälscht bleibe, führen ihn die Götter (zu weiterem Studium) 7tQÖg ti]v rf^g cfiloöocpiug eq^oQOv, d. h. nach Athen ■^).

1) Nämlich Damaskios, den Pliotios exzerpiert.

2) Eine Gegeninstanz gegen die oben vorgetragene Auffassung des alexan- drinischen Neuplatonismus könnte darin zu liegen scheinen, daß Hermeias in seinem Kommentar zum Phaidros durchaus den iamblichischen (vgl. oben S. 138) und syria- nisch-proklischen (vgl. Zeller S. 890 ff.) Standpunkt vertritt. Aber dieser Kommentar ist gar nicht geistiges Eigentum des Hermeias. Er ist eine Nachschrift nach einem Kolleg des Syrian. Vgl. Byz. Zeitschr. 18 il9()9) S. 524 Anm. 4. Ganz ebenso gab Proklos syrianische Kommentare unter eigenem Namen heraus; vgl. Olymp, in Phaed. p. 11, 19 f.; 42,20; 4fi, 27.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 151

Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Richtung des alexan- drinischen Neuplatonismus mit zwei Umständen in Verbindung bringt, die wie dem geistigen Leben in Alexandreia überhaupt so auch der philosophischen Tätigkeit ein bestimmtes Gepräge geben mußten. Erstlich mit der dort herkömmlichen Pflege der exakten Wissen- schaften, die von der Metaphysik ablenkte. Mehrfach vereinigten sich mathematische oder naturwissenschaftliche Interessen mit philo- sophischen in einer und derselben Person. Hypatia ging von der Mathematik aus, und daß sie ihr auch weiterhin treu blieb, zeigen ihre bei Suidas erwähnten mathematischen Schriften. Ammonios zeichnete sich aus in Geometrie und Astronomie. Asklepiodotos war ein hervorragender Forscher auf den verschiedensten Gebieten der Technik und der Naturwissenschaften O- Olympiodor zeigt in seinem Kommentar zu Aristoteles' 3IeT6o)Qoloyr/:d Interesse für Astronomie und Meteorologie. Ebenso Philoponos. Unser Olympiodor ist viel- leicht identisch mit dem Chemiker dieses Namens ■■^). Solche Studien und ihren Einfluß auf das philosophische Denken hat ohne Zweifel auch Damaskios im Auge, wenn er bei der schon erwähnten Ent- gegensetzung von Porphyrios, lamblich, Syrian und Proklos auf der einen und Hierokles und der Leute seines Schlages auf der andern Seite bemerkt: zovg {.levrot d-vrjTo, y.cd dvd^QCJTtiva (piXoTtovovßävovg i] övvLEVTug ö^ecog ^ cpi?.o juad-stq elvai ßovlo f.L€v ov g ovösv ^leya ävvreiv eig rrjv OsoTtQSTtfj xai fieydlrjv oocflav.

Ein Zweites ist die große Bedeutung, die seit der Gründung der Katechetenschule in Alexandreia die christlichen Studien behaupteten. Wie christliches Bekenntnis und neuplatonische Philosophie sich verbanden, zeigt Synesios. Auch die Philosophenschule wurde durch diese Beziehungen berührt, insofern junge Christen sich hier mit den Lehren der griechischen Denker bekannt machten. Aineias von Gaza war Schüler des Hierokles, Philoponos des Ammonios. Daß dieser auch sonst von Christen gehört wurde, zeigt die gleich zu erwäh- nende Zachariasstelle. Olympiodor war vielleicht ebenfalls Christ 3); aller Wahrscheinlichkeit nach waren es seine Schüler Elias und

1) Die Belege sind bei Zeller verzeichnet.

2) Vgl. Tannery, Arch. f. Gesch. d. Philos. 1 S. 315ff.

3) Falls nämlich seine Identifizierung mit dem Chemiker richtig ist. Vgl. Tan- nery a. a. O.

lo2 K. Pkaechter

David 1). Es ist begreiflich, daß die Schule der wachsenden Zahl christlicher Hörer Konzessionen machte. Einer metaphysischen Spekulation im proklischen Sinne, die ohne den hellenischen Poly- theismus nicht denkbar war, wurde damit der Lebensnerv durch- schnitten. Interessant ist die Situation, die der Anfang von Zacha- rias' Dialog „Ammonios" voraussetzt. Ammonios ist frisch aus der Schule des q^ilöaocpog oder vielmehr acfi'/.öooffog und äooffoc Pro- klos nach Alexandreia gekommen, brüstet sich dort mit seiner Weis- heit und verheißt auch die andern weise zu machen, wie sich's ge- hört. So fürchtet der christliche Mitunterredner Zacharias, er könne die Seelen der jungen Leute verderben, indem er sie von Gott und der Wahrheit ablenke. Hier spiegeln sich gewiß geschichtliche Ver-. hältnisse ab, und man kann sich wohl denken, daß der Philosoph aus der Opposition, der er alsbald begegnete, lernte, das spezifisch Hellenische seines Bekenntnisses zurücktreten zu lassen. Disputa- tionen der Art, wie sie den Inhalt von Aineias' „Theophrastos" und Zacharias' ,, Ammonios" ausmachen, mögen in Wirklichkeit statt- gefunden haben, und welches auch immer ihr Ausgang war, der äußeren Stellung des Lehrers und der Schule mußte der Widerstreit gegen das herrschende Bekenntnis schaden. So erklärt sich eine Mitteilung des Damaskios, vit. Isid. 292, die Zeller 2) Bedenken trägt auf unsern Ammonios zu beziehen, die aber von Tannery 3) ins rechte Licht gerückt worden ist: 6 de !Jf.iLid}viog a ioyQ oy.sg di] g oJv y.ai Tiävru öqGjv (d()ß)'?j eig xQr^i^iarLOt.iöv övrivaovv öfxo/.oyiag riO^erciL rrgög TÖv eTtiOY.onovvTa %6 zrjvr/MVTa rrjv y.Qctrovoav öö^av. Inwieweit nicht der Vorwurf der atGygoy.eQdeia auf Rechnung von Damaskios' Fana- tismus zu setzen ist, kann unerörtert bleiben. Die bezeugten öuu- /.oylai anzuzweifeln ist kein Grund, und naturgemäß können sich diese nur auf den Inhalt von Ammonios' Lehre bezogen haben. Für solche Lehränderungen war neben der Meidung von Zusammen- stößen noch eine andere Rücksicht maßgebend. Was die jungen Christen in der Philosophenschule suchten, war nicht die Wahr- heit über die höchsten Dinge diese glaubten sie in ihrer Religion gegeben sondern die Kenntnis des Piaton und Aristoteles als wesentlicher Bestandteil allgemein hellenischer und als Grundlage

1) Vgl. Gott. gel. Anz. 1908 S. 210 f.

2) A. a. O. 893 Anm. 3.

3) Revue pliilos. 42 (1896) p. 276.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 153

philosophischer Bildung. So trat auch für den Exegeten an die Stelle des spekulativen das gelehrte und pädagogische Interesse. Die alte alexandrinische Philomathie wirkte unterstützend mit. Nun erklärt sich auch das starke Überwiegen der aristotelischen Studien in Alexandreia i). Die aristotelischen Kommentare, denen man auch die zu Porphyrios' Eisagoge beizuzählen hat, sind den platonischen gegenüber bei weitem in der Mehrheit. Proklos hörte in Alexan- dreia nach Marinos c. 9 nur über Aristoteles. Für Ammonios wird die Bevorzugung des letzteren bei Damasc. v. Isid. 79 ausdrücklich berichtet. Unter den aristotelischen Schriften standen die logischen im Vordergrunde. Hier war ein neutrales Gebiet, auf dem sich die gelehrte Tätigkeit frei und unbeengt durch religiöse Schranken er- gehen konnte, und für die philosophischen Tirones war Collegium logicum das Wichtigste. Die Schule scheint sich ihres von Hause aus platonischen Charakters je länger desto weniger bewußt gewesen zu sein. In ihren öffentlichen Vorträgen erklärte schon Hypatia, hierin eine echte Alexandrinerin, ?} rov niärwvog rj toü '^oiorore- Xovq f] äU.ov örovör] roiv cfiXooScfiov (Suidas S. V. 'YTraria). Die Schule verlor mehr und mehr das Gepräge der aigeoig und wurde zur Anstalt für allgemeine philosophische Ausbildung, deren Bil- dungsmittel aber nach Lage der Dinge wesentlich die Exegese der beiden großen hellenischen Philosophen sein mußte. Lehrreich für die Verwischung des platonischen Schulcharakters ist es, daß bei- spielsweise bei Olymp, in Cat. 112, 19 ff., Elias in Cat. 205, 20 f. eine platonische Lehrbestimmung für falsch erklärt und ihre Ver- besserung durch Aristoteles zugegeben wird. Dabei erscheinen bei Olympiodor Z. 40 ot cmö rov Uldnovog als bekämpfte Gegenpartei. David erwähnt mehrfach Differenzen der Wmtcoviy.oL und 'Aqlgto- xeh'Aoi oder IleQinccTTjTLy.oi in einer Weise, als ob es sich dabei um

1) Lehrreich für die Beziehungen zwischen alexandrinischer Polymathie, Aristo- teHsmus und Christentum ist eine Nachricht des Eusebios, hist. eccl. 7,32,6, auf die ich durch Tannery, Rev. philos. 42 (1896) p. 276 aufmerksam werde: '^varöhos avTol ÖtäS'oyos (dem Eusebios als Bischof von Laodikeia) dyad-ös tpaaiv äya&ov

xu&laTaTui, yivos iiiv y.ai avroe ^Alf^avS^ivs löycov ^' evty.a xai naiStlas t^S 'EJJ.tj- ro)v (fiLoaüffiai xe ra Tto&ra räiv judliara xa&^ rjtiäs boxtfumärojv änevrjvFyiievos nre aQi&urjTixrjs y.ai yeaitieTQias äarooioidas rs y.ai rijs älXrjs SiaXfXTixijs eri re (fvary.rjs &(fop/as Qrjruoiy.wv re aS iia&rjuäTfov iXrjJ.uxdjs eis nxoov' cor ivfxa xai Tfjs in ^J.i^ufogiias AuiaroreJ.ovs StaÖoyf^s rrjv Siaigißrjv Xöyos lyti 7i(ids rcüi' Tf,Se noliröiv avarrjouad-ai uvrdv ä^ioD'Tivai.

154 K. Praechter

zwei ihm gleich nali und gleich fern stehende Schulen handelte. Anderwärts nimmt er Aristoteles oder die Peripatetiker gegen An- griffe der Platoniker in Schutz oder weist in Lehren der Platoniker Schwächen nach i). Diese Loslösung vom platonischen Schulbekennt- nis ermöglichte der alexandrinischen Schule den Fortbestand zu einer Zeit, da die athenische Philosophie von dem siegreichen Christen- tum längst den Todesstoß erhalten hatte. Sie bildete die Grund- bedingung für die Mission, die Lehren der antiken Denker in die christliche Welt des mittelalterlichen Byzanz überzuleiten. Stephanos der or/.oviuvr/.dg öidäayMkog übertrug die philosophischen Studien seiner Heimat Alexandreia an die Universität von Konstantinopel. Der auf einen weiteren Kreis berechnete elementare philosophische Unterricht hat in der erhaltenen alexandrinischen Kommentarliteratur noch deutliche Spuren hinterlassen. Gerade hier treffen wir einen bestimmten Kursus. Den Beginn macht eine Einleitung in die Phi- losophie. Daran schließt sich die Interpretation von Porphyrios' Eisagoge, die den Übergang bildet "zu den aristotelischen Kategorien. Weitere aristotelische Schriften folgen. Den Schluß macht Piaton ^). Die Einleitung zu jeder Schrift hatte eine Reihe bestimmter Gesichts- punkte zu berücksichtigen {röv o-aottöv, y^qijgluov, yvi]aiov, r?;»' rä^iv Ti]Q dvciyvd)G£toc, rrjv atriav rf^g sjcLygacpf^g, rrjv stg y.ecpäXcaa öiccigeoLV, intö noiov uegog [tj^c (pi?.ooo(fiag] dväysTai ro 7caobv ovyyQccniuc). Innerhalb eines jeden Vortrages wurde die allgemeine, den Zusammenhang und das Sachliche im Großen betreffende Er- klärung als ^ecoQia unterschieden von der Interpretation der ?J^ig 3). Die gleiche gelehrte Richtung, den nämlichen Gegensatz gegen die hochfliegende Spekulation lamblichs und seiner athenischen Nach- folger zeigen die Neuplatoniker des Westens. Über sie hat schon Zeller ^) das Richtige bemerkt und als Ursache der Bevorzugung des Plotin und Porphyrios in diesem Kreise gewiß mit Recht neben der nüchterneren Art des Römertums die Einwirkung der christlichen Religion bezeichnet. Auch hier erweist sich die Herabstimmung der

1) Näheres Gott. gel. Anz. 1908 S. 237. Über das Erstarken des Aristotelismus im Ncuplatonismus s. auch Immisch, Philol. 65 (1906) S. 4.

2) Die Beschäftigung mit Aristoteles als Vorstufe zum Studium Piatons ist allerdings auch athenisch, wie Marin, vit. Procl. c. 13 zeigt.

3) Näheres über die Einrichtung des Unterrichtes Byz. Zeitschr. 18 (UW) S. 526ff. Vgl. auch Immisch, Philol. 63 (1901) S. 34.

4) A. a. O. S. 921 Anm. 1.

Richtungen und Schulen im Neuplatonismus. 155

Metaphysik und die gelehrte Tendenz förderlich für die Vermittelung von Antik-heidnischem und Mittelalterlich-christlichem. Was hierfür Boethius geleistet hat, wäre einem Manne proklischer Richtung un- möglich gewesen.

Ich fasse zusammen. Die Richtungen innerhalb des Neuplato- nismus und ihre Verteilung auf die Schulen ergibt folgende Über- sicht:

I. Die Grundlegung des Systems. Plotin und Porphyrios.

II. Die spekulative Richtung. Höchste Ausbildung der Meta- physik, gestützt auf Piaton vermittelst eines von lamblich begrün- deten exegetischen Verfahrens:

a) Die syrische Schule : lamblich, Theodoros von Asine, De- xippos,

b) die athenische Schule: Plutarch, Syrian, Proklos, Damaskios, Simplikios u. a.

III. Die religiös-theurgische Richtung: die pergamenische Schule: Aidesios, Chrysanthios, Eusebios, Maximus, Julian, Eunapios u. a.

IV. Die gelehrte Richtung:

a) Die Alexandriner: Hypatia, Hierokles, Hermeias, Ammonios, Asklepiodotos, Olympiodor, Philoponos, Elias, David u. a.

b) Die Neuplatoniker des Westens: Macrobius, Chalcidius, Boethius.

Selbstverständlich gelten die hier gegebenen Charakteristiken von jeder Schule nur nach ihrer Gesamttendenz, von der einzelne Vertreter sich sehr wohl entfernen können. Von dem Pergamener Eusebios ist dies oben S. 118 schon bemerkt worden. Unter den Alexandrinern ist Hierokles durch eine ethisch-praktische Richtung ausgezeichnet, wobei freilich nicht vergessen werden darf, daß seine Erklärung des Goldenen Gedichtes die wesentliche Grundlage unseres Urteils bilden muß. In Athen zeigt Simplikios einen starken Ein- schlag alexandrinischen Wesens. Er war Schüler des Alexandriners Ammonios wie des Atheners Damaskios, und das verrät sich m einer gewissen Doppelstellung. Nicht nur, daß er in seiner Einleitung zu den Kategorien das alexandrinische Schema verwertet. In seiner ganzen Schriftstellerei tritt das gelehrte Interesse sehr stark hervor. Als spekulativer Philosoph und Fortbildner des Systems ist er neben Proklos und Damaskios kaum von Bedeutung. Und doch weist ihn seine Verehrung für lamblich und dessen voeqo. ^etogia und die

156 K. Praechter, Richtungen und Schulen im Neuplatonismus.

ungeschmälerte Weitergabe der Metaphysik der Athener unbedingt zu diesen. Von solchen Verschiebungen im einzelnen abgesehen werden sich die oben gezogenen Richtlinien, glaube ich, bei der weiteren Forschung bewähren. Ihnen folgend wird man die Be- ziehungen zwischen den neuplatonischen Schulen tiefer zu unter- suchen und besonders die hochwichtige Rolle zu verfolgen haben, die dem Neuplatonismus im Osten wie im Westen als Bindeglied zwischen der Antike und dem Christentum zugefallen ist.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern

von

Eduard Meyer.

Als ich die Aufforderung erhielt, zu dieser Festschrift einen Bei- trag zu liefern, konnte mir der Gegenstand, den ich zu wählen hatte, nicht zweifelhaft sein. Handelt es sich doch um einen Dichter, der uns beiden wie wenig andere ans Herz gewachsen ist, in den mit liebe- voller Hingabe uns zu versenken, dessen gewaUigen Gedankengängen nachzugehen und dessen tiefe Empfindungen nachzufühlen wir beide uns seit vielen Jahren bemüht haben, einen Autor, der zugleich seit länger als einem Jahrhundert den modernen Interpreten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, völlig unverständlich geblieben und von ihnen mißhandelt worden ist wie wohl kein anderer Schriftsteller.

Unserem Jubilar verdanken wir eine tiefgreifende und weittragende Förderung des Verständnisses der einen seiner beiden großen Schö- pfungen, der Theogonie, des Gedichts von der Weltentwicklung. Ich möchte mich hier mit einem Stück des anderen, vielleicht noch größeren Werks beschäftigen, der Erga, des Gedichts vom Menschenschicksal; und zwar wähle ich den großartigsten und gedankentiefsten Abschnitt desselben, die Erzählung von den fünf Menschengeschlechtern oder von der Entwicklung des Menschengeschlechts. Ehe wir uns jedoch demselben zuwenden können, sind einige Bemerkungen über den Eingang des ganzen Gedichts unvermeidlich i)-

Das Prooemion geht mit raschen Schritten auf das Thema des Gedichts los: „Ihr Musen, die ihr in Liedern Ruhm verkündet"^), von Pierien herbei! preist Zeus, euren Vater, im Gesänge, ihn, durch den die sterblichen Männer unbekannt oder bekannt, ruhmreich oder

1) Ich habe diesen Aufsatz fern von meinen Büchern in den wenigen Muße- stunden niederschreiben müssen, die mir während meines Aufenthalts in Amerika gebUeben sind : so bitte ich um Entschuldigung, wenn der Leser Spuren dieser gehasteten und oft gestörten Arbeitsweise wahrnimmt, die mir durch die Umstände aufgezwungen war. Das Material glaube ich infolge langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstande einigermaßen vollständig durchgearbeitet zu haben und zu über- sehen.

2) d. h. durch deren Inspiration der Nachruhm, y.lia avh^av, fortlebt.

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ruhmlos sind, durch des großen Zeus Willen. Denn leicht macht er wuchtig, leicht aber drückt er den Wuchtigen, leicht macht er den Hochangesehenen gering und erhöht den Unansehnlichen, leicht macht er den Krummen grade und den Hochmächtigen runzlig, der hoch- donnernde Zeus, der in der höchsten Höhe wohnt. Mach Augen und Ohren auf und höre, und richte den Prozeß nach dem Rechte, Du! Ich aber will dem Perses ') die Wahrheit sagen."

Die Alten haben diese Worte nicht verstanden; in sonst uner- hörter Übereinstimmung verwerfen das Prooemion sowohl Aristarch wie Krates 2). Die Neueren vor Kirchhoff und vor allem Leo haben es nicht besser gemacht mit Schmerz trifft man in der langen Reihe dieser seltsamen Interpreten auch G. Hermann, der behauptet hat, das Prooemion der Erga sei eine farrago sententianim e di- versis diversarum aetatiim scriptoribus coniuncta 3) ! Und doch muß der Sinn jedem in die Augen springen, der nur einmal den Versuch macht, sie als wohlüberlegte Worte einer individuellen Per- sönlichkeit zu verstehen und die Beziehungen zu dem Gegenstand des Gedichtes aufzusuchen, dem Hesiod sie vorangestellt hat.

Hesiod hat einen Prozeß zu führen mit seinem Bruder Perses; die Entscheidung steht bevor und liegt in den Händen der ßaGLÄf^ec, die, von Perses bestochen, geneigt sind, das Recht zu beugen und zu Perses' Gunsten zu entscheiden. Da ruft der Dichter den Götter- könig zu Hilfe, von dessen Willen alles menschliche Geschick ab- hängt: wenn er in den wenigen Worten so eingehend immer von

1) Die Überlieferung schwankt zwischen dem Dativ [ivcb 8i xf JJcparit iirjTvua f)v&T]aa!iir]r) und dem Vocativ \^eyd> de Xf, Ueparj, ST. ftvO-.)] wie sich neuere Heraus- geber, z. B. Rzach, für den letzteren haben entscheiden können, ist mir unverständ- lich. Der Sinn ist ja: „die Entscheidung des Prozesses überlasse ich im Vertrauen auf mein Recht dem Zeus; ich selbst aber will dem Perses ins Gewissen reden".

2) Schol. Procl. init. und vit. Dionys. Perieg. bei Rühl, Rhein. Mus. 29, 83. Krates hat so wenig Verständnis für das, was der Dichter sagen will, daß er be- hauptet, die Prooemien der Erga und der Theogonie ließen sich jedem beliebigen Gedicht voransetzen! Aristarch berief sich auf Theophrasts Schüler Praxiphancs, der eine Handschrift ohne Prooemion aufgefunden hatte. Daran knüpft die alberne Geschichte bei Pausan. 1X31,4 von dem prooemienlosen Exemplar (\e.x''Epya auf einer Bleitafel an der Hippukrene.

3) Auch Rzach hat es offenbar nicht verstanden, da er noch in der zweiten kleinen Ausgabe (Teubner, 1908), die sonst gegen die früheren viele Fortschritte zeigt, V. 9 und 10 von den vorhergehenden, mit denen sie aufs allerengste zusammenge- hören, durch einen Zwischenraum trennt. In der großen Ausgabe (li)02) hatte ci v. 1—9 als rhapsodi ctütisdam proocmium bczeicliiiet luid v. 10 eingeklammert.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 161

neuem einerseits die Allmacht des Zeus, andrerseits die Leichtigkeit hervorhebt, mit der er den Stolzen demütigen und den Niedrigen erheben kann, so bedeutet das nichts anderes, als was nachher in den Prozeßgedichten ausgeführt wird: Ihr übermütigen ßaoLl'^eg bedenkt, wie leicht Euch Zeus zu Fall bringen kann. Die Voraus- setzung dabei ist die religiöse Überzeugung des Dichters, daß Zeus das Recht schirmt und den Frevel straft, eine Überzeugung, die in den Prozeßgedichten überall den lebendigsten Ausdruck findet i). Eben darum kann er seine Sache der Gottheit überlassen : sie wird helfen und sie hat geholfen. Denn so wenig ich in den Einzelausführungen mit Kirchhoff übereinstimmen kann, so zweifellos ist mir, daß er die Entstehung der Erga richtig erkannt hat. Die Grundlage des Werks bilden, wie bei Hesiods Zeitgenossen, den israelitischen Propheten, einzelne Dichtungen, die aus der momentanen Situation erwachsen sind: der Prozeß steht unmittelbar vor der Entscheidung 2), und der Dichter ersetzt die Hilfe des Zeus, auf die er in seiner Not vertraut, in Wirklichkeit durch Selbsthilfe, durch Appell sowohl an die sitt- lichen Grundgedanken und die von den Göttern drohende Strafe, wie an die Massen, deren Entrüstung bei offener Rechtsbeugung aufflammen wird. Und diese Agitation hat gewirkt: wie der Fortgang des Gedichts zeigt, ist Hesiod später ein wohlhabender Mann im Be- sitz von Haus und Hof, der sich, bei eifriger Arbeit, auch gütlich tun kann, Perses ist verarmt, seine Künste haben ihm nichts genützt, er muß sich um Unterstützung an den Bruder wenden (v. 321 ff.

1) Nur eine andere Form, eine Umkehrung des Gedankens, ist es, wenn der Dichter v. 270ff. sagt: „Jetzt wollt' ich, daß weder ich selbst unter den Menschen gerecht wäre (d. h. mich nach den Geboten der Sixtj richtete und bisher gerichtet hätte) noch mein SolTn; denn übel ist es, daß ein Mann gerecht ist, wenigstens wenn größeres Recht der Ungerechtere (der im Unrecht ist) erhalten soll: aber doch er- warte ich noch immer, daß Zeus, der kluge {»rjTiöeis, der überall einen Ausweg findet), das nicht zur Wirklichkeit machen wird". In Wahrheit denkt der Dichter garnicht daran, der ölxt] Valet zu sagen; und wäre das Urleil gegen ihn ausgefallen, so würde er doch nicht von Zeus gelassen, sondern sich den Ausgang in anderer Weise zurecht gelegt haben. Aber seine Lage ist allerdings so verzweifelt, daß nur noch der Gott (und seine eigene agitatorische Dichtung) helfen kann. Man traut seinen Augen nicht, wenn man sieht, daß Lehrs und Rzach v. 273 dUä y ov- nui iolna rAtlv Jia urjriöfvra als Interpolation verworfen haben!

2) Schoemanns von Rzach aufgenommene Änderung von v. 39 ßaailrjas Smoo- (pd/ove, Ol Ttivöe Sixrjv id'ilovai dixdaaai in iiJilovTi hi/.aaaav ist eine abscheuliche Verballhornung, die den Sinn des Gedichts vollständig zerstört.

Graeca Halensis. \\

162 E. Meyer

396 ff.) 0- Das hat Hesiod den Anlaß gegeben, seine früheren Ge- dichte mit den Gedanken, zu denen er in langem Grübeln über Menschenleben und Menschenschicksal gelangt war, in einem großen Gedicht über das Menschenleben zusammenzufassen, das seinem früheren Gedicht über die Entstehung und Entwicklung der Welt er- gänzend zur Seite tritt. So sind die Erga entstanden, und darum treten sie auf als eine große Mahnrede an Perses. Die früheren Prozeßgedichte bilden die unentbehrliche Ergänzung des positiven Teils: sie zeigen, wie man es nicht machen soll, der zweite Teil da- gegen gibt die Anweisung zum richtigen Verhalten im Leben.

Die Aufgabe des Menschen, so können wir Hesiods Gedanken in moderner Fassung wiedergeben, ist, sich durch eigene Arbeit seine Existenzmittel zu schaffen. Die große Triebfeder ist die gute Eris, der Wetteifer, das Streben, vorwärts zu kommen. Diese steht unter dem Sittengesetz, der Jiy^r}, der Rechtsordnung des sozialen Lebens, die im Gegensatz zu den Tieren, die die JLy.rj nicht kennen und sich auffressen (v. 275 ff.), das Zusammenleben der Menschen auf- recht erhält. Alles, was sie verletzt, Gewalttätigkeit, Meineid, falsches Zeugnis und Betrug, gehört dem Bereich der schlechten Eris ^) an und führt, auch wenn es momentan Erfolg zu bringen scheint, doch schließlich mit Notwendigkeit zum Verderben: das ethische Postulat, daß die Gottheit ein gerechtes Weltregiment führt, beherrscht das gesamte Denken des Dichters, es gibt den Ausgleich, die innere Be- ruhigung des Gewissens und die Ergebung in das Schicksal auch da, wo scheinbar die Nöte des Lebens, die der Bauer Hesiod schwer und tief empfindet, kaum noch der Hoffnung Raum lassen. Wir haben uns eben in die Ordnung zu fügen, die Zeus den Menschen

1) Unter den vielen Feinheiten des Gedichts, das durchweg Wort für Wort er- wogen werden muß, wenn man es richtig verstehen will, ist eine der wirkungs- vollsten, daß Hesiod den Bruder in den Prozeßgedichten nur mit seinem Namen an- redet {Ilioarj), in dem zweiten Teil dagegen, von v. 286 an, wo er als der wohl- wollende Rater zu dem durch eigene Torheit verkommenen Bruder redet (v. 293 ff.), iniya tTjnit Ile^ar] sagt. Das ist keineswegs boshaft, sondern gutmütig: du bist ein Tor gewesen, so zu handeln. Da aber, wo er beginnt, ihm den richtigen Weg zu weisen, v. 299, sagt er statt dessen: f^cv^s^r, Ili()arj, Jiov ysvus d. h : ,Du bist ja doch auch kein hergelaufener armer Schlucker, sondern von Zeus, dem nan]^ <iri\>tT>r re ÖKör rt, entsprossen, so gut wie ich und alle andern Menschen, die es zu etwas gebracht haben; also tue, was Zeus von den Menschen vorlangt, und arbeite."

2j Vgl. V 195 ff. ; ^iilvi wechselt auch sonst synonym mit %«c. z. H. v. 23.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 163

auferlegt hat, und auf ihn zu vertrauen, mag uns das in manchen Lagen auch schwer genug vorkommen: der Glaube überwindet alles.

Freilich hätte die Welt auch anders geordnet sein können: die Natur könnte alles von selbst geben, „so daß die Arbeit eines Tages für das ganze Jahr genug gäbe und du das Steuerruder in den Rauchfang hängen könntest und die Rinder und Maultiere nichts zu arbeiten hätten" (42ff.). Aber die Götter haben es anders gewollt: sie haben die Mittel des Lebens dem Menschen verborgen, so daß er sie nur durch Arbeit hervorholen kann (42. 47), und ihn zugleich mit zahl- reichen Nöten heimgesucht, Arbeit, Krankheiten und allen Übeln, die über die Erde dahinflattern ; und dazu kommt als Ärgstes noch das Weib, das dem Mann den Sinn betört und ihm tausend Plagen bringt es sei denn, daß er eine gute gefunden hat i) ; aber „nichts Schaurigeres gibt es als ein böses Weib, das nur auf die Mahlzeit lauert; sie sengt ohne Fackel auch einem kräftigen Mann das Fell und führt ihn in ein böses Alter" (702 ff.). Als Gegengewicht ist den Menschen nur die Hoffnung belassen aber auch sie ist ihnen nur zur Hälfte zuteil geworden, denn sie bringt die Sicherheit der Erfüllung nicht mit sich, sondern sitzt am Rande des Fasses unter dem zuge- schlagenen Deckel 2).

Wie das gekommen ist, das erklärt Hesiod wie in der Theogonie aus der heiligen Geschichte, die er zu dem Zweck umdichtet und um-

1) In der Theogonie halten für Hesiod auch bei der besten Frau Gutes und Schlimmes sich das Gleichgewicht (Theog. 607 ff.); in den Erga erkennt er an, „daß es für den Mann kein größeres Gut gibt als ein gutes Weib" (702). In seiner Jugend, als er in Not war, hat ihn offenbar seine Ehehälfte arg geplagt sie mag oft nicht gewußt haben, woher sie das Essen beschaffen sollte ; im Alter, als sie sich nicht mehr putzte und er ein wohlhabender Bauer geworden war, scheint seine Ehe ganz behaglich geworden zu sein, so daß der alte Weiberhaß in den Erga nur noch ge- legentlich nachzittert, wenn auch immer noch in recht heftigen Ausbrüchen (57 ff. 373 ff. 703 ff.).

2) Das ist offenbar der Sinn von v. 96 ff. Daß Hesiod hier so wenig wie auch sonst gar oft zu klarem Ausdruck seiner Gedanken gelangt ist, sondern die von ihm über- arbeiteten Elemente der alten Mythen und Dichtungen in diesem Falle einer Umdeutung und Ätiologie des Pithoigienfestes, die er mit dem Pandoramythus zu- sammengearbeitet hat untereinander und mit dem, was er eigentlich sagen will, fortwährend in Widerspruch stehen, ist offenkundig. Das soll man anerkennen und seine Gedanken aus dem unbeholfenen Ausdruck herausschälen, aber nicht daran rütteln. Es gibt psychologisch kaum ein interessanteres und lehrreicheres Studium als die richtige Interpretation Hesiods; die nächste Analogie bieten auch hier die alttestamentlichen Propheten.

11*

164 E. Meyer

deutet, und zum Teil auch erst selbst durch Zusammenfügung völlig fremdartiger Elemente ganz neu schafft. Im einzelnen steht er ihr genau ebenso gegenüber, wie bis auf den heutigen Tag der bibel- gläubige Christ den Mythen des Alten und Neuen Testaments: hier und da beseitigt er einen Widerspruch, der ihm gar zu arg entgegen- tritt, aber in der Regel kümmert er sich darum nicht, sondern ist zufrieden, wenn er den einen und den andern Zug für seinen Zweck deuten kann, nicht selten auf die allergewaltsamste Weise, und damit eine Grundlage für seine Anschauung findet. In derselben Art setzt er sich genau wie der christliche Prediger über die zahlreichen sittlichen Anstöße hinweg, welche die Erzählungen auch in seiner Bearbeitung noch für ein logisches Denken enthalten. Das religiöse Denken operiert eben nicht logisch, sondern psychologisch, und der geläuterte sittliche Gottesbegriff bleibt dennoch unerschüttert bestehen, mag von Gott auch noch so viel Arges erzählt werden damit findet das religiöse Denken sich ab, so gut es gehen mag. Wie aus dem brutalen Feuerdämon der israelitischen Mythen der Gott-Vater des Jesus von Nazareth und weiter der philosophische Gott des modernen Denkens geworden ist, so ist für Hesiod die ungebändigte Naturmacht des Himmelsgottes Zeus, der die Titanen in den Tartaros gestürzt und dem Menschenfreund Prometheus ein furchtbares Los bereitet hat, zum Träger der sittlichen Weltordnung geworden, die dem Menschen zwar ein schweres Los auferlegt, aber doch, eben dadurch daß dieser sich in sie fügt— oder daß, falls er ihr widersteht, Zeus ihre Aufrechterhaltung erzwingt , ihm die Existenz innerhalb der sozialen Gemeinschaft und damit zugleich die mensch- liche Kultur ermöglicht.

In diesen Gedanken liegt der gewaltige Fortschritt über das naive Denken der homerischen Welt hinaus, den Hesiod bezeichnet. Bei ihm ist alles reflektiert: jedes Wort seiner Gedichte hat er lange bei sich herumgetragen und hin- und hergewälzt, ehe er es aus- spricht. Wir dürfen uns dadurch nicht irre machen lassen, daß seine Gedanken uns in religiösem Gewände entgegentreten, daß eine leise und warme Naturempfindung in ihm lebt, daß er reizende Idyllen zu zeichnen vermag, wie in der gegenbildlichen Schilderung des Winters und des Sommers. Das alles ist durch und durch sentimental, ja man kann ruhig sagen, modern, nicht naiv; eben darum versagt er vollständig, wo er versucht, Einzelvorgänge lebensvoll und anschau-

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 165

lieh zu schildern, eben auf dem Gebiet, wo die Stärke der home- rischen Poesie liegt (so beim Titanenkampf, oder etwa in beiden Bearbeitungen der Geschichte des Prometheus), während ihm das Visionäre, Ahnungsvolle vortrefflich gelingt: gerade beim Titanen- kampf oder z. B. bei der Theophanie der Musen schauen wir die nebelhaften Umrisse der übersinnlichen Geister- und Götterwelt. Dagegen darf man niemals versuchen, die einzelnen Züge in alle ihre Konsequnzen zu verfolgen, ihm ein scharfumrissenes Detailbild der Einzelvorgänge aufzuzwängen. Sobald man das versucht, ver- wirrt man sich in ausweglose Irrgänge; aber dagegen protestiert auch seine gesamte Denkweise und Poesie.

Eben darum gelangt bei Hesiod aber auch die Doppelseitigkeit des menschlichen Lebens zu großartigem Ausdruck. Gewiß, es ist nichts als Mühe und Not, und alle Kultur mehrt nur das Elend: ein behaglich genießendes, sorgenfreies Dasein hat Zeus den Menschen nicht gewährt oder entrissen, und nur als Sehnsuchtsbild der Phan- tasie kann dies Ideal vor die Seele treten, die dann um so schmerz- licher die harte und bittere Not des realen Lebens empfindet. Aber auf der andern Seite fühlt der Dichter ebensosehr, daß Arbeit adelt. In gewaltigen Worten hat er ihre Bedeutung, die dgerrj, die sie dem Menschen verleiht, gepriesen, und voll stolzen Selbstbewußtseins rühmt er sich der Einsicht in die Grundbedingungen des mensch- lichen Lebens, die er besitzt und die ihm ermöglicht, auch den in- tellektuell Schwächeren auf den richtigen Weg zu führen (293 ff.). So hat er den Pessimismus, so tief er in seinem Gefühlsleben wurzelt, dennoch überwunden oder wenigstens zurückgedrängt: das Leben ist schwer, aber der Mensch kann es doch bestehen und durch energische Arbeit zu innerem Gleichgewicht und zur Gottergeben- heit gelangen.

Freilich, wenn er das Leben und die Verhältnisse seiner Zeit betrachtet, drängen sich die finsteren Züge immer wieder in den Vordergrund; und so steht er der Kultur an sich eben so feindselig gegenüber wie Rousseau. Aber auch hier hat ihm sein Grübeln den Blick geschärft: er erkennt den notwendigen inneren Zusammenhang dieser Kultur, die er verwirft, mit der Arbeit, die er preist, und ist imstande, den Gedanken einer Kulturentwicklung zu fassen und ihre Bedingungen darzulegen, wenn auch ihr Resultat, wie er es im eigenen Leben erfahren hat und an den Menschen seiner Umgebung

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täglich erfährt, nur eine ständig fortschreitende Steigerung des Elends ist.

In zwei parallelen Erzählungen hat Hesiod darzulegen versucht, wie der gegenwärtige Zustand des menschlichen Lebens entstanden ist. Die eine, eine Neubearbeitung des Prometheusmythus, den der Dichter in der Theogonie schon einmal behandelt hatte, jetzt aber in Einzelzügen erweitert und umgestaltet i), mit starker Benutzung seiner älteren Bearbeitung 2), behandelt nur das Elend, das durch Prometheus' Verschuldung über die Menschen gekommen ist (Weiber, Krankheiten und alle Übel, erträglich gemacht nur durch die Hoff- nung), wie in der Genesis durch den Sündenfall der Urmenschen. In dem parallelen Äöyog, von den fünf Weltaltern, wird dagegen zu- gleich der Versuch gemacht, die Entwicklung des Menschengeschlechts und seine Kultur in einer großartigen historischen Konstruktion dar- zulegen.

Mit diesem allbekannten und doch in seinem Gedankeninhalt meines Wissens noch nie wirklich verstandenen und ausgeschöpften Abschnitt des Gedichts wollen wir uns im folgenden eingehender beschäftigen.

1) Es ist völlig evident, daß Hesiod in der Theogonie hier wie auch sonst oft (so bekanntlich in der Hephaestosgeschichte) ein ihm vorliegendes Gedicht benutzt und aus ihm nur diejenigen Züge entnommen hat, die er für seine Zwecke brauchen kann, während er über alles andere ganz kurz hinweggeht. Aus ihm entnimmt er den Ausdruck nhy.ioned'rjot V. 521, den er v. 522 durch Öeouois aoyaleoioi erläutert, ferner uf'i.lr^oi oder nelioiai v. 563 (erklärt durch &7rjToze ävd-Qünoiq, ot ini %i^orl vaieräovaiv v. 564), das ihm selbst schon kaum noch verständlich gewesen ist (vgl. u. S. 181 Anm. 1). Daher wird auch die Bekanntschaft des Hörers mit Epimetheus und dem Pandoramythus v. 511 ff. vorausgesetzt, und dieser auch im folgenden v. 570ff. nicht er- zählt sondern nur skizziert, um die Invektive gegen die Frauen daran anzuknüpfen. So erklärt sich ferner die Umwandlung der Betrugsgeschichte in Mekone, in die Hesiod, seinem Glauben entsprechend, aber in schroffem Widerspruch mit der von ihm bei- behaltenen Vorlage, den Zug einsetzt, daß Zeus die List des Prometheus durchschaut habe (daher wird Zivs äcrd^ira i/rjfifa ttdcös zweimal gesagt v. 545. 550, vgl. auch v. 613ff.); ebenso befreit Herakles den Prometheus ovtt äexrjri Zrjvöq v. 529ff. Man verkennt Hesiods Gedanken und Arbeitsweise vollkommen, wenn man an v. 535 bis 561 auch nur ein Wort ändern will. Die Voraussetzung der ursprünglichen Er- zählung ist, daß ehemals Götter und Menschen zusammenwohnten v. 535. 586, wie in unseren Märchen: das hat Hesiod beibehalten, aber nicht weiter verwertet.

2) Er entnimmt ihr nicht nur die (umgestaltete) Schmückung der Pandora, deren in der Theogonie weggelassener Name in den Ergn ätiologisch gedeutet wird ; sondern ebenso ist Erga 48 = Theog. 565, und der Sclilußvers 105 orrto* ov ri tti; fan Jide rdov i^a).inai)-at variiert den Schluß der Prometheusgeschichte in der Theogonie v. 613 ff.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 167

„Wenn Du Lust hast, will ich Dir noch eine zweite Erzäh- lung in den Grundzügen vortragen, schön und mit guter Kennt- nis — du aber nimm sie zu Herzen , wie aus gleicher Wurzel entstanden sind die Götter und die sterblichen Menschen" (v. 106 bis 108).

Die älteren Philologen (unter ihnen leider auch Lehrs) haben ihre Unfähigkeit, Hesiods Gedanken zu verstehen, überall dadurch zugleich offenbart und unter dem Schein methodischer Gelehrsam- keit zu verhüllen versucht, daß sie über das Gedicht eine Fülle von Athetesen ausgestreut und daneben durch weite Absätze die Einheit- lichkeit des Gedichts aufgelöst haben. Diesem Schicksal sind natür- lich auch unsere Verse nicht entgangen; auch Rzach hat noch in der großen Ausgabe von 1902 alle drei Verse eingeklammert und v. 108 von den beiden vorhergehenden getrennt, während er 1908 die Echtheit der beiden ersten anerkennt, dagegen v. 108 athetiert: „illatum esse vidit Lehrs''. In Wirklichkeit ist eine Verbindung zwischen der Prometheuserzählung und der von den Weltaltern natürlich ganz unentbehrlich, und v. 106f. tragen wenn irgend etwas den Stempel Hesiods. Nicht um eine schöne Geschichte zu er- zählen, trägt er die Erzählung vor, sondern um zu belehren; die Moral aber soll der Hörer (Perses) sich selbst daraus ziehen: „be- herzige sie und denke darüber nach". Eben darum gibt der Dichter, wie immer, nur die Hauptmomente und geht über alles ihn nicht weiter interessierende und für seinen didaktischen Zweck unwesent- liche Detail hinweg i): das besagt das von ihm geschaffene, nur hier vorkommende Wort ixxogvcpcboco , etwa „ich will sie heraus- gipfeln", d. i. die Höhenpunkte des köyog vortragen. Er kann ihn gut, d. h. zutreffend, berichten, denn er kennt ihn e'ö -/mI irciora- ixiviog ; mit andern Worten, die Erzählung ist sein geistiges Eigen- tum, ihm von den Musen als Wahrheit offenbart, d. i. das Ergebnis seiner eigenen Spekulation über die Entwicklung des Menschen- geschlechts, bei der er zwar ältere Traditionen benutzt, aber gründ- lich überarbeitet und erst selbst in den richtigen Zusammenhang

1) Eben darum ergeben sich hier wie in der Prometheus-Pandoraerzählung oder z. B. in der vom Titanenkampf Anstöße genug, wenn man versucht, die hier skizzierte Weltentwicklung im einzelnen in homerischer Art anschaulich auszumalen oder gar mit andern Mythen zu verbinden. Das ist aber für Hesiod durchweg ganz gleich- giltig; ihm kommt es nur auf die Grundzüge und ihre ethisch-religiöse Bedeutung an.

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gebracht und in das richtige Licht gerücl<t hat. So praecis wie nur mög- Hch gibt uns der Dichter in diesen Worten über sein Material, seine Arbeitsweise und seine Auffassung Aufschluß: nur müssen wir uns ernstlich bemühen, ihn zu verstehen, und uns vor allem leichtfertigen und oberflächlichen Aburteilen hüten; das verträgt kein Autor der Weltliteratur weniger als Hesiod.

Daß auf die Ankündigung eines neuen Xöyog eine kurze Inhalts- angabe folgt, ist durchaus natürlich; und so schlecht v. 109 xqvosov (xav vrQcbTiara yevog v.tX. an oi) d' iv q^geai ßdXkso afjoiv (107) an- schließen würde, so vortrefflich schließt es sich an (bg ö^ö^ev ysydaai O^soi d^vrjToL t' ävi}Qio7roi (108): vom Ursprung des Menschenge- schlechts soll erzählt werden, da folgt „zuerst bildeten die Götter das goldene Geschlecht" ganz natürlich. Aber allerdings bietet V. 108 inhaltlich einen schweren Anstoß, der eben zu seiner Athetese geführt hat: denn das Folgende erzählt, wie die Götter ein Geschlecht der Menschen nach dem andern bildeten {Troirjoav), aber keineswegs „wie Götter und Menschen aus derselben Wurzel, öfiöd^ev, entstanden sind". Indessen gerade dieser Anstoß bestätigt nur den hesiodischen Ursprung von v. 108: wie hätte denn ein späterer Interpolator dazu kommen sollen, den Inhalt der folgenden Erzählung in diese Worte zusammenzufassen, die mit ihm absolut nicht übereinstimmen? Nur Hesiod selbst kann diesen Vers geschrieben haben i). Er erklärt sich daraus, daß hier die Tradition durchschimmert, die Hesiod be- nutzt, aber von Grund aus umgestaltet hat. Die Geschichte von den Weltaltern ist nicht nur inhaltlich, sondern auch sagengeschichtlich die Parallele zu der von Prometheus und den Titanen: das goldene Geschlecht lebt zur Zeit des Kronos (v. 111), das silberne dagegen ist von Zeus unter die Erde gebannt (v. 138), sein Sturz, wie wir sehen werden, ursprünglich identisch mit dem Sturz der Titanen. So setzt auch die Geschichte von den Menschenaltern ebensogut wie die Prometheusgeschichte (Theog. 535. 586) voraus, daß Götter und Menschen ursprünglich zusammenlebten und sich erst später von- einander getrennt haben (ebenso wie z. B. in der Paradiesesgeschichte der Genesisj; daher dfxöO^iv yeyäaoi. Aber mit Absicht drängt Hesiod diesen Zug in den Hintergrund; eine Durchführung der parallelen

1) Ich brauche das Wort „schreiben" ganz unbedenklich, da mir nicht im mindesten zweifelhaft ist, daß Hesiod mit der Feder gearbeitet hat, und /war so intensiv wie nur je ein Gelehrter.

Hesiods Erga uud das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 169

Entwicklung der Götter und Menschen würde ihn in unentwirrbare Probleme verstrickt und von seinem didaktischen Zweck weit abgeführt haben. Er will eben in diesem Gedicht nur Menschengeschichte geben, und auch diese nur insoweit, als sie das Menschenlos und die dem Menschen gestellten Aufgaben verständlich macht. Daher begnügt er sich mit den angeführten Hinweisen in v. 108. 111. 138, und deutet außerdem den Zusammenhang mit der Prometheus-Pandora- Geschichte dem aufmerksamen Hörer dadurch an, daß er v. 112 f. in der Schilderung des goldenen Zeitalters: äg re ^sol Iwea-nov i) ä-urj- öea S-vßdv eyovrsg vöacfiv ärsQ ts tcövcov xai d^t^ioc die kurz vor- hergehenden Worte der Prometheusgeschichte v. 90f. viqIv ^dv yag Ccöeoxov €7tl id-ovl cpvV dvd^QÖJnwv vöocpiv äreg re xaxcüv y.al ätsQ %ci\^7rolo Ttövoio vovacuv r' dgyaXecov mit geringer Variation wiederholt. Das ist natürlich nicht dichterisches Unvermögen oder mechanische Wiederholung einer stereotypen Wendung, sondern be- wußte Absicht: die Zeit vor Pandoras Faßöffnung ist eben die des goldenen Zeitalters; aber der Dichter will nicht eine vollständige Ge- schiebte der Urzeit geben, sondern entnimmt dem Bilde, das er sich von ihr gemacht hat 2), jedesmal nur diejenigen Züge, die er füf seinen speziellen Zweck braucht.

Das goldene Zeitalter ist also die Zeit, ehe Prometheus das Feuer raubte und damit zwar die Kultur, aber zugleich Arbeit und Not unter die Menschen brachte, und Pandora aus ihrem Faß alle Übel und Krankheiten über die Menschen ausfliegen ließ. Es ist die Zeit, „da Kronos im Himmel das Königtum inne hatte'' (v. 111); und Sage und Sprichwort hat ja die Verbindung des goldenen Zeitalters mit Kronos und den Titanen bis in die spätesten Zeiten festgehalten. Aber da- .hinter steht dann der Sturz der Titanen, und damit eine ganz andere

1) So Diodor, was mir besser scheint als S'i tmov oder S' i^atov der Hesiod- handschriften. Im übrigen sind in dem Zitat bei Diodor V 66 weitere Interpolationen aus V. 91 f. eingedrungen.

2) Das Bild ist natürlich hier so wenig wie sonst bei Hesiod ein anschaulich in allen Einzelheiten durchgeführtes, wie bei den homerischen Dichtern. Das kann Hesiod weder seiner dichterischen Begabung nach erreichen, noch wäre es bei den Tendenzen, die er verfolgt, auch dem größten poetischen Genie volll<ommen erreich- bar. Er ist eben ein Grübler, oder sagen wir lieber geradezu ein Philosoph, und die Sagengeschichte dient ihm ebenso lediglich als Substrat seiner eigenen Speku- lationen, wie etwa dem Plato in seinen Mythen. Daher muß er sich immer im Un- bestimmten und Nebelhaften halten.

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Auffassung der Titanen als Repräsentanten der ursprünglichen rohen Gewaltsamkeit im Gegensatz zu der dauernden Weltordnung des Zeus. Das weiß Hesiod sehr wohl, und in der Theogonie hat er diese Auffassung ausgeführt. Aber an unserer Stelle kann er sie nicht brauchen, da ein Eingehen darauf die Tendenz seiner Erzählung von der Folge der Menschengeschlechter trüben, wenn nicht völlig zer- stören würde. Er hat sich aus dem Dilemma in einer sehr feinen und für seine Art äußerst bezeichnenden Weise gezogen. Er erwähnt den Götterkampf und den Titanensturz überhaupt nicht, und ebenso ver- meidet er auszusprechen, daß die beiden ersten Generationen von den damaligen Göttern, d. i. von Kronos und den Titanen, geschaffen seien. Beim dritten und vierten Geschlecht sagt er ausdrücklich, daß Zeus sie geschaffen habe {Zeig de -naxi^q rgirov äXlo yevog fie- QÖniov dvd^QCÖTtcjv x«^>f£^or Ttoitjös, und avrig er' äkXo reraQTOv . . . Zevg Kgoviörjc vtoLrjOB . . . ävdgiov fjQcbiov d^eiov yevog), und vom fünften, dem eisernen der Gegenwart, versteht es sich von selbst. Beim goldenen und silbernen Geschlecht dagegen heißt es gleich- mäßig dd^dvciTOL 7roir]Gav ^OlvfXTTia öü^ar' e'xovreg; wer diese „Un- sterblichen" sind, ist ganz unbestimmt gelassen i)- Daß das voll- bewußt ist, wird dadurch über jeden Zweifel erhoben, daß Hesiod beim goldenen Geschlecht unmittelbar darauf hinzufügt ol /nev ircl Kqövov fiaav, ör ovgavip ifißaoilsvsv. Wenn sie „zur Zeit des Kronos lebten", können die „Unsterblichen", die sie geschaffen haben, eben nur Kronos und die Titanen sein. Das weiß der Dichter sehr wohl, aber er will es nicht aussprechen. Beim silbernen Geschlecht fehlt zunächst jede derartige Angabe; aber zum Schluß heißt es rovg /.lev enstra Zsvg KQOviörjg ev.Qvips %okov[.isvog. Also ist Zeus inzwischen

1) Die Empfindung, die er selbst hat und bei seinen Hörern erzeugt, ist natür- lich, daß es die jetzt regierenden Götter sind; denn für das religiöse Bewußtsein haben diese allezeit die Welt regiert, mag auch die heilige Geschichte ganz anders lauten. Aber Hesiod weiß, daß tatsächlich damals Kronos und die Titanen regierten, und darf daher hier nicht Zeus sagen. Er hilft sich aus diesem Konflikt zwischen Geschichtsüberlieferung und religiöser Empfindung, indem er alles unbestimmt läßt: ,es machten sie die Unsterblichen, die im Olymp wohnen; sie waren aber zur Zeit des Kronos, als der im Himmel regierte", nicht etwa: „Kronos und seine Genossen hatten sie geschaffen". Wer den logischen Maßstab anlegt, müßte hier den stärksten An- stoß nehmen und ändern; aber die logische Analyse führt eben bei all solchen Werken (ebenso z. B. bei den alttestamentlichen Propheten) niemals zum Ziel, sondern nur die psychologische Betrachtung, das Versenken in die reiche und wider- spruchsvolle Gedankenwelt der Dichtung.

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ans Regiment gelangt, und der Untergang des silbernen Geschlechts fällt zusammen mit dem Sturz der Titanen. Dieser historische Rahmen ist dem Dichter vollkommen gegenwärtig, und jeder Hörer oder Leser mag ihn aus seinen Worten entnehmen; aber gesagt hat er es nicht, weil er jede unmittelbare Erwähnung des Titanen- kampfs und der Göttergeschichte fernhalten will, da sie sofort ein ganz andersartiges Interesse wachrufen würden als das, welches der Dichter hier verfolgt.

Genau in derselben Manier hat er nun auch, um darauf noch einmal zurückzukommen, den v. 108 gestaltet, (hg öfxöd-sv ysyäaai d^eol ■9-vr]Tol T äv^Qwnoi. Er kennt den^sagengeschichtlichen Zusammen- hang, in dem seine Erzählung steht; aber er begnügt sich mit dieser kurzen Andeutung, jedes weitere Eingehen darauf würde die Ge- schlossenheit und einheitliche Wirkung seines löyog zerstören.

Die zwiespältige Auffassung des Kronos und der Titanen in der Sagengeschichte, der Widerspruch zwischen der Sage vom goldenen Zeitalter und der vom Titanenkampf führt uns auf die Frage nach Inhalt und Ursprung dieser Gestalten und Erzählungen; und darüber müssen wir zunächst Klarheit gewinnen, ehe wir weitergehen können. Eine auf alle Einzelheiten eingehende Analyse würde uns allerdings viel zu weit führen; doch hoffe ich, daß die folgenden, das Ergebnis dieser Untersuchungen zusammenfassenden Sätze der inneren Evidenz nicht entbehren werden.

Bekanntlich hat noch Kaibel wieder in einem postumen Aufsatz versucht, den Mythos vom Sturz des Kronos und der Titanen in Ge- schichte umzusetzen, indem er sie als ehemalige Götter einer später durch den Zeuskult verdrängten Religion deutete. Demgegenüber ist es meines Erachtens religionsgeschichtlich allein zulässig, nicht von dem auszugehen, was sie nach der von den Dichtern gestalteten Sagengeschichte einmal gewesen sein sollen, sondern von dem, was sie für das Volksbewußtsein, für die religiösen Vorstellungen einer für uns noch lebendig greifbaren Gegenwart wirklich sind. Und hier kann kein Zweifel sein, daß sie in der Tiefe der Erde waltende Mächte sind. In den Grundfesten des Weltalls, im Tartaros, hausen die S-eol V7toraQTdQSOL, ot TiTfjveg xaleowai, oder ohceg evcQrsQol elöi ^eol, Kqövov ä^icfig eövreg a 203. 271. 0 224f. Hymn. Apoll. 334ff., bei denen die Götter ihre heiligsten Eide schwören. Von hier aus spenden sie Fruchtbarkeit und allen Segen. Als solche Mächte kennt

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sie der attische Volksglaube, der im Fest der Kronien, im Hoch- sommer (12. Hekatombaeon), seinen Ausdruck findet, einem Freuden- fest der gütigen Mächte, bei dem keine lebenden Wesen getötet und keine blutigen Opfer dargebracht werden, bei dem die Arbeit auch für die Sklaven ruht und die Armen beschenkt werden, da die Erd- dämonen ihre Gaben freiwillig und überreichlich spenden. Dem ent- spricht die Erzählung von dem goldenen Zeitalter unter Kronos' Herr- schaft, das ehemals, wie im Märchen von den Heinzelmännchen oder der palästinensischen Paradiesessage, dauernd auf Erden herrschte, während es jetzt nur noch im Kronienfest wieder auflebt. Daß auch diese Erzählung in Attika heimisch ist, beweist die aus den Kreisen der Bauern stammende Vergleichung der Herrschaft des Peisistratos mit der des Kronos ')•

Aber die Erdmächte sind wankelmütig; sie nehmen ihre Gaben wieder zurück und vernichten sie. Darauf wird Kronos' alter Bei- name dyxvXoi.irirr]g „der Krummsinnige" beruhen (aus dem dann viel- leicht die Sichel als seine Waffe abgeleitet ist), und ebenso offen- bar das Verschlingen seiner Kinder, die er dann im regelmäßigen Kreislauf des Naturlebens wieder von sich gibt. So mag es sich auch erklären, daß ihm (nach Porphyrios de abstin. II 54) auf Rhodos am sechsten Metageitnion, also im heißen Hochsommer, ein Mensch ge- opfert wird, den man vorher mit Wein trunken gemacht hat, falls nicht einfach die alte Sitte vorliegt, dem unterirdischen Gotte einen Boten zu schicken, nachdem er an dessen Gabe, dem Wein, sich gesättigt hat. Fremde (phönikische) Elemente sind darin schwerlich mit Recht gesucht worden.

Als Erddämon ist Kronos schon lange vor Homer bei dem KQovlörjQ und Kqovuov alte, längst stereotyp gewordene Namen des Zeus sind in die Mythologie übergegangen. Kronos ist Vater des Zeus"^), wie Gaia die Mutter des Uranos ist (Hes. theog. 126 f.). Als die den kleinasiatischen eng verwandten kretischen Kultbräuche und die sie deutenden Sagen von den Griechen übernommen wurden, wird der feindliche Dämon, der dem Zeuskinde nachstellt, Kronos ge-

1) Außerhalb Attikas findet sich Kronos bel<anntlich nur vereinzelt, so in Olympia (wo ihm bei der Frühjahrsnachtj^leiche geopfert wird», in Rhodos (s. u.) und im Monat Kronion in Samos mit seinen Kolonien Minoa auf Amorgos und Perinthos sowie in Magnesia a. M.

2) Ihm folgen dann sekundär seine Geschwister.

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nannt; er muß den Steinfetisch des Zeus durch Zauber von sich geben, die Berggöttin Rhea, die Mutter des Zeus, wird seine Ge- mahlin.

Es ist möglich, daß von hier aus die Sage vom Titanenkampf sich entwickelt hat. Aber auch eine sehr einfache Reflexion konnte zu ihr führen. Kronos und die Titanen sitzen an der grausigen, von Hesiod mit gewaltiger Poesie geschilderten (theog. 717—773) Stätte, an der das Weltall wurzelt, fern vom Licht und allem Leben, in den Schauern der Finsternis. Wie kommen sie hierher, die doch älter sind als die Götter, die sie gezeugt haben, und die daher vor- dem die Welt beherrscht haben und also am Tageslicht geweilt haben müssen? Da ergibt sich die Erzählung vom Sturz der Titanen von selbst; und so wurden sie die Repräsentanten eines fernen Ur- zustandes, ehe die Götter, die jetzt regieren, mit Zeus an der Spitze die Herrschaft gewonnen und die Welt geordnet haben. In dieser Gestalt hat, wie mehrfache Erwähnungen bei Homer zeigen, die Aödenpoesie sie ausgebildet und die Dichtungen von der Titano- machie geschaffen, die Hesiod für seine Theogonie benutzt und überarbeitet hat.

Aber daneben steht immer die andere freundliche Auffassung, die im Kronienfest und in der Sage von dem paradiesischen Zeit- alter des Kronos fortlebt, und die später zu der Ansicht geführt hat, daß Kronos noch jetzt ein glückseliges Leben führe, freilich weit draußen, außerhalb der Erde, jenseits des Okeanos, auf den Inseln der Seligen i). Diese Auffassung hat nur lokale Geltung, eben da, wo sie vom Kultus getragen wird, so speziell (und ursprünglich viel- leicht ausschließlich) in Attika; daher taucht sie dann später in der von Attika ausgegangenen Orphik wieder auf. Jene andere Vor- stellung dagegen ist, wie alles Homerische, Gemeingut der griechischen Religionslehre geworden.

Hesiod hat beide Auffassungen gekannt und benutzt, die ho- merische in der Theogonie, die kultische in der Erzählung der Erga vom goldenen Zeitalter. Es ist wohl nicht zweifelhaft, daß er die letztere aus Attika entlehnt hat, ebenso wie die Prometheussage, die

1) Bekanntlich ist diese Version in manchen Handschriften auch in Hesiods Erga V. 169 interpoliert (im Genfer Papyrus l<ommen dann noch weitere Verse hinzu). Mit Hesiods Weitbild steht der Vers in krassem Widerspruch, und die alten Philologen haben ihn mit Recht verworfen (Prolilos zu v. 159, vgl. u. S. 182 Anm. 1).

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ja ihre Wurzeln einem speziell attischen Fest verdankt. Schwer- lich waren die beiden Sagen zu seiner Zeit schon über Attika und dessen nächste Umgebung hinaus verbreitet i).

Aber Hesiod hat diese Sage von Grund aus umgestaltet und zur Trägerin der tiefsten Spekulationen über Wesen und innere Ent- wicklung der Menschheit gemacht. Gegeben war ihm nichts weiter als die Schilderung der idealen Zustände unter Kronos, wie sie bei den Kronien als Abbild des vorzeitlichen Lebens vorübergehend Wiederaufleben, und der Name des „goldenen" Geschlechts. Den Gegensatz dazu bilden die jetzigen Menschen mit ihrer Not und ihrem Unfrieden. Alles andere ist, wie wir sehen werden, von Hesiod selbst geschaffen; es ist ein sehr arger, auf völliger Verkennung seines Wesens und seiner schöpferischen Selbständigkeit beruhender Mißgriff, wenn man meint, in der Erzählung von der Folge der Zeit- alter steckten irgendwelche weiteren traditionellen Elemente, und ehe Hesiod s-ö y.cd imoTaf^uvcog seinen /070c vortrug, hätte irgend je- mand von ihr etwas gewußt. Wohl aber ist es hier wie überall ein hoher Genuß, den Gedankengängen des großen Denkers nachzu- gehen. Nur erfordert das gespannte Aufmerksamkeit auf jedes seiner Worte und ein Sichversenken in die rastlose Gedankenarbeit, deren Ergebnisse er, vielfach noch in unbeholfener Sprache, dem Bruder und dem Publikum vorgelegt hat.

Das gegenwärtige Menschengeschlecht ist charakterisiert durch das Eisen. Aber Hesiod kennt die kulturgeschichtliche Tatsache, daß die Verwendung des Eisens jungen Ursprungs ist, daß ihm eine Zeit voranliegt, in der Waffen und Werkzeuge aus Erz waren 2). So ergab sich die Folge Gold Erz Eisen. Daraus entstand der Ge- danke einer Charakterisierung der Menschheitsentwicklung nach den Metallen 3), und da durfte natürlich das vierte Hauptmetall, das Silber,

1) Das Prometheusgedicht, das Hesiod in derTheogonie benutzt und überarbeitet, mag sikyonisch sein, wenn Mel<one, wo es die Auseinandersetzung und Trennung zwischen Göttern und Menschen lokalisiert, wirkHch Sikyon ist.

2) Aus Metali gebildet sind die Menschen der vier Geschlechter natürlich nicht, wie überdies bei dem ehernen Geschlecht noch ausdrücklich gesagt wird.

3) Denkbar wäre, daß außerdem beim ehernen Zeitalter Sagen von ehernen Riesen der Urzeit, wie Talos auf Kreta (den Apollonius Rhod. IV 1638ff. zum letzten Überlebenden des ehernen Geschledits macht: ;<«/x//>y» uehyjynfov Ar&Qo'iTioiv (50/» loiTidv äövra, aber eben die Benutzung Hesiods zeigt, daß dieser unigedoutet ist. wenn Talos wirklich von Erz sein soll), mitgewirkt haben; aber ein Hinweis darauf fehlt völlig, im GL'gcnteii, es wird ausdrücklich gesagt, daß ihre Waffen von V.n

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 175

nicht fehlen. Warum Hesiod zwischen das eherne und das eiserne Geschlecht ein fünftes andersartiges, das Heroengeschlecht, einge- schoben hat, werden wir später sehen.

Es galt, das so gewonnene Schema mit Inhalt zu erfüllen. Hesiod ist so verfahren, daß er nicht eine einheitliche, von oben nach unten steigende Entwicklung gibt, sondern zwei parallele Ent- wicklungsreihen, auf der einen Seite das goldene und das silberne Geschlecht, auf der andern das eherne und das eiserne, die beiden letzteren unterbrochen durch das dazwischen eingeschobene Heroen- geschlecht. In beiden Fällen ist das jüngere Geschlecht (Silber und Eisen) die Entartung des vorhergehenden (Gold und Erz). Die beiden Gruppen aber entsprechen dem Wandel im Weltregiment, der Er- setzung der Herrschaft des Kronos durch die des Zeus; der von Zeus herbeigeführte Untergang des silbernen Geschlechts fällt mit dem Sturz der Titanen zusammen, oder vielmehr, er ist seinem Wesen nach mit ihm identisch.

Jetzt können wir zur Einzelinterpretation übergehen und den Beweis für die eben ausgesprochenen Sätze führen. Ehe wir fest- stellen können, was Hesiod mit seiner Dichtung gewollt und was er selbständig geschaffen hat, müssen wir ermitteln, was er der Über- lieferung oder dem Volksglauben entnommen hat. Und hier geben uns seine eigenen Angaben ganz unzweideutige Auskunft. Bekannt- lich gibt er bei allen Geschlechtern an, was nach ihrem Untergang aus ihnen geworden ist; was er über das goldene und das silberne Geschlecht sagt, führt uns in die Welt der göttlichen Mächte: es sind Wesen des religiösen Glaubens, die noch jetzt unter den Men- schen wirken. Hier haben wir es also mit Gestalten zu tun, die lebendigen religiösen Vorstellungen der Zeit des Dichters ent- nommen sind.

Sehen wir indessen genauer zu, so ergibt sich ein ganz charak- teristischer Unterschied. Von den Menschen des goldenen Geschlechts heißt es i):

waren mit deutlichem Hinweis auf die Kulturgeschiciite {uiXas J" ovx ioxF. oiSrjQosy Kirchhoff, der Fanatiker einer alles individuelle Leben erstickenden mechanischen Gleichmacherei, hat diese Verse natürlich athetiert, weil bei den anderen Geschlechtern nichts Derartiges gesagt ist!

1) Bekanntlich sind v. 121 123 in viel besserer Fassung als in den Hesiod- handschriften bei Plato Krat. 397 e, v. 121 f. bei Plato rep. V 468e überliefert; da- nach hat Leo, Hesiodea 17 den Text so wie ich ihn anführe rekonstruiert. Abweichend

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121 avrag inel dr] tovro yivog yMrd /xoiq* ixäXvipev,

ot fikv öaifioveg dyvoi i7Cixd-övL0L xsXi&ovoiv 123 ioO-?.oi, dXi^iyMYMi, (pvXuyeg d-v^rtov dv^Q(b7iiov, 128 jcXovjodÖTüi' v.al rovro yeQctg ßaaiXi^iov eoxov.

Also sie sind jetzt „auf Erden waltende heilige Dämonen, die das Übel abwehren, über den Menschen wachen und ihnen Reichtum verleihen: das ist ihr Königsamt". Mit den 30000 Wächtern, die Zeus über die Menschen gesetzt hat, um ihr sittliches Verhalten zu erspähen und zu berichten (v. 252ff.), mit denen eine späte Inter- polation (s. S. 175 Anm. 1) sie identifiziert, haben sie garnichts zu tun; vielmehr spenden sie freiwillig Reichtum und Segen, ohne Zutun der Menschen, denen sie wohlgesinnt sind. Somit ist klar, daß diese Dämonen des goldenen Geschlechts garnichts anderes sind als Kronos und die Titanen, d. i. die Erdmächte des Kronienfestes. Wie diese im Mythos, so lebten auch sie ehemals in der Welt des Lichtes, aber nicht als Götter im Himmel, sondern als glückselige Menschen; und so sind sie auch nicht in gewaltigem Kampfe in den Tartaros ge- stürzt, sondern „das Schicksal, das Todesloos ((.loTga) hat sie schließ- lich verhüllt" (von der Erdoberfläche entrückt); aber „sie starben wie vom Schlaf bezwungen" (116), sie sind sanft und schmerzlos ent- schlafen zu seligem Fortwirken in der Geisterwelt. So hat die doppelte Auffassung der Kronossage zu einer Zerlegung in zwei verschiedene Gruppen von Wesen geführt: dort Kronos und die Titanen, hier die seligen Erddämonen, die abgeschiedenen Menschen des goldenen Geschlechts.

Im Gegensatz zu dieser lebensvollen Schilderung ihrer Wirk- samkeit steht die Dürftigkeit dessen, was Hesiod über die Stellung, der Menschen des silbernen Geschlechts berichtet; und der Gegen- satz wird dadurch nur noch fühlbarer, daß der Eingangsvers je^es Abschnitts hier wiederholt wird:

ist im Kratylos nur xaliorTai für rfUd-ovotr, was rep gibt (die ufQömov statt i^*>^- riov bietet; ferner steht in einem Teil der Kratylosliandschriften vno-/,9-6rtoi für iniy&övioi). Die Vulgata ist: v. 121 yaia für,//orp' (s. U.S. 177 Anm. 2j, v. 122f. tü<

iikv daitioi is flai ^Jids usynXov Siä ßovlAe ia^Xoi hmyd'örioi (fiilanfS d^iijieuv drif'p(ii.i:(»t:

Ferner sind in den Handschriften v. 254 f. als v. 124 f. eingeschoben: oi' ^a filnaaovaii-

Tf (V/xnff xai oyiTlia l()ya i^ioa eoodiinoi, närrtj (fOiTwrTtk; In nlar, S. ilU Toxt;

Plutarch, Prolilos, Macrobius kennen diese Interpolation noch nicht, wie Rzach be- merkt.

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140 avTCLQ ircEL y-cu tovto yevog zard yat' ey^dlvipsv, Tol f.iBv vrtoxd-övioi /.läxageg d-vrjxoig i) xaXeovrcii öevTEQOi dkl' sf.i7rr]g rifirj xal roloiv ÖJtrjdeT.

Also „sie heißen Selige, die unter der Erde leben, und nehmen die zweite Stelle [nach den Dämonen des goldenen Geschlechts] ein; immerhin aber ist auch ihnen noch ein ehrenvoller Platz gewährt". Aber ihre Existenz ist völlig inhaltlos: in Wirklichkeit weiß Hesiod von ihnen garnichts zu sagen, und worin ihre riinq, ihre „Ehre" oder vielmehr ihre Funktion, besteht, darüber erhalten wir nicht die mindeste Andeutung. Es ist ganz klar, daß diese Wesen nicht dem Volks- glauben angehören, sondern eine nach dem Schema des goldenen Geschlechts gestaltete Erfindung des Dichters sind. Das einzige, was er von ihnen zu sagen weiß, ist, daß sie „unter der Erde" hausen, v7toyßövioL, während die Dämonen des goldenen Geschlechts „auf der Erde" walten, STCLyßövioi'^). Das ist eine für die Syste- matik sehr brauchbare Differenzierung; aber für die Religion und den Volksglauben hat sie garkeine Bedeutung. Denn die Erd- mächte hausen zwar in der Tiefe der Erde, aber ihre Wirkung zeigen sie an der Erdoberfläche, in dem, was sie aus der Erde heraus ans Tageslicht senden. Wesen, die auss'chließlich auf die unterirdische Welt beschränkt sind, können nicht auf den Menschen wirken und kommen daher für das religiöse Bewußtsein nicht in Betracht. Mit vollem Recht hat Hesiod daher den vjtoyS^övioi ^dxaQsg gar- keine Wirkung zugeschrieben: sie sind unter diesem Namen den Menschen bekannt, und das ist ihre riarj; das ist aber auch alles. Hesiod hat also, um sein Schema zu füllen, die Dämonen des goldenen Zeitalters, ursprünglich identisch mit Kronos und den Titanen, in zwei Gruppen geschieden: Reichtum spendende Erd-

1) Das ist eine, wie es scheint, evidente Konjektur von Peppmüller, die auch Rzach aufgenommen hat. Die Überlieferung gibt d-vrjroi, was i<aum verständlich scheint. Will man es halten, so muß man udxa^ss d-rrjTol mit Rhode (Psyche 94) als einen „Verlegenheitsausdruck" fassen, „selige Sterbliche" oder vielmehr „selige Todte".

2) Eben darum ist die Überlieferung der Handschriften über das goldene Ge- schlecht in V. 121 HaTa yaiit vialvxptv falsch und durch die bei Plato bewahrte xara Kolo' iy.älinptv ZU ersetzen; hätte die Erde sie verhüllt, so wären sie nicht ini/,d'örioc, sondern vnoyd-drioi. Beim silbernen Geschlecht dagegen wird die handschriftliche Lesung (eine Kontrolle aus älterer Zeit besitzen wir hier nicht) xarA yaia zAlvxpev richtig und die Variation Absicht sein: sie hausen eben unter der Erde.

Oraeca Halensis. 12

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mächte, die ihre Wirkung auf der Erdoberfläclfe entfalten, und unter- irdische selige Geister ohne irgendwelche Wirkung. Daß er so ver- fahren ist, wird weiter dadurch erwiesen, daß er in derselben Weise den Kronosmythus zerlegt, soweit er ihn in diese Erzählung aufge- nonmien hat: das goldene Geschlecht lebt zur Zeit der Herrschaft des Kronos, aber die Katastrophe der Titanen tritt nicht bei seinem Absterben ein, sondern beim Untergang des silbernen Geschlechts: Tovc; f^iev ijcsLxa Zevc, KQOviör]g e'y.QviliE yo/.ovuevoc:, mit der Motivierung ovvey.a rifidg ov'/. ediöov fuc/.dQSGOc O^soiC; ot"0?.vfi7rov e^ovoiv, in der der Gegensatz der Titanen gegen die Olympier beibehalten ist, wenn auch natürlich in anderer, durch die Erzählung notwendig ge- machter Wendung.

Was Hesiod von Leben und Sinnesart des silbernen Geschlechts erzählt, ist alles seine eigenste Schöpfung; das Leben des goldenen Geschlechts dagegen wird nach den Vorstellungen von der Zeit des Kronos geschildert: „sie lebten wie Götter ohne Sorgen, ohne Mühen (Arbeit) und Jammer; und auch das elende Alter war ihnen fremd, sondern immer gleichmäßig bleibend an Füßen und Händen ') er- götzten sie sich an Festschmäusen, frei von allen Übeln; sie starben wie vom Schlaf bezwungen; alles Gute ward ihnen zuteil: reichlich gab der Acker von selbst üppigen Ertrag, sie aber bestellten die Felder {egy' iveaovio) willig (eifrig, eO^slr^Lwi das Wort ist von hier aus in die Literatur gekommen) und in Ruhe (ohne Streit, fovyoL) mit vielen Edlen zusammen" -) denn obwohl die Erde alles von selbst gibt, kann Hesiod sich den Menschen doch nur als Bauern denken, der „eifrig" an die Feldarbeit geht, die ihm aber in dieser glückseligen Zeit keine Plage macht.

Das ist das Idealbild vom Menschenglück, wie es der Dichter in engem Anschluß an das Volksmärchen von Kronos und die Fest- bräuche der Kronien entworfen hat. Aber für ihn bedeutet es etwas ganz anderes, wie das Gegenbild vom silbernen Zeitalter lehrt, das er, als freie Schöpfung seines eigenen Nachdenkens, ihm gegen- überstellt. Wohl wäre es schön, das ist, was er lehren will, wenn

1) Es ist der alt gewordene Dichter, der diese Verse verfaßt hat; er hat das Schwinden der Körpcrkriifte und die Gebrechen des Alters an seinem Leibe selbst erfahren. Diese Stimmunj» geht durch die ganzen Hrga hindurch.

2) Der hier bei Diudor interpolierte SchlulJvers äfinoi m'y.oioi, (f/}.oi nnxäumoi O'ioioi ist törichter Weise in die moderne Zilhhmg als v. 120 aufgenounuen.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 179

das Menschenleben so gestaltet wäre, wie das Märchen es schildert ; und wir können uns ja vorstellen und ausmalen, daß es wirklich einmal zur Zeit des Kronos so ausgesehen hat: aber was ist die notwendige Folge davon? Die Degeneration, das Schwinden der körperlichen und geistigen Kraft, auf der doch allein die Existenz des Menschen beruht. Wenn es ein goldenes Zeitalter gegeben hat, so sieht die nächste Generation ganz anders aus, „ein weit schlechteres Geschlecht, dem goldenen weder in physischer Anlage noch in in- tellektuellem Vermögen gleichartig", ysvog tt.oIv xeiQÖTtQov, xqvaeq) oire cpvrjv evccXiyyAov oi're vöiqfxa. „Vielmehr hundert Jahre lang wurde der Knabe bei der Mutter zu Hause aufgezogen, ein zappeln- des Kind (dtälliov) ohne Verstand {i^tsya v't]7tiog). Und kam er end- lich zur Mannbarkeit, so lebten sie nur noch eine kurze Zeit, von Leid heimgesucht infolge ihres Unverstandes: denn sie waren nicht fähig, die Freveltaten gegeneinander zu vermeiden, noch waren sie gewillt, die Unsterblichen zu ehren und auf den heiligen Altären der Seligen zu opfern, wie es sich gebührt für die Menschen je nach ihren Wohnsitzen ')• So hat sie Zeus im Zorn verhüllt (aus- getilgt), weil sie den seligen Göttern des Olymp ihre Ehren nicht gaben." Wenn die Menschen des goldenen Geschlechts die Könige sind, so sind die des silbernen die Prinzen. Der Wohlstand und das üppige Leben, wo die Natur alles von selbst gibt und der Mensch nur zuzugreifen braucht, um zu genießen, führt zur Verweichlichung, zum Aufpäppeln der Kinder unter der überzärtlichen Pflege der Mutter, und weder die Körperkraft wird entwickelt noch der Verstand, der auch hier wie bei Sokrates und Plato und in aller richtigen Ethik in erster Linie eine sittliche Kraft ist, die dem Leben Halt und Maß gibt. Aber diese jungen Leute, welche die Schule des Lebens nicht durchgemacht haben, bilden sich ein, lediglich dem eigenen Gut- dünken folgen zu können, ohne Ordnung und Herkommen zu achten: untereinander geraten sie durch ihre Selbstsucht in Streit (:vßQLv ydg cndodalov ovv. eövvarro dllrjXiov diteyßiv), und von den Göttern und ihren Geboten wollen sie nichts wissen {ot^' d^avdrovg d-eQartEveiv fjd-£?.ov), weil sie selbst klug genug zu sein glauben. So müssen

1) /; d-£ffie avd-otÖTiois xarä rjd-ea. Das ist sehr hübsch und eine feine reli- gionsgeschichtliche Beobachtung Hesiods; aller Kult ist lokal und daher nach den Wohnsitzen verschieden.

12*

180 E- Mever

sie zugrunde gehen: Zeus erfüllt ihr Geschick, sie sind für das menschliche Leben unbrauchbar.

Jetzt verstehen wir, was Hesiod geben will: durchaus nicht Sagen- geschichte, sondern Betrachtungen über die Bedingungen und Auf- gaben des menschlichen Lebens. Gekleidet sind sie in die Form einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit, und diese entnimmt ihr Material der überlieferten heiligen Geschichte, die der Dichter jedoch, hier wie immer, von Grund aus umgestaltet, damit sie seinen Lehren (oder seinem religiösen Weltbilde) dienen kann. Dadurch erhält seine Dichtung und sein Gedankensystem ein theologisches Gepräge; und damit gerät sie in die Widersprüche, denen jedes theologische System anheimfallen muß, welcher Religion es auch angehören mag, da es zuletzt doch immer wieder in die Über- lieferung ausmünden muß; mag es dieselbe auch noch so sehr kor- rigieren und umdeuten, eben dadurch bekennt es, daß es doch an sie gebunden ist. Die Widersprüche, in die Hesiod sich verwickelt hat, und die Art, wie er sich aus ihnen herauszuwinden versucht, haben wir zum Teil schon kennen gelernt; ein weiterer und einer der ärgsten ist, daß er den Taugenichtsen des silbernen Geschlechts nach ihrem Tode nun doch noch eine wahrlich ganz unverdiente Belohnung geben muß, weil er sie aus den seligen Dämonen des goldenen Zeitalters abgezweigt hat. Dieser innere Widerspruch ließ sich bei der Anlage, die er seiner Erzählung gegeben hat, nicht ver- meiden: wir müssen ihn, wie der Dichter selbst, als den Willen des Zeus hinnehmen.

Zeigt das erste Paar die Entwicklung einer nicht durch eigene Kraft, sondern durch ein gütiges Geschick verliehenen materiellen Kulturblüte zu physischer und psychischer Degeneration und damit zum selbstverschuldeten Untergang, so zeigt das zweite Paar, wie der umgekehrte Gang, die aufsteigende Entwicklung von roher physischer Kraft zu hoher geistiger Kultur, nicht minder zur Entartung führt, die den Untergang zu bereiten droht, aber zu einer Entartung, die nicht auf Erschlaffung, sondern vielmehr auf Steigerung der geistigen Kräfte beruht und darum nur um so ärger ist. Während das erste Paar ein Phantasiebild ist, welches anschaulich macht, wie unmöglich und unausführbar die Träume sind, die der Mensch in den Nöten des Tages als ersehntes ideal sich ausmalt, und zu welch verderb- lichen Konsequenzen sie in Wirklichkeit führen würden -die Menschen-

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 181

natur ist, durch den Willen der Götter, nun einmal anders ge- artet, als diese Träume voraussetzen ■, so handelt das zweite Paar von den wirklichen, jetzt lebenden Menschen und von ihrer geschichtlichen Entwicklung. Eben darum kann der Dichter hier die Erzählungen benutzen, welche von ihren früheren Zuständen und ihrer Entstehung umlaufen. Die Menschen des dritten, ehernen Ge- schlechts, „dem silbernen in Nichts gleichartig", hat Zeus aus Eschen gebildet 0, „furchtbar und gewaltig: ihre Beschäftigung sind Kriege und Gewalttaten ('AQ-qog i'^yu orovöevia yml vßQisg); nicht aßen sie Korn (d. h. sie haben keinen Ackerbau, wie die Menschen des gol- denen Geschlechts), sondern hatten den harten Sinn des Stahls, un- nahbare (?) Wesen '^). Große Kraft und unantastbare Arme waren ihnen aus den Schultern gewachsen auf dem wuchtigen Leibe. Von

1) Hier ist der alte, sonst fast verscliollene Vollisglaube benutzt, daß die ersten Menschen als Früchte auf den Bäumen, und zwar speziell den Eschen, gewachsen sind, Hesych. ueXias xägnos' rd Töjp avd'Qcönojv yiroe ^ offenbar Erläuterung eines Dichterzitats. Schol. AT zu X 127: die Alten hielten die Menschen für //e^.<>?/«'£'rt?.

Palaeph. C. 36 rd no&Tov yevos äroy&sv ix. fisliöiv yfveod'ai (paaiv. Die Ergänzung

dazu bietet, wie in vielen anderen Volkssagen (auch bei den Israeliten), die Ent- stehung aus dem Fels (vgl. die Deukalionsage). Davon unterhielt man sich in

Märchen: daher Od. r 163 ov yno Anö BqvÖ'S eaai Tialai^dj ov ovS' öltzö neTorjG

(benutzt von Plato apol. 34 d und rep. VIII 544 d). II. A' 126 ff. sagt Hektor von

Achill: ov fiiv Ticos vvv sanv dnd S^vds ovÖ' ä.7id nsror^s thj öapi^eusraij äre naQ- d'sros ^[d'sös Tf, nag&Bvos ^[9'söq r daoi^erov allriloiiv. Die gleiche aus dem

Schwatzen über solche Volksmärchen hervorgegangene Redensart verwertet Hesiod in der Theogonie 35 in dem Verse, der m. E. in der ursprünglichen, später vom Dichter überarbeiteten Fassung den Übergang vom Prooemion zur Erzählung bildete:

alJ.a riiq hol ravra neoi S^vv rj Tiegi neTQrjv , d. h. was SChwatze ich hier VOn gleich-

giltigen Dingen, wo ich meine große Aufgabe, die Entstehung der Welt darzulegen, zu erfüllen habe! Meines Erachtens sind sowohl die Nvmpai, us J/fA/'as xaliova' in a-nelQova yaZav theog. 187 SO ZU erklären (aus den Blutstropfen der Scham des Uranos entstehen einerseits die Erinyen, andrerseits die beiden Geschlechter, welche die Erde bevölkern, die Giganten und die durch ihre Erzeuger, die Eschennymphen, repräsentierten Menschen, vgl. schol. in rovroiv ^v rd n^wTov yivos röjv ävd-ownorv), wie die fifliat. oder ni'uoi in der Prometheusgeschichte theog. 563, wo Zeus oük iSlSov fttlir]oi [var. iielioiai] nvoös uivos äxat/äroio. Hesiod hat diesen Vers aus der poetischen Vorlage übernommen, die er überarbeitet, und erläutert ihn im fol- genden Vers durc hß-vt^rols ard-oiönvis, ot ini y^&ovi vaisrdovatv (vgl. 0. S. 166 Anm. 1).

Daß er das rätselhafte Wort richtig gedeutet hat, kann kaum bezweifelt werden (vgl.

schol. iielloiai' rJTot rols av&^wnote, r) Sri Ix Meltwv iyivovro JVv.u^wv, ij Sri yevrcti- iifvoi ioglmovTo V7i6 razs iieliais, 3 iari Sir^oois das ist natürlich eine Umdeutung der Erzeugung durch die Eschen und die Eschennymphen); alle andern zum Teil äußerst gesuchten Erklärungen, welche die Neueren aufgestellt haben, erscheinen mir gänzlich unmöglich.

2) Die Bedeutung von änlaaroi ist bekanntlich ganz unsicher.

182 E. Meyer

Erz waren ihre Waffen, von Erz ihre Häuser, von Erz ihre Arbeits- geräte {xalY.iü ö' elgyätovro)', das schwarze Eisen gab es damals noch nicht. Und so sind sie von ihren eigenen Händen bezwungen in das weite Haus des schaurigen Hades gegangen, namenlos; so schrecklich sie waren, so hat doch der schwarze Tod sie gepackt, und sie mußten das glänzende Sonnenlicht verlassen."

Es sind die Überlieferungen über das heroische Zeitalter, welche die Farben zu diesem Bilde gegeben haben: das war eine Zeit selbstherrlicher, mächtiger Männer, mit ununterbrochenen Kämpfen, und in diesen Kämpfen hat schließlich das Heroengeschlecht seinen Untergang gefunden. Mit vollem Recht hat ein späterer Dichter Worte der Schilderung Hesiods auf Herakles und lolaos übertragen (Aspis 75 f.). Aber es ist nur die eine Seite der Heroenzeit, die Hesiod für seine Darstellung brauchen kann: er will die vernichtende Gewaltsamkeit einer rohen kriegerischen Generation schildern, da kann er von dem Adel der Heroen, ihrem Zusammenleben mit den Göttern und dem seligen Geschick, das ihnen nach dem Tode zuteil geworden ist, nicht reden. Andrerseits aber konnten in einer ge- schichtlichen Skizze der Entwicklung des Menschengeschlechts die Heroen unmöglich fehlen. Hesiod hilft sich, indem er auch hier, wie beim goldenen und silbernen Geschlecht, die Überlieferung zerlegt: von dem „gerechteren und besseren göttlichen Geschlecht der ävöoic: rQcoec, die Halbgötter genannt werden", und die teils in den Kämpfen um Theben und Troja den Tod gefunden haben, teils von Zeus fern von den Menschen am Ende der Erde auf den Inseln der Seligen am Okeanosstrom angesiedelt sind '), scheidet er die

1) Über die Einschiebung von v. 169, der den Kronos hier regieren läßt, s. o. S. 173 Anm. 1. Ich bemerke, daß das bis auf einen kleinen Schreibfehler ganz richtig über- heferte Scholion des Proklos von Schoemann, Rzach u. a. ganz seltsam mißver- standen und korrigiert ist. Es lautet (zu V. 169 rrilov An dd-ardreop- roTatf KoöroS iußaai'/.evei)' rovTov xai rdv e^rjs {!>£ (f).rjva(fM)SfiS d^oix/^ovoi rcüv HaiöSov , rd re Al),a (pav),iL,ovTfS xai rd ird'ovaiaariy.dv rfji riaßoXrjs rüir uer avTovs orr/ott' d<faoili'

flTTArTfs (codd. tinöiToi oder ändvTos), d. h. die Philologen verwerfen die beiden Verse, weil sie auch sonst Anstöße bieten und weil sie mit dem enthusiastischen Charakter des folgenden Abschnitts 174ff. urjy.iT'' innr^ lo^fUor xrl. in Widerspruch stehen, wie im Fortgang des Scholions ausdrücklich erläutert wird. Sie ließen also auf

V, 168 unmittelbar V. 171 folgen: Ztvs K^oriSr)« xajiraaas nar^^ is nfioara yaiije,

in itaxäofov iTjaoiat nap' 'iJKtai'dr ßaO-vüivtji- und schieden dazwischen V. 169. 170

aus {rrjlov An dd'aidTaiv' roXoii' KpöroS iußaailtvet. xai toi ii&r raiovaif dxrjSiit ih'iidt' F/ovTes).

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 183

Menschen des ehernen Geschlechts, die „namenlos" (vwvv^ivot) in den Hades gefahren sind, d. h. die nicht wie das goldene, silberne und Heroengeschlecht als selige Mächte im Volksglauben fortleben, sondern verschollen sind. Natürlich durchbricht diese Einschiebung dasvomDichtergeschaffene Schema und damit zugleich die absteigende Linie fortschreitender Degeneration; aber er war eben in einer Not- lage, der er, der systematisierende Bearbeiter der Überlieferung, sich am wenigsten entziehen konnte. Trotz aller Erfahrungen, die wir über die von der pedantischen Gleichmacherei der Philologie des 19. Jahrhunderts in den alten Autoren angerichtete Verwüstung ge- macht haben, kann man es doch kaum begreifen, daß Kirchhoff die Heroen für eine sekundäre Einlage in das Gedicht von der Folge der Menschenalter erklärt hat, das er im übrigen natürlich gleich- falls dem Hesiod abspricht und einem Interpolator zuweist.

Für das eigentliche Schema des Dichters kommt das Heroen- geschlecht allerdings nicht in Betracht; er würde es nie eingelegt haben, wenn er nicht durch die Überlieferung dazu gezwungen gewesen wäre. Aber da er es nun einmal aufnehmen mußte, hat er es keines- wegs nur äußerlich in die Folge der Metallzeitalter eingeschoben, sondern in ganz genialer Weise aus der Not eine Tugend gemacht. Erst bei Plato wieder finden wir Gedanken von demselben tiefen Ein- blick in das Wesen des Menschendaseins und die Bedingungen menschlicher Entwicklung. Die rohe Körperkraft und das wilde Draufloshauen des ehernen Geschlechts führt zum Krieg aller gegen alle, und damit zum Untergang. Die Heroen besitzen die gleiche physische Kraft und kriegerische Leidenschaft; aber hier ist sie gemildert durch die dr/.caotrvvr] , den Sinn für die soziale Ordnung, welche die Menschen aneinander bindet. So stehen sie sittlich und kulturell weit höher; ein idealer Zustand durchbricht die absteigende Entwicklungsreihe. Das gibt die Hoffnung mit Recht hebt Proklos das in diesem Zusammenhang hervor , daß auch auf die furcht- baren Zustände des gegenwärtigen eisernen Geschlechts wieder eine bessere Zeit folgen kann, eine Hoffnung, die der Dichter in v. 175 (?; eneiTcc yeveo^ai) andeutet. Aber Bestand hat dieser Zustand nicht. Die Sinnesart der Heroen kann sich in der fortschreitenden Ent- wicklung nicht behaupten, sondern wird erstickt durch die Tendenzen, die im folgenden Geschlecht, dem eisernen, zur Herrschaft gelangen. Die Männer, welche versucht haben, kriegerische Tüchtigkeit mit

184 E. Meyer

Gerechtigkeit zu verbinden, sind entweder im Kampf um Theben und um Troja gefallen oder von der Erde entrückt: sie gehören der Phantasicwelt an, der Welt der Ideen, und hier führen sie „fern von den Menschen" ein seliges, sorgenloses Dasein wie die Wesen der Wunschwelt des goldenen Geschlechts i)-

Die kulturgeschichtliche Entwicklung vom ehernen zum eisernen Geschlecht besteht keineswegs in einer Steigerung der physischen Gewaltsamkeit, wie es der Fortgang vom weicheren zum härteren Metall erwarten lassen könnte; sonder« der Dichter blickt auch hier viel tiefer in das innerste Wesen menschlicher Entwicklung. Bloße Körperkraft und ungezügelte kriegerische Gewaltsamkeit führt zur Selbstvernichtung, der Versuch, durch Unterordnung unter die Ge- rechtigkeit einen Ausgleich zu finden, hat sich nicht behaupten können: der weitere Fortschritt, durch den die Menschen der Gegen- wart existieren, liegt auf intellektuellem Gebiet. Dieser intellektuelle Fortschritt bändigt allerdings die ursprüngliche Wildheit; aber er dient lediglich dem skrupellosen Egoismus, der dadurch nicht ein- geschränkt wird wie es die Heroen versucht haben , sondern vielmehr noch gewaltig gesteigert, so daß das Leben noch viel un- seliger wird als in dem rohen Naturzustande des ehernen Geschlechts, dem doch, so dürfen wir hinzusetzen, wenn sie auch döäfiavTOQ i'/ov ■/.QUTeQö(fQovc( dvßöv, immcr noch eine gewisse Gutmütigkeit an- haftete, wie sie ungeschlachten Riesen eignet. Kulturfortschritt (der äußerlich in der Ersetzung des Erzes durch das Eisen zutage tritt) ist zwar Entwicklung der intellektuellen Kräfte des Menschen, aber zugleich moralische Zersetzung, Auflösung aller geheiligten Bande das ist die Entwicklung des eisernen Geschlechts. So gibt es für den schlichten ehrlichen Menschen, wie Hesiod, nichts als Not und Elend: „O daß ich doch nicht zu dem fünften Männergeschlecht

1) Weiter auf den Abschnitt über die Heroen können wir hier nicht eingehen, so interessant und lehrreich er im übrigen sagengeschichtlich ist. Nur darauf sei hingewiesen, daß die Scheidung, die der Dichter in der Überlieferung über die TXQOTiQT] '/fveTj (v. 160) vorgenommen hat, sachlich vollkommen berechtigt ist und sich in der Hauptsache durchaus mit unserer wissenschaftlichen Betrachtungsweise deckt. Die Traditionen über die Heroenzeit setzen sich in der Tat aus zwei ganz verschiedenartigen Elementen zusammen: einerseits der geschichtlichen Über- lieferung über die gewaltigen Kämpfe der Vorzeit, historischen Sagen, andrerseits Erzilhlungen, die aus dem Kultus der Götter und gottartiger Wesen erwachsen sind, religiösen Mythen: und diesem doppelten Ursprung entspricht in allem wesentlichen die Scheidung Hesiods.

Hesiods Erga und das Gedicht von den Tünf Menschengeschlechtern. 185

gehören müßte, sondern entweder vorher gestorben oder später ge- boren wäre! Denn jetzt ist das eiserne Geschlecht; und nie wird Mühsal und Jammer aufhören sie zu plagen, bei Tag und bei Nacht, sondern schwere Sorgen werden die Götter über sie verhängen. Aber trotzdem wird auch bei ihnen Edles dem- Schlechten beigemischt sein" dieser Vers (179) kann unmöglich getilgt werden, wie Lehrs und ihm folgend Rzach wollen i): denn sonst müßte er ja auch sich selbst verdammen. Vielmehr hofft er, daß auch andere, und darunter sein Bruder, wenn er Rat annimmt, sich als edel erweisen werden (vgl. auch V. 190f.), ja die Hoffnung ist doch nicht ganz ausge- schlossen, daß diese Elemente schließlich das Übergewicht erhalten, daß es einmal wieder besser werden wird (v. 175, s. o.), mag die Aussicht dazu auch noch so gering sein in der Tat ist die griechische Entwicklung ja so gegangen. Aber gegenwärtig ist das Unheil noch in vollem Fortschreiten, und wenn es so weiter geht, muß auch dies Geschlecht zugrunde gehen. Daher erhält die ge- samte Schilderung den Charakter einer Prophezeiung: in den Zielen, auf die sie hinausführen muß, treten die Tendenzen zutage, welche die Entwicklung der Gegenwart bestimmen. „Zeus wird auch dies Geschlecht vernichten, wenn die Menschen mit grauen Haaren zur Welt kommen." Das ist der Charakter unserer Zeit, die Altklugheit, die Frühreife, bei der die Gelbschnäbel unendlich weiter sind als ihre Väter, ganz im Gegensatz zum silbernen Zeitalter, das in blasierter Verdummung zugrunde ging. „Väter und Söhne werden sich nicht gleich sein, noch Gastfreund dem Gastwirt, noch Genosse dem Genossen, noch wird der Bruder ein Freund sein, wie ehemals" gesteigerte Individualisierung und rücksichtsloser Egoismus sind die Ergebnisse des intellektuellen Fortschritts: die homogene Ordnung der mittelalterlichen Welt zersetzt sich, und die Einzelpersönlichkeit mit ihren Ansprüchen macht sich geltend. „Da werden sie schnell aufhören, die altwerdenden Eltern zu ehren, sondern mit harten Worten räsonnierend 2) ihnen Vorwürfe machen, die Frevler, die nichts mehr

1) Gänzlich unverständlich ist mir, weshalb sie auch die beiden folgenden Verse streichen.

2) yalendi? ßät,ovTfs iniaoi. Die Variante ßä^ovr^ sTzeeaai, der auch Tzetzes folgt und nach der die Eltern den Söhnen Vorwürfe machen würden (ßä^orre, rd Övixdi- di'Tl rov Txlru'f-vvTixov) , ist Völlig unhaltbar und widersinnig, obwohl natür- lich auch sie Verteidiger gefunden hat.

186 E. Meyer

von Gottesfurcht wissen: ja sie werden nicht einmal mehr den greisen Eltern den Lohn für ihre Pflege d. i. das Altenteil geben ')• Da wird man dem, der einen wahrhaften Eid schwört, nicht mehr Dank wissen, noch dem Gerechten und Wackeren" die Erinnerung an den Prozeß Hesiods mit Perses klingt hier wie sonst durch , „sondern eher wird man einen Bösewicht und Frevler ehren; das Recht liegt in den Händen" aber nicht wie im ehernen Zeitalter in roher Kraft, sondern in heimtückischer Gewalttat „und Scham (Ehrgefühl) wird es nicht mehr geben; der schlechte wird den besseren Mann mit schiefen Redensarten betrügen und sie durch einen Meineid bekräftigen. Da wird der auf schlechte Wege führende, am Bösen sich freuende Neid (l'i^Aoc, der falsche Wetteifer oder die schlimme Eris V. 11 ff.) aller der unseligen Menschen Genosse sein mit seinem verhaßten Antlitz (oTvysQdjTrr^g)" d. h. ein brutaler Egoismus be- herrscht alle Menschen. Damit ist das Ende da: „und alsdann werden zum Olymp gehen 2), fort von der weitstraßigen Erde, ihren Leib verhüllend in weiße Gewänder (vgl. v. 220f.), zum Geschlecht der Unsterblichen, die Menschen verlassend, Scham und Vergeltung" u4idü)c: YML Ne/iifGic, das Ehrgefühl, welches von Freveltaten abhält, und die Strafe, welche den Menschen gibt, was ihnen gebührt, wenn sie doch freveln, die beiden Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft und ihrer sittlich-rechtlichen Ordnung, alötbg und öeog bei Aeschylos in den Eumeniden und bei Thukydides in der Leichenrede. Damit „werden (nur noch) all die traurigen Leiden bei den sterblichen Menschen zurückbleiben ; gegen das Böse wird es keine Schutzwehr mehr geben."

Das ist das Bild vom Menschenleben und seiner Entwicklung, welches Hesiod entworfen hat. Fassen wir es noch einmal zusammen. Zwei Gestaltungen sind denkbar. Das eine sind friedlich und fröhlich genießende Menschen, denen die Natur alles von selbst gibt. Aber das ist eine Utopie, und würde dies Wunschland zur Wirklichkeit, so würde es nicht von Dauer sein, sondern zur physischen und psychischen Degeneration führen, ein Geschlecht erzeugen, das nicht

1) Der folgende Vers 189 -/^noot^ixar i'rfoo» tV iTigov Tiöhv ila'f.aTxn^fi hat

weder nach vorn noch nach rückwärts Anschluß, sondern unterbricht den Zusammen- hang durch ein fremdes, nirgends weiter berücksichtigtes Moment. Er wird daher in der Tat mit Hagen und Rzach auszuscheiden sein.

2) iTov ist natürlich die allein richtige Lesung, nicht hrjr, was ein Teil der Handschriften bietet.

Hesiods Erga und das Gedicht von den fünf Menschengeschlechtern. 187

bestehen kann. Das andere ist das Menschenleben, wie wir es in Wirklichkeit kennen, wie Zeus es gestaltet hat: ein starkes, kriege- risches Geschlecht, voll Kraft und Selbstbewußtsein. Aber im rohen Naturzustande kann es sich nicht behaupten, da muß es im Kampfe aller gegen alle zugrunde gehen; es besteht weiter nur durch Steige- rung des Intellekts, die geistigen Kräfte des Menschen sind höher und stärker als die physischen. Aber der Versuch, diese Kräfte unter die Idee der Gerechtigkeit, der sozialen Ordnung zu beugen und dadurch einen erträglichen Zustand zu schaffen, schlägt fehl, seine Vertreter gehen zugrunde oder entschwinden ins Märchenland. Da- gegen die Steigerung der Intelligenz schreitet fort und wird fort- schreiten, bis die Menschen mit grauen Haaren zur Welt kommen; aber sie setzt sich hinweg über alle sittlichen Schranken und erzeugt so einen weit schlimmeren Zustand als den der brutalen körperlichen Gewalt, die Herrschaft von List und Betrug und Meineid, den Sieg des Unrechts über das Recht, der von den klugen Leuten nicht ver- abscheut, sondern bewundert wird. So führt die Entwicklung zu einem gesteigerten Elend, bis auch dieses Geschlecht zugrunde gehen muß, nicht mehr durch Schlaffheit oder durch Roheit, sondern durch Unsittlichkeit, das Ergebnis der ständig fortschreitenden Kultur.

Und nun die Moral, die Perses sich daraus entnehmen soll (v. 107)? Mit dem Traum, daß die Erde alles von selber gäbe, daß man ge- nießen könne, ohne zu arbeiten, ist es nichts (vgl. v. 42ff., o. S. 163); der Weg aber, den du gehst und den deine Genossen und die Machthaber bewundern, mit denen du auf gutem Fuß stehst, führt mit Notwendigkeit ins Verderben, aus ihm erwächst das fortschreitende Elend unserer Zeit. So bleibt nur eins: willst du dich als anständiger Mensch im Leben behaupten, so erkenne seine sittliche Ordnung an, trotz alledem, .füge dich den Gesetzen der Aiöibg und der Nef^eaig, des Ehrgefühls und des Rechts, und beschreite den einzigen Weg, den Zeus den Menschen offen gelassen hat: den der ehrlichen, ge- wissenhaften Arbeit. Es ist der große Prophet des sittlichen Adels der Arbeit, der hier, wie in dem ganzen Gedicht, zu uns redet.

Harvard University, d. 12. November 1909.

Cambridge Mass.

Die attische Periegese von Hawara

von

Ulrich Wilcken

Nur der Wunsch, im Kreise der Graeca Halensis bei der Be- glückwünschung ihres xr/ffr/jc nicht zu fehlen, hat mich bewegen können, die folgende Untersuchung trotz ihres unfertigen Zustandes schon jetzt hinauszugeben. Von dringenden Pflichten auf anderen Gebieten festgehalten, übergebe ich sie der Öffentlichkeit in der Hoff- nung, daß Andere womöglich unser hochverehrter Jubilar selbst die noch offen gelassenen Fragen ihrer Lösung zuführen mögen..

Vor 20 Jahren fand Flinders Petrie bei Hawara also nicht weit vom ägyptischen Labyrinth neben anderem auch griechische Papyri. Es bleibt das Verdienst von Sayce, der die Behandlung dieser Texte für Petries Publication i) übernahm, auf die besondere Wichtigkeit von Nr. 80 und 81 sogleich hingewiesen zu haben, wenn auch seine Deutung des Textes sich nicht bewährt hai. Ich gebe das von ihm aufgestellte Problem am besten mit seinen eigenen Worten wieder, zumal die Publication schon seit längerer Zeit ver- griffen ist. Sayce schrieb auf S. 28:

„The most impoitant of the fragments are two (Nos. 80 and 81) which come from a lost history of Sicily, perhaps that of Timaios. The text is written in very small bat finely formed capitals, and the beginnings of the first thirty-foiir lines of the second coliimn are fairly well preserved. They nin as follows:

1. . . . V Gv^7t\avr8c\ . . .

2. ... egls . . wt(?) . . .

3. ... €7tl TtQ . . .

4. ... ifxev . . .

5. ... reg a7r[o] ...

6. A(?)i;(?)w €7t€oi . eg . . rj^iiov . . .

7. r]T £/t . . .

8. vecoaoixog ftf:QL . . . v . . [u£ar]{.i]

1) Flinders Petrie, Hawara, Biahmu and Arsinoe London 1889.

192 U. WiLCKEN

9. ßQiav iOQokoyiov . . .

10. 0^(0 . . . €7rißaXkeiv sy.cig . . .

11. rov TjAijojv 6v de rt] uovv[j]] . . .

12. ßorfiov SOTLV ag /r (SIC) f.1 tag ...

13. rerei . . . coi^iov fxev etriQ) . . .

14. au . . . Tov agagi?) . . . f^ir]öi . . .

15. (f . . . CiQccg Tag ai.i(?)aTi(?) . . .

16. xov . . . rjloywT 10 (SIC) . . .

17. y.axrjyayevro av^iTt^avtBg^ . . .

18. eiog reixog sv €vt] . . .

19. •xlsuaig ra Juovi 7C . . .

20. oetog SQ[y\ov oi u£r[a] . . .

21. [Ta]QaxovTag ra öv . . .

22. Ttsvsxovrai reix . .

23. voTitoL . . . xQ)elr] aQ)av . . .

24. ov'x cc?.o . . . u . . .

25. TT^g EvQCorrr^g sv . . .

26. ^tx{s'ic)6?Aav 7CQ0 rja . . .

27. x{siC)ovTa aTadiov[c] . . .

28. To avfiTtav rer/olg] ...

29. Ö£xa Öeovtojv . . .

30. (hjGsog SQyov r]TCOv(?) . . .

31. ... IIEV)] . . .

32. . . . [ffjiirw/. . . .

33. . . . U6V . . .

34. ... va . . .

The text seems to contain a description of the fortifications

of Syracuse, and the mention of Diön shows that it could not have come from the pen of Philistos or Athanis, whose histories were continiied hy Timaios.''

Noch in demselben Jahre 1889 übersandte ich von Breslau aus Adolf Trendelen bürg eine hiervon abweichende Deutung des Textes, die er die Güte hatte der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin in der Novembersitzung vorzulegen ')• Davon ausgehend, daß jiiovv in 11 hier nicht anders als lIovv[r/Jo: ergänzt werden könne,

1) Archäologischer Anzeiger. Beibhitt z. Jalirbuch d. archüol. Instituts, I\' 1889 S. 153 ff. Vgl. Berl. phil. Wochensclirift 1889 S. 1546 ff.

Die attische Periegese von Hawara. 193

vermutete ich : 'Ev de rij Movv[iyJa öict]ßör]TÖv iariv ^AQ(te)^i(do)g [IsQöv 7teQi]TeTSL\xi\{ofx£v)ov. Durch weitere Konjel^turen wie Ilsi- QaL\£cog in 18, üraöuov in 19 und orad in 21, G(x)elrj in 23 Qr]as(cü)g in 30, zu denen Hermann Diels evsvi'jlyiovra in 18 und [T£Goa]Qa- y.ovra in 21 hinzufügte, kam ich zu dem Ergebnis, daß „das Petriesche Fragment nicht aus einer sizilischen Geschichte, sondern aus einer attischen Periegese stammt, die uns in dem hier erhaltenen, sonst verlorenen Passus vom Piräus nach Munichia und von dort zu den langen Mauern führt.'- Den Schlußstein bildete die Bemerkung von Ernst Curtius in jener Novembersitzung, daß mit ^ixelia in 26 der Hügel bei Athen, südlich vom Museion, gemeint sei.

Mit diesen Konjekturen ist der Text dann von Milchhöfer unter die „Schriftquellen zur Topographie von Athen" in E. Curtius' „Stadtgeschichte von Athen" 1891 p. CXX (vgl. p. VIII) aufgenommen worden, i) Aber abgesehen von den Vermutungen, die C. Haeberlin über Text und Autor ausgesprochen hat (s. unten S. 200. 220) 2), ist mir eine weitere Behandlung des Textes nicht zu Gesicht gekommen.

Da meine Interpretation nur auf konjekturalem Wege gewonnen war, habe ich mir bald darauf eine Photographie der Fragmente verschafft, die mir die Richtigkeit der Konjekturen bestätigte, doch kam meine Absicht, auf Grund der Photographie den Text neu zu behandeln, nicht zur Ausführung. Erst neuerdings wurde ich durch die Arbeiten von J. G. Mi Ine, der eine Neuausgabe der Urkunden von Hawara vorbereitet, wieder auf dieses Problem ge- führt, und durch seine freundlicheVermittlung erhielt ich von Flinders Petrie das Original zugeschickt. Es ist mir ein Bedürfnis, auch an dieser Stelle Herrn Flinders Petrie für diese große Liberalität meinen herzlichen Dank auszusprechen. Wenn die Photographie mich auch schon in einigen Punkten weiter geführt hatte, so habe ich doch manche wichtige neue Lesung wie z. B. Zeca in 7 erst am Original gewinnen können. Das Original war hier um so notwendiger, als der Papyrus an mehreren Stellen noch der Glättung und Ordnung der Fasern bedurfte. Was ich bisher mit aller nur möglichen Anstrengung meiner Augen habe entziffern können, teile ich im folgenden mit. Abgeschlossen ist die Lesung ebenso-

1) Auch Judeich, Topographie von Athen S. 11 weist auf ihn unter den Quellen hin.

2) Centralblatt für Bibliothekswesen XIV (1897) S. 355 f.

Graeca Halensis. 13

194 U. WiLCKEN

wenig wie die Deutung. Es sind manche Stellen ungelesen ge- blieben, die man gewiß wird lesen können, wenn man mit der rich- tigen Vermutung an sie herantritt. Aber ob die Vermutung zu- treffend ist, wird in ganz schwierigen Fällen nur am Original, auch nicht an der Photographie, festgestellt werden können, denn an den mit Punkten auf der Linie bezeichneten Stellen sind Schriftspuren erhalten, die sich nicht beschreiben lassen, und die auch in der Photographie kaum zu erkennen sind. Ich bin jederzeit mit Ver- gnügen bereit, mir mitgeteilte Textvorschläge am Original auf ihre paläographische Möglichkeit hin zu prüfen solange Herr Flinders Petrie mir noch gestattet, das Original bei mir zu bewahren.

1. Die Handschrift.

Dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn Verlegers ver- danken wir die beigefügte Tafel, die dem Leser besser, als eine Beschreibung es könnte, eine Vorstellung von der Handschrift gibt. Der Text steht auf der durch die Horizontalfasern als Recto ge- kennzeichneten Seite einer Rolle, die auf der Rückseite unbeschrieben geblieben ist wie man daraus schließen muß, daß die Fragmente mit der Rückseite auf Pappe aufgeklebt worden sind.

Die Schrift ist zwar keine reine Unziale, sondern weist eine ganze Reihe von Ligaturen auf; trotzdem ist sie so sauber und sorg- fältig geschrieben, daß die Handschrift im ganzen doch entschieden den Eindruck eines aus dem Buchhandel stammenden Exemplares erweckt. Im besonderen mache ich darauf aufmerksam, daß, wie Kol. I von Nr. 81 zeigt, der Schreiber am Schluß der Zeilen das Füllzeichen 7 verwendet hat, da wo die Zeile sonst um einen Buch- staben zu kurz gewesen wäre. Die Zeilenschlüsse sollten also in der Regel genau untereinander stehen, wenn auch gelegentlich ein- mal etwas darüber hinausgegangen wird. Das ist aber immer ein Zeichen für eine sehr sorgfältige Handschrift.

Daß die Schrift nicht der Ptolemäerzeit, sondern der Kaiserzeit angehört, darin werden alle Sachverständigen übereinstimmen. Schwanken kann man wohl nur zwischen dem I. und II. Jahrh. n. Chr. Ich würde, namentlich wegen gewisser Eigentümlichkeiten des T, mich eher für die frühere als die spätere Datierung entscheiden, be- schränke mich aber darauf, den Text rund um 100 n.Chr. an- zusetzen.

Die attische Periegese von Hawara. 195

Daß die beiden Fragmente zu derselben Handschrift geliören, hat schon Sayce erkannt und wird durch die Photographie be- stätigt. Über ihr Verhältnis zueinander ist es mir leider nicht ge- lungen, zu einem festen Resultat zu kommen. Auf den ersten Blick liegt die Annahme nahe, daß Nr. 80 zu derselben Kolumne gehört wie Kol. I von Nr. 81. Ich habe alle möglichen Kombinationen ver- sucht, habe aber keine evidente gefunden. Die Ähnlichkeit der unteren Ränder spricht dafür, daß diese bei geschlossener Rolle auf- einander gelegen haben. Danach würde Z. 1 von Nr. 80 in der Höhe von Z. 3 von Kol. I Nr. 81 liegen. Einen evidenten Zusammen- hang zwischen Nr. 80 und Kol. I Nr. 81 habe ich auch unter dieser Annahme nicht gefunden. Ebensogut kann aber Nr. 80 eventuell in dieser Höhenlage auch zu einer der früheren oder späteren Kolumnen der Rolle gehört haben. Im übrigen ist die Schrift der beiden Fragmente, wie ich erst zuletzt beobachtete, nicht absolut identisch. Einen Unterschied sehe ich bei Y: in 81 zeigt es oben rechts mehr Rundung, eventuell Schleife, während es in 80 mehr in einen geraden Strich ausläuft. Hiernach wird man 80 von 81 I trennen müssen Hat beides dieselbe Hand geschrieben, so wird doch einige Zeit, d. h. einige Kolumnen, dazwischen liegen. Da ich somit zu keinem festen Ergebnis gekommen bin, so habe ich das Hauptfragment Nr. 81 im folgenden an die Spitze gestellt, weil wir durch dies allein auf festen Boden kommen, und lasse Nr. 80 als fragmentum incerti loci folgen.

Unsicher gelesene Buchstaben sind durch untergesetzte Punkte, unvollständig erhaltene durch untergesetzte Striche gekennzeichnet.

2. Der Text.

Nr. 81 Kolumne 1.

Ich beschränke mich darauf, die Zeilenschlüsse nebeneinander zu stellen, soweit ich sie habe lesen können :

1 ]. . w (vielleicht eaco), dahinter das Füllzeichen 7. In 2 und 3 habe ich nichts Sicheres lesen können. 4]. . et- 5 ]av 6 ]yovg 7 ]Te7Cüt ^ 8 ]. adog 9 \f.iot oder \Äloi 10 ] . 11 ]oyo (davor nicht X) 12 Jt^, dahinter vielleicht das Füllzeichen 13 ]v7ra 14 ]ric 15 ]to , dahinter das Füllzeichen 16 ]co, da- hinter das Füllzeichen.

13*

196 U. WiLCKEN

Kolu mne II. ij 1. Die Pirä US-Häfen.

1 . . .|NCYNn[. . .

2 . . .IGPe . UUT.|. . .

3 . . .jGninp|. . .

4 . . .JAIXLeNO(. . .

5 N6Ly[. . .] . C . O . [. . .]CIT€KAinf. . .

6 eTep[. .]cnepiGC[.]GjLLXLGN[. ..

7 HTO[.]e .... GNTHJZ6AI . |. . .

8 NeUUCOlKOYCnGPIGXUUN n[. . .

9 BPIANUUPOAOnONe . [.] . [.J . f. . .

10 eUÜPANGniBAAAeiNGKACT[. . .

11 ToNHAI[.]N

Über Z. 1 freier Rand. 2 Unsicher, ob hinter f^s ein ?■ oder a(?). Auch das zweite e ist eigenartig. Hinter r ein gerader Strich unmittelbar am Rande, / mög- hch. 4 Von / nur matte Reste erhalten, aber Lesung sicher. 5 Von e hinter »• nur das unterste Ende erhalten. Lesung f möglich. Vor Tf schwanke ich zwischen ai und «. Hinter xnt scheint Lesung n sicher, wiewohl der Buchstabe nur halb er- halten : für T ladet der Querstrich nicht genug nach links aus. 6 Anfang e möglich unter der Annahme, daß der obere Bogen abgesprungen ist. Sonst wäre a viel- leicht möglich. 7 Statt ro[,] vielleicht to> möglich. Vor iv scheint .// zu stehen, aber vor diesem //er weder er noch e.-r/. Statt // vielleicht (?) U oder /«(?). Am Schluß hinter ai ein schräger Aufstrich, der zu / passen könnte. 8 Schluß: zweifelhaft, ob vor TT ein Spatium beabsichtigt ist. 9 Hinter loyiov das s wahrscheinlich wegen des erhaltenen Querstriches. Im folgenden nur kleinste Spuren.

Mit den ersten 3 Zeilen weiß ich nichts anzufangen. Zu 1 be- merke ich nur, daß wegen der Assimilation in oviinav in 17 und 28 hier avv n zu trennen ist.

Auf etwas festeren Boden kommen wir mit Illüvo\c: in 4. Da- mit ist wahrscheinlich zu verbinden ^rEquG\x\^lpüv\ov in 6. Ein an- schauliches Bild: der Hafen ist rings umkränzt. Wovon? Nur von dieser Frage aus habe ich gewagt, die punktuellen Überreste am Anfang von 5 zu lesen. Die Ergänzung vscoaoixoic paßt mit ihrem letzten Buchstaben nicht zu den erhaltenen Spuren. Wohl aber scheint es mir möglich, veiü[Qioi]Q zu lesen. Ebenso könnte, falls £T£Q in 6 richtig gelesen ist, €T€Q[oi\Q resp, ^Te()[c(i]g ergänzt werden. Davor müßte ein allgemeiner Begriff gestanden haben, unter den wohl auch die vscoQia fallen würden. Was auf yeu>\Qioi\c folgt, bleibt mir leider noch dunkel. Dieser Hafen wird also von Schiffswerften und anderen Einrichtungen umkränzt. Welcher Hafen ist damit ge-

Die attische Periegese von Hawara. 197

meint? Im folgenden wird der Hafen von Zea beschrieben, darauf Munichia mit seinem Artemistempel, aber ohne Erwähnung des Hafens. Wir haben hiernach für unsern umkränzten Hafen die Wahl zwischen dem großen Kantharoshafen im Westen und dem kleinen Munichiahafen im Osten. Aber der letztere muß ausscheiden. Es wäre eine wunderliche Disposition, wenn der Autor erst den Hafen von Munichia, dann den von Zea beschriebe und dann wiederum sich Munichia zuwendete, um den Artemistempel zu beschreiben, zumal bei Zea nicht nur der Hafen, sondern auch das Horologion beschrieben wird. Da der Artikel vor Zeai ungewöhnlich ist i) und daher vermuten läßt, daß von Zea schon einmal die Rede war, dürfen wir wohl annehmen, daß der Autor bereits vorher im allgemeinen auf die drei Häfen des Piräus hingewiesen hat, also auch schon auf den von Munichia, den genauer zu beschreiben er nachher nicht für nötig befunden hat. Hiernach ist unser „umkränzter" Hafen kein anderer als der große Kantharoshafen, und daß dies richtig ist, scheint noch im besonderen auch durch die Erwähnung der vE(bQia die Richtigkeit der Lesung vorausgesetzt bestätigt zu werden. In dem wertvollen Fragment des KaX?uxgdT7]g fj Meve- xXfjg, das uns der Scholiast zu Aristoph. Fried. 145 bewahrt hat (FHG IV S. 450 N. 4), heißt es: 'Eyei ös 6 IleiQauvg hfievag TQSig, yiävrag yJ.eiorovg. Elg f-Uv eoxtv 6 KavS-ägov iLurjv YMlovfxsvog, iv

qt TU vecoQuc . Schon Milchhöfer hat es im Text zu den „Karten

von Attika" I S. 49 und namentlich 57 begründet, weshalb diese „Werftanlagen" ausschließlich auf den Kantharoshafen zu beschränken sind. Unter Heranziehung der bekannten Nachrichten über die Ver- teilung der Schiffshäuser {vecbooiy.oi) auf die 3 Häfen (s. unten) weist er nach, daß der Zeahafen in seinem ganzen Umfange von Schiffshäusern in Anspruch genommen war, während im Munichia- hafen der kleine freibleibende Teil durch die Steilheit der Ränder für Werften nicht geeignet war. Zu dieser topographischen Beobach- tung füge ich die sprachliche hinzu, daß der Autor nicht vewQia (mit dem Artikel!) hätte sagen können, wenn auch in den beiden anderen Häfen oder einem derselben vechquc gewesen wären. Sollte aber einmal die Lesung vsio[QioL\g durch den, dem es gelingt, die folgenden Worte zu deuten, erschüttert werden, so würde ich trotz-

1) Vgl. Milchhöfer in Curtius' Stadtgeschichte p. CXVIII. Wachsmuth, Stadt Athen II 55, 4.

198 U. WiLCKEN

dem aus den obigen Gründen daran festhalten, daß in Z. 4 6 der Kantharoshafen beschrieben wird. Man kann sich doch auch dem Eindruck nicht verschließen, wenn man damit vergleicht, wie kurz dagegen der Zeahafen abgetan wird, daß der Autor hier bedeuten- dere Anlagen als die in Zea ins Auge faßt. Ja, vielleicht ist worauf Richard Heinze mich aufmerksam macht dem Ver- fasser das Bild jieoiears^iuevov in die Feder gekommen, weil er an einen bekränzten Kantharos-Becher dachte.

An die Beschreibung des Kantharoshafens schließt sich die des Zeahafens unmittelbar an. Leider ist mir unklar geblieben, ob iv Tf]L Ziat gelesen werden darf, oder ob (xhv rf]L Ziai, und wie das Vorhergehende zu lesen ist. Hinter Zeai wird, da der schräge Auf- strich zu /. paßt, l\Lur]v zu ergänzen sein. Ich verzichte auf den Versuch, den Satz zu rekonstruieren, zumal nicht sicher ist, wo die vorhergehende Periode ihr Ende hat. Aber sicher ist, daß vsio- aoiy.ovQ TteQieyvjv in 8 mit l[i^fjv zu verbinden ist. Solche Schiffs- häuser für die Schiffe der attischen Marine gab es in allen drei Häfen des Piräus, und bekanntlich haben sich noch Überreste er- halten. Für den Ausgang des IV. Jahrhunderts haben wir inschrift- lich genaue Angaben über ihre Verteilung: damals waren 82 vsd)- GoiY.oL in Munichia, 196 in Zea und 94 im Kantharos.^) Wie ich oben schon nach Milchhöfer erwähnte, waren die Ufer des Zea- beckens in ihrem ganzen Umfange mit Schiffshäusern bedeckt: diese Berechnung wird durch die Worte unseres Autors vewooiy.ovg negiexiov aufs beste bestätigt, zumal wenn vor viioGor/.ovg, was nicht unmög- lich ist, der Begriff „nur" ausgedrückt war. Der Gedanke, hier etwa eine bestimmte Zahl zu vermuten, ist abzulehnen, nicht nur weil dann auch die Zahlen für die beiden anderen Häfen zu erwarten wären, sondern weil diese Zahl hier durch Ziffern ausgedrückt sein müßte, während unsere Handschrift sonst die Zahlen immer in Worten schreibt.

An diese kurze Charakteristik des Zeahafens, bei der wir eine Erwähnung der Skeuothek vermissen, schließt sich ein Hinweis auf eine uns sonst nirgends genannte Sonnenuhr an, die südlich vom Zeahafen gestanden hat. Die Ergänzung f^i€oi]f.i]ßQiav hat schon Sayce vorgeschlagen. Ich vervollständige sie zu n\Qdc di fieari^}'

^ 1) IG II 807 c 33. 808 d 100. 809 e 59 (von 330/29, 326 5, 325/4). ^iir Sache vgl. .lud eich a. a. O. 384 ff.

Die attische Periegese von Hawara. 199

ßgiav, und mit dieser, wie mir scheint, sicheren Ergänzung ge- winne ich eine Zeilenlänge von 29 Buchstaben, Es wird kein Zu- fall sein, daß auch in anderen Fällen, wo die Ergänzung so gut wie sicher ist, wie in Z. 11 und 12, gleichfalls 29 Buchstaben sich ergeben. Ich nehme hiernach für unsere Handschrift eine Normal- länge von 28 30 Buchstaben an und habe die Ergänzungen der Zeilen nach dieser Norm eingerichtet.

Unser Autor beschränkt sich nicht auf die Erwähnung des Horo- logion, sondern er hat es für nötig befunden, seinen Lesern den Zweck dieser Einrichtung klar zu machen. Darauf weist vor allem Töv rjh[o]v in 11, das durch Spatium vom folgenden getrennt ist. Offenbar ist dies rdv fjhov Subjekt zu htußdllsiv in 10. Als Objekt hierzu sollte man tj)v öxiäv erwarten, denn soviel ist hiernach schon klar, daß es sich um eine von jenen in größerer Zahl uns erhaltenen Sonnenuhren handelt, die, für einen bestimmten Punkt eingerichtet, den Sonnenschatten des Gnomon durch die zwölf, die Tagesstunden repräsentierenden Felder hindurchwandern ließen i). Endlich finden wir auch den terminus technicus für dieses Tageszwölftel, das be- kanntlich ebenso wie das Ganze, der Tag, je nach Sonnenauf- und Untergang variierte, in dem Wort ÜQav in 10. Damit hätten wir die einzelnen Elemente der Beschreibung beisammen. Wie aber der Satz zu konstruieren ist, wage ich um so weniger mit Sicherheit zu sagen, als wir das verbum finitum hinter djQolöyiov nicht kennen. Erwarten sollte man ein Verbum in der Bedeutung „ist aufgestellt" o. ä. {i'GTTixsv paßt nicht zu den Spuren, auch nicht sotiv). Ich dachte zunächst an ügte x«].?-' ägav eTCißäXXsiv £x«(7T[?jr trjv oxidv] rdv rili[o\v, doch da man zu ircißälleiv im Dativ die Nennung des Gegenstandes erwartet, auf den die Sonne ihren Schatten wirft, so könnte man vielleicht vorziehen (p Ö6ryM]d-' ägav enißdlXsiv exdax[riv rrjv GXLdv] zov ij?.i[o]v. In beiden Fällen mißfällt mir die künstliche Wortstellung, und doch wird exdGrlrjv notwendig zu ägav gehören müssen, und für rrjv oxidv finde ich keinen anderen Platz. Doch wie man auch ergänzt, soviel scheint mir sicher, daß unser Autor ohne technisches Verständnis dieser Erfindung gegenübersteht und

1) Zur Konstruktion solcher Sonnenuhren vgl. Bilfinger, Die Zeitmesser der antiken Völker. Festschrift z. Jubelfeier d. Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums in Stutt- gart 1886 S. 23 ff.

200 U. WlLCKEN

als Laie eine sehr oberflächliche Beschreibung gibt, die nicht den Kern der Sache trifft. Ich komme unten S. 222 f. auf diesen Passus zurück.

§ 2. M u n i c h i a.

11 eNAeTHXLoYN[. . .

12 BoHToNeCTINAPTGJLLIAoC[. . .

13 TCTGI [. .lCJLlGNoNJa.eAICT ..[...

14 AAG[.". . .]UJIToN0PACYXLHAHf. . .

15 ct>o[ jTJAPACTACA . . TA[. . .

16 KoN[.....]IAorUüTPo[. . .

17 KATHrAreN

11 Vor Ev Spatium. 13 u ist wahrscheinlicher als »-, da der schräge Strich unten in einem allerdings minimalen Abstand von i entfernt bleibt. Am Schluß unsicher, ob hinter r ein « steht oder iy_ oder was sonst. Vgl. Kommentar. 14 ahe unsicher, da / und e zu eng zusammensitzen, s auch unvollständig. Aber auch au unwahrscheinlich. Ebenso ist mi unsicher. 16 Schluß: am Rande hinter töo (oder T<o?) 2 Punkte übereinander.

Für die beiden ersten Zeilen hat die Revision des Originals die volle Bestätigung meiner früheren Konjekturen gebracht (s. oben S. 193). Auch die damals vorgeschlagene Ergänzung wird bestehen bleiben können: 'Ev t?} Movvyiylct. öia- oder 7reQi\Söi]röv eonv lÄQxeixiöoQ [IsQöv. Es ist mir dies um so wertvoller, als gerade dieser Punkt meiner Interpretation in Zweifel gezogen worden ist. Häberlin (Centralbl. f. Bibl. 1897 S. 356) meinte, daß „in dem ver- schriebenen c(Q7TuiuQ auch etwas anderes als Artemis stecken kann, z. B. agd-f-Uag oder gar 'Aq&iiLov'' und wollte in letzterem Falle auf Heliodor als Autor schließen (wegen Keil, Hermes 30, 2211). Metho- disch bemerke ich hierzu, daß meine Konjektur nicht willkürlich gemacht war, sondern aus den Eigentümlichkeiten der von Sayce charakterisierten Schrift abgeleitet war wie die paläographische Möglichkeit bei Konjekturen nie vernachlässigt werden sollte. Ich betonte vor allem, daß ?/- der Ligatur ts sehr ähnlich werden kann. Dagegen war für eine Verlesung von :c für ,>, wie Häberlin annimmt, paläographisch kein Anhalt geboten. Auch tctsixio^uvov hatte ich mit Recht aus rerei . . . loi^uov abgeleitet, also: jTeQi\rfTsi\xi]onfvov.

Weiter kann ich den obigen Text trotz mancher neuer Lesungen leider noch nicht erklären. Wenn, wie ich glaube, .«fA/ statt //;»■ richtig gelesen ist, kommen wir hiermit auf einen Eigennamen. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Unsicherheit der Buchstaben hinter

Die attische Periegese von Hawara. 201

^sXlgt. Bei manchen Beleuchtungen glaubte ich fishorix lesen zu können. Da wir nur einen weiblichen Eigennamen J\I£?u(ttIxi] kennen, (Aristoph. Ekkl. 46), müßte man hier einen Kultbeinamen der Artemis von Munichia annehmen, etwa: 3J£XiOTix[7]g ertixlrjv]. Da dieser Bei- name aber zu dem, was wir sonst von dieser Göttin wissen, in gar keinen Beziehungen steht, trage ich Bedenken, auf eine ganz un- sichere Lesung hin ihn proponieren zu wollen. Bei anderen Be- leuchtungen glaubte ich denn auch fiehozs oder luIigtsl zu lesen. Hierin würde man wohl den Namen des Künstlers oder Architekten zu sehen haben, auf den dieser Tempelbau zurückgeführt wäre, also etwa: M€hoT£i[tovog igyov]. Für die Schreibung €l für i könnte man auf y£hs[o^ca in 28 verweisen. Aber auch dies wage ich nur mit größtem Vorbehalt zur Erwägung zu stellen zumal es vielleicht doch nicht ganz ausgeschlossen ist, daß ^isv statt ush zu lesen wäre. Auch mit dem neugelesenen &Qaavi.i7]Ö7]g weiß ich nichts anzu- fangen. Für den Anfang von 14 warne ich vor '^4 Xe['§ävdQ]coi, wofür die Lücke zu klein ist. In 16 könnten die beiden übereinander- stehenden Punkte hinter jgo zu Z führen, und wir kämen nach Trozen (löyco TqoIJ^ijvuov oder Tgo^Crivog oder auch anders). Aber auch das ist völlig unsicher. So kann ich - mit Unterdrückung aller Vermutungen, die mich mehr als der übrige Text vexiert haben nichts weiter sagen, als daß unser Autor hier in historischer Erzäh- lung (Aorist y.cni]ycr/£v) einen köyog bietet, wie es scheint im An- schluß an den Artemistempel von Munichia.

§3. Die Piräus-Ringmauer.

17 ToCYJuLn[. . .

18 G(JUCTGIXoCeNeNH[. . .

19 KAeiTAlCTAAIUUNin[. . .

20 ceuucep[.]oN

Hiermit kommen wir wieder auf etwas festeren Boden. Die Er- gänzung von 17/8 n€iQcci]£iog, die ich schon a. a. O. vorschlug, kann nach dem ganzen Zusammenhange (vgl. auch die folgenden Para- graphen) nicht zweifelhaft sein. Der Verfasser wendet sich also zu der 7C€Qtßokog oder y.wXog genannten Ringmauer des Piräus.

Wie dieser Satz mit dem vorhergehenden verknüpft gewesen ist, lasse ich dahingestellt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Mit rd

202 U. WiLCKEN

avfi7t\ctv weist der Autor vielleicht auf eine frühere Erwähnung der Ringmauer zurück, die er wahrscheinlich am Anfang seiner Piräus- Darstellung schon erwähnt hatte. Wenn es auch nicht nötig ist, wie in Z. 28 in ovfirrav eine Summierung von vorher namhaft ge- machten Einzelposten zu sehen, so werden doch bei Nennung von Zea, Munichia usw. die Einzelstrecken der sie begrenzenden Ring- mauer dem Autor vorgeschwebt haben, und wenn er diese Vor- stellung auch bei seinen Lesern mit Gv(.nruv voraussetzt, so wird er am Eingang dieses Abschnittes bereits gesagt haben, daß die Piräusmauer eben alle die nun folgenden einzelnen Teile umschloß. Ob man ov^icav als Adjektivum direkt mit xüyog. verbinden, oder ovi-iTTccv adverbiell im Sinne von „in Summa" (wie vielleicht in Z. 28) fassen soll, lasse ich unentschieden. Für die Bedeutung macht es keinen wesentlichen Unterschied aus.

Von dem Verbum ist /.I^itui erhalten, das nur zu /.e/lsiruL ergänzt werden kann. Unter der Annahme, daß der Verfasser die Mauer als Ringmauer charakterisieren wollte, vervollständige ich es zu 7csQiyJY.lsiTaL, in dem präsentischen Sinne von „steht rings ge- schlossen da". Der Genitiv gtccöilov gibt den Umfang an, inner- halb dessen das ^tsqiy.sxlelG&ui besteht. Vgl. zu dieser lokalen Bedeutung des Genitivs z. B. die unten S. 203 zitierten Worte des Dio von Prusa.

Es gilt endlich, den Umfang der Mauer festzustellen. Ergänzt man in 18 evevri[y.ovTC( 7reQiy.e]/leLrai, so enthält die Zeile nur 25 Buch- staben, was nach den obigen Ausführungen zu kurz ist. Da wir 28—30 Buchstaben als Norm festgestellt haben, müssen wir hinter ivsvi)\yovTcc noch 3—5 Buchstaben ergänzen. Es können danach hier alle Einer außer tsoodgiov gestanden haben. Somit bleibt für den Schluß nur der Name des Erbauers dieser Mauer übrig. Der Text

lautet also:

oviui\av . . . TOö ]IeiQC(L\-

£tog TSiyog €V€vi][yovTa 7csgix€]-

xXeiTCd araöUov 77r[ ]-

aeiog äQ[y\ov.

Die Maßangabe von über 90 Stadien für die Piräusmauer führt uns mitten in ein schwieriges und zurzeit noch in vollem Fluß be- findliches topographisches Problem hinein. Die Situation ist in kurzen Worten folgende. Nacli Thukydidos II 13, 7 betrug der Lhii-

Die attische Periegese von Hawara. 203

fang der (themistokleischen) Ringmauer 60 Stadien. Nach den Messungen von Altens ergeben sich aber mit Einrechnung der Hafenschenkelmauern ungefähr 13 km = 79 Schrittstadien (zu 164 m), was zu dem Ansatz des wenig glaubwürdigen Aristodemos V 4 (FHG V S. 8) von 80 Stadien passen würde. Diesen Widerspruch hat nun Judeich (Topogr. S. 135 ff.), der den Ansatz des Dio von Prusa or. XXV 4 (Arnim II S. 279) rcksiövcov i] ivsvrjKovta GxadUov als „ganz unmögliche Angabe" bei Seite schiebt, durch die Hypothese zu lösen gesucht, daß den divergierenden An- gaben zwei verschiedene Mauerläufe zugrunde liegen: die Mauer des Thukydides von 60 Stadien sei die themistokleische, die von ca. 80 Stadien aber die kononische. Die letztere läßt er daher an den äußeren Rändern der Halbinsel entlang laufen, während er die themistokleische quer über den Rücken der Akte führt (vgl. auch seinen Plan III).

Inzwischen ist nun durch die vortreffliche Doktorarbeit von August Frickenhaus 1) eine neue Basis für die Beurteilung der Mauerreste geschaffen worden, indem er nachwies, daß die kono- nischen Mauern ebenso wie die themistokleischen noch aus Stein- sockeln mit Lehmziegeloberbau bestanden haben und erst etwa seit der Mitte des IV. Jahrhunderts nach und nach teilweise in Stein umgebaut worden sind. Ihre Bestätigung fanden manche Grund- gedanken von Frickenhaus durch die grundlegenden Forschungen Fer- dinand Noacks über die athenischen Stadtmauern.^) Noack hat es nun bereits unternommen, von Frickenhaus' Theorie ausgehend die erhaltenen Reste der Piräusmauer nach ihren technischen Eigen- tümlichkeiten den verschiedenen Bauperioden zuzuweisen. 3) Abge- schlossen sind diese Untersuchungen noch nicht, und Noack selbst bezeichnet zum Schluß ihre Fortführung als notwendig. Die Auf- gabe, auf Grund dieser neuen Erkenntnisse den Umfang der the- mistokleischen und der kononischen Mauer sowie der jüngeren Steinmauer'*) in Kilometern oder Stadien zu berechnen, ist noch nicht erfüllt worden. Die Annahme von Judeich aber, daß die the-

1) Athens Mauern im IV. Jahrhundert v. Chr. Bonn 1905.

2) Athen. Mitteilungen XXXII 1907 S. 123 ff. und 473 ff. Vgl. S. 493.

3) Athen. Mitteilungen XXXIII 1908 S. 33ff.

4) Hiermit soll rein theoretisch die Mögiichiteit angedeutet werden, daß die jüngeren Steinmauern vielleicht nicht an allen Punkten dem Zuge der kononischen Lehmziegelmauern gefolgt sind.

204 U. WlLCKEN

inistokleische Mauer quer über die Akte gelaufen sei, ist sowohl von Frickenhaus (S. 41 Anm.) wie von Noack d. c. S. 37) bestritten worden, von jenem aus strategischen, von diesem aus technischen Gründen. Eine definitive Lösung ist also noch nicht gewonnen. Die Differenz in unserer Tradition betreffs des Umfanges der Piräus- mauern ist mit Hilfe der neuen Frickenhaus'sdien Theorie noch nicht geklärt worden. Diese Differenz tritt jetzt aber noch stärker hervor, da wir durch obige Interpretation zu dem überraschenden Ergebnis gekommen sind, daß unser Autor mit seinen 90 + xStadien mit Dios 7t l e l 6 v lo v ff ivsvi^y. ovra ara- d i CO V übereinstimmt. Ich hüte mich wohl davor, in der be- rüchtigten „Entdeckerfreude" diesen neuen Fund zu überschätzen. Aber da sich unten herausstellen wird, daß unsere Periegese um ca. 400 Jahre älter ist als Dio von Prusa, so ist doch nicht zu leugnen, daß nunmehr diese Tradition von den mehr als 90 Stadien auch bei den topographischen Untersuchungen als Problem ernster als bisher ins Auge zu fassen ist. Dabei ist zu beachten, daß, während Dio dieses Maß für die themistokleische Mauer angibt, was jedenfalls einen Widerspruch mit Thukydides darstellt, unsere Periegese, ein sehr viel älterer und wahrscheinlich reinerer Re- präsentant dieser Tradition, dieses Maß, wie sich unten ergeben wird (S. 206) , für die kononische Mauer, und zwar wahrscheinlich nach ihrem Umbau in Stein, aus- sagt. Ob ein solcher Umfang sachlich überhaupt diskutierbar ist, darüber kann nur die topographische Forschung entscheiden i).

1) Während der Korrektur dieses Aufsatzes hat Ferdinand Noack auf meine Bitte diese topographische Frage untersucht. Sein überraschendes Ergebnis teile ich mit seiner freundüchen Erlaubnis hier mit seinen eigenen Worten mit: „Es ist wenig wahrscheinlich, daß bei solchen Maßangaben die äußere .Baulinie' mit sämtlichen Turmvorsprüngen zugrunde gelegt worden ist. Diese bedeuten für den Umfang des eingeschlossenen Gebietes nichts, den man in direkter Linie auf dem Wallgang (die Türme einfach durchschreitend, wie etwa in Eleutherae) oder auf der Innenseite ab- gegangen haben wird. Von den Zahlen Kaupcrts (Monatsber. d. Berl. Akad. 1879, 627) kommen also nur in Frage 11045 m, dazu noch die Linie zwischen den Einfahrts- türmen und dem Hafenabschluß des Piraeus (ebenda S. 626 unten) mit 270 m also rund 11300 m. Dagegen scheint es verständlich, daß eine Berechnung auch einmal die Grenzmauern berücksichtigt hätte, mit denen die Schiffshäuser der drei Häfen, die Werften und das Emporion im Kantharos gegen die Innenstadt abgeschlossen waren (Judeich S. 386f. u. Anm. 14. 393 f.): deren Sicherung gegen die Seeseite wurde durch sie doch erst eine voUsändige, wie etwa die des Burgtores durch den Torhof dahinter. Die Strandlänge für die Schiffshäuser in Munichia und Zea wird auf 560 bczw.

Die attische Periegese von Hawara. 205

Aus dem oben Gesagten ergibt sich zugleich, daß die Schluß- worte '[n:[ ]g£ioq eQ[y]ov wahrscheinlich auf den Erbauer

der kononischen Mauer zu beziehen sind. An den der themisto- kleischen Mauer ist aus chronologischen Gründen nicht zu denken, und anderseits ist der Umbau in Stein nach und nach erfolgt, so daß er wohl nicht als ein einheitliches egyov bezeichnet werden konnte. Da es wenigstens ein attisches Demotikon, dessen Genitiv auf oscog endete, m. W. nicht gibt, so wird .... oswg der Genitiv des Vater- namens sein.

§4. Die langen Schenkel.

20 olXLeT[. . .

21 JAPAK0NTACTAAI0[. . .

22 nepiexoNTAiTeix[. . .

23 NoTIUÜI f.]KeAHAAY[. . .

24 oYKAAO[.]UJCeAA . [. . .

25 THCeYPUUÜHC

20 Vor Ol Spatium. 24 Es ist schwer zu entscheiden, ob am Schluß U oder ,// zu lesen ist. Dahinter Spuren einer Rundung.

Der Verfasser wendet sich nunmehr zu den langen Mauern, die die vorher beschriebene Piräusstadt mit Athen verbanden. Dafür spricht T€r]raQdxovTa (sie mit ? r) orddioi, die bekannte Länge dieser Mauern (Thukyd. II 13, 7) i), dafür roxkoi, der Name der Mittelmauer, dafür auch [a]xeA?j. Diese Deutung, die ich z, T. auf konjekturalem Wege (die Zahl 40 von Diels) schon vor 20 Jahren gab (s. oben S. 193), wird durch das Original nur bestätigt. Nach Gewinnung von 7rsqii%ovTCii (statt n^veyovjai) ist es jetzt möglich, den ganzen Satz bis votloii zu rekonstruieren.

Die schriftstellerische Aufgabe, von zwei Parallelmauern jeder das Maß von 40 Stadien zuzuweisen, hat unser Autor, wenn ich

1120 m angegeben. Man wird die runden Zahlen 600 und 1200 einsetzen dürfen, da zumal bei Zea die Grenzmauer der vfwaoixoi zum Teil weiter in's Land einge- griffen hat. Im Piraeus gewinnt man im Anschluß an die von Judeich S. 393f. zu- sammengestellten Punkte rund 2400 m, so daß sich der Gesamtumfang auf rund 15500 m stellt. Das sind, zu 164 m gerechnet, 94,6 Stadien in jedem Falle also, auch wenn die einzelnen Zahlen kleinere Abänderungen zulassen, mehr als 90 Stadien, und zwar für einen Zustand in nachkononischer Zeit, wie das Fragment es verlangt." Wenn diese Rechnung nicht, wie Noack selbst hervorhebt, eine approximative wäre, könnte man versucht sein, in unsern Text geradezu h'Fit'ifxovTa nevre ein- zusetzen. Die 60 Stadien des Thukydides bleiben auch jetzt noch ein Problem. 1) Weitere Angaben bei Wachsmuth I 334.

206 U. WiLCKEN

nicht irre, in der Weise gelöst, daß er sagt: die 40 Stadien, die zwischen der eben erwähnten Piräusmauer (natürlich gerechnet von der Stelle, wo die Schenkel sie treffen) und der Stadt Athen sind, werden eingefaßt von zwei Mauern, einer Nord- und einer Südmauer. Ich proponiere hiernach folgende Ergänzung:

20 Ol u£T[a^v ÖS rovTov rs tet]-

21 ragdy.ovTa oräöio[i v.al tov äGrsog\

22 7C€Qi€xovTC(L rEiy\£Gi ßoQsLioi TS y.cti\

23 voritoi.

Die Trennung des iitrali) öe tovtov re von xca rov äoreog er- klärt sich zur Genüge durch die Absicht, mit tovzov an den vorher- gehenden Satz anzuknüpfen, i) Zu ts vgl. Thuk. II 13, 7: /^israBv rov TS fiaxQov -/.cd rov (DaXrjQixov. In 22 habe ich geschwankt, ob man r£ix[oTv sagen soll. Ich würde rsiyjai ß vorziehen, wenn unsere Handschrift nicht sonst die Zahlen in Worten ausdrückte. Ich schlage hier das üblichere rov doreog vor statt des natürlich auch möglichen rf^g Tcöletog, wiewohl der Verfasser nachher in 30 i) Ttöhg sagt, freilich, wie ich glaube, mit anderer Nuance. S. unten S. 213.

Zu der Bezeichnung der beiden Parallelmauern als ßÖQetov und ro vöriov reixog verweise ich auf Wachsmuth (Stadt Athen I 329), der hervorgehoben hat, daß diese Bezeichnung erst für die von Konon wieder aufgebauten Schenkel üblich gewesen ist, während früher, als die phalerische Mauer noch stand, die südliche jener beiden Parallelmauern öia iaeoov hieß. ^) Wir kommen hierdurch zu demselben Ergebnis, zu dem auch die Untersuchung über die Zeit unseres Autors uns führen wird (s. unten S. 220 f.), daß die langen Mauern, die unser Autor hier erwähnt, die von Konon wieder aufgebauten sind.

1) Auch sonst liebt unser Autor Hyperbata : 10 xali'>' Spar änißdUfir ixäaT[r]v;

W rd 7ifpt\Söi]TÖv ioriv 'ApTEin(ioi [if^ör; 18 ir(rri[xorTa TTtpixiyAfiTai ara-

Sio>v', 23 axelri (5' nv^rd iiaxoA xn).ovair,

2) Die älteste Anwendung der neuen Terminologie ist wohl bei Andokides III 5 u. 7 (a. 391). Die einzige Ausnahme liegt scheinbar bei Plato Gorgias p. 455E

vor: JleptxXiove Si xnl avrde (Sokrates) rJKovov, 8rt avvfßovlevofv ^uii- tif^i rov i^td

fiioov Tftiov?. Aber hier liegt die perikleische Zeit in der Vorstellung des Sprechen- den, ja die Worte rov iStA uiaov könnten geradezu als Reminiszenz an die Peri- kleische Rede gemeint sei.

Die attische Periegese von Hawara. 207

Endlich betone ich, daß die Übereinstimmung mit Thukydides betreffs der 40 Stadien zeigt, daß die Differenz mit ihm bezüglich der Piräusmauer nicht etwa durch Annahme verschiedener Stadien erklärt werden darf.

Schwieriger ist zu sagen, wie wir [G]x€lr] d' av und ovx dlö[y]c()g eil und T'^g EvQÜTcrjg zu einem verständlichen Satz vereinigen sollen. Ich denke, der Verfasser sagt im Anfang nichts weiter, als daß die eben erwähnte Nord- und Südmauer auch „lange Schenkel" ge- nannt wurden. Darauf führt auch das Fehlen des Artikels vor GxeXr]. Da av[Td als Nominativ (etwa zu xaleltca) unpassend wäre, nehme ich es als Objekt zu xalovoiv und ergänze: [2]x£?<.r] ö' av[Tä (.laxQä xalovOiv], womit ich genau 29 Buchstaben (+ Spatium) erhalte. Vgl. etwa Plut. Kimon 13: rcöv fiaxgcöv lEiyßv ä aycelr] xalovoi. Ich betone, daß nach unserem Autor nur die beiden Parallelmauern diesen Namen führen, nicht auch die später erwähnte phalerische Mauer. Das entspricht wohl auch dem sonstigen Sprachgebrauch (ungenau Plut. Kimon 13), wenn es vielleicht auch nirgends so deutlich her- vorgehoben wird. An sich wäre ja denkbar, daß diese volkstüm- liche Bezeichnung schon in der ersten Zeit entstanden wäre, als es nur die Nordmauer und die phalerische Mauer gab, denn nur für eine Zweiheit ist das Bild passend. Aber aus jener Zeit liegt, wenn ich nicht irre, diese Bezeichnung noch nicht vor. Thukydides hat sie überhaupt nicht gebraucht. Die älteste Anwendung von oy^ekrj ist wohl die bei Aristophanes Lys. 1170, aber hier werden MsyaQixä oxelrj SO genannt (vgl. Thuk. I 103, 4). Immerhin läßt der Ausdruck vermuten, daß damals (411) das Bild auch von den athenischen oder „piräischen" i) Mauern gebraucht wurde, aber wahr- scheinlich von den beiden Parallelmauern ganz abgesehen davon, daß die pbaleiische Mauer damals wohl schon im Verfall be- griffen war.

Besondere Schwierigkeit hat mir die EvQcb7cr] in 25 gemacht. Für die mythische Europa finde ich hier keine Anknüpfung. Ich nehme es als Bezeichnung des Erdteils und glaube, daß der Ver- fasser in einer Apposition zu dem Vorhergehenden sagen will, daß

1) Dies Gegenstück zu den MayuQixa anelr] in Antliol. Pal. VII 406, 2: Ilti^aiy.oli

■x/tItui xolsSa nuoa axeXeaii'.

208 U. WlLCKEN

diese Mauern als „lange Schenkel" nicht ohne Grund in Europa allberühmt sind oder dergl. Zu «/t würde ich keine andere Ergänzung finden als e^fpccveorura, wofür ich auf Plut. Mor. p. 108E verweise: l.ivr]ai}}i]öO}ictL de rdv övnov ^Kfcivearäxiov v.cu jcüol öiä öröf-utTog. Aber nach langem Schwanken bevorzuge ich doch die Lesung sXl, und dies führt auf e/doyificbzaTa , wozu die Rundung hinter / gut paßt. Der Satz würde also etwa lauten:

23 [— J/C£A?y 6' ccölrä fxcr/iQci 'Acclovaiv],

24 Ol)-/ dkölyjiog i?.ko[yif.i(ÖTara cvra öia\

25 rfjg EvQcb7cr]Q.

§5. Die p halerische Mauer.

25 £.[...

26 CIKeAIANnPoHe[. . .

27 KoNTACTAAIOY[. . .

28 ToCYJa,nANrGING[. ..

29 AGKAAeoNTUUNf. . .

25 Vor f ein Spatium. Hinter f der Anfang eines Buchstabens, der ^ sein kann (vgl. z.B. ein ebenso niedriges x in raoaxorra in 21) oder auch rr. 26 Der charakteristische Querstrich sichert die Lesung des verstümmelten e am Schluß. 28 Der letzte Buchstabe scheint auf den ersten Blick o zu sein, aber der links über den Halbkreis hinausgehende Strich spricht für ein e. Ein ähnlich kleines e steht in der nächsten Zeile in Öeor.

Dieses Stück gehört zu den schwierigsten. Der einzige feste Punkt ist zunächst die Erwähnung des Sikeliahügels in 26 (vgl. oben S. 193). In der nächsten Zeile haben wir wieder Längenangaben in Stadien {--/.ovra araölovlc), dann eine Summierung, natürlich auch in Stadien (ro Gv/nTcav ysiv£[a0^ai) und in 29 daher wieder eine Zahl (öey.a), darauf das leidige öf.ovTcor, das mir am meisten Kopfzerbrechen gemacht hat.

Die Tatsache der Summierung führt zu der Annahme, daß die in 26/7 gebotene Stadienzahl mit den früher genannten Stadienzahlen der langen Mauern ') zusammengerechnet wird. Daraus folgt dann mit Notwendigkeit, daß auch in unserem Paragraphen eine Mauer

1) Eine Hinzuzählung auch noch der Stadien des Piräusringes ist hier um so mehr ausgeschlossen, als für diesen bereits in Z. 17 gleichfalls mit rd o^unav die Gesamtsumme gegeben ist. Außerdem würde die Summierung von 9|.l-f 40-[-40-|-35 ebensowenig ein für den Text befriedigendes Resultat ergeben: es läge zwischen

206 und 214.

Die attische Periegese von Hawara. 209

beschrieben wird, denn mit ovinxciv werden doch nur die Maße gleichartiger Objekte zusammengezählt sein. Da nun vorher die beiden langen Mauern beschrieben waren, und der Verfasser im nächsten Paragraphen sich zur Stadt Athen wendet, so kann in unserm Paragraphen kaum etwas anderes als die p h a 1 e r i s c h e Mauer beschrieben sein, die, wenigstens noch zu Zeiten des peloponnesischen Krieges, mit jenen zusammen ein einheitliches Ver- teidigungswerk darstellte, so daß es einigermaßen verständlich wird, daß ein Perieget auf den allerdings unfruchtbaren Gedanken ver- fallen konnte, die Längen der drei Mauern zusammenzuzählen. Zu dieser Schlußfolgerung paßt es gut, daß von dieser dritten Mauer im Gegensatz zu den beiden langen Mauern (vgl. rc^qieyovtui) im Präteritum gesprochen wird, denn 7tQorie wird kaum anders als TcqoriB\i ergänzt werden können. Der Mann, der von der kononischen Mauer, wie wir sahen, im Präsens spricht, muß von der phale- rischen Mauer im Präteritum reden.

Werden diese Schlußfolgerungen als zwingend anerkannt, so ist es für die topographische Festlegung der phalerischen Mauer von größtem Interesse, daß hier und zwar zum ersten Mal in der Literatur! der Sikeliahügel zur Orientierung dieser Mauer verwendet wird. Daß die Sikeliahöhe, die ihrerseits wieder mit dem Stadtring fortifikatorisch verbunden war, innerhalb des Zuges der phalerischen Mauer gelegen hat, ist von der topographischen Forschung bereits erkannt worden. Schon Ulrichs (Reisen II Plan III) hatte die phalerische Mauer über die Sikelia geführt. Die auf der Sikelia beobachteten Reste von Befestigungswerken hat aber zuerst Lolling auf die phalerische Mauer gedeutet, i) Ich glaube, wir dürfen in der Angabe unserer Periegese eine schöne Bestätigung dieser Beobachtungen sehen.

Größere Differenzen bestehen dagegen betreffs der Frage, zu welchem Punkte diese Mauer von der Stadt aus geführt worden ist. Während Curtius, Kaupertu. A. an der Ostseite der phalerischen Bucht, beim H. Georgios, den Endpunkt suchen, glaubt Judeich (Topographie S. 148f.) einen Anschluß an den Piräusring nachweisen zu können. Ich kann mir hier ebensowenig wie bei dem Problem des Piräusringes über die topographische Seite ein fachmännisches Urteil

1) Nia 'Ellas 1874 Nr. 3. Vgl. Athen. Mitt. XXI (1896) S. 339. Ihm schließt sich Judeich, Topographie S. 148 f. an.

Graeca Halensis. 14

210 U. WiLCKEN

erlauben. Nur dies möchte ich bemerken, daß die Worte bei Thuk. II 13, 7 mir nicht für Judeichs Auffassung zu sprechen scheinen: Thuky- dides würde die nördlichen Mauern kaum durch die Worte ök fiaxQcl relxi] /iQög tdv IIeiqulü von der vorhergenannten phale- rischen Mauer unterschieden haben, wenn auch diese ngdg röv Tlti- Quiä gelaufen wäre. Vgl. auch unten S. 211. Daß Judeich genötigt ist, in der Maßangabe des Thukydides 35 Stadien eine Textver- derbnis anzunehmen, spricht auch nicht für seine These. Sachlich aber scheint mir dagegen zu sprechen, daß es überflüssig gewesen wäre, die Mittelmauer nachträglich hinzuzufügen, wenn schon durch die phalerische Mauer äorv und neiQuuvg zu einer Festung zu- sammengeschlossen gewesen wären. Auch würde der damals offen- bar noch beabsichtigte Schutz der phalerischen Bucht durch die von Judeich gezogene Mauer kaum erreicht worden sein.

Zumal diese Frage noch kontrovers ist, ist es doppelt zu be- dauern, daß uns die Z. 25 nicht vollständig erhalten ist, denn hier hat es klipp und klar gestanden, wo die pha- lerische Mauer ihren südlichen Ausgangspunkt gehabt hat. Hinter '£■/ [ob hat das entscheidende Wort gestanden, und mit vTisQ Tjjv] ^fAcliav 7tQofj€[i Ist ihr Weiterer Verlauf geschildert. Nicht fFQÖg oder etg oder i^ci Tr}v] :^rAeUüv ist zu ergänzen, denn diese Mauer lief über den Sikeliahügel bis an den städtischen Mauer- ring {fTQög röv y.vxlov rov aorsog Thuk. II 13, 7). Dieses letzte End- ziel muß hier aber um so mehr ins Auge gefaßt sein, als die fol- gende Maßangabe doch jedenfalls ebenso wie bei den langen Mauern den ganzen Verlauf bis zum Stadtring, und nicht nur die Teilstrecke bis zur Sikelia umfassen soll. Setzen wir diese Ergänzungen in Z. 25 ein, so bleibt zwischen de und vjc^q eine Lücke von 7—9 Buch- staben. Damit ist z, B. 'Ex [ös rov Ileiquiiiog oder 'Ez [ök rfjg dlovvi- yiag, wie man von Judeichs Standpunkt aus erwarten könnte, schon räumlich ausgeschlossen, da diese Ergänzungen mit 3 Buchstaben über die äußerste Möglichkeit hinausgehen; auf die Artikel aber würde man nach dem Vorhergehenden nicht verzichten können. So waghalsig es ist, bei der Ungeklärtheit der topographischen Frage den Ausgangspunkt der phalerischen Mauer hier in die Lücke zu setzen, möchte ich doch die folgende Überlegung nicht unterdrücken.

Ich gehe davon aus, daß unser Autor diese dritte Mauer irgend- wo als die phalerische charakterisiert haben muß, sei es daß er sie

Die attische Periegese von Hawara. 211

(Dcdr]Qiy.dv x^lyoc. nannte (wie Thukyd. II 13, 7) oder sonst irgend- wie mit Odlriqov in Beziehung setzte. Der Text bietet dazu nur zwei Möglichkeiten. Entweder stand dieser Name der Mauer in 27 als Subjekt zu TtQofjsi. Da aber am Schluß dieser Zeile, wie wir sehen werden, äors] notwendig zu ergänzen ist, würde hier nur 0alr]Qiy.dv Platz finden, nicht auch noch xelxog. Zumal das Wort rsLxog schon in dem vorhergehenden Satze (von 23 an) nicht mehr vorkommt, glaube ich nicht, daß unser Autor hier auf tsTxoq verzichtet hätte; (DaXr]Quöv allein würde in der Tat für den noch unkundi- gen Leser nicht klar genug sein. Dann bleibt aber nur die zweite Möglichkeit, daß das Wort OdlrjQov in 25 ausgefallen ist, und dann können wir nicht anders ergänzen als: 'Ex [de (DaXi]Qov vjtsq rirjv] 2tx€Uav TCQofis[L yirl. (28 Buchstaben + Spatium). Ich wage diese Er- gänzung um so eher, als schließlich Thukydides I 107, 1 deutlich genug OdXrjQov als Endpunkt dieser Mauer bezeichnet, wie den

Piräus als den der langen (Nord)mauer: rjg'^avTo ös xai

fxaxgd rsr/rj ig -3^d?MGGav Idd^rjvceiOL otxoöofxsiv, t€ (DaXrjQÖvöe xal ig TlELQctLä. Auch an dieser Stelle scheitert Judeichs These, daß die phalerische Mauer sich an den Piräusring angeschlossen habe, also die phalerische nur heiße, weil sie über Phaleron gelaufen sei: diese Worte des Thukydides zeigen nicht nur, daß Phaleron der Endpunkt dieser Mauerlinie war, sondern auch, daß dieser Endpunkt am Meere lag! Leider wird durch diese mit Thukydides überein- stimmende Ergänzung 'Ev. [de (Dah)Qov, die Richtigkeit voraussetzt, die topographische Frage nicht entschieden, denn es fragt sich auch hier- nach, wo Phaleron lag, und wo der Punkt von Phaleron war, von dem die Mauer ausging. Nachdem durch unsere Periegese die An- nahme bestätigt ist, daß die phalerische Mauer über die Sikelia lief, könnte dies als eine Stütze für die These von Curtius-Kaupert gelten, insofern die Sikelia gerade in der Richtung auf den H. Georgios verläuft. Wenn andererseits die Ausführungen von Milchhöfer über die Lage und Ausdehnung von Phaleron richtig sind (Text zu den Karten von Attika II S. 2 f.), könnte man geneigt sein, den Aus- gangspunkt der phalerischen Mauer an einem viel weiter nach Westen hin gelegenen Punkte der phalerischen Bucht zu suchen. Doch ich überlasse den Topographen das Feld.

Hinter TtQofjsli folgte nun die Maßangabe der Länge dieser Mauer. Setzen wir die Zahl des Thukydides ein, so ergibt STtl 7ievTs

14*

212 U. WiLCKEN

xal TQi(i]xovtct araölovlg genau 29 Buchstaben für Z. 26. In 27 wird nun, da der Name Phaleron schon genannt ist, eine allgemeinere Be- zciclinung der Mauer, etwa rgirov oder I'isqov reixog, einzusetzen sein: auch dies ergibt 29 Buchstaben, wenn wir dahinter üore für das folgende avLncciv yeive[oi^aL ergänzen. Nun kommt die Summie- rung der drei langen Mauern: 40 + 40 + 35 = 115, denn eine andere Summierung habe ich nicht auffinden können (vgl. S. 208 Anm.). Wie stimmt hierzu dey.ci dsovrwv in 29? Zunächst denkt man hierbei an eine Subtraktion der 10 von einer größeren runden Zahl (vgl. etwa Thuk. II 13, 3). Aber eine solche Subtraktion könnte nur zu 190, 290 oder dgl. führen, nicht zu 115. Auch wäre in einem solchen Falle eher ösovrag (scil. aradiovg) statt öeövTtov zu erwarten, wiewohl wenigstens in späterer Zeit (bei Plutarch) auch diese Konstruktion begegnet. Hiernach ist also öeovrcov von der Summierung ganz zu trennen, und die Zahl endet mit dexa. Setzen wir nach obiger Rechnung y€iv€[o^ai exardv 7r€VT£'/Mi]Ö£yM ein, SO ergibt das 31 Buchstaben. Wem das durchaus zu viel ist, kann annehmen, daß ysiveai/ ge- schrieben ist, was aber wohl kaum nötig ist.

Nun bleibt nur noch dsovrcov zu deuten, und dies ist die härteste Nuß. Ich habe keinen anderen Gedanken finden können, als daß hier angedeutet ist, daß zur Zeit des Autors die phalerische Mauer fehlte. Daß der Verfasser nach der Summierung hervorhöbe, daß die phalerische Mauer zurzeit nicht mehr bestehe, wäre an sich verständlich, denn er hat vorher diesen Tatbestand nur durch das Präteritum angedeutet. Da deövrcov in dem Sinne von „fehlen" außer jenen Fällen von Zahlensubtraktion mir nicht bekannt ist, würde ich eher an das absolute deov denken (indem es nötig ist), wovon ein Infinitiv abhängen würde. Aber wie der Gedanke augedrückt sein soll in der Kürze dieser Lücke, dafür habe ich keinen befriedigenden Vorschlag zu machen. Die Ergänzung wird wesentlich davon ab- hängen, ob man die ganze Zeile 29 dazu zur Verfügung hat (also noch bis 19 Buchstaben), oder ob bereits der nächste Satz hier be- gonnen hat. Ich bedaure um so mehr, keinen evidenten Vorschlag machen zu können, als durch diese Unsicherheit auch das Zutrauen zu meiner Ergänzung des vorhergehenden Passus beeinträchtigt werden könnte. Einstweilen kann ich also nur folgenden Vorschlag machen:

25 7i'x \ö^ (DciXriQov V7ikQ rtiv]

26 ^ly.fXiüv jc()Oi]e[i ijcl nsvxe xai igiä]-

Die attische Periegese von Hawara. 213

27 xovra GTadiov\c tqltov (?) TBL%og ögts]

28 GVfinav y€lve[o^ai evMTÖv Ttevrsxai]-

29 dexa, deov riöv [ ]

§6. DieTheseusstadt.

30 0HCeoC6ProNHnoAI[. . .

31 [ ] [.]JLieNH[. . .

32 . . .]CYN(JUK1[. . .

33 . . .] . AJuieN . [. . .

34 . . .]'n A . [. . . Hier bricht der Papyrus ab.

Der Autor ist nun bei der Stadt angelangt. Er nennt sie nicht doTv, sondern Ttöhg, offenbar weil er sie zunächst als politisches Gebilde ins Auge faßt. In diesem Sinne wird Athen von ihm Qr]0€{co)g iqyov genannt, als die Stadt, die Theseus durch den Synoikismos zum einzigen politischen Mittelpunkt der Landschaft gemacht hat. Das owtoxi in 32 hatte ich schon früher auf diesen Synoikismos bezogen. Mehr habe ich auch jetzt nicht zum Text beizusteuern. Sollte, was mir nicht unmöglich erscheint, die Periode nicht schon in Z. 29, sondern in 30 mit Qrjoetog beginnen, so würde mit diesem Asyndeton mit rhetorischem Nachdruck die Beschreibung der Stadt als ein neuer Abschnitt des Werkes gekennzeichnet: Qrjoecog eqyov i) 7i6}u\g eoriv.

Als Ergebnis meiner Interpretation von Col. II stellt sich der Text mit Fortlassung des Unsicheren nun folgendermaßen dar:

Kolumne II.

§ 1 1 . . .\v GVV 7l[. . .

2 . . .\SQS . COT .[. . .

3 . . .]S7Cl 7tQ[. . .

4 , . .]lifievo[g . . .

5 vs(jo[Qioi?]g . 0 .[ . . . j(7i re xal 7t[

6 €T€q\01 ?]g 7t€QL€o[T]£f.lf.l€v[0V . . .

7 r]To[.]6 . . . . ev rfji Zeai l[ifxrjv . . .

8 vaioooiy.ovg tceqlexiov. iT[^dg ök fxsarjf^i]- (29 + Spat.)

9 ßgiav (OQolöyiov e .[.].[.] .[ xa]-

10 1^' öjQctv €7tißällsLV £y.äör\rjv ritjv oxidv] (30)

214 U^WlLCKEN

§2 11 löv iiXi[o\v. 'Ev ök rf] Movv[ixlai rd tc€qi]- (29 + Spat.)

12 ßör^TÖv ioriv 'Agrefiiöog {Ieqöv ^c£qi,\- (29)

13 TeTSi\xi\af.i£vov fisXior .,[...

14 aAf[. . . .]cüiTOv GQaav/in']öi]\. . .

15 ffo[ ] jraQCiOvaaci . . rc(\. . .

16 Y.ov[ ]i Xöyq) rgo[. . .

§3 17 y.ari'jyuyev. avi,uc[av . . . tov Uslqul]-

18 eLog TSixog ivsvrjlxovra 7C£Qi}ie]- (bis 30)

19 yJ.eiTcct araöicov ' l7c[ ]

§4 20 ascog €Q[y]ov. Ol ^t£T[a|t) öe tovtov ts rerj- (30+ Spat.)

21 TüQcixovra GTädio\i, xca rov äarsog] (28)

22 TtSQieyovTcu xeiyjjBai ßoQsLcoL rs ymI\ (30)

23 vorlioi. [^]x£Xr] ö' C(v[rä fiaxQa xaAovotv] (29)

24 oTux ccXö[y](x)g elXo[yi(x(braTa övtci dici\ (28)

§5 25 rf^g EvQd)7cr]g. 'Ex [ös 0ccIi]qov VTthq trjv] (28 + Spat.)

26 ^ly.eXiav TCQofi6[i srcl Ttevts y.al tqid]- (29)

27 y.ovra aTccöiov[g rgirovi?) rslyog &ots\ (29)

28 avuTcav y£ivs{G&ca ey.aröv 7tevTEyai\- (31) § 6? 29 öey.a, öiov rCov [ ]

§ 6? 30 Qriöe(i.o)g egyov i] 7töli[g . . .

31 [....].. \[.]^evr^[...

32 . . .]ovvci)yi[a£v . .

33 . . .] . ce/.i£v . [. . .

34 ...]v^ J.[...

Nr. 80.

Wie die Photographie zeigt, ist der Text oben wie unten, rechts wie links unvollständig. Bedauerlicher ist, daß in dem erhaltenen Teil die Schrift vielfach ganz oder zum Teil abgescheuert ist. Ich habe bisher nur folgendes lesen können:

1 ...jneT6[. ..

2 . . .]ToTHN . [. . .

3 . . .]XoPGYTAI K\. . .

4 . . .lAGTICA. [. . .

5 . . .]YnAP?Äl T[. . .

6 . . .].|.lCTAJULeNn[. . .

7 . . .] . oYKANeTinPoC|. . .

Die attische Periegese von Hawara.

215

9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

GNL ..

J

1N[. ..]...

]e(JU.AA[. .. . N . AI .n. H [

. HJXATUUNHTHN[. . .

]ACTUUTGXNHN . ![. . .

l[.]0NeKACT0Y.[. . .

']•[ ] [

A . . [.]AloN HrAP[ . . .]<t)0oNO[ ].AAA[ ]AAIN[

]•[

3 Der kleine Strich vor o für t zu schräg, passend für %. A Schluß: l oder ff. 7 Den Anfang habe ich erst nach Reinigung der Oberfläche lesen können. Ist auf der Photographie noch nicht sichtbar. 13 Anfang ein Horizontalstrich, der an r] anschließt, passend zu d-, o, r. 14 Hinter re%vrjv wohl Si oder h. 15 Der zweite Buchstabe vielleicht q, der erste vielleicht &>. 17 dyo[^]aZov nicht aus- geschlossen.

Unter den wenigen erkennbaren Wörtern sind nur einzelne, die uns ungefähr einen Aniialt geben, wovon der Autor redet. Dahin gehört xoQsvTcd in 3, wie ich nach einigem Schwanken statt TOQsvtaL lese. Wenn von Choreuten innerhalb einer Periegese die Rede ist, so mag ein Kunstwerk beschrieben sein, auf dem Chortänze darge- stellt waren. Doch könnte auch anläßlich der Beschreibung eines Theaters von Choreuten gesprochen sein. In 5 vrcägBca und in 7 oiy. äv exi nQog[ helfen 'nicht weiter. Wichtiger ist mir, daß in 13 von dva\d-ri(xäTiov die Rede zu sein scheint, wiewohl auch ar]/xüTiüv u. a. nicht ausgeschlossen ist. Damit ist die Erwähnung von rexvrjv in 19 zu verbinden. Diese geringen Spuren lassen immerhin ver- muten, daß der Autor hier ausführlicher als in 81 II bei der Be- schreibung von Kunstwerken verweilt. Insofern ist das kleine Frag- ment, das, für sich erhalten, wir niemals einer Periegese zugewiesen hätten, doch eine wertvolle Ergänzung zu dem größeren Fragment.

3. Die Periegese und ihr Autor.

Fassen wir die Ergebnisse der Textrekonstruktion zusammen. Da, wo das Hauptfragment anfängt verständlich zu werden, steht der Autor

216 U. WiLCKEN

bei der Beschreibung des Piräus. Die Hafenstadt hat er vielleicht schon vorher beschrieben, auch die drei Häfen wahrscheinlich schon genannt. Nun charakterisiert er genauer den Kantharoshafen als „umkränzt" von Werften u. a. und erwähnt in Zea den Hafen mit den Schiffs- häusern und die Sonnenuhr. In Munichia aber spricht er nicht nochmals vom Hafen, sondern erzählt nur vom Artemistempel. Mit der Summierung der Stadien der Ringmauer schließt seine Behand- lung des Piräus ab. Der Verfasser wendet sich nun zu den langen Mauern, die in einer Länge von je 40 Stadien den Piräus mit Athen verbinden, als „lange Schenkel" in Europa weitberühmt „nicht ohne Grund", wie er bemerkt. Daran fügt er einen Hinweis auf die zu seiner Zeit nicht mehr vorhandene phalerische Mauer (von [35] Stadien), die einst [von Phaleron] über die Sikeliahöhe lief, und schließt diesen Teil mit einer Summierung der Längen dieser drei Mauern. Nun wendet sich der Autor der Stadt Athen zu, die er als Tcöhg auf den Synoikismos des Theseus zurückführt. Hier bricht dies Fragment ab. In dem kleineren Fragment ließ sich nichts weiter vermuten, als daß hier vielleicht (?) anläßlich einer Beschreibung eines Kunstwerkes von Choreuten und später vielleicht (?) von Weih- geschenken oder auch Gräbern die Rede war.

Nach diesen spärlichen Resten ist es nicht möglich, ein festes Urteil über die Arbeitsweise unseres Autors zu gewinnen. Hätten wir einige Kolumnen mehr, oder wären auch nur die vorliegenden drei Kolumnen vollständig erhalten, so würde das Urteil vielleicht schon anders lauten, als wir nach den Fragmenten vermuten. Und doch müssen wir wenigstens einen Versuch machen und die Fragen stellen. Möge es weiteren Untersuchungen", zu denen diese Edition hoffentlich anregen wird, vorbehalten bleiben, unsere Periegese in die Pausaniasprobleme, die durch Roberts Buch soeben wieder in den Vordergrund gerückt worden sind, hineinzuziehen und sie für die Pausaniasfragen zu verwerten. Meiner Edition und mehr als eine solche kann und will ich zurzeit nicht bieten wird es zu- Iräglich sein, wenn ich sie mit jenen verwickelten Kontroversen nicht verquicke, sondern mich darauf beschränke, ihr ihren Platz in der Periegetik anzuweisen. Zumal sich herausstellen wird, daß unser Autor zu den ältesten dieser Art gehört, wird es zudem für seine eigene Erklärung zunäclist wichtiger sein, die Verbindung mit den Vor- gängern dieser antiquarischen Perigese, d. h. mit der alten ionischen

Die attische Periegese von Hawara. 217

Periegese, aufzudecken. Doch auch auf diese Fäden kann ich hier nur gelegentlich hinweisen.

Der Verfasser führt uns also vom Piräus über die langen Mauern nach Athen. Er gebraucht zwar wenigstens in dem kleinen Stückchen, das wir kennen keinen Ausdruck, der ihn direkt als Führer oder den Leser als Wanderer charakterisierte; er nennt die einzelnen Objekte nacheinander und stellt sie, die Sätze meist mit öe verbindend, einfach als vorhanden hin bezw. erzählt, wie bei der phalerischen Mauer, daß früher da oder dort etwas gewesen ist. Trotzdem kann er auch bei dieser Darstellungsweise die Absicht verfolgen, den Leser einen bestimmten Weg zu führen. Natürlich braucht das nicht ein Weg zu sein, den er wirklich einmal gegangen ist, oder den der Leser nun in Wirklichkeit gehen soll, sondern es wird ein Idealweg sein, den er, vielleicht nach zahlreichen Wan- derungen kreuz und quer, für seine Darstellung sich als besonders praktisch erdacht hat. Unverkennbar ist denn auch die topographi- sche Linie, in der die Objekte vorgeführt werden, wenigstens im Großen: Piräus die Schenkelmauern (mit geschicktem Seitenblick auf die phalerische Mauer) Athen. Komplizierter ist die Aufgabe innerhalb einer Stadt, wie dem Piräus. Zwar Kantharos Zea Munichia können eine Linie bilden, aber doch nur, wenn die Piräus- stadt, die zwischen Kantharos und Zea sich ausdehnt, von ihm übergangen ist. Sollte diese vielmehr, wie ich oben als möglich bezeichnete, vorher behandelt worden sein, dann würde innerhalb dieser Stadtbeschreibung eher eine systematische Anordnung uns entgegentreten: die Stadt (eventuell mit ihrer Geschichte) die Häfen die Mauern. Doch wir müssen mit zu vielen Unbekannten rech- nen, um über die Prinzipien der Disposition zu voller Klarheit zu kommen.

Nicht minder schwierig bei der Knappheit der Fragmente ist die andere Frage, wie weit der Autor sein Thema gefaßt hat, ob er nach einer gewissen Vollständigkeit gestrebt oder nach erkennbaren Gesichtspunkten eine Auswahl getroffen hat. Diese Frage ist hier um so schwieriger zu beantworten, als wir von der Beschreibung des Piräus nur den Schluß vor uns haben und nicht wissen, was etwa über Zea und Munichia schon vorher gesagt war. Vgl. S. 197 über den Artikel vor Zeai. Soviel scheint mir aber sicher, daß er das Bendideion von Munichia, wenn er es überhaupt erwähnen

218 U. WiLCKEN

wollte, nur in i? 2 neben dem Tempel der Artemis nennen konnte. Weniger sicher ist, ob er die Skeuothek des Philon, die zu seiner Zeit sicher existerte (s. unten S. 223), zugleich mit dem Hafen und den Schiffshäusern von Zea in § 1 nennen mußte. Daß er dieses glänzende und berühmte Bauwerk ganz übergangen haben sollte, ist kaum zu glauben, und man möchte daher auf die Ver- mutung kommen, daß er schon an jener verlorenen Stelle, an der Zäü zuerst genannt war, dieses Glanzstück sofort hervorgehoben habe. Aber mehr als bestenfalls eine Möglichkeit ist das nicht, und man wird zugeben müssen, daß das Natürliche gewesen wäre, die Skeuothek zusammen mit den Schiffshäusern von Zea zu nennen, wie auch in Inschriften und Autoren beide oft in einem Atem genannt werden, i) Zu einer festen Entscheidung reicht unser Material für die Skeuothek also nicht aus. Da er aber das Bendi- deion jedenfalls übergangen hat, wird man auch von unserm Autor sagen dürfen, was Robert kürzlich für Pausanias betonte (Pausa- nias als Schriftsteller S. 3 ff.), daß er eine Vollständigkeit in der Auf- zählung der Monumente nicht erstrebt, sondern nur d.iLoloy(b%axa. sich als Thema gestellt hat. Es ist schheßlich derselbe natürliche Standpunkt, den auch die Vorgänger unserer Periegeten wie z. B. Herodot eingenommen haben. Es scheint, daß unser Autor eine Vorliebe speziell für „berühmte" Monumente gehabt hat. Jeden- falls charakterisiert er den Tempel der Artemis Munichia als „den berühmten", und von den langen Schenkeln sagt er, daß sie euro- päischen Ruf hätten. Wenn meine späteren Ausführungen über die Sonnenuhr richtig sind (S. 223), so kann übrigens auch diese unter die aiioloyönuxu gerechnet werden.

Stofflich können wir in seiner Erzählung, um wieder die aus Pausanias geläufigen Ausdrücke zu gebrauchen, zwischen O^eioQijuara und Xöyoi scheiden, wofür wir das sachliche Vorbild auch wieder in der alten ionischen Periegese finden. Zu den d^eojgrjutTa ge- hören die Häfen, die Werften und Schilfshäuser, die Sonnenuhr, der Artemistempel, die Mauern in Nr. 81, sowie die Kunstwerke und Weihgeschenke (?) in Nr. 80. Ein genaueres Eingehen auf tech- nische Einzelheiten findet sich bei der Sonnenuhr, deren Zweck er- klärt wird, bei dem Artemistempel, der als 7ciQi]xexEixi<^!.ievor be-

1) Vgl. Milch liöf er bei Curtius, Stadtgeschiclite p. CXVl sq.

Die attische Periegese von Hawara. 219

zeichnet wird, und wahrscheinlich bei den Weihgeschenken in Nr, 80. Daß der Verfasser den Erbauer der Piräus-Ringmauer nennt (mit der Formel tov östvog eqyov) vielleicht (?) auch den des Artemis- tempels (vgl. S. 201) wie er in anderem Sinne auch den atheni- schen Staat als Qijasiog egyov bezeichnet, läßt vermuten, daß er auch sonst gern die Namen von Bauherrn, Künstlern usw. genannt haben wird.

Die Berücksichtigung der löyoi tritt namentlich darin hervor, daß er die Beschreibung von Athen mit dem Mythos von dem Synoikismos des Theseus beginnt. Auch an die Erwähnung des Artemistempels scheint ein ?Jyog angeknüpft zu sein, der aber dies- mal nicht aus der mythischen, sondern aus der realen Geschichte geschöpft zu sein scheint, doch ist die Stelle noch zu dunkel, um es sicher zu entscheiden.

Die Frage, ob der Autor aus Autopsie oder aus schriftlichen Quellen geschöpft hat, oder, um es von vornherein richtiger zu for- mulieren, in welchem Verhältnis Autopsie (nebst persönlicher Er- kundung) und schriftliche Quellen bei ihm stehen, kann mit einiger Sicherheit bei der Dürftigkeit der Fragmente wohl kaum beantwor- tet werden. Das Einzige, wobei der Gedanke an schriftliche Quellen sich uns nahelegt, sind die Maße für die Mauern, wiewohl man zu- geben wird, daß er auch über diese an Ort und Stelle Auskunft er- halten konnte. Hat doch auch Herodot, der, wie ich oben schon andeutete, innerhalb gewisser Teile seines Werkes, die ich gern als „logographische" bezeichne, ein Vorgänger der antiquarischen Pe- riegese ist, z. B. für Babylon die Maße der Mauern mitgeteilt, die er sicher nicht schriftlichen Quellen entnommen, sondern an Ort und Stelle erkundet hat. Daß unser Autor aber auch die Maße der nicht mehr vorhandenen phalerischen Mauer anzugeben weiß, dürfte immerhin mehr für eine schriftliche Quelle sprechen. Sonst habe ich in dem Text über die O-sojQt^fxara nichts gefunden, was nicht als Ergebnis von Autopsie und persönlicher Erkundung betrachtet werden könnte. Im besonderen spricht die Beschreibung der Sonnenuhr in ihrer naiven Schlichtheit viel mehr dafür, daß sie auf der eigenen, ganz unfachmännischen Beobachtung des Verfassers beruht, als daß sie aus einem Buche herübergenommen wäre. Auch das Urteil, das in dem ovy. dlöycog in Nr. 81, 24 liegt, spricht für einen persön- lichen Eindruck. Freilich würde das alles nur für die Autopsie

220 U. WiLCKEN

einer Vorlage sprechen , wenn H ä b e r 1 i n recht hätte mit der Ansicht, daß unser Papyrus nur ein „Auszug" aus einem der bekannten Periegeten der vorchristlichen Zeit sei. ") Ich habe ver- geblich nach irgendeinem Kriterium gesucht, das diese Vermutung rechtfertigte. Bis der Gegenbeweis erbracht ist, halte ich daran fest, daß wir eine Originalarbeit eines Periegeten vor uns haben. Na- türlich ist damit nicht ausgeschlossen, daß er Vorgänger gehabt habe, denen er dies und jenes entnommen hätte. Wieweit letzteres wahrscheinlich ist, hängt mit von der Frage ab, an welche Stelle der alten Periegetik unser Autor gehört. Und damit komme ich zu der Hauptfrage, in welcher Zeit unser Autor gelebt hat.

Den sichersten terminus ante quem gibt uns natürlich die Hand- schrift. Ich habe ihr Alter oben S. 194 auf rund 100 nach Chr. taxiert. Den weites'ten terminus post quem bietet uns die Geschichte dieser antiquarischen Periegese, der wir ohne Zweifel unsern Autor einzu- reihen haben. Erst in dem großen Spezialisierungsprozeß, durch den nach Alexander dem Großen die Einzelwissenschaften sich herausgebildet haben, hat sich aus der älteren geographisch-ethno- graphischen Länderbeschreibung wie einerseits die geographische, so andererseits die antiquarische „Perigese" im engeren Sinne entwickelt, wobei für letztere im Vergleich zu jenen Vorgängern namentlich ein noch stärkeres Hervortreten des kunsthistorischen Interesses charak- teristisch ist.

Innerhalb dieser weitesten Grenzen erhalten wir ein genaueres Datum, wenn wir schärfer ins Auge fassen, in welchem Zustand sich die Mauern Athens zur Zeit unserer Periegese befanden. Die pha- lerische Mauer, die schon während des peloponnessichen Krieges, wie es scheint, verfallen war, so daß sie 404 nicht erst geschleift zu werden brauchte und niemals wieder aufgebaut worden ist, wird von unserem Autor als ein Werk der Vergangenheit charakterisiert. Weiter hinab führt uns die Bezeichnung der langen Schenkel als ßöQsiov und vöTLov Tslyog, die uns auf den kononischen Neubau hinwies (S. 206). Noch einen Schritt weiter führt uns die Tatsache, daß der Verfasser von den 40 Stadien zwischen Piräus und Stadt im Praesens sagt: ;rfQi\e'/ovTui reiy\eGi. Im Gegensatz zur phalerischen Mauer stehen also diese Mauern noch aufrecht, eben-

1) Centralbl. f. Bibliothekswesen 1897, 356.

Die attische Periegese von Hawara. 221

SO auch der Peribolos des Piräus, denn das Perfectum ns- gi]yJx?.sicc(L war gleichfalls in präsentischer Bedeutung zu fassen. Daraus folgt zunächst einmal, daß unsere Schrift älter ist als die Zerstörung Athens durch Sulla im Jahre 86 vor Chr., denn damals wurde der Peribolos geschleift, während von den .langen Mauern schon vorher nur noch Stümpfe übrig waren. Da der Ver- fasser aber von den langen Mauern sagt, daß sie „nicht ohne Grund" in Europa berühmt seien, so hat er sie hiernach wahrscheinlich zu einer Zeit gesehen, als sie noch einen imponierenden Eindruck machen konnten. Selbst wenn man diese Ergänzung und Deutung von Nr. 81, 24/5 für zweifelhaft hält, bleibt doch jedenfalls bestehen, daß durch nsouxovrcu die langen Mauern als noch aufrechtstehend charakterisiert werden. Das Problem spitzt sich also zu der Frage zu: bis wann standen die langen Mauern [in imponierender Ge- schlossenheit] aufrecht da?

Wie Frickenhaus gezeigt hat (s. oben S. 203), waren die ur- sprünglichen kononischen Mauern Luftziegelbauten auf Steinsockeln. Die epigraphischen Zeugnisse belegen dies für die Piräusringmauer (Frickenhaus S. 5ff.), aber auch für die langen Mauern gilt dasselbe. Der Umschwung, den die Belagerungskunst durch die von Diony- sios zuerst geschaffene, von Philipp zuerst im Osten eingeführte Artillerie erfuhr, machte einen zeitgemäßen Umbau der Mauern not- wendig, da solche Ziegelbauten den Anforderungen der modernen Verteidigung nicht genügen konnten. So fing man in Athen in der Mitte des IV. Jahrhunderts an, auch die langen Mauern und die Piräusmauer nach und nach in Stein umzusetzen. Vgl. Fricken- haus S. 44ff. Zu den Jahren 337 und 306 vgl. die Inschriften bei Frickenhaus S. 20 ff. und 29ff. Abgesehen von den Mauerbauten im Jahre 306, die nur durch das Erscheinen des Demetrios Polior- ketes ermöglicht waren, ist, seitdem die Makedonier sich nach dem lamischen Kriege in der Munichia verschanzt hatten, für die sonsti- gen Mauern kaum etwas geschehen, und so sind im Verlaufe des 3. Jahrhunderts, wo die Makedonier mit gewissen Unterbrechungen weiterhin bis 229 Athen beherrschten, im besonderen die langen Mauern nach und nach verfallen, wozu außer dem geringen Interesse der Makedonier auch die mancherlei Kämpfe um Athen beigetragen haben werden. Seit Niebuhr nimmt man vielfach an, daß im Jahre 256 Antigonos Gonatas die langen Mauern geradezu geschleift

222 U. WlLCKEN

habe, als er das Museion räumte •), doch ist dagegen eingewendet worden, daß Strabo IX p, 396 nur eine Zerstörung durch die Lacedämonier (404) und durch Sulla (86) kennt. ■;) Jedenfalls waren die langen Mauern in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts als Verteidigungswerk aufgegeben. Daß sie in der Inschrift bei Ditten- berger, Sylloge^ 233 (nach 229) unter den auszubessernden Be- festigungen nicht genannt werden, ist mit Recht auf dieses Aufgeben gedeutet worden. Eine Bestätigung findet diese Annahme durch den Bericht des Livius XXXI 26, 8 zum Jahre 200. Man hat freilich bis- her, soweit ich sehe 3), hieraus immer nur die Worte inter angustias seminiti muh, qiii bracchüs diiobus Piraeiirn Athenis iiingit heran- gezogen, aus denen allerdings schon hervorgeht, daß die langen Mauern damals halb verfallen waren. Ich halte aber den vorher- gehenden Bericht in § 6 für nicht minder wichtig, wonach Philipp den Philokles gegen Athen schickte, während er selbst den Piräus angriff, ut, dum Philocles subeundo muros et comminanda oppugna- tione contineret urbe Athenienses, ipsi Piraeum levi cum praesidio relictum expugnandi facultas esset. Das ist doch schon dieselbe Situation, die Sulla im Jahre 87 vorfand, denn der Piräus könnte nicht levi cum praesidio relictus genannt werden, wenn durch die langen Mauern noch eine Kommunikation zwischen Piräus und Stadt bestanden hätte. Auch hätte Philokles in diesem Falle die Athener nicht auf die Stadt beschränken können. Folglich waren schon im Jahre 200 Piräus und Stadt zwei getrennte Festungen wie im Jahre 87.

Hiernach glaube ich mit Sicherheit sagen zu dürfen, daß unsere Periegese, die die langen Mauern noch in voller Festigkeit kennt, älter sein muß als 200, älter auch noch als die zweite Hälfte des 3. Jahrhunderts.

Hierzu kommt nun noch bestätigend ein anderes Argument, das ich aus der Beschreibung der Sonnenuhr folgere. Solche Horologien wie das hier beschriebene sind bei den Griechen, wie ich B i 1 - fingers Arbeit über „Die Zeitmesser der antiken Völker" |) ent-

1) Vgl. Wachsmuth, Stadt Athen 1 629 Anm. 1.

2) Judeich, Topographie S. 89 Anm. 1.

3) Vgl. z. B. außer Judeich a. a. O. aucli Milchhöfer bei Curtius, Stadt- geschichte p. CXIV.

4) Festschrift z. Jubelfeier d. Kberhard-I.udwigs-Gymnasiums in Stuttgart 188t^.

Die attische Periegese von Hawara. 223

nehme, erst in der Zeit nach Alexander dem Großen konstruiert worden, wie auch das in unserem Papyrus gebrauchte Wort wQa als Bezeichnung des Tages-Zwölftels nach seinen Darlegungen gleich- falls erst in dieser Zeit, zuerst bei Pytheas v.on Massilia, begegnet. Wieweit die Nachricht, daß Berossos, der dem Antiochus I. (281—261) seine babylonische Geschichte widmete, diese Hemizyklien erfunden habe i), historisch ist, lasse ich dahingestellt. Vielleicht ist dies wie anderes nur aus der allgemeinen Anschauung abgeleitet, daß Berossos den Griechen die babylonische Astronomie vermittelt habe. 2) Jeden- falls liegt auch dieser Tradition die Vorstellung zugrunde, daß die Griechen vor dieser Zeit derartige Horologien nicht gekannt haben. Damit ist freilich zunächst nur ein terminus post quem für unsern Autor gewonnen. Daß er es aber für nötig hielt, seinen Lesern zu erklären, was ein cbgolöyiov ist, wird besonders verständ- lich unter der Annahme, daß diese Erfindung damals noch etwas Neues war, das nicht jedermann kannte und auch ihm selbst noch als merkwürdig erschien. Kombinieren wir dies Argument mit dem aus der Geschichte der Mauern gewonnenen, so werden wir unsere Schrift etwa der ersten Hälfte oder dem Anfang des 3. Jahrhunderts zuschreiben können.

Vielleicht spricht auch noch folgendes für diesen Ansatz. Unser Autor weist, wo er von dem Ruhm der langen Mauern spricht, nur auf Europa als Ausbreitungsgebiet desselben hin. Er berücksichtigt also noch nicht die neue Griechenwelt, die sich drüben, jenseits des Wassers, in den Diadochenstaaten entwickelt hat. Er stammt noch aus der alten Zeit oder lebt doch noch in ihr. Auch dies ist um 300 verständlicher als in jüngeren Zeiten. Nebenbei bemerkt ist diese ausschließliche Betonung Europas wohl der einzige Anhalt in der Schrift für die Frage, aus welchem Kulturkreis ihr Verfasser stammt. Wenn er andererseits Europa und nicht blos Hellas in diesem Zusammenhange hervorhebt, so wird wohl namentlich an Einbe- ziehung von Sizilien und Unteritalien zu denken sein.

Jetzt endlich können wir die letzte Frage stellen, ob unser Autor mit einem der uns bekannten Periegeten gleichzusetzen ist, oder wenn nicht, welchen Platz er unter ihnen einzunehmen hat.

1) Vitruv IX 8, 1.

2j Vgl. Josephus c. Ap. I 129 und dazu Ed. Schwartz, Pauly-Wissowa III 316.

224 U. WlLCKEN

Die Liste ist bekanntlich klein genug. Der älteste ist D i o d o r o s „der Perieget", der sicher nach Alexander dem Großen und vor den letzten beiden Dezennien des 3. Jahrhunderts gelebt hat. ') Es fol- gen die großen Periegeten des 2. Jahrhunderts, P o 1 e m o n und Heliodoros. Von Kallikrates oder Menekles schließt man aus einem Fragment (FHG IV 450 n. 4), daß er vor der Sulla- nischen Zerstörung geschrieben hat. Die nur mit je einem Fragment vertretenen S t a p h y 1 o s und Telephanes (FHG IV 506 f.) lasse ich bei Seite. ^) Von D i o d oro s, der nach Obigem der einzige ist, der der Zeit nach als Autor unserer Schrift in Betracht gezogen werden könnte, haben wir nur Fragmente aus seinen Schriften „über Grab- denkmäler" {ttsqI fivT]fidriov) und über „die Demen", die wahrschein- lich, wie sein Titel ö TteQirjyrjT^g zeigt, nur Teile eines größeren peri- egetischen Werkes waren. Wenn also keine Beziehungen zwischen unserem Autor und Diodoros erkennbar sind, so würde dies noch nicht einmal gegen die Möglichkeit einer Identität sprechen, da wir aus den periegetischen Teilen des Diodorischen Werkes keine Frag- mente besitzen. Andrerseits spricht nichts positiv für die Identität. Dagegen scheiden Polemon und Heliodoros schon aus chronologischen Gründen völlig aus, denn es scheint mir ein gesicher- tes Resultat zu sein, daß unsere Schrift unmöglich dem 2. Jahrhun- dert angehört. So bleibt nur noch Kallikrates oder Menekles, dessen Gleichsetzung mit dem Menekles von Barka ganz in der Luft schwebt. Unter den wenigen Fragmenten, die wir aus seiner Schrift rcsQi l4^r]v(ov haben (FHG IV 449 ff.), die durch ihre knapp- gehaltenen, inhaltlich reichen Mitteilungen einen sehr guten Eindruck machen, genügt das schon oben S. 197 benutzte Fragment über den Kantharos (n. 4), um zu zeigen, daß seine Schrift nicht mit der unsrigen identisch ist. So müssen wir uns damit begnügen, unserem Autor seinen Platz in der Periegetik am Anfang des 3. Jahrhunderts zugewiesen zu haben.

Bleibt unser Autor aber auch ein Anonymus, so wird er trotz der Geringfügigkeit der Fragmente doch als Vorgänger des Polemon

1) Das früher geltende Argument, wonach Diodoros sicher vor 307 geschrieben haben sollte, ist von Ed. Schvvartz erschüttert worden. Vgl. Pauly -Wissowa V 662.

2) Die reizvollen Skizzen des Hcrakleidcs von Klazomenae (vgl. Kaibel in der Strena Helbigiana S. 143 ff.) gehören nicht in diesen Kreis hinein.

Die attische Periegese von Hawara. 225

und Heliodoros, als der vielleicht älteste der uns bekannten Ver- treter dieses ganzen Literaturzweiges, als der einzige bis auf Pau- sanias, der nicht durch Zitate anderer, sondern durch eine eigene Handschrift uns bekannt geworden ist, Anspruch auf unser Interesse erheben dürfen. Wir wissen jetzt durch diesen Fund Flinders Petries bei Hawara, daß noch in der Kaiserzeit solche Periegesen unter den Griechen Ägyptens ihr Publikum gefunden haben. Ich wünsche unserm hochverehrten Sexagenarius, daß er es erlebe, daß noch weitere Handschriften dieser Literatur dort zu Tage kommen, und zwar nicht in Fragmenten, sondern in wohlerhaltenen Rollen von vielen Metern Länge!

Graeca Halensis.

15

WiLCKEN, Die attische Periegese von Hawara.

81

.3^

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas

von

Benno Erdmann.

15*

I

Die Geschichte der Deutung und Wertung der Spinozischen Philosophie läßt sich in drei Perioden zerlegen.

In dem ersten Abschnitt, der die Zeit seit dem Erscheinen des Tractatus theologico-politicus (1670) bis um die Mitte der achtziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts umfaßt, gilt Spinoza dem öffent- lichen Urteil nicht sowohl als Philosoph, sondern vielmehr als einer der gefährlichsten unter den Deisten und Freidenkern, ja als Reprä- sentant des Atheismus. Die hauptsächlichsten Einzelheiten dieser Einschätzung sind dank sorgfältigen Spezialuntersuchungen bekannt, wenngleich auch gegenwärtig noch nicht zu einem wohlgeformten historischen Ganzen vereinigt.

Auf die Entwicklung der philosophischen Gedanken hat der Spinozismus während dieses Zeitraums, wie mir sicher scheint, keinen tiefergehenden Einfluß ausgeübt.

Die neueren Untersuchungen, die zur Stütze der alten Behaup- tung einer eingreifenden Einwirkung Spinozischer Gedanken auf die Konzeptionen der Leibnizischen Monadologie durchgeführt worden •sind, können nicht als gelungen angesehen werden, und es ist aus inneren Gründen wenig wahrscheinlich, daß in den noch ungehobenen Schätzen der Leibnizischen Papiere irgendwelche für eine solche An- nahme entscheidenden Gründe aufzufinden sind. Es fehlt gewiß nicht an Analogien der beiden, nach ihren leitenden Ideen so divergieren- den Weltauffassungen. Aber alle diese Analogien erklären sich aus den beiden Lehren gemeinsamen Fundamenten : aus der Einschätzung der mechanischen Naturauffassung und der durch sie bedingten mathematischen Instrumentation der wissenschaftlichen Methoden, sowie aus der speziellen Gestaltung dieser beiden Gedankenreihen in der Cartesianischen Philosophie. Von einem bestimmenden Ein- fluß der Spinozischen Philosophie auf die Lehren Malebranches, Berkeleys und Humes sowie auf die logisierende Systematik Christian Wolffs kann überdies keine Rede sein. Eine Abhängigkeit der

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Kantischen Lehren von Spinozischen Gedankengängen endlich hat nur auf Grund offenbarer Mißverständnisse behauptet werden können.

Somit bleiben für die Entwicklung der philosophischen Probleme in dieser Zeit nur die deutlichen Einflüsse auf einen Geist wie Tschirn- haus und vielleicht auf Hemsterhuys. Selbst Tschirnhausens Lehre aber besitzt für diese Entwicklung keine wesentliche Bedeutung. Auch den Deismus dieser Zeit wird man für eine solche Einwirkung nicht ins Feld führen dürfen. Denn fürs erste ist die Abhängigkeit der repräsen- tativen Lehren des Deismus von Spinozas Religionsauffassung ver- einzelt. Selbst bei Toland geht sie nicht tief. Nur einige der unter- geordneten Glieder dieser Vertreter der Aufklärung, wie Edelmann und Chr. Gabr. Fischer, sind von Spinozas Stellungnahme stärker beeinflußt. Sodann hat selbst der Deismus in England und Frank- reich in die Entwicklung der grundlegenden philosophischen Probleme nicht ernstlich eingegriffen; er bietet nur einen charakteristischen Zug in dem Bilde der Aufklärung.

Allerdings sind die Einwirkungen gerade des tiefsten Gehalts, den die Schriften Spinozas darbieten können, durch die matte Ent- wicklung der philosophischen Probleme in der eklektischen Popular- philosophie der Zeit nicht berührt. Was der kritische Sinn Lessings aus den Deduktionen des Philosophen herausgelesen hat, was die bewegliche Phantasie Herders sich aus dem Pantheismus Spinozas aneignete, wie Goethe sich selbst in Spinoza hineingelebt hat dies zeigt, daß eine Gemeinde freier Geister, jeder in anderer Weise, aus den metaphysischen und religiösen Intuitionen Spinozas sowie ihren* Folgesätzen schon damals reichste Anregung und höchste Erhebung gewann. Aber diese Einwirkungen hatten sich auch in den eben Genannten für das Zeitbewußtsein kaum erkennbar vollzogen.

Anders die zweite Periode, die mit der bekannten, viel um- strittenen kritischen Veröffentlichung Fr. Hnr. Jacobis „über die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn" (1785) beginnt und mit den historischen Untersuchungen der Lehre Spinozas geschlossen werden kann, die in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschienen sind.

Das. Vorgehen Jacobis zeigt, daß die Bedingungen für die An- erkennung der philosophischen Originalität Spinozas durch eben jene stille Gemeinde freier Geister geschaffen wurden. Er fühlt sich selbst als eines ihrer Glieder: „Es gibt so gut eine unsichtbare Kirche

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 231

der Philosophie, als eine unsichtbare Kirche des Christentums eine Gemeinschaft der Gläubigen. Das sichtbare Philosophentum wie das sichtbare Kirchentum will den Verstand abrichten, ihn die Wahrheit erfinden, mit Händen greifen lassen, will Gott machen. Esset, und ihr werdet sein wie Gott".

Das Verständnis, das die Philosophie Spinozas in diesen Kreisen gefunden hatte, traf das zeigt auch die von Jacobis Wertung weit abweichende Einschätzung Goethes nicht sowohl das tiefe ethische Pathos, sondern vielmehr den metaphysischen und religiösen Gehalt der Lehre. Jacobis Briefe waren geschrieben, „um die Unüberwind- lichkeit des Spinozismus von selten des logischen Verstandesge- brauchs darzutun, und wie man ganz folgerecht verfahre, wenn man bei dem Ziele dieser Wissenschaft, daß kein Gott sei, anlange". Er beharrt auch späterhin auf dem Urteil, daß Spinozismus Atheismus sei, daß ferner jeder Weg der Demonstration in den Fatalismus aus- münde. Aber dieser Atheismus ist für ihn nicht, wie bei den Vielen seiner Zeit, eine zu verabscheuende Gotteslästerung, sondern die charakteristische logische Konsequenz der Wissenschaft, die ihre eige- nen Glaubensgrundlagen unbeachtet läßt.

Die Bedeutung der Schrift Jacobis für die Einwirkung des Spino- zismus in diesem zweiten Abschnitt liegt nicht in dem vielseitigen Interesse, das der durch sie angefachte Streit um Lessings Spino- zismus hervorrief, auch nicht in Jacobis einseitiger, wenn auch doku- mentarisch reich belegter Charakteristik der Lehre Spinozas. Sie besteht vielmehr darin, daß sie leitende metaphysische Gedanken des Spinozismus offenbarte und in ihrer philosophischen Tragweite für eine rationalistisch fundierte Philosophie in eben dem Moment, möchte man sagen, anerkannte, in dem die Problemlage, die durch Kants Kritik der reinen Vernunft geschaffen war, zu einer Vertiefung des Spinozismus drängte. In der Tat war keine philosophische Überzeugung berufener, der metaphysischen Reaktion gegen Kants Einschränkung des spekulativen Vernunftgebrauchs auf der Basis des uneingeschränkten praktischen das Ziel zu weisen.

Dem unverkennbaren, wiederum von Jacobi zuerst deutlich for- mulierten Widerspruch zwischen dem kritischen Ergebnis von Kants transszendentaler Analytik und Kants Voraussetzung einer gesetz- mäßig wirkenden intelligibelen Welt von Dingen an sich entstammen die objektiven Bedingungen für jene Synthese des Kantianismus und

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des Spinozismus, die sich in den repräsentativen metaphysischen Systemen der Zeit kundgibt. Diese Synthese setzt ein mit Fichtes Konstruktion des absoluten Ich. Sie erweitert sich auf dieser Grund- lage unter Berücksichtigung der theoretischen Aufgaben der Natur- philosophie zu der absoluten Identität Schellings. Sie vertieft sich von hier aus metaphysisch in Hegels Lehre zu der Konstruktion einer absoluten Substanz, die zugleich Subjekt ist, sowie religiös zu dem Gott Schleiermachers. In allen diesen Fällen führt sie das bedingt der tiefgehende Einfluß der Kantischen Freiheitslehre zu einem Absoluten, das nicht in der logischen Ruhe der Spinozistischen Substanz beharrt, sondern, nach der repräsentativen Hegeischen Formu- lierung, in ewiger Selbsttätigkeit oder Selbstbewegung begriffen ist.

Selbst die Methode der Spekulation ist durch Spinozas Lehre vom />?/^//^c^«5 entscheidend mitbedingt: in ihrem Ausgangspunkt, der intellektuellen Anschauung, ebenso wie in der rationalistischen Umformung, die der transszendental-synthetischen Methode des Kan- tischen Kritizismus in den spekulativen antinomisch - synthetischen Deduktionen der genannten Denker zuteil wird. Selbst die äußere Form der analytisch-rationalen Ableitung Spinozas, das geometrische Verfahren, gewinnt bei Schelling gelegentlich neues Scheinleben.

Auch die philosophische Unterströmung der Zeit, die in der Metaphysik Schopenhauers vorliegt, zeigt Einflüsse des Spinozismus. Der absolute Wille ist gleichfalls ein Abkömmling der Spinozi- schen Substanz und des intelligibelen Dynamismus: ein unauf- hörlich, wenn auch intellektlos Tätiges.

Nur Herbarts Synthese des Kritizismus mit dem empirisch- psychologisch gewendeten Wolffianismus, die zweite metaphysische Unterströmung der Zeit, findet keinen Weg zum Verständnis der Spinozischen Gedanken; ebensowenig die psychologische, von Jacobis Glaubenslehre mitbeeinflußte Umbildung der Kantischen Philosophie zum Friesianismus.

Man darf demnach sagen: ein dynamisch vertiefter Spinozismus wäre aus dem metaphysischen Bedürfnis, das die von Kant ge- schaffene Problemlage gezeitigt hatte, selbst dann konstruiert worden, wenn er nicht in ontologischem Vorbild bei Spinoza vorgelegen hätte. // faiidrait tinventer.

Auch wenn wir unterlassen, die Kanäle zu verfolgen, durch die sich Spinozische Lehren in alle die mannigfachen Nebenströmungcn

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 233

der deutschen spekulativen Philosophie jener Jahrzehnte ergießen, wird verständlich, in wie hohem Maße seit etwa 1790 bis um das Ende des zweiten Jahrzehnts im neunzehnten Jahrhundert die Meta- physik Spinozas die ihr innewohnende produktive Energie offenbart.

Daraus aber erwuchs der Zeit noch eine andere Aufgabe, die sie der Philosophie Spinozas gegenüber zu erfüllen hatte. Es galt auch, ein historisches Verständnis der Lehre zu gewinnen, deren metaphysischer Gehalt so machtvoll in die philosophischen Ideen dieser Periode eingegriffen hatte. Sie war überdies kraft des historischen Charakters, der sich in der deutschen Spekulation allmählich aus sehr verschiedenartigen Ursachen, am deutlichsten in dem Hegeischen System, ausgeprägt hatte, berufen, diese Aufgabe erfolgreich in An- griff zu nehmen. Das bekunden die umfangreichen Geschichts- darstellungen der Philosophie, die um den Anfang des Jahrhunderts einsetzen; noch deutlicher diejenigen, die als Symptom der nach- lassenden systematischen Spekulation in der Zeit nach Hegels Tode begonnen werden; nicht zum wenigsten endlich auch die ver- schiedenen historischen Einzeluntersuchungen über Spinozas Lehre, die in eben diesen Jahrzehnten zutage treten.

In zweifacher Hinsicht tragen alle diese historischen Darstellungen und Untersuchungen die Signatur der Zeit.

In der Hochschätzung des sachlichen Gehalts der Ideen Spinozas fast durchweg einstimmig, gehen sie doch fürs erste in der Deutung dieses sachlichen Bestandes weit auseinander.

Die Gründe hierfür lagen zu einem Teil in der Beschaffenheit der Quellen: in der mehr verhüllenden als verdeutlichenden, weil zer- stückelnden geometrischen Darstellungsweise der Ethik Spinozas so- wie der Principia philosophiae Cartesianae-, in der Unabgeschlossen- heit des tiefsinnigen Tnictatus de intelledus emendatione und den vielfachen Abweichungen der Methodenlehre dieser Schrift von den Erörterungen im zweiten und fünften Buche des systematischen Hauptwerks; endlich in den mannigfaltigen Lücken, die jeder Ver- such offenbarte, die Ideen des Philosophen zu einer Einheit historisch zusammenzufassen. Aber jene Gründe lagen nicht minder in den divergierenden Standpunkten der Interpreten selbst, in dem also, was gerade bei der Deutung philosophischer Überzeugungen nicht aus dem Quellenbestande herausgeschöpft, sondern in diesen hineingegossen wird. Die produktive Energie der Ideen des Philosophen war noch zu

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stark, die innere Anteilnahme an ihnen noch zu lebendig, als daß die rechte historische Distanz gefunden werden konnte.

Auf diese Differenzen der historischen Erfassung und die durch sie bedingten Streitfragen einzugehen, ist nicht dieses Orts. Wir haben hier vielmehr nur noch des zweiten Moments zu gedenken, das die historische Spinoza-Literatur jener Tage als Kind ihrer Zeit charakterisiert.

Dieses besteht in der, wie ich sagen will, objektiv gerichteten historischen Deutung, d. i. in dem Streben, das vor allem durch den tiefgründigen metaphysischen Historismus Hegels bedingt war, nur den sachlichen Zusammenhang der leitenden Ideen der philo- sophischen Entwicklung, nicht auch die subjektiven Entwicklungs- bedingungen der einzelnen Systeme in Ansatz zu bringen. Man fand eine harmonisierende Synthese der divergierenden Gedankenreihen des Tradatiis de emeiidatione, der Briefe, sowie dessen, was man aus den Principia und ihrem Anhang als spinozisch herauslas, mit dem Lehrbestande der Ethik im wesentlichen unbedenklich. Ein solches Verfahren lag zudem um so näher, als über die Entwicklung der Gedanken Spinozas bis zu den letztausgearbeiteten Teilen der Ethik nur das ebengenannte literarische Material (abgesehen vom theologisch-politischen Traktat) vorlag. Denn dies alles, mit Ein- schluß der damals bekannten Briefe, bot für die Rekonstruktion der Problementwicklung, die der Philosoph durchlebt hatte, nur geringe Hilfen.

Die Bereicherung dieses Quellenbestandes durch den uner- warteten Fund holländischer Übersetzungen des verschollenen Trac- tatus brevis de Deo et homine ejusqiie felicitate sowie weiterer Briefe des Spinozakreises läßt mit dem Anfang der fünfziger Jahre den dritten Abschnitt der historischen Wirksamkeit des Spinozismus beginnen, um dessen Ende wir anscheinend leben.

Langsam einsetzend, dann, um den Beginn der sechziger Jahre, zu einem ersten, und um die Wende des letzten Jahrhunderts zu einem zweiten, geringeren, aber nicht weniger bedeutsamen Höhepunkt anschwellend, vollzieht sich die Kurve einer, um es gleich vorweg zu sagen, entwicklungsgeschichtlich fundierten Spinoza-Inter- pretation. Sie gibt den Versuchen historischer Inhalts- und Orts- bestimmung, d. h. der Einordnung des Lehrbestandes in die histo- rische Fortbildung der philosophischen Ideen, gleichsam ein anderes

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 235

Antlitz. Die Aufmerksamkeit ist nicht sowohl auf diese objektiven historischen Bestimmungen, als vielmehr auf solche gerichtet, die oben schon als subjektive historische bezeichnet worden sind.

In zwei einander allerdings vielfach durchkreuzenden Richtungen verlaufen diese Deutungsbestrebungen.

Fürs erste wird es eine reizvolle und dank dem neuen Material nicht mehr von vorn herein hoffnungslose Aufgabe, die Ausgangs- punkte und die Entwicklung der Gedanken des Philosophen fest- zustellen.

Ein erstes, gleichsam formales Erfordernis hierfür sind die äußeren Zeitbestimmungen der in Betracht kommenden Schriften Spinozas. Indessen sind solche nur für die Abhandlungen über die Prinzipien Descartes', den theologisch-politischen und den politischen Traktat sowie für einzelne Partien der Ethik in allem wesentlichen gesichert.

Diese aber reichen nicht aus, den entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen über die Lehrbildung des Spinozismus eine feste Grundlage zu geben; fast so wenig wie die äußeren Daten für die Be- stimmung der Reihenfolge der Platonischen Dialoge. Die Forschungen dieser Art sind deshalb vorwiegend auf die inneren Daten angewiesen, die sich aus dem Gedankengehalt der Schriften ableiten lassen. Solche Rekonstruktionen sind jedoch in jedem Fall unsicher. Sie hängen stets nicht sowohl von dem vorliegenden Gedankenbestande, als vielmehr, psychologisch gesprochen, von den apperzeptiven Er- gänzungen ab, die der Interpret an diesen Bestand heranbringt und in ihn hineinträgt. Für die Quellenfrage der Entwicklung Spinozas sind diese Schwierigkeiten besonders große. Das bezeugen schon die seltsamen Irrungen, denen die Deutung des Anhangs der Schrift über die Prinzipien Descartes', der Cogitata metaphysica, vor und nach den entscheidenden Darlegungen Freudenthals ausgesetzt war. Eben dies beweisen die widerstreitenden Ergebnisse der Ver- suche, die allmähliche Ausgestaltung der „Ethik" bis zu der uns vor- liegenden Schlußredaktion zu verfolgen. Dasselbe zeigt sich endlich in den weit voneinander abweichenden Annahmen über den Gehalt und die Komposition des kurzen Traktats.

Daß die Trennung dieser materialen von den zuvor genannten formalen Daten nach beiden Richtungen hin niemals reinlich voll- zogen werden konnte, braucht kaum gesagt zu werden; ebenso.

236 B. Erdmann

daß ihre tatsächliche Verknüpfung, wie in allen ähnlichen Fällen, nicht dazu angetan ist, unsichere Daten hier, unsichere Annahmen dort durchweg sicherer zu machen.

Diese Unsicherheit mußte die subjektiv gerichtete Forschung dazu antreiben, auch in der zweiten, oben bereits erwähnten Richtung Ergänzung zu suchen. Soweit die immanenten Daten für die Rekonstruktion der philosophischen Entwicklung versagten, waren die gleichsam transszendenten heranzuziehen, die in den Abhängig- keitsbeziehungen dieser Entwicklung von den Bedingungen des historischen Milieus liegen. So trat die objektive historische Unter- suchung in den Dienst der subjektiven.

Von sehr verschiedenen Seiten aus drängten sich bei so ge- richtetem Suchen insbesondere in den früheren Arbeiten des Philo- sophen, aber auch in den später von ihm vollendeten Schriften Analogien und Gegensätze auf, die historische Abhängigkeiten nahe- legten und die bis dahin feststehenden Beziehungen dieser Art zum Teil aus ihrer Stellung verschoben.

Eine kurze Skizze soll die Mannigfaltigkeit der Abhängigkeits- beziehungen, die bei solchem Suchen gefunden worden sind, so vergegenwärtigen, daß sie für die methodischen Schlußbemerkungen dieser Erörterung eine ausreichende Grundlage bilden.

Einflüsse der jüdischen Religionslehre und Religionsphilo- sophie, die Spinozas jugendliches Fühlen und Denken erfüllt haben, erschienen nicht nur für die religionsphilosophischen, religionsgeschichtlichen und kritisch -biblischen Ausführungen des theologisch-politischen Traktats, sondern, vom Talmud und der Kabbala an bis hin zu den Ausläufern der Religionsdichtung und Scholastik der mittelalterlichen jüdischen* Kultur, auch für den meta- physischen Gehalt der philosophischen Schriften bedeutsam.

Auch tiefergreifende Einwirkungen des Averroismus, die schon durch Levi ben Gersons Kommentare vermittelt sein könnten, sind angenommen worden.

Alt ist ferner, wie auch diese Analogien zum Averroismus an- deuten, das kritisch abweisende Urteil, das Spinoza als einen typischen Repräsentanten irrgläubiger Scholastik ansehen läßt. Keiner von denjenigen, die so glaubten richten zu dürfen, hatte sich indessen der Mühe unterzogen, irgendwelche umfassenden Belege für eine Abhängigkeit Spinozas von der christlichen Scholastik nach-

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 237

zuweisen. Zumeist war vielmehr auf katholischer wie protestantischer Seite die Neigung vorhanden, den „Bruch" mit der christlichen Scholastik, den nach dieser Auffassung Descartes zuerst vollzogen hatte, als einen so radikalen anzusehen, wie er dem unhistorischen Denken von Descartes selbst erschienen war. Kann man sich doch eine ganze Liste von abfälligen Urteilen zusammenstellen, die zeigen, in welchem Gegensatz sich auch Spinoza zu der gesamten Scholastik wußte. Zudem war die Kenntnis der christlichen Scho- lastik (bis zum ausgehenden sechzehnten und der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts) bei den meisten deutschen Geschichts- schreibern der Philosophie bis in das letzte Drittel des vorigen Jahr- hunderts hinein gering. Es bedurfte der reichen Arbeit französischer und belgischer Gelehrter und der sich ihr anschließenden Ausgaben, Spezialuntersuchungen und allgemeineren Darstellungen, die ins- besondere unter Baeumkers trefflicher Leitung in den „Beiträgen zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters" (seit 1891) erschienen sind, um hier Wandel zu schaffen.

Erst auf der Grundlage der so möglich gewordenen besseren Einsicht in die geistige Arbeit der Scholastik konnte sich die Unter- suchung aufbauen, die nicht nur ein sicheres Verständnis der viel- umstrittenen Cogiiata Metaphysica, des Anhanges also zu der kleinen Schrift über die Prinzipien Descartes', möglich machte, sondern auch die starken Einflüsse scholastischer Bestimmungen auf die meta- physischen Grundbegriffe der (Cartesianischen Philosophie, sowie der) Lehre Spinozas dartat. Gerade daß die bekannte Abhandlung Freudenthals ins einzelne ging, war von entscheidendem Gewicht; es verschlägt demgegenüber wenig, daß sie im einzelnen verblieb.

Schon vordem hatte die überraschende Problemlage in dem schwer entwirrbaren kurzen Traktat die Aufmerksamkeit Kundiger auf die mannigfachen Analogien hingelenkt, die sich in ihm und von da aus auch in der Ethik zu dem Helldunkel der metaphysischen Spekulationen Giordano Brunos auffinden lassen. Bereits Jacobi hatte (in der ersten Beilage zur zweiten Ausgabe seiner Briefe über die Lehre des Spinoza) auf Parallelen des Brunoschen und des Spino- zischen Pantheismus aufmerksam gemacht. Jetzt schienen noch mannigfaltigere Parallelen fähig, die Annahme weitreichender Ab- hängigkeit, ja die Hypothese einer ersten Brunoschen Phase der Ent- wicklung Spinozas zu tragen.

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Neuerdings sind auf Grund von Parallelen der Erkenntnislehre des kurzen Traktats auch historische Beziehungen zu Campanella behauptet worden.

Eine ganze Reihe von Zügen der Ethik und noch mehr des kurzen Traktats bietet ferner deutliche Analogien zu neu platoni- schen Gedankenreihen. Da diese Spekulationen die gesamte ara- bische, jüdische und christliche Philosophie durchsetzen, lag es nahe, auch hier (indirekte) Einflüsse zu vermuten.

Nicht minder schlagende Anlogien lassen sich in den ethischen Gedankenreihen des Philosophen, und nicht ausschließlich in diesen, zu der stoischen Philosophie nachweisen. Auf Grund eindringender und feinsinniger historischer Betrachtungen ist das nicht reichliche Material, das älteren Hinweisen auf diese Beziehungen zur Stütze diente, beträchtlich, auch durch Hinweise auf Telesius, vermehrt worden.

Auch für die methodologischen Erwägungen des Philosophen, denen vor allem die tiefgedachte, leider an den entscheidenden Punkt abbrechende Abhandlung de emendatione gewidmet ist, sind kürz- lich nicht eben nahe liegende, Abwehr bedingende Einflüsse der Baconischen, sowie Zustimmungen zu der Methodenlehre von Hobbes angenommen worden.

Die von vornherein zweifellosen Abhängigkeiten der Spino- zischen Lehre haben durch diese entwicklungsgeschichtlichen Be- trachtungen in verschiedenem Maße Änderungen erfahren.

Am wenigsten berührt sind die offenkundigen Einwirkungen der Staatstheorie von Hobbes auf die Spinozas. Weder die Ein- stimmigkeiten, die sich von den beiden Denkern gemeinsamen natur- rechtlichen Voraussetzungen aus ergeben und wenigstens zum Teil direkt auf das Studium des Leviathan hinweisen, noch die Un- stimmigkeiten, die aus den ungleichartigen politischen Verhältnissen in England und den Niederlanden sowie aus den verschiedenen Be- stimmungen der Beziehung zwischen Wissen und Glauben, Staat und Kirche bei Hobbes und Spinoza abzuleiten sind, konnten durch d.e neu angenommenen anderen Einflüsse in Mitleidenschaft gezogen werden. Immerhin sind die Abweichungen zwischen Spinozas Stellung zu diesen Fragen in dem theologisch- politischen Traktat und der Ethik sowie dem Tractatus politiciis dankenswert geklärt worden. Auch die Abhängigkeiten des erstgenannten Traktats von der

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 239

religionspolitischen Lage um 1668 in den Niederlanden konnten genauer bestimmt werden. Daß diese „zeitlichen" Abhängigkeiten im Sinne der imaginatio Spinozas neuerdings stärker betont worden sind, als der „ewige", Spinoza allein kongeniale Gehalt der Schrift zuläßt, ist von geringem Belang. Als ein TcäqeQyov ig rd nagaxQfjßa kann der Traktat schon nach den Schlußzeilen seines Vorworts an den lector philosophiis auf die Dauer nicht mißverstanden werden.

Stärker hat die Fülle der neu konstruierten, früher kaum er- wogenen Abhängigkeiten von der stoischen Philosophie, dem Neu- platonismus, dem Averroismus, der jüdischen und christlichen Scholastik, den Spekulationen Campanellas und Brunos sowie den den Methodenlehren von Bacon und Hobbes die ebenso entschei- denden wie zweifellosen Einflüsse der Cartesiani sehen Philo- sophie auf Spinoza affiziert. Obgleich auch neuerlich wiederholt, mehrfach nach rein objektiv historischen Gesichtspunkten erörtert, sind sie doch im ganzen unter dem Eindruck der neu angenommenen Einwirkungen in den Hintergrund der historischen Diskussion ge- treten. Sie sind gleichsam infolge ihrer historischen Nähe für den in die historische Ferne gerichteten Blick undeutlich geworden.

Im Hintergrund geblieben sind die Einwirkungen, die bei Spinoza nicht weniger als bei Descartes, Malebranche und Pascal, bei Gassendi und Mersenne, weiterhin bei Leibniz und selbst bei Locke der seit dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts restaurierten mechanischen Naturauffassung entstammen. Wie in den älteren allgemeinen Darstellungen der Geschichte der Philosophie, so ist auch in der neueren Spinozaforschung die Bedeutung dieses Faktors für die Umbildung der Cartesianischen zur Spinozischen Philosophie nicht ausreichend gewürdigt worden, während sein Ein- fluß auf die Genesis der Philosophie Descartes' und Leibnizens sorgsam prüfende, wenn auch teilweise rationalistisch umfärbende Untersuchung gefunden hat. In diesem Punkt hat die subjektive Methode, die für diese Einwirkung wenig Ansätze siehl; wir wissen Spinoza schon in den frühesten Briefen, die wir von ihm besitzen, unter ihrer vollen Herrschaft , die Einschätzung gehindert, die sie für jede objektive historische Betrachtung erlangen muß.

Daß der Gehalt der neueren Arbeiten über Spinoza (von den beiden kürzlich erschienenen, entgegengesetzt gerichteten, aber gleich stark zu Bedenken herausfordernden deutschen Werken sei

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abgesehen) durch die vorstehende kurze Charakteristik nicht er- schöpft sein soll, sei ausdrücklich betont. Es war in dieser Skizze alles Einzelne bei Seite zu lassen. Auch der holländischen Gesamt- ausgabe der Werke, der neuen deutschen Übersetzungen, unter denen die Ausgabe von Baensch besondere Anerkennung verdient, sowie der materialreichen und sorgfältigen Arbeiten über die Lebens- geschichte Spinozas und das Milieu seines Kreises ist hier nur mit diesen Worten zu gedenken.

Dem Gewinn an historischer Einsicht in die Lehre Spinozas, den hiernach die letzten Jahrzehnte gebracht haben, entspricht kein Zuwachs der sachlichen Wirksamkeit des Spinozismus. Die deter- ministische Neigung unserer Zeit wird aus anderen Quellen, insbe- sondere naturwissenschaftlichen Gedankengängen gespeist. Auch Fechners Erneuerung der Hypothese des psychophysischen Paralle- lismus entstammt nicht dem substantialen Parallelismus Spinozas; nur in einigen neueren Fortbildungen dieser Hypothese sind Ein- wirkungen des Spinozischen Gedankenkreises erkennbar. Für die empirisch gerichteten psychologischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Untersuchungen, die den Beginn einer Wiedergeburt der Philosophie in unserer Zeit anzeigen, kommen Ausgangspunkte, Ziele und Methoden in Betracht, die dem Rationalismus Spinozas geradezu entgegengesetzt sind.

Selbst die rationalistischen Unter- und Gegenströmungen, die sich mit zunehmender Stärke geltend machen, sind, auch so weit sie neuerdings über Kant hinaus und zu der nachkantischen deutschen Metaphysik zurückführen, zur Zeit von dem Spinozischen Geist nur wenig affiziert. Noch sind in diesen wie den zuvorgenannten An- trieben zu systematischer Arbeit überdies die tatkräftigen Impulse zu umwälzender, nicht rückwärtsschauender, sondern vorwärtsdrängen- der Neugestaltung der Weltauffassung nur vereinzelt. Darüber, was weiterhin von dem unvergänglichen Gehalt der sachlichen und methodologischen Gedanken des Spinozismus zu neuem Wirken erwachen wird, hat die Zukunft zu entscheiden.

Für die historische Untersuchung bleiben jedoch bei aller Aner- kennung der Leistungen in den letzten Jahrzehnten Aufgaben übrig, die schon jetzt gestellt werden können. Ich versuche, sie kurz zu formulieren, und beginne mit dem Hinweis auf wünschenswerte Vor- arbeiten zu der eigentlichen Forschung.

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 241

Keiner Ausführung bedarf fürs erste, wie viele Mühe jedem, der ein tieferes sachliches oder historisches Verständnis der Lehre Spinozas sucht, ein sorgsam gearbeitetes Spinoza-Lexikon ersparen würde. Die Schriften Spinozas bedürfen einer solchen Zusammenfassung dringen- der als die Schopenhauers.

Freilich ist das keine Anfänger- und keine schnell zu erledigende Arbeit. Ist auch der Umfang der Schriften Spinozas nicht beträcht- lich, so bringt es doch seine Darstellungsweise in der Ethik, sowie der Aufbau des kurzen Traktats und das Fehlen einer Schlußredaktion für den ausgearbeiteten Teil der Abhandlung de emendatione mit sich, daß ein und derselbe Gedanke in verschiedenen Zusammen- hängen in verschiedenen Nuancierungen wiederkehrt.

Und durchaus nicht immer lassen sich diese Variationen durch eine harmonisierende Interpretation vereinigen. Vor einer solchen wird sich der Lexikograph sogar in besonderem Maße zu hüten haben. Die Entscheidung im Einzelfall ist Sache der Forschung, der er eine möglichst vollständige und unbefangene Vorarbeit zu liefern hat. Es ist deshalb in jedem Falle notwendig, die Stellen aus den verschiedenen Schriften zu trennen, selbst dann, wenn, was nicht häufig der Fall ist, kein Unterschied des Gedankenbestandes merkbar ist. Denn Unterschiede der Gedankenführung sind fast stets vorhanden. Selbstverständlich endlich darf dieses Lexikon, das ich in alphabetischer Artikelfolge voraussetze, weder die Termini Spinozas, noch die etwa wörtlich anzuführenden Belege aus den Schriften des Philosophen in Übersetzung bringen. Die philo- sophischen Schriften Spinozas gehören zu denjenigen, die sich gegen jeden Übersetzungsversuch ganz besonders sperrig verhalten. Zu solchem Versuch ist seine Terminologie im ganzen zu fest und von der unseren, auch wo sie lockerer bleibt, zu verschieden. Nur unter diesen Bedingungen kann es gelingen, die größeren unter den ein- zelnen Artikeln zu kondensierten Abhandlungen zu gestalten, wie sie etwa der Index Aristotelicus bietet.

Allerdings stellen sich der Durchführung eines solchen so dankens- werten wie entsagungsvollen Unternehmens nicht eben wenige inter- pretatorische Schwierigkeiten im einzelnen entgegen. Selbst wenn Hegels Urteil wahr wäre, daß das System Spinozas „sehr einfach und im ganzen leicht zu fassen sei", blieben diese Verwickelungen des Einzelnen bestehen.

Graeca Haiensis. 16

242 B. Erdmann

Kann ein Lexikon diesen Einzelaufgaben der Interpretation nicht gerecht werden, so kann es auch eine zweite Aufgabe nicht lösen. Es kann den Leser der Ethik, sowohl denjenigen, der sich in der Weise jener stillen Gemeinde an der Tiefe der metaphysischen Ge- danken und der magnanimitas der ethischen Gesinnung zu erheben vermag, als auch den, der sich historisch oder sachlich forschend betätigen will, auf die notwendigen Ergänzungen aus den Schriften Spinozas selbst, die historischen Vorbedingungen seiner Lehre und die bedeutsamen sachlichen Parallelen nicht unmittelbar hinweisen.

Dieses Bedürfnis vermag vielmehr nur eine kommentierte Aus- gabe der Ethik zu befriedigen. Eine solche würde zugleich noch eine andere interpretatorische Hilfe geben können und müssen, die ein Lexikon nicht zu gewähren vermag. Wer die wissenschaftliche Literatur über die Lehre Spinozas einigermaßen kennt, weiß, wie divergente Auffassungen und Einschätzungen nicht nur der leitenden Ideen und des Gesamtgehalts, sondern auch der einzelnen Aus- führungen seit alters vorhanden und in den letzten Jahrzehnten ins- besondere reichlich hervorgetreten sind. Gedrängte Hinweise auf diejenigen unter diesen widerstreitenden Deutungen, die sorgsam Begründetes oder durch rechte Intuition Erfaßtes enthalten, sind auf die Dauer nicht zu entbehren. Diese Aufgabe stellt bei Spinoza nicht weniger als sonst ganz besondere Anforderungen an den wissenschaftlichen und künstlerischen Takt des Herausgebers. Und es handelt sich um eine kommentierte Ausgabe der Ethik, nicht um einen Kommentar der Kommentatoren, nicht also um bedeutungslose Vollständigkeit in der Angabe dessen, was Hinz und Kunz gemeint haben, sondern um ein Heranziehen alles dessen, was dem Ver- ständnis hilft, somit im einzelnen um eine knappe kritische Diskussion streitiger Punkte und im ganzen um deutliches Herausheben der leitenden Ideen aus der zerstückelnden Darstellung des Werks.

Es sind Forderungen philosophischer Gelehrsamkeit und wissen- schaftlichen Spezialistentums, die in diesen beiden Wünschen zum Ausdruck kommen. Und unser akademischer Betrieb bringt es mit sich, daß sich gelehrter Ballast pro nihilo oder für eine selten unterbrochene Bibliotheksruhe auch auf philosophischem Gebiete, den Geist hemmend, der unser philosophisches Denken beherr- schen soll, aufhäuft. Wer jedoch bedenkt, welche immer neu ent- stehende Mühe durch rechte Lösung der hier besprochenen Aufgaben

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 243

den künftigen Generationen erspart und welche Grundlage für weiterführende Untersuchungen auf diese Weise geschaffen wird, der wird anerkennen, daß solche Unternehmungen not tun. Wir brauchen, je länger, desto mehr, ökonomische Organisation der wissenschaft- lichen Arbeit auch für die philosophische Forschung.

Um so mehr sei betont, daß vor der Hand wie späterhin Dringenderes zu tun bleibt. Auch die subjektive historische Methode leidet an den Schwächen ihrer Vorzüge. Es ist vielleicht kein Be- standteil des unmittelbaren und mittelbaren historischen und geo- graphischen Milieus für Spinoza aufzufinden, der in diesen Unter- suchungen unbeachtet geblieben wäre. Wer indessen überschaut, wie viele und wie verschiedenartige Einflüsse dieses Milieus für die Konzeption der leitenden Ideen Spinozas und ihre systematische Aus- führung geltend gemacht worden sind, und wie stark fast eine jede von ihnen als wesentlich behauptet worden ist, der muß sich fragen, was denn nach dem allen als selbständige Leistung des Denkers übrig geblieben sei. Der Blick für die Originalität der Synthese droht bei der Aufmerksamkeit auf die scheinbare Fülle des ver- knüpften Materials verloren zu gehen. Die Gefahr erscheint um so größer, wenn beachtet wird, wie häufig auch hier zur Regel geworden ist, aus dem post ein propter zu machen, Analogien zu früheren Gedankengängen, die sich ungezwungen als selbständige Folgerungen aus den gestaltenden Ideen ergeben, zu Belegen historischer Ab- hängigkeit umzustempeln, wie leicht endlich auch hier der Spätere geneigt ist, Annahmen historischer Einflüsse, die der Vorgänger nur als mögliche ausgesprochen hatte, für gesichert zu nehmen und auf solcher Grundlage weiterzubauen.

Es liegt im Wesen der subjektiven Methode, daß sie, sobald sie die „Tathandlungen" des schöpferischen Genius nicht genügend berücksichtigt, zu einer kollektivistischen Geschichtsbetrachtung ver- führt, in der schließlich das Individuum nichts, das Milieu alles gilt. Und wer, der sich ernstlich bemüht hat, den Geist des Spinozismus zu erfassen, ehe er sich angelegen sein ließ, ihn zum Objekt seiner Kritik zu nehmen, kann zweifeln, daß Spinoza den Größten zuzu- rechnen ist, die aus dem Geist des Rationalismus heraus mit der diesem Geiste eigenen objektiven Zuversicht um eine Lösung der letzten und tiefsten Fragen unseres Denkens und Wollens schwer ge- kämpft und gelitten haben? Die historisierende Nietzsche- und Marx-

16*

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Literatur der Ablehnenden kann in diesem Punkt zur Warnung dienen.

Es fehlt uns zurzeit eine zusammenfassende kritische Diskussion der Abhängigkeitsbeziehungen, die in den letzten Jahren als mehr oder weniger maßgebende Bedingungen für die Entwicklung der Lehre Spinozas behauptet worden sind. Wer jedoch die Argumen- tationen für und gegen diese Einwirkungen im einzelnen prüft, wird bereit sein zuzugestehen, daß die meisten kaum als ausreichend fun- diert angesehen werden können. Wir reichen mit Nachwirkungen der christlichen Scholastik, die noch tiefer greifen, als aus Freuden- thals überzeugender Zusammenstellung ersichtlich wird, der mecha- nischen Naturauffassung und ihrer Ausbildung in der Cartesianischen Philosophie, wie mir scheint, für die Entwicklung der eigentlichen Philosophie Spinozas im wesentlichen aus. Selbst die mannigfal- tigen Analogien zu den neuplatonischen Gedankengängen lassen sich als selbständige Bildungen einer ursprünglich zugleich natura- istisch und ethisch - religiös gewendeten, späterhin rationalisierten Mystik verstehen. Spinozas Philosophie ist die originale Synthese eines tief religiös gestimmten und zugleich gedankengewaltigen, durch schwerstes Leid erprobten und ethisch gereinigten Geistes, zwischen der Gedankenführung und dem metaphysischen Gedanken- gehalt der christlichen Scholastik sowie der sieghaften, geometrisch instrumentierten mechanischen Naturauffassung der Zeit, wie sie im Cartesianismus zum Ausdruck gekommen war. Darin ist sie den Philosophien von Geulincx und Malebranche ähnlich, obgleich sie diesen zugleich durch ihre allgemein menschliche Unkirchlichkeit und Unchristlichkeit entgegengesetzt und beiden, auch der Lehre von Malebranche, an dauerndem Gehalt weit überlegen ist: jene beiden die Repräsentanten der rechten, Spinoza der Repräsentant der linken Seite der Cartesianischen Schule.

Deshalb scheinen mir die Analogien zum Neuplatonismus von der historischen Unwirksamkeit auf die Lehrbildung des Spinozismus nicht ausgenommen. Der Neuplatonismus bietet in sich selbst wie nach seinen Einwirkungen auf die spätere religiös zentrierte Speku- lation nur ein an Gedankenfülle kaum erreichbares Vorbild für die Wege, die jede so zentrierte Spekulation auch aus eigener Kraft ge- wandelt ist und wandeln wird. Die religiöse Grundstimmung der Ethik Spinozas und selbst des kurzen Traktats, die jeder Unbefangene

Betrachtungen über die Deutung und Wertung der Lehre Spinozas. 245

durch allen offenbaren Gegensatz gegen überlieferte religiöse Über- zeugungen hindurchfühlt, reicht aus, alle die Wendungen verständ- lich zu machen, die an neuplatonische (und christliche!) Mystik er- innern.

Die sachlichen Analogien und Gegensätze zu anderen zeitgenössi- schen und früheren Richtungen des Philosophierens, deren Aufweis wir der entwicklungsgeschichtlichen Spinozaforschung der letzten Jahrzehnte verdanken, verlieren dadurch, daß diese ihre entwicklungs- geschichtliche Bedeutung bestritten wird, nichts an dem Wert, den sie für die objektive historische Untersuchung besitzen. Zudem sollte im Vorstehenden selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß jene Analogien und Kontraste Spuren der Imponderabilien für die Gedankenbildung anzeigen mögen, die jedes historische Milieu mit sich führt, die sich jedoch, eben als solche, jeder historischen Feststellung entziehen.

Noch ein zweites methodologisches Moment möchte ich erwähnen. Die subjektive und die objektive Methode der historischen Unter- suchung sind berufen, sich wechselseitig zu ergänzen. Sie sind je- doch nach ihrem Ziel und der Art ihrer Betrachtung so verschieden, daß es auf die Dauer nicht angeht, die eine schlechtweg in den Dienst der anderen zu stellen. Eine solche Dienststellung aber ist in der speziellen Spinozaliteratur der letzten fünfzig Jahre der ob- jektiven Methode wiederholt zugewiesen worden. Die Einordnung des gereiften Spinozismus in den objektiven Zusammenhang der philosophischen Problementwicklung ist in diesem Zeitraum deshalb weniger fortgeschritten, als das Verständnis für die subjektiven Be- dingungen der gedanklichen Entwicklung des Philosophen selbst.

Wenn alle diese methodischen Erwägungen zusammengefaßt werden, scheint mir eine letzte angezeigt.

Eine synthetische Rekonstruktion der Lehre Spinozas, eine Darstellung also, in der die Ansatzpunkte und die Bedingungen ihrer Ausgestaltung als gegeben vorausgesetzt, etwa dem kurzen Traktat entnommen werden, bleibt vorläufig auf Grund der Beschaf- fenheit dieses Materials und der sonstigen Quellen für die Entwick- lung Spinozas bedenklich. Wir stehen nicht einmal auf festem Boden, wenn wir den Lehrbestand und die methodischen Gedanken der Ethik in dem Lichte betrachten wollen, das von der Abhandlung de emendatione und den Briefen Spinozas ausstrahlt. Das muß sich

246 B. Erdmann, Deutung und Wertung der Lehre Spinozas.

noch jedem fühlbar gemacht haben, der versucht hat, die schwierigen Lehren von der imaginatio, dem intelledus (der ratio und intuitio), den Definitionen und ihrem Verhältnis zu den Axiomen und Propo- sitionen, endlich der Methode der Ableitung aus dem Gottesbegriff überhaupt von den Ausführungen jenes Traktats (oder gar vom trac- tatus brevis) aus zu einem Ganzen zu verarbeiten.

Unter diesen Bedingungen scheint es mir vorerst geboten, statt solcher synthetischen Rekonstruktionen eine analytische durch- zuführen, d. h. den Lehrbestand der Ethik in der uns vorliegenden Redaktion zugrunde zu legen und von diesem aus alle übrigen Schriften, insbesondere die unabgeschlossenen und nicht sicher datier- baren, zu beleuchten, speziell dem kurzen Traktat die zentrale Stel- lung zu nehmen, die ihm bei entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung angewiesen werden muß. Auch dieser Boden ist an einer ganzen Reihe von Stellen schwankend. Die scheinbare Regelmäßigkeit der geometrischen Deduktion überdeckt bekanntlich mannigfache Lücken und Unebenheiten teils der Gedankenführung, teils der vieljährigen Redaktion.

Auf diesem Wege wird die objektive Methode der geschichtlichen Forschung auch für Spinoza wieder ertragreicher werden. Ihre Er- gebnisse werden dann auch denjenigen helfen, denen es nicht um Forschung, sondern um das mitempfindende Verständnis eines der tiefsten und reichsten Geister zu tun ist. Und das wird nicht der geringste ihrer Erträge sein. Dann kann es auch nicht fehlen, daß sie diejenigen innerlich fördert, die nicht ein geschichtliches Ver- ständnis, sondern die Sache selbst suchen. Und das wird der größte Gewinn sein, den sie zu erzielen vermag.

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