/Aanne Biological Laboratory Library Woods Hole, Massachusetts ?-.y ^^^^r* GESAMMELTE ABHANDLUNGEN ÜBER ENTWICKELUNGSMECHANI DER ORGANISMEN VON WILHELM ROUX, O. ö. PROFESSOR DER ANATOMIE UND DIBECTOR DES ANATOMISCHEN INSTITUTS ■ ^. ZD HALLE A/S. ERSTER BAND. ABHANDLUNG I-XII, VORWIEGEND LBER FUNCTIONELLE ANPASSUNG. MIT 3 TAFELN UND 26 TEXTBILDERN. LEIPZIG VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 1895. Alle Rechte, auch das der Uebersetzung, einschliesslich von Einzel-Abhandlungen, vorbelialten. Druck der Kgl. üniversitStsJruckerei von H. Stürtz in Würzbarg. Einleitung. Nachdem ieli vor nunmehr 17 Jahren meine Untersuchungen über Ursachen menschlicher und thierischer Gestaltungen begonnen hatte, ist zunächst eine erhebliche Anzahl von Jahren ver- gangen, ehe cüesen Bestrebungen eine mehr als vereinzelte Beachtung zu Theil wurde. Erst in letzter Zeit haben sich, nach bisher blos gelegentlicher Betheiligung anderer Autoren, einige junge Forscher- gefunden, welche gleichfalls solchen causalen Untersuchungen sich zu widmen und methodisch auf dem neu betretenen Gebiete zu arbeiten gewillt scheinen. Aber das Interesse für die exacte ursächliche Forschung in der Zoo-Morphologie hat in den letzten Jahren erheblich an Ausbreitung und Intensität gewonnen; dafür legen der Inhalt und die Verbreitung des vor einem .Jahre von mir gegründeten Archives für Entwickeln ngs- mechanik bereits ein erfreuliches Zeugniss ab; und es ist zu hoffen, dass dieses Organ wesentlich zur Stärkung dieser neuen Forschungs- richtung beitragen werde. Demnach erscheint wohl auch die Veranstaltung einer Gesammt- ausgabe meiner Abhandlungen nicht mehr als ein zu grosses Wagniss der um die Förderung der Wissenschaft verdienten Verlagsbuchhand- lung; denn bei der Bedeutung, welche der Erforschung der näheren und entfernteren Ursachen der organischen Gestaltungen an sich zu- kommt, und da einmal das Interesse geweckt ist, darf vielleicht er- wartet werden, dass diese Neuausgabe eine nicht blos auf den engsten Forscherkreis beschränkte Verbreitung finden werde. IV Einleitung. In zwei Bänden vereinigt werden die bislier in verschiedenen, zum Theil seltenen Zeitschriften zerstreuten Abhiuidknigen hier darge- boten, soweit dieselben vor dem Erscheinen des Archivs für Entwicke- lungsmechauik veröffentlicht worden sind. Eine einzige, nicht dem gleichen causalen Zwecke dienende Abhandlung, Nr. 12, wurde gleich- falls mit aufgenommen, weil dadurch die Ausgabe zugleich zu einer Gesammtausgabe meiner wissenschaftlichen Arbeiten wurde. Auf einem Gebiete so überaus innig mit einander verknüpfter schwieriger, ja zum Theil unlösbar scheinender Probleme, wie dem der Ursachen der thierischen Gestaltungen, bedürfen wir beim Be- ginne dauernder Forschung vor allem eines Weges der Forschung, der uns gestattet, in den bisher geschlossenen Problemencomplex einzudringen, ihn zu zerlegen und die Einzelprobleme gesondert in Angriff zu nehmen. Einen solchen Weg glaube ich in Nr. 13 — 15 gezeigt zu haben (des Specielleren geschah dies neuerdings in der „Einleitung" zu dem Archiv für Entwickelungsmechauik). Wegweisend im engeren Sinne wirken auch die Hypothesen in der Wissenschaft. Indem anzunehmen ist, dass die heuristische Leistung der von mir aufgestellten Hypothesen sich noch nicht er- schöpft hat, mag ihr Mitabdruck seine Berechtigung finden, obschon auch sie, wie erfahrungsgemäss fast alle Hypotheseia, wohl nur vor- übergehenden Werth haben werden, da die Hypothesen mit den Fortschritten der thatsächlicheu Kenntnisse zu wechseln pflegen. Gesicherte Thatsachen dagegen stellen den bleibenden Schatz der Wissenschaft dar. Ich glaube, dass die von mir ermittelten That- sachen grösstentheils als zu dieser Classe gehörig werden befunden werden ; dies, obschon manche der jetzigen Nachuntersucher bisher nicht dasselbe als ich, sondern z. B. statt der Regeln nur die Regellosigkeit gefunden haben. Die Regelmässigkeit jedoch ist eine Beschränkung, welche meist erst bei Ausschluss der Fehler hervortritt ; Regellosigkeit dagegen wird nicht nur da gefunden, wo keine Regelmässigkeit vor- handen ist, sondern auch, trotz letzterer, noch so lange, als Versuclis- fchler am Resultat einen erheblichen Anthcil haben. Gefundene Ab- weichungen beruhten andererseits auch darauf, dass che neueren Einleitung. Autoren an anderen Objecten, sogar an amloren Tliierstämmen zu- gehörigen Objecten meine Versuche nachmacliten, oder dass sie das gleiche Object in abnorme Bedingungen versetzten; es sollte über- flüssig sein, zu erwähnen, dass aus unter solchen anderen Verhalt- nissen gefundenen abweichenden Ergebnissen nicht geschlossen werden tlarf, dass die frülieren Befunde nicht richtig seien. Bisher ist nur ein relativ kleiner Theil des Inhaltes der Abhand- lungen in das allgemeine Wissen der Fachgenossen übergegangen; das gilt nur bezüglich einiger Thatsachen und Hypothesen, die zufällig bereits Gegenstand der Controverse geworden sind. Doch auch von diesen haben nur die Hauptzüge Beachtung resp. Verständniss gefunden. Das feinere Detail, welches oft den Werth einer Thatsache bestimmt und ihre Beziehungen zu anderen, sei es schon bekannten oder noch unbekannten Thatsachen herzustellen geeignet ist, ist grossentheils, selbst von gleichfalls causal strebenden Forschern, noch ungewürdigt geblieben. Dasselbe gilt von den Argumentationen. Es erschien mir früher genügend, von neu erfundenen Versuchs- methoden das Princip sowie die Art der Beseitigung besonderer Schwierigkeiten mitzutheilen Die in den letzten Jahren begonnenen Nachuntersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Nachuntersucher meist nicht gewillt waren, sich in die Sachlage genügend zu vertiefen, um eigene Erfahrungen auf dem Gebiete zu erwerben; sondern dass sie blos mechanisch das Vorgeschriebene des Versuches wieder- holten und dann bei Vernachlässigung der für den Mitdenkenden selbstverständlichen und daher nicht erwähnten Cautelen verwundert waren, das angegebene Resultat, z. B. Hemiembryonen nach dem Anstechen einer der beiden ersten Furchungszellen des Froscheies, nicht wahrzunehmen. Bei der Fassung der von mir ermittelten Thatsachen habe ich mich stets bestrebt, sie weder bestimmter noch allgemeiner zu formu- liren, als dies zur Zeit sachlich begründet war. A'ieles wurde daher nur unter allerhand Einschränkungen geäussert, welche jedoch von den Nachfolgern oft nicht berücksichtigt worden sind; was dann zu irrthümlichen Unterstellungen Veranlassung gab. VI Einleitung. Auch der Umstand, dass es mein Bestreben ist, niclit lilos eine, die Iicrvortretendste, sondern alle in ei-kennbarerAVcise an einem unter- suchten Vorgange betlieiligten Componenten zu berücksichtigen, hat sich als zur Zeit nachtbeilig erwiesen, insoferne ein Theil des betref- fenden Publicums es vorzog, sich an die einfacbere Fassung solcher späterer Autoren zu halten, welche blos die augenfälligste Componente berücksichtigten und welche ihr ohne weiteren Beweis eine bestimmte Fassung gaben, wie es z. B. bezüglich der einstellenden Wirkung der ,, Gestalt" der Furchungszellen auf die Theilungsrichtung derselben der l'^all war. Zudem glauben und versuchen einige Autoren auf (hcsem noch so wenig erschlossenen Gebiete bereits durch weitgehende Specu- lation etwas erreichen zu können und schätzen ihre Theorien für werth voller als die bereits vorliegenden, aber nicht zu ihnen passenden Thatsachen. Diese Arten des Verhaltens sind Characteristica des Anfangs- stadiums, in welchem sich che causale Forschung auf dem Gebiete der Zoomorphologie noch befindet. Da aber die Objecte der thierischen Entwickelungsmechanik zum Theil erheblich complicirtere ^'erhältnisse darbieten als diejenigen der causalen Phytomorphologie, so ist um so mehr zu wünschen, dass erstere Richtung bald das Stadium der Ge- wissenhaftigkeit und Exactheit erreichen möge, in dem sich der letztere, bereits einige Decennien ältere Zweig der Biologie schon befindet. Das jetzt im Erwachen begriffene Interesse für die directe ursächliche Forschung in der Zoobiologie und die mit iliiii verbundene ausge- dehntere Pflege dieser Forschungsrichtung berechtigen wohl zu der Hoffnung, dass die neue Disciplin auch bald aus diesem Anfangs- stadium herauskommen werde. Aus dem grossen, vor Kurzem noch geschlossen vor uns liegenden, d. h. unserer Forschung fast unzugänglich erscheinenden f'omplex unbekannter ,,gestalt en der Wirkungsweisen" und ihrer Ursachen, durch welche die Ontogenese sich vollzieht, sind in den naehstehendeu Abbandlungen einige der Untersuchung /Aigän glich ge- macht oder wenigstens der Inangrift'nahme ihrer Ermittelung näher geführt worden. Einleitung. VII Im crstpn Bande wird noch ein altes aber wichtiges und prac- tiscli bedeutungsvolles Problem behandelt, das der „morphologischen l'unctionellen Anpassung", also die zweckmässig gestaltende Wir- kungsweise der Function auf das sie vollziehende Substrat. Einerseits wurde der Umfang dieser Wirkungen des Weiteren ermittelt und insbesondere dargelegt, dass nicht nur, wie bereits bekannt, die Grösse und gröbere Gestaltung der Organe sondern auch dieStruc- tur und die feinere äussere Gestalt der Organe auf das Zweck- massigste durch dieses Princip ausgebildet zu werden vermögen. Damit empfing unsere Kenntniss von dem Antheil des LAMARCK'schen Principes an der zweckmässigen Ausgestaltung des ,, Individuums" eine erhebliche Erweiterung. Das Einzelne anlaugend, wurde zunächst che Gestaltung des Lumens der Blutgefässe als eine feinste functionelle Anpassung der lebenden Wandung an die hämodynamischen Kräfte des Blutstrahles erkannt (Xr. 1 und 2). Weiterhin wurde in der Schwanzflosse des Delphin (Nr. 7) eine „functionelle Structur" aufgefunden, welche in einer Weise das Mannigfaltigste und Zweckmässigste mit den ein- fach.sten Mitteln darstellt, die ohne ein bekanntes Beisj^iel in der Lebe- welt dasteht. Gegen diese Leistung der lebenden Materie erscheint die vielbewunderte zweckmässige Structur der Knochen, z.B. des Oberschenkelhalses geradezu primitiv, so viel Probleme auch die Ent- stehung der letzteren noch einschliesst; diese sind in Ni". 9 (und Bd. II, Nr. 18) etwas gefördert. lu Nr. 8 ist die dimensionale Beschrän- kung der Activitätshypertrophie der Muskeln, insbesondere die Selbst- regulation der morphologischen Muskellänge erwiesen und ihre Entstehung zu erklären versucht worden. Ferner wurden diese überaus verschiedenartigen, direct zweck- mässigen Leistungen an Stützorgaueu und an activ fungirenden Organeu von einer und derselben, in der Hauptsache homogenen Wir- kungsweise, nämhch von der trophischen Wirkung der func- tionellenReize resp. der Vollziehung derFunction, abgeleitet. (Nr. 4.) Als neues, das sogenannte Zweckmässige hervorbringendes gestal- tendes Princip ist in Nr. 4 zugleich der züchtende Kampf der VIH Einleitung. Theile bez. seine Wirkung die Theilauslese im Organismus ein- geführt und in den qualitativen und gestaltlicben Einzehvirkungen dargelegt worden '). Auch dem Wesen des Lebens wurde etwas näher zu treten gesuelit und zugleich auf die bisher nicht berücksichtigte Möglichkeit der ersten Entstehung des Lebens durch successive Züchtung jeder seiner Grund functionen hingewiesen (Nr. 4, Cap. V). Im ziveiten Bande werden specifische Probleme der embryo- nalen Eutwickelung aufgesucht und behandelt. Nach allgemeinen Untersuchungen über das Wesen der ent- wickelungsmechanischen Aufgaben (Nr. 13) und über die zu ihrer Lösung nöthige Methode (Nr. 13, 14 u. 15) wurde, um das Hauptsäch- lichste hervorzuheben, Folgendes geprüft resp. ermittelt: A. Bezüglich der Entwickelung des ganzen Eies: 1. ob äussere ,, gestaltende" Einwirkungen zur Entwicke- lung des befruchteten thierischen Eies nöthig sind (Nr. 19); 2. ob die „normale" individuelle Entwickelung von ihrem Beginne an ein bestimmt geordnetes System von Rich- tungen ist (Nr. 16); 3. wann zuerst die Hauptrichtuugen des Embryo • im Ei bestimmt werden (Nr. 20); 4. wodurch dies geschieht (Nr. 20 und 21); 5. welches die Bedeutung der normalen Fm'chmig des Eies in Bezug auf qualitative Materialscheidung ist (Nr. 20 u. 22); (i. wo an der Blastula des Froscheies das Material des Central- nervensystemes gelagert ist, und unter welchen Material- umlagerungen sich die Gastrulation vollzieht (Nr. 20 u. 23) ; 1) Diese im ersten Band vereinigten Abhandlungen bilden zugleich die theoretische Grundlage zu einer w isscnschaftlhhen Orthoyädi c. Es wäre wohlan der Zeit, dass die OrtliopiUien anfingen, von der bisherigen fast rein empirischen Behandlung ihrer wich- tigen Disciplin abzugehen und sich auf analytischem und experimentellem Wege mit an der Erforschung der »gestaltendenReactionen" der „einzelnen" Gewebe und der nächsten Ursachen dieser Reactionen zu betheiligen, statt fort und fort aus den an ihrem Krankenmatcriale sich darbietenden, zudem nicht in ihrem Verlaufe microsoopisch zu verfolgenden gleichzeitigen Reactionen mehrerer Gewebe un- bestimmte oder unrichtige Schlüsse zu ziehen. Siehy hierüber Bd. 11, S. 47 u. f. EinleituDS. IX 7. welche Wirkung bestimmt localisirte Defecte am Ei auf die Bildung des Embryo hervorbringen (Nr. IS u. '22); 8. welches der Ort der gestaltenden Kräfte einzelner bestimmter Gebilde ist: ob sie dem gestalteten Gebilde resp. Theile selber innewohnen (Selbstdifferenzirung) , oder ob sie ausserhalb desselben liegen (abh äugige Differen- ziruug), insbesondere, ob die zur Gestaltung einer seit- lichen oder vorderen Hälfte des Embryo nöthigen Kräfte im ganzen Ei oder in der ihrer Lage nach entsprechen- den einen der beiden ersten Furchungszellen sich befinden (Nr. 18, 22 und 26); 9. ob freier Electricität im Ei ein Antheil an der gestaltenden Entwickelung desselben zukommt (Nr. 18); 10. ob Deformation des in Zellen getheilteu Eies einen wesentlich die Differenzirung alterirenden Einfluss ausübt (Nr. 28, 29); 1 1 . dass es nöthig ist, für die Entwickelung des Individuums zwei wesentlich verschiedene Entwickelungs- arten, eine normale s. tj'pische und eine atypische s. regulatorische (regeneratorische) Entwickelung zu unter- scheiden (Nr. 26, 27, 28, 31); 12. dass die von mir entdeckte Postgeneration der ur- sprünglich nicht gebildeten Körperhälfte durch diff ercn- zirende Wirki;ngenvon Zelle zuZelle stattfindet, welche zunächst von den Zellen der primär entwickelten Embryohälfte ausgehen (Nr. 22). B. Von dem Verhalten der einzelnen Zellen des Eies wurde geprüft: 13. welche Wirkung eine der Furchungszelle passiv gegebene Gestalt auf die Richtung der nächsten Theilung hat (Nr. 20, 29, 31); X Einleitung. 14. ob die Richtung des electrisclien Stromes einen Einfluss auf die Richtung der Befruchtung und der ersten Ei- tlieilung auszuüben vermag (Nr. 25); 15. ob den Furchungszellen ein Vermögen der Selbstord- nung zukommt. Solclies Vermögen wurde erkannt als stattfindend a) unter noch von einander entfernten Zellen (Cytotro- pismus) (Nr. 32); b) unter sich berührenden Zellen (Nr. 32); 16. welche gestaltenden Wechselwirkungen zwischen Zellleib und Zellkern stattfinden (Nr. 20, 21, 29, 30, 31 und 33). 17. Weiterhin wurde neben Anderem, liier nicht Erwähntem, z. B. zu ermitteln gesucht, auf welcher nächsten Ur- sache die von mir beobachtete Specialpolarisation der einzelnen Zellen der lebenskräftigen Morula und Blastula gegenüber der, dem Verhalten eines noch un- gelheilten Eies gleichenden, Genernlpolarisation der geschwächten Morula und Blastula beruht (Nr. 2ö). Ein neues Erwachen ,, naturphilosophischer", zugleich auch wieder zu schnell fertiger Denkweise scheint sich darin zu bekunden, dass weniger die ermittelten Thatsachen Interesse erweckt haben, als die aus ihnen abgeleiteten theoretischen Folgerungen, und zwar von ihnen wiederum besonders die mehr zu heuristischen Zwecken gezogenen entferntesten, noch weit in den Bereich des Unbekannten hinein- greifenden, also sehr hypothetischen Folgerungen, über welche man mit Recht verschiedener Meinung sein kann, da manche dieser ver- schiedenen Auffassungen sich zur Zeit mit Argumenten belegen lassen, deren reeller Werth noch nicht sicher beurtheilt werden kann. Bezüglich der I{e(hi et ion der gesammelten Abhandlungen ist Folgendes mitzutheilen. In der Reihenfolge der Abiiandlungen wurde mehr auf die Zu- sammengehörigkeit des Inhaltes als auf Chronologie geachtet. So Einleitung. XI sind z. B. die drei alloemeiiien Erörterungen ül)er Ziele, Wege und Hedeutuno- der Entwackelungsmechanik (Nr. i;-3 — 1.")) unniittelimr ncKen einander gestellt. Da jede derselben ausser dem mit den anden-n Gemeinsamen Besonderes enthält, nnd da dem \'erfasser wiederhol! der Vorwurf zu condensirter Darstellung gemaeht worden ist, so wird \äelleicht selbst die aufeinanderfolgende Leetüre dieser Abi landlungen gleichen Themas nicht als ermüdende Wiederholung empfunden werden. Die Darstellung wurde vielfach im Sinne leichterer Verständlich- keit verbessert, ohne den Inhalt zu verändern. Ausserdem aber wurden zahlreiche inhaltlich neue Zusätze eingefügt, welche durch Einschluss in eckige Klammern [] kenntlich gemacht sind; sie ent- halten theils neue Beobachtungen, neues Beweismaterial oder neue Auffassungen des Verfassers, theils Besprechungen von anderen Autoren erhobener Einwendungen. Durch diese Zusätze wurde der Neudruck der Abhand- lungen zugleich auf den gegenwärtigen Standpunct der Erfahrungen und Auffassungen des Verfassers gehoben. Ausser einigen persönlichen Bemerkungen ist aus den Abhand- lungen nichts entfernt; von einigen kritischen Referaten sind dagegen nur einzelne Stücke, unter Angabe ihrer Abkunft, au bezüglichen Stellen angefügt. Der ursprünglich meist continuirlich gedruckte Text der Abhand- lungen wurde der leichteren Uebersicht wegen durch zahlreiche, neu eingefügte Abschnittüberschriften gegliedert. Aus demselben Grunde und zur Erleichterung des Verständnisses ist von dem gesperrten und anderem hervorhebenden Satz ein weit ausgedehnterer Gebrauch ge- macht worden als in den Originaldrucken. Es wird jetzt gebräuchlich, über jeden einzelnen eigenen Gedanken oder auch nur über eine Aenderung eines fremden Gedankens eine eigene Schrift, sei es für sich oder als Rectorats- oder Academierede zu verfassen und so die Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Geistes- product zu lenken. Im Gegensatze zu dieser Weise war ich immer bestrebt, die knappste Form und einfachste Publicationsweise für meine Beobachtungen und Gedanken anzuwenden. So ist denn manche XII Einleitung. Fruclit vielfacher BeobaclUungen oder ernsten Nachdenkens über schwierige Probleme als gelegentliche Einschaltung in andere Arbeiten eingestreut ; eine Methode, welche für das Bekanntwerden der so ver- öffentlichten Ergebnisse als wenig geeignet sich erwiesen hat. Um meine Abhandlungen auch nach dieser Richtung hin zu erschliessen , ist die Gesaramtausgabe mit einem detaillirten, dem zweiten Bande beigegebenen Sachregister ausgestattet worden; ferner wurden viele Hinweise auf aufeinander bezügliche Stellen in den Text eingefügt. Keine dieser beiden Methoden ist für sich voll- kommen ausreichend; wer aber beide Hin weisungsarten ausnutzt, wird in kurzer Zeit alle auf den Gegenstand des jeweiligen Interesses bezüglichen Aeusserungen in beiden Bänden auffinden können. Freilich wird der Gebrauch dieses Registers dem noch nicht mit dem Stande der Disciplin Vertrauten auch manche Enttäuschung bereiten, indem er beim Nachschlagen nicht selten statt des concreten Inhaltes blos die neu aufgestellte Kategorie, statt der Lösung blos die Formulirung des Problems findet. Hin Weisungen im Text auf erst später gedruckte Theile konnten nur unter Verwendung der zu diesem Zwecke jeder einzelnen Abhand- lung beigegebenen und über jeder linken Seite befindlichen Nummer sowie der dem Text eingefügten, durch fetten Druck und Einschluss in eckige Klammern leicht auffindbar gemachten Zahlen der Original- paginirung z.B. [147] geschehen (z. B. : s. Nr. 4, S. 180). Hinweisungen auf bereits Gedrucktes geschahen dagegen einfach durch Verwendung der Seitenzahlen der gesammelten Abhandlungen (z. B. : s. S. 100); da beide Bände zugleich gedruckt wurden, konnten letztere Hinweisungen auch von einem Band auf den andi-ren stattfinden. Bei jeder Hin- weisung auf einen anderen Band wurde die Zahl desselben in römischer Ziffer beigefügt (z. B.: s. II, S. 104; s. I, S. 412). In Folge dieser übersichtlichen Organisation der gesannnelten Abhandlungen wird sich, wie ich hoffe, auch die bisherige Polemik über meine theoretischen Auffassungen wesentlich vermindern, insofern ein erheblicher Theil dieser Differenzen darauf beruhte, dass die betreffenden Autoren über die von mir ermittelten Thatsachen und die aus ihnen abgeleiteten Folgerungen nicht genügend unterrichtet Kinleituiig. XIII waren, viclloielit weil sie ihre bezüglichen Kenntnisse statt aus den, die betrett'enden Themata eingeliend behandelnden Original- arbeiten nur aus den kurzen und daher notliwendiger Weise weniger exacten Zusanunenfassungen (Nr. 26 und 27) entnorumen liatten. Daraul' deutet auch hin, dass wiederholt AulTassungen, welche in diesen Originalabhandlungen mehrfach erörtert und begründet sich finden, später von anderen Autoren als neu und zum Theil sogar augeblich als gegen mich gerichtet aufgestellt und vertheidigt worden sind, wie z. B. das Vorkommen differenzireuder Correlationen bei der normalen Ontogenese. Ich verhehle mir jedoch nicht, dass ein so umfängliches Werk wie das vorhegende keinen so ausgedehnten Leserkreis zu gewärtigen hat, als jene auch schon auf unserem Gebiete in letzter Zeit verbreiteten kurzen Darstellungen, welche auf Kosten wissenschafthcher Exactheit, nämlich unter Uebergehung der bereits erkannten Schwierigkeiten und Complicatiouen der sachlichen Verhältnisse den behandelten Gegenstand „einfach" er- scheinen lassen; daher werden auch die dieser Ausgabe eingefügten Berichtigungen solcher Darstellungen nicht sogleich die weitere Ver- breitung derselben zu lündern vermögen. In einem ,,Nachworte", Nr. 33, habe ich zum Schlüsse meine theoretischen Auffassungen über die gegenwärtig im Kampfe der Meinungen stehenden, in Abhandlungen des zweiten Bandes behan- delten Probleme so kurz als möglich im Zusammenhange dargestellt ; was aber nur unter steter Hinweisung auf <.he frühereu Einzeldar- stellungen geschehen konnte. Ausserdem wurde jedem Bande eine Zusammenfassung seiner Hauptergebnisse in Form einer Zusammenstellung von Regeln und „gestaltenden Wirkungsweisen" angefügt. Diese Zurückführung zahlloser organischer Eiuzelgestaltungen auf eine relativ kleine Zahl beständiger gestaltender Wirkungsweisen geschah weniger in dem Glauben, dass die speciellen Formulirungen dieser Wirkungsweisen in allen Theilen später als vollkommen zutreffend erkannt werden würden, als um zunächst Vorbilder für die Art der causalen Analyse der organischen Gestaltnugsvorgänge und zugleich bestimmte Grund- lagen für die prüfende und ergänzende Arbeit der Nachfolger zu geben. XIV Einleitung. Da es für spätere Generationen nicht ohne Interesse ist, zu sehen, mit welchen Schwierigkeiten, Missverständnissen u. dergl. eine zu ihrer Zeit bereits anerkannte wichtige Forscliungsriclitung anfäughcli zu kämpfen hatte, so wurden aucli einige darauf bezügliche Hin- weise an den betreffenden Stelleu der Abhandlungen eingefügt. Es scheint weiterhin wünschenswerth, dass die wissenschaftliche Literatur mögliclist von solchen Referenten befreit werde, welche über Werke berichten, die sie nicht verstanden oder gar nicht gelesen haben; zu diesem Zwecke habe ich einige solche Berichte, welche das wissenschaft- liche Pul:)licuni über den Inhalt meiuer theoretischen Erstlingsarbeit, Nr. 4, irrgefülirt haben, in der dem Neudrucke dieser Abhandlung beigegebenen Vorrede mit reproduciren lassen. Möge diese Gesammtausgabe unter den Genossen gleichen Stre- bens Freunde finden, der eingeschlagenen Forschungsrichtung neue Kräfte gewinnen und aufklärend in den Widerstreit der Meinungen eingreifen. Der Verlagshandlung sei für die Veranstaltung der Gesammt- ausgabe, sowie für die gute Ausstattung derselben der gebührende Dank ausgesprochen. Innsbruck, den 9. .Juni 1895. Wilhelm Roux. Inhalt des ersten Bandes. Seite Nr 1. Ueber die Verzweigungen der Blutgefässe des Menschen. 1878 1 — 76 „ 2. Ueber die Bedeutung der Ablenkung des A r t e r i e n s t a m m e s bei der Astabgabe. 1879 77—101 „ 3. Ueber die Leistungsfähigkeit der Principien der Descendenz- Lehre zur Erklärung der Zweckmässigkeiten des thierischen Organismus. 1880 102—133 Thesen 134 „ 4. Der züchtende Kampf d c r Theile oder die „T heilau s lese" im Organismus, zugleich eine Theorie der functioneU en Anpas- sung. 1881 135-422 „ 5. Autoreferat über Nr. 4 423—437 „ 6. Kritisches Referat über H. Spitzer's „Beiträge zur Descendenz- lehre". 1886 438—457 „ 7—9. Beiträge zur Morphologie der , f unctionellen An- passung" : „ 7. Beitrag I: Structur eines hochdifferenzirten bindegewebigen Or- ganes (der Schwanzflosse des Delphin). 1883 458—574 „ 8. Beitrag II: Ueber die Selbstregulation der „morphologischen' Länge der Sceletmuskelu des Menschen. 1883 575 — 661 „ 9. Beitrag III: Beschreibung und Erläuterung einer knöchernen Kniegelenks-Ankylose. 1885 662—722 „ 10. Kritisches Referat über „das Gesetz der Transformation der Knochen". 1893 723—756 „ 11. Artikel: Functionelle Anpassung in der Realencyclopädie der gesammten Heilkunde. 1894 757 — 768 „ 12. Ueber eine im Knochen lebende öruppe von Fadenpilzen (Mycelites ossifragus). 1887 769—802 Zusammenfassung: Uebersicht der „gestaltenden Wirkungs- weisen" (Naturgesetze) und Regeln 803 — 816 Nr. 1. lieber die Verzweigung'en der Blutgefässe des Mensehen. Eine morphologische Studie. Mit 4 Textfiguren und Tafel I. 1878. Dissertatio inauguralis zur Erlangung der üoctorwürde zu Jena. 1878. Jenaische Zeitschr. f. Naturwissenschaft. Bd. 12. S. 205—266. 1878. In h a 1 t'). Seite I. Methodik und Fehlerquellen 2 1. Injectionsmasse 2 2. Fehlerquellen der Injeetion 4 3. Fehlergrössen der Messung 7 4. Untersuchungsmaterial 9 II. Morphographie der Blutgefässverzweigungen und -Verbindungen . 9 A. Regeln der Richtungsverhältnisse , 9 B. Regeln der Gestaltsverhältnisse 36 III. Erklärungsversuche 46 1. Gestaltende Wirkungen der hydraulischen Kräfte in Röhisiu bewegter Flüssigkeit 47 Gestalt eines seitlich aus einem Rohre freiausspringendeu Flüssigkeits- strahles 48 Wirkung bei bildsamem Wandungsmatcrial 55 [1) Die Ergebnisse dieser Abhandlung wurden zur technischen Verwendung bei der .-Anlage von Wasserleitungen empfohlen s. den Vortrag des Herrn Ingenieur Hertel: ,Die Verzweigungen der Blutgefässe, eine vollkommenste Rohrleitung". Zeitschr. Deutscher Ingenieure 1885, Bd. 30, S. 660; ferner RtULEAUX, Der Constructeur, 4. Aufl. 2. Abdruck 1894, S. 998 u 1020).] W. Roux, Gesammelte ÄbbandlaDi^en. I. ^ 2 Nr. 1- Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. Seite Neue Methode zur Bestimmung der Zunahme des Wider- standes bei Zunahme der Stromgeschwindigkeit .... 61 2. Uebereinstimmung der Ursprungskegel der Blutgefässe mit der Gestalt frei ausspringender Flüssigkeitsstrahlen 65 3. Anpassung der lebenden Gefässwandung an die gestaltenden Kräfte des Blutstraliles 66 Gestalt der Ursprungskegel der Coronararterien des Herzens . . 71 4. Ursachen der Abweichungen von den hydrodynamischen Gestaltungen 72 5. Nutzen der hj'drodynamischen Gestalt der Blutgefässverzweigungen . 7ö I. Methodik und Fehlerquellen. § 1. Im Laufe einer uuteniommeuen Arbeit über die Entwicke- lung der Leber') trat die Nöthigung an mich lieran, um mit Verstäud- niss weiter arbeiten zu können, zunächst eine allgemeinere Unter- suchung über die Modi der Blutgefässverzweigungen und Verbindmigen anzustellen und zuzusehen, ob innerhalb der grossen Mannigfaltigkeit der- selben nicht irgendwelche Regeln bestimmend sich aussprechen. Im Folgenden werden die Resultate dieser Untersuchungen mit- getheilt werden, nachdem zuvor die technische Methode, mittelst deren sie gewönnen sind, und die Fehlerquellen einer kurzen, zurBeurtheiluug der Zuverlässigkeit der Resultate nöthigen Darlegung gewürdigt worden sind. In einem dritten Abschnitt werden dann einige Erklärungsver- suche über einen Theil der gefundenen Erscheinungen angestellt werden. Da es sich darum handelte, die Gestalt des Lumens und die räum- lichen Lagerungsbeziehungen verzweigter, hohler Gebilde lebenswahr dem Auge darzustellen, musste zur Corrosionsmethode gegriffen werden, und es war die Aufgabe, eine Iiijectionsmasse ausfindig zu machen, welche geeignet ist, dieser Forderung zu entsprechen. [Das Princi}) dieser Methode besteht darin, dass man dieGefässe der Organe oder Organismen mit einer flüssigen, beim Erkalten erstarrenden Masse ausspritzt und danach das Object in eine Flüssigkeit legt, welche die organischen Theile [1) Die Publikation dieser Untersuchung ist in Folge des Erscheinens der in- haltreichen Abhinullung von Toi.pt und ZrcKERKAiNni, (Sitzungsberichte der Wiener Ak. d. Wiss. 1S7.J) übel- dasselbe Thema unterblieben, da in derselben unter anderem mehrere der hauptsächlichsten der von mir gewonnenen Ergebnisse bereits enthalten waren. Einige weitere Ergebnisse finden sich als Thesen formulirt unter Nr. 2 und ö der Abhandlung Nr. 3, S. 32 angefügt.] Methodik. 3 auflöst (gewöhnlich concentrirtc Salzsäure), so dass mau nach dem AW- spiilcn mit Wasser den Ausguss der Gefässe allein vor sich hat.] Von den zunächst versuchten, bekannten Corrosiousmassen zeigte sich die sonst leicht zu handhabende HoYER'sche Schellackmasse des- halb nicht geeignet, weil sie sehr spröde und bröckelig ist, so dass die mit ihrer Hülfe hergestellten Abgüsse feinerer [206] (lefässäste die beim Messen nöthigen ^Manipulationen nicht unversehrt auszuhalten, geschweige denn zu überstehen pflegten. Versuche mit Hvrtl's Masse aus eingedicktem Mastixfirniss erwiesen sie gleichfalls als für die genannten Zwecke unbrauchbar, weil sie selbst bei Siedetemperatur des Wassers noch so dickflüssig ist, dass, wenn die Organe nicht bis zum Verbrühen erwärmt sind, unter relativ starkem Druck injicirt werden muss, wobei dann Dehnungen der Gefässe ent- stehen, welche bei der Fixirung der Gefässe auf weniger dehnbarer Unterlage zu Biegungen führen, die in ihrer Gestalt der Ausnutzung des vorhandenen Spielraumes entsprechen: Schlängelungen bis zu mäandrischen Krümmungen, bis zu einander folgenden Biegungen von 180° nach entgegengesetzter Richtung, und Spiralwindungen, wie sie Hyrtl's Abbildungen so reichlich darbieten. Es galt also, eine in der gewöhnlichen Zimmertemperatur voll- kommen unbiegsame, nicht zu brüchige, der Salzsäureeinwirkung widerstehende Masse zu finden, welche schon unterhalb der Siede- wärme des Wassers schmilzt und dabei dünnflüssig wie lebendes Blut ist. Die Siedetemperatur muss deshalb vermieden werden, weil in ihr die verschiedenen Gewebe ihre Cohäsion und Elasticität in verschie- dener Weise ändern, so dass \'erzerrungeu entstehen. Zu diesem Zwecke wurde eine Reihe von Stoffen, welche in der Kälte und in der Hitze annähernd die verlangten Eigenschaften besasseu, ausge- wählt un 0 - ' 38 0,23 16 Vereinzelt: 38 0,76 27 29 0,45 18 32 0,54 0,47 24 45 0,37 14 35 28 45 0,66 19 31 4ü 0,39 3b 45 0,43 Ausnahmen : 46 0,59 35 49 0.43 22 46 0,87 37 53 0,59 13 54 62 62 62 6!^ 0,51 0,34 0,34 0,26 0,23 19 50 49 0,18 0,90 6 23 6 8 15 16 51 0,37 6 63 0,45 Ifi 51 0,41 8 64 65 0,47 0.43 20 45 60 0,26 19 66 0,50 32 60 0,41 37 74 0,37 11 75 0,29 10 63 0,25 16 64 0,31 20 66 0,47 32 70 0,33 8 71 0,66 22 75 0,31 10 74 0,33 14 77 0.20 20 78 0,38 25 76 0,83 30 80 0,50 18 81 0,52 20 80 0,59 27 80 0,77 39 88 0.36 20 82 0,50 42 \V. Rom, Gosammelto Abhandlangen. I. 18 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. Tabelle III. Niere eines Kaninchens. Tabelle IV. Venen. a a ? a a ß 20 21 22 0,78 0,84 1,00 13 14 20 43 45 45 45 0.41 0,55 0,69 0,94 3 6 12 28 29 28 0,50 0,87 2 17 48 48 46 0,86 0,93 0,99 31 40 30 28 0,60 0,85 2 22 46 49 50 0,76 0,89 9fi 31 30 0,83 091 7 10 39 50 50 0,50 0,64 8 82 31 0,90 0,91 10 12 17 52 52 0,77 6 0,99 17 32 33 0,40 0,71 5 30 54 52 0,62 0,83 q 35 34 34 35 0,66 0,92 0,94 0,99 12 20 26 32 15 53 53 52 0,42 0.58 0,59 15 11 15 35 35 35 0.64 0,80 0,93 10 28 31 56 58 58 0,50 0,65 0,78 0 12 15 36 35 0,83 0,91 21 35 63 60 62 0,45 0,60 0,54 6 16 37 37 0,86 0,88 6 16 20 68 68 0.80 0,83 16 38 38 40 0.59 0,83 0,91 10 22 33 17 71 72 0.62 0,76 5 20 41 41 0,54 0,88 6 30 V 82 100 67 65 24 ereinzel 0 84 0,83 0.80 0,66 1,00 t: 40 25 65 17 24 42 42 43 42 0,46 0.60 0,76 0,96 3 15 17 37 Ai 61 50 36 snahmf O.riO 0,77 0,69 !n: 0 15 29 7 a b ß 34 31 0,33 0,74 11 12 41 42 40 37 0.29 0,38 0,50 1,00 8 12 16 18 53 50 56 53 0,29 0,37 0,60 0,76 15 16 20 23 66 68 0,46 0,61 26 31 74 71 73 0,48 0,-53 0,86 19 21 31 66 65 0,53 0,71 11 12 78 76 0,73 0,75 18 18 85 85 0.55 0,62 27 37 V 96 sreinzel 0,62 t: 20 Ausnahmen: 44 0.35 56 0,66 83 0,74 14 16 25 Kichtungsverhältniasu. 19 sprochcner ist, als bei Zusammenstellung der Gefässe verschiedener Organe und Organismen. Dem scheint sogleich zu widersprechen ein Vergleich mit den Resultaten von Tabelle 2. Hier hat man es aber, — abgesehen von den wenigen darunter befindlichen Amniongefässen, deren Ent- stehung wir nicht weiter beobachtet haben — in der Area vascu- losa des Hühnereies mit einem einerseits noch nicht fertigen, zweitens aber einem Organe zu thun, dessen Blutbehälter erst allmählich, bei ursprünglich unseren Regeln ganz fremder Anlage nach dem Beginne der Circulation des Blutes, in einer diesen Regeln entsprechenden Weise umgestaltet werden. Es lässt sich durch Vergleichung verschiedener Stadien deutlich ver- folgen, wie das in der Anlage regellose Netzwerk im Allgemeinen alternirend geordneter Blutgefäss-Maschen nach dem Beginn der Cir- culation zunächst in den centralen und dann, mit dem Wachsen des Gefässhofes auch in peripheren Theilen umgewandelt wird in der Weise, dass zuerst ,, durch eine vorwiegende Richtung und grosse [219] Weite charakterisirte Hauptbahnen" entstehen, welche dann an den Verästelungsstellen allmählich in den Regeln entsprechender Weise umgestaltet werden. Die den Dotter immer weiter umwachsende und blos feine Gefässe führende periphere Zone des Gefässhofes ist aber am 9. Brüttage noch vollkommen unregelmässig, weshalb wir sie gar nicht gemessen haben. In einer Embryonalanlage von 5 Brüttagen und 15 Mm. Durch- messer, welche aber blos in einem Gefässhof ohne Embryo bestand, war der reine Maschencharakter ohne Hauptbahnen in den reich entwickelten Blutgefässen vollkommen erhalten'). § 20. Die 3 Tabellen zeigen noch, wenn innerhalb der Reihen die Wachsthumsgrössen der j mit den entsprechenden der ß ver- glichen werden, dass diese beiden Grösseureihen keineswegs in einem [1) Weiteres hierüber siehe in der schönen Arbeit von R. Tiioma, Untersuch- ungen über die Histogenese und Histoniechanik des Gefäss-systemcs. Stuttgart 1893. Sehr gute Abbildungen von der Entwickelung der „Dottersackgefässe des Huhnes" finden sieh in der rein descriptiven Abhandlung von Demf.tbils Popoff (Wiesbaden 1894. 12 Tafeln). Beide Autoren haben versäumt, auf meine früheren Beobachtungen hinzuweisen, siehe Nr. 1 S. 260.] 2* 20 Nr. 1. Regeln der blutgefässverzweigungen des Menschen Constanten, sondern in einem innerhalb der Grenzen unserer Regel sehr variablen Verhaltnisse stehen ; so dass die Grösse der Ablenkung des Stammes bei constantem Astwinkel nicht einfach als eine Function blos von J-- angesehen werden kann, sondern von noch einem oder mehreren anderen Factoren sich abhängig zeigt. § 21. Tabelle 4 enthält Herz-, Lungen- und Hoden venen und Verzweigungen einer Vena azvgos des Menschen, so wie auch einige epigastrische Venen des Krokodil und zeigt unter 25 Messungen 2 vereinzelt stehende und 3, also 13 "/o, Ausnahmen. Sie beweist somit, dass bei der Vereinigung zweier Venen die der Regel II ent- sprechende Richtung des ent- stehenden vStammes um so mehr von der Richtung des stärkeren beider Gefässe abweicht, je stär- ker das schwächere G e f ä s s im Verhältniss zum stärkeren ist. Es bedarf wohl nicht einer Erörter- ung, warum hier, an die Stelle des Ast- winkels a der Arterien, der ganze Ver- einigungswinkel der Venen y getreten ist, während ß beibehalten ist, da [220] es die- selbe Richtungsbeziehung ausdrückt, hier aber natürlich die Stellung des Scheitel- winkels zu dem ß der Arterien Verzweigungen einnimmt. Zugleich ersieht man auch hier wieder, dass ß bei constantem y nicht überall in demselben Verhältniss mit ^ wächst. An den muskulösen Theilen des Körpers sind die Ausnahmen für Arterien und Venen so zahlreich, dass man bei ausschliesslicher Untersuchung dieser Theile nicht zur Auftindung einer solchen Regel hätte kommen können. § 22. Regel IV: Die Grösse der Ablenkung, welche der Arterien-Stamm in Regel II entsprechender. Weise bei der Astabgabe erfährt, wächst mit der absoluten Richtungsverhältnisse. 21 Grösse der Abweichung des Astes von der ursprünglichen Stammes-Richtung. Wenn man, um diese Regel zu erweisen, das Material N^ Winkel von <>() — TU" zu einander / A ;^^^^?> . stehen, bei den allerschwächsten ( i---^?-)h\--\-..i}^:.\-, Aesten, z. B. den Intercostalarterien, \ ••■«o-/ 7 ; \3o- \ \/ ~ •'■j--.^^ sogar 90 " bilden. Dabei ist im X^^ j^^ ersteren Falle der Centriwinkel (siehe die nebenstehende Figur) also 120", uml'asst mitliin '/s des ganzen Raumes, im letzteren l'allc 90", also ^4 des Raumes uiiilassend; während ihnen hei cylindriseiieiii Ur.siiruug Gestaltverhältnisse. 37 im ersten'U Falle blos ^;8, im letzteren Vau zukäme. In gleicher Weise beginnt der Ursprung, auch wenn das (relass nicht innerhalb der Stamm- axen-Radi:ili'bene entspringt (s. Taf. 1 Fig. 2). Bei stärkeren, ablenkungs- t'ähigen Aesten Mndet gleichfalls ein allmählicher Uebergang von der Weite des Querschnittes des Stannues zur Weite des Astes statt; aber der Winkel ist hier ein entsprechend spitzerer und daher die gewonnene Breite der Verbindung des Stammes mit dem Aste im Verhältuiss zur Weite des letzteren eine viel geringere als liei schwachen Aesten. Es ergiebt sich somit die Regel XV, a: Der Ursprung eines Astes erfolgt aus einem im Verhältniss um so grösseren Theile der Breite " des Stammquerschnittes, je schwächer der Ast im N'erhältniss zum Stamme ist. Tlu'ilt sich der Stamm in zwei gleich starke Aeste, so ist eine Con^■ergenz der en face Contouren kaum mein- wahrnehmbar, wobei freilich der Umstand abschwächend mitwirkt, dass der Stamm bei Abgabe starker xVeste seinen eu face Durchmesser [235] verkleinert unter gleichzeitiger entsprechender Verbreiterung im dazu senkrechten Durchmesser. i? -4] . Der Uebergang von der Richtung der Ursprungstangenten an den Stamm zum schliesslichen Parallelismus der en face Contouren erfolgt unter allmählicher Abnahme der Convergenz. Bei den relativ schwächsten Gefässen, bei denen die Convergenz ja von vorn herein eine viel stärkere ist, i.^t auch dieser Uebergang schroffer; und nach dem Aufhören der Convergenz zeigt sich eine Divergenz, von welcher dann erst das Urnlnegen zum Parallclismus stattfindet. Die Entfernung des so gel)il deten ,,en face Minimum'.«", resp. des durch das Aufhören der Convergenz gebildeten ersten deli- nitiven Querschnittes vom Stamme ist um so grösser, je rela- tiv stärker der Ast ist; und zwar nimmt sie mit dem Wachsen der relativen Stärke des Astes immer rascher zu, so dass sie zuletzt ln'i leinen Dichotomieen fast unmessbar gross sein würde, weim sie in diesen Fällen überhaupt bestimmbar wäre. An den Intercostal- arterieu des Kindes und iles Kaninchens dagegen, wd sie unter den 38 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. von mir untersuchten Fällen am geringsten war, betrug sie etwa das Doppelte des Minimaldurchmessers. § 42. Die Stärke der Ausprägung der in i; 4U und 41 geschildert en Erscheinungen scheint abhängig zu sein von der Stärke des Blutdruckes. So glaube ich wenigstens es deuten zu müssen, dass diese Erscheinungen viel ausgesprochener sind beim Ursprünge aus der Aorta und aus den Hauptstäranien der Ex- tremitäten als aus den Arterien niederer Ordnung und aus der Vena portarum. An den Verzweigungen der letzteren sind sie oft so schwach ausgeprägt, dass man sie leicht übersielit und meint, das Getass entspringe mit parallelen Contouren wie ein angesetzter Cy- linder; doch wird man bei Anwendung schwacher \'er_gi-össenmg stets eine allmähliche, wenn auch nur von einem kleinen Theile des Stammes- querschnittes erfolgeude und dem entsprechend uiedrige Ueber- führung von der Weite des Stammes zu der des Astes finden. § 43. Das en face Bild zeigt nocli ein wichtiges, wenn auch blos negatives, Verhalten : Regel X \' 1 1 ; D i e G e s t a 1 1 d e s A s t u r s p r u n g s i s t i n ihrem eu face Bilde unabhängig von der Grösse des As t winke Is. § 44. Wenn man nun /.uv Betrachtvmg des Prolilbildes der Astursprünge übergeht, so sieht man auf deu ersten Bhck von dem Bisherigen sehr differente, im Wesen aber doch [236] gleiche, einen allmählichen l^ebergang von der Richtung der Stammes- contouren zu den einander parallelen Contouren des Astes darstellende Verhältnisse. Da hier die Stammescontouren, von welchen der Ueber- gang zu erfolgen hat, immer fast die gleiche Richtungsditferenz von etwa 480" zu einander haben, somit viel weniger als im eu face Bild von der relativen Stärke des Astes, blos durcli Regel II beeintlusst werden, so würde eiue grosse Einförmigkeit in den Protilbildern be- stehen, wenn nicht hier die Winkelstellung des Astes zum Stamme einen mächtig alterirenden Einfluss gewönne. § 45. Folgt man mit senkrecht zur Stammaxen-Radialebenc stehendem Bhck der Richtung des Blutstromes, so zeigt es sich (s. Taf. I, Fig. 3 — 6), dass der Uebergang vom Stammescontour zum Astcoutour Gestaltverhältnisse. 39 uiclit |il(Jtzlii'li nnil in einem schari't'u Winkel crl'olot, sonrlern dass schon 1 bis 2 Astbreiten von dem liaujitsiicliliclicu l'rspi-unti; des Astes der Stammcontour sich etwas erhebt mul in nllmäliiicher, an der eigentliclien Ursprungsstelle stärkerer Biegung auf den Ast übergeht, und dass der munnehrige Astcoutour in allmähhcher, immer schwächer werdender Biegung zur definitiven Astrichtung übergeht. Diesen ganzen Contour von der ersten Erhebung am »Stamme bis zur Erlangung ihr definitiven Astrichtuug will ich „vorderen Profil- contour'" nennen. Wird nüt der Astabgabe auch zugleich der Stanun aijgelcnkt, so erfolgt auf der andern Seite des Stammes ein ähnlicher aber nocli allmählicherer Uebergang von der Stammesriclitung zu der Fort- setzung des Stammes. Der somit entstehenden Verbreiterung des Profihhirclimessers des Stammes entspricht, aber nicht ganz, die vorhin erwähnte ^''erkleineruug seines en face Durchmessers. ij 46. Wäln-end dieses Verhalten des vorderen Profilcontours i m Wesen für alle Abgangswiukel und alle Stärke- Verhältnisse von Ast und Stamm das gleiche ist und je nach diesen Verhältnissen blos graduelle Verschiedenheiten erkennen lässt — mit Ausnahme der Fälle, in -welchen, wie in Fig. o, eine starke, häufig mit einer scharfen Einknickung des vorderen Profiicontours an der Stelle des gleicii zu t)eschreibenden Minimums verbundene ümbiegung des Astes nach rückwärts stattfindet — zeigt der andere, der „hintere Profil- contour" mit dem W^echsel dieser Verhältnisse sehr verschiedene Beschaffenheit. Doch stellt im Allgemeinen auch er einen a 1 1 m ä h- lichen Uebergang von der Richtung des Stammcontours zur ilefi- tiitiven Astrichtnng dar (s. Taf. I, Fig. 4—0). Um zunäciist einen mittleren Zustand, etwa bei Astursprung unter einem Winkel von 10", zu betrachten, so sieht man, wie in [237] Fig. 4, dass sieh der hintere Profilcontonr in viel geringerer Ent- fernung vom „eigentlichen Astursprung", das heisst von der Stelle, an welcher der Ursprung erfolgen würde, wenn das Gefäss gleich vollkommen cyHndrisch entspränge, etwa blos einen halben Astquei-- schnitt davon stromabwärts zu erheben beginnt, und in anfangs ganz schwacher, dann in rascher, gegen den vorderen Proülcontour stark 40 Nr. 1. Regeln der lilutgefUssverzweigungen des Menschen. convergeiiter und eonvexer Biegung (die ich im Folgenden wiederholt unter dem Namen ,. starke Anfangsbiegung" des hinteren Proülcontour citirt habe), sieh beinahe bis zu den 70" der Abweichung von der Stammesrichtung umbiegt, um dann in allmählich immer schwächer werdender C'onvergenz zum Parallelismus mit dem vorderen Contour überzugehen. § 47. An der Stelle, wo die C'onvergenz aut'liürt, wäre also der definitive Protildurchmesser erreicht. Wenn nun aber, wie es vor- konnnt. nach dem Aufhören der C'onvergenz, statt des ParalleUsmus, zunächst erst eine kurze Divergenz der Profilcontouren stattfindet, so entsteht damit ein ,,Prof ilmi nim um". Die Entfernung dieses Profilminimums von der Stammesoberfläche, sowie auch in Ermange- hmg eines Minimum, die des ersten definitiven Profildurchmesser.«, sollen im Folgenden einfach mit „Abstand des Profil- minimum" bezeichnet und l)los an der Höhe des hinteren Profilcontour in seiner Hauptrichtung oder, falls wie bei kleinen Ast^\^nkeln eine solche nicht ausgesprochen ist, in der Richtung des Astes gemessen werden; diese Art der Messung empfiehlt sich, da dieser Contour durch sein Verhalten diese Höhe wesenthch bestinunt und da bei Annalinie einer anderen Messungslinie, etwa de.s vorderen Profilcontours oder der Astaxe, die Stärke und Neigung des Astes, welche die am hinteren Profilcontour gemessene Höhe bestinnnen, noch einmal, geometrisch, in der Rechnung sich geltend machen würden. Den stärksten Einfluss auf den Abstand des Protilminimum ül)t die Grösse des Astursprungswinkels aus, so dass sie bei dem rechten sich nähernden Winkel am grössten ist (s. Taf. 1, Fig. 5) und etwa die Hälfte der Breite, oder gar die ganze Breite des Astdurchmessers oder noch mehr beträgt. Je spitzer dagegen der ^\'inke] wird (s. Fig. H), um SU eher verliert der hintere rrDÜlcontoui' seine Oonvergenz gegen den vorderen, so dass die iliilic desselben bis zum Minimum bei A\'inkclii von 80" etwa lilos V2n oder '/so des Astquerschnittes beträgt, und auf eine niedrige starke Trsprungs- biegung beschränkt ist. Es ergiebt .sich also die Regel XV c: Der Abstand des Prof i hu in im um wächst mit der Grösse des Astwinkels. Gestaltverbältiiisse. 41 [238] Doch liüit dies Wachsthuni Ikü 90«, oft srhoii etwas \orlior, auf. Ausserdem gilt noeii die Regel XVd: Bei gieicliem Astur.-^pru ngswi ii k c i w ä c ]i s t d er A b s t a n d des P r o f i 1 m i iii m u iii mit d er absolute n W e i t e d es Aste s. Dies Wachsthuni erfolgt jedoch nicht genau proportional der Astweite, sondern es zeigen sich, zumal bei grossem, dem rechten sich nähernden Winkel, bedeutende Variationen des Abstandes, was auf die Mitwirkung eines oder mehrerer anderer Factoren hinweist. Eine Abhängigkeit des Abstandes und der Grösse des Profilminimum von der relativen Stärke des Astes trat nicht mit Evidenz hervor. i? 48. Diese schon complicirten Formverhältnisse des hinteren Profilcontours werden noch complicirter durch vor- kommende Variationen desselben. Einmal kommt es vor, wenn der Ursprung unter grossem Winkel und dem entsprechend zugleich mit grossem Abstand des Profilmiuinumi erfolgt, dass der hintere Prof ilcou ton r bei seiner im Allgemeinen sceaen den vorderen convergeuteu und entsprechend steilen Richtung nicht, wie angenommen, auch dauernd convex gegen ihn verläuft, sondern nach der kurzen starken Ursprungsbiegung mit gerader (s. Taf. I, Fig. 5) oder gar gegen das Lumen concaver (Figg. 1-5 und 7) Gestalt sidi fortsetzt, ein ^'erhalten, welches bei rechtwinkeligem Astursprung geradezu die Regel und einer Steigerung bis zum Parallelismus oder gar zur Divergenz beider Profilcontouren fähig ist. Der Parallelismus, re.sp. die Divergenz erfolgen jedoch immer erst nach der starken, aber niedrigen Anfangsbiegung des hinteren Profilcontours; es liegt in diesen Fällen also das Profilminimum trotz des grossen Astwinkels so tief, wie bei ganz spitzen Winkeln. Im Falle der Divergenz er- scheint zugleich das (Jefäss an der Stelle des hinteren Profilcontours erweitert, aufgebaucht, ähnlich wie in Fig. 8. Von der durch diese . Ausbuchtung der hinteren Wand entstandenen Erweiterung des Gefässes findet dann peripher unter allmählicher Verjüngung der Uebergang zum definitiven Astlumen statt. Der Parallelismus der Profilcontouren oder die mit Ausbuchtung verbmidene Divergenz 42 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. kommen, aber niclit immer, dann vor, wenn der Ast nach seinem Ursprünge sich rückwärts biegt; doch ist in letzteren Fällen auch manchmal nur, besonders bei sehr schwachen Aesten, eine Abplattung des hinteren Profilcoutour vorhanden. [239) Die gleichen Varietäten konanen (s. Tat'. 1, Fig. 8) auch an Aesten vor, welche unter spitzem Winkel entspringen; hierjcdncli mit der Modifieation, dass sie erst nach dem, von vorn herein sehr niedrig liegenden Minimimi sich zeigen und dasselbe nicht bestimmt erkenn- bar erniedrigen. Der Parallelismus der Protilcontouren nach dem iMinimum ist hier sehr häufig, falls keine Rückwärtsbiegung des Astes stattfindet; ist solche aber vorhanden, so zeigt sich stets, und zwar nach § 38 am häufigsten und auch am ausgesprochensten an den Verzweigungen der V. port., eine Ausbuchtung von der eben be- schriebenen Form. An den \^erzweigungen der V, port kommt diese Ausbuchtung sogar vor, wenn keine Rückwärtsbiegung des Astes stattfindet (s. Fig. 9). Aehuliche Ausbuchtungen finden sich manch- mal auch an der inneren Seite des Stammes nach einer A.stabgabe (Fig. 9). § 4it. \'on dieser Art der Ausbuchtung des hinteren Profil- contours ist wohl zu trennen eine andere, an Aesten mit und ohne Rückwärtsbiegung und stets zugleich auch am Stamme auf der Astseite, kurz uacli dem Ursprung des letzteren vorkommende, von welcher peripher keine Verjüngung zum definitiven Ast- oder Stammeslumen stattfinde t, sondern welche im Gegenthcil eine rasche, aber dauernde Erweiterung der bei der Verästelung etwas eingeschnürten Gefässlumina darstellt (Fig 10). Der Umstand, dass diese plötzliche Ausbiegung immer nur an den dem Astwinkel an- liegenden Seiten von Stamm und Ast sich zeigt, s])richt gegen eine künstliche Veranlassung derselben, etwa durch zu hohen Druck l)ei der Injection ; es müsste denn die Ciefässwaud an diesen Seiten auf längere Strecken hin beträchtlich schwächer oder dehnbarer sein als an der übrigen Peripherie, worüber ich, falls sich Gelegenheit bietet, besondere Untersuchungen anstellen werde. § 50. Ist dadm-ch schon das Profilminimum, zumal bei grossen Aesten, gekennzeichnet, so ist es an den kleinen, nach Gestaltverliältnisse. 43 Kegel 11, ij H7 unter grossem Winkel entspringenden Aesten über- haupt deutlicher ausgesprochen, indem aucli der vordere Profileon- tour ]ieri]iher von der Stelle des durch den hinteren bestinnnten .Miniiualdurehmessers eine Auswärtsbiegung zeigt (s. Fig. 3 und ö). ij i)l. Das Verhältniss der Lage des Prot'ilm ininium zu der des en face Minimum, resp. des ersten ddinitiven Protil- cUu'chmessers zum ersten definitiven en lace Durchmesser angehend, ist zu erwähnen, dass die bezüglichen en face Durchmesser stets vom Stamme entfernter sind als die bezüglichen [240] Profildurchmesser und überhaupt nur bei ganz schwachen Aesten von '/s der Stärke des Stammes und darunter, dem Profilmininunn nalie kommen. i? 52. Um nun aus den beiden dargestellten Hauptausichten der (ie.stalt des Astursprungs eine Vorstellung von dem ganzen ,,Ur- s|iriing:skegel'' zu bekommen , muss man sich einen allmählichen Uebergang von der Gestalt der einen i\jisicbt zu der der anderen denken. je(loch in der Weise, dass entsprechend der grösseren Ent- fernung des en face Minimum die (iuei'schnitte des Ursprungskegels nicht rund, sondern eher elliptisch sind und ihren grössten Durch- messer im en face Bilde liesitzen. Der Ursprung hat somit annähernd die Gestalt eines aus einer weichen Masse gefertigten Kegels, der dann aber breit- und auch noch von den Seiten her zu bogenförmiger Contourirung eingedrückt worden ist. Ich habe daher den Namen Ursprungskegel blos der allgemeinen Aelmlichkeit wegen gewählt, welche sich aus der bestehenden allseitigen C'onvergenz der Seiten- contouren nach einer Richtung, nicht einmal nach einem Punkte hin, wie beim wirklichen Kegel, ergiebt. Wenn man in Ermangelung von Corrosionspräparaten wenig- stens ein annäherndes Bild der geschilderten Verhältnisse durch eigne Anschauung gewinnen will, kann man sich au die Gestalt der Ur- sprünge der Intcrcostalarterien halten, wie sie jede aufgeschnittene Aorta zeigt 1). [') Haxs St.miei. hat in seiner .\rbeit „lieber Arterienspin dein und über die Beziehung der Wanddicke der Arterien zum Blutdruck" (Arcb. f. Anat. u. Physiol. anat. Abtb. lS8ö, zweite Abhandlung S. 328) U,5procentige Chromsäurelösung zur Härtung der Gefässwandung angewandt und danach die Astursprünge aufgeschnitten 44 Nr. 1. He^lQ der Blutgi-fiissviTzweitcunst'" <1>'S Mt-nschen. § 53. Dabei sieht man zugleii-li noch sehr deutlich eine neue, im Folgenden zu schildernde Linie, welche die (iestalt des Ursprungs- kegels am hintern Umfang seiner Basis bestimmt und daher „Ba s al- lin ie" des Ursprungskegels genannt werden soll. Sie ist eigent- lich weiter nichts als die Summe der stärksten Biegungen aller Seiten- contouren vom hinteren Profilcontour bis zu den beiden en face Contouren und zieht sich dem entsprechend beiderseits synnnetrisch zur Stammaxen-Radialebene von der stärksten Biegung des hinteren Profilcontours an der Peripherie des Stammes stromaufwärts. In der Profilansicht ist sie im Allgemeinen parallel dem Anfang dos vorderen Profilcontours bis zum Beginn seiner starken Biegung (Taf. I. Fig. 1 1) ; sie convergirt also mit der Richtimg der Axe des Stammes. Lst jedoch bei der Astabgabe der Stamm mit abgelenkt, so nähert sie sich nach dem ^Nlaasse dieser Ablenkung räumlich und in ihrer Richtung der Mittelebene des Stammes; dies geschieht in der Weise, dass sie bei reinen Dichotomieen, wo der Stamm in zwei gleich abgelenkte gleich- starke Aestc sich theilt, in dieser (241] Ebene selber liegt. Als Mittelebene des Stammes bezeichne ich dabei die in der Stanimaxe rechtwinkelig zur Stammaxen-Radialebene errichtete Ebene. Bei en face Betrachtung erscheint die Basallinie annähernd parabolisch, und wird, wie schon erwähnt, durch die Stammaxen- Radialebene synnnetrisch getheilt; dies aber blos dann, wenn ent- sprechend der Regel I, der .Vst in dieser T'^bene entspringt. Ent- springt der Ast dagegen in einer aus diesef Ebene abweichenden Richtung, so ist die Basallinie auf der andern Seite von der Stamm- axen-Radialebene als auf derjenigen, nach welcher der Ursprung erfolgt, stärker gekniiniiit. .ausserdem ist noch zu erwähnen, dass sie an den grösseren Arterienstänuuen viel schärfcM- ausgeprägt ist als an den kleineren mii1 .in diesen wieder schärfer als an den Ver- zweigungen der Vena portaruiii. - .Abweichungen von den geschil- derten Verhältnissen kommen auch vor, und zwar in der Weise, und ab^pliildct. Die so gpwonnonpn Formen zeigen deutllcli die P'olgen unglcielier .Sclinimptung der Gefiisswand hei der Hiirtung und entsprechen daher im Feinen nicht den von mir beim Ausguss mit rasch erstarrenden Massen gewonueuen, den natürlichen Zustand repräsentirenden. hier geschilderten Formen.] Gestaltvei'kältnisse. 45 (lass einmal die Basallinie auch bei nicht abgelenktem Stamme dem vorderen Protilcontour nicht parallel ist, sondern sich mehr oder wt'uiiji'r der Richtung der Stammaxe nähert, oder dass sie bei echten 1 )ichotomieen nicht der Regel entsprechend ganz in der Mittelebene des Stammes liegt, sondern ausserhalb dieser sich befindet und etwas schief zu ihr steht. § 54. Zum Schluss dieser Zeichnung der Gestalt der Arterien- ursprünge muss ich noch erwähnen, dass die Gestalt des Ursprungs- thciles der Fortsetzung des Stammes nach der Astabgabe immer mehr der Gestalt des Ursprungstheiles des Astes selbst sich nähert, je stärker letzterer und je schwächer daher er.sterer ist, so dass bei reinen Dichotomieen vollstänchge Gleichheit beider ibesteht. Es ist also auch an der Fortsetzung des Stammes oft ein deutlich ausgebildeterlh'sprungskegel zu unterscheiden, s. Taf. I, Fig. 9 mid lü').J § 55. Ueber die Gestalt der Venen bei der Zusammen- mündung, welche ich nur an einei' geringen Anzahl von Objecten untersucht habe, kann ich mittheilen, dass auch bei ihnen ein all- mählicher Uebergang des Astes in die Weite das Stammes an allen Seiten vorhanden war, und dass auch hier der vordere Profilcontour weiterhin am Stamme gehoben war als der hintere; ja sogar ein aus- gespi'ochenes Minimum habe ich einmal vor dem Beginne des Münd- ungskegels beobachtet ; ob es aber natürlich vorgebildet war oder 1 ilos durch die Hohe des Injectionsdruckes bei vermehrter Resistenz der < lefässwand am Umfang dieses Querschnittes sich gebildet hatte, bleibt unentschieden. Der „Mün(lHiig-.skegeI" der Venen hat nicht so au.sgcprägte charakteristische Gestalt als der Ursprungskegel der Arterien. § 56. Aus den vorstehenden Schilderungen der Ursprungs-, [242] resp. Mündungskegel der Blutgefässe ist zu ersehen, dass das M essen der S t ä i- k e und besonders der Rieht u n g de r [1) Es ist wohl ein deutiicbor Beweis für den Nutzen der „causalen" Be- trachtungsweise auch für die „descrip ti ve" Forschung, dass HvRTr., ein Meister dieser Forschung und zugleicli der Corrosionstechnik. an seinen zahlreichen Präparaten keine der vorstehend mitgotheilten Regeln wahrgenommen hat (siehe die Corrosionsanatomie und ihre Ergebnisse. Wien 1873. Mit 13 Tafeln]. 46 Nr. 1. Kegeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. Aestc nicht ohne AVeiteres ausführbar ist , sondern n:i(h besonderen Prinzipien geschehen muss und in der Riclitigkeit seiner Resultate sehr von der Uebung des Messenden abhängig bleibt. Die Stärke wurde stets aus dem Mittel des Minimalprofildurch- messers und des en faceDurchmessersdesselben Querschnittes berechnet. Die notirte Richtung wurde folgendermassen gefunden: Man denkt sich in der Stanimaxen'- Ratlialebene vor dem rrofilminimal- durchmesser eine Reihe von Linien nebeneinander durcli den Ast gelegt, von denen die dem Proiilminimaldurchmesser nächste ihm bei- nahe parallel ist , aber schon ein wenig nach der Richtung der Stamm- axe abweicht, während jede folgende sich immer mehr dieser Richtung nähert, bis die letzte ihr vollkommen parallel ist. Denkt man sich nun noch die Mittelpunkte all dieser Linien verbunden, so wird von der äusseren Hälfte der so erhaltenen geom etri.schen Axe des Ur- sprungskegels (welche zwar nicht genau mit der Axe der grössten Stromgeschwindigkeit übereinstimmt), die zu notirende Richtung ent- nommen. Dies hat keine Schwierigkeit, falls das Gefäss seine Ur- sprungsriclituug im weiteren Verlaufe annähernd fortsetzt; biegt es sich jedoch rasch nach rückwärts um, so ist die geometrische Axe entsprechend gekrümmt und es tritt keine Hauptrichtung hervor: in diesen nur im \'erhältniss zum Stannne dünne Aeste betreffenden Fällen wurde die Richtung desjenigen Stückes dieser Axe benutzt, welches etwas unter einen ^Vstdurchmesser von der StammesoberHäche entfernt war. III. Erklärungsversuche. § .57. Nachdem im Vorstehenden ein Theil der scheinbar regel- losen Mannichfaltigkeit der Gefässverzweigungsarten und ihrer Formen auf eine Reihe einfacher Gestaltungsregeln zurückgeführt worden ist, soll im Folgenden ein Anfang init der Behandlung der dadurch er- wachsenen schwierigeren Aufgabe, die betreffenden Regeln durch Erforschung ihrer „Ursachen" zu morphologischen ,, Ge- setzen" zu erheben, gemacht werden. Erklärungsversuche. 47 Die /.ur /rit (lenkbaren Ui'sachen will ich, vielleicht etwas will küilicli, aber tlen nächsten Bedürfnissen entsprechend, in drei Gru|)|)en tlieilen: I24-3] 1) Ursprihiglich vererbte Bildnngsmodi, bedingt durcli die W'aebsthumsgesetze und die spocitisehe Function der Organe. 2) Aenssere umgestaltende l^inwirkungen auf die einzelnen Organe und den ganzen Organismus. 3) Die hydraulisclien Kräfte der in den Gefässeu bewegten Flüssigkeit. Ich würde sehr zufrieden sein, wenn ich durch die folgenden l'ntersuchungen und Kefiexionen nur so weit käme, die dargestell- ten Erscheinungen schon alle mit Bestimmtheit als Wirkungen auf diese 3 Gruppen von Ursachen vertheilen zu können, deini das ist es wohl, was zunächst geschehen muss. Eswird sich jedoch leider zeigen, dass icli diese Zufriedenlieit nicht erlangt habe. Da die ,, Wirkungsweisen" der Kräfte der ersten Gruppe zur Zeit noch unbekannt sind, und nur durch eine ungeheuer grosse Zahl von Speeialuntersuchungen festgestellt werden können; und da ferner die Kräfte der zweiten Gruppe sehr mannichfaltige und für die verschiedenen Organe sehr verschiedene sind, während es sich hier um verschiedenen Organen gemeinsame Einrichtun- gen handelt, so wird es das Beste, sein mit der Untersuchung der eventuell möglichen ^\' i r k u n g e n de r Kräfte tl e r letzt e n G r u p )) e, welche ja in allen Organen in gleicher Weise thätig und dabei einer exacten Untersuchung am zugänglichsten sind, zu beginnen, um dann zuzusehen, ob sie etwa in erkennbarer Weise in der Gestalt der Ge- lasse zum Ausdruck gekommen sind. 1. Gestaltende \\'irkung der hydraulischen Kräfte in Röhren bewegtei- Flüssigkeit. Da die vorstehenden Untersuchungen sich nicht auf die Capil- laren erstrecken, kann der Umstand, dass das Blut eine Suspension ist, vernachlässigt und von den unten mitgetheilten hydruuüschen Erscheinungen wohl unbeanstandet eine Uebertragung auf die Haemo- 48 Nr, 1. Kegeln dur Blutgufässverzweigungen des Menschen. dynainik vorgenommen werden, wenn dabei nur berücksichtigt wird, dass, nach Graham, die innere Reibung im Blute etwa G mal so gross ist, als im Wasser. Obgleich die Hydro- und Haemodynamik in dm letzten Dccen- nieii durch viile vorzügliche Untersuchungen, namentlich von Wels- BAc:n'), Volkma.n'.n"), Ludwig'), Jacobson^), Hagen''), Dakcy'''), [244] PoisEuiLLE ') , Hauenbach **) u. A. sehr bereichert worden ist , so haben doch die morp iiologisch wichtigen bydrauli.«chen Erscheinun- gen noch keine besondere Untersuchung und Darstellung gefunden. Ich werde daher bei dem im Folgenden gemachten ^Vni'ange für die auf die Verzweigung der Blutgefässe bezüglichen Erscheinungen genöthigt sein , der Vollständigkeit der Darstellung halber , ausser einigen Resultaten eigener Untersuchungen vieles Bekannte anzu- führen und zu entwickeln. Gestalt eines seitlich aus einem Rohic „frei" aus- s]) ringen den Flüssigkeitsstrali 1 es. § 58. Bohrt man in die Wand eines cylin dri^jclien, seh v dii ii n- wand igen und mit Wasser gefüllten Blechgefässes, auf dessen Inhalt [von beiden Enden her durch je einen Gummischlauch, welcher mit dem anderen durch ein T- Rohr verbunden und so an die Wasserleitung angeschlossen ist,] ein constanter Druck lastet, ein kleines rundes Loch, so springt ein Wasserstrahl heraus in einer zur Achse des Cylinders senkrechten imd rückwärts verlängert sie schneidenden Richtung. Die Axe dieses frei ausspringenden Strahles liegt somit in einer Ebene, welche durch die Axe des Cylinders und die Mitte der Aus- 1) Experimental-Hydraulik. 1855. '-) Die Haemodynaniik. 185U. ■1) Lehrbuch der Physiologie, Bd. II. 4) Müiler's Archiv 1860 und 1861. &) Abhandl. d. Acad. d. VViss. zu Berlin. 1869. f>) Recherches exporim. relativ, au mouvement de l'eaii dans los f uy au.\. Paris 1857. ') Recherches exper. sur Ic inouv. des liquides dan.s les tulies de tres-petits diamötres. Memoires de diver.s savants. T. IX. 8j Piicck.ndohfk's Annalen 1860. Bd. 109. Kikläiuii.i;svi'i'suchc. 49 Ikisirüll'iiuiig bu^tininit iist, also iii dei' „Stiimiiuixon- Und ialcliene" (s. § 8). Dies koiiinit auf die folgende Weise zu Stande: In der rulien- dcn Flüssigkeit herrscht überall und nach jeder Richtung hin rin gleicher Druck, zufolge der unbegrenzten Vcrschiebl)arkeit der Molekel gegen einander, welche das Wesen der Flüssigkeit ausmacht. i>enn würde z. B. an einem Punkte ein stärkerer Druck sein, so würden ihm die lie weglichen Nachbartheilcheu nicht Widerstand zu leisten vermögen und es würde eine Ausgleichung stattfinden ; ebenso im umgekehrten Fall. Auf die Wandung macht dieser nach allen Richtungen hin wirkende Druck natüi'lich gleichfalls nach allen liich- tungen hin sich geltend. Wird aber ein Loch in die Wand gebohlt, so muss der von allen Seiten nach dem so gegebenen locus minoris resistentiae gleich stark erfolgende Druck in jeder durch den Radius von der Mitte der Oeffuung legbaren Ebene eine Resultante bilden, welche natürlich die Linie sein wird, welche diese Eigene symmetrisch theilt, also die Senkrechte zur Oberfläche für den Längsschnitt und die Richtung des Radius für den Querschnitt. Da diese beiden Linien beim Cylinder zusammenfallen, so fallen auch die Resultanten aller übrigen Durchschnittsebeuen in diese Linie. Es geht zugleich hervor, dass der Ausfluss auch in dieser Richtung erfolgen mu.ss, wenn die Kräfte innerhalb jeder [243j solchen El)ene nicht alle einander gleich, -lindern nur .symmetrisch zu dieser Linie geordnet sind. Aus dem gleichen (_< runde ist die Senkrechte zur Überfläche, abgesehen von den parallel zur Cylmderaxe wirkenden und in dieser Richtung die Wandung zu dehnen versuchenden Kräften, auch die Resul- tante des Druckes der ruhenden Flüssigkeit auf die Wand des Cylinders. ij Dil Die von allen Seiten convergireuden Wasserstrahlen be- halten nach dem Gesetz der Trägheit ihre Richtung noch jenseits der Ausflussött'nung bei, wodurch der Anfang des Strahles Aehn- lichkeit mit der Kegelform erhält. Genauer betrachtet sind die Seitencontouren dieses Ausflusskegels nicht gerade Linien, sondern Bogenlinien, welche mit der Richtung der Tangeute an den Rand der Ausflussöffnung beginnen, und in anfangs stärkerem, dann all- midilich inmier weniger gekrümmiem Bogen gegen einander conver- \\'. Koux. Oesaaiuiclte .^tihiiudlungeii. 1. ^ 50 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menseben. giren, bis sie von einer Stelle an /,n flivergiren beginnen. Dieser Kegel stellt auch nicht einmal einen Rotationskörper dar, da er im Profil- und en face Bild verschieden ist; aber das Bild aller Ansichten wird (liu-ch die Axe des Kegels symmetrisch getheilt. Nach dieser Stelle, welche ein Querschnittsminimum darstellt, löst sich der Wasseri5trahl entsprechend seiner Zusammensetzung un«i ebenfalls in Folge des Beharrungsvermögens in ein divergentes Strahlenbündel auf, wenn nicht die auseinandertreibenden Kräfte schwächer sind, als die Cohäsionskraft des Wassers. Ist dies Letztere der Fall, so läuft der Wasserstrahl eine Strecke weit immer dicker werdend fort bis zu einem Maximum des Querschnittes, um nach diesem sich allmählich wieder zu einem dünneren und dünnsten Querschnitt zu- sammenzuziehen. Solche An- und Abschwellungeu wechseln im weiteren Verlauf immer mit einander ab. § 60. lieber den Abstand des ersten Minimalquer- schnittes von der Ausflussöffnung und über die Grösse desselben stellte ich Versuche an, da ähnliche Versuche blos über den Ausfluss aus einem Loch in ebener Wand vorliegen, deren Resultate man nicht einfach auf cylin drisch gekrümmte Flächen übertragen kann. Tabelle 10 enthält die Resultate einiger ^^n■suchsreihen bei Frofilraessung; und zwar zeigt sie den Einfluss, welchen die Grösse der Difl'erenz des inneren Flüssigkeitsdruckes und des äusseren Luft- druckes, der auf der Ausflussöffnung lastet, auf ( irüsse und Abstand des Minimums des aus einem kreisrunden seitlichen (246j Loche eines 9 Mm. im Durchmesser haltenden, möglichst dünnwandigen Bleeli- cylinders ausfliessenden Strahles ausübt, für 4 verschieden weite Aus- Hussöffnungen. Die Grösse dieser Druckdifferenz steigt vom ersten Ver- such jeder Reihe bis zum letzten. Da sie nicht gemessen, sondern blos durch Verstellen des Hahnes an der Wasserleitung regulirt wurde, ist sie nicht mit angegeben. Der äussere Luftdruck kann für die Dauer einer Versuchsreihe als constant angenommen werden. Es be- deutet a die Weite der Ausflussöft'nung, b den Minimaldurchmesser des Strahles im l'roiilbild und h den Abstand desselben von der Aus- flussöft'nung in Mm. Die 2. und ;?. Colunnie der Tabelle auf S.52, die Reihen von b und li, Erklärungsversuche . 51 ('Vijclu'n nun, ilass das Minimum mit ei den \'er- li suchen ein sehr ungleiches war, was bei der genannten Fehlerquelle nicht zu verwundern ist. Es geht aber doch so viel aus den Mes- sungen hervor, dass bei gleichem Druck der Durchmesser des Mini- mum annähernd im Verhältniss des Durchmessers der Ausflussöffuung wächst und sich dabei von der Ausflussöffnung entfernt, so dass also hier kein principieller Unterschied von dem Ausfluss aus ebener Wand vorhanden ist; was ich auch noch durch Beobachtungen an weiteren und engeren Cylindern für Oeffnungcn von sehr verschiedener Weite bestätigt gefunden habe. § 62. Während das Profil bild des Ausflusskegels hauptsächlich abhängig ist von dem inneren Flüssigkeitsdrucke und der absoluten Weite der Ausflussöffnung, zeigt sich das ., e n 1 a c c 15 i 1 d " ausser durch diese, auch liier entsprechend wirkenden Factoren noch in hervor- ragender Weise bedingt durch das Verhältniss der Weite der Ausflussöffnüng zur Grösse des Cylinder durchmessers, so dass durch gleich grosse Ausflussöfl'nungen in einem engen und einem weiten C^-linder der Strahl mit wesentlich anderem en face Bild ausfliesst; indem bei ersterem die Convergenz iler en face Cou- touren von Anfang an eine viel geringere ist und das Minimum daliei viel ferner liegt, als bei weiterem Cylinder. Dies wird dadurch hervorgebracht, dass bei relativem Grösserwerden der üeft'nung die Randstrahlen, welche ja mit der Richtung der Tangente an den Rand der Ausflussöffnung begimien, in einem viel kleineren Winkel zu einander stehen, als bei relativ kleiner Oetfnung, wo ihr Winkel sich 180° nähert. Erklärungsversuclie. 55 [250]. § <)3. Wäre das cylindrische Gefäss aus einem Materiale gefertigt, welches neben der genügenden Festigkeit, um dem Seitendruok Widerstand zu leisten, noch die Bildsamkeit besässe, kleineren Druckrichtungsdifferenzen nachzu- gelieu, [eine Annahme, welcher jedoch mit einem anorganischen Materiale schwer zu genügen ist, da der Seitendruek meist erheblich stärker ist als die Druckdifferenzen, welche die verschieden gerichteten inneren Flüssigkeitsstrahlen bedingen], so würde das Rohr allmählich eine Abänderung von der cylindrischen Gestalt erfahren. Dies ist dadurch bedingt, dass nach dem Durehbruch der Wand der Druck nicht mehr allseitig senkrecht und gleich stark auf die Gefässwand drückt, sondern dass ein Theil der schief gerichteten Kräfte, als deren iicsultante der senkrechte Druck nach aussen hauptsächlich übrig blieb, jetzt durch den Ausfluss in Wegfall gekommen ist, und somit ausser dem jetzt geringeren senkrechten Druck auf die Wand der Umgebung der Oeffnung noch eine »Summe einseitig schief nach der Oeffnung gerichteter Druckkräfte hier angreift. Diese schiefen &äfte greifen am stärksten an dem Rande der Ausfluss- öfEnung an und streben ihn zu erweitern und vorzuwölben, da das Wasser hier von allen Richtungen von der Innenseite her zusammen- gedrängt wird und dieser Rand den Stützpunkt abgeben muss für den entstehenden stärkeren Druck an der Stelle und die nachher erfolgende Contraction des Wasserstrahles. An Gefässen aus einer Mischung von Seh weine schmalz und Olivenöl kann man diese Wirkungsweise wenigstens annähernd zur Anschauung bringen (s. S. 61 Anm.). Aber auch die übrige, die Oeffnung umgebende Wandung wird bei genügender Bildsamkeit an jeder Stelle eine der Resultante der schief und der senkrecfit wirkenden Kräfte entsprechende Riclitung erhalten imd im Ganzen eine konische Gestalt annehmen. Die so entstandene (Jonvergenz der Seiten-Gontouren wird im en face Bild im günstigsten Falle die ganze Hälfte der Peripherie des Kreises vertreten und im Profilbilde schon in weiter, auf beiden Seiten gleicher Ent- fernung von der Oeffnung eine allmähliche Erhebung darstellen. Dies wird bei derselben ßildsamkeit der Wandung um so ausgeprägter sein, 56 Nr. 1. Rpgeln r Bliitgofassverzweigiingen des Afensclien. je grösser die gestaltende Kraft, das ist die Differenz des inneren Flüssigkeitsdruekes und des äusseren, auf Wand und < )etY!Uing lastenden Druckes, ist. ^(J4. Ist dal)ci an d ir .\ n s i 1 11 ssöf f n u ug f'i n e ey li iid ri.^^elie RTilire. von gleichem Querdurclimesser und gleiclier 1! i I dsa iiikeit, in der Richtung des iStrahles angefügt, so wird sie in ihrem iVnfangs- tlieil durch den konischen AusHussstrom an sich nicht vollkommen ausgefüllt, sondern lilos durch wirhelartige Nehenströme ; sie wird aher an dieser Stelle durcii einen l)estehenden, piezometnsch nachweis- baren, negativen Driu-k alhiiiililicii zur konischen |25l! l'^orm des Wasserstrahles eingezogen werden. Nach einer f^telle des Minimum wird dann die Erweiterung zum definitiven Trumen erfolgen. Dieselbe Ge.stalt muss entstehen, wenn auch die Strömung so schwach ist, dass kein negativer, sondern blos ein schwächerer positiver Druck vorhanden ist. Es wird alsdann /.war keine Einziehung statttiudeu, aber, freilich bedeutend laugsamer, durch die schiefen Wasserstrahlen eine Ausbiegung der anderen Stellen sich l)ilden, bis die Kegel- gestalt des contrahirteu Strahles annähernd erreicht ist. Die Bildsamkeit des Wandungsmaterials müsste aber eine sehr holie sein, denn die richtende Kraft der einzelnen Wasserstrahlen wird schim durch die Adluu^sion stark gemindert [?]. ij öf). Würde dies ganze l>ildsame (icfäss mit seinem Inhail in comprimirte Luft gebracht, so müsste der Ausfluss in ganz der- selben Weise stattfinden als vorher, da überall der gleiche Druck sich adilirl und die zur Wirkung gelaugende Differenz also dieselbe bleibt. Liesse man jedocli den verstärkten Luftdruck blos auf die Ausflussmündung wirken, indem man den Rand derselben an den einer entspreclienden Oeffnung in . je länger [253] das Roin-, und um so grösser, je grösser ceteris paribus die Stromgeschwindigkeit ist. Obgleich nun die Druckdifferenz zweier nebeneinander liegen- der Querschnitte in Folge der geringen Differenz des Abstandes von der Ausflussöffnung eine sehr geringe ist, so ist sie doch die wesentliche Veranlassung des Weiterfliessens des Wassers. §67. Dazu koiinnt dann udili das Beharrungsvermögen des be- wegten Wassers, zufolge dessen es, wenn ilil in allen Zügen um! auch in den Bedingungen seiner ^'ariatiouen vollkommen den in § 59 — 62 beschriebenen Verhältnissen entspricht. Dies Verhältniss ist ohne weitere Erklärung verständlich, da sich blos die Stellung des betreffenden Querschnittes, nicht aljcr die Anordnung der Kräfte in ihm, noch diese selber, verändert haben. Das Profilbild dagegen zeigt mit der Neigung des Strahles wichtige Veränderungen, indem es mit der Zunahme der Neigung immer schmaler wird, wobei der vordere Profilcontour immer länger am freien Strahl seine ursprüngliche , der Stromrichtung ent- sprechende, Richtung behält, also erst später und allmählicher sich umbiegt, während der hintere Profilcontour immer rascher sich umbiegt und daher immer niedriger wird. Damit ist auch das Quer- schnitts-Minimura weniger ausgeprägt und rückt zugleich näher an die Ausflussöffnung heran. Dies erklärt sich auf fol- gende Weise: Die Bewegungsgrösse der zufolge des inneren Flüssigkeits- druckes von allen Seiten nach der Oeffnung, als einem locus minoris resistentiae, hinströmenden Flüssigkeitsstrahlen wird in deren strom- aufwärts von der Mitte der Oeffnung gelegenem Theile durch die Stromgeschwindigkeit verstärkt und nach der Richtung derselben ab- gelenkt, wogegen die von unterhalb der Mitte der Oeffnung her- kommenden Strahlen gegen die Stromkraft sich bewegen müssen und dabei um so mehr von ihr überwunden werden, je grösser die Stromkraft im Verhältniss zum Seitendruck ist, je stärker also auch die Neigung des ausfliessenden Strahles ist. Die Nothwendigkeit der Abnahme des Protildurchmessers eines aus einer kreisrunden Oeffnung ausfliessenden Strahles bei Zunahme der Neigung desselben zur Fbene des Kreises ergiebt sich aus der Projectionslehre. In den übrigen Verhältnissen variirt auch das Prolilhild dos Straliles nach den in § 60 — 62 angegebenen Principien. § 70. Hat die Wandung des Cylinders wieder die gehörige Bildsamkeit, so wird sie auch wieder entsprechend den Kraftver- Erklärungsversuche. 61 hältnipsen der von allen Seiten zufliessenden Wasserstrahlen unige- liililet werden, so dass sie hier also zu einem hreit [255] gedrückten geneigten ürsprungskegel sich formt, dessen vorderer Theil viel aus- gedehnter und ausgebildeter ist als der hintere. Ist wieder ein gleich bildsames cylindrisches Rohr an die Oeffnung angefügt, so wird dasselbe in seinem Anfangstheile allmählich entsprechend der Richtung und Form des „freien" Strahles umgestaltet, selbst wenn es eine abweichende Richtung haben sollte; zu dieser wird dann der üeber- gang durch allmähliche Biegung unter gleichzeitiger Ausbuchtung an ). Neue Methode zur Bestimmung der Zunahme des Wider- standes l)ei Zunahme der Stromgeschwindigkeit. § 71. Durch die Auflösung der Richtung des frei ausspringen- den Sti'ahles in Componenten, in die Stromgeschwindigkeit und di-n .senkrecht nach aussen wirkenden, durch den Widerstand für die l''ortbewegung bedingten inneren Flüssigkeitsdruck ist zugleich eine. [I) Diese Ablfitung wurde damals auf folgende Weise experimentell geprüft: Auf eine Glasplatte wurden zwei parallele Leisten der weichen, aus einer Mischuug von Schweineschmalz und Olivenöl gebildeten, Masse aufgelegt; und auf diese wurde, nach Anbringung einer kanalartigen Unterbrechung in der Mitte der einen Leiste und nach Verlängerung dieses Kanales, eine zweite Glasplatte gelegt und aufgedrückt. In den so gebildeten verzweigten Kanal wurde dann mit einem Gummischlauch ein kräftiger Wasserstrahl geleitet. Da die weichen Mauern des Kanales an den Glas- tafeln gut adhaerircn luid zudem dick gemacht waren, so widerstanden sie eine kurze Zeit dem Seitendruck, während an der seitlichen Ausflussstelle die schiefen inneren Flüssigkeitsstrahlen ein wenig modellirend wirkten. Ein erheblich besseres Resultat ergab eine spater getroffene Versuchsanord- nung, deren Wesentliches in der V erwendun g zweier verschieden fester Materialien besteht, einer äusseren festeren (aus 3 Theilen Wachs und 1 Theil Rindsfett) zum Wid erstan d gegen den Seitendruck und einer innen 1 Millimeter dick aufgetragenen breiig weichen Masse (aus Butter mit etwa ' .i ihres Volumens (Miveniili. Jetzt gelang es dem bei unserer Anordnung im Verbältnisse zum Seiten- druck relativ starken Flüssigkeitsstoss in der weichen Auskleidung des Rohres einen deutlichen Ursprungskegel, wenigstens im Groben richtig, zu mo- deHiren. Die Reinheit der Contouron wird dabei durch die grobe körnige Structur des Fettes gestört. Doch iiesse sich der Versuch bei weiterer Sorgfalt leicht wesent- lich verbessern. Hier genügte mir die Feststellung des Principiellen, da eine direkte Uebcrtragung der dabei stattfindenden blos mechanischen Wirkungsweise auf die Model- lirung der lebenden liefässwand, wie unten dargelegt wird, so wie so nicht zulässig ist.J 62 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. wie ich glaube, neue und solu- einfache Methode gefunden, die Zu- nahme des Widerstandes bei Zunahme der Stromge.sch\vindigkeit zu bestimmen ; eine Methode, welche darin besteht, dass man bei Gleich- erhaltung aller übrigen Umstände die Stromgeschwindigkeit ändert und die entstehende Aenderung des Neigungs- winkels des ,,frei" ausspringenden Strahles misst. Es fand sich diese Methode in der erwähnten älteren Literatur und auch in dem neuen, citirten Werk von Gkashof weder angeführt noch ver- werthet. Bei ihrer Anwendung ist aber wohl zu berücksichtigen, dass zum freien Ausspringen des Strahles ein messerscharfer Rand der Ausflussöffnung nöthig ist. Beobachtungen mit dieser Methode an 9 und 14 Mm. weiten cylindrischen Röhren ergaben, indem bei einem Wechsel der Stromgeschwindigkeit lun etwa das Sechsfache ceteris paribus der frei ausspringende Strahl , blos seine Sprungweite ent- sprechend ändernd, ganz dieselbe Richtung behielt, während er bei den geringsten Aenderungen der Endausflussöffnung oder der Neigung des Rohres entsprechend variirto, dass die HAGEN'sche Formel für Röhren von dieser Weite innerhalb des von mir verwendeten Druckes von 5 Fuss Druckhöhe noch nicht anwendbar ist, sondern dass hierbei der W iderstand noel: genau proportional derStrom- g e s c h w i n d i g k e i t wächst. Denn das \'erhältniss zwischen dem Winkel des frei ausfliessen- den Strahles und der Resultante aus Stromgeschwindigkeit und innerem Flüsslgkeitsdruck mag ursprünglich sein, welches es wolle, es mag an lebendiger Kraft und an Richtung behebig viel verloren gehen; wenn bei der Veränderung zweier Componenten von constanter Richtung die Resultante dieselbe Richtung lieiiält, müs.sen die Componenten in gleichem Verhältnisse sich verändert [256] haben. Ebenso kann die- selbe Methode aueli zur Prüfung des Gesetzes, dass der Widerstand proportional dem Abstand von der .\usfluss- öffnung ist, verwendet werden. § 72. Aus verschieden grossen seitlieluu Oef fnungen desselben durclillossenen Cvlinders springt ceteris paribus der Strahl unter derselben Kiclituui'- zur Cvlindei-oberfiäche aus, was verständlit-li Erklärungsversuche. 03 ist, wenn man bedenkt, dass Stromkraft und Scitendruck dal)ci immer in gleichem Verliältniss an Wirknngsfeld gewinnen. Ferner zeigte .sicli , dass aus seitlichen Lüehern im (!ylinder der Strahl um so steiler ausspringt, je nälier sie der EndausHuss- üflnung des Cylinders liegen , i'alls dieselbe kleiner ist als der Quer- schnitt des Cylinders. § 73. Setzte man eine Kammer mit comjjrimir ter I>ul't an die seitliche AusflussötTnung des Rohres an, so könnte der Seitendruck blos mit der DitTerenz des Luftdruckes in der Camera und dem inneren Flüssigkeitsdruck wirken; die Richtung und Kraft der Strömung im Rohre würde daher die Resultante mehr beeinflussen; der Strahl also unter spitzerem Winkel irnd mit entsprechend niedrigerem und weniger verjüngtem Ursprungskegel entspringen. Dabei würde die Gestalt des Ursprungskegels nochmals im gleichen Sinne durch die erwähnte Abnahme der Druckdifferenz verändert, so dass der Ab- stand seines Minimaldurclimessers von der Ausflussöffnung sehr ge- ring, und der Minimaldurchmesser selber relativ gross, das Minimum also wenig ausgeprägt ist. § 74. Dasselbe muss stattfinden, wenn statt der Camera mit eomprimirter Luft ein im oben erörterten Sinne bildsames Rohr von soicJier Länge angesetzt wird, dass der Widerstand in ihm an seiner Ursprungsstelle gerade so gross ist, als der der comprimirten Luft war. Es wird dann die Umgestaltung am Aufangstheile desselben eine zwar die charakteristischen Contouren zeigendem , aber doch nur wenig ausgeprägter und nur an einem sehr niedrigen Theil erfolgende sein, falls nicht etwa noch das Bestehen einer DilTerenz zwischen der Richtung der Röhre und der Richtung des unter gleichem Wider- stände frei ausspringenden Strahls eine Anfangsbiegung der Röhre mit Ausbuchtung verursacht. Ist eine solche Richtuugsdifferenz wirklich in erheblichem Maasse vorhanden, dabei die Röhre al)er aus einem für die im Wasserstrahl wirkenden Kräfte vollkommen bil ds am en Material, .so wird die (i estalt des Ursprungskegels [257] durch die alsdann ent- stehende Biegung und Ausbuchtung gleichwohl nicht alterirt, 61 Nr. 1. Keupln ilir Blutgefässverzweigungen des Mensclien. denn die letzteren werden alsdann erst jenseit des IJrsprungs- kegels stattfinden (vergleielie Tat'. 1, Fig. 8.) § 7ö. Wenn dagegen die Bildsamkeit des Wandungs- niaterials eine weniger vollkommene ist, so wird bei der an- genommenen iticlilungsdifferen/ der seillieli aiisHiessende Strahl nicht im Stande sein, das Anfangsstüek der Eühre vollkommen in seine Richtung zu liringen; es muss denniach der Anprall an dem hinteren Tlicile der Wand schon (U's rrs])rungskegels statt- finden, woduicli er die Grösse des Wasserstosses innerhalb ge- bogener Röhren und üliei die i'ventuelle Zerlegbarkeit eines gepressten Wasserstrahles in Componenten, bei der Schwierigkeit derselben und beim Mangel des^'orhandenseins von Vorarbeiten, nochnicht zu festen, auf unzweideutige Experimente gegründeten Ansichten gekonmien bin. Krklärungsversuche. (iö •2. Uebert'iiistiinmuiio; der Ursprungskegel der Blutgefässe mit der Gestillt „l'i'i'i" ausspringender Flu ssigkeitsstrahlcn, § 77. Wenn wir nun untersuchen, ob und wie weit die ent- vviekelten hydrodynamischen Erscheinungen mit deu oben "-eschilder- ten Gestah- und Richtuugsverhältnissen der Blutgefäss- [258J Ver- zweigungen übereinstimmen, und wenn dies der Fall ist, unter wt-l- chen Bedingungen ein sieh Gelteudmachen der hydrodynamischen Kräfte bei der Gestaltung der Blutgefässe donkbai' ist, so tritt zu^ nächst folgendes auffällige Verhalten hervor: Kegel XVI: Die Gestalt des Lumens der As turspr ünge, der Ast-Frsprungskegel zeigt in vielen Fällen alle die charakteristischen Merkmale des „frei"' aus einer seitlichen „runden'- üeffnung eines von Wasser «lurehflossenen (ly- linders ausspringenden Strahles. Regel XVII: Diese Gestalt der Ast urs pruugskegel vari- irt mit der Aenderuug der gleichen Umstände und in der gleichen Weise, wie die Gestalt solcher frei ausfliessen- den Strahlen: nämlich für das Profil bild mit dem Neiguno-s- winkel gegen die Stammesaxe und mit der absoluten Grösse der Oetf- nung und für das en face Bild noch mit der relativen Weite der seitlichen Oeffuung resp. des Astes zur Weite des Stammes; das en face Bild beider ist unabhängig von dei' Neigung des Astes zum Stamme, und das Protilbild unabhängig von der relativen Weite des Astes (§ 39—5-1:, § 59- G2 und § 69). Ausserdem ist noch wahrscheinlich, dass die Druckdifferenz, wie beim freien Strahl (§ 60), auch bei den Arterienästen auf die Gestalt einwirkt, da nach tj 42 die bezüglichen Gestaltungen nicht blos an den grösseren Arterien ausgesprochener sicJi finden ;ds an den N'erzweigungeu der V. portae, sondern auch caeteris paribu W'rschiedenheiten in ihren relativen Dimensionen erkennen Hessen. Ferner zeigt sich auch noch eine Uebereinstim mung in den Rieht ungsvt'i-hältnissen, indem der Astursprun^- in beiden Fällen inncrhall) der Stam maxen-Rad ia 1 e beiie erfolgt (§ 8, § 58 und 69). W. Koiix, üesnmmelte Abliaudluiigen. I. 5 s 66 Nr. 1. Regeln der Blutgefässverzweigungen des Menschen. Die Gestalt der Gefässursprünge stimmt iioeh mehr ühcreiii mit der Ge^itiill dei' Verzweigungen von Reihreu, welche, aus einem für die hydrodyn amisch en Kräfte bild- samem Materiaic hesteheiid. längere Zeit von Flüssig- keit durciistrümt wortleu sind, indem in diesem Falle auch die Basis der Astursprünge die beschriebenen charakteristischen Formen der Basis diT Gefässursprünge [z. 1>. di«' hydrodynamisch bedingte, anuidicrnd ..ovale'' (Jestalt) annimmt (§63, ('4, 7() und 74). 3. Anpassung der ,, lebenden" Gefäss wand ung an die ge- staltenden Kräfte des Blut Strahles. § 78. Diese evidente üebereinstimnun ig wird wohl Niemand als Wirkung der specifischen Function der Organe oder des Organis- mus, welchem die Blutgefässe zugeliören, oder gar als durch äussere Einwirkungen auf dieOrgane bedingt hinstellen [259| mögen; .schon deshalb nicht, weil diese beiden Momente bei den verschiedenen Or- ganen ganz verschieden, die bezüglichen Erscheinungen aber den Gei'ässen dieser verschiedenen Organe gemeinsam sind. Es bleibt somit blos die Alternative, dass hier eine Anpassung an die vorhandenen und daher auch wirkenden Kräfte des Blut- stromes stattgefunden habe, oder, dass andererseits die Anlage und das Wachsthum der Gefässe durch zwar den verschiedenen Or- ganen gemeinsame, aber von der blutleitenden Function der Gefässe und dem gestaltenden Einflüsse derselben unabhängige morpho- logisclie Gesetze bestimmt würden, welche selbständigen Gesetze aber zufälliger Weise genau das hertellten. was bei Geltendwerdung dieser, nicht zu erkennbarer Wirkung gelangten specifischen Kräfte ent- standen sein würde. Ich entscheide mich fih' die erstere Auffassung dieser Alternative, indem die zweite mh- nicht weiterer Discussion werth erscheint. Danach liegt die Nöthigung .vor, zu untersuchen, welche Eigen- schaften eine so eminent anpassungs- und zugleich wider- standsfähige Masse haben müsse. Die Besonderheit dieser Eigenschaften zeigt sich am deutlichsten bei einem Vergleich mit den Eigenschaften und dem daraus hervor- I Kiklaiungsversuche. 67 gelicmlcii W'i-lialtcii ui<-lit leheiuler elastischer Menibmiieu. Wenn eine .■^olciu' Meniliran diirt-li eine Ki'aft gespannt ist, so kann eine n(_ieli liin/.nkoninu'nde spannende Kraft liüclistens in dem \'erhältniss iliiiT Sliirke zu der st-lioii spannenden Krall, im l'^ailo sie näm- lich in derselben Richtuneim Ausfluss eines Strahles durch eine seitliche Oetfnung selbst in einem sehr dünnwandigen (Unnmirolu- keinen erkennba reu Ausflnsskegel an der Gmumiwandmig sich bilden'). Das lebende Gefässbildungsmaterial dagegen zeigt die wundi>r- bare Fähigkeit [260| auch Ihm sehr grosser ,,8pannnng" in einigen Richtungen noch vol 1 kommt'n ganz geringen Druck- [besser „8toss"-]wirknngen in anderer Üichtung nachzugeben: eine Eigenschaft, welche blos lebendige Substanz haben kann-). Vm noch einige Beispiele wahrscheinlicdier Anpassung an die- Kräfte des Blutstromes anzuführen, erwähne ich die Glattheit der Innenwandung der Blutgefässe; die, falls nicht staikc Biegungen erfolgen, runde Beschaffenheit des (Quer- schnittes der Gefässe in ihrer Continuität; die grössere Stärke der Wandung der Arterien als der Venen (Desc.autes, diss. de meth. V.) etc., und besonders die Bildung von Hauptbahnen, welche, wie wii- S, 19 sahen, im GefässJiof des Hühnchens rasch aus einer un- regelmäs.sig netzförmigen Anlage sowold im arteriellen wie im venösen 11 Dass dies aber nicht die Folge einer etwa in clast isc-lien Häuten stattfinden- den Druckausgleichung .sein kann, ergaben weitere von mir angestellte Versuche an dünnwandigen, rechtwinkelig verzweigten und an der Verästelungsstelle mit vielen Piezometern versehenen (jummiröhren . indem sich hier an den entgegengesetzten Stellen der betreft'enden Querschnitte dieselben üruckditt'ereiizen zeigten als an gleich geformten ßlechrohren. [-) Aus dieser Aeusserung geht wohl hervor, dass ich nicht die Meinung ver- treten habe, diese Anpassung der Gefässwandung geschehe an ihr als passivem Gebilde durch die directe modellireude Wirkung des Blut,strahles wie an dem Fett- modcll. Weiteres siehe Nr. 2 S. Z2i und '.j'6A u. f. I 08 Nr. 1. Rpgeln der Blutgeiassverzweigungen des Menschen. Abschnitt entsteheu, nachdem die Bewegung des Blutes begonnen hat; und forner noch die radieuförmige Anordnung dieser Stämme im Gefässhof von tlem Ursprungspunkt aus, resp. mich dem X'ereinigungspunkte hin '). [Die ,, typische" Lage solcher Hauptbahnen und Aeste in Ort und Richtung ihres „Verlaufes" müssen fast so wie die ^'eräste- lung selber zum grossen Theil (hncli andere, ausserhalb des Blut- stromes gelegene Momente gegeben resp. bestiniuil werden.] Ich will hier noch ein biologisch interessantes Factum erwidmen, welches darauf hinweist, dass aus ganz verschiedenen Ursach en Aehnliches hervorgehen kann; nändich die Thatsache, dass der Ursprung der Blattstiele und besonders der Aeste derBäume häutig im Allgemeinen ähnliche Formen zeigt, wie wir sie hier beim Ursprung der Blutgefässe gesehen haben. § 79. Die vollkommene Wiedergabe der Gestalt des frei ausspringen- [1) Vergleiche dazu: Thoma, Leljer ilicHistogeneseiindHistomecbanik desGefass- systenies 1893, S. 2tj u. f., wo sich wesentlich derselbe Gedanke ausgesprochen findet. Weitere bezügliche Anpassungen an die eigene Gestalt des bewegten Blutes sind die Sinus Valsalvae, welche Abgüsse der Wirbel darstellen, die beim Rück- iiuss des Blutes bis zum Klappenschluss entstehen, die ent.'sprechenden Buchten neben den Venen- und Lymphgefäss-Taschenklappen. ferner die von H. Stahki. nachgewiesenen spindelförmigen Anschwellungen der Gefiisse hinter starken Biegungen der- selben (Lit. s. 0. S. 240). Ich vertrete also die AufTassung, dass die (t est alt des Lumens der Arterien und Venen durch die hämo dy namis eben Kräfte bedingt und vermittelt ist und dass bei der Ausbildimg dieser Gestalt eine besondere, vital, d. h. durch Wachsthum und sonstige vitale Leistungen vermit- trlfe Anpassungsfähigkeit der Gefäss wand» ng an diese Kräfte betheiligt ist. Thüma sucht (loco cit. und bereits seit 1882 in mehreren gründlichen Arbeiten) ein gleiches hydrodynamisches Bedingtsein für die Gestaltung der Capillaren wie für die Dicke der Gefiisswandung und die Weite des Lumens der grösseren Gefässe nachzuweisen. Bei dieser principiellen Uebereinstimmung. welche viele Berührungspunkte seiner Arbeiten mit den meinigen bedingt, wäre es wohl von Nutzen gewesen, wenn TiiOMA meiner Abhandlungen (Nr. 1 und 2, sowie die Erörterung über die Regulation der Weite der Gefässe Nr. 4 S. 150 u. f.) nicht blos bei einigen speciellen An- lässen gedacht hätte. Es hätte gewiss die Autfassung seiner Leser erweitert zu er- fahren, dass bereits eine überaus vollkommene Anpassungsfähigkeit der Gefässwand an die hydrodynamisch bedingte eigene Gestalt des Blutstrahles auf gutes Beweis- material gestützt vertreten wurde; und Thu.mas' noch wenig gestützte Auffassung von der Anpassung der Capillaren gewinnt durch Heranziehung dieser Ergebnisse wesent- lich an Wahrscheinlichkeit.J J Erklärungsversuche. den Stralilos i^^t blos müo;lieli. wenn or wirklicli nngehennnt in der Richtuno- ontsprinyon kann, welclio ihm. znfolge des Vcvhältnissos von .Stroni.ü-i'scilwindi.ükeit nnd Soitendmek, ..hydrodynamisch" zukonnut; denn, wt-nn man ihn von dieser lliclitnng abzulenken versucht, er- laln-t er Aenderunoen (Ueser Gestalt; daraus ergiebt sieh die Regel Will: Wo der Astursprung vollkommen die charak- teristische Gestalt des l'rei ausspringendeu Strahles hat, erfolgt der Ursprung in der haemodyuamiscli bedingten Richtung zum Stamme. i< 80. Da aller die Richtung kurz nach einander aus demselben Stamme entspringender und an ihrem Ursprung die Gestalt frei aus- springendei- Strahlen zeigender xVeste oft nicht die gleiche ist, so be- weist dies nunmehr, dass in diesen Aesten die hydrodynamischen Ver- hältnisse nicht die gleichen sein können, dass der Druck und dem ent- sprechend, im umgekehrten Verhältniss, auch die Ge- [261] schwindig- keit in ihnen ungleich sein müssen; denn im Stamme selber kann eine so erhebliche Verschiedenheit der hydrodynamischen Verhältnisse, falls nicht gleichzeitig starke Aeste auf der anderen Seite abgehen, an einander so nahen Querschnitten nicht bestehen. Es dünkt mich auch nicht unwahrscheinlich, dass an vielen Stellen des Körpers die relative Grösse der ('apillarbezirke und die Weite und Länge der T'apillaren nebeneinander entspringender Arterien und somit auch die Widerstände in ihnen nicht die gleichen .sind. Die Regeln 11 und 12, §§ 3(j und 37 besagen, dass die grösseren Arterien im Allgemeinen unter spitzeren Wink'ln abgehen, als die relativ schwächeren; es muss daher, soweit ihr Ursprung die (iestalt frei unter dickem Winkel ausspringender Wasserstrahlen zeigt . der Flüssigkeitsdruck in ihnen schwächer sein, als in neben ihnen, aus demselben Stamme unter grossem Winkel entspringenden kleineren Gefässen, falls der Ursjtrung dersellten. wie es oft vorkommt, in seiner Gestalt gleichfalls derselben Bedingung entspricht. § 81. Aus dem häufigen Vorkommen hydrodynamisch ge- stalteter Ursprungskegel an den Arterienästen ergiebt sich die Regel XIX: Der Ursprung der Aeste erfolgt häufig unter 70 Nr. I. Regeln der ßlutgefässverzweigungen des Menschen. dem, den hydrodynamischen Verliältnissen entsprechenden Winkel; und danach erst er- langt der Ast durch l'mbiegunfr die functio- nell nut li i üi' 1' i *'li t u Hg. welche iiiii /, u seinem \'erbreituu g's bezirk führt. Wenn au einer Stelle diese Regel (infolge starker äussere)- Wirk- ungen] nicht zur Geltung gekommen ist, so wird, falls der Ursj>rungs- winkel ein für die hydrodynamischen Verhältnisse zu grosser ist. abge- sehen von .Strudelbildungen [?] im Stamme, an der hinteren Wand des Astes ein Anprall des in denselben einflicssendeu Blutstromes stattfinden. Ist in diesen Fällen ). Aeusserem umgestaUendem Hruek und Zug siud ausser den ober- ÜäeliHeli gelegenen Körpertheilen aueh alle Organe der liaueli- und 15rusthiihle in höherem oder geringerem (irade ausgesetzt und von jelier iuisgesetzt gewesen, wodurch denn eine vollkommene An))ass- ung an (he hydrodynamischen Kräfte unmöglich wurde. Ich glaube auch an der Leber die meisten Ausnahmen von den Ablenkungs- regcln an denjenigen N^erzweiguugen gesehen zu haben, deren Ver- zweigungseltene in der Längsrichtung des Körpers oder schiel' zu dieser Lichtung stand'); dagegen fand sich die vollkommenste lieber- einstinnnung an den grossen, in der (Juerschnittsebene des Körpers gelegenen \'erzweiguugen des rechten [204] Leberla])pens des Men- schen. Noch evidenter war dieser Unterschied an der Krokodil- lebei', welche zugleich alsCcntruni tendineum dient, und an welcher sogar die Gefässe nicht rund, sondern entsprechend der Richtung des Zuges stark abgeplattet waren. Die ruregeluiässigkeiten an Verzweigungen von weniger als (1,3 ^fm. Aststärke können leicht dnirh j)hysiologischen oder unphysio- logischen Druck aul' die Orgaue entstehen , ebenso wie die Unregel- mässigkeiten an dünnen Rändern der Organe. Wenn ferner, wie in § 2ti beschrieben ist, eine morphologische Nöthigung vorhanden ist, die bei der Astabgabe veränderte Rich- tung des Stammes nicht beizubehalten, sondern wieder zur ursprüng- lichen Richtung zurückzukehren, so ist es nicht zu vei'wundern, dass in diesen Fällen auch die Ablenkung des Stammes von vornherein verhältnissmässig etwas zu gering ist. Dieses Vorkommniss siiricht gerade für ein nicht m<>r})hologisches Bedingtsein der Ablenkung des Stammes bei der Astabgabe. In diese Gruppe gehören auch noch die anderen morpho- logisch bedingten Abweichungen von der ,, hydrodynamischen ['1 Dies betritFt am augenfälligsten die Verästelung des grossen (von Hyrtl übeiselienen) aufsteigenden Astes der Vena portae. welcher in Beziehung zu der besonderen Dicke des rechten Leberlappens steht.] 74 Nr. 1. Regell) der Blutgefässverzweigungen des Menschen. Selbstgt'Htaltung", nämlich eiiinnil dats Vorkommen grosserer oder kleinerer Astwinkcl, als den hydrodynamischen Ver- hältnissen entspricht, und zweitens alle Biegungen, von welchen letzteren ein Theil das Bediugtseiu ihurli die specifisehe Function [der Gefässe, das Blut bestimmten Bezirken zuzuführen,] recht deutlich erkennen lässt. Was in diesen Fällen die (iel'ässwand trotz ihrer sonstigen Bildungstahigkeit an Widerstand zu leisten vermag, das zeigt am drastischsten der vordere Theil des Arcus aortae, dessen Wand an einer Stelle das ganze Leben hindurch bis zum beginnen- den Greisenalter dem Anprali des mächtigsten Stromes des Körpers widersteht, nur in der kleinen Ausbuchtung des Sinus quartus ein Nachgeben bekundend , während sie gleich daneben beim l'rsprung der Aeste an die Richtungen der feinsten Strömungen sich angepasst zeigt. [Das Vorhandensein grösserer oder kleinerer Astwinkel, als sie den hämody iiamischen ^'erhältnissen entsprechen, deutet daraufhin, dass das betreffende Gefäss so kurz ist, dass sein vor- oder rückwärts gerichteter Bogen noch gespannt ist. weshalb die Biegung nicht erst nach a u s s e n vom Ursprungskegel beginnt, sondern auchnoch den in derWandung des Stammes liegenden Ursprungskegel des Astes durch diesen al>weic]iciid gerichteten Zug mit beeinllusst.] Diese Momente haben natürlich nicht erst im extrauterinen Leben des Individuums, sondern auch schon in der [ihylo- und ontogencti- schen ^'orgeschichte des Organismus und der Organe ihre alterirende Einwirkung geltend gemacht. Aus letzterer Periode Hefert eine An- zahl Beispiele derjenige Theil der Leber, in welchem mit dem Aufhören des Foetalkreislaufes eine Umkehr iler Strom- richtung des Blutes stattfindet. Die Astursprünge aus dem hnken vorderen Hauptast der Y. port., welcher ursprünglich die Fortsetzung der V. umbil. war, l)ilden Ausnahmen, die während des 1265] ganzen Lebens nicht vollkommen ausgeglichen werden. Der linke Ijeberlaiipen zeigt ausserdem mit der Zunahme seiner von Toi. in und Zri;KKi,K.\.\[ii. ') nachgewiesenen .\trniihie im Vorschreiten des Allers immer häufigere Ausnalmien. Die grossen Veränderungen, welche ])atho- 1) Sitzungsber. d. k. .Ar.id. d. AViss. zu Wien 1875. Kiklaruiiirsversuche. 75 loffisclie, mit l^lutstauunü,- verl)un(lene Processe an der Gostalt der C.etassver/.wi'iiiungen hervorbrinji-eii, können liier natürlich nicht Gegen- stand der Erörterung sein [Als allgemeines Krgehni.ss können wir das (Je.setz aul'stellen: Die Gestalt uml Kiehtung des Lumens der Aslursprünge der Arterien wrrden durch eine derartige vitale Anpassung der Gefässwandung an die hydraulischen Kräfte des Blnt- strahles hervorgebracht, dass der Blutstrahl die Gestalt des „frei" aus hyd rddynamisch gestalteter (ovaler) seitlicher Oelfnung iles Stammes ausspringenden Strahles erlangt. Aeussere Einwirkungen auf den Ast können durch Zwang auf die Richtung des Asturs])runges auch auf die Gestalt desselben einen von diesem (besetze Abweichung bedingenden Eintiuss ausüben]. ."), Nutzen der li y d nidy nainischen (Tcstalt der Rlutgefäss- verzweigungen. § 84, W'i'un zum Schlüsse noch ilie üliliche Frage nach dem Nutzen der gefundenen Einrichtungen wenigstens für die- jenigen derselben aufgeworfen und beantwortet werden soll, deren Ursache ich erkannt zu haben glaube, und deren Wesen ich als möglichst \ollkommene Anjuissung an die hydrodynami- sclu'u Kräfte, soweit es die spceifischen Functionen und die X'orgeschichte der Organe und äussere Einwirkungen irgend gestatten, bezeichnen möchte, so ist zu sagen, dass der Nutzen dieser Einrichtungen in der \'e rt heil ung des Blutes unter dem geringsten \'erlust an leliendiger Kraft bestellt. Denn es entsteht dabei nur das geringste Mass an Strudel- und Wirbel- bildungen im Blute, welche bei der sechsfachen Grösse des Reibungs- coefficienten des Blutes von dem des Wassers und bei den Millionen von Verzweigungen einen ungeheuren Verlust an , vom Herzen zu liefernder, lebendiger Ivraft unter Umsetzung in Wärme verursachen würden, wenn sie an jeder Verzweigungsstelle vorkämen. Und es wird heut zu Tage wohl Niemand mehr, gleicli Descartes 1. c, die Wärme-Bildung als eine specitische Function des Herzens bezeichnen wollen, wenngleich alle Herzkraft in Wärme umgesetzt wird. 76 Nr- 1. Hegeln iler Blutgefässverzweigungen des Meoscheii. (Die allmälilige Biegung eines Flüssigkeitsstromes in einem gebogenen Köln- bringt erfahrungsgemäss viel weniger ßeibungswider- stände hervor als eine scharfwinkelige Knickung. Dies ist der Nutzen der allniäliligen Biegung der Blutgefässe. Aehnlicli wie eine winkelige Knickung eines iJolues wirken aber cyl lud riselie Ast- ursprünge scliou an sich und noch mehr, wenn sie nielit in dem hydrodynamisch bedingten Winkel angesetzt sind. Daher ist es sehr nützlich, dass die Gefässe mit hydrodynamisch ge- stalteten und gerichteten (' i-sprungskegelu entspringen und danach erst in allniäliliger Biegung ilireiii Vei'- sorgungsbezirk zugebogen werden.] Die vorliegenden Eiiu'ichtungen zeigen also den Charakter, den alle Einrichtungen haben nmssen, welche durch die in ihnen fvni- girenden mechanischen Kräfte selber und aus einem vollkommen bildungsfähigen Material gestaltet werden : den Charakter der höchsten Vollkommenheit oder der „Zweckmässigkeit", wie man heut zu Tage noch sagt. Erklärung h an giger Dif- ferenzirung der Gefässe soll indess nicht die .\nsiclit vertreten werden, dass die Anpassung der Gefässe an den Bedarf des von ihnen versorgten Parenchynis nicht das Gewöhnliche wäre (s. Nr. 4, .S. 138 u. f.)]. / A. rrsachen der Ahlenkunp. 8ö sofort nach seiner starken Uiiibieüuno; am rrs|iniiig iles Astes ein- schlägt. Hui (licseiii \'erli;iltiiiss ist nocli eine I>es(iiiilerlieit /,u erwälmen, darin l)estelien(l. dass der keilför- mige Vorsprung, welcher die eigentliche Stromtiieilunü- ans- führt imd welchen ich daher mti dem Namen Trennungskeil') bezeichnen will, in seinen beiden vorderen, ik'm Wasserstoss am directesteu ausgesetzten Flächen, dem Drucke nicht mit nachge- geben hat, sondern fast die defi- nitive Richtung des Gefässverlaufs zu haben pflegt, wie nebenstehende Figur zeigt. Ich glanbe dies auffällige Verhalten damit erklären zu können, dass dieser Trennungskeil viel widerstandsfähiger ist, als die Wandung von Stamm und Ast neben ihm, da einmal die Wandung des Stammes für ihn als Stütze gegen den Flüssigkeitsstoss dient und er selbst ausserdem noch dadurch fester ist, dass er aus einer durch stratt'es Bindegewebe hergestellten Vereinigung der Wandung von Ast und Stamm besteht. So mag er befähigt sein, den aus einem früheren Eutwickeluugsstadium überkommenen Winkel beizubehalten [?], während an seinen Seiten die einfache Gefässwand von Stamm und Ast trotz ihres Mitwachsens dem wachsenden Flüssigkeitsstoss nicht ohne Nach- geben zu widerstehen vermag. Uebrigens ist noch zu erwähnen, dass der Trennungskeil während des Lebens absolut etwas weniger weit gegen das Lumeu vorspringen muss, als üi dem in der Ruhe ge- füllten Zustand, v\ie ihn das Corrosionspräparat zeigt, da hier der Flüssigkeitsstoss fehlt. Aus (327] demselben Grunde müssen dagegen die Ausbuchtungen neben ihm im Leben ein wenig beträchtlicher sein. ') Der Abdruck der vordersten scharfen Kante desselben am Conosionspräparatc bildet die S. 44 als .Basallinie' benannte Furche an der Basis des Ursprungskegels des Astes. 86 Nr. 2. Die Bedeutung der Ablenkung des Arterienstammes bei der Astabgnbe. Was nun das Verhalten betrifft, dass bei der besprochenen Ah- lenkung des Stammes seine Axe nm- imierhalb der Stanimaxen- Radialebeue verschoben wird , so erklärt sich dasselbe auf dieselbe Weise wie der Ursprunsj,- des Astes innerhalb dieser Ebene, dadurch, dass bei derartiger Gestaltung allein Gleichgewicht besteht , indem 7,ur Stamniaxen - Radialebene alle Kräfte symmetrisch liegen. Aber auch zu diesem Geschehen nuiss wieder die erwähnte Anpassmigs- fähigkeit vorausgesetzt werden. Es wurde bisher die Ansicht, dass die gegebenen Kegeln in den hydraulischen Kräften ihre Ursache hätten, auf den Nachweis gestützt, dass unter gewissen N'oraussetzungen diese Kräfte genau die entsprechenden besonderen Gestaltungen hervorbringen würden, und dabei also ein Schluss von der Gleichheit der Folgen auf die der Ursachen gemacht in der Weise, wie der Physiker z. B. aus der hlentität des Spectrum von kosmischen Nebelflecken mit dem des Wasserstoffs auf die Zusammensetzung derselben aus letz- terem schliesst, ohne diese Behauptung indessen weiter beweisen zu können. Es giebt aber im hier vorliegenden Falle nocli einige Vor- kommnisse, welche indirect für die aufgestellte Ansicht sprechen, indem sie die andere Möglichkeit, die einer rein morphologi- schen Gestaltungsursache, für bestimmte Fälle als sehr un- wahrscheinlich hinstellen. Die Fälle sind die folgenden: Es ist zunächst das S. 35 erwähnte Vorkommniss, dass Ast und Stamm sicli nach der Verzweigung noch weiter auswärts biegen und dadurch erst ihre definitive V'erlaufsrichtung erlangen. Für schwache, in Bezug auf den Stamm nicht ableukungs- fähige Acste hat Schwalbe') schon nach meiner ersten Untersuchung ein secundäres Entstehen im Laufe der Entwickeluug durch ,,Wachs- thumsverschiebuug" nachgewiesen. Ist letzteres aber nicht nachweis- bar, ist vielmehr, wie häufig in den grossen Drüsen, dieser Verlaufswinkel von vorn lierein gegeben und gar noch, wie es in der Leber vorkommt, das Verliältniss ein derartiges, dass Fortsetzung des Stammes und Ast schliesslich in demselben Winkel zur Richtung des Stammes •) Jenaiscfae Zeitschr. f. .Med u. Naturw. 1878, p. 267 u. ff. A. ürsachpn Hpr Ablenkung. 87 vor seiner Theihiiig stehen, so ist dei- kl e i nero Anfangswinkel, der \'erästelungsvvinkel, an welchem dann die Hetheiligung heider Gefässe in obigen Regeln entsprechender Weise zu erfolgen ]itlegt. wohl sichiT als hydrodynamisch bedingt aufzufassen. [328] Der zweite Fall ist der an Kleinliirn. Herz und Gedärmen häutige (s. S. 25), dass der Stamm nach der Ablenkung bei der Astabgabe sich gleich wieder im Bogen zu seiner ursprünglielien Rich- tung zurückbiegt und so entweder die Möglichkeit erlangt, in der- selben Furche der Oberfläche des Organes wie vor der Theilung weiter zu verlaufen oder, vde ich hier zufüge, der Kreuzung mit einer in seiner Nachbarschaft in gleicher Hauptrichtung verlaufenden und sich natürlich hauptsächlich nach der entgegengesetzten Seite verzweigen- den Arterie zu entgehen. Letzteres ist nicht selten in sich mehrmals nacheinander ^nederholender Weise an einer Hauptgabelung der A. mening. med. und auch schon an den Gefässfui'chen derselben in der Glastafel zu sehen; ausserdem auch auf der Vorderfläche des linken N'entrikels. Dies Verhalten scheint mir noch mehr als das erstere, sowohl ein primäres morphologisches Bedingtsein der Ablenk- ung des Stammes, wie ein secundäres Entstehen durch spätere Wachs- thums-Einflüsse auszuschliessen. Im Vorstehenden habe ich meine Auffassung der Bedeutung und Entstehung der Regeln , nach welchen die Arterienverzweigung an den im Leben nur geringen Gestaltänderuugen ausgesetzten Stehen des Körpers erfolgt, in ileu Hauptzügen und so weit sie mir am sichersten schien, dargelegt. Aber wenn auch als hauptsäclilichstes Moment der Ab- lenkung des Stammes bei der Astabgabe die Druckausglei- chuug des ,,Flüssigkeitsstosses" auf den beiden Schenkeln des Astwinkels angesehen werden muss, so dürfte doch noch ein zweites, in gleichem Sinne wirkendes Moment für die Ver- theilung des ganzen Verästelungswiukels auf den Astwinkel und die Ablenkung des Stammes von Einfluss sein: der ,,Rückstoss". Die Erkenntuiss desselben gründet sich auf ein Experiment, welches wohl den Meisten noch aus der Kindheit her in Erimierung sein wird. Hält man nämlich eine scharfe Messerklinge in einen 88 Nr. 2. Die Bedeutung der Ablenkung des Arterienstammes bei der Astabgabe. frei herabfallenden runden Wasserstrahl und lenkt damit einen TJieil desselben seitlich ab, so geht der übrige unberührte Theil des Strahles nicht in seiner bisherigen Richtung fort, sondern erfährt gleichfalls eine Ablenkung, und zwar naeh der entgegengesetzten Seite. Diese Ablenkung wächst, wie die durch Regel 2 charakterisirto , mit der Stärke des durch die Klinge abgelenkten Theiles und mit dorn Winkel desselben , erreicht jedoch bald ein mit der Stromstärke wechselndes Maximum. Die Erscheinung kann als eine Wirkung des Rück- stosses des durch die Ivlinge seitlich abgelenkten Theiles oder als Zerlegung des Wasserstrahles [329] im Componenten angesehen werden. Dass letztere überhaupt möglich ist, kann man aus der be- kannten Fähigkeit zweier oder mehrerer sich treffender Wasserstrahlen, sich zu einer Resultante zu vereinigen , rückwärts erschliessen. Es ist noch zu erwähnen , dass bei der Theilung eines Strahles durch eine Klinge eine Verbreiterung beider Theilstrahlen in senkrecht zur Theilung-sebene stehender Richtung stattfindet, welche gleichfalls mit dem Ablenkungswinkel wächst. Man wird nun geneigt sein, anzunehmen, dass, wenn schon der freie Strahl, welcher blos durch die Cohäsion zu einer' dynamischen Einheit verbunden ist, sieh in Comj»nenten zerlegen lässt, der in einem Rohre fliessende gepresste Strahl, welcher wohl in Folge der Pressung eine noch vollkommenere dynamische Einheit darstellt, auch um so vollkommener in Kraftcomponenten zerlegt werden könnte, zumal bei ihm ein Ausweichen aus der Theilungsebene unter Ver- breiterung nicht möglich ist, so dass also die Mittelpartie des Strahles in der "N'erzweigungsebene zu bleiben gezwungen ist und ilurch ihre eigene Ablenkung die der seitlichen Theile unterstützt. Ein Experiment mit winkelig geknickten Rohren, wclchi' an der (Konvexität der Knickung, sowie oberhalb und unterhalb derselben kleine Löcher zum Ausspringen von Strahlen hatten, erg;d) jedoch nicht das erwartete Resultat, indem der an der k'nickungsstelle hervortretende Sti-ahl unter keinem grösseren \\'inkel zum Stamme stand als der nächst oberhalb hervorspringende Strahl. Ueber die Ursache dieser Erscheinung habe ich keine Aufklärung erlangen können. A. Ursachen der Ablenkung. Ein gleich negatives Resultat ergaben Versuche mit recht- winkeligen Verzweigungen in zwei gleich starke xVeste, von welchen der eine die Richtung des Stammes fortsetzte. Es wurden an diesen Roiu-en 13 Manometer an der \'erästelungsstelle angebracht, um die Druckvcrliäitnissc kennen zu lernen. Der Druck zeigte sich in ganz unerwarteter Weise vertheilt. und ich würde darüljcr ausführlicher berichten, wenn diese Beobachtungen nicht blos an zwei vom Klempner ziemlich roh gearbeiteten Rohren gemacht worden wären, sodass ich nicht sicher bin, ob die betreffenden Erscheinungen nicht blos durch zufällige Nebenumstände hervorgerufen worden sind. An der Stelle des Angriffspunktes des Rückstosses zeigte sich keine Erhöhung des Druckes über den der nächsten Umgebung. [330] Der Rückstoss ist gleich der Bewegungsgrösse der seit- lich ausliiessenden Wassermenge. Sind die \''erhältmsse wie bei den Blutgefässen der Art, dass die elastischen Röhren in ihrer Con- tinuität befestigt sind, so kann in Folge der Unbeweglichkeit des Astes auch der Stamm nicht durch den Rückstoss rückwärts um- gebogen werden, wie es oben i S. 82), als an freien elastischen Röhren gescliehend , beschrieben worden ist : sondern die rückwärts- gehende Wirkung in der Flüssigkeit kann sich blos als eine Ab- lenkung des Flüssigkeitsstromes der Fortsetzung des Stammes nach der dem Aste gegenüberliegenden Seite geltend machen, bis das Pro- duct aus der Bewegungsgrösse der Flüssigkeit innerhalb der Fort- setzung des Stammes und dem Sinus seines Ablenkungswinkels gleich ist dem Producte der Bewegungsgrösse der Flüssigkeit des Astes und dem Sinus des Astwinkels , wonach keine Veranlassung mehr zu weiterer Ablenkung vorhanden ist, indem jetzt der Rückstoss aus dem Aste gleich dem aus dem Stamme ist. und, da sie beide entgegen- gesetzte Richtung haben, sich einander aufheben. Der Eintritt dieses er durcli diese gestaltenden Eigenschaften der Gefässwand auf das Minimum redu eirt. W. UoQx, (re.'iammelte Al)Ii.in'- Ü. lifistiingsfahigkeit th-v Uescendeiizlehre. Anpassungen bedingt sind. Dieses Anpassuiigsgesetz ist eines der wichtigsten und in seinen Wirkungen schon längst liekannt. Indessen man hat blos die Wirkung vor Augen geliabt, ohne sich der Ursache derselben bewusst zu werden. Diese kann uvir im Zusammenhange der Eruii li rungserscliei nungen des Organismus gefunden wer- den und zwar in einer nutritiven W'echsehvirkung zwischen allen Theilen des Organismus.'" Es ist hier also noch weniger als beim EinÜuss der Lebensbe- dinguiigcu einr ..directe" Gestaltung des sog. Zweckmässigen von den Autoren angenommen worden; aber wir werden gleich- falls eine solche daraus abzuleiten versuchen. Wir kommen zum wichtigsten der bekannten Hilfsprincipieu der Selectionslehre, zur „Wirkung des (Je brauch es und Nicht- gebrauches". D.\Hwi.\ äussert sich darüber^): „Veränderte CTewohnheiteu bringen eine erbhche Wirkung her- vor, wie die \'ersetzung von Pflanzen ans einem Klima ins andere deren Blüthezeit ändert. Bei Thieren hat der vermehrte Gebrauch oder Nichtgebrauch der Theile einen noch bemerkbareren Eintiuss gehabt; so habe ich liei der Hausente gefunden, dass die Flügel- knochen leichter und ilie Heinknochen schwerer im N'erhältniss zum ganzen Skelete sind als bei der wilden Ente; imd diese Veränderung kann man getrost dem Um.stande zuschreiben , dass die zahme Ente weniger fliegt und mehr geht, als es diese Enteuart im wilden Zu- stande thut. Die erbUche stärkere Entwickelung der Euter bei Kühen und Geisel! [12] in solchen Gegenden, wo sie regelmässig gemolken werden, im \'erhältniss zu demselben Organ in anderen Ländern, wo dies nicht der Fall, ist ein anderer Beleg für die Wirkung des Ge- brauches." Ferner, pag. 53: ,, Etwas (und vielleicht viel) von der \'ariabilität mag dem Gebrauche oder Nichtgebrauche der Organe zugeschrieben werden." Die eingeklammerten , den Einfluss verstärkenden Worte befanden sich nicht in der 1. Auflage des Buches. Pagiua 150 fügt er hinzu: ..Die im ersten Gapitel angeführten 1) Entsteluiiig der Arten S. 22. Kiklänmg des sogenannten ZwcL-kraiisisigen der Organismen. 111 Tliatsachoii lassen wenig Zweifel , dass hei nuseren Hausthieren Ge- brauch gewisse Theile verstärkt und vergrössert und Nic-htgehraueh sie verkl(>inert hat, und dass solche Abweichungen erblich sind. In di'r freien Natur hat man keinen Maassstab zur Vergleich- ung dt r \\'irkung lang fortgesetzten Gebrauches oder Nichtgebrauches, weil wir die elterlichen Formen nicht kennen; doch tragen manche Thiere Bildungen an sich , die sich am besten als Folge des Nicht- gebrauches erkennen lassen." So führt er die amerikanische Dick- kopfentc, welche nur schwach über der Überfläche sich flatternd er- halten kann, die Unfähigkeit des Strauss, zu fliegen, die vei'kümmerten \'ordertarsen vieler, männlicher Ivothkäfer^) an. l'^eruer sagt er^): „Die Augen der Maulwürfe und einiger wühlen- der Nager sind an Grösse verkümmert und in manchen Fällen ganz von Haut und Pelz bedeckt. Dieser Zustand der Augen rührt wahr- scheinlich von fortwährendem Nichtgebrauch her , dessen Wirkung aber vielleicht durch natürliche Zuchtwahl unterstützt wkd.'" „Es ist wohl bekannt, dass mehrere Tfdere aus den verschiedensten Klassen, welche die Höhlen in Ivärnthen und Kentucky bewohnen, blind sind. Bei einigen Krabben ist der Augeustiel noch vorhanden, obwohl das Auge verloren ist. Da man sich schwer vorstellen kann, Avie Augen, wenn auch unnütz, den im l^unkelu lebenden Thieren schädlich wer- den sollten, so schreibe ich ihren V^erlust auf Rechnung des Nicht- gcbrauches.'" Die eben zugestandene Bedeutung dieses Princips schwächt er aber gleich wieder ab, indem er nach Anführung des Beispieles, dass ein Cirripede, wenn er an einem andern als Schmarotzer lebt, mehr oder weniger seine eigene Kalkschale verliert, bemerkt^): „Darnach glaulie ich, wird es der natürlichen Zuchtwahl in die Länge immer gelingen, jeden Theü [13j der Organisation zu reduciren und zu ersparen, sobald er durch eine veränderte Lebensweise überflüssig geworden ist. l'nd ebenso dürfte sie umgekehrt vollkommen im Stande sein , ein 1) 1. c. S. 151. -') 1. c. S. 158. 3) 1. c. S. 1(34. 112 Ni'- 3. Leistungsfähigkeit der Descendenzlehre. Organ stärker auszubilden, ohne die Verminderung eines anderen be- nachbarten Tlieiles als nothwendige Compensation 7,u verlangen'". Es ergiebt sich also, dass DARWixim Grunde der „directen" umge- staltenden Wirkung von (rebraueli und Nichtgebraucli nur einen ge- ringen Antheil zuschreibt, und das meiste au der Verkleinerung un- nöthiger und an der Vergrüsserung nützlicher Organe von der Wirkung der Zuchtwahl aus freien Variationen ableitet. Das Beispiel der Verkleinerung der Kalkschale . welche allerdings nicht durch nach- trägliche Atrophie hat i'ntstt'iicn künnen, ist ihm hier verhängnissvoll geworden. Haeckel erkennt der Wirkung des Gebrauches ynd Nichtgebrauches eine viel grössere Bedeutung zu und weist ^) einmal nach, dass diese Aendcrungen der (Tewohuheit auch nur durch Aenderungen äusserer Umstände bedingt werdeu und führt dann im Einzelnen aus. wie gross die dadurch hervorgerufenen Aenderungen sind. Er lässt so ^) die Muskeln eines Turners sich um das Doppelte verdicken und dabei die Leistungsfähigkeit um des Vielfache sich vergrössern. Er sagt ; „Der Uebungsact selbst, die oft wiederholte Bewegung des Muskels, veranlasst eine Veränderung in der Ernährung des Muskels, welche einen vermehrten Zufluss von Nahrungsstoff herbeiführt. J)adurch wächst der Muskel, er ninnnt zu an der Zahl der Primitivfasern, vielleicht auch an denjenigen chemischen Bestandtheilcn der Muskelsubstanz, welche vorzugsweise bei der ContracticJii thätig sind, er verbessert sich also wahrscheinlich nicht blos r^uantitativ, sondern aueli quulitati\-, indem die im ungeübten Muskel abgelagerten Fette durch die Uebung verschwinden und ). Das (bleiche gilt von den (Telenkeinrichtnngen , den Knorpeln und Bändern; sie werden alle ])lützlich viel stärker in Anspruch genonunen , und die letzteren in neuen Hauptrichtungen. Es wird ferner die Blutvertheilung im Körper sofort eine ganz andere: Das Blut, welches bisher der Wirkung der Schwere ganz ent- zogen war, wird sich jetzt in die der Erde näher befindlichen Theile des Körpers senken, indem es aus Hirn und Kückenmark herunter- sinkt. Es wird eine lähmende Anämie des Centralnervensystems ein- treten, oder die den Blutzufluss zu den verschiedenen Organen regu- lirenden Mechanismen müssen sofort nach ganz neuen Regeln das Blut vertheilen, wenn nicht totale Störung der Functionen aller Organe eintreten soll. Es wird ferner Sauerstoffmangel eintreten, denn die lamgen sollen jetzt auf eimnal den ganzen Bedai'f für eine grössere Daner allein beschaffen. Durch das Trufkenwcrden der Maut, der Kiemen und dvv Seiten- organe werden abnorme Sensationen entstehen. Der gewohnte sichere Verkehr mit der Aussenwelt wird anfgeholien. denn die Sinnesorgane Eikläi'uiii; der sogenannten Zweckmässigkeiten der Organismen. 121 treten ausser Function, da sie alle ganz neue, nicht diu-cli Erfahrung verstündlich gewordene Eindrücke euipfaugen. Das (iehörorgan wird, an die stärkere Leitung durcli leihen. Diese Uebelstände werden zum Theil mit der Dauer des Aufent- haltes auf dem Laude wachsen, und der Aufenthalt daher zunächst nur ein sehr kurzer sein; aber was das Wichtigste ist, sie werden iiimicr alle zugleich eintreten; und. wemi das Tliit^r trotzdem auf das Land gi'hen kann, so muss auch die Correction in den meisten zugleich eintreten können. [Wenn der Uebergang vom Wasser zum Luftleben durch ein Leben im Schlamme des Ufers vermittelt wird mit einem zeit- weiligen und mivollkommenem Herauskriechen an die Luft, so wird die Aenderung zwar eine etwas weniger plötzliche, weniger starke; aber innner noch müssen die vielen genannten Theile gleichzeitig sich ändern.] Was bedeutet aber eine derartige Correction in allen Orgauen des Körpers mit Ausnahme derer der Ernährung und Fortpflanzung ? Sie bedeutet das Vorhandensein höchst vollkommener func- tioneller Anpassungsmechanismen in fast allen Theilen des Körpers, welche im Stande sind, beim L^ebergange des Orga- nismus in neue Verhältnisse direct die nöthigen zweckmässigen Aen- dcrungen hervorzubringen. Sie sind ein nöthiges Erforderniss, eine unerlässliche Vorbedingung der auch nur zeitweiligen Vertauschung des Wasserlebens mit dem Luftleben, und sie werdt'ii sich um so ge- bieterischer nöthig machen, je länger der Landaufenthalt dauert. Wir kennen solche Selbstregulationsniechanismen von den höheren Thieren und schliessen daraus zurück , dass vielleicht auch die niederen hier in Betracht kommenden Thiere sie besitzen. Wir kennt'U unsere Fähigkeit, ganz fremde Bewegungsweisen uns anzu- 122 Nr. 3. Leishingsrähigkeit der Descendenzlehre. eignen und durch Uebuug zu leicht ausführbaren, gewohnten zu machen, also alle die motorischen Centralorgane in Gehirn und Rückenmark entsprechend umzubilden. Wir wissen, dass die Kuochen und Bänder mit der stärkeren Inanspruchnahme ihrer Func- tion stärker werden an den betreffenden Stellen. A'^on der möglichen Exact- heit der Regulation der Blutvertheilung überzeugen wir uns täglich, wenn wir uns am Morgen vom Lager aufrichten, ohne, bei normalem Zu- stand des Körpers, auch nur einen Moment Blutarmuth des Gehirnes zu bemerken. Die Athmung regulirt sich bei pathologischen Stör- ungen gleichfalls sehr erheblich von selber, und für den Proteus ist von Schreibers *) beobachtet worden, dass beim Leben in seichtem Wasser die Lungen grösser und gefässreicher werden, während die Kiemen sich entsprechend verkleinern. Ueber den Grad der flirecten Anpassungsfähigkeit der Sinnes- organe können wir uns von den höheren Thieren [22] keinen Schluss auf die hier nöthigen Verhältnisse gestatten. Da indessen zu dieser Zeit noch wenig Feinde am Ufer vorhanden waren, so war vielleicht die Verminderung der Function dieser Organe zunächst von geringerem Nachtheil. Wir schilderten bisher, wie das einzelne Thier sich an die neuen Verhältnisse anpassen muss. Aber kann diese stattgehabte individuelle Anpassung für die Weiterbildimg der Thierwelt von Nutzen gewesen sein? Das heisst: Ist sie erblich? Die Sicherheit unseres Urtheils ist in diesem Verhältniss in der Tliat nicht gross, und der Umstand, dass Darwix, Haeckel u. A. es annehmen, kann uns die fehlenden directen Beweise nicht ersetzen. Wir haben hier die Bedeutung: der functiouelk'u Aupassuiif; darin erkannt, dass s ie mit einem Male bei der Aenderung der Lebensbedingungen in allen betroffenen Organen des Körpers ,, zugleich" ,,z weckmässige" Aenderungen hervor- zubringenvermag; und diese Gleichzeitigkeit der Wirkung in Millionen Theilen muss als ihr Charakteristisches der Wirkung der Zuchtwahl gegenüber gestellt werden, welche 1) cit. nach: Darwin, Variiren der Thieie etc. II. S. 340. Erklärung der sogenannten Zweckmässigkeiten der Organismen. 123 immer blos ganz wenige zweckmässige Eigenschaften auf einmal auszubilden vermag. Die Resultate der Züchter, welche mau dagegen anzuführen ge- neigt sein wird, beweisen gegen diesen Satz nichts ; und zwar des^halb nicht, weil die Züchter nie blos mit der Zuchtwahl züchten, sondern immer zugleich mit Hilfe der functionellen Anpassung, welcher dabei stets der Löwenantheil zufällt. Der Züchter wählt im Grunde blos ein oder wenige primäre neue Charaktere aus; und von diesen als Ursache entstehen secundär durch fuuctionelle Anpassung tausend zweckmässige zugehörige Einzel- charaktere, welche, ursprünghch blos in Abhängigkeit von den Er- stereu, mit der längeren Dauer selbständig erbhch werden. Wenn es möo-lich wäre, einmal neue Formen zu züchten ohne Mitwirk- ung der fuuctionellen Anpassung, so würde man hochhebst überrascht sein über die gar nicht lebensfähigen Missgeburten, denn es würde die zum Leben nöthige innere Harmonie der Tlieile fehlen, welche nur durch die functionelle Anpassung her- gestellt werden kann. Nehmen wir aber, wieder zu unserem Beispiele zurückkehrend, zunächst an, die Wirkung der functionellen Anpassung sei nicht erb- lich. In diesem Falle wird jede Generation, welche den Versuch macht, am Ufer ausserhalb des Wassers Nahrung oder Schutz vor Feinden zu suchen, von [23] dem gleichen Stadium anfangen müssen und daher in der Anpassung an das Landleben auch nie eine gewisse Stufe der Vollkommenheit überschreiten können, denn die Uebung hat für das Individuum ihre bestimmten Grenzen. Es werden aber im Laufe der Generationen allmählich zufällig angeborene günstige Variationen vorkommen und vielleicht ihren Trägern einen Vortheil verschaffen. Dabei ist indessen zu berücksichtigen, dass dieser nur sehr gering sein kann, da die günstigeren Eigen- schaften blos in einigen TheUen bestehen, während doch die gleich- zeitige entsprechende Aenderung aller uöthig ist; ja es ist möglich, dass er aus diesem Grunde vielleicht gar nicht zur Geltung kommt. Nehmen mi aber an, er komme zur Geltung; so würde dieses Thier in der Anpassung etwas weiter schreiten und, indem sich dieses 121 Nr 3. Leistungsfähigkeit der Descendenzlehre. wiederholt, küunte allmiililich durch A'ariatioii und Auslese vollkorniuene Anpassung stattfinden, und die t'unction eile Anpassung hätte dabei blos die Rolle gespielt, die Ueber- gaugszeit zu ermöglichen. Sehen wir nun aber zu, wie die zufällig angeborenen und da- her erblichen Eigenschaften, welche durch natürliche Zuchtwahl gehäuft worden wären, eigentlich beschaffen sein müssten, so finden wir. dass sie auf allen Stufen des Ueber- ganges immer genau das darstellen müssten, was die functionelle Anpassung bereits schon gebildet hat, was aber in Folge der ihrer Wirkung mangelnden Erblichkeit niclit auf die Nachkommen übertragbar gewesen wäre. Also alle diese Millionen Veränderungen, welche das Individuum durch functionelle Anpassung in einer gewissen Stärke gleich auf einmal erwirbt . müssten nach und nach auf dem unendlich weiten Umwege der beliebigen ^'aria- tion und der Auslese von Neuem erworben und fixirt worden sein. Und dies müsste nicht blos für jeden Theil einmal stattgefunden, sondern für jeden Tliei! Stufe für Stufe bis zum (irade der voll- kommenen Anpassung sieli wiederholt liaben. Dass wir aber nicht zu viel gesagt haben, als wir von Millionen Einzeleigenschaften redeten, geht daraus hervor, dass die Structurtheile fast aller Organe des Körpers mehr oder weniger umgeändert werden müssen; wir hätten daher wohl richtiger von Milliarden reden können. Die Ableugnung der Erblichkeit der Wirkung der functionelleu Anpassung führt also zu ganz al)surden ( 'onsequenzen '). Wenn wir die Erblichkeit aber für den vorliegenden Fall nothgedrungen [?] zugeben, so ist keine ^'^eranlassung mehr, sie für die Entstellung der anderen in das Bereich ihrer Wirksamkeit fallenden ererbten Bild- ungen zu verwerfen. Ausserdem giebt es aber eine Gruppe von sehr feinen, zweck- mässige n Gestaltungen, welche gar nicht durch [24] Zucht- wahl hätten entstehen können, welche princi]>iell nicht von ihr [') Gleichwohl darf nicht verkannt werden, dass diese Beweisführung nur eine indirecte, also nicht zwingende ist, obschon die andere Entstehnngsweise Miilionenma) complicirter sein muss (s. Nr. 4 S. 59 Anm. und 11. S. 64).] Krklaruiig der sogenannten Zweckmässigkeiten der Organismen. 125 abgeleitet werden können, weil liier in der Tliat erst wenigstens Hunderte, wohl aber Tausende entsprechender Einzelzweck- mässigkeiten hätten durch Zufall entstehen müssen, ehe im Kampf um's Dasein nur der geringste zur Geltung kom- mende Nutzen hatte hervorgehen können. Es ist die den statischen Drucklinien entsprechende Structur der spongiösen Knochen Substanz, welche den Knochen befähigt, mit dem Mini- mum an Substanz den gewohnten Widerstand zu leisten. Wird nun Jemand behaupten ' mögen , dass eimiial die Ersparniss von sechs Knochenbälkchen im Kampfe um's Dasein entscheidend gewesen wäre und so sich vererbt hätte? Oder möchte Jemand meinen, dass mehr als sechs , dass vielleicht hundert , also etwa (ier tausendste Theil der vorhandenen zweckmässig gestellten Knochenbälkchen hätten durch Zufall entstehen können? Und wie soll sich dies summiren, da es bei jeder Species und Subspecies schon im Feinen wieder andere Verhältnisse sind? Als einmal die Fähigkeit, diese zweck- mässigen, sparenden Einrichtungen direct hervorzubringen, entstanden war, ist sie gewiss sehr energiscli durch .Vuslese erhalten worden. Aber wie ist sie entstanden? Wir haben wiederum eine (iestaltung der functionellen Anpass- ung vor uns, welche denn auch in ganz neuen pathologischen Ver- hältnissen, z. B. bei schief geheilten Fracturen direct die der neuen Druckvertheilung entsprechenden Spongiosalinieu hervorbringt, wenn das Individuum längere Zeit die Beschädigung überlebt und das gebrochene Güed gebraucht. Es Hessen sieh noch andere, aus dem gleichen Grunde nicht von der Auslese ableitbare, zweckmässige innere Umgestalt- ungen blos mechanisch als Ganzes wirkender Theile [deren wunderbar feine, der Function angepasste Structur daher blos eine sehr geringe Materialersparniss darstellt], liier erwähnen, wie sie uns die vergleichende Anatomie lehrt; dies würde indess zu weit führen und das obige Beispiel ist so beweisend, dass keine weitere Stütze nöthig ist. Aus dem Vorstehenden ergiebt sich also, dass „func- tionelle Anpassung" nicht blos wirklich stattfindet, und 126 Nr. 3. -Leistungsfähigkeit der Descendenzlehre. dass ihre Bildungen nach mehrer en Generationen erblich werden müssen, sondern auch, dass sie im Gegensatze zur Selection, welche blos die neuen Charaktere züchtet, die ganze innere harmonische Ausgestaltung des Organismus in Millionen zu einander und zu den neuen Charakteren passenden zweckmässigen Einrich'tungen schafft. Auf welche Weise vollbringt nun die functionelle Anpassung diese zweckmässigen Gestaltungen, welches sind die Principien, nach denen sie dabei thätig ist? [25] Als die Ursache hat man, wie schon oben citirt, die die Functionen mancher Organe begleitende Vergrösserung der Blut- zufuhr, die fmictionelle Hyperämie angegeben. Was davon zu halten ist, wird sich sogleich aus der genaueren Untersuchung der Leistungen der f unc tionellen Anpassung ergeben. Fassen wir zunäch.st einen hypertrophirenden Muskel in's Auge, so sehen wir, dass er immer dicker wird, eventuell bis mehr als auf das Doppelte seiner ursprünglichen Dicke. Aber er wird dabei nicht länger, oder wenigstens nur so mimmal, dass es noch keinem Untersucher aufgefallen ist. Es giebt sogar Gründe, anzunehmen, dass er eher kürzer wird. Der Muskel iuit sich also blos in den zwei Dimensionen des Querschnittes vergrössert, und das Gleiche isehen wir an der zugehörigen Sehne. Die Untersuchung der acces- sorischen Gelenkbänder ergiebt gleichfalls blos eine Hypertrophie in der Dicke, nicht in der Länge. Die Knochen , welche bei der Hyperfunction gleichfalls dicker werden, können hier für unsere Zwecke nicht herangezogen werden, da sie nach der Verknöcherung der intermediären Epiphysenkirorpel aus mechanischen Gründen nicht mehr in die Länge wachsen können, so dass schon dadurch das weitere Wachsthum auf die zwei allein übrigen Dimensionen bescliränkt ist. Für die complicirtereu Wachs- thumsvorgänge im jugendlichen Knochen aber fehlt es uns noch zu sehr an Einsicht in die causalen Verhältnisse. Die Milz vergrössert sich bei der Hyperfunction, sowie auch die Lymphdrüsen, nach allen drei Dimensionen gleichmässig, d. h. proportional der Grösse der verschiedenen Durchmesser, soweit es der Erklärung der sogenannten Zweckmässigkeiten der Organismen. 127 Raum gestattet. Das Gleiche gilt vou der Leber, den Hoden und der Niere; für letztere aber ist zu erwähnen, dass die Hypertrophie das ganze Organ nicht gleichmässig betrifft, sondern dass die Rinden- substanz und in dieser wieder besondere Theile am meisten, in stär- kerem Maasse an Volumen zunehmen, als die Marksubstanz. Beobachten wir lockeres Bindegewebe , z. B. an der Streckseite der Kniegelenkkapsel, so wird es bei der Hj'perfunction, die in Deh- nung besteht, immer länger; es hypertrophirt blos in der einen Dimension der Länge, wird aber nicht dicker. Das ist bei allem durch länger anhaltenden Zug gedehnten Bindegewebe der Fall, im Gegensatz zur Wirkung des vorübergehend spannen- den Zuges bei den Sehnen und Bändern (s. Nr. 18 S. 499 u. f.). Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, die Epidermis. Bei wiederholtem starken Druck wird sie dicker, d. h. sie ver- grössert sich blos in der einen Dimension, in welcher der Druck wirkt. Warum wächst sie nicht auch nach den [26] beiden Dimensionen der Fläche und bildet Falten wie die Magenschleimhaut vieler Thiere? Das unterliegende Bhidegewebe würde schon mit den Blutgefässen nachwachsen, wie im Magen. Im letzteren ist das drei-dimensionale Wachsthum der Schleimliant durch die Drüsen bedingt, welche bei der Hyperfunctiou sich nach allen drei Dimensionen vergrösseru ; als bei schlauchförmigen Drüsen ist es hier zwar hauptsächlich nur in der Richtung der Länge, aber erstens werden die Zellen dicker und es findet auch Bildung seitlicher Drüsenschläuche statt , so dass die beiden anderen Dimensionen auch in Anspruch genommen werden und schhesslich in der Ebene nicht mehr ausreichen, wodurch es zur Faltung kommt. Bei der Epidermis ist zu all dem keine func- tionelle Veranlassimg, sie wächst daher blos in der einen Dimension. Die Zapfen der Netzhaut sind bekanntlich in der Fovea centralis, der Stelle des deutlichsten und am meisten gebrauchten Sehens, am längsten, und zugleich auch dünner als in den weniger gebrauchten Randpartien des Auges. Dass die Stäbchen aber die stärkere Function mit ihrer Länge zu leisten haben, wird wohl kein Physiologe bestreiten. Was ist nun die Ursache dieses ungleichen Wachsthiuns der verschiedenen Organe bei der functionellen Hypertrophie? 128 Nr. 3. Leistungsfähigkeit der Desceodenzlehre. Warum wacliseu die Drüscu uach allen drei, die Muskeln, .Sehnen und Bänder blos nach zwei, das lockere Bindegewebe, die P^pidennits, die Stäbchen der Netzhaut blos nach einer Dimension? Ich glaube die Ursachen dieser Ungleichheit in dem morphologischen Grund- gesetz der f u nct i Diiil I iMi Anpassung zusammenfassen zu können : Die stärkere l-'unction vergrüssert das Organ blos in denjenigen Dimensionen, welche die st ärkerc Func- tion leisten. Vielleicht ist von die.sem Umstände auch die verschiedene Dicke der Nervenfasern, resp. der Aelisencylinder abhängig, welche wir auf jedem Querschnitt eines Rückenmarkes oder Nerven wahrnehmen. Die functionelle Hypertrophie bringt also nicht immer ,,A ehnlichkeits wachsthum" . d. li. Vergrösserung nach allen Durchmessern proportional ihrer Grösse hervor, sondern sie bildet durch die eventuelle Beschränkung der Vergrösserung auf eine oder zwei Di- mensionen morj^hologisch neue Charaktere. Dieselben entstehen dm'ch sie ausserdem auch noch in Folge der ungleichmässigeu \'er- grösserung der verschiedenen Organe bei gleicher Verstärkung der Function, am meisten [27] aber durch die ungleiche \'ertheilung der Hyperfunction auf die verschiedenen Orgaue des Körpers, sowohl eines und desselben als auch der verschiedenen Organsysteme. Nach der Aufstellung obigen Gesetzes wird man die functio- nelle Anpassung nun auch nicht mehr als eine Folge der f unctionellen Hyperaemie auffassen können; und noch •weniger wird dies möglich sein, wenn man die phj'siologische \\'irk- ungsweise derselben in's Auge fasst. wie wir jetzt thun wollen. Oben wurde schon die gute, wenn auch blos schätzungsweise richtige Beobachtung Haeckel's citirt, dass bei der Verdoppelung der Grösse des Querschnittes eines Muskels (Uncb Uebung die Kraft um das Mehrfache zugenommen hat, dass der Muskel also zugleich seine Qualität geändert hat, specitisch leistungsfähiger geworden ist. L. Hermann') sagt darüber: „P^erner vergrössert Uebung nicht blos 1) Handbuch dei- ['livsiologie, Bd. i. Krkliining ilor sogeuaniitL-ii Zweckmässigkeiten ilcr OrgamsiiU'ii. 12!) ileii liiil'ang, sondern uikIi ilic .sj)efitiscln; Krall ck-s Muskels, wie dk- Unterschiede zwischen rechtem und linkem Arm zeigen, welche Hexkk und IvNOH/. nachgewieseil haben. l''ür die Nerven lehrt uns die alltäghche Krt'alu'ung ein (ileiclie.s; denn jeder hat wohl die Bcobat'litung gemacht, wie vielmal leichter sehwtr erlernte Muskelbewegungen nul dei- Zeit ausführbar werden, .so dass beim Ciaviervirtuosen die Resultate jahrelanger aufmerksamster l'ebungeu dann fast ganz von selber sich abspielen, während die Auf iiit rksamkeil durch etwas anderes gefesselt ist. Was würden wir im Leben leisten können, ohne diese Fähigkeit ? Auch für die Urüsen scheint dasselbe wahrscheinlich, so . 50Ö. 142 Nr. 4. bei' züchtende Kunipt' der Theile im Organismus. meines Buches gnnz iiu er wähnt lässt und vor allem die LIehereinstimmuug des Endzieles desselben mit demjenigeu einiger Schriften Herbert Öpenger's betont, ist wulil die N'eranlassuug , dass das Buch in England so gut wie unbekannt geblieben ist'), so dass Spencer und Wali.ace dasselbe nicht /u keimen scheinen. Spencer und Ro.mane.s citiren dasselbe', .su viel mir bekannt, nirgends, und Wallace^j gedenkt desselben seilest in seiner Darstellung der Des- cendenzlehre nur bei einer speciellen Gelegenheit und blos nach einem gelegentlichen Citate Weismann's. Mehr Verbreitung und Anerkennung fand das Buch in Deutsch- land. Ern.st Haeckei. sagt in seinem berühmten Werke: ..Die natür- liche Schöpfungsgeschichte" ^) : „In vnunittelbareni Anschlus.se an die Erscheinungen der ge- h<äuften oder cumulativen Anpassung und theilweise unter demselben Begriffe, stehen die wichtigen Veränderungen der Organisation, welche neuerdings als ,,functionelle Anpassungen" von Wilhelm Horx sehr eingehend und klar erläutert worden sind. Seine Schrift über „den Kampf der Theile im Organismus' (1881) ist eines der wichtig- sten neueren Erzeugnisse der umfangreichen darwinistischen Literatur.'" Weiterhin sagt Haeckel (Bd. I . S. 253) nach Besprechung des Kampfes um's Dasein unter den Individuen: „Nicht weniger wichtig aber, ja im Orunde von noch viel höherer und allgemeinerer Bedeutung ist der Kampf ums Dasein, welcher überall und jederzeit zwischen allen Form- bestandtheilen dieser Einzelwesen stattfindet. Die Umbildung dieser letzteren ist ja eigentlich er.st das Gesammt-Ergebniss aus der besonderen Entwickelung aller ihrer Bestaudtheile. I) Die Wirkung dieses, von einem in England so angesehenen Manne verfassten, den wesentlichen Inhalt mit Stillschweigen übergehenden Referates in der verbreitet- sten englischen wissenschaftlichen Zeitschrift war eine so abweisende und intensive, dass selbst die Discussion, die der Herzog von Aüryll an dasselbe knüpfte (loco citat. S. 581), das Interesse für das Original nicht zu erwecken vermochte. -) W\LLACt, ÄLHiED Rus.sEL, der Darwinismus, Eine Darlegung der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl und einiger ihrer Anwendungen. Autor. Uebers. v Prof. Dr. D. Brait.ns, 758 S., Braunschweig 1891. 3) 8. Auflage, Berlin 1889, Bd. I, S. 227. Vorwort zum zweiten Abdrucke. 143 I^AKwix selbst ist auf diese eieiuentaren Structur-Ümbildungeii nic'lit iiiiluT cingegangru. Die erste uml'asseiule Darstellung und kritisclif Beleuelitung derselben hat 1881 Professoi' Wilhelm Houx in Breslau gegel)en iu seinem ausgezeichneten Werke „Der Kampf der riieile im Organismus, ein Beitrag zur Vervollständigung der uiechanischen Zvveckmässigkeitslehre."" Teli halte diese Schrift für einen der wichtigsten Beiträge zur Kntwickelungslehre. welche seit Daii\vl\'h Hauptwerk (1859) erschienen sind und für eine der wesentlichsten Ergänzungen der Selections- Theorie.'' Die Berliner klinische Wochenschrift (1882, S. 45) brachte ein Referat, unterzeichnet Los., in welchem es heisst; „Eine vorzügliche Schrift, voll eigener fruchtbarer Gedanken und mit dem Bestreben, die Cellularphysiologie der Entwickelungstheorie einzufügen.'' .,Wir können die Leetüre dieses trefflichen, ausgereiften, eine Art Philosophie der gegenwärtigen Mor])hologie enthaltenden Rüchleins angelegentlichst empfehlen"". WiLLL\M Marshall in Leipzig sagt im Zoolog. Jalu'esber. für 1881 (1. Abth. S. 65) von der vorliegenden Schrift: „Ein merkwürdiges Buch von bedeutender Tragweite, das sich in gewissem Sinne zur Descendenztheorie ähnlich verhält, wie Vikchow's Cellularpathologie zur Pathologie!'" Demselben Gedanken giebt auch ÜAEriKEL (loco citat, S. 255) Ausdruck in den Worten : ,,iMan könnte demnach die Zuchtwahl der Zellen, wie sie nach RoLX überall in den Geweben stattfindet, auch als Cellularselection bezeichnen, im Gegensatz zm- Personalselection, wie sie D.\rwin zuerst zwischen den selbstständigen Einzelwesen nachgewiesen hat. Die erstere würde sich zur letzteren ebenso verhalten, wie Virchow's Cellularpathologie zur Pathologie oder wie die von mir aufgestellte Celluiar-Psychologie zur Psychologie." Eingehend besprochen wurde das Buch ferner in einem von voll- kommener Beherrschung des Inhaltes und von eigenem Denken über ilenselben zeugenden Referate Edu.\ri) von Hartmann's ') unter dem I) Die Gegenwart. VVochenscbrift Bd .'4. 1883, Nr. 40 S. '21"2 u. 1. 144 Ni- ■!• t)er ziklitemlt- Kamill' der 'l'lieile im Organismus. Titel: „Eine neue Ki-wciliiuiiü- lics Darwinisimi:^ ." t'cnier durcli K. KuAisK im Kosmos'). Der Inhalt des Buches findet Anerkennung in dem mit seltenem Scharfsinn und überaus reiciien Ivenntnissen verl'asstcn Werke Hii.o Si'nzEHs: ., Beiträge zur Deseendeuzlehre untl zur Methodologie der Naturwissenschaft"^); ferner durch A. Riehi. in dem Werke: ..Der philosophische Kriticisnnis und .seine Bedeutung für (he positive Wissenschaft"''^); in Wiliikim mix K'EicnEXAr s Aufsatz: l'eber den l'r Sprung der secundiiren miundieiien (iesciilechtscharaktere. insbesondere bei den Blatthornkäfern'' ): bei An^. Wkisji.-vx.v in seinen Schriften über .,die Vererbung"'') und das Keim]>lasma""); bei C. C'i,.\rs in seinem N'orti'age ül)ei' die Werthseh;itzung der natürlichen /uclitwahl als Er- kiärungsprincip '); in ihr Darstellung G. (tii.uberg's ..Om J^arwinismen og dens raekkevide," Kristiania 1890; in dem gro.ssen Werke Juliu.s Wulffs: .,Uebei' das Gesetz der Translormation der Knochen" (Berlin 1S92) für die f^rklärung der directen Anpassung der Knochenstructur; von Eli.\s Metscmmkuff für die Krklarung der I in ni u ii i t ät gegen Infectionen; ferner von H. XnrHNA(;Ei. in seinem in der zweiten all gemeinen Sitzung des internationalen medicinisclien Congresses zu Rom gehaltenen wichtigen Vortrage'") über ..die Anpassung des Orga nismus bei pathologischen \'eränderungen '. und von Anderen. Diesen anerkennenden Beurtheilungen stehen aber auch abfällige l'rtheile gegenüber, die icli dem Leser nielit vorenthalten liart': Fkiediuch Merkel") charakterisirt den Inhalt des Buches mit den Worten: ,,Kofx beleuchtet die allbekannte 'l'hatsache, dass nur ein völliges Gleichgewicht der l'"unetionen des Individiumis. 1) Kosmos, Zeitschrift für Kntwiclickiugslcliri' 1S81. Bd. IX. S. :«)«. ■i) Leipzig, Brockhaus, 1886. S. 422 -427 und 532. 3) Leipzig, W. Kngelmann 1887, Bd. II, Theil II, 8. 352. 1) Kosmos, Zeitschrift 1881, Bd. X, S. 189. 5) .lena 1892, gesammelte Aufsätze über Verorbunj; und vi-rwandte biologische Kragen 8. 9il und 115. •••) .lena 1892, S. 143. 7) Wien 1888, 42 Seiten, S. 30 u. f. 8) Wiener medicinische Blätter 1894, Nr. 14, S. 161 u. f. oder Separatabdruck. »i VinoiKiw-IIm-cH. .Tahresber. d. Fortschr. d. Medicin 1881. Bd. I. .'>. 118. Vorwort zum zweiten Abdrucke. 145 sei es des Gesammtorganismus, sei es der einzelnen Zellen, den Status quo gewährleistet, mit den Terminis technicis der Descendenzlehre". Wilhelm Wundt ') hat im Unterschiede zu den oben genannten Philosophen erkannt, dass in diesem Buche „solche Lebenserschei- nungen, die man sonst gewohnt war, in ihren causaleu Beziehungen aufzufassen", in ,, teleologische Formen umgedeutet' werden. Dem in Folge dessen an iliu gerichteten Ersuchen (s. Bd. II, S. 223) um Bekanntgabe, wer die in diesem Buche erörterten Lebenserschei- nuugen vor mir ,,in ihren causalen Beziehungen zu erfassen gewohnt war" und worin in den Ausführungen desselben die „teleologische Uniileutung" besteht, hat Wi'xdt jedoch nicht entsprochen. Ebenso tief als chese Autoren scheint Heinrich Spitta ^) in Tübingen in den Inhalt des Buches eingedrungen /ai sein; denn er hat demselben, abgesehen von dem Inhalte der Vorrede, nur ent- nommen, dass es aus 6 Capiteln besteht, und dass sich auf der zweiten Seite in einem durch gesperrten Druck in die Augen fallen- den Satze ein schwerer Fehler findet, indem statt ,, sogenannter "Zweck- mässigkeit einfach ,, Zweckmässigkeit" steht. Dieses ,, sogenannt" steht, aber nicht gesperrt gedruckt, einige Zeilen vorher; und aus dem weiteren Inhalt wäre zu ersehen gewesen, dass für die ungewollte Zweckmässigkeit weiterhin die Bezeichnung „Steigerung der Dauerfähigkeit" eingeführt wird. Der ungenannte Recensent des ,, literarischen Centralblattes" ') hat das Buch offenbar gelesen, aber wohl nicht mit vollem Verständniss ; denn er berichtet, dass in demselben der Kampf um's Dasein ,,auf die chemischen Molekel" (statt auf die letzten lebensthätigen, d.h. der Assimilation und Vermehrung fähigen Molekel, auf die ,, letzten organi- schen Processeinheiten") übertragen werde. Ueberblickeu wir nun etwas die AVirkung, die das Buch gehabt hat, so betrifft dieselbe hauptsächlich die Desceudenzlelire und deren philosophische A''erwerthung , me schon aus den obigen Hinweisen hervorgeht. 1) W. WuxDT. Logik Bd. II, Metliodenlehre S. 437. 2) Deutsche Literaturzeitung von Max Rokuiger, Bd. II, 1881, S. 1147. 3) Literar. Centralbl. für Deutschland von Zarnxke, 1881, S. 1571. W. Roux, Gesammelte Abhandlangen- l. 10 146 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. In dex' interessanten Schrift Georg Pfeffer'.s „(lic Umwandlung der Arten, ein Vorgang functioneller Selbstgestaltung"') werden wei- tere Consequenzen aus den liier dargelegten Priucipicn gezogen. Auf sehr fruchtbaren Boden fiel ferner der Gedanke der Theil- auslese bei H. Stkas.-^ek , welcher in seiner gründlichen Arbeit „Zur Kenntniss der fuuctionellen Anpassung der quergestreiften Muskeln ^) diese Theorie mit Geschick verwerthete. Ein Gleiches geschah von Fraisse^) und von Barfi inH**) zur Erklärung von Vorgängen bei der Regeneration; und letzterer Autor lieferte auch einen werthvollen experimentellen Beitrag zur functiouellen Anpassung^). Da sich das Buch mit feinsten Auslese- und Gestaltungs- Vorgängen unter den Theilen des Organismus beschäftigt, so arbeitet dasselbe mit einer grossen Anzahl weniger allgemein bekannter anatomischer und physiologischer Thatsachen; dieser Umstand scheint die Ver- breitung desselben erheblich eingeschränkt zu haben. In Folge ersteren Umstandes hätte man aber erwarten können, dass sich besonders die Physioloji^ie des Gedankens angenommen und ihn in specieller empirischer Verfolgung ausgenutzt hätte. Dies ist jedoch bei der gegenwärtigen Beschränkung der physiologischen Forschimg auf den blossen „Betrieb" der als , .gegeben" hingenom- menen thierischen Maschine nicht geschehen. Allein E. du Bois-Reymosd hat sich des einen Theiles des behan- delten Themas angenommen. In seinem ein halbes Jahr nach dem Er- scheinen dieses Buches gehaltenen Academievortrage „Ueber die Uebung" behandelt er die functionelle Anpassung in gleicher Weise wie ich und bedient sicli auch des zuerst von mir aufgestellten und in Kapitel III eingehend begründeten Erklärungsprincipes. (Da er jedoch aus Versehen nur bei ganz specieller Gelegenheit meines An- theiles gedacht hat, so hat Herr dv Bois-Reymo.\d (brieflich) die Absicht 1) Verhandl. d. natunviss. Vor. in Hamburg 1894, 48 Seiten; auch dass. er- schienen. a) Stuttgart 1883, 115 Seiten. 3) Die Regeneration von Geweben und Organen bei den Wirbelthieren, beson- ders bei den Amphibien und Reptilien, Cassel 1885. *) Zur Regeneration der (iewebe. Arch. f. micr. Anat. Bd. 37, 1891, S. 406—487. 5) Versuche zur functionellen Anpassung. Areh. für mier. .\nat. Bd. 37, 1891. X^oiwoit zum zweiten Abdrucke. 147 iiusgesprochen, ilas in dieser Hin.sielit W'rsiiuiute gelegentlich eines zweiten Abdruckes seiner Rede nachzuholen.) In besonders hohem Maasse hätte die Pathologie \'era niassung gehabt, sich des Gedankens der Theilaus- lese im Organismus zu bemächtigen, da bei jeder, sei es chronischen oder acuten, allgemeinen oder localen Erkrankung, in Folge der \'eränderung von Lebensumständen der Zellen Gelegenheit zur Ausmerzung der nicht widerstandsfähigen Thcile unter Ueber- bleihen iler widerstandsfähigen gegeben ist, wodurch, wenn das Individuum die Krankheit übersteht, entsprechende aU- gemeine resp. locale innere Umzüchtuug resultiren muss; so dass z. ß. durch chronische Inanition der Organismus zu einer .Sparmaschine wird, während er durch überstandene \'ergiftungen widerstandsfähiger gegen das Gift werden, und so Gewöhnung an Gifte und Arzneimittel, wie Immunität gegen Infectionskeime ein- treten kann (s. S. 235). Diese Gedanken wären wohl der pathologisch-anatomischen und liuthologisch-chemischen Prüfung werth; soviel aber neuerdings über Immunität gearbeitet wird, dieser Gedanke wurde nur theoretisch von drei Autoren, von P. GR.^Avnz'), G. Wolff^) und besonders von dem hervorragenden Zoologen und Pathologen E. von Met.^chnikoff ') be- rücksichtigt, von erstereu Autoren ohne Beziehung auf die vorliegende resp. die ihr im Jahre 1879 vorausgegangene Schrift (s. S. 99 u. 235). Th. Ackermann bekundet in seiner Rectoratsrede : „Meclianismus und Darwinismus in der Pathologie"*) eine erhebliche üebereinstim- mung im Gedankengange und in Redewendungen mit den bezüglichen Theilen dieser Schrift; doch ist ihm die Bedentmig des für die Patho- logie wichtigsten Gedankens derselben , die innere Umzüchtuug und 1) ViBCHOws Arch. Bd. 84. S. 106, 1881. 2) Ein Erklärungsversuch der erworbenen Immunität gegen Infectionskrank- beiten. Centralbl. f. allg. Path. und patb. Anat. Bd. II, 1891, Nr. 11. 3) La lutte pour l'existence entre les diverses parties de I'organisme. Revue scientif. (Cii. Richet), 1892, T. 50, Nr. 11. *) Rede gebalten beim Antritt des Rectorates der Universität Halle-Wittenberg HaUe 1884, S. 8 und 25. 10* 148 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. die aul ilir beruhende Mögliclikeit der Gewöhnung an Schädhchkeiten und der Immunität entgangen'). Besonders hätte auch die Ortlioitädie ^'eranlassung, sich des Inhaltes dieses Buches zu bcmäclitigeii, da derselbe die Grundlage eines wissenschaftlichen orthopädischen Vorgehens enthält. Denn nur, wenn man die „gestaltenden Reactionen" jedes an der Defor- mität einer Körpergegend betheiligten Gewebes, so bei ^'erkrünnnungen der Wirbelsäule die Reaction des sie zusammen- setzenden Knochen-, Knorpel- und Bindegewebes und dazu noch des sie beeinflussenden Muskelgewebes kennt, kann allmählich der Uebcr- gang von der rohen Empirie zu einem auf Verständniss der Vorgänge beruhenden Handeln gemacht werden, wie Verfasser schon wiederholt aber vergeblich betont hat (s. II, S. 47 u. f.). Die Lehre von der „functionelleu Anpassung" ist die wissenschaftliche Grundlage der Orthopädie, denn letztere muss in erster Linie „i'uiietioiielle OrtlioitUdic" sein (s. Kr. lU, S. 4; Bd. II, S. 160 und Julius Wolff'). Daher haben die Orthopäden am meisten practisches Interesse an der Pflege dieser Lehre; und sie selber sollten mit den causalen Morphologen wetteifern, durch die an- gedeuteten analytischen Experimente unsere Einsicht zu vermehren. Bis jetzt hat jedoch allein Juliis Wolff solches gethau, sich dabei aber ausschliesslich auf das Knochengewebe beschränkt. Als Gesammtresultat der Ausbreitung und Verwerthung der in diesem Buche vertretenen Principien ergiebt sich wieder die allgemeine Erfahrung : Langsam nur verbreitet sich ein neuer, den gewohnten Anschau- ungen fremdartiger (iedanke; und ein Buch, welches in seinem Titel [1) In einer neuesten Scbrift : , Die pathologische Bindegewel).sneubildung in der Leher und Pfi.vger's teleologisches Causalgesetz' (Festschrift, Halle 1894) sagt AcKERSuNN, dass ich in der nachstehenden Schrift das genannte Gesetz PFi.i'cER's ,nur noch mehr specificirt" hätto. Es ist A. somit entgangen, dass der wesent- liche Inhalt meines Büchleins darin gipfelt, dies von PKi.i gkh in geistvolle!' Weise als Thatsache formulirte teleologische Gesetz causal abzuleiten, es mechanisch zu erklären und so seines anscheinend metaphysischen Charakters zu entkleiden (s. auch S. 408).] i) Das Gesetz der Transformation der Knochen. Berlin 1892, S. 141. hihiilt. 149 oder im Anfange seines Textes verräth, dass sein Inhalt über die Grenzen eines der Sijecialgel)iete hinausgeht, in welche die Biologie gegenwärtig zerlegt ist, wird um dieser Eigenschaft willen schon fast von keinem Vertreter eines der betheiligten Gebiete mehr gelesen. Nur wenige Forscher haben heutzutage nocli das universelle Bestreben der Biologen der Mitte dieses Jahrhunderts, einen Ueberblick über die Lebensvorgänge im (ranzen zu gewinnen. Inhalt. Seite I. Capitel. Die functionelle Anpassung 153 A. Leistungen d e rse 1 btMi. Allgemeine Lehre von der mechanischen Entstehung des Zweckmässigen 153 1. Wirkungen des vermehrten und verminderten Gebrauches auf die „Gestalt" der Organe 156 Definition der ,f u ncti o n e 1 1 e n .\npassung'' . . . 157 u. 178 Umfang der Wirkung S. 157. Art der Wirkung 166 Das Gesetz der dimensionalen Acti vitätshy pertrophie 166 Das Gesetz der dimensionalen Inactivitätsatrophie 173 Nothwen digkeit dauernd zu anderem Gebrauche zwingender Ursachen 173 Wirkung auf die specifische Leistungsfähigkeit . . . 173 2. Functionelle S el bs tge st al lu ng der zweckmässigen ,Structur': 178 der Knochen 8. 179, der bindegewebigen Organe S. 180, der aus glatten Muskeln gebildeten Organe S. 183. des Herzens 184, Functionelle Gestaltung der Blutgefässe 185 Functionelle Metastructuren 187 B. [Eventuelle] Erblichkeit ihrer Wirkungen 189 1. Thatsächliches: Bedeutung der Erblichkeit für die Entwicke- lung des Organismenreiches S. 189. Einwände S. 190. Beispiele der Vererbung 191 Bedeutung des Uebergangs vom Wasser- zum Luftleben . . . 194 Unterschied der functionellen Anpassung und der Zuchtwahl in ihrer Wirkung 197 2. Theoretisches 200 Unterscheidung von Angeborenem und Vererbtem 200 Wirkung der functionellen Anpassung im Embryonal- leben 201 Charakterisiruug des Vererbten 203 Charakterisirung des „Embryonalen'' 207 150 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Seite Das „biogenetische Gi-undgesetz* 210 II. Capitel. Der Kampf der Theile im Organismus als „züchtendes" Princip : 216 Die Theilaiisle.se: A. Begründung desselben 216 Vorbedingungen des Kampfes: Selbstständigkeit der Theile S. 219. Unvollkommene Bestimmung der Einzelbildungen durch die Ver- erbung S. 220. Das Wachsthum S. 221. Der Stoffwechsel . . 222 Entstehung des Kampfes durch ungleiche Veränderungen der Theile 222 Historisches 226 B. Arten und „züchtende" Leistungen desselben. Eintheilung in Instanzen 230 1. Der Kampf der ,lebensth ätigen Molekel" 231 a) Im einfachen Stoffwechsel: Bei ungleicher Assimila- tion S. 232. Bei ungleichem Verbrauch S. 232. Kampf um den Raum S. 234. Bei ungleich vollkommener Regeneration S. 235. Bei Aenderung der Nahrung S. 28.5. Bei Nahrungs- mangel S. 236. Bei Selbstregulation des Ersatzes S. 237. Bei üebercompensation des Verbrauches S. 237. Vorkommen dieser Verhältnisse 238 b) Bei Einwirkung von Reizen: Im Falle der Erhöhung der Assimilation S. 240. Bei Üebercompensation S. 241. Vor- kommen S. 241. Bei ungleicher Aufnahmefähigkeit des Reizes 244 Entstehung des ,R e i z 1 e bens* S. 244. Wirkung ver- schiedener Reize S. 24.5. Aenderung der Reize .... 246 Selbststeigerung der Anpassung an den Reiz 246 Mitwirkung des Kampfes der Individuen 247 Allgemeiner Charakter der Leistungen des Kampfes der Mo- lekel S. 248. Fernere Arten des Kampfes der Molekel . . 250 2. Der Kampf der Zellen . 251 Im einfachen Stoffwechsel S. 251. Bei Reizeinwirkung . . 252 Nach dem Reizquantum S. 252. Bei verschiedenen Reizqualitäten 253 Unterschiede vom Kampf der Molekel S. 2.54. Kampf zwischen Zellkern und Zellleib 254 Begründung des K am pf es u m d e n Raum 255 Auslese bei Ausscheidung der Stoffwechselproducte S. 2.59. Wir- kungsgrösse des Kampfes der Zellen 259 Mitwirkung des Kampfes der Individuen 260 3. Der Kampf der Gewebe 261 Unterschied von den beiden ersten Kampfesweisen 261 Herstellung des morphologischen (ile ic hge wichts . . 261 Mangel dieses (Gleichgewichts im Erwachsenen S. 261, im Embryo S. 263. Kampf mit dem Bindegewebe S. 263. Normaler Kampf der Gewebe S. 265. Kampf der Reizgewebe 266 Inhalt. 151 Seite 4. Der Kampf der Organe 267 Entstehung des morphologischen (ileichge wi ch t s . . 267 Wechselwirkung der Organe im Kampf um den Raum . . 268 Kampf der Reizorgane S. 269. Leistungen desselben . . . 269 Kampf um die Naluung 270 Uebersicht der Leistungen des Kampfes der Thoile . 272 in. Capitel. Nachweis der trophischen Wirkung der functionellen Reize 278 A. Verhalten durch den functionellen Reiz zugleich in der Assimilation gekräftigter Processe 278 Quantitative Selbstregulation 279 Ausgestaltung der Reizform 281 Fortwährend sich steigernde Ditierenzirung . 283 Anpassung an die Reizintensitäten 283 U ebereinstimmung mit dem thatsäclilicheu Verhalten 1) bei den Stützorganen 284 2) Bei den activ fungirenden Organen 284 Versuche mit Reizentziehung bei den Muskeln S. 284, bei den Drüsen S. 285, bei den Nerven S. 286. Patho- logische Reizentziehung 290 Trophische Nerven 292 Entstehung der Gesehwülste S. 300; der Infectionsgeschwüiste . 303 B. Unzureichende gestaltende Wirkung der „functionellen Hyperaemie' S. 304. Ursache der stärkeren Ernährung bei verstärkter Function S. 308. Wirkung verstärkter Nahrungs- zufuhr S. 308. Verschmähung der Nahrungsaufnahme .... 309 Bezügliches Verhalten der Gewebe in der .Jugend 311 Verhalten der Stützsubstanzen 311 Gegen die Passivität der Ernährung 812 Formale Ditferenzirung im Embryo 312 Activitätshypertrophie 31.5 Beweis der Selbstregulation der Blutzufuhr nach dem Maasse des Verbrauches bei der Entwickelung der Geschwülste S. 317, der Placenta 318 Beweis der Activität der Ernährung 319 „llorpho logische " und „jeweilige" functionelle An- passung 321 Entstehung der Inactivitätsatrophie 325 Zusammenfassung 329 IV. Capitel. Differenzirende und „gestaltende" Wirkungen der functio- nellen Reize 331 A. Qualitative Wirkung 332 Entstehung der Gewebe S. 332, der Sinneszellen S. 335, der Muskel- zellen S. 342, der Stützsubstanzen . 343 Grad der Anpassung der Gewebe an den functionellen Reiz . . 343 152 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Seite Scheidung des Leljens in „embryonales" und iu , Reizleben' 348 Sinken der Anpassung an den Reiz 348 B. Quantitative und ,gestal t ende' Wirkung der functionellen Reize 350 1. Quantitative Regulation 350 2. Functionelle Umbildung der äusseren Gestalt der Organe . 353 der Muskeln S. 3ö3, der Gelenke 354 3. Ausbildung der inneren Gestalt, der Structur 355 der Knochen 356 der Fascien, des Trommelfells etc 358 Bildung discreter Bänder 361 Hohlwerden der Knochen S. 363. Entstehung der lockeren Ver- bindungen und der Scbleimbeutel 364 Entstehung der hydrodynamischen Gestalt der Blutgefässe . . 365 Ursache der Regel vom Muskelnerveneintritt 366 Ausbildung der Coordinationen 367 Entstehung der dynamischen Structur der Hohlmuskeln . 368 Structur der Drüsen 370 C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung .... 371 Unterschied der Aenderungen durch embryon al e Variation und durch functionelle Anpassung 373 Ausbildung der Harmonie trotz der Variationen der Theile 376 Entstehung der secundären Geschlechtscharaktere und der Geschlechts- organe 377 Umgestaltende Wirkung chemischer Aenderungen 379 Schutz der Theile im Organismus vor fremd en Reizen . . . 380 Die Rcizcentralisation 381 Charakter der erreichten Vollendung der Organisation 382 V. Capitel. Ueber das Wesen des Organischen 387 Unwesentliche Eigenschaften 387 Die Sensibilität 391 Das räumliche Verhalten : Wachstliuni 392 Die Bedingungen der Dauer fähigkeit 393 Die Assimilation S. 394. Die Uebercompensation 396 Die besonderen Leistungen 397 Selbstregulation: .398 der Functionen : Die Reflexthätigkeil S. 398, des Verbrauches: Hunger S. 899, der Ausscheidung P. 400, der Assimilation S. 400. Leistungen letzterer Fähigkeit S. 402. V'orkommcn derselben 402 Functionelle Transplaiilation 404 Gesammtcharakter des Lebens 405 u. 415 Ersic Enlstehunr) des Lebens durch „xuccessirc ZUchtun(j" seiner „Grundeig enschaften" 409 Möglichkeit der Entstehung der Abstraction und des Bewusstseins 413 VI. Capitel. Zusammenfassung der Ergebnisse 416 I. Die functionelle Anpassung. 153 Die functionelle Anpassung. A. Leistung'eu derselben. Das Problem einer Erklärung der Zweokmässigkeit in der Natur hat schon die ältesten Philosophen beschäftigt, und hat auch schon im classischen Zeitalter der Antike seine allgemeine und principiell vollständige Lösung durch Empedocles gefunden. Er erreichte bereits das Endziel der Zweckmässigkeitslehre : Die Erkenntniss der Art und Weise, auf welche Zweckmässiges sich bilden köime , ohne Einwirkung einer nach vorbedachten Zielen gestaltenden Kraft, rein aus mechanischen Gründen heraus. Dieser grosse Denker fasste') die materielle Cirundsubstanz als das in sich unveränderliche Ursein, und Hess sie gemischt und ge- staltet werden durch die Kräfte der Liebe und des Hasses. In diesem mit zwei einander entgegenwirkenden Kräften versehenen Stoffgemenge musste ein laug dauernder Wechselkampf stattfinden, aus welchem blos die ,,da uerfähigen" Aggregationen schliesshch allein ül)rig bleiben konnten , da alle gebildeten Gruppirungeu so lange innuer wieder gelost werden mussten, so lange in der Wechselwirkung noch stärkere Couglomeratc sich bilden konnten. [2] So war durch ihn zum ersten Male die Möglichkeit der Ent- stehung sogenannter z w e c k m ä s s i g e r E i n r i c li t u n g e n auf rein mechanische Weise, auf dem Wege der Ausmerzung aller sich in der Wechselwirkung der Kräfte nicht dauerfähig erweisenden Combina- tionen gefunden; und es war damit die Möglichkeit einer mechanischen Entstehung des in allen seinen Theilen so wunderbar zweckmässigen thierischen Organismus wenigstens philosophisch nachgewiesen. 1) ARisTOTf.i.i« Phys. II, 8: und Fritz Schli.tzk, üeber das Verhältniss der griechischen Naturphilosophie zur modernen Naturwissenschaft. Kosmos, Zeitschr. Bd. II, 1878, S. 297; ferner Derselbe: Philosophie der Naturwissenschaft. I. Buch. Leipzig 1882. 154 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Die sogenannte „Zweckmässigkeit" war keine gewollte, sondern eine gewordene, keine teleologische, sondern eine uaturhistorisclie, auf langem Wege mechanisch ent- standene; denn nicht das einem vorgcfassten Zwecke ent- sprechende, sondern das, was die nothwendigen Eigen- schaften zum „Bestehen" unter den gegebenen Verhält- nissen hatte, blieb übrig. [Deshalb habe ich weiterhin das Wort ,, D a u e r h a f t i g k e i t " dafür verwendet.] Allein in diesem Sinne reden wir im Folgenden von Zweckmässigkeit. Man könnte nun denken , dass dieser philosopliischen Lösung der Aufgabe die empirische liald hätte nachfolgen müssen. Wer aber die Geschichte der griechischen Philosophie kennt, weiss, wie weit die Griechen noch in ihrer Weltanschauung gebunden waren, theils durch Mangel au Beobachtungen, theils durch falsche Beol)achtungen, aus Avelchen sich ganze Reihen von Wahnvorstellungen ergaben, und dass die Fähigkeit, wirklich objectiv und mit Selbstkritik zu beob- achten , nur einigen wenigen der bedeutendsten Männer zu Theil gewesen ist. So wurde sowohl die Bedeutung der Empedocleischen Lösung dieses grossen Problems nicht erkannt, geschweige denn, dass man sie für die Specialforschung genutzt hätte. Sie ging gänzlich verloren und nmsstc auf dem mühsamen Wege empirischer, wissenschaftlicher Detailforschuug, nach langem, vergeblichen Suchen vieler ausgezeich- neter Männer, vollkonnnen [3] neu entdeckt werden. Dafür war es dieses Mal nicht blos eine philosophische, principielle, sondern eine exact wissenschaftliche Lösung. Cii. D.uiWiN und .\. Wall.^ce entdeckten, wie bekannt, nicht blos von neuem das Princip des Kampfes als die Ursache der mecha- nischen Entstehung des Zweckmässigen, sondern sie wiesen zugleich auch nach, dass in Folge der geometrischen X'ermehrung der Orga- nismen ein derartiger Kampf unter ihnen wirklieh stattfinden müsse, und dass weiterhin in l'^olge der fortwälnx'uden A'ariationen der Or- gamsmen in allen ihren Theilen auch iunner die ?*röglichkeit des Ucbrigbleibens eines Besseren vorhanden ist. I. Functionelle Anpassung. 155 Iiuleni die übriggebliebeuen Wesen ihre bevorzugten Eigen- schaften unter gleichzeitigen neuen jModificationen von diesem Funda- ment aus vererben, ist die Möglichkeit gegeben, von den neuen, im Mittel schon vollkommeneren, Modificatiouen wiederum die besten auszulesen, so dass eine fortwährend steigende Vervollkommnung s auf viel kürzerem Wege als die Zuchtwahl das Zweckmässige hervorbringt, somit also letzterer die stärkste Coucurrenz macht imd den Anschein erweckt, den glück- lich l'ür beseitigt gehaltenen Dualismus wieder einführen zu wollen^). Schon A. W. VoLKMAXX sagt''): „Die Zuchtwahl reicht auch nicht aus, die wechselseitige Abhängigkeit der Organe zu erklären." Er crimiert dafür an den Ausspruch Cuvier's, dass man nur das Kiefer- gelenk eines Säugers zu untersuchen Ijrauche, um zu ermitteln, ob man die Knochen eines Fleischfressers, eines Wiederkäuers oder eines Nagers vor sich habe. Der Umfang der Wirkung des öfteren (iebrauches in Bezug auf das Vorkommen an den einzelnen Organen ist durch die Beispiele [1) Neueres über die Literatur der functionellen Anpassung siehe bei: H. Strasser, Zur Kenntniss der functionellen Anpassung der quergestreiften Muskeln. Stuttgart 1883. 115 Seiten. Wu.HELM Miller, Die Massenverhältnisse des menscbliclieu Herzens. Ham- burg 1883. 220 Seiten. ScHiCHARnr, Carl, Hochgradige Atrophie der linken I^unge mit coni])ensatori- scher Hypertrophie der rechten. Verhandl. d. Schles. Ges. f. vaterl. Ciiltur 1881 und ViRCHow's Arch. Bd 101, 1885. RiHBERT, Beiträge zur compensatorisehen Hypertrophie und zur Regeneration. Arch. f. Entwickclungsmechanik, Bd.I, 1894. S. 69 u. ft'. Daselbst auch Verweis auf tViihere bezügliche Arbeiten des Verf. H. Nothnagel, „Ueber Anpassungen und Ausgleichungen bei pathologischen Zuständen". Zeitsohr. f. klin. Medicin 1. Muskeln, loco cit. Bd. X, 188ß. 11. Drüsige Organe, Bd. XI, 1886. 111. Entstehung des Collateralkreislaufs, Bd. XV, 1888. Ueber die Theorie der fnnctionellen Anpassung siehe desselben Autors: .Die Anpassung des Organismus bei pathologischen Veränderungen". Vortrag gehalten beim XI. Internat, med. Congress zu Rom am 31. März 1894. Wiener med. Blätter, Bd. XVH, Nr. 14. D. Barflrth, Versuche zur functionellen Anpassung. Arch. f. micr. .Vnat. 1891, Bd. 37. Ferner das auf S. 106 Anm. citirte Werk .Iil. Wolff's]. -'I Sitzungsber. der naturforsch. Gesellschaft zu Halle. .luli 1874. 11* 16} Nr. 4. Der züolitfinlc K;iiii]if ilir 'l'licili' im Organismus. Darwins vollkniiinicn erschöpft; denn er zci^'t die ^\'i^kungeu au allen Organen, sogar für diejenigen Organe, für welche er eine directe Umgestaltung oder Functionsstärkiuig nicht nachgewiesen hat, für die Sinnesorgane, nimmt er sie an. Wir vermögen aber in diesen letzteren Fällen nicht zu unterscheiden , uli die Sinnesorgane selber schärfer geworden sind, oder oli fl3] blos unsere Fähigkeit, die von ihnen zugeleiteten Reize genauer wahrzunehmen, sich verbessert hat, ob also die Uebung die Endorgane selber afficirt, oder ob sie blos eine centrale, im Gehirn sich vollziehende ist. Die einzige bezügliche anatomische Beobachtung rührt von Guddex her. Er fand'), dass bei Neugebo- renen die l)ulbi olfactorii (die Riechzwiebeln) sich über das gewöhnliche Maass vergrösserten, weim den lietreffenden Thieren beide Augen exstir- pirt und die Ohren verschlossen wurden. Diese Thatsache deutet aber für sich blos auf eine Veränderung der Centralorgane ; wodurch natürlich die Möglichkeit einer Veränderung der Endorgane nicht ausgeschlossen ist. Für die Anpassung innerhalb der nervösen Centralor- gane an bestimmte Gebrauchsweise will ich hier ein treffendes Beispiel von Helmholtz anführen. Er sagf^): „Nimmt man Prismen von 16—18" brechendem Winkel so vor beide Augen , dass beide Prismen die äusseren Gegenstände z. B. nach rechts verschieben, und betrachtet irgend ein Object genau auf seine Lage, schliesst dann die Augen und greift nach demselben, so greift man natürlich rechts an ihm vorbei. ]\lanipulirt man aber auch nur wenige Minuten mit diesen Brillen, so wird man bei Wiederholung ganz sicher nach dem Objecte greifen. Es hat sich also in dieser kurzen Zeit die ganze Innervationscombination der Extremitäten geändert und den neuen Erfahrungen angepasst. Ninnnt man jetzt die Brillen fort, so greift man links au den Objecten vorbei, W(nl (hi^ neue Innervationsart auf die alten N'erhältnisse nicht mehr passt." ExNER bemerkt dazu sehr treffend ä): ,,Es ist auch noth wendig, dass unsere Innervationscombinatiouen in hohem Grade [14] moditi- J) Archiv für Psychiatrie, Bd. II, S. 69:1 -) Hkl.mholtz, Physiologische Optik. S. 001. 3) Ex.NER, Physiologie der Grosshirnriiiiir. in: Hkh.ma.xx. Haiulliuch der Physio- logie. Bd. II. Abth. 2, S. 249. I. Funrtionolle Anpassung. 165 cirlKir sinil. ileun im entgegengesetzten Falle wünlcn wir sciiun liei Ermüdung des Miiwkelappurates und noch nidir hei ungleicluuäs.siger l'j'niüdung der einzelnen Muskeln desselben die l'';Uiigkeit . correcte Bewegungsconibinationen auszuführen, verlieren." 80 ist die l'^aliigkeit iler I u nc tioncllun Anpassung eine \'()rbcdingung der Erwerbung jeglicher kür]ierlichen Ge- schicklichkeit wie jeglicher Kenntnisse; und die Uebuug ist weiter niclits, als die Ausbildung solcher Anpassungen im Organismus : die Fixation aller Sinneseindrücke in der Hirnrinde muss als direclc hnictioiielle Anpassung an die Aussenwelt aufgefasst werden. Weiterhin ist hier aufzuführen das eigenthümliche ^'erhalten. dass nach Philipeaux, Vulpian, Cyon, Schiff '), R. Heidexhain und einigen Schülern Hekman.\'s '-*) nach Durchschneidung des Zungenbewegungs- nerven (Nervus hypoglossus) ein Geschmacksnerv der Zunge, die ('liiirda (h's Nervus facialis, mot.ori.sche Wirkung auf die Zunge be- kommt , so dass jetzt bei Reizung der Chorda die Zunge sich heht. ein Effect, welcher nach Wiederherstellung des Hypoglossus wieder schwindet. Dieses zeitweilige Vicariireu von Nerven ist gewiss ein auffälliger Grad functioneller Anpassung. Die Ueberzeugung von der Thatsächlichkeit der directen An- jiassung der Knochen an neue Verhältnis.se stösst nach meiner Erfahrung auf besonderen Widerstand bei Denjenigen, welche sie selber noch nicht beobachtet haben. Es erscheint daher nicht überflüssig, einen besonders demonstrativen Fall meiner eigenen Beobachtungen zu rrwähnen. Er betrifft das Präparat eines nicht geheilten Bruches des Schienbeines. Die Ixuden Bruchenden des in der Mitte gebrochenen Knochens sind abgerundet und verdünnt; dagegen ist das Wadenbein in ganzer Ausdehnung auf das 6 — Stäche des normalen Querschnittes ver- dickt, [15] mit Erhaltung annähernd der normalen Formen und beson- ders mit ganz normaler, entzündliche Knochenbildung ausschliessender glatter Oberfläche. Die Enden des Wadenbeins sind weniger verdickt, aber so geformt, dass sie vermittelst sehr stark ausgebildeter Binde gevvebszüge zwischen ihnen und jedem zugehörigen Ende des Schien- 1) Arcli. il. sc. physiolog. et iiat. 64, S. -59, lülü. ■i) Hermann, Handb. d. Physiol., Bd. I, Abth. 1, S. 131. IHR Nr. 4. Der züchk-nde Kampf der Tlieilo im Organismus. lioines ilfii ni'uen Functioni'H der L'fluTtraguiig de;?' Druckes \T)in oberen Ende des Scliienbeines auf das untere zu genügen vermochten; auch die Structur ist diesen neuen Druckriclitungen augei)asst. Der- artige Beispiele der Activitätshypei-trophie der Knochen und des Bindege- webes werden sich wohl in jeder pathologischen Sannnlung vorfinden')- E. Pflüciek erwähnt ganz allgemein-): ..Ks ist aber eine That- sachc, dass bei grösserem W-rlust in Folge verstärkter Arbeit solche Bedingungen entstehen , denen zufolge immer etwas mehr wiederge- wonnen wird, als verloren ging, denn der anhaltende stärkere Ge- brauch des Organes lässt dasselbe an Masse und Kraft zunehmen." Mit der Ausdehnung der umgestaltenden Wirkung dvv fuiic- tionellen Anpassung auf alle Organe ist implicite auch ausgesprociien, dass alle Gewebe des Körpers, also Ganglienzellen, Nerven, Siunes- zellen, Muskel-, Drüsen-, Epithel-, Binde-. Knorpel- und Knochen-Ge- webe davon betroffen werden. Um so weniger ist die A r t d e r ^\' i r k u u g berücksichtigt worden. Darwin und alle anderen Autoren erwähnen blos, dass vermehrter Gebrauch die Organe vergrös.sert, verminderter sie verkleinert. Es scheint indessen lohnend, die Wirkungsweise an den einzelnen Organen zu untersuchen. Es ergiebt sich schon bei blosser Prüfung Hes gegenwärtig Bekannten ohne besondere daraufhin angestellte Be- obachtungen mit grosser Wahrscheinlichkeit das folgende mor])h(i logische Gesetz iler functionelien Anjiassung: [161 N'erstärkte Thätigkeit vergrössert ein Organ blos in derjenigen, vesp, denjenigen Dimensionen, welche die Verstärkung der Thätigkeit leisten (s. S. 128).- Dieses „Gesetz der tlimensiun a len Acti vitäts-Hj'per- tropliie" lickumlct sicli am deutliclisten in dem V^erhalten derMuskeln bei Vergrösserung durch verstärkte Inan:-i>ruchnahmc ihri'r Function. Während der Muskel, an Dicke zunehmend, sich nach und nach eventuell bis zum Doppolten seines ursprünglichen (Querschnittes ver- [') Die.ses lehrreiche l^raparat wurde später mit in dem grossen Werke JuL. Wiji.ff's ,Das Transformntionsgcsetz der KIloch(■n^ Berlin 189'2. auf Tat. VII, Fig. 40 durch Lichtdruck abgebildet]. i) Pn.ioFB's Archiv, Bd. XV. 8. S4. I Functionolle Anpassung. 167 grüssert. bleibt seine Länge unverändert; wenigstens nimmt sie, wenn überbiUipt. nnr in so geringem Maasse zu. dass es noch Niemandem aufgefallen ist: und es bestehen Gründe, im (legentheil eher eine Verkürzung zu erwarten. nie \'ergrüsserung hat sich also auf dir zwei üimensionen des Querschnittes beschränkt . Die mikroskopische rutersueliung eines .soleben Muskels zeigt, dass die einzelnen Muskelfasern zwar etwas dicker sind, als an anderen weniger beschäftigten Muskeln desselben Imlividuums; alier dvuvhaus nicht in dein Maasse. dass die ^"erdickung des ganzen ürganes allein darauf bezogen werden kann; vielmehr findet noch eine Vermelu'ung der Zahl der Fasern statt, (s. Zielo.nko, N'iucuow's Archiv. Bd. 61.) Die erstere Ersclieiuung, die Vergrösserung der specitischen Elementar- theile, der Zellen, wollen wir in Folgendem nach ^'lllcnow analytisch als Hypertrophie von der letzteren, von der Vermehrung der Zahl der specitischen Elementartheile oder der Hy])erplasie unterscheiden, wemi auch beide meist zugleich vorkommen. Es hat sich im vorliegenden Falle also die Hypertrophie der einzelnen Muskelfasern auf die beiden Dimensionen des Querschnittes beschränkt, ohne Vergrösserung der dritten Dimension, der Länge. Das .Vusbleiben der letzteren Vergrösserung ergiebt sich [17] bei den kurzen Muskeln, deren ganze Länge durch luir eine Faser gebihlet wird, ohne Weiteres aus der äusseren Betrachtung, l^ei den langen Muskeln, deren Länge durch Aneinanderreihungen von mehreren Muskelfasern sich zu- sammensetzt, folgt dasselbe gleichfalls aus dem Ausbleiben einer \^er- längerung des ganzen Organes; denn diese müsste nothweudig ebeiifalls eintreten, wenn die Elementartheile länger würden. Es sei denn, dass letz- tere entweder ihre relative Lage zu einander änderten, indem sie sich mehr in der Richtung der Länge zusammen.schieben, oder dass, entsprechend der Verlängerung der Fasern an einigen Stellen, an den anderen Theilen des Muskels \'erkleinerung der Fasern stattfände, beides schon an sich gleich unwahrscheinliche Vorgänge ; ganz abgesehen von der damit entstandenen Abweichung von dem\'erhalten bei den kürzeren Muskeln. Dass aber die Muskeln die Verstärkung der Thätigkeit mit dem Quer- schnitt zu leisten haben, bedarf wohl keiner Erläuterunar. 168 Nr. 4. Der ziicbtfnde Kampf der Theilr im Organismus. Warum ordnen sich die neugcbildeten l'rotoplasmatheilchen der l""aser blos in die Dimensionen des Querschnittes mit Ausscliluss der Länge? Warum thun dasselbe die neugebildeten Muskelfasern? Alnveichungen von diesem tyiiischen Verhalten kommen am Herzen und den anderen Höhlen m u s k e 1 n in Blase , Magen, Darm, Gebärmutter etc. nicht selten vor, indem mit der Verdickung auch entsprechende oder nicht entsprechende Verlängerung der Fasern, somit Vergrösseruug des umschlossenen Hohlraumes verbunden ist. Gerade das principiell andere Verhalten an diesen Localitäten giebt uns einen bedeutsamen Fingerzeig nach der Ursache der obigen Er- scheinung an der Sceletmusculatur'). Ferner ist zum Belege des oben ausgesprochenen Gesetzes an- zuführen das Verhalten der Sehnen und Gelenkbänder. Diese werden bekanntlich bei stärkerer P'unction gleichfalls [18] nicht länger, sondern blos dicker. Ersteres würde, wenn es stattfände, sofort die Function vermindern, resp. aufheben. Also auch hier findet blos An- ordnung der neuen Molekel und Fasern in der Richtung des Quer- schnittes statt. Vielleicht ist auch die ungleiche Dicke der Nervenfasern, wie sie uns jeder Quei-schnitt eines Xervenstammes oder des Rücken- markes zeigt, durch ungleich starke I'unction bedingt, während eine [•) Dieser Unterschied ist dadurch bedingt, dass in den Hohlorganen mit der Nöthigung zur Verdickung der Fasern, also mit der Zunahme des Entleeruugswider- standes durch Stauung auch die Menge des zu entleerenden Inhaltes zunimmt. Bei abnormer Erweiterung der Blutgefässe infolge dirccter Anpassung an grösseren Bedarf in der Peripherie, z. B. bei Ausbildung eines Collateralkreislaufes oder beim Ureter infolge von Harnstauung ist jedoch die Krweiteriing häuhg mit er- heblicher Verlängerung, mit sehr starker Schlängelung der Gefässe verbunden, obschon die eine Function der Länge des Gefässes: die Flüssigkeit vom Anfangsort zum Endort zu führen, sich nicht geändert hat. Die andere Function der Längs- richtung der Gefässwandung: der Längsspannung der Flüssigkeit zu widerstehen, war aber vergrössert worden. Doch giebt es auch Fälle, in denen bei Erweiterung des Gefässumfanges um das Zwei- bis Dreifache die Schlängelung gering ist, indem die Ver- längerung kaum ein Viertel beträgt. Darin spricht sich schon die principielle Ver- schiedenheit der Ursache des Längs- und des Umfangswachsthums aus; und es liegt nahe zu vermuthen, dass die starke Schlängelung durch zu plötzliche, die diniensional beschränkte Anpassungsfähigkeit zur reinen Erweiterung überschreitende Druiksteigeruiig bedingt ist. Umgekehrt kann auch die Länge eines Gefässes ohne die Weite desselben sich vergrössern. so die Lange der Art. spermntica int, beim Herabsteigen der Hoden oder Ovarien, der Nieren- oder Milzarterie bei Ken oder Lien mobile. 1. Functionelle Anpassimp. 169 N'erlänjjernng ilubei niclit vorkniiiiiit; denn m;in findet in Nerven- stäninicn ipr züchtende Kampf der Theile im Organismiif;. uacli der Einen Dimeui^ioii iler Dicke angeregt, unter gänzlichem Aus- schluss der beiden anderen Dimensionen. Nicht fl91 aber wirkt der Reiz auch zur stärkeren Vcrgrösserung nach der Fläche, sodass unter l)assiver Betheiligung der Loderhaut Falteubilduug entstünde wie im Darmtractus. In letzterem sind die Falten aber auch nicht durch Wrniehrung des Flächenepithels, sondern durcii Vermehrung der Drüsen bedingt, und wolil nur passiv nachfolgend findet die ent- sprechende Flächenvergrusseruug des ()i)er(iäelu'ne]iithels nnd der Schleimhaut statt. Auch für dieses Beispiel des Epithels lässt sich ein zu berück- sichtigender Einwand iiiachen, nämlich der, dass der Widerstand der dicken Lederhaut gegen Faltung (bux-h stärkeres \\'achsthuni des auf- liegenden Epithels wohl ein zu grosser ist. Die Berechtigung liieser Einwände kann nur durch eingehende Specialuntersuchungen für jedes Organ festgestellt werden. L o c k e r e s B i n d e g e w e b e wird bei Dehnung allmählich länger, hypertrophirt in der Einen Dimension der Länge. Dasselbe findet be- kanuthch auch am straffen Bindegewebe bei zu langauhaltendem oder übermässigem Zuge statt; während, wie erwähnt, uormaliter, d. h. bei blos spannendem, in angemessenen Intermissioncn erfolgen- dem Zug dasselbe blos in dem Querschnitt sich verstärkt. Die Zapfen der Netzhaut sind in der Fovea centrahs des Auges, der Stelle des deutlichsten und am meisten gebrauchten Sehens, am höchsten in der Richtung des einfallenden Lichtes und dabei zu- gleich schmaler als an den seitlichen Partien des Auges. Es ist viel- leicht anzunehmen, dass die stärkere Function dieser Theile durch die grössere Länge geleistet wird und dass die geringere Dicke nur eine Folge der stärkenii 'rendcnz zur Vermehrung der Zellen durch ilen stärkeren fuuctionellen Reiz ist. Es würde nicht gegen diese Autfassung sprechen, wenn die bezügliche Verschiedenheit auch schon auseboren würde, da sie wohl vererbt werden könnte, auch wenn sie ursprünglich durch (ielnauch entstanden wäre. [20] Die Milz, und die Lymphdrüsen leisten ihn' Function der Bildung von Blutzellen mit allen drei Dimensionen gleichmässig und vergrössern sich dem (Mitsprechend auch hei verstärkter Function I. Functionello Anpassunp. 171 nach diesen drei Dimensionen gleiclimässig . soweit es bei der Mil/, der Raum der rmgebung gestattet. Dass in diesen Organen keine \'ermehrung der Zellen Ijlos naeh bestimmten llichtungen stattliudel. eruiebt sich mit Sicherheit daraus, dass nie in diesen Organen die Zellen in l\eihen geordnet sind, wie es sieh doch ilal)ci ausbilden luüsste, sondern dass die Zellen in hyiier[)lastischen Organen ebenso augeordnet liegen, als in nicht vergrösserten. Ich will hier nicht weitere Beispiele anführen. insl)ePondere nicht das interessantest(> , ungleiche \'erhalten der Rlutgefässwandung in den verscliiedenen Dimensionen erwähnen, da irh beabsichtige, die zur Sicherstellung des obigen Gesetzes nöthige. auf neue, daraufhin angestellte Beobachtungen sich stützende Specialarbeit selber zu machen. Alsdann werde ich auch auf die charakteristischen Unterschiede der .Vctivitätshypertrophie von der bei einigen Organen vorkommen- den Hypertrophie in Folge verhiehrter Blutzufuhr, hinweisen. Am evidentesten tritt das Typische des Gesetzes natürlich an denjenigen Organen hervoi', bei welchen die verschiedenen Dimensionen verschiedene Functionen haben und daher mit verschiedeneu Umständen sich ändern, so bei der Haut, den Muskeln, Sehnen, Bändern und Gefässen. Gegenwärtig sehen wir jedenfalls so viel . dass durch die \'er- stärkung der Function nicht alle Dimensionen der Organe gleichmässig vergrössert werden, auch da, wo, wie bei Muskeln und Bändern, der Raum es verstattete, sondern blos diejenigen Dimensionen, welche die Grösse der Function besorgen. Dabei ist das \'erhältniss derartig, dass an denjenigen Organen, deren .,specifischc Function' durch Eine Dimension besorgt wird, wie [211 bei den Sehnen. Drüsen und Nerven, die ., Grösse der Function von den beiden ;inderen Dimensionen vollzogen wird, und dass umgekehrt in den anderen Organen, welche, ^\^e Epidermis, (Jefässwandung, Fascien und vielleicht auch die Zapfen der Netzhaut, die s|iecitische Function mit zwei Dimensionen verrichten, die Grösse der Function durch die dritte Dimension bestimmt wird'). [') Aus meiner Entgegnung auf ein Referat von W Kraisk (Kosmos BH. 9. !S81, S. 398 1 sei hier folgenile Stelle leproducirt, um eventueller Wiederholung des 172 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Die f iiiipt ionol le TT ypcrtrophic bringt also nicht immer ..AehnliohkeitswachsthuDi", d. h. Vergrösseruug naeli allen Durch- messern proportional ihrer Grösse hervor, sondern sie bildet durch die eventuelle Beschränkung der Vergrösseruug auf eine oder zwei Dimen- sionen morphologisch neue Charaktere. Dieselben entstehen durch functionelle Hypertrophie, ausserdem aucli noch in Fol^e der ungleich- massigen Vergrösserung der verschiedenen Organe bei gleicher Ver- stärkung ihrer Function, am meisten aber durch die ungleiclie Ver- theilung der Hyperfunction auf die verschiedenen Orgaue des Körpers. Ist dadurch schon principiell die Möglichkeit zu jeder denkbaren Formwandlung gegeben, so wird diese Möglichkeit noch erleichtert und quantitativ unterstützt durch das entgegengesetzt wirkende Prin- cip, durch die \'erkleinerung in Folge der \'erringerung der Function, gleichen Irrthumes zu bcgpgnen : ,Bei Gelegenheit der Besprechung des von mir aufgestellten Gesetzes von der Beschränkung der Activitätshyiiertrophie auf bestimmte Dimensionen der Organe ist in dem Referat auch der blossen Verdickung der Knochen ohne Verlängerung derselben bei vermehrtem Gebrauche als eines Beispieles Erwähn- ung gethan. Dies i.st nicht berechtigt. Denn während es bei den mit inter- stitiellem VVaclisthum begabten Weich gebilden , wie z. B. den Muskeln und Bändern höchst auffallend erscheinen muss, dass sich die Vergrösserung dieser Organe bei verstärkter Leistung blos auf die beiden Dimensionen des Querschnittes unter vollkommenem Ausschluss einer Vergrösserung der Längendimension beschrankt, so ist dieser Ausschluss des Längenwachsthums bei den Knochen einfach eine mechanische Nothwendigkeit. Dies ist darin begründet, dass bei dem appositio- nellen Wachsthnm der Knochen nach der Verknödiernng der intermediären Epiphysen- knorpel eine Verlängerung überhaupt unmöglich ist. so dass blos seitliche Auflager- ung, also Verdickung stattfinden kann. Es wäre aber nicht zu billigen, wollte man auf Grund der äusseren vollkommenen Uebereinstimmung der Wachs- thumserscheinungen der Knochen mit denen der Weichgebilde, dieProcesse beider unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zusammenfassen, da solches, wenn ihm wissenschaftliche Bedeutung zukommen soll, stets auch eine,Ge- meinsanikeit der Ursachen" iuvolviren muss. (Weiteres s. 11. S. 48). Schliesslich hat auch die Bemerkung, dass Muskeln und Knochen wahrschein- lich in die Länge wüchsen, wenn oft wiederholte Zugkräfte auf sie wirken, nicht mich zum Urheber. Denn obgleich ich, oder vielleicht gerade, weil ich schon seit Jahren Untersuchungen über die Ursachen des Längenwachsthums dieser Organe angestellt und Hunderte von Messungen zum Zwecke ihrer Erforschung vorgenommen habe, ohne indessen bis jetzt zu einem genügend gestützten Resultate gelangt zu sein, habe ich mich in dieser Frage der Aussprache eines ürtheiles enthalten. Ich urgire dies, weil, soweit ich bis .jetzt sehe, gerade die erwähnte Annahme am wenigsten Wahr- scheinlichkeit für sich hat. (Kosmos. Bd. 10, 1881, S. 149.) Bezüglich des Weiteren siehe Nr. 8.] l. Functionelle Aupassuug. 173 liuicli .,[ iKU-li vi t ;i tsat ro |)li ie". In W-rlmiiluiii; iiiil diesem Priiicip künneii nun auch alle möglichen Grössen wieder rück wärt.* liis zum t;iinzliclicu Schwunde hervorgebracht werden. Auch die Inactivitätsatrophie zeigt Besciu-iiukung ihrer Wir (22] kung auf die die Grösse der Function vollziehenden Dimensionen (kr Organe, so dass für sie ein Gesetz der di niensionalen Inactivi- läts- Atrophie aufgestellt wex'den muss. Auch hierbei ergeben sich in einigen Organen wieder Unterschiede von der einfachen Atrophie in Folge Verringerung der Blutzufuhr; und ich behalte mir auch hierüber specielle Untersuchung und Nachweise vor. Damit nun aber durch diese beiden Principien Uiiig'e- staltuiif^cii entstehen, sind daiieriul /wingeiide Ursaelieii anderen (Jpbraiiclies nöthig, wie sie für Thiere nur durch embryonale \'ariationen einiger Theile, w'elche dann alterirend auch auf die Functionen der anderen wirken oder durch Aeuderuug der äus- seren Verhältnisse gegeben werden, beim Menschen aber auch als ilauernd in derselben Richtung wirkender Wille, z. B. in Folge der Wahl des Berufes, vorkommen. Diese dauernd zwingende Ursache zu bestimmtem anderem Gebrauche ist eine unerlässliche V^orbedingung der um- gestaltenden Wirkungen der functionellen Anpassung, und sie muss wohl viele Generationen hindurch gleichmässig anhalten, wenn die ^'e^änderungen auch erblich werden sollen. Ausser dieser cjuantitativen, die Gestalt beeintlussendeu Wirkung der functionellen Anpassung ist noch hinzudeuten auf eine fast un- beachtet gebliebene ,,c|ualitativ" ändernde Wirkung vermehrten und verminderten Gebrauches, auf die Erhöhung resp. Erniedrigung der specif isclien Leistungsfähigkeit der Organe. Zuerst wurde derartiges nachgewiesen von W. He.nke und Kxohz'), welche fanden , dass dasselbe Volumen Muskelsubstanz des rechten Armes (bei Corpsstudenten, die den rechten Ann durch vieles Fechten sehr stark ausgebildet hatten) 20 "/o mehr leisten könne, als vom linken; 1) KxoRZ, Ein Beitrag zur Best, der absoluten Muskelkraft. Diss. Marburg 1865. Hexle, Zeitschr. t. rat. Med. (iJ) XXIV, ls65 u. XXXIII, 1868. 174 Nr. 4. Der ziitliteiide Kampf der Theile im Orgniiismus. [nämlich pro qcm links 7,4, rechts heinahe 9, im Mittel etwas über 8 Kilogramm]. j23j Gleichzeitig wurde dasselbe, aber ohne Angabe directer Bestiiinuunfien, von Haec.kei. in der oben citirtcn Stelle aus- gesprochen'). Ferner weisen die Untersuchungen von Tieoel-) eine Erhöhung der specifischen Leistungsfähigkeit innerhalb einer einzigen kurzen physiologischen Reizperiode des Muskels nacli, indem sie ergaben, dass bei gleichen Reizen eine Zeit lang die liubliulien, also die Xer- kürzungeu, grösser werden, ehe sie durch Erscliüpi'ung sich verkleinern. Für die nervösen Centralorgane^) scheint die alltägliche Erfah- rung das Gleiche zu bestätigen; es weiss Jeder, wie durch jahrelange üebuug mühselig erlernte Bewegungen , etwa beim Spielen musikali- scher Instrumente etc. , später leicht ausführbar werden , sodass sie schliesslich fast ohne bewusste Innervation als feste Mechanismen von selber sich abspielen , wenn nur der Anfang dazu befohlen worden ist. Man wird hier nicht wohl annehmen können, dass die die Gan- glienzellen des Rückenmarkes verbindenden Fasern so viel hundertmal dicker geworden wären , um allein durch Vergrösserung des Quer- schnittes die Widerstandsabnahme in den Bahnen hervorzubringen, sondern es ist wahrscliciulicher, dass die Verbindungsbahnen neben [1) Ein weiteres aber nur scheinbares Beispiel qualitativer Anpassung bietet die Dicke der Sehnen dar. Ich fand, dass bei schwachem Muskel die Sehne etwa '30, bei den stärksten Mu.skcln aber (Soleus) blos ' iso der Dicke des Muskels niisst (beide Dicken natürlich rechtwinkelig zur Faserrichtung gemessen, was bei den dicken, gefiederten Muskeln nur unter Zerlegung in viele einzelne Stücke möglich ist). Doch beruht diese Erscheinung wohl nicht auf qualitativer Anpassung der Sehnen - fasern, denn die einzelne wird wohl nicht stärker gezogen, sondern blos auf dich- terer Zusammenfassung der Fasern durch die quer verbindenden Fasern der Sehne, weldie bei den dicken Muskeln mehr gespannt werden. Auch findet sieh fast dasselbe Verhältuiss wie heim Soleus an der Sehne des sog. Supinator longus. da dessen Sehnenfasern durch die Armfascie zusammengedrängt werden, was auch schon beim Solens selber geschieht. Diese geringere Dicke der Sehne als die des Muskels ist der erste Grund der Fiederung, wozu als zweiter die Ausnützung des Raumes kommt, welche gleichfalls schräge Lage der Fleischfasern zu den Sehnenfasern niithig macht. Siehe Nr. 4 S. 10.5; Nr. 8 S. 17 u. 38. | i) TiEüKi,, citirt in: Herman.n, Handb. d. Physiologie, Bd. 1. S 13."> [3) Auch Emil nu Bois-Ri-.VMONn hebt in seiner, ein halbes .Tahr nach dem vor- liegenden Buch erschienenen Rede ,Ueber die L'ebung' hervor, dass die l'ebung schwie. riger Bewegungen vorzugsweise im Centralnervensystem , weniger in den Muskeln stattfinde, was von Lehrern und Forschern nicht genügend berücksichtigt werde.] 1. Functioiiello Anpassung. 175 i;lcirli/,rili,u<'r N'ergrüsscriiuti ihres (Querschnittes iiiu-li (|u:Llit:iti\- hesser leitend irewordeu sind, und dass die rianü'lienzellen relativ mehr Im- jnils auf eine Anregung produciren. hl gleicher Weise werden auch die Orgaue unserer Seelenthiitig- keit leistungsfähiger durch (Wtereu und intensiveren Gehrauch, ilnrcli Tebung, wie wir sagen. Alles, was wir kürperlicli undgeistig lernen, ist i'rdduct der ..l'unctionelleu Anpassung"; ohne dieselhe wünlcn wir in keiner Ilcziehung etwas lernen können. Tnd Jeder weiss, wie viel rascher und leichter all- [24:; niiildich seihst das Lernen, nii'ht hlos die Ausführung des Erlernten wird; was auf eine Erhöhung der specifischen Leistungsfähigkeit des ganzen Systemes in Folge vielseitigen Gebrauches liinweist. Wir sind daher wohl berechtigt, dem obigen morphologischen (iesetz der dimeusionalen Hypertrophie für die genannten, aetiv fungirenden Organe das physiologische Gesetz der functio- iielleu .Vn])assung hinzuzufügen: •Durch verstärkte Thätigkeit wird die s])ecifische Leistungsfähigkeit der Organe erhüiit • '). Selbstverstäudhch gilt dies Gesetz, wie alle organischen Leistungsgesetze, blos innerhalb gewisser Grade; und es soll damit auch nicht gesagt werden, dass Ueberanstrengung nicht die Leistungsfähigkeit schwächte. Ob dieses Gesetz auch für die Sinnesorgane Geltung hat, oder oh die Uebung in der Auffassung und Differenzirung der Siunesein- drücke blos eine cerebrale ist, da ja diese Organe zumeist in gleicher \A'eise von aussen durch die Eindrücke getrott'en werden und bei mangelnder Aufmerksamkeit auf die Eindrücke die Auffassungsfähig- [') Diese Steige: ung der qiuilitativen Leistungsfähigiceit kann in ihrem eisten .\nfange vielleiclit ohne Bildung einer besseren Structur der thiitigen Substanz ein- hergelien, indem sie hlos auf besserer Ausnutzung der vorhandenen Structuren. auf besserer Abfuhr und besseren Ersatz des Verbrauchten, auf Entfernung oder Verbrauch aufgehäufter nicht nöthiger Tbeile (Fett) beruht. Eine weitere Erhöhung der nualitativen Leistungsfähigkeit muss dagegen auch mit Verbesserung der thätigen Structur verbunden sein, und ist daher wiederum eine .morphol ogische' Anpassung.] 176 Nr 4. Der züclitende hampf der Theile im Organismus. keit nicht erliölit wird, lialien wir schon oben als zur Zeit nicht ent- schieden hingestellt. Und ebenso .'sind wir über die eventuelle Erhöhung der specifi- schen Leistungsfähigkeit der Drüsen, sowie auch der passiv fungiren- deu Organe: der Knochen und Bänder etc., ohne Kenntnisse. Aber , Alitlj. III. \V. Roux, Gcsaimnelte AbliunUlunireu. 1. ■- 178 Nr. 4. Der ziu-hfeiide Kampf der Theilc im Organismus. 2. I"n 11 et i Oll cI I <• Sei bstgi'stal tu 11 1; der zwi'ck iiiiissigeii Structur. Nachdem kurz in iuialytiscIuT Weise die umbildenden Wirkungeu vermehrten oder verminderten Gebrauches besprochen worden sind, müssen wir eine (Jruppe von (iestahungen anführen, welche sieh in ilireii rrsachcii diesen WrJinderuiigi'n aul' das engste ansehHesseu und aucii in Bezug aul ihre Krbhchkeit viel Gemeinsames mit den erwähnten Erscheinungen haben. \V<ährend (he bisher besprochenen Erscheinungen der Wirkung der Häufigkeit und Intensität des Gebrauches von der Physio- logie mit wenigen Ausnalnmii unverdient vernachlässigt worden sind — wohl weil sie zumeist niclit in der Kürze des physiologischen Experi- mentes ablaufen und zu beobachten sind, sondern erst im Tjaufe von Jahren genügend hervortreten und zum Theil nur auf statistischem Wege festgestellt werden können — obgleich sie, als alle quantitativen Verhältnisse im Körper bestimmend, phj'siologisch von der grössten Bedeutung sind; so sind die jetzt zu besprechenden Erscheinungen von den Ver- [27] tretern der Descendenzlehre bisher gänzlich unberücksichtigt geblieben, trotzdem sie gerade fiir diese Lehre von principiell entscheidender Wichtigkeit sind. Es sind Erscheinungen , welche mit den vorhergehenden unter ( lem gemeinsamen Namen f u n c t i o n e 1 1 e A n p a s s u n g zusammen- gefasst werden können. Das bisher Besprochene stellte die Wirkung der Quantität der Function auf die äussere Gestalt und auf die Qualität der Organe dar. Die nun folgenden Erscheinungen zeigen uns die Wirkung der Function für die innere Gestalt, für die ,, Structur" der Organe. Da wir auch das diesen Erscheinungen zu Grunde liegende Priiicip als ein direct das Zweckmässige durch den Act der Function iiervorbringendes kennen lernen werden, so können wir sie beide auch als ,,1'riiii'ipieii der fuiietioiielleu Selbstgcstaltung des Zweck- inässigou" zusammenfassen, ersteres als die äussere Gestaltung, letzteres als die innere Gestaltung der Organe beeinflussend. Daraus ergicbt sich von selber, dass beide in inniger \\\ch seibezieh ung stehen müssen. I. Kuuctionelle Anpassung. 179 Die ersten 1 licrlu'r gehörigen Beobachtuu.sen verdanken wirHEUMANN Mkyku'), welcher erkannte, ilass (He normale silnvaniniigc (spongiöse) Substanz der Knochen eine ganz besthnmte Are! litectur besitzt, welche an jeder Stelle genau ilie Linien stärksten Druckes oder Zuges, dem das Organ ausgesetzt ist, darstellt. Indem so die Knochenbälkchen überall blos in den Richtungen stärksten Druckes und Zuges verlaufen, wird mit dem geringsten Materialaul'wand die grösstmög- liche Festigkeit erreicht, genau in der Weise, wie dies die moderne constructive Technik zu verwirkliclien sucht, l'^rweitert wurden unsere bezüglichen Kenntnisse dann von .1. Wolkf'^), H. Wolfermanx^), (28) K. Bardelebex'*), Merkel'), Aeby'^) und P. Lani:erhax3') und so auf fast alle Knochen des menschlichen Körpers und einiger Säuge- thiere ausgedehnt. (Bei den Vögeln fand ^\'ILL. Mapshall*) im Schnabel, H. Strasser") in den Tvuni)i[- und PLxtremitätenknochen statische 8tructur.] J. Wolff'") entdeckte darauf zuerst und Küster ^^) und Martiny sowie L. Rabe'^) bestätigten, dass derartige Structurverhältnisse sich auch unter ganz neuen, abnormen Verhältnissen, den neuen statischen \'erhältnissen entsprechend, z. B. bei schief geheilten Knochenbrüchen und in rhachitisch verbogenen Röhrenknochen ausbilden. Daraus geht hervor, dass diese Bildungen nicht feste, vererbte zu sein brau- chen, sondern sich nach den jeweiligen Verhältnissen selbst erzeugen können. Da die statische Knochenstructur erst nach den ersten Lebensjahren sicher erkennbar sich ausbildet"), so lässt sich über ihre 1) Herm. Mever, Archiv für Anatomie u. Plij-siologie, 1807. -) ,1. Woi.FF, Berliner klin. Wochensclirift, 1868, und ViRcuow's .Archiv f. patbol. Anatomie. Bd. .jO, 1870, u. Bd 61, 1874 3) H. WoLFERM.\xx. Archiv f. Anatomie u. Physiologie, 1872. ■») K. Bardeleben, Beiträge zur Kenntniss der Wirbelsäule, .Tena 1874. 5) ViRCHOw's Archiv, Bd. -59, S. 237. 6) Aeby, Centralblatt f. d. med. Wiss., 1873. -) ViRCHOw's Archiv, Bd. 61. S. 229. s) W. Marshall, üeber die knöchernen Schädelhiicker der Vos;el. Niederläiid. Arch. f. Zool. Bd. 1. Heft 2, 1872. '■') H. Strasser, Ueber die Luftsäckc der Vögel. Morphol. .lahrb. Bd. II f. 1877. 10) Archiv f. klin. Chir. v. Langexbeck, Bd. 14, 1872, S. 270. ") Sitzgsber. d. Würzburger phys. med. Ges., 1872. i-i) His u. Bral-.ne. Zeitschr. f. Anat. Bd. I. 1876, 8. 121. '3) Genaueres siehe Nr. 9 !* \4^ und l.i7 .Vnm. 12* 180 Nr- 4. Der ziiclitomii' Kampf der 'l'hi'ilc im Organismus. eventuelle erliliche l 'chertragbai'keit ohne besondere rlaraufliin ^c- riehtete Untersuchungen uidits aussagen'). Ferner ist hierlier gehörig eine Mittheilung, welche Prof. K. Barüei.kbf.n vor zwei Jahren mir machte, und die ich init seiner lu-Iaubniss hier anführe. Kr sprach die A'ermuthung und die ^\'ahr- sclieinlichkeit aus, dass aucli in den Fascien, den Häuten, welche die Muskeln einhüllen, ilie Fasern, wie iu den KnocluMi die Bälkehen. die Richtungen stärksten Zuges einnähmen. Da der genannte Autor noch nicht dazu gekommen ist , die beabsichtigte eingehende Unter- suchung anzustellen^), so habe ich, ohne den speciellen Mittheilungen 1) Siehe auch Jul. Woi.ff's zusammenfassendes Werk : Das Gesetz der Trans- formation der Knochen. Berlin 1892, 152 Seiten, 12 Tafeln, [') Die bezügliche Abhandlung B.ap.dklkbkx's erschien im .lahre 1881 uuter dem Titel , Muskel nnd Fascic* in der Jenaischen Zeitschrift für Naturwiss. lid. X\'. S. 390-417. Sie behandelt jedoch das Thema in wesentlich an und weisen dadurch auf das N'oriiaiiileiisi/in einer ganz wunderbaren Eigenschaft der 1 Uutgefässwandung liin. Die Letztere nmss nämlich, um zu ermöglichen, dass der Blutstrahl durch die in ihm enthaltenen Kräfte die gesclülderten \'erhältnisse überall von selber gestaltet, die Eigenschaft haben, blos der kräftigen Blutspiuinung Widerstand zu I. Functionclle Anpassung. 187 lei.stoi). flasot;eu r;ill voll- kommen naehzuneben. [33' Wenn die l^lutgx'iaf^swandung ilit'se Eigen«clial'ten hat, so ergeben sicli alle angeführten und auch die der Kürze halber liier nicht erwiihnten. al)er gleichfalls in der üben genannten Schrift be- üchriebeuen (iestaltuiigen ganz \ou selber! Andererseits hat aber auch die Blutgefässwandung an den Stellen, wo es für den Organismus nötliig ist, die Fähigkeit, selbst dem stärksten Flüssigkeitsstoss zu widerstehen, womit das Wunderbare ihrer Eigen- schaften noch bedeutend vermehrt wird, l'nd doch erscheint es natur- gemässer, diese drei Eigenschaften, welche für todte Substanz sich widersprechen würden, der lebenden Wandung zuzuschreiben, als jede einzelne der Millionen \^erästelungsstelleu durch formale Kinzelgesetze entstehen zu lassen, womit auch die Ausbildung der gleichen Einrichtungen in abnormen neuen Verhältnissen, nach Unter- liindung von Arterien etc., keine Erklärung fände. Aus diesem letz- teren Verhalten folgt wieder, wie bei den vorher besprochenen Bild- migen, dass die bezüglichen Gestaltungen nicht durch Einzelvariation und Alislese entstanden und gezüchtet worden sein können; ganz abgesehen davon, dass diese Züchtung wiedei um auch gar nicht mög- lich gewesen wäre, da das zufällige Vorkonuncn einiger derartiger Variationen im Kampfe ums Dasein absolut nichts genützt haben würde, und ausserdem ein zufälliges Vorkommen solcher Formen bei der Feinheit derselben, gegen welche die Architectur der Knochen- spougiosa balkengrob ist, durchaus in das Bereich der l'nwahrschein- lichkeit gehört . denn die Charaktere am Astursprungskegel sind so feine, dass sie beim Abzeichnen durch eine .\bweichung von nur Strichbreite oft ganz verloren "eben'). |i) Diesen sichtbaren iunctionellen Stiucturen schliessen sich wohl nocli unsichtliaic. diirch den atoniistischeu. niolecuhiicn und supramolccularen Aufbau be- dingte t'iiiu'tionelle Metiistriieturen (s. Nr. 17 S. l'Ji an. Solche können wir blos aus den Leistungen erschl icssen; so z. U. beim Hiiiclcjrewcbe. Das Sehnen- Gewebe enthält über 60 "o Wasser, hat aber trotzdem die Zugfestigkeit fast des weichen Eisens und rechtwinkelig zur Faserrichtung eine sehr erliebliche Druckfestig- I keit. an welcher allerdings die Zugfestigkeit erheblich betbeiligt ist. indem der Druck I sich grossen Theils in Zug umsetzt. Trotz dieser grossen Festigkeit hat eine zehnmal so 188 Nr. 4. Dpi- zlirhtpnilp Kampf der Tlu-ilo im Organismus. So weisoii iiucli diese Gestaltungen wieder auf das Vor- iiandcnscin von gestaltenden Qualitäten im Qrganismus hin, welche auf die Einwirkung functioneller Reize das Zweckmässige in höchster denkbarer Vollkom- [34] menheit direct hervoi'zu hriiiiien. direet auszugestalten vermögen. lange als dicke Seime nicht liniiuil sei viel Strebfestigkeit, also Biegungsfestigkeit, um bei aufrechter Haltung der Sehne nur ihr eigenes tiewicht tragen zu können; diis könnte man geneigt sein, alh'in von der Zusammensetzung aus ausserordentlich feinen Fasern abzuleiten bei ungenügender Verbindung denselben gegen seitliche Ver- schiebung s. Abscheerung s. Nr. 7 S. 118), Doch sprechen andere Verhalten dafiii-, dass auch jede einzelne Primi ti vfaser noch eine besondere, i h rer F unc tion. Zugwiderstand zu leisten, angepasste Structur hat: Beim Trocknen wird nämlich eine Sehne nicht kÜHzer, sondern blos dünner, beim Quellen (in schwacher Essigsäure) wird sie nicht länger, sondern blos dicker und (durch Schlängelung ihrer Fasern) etwas kürzer. Also die Längs- diraension der Bindegewebsfaser ist unveränderlich; die specifi sehen Molekel sind also in der functioneUen Richtung so fest verknüpft, dass beim Trocknen kein Wasser heraus, beim Quollen keines hinein kann, so dass also in dieser Dimension wohl überhau])! keine Wasserniolekel als solche zwischen gelagert sind. Diese specifische, der diniensionalen Function angepasste unsichtbare Structur kann man als „dimenslonale functionelle Structur" der Bindegewebsfaser bezeichnen. Betrachtet man ferner z. B das Kniegelenk eines ge- kochten oder gebratenen Vogels, so sind die gespannten Seitenbänder destielenks noch fest, nicht in Leim verwandelt, auch wenn ringsum alles Bmdegewebe in Leim verwandelt ist; gespanntes fungirendes Bindegewebe wird also beim Kochen nicht in Leim verwandelt. Dies bekannte Verhalten hat Ror.iKTT (Wien. Sitzungsber. 1862) direct experimentell geprüft, indem er Sehnen durch einen Stahlbogen spannte und kochte. Allmählich, aber sehr langsam werden solche straffen Bänder auch in Leim verwandelt, aber unter .Ablösung vom Knochen und dadurch bedingte Entspannung; wahrscheinlich .geht hier die Verwandlung von der stets etwas gebogenen Befestigungs- stelle des Bandes am Knochen, speciell von der concaven Seite derselben aus, die v.-eniger gespannt ist, als die convexe Seite. Ferner bekommt, wie ich sah. eine in schwacher Essigsäure gequollene durchscheinende Sehne sofort wieder ihren früheren Atlasglanz, wenn mau sie etwas dehnt; ihre Molekel sind also durch die Qncllung blos etwas verschoben imd erlangen daher bei Zug sogleich ihre normale Anordnung wieder. Während so also die Bindegewebsfaser in der functioneUen Richtung (inen besonders festen M o 1 e cu la r v erb and haben muss, aus dem nach dem Tode nichts aus- und in den nichts eintreten kann, schrumpft eine lebeud entspannte Bin degew' ebsf aser und wird erheblich kürzer (ich fand z. B, die Achillessehne des Menschen an einem Bein mit Feststellung des Kniegelenkes im rechten Winkel um 6 cm kürzer als die der gesunden Seite) und bei dauernd abnorm starkem Zug wird sie länger. Auch Muskelfasern trocknen und quellen in der functioneUen Richtung weniger als rechtwinkelig dazu und sind ausserdem bei rein querer, electrischer Durchströniung nicht erregbar: .Aehnliches gilt für die Nerven: also h:iben auch diese Gebilde in der functioneUen Ifichtung besondere, dimensionale Structur. 1. Kiinctioiiulle Anpjissimg. 189 Al'iM' wdluT siml (liivif wuiiilcrliarni Ki gonsoli a l't c n '-' E. Dv ßdis-liicYMONi) liat sicli sclioii vor eiuijicn Jahren eine ähnliclie Frage gestellt, denn er sagt'): ,,.\ucli die Fähigkeit der Orgauisnien, durch Uehung sieh zu vervollkoramnen, seheint mir mit Piüeksicht auf die uatürliehe Zueiitwahl noeli nielil liinreiehend IJeachtung ge- funden zn hahen." Führt diese Fähigkeit nicht die Teleologie nnd damit ilen glücklieh durch Darwin beseitigten Dualismus wieder ein? Die Antwort auf diese Fragen werden die nächsten Kapitel zu geben versuchen. 15. Krl»liclikf>if der Wirkungen der l'iinetionollen Anpassiinj;:. 1. Thatsä chl i ehes. Die indivifluelle Wirkungsgrösse der functionellen Anpassung, die functionelle Anpassungsbreite, ist bekanntlieh eine beschränkte. Jedes Individuum kann sich durch eigenen Fleiss blos bis zu einer gewissen Stufe erheben, betreffe es nun die Erwerbung körperlicher Geschick- lichkeiten oder geistige Vervollkommnung. Diese für das Individuum sehr vortheilhaften Veränderungen würden aber für die Entwicklung vmd Vervollkommnung des ganzen Thierreiches durchaus nutzlos ge- wesen sein, wenn sie nicht vererbbar, auf die Nachkommen übertrag- bar wären und wenn sie nicht letztere damit von vornherein auf eine höhere Stufe zu stellen vermöchten, von welcher sie. wiederum weitei' schreitend, mit Hülfe der individuellen Anpassung sich zu noch höherer Vollkommenheit emporarbeiten könnten. ^'on dem Grade der Vererbung dieser erworbenen, zweckmässi- gen Eigenschaften würde die Geschwindigkeit des auf [35] diese Weise möglichen Fortschrittes abhängig sein. Wenn z. B. die erworbenen Eigen- schaften sich ganz auf die Nachkommen übertrügen, so würde der Fort- schritt ein ungemein rascher sein können. Die Erfahrung weist aber im Gegentheil durch die Langsamkeit des Fortschrittes darauf hin. dass 1) Darwin versus GiLi.vNr. 1876, S. 20. 190 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Hill- ein uoriiigor üriK-litlicil der Grösse der erworbenen Eigeu.schaften vererbt Averden kann. Ja es seheint, als wenn iiberliaupt erst Gene- rationen hindurch andauernde Wirkung . die Geruchsinstincte, so giebt es doch auch solche, die nur durch eigene Beobachtung und Erfahrung, also durch functionelle Anpassiuig, er- worben werden konnten. 80 führt D.vrwix die Erwerbung der Furcht der Tliiere vor dem Mcnsclien an. Wenn Menschen zum eisten Male auf bisher unbewohnte Inseln kommen, so haben die Tliiere oft keine Furcht vor ihnen; alier schon nach mehreren üenerationeu ist ihnen die Menschenfurcht angeborener Instinct. Fernerhin führt S. ExNER an^): „Nicht nur das Gedächtniss als die Fähigkeit, Ge- dächtnissbilder längere oder kürzere Zeit festzuhalten, ist vererblich, sondern auch der Inhalt des Gedächtnisses, die Ge- [37] dächtniss- bilder selbst. Es kommt vor, dass junge Jagdhunde, eiin Mensclien die \'ercrb- lichkeit concreteu Seeleninhaltes so gering ist, ist autfallend, inuss aber als eine im Kampfe um's Dasein besonders erworbene und gezüchtete sehr günstige I'^igenschaft betraclitet werden, da sie. wie bekannt, die Ursache unseres Hauptvorzuges vor den Thieren, unserer Universalität ist; denn wenn wir in gleicherWei.se, wie die Tliieie, <\\v Kenntnisse unserer Vorfahren ererbten, xo wünle da- durch die Freiheit der individuellen Ausbildung auch in der aleichen Weise, wie bei den Thieren, beschränkt werden. Es scheint übrigens denkbar, dass diese Eigenschaft blos von einer geringeren angeborenen Disposition zur \'ercrbnng des Seelen- idialtes ihren Ausgangspunct genommen hat und dann [38] durch den grossen Wechsel der Lebensweise der Menschen weiter ausgebildet worden ist, da zur Erwerbung von Instineten wohl viele Generationen hindurch in der gleichen Weise sich wiederholende Eindrücke, ver- bunden mit einer gewissen Einfachheit und Beschränktheit des ganzen Seeleninhaltes, nöthig sind. Ein Beispiel der Vererhniit;' von Eigenschaften, deren erworbener, nicht durch Auslese gezüchteter Charakter sich aus der Unzweck- mässigkeit desselben ergiebt, führt Overzier') an, indem er die erb- liche Uebertragung der krummen Bäckerbeine berichtet. Ich habe mich bestrebt, die Zahl dieser sicheren Beispiele zu vermelu'en, und es erhellt, dass als zweifellose \'ererbung functioneller Anpassung blos die Ausbildung derartiger Qualitäten augesehen wer- den kann, welche entweder nielit als durch zufällige embryonale [blastogene] N'ariation entstanden oiler nicht als durch Auslese ge- züchtet angenommen werden können. Nicht durch embryonale Variation kann meiner iMeinung nach tVu: angeborene Disposition zur .Muttt is))raehe entstanden sein. Es werden uns die Coordinatioueu, die Anordnungen und \'erbindungen der Ganglienzellen , welche die Sprachmuskeln inncrviren , schon so weit angeboren, dass wir unsere Muttersprache am leichteten sprechen lernen, während z. B. Europäer, auch wenn sie schon als Kind unter M Kosmos. Zeitscliv. f. monist. Weltaiisch . Bd. I. S. 184. I. Functionello Anpassung. 193 die Nanui gclirarlit werden, deren Spraclie niclit i»Kr nur mit ,^■|■li.s^^t^■^ Si-Invierigkeit «) Vdllkcinnnen erlernen, al.'^ ilicse selber. .Vueli sind die eoordinirten Angenbeweguugen , weleln- lu-idc Augen in jeiler Blickrichtung inuner so stellen, dass die Bilder jedes Gegenstaniles immer auf identische Puncte beider Netzhäute fallen und daher einfach gesehen werden, vererbt, da sie nach den Unter- suchungen von R.'VEHLMANN uud WiT- [39j KuwsKv') hl dcu ersten zchu Lebeustagen schon die vorherrschenden sind. Dies widerspricht nicht den Beobachtungen \\". Preyek's^), dass lüeselben nicht gleich ange- boren, sondern erst innerhalb dieser Zeit erworben werden; es beweist aber, dass wenig.stens ihre Disposition angeboren .sein muss. So un- entlhch complicirte \'erljindungen der Muskelbeweguugen können meiner Meinung nach nicht durch zufälhge embryonale \'ariationen entstanden sein. Wichtiger, d. h. beweisender als diese l)eiden Beispiele, erscheint mir die folgende Betrachtung. Es handelt sich, wie erwähnt, in der vorliegenden Frage immer um die Unterscheidung dessen, was durch zufällige blastogene Varia- tionen und Auslese nach I).\h\\in's Selectionsprincip entstanden ist, von dem durch functiouelle Selbstgestaltung Gebildeten und danach \'ererbten. Die Wirkungen des ersteren Princips erscheinen unbe- grenzt; wir können fast keine noch so grossen N^eräuderuugen nach- weisen, von welchen mit absoluter Sicherheit behauptet werden könnte, dass sie principiell nicht durch genügend -wiederholte embryonale |blasto- •lenej Variationen und Auslese hätten entstehen können, sofern die letztere fein genug wirkte, und die nöthige Zeit dazu gegel)en wäre, 'i'rotzdem gielit es Eine Art Vorkoraunhss in der Entwickelimg des Thierreichos, von welchem das Gegentheil annehmbar erscheint. Ks giebt nämlich eine Periode in der K n t w i e k e- luns£ÄSi"eschichte des Tliierreich es . von welelier wir mit Bestimm tiieit bell anpten ki'i niieii . d ass die \'cr vol 1 komm - M K. Hkiiin(;. Phvsiolog. Optik, in: L. Hkkmvnv. liandb. il. l'hysiolügic, Bii. 111. Abth. 1, S. 529. i) Kosmos, Bd. 111, S. 32. 13 W. K(Mix. liesnimnolro Abhandlon^en. I. 194 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tlicile im Organismus. nung zwar iiiaduell eine ,,s ucce.ssi ve"' war, al)er in fast allen Organen des Kürperseine „gleichzeitige" gewesen sein ninss'), jJtO: weil günstige Variationen blo.s einzelner T heile auf einmal das L'eberschreiten dieser Periode nicht ermög- licht hätten. Es ist eine Periode, in der mit Sicherheit die gleichzeitige Ausbildung von Tausenden, ja Millionen zweckmässigeren Einzeleigen- schaften hat stattfinden müssen. Solches kann die Auslese aus freien, nicht auf das Zweckmässige tendirenden Variationen für sich allein nicht leisten. Sie kann immer blos wenige Charaktere auf einmal züchten. Welches ist nun der Moment, von welchem wir «Uese Nothwendigkeit behaupten können? in welchem Falle kann der Uebergang kein all- mählicher, kein in den verschiedenen Organen successivcr gewesen sein? Es ist in der Periode des Ueberganges vom Wasser- zum Land- oder richtiger zum Luftleben. Wir sind gewohnt, diesen Uebergang alljährlich bei den jungen Amphibien als etwas ganz Selbstverständ- liches zu betrachten; doch hier finden die Veränderungen des Thieres in allen seinen Theilen , wie alle anderen embryonalen Umbildungen zufolge bestimmter vererbter Bildungsgesetze statt, und die Umwand- lung einer Kaulquappe in einen Frosch ist insofern nichts Besonderes. Aber wie sind diese Umbildungsgesetze erworben worden? \\'odm'ch sind diese Eigenschaften zum ersten Male entstanden, als sie, Tausende oder ^lillioneu. alle auf einmal nöthig wurden? Vielleicht sind ihrer gar nicht so viele und vielleicht ist doch eine alhnähliche Umbildung bei dieser Anpassung möglich gewesen. Gewiss! Graduell ist die Anpassung eine allmähliche gewesen. Die Thiere wei'den zuerst einen nur kurzen Aufenthalt auf dem Lande genommen haben und bald wieder in das Wasser zurückgekehrt sein. Aber was ist nöthig, wenn ein Wasserthier auch nur kurze Zeit auf dem Lande leben soll? Betrachten wir diesen Vorgang blos bei den Wirbelthieren und geben wir den Thieren schon als durch früheres Luftschnappen unter Beihülfe von Auslese erworben neben den Kiemen [41] noch eine zur Lunge umgewandelte, d. h. gefässreiche Schwimmlilase im Voraus mit f üi- seinen Versuch , auf das Land überzugehen , und sehen wir [•) Dieselbe .\bleitung findet sich schon in Nr. 8 8. 19 n. f. 1. FuiKtiunelk' Anpiissung. 195 ZU, wit.' (lifSLT \'ei'sueli auf den Küriiur \\irkc.n wird, und was zum Gelingen desselben nöthig winl. ^^obald das Thier auf das Land aus dem Wasser herauskommt, luüsste es zunächst das schrecklichste Unbehagen emptiuden , denn es werden mit einem Male sein Körper und seine Glieder vielmal schwerer, als vorher, da sie im Wasser blos so viel, oder subjectiver gesprochen, so wenig wogeia, als sie schwerer sind, als das verdrängte Wasser. Wie unangenehm ist es z. ß. uns schon, wenn wir längere Zeit im Wasser geschwommen haben und. an das Land steigend, plötzlicli unsern Körper wieder selber tragen müssen. Dieser geringe (.xrad von Unannehmlichkeit, den wir, an das Tragen unserer Glied- inassen unser Leben lang gewöhnt, bei diesem Uebergauge empfinden, ist aber gar nicht zu vergleichen mit dem Lindruck, den ein Thier haben muss, welches seine Körpcrtheile nie selber getragen hat. Ferner müssen die Thicre .sich sofort ganz anders bewegen, in anderen Coordinationen ihre Muskeln gebrauchen; sie können eine Menge Bewegungen, die sie im Wasser, der Schwere fast nicht unter- worfen, auszuführen gewohnt waren, nicht machen, sondern müssen fast alle Muskeln des Körpers ganz energisch in bestinmiter. durch die vStatik vorgeschriebener Weise gebrauchen. Ferner die Knochen, welche bisher fast blos der Muskelwirkuug Widerstand zu leisten hatten, müssen jetzt auf einmal nach rlen statischen Verhältnissen tragen, und zwar so stark, dass das Tragen des Körpers im Wasser, beim Laufen auf dem Grunde, kaum als N'orübung dazu in Betracht konunen kann. Das Gleiche gilt von den Gelenkeüirichtungeu , den Knorpeln und Bändern; sie werden alle plötzlich viel stärker |42j in Anspruch genommen, und die letzteren in neuen Hauptrichtungen. Die Blutvertheilung im Körper wird sofort eine ganz andere: Das Blut, welches bisher der Wirkung der Schwere ganz entzogen war, wird sich jetzt in die der Erde näher befindlichen Theile des Körpers senken, indem es aus Hirn und Rückenmark hermitersinkt. Es wird eine lähiuende Anämie des Centralnervensystems eintreten, oder die den ]>lutzutluss zu den verschiedenen (.)rganen regulirenden Mechanismen müssen sofort nach ganz neuen Hegeln das Blut vertheilen, wenn nicht totale Stin-ung der l'imctionin aller Organe eintreten soll. 13* 196 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Sauerstoffmangel wird eintreten; denn die Lungen sollen jetzt auf einmal den ganzen Bedarf für eine grössere Dauer allein be- schaffen. Durch das Trockenwerden der Haut, der Kiemen und der ISeiten- organe werden abnorme Sensationen entstehen. Der gewohnte, sichere Verkehr mit der Aussenwelt wird aufgehoben, denn die Siiniesoi'gaue treten für das Thicr aus.ser Function, da sie alle ganz neue, nicht durch Erfahrung verständlich gewordene Eindrücke empfangen. Das Gehöi'orgau wird, an die stärkere Leitung durch das Wasser mit Uebertragung der Eindrücke durch den ganzen Schädel gewöhnt, fast gar nicht angesprochen werden. Das Auge ward seine Function als Bild bildender Apparat verloren haben. Ob bei diesen kaltblütigen 'J'hiereu der Wärmeverlust durch Wasserverdunstung einen Xachtlieil htdicii wird, muss dahingestellt bleiben. Diese l'ebelstände werden zum Theil mit der Dauer des Auf- enthaltes auf dem Lande wachsen, und der Aufenthalt daher zunächst nur ein sehr kurzer sein und sie werden auch bei blos partiellem aus dem Wasser Konmien sich an den [43] herausragenden Theilen einstellen. Was aber das Wichtigste ist, sie werden immer alle zu- gleich eintreten, und wenn das Tliier trotzdem auf das Land gehen kann, so muss auch die Correction in den meisten zugleich eintreten können '). Was bedeutet aber eine derartige Correction in allen Organen des Körpers mit Ausnahme derer der Ernährung uud Fortpflanzung? Sie bedeutet das "\'orhandensein höchst vollkommener functioneller Anpassungsmechauismen in fast allen Theilen des Körpers, welche im Stande sind, beim Uebergange des Organismus in neue N'erhält- nisse direct die nöthigen zweckmässigen Aenderungen hervorzubringen. Sie sind ein nüthiges Erforderniss , eine mierlässliche Vorbedingung der auch nur zeitweiligen Vertauschung des Wasserlebens mit dem Luftleben, und sie werden sich um so gebieterischer nöthig machen, je länger der Landaufenthalt dauert. fl) Ueber den veimittelnden Uehergani; iluicli iliis Leben im Sclibnnme sielie S. 121J. I. Functioiiolle Anpassung. 197 \\"\v kriiucn solclic Selbstrcgulationsinechanismen von den liolu-ron Tliieren und scliliessen daraus zurück, dass vielleicht aucii die niederen liier in Betracht kommenden Thiere sie besitzen. Wir kennen unsere l'';Uii_irkeit. ^an/, Iremde Bewegungsweisen uns anzueignen vmd durch l\'bung zu Kichl ausführbaren, gewohnten zu machen, alle die nidtorisclu'n ( 'entralorgane in (iehirn und Uückiinnark entsprechend luiizuhildcn. Wir wissen, dass die Knochen und Räuder mit der stärkeren Inanspruchnahme ihri'i- l'imction an den betreffenden Stellen stärker werden. \'ou der möglichen Exactheit der Regulation dn- niutvertheilung überzeugen wir uns täglich, wenn wir uns am .Morgen vom Lager aul'ricliten. ohne, liei normalem Zustand des Körpers, auch mn- einen Moment Blutarmuth des Gehirnes zu be- merken. Die .Vthmung regulirt sich bei pathologischen Störungen gleichfalls sehr erheblieh von selber. unetrachten diejenigen und zwar nur diejenigen Bildungen als ererbte, welche regelmässig angeboren werden. Diese Auffassung muss aber nach beiden Richtungen hin als unrichtig bezeichnet werden. WediT sind alle regelmässig angeborenen Bildungen als direct vcrcrlil anzusehen, noch dürfen alle Bildungen, welche nach der Geburt aiil- ireten. als nicht vererbte, sondern erworbene gedeutet werden. Wenn Ersteres richtig wäre, wenn alle angeborenen Bildungen vererbt wären, so würden wir in dem obigen angeführten Beispiele der angeborenen functionelleii Structur der Bindegewebshäutc und der Arterien einen dei' besten Beweise für die ErbHchkeit der durch lunctionelle Anpassung hervorgebracliten Bildungen haben; und mau würde wolil auf die erste Ueberlcgung hin geneigt sein, sie so /.u verwenden. Doch wäre dies incorrcct; denn dieser Schluss luTuhte alsdann .-uü einei' nicht i-ichtigen. oi)erHächliehrn .\nlTassung iles \'er- erbtcn. Der .Moment der (iehurt kann durciiaus nielit als eine (Trenzscheide \on ]'"i-erbtem und l'>rworbenem betrachtet werden. Demi einmal tritt in Wahrheit ein principiell neuer Zustand durch die (ielnnl blos für die .\tlnnungs- und \'erdauungsorgane ein; alle anderen Organe wurden sciion in der ( Sebärinutter von [48] func- tionellen Beizen getroffen nml fungirtin somit mehr oder weniger. I. Kimctionollc Anpassung, 201 |)ic l'icwcniiuii'cn des I'',nilirvrünglich durch embryo- nale A'ariation entstanden waren und dann mit Hilfe der da- durch liestimmten Richtung der functionellen Anpassung die specifischen Eiuzelformen hervorgebracht haben. Noch weniger als für die Muskeln , Scelettheile . Bänder und Fascien kann die innere Structur und die äussere Form der ange- borenen Blutgefässe als vererbt aufgefasst werden : denn die Blutgefässe fungiren fortwährend im Embryo von ihrer ersten (49] Anlage an; und die erwähnte Structur ihrer Wandungen und die Gestalt ihrer Lichtung wird also in der gleichen Weise durch functionelle Anpas- -^ung entstehen können, wie im Erwachsenen die berufsmässige un- gleiche Ausbildung dieser Organe. ') Prkyer, .Jenaer med. natuiw. Zeitsclir. 1880. '-^ Die , direct vererbten" Bildungen stellen den .\ntheil der Evolution, die secundären Bildungen den Antheil der Epigenesis an der individuellen Ent- wickelung dar. Siehe II. S. ") und 20] 202 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Die Sinnesorgane werden ! wird Xicniaiid erwarten, die Sehnen. Faseien, Knochen etc. in normaler Weise entwickelt vorzulinden. was denn nach Ai.Kss.wDuixi und E. H. Wehku auch ilem thatsächlichen V'erhalten entspricht. Diese Autoren ') fanden an Missbildungen, dass beim Fehlen der Anlage des Iiückenmarks im entsprechenden Nerveubezirk mit ilen Nerven auch die Muskeln fehlten, und dass die zugehörigen Knochen und Gelenke abnorm gebildet, letztere zum Theil steif waren. Sehnen und Sehnen- häute fand Weber zwar vorhanden . aber ob sie vollständig normal waren, berichtet er nicht, und es erscheint [52] sehr unwahrschein- lich. War dagegen das Rückenmark ursprünglich angelegt, aber im späteren Embryonalleben durch Krankheit zerstört (Spina bifida), so fanden sich die Theile des Bewegungsapparates anscheinend voll- kommen normal, und es muss danach weiteren Untersuchungen vor- behalten bleiben, zu entscheiden, wie weit active embryonale Function der Muskeln oder hl oss er Tonus derselben zur normalen Ausbildung ihres Stützapparates nuthig ist. Ebenso fand G. .Ioessel^) beim Fehleu der Sehne des langen Kopfes des Biceps auch den Sulcus intertubercularis, in welchem sie verläuft, nur schwach ausgebildet, und die Synuvialkapsel war nicht in diesen Sulcus ausgestülpt; eine Angabe, welche ich aus eigener mehrfacher Beobachtung bestätigen kann Mit der so bekundeten Abhängigkeit der Ausbildung der „passiv" fungircndcn Theile von embryonaler Functionirung der „activen" stim- men ferner überein die Resultate der Untersuchungen von Heiberi;'), welcher fand, dass die Gelenkkapseln des Neugeborenen noch stärker 1) S. Archiv für Anatomie u. Physiologie. 1851. S 547 ff. -') Zeitschr. f. Anatomie von His u. Bb.mne. 1877. Bd. II. S. 143. 3) ScHMinT's .lahrbücher 1879. Bd. 182. Nr. 2. I. Kiinctioiielle Aupassuug. 205 iiiiil stiatt'ci' !in den Bougr- und Streekseiten sind, als beim Erwach- senen, dass die accessorischen Biinder sehwäclier sintI otler uoeli <>an/, fehlen, und andere hier uieht weiter aufzuzählende Merkmale. Aug. För-ster ') besclu-eibt eine Orbita (Auo;enhöhle), in welcher kein .\uge war; aber sie war aueli iiielit miinial. sondern enger, als die Orbita im Auge. Aus diesen Beispielen seheint hervorzugehen, dass die Gebilde der Stützsubstanzen zwar ., selbständig angelegt", aber n u r u n t e r M i t w i r k ii n g der von ihnen gestützten T h e i 1 e , also unter dem Einflüsse der Fnnetion ihre normale .Vushildnng erlangen (s. Nr. 4. S. ISO. 201). Beispiele anderer, vielleicht aber auch f unctioneller. Ab- [53] hängig- keit sind folgende: Wenn von einem Muskel im Embryo ein Theil der Fasern aberrirt, so variiren in der entsprechenden Weise zugleich auch die zugehörigen Nerven, Blutgefässe und Sehnenfasern (s. II S. 67). Wenn man nach J. C.arriere^) einer Schnecke das Fühlerganglion zugleich mit dem Fühler und dem Auge wegschneidet, so wächst kein neues Auge wieder, während es ausserdem in der vollkommensten Weise geschieht. Aus dem Vorstehenden folgt also nicht , dass die passiv fungi- renden Theile, die Stützsubstanzen, in absoluter Abhängigkeit von den activen Theilen entstünden. Es scheint mir vielmehr nicht nn- möghch, dass auch gelegentlich das ^'erhältniss sich um- kehren kann, dass z. B. eine ursprünglich durch em- bryonale [blastogene] \'^ a r i a t i o n e n t s t a n d e n e und von der Aus- lese gezüchtete A'eränderung der Knoclien. welche zu einei- Aenderung des Gebrauches der Extremität und somit zu entsprechender Umgestaltung der Muskeln durch functionelle Anpassung Veranlassung- gegeben hat, auch im Embrj'O wiederum primär entstehen und erst secundär zur Ausbildung der nöthigen Muskelformen führen werde. Das Gleiche gilt von den Blutgefässen. Auch sie müssen nach der selbständigen ersten Anlage (siehe S. 83) behufs weiterer 1) Die Missbildungen des Mensclieu. II. Aufl. Tat. VIII, Fig. 9. ■-') .1. Cärrikrk. üober die Resseneratioii bei den Laiidpulijioiiaten. 18.SU. 206 Nr. 4. bei' zUchteudu Kainpl der Tlieile im ürganismu». Ausbildung, wit- tTwähut, imiiKT schon luugiren, und wenn das Or- gan, zu welchem sie gehören, l. B. eine Niere, in Weglall kommt, so bilden sich die Blutgefässe nicht etwa normal weiter aus. in der gleichen Weise, als wenn die Xiere vorhanden wäre. Sic sind ab- hängige Bildungen, welclic durcli l'unctionellc Anpassung im Eniliryo ilirc normale (Irössc und (iestalt erhalten, nicht aber zufolge fester X'ererbuugen selbständig sich entwickeln und ausbilden. Es kami lüclit als dagegen sprecheufl angesehen werden, dass gelegentlich aucli die Blutgefässe selbständig wachsen und Geschwülste bilden wie die Teieangiome (rothe [54] Muttermäler) und cavernüsen .Vngiome (venöse Blutgefässgeschwülste). Denn wir kennen für 1111(1 ilaiin das Wesen der \' ererluiiij^ selber etwas diseuliieu, su viel oder richtiger so wenig es uns mit den Kenntnissen unserer Zeil förderlieh erscheint. i)ie \'orb edi ng ungen ) Die liier gemachte Aufstellung eines (iriind- Principe» der organischen Gestaltung „direcf aus „chemischen- Processen i.st unhaltbar und wurde balil von mir verlassen (siehe Nr. 6, 8. fi08j ; von ihr wird übrigens auch schon auf den folgenden Seiten z. B. 208 und 211 wiederholt abgewichen. Sie beruhte auf Haeckel's Lehre, dass das Proto])lasma eine homogene structurlose Substanz Sei und dass die individuelle Entwiekelung mit einem Monerenstadium beginne. Bald erkannte ich. dass die Vererbungssubstanz eine specifiscbe Structur haben iiiUsse. welche eine Continuität der organischen Gestaltungen zwischen Aseendem«n und Descendenten herstelle, indem diese Substanz ununterbrochen von Individuum zu Individuum übertragen werde. Diese Ideen hatte ich bereits selbststandig ent- wickelt, als ich auf der Naturforscherversammlung zu .Strassburg im .lahre 1885 die Idee der Continuität des Keimplasma von Wkis.m,\n.\ bereits sorgfältig begründet vortragen hörte; auch war dieselbe bereits kurz im Jahre 1S80 von Ni.sshai.m und sogar schon 1876 von BLT.srHi,i (s. IIS. 61) an weniger bekannter Stelle ausgesprochen worden. {(Tleichwohl hat jüngst ein neuerer Autor, H. Dhiesch in einer Schrift , ana- lytische Theorie der Entwiekelung' die Auffassung der Gestaltung ans ehemischeu Processen wieder ausgedehnt angewendet (siehe 11. Nr. 33 Ij. I. Ftinctionelle Anpassung. 209 weniger vcrstämllicli. Sie ist zu vei'gleiclien ilei' Aushilduiig der i;( - eniteu bei einem Regimente; immer werden neue Mannschaften dincl] lue rnterofliciere eingesc-hult, „assimilirt" ; und dies geschieht in den Regimentern jeder Waffengattung in anderer Weise. Und iunner scheiden wieder alte oder getödtete aus dem Verbände aus. Als (lanzes betraclitet, wechselt fortwährend das Material, die Insubstantii- ning und das Bleibende ist blos das Regiment als Ab- stractuni. virtreten durch seine Statuten. i'^bi-nso wie in einer Sehule dem Regulativ gemäss im Laufe der Zeit durch ganz verschiedene Directoren und Lehrer den Schülern das (ileiche gelehrt wird: und immer ist dabei die Zahl der Lehrer, der Assimila- toren, eine relativ geringe gegen die Zahl der Schüler, der Assimilandeii [s. n S. 7i)j. Bei der Entwiekelung des Embryo ist es aber doch anders. Hier konmit zur Assimilation ein neuer Factor hinzu. Sehr wenige Lehrer, die Bestandtheile des befruchteten Eies, nt'hmeii viele neue Hestandtheile von aussen auf und assimiliren .sie. Aber das Neue, das Wunderbare ist nun, dass die Lehrer sich dabei weiter verändern und die Schüler ebenfalls. Die Statuten sind also keine festen, son- ilern für jede folgende Zeit andere, für Lehrer und Schüler. Ob nun den Statuten zuerst die Lehrer folgen und diese blos immer die Schüler assimiliren oder ob die Statuten auf Lehrer und Schüler zugleich fort- bildend wirken, wissen wir nicht. Es ist eine Wanderung wie durch Elementarschule, Volksschule, Gymnasium, Universität nach einander, aber 571 mit der Besonderheit, dass die Schüler immer gleich zu Lehrern werden, dann in der nächst höheren Schule als Schüler ein- treten, daselbst assimilirt, lelu-en und zur nächst höheren Schule als Schüler übergehen. Der Lehrer ist hier dem Schüler wohl immer nur um ein weniges voraus. Im Ganzen dasselbe findet l)ei unseren Schulen auch statt; aber das Räthsel in der Entwiekelung des Eies ist, wodurch und wie sich aus den ursprünglichen Statuten der Ele- mentarschule von selber nach einander die der Volksschule, des Gym- nasiums und der Universität entwickeln. Ganz abgesehen von der Frage, wie die Einwirkung der Statuten auf die Lehrer stattfindet, indem wir annehmen, dass die Materie des Eies in ihrer specifischen W. Roax, ncsaniDiello Abhandlungen. I. 14 210 Ni'- -i- T>iT ziichtpncle Kampf dir Tlieile im Organismus. ( Vinstitutidii lu'ri'its die cosclinlten [.clircr licr Eleiiientarschiile darstellt (s. Nr. 27, ö. 307 u. f.). Es ist aber klar und selbstverständlich, dass es keine einfachen Elementarlehrer sein können, wenn sie die Fähigkeit haben, sich von selber zu (lymnasiallehrern weiter zu entwickeln und ihre Schüler bereits in clcr uacjisten Zeit elicnl'alls zu Gymnasiallehrern vorzAi- bereiten und diese letzteren nun sich sell>er zu Universitätslehrern ausbilden. Es wird von Anfang au wohl der Elementarunterricht anders gelehrt werden; er wird schon etwas von dem geläuterten (ieiste des Gj-muasiums an sich tragen, etwa als wenn ein Gynuiasial- lehrer den Elementarunterricht git'bt; und die Fähigkeit inzell)ildungen umzusetzen. Trotzdem aber bleibt dieses früh von dem N'ater. respective von der Mutter gesonderte Wesen doch in Abhängigkeit und iu \'erkehr mit ihnen, denn es muss sich nähren, vergrössern, vermehren; und dazu erhält es die Nahrung vom \'ater durch chemischen Stoffverkehr, und durch diesen kann es mm aucli in seiner Natur beeintiusst werden. Demnach muss es am wahrscheinlichsten sein, dass die chemischen Differenzirungen, die chemischen .\lterationen der Eltern sich am leichtesten auf die Nachkommen übertragen, leichter voraus- sichtlich, als rein formale Veränderungen, wie etwa stärkere Aus- bildung dieser oder jener Muskelgruppe. Weil wir die geistigen Eigen- schaften, die Temperamente, chemischen Eigenthümlichkeiten , nicht morphologischen zuschreiben müssen [?j, so ist die hochgradige Erblich- keit derselben verständlich und in gleicher Weise die hochgradige \'er- erbliehkeit der Instincte und der Geisteskrankheiten. So ist es auch denkbar, dass chemische Alterationen der anderen Theile, etwa that- kräftigere chemische Constitutionen der Muskeln oder der Drüsen, welche dm'ch geeignete Nahrung erworben worden sind, sieh leichter auf das Kind übertragen. Ob aber etwa Theile mit stärkerem Stoffwechsel, wie die Muskeln. Ganglienzellen, Drüsen, deren Nahrungsbestandtheile also vielleicht auch in grösserer Menge im Blute befindlich sind oder leichter diffun- I) Arbeiten aus dem zooloi;. Institut in Wiun. IUI. ■-) Archiv liir inikiosk .Vnatoiiiie. 13d. 1{<. I. Functionolle Anpa'isunc. 213 iliivii. clieniisclic Alterationen leichter übertragen, al.-^ die Tlieilc mit geringerem Stort'weclisel , wie die Stützsuhstanzen, i.sl iiidit liekannt. Eine analytiseiie rntersueliung hätte jedenfalls aller darauf zu aehten, neben der hau])tsächliehen Beobaebtung des rntcrsebiedes der Ver- crblit-iikeit erworbener formaler und erworbener qualitativer Charaktere. [61] Die geringere \^ererbbarkeit später im Leben erworbener Eigenschaften als frülu'rer. schon im Embryonalleben erw'orbener, angeborener konnte danach beruiien theils auf einer immer mehr zunehmenden Selbstständigkeit des Lebens der (ieseblecbtszellen. welche sieh tri)tz der nötihgen grossen Nahrungszufulir in eleetiven Eigen- schaften bewähren kann; anderei'seits aber darauf, dass im l'hnbryo oder im jugendlichen Kör[)er ändernde Einflüsse leichter nicht blos local-formal bleiben, sondern man möchte sagen, leichter chi'misch werden. Alle Gestaltung ist doch durch chemische N'erhältnisse l)e- dingt [?], so z. B. die Gestaltung des Oberarmes und seiner IMuskehi, ob- gleich sie jedenfalls nicht anders zusammengesetzt sind, als die des Ober- schenkels (s. Nr. 28, S. 66'6). So könnte vielleicht auch eine formak' \'er- ändernng. durch äussere Einwirkung auf den Embryo oder auf das ge- borene Individuum hervorgebracht, leichter eine chemische Veränderung bedingen [?] und als solche sich leichter auf den Samen übertragen. Die Leichtigkeit der l'ebertragung chemischer Aendei-ungen auf die Ge- schlecbtsproduete ist am bekanntesten durch die Uebertragbarkeit der Infectionskrankheitcn , z. B. Blattern , Syphilis auf den P^oetus oder auf n Samen und auf das Ei in dem chemischen StolfVechsel. welcher zwischen ihnen und dem Vater resp. der Mutter statt- findet, wird das Problem der Vererbung als solches aufgehoben imd die Erscheinung auf ein allgemeineres Problem, das der Ge- staltung aus chemischen Processen, welches die Grundlage der ganzen Biologie ist, zurückgeführt. Neben diesem Probleme bleibt dann noch das j62j speciellere Problem der .successiven chemischen 214 Nr. 4. Der züchtrndf Kampf iler Tlicilo im Organismus. Aenderung im Ei. der chemischen Entwickelung des Eies, aus welchem sich dann die successive formale Entwickelung nach dem ersten Principe von seiher ableitet'). Das Zeitliche der \' ererbung ist noch mit einem Bücke 7Ai berücksichtigen; zwiir niclit in der lloifnung, dass vielleicht die primären, direct vererbb;iren Churaktere erkennbar hülier auf- treten sollten, als die von ihnen erst in Al)häng)gkeit entstehenden secun- dären. Denn die Fühlung in allem Organischen ist eine sehr feine; und das Primäre ist dem Seeundären meist nur um ein Zeit- und Raumdifferential voraus, so dass sie für unsere Beob'achtung leider fast immer als gleichzeitig erscheinen, und die sichere Feststcdlung eines eausalen Zusainnien- hanges blos experimentell, durch Aenderuugen einer Com- ponente geschehen kann. Nicht also in solcher Hoffnung gedenken wir am Scldusse dieses, für seineu notliwendig dürftigen Inhalt viel zu langen Capitels der zeitlichen Verhältnisse der Vererbung, sondern um für die ^^ererbl.mg erworbener Eigenschaften eine gerechtere Be- urtheilung zu erwirken. Wer als vererbte eigentlicli lilos die angeborenen Charaktere betrachtete, konnte natürlich tuuetiunell erworbene Anpassungen der Eltern nicht als vererbbar constatiren; denn es trat allerdings nicht ein. dass die im zwanzigsten Lebensjahre des Vaters erworbenen Eigenschaften sogleich bis in die enibrvcjiiale Zeit zurüekrückten. f'J Siehe dagegen S. 208 Anm. Mit der da.selbst ausgesprochenen Verwerfung des Principcs der directen Gestallung aus chemischen Processen ist natürlich auch die hier gezogene Folgerung aus demselben in Bezug auf das Problem derVererbung erworbener Eigenschaften hinfällig: und das Priucip einer ehemi- sclien Entwickelung ist statt als die Ursache nur als die Folge der form alen, structurel len Entwickelung aufzufassen. Bertits im Jahre 1)>81 habe ich mich in folgendem Sinne geäussert: Da die Geschlechtszellen viel einfacher, jedenfalls aber anders gebaut sind als die aus ihnen hcrvoi gegangenen Individuen, so niiisste im Falle der Vererbung vom Individuum erworbener Eigenschaften auf die Naclikommen jede nach der ersten Theilung des be f ru c h t e te n Eies erworbene Eigenschaft bei der späteren Uebertragung auf das descendente Ei resp. auf den Samenkörper in eine weniger dift'erenzirte (oder wenigstens anders beschatl'enej Qualität verwandelt werden. Es müsstc also eine Zu rii ck Verwandlung. Implication des Mannigfachen, Ent- wickelten, d es E.xpl i e i tu m in ein Einfacheres, Unentwickeltes Im pl icitum statt- finden iS. Jahresber. d. Anat. u. Physiol. anat. Abb. 1881. S. 396.] I. Functionollo Anpassung. 215 Dieses Zurüikrückeii crwurhener Eigenschat'leii ins i'>iiil)i'von;illclirii tiiulet wtilil nur sein' langsam statt; und es ist daher selbstver- ständlich, dass lUi' erst in höhcrem Alter erworbenen Eigenschaften auch nur wenig t'rülier durch Vererbung bei den Nachkommen auf- treten werden; wie es selbstverständlich ist, dass die embryonal cr- worliencu \'ai'iationen auch gleich wieder im Eml)ryonalleben der Xachkomuien zum N'orschein kommen. In Folge dieses langsamen i63] Zurückrückens müssen viele Generationen vergehen, ehe eine im Mannesalter erworbene Eigenschaft schon in früheren Jugendstadien auftritt. Daher kann bei der wet-hselnden Beschäftigung der Menschen sehr leicht eine vererbte Eigenschaft, ehe sie noch offenbar geworden ist, durch andei'e Lebensweise des Nachkommen wieder aufgehoben werden, so dass ihre Vererbung gar nicht erkennbar zu Tage tritt. Das sind wohl die Gründe, dass zur erkennbaren Vererbung sogenannter erworliener Veränderungen viele Generationen hindurch dauernde Einwirkung der umgestaltenden Ursache erforderlich ist, einmal, um die Eigenschaft mehr zu befestigen, andererseits, um sie in früheren Stadien des Lebens auftreten zu lassen. (?] Es scheint mir ferner eine berechtigte Auffassung zu sein, welche Daiswix in einem trefflichen Beispiele ausspriclit, (ohne indessen das Princii) zu entwickeln), indem er erwähnt, dass mit dem zunehmenden Alter die Handschrift des Menschen manchmal mehi' Aehnlichkeit mit der des Vaters erlange. Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass vererbte erworbene Eigenthümlichkeiten der Vorfahren, statt nach der Jugend zurückzurücken, durch die ändernden Einflüsse der Aussenwelt auf die bildsame, anpassungsfähige Jugend unterdrückt werden können und erst im reiferen Alter'), wenn einmal diese Wechsel- l'l Später habe ich an mir eine Wahrnehmung gemacht, welche dieser Thatsache eine andere Bedeutung zu verleihen geeignet ist. Wenn ich einen Brief beantworte, so nimmt meine Schrift in Grösse, Steilheit und Deutlichkeit der Buchstaben und in manchen sonstigen Merkmalen, ohne besondere Beal)sicbtigung meinerseits, einige Aehnlichkeit mit der Schrift des vor mir liegenden Briefes an; und beim Schreiben an Personen, deren Schrift mir gut bekannt ist, geschieht das- selbe in noch höherem (xrade auch schon dadurch, dass mir unwillkürlich ihre Schrift vorschwebt. Ich muss manchmal besondere Obacht aufwenden, um diese unbeah sichtigte Nachahmung zu unterlassen.] 2IG Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tbeile im Organismus. Wirkung mit der Aussenwelt eine geringere geworden ist, niolir und mehr hervortreten. Ich glaube dem entsprechend beobaehet zu haben, (lass beim Manne die FamiUencharaktere. besonders die geistigen, manehmal erst im späteren Alter mehr und mehr sich ausbilden und zum Vorschein kommen, nachdem sie in der Jugend durch Erziehung ausserhalb der Familie unterdrückt worden waren. IL Der Kampf der Theile im Organismus als züchtendes Princip. nölefiog TTaTi^Q Ttä%tv)v. Heraklit. A. HegriiiKluii^. Wohl Manchem mag die Aufsehrii't dieses C'apitels und des Buches befremdlich erscheinen, da sie andeutet, dass in dem thieri- schen Organismus, in welchem alles so vorzüglich geordnet ist. in dem die verschiedensten Theile so trelflich ineinander greifen und zu einem hochvollendcten Ganzen zusammenwirken, dass darinnen i'in Kampf unter den Theilen stattfinde, also an einem Orte, wo alles nach festen Gesetzen sich vollzieht, ein Widerstreit des Einzelnen exifstire. Und wie könnte ein Ganzes bestehen, dessen 'J'lieile unter einander uneius sind? Und doch ist es so. Es geht im (Jrganismus, wie sieh zeigen wird, nicht alles friedlieh neben einander und mit einander hin, weder im Stadium der Gesundheit uml noch weniger in dem der Krankheit. I'^ür letzteren I*'all ist zwar die N'orstellung einer inneren L'neinigkeit der Theile geläutig, aber die zerstöretiden \\'irkuugen derselben liaben wir auch täglich vor Augen. Wie aber soll das (inte, das Dauerntie aus dem Streite, ans dem Kampfe hervorgehen ? So fragt vielleicht noch einmal ein durch die Arbeit der letzten Deeennit'ii nieJit von de)' allgemeinen \\'ahrlieit Ueberzeugter, dass alles Gute luu- aus dem Kam])l'e entspringt'). f) Die Einwendungen, welche Monn/ Waonfp gegen diese Bedeutung des Kamnfos für die Knlstohun;; des Daiierfiihigen semacht hat. sind von mir widerlegt n. A. Allgemeine Begründung desselben. 217 65] „Der Streit ist der Vater der Dinge", sagt Hkhakui , und die Folgerungen, welche E.mi'Kuocles, Darwin und Wallac:k aus diesem Principe abgeleitet haben , sind bekannt und im vorigen Capitel be- sprochen. Wiv dort der Kampf der ganzen Individuen zum Uebrig- bleiben der Besten rührte, so k;uni er es wohl auch untt'r den Theilen zur Folge gehabt haben und noch li;d)i'ii. wenn Gelegenheit zu einer der- artigen Wechselwirkung der Theile im Innern gegeben ist. Kann der Staat nicht liestehen, wenn die Staatsbürger allenthalben unter einander wetteifern und blos die Tüchtigsten zu allgemeinerem Einfiuss auf das Geschehen gelangen? [Das Wort ,,Kam]>f" wird im Folgenden, wie in ilcu Darwinisti- schen Schriften oft, ja zumeist in e i n e m ü b e r t r a g e n e n S i n ne g e- braucht, in dem Sinne, dass das Eine durch die Existenz des anderen benaclitheiligt wird, selbst wenn beide nicht mit einander in directe Wechselwirkung treten, wie es z. B. bei der C'oncurrenz. bei dem Wettbewerb geschieht. Daher habe ich statt des Wortes Kampf der Theile später auch die das Ergebniss desselben bezeichnenden Ausdrücke ,,Theilauslese" s. ,.Partia!ausl ose" dafür eingeführt (s. Nr. 7 S, 137). Die Concurreuten brauchen von einander gar nichts zu wissen, die Benachtheiliguug des einen durch den andei-n findet docli statt; denn wenn der bessere Concurreut um eine gut nährende Stelle nicht vorlianden gewesen wäre, so würde der minder gute die Stelle erhalten haben, und er und seine Nachkommen brauchten nicht zu darben. }k'i der Concurrenz um den IJaum wird die Wechselwirkung directer. Zwar kann auch der Eine dem Andern den Raum einfach vorwegnehmen: will aber der Andere in densellx-n umgrenzten Raum hinein, so rauss es zu directer Druckwirkung beider auf einander kommen. Sind zwei wachsende, sich ausdehnende Wesen in demselben durch feste Widerstände umgrenzten und von ihnen bereits erfüllten Raum, so kann die Ausilchiiuug des P^inen nur unter directer activer Schädigung auf Ivosten des Andern in Hofmann-Schwalbk's Jahn'sbericlit (kr Auatoniie und I'liy.siologio. Abtlilg. f. Auat. 1880. S. 892 u. t. Daselbst finden sieb aucii die Ursacben der Variationen der Organismen zusammengestellt. | 218 Nr. 4. Der züchfendp Kampf der Theilc im Organismus. geschehen; und der stärker Drückende wird mehr ßaum gewinnen als der Schwächere. Ein ^^olclier directer Kampf ist nicht hlos an das \^orhaudensein von Bowusstsoin , an die Ahsiclit, den Anderen /-u schädigen, gebunden, sondern im Wesen das Gleiche geschieht, wenn zwei unbcwu.sst sich ausdehnemlc (iehildc iin beengten Räume sich finden (s. Nr. is, S. A'.*2 u. f.). Es ist daher nicht einzusehen, wie Wlxdt in solcher Anwendung des Wortes ,,Kami)f" eine „teleologische Umdeulung" bisher angeblich in ihren „ursächlichen" Beziehungen erfasstcr Verhältnisse erblicken kann (s. S. 145). Diese Arten von Kampl führten zu einer ,, Auslese"' des Stär- ker eu, Dan er fähigeren oder wie man sagt zum üeberleben, zum üebrigbleiben des Passenderen. Dasselbe Resultat ergiebt sich aber in manchen Verhält- nissen auch ohne jede solche ihrecte oder indirecte Wirkung von Gebilden auf einander, einfach durch Selbstausmerzun g oder Öelbsteliraination, indem Gebilde oder Vorgänge , die unter den gegebenen Verhältnissen nicht dauerfähig sind, von selber auf- hören, während andere, die dauerfähig sind, andauern; letztere Gebilde müssen sich dann allmählich in der Welt aufspeichern, da .sie er- halten bleiben. Beide Arten dieser die dauerfähigen Qualitäten „züchten- den Auslese" kommen innerhalb des Organismus vor und bilden den Gegenstand des nachstehenden Capitels; und in den späteren Abscluiitten werden die gestaltenden \\'irkun>ien der so u:ezüchteten Qualitäten dargelegt. Nach dem Principe: a potiori fit denominatio ist diesem ( Japitel und dem ganzen Buche der Titel „der Kampf der Theile im Organismus" gegeben worden. Doch hätte statt dessen nach dem gemeinsamen Resultat dieser verschiedenen Vorgänge auch der Titel: ..Die züchteiidc Tlieilauslcse im Organismus" ge- wählt werden können, was vielleicht in Rücksicht auf die stets überwiegende Zahl der lun- ilüchtig Lesenden besser gewesen wäre.] Ist nun aber im Organismus Gelegenheit zu einer derartigen, /.ur Auslese, zur Zucht una, des Besten führen- n. A. Allgemeine Begründung desselben. 219 dcMi A\'echsel \vi rk u iiii' derTlioilc gcjicbcn? Das ist die Frage, von welcher in erster Instanz alles abhängen iniiss. Zunächst ist zur Beantwortung derselben zu erwähnen , dass selbst in den hüciisten Organisnuii die Ceutralisation zum Ganzen gar nicht eine so Vdl I koin nn'uo, wie niiui sie sich nocli oft vorstellt, niciit eine derartige ist, dass alle Tiieile nur in dem Organismus, welchem sie augehören, und niu' an der Stelle ihres normalen Sitzes bestehen könnten und somit , vollkommen in Ab- ii;ingigkeil, nur als bestimmte Theile eines (Janzen in fest nor- mirter Weise zu leben vermöchten. \'iHcHo\v iiat sclion vor fast dreissig .Jahren') auf die Selbst- ständigkeit der Zellen hingewiesen, und die Transplantationsfähigkeit von Zellen des einen Organismus auf den anderen und von einer Stelle desselben Organismus auf eine andere dafür angeführt. Gegen- wärtig sind wir im Stande, Theile der Oberhaut (Epidermis), ganze Stücke der vollständigen Haut mit Drüsen und Haaren , ferner der Knochenhaut , der Hornhaut des Auges und einzelner Haare von einem Individiunn vollkommen losgelöst auf das andere zu übertragen, mit dem Erfolg, dass sie eine Zeit (66! laug oder dauernd leben bleiben und eventuell weiter wachsen. Aber viel grösser ist l)ekanntlicli diese Fähigkeit bei denjenigen Organismen, welche dem \'orgauge den Namen gegeben haben, bei den Pflanzen, wo ganze Organcomplexe, Knospen, übertragbar sind und ein abgeschnittenei- Zweig sicli zu einem selbstständigen Stock entwdckelt. VmcHow^) spricht danach folgendes Frtlieil aus: „Wenn es möglich ist, aus dem \'erbande des menschlichen Körpers gewisse Elemente oder Gruppen von Elementen zu trennen, ohne dass sie aufhören, Lebenseigenschaften zu äussern und sich zu erhalten , so folgt daraus , dass jener \'erliand nicht in dem herge- bracliten Sinne ein einheitlicher, sondern vielmehr ein gesellschaft- licher oder genauer ein genossenschaftlicher (socialeii ist. Aus dem- sellx'u können Elemente oder Elementargruppen ausscheiden, ohne dass der Bestand der Genossenschaft vernichtet wii-d; ja der Eintritt I) VmcHuws Archiv f. patholog. Anat. u. Physiol. lid. 4, 1»52. S. 378. -■) 1. c. Bd. 79. S. 186. . 220 Xr. 4 Per 7.üchtendo Kiimpf diM- THpüc im Organismus. kaun sogar die \\'irkuiig lial)pii, die Geuossenschaft aufzubessern und /AI stärken." Ausser diesem Beweise, dass viele Tlieile nielit in absoluter Abhängigkeit von dem Ganzen stehen, spricht sich eine gewisse individuolle Kreilieit derselben schon in der embryonalen ICn twiekel u ng dachircl] aus, das> die vererbten Kurmenbil- düngen niclit durch eine vei'erbte Nurrni ruug der Leistungen jeder einzelnen Zelle, sondern blos nach allgemeinen Nor- men für die Grösse, Gestalt. Structur und Leistung jedes Grganes hergestellt werden, so dass für die Linzelausführung, für den Aufbau aus dvu einzelnen Zellen ein gewisser Spielraum bleibt, innerhalb dessen sicii das Geschelien gegenseitig sell)er regulirt. Dies erkennen wir au.s der Ungleichlieit der Tlieile jedes ür- ganes. Keine Leberzelle gleicht vollkonnnen in Grösse und Gestalt der andern, und doch fügen sie sich alle zu dem nach [67] einem bestimmten Typus gebauten leistungsfähigen Organe zusammen. LTnmöglich kann tlurch die Vererbung von vornherein bestinunt sein, dass die Inui- dertste oder eine andere Leberzelle genau diese von allen anderen etwas abweichende Grösse und Gestalt haben und unter diesem Winkel, welcher für jede etwas verschieden ist, sich mit den vorhergebildeteu und nachfolgenden Zellen verbindi't: sondern die nachfolgende Zelle fügt sich nai-h ihrer 1 iidi viihialität an die vorher- gehende an, dabei (ausser durch .Anpassung an die Gestalt des zwischen den Capillaren betindlicheu Raumes, s.S. 134] bestimmt durch die in ihrer vererbten .,(}ualität" liegenden Bedürfnisse einer ge- wissen Berührung mit der kapilläre . mit Xachbarzellen ete. im Ueb- rigen aber frei. Das embryonale ( iest-helien lindet (iffeubar stall wie die Aus- führung von Snbniissionsarbeiten. z. B. eines Baues, für welchen Material, (irösse, (iestalt, innere Eim-ichtung und dieses blos, soweit sie durch die beabsichtigte Verwendung, also durcli die Function des Hauses bestinunt werden, normirt wird. Dagegen ist vieles in der Einzelausführung, z.B. die Lagerung der einzelnen Steine, und wenn sie Natursteine, also ungleich sind, ihre Zusaramenfüguug dem Unter- nehmer und seinen Gehülfen frei übt'rlassen , wenn sie nur so II. A. Allgemeine Hesrrüniiuiig desselben. 221 ircscliiflit . ilass sie die Ixulungcin' I'uiu'tion zu vorriclitcn verniü.iii'u. So winl ilriin ein Stein nach ilein aiulcren oingofiigt uinl <\ov iiacli- folgende dem vorliergclienden in Lage, (irüsse und (ie.stalt angepasst; oder eventuell auch einm;d unigeki-lu-l kommt es vor, dass der nach- folgi'nde, wenn er gi-os!s genug i.'jt , die vorhergehenden zwingt, sich ihm anzupassen'). .\ber durch all' da-; entstellt noch kein Kam|)r in nnsert'iii Sinne. keine 7,ur Bevorzugung, zur Züchtung er, wie sieh aus unserer Annahme ergiebt, nur möglich, wenn die Theile in ihrer bezügHchen, auf ihre Nachkommen vererbbaren Qualität nicht vollkommen gleich unter einander sind, sich also nicht fortwährend das Gleich- gewicht zu halten vermögen. Bei absoluter Gleichheit aller gleich fungirenden Tiieile müsste auch der Antheil aller am Aufbau des Organismus oder an der Regeneration desselben der gleiche sein; und nur „äussere" begünstigende Momente, wie günstigere Lage zu einem Blutgefässe etc. , könnten eine Bevorzugung hervorbringen, welche aber nur gering und vorübergehend wäre, da sie nicht auf die Nachkommen übertragbar ist. Uebertrüge sie sich aber auf die Nachkommen, so wäre das ein Beweis, dass sie in der Natur der mütterlichen (69) Zelle begründet, also eine innere, keine äussere Be- günstigung war (s. Nr. 4 S. 96). Die „qualitative" Ungleich hei t der der gleichen Fmietion dienenden Theile wird alsi) di e < < ru n d läge des ,, züchtenden" Kampf es der Theile sein müssen; aus ihr ergiebt sieh der Wettkampf von selbei' in Folge d es Wachsthums und, wie wir gleich hinzufügen woUi'u, auch schon einfach in Folge des Stoff- wechsels. Denn, da alle Theile sich im Stoffwechsel verzehren, so werden sie zur Erhaltung und zur Production sich ernähren müssen; und dabei werden diejenigen Theile. welche mit der vorhandenen Nahrung oder aus sonst einem (Iruinle zulolge ihrer b I e i 1j e n d e n (Qualität II. A. Allgemeine Begründung dessellieii. 223 vvoiiiuHT üul . '1. li. wriiisi'er rascli uml wciiiti'cr vdllkiiuiiiKU sit-h zu regeneriren vermuoen. luild in frliebliclien Naelitlicil u'egen andere, günstiger angelegte kommen. Aller die Voraussetzung des Ganzen, die <{ualitative Un- cjKicliheit derTlieile von vornherein, ist sie vorhanden? Ist sie niclit eine willkürliehe Annahme? So wird heutzutage, wo wir uns gewöhnt haben, auf alle \'erseliiedcnlieiten selbst des schein- bar ganz Gleichartigen zu achten, nur noch dci' Laie h'ageu, der viel- leicht einen Blick in diese Schritt wirft. Jeder Naturkundige weiss, dass nie dasselbe Geschehen unverändert längere Zeit fortbesteht, nie in vollkommen gleicherweise wiederkehrt, dass alles in fort- währendem Wechsel ist. das Anorganische wie das Organische. Wie schwer ist es, und was für besonderer Vorkehrungen bedarf es, um nur relativ einfaches Geschehen gleichmässig zu erhalten, z. B. eine gleichmässige Glasmischung zu dem Objectiv eines grösseren astronomischei: Fernrohres herzustellen ; wie theuer müssen wir jede Gleichmässigkeit bezahlen in allen Pi'tulucten unserer Industrie, seien es gleichmässige Stoffe oder Färbungen, oder eine gleichmässige Theilung oder Dicke oder Oberfläche etc., kurz jede Gleichmässigkeit auf einen grösseren [70] Raum oder in der Wiederholung an mehreren Gegenständen, weil es so schwer ist, etwas constant zu erhalten; denn alles, selbst die metallenen Maschinen werden fortwährend verändert, sei es durch A\'ärme oder Abnutzung oder sonst etwas. Nichts ist absolut constant zu erhalten, denn alles ist in fortwährendem Wechsel und alles beeinflusst sich gegenseitig. Immer erfüllen die lebendigen Kräfte, sei es in Form von Massenbewegung oder von Molekular- bewegung als Wärme, Licht, Electricität den Raum und wirken ver- ändernd aufeinander und auf das Material der Spannkräfte. Nichts steht isolirt in der Welt da, am wenigsten aber der Organismus, der fortwährend von der Aussenwelt Stoffe aufnehmen und umsetzen muss. Je complicirter das Geschehen, um so schwerer die Con.stauterhaltung. Gleichen schon nie zwei Krystalle in allen Eigenschaften vollkommen einander, um wie viel weniger zwei Organismen. [Die moriihologische Assimilation, der die grössteuRäthsel eiiischliessende (irund{)rocess des Organischen, ist ja von bewuu- 224 Nr. 4. Der züchtendp Katiqif lii-r 'I'licili' im Organismus. (leningswürdiger VollkomiiKMilicit (s. I! S. 7'.»); sie niu.'is lu'i der steten Aenderung äusserer Umstände lüt^o ausserordcntlidi «lunli Selbst- regulationsmechanisnii'ii gesichert sein; aber absolut Voll- kommenes giebt es nielit; daher muss aucii sie zu Aenderungen, zu N'ariationen der »Stoffe in den Zellen und der Zellen desselben Ge- webes untereinander Veranlassung geben; und sofern solche Varia- tiont'ii in den Keimzellen auch nur uiiuinial .-ijncl. werden sie in den /eilen des entwickelten Individuums erheblich gi'üsser sein.) Nicht die Jungen Eines Wurfes, nicht die Theile Eines Organes, nicht die Zellen desselben Gewehes gleichen einander, sind mit einander identisch in Form und Qualität. Das äussert sich schon sehr nütz- lich darin, da nicht alle Zellen zugleich in densellien i'eridden ihres Lebens sich befinden , denn sonst würden sie beim physiologischen Tode alle zugleich absterben, und durch den Ausfall des ganzen be- trettenden Organes würde der Organismus vernichtet werden. Zwar ist jetzt der Organismus [offenbar durch äusserst vollkommene Selbs tregulationsmechanismen l)ei allen Gestaltungsprocessen derart] regulirt (s. Nr. 4 Cap. \' u. Nr. 8 S. 421], dass er trotz des Wechsels der äusseren Bedingungen und der unendlichen Complication des eigenen Innern sich annähernd eonstant er- hält; aber diese Conslun.:ist doch nur eine annähernde, blos für ilüchtige Betrachtung vorhandene; und die steten Veränderungen las.sen sich, wie D.ARWi.N uns gelehrt hat, zu recht erheblichen Gradt'u summiren. Auf niederer Stufe des organischen Lebens ist die Variabilität noch grösser; und sie nuiss früher, ehe auch für diese Organismen ein gewisses sich ins Gleichgewicht [71] setzen nüt der Umgebung ein- getreten , und die regnlatorischen Fähigkeiten so ausgebildet waren, noch viel grösser gewesen sein. So ist denn schon jedes Samenthierchen und jedes Ei vom amlern unterschieden; und, da es das Wesen der l''nt wickelung ist, aus dem mehr Gleichartigen das Ungleichartige, aus dem Einfacheren das Complicirtere hervorzubilden, so liegt es dabei besonders nahe, dass durch alterirende äussere Einwirkungen diese Bildungen differenter Qualitäten und Formen etwas abgelenkt und so neue N'erschiedeu- heiten unter den Theilen des Organismus hervorgebracht werden. II. A. Allgemeine Begründung desselben. 225 Durcli diese Ungleicliartigkeiten, wok'lic durcli den Wechsel der Bedingungen fortwährend nicht hlos an den (ianzen, sondern auch an den Tlieilcn tlerselben hervorgebracht werden, war es von vornherein unmöglicli, dass Gestaltungsgesetze sich ausbilden konnten, welche das Kiuzelgeschehen bis in die letzte Zelle und das letzte leliensthiitige Molekel von vornhert'in norniirten. Der- artige Bestimmungen hätten bei dem t'ortwiihrenaen Wechsel in den Ver- hältnissen nie zum Aufbaue eines Organismus führen können; wie ein Feldherr keine Schlacht gewinnen würde, der statt der allgemeinen Be- fehle au die Generäle über die Aufstellung und Verwendung der Truppen, von vornherein Specialbefehle bis herab zu den Thaten des Lieutenants oder des einzelnen Mannes geben wollte; denn die Leistungen aller müssen fortwährend den wechselnden Verhältnissen angepasst werden und das Geschehen im Kleinen umsomehr, als dessen Umstände leichter verändert werden als die des Geschehens im Grossen. So müssen die einzelnen Zellen sich immer aneinander und an neue, durch ändernde Einwirkung hervorgebrachte Verhältnisse anpassen können. Der durch die qualitative Verschiedenheit der lebenden Theile hervorgerufene züchtende Kampf unter denselben wird also mit der vor- [72] maligeu Entstehung des Lebens begonnen und seitdem nicht aufgehört haben; und es ist dabei natürlich, dass die allgemeinsten Eigenschaften zuerst gezüchtet worden sind, so dass der erste Anfang dessen, was wir im Folgenden zu entwickeln haben werden, zum Theil schon in der Zeit der Entstehung des Organischen (s. Nr. 4, S. 231 u. II S. 85) zu suchen ist. Und ebenso ist es selbstverständlich, dass in Zeiten stärkerer Variabilität der Kampf der Theile auch entsprechend heftiger und von grösserer Bedeutung hat sein müssen, als in den Perioden der annähernden Con- stanz der Arten. Ueber die Zeiten aber, oder physiologisch gesprochen über die Zahl von Generationen, welche nöthig war zur Ausbildung der zu be- sprechenden Eigenschaften, können wir ebenso wenig etwas auch nur annälierunosweise Richtiges sagen, als wir über die Grösse der in früherer Zeit auf einmal vorgekommenen \'ariationeu und über W. Hoax, Gesammelte Abuandlaugen. I. ^^ 226 Nr 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. die Energie der t'iüiieren Lebensprocesse etwas wissen. [Weiteres siehe Nr. S S. 420.) [Ehe wir zum Speciellen übergehen, ist über einige Vorläufer in der Erkenntniss vom Kampf der Theile zu berifliten. Zunächst hat Herr G. J. Romaxes für Herrn [Iehbert Spencer die Priorität in AnsprucJi genommen, indem er darauf hinweist (s. S. 141), dass dieser Autor bereits vielfache Vergleiche zwischen den Vorgängen in einem Staate als socialem Organismus und den Organen eines In- dividuums gezogen habe. Diese Vergleiche finden sieh in dem ersten Band von des Ver- fassers „Principien der Biologie" (8. 211 der deutschen Ausgabe*). Spencer sucht hier „aus den Gesetzen der Anpassuugsveräude- rungeu in der Gesellschaft den Schlüssel für die Gesetze der An- passungsveränderungeu der Organismen zu gewinnen". Doch beziehen sich seine Vergleiche nur auf die functionellen Correlationen ver- schiedener Organe untereinander , also auf die f unctionelle An- passung, sowie auf die Concurrenz der verschiedenen Organe um die Nahrung; nicht aber auf einen Kampf der gleichartigen Theile, welcher, wie wir sahen, zur Auslese des Besten führt und in Folge dessen die Grundlage der Erörterungen dieses Buches bildet, indem er die Grundlage für eine neue Erklärung der functionellen Anpas- sung angiebt, welche von derjenigen Spencer's auf's Wesentlichste ver- schieden ist; zugleich wird die von Spencer angenommene ältere Er- klärung von mir als unrichtig nachgewiesen (s. Nr. 4, S. 137 u. f.). Weiterhin erwähnt Charles Darwin in seinem oben citirten Briefe gelegentlich der Besprechung meines Buches: ,,Ich glaube, G. H. Lewes deutete dieselbe fundamentale Idee an, nämlich dass innerhalb eines jeden Organismus zwischen den organischen Molecülen , den Zellen und den Organen ein Kampf bestehe." Ich habe jedoch eine bezüg- liche Stelle nicht aufgefunden ; und selbst Romanes, an welchen dieser Brief gerichtet ist, weist in seiner Besprechung nicht auf eine solche hin, so dass diese Sache vorläufig noch zweifelhaft erscheint. 1) Stuttgart 1876. n. A. Allgemeiue Begründung desselben. 227 In erheblichem Maasse kommt dagegen, wie ieli zu meinem leh- hal'tcn Bedauern erst nachträglieh entdeckt habe, Ernst Haeckel eine Priorität zu; denn in seiner Schrift über die „Perigenesis der Plastidule oder die Wellenzeugung der Lebenstheilchcn''^) findet sich folgender bezüglicher Ausspruch: S. 47 „Indem wir so Lamarck's Lehre von der Vererbung der Abänderungen — dieser wichtigsten Voraussetzung von Darwin's Selectioustheorie — von den grossen vielzelligen Thieren und Pflanzen , an denen sie uns handgreiflich vor Augen tritt , auf die Piastiden (Cytoden und Zellen) und von diesen wiederum auf die sie zusammensetzenden Plastidule übertragen, machen wir natür- lich auch für diese letzteren die Con sequ e nz en geltend, welche für die erstereu sich aus der Selectionstheorie er- geben. Offenbar herrscht ,,der Kampf um's Dasein unter den Molekeln", den Pfaundler 18 70 zuerst beleuchtete, im eigentlichsten Sinne und vor allem unter den activen Plasti- dulen. Diejenigen Plastidule, welche den eigenen Existenz-Bediug-* ungen sich am besten anpassen, d. h. welche das von aussen ein- dringende flüssige N ah r uugsmaterial am leichtesten auf- nehmen, und die dadurch bedingte ümlagerung ihrer Atome am bereitwilligsten vollziehen, werden natürlich die stärkste Assimi- lation ausüben und so bei der Fortpflanzung der Piastiden das Uebergewicht erlangen." Haeckel überträgt also hier im Allgemeinen den Kampf der Indi- viduen auf die sich ernährenden Theile des Organismus und leitet im Speciellen aus ihm ab, dass diejenigen Zelltheile, welche am besten Nahrung aufnehmen und assimiliren können, sich am raschesten vermehren und daher einen grösseren Antheil am Aufbau des Individuums erlangen werden als andere in dieser Richtung minder qualificirte^). [1) Berlin 1876. S. 47.] ['i) Im Jahre 1879 theilte ich Herrn Professor Haeckel brieflich meine Absicht mit, eine Abhandlung über den Kampf der Theile im Organismus und seine aus- lesenden nnd gestaltenden Wirkungen zu verfassen und bat ihn um seine Meinung über dieses Vorhaben. Er billigte dasselbe und empfahl, dem Haupttitel ,der Kampf der Theile' den Zusatz beizufügen: „als züchtendes Princip im Zel len Staat'. Aus Gründen der Einfachheit habe ich damals diesen sehr bezeichnenden Zusatz weg- gelassen, sehr zum eigenen Naohtheil, denn manche Leser haben diese Hauptsache 15* 228 Ni'- -t. Der züchttmie Kiimpt der Theile im Ürganismus. Im Jahre ISTi» eiscliien ein in Prag gehaltener \'ortrag Wilhelm Pketeh's') über ,,(iie Concurrenz in der Natur", in welchem gleichfalls der Kampf der Theile im Organismus, aber von einer anderen Seite, verwerthet \\-ird als in der kurzen Ausführung Haeckel's. Preyer sagt (S. 25): „Das Concurrenzgesetz gestattet eine noch wenig oder kaum beachtete Anwendung auf alles Lebende im weitesten Sinne. Nicht nur Menschen , Thiere und Pflanzen concurriren mit einander um das, was zur Erhaltung und Verschönerung des Lebens beuüthigt wird, sondern dasselbe gilt wenigstens, was die Erhaltung und Ausbreitung betrifft, von den zusammen wachsenden Theilen, aus denen die einzelneu (Jrganismeu bestehen und von den natüi'lichen Gruppen, in welchen die PHanzeu, Thiere und .Men=ehen zusammenleben." Nach der Erwähnung der Zerlegung des Eies in Zellen und der Differenzirung der Zellen zu Geweben fährt Preter fort (S. 26): ,,Alle diese Gewebe wachsen, und es ist klar, dass sie sich gegenseitig im Wachsthum beeinträchtigen müssen. Demi alles Wachsen verlangt Raum. Im Ei ist aber der Raum beschränkt, und wenn auch bei vielen Thieren das Ei auch selbst mitwächst, so ist doch auch hier eine Grenze, die bald erreicht wird." „So kommt es, dass auch im geborenen, sich entwickelnden und erwachsenen Wesen fast alle Theile mit allen Functionen sich gegenseitig Concur- renz machen. Ein normaler Bestand ist nur durch möglichst gleichmässige Wirksamkeit aller Theile möglich, d. h. durch Compromisse, von denen ich schon sprach. In der That rächt sich nicht erfasst und dem Buche (oder dem TitelhlattV) blos entnommen, dass ich ,Corre- lationen im Organismus als ,, Kampf der Theile" bezeichnet hätte'. Da Herr H.vkokei. mich in seiner Antwort nicht auf seine Priorität verwies, und da in den bezüglichen Hauptschriften Ha KGKKi.'s, in der „generellen Morphologie der Organismen" und in der , Schöpfungsgeschichte" vom Kampf der Theile nicht die Eede war, so glaubte ich, dass dieser Gedanke ihm fremd gewesen sei. Derselbe Irrthum ist auch seinem .lenenser Collegen, Herren Professor Wir.ii. PnEVEn, passirt, welcher gleich mir zuerst im Jahre 1879 eine Schrift publicirte, in welcher kurz auf den Kampf der Theile hingewiesen wurde, ohne der Priorität Haeckel's zu gedenken.] [1) Nord u. Süd, Monatsschrift, Breslau. Februarheft 1879. Ich citire nach dem 2. Abdruck vom Jahre 1882.1 II. A. Allgpniririp Bo,ei-iindmi,e defselbpii. 229 allemal die einseitisre, fibertriebene AusbiklmiiJ und Thätigkeit eines Gewebes oder einer Art von Organen." ..Denn «äbnlich wie die Zellen mit einander und die aus Zellen zusammengesetzten Gewebe mit einander coneurriren, wetteifern auch die aus Geweben bestehenden Organe und Organcomplexc in jedem Organisniuis mit einander. ITnd hierin liegt die Ursache der begrenzten Grösse jedes Tb eil es." ,,Die Leber, die Lunge, das Auge, sie können nicht über ein gewisses Maass hinaus wachsen \vegen der Coucurrenz mit den anderen Organen. Daraus ergiebt sich nothwendig die Begrenztheit des Leistungsver- mögens der Theilc unil damit des Ganzen. Schon die Erfahrung des täglichen Lebens zeigt, dass, wer sehr viel denkt und stndirt, muskel- schwach wird, wer nur mechanisch mit dei' iland arbeitet, selten schwiei'ige Probleme des Denkens löst, und tlass die Blinden sehr gut tasten und hören, die Tauben oft sehr gut sehen. Fast alle Thiere liefern Beispiele für diese Folge der Goncurreuz der Organe für ihre Functionen, welche die Präpouderanz einzelner nur auf Kosten anderer zu Staude kommen lässt." In diesen Gedanken ist wie in den früheren Ausführungen Öfexcer's die Coucurrenz ungleichartiger Theile unter einander vertreten, welche, wie wir sehen werden, zu einer gewissen Harmonie der Theile des ganzen Organismus führt. Die den Hauptgegenstand unserer Erörterung darstellende Con- currenz unter den gleichartigen Theilen, welche, wie wir sehen werden, zur Auslese der die Dauerfähigkeit der Individuen er- höhenden Qualitäten und zu einer neuen und allein sufficienten Erklärung der functionellen Anpassung führt, ist hier unv im Allge- meinen angedeutet, und ihre speciellen Folgen sind nicht erörtert. Ich erhielt von dieser Publication erst Kunde durch die citirte Separatausgabe derselben vom -Jahre 1882. Im Frühjahr desselben Jahres, in welchem der erste Abdruck dieses Vortrages W. Preyer's er.schien. schloss ich die vorstehende Abhand- lung Nr. 2 ab, in welcher ich bereits (s. S. 99) den Kampf der gleich fungir enden Theile des Organismus um Nahrung und Raum zur Ableitung zweckmässiger organischer Gestaltungen verwandte und 230 Nr. 4. Der züchtende Kampf der 'llieilf im Organismus. ausserdem schon das neue ..rr ine ip des Sieges des in der syie- ci fischen Weise stärker I'iin ^irenden'" einführte, auf wel- chem meine Erklärung der functionellen Anpassung beruht. Dieses Princip wird daselbst bereits bis auf den ,,Kami)f der letzten Zell t heilchen" ausgedehnt, durch ,, welchen im Stoffwechsel blos die die specifische Function bildenden Processe, welche durch das fortwährende Fungiren immer neu erregt und also gekräftigt werden, sich dauernd mit Materie neu zu regeneriren \ermochten auf hosten der weniger angeregten, weniger specitischen Processe." Und es wer- den bereits die C'onsequeuzen aus diesem Kampfe bis auf die Ent- stehung der f unct ionellen (ics tal t der Zellen gezogen; also fast alle Consequenzen, die danai-li in diesem Buche ausfülirlieh dar- gelegt sind ').] B. Arten und Leistunjj^en des Kampfes der Tlieile. Gehen wir nun nach dieser allgemeinen Begründung zm- Unter- suchung der Arten und der Leistungen des Kampfes dvv Theile im Speciellen über, so muss derselbe nothwendig in ebenso viele Unter- instanzen zerfallen, als selbstständig varürende Lebenseinheiteu vor- handen sind, also in einen Kampf der lebensthätigen Zellentheilchen. der Zellen, der (Tcwebe und der Organe, jede Einheit nur mit ihresgleichen kämpfend. Denn ein Kampf zwischen x\nge- hörigen verschiedener Einheiten, etwa eines Plassou-Molecüls mit einer Zelle, oder einer Zelle mit einem Organ wäre wie eine Sunnnation von Differentialen verschiedener Ordnung. Erst wenn sieii die Eigen- schaft eines Theilchens niederer Ordmmg durch Ausbreitung zu einer [1) Herrn W. Prkyer kommt also keine im Druck niedergelegte Priorität in dieser Materie zu. Da ich aber, wie auf Seite 189 bereits erwähnt wurde, im Anfange der siebenziger Jahre das Glück hatte, die V'orlesungen beider Herren Protf. Hakckki. und PnEVF.R zu hören, so liegt es nahe, anzunehmen, dass von einem derselben oder von beiden Herren, sei es mittelbar oder unmittelbar, der (iedankenkeim zu dieser Arbeit in mich gelegt worden ist, der dann eini.ee .lahre spiiter aufging und sich zu dem vorliegenden Buche entwickelte. Auch verdanke ich diesen überaus anregenden Vor- trägen überhaupt die Einführung in den Ideenkreis, in dem sich die .ganze Schrill bewegt. 1 H. B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile. 231 liiilividualität höherer Ordiumji' vergrössert hat. also erst, wenn das Differential zweiter Ordnung zu einem Dift'erential [73] erster Ordnung intogrirt ist, kann der Kampf mit einem anderen Individuum dieser liöheren Ordnung beginnen. 1. Der Kampf der lehens t hätigen Molekel. Diese Bezeichnung wollen wir der Kürze') wegen wählen für den Kampf aller Arten letzter lebensthätiger Zelltheile, also der Plasson- .Molecüle Haeckel's oder derPlastidule Elsberg's, der ,,];hysiologischen Einheiten" ypKNcr.u's oder der kleinsten organischen Process- ■ eiuheiten'*). AVenn naeli unserer \'oraussetzuug die lebensthätigeu : min- destens assimihreuden , wachsenden unei längerer Dauer immer mehr zurückgedrängt werden und schliesslich schwinden; und die Zeit dieser Dauer wird dabei blos von der [74] Grösse des Unter- schiedes in der Affinität der beiden, im üebrigen gleich lebensfähigen Substanzen abhängen. Es wird also zunächst in jeder Zelle ceteris paribus die unter den durch die Blutbeschaffenheit, Diffusionsmöglichkeit etc. gegebenen Umständen am raschesten regenerirende und wachsende Sub- stanz sich erhalten und die anderen Qualitäten unterdrücken. In diesem Falle ist es ein Kampf um den Raum, der in Folge des ungleichen Wachsthums stattfindet; denn wenn der Kaum nicht beschränkt wäre, würde die schwächere Substanz iln-en Naelitheil mehr oder weniger durch längere Dauer der Regeneration wieder aus- zugleichen vermögen, sofern der Verbrauch kein continuirlicher, gleich starker ist , sondern sofern Pausen vorkommen , während deren die Regeneration stärker ist als der Verbrauch. Sind die Unterschiede beider Substanzen derartig, dass sie un- gleich rasch sich verbrauchen, so wird dieses bei grossem mittleren Verbrauch ceteris paribus einen nachtheiligen f^infiuss für die rascher sich verzehrende Substanz bedingen, und die lang- II. B. Arten und Leistungen des Kampfes der Tlicile. 233 sanier ?ich verzelirende wird die Herrschaft erlangen; denn da sie sicli langsamer verzehrt, aber nach der N'oraussetzung ebenso rasch regenerirt, als die schneller sich verzehrende, wird sie irumer mehr räumlicli überwiegen und so den Platz schliesslich allein einnehmen, während die andere durch Selbstelimination schwindet. [In diesem P>eispielo wird mit oinoi- \'erschiedenheit der Regenera- tion und zugleich mit einer enstprecheuden Verschiedenheit des Wachs- thnms der beiden Substanzen gerechnet. Diese Verbindung ist sehr wahrscheinlich, da die physiologische Regeneration der Zelltheile und das AVachsthnm wohl beide auf demselben Grundvorgange des Assimi- lation beruhen (s. II, S. Sl). Es ist dies aber nicht der einfachste Fall. Nehmen wir, um auch diesen besonders zu erörtern, an. die beiden ungleich rasch sich regenerirenden Substanzen hätten nicht die Fähigkeit des Wachsthums, so wird die langsamer sich regene- rirende Sulistanz bei einer bestimmten andauernden mittleren Grösse de.s Verbrauches nicht mehr im Staude .sein , das Verbrauchte ganz zu ersetzen, während die rascher regenerirende dies noch zu thun vermag. Die erstere ist also in Abnahme begriffen und wird , je länger diese Verbrauchsperiode anhält, imi so mehr an Masse ab- nehmen, um scbHesslich ganz zu sehwinden, während die andere ihren urspünglicheu Bestand erhalten hat. Die langsamer sich regenerirende Substanz ist also, ohne jede Benachtheiliguug seitens der anderen, einfach durch eigene ungenügende Dauerfähigkeit auf dem Wege der S e 1 b s t a u s m e r z u n g g e s c h w u n d e n und die andere ist allein übrig gebUeben. Nehmen wir an. die mittlere Verbrauchsgrösse sinke schon, ehe die ungünstigere Substanz ganz geschwunden ist, soweit, dass dieselbe sich vollkonnneu regeneriren kann, so werden beide Substanzen auf der in diesem Momente vorhandenen Menge verbleiben, da wir an- nahmen, dass sie blos regeneriren, also ihre jeweilig vorhandene organische Substanz wieder in iutacten Zustand versetzen und Arbeits- material aufzuspeichern vermöchten, nicht aber im Stande wären, ihre organische Masse zu vermehren, zu wachsen. Haben beide auch Wachsthumsfähigkeit , aber in specifisch gleichem Maasse. das lieisst wachsen gleiche Massen von ihnen in gleichen Zeiten gleich 234 Nr. 4. Der züchtende Eampf der Theile im Organismus. fl ^ — — . — _ viel, so wird hei ihrer Verniolirunp; da.s ursprüngliche procentische Massenvcrhältniss heider ziemlich dasselbe hleiben, so lange der \>r- brauch genügend gering ist; nur wird die ungünstigere Substanz etwas procentiscli zurückbleiben, da sie in Folge ihrer laugsameren Regeneration stets etwas si)äter zum Wachsen kommt.) . Dass der erwähnte Kanipl um den Kaum statttinden muss, werden wir liei Betrachtung der höheren Raumeinheit, innerhalb deren sich der hier besprochene Kampf vollzieht, beim Kampf der Zellen auf Grund für ihn vorliegender directer BeobachtUDgeu ausführlich darthuu. [Das Gesetz der Undurchdriuglichkeit muss natürlich wie für anorganische auch für die lebenden Körper gelten.) Jedenfalls muss der Kampf um denKaum ein viel lief tigerer „inner- halb" des Organismus sein, wo alles zu einer räumlichen Ein- heit verbunden an einander liegt und sich drängt, als bei den freien Individuen selber, als beim Kampf der Personen unter einan- der; [denn jeder stärker als seine Umgebung wachsende Theil muss die anliegenden Theile passiv dehnen oder durch Compression zu entsprechendem Schwunde bringen]. Dass Raumbeschränkung wirklich die Entwi ekel ung der Zelle zu hemmen im Staude ist, ergiebt sich z. B. aus der Abplattung der Epithelzellen au einan- der und aus der Aenderung, welche deren Gestalt [75] sofort erfährt, wenn die Raumbeschränkung fortfällt. So wird nacli N'erlu.st von Epithelzellen das hohe und schmale cviindrische Epithel der Luftröhre niedrig und breit, plattenförmig und vermehrt .sicli. Ausserdem aber ist auch die mögliche lebensrähige Grösse der Zelle, selbst bei Mangel äusserer Raumbeschräukung, für jede Zelle nach der Art ihrer Zusannnensetzung und der Eruährungsverhält- nisse und der Beweglichkeit ihres Protoplasma etc. eine beschränkte, wohl in Folge der beschränkten Wirkungsgrösse und -Geschwindigkeit der Diffusion, so dass auch bei Wachstlium über dieses Maass hinaus die Zelle im Innern wieder atrophiren müsste in Folge mangelhafter Gelegenheit zur Regeneration. [Diese Art der räundichen Beschrän- kung kann Ijedingen , dass si'lbst bei freien Zellen, deren Kaum- ausdehnung also nicht von aussen her eingeengt ist, eine einmal in ihi-er Menge redueirte Substanz ceteris paribus ihre procentiseiie Ein- II. B. Arten und I.cistinigpn des Kampfes der Theile. 235 bussc aucli ilurcli iiaclitriiwlicli läuficr fortgesetztes Wachstlmni als das der anderen Subslan/, nielit oder nicht . Abth. III. 16* 244 Nr. 4. I>er ziichtendc Kampf der Theile im Organismus. lOrliüliUiig der .\.s.>;iiuilcitioii duri-li lieizr damit .sclion iiiu-rkaiint; und die eleetrotherapeutisolicn Erfahrungen von Reid, Rob. Froriep, DrcHExxK. lk,\Hi) inid R()i:k\\ki.i. n. A. Ijei Muskel- und Nervenkrank- heiten heruhen luinientHeh auf diesem i'rinei])'). Sind aber einmal derartige X'ariationen der Zellsubstauz aufge- treten, deren Lebenskraft (hn-cli die Zufuhr von verschiedenen odei' blos einem besonderen Reiz erhöht wurde, so musste cet. ]iar. immer diejenige Variation in denZellen den Sieg und alhnalilieli dieAllein- existeuz erlangen, welche den Reiz leichter aufnahm, denn sie wurde zufolge dieser Kigen- (81j schaft in ihrer X'italität mehr gekräftigt und musste sich also mehr vermehren. Bei beschränkter Reizgrösse musste, indem die leichter erregbare Substanz relativ mehr Reiz aufnahm und dadurch zu grosserer Entfaltung befähigt wurde, eine Art indirecten Kampfes um dvu Reiz und Sieg durch Reizentziehung und nachfolgende grössere räumliche Verbreitung entstehen wie ol>en bei der ('oncurrenz um die Nahrung. Wenn nun diese Reize dauernd einwirkten, so war hei weiteren \'ariationen mit der sich steigernden Vollkommenheit . dcntscli von K. Vater, 1874.] I -) Die erste .Ausfiilnung über diese Verliäitiiisse tindet sich oben S lüO.| II. B. Arten und Leistunj;on des Knmpfes der Theile. 245 Wonn rcniorhin eiiinml Rci/.c kräftigend auf vitale Processe wirlvten , so luussten ve rsc li i c . der ] irogressiven Atrophie des Rückenmarks, der pro- gressiven Bulbärparalyse *), der Paralysis acuta ascendens, der pro- [1) Siehe Nr. 22 S. 275 und Nr. 28 S. 657 u. f.| [-) Die strangförmige Beschränkung und Ausbreitung dieser Aft'ectionen i.'t neuerdings von L. EiuNfiKR in sorgfältiger Begründung von relativer Ueberanstrengung der ganzen functioneil einheitlichen Bahn und ungenügendem Erf-atz des Verbrauchten in Folge von Nahrungsmangel abgeleitet worden; auch Marie und Strümtkii. haben sich in ähnlichem .Sinne ausgesproclien. Diese Beispiele sind also hier nicht mehr passend. iL. Ehinokh, Eine neue Theorie über die Ursachen einiger Nervenkrankheiten, insbesondere der Neuritis und Tabes. Volkmann's Sammlung Klinische Vorträge N. F 106, 1894.J Siehe auch S. 265]. 11. B. Arten und Leistungen des Kampfes der Tlieile. 251 gressiven Muskelatrophie (iiacli I'^hikdukich uml Ijchtheim), welclic alle sich continuirlic'h innerlialb der yAisammenhäiigenden Gebilde, blos ihnen folgend, weiter ausbreiten; oder aucli in der Art, wie man sieb früher die Ausbreitung der Entzündungen dun-li phlogogene (entzün- dungserregende) Wirkung der Ijitzihidungsproducte dachte, und wie [88! neuenlings \'iH(;ii()W ') sie für diejenigen Infectionski'ankl leiten als möglich eraehti-t hat. für uelehe kein lebi'udes Contagium nach- gewiesen werden kann. Es jnuss überifüssig erscheinen, liei dem gegenwartigen geringen Stand unserer Kenntnisse weitere Vermuthungen über den Umfang solcher Vorgänge innerhalb des ]iliysiologischen (Geschehens auf- stellen zu wollen. Achnlichc Vorgänge der Ausbreitung bestimmter Eigen- schaften durch (^leu Kampf der Tlieile müssen natürlich ebenso, wie die hier für den Zellleib geschilderten, auch in dem ,, Zellkern" vorkommen, nur dass sie vielleicht weniger oder gar nicht unter der Ein\\-irkung von Reizen stehen. 2. Der I'Iampf der Zellen. Da wie wir gesehen haben, das Einzelgeschehen als solches nicht fest normirt ist, und da von vorn herein nicht alle Zellen desselben Gewebes von vollkommen gleicher Lebenskraft sein werden, so muss in der Zeit, in welcher die Zellen eines Gewebes sich noch vermehren, ein sog. Kampf der Zellen stattfinden; denn diejenigen Zellen, welche unter den vorhandenen N'erhältnissen am günstigsten zur \"ermehrung dis- ponirt sind, werden sich rascher vermelu'en , als die anderen, und damit bei der Beschränktheit des Raumes den Nachkommen der anderen mehr oder weniger den Platz wegnehmen, also ihre weitere Ausbildung und Vermehrung hemmen. Die kräftigeren werden also eine grössere Zahl Xaehkommeu liefern als die schwächeren etc., s. S. 217 u. f. Wenn wir nach den Eigenschaften fragen, die in diesem [891 Kampfe der Zellen Aussehlag gebend sein werden, so linden wir, dass es wiederum die im Kampf der lebcnsthätigeu Molekel bereits bewährten Eigenschaften sind. Es wei'den voraussichtlich 1) VmcHows Archiv Bd. 79. 1880. S. 12Ü. 252 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tlifile im Organismus. die im Stoffwechsel durch stärkere Affinitäten sicli leichter regeuerirenden und ebenso die weniger verbrauchenden ceteris paribus über die weniger mit diesen Eigenschaften ausgerüsteten die Uebcrmaclit er- langen; denn bessere Fälligkeit, sich zu ernähren, und geringerer Ver- brauch für die eigenen Bedürfnisse sind sicher als günstige Vorbeding- ungen des Wachsthums anzusehen. Das Gleiche gilt von jenen Zellen, welche mit der Qualität des vorhandenen Nahrungsniaterials am besten sich nähren können, ebenso von solchen, welche bei grösserem Maugel eine grössere Affinität nach Nahrung bekommen, also der Selb.ai'n allniiihlieh nalier gegen ein- ander und verkleinern so die Zahnlücke. Es iiesscn sich noch viele solcher gegenseitiger gestaltlicher P.e- einflussuugen anführen. Das für uns Wichtige an ihnen ist, dass diese Beeinflussung zur nuiglichst en .\nsnulzung des Raumes ge- führt hat, und dass in I-olge dessen nunmehr eine weitere Vergrösser- ung des einen Organes zumeist nur auf Kosten des anderen geschehen kann, sobald das letztere nicht die Kraft hat, dem Wachsthumsdruck ') S. lli~. Archiv für Anat. n. Physiolosif. 187S. -) Verhandlungen der phj'sik-med. Ges. in WiirzliUTg. .\. K. Xlll. 1879. S 125 ff. U. H. Alten uiiil r,eistuii2en des Kampfes der Theile. 260 des anderen zu wiilerstelien unil das anilere zu zwingen, sieli hlos .nocli aussen, [unter Voi-\vülbung der Kürperdecke] zu vergrösseni. Falls, wie selion beim Kampf der Gewebe erwähnt und ange- UDUUuen wui-de. die Gewebe die Eigenschaft haben, blos durch den funetionellen Reiz ihre Kräftigung zum Wachsthuni und zur Selbst- erhaltung zu erl'ain-en, so wii-d damit der Kampf der Organe in glcMcher Weise wie der Kampf der Gewebe zu einem sehr nützlichen Princijie, zufolge dessen: einmal die Organe so gross sich entwickeln, als der zugefübrten IJeizgrösse, also dem Bedürfniss des Organismus entspricht; und zweitens werden die Organe bei Ver- ringerung des Gebrauchs nicht l)los der einfachen Inactivitätsatrophic verfallen, sondern, von ilu-en stärkeren Nachbarn direct beeinträch- tigt, rasch bis auf jenes Volumen verkleinert werden, wel- ches allein noch durch den Grad seiner Function für den Organismus [105] von Nutzen ist und durch diesen Grad der Functiiin die Fähigkeit erhält, weiteren Verkleinerungen durch die Nach- barorgane Widerstand zu leisten. Letzteres zeigt z. B, der Musculus plantaris der Wade, welcher beim Menschen, entsprechend der Ver- ringerung seiner Function , zu einem ganz geringen , in seiner Ge- stalt von den beiden anderen Wadenmuskeln abhängigen Gebilde reducirt ist, trotzdem aber in seinem erhaltenen Reste ein durchaus frisches , leistungsfähiges Aussehen zeigt. Daraus folgt ferner von selber, dass fast nicht gebrauchte Organe dagegen an Stellen, wo sie nur geringe Concurrenz um den Raum zu bestehen haben, sich längere Zeit erhalten können, wie wir dies bei den Ohrmuskeln des Menschen .«eben. [Eine besonders wichtige, aber kostspielige, durch diese Momente bechngte Anpassung an den Raum stellt die genau ge= iiommen fast allen Muskeln zukommende Fiederung dar. Durch Ausnutzung des Raumes soweit, bis Gegendruck weiteres Wachsthum hemmt, sind die Muskeln in solche Formen gewachsen, dass die Muskelfasern hochgradig schief zur Seime stehen, weshalb oft 20 — 30 i'rocent ihrer Kraft für <\U- beabsichtigte Leistung verloren gehen'). p) Genauer betrachtet ist die die Fiederung der Muskeln cliarakterisirende schiefe Stelluna d er Muskel fase rn zu den Sehnen durch mehrere Faetoren 270 Nr. 4. Der züclitemlc Kampf der Tlieile im Oriranismus. _j_ Dieser letztei'e Kaiiipl' ilor ( )i'r Tlieile beruht also im Allgemeinen auf den- selben Grundsätzen wie der l\ani])f der Individuen; erstens auf dem Stoffwechs(d der Organismen, welcher Ersatz und damit Nahrung nöthig macht, zweitens auf dem Wachsthum, das Kaum erfordert. l)alier findet in beiden Fällen sogenannter Kampf um Nahrung (in- clusive aller die Ernährung, die Erhaltung im Stott'wechsel beein- flussenden Momente) und Raum statt. Zur Erhaltung im Stoffwechsel sind, jede einzelne Eigenschaft für sich betrachtet, günstig: möglichst geringe Veränderung, möglichst guter Ersatz. Alle darauf hinzielenden Eige^'schaften werden die dauer- fähigsten sein, abweichende Eigenschaften werden bei ungünstigen Aenderungeu späterer Umstände leichter zu (Jrunde gehen, also durch Selbstausmerzung aus der Reihe des Lebenden schwinden. Zum Ersatz ist nöthig Nahrung. Nur diejenigen lebensthätigen Substanzen, welche sich bei der Qualität der gegebenen Nahrung gut erhalten können, sind unter diesem Verhältniss dauerfähig; tlle andern schwinden wieder durch Selbstausmerzung. Dasselbe geschieht bei dem Eintritt von schädlichen Bestandtheilen in die Nahrung; alles dabei nicht Dauer- fähige schwindet; das Uebrigbleibende ist das Dauerfähige, ist also widerstandsfähig, immun . Ist Nahrung nur in einer zur Erhaltung der verschiedenen or- ganischen Substanzen ungenügenden Menge vorhanden, so findet ein Kampf um die Nahrung statt; derselbe ist ein indireeter, indem die mit stärkeren Affinitäten versehene lebenstliätige Substanz sich mehr aneignet; also Benachtheilignng des Einen durch die Existenz des Anderen, ohne dass beide direct auf einander wirken. Ausserdem werden ceteris paribus die mehr Nahrung zur l-"rlialtung lieniithigen- ilen Substanzen zuerst verhungern, also wieder uit lit l'ür ilie Kv- haltung des Individuum an sicli oder in seinem Kampfe mit der Aussen- welt sieli eigneten, mit den lietreffenden Individuen ans der Rt^ilie des j.olH'ndcn eliminirt werden und seit jeher eliminirt worden sind. Xalimen wir noeii an. dass imter den vorgekommeiien ^"ariationen ■ der lebensthätigen 8 u li s t a n z e n auch solclie gewesen seien, welclu' aul'Ziil'ulir von IJci/.en in ihrer Assi mi] a t ions l'ähigkeit erliüht wurden, aui' wek-lie also der Reiz eine trophische, die Ernährung fördernde Wirkung, sei es direct oder iudirect, ausübt, so salien wir, dass diese Qualitäten siegen mussten. Der züeliteude Kampf der lebeusthätigen Molekel und der Zellen musste alsdann die Fähigkeit, auf Reize zu reagiren, immei liiiher steigern; mid eventuell konnte auch eine Fähigkeit zur Uebercompensation des durch den Reiz Verbrauchten sieb ausgebildet haben, welche ihrerseits zur Arbeitshypertropbie führte; wie umgekehrt der rnistand , dass der Reiz schliesslich zum unentbehrlichen Lebensreiz werden musste, beim Ausbleiben desselben zur Inactivitätsatrophie Veranlassung gab. Diese beiden Qualitäten sind dann im Stande, alle quantitativen Verhältnisse im Organismus nach dem Maasse des Bedürfnisses von selber zu reguliren. Ausserdem ergab sich bei der Annahme der trophischen Reiz- wirkung aus dem Kampf derTheile auch gleich das Princiji einer mit der Verschiedenheit der Reize sich steigernden Dif f erenzir ung, weil nur diejenigen Verbindungen durch Einen Reiz am meisten gekräftigt werden können, welche blos an ihn allein, nicht auch [1091 zugleich an andere Reize angepasst sind; und weil daher an eiuen sich dauernd wiederholenden Reiz vollkommen an- gepasste Eigenschaften, wenn sie einmal in Spuren aufgetreten waren, die Herrschaft gewinnen mussten. Ferner folgerte, dass mit der grösseren Ausbreitung, welche neu auftretende stärkere Qualitäten durch den Kampf der Molekel und der Zellen erlangen, einmal für Homogenität der Zusammen- setzung innerhalb der Zellen und der Gewebe gesorgt wird, andererseits aber, was wichtiger i.st, dass die neu auftretende Varia- tion mit der grösseren N'orbreitung gleich zu grösserer Bedeu- 18* 276 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Thcilc im Organismus. tung gi'Iaiiiit. so (la.ss eventuell ilii- Nutzen gleicli erliel)lielier. aus- schlaggelieuilor ini ICanipl' der Individuen werden kann oder im ent- gegengesetzten Falle, wenn die Eigenschaft nachtheilig ist, die damit beladenen Individuen solort aus der Ueihe der Lebenden au.sgesehlosseu werden. Andere sind dagegen die Leistungen des Kampfes der .,verseliied cnartigen" 'i'lieile: der Gewebe unter einander und ebenso des Kampfes der < )rgane. Der Kampf dieser Tlieile führt durch Selbstelimination zum alleinigen Ueberbleiben von (Jrganquali- täten, welche .sich im Körper morphologisch das G leidige wich t zu halten vermögen, und ferner noch ebenfalls wieder zur möglichsten Ausnutzung des Raumes. Bei Annahme der Stärkung der Ge- webe durch Reize bewirkt er ausserdem noch die Selbstregulation der quantitativen Entfaltung der(;ewebe nnd der Organe nach den Bedürfnissen des Ganzen. Durcli jede der vier Kampfes.stufen wenlen demnach die func- tionell nüthigen Grössen Verhältnisse von selber ausge- bildet, nach der Seite der \'ergrösserung durch Stärkung der Er- nährungsfähigkeit, nach der Seite der Verkleinerung durch Schwächung derselben und durch directe Beeinträchtigung im Kan^pfe um den Raum mit dem stärker Gebraucliten. [Die V^oraussetzung der ,,züclit enden", also ,.1)1 ei b enden" ^\' i r k u n g aller d i e s e r A u s 1 e s e n ist, wie erwähnt, natürlich die, dass die übrig gebliebenen Qualitäten bleibende sind, dass sie sich also auf die Nachkommen der ausgelesenen Gebilde': derZelltheile, Zellen und Gewebe übertragen, dass sie .somit vererbbare Qualitäten sind. Wo dagegen die Auslese blos vorübergehend dauerfähigere Ge- bilde, wie vielleicht die jüngeren oder die gerade ausgeruhten, nicht überanstrengten Bestaudtheile eines Gewebes oder einer Zelle erhielt, kann der Auslese natürlich keine züchtende Wirkung zukommen, also auch keine dauernde Anpassung re.sp. keine Jnnnunität ihre Folge sein. Von der Grösse und Mannigfaltigkeit dieses Vorkommens solcher vererbbarer Qualitäten hängt daher die thatsächliche Grösse und Mannigfaltigkeit der züchtenden A\'irkung des Principes der Theil- auslese ab. Diese eventuelle Wirkungsgrösse wird natürlich bei II. B. Arten und Leistungen des Kampfes der Theile. 277 grösseren Aeiidcrungeii der Lebensbedingungen grösser und daher auch leichter feststellbar sein *).] Scliiiesslich wurde nocli kurz angedeutet, dass die so im [110] Kamjjfe der Tlieilc erwurbenen Rcactionseigeu- schaften au ch zur „direeten i'unctionellen Sclbstgestal tung'" höchst zweekuiiissigor l'"orni verhält nissc fähig seien; und wir vi'rspraelK'n, die (irihide für die Annahme der Existenz solcher unschätzbar wichtiger Eigenschaften darzulegen, was im folgm- deu Capitel geschehen wird. Wenn man, wie bisher geschehen, alle guten Eigenschaffen eines Organismus blos von der directen Auslese in dem Kampf ums Dasein unter den Individuen ableitet, .so ist dies dasselbe, als wollte man ausser den direct zur Wehrfähigkeit gehörigen auch alle anderen guten Einrichtungen eines Staates in Regierung, (iesetzgebung, Verwaltung, Wissenschaft. Kunst, Handel imd Gewerbe und auch in der Leistungs- fähigkeit der Vertreter dieser Stände allein auf den Kampf mit den kriegerischen Nachbarn zurückführen -). Mit diesem Gleiclmiss glaubte ich schon früher (s. 8. W) die Bedeutung des Kampfes der Theile [') Daher empfiehlt es sich, die erste Prüfung des realen Vorkommens der ,ziic h tend en" Auslese in pathologischen Verhältnissen vorzunehmen, etwa bei chronischem Hunger des ganzen Individuums oder einzelner Orgaue (durch Blutgefässverengerung oder Unterbindung), bei chronischer Vergiftung mit Arsen, Blei, l'hosphor oder l'tonianien etc., bei Lähmungen der Muskeln durch Nervendurch- schneidungen, oder bei Drüsen nach Exstirpation der Secretionsnerven. In allen diesen Fällen allgemeiner Schädigung eines Organcs findet man die verschiedenen gleichfungirenden Zellen desselben Organes stets in sehr verschie- denem Maasse verändert; viele gehen zu Grunde, manche überdauern die Schädigung. so dass an der Auslese an sich nicht zu zweifeln ist. Die Hauptaufgabe, aber zu- gleich auch die Hauptschwierigkeit ist es, zu entscheiden, ob diese Auslese eine züch- tende, oder durch l'eberbleiben vererbbarer Qualitäten oder eine blos durch l'eberbleiben vorübergehend widerstandsfähigerer Theile bedingte ist. Um dies aus dem anatomischen Befund beurtheilen zu können. Uiüssen wir erst das Leben der Organe, den ungleichen Gebrauch, die ungleichen Alterszustände ihrer specifischen Zellen kennen und zu beurtheilen vermögen, wovon wir leider noch sehr weit entfernt sind. Dies ist der lirund . warum Verfasser nach den ersten Versuchen und der durch sie ge wonnenen Einsicht in diese Schwierigkeiten die .\rbeit vorläufig wieder zurückgestellt bat. Das zweite Mittel zur Beurtheilung, ob züchtende Auslese vorliegt, ist der Nach- weis der bleibenden Anpassung des Organes an die chronische Schädlichkeit.] [-'I Weiteres siehe Nr. 5, S. 241-248, Nr. 7. S. ISh u. f., Nr. S. S. 420 u. f. Nr. 18, S. 490 f.] 278 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Thcile im Orsanismiis. zwar kiuv, . aber verständlicli angedeutet /,u lialjen. Denn wem möchte nielit einleuchten, duss die Conc-urrenz und der Wettkampf der Vertreter desselben Standes und auch die regulirende Weelisel- wirkmig der verschiedenen Stände auf einander mit zu den mäclitig- sten Factoren des stetigen Fortsehrittes gehöreu? Wie weit würden wir ohne diesen Wettkaniiil' dir Finzelnen blos durch den l\an)i)f mit den Xachliarstaateu gekommen sein? III. Nachvsreis der trophischen Wirkung der functionellen Reize. A. A erlialteii »lurcli den „ruiietioiielleu" Ueiz ziiglcit-li „tropliiscli" angeregter Siibstaiizoii. [111] Von flen im vorstehenden Capitel angeführten i'^igen- schaften, welche im Kampf der lebenstliätigeu Molekel imd im Kampf der Zellen siegen resp. nach Selbstausmerzuug der anderen übrig bleuten müssen, vdvd das thatsächliche\'orhandenseiu derjenigen Eigenschafti'U. welche einfach im Stoffwechsel siegen, welche also sich mit dem vorhandenen Nahrungsmaterial am besten nähren und am wenigsten verbrauchen , Niemand bestreiten. Einmal , weil die Prämisse , der Stoffwechsel, eine imzweifelhafte Thatsache ist, mit welcher auch der Sieg des in demselben Begüustigteren eine Nothwendigkeit wird; und zweitens, weil die hochgradige Leistungsfähigkeit des Organismus, wiv ■sie uns die Physiologie erkennen lässt und uns den höheren ( »rganis- nuis als die die zugeführte Spannkraft am meisten uusnutzt'ude .\hischine zeigt, direct beweist, dass solche vorzüglichen lOigenschaften vorhanden sind. Es ist aber wohl genügend dargelegt worden, dass, wenn lüese Eigenschaften vorhanden sind, sie durch den Kampf der Theile ihre Au.sbreituug gewonnen lialien müssen; und dass durch t]v\\ Kauipr der Individuen blos diejeuigen Öpecialfälle derselben, welche Itii die äusseren Bedingungen der organischen Species die günstig- sten sind, ausgelesen werden konnten. Diese Eigenschaften sind zudem III. A. \'fi'lialton zugleich fuiulioiu'll u truphiscli iTreyter SubsfaiiztMi. 270 rein physiologisclic iiml olnu' Ijcsoiulere gestulteiidc Wirkuim', so dass wir kciiu' W'ianla.ssuug liabon, weiter [1121 auf ^^ie ciii/.u- yelieii. 'i'rolzik'ni .soll üljer die Arten iiii-es VorkommciiH in den (Jrga- ni.snuii, sowie ü\)vv die Momente, welelie den betreffenden Organen ilu'e Gestaltung verleilien. im i\'. ('npitel nocii Einiges angel'(iiii-t werden. Anders ist es dagegen nut der Annahme, dass lebenstiuUige Su ii- stanz en oder riehtiger Proeesse in den Organismen vorhanden seien, weleiie dureil zuget'ülirte Reize in der Assimilation gekräftigt werilen und dalier tlie Herrschaft in den bezügliehen Theilen des Organismus gewimieu müssen, sofern diese Reize widjrend des ganzen Lebens wiederkehrend einwirken. Dass solche Eigenschaften, wenn sie einmal auftreten, siegen müssen, glaube ich im vorigen Capitel gleichfalls genügeud dargelegt zu haben. Es bleibt demnach noch der Nachweis zu liefern, dass solche Eigenschaften in den Organismen vorkommen, ehe schliesslich zu einer aphoi-istischcn Darstellung der siieeielleii gestaltenden Leistungen dersellien bei der Entwickelung des Thieri'eiches geschritten werden kann. In Folge der Schwierigkeit des Existenznachweises derartig (|ualili- cirter Stoffe wird es wohl das Beste sein, wenn wir, um ihr Vorhanden- sein erkennen zu können, zunächst die allgemeine Wirkungs- weise solcher Substanzen ableiten und mit den tliatsäelilich vorliegenden N^c'rhältnisscn vergleichen. Proeesse, resp. lusubstantiationen von Processen (s. S. 241 Anm.), welche unter Reizeimvirkung in ihrer Assimilation stärker gekräftigt werden, als dem erhöhten \'erbrauehe entspricht, bei welchen also die Fähigkeit der Uebercompensatiou, diese ursprünglich allgemeine Fähigkeit des Wachsthums trotz der Abhängigkeit bestehen geblieben ist, werden sich mit der Häufigkeit, also mit der grösseren Mcuge des Reizes zu grösserem ^'olumen entfalten oder insubstantiiren. Es wird also eine quantitative Selbstregulatiou der Grösse der Organe nach der Grösse dos ihnen zugeführten Reizes statttinden. Im Organismus sind nun liekanntlich die Theile 113 vor frc'mden Reizen geschützt, abgesehen von der 280 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Thoilc im Organismus. inneren uud äusseren Oberfläche. Die Reize, Avelclie wirken, sind somit blos die functionellcn Reize, so der Impuls für Nerven, für Ganglion-, Muskel- und manche Drüscnzellen, Druck resp.Zugfür die Binde- oder Stützsubstanzen, für Knochen, Knorpel, Bindegewebe und elastisches Gewebe (s. Bd. II, S. 227). P^s wird also, wenn die Anpassung an den ausschliesslich ein- wirkenden Reiz durch die Thuilauslosc erfolgt ist, jedes Organ um so grösser sich entfalten . je häuhger der Reiz einwirkt. Da diese Reize aber blos in Folge der Thätigkeit des Organismus stattfinden , indem sie alle direct oder indirect von dem Reizcentrum in dem (Tehirii abhängen, so werden sie blos das für den ganzen Organi.smus Zweckmässige hervorbringen, also dii-ect das Zweckmässige für die Erhaltung des Individuums gestalten. Dies ist nun bekanntermaassen in den genannten Organen nach L.\MARCK, Darwin und Anderen entsprechend der Darlegung im Gapitel I wirklich der Fall. Bezüglich der Grösse solcher Uebercomix'U.sat iun er- innern wir an die Untersuchungen von Volkman.n''), welche ergaben, dass die Blutgefässe das Zehn- bis Vierzehnfache ihrer normalen Spannung auszuhalten vermögen. Von den Muskeln weiss Jeder, dass, wenn er in der -Jugend mit zehnpfündigen Hanteln zu übeu angefangen hat. welche er nur mit grösster Willensanstrengung in gewisser Weise zu heben vermochte, er dies nach einiger Zeit mit Leichtigkeit kann und dass er bei derselben stärksten Willensanstrengung mit dem jetzt etwas verdickten Arm vierzehn- oder scclizehni)fündige Hanteln zu bewegen vermag. Ebenso ist durch alltägliche Erfahrung bekannt, dass dii' Knochen und Bänder normaler Weise viel grössere Belastungen und Spannungen au.-^zuiialten vermögen, als die- jenigen sind, an welche sie durch gewohnten (>ebrauch angepasst sind-). 1) Voi-KMANN, Haemodyiiiimik. S. 290. [2) Antixois Raibkh (Elasticitiit und Kcitigkoit des Knochens, Leipzig 187(5). fand die Druckfestigkeit eineiDiaphy.se des nienschliciien 01lel■^ichtiger Beobachtungen \ur. von denen wir zunächst diejenigen vorführen werden, welche die Folgen der Reizeutziehung nach Durchschneidung der den Reiz zu- führenden Nerven erkennen las.sen. Nach Durchschneidung eines Bewegungsnerven atrophirt iiaeli den übereinstimmenden Beobachtungen zahlreicher rntersueher der zugehörige Muskel mit absoluter Sicherheit inneriialb weniger W'oelieu zu einem bindegewebigen Strang. L. Hkümanx-) sagt in Bezug darauf: ..Imu beständiger erhaltener Eintluss des Nervensystemes ist durch diese Thatsaehe erwiesen, so viel auch uoi-li zu ihrem Verständniss fehlt." Schon nach drei bis vier Tagen ninnnt die direete und In- fi) Das betrifft die ungleiche speci fi.schc Länge der Muskeln, d. h. das ungleiche mittlere Verhältniss der Länge verschiedener Muskeln bei Dehnung und bei der üblichen oder der überhauiit von der Beweglichkeit der Scelettheile gestatteten Verkürzung. Ich habe gefunden, dass die mehr unbewusst gebiauchten Muskeln des Rückens und die Bündel des Zwerchfelles so lang sind, dass sie ge- wöhnlich blos 2.5— 35" 0 verkürzt werden, während die mit mehr Aufmerksamkeit gebrauchten, also wohl stärker erregten Hand- und Armniuskeln überaus häutig .30— 60°o Contrahirt werden: die Beinmuskeln stehen in der Mitte, s. Nr. 8, S. 368.) ■i) L. Hkbmann, Handbuch der Physiologie. Bd. l, Abth. 1, S. 138. III. A. A'i'i'luiltcn zugleich fiinotionoll u. trophisch erregter Substanzen. 285 directc Errefjharkcit des Muskels ali. Diu Atroiiliic crlolüt unttT l'u- deutlichwenlrn ihr (^uerstreil'uug, körniger Trübuiig, Schwuiui der specifisfliou Suh.stan/,, Fottkürnclien- Ansammlung und .schlie.sulic'hcni jränzlichem Sclnvuud der speciüschen ( lebilde. Es findet also unter dem Zugrundegehen des Normalen, Specifiseiien ein anderer Stoffwechsel statt, von welcliem e.s uuhekannt ist, ob er iilos ein 8 teh c n li 1 i-i bc n des noi malen Sto li'weclisels auf niedrigerer Stufe dar.steiit. oder ob er eine eigene besondere Besehaffenheit besitzt, weielie (lireet der normalen Regeneration [118] hinderlich ist. Dieser l'rocess erfährl nach Schiff durch regelmässige electrische Reizung des der Atmiibie vcrfallonen Organes eine bedeutende Verzögerung')- l'^.r kann dagegen in geringerem Grade auch ohne Durchschneidung der Nerven schon durch blosse vollkommene Aussergebrauchlassung des Muskels eintreten, wie dies bei chirurgischen Krankheiten oft genug als Nebenerscheinung, z. B. chronischer Gelenkentzündung oder grosser Geschwülste vorkommt. Es scheint mir daraus hervorzugehen, dass der functionelle Reiz zur Erhaltung der Muskeln unerlässlich nöthig ist; und auch Cohnheim sagt^): „Die Elemente der Arbeitsorgane assi- iniliren blos, wenn sie erregt werden, nicht bei blosser Hyperämie^)." Die fundamentale Thatsache, dass Drüsen auf Nerveneinfluss thätig sind, wurde im .Jahre 1852 von C. Lruwic an der Unterkiefer- [1) Reih (Edinb. moDthl. journ. of med. sc. 1841. I. S 320) lehrte zuerst die Entartung durch künstliche Reizung zu verzügern.] -) CoHNHKiM, Vorlesungen über allgem. Pathologie. Bd. 1. S. .äSCi. ■^) Eine besondere Ableitung der Activitätshypertrophie der Muskeln giebt neuerdings Jacques Loeb (Ueber die Entstehung der Activitiitshypertrophie der Muskeln. Pfliger's Arch. 1894 Bd. 56, S. 270—272), wobei er als Mittelglied zwischen der Thätigkeit und der Volurazunahme des Muskels, die durch die Thätigkeit herbei- geführte, von ihm nachgewiesene erhebliche Zunahme des osmotischen Druckes in den Muskelfasern annimmt. Das in Folge dessen eindringende Wasser bedingt eine Volurazunahme: ,die Protoplasmalamellen werden gedehnt; und es kann daher zur Einlagenmg neuer Molecüle in den Interstitien derselben kommen, vielleicht in der Weise, welche Th.\ube bei seinen Versuchen mit künstlichen Zellen entwickelt hat. Die Oberfliichenvergrösserung (soll wohl heissen: Substanzvermehrung'?) kann aber auch durch Apposition neuer Theilchen auf die gedehnten Lamellen definitiv werden.' Loeb muss dabei also annehmen, dass schon Dehnung der spccifischen Muskel- substanz die Neubildung solcher auslöst. Zugleich wäre noch die Möglichkeit der von mir uachgewiesenen dimensionaleu Activitätshypertrophie darzutbun (s. Nr. 8, S. 407.J 28G Ni". 4. Der ziU-litcnilr Kam|if iIit 'l'lioilc im Organismus. (Irüse entdeckt iiiul ilaiin \cin ;ni. S. 484. III. .\ Vcrlinlti'n ziiglpicli fiiiutidncll ii. tropliisch orregter Substanzen. 287 SC li n i'i ei Innervation benachbarter (Tanglicn- zellen schvvaclie Reize gelegentlich in die peripVier unterbrochenen Bahnen eindringen. Dies gescliieht vielleicht häufiger und allgemeiner, als vär gegenwärtig verniuthen, da wiv blos auf Impulse achten, welche stark genug sind, um Contractionen auszulösen; denn es wird vielleicht die folgende Aeusserung IIehman.n's Bestätigung finden. Er sagt'): „Mög- lichervveise besitzt der Muskel Erregungsgrude, welche sieh in chenii- schen oder galvanischen. [123) aber noch nicht in C'ontraetionsvor- gängen äussern ; und beim Nerven ist es sogar wahrscheinlich , dass er Erregungsvorgänge besitzt, die zur Hervorrufung einer Muskelcon- traction nicht ausreichen." Es ist noch von Durchschneidungsversuchen zu erwähnen, dass nach Magexdie-) in Folge der Durchschneidung des Sehnerven niclit blos das periphere, sondern auch das centrale Stück degenerirt; dazu bemerkt Her.\ianx, dass vielleicht der Umstand, dass dieser Nerv keine RAJAMER'schen ^Einschnürungen habe, die Ursache sein könne. Heilen durchschnittene Nerven wieder zusammen, was stets durch Sprossung von dem centralen Stumpfe aus stattfindet, so wird dann auch der inzwischen in fettiger Entartung begriffene periphere Stumpf rasch wieder normal, indem die Fettkürnchen verschwinden und er wieder normal erregbar und leitungsfähig wird. Durch den ge- wohnten Reiz werden also wohl die specifischen Processe gekräftigt, so dass sie sich wieder stärker insubstantiiren und die anderen ^'or- gänge zum Schwunde gebracht werden. [Nach neueren Beobachtungen wird der periphere Theil des Nerven nicht wieder belebt, sondern vom Centrum sprosst ein neuer Trieb bis zur Peripherie, den früheren Nerv nur als Leitrohr Ijenutzend.] Ausser diesen wichtigen experimentellen Thatsachen seien noch einige von den zahlreichen bezüglichen pathologischen \'or- kommnissen angeführt, welche gleichfalls die Folgen der Al)- haltuug des f un ctionellen Reizes vor Augen führen. Die sogenannte spinale Kinderlähmung, eine Krankheit des Nervensystems, welche hauptsächliili in der Zerstörung der 1) 1. c. S. 113. ■2) Hkrma.n.n-, HanUljiU'li .1 Physiologie. Bil II. .\ttli. I S. 13G. 111. A. W'rlialti-ii ziiiiloic'li rimctic.iiill u. tropliiscli erregter Substauzeu. 291 motorischen Gimglienzellen des Rückeninsirks besteht, gelegentUt-li uljor aiicli mit einer Erkrankung der jieripheren Nervoi l)eginnt und eine l'\Tnhaltung des i'unctionellen Reizes von den Muskeln zur Folge hat, ist mit hochgradiger Atrophie der den betroffenen (Janglienzellen oder Nerven 7Aigehörigen Muskeln [124] verbunden. Es gelit daraus lier- vor. dass seihst I' ü r jugendliche, n o eh \v a c h s e n d e M u s k e 1 n (\vv f u n c t i o u e 1 1 e R e i z zur normalen E n t \v i c k e 1 u n g- n ö t h i £ ist, dass die Eutwickelung nicht rein durch vererbte Eigenschaften dieser Theile stattfindet. Ferner giebt es eine ganz entsprechende jVffection liei l<]r- wachseuen, welche gleichfalls mit atropischen Lähmungen nach Ek;hhor.*t') und Leyden^) einhergeht; wie denn überhaupt bei Affec- tinn des Rückenmarks die zugehörigen Muskeln der Atrophie verfallen. Wir schliessen wohl mit Recht aus den vorstehend mitgetheilten experimentellen und pathologischen Beobachtungen, in welchen bei Muskeln und Drüsen nach dem Ausfall des functionellen Reizes Entartung und Schwund eintritt, dass der functionelle Reiz in diesen Organen nicht blos den Stoffverbrauch , die Dissimilation bewirkt, sondern auch zur Wiederanbildung, ziu" Assimilation uuerlässlich nüthig ist. Und eine ähnliche, aber für sich allein zur Erhaltung im Stoffwechel nicht ausreichende ^^'irkung nauss den: functionellen Reize auch für die Nerven selber zuerkannt werden. Der grössere Antheil an der Erhaltung muss hier aber, -wie wir sahen, einem von den Ganglienzellen ausgehenden Reize zukommen.^) 1) EicHHOHST, ViRCnow's Archiv. Bd. G9. 1876. S. 26ö. 2) Lkvde.n, Beiträge zur acuten und chronischen Myelitis. Fhkmichs und Levdkn, Zcitschr. f. klin. Mediciu. Bd. I. S. 404. [3) Nach Cäbi, Weigkrt (Artikel „Ueber Entzündung". Realencyclopädie der gesanimten Heilkunde. Wien, Schwarzenberg. 1880) hat j e d e r Reiz eine schädigende Wirkung, durch welche normale Theile und damit Hemmnisse zerstört werden, welche die Gewebe hinderten, den ihnen innewohnenden formativen Trieb zum Waehs- thum, zur Regeneration zu bethiitigen. Die interstitiellen Kntzündungen bestehen r.^YEK und Andere. Vielleicht auch auf vasomotorische Störung zurückzuführen sind die bei Neuralgieen (Nervenschmerzen) und in anderen pathologischen Fällen beobachteten Störungen der Ernährung. So kommen bei Neuralgieen vor: Veränderungen der Zahl, Farbe, Dicke und A'erbrei- tnng der Haare, ^^erdünnung der Haut, Schwund des l*\'ttpolsters, ferner von Hautausschlägen: Herpes, Urticaria, Pemphigus etc. Die gleichen Störungen treten auch bei Auästhesieen (Gefühllosigkeit) in 1) Schiff, Le^ons de la physiolog. de la digest. redigees par K. Levier. II. S..539. 1867. 2) Legros, Des ncrfs vasomot. l'aiis lS7o. •') Brown-Skouard, Compt. rend. de la soo. de liiologie. 1872. S. 194. *) Vui.piA.N 1. c. II. S. 397. 236 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Folge peripherer Leituugsuntei-brechung der Nerven gelegen tlich auf. In Folge jieripherer Lähmungen zeigt die Haut oft Atrophie , wird papierdünn, glatt und glänzend au den Fingern und Zehen und neigt zu Decubitus und Ulceration (\'ersch\värung). Mitchell sah dabei Schwund der Haare, Schieffehuecker dagegen vermehrten [129] llaar- wuclis. Auch kamen dabei Knochenatroijhic und Leberaffectionen vor. Aber auch Hypertro])hie der Haut, der Nägel und Vermehrung des Haarwuchses sind beobachtet. Besonders schien für trophische Nerven zu sprechen der bei Verletzungen des Rückenmarkes nicht selten auftretende acute De- cubitus (Chargot), der selbst bei müglichstem Schutz vor Druck und bei grösster Reinlichkeit rasch um sich greift. Aber da hier voi allem die Haut und das unterliegende Bindegewebe abstirbt , an welchen nie Jemand hat Nerven zu den Zellen oder Fasern treten sehen, so scheint liier die directe Einwirkung der Nerven, abgesehen von den Gefässnerven, am wenigsten begründet [?]; und es ist wohl richtiger, sich für diese Fälle, sowie auch für die Hemiatrophia facialis progressiva (halbseitigen Gesichteschwund) nach allen denkbaren an- deren Ursachen umzusehen, als gleich ein durch sonst nichts be- kundetes neues Nervensystem mit unverständhcher Reizquelle und Reizregulation anzunehmen. Ferner sind noch zu erwähnen Gelenkerkrankungen bei ])eripheren Lähmungen und bei Verletzung des Rückenmarkes, bei Tabes dorsualis (Rückenmarkschwindsucht), bei spontaner Rücken- marksentzündung und bei halbseitigen Lähmungen durcli Gehirn- atfectiou. Diese alle aber lassen sich Ijci unseren jetzigen geringen Kenntnissen freilich nur mehr oder minder auf dii' unausbleiblichen Folgen der Lähmuug zurückführen und nöthigen nicht zur .\nnalinic besonderer trophischer Nerven. Doch deuten schon die von JSchifk, Brown-Sequarü und Ebstein') gefundenen kleinen Blutaustritte in den Lungen, Magen und im Rippenfell nach A'erletzung der Schhügel, der Streifenhügel und des Rons im Gehirn auf eigenthümliche vaso- motorische Störungen als Folgen solcher N'eränderungen des Central- nervensystemes hin. 1) Siehe S. iMavkr 1. c. S. 208. III. A. Verhalten zugleich fiinctioncll u. trophisch orregtoi' SubsUnzen. 297 [130] Zusainmenfasscnd glaube icli, dass die citirtcn Veränder- ungen der Organe durch Nervenaffection bei den Muskeln und Drüsen durch den Ausfall der functionellen Reize bedingt sind, bei allen anderen, den passiv thätigen Organen (Knochen- und Bindegewebs- bildungen) hauptsäcblicii auf Gefässstörung zurückgeführt werden müssen. Doch ist für die letzteren nicht zu vergessen, dass aucii sie,, besonders die Knochen, der Inactivitätsatrophie unterliegen. Dies schliesst indessen nicht aus, dass einzelne Organe doch besondere trophische Reize und durch besondere, dieselben leitende Nerven erhalten; aber dieselben sind dann keine allge- meinen, sondern eben sj)ecielle beschränkte Einrichtungen. So nimmt Eic.HiiOR.sT au, dass dem Herzen trophische, zur Erhaltung des Herz- muskels unerlässUche [?] Reize in der Bahn des Nervus vagus zuge- leitet werden ; und wir waren oben schon genüthigt, von den Ganglien- lienzellen der Zwischenwii-belganglien einen unentbehrlichen erhalten- den Einfluss auf die Empfinduiigsuerven ausgehen zu lassen, wenn er, wie wir sahen, auch allein (ohne den Reiz der specifischeu Func- tion) nicht im Stande ist, den Nerven erregungsfähig zu erhalten. Heidenh.mx folgerte aus einem eigenthümlichen, weiter unten dar- gelegten Verhalten der Unterkieferdrüse bei Vergiftungen und Reizung des Nerv, liugualis, dass in der Bahn des letzteren, ausser den gefässerweiteruden noch besondere secretorische, von ihm als tro- phische bezeichnete Nerveufasern enthalten sind. Diese letzteren Fasern, welche den Umsatz der organischen Bestaudtheile in den Drüsenzellen anregen, wirken vielleicht nicht blos auf die raschere Abscheidimg des Secretes, -auf die Dissimilation, da sonst sofort nach Abgabe des A'orratbes der Zellen Erschöpfung eintreten müsste; son- ilern sie wirken vielleicht indirect oder diix'ct auch auf die Assimilation steigernd und sind dann trophische Nerven ganz in dem Sinne. il311 wie er von uns postulirt wird; denn sie wirken functionell uml trophisch zugleich; der diux-h sie zugeleitete Reiz, sei er physiologisch oder künstlich, hat diese doppelte Wirkung. Die Natur dieser Nerven wird für uns dadurch nicht beeinflusst, dass an demselben Organ noch andere Nerven vorkonunen, unter dei-en EinHuss die Wasserabsonderung steht. 298 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Thoilc im Organiamiis. Ebenso sind al.s Irnphische Nerven in unserem Sinne auf- zufassen die functionellen Nerven der anderen Drüsen und der Muskeln; während für die Bindesubstanzen der funetio- nelle Reiz ein niechanisclier ist und keiner Nervenvennitteluug zur l'ebertragunj; auf die (iewebe becnd, mit Itecht zuniU-list luTvorgelioben, duss, wenn der Reiz blos aul' die Blutgefässe wirkt, vermehrte Blutzufulir zum l)etroffenen Theil ver- anlasst, die ]'\)lgo lilds eine Hypertmpliie, eine einfache \''ergrüsse- ruug resp. N'ermehrung der Theile, aber kein unbegrenztes Waclis- thum sein kann. Wir schliessen uns die.ser Ansicht an; denn zu letzterem gehört nicht blos eine Erweiterung der Blutgefässe, wie sie der Reiz wohl hervorbringen kami, sondern ein stetig fortschrei- tendes A\'aclisthum und N^ennelu'ung derselben ; und es ist nicht ein- zusehen, warum dieser Process, weiui er auch, was wir aber gar nicht wissen, durch Reize hervorgerufen werden könnte, nacli dem Auf- liören des Reizes noch ohne Aufhören weiter fortgehen .sollte. [Es iiiüssten also die Zellen durch die Reizwirkung wieder embryonale Eigenscliaften erlangen, und so die Fähigkeit gewinnen, danach auch ohne weitere Reizwirkung, blos in Folge der durch den Reiz bewirkten ,, Auslösung" immanenter Wachsthumskräfte noch lange andauernd fort zu wachsen ; sei es, dass diese Eigenschaft erst durch den Reiz gebildet werde oder, wohl eher vorstellbar, dass embryonale inactive Bestaudtheile activirt werden. Doch fehlt es für diese An- nahme an genügenden Analogieen, wenn schon einige Pathologen- Schulen zu solcher Annahme neigen.] Das Gleiche gilt, wenn nicht die Blutgefässe, sondern die Zellen des Parench^'ms direct durch den Reiz angeregt würden; auch hier wird es unverständlich bleiben, warum eine progressive, die Ursache überdauernde Wirkung stattfinden, wie die Uebercom- [135] pensatiou in der Assimilation, welche durch einen Reiz veranlasst worden ist, nach dem Aufhören des Reizes dauernd fortbestehen kann. Da Derartiges nie durch Beobachtung sicher hat festgestellt werden können und die Procentzahl derjenigen Geschwülste, für welche Reize als Ursache vermuthungsweise angegeben worden sind, blos 14"/,, beträgt, so können wir mit Cohnheim der ganzen Lehre keine Berechtigung zuerkennen. X'ielmehr stimmen wir mit 1) CoH.vHEiM, Allgemeine Pathologie. Bd. 1. 1877. 302 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. letzterem Autor*) übercin, wenn er die früher von \'iiu:no\v inid LüfiKE für Specialfälle ausgesprochene Idee zu dem allgemeinen Princi]) erweitert hat, dass alle diese durch unbegrenztes Wachsthum charakterisirten Geschwülste als überschüssige Reste embryonalen Gewebes anzusehen sind, welche erst später ihre bewahrte embryonale Eigenthümliehkeit fortschreitenden Wachsthum« zur(Teltung liriugen, sobald die unigelHuden Gewebe geschwächt genug sind, um ihnen nicht mehr genügend Widerstand zu leisten zu vermögen-). Damit können also diese (Toschwülste keine unzweifelhafte Ana- logiestütze für unsere Auffassung der trophischen Wirkung von Reizen abgeben. 1) CoHNHFiM, AUgem. Pathologie. Bd. I. S. 63.^ u. 644. 1877. [-) Ks ist mir gelungen, s. Nr. 22. S. 269 in Froschembryonen an verschiedenen Stellen einzelne in der Kntwiekelung zurückgebliebene Zellen aufzufinden, welche noch die Charaktere der Furchungszellen besitzen, d. h. gross, rund, mit Dotterkürnern erfüllt, und mit centralem, den kleinen chromatinarmen Kern umgebenden Pigment versehen sind. Diese nicht diflferenzirten Gebilde liegen, wie Fremdkörper unter den kleinen, epithelial einander abgeplatteten, weder Dotter- korner noch centrales Pigment, aber einen grossen, intensiv gefärbten Kern ent- haltenden Zellen des Embryo; sie entsprechen somit der Annahme ConNHEiMs und zwar wohl in evidenterer AVeise, als er selbst erwarten mochte. Doch wissen wir natürlich nicht, ob sie bei weiterer Entwickelung der Embryonen erhalten geblieben wären und ob sie die Fähigkeit hatten, sich eventuell zu Geschwülsten zu entwickeln. Nehmen wir jedoch dieses und dass bei Menschen dasselbe vorkommt, an, so ist es vorstellbar, da ich in einem einzigen Froschembryo 12 solche Zellen in den. den ver- schiedenen Keimblättern entstammten Schichten auffand, dass bei den relativ seltenen Individuen, an welchen nach einmaliger Gewalteinwirkung oder nach chronischer Reizwirkung, an der betreffenden Stelle Geschwülste entstehen, zufällig eine oder einige solche zurückgebliebenen embryonalen Zellen gelagert waren und durch den auf sie ausgeübten Reiz oder durch die Schwächung ihrer Umgebung zum Thätig- werdeu veranlasst worden waren. Da ich ausserdem gefunden hal)e, dass solche Zellen, also die ihnen zu .Grunde liegenden Entwickelungsstürungen, bei Ver- zögerung der Laichperiode resp. der künstlichen Befruchtung des Frosches besonders häufig vorkommen, so könnte man vermuthen, dass auch in Menschen, die aus erst spät nach der Eireifung befruchteten Eiern entstanden sind, solche Zellen sich finden. Auch nach künstlich durch Operation des gct'urcliten Froscheies mit der Nadel hervorgebrachten Störungen entstehen viele solche zurückbleibenden Zellen und zwar auch wieder in besonders reichlicher Anzahl bei verzögerter Befruchtung, weil durch diese Ver- zögerung die Eier leiden und ausser der Störung der normalen Entwickelung auch be- sonders die Selbstregulationsmechanismen sehr geschwächt werden. Diese ganze Sachlage ist wohl der Aufmerksamkeit der Pathologen zur Prüfung zu empfehlen.] III. A. Vorlialton zugloich fuiictiniiell u. trophisch erregter Sulistiiiizon. 303 AiukT-s ist ilics iiiii ciiitr aiulcreii , besondcron (iru|)|ie von Ge- sclnvülsteii , ilen Iiifectionsgeschwülsten oder den Gra u u hi t i ons- geschwülsten N'iiühiüw's, /,u denen die Sypliilis-, Aussät/.- (Lepra-), Rotz-, Tultereulose-, 'l'yplius- und Luj)U.sueubildung geliüren. liier können wir der Ansieht Cohnheim's, dass diese Gesellwülste, welclio naeli einer naeliweisbar stattgehabten A'ergiftung des Körpers mit einem spccilischen Krankheitsgiite an verscliiedenen Stellen des Kör- pers zunächst als kleine Knötchen aus lauter dicht bei einander ge- lagerten Rundzellen im Bindegewebe auftreten, blos durch locale Er- weiterung der Blutgefässe bedingt seien'), nicht beipflicliten , da wir luis [136' eine Wirkung umschriebener Erweiterung der Blutgefässe nit-lit iler Art vorstellen können, dass sich an einer Stelle so viel Zellen entwiekehi, dass sie sich drängend sogar ihre Ernährungs- gefässe allmählich selber zusammendrücken , wie dies beim Typhus und bei der Tuberculose geschieht, in Folge dessen diese Neubildungen selber absterben müssen; und da wir fernerhin entgegen Cohnheim annehmen, dass wohl chemische und mechanische Reize im Stande sind, eine Vermehrung der Zellen der Bin de Substanzen hervorzurufen, in der Weise, wie dies bei Pflanzen durch den Stich oder das Gift der Gallwespe oder durch die Ansiedelung von Blattläusen geschieht, so glauben väv, dass hier das specifische Gift als X^ermehrungsreiz gejvirkt hat. Die besondere Locaüsation und die Knötehenform der Geschwulst ist dabei eben nicht schwerer verständlich, als wenn man capillare Hyperämieen als Ursache annimmt ; denn im letzteren Falle i.st nicht einzusehen, warum bei der chemischen Natur mehrerer dieser (iifte blos capillare, mnschriebene und nicht ausgedehntere Hyperämieen entstehen. Die Fortsetzung des Vorganges bis ziu- Compression der Blutcapillaren bleibt in beiden Fällen verständlich ; denn auch bei Vermehrung der Zellen in loco kann das Wachsthuni so lange dauern, als die Capillare noch ein Minimum offen ist und also noch Nahrung abzugeben vermag, wenn nur die Theile selbst genügend zur Nah- rungsaufnahme angeregt sind. Diese Geschwülste haben auch nicht den Charakter des unbegrenzten Wachsthums; und ihre weitere Bil- 1) 1. c. S. G19. 304 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. (liing-, sowie die weitere I'^ortilaucr des Gebildeten selieiiit iiaeh der Tilgung oder Entfernung des urHüehlicheu Giftes aufgehoben zu wer- den. Somit scheint es uns das (137] Waln-seheinlichste zu sein, dass sie in gleicher Weise durch die zur Vermehrung anregende Wirkung des specifischen Giftes entstehen , wie uns dieses vom Kröpfe sicher lukaunt ist. Dieser entsteht, wenn die disponirten Individuen in die Kropfgegend kommen, und das weitere Wachsthuni luirt auf, ja die gebildete Geschwulst selber schwindet manchmal nach dem Wrlassen derselben \\'ieder. So würden wir denn in den sogenannten Inf ectionsge- sch Wülsten Beispiele tro]>hischer Wirkung von Reizen zu erkennen haben ; und zwar sind es wahrscheinlich chemische, nicht physikalische Reize, was nicht ausschliesst, dass dieselben in einigen dieser Krankheiten, wie nicht ohne eine gewisse Berechtigung vermuthet wird, von Microorganismen proilucirt werden '). 15. Uiizurciclieiule g;estaltpii(lp Wirkiiny: der ..fiiiictioiiollon Hyperämio'' Danach gehen wir nun zum letzten Theil unserer Be- weisführung der trophischen Wirkung der functionellen Reize, zum apagogi sehen Beweise über, d. h. zum Ausschluss der von der ]\Ielirzahl der Autoren bisher als Ursache der fimctionellen Anpassung betrachteten Wirkung der „functionellen Hyperämie", resp. der beim Ausbleiben der Funetionirung entstehen- den Anämie. Wir werden zeigen, dass diese Alterationen der Blut- zufuhr nicht die Erscheinungen der functionellen Anpassung zu er- klären und daher die Nothwendigkeit der Annahme des Principes von der trophischen Reizwirkung nicht zu beseitigen vermögen. Man hat behauptet oder stillschweigend angenounnen, dass eine Vergrösserung der Blutzufuhr während der Function und kurze Zeit nach derselben die Ursache der Vcro-rösseruno- des Orsranes [1) Dasselbe Thema der trophisclien oder formativcn Heize wurde neuerdings, soweit pflanzliche Organismen (auch Bacterien) als iirrcger in Betracht kommen, mit gleichem positiven Krgebniss von Tu. Billroth behandelt, (lieber die Einwirkungen lebender Pflanzen- und Thierzellen auf einander. Wien 1890. 43 Seiten. i] in. li. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionollcn Ilyperämie. 305 sei, welche bei dauenuler \'ei-st;irkuiiy der l'^inctidii sich ;iusl)ii(Ict. [J. VoüEL sagt schou im Jahre 1844, also erheblich vor JIehbert Si'E.ncek (s. S. 141), in dem Articel „Hypertrophie" iu Wacxehs llaudwürterbuch derPhysiologie (ßd. 11,8. 188): „Es ist laugst anerkannt, dass eine lortgesetzte Gongestion das wesentliche Causalmoment der Hypertrophien bildet." Teber die Ursache der Activitätshypertrophie äussert er sich(S. 189): ,, Der Hergang dabei ist wahrscheinlich der, dass die erhöhte Thätigkeit der Muskelfasern durch ReÜexion eine Erweite- rimg der Capillargefässe, überhaupt Congestion bedingt, woraus dann vermehrte Absonderung und vermehrte Ernährung resultirt.") Dass zur vermehrten Nahrungsanlualnnc der Organe vermehrte Zufuhr von Nahrungsmaterial nöthig ist, erscheint selbstverständlich ; und da für die thätigsten (;)rgane, die Muskeln, eine die Function begleitende Vergrösse- rung der Blutzufuhr, also eine,,functionelle Hyperämie", vonLuDwu; und SczEi.- [138] kow wirklich nachgewiesen worden ist, so lag es nahe, dass unter der Evidenz dieses Zusammenhanges man die noth- wendige Vorbedingung der verstärkten Aufnahme mit der Causa cfficiens identificirte und behauptete, die Hyperämie sei die Ursache der vergrüsserten Nahrungsaufnahme, der Vergrösserung des Organes, also der Hypertrophie. [L. Hermann sagt von der Volumenzuuahme stark gebrauchter Muskeln'): „Eine ausreichende Erklärung fehlt; aui nächsten hegt die Annahme, dass die mit den Contractionen ver- bundene i)eriodische Hyperämie, sowie die mechanische Einwirkung der Dehnungen die Mittelglieder bilden." Dieser Ableitung vermögen wir, wie im Folgenden ilargelegt werden soll, nicht zuzustünmen-).! [1) L. Hi.;r.mann's H;indb. d. Physiologie. Bd. 1. Theil 1. S. 1:56. 1879.] [-') IIkbbkut Si'E.NCKK, für welchen Herr G. J Homaxks, wie oben (S. 141) mit.^'e- iheilt wurde, die Priorität meiner Ableitungen in Anspruch nahm, leitet jedocli gleich- l'iills die functionellen Anpassungen von der functionellen Hy|)eriiniie ab. Indem ich auf den folgenden 2.5 Seiten darthue, dass diese Ableitung unrichtig ist, und danach auf Grund zweier anderer Principien eine neue, allen Thatsachen ge- reclit werdende Theorie entwickele, glaube ich genügend Eigenes geboten zu haben, dass Herr Romanes Veranlassung gehabt hätte, dies in seinem Referate seinen liCsern mitzutheilen, statt sie durch V'erschweigung dieses ümstandes zu dem Urtheil zu führen, dass meineSchrift blos eine detaillirte Ausarbeitung einiger Ideen Spenckr's wäre.] \V. Rüus, Gesammolto Abhandlungen. I. ^^ 306 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. EiniiKil k(Miiii'ii priiii-iiiiell sclioii die iiotliwundige Vorbodingunfr und die Ursiclje eines I'rocesses sehr verschieden von einander sein; zweitens ist Verstärkung der Bhitzul'uhr während oder nach der Func- tion nicht für alle Organe nachgewiesen; schliesslich aber ist sowohl prineipiell als auch thatsächlich venuehrte Blutzufuhr zur vermehrten Thätigkeit nicht absolut, sondern blos in den Fällen nöthig, dass für gewöhulicli kein reljcrschuss von Ernährungsgelegeuheit vorliandcn ist, sondern dass die den einzelnen Organen normaler Weise durdi die Blutgefässe dargebotene Nahrung immer vollkommen ausgenutzt wird. Das Bestehen eines Uel)erschusses von Ernährungsgelegenheit ist nur dann möglich, wenn die Ernährung nicht blos von der Zufuhr des Nahruugsniaterials aljhäugt. sondern nueli von anderen Factoren; und umgekehrt ist vei'niehrte Xahrungszufuhr zur vernululeu Ernährung blos dann absolut nöthig, weini die Blutzufuhr zugleich die Ursache der Ernährung ist. Üaun wird inuner so viel aufgenommen, als vor- handen ist, aber dieser Fall i.st es eben, der erst bewiesen werden müsste. Es wird also bei dem gewöhnlichen Schlüsse, dass zur ver- mehrten Ernährung vermehrte Blutzul'uhr durchaus nöthig ist, das schon als constatirt vorausgesetzt, was erst bewiesen werden soll, näm- lich, dass die nöthige Vorbedingung auch zugleich Causa efticiens ist. Ist dies nicht der Fall , so kann ein Xahrungsül)erschuss vorhanden sein, ohne Ausnutzung desselben; und blos in dem Einen Special- falle, dass normal immer das Minimum von Nahrung zugeführt würde, so dass immer die [139] grösstmöglichc Ausnutzung der Ernährungs- gclegenheit auch beim Erfolgen der Ernährung aus anderen Ursachen stattfände , liele die Wirkung dieser verschiedenen ursächlichen Ver- hältnisse zusammen. Aber die Erfalu'ung belehrt uns. dass wir für gewöhnlich e i n en U ehe rseh uss an Blut besitzen, sodass wir beträchtliche Blutverluste zu ertragen vermögen; somit wird wohl auch den Organen normaler Weise ein Uelierschuss von Blut zugeführt. (jchen wir nun nach dieser Erörterung des rrincipiellcn zu dem thatsächlichen \'erlialten über. Daraus, dass für die Stützgewebe: für Knochen-, Knoipcl und Bindegewebe, eine lunctionelle Vergrösserung der Nahrungszufuhr nicht nachgewiesen ist, fulgt noch nicht, dass .sie nicht stattfindet IIF. B. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 307 ■Wii' müssen tlalur diese Frage unentschieden lassen und können daraufhin der Annahme, dass verstärkte Thätigkeit immer mit \'er- stärkung der Bhitzut'ulu- verbunden sei, nicht direct entgegentreten. Es ist nun bekanntheh sehr scliwer, wenn wie liier zwei Er- scheinungen immer zusammen beobaclitet werden, zu erkennen, in welcher Beziehung sie zu einander stehen, welche von beiden von der anderen abhängt, oder ob beide Theile von einem dritten Factor gemeinsam in Abhängigkeit sich beünden; denn die Logik lehrt uns blos, dass stets zusammen vorkommende Erscheinungen in einem causalen Zusammenhange stehen müssen. Wir sind aber gegenwärtig nicht mehr in dieser unangenehmen Lage; uns stehen jetzt Beobachtungen zur Verfügung, welche diese beiden Erscheinungen getrennt zeigen. Zunächst wissen wir, dass Hyperämie nicht die Function hervorruft, weder bei Muskehi und Nerven, bei welchen die Func- tion au den Stolfverbrauch unerlässlich geknüpft ist , noch auch bei denjenigen Organen, l>ei welchen die Producte des Stoffumsatzes die Function für den Organismus [140] vollzielien, bei den Drüsen. Obgleich nun für letztere Organe der Stoffumsatz selber das Wesen und der Zweck ihrer Function ist, somit die Möglichkeit, dass die Zufuhr von Stoffen direct die Function auslöse, besonders nahe zu liegen scheint, so wies doch Keuchei, nach, dass nach Vergiftung mit Atropin Reizung des Nerv, lingualis trotz erfolgender Hj'peräraie der ünterkieferdrüse keine Vermehrung der Secretion bewirkt. Bei den blos passiv fungirenden Stützorganen schliesslich kann selbstverständ- lich vermehrte Blutzufuhr nicht die Functionirung veranlassen. Zweitens wäre es möglicli, dass umgekehrt durch die Function die Vermehrung der Blutzufuhr, die Hyperämie, hervor- gerufen würde. Diese Möglichkeit scheint den thatsächlichen Ver- hältnissen in manchen Fällen zu entspreclien , und es wird daher im Folgenden noch näher auf dieselbe eingegangen werden. Indessen ist das ^'e^hältuiss kein absolut festes derart, dass ohne Hyperämie hervorzurufen die Function nicht stattfinden könne; denn nach Ver- giftung mit Physostigmin werden die Blutgefässe bei Reizung dos Nerv, lingualis nicht erweitert, die Secretion jedoch verstärkt; und 20* 308 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. LucH.siXGEH ') fand, ila.ss man ihircli Pilocarpin Scliwcissabsouderung an der Hinterpfote liervorrufen kann, auch wenn die Eauchaorta unter- bunden , also die Circulation aufgehoben ist. Natüriich aber kann diese Function nicht länger nh bis zur Erschöpfung der Drüsen (lauern , da durch Aufhebung der Circulation die Regeuerationsmög- lichkeit aufgehoben ist. Die dritte Mögliclikcit war, dass die Function und die Hyperämie nicht in einem directen Abhängigkeitsverhältniss von [141] einander stehen, sondern dass beide von dritten Verhältnissen gemeinsam ab- hängig sind. Verbindung dieser Art scheint allerdings vorzukommen bei Muskeln und Drüsen. Wenigstens nehmen manche Autoren an, dass mit dem Thätigkeitsimpuls für diese Organe gleich ein Impuls zur Erweiterung der Blutgefässe von den Centralorgauen ausgehe. Es genüge hier , diese Möglichkeiten erwähnt und auseinander gehalten zu haben. Des Weiteren werden wir besser erst darauf ein- gehen, nachdem ein anderer Zusammenhang erörtert worden ist; denn es handelt .sich für uns zunächst weniger um die Art der Causalver- bindung von Function und Hyperämie , als um die U r s a c he de r mit der stärkeren Function auftretenden stärkeren Er- nährung. Diese stärkere Ernährung kann abhängig sein allein von dii- grösseren Naiirungszuf uhr. .•^nlVrn die Theile immer so viel Nali- rung aufnehmen, als ihnen geboten wird, oder wenn dies nicjjt der Fall, von einer stärkeren Aufnahme bei gleicher Nalirungszu- fuhr, also von stärkerer Anziehungs- und Assimilationskraft. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten muss nun vor allem entschieden werden. Die Beobachtungen am ganzen .Menschen zeigen, dass, wenn man einem Körper mehr Nahrung zufülul, er mehr ansetzt, bis zu einem gewissen für jedes Individuum bestimmten Grad. Dies ist sowolil im ausgewachsenen Menschen der Fall und in noch höherem Maasse ceteris paribus, d. Ii. bei gleichem Grade iler Function, während der Periode selbstständigen Wachsthums, also in der Jugend. Wenn lin kindlichtr oder erwai'lisencr Organismus eine bestimmte Tiiätigkcil 11 LinHsi\(^i II, I'i 1 ii;i:n's Archiv. Bd. 15. S. 487. TU. B. CnzureioliPiiile gestaltende Wirkung der funotionollen Flyperäniie. 309 ausübt l)ci i^'uter Nahruno;, so setzt er mehr davuii an, als bei gleicher Thätigkeit und geringer Nahrung. Also ist die Nahrungsaufnahme der 'i'lu'ili" des Körpers ceteris paribus abhängig von der Menge der gebotenen Nahrung. Andererseits aber beobachten wir uueh, dass dies seine Cirenzen hat. Man kann durch reichliche Nahrung das Wachs- [142] thum eines jungen Menschen nur wenig, den Ausatz nicht anniihernd pro- portional der Nahrungszufuhr beschlevniigen. Und ebenso findet lieini F.rwachsencn mit der ^'^erbesserung der Kost die grössere N'olumenent- faltung der Organe an specifischen Theilen, von Fettauhäufung also abgesehen, blos in gewissen Grenzen statt, ülx'r welche sie nicht hinausgeht. Dem entsprechend sagt Cohnheim'), dass vermehrte Nali- rungs/.ufulir nicht zu vermehrter Eiweissaufspeicherung im Blute oder in den ( iewciben führe, wenn nicht zugleich mehr Arbeit geleistet wird; und die Resultate "S^oit's sind bekannt, welcher fand, dass mit der grösseren Zufuhr von Eiweiss zum Körper ceteris paribus auch die A'erbrennung desselben, kenntlich an der grösseren Ausscheidung von Harnstoff, steigt, und da,ss nur relativ wenig mehr im Körper zurückgehalten wird, und dieses auch zum grossteu Theil nicht als Organeiweiss unter Vermehrung des Protoplasma der Zellen, sondern imr als Circulationseiweiss, als Vorratlisnahrung. Wie so der ganze Körper die Aufnahme, (he wirkliche Assimila- tion gebotener Nahrung verschmähen kann, so können es auch die einzelnen Theile desselben. \'i[u;nüw-) hat schon vor vielen Jahren diese Bedeutung des Ex- perimentes d(^' Durchschneidung des Halssj'mpatbicus hervorgehoben. Nach dieser Ojieratiou sahen er, Schiff u. A. wochenlang anhaltende Erweiterung der Blutgefässe entstehen, ohne dass eine \'erdickung der Haut oder vermehrte Abschuppung stattfand. Ingleichen erhielten Cl. Berxard, Ollier 3) in 15 Fällen, Cohnheim^) selbst bei jugendlichen Individuen keine Hypertrophie nach der gleichen Operation. ,1-l-iJJ Es 1) CoHNHiiiM, ADgem. Pathologie. Bd. I. 1877. S. 584. ■-) Siehe Virchuw, Cellularpathologie. 4. Aufl. S. 158. 3) Oli-ikr, Journ. de la I'bysiol. VI. 1863. S. 1Ü7. 4) CoiiNiiEiM 1. c. I. 1877. S. 597. 310 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. ist aber zu erwähnen . dass nur in seltenen Fällen die so bewirkte Hyperämie der Haut des Kopfes längere Zeit anhält, sondern meist nach einigen Tagen oder Wochen wieder schwindet. In gleicher \Veise sah ich bei einem Arzte und Schriftsteller eine Erweiterung der Blutgefässe der ?Iaut au den Kleinfnigerballen beider Hände, sodass sie duukelrosa aussahen, ohne jede Verdickung der Lederhuut oder der Epidermis und ohne vermehrte Abschuppung der letzteren, obgleich dieser Zustand bereits 7 Jahre andauerte. Ein derartiges Verhalten der Gewebe bei chronischer Erweiterung der Gefässe in Folge Affection der Gefässnerveu (vasomotorische Neurosen) ist in neuerer Zeit, seitdem man darauf aufmerksam geworden ist, oft beobachtet worden. Gegen diese Fähigkeit der Theile, die Nahrungsaufnahme zu verschmähen, können Experimente, in welchen Hypertrophie sich ein- stellte, nichts beweisen ; sie zeigen blos, dass in anderen Fällen, deren wesenthche ünterscliiede uns nicht bekannt sind , Hyperämie ver- mehrte Aufnahme hervorrufen kann. So erhielten A. Bidder') und Stirling^) beträchtlicheres Wachsthum des Ohres der operii'ten Seite nach obigem Experiment der Durchschneidung des Halssympathicus, und ebenso beobachtete Schiff^) bei demselben Versuch und Sh;m. Mayer'') bei gleichzeitiger Durchschneidung des N. auricular. magnus, dass auf der betreffenden Seite die Haare des Ohres rascher wuchsen. P.AGET^) verpflanzte den Sporn eines Hahnes auf den Kamm des- selben und sah ihn auf diesem gefässreichen Gewebe in ungemein starker Weise wachsen. Da aber der Hahnenkamm [14-4] selber trotz dieses überschüssigen Blutes nicht immerfort wächst, so spricht dies zugleich dafür, dass er selber nicht blos entsprechend der Menge der dargebotenen Nahrung wächst, sondern dass ihm zur Nahrmigs- aufnahme noch etwas anderes nöthig ist. 1) A. BiDDER, Centralbl. f. Ciiir. 1874. Nr. 7. 2) Stirmno, Journ. of. .•^nat and Physiol. X. S. 511. 1876. 3) Sr.HiFK, Untersuchungen z. Physiol. il. Nervcnsyst. 1853. S. 166. *) S. Maykr, 8pec. Nervenphysiol., Hkhm.vnn, Handb. d. Physiol. II. 1. S. 205. ä) Paget, Lect. on surg. pathol. I. S. 72. Cit. nach Cohnheim. Allgein. Patholog. I. S. 602. III. I!. rnzurcichcmlo gestaltende Wiikung der functioiielleu Ilyporaniie. 311 Diiss ilic' (.)rgaiie in der Pc riodc sel)ststan(ligen ererbten Waclisthums, also auch noeh in der Jugend, bei stärkerer Nah- rungszufulir (wenn auch, wie erwähnt, niclit proportional derselben und nur bis zu einem gewissen Grade) stärker waehsen, ist eine allgemein l)ekannte 'Hiatsaehe; für die abweichenden Resultate in einigen Experi- menten müssen daher besondere Ursachen gesucht werden. Aber es scheint auch, dass es Gewebe giebt, welche selbst im ausgewachsenen Zustande bei künstlich bewirkter Hyperämie, also b(!i \'ergrösserung der Naiirungszufuhr. wieder zum Wachsthum an- geregt werden krmnen. Dafür sprechen manclierlei pathologische Er- rain'ungen. So kaim vielleicht die Verdickung des Bindegewebes, welche wir in der Umgebung und in der l'iefe unter chronischen Unterscheukel- gescliwüren bis tief in die Muskeln hinein linden , auf solche laug- dauernde Hj'perämie zurückgeführt werden; ebenso beobachtet man gelegentlieh bei chronischer Hyperämie der Haut Hypertrophie der- selben sowohl in Bindegewebs- wie Epithelschicht, und bei Hyperämie der Knochenhaut vermehrte Knochenbildung. Wir wissen indessen nicht, ob nicht in diesen und ähnlichen Fällen entzündlicher Hyperämie zugleich noch chemische oder mecha- nische Reize zur \'erinehrung anregend wii'ksam sind, wollen aber, um die Uugewissheit elur zu unseren Ungunsten zu verwenden, im Folgenden annehmen, dass die S t ü t z s u b s t a n z e n (Knochen, Knorpel und Bindegewebe), sowie auch die Deckepithelien, also die Epithelien ohne secretorische Function, durcli ^'ergrüsserung der Xahrungszufuhr [1451 ohne weitere Reize sich zu ver- mehren im Staude seien. Ein Gleiches ist auch für Lymphdrüsen, die ^lilz und die Niere behauptet worden; da indessen Grund ist, an- zunehmen, dass der Reiz zur specifischen Function für diese Organe im Blute gelegen ist, so werden sie bei vermehrter Blutzu- fuhr somit zu vermehrter Fungiruug angeregt; und die erfolgende Hyper- trophie kann daher als eine Activitätshypertrophie aufgefasst werden. Das Verhalten der Stützsubstanzen, der passiv fungirenden Organe ist demnach principiell zu trennen von dem der activ tliätigeu , der Arbeitsorgane (Muskeln, Drüsen, Nerven, Ganglienzellen 312 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. und Sinneszcllen). wclclir durcli vermehrte Blutzufuhr allein iiielit zur II yjicrtropliie oder H3'perplasie augeregt werden. Es könnte daher, \venig.?ten.s für die passiv fungir enden Theile, die Annahme gemacht werden, dass bei ihnen die functionelle Ilj'portrophie durch die functionelle Hyperämie bedingt sei. Aber gerade für diese Organe ist, wie erwähnt, die functionelle Hyperämie mit .Vusnahme der Haut nicht nachgewiesen; und ausserdem zeigen dieselben, wie oben dargelegt, eine Structur, welche deshalb nicht von der l')lutzufuhr abgeleitet werden kann, weil sie zum Theil viel feiner als dio Maschenweite des Capillarnctzes ist und mit der An- ordnung der Capillaren keine Aehnlichkeit hat. Sehen wir nun zu, wie weit überhaupt die Annahme der passiven Ernährung der Zellen gerechtfertigt ist, und was ihr widerspricht. Schon im befruchteten K'i lindet nach der Bildung der Keim- blätter V 0 r d e r ^V n I a g e der Blutgefässe, wo also die Nahrung noch gleichmässig vertheilt ist, typisches ungleichmässigesWachs- thum statt, welches zur Bildung der Primitivrinue, zur Bildung des Medullarrohres , des Axenstranges (der Chorda dorsalis) und der Ur- nieren führt. Hier muss also, da die Theile unter gleichen Ernäh- rungsbedingungen sich befinden , aber , specifische Formen hervor- bringend , ungleich wachsen , die Nah- [146] rungsaufnahme eine ungleiche sein. Und da sie sich auch schon qualitativ verschieden au.sbilden, muss eine qualitative und quantitative Nahrungs- walil stattfinden. Diese Ungleichheit der Nahrungsanziehung muss um so grösser sein, als die verschiedenen Theile der Keimscbeibe gar nicht, wie der Einfachheit halber vorstehend angenommen wurd(\ vollkommen gleich zur Nahruugsquelle gelegen sind, sondern gerade die am raschesten sich differenzirenden und wachsenden, neben der Axe gelegenen Theile von der Nahrungsquelle am weitesten ent- fernt sind. Dasselbe bekundet sich )>ei den blutlosen, niederen Thieren, z. B. der Hydra , unserem einheimischen kleinen Wasserpolypen. Auch bei diesen Thieren finden bekanntlich besondere morphologische Differenzirungen durch migleich starkes Wacbsthum, z. B. in der lir. B. Unzureicbciule gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 313 r.ilduiiü; nach der P.ildung der Blutgefässe auf verschiciloui- W'i'thcilung der Nahrung din-cli dicsell)en bedeuten, dass die Wachsthumsgcsetze eigentlich blos in den Blut- gefässen lägen, dass die specifischen Theile nicht selbstständig sich entfalteten, nicht nach ihnen innewohnenden, aus ihrer specifischen Natur sich ergebenden Gesetzen [also nicht durch Selbstdifl'erenzirung oder ,,morphologii3che" äussere Einwirkungen] sich gestalteten und ver- grösserten, sondern blos entsprechend der ^'ertheilung der Nahrung, hl den Blutgefässen lägen die eigentlichen Wachsthnmsgesetze und lutgel'äss(! von den selbstslänchgeu, activ sich ernähreuden speoihsehen Theilen seien hier wenigstens einige, wie ich glaube, deinonstrative Beispiele angeführt. Wenn man auch die Eutwickelung der Gefässe innerhalb der Geschwülste als mit den Gesehwulstkeimen potentia augeboren aul- fassen könnte, so wäre dies doch schon weniger wahrscheinlicii für die Entwickelung der zuführenden und abfülu-euden Blutgefässe, welche ausserhalb der Geschwulst liegen. Und sollen diese letztei'en nun immer zuerst wachsen und dadurch erst den in der Geschwulst ge- legenen Theilen die Gelegenheit zur weittreu Vergrösserung gegeben werden, sodass die Geschwulst in absoluter Abhängigkeit von den Gefässeu bliebe y Der Einwand der Blutgefässeutwickelung nach vererbtcin for- malen Gesetzen ist aber schon gar nicht möglich für die Entwicke- kmg des Blutgefässnetzes , welches sich nach Einwanderung von Parasiten um dieselben ausbildet. Wenn ein solcher, z. B. ein Echinococcus, in irgend eineiu Orgaue sich festsetzt, so zieht er offen- bar aus Moleculardistanz immerfort (151J Nahrungsflüssigkeit au, veranlasst damit ein constantes Xachströmeu aus den Blutgefässen mit allmählicher Vermehrung der Capillaren und z w i n g t s o d e n \\' i r t h , bei welchem er haust, ihn mit einem Capillarnetz und zugehörigen grösseren Gefässeu zu umspinnen und dem Todfeinde die nöthige Nahrung zu geben. Es ist nicht denkbar, dass die Flüssigkeitsan- sammlung im Echinococcus und besonders das Wachsthum desselbeu einfach mechanisch durch Diffusion vor sich gingen wie bei todten Substanzen, denn dazu müsste der eingeführte microscopisch kleine Embryo ganze Haufen von Salzen enthalten, vielmal grösser als er selber ist, und trotzdem würden sie bald alle verschwunden und Still- stauil hergestellt sein. Die Blutgefässe der Echinococcushülle , welche der W'irth ihm liefert, sind meist nicht gross und dies könnte Jemanden zu Wider- spruch veranlassen. sind, und deren oftem Vorkommen die Gefässe die leichte, nidit-morphologiscbe Aenderungsfahigkeit ihrer Weite, z. B. auch die leichtere passive Dehnbarkeit in der Weite gegenüber der viel geringeren Veränderlichkeit ihrer Lauge verdanken (s. S. 521). 318 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Wir seilen abt-r dasselbe noch evidenter bei der Entwickelung der metastatischen Geschwülste im Körper. Wenn einige oder mehrere Zellen einer bösartigen Geschwulst, in die Blutgefässe gelangt und mit dem Blute verschleppt, irgendwo hängen geblieben sind, so ernähren sie sich daselbst und zwingen ihre Umgebung zu ernährender Capillarbildung und weiterhin zur Bildung auch grösserer Blutgefässe für das weitere Wachsthiun der Geschwulst. Auch hier haben wir eine niorpliologische Selbstregulation derBlutgefässe, sowohl der in der Geschwulst selber liegenden, als auch der in der normalen Nachbar- schaft befindlichen grösseren zu- und abführenden Gefässe je nach dem Verbrauche der Geschwulst; und zwar an Stellen, wo die Tendenz, dereinst diese Gefässe zu bilden, nicht vererbt sein kann, da die Me- tastasen an beliebigen Stellen haften Ijleibeu. [Geschieht hier die Verbreitung der Gescbwulstkeime inner- halb der Blutbahn, so haben wir auch Beispiele, wo dasselbe mit gleichem Erfolg ausserhalb der Blutludin geschielit. A\'enn z. B. ein Krebs der Leber oder des Magens die OljerHäclie des Orgaues erreicht hat, fallen bald Theile der GeschwuLstmasse ab, werden in der Bauch- höhle vertheilt, und nachdem sie irgendwo haften geblieben sind, sprossen unter Durchbrechung des Peritoneal-Epithels Blutgefässe in sie hinein und ernähren diese „disseminirten" Geschwülste, die sich oft zu einer vielmal den ersten anhaftenden Keim übertreffenden Grösse entwickeln. Ebenso findet Blutgefässbilduug nach künstlicher Implantation lebender, ja selbst todter Massen in irgend eine nicht mit echtem Epithel ausgekleidete vorge- bildete oder künstlich gemachte Kürperhöhle statt; nur werden todte Massen erst von Gefässen durelisetzt, luulidem lebende sie auffressende Zellen in sie eingewandert sind und selber der Nahrung liedürfen.j Dasselbe zeigt sich bei der l']ntwickelung des Eies im Mutterleibe. Wo das Ei haften bleibt und Nahrung anzieht aus der Mutter, vermehren sich die C'apillareu derselben [152] und es bilden sich dem Ik'dürfniss entsprechende zuführende und abführende Blutgefässe durch Selbstregulation aus. niclit blos in der Gebärmutter, sondern auch in der Wandung der Bauchhöhle an jeder beliebigen Stelle, an welcher bei Extrauterinscliwangerschaft das Ei zufällig liegen ge- in. M. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionelien Hy|)präniie. 319 blieben ist Audi in dieseni l'allc kann al.-^o riiie 'l\'n(k'n/., an dieserStelie dereinst diese ßlutgel'iisse zu entwickeln, nicht angeboren sein, sondern es inuss eine allgemeine Reactionsfäliigkeit ) Von nt'uerer Literatur siehe Iiihhemt, die coniponsatorische Hypertrophie der Geschlechtsdrüsen, Arch. f. Entwickelungsmechanik, Bd. ], S. 69 u. f. 1894. H. NoTHXAcia., Leber Anpassungen und Ausgleichungen bei pathologischen Zuständen. 11 Drüsige Organe (Zeitschr. f. klin. Med. Hcl. 11. 1SS6): sowie über den Unterschied der Art der eninpeiisatorischen Nierenhypertrophie in f'iihen und späten Kntwicke- III. B. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 323 des übrigen Körpers, wclclic stets nach zu Grunde gelicn dieser Or- gane eines Kürpertheiics stattfindet, überhaujit niclit durcli collaterale Hyperämie ihre Erklärung finden, denn wie sollte roilaterale Hypcr- äniie auf ganz entfernte kleine Organe in anderen Körpertheileu wirken ? Dagegen ergiebt sich die Hypertrophie bei unserer Annahme, da.ss der functionelle Reiz dieselbe veranlasst, ganz von selber, denn diejenige Qualität des Blutes, welche die Thätigkeit der Lymphdrüsen veranlasst, wird nach Wegfall eines Theiles dieser Organe entsprechend stärker auf die anderen Lymphdrüsen wirken. Ausserdem ist zu erwähnen, dass die Regulation durch Nerven- vermittelung so mächtig ist, dass der Einfluss der Ver- [156] Schliessung schon ziemlich starker Arterien vollkommen compensirt werden kann, wodurch die mechanische collaterale Hyperämie in ihrer Wirkung für Arterien mehr oder weniger aufgehoben werden kann. Es müssten nach der gemachten Voraussetzung bei den ver- schiedenen Organen, welche ihre Anregung zur Thätigkeit, gleich der Niere, durch chemische Bestandtheile des Blutes er- halten, also wohl dieLeber, die Hoden (?),dieMilz und die Lymphdrüsen, immer auch die Muskelzellen ihrer Blutgefässe auf diese chemi- schen Reize in entsprechender Stärke reagiren ; während bei denjenigen I»rüsen, welche durch Nervenvermittelung zur Thätigkeit angeregt werden, z. B. den Speicheldrüsen, ein Theil dieses Reizes sich abzweigen und auf die Gefässe übergehen müsste. Dasselbe müsste bei den Muskeln und selbst auch bei den Ganglienzellen des Hirns und des Rücken- marks stattfinden. Alles dies erscheint ausserordentlich complicirt; überall müssten die in allen Organen physiologisch gleichen glatten Muskelfasern auf besondere Reize mit bestimmter zweckmässiger Stärke reagiren ; und wie eine Regulation in neuen Verhältnissen entstehen könnte, dafür würde uns jegliches A^erständniss fehlen. Auch ist es undenkbar, wie eine derartige Regulation für die Knochen thätig sein könnte, denn wie soll hier der Reiz, welcher den Knochen lungsstadien, die (auf meine Anregung entstandene) Arbeit von 0. Tu. Eck.ardt ,Ueber die compensatorisdie Hypertrophie und das physiologische Wachsthum der Niere". (VmcHOw's Arch. Bd. 114. 1888.)] 21* 324 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. trifft, auch proportional die Blutgefässe treffen? Oder wie soll der \'ür- gangin dem Centralnervensystem sein? Wenn bestimmte Nerven- bahnen oder Ganglienzellen mehr in Anspruch genommen werden, also vermehrter Nahrung bedürfen, so müsste für jede Faser, für jede Ganglienzelle eine besondere nervöse Blutgefässreguhition da und zugleich dafür gesorgt sein, dass die Reize nicht irradiiren (sich weiter ausbreiten), denn sonst würden immer alle benachbarten Theile auch hypertrophisch. Ich erinnere nur an das oben citirte Beispiel rasch verlaufender [157] functioneller Anpassung von Helmholtz, in welchem wir beim Sehen mit Brillen, welche die beiden Bilder vertauschen, uns so rasch anpassen in Tausend oder MilHonen Ganglienzellen und ihren Ausläufern, dass wir schon durch Uebung von einigen Minuten nach Abnahme der Brille gegen unseren WiUen entsprechend dieser eben gelernten Weise greifen. Soll diese tausendfältige Veränderung von Nerveuverbindungen passiv durch H\-perämie entstehen, welche in diese tausendfältigen Bahnen geleitet würde? Oder wenn man ein- wendet, dass hierbei blos der Verbrauch von schon in den Zellen aufgespeicherten Vorräthen stattfinde, (ob.schon wie dargelegt solclie Aufspeicherung dem Piincipe der passiven Ernährung direct wider- spräche), so brauchen wir nur ein anderes Beispiel anhaltenderer Uebung, etwa des Klavierspiels zu gedenken, in welchem alle A'orräthe erschöpft werden. Wenn dagegen, bei rein passiver Ernährung der Gewebe, so vollkommen auf diese einzelnen Bahnen beschränkte Hyperämie nicht möglich wäre, so würde die Mitausbildung der gleichzeitig hyperämischen Nachbartheile jede Erwerbung besonderer Kunstfertigkeiten unmöglich machen. [C.\n.statt sagt bereits im Jahre 1842 in seinem Articel über Atrophie „dass jede Zelle ein eigenthümliches individuelles Leben besitzt , kraft dessen sie einer- seits sich selbst weiter zu entwickeln (plastische Kraft der Zelle) und andererseits die aus dem Cytoblastem angezogenen und aufgenommenen Stoffe auf ihrer inneren und äusseren Fläche specifisch-chemisch um- zuändern (metabolische Kraft der Zelle) vermag').] Auch aus diesen Gründen bin ich der Meinung, dass die .Uil- 1) WAG.NEn's Handwürterbuch der Physiologie. Bd. I, 1842, S. 27. III. B. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 325 nähme der Nahrung activ geschieht, gemäss der Anregung durch den functionellen Reiz, und dass die Blutgefässregulation, auch die- jenige durch \'ermittelung von Gefässnerven, wo sie überhaupt statt- findet (nämlich wohl blos, wenn grössere Zellgruppen zugleich mehr Nahrung aufnehmen), im Allgemeinen abhängig sein wird von dem Verbrauch der specifischen Theile der Organe, sei diese Abhängigkeit eine directe oder indirecte. Ueber die Art, wie diese Regulation stattfindet, will ich den Physiologen durch das Aussprechen von \'ermuthungen nicht vor- greifen; indessen sind relativ einfache Modi denkbar. Für die morpho- logische, dauernde Bildungen liefernde Gefässregulation, welche allein in mein Gebiet gehört, hoffe ich nach [158] meinen gegenwärtigen Beobachtungen, sie dereinst auf mechanische Prin- cipieu zurückführen zu können. Aus dem über die Wirkung der Blutvertheilung und die Art ihrer Regulation Gesagten geht also hervor, dass es allen That- sachen widersprechen würde, wenn man eine ,, passive" Er- nährung der Theile, allein abhängig von der Nahrungszu- fuhr statuiren wollte; sondern es ergab sich, dass im Gegen- theil die Ernährung unter qualitativer und quantitativer Auswahl seitens der ernährten Theile stattfinde, und das von der „ Verbrauchsstelle" aus die Blutzufuhr ent- sprechend dem Verlirauche in irgend einer Weise regulirt werden muss. Die ,,f unctiouelle Hj-perämie", wo sie stattfindet, kann daher keinesfalls die „Ursache" der functionellen Hyper- trophie sein; sondern sie darf nur als eine günstige, viel- leicht nicht einmal immer unerlässlich notwendige ,,\'^or- bedingung" derselben angesehen werden. Werfen wir noch einen BHck auf die möglichen Leistungen der Blutvertheilung beim Ausbleiben der Function und der ihr folgenden ,,Inacti vitätsatrophie", so liegt hier das ursächliche \'erhältniss scheinbar einfacher, und die Abhängigkeit von der Blut- zufuhr scheint eine grössere und bestimmtere zu sein als bei der Hypertrophie. Denn wenn die Nahrung in erheblich verminderter 32G Nr- 4. Der züchtende Kampf der Theilc im Organismus. Menge zugeführt wird, so muss uothweudigerweise die Ernährung entsprechend sinken. Aber es ist die Frage: Warum sinkt die Xahrungszuluhr, warum bleibt sie nicht auf einem mittlereu Zustand stehen, da doch die Spannung der Blutsäido hier wie überall bestrebt ist, die vorhandenen Wege zu erweitern, statt sie verengen zu lassen. Diese stetige, schliess- lich über das Maass des rein durch Nervenregulation Vermittelbarcn weit hinausgehende Verengerung, diese wirkliche morphologische Rück- [159] bildung bedarf selber erst einer Erklärung und diese findet sie erst, wenn das Capillargebiet mit der Atrophie der specifiscben Theile in Folge mangelnder Function sich verkleinert hat. Aber ganz abgesehen von dieser Auffassung der Entstehung der Blutgefässschrumpfung, wie soll sich in dem Capillarnetz der Blutge- fässe, in welchem von allen Seiten ßlutzufulir stattfinden kann, z. B. die Inactivitätsatrophie einzelner Nervenbahnen im Rückenmark rein von den Gefässen aus erklären, da docli für den ganzen Querschnitt jedes der sechs Stränge, also für viele tausend Nervenfasern ein gemeinsames zusammenhängendes Capillarnetz vorhanden ist? Um diese strangförmigen, auf bestiunute Nervenbahnen längs des ganzen Rückenmarks beschränkten Atrophien durch Verminderung der Blut- zufuhr hervorzurufen, müsste für jede Nervenfaser ein eigenes abge- schlossenes Capillarnetz mit selbstständiger Regulation vorhanden sein. Das gleiche gilt von der Atrophie der entlasteten Kuochenbälkchen, welche nach einem schief geheilten Knochenbruch bei Ausbildung der den neuen statischen ^"erhältnissen entsprechenden Structur statt- findet >). [I) Mit diesen Ausführungen über die Abhängigkeit der Gefässweite von der Ver- brauchsgrösse der zugehörigen Organe ist nicht gesagt, dassGefässe nirgends eine selbst- ständige vererbte (s. S. 20.3 u.207) Weite ausbilden könnten. Zu den bereits S. 83 u. 168Anni. für letzteres angeführten Beispielen sei noch Einiges hinzugefügt. Der Gynä- kolog Prof. M.\x WiENKR hat auf meine Anregung genaue Messungen der Gefässweite an Arterien verschiedener Organe des Embryo vorgenommen. Dabei zeigte sich, dass die beiden Lungenarterien des Foetus so weit waren, wie die Arterien an 4 bis 6 mal so schweren Organen desselben Embryo. Das bedeutet wohl, dass diese Gefässe schon im Voraus auf den späteren Gebrauch hin wachsen. Femer sind treffende Beispiele vererbter Gefässausbildung die zahlreichen, nicht capillaren Wundernetze vieler Thiere ; ein pathologisches Beispiel stellt das Teleangiom in. B. Unzureichende gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 327 Wie (lureli die l'uiic t ioucl I e II yperäinie ihis vo rliaiidcne, t'eiue Structurdetail in dem CcHtralnervensysteni. in den Knochen und Fascien, in den Hühlcnmuskeln etc. als Wir- kung der Blutvertheilun^' sich nicht hätte ausbilden können, da die IMutvertheilung in dem Netz der Capillaren nicht in di'r dazu nöthigen Weise regulirt und abgeschlossen werden kann und die Maschenweite der Capillaren gröber ist als das be- zügliche Structurdetail, so kann auch nicht eine so be- schränkte Nahrungsentziehung stattfinden, dass einzelne, microscopisch kleine scharf umschriebene Theile dadurch zur Atrophie gebracht werden könnten. Bei so allgemeinen, alle Organe und Organsysteme betreffenden Erscheinungen aber nach speciellen, für jedes Organ besonderen (Gründen zu suchen, wie bei den Muskeln geschehen [160] ist, indem man die Activitätshypertrophie derselben durch eine bei der Contraction stattfindende, den Durchtritt von Nahrung begünstigende Dehnung des Sarcolemma (der Muskelfaserhaut) als die Ursache hingestellt (s. S. 305) und in gleicher Weise die Inactivitätsatrophie aus dem Ausbleiben ilieser günstigen Dehnung zu erklären versucht hat, erscheint schon an sich nicht sehr berechtigt, ganz abgesehen davon, dass es schwer- lich gelingen möchte, dasselbe leistende accessorische Momente für die anderen Elementartheile, die Ganglienzellen, Nervenfasern, Knochen etc. aufzufinden. Es ist gewiss verdienstlich, nach solchen Momenten zu suchen und sie zu erwägen, aber sie können bei so allgemeinen Er- scheinungen doch mehr nur die Bedeutung accessorischer Hülfsmomente haben. ilar. Die Anlage der typisch gelagerten Hau ps tä mine ist ja auch als selbstständig vererbt und nicht blos in Anpassung an Bedarf erfolgend anzusehen. Ebenso giebt es vererbte, hestimmt localisirte Ge fässat rophien wie z. B. der Verschluss des Ductus Botalli, des Ductus Arantii. des ersten und dritten Aortenbogens und vieler embryonaler Venen etc.: wenn blos die hUmodynamischen Verbältnisse bestimmend wären, müssten alle diese Gefässe lebenslänglich offen und wohl erhalten bleiben. Doch scheint der Mechanismus dieser Obliteration manchmal, z. B. bei dem Ductus Botalli durch äussere Momente ausgelöst zu werden. F. Schanz (Pflüger's Areh. Bd. 44, S. 239—269) glaubt dagegen bezüglich des Ductus Botalli, dass die bei den ersten Athemzügen entstehende Dehnung desselben die allein genügende Ursache für die Wucherung in seiner Wandung und für die Obliteration sei.] 328 Nr. 4. Der zücbiende Kampf der Theile im Organismus. So lässt sich (leuii weder die „ Activitätshypertrophie'- nocli die „Inacti vität.«li ypertropbie", noch die Entstehung des „fun ctioii eilen Sliiu-turdetails" aus der Regulation der Blutzufulir .ableiten. Die Entstehung dieser Verhältnisse als Folgen der directen oder indirecten ..trophischen Wir- kung des functionellen Reizes" gewinnt dadurch eine noch grössere Walir.sili cinlichkeit. Es bleibt damit auch für die Activitätshj-pertrophie, für die Ueberconipensation, welche dieses selbe Structurdetail ausbilden hilft und die Organe blos nach den die Hvperfunction leistenden Dimen- sionen vergrüssert, die einzige Ursache die trophische Wirkung des functionellen Reizes. Demi da die Theile ohne letzteren nicht thätig sind und Ijei gänzlicher Fernhaltung desselben sogar rasch entarten, in seiner Anwesenheit aber hypertrophiren, so muss, da zudem die Ernährung keine passive, durch die Nahruugszufuhr verursachte ist, diese Hypertrophie nunmehr als eine Folge der Stärkung der I^ebeusprocesse durch die Reizwirkung angesehen werden. Schliesslich erfi-euen sich ja auch die trophischen Wirkun- Ifil gen der Reize im Allgemeinen einer verbreiteten Anerkeimung. So sagt ViRCHOw : i) „Wir haben es in der Hand, sowohl die ganzen hidividuen, als insbesondere einzelne ihrer Organe und Systeme auszubilden und damit die individuellen Eigenthündichkeiten nach cheser oder jener Richtung zu entfalten." ,, Unter den Mitteln, Menschen mit mehr Fleisch, Blut und Ner- venmasse zu ziehen, sind vor allem entscheidend die Reize, die Er- regungsmittel. Ohne Reiz giebt es keine organische Arbeit, keine Aufnahme von Bildungsstoffen, keine Entwickelung." ., Salze, Gewürze, gewisse Spirituosen und llüchtige Stoffe bringen den Organen eine Erregung, welche sie zur Stolfaufnahme bestimmt, welche ihre innere und äussere Thätigkcit wachruft." „Mechanische An.stösse, die Einwirkung des f^ichtes, der Wärme, der Electricität und zahlreiche andere Einflüsse, welche die empfin- 1) Deutsche .Fahrb. f. Politik und Literatur. Bd.fi. 1863. S. 349. II [. B. ünzureichendo gestaltende Wirkung der functionellen Hyperämie. 329 dendeii Nerven oder die circulirenden Säfte oder die Gewebe selbst treffen, ülien die gleiche Wirkung. Xov allem ist es die geistige Er- regung, welche die grössten Resultate giebt (nicht blos das Denken, sondern auch das Thätigsein, Willensinipulse)." [Siehe auch Nr. 7, Seite 139.) Resume. Es war im Capitel über den Kanipl' der Theile deducirt wor- den, dass lebensthätige Substanzen , welche auf Reizwirkung nicht blos die funetionelle Veränderung erfahren, sondern zugleich auch in ihrer Fähigkeit, Nahrung aufzunehmen und zu assimiliren, gekräftigt würden, aus allgemein dynamischen Gründen in den Organismen im Kampf der Theile die Herrschaft, die AUeiuexistenz erlangen müssten, sobald sie einmal in Spuren in den [162] Organismen aufgetreten wären. Da Ursache vorhanden war, zu vermuthen, dass diese Eigen- schaften nicht blos physiologisch, sondern auch morphologisch von grosser Wichtigkeit sein würden, so unternahmen wir es, den Nach- weis zu versuchen, dass solche theoretisch annehmbaren Substanzen auch wirklich entstanden seien, und thatsächlich in den Organismen existiren. Zu diesem Nachweise mussten wir getrennte Wege einschlagen für die beiden Hauptgruppen der den Organismus zusammensetzen- den Theile. Für die Stützsubstauzen, insbesondere für die Knochen und für die Bindegewebsbildungen, konnten wir darauf hinweisen, dass in der rjuantitativeu Ausbildung der bezüglichen Organe und in dvr inneren Structur und äusseren Gestalt derselben, sowie in ihrem \'erhalten in pathologischen neuen ^"erhältuissen eine Identität der Leistungen dieser Gewebe mit den theoretisch ableitbaren nothwen- digen Leistungen der angenommenen Substanz besteht. Diese Iden- tität schloss bei der Vielgestaltigkeit der Leistungen, in der sie sich offenbarte, ein zufälliges Zusammentreffen in Folge anderer, abweichen- der Ursachen aus, so dass wir aus dieser Identität der Leistungen auf eine Identität der Eigenschaften der Stützsubstanzen mit der an- genommenen Qualität schliesseu konnten. 330 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theilc im Organismus. ^ Für die .\ rl)eitsorgane, für deren Structur in Folge des Unbekanntseins der Gestalt der Reize keine eventuelle Uebereinstiiii- muug rait der eventuellen Rcizgestaltung nachweisbar ist, sehlugen wir einen anderen, ebenso sicheren Weg ein, welcher durch die Ex- perimente vieler ausgezeichneter Forscher geebnet war. Die Schilde- rung der Wirkung, welche Femhaltung des functionellen Reizes auf diese Organe ausübte, zeigte uns, dass dabei in diesen Organen Ent- artung, Rückbildung, Sehwund der specifischen Theile entstand, und daher mussten wir dem functionellen Reiz eine erhaltende, also auch die Assimilation .stärkende Wirkung zuerkennen. [163] Schliesslich erörterten wir die öfter ausgesprochene uml auf den ersten Blick nicht unwahrscheinhche Annahme, dass die Activitätshypertrophie und die Inactivitätsatrophie blos Folgen der die Function begleitenden Hyperämie, resp. des Ausbleibens der letzteren mit dem Ausbleiben der Function seien. In Folge der fundamentalen Bedeutung dieser Annahme und in Folge der Schwierig- keit, die Einzelwirkung zweier fast immer gleichzeitig auftretender Factoren zu beurtheilen, wurde näher auf die erstere Annahme und auf das ihr zu Grunde liegende Problem der Ernährung der Theile eingegangen. Es zeigte sich dabei , dass die Ernährung keine rein passive, einfach durch die Zufuhr des Nahrungsmateriales bedingte sein kann, sondern dass sie von den inneren Zuständen der Zellen abhängen muss, in der Weise, dass die letzteren fähig sind, bei Ver- grusserung der Nahnmgszufuhr durch die Blutgefässe eine grössere Aufnahme zu verweigern und bei Verringerung der Nahrungszufuhr die Aufnahme eventuell zu vergrüssern oder constant zu erhalten, und bei coustanter Nahruugszufuhr bald mehr, bald minder Nahrung aufzunehmen und zu assilimiren. Aussei'dem sahen wir, dass die Blutzufuhr zu den Organen im Embryo in irgend einer Abhängigkeit von den Zuständen der specifischen Theile derselben stehen muss, so dass die letzteren fähig sind, die Blutzufuhr zu sich auf irgend einem Wege nach ihrem Verbrauche selbst zu reguliren. Ein Gleiches wurde auch für die durch Nervenvermittelung bewirkte Regulation der Blutzufuhr im späteren embryonalen und posterabryonalen Leben wahrscheinlich. IV. JJitfeienzireude und gustalteude Wirkungen der lunctiouellen Keize. 331 Nachdem (laduixli der einzig entgegeustehenden Ansicht tler Boden entzogen wiir, konnte die Activitätshypertropliie nicht mehr als eine Wirlcung der fmictionellcn Hyperämie und ebensowenig die [naetivitätsatro])liie als eine Folge des Ausbleibens derselben aufge- fasst werden, sondern die erstere erwies sieb als eine Folge der Stärkung der Assimilationsfähig- |164] keit durch den functionellen Reiz, letztere als Folge der Schwächung derselben durch das Aus- bleiben dieses Keizes. Die fuuctionelle Hyperämie dagegen erschien nur als eine begünstigende, vielleicht aber nicht einmal unerlässliche Vorbedingung der functionellen Hypertrophie. So ist mit dem Nach weise der trophischen \\Mrkung des functionellen Reizes „die functiouelle Anpassung" in ihren beiden bekannten Gruppen von Leistungen in der Wirkung des vermehrten und des vermiud erten Gebrauchs, sowie in der neu aufgestellten Gruppe der ,, functionellen Structur"' der Organe auf ein mechanisches Princip zurückgeführt. Daher ist ihre hervorragende, direct das Zweckmässige bis in 's feinste Structurdetail, ja bis auf 's letzt e lebensthätige Molekel schaffende und die angemessensten Grössenver- hältnisse hervorbringende Wirksamkeit nicht mehr als eine teleologische, sondern als eine mechanische aufzufassen. IV. DifFerenzirende und gestaltende Wirkungen der functionellen Reize. Ks ist der Geist, der sich den Körper schlifft. Schiller. La t'onction fait l'organe. Guerin. [165] Dieses Capitel stellt entsprechend seiner Ueberschrift die Folge- rungen dar, welche sich aus dem in den vorhergehenden Capiteln II und III Dargelegten ableiten lassen. Als Conscquenzen selbst noch der Anerkennung bedürfender Ausführungen können diese Folgerungen 332 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. natürlich nur einen untergeordneten Werth haben und sie sollen nur dazu dienen, zu zeigen, wohin das von mir in die Morphologie eingeführte Princip der directen oder indirecten trophi- schen Wirkung der functionellen Reize resp. der Ausübung der Function etwa führen kann, und zur Inangriffnahme mit den Mitteln unserer Zeit lösbarer, neu sieb ergebender Fragen anregen. Kein Geschehen kann einseitig bedingt sein; jede Aenderung eines Zustaudes muss durch eine hinzukommende ändernde Kraft hervorgebracht werden. So auch die Differcnzirung der Organismen, sowohl die gcstaltliche im engeren Sinne, wie auch die sogenannte qualitative oder gewebliohe. A. Qualitative Wirkung^ der functionellen Reize. 1 . Wir wollen zunächst die qualitative Differcnzirung also die Ausbil- dung der Grundqualitäten, die Entstehung derGewebe, zu erörtern suchen. Jede Gewebsart muss ursprünglich ihre besondere erste Ent- stehungsursache gehabt haben. Es ergiebt sich daraus die Frage, ob sie dieselbe heut zu Tage noch haben müssen, oder ob gegenwärtig alle Qualitäten einfach durch Vererbung direct über- [166] tragen werden. Die Vererbung als Uebcrtragung der chemischen Qualitäten der Eltern auf die Kinder als Theilstücke derselben ist kein Problem mehi", sondern eine mechanische Noth wendigkeit'). Dass sie letzteres trotz des Stoffwechsels ist, bewirkt diu Assimilation; denn diese ermöglicht die Uebertragung des Gesetzes der Trägheit von den einfachen physikalischen Processen auf mit Stoff- wechsel verbundene Processe. Das Problem ist also statt der Vererbung vielmehr die Entwickelung. die Hervorbildung des chemisch und inorphologiscli Diff erenzirteren aus dem Einfacheren ohne dif fcrenzi rende äussere Ein Wirkungen. [') Die Irrthüiiilichkeit dieses Satze.s ist bereits S. 208 Anni. erwähnt worden. Statt dessen müssen wir sagen: In Folge derauf mehr oder weniger vollkommener Assimilation beruhenden Continuitiit des speci fisch structurirten Keimplasson, von welchem die Eltern selber blos einen früher entwickelten T heil darstellen und in Folge des Umstandes, dass die , typische' Ontogenese durch Sclbstdiffercnzirung dieses Keimplasson sich vollzieht, ist, von Stö- rungen abgesehen, die Gleichheit resp. Aehnlichkeit der Eltern und Kinder eine mechanische No th wen d igkeit (s. S. 203, 207 u. Nr. G, S 807).] IV. A. Qualitative Wirkung der functionellen Reize. 333 blos unter Zufuhr von Nalu'ungsmaterial'). Diibei ist natürlich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass blos einige |z. B. epithelialen] Gewebe rein in Folge der vererbten Entwickelungsfähig- keit sich differenziren, während andere Gewebe, so viel- leicht [grossen Theils] die Stützsubstanzen, secundär durch Einwirkung seitens der erstereu aus dem embryonalen Blastem differenzirt werden-). Wir wissen aber noch nichts über die Art, wie solche beiderlei Vorgänge möglich sind, und wie sie in ihrem Wesen ablaufen; denn was wir beobachten, ist blos der Verlauf der äusseren Erscheinungen. Da die Veränderungen am erwachseneu Menschen nur [?] durch äussere umgestaltende Einwirkungen vor sich gehen, die embryo- nalen Differenzirungen dagegen ohne oder fast ohne solche differenzirende Reize stattfinden, so ist Veranlassung, anzunehmen, dass letztere Resultate auf eine, wenn auch sicher gesetzliche, so doch andere und uns zur Zeit unverständliche Weise hervorgebracht werden. Das Wesen der embryonalen Differenziruug und ihre physikalisch-chemischen Einzelursachen sind uns daher zur Zeit gänzlich verschlossen. Es hat demnach keinen Zweck, sich des Weiteren darüber zu ergehen. Es bleibt ferner die Frage nach den vormaligen, phylogene- tischen Ursachen der Ge websdif fen/.irung; aber auch für die Beantwortung dieser Frage sind die thatsächlichen [167] Unter- lagen sehr gering; wir werden uns daher mit sehr hypothetischen Erwägungen begnügen müssen. Ueber die wirklichen Ursachen der vormaligen Gewebsdifferen- ziruug sind wir ohne alle Kunde ; aber wir haben noch heut zu Tage Gelegenheit, das Entstehen einiger derartiger Differenzirungen in Folge äusserer Ursachen zu beobachten. [') Hier ist das Princip, dass die Entwickelung des befruchteten Eies (NB. frei lebender, nicht normalerweise an den Boden fixirter Thiere) im Wesentlichen „Selbst- dif ferenzirung' ist, welches erst später von mir experimentell erwiesen wurde (s. Nr. 19) bereits priicis ausgesprochen.] [ä) Diese Stelle würde in der später von mir eingeführten Terminologie lauten: Einige Gewebe, wohl die epithelialen und Muskeln, entwickeln sich mehr durch „Selbst- ditferenzirung', andere, vielleicht die Stützsubstanzen, entwickeln sich mehr durch von den ersteren „abhängige Differenzirung."] 331 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. So sehen wir nach einem K nochcnbruche in der gi'ossen Eiitzündungsraasse, weuu die Knochenenden nicht genügend fixirt sind, nicht blos Knochen-, sondern auch Knorpel- und Bindege- websbildung auftreten, welche bei öfterer Bewegung der Brucbenden gegeneinander zur Entstehung einer Pseudarthrose, eines ,,falsclien Gelenkes" führen. Diese Ausbildung specifischer Gewebe aus einer noch indifferenten Anlage unter bestimmten Be- dingungen ist ein Princip, welches histiogenetisch und [NB. sofern es Vererbung erworbener Eigenschaften giebt] auch vergleichend-anato- misch von der grössten Wichtigkeit ist; denn er wüi-de uns eine dis' continuirliche Entstehung der Bildungen gleichen Ge- webes, ■/. B. der knorpelig vorgebildeten Scelettheile, anzunehmen gestatten und so in dem gewählten Beispiele den Befund von E. Fick ') erklären, dass die Rippen im Embryo von Tritonen sich von vorn herein getrennt von dem Axenscelet knorpelig anlegen, also nicht erst durch secundäre Abgliederung ihre Selbstständigkeit erlangen. Auch entsteht öfter Knochen im Bindegewebe an Stelleu, welche häufig gedrückt oder geschlagen werden, so die sogenannten Exercierknochen -) und Reitknochen ''). Alle solche Metamorphosen von Geweben sind für uns sehr be- deutungsvoll; denn wir sehen hier wirkliche Differenzirungcn des einen Gewebes aus dem andern und zwar nicht zufolge der \'er- erbung, wie bei der Neubildung eines abgeschnittenen [168] Auges aus dem Stumpf des Tentakels einer Schnecke, sondern ohne Mit- wirkung typisch localisirter Verer])ung durch äussere Einmrkungen. Aber die so constatirbaren G e w e b s d i f f e r e n z i r u n g e n in Folge b e k a n n t e r (ä u s s e r e r) U r s a c h e n b e s c h r äu k e u sich vor der Hand nur auf Umbildungen der verschiedenen Binde- substanzf o rni cn in einander. Kann t^omit auch über die vormaligen Ursachen der phylo- genetischen Gewebsdiffereuzirungeu ,. da letztere gegenwärtig vererbt ') His und Braine, Archiv f. Anatomie und Entwickelungsgescb. 1879. S. 37. Bestätigt von C. Has.se u G. Born im Zool. Anzeiger 1879. Nr. '21. 2) VincHow, Die krankhaften Geschwülste. Bd. IL [3) Ueber die Entstehungs- und Erlialtungshedingungen von lüiorpel- und 15inde- gewebe s. Bd. II, S. 227 u. f.] IV. A. Qualitative Wirkung der functionellen Reize. 335 werden uml uns jegliches Verständniss für die Selbstdii'f eren- ziruns;- im Embryo l'elilt, heut zu Tage nichts Sicheres festgestellt werden, so erscheint es doch nicht überflüssig, noch einige weitere IV'trachtungen darül)er anzustellen (s. Bd. II, S. 231). Die verschiedenen Gewebe werden von verschiedenen func- tionellen Reizen getroffen, welche eine chemische Umänderung in den Zellen derselben hervorbringen können, sei es nun eine Erregung, welche mit Stoffumsatz in der Form des Verbrauches verbunden ist, wie bei den Muskel-, Ganglien-, Nerven- und Sinneszellen, oder eine Erregung, welche vorwiegend mit Ausscheidung einhergeht, wde bei den Drüsen unter Abscheiduug des Secretes, und bei den Stützsub- stanzen unter Abscheidung von Intercellularsubstanz. Es liegt uns nun daran, zu erörtern , ob diese, die specifisc he Function veranlassenden Reize bei der ursprünglichen (icwebsdif f erenzirung, sei es auch nur züchtend, mitgewirkt haben könn en , ob also auch hier eine Art function eil er Selbst- gestaltung stattgehabt haben kann; oder ob die Entstehung der ent- sprechenden A'erschiedenheiten ganz allein auf zufällige Variati- onen der Organismen und Erhaltung der \"arietäten durch den Nutzen für das ganze Individuum, also rein auf Darwix's und AVallace's Principieu zurückzuführen sind. Hierbei wird uns das im IL Capitel über den Kampf der Theile Entwickelte zu statten kommen, und wir werden uns [169] mehrfach darauf zu beziehen oder dasselbe zu wiederholen haben. Wenn z. ß. einmal durch zufällige Variation in einigen Zellen der Körperoberfläche niederer augenloser Thicre lebensthätige Verbindungen entstanden waren, welche auf Liclit in irgend einer Weise reagirten, sei es, dass sie dasselbe aufnahmen oder vermittelst Farbstoffkörnchen in Wärme umsetzten, oder sonstwie dadurch altcrirt wm'den. so w-ar dies in dreierlei Weise möglich. Entweder wurde der Lebcnsprocess der noch indifferenten, an keinen anderen Reiz besonders angepassten und durch ihn erhalteneu Zelle durch das Licht in seiner Regenerationsfähigkeit, in der Assimilation, geschwächt; dann musste er im Kampf der Theile zu Grunde gehen, allmählich eliminirt werden, wie wir oben dargelegt haben. Oder 336 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. die \'italität der Verbindung wurde durch das Liclit nicht alterirt, dann konnte sie bestehen bleiben. Oder drittens, es wurde dadurch die Assimilation gestärkt; dann musste sich die Substanz den Sieg erringen und sich ausbreiten, soweit nicht andere ebenso kräftige Substanzen der Nachbarschaft Widerstand zu leisten vermochten. Indessen ist die Wahrscheinlichkeit schon des Vorkommens für diese drei Utile nicht gleich gross, was nicht unwichtig ih;t. zu be- rücksichtigen. Der mittlere Fall, dass die Substanzen durch das Licht nicht im geringsten in ihrer Lebenskraft alterirt werden, ist blos ein Specialfall aus der Mitte der unendlichen Reihe der Möglich- keiten und als solcher, mathematisch gesprochen, liöcht unwahrschein- lich, ganz abgesehen von dem fortwährenden Wechsel des Geschehens. Denn ebenso wie ein labiles Gleichgewicht sich in der Natur nicht als dauernder Zustand findet, eben sowenig kann eine solche Substanz in dem Wechsel alles Geschehens bestehen , sofern sie nicht durch besondere regulatorische Ursachen fort- während erhalten wird. [170] Die beiden anderen Möglichkeiten dagegen haben, princi- piell betrachtet, gleiche Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens, aber nicht ihrer Erhaltung. Die erstere, diejenige, dass das Licht die Assimilation schwächend beeinflusst, hat, wie wir sahen, schon keine Chance, erhalten zu werden, gegenüber dem Specialfalle der Einfluss- losigkeit des Lichtes und noch weniger natüi'lich gegenüber dem dritten, in welchem das Licht die Lebensfähigkeit erhölit. Daraus ergiebt sich, dass, während die Entstehung durch eine dauernd oder wieder- kehrend einwirkende lebendige Kraft imgünstig und günstig beein- flussterAssimilationssubstanzen ceteris paribus gleich wahr- scheinlichist, doch blos die letztere Art erhalt ungsfähig und damit auch steigerungsfähig ist. Diese mathematische Wahr- scheinlichkeit des V^orkommens, verbunden mit der ausschliesslichen Möglichkeit der Erhaltung des Stärkereu im Kampf der Theile, giebt meiner Meinung nach derartigen theoretischen Betrachtungen schon einen gewissen positiven, nicht blos heuristischen Werth '). [') Herr Professor C. Hassk in Jireslau. dessen Vorle.siiiij; üljer Sinnes- organe ich während der Abfassung dieser Schrift besuchte, äusserte darin die IV. A. ijiuilititivf Wirkung der fuiiftioncllen Rpizc. 337 Im vorliogeuden Falle folgert also, dass in noch indifferenten Zellen bei N'ariationen es leichter möglich ist, dass Processe auftreten, welche durch Heize alterirt werden, und dass von ihnen nur derartige erhaltuugsfähig sind und ilaher in den gegenwärtigen Zuständen sich vorfinden können, welche durch ilcn Reiz in ihrer Assimilation ge- stärkt werden. Der Kampf der Theile ist damit ein Princip der Züchtung von Lebens-Processen (s. lebeusthätigen .Substanzen) in den Organismen, welche durch die lebendigen Kräfte der umgebenden Natur immer mehr gestärkt werden, also auch immer mehr darauf reagiren. Die Möglichkeiten solcher Verbindungen sind natürlich ausser- ordentlich mannigfaltige ; und der Kampf um's Dasein der Individuen wird aus ihnen, wie oben dargelegt, blos diejenigen auslesen und der definitiven Erhaltung überliefern, welche sich in ihm als auch für das Ganze nützlich bewährt haben. So z. B. bei den [171] Pflanzen solche Verbindungen, welche das Licht am vollkommensten verzehren, bei den Thieren in den Zellen der Netzhaut dagegen Qualitäten, welche dasselbe am vollkommensten aufnehmen [also den Namen Sehsubstanzen verdienen], aber am wenigsten verzehren und zur Weiterleitung zum Ciehirn am besten vorbereiten, so dass (.he Seh- t'ähigkeit des Individuums eine möglichst scharfe wii-d. Es ist somit durchaus nicht ausgeschlossen, dass auch für denselben Reiz verscliie- deue Qualitäten sich ausbilden und in immer weitergebender Weise durch ihn gezüchtet werden können, wenn einmal durch Variation verschiedene Substanzen aufgetreten sind , welche durch ihn ' er- regt werden. In gleicher Weise musste an alle specifische Formen der leben- liigen Kräfte der Natur, welche oft oder davternd genug vorkamen, Anpassung der Organismen eintreten, so lange die letzteren noch genügend v a r i i r t e n , so lange sie also noch nicht durch Ausbildung von Selbstregulationen zur Erhal- -■Vuffassung, dass die Sinneszellen duicli die äusseren K in Wirkungen ent- standen seien, ohne weiter auf das „Wie' einzugehen, während wir hier annehmen, dass von zufällig entstandenen Substanzen die unter diesen Einwirkungen da uerfähigsten im Kampfe der Theile gezüchtet wurden.] W. Roux, Gesammelte Abhandlungen. I. _ ' ZZ 338 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. tung der specii'ischen Natur eine gewisse Widerstands- fähigkeit gegen alterirende äussere Einwirkungen und damit die jetzige ziemlicli erhebliche Co ns tanz der Art erlaugt hatten, wie wir sie den heut zu Tage lebenden Wesen von den Protisten bis zum Menschen zuschreiben müssen '). 80 ist es erklärlich, dass es Organismen giebt, welche besondere Aufnahmeorgane für alle specifischen , häufiger in der Natur vor- kommenden Kraftformen, für Licht-, Wärme-, Schall-, chemische und Massenbewegung haben ; und wenn electrische Bewegung verbreiteter, dauernder und in nicht zu heftiger Intensität in der freien Natur vorkäme, so würde jedenfalls auch für sie ein besonderes Perceptions- organ ausgebildet sein. Es sei hier, um Missverständnissen vorzubeugen, parenthetisch erwähnt, dass natürlich die Production lebendiger Kräfte durch die Organismen, also che Production von Massen-, Wärme-, Licht- und electrischer Bewegung, etvras ganz anderes ist als die Anpas- sung an einwirkende lebendige Kräfte, und dass erstere daher nicht hierher gehört. [172) Ob nun für jede Schwingungsgeschwiudigkeit innerhalb einer Kraftform, z. B. der Lichtbewegung, eine besondere Anpassung ge- züchtet worden ist, Mng natürlich ausser von den möglichen molccular- structurellen Qualitäten von dem Nutzen solcher Einzelanpassung fih- das Individuum ab. Wenn das Individuum fähig war, mit drei differenteu Organen die 'ganze Schwiugungsreihe einer Kraftform zu percipiren, sie alle auf diese drei Componenten zu reduciren, so war damit seinem Be- dürfniss genügt. Da es jedenfalls für die Thiere von grossem Nutzen sein musste, für alle Kraftformen, welche den Raum durchströmen und welche daher Beziehungen zwischen fernen Th eilen [1) Es ist also anzunehmen, dass diejenigen Lebewesen, welchen diese höheren besonderen Differonzirungen jetzt noch abgehen, von Vorfahren abstammen, in deren Keimplasson zu frühzeitig zur Verhinderung qualitativer Variationen ge- eignete Selbstregulationcn entstanden waren, wodurch die daraus hervor- gehenden Individuen von wei t er er Differenz irung und Entwickeln ng aus- geschlossen wurden. IV. A. Qualitative Wirkung der functimicllen Reizo. 339 ZU vermitteln vermüiien, (indem jeder entgegenstehende Theil die Kraftformeu nach seiner eigenen Natur mehr oder weniger auf- neiimen und modificiren, also ihm erkennbare Zeichen seiner An- wesenheit aufprägen muss) , aul'nahmsi'ühige .Substanzen zu besitzen, so war es selbstverständlich, dass von den Anpassungen, welche beim Vorkommen geeigneter \'ariationt'n durch den Kampt' der Theile für alle vorhandenen Kraftformeu gezüchtet wurden, [dass von allen ent- standenen Sinnossubstanzen als: Seh-, Hör-, Schmeck-, Riech-, Tast- und Wärmeauf nehm ungssubstanzen,] der Kampf der Individuen bestimmte auslas, und dieselben allmählich zu iuiiuer höherer Vollkonm:enheit der Wahrnehmung des äusseren Geschehens züchtete. [Die Bildung aus verschiedenen Geweben auf- gebauter, besonders structurirter Sinnesorgane stellt dagegen zu- sammengesetztere Vorgänge dar, an welchen die später zu erörternden gestaltenden Wirkungen der functionellen Anpassung neben Züch- tung formaler Variationen betheiligt sind.] Da wir aber für tlie theoretisch als möglich anzunehmenden Schwingungen, welche schneller sind als die des ultravioletten Lichts, keine Organe haben, obgleich dies doch von Nutzen wäre, so können wir daraus vielleicht rücksvärts schliessen, dass derartige Kraftformen, wenn überhaupt, nur sehr schwach oder sehr selten vorkommen. Die Ursache ihres Fehleus könnte man vielleicht in der Grösse der Molekel oder in den Spannungsverhältnissen des sie verbindenden Mediums etc. erblicken , welche raschere Schwingungen als etwa SUO BiUionen in der Secunde nicht gestatten. Es ist aber auch die andere MögUchkeit, welche wir z. B. gleich für unseren Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit der [173] ultravioletten, chemisch wirksamen Strahlen des Lichts annehmen müssen, dass die organische Materie mit den vorhandenen Elementen der Erde nicht im Stande war, aus diesen Schwingungen eine durch Nerven fortlcitbare Bewegung herzustellen oder sie durch organische Substanzen unabsorbirt hindurch gehen zu lassen*). [1) Die ultrarothen Schwingungen wurden aber schon als Wäi'moschwingungen percipirt. und an sie schliessen sieh wohl in ihrer Geschwindigkeit an die electrischen Schwingungen, die andererseits bis unter die obere Zahl der Schallschwingungen 22* 340 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Sehr verschiedenartig unter sich sind sowohl die chemischen als die sogenannten mechanischen Kraftformen (der Massenbewegungen) und ilaher sind auch die Anpassungen, welclii' für sie existiren. sehr mannigfache. Für dieW'irkung cheinischer Kräfte i.st die physikalische Vorbedingung innerhalb der beiden Gruppen in derartige Wirkung /u einander tretender Stoffe, der flüssigen und der gasförmigen, dieselbe: molecularer Contact, und daher bestehen im Wesentlichen blos zwei Organformen für die chemischen Perceptionen. Aber wie die chemischen Qualitäten verschieden sind, so sind auch die Anpas.sungen daran verschieden. Und wenn wir auch noch kein Verständniss dafür haben, wie die derartigen Empfindungen stattfinden, so ist doch bekannt, dass wir tausende von verschiedenen Geschmacks- und Geruchsquali- täten empfinden können, welche anscheinend nicht derartig grupj>irt und zerleg! werden können, dass man sie auf eine Minderheit von Elementarempfindungen zurückführen könnte, wie die Klänge und die Farben. Die meisten specifischeu Sinneselemente haben zunächst ein Auf- nahmestück für die Sinnesbewegung, das Sinneshaar, des.sen Ent- stehung und Differenzirung in zweierlei Weise gedacht werden kann, je nachdem dasselbe als Cuticulargebilde und dem Stoffwechsel ent- zogen, also gleichsam blos mechanisch fungirend, oder als lebend und durch die Erregung chemisch verändert aufgefasst wird. Im letzteren, nach unserer Ansicht wahrscheinlicheren Falle, kann es die Substanz des Sinneshaares selber sein, welche vom Sinnesreiz verändert und ge- kräftigt worden ist und daher proi)ortional dieser Kräftigung sich entfal- tet hat [174-] und selbstständig durch grössere oder geringere Nahrungs- aufnahme, sei es aus ilircr zugehörigen Zelle oder aus der l^mgebung, herabgehen. Also wahrnehmbar sind alle Aetherbewegungen von der genannten oberen Grenze abwärts, nur haben wir für den griissten Theil nicht besondere Sinnes- organe. Dies wird wohl weniger damit zusanimenhäugon, dass diese Schwingungen viel seltener vorkommende Kraftformen waren, als dass die vielleicht zufällig zuerst entstandene, zur kräftigen Reactiou auf Licht geeigneten Substanzen nach Bildung des ersten bildbildonden Apparates die Anwesenheit der anderen Körper in so genügendem. Maasse vermittelten, dass danach entstandene, durch andere Schwingungen erreg- bare Reactionssubstanzen keinen besonderen Nutzen mehr gewähren und daher nicht durch Individualauslese gezüchtet werden konnten.] IV. A. C^iLilitativo Wirkunj; ilov fiinctinitollen Kcize. 341 sicli R'.^eiierii't uml viuUcicht aut-li waelist. LctztiTcs. das Wachstliiini des Sinneshaares. wird auf diese Weise natürlich nur innerhalb sehr enger, zugleich zweckdienliche!- Grenzen möglich sein, da ein zu starkes "Wachsthnni lluils die [icrceptionsfähigc Gestalt der Sinnes- zelle oder des Sinnesorganes im Ganzen stören würde. So ist es verständlich, dass in den Sinnesorganen Substanzen gezüchtet worden sind, welche, wenn ül)crliaup(, so nur in einem Minimum der l' ebercompensation fähig sind. Die letzterwähnte Art der Entstehung des Siuneshaares aus einem durch zufälUge \'ariationen aufgetretenen lebensthätigen Fortsatz der Zelle wäre die einfachste; und wir haben auch durch die Unter- suchungen von W". Kühne') Stoffwechselerscheinungen in den Seh- stäbchen kennen gelernt, welche sich in Aufquellung derselben bei der Thätigkeit äussern. Im Falle cuticularer Bildung dagegen ist das Sinneshaar blos eine Ausscheidung der Sinneszelle und müsste, obgleich an sich todt, durch Auslese aus ver.schiedenen N'ariatiouen im Kampf um"s Dasein unter den Indi\iduen nach Darwix, also ohne direct züchtende Wirkung des Kampfes der Theilc die Fähigkeit erlangt haben, den Sinnesreiz aufzunehmen. Indem der Sinnesreiz die Sinneszelle durchläuft, wird seine Quali- tät eine Aenderung erfahren, und es scheint dalier nicht auffallend, dass diese neue Qualität wieder ein besonderes Organ, die nächst- folgende Ganglienzelle gezüchtet hat. So können haltung für dieselben angesehen werden muss. N'^on unseren Seelen- functionen ferner wissen wir, aus Beispielen wie das Kaspar Hauser's, wie gering sie bleiben, wenn in der Jugend die Anregung derselben versämnt wird; und eigene Erfahrung lehrt uns, wie die Aufnahme- fähigkeit durch längere geistige und sinnliche Unthätigkeit herab- gesetzt wird. Daraus ist zu schliessen, dass auch für das Gehirn dei- functionelle Reiz zur normalen Erhaltung unerlässlich nüthig ist. Auch hatten wir Veranlassung anzunehmen, dass die matrices der Bindesubstanzen des erwachsenen Individuums physiologischer Weise keine Intercellularsubstanz absondern, wenn sie nicht gereizt werden, wenn ihnen also nicht lebendige Kraft zugeführt wird. Es scheint daher, dass die Gewebe der höheren Thierc in ähnlicher Weise der functionellen Reize zu ihrem nor- malen Leben bedürfen, wie die Pflanzen des Lichtes. Ob dies auch für die niederen Thiere gilt, ist natürlich ohne ent- sprechende Beobachtungen nicht zu beurthcilen. Wohl aber deuten manche Thatsachen, besonders die hohe K e g e n e r a t i o u s f ä h i g k e i t , welche nach früheren l-ntersuchungen und nach den jüngsten [178] von P. Fkaisse^) und .T. CAuinERE^) fast jeden abgeschnittenen oder ausge- schnitteneu Theil aus (U'r nächsten Umgebung wieder in seiner tj'jti- schen Weise herzustellen vermag, darauf hin, dass hier die Zellen niclit durcli uml diucli an ilire specitische Function angepasst sind. sondern dass jede, sei es im Kern oder im Protoplasma, noch einen Rest wirklichen embryonalen Stoffes fReserv<'idioplassonJ ' ) Tageblatt d. -"i'i. V"eisaminlung d. Naturforscher etc. in Baden-Baden 1879. S. 223 ; und .die Regeneration von Geweben und Organen bei den Wirbelthieren. be- sonders Amphibien und Reptilien." Cassel 1885. '-) Daselbst, S. 22.5 und , Regeneration bei den Pulmonaten.' Würzburg 1880. IV. A. Qualitative Wirkung clor fiinctionellen Reize. 345 enthält, welcher in Thätigkeit tritt, sobald und soweit er nicht mehr durch den Widerstand') der physiologischen Umgebung daran verhindert wird. Die Anpassung an den Reiz und dementsprechend auch die Abhängigkeit von demselben muss eine um so vollkommenere sein, je häutiger derselbe einwirkt. Und wenn eine Substanz ge- wohnt ist, täglich, stündlich erregt zu werden, so wird sie beim Ausbleiben des Reizes während mehrerer Tage mehr leiden als eine andere, welche gewohnt ist. nur selten ge- reizt zu werden. Diese Anpassung an die ., Frequenz" des Reizes ist ein sehr wichtiges Moment. In der gleichen Weise kann auch Anpassung an eine gewolmte mittlere ., Intensität"" desselben stattfinden. Knochen, welche häufiger stark gebraucht werden, wie z. B. die Extremitätenknochen, werden bei Inactivität leichter der Atropliie unterliegen, als seltener in vollem Maasse gebrauchte, wie die .'^chädei- knochen-). [1) Eine bessere Fassung s. Nr. 28, S. 658.) [-) Diese Verschiedenheit hat mich veranlasst, alle die Knocheustärken der verschiedenen Scelettheile des Menschen auf die (NB. geringe) Zahl von drei Knochenerhaltungs- resp. auch Bildungs-Coefficienten zurückzuführen, deren Grösse und Localisation im Kampfe der Theile combinirt mit dem Kampf der Individuen gezüchtet worden ist. Diese sind: , Ein allgemeinster, kleinster, für alle Knochen des Kampfes und der Extremitäten, sowie für die Knochen des Kauapparates und der Schädelbasis, also für alle oft und andauernd intensiv gebrauchten Scelet- theile. Ein zweiter l>edeutend grosserer Knocbenbilduugscoefticient für die gewöhnlich nur sehr schwach beanspruchten Deckknochen des Schädels, an welche aber ge- legentlich, bei einem Fall oder Schlag auf den Kopf oder auch schon heim raschen Springen, sehr beträchtliche Anforderungen gestellt werden. Endlich ein dritter grösster Coefficient für das Felsenbein, der wohl acustischen Gründen seine Züchtung durch Individualauslese verdankt. Während die Knochen der ersteren Gruppe in evidentem Maasse der Activitätshypertrophie und der Inactivitätsatrophie unterliegen, scheint die.s bei den beiden anderen Gruppen weniger der Fall zu sein; sie bekunden damit ein selbstständigeres, mehr von der Vererbung als von der Function abhängiges Leben." (In meiner Besprechung von 0. Messereb's Buch über die Elasticität und Festigkeit der menschlichen Knochen, Breslauer ärztliche Zeitschrift vom Jan. 1882, Seite 22.) Ausserdem giebt es aber noch Verschiedenheiten der allgemeinen Knochen- bildungsgrüsse der ganzen Individuen oder der Familien etc.; denn jeder weiss, dass es starkknochige und zartknochige Individuen und Familien giebt. und dass diese Knochenstärke nicht immer in Beziehung zur Stärke der Musculatur steht, also nicht von dieser durch functionelle Anpassung ableitbar ist. Da unsere Gewebe 346 üi. 4. Der zUchteude Kampf der Theile im Organismus. ^ .. Mögen die verschiedenen Gewebe ursprünglicli in der Piiylo- genese durch embryonale Variation oder irgendwelche postembryonale Einwirkung entstanden sein, und mag unter letzteren der functiouelle Reiz gewesen sein oder nicht, so sind die betrefl'enden Substanzen jedenfalls durch Einwirkung des letzteren, durch Züchtung von Reiz- substanzen unter dessen Herrschaft gekommen, da wir sie gegen- wärtig von ihm abhängig erblicken. Dvu'ch ihn ist daher die formale, der Function auch bei den niedersten Wirbelthieren so auf's innigste angepasste [179] Ausbildung der Theile hervorgerufen worden; und wir hatten im II. Capitel \'eranlassung zu der Annahme erhalten, dass auch zur gegenwärtigen formalen Ausbildung im em- bryonalen und postcml^ryonalen Leben der „funetiomlk- Reiz" für viele Theile, l)esonders für die Stützorgane un- entbehrlich ist. Aber daraus erhalten wir keinen Anhaltepunct zur Beurtheihmg darüber, ob bei der gegenwärtigen embr\-onalen Entwickelungdie embryonaleSelbstständigkeit der Theile .,von selber" aufhört, weil durch \'ererbung die Phylogenese in der Onto- genese von selber sich wiederholt, oder ob dieses Aufhören der selbst- stäudigen Erhaltungsfähigkeit derTheilc auch im Embryo erst „durch" die Einwirkung der functionelleu Reize bedingt ist, also unter Züchtung von Reizsubstanzen stattfindet. Sei das eine oder das andere richtig, so ist es verständlich, dass manche pathologische , also neue K n o c h e n b i 1 d u u g e n , Exo- stosen etc., mögen sie schon im Embryo sich ausbilden, oder erst später aus Resten embryonaler Substanz sich entwickeln, selbst- erhalt ungsfäliig sind, da sie weder Wiederholung phylogene- tischer Aequivalente darstellen, noch unter Reizeinwirkung kommen. So können Exostosen lebenslang an einem Knochen unverändert sitzen, welcher selber bei Inactivität der beträchtlichsten Atrophie unterliegen M'ürde '). aber immer m i t mehrt'achur Uebercoiii pensation arboitin, sind aucli die relativ schwachon Knocben bei starker Miisculatur gewiibnlicli noch ausreichend, um den nöthigen Widerstand zu leisten.) [>) Doch giebt es auch viele Exostosen, welche durch Muskeln oder, bei Bewegungen, durch Bindegewebsstränge auf Druck , Zug oder Biegungen in Anspruch genommen werden; in solchen findet man unter geeigneten Verhältnissen sogar eine func t ioni'l 1 e Structur ausgebildet (siehe Nr. 11. S. 16).J IV. A. Qualitative Wirkung der lunctionclleii Reize. 347 Ebenso ist es verständlich, dass Drüsentheilo, -welche nie stark activ waren, welche vielleicht blos abgeschnürte Deckepithelien sind, wie der Hirnanhang, die Zirbeldrüse und die Schilddrüse, auch nach Aufhebung ihrer Function, also ohne dass sie noch wie sonst von dem Oberflächenreiz getroffen werden, dauernd leben bleiben, während andere, t h ä t i g e Drüsen nacli vollkommener Reizentziehung schon in wenig Wochen gänzlich atrophiren. [Diese Beispiele sind nicht mehr passend, nachdem inzwischen nachgewiesen ist, dass die Schilddrüse (und vielleicht auch die Hypopbysis) wohl eine ■^\^chtige secretorische Fimction ausübt und dass die Epiphysis den Rest einer Augenanlage darstellt.) Durch die Reizeinwirkung werden wir also abhängig von derselben, wie die Pflanzen abhängig vom Lichte sind unil ohne [180] dasselbe nicht normal leben können. Letztere entwickeln ^ich als Embryonen im Dunkeln, aber zur späteren Entfaltung, zum späteren normalen Wachsthum bedürfen sie des Lichtes. So können auch im erwachsenen Individuum der höheren < » r- ganismen, in denen zu dieser Zeit keine embryonalen Eigenschaften, von Regenerationssubstanzen und Geschwulstkeimen abgesehen, mehr vor- handen sind, dieTheilc normaler Weise blos noch durch Reiz- einwirkung wachsen, denn sie sind jetzt ganz in Abhängigkeit vom Reiz gekommen. Vollkommene Anpassung an den Reiz würde bedeuten, dass jede Substanz blos von demjenigen Reize, welcher sie physio- logisch allein trifft, zur Function erregt, von ihm allein am Leben erhalten und von ihm zur Vermehrung veranlasst werden könnte. Aber so vollkommen ist die Anpassung bei keinem Gewebe gediehen; denn bekanntlich werden die Nerven und Muskeln von allen Formen lebendiger Kraft mit Ausnahme des Schalles und des Lichtes erregt, wenn auch nach Grützxer') nicht in gleichem Maasse. Besondere Reizversuche mit verschiedeneu Kraftformen unter Messung der Quan- tität der zur Reizung verwendeten oder gelangenden lebendigen Kraft werden uns die ßeizäqiüvaleute und damit die verschiedenen Anpas- sungen an besondere Reizformen kennen lehren [siehe Xr. 7, S. 147 — 152i. 1) PflCger's .\rchiv. f. Physiologie, Bd. 17. 1878. 348 Nr- + iJir züchtende Kamill ''''■' Tlieile im Orgauismus. Es müssen also, um das noch besouders hervorzuheben, in dem normalen Leben aller Organe der höheren Organis- men zwei Perioden unterschieden werden : 1 . eine e m hrijonale im weiteren Sinvr. in der die Theile sich von selber ent- falten, dif i'erenziren und wachsen [ohne dass die functio- nelle Reizung direct oder indirect dazu nöthig ist] und 2. eine des functioneJIen lieizlebens. in der das Wachsthum und bei manchen Theilen auch schon der vollkommene Ersatz des Verl)raucht('n nui- unter Einwirkung von functionellen Reizen stattfindet'). Letztere Reize können dann auch Neues hervorbringen, welches [nach früherer Annahme], wenn es Generationen hindurch so erzeugt worden ist, erblich wird, d. li. ohne diese [181] Reize sich in den Nachkonnuen aus- liildet, also in unserem Sinne „embryonal" wird (s. aber S. 140 u. 199). Ebenso kann wohl auch ein „allmähliches" Sinken der Xoth wendigkeit des Lebensreizes stattfinden. Denn wenn der Reiz allmählich abnimmt, kann durch Züchtung anderer Sub- stanzen Anpassung an die geringere Frequenz und Litensität des Reizes eintreten; und so können Organe trotz verminderter Acti^•ität erhalten bleiben, wie wir das bei den Ohrmus kein des Menschen sehen, welche, wenn überhaupt, so blos durch irradiirende Reize schwach in nicht zur Contraction genügendem Maasse erregt werden und trotzdem immer noch . wenn auch nur in sehr geringem Volumen, erhalten bleiben. Solche Erhaltung wird aber blos da möglich sein, wo das Organ keinen Kamjif um den Raum zu bestehen hat, wie dies eben bei den Ohrmuskeln der Fall ist. An anderen Stelleu, wo die Organe um dvw Raum kämpfen müssen, können weniger gebrauchte Organe nur in einem so kleineu Theile erhalten bleiben, als durch das geringe Maass der Function genügend zur Widerstandsfähigkeit gekräftigt wird, wie dieses deut- lich der rudimentär gewordene, aber thatkräftige rothe Musculus plantaris der Wade des Menschen zeigt'). [1) Weiteres siehe Bd. II, S. 281]. [2) Dasselbe gilt von Muse, palmaris brevis, welcher oft starkem Druck ausgesetzt ist. Derselbe ist aber auch bei vielen Menschen kein unthätiger Muskel und seine Function besteht nicht darin, zum .Schutze unterliegender Theile zu dienen, IV. A. i^limlitiitive Wiikiitit; der fuiKtiuiiclIcii Reize. 3i9 Die Zeit, zu wclclier für jedes (!e\\ol)e uml in jeileni OrgiiD die Periode des ,, embryonalen" I.eben.s aufhört und die des „Reizlebeus" beginnt, ist wahrscheinlich für jeden Tlieil verschieden. Wir zeigten, dass die Gefässe, die Knochen und ilii' P>i ndegewebsli ildu ugen ilirc normale Gestalt wall rsciici nlich überhaupt nicht ganz selbstständig im Embryo ausbilden. Und zwar ist diese Abhängigkeit wahrschein- lich nicht blos eine morphologische, indem irgend ein morphologi- scher Zusammenhang zwischen der Ausbildung des Muskels und seiner Fascie besteht, sondern eine functionelle in der Weise, dass die „dynamische Ordnung" des Faserverlaufs der Fascie sich durch die embryonale Function der Muskeln ausliildet. Das Gleiche gilt [182] von den Blutgefässen (s. S. 32(i), welche wohl neben dem Herzen am frühesten von allen Theilen- ihr Reizleben beginnen. Danach folgen vielleicht die bindegewebigen Bildungen, aber wohl in den verschiedenen Organen zu verschiedener Zeit. Das Allgemeine ist, dass diejenigen Organe, welche schon im Embryo ihre specifische Function versehen, auch schon im Embryo Reizleben führen werden, nach dem Maasse dieser Function. ( )b die Drüsen schon fungiren, wissen wir im Allgemeinen nicht, aber von der Niere und der Leber haben \vir Grund es anzunehmen. Wenn es nicht Thiere gäbe, welche hörend und sehend geboren werden, so könnte man nach den Beobachtungen Preyer's^), dass der Mensch erst mehrere Stunden nach der Geburt auf Licht und noch beträchtlich später auf Schall reagirt, glauben, dass die functionellen Reize für diese Sinnesorgane erst nöthig wären, um dieselben in functionsfähigen Zustand zu versetzen. Vielleicht auch müssen erst Nervenbahnen in den Centralorganen durch den Reiz für denselben wegsam gemacht werden. Jedenfalls aber scheint es kein Unent- \\-ickeltsein in Folge Zeitmangels zu sein in der A\'eise, dass durch- aus vierzig Wochen und einige Tage zur genügenden Ausbildung wie in den Lehrbüchern steht, sondern er hewegt Haut und Fettpolster des Kleinfinger- ballen gegen die Hohlband und wölbt letztere so mehr, was beim Anfassen rundlidiei Gegenstände wie Hammerstiel, Seil, Kegelkugel, beim Klettern nöthig resp. nützlich ist.J i) Kosmos, Zeitschr. f. monist. Weltauffass. Bd. HI. S. 32. 350 Nr 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. nöthig wären, denn danu müsste bei früh geborenen Kindern der Mangel sehr evident die entsprechende Zeit, zehn bis zwölf Wochen dauernd, hervortreten. Da dies nicht der Fall ist, so scheint es mir in der That annehmbar, dass diesen Sinnesorganen bei der Ge- burt des Menschen eine Vollendung nur in den feinsten Molecularverluiltnissen fehlt, welche erst der functionelle Reiz hervorzubringen vermag [dass sie aber in der sichtbaren Structur selbstständig, das heisst hier, ohne Hülfe functioueller Reize augelegt und ausgebildet werden.] B. Quantitative und „g^estalteiule" Wirkung der l'unctiouellen Reize. Gehen wir nun nach dieser für ifiren nothwendig hypothetischen Charakter etwas ausführhchen Betrachtung der qualitativen Wirkung der Reize zur quantitativen, also vor- [183] zugsweise ge- staltenden Wirkung derselben über, um sie noch in einigen Eigenschaften kennen zu lernen, welche im vorigen Capitel, beim Vergleich der eventuellen Leistungen durch den Reiz gekräftigter Processe mit den thatsächlichen Einrichtungen der Organe, nicht ge- nügend erörtert worden waren. 1. Grösscnverhä Itn isse im Allgemeinen. Wir hatten gesehen, dass dem functionellen Reize eine die Assimilation stärkende Wirkung bis zur Uebercompensation des Ver- brauchten zukommt, uiid dass daher mit der Stärke oder Häufigkeit des Reizes auch seine stärkende Wirkung zunehmen müsse, womit ein Princip der zvveckmässigsten quantitativen Selbst- regulation der Organentwickelung gegeben war. Diese Selbst- regulation wirkt in der Art, dass ein Organ dm'cli stärkeren Gebrauch selber auch grösser und stärker und so zu grö.sseren Leistungen be- fähigt wird. Es ergiebt sich fernerhin auch, dass ein Organ, welches zur Assimilation des functionellen Reizes bedarf, bei vermindertem Gebrauch in seiner Ernährung sinken und eine Verkleinerung seines Volumens erfahren muss, welche eine höchst zweckmässige Material- ersparniss darstellt (s. Nr. 10, S. 9j. IV, H. Quantitative, gestaltende Wirkung der fiiiictionellen Reize. 351 Dieses Geschehen ist aber au den Htoft'wechsel gebniulen; und es ist morphologisch dabei einerlei, ob die Stoffzersetzung mehr oder weniger un die Fuuetiou geknüpft ist, wie bei den Muskeln und Drüsen, oder etwii in einer gewissen Unabhängigkeit von ihr statt- findet, wie vielleicht bei den Stützsubstanzen. Von letzteren wissen wir eigentlich gar nichts darüber. Bios von den Knochen haben uns KöLLiKER uud Wegxer gelehrt, dass fortwährend durch besondere grosse Zellen, die Osteoklasten oder jNlyelopiaxen , Auflösung der Knochensubstanz an vielen Stellen des Organes stattfindet, während gleichzeitig au anderen Stellen durch audere Zellen, die Osteoblasten, Knochensubstauz neu gebildet wird, so dass also ein stetiger Stoff- wechsel des Organes stattfindet ; wenn er auch nicht, wie bei den Arbeitsorganen, innerhalb der Zellen sich vollzieht, sondern in gänz- licher Entfernung grösserer, fast mit blossem Auge wahrnehmbarer [184] Theile und Neubildung an deren Stelle besteht. Ausserdem wissen wir, dass in der That bei I n a c t i v i t ä t die Knochen schwächer werden, indem die Rinde von innen her verdünnt w'ird, die einzelnen Bälkchen sich verdünnen und an Zahl ver- mindern. Eines der treffendsten Beispiele von Inactivitätsatrophie der Knochen bietet der v o 1 1 k o ni m e n e Sc h w u n d der Zahnfortsätze der Kiefer nach dem Ausfallen der Zähne im Greisenalter dar, dui'ch welchen z. B. der Unterkiefer um l'/a bis 2 cm seiner Höhe erniedrigt und dadurch zu einer runden Spange von Bleistiftstärke reducirt wird. Diese Atrophie nun lässt sich in derselben Weise erklären, wie die Atrophie der Arbeitsorgane, indem bei Mangel des fuuctionellen Reizes weniger oder kein Knochen neu gebildet wird, während die Knochenauflösuug entw^eder dieselbe bleibt, oder zunimmt. Welchen Gesetzen aber diese Knochenauflösung im Kampf der Osteoklasten gegen die Knocheusubstanz folgt, an welchen Stellen sie stärker an- greift, ob vielleicht an den Stellen, welche nicht mehr durch den Reiz getroffen werden, oder an denen, welche schon lange fungirt haben, darüber ist nichts bekannt. Ueber den Stoffwechsel und die phj'siologische Regeneration des Bindegewebes haben wir gleichfalls keine Kenntniss; aber vor- kommende Atrophien deuten auf einen Stoffwechsel des Gewebes 352 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. hin: und es ist vielleicht (lai< Wahrscheinlichste, dass auch hier der Vor- gang ähnlich wie bei den Knochen stattfindet, dass liier vielleicht die weissen Blutzellen normaler Weise, wie sie es bei der Entzündung pathologisch thun, die Fasern auflösen, während der verringerte lunctionelle Reiz der Bindegewebszellen nur in zum Ersätze unge- nügendem Maasse veranlasst, neue Fasern abzuscheiden. [Zu der Bemerkung eines Referenten (E. Krause, iu Kosmos Bd. 9, 1881, S. 401), da.ss oft Hypertrophien der Gewebe, auch Activi- tätshypertrophien ebenso wie Inaetivitätsatrophien nachtheilig seien, habe ich Folgendes angeführt (Kosmos Bd. 10, 1881, S. 148), , was hier zur Ergänzung Platz finden kann: „Reine Inaetivitätsatrophien und Activi- tätshypertrophien sind fin- die derzeitigen Leistungen des Organis- mus stets zweckmässig. Wenn aber die Vernachlässigung des CJebrauches eines Körpertheiles und die daraus folgende geringe Ausbildung des- selben ihrem Urheber derein.st nachtheilig wii'd, so darf nicht der Mechanismus des Organismus, sondern nur die geringe Einsicht oder der schwache Wille des betreffenden Individuums dafür verantwort- lich gemacht werden. Ersteres wäre gleich, als wollte man einen gemeinen Soldaten dafür tadeln, dass ein Offizier versäumt hat, ihm einen nöthigen Auftrag zu geben und dass er ihn in Folge dessen auch nicht ausgeführt hat. Wenn andererseits z. B. bei spinaler Kinder- lähmung die (ranglienzellen im Rückenmark für bestimmte Muskel- gruppen durch Krankheit zerstört worden sind, und die Oebrauchs- möglichkeit für diese Muskeln damit aufgehoben ist, so muss die ein- tretende Atrophie der betreffenden Muskeln und ihrer Stützorgane, der Knochen, Bänder etc. als durchaus zw^eckmässig angesehen werden.) [Die Hypertrophien angehend, so trägt die Herzhypertrophie beim Vorhandensein von Herzklappenfchlern den Charakter höchster Zweckmässigkeit an sich; denn sie befähigt das Herz, die durch den Klappenfehler bedingte ^'ergrösserung der Widerstände zu bewältigen und so den Betrieb der Blutcirculaton unter sehr erschwerenden Um- ständen i'ortzuerhalten. Dass aber das Herz zufolge der functionellen Anpassung aucli liei rein nervös veranlasster Verstärkung seiner Thätigkeit, beim nervösen Herzklopfen, mit der Zeit hypertrophisch wird, kann weniger der functionellen Anpassung zur Last gelegt IV. B. Quantitative, gestaltende Wirkung der functionellen Reize. 353 werden, sondern fallt nnter den soeben bei der Inactivitätsatrophie gekennzeichneten Gesichtspunct. Selbstständige Hypertrophien aber, wie z. B. die znerst von Auerbach nachgewiesene ächte Muskelhypertrophie, welche stets mit Verminderung der Leistungsfähigkeit verbunden ist, oder idiopathische Atrophien der Theile, beruhen stets auf einer krankhaften, von der von uns vertretenen, in beiden Kampfesinstanzen gezüchteten, ab- weichenden Qualität; und die nachtheiligen AVirkungen derselben können daher die zweckmässigen Leistungen der in diesen beiden Kampfesweiseu gezüchteten Qualitäten nicht herabsetzen"]. 2. Bildung der äusseren Gestalt. Werden so alle Grössenverhältnisse in einer den pliysiologi- schen Bedürfnissen entsprechenden Weise auf dem Wege [185] der Selbstregulation ausgebildet, so geschieht das Gleiche in \-ielen Fällen durch dasselbe Prmcip mit den Gestalt Verhältnissen der Organe. Localisirt sich der Eeiz vorzugsweise an Einem Theile eines Organes, etwa bei einer besonderen Bewegungsweise an dem unteren oder oberen Rande eines ■Muskels, der aus Fasern von erheblich verschiedener Lage oder Richtung besteht, z. B. des grossen Brust- muskels, so werden sich die Muskelfasern blos an dieser Stelle ver- mehren, während vielleicht am entgegengesetzten Rande durch den geringen Gebranch eine Atrophie stattfindet, wodurch dann die ganze Gestalt des Organes mit der Zeit eine Umänderung erfährt'). Zu einer solchen dauernden Aenderung des Gebrauches sind aber auch dauernde Ursachen dieser Aenderung nöthig (s.S. 173). Eine solche dauernde Ursache kann bei einer gewerblich nöthigen Be- wegungsweise durch den Willen gegeben sein; sie kann aber auch darin bestehen, dass durch embryonale Variation die Gelenkenden eines Knochens eine die Bewegungsweise alterirende Aenderung der [1) Dieser Vorgang wurde von mir Nr. 8. S. 421 und von H. SrnAPSER (Zur Kenntniss der functionellen Anpassung der quergestreiften Muskeln. Stuttgart 1883) auch zur Ausziichtung günstiger Lage der Insert ionsstellen verwendet, siebe auch Nr. 4, S. 203.] W. Ron.\, Gesammelte Abhandluniren. I. 23 354 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Gestalt erfahren liaben. l'mgekehrt kann die secundäre Aenderung auch au den Knochen stattfinden, wenn durch embrj'onale Variation die Muskelanordnung erheblich verändert worden ist ; denn es werden dann durch den anders wirkenden Druck der Muskeln bei der Thätigkeit die Gelenkenden allmählich entsprechend umgeformt werden, [z. B. bei seitHcher Verlagerung eines der Antagonisten aus der reinen Gegen- überstellung heraus kann aus einem Winkelgelenk ein Schraubengelenk werden. Genau genommen werden also stets beide in functionellen Correlationen stehende Organe sich aneinander anpassen, aber je nach der Grösse der Variation und der rascheren oder langsameren Bildsamkeit des einen oder anderen MÖrd die Aenderung bald mehr am einen oder anderen Theile vor sich gehen.] i) Das gleiche Schicksal [1) Bezüglich des Speciellen der Gelenkanpassung sei der schönen Ver- suche RuD. Fick's (Arch. f. Anat. u. Phys. anat. Abth. 1890. S. 391—402) gedacht; derselbe erwies durch Experimente an künstlichen Modellen, dass unter Selbst- scbleifung dasjenige Gelenkende, bei welchem die bewegende Kraft am nächsten dem Gelenke angreift, zur Pfanne, das andere zum Kopfe wird; ein Er- gebniss, dem die wirklichen Ansatzstellen der Muskeln an den Gelenkenden im Grossen und Ganzen entsprechen. Ich wies im Anschlüsse daran, darauf hin (biolog. Centralbl. Bd. 11, 1891, S. 188), dass Fick's Stellen stärkster Schleifung zugleich die Stellen stärksten Druckes sind, und dass daher auch ohne Schleifung eine Selbstregulation der Gelenkform möglich ist, soweit dieselbe nicht schon auf Grund der Vererbung in typischer, zugleich zweck- mässiger Weise stattfindet, was nach Bernays grösstentheils der Fall ist. Solche Regulation geschieht somit vorwiegend bei Variationen und zwar zu- nächst dadurch, dass an den Stellen stärksten Druckes das selbstständige Wachs- thum des Knorpels gehemmt wird, an den Stellen geringeren Druckes dagegen stärker erfolgt, bis alle Stellen gleich stark gedrückt werden. Was so ent- steht, ist aber blos ein Gleichgewicht des Wachsthumsdruckes, welches bei den unzweckmässigsten Formen bestehen kann. Sobald jedoch Bewegung des Ge- lenkes erfolgt, wird die Druekausgleichung auf die oben angegebene Weise gegen äusseren Druck erfolgen, eine Ausgleichung, welche bei Rotation nur an ent- sprechenden Rotationsflächen vorhanden ist, sodass also letztere direct entstehen müssen. Diese gestaltende Druckwirkung wird sich auf alle Theile der Pfanne und des Kopfes erstrecken, welche sich bei der Bewegung berühren. So können ohne eigentliche Abschleifung erhebliche gegenseitige Regulationen der beiden Gelenktheile erfolgen; und bei grosser Variation des einen Theiles kann sich der andere gleich erheblich anpassen. Doch werden besonders vorspringende Stellen bei der Bewegung auch abgeschliffen werden können. Der so gebildeten Knorpelgestalt folgt dann die endochondrale Ossification so weit nach (s. Bd. 11, S 49), bis der Gelenkknorpel Mos noch eine gewisse, durch die Grösse des Druckes und der Abscheerung bestimmte Dicke behält. Im Falle auf diese Weise erworbene Eigenschaften vererblich sind, dann kann auf solche Weise entstandenen Umbildungen ein erheblicher Antheil auch an der Phylogenese der Gelenke zugekommen sein.] IV. B. Quantitative, geätaltende Wirkung der functionellen Reize. 355 niuss dabei den zugehörigen Gelenkbändern zu Theil werden; und auch die Fascien niüs.sen, entsprechend dem andern Zug, eine andere Structur erlialten. Als ein eclatantes Beispiel derartiger Umformung der Knochen erinnere ich an die Gestalt des Klumpfusssceletes; hier zeigen sich sämmtliche Knochen der Fusswurzel und des Mittel- fusses beträchtlich den neuen \'erhältnissen entsprechend verändert^). Eine gleiche Umänderung der Gestalt des Organes durch un- gloichmässige Inanspruchnahme seiner Theile musste im Gehirn stattfinden, wenn in besonderen Partien desselben durch besonders starken Gebrauch die eingelagerten specifisehen Elemente zur Ver- meh- [186] rung angeregt und so die betreffende Gegend vor den andern vergrössert wurde. Nur wird hier der Process jedenfalls sehr langsam vor sich gegangen sein, so dass erst nach einer viele Gene- rationen hindurch fortgesetzten Aenderung des Gebrauches die Aen- derung der Gestalt bemerkbar wurde; während dagegen bei den Muskeln und Knochen die Aenderung schon im Laufe weniger Jahre, ja bei kleinen Thieren schon in wenig Monaten in erkennbarer Weise sich ausbildet, sofern durch künstliche oder pathologische Alterationen eine Aenderung der Bewegung erzwungen worden ist. Ob ungleiche Vertheilung der Function auch in den drüsigen Organen stattfindet, ist nicht bekannt und blos indem Falle wahrscheinlich, dass zuvor durch embryonale 'N'^ariation ungleiche Qualitäten aufgetreten sind. Ich glaube daher, dass die Gestalt- änderung dieser Organe bei der Activitätshypertrophie vorzugsweise durch ungleiche äussere Widerstände bedingt sind. 3. Ausbildung der Structur der Organe. Aber nicht blos die äussere Gestalt, sondern auch die innere Structur kann durch dasselbe Princip der Stärkung durch den Reiz beeinflusst und direct auf das Zweckmässigste gebildet werden, insofern der functionelle Reiz selber bestimmte Gestalt be- sitzt oder anzunehmen bestrebt ist (s. S. 281 u. Nr. 5, S. 249). 1) Die Anschauung dieses Verhaltens verdanke ich Herrn Prof. W. Braune, welcher die Güte hatte, mir ein ausgezeichnetes Exemplar zur Untersuchung zu überlassen. 23* 356 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Am erkennbarsten wird dies bei denjenigen Thcilen, welche eine statische Function haben, du hier der Reiz bestimmte Formen annimmt, welche uns die graphische Statik erkennen lehrt. .Jeder weiss, dass der Druck sich in einer gebogenen oder schief belasteten Säule nicht im ganzen Querschnitt gleichmässig vertheilt, und dass ef sich längs gewisser Linien fortpflanzt. Diese Linien werden be- stimmt von der eigenen Gestalt des Gebildes, sowie von der Lage und Gestalt der Fläche, auf welche der Druck zunächst übertragen wird. In der gleichen Weise muss sich der Druck auch in den Knochen in gewissen Richtungen am stärksten fort- pflanzen, und die in diesen Richtungen liegenden knoehen- [187] bildenden Zellen (Osteoblasten) werden also am stärksten von dem Reize zur Knochenbildung getroffen und daher am stärksten knochen- bildend thätig sein. Daraus ergiebt sich, dass diese Richtungen selbst bei Annahme gleichmässiger Vertheiluug der Resorption durch die Osteoklasten in der spongiösen Substanz am meisten hervortreten müssen. Und es kommt ferner dazu, dass, wenn diese Richtungen genügend fest durch Knochensubstanz ausgebildet sind, sie den anderen Richtungen den Druck entziehen, so dass nach der Resorption an diesen Stellen kein Knochen wieder gebildet werden kann. Unterbrechen ferner, wie wohl öfter vor- kommen mag, die Osteoklasten die Drucklinien, so wird sich der Druck auf andere benachbarte Partikel vertheilen, und diese werden nun in Folge stärkeren Reizes stärker werden. Also auch in dem eigenartigen, mit gänzlicher Zerstörung der geformten Theile einher- gehenden Stoffwechsel der Knochen muss sich immer wieder die den statischen Drucklinien entsprechende Structur ausbilden, wie es denn auch tliatsächlich und zwar .selbst in ganz neuen N'erhältnissen, bei schief geheilten Knochenbrüchen etc. geschieht^). [Genaueres siehe Nr. ö, S. 249 und II, S. 221 [1) Dass der functionelle Druck und Zug bei der Ausbildung der statischen Strueturen irgendwie betheiligt sei, war schon früher so von Ji'i,. Woi.ff (Virchow's Arch. Bd. .50, 1870, S. 447) und von H. Strassfr (Ueber die Luft.säcke der Vögel, Morphol. .Jahrb. Bd. III. 1877, S. 194) vermuthet worden; es fehlte jedoch die Vor- stellung über die .\rt, wie diese Wirkung vermittelt werden könne.] IV. B. Quantitative, gestaltende ^\■i^kuIlg der functionellen Reize. 367 Auf dieselbe Weise finden auch die von Grossmann und .J. WoLFF als beim apposi tiouellen Knochen w achsthum iiöthig aufgewiesenen inneren Struc t u rum walzungeu ihre E r k 1 ä r u n g. Diese Autoren wandten gegen die Theorie vom rein appositiouelleu Knochenwachsthum ein, dass bei dem- selben der Knoeheu während des Wachsthums zur blassen Erhaltung immer derselben statischen Structur der Spongiosa fortwährende innere Umwälzungen unter Resorption und Neubildung stattlinden müssen, deren die Ausführung bestimmende Momente bisher aller- dings gänzlich unbekannt waren. Nach dem hier dargelegten Principe der „functionellen Selbstgestaltung" der „func- tionellen", in specie „statischen" Structur ergiebt .sich von selber, dass jeder Knochen während des Grösserwerdens immer von neuem im Wesentlichen dieselbe Structur in grösserem Maassstabe unter Auflösung und [188] Anbildung erzeugen muss, so lange seine äussere Gestalt der früheren im mathematischen Sinne , .ähnlich" bleibt und die Belastungsweise keine Aenderung erfährt. Das ist jetzt ebenso selbstverständlich, wie sich bei Aenderung dieser Verhältnisse die der neuen Druckvertheiluug entsprechende Structur von selber aus- bilden muss. Es ist vielleicht nicht überflüssig, in einem solchen letzteren Falle, etwa bei einem Knochenbruche, den ganzen Vor- gang nach unserer Auffassung durch zu denken. Durch die Zu- sammenhangstrennung eines Knochens, auch wenn sie ohne Ver- letzung der Haut und ohne Zertrümmerung des Knochens an den Bruchenden erfolgt, werden an der Bruchstelle die Osteoblasten der inneren und äussei'en Knochenhaut, (des Endost und des Periost) und der den Knochen durchziehenden Haversischen Kanäle fort- während kleinen Beweguugsinsulteu ausgesetzt, wofür sie höchst em- ptindhch sein werden, da sie, fest au den Knochen geschmiegt, in fast absoluter Ruhe zu leben gewohnt sind [das heisst, da sie normaler Weise vor mechanischen Insulten geschützt sind und blos durch molcculare Erschütterungen beim Gebrauche des unversehrten Knochens getroffen werden]. Da mechanische Reize bei ihnen trophisch anregend wirken, so beginnen sie eine sehr ungestüme Vermehrung 358 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tbeile im Organismus. mit allmählich nachfolgender, gegen die Bewegung schützender Knochenabsonderung; welche letztere zunächst so lauge andauern wird, bis dieser .Schutz ein genügender ist, bis die Ruhe wieder her- gestellt ist, oder eventuell bis die knochenbildende Kraft erschöpft ist, was bei geschwächten Individuen nicht selten schon vor der neuen Consolidirung stattfindet. [Die zu geringe Knochenbiidung soll auch bei kräftigen Individuen vorkommen , bei welchen der Gypsverband so gut angelegt ist, dass durch ihn allein schon die Ruhe zu voll- kommen gesichert ist, was allerdings nur in seltenen Verhältnissen möglich sein wird.] Die Ruhe ist, vom Verband abgesehen, wieder hergestellt, wenn eine continuirliche, genügend dicke Knochenmasse beide Bruchenden wieder verbindet. Ist dies geschehen, so werden die Verhältnisse mit einem Male andere; die fremden Reize hören auf, und die einzigen Reize sind wieder die statischen, welche sich durch den Druck der alten Knochentheile in bestimmten Richtungen in die neugebildete Reactionsmasse fortpflanzen. Und es wird blos imierhalb dieser Drucklinien in Zukunft nach [189] der Resorption wieder Neubildung stattfinden, so dass sich allmählich die den neuen Verhältnissen entsprechende statische Structur ausbildet, während die übrige Kallusmasse und die etwaigen überstehenden Knochen- enden mit der Zeit mehr und mehr resorbirt werden. [Diese Ablei- tung ist mit dem Minimum an Annahmen gemacht. In Wirklich- keit wird die Resorption nicht beliebig, sondern am meisten an den entlasteten Stellen stattfinden, wodurch allein schon in einem Maschenwerk allmählich die Richtungen stärkster Inanspruch- nahme etwas ausgearbeitet werden müssen. Die Combination beider Principien, des an den Stellen stärkeren Druckes apponirenden und des an den Stellen der Entlastung resorbirenden, wird die Herstellung einer funetionellen Structur natürlich sehr beschleunigen. Die Re- sorption des Entlasteten scheint aber viel langsamer vor sich zu gehen als die Anlagerung an den Stelleu starken Druckes, so dass also letzterem Princip ein grösserer Antheil an der Ausbildung der statischen Structuren zukommt.] In ähnlicher Weise wird sich die Ausbildung der statischen Structur an den Sehnen, A p o n e u r o s e n , Bändern und IV. B. Quantitative, gestaltende Wirkung der functionellen Reize. 359 Fascien und an dem Trommelfell vollzof^cn haben, indem gleich- falls diejenigen Zellen, welche am meisten von dem in bestimmten festen Richtungen am „stärksten" wirkenden Reiz, dem Zug, getroffen werden, am meisten Intercellularsubstanz abscheiden, und nach genügender Abscheidung den in anderen Richtungen liegenden Fasern d e n R e i z gänz- lich entziehen, so dass sie nach ihrem physiologischen Schwund nicht wieder von neuem gebildet werden können. Um es noch im Einzelnen auszuführen, so müssten in den Fascien mad im Trommelfell, da sie nach verschiedenen Rich- tungen dem Zug unterworfen werden, im Laufe der Generationen blos die beiden Richtungen, welche am meisten in An- spruch genommen werden und auf welche sich auch alle anderen zerfallen lassen, als die alleinig insubstantiirten sich ausbilden : Denn selbst bei ursprünghch verwirrter Faseranlage mus.sten diese Richtungen durch stärkere Reizung der in ihnen liegenden Zellen hypertrophisch werden; wonach sie allen Richtungen, welche schief zu ihnen liegen, mit der Grösse des Cosinus dieses Winkels den lebenerhaltenden Reiz entzogen und ihre Regeneration unmöglich machten. Zwei solche in geeigneten Richtungen zu ein- ander stehende Componenten in einer Fläche werden, wenn sie genügend stark gestützt sind, alle anderen Richtungen vollkommen entspannen; und es müssen daher in allen flächen- haften Gebilden die Richtungen der beiden stärker in Anspruch ge- nommenen Componenten schhesslich die alleinig insubstantiirten bleiben, indem sie alle anderen Rieh- [190] tungen durch Reizentziehung im Kampf der Theile besiegen. Es findet also bei den bindegewebigeji Häuten innerhalb zweier Dimensionen dasselbe statt, wie bei den Knochen innerhalb dreier Dimensionen (s. Nr. 7, S. 142 u. f.). Die Thatsache des Vorkommens dieser Reducirung in vielen Richtungen stattfindender Wirkungen auf die am „stärk- sten" in Anspruch genommenen Componenten, diese höchst zweckmässige Zerlegung, welche wiederum etwas von selber ausge- bildet zeigt, was die angewandte Physik erst seit relativ kurzer Zeit erkannt und dargestellt hat, halte ich für eines der wichtigsten mid 300 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. unumstüssliclisten Beweismittel iür die von mir aufgestellte Reizhypo- these und habe sie daher oben in dieser Weise verwendet. Die Be- weiskraft liegt darin, dass die bezüglichen Bildungen im Spe- ciellen unendlich vielgestaltig sind und trotzdem durch die aufgestellte eine Hj-pothese ilire vollkommenste Er- klärung finden. Wie viel Generationen aber zur Ausbildung einer so voll- kommenen Reduction auf zwei Componenten uöthig gewesen sind, kann natürlich erst beurtheilt werden, wenn wir durch Beobach- tungen in neuen, pathologischen Verhältnissen festgestellt haben, wie gross die individuelle Anpassungsbreite in dieser Be- ziehung, und wie gross die Vererbung derselben (s. S. 140) ist. Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass wenigstens Andeu- tungen solcher Faserorduungen nach den constanteu Rich- tungen stärksten Zuges bei diesen weichen Bildungen des Bindege- webes auch aus verwirrter Anlage, blos durch wiederholte Wirkung dieses Zuges auf dem Wege einfacher mechanischer U m- ordnung hätten entstehen können. Bei denjenigen bindegewebigen Organen, welche wie die Haut und die Gelenkkapseln [letztere sogar auch an Winkelgeleuken bei Wirkung schief angreifender äusserer Kräfte] abwechselnd in ver- schiedener Richtung in stärkster Weise in Anspruch genommen werden, konnte natürlich eine derartige Zerfällung auf zwei feste Richtungen als Componenten nicht stattfinden; und es musste eine verwirrte Faseranlage bestehen bleiben. Wenn aber trotzdem einige Richtungen wiederum vorzugsweise in Anspruch genommen wurden, so [191] musste auch in diesen Richtungen die Faserung vorzugsweise zur Ausbildung gelangen, wie wir das in der Haut auf der Streckseite der Gelenke sehen. Die Wirkung der stärkeren Activitätshypertrophie in den stärker gebrauchten Richtungen und der ihr folgenden Reizentziehung und Inactivitätsatrophie in den weniger gebrauchten Richtungen beschränkt sicli niclit blos auf Ausbildung des inneren Structurdetails der Organe, sondern sie erstreckt sich auch auf die Ausbildung der ,, Lage" IV. B. Quantitative, gestaltenile \Viil): „Es ist eine bekannte anatomische Thatsache, dass Mu.skeln zu Bindegewebe entarten, wenn die Theile, zwischen welchen sie ausgespannt sind, unbeweglich werden." .Die glatten Muskelfasern nun haben bekanntlich keine be- stimmten Ursprungs- und Ansatzpuncte, welche der Faserung be- stimmte Richtungen ertheilen, sondern sie bilden Häute, in welchen sie eigentlich beliebig durch emander liegen könnten. Das ist aber nicht der Fall, sondern sie Hegen, wie in Capitel I erwähnt, in den verschiedensten Organen, in denen sie vorkommen, immer' blos in den Richtungen der stärksten Leistungsfähigkeit, und es spricht sich darin wieder die Reduction auf die kräftigsten Componenten aus. So sahen wir in den cylindrischen Hohlorganen dem Darm, den Harnleitern, den Samenleitern, den Blutgefässen etc., blos Quer- und Längsmuskelfasern, deren Entstehung wir abweichend von den besprochenen ähnlichen Verhältnissen der bindegewebigen Organe hier bei der Activität der Theile auf die Weise ableiten können, dass aus einer verwirrten Anlage diejenigen Fasern, welche in diesen Richtungen lagen, am meisten Gelegenheit zur Verkürzung und der Ueberwindung von Widerständen fanden und dementsprechend den schief dazu gelagerten Fasern die Gelegenheit zur Thätigkeit 1) J. Henle, Handb. d. syst. Anatomie, .Muskellebre S. 13 und 16. IV. B. Quantitative, gestaltende Wirkung der functionellen Reize. 369 benahmen. An den b 1 a s e n f ü r m i g e n 0 r g a n e n , wie der Harnblase und Gallenblase, welche blos in einer bestimmten Richtung, gegeben durch die Abflussuffnung, einen locus minoris resistentiae darbieten, gegen welchen hin tlie stärkste Verkürzung möglich ist, haben wir Faserzüge, welche von diesem Orte aus meridional das Organ über- ziehen. Indem diese in der Function bevorzugte Richtung durch die Abfuhröffuung bestimmt gegeben ist, beraubt sie bei gehöriger ma- terieller Unterstützung alle schief zu ihr liegenden Faserzüge [198] der Thfltigkcit um den Cosinus dieses Winkels, so dass blos die reclitwinkehg dazu stehenden, also in Parallelkreisen das Organ über- ziehenden Fasern die nach ihr leistungsfähigsten sein mussten. Diese beiden aus diesen Gründen vorzugsweise ausgebildeten Fasern waren im Stande, die Fasern aller anderen Richtungen zu entspannen und damit dem Schwunde anheimzugeben. Bei der Gebärmutter, welche beim Menschen nur relativ selten zur Contraction gelangt, können wir vielleicht die weniger vollkommen durchgeführte Anordnung auf diesen Umstand seltner Functionirung zurückführen, abgesehen von den Aenderungen, welche die seitliche Einmündung zweier Kanäle hervorbringt'). Bei Säuge- [■) Hierzu kommt nocli das besondere Moment, dass beim Menschen, der ge- wölinlioh nur ein und zwar ein im Verhältniss zur Bickenweite grosses Kind auf einmal hervorbringt, ein sehr hoher Druck zur Austreibung des Kindes nöthig ist. Da ausserdem noch Flüssigkeit im Uterus ist, welche also den Druck nach allen Richtungen gleich stark fortpflanzt, so könnte beim Vorhandensein blos von zwei rechtwinkelig zu einander orientirten Fasersystemen eine Verschiebung der- selben gegen einander stattfinden und so ein locus minoris resistentiae mit Diver- ticelbildung entstehen. Solcher Verschiebung wird durch Muskelfasern, die in diesen unendlich vielen Richtungen liegen, «bei der Contraction des ganzen Ctebildes activ widerstanden; sie konnten sich also in diesen Richtungen ausbilden, auch wenn frühere Vorfahren unter entsprechenden anderen Verhältnissen blos die zwei Systeme gehabt haben. Beim Herzen findet sich aus demselben Grunde des starken hydrodynamischen Druckes und dazu noch fortwährender Function gar keine Zerfällung auf zwei Componenten, sondern in j e dem aus der ganzen Dicke der Wandung ausge- schnittenen Stück finden sich Muskelfasern aller Richtungen; und zu noch grösserer Widerstandsfähigkeit sind diese Fasern sogar verästelt und derart zu- sammengefügt, dass die Ventrikelwandung ein einziges continuirliches Netzwerk dar- stellt und daher nirgends die feste Zusammenhaltung der Muskelfasern, der Schutz gegen Verschiebung derselben gegen einander, durch Bindegewebe, sondern allenthalben W. Roux, Ocsaminclte Abhandlan^en. I. ^"^ 370 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. thieren , welche, wie z. B. Schweine, Kauinchen und Mäuse, iiu-e Gebärmutter öfter in dieser Weise gebrauchen [deren Junge zudem relativ klein sind], entspricht die Faserorduung in hohem (irade unseren Regeln. Ich will gleich noch an dieser Stelle hinzufügen, dass ich geneigt bin, die rasche Atrop hie der Muskelsubstanz der vergrösserten Gebärmutter nach der Ausstossung des Kindes oder einer grossen Geschwulst, welche das Organ in 14 Tagen um ^/s seines Gewichts verkleinert, als eine Folge der ein- getretenen Entspannung aufzufassen. Denn wenn bei diesem Organ schon eine Vergrüsserung des Inhaltes durch Spannung zur Hypertrophie Veranlassung giebt, so kann auch die vollkonnnene Entspannung nach der Entleerung des Inhaltes eine genügende Ur- sache zur Atrophie abgeben. Jedenfalls glaube ich nicht, dass die letztere blos eine Folge plötzlicher, mit der Ausstossung eingetretener Anämie ist, da die Ursache einer hierzu nöthigen spastischen Ver- engerung der Gefässe unverständlich wäre, und ohne Spasmus der Ge- fässmuskeln eine so hochgradige ^"erringerung der Blutzufulir aus häraodynamischen Gi-ünden nicht ableitbar ist. Im Gegeutheil wird die Spannung der Blutsäule bestrebt sein, die einmal vorhandenen Bahnen sowohl bei Erschlaffung als bei Contraction der Gebärmutter noch mögliclist zu füllen. [199] Was die Drüsen angeht, so sind wir )jei diesen Organen gänz- lich ohne Kenntniss über etwaige gestaltende Wirkung ihres f unctionellen Reizes. Dies fällt mir um so schwerer zu bekennen, als die Frage nach der Ursache der inneren Gestaltung eines dieser Organe, der Leber, die Veranlassung derjenigen Reflexionen gewesen ist, deren Resultate ich in dieser Schrift dem Leser vorgelegt habe. Es war die Frage nach der Ursache des eigentliümlichen ^'erhaltens, dass der Schlauchtypus in der Anordnung der Leberzellen, welcher bei allen anderen Wirbeltbierklassen vorhanden ist. bei den durch die Miisi^elfaseru .selber besorgt wird, und zwar in jeder Phase der Herzaction, proportional der momentanen Grösse seines Bedarfes. In allen unseren Hohlmuskeln bilden die Kraftmaschinen zugleich die Arbeitsmaschinen, was in der Technik nicht vorkommt, hier aber dadurch er- möglicht ist. dass die Muskelfasern (die Kraftmaschinen) so einfach gestaltet und so klein sind, dass sie direct zum Aufbau der typischen Gestalt der Wandung der IV. B. Quantitative, gestaltende Wirkung der functionellen Reize. 371 S äuge thie reu zu dem von Hering') und Kölliker^) beschriebenen Fach werk typus in der Anordnung der Zellen uiogebildet ist. Ich glaube aber, dass trotz unseres gegenwärtigen Unvermögens die von mir aufgestellten Principien dereinst zu einer Erklärung dieses schwierigen morphologischen l'roblemes werden führen können'), wenn erst der ontogenetische und der phylogenetische Entstehungs- modus genauer erforscht sein wird, obgleich schon ein wesentlicher Anhaltepunct durch die ausgezeichnete Arbeit von Toldt und Zucker- K.ANUL^) dazu gegeben worden ist. Vielleicht ist es mir verstattet, an dieser Stelle die Bitte um eventuelle Zusendung von Stücken frisch in absoluten Alkohol oder in MüLLER'sche Lösmag eingelegter Lebern niederster Säugethierformen aussprechen zu dürfen und die geehrten Geber im ^"oraus meines Dankes und meiner BereitwilUgkeit zu jedem möglichen Gegendienste zu versichern. Endlich ist Ijei der Schilderung der gestaltenden Wirkungen der functionellen Reize noch darauf hinzuweisen, dass auch die von uns sogenannte dimensionale Activitätshypertrophie, die aus- schliessliche Vergrösserung der die Stärke der Function be- [200J dingenden Dimensionen der Orgaue bei der Activitätshypertrophie, jedenfalls hierher zu zählen ist. C. Zeitliche Verliältnisse der functionellen Selbstgestaltuug. Die Zeiträume, innerhalb welcher die Selbstgestal- tung der geschilderten \'erhältuisse unter der Einwirkung der functionellen Reize stattgefunden hat, vermögen wir gegenwärtig grössteutheils nicht zu beurtheilen, und es ist möglich, dass zu manchen Bildungen Hunderte oder Tausende von Generationen beigetragen specilischen Arbeitsmaschinen verwendet werden konnten ; und dies geschah, wie wir sahen, wiederum in der denkbar besten Verwendung dieses Materiales. 1) Wiener Sitzungsber. Bd. -54. 1866. 2) A. KüLLiKER, Gewebelehre des Menschen. -5. Aufl. 1867. S. 42.t flf. [■') Eine solche causale Ableitung erster Ordnung der Structur der Säugethier- leber ist in der Einleitung des Archiv für Entwickelungsmechauik (Bd. I. 1894 S. 6) von mir versucht. Der Nutzen der fachwerkartigen Anordnung besteht in der vollkommensten Anpassung der Leberzelle an die secernirende Function, in der vollkommensten Ausnutzung zu dieser Function; indem bei dieser Anordnung jede Leberzelle mehrere Nahrungsaufnahme- und mehrere Secretionsseiten hat.] <) Wiener Sitzungsber. 187-5. 24* 372 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tbeile im Organismus. haben [sofern überhaupt die durch fuuctionelle Anpassung entstandenen Bildungen vererbHch sind]. Nur für das Knochengewebe sahen wir, dass diese Struoturen schon innerhalb eines individuellen Lebens in deutlich erkennbarer Weise sich ausbilden können. Die nöthigen Zeit- räume sind für die verschiedenen Gewebe jedenfalls sehr verschieden; so wird es vielleicht unvergleichlich längere Zeit gedauert haben, bis die djTiamische Anordnung der glatten Muskelfasern sich ausgebildet hat als die geschilderte Structm* der Sehnenhäute (siehe Nr. 7). [Auch die Veränderungen, welche Darwin unter dem Namen der „cor re- lativen Variabilität" zusammengefasst hat (s. S. 131), erweisen sich, soweit sie direct das Zweckmässige d. h. Dauerfähige schaffen, bei geeigneter Prüfung als f unctionelleAnpassungen, indem sie darauf beruhen, dass mit der primären Aeuderung eines Theiles secundär die Function eines anderen Theiles geändert wird, was nun zu entsprechender Aenderung der Gestalt und Structur auch dieses zweiten Theües führt, wie es oben (Seite 353) dargelegt worden ist. Ist somit das Princip der correlativen Variabilität in seinen direct das Zweckmässige schaffenden Wirkungen dem Princip der functionellen Anpassung zu unterstellen, so gilt das Gleiche zum Theil auch für die direct das Zweckmässige producirenden Reactionen des Individuum auf äussere Einwirkungen (siehe S. 130)]. Man könnte nach dem Vorstehenden vielleicht vermuthen, ich sei der Meinung, dass im Grunde alle Bildungen durch Selbstgestal- tung unter Einwirkung des functionellen Reizes entstanden seien und durch letzteren am Leben erhalten werden müssten; es bliebe also zu erklären, woher die gestalteten und damit zugleich gestaltenden Reize kommen sollten, wenn alle Gestaltung erst durch den Reiz entstünde. Es ist aber bereits oben (S. 346 u. f.) bei der Betrachtung der qualitativen Reizwirkung hervorgehoben worden, dass die Theile unter die Herrschaft des Reizes erst nachträglich durch die dauernde oder wiederholte Einwirkung der Reize gekommen sein können und viel- leicht auch in der Ontogenese gegenwärtig noch kommen ; die Folge ist, dass Theilen, welche derartigen Reizen nicht oder blos selten unter- liegen, überhaupt keine Abhängigkeit von Reizen zugeschrieben wer- den kann. Die Erfahrung lehrt, dass die Anpassungsfähigkeit IV. C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung. 373 des Menschen, seine Fähigkeit zu lernen und sich an Einwir- kungen zu gewöhnen, in der Jugend [201] am grössten ist und mit zunehmendem Alter qualitativ und quantitativ abnimmt. Zugleich wird auch die au sich schon geringe sogenannte Regeue- ratioDsfähigkeit desselben im höheren Alter successive schwächer. Diese Erscheinungen finden bei unserer Auffassung des Lebens der Theile ihre vollkommene Erklärung. Indem nämlich unter der Einwirkung der Reize eine Züchtung entsprechender Reizsubstanzen und Reizformeu stattfindet, geht die embryonale Indifferenz und selbstständige Erhaltungsfähigkeit der Theile mehr und mehr verloren. Der Organismus wird durch längere Zeit hindurch fortdauernde Einwirkung bestimmter Reize immer vollkommener an cUe- selben angepasst, also differenter und damit stabiler, sodass nachträg- licher L'mbildung zu neuen Eigenschaften und Formen ein immer grösseres Hinderniss entgegensteht ; denn das Indifferente wird natürUch leichter zu einer einseitigen Beschaffenlieit sich unter Verlust seiner Viel- seitigkeit ausbilden, als ein entschieden Differentes, einseitig Be- schaffenes zu einem anders Beschaffenen sich umbilden kann. Da ferner die Ausbildung des Reizlebens mit dem Verlust der embryonalen selbst- ständigen V'ermehrungsfähigkeit verbunden ist, so wird damit auch die Regenerationsfähigkeit succesive verringert, worüber ich in einer experimentellen Arbeit Genaueres festzustellen beabsichtige. Es ist oben (S. 201 u. f.) erörtert worden, dass diejenigen Gewebsdif ferenzirungen , welche ursprünglich wohl zuerst die Vorfahren durch bestimmte Reize erfahren haben, im Embryo jetzt ohne diese Reizeiuwirkung entstehen können und wahrscheinlich grösstentheils entstehen. Dasselbe, wie für die Gewebscüfferenzirungen, musste auch für die „formale" Dif f erenzirung gelten. Ursprüng- lich wohl durch functionelle Anpassung Erwachsener erworbene normale Eigenschaften werden im Embrj'o ohne diesen functionellen Reiz ausgebildet, und können sich in der Jugendperiode ohne solche Thätigkeit, oder bei einem Minimum derselben, in Folge der vererbten Eigen- [202] schaffen mehr oder minder vollkommen weiter ausbilden und eine Zeit laug erhalten. Aber allmählich werden sie beim 374 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Ausbleiben der Functionirung atrophiren und im Laufe von Gene- rationen mehr und mehr indivichiell imd auch in der Vererbung scliwächer werden und scbliesshch sch^\inden '). Daraus ergiebt sich, dass auch überschüssig gebildete embryonale Substanzen (s. S. 302), wie sie Cohxheim 1. c. für die Geschwulst- keime annimmt, ihre embryonale Eigenschaft selbstständigen Wachs- thums behalten können, da sie entweder zufolge ihrer falschen Lage vor der Einwirkung der functionellen Reize geschützt sein können, oder, wenn dies nicht der Fall, in P'olge ihres Zurückgebliebenseins auf die später einwirkenden functionellen Reize nicht genügend reactionsfähig sind, um durch dieselben in absolute Abhängigkeit von ihnen gebracht zu werden. So können vielleicht überschüssig gebildete, oder durch sonst einen Zufall von der Oberfläche abgeschnürte embryonale Epithel- zellen durch ihr Entferntsein von der Oberfläche und von der Ein- wirkung des Oberflächenreizes ihre embryonalen Eigenschaften be- wahren. Und es ist denkbar, dass auch nicht überschüssig gebildete Substanzen, wenn sie durch eine falsche Bildung in der Nachbarschaft vor dem functionellen Reize [oder vor anderen differenzirenden Ein- wirkungen] bewahrt bleiben, in Folge des verfehlten An- schlusses ihre embryonalen Eigenschaften behalten; so etwa embryonale Knorpel- oder Knochentheile, welche durch eine falsche Bildung in der Nachbarschaft entspannt oder entlastet worden sind. Es muss noch ein Unterschied hervorgehoben werden, wel- cher in der Entstehung von Aenderungen durch embryo- nale Variation und durch functionelle Anpassung noth- wendig vorhanden sein muss. Die formalen Umbildungen, welche auf dem Wege der Aenderung des Gebrauchs entstehen, sind von dem Ausgangs- punct der Veränderung nur nach und nach und immer nur nach gewissen Richtungen hin [203] möglich. So konnten z. ß. die inneren Gelenkbänder, die Ligg. cruciata des Kniegelenks und das [') Es wird hier mit dem zweifelhaften Principe der Vererhung der vom In- dividuum erworbener Eigenschaften gearbeitet (s. S. 140). Dieselben Resultate können aber, wenn auch auf weiterem Wege, ohne dieses Princip entstanden sein (s. S. 198 u. II. S. 61).] IV. C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung. 375 Lig. teres des Hüftgelenkes, wenn sie, wie es für letzteres Biunl nach deu Untersuchungen von Welcker') wahrscheinlich ist, durcli functionelle Anpassung erworben worden sind, nur durch allmäh- liche Ausbildung der Gelenkkapsel nach innen bei ganz bestimm- ter, dies gestattender Anordnung der das Gelenk be- wegenden Muskeln entstehen; ihre gegenwärtige vollkommene Selbstständigkeit wäre demnach erst eine secundäre, durch weitere Ver- änderungen der äusseren Verhältnisse des Muskelapparates erworbene. [Diese Aenderungen müssen somit auf ähnliche Weise vor sich gehen, wie Umänderungen etwa eines Hauses oder einer Brücke, die bei unausgesetzter Benutzung dieser Gebilde vorgenommen werden; dieselben müssen dabei jeder Zeit in functiousfähigem Zu- stande bleiben, und die Aenderung kann daher nur immer in kleinen Schritten und in bestimmter Folge vor sich gehen; während nach Abbruch des Früheren au dieselbe Stelle sogleich etwas total Verschiedenes gebaut werden kann.] Die Aenderungen durch embryonale Variation dagegen, welche nicht durch den functionellen Reiz, sondern durch minimale Aenderungen structureller Qualitäten [des Keimplasson] oder sonstige, uns imbekannte Momente entstehen, können eigentlich, soviel wir es zur Zeit zu beurtheilen vermögen, nach jeder Richtung hin erfolgen imd von jedem Standpunct aus beliebige neue Formen her- vorbringen. So könnte diese Art der Variation z. B. auf einmal ein mitten im Gelenk gelegenes, vollkommen von der Wandung freies Lig. teres hervorgehen lassen, ebenso wie sie auf einmal einen ganz neuen Muskel, etwa einen Abductor dig. V. longus am Vorderarm oder überzählige Finger nebst allem Zubehör hervorbringt. (Genaueres s. n, S. 64 u. f.) Sind nun aber solche embryonale Variationen entstanden, so werden sie, wenn die Zeit des Gebrauches der Theile kommt, die Function derselben alteriren, und es mrd durch die so erzwungene Aenderung der Function eine entsprechende Umgestaltung der Theile auf die vorstehend beschriebene Weise eintreten müssen. Wenn z. B. (s. S. 353) 1) Welcher, Zeitschr. für Anatomie von Hi^ und Braune, Bd. I u. II. 376 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. durch embryonale Variation ein Gelenkkopf verändert worden ist , werden die Muskeln anders gebraucht werden müssen , manche Gruppen sich stärker ausbilden, andere der Inactivitätsatrophie mehr oder weniger verfallen. Das Gleiche kann durch em- [204] bryonale Veränderung der Bänder entstehen. Oder umgekehrt können durch embryonale Aeuderungeu der Muskeln, wie oben schon er- wähnt, die passiven Theile, die Knochen und Bänder, umgestaltet werden. Welches von beiden das häufigere Vorkommen ist, können wir zur Zeit nicht sicher beurtheilen. Ich bin aber geneigt, im All- gemeinen den activen Theilen in dieser Beziehung ein Uebergewicht über die passiven zuzaschreiben ['?]. Immer wird ein durch embryo- nale Variation veränderter Theil mit den Aenderungen seiner Func- tion auch die Function anderer Theile alterireu und damit ihre ent- sprechende Umgestaltung veranlassen (s. S. 173). (Dies e Anpassung wird natürlich eine gegenseitige sein, und solange dauern, bis beide Organe einander entsprechen, wobei das anpassungsfähigere Organ eine grössere Abänderung von seiner ursprünglichen Anlage erfährt als das weniger leicht sich anpassende. So entstehen Winkel- gelenke da, wo eine einzige Antagonistengruppe von Muskeln wirkt; wirken jedoch die Antagonisten nicht ganz in derselben Ebene, dann entsteht eine entsprechende Form des je nach den Verhältnissen echten oder unechten Schraubengelenkes. Kugelgelenke bilden sich nur da, wo die Muskeln mindestens zwei rechtwinkelig zu ein- ander wirkende Antagonistengruppen von fast gleicher Stärke bilden ; wirken zugleich noch Rotatoren, so ist die Kugelform noch gesicherter ; wird eine dieser Muskelgruppen bei einem jugendlichen Thier fast ganz exstipirt oder gelähmt, so bildet sich bei der Weiterentwickelung das ursprünglich vorhandene Kugelgelenk zu einem EUipsoidgelenk um.] So wird durch das Princi}) der trophischeu Reizwir- kung auch l.ieim Auftreten neuer \'ariationen die nöthige functioneUe Hay)Honie im Baue und in der Function der ver- schiedenen Theile des Organismus von selber sich aus- bilden. Wie rasch dieses geschieht und wie viel davon eventuell schon im Embryo stattfindet, kann nur durch besondere Einzelbeobachtungen IV. C. Zeitliehe Verhältnisse der functignellen Selbstgestaltung. 377 festgestellt werden. Von denjenigen Gebilden, welche schon im Embryo fungireu, also von den Blutgefässen, und nach Pheyeh (s. Seite 201), wie erwähnt , auch von vielen quergestreiften Muskeln und damit auch den Ganglienzellen und den Stützsuhstanzen, muss die Mög- lichkeit der Ausbildung der Harmonie beim Auftreten neuer Charaktere schon während des Embryonallebens ent- schieden angenommen werden'). Es giebt nun aber auch Theile am Körper, welche gar keine active oder passive Function haben, sondern blos durch ihre Anwesenheit, durch ihr Sichtbarseiu nach aussen hin nützen und aus diesem Grunde erhalten worden sind, wie z. B. viele Charaktere der geschlechtlichen Zuchtwahl. Der gewaltige Rückenkamm, welcher dem männlichen Triton zur Zeit der Brunst wächst, um nach derselben wieder rückgebildet zu werden, der Hahnenkamm oder die Kehlkopf- lappen des [205] Truthahns haben keine active Function, und ihi-e Gestalt ist somit durch embryonale N'ariation entstanden, ebenso wie nicht selten die Farbe und wohl immer die Zeichnung der Thiere. Wenn aber auch das ganze Organ als solches keine Func- tion ausüljt, so haben doch die Theile eine Function im Organ, nämlich die Function, das ganze Organ zu erhalten. Indem hierbei die einen Theile mehr gespannt werden als die anderen, wird sich [1) Es wurde im Vorstehenden eine unzählbare Menge einzelner verschiedener, dem Begriffe des sogenannten Z weckm ässige n entsprechender Gestaltungen in ihren diesem Charakter entsprechenden Foi-ni- und Structurverhiilt- nissen von blos „zwei' gestaltenden Principien: von der Ausübung der Function und von der trophischen Wirkung der functionellen Reize abgeleitet. Eine solche Ableitung zahlreicher verschiedener Bildungen von einer Minderheit gestaltender Wirkungsweisen nennt man eine Erklärung der Einzelbildungen: das scheint nicht allen Forschern klar zu sein (s. Nr. 28 S. 617 Anm.). Da keines der hier zur Erklärung angewandten Principien, weder die Voll- ziehung der Function der Organe noch die Förderung der Assimilation durch den functionellen Reiz, einen unerklärbaren teleologischen, sondern da jedes mechanischen Charakter hat, so ist auch die gegebene Erklärung keine teleologische in diesem Sinne, sondern eine mechanische (s. S. 381). Dasselbe ^vie für die hier behandelte „morphologische functio- nelle Anpassung' gilt auch für die sie vermittelnde „rein functioneUe Anpassung.' das heisst für die quantitative und qualitative Selbstregulation sive Anpassung in der je weiligen „Ausübung' der Function (s. S. 321, 400 u. f.1 auch dieser kommt nur ein mechanischer Charakter zu.] 378 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tlieile im Organismus. innerhalb des Ganzen eine ungleiche Function der Theile und damit eine entsprechende innere Structur des Ganzen ausbilden , in den erstgenannten Beispielen also eine statische Structur. Das Gleiche gilt von den durch ihre äussere Fomi wirkenden Begattungsorganen. Hier ist die Gestalt .sicher blos durch embryonale Variation entstanden. Aber die innere Einrichtung lässt erkennen , dass die einzelnen Bestandtheile sich nach dem Maasse ausgebildet haben, als sie zur Herstellung dieser Form beitragen. Ebenso ist es mit den anderen Theilen der Geschlechtsorgane. Die ganze Umbildung, durch welche z. B. die Eileiter von den Harn- leitern abgetrennt worden sind, kann blos aul embryonale Variation und summirende Auslese unter den Individuen nach D.\rwin, nicht auf directe functiouelle Anpassung zurückgefiüirt werden ; während die Structur ihrer Wandung aus Längs- und Ringmuskehi, wie oben dar- gelegt, nur eine Folge der fuuctionellen Anpassung sein kann. Ebenso gehören wohl die Hülfsapparate der Sinnesorgane hierher; denn blos die specifischen Theile können durch den Reiz selber beeinflusst werden, während die Hülfsapparate alle durch em- bryonale Variation geformt und blos in ihrer Structur und feineren Gestaltung durch functionelle Selbstgestaltung bestimmt werden. Die embryonale Variation hat somit die Freiheit der äusseren Gestaltung der Theile in jeder beliebigen Weise ') ; aber die innere Structur derselben, die Anordnung der Theile, welche diese Gestalt hervorbringen müssen, ist dann nicht mehr frei, sondern [206] wird durch functionelle Selbstgestaltung eventuell mit Hülfe des Kampfes der Theile auf das Zweckmässigste eingerichtet. Wenn dagegen die äussere Gestalt selber bestimmten Ein- wirkungen ausgesetzt ist , wie die Gestalt der Knochen und Bänder den Einwirkungen der Muskeln, so ist auch sie nicht mehr frei, sofern der bestimmende Charakter des anderen Organes , hier der Muskeln, einmal gegeben ist. Da im Embryo das Geschehen zunächst ein rein chemisches, Gestaltung aus cliemischen Prozessen ist, so ergiebt sich von selber. [') Beschränkungen dieser Freiheit siehe Bd. II S. 64.] IV. C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung. 379 dass gerade chemische Alterationen') im Stande sein werden, die Gestaltung ganzer Orgausysteme auf ein Mal zu be- einflussen, zu ändern, und es überbrücken .sich so, wie schon A. (iiiAF Kayserling -) liervorgehobeu hat, leichter grössere Kluften im Thierreioh, wie die zwischen Reptilien und Vögeln und zwi-scheu Amphibien und Säugern. Eine chemische Alteration kann unter gestaltender Mithülfe der functionellen Anpassung eine so grosse formale Uraändermig in einem Organsystem oder in allen Theilen des Organismus auf einmal hervorbringen, wie sie durch functionelle Anpassung allein vielleicht nicht in Tausenden von Generationen entstanden sein würde. Ein eclatantes Beispiel dieser Art beschreibt von einer Pflanze W. IOjop^). Er sah bei Maispflanzen nach Ver- tauschung der schwefelsauren Magnesia der Nahrung mit unter- schwefelsaurer Magnesia eine Umwandlung des ganzen Blüthenstandes mit Umänderung der Blüthen selber entstehen, sodass an den meisten Pflanzen gar nicht mehr die Form eines Maiskolbens entstand. Nur an den niedrigsten Pflanzen traten später aus einer der unteren Blattscheiden die Spitzen der Hülle eines Maiskolbens hervor. Kölliker erwähnt*) gleichfalls ein sehr interessantes [207] Beispiel, indem er sagt, dass bei mangelnder oder imgenügender Luftzufuhr zum be- brüteten Ei im Gefässhof des Hüherembryo sich die von E. Klein irrtbümlicli als normale Vorkommnisse beschriebenen Endothelblasen mit vielen Kernen und endogener Knospung ausbilden und zur Bil- dung von Blutgefässen in einer vom normalen Vorgange durchaus abweichenden Weise führen. Da ferner, wie wir sahen, sehr Vieles in den Gestaltungen theils schon im Embryo und noch mehr im Erwachsenen von der Wirkung von Reizen abhängt, und da uns zugleich die Pathologie lehrt, dass [1) Siehe dagegen Seite 208 Anm. wonach statt chemischer Aenderungen, jAenderungen der Structur des Kcimplasson oder Keim plasraa' zu setzen ist, welche aber vielleicht durch geänderte chemische Ein Wirkungen , wie Aenderung der Nahrung veranlasst sein können.] -) Bulletin de la Societe geol. de France. 2. ser. T. 10. S. 355. Cit. nach G. Seidlitz. Die ÜARwiN'sche Theorie. 1875. S. 50. 3} Berichte der Kgl. Sachs. Gesellsch. d. Wiss. Math.-phys. Cl. Bd. 30. 1878. S. 39. *) Kölliker, Entwickelungsgesch. des Menschen etc. 1879. S. 177. 380 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. die Gewebe ausser auf die functioaellen Reize auch noch auf andere, fremde Reize gestaltend reagireu, so ergiebt sich von selber, dass die Bildungen verändert werden, von der normalen Gestaltung abweichen müssen, wenn die Gewebe der Einwirkung fremder Reize unterworfen werden. Eines der einfachsten Beispiele ist die Ausbildung des angeborenen Plattfusses, welcher nach Martin, Volkmaxx, Lücke, 0. Küstxer *) u. A. bei absolutem oder relativem Mangel au Fruchtwasser und daraus folgendem directen Druck der Gebärmutter auf die Kindestheile entsteht. Wenn nun aber, wie thatsächlich der Fall, die Entwickeluug zumeist in normaler, typischer Weise abläuft, so beweist dies einen sehr vollkommenen Schutz des Organismus gegen andere, als die normalen Reize. Es beweist, dass die normalen form- bildenden Reize im Embryo selber producirt werden, ohne äussere Einwirkungen. Wenn im jugendlichen Individuum künstliche Hyperämie eines Theiles hervorgerufen, ihm also mehr Blut zugeführt -wird, als er seliger zufolge der ihm vererbten Eigenschaften auf dem Wege der oben er- wähnten Selbstrcgulation sich zu verschallen vermag, so entsteht abnorm starkes Wachsthum, also abnorme Bildung, da die Theile in diesem Stadium noch ohne Function wachsen [208] können. Selbst im er- wachsenen Individuum musste noch einigen Geweben, den Deckepi- thelien und den Stützgeweben, die Möglichkeit zuerkannt werden, blos in Folge künstlich vermehrter Nabrungszufuhr stärker zu wachsen. Jeder Ai'zt keunt die oft sehr beträchtlichen Knochenverdickuugen des Schienbeins nach eiumahgen heftigen mechanischen Insulten (wobei nebenher aber auch die Osteoblasten selber gereizt werden) [und es ist erstaunlich, wie lange hier die productive Wirkung die auslösende Ursache überdauert], sowie die Vermehrung des Bindegewebes bei chronischen Entzündungen. Diese Bildungen sind aber nicht dauerfälüg, sondern sie schwinden allmählich wieder nach dem Maasse und nach der Ge- schwindigkeit des Stoffwechsels, welchem das betreffende Gewebe unterworfen ist. Eine Restitution des so Geschwundenen nacli dem 1) Langexiseck's Archiv. Bd. XXV. Heft 2. IV. C. Zeitlicbe Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung. 381 Aufhören der Entsteluingsursache kann nicht stattfinden, ausser wenn die Bildung durch vieljährige Dauer der Ursache zu einer stabilen, aus sich selbst erhaltungsfähigen geworden ist [?]. Uebrigens muss auch hier wieder, wie schon oben, daran erinnert werden, dass wir zumeist nicht wissen, ob selbst bei diesen Geweben die durch den Reiz hervorgebrachte Hyperämie die alleinige Ursache der Gewebs- vermehrung gewesen ist. Da also die functionellen Reize so viel Zweckmässiges hervorbringen, so ist noch ein Wort über die functionelle R eizcentralisation des ganzen Individuums zu sagen, indem von ihr die für das Ganze zweckmässige Ausbildung der Theile abhängt. Die vom Gehirn aus- gehenden Willensimpulse gehen durch die Ganglienzellenlager und die Nerven zu den Muskeln und beeinflussen damit, neben der Aus- bildung dieser Theile, zugleich auch die ihrer Stützorgane, der Neu- roglia (des Nervenkitts), der Sehnen, Knochen, Knorpel, Bänder und Fascien in cjuantitativer Weise. • Indem von diesem Willenscentrum vermittelst der Bewegungsorgane auch die Einführung von Substanzen in den Körper stattfindet, unterliegen auch die Reize, welche von der inneren Oberfläche aus auf den Körper, auf die Verdauungs- [209] Organe wirken, der Selbstregulation des Ganzen, und das Gleiche gilt, aber nur in unvollkommenerer Weise für die äussere Oberfläche und die Sinnesorgane treffende Reize, an welche sich der Organismus im Uebrigen zwangsweise anpassen muss. Diese Bildungen sind somit zum Theil wirklich einem zweckthätigen Willen entsprechende, also teleologische, obschon auf mechanische Weise vermittelte und hervorgebrachte. Diese Eigenschaft schliesst aber nicht aus. dass sie auch dem Ganzen nach- theilig werden können, sofern der Wille, wie z. B. bei Ueberaustrengung oder Nahrungsverweigerung, seinem Träger Nachtheiliges intendirt. So kann durch die züchtende Wirkung des Kampfes der Theile und durch das dabei zum Siege gelangte Reizleben auf dem nächsten Wege eine Vollkommenheit der Organisation ent- stehen, welche man bis vor wenigen Jahren kaum geahnt hat, und die wir im Einzelnen auch jetzt noch nicht im vollen Maasse kennen. Wenn die Anpassung der Gewebe an die functionellen Reize eine 382 Kr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. vollkommene geworden ist, wird das Organ ausgebildet bis zur abstractesten, aber materiellen Definition seiner Func- tion, es wird ihr angepasst bis in's kleinste fungirende Theilchen; jedes einzelne Organ und das aus ihnen zusammen- gesetzte Ganze erhält eine Vollkommenheit, wie wir sie bei unseren eigenen Werken blos theoretisch construiren, aber nicht practisch durstellen können. Es entsteht eine Zweckmässigkeit der Einrich- tungen, wie sie das suramirende und steigernde Princip Darwk's und Wallace's, der Kampf um"s Dasein unter den Individuen, für sich allein nie hätte hervorbringen können, wie sie blos durch das fort- währende Zusammenwirken des Kampfes der Individuen mit dem Kampfe der Theile mögUch geworden ist. Solche eventuelle ^'^ ollen düng der Theile bis zur materiellen Definition ihrer Function für das ganze I n d i V i d u u m mehr und mehr an den Organen und Geweben im Einzelnen aufzusuchen, wird zu den nächsten Aufgaben der Forschung gehören, insbesondere aber ist dies nöthig für die bisher fast ganz unbeachtet gebhebenen Functionen der verschiedenen Bindesubstanzen. [Alle diese durch Züchtung im Kampfe der Theile bedingten, sowohl qualitativ dif fereuzirenden wie ge- staltenden Leistungen haben zunächst nurWerth für das betreffende Individuum. Soweit aber die Entstehung der diesen Züchtungen zu Grunde hegenden assimilationsfähigen Qualitäten schon irgendwie im Keimplasson begründet war, sind diese Variationen in Folge der Con- tinuität des Keimplasson und ihrer Assimilationsfähigkeit auf die Nach- kommen übertragbar (s. Nr. 6 S. 807). Indem der Process der Züchtung und functionellen Gestaltung sich bei der Entwickelung jedes Indivi- duums wiederholt, können diese Eigenschaften der ganzen Art zu Gute kommen. Indem ferner durch den Kampf um's Dasein unter den Individuen solche Individuen erhalten blieben, welche zufolge der Beschaffenheit des Keimplasson, aus dem sie entstanden sind und von dem sie noch einen ßest zur Fortpflanzung in sich tragen — tüese günstigeren Eigenschaften in höherem Maasse auszubilden vermochten, könnte also auch eine erhebliche Steigerung dieser. Eigen- IV. C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaltung. 383 scliaften durch Züchtung (im Kampfe der Individuen) statt- finden; dies umsomehr als, wie wir sahen, die grosse, durch den Kampf der Theile bedingte Ausbreitung der neuen Qualitäten im Indi- viduum ihren eventuellen Vortheil und damit ihre Züchtbarkeit, also aueli diejenige der ihnen zu Grunde liegenden Keimesvariationen sehr erhöht. Alles das geschieht schon ohne in Thätigkeittreten des zweifel- haften Principes der Vererbung vom mehr oder weniger entwickelten Individuum „erworbener", „somatogener" Eigenschaften. Es geht dabei aber immer der durch den Kampf der Tlieile inj Or- ganismus erworbene höhere Grad von Anpassung mit jedem Individuum wieder verloren. Sofern jedoch auch noch Vererbung „erworbener" Eigen- schaften des Individuums stattfinden sollte, könnte sich auch dieser letztere grosse Theil von nützlichen Gestaltungen, entsprechend der Grösse dieser Vererbbarkeit direct auf die Nachkommen übertragen. Der Antheil des in diesem Buche entwickelten Kampfes der Theile und der auf ilim beruhenden functionellen Anpassung au der Entwickelung des ganzen Organismenreiches wäre als- dann ein vielmal grösserer als ohne dieses Vermögen, jawohl sogar ein erhebhch grösserer als der des D.\Rwix'schen Kampfes um's Dasein unter den Individuen. Der Kampf der Theile oder die T heilauslese im Indi- viduum wäre also damit für die Entwickelung des ganzen Organismenreiches ein viel wichtigeres Priucip als der Kampf und die Auslese unter den Individuen').] [Nach der (in der ersten Auflage dieser Schrift erfolgten) Dar- legung der theoretischen Wirkungsraöglichkcit der erörterten [') Wenn es bei wissenschaftlichen Bestrebungen überhaupt ein persönliches Interesse geben könnte, so würde ich als Begründer der Lehre von den zweckmässig gestaltenden Wirkungen des Kampfes der Theile somit von allen Descendenztheore- tikern das höchste Interesse an der Bewahrheitung und Anerkennung der , Vererbung somatogener Eigenschaften" haben. Ich betrachte aber die \VEi:^M.\Nx"sche Lehre von der Continuität des Keimplasson und der Vererbung blos der Variationen dieser Sub- stanz unter Beseitigung des Principes der Vererbung somatogener Eigenschaften als eine so grosse Erleichterung für unser Erkenntnissvermögen, dass ich dringend wimsche, diese Lehre möge sich mehr und mehr bewahrheiten!. 384 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. drei Principien der Theilauslese, der functionellen Anpassung und der eventuellen ^"ererbbarkeit ihrer Wirkungen lag die Aufgabe vor, die thatsachlicbe Wirkungsgrösse derselben zu ermitteln. Diese Aufgabe ist bezüglich zweier Principien inzwischen von mir in Angriff genommen worden. Bezüglich der Theilauslese zeigte sich jedoch sehr bald, wie schon (Seite 276) erwähnt, dass es uns noch viel zu sehr an der Kenntniss von den physiologisch wech- selnden (nicht auf die Nachkommen der Zellen übertragbaren) Un- gleichheiten der Zellen desselben Gewebes und der Zell- theile, also an Kenntniss vom Leben der Gewebe und Zellen fehlt, um schon jetzt mit Aussicht auf Erfolg nach Züchtung dauernder, über- tragbarer Qualitäten forschen zu können. Die Frage der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften ist in- zwischen theoretisch in ausgezeichneter Weise von Weismaxn, ürth, Ziegler, Friede. Rohde u. A. bearbeitet worden; und einige Autoren haben dieselbe bereits experimentell in Angriff genommen, sodass wir hoffen dürfen, dass allmählich mehr Sicherheit in unsere Kennt- nisse auch auf diesem überaus wichtigen, aber auch äusserst schwierig zu bearbeitenden Gebiete kommt. •Den thatsächlichen Wirkungsumfaug der functionellen Anpassung an der Gestaltung des Incüviduums habe ich in einigen Beiträgen zur Morphologie der functionellen Anpassung bezüglich der Leistungen des Binde-, Muskel- und Knochengewebes zu ermitteln begonnen (Nr. 7, 8 und 9). Dasselbe geschah für Knochen von Ji l. WoLFF, für Muskeln von Strasser und Nothnagel, vom letzteren Autor auch für Drüsen sowie von Ribbert und Eckharut und A., für Gefässe von Thoma und Nothnagel (s.Cap.L). Es ist jedoch bemerkenswerth, dass die Mehrzahl dieser Autoren blos als Specialisten diese Arbeiten ge- macht hat ohne Kenntniss von den weiteren Principien, che in diesem Buche vertreten sind und daher auch ohne Anschluss an dieselben. Einige dieser Arbeiten sind weder experimentell noch knüpfen sie an pathologische Thatsachen, an Naturexperimente an, sondern ziehen Schlüsse aus normalen Bildungen und Vorgängen; sie liefern also nur indirecte Beweise, von denen man sich jedoch stets erinnern muss, dass sie für sich allein nie volle Sicherheit IV. C. Zeitliche Verhältnisse der functionellen Selbstgestaitung. 3ö5 gewähren können, sondern erst noch des exporinicntrllcn Uewcises zur Ergänzung hedürfen.] [In vorstehender .Schrift wurde (üe lunctionellc Anpassiuig in doppelter Weise verwandt: erstens als Princip der Ableitung der sogenainitcn thrcctcn Knt- stehung des Zweckmässigen (s. S. Iä7), zweitens als Princip der ontogenetischen Ableitung einer grossen Anzahl „typischer" Einzelgestaltungen von einer Minderzahl vererbter gestalteter Charaktere aus, also zur Entlastung des FAtit typischer vererbter Einzel- gestaltungen, somit in anderer Terminologie zur Entlastung des Etat der Evolution unter Vergrösserung des Etat der Epigenesis, di(;se Begriffe in dem von mir eingeführten, vertieften Sinne (Bd. II, S. 4) gefasst. Uebei'blicken wir im Allgemeinen die empiri.sch gewonnenen Resul- tate ülier den Wirkungsunifang der functionellen Anpassung so hat sich die veriuutliete (Jrösse in Bezug auf directe An- passung für Knochen-, Muskel- und Drüsengewebe und für Gefässe an neue Verhältnisse durchaus bestätigt. Ueber das bezügliche \'erhaltcn des Bindegewebes ist noch keine experimentelle Arbeit pul>lieirt werden; doch habe icli eine solche unteiMionmien und erkannt, dass bei diesem Gewebe der Antheil der functionellen Anpassung an der Ausbildung rein fuuctioneller Structuren während des post- enibi'vonalen Lebens dadurch herabgesetzt wird, dass die Inactivi- tätsatrophie nur sehr langsam vor sich geht, so dass nicht mehr ge- lirauchte Fasern sehr lange Zeit erhalten bleiben, wodurch die Rein- l»eit der functionellen Anordnung des durch die ausgeprägte Activitäts- hypertrophie in den Richtungen stärkster Beanspruchung Gebildeten beeinträciitigt wird; dies wird in der bezüglichen 8peeialarbeit genauei- dargelegt werden. Was den empirischen Antheil der functionellen An- passung an der „typischen" Ontogenese angeht, so scheint derselbe erheblich kleiner zu sein, als es bei sparsamster An- wendung des Principes der Evolution der Fall sein würde; das heisst, es entstehen manche ontogenetischen Bildungen, die bei nur wenigen \V. IIoux, Oosammellc Al.hans, II. Maass- verhältnisse des Hand.sceletes, III. Maassverhältnisse des Fusssceletes. .lena 1891. S. (51 — 60; in ,Morphol. .Arb.', herausgegeb. von G. Schwai.hf, Heft 1. **) Dasselbe, IV, Die Sesambeinc des menschlichiMi Kijrpers. lena 1892. S. 696—698. V. Ueber das Wesen des Organischen. 387 V. Ueber das Wesen des Organischen. [2101 In der iini'iulliclu'n .Maniuo;falti,a;keit des Niitiirgescliolicns kennen wir Eine Art von Proeessen oder, nm nns lundläufiijer ans- /.mlrücken, von (iebildcn. in denen Processe ablaufen, vveiclie sich durch eine Summe von Eigenschaften so angenfälHg von allem anderen (ieschelien unterscheidet, dass sie schon in früher Zeit yaw Einthei- luno- alles Seins mul (ieschehens in organisches und anorganisches geführt hat. Trotzdem aber gelang es nicht, das eigentliche Wesen dieser Processe klar zu erfassen und zu detiniren, wenn sich auch jedes Zeitalter daran versucht hat. [Es seien hier wenigstens einige Definitionen von hervorragen- den Autoren der letzten Zeit citirt : IL Spfacer') definirt das Leben, als ,,eine bestimmte C'ombination ungleichartiger, sowohl gleichzeitiger als aufeinander folgender ^'er- änderungen" und bezeichnet schliesslich als allgemeinste und voll- kommenste Definition vom Leben folgendi' Eormulirung: „Die fort währende Anpassung innerer Relationen an äussere Relationen". Mir scheint, aus dem Umstände, dass vielleicht manche Einzelheiton in dir Gestaltung der Organe mit Unrecht der functionellen Anpassung zugeschrieben worden sind, ist nicht zu schliessen, dass das Princip an sich falsch sei. ganz abgesehen davon, dass seine Wirkungen an den Muskeln, der Knochenstructur, der Weite der Gefässe etc. etc. direct nachgewiesen sind (siehe auch 8. 373 u. Bd. 11, S. 231). Der Fall von der überflüssigen Gelenkfacette bedarf noch der Nachprüfung unter Berück- sichtigung der localen Druckverhältnisse. Auch an den von ihm ausführlich behandelten Sesam bei neu selber hätte pFiTZXKR (ielegenheit gehabt, dieWirkungen der f unctionel len Anpassun g zu erkennen: er konnte wahrnehmen, dass diese in ihren speciellen Verhältnissen sehr vari- ablen Gebilde in ihrer Structur der dmxh diese Variation erlangten speciellen Function angepasst sind, indem diejenigen Sesambeine, welche, resp. an den Stellen, wo sie, in wechselnder Richtung gedrückt werden, r undli chmaschige Spongiosa haben, während sie an anderen Stellen, wo sie immer in ein und derselben Richtung gedrückt werden, die entsprechende Spongiosa rectangulata (s. Nr. 9. S. l.")0 u. Iö7) darbieten. tiegen die functionelle Bedeutung der Knochenstructur wendet sich B. Soi.riER ; diese Einwendungen sind Nr. 9, S. 157 Anm. besprochen], [') Die Principien der Biologie, deutsch von B. Vetter. Bd. I. S. 74, 1876.] 25* 388 Nr. 4. Der zlicliteiule Kiimpf der Theile im Organismus. Diese Definition ist in der That sohl' „allgemein", so sein', dass sich der conorete Tnlialt des Lebens beinahe verflüehtigt hat nnd Niemandem daraus klar wird. ^'iel bezeichnender ist die Definition Hafckei.'s '). Er sagt: „Da es Organismen ohne Organe giebt, müssen wir die morphologische Defi- nition, dass lebende Körper Naturkörper sind, welche aus Organen, d. li. aus verschiedenen, dem Ganzen dienenden Werkzeugen bestehen, verlassen und den Begriff Organismus auf physiologischer Basis begründen und nennen demgemäss (Organismen alle jene Natur- körper, welche die eigenthümlichen Bewegungserscheinuugen des „Lebens" und namentlich ganz allgemein diejenige der Ernährung zeigen. Anorgane dagegen nennen wir alle diejenigen Naturkürper, welche niemals die Functionen der Ernährung, und auch keine der anderen specifischen ,,Lebensthätigkeiten" (Fortpflanzung, willkürliche Bewegung, Empfindung) ausüben". „Wachsthuni" liaben wir liier nicht aufgeführt, weil dasselbe auch gleicher Weise den anorganischen Individuen (den Crystallen) zukommt und die Fortpflanzung nicht, weil dieselbe vielen (geschlechtslosen) organischen Individuen abgeht-).] Je nach dem Standpunct, auf welchem man stand, je nach den naturwissenschaftlichen Kenntnissen, welche man besass, niusste das Urtheil verschieden ausfallen luul der Wahrheit mein' oder weniger nahe kommen. So ist es erklärlich, dass der grösste Naturforscher des Alterthums, Anii^ToxELEs, eine der besten, bis in die neuere Zeit gültigen Definitionen gegeben hat. Er erkannte, dass in den organi- schen Wesen jeder Theil bestimmte ^'err)chtungen habe, dass er ein Werkzeug, oQyavoi', für das Ganze sei, und nannte daher das Ganze „Organismus", Complex von AV^erkzeugen. Seitdem man indessen lebende Wesen ohne besondere Organe hatte kennen lernen, Wesen, [>) Generelle Morphologie der Organismen. Bd. I. S. 112, 1866.] [-) Eine Zusaiiimenstelhing vieler Definitionen nnd eine eigene Fassung findet sich bei Carl HAUPTiMA.NN (Die Metaph3sik in der modernen Physiologie. Dresden 18113, S. 320 u. f.). Dieser Autor spricht folgende Auflassung aus (S. 327): ,Man kann die Lebewesen, den organischen Körpern gegenüber, ganz allgemein als Systeme charakterisiren, in denen nicht einfache Massentheilchen. sondern verschiedene Pro- cesse sich gegenseitig im Gleichgewicht halten und kann danach die Lebewesen von den statischen Systemen crystallisirter. crystallinischer oder aiiiiir|dicr Anorgane als dynamisclie Systeme unterscheiden"!. V. L'uliur ila.s Woscii ilcs Urgiuiiscluui. ^89 welche Mos ein ('ontiiuuiin \(iii gleichartig erscheinender Substanz darstellen, wurde zweitclhalt, ob diese Definition das Wesen, (211) oder nur eine hervorragende l'jgenschaft der höheren (3rganisnien bezoielincle : und die l*luloso|)h('ii hatten ihr schon vordem ihren 15el- t'all entzogen, weil ihnen die ., Innerlichkeit,'" die zusannnenrassende Seele dabei zu fehlen schien. 'W'ii- wollen versuchen, ob wir vom Stand|iuncte der (iegeuwart die Frage ein wenig weiter zu l'rirdern, uns dem ^\'esen des Organi- schen ein wenig uielir /,u iiiihern vermöge]!. Die ,,\'erhindung vieler sichtbar verschiedener Tlieile zu einem (lanzen" kann also nicht das Wesen tler Organismen ausmachen, da es lebende Wesen ohne diese Verschiedenheit der Tlicile giebt [Diese Distinction knüjift also nur an den vulgären MegritT der ., verschiedenen" Thcilo der Organe als macro- und micro- sco])iscli sichtljar \'erschiedene Theile an. Aber genau genonnnen müssen entsprechend verschiedene Theile auch schon in jedem kleinsten blos der xVssimilation fähigen Theilchen des Protojilasina (Isoplasson) vorhanden sein (siehe Bd. II, S. 79 u. 84).] Ebenso wenig können die psychisclu'n Functionen di'r Oi'ga- nisnien das Wesentliche bilden, denn wii- haben keint^ sicher ge- gründete W'ranlassung, sie auch den niedersten thierischen Organis- men und den Pllanzen zuzuerkennen. Soweit wir diese Lebew'eseu keimen, können sie alle au ihnen beobachteten Functionen ohne Be- wusstsein verrichten (siehe jedoch Bd. II, S. 4.')). Ebenso wenig kann das ,, mechanische (4cd;i cht niss." das lebenhiuern dei \\'irkung über die rrsache als ('haracti'ristieum dienen, denn es ist nach dem Gesetze der Trägheit eine allgemeine l''unction dei- Materie oder richtiger eine Eigenschaft alles Geschehens. Auch nicht das „Für-Sicli-Sein" ist hier anzuführen, denn dieses konnnt jedem durch seine Consisteuz oder .sonstige besondere Qualitäti'n von der Umgebung gesonderten Processe ebenso viel oder richtigei ebenso wenig zu; denn streng genommen besteht es nirgends, sondern ist blos ein festeres unter sich Verbundensein und in Wechselwirkung stehen als mit der l^mgebnng, und der Grad desselben ergiebt sich aus der Art der Unterscheidung von dei- Um- 390 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. gebuug und der Art der A'erknüpfuiig unter sich ganz von selbst. [Diese Verknüpfung und Bescbaffenlieit der Tlieilc ist aljcr bei den Organismen derart, dass alle Theile so zusammenwirken, dass sie das Ganze als solelies, also in seiner Besonderheit erhallen; und da das Ganze aus lauter Insul)stantiirungen von Piocessen be- steht, dass also diese Processe andauern, länger dauern, als wenn die Theile nicht für einander wirkten (s. Bd. 11, S. i'lT).] Es ist ferner weder die .\ufnahiiic und dei' X'erbi'aucli von lebendiger Kraft, noch .die Umsetzung von Spannkraft das Wesen; denn [212] beide Arten des Kraf tweehsels konnuen im anorganischen Geschehen fortwährend voi. Fnil ebenso wenig ist es der Stoff- wechsel in \'ei'b i nduiig mit dem K raf twcchsel; denn die Verbindung beider zeigt uns täglich die Verdampfung an der Über- fläche des Wassers, die \>rwitterung der Felsen etc. Auch nicht eine bestimmte Consistenz oder .son.stige physi- calische Beschaffenheit bildet das Wesen der lebenden Stoffe, wenn gleich schon für die thätigen Theile derselben Schwankungen in dieser Beziehimg blos innerhalb gewisser enger Grenzen vorkonnnen; aber es giebt nicht lebende Stoffe von derselben weichen, colloiden Be- schaffenheit, auch lassen sich die Lebenserscheinungen nicht aus diesen Eigenschaften allein ableiten. Diese Beschaffenheiten können demnach blos als günstige, vielleicht noth wendige Vorbedingungen angesehen werden. Das Gleiche gilt von der ('oncentration, welche von den 12 l'roceut Wasser der Hülsenfrüchte bis zu den •,>8''/o Wasser, welche in den Quallen von den zwei Procent fester Theile zu organischer Masse verbunden werden, schwankt. Vielleicht ist eine gewisse gemeinsame chemische Zusammen- setzung etwas Wesentliches, denn die Schwankungen in dieser Be- ziehung sind nicht sehr grosse, aber woiil nicht das Wt'son sell)er; er zu prod uc iriMi , wenn nin- die ivohmaterialien dazu vurhandcn sind. Das Wesen der Assimilation ist somit eine iVrt Selbst- production, „Selbstgestaltung des zur Erlialtung, zur Dauer Notlügen". Und diese ist schon ein wesentlicher \'orzug vor den anorganischen Processen. [Das ^'ermügen der Assimilation, also der Uil düng der lebenden Sub- stanz gleicher »Substanz aus fremder, nicht lebender, ermöglicht, wie wir (Seite 332) sagten, die Uebertragung des (u'setzes der Trägheit von den einfachen physicalischen Processen auf die Lebensprocesse, indem es die (.Grundlage der Vererbung bildet, d. h. die Grundlage der Uebertragung der Eigenschaften von Zelltheil auf Zelltheil, von Zelle auf Zelle und von dem zusammengesetzten Individuum auf seine Nachkommen, letzteren Falles vermittelt durch die Continuität des Keimplasson. (s. Nr. 6, S. HOT)]. Aber von den anorganischen Processen hat auch einer die Eigenschaft der As.similation und ist doch nicht fähig, sich dauernd zu erhallen: „die Flamme''. |217! Auch sie hat die Fähigkeit, fremdes Material zu assimiliren. In dem Grade derAssimilationsfähigkeit können verschiedene Möglichkeiten vorkommen, deren Dauerfähigkeit eine ver- schiedene und daher für unsere Untersuchung wichtige ist. Entweder assimilirt der Process weniger, als er verbrauchte, so musste er von selber Ijald aufhören. Diese Qualität schliesst also die Dauerfähig- keit principiell aus. (Jder der Process assimilirt eben so viel, als er verbrauchte; dann wird er nie über den Umfang, in welchem er entstanden ist, hinau-skommen ; und wenn sich an seinem Entstehungs- oder jeweiligen Aufenthaltsort die Bedingungen ändern, wenn die Nahrung fehlt oder äussere störende Momente entstehen, so wird er vernichtet werden. Dass solche Aenderuugeu der Umstände eintreten, ist bei dem fortwälu'enden Wechsel im Naturgescheheu sicher anzu- nehmen. Dauerfähig können daher allein nur solche Assimilations- processe sein, w^elche mehr assimiliren, als sie verbrauchen. Wenn 396 Nr- -i. Dur üüclittiule Kiiiiipl' der Tlicilu im Urgaiiismus. dies iu genügendem Maasse stattfindet, so dass sie sich über grössere Räume mehr und mehr verbreiten können, dann steigt entsprecliend auch die Wahrscheinlichkeit der Erlialtung im Wechsel der äusseren Bedingungen. Denn wenn auch der grüsste Tiieil dabei zerstört wird, an irgend einer Stelle wird ein Tlieil erhalten bleiben. Also neben der Assimilation ist das nächste allgemeine Erforderniss der organischen Wesen dicUebercompensation'' im Ersätze des Verbrauchten, das Wachsthum. Diese Fähigkeit haben bekanntlich alle Organismen; wenn wir auch nicht wissen, wie sie selber zu Stande kommt. Aber sie lässt sich dynamisch definiren. Die Uebercompensation besteht da'in, dass beim Ablauf des organischen Proeesses mehr Assimilationskräfte frei werden, als zum blossen Ersätze des Verbrauchten nütliig sind; oder umgekehrt, dass die Ueberfüln-ung fremden ^hiterials in dem (Organis- mus Gleiches [218] weniger Kräfte erfordert, als das assimilirte Material bei seiner Tnisctzung bis zu den Endstadien des Proeesses zu liefern vermag, und dass diese geheferten Kräfte Assimilations- fälligkeit haben. Das einfachste und daher verständigste Beispiel von Assimilation bietet wiederum die Flamme. Sie zeigt uns oft durch Umsiciigreifen in furelitbarer Weise ihre Eigenschaft, mehr zu assimiliren. als sie verzehrt. Trotzdem hat sie keine ewige lOaucrfähigkeit auf der ICrdc. Dies liegt aber nicht an ihr, ihre Dauerfähigkeit ist im (iegentheil sehr gross und widersteht bekanntlich oft der Einwirkung der besten Dampffeuerspritze. Die Ursache ihres Zugrundegehens ist zumeist die Aufzehrung ihres Materials ; und die sichtbare Verbrennung würde in der Natur wohl ebenso wie das Organische ewige Dauer luduii, wenn sie nicht rascher verliefe, als die anderen Naturprocessc wieder Material zu schaffen vermögen. Im Organischen dagegen bestehen zwei Arti'u von entgegengesetzten Prozessen: ndt Oxydation und mit Reduction verbundene Lebensprocesse, welche unter Selbstelimiuation des Unge- eigneten sich in ein ewige Dauer verbürgendes Gleichgewicht ge- setzt haben. Es kann fernerhin vorkommen, dass Processe auftreten, welche zwar mehr assimiliren, als sie verbrauchen, welche aber trotzdem V. Ueber das Wesen des Organisclien. 397 iiirlit alles, was sie verbrauchen, zur Assimilation verwenden, sondern bei denen noch Energie übrig l)]eibt, wo also der Process noch etwas ,, leistet", wie wir uns auszudrücken gewohnt sind, indem wir die Assimilation blos als \'orljedingung des letzteren Geschehens, der „Leistung", würdigen. 80 leistet die Flamme ausser der Ueber- conipensation in der Assimilation abgesehen von der Abgabe von Wärme an die Umgelnuig noch die Production von Licht. Diese Leistung trägt ' 7,u ihrer Erhaltung nichts bei, nützt ihr nichts, sondern ist yielmehr l'ür die Assimilation und somit für die Dauerfähigkeit ein \'erlust, eine Ver- schwendung. Solche Processc müssen daher ceteris paribus jenen nachstehen, welche 1219) einen grösseren Antheil oder alle Kräfte zur Vergrösserung der Dauerfähigkeit verwenden. Dieses Letztere braucht nun aber nicht blos in der Weise zu geschehen, dass alles direct auf Assimilation verwendet wird; sondern es kann auch auf dem A\'ege solcher Ze/s^««//cH geschehen, welche der Dauerfähigkeit zu Gute kommen. So z. B. wenn die Leistung, wie die Rewegungsfähigkeit der Monere, die Nahrungserwerbsfähigkeit ver- grössert. Durch Ausstrecken von Theilen des Körpers vergrössert die Monere ihren Ernährungsbezirk; und indem sie sich sofort zusammen- zieht, wenn etwas an einen Fortsatz gekommen ist, nimmt sie mehr Nahrung auf, als wenn sie blos als Kugel daläge. Auch wird durch die Contractilität die \'erdauung beschleunigt, indem bessere Ver- mischung der Theile im Inneren eintritt, und die Entstehung der t ileichmässigkeit ist daher nicht blos auf che langsame Wirkung der Diffusion angewiesen, ganz abgesehen von dem grossen Vortheil, welchen die freie Locomotion durch das Verlassen eines erschöpften Nabrungs- hezirkes gewährt. Eine derartige Leistung, welche dem Ganzen nützt, in- dem sie zu dessen Dauerfähigkeit beiträgt und aus diesem Grunde sich erhalten hat, heisst ,,Fu n ctiou" „Verrichtung für das tJan/.e". Die I^ichthildung ist also zwar eine ,, Leistung" der Klamme oder richtiger der Wrbrennung, aber keine .,l'\mction" dersellien in diesem liiologischen Sinne: denn sie nützt derselben nichts; sie ist blos eine unnütze Ausgabe. Am besten wäre es für die Flamme, das niithige Unterhaltungs- .seil. Nahrungsmaterial als gegeben vorausgesetzt, SOS Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. sie l)iklL'te nicht iiiclir, als sie zur Assiruilation verwendet, sie wäre ein reiner Assiniilationsproccss. So aber verzehrt sie nutzloser Weise rasend schnell ihr Nahrungsniaterial und bleibt hierin sehon hinter den organischen Processen zurück. Es besteht vnn Irüher her noch l»ei Vielen die Neigung, jeden Process, der in einem ,, Theile" abläuft, aber zum Nutzen des mehr oder ■ weniger complicirten ,,(_ianzen" ist, als etwas Wunderbares anzusehen. Indessen dieser Nutzen iih' ilie Daner des [220] (lanzen liegt durchaus nicht in der „Absicht/' der Theile. Die Theile leben blos für die eigene Erhaltung; und dass dabei etwas für die Erhaltung des Ganzen Nützliches geschieht, ist l)los dadurch bedingt, dass allein solche Eigenschaften übrig bleiben konnten und übrig geblieben sind; während die jedenfalls millionennial zahlreicheren Eigenschaften , Leistungen von Theilen, welche aufgetreten waren, ohne dem Cianzen zu nützen, das Ganze ruinirt und mit dem Ganzen sich selber von der Dauer ausgeschlossen haben. Aber es ist wohl nnniUhig. die Wirksamkeit der DAinvi.x'schen Pi'ineipien hier noelnnals zu erläutern. A\'enn mau sich nur immer erinnei-n will, dass alles Lebende was wir jetzt sehen, die sum mirt e n, ,,selbsterhaltungsf ähigen" liest- bestandtheile sind des ganzen bezügliciien irdischen Geschehe n s v o r unserer Z e i t. Alle Processe, welche nicht dauer- fähiff in sich selbst waren, oder trotz dieser inneren Fähigkeit nicht zugleich dauerfähig in den äusseren Verhältnissen waren, hörten eben auf; und wir finden von ihnen blos noch Spuren ihrer früheren Thätig- keit oder auch diese nicht; während alles, was im Lauf der Milli- onen Jahre und im ewigen Wechsel des Geschehens zu- fälliger Weise Dauerfähiges entstanden ist, sich aufge- speichert hat; genau so, wie sieh bei uns die Culturerruugenschaften aus der Unsumme vergänglicher, ephemerer Leistungen aufhäufen. Läuft der obige Leistungsprocess der Monere, die Bewegung contiuuirlich oder rhythmisch von selber al5, ohne jeweilige besondere äussere Ursache, so heisst er automatisch; findet er Itlos auf äussere Einwirkung hin statt, so heisst er reflectorisch. Das reflectorische Geschehen hat von vorn herein vor dem automatischenden Vorzug grösserer Danerfähi gkeit. Denn es sind in der Um- V. üeber das Wesen des Organischen. 399 ujebuiig nie die gleichen Umstände constant. Eine glcichmässig fort- gehende Leistung kann daher niclit innner den gleielien Nutzen liaben; sie wird daher oft nutzlos, ol't dagegen zu gering sein; letzteres wenn dii' äusseren Umstände günstiger sind, aber die Leistung nicht zu beein- Hussen vermögen. Dagegen stellen die reflectorischen Leistungen eine Wechsel- |221j Wirkung mit den äussereii Umständen, welche sie ausnützen sollen, her, die im höchsten Maasse günstig ist. Denn wenn die Um- stände fehlen, wird auch die Leistung fehlen, wenn sie vorhanden sind, wird die Leistung entstehen; und je nach der Intensität der äusseren Umstände wird sich von selber auch die entsprechende Inten- sität der Leistung herstelleu. Die Reflexthätigkeit ist somit ein höchst zweckmässiger, d. h. die Dauerfähigkeit des Gebildes erhöhen- der Mechanismus der „Selbstregulation"; während die Auto- matie eine im Allgemeinen unzweckmässige Einrichtung, einerseits mit Materialverschwendung bei geringen und andererseits mit Insui'ficienz bei stärkeren Anforderungen, darstellt. Automatie wird daher blos bei cons tauten Verhältnissen, bei con stauten Um- ständen und Bedürfnissen, also sehr selten von Nutzen sein, wie sie denn auch thatsächlich nur selten und nie vollkommen rein, z. B. bei den Wimperthieren oder bei den Herzganglien, vorkommt. Denn sie wird auch da immer noch durch äussere Umstände regulirt. Mit der Leistung wird nun ein anderer Factor in dem Stoff- wechsel von grösserer Bedeutung, der Verbrauch. So lange der Process blos Assimilationsprocess war, so lauge also alles, was aus dem Material producirt wurde, in der Assimilation zur Llebercom- pensation, zum Wachsthum verwendet wurde, w'ar der Verbrauch eigentlich blos eine günstige Vorbedingung der Vergrösserung de.« Individuums. Mit der Leistung aber traten Ausgaben ein, welche an sich die Assimilation nicht vergrössern, obgleich sie doch Material verzehren. Es werden in diesem Falle Processe nicht dauern können, in denen die Functionen mehr verzehren, als ersetzt werden kann. Dauerfähig werden blos diejenigen Lebewesen sein, in wel- chen ein öconomisclies Gleichgewicht zwischen dem Materialverbrauch bei den Functionen und der Grösse des indirecten Nutzens für die 400 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Assimilationsgeschwindigkeit besteht. Alle anderen Processe müssen zu (u'unde gehen und sich somit aus der Reihe des Lebenden ausscliaUen. (222) Mit der Leistung und dem durch sie bedingten Verbrauch tritt ein neues p]rforderniss zwingend hervor, welclies von der grössten Bedeutung ist und das ganze organische Gescliehen beherr-srlit, die .,Srlhslrr(/i(Ia f ioir' in allen ^■ errieli tungen. Da die reÜectorischen Leistungen die herrsclienden sein müssen, diese aber ungleichmässig stattfinden, so muss a.\\v]\ ilci- \'erbrauch un- gleichmässig, bald erhöht liald vermindert sein; und es ist nun die Frage, wie sich dazu die Assimilation stellt. Gelit sie gleiclmiässig l'ort, so wird bald L'eberschuss bald Gleichgewicht, bald, bei starker anhaltende)' Function, Tod also Selbstelimination eintreten. P'.« kiinnen somit blos solche Processe andauern , bei welchen die As.si- railation in Abhängigkeit von dem Verbrauche oder von dem Reize ist, welcher den Verbrauch hervorruft. Es muss also bei stärkerem Verbrauch das Bestreben, Nahrung aufzunehmen, und die Fähigkeit, sie zu assimilireu, gesteigert sein, statt durch die Wn-minderung des Stoffes geschwächtzu weiden. l)ie,,Dauerprocesse" müssenHunger haben. Dieses Wort ist hier natürhch nicht als eine bewusste Em- pfindung, sondern in der Bedeutung einer stärkeren chemischen Affinität zur Nahrung bei stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen. Also auch die Nahrungsaufnahme und die Assimi- lation müssen der ,, Selbstregulation" unterliegen, wie wir das auch noch in der einfachsten Weise bei der Flamme verwirklicht sehen. Das Gleiche muss von der Ausscheidung des \'erbrauch- teu gelten. Fände diese Ausscheidung unabämlerlich gleichmässig statt, so würde bei stärkerem Verbrauch Anhäufung des Veränderten eintreten; und da die Ausscheidungsproduete stets Differentes von dem Orgamsmus, im günstigsten Falle t'infach Unbratielihares darstellen, würden sie mindestens durch ihre^Vnwesenheit henmien; oder, da sie che- misch nicht inditfercnt sind, werden sie die Lebcnsprocesse direct chemisch stören. Also auch die Ausscheidungmussder„Selbstregulation" durch flas Bedürfniss unterworfen sein, wofür wir wiederum das einfachste Bei- (223] spiel in der Flamme haben. Je rascher sich die Flannne ver- /.elirl. um so niehi' bildet sie Hitze, vnn so mein- assimilirt sie, um V. Ueber das Wesen des Organischen. 401 SO rascher findet aber aiu-li durcli die Verminderung des specifischen Gewichts die Abfulu" der Endproducte des Stoffwechsels statt. Selbstverständlich können ebenso ■wie von den reinen Assimi- lationsprocesseu auch von den mit Leistung verbundenen Processen blos diejenigen sich erhalten, welche mit üebercompensation einlier- gelien, aus denselben dort angeführten Gründen. Die Abhängigkeit der Assimilation von dem Umsatz kann eine doppelte sein: entweder ist sie direct abhängig von demReize, indem dieser zugleich auch auf die Assimilation erregend, steigernd wirkt, oder indirect, indem die Producte des durcli den Reiz be- schleunigten Stoffwechsels in irgend ein er Weise die Assimilation anregen. Mag nun die Abhängigkeit der Assimilation von dem Reize eine directe oder indirecte sein, so ist für uns wichtig der Grad dieser Abhängigkeit. Ein Mal kaim während der Unthätigkeit die Assimila- tion ruhig weiter laufen, während der Thätigkeit aber und nach derselben noch eine Zeit laug erhöht sein. Diese Art Processe wird sehr erhaltuugsfähig sein; uud ich glaube, dass sie sehr verbreitet ist, dass sie vielleicht bei den niederen Thierstufen die allgemeine, die herrschende ist [während sie bei den höhereu Thieren normaler Weise nur in der „embryonalen Periode" (siehe Seite 348) vorkommt, oder bei Theilen derselben, welche abnormer Weise „embryonal" gebUeben sind, und Geschwülste bilden]. Diese Processe sind daran kenntlich, dass sie zwar stärkere Leistungen aus- zuhalteu vermögen, aber bei längerer Ruhe nicht der Inactivitätsatro- liiiic unterliegen, da sie auch während derselben assimiliren. Beseiti- gung für das Individuum überflüssig gewordener Theile kann also hier blos auf die langsame Weise der Auslese unter den Individuen aus beliebigen Variatiouen nach D.\rwix stattfinden. [224] Ist dagegen der Process derartig, dass für ihn der Reiz unentbehrlicher Lebensreiz geworden ist, ohne dessen Einwirkung nicht nur nicht die Leistung, sondern auch nicht die Assi- milation gehörig vor sich geht, so -nird dieser Process blos daun Chancen der Erhaltung haben, wenn dieser Reiz sehr oft einwirkt, weim die Kräftigung fort und fort erfolgt und die Uebercompeusa- W. Roux, Gesammelte Abhandlaogen. I. ^" 402 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. tiou nach der Thätigkeit gross genug ist, um luit-li wälirend der Ruhe längere Zeit auszulialten. Es wird auch uöthig sein, dass schon die häufiger vorkoimuendcn schwächeren Reize die Assimilation zu erregen im Stande sind. Bei dauerndem Fehlen des Reizes wird in Folge der mangelnden Erregung der Assimilation Inactivitäts- atrophie eintreten, bestehend in ungenügendem Wiederersatz des ohne Function allmählich Verzehrten. Diese Art Process ist somit an bestimmtere Existenzbedingungen gebunden, als die vorige, und wird daher von beschränkterem Vor- kommen in der ganzen Thierreihe und eventuell auch im einzelnen Organismus sein. Aber sie hat Eigenschaften, welche ihr im Kanii)f um's Dasein einen grossen Vorzug geben. Sie stellt innerhalb der vollkommensten „Selbstregulation" der Leistungsfähigkeit zugleich die grösste Sparsamkeit mit dem Material dar, indem diejenigen Theile, welche gebraucht werden, immer nach dem Maasse ihres Gebrauches gestärkt und vergrössert werden, während die nicht mehr gebrauchten der Rückbil- dung verfallen und das Material für ihre Erhaltung erspart wird. Diese Art derProcesse stellt .somit die höchste Oeconomie dar bei der höch- sten Leistungsfähigkeit des Ganzen, aber auf Kosten der Selbst- ständigkeit der Theile, die hier vollkommen aufgehört hat. Die Theile leben hier blos von der Function, welche sie dem (ianzen leisten; sie sind wie Staatsdiener, welche allmählich vollkommen blos Beamte geworden .sind, gar keine Interessen mehr für sich [225] haben, sondern vollkommen in dem Dienste aufgehen und ohne den- selben nicht mehr leben können, nach der Pensionirung sofort atro- pliiren, wie es l)ei alten Beamten so häufig der Fall ist. Und man braucht sich nicht zu begnügen zu sagen: sie sind „wie solche Be- amte", sondern auch umgekehrt, derartige Beamte sind solche an Eine Verrichtung vollkommen angepasste Processe, wie denn der Mensch im Allgemeinen fast in allen seinen Theilen nach den Dar- legungen der vorliegenden Schrift zu diesen Processen gehört. Solche Verhältnisse finden sich wohl blos bei den höheren Or- ganismen und bilden das charakteristische Merkmal derselben gegen- über den niederen, in denen die Theile auch noch für sich, ohne V. üeber das Wesen des Organischen. 403 functionellen Reiz lel)eu können und leben. [Dieses ungleiche Ver- halten ist die Begründuno; des Ijckannteu Satzes: ,,Die h()Iiereii Tiiicre essen, um zu leben, die niederen Thiere leben, um zu essen und zu wachsen". Oder in anderen Worten: die niederen Organismen sind Fress- und Wachsthurasmaschinen , die höheren sind Arbeitsmaschinen. Audi in Bezug auf dieses Verhalten wiederholt jedoch das Individuum der höheren Thiere in seiner Ent- wickelung die phylogenetische Stufenfolge, indem es in der embryo- nalen Periode (s. Seite 348) sich wie ein niederes Thier verhält.] Zugleich sind, wie erwähnt, die Verhältnisse, unter denen sich diese (iualitäteu des Reizlebens ausbilden, derart, dass sie blos au solchen Orten durch Selbstzüchtung im Kampf der Theile sich er- halten und ausbreiten können, wo der Reiz oft genug einwirkt; wäh- rend sie au den Stellen , wo der Reiz selten wirkt , im Kampf der Theile unterliegen müssen, selbst wenn geeignete Variationen hin und wieder aufträten. Der Kampf der Individuen aber wird in Folge ihrer höchsten Leistungsfähigkeit für das Ganze bei einem Mini- mum von Materialverbrauch sie auf das Kräftigste zu erhalten streben. Ich habe in dem Capitel von der Reizwirkung gezeigt, dass Ver- anlassung ist, eine derartige directe Abhängigkeit der gesammten Lebensprocesse der Zellen des Menschen von dem functionellen Reize anzunehmen für Muskeln, Drüsen und wohl auch für die Sinnesor- gane, in beschränkterem Maasse für die Nerven und Ganglienzellen. Und der Umstand, dass bei diesen Organen in Folge vollkommener Reizentziehung nicht langsame Atrophie durch mangelnden Wieder- ersatz, sondern directe rasche Entartung des \'orhandeneu entsteht, spricht für die directe Leben erhaltende Wirkung des [226] functio- nellen Reizes. Ferner sahen wir, dass bei den Stützgeweben, dem Binde- und Knochengewebe, das Verhältniss, wenn aucii nicht derartig ist, dass directe Inactivitäts-Atrophie durch Degeneration bei Inac- tivität einträte, was bei der abgeschiedenen lutercellularsubstanz auch weniger möglicli erscheint, so doch so ist, dass der Reiz die Zellen in ilirer Assimilation und in iin-er Abscheidung von Stützsubstauz 26* 404 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. kräftigt; denn nur so Hess sich die Entstehung der der Reizform ent- sprechenden Structur dieser Theile erklären. *) [1) Da trotz dieser Abhängigkeit von den Reizen, die vom Gehirn aus be- stimmt werden, kleine Knochenstücke respective Knochen bildendes Periost auf einen anderen Organismus mit Erfolg dauernder Erhaltung des Knochens übertragen werden können, sofern sie an Stellen kommen, wo sie wieder von adäquaten Reizen getrofifen werden, so folgt daraus, dass selbst diese höchste Centralisirung der Theile des Organismus keine mystische, individuelle, sondern eine blos mechanische, auf die Gewährung der Daseinsbedingungen der Theile: Nahrung und Reiz sich gründende ist. Wo ein Theil eines Organismus die gewohnten Bedingungen findet, da vermag er sich zu erhalten, einerlei auf welchem Individuum. Auf diese Einsicht lässt sich eine allgemeine Theorie und Praxis der er- folgreichen Transplantation gründen, die darin besteht, dass man bei Trans- plantation derjenigen Gewebe oder Organe, welche ein functionelles Reizleben führen, wie: Muskeln, Drüsen, Gefässe, Knochen, Nervenfasern, Ganglienzellen nicht blos für rasche Herstellung der Ernährung, sondern auch für raschen Anschluss an die functio- nellen (und ev. sonstigen) Reize sorgen muss. Nur da, aber auch überall da, wo dieser doppelte Anschluss gelingt, bevor die Theile durch temporären Nahrungs- oder Reizmangel zu sehr geschädigt sind, um sich nach dem Anschluss wieder erholen zu können, kann eine erfolgreiche Implantation stattfinden. Diese Art der Ueberpflanzung will ich als fiinctionellc Transplantation s. Implantation bezeichnen. Man kann so z. B. zwei Blutgefässe durch Einfügung ihrer Enden in ein implantirtes Verbindungsstück mit einander in Verbindung setzen; und letzteres wird, weil es sogleich fungirt und bald ernährt wird, erhalten bleiben und mit den anderen Gefässen verwachsen. Sobald dies gelungen ist, kann man ver- suchen, einem Thiere öder Menschen eine Niere z. B. an die Armarterie anzu- schliessen; denn da sie sogleich ernährt wird und mit der Blutzufuhr auch zugleich fungir^n kann, bleibt sie vielleicht erhalten, sofern nicht noch bestimmter sym- pathischer Nervenanschluss zu ihrer Erhaltung nöthig ist; das wird sich dann zeigen. Die Bedingungen sind genügende Kleinheit oder Dünnheit, um rasch die Her- stellung einer neuen C'irculation zu gestatten, aseptisches Einheilen der empfindlichen Theile, Herstellung des Anschlusses an die functionellen Reize und Gleichgewicht zwischen der Vitalität der Gewebe des Pfropfreises und des (Gepfropften. Beim Nerven geschieht, wie es scheint, der functionelle Anschluss auch bei bester Coaptation nicht rasch genug, weshalb der implantirte Nerv als solcher zu Grunde geht : aber als Leitrohr für die Sprossung des centralen, an ihn mechanisch angeschlossenen Stumpfes ist er doch dienlich. Häutige Organe, welche blos aus Oberfl ächen epithel und Bindegewebe be- stehen, lassen sich leichter in geeigneten Anschluss bringen; daher ist es gelungen, eine ganze Harnblase zu implantiren. Das Bindegewebe ist gewohnt, dauernd oder wenigstens intermittirend in gewissem Grade gespannt zu werden: wo dies nicht oder nicht genügend geschieht, wie z. B. bei künstlichen Nasen, welche nicht mit Periost oder Knorpel gefüttert resp. gestützt sind, schrumpft es so lange, bis es durch den Widerstand der Umgebung die entsprechende Spannung erfährt. Lebensbedingungen für die Theile eines Organismus, die dem Einzelwesen als solchem zukommen, giebt es nicht; es giebt also keine , 1 nd i viduen" im stricten Sinne, keine „Untheilbaren", sondern nur Personen. V. Uclier das Wesen des Organischen. 405 Alle die im Vorstehenden als allein dauerfähig nachgewiesenen CJualitäten sind zugleich auch diejenigen, welclie, wenn sie ein Mal in !?purcn aufgetreten sind, innerbalb des betretfeuden CJewebes im Kampf der Theile siegen und so zur Alleinherrschaft gelangen müssen, wie (lies im Capitcl vom Kampf der Theile nachgewiesen worden ist; so- dass also die Verbreitung dieser nützlichsten Eigenschaften, sobald sie ein Mal in Spuren aufgetreten waren, durch ihren doppelten Sieg in beiden Kämpfen eine rasche sein musste. Wenn wir auf den Gesammtcharakter aller dieser lebenswichtig- sten Eigenschaften zurückblicken, so ist es der der „Selbstgestaltung" des zur Erhaltung Nüthigen, respective der „Selbstregulation", und zugleich der Uebercomjiensation im Ersätze des Verbrauchten. Assimilation, Uebercompensation in der Assimilation über den X'erbrauch und „Selbstregulation" in allen Verrichtungen sind also die Grundeigenschaften und die nüthigen Vorbe- dingungen des Lebens. Mögen die Processe im Laufe der weiteren Differenzirung noch so complieirt geworden sein, diese Charaktere müssen erhalten sein und müssen bei allen neuen Bildungen überall wieder vorkommen, denn sie allein sind die Bürgen der „Dauer- fähigkeit" im Wechsel der Verhältnisse (s. ßd. II, S. 58). Die „Selbstregulationsfähigkeit" kann eine mehr oder minder grosse sein, je nach der Constanz oder Variabilität der Ver- [227] hältnisse ; und die Uebercompensation im Ersätze kann sich auf eine be- stimmte Lebensperiode beschränken und danach aufhören sowohl für (he einzelnen Gewebe, als in der Bildung von Geschlechtsproducten. Immerhin bleiben sie die nöthigsten und charakteristiischsten Eigen- schaften alles Organischen, die wesentlichen Vorbedingungen des Organischen. Die Häufung dieser Eigenschaften aber nach mehrfachen Beziehunsren hin und ihre Ausbildung bis zur grüssten Oeconomie bilden die erste wesentliche Eigenschaft des Organischen. Erst als Zweites [?] konnte dazu kommen die Fähigkeit der Contractilität, als Drittes die der Gestaltung aus chemischen Processen [?]. (Die hier erwähnte ,, Gestaltung aus chemischen Processen" ist oben (Seite 2U8) bereits als auf irrthümlicher Vorraussetzung beruhend 406 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. verworfen worden, denn die organischen Gestaltungen erfolgen niclit durch die chemischen Processe, sondern sie erfolgen von schon spe- cifisch Gestidtetem aus unter Verwendung chemischer Processe. Auch im Uebrigen ist die hier zuletzt gegebene Fassung vom Wesen des Organischen nicht gut und umfasst nicht ein Mal ganz das vorher Dargelegte. Wir sagen daher besser: Die Häufung dieser „Selbstregulationen" in dem Vollzug aller Leistungen und die wenigstens zeitweilige Uebercompensation in dem Ersatz des Vcrlirauchten bei den Leistungen der Organismen und die Ausbildung dieser beiden Fähigkeiten bis zur höchsten Nützlichkeit für die Selbsterhaltung, somit die momentane „rein f unctioncllc" und die dauernde ,, morphologische functionelle Anpassung" bilden neben der Assimilation als Grundeigenschaft die wesentlichen Charakteristica alles Lebenden. Von den verschiedenen ,, Leistungen" der Organismen kommen einige jedem Lebewesen mindestens temporär zu: die Reflexbewegung (resp. die scheinbare Selbstbewegung) und die Selbst theilung; diese speciellen Leistungen dürfen also auch mit zum Wesen des Organischen gerechnet werden ^). \'on einer anderen [') Das Wesen des Organischen liegt also, wie schon Haeckel ausspricht, in den Processen; diese aber sind als bewirkt vorzustellen durch die besondere Structur des diese Processe vollziehenden materiellen Substrates. Das Specifische dieser jLebensstructur" kann einmal liegen in der Structur der .\tonie dieser Gebilde ; doch ist dies wohl nur zum kleinsten Theile der Fall; und ich halte daher alle rein chemischen Definitionen des Lebens für vollkommen unzureichend, das Wesentlichste nicht enthaltend. In viel erhöhterem Maasse wird die wesentliche, das Leben bedingende Structur gelegen sein in der Structur der aus diesen Atomen zusammengesetzten Molekel und noch mehr in dem Aufbau der letzten lebensthätigen Theilchen (Isoplassonten, Autokineonten. Automerizonten und Idioplassonten s. Bd. II, S. 84) aus diesen Molekeln. Alle diese Structuren, Metastruct uren (s. Bd. II S. 143), welche die durch diese vier Arten von Gebilden bezeichneten allgemeinen G rundfun ctionen des Lebens: Assimilation, Selbstbewegung, Selbsttheilung und Selbstgestaltung be- dingen, sind leider für unsere optischen Hülfsmittel wohl vollkommen unsichtbar. Sichtbar sind erst oder werden besten Falls die aus diesen letzten Elementar- gcbilden des Lebens aufgebauten Structuren der Zelle, sowie der Aufbau der höheren Organismen aus Zellen. Die Verschiedenheiten in diesen beiden letzteren Arten des Aufbaues bedingen die bekannten Verschiedenheiten der Organismen. Somit ist blos die Structur, welche diese, Verschiedenheiten' der Organismen ausmacht, sichtbar; während diejenigen Structuren, welche die gemeinsamen Grundeigenschaften der Lebewesen bedingen, nicht sichtbar sind. Dies V. Uober das Wesen des Organischen. 407 Art von Leistung;«!, den seelischen Functionen ist ihr allficmeines Vor- kommen noch nicht nacligewiesen, daher sie vorläufig nicht zum Wesen des Organischen gerechnet werden können ; umgekehrt ist aber diese Func- tion, wo sie vorkommt, als die hiichste organische Leistung aufzufassen. Das Anorganische wird nur durch die äusseren Bedingungen erhalten und hört mit dem Wechsel derselben sofort in seiner bis- herigen Natur auf, Gel)ikle, die im Gegensatze dazu bei diesem Wechsel sich selber erhalten sollen, wie die Organismen müssen, sich selber zu regulireu vermögen um bestehen zu können, und dies weiter- hin auch deshalb, weil ihre sonstigen Eigenschaften zu complicirte sind, um ein Ahil zerstört in Kürze wieder von Neuem durch Zufällig- keit angelegt und dann zu höheren Graden gezüchtet werden zu können. Wenn ein solches Gebilde im AVechsel der Verhältnisse gleichmässig fortgehen will, geht es einfach zu Grunde. Das ist nichts Neues, im Gegen theil eine nur zu bekannte, zu oft erfahrene That- saehe; und es gilt ebenso für die Theile wie für das Ganze; wie alle Grundbedingungen und Grundeigenschaften in gleicher Weise für die Theile wie für die Ganzen zutreffen, denn das Ganze .besteht blos aus den Theilen. .Jedes muss sich an die Verhältnisse „anpassen" können, und das ist blos möglich durch die „Selbstregulation", indem die geänderten Verhältnisse andere, dem Ganzen nützliche Functionsgrade auslösen. Infolge des steten Wechsels der äusseren Verhältnisse ist die „Selstregulation" die Vorbedingung, das Wesen [228] der „Selbster haltung",derErhaltungauseigenenKräfteu. Mitdeu Grenzen der Selbstregulation hat auch die Selbsterhaltung ihre Grenzen *) ^). Es liegt ausserhalb des Kahmens unserer Arbeit, alle Selbstregu- lationen , welche im Laufe der späteren höheren DiiJerenzirung des Verhalten wird wohl die Ursache werden, dass wir viel eher und vollkommener die , Ursachen' der „verschiedenen" Gestaltungen der Organismen ermitteln werden als die Ursachen der elementaren Lebensvorgäuge (s. S. 441 u. Bd. II S. 13 und 35).l I) Genaueres hierüber siehe Bd. II S. "217. [ä) Einen ähnlichen Gedanken äussert neuerdings, aber in einer übertriebenen, den Boden des Thatsächlichen verlassenden Weise und ohne Beziehung auf vorstehende Priorität G. Wolff, indem er ausführt, ,die zweckmässige Anpassung ist das. was den Organismus zum Organismus macht" (biol. Centralblatt 1894, Bd. 14, S. 61.5). Siehe dagegen über das Wesen des Organiseben noch Bd. II, S. 76 ] 408 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Tbeile im Organismus. Thierreiches aufgetreten sind, hier aufzuzählen. Pflücer hat eine Reihe derselben vor einigen Jahren zusammengestellt und auf die Thatsache ihres allgemeinen Vorkonmiens hingewiesen, ohne indessen ihre Be- deutung für die Entstehung und Charakterisirung des Orgauischeu erkannt oder ausgesprochen zu haben. Er stellte folgendes allgemeine Gesetz auf): „Die Ursache jedes Bedürfniss eines lebencUgcn Wesens ist zu- gleich die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses"; und er fügt für das specielle Verhalten noch die beiden Gesetze hinzu: ,,Weun das Bedürfniss nur einem bestimmten Organe zukommt, dann veran- lasst dieses Organ allein die Befriedigung." ,.\Venn dasselbe Bedürfniss vielen Organen gleichzeitig zukommt, dann veranlasst sehr häufig nur ein Organ die Befriedigung aller." Danach war er gewiss nahe daran, die Selbstregulation als eine wesentlichste Eigenschuf t des Organischen, weil allein die Dauer verbürgend, zu erkennen; aber statt dieses auszusprechen, schliesst er mit der Resignation^): „Wie diese teleologische Mechanik entstanden, bleibt eines der höchsten und dunkelsten Probleme." Ich hoffe indessen, dass durch den Nachweis derjenigen Eigen- schaften, welche allein in dem Doppelkampfe Sieg und damit Dauer gewinnen können, dieses Dunkel wenigstens in Bezug auf das Principielle der Entstehung etwas gelichtet worden ist. Es war Pflüger hinderlich, dass er die Sclbstregulationen für [229] fertige, angeborene Mechanismen hielt, obgleich er in einem Hinweis auf das Verhalten in pathologischen Fällen schon den richtigen Weg betreten hatte. Wir sind aber keine „Spieldosen mit Tausend oder Millionen Liedern, welche auf Millionen möglicher Weise im Laufe des Lebens eintretender Bedürfnisse berechnet und eingestellt sind", mit denen er uns vergleicht, sondern wir sind Ein- richtungen, welche jeden Tag neue Lieder lernen können. Wie sich ein witziger Kopf, welcher in jeder Situation sofort das Wesentliche erfasst und geistreich pointirt zum Ausdrucke bringt, unterscheidet von einem blossen Colporteur vtni Witzen, der aus seinem ange- 1) Pt'i.i'-fiKii's Archiv für Physiologie Bd. 1"). 1875, S. 76. 2) 1. c. S. 102. V. Ueber das Wesen des Organischen. 409 sammelten \''oiTath den für die Situation passendsten aussuclit, oder wie sich der richtige Arzt, welcher für jeden Krankheitsfall nach den individuellen rmständen desselben seine Ordination einrichtet, unter- scheidet, von dem blossen Routinier, der jeden Tag seine auswendig gelernten 50 Recepte immer von Neuem an das kranke Publikum verkauft, ebenso unterscheidet sich der thierische Organismus von einem solchen mit „Selbststeuerung" (s. S. 148 Aum.). Dieser letztere Ausdruck ist eigentlich die richtige Bezeichnung für die Auffassung, welcher Pflüger's Arbeit zu Grunde liegt, nicht aber Selbstregulation. Die Selbststeuerung ist eine Selbstregulation, welche für eine bestimmte Variationsbreite nach beiden Seiten von einem bestimmten unverrückbaren Mittelpuncte hin eingerichtet ist ; der Organismus aber hat Selbstregulationen allgemeinsten Charakters, bei denen nach einiger Zeit des ^'^erharrens in einer abweichenden Lage diese letztere zu m Mittelpunct der neuen Variations- breite wird; und wenn die Abweichung immer nach Einer Seite hin weiter fortgeht, so kann der neue Mittelpunct viel seitwcärts abliegen von dem Maximum der ui'sprünglichen \'ariationsbreite. Diese Distinctiou ist nicht so spitzfindig und überflüssig, wie sie vielleicht scheint; sie [230] muss sogar entschieden betont werden, da die letztere Eigenschaft die C4rundlage der den Organismen innewohnenden fortschreiten- den Vervollkommnuugsf äh gkeit ist, während die erstere blos eine für sehr viele Fälle eingerichtete Stabilität darstellt '). Es sei mir vergönnt, mich nun noch mit einem Worte über das viel discutirte Problem der Entstehung des Lebens, also über Ur- zeugung, s. Autogenie, s. Abiogenesis, s. Generatio spontana, s. Hetero- genesis zu ergehen-). Freilich komme ich dabei in Gefahr, gegen meine eigene Ueberzeugung zu handeln. [1) Ausser den Selbstregulationen in den hier vorwiegend besprochenen J^r- haltungsfunctionen des schon Gebildeten muss es auch Selbstregulationen bei den Gestaltungsfunctionen. also bei den Entwickelungsfunctionen, geben. Diese müssen schon mit dem Beginne der individuellen Entwickelung ja schon bei der ,Vorentwickelung' {siehe Bd. II, S. 74 u. 280) in Thätigkeit treten können, um durch den Wechsel der äusseren Verhältnisse bedingte Störungen auszugleichen. Es wird eine der wichtigsten Aufgabe n der causalen Morphologie sein, auch diese gestaltenden Selbstregulationen neben denen der morphologischen l'unct ionellen Anpassung zu enuitteln (siehe Nr. 31 S. 279).] [-) Ueber die grosse Literatur dieses Gebietes siehe 0. Taschenberg, Die 410 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Denn icli bin der Meinung, dass wir mit unseren heutigen Kennt- nissen des Organisclien nicht annähernd im Stande sind, auch nur für irgend eineDenkmügliclikeit den Nachweis ihrer Richtigkeit zu erbringen. Wenn es verdienstlich von Ty.ndall, Prever') und Pflüger ^) ge- wesen ist, auf die Aehnliclikeit des Verbreunungsprocesses, des Feuers, dieses ältesten und meist gebrauchten Gleichnisses des Lebens, mit dem Lebensprocesse selber hinzuweisen, so vermögen wir doch nicht die geringste auf thatsächliche Beobachtungen sich stützende Ver- muthung auszusprechen, dass der Lebensprocess sich aus dem Feuer hergeleitet habe. Wir kennen die Leistungen der Atome für sich und der organischen Gebilde viel zu wenig, um beurtheileu zu können, ob ein directer Uebergang vom Feuer zum Leben möglich gewesen ist. Ebenso erscheint es mir überflüssig, das ganze Weltall nach dem möglichen Ort der Entstehung theoretisirend abzusuchen, da uns jeg- liche ^Vorstellungen über die nothwendigen Quaütäten dieses Ortes fehlen. Wir können uns, meine ich, bis auf Weiteres ebenso gut mit der Annahme zufrieden geben, dass des Lebensprocess in irgend einem Stadium [231] der Erdgeschichte seinen Anfang genommen habe; nur muss mau nicht, wie immer geschieht, ihn gleich durchaus fertig mit geordneter Coutractilität und dem Verbrauch ent.sprechender Assi- milationsregulatiou verlangen. Man muss sich vielmehr vorstellen, dass das Leben zunächst einfach als blosser Assimilationsprocess ähnlich wie das Feuer begonnen habe.^) Allmählich bildeten sich dann vielleicht Lehre der Urzeugung sonst und jetzt. Halle 1882 (eine zusammenfassende aber noch unvollständige Compilationl; K. Wirth, Beitrag zur Frage der Urzeugung, Wien 1884; Friedr. Dahl, Die Nothwendigkeit der Religion, eine letzte Consequenz derDARWiN'schen Lehre (eine interessante Schrift voll eigener Gedanken); M. Willkomm, Ueber die Grenzen des Pflanzen- und Thierreiches und den Ursprung des organischen Lebens auf der Erde, Prag 1888; E. Haeckel, Der Monismus als Hand zwischen Peligion und Wissenschaft, Bonn 1893 Seite 19. Alle diese Darstellungen kennen resp. berücksichtigen aber nicht die hier entwickelte Möglichkeit der ersten Entstehung des Lebens durch „sticccssive" Züchtung tmd H äufung der „Grundquali- täten" des Lebens.] 1) Preyer, Deutsche Rundschan 1875, und Kosmos, Zoitschr. Bd. I. 2) PflPoer's Archiv. 187.5. [3) Anm. Die ausserordentlichen Schwierigkeiten, die schon die Assimilation V. Ueber das Wesen des Organischen. 411 unter dem Auftreten und Verschwinden zahlloser Varietäten, unter fortwährender Steigerung der dauerfähigen Eigenschaften, quantita- tive und qualitative „Solbstregulation" in der Assimilation und im \'erl)rauch aus. Dem folgte wohl die Entstehung von R e a c t i o n s q u a 1 i t ä t e n , als deren schon ausserordentlich hohe Stufe nach Einer Richtung hin, in vielleicht Millionen .Jahre umfassenden Zeiträumen, nach und nach die Reflexbewegung gezüchtet wurde in der niederen Form , wie sie uns die Monere zeigt. Die weitere Aushilchmg von Reactionen, wie fest geordnete Bewegung, spe- cifische Sinnesem]ifin düng, folgte gewiss viel später; und sie liegen unserer Vorstellung schon so viel höher, dass Niemand sie von der niedersten Stufe des Lebens verlangt. Aber die viel schwerere Erwerbung der vor dem Auftreten der letzteren nothwendigen Eigen- schaften soh durchaus auf einmal, als Spiel eines Zufalls erfolgt sein. Was dazu gehört, ein Scheinfüsschen (Pseudopodium) zu bilden und zu bewegen, wie viel Millionen Molekel beim Ausstrecken in Ringform sich ordnen und sich einander nähern müssen, wie nach- her andere dasselbe beim Wiedereinziehen des Füsschens in Längs- richtung thun, und was dazu gehört, diese Fähigkeiten zu erwerben, pflegt man nicht zu erwägen. [Diese Vorstellung von der grossen auch nur der Selbstbewegung und Selbsttheilung fähiger Substanz für unser Ver- ständniss einschliesst, findet sich, freilich nur sehr flüchtig, in Bd. II, S. 79 ange- deutet. Die Assimilation auch nur der Autonierizonten und gar der Idioplassonten und noch mehr des Keimplasson höherer Organismen ist wohl überhaupt das com- plicirteste morphologische Problem der Biologie, ganz abgesehen von der Schwierigkeit, die in der Unsichtbarkeit dieser Vorgänge liegt. Denn wie loco citato erwähnt, kann es .\ ssim il a t i on im analytischen Sinne, dass jedes physicalische Molekel ihm selber gleiche Substanz bilde, nicht geben; sondern ein letzter, der Assimilation, also der Bildung ihm im Ganzen gleichender Substanz, fähiger Theil ist schon nicht mehr einer Fabrik, die immer dieselbe Substanz pruducirt zu vergleichen, da die Fabrik nicht ihr selber gleiche Gebilde hervorbringt; sondern ein solches kleinstes lebens- thätigesTheilchen entspricht schon einer ganzen Summe von derartigverschiedenen Fabriken, dass sie alle zusammen alles das produoiren, was ihre Gesammtheit an Material und (iestaltung darstellt. Daher kann schon die Entstehung des ein- fachsten Isoplasson , also blos assirailationsfähiger , aber sonst zu keiner weiteren elementaren Leistung, wie Reflexbewegung, Selbsttheilung. Selbstgestaltung, fähiger Substanz, ausserordentlich zahlreicher Variationen bedurft haben, um von niederen 'iraden der Assimilation bis zur qualitativen Gleichheit gezüchtet zu werden. Eine gewisse U ebercompensation dagegen kann schon lange vor der quali- tativ vollkommenen Assimilation erworben worden sein.] 412 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. Complicirtheit der einfachen organischen Massenbewegung ist nach den trefflichen neueren Arbeiten von G. Berthold') 0. Bütschli*) M. Verwor.v^) u. A. eine unzutretTeude, womit die Scliwierigkeit der Erwerbung dieses Vermögens erheblich vermindert wird.] Auf die Reflexbewegung folgte wohl die Ausbildung fester, vererbbarer Richtungen, sowohl in Bewegungen als in Ge- staltungen und damit das gi'osse Princip der Gestaltungen aus dem Stoffwechsel unterliegenden Processen, das Grund- princip der organischen Morphologie. Dieses erscheint mir um nichts [232] leichter verständlich, als die Sensibilität, eher schwerer, trotz der häutig angeführten Analogie der Crystallbildung; denn letztere findet eben nicht aus Processen mit Stoffwechsel statt. Wie man früher den Homunculus fix und fertig aus der Re- torte hervorgehen lassen wollte, so verlangt man es heut zu Tage von der Monere. Das erscheint mir nicht unähnlich, als wenn man erwartete, dass zufällig ein Mal der Sturmwind ein in sich geordnetes Kunstwerk, etwa wie e i u e B e e t h o v e n 's c h e S y m p h o n i e b 1 i e s e , oder dass er beim Zusammenbrechen alter Felsen aus den Trümmern einen stylgemässen dorischen Tempel aufbaute, oder dass ein Papua zufällig ein Mal die Integralrechnung entdeckte. Wenn einmal das, zu dessen Entstehung Jahrtausende lange Auslese immer des Besten uothig gewesen ist, plötzlich auf ein Mal ebenso voll- kommen aus der Hand des Zufalls hervorgehen kann, warum sollte es in diesen Fällen nicht auch stattfinden können ? Sind sie doch eher vielleicht noch einfacher, als die Zusammenordnungen der Theilchen bei der Bewegung der Monere, welche nicht ein Mal feste, sondern fortwährend wechselnde sind. Die Entwickelungsstufen von dem einfachen Assimilationspro- cess bis zu dem mit Sensibilität und von diesem Letzteren bis zur Entstehung bestimmter, durch Vererbung übertragbarer Richtungen und von diesem bis zum Menschen, erscheinen mir nicht so ungleich. Das principiell (Jeleistete derselben ist nacli unserer heutigen, aller- ij Studien iilier Prctoplasmaniochanik, Leipzig 1886. 2) Untersuchungen ü. miscroscop. Scliäume u. das Protoplasma. Leipzig 1892. •*; Die Bewegung der lebendigen Substanz, Jena 1892. V. Ueber das Wesen des Organischea. 413 dings gänzlich unzureichenden Vorstellung vielleicht ziemlich gleich- werthtig; ivber wohl wird noch eine vierte Stufe, die ihren Anfang mit der Entstehung des Bewusstseins, mit der Zusammenfas- sung des Gemeinsamsten aller Einzelerlebnisse des Indi- viduums zu einer Gesammtwirkung einzuschieben sein. Aber wenn dass Wesen des Bewusstseins schon besser analytisch untersucht wäre, würde uns dasselbe vielleicht gar nicht so wesentlich erscheinen, eine besondere Stufe für diese Art der Abstraction, aus welcher [233J sich vielleicht das ganze übrige Seelentableau ableitet, darzustellen. Jedenfalls aber erscheint es willkürlich, anzunehmen, dass das Be- wusstseiu eine allgemeine Eigenschaft der Materie sei, blos damit wir sie nur nicht als für das Organische neu entstanden einführen müssen. Es sind unendlich viele ganz neue Qualitäten im Laufe der Entwickelung der Organismen aufgetreten und den wenigen ursprünglichen hinzugefügt worden, welche wir ebenso wenig in ihrer specifischen Qualität aus den Eigenschaften der Atome, des mate- riellen Substrates, an welches sie gebunden sind, und als dessen Func- tionen wir sie wohl mit Recht betrachten, abzuleiten vermögen, als (las Bcwusstsein aus den Ganglienzellen der Grosshirnrinde. Es ist aber eine aus dem Streben nach Zurückführung des Mannigfachen auf das Einfache hervorgegangene Richtung unserer Zeit, die Qualitäten zu leugnen und zu sagen, weil die Monere dieselben Hauptf unctionen : Ernährung, Fortpflanzung und Reflexbe- wegung hat, als die höheren Organismen, seien keine neuen Quali- täten aufgetreten. Denn die neuen seien blos Abkömmlinge, allmäh- liche Differenziruugen des Einfacheren. Aber ist ihr Differentes darum wirklich weniger neu? Jede chemische Veränderung iler Organismen ist eine neue Qualität, und wenn sie noch so „all- mähUch" aus einer anderen hervorgegangen ist. Sogar jede Ueber- gangsstufe zu einer sogenannten neuen chemischen Qualität ist schon eine neue Qualität. Vor der Hand sind uns die chemischen Qualitäten Quahtäten im vollen Sinne des Wortes, solange als unsere Elemente noch nicht auf ein einziges zurückgeführt sind. Aber auch selbst dann noch, wenn alle Verscliiedenheit nach Leukipp, Demokrit und RoB. BoYLE blos auf quantitative Unterschiede, auf ungleiche Grup- 414 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. pirung der Molekel Eii:ier Grundsubstanz zurückgeführt sein würde, bleibt dies zutreffend; denn die verschiedenen chemischeu Verbin- dungen, die verschiedenen Gruppirungen derselben Elemente hal)en thatsächlich verschiedene Eigenschaften, sie verhalten sich verschieden. Es be- [234] steht daher kein principieller (_irund , die Annahme zu verweigern, dass, wie manche chemische Verbindungen Licht oder Electricität produciren, nicht auch bestimmte chemische Processe die Fähigkeit haben sollen, die phvsicalisch-chemischen Erlebnisse des Individuums im Gehirn zu tixircn und durch Reizeiuwirkung sie wieder in gi'össerer oder geringerer Intensität und nämlicher Aus- dehnung erregen und [fernerhin als Gemeinsames mehrerer Er- regungen eine ,,Abstraction" derselben zu bilden; und schliess- lich sogar das allen Erregungen desselben Lebewesens Gemeinsame, nämlich dass es Erregungen dieses Lebewesens sind, zu einer besonderen Erregung werden zu lassen. Diese „persöu- liehe Absfraction" stellt dann das Bewnsstsein oder richtiger das Selhstiewnsstsein dar. Es liegt uns hier blos daran, darauf hinzuweisen, dass viel- leicht die psychischen Functionen gar nicht so etwas absolut von allem anderen Geschehen Differentes sind, als dass sie nicht ebenso wie dieses aus einer der vielen ver- schiedenen Qualitäten, welche in den Organismen vorhanden sind und nicht aufhören zu wirken, wenn sie auch ein Mal einige Decennien hindurch geleugnet werden, ableitbar wären. Auch hier wird die E n t s t e h- ung eine sehr allmähliche gewesen sein. Es kann Jahrmillionen gedauert haben, ehe die erste Abstraction aus den alltäglichsten und genügend variirenden Dingen als eine noch unbewusste Ereguug des Gemeinsamen derselben gebildet worden ist; und dieselbe Zeit kann darüber hingegangen sein, ehe die regelmässige Wiederkehr des Schmerzes nach einem Schlage als nicht blosses regelmässiges Nach- einander, sondern wohl enger mit einander \'erbundenes aufgefasst worden ist; obgleich mir besonders die Erfassung des Causalve rhält- nisses eine verhältnissmässig leichte Erwerbung zu sein scheint, ßeisst doch schon mancher ältere Hund nicht mehr in den Stock, mit welchem man ihn schläat, sondern in die Beine des Schlagenden. V. Üeber das Wesen des Organischen. 415 Dass man aber jede Eigenschaft, welche sich allmählich [235] entwickelt hat, und von welcher man daher nicht mit Bestimmtheit den ersten Anfang, das erste Auftreten anzugeben vermag, auch den niedersten Organismen oder gar den anorganischen Processen zu- schreibt, ist eine reine Willkürlichkeit; und es ist, wie mir scheint, das ungelöste Problem des Kahlkopfes, welches hierbei noch die Vorstellungen verwirrt. Ebenso gut, wie man der Monere Bewusstsein zuschreibt, kann man von dem Träger eines prächtigen Haarschopfes sagen, er habe einen Kahlkopf; denn auch bei Entstehung dieses kann man be- kanntermassen den Anfang nicht bezeichnen, sofern die Haare einzeln ausgezogen werden. Oder ebenso gut könnte man von einer Schachtel voll Zinnober, neben welcher eine Reihe von anderen Schachteln mit Zinnober steht, welchem aber, mit einem unterhalb der Grenze der Wahrnehmbarkeit gelegenen Minimum anfangend, in steigender Weise Anilinblau zugesetzt ist, behaupten auch die erste Schachtel enthalte schon Blau, weil die Grenze des ersten Auftretens nicht nachweis- bar ist. Es scheint mir danach überflüssig, noch Weiteres über unsere gegenwärtige Unfähigkeit zur Beurtheilung der Zeit und des Ortes der ersten Entstehung des Lebens und des successiven Auf- tretens seiner wichtigsten Eigenschaf ten zu sagen; und ich begnüge mich damit, neben der Assimilation, Selbstbeweguug und Selbsttheilmig für die Anerkennung der „Uehercompensation im Ersätze" und der .ßelhstregulation" als neue wesentliche Eigenschaften des Organischen [sowie im- die Entstehung des ersten Lebens, also des Complexes der genannten Eigen- schaften durch „nacheinander erfolgende Züchtung'-^ der einseinen Grundeig enschaften und jeder derselben zu immer höherem Grade der Leistung bis zur \'ollkommenheit] meine Stimme erhoben zu haben. [Indem wir somit gefunden haben, dass die Selbstregulatiou, welche als „morphologische functionelle Anpassung" in Bezug auf die Ausbildung von Gestaltungen zu der in Capitel I und IV besprochenen Selbstgestaltung des Zweckmässigen wurde, eine 416 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Thcile im Organismus. uuerlässlicbe (Jruiuleigenschaft des Lebenden ist, erhält unsere frühere Annahme der trophischen Wirkung der functionellen Reize oder der Function eine weitere Stütze; da diese Wirkungs- weise einen elementarsten und nützlichsten Mechanismus der „morphologischen Selbstregulation" darstelU. Damit mag iher liekannten gröberen Umgestaltungen einfach von funetio- uellen Acnderungen der Blutzufuhr ableiten zu können vermeint hatte'). Im zweiten Capitel wurde gezeigt, dass in dem Organismus nicht alles Geschehen bis in's Einzelnste liinein, Molekel für Molekel, fest bestimmt ist, wie dies in Folge des Stoffwechsels und des Wechsels der äusseren Bedingungen auch gar nicht möglich ist; sondern dass bei dem fortwährenden Vorkommen von kleineu Variationen in den Qualitäten der Theile ein Kampf der neuen Qualitäten mit den alten um Nahrung und Kaum, sowieauch eine Selbstausmerz- ung nicht dauerfähiger Qualitäten stattfinden und von jeher in den Organismen stattgefunden haben muss. In lüesem a potior! als „Kampf der Theile" bezeichneten Auslesegeschehen, oder bei dieser „Tlieilauslese" mussten, wie wir sahen, immer blos die in den vorha;ideneu Verhältnissen lebens- kräftigsten Qualitäten siegen und schliesslich alliiu übrig bleiben. In denjenigen Organen, auf welche oft Reize, z. B. die Function auslösende Reize, einwirken, sind die siegreichen Eigenschaften die- jenigen, welche durch den einwirkenden Reiz zugleich am meisten in ihrer Assimilatiousf ähigkeit gekräftigt werden. Es werden so in der Theilauslese Processeigenschaften ge- züchtet, welche im Stande sind, die Erscheinungen der functionelleu An- passung hervorzubringen; und zwar war dies eine Folge des Kampfes blos der „gleichartigen" Gebilde: der lebensthätigen Zelltheile [Isoplassonten, Autokineonten , Automerizonten , Idioplassonten], und des Kampfes der Zellen desselben Gewebes unter einander. Unter Anderem erklärt sich durch die Selbstausmerzung der unter bestimmten Verhältnissen nicht dauerfähigen lebensthätigen Theile des Organismus die Fähigkeit der Gewöhnung des Individuums an ! i) Diese Zusammenfassung wurde hier etwas ausführlicher gehalten, als es im Original der Fall war.] 97 W. Roux, Gesammelte Abhandlangen. I. 418 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. schädliche Nahrungsbestaiultheile, wie organische und anorga- nische Gifte; und vielleicht beruht auch die Immunität nach Impl- ung und überstandenen Krankheiten zum Theil auf demselben Trin- eip (s. Seite 235). Dagegen füiirtt' der Kampf der „verschiedenen" Gewebe und Organe je unter einander ausser zur möglichsten Aus- nutzung des Raumes im Organismus zur inneren Harmonie, zur Ausbildung eines der physiologischen Bedeutung der Theile für das Ganze entsprechenden morphologischen Gleichgewichtes derselben. Durch diese hervorragenden Leistungen des Kampfes der Theile zeigte sich indessen die Bedeutung des von Darw-l\ [238J aufgestellten Principes des Kampfes der Individuen für die Ent- stehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an die äusseren Bedingungen nicht im geringsten beschränkt. \'ielmehr ist das Verhältniss beider Kampfesarten derartig, dass aus den vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigsten und am stärksten reagirenden Substanzen oder richtiger Processinsubstan- tiationen der Kampf der Individuen um ihr Dasein überall diejenigen speciellen ausliest, welche zugleich auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen geeignet sind. Während so der Kampf der Theile die sog. Zweckmässigkeit besser Dauerfähigkeit im Innern der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit derselben im allgemeinen dyna- mischen Sinne hervorbringt, bewirkt der gleichzeitige Kampf um's Dasein unter den Individuen die Dauerfähigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den äusseren Existenzbedingungen der Individuen. Für diese Wirkungsfähigkeit des Kampfes der Theile waren aber Eigenschaften als in den Organismen gelegentlich aufgetreten angenommen, und als in diesem Falle Sieg und Ausbreitung bis zur Alleinexistenz gewinnend nachgewiesen worden, deren thatsächliches Vorhandensein erst bewiesen werden musste. In Folge dessen wurde im III. Capitel dieser Nachweis angetreten und, wie ich glaube, in einer für die erste Fundirung des (^ranzen genügenden Weise erbracht. VI. Zaisammenfassuiig. 419 Es handelte sich um die eventuelle Eigenschaft des Protoplas- mas der verschiedenen Gewebe, durch den function eilen Reiz nicht blos zur specifischen Thätigkeit, sondern, sei es direct oder indirect, auch zur Assi niilalio n (zur P>ildung neuer entsprechender Substanz, sowie zum Ersatz und zur Ueber- compensation des Verbrauchten) angeregt zu werden. Dies ist diejenige Qualität, welche dasPriucip der funetionellen Selbstgestaltung des Zweckmässigen s. Dauerfähigen eiuschliesst. Das N'erhalten des Knochengewebes, die statische Structur auch hl muen Druck- und Zug- Verhältnissen diesen augepasst hervorzu- bringen. [239] spricht auf das E\ädeuteste für diese Eigenschaft ihrer Zellen ; und die rasch ablaufende Entartung der activ fungirenden Tlieile, der Muskeln, Nerven und Drüsen, bei gänzlicher Fernhaltung des funetionellen Reizes scheint das Gleiche auch für diese Organe zu beweisen. Ausserdem zeigten wir, dass die bisherige Begründung der Activitätshypertrophie, sowie der Inactivitätsatrophie auf mit der Fimctiou verbundene Alterationen der Blutzufuhr zu den Organen vollkommen unzutreffend ist, indem sie sowohl den allgemeinsten biologischen Erfahrungen widerspricht, als auch specielle Thatsachen direct die Unmöglichkeit derartiger Verursachung beweisen. Nachdem so die trophische Wirkung des funetionellen Reizes in den Geweben, soweit uns möglich, festgestellt war, wurde die specielle morphologische Wirkungsweise dieses Principes noch besonders erörtert und im IV. Capitel der Nachweis geführt, dass in der That diese Eigenschaft überall quantitativ und formativ das Zweckmässige direct hervorzubringen vermag. Durch che Fähigkeit des Kampfes der Theile, derartige Quali- täten zu züchten, musste eine viel höhere innere \^ollkommenheit, die Zweckmässigkeit der fungirenden Theile bis in 's letzte lebensthätige T heil eben, hervorgebracht werden und viel rascher sich ausbilden, als wenn sie nach D.^rwin durch Auslese aus formalen Variationen im Kampf um's Dasein unter den Individuen hätte entstehen sollen und können. [Bei genügender Centralisation der funetionellen Reize in dem cerebralen Centrum des . Individuums ist mit diesen gestaltenden 27* 420 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. lunct ioiiellon Correlationen einPriiicip zweckmässiger, d.h. die Dauert'äbigkeit des ganzen Lidividuums eriiöhender Beeinflussungen der Organe unter einander gegeben, welches die direete Anpassung des Individuums an neue Verhältnisse ausreichend und zwar mechanisch erklärt und zugleich, soweit es von dem Willen in Thätigkeit versetzt i.st, wirklich Teleologisches schafft. Da in den früheren Stadien der individuellen Eutwickelimg die Theile selbstständige, das soll blos heissen , der functionellen Reize nicht benötliigende, Wachsthums- und Gestaltuugsfähigkeit haben, so ist das Leben jedes Theiles in zwei verschiedene Perioden, in eine sogenannte „embryonale Periode" von der Function unab- hängigen, also in diesem Sinne sei bstständigen Lebens, und in eine spätere Periode des „functionellen Reizlebens" zu scheiden, von denen die erste allmählich in die andere übergeht (s. Seite 348).] Zum Schlüsse warfen wir noch einen Blick auf das Organische im Allgemeinen und suchten dessen ,, Wesen" näher zu treten. Da wir als die nothweudigste Eigenschaft des Organischen die Dauerfähigkeit auch unter „wechselnden" äusseren Beding- ungen erkannten, so ergab sich als eine Grundeigenschaft des Orga- nischen ein Mal di e Fähigkeit der „Selbstgestajtung" des im ,, Wechsel" der Verhältnisse zur Erhaltung Nöthigeu, die mor- ])hologische functionelle Anpassung mit der [24:0] Assimilation als erster Specialeigenschaft beginnend und durch vielfache morpho- logische „Selbstregulationsmechanismeu" fortgeführt, sowie die vorübergehende „rein functionelle Anpassung" an den jeweiligen Bedarf, beides Arten der „Selbstreguhition". Zm- Vcrmittelung der ersteren, morphologischen Art der Selbstregidation dient die Ueber- compensation im Ersätze des Verbrauchten, welche als einfaches ,.Wachsthum" ülierhau))t schon zur Ausbreitung der (Organismen nüthig war. Selbstreguhition in allen Verrichtungen und lebercoinpeii- satioii im Ersätze des Verbrauchten sind daher neben der Assiinihitioii ilie wesciitliclistcii „allgemeinen" Eigeiiseliaften des orgauischcu Ge- sclielieus; und erst nach diesen rangiren an Bedeutung die, obschou gleichfalls allen Organismen eignen aber doch speciellen Leistungen der Reflexbewegungen und der Selbstheilung. ^'l. Zusiimmeufassun;;. 421 Zugleich erpil) sich eine liislur nirgends erörterte Möghchkeit der Entstellung des ersten, niedersten Lebens, nämlicli die der nacheinander erfolgenden, also „successiveii" Selbst- ziielituiig: der „iiiodersteu" I'r(»cesseig:oiiseliarten des Lebens, (mit der Assimilation l)eginnend, und danaeli auf Uebercompensation in der- selben und Refiexbevvegung sich ausdehnend) aus geeigneten zufälligen Variationen des Erdgeschehens im Laufe sehr grosser Zeiträume, wobei jede einzelne Eigenschaft auch selber allmählich zu immer grösserer Vollkommenheit sich auszüchten konnte (8. 230 u. f.); und ausserdem zeigte sich in iler \'cr\vei-thung der Züchtung von Reizsubstanzen die Andeutung einer Möglich k e i t d c r E n t s t e h u n g d e r A b - straction und des Bewustsseins. Ist in der vorstehenden Abhandlung vielleicht etwas zur \\'rvoll- stäudigung und Abrundung der ,, allgemeinen Entwickelungslehre" der Organismen beigetragen worden, indem nachgewiesen wurde, welche allgemeinen Eigenschaften allein in dem Wechsel des Naturge- schehens Dauer gewinnen konnten und von ytufe zu Stufe durch Summatiou oder richtiger durch sich Ueberbieten von Variationen gesteigert werden mussten. sind somit die Ursachen des Bestehens, des Erbaltenbleibens, aufgezeigt worden, so sind damit selbstver- ständlich die LTrsacheu des Entstehens, des Werdens dieser Eigenschaften, also die Probleme des betreffendendes Molecular- Geschehens, wie es nach den physicalisch-chemischeu Gesetzen aus bestimmten Ursachen auf bestimmte AVeise sich vollzieht, nicht im geringsten gefördert. ') Solches aber überhaupt von Idossen Erhaltuugs- und Steigerungs- |)rineipieu, wie sie diese allgemeine Entwickelungslehre der Organismen liilden, zu verlangen, heisst dasselbe, als etwa den Mathematiker er- suchen, die Geschwindigkeit der Wärmeschwingungeu rein theoretisch [') Doch wurde bei dem jGfgebensein' dieser , Eigenschaften," sowie der, Anlage' der Organe die Bildung einer ausserordentlich grossen Mannigfaltigkeit feinster speci- eller sog. .zweckmässiger' Gestaltungen abgeleitet (s. auch Nr. 6. S. 251 und bes. Nr. 7. S. 13.5).] 4^2 Nr. 4. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. ZU bestimmen, heisst das concrete Geschehen, welclies durch Quantitäten bestimmt wird, rein aus den Qualitäten heraus (die wir nebenbei auch nicht genügend kennen) entwickeln wollen. Dieses erscheint allerdings Manchem nicht umnöglicli ; und mich selbst fragte einst ein Gymnasial- proi'essor, ein ausgezeichneter Philolog, nachdem ich ihm die Methoden zur Bestimmung der Fluggeschwindigkeit der Kanonenkugeln be- schrieben hatte, vcr- [241] wundert, warum es dazu .so umständlicher empirischer Methoden bedürfe, das Hesse sicli docli einfach berechnen. Gleicher Ansicht huldigen implicite die nicht wenigen Naturforscher, welche der Descend enz lehre vorwerfen, dass sie eigentlich keinen einzigen physiologischen Vorgang an sich er- k liirt h abe. So bleiben denn mit diesem los solche auslesen und züchten, welche auch seinem Specialcharakter am vollkommen- sten entsprechen. Aendern sich ilie L'mstände, etwa (üe Nahrung des hidi- viduums, so werden bei der anderen Kost anderen Zusammensetzungen des Protoplasma die erörterten siegreichen Eigenschaften zukommen; und Ijei gehöriger Dauer der Nahrungsänderung w-erden ihr ent- sprechende innere Umzüchtungen stattfinden. Haben einige Zellen oder Zelltheile die vorhin bereits präsuniirte Fähigkeit der Uebercompensation in der phj'siologischen Regeneration, also des Wachsthums vor anderen ihrer Xaclibarschaft voraus, und ist mit derselben zugleich eine etwas grössere Widerstandsfähig- ,keit gegen Druck verbunden, so werden sie die letzteren Gebilde niclit blos durch Vorwegnahme des Platzes bei der Regeneration bc- nachtlieihgen , sondern auch sie unter stärkerem Wachsthum activ durch Druck zum Schwunde bringen. Ebenso müssen unter Zellen, welchen alle die erwähnten günstigen Eigenschaften eigen sind, diejenigen siegen und schliesshch allein übrig bleiben , welche dieselben in höherem Grade besitzen. [248] Die Beweise des Vorhandenseins der in dem \"orstehendeii stets als Vorbedingung vorausgesetzten beiden Eigenschaften der Zellen, durch Druck am Wachsthimi gehemmt zu werden, sowie in der Aufnahme und Assimilation von Nahrung nicht blos von der Zufuhr, sondern auch von dem eigenen physicalisch-chemischeu Zu- stande abhängig zu sein, und damit die Beweise für die Fähigkeit derselben, um Raum und Nahrung kämpfen zu kömren und zu müssen, sind in der citirten Specialarbeit beigebracht und daselbst nachzulesen. In diesem Kampfe der Theile züchten sich noch verschiedene auch dem Ganzen in seinem Kampfe nützliche Eigenschaften auf einem näheren Wege, ganz ebenso wie das Gleiche durch die C'on- Autoreferat. 433 currenz der Berufsgenossen jedes Standes in einem Staat, selbst im Kriegerstande, wälnend des Friedens fortwährend geschielit aucli ohne das Morden und Schhxchten im Grossen, ohne den Völkerkrieg. ^\'ir sehen indess hier von einer vollständigen Vorführung aller (lieser Qualitäten ab und erwähnen blos noch eine Zelleigenschaft, welcher eine ganz besondere physiologische und morphologische Be- deutung zukommt, insofern als sie es ist, welche die ganzen, oben angedeuteten, wunderbaren Fähigkeiten der directeu Selbstgestal- tung des Zweckmässigen in neuen Verhältnissen bedingt, welche die fuuctionelle Anpassung auf mechanische Weise hervorzu- bringen vermag. Viele Zellen werden oft von Reizen, von den fuuctioncllen Reizen getroffen, so Nerven-, Muskel- und Drüsenzelleu von den be- treffenden Impulsen; Knochen- und Bindegewebe von Druck und Zug. Die Zufuhr solcher lebendiger Kräfte kann nicht ganz ohne Folgen für das Leben der afficirteu Theile sein, denn wenn eine Kraft auf irgend etw'as übertragen wird, so veranlasst sie darin eine Aenderung seines bisherigen Zustaudes. Es ist nun möglich, dass diese Beeinflussung für die physiologische Regeneration mancher Theile einer Zelle oder mancher Zelle eines Ge- webes nachtheilig ist; dann müssen dieselben im Kampfe der Theile, wie ausgeführt, unterhegen und verschwinden. Treten dagegen Variationen auf, für deren Regeneration diese functionellen Reize, trotz des der Reizung folgenden erhöhten Verbrauchs, förderlich sind, so werden sie diejenigen Variationen, für welche der Reiz in dieser Beziehung in- different bleibt, verdrängen. Wenn also ein Mal Substanzen, die durch den functionellen Reiz trophisch, d. h. zur Ernährung augeregt wurden, aufgetreten waren, so mussten sie die Allein- herrschaft in dem betreffenden Gewebsgebiet erlangen. In höherem Grade durch den Reiz trophisch erregte Substanzen mussten wiederum über nur geringer in dieser Beziehung veränderliche den Sieg davon- tragen. Ging schliesslich die Reizwirkung bis zur LTebercompeu- sation des Verbrauchten, so gehörte diesen QuaH täten die Herr- schaft. Andererseits ist verständlich, dass Theile, welche durch ge. wohnte Reize so hochgi'adig günstig beinflusst werden, beim Aus- W. Roux, Gesammelte Abhandlungen. I. 28 434 Nr. 5. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. bleiben derselben eine nachtheilige ^'^erändei'ung erfahren müssen, sich [249] weniger gut, e\-entuell gar nicht genügend zu regeneriren vermögen. Schliesslich ist noch zu erwähnen, dass der Kampf der Individuen aus den so züchtbareu Qualitäten natürlich blos die wenigen erhalten wird, welche zugleich auch in ihm sich zu bewähren ver- mochten. Untersuchen wir nun das ^'erhalten der im letzten Sinne beein- flussten Substanzen etwas genauer und denken uns, um gleich ein Beispiel zu nehmen, einen Knochen von beliebiger äusserer Gestalt und einer aus unregelmässigem Maschonwerk gebildeten Structur. Dieser Knochen werde von einer be- stimmten Fläche aus gedrückt und pflanze diesen stets in ein- und derselben Richtung wirkenden Druck mit einer gleichfalls gegebenen Fläche auf einen andern liarten Theil fort, etwa so wie das Schienbein den Druck vom Oberschenkel auf den Fuss überträgt ; dabei sei der gegebene Knochen aus einem Gewebe, dessen Bildungs- zellen die obigen Eigenschaften bcsässen, d. h. durch sie treffenden Druck oder Zug zur Ernährung und Knochenbildung angeregt Averden, bei Druck- oder Zugmangel gewissen Grades aber keinen Knochen zu bilden vermöchten. Wird nun dieser Knochen gebraucht, so werden 1. die zufällig in der Richtung des Drucks gelegenen Knochenbälkchen stärker ge- drückt, also auch stärker ausgebildet. Das Gleiche gilt 2. von den nur wenig von dieser Richtung abweichenden Balken; die ihnen auf- liegenden Knochenbildungszellen werden an den stärker ge- spannten erschütterten Stellen stärker erregt, daher durch vermehrte Thätigkeit das Bälkchen verdicken und ihm durch Auf- lagerung an den betreffenden Stellen allmählich die Rich- tung stärksten Drucks geben. In dem Maasse aber, als die in der Hauptdruckrichtung gelegenen Theile stärker ausgebildet wei'den, müssen .sie '6. die anderen entlasten, so dass dieselben nach ihrem physiologischen Schwunde nicht wieder von Neuem gebildet werden können. So bleiben schliesslich bei der angenommenen Constauz der Druckrichtung blos Bälkchen von den Richtungen stärksten Drucks ülnig. Diese Richtungen sind nach den Gesetzen Autoreferat. 435 clor Elasticität zwei, von denen die eine immer stärker ausge- l)ildet imd in der Richtung der directeu Einwirkung des Drucks gelegen ist, während die andere darauf senkrecht steht (siehe S. 281, 356, Nr. 9, S. 132 u. Bd. II, S. 221). So findet es sich auch in dei; Knochen des Menschen. Indem ferner bei Biegungsites trelntngen, wie sie an ,,1 an gen", d. h. mehrmals längeren als dicken Knochen in verschiedeneu Richtungen vorkommen, die äusseren Theile des Knochens stärker ge- spannt werden als die iimeren, wird in diesen äussern Theileu durch den stärkeren Reiz das Mascheuwerk der Balken immer stärker und dichter sich ausbilden , und sobald dies in genügendem Maasse ge- schehen ist, um die inneren Theile zu entlasten, so werden diese nicht wieder regenerirt werden können und daher schwinden müssen. So entsteht dann eine, wiederum auch bei unseren länglichen Knochen sich findende, von dichter TCuochensubstanz umgebene Markhöhle; und bei diesem Baue sowie bei der obigen Structur an den Enden leistet nach Theorie und Praxis eine Stütze das Höchste mit dem wenigsten Stützmateriale. [250] Bei gegebener Druckaufnahme- und Abgabefläche wird, wie am einfachsten an im Verhältniss zu ihrer Dicke kurzen Knochen sich darthun lässt, der Druck sich blos innerhalb gewisser Breite von der einen Fläche zur andern fortpflanzen. Ist der Knochen aber von Haus aus breiter, dicker oder mit seitlichen Vorsprüngen und Kauten versehen, so werden diese sowie alles andere von der Druckübertragung nach aussen gelegene Knochenmaterial entlastet, also schwinden, sobald erst innerhalb der Druckübertragung das Gerüst genügend gestützt ist. Eine Aenderung erfährt dies, wenn etwa seitlich Muskeln sich ansetzen, und ihre Kraft von da aus auf den Knochen übertragen; dann bleiben die betreffenden Höcker erhalten und es liildet sich von ihnen aus im Innern ein neues zur Uebertragung dieses Zuges geeignetes Fasersj'stem, wie dies gleichfalls auch an unseren Knochen deutlichst ausgeprägt zu sehen ist'). [1) Für die so entstehende, der Function angepasste äussere Gestalt (siehe auch S. 361) habe ich später (Nr. 9, S. 138 und 146) den Namen „ functionelle Gestalt' eingeführt.] 28* 436 Nr. 0. Der züchtende Kampf der Theile im Organismus. : 9 -. Der Knochen erlangt also bei der vorausgesetzten Qualität seiner Bildungszellen die auf's Genaueste seiner Function angepasste „äussere und innere Gestalt", ganz abgesehen davon, welche Gestalt und Structur er zur Zeit der Ueber- nalinie dieser bestimmten Function besass. Aendert sich die Fmiction der Theile des Knochens etwas, wie z. B. nach einem schief geheilten Knochenbruch, so wird sich mit der Zeit auch eine den neuen Druck- und Zugverhältnissen entsprechende Structur ausbilden. Gebraucht ein Individuum seine Knochen dauernd mehr, so werden sie innerlich und äusserlich dicker werden; gebraucht es sie dauernd weniger, so wird durch die schwächere trophische Wirkung des schwächeren Reizes nach dem physiologischen Schwund, und vielleicht auch unter Beschleunigung desselben, die Re- generation geringer ausfallen imd somit der Knochen in allen bezüg- lichen Bälkcheu dünner Averdeu: das heisst also, jedes überflüssige, nicht im Dienste des Ganzen, von welchem die fuuctionellen Reize ausgehen, nothige Material wird erspart. Was hier für die Knochen gezeigt wurde, gilt, die gleiche Ab- hängigkeit der betreffenden Gewebe von ihren fuuctionellen Reizen vorausgesetzt, auch für die Bildungen des Binde-, Nerven-, Muskel- und Drüsengewebes, sie werden alle die ihren Functionsbedingungen entsprechendste z weckm ässigste ,, Gestalt und Structur" erlangen. Und da Maass und Localisation der functionelleu Reize von dem Willenscentrum aus, also von dem zweckthätigen Repräsentanten der Individualität bestimmt wird, so kommen mit dieser Eigenschaft die Theile in die vollkom- menste und zweckmässigste Abhängigkeit von dem Ganzen, indem sie ganz nach dem Gebrauche, welchen dasselbe von ihnen macht , zweckentsprechend ausgebildet , umgebildet oder verkleinert werden. Da aber der Organismus, wie oben angedeutet, in fast allen seinen Theilen diese Fähigkeiten, die wir als die Fähigkeit zur lunctio- nellen Anpassung zusammenfassten, besitzt, so lässt sich auf Grund dieser in den mannigfachsten Einzelheiten sich bekundenden Identität [251] der Leistungen und nocii aus anderen pathologischen Gründen, Autüielorat. 437 iiucli auf eine Identität der Eigenschaften scbliessen. Es ist dalier an/Aiuelnuen, dass den Geweben des höheren Organismus in der That diese Eigenschaft, durch den functionehen Reiz bis zur Uebercompen- ^ sation des unter seiner Einwirkung Verbraucliten angeregt zu werden und beim Ausbleiljen dieses Reizes zu schwinden, zukommt; und diese Annahnu' wird noch verstärkt (buch den vorher geheferten Nachweis, dass derartige Quaütäten, wenn sie einmal in Spuren in einem Gewebe aufgetreten waren, aUmälihch (he Alleinexistenz in demselben ge- winnen mussteu. Genauer betrachtet möchten wir freilich diese trophische Wirkung bei einigen Organen nicht dem f unctionellen Reize an sich, sondern dem durch ihn ausgelösten func- tionellen N'organg zuschreiben; doch würde die weitere Begründung dieser Ansicht hier zu weit fühi'en; übrigens hat sie auch blos für d ic Ar beits Organe Bedeutung (s. S. 368), da bei den Stützorganeu, den Ivnochen und Bändern etc., i'unctionelle Reizung und Function un- trennbar mit einander verbunden sind. Diese Eine Eigenschaft erklärt also die Möglichkeit der Ent- stehung bisher unerklärbarer Zweckmässigkeiten auf rein mechanische Weise, und sie thut dies auf einem näheren und zu höherer Voll- kommenheit führendem Wege als auf dem der Auslese durch den Kampf der Individuen. Dabei verspricht diese Eigenschaft, da sie fortwährend das organische Bilden, das eigentliche Geschehen als eine der Compouenten beeinflusst und das- selbe an die uns schon jetzt mehr oder weniger bekannten Vorgänge der Reizung anknüpft, auch der Physiologie, als der Lehre von diesem Geschehen, besonders aber der Morphologie, als der Lehre vom Bilden im JSpeciellen dereinst eine bessere Hülfe zu gewähren, als dies die bisherige, blos auf die Auslese ün Kampfe um die „äusseren" Existenzbedingungen gegründete Descendenz- lehre vermag. Nr. 6. Kritisches Referat') über Beiträge zur Descendenzlehre und zur Methodologie der Naturwissenschaft -J von Hugo Spitzer, Dr. phil. et mei., Docent der Philosophie an der Grazer Universität. 1886. Göttinger gelehrte Anzeigen 1886. Nr. 20. [797] Der Verfasser beabsichtigt, das ganze bis zur Gegenwart (1884) für und wider die Descendenzlehre vorgebrachte Material auf seinen logischen Werth für die Begründung dieser Lehre eiugehends zu prüfen und zugleich eine allgemeine Descendenzlehre philosophisch zu entwickeln. Zu dieser schwierigen Aufgabe war H. SnrrzER, wie sich aus seinem Werke ergiebt, in bevorzugter Weise geeignet, indem er mit 1) Dieses Referat wurde in die gesammelten Abhandlungen aufgenommen, weil es mannigfache eigene Ansichten des Referenten, z. B. über das Wesen und die Ermittelung der Hom ologien, über den Nutzen der Entwickelungsmechanik für die vergleichende Anatomie, über die Ursachen des sog. biogene- tischen Grundgesetzes, über dasWesen der sog. Continuität dos Keim- plasma und der Variationen desselben enthält. 2) Leipzig, F. A. Brockhaus 1886. XV. 538 S. gr. 8". Nr. 6. Kritisches Referat über: Spitzeh, Beiträge zur üescendenzlehre. 139 der Fähigkeit scliarfen Distinguirens uml iihilosophisch allgemeineu Denkens einen selbst für einen Biologen seltenen Reiolithnni biologi- scher Kenntnisse verbindet. Das Buch besteht aus drei Hauptabschnitten, deren erster, umfangreichster, die materiellen Grundlagen der Descendenzlehre unter Einfügung der in dem letzten Decennium gewonnenen neuen Kennt- nisse und Erkenntnisse darlegt. Wenn Referent sich bei der specielleu Besprechung auf die Gebiete seiner eigenen Competenz beschränken darf, so ist nach Erwähnung der ersten vier Uuterabtheilungeu, welche den geologischen und den systematischen Fortschritt, sowie die That- sacheu der Morphologie und der Classification in ihrer Bedeutung für die Descendenzlehre behandeln, zunächst der Inhalt des fünften Capitels, der die ,, embryologische Beweissgruppe" umfasst, zu erörtern. N'erfasser hat diesem schwierigen Gegenstand besondere Sorgfalt und entsprechenden Raum, den fünften Theil des ganzen Buches, ge- widmet mid ist dadurch einem dringenden Bedürfniss nachgekommen. Er erörtert zunächst in ebenso scharfsinniger wie geistvoller Weise die Einwendungen gegen die Descendenz- [798] lehre, welche von einigen Autoren, besonders von Götte und His, als den Begründern einer die Stammesentwickelung für die Erklärung der incüviduellen Entwickelung angeblich entbehrUch machenden Entwickelungslehre aufgestellt worden sind. Spitzer sondert von der Höhe seines Standpunctes aus mit Leichtigkeit das Verdienstliche in den Bestrebungen dieser Autoren von den Irrthümern, in welche sie zugleich verfallen sind und kommt zu dem Schlüsse, „dass nicht die im Allgemeinen constatirbare grosse (i leichf örmigk ei t der Entwickelung verwandter Species oder wenigstens nicht diese Gleichförmigkeit allein, sondern vielmehr das Vorkommen zahlreicher Irregularitäten der Ontogenese, das eigentlich für den Werth der Descendenzlehre als eines morphologischen Er- klärungsprincips und für che Sicherheit ihrer anatomischen und em- bryonalen Grundlagen entscheidende ^'erhältmss ist". Dies deshalb, weil damit jede MögUchkeit, die stammgeschichtlichen \'orgänge mit Umgehung des Vererbungspriucipes direct aus einfacheren Natiu'ge- setzen zu erklären, abgeschnitten wird. Bei der zu diesem Resultate führenden Betrachtung schliesst sich 440 Nr. 6. Kritisch^ Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlebre. SpiTZEii in der Auffassung dessen, was verwandte Typen sind, den Auffassungen der bezüglidien Fachautoritäten au und fasst die ,.Ho- mol oyien^'' in den einzelnen Fällen schon als vollkommen sicher gestellt auf. Indess möchte Referent, ohne hier auf das Einzelne ein- zugehen, doch hervorheben, dass gerade die bisher blos auf die ,,mor- phologische" Vergleichung gegründete Verwandschaftslehre der Organismen eine vielfach noch recht unsichere ist, und er erblickt zugleich darin den tieferen Grund, dass neuerdings mehr und mehr streitige Puncte auftauchen, über welche die Autoren sich nicht zu einigen vermögen. Zwei oder mehrere organische Bildungen werden genau genommen nur dann als homolog, als von der- sellien Abstammung zu bezeichnen sein, wenn die erste phylogene- tische Entstehung ihrer von uns der Vergleichung unterzogenen speciellen Beschaffenheit von einer und derselben Alteration desselben (identischen) Keimplasmas herrührt, also auch auf ein und dieselbe „Ursache" zurückzuführen ist. Nach dieser ein- heitlichen ersten Entstehung kann dann diese Alteration durch die „assi- mihitorische Vervielfältigung des Keimplasmas" (s. S. 451) un- endlich vielen Individuen unverändert übermittelt oder auch, durch nach- trägliche weitere alterirende Einwirkungen, in moditicirtcr Weise über- tragen worden sein. Woraus aber können wir hinterher bei zwei vorliegen- den Bildungen mit Siclierheit auf eine solche vormalige Identität des ersten Entstehungsvorganges derselben schhessen? Haben wir eine sichere Gewähr dafür, dass dazu die bisher für diesen Schlu,ss verwendete [799] Gleichheit der Form und Beschaffenheit oder gar blos eine Aelmlichkeit derselben ausreichend ist? Nein! trotz des hohen Werthes, den solche Uebereinsthnnmng durch ihre vitllachc Wiederholung bei den verschiedeneu Organen des Individuums er- langen kann; denn wir müssen daran denken, dass für unsere Be- trachtung als gleich erscheinende und noch leichter blos ähnliche Bildungen zu verschiedenen Zeiten, aus verschiedenen Ursachen hervorgegangen sein können, und es kann niiht einmal der Satz als vollkommen gcsicliert angesehen werden, dass die Nähe der Verwandtschaft proiiortional dem Grade der lormalen und qualitativen Aehnlichkeit sein müsse. Definition und Ermittelung lier „Honiologieen." 441 So viel wir uuch bisliiT der Methode der Foriuvergleiclmug und der Vergleichung der sonstigen Beschaffenheit für die Beurtlicilung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Organismen ver- danken, so wird es daher doch nöthig und fürdersam sein, vor der Fällung abschliessender Urtheile erst noch nach weiteren Begrün- dungsniomenten zu suchen. Diese können nur in der Aus- dehnung der Vergleichung auch auf die „Eutwickelungs- Vorgänge" und deren „Ursachen" gefunden werden, also in der ,,ver(/lcichendeu Entiviclielnngsmechaitih'', einer allerdings noch ganz der Zukunft angehörenden Wissenschaft. Soweit die Ent- wickelungsvorgänge sich in äusserlich wahrnehmbaren Producten, in successiven Formenbildungen offenbaren, sind sie bekanntlich schon als wesentliche Stütze der Verwaudtschaftslehre verwendet worden. Bezüglich der eigentlichenBilduugs Vorgänge selber und ihrer Ursachen war dies bisher aus dem angedeuteten Grunde nicht mög- lich. Es lässt sich daher aueh nicht im Voraus sagen, wie viel uns die vergleichende Entwickelungsmechanik positives Material für die sichere Beurtlieilung der Verwandtschaften bringen wird; und man kann nicht ohne eine gewisse Begründung von vorn herein geneigt sein, dies als relativ gering zu betrachten, denn die fundamentalen Ent- wickeluugsvorgänge, wie das Zellwachsthum, die Zellvermehrung und -DifEerenzirung sind gewiss in ihrer Art ganzen Classen gemeinsam, und die Besonderheiten werden wohl nur in der speciellen Ai't der Auslösung, Reguliruug und Richtungsbestimmung dieser Vorgänge ausgesprochen sein (s. S. 407 Aum.). Auch können leichte, an sich nicht feststellbare quantitative Aenderuugen dieser Vorgänge schon grosse autfallende Aenderuugen der Form und Beschaffenheit der Organe bedingen, so dass sich die Eigenart mancher ^"orgänge für uns nur durch cüese ihre Endproducte bekundet. Gleichwohl können uns aber der entwickelungsmechanischen Betrachtungsweise entsprmigene Erörterungen schon jetzt zur Wir- sicht in der bezüglichen Verwerthung der formalen Aehnlichkeiten veran- [800] lassen. Die Missbildiuigen zeigen luis, dass schon innerhalb der Entwickelungsperiode eines einzelnen Individuums die Biklungen erhebhch von den elterlichen Eigenschaften abweichen können; es 442 Nr. 6. Kritisches Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlehrc. kann die Bildung von Organen in vermehrter oder verminderter Zahl ausgelöst oder an einen abweichenden Ort verlagert werden, es könnea die bedeutendsten Formänderungen eines oder vieler Organe auf ein Mal hergestellt werden. Es ist dabei wohl berechtigt anzunehmen, dass diejenigen dieser Missbildungen, welche nicht durch äussere Einwirkungen auf das sich entwickelnde Ei verursacht sind, sondern deren Ursachen in der Beschaffenheit des Personaltheiles des Keim- plasmas des befruchteten Eies gelegen \\ar, dass diese in iliren Bildungs- weisen und Ursachen mit den Bilduugsweisen und Ursachen der- jenigen Organe, von welchen sie Modificationen darstellen, doch mehr übereinstimmen als mit den Bildungsmechanismen ähnlicher Gebilde bei weiter entfernt verwandten Organismen. Wenn uns diese Bildungs- mechanismen bekannt wären, so würden wir in diesen Aehnliclikeiten eine weitere Grundlage für die Beurtheilung der \'erwaudtschafts- grade gewinnen. Um ein Beispiel anzuführen, so wird die Verwandtschaft der Rhj'tina Stelleri mit den Säugethieren in durchaus verschiedener Weise aufzufassen sein, je nach der entwickelungsmechanischen Be- deutung, welche der dieser Gattung eigenen Gestaltung des Knochen- systemes zuzuerkennen ist. Die Knochen dieses Thieres werden gleich denen der übrigen Sirenen von den Autoreu als „sehr schwer" be- zeichnet, und ein Stück der Rippe dieses Tliieres, welches Referent der Güte des Herrn von Nordenskjöld und des Herrn Prof. C. Hasse verdankt, ist auf dem ganzen Querschnitt gleichmässig aus compacter Substanz gebildet, entbehrt also im Innern nicht blos einer Markthöhle, sondern überhaupt jeder Andeutung spongiöser Substanz. Dies ist auffällig, da die Rippen dieses Thieres gleich denen jedes anderen Thieres in Folge ihrer gebogenen Gestalt vor- zugsweise auf Biegung in Anspruch genommen worden sein müssen, vuid da bei der Biegung die oberflächlicheren Schichten viel stärker beansprucht werden als die tieferen, weshalb bei allen anderen Thieren die oberflächliche Knochensubstanz dicht, tlie innere dagegen blos schwammig ist. Zeigt die hoffentlich dem Ref. mögliche weitere Unter- suchung, dass dasselbe Verhältniss auch an den anderen Theilen der Rippen, überhau]>t an allen anderen Knochen dieses Thieres sich aus- Knochenstructur der Sirenen. 413 spricht, so würde sicli dieses Tliier durch den Mangel des Prin- cipes dev Tnact ivit ätsut rophie in der Gestaltung seiner Knochen eutwickelungsmeehanisch so wesentlich von allen bis jetzt bekannten Knochenthieren unterscheiden und auf so viel niedere Stufe stellen, dass es [801] genetisch von allen bekannten Säugern, Reptilien und Amphibien getrennt werden müsste. Ergiebt sich da- gegen nach der Structur der übrigen knöchernen Theile, dass ähnlich, wie es nach des Ref. Beobachtungen in geringerem Maasse bei den anderen Sirenen der Fall ist, biosein besonders hohes Kuochen- erlialtungsvermögen oder besonders schwache Knochen- zerstör uugsmechanismen als Ursachen der besonderen Gestal- tung anzunehmen sind , dann liegt blos eine quantitative Besonder- heit vor, welche zu keiner systematischen Trennung dieses Thieres von den übrigen Sirenen ^''eranlassung geben kann '). So wird die „vergleichende Entwickelungsmechanik" Wühl mehrfach im Stande sein, die aus der „vergleichen- den Anatomie" gezogenen theoretischen Folgerungen entweder zu bestätigen oder zu rectificireu; und beide Methoden im Verein werden uns erst den möglichst tiefen Einblick in die verwandtschaftlichen Beziehungen der Organismen zu thun gestatten. Die oben erwähnten Abweichungen in der individuellen Ent- wickelung von Arten, welche nach Spitzer's Auffassung schon jetzt sicher als nahe verwandt zu betrachten sind, führen den Autor weiter- hin zu einer Einschränkung des von Haeckel sogenannten „bio- genetischen Grundgesetzes", und zwar in dem bereits von Fritz ML'LLEK und Daüwin bezeichneten Sinne, dass blos zuweilen die besondere Art des Fortschrittes in der Stammesentwickelung eine [1) Diese letztere Eventualität hat sich bestätigt, denn ich fand im ver- tebralen Ende einer ausgewachsenen, in ihrer Diaphj'se durch und durch compacten Rippe von Halitlievium Schinzi, welche ich der Güte des Herrn Prof. G. von Koch in Darmstadt verdanke, eine Substantia spongiosa und in ihr die Richtungen des jdirccten" Druckes deutlich und stark ausgebildet, während das zweite, der Theorie nach allenthalben rechtwinkelig dazu orientirte System der Linien des indirecten Druckes nicht ordentlich entwickelt war. Ueber das Genauere dieses Verhaltens wird im Archiv für Entwickelungsmechanik besonders berichtet werden.] 444 Nr. 6. Kritisches Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlebre. ontogenetische Aufbewalirung des ihm vorausgegangenen Stadiums bedingt. Spitzer verwerthet dabei mit Recht den von His gemachten Einwand, dass z. B. die Säugetliier-Embrj'ouen schon deshalb nicht alle Bildungen der früheren 'N'orfahren wiederholen kiinnen, weil letztere dem ^'erkehr mit dem mütterüchen Organismus, in welchen eingeschlossen sie sich entwickeln, angepasst sein müssen, während unsere phylembryonalen Vorfahren in Folge ihres Freilebens die geeignete Ausrüstung besitzen mussten, um in selbstständiger Weise auf den Nahrungserwerl) zu gehen und den Kampf um's Dasein zu bestehen. Betrachten wir zurErgänzungSpiTZER's das„& i og en eiische Grund- gesetz" noch von dem Gesichtspunct der Ent wickclungs- mechanik, also vom Standpunct der ursächlichen Entwickelungs- lehre aus, so wird sofort einleuchten, dass der in den Mutterleib ein- geschlossene Säugethierembryo unmöglich diejenigen Eigen- schaften der frei lebenden Embrj'onen seiner Vorfahren ausbilden kann, welche bei diesen Embryonen nur ,, durch'' dieses Freilebon, also in Folge derdirecten diff erenziren- den Einwirkung der Aussenwelt auf sie oder, vermittelst der f unctione 11 en Anpassung, durch die Bethätigung in dieser Aussenwelt erzeugt wurden. Der in anderen äusserenBedingungen sich entwickelnde Embryo kann überhaupt Itlos diejenigen Bildungen seiner Vorfahren [802] wiedfti'holen, welche diese, nach der von dem Referenten eingeführten Distinction, rein durch „Selbstdif ferenzirung" des Eies ausgebildet hatten, sei es nun, dass diese Bildungen von Anfang an bei den \'orfahren durch Selbstdifferenzirung (in Folge vorausgegangener Varia- tionen des Keimplasmas) entstunden waren, oder dass sie zuerst vermittelst der ,, Vererbung erworbener Eigenschaften" aus ursprünglich durch äussere Einwirkung erzengten Veränderungen auf unbegreifliche Weise in solche ohne diese Ursachen, rein durch Selbst- differenzirung des Eies sich erzeugende umgesetzt worden waren, (so- fern diesesWunder überhauiit vorkommt). Die Entwickelungs- mechanik der jetzt noch lebenden Vertreter der Tyiien miserer \'or- fahren ist nun aber nicht annähernd genug gepflegt, um uns die bei Wahre Bedeutung dos „biogenetischen (Grundgesetzes.' Hb ihnen gegenwärtig durch Selbstdifferenzirung des Eies entstehenden Bil- (Uingen von den auch jetzt nocli durch äussere Einwirkung auf das Ei erzeugten sondern zu lassen, gescliweige denn, dass wir wüssten, wie sich diese beiden Arbeiten von Bildungen zu einander zu der Zeit verhielten, in dw unsere directen Vorfahren sich abzweigten. Daher sind wir gar nicht in der Lage, angeben zu können, welche Bildungen ihrt'r ^'^orfahren die gegenwärtigen Säugetliierembryonen wiederholen müssteu, sofern diese Wiederholung überhaupt ein causalcs Ge- setz wäre. Es ist nun weiterhin zu fragen: Können wir gegenwärtig über- haupt zwingende Gründe angeben, welche die Wiederholung der bei den Vorfahren durch Selbstdifferenzirung entstandeneu Bildungen bei den schon weiter variirten Xachkomnien zu ein^r mechani- scheu Notbwendigkeit machten? Vs^r müssen sagen, dass allgemeine zwingende Gründe zur Zeit nicht nachweisbar sind, sondern dass im Gegentheil, sofern das Keimplasma variirt und in Folge dessen Abweichungen von der früheren Eutwickelungs weise des- selben stattfinden, durchaus nicht einzusehen ist, warum diese Abweichungen immer erst am „Schlüsse des Ablaufes der frühereu Entwickelung.svorgänge sich anreihen sollen'), warum blos solche Variationen des Keiraplasmas möglich wären, welche erst dem Schlüsse der früheren individuellen Entwickelung etwas Neues hinzufügten , nicht aber auch schon frühere Vorgänge zu beeinflussen vermöchten; oder entwickelungsmechanisch ausge- drückt, wir kenneu kein Naturgesetz, auf Grund dessen alle vormaligen Variationen des Keimplasmas bei ihrer Be- thätigung Inder individuellen En twickelung blos in ganz derselben Eeihenfolge, in welcher sie vormals im Keim- plasma selber nach einander entstanden waren, aus dem Sfadiiiin rein poteiitieJlrr in das actneUer Energie sich umsetzen müssteu. [') Denselben Gedanken vertritt schon im Jahre 1876 0. BCtschli in seinem gedankenreichen Vortrag „Ueber die Bedeutung der Entwickelungsgeschichte für die Stammesgeschichte der Thiere (S. 70), in welchem er auch schon die Continuität des Keimplasmas kurz ausspricht (S. G6}. Jahrcsbr. d. Seiickenberg. Ges., Frankfurt a M. 187(j. .S. 61—74.1 4i6 Nr. G. Kritisclies Referat über: Simtzer, Beitrüge zur Des;endenzlehre. Ist hierfür also kein zwingender Grund beizubringen, so ist aber wohl einzuselien, warum trotzdem die Thatsachen viel- fach auf [803] ein solches Verhältuiss hinzuweisen scheinen. Dies beruht darauf, dass „tiefer eingreifende" zufällige Ab- änderungen eines complicirten und in allen seineu Theilen für eine ganz besondere Leistung, nämlich für die Selbst er halt ung des Ganzen construirten Gebildes leichter diese Selbst- erhaltungsfähigkcit aufheben werden als geringere Ver- änderungen. Die,, früher" in der Entwickelung auftreten- den Veränderungen werden aber naturgemä.?ser Weise in der Regel auch die späteren Vorgänge alteriren und daher „tiefer ein- greifende" Veränderungen und mit diesen eventuell auch tiefer eingreifende Störungen liewirken; während dagegen die Wahrschein- lichkeit, dass solche auf einmal auftretenden vielfachen Aendenmgeu die Selbsterhaltungsfähigkeit sogar erhöhen, eine ausserordeutUch ge- ringe ist. Im Gegensatze dazu werden die erst gegen das Ende der Entwickelung des Individuums eingesetzten Ver- änderungen in der Regel kleiner sein und .sich mehr auf einzelne Theile localisiren, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass solche einzelnen Abänderungen nicht nur nicht schädlich sind, sondern viel- leicht .sogar die Dauerfähigkeit erhöhen, eine grössere ist, als bei vielen, blos in Folge entwickelungsmechanischer Correlationen zu- gleich auftretenden tieferen Alterationen, sofern niclit eine prä- stabilirte, auf die Herstellung des Dauerfähigen ge- richtete entwickelungsmechanische Harmonie als in dem K e i m 2^ 1 a s m a v e r w i r k 1 i c h t a n g e n o m m e n w erden soll. Da nun bekanntei'maasscn nur solche Variationen, welche die „Dauer- fähigkeit" erhöhen, erhalten bleiben konnten und sich summirt bei den gegenwärtig noch lebenden Organismen vorfinden, so raussten dies in der That vorzugsweise solche Veränderungen sein, welche die früheren schon bewährten Einrichtungen erst nachträglich und nur wenig auf ein Mal alterirten. Daraus aber ist nicht zu folgern, dass weiter zurückgreifende Alterationen in jedem Falle dauerunfähig hätten sein müssen, und ebenso wenig auch , dass die im Laufe der Phylogenese Wiiliif IJriluutiini; di's -biogenetischen Grundgesetzes." 447 später erworbenen potentiellen Energien immer nur in derselben Reihenfolge hätten actnell werden können, dass sie nicht früher schon in Tliätigkeit trcteii und mit den zu dieser Zeit eintretenden \'orgängen Resultanten bilden k(')imten, oder weiterhin, dass nicht auch schon bei der assimilatorischen Bildiinij des Keinipl asmn Besnltanten der verschiedenen potentiellen Componenten hergestellt werden Jcönnten. Das alles sind freiüch nur entwickeluugsmechanisehe Denkmöglich- keiten, deren reelles Vorkommen erst aus den Thatsachen der indi- viduellen und vergleichenden Entwickelungsgeschichte abzuleiten ist. Diese Thatsachen aber sprechen in der That, wie auch H.\ec,kel selber schon von Anfang an hervorgehoben hat, entschieden für eine Ab- kürzung des ontogenetischen [804] Processes. Das biogenetische Gesetz ist alsdann aber kein Natur- gesetz, es bezeichnet nicht wie das ihm scheinbar verwandte Be- harrungsgesetz eine Nothweudigkcit alles bezüglichen Ge- schehens, sondern einen blos als möglich denkbaren aber nicht nothwendigen und wohl auch nie rein vorkommenden Specialfall aus der unendlichen Reihe der Möglichkeiten. Das Behar- rungsgesetz dagegen drückt eine unabänderliche, wenn auch nie die einzige Componente jedes Geschehens aus und muss daher analytisch als ein Grundgesetz aufgestellt werden; während dem ,, biogenetischen Gesetz" eine solche allgemeine Bedeutung nicht zukommt. Mit dieser Ausfülirung rectificirt Ref. seine früher (1881) ge- äusserte Auffassung von der Bedeutung dieses angeblichen Gesetzes {s. S. 210). Nach der Erörterung der geographischen \'erbreitungsphänomene und der Thatsachen der Paläontologie in ihrer Bedeutung für die Descendenzlehre im 6. mid 7. Capitel, legt Spitzer im 8. und letzten Capitel des ersten Hauptabschnittes seines Buches die Be- deutung des Selectionsprincipes für die Erklärung zweckmässiger organischer Einrichtungen dar. Es wird zunächst erörtert, wie weit Darwin's Selectionsprincip in der Fassung seines Schöpfers zur Er- klärung der organischen Zweckmässigkeit ausreicht. Spitzer erkennt richtig, dass der Kampf um's Dasein unter den Individuen nur im M8 Nr. 6, Kritisches Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlefare. ^ — ■ . Allgemeinen die Entstehung zweckmässiger organischer Typen zu erklären vermag; dass er dagegen unzureichend ist sowohl für die Erklärung vieler stabiler structureller Zweckmässigkeiten, wie beson- ders auch für die Entstehvmg der als dii'ecte Anpassungen des In- dividuums an neue Existenzbedingungen auftretenden zweckmässigen Structuränderungen. Es wird sodann dargelegt, wie diese Lücke in der DARWix'schen Lehre durch die beiden Roux'schen Principien: durch den Kampf der Theile im Organismus und durch das Princip der in diesem Kampfe gezüchteten, ,, durch den fuuctio- nellen Reiz zugeich trophisch erregbaren Gewebsqualitäteu" ausgefüllt worden ist. Spitzer kommt so zu dem treffenden Schluss: .,A\'o immer man der Zweckmässigkeit im Organischen begegnet, ist man genüthigt für die Erklärung derselben zu dem Principe der Auslese seine Zuflucht zu nehmen" und zeigt zugleich widerspruchs- frei die Nothwendigkeit , der Descendenzlehre behufs Erklärung der Zweckmässigkeiten der Lebensphänomene die Form der 8elections- theorie zu geben. Dieses Capitel sowie der folgende zweite Hauptabschnitt: „über die Teleologie in der Auffassung der organischen Welt" legen einen Vergleich mit den entsprechenden Ausführungen W. Wv.vdt's in dessen Logik Bd. II nahe. W. Wlndt steht darin nicht an, den Dar\\-inismus der ,,unbewussten Teleologie" zu beschuldigen; er er- [805] klärt den Kampf um's Dasein als ein „Gesetz von zunächst rein teleologischem Charakter" und erblickt in dem Nachweise des Ref., dass innerhalb der Individuen Wechselwirkungen der Theile vor- kommen, in denen die dauerfähigeren Theile die weniger dauer- fähigen direct oder indirect vernichten und daher schliesslich allein übrig bleiben, gleichfalls eine „teleologische Umdeutung früher in ihren causalen Beziehungen erfasster Vorgänge", obgleich die wichtig- sten dieser ^'^orgänge vor dem Ref. überhaupt von Niemandem be- achtet worden sind (s- S. 145). Ausserdem rügt es Wündt als einen Mangel der Descendenzlehre, dass die functionelle Anpassung noch nicht erklärt sei, und documentirt so zugleich, dass ihm der wesentliiche Inhalt des von ihm in der eben erwähnten Weise beurtheilten Buches über den Kampf der Theile durchaus unbekannt geblieben ist. Definition der ungewollten Zweckmässigkeit. 449 SriTZEH dagegen tritt mit einer übfr die Titelblätter der Bücher liintiusgehenden Keuntniss der Literatur an die erwähnte Erörterung jieran und ist auch tief genug in den Sinn und die Bedeutung der betreH'enden Arbeiten eingedrungen , um in dem Vorkommen eines unserer vielen , ursprünglich auf teleologischem Boden erwachsenen M'örtei', welche noi'li niciit durch der neuen Auffassung entsprungene Ausdrücke ersetzt worden sind, nicht gleich Teleologie und teleolo- gische Umdeutung zu wittern. Spitzer steht auf dem schon von J. Fr. FiiiEs fest begründeten Standpunct, „dass keine Zwecke ausserhalb des bewussten animalen Lebens in der Natur existiren, sondern dass die teleologische Maxime nur eine regulatorische, leitende Maxime von uns ist, um den regressiven Gang unserer Untersuchungen über verwickelte causale Verhältnisse zu leiten". Spitzer definirt jede l'rsache als zweckmässig, welche Erhaltung oder Vervielfältigung des hebens bewirkt und stimmt damit überein mit der von dem Ref. gegebenen Definition, dass uns alles dasjenige als zweckmässig erscheint, was die „Dauerfähigkeit" eines Geschehens (resp. Seins) herstellt oder erhöht. Auf Grund dieser Anschauung zeio-t Spitzer, dass in den teleologischen Wendungen der Selections- lehre kein Widerspruch gegen die Priucipien der natürücheu Welt- auffassung liegt. Der dritte Abschnitt behandelt die allgemeinen Voraus- setzungen des Selectionsprocesses: den Kampf um's Dasein, die Erb- lichkeit und die Variabilität. Dieser Theil enthält zugleich eine Ab- schweifung moralphilosophischen Inhalts, in dem daselbst das Ver- hältniss von Darwinismus und Sittlichkeit besprochen und im Gegen- satze zu dem Realismus Hellw.ald's u. A. hervorgehoben wird, dass der Geist nach wie vor im Reiche der Werthe und des Sollens die -Vlloinlierrscbaft führt und die Sittengesetze aus eigenster Machtvoll- kommenheit giebt. [806] Bei der Behandlung der Erblichkeit wird Weism.-v-n.x's Theorie von „der Continuität des Keimplasmas" mit Recht als der wichtigste Fortschritt der Vererbungslehre hingestellt und in ihrer Bedeutung für die Descendenzlehre erörtert. W. Roux, Gcsammelto Abliandlangen. I. 29 450 Nr. 6. KritischeB Referat über: Spitzer, Beitrüge zur Descendenzlehre. Haeckel hatte die \'ei'iuehiung der Individuen als ein ..Wadis- thum über das individuelle Maass hinaus" bezeichnet imd daraus die Aehnlichkeit der Nachkommen mit den Eltern abgeleitet. Referent hatte ausgeführt, dass in Folge der assimilatorischen Thätigkeit der lebenden ."Substanzen die \'ererbung kein besonderes Problem mehr, sondern eine mechanische Nothwendigkeit sei trotz des Stort- wechsels, da „die Assimilation das GALiLEi'sche Gesetz der Beharrung von den physicalischeu auf die chemischen, mit Stoffwechsel verbundenen Processe überträgt" (s. S. 332). Bei dieser Erörterung war indess zu- gleich die chemische Natur der organischen \'orgänge gegenüber der gleichzeitigen morphologischen zu selir bevorzugt worden (siehe S. 208 Anm.), und es bhebeu danach, abgesehen von dem grossen an sich vollkommen ungelösten Problem der ,, Assimilation" selber, noch zwei grosse Lücken für unser ^'erständniss der Vererbungser- scheinungen, niimHch die Art der Bildung des Keimplasmas und die Vererbungsweise der sogenannten erworbenen Eigenschaften. Diese beiden Proljlenif iiat Wei.sjia.\.\ , wie Sphzer ujit Recht hervorhebt, durch sehr scharfsinnige Untersuchungen der endlichen Lösung er- heblich näher geführt. Weismanx nimmt an, duss alles Keimplasma aus schon vor- handenem Keimplasma dmx-h Assimilation hervorgeht, daher das so gebildete neue, dem früheren gleiche Keimplasma bei der Bethätigung seiner immanenten Entwickeluugsfähigkeit gleiche Producte liefern muss wie dieses. Damit ist das Problem der Aehnhchkeit der Nach- kommen mit ihren Eltern gelöst, sofern die Prämisse den thatsäch- lichen Verhältnissen entspricht. Es zeugt von tief eindringendem Verständniss, dass Spitzer trotz seiner Zustimmung y-u dieser Weismann' sehen Theorie von der ,,Con- tinuitätdesKeimplasmas" doch den Gebrauch dieses letzteren, von dem Autor gewählten Namens derselben durchweg vermieden h.it. Denn in der Thaterweist sichdieser Name, in Folgedes Stoff- wechsels, bei genauerem Zusehen als nicht das Wesen der Sache bezeichnend. Alle die verschiedenen Organe des Ind i- viduums stehen genau genommeu ebenso sehr oder richtiger ebenso wenig in ,, stofflicher C'ontinuität", in stolTlicheni Zusammen- Rein assimilatorische Bildung des Keimplasmas. 451 luuig mit (k'in urs piii ngliflie u Iveiinp hisma des l>et'ruchteteii Kies, d;i auch sie ebenso wie das spätere Keimplasma des Individuums dureh Assimilation neu aui'genommenen Materiales aus ersterem Keimplasma hervorgegangen sind, wenn auch unter nachträghehei- oder vielleicht sogar gleichzeitiger Differeuziruug. Eine solche „stoff- iS07J liehe Continuität", ein solcher Zusammenhang alles Keimplasmas würde also auch nach der früheren Auffassung noch vorhanden sein, welche das Keimplasma erst nachträglich aus specifisch dift'eren- zirteu Zeilen des Individuums hervorgehen liess. W a s Weismaxn a 1 s „Continuität" bezeichnet, drückt also nicht das Wesent- liche seiner Annahme für die Erhaltung des Keimplasmas im „Individuum" aus; und in Folge dieses Mangels ist der Aus- druck auch für die Bezeichnung des phyletischen Zusammenhanges des Keimplasmas nicht ganz zutreffend. Das Wesentliche seiner .Vnnahmc ist vielmehr darin enthalten, dass bei jeder Keimbildung I in Theil des Keimplasmas unverändert reservirt wird, welcher dann rein durch Assimilation die für die spätere Vermehrung nüthigen Mengen Keimplasmas hervorgehen lässt. Mit dem Worte des Autors zu reden . wäre Weismann's Annahme also eigentlich als die „Continuität der Beschaffenheit", als der ,,Zusammen- haug der Bild ungsweise des Keimplasmas" zu bezeichnen; wobei aber die heterogenen Begriffe Continuität und Qualität mit einander \er- knüjift würden. Man wüi'de also wohl ebenso einfach und richtiger sagen: ..(Vk^ Erhalt ii inj des Keimpluftinas", oder, um die Bildungs- weise zu bezeielmen, „die rein assimilatorische Bildung des Ke i mj) l « .s' m a s". Diese Bezeichnungen schliessen ebensowenig wie die des Autors die absolute Unveränderliehkeit das Keimplasmas ein, sondern gewähren dem bereits gebildeten Keimplasma Spielraum zu jeder beliebigen Veränderung, welche es nicht seiner Eigenschaft als Keimplasma, also als zu Individuen entwickelungs- fähiger, aber selber noch nicht intlividueller Substanz beraubt. Als Ergänzung des SriTZER'schen Buches sei hier gleich die neueste Auffassung Wei.sm.\n.\'s erwähnt, dass solche Veränderungen des Keimplasmas nur durch die geschlechtliche Vermischung differeuter Keimplasmen entstünden, während äusseren Einwirkungen 29* 452 Nr. 6. Eritischea Referat über: SriTzm. Beiträge zur Descendenzlehre. oder der SelbstdifEerenziruug kein derartiger Einfluss zukäme. Der Nutzen dieser Beschränkung würde nach der Au t'fassung des Ref. zufolge des noch nicht genügend berücksichtigten Umstandes, dass nur der Assimilation fähige, dass nxr voUJcommen zu assi miliren vermögende „Alterationen" des Keimpias»! as sich „vererhen" Jcönnen^), darin zu erblicken sein, dass die Ent- stehung der Assiniilationsf ähigkeit dieser durch Vcr- niiscliung verschiedener, schon je für sich assimilations- fähigen Substanzen neu gebildeten Keimplasmasubstanz etwas leichter vorstellbar wäre, als wenn die Veränderung des Keimplasmas von aussen her bewirkt wäre und so etwas ganz Neues hervorgebracht hätte. Ohne Assimilationsvermögen aber würde die Veränderung höchstens auf das aus dem veräuder- [808] ten Plasma zunächst gebildete eine Individuum, nicht aber auf das in ihm eingeschlossene, durch assimilatorische Vermehrung entstehende Keimplasma der künftigen Generationen sich übertragen können. Die weitere Zurückverfolgung seiner neuen Annahme führt \Veism.\x.\' naturgemäss zu der Auffassung, dass blos die einzeUigen, durch directe Theilung ihrer Leibessubstan/, sich vermehrenden Wesen in Folge äusserer Einwirkungen Veränderungen erleiden können, welche sich auf ihre Nachkommen übertragen. Durch Vermischung der Plasmen dieser primär varürten verschiedenen einzelligen Wesen wären dann weiterhin die geschlechtlich differenzirten mehrzelligen Organismen entstanden. Ein Theil dieser Plasmen spaltet sich bei diesen höheren Organismen als Keimplasma ab, und letzteres wäre alsdann nicht mehr durch äussere Einwirkungen variationsfähig, sondern könnte blos noch durch die nunmehr als geschlechtliche zu bezeichnende Vermischung mit anderen Keimplasmen erhaltungs- fähige Veränderungen erleiden. Ausscliliesslich durch die verschiedent- liche Vermischung dieser ursprünglich von den Einzelligen heri'ühren- den Plasmen entstanden so nach Weism.vmx alle höheren Organismen, [ ' ) Weiteres über Vererbimg siehe in dem zusammenfassenden ausgezeichneten Werku von A. Weis.manx, Das Keimplasma. eine Theorie der Vererbung 1892, sowie be- züglich der Krankheiten in : Friehr. Rohde, Ucber den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und Krankheiten. 1S95.] Selbstdifferenzirungen des Reimplasmas. 453 wie Iiisecten, Wirbelthiere etc. mit allen Wnvu Speciali'ormen. Damit wird Weismann zu einer Auffassung gefüiirt, welche in einem wesent- lichen Bestandtheil bereits von Sneli. vor zwei Decennien ausge- sprochen worden ist, nämlich 7,n der Ansicht, dass in den einzelligen Organismen schon die Qualit<äten aller höheren Wesen implicite ge- legen haben. Snell aber Hess diese Qualitäten von einem zweck- tliätigen Schöpfer in eine oder wenige Urwesen gelegt sein, während \Ve(sm.\n.\'s Ansicht dahin geht, dass diese Eigenschaften als Partial- cigenschaften auf viele Einzellige vertheilt sind, dass sie durch äussere iMuwirkungen mechanisch hervorgebracht sind und dass sie durch die mannigfachsten Vermischungen dieser niederen Wesen niclit sich ausgleichen, sondern im Gegentheil sich vermannigfaltigen und zu- gleich entwickelungsfähig werden. Eine alhnäliliche \^ e r m a n n i g f a 1 1 i g u n g d e s K e i m p 1 a s m a s durch vollkommene oder un vollkommene ,, Selbstdifferen- zirung" lehnt Weismann ab, obwohl auch hierbei die Ent- stehung der ,, Assimilationsfähigkeit" der neuen ^'er- ä n d e r u n g e n eben nicht unverständlicher erscheint, als bei den durch Vermischung verschiedener aber je für sich schon assimilationsfähigen Substanzen erzeugten neuen Keimplasmen. W'ii' kennen aber bereits einige typische Arten von Selbstdifferen- zirung des Keimplasmas. Aus dem befruchteten Eie, welches uoch keine besondere Keimsubstanz morphologisch unterschieden zeigt, bildet sich während der embryonalen Entwickelung des Personal- theiles des Eies eine morphologisch wohlunterschiedene [809] aber uoch nicht erkennbar geschlechtlich charakterisirte Keimsubstanz, das Keimepithel, aus welchem dann weiterliin geschlechtlich differen- zirtes Keimplasma, die Oogonien und die Spermatogonien, hervor- gehen; und aus diesen noch nicht „individuellen" Bildungen entstehen dann durch die ^'orgäuge der „i n d i v i d u e 1 1 e n \'' o r e n t w i c k e 1 u n g" (Roix) individuelle, auf ein einziges Individuum angelegte und ausserdem zugleich für den Mechanismus der Befruchtung einge- richtete Bildungen: die Eier und Samenthierchen. Alle diese typisch sich wiederholenden \^eränderungen müssen durch Selbstdifferenzirung entstehen, denn es ist nicht denkbar, dass äussere, fortwährend wecli- 45'! Nr. 6. Kritisches Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlehre. selude Einwirkungen im Stande wären, ein eventuelles wirklich in- differentes, zu diesen Bildungen nicht schon tendirendes Keimplasma passiv in dieser Weise umzubilden. Gegen diese Auffassung spricht auch nicht die Ansicht mancher Autoren, dass die Geschlcchtsbe- stimmung durch äussere Einwirkungen mit beeinflusst werde, denn diese Einwirkungen könnten doch blos für den Sieg der einen der beiden Differenzirungstendenzen über die andere den Ausschlag geben, nicht aber die specifische Differen- zirung selber liervorbriugen. Also eine hochgradige typische Selbstdift'ercnziruug des Keimplasmas findet unzweifelhaft statt. Um trotz der- selben Wei.=;m.\\\'s obige Annahme der unveränderten Erhaltung des Keimplasmas aufrecht zu erhalten, muss seine Ansicht dahin aus- gedehnt werden, dass auch in dem Ei und Samenthierchen ein Theil des ursprünglichen Keimplasmas unverändert reservirt sei, so dass also auch diese Bildungen schon in einen Personaltheil und in einen „f/oicreJloi Kcinipl af:ni(i- theil"' zu zerlegen sind (s. Bd. II, S. 73). Aus dieser tj'pischen Selbstdifferenzirung des Personal- theils des Keimplasmas ist nun allerdings nicht zu folgern, dass es auch eine typische oder atypische Selbstdifferenzirung des generellen Theiles gäbe oder gegeben habe. Wohl aber deutet die Ungleichheit unter den Kindern derselben Eltern und die \'er- erbungsfähigkeit eines Theiles dieser neu aufgetretenen Eigenschaften darauf hin, dass das (jenerellc Kpimplasma in ati/juscJnr Weise veränderlich ist (s. Bd. II, S. 62). Und das ist natürlich: denn nichts ist absolut constant; nicht die Nalirung und daher auch nicht die Zusammensetzung des Blutes der Eltern, welches seinerseits die Nahrung des Keimplasmas darstellt. Trotz jedenfalls vorhandener regulatorischer Einrichtungen zur Erhaltung möglichster Consta HZ (siehe S. 409) wird die Assimilation des Keiniplasmas ein Minimum variiren müssen, mehr bei der assimilatorischen Neubildung, weniger wohl bei der blossen Erhaltung des schon gebildeten Keim- plasmas. Auch aus der Jahrtausende langen Constanz vieler Arten Selbstregulation als Ursache der Constanzperiode der Arten. 455 kann nocli nicht auf den Mangel frülicrer Selbstclifferenzirung des Keimplasmas geschlossen werden. Denn die Constanz ist hlos das letzte Product [810] der jedenfalls nur sehr langsam er- worbenen, aber schliesslich zu bewundernswürdiger Voll- kommenheit gebrachten Selbstregulationsmechanismen des Keimplasmas, welche dasselbe befähigen, trotz des grossen Wechsels seiner äusseren Existenzbedingungen sicli relativ unverändert zu er- halten und zu vermehren. Denn ehe die diese Fähigkeit be- wirkenden Mechanismen genügend a u s g e b i 1 d e t w a r e n , m u s s t e das Keimplasma viel variabler gewesen sein; und es ist kein zwingender Grund zu der Annahme vorhanden, dass zur Zeit der ersten Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung allenthalben schon diese Vollkommen- heit der Selbstregulation erreicht gewesen sein müsste. Und ebenso kann nach dem Auftreten erhebUcher Veränderungen, seien diese nun in Folge der Ueber windung der Sclbstregu- lation durch die äusseren Bedingungen oder nach Weis.m.\xx durch geschlechtliche Vermischung verschiedener Keimplasmen her- vorgebracht, eine Zeit geringerer Constanz eingetreten sein, denn es mussten alsdann erst neue Selbstregulationsmecha- nismen erworben werden, selbst wenn wir annehmen, dass die Neuheit gleich assimilationsfähig gewesen sei. Bei neuen Variationen, welche durch äussere Einwirkungen bedingt waren, wird dies Niemand bezweifeln ; aber auch wenn die Neuheit durch Vermischung ver- schiedener für sicli schon selbstregulationsfähiger Keimplasmen entstanden war, vermögen wir keinen zwingenden Grund da- für aufzuführen, dass bei solcher Combination selbst- regulationsfähiger Mechanismen auch gleich selbst- regulationsfähige neue Mechanismen entstehen müssten. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass diejenigen Combinationen, welche, wie wir zu sagen gewohnt sind, „zufälliger Weise" solche Eigenschaften von vornherein besassen, viel dauerhafter waren und daher energischer gezüchtet werden mussten, als solche Combi- nationen, die die Selbstregulationsfähigkeit erst nachträglich erwerben mussten. 456 Nr. 6. Kritisches Referat über: Spitzer, Beiträge zur Descendenzlehre. Kehren wir nach dieser Einschahung neuester und daher noch niclit von SpnzEH berüfksiclitigter Auffassungen zu dessen Ausfüh- rungen zurück, so verhält er sicli auch gegen die WEisjiAXN'sche Be- handlung des Problemes , der 'S'ererbung mit gebührender Vorsicht, ohne jedoch das V'erdienstUche und dauei'nd Werthvollc derselben zu verkennen. Weismaxx unterwirft die angeblichen Thatsachen der Ueber- traguug der von den Eltern im Laufe ihres embryonalen und [lost- embryonalen Individuallebens erworbenen Eigenschaften auf die Nachkonnnen einer eingehenden und scharfsinnigen Kritik und kommt zu dem Schlüsse, dass es keine sicher constatirten Thatsachen giel)t, welche uns zur Annahme dieses wunderbaren Vorganges zwingen. Damit wäre die Vererbung neuer Eigenschaften blos auf die, oben schon erörterten Veränderungen des Keim- [811] plasmas und deren entwickelungsmcchanische Folgen beschränkt; und von diesem Keim- plasraa zweigen sich nach Weismaxx's treffendem Vergleich die einzelnen Individuen ab, wie die einzelnen Pflänzchen, welche sich von Strecke zu Strecke von einer dahinkriechenden Wurzel erheben. Indem die Eltern somit nichts von iliren während ihres Indi\-iduallebens er- worbenen Eigenschaften auf ihre Nachkommen übertragen können, sondern blos früher als ihre Kinder entwickelte Nebenzweige der nur inzwischen noch mit einem weiteren Kein^plasma vermischten Keim- substanz sind, verlieren sie damit einen wesentlichen Theil der ihnen bislang zuerkannten physiologischen Superiorität über dieselben; der Vater wird (nach Auffassung des Eef.) gleichsam zum älteren Bruder, zum Stiefbruder, die Mutter zur Stiefschwester aller ihrer Nachkommen. Es wäre wohl an der Zeit, wenn endlidi in einem unserer grossen, reich dotirten Institute durch genügend variirte und genügend lang fortgesetzte Versuche diese fundamentale Frage der Ver- erbung erworbener Eigenschaften einer unantastbaren Ent- scheidung zugeführt würde. Freilich müsste diesen Versuchen eine bessere causale Analyse des vorliegenden Problemes zu Grunde gelegt werden und der Experimentator müsste bei der Verwerthung seiner Versuche mehr Selbstkritik aufwenden als dies von den bisherigen Autoren geschehen ist. Spitzer, Beitrüge zur Dcscendenzlehre. 457 Zum Schlüsse seines Buches erörtert Si'ii7.i:n nocli kurz die dritte der (irundthatsaclien, auf welche sioli die I).\it\\i.\'sclie Selectionslehre aulbaut, .lie indivicUiollc \^u-iabilität, welche von Niemandem mehr in Zweifel gezogen wird. Fassen wir unser Urtheil über das Werk Spitzeres zusammen, so erblicken wir in ihm eine sehr verdienstvolle, in vielen Puucteu wesentlich zur Klärung der Probleme beitragende Arbeit; und da zugleich auch die Darstellung eine überaus gewandte, leichtflüssige und verständliche ist, so ist dem Buche eine grosse ^'erbreitung nicht nur zu wünschen, sondern wohl auch vorherzusagen. Breslau, Mai 1886. Nr. 7. Beiträge zur Morphologie der functionellen Anpassung. I. Structur eines hoch difFerenzirten bindegewebigen Organes (der Schwanzflosse des Delphin). 1883. Hierzu Tafel II und 4 Textliguren. Archiv für Anatomie und Physiologie, Anatomische Ahtlicilung 188.3. I 11 h a 1 t. Seite Einleitung 461 Detinition der functionellen Anpassung 462 Definition der functionellen Structur 462 Functionelle Structur bindegewebiger Organe 464 A. Gestalt und Bau der Seh wanz flösse des Delphin 466 Aeussere Gestalt 466 Structur der Flosse 468 Axenscelet 468 Flossenflügel 470 Zusammensetzung aus Schichten und Fasersystenien: .... 470 Aeussere Schicht: das radiäre Fasersystom 471 Mittlore Schicht: . 472 (iliederung in Lamellen 474 Bau der Lamellen 47-") Die , gebogenen" Fasern 476 Gesetz des Verhaltens der radiären Fasern zu den Lamellen . 479 Verbindungsweise der Lamellen 480 Inhalt. 459 Seile Abscheerungsfasern 482 Koppolung der Fasern 484 i'unctioncllc Eigenschaften der Fasern an sich 486 Structurelemente erster, zweiter und dritter Ordnung . . • . . 486 Befestigung der Fasersysteme an und Zugehörigkeit zu den Wirhein 487 Muskeln, welche die Flosse bewegen 487 Sehnen, Sehnenröhren 489 Structur und Faltung der Cutis 490 Zusammenfassung der Ergebnisse 491 B. Functioiielle Bedcutiing des Baues der Flosse 493 Locomotionsweisen durch die Bewegung der Axe der Flosse Stossbewegung 493. Schlagbewegung 495. Wellenbewegung . . 496 Erfordernisse für die äussere Gestalt der Flosse 497 Bedeutung der transversalen Stellung der Flosse für die Ath- niung 498 Eigenbewegung der F 1 o s s e n f 1 ü g e 1 : R u d e r b e w e g u n g . . . . 499 Ihre Bedeutung für die Locomotion 499 Ihr Einfluss auf die Gestalt der Flosse 503 Combination der Axen- und Flügelbewegung: Die „Hauptbewegung" 502 B e d e u t u n g d e r i n n e r e n S t r u c t u r d e r F 1 0 s s e : 504 Wesen der functionellen Beanspruchung der Flosse 504 Constructive Erfordernisse 505. Schwierigkeiten derselben . . 506 Das M a X i m u m - M i n i m u m p r i n c i p 508 Functionelle Qualitäten des Materials - . . . . 508 Allgemeine Gesetze der Fest igkeitscon structionen . . 509 Construction eines einfachen ModeUes 510 Termini: Oberflächen, Seitenflächen, Biegungsebene, Kraftlinie, Biegungslinien 511 Niveaulinien, Niveauflächen .511 Beanspruchung eines gebogenen P a r a 1 1 e 1 e p i p c d o n aus elas- tisch-isotropem Material 511 Horizontale Abscbeerung, verticale Abscheerung .... 512 Biegungsconstruction desselben aus aealotropem Material 513 Zugfasern, Druckfasern. Drucklamellen 513 Abscheerungsfasern, Abscheerungsfaserpaai'e 516 Begegnung der horizontalen Abscheerung 517 Construction für doppelseitige Biegungs-Beanspruch- ung 519 Herstellung temporärer Weichheit 519 Uebersicht der Construction 520 Aenderungen der Biegungsconstruction, welche durch die ^Gestalt' der Flosse bedingt werden .521 460 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Seit* Bestimmung der Niveaulinien mit Hülfe des Principes der kleinsten Action 522 Bestimmung der Biegungslinien 526 Entledigung von einer Beschränkung 527 Nöthige Abweichungen von der reinen Biegungsconstruction . . 528 Befestigung an d er Wirheisäule: Bedeutung der , gebogenen' Fasern 529 Bedeutung der Faserrichtungen in den ürucklamellen 531 Verwendung der reinen Biegungsconstruction: bei der ,Ilauptbewegung' 533 Abweichende Erfordernisse der „Schlagbewegung" 533 Erfordernisse anderer Nebenfunctionen 536 C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Flosse 587 Principien zur Ableitung zweckmässiger organischer Einrichtungen . 538 Princip der Auslese nach Darwin: Kampf der Individuen . . . .5.38 Princip der directen Gestaltung des Zweckmässigen: functionelle Anpassung. Kampf der Theile im Organismus 538 Neue Termini: Individual auslese s. Personal auslese . 541 l'ar tial auslese s. Th eilausl ese .541 Allgemeine Leistungen der Personalausleso 541 Allgemeine Leistungen der Partialauslese 541 Die der functionellen Anpassung zu Grunde liegende Gewebs- qualität .544 Antheil der 1 n d i v i d u a 1 a u s 1 e s e au der Bildung der Flosse : Bildung des Grundstockes, der Grösse und der äusseren Gestalt .545 Verlegung der Muskelinsertionen in die Flosse .545 Antheil der Partialauslese und der functionellen Anpassung: Ausbildung der Structur 546 Allgemeine Art der „functionellen" Structur- bildung 547 Insufficienz der functionellen Hyperämie 548 Vorgang bei der Bildung einer functionellen Bindegewebs- Structur 549 Zeitliches Verhalten des Vorganges 551 Ableitung der Structur eines Modell es bei constanter Beanspruchung .551 Nach dem Ausgewachsensein des Individuums . . . 551 Vor dem Ausgewachseusein 552 Bei i n c 0 n s t a n t e r Beanspruchung 553 \'ergrösserung des ganzen Gebildes 554 Bildung säquivalent, Erhaltiingsäquivalent . . 554 Ableitung der Structur der Schwanzflosse d e s Del ph i n 556 llauptbiegungs-Construction 556. Abweichungen davon . 558 Befestigungsfasern 558 Einleitung. 461 Seite Verbindung der Systeme untereinander 558 Bildung scoefficicnlcn und Erhallungscoeffi- cicnlen des Bindegewebes 559 Ungenauigkeiten der Construction 560 Rückwirltung der Structur auf die äussere Gestalt: Ausbildung der Harmonie 561 Structur der Elückenflossc dos Delphin und ihre IJedeutung für unseren Zweck 562 Structur des snbciitanen Fcttkürpcrs 563 Entstehung der der Schwanzflosse zugehörigen Organe .... 564 Blutgefässe 564, Muskeln, Haut 566 Selbstversorgung mit Nerven 565 Sehlussfolgerung aus der Ableitung 567 Zusammenfassung . 568 Einleitung. [76] Die orgauischeu Functionen vollziehen sich bekcUintlich nicht automatisch aus eigenem inneren Autriebe und nicht in stets gleicher ^\'eise, sondern sie bedürfen zu ihrer Entstehung functioneller Reize ; und nach der Intensität und Art dieser Reize sind sie fähig, innerhalb gewisser Grenzen zu variiren. Dabei zeigt sich, wenn längere Zeit eine bestimmte Intensität oder Art der Function ausge- übt worden ist, dass cUeselbe alsdann leichter, d. h. auf geringeren Impuls, ferner vollkommener und ausdauernder zu vollziehen mög- lich ist, als bei dem ersten Versuche in dieser Weise. Dieses Beides bekundet eine Anpassungsfäliigkeit an neue Functionsweisen ; und dieses fundamentale Vermögen der Organismen ist die Grundlage unserer Fähigkeit zu lernen und durch Uebung Leichtigkeit in der Ausführung des Erleruten zu erlangen. Dazu kommt ferner noch das andere kaum minder wichtige Vermögen , durch längere Unterlassung der Ausführung einer Functionsweise der Befähigung zu derselben verlustig zu werden: zu verlernen, zu vergessen. [77] Ich habe für diese Vorgänge der directen Anpassung der Organismen an Functionen durch Ausübung derselben, sowie durcli das Verlustiggehen fimctioneller Befähigung durch mangelnde Ausübung den Namen „fnnctionelle Änpassun;)'' gebraucht, um alle diesem Prmcipe zugehörigen Vorgänge mit einem gemeinsamen Ausdruck bezeichnen zu können. 462 Nr. 7. Functionalle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Die Zweckmässigkeit eines solclaeu allgemeineu und au das Wesen der Sache anknüpfenden Ausdruckes erbellt sofort, wenn man den Wirkungsumfang des Principes festzustellen sucht. Bei diesem \'ersucbe ergab sich, dass das Gebiet viel grösser ist, als man nach den Erfahrungen des gewöhnlichen und des ärztlichen Lebens anzu- nehmen gewohnt ist, dass \''orgänge hinzugehören, auf welche die gebräuchhchen Bezeichnungen : lernen, üben, verlernen nicht wohl an- wendbar sind. Es zeigte sich z. B., dass vor allem die Ausbildung der von mir sogenannten ..fnnctloneUen Strnctur" vieler Organe: der Knochen, Blutgefässe, Höhlenmuskeln, Fascieu, des Trommel- felles unserem Principe zuzuzählen ist. Dies ist eine Structur, welche sich der Function des Organes so anschmiegt, dass sie blos dit' Linien „stärkster'' Function insubstant iirt , und daher die gegebene Function mit dem Minimum an Material oder mit dem ge- gebenen Material das Maximum an Function leistet. Es würde wohl wenig Beifall finden, wollte mau die gebräuchhchen Bezeichnungen auch auf die Entstehung dieser Bildungen ausdehnen und von der Uebung der einen Seite eines Knochenbälkchens und von dem \'er- lernen der anderen Seite desselben reden, oder sollte die Ausbildung der Arterien und Venen von ungleicher embryonaler „Uebung" der Capillaren an ihren beiden Enden abgeleitet werden. Wir sind ge- wohnt die Worte Uebung und Lernen nur von gewollten Ver- richtungen zu gebrauchen ; und eine plötzliche willkürliche Erweiterung des Bedeutungsumfanges eines '\\'ortes der vulgären Sprache erregt immer Anstoss und Missverständnisse: Ich kann daher E. üv Bois- Reymond's stillschweigenden ^'^ersuch einer entsprechenden Erweiterung der Bedeutung des Wortes „Uebung"') nicht beipflichten und ziehe vor, bei dem von mir eingeführten ^Vusdrucke zu verbleiben. Mit dem Worte „functionelle Aupassuiig" können wir in Zu- kunft alle bekannten und unbekannten, erst noch zu entdeckenden, alleinteudirtenund nichtin dentirten, alle progressiven und regressiven Anpassungsvorgänge der Organe, welche durch die eigene Function.svollziehung oder -Unterlassung vermittelt werden, sowie auch deren Producte, bezeichnen. 1) Die Uebung. Festrede. 18sl. Definition der fuuctionellen Anpassung. 463 Es ist selbstverstäudlich, dass allen ,,1'uDctionellen Anpassungen" entsprechende Veränderungen des materiellen, die Function vollziehen- den Substrates zu Grunde liegen müssen; und diese können entweder [78] vorübergehende oder dauernde sein (s. Ö. 321). Im letzteren Falle gehören sie der „Morphologie der t'unctiou eilen An- passung zu". Den Umfang dieser nach Möglichkeit in allen Organen und Geweben der Öäugethiere nachzu- weisen, soll die Aufgabe der folgenden Beiträge sein. Nach der Zusammenfassung aller zur Zeit als Wirkungen der functionellen Anpassung aufzufassenden Bildungen musste es möglich sein, auch über die Ursachen derselben ein dem Wesen näher kommendes Urtheil zu gewinnen, als bei den früheren, stets blos einige wenige Erscheinungen berücksichtigenden und nur beiläufigen Versuchen. Ich habe danach eine Theorie der fuuctionellen Anpassung aufgestellt, welche vielleicht dieser Anforderung ent- spricht. Diese Theorie beruht auf der Hj-pothese, dass dem specifischen functionellen Reiz jedes Gewebes zugleich eine trophische, Ernährung- anregende Wirkmig zukomme. Es war beabsichtigt, den Lesern dieser Zeitschrift die vollständige Uebersicht des gegeuAvärtigen Materials der Lehre von der functionellen Anpassung sowie die darauf ge- gründete Theorie und ihre Consequenzen vor der Mittheilung eigener Untersuchungen bekannt zu geben. \"erzögerungen haben dies als unthunüch erscheinen lassen; und so rauss das Vorhaben auf einen späteren Beitrag verschoben, und der Leser der Spezialarbeiten für die Begründimg der zur Erklärung benutzten Principien auf meine Schrift „Der Kampf der Theile im Organismus" (s. Nr. 4) verwiesen werden. Der folgende erste Beitrag beabsichtigt, unsere Kenntnisse über che „f unctionelle Structur" zu vermehren und für das Ver- mögen der functionellen Anpassung, eine solche Structur hervorzubringen, ein beweiskräftiges, das ., Bindegewebe" betreffendes Beispiel zu liefern. Je complicirter eine die ,,fuuction eilen Linien xar^ Ho7.'lv'\ die Linien stärkster Beanspruchung und Leistung 464 Nr. 7. Functiunelle Gestalt und Structur der Schvanzflosse des Delpbön. darstellende „tuuctionolle Structur" ist, um so geringer muss die Möglichkeit der Entstehung derselben durch ein selbstständiges, nicht von der Function abhängiges Bildungs- oder Wachsthumsgesetz, um so grösser die Wahrsclieinlichkeit d er Entstehung nach unserem Prin- cipe sein. Wenn auch der directe Beweis, der der Entstehung solcher Structur in iunc-tionell neuen Verhältnissen, wie ihn .J. Wolfp für die Knochen erbracht hat, beweiskräftiger ist; so ist doch der indirecte Beweis des Vorhandenseins einer aus derartig vielen feinen Einzelformen gebildeten Structur, dass die zufällige Entstehung einer geringen Anzahl solcher Formen keinen im Kampf um's Dasein ausschlaggebenden Nutzen gewähren kann, bei den Stützorganen wegen ihre.s geringen Stoffwechsels von nicht zu unterschätzender Bedeu- tung, wie weiter unten ausführlicher begründet werden wird. Ich beabsichtigte zwar fih- das ]>indege\vebe in Kürze auch den crstcren directen Beweis zu [79] erbringen, da mir ein günstiger Zufall das Material dazu zugeführt hat'); vorliegenden Falles aber handelt es sich um den indirecten, apagogischeu Beweis. Bindegewebige Organe mit typischer functioneller Struc- tur sind bis jetzt nur in geringer Zahl l)ekannt, und sie sind alle zu ein- fach gebaut, als dass sie für unsere Schlussfolgerungen verwerthet werden könnten. So die bekannte Structur der Fascien, welche Bardeleben mit Recht in unserem Sinne gedeutet hat; so die Structm- der Zwischenwirbelscheiben (s. S. 182); vmd selbst die, wie ich glaube, ein prächtiges Beispiel einer durch die feinsten functionellen Beanspruch- ungen ausgebildeten Structur darstellende Structur des Trommelfelles [s. S. 180 u. f.] ist für einen ersten Beweis des Princips zu einfach; und die Möglichkeit, dass sie durch zufällige Variationen und Aus- lese entstanden ist, noch eine zu grosse. Um diese Möglichkeit aus- zuschliessen, ist eine der Anlage des ganzen Systemes nach compli- cirtere und den Richtungsverhältnissen nach durch eigenthümliche Gesetze bestimmte Curvenbildung nöthig. Gerade Radien und circu- läre Krümmungen, wie sie das Trommelfell bilden, können als in 1) Diese Arbeit wird demnächst im Archiv für Entwickclungsmechanik ver- ötfeutlicht werden (s. auch S. 385). Einleitung. 465 ilas Leistungsgebiet sclbstständiger Wachsthumsgesetze fallend be- iraclitet werden und selbst eigenartig gekrümmte Curven können als PvesultantenverschiedengerichtctcrWachsthumskräfte entstehen. Wenn aber diese Curven innerhalb eines einzigen Organes ver- schieden sind, und dabei zugleich allenthalben mit den mathematisch sieh bestimmenden Linien stärkster Function zusammenfallen, dann ist meiner Meinung nach das Gebiet der Leistungen selbstständiger, von der Function unab- hängiger Wachsthumsgesetze überschritten und ich wage es, diese Bildungen schon, ehe der directe Beweis derartiger Fähigkeit für das betreffende Gewebe erbracht ist, von der functionellen An- passung abzuleiten, da diese sich in anderen Orgauen bereits als ein Princip der directen functionellen Selbstgestaltung des Zweckmässigen bis in's letzte lebensthätige Molekel und daher bis in das feinste Structurdetail hineiu erwiesen hat [s. S. 382]. Zur Ausbildung einer solchen Structur genügend complicirte und constante, functionelle Verhältnisse vermuthete ich in der Schwanz- flosse des Delphin; und wenn überhaupt das Bindegewebe fiinetionelle Structur auszubilden vermag, so musste sich dies Vermögen hier durch die Herstellung einer heispieUosen Structnr bethätigen. Diese Erwartung hatte nicht getrogen. Es fand sich eine Structur, welche die des Oberschenkelhalses sowohl an Mannigfaltigkeit der ganzen Anlage, an Eigenartigkeit der Linienführung und durch Einführung neuer, beim Knochenmaterial der Natur des- selben nach nicht möglicher constructiver Motive übertrifft, und dabei allenthalben nur das der functionellenBeanspruch- uugEntsprechendste darstellt. Freilich war sowohl die richtige Erkenntniss der Structur als auch ihre Deutung mit manchen Schwierio-. keiten verknüpft: und ich werde [80] che Cieduld und Aufmerksam- keit der Leser bei ihrer Schilderung in einem höherem Grade in An- spruch nehmen müssen, als dies für che Darlegung irgend einer der bis jetzt bekannten Knochenstructuren nöthig sein würde. Es soll zunäch.st der anatomische Bau des Organes, sodann die functionelle Bedeutung desselben dargestellt werden; und schliesslich werden dann, als Hauptsache für unseren Zweck, die Folgerungen W. Rons. (Tosanimelte Abhandlungen. I. 30 466 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. aus dem Gefundeueu zu ziehen und die Möglichkeit und M'ahrschein- lichkeit der Entstehung desselben aus dem causalen Principe der functionelleu Anpassung darzuthun sein. A) Gestalt und Bau der Schwanzflosse des Delphin. Zur Untersuchung wurde folgendes Material verwandt, welches ich sämmtlich der Güte des Hrn. Professor Hasse verdanke. Die Schwanz- flossen zweier nicht ganz ausgewachsener Braunfische (Delphinus phocaena), welche noch ziemlich frisch in meine Hände kamen, wurden ganz aufgearbeitet. Die wichtigsten Structurverhältnisse konnten ausserdem an einer getrocknet vorgefundenen und wieder aufgeweichten Flosse eines ausgewachsenen Delphinus delphis sowie an zwei in Spiritus conservirteu Embryonen verglichen werden. Der eine dieser Embrj'onen war ein Braunfisch von 39 cm Länge, der andere ein Zwergwal s. Vaagevhal (Balaenoptera rostrata), blos 29 cm lang. Die Verhältnisse der der Flosse zugehörigen Muskeln wunlcn an einem mit den] Namen Delphinus leuropleurus bezeichneten Emln-yo dei- Sammlung von 44 cm Länge untersucht. Obgleich somit die Untersuchungen sich nur auf ein geringes Material erstrecken, so giebt dqch die hervorgetretene vollkommene Uebereinstimmimg in dem Wesen der Structur der untersuchten fünf Flossen den Befunden eine genügende Sicherheit, wenngleicli nicht zu bezweifeln ist, dass die Vergleichung mit den Verhältnissen eines ausgewachsenen Finn- oder Pottwales unsere Kenntnisse und unser ^'er- ständniss in mancher Beziehung bereichert haben würden '). Die Schwanzflosse der Walthiere stellt eine platte Verbreiterung des hinteren Körperendes in seitlicher s. transversaler Richtung dar. Durch diese sogenannte horizontale Stellung miterscheidet sich die Delphinflosse schon äusserlich wesentlich von der dorsiventral gerich- teten oder senkrechten Schwanzflosse der Fische. Fernerhin wird 1) Wii.i.v Ki'KENTiiAi. giebt in .seinem gros.sen Werk , Vergleichend -anatomische und cutwickelungsgeschichtliche Untersuchungen an Walthieren" (Jena. Bd. 1, 1889. Bd. II, 1893) Bd. II Seite 263, an, dass seine Nachuntersuchungen vollkommen mit meinen Ergebnissen übereinstimmen. A. (xostalt und Structur. 467 sie niclit, ^v'iv diese letztere, von einem zarten dünnen Gewebe ge- bildet, welches nur durch ein System radiär eingeordneter fester Stäbe Widerstandsfähigkeit erhält, sondern sie ist ein [81] wesentlich aus Bindegewebe gebildetes Organ, das seine Stütze grössteutheils durch die Art seiner Constructiou aus dem an sich weichen Gewebs- niaterial erhalten nuiss, da nur ein einziger fester Strang, ein Aus- läufer der Wirbelsäule sich in dasselbe fortsetzt. Wir können uns das Organ danacli als aus einem axialen, wesentlich knöchernen TlieiJ und aus zwei ihm angefügten platten bindegewebigen Theileu, den „Flo$seH/Iügeln"hesteheiid, vorstellen. Dieses Organ ist durch die vor ihm gelegenen Wü-bel, welche die Grundlage des sehr schmalen und nur allmählich nach vorn sich verbreiternden Schwanzes bilden, mit dem Piumpfe des Körpers in nicht geringem Grade beweglich verbunden. Die Flächengestalt der Flosse ist der Hauptsache nach die eines niedrigen gleichschenkeligen Dreieckes (s. Taf. II, Fig. 1, 3 u. 5), dessen breite Basis nach hinten, und dessen stumpfe Spitze nach vorn ge- richtet ist. Jedem Flosseuflügel kommt demnach als Hälfte eines gleich- schenkeligen Dreieckes die Gestalt eines rechtwinkeligen Dreieckes zu. Genauer betrachtet ist aber jeder Flossenflügel etwas nach hinten abge- lenkt, so dass eigentlich die Basis der Flosse keine einheitliche quere, sondern eine in der Mitte gebrochene Linie darstellt, wie dies Fig. 1 erkennen lässt. Der Grad dieser Ablenkung nach hinten scheint be- träclitlich zu variiren. Au dem so charakterisirten Umriss haben wiv jederseits einen vorderen, sehr schräg von innen und vorn nach hinten und aussen verlaufenden, und einen weniger schräg gestellten hinteren Rand zu unterscheiden; und bei der transversalen Stellung der platten Flosse trennen diese Ränder zugleich die Oberfläche des Organes in eine ventrale und in eine dorsale Fläclie. Das Genauere angehend, so verbreitert sich die Flosse von der Schmalheit des Schwanzes in anfangs nach vorn concavem dann convexem Bogen rasch und stetig nach aussen und hinten, so dass der hintere quere Durchmesser der Flosse die grösste Breite des Organes misst. Die beiden äusseren, zugleich liinteren Ecken sind stark abgermidet und der hintere Rand zeigt sich in seiner hinteren Hälfte leicht nach hinten concav, im medialen Theil convex und in 30* 468 Nr. 7. Functionen» Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. der Mitte selber wieder tiei' bis fast zum letzten Schwauzwirbel ein- geschnitten. In vulgärer Darstellung wird die Flosse nicht ganz un- zutreffend als halbmoutlförniig bezeichnet. Innerhalb der von uns umgrenzten Charaktere wechselt die Gestalt nicht unbeträchtlich; trotz- dem aber fülilt, und das ist für die Bedeutung des Umrisses nicht un- wesentlich, das Auge des Beschauers eine gewisse innere Harmonie in den mannigfaltigen Biegungen des Grenzcontours, welche durch jede kleine Abweichung beim Abzeichnen in unangenehmer Weise gestört wird; ein Zeichen, dass trotz der individuellen Variationen jedes Organes von einer gewissen inneren Gesetzmässigkeit des Um- lisses nicht abgewichen wird. Die Dickenverhältnisse des Organes sind sehr mannig- fach und für uns [82] von besonderer Wichtigkeit. Es sind zwei Richtungen der Dickenänderung zu unterscheiden. Ein Mal nehmen die Flossenflügel von innen nach ausseu an Dicke stetig ab, und zweitens findet ein Abfall der Dicke nach beiden Seiten von einer das Organ an der Grenze des vorderen und mittleren Drittels durch- ziehenden, in Fig. 1 punctirten Linie statt. Die Art des Abfalls ist auf dem senkrecht zu dieser Linie geführten Querschnitt Fig. 2 zu erkennen ; es zeigt sich, dass der Abfall von der dicksten Stelle nach beiden Seiten zwar ungleich aber zunächst langsam, dann allmählich rascher erfolgt und nach vorn schliesslich zu einem ganz stumpfen Rande, nach hinten zu einer keilförmigen Zuschärfung führt. Die Combination der Dicken- abnahme nach aussen und nach vorn und hinten ist derartig, dass der vordere dickere gewulstete Rand gleich der ganzen Flosse von innen nach aussen dünner wird, während dagegen der hintere Rand in seiner ganzen Ausdehnung wesentlich gleich dünn ist. Der Schwanz im engeren Sinne, welcher als Flossenstiel fuugirt, ist nur in transversaler Richtung so schmal, wie ilni die Abbildung in Fig. 3 zeigt. Im Profilbild dagegen ist er dorsal wie ventral durch einen hohen Kamm verbreitert, welcher letzterer kielartig vom Rumpfe zur Schwanzflosse zieht, um auf dieser allmäh- lich auszulaufen. Den Aufbau des Flossenkörpers angehend, so wird der a.vialc Tlicil vornelimhch repräsentirt durch einen Ausläufer der A. Gestalt und Stiuctur. 469 Wirbelsäule, welcher sich beim erwachsenen Thier mit IG. im Ali- aemeinen an Grösse nueh Junten ubnehinendcn Wirbeln durch die ganze Flosse bis kurz vor den Kand des medianen p]inschnittes hin- durch erstreckt. Die vordersten fünf dieser Wirbel schlicssen sich an Gestalt den vorhergehenden Schwauzwirbeln an, d. h. sie sind vorzugsweise in dorsiventraler Richtung entwickelt, also seitlich ab- geplattet, im Ganzen von ovalem (Querschnitt. Der sechste Wirbel bildet in seiner Gestalt den ( 'ebergang zu den VerhiUtnissen der letzten zehn Wirbel. Diese sind entgegengesetzt den erstercn Wirbeln in dorsiventraler Richtung stark abgeplattet; in transversaler Richtung zeigen sich die vordersten derselben von gleicher oder fast noch grösserer Breite als die zunächst vor ihnen gelegenen W^irbel. \'om siebeut letzten 'W'irbel an folgt dann auch eine erhebliche, zuletzt rasch zunehmende Verkleinerung in der Breitendimension, und der letzte Wirbel wird in meinen Exemplaren nur noch durch einen runden Knochenkern repräsentirt. Die Ecken dieser abgeplatteten Wirbelkörper sind zu stark prominenten dicken Vorsprüngen ent- wickelt; und zwischen denselben zieht sich auf beiden lateralen Seiten der Wirbel je eine tiefe Furche nach hinten. Jeder Wirbel- körjier wird von vorn nach hinten durch zwei Löcher durchbohrt, welche an den vorderen Wirbeln näher beisammen stehen und an den hinteren abgeplatteten Wirbeln weiter [83] seitlich auseinander rücken. Bios die fünf vordersten Wirbel tragen gleich den Schwauzwirbeln dorsale Bogen ; ventral dagegen reichen die Bogen noch um fünf Wirbel weiter herab, fügen sich aber blos als Anhaugsgebilde den Zwischenwirbel- scheiben an. Diese letzteren, die Z w i s c h e n w i i- b e 1 s c li e i b e n , sind sehr niedrig und nehmen nur sehr wenig nach hinten au Höhe ab, wie aus Fig. 3. ersichtlich ; sie haben immer einen breiten Gallertkern (s. S. 182) und zeigen äusserlich die vom Menschen her bekannte Structur aus zwei schräg sich durchkreuzenden Faserzügen; sie gewähren im Zusammenhange mit der Gestalt und Grösse der Wirbel zwischen den vorderen Wirbeln nur sehr geringe, an den letzten Wirbeln aber, besonders in dorsiventraler Richtung starke Biegsamkeit. Die totale Bieguugsab weichung der ganzen Schwanzwirbelsäule kann sowohl rückwärts wie bauch wärts einen rechten 470 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Winkel betragen. Die Seitenbiegung erreicbt wohl kaum 20 Grad. I>ei den Embryonen sind natürlich die Knochenformen weniger ausgeprägt; und es ist zugleich bemerkenswerth , dass in der Flosse des Brauntischembryo von 39 cm Länge blos 14 Wirbel, in der des Waltischembryo von 29 cm Länge blos 10 Wirbel vorhanden sind. Dicht neben der Wirbelsäide verlaufen vier starkeSehnen- stränge, zwei dorsale und zwei ventrale, jeder derselben auf eigen- thümliche Weise fest umscheidet. Ausserdem erstreckt sich noch jederseits eine weniger dünne Sehne an der Mitte der Seitenflächen der Wirbel herab, ihren Weg in der erwähnten Längsfurche nehmend. Das Genauere über die eigenthümlichen Gestalt- und ^'erbreitungs- verhältnisse der Sehnen wird erst zu schildern sein, nachdem wir den Bau der Flossenflügel kennen gelernt haben. Die Seitentheile der Flosse oder die „FlosscnHüjarel"- be- stehen ihrer Hauptmasse nach, abgesehen von Gefässen und Nerven, aus dichten Lagen faserigen Bindegewebes und sind durch dasselbe zugleich fest mit den Wirbeln und den Sehnenscheiden ver- bunden. Die einzelnen Schichten, in welche der bindegewebige Grund- stock der Flosse gesondert ist, breiten sich parallel der Oberfläche aus und sind, abgesehen von der das Ganze einhüllenden Haut, au Zahl drei, eine mittlere dickere und zwei äussere, die mittlere auf jeder Seite einfach überziehende. Diese beiden letzteren gehen am Rande des Organes in einander über, sodass sie auch als eine einzige aufgefasst werden könnten. Die mittlere Schicht wird aus zwei mit einander verfilzten Fasersystemeu gebildet und stellt entsprechend ihrer grösseren Dicke die Hauptmasse des Organes dar, wie aus Taf. II Fig. 2 ersichtlich. Sie ist es auch, welche die Gestalt der Flosse wesentlich bestimmt. Von.den beiden Fasersystemen ist das eine in der Flächenaus- breituug der Flosse gelegen und zeichnet sich durch gebogenen Ver- lauf seiner Fasern aus, daher wir es gebogenes Fasersystem (s. S. 477) nennen wollen. Das andere System bildet niedrige, die Flosse quer durchsetzende und damit zugleich die beiden äusseren Schichten ver- A. Gestalt und Structur. 471 bindende Lamellen nnd besteht dementsprechend aus kurzen Fasern, so dass es durch den Namen Icurzfaseri (/es System gegenüber den anderen Systemen wohl unterschieden ist. Die jederseits von der mittleren Schicht sich tindeude äussere Schi eilt dagegen ist dünner und besteht nur aus einem einzigen Fasersystem; sie nimmt gleich dem ganzen Organ nach aussen, vorn und hinten, besonders rasch aber gegen die Ränder au Dicke ab. [84] Das Fasersystem der äusseren Schicht soll der Verlaufs- richtung seiner Fasern entsprechend als radiäres Faser System be- zeichnet werden. ]. Die äussere Schicht. Ist von den Seitentheilen der Flosse mühsam durch Flächenschnitte die fest damit erwachsene Cutis ent- fernt worden, so zeigt sich sehr deutlicli die parallel der Oberfläche ge- legene, ingrobe dichtueben einander Hegende Bündel geordneteSchicht des radiären Fasersystems. Die Faserung desselben breitet sich im Allgemeinen radiär von der Axe her nach aussen, vorn und hinten aus, aber mit Vorherrscheu der Richtung nach aussen und hinten, wie dies - hängigkeit von einander derart, dass wenn das System der einen Schicht gegeben ist, damit auch jede Linie des anderen voll- kommen bestimmt ist ; denn eines der beiden Systeme als gegeben ge- 191] dacht, ist durch jeden Punct der Fläche blos eine einzige und in ihrem ganzen Verlaufe durch das Organ bestimmte Lhiie zu ziehen möglich, welche unserem Gesetz entspricht. Es ist für das Verständuiss der Function von Bedeutung, die Verbindungsweise der Fasern derselben Lamelle und be- nachbarter Lamellen unter einander genauer zu kennen. Wir hatten bereits gesehen, dass bei Biegung emer der Fläche nach hal- l)irteu Flosse über die Aussenseite, die Lamellen auf der Schnittfläche sich von einander entfernen und Spalten sich öffnen, welche quer oder schräg von feinen Fasern durchzogen werden, was eine directe \'er- bindung der Lamellen unter einander bekundet. Diese Spalten sind aber nicht so lang als die Lamellen, ja sie erreichen kaum Ve oder '/lo des Verlaufes der Lamellen von den hinteren Wirbeln bis zum vorderen Rande der Flosse. Dies deutet auf ein sehr wichtiges, auch auf andere Weise bestimmbares Verhalten hin, darauf, dass die einzelnen Lamellen nicht continuirlich durch die ganze bezeichnete Strecke sich fortsetzen, sondern dass Verschmelzungen und Theilungen der Lamellen zur Regel gehören. Daraus und im Zusammenhang mit der Thatsache, dass die Lamellen auch der Fläche nach oft nicht scharf geschieden sind, könnte ein wenig sorgfältiger Untersucher Veranlassung nehmen, den Lamellentypus zu verläugnen; denn in der Tliat wird man keine einzige Lamelle auf eine grössei-e, etwa 2 cm erreichende Strecke hin isolirt, blos dvu'ch secundäre Fasern mit ihren Nachbarn verbunden, vorfinden. Dem denkenden Beobachter aber wird es nicht leicht entgehen, dass durch den Verlauf der schrägen Fasern in senkrecht zu den Oberliächen stehenden Flächen, welch' A. Gestalt und Structur. 481 li'tztcit' alkntlialben seukreclit zu den Radiärfascrn stehen und mn- iiüniiiKil von dieser Norm bei den Verschmelzungen mit Nachbar- laniellen abweichen, das Typische vollkommen ausgesprochen ist; und f!;erade der Umstand, dass die Ausl'ührung des Typus nicht exacter vollzogen ist, wird Lic-lit auf die Genese und aul' die l'unctionelle Bedeutung der Einrichtung werfen. Fernerhin, wenn mau eine Lage von ein paar Lamellen heraus- schneidet, so lässt sich die erhaltene Platte weder in die Länge noch in die Breite dehnen. Ersteres kann durch die längsverlaufenden gebogenen Fasern bedingt sein; letzteres aber , die Unmöglichkeit der Dehnung in die Breite, heweist bei dem schrägen Faserverlauf, dass die Streckung dieser schrägen Eichtung durch feste Verbindung der schrägen Fasern unter einander verhindert ist. Es bestehen also auch \'erbindungen der Fasern der einzelnen Lamellen; diese können indess nicht vollkommen jeder einzelnen Lamelle allein angehören; denn wenn es gelungen ist, eine einzelne Lamelle zu isoliren , so lässt sie sich relativ leicht auseinauderzieheu. Dies beweist , dass die Ver- bindungsfasern bei der Isolirung der Lamelle grossen Theils zerschnitten worden sein müssen. Weiterhin ist schon oben angeführt worden, [92] dass es sehr mühsam ist, einzelne der gebogenen Fasern aus dem Filzwerke zu isoliren. Haben wir so Beweise für eine sehr innige Verbindung der ge- scliilderten Fasersysteme der mittleren Schicht, so giebt ein Experiment einen sehr überraschenden Hinweis auf die Art dieser Verbiudmig. Schneidet man nämlich in der Richtung der Radiärfasern der äusseren Schicht ein prismatisches längliches Stück aus der mittleren Schicht der- art, dass keine Fasei'u der äusseren Schicht mehr sich daran befinden, so kann man dieses Stück mit Leichtigkeit auf das Dreifache seiner Länge ausdehnen, ehe ein dann erst allmählich steigender Widerstand die weitere Dehnung hemmt. Dies zeigt, ilass nach dieser Richtung hin keine straffen \"erbindungen in der mittleren Schicht bestehen und zugleich lehrt es, dass die Festigkeit der ganzen Flosse in dieser Rich- tung allein den beiden radiären Fasersystem der äusseren Schichten zu verdanken ist. Noch interessanter aber ist das weitere Verhalten dieses bezeichneten Stückes. Im Zustande dieser starken Dehnung hat W. Rottx, Ges,imuielte Abhandlungen. I. "1 482 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. es die ursprüngliche dreieckige oder viereckige pri.smatische Gestalt, in der es ausgeschnitten worden ist. vollkommen verloren; es ist jetzt ein ganz unregelmässig umgrenzter, aus durchaus vermrrten Fasern bestehender, leicht biegsamer Strang. Versucht man aber diesen Strang wieder zusammenzuschieben, so gelingt dies sehr leicht, und er nimmt überraschender Weise wieder vollkommen seine ursprüngliche, von glatten Schnittflächen umgrenzte Gestalt an, und wiederum werden die regelmässigen Lamellen in ihm erkennbar. Drückt man das Stück weiter- hin noch etwas in der Richtung der Radien zusammen, so wird es ganz fest und Verschiebung der Lamellen gegen einander, alsoAb- scheerung ist vollkommen unmöglich, während dieselbe im er- schlafften Zustande mit Leichtigkeit ausführbar ist. Dieses eigenthüm- liche Verhalten bekundet über den Bau der mittleren Schicht dreierlei: einmal, dass die Dehnung nicht durch Zerreissung, sondern durch Erschlaffung verbindender Fasern zu Stande kommt, zweitens, dass alle Faserbündel durch secundäre Fasern so vielseitig mit ihrer Xach- barschaft verknüpft sind, dass auch durch eine so grossartige äussere und innere Deformation nur Verbieguugen, aber nicht die geringste Unordnung der Fasern entstehen kann; drittens endlich beweist die Verbindung so leichter Dehnbarkeit in radiärer Richtung mit so grosser Widerstandsfähigkeit gegen Compressiou und Abscheerung, dass die Verbindung der typisch geordneten Structurfasern durch secundäre Fasern fast ausschliesslich in den Richtungen der Structurfasern selber erfolgen muss. Dieser Schluss ergiebt sich auf folgende, an Karten- blättern leicht demonstrirbare Weise. Wenn man an zwei uufeinanderliegeuden Kartenblättern die Verschiebbarkeit derselben dadurch hemmt, dass man sie mehrfach quer durchsticht und so mit dem Faden zusammennäht, so wird da- durch auch zugleich die Abhcbbarkeit der Blätter von ein- [93] ander voll- kommen aufgehoben. Wenn diese letztere erhalten bleiben und gross sein soll, so muss man die Fäden derart hindurchziehen, dass jeder Faden am einen Rande des einen Kartenblattes eingestochen, dann zwischen den Blättern bis zum entgegengesetzten Rande beider Blätter fortgeführt und dort durch das andere. Blatt ausgestochen und ver- knotet wird. Wenn dasselbe sodann mit einem zweiten Faden in um- A. Gestalt und Stnictur. 483 tjckilirtrr AW'isc an luiilcn Kartenblätteni ausgetülut worden ist, so siuil die Blätter in dvi-Rklünugdieses „Abscheerungs-Faserpaares"' (s. S. 1S2) unverseliieblieh, während man sie unter Beanspruchung grosser Fläelienbiegsamlceit mit I,eiclitigkcit von einander abheben kann. Es erhellt daraus zugleich, warum in unserem ausgezogenen Prisma die La- iin'llen imdeutlicli werck'U und schliesslich scheinbar verschwinden mussteu, da sie ganz verbogen, zum Tluil auch wohl in ihrer Faseranord- nung selber altcrirt wurden; andererseits war es ganz natürlich, dass sie bei Zusammenschiebung wieder ihre normale Gestalt erhielten und im Zustande der Compression jede Flächenverschiebung der Lamellen gegeneinander unmöglich war, während dieselbe im Zustande der Erschlaffung, wo die Lamellen nicht gespannt, also biegsam sind, aber sehr leicht ausführbar sein muss. Also blos für Abscheeruug, welche während der Compression stattfindet, ist eine derartige C o n s t r u c t i o u und in specie, wie das Experiment zeigt, ilas Material der mittleren Schicht widerstandsfähig. Diese Er- örterung greift schon etwas in den functionellcn Theil der Abhandlung über; es erschien jedoch wünschenswerth, der richtigen Würdigung dieser eigenthümlicheu und nicht ganz leicht verständlichen Verhältnisse von vorn herein den Weg zu bahnen. Der ^'ersuch ergiebt weiterhin noch, dass auch in ganz dünnen, ,, radiär" ausgeschnittenen Streifen der mittleren Schicht von nur einem Millimeter Durclimesser, trotz der allseitigen Auslösung aus den natürHchen Verbindungen nach dem Ausdehnen beim Wiederzusammenziehen, solche Selbstordnung eintritt; dies lässt erkennen, dass diese Abscheeruugsfäden nicht, wie wir es beim Kartenblatt, um das Princip augenfälhg zu maclien, gethan haben, grosse Strecken weit von einander angeheftet sind. Im Minimum ist blos nöthig, dass jeder Ab.scheerungsfaden eine, wenn auch kleineStrecke ]>arallel zwischen den beiden Lamellen, welche er verbindet, verläuft. Nachdem die Existenz dieser Abscheeruugsfasern sicher er- schlossen war, habe ich mich bemüht, ihrer selber in dem Fasergewirr ansichtig zu werden. An geeigneten dünnen Schnitten, welche auf einem Objectträger während der microscopiscben Beobachtung aus- einandergezogen und danach wieder zusammengedrückt wurden, ge- lang es, sie während tüeser beiden Phasen deutlich in ihrem Verhalten 31* 484 Nr. 7. FunctioneUe t-iestalt und Structnr der Schwanzflosse des Delphin. zu beobachten. Es sind Fasern von im Maximum '/lo nun meist aber geringerer Länge und 2 /.i (0,0020 mm) Dicke, welche beim Auseinander- ziehen zweier benachbarter Lamellen feine spitz\\-inkelige, aus zwei Faserrichtungeu gebildete Mascheunetze bilden. Bei [94] starker üis- traction erlangen die Fasern allmählich die Richtung des Zuges, und die Dehnbarkeit hat damit ihr Ende erreicht; beim Zusammenschieben kehren die beiden sicli kreuzenden Fasersysteme allmählich wieder zu ihrer Richtung mit den durch sie verbundenen Lamellen zurück und werden bei weiterer Compression angespannt. An manchen Stellen ist blos eines der beiden Fasersysteme erkennbar. Es muss fernerhin für die Beui'theilung der Functionsweise dieser „Abscheerungsfasern" von Wichtigkeit sein, die Art ihrer Kop- pelung mit den durch sie gekoppelten groben Faserbündeln zu kennen. Die daraufhin gerichtete Untersuchung ei-gab das einfachste und beste Verhalten. Die Absclieerungsfäden werden dadurch geliefert, dass aus den grossen Faserbündeln einzelne, durch nichts, weder durch Verlaufsrichtung noch durch Gestalt unterscliiedene Primitivfasern unter geringer Ablenkung zu einem benachbarten in gleicher Richtung verlaufenden Bündel herübertreten und dann längs seiner ihren W-r- lauf nehmen. Lideni solche Uebertritte von Primitivfasern nach ent- gegengesetzter Richtung erfolgen, entstehen sich überkreuzende Faser- paare, welche, wenn sie wie hier sehr zahlreich sind, als ein besonderes Fasersystem aufgefasst werden können und jede Verschiebung der verbundenen Gebilde längs ihrer Richtung verhindern. Das Wesent- liche für uns ist, dass sie vor und nach ihrem Uebertritt in der Rich- tung der durch sie verbundenen Bündel verlaufen, dass sie also nicht etwa durch Umschlingung sich mit ihnen verbinden. Es bleibt da- nach blos noch die Frage, wie der Faserbündelverband selber zu Stande kommt. Die V erbindung der l'rimitivfibrillen zu Primitivfasern von 0,5 — 1,5 — 2,0 /< Durchmesser findet wie bei den Sehnen des Menschen durch Kittsubstanz statt; vuid es ist besonders hervorzuliebeu, dass diese Primitivfasern liirr wie im erwachsenen Individuum auch bei den Sehnen nicht auf eine weitere Strecke hin verfolgbare selbst- ständige Gebilde sind, als welche letztere sie der Histologe gern schii- A. tiestalt und Structur. 485 dort; sondern dass tsic im (iegeutheil l)lo.s locale W-rklobungen von Primitivfibrillen darstellen, welche eine kleine Strecke weiter oben oder unten unter Zerspaltung der Faser in zwei oder drei Theile wieder geliist wird, indem sodann diese Theile sich wiederum mit Nachbar- tlicilen anderer Fasern zu neuen Primitivbiuulcln verschieben, und indem diese \'orgänge abwechselnder \'erklebung und Trennung gleich- zeitig an vielen nebeneinanderliegendcu Primitivfibrillen stattfinden, werden gröbere Bündel, mit blossem Auge sichtbare Bindegewebsfasern gebildet. Es findet so längs des Verlaufes eines groben Fascr- bündels eine fortwährende Umordnung der Primiti vl'ibrillen zu neuen durch Kittsul)stanz mit i'inander vereinigten Faserbündeln statt; und das Con.stante und functionell Wichtige ist die Existenz durchgehender Primitivfibrillen und deren, vielfachen Um- ordnungen unterliegende Vereinigungdurch\'^erklebung zu Primitivfasern [95i und dieser letzteren zu gröberen I'^ascrn. Diese \'erklebu ng ist bei der Feinheit der Primitivfibrillen und ihrer daher relativ grossen Oberfläche eine sehr innige und feste. Denn wenn schon feines Metallpulver trotz des vielmal höheren specifi.schen Gewichtes längere Zeit in Wasser suspendirt erbalten werden kann, allein in Folge der bei kleinen Körpern relativ grossen, der Adhäsion dienenden Oberfläche, so muss die Verbindung so feiner Fasern durch eine äusserst geringe Menge Kittsubstanz eine sehr feste \'ereinigung herstellen. Diese Festigkeit lässt sich nicht leicht genau ermitteln; aber man gewinnt von ihi- schon eine für unsere Zwecke genügende Vorstellung an dem deutlieh fühlbaren Widerstand, welcher zu über^^■inden ist, wenn man feine Bindegewebsfasern mit den Präparirnadeln in querer Kiehtuug auseinanderzuziehen versucht. Die Festigkeit dieser queren Verbindung durch die Kittsubstanz ist stets beträchtlich geringer als die Zugfestigkeit der Primitivfibrillen selber, denn letztere zerreissen nicht bei solchen Isolirungsversuchen. Damit halx-n winlenliiudegewebigeu Grundstock unseres Organes bis zu dem Aufbau aus den letzten Formelemeuten , bis zu den Primitivfibrillen analysirt, und es würde nun wünschenswerth sein, auch über den Bau dieser selber etwas zu wis.sen. Indess die Methoden, welche versprechen, darüber uns Einiges erkennen zu 486 Nr. 7. Functionell« Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. lassen, sind uocli 7ai wenig ausgebildet und ihre Resultate zu schwer zu deuten, als dass sie hier schon verwerthct werden könnten. Es soll daher dieser Theil meiner Untersuchung auf eine spätere Mit- theiluug verspart und die Qualität der Primi tivfibri 11 en zu- nächst als gegeben hingenommen werden. Diese Qualität besteht vor Allem in einer sehr grossen Zugfestigkeit in der Richtung der Faser, welche, wenn sie aucli nicht genau gemessen ist, wohl nicht hinter der der Pflanzenfasern zurückbleibt, also trotz ihrer GO^/o Wasser viele Metalle übertrifft und an die Festigkeit weichen Eisens heranreicht. Dazu kommt, wie theoretisch aus ersterer Eigenschaft abzuleiten, eine wohl auch sehr beträchtliche Druck- festigkeit in cjuerer Richtung (Weiteres siebe S. 187). Diese kann aber in Folge der geringeren Festigkeit des Kittmateriales in jiarallel faserigen Gebilden nur unter bestimmten Umständen voll zur \'er\ven- dung gelangen, da für gewühnlieh ein Ausweichen der Fasern nach der Seite stattfinden -wird, sobald die Festigkeit des Kittmateriales über- schritten ist. Wir werden indessen in der geschilderten Structur auch Einrichtungen erkennen, welche auf eine Verhinderung dieses Ausweichens hinzielen und daher eine Beanspruchung der Fibrillen in querer Richtung über die Festigkeitscoeff i- cienten der Kittsubstanz hinaus ermöglichen. Wir haben in dem letzten Theil unserer Schilderung ausser den zuerst dargestellten Fasern, welche die gi'öbere, leicht sichtbare Structur des Gebildes herstellen und welche zugleicli, wie sich zeigen wii'd, durch die grobe Gesanimtfunction des Organes direct be- [96] stimint werden, eine zweite Art Fasern kennen gelernt, deren Aufgabe es ist, diesen Sti-uct urelenienten erster Ordnung zu dienen. Ihre Dienste bestehen theils in Bewirkung räumlicher Sonderung der Structurelemente erster Ordnung in Giujiprn, wie es sich bei der radiären Faserschicht vorfand ; zweitens aber zur Herstellung und Erhaltung von Verbindungen der Structurelemente erster ()nlnung Diese letztere Function i.st Ijei Stützorganen die wichtigere; und es ist für sie eine ganz bestimmte, von der Func- tion der Structurelemente erster Ordnung aldiängige Anordnung und Verbindung der l)etreffenden Elemente nötJiig. Bei den Knochen, A. Gestalt und Strnctur. 487 welchen von vornherein allseitige Widerstandsfähigkeit und Con- tinuität zukommt, sind natürlich innerhalb eines daraus gefertigten Ürganes weder besondere trennende noch verbindende, koppelnde S t r u c t u r e 1 e m e n t e zweiter Ordnung, wie man die betreffenden Gebilde benennen könnte, nüthig. Dagegen würde ein aus verschiede- nen Theilen gebautes Stützgebilde, etwa eine eiserne Brücke, ohne solche Verbindungstheile , ohne Niete, ebenso auseinanderfallen, wie unser Organ ohne die Structurelemente zweiter Ordnung. Deshalb war es berechtigt, dass wir ihnen einige Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die Structurelemente erster und zweiter Ordnung werden ihrer- seits wieder gebildet aus S t r u c t u r e 1 e m e n t e n dritter Ordnung, aus den Primitivfibrillen und diese sind gekoppelt durch Kittsubstanz, sodass i 11 letzter Instanz alle Verbindungen durch die Kittsubstanz hergestellt werden. Nach der Schilderung des Baues der drei Schichten der Flosse verdient noch ein ungleiches Verhalten derselben zur AVirbelsäule besondere Beachtung. Da die radiären Fasern, welche die beiden äusseren Schichten bilden (s. Taf. II Fig. 3 u.4) von vorn und innen nach hinten und aussen verlaufen, also im Speciellen von vorn nach hinten sich erstrecken , so gehört ihre Befestigung m e h r d e n vorderen Metameren der Flosse an, wahrend diese für das gebogene Faser System gerade umgekehrt ist. Wenn nun eine Bewegungsursache von voi'n nach liinten über die ^letameren abläuft, so werden zuerst die äusseren, radiären Schichten und die zugehörigen Theile der Flosse in bestimmter Weise bewegt, während die Bewegungsart, welche durch die Bewegung der hinteren Metameren und der von ihnen entspringenden gebogenen Fasern in der Flosse entsteht, erst nach diesen an die Reihe kommen wird, also wenn schon der Effect der ersteren Beweguugsart vorausgegangen und fast über die ganze Flosse abgelaufen ist. Deshalb ist es von Interesse, die Grösse der Flächen zu kennen, welche durch jedes der beiden Faser- systemc von einem Wirbel zusanuuen mit den vor ihm gelegenen Wirbeln in Bewegungszustand versetzt werden kann. Die bezügüchen Messungen wurden mit dem Polarplanimeter an der Hälfte der in Fig. 3 gegebenen Abbildung angestellt und ergaben zunächst für den Flächen- 488 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der ächwanzflosse des Delphin. [97] räum der seitlichen halbeiiFlosse 179,8 und 179,9 Dem, also im Mittel 179,8 Dem; davon kam auf die Seitenhälfte der Wirbelsäule 13,1 Dem, wonach 166,7 Dem für den von den Wirbeln aus beweglichen, binde- gewebigen Theil der Flosse verbleiben . Die vordersten acht der 1 ( j Seh wanz- flosseu^nrbel bewegen durch die ihnen zugehörigen Fasern der radiären Scliicht 118,2 Dem oder 70,8''/o des Flossenflügels, dagegen durch die gebogene Schicht blos 10,2 Qcm oder 6,7 "/o. Also von den den vorderen acht Wirbeln eventuell zugeführten Kräften können durch Vermitte- lung der radiären Schichten 70 "/o auf die diesem Fasersj'stem zu- kommende Weise bewegt werden, während der gleichzeitige Effect der Bewegung der gebogenen Schicht fast Null ist. Für die vordersten zclin \\'irbel ist dies Verhältniss noch ungleicher: sie bewegen durcli die Radiär- i'asern 151 Dom oder 90,7°, o, durch die gebogene 16,1 Dem oder 10°,o. Lassen wir die Bewegungsursache noch auf zwei weitere Wirbel sich erstrecken, so dass blos die drei letzten kleinsten Wirbel unbewegt bleiben, so ändert sich das \'crhältniss schon ein wenig nielir zu Gunsten der gebogenen Fasern. Es werden jetzt l)ewegt 162,2 Dem oder 97,2''/o durch die Radiärfasern, also fast die ganze Flosse, bei 29,2 Dem oder 17,5°/o durch die gebogenen Fasern. Die nacli letzterer Zahl noch übrig bleibenden, 137,2 Dem betragende Faserausbreitnng des gebogenen Systemes oder 82'*/o der Flosse können ihre Beweg- ungsimpulse also blos von den kleini'n drei letzten Wirlieln aus er- halten, während vorher schon der Effect der riidiären Schicht bereits vollkommen über die Flosse bis auf 2,8 "/o derselben abgelaufen ist. Es ist al.so ein fast vollkommenes Aufeinanderfolgen der von den beiden Fasersj'stemen aus bewirkten Bewegungsarten zu gewärtigen, denn erst wenn die Wirkung der radiären Schicht fast x.u Ende ist, setzt die A\'irkung der gebogenen Schicht der Hauptsache nach ein. Es erübrigt nun nocii, das X'erlialtcn der Sehnen xai schildern, welche als Transmissionsriemen die am Rumpf producirte Kraft in vier Strängen durcli den ungemein scliianken Schwanz iiindurcli der Flosse zuführen. Die ihnen zugehörigen Muskeln sollen hier blos in so weit besprochen werden, als dies für das Verständniss ihrer Action und 7 A. Gestalt und Structiii-. . 489 für die Bildung ihrer Sehnen erforderlii-li ist. Diese Kraftmaschinen liegen ausschliesslich an den lieiden Seitentheilen des Rumpfes, während die viel stärkeren dorsalen und ventralen Muskelmassen sich schon an die Schwanzwirbel der Flosse inseriren und daher die Flosse nur im Ganzen bewegen. Die uns angehenden Muskeln bilden jederseits eine dorsal und eine ventral von den Troeessus transversi der Wirltel gelegene Gruppe, von denen jede sellier wieder aus zwei nebeneinander- liegeuden Muskeln besteht, welche die aus ihnen hervorgehenden Sehnen immer von beiden Seiten her je zwei zu einer geschlos- senen Schncnröhre zusammen geben. Diese Sehnenröhren stecken zwiebelschalcnartig ineinander und sind in ihrer In- sertion so vertheilt, dass jedem der l(i Flossen- [98] metamereii eine ganze Sehnenrühre, und zwar die äusserste Röhre dem vorder- sten, die nächste innere dem zweiten n. s. w. und schliesslich die innerste dem hintersten Abschnitt der I'^losse zukommt. Daraus ergiebt sich von selber, dass sie successive endigen müssen, die äusserste zu vorderst, die hinterste zuletzt; und inuner dient die äussere Sehne als Sehnenscheide der von ihr umschlossenen nächsten Sehnen. Da vier solche in gleicher Weise sieh vertheilende Sehnenstränge vorhanden sind, zwei dorsale und zwei ventrale, oder zwei rechte und zwei linke, so ist ein hoher (irad selbstständiger Bewegung der einzelnen Metameren durch diese Einrichtung ermög- licht. Indem zugleich die Anordnung der Muskeln derartig ist, dass sie in derselben Keihenfolge. als sie an den Metameren der Flosse von vorn nach hinten inseriren, an den Metameren des Rumpfes von vorn nach hinten entspringen, so ist ein einfacher, die Muskeln in diesir liielitiuig clurchlaufender Impuls im Stande, auch die Theile der Flosse in dieser Reihenfolge zu bewegen. Die Insertion der Sehnen an ihrem Metamer geschieht auf der dorsalen und auf der ventralen Seite in etwas verschiedener Weise. Das Wesentliche aber daran ist übereinstimmend, dass jede Sehnen- röhre einen Theil ihrer Fasern in die Tief e zu dem Wirbel- körper, einen anderen, oft grösseren T h e i 1 unter successiver Auffaserung von vorn nach hinten in die Radiärfasern der äusseren Flossenschicht übertreten lässt, so dass beim 190 Nr. 7. Functionelle Uestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Anziehen der Sehne sowohl der Wirbel als die zugehörigen Theile der äusseren Faserschicht der Flosse nach derselben Seite bewegt werden; doch ist aus der succcssiven Auffaserung der Sehne wohl nicht zu folgern, dass sie auch successive angespannt werden könnten, da die Fasern vor ihrer Insertion fast zu einem einzigen Strang verbunden sind. E i n i g e F a s e r n strahlen gelegentlich auch neben dem \\'irbel vorbei in die niitt lere Scliielit aus, so dass diese nicht blos durch die oben erwähnte Ausstrahlung der ßadiärfasern in dieselbe mitge- nommen wii'd. (Jelegontlich giebt auch eine Wirbclschne noch einen Zweig zum nächsthinteren Wirbel ab. Die Stärke der Sehnen angehend , so inöchten die Sehnen der letzten acht Metameren, obgleich ihr \'erbreitungsgebiet beträchtlich kleiner ist, wohl ebenso dick, vielleicht sogar dicker sein, als die der acht vorderen grösseren, al)er in iiireni Wirlielalisclmitt weniger be- weghchen Metameren. Damit haben wir die Seluvauzflosse des Delphins in ihren func- tionell wichtigsten N'erhältnissen kennen gelernt. Ks ist noch hinzu- zufügen, dass dorsal und ventral ein aus Fettgewebe geljildeter Kamm vom Schwänze her auf die Flosse übertritt, um gegen das hintere Ende allmählich zu verlaufen; und dass das ganze Urgan von einer festen, der Unterlage unverrückbar angehefteten Cutis überzogen wird. Diese Cutis der Schwanzflosse besteht aus einer beim Braun- tisch sehr dünnen, beim Delphin aber recht beträchtlichen Leder- [99] haut, von welcher sich in beiden Fällen sehr hohe Papillen erheben und in die entsprechend dicke Epidermis einsenken. Obgleich die Cutis ausser ihrer festen Anheftung auf ihrer Unterlage keine für die Function der Flosse wichtigen ])esondcren Eigenschaften besitzt, so lässt sie doch einige Eigenthümlichkeiten erkennen, welche für das A'erständuiss des Baues der Flosse als sehr werthvolle Kngerzeige anzusehen sind. iM'stens nämlich ist die Haut nicht vollkommen glatt, sondern sie besitzt gewöhnlich schon in ausgebreitetem Zustande einige Falten und diese vermehren sich noch, wenn die Flosse gleich- massig gebogen wird. Diese Hautfalten nun haben einen ganz be- stimmten N'erlauf. Sie verlaufen nämlich, um es kurz zu sagen. A. Gestalt und Structur. 491 allenthalben in derselben Richtung, als die in der mittleren Scliic'lit unter iimen liegenden gebogenen Lamellen. Obgleich iiirer nicht gar viele sind, so ist doch dieses Verhalten vollkommen deutlich und auch schon bei den beiden Braunfischembryonen er- kennbar ausgesprochen. Nur ganz vorn am Uebergang des Blossen- stieles /au- Flosse findet sich eine kleine; Abweichung in diesem Verhalten, welche in Fig. 1 auf Tai'. 11 durch punctirte Linien an dieser Stelle angedeutet ist. Weiterhin findet sich ein analoges Verhalten und zwar viel feiner ausgebildet in der Ordnung der Cutispapillen.') Diese sind nämlich in Reihen geordnet, und die Reihen stimmen in Rich- tung und Verlauf ebenfalls wieder mit den unter ihnen liegeiiden gebogenen Lamellen überein. Dasselbe gilt schliesslich auch von dem Faserlager der Lederhaut selber, indem letztere aus einem wohlgeordneten Fasersystem besteht, dessen Fasern allenthalben die bezeichnete Rich- tung haben, und damit zugleich auch allerorts rechtwinkelig zu den Fasern der radiären Schicht verlaufen. Diese vierfache Uebereinstinnnung in so eigeuthümlichen Verlaufsrichtungen wird sich von grosstem Nutzen für die functionelle Deutung derselben erweisen. Fassen w ir das Ergebni ss bezüglich der Structurkurz zusammen, so besteht die Flosse, abgesehen von dem Hautüber- zuge, aus drei Schichten, einer mittleren dickeren, die Ge- stalt der Flosse wesentlich bestimmenden, und jederseits aus einer äusseren. Während letztere blos aus einem einzigen Fasersj-stem besteht, welches sich wesentlich radiär von vorn und innen nach hinten und aussen ausbreitet, dabei namentlich gegen die Ränder der Flosse hin eigenthümlich gebogen ist, so besteht die mittlere Schicht aus mehreren, innig miteinander verwebten Fasersystemen. Der Hauptsaclie nach ist diese Schicht gebildet aus lauter, die Flosse der Dicke nach annähernd quer durchsetzenden, dicht aneinander gelagerten [') Ueber die Gestalt dieser Papillen siehe Seite 528.] 492 Nr. 7. FunctJonelle Gestalt und Struchir der Schwanzflosse des Delphin. Luoicllen, wdclic einen derartig gebogenen Verlauf haben, dass sie allentiiall)en recli t wink elig zu den llOO] über ihnen hegenden Fasern der äusseren Schicht verlaufen. Diese Lamellen sind selber wieder aus mannigfachen Faserrichtungen gebildet, wobei jedoch als Wesentliches hervortritt, dass zumeist zwei Faser- systeme re(-lit winkelig sicli kreuzen, und dass an den Rändern jeder Lamelle die Fasern die Richtung des Randes selber annehmen, sodass also die Umgrenzung der Lamellen gleichsam durch ein dem Rande paralleles Fasersystem stattfindet. Ausser den Lamellen geben in die Zusannuensetzung der nnttleren Schicht Fasern ein , welelie von den hinteren Wirbeln entspringen und in der Richtung der Lamellen verlautend die Flosse nach vorn uml anssen durchziehen. Dabei betheiligen sie sich in dem hinteren Theile der Flosse zu- gleich als integrirende und die Structur bestimmende Bestandtheile an der Lamellenbildung, wahrend sie gegen den vorderen Rand hin nur zwischen den Lamellen ihren Weg nehmen. Die Lamellen selber sind durch ein System von ,,Abscheerungs-Faser- jiaaren" ,,der Mäelie nach n n verscliiebbar" gegen einander verbunden; dagegen fehlt jede festeVerbindung derLamellen in den rechtwinkelig zu ihnen stehenden, also den Radiär- fasern entsprechenden Richtungen; und umgekehrt fehlen den Radiärfasern feste Verbindungen in Richtung der La- mellen. Das Allgemeinste sind also zweierlei rechtwinkelig si(di kreuzende Fasersystemc mannigfachen aber typisch ge- krümmten Verlaufes, von denen eines selber wieder aus reeiit- winkelig sich kreuzenden Fasern besteht, also Erfüllung des Raumes mit bestimmt gelagerten und gebogenen Systemen nu^hrfach rci-lit- winkelig zu einander orientirter Bindegewebsfasern. Die Insertion von Sehnen findet in derFlosse selber statt luid zwar derart, dass eventuell jedes der Ki Metameren der l'^losse selbstständig bewegt wer den kann, und zwar sowohl die Wirliel als die l'^asern der radiären Scliieht, so dass active Gestaltänderungen in eigenthümlieher von der Structur hil statt und hatte daher keinen Ef- fect; je grösser aber diese gemeinsam um eine Axe gedrehten Theile sind, um so grösser muss die ^V'irkung dieser Drehbewegung sein, und es ist eiu Bewegungsmodus möglich, wo die ganze Flosse so um eine vor ihr im Schwänze gelegene Axe gedreht wird. Untersuchen wir zunächst diesen extremen Fall, welcher mit einer kleinen Moditication bei Fischen, welche in engen Gefässen gehalten werden, der gewöhnliche und leicht zu beobachtende ist. Ist die ganze selber stan-e Flosse rechtwinkelig abgelenkt und wird der MittelHnie durch Umdrehung um die Knickungslinie wieder zugeführt, so wird das Wasser dabei zuerst gerade nach hinten, dann mehr und mehr schief und schliesslich bei Erreichung der Mittellage rein quer zur Längsrichtung des Thieres geworfen; dem entsprechend wirkt also der locomotorische Rückstoss zuerst rein propulsiv, dann schief, also zugleich drehend, und zuletzt rein um eine Quer- [103] axe drehend. Wird diese Bewegung über die Mittellinie fortgesetzt, so findet dasselbe in umgekehrter Reihenfolge und Richtung statt; sowohl Drehung und Längsverschiebung geschehen jetzt nach der entgegen- gesetzten Seite. Die Locomotion erfolgt dabei nach rückwärts, und wir können uns vorstellen, dass bei gleichmässigem pendelartigen Hin- uudherschlagen das Thier immer innerhalb derselben Strecke vor- uud rückwärts bewegt, und auf- und abwärts gedreht wird, ein Ueber- wiegen der Propulsion findet erst dann statt, wenn die Rückkehr- 49G Nr. 7. Functiouelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. bewegung zur Mittellage kräftiger, also rascher ausgeführt wird, als die Entfernuug der Flosse von der Mittellage, weil der Reibungswieder- stund rascher als die Geschwindigkeit wächst. Das Wesen derartiger Bewegung ist Drehung eines länglichen Gebildes um eine feste am ICnde des (iebildes oder in der Verlängerung desselben gelegene quere Axc, also eine Bewegung wie beim Schlagen; bei letzterem wird der ytab, mit welchem geschlagen wird, in gleicher Weise um das Schulter- oder Plandgelenk bewegt, deshalb wollen wir iliese Flossenbe- wegung um eine feste Axe „Schhtylieivcynny" benennen. Es ist dabei nicht unerlässlich nüthig, dass das ganze Gebilde bei dieser Bewegung vollkommen steif bleibt; der Charakter wird nicht wesentlich geändert, wenn es auch sieh biegt und wie ein einge- spannter Stahlstab um die Mittellage schwingt; aber der locomotori.sche p]ffect kann dadurch etwas vcrgrössert werden. Es ist auch nicht nöthig, dass immer die ganze Flosse zur Schlagbewegung verwendet wird, also die Drehung um eine vor ihr gelegene Axe verfolgt, son- dern es kann eventuell die Drehung der Flosse um eine in ihr selbst gelegene Axe stattfinden und somit blos der peripher von der Axe gelegene Theil die Schlagbewegung vollziehen. 3. Schliesslich ist es auch, wie schon angedeutet, möglich, dass jedes Metamer um eine besondere vor ilim gelegene Axe gedreht wird, dass also die Drehungsaxeu von vorn nach hinten verschoben werden; und dieser Fall führt uns wieder zur Stossbcwegung, von welcher wir ausgingen, zurück. Diese Comhination von Stossbewei/iing und Schlag he weyung ist die häufigtse und bei der begrenzten Leistungsfähigkeit des Materiales beste Locomotionsbewegung. Wir wollen die gemischte Bewegung ,,Wellenheivegung'' be- nennen, weil sie in der That che empirisch einzig mögliche Wellen- bewegung ist, da eine reine Wellenbewegung, wie die zuerst geschil- derte, ohne alle Schlagbewegung in unseren Verhältnissen nicht her- stellbar ist. Wir sind so auf einem anderen Wege zu demselben Resultat gelangt, wie jüngst Strasser') in seinen tief eingehenden 1) Berichte der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. .\pril und Mai 1882. Ferner die soeben erschienene ausführliche Abhandlung: Zur Lehre über die Ortsbewegung der Fische. Stuttgart 1882. 126 S. B. FunctioDclle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 497 Untersuchungen über die Ortsbewegung [104] der Fische, welcher die Irrthünil-ichkeit der von Borelli her' festgehalteneu Ansicht, dass ■ die Locomotiou durch Schlagbewegung, also wie die Bewegung eines Kahnes durch Schläge mit dem Steuerruder erfolge, nachgewiesen hat. Bis jetzt haben wir blos eine „Streckungs welle" betrachtet, dagegen die Entstehung der Krümmung, sowie die der Streckungs- welle nachfolgende entgegengesetzte „Krümmungs welle" unbeachtet gelassen. Wir können uns auch in Rücksicht auf unsere si^eeielle Aufgabe der Erklärung der Gestalt unserer Flosse darauf beschränken, anzudeuten, dass die Krümmung der Flosse ebensowohl passiv durch die Widerstände des Wassers beim Herabkommen einer Hemmungswelle, als auch durch active Anspannung seitens direct krümmender Muskeln be- wirkt werden kann. Interessenten, welche genauer die ^^orgänge bei der Locomotiou durch Wellenbewegung kennenlernen wollen, werden iu dem genannten Werk Strasser's ausreichendste Belehrung finden. Die Folgen der bisherigen Deductionen für die noth wendige „Gestalt" der Flosse sind mehrfache. Wenn ein massiges Gebilde durch die Bewegung eines Anhanges locomotorisch beeinfiusst wird, so Summiren sich die locomotorischen Kräfte bezw. Widerstände von dem äussersteu Ende des bewegenden Theiles gegen den passiv bewegten hin; dem entsprechend müssen die Schwanzflossen und der Schwanz von hinten nach vorn an Dicke zu- und daher zugleich an Biegsamkeit abnehmen. Dasselbe muss aus dem gleichen Grunde au der Flosse von aussen nach innen der Fall sein, da die Flossenflügel an dem Axenscelete befestigt sind, und sich also der Druck der gleichmässig belasteten Flächen in dieser Richtung summirt. Es ist daher zweck- mässig, dass iu der That che Flosse nach diesen Richtungen hin dicker, bezw. die Wirbel nach vorn zu grösser werden. Indem damit zugleich die Biegsamkeit sich verringert, muss auch die Fähigkeit zur Stossbewegung kleiner werden und deshalb die Schlagbewegung relativ zunehmem Da aber die Schlagbeweguug um so drehender wirkt, je geringer die Abweichung des schlagenden Theiles von der iMittellinie ist, so ist es nützhch, wenn dieser in Folge seiner Dicke fast nur auf diese Weise wirkende Theil schmal ist und das Organ gegen das hintere, biegsamere Ende hin sich verbreitert und so die Fläche W. Rons, Gesammelte Abhandlungen. I. 32 498 Kr. 7- Fiinciionello Gestalt und Structur der Sch\ranzflosse des Delphin. der Stossbewcgung müglichst vergrössert. Diese Verbreite- rung ist deshalb an unserem Orgau auch in hohem Maasse ausge- sprochen, viel mehr als an der Schwanzflosse der Fische. Doch ist noch ein später zu erwähnendes, den Fischen fehlendes locomotorisches Mo- ment bei der Verwendung und Ausbildung dieser Breite mitbetheiligt. Die Bewegung, welche das so gestaltete, in Summa über jede Oberfläche blos um 90" biegsame Organ auf das Thier hervorbringen kann, muss daher trotz der der Propulsiou günstigen Gestaltung noch eine stark um eine Queraxe drehende Componente enthalten. Da unser Thier aber durch seine [103] Lungen auf die Luftathmung angewiesen ist, so ist es sehr zweckmässig, dass die Flosse in ihrer Stellung von der dorsiventralen Richtung der Fischflosse abweicht vaud transversal gerichtet ist; denn aus dieser horizontalen Steh lung der Flosse folgt, dass der drehende Nebeneffect der locomo- torischen Bewegung das Thier bei jedem zweiten Schlage der Oberfläche zuführen muss, sodass dasselbe von selber immer Gelegenheit zur Athmung erhält. Zur Ausführung der geschilderten Bewegung ist em Muskel- apparat nöthig, welcher fähig ist, die Reihe der einzelneu Wirbel suc- cessive zu biegen und zu strecken; und einen solchen haben wir bei der Beschreibung der bezüglichen Einrichtung in sehr vollkommener Weise vorgefunden. Bis jetzt haben unsere Erörterungen sich blos mit Bewegungen der Axe des Körpers bezw. der Flosse befasst, imd es ist stillschweigend vorausgesetzt worden, dass die übrigen Theile insbe- sondere die Seiteutheile der Flosse den Bewegungen der Axeutheile immer entsprechend folgen, also dass jedem Wirbel der zugehörige Querschnitt der Flosse vollkommen fest und unbeweglich verbunden sei. Dies ist aber nicht der Fall; und es muss fraglich sein, ob dies überhaupt mit unserem Materiale ohne zu grosse Kosten, ohne Auf- wendung von Muskelkraft zur Erzeugung blosser Spannung herstell- bar, und alsdann, ob es überhaupt zweckmässig wäre; denn für eme fein modulirte Bewegung zur Anpassung an die Eigenbeweg- ungen des Wassers, wie sie durch Wellenübersturz ent- stehen, wäre sie alsdann niclit geeignet. B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 499 Die somit nützliche Eigetibetvegung der „Seiteniheile^' der Flosse bedarf einer eingehenden Besprechunp;. Zunächst kann es nn- zweckmässig erscheinen, dass die Seitentheile nicht den Bewegungen der Wirbel einfach folgen, denn durch das Zurückbiegen der ersteren -wird die schlagende oder stossende Oberlläche verkleinert, also der loco- motorische Effect verringert. Anders wird das Verhältuiss, wenn die Seitentheile durch Zufuhr von Muskelkräften Eigenbeweguug erhalten; damit werden ganz neue Bewegungsmöglichkeiten geschaffen. Bei dem Vorhandensein eines geeigneten Muskelapparates können alle die vorher genannten Beweguugsarten : Schlagbewegung, Stossbewegung, und ihre Combination: die Wellenbewegung stelbstständig an den Seitentheilen hervorgebracht werden. Da mir keine directen Beob- achtungen über die Bewegung der Flosse zu Gebote stehen, so muss ich mich darauf beschränken, die Bewegungen nach den Möglich- keiten zu beurtheileu, welche der gefundene anatomische Apparat gestattet. Dieser lässt uns schliessen, dass vielleicht eine geringe reine Schlagbewegung bei gestrecktem Flossenflügel vor allem aber eine sehr beträchtliche Schlaa-bewcsfuna; bei gebogenem Flügel, combinirt mit etwas Stossbewegung, auf jedem Flossenflügel, möglich ist; und da die Sehnen, deren Muskeln diese Bewegung hervorbringen , für jedes Metamer selbstständig sind, so lässt sich weiter folgern, dass diese Bewegung nicht nothweudig gleichzeitig in der ganzen Breite des [106] Flossenflügels erfolgen muss, sondern in einzelnen Theilen isolirt, z. B. successive von vorn nach hiuteu stattfinden kann. Die Möglichkeit dieser starken mit Biegung verbundeneu Schlagbewegung ergiebt sich aus der grossen Biegsamkeit der Flossenflügel in querer Richtung, und aus dem zu supponirenden Vermögen der bei dieser Biegung passiv gespannten Muskeln der con- caven Seite, sich wieder wenigstens bis zur Streckung der Flosse activ zu verkürzen. Ohne dies letztere Vermögen wären in der That die Flossenflügel bei ihrer grossen Biegsamkeit nutzlos und damit die ganze Flosse ein überflüssiger Anhang. In «welcher Weise kann nun diese Eigenbewegung der Flossenflügel der Locomotion dienen? Denken wir uns zu- nächst die ganze Axe der Flosse in Streckstellung verharrend und 32* 500 Nr. 7. FuDctioneUe Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. blos die beiden Flossenflügel nach einer Seite übergebogen. Diese Biegung muss der Hauptsache nach in rechtwinkeliger Richtung zur Linie der grössten Dicke der Flosse, welche an der Grenze des vorderen und nächst hinteren Viertels der Flosse verläuft und durch die punctirle Längslinie iu Fig. 1 auf Taf . II dargestellt ist, geschehen, da bei jeder anderen Biegungs- weise die dickste also widerstandsfähigste Stelle in grösserer Ausdeh- nung durchbogen werden müsste. Diese Linie verläuft schräg von vorn und innen nach hinten und aussen; und die zu ihnen rechtwinkeligen Linien haben danach die Richtung schräg nach hinten und innen und ent- sprechen dem vorderen Theil der Richtung des „gebogenen' Lamellen- systemes; sie sind also die successiven Drehungsaxen der Flosse bei unserer Flächenbiegung, was später des Genaueren nachgewiesen werden wird; und die Biegung wird zufolge der medialen Dickenzunahme des Flügels je weiter nach innen um so geringer sein. Da also die Biegung über schräg nach hinten und innen verlaufende Linien (Niveaulinien s. S.511} gescliieht, so muss die Streckung Wassermengen nach aussen und hinten werfen. Um die relative Grösse dieser Componenten zu erkennen, ist es nur nütliig, diese Niveaulinien z. B. a h in Fig. 3 auf die entsprechenden beiden Richtungen : parallel der Axe und senkrecht zu der- selben zu zerfallen; dann ergiebt hc die relative Grösse der nach aussen geworfeneu Wassermasse an. Die Rückstösse durch die nach aussen geworfenen Wassermengeu heben sich von beiden Flossenflügeln auf, da sie einander entgegengesetzt sind; die darauf verwendete Kraft ist also bei der .symmetrischen Bewegung beider P^lossenflügel verloren. Die Rückstösse von dem nach hinten gewor- fenen Wasser beider Seiten summircn sich und kommen als Propul- siousmomente wie bei der Streckung der axialen Theile [107] zur Geltung. Aber letztere sind bei den vorliegenden Winkelvcrhältnissen gering im Verhältniss zum gleichzeitigen Kraftverlust. Danach mag die ganze Einrichtung als unzweckmässig erscheinen. Aber derartig ist ihre Wirkung nur in der zunächst angenommenen Streckstellung c]ev Flossenaxe. Beflndet sich dagegen die Flosse zur Zeit B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 501 dieser Bewegung im Zustande stärkster, also fast reclitwinkeliger Axenbiegung, so stehen auch diese Niveaulinien annähernd recht- winkelig, und die Drehung erfolgt dann um verticale Axen und genau wiedieBewegungseitlicherRudcran einem Kahne, vor- wiegend von vorn nach hinten, und sie wird daher ebenso wie solche Ruder durch den Rückstoss fast reine Propulsion erzeugen. Zu dieser ..li u der h e weg u n (j" ist aber erforderlich , dass während der Streckung der gebogenen Flossenflügel die Drehungsaxe in senkrechter Stellimg, also die Axe der ganzen Flosse in rechtwinkeliger Abbiegung erhalten wird, und es muss gefragt werden, ob eine derartige Bewegung vorkommen kann und wird. BezügUch dessen lässt sich sagen, dass der ganze Bau der Flosse gerade auf diese „Combiuation von Schlag- und Ruderbewegung" angelegt sich zeigt. Dies spricht sich darin aus, dass die radiäre Faserschicht, welche diese Bewegung allein vollziehen kann, an den vorderen Metameren ihren Ursprung nimmt, und dass nach der geschilderten Anordnung der Muskehi die vorn am Rumpf gelegenen Muskeln diese Fasern bewegen; während diejenigen Muskeln, welche die Biegung und Streckung der Flossen- axe bewirken, vorzugsweise weiter hinten am Rumpfe entspringen und au den 1 e t z t e n Flossenwirbeln inseriren. Diese vermögen auch die Abbiegung der vorderen Wirbel bei Unthätigkeit der diesen selber zukommenden Beugemuskeln zu erhalten. Denkt man sich die Flosse im Stadium einer extremen Beugestellung, z. B. starker dorsaler Abbieg- ung der Axe und der Flossenflügel und lässt man nun einen Im- puls von vorn nach hinten über die ventralen Muskeln ab- laufen, so werden durch die zuerst innervirten vorderen Muskeln zunächst die Radien gespannt und mit den ersten 8 Metameren 144 "/o, mit den ersten 11 Metameren 169 "/o der Flossenflügelfläche gestreckt, während die Biegung der \\'irbelsäule entgegen den schwachen Streck- wirkungen der vorderen Muskeln auf die Wh'bel durch die noch in Spannung befindlichen dorsalen Muskeln der letzten 5 Wirbel fast unverändert erhalten wird. Dann erst kommt der Impuls an die hinteren Muskeln, welche auch das Axenscelet ^xdrksam zu strecken vermögen und so fügt sich der fast vollendeten „Ruderbeweg- 502 Nr. 7. FuDctionelle Gestalt und Structnr der Schwanzflosse des Delphin. ung" unter Vermittelung der an den hintersten Wirbeln befestigten „gebogenen" Fasern die „Schlagbeweguug" der Flosse hinzu. Diese suecessive Combination der beiden verschiedenen Bewegungsarten, die wir ihrer Bedeutung für die Locomotion des Delphin entsprechend als „HauptljeivegutKj'' bezeichnen wollen, stellt eine ungemein nützliche und eigenartige Anpassung an die Special- verhältnisse der Schwanzflosse des [108] Delphins vor ; denn bei dem Vorhandensein blos eines Axenstrahles ist es umuöglich, dass die Seiten- theile der Flosse bei der Schlagbewegung so vollkommen und kräftig mit- genommen werden können, wie vielleicht bei vielstrahligen Flossen mancher Fische. Dies erhellt schon genügend aus den Abbildungen der von mir untersuchten Objecte Figg. 1 und 3; ich habe aber, um es augenfäUiger zumachen, in Fig. 6 die von Eschricht gegebene Abbildung einer noch breiteren Flosse reproducirt, welche ohne die Eigenbe- wegung der Flossenflügel nur einen nachtheihgen Anhang darstellen würde. So aber werden die „Seitentheile" selbstständig durch die kräftigen Eadienmuskeln gestreckt und zwar während die Biegungsaxe stark nach der senkrechten Richtung abge- bogen ist; und erst in dem Momente, wenn durch diese Streck- ung die Seitentheile ihre grösste Festigkeit erlangt haben und, wie wir sehen werden, auch mit dem Axenscelet am festesten ver- bunden sind, erfolgt die Streckung der Axe, und die Flosse wird so kräftig, als überhaupt mit dem vorhandenen Materiale möglich ist, zur zweiten Art der Bewegung zur „axialen Wellenbe- wegung" verwandt. Schon ehe diese letztere Bewegung die gestreckte ^littelliuie er- reicht hat, also schon bevor die Contractionswelle über die Körperseite vollkommen abgelaufen und durch Ueberstreckuug zur Beugungswelle geworden ist, kann eine neue Contractionswelle vorn auf der anderen ßumpfhälfte beginnen, und, indem sie den Schwanz nach der anderen Seite zieht, findet die entspannte oder schon durch Ueberstreckuug etwas gekrümmte Flosse Widerstand, der sie stärker in Axe und Flügeln krümmt. Wenn dann die neue Contractionswelle bis zur Flosse gelangt ist, so findet sie die vollkommen nach der anderen Seite gekrümmte Flosse vor und eine neue Streckung der Axe und Flosse in axialer B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 503 Beweguug findet statt. So vollzieht sich alternirend, Sehlag auf Schlag die Bewegung unter grösstmöglichcr Ausnutzung der Krall zur Propulsion. Zur Erleichterung der Vorstellung war angenommen worden, dass die Flossenflügel senkrecht zur Längsaxe des Thieres abgeknickt seien. Das ist aber blos an dem hintersten, den letzten Wirbeln zukommenden Theile möglich und je weiter nach vorn, um so geringer ist diese für den propulsiven Effect der Eigenbewegung der Flossen- flügel so günstige Stellung; aber es muss hervorgehoben werden, dass sie nicht so gering ist, als der geringeren Biegsamkeit der vorderen Theile der Wirbelsäule entspricht, sondern wie das Experiment zeigt, werden die Flügel in stärkerem ]\Iaasse von der Stellung des hinteren Endes der Axe beeinflusst, als von den vordei'en Wirbeln; dies beruht auf den Eigenthümlichkeiten der Structur, welche, wie wir gesehen haben, durch die gebogenen Fasern der mittleren Schicht 82,5 °/o au die letzteren 3 und blos 17,5 "/o an die ersten 14 Wirbel knüpft. Es ist ausserdem selbstverständlich, dass die beiden Bewegungsarten auch nicht so vollkommen successive erfolgen, als gleichfalls [109] von uns in Vorstehendem angenommen wurde; die beiden Beweg- ungsarten der „Hauptbewegung" werden sich vielmehr fortwährend combiniren, aber derartig, dass anfangs die ..Ruderbewegung" ungemein überwiegt, dass nach und nach die ,, Schlagbewegung" beträchtlicher wird, und dass diese schliesslich unter Verschwinden der ersteren das alleinige Ende der Bewegungsphase darstellt. Mit der „RuderbcAvegung" erhalten die „Flossenflügel" eine besondere wichtige Function und damit Gelegen- heit zu grösserer Entfaltung. Diese Entfaltung braucht nicht rein lateral stattzufinden, sondern es ist günstig, wenn sie zugleich, wie in Fig. 1 der Fall, etwas nach hinten, selbst bis über die Spitze der Wirbelsäule hinaus gerichtet ist, weil dadurch die, der Haupt- sache nach quer die Breite der Flügel durchziehenden Biegungslinien eine mehr senkrechte Stellung gegen die Längsaxe des Thieres erlangen, womit die Streckung, \ne nach Fig. 1 leicht verständlich, mehr rein nach hinten erfolgt, und derRückstoss die günstige Richtung nach vorn 504 Nr. 7. FiindioneUe Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. in höherem Maasse erlaugt. So erklärt sich die eigenthümliche Ge- stalt der Flosse der Wa:ilthiere, imd sie erweist sich als eine eigenartige und ungemein nützliche Anpassung an che bei der Entstehung der Flosse präexistirenden Verhältnisse, an das Vor- handensein blos einer einzigen imd daher nothwondig dicken, wenig biegsamen, stützenden Axe und eines weichen Bildungsmateriales für die Flosse selber. Wenn blos ein Flügel die Euderbewegung und zwar bei Streck- ung der Flossenaxe ausführt, so resultirt natürhch eine kräftige Dreh- bewegung, und die Flosse kann so sowohl zur Drehung als zum Widerstände gegen eine jjassive Drehung von aussen her verwendet werden; es bedarf dazu nicht immer vollkommen einseitiger Benutz- ung der Flosse, sondern schon ein mekr oder minder der Eigen- beweguug auf der einen Seite als auf der anderen kann bei geringem Widerstände für diesen Zweck genügen. Durch die Beweglich- keit ihrer einzelnen Theile vermag sich die Flosse inner- halb gewisser Grenzen sehr mannigfachen Functionen auz upasseu ; und selbst zur Seitwärtsbewegung des ganzen Thieres kann sie verwandt werden, wenn die Flügel nach entgegen- gesetzten Seiten zurückgebogen und erstarrt werden, und wenn dann mit dem seitlich sehr bieosamen, und durch g-eeiffnete sehr kräftige Muskeln bewegten Schwänze seitwärts geschlagen wird. Nachdem wir die Bedeutung der „äusseren Gestalt" der Flosse und die Functionen des Organes im Ganzen kennen ge- lernt haben, sind wir vorbereitet, an unser eigentliches Thema heran- zutreten und die Bedeutung der „iuuereu Structur" des Orgaues für diese Functionen zu untersuchen. Die Functionen waren iui Allgemeinen: Ersrhlaf/iinii zur Biegung der Wirbelsäule und der Flossenflügel und darauf folgende Erstarrung bei der Streckung, also .,Formveräncleriingen ver- h linden mit Cotisistenzveränderimgen'^. [110] Es wird dem- nach zu untersuchen sein, in welcher Weise die uns bekannte Struc- tur diesen Anforderungen genügt, welche Constructionspriucipien dabei . verwerthet sind und insbesondere, ob vielleicht, wie bei den Knochen, die gegebenen Eigenschaften des Materiales derart verwerthet sind, B. Functiouelle Bedeutung des Baues der Delpbinäosse. 505 die Coustruction mit dem Minimum au Material dem l'uuctionelleu Bedürfuiss Genüge leistet. Für die ganze Coustruction müssen naturgemiiss die Qualitäten des verwendeten Materiales von vornherein bestimmend sein. Das Stützmaterial der Flosse besteht aus Knochensubstauz und aus Binde- gewebsfasern. Die Kuoeliensubstanz hat Widerstandsfähigkeit nach allen Richtungen und für alle „Arten" möglicher Beanspruch- ung der Festigkeit: für Druck (Compression), Zug (Dehnung, Dis- traction) uud Abscheerung. Unter Abscheeruug, Scheerung oder Schub, versteht mau die ,, Verschiebung" der Sub- stanzschichten gegen einander „parallel" der Berührungs- fläche resp. der Ausdehnung der Schichten, also Verschie- bung derart, wie wenn man in einem Spiele Karten die einzelnen Blätter durch seitlichen Druck ihrer Fläche nach gegen einander ver- schiebt. Abscheerungsfestigkeit, Scheerfestigkeit oder Schub- festigkeit ist demnach der "Widerstand, welchen ein Körper einer der- artigen Verschiebung seiner Theile in parallelen Flächen gegen ein- ander entgegenzusetzen vermag. Da dem Knochengewebe die drei Grundqualitäten der AVider- Staudsfähigkeit zukommen, so folgt daraus, dass er auch den aus ihnen gemischten Beanspruchungen: der Biegung uud Torsion Widerstand leisten kann. Wir wollen hier nicht auf die Structur der Wirbel (s. Nr. 9, S. 152) eiugehen, sondern jeden Wirbel blos im Ganzen fungirend betrachten uud ihm einen genügenden Grad von Festigkeit jeder Qualität uud nach jeder Richtung des Raumes zuerkennen, welcher nöthig ist, um den gestellten Anforderungen zu entsprechen. Das eigentliche Baumaterial der Flosse also ist das faserige Bindegewebe, welchem nach der einen Richtung hin blos Zugfestigkeit, nach den dazu senkrechten Richtungen blosDruckfestigkeitin constructiv verwendbarer Weise zukommt, wälu-eud die Biegungsfestigkeit fast vollkommen fehlt. Wie war es möglich, mit solchem „beschränkt wider- standsfähigen" Materiale ein Organ von „allseitiger" Widerstandsfähigkeit zu schaffen, in einer Weise, das es fest genug ist, um den grössten Wasserthicreu die Erzeugung der 506 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. grössten Geschwindigkeit zu ermöglichen und dabei zugleich noch diese hohe Festigkeit mit Perioden hochgradiger Erschlaf- fung abwechseln zu lassen? Es liegt auf der Hand, dass der „Wechsel der Festigkeit" nur durch Einführung von Muskelkräften hervorgebracht werden kann; und am einfachsten und sichersten musste in diesem Wechsel die nöthige Festigkeit zur rechten Zeit und an der rechten Stelle entstehen können, wenn die Erzeugung derselben von denjenigen Bedingungen, welche sie nöthig machen, abhängig ist; wenn also ein Princip der Selbst- erzeugung des Nüthigenund [111] zugleich der Selbstregulation da- bei thätigist; in concreto also, wenn die dieLocomotion bewirken- den und damit auch die locomotorischen,,Wi der stände" schaffen- den Muskeln zugleich im Stande sind, die jeder Beweg- ungsphase nöthige „Widerstandsf ähigkeit" der Flosse her- vorzubringen. Es wäre schon ein grosser Nachtheil, wenn nur be- sondere Muskeln die Locomotion und besondere die Widerstandsfähigkeit besorgten ; denn es würde einer wunderbaren Coordination der Inner- vationscentren beider Muskelgrnppen bedürfen, um die beiden Organe immer in vollkommen einander entsprechender Weise zu innerviren, und es würden stets Lagen kommen, wo diese Harmonie nicht möglich oder überhaupt gestört wäre; das Thicr würde dann unfähig sein, sein Haupt-Locomotions-Organ zweckmässig zu gebrauchen. Nur wenn die „beiden" Umstände durch ,,dieselbe"Kraf t erzeugt wer- den, ist eine stetige Harmonie beider möglich. Aber welches Wunder der Construction setzt diese Möglich- keit voraus? Wie können ferner die Muskeln, da sie blos Zugkräfte produciren, in jedem Momente ausser der Zugfestigkeit auch noch die Druck- und Abscheerungsfertigkeit erhöhen? Welches sind hierfür die coustructiven Bedingungen ? Welche constructiven Vorbedingungen müssen weiterhin erfüllt sein, um überhaupt einen solchen Wechsel von Biegsamkeit und Festigkeit als möglich erscheinen zu lassen, so dass das Organ nicht wie ein Filz immer gleich widerstandsfähig ist und so zu der B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 507 locomotorisch nicht wirksamen Biegung, welche als AusgangsstelKmg für die nachfolgende loconiotorische Bewegung nüthig ist, schon ein gutes Theil von Muskelkraft durch Ueherwindung rein innerer, nicht für die Locomotion dienender Widerstände verbraucht? Es wird fraglich erscheinen, ob sich überhaupt allen diesen Bedingungen gleichzeitig genügen lässt; wie aber soll dies mit einem so beschränkt widerstandsfähigen Materiale ge- schehen? Kann dabei auch noch, wie wir wünschten, an grösste Materialersparniss in der Construction und an möglichste Kraftersparniss im Betriebe gedacht werden? Und auf welche Weise wäre dies möglich? Das sind die Fragen, deren Beantwortung uns jetzt obliegt. Aber vorher wird sich die Frage aufdrängen, ist ein solches Wun- der constructiver Technik überhaupt möglicli? Wohl! Seine ßealisirung liegt vor uns. AVir haben den Bau bereits kennen selernt, und es ist nur nöthig, ihn auch verstehen zu lernen. Dem stehen im vorliegenden Falle mancherlei, zum Theil besondere Hindernisse entgegen, deren Beseitigung unsere Ausein- andersetzung nothwendig zugleich in die Länge dehnen muss. Ein Mal erschwert die vollkommene innere Harmonie aller Einrich- tungen, wie sie alles Organische charakterisirt, in einem so complicirten Organe wesentlich die Unterscheidung des Primären und Secun- dären. Ferner zeigt sich auch hier wie überall, wo alle durch die Verhältnisse gebotenen, theil weise rein zufälligen Chancen bis auf das Letzte ausgenutzt werden, manche Bildung [112] „mehrfach hestimmt''; und es bedarf ehier Erkenntniss der Gründe dieser Identität der Folgen ganz verschiedener Ursachen, ehe eine richtige Würdigung gewonnen werden kann. Ausserdem ist die Elasticitätslehre nicht für so hochgradig deformirende Beanspruchungen, wie sie in unserem Falle vorkommen, und nicht für so aealotropes Material ausgebildet, sodass jeder angewandte Satz derselben erst auf seine Anwendbarkeit in unseren Verhältnissen zu prüfen sein wird ; und manche neue Probleme ergeben sich, welche der exacten Behandlung mit den gegenwärtigen Mitteln der Analysis nicht zugänglich sind, sodass eine wenigstens das Principielle betreffende 508 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Entscheidung vorausgenommen werden rauss. Dies betrifft namentlich die Formen der Biegung von Platten, die nach „zwei" Rich- tungen in ilirer Dicke sich ändern. Zur Ableitung und zur Ver- ständigung wurden hierbei aus der Hj'dro- und Electrodj-namik die Be- griffe der Kraftlinien und der Niveaulinien entlehnt. Vielleicht lassen sich theoretische Phj'siker herbei, einen Theil der bei dieser Gelegenheit sich stellenden neuen Aufgaben in Angriff zu nehmen. EndUch fehlt es an Vorbildern technischer Construction für unser eigenartig qualificirtes Material, sodass auch hierfür die Principien erst entwickelt werden müssen. Ich bitte daher meine Leser, sich durch die nothwendig etwas weite Ausdehnung der Erklärung von der Leetüre nicht abschrecken zu lassen; der mathematisch denkende Beobachter wird sich durch manches interessante, wenn auch blos im Fluge berührte oder blos angedeutete Problem angeregt finden. Beantworten vnr also zunächst die letztere der oben angeführten Fragen, sehen wir von den \''eränderungen der Widerstandsfähigkeit der Flosse vor der Hand ab und erörtern blos die Fragen, ob über- haupt mit unserem blos zwei Arten der AViderstands- fähigkeit besitzenden Materiale die Hervorbringung „ allartiger" Widerstandsf ähigkeit möglich ist; und even- tuell, wie die Construction sein müsste, um bei gegebener äusserer Gestalt der Flosse die nüthige Widerstandsfähigkeit mit dem M i n i m VI m an Material, oder mit dem verwendeten Material das Maximum an Leistung hervorzubringen, also um dem 3Iininium-Maximnm-Principe, wie wir das Wesen derartiger im Organischen vielfach verwirklichter Einrichtungen zwar pleonastisch aber bezeichnend nennen wollen, zu genügen. Die Flosse werde dabei nur als in toto im Wasser bewegtes Organ betrachtet. 1. Für das Principielle der Hervorbringung allartiger und all- seitiger Widerstandsfähigkeit durch unser Material müssen die Widerstandsqualitäten desselben zunächst noch etwas genauer er- örtert werden. Als Hauptfestigkeit i.st die Zugfestigkeit in Rich- tung der Fasern anzusehen. Sodann kommt die Druckfestigkeit i n q u e r e r R i c h t u n g zur Faser, aber diese ist eine nur geringe, soweit sie von der Kittsubstanz abhängt. Bei stärkerer Beanspruchung wird B. Functionello Bedeutung des Baues der lielphinflosse. 509 diese nachgeben, und die Fasern werden seitlicli ausweichen. Dieses seitliche Ausweichen niuss also durch andere Einrichtung-on verhindert [113] werden, wenn eine höhere den Widerstandscoethcienten der Kittsubstanz übersteigende Beanspruchung der Druckfestigkeit der Primitivfibrillen möglich sein soll. Druckfestigkeit in der Längs- richtung der Fasern ist dagegen schon in Folge der f i b r i 1 1 ä r e n Gestalt überhaupt nicht verwendbar, denn lange dünne Fasern biegen sich bei der geringsten Belastung in der Längsrichtung; dies geht bei unserem Materiale so weit, dass z. B. die stärkste Sehne des Menschen, die Achillessehne aufrecht gehalten, nicht im Stande ist, auch nur ihr eigenes Gewicht zu tragen, sondern sich unter der Belastung desselben sofort umbiegt, während sie, auf Zug beansprucht, vielen Centueru widersteht (s. S. 187 Anm.). Ausser der Strebefestigkeit geht unserem Materiale aus demselben Grunde auch die Biegungsfestigkeit ab. Dagegen können die Fasern gleich einem Seile über eine Unterlage, z. B. über eine Rolle gespannt und dabei stark auf Zug beansprucht werden, denn auf diese Weise werden sie, ausser der Dehnung in der Längsrichtung, an der aufliegenden Stelle blos noch in dazu senkrechter Richtung, also im Querschnitt, comprimirt. Diese Lösung der aufgeworfenen Principienfrage geschieht am verständlichsten zugleich mit der Lösung des concreten Falles. Danach wäre die nächst zu erörternde Frage die: wie muss die Construction im Einzelnen sein, um einem Gebilde von der Gestalt und Bean- spruchung der Flosse diese Widerstandsfähigkeit und zwar mit dem Miuiniuiu an Material zu verleihen? Für alle Fes tigkeitsconstructionen , welche dem Minimum-Maxi mum-Principe entsprechen sollen, müssen meiner Meinung nach folgende Grundgesetze der Construc- tion aufgestellt werden: Erstens: das verwendbare Material darf lilo.s in den Rich- tungen seiner grössteu Widerstandsfähigkeit „direcf (s. Nr. 9 S. 132 Anm.) beansprucht werden. Zweitens, daraus folgernd: die Richtungen stärkster Widerstandsfähigkeit des verwendeten Materiales müssen 510 Nr. 7. Fuuctionelle Gestalt und Stnictur der Schwanzflosse des Delphin. allerorts mit den Richtungen stärkster Beanspruchung zusammenfallen. Drittens : das Material muss diesen Regeln entsprechend a n d e u „Orten" stärkster Beanspruchung verwendet werden. Diese Gesetze vor Augen ist es leicht, in allen Verhältnissen die Minimum-Maximura-Construction abzuleiten; es müssen ausser den Qualitäten des Materiales nur die Richtungen, bez. Oertlichkeiten stärkster Beanspruchung bei der betreffenden Function festgestellt werden. Dabei ist vorausgesetzt, dass es überhaupt Rich- tungen stärkster Beanspruchung giebt, dass also Prä- di lectiousbeauspruchungeu vorkommen. Dies ist blos möglich, bei ,, bestimmtem", also beschränktem Ge- brauche der coustruirten Gebilde. Ist das Gebilde für „diesen" Gebrauch nach obigen Principien coustruirt, dann wird es auch noch im Stande sein, innerhalb geringer Grenzen Beanspruchungen anderer Weise und anderer Rich- tungen zu genügen. Welches sind nun die Richtungen stärkster Bcan- s I) r u c h u n g in unserem c o n c r e t e n Falle? Diese hängen von der Gestalt des Gebildes und von dem (114] Gebrauche, welcher von demselben gemacht wird, ab. Die Gestalt ist uns bekannt; als Hauptgebrauch sei zunächst eine von dem Flossen- stiele ausgehende gradlinige Bewegung der Flosse durch das Wasser, senkrecht zu ihrer Flächenausbreitung, abwechselnd nach entgegen- gesetzten Seiten angenommen Dabei findet gleichsam eine gleich- massige Belastung aller Puncte der Oberfläche statt und die Bean- spruchung geschieht auf Biegung. Aber trotz der angenommenen Vereinfachung ist die Aufgabe für den ersten Versuch der Lösung noch zu complicirt, und es wird sich empfehlen, zunächst einen Körper einfacherer Gestalt mit ,, Biegungsfestigkeit" gegen die charakteristische Art der Beanspruchung aus unserem Materiale gemäss dem Minimum - Ma ximum - Principe herzustellen, z. B. e\\\e puruUi'Jrpipedisclif Flattc. Dieselbe sei stark länglich, und von leicht vorstellbaror mittlerer Grösse und angemessener Dicke. H. Functionelle Bedeutung des Baues der DelpbiuÜosse. 511 Sie sei durch Einspanneu in einen wagreeht gestellten Sehraubstock wagrecht und rein ciuer zu ihrer Längsrichtung, also zugleich sym- metrisch fixirt und werde auf ihrer oberen Fläche durch eine überall gleich hohe Wasserschicht belastet. Die belastete Fläche und ihre Gegenfiäche sollen als ..Oherflächot", die beiden dazu rechtwinl^c- ligen Läugsflächen als „Seitenflächen''' bezeichnet werden. Die Biegung erfolgt dann bei der angegebenen Befestigungsweise und bei der gleichmässigeu Belastung auf die Art, dass eine längs der Mitte der Oberfläche gezogene Linie bei der Biegung in der rechtwinkelig zur Oberfläche durch sie gelegten Ebene verbleibt ; diese Ebene stellt demnach die „Biegungsehene"' dar. Die soeben gezogene, und jede ihr parallele Substanzlinie unseres Körpers sind bei der charakterisirten Gestalt, Fixation und Belastung diejenigen Linien, [in denen die stärkste Biegung erfolgt, in denen die Biegungskräfte also am stärksten zur ^^'irkung gelangen; sie sollen daher als „Biegungslinien'' xaz e^oyr,v oder] entsprechend älmlichen Linien der Hydro- und Electrodynamik sAs ^.Kraftlinien'' bezeichnet werden ; die dazu rechtwinkeligen und gleichfalls der Ober- fläche parallelen Linien, [welche selber nicht gebogen werden, sondern über Avelche gleichsam gebogen wird (s. S. 522)], seien ent- sprechend als „Niveaulinien" benannt'). Jede durch eine Niveau- linierechtwinkelig zur Oberfläche gedachte Fläche heisse emG„Xiveau- fläche'". Die Xothwendigkeit besonderer Nomenclatur und die Zweck- mässigkeit derselben wü"d sofort einleuchten, sobald wir au die com- plicirteren Verhältnisse der Flosse herantreten. Zur Veranschaulichuug der Einzelheiten der Biegungsbean- spruchung stellen wir uns das beauspruchteGebilde zunächst aus ,, Gummi'' hergestellt vor. Jede Biegung bewirkt Beanspruch- ung aller oben genannten Grundqualitäten der Elasticität bez. Festigkeit, der Zug-, Druck- und Scheerfestigkeit ; und jeder Bean- spruchung wird durch unser Material in bestimmter "Weise Genüge geleistet werden müssen. Auf der c o u v e x e n Seite der gebogenen Flatte entsteht Zug in [') Im Original wurden die .Niveaulinien" als .Biegungsünien' bezeichnet, was indess weniger passend erscheint.] 512 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Stnictur der Schwanzflosse des Delphin. der Richtung der Biegungslinien, auf der concaven Seite Druck; und jede dieser Beanspruchungen nimmt von der betreffen- den Oberfläche an nach imien ab, um [115] in der Mitte Null zu werden ; die so ausgezeichnete mittlere Ebene, innerhalb deren weder Zug noch Druck bei der Biegung stattfindet, welche also, von der Abscheerung in ihr abgesehen, blos gebogen wird, heisst „neutrale Fläche'-''. Diese neutrale Fläche liegt bei unendlich kleinen Bieg- ungen des Gummi in der Mitte, rückt aber bei endlichen Biegungen nach der convexen Seite, weil auf dieser durch die Dehnimg Verdün- nung, und auf der entgegengesetzten Seite durch die Compression Verdickung der Platte stattfindet. Die beiden letzteren entgegengesetzten Deformationen ergänzen sich derartig, dass die Dicke der Platte im Ganzen unverändert bleibt. Da aber jeder Zug das gezogene Gebilde am stärksten nach allen Richtungen der rechtwinkelig zur Zugrichtung stehenden Ebene zu verjüngen strebt, und umgekehrt jeder Druck das gedrückte Gebilde am stärksten nach allen Richtungen recht- winkelig zur Druckrichtung zu verdicken sti'ebt, so findet in der gebogenen Platte auf der Seite des Zuges auch eine Tendenz zur Verschmälerung, auf Seite des Druckes umgekehrt zur Verbreiterung statt, welche aber bei der relativ grossen Breite unseres Gummibandes und bei der gleichmässigen Belastung seiner ganzen Oberfläche nur in den Raudpartien zur Geltung kommen kann und sich daselbst durch eine nach der Zugseile convergente Schrägstellung der Seiten- flächen und durch sattelförmiges Aufbiegen der Oberfläche äussert; in den mittleren Partien, welche uns hier allein interessireu, aber entsteht keine derartige sichtbare Deformation. Ausser dem Zug und Druck findet in der Platte durch die Biegung noch Abscheerung: „Verschiebung nebeneinanderliegender Substanzlamellen" nach allen Richtungen statt, [welche sich bei homogenem Material am stärksten in der neutralen Fläche, von ihr aus nach beiden Seiten abnehmend localisirt ist.] Wir zerlegen sie in Anpassung an das Specielle unseres Falles in eine Abscheerung zwischen parallel der Oberfläche gelegenen Schichten : „horizontale Abscheerung", und eine zwischen dazu senkrechten Lamellen: ,,ver- ticale Abscheerung"'. Die horizontale Abscheerung entsteht in B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delpkinflosse. 513 l'olso der Abnahme der Dehnung und Compression nacli der neutralen Schichte zu : indem daduroli jede ihr nähere Substanzschiclit weniger art'icirt wird, bleibt sie kleiner oder grösser, als die nächst entferntere; und die Flächen müssen sich daher gegeneinander verschieben. Auf die Entstehung der verticalen Abscheerung wird späterhin eingegangen werden. Dies ist in für unseren gegenwärtigen Zweck genügender Weise das AV^esen der Beanspruchung bei der Biegung eines Stabes '). Wie ist nun diesen Beanspruchungen durch unser aealotropes und in , .Fasern'" geformtes Material zu genügen, und welche Aenderungen der Beanspruchung müssen dabei eintreten? Dem bei der Biegung entstehenden Zug auf der couvexen Seite muss W'iderstand geleistet werden durch Fasern, welche in der Richtung des Zuges, also längs der Biegungshnien verlaufen; dann fallen die Richtungen grösster Zugfestigkeit des Materials und grössten Zuges zusammen. Um dem D r u c k auf Seite der C o n c a v i t ät zu begegnen, müssen die Fasern, da ihnen blos in cßierer Richtmig verwendbare Druckfestigkeit eigen ist, mit ihrer Länge c^uer durch das Ge- [116] bilde gelegt werden; dann werden sie durch den längsverlaufenden Druck in der Platte rein quer zusammengedrückt. Um dieser letzteren Bedingung zu entsprechen, ist indessen nicht erforderlich, dass die Fasern parallel denNiveaulinien verlaufen, sondern es genügt, wenn sie nur innerhalb der Niveau flächen liegen; da diese Flächen bei der Biegung nicht gebogen werden, so wird jede in ii'gend einer Richtung in ihr ver- laufende Faser blos in querer Richtung, wenn auch nV'ht im ganzen \'erlaufe gleich stark, gepresst, nicht aber gebogen. Es ergiebt sich iudess ein wichtiger Unterscliied in dem Typus der Structur sowohl wie in der Widerstandsfähigkeit, je nachdem die Druckfasern alle den Niveaulinien parallel oder innerhalb der Niveaufläehe schräg verlaufen. In ersterem Falle können die Fasern bei gegebener Rich- tung im Einzelnen beliebig angeordnet sein, me in ein Klaftermaass eingelegte Holzscheite. Sind aber Fasern darunter oder vorwiegend, [1) Weiteres siehe Nr. 9, S. 133.] W. Roox, Gesammelte Abbandlangen. I. "5"* 514 Nr. 7. Funotionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. welche zwar auch iniuihalb der Niveauflächen aber schräg in (Uii- selben verlaufen, so zerfällt damit das Druckpolster sofort in lauter den Niveauflächen entsprechende Lamellen. Da nun ersteres Verhalten blos einen einzigen Fall, letzteres aber alle anderen unendlich zahlreichen Fälle bei gleichem causalen Bedingtsein aller Einzelfälle darstellt, so wäre die Coustruction nach crsterem Principe eine überflüssige Selbst) )e- schränkung. Es bestehen zudem noch functionelle Gründe, welche die Anwesenheit mehr als einer Faserrichtung durchaus nöthig machen, und damit wird die den Niveauflächen entsprechende „La- mellenbildung" als der einzig mögliche Typus der Cou- struction des Drueklagers bestimmt. Diese Gründe sind folgende. Nehmen wir z. B. an, die Fasern verliefen alle in einer Richtung, z. ß. parallel den Niveaulinien, so würde die bei der Compressiou in der Richtung des Druckes ein- tretende Abplattung der Faserbündel eine seitliche Verbreiterung aller Faserbündel unter Umordnung der einzelnen Fasern und unter Verbreiterung der einzelnen Fasern selber nach der Rich- tung der Dicke der Platte bewirken. Der Verbreiterung der einzelnen Fasern wird zwar Widerstand geleistet durch die Kittsubstanz der Primitivfibrillenbündel; aber da die Festigkeit dieser relativ gering ist, wird sie leicht überwunden werden; es ist daher nöthig, dass besondere Einrichtungen vorhanden sind, welche die N'erbreiterung sowie die in die Breite Ordnung der Fasern zu verhindern vermögen und so, durch Gestattung einer höheren Beanspruchung der Druckfestig- keit der Primitjvfibrillen, die Festigkeit des ganzen Druckpolsters er- höhen. Da das Intendirte (?ine Verdickung ist, also eine Vergrösse- rung des Durchmessers des Drucklagers, so wird iln- am besten durch andere Fasern widfetanden, welche in der Richtung dieser Verdickung gelegen sind. Diese Fasern müssen gleichfalls inner- halb der Niveauflächen verlaufen, denn bei jedem anderen Verlauf fände stets zugleich Biegung derselben statt; und sie müssen ausser- [117] dem also rechtwinkelig zu dem vorhandenen Druckfaser- system stehen, da die Verbreiterung und in die Breite Ordnung der Fasern immer rechtwinkehg zu ihrer Länge erfolgt. Sind letztere Fasern, B, Kiimtioiielle ßedeucuug des Baues der DelpLinflosse. 515 wie aiigenoiiuiR'n, paralk'! lion Niveaulinien, so müssen diese zweiten Fasern senkreelit zu den Oberfläclien der Platte stellen. Diese Zug- fasern werden nun aber, da sie in den Niveautläclien liegen, gleich- falls conipriniirt; sie werden sich daher auch abplatten und verbreitern; und durch die \'crbreiterung erhalten die rechtwinkelig zu ihnen stehen- den Druckfasern auch ihrerseits eine Beanspruchung auf Zug. So- mit werden beide I'asern in gleicher Weise beansprucht. Es ist daher das Naturgeniässeste, dass sie auch beide gleiche Richtung zu den Oberflächen haben, also beide in Winkeln von 45" zu denselben stehen. Indessen, da die specielle Riclitung jedes dieser beiden recht- winkelig zu einander stehenden Druckpolster-Fasersysteme für die Druckfunctiou an sieh nebensächlich ist, so werden vorkonunende secundäre Xebenmoraeute, z. B. eine kleine \^\riation der Bean- spruchung oder eine sonstige hinzukommende Beanspruchung leicht Ver- anlassung sein können, in bestimmter Weise von diesen indifferenten Richtungen alizuweichen , wodurcli dann sofort ein längeres spitz- winkelig, bez. parallel zu den ()berfiächen stellendes Fasersystem zu unterscheiden ist von einem kürzeren, in grösserem Winkel, bez. senkrecht zur Oberfläche stehenden. Da die Druckfestigkeit der l'ri mitivfibrillen erheblich geringer ist, als ihre Zugfestigkeit, so wird bei der Biegung unserer Platte die oberflächliche Zugfaserschicht um ein Geringeres ausgedehnt werden, als die \''erkürzung des Druckpolsters durch Com- pression beträgt. Aus diesen Gründen ist es nöthig, dass das D r u c k- polster entsprechend dicker ist als die Zugfaserschicht, um durch grösseren Hebelarm die Compression und daher auch den Widerstand zu verstärken. Die neutrale Fläche kann also bei der Con- struction aus unserem Material nicht in der Mitte der Dicke liegen, sondern sie muss stark nach der Seite der grösseren Widerstands- fähigkeit, nach der Zugfaserschicht verschoben sein. Findet abwechselnd Biegung auch nach der anderen Seite statt, so ist blos nöthig, dass auch die bisherige Druckseite auf der Oberfläche noch eine Zugfaserschicht erhält; das Druckpolster bedarf keiner Aenderung, es kann bei Biegung nach beiden Seiten fuugiren. 33* 516 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. B Fig. 4. Unser Gebilde ist in diesem Znstande, obgleich mit Zug- und Druckfestigkeit auf das Beste ausgestattet, doch nocli nicht fähig, dieser Ausstattung entsprechenden Biegungs- widerstand zu leisten, da nicht der dritten Art der bei Biegung eintretenden Beanspruchung, der „Abscheerung" Genüge geleistet ist. Von den für unseren Zweck unterschiedenen Hauptrichtungen der Abscheerung, der horizontalen und verticalen, ist letztere bei unseremMateriale, da auf jeder [118] senkrechten Lage eine verticale Belastung liegt, die primäre. Erst wenn, oder in dem jNIaasse als auch noch dieser verticalen Abscheerung begegnet wird, kann der durch eine typische Combinatiou von Zug, Druck und Abscheerung charakteri- sirte Biegungsbeanspruchung widerstanden wer- den. Unser Modell, bis jetzt blos bestehend aus Zugschicht und rechtwinkelig ihr angefügten, von einander isolirteu Drucklamellen ist gerade am wenigsten geeignet, dieser Art der Abscheerung zu begegnen; denn bei der Biegung werden sich die Lamellen gegen- einander verschieben , wie in Fig. 4 A. Dies wird bei der geringsten Dehnung der Zugschicht und bei der geringsten Compression der Drucklamellen eintreten, sodass keine von beiden Schichten nur an- nähernd voll beansprucht werden kann, indem der mechanische Appa- rat, so wie er jetzt ist, schon lange vorher nachgiebt und die Höhe der Drucklamelleu, abgesehen von der, absolut gemessen, geringen \^crgrösserung der Reibung bei grösserer Fläche, überhaupt nicht für die Widerstandsfähigkeit beansprucht wird. Es muss deuniach diese VerscMebung der Lamellen gegen einander verhindert werden und zwar in Rücksicht auf unser Zugmaterial in einer Weise, dass blos Zugbeanspruchung dabei entsteht. Um diese primäre verticale Abscheerung mit Zugwiderstand leistendem Materiale zw verhindern, müssen, wie im beschreibenden Thcile .schon erörtert, die Lamellen durch besondere „Abscheerungsfasern", welche parallel zwischen je zwei Lamellen verlaufen und sich mit jedem l'lnde an je eine der Platten ansetzen, verbunden werden. Wird dann B. Fuiictiunelle Bedeutung des Baues der Deliiliiuliosse. Abscheerung A-orsuclit iu der Richtung dieser Fasern, so werden die- selben rein auf Zug beansprucht. Zwei gleich gerichtete, aber ent- gegengesetzt zwischen beiden Platten angeheftete solcher Fasern bilden ein „Abscheerungsf aseri)aur," welches im Stande ist, entgegen- gesetzten Beanspruchungen längs ihres \'erlaufes zu genügen. (Es wäre nun selir umständlich, wenn für jede Verschiebungsrichtung innerhalb der NiveauHäche eine entsprechend gerichtete Faser nüthig wäre; dies ist aber nicht der Fall, vielmehr vermögen zwei sich kreuzende Faserpaare allen Beanspruchungsrichtuugen innerhalb ihrer Ebene zu genügen, so dass d u r c h zwei r e c h t w i n k e 1 i g s i c h kreuzende A bscheer uugs-Faserpaare Widerstand nacli allen Richtungen geleistet werden kann.) Erst durch ilie Einführung dieser Abscheerungsfasern in unsere Druck- und Zugconstruction ist eine vollkommene Biegungs-Construction mit unserem INIateriale hergestellt, und es findet mit der Verhinderung der Abscheerung zwischen den Xiveaufläciien nunmehr fast vollkommene Umsetzung der „ßiegungskräfte" in Zug und Druck statt. [119] Aber es bleibt noch die Frage, wie bei dieser reinen Bieg- ung der entstehenden hoi izontalen Abscheerung zu begegnen ist. Dies geschieht bezüglich der Zugfaser schiebt am besten durch Befestigung besonders der Enden ihrer Fasern au der Druck- schicht, wie wir dies an der Flosse vorgefunden haben. Für das Druckpolster dagegen ist diese Abscheerung in ihrem Wesen und in dir Art iln-er Begegnung schwierig zu verstehen. Jede Lamelle wird von der Zugfaserscliicht an gegen die concave Oberfläche hin immer stärker gepresst und dadurch nach der C'oncavität zu, unter entsprechend stärkerer seitlicher Compression zu einem Keile zugeschärft (s. Fig. 4 B auf S. 51()). Die Compression jedes Querschnittes der Faser und die Art, wie ihr Widerstand geleistet wird, ist sclion besprochen; gegenwärtig handelt es sich dagegen darum, was durch die stärkere Compression eines folgenden Querschnittes zwischen ihm und dem vorhergehenden stattfindet, und das ist die Tendenz einer Art Abquetschung. Von dieser giebt ein mit seinem einen Ende in den Schraubstock einge- spannter Draht eint' \'orstelluug, nur dass hier der eine noch freie 518 Nr. 7. Fuiictiuiielle Gestalt uud Structur der Schwanzflosse des Delphin. Querschnitt des Drahtes gar uicht, der erste eingespannte Querschnitt aber sehr- stark gedrückt und verbreitert ist. Das, was au der Ueber- gangsstt'lle zwisciieu diesem letzten nicht gedrückten und dem ersten direct vom Sclu'aubstock gefassteu und gedrückten Querschnitt statt- findet, eutspriclit dem, was, nur in geringerem Grade, mit unseren PrimitivfibrillenBünilcln vorgeht. Dabei wird ein Tlieil der Primitiv- fibrillen, welche das durch Kittsubstanz verbundene Primitivfibrillen- bündel bilden, nach einwärts vom dickeren gegen den dünneren stärker gedrückten Querschnitt hingezogen, während gleichzeitig andere Pri- mitivfibrillen von dem dickeren und daher schmaleren Fasertheile nach aussen an die Seite des dünner gedrückten und verbreiterteren Theiles gezogen werden; und dieser Zug vermehrt che Läugsspannmig der ohnehin schon gespannten Primitivfibrillen. Es findet dabei zitgleich schiefe ^'ersclliebung der Primitivfibrillen gegeneinander statt unter Ueberwindung des Widerstandes der Kittsubstanz. Die Ab- scheerung wird also umgesetzt in Zugbeanspruchung ilcr Pr i miti vf i liri 11 en und in Druckbeanspruchung der Kittsubstanz, beides die specil'ischen Widerstandsqua- litäten unseres Materiales. Es ist aber klar, dass diejenigen oben angegebenen Factoreu, welche die Deformation, die \'erbreite- rung der einzelnen Bindegewebsfasern und der Faserbündel verhindern. damit auch schon diese Art der Abscheerung henuniu und ihr \\'ider- stand leisten. Sie wird also auch zum Theil in Zug der rechtwinkelig zu den gedrückten stehenden Fasern umgesetzt; und erst, wenn diese nicht widerstehen, wird die eben charaktcrisirte specifische ^Vbschee- rungsbeanspruchung innerhalb der Primitivbüudel stattlinden. [120] Es ist schliesslich Eines noch zu erörtern, tlass nämlich bei der vertica Ich Abscheerung die I^amellen der Höhe nach comprimii't weiden, eine Art der Bcanspruclunig, gegen welche sie an sich keine Widerstandsfähigkeit besitzen. Die Bean- spruchung scheint daher dem Principe der besten Construction zu widersprechen. Trotzdem ist es nicht derl''all, sofern nur diese- Abscheerung l)l(>s dann stattfindet, wenn die Fasern sich im Zustande der Dehnung durch Quer-C'omj)ression befin- den, und wenn diese Längsdehnung grösser bleibt als die Längscom- B. Functioiielle Bedeutung des Baues der Dclphiuflosse. 519 pression bei der Abschoeruiig. Letzteres ist aber Htets der F:ill; denn in Folge der Anwesenheit der Längsfaserschicht und der Lamelle setzt sich die Belastung in Druck und Zug um, und dieser summirt sich gegen die Befestigungsstelle zu, so dass auf jede Lamelle die Summe des Zuwachsdruekes aller jieriplier davon gelegenen Lamellen wirkt; während sich die reine Abscheei'ung, wenn ihr nicht wider- standen wird, nicht summirt, in dem Maasse aber als ihr widerstanden wird, eben in Druck und Zug. welcher sich summirt, umgesetzt wird. So sind also alle Lamellen, mit Ausnahme der äussersten, stärker quer gedrückt u n d stärke r n ach der Höhe g e d e h n t , als durch die Abscheerung in der Höhe comprimirt; es kann daher bei unserer Beanspruchung kein positiver Druck in der Längs- richtung der Fasern entstehen. Die jetzt deductiv entwickelte Bieguugseonstruction , welche der Natur unseres Materiales durchaus angepasst ist, ist trotz der Manuiglaltigkeit ihrer Einzelfuuctioneu bei der Biegung, der viel- fachen Jjeanspruchuugen und Kräfteumsetzuugeu sehr einfach , )je- stehend blos aus einer äusseren Längsfaserschicht, senkrecht dazu stehenden Querlamellen, aus zwei zueinander senkrechten Fasersystemen und einer \'erbindung der Lamellen durch ihiu'ii parallele Fasern. Soll auch einer Biegung nach der entgegengesetzten Seite begegnet werden, so ist, wie schon erwähnt, auf der bisherigen Druckseite, welche dabei zur convexen Zugseite wird, noch eine Zug- faserschicht nöthig; die Drucklamellen bedürfen keiner Aenderung und blos neue Abscheerungsfasern zwischen ihnen sind für die neue, der frühereu entgegengesetzten Abscheerungsrichtung einzufügen, wo- mit die „Faserpaare" hergestellt werden. Ist es weiterhin wüuscheuswerth, dass zeitweilig dastiebilde der Biegung nicht widerstehen, sondern ihr möglichst leicht nachgehen soll, so ist dies mit der vorhandenen Construction unge- mein leicht und vollkommen mögUch. Da vollkommene Functions- theilimg stattgefunden hat, indem für jede wesentliche Art der Be- anspruchung ein besonderes Fasersj'stem vorhanden ist, zur Wider- staudsfälügkeit aber die gleichzeitige Wirkung aller drei Faser- systeme unerlilssüch nöthig ist, so braucht jetzt nur eines der 520 Nr. 7. Fnnctionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. ^- ' — . Fasersj'steme etitspannt zu werden, um das ganze Gebilde leicht biegsam zumachen. Am leichtesten wird diese Entspannung und zugleich ein Wechsel mit hoher Anspannung bei dem äusseren „Zugfasersystera" möglich sein, weil [121] durch Muskeln in ihm leicht beide Zustände hervorgebraclit werden können. Dagegen würde es nicht möglich sein, die Fasern der Niveaulamellen bald für Coni- pression nachgiebig, bald widerstandsfähig zu machen. Daher ist blos erforderlich, dass die ,, Zugfasern" nach einer Seite hin veränderhch befestigt sind. Kommt unter diesen Umständen die ent^^'ickelte „Festig- keitsconstruction" für die Biegung nur in umgekehrtem Sinne als bislier erörtert wurde, also mit Nachgeben gegen die Bieg- ungstendeuz zur Geltung, so tritt sie dafür bei der Streckung, äusseren Widerstand überwindend, in Thätigkeit, und zwar letzteres in genau derselben Weise, wie bei dem Biegungswiderstand, nur dass der Deformatiousprocess umgekehrt verläuft. An Stelle der Biegung durch senkrechte Belastung der ( )berfläche, welche Biegungs- Zug, -Druck und -Abscheerung bewirkt, entsteht jetzt durch den ge- gebenen activen Zug, durch Muskelthätigkeit, unter Ueberwindung der rechtwinkelig zur Oberfläche wirkenden Belastung, die Streckung. Die Beanspruchung in jedem Momente ist dabei in dem Zugfaserlager, in den Drucklamellen und in den Abscheerungsfasern zwischen den- selben ganz dieselbe. Uebersicht der Construction unseres parallelepi- pedischen Modells: Es ist im Vorstehenden somit ein Gebilde von einfacher Gestalt construirt worden, welches mit unserem Materiale auf die zweckmässigste Weise sowohl ßiegungs widerst and bei bestiramt-gerichteter Biegungsbeanspruchung zu leisten, als auch der Biegung möglichst leicht nachzugeben und da- nach durch Einfülirung einer einzigen Art von Zugkräften die Streckung unter Ueberwindung von äusseren be- stimmten Widerständen zu volllu-ingen vermag. Dabei werden die Fasern immer blos in den Richtungen und Arten ihrer grössten Widerstandsfähigkeit beansprucht. Das Allgemeine dieser Construction besteht darin, dass zunächst eine vollkommene Tren- nung von Zug- und Druckf aserlager eintreten musste, da die B. Functionelle Bedeutung des Baues der Uelphinüosse. 521 c-iitsprechenden Fähigkeiten dem Material nur in von einander verschie- denen, in siificie senkrecht zu einander stehenden Uiclitungen zukom- men, und daher das Material für diese beiden Finutionen senkrecht zu einander geordnet sein muss. Die Zugfasern müssen in den Kichtungen der Biegungslinicn liegen und bei den altcrnirendeu Ik'anspruchungsrichtungeu müssen sie zwei, die mittlere Druck- schiclit einscliliessende Lager bilden. Die Fasern der letzteren Schicht forniiren rechtwinkelig zu den Oberflächen und zu den Bieguugslinien stellende, also den Niveauf lachen folgende Lamellen aus zwei wietlerum recht- [122] winkelig zu einander stehenden Fasers3'stemen ; diese Lamellen werden durch Ab- scheerungsf aserpaare mit einander verbunden. Wenn nun zur Constrtictio» eines compJicirt geform- te ti Gehildes roii der Gestalt unserer Flosse übergegangen werden soll, um ihm gegen dieselbe Beanspruchung durch gleichmässige Belastung der ganzen Oberfläche die Biegungsfestigkeit zu verleihen, so sind zuerst die Abweichungen der \" e r h ä 1 1 n i s s e der Flosse von denen des Modells festzustellen. Die Flosse ist zunächst nicht allenthalben gleich dick, wie unsere Platte, sondern nimmt nach aussen und hinten an Dicke ab; dann ist auch der Umriss nicht rechteckig, die grösste Ausdehnvmg steht nicht rechtwinkelig zur Befestigungsstelle; und die Befestigungsstelle selber, das Axenscelet, ist nicht in ganzer Länge starr, sondern ist erhel)lich, und zwar nach hinten zunehmend, biegsam. Alle diese Momente müssen darauf geprüft werden, ob und welche Abweichung sie in der Structur nötliig machen. Aber es muss als selbstverständlich vorausgeschickt werden, dass die allgemeinen Charaktere der Biegungsconstrnction aus unserem Material, welche oben airsführlich entwickelt luul soeben kurz zusammengefast worden sind, allerorts gevvahrt bleiben müssen, da die Cha- raktere dieser Beanspruchung hier wie dorl die gleichen sind. hl welcher Weise nun müssen die angedeuteten besonderen Ge- staltverhältnisse bei der Structur der Flosse zur Geltung kommen? Um denselben Gang in der Untersuchung einzuschlagen , wie bei der Coustruction des Modelies, so wäre zunächst festzustellen, 522 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. welche K icli tiiiig die Biegu n gslinien, iilso die Zugfascni, lialuu laüsseii. Neliincu wir wieder gleichmässige Belastung der Flossenoberfläcbe oder entsprechende Fortbewegung der Flosse im Wasser rechtwinkelig zu ihrer Oberfläche an, so ist fest/Aistellen , in welchen Richtungen die Biegung stattlinden wird, also wie die Bieg- ungsflächen und damit zugleich die recht\nnkelig zu ihnen orientirten Niveauflächen verlaufen müssen. Bei dem parallelepipedischen Muikll musste die Biegung in Ebenen ]iarallel der Läugsmittelebene erfolgen, da dasselbe von der Mittelebene aus .symmetrisch gebildet, befestigt und beansprucht war. Das ist hier in keiner Weise der Fall; nach der (iestalt des Flossenflügels kann es keine Mittelebene desselben geben; daher kann auch die Belastung niclit synnuetrisich vertheilt sein und bei der Avechselnden Dicke muss die Unterstützung eine durchaus ungleiche sein. Es wäre eitel eine exact mathematisclie Lösung dieser Probleme auch nur zu versuchen, da mit den gegenwärtigen Mitteln der höheren Aualysis ungleich einfachere Aufgaben schon sich als unangreifbar erwiesen haben. Zudem müsste für einen solchen Zweck erst die complicirte Form des Umrisses der Flosse zugleich mit der Dicke auf eine mathematische Formel gebracht werden und die Biegungs- coefficienten für die verschiedenen Stellen genau festgestellt sein, was alles schon die Grenzen der Mögiii-likeit über- [123) schreitet. Muss so auf eine mathematische und damit auf eini' (juantitativ exacte Lösung [durch fi-emde fachmännische Hülfe] verzichtet werden, so sind wir doch dadurch noch nicht vollkommen hülflos, sondern vermögen wenigstens das Qualitative, die allgemeinen Charaktere der nöthigen Aenderungen auf andere Weise z\i ermitteln. Es ist klar, dass die Linien stärkster l>iegung alle von der Be- festigungsstelle aus in die Fios.se sich verbreiten müssen; aber das Genauere des \'erlaufes jeder Linie ist nicht leicht abzuleiten, schwerer als der Verlauf der recht winkt'lig dazu stehenden Niveau- linien, also derjenigen Linien, .,über" welche gleichsam die Biegung stattfindet, weiciie aber selber ..ungebogeu" bleiben. Durch jeden l'unct der Flosse können unemllii'h viele gekrümmte Linien gezogen werden, weleiie immer denselLicn lateralen Flächen- B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinflosse. 523 rauni der Flosse iiacli innen abgrenzen, aber nur Eine Linie grenzt den periplieren IJauin derartig ab, dass tue Biegung dureh die gleich vertheilte Belastung ein Maximum, der Biegungswiderstand also ein Minimum ist; und nur ,,über" den Verlauf „dieser" Linie kann, zufolge Maupertuis' Prineipe der kleinsten Aetiou, die Biegung stattfinden. Diese Linie, über welche die stärkste Biegung stattfindet, ist aber iden t iseli mit unserer Niveau- linie, welche selber nngebogen bleibt; und wir hätten so eine ein- fachere Methode gefunden, diese Linien zu ermitteln ; denn es braucht nur das Dii^orential der bestimmenden Function gleich Null gesetzt zu werden. Aber auch diese an sicli einfache Methode würde gleich- wiiid unter den hier vorliegenden complicirten Formverhältnisseu zu einer nicht zu bewältigenden C'omplieirtheit des Ausdruckes führen, sodass wir selbst nicht zu dem Ziele gelangen würden, wenn die Gestalt der Flosse schon auf einen mathematischen Ausdruck gebracht wäre und die C'oefheienten ermittelt wären. Trotzdem wird uns die Methode der Bestimmung der Linien geringsten Biegungswiderstandes wenigstens dem gewünschten Ziele nähern, indem wii' durch directe LTeberleg- uiig im Stande sein werden, tlie Charaktere des Verlaufes dieser Linien für verschiedene Theile der Flosse zu bestimmen. Für den \'erlauf der Linien stärkster Biegung oder geringsten Biegungswiderstandes müssen bestimmend sein die Stellung des Gebildes zur festen Anheftuugsstelle, die Dickenänderungen desselben, die speciellere Gestalt des Umrisses der Platte und schliesslich die even- tuelle Biegsamkeit auch des Befestigungsorganes, der Wirbelsäule und in diesem Falle noch das Verhältniss der Biegungscoefficienten der Platte und der Axe. Nehmen wir zunächst an, die Flossenaxe wäre voll- kommen starr und die Flosseuf lügel ständen rechtwinkelig zu ihrunrl nähmen blos von innen nach aussen au Dicke ab. Dann würde, wie in dem obigen Gummimodell, die Biegung durch die gleichmässigen Belastungskräfte rechtwinkelig zur Axe geschehen und also die Niveaulinien der Axe parallel sein, somit quer das Orgau durchziehen. [124rj Stehen die Flossenflügel, wie in unserem 521 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schvranzflosse des Delphin. Falle, schief zur festen Axe, so wird die quere Stellung der Niveau- linien zur Längsausdehnung des Flügels im äusseren Theile desselben nicht geändert; erst von der Stelle an, wo die Niveaulinien die starre Axe schneiden müssten, wird eine Aenderuug ihres Verlaufes eintreten, und zwar werden alle Niveaulinien des übrigen mittleren dreieckigen Stückes gegen den hinteren Endpunct der Wirbelsäule convergiren müssen. Doch genau genommen würde el|iliinflosse. 527 \\'(un wir uns uuii iiocli der geinniliti'U Liml der Wirklichkeit widersprecheiuleu Beschränkung-, dass die Flosse nur mit sich selber j-iarallol rechtwinkelig zu ihrer Oberfläche iin Wasser bewegt werde, ent- ledigen wollen, 1-0 ist daran /.u denken, dass die Niveaulinien keine Aenderung erfahren können, sofern die \'on iiuien nach aussen zu- nehmende Beansiifuchung ])roportional der Länge der Radien erfolgt. Dies hat darin seineu Grund, dass (he Radien schon in Länge und Richtung an die aus Gestalt, Dicke, Klasticität und Befestigung der Flosse resultireuden Biegungsbeauspruchung vollkommen angepasst sind, und dass somit alle Durchschnitte der Kraftlinien durch eine Niveaulinie in proportionaler Weise beansi)rucht werden; und diese proportionale Beanspruchung erstreckt sich von der Peripherie der Flosse bis zur Axe. Daher kann die Proportionalität auch nicht gestört werden, wenn jetzt })roportional in umgekehrter Richtung, von innen nach aussen die Beanspruchung jedes ganzen Radius sich steigert, wie es bei Drehung der starren Flosse um irgend eine vor der Flosse gelegene Axe stattfindet. Aber auch dies schliesst noch eine überflüssige Beschränkung ein. denn es genügt schon unserer Bedingung, wenn bei jeder Bewegung der Flosse im Cumzen die Formveränderung nur durch die von der Bewegung selbst (im Wasser) erzeugten Widerstände hervorgel)racht wird, wie es ja naeli unserer friUier gegebenen Ableitung des Gebrauches der Flosse, wonach die Biegung derselben vorzugsweise auf diese Weise entsteht, geschieht. Damit nun auch während der Streck- ung der gebogenen F'losse diese ^'erllältnisse sich niclit ändern, wäre nöthig, dass die Streckung gleichzeitig in allen Niveaulinien [127] oder * successive von innen und vorn nach aussen und hinten über die Niveau- linien, aber gleichzeitig in allen Theilen jeder Niveaulinie stattfmdet. Das ist nun, wie aus dem gröberen Baue hervorging, nicht gut möglich; sondern sofern die Streckung durch eine von vorn nach hinten ab- laufende Streckungswelle geschieht, so werden die Radien der Reihe nach von vorn nach hinten gestreckt und danht, wie Fig. 3 Taf. II er- kennen lässt, im Verlauf der Niveauhnien von ihrem vorderen Ende nach dem hinteren hin eine successive Beanspruchung bewirkt. Wir sind nicht im Stande, die lunervationsfolge der Flossenmuskeln genau zu beurtheilen; es mag denkbar erscheinen, dass die einzelnen Radien 528 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. successive von innen nach aussen gespannt werden und dass zugleicli die Streckungswelle so von \orn nach hinten verlaufe, dass wirklich die Druckplatten successive, jede aber immer in allen Theilen gleich- zeitig anges]ninnt werden. XützHch für die Locomotion wäre (hes indessen nicht; auch scheinen die anatomischen Verhältnisse jeder Sehneaschale eine derartige isolirte Bewegung der einzelnen Fasern jedes Eadialbündels auszuschliessen. Erfolgt aber die Streckung nicht an allen Stellen jeder Niveaulinie zugleich, so hndet dabei auch andere Beanspruchung statt und entsprechende Structur wird nothig. Wir kommen damit zu nöthigen Abweichungen von der bisher erörterten reinen Biegungsconstructiou; che wir indessen auf diese eingehen, sollen noch einige anatomische Beweise für die Richtigkeit un- serer bisherigen Deductionen, insbesondere für die Coinci- denz der Richtung der gebogenen Lamellen mit dem theo- retisch entwickelten Verlaufe der Niveaulinien beige- bracht werden. Für die Richtigkeit spricht einmal der ^\n•such der Biegung, indem bei auch nur ganz annähernd gleichmässiger Vertheilung der Belastung durch die Finger der Hand .stets Falten entstehen, welche diesen Linien folgen, so dass letztere als die prädisi^o- nirten Niveaulinien sich darstellen. Dies erhält Bestätigung dadurch. dass die oben erwähnten stabilen Biegungsfalten der Haut, soweit solche vorhanden sind, in denselben Richtungen ver- laufen (vgl. die entsprechenden Linien der Figuren 3 u. 5 auf Taf. II);, und auch die Ordnung der Cutispapillen in Reihen, welche diesen Linien entsprechen, wird sich bei der unverschiebbar festen Anlreftung der Cutis vmd der daraus resultirenden constauten ITebereinstimmung der Compression der Cutis mit der Druckschicht am besten in diesem Sinne als eine Anpassung an die constauten Compressiousrichtungen auffassen lassen. Die Berechtigung dieser Auffassung wird noch wesentlich dadurch verstärkt, dass, wie hier noch zur Beschreibung (von Seite 490) hinzugefügt werden soll, ausser der Anordnung der Papillen in diese Reihen auch die einzelnen Paiiillen selber in Richtung derselben viel breiter und in b. Functioiielle Bedeutung des Baues der Dclpkinflosse. 529 dazu rcflit winkeliger Riclitung sehr stark abgeplattet sind. Schliesslich darf auch der entsprechende Verlauf der Fasern der Cutis in diesem Sinne gedeutet werden, wenn schon ihm auch noch eine besondere accessorische [128] fuuetiouelle Bedeutung zuzu- erkennen ist, auf welche im Folgenden eingegangen werden wird. Auch zur reinen Biegungsconstruction fehlt noch ein Widerstands- moment, niimhch die vollkommene Befestigung an der Wirbel- säule. Eine Befestigungsweise haben wir bereits in den Radiärfasern kennen gelernt; indem diese Fasern von vorn und median nach hinten und lateral verlaufen, befestigen sie die Flosse zugleich in dieser Richtung gegen die Axe. Aber damit allein würde die Flosse blos einen nicht zu dirigh-enden Anhang der Wirbelsäule darstellen, denn bei dem Rückstoss würde das (iebilde sich fast widerstandslos nach vorn biegen ; um diesen Rückstoss von der Flosse auf die Axe und damit auf das ganze Thier zum Zwecke der Propulsiou zu übertragen, ist ein sehr kräftig entwickeltes Fasersystem nöthig, welches von der Wirbelsäule aus von hinten her in die Flosse gegen den vorderen Rand liin einstrahlt und sie so fest nach hinten befestigt. Dies ge- schieht durch die Fasern des „gebogenen" Fasersystemes, deren eigentliche Bedeutung wir hiermit kennen lernen. Es wird aber auffallen, dass Fasern mit derartiger Function, durch welche sie inLängsrichtung gespannt werden, nicht gerade, sondern gebogen ver- laufen und so bei der Function selber aus der Biegung gestreckt, also in ihrer schwächsten Widerstandsfähigkeit beansprucht werden. Diese Auf- fassung ist indess nicht zutreffend, denn die Fasern sind nicht frei ge- bogen, sondern über feste Polster gespannt, wie ein über einen Balken gebogenes und gezogenes Seil, wobei die Biegungsfestigkeit nicht beansprucht wird. Man könnte weiterhin zweifeln, dass diese gebogenen Richtungen die Richtungen grössten Zuges seien, so dass bei diesem Verlauf keine Minimum-Maximumleistung erreicht werde. Auch dies ist nicht richtig. Denkt man sich z. B. eine gerade Faser von dem Ende der Wirbelsäule seillich nach dem äusseren Drittel des vorderen Randes gezogen, so steht sie fast senkrecht zur Wirbelaxe, da aber der Rückstoss nachher auf die Axe übertragen werden soll, parallel derselben gerichtet ist, so steht er auch senkrecht zu der Faser, W. Rons, Gesammelte Abhanilinugen. I. ö^ 530 Nr. 7. FunctioneUe Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. welche ihn übertragen soll; daher ist bei dieser Stellung eine Ueber- tragting nicht möglich. Geeignete Fasern müssen also nach Möglich- keit parallel derselben verlaufen, schliesslich aber doch an dieselbe hinten herantreten und daher eine entsprechende Biegung machen, welche am besten allmählich bewirkt wird. Nur die Fasern, welche in den vorderen, der Axe nächstgelegenen Theil der Flosse treten, sind geeignet, auch bei geradem Verlauf diesen Zug zu übertragen, indem die gerade Verlnnduug ilires Endpunctes am vorderen Rande imd ihres Ursprunges am hinteren Theile der Wirbelsäule nur einen geringen Winkel mit der Axe bildet. Wir übergehen der Kürze halber die einfache mathematische Begründung dieser Darlegung. Mit dem Gesagten ist aber noch nicht begründet, warum diese „Befestigungs- fasern" gerade vollkommen mit den eigen-[129] thümlicheu und aus ganz anderen Ursachen folgenden Richtungen der Biegungslinieu zusammenfallen. Hierfür bestehen zwei Gründe, von denen jeder für sich allein ausreichend wäre, diese Identität des Verlaufes zu bewirken. Ein Mal müssen die gebogenen Fasern über ein mögüchst festes Polster gespannt sein, denn nur in diesem Falle können sie mögüchst stai'k und möglichst rein auf Zug beansprucht werden. Das Druckpolster wird bei der ßieg- mig durch die Conipression in Richtung der radiären Biegungsünien gt- festigt und sucht demnach in dazu rechtwinkeliger Richtung auszu- weichen. Verlaufen in diesen letzteren Richtungen Fasern, so werden sie durch diese Ausweichungstendenz gespannt; geben sie aber nicht nach, so festigen sie rückwirkend wiederum das Polster, über welches sie gespannt sind und können daher ihrerseits wieder in vollkommener Weise einem anderen Zug, welcher die Biegung zu strecken sucht, widerstehen. Zweitens aber würden sie bei anderer \'erlaufsrichtung, wobei sie also schräg zu den Lamellen stehen und durch dieselben liindurch gehen müssten, bei der Conipression der mittleren Schicht entspannt werden ; dies folgt daraus, dass der Druck in dieser Schicht nur rechtwinkeUg zu den Lamellen wirkt und daher jede schief zur Lamelle stehende Faser nach dem Maasse dieser Richtungsabwfichung zugleich in ilu-er Länge comprimii-t also entsparmt ^nrd. Dies sind die Gründe, welche bewirken, dass die hinteren Befestigungsfasern der ß. Functionelie Bedeutung des Baues der Delphinftosse. 531 Flosse vollkommen zwischen die gebogenen Drucklamelleu sich einfügen müssen, nni rein um! möglichst stark auf Zug beansprucht zu werden. Diese besondere Function ist die Ursache, warum wir diese Fasern als ein besonderes System unterschieden haben, obgleich sie in ihrem hinteren Theile nicht isolirt sind, sondern daselbst integrirende Bestaudtheile des Lamellenverbaudes als solchen in seiner specifischen Function bilden. Dies letztere Verhalten erklärt sich folgender- maassen. Haben chese hinteren Befestigungsfasern den Verlauf zwischen den gebogenen Lamellen, so werden sie gleich diesen ge- drückt, dieneii unfreiwillig als Druckpolster. Da sie am hinteren und medialen Theil der Flosse in Folge der Bewegung der Fasern aus der ganzen Flosse gegen das hintere Ende der Wirbelsäule hin, sehr dicht gelagert sind, so werden sie hier in einem wesentlichen Grade der Druckwiderstandsfunction dienen und daher die in ihre Richtung fallende Componente der weiter vorn in den gebogenen Lamellen .sich lindenden schrägen Fasern hier überflüssig machen ; daher sind hier als weitere Fasern nur noch senkrecht zu den Läugsfasern stehende kurze Fasern nöthig. Damit haben wir sowohl die Einordnung der gebogenen Befestigungsfasern in die gebogenen Lamellen fuuctionell erklärt, als auch zugleich einen ersten bestimmenden Grund für die Wahl einer bestimmten Faserrichtung innerhalb der Drucklamellen erhalten. Denn wie vorn entwickelt worden ist, ist die Faserrichtung iauerhalb dieser Lamellen für ihre Function. Druckwiderstand zu leisten, gleichgültig, wenn nur zwei [1301 rechtwinkelig zu einander stehende S\-steme vorhanden sind. Die bestimmenden Momente für die weiteren vorgefundenen typischen Faserverlaufsverhältnisse schliessen sich hier angemessen an, da sie aus den oben bereits ange- deuteten Abweichungen von der reinen Bieguugsbeauspruchung resp. von der Ihnkehr derselben hervorgehen. Die Streckung der über die geschilderten Niveaulinien abge- bogenen Flosse ist, wie dargelegt, nicht wohl in allen Puncten einer Niveauhnie zugleich möglich, wodurch allein längs dieser Linie keine Kraftein Wirkung stattfinden, also diese Linie functionell eine reine Niveau- linie darstellen würde. Wenn aber die von vorn nach hinten über die gebogene Flosse ablaufende Streckungswelle die vorderen Theile 34* 532 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. jeder Niveaulinie durch Anziehung der vorderen Radien nach vom inid in die Transversalebene zurückzieht, während die hinteren Tlieile derselben mit dem entsprechenden Flossentheil noch rückwärts gebogen sind, so muss unter diesen Umständen noth wendig auch ein Zug längs der Niveaulinien selber, eine Biegung der gebogenen Lamellen über die Kante mit activem Bieguugszug stattiinden. Da Biegungs- zug iunner an der Oberfläche am stärksten ist, so sind damit auch für die über die Kante gebogenen Drucklamelleu, welche ja längs der Niveaulinien verlaufen, an der Oberfläche Zugfasern nötliig ; so er- klärt es sich, dass die schrägen Fasern der Lamellen gegen die den beiden Flossenoberflächen zugewendeten Seiteukanten hin immer in eine der Kante parallele Richtung umbiegen und .so der Kante P'estigkeit gegen den Bieguugszug verleihen. Am hinteren Theil der Flosse haben wir, wie eben erörtert, schon Läugsfaseru, und ein derartiges Umbiegen der kurzen Fasern ist daher niclit uöthig; wohl aber spricht sich unser Bedürfniss dadurch besonders aus, dass diese Läugsfaseru an der Oberfläche am dichtesten liegen und so fast ein be- sonderes Zuglager bilden. Da die Lamellen im Momente derartiger geringer Biegungsbeanspruchung stets zugleich im Zustande der hochgracügeu C'ompressiou von der Fläche her sich befinden, so ver- mögen sie diesen geringen Widerstand wohl zu leisten; zweckmässig muss es aber unter den besonderen Umständen, wo kein besonderes Druck- polster formirt ist, sein, wenn die Zugfasern nicht vollkommen abge- sondert auf der Oberfläche liegen, sondern sich schräg in die unter- liegende Substanz einsenken und so die ganze Schicht direct mit- nehmen. So erklärt sich die Bevorzugung der schiefen Faserung in den Druck lamellen; und da die Biegung wechsel- seitig nach beiden Oberflächen erfolgt und die Fasern jeder Lamelle rechtwiukehg gegen einander stehen müssen, so ergab sich die Schiefstel- lung unter einem Winkel von 45 Grad zur Oberfläche. Damit ist also auch diese typische Faserrichtung fuuctionell erklärt. Aber die Nöthigung zu einer reinen Durchführung der Faserung nach einer Richtung ist hier immer noch so gering gegenüber der Hauptfunctiou der Fasern, welche keine feste Richtung erfordert, dass wir uns [131] nicht wundern dürfen, wenn trotz Obigem eine solclie Einheit niilit B. Functionellc Bedeutung des Baues der Delphinilosse. 533 bestellt, sondern nebenbei noch in anderen Riclitungen verlaufende l'asern vorhanden sind. Nach dieser Schilderung der constrnctiven Erfordernisse der B i c .g u n g s b e w e g u n g durch, bezw. der Streckung gegen gleichmässig auf der Oberfläche verthcilte Belastungen sind noch die Erfordernisse der anderweitigen Functionen der Flosse zu erörtern. Die Biegung selbst findet statt bei dem wellenförmigen Ablauf der Ruder- und Schlagbewcgung über die Flosse; und diese Art des Gebrauches der Flosse bewirkt, wie vorstehend ei'örtert, die beste rro])ulsion, ist daher als die vorherrschende Hauptfunction anzusehen ; es ist daher sehr zweckmässig, dass so vollkommene Anpassung an diese Fuuctionsweise in der Structur sich ausspricht. Das Meiste dieser Structur wäre aber ebenso nöthig gewesen, wenn nicht hoch- gradige Biegsamkeit mit willkürlich hervorzurufender Streckung ab- zuwechseln hatte, sondern auch schon bei blosser Widerstandsleis- tung der Flosse ohne Formveränderung derselben wäre dieselbe Structur erforderlich , denn es müsste gleichfalls einer Bieguugs- tenden/, dabei widerstanden werden. Da nun keineswegs immer möglichst vollkommene Propulsion von dem Thiere, sondern ab- wechselnd auch Auftauchen zur Oberfläche und Untertauchen zur Durchsuchmig des Meeres nach Beute resp. zur Verfolgung derselben oft Hauptzwecke sein werden, welche auf die rascheste Weise erreicht werden sollen, ohne uunöthige und verzögernde Propulsion, so wird nicht selten die reine, fächerartige ,, Schlagbewegung" mit der fast starr ausgebreiteu Flosse Verwendung fin- den und ebenso werden alleUebergänge von der gewöhnlichen, wellenförmig ablaufenden Kuder- und Schlagbewegung vorkommen. Die Uebergänge bedingen dabei combinirte Beanspruchungen aus den Beanspruchungen der beiden reinen Bewegungsarten; daher haben wir blos noch die Erfordernisse der reinen Schlagbewegung zu entwickeln; die Erfordernisse der Combinationeu ergeben sich daraus von selbst. \\ht\ die Flosse durch Anspannung aller beiderseitigen Muskeln in ausgebreitetem Zustande erhalten und nur durch Biegung und Streckung des Flossenstieles hin und her bewegt, also blos im Ganzen 53i Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. als widerstandsfähige Scheibe zur ..reinen Schlagbeweguug" gebraucht, so bewirkt sie zufolge ihrer transversalen Stellung Drehung und geringe Propulsion des Thieres nach oben oder nach initen. Die Beanspruchung ist dabei folgende. Zunächst wird die Biegungstendenz in den medialen hinteren Flossentheilen eine etwas andere sein, da die Wirbelsäule jetzt starr ist; die vorhandene Structur, welche für eine geringere Stützung durch die Wirbelsäule eingerichtet ist, wird erst recht im Stande sein, bei stärkei-er Stützung einer nur wenig variirtcu Beanspruchung zu genügen. Wesentlicher ist die Aenderung der Beanspruchung [132] der Dicke der Flosse. Bei einer Biegungsbeanspruchung längs der Radien muss die Dicke des Organes allenthalben im ^'erhältuiss stehen zum Abstand jeder Stelle längs des Radius vom äusseren Rande der Flosse, also vom Ende des Radius; denn längs des Radius summiren sich die auf demselben lastenden Biegungs- kräfte von aussen her nach der (NB. indirecten) Befestigungsstelle des- selben au der ^^'i^belsäule. A\'enn das Verhältniss der Vertheiluns: dieser Belastung bei der Hauptaction, also die Grösse des Eä'aftzu- wachses von aussen nach innen her bekannt wäre, wie er durch die raschere Bewegung der äusseren Theile bedingt wird, so vermöchten wir die Momeuteucm've jedes Radialschnittes und, bei gleichzeitigem Bekanntsein der Coefficienten, die nöthige Dicke für jeden dieser Schnitte zu berechnen. Aber audi bei Mangel dieser Kenntnisse lässt sich doch das allgemeine Verhalten ableiten. Es muss unter allen Umständen die Dicke längs jedes Radius vom freien Ende gegen die Befestigungsstelle zunehmen, und dies derart, dass jedem längeren Radius am Befestigungstheile auch eine grössere Dicke zukommt als einem kürzeren Radialausschnitt. Der 1 ä n g s t e R a d i u s ist damit z u- gleich die Stelle der grössten Dicke des Organes und von ihm fällt dieselbe nach beiden Seiten mit der Länge der Radien ab. Dies Erforderniss reiner Bieguugsconstruction ist aber in unserem Falle nicht vollkommen verwirklicht; sondern die Stelle grösster Dicke ist etwas vor dem grössten Radius gelegen; und das so ausgesprochene Verhältniss einer Verdickung des Organes nach vorn setzt sich in verstärktem ISlaasse fort, indem von der stärksten Stelle nicht ein rascher Abfall der Dicke nach vorn, entsprechend der \'erkürzung der B. Functionelle Bedeutung des Baues der Delphinttosse. 535 Railieu, zu einem ganz dünnen, dem hinteren gleichen Kande statt- findet, sondern indem die Abnahme nur sehr gering ist, und der vordere Rand ganz dick und abgestumpft endigt. Dies deutet auf eine selbststäudige Summation der Beansprueluuig von hinten nach vorn hin, wie sie bei der Biegung längs der typischen Biegungslinicn nicht vorkonnnen kann, da bei letzterer jeder Radial- ausschnitt als selbstständig anzusehen ist und rechtwinkelig zu ihm, also längs der Niveau-Linien keine Ueberkraft vorhanden ist, welche sich nach vorn summireu könnte. Wir haben aber schon vorstehend in der wellenförmig ablaufenden Bewegung eine abweichende Bewegungs- weise der Flosse erkannt, durch welche auch die bisherigen Niveau- linien beansprucht werden; lüerbei muss sich die Beanspruchung nach vorn, d. h. gegen den festeren Theil summiren. Das Gleiche tritt bei der reinen Fächer- oder Schlagbewegung des Schwanzes ein; die Bedingung aber, ohne welche dieses und eine kräftige Schlag- bewegung überhaupt nicht möglich ist, bestellt darin, dass eben das Organ vorn widerstandsfähiger ist, so dass es den von hinten nach vorn gerichteten Biegungszug und -Druck mit dem vorderen Rande aufzunehmen und der Axe zuzuleiten vermag. Deshalb ist es zweck- mässig, dass der vordere, [133] vor dem grössten Radius, also vor der längsten Biegungslinie gelegene Theil der Flosse bedeutend dicker ist, als der von der Länge der Radien abhängigen Biegungstendenz an dieser Stelle entspricht. Also die Verdickung des vorderen Theiles der Flosse stellt eine für die Verstärkung des Effectes der „Schlagbewegung" sehr nützliche Einrich- t u n g d a r. Wenn die Flosse, activ durch Anspannung der Radien gesteift, fächerartig bewegt wird , so entsteht durch diese Art der Bewegung eine stärkere Beanspruchung der hinteren Theile und somit, wie angedeutet, Biegung längs der bisherigen nicht gebogenen Niveaulinien. Zu den besonderen Einrichtungen, welche dieser Beanspruchung dienen, gehören ausser den der Kante der Lamellen parallelen Fasern der- selben, noch die, wie erwähnt, gleichfalls in Richtung der Niveau- linien verlaufenden Faserbündel der Lederhaut, welche letzteren auf diese Weise ihre Entstehungsursache finden. 536 Nr. 7. Functionelie Gestalt nnd Structur der Schwanzflosse des Delphin. Besondere Muskeln, um diese Fasern zu spannen und sie dadurdi im Momente der Action in ihrer Leistungsl'äliigkeit zu verstärken, wie bei den Radiärfasern, sind nicht vorhanden; wohl aber vermögen die Muskeln der letzteren diese Function zugleich mit für die Lamellen zu voUziehen. Bei Spannung der Radiärfasen wird das Polster der mittleren Schicht, wie ausgeführt, gepresst und senkrecht zu den Radien in allen Richtungen verdickt ; dadurch M-erden nicht blos die km-zen, schi'ägeu und queren Fasern in den senkrechten Lamellen, sondern ebensowohl auch alle längs der Richtung der Niveaulinien verlaufen- den Fasern gespannt. Auf diese Weise vermag das Thier die Wider- standsfähigkeit der Flosse bei der Schlagbewegung in ähnlicher Weise willkürlich zu erhöhen oder zu verringern, wie bei der reinen Biegung zur combinirten Ruder- und Schlagbe- wegung. Da so die Flosse in Folge anderweiter Function im vorderen Theile eine von der reinen Biegungsform, d. h. von der Form, welche ein aus unserem Materiale gebildeter Körper bei gegebenen äusseren Umriss haben müsste, wenn er allein auf Biegung durch gleichmässige Belastung beansprucht würde, abweicht, so musste auch die innere Structur an diesen Stellen entsprechend verändert sein, um den ge- gebenen Verhältnissen zu entsprechen. Deshalb sehen wir die Niveau- linien sich gegen den vorderen Rand fast gerade fortsetzen, statt sich wie bei reiner Biegungsform der Flosse durch rasch sich verdünnende Flossen- theile stark nach vorn und medianwärts umzubiegen. Das Gleiche gilt von den Radien, den Insubstantiiruugen der Zuglinien; auch sie verlaufen entsprechend gerade, statt während ihres lateralen V'er- laufes stark nach vorn abzulenken. Wenn wir so erkannt haben, dass die äussere „Gestalt" dca* Flosse in ihren Dickenverhältnissen nicht vollkommen der aus dem Umriss der Flosse sich ergebenden Biegungsbeanspruchung entspricht, sondern in ihren vor- [134] deren Theilen zugleich eine äusserst zweckmässige Anspannung an die Schlagfunctimi der Flosse erkennen lässt, so habi'u wir andererseits zugleich wahrge- nommen, dass die innere Strnctitr roUlcommen, an diese ge- flohene äussere Gestalt anrirpasst ist und so die Fähigkeit er- C. Entstehungsmüglichkeit der Gestalt und Stiuctur der Delphinilosse. 537 langt liat, sowohl der ,.Bie(iii))(/fihe(infi])r)ichn)i(/-- je nach dem Willen des Thieres mit dem Minimum ron Material und Kraft Widerstand zu leisten oder nachzugehen und in ijJeielier Weise der ,,SehIaf/heive(/ung" zu dienen. Nach der ausführlichen Erörterung dieser beiden Hauptloco- motiousbewegungen, welche mit der Flosse ausführbar sind und welche die Gestalt imd Structur der Flosse bestimmen, und ihre Uebergänge in einander in Form der wellenförmig von vorn nach hinten ablaufen- den TIauptbewegung, bleiben nur noch zweierlei Beweguugs- arteu übrig; diese ßind nur von geringer Bedeutung so- wohl für die Locomotion des Thieres, als für die Construction unseres Organes; es sind der Seitwärts seh lag mit der Flosse und der Querrichtung nach über die Flosse ablaufende Wellenbewegung. Erstere dient der Seit wärtsd rehung des Thieres, welche in wirksamer Weise auch durch die Brustflossen vollzogen werden kann, und letztere dient bei den Fischen zur Aequilibri- rung in Ruhestellung, eine Function, welcher bei dem Delphin passiv durch die Rückenflosse, einem dorsalem Kiel, und activ gleich- falls durch die Vorderflossen genügt werden kann. Ausserdem ist die Möglichkeit der Ausführung letzterer Bewegung nach den anato- mischen Verhältnissen kaum wahrscheinlich. Soweit als diese beiden Bewegungsarten vorkommen, können sie nur durch die Radiäi'fasern vermittelt werden und stellen daher au die Flosse keine uns ueue Art der Beausprucbung , da wir die Einwirkung der Spannung der Radiärfäsern und ihren Einfluss auf die Structur bereits erörtert haben. C) Kntsteliuugsinöglichkeit der Gestalt und Structur der Delpliiuflosse. Nach der Schilderung des Baues und der Function der Schwanz- flosse des Delphins erübrigt noch, die mögliche Art und Weise und die Ursache der Entstehung der als wunderbar zweckmässig erkannten Einrichtungen aufzusuchen. Wir werden uns aber dabei zunächst blos auf die ursprüugUche phylogenetische Entstehung des Organs beschränken, wenn schon von dieser aus auch einige Streiflichter auf che ontogeuetische Entwickelung fallen. 538 Nr. 7. Fuuctioaelle Gestalt und Stx-uctur der Schwanzflosse des Delphin. Für die Ableitung der Entstehung zweckmässiger mor- phologischer Einrichtungen giebt es nach dem gegenwärtigen Standpuncte der Wi.«senschaft zwei wesentlich verschiedene, einander anscheinend entgegengesetzte Möglichkeiten. [135] Die erste Möglichkeit ist bezeichnet ilurch das grosse Darwln- sche P r i n c i p d e r A u s 1 e s e aus freien (s. Bd. II 8. (54), in Folge zu- fälliger Bildungsursacheu entstandenen Variationen im Kampfe um 's Dasein unter den Individuen s. Personen: die alleinige Er- haltung des in ilen äusseren Verhältnissen sich Bewährenden, Dauer- fähigen, unter Zugrundegehen aller mit nicht sich bewährenden Eigenschaften ausgestatteten Individuen. Dies ist das gegenwärtig fast ausschUesslicli vorwendete Princip. Dabei ist die wirkliche dynamische Ursache der ursprünglichen Entstehung, die causa efficiens der zur Erhaltung ausgelesenen Variationen un- bekannt; bekannt ist oder als bekannt wird angenommen, die Ur- sache der Auslese und der Suniniirung der Variationen, die c'/• die Änshil d n IUI und Erh alt inuj der Individuen auf Kosten der Theile desselben. Den Kampf der Individuen haben wir vor Augen; wir sehen die Elimination der Individuen uud die züchtenden Wirkungen der- selben; deshalb haben wir keine ^'eraulassung die so gebildete Zweck- mässigkeit jetzt nocli für teleologiseli zu halten. Der Kampf der Theile und seine Wirkung, die Partialauslese, ist, obgleich ebenso sicher nachweisbar, doch weniger auffällig; er wurde deshalb bisher übersehen. Das zweckmässige Resultat dagegen stach grell in die Augen und beschäftigte auf verschiedenen Gebieten denkende Beobachter ohne der Lösung des Rüthsels näher gebracht zu werden. Für die weitere Erörterung der Leistungen des Principes der „Partialauslese" wollen wir uns liiir, unserem specielleu Zwecke ent- sprechend, auf die Leistungen der der functiouellen An- passung dienenden Gewebsqualitäten in Vergleichung mit den Leistungen der Personalauslese, beschränken. Es kann dabei bereits fi-üher von mir Dargelegtes (s. Nr. 3) reproducirt werden. Es ergab sich, dass die Personalauslese als ein Princip der Aus- lese aus dem rein Zufälhgen immer blos wenige neue Charaktere auf einmal auszubilden vermag, während die functionelle Anpassung gleichzeitig in allen Organsystemen beliebig viele, Tausende oder MüHonen, zweckmässiger Einzelbildungen hervorzubringen im Stande ist ; zweitens dass erstere in Folge dessen Bildungen nicht zu soliaffen vermag, welche so feine Anpassungen darstellen, dass erst sehr viele, Hunderte oder Tausende dieser Eiuzelbildungen einen Ausschlag C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 543 gebeudon N'ortlieil im Kampfe uni's Dasein zu gewähren vermögen, üie.s bezieht sieli vorneliinlieii auf che feineren Structurverhältnisse mechaniseh als Ganzes wirkender Tlieile, also der Stützorgane, und ist auf einfache Weise vorstellbar: Eine erste zufällige günstige Variation von z. B. Plündert Kuoehenbälkcheu in der Weise, dass die Bälkehen die Richtung stärksten Druckes einnehmen, würde im Haushalte des Thieres sowie auch für die Festigkeit des Oi'ganes keinen, irgend einmal Ausschlag gebenden Factor abgeben können. [139] Es würde daher diese zufällige günstige ^^ariation nicht züehtbar und daher nicht steige- rungsfähig sein. Drittens können selbstverständlich, und wie schon angedeutet, diejenigen Bildungen nicht der Individnalauslese zugeschrieben werden, welche im Laufe des individuellen Lebens als directe Anpassungen an neue ^\'rhältnisse eutsteheii und als solche zu constatiren sind. Die Auslese unter den „Individuen" wird also vorzugs- weise N'iiriationen zu züchten im Stande sein, welche grossen Nutzen bringen und welche am einfachsten zu sein brauchen, um zu nützen, von denen also schon jeder kleine Schritt für die Erhaltung ausschlaggebend wirkt. Grossen Nutzen kann eine Variation bringen entweder dadurch, dass sie an sich sehr nützlich ist, oder dass sie eine ])rimüre Bildnngsursache darstellt, von tvelcher in Ahliünyiylceit viele andere nütz- liche Bildungen durch Correlationen sich ausbilden müssen. Die angedeuteten Correlationen sind entweder functionelle Cor- relationen, deren Producte also der fuuctionellen Anpassung zuge- hören, oder es sind uns unbekannte, vielleicht nicht functionelle, embryonale, auch zum Theil postem bry o nale Wachs- thums- und sonstige Gestaltungs -C orrelationen. Dazu kommen noch die Variationen der Gewebseigenschaf ten, also Veränderungen des „Beactionsmateriales", aus welchem die Orgaue in Folge bestimmter gestaltender Ursachen reactiv geformt werden. In den letzteren, den Gewebsquaütäten, ist nun, wie schon er- 544 Nr. 7. FnnctioneJle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. wähnt, eine bestimmte Variation denkljar, welche nicht nur da oder ilort im Organismus gelegentlich sich bewälnl, sondern welche an jedem Orte des Organismus, wo sie sich findet, überall direct das Zweckmässigste, d. h. das dem von ihr gemachten Gebrauche Ent- sjjrechendste, sowohl in der äusseren Gestalt wie in dem feinsten Structurdetail der Organe auszubilden vermag und als die Grund- lage des Vermögens der functionellen Anpassung angesehen werden muss. Diese, in ihrer Thätigkeit mit dem Charakter des Teleologischen behaftete Qualität besteht darin, dass die lebenden, also assimilircnden und verbrauchenden Theile aller Gewebe durch den functionellen Reiz des Gewebes, bez. durch die Vollziehung des Actes der Function, zugleich trophisch, d. h. Anbildung bewirkend und die Funetionsf ähigkeit und ^Viderstandsf ähigkei t er- höhend, beeinflusst werden, bei Mangel des functionellen Reizes, bez. der Function, aber in allen diesen Eigenschaften herabgesetzt werden. Diese Qualität an sich ist in ihrem Wesentlichsten bereits vor mehr als 40 Jahren von Johannes Müller und von Canstatt aus- gesprochen und später von Viri:how in der „Cellularpathologie" ver- werthet worden, ohne indess in ihrer vollen ..morphologischen" und ,,physiologi sehen" Bedeutung erkannt zu werden. [140] Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese Qualität, um sich in der functionellen Anpassung also in dem Principe der zweckmässigen Umbildung der Organe durch Veränderung des von ihnen gemachten Gebrauches bethätigcn zu können, schon Organe, welche umzubilden sind und zugleich Ursachen, welche die Alterationen des Gebrauches veranlassen, als ge- geben vorauszusetzen. Gemäss diesen Erörterungen ist die Unterscheidung zwischen dem Antheil der beiden Auslesearten, zwischen der Individualauslese und der functionellen Tb eilauslese im Specialfall zu machen; imd im Zweifelfalle, auf dem gemeinsamen Grenzgebiet beider, ist es meiner Meinung nach gegenwärtig besser, dem letzteren Princi]! den Vorzug zu geben, da es eine wirkliche Gestaltungsursache enthält C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Dclphinflosse. 545 und uns im Weiterverrol.i;'en melu' Verständni.ss efschliesst, als die stete Appelation an die ultima ratio der Könige. Es ist in Folgendem nun zunächst die Bildung der Flosse auf die beiden Prineipien zu vertlieilen und tlann zuzusehen, ob sich unser Priucip der functionellen Anpassung der ihm zufallenden schweren Aufgabe im Einzelnen gewachsen zeigt, wodurch es bei der ungemeinen Complicirtheit des zu Leistenden selber eine wesentliche Stütze für seine Existenz erhalten würde. Die functionelle Anpassung setzte als gegeben voraus, rin Organ, welches durch bestimmten Gebrauch ausgebildet, umge- bildet oder ausgestaltet werden kann; demnach müssen wir eine zu irgend einem Gebrauche fähige Flosse als durch Per- sonalauslese gezüchtet annehmen. Da weiterhin grobe Ver- änderungen der äusseren Gestalt eines Organes als einfache leicht vorkommende ^'■ariationen anzusehen sind und zudem, wie wir im Capitel über die Function der Flosse gesehen haben^ die groben Ver- liältnisse der Gestalt für die Function sehr wichtig, sehr vortheilhaft oder nachtheilig sind, so werden wir nicht zögern, die Ausbildung dieser nützlichen Formverhältnisse gleichfalls dem ersteren Princip zuzuerkennen; dies betrifft die relative Grösse der Flosse, die transversale Stellung derselben, die ^'erbreiteruug nach iiinten und die Verdickung nach vorn und innen; und viel- leicht kaiui dies Princip sogar bei Ausbildung der Feinheiten des Umrisses der convexen Krümmung des vorderen, der eigenthüm- lieh concaven Krümmung des hinteren Randes sowie der Abstumpfung der Ecken einen gewissen Antheil gehabt haben, obgleich wir auch die Partialauslese als dabei betheiligt erkennen werden. Gleichzeitig mit der successiven Züchtung der so gestalteten Flosse mussten günstige Variationen der Muskelinsertionen entstanden sein, nämlich Verlegungen der Insertionen einer grösseren Menge von Muskeln durch lange Transmissionsstränge gegen das Ende des Kör- pers zur Bewegung des [141] Schwanzes und der daran befindlichen Flosse und weiterhin eine entsprechende ^'■ertheilung eines Theiles dieser Sehnen auf die Flosse selber. Das Material angehend, aus welchem die Variationen das Organ W. Koox, Gesammelte AbhandlDogen. I. 35 516 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. bilden konnten, so war als Axentheil die Wirbelsäule mit ihren naoli hinten zu an Dicke und Grösse ab- und an Beweglichkeit zunehmenden Wirbeln gegeben, und für die Seitenflügel hätte nach den präexi- stirenden Bestandtheilen vielleicht die Wahl sein können zwischen dem faserigen Bindegewebe und dem Fettgewebe. Letzteres konnte seine Widerstandsfälligkeit aber nur durcli das eingestreute faseiüge Bindegewebe erhalten und hätte mit der stäi'keren Beanspruchung auf dem Wege der Partialauslese mehr und mehr durch dasselbe verdrängt werden müssen. Ob dies nun geschehen ist oder ob von vorn herein der Flossenflügel rein bindegewebig angelegt war, ist nicht zu beur- theilen. Wir haben also die Flosse in dem Hauptsächlichsten ihrer gegen- wärtigen äusseren Gestalt, in ihrer relativen Grösse und in ihrem Baumaterial, sowie auch in ihrer ^'ersorguug mit Muskeln als durch Individualauslese aus freien Variationen gezüchtet aufzufassen. Das Gleiche kann aber nicht auch von ihrer „Structur" gelten, wie sicli nach obiger Ausführung leicht ergiebt. Beliebige Variationen können für sich zunächst nur verwirrte Faserung, oder in Combination mit bestimmten Wachsthumsrichtungen nur diesen entsprechende Faserung hervorbringen; aber eine zu- fällige Identität der Wachsthumstrajectorien mit den Span- nungstrajectorien ist in unserem äusserst complicirten Falle nicht wohl annehmbar. Nur allmählich durch Auslese hätte sie entstehen können; aber dazu gehört, dass sie zunächst schon in einer ausschlaggebenden Weise durch Zufall entstanden wäre und dazu end- lich sind bei der Feinheit der Structurdetails schon zahllose günstige Einzelvariationen nöthig, während die dadurch erzielte Materialer- sparniss bei dem geringen Stoffwechsel des Bindegewebes woli! nio einen ausschlaggebenden Factor hätte abgeben können. Diese apagogische Beweisführung wird noch durch eine andere Erwägung gestützt. Die EntstC'hung auf diesem Wege wäre nämlich ungemein umständlich, weitläuflg und wenn wir eine kürzere Entstehungsweise kennen, so hat diese die Präsumption grösserer Wahrscheinlichkeit für sich. Dieser kürzere Weg ist der der Züchtung einer Gewebsqualität , welche all die unendlich zahlreichen Einzel- C. KiiUteliungsmügliclikeit der Gestalt uud Structur der Uelphiuilosse. 517 Verhältnisse hervorzubriugeu vermöchte, es ist die oben (s. S. 544) be- zeichnete Gewebseigenschtil't. Dazu konunt nocli, dass diese Eigen- schaft nicht für die Flosse neu zu entstehen brauchte, da sie bereits in allen anderen bindegewebigen Bildungen des Thieres sich ausspriclit; ja es ist wohl anzunehmen, dass sie schon auf sehr niederer Wirbel- thierstufe, schon bei den Fischen, vielU'ic-ht sogar bei dem Amphioxus sich findet und auf allen Thicr- [142] stufen, von ihm an aufwärts, in den neuen Form- und Functions- verhältnissen derselben immer die zweckmässigsten Stütz- und Verbindungsorgane ohne Weiteres hervorgebracht hat. Auf welche Weise dies geschehen könnte, habe ich in der citirten Schrift ,,Ueber den Kampf der Theile im Organismus" scizzirt, und es wird weiterhin noch ausführlicher durch Specialarbeiten belegt werden; und jede neue Erklärung der Structm- und Gestalt eines complicirten oder einfachen bindegewebigen Organes aus diesem Princip ist eine neue Bestätigung desselben. Nachdem so die Abkunft der Structur der Flosse von der Tlieil- auslese im Allgemeinen wahrscheinlich gemacht ist, kommen wir zum speciellen Nachweis der ]\Iüglichkeit dieser Vermuthung; es werde somit die Ableitung der Structur der Flosse bei gegebener Gestalt versucht. Dies ist uns sehr erleichtert durch die ausführliche Schilderung der bei dem Gebrauche eintretenden Beanspruchung. Ganz allge- mein lässt sich die Entstehung einer zweckmässigen binde- gewebigen Structur aus unserer Gewebsqualität in folgen- der Weise ableiten. AVenn wir die Richtungen stärksten Zuges und Druckes kennen gelernt und Widerstand der Fasern gegen Zug in der Richtung der Fasern imd gegen dazu rechtwiukeUgen Druck als die specifische Func- tion der Bindegewebsfaser erkannt haben, so wird bei trophischer Wirkung des f unctiouellen Reizes in den Richtungen, in welchen diese Kräfte am stärksten mrken, Begünstigung der Entwickelung, Acti- ntätshypertrophie eintreten ; und in dem Maasse, als die in diesen Rich- tungen entwickelten Theile der Function mehr und mehr allein genügen, werden die abweichend davon gelegenen Fasern, durch Unterliegen in 548 Nr. 7. Funetionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. dieser Art eines Wettkampfes der Theile um die Function, ilirer functio- nellen Beanspruclmng beraubt und, da ohne letztere nach unserer An- nahme keine Regeneration oder dauernde Erhaltungsfähigkeit möglicli ist, durcli Inactivitätsatropliie allmählich schwinden, aussterben ; auf diese Weise müssen schliesslich die in den Richtungen stärkster Beanspruchung gelegenen, also stärkst fimgirenden Fasern allein übrig bleiben (s. S. 358). Das ist das Principiolle der Ableitung, wie es mit geringen Aenderungen der Bezeichnungen ebenso für (lebilde aus Knochen, Knorpel oder anderen Formen der Stützsubstanzen gilt; und es ist klar, dass ein solches Princip ausreichend ist für die Ent- stehung einer so feinen Structur , wie sie aus den letzten, dm'ch die Function direct trophisch beeinflussten Form- elementen zusammengesetzt werden kann. So lange man die directe Anpassung blos von vermehrter Blut- zufuhr zu den stärker gebrauchten Organen ableitete, so lange konnte man blos grobe Vergrösserung der Organe, aber keine Struc- turverfeineruug erklären, selbst dann nicht, wenn die Ernährung wirklich in dem angenommenen Maasse in directer Abhängigkeit von der Nahrungszufuhr stünde, da die Blutvertheilung nicht in ausreichender Weise localisirt werden kann. Eine Ver- mehrung der einzelnen Structurelemente in den Richtungen [143] stärkster Thätigkeit und damit eine Functionsberaubung der von diesen Rich- tungen abweichenden Elemente und eine Elimination der letzteren unter Uebrigbleiben der allein in den Richtungen stärkster Function gelegenen Elemcntartheile ist blos möglich, wenn die Elementartheile selber und direct von dem functioneUen Reiz beeinflusst werden. Um so feiner diese direct trophisch beeinflussten Elementar- theile sind, um so feiner ist das in diesem Kampfe züchtbare Structurdetail [s. Nr. 4, Kapitel III]. Wenn wir jetzt auf die specielle Ableitung aus Binde- gewebe eingehen wollen, so tritt uns sofort der Mangel an sicheren Kenntnissen über das normale Leben des Binde- gewebes hemmend entgegen. Es ist nicht genau bekannt, welches alles die lebenden, bildenden Elemcntartheile sind: ob allein C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 549 die Fibroblasten; oder ob aiicli die (Iruudsubstanz der Fasern noeli selbstständig wachsen und l'riniitivlibrillen absondern kami, und ob nicht auch vollkonnncn differeuzirte Primitivtibriilen noch von sich aus wachsen resp. schwinden können. Für das Eigenleben der leim- gebendeu Substanz haben sich zu den Stimmen Stricker's und Koll- juxx's*) ueuei-dings noch die R.wogli's-), Lavlanie's^) und zuletzt H.Xxsell's^) gefügt. Mir selber erscheint es wahrscheinlich, dass zur Fibrillenbildung überhaupt von aussen her erzeugte Zugspannung uöthig ist, weil nur so die Continuität der PrimitivHbrilleu durch viele Zellterritorien hindurch verständlich wird. Noch geringer sind unsere Kenntnisse über die regressiven Vorgänge, deren Existenz wir chirur- gischen Vorkommnissen, wie Lockermig von Narben u. dgl. entnehmen. Ebenso sind die \'orgänge der physiologischen Regeneration unbe- kannt, ob etwa innerhalb der Fasern Ersatz von Theilen stattfindet oder ob sie blos von neuen Fibroblasten ausgeht etc. ; und auch Ziki;ler's^) Angabe, dass Fibroblasten durch ^'erschmelzung von Leuco- cyten entstehen, Ijedarf noch der Bestätigung. Diese Unkenntniss bezüglich der Einzelvorgänge des Lebens des Bindegewebes macht indess unsere Deduction nicht unmöglich; aber sie wird eine Nöthigung sein, nichts Genaueres dabei zu verwerthen, als sich aus den einfachen Thatsachen der Activitätshypertrophie , der Inactivitiitsatrophie in \'erbindung mit dem Principe der selbststän- digeu activen Ernährung der Elementartheile folgern lässt. Die Anwendung dieser Principien auf unsere gegenwärtigen Kenntnisse der Physiologie des Bindegewebes würde folgende specielle Form annehmen, von deren wirklicher Richtigkeit oder Unrichtigkeit jedoch das schliessliche Resultat der ganzen Ableitung in keiner Weise abhängig ist. \\'ir [144] benutzen die concrete Form nur. weil sie leichter vorstelli)ar ist und daher bei der zur Zeit noch herrschenden Abneigung vor Abstractionen wohl leichter 1) ViRCHOW^s Archiv, Bd. XLVIII. ■-) Wiener med. Jahrbücher. 1879. S. 49 u. f. 3) Compt. rend. T. 91. Nr. 3. S. 180. i) Arciiiv für Ophthalm. Bd. XXVII. Abli. 2. 5) Untersuchungen über pathologische Bindegewebs- und Gefässneubildung. 1876. 550 Nr. 7. Fimctionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Eingang fimlet, als eine dem wirklichen Stande unseres Wissens ent- sprechende Deduction, welche hlos mit den allgemeinen aber sicher- gestellten Begriffen Hypertrophie, Atrophie, Anregung zu operiren hätte. Bezüglich solcher Ableitungen hegen, wie es scheint, manche Empiriker noch den irrigen, ihrerseits nicht vollkommen geprüften Verdacht, dass dasjenige, was mit so allgemeinen Begriffen gemacht ist, im concreten Falle der Wirklichkeit doch vielleicht nicht möglich sei. Also um uns deshalb im Concreten zu halten, würden wir etwa zu sagen haben, dass die Fibroblasten durch Zug in der Uich- tung des Zuges gedehnt werden und sowohl während wie nach Abschluss der Periode ihrer „selbststündigen" Wachs- thumsfähigkeit nach dieser Richtung hin wachsen; dass dabei zugfeste Fasern entstehen, welche entsprechend der Stärke und Dauer des Zuges Verlängerung, Verdickung, vielleicht auch Vermehrung erfahren. Vielleicht auch können Fibroblasten unter E^inwirkung stärkereu Zuges zur Theilung angeregt oder sogar weisse Blutzellen, wenn sie in geeigneten Bedingungen zur Ein\nrkung des Zuges oder bestimmten Druckes gelangen, durch denselben zu Fibroblasten umgewandelt Averden. All dies wird bei C o m b i n a t i o n v o n Z u g mit rechtwinkelig dazu stehendem Druck durch letzteren verstärkt werden können, da sich dieser alsdann secundär in entsprechenden Zug um- setzt (s. Nr. 9 S. 132), so dass auch derartiger Druck zur Activitätshypertrophic \'eranlassung geben kann. Umgekehrt wird bei dauernder Entspannung und noch mehr bei Längscompressionen der Fasern allmählicher Schwund der- selben eintreten, wobei dahingestellt bleibt, ob er auf dircctem oder indirectem Wege zu Stande kommt : ob er auf directe Degeneration oder ungenügende Regeneration oder auf \'ermindermig der Wider- standsfähigkeit gegen den Druck von Nachbartheilen oder gegen die, wie es nach einigen pathologischen Beobachtungen vielleicht zu ver- muthcn ist, alles nicht durch l'unction (Jckräftigte, aufzehrenden weissen Blutzellen, zurückzuführen ist. Es ist noch zu erwähnen, dass all' dies nur in normalen \'er- hältnissen, d. h. bei d» in normal vorhandenen, vollkommenen Schutz C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 551 des Gewebes vor freuuleii, nicht functionellen Reizen untrajectorien", welche dem Organ die seiner Beanspruchung entsprechende Structur verleiht. Ist die Beausprucliung nicht vollkoranien constant gerichtet, sondern variirt sie uni eine am meisten beanspruchte Mittelage, so wird der Process der Ausbildung einer entsprechen- den Structur verzögert, aber nicht aufgehoben werden. Es wird zunächst auf die eben scizzirte Weise eine derartige Anpassung ein- treten, dass die Fasern blos noch in den beanspruchten Rich- tungen vorkommen , unter Schwund aller anders gerichteten Ele- mente. Aber dabei wird die Structurausbildung nicht stehen bleiben, sondern sie wird zu Gunsten der functionell bevorzugten Mittellage noch weiter schreiten, denn das f unctionelle Wachs- thum aller CTewebe geschieht mit „Uebercompensation", so dass ihre Bildungen höheren Beanspruchungen zugenügen im Stande sind, als diejenigen, durch welche sie ausge- bildet worden sind. Sobald dies Stadium bei den Fasern der Mittellage erreicht ist, werden sie auch fähig sein, geringen abweichen- den Beanspruchungen zu genügen und daher die besonderen dafür vor- liandenen Blasern zum Theil ihrer Function berauben, sodass nur ein geringerer Theil derselben durch die I'unction seine Erhaltung findet. Denn wie altes einfache Geschehen (von besonderen Vor- richtungen wie „Auslösungen" also abgesehen) an Quantitäten und damit an ..Wirk HUfisäquirat ente" (letjunden ist. so auch die trophische ^^'irkung dei- f nnctionellen Reize. Um ein Ban(Jei ndeuiat eri al und durch n a c h t r ;i g liehe S c h r u ni p f u n g d e s s e 1 1) e ii /- u w i d e r s t e h e n , die Bewegung gegeneinander zu verhindern, alles zu fixiren und ruhig gegeneinander zu stellen. Es bedarf überlegener und immer wieder- holter Kräfte, um entgegen dieser Tendenz Beweglichkeit zu erhalten [oder direct der Züchtung anderer Bindegewebsqualität an bestimmten Stellen durch Personal auslese]; selbst bei den Gelenken Erwachsener tritt bekanntlich diese Schrmnpfuug ein, wenn ein fl50] Gelenk längere Zeit nicht gebraucht, sondern in derselben Stellung erhalten wird ; da schrumiift das Bindegewebe der Capsel an der Beuge- und Streckseite in Folge mangelnder Span- nung und Dehnung soweit, bis es fest zwischen seinen Anhaftungs- punctcn ausgespannt ist, also in Spannung erhalten und durch dieselbe vor weiterer Schrumpfung (oder Inactivitätsatrophie?) ge- hemmt wird. Welcher Grad von Fixation erreicht wird, hängt von der Qualität des Gewebes selber ab; und die Auslese unter den Individuen muss und wird immer sehr rasch den nöthigen „Bilduugscoeff icienteu" züchten, welcher das AequivaleutzwischeufuuctionellerReizintensitätbezw. Reiz menge in der Zeiteinheit und dadurch „er halt barer" Bindegewebsmenge bestimmt. Wäre der Coefficient zu klein, sodass bei der mittleren Spanuungsintensität blos halb so viel Bindegewebe gebildet Averde, als nöthig ist, so würden alle betreffen- den A^erbinduugen im Körper zu schlaff sein und damit das Tliier sofort eliininirt werden; wäre umgekehrt der Coefficient zu gross, so würde durch die Kraftmenge schon so viel Bindegewebe gebildet, dass alles zu sehr fixirt würde und der Träger dieser Steifheit an allen Verbindungen ebenso existenzunfähig wäre als vorher das Thier mit zu kleinem Coefficienten. Da diese Coefficienteu gleich die ganzen Einrichtungen aller bezüglichen Organe des ganzen 560 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Sti-uctur der Schwanzflosse des Delphin. Körpers oder wenigstens gleich ganze Gruppen betreffen, so werden sie also sein- energisch durch Personal- Auslese in zweckmässiger Weise gezüchtet; und so musste es auch mit dem Bindegewebe der so lebenswichtigen Schwanzflosse des Delphin der Fall sein, so dass gerade die nöthige Festigkeit der Flosse bei Abwechselung mit leichter Erschlaffung entstehen komite. Ob für die Flosse die Züchtung eines besonderen, von den übrigen bindegewebigen Einrichtungen des Organismus abweichenden Bindegewebsbildungs-Coefficienteu nöthig war und so eine Mannigfaltigkeit derselben besteht, so wie wir wohl drei verschiedene Coeiticienten für das Knocheusystem jedes Säugethieres zu unterscheiden haben (s. S. 345), wird erst durch sehr schwierige messende Versuche zu bestimmen sein. So haben wir die herrliche, wunderbare Structur der Flosse aus unserem Principe der tropluschen Wirkung der functionellen Reize abseleitet ; und dasselbe hat sich als vollkommefn zureichend erwiesen. Durch diese Leistung der Ableitung zahlloser, eigenartigster z weckmässigster Einzeleinrichtungen von einer einzigen Hypothese hat dieselbe nicht nur einen neuen Beweis ihrer grossen Leistungsfähigkeit gegeben, sondern damit zugleich auch eine neue sehr wesentliche Stütze erhalten. ' Für die dargelegte Entstehungsweise derStructur durch „functionelle Selbstgestaltung" [ISljzeugt noch das Verhalten, dass in der Flosse thatsächlich keine weitere Widerstandsfähigkeit ausgebildet ist, als direct für die erwähnten Arten der Biegung nothwendig ist, und dass auch die formale Genauigkeit der Construction keine grössere ist, als die functionelle Selbst- gestaltung herzustellen vermochte. Letzteres äussert .sich trotz der im Principe hochgradigisten Vollkommenheit der Construction in allerhand Ungenauigkciten in den Structurverhältnissen zweiter Ordnung in der Ausführung, welche bei Ausbildung durch ein selbstständiges Wachsthumsgesetz voraussichtlich nicht vorkoniincn würden; denn es ist von niederen Thiertypen z. B. den Diatomeen her bekannt, wie exact diese Gesetze das, was überhaupt in ihr I C. Entstehungsmögliclikeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 5ül Ofbiot fällt, lurzu!?tellen vermögen. Solche formalen Abweiclumgeu sind: die unviillkuniuiene Ahgrenzung der Lamellen in der Fläche gegen einander, die gelegentliche Verschmelznng derselben, eben solche Ungenanigkeiten in der Ordnung der Papillenreilien der Cutis; und sie sind bei unserer Ableitung nothwendige Folgen der im Kleinen unregelmässigen Beanspruchung, insbesondere in Folge der Eigen- lifwegung des Meeres; während wir fiu- unsere Ableitung bisher immer die See als vollkommend ruhend und die Bewegungen als blos von dem Thiere ausgehende angenommen hatten. Weiterhin unsere Bindegewebsqualität in ihrer Thätigkeit ver- folgend, sehen wir, dass die „Structur" auch auf die „äussere GeslaJf'' des Or!/(nies znrüclcwirkeii und auch sie ,,auf das Feinste" der durch die ,, groben" Formverhältnisse der Flosse bedingten Function anpassen kann. Wir hatten vorher die zweckmässige äussere Gestalt als gegeben angenommen und die zu- gehörige Structur als Folge derselben abgeleitet; und es kann wider- sinnig scheinen , nnnraeln- da.s Umgekehrte zu thun. Dies ist aber nicht richtig; vielmehr ist es für das Organische charakteri- stisch, (lass Alles in derartiger sich aneinander anpassender Wechselwirkung steht und so durch fortwährende gegen- seitige Correction die grösste Harmonie zivischen Gansem und Theil, zwischen Cirossem und Kleinen, zwischen Pri- mären uiul Secnndären hervorbringt, indem immer das zuerst \'ariirte das davon Beeinflusste zur entsprechenden Anpassung zwingt, und wenn diese ziemlich erreicht ist, das Secundäre rückwirkend das ursprünglich Primäre zu l'i'einflusseu beginnt. Auf diese Wei.se stetiger Wechselwirkung wird endlieh die so v o 1 1 k o m m e n e innere FI a r m o n i c erreicht, welche es uns so erscliwert, Primäres und Secundäres im Organischen zu unterscheiden. Ein Beispiel solcher höchsten Vollkommenheit stellt unsere Flosse vor Augen, und wir sind im Stande, auch dieses Geschehen aus unserer Hypothese abzuleiten. Aus der Form des Umrisses und der nach vorn und innen zunehmenden Dicke des Organes ergab .sich bei Belastung je einer VT. Roux, Gesammelte Abhanillungeo. 1. S('> 562 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structnr der Schwanzflusse des Delphin. ganzen Oberfläche die Art der Bieguugsbeanspruchung und aus dieser die ßiegungsstructur. Bei [152] dieser Function siunniirt sich die Beanspruchung nach vorn und innen, und die Schichten der Flosse werden durch Activitatsliypertrophie dieser Beanspruchung entsprechend nach diesen Richtungen zunehmen, so lange bis der Quotient aus Beanspruchung und Biudegewebsmenge, welche beansprucht wird, allerorts derselbe ist und der gezüch- teten Natur des Bindegewebes, also dem eben (S. 55») charakterisirten Coefficieuten entspricht. Ist dies erreicht, so hat die Flosse überall die der Grösse und Gestalt des Umrisses ent- sprechende zweckmiissigste Dicke; und es wird dies Stadium erreicht werden, auch wenn die ursprüngliche Dicke an einigen Stellen eine andere z. B. geringere wäre. In diesem letzteren Falle erfolgt auch die Biegung zunächst in anderer Weise, und daher entsteht eine andere Structur; aber die Summation der Beanspruchung von aussen nach innen, von hinten nach vorn findet statt und wird die schwachen Stellen etwas ver- stärken. In dem Maasse, als dies geschieht, ändert sich die Biegung und ihre Structur ; dadurcli wird die Stärke der Beanspruchung noch mehr der ganzen Gestalt entsprechend und die Dicke wird weiterhin corrigirt; und das setzt sich so lange fort, bis die Gebrauch;;- weise der Flosse mit der specifischen „Gestalt^' und der „Structur" der Flosse in vollkommener Harmonie sich finden; dann erst ist Harmonie, ist ..GJeichgeivicht' zwischen Function tind ansfiih n-iuh-r CrcxfaJf loul Struciur und damit Stalili tat crrcicli t. Man wird vielleicht doch geneigt sein, der Individualauslese einen grösseren Antheil an der Ausbildung der geschilderten Structur zuzuschreiben, als wir gethan haben, weil die Schwanzflosse ein für die Erhaltung des Thieres ungemein wichtiges Organ ist. Dagegen sei darauf hingewiesen, dass die „Rückenflosse" des Delphins, welche ich in gleicher AVeise imtersucht habe, eine ganz gleich vollendete, der Beanspruchung auf das Vollkommenste a n g e p a s s t e S t r u c t u r besitzt, die aus Schicliten rechtwinkelig zu einander stehender Fasersysteme von functionell bestimmter, wenn C. Entstehungsmöglichkeit der Gestalt und Structur der Delpbinflosse. 5G3 auch einfacherer Krümmung gebildet wird. Es genügt für unseren Zweck, dies Endergebuiss der Untersuchung anzuführen und darauf hinzuweisen, dass hier dieselbe höchste Vol 1 kommen hei t an einem Organ von nur sehr untergeordneter functioueller Bedeutung sich findet. Die Kückentiosse dient nur als eine Art dorsaler Kiel, schützt etwas gegen Drehung des Thieres um die Längs- axe, ist nicht activ beweglich, braucht daher nicht ihre A\'iderstandsfähig- keit zu verändern, bald möglichst zu verringern, bald mit dem Minimum von inneren Widerständen auf das Höchste zu erhöhen; und es wäre damit vollkommen ausreichend, wenn sie aus beliebig verlaufenden, sich verfilzenden Fasern gebildet wäre. Es würden dazu einige Bindegewebsfasern mehr oder die ganze Flosse etwas länger nöthig sein; aber bei dem geringen Stoffwechsel des Binde- gewebes könnte dies nie einen so ausschlaggebenden Factor abgeben, um eine wunderbar vollendete und complicirte Structur durch Auslese aus beliebigen formalen Variationen zu züchten. So bietet die [133] Structur d e r R ü c k e n f 1 o s s e ein w e i t e r e s s e h r g e w i c h- tiges Beweismittel für die Eichtigkeit unserer Auffas- sung und unseres Bestrebens, die Entstehung der functionellen Structuren nicht von der Auslese aus beliebigen formalen Eiuzel- variationen , sondern von gezüchteten G e w e b s C| u a 1 i t ä t e n abzuleiten, welche in allen Verhältnissen das Zweckmässigste bis in das feinste Structurdetail von selber auszubilden vermögen. Ich werde zu weiterem Beweise dieser Ansicht in einem späteren Beitrage noch die Structur des subcutanen Fettkörpers dieser T h i e r e den Lesern dieser Zeitschrift vorführen , da er , obgleich er keine weitere statische Function hat, als das Thier im Wasser schwim- mend zu erhalten, in den ihn stützenden Bindegewebsfasern eine in ihrer Art ebenso vollkommene Structur besitzt, wie die geschilderte Structur der Delphinflosse. Man darf nun aber nicht daraus, dass )>eim Delphin alle bindegewebigen Organe eine so wunderbar vollkommene Structur haben, den Schluss ziehen, dass der Delphin eine ganz besondere Qualität des Bindegewebes besitze, die den Landsäugern abgehe. Zu einer derartigen Folgerung ist bis jetzt keine ^'eran. 86* 534 Nr. 7. Functionelle Gestalt und ötructur der Schwanzflosse des Delphin. lassung vorhanden; nur finden sich bei den Land- bezw. Luftsäugern die Umstände, welche eine solche Structur zur Ausbildung gelangen lassen, nicht allenthalben so ausgeprägt vor ; wo sie aber sich finden, da haben wir auch die entsprechende vollkommenste Structur [z. B. im Schwänze des Biber.] Dies soll gleichfalls in einer besonderen Abhandlung dargethan wertlen. Es erübrigt nun noch die Entstehunysursaclte der iibrigeu sur Flosse gehöriijoi Oryane auf die beiden Principien: Individualauslese uml Partialauslese s. directe Anpassung zu vertheilen. Die Bin tgefässe entstehen normaler Weise stets in Ab- hängigkeit von den Organen, welche sich aus ihnen ernähren (siehe S. 30-1: — 328); und selbst für die erste Anlage und bestimmte Rich- tung der Hauptarterie des Organ es wird in den meisten Fällen kein Zurückgreifen auf eine selbststäudige embrj^onale Variation nüthig sein; sie kann sich vielmehr ans dem arte- riellen Theil der ersten Capillarschlinge, welche die erste Anlage des Organes versorgt, ausbilden und diese selber wird in Anlage und Richtung gewöhnlich blos abhängig von dem Ort der ersten Anlage des Organes und von der Haupt- wachsthumsrichtung desselben sein. Der Verlauf der übrigen Arterien des Organes entsteht daim rein in passiver Abhängigkeit von deni Wachsthumsgesetze des Organes. Die Weite und Wandungs- stärke regulirt sich hämodynamisch (s. S. 319 u. 365) und ebenso ent- stehen die Venen in dem Capillarnetz zumeist functiouell von selber au den Stellen geringsten Abflusswiderstandes(s. S. 134). Da hier die Hauptarterien in der Mitte der mittleren Schicht, und [15-l:j zwar in der Richtung des grössten Radiär- 1) und eis der äusseren Schicht verlaufen, so werden sie bei der Biegung nur in Längsrichtung comprimirt, nicht aber verengt. Die V e n en verlaufen irregulär, aber stets in der äusseren Zugfaserschicht, also au Stellen, wo bei der Biegung stets auf der couvexen Seite Vergrösserung des Raumes, somit Asi)iration stattfindet, während auf der concaven Seite inzwischen Comprcssiou und damit die Ent- leerung des bei der vorhergehenden Biegung aspirirten Blutes si<--h C. Entstehungsniüglichkeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 565 vollzielit. Damit stellen sich dieGefässe vollkommen unter das Prineip der „i'nnetionellen Selhstgestaltung" des Zweckmäs- sigen, und es braucht ihre Entstehung nicht auf selbststän- disre, neue gezüchtete ^'ariationcn zurückgeführt zu werden. Die sensiblen Nerven des Organes angehend, kommen wir zu dem gleichen Resultate. Diese Nerven wachsen, wenn sie durchschnitten sind, stets centrifugal aus und stellen, nach Neurec- tomien selbst mehrere Centimeter langer Nervenstücke, die Ver- bindung mit dem abgetrennten peripheren Stamm wieder her, oder sprossen wohl auch selbstständig weiter und versorgen ein entnervtes Gebiet durch neue Nerven. Dies wird evident an transplantirteu Hautstücken, z. B. bei künstlicher Nasen- oder AVangenbildung; der Operirte erhält allmählich die Empfindung in dem implantirten Theile wieder und zwar successive von der Peripherie des Stückes gegen das Centrum desselben fortschreitend. Ebenso haben Granulationen, welche Substanzverluste ersetzen, oft mid manchmal sehr gesteigerte Empfindlichkeit. Diese Erscheinung ist blos möglich, wenn von den Nerven der Nachbarschaft aus Sjirossiinf/ in das implan- tirte Hautstiiclc stattfindet so lange, bis dasselbe voll- l-ommen mit Enipfindungsnerven versorgt ist. Wenn nun auch die Ursache des anzunehmenden schli esslichen Ruhe- zustandes, des Aufhörens der Nervensprossung sobald alles mit Nerven versorgt ist und Nervenbezirk an Nerveubezirk grenzt, unbekannt ist, so steht doch die Thatsache der Versorgung mit Nerven an sich ausser Zweifel. Es ist danach wohl nicht zu kühn anzu- nehmen, dass auch, wenn ein neuer physiologischer Theil am Organismus entsteht, die sensiblen Nerven, obgleich sie in diesem Falle nicht durchschnitten sind, ohne Weiteres in denselben hinein sich verbreiten, bis das ganze Organ damit versehen ist. Hat man doch auch in Geschwülsten gelegentlich Nerven und Empfindung gefunden, obgleich bei der Ent- stehung derselben wohl keine Nervendurchtrennung stattgefunden hat. Die Function solcher Empfindungsnerven in der Flosse ist freilich eine ungemein wichtige für dieControle der richtigen Ausführung 566 Nr. 7. FunctioneUe Gestalt und Structur der Schiranzflosse des Delphin. der befohlenen Bewegung. Schon überhaupt für die Erlernung zweckmässiger Bewegungen sind „controlirende Ausfüh- rungsgefühle" nöthig, um möglichst viel Merkzeichen für jede Bewesuugsart und -Grösse zu haben und so die für einen bestimmten Zweck als angemessen befundenen Handlungen bei der Wiederholung möglichst [155] vielseitig an jedem Ort und in jedem Stadium der Ausführung controliren und danach auch rectificiren zu können. Besonders aber muss eine derartige Controle an dem in letzter Instanz bewegten The ile hierbei von Nutzen sein, da hier allein Gelegenheit ist, für jede feinste Bewegungsnuance charak- teristische Ausführungsgefühle zu erwerben. Zugleich auch sind die sensiblen Nerven überall nöthig, um vorkommende Störungen dem Centrum zu notificiren und so Gebrauchsschutz oder son- stigen Schutz zu veranlassen. In diesem grossen Nutzen der sen- siblen Nerven könnte man eine zureichende Züchtungsursache für die Ausbildung dieser Nerven auf dem Wege der Individualauslese erblicken; trotzdem aber ist es nach dem Nachweis einer vorhandenen Tendenz der sensiblen Nerven, überall bin zu sprossen, wo sie noch nicht ihres Gleichen antreffen, wohl nicht unerlässlich nöthig, auf diesen L'mweg zu recurriren; sondern wiederum wird eine auf viel niederer Thierstufe gezüchtete nützliche Gewebscjualität im Stande sein, im vorkommenden neuen Einzelfall sofort die zweck- mässige Specialeinrichtung von selber herzustellen. i Schliesslich die Betveg ung s org ane betreffend, so musste die Verlegung von Muskelinsertionen an die letzten Schwanzwirbel, so- wie der Uebertritt eines Theiles der Sehnenfasern in die Flossenflügel durch Auslese aus Variationen gezüchtet werden. [Das Feinere dieser Insertionen konnte dann durch directe Anpassung auf dem Wege innerer Umzüchtung durch functionelle Anpassung ausgebildet wer- den, siehe S. 353]. Die nöthige Länge und Dicke der Muskeln indessen konnte sich dann durch den Gebrauch von selber ausbilden: Für die Müghchkeit der Ausbildung der erforderlichen Muskelstärke durch functionelle Anpassung ist nach den bekannten Thatsachen kein besonderer Beweis mehr nöthig; für die Ausbildung der geeig- neten Länge eines Muskels auf dem Wege der Selbstregulation durch \ C. Entst^hungsmögliclikeit der Gestalt und Structur der Delphinflosse. 567 deu Gebrauch, werde ich den Beweis demnächst wenigstens bezüglich des Menschen hefern (s. Nr. !^). Die erste Erwerbung der zum Gebrauche der Flosscnmuskehi nothigen Communicationeii von GangUenzellen des Centralnerven- systems durch Verbindungstaden, die Coordinationen, werden sich wohl beim Delphin gleich wie bei uns (s. S. 367) rein von der func- tionellen Anpassung herleiten lassen. Unser Centralnerveusystem ist bekanntlich in dieser Beziehung von einer fast unbegrenzten d i r e c t e n A n p a s s u u g s f ä h i g k e i t , sofern die Einübung schwieriger Bewegungscombinationen nur in früher Jugend begonnen wu'd. Endlich ist die Haut, welche den ganzen Körper einhüllt, ein Organ, das sich immer der Unterlage anpasst und normaler Weise nie selbstständig wächst; selbst bei Missbildungen gehört ein selbst- ständiges "Wachsen der Haut bei Defect der zugehörigen einge- schlossenen Theile zu den seltensten [136] Ausnahmen (s. S. 554), sodass auch schon für das normale Embryonalleben die Haut als blos in Abhängigkeit von den eingeschlossenen Th eilen wachsend anzusehen ist. Demnach wird sie bei Aus- bildung eines neuen obertiächlichen Orgaues durch fuuctionelle Anpas- sung zum Mitwachsen genöthigt werden und so von selber den nothigen Ueberzug liefern. Die von uns ge.scliilderte Structur, welche sich in der Faserrichtung der Cutis der Flosse ausspricht, ist oben bereits aus dem Principe der Selbstgestaltung abgeleitet worden. So haben wir denn zur Entstehung des ganzen äusserst com- plicirt und wunderl)ar zweckmässig gebauten Organes nur sehr wenig primäre selhststänäige Gesfaltungsmomente, welche durch die Indiv idualauslese aus beliebigen Variationen her- zustellenwaren, als nöthig erkannt, nämlich die Bildung eiues annähernd zweckmässig gestalteten Grundstockes des Orgaues und die Verleguug von Muskelinsertionen in dasselbe'). Alle weiter nothigen Einrichtungen, Blutgefässe, Nerven, zweckmässigste Structur, feiuere Ausbildung der zweckmässigen Gestalt, 1) Siehe auch: W. KCkesth.4L (Uelier die Anpassung von Säugethieren an das Leben im Wasser. Rede 1890, Zool. -Jahrb. Bd. V. Abtb. f. Syst. S. 377), welcher dieser Ableitung zustimmt. « 568 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. entsprechende Länge, Dicke und Innervation der Muskeln und der Hautüberzug konnten alsdann von selber, d. h. zufolge der Qualitäten der Gewebe und vermittelt durch die Function aus^e- bildet werden. AVir erkennen daran den grossen Einfluss, welchen diese Principien auf die zweckmässige Ausbildung der Organe und damit der Organismen auszuüben vormügen. und sehen andererseits in der Möglichkeit, alle diese Einrichtungen von der Einen Hypothese der directen trophischen Wirlting der ftinctioneJlen Beize ab- zuleiten, einen neuen Beweis, dass diese Verallgemeinerung der fiinctionellen Anpassung die das Wesen treffende, also n-alirr VerallgemcineriDui ist. Die bisher angenommenen Principien der functionellen Hyperämie und der besonderen trophischen Nerven vermögen keine functionelle Structur auszubilden, da ihre ^Virkung nicht so fein, bis auf die Wachsthumsgrösse und Wachsthumsrichtuug der einzelnen Zelle localisirt werden kann; sie können daher unserem Principe nicht als gleichwerthig für die Erklärung der functionellen Anpassung entgegengestellt werden, son- dern sind, soweit sie überhaupt bei derselben in Betracht kommen, blos als secundäre Hülfsprincipien zu betrachten. Zusammenfassung:. Es war unser Bestreben , ein bindegewebiges Organ zu finden, dessen Structur so complicirt und dabei so vollkommen an die specielle Function des Organes angepasst ist, dass die Ent- stehung dieser Structur nicht von einer zufälligen Indentität der Bildungen selbstständiger Wachsthumsgesetze mit den Erfordernissen der Function und ebensowenig von einer Tendenz „mechanischer Selbstordnung" der Fasern durch den Act derFunction ab- [157] geleitet werden kann, Principien. auf welche man vielleicht die relativ einfachen Faserordnuugen in dun Fascien oder in dem Tronunelfoll, wenn auch meiner Meinung nach nicht mit Hecht, zurückzuführen geneigt sein könnte. Es galt also eine Structur zu finden, welche dasselbe für das Bindegewebe darstellt, wie die z. B. Oberschenkelhals-Structur für das Zusammenfassung. 569 Knochengewebe, und welche dnlier n;leicli rheserilire Entstehuno; nur der directen „functionellen Selbstgestaltung'- des Zweckmäs- sigen verdanken kann. Ein derartiges Princip, welches so feine Structur hervorbringen soll, kann, wie ich gezeigt zu haben glaube, in jedem Gewebe nur auf eine einzige Weise verwirklicht sein, nämlich blos dadurch, dass der specitisclie functionelle Reiz jedes Gewebes oder die \'ollziehung der Function zugleich einetrophische,d. h. zur Hypertrophie resp. Hyperplasie anregende Wirkung hat, und dass im umgekehrten Falle, beim Fehlen dieses Reizes oder der Function, auf irgend eine, sei es directe oder indirecte Weise Schwund der Gewebstheile eintritt. Es war in einer früheren Arbeit (Nr. 4) möglich gewesen, von dieser unterstellten Gewebsqualität ausser der „functionellen Structur" noch alle bekannten Erscheinungen des Lernens und der Uebung, sowie des Gegentheiles davon abzuleiten, und so eine einheitliche Theorie für das ganze Gebiet der „functionellen Anpassung" darauf zu gründen. Gegenwärtig sollte durch Auffindung einer so zweckmässigen Biude- gewebsstructur und durch den Nachweis ihrer Ableituugsfähiskeit ^'on unserem Princip demselben eine neue Stütze, ein neuer Beweis seiner Richtigkeit gegeben werden. Iia der Schwanzflosse des Delphin fand sich, unserer \"ermuthung gemäss, ein bindegewebiges Organ von durchaus gesetzraässiger, aber äusserst hochgradig complicirter Structur. Diese Flosse besteht in ihrem Grundstock aus drei Bindegewebsschichten, jederseits einer äus- seren von bestimmt gebogenem, im Allgemeinen radiärem Faserverlauf und einer mittleren aus lauter Lamellen gebildeten, deren Lamellen sowohl rechtwinkelig zur Flächenausbreitung der ersteren Schichten, als in ihrem Verlauf auch zugleich allenthalben rechtwinkelig zu der so mannigfach gebogenen Faserrichtung derselben stehen. Die Lamelle selber besteht wieder aus zwei rechtwinkelig sich kreuzenden Faser- systemen, deren Verlauf an verschiedenen Stellen derselben Lamelle in typischer \\'eise variirt; und zugleich sind diese Lamellen noch in ganz bestimmter Weise durch ihnen parallel verlaufende Faserpaare untereinander verbunden. Schliesshch musste noch ein weiteres, gleich- falls zum Theil den Lamellen sich einordnendes Fasersystem unter- schieden werden, welches durch eine besondere Beziehung zu den 570 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Stnictur der Schwanzflosse des Delphin. letzten Gliedern der die Flosse stützenden Wirbelsäule den Charakter einer gewissen Selbstständigkeit erhält. Es war nun die Frage, ob diese, besonders durch die eigen - thümlichen Linienführungen mehr als für unseren obigen Zweck nöthig, complicirte [158] Structur auch unserer zweiten Forderung entspräche, ob sie der speciellen Function des Organs so vollkommen angepasst sei, dass sie mit dem aufgewendeten Materiale das Maximum an functioneller Leistungsfähigkeit verbinde, ob sie also eine „functio- nelle Structur" sei. Zur Beantwortung dieser Frage musste zunächst die Functious- weise des Organes aus seiner äusseren Gestalt sowie aus den zuge- hörigen bewegenden Apparaten und den theoretischen Locomotions- bedingungen abgeleitet werden; und es ergab sich dabei zugleich eine besondere Art der Function, welche zu der auch bei den Fischen allgemein verbreiteten, wellenförmig über die Axe des ganzen Orgaues ablaufenden Biegung und Streckung noch eine selbstständige, ebenfalls wellenförmig verlaufende Bewegung der „Seiten- theile" der Flosse als zweites Hauptmittel der Propulsion hinzufügt und so die ungewöhnlich grosse Breiteneutwicke- luno- der Schwanzflosse der Delphine bedingt und erklärt. Nachdem als Hauptbewegung -/.az iioxt^v eine bestimmte Suc- cessiou resp. Combination dieser beiden Beweguugsarten erkannt war, konnte daran gegangen werden, die daraus sich ergebenden Bean- spruchungen der Widerstandsfähigkeit des Organes theoretisch abzu- leiten. Um diese bei der Complicirtheit und Eigenartigkeit der Ver- hältnisse, sowie bei dem Mangel an grundlegenden Arbeiten der Physiker etwas schwierige Aufgabe zu lösen, musste die Geduld der Leser in hohem Grade in Anspruch genommen werden. Wir zerlegten diese comphcirte Aufgabe in eine Reihe einfacherer Probleme, bezüg- lich deren es möglich war, trotz der mangelnden theoretischen Grund- lage zu genügend sicheren Resultaten zu gelangen. Jklit dieser Analyse der Beanspruchung wurde allenthalben zu- gleich die Erörterung, wie derselben mit unserem eigenartigen Materiale am besten zu genügen sei, verbunden. Es war dabei aus einem faserig geformten und an sich ..beschränkt" Widerstands- Zusammenfassung. 571 fähigen Matcriale ein körperliches Gebilde mit ,,allartigcr" Widerstandsfähigkeit zu erzeugen; im Besonderen war mit Fasern, welchen blos Zugfestigkeit in der Längsrichtung und Druckfestigkeit in dazu rechtwinkeliger Richtung eigen ist, beim FchJen jeder beauspruchbaren Druckfestigkeit in Längsrichtung und jeder Biegungsfestigheit ein Gebilde hervorzubringen, welches gerade diejenige Combination von Druck-, Zug- und Abscheerungsfestigkeit besitzt, durch welche allein Biegitngsfestiglceit hergestellt werden Icann. Diese Aufgabe wurde gelöst, indem wir immer die Fasern mit der Richtung der bezüglichen grössten Widerstandsfähigkeit in der Richtung der grössten abgeleiteten Beanspruchung legten; und es entstand so eine Structur, welche durchaus die Typen des in der Flosse gefun- denen wiederholte. Danach galt es noch, die speciellen Verlaufs- richtuugen dieser Beanspruchungen in einem so complicirt geformten und beanspruchten Organ, wie unsere Flosse es darstellt, zu ermitteln. Wir knüpften hierfür an die [159] von der Electro- und Hydrodynamik her geläufige Distinction von Kraft- und Niveaulinien an; und es gelang auch hier wiederum, trotz der fehlenden theoretischen Grund- lagen, einen unseren Bedürfnissen genügenden Einblick in den noth- wendigen Verlauf dieser Linien und damit auch unserer Fasersysteme zu gewinnen. So erzielten wir das wichtige Resultat, dass in der That die gefundenen mannigfachen Verla ufsrichtungen der Fasern in der Flosse allenthalben den Richtungen „stärJister^' Beanspruchung entsprechen, dass somit die ganze Construction mit dem verwendeten Material das Maximum an Wider- standsfähigkeit leistet, oder dass umgekehrt die geleistete Wider- stands fühigheit mit dem Minimum an Material erreicht ivird. Die Flosse entspricht damit dem von uns sogenannten „Minimum- Maximumprincipe" und stellt damit zugleich eine ,.functionelle Structur" in unserem Sinne dar. Diese Structur gleicht also an principieller Vollkommenheit der der Knochen des Menschen, da beide das theoretisch als Vollkom- menstes erweisbare vollkommen darstellen. Aber an Complication musste die Structur der Flosse die Knochenstructur weit überragen. 572 Nr. 7. Functionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. sowohl wegen der grösseren Mannigfaltigkeit der Beanspruchung als wegen der geringeren Leistungsfähigkeit des Materials. In dem Knochen wird mit einem „allartig" und „allseitig" widerstands- fähigen Materiale ein „ebensolcher" Widerstand geleistet, während in unserem Organ fast dasselbe mit einem nur „beschränkt" widerstandsfähigen Materiale zu erreichen ist. Weiterhin soll bei der Flosse die Widerstandsfähigkeit auch noch eine tvechselnde, bald minimale, bald maximale sein, und diese wechselnde Widerstandsfähigkeit soll von dem Willen des Thieres abhängig und in ihrem Ab- lauf über die Flosse stets dem jeweiligen localen Be- dürfuiss entsprechend sein. Auch dies Problem ist voll- kommen und auf die einfachste Weise gelöst. Nach der so gewonnenen Einsicht in die functionellc Bedeutung und Zweckmässigkeit der gefundenen Structur kamen war zur letzten Auf- gabe, zum Nachweis, dass eine derartige tcunderbar voUhommene Einrichtung, welche durch heine der bis jetzt crl,-(innten Structuren organischer oder technischer Gebilde erreicht ivird, von dem einfachen Princip der trophischen Wir- kung der f unctionellen Reize sich ableiten lässt, ihm ihre Entstehung verdanken kann und muss. Zur Unterscheidung und Abgrenzung des möglichen Antheiles der Auslese unter den Indivi- duen nach Darwin, also des Autheiles der „Individualauslese" von dem Antheil der Auslese durch den Kampf der Theile, der ,.Partialauslese", welcher letzteren die functionellc Anpassung zu- gehört, war eine ausführlichere Auseinandersetzung nothwendig; wäh- rend dagegen bezüglich der Zurückweisung der bisher zur Erklärung der functionellen Anpassung verwendeten Principien der functionellen Alteration der BlutzAifuhr, sowie der besonderen trophischen Nerven auf eine frühere Widerlegung ^Nr. 4) verwiesen wurde. Danach sollte nun das als das allein dem thatsächlichen [160] Geschehen entsprechende aufgefasste Princip an dem speciellsten und complicirtesten Falle geprüft werden; und es ergab sich, dass es in der That durchaus sufficient ist, die uns vorliegende höchste Vollkommenheit hervorzu- bringen. Indem wir uns bei dieser Ableitung rein an das Rekannte, Zasammenfassung. 573 AVesentliche des Geschehens hiehen , wurcU-n wir (kireli unsere \^n- kenntniss der specicllen Physiologie des Bindegewebes, insbesondere darül)er, welches alles die lebenden Tlieilc desselben sind, ob und in welchem Maasse auch die Fibrillen selber assimilatious- und somit activ waehsthumsfähig sind, nicht gehemmt. Weiterhin ergab sich sogar noch, dass unser Princip nach Ausbildung einer der „äusseren Gestalt" der Flosse entsprechenden „StrHctnr" auch rückwirlcend auf die „äussere Gestalt'^ einen zweck- mässig gestaltenden Einfluss auszuüben vermag, und zwar dies so lauge, bis beide, Struclur und Gestalt, die höchste, dem von ihnen gemachten Gebrauche entsprechende \"ollkommenheit erreiclit haben, womit dann GJeichyeivi cht zwischen Function und Substrat hergesteUt ist. Somit waren zur vormaligen ersten Entstehung unseres Organes und zur Erreichung der höchsten Vollkommenheit des- selben als neu nur grobe embryonale Variationen nöthig, welche überhaupt einen flossenförmigen Anhang herstellten und so der Individualauslese D.\rwi.\'s Gelegenheit gaben, die besten äusseren Formen zu züchten. Danach vermochte die Partialauslese, unter Ver- mittelung der Thätigkeit der von uns supponirten und längst schon auf niederer oder niederster Wirbelthierstut'e gezüchteten und bethä- tigten Biudegewebsqualität, die dem Gebrauche des Organes ent- sprechendste, im alten Sinne ,,zweckmässigste" Structur und feinere äussere Gestalt auszubilden. Durch diese hohe Leistung unserer Hypothese von der trophischen Wirkung der functionellen Reize in so complicirten Verhältrussen erhalten wir einen neuen Beweis für ihre Richtigkeit, also dafür, dass sie die das Wesen treffende, wahre ^'erallge- meineruug der functionellen Anpassung ist. Breslau, September 1882. 574 Nr. 7. FuDctionelle Gestalt und Structur der Schwanzflosse des Delphin. Erklärung der Figuren auf Tafel II. Fig. 1. Schwanzflosse eines fast ausgewachsenen Braunfisches (Delphis pho- caena). ümriss und Angabe der Hauptverlaufsrichtungen der Fasern der äusseren und der mittleren .Schicht '3 natiirl. Grösse. Die beiden punctirten Linien an der Schwanzwurzel deuten den Verlauf von Hautfalten an. Fig. 2. Gerader Durchschnitt längs der durch a und 6 bezeichneten Stelle der in Fig. 1 abgebildeten Flosse. Der Umriss ist Naturselbstdruck. Schematische Darstellung des Faserverlaufs innerhalb der Lamellen der mittleren Schicht, aber in der Weise, als wenn der Schnitt längs einer und derselben gebogenen Lamelle ge- führt wäre, während in einem geraden Durchschnitt die Fasern fortwährend endigen und nur in ihrer Richtung von anderen Fasern fortgesetzt werden. Fig. 3. Umriss der Schwanzflosse eines fast ausgewachsenen Braunfisches mit Angabe der Wirbelsäule und des Faserverlatifs in der mittleren und äusseren Faserschicht. Natürliche Grösse. Fig. 4. Schwanzflosse eines 29 cm langen Embryo vom Zwerg- oder Vaagewal (Balaenoptera rostrata). Natürliche Grösse. Fig. 5. Schwanzflosse des Embryo eines Vaagewals von 34^ i Zoll Länge, un- gefähr '/s nat. Grösse, Hautfalten. Nach D. F. Eschricht. Zoolog, anat. Unter- suchungen über die nordischen Walthiere. Leipzig 1*49. Bd. I. Tab. VII, C. Fig. 6. Schwanzflosse eines trächtigen Vaagewals nach Eschricht, a. a. 0. S. 78. Angeblich ' 21 nat. Grösse. Nr. 8. Beiträg-e zur Morpholog-ie der functionellen Anpassung. II. Ueber die Selbstregulation der „morphologischen" Länge der Sceletmuskeln des Menschen. ISS.'}. Jenaisclie Zeitschrift für Naturwissenschaft XVI. N. F. IX, Bd. 1883. Inhalt. Seite Thatsachen der Seibätregulation der Muskellänge .576 ..Re lative Muskcllänge" 577 Technische Methodik 581 Not h wendigkeit dieser Selbstregulation -582 Vorkommen derselben 582 I. Bei Var ia t ionen d er M u sk el n 583 a) Rein topische Variationen: Verwerfungen 582 Gesetz der Congruenz oder stetigen Aenderung der beiden Abgrenzungsflächen des Fleisches jedes Muskels 583 „\ erlauf s Uni c" der Muskeln 584 b) Functionelle Variationen: sogen. Muskel v arietäten . . . 587 Drei Gesetze der Aenderung der Muskelfaserlänge 588 Gesetz der rcrschicdenen „rclatiren Länge" der Muskeln 588 Verzeichniss der gemessenen Muskelvarietäten .591 Folgerungen : Regulation d.n- Sehnenlänge 596, 614, 616 Entstehung der Fiedcruntj 596, 621 576 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Seit© II. Bei „Beschränkung'' des Verkehrsterrain der Gelenke 597 a) Regulation des Pronator qua d rat us &98 Beschränkung der Streckung 599 Beschränkung der Verkürzung 600 Anpassung der Muskcllänge: 1. durch Zurückbleiben im Wachsthum 603 2. durch „Schrumpfung" 605, 615 3. Durch sehnige Atrophie des Muskels 605, 613 Bestimmung der Cons tauten des unteren Radio- Ulnar- Gelenkes 60") b) Regulation der langen Rückenmuskeln bei Kyph<»sis .... 61() Sehnige Metamorphose der Muskelfaserenden .... 616 Sehnenverlängerung durch Wachsthum 622 III. „Morph ologischer- Ausdruck der Muskellänge u. ihrer Regulation 623 B. Theorie der Selbstregulation der morphologischen Länge und Dicke der Muskeln 626 Unabhängigkeit der Regulation der „Länge" und „Dicke" voneinander 627 Gesetz der dimensionalen Activitätshypertrophie und Inactivitätsatrophie 631 Insufficienz früherer Erklärungen 632 Neue Erklärung 635 a) Regulation der einzelnen Muskelfaser 635 Gleichgewicht zwischen Function uud Organ: Bildungsyleichg ew ic ht , E rhaltuncj sgleichg ewicht . 636 Ableitung der dimensionalen Activitätshypertrophie 637 Ableitung der dmiensioualen Inactivitätsatrophie 639 Trophische Wirkung irradiirter Impul se : 647 auf nicht gebrauchte Muskeln, auf Muskelvarietäten .... 648 Allobi OS i s atrophischer Muskelsubstanz 646 b) Regulation von Muskelfasergruppen 648 C. Gestaltender Antheil der „züchtenden Theilauslese " im Organismus 651 Qualitative Anpassung durch innere Umzüehtung: an chronische Ver- giftungen, an Nahrungsmangel 656 Zusammenfassung 658 A. TliatsiifluMi. Schon ßoEELLi ') erkannte , dass ein Muskel eine Last cet. par. um so hoher heben kann, je länger er selber ist. Damit war ein gewisses Verständniss der ungleichen Länge der verschiedenen Muskeiu I) J. A. BoiiKi.i.i. De motu animalium. 1685. Einleitung. 577 des Körpers angebahnt. Aber erst Edl-ahd Fk. Weber *) wies nacli, (lass (las Verhältniss der Grösse der Verkürzungsmög- lichkeit zur maximalen Länge jedes an den Scelettheilen be- festigten Muskels für alle eingelenkigen Muskeln des Körpers fast das Gleiche sei; sodass also den Muskeln eine ,,functiouell" liest iniinte Länge zukommt, [die ich als „relative MusJccl- Uinge" bezeichnen will (s. S. 591)^)1. Die von ihm gefundene Mittel- zahl drückt sich darin aus, dass ein Muskel im Zustande seiner maxi- malen, von [359] den Gelenken gestatteten Dehnung etwa noch ein Mal so lang ist, als im Zustande grösster von den Gelenken gestatteter Verkürzimg oder dass ein Muskel Gelegenheit habe, sich um etwa 50 "/n seiner von den Scelettheilen gestatteten maximalen Länge zu verkürzen. Die gefundenen Zahlen schwankten für ein- gelenkige Muskeln nur zwischen 47 und 62 "/o Verkürzungsgrösse. War damit nachgewiesen, dass es eine ziemlich genau functionell bestimmte normale Muskellänge giebt, so war auch zugleich die Möglichkeit gegeben, nun weiterhin zu fragen, wie sich der Muskel in Bezug auf seine Länge verhält, wenn die Beweglichkeit der Gelenke sich ändert; ob er vielleicht blos die uötliigeu passiven Veränderungen erfährt, oder ob eine „morphologische" Regulation der Länge sich in der Art kund- giebt, dass einige Zeit nach der Aenderuug der BewegHehkeit der Muskel unter vollkommener Anpassung au die neue Bewegungsgrösse wieder den früheren Verkürzuugscoefficienteu erlangt. (Weiteres s. S. 623.) Dem Chirurgen ist es eine geläufige Erfahrung, dass die Muskeln sich in hohem Maasse an wiedererlangte oder erst nachträglich erlangte gi-össere Beweglichkeit der Gelenke anzupassen vermögen, dass sie 1) Ed. Fr. Webkr. üeber die Längeuverliiiltnisse der Fleischfasern der Muskeln im Allgemeinen. Berichte über die Verhandlungeji d. königl. sächs. (4es. d. Wiss. Math.-phys. Cl 1851. S. 64—86. [ä) Es handelt sich also hier wie in der nachstehenden Abhandlung nicht um die Länge der einzelnen elementaren Muskelfasern, sondern um die Länge der contractilen Substanz zwischen Ursprungs- und Ansatzpun et; in diesem Sinne wird hier von ,Fleischf asern ' oder , Muskelfasern ■ ge- sprochen . ohne Rücksicht darauf, ob diese Länge aus einer oder mehreren niicro- scopischen Fasern zusammengesetzt ist.] W. Roux. Gesammelte Abhandlungen. I. ^* 578 Nr. 8. Selbstreguliitioii der morpbologischen Muskellänge des Menschen. nach der Operation von Ank_ylosen , veralteten Luxationen , Klunii)- füssen etc , fähig werden, die Bewegungen in dem wünschenswerthen Maass auszuführen. Aber über die morphologischen Verände- rungen, welche vielleicht dieser Anpassung zu Grunde liegen, sind nur wenige Untersuchungen augestellt worden. A. FicK 1) äusserte meines Wissens zuerst den Gedanken , dass die Muskeln einer wirklichen Selbstregulation ihrer Länge im Sinne des WEBEK'schen Gesetzes fähig seien, und er behauptete diese Sell:ist- regulation zugleich auch für die Herstellung der normalen Munkel- länge. Er nahm an, dass das durch das WEBER'sche Gesetz bestimmte Verhältniss zwischen grösster und kleinster Länge ,,niclit im organi- schen Bilduugsplan unmittelbar, sondern in dem Gesetz der Ernäh- rung begründet ist." Dieses Ernährung-sgesetz Hess er von der Func- tionsgrösse abhängig sein. Diese geniale, den Auffassungen der Zeit weit vorauseilende Idee, suchte er gemeinsam mit Glbleh nun aber durch ein Untersuchungsmaterial zu stützen, welchem theils schon [SftO] priucipiell, theils in der Art, wie es geboten ist, eine BcM'eis- ki'aft nicht zuerkannt werden kann. Dieser Umstand ist wohl als die Veranlassung anzusehen, dass die in ihrem Ideengehalt so bedeut- same Arbeit der Vergessenheit fast ganz anheimgefallen ist und keine Früchte getragen hat. A. Fick und Gubler glaubten, die Selljstregu- lation der Muskellänge in normalen \'erhältuissen beweisen zu können, ein Mal, indem sie etwas genauer als Weber darthaten , dass inner- halb jedes Muskels alle Faserbündel trotz grosser Schwankungen ihrer absoluten Länge dieselbe relative Länge, im Sinne des WEBEa'schen Gesetzes haben. Aus diesem Verhalten folgt aber nichts für die Herstellung der Längen durch Selbstregulation; denn wenn so viele feine, constante und zweckmässige Formenbildungen im Embryo vor sich gehen, che die Function eintritt, wie z. B. die Ausbildung der Sinnesorgane, der Geschlechtsorgane, so ist keine Veranlassung, die Unmöglichkeit der gleichen Herstellung anderer normaler Bildungen zu behaupten. 1) A. Fick: Ueber die Längenverhältnisse der Sceletmuskelfascrn. Aus der Inaugural.nbhandlung der Herrn Dr. Gubi.er mitgetheilt von A. Fick. Moi-f.schott's Untersuchungen zur Naturlehrc, 1860, Bd. VIII, S. 251 — 264. Ferner: Gubi.er. Ueber die Längenverhältnis.se der Fleischfasera einiger Muskeln. Zürioli. rfiss. inaug. 1800. Einleitung. 579 l^lier könnte vielleicht die zweite Methode dieser Autoren als lür ihren Zweck geeignet betrachtet werden. Sie nahmen an, dass die Embrj'onen in Folge von der Rauiuesbeengung im Mutterleibe die von den Gelenken gewährte Beweguugsmöglichkcit nicht erschöpfen könnten und daher durch Selbstregulation Muskeln ausbilden müssten, welche bei der Messimg gleich nach der Geburt in P'olge der jetzt gestatteten Erschöpfung der Beweglichkeit sich als relativ zu kurz erweisen, bald aber durch Ucbung die nöthige Länge erlangen müssten. Sehen wir von der Hypothese über die (Tclenkbildung, welche diese Vermuthung einschliesst ab, so hätte diese VernuühuHg eine ge'nisse, wenn auch nur geringe Beweiskraft erhalten können, sofern die that- sächliche Richtigkeit derselben sicher bewiesen worden wäre. Die Autoren begnügen sich aber mit an vier Kindern verschiedenen Alters augestellten Messungen, deren Resultate zwar in einer Reihe liegen, welche nach dem Verkürzungscoefficienten des Erwachsenen hinläuft, aber dabei selber blos um die Hälfte der Untersuchungsfehlerbreite ihrer .Messungen auseinander liegen. Um aber etwas vollkoimneu innerhalb der Fehlerbreite Liegendes festzustellen, sind sehr zahlreiche Untersuch- ungen uöthig; ich vermag daher den wenigen mitgetheilten Angaben eine das thatsächliche Verhalten feststellende Bedeutung nicht zuzuerkennen. Nach FicK sprach sich \V. Henke') bei Betrachtung der [361] abnorm grossen BewegUchkeit der sogenannten Kautschoukmänuer für die Wahrscheinlichkeit der Verlängerung der Muskeln durch Uebung aus, in derselben Arbeit, in der er zugleich für andere Muskeln die Insufficienz der Länge vieler zwei- und mehi-gelenkiger Muskeln für die gleichzeitige Erschöpfung der von den mehreren Gelenken gestat- teten Beweglichkeit darthat. Henke hat also selber aus dem zuletzt augedeuteten Verhalten nicht auf einen Mangel an Regulationsfähig- keit, sondern blos auf einen Mangel an Uebung geschlossen; und in demselben Sinne ist wohl auch die Arbeit Hceter's-) über das gleiche Thema aufzufassen. 1) W. Hexke. Studien und Kritiken über Muskeln und tielenkc. IV. Ueber Insufficienz der Länge der Muskeln für den Spielraum der Gelenke und über Kaut- schoukmänner. Henle u. Pfeufer, Zeitschr. f. rat. Medicin. Bd. 33. 1868. S. 141—146. ■•!) C. HiETER. In Betreff der Längenin.suf'ficienz der Muskeln. Virchow's Archiv f. path. Anat. u. Pliysiol. Bd. 46. 1869. S. 37—62. 37* 580 Nr. 8. Selbsh-egulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Diesen Autoren scbliesst sicli J. Glkiux au, welcher ilirect Mes- sungen an verkürzten IMuskeln vorgenommen zu haben scheint und nach Marey's Angaben unsere Regulation schon als sieher bewiesene Thatsache beti-achtet. M.^p.ey') erwähnt, leider ohne Literaturangabe, Befunde -J. GiEniN's, dass beim Klumpiuss entsprechend der Yer- minderung der Beweglichkeit die contractile Substanz der Waden- muskeln sich an Länge vermindere, und dass die Sehne deren Platz einnehme. Die Wadenmu.skeln sind aber bei der Kleinheit ihrer Fasern und der Länge ihrer Sehneu, zumal aber wegen ihrer grossen Dicke sehr ungeeignete Objecte zu solchen Messungen, wie wir später erkennen werden; und da die erfolgreiche KJumpfussbehandlung gewöhnhch mit der Tenotomie der Achillessehne verbunden ist, so werden Sehnen- messungen in diesem Falle keinen Schluss auf eine Vergrösserung der Sehne auf Kosten des Muskels gestatten lassen. Die Untersuchungen Gieri.n's fuiden sich auch nicht in den deutschen und englischen Monographien über Klumpfuss und ebenso M'enig in C. Hveters „Klinik der Gelenkkrankheiten" citirt und verwerthet. Güerin^) selbst giebt in einer jüngsten Mittheilung vom vorigen Jahre diese Literaturquelle nicht an, erwähnt aber, dass er schon im .Jalu-e 1835 nachgewiesen habe, dass die Tenotomie dem Muskel seine normale Länge uud Spannung wiedergebe und dass nach einigen Monaten die Muskeln wieder normal seien. [362] Danach wird es nicht überflüssig sein, die wichtige Frage der Selbstregulation der ,, relativen Muskellänge" noch eimnal zu behaudehi, an geeignetem Materiale zu prüfen^) und danach nach ihrer morphologischen Grundlage (s. S. 623) zu forscheu. Auf Selbstregulation können wir blos in zwei Fällen mit Sicherheit schliessen; entweder unter Beobachtung einer Variabilität, in welcher directe Anpassung an Neues, nicht im Voraus Normirtes 1) E. I. Maüev. La machiiH! animal. 2118 Edit. Paris 1878. S. 101. -) I. GuERiN. Sur le caractere physiologique de la contraction tendineuse. Compt. rend. 27. Fevr. 1882. T. SCIV. Paris S. 567. [3) Gleichzeitig mit dieser Schrift erschien eine gründliche Untersuchung H. Sthasser's über dasselbe Thema (Zur Kenntniss der functionellen Anpassung der quergestreiften Anpassung. Stuttgart 1883. 115 S.) Beide Arbeiten haben zu denselben Krgebnissen geführt, soweit ihr Untersuchungsgebiet dasselbe ist.J Einleitung. 581 sich bekundet, oder ohne solche Variabihtät dann, wenn nachweisbar ist, dass die vorhandene zweckmässige Einrichtung bei ihrer ersten phylogenetischen Entstehung nicht durch Auslese aus zulalligen Variationen züchtbar gewesen sein kann. Letztere ■Methode ist indessen sehr schwierig und nur in den seltensten Fällen beweiskräftig, obgleich ich erst vor Kurzem in dem ersten dieser Beiträge zur Morphologie der functionellen Anpassung sie zu ver- wenden in der Lage war. Ausserdem besagt sie nichts über die gegenwärtige o n t o g e u e t i s c h e Wiederholung der ursprünglich durch „f unctionelle Selbstgestaltung des Zweckmässigen" entstandenen Einriclitungen. Onto- genetisch entstehen dieselben vielleicht jetzt ohne Func- tion, rein zufolge der Vererbung [also der Beschaffenheit des Keimplasma (s. S. 203).] Vor der Mittheilung der eigenen Untersuchungen sei noch das Technische ihrer Methodik mit ein paar Worten erörtert. Das Instrumentarimn besteht aus einigen schmalen stählernen Baud- laaassen von 10, 20 und mehr Centimeter Länge, aus einem verstell- baren Winkel mit langen Branchen, einem entsprechend grossen Transporteur und scldiesslich aus rechtwinkelig geknickten Spitzen feiner Insektennadeln. Die letzteren dienen, um die Enden der prä- parirten Muskeif ascrbündel an der Sehne zu markiren. Die Aus- führung solcher Muskelmessungen erscheint dem Anfänger leicht, gehört aber gleichwohl, wenn mau zuverlässige ßesiütate erstrebt, zu dem Schwierigsten der Messungstechnik. Der Fehlerquellen sind viele und bei jedem Muskel andere, so dass man sich an jeden Fall erst durch mehrmalige Wiederholung der Messung unter Neuerzeuguug aller das Resultat beeinflussen- den Verhältnisse anpassen, sich ganz mit der Natur des jeweiligen Objectes vertraut machen muss, ehe constante Resultate hervortreten. Die am schwierigsten zu eliminirende und in ihrer Grösse al)zu- schätzende Fehlerquelle beruht auf unserer Unkenntniss der genauen Gestalt des ad maximum verkürzten Muskels; deshalb sind wo möglich die wenigen Fasern aufzusuchen, welche voraus- sichtlich beim Acte der Function vollkommen gerade 582 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. bleiben. Es ist nöthig, eine sehr grosse Anzahl erster Messungen zu cassiren. Die Vermuthung und das Suchen nach einer Selbstregulation 1363] der Muskeliänge hatten ihren Ausgangs])unct bei mir in dem Bestreben, den Etat des durch vererbte localisirte Selhst- differenzirung [also durch Evolution, s. II, S. 5 u. 19] im Embryo Herzustellenden möglichst zu entlasten und, wenn ich es gestehen darf, aucli in einem ge^nsscn Misstrauen gegen die Vollkommenheit des auf diese Weise Gewordenen; denn da das Längenwachsthum der Knochen kein vollkommen selbstständiges, rein vererbtes, sondern in hohem Maasse von der Nahrungszufuhr und von dem Gebrauche der Knochen abhängiges ist, so würde ein selbstständiges, von vorn herein fest normirtes Längenwachs- thum der Muskeln zu vielen Unzweckmässigkeiten führen. Dazu kamen noch Beobachtungen von zahllosen kleinen Varietäten an jedem sonst normalen Muskelindiviiluum , durch welche, obwohl sie dazu mechanisch leicht geeignet schienen, die Ausbildung der nor- malen Muskellänge jedoch nie gestört wonien war. I. Regulation der ,, relativen Muskellänge" bei Muskel- varietäten. i a) Die erste Art von Muskelvariationen, welche in gewissem Sinne für Selbstregulation der Muskellänge zu sprechen scheint, besteht in rein t o p i s c h e n Variationen bei Constanz der f u n c t i o n e 1 1 e n Verhältnisse, also bei normalem Ursprung und Ansatz: V er wer- . fangen von lluskel/asern auf der ,, normalen Verlaufslinie", t d. i. auf der Verbindungslinie des normalen Ursprung- und Ansatz- ])unctes. Betrachtet man einen Hächeuhaften Muskel, etwa einen der breiten Kückeumuskeln, z. B. den M. cucularis, so tritt der allgemeine Verlauf der Länge der Muskelfaserbündcl, wie sie vom Kopfe nach dem Schulterblatt ab-, dann weiter abwärts wieder zunimmt auf den ersten Blick hervor. Richtet man das Auge auf die Grenzlinien der rothen Muskelbündel gegen die atlasglänzonden Sehnenplattcn . so I. Bei iMuskelvarietäten. 583 treten zackige Linien hervor, welche in der Regel schon au den beiden symmetrischen Organen desselben Individnums erheblich von ein- ander verschieden sind, und welche noch mehr bei jedem Indi^^duum anders sind, als bei dem anderen. Vergleicht man dagegen die bei- den Grenzlinien desselben Muskelindividuums mit ein- ander, so zeigt sich sofort eine hochgradige Uebereinstimmung zwischen (lensell)cn. Greift z. B. die Ursprungssehne mit einer tief einschnei- denden silbernen Zacke in das Roth des umgebenden Muskels über, so findet am anderen Rande ein gleiches zackenförmiges Uebcrgreifen lies rothen Muskels in die weisse lusertions-Sehnenplatte statt und umgekehrt. Misst man diese beiderseitigen Zacken der Reihe nach am gaifzen Muskel, so sind die einander entsprechenden Vorsprünge und Einschnitte beider Seiten entweder einander vollkommen gleich hoch, oder der Unterschied ist ein nur sehr geringer und dann, über weitere Strecken hin verfolgt, „stetig" zu- oder abnehmender. Betrachten wir einen parallel-faserigen Muskel, bei welchem diese einander entsprechenden, in Ort und Höhe atypisch wechselnden Zacken, wie etwa [364^] beim M. rhomboid. maj. beiderseits gleich hoch sind , so erkennen wir , dass in diesem Falle die beiden Abgrenzungsflächen des Muskelfleisches gegen die Sehnen sich einander wie Petschaft und Abdruck gleichen. Die Bedeutung dieser „Congruenz der Abgreuzungsflächen des Muskelflei- sches'' für die Länge der parallelen Muskelfaserbündel besteht in der vollkommenen Constanterhaltuug der Länge sämmtlicher Fleisehfasern trotz beliebiger Verwerfung der letzteren gegeneinander auf der durch den Ursprungs- und Insertionspunct bezeichneten Linie. Bei Co nv er ganz der Muskelfasern ist natürlich eine Congruenz der beiden Abgrenzungsflächen nicht möglich, sie entsteht aber, sobald man die Fasern parallel ausbreitet oder als Ordinateu auf gleiche Abscissen aufträgt. Weichen dagegen die extrem gelagerten oder auch schon ein- ander näher liegende Muskelfaserbündel an Länge messbar von ein- ander ab, wie es in den meisten Muskeln der Fall ist, so sind die Abgrenzungsflächen des Muskelsfleisches natüi'lich nicht congruent und auch nicht durch eine andere Anordnung congruent zu machen ; 584 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischeu Muskellänge des Menschen. aber die Abweichung derselben von einander l)is zu den gemessenen Puncten hin ist eine ganz allmähhche, continuirliche, nie sprung- weise und sie steht dadurcli in Harmonie mit der continuiriichen Aus- dehnung und daher stets allinählicheu Aenderung der Ursprungs- und Insertiousflächen der Muskeln, welche nie eine sprungweise Vergi-össe- ruug der Hebelarme und damit der Verkürzungsmöglichkeit neben einander sich ansetzender Muskelfasern möglich macht. Das WEBER'sche Gesetz der einheitlichen functionellen Faser- länge jedes Muskels ist bei der Grösse der Untersuchungsfehlerbreite nur innerhalb sehr weiter Grenzen feststellbar und festgestellt; durch unser „Gesetz der „Congrtienz" oder „stetigen" Aendernng der beiden Ahgrensnngsf lachen des Fleisches jedes Muskels" aber erhält es eine bedeutende "\'erschärfung ; denn wenn wii' jetzt zwei die extremen Puucte der Hebelarme bewegende Faserbündel möglichst genau gemessen und in ihrer procentischen Wrkürzungs- grösse gleich gefunden haben, so ist damit dasselbe zugleich auch für alle dazwischen liegenden Bündel sicher zu erschhessen, da wir wissen, dass in dem Muskel keine sprungweisen \'er- änderungen der Faserlängen, sondern nur allmähliche Ueberführungen von den Extremen zu einander vorkom- men, ganz entsprechend der „stetigen" Veränderung der Hebelarme. Die Regel lässt sich kurz fassen: ..Nebeneinander ent- springende und iuserirende Muskelfasern sind ent- weder absolut gleich lang oder, bei Aenderung der Hebelarme, nur um ein sehr Kleines (Differential) au Länge unterein- [365] ander verschieden. Im letzteren Falle ist die Zu- oder Abnahme der Muskelfaserbünde! nach jeder Richtung eine continuirliche und in ihrer Grösse durch das WEBEu'sche Gesetz bestimmte. Diese Längenverhält- nisse erfahren keine Aenderung durch ,, Verwerfung" der Muskelfasern aal' der ,, Verlaufslinie" d. i. auf der Ver- bindungslinie des Ursprungs- und Insertionspunctes. Die Verwerfungen sind manchmal sehr beträchtlich und können so weit gehen, dass Muskeln, welche normal blos Eine Sehne haben, I. Bei Muskelvarietiitoii. 585 total oder blos in einigen ihrer Bündel zwischen zwei Sehnen gelagert sind oder auch den Platz von Sehne und Muskel vollkommen ver- wechseln, wie dies beim Pronator quadratus, beim Palmaris longus und anderen Muskeln nicht selten beobachtet wird und schon wieder- holt beschrieben ist. Der Umstand aber, dass bei diesen lieliebigen Verwerfungen einzelner Muskelfaserbündel oder der ganzen Muskeln die Länge der- selben nicht im geringsten alterirt wird, lässt erkennen, dass die Fähigkeit zur Ausbildung der nöthigeuMuskellänge nicht an eine bestimmte „Oertlichkeit" gebunden, nicht to[)isch bestimmt ist; und insofern kann man wohl vcrmuthen, dass sie vielleicht durch eine Art „Selbstregulation" an jedem „Orte" sich in dej' der Function entsprechenden Weise ausbilde. Aber es kann dagegen der Einwand gemacht werden, dass jede typische Muskelfaser von vornherein die geeignete Wachsthumskraft zur Ausbildung der nöthigen, der Beweglichkeit ihrer fest normirten beiden Anheftimgspuncte entsprechenden Länge dm-ch ^^ererbung mit erlialteu habe, und dass sie in der Bethätiguug dieses Vermögens durch eine Verlagerung auf der Verbindungslinie dieser Puncte nicht gestört zu werden brauche. Die Annahme, auf welcher dieser Einwand beruht, ist die feste Normirung zusammengehöriger Anhef tungspuncte und der passenden Läugenwachsthumskraf t der sie ver- bindenden Muskelfasern. Diese fest vererbte und normirte dreifache Zusammengehörigkeit ist au sich nicht sehr wahr- scheinlich, und sie Hesse sich leicht widerlegen, wenn man die nächste mögliche Art der Muskelvariabilität beobachtet und feststeht, dass von den einander entsprechenden normalen Ursprungs- und Insertionsflächen eines Muskels nicht immer jeder- seits dieselben Puncte mit einander durch die Muskelbündel ver- bunden werden, dass gleichwohl aber die Muskelfasern die der so becUngten Function entsprechende Länge besitzen. Ich habe Abstand genommen, dieses \'erhältniss genau zu untersuchen, obgleich man nicht selten durch äugen- [366j fähige hierher gehörige \'ariationen Gelegenheit dazu erhält, und zwar weil die Längendifferenzen hier- 586 Nr. 8. Selbstregalation der morphologischen Muskellänge des Menschen. bei ZU gering sind, um bei der Grösse der Untersuchuugst'ehler genügend sichere Resultate zu geben. Deslialb wurde die Unter- suchuug sogleicli auf hochgradigere Variationen ausgedelmt. Elie wir zu dieser neuen Variabihtät übergehen, sei noch ein Wort über die Genauigkeit der Feststellung des Gesetzes von der Congruenz oder der stetigen Aenderung der Abgrenzuugsflächen und über die practische Verwendbarkeit desselben hinzugefügt. Ich habe dasselbe bei der Untersuchung von mehreren Hunderten vielleicht von Tausend zu anderem Zwecke gemessenen Muskeln (s. S. .088 Anm.) im Auge behalten und geprüft und nie eine Ausnahme gefunden. So oft auch auf den ersten Blick eine solche vorhanden zu sein schien, bei genauerem Zusehen und Präpariren fand sich stets für jede Ungleich- heit an der einen Abgrenzungsfläohe eine entsprechende an der anderen. Man braucht nur an der Stelle, wo eine Sehnenzacke, welche zur Congruenz der beiden Abgrenzungsflächeu der Muskeln nöthig ist. zu fehlen scheint, mit dem Messer einzudringen und man wird dir erschlossene Sehne nie unisoust suchen. Nachdem das Gesetz als ausnahmslos giltig festgestellt war, erwies .sich dasselbe ungemein nützlich beim Messen nicht mehr gut conservirter Muskeln, an welchen es oft schwer oder unmöglich ist, Faserbündel in ihrer ganzen Länge freizulegen und so direct vom Ursprung zur Insertion zu verfolgen. Zufolge obigen Gesetzes aber weiss man, dass die äuss erste Spitze einer Sehnenzacke auf der einen Seite stets der äussersteni Spitze der entsprechenden Muskelzacke auf der anderen Seite zugehört, dass beide Spitzen die Enden eines und desselben Faserbündels sind; und man hat so an jedem ^Muskel eine Anzahl Bündel, deren Enden rasch und sehr sicher zu ermitteln sind. [Ferner* ergiebt sich heiFiederung daraus eine alternireude Lagerung der Ursprungs- und Ansatzsehne am Muskelbauch; liegt die eine Sehne oberflächlich oder links, so liegt die andere Sehne in der Tiefe oder rechts. Da nun die Lage der einen Sehne häufig durch den Druck eines Nachbarorganes eines Muskels oder einer Fascie bestimmt wird, indem das Muskelfleisch da sich anlegt oder entwickelt, wo am meisten Platz für dasselbe, also geringster Druck ist, während da, wo stärkerer Druck ist, die Sehne sich bildet; so wird /,. 15. durch I. Bei Xluskelvariotäten. 587 einen Drnck an der Urspruugsstellc nielit blos die Lagerung der Ur- sprungssehne, sondern auch gleich die Lagerung der Ansatzsehne zum Muskclljauch bestimmt (s. S. 269 Anm., 58(3 u. 021).] Suchen wir weiteres Beweismaterial für die Selbstregulation der Muskelliinge, so muss ohne Zweifel beweiskräftiger als die blosse Ver- werfung des Muskels auf der ., normalen Veriaufslinie" das Vor- komnmiss sein, dass diese Linie selber aberrirt, dassdie Ursprungs- oder hisertionsstelle abnorm gelagert ist, sofern trotz der dadurch erlangten abnormen Beweglichkeit die Muskeln die diesen neuen Verhältnissen entsprechende Länge haben. b) Muskeln mit abnormen Ursprungs- oder Insertions- s teilen stellen die sogenannten Muskel Varietäten dar und dazu kommen noch und sind ebenso beweiskräftig für unseren Zweck neue, normal nicht vorhandene Muskeln. Ein Theil der letzteren [367] tritt in eiuigermaassen typischer Weise auf, so der M. Sternalis, und man könnte daher annehmen, dass auch der Bau desselben, insbesondere die Muskellänge schon eine zweckmässig ver- erbte wäre. Dies ist aber nicht möglich, da gerade die Länge dieser Muskeln und die Beweglichkeit ihrer Insertionssehneu durchaus variabel sind, und ich habe von 5 Mm. sternales jeden ganz anders in diesen Beziehungen als den anderen gefunden. ihm wäre berechtigt, zu erwarten, dass in den Muskelvarie- tiiten, also in Fällen, wo das Bilduugsmaterial der Muskeln von seiner normalen Richtung oder Stelle abgelenkt worden ist und oft an viel mehr oder weniger als normal beweglichen Stelleu sich anheftet und dabei oft nicht willkürlich gebraucht wird, dass hier die Muskel- bündel ganz beliebige, gar nicht mit der Beweglichkeit der Anhef- tungsjumcte in bestimmter Correlation stehende Längen haben würden, und dass daher auch unsere Congruenz der Be.weguugsflächen der Muskeln nicht mehr sich finde, sondern nebeneinander entspringende, verlaufende und inserirende Bündel beliebig bald kurz bald lang seien. ^^'er das erwartet, hat sich indess, wie gleich im Voraus gesagt sein soll, vollkommen getäuscht. Es sprechen sich vielmehr auch in der Beschaffenheit dieser Zufallsgebilde sehr bestimmte Gesetze aus, welche zumal bei grossen Variationen der Beweg- 588 Nr. ö. Selbstregulation der morphologischen Jluskellänge des Menschen. lichkeit deutlich feststellbar eingehalten werden. Es sind fol- gende: 1. Muskelfaserbüudel eines variirten Muskels, welche in Sehueufasern von gleicher Beweglichkeit übergehen, sind gleich lang. Beweise für dies Gesetz bilden von den unten geschilderten Muskeln die Nummern: 3, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 14 dexter, lö, 17, lit und ausserdem alle übrigen Muskeln in iliren Theilen, soweit die Voraussetzung gleicher BewegUchkeit ihrer Sehnen gilt. 2. Wenn Muskelfasern eines variirten Muskels sich an verschieden beweglichen Sehnen ins eriren, dann haben diese Muskelfasern ungleiche Länge, und zwar sind stets diejenigen Fasern länger, welche an der beweglicheren Sehne haften. Dies spricht sich aus in Beispiel 1, 0, 12, 14, 1(J, 18, 20, 25. Für ^Muskelfaserbüudel, welche von normalen Muskeln mit ihrer Insertion aberriren, ergeben sich aus dieser Regel folgende Specialfälle: Ist die Beweglichkeit der Insertion des aberrirten Muskeltheiles oder eines accessorischeu Muskelkopfes die gleiche wie beim normalen Muskel, dann haben auch die Muskelfasern die gleiche Länge wie die des normalen Muskels; so in Fall 8, 17 und 19. Ist die BetvegJichkeit des aberrirten Theiles geringer, so sind (tuch seine Fleischfasern .^kürzer''; oder ist die ganze [368] Sehne eines Muskels auf einen weniger als normal beweglichen Theil aberrirt, dann sind die Fasern dieses Muskels kürzer als die des normalen Muskels der anderen Ittrperhälfte ; so in Beispiel 1, 2, 10, 11, IG, 18, 22, 23, 24, 26, 28, 30, 31. Findet die Aberration auf einen heicegHcheren Theil statt, HO tyind die JilusleJfüscrn Jünger als die normalen" so in Fall 12, 13, 20, 25, 29. Abweichungen, von diesen Regeln, welche gelegentlich bei nur geringen Abweichungen der Beweglichkeit vorkommen, sind auf \ qx- schiedenheiteu der Verkürzungscoefficienten zurückführbar, da diese Coefficienten in der That nicht ganz so constant sind, als Weber angegeben hat, wobei sie aber einem bestimmten Gesetze folgen '). [>) Diese noch nicht publicirte, von mir durch Vergleichung der functionellen Länge fast aller Sceletmuskeln dos Menschen festgestellte Kegel lautet folgender- I. Bei Muskelvarietäten. 589 3. Die Bestimmung der relativen Muskellänge, also der procen- tisclien Verkürzungsmöglichkeit ist bei Muskel Varietäten oft nicht genau uiüglich , weil wir, sobald Muskeln auf Weichtheile wie Fascien, Drüsen aberrirt sind, die im Leben während der Action der umgebenden Muskeln vorhandene Beweglichkeit nicht sicher zu beur- theilen vermögen und aueli überhaupt schon, weil alsdann eine scharfe Eudreaction fehlt. Trotzdem war ich zufolge der Gunst des Zufalls, welcher mir ziemlich grelle Unterschiede in der Beweglichkeit einiger solcher Mus- keln zuführte, in der Lage, doch ziemlich zuverlässige Resultate zu gewinnen. Es ergab sich, dass die Muskelfaserbündel eines und des- selben variirfen Muskels, welche an verschieden beweg- lichen Sehneu sieh inseriren, ganz denselben oder fast ganz denselben Verkürzungscoefficienteu haben, Nr. 1, 2, 6, 8, 11, 14, 16, 17, 18, 20, 25, 30, 31. Die Grösse dieser Coefficienten werde ich in einer besondern Arbeit neben dem Gesetz der physio- logischen Vertheilung der Verkürzungscoefficienteu mittheilen; dabei sollen für die Varietäten dieselben Zahlen zur Bezeichnung verwendet werden, wie in nachstehendem Verzeichniss, sodass Interessenten die in i t wenig Aufmerksamkeit gebraucht, also schwach innervirt werden, haben relativ längeres Muskelfleisch also eine grössere , relative Länge" als bewusst und stärker gebrauchte. Der Unterschied tritt besonders bei Vergleichung der die obere Extremität und ihre Theile bewegenden Muskeln mit den Rücken- und Athem- muskeln hervor. Erstere sind so kurz, dass sie bei den häufig ausgeführten Beweg- ungen schon 50— eO^/o verkürzt werden, letztere so lang dass sie bei den „gewöhn- lichen" Bewegungen blos 25 °o verkürzt werden (während Fick und Gueler, ebenso wie ich, in der vorliegenden Arbeit, die procentische Verkürzung bei der maximalen, von den Anheftungspuncten gestatteten Bewegung gemessen haben). Dieses Gesetz ,der verschiedenen relativen Länge der Muskeln" stellt also die An- passung der Länge der Fleischfaserbiüidel an die mitt'lerc Stärke des Im- pulses dar; somit eine viel feinere Anpassung als die in dieser vorliegenden Schrift vertretene Anpassung. Doch wird letztere an abnormem Materiale nachgewiesen, wodurch sie als Product von Selbstregulation charakterisirt wird; während erstere bis jetzt nur unter normalen Verhältnissen geprüft ist, also über die Ursache welche uns hier interessirt, keinen Schluss gestattet. Bei der grossen Fehlerbreite bezüglicher Messungen wird sich die Ursache dieser feineren Anpassung auch nur experimentell, z. B. an Thieren, denen von Jugend auf täglich eine sonst schwach Innervirte Muskelgruppe electrisch gereizt wird, mit Erfolg prüfen lassen. (S. 284.)] 590 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. beiderseitigen Resultate combinireu können. Aberrirte Bündel nor- maler Muskeln baben denselben Verkürzungscoefficienten als dieser Muskel, wenn die aberrirten Bündel zur normalen Function mit bei- zutragen vermögen. 4. AVeiterbin ergab sicli noch, dass die vorstehend für normale Muskehl aufgestellte Regel von der C'ongrueuz der Abgrenzung^- flächen der Muskeln auch für die Muskelvarietäten gilt und daher auch hier das durch dirccte Bestimmung der Verkürzuug>- coefticienten gefundene Resultat bedeutend verschärft und [369j ver- feinert. Man muss aber bei diesem Material immer darauf gefas,-t sein, dass nebeneinander entspringende und verlaufende Muskelfasern nicht wie l^ei normalen Muskeln auch noch nebeneinander inseriren, sondern dass oft ein Theil der Sehne viel weiter, zu einer beweglicheren Unterlage verläuft; in Folge dessen dann auch die Längen entsprechend verschieden sind. Dadurch kann auf den ersten Blick lucongruenz der Abgrenzungsflächen functiouell zusammengehöriger Muskeltlieile vorgetäuscht werden. Die Bedeutung dieser in den Längenverhältnissen der scheinbar ganz regellosen Muskelvarietäten sich aussprechenden Gesetze für die Selbstregulation der Muskellänge liegt nachweisbar auf der Hand. Nur über die Art des Vorganges kann man in Zweifel sein; darüber wird im theoretischen Theile der Abhandlung das Wahrscheinliche erörtert werden. Möchte jemand eine nicht auf Selbstregulation der Muskellänge gegründete Erklärung versuchen und zunächst einwenden, die gleiche Länge bei gleicher Beweglichkeit rühre nicht von dieser letzteren her. sondern beruhe einfach auf gleicher Wachsthumskraft normaler und aberrii-ter Fasern, dann entsteht die Frage: Warum sind die Fasern ungleich bei ungleicher Beweglichkeit, und wie kommen sie bei unglei- cher Länge zu gleichen Verkürzungscocflicicnteu'? Weiterhin könnte man vermuthen, dass eine von voi'nherein zu lange Anlage der Mus- kelbündel nothwendig zu einer Alierration führen müsse, welche in ihrer Grösse von dem Ueberschuss der Muskellänge abhänge. Dies ist erstens an sich blos dann zutreibend, wenn an der Seite der Aber- ration normal keine Sehne vorhanden ist ; und zweitens ist überhaupt I. Bei Muskelvarietäten. 591 die (Jrösse der Aberration nicht für die Grösse der Beweglichkeit maassgebend. Es icomnien sein- weite Aberrationen der Insertionen vor, ohne dass die Bewegliciikcit überhaupt vcrgrössert wird. Die im Folgenden niitgetheilten Muskelvarietäten betreffen alle erwachsene Individuen; sie sind in der Reihe angeordnet, in welcher sie aufgefunden wurden; und es ist noch zu erwähnen, dass keine in dem Untersuchuugszeitraum mir zur Kennt niss gekommene \^arietät ununtersucht geblieben oder aus der Reihe der Mitgetheilteu ehminirt worden ist. Bezüglich der der Kürze halber verwendeten Termini ist vorauszuschicken, dass ich den hohen Grad einheidicher Organisation der Muiskelvarietäten , welcher sich in der Cougruenz resp. in der Stetigkeit der vorhandenen Aende- rung der Abgrenzungsflächen des Muskeü'leisches ausspricht, als Zustand der „0)-(jrkürzung des Muskels zu beweisen. Zwischen diesen beiden Extremen sind natürlich unzählige Uebergangsf alle möglich, in denen dann vom ersten zum zweiten Falle fortschreitend die einfache Muskel-Schrumpfung von ihren 60 "/o Antheil an der zur vollkommenen Anpassung nöthigen Verkürzung immer kleiner wird zu Gunsten der mit 40"/o Antheil beginnenden sehnigen Verkürzung, bis letztere schliesslich allein übrig bleibt. \' o 1 1 k o ni m e n e Anpassung der M u s k e 1 1 ä u g e a n ^" e r- kleiueruug der Verkürzungsniöglichkeit ist erreicht, wenn die Verkleinerung des Muskels so gross ist, dass der V e r k ü r z u n g s c o e f f i c i e n t der normale, also beim Pro- nator quadratus 60 "/o, bleibt. Die bisher gemachte Unterscheidung gilt in ihrer strengen Form mir für vollkommen erwachsene Individuen. Erfolgt dage- gen die Bewegungsbeschränkuug in der Periode des AVach.s- thums und ist sie eine so allmäliHche, dass die maximale Entfer- nung von Ursprungs- und Insertionspunct statt direet kleiner zu werden einfach constant bleibt und somit IjIos im Verhältniss zu den ver- grösserten Hebelarmei^ kleiner wird, so ist zunächst ein Fall denkbar, in dem weder Muskel noch Sehne sich zu verändern brauchen; fernerhin können beide proportional ihrer bestehenden Grösse weiter Avachsen, sodass ihr Grössenverhältniss sich nicht ändert; und schliess- lich kann der Muskel constant bleiben und blos die Seime wachsen. Auch zwischen diesen Fällen sind unendlich viele Uebergangsstufen denkbar und ebenso allmähliche Uebergänge zu den ersterwähnten Verhältnissen beim Erwachsenen. Betrachten wir nun die in 51 Fällen am Pronator Cjuadratus hominis gewonnenen Resultate, wie sie auf Tabelle I S. 602 zusammen- gestellt sind, so giebt C'olumne I die vorhandene Bewegungsgrösse an. Man sieht, dass sie von 12 — 187", also um mehr als das Fünfzehnfache schwankt. C'olumne II giebt das Verhältniss aus der Länge des grössten Muskelfaserbündels bei maximaler Supination und der 602 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. [378 Mu scu ii jii'cjuat ores ijuailrati. I. II. lll. IV. V. VI. 2 "ä rhälfto •2 s? Vordor- 1. durch mgo ungs- so Vordor- I. durch änge ■ 0) ... - TS l- O — S == s 1 g ingen iO N m S ..i: 3 jj ^ ^ 2 ä - o Kilrp Breite d. armes div Faser Vorküi grö Breite d. armes div behuoi o .2 cc s: :o 1 — sinist. 12" 5,6 15«;o — 48« Rachit. Zwerg V. 56 .lahren 2 60 sin. 25» 4.0 23,5»/o 1,5 64° Fraetura ulnae 3 dext. 36« 3,7 38»/o — .57° Rachit. Zwerg 4 60 dext. 58° 2,8 32,5»'o 1,6 104» Fraetura ulnae 5 152 — 75» 2,1 45»; 0 1,8 100° Fraetura ulnae 6 72 sin. 88» 1,5 41«/o 2,2 129» 7 74 dext. 87» 1,5 33»/o 2,1 1.58° 8 100 sin. 89» 1,5 54°; 0 1,7 99» 9 79 sin. 90» 1,7 49°;o 1,7 110° Fraetura ulnae 10 119 96» 9 59° 0 1,6 97° U 118 dext. 100» 1,8 55» 0 1.9 109° 12 94 sin. 102« 2 60°;o 1,8 102° 13 91 dext. 104» 2 58°,o 2,1 107« 14 93 dext. 104° 2 59.5°.'o 2,2 104« l.T 76 dext. 104° 1.6 54°.'o 2,0 116« 16 112 dext. 108« 1,4 .5.5° 0 2,3 118» 17 80 dext. 112» 1,6 52,.5°'o 1.8 128° 18 88 dext. 115» 1,7 59°o 2,2 116° 19 69 sin. 115« 1,7 — 1.6 — 20 93 sin. 117« 1,8 58,5«/o 2.0 119° 21 78 dext. 118» 1,8 .56» 0 1.9 127° 22 94 dext. 120» 1,7 62..5°'o 2.2 115° 23 84 sin. 120» 1,7 57° 0 1.7 127° 24 103 dext. 122» 1.7 56° 0 2,3 130» Neugeboren 2.D 88 sin. 126« 1,7 65° 0 2,3 116° 26 71 125« 1,4 48° 0 2,5 156« Neugeboren 27 84 dext. 130° 1,5 52.5°,'o 1,9 148« 28 100 dext. 133« 1,4 52° 0 2,5 1.53« 29 90 sin. 134» 1,3 61°'o 1,9 132° 30 78 sin. 141° 1,6 60°;o 1,9 141" 31 70 dext. 143° 1,5 61.5»'o 2,4 140° 32 85 sin. 145° 1.5 65»o 1,7 134° H3 85 dext. 145° 61°o 1,7 143" 34 110 sin. 146° 1.3 55° 0 1.9 160« 35 69 dext. 1.50° 1,3 51° 0 2,0 176° 36 73 dext. 151» 1,5 57° 'o 2,3 159° 37 86 dext. 151° 1,4 55»/o 2,2 l(i5° Neugeboren 38 87 sin. 151° 1,4 64°o 2,1 141° Neugeboren 39 86 sin. 1.58° 1,4 61« 0 1.8 156« Neugeboren 40 83 dext. 163° 1,4 64» 0 2,2 1.53» 41 87 dext. 160» 1,4 56'Vo 2,4 171» Neugeboren 42 77 dext. 162» 1,4 63°,o 2,5 1.55» 43 110 dext. 172» 1,3 62°/o — Itifi« 44 89 sin. 175° 1,4 59° 0 2,1 177° Neugeboren 45 83 sin. . 179° 1.4 65.5»;o 1,9 164° 46 59 dext. 175° 1,5 67°,o 1,9 157° 47 70 sin. 180» 1,3 61,5°o 2,7 175» 48 104 sin. 180» 1,2 63° 0 1,7 171» Neugeboren 49 ' 111 sin. 178« 1,3 60°/o 2,4 178° 50 115 sin. 180» 1,4 57°/o 2.2 190« Neugeboren 51 115 dext. 1S7» 1.4 .57°, 0 1.8 198° Neugeboren IL Bei Bescbräiikung des Verkehrsterrains. 603 l'.reite des Vorderarmes an, und drückt somit das in Zahlen aus, was man am Präparat sofort unwillkürlich mit den Aucen schätzt. Es zeigt sich, dass bei normaler Bewegungsgrösse von IGO", wie sie Brauxe und Flügel bestimmt haben, diese Länge des Muskels noch nicht ganz ein und cinlialh ^hd (1,4) in der Breite des Vorderarmes aufgeht, also etwas mehr als zwei Dritttheile der Breite einnimmt, dass sie dagegen bei 102—104» Bewegungsgrösse blos [380] die Plälfte, bei 58" fast blos ^/s, bei 25" blos ','4 der Vorderarmbreite deckt, um in unserem extremsten Falle von blos 12" Bewegungsgrösse nicht ein ^lal mehr ^'5, fast blos Vg dieser Grösse einzunehmen. In letzterem Falle stellt der Muskel blos noch einen schmalen Saum am Radialrande des Radius dar. Die Sehne ergänzt den Defect der MusJceUänge gewöhnlich in der Weise, dass sie den ganzen übrigen, also iilnnrwärts liegenden, Raum der Breite der Vorderarm- knochen bedeckt; blos im letzterwähnten Falle Nr. 1 und 3, war dieses durch \'orhandensein radial gelegener Sehnenfasern nicht voU- koiiuuen der Fall. Dieses augenfällige Resultat scheint sehr deutlich die Anpassung des Muskels an die Verringerung der Bewegungsgrösse darzuthun. Begnügen wir uns indessen nicht mit diesem Schein, sondern prüfen durch Rechnung die Vollkommenheit der Anpassung, indem wir die bei diesen Längen gefundenen Verkürzungszahleu mit der Normal- zahl von 60 "0 Verkürzungsgrösse vergleichen, so zeigt Columne III, dass in der That in einer Anzahl von Fällen nicht unerheblicher Bewegungs-Beschränkung, nämlich auf 126 — 102° an 12 Extremitäten fast oder ganz vollkommene Anpassung erreicht worden ist, da die Verkürzuno-scoefficienten in Nr. 10 — 25 ganz nahe um 60 ",'0 sehwanken und im ungünstigsten Falle, Nr. 15, nur bis auf 54 "/o sinken. Ganz dasselbe bekundet auf andere Weise Columne V, welche die Bewe- gungsgrössen anzeigt, die jeder Muskel ausführen könnte, wenn er sich um 60 ",'0 verkürzte! Diese Fälle würden daher trotz der Klein- heit der Bewegungsbeschräukung , welche blos 34 — 58", also ^h — '/s der normalen Bewegungsgrösse beträgt, beweisend für die vollkommene Anpassung der Muskeln sein, wenn nicht gerade in diesen Fällen die Ursache der Bewegungsbeschränkung unauffindbar gewesen wäre. So 604 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. aber kann man die ganze Erscheinung umgekehrt deuten und ver- muthen , dass vielleicht die Muskeln primär zu klein gewesen seien, und dass in Abhängigkeit davon die Gelenke eine geringere Beweg- lichkeit erhalten hätten. Bei Unberücksichtigtlassung dieses nicht zu widerlegenden Ein- wandes würden wir auch weiterhin nicht zu entscheiden vermögen, ob die Muskelanpassung 1. durch einfaches Zurückblei- ben im Wachsthum, oder 2. unter Betheiligung von Schrumpfung oder 3. auch noch unter Mitwirkung von sehniger Atrophie desMuskels zuStande gekommen ist. da auch die Zeit des Eintritts der Bewegungsstörung unbekannt ist. Es ist aber von Wichtigkeit für das eventuelle Vorkommen jeder dieser drei denkbaren A n p a s s u n g s a r t c n unanfecht- bare Beweise zu erlangen. Bei den höher gradigen Bewegungsbeschränkungen sind wir [381] in dieser Beziehung besser gestellt; hier war in der Mehrzahl der Fälle sowohl die Ursache als auch die ungefähre Zeit der Störung und damit der Causalnexus der Anpassungsersoheinungen sicher erkennbar. Die Ursachen sind in Columne VI angegeben , und bestehen theils in rachitischen Verkrümmungen (Nr. 1 und 3), theils in Fracturen der Ulna, Nr. 2, 4, 5, 9. Der zwerghafte Wuchs der Glieder des Rachitischen lässt unzweifelhaft erkennen, dass die Atlec- tion hier, wie gewöhnlich in die erste Jugend fiel. Die Fracturen der Ellenbeine gehörten alten, sonst normal gestalteten Personen an, und noch vorhandene Kanten und Ecken an den Bruchstellen deu- teten an, dass die "\'erletzuugen nicht sehr viele Jahre vor dem Tode erfolgt sein, jedenfalls erst in der Zeit des Erwachsenseins stattgefun- den haben konnten. Auffällig ist lilo.«, dass bei Journ,-Nr. GO, laufende Nr. 2 u. 4, einem sehr kräftigen Manne die Affection doppelseitig vor- handen ist. Betrachten wir zunächst die \'erkürzungscoefficicnten in diesen Fällen, so ist in keinem Falle eine vollkommene Anpassung einge- treten, da die Coefficienten von den normalen 60" lo auf 4'.t";o, 45 "/o, 32 ",0, ja im Falle höchster Beschränkung von blos 12'^ Bewegungs- grösse sogar auf 15 "'o sinken. Da aber die Bewegungsbeschränkung II. Bei BeschräukuDg des Verkehrsterrains. 605 iu diesem äussersten Falle bis aul' ','13 der normalen Beweguugsgrösse herabgesetzt ist, so bekundet sich in dem Sinken des Verkürzungs- coefficienten blos auf ','4 des Normalen immeiliin noch eine sehr erhebliche Anpassung von fast ^,'4 der vollkommenen Anpassung; und Columne V zeigt wiederum dasselbe iu anderer Weise, indem sie erkennen liisst, dass die vorhandene Muskellänge auch bei üO^/o Ver- kürzungsgrösse nur zu einer Bewegung von 48" statt von 160" zureichen würde. Diese hochgradigen Fälle gestatten bei dem Bekanntsein der Trsache der Bewegungsstörung zu folgern, dass die Muskel Ver- kürzung wirklich eine „Anpassungserscheiuung" ist. l'm sie für die B e u r t h e i 1 u n g d e s V o r k o m m e n s der a u f- gestellten drei Arten d er Muskelanpassung trotz der LTn- vollkommenheit der thatsächlich vorhandenen Anpassungen verwerthen zu können, ist es erforderlich, genauer auf die specielle Natur der Fälle einzugehen. Dabei wird es aber nöthig sein, allerhand weitläufige Xebeiunitersuchungen und -Berechnungen anzustellen, welche die Geduld der Leser in nicht geringem Maasse in Anspruch nehmen werden. Zunächst ist zu bestimmen, auf welcher Seite überhaupt die B e- wegungsbeschränkung liegt, ob auf Seite der Beugung oder der Streckung, da, wie wir sahen, im ersteren Falle keine Ge- [382] legen- heit zur einfachen Schrumpfung gegeben ist, während im letzteren Falle die Schrumpfung allein CO^/o der vollkommenen Anpassung, also vielleicht alles, was hier an Anpassung vorhanden ist, herstellen kann. Um diese Lage der Beschränkung beurtlieilen zu können, bedürfen wir einer in allen Fällen bestimmbaren und vollkommen unver- änderlichen Richtungslinie, auf welche die beiden Grenzen des Verkehrsterrains bezogen und dann mit den normalen Grenz- lagen verglichen werden können. Bei anderen Gelenken, z. B. beim Ellenbogengelenke, würden i^olche feste Linien nicht besonders zu suclien sein, da die Längs- axen der Knochen sie von selber abgeben. In unserem Falle dagegen, bei Drehung um dieLängsaxe, fällt diese Begünstigung weg. Welcker') 1) H. Welckeb, Ueber Supination und Pronation des Vorderarmes. Arch. f. •Anat. u. Physiol., 1875, S. 2. 606 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. hat für den (gleichen Zweck die Stellung der ebenen Ausbreitung des Ligamentum interosseum benutzt. Aber diese Methode ist für genaue Messungen ein Mal zu unsicher in der Einstellung, und zweitens ist zu gewärtigen, dass bei vieljährigem Andauern von Deformationen in Folge des Umstandes, dass der Knochen trotz seiner Starr- heit das anpassungsfähigste Organ ist, welches wir haben, zu gewärtigen, dass die Cristae interosseae und damit das Ligam. interosseuin ihren urs prüno-Hchen Ort verlassen; eine W-r- muthung, welche sich als zutreffend erwies, worüber anderen Ortes ausführlicher berichtet werden wird. AVeiterhiu ist auch die Stellung grüsster Breite des Vorderarmes, sowie selbst die Bezieliunu auf die Axe des Humeroulnargelenkes bei Verbiegungen der Knochen und bei Brüchen der Ulna mit nachträglicher Axendrehung des unteren Ulnarfragmentes nicht zu vcrwerthen. Es mitssten zwei Linien gefunden werden, für welche selbst bei den hochgradigen Verbiegungen und Torsionen an den ^'ol■derarmeu des rachitischen Zwerges und trotz des etwa öOjiüu'igen Bestehens derselben die Präsumption der C'onstanz ihrer Bestimiuuugspuucte gemacht werden kann. Diese l'ra- sumption nun können wir in diesen Fällen nur für wenige Puncte macheu, zunächst für die Lage der Processus styloides ulnae et radii, sowie für die Axe des unteren Radioulnargelenkes selber. Denn wenn auch die ^'orderarnJknochen noch so verl)ogen und torquirt sind, die Lage der Axe des Ulnarköpfchens wird dadurdi wohl am wenigsten verändert; und so lange die Beweglichkeit der Hand- [383] Wurzel um die normale Mittellage sich ergeht, so lange ist auch keine Veranlassung zur Veränderung der Lage der Processus stjdoides gegeben. Statt des Processus styloides Radii zog ich vor. die von ihm sich heraufziehende volare radiale Kante zu nehmen, welche für gewöhnlich zugleich die Abgrenzuugskante der Ansatz- fläche des M. pronat. quadr. bildet. Die Bestimmung der Axe des unteren Radioulnargelenkes muss imter Fixation der Ulna und Bewegung des Radius geschehen, sofern man bei der uöthigen Wegnahme der Hand die Cartilago triquetra der Sicherheit der Füh- rung halber erhalten hat; und man nimmt den am meisten radial- II. Bei Beschränkung des Verkehrsterrains. 607 wärts gelegenen ruliondun l'unct. Fixirt man dagegen, wie man von anderen (ielenken lier zu tlmn geneigt ii■, da beide jetzt sich einander nähern, ganz wie z. B. der Ursprung des M. brachialis int. sich bei der Beugung dem Ansatz- puncte nähert; und das Grössenverhältniss von B zu r ist für die Grösse der ihre Eudpuncte verbindenden Linie .r bei gegebenem "Winkel f/ liestimmeud. [387; x2 = Ri -^ rä — 2 Rr cos (f. In unserem Falle ist R ziemlich genau gleich 4r. Denuiach X- = ( 1 7 — 8 cos y) r- x^ ^ r 1 17—8 cos (f Ist (f = 0, so folgt X = 3r. Der Anfaugswinkel der Beugung ist bestimmt durch x2 = R-' — r^ = R2 siu 2y ; sin f = ^\ W^^' Bei R = 4 r: siu Cf: = ]/^R (f = 75» 31' 20". Also die „Beugung" beginnt mit einer Winkelstellung von R zu r von 75" 31' 20". Berechnen wir nun x für diese Stellung und für jede Verkleinerung von q um 10", so ergiebt sich: y. = 75» 31' 20" x = 3,8G8r <^ = 65° 31' 20" X = 3,699r y = 55" 31' 20" X = 3,532r f/^ = 45" 31' 20" X = 3,375r (f = 35» 31' 20" X = 3,238r (f = 25» 31' 20" X = 3,127r 9^ = lö» 31' 20" X = 3!048r if = 5» 31' 20" X = 3,006r 39' Differenz unserer Nadeln 0,169r 190» 0,167r 180» 0,157r 170» 0,137r 160» 0,lllr 150» 0,079r 140» U,042r 130» 612 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Die zuletzt beigefügte Zahlenreihe giebt die entsprechenden Beugungslagen unserer festen Richtungslinien am Vorderarme an. Die Differenzen, welche die Verkürzungsgrössen von 10" zu 10* bei der Pronations-Beugung darstellen, sind sich also nicht gleich, sondern sie nehmen continuirlich ab und zwar anfangs langsam, dann schneller, und bei einer Beugung lun 50" beträgt der Verkürzungs- werth für gleiche Winkel blos noch ^/s und bei 60" noch die Hälfte des Anfangswerthes. Vergleichen wir den Anfangswerth der „Beugung" für 10" mit der „Abwickelungsgrösse" für 10" bei gleichem r, so ergiebt r;.— = 0,l
kel ii fasern festgestellt. .\uf und neben der Höhe der Convexität der Kyphose bildete die sehnige Metamorphose die ganze oberflächliche Schicht des M. longiss. dorsi, so dass man geneigt ist, die Erscheinung als eine einfache „Druckatrophie" aufzufassen. Diese Auffassung muss aber sofort aufgegeben werden, sobald man zwischen diesen Strängen in die Tiefe dringt; denn hier, an den Stellen, wo der Druck am stärksten sein muss, findet man direct über die achte Kippe gespannt, dunkelrot he, normale ;Muskcl Sub- stanz. Weiterhin zeigt sich die sehnige Veränderung auch viel weiter unten , an Muskel h ü n d e 1 n . w eiche ü h e r h a u p t n i c h t gekrümmt also nicht gedrückt werden, sondern sich an die Rippen unterhalb der Convexität ansetzen. Das Gleiche gilt für den M. semispinalis und spinalis. Die LocaUsation der seimigen \'eränderung in Bezug auf die e i n- zulnen Muskelfaserbündel, in Avelche diese ueugebildeten Sehnen- stränge au.'^laufen, ist sehr verschieden; sie ergiebt sich aus der neben- stehenden Tabelle. Bald liegt die Muskelfaser zwischen zwei gleich „Sehnige Muskelverkürzung' bei Kypbosis. 619 langen neuen .Sclmi-ii , liald ist die der Convexität nähere neue Sehnen strecke die längere, bald ist sie die allein vorhandene. Mag aber die neue Sehuenstrecke oben oder unten liegen oder sich irgend wie auf beide Seiten vertheilen, immer [aber ist sie am „Ende" des Muskelfaserbündels, nie imVerlaufe desselben und stets] ist innerhalb j edes gemeinsam entspringenden und inseriremlen Muskeif ascrl) ün de Is die neue sehnige Substanz für alle Muskelfasern ,, gleich lang". Muskel plus u e u e S e h n e dagegen entsprechen i n i h r e r G e s a m m t- länge annähernd der Länge gleich gelegener Muskel- bündel an einen zum Vergleiche benutzten normalen Menschen. Beim Longissimus dorsi sind die sonst 9 — lü cm langen Muskelbündel blos noch 2,8—2,2 cm lang unter 7,0 — (3.3 cm langer sehniger Metamorphose der Enden; beim Spinalis sind z. B. noch 0,8 bis 4 cm Muskelfleischlänge vorhanden bei 3,6 cm langer Metamoi-- pliose der Enden. Ma-skel Untere neuce- bildete Sehne Muskel Obere nenge- bildete Sehne Longiss. 9. Rippe 3,5 cm 2,8 cm 3,5 cm derselbe derselbe 6,9 2,8 0 derselbe 11. Brustwirbel 5,2 2,2 2,2 1,3 derselbe derselbe 4,3 2,1 Spinalis 1. Lenden- bis 8. Brust- wirbel 3,6 0 3,6 derselbe 1. Lenden- bis 6. Brust- wii'bel 2,5 0,8 1,2 derselbe 3. Lenden- bis 6. Brust- wirbel 1,9 2,3 2,5 derselbe 2. Lenden- bis 6. Hals- wirbel 2,2 4,1 1,2 Multifidus 8.-5. Brustwirbel 1,2 1,4 0 Semispinalis 7. Brust- bis 4. Hals- wirbel 0 3,7 1,4 derselbe derselbe 0,8 3.7 0,6 derselbe derselbe 1,4 3,7 0 Iliscostalis Becken bis 5. Rippe 0 6,5 4,0 Die Beweglichkeit der Anheftuugsstellen war leider nicht mehr genau festzustellen, da für Unterrichtszwecke das Sternum herausge- 620 Nr. 8. Selbstiegulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. nommen und das Becken abgetrennt war. Trotzdem Hess sich sicher l)eurtheilen, dass an denjenigen Muskelbündeln, welche über beweglichere Strecken verliefen, welche die Lenden- oder die Halswirbelsäule mitbewegen, die Muskeln weniger durch die sehnige Veränderung verkürzt waren, als an anderen Stellen, welche [39-1' in höherem Maasse durch die kN^Aotische Fixation der Wirbel der Beweglichkeit beraubt waren. So zeigten sich die Fasern des .M. longiss. zur zwölften Rippe, .sowie die des * Semispiualis capitis gar nicht sehnig verändert; während dagegen der von den unteren zu den oberen Brustwirbeln verlaufende Theil des Semispiualis mit blossem Auge nur noch ganz geringe fleischige Strecken erkennen lässt, welche zudem unter dem Microscop sich als aus Längsfibrillen bestehend erweisen, die sich zwar mit Essigsäure nur wenig aufhellen, aber auch keine Quer.streifung erkennen lassen und durch Reihen von Haematoidkörnchen von einander getrennt sind. Vielleicht haben wir hier noch nicht leimgebeud gewordene, aus den Muskelprimitivfibrillcn hervorgegangene Fasern im Sinne Stricker's') vor uns. Von diesem Extreme finden sich nun mit der Zunahme der Beweglichkeit nach oben und unten alle Grade der Ausdehnung der sehnigen Metamorphose bis zum vollkommenen Fehlen derselben an dei' in ihrer Beweglichkeit nicht geschmälerten Lenden- und Halsgegend. Bezüglich desM.il iocostalis ist zu erwähnen, dass nur die vom Becken zum Thorax verlaufenden Muskelfasern sehnige Verkürzung erfalu-en halben und zwar in um so ausgedehn- terem Maasse, je weiter oben am Thorax sie iuseriren; während die von den unteren Rippen entspringenden und an den oberen Rippen iuserirenden Fasern keine sehnige Veränderung erkennen lassen. Dies rührt wohl daher, dass der Thorax liei der hochgradigen Kyphose im Ganzen dem Becken genähert worden ist, wahrend die Beweglichkeit der Rippen gegeneinander keine erhebliche Verringerung erfahren hat. [395] Die Bedeutung dieses Befundes kann nicht zweifelhaft sein. Es ist durch die Kyphose eine hochgradige Verminderung, an einigen Stellen vollkommene Aufhebung der Beweglichkeit eingetreten und 1) S. Stricker. Voiiesuugen über allaemeiue uud e.\perimeutelle Pathologie. AVieu 1S78, S. S65. .Sehnige Muskelverkürzung' bei Kyphosis. 621 entsiirechciul dieser \'ermiiiderung sehen wir die Muskelfasern von den „Enden" aus verkürzt, bei Erlialtung oder nachträglicher Wieder- herstellung der normalen Dicke und Beschaffenheit; an der Stelle der fehlenden Muskelsubstanz findet sich neugebildete Sehnen Sub- stanz, welche von normaler Sehnensubstanz nur durch einige acces- sorische Eigenschaften unterschieden ist. Diese „sehnige Muskel- verkürzung" findet meist an beiden Enden der Fleisch- fasern, aber nur selten in gleichem Maasse statt; weniger häufig befindet sich die Veränderung blos auf einer Seite der Fasern, [nie findet sie sich im Verlaufe des Muskel- faserbündels also von beiden Seiten in Muskelsubstanz übergehend; sodass ilir Wesen am besten als „sehnige Metcouorph ose der JInskelfaserenden'' bezeichnet wird]. Die wahrgenommene ungleiche Vertheilung dieser seh- nigen Metamorphose auf die beiden Enden der Muskel- fasern scheint, wie hier blos nebenbei bemerkt sei, eine Anpas- sung au die Raumbeengung, also an den Druck der benach- barten Theile aufeinander zu sein, derart, dass sich die durch andere Ursachen bedingte Muskelveränderung an diesen Stellen als Prädilec- tionsstellen localisirt [und eine secundäre Fiederung bewirkt (s. S. 2b9, 586 u. 596)]. Besonders günstig ist im vorliegenden Falle, ausser dem offenbar langen Bestehen der Affection und dem Mangel jeder Entzündung, der Umstand, dass die Kyphose die Muskeln nicht, wie bei 396] den Pronatoren der Fall war, im Zustande der Verkürzung, sondern im Zustande der Streckung in ihrer Bewegung beschränkte, so dass zur einfachen Schrumpfung keine Gelegenheit gegeben war. Ebenso wichtig ist vielleicht der weitere Umstand, dass das Individuum mit seiner Kyphose nicht den begüterten Ständen, sondern der arbeitenden Klasse angehörte. Im anderen Falle würden durch die übliche Schonung und Verweichlichung solcher alsdann ewigen Patienten die langen Rücken-Muskeln der Inacti^ntät und damit im Ganzen der Inactivitätsatrophie verfallen sein. Mit jeder längeren luactivität ist aber bekanntlich ein Circulus vitiosus eingeleitet. Die nicht gebrauchten Theile werden 622 Nr. 8. SelbstreguUttion der morphologischen Muskellänge des Menschen. schwach und dauach schon bei geringen Anstrengungen schmerzhaft, wenig widerstandsfähig, somit immer weniger hraiuliliar und ge- braucht; sie verfallen der einfachen Atrophie und schliesslich der AUolrophie, einein niederen Zustand, in welchem sie, ohne noch Fleischprismen zu enthalten, viele Jahre lang fortleben können, wie wir das an ankylotischen Beinen oder an Amputationsstümijfen nicht selten zu sehen Gelegenheit haben. liier aber war das Individuum auf kräftige Thätigkeit äuge- wiesen; die Theile blieben daher gesund und widerstandsfähig, soweit sie gebraucht wurden; so dass auch der gesteigerte Druck, welcher durch Spannung der Muskelfaserbündel über die C'onvexität entstand, ihnen nichts anhaben konnte. AVo die ^luskeln dagegen nicht gebraucht wurden und sich daher nicht normal zu erhalten vermochten, blieb in Folge dieser kräftigen Thätigkeit der übrigen Theile weder Raum noch Ruhe zu dem a 1 1 o t r o p h i s c h e n L e b e n , i n w e 1 c h e s die i n- activen Theile verfallen; der Druck nöthigte sie zum Schwund, und der kräftige Zug der thätigen Theile der Muskelfasern veranlasste Sehnenbildung in den unthätigen Theilen oder an der Stelle derselben. Statt der wahrscheinlich normal laug bleibenden aber ver- fetteten, atrophischen und allotrophischen Muskelfasern wohlhabender, gepflegter ludividuen. entstanden hier ver- kürzte thätig-dicke. in ihrer (Jualität normal beschaffene Fasern, welche sieh in neugebildete Sehnen fortsetzten, ilie unter der Einwirkung des kräftigen Zuges entstanden waren. Nachdem dieses Resultat über die nachträghche Muskelverkür- zuug unter Neulüldung von Sehuensubstanz gewonnen worden wai\ entschloss ich mich, zum Vergleiche auch noch eine Hälfte des Rückens des rachitischen kyplioscolio tischen Zwerge.«, welcher für eine andere Untersuchung aufbewahrt war, zu verwenden. Es zeigten sich auch hier die Muskeln gut ausgebildet, selbst auf der Convexität der Krümmung und ganz wie im vor- stehenden Falle, eut- [397] sprechend der Verminderung der Beweg- lichkeit mehr oder weniger, im Maximum bis auf S's des Normalen verkürzt. Wie erwartet, trat aber hier in Folge .der Entstehung der Affection in früher Jugend als Unter.schied hervor, dass an den Sehnen III. .Morphologisches' Maass der regulirten Muskellänge. 623 keine Verschiedenheit iiirer Theile kenntlieli war, dass jede Sehne in ganzer Länge gleiche Dicke und weisse atlasglänzende Beschaffenheit darbot. So haben wir akso zu der vorher beobachteten „nachträg- lichen Muskel Verkürzung'- unter Verlängerung der Sehne auch noch ein evidentes Beispiel der Sehnenverlängerung beim „Zurückbleiben de.'^; Muskel wachsthuins" gewonnen. 111. ...Moriihologisches" Maass der regulirten Muskellänge. Da die Muskeln ihre Länge functionell verändern können, so ist zu fragen, was eigentlich der morphologische Ausdruck der Jluskel- länge ist. und im Specielleu unseres Themas, M-orin ., morphologisch" das nachträgliche Kleinerwerden der Muskeln mit und ohne Sehnenverläugerung besteht. Im bisherigen Verlauf der Untersuchung ist als xMuskell äuge immer der Ab. stand der beiden Sehneu enden in extremen Zuständen der Entfernung und Näherung derselben von einander bezeichnet worden, ohne dass wir uns mit der Beschaff enheit des dazwischen eingeschalteten Muskels selber befasst haben. Dies wird jetzt nachzuholen sein. Dabei entsteht zunächst die Frage, wie soll überhaupt „mor- phologisch" die Länge eines Gebildes fest bestimmt werden, das functionell seine Länge um 85";o (nach Weber), oder um noch mehr (nach Exgel.m.axx), vom Zustande stärkster ertragener Dehnung aus gerechnet, verändern kann? Ist es im physiologischen Ruhezustand zu messen? Diesen können wir aber leider schon experimentell nicht genau herstellen , geschweige denn , dass sich unser Leiclienmaterial in demselben befunden hätte. Oder sollen wir den Zustand der stärksten möglichen postmortalen Dehnung des isolirten Organes als Ausgangspunct nehmen? Dabei aber bestimmen wir nicht einen Zu- stand der Muskelsubstanz, sondern des interstitiellen Bindegewebes (s. S. 1S2 Anm.) und des Sarcolemmas und verfallen somit in denselben Fehler wie Ed. Weber bei Aufstellung seines paradoxen Ge- setzes von der grösserei^ Dehnbarkeit des thätigeu als des unthätigen Muskels, indem wir ganz verschieden Bedingtes unter einem gemein- samen Principe vereinigen. Es sei aber nicht unterlassen zu erwähnen, 624 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. dass in der Tliat unsere als verkürzt bezeichneten Muskeln, auch nach dem Herausschneiden bei geringem Zug nicht lUnger wurden als die maximale Entfernung beider Sehnenenden betrug, so dass dadurch allerdings ein wirkliches, der Verlängerung des Abstandcs der Sehnen- enden entsprechendes Kürzer sein sich augenscheinlich darstellt. Aber worin besteht dieses Kürzersein, soweit es die Muskel- [398^ Substanz angeht? Ist es etwa blos ein dauernd gewordenes Contractionsphänomeu ? Um diese Fragen beantworten zu können, muss zunächst die ..Länge'' der normalen Muskeln „morpholo(jisch'\ d. h. unab- hängig von den wechselnden functionellen Zustanden nus- (jcdfiiclt werden. Dies kann nur geschehen durch Berücksichtigung der morpho- logischen Elementartheile der Muskeln, der Fleischprismen und zwar durch die „Zahl" derselben, soweit sie hintereinander hegen und so die Länge des Muskels unabhängig von seinen verschiedeneu physiologischen Zuständen constituireu. Diese Zahl ist zu bestimmen, indem man bei gemessener äusserer Länge des Muskels an Theilen desselben unter Vermeidung jeder Dehnung microscopisch die mitt- lere Höhe der Fleischprismen oder der Querscheiben bestimmt und mit dieser Grösse in die Gesammtlänge dividirt. Aber die so für hie der Muskeln beschränken sich auf diejenigen Dimensionen des Organes, welche in vermehrtem oder vermindertem Maasse in Anspruch genommen werden [s. S. 166 u. 173.] 632 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Diese Bestimmung hindert nicht, clas.s ein Muskel gleicli- zeitig in die Dicke und in die Länge wächst; nur müssen dazu Combinationen Ijeider Wachsthumsursacheu eintreten, was in der Jugend normal der Fall ist und auch nach dem Erwachsensein nicht selten vorkommt. [Ob dagegen ein Muskel gleichzeitig durch entsprechende Thätig- keitsbeschränkungen schwächer und kürzer werden kann, muss wohl noch gesondert geprüft werden , zumal mit Rücksicht auf die oben (S. 629 Anm.) erwähnte Sehuenschrumpfung, also passive Muskol- verläugerung bei Inactivität der Muskeln. Dass ein Muskel durch Ex- cursionsbeschräukung kürzer und gleichzeitig (oder hinterher?) dicker werden kann, halien wir an dem Kvphotischen (S. 616 u. f.) gesehen!. Die Erscheinungen dieses Gesetzes der dimensionalen Beschränkung der Activitätshypertrophie und Inactivitäts- atrophie sind es, für welche im Folgenden ein Erklärungs- versuch gemacht werden soll. Erklärungen für die \''erdickung der Muskeln durch kräf- tigere Function sind schon wiederholt mehr oder weniger bestimmt ausgesprochen worden. Ihre Leistungsfälligkeit wird am besten daran geprüft, ob sie im Stande sind, die dimensionale Beschränkung der Veränderungen zu erklären. An dieser Aufgabe scheitert für sich betrachtet schon vollkommen die trotz der Einsprüche Johannes Müller's und ^'iRCHow's am allgemeinsten verbrei tete Ableitung, diejenige aus der sogenannten functionell en Hyperämie, d.h. aus der Ver- mehrung des Blutzuflusses, welche die Function zu begleiten imd eine Zeit lang zu überdauern pflegt [s. S. 305 u. f.]. Die ewig wiederkehrende Verwechslung der, hier übrigens nicht ein Mal absoluten, Conditio sine rpia non mit der Causa efficiens ist die Veranlassung der Verbreitung dieser am Erwachsenen durch keine einzige Thatsache bezeugten Erklärung. Pi'üfen [405] wir diese angebliche Ursache au unserer Aufgabe, so leuchtet auf die erste l'eberlegung ein, dass die functionelle Hyperämie resp. der Mangel derselben nicht im Stande sind , bald die Länge bald blos die Dicke zu vergrösseru resp. zu verkleinern. Sie können nur günstige Vor- bedineun<;cn zu diesem durch andere Ursachen bedingten und locali- Theorie dieser Selbstregulation G33 sirten Erfolge abgeben. Das Gleiche gilt von der Dehnung des Sarcolcmnia ') wälirend der Function. Diese mag den Stoff- wechsel der Muskelfaser erleichtern, die dimensionale Anlagerung oder Aufzehrung von fungirenden Elementartheilen kann sie nicht bestim- men. Auch der jetzt wieder so geschätzte, von der Function unab- hängige, trophische Einfluss des Cent ralnervensystemes ist durdi keine bekannte Einrichtung derart locahsirbar, dass er die dimensionale Hypertrophie und Atrophie zu erklären vermöchte ; wenn schon vielleicht einem solchen Einfluss eine nicht unbeträcht- liche, den Stoffumsatz anregende und dadurch erhaltende, oder die Heizung des ganzen Organismus regulirende Wirkung zukommen mag. Eine zweckmässig gestaltende 'Wirkung dagegen kann ihm bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse in keiner AA'eise zuerkannt werden. [Siehe auch S. 285 ,Lüeb.] Naeh Ausschluss dieser Jlöglichkeiten, welche ich an den ange- zogenen Stellen bereits allgemeiner und ausführlicher widerlegt habe, ge- langen wir auf denjenigen Weg, welcher allein zu einer Lösung der Frage führen kann. Dieser Weg ist vor längerer Zeit schon von bedeutenden Männern eingeschlagen worden. Jon. Müller^) und nach ihmHcxLE^) haben die c^ualitative Anpassung auf die Wirkung der functionellen Reize zurückgeführt und Letzterer speciell auf die Summation der- selben. ViF.CHOv\- ••) hat danach auch die quantitative Anpassung von demselben Principe in Abhängigkeit gebracht, indem er dem functio- nellen Reize eine trophische Wirkung zuerkannte, und Cohxheim ^) hat sich ihm [406] angeschlossen. Die Gründe, welche gegenwärtig für die Richtigkeit dieser Annahme angeführt werden können, sind gleichfalls von mir 1. c. zusammengestellt und ausführlich discutirt worden, weshalb hier von einer Reproductiou derselben Abstand genommen werden soll. Auch A. FicK®), welcher sich am eingehendsten mit unserem 1) L. Hermann, Handbuch der Physiologie Bd. I, Thei! 1, S. 136. 2) JoH. Miller, Handbuch der Physiologie 1837, Bd. II, S. 99 u. 102. 3) Henle, Handbuch der rationellen Pathologie 1846. Bd. I. S. 119. •1) R.ViRCHOw, Handbuch der speciellen Patholoijic und Therapie, 1854, Bd.I,S 336. 4) CoHNHEiM, Vorlesungen über allgemeine Pathologie 1877, I. Auflage Bd. I, S. 585 - 592. ''<) Ueber die Längenverhältnisse der Sceletmuskelfasern. Moleschott's Unter- suchungen zur Naturlehre 1860. Bd. VII, S. 251—264. 634 Nr. 8. Selbstregnlation der morphologischen Miiskellänge des Menschen. Probleme befasst hat, ist der Meinung, ,,dass die Ernährung der Muskelfaser durch ihre Function mit bedingt ist" luid führt im An.schluss daran aus: ,,Mau wird ferner noch sagen können, dass nicht nur der Wechsel des erregten und ruhenden Zustandes zur normalen Ernährung nothwendig ist, sondern dass auch eine wirk- liche Veränderung der Länge in Folge dieses Wechsels stattfinden niuss. Ich möchte nun die allgemein anerkannten Wahrheiten verniuthuugs- weise näher so bestimmen: Die Masse, die ein Muskel in einem gegebenen Augenblicke hat, ist abhängig von der Arbeit, welche er bis zu diesem Augenblicke geleistet hat, derge- stalt, dass die Masse mit wachsender Arbeit wächst (jedoch keines- wegs etwa proportional) und zwar entsprechend den beiden Factoren der Arbeit: Kraft und Weg, die beiden Factoren der Massenzunahme: Dickenwachsthum und Längenwachsthum". Wenn aber in der That nach A. Figk die Masse, welche ein Muskel in einem gegebenen Augenblicke hat, abhängig wäre von der Arbeit, welche er bis zu diesem Augenblicke geleistet hat, dergestalt, dass die Masse mit wachsender Arbeit wächst, so müsste jeder Muskel während des ganzen Lebens mit der Vermehrung der geleisteten Gesammt- arbeit stetig, wenn auch nicht proportional an ihisse zunehmen ; es könnte daher keinen ,, morphologischen Ruhezustand" des Organes, kein „Gleichgewicht zwischen Organ und Function" geben, was der Erfahrung bekanntlich widerspricht. Ausserdem könnte nie Inactivitäts- atrophie vorkommen, da durch Mangel weiterer Arbeitsleistung die früher geleistete Arbeit nicht aufgehoben wird. Diese nothwendigen Folgerungen seiner oben citirten Annahme liegen nun nicht im Sinne Fick's, sondern er stellt sich sofort selber im Gegensatz zu denselben, indem er eine für Weber's Gesetz zu kurze Muskelfaser „bei «1er als- dann verhältnissmässig ausgiebigen Dehnung und Verkürzung über- kräftig ernährt" werden lässt, und dies zwar blos so lauge, bis sie auf Kosten ihrer Sehne die dem AVEBER'scheu Gesetze entsprechende [407] Länge erhalten hat. In gleicher Weise vermuthet er von zu langen Muskelfasern, dass ihre Ernährung schwächer werden würde: da sie bei jeder Zusammenziehung nicht auf die Hälfte ihrer grössten Länge kommen würden ; sie würden von den Enden her veröden Theorie dieser Selbstregulation. 635 bis ZU der dem WEBEii'schen Gesetze eutsprechendeu Länge, womit dann wiederum Gleichgewicht zwischen Zusammeuziehung und Ernäh- rung hergestellt wäre. Ursachen, durch welche die Ernährung bald aui die Dicke, bald auf die Länge localisirt werden kann, giebt FicK nicht an; und ila auch kein Beweismaterial für die Thatsächlich- keit solcher Localisatiou von ihm erbracht wird, so liegt das Verdienst seiner Arbeit vorzugsweise in der scharfen theoretischen Trennung der functionellen Bedeutung des Dicken- und Längcnwachsthums und iu der Thatsache eines von ihm gemachten ersten Erklärungsversuches der Regulation dieser Muskelgestaltungen. a) Erklärung der ,,dimensionalen'' functionellen Anpassung der ,, einzelnen Muskelfaser"'. Es soll nun der zweite Schritt zu einer solchen Erklärung gethan werden, nachdem wir vorstehend die Thatsacheu im Wesentlichen sieher gestellt haben. Diese Erklärung wird freilich auch gegenwärtig noch sehr erschwert durch den Mangel an einer genügenden Aus- bildung der Physiologie des Muskelwachsthums. Als von den Vorgängern überkommen und durch deren Beweise genügend gestützt nehme ich die Ansicht an, dass die Ernährung der Muskeln von der Function abhängig ist. Ich verwende dies Moment in der specicllen Weise, dass von einer gewissen, vielleicht kurze Z.eit nach demBeginne der Functionirung jedesMuskels eintreten- den Periode der embryonalen oder postembryonalen Ent- wickelung an, von der Periode des ,.f-itnct.ioneUen Lehens" au (s. S. 348) mehr und mehr der „functionelle Reiz" und die,, Voll- ziehung der Function" zur „Fleischprismcnbildung" noth- ivendig -werden, ersterer zur Anregung der Bildung, letztere zur vollkommenen Ausbildung; und dass von dieser Zeit an auch zur blossen Erhaltung der schon gebildeten Fleischprismeu ein, wenn auch in Intensität und Häufigkeit geringeres Maass von Func- tion nicht entbehrt werden kann. Unter ,, Function" des Muskels ist dabei die volle Thätigkeit desselben, also die 636 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Ueberwiud nng eines für jedes Fleischprisma liestimmten Widerstandes und eine gewisse, proceutisch ausdrückbare Verkürzung der Länge desselben, nicht aber blosse Spannun«; ohne active Verkürzung verstanden. Aus diesen Annahmen folgt alsdann, dass es Zustände ,,des Gleichgewichts zwischen der Grösse der Function und der Grösse des sie vollziehenden Substrates" geben kann; und wir haben aus unseren \'oraussetzungen zwei verschiedene solche Zustände abzuleiten. [408] Ein „Bildungsglcichgeicicht" in welchem bei constanter Functiousgrösse keine weitere Ausbildung von Fleischprismen stattfindet, und eine darunter gelegene Region des blossen „Erhctltitngsffleichgeivichtes", innerhalb deren die mittlere Functionsgrösse verkleinert werden kann, ohne dass Schwund von Fleischprismen die Folge ist. Ich Ijemerke noch bezügUeh der Voraussetzung, dass in der Periode des unselbstständigen, des „f unc- tionellen" Muskellebens die Vollziehung der Function zur Aus- bildung von Fleichprismen nöthig ist, dass sie blos für normale, vor fremden Einwirkungen geschützte und insbesondere für unversehrte Muskeln gelten soll und daher zunächst nichts über die Fleischprismeubildung bei der Regeneration nach Verwun- dung präjudieirt, da nicht festgestellt ist, ob durch die Verwundung der Muskeln nicht vielleicht, wie bei der Regeneration der niedei-en Wirbelthiere, auch beim Menschen selbstständige, den embryonalen vergleichbare Bildungsmechanismen „ausgelöst" werden. Ich nehme weiterhin an, da.ss nach dem Zuendegehen ,,des selbstständigen, d.h. von der Function unabhängigen, vererbten Bildungsvermögens" zur Auslösung der Fleischprismeu- bildung in der Zeiteinheit ein höheres Durchschnittsmaass von functiouellem Reize, somit also auch ein höheres Maass von Erreg- ung in der Muskelfaser nöthig ist, als zur blossen Auslösung der m i 1 1 1 e r e n F u n c t i 0 n s s t;l r k e. Diese Annahmen sind in Verbindung zu bringen mit den pbj'siologischenThatsachen, erstens dass der functionello Reiz zur N'^erkürzung des unbelasteten Muskels anfangs annähernd pro- portional der Hubhöhe, bei weiteren ^'erkürzungen , vielleicht von Theorie der Regulation der Muskel d i cit e. 637 50 oder tW^o") an aber in viel liöherem ^laasse zur Hervorbriugung gleichen ^'erkürzungszuwachses vergrössert werden muss, und zweitens dass eine ähnliche hohe Steigerung des Impulses nöthig ist, um "Wider- stände, welche ein gewisses mittleres physiologisches Verhältniss zum Muskelquerschnitt resp. zum Querschnitt eines Fleischprisma über- steigen, zu überwinden. Aus diesen Annahmen und Thatsachen ergiebt sich nun zunächst, (lass ein Muskel, welcher zu einer über dem physiologischen Mittel von Kraftgrösse pro Querschnittseinheit und von procentischer Verkürzungsgrösse verwendet wird, nicht blos /.r.r Function, sondern auch zu weiterer Fleischprismenbildung angeregt wird. So geräth die Bildung der Muskelmasse, nicht wie bei Fick in Abhängigkeit von der ,, Summe" der Leistung, sondern [409] von der „Intensität" derselben; an die Stelle der ,,suceessiven" Leistung tritt die „gleichzei- tige" Leistung. Damit sind die den Thatsachen widersprechenden Consequenzen der Annahmen dieses Autors vermieden und eine den wahren Verhältnissen des Muskelwachsthunis entsprechende Grundlage ist gewonnen. Steigt die mittlere Gebrauchsintensität, so steigt jetzt auch die Muskelmasse solange, bis jedes Fleischprisma wieder blos zur mittleren Intensität beansprucht wird ; sinkt die mittlere Gebrauchs- iuteusität, so wird sich die vorhandene Muskelmasse zunächst nicht vermindern, da nach unserer den Thatsachen angepassten Annahme zur Erhaltung der Fleischprismen eine geringere Gebrauchsintensität nöthig ist als zur Bildung; erst wenn die mittlere Gebrauchsintensität unter dieses Verhältniss, unter die untere Grenze des Er hal- tungsgleich gewicht es herabgesetzt ist, wird eine entsprechende Verminderung der Muskelmasse die Folge sein. Damit hat die FiCgulation der ,, Muskelmasse" im Ganzen ihre Erklärung gefunden. Es bleibt nun die schwierigere Ableitung der ,,dimeusiüualeu Localisation" der morphologischen Anpassung der Muskeln ' ) Diese Zaiil für lluskeln von verschiedentu Vcrkürzungscoefficienten genau festzustellen und damit der Morphologie der Muskellänge eine feste physiologische Grundlage zu geben , würde eine sehr dankenswerthe .Aufgabe für einen Ph^sio- logen sein. €38 Nr. 8. Selbstregulation der morphologisclien Muskellänge des Menschen. bei Vergrösseruug resp. "N'erkleinerung der zu bewältigeuden W i d e r- stände oder der mittleren Vorkürzungsgrösse. Stellen wir uns vor, es werde eine in Dicke und Länge vollkommen den mittleren Beanspruchungen angepasste Muskelfaser, in welcher also Gleichgewicht zwischen functioneller Beanspruchung und vollziehendem Substrat besteht. 1. wiederholt zur Hebung grösserer Lasten oder zur Productiou grösserer j Beschleicuignng, also zur üeberwindung grösserer Wider- stände verwandt, so sind dazu über mittelkräftige Impulse nöthig. und eine Neubildung von F]eisch])rismen also Vermehrung der Muskel- masse wird dabei angeregt. Da aber nach unserer Annahme diese Neubildung von Fleischprismen blos da erfolgen kaim , wo letztere während ihrer Ausbildung schon fungireai können, und da die Be- deutung des Bildungs-Gleichgewiehtes zwischen Function und Substrat darin besteht, dass die Function gerade die vorhandenen fuugirendeu Theile in ihrer Zahl und Anordnung, aber nicht mehr derselben, hat bilden können, so wird bei verstärkter Function eine Ausbil- dung neuer fuugirender Theile nur an denjenigen Stellen, stattfinden können, wo die Fuuct i onsgelegeuheit eine grössere geworden ist; und das ist bei alleiniger Vergrösserung der zu bewältigenden Widerstände blos im Querschnitt. Daher kann blos dieser letztere durch An- oder Einfügung neuer Fleischprismen vergrössert werden, und letztere müssen sich zu Primitivfibrillen [410] zusammenordnen, da sie einzeln keine äusseren Widerstände zu überwinden Gelegenheit haben. Dieselbe Aenderung der Beansprucliuug wird auch eintreten, wenn ohne \'erstärkung der ,, äusseren" Widerstände Idos die ,, inneren" Contractionswiderstände in der l'aser durch anhaltende oder oft nach einander wiederholte Ausübung der Function vermehrt werden, da alsdann durch Anhäufung der Umsetzungsproduete und durch ungenügende Regeneration die inneren Widerstände eine W-rmehrung erfahren, zufolge deren stärkere Impulse zur weiteren Ausübung der ' l'unction nöthig werden. So erklärt sich auch ein gewisses Stärlern-erden der Muskeln bei geringen, aber oft iviedcrholten oder Jangandnuernden Kraft- Theorie der Regulation der Muskel liin^e. G39 prodnctionen, welches in praxi zur Beobachtung kommt; selbst- verständlich aber nur, wenn scluUlio-ende Ueberanstrengung vermieden wird. Gleichzeitig findet stets eine qualitative Anpassung statt, welche auf andere Weise sich ableitet (s. S. 240—247). Würde dagegen die im Gleichgewichte von Function und Suli- strat sich befindende Faser 2. ceteris paribus zu (jrösserer Hub- höhe verwandt, so wird durch die stärkeren Impulse wiederum die Fleischprismeubildung ausgelöst; aber die Bildung selber wird jetzt, da im Querschnitt Gleichgewicht zwischen Function und Substrat besteht, nur in der Längsrichtung, in der Einfügung in oder in der Anfügung an die präexistirenden Primitivfibrillen möglich sein. Ist für die stärkere Verkürzung erst der Spielraum der Gelenke durch Dehnung von Bändern zu vergrössern, so steigen damit zugleich die äusseren Widerstände imd dann wird auch eine gleichzeitige ent- sprechende \'erdickung der Fasern nicht ausbleiben. Aus den gleichen Ursachen wird 3. bei dauernder Vermin- dernny der VerJcürzung durch Verminderung der Functionsge- legenheit unter die untere Grenze des Erhaltungsgleichgewichts in der Länge, eine Verkürzung unter Ausfall von Fleischprismen in der Länge jeder Primitivfibrille erfolgen müssen, da nicht mehr alle Fleischprismeu sich bis zu dem für die dauernde Erhaltung nöthigen Grade verkürzen können; und das Gleiche muss 4. bei ^'erminderung der Kraft der Coutraction in der Dicke unter Zugrundegehen ganzer Primitivfibrillen stattfinden. Aber es entsteht nun die Frage, welche Einzelnen von allen Fleischprismen in beiden letzteren Fällen Zugruudegehen sollen. Es scheint, dass alle Fleischprismeu des Querschnittes resp. der Länge [41l! durch die Verminderung der Function gleichmässig in ihrer Erhaltungsfähigkeit herabgesetzt werden und daher gleich- zeitig dem Schwunde anheimfallen müssen. Ist dies in der That die richtige Auffassung oder sind locali sirende also auslesende Momente vorhanden? Bei der bisherigen Ableitung kam der Impuls, der functionelle Reiz, blos durch seine Intensität zur Geltung; das dimensional Loca- lisirte und daher, zufolge unserer Hypothese, dass die FuuctionsvoU- 640 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. Ziehung zur Fleischprismeubildung und -Erhaltung nöthig ist, aucli die Ausbildung und den Schwund „dimensional" Locali- sirende war allein die Fuuctionsgelegenheit. Zur Auffindung der dabei noch fehlenden Localis atiou des Schwundes innerhalb jeder Dimension müssen wir den Vor- gang der Inthätigkeitsetzung der Muskelfaser uns genauer vorstellen. Es ist zunächst bemerkbar, dass auch der fun et ioneile Keiz in gewisser Weise localisirt ist, denn er M-ird jeder Muskelfaser nur von einer oder wenigen Stellen aus zugeführt und muss sich von diesen Stelleu aus in der Länge der Faser verbreiten. Da ferner die Zuführuugsstelle an der Peripherie des Querschnittes der Faser gelegen ist und zudem blos einen Theil derselben einnimmt, so muss sich der Impuls von dieser Stelle aus auch successive im Muskel- querschnitt verbreiten. Diese, ,Succession" in der Ausbreitung des Impulses ist für die Activitatshypertrophie ohne wesentliche Bedeu- tung; dagegen bestimmt sie uothwendigerweise den Sitz der luactivitätsatrophie, und es kommt dabei nicht in Betracht, ol) der Impuls selber sich in der ganzen Faser verbreitet und allenthalben die Auslösung der Thätigkeit bewirkt, oder ob der Impuls nur am ersten Orte auslösend wirkt und die Auslösung sich dann fortpflanzt wie in einer angezündeten rulvermine; da für unseren Zweck blos die ..Localisation", nicht die ,,Xatur" des Vorganges von Bedeutung ist. Wir haben keine Kenntniss davon, in welcher Weise sich die Erregung in der Dicke, also im Querschnitt des Muskels verbreitet; aber den morphologischen Verhältnissen nach ist eine, wenn auch nnnimale Ungleichzeitigkeit der Ausbreitung wahrscheinlich, denn nur unter dem \'orlianik'nsein der künstlichsten Apparate ist eine vollkommen gleichzeitige Erregung der dem Nerveneudhügel nächsten und fernsten Theile der anstossenden Querscheiben denkbar. Wenn nun unsere Voraussetzung, dass solche bezüdicheu Einrichtungen, welche die Ausbreitung in der Nähe der Nervenplatte verhindern uml in der Ferne begünstigen müssten, nicht vorhanden sind, richtigist, [-112] dann werden auch die Fleischprismen desselben Querschnittes nach- einander in Thätigkeit treten müssen. Sind die von dem Muskel Theorie der Regulation der Länge der Muskelfaser. 641 ■m überu-in.k.ii,!,,, Widerstände gering, so wird in Folge dessen den- jenigen Fleischprisraen des Quersclmittes, welche zuletzt erregt werden, die Function von den an<]eren vorweggenommen werden.' Denn wenn auch diese Succession der Erregung nur ein Tausendstel der functionellen Zeit der Umsetzung der Erregung eines Fleiscli- prismas in \'erkiu-zung betrifft, so werden doch die constant in dieser B.Ziehung benachtheiligten FJeischprismen, vielleicht auch die ganzen zugehörigen Primitivfibrillen bei dauernder Verringerung der Function des Muskels zuerst schwinden müssen, da sie immer erst in Thätig- keit zu treten beginnen, wenn die geringe Function bereits von de^n günstiger situirten und daher früher erregten Fleischprismem voll- zogen ist, so dass ihnen kein Widerstand zu überwinden bleibt. Noch evidenter ist derselbe Vorgang bei der Ausbreitung der Erregung in der „Länge-' der Faser. Mag man im Zweife" sem, ob diese Ausbreitung im Leben wirklich ebenso wie im Absterben, d. h. wellenförmig oder aber continuirlich von den Nerveneintritts- stellen aus erfolgt; die Thatsache der Succession ist durch directe Beobachtung festgestellt. Es ist daher bei zu langer Faser unaus- bleiblich, dass die von den Nerveneintrittsstellen entferntesten Quer- scheiben die Erregung zur Verkürzung erst empfangen, wenn die gestattete Excursionsgrösse bereits erschöpft ist. Da nun nach unserer Annahme nicht blos Spannung, sondern active \^erkürzung zur dauern- den Erhaltung der Fleischprismen nöthig ist, so erklärt sich, dass die elementare Faser allmählich von den Enden her, oder bei mehreren Xerveuzntrittsstellen zu derselben Faser, ausser von den Enden her noch von den Mitten der Zwischenräume zwischen je zwei Nerveneintrittsstellen aus atrophiren muss, während die Dicke der Faser unverändert bleibt. [Diese Ableitmig ist insofern nicht ganz stichhaltig, als sie voraus- setzt, dass rUe Ausbreitung des Impulses in der Faser langsamer geschehe als die Contractionsdauer der Fleischprismen anhält, was wohl, wenn überhaupt nur äusserst selten, bei ganz kurzdauernden Contractionen der Fall sein kann. Diese specielle Annahme ist aber für unseren Zweck des Nachweises der Benachtheihgung der entfernter von dem Nervenendhügel Hegenden Theile gar nicht unbedingt nöthig; denn eine wenn auch minimale aber constante Benachtheiligun''g W. Roux, Gesammelto Abhanillungen. I. 4j 642 Nr. 8. Selbstregulaiion der morphologischen Muskellänge des Menschen. kommt den eiit t'eruteren Theik-n i:i Folge dieser Entl'ornung auf alle Fälle zu; uud diese Benachtheiliguug kunu uatürlicli, wenn sie dauernd wird, ceteris paribus zu einer Elimination der von ihr betroffenen Theile führen.] Es wird durch diese Ableitung der Localisation der Atroiihie zugleich noch deutlicher bezüglich der Hypertrophie, dass an Stelleu, wo bei einer Verminderung der Functionsgrösse Atrophie erfolgen müsste, ohne eine \'ermehrung der Fuuetionsgrösse auch keine Hyper- trophie, keine Anlagerung stattfinden kann. Die „successive" Verbreitung der Erregung in der Faser ist indessen nicht der einzige Factor, welcher innerhalb jeder Dimension bestimmen kann, welche Theile bei geringerer Function dieser Dimension zu Grunde gehen müssen; sondern jede andere ,,Ungleichheit" der Theile, welche die Lebensfähigkeit derselben betrifft, kann ebenso „aus- lesend" wirken. Nie giebt es zwei absolut gleiche Ge- [413] bilde. Sind also Fleischprismen vorhanden, w eiche eine S c h w ä c h u n g d e r E r r e- gung und der Thätigkeit weniger vertragen können als andere, und das werden die am meisten an die Function angepassteu, also wohl functionstüchtigsten sein, so müssen diese zuerst leiden und beim Anhalten der Verringerung der Function zuerst schwinden; womit dann unter gleichzeitiger Verschlechterung der Qualität eine Anpassung an die Verringerung der Fuuetionsgrösse hergestellt ist. [Ebenso können die ältesten Fleischprisnicn eliminirt werden.] Befinden sich andererseits die Theile der Faser in ungleichen äusseren Umständen, wird z. B. die Faser am einen Ende mehr gedrückt als am amleren, so werden Ijei gleicher ^'erringerung der r'unction an beiden Enden die Theile am mehr gedrückten Ende zuerst schwinden und die Atrophie von diesem Ende ausgehen: und in dem Maasse des rascheren Fortschreitens der Atrophie auf dieser Seite wird die ^"eranlassung zur Atrophie des andern Endes vermin- dert, resp. aufgehoben werden , so dass entgegen der ursprünglich durch die Verbreitung der Erregung gegebenen Disposition zur gleich- Diinensionale Regulation durch Theilauslese. 643 massigen \'erkürzung beider Enden in Folge des Hiuzutreteus des neuen Factors eine Ungleichheit resuUiit. Die Ausbreitung des Impulses oder der Erregung in der Faserhaben wir bis jetzt blos als ein „auslesendes Moment" kennen gelernt, als ein Moment, das unter vielen gleichartigen Theilen der Länge oder des Querschnittes diejenigen bestimmt, welche bei der Aenderung in der Beanspruchung einer Dimension zu Grunde gehen müssen. Das die Dimension der Atrophie bestimmende Moment blieb dabei immer die Functionsgelegenheit selber. Es erscheint nun aber nicht unmöglich, jedenfalls einiger Prüfung werth zu sein, dass auch die Erregung schon innerhalb der einzelnen Faser dimensional localisii't werden kann [?] , dass sie z. B. bei der Ausführung einer beabsichtigten raschen Bewegung von grosser Excur- siou sich mehr in die Länge ausbreitet, unter vielleicht unvollständiger Betheiligung des Quei'schnittes, und dass umgekelu't bei der Hebung grosser Lasten die Fortpflanzung der Erregung mehr in der Breite stattfindet. Es scheint für zweckentsprechende Function wünschens- werth, dass die Erregung sich je nach den zu vollziehenden Leistungen auf die angedeutete Weise anders vertheile, und das Zweckmässigste muss es sein, wenn diese Vertheilung oder Fortpflanzung der Erregung in dem Aggregat von vielen Millionen Fleischprismen einer Muskel- faser sich durch die Function selber während der Vollziehung der- selben regulire , so dass das Nervensystem blos die Intensität und Dauer der Innervation bestimmt. [-Ulj Mit dieser Localisation der Erregung wäre dann ein weiteres Moment gewonnen, mit dessen Hülfe die Vollziehung der Function auf die dimensionale Ausbildung der nöthigen Form wirken könnte, neben dem zuei'st erwähnten, dass che \' o 1 1 z i e h u n g der Function selber zur Ausbildung imd Erhaltung der Fleischprismeu uöthig ist. Durch das neue Moment würde auch schon die erste Anregung, nicht blos die Vollendung der Fleisch- prismenbildung dimensional localisirt werden können. Noch wesentlicher kann vielleicht die Vertheilung des Impulses dadurch gestaltend wirken, dass bei Arbeit mit minimalen Im- pulsen, wie sie bei Ausübung gewohnter Functionen im Organismus wahrscheinlich die Regel ist, der Impuls sich bei der Auslösung 41« 644 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskeilänge des Menschen. der iJuskelactiou auf dem Wege durch die Länge der Faser voll- kommen verzehrt. Dies ist vielleicht der Fall, wenn schon E. Du Bois-Reymoxd ') keine Abnahme der Erregungswelle beim Ablauf durch die Muskelfaser hat finden können. Ist schliesslich die Functionsverringerung mit einer plützUcheu und dauernden Verringerung der mittleren Dehnuugsstel- lung des Muskels, z. B. in Folge dauernder Beugestellung eines Gelenkes aus irgend einer die vollkommene Streckung hemmenden, aber im Uebrigen Bewegung gestattenden Ursache verbunden, so wird er in toto entspannt. Es kommt danach für die Art des darauf folgenden Verkürzuugsgangs darauf an, wie Muskel und Sehne auf die Entspannung reagireu. Sehen wii* in dieser Arbeit von dem Verhalten der Sehne ab [s. S. 629 Anm.], so bleibt für den Muskel die Möglichkeit, sich entweder dauernd soweit zu contrahiren, bis er wieder gespannt ist oder schlaff zu bleiben. Im ersten Falle würde er durch Ueberanstrengung alterirt werden, und diejenigen Fleischprismen, welche ihrer zufälligen Xatur nach am meisten dabei leiden, würden zuerst schwinden. Dieser Schwund würde so lange fortdauern, bis blos noch so viele Fleischprismen die Länge bilden, als den Zwischenraum zwischen beiden Sehneuenden unter der normalen Spannung auszufüllen vermögen. Die weitere noch nöthige, unter Verlängerung der Sehne verlaufende V^erkürzung der Faser kann dann wie oben geschildert stattfinden. Bliebe dagegen der Muskel schlaff, so würden alle Theile der Function beraubt, und wiederum würde so lauge ein Schwund in Länge und Dicke stattfinden, bis durch Zugruudegehen derjeiu'gon Fleischprismen, welche dies am wenigsten vertragen können, also wohl der besten fuuctionskräftigsten , die Faser die nöthige Kürze erlangt erlangt hat, um wieder gespannt zu sein. In l)eiden Fällen findet eine Auslese [415] statt, welche nicht blos zur nöthigen Verkürzung, sondern auch zur Züchtung einer der verminderten Functionsweise entsprechenden geringeren Qualität führt. ') E. Du Bojs-Reymo.nh. Arch. f. Aiiat. u. Physiol. 1876. S. 351. Dimensionale Regulation durch Theilauslese. 645 [Die vorstehend erwähnten verschiedeneu Arten der Elimination weniger dauerfähiger Fleischprismen aus der Faser müssen zur Unter- hrechung der Continuitüt der betroffeuen Primitiviibrillen führen. AVir wissen zwar nicht wie und wodurch sich der Zug der Primitivfibrillen auf die der Muskelfaser angeschlos^'sene Sehne überhaupt fortpflanzt; aber immerhin nehmen wir wenigstens an, dass jede Primitivfibrille von einem Ende der Muskelfaser bis zum anderen continuirhch verlaufen muss, um äussere AViderstande über- winden zu können, und dass daher in dem Mechanismus der Muskelfaser- Bildung und -Regeneration, dafür gesorgt ist, dass diese Continuität wieder hergestellt werde. \'on diesen Alechanismeu der Bildung, und der Einfügung der neu gebildeten Fleischprismen haben wir keine Kenntniss. Der Ersatz der elimiuirten Theile könnte nun statt durch Zusammen- schluss der übrigen, wie wir für unsere Zwecke annehmen müssen, auch durch Einfügung neugebildeter Fleischprismen geschehen; dann würde dieser Aussonderung keine gestaltende Wirkung zukommen können. Es ist klar, dass wir nicht alle Schwierigkeiten, die einer Ablei- tung der dimeusionalen Inactivitätsatrophie entgegenstehen, überwunden haben. Immerhin haben wir wenigstens die bei unseren jetzigen minimalen thatsäclüichen Kenntnissen vorliegende Möglichkeiten erör- tert und abgewogen, und so wohl etwas zur Förderung der vorliegenden Aufgabe beigetragen.] Die Untersuchung der Oberschenkelmuskeln eines Ampu- tationsstumpfes, sowie eines Falles von alter Anchylose des Kniegelenkes in rechtwinkeliger Stellung des Unterschenkels zima Oberschenkel haben mir gezeigt, dass, anscheinend entgegen unserer Annahme, Muskeln, welche gar nicht mehr fungiren, sich trotzdem Jahre lang erhalten können. Die eingelenkigen Knie- gelenksmuskeln: Mm. femoralis, vastus internus und externus und das Caput breve bicipitis fem. waren noch deutlich in ihrer ganzen Gestalt, im Faserverlauf der Muskeln und in der Abgrenzung gegen die Sehnen erkennbare Gebilde, deren Muskelfaserlänge daher ganz genau messbar war. Dies möchte in der That unserer obigen Annahme wädersprechen, dass die functionelle Erregung sowohl wie die Vollziehung der Function 646 Nr. 8. Selbstregulation der morphologischen Muskellänge des Menschen. zur Erhaltung nöthig sei; indess mit unrecht. Denn unsere Hypo- these lautet, dass die Erregung etc. zur Erhaltung der „Fleischprimeu" nöthig sei. Untersucht man indess diese Muskeln, so findet man die Fasern stark .verschmälert und durch reichliches inter- stitielles Bindegewebe getrennt. Die Sarcolemmaschläuche aber sind nicht mit Fleischprismen, sondern mit ganz ungeord- neten oder zu Längsreihen geordneten körnigen Zerfallsproducten gefüllt. Von Querstreifungen aber sind nur an seltenen Stellen halb verwischte Reste erhalten geblieben ; und es ist nicht unmöglich, dass diese geringen Theile contractiler Substanz, wenn durch äussere Ein- wirkungen Verschiebungen, geringe Dehnungen stattgefunden hatten, in die Möglichkeit, neuerdings sich zu verkürzen, versetzt worden waren, und dass solche activen Verkürzungen durch irradi- irende Impulse wirklich veranlasst worden sind. Der Grund aber, dass der Detritus, welcher die Sar- c o 1 e mm a s c h 1 ä u c h e e r f ü 1 1 1 , nicht g e s c h w u n d e n i s t , sondern •Jahre lang sich zu erhalten fähig war, liegt sowohl darin, dass ihm durch keine Nachbarschaft der ßaum streitig gemacht wurde. In dem Oberschenkel, dessen Muskeln von der breiten L'rsprungsbasis, welche das Becken abgiebt, unter Convergenz gegen das Knie verlaufen, ist durch die entfernte Lagerung der.Ursprungs- puncte von einander und durch die Fixation der Muskeln an der Spitze des Knochenstumpfes ein Cubikraum der Pyramide gebildet, welcher bei ältei'en Individuen durch Schrumpfen der Haut nicht allzuviel unter die geraden Verbindungslinien von der Basis nach der Spitze verkleinert werden kann. So ist den in der Mitte ge- legenen eingelenkigen Muskeln des Kniegelenkes schon in der Anlage ein Minimalraum gegen das [416] Andringen der übrigen Muskeln gesichert; und in diesem kann eine dem Dienste des Ganzen entzogene Substanz, welche die Stof f wechselkraf t, d. h. das Assimilationsvermögen zu einer vita minima besitzt, ungestört ihr parasitäres Dasein führen. Dass die Substanz überhaupt noch sich in sich selber zu erhalten vermag, hängt wohl von der Verbindung mit dem Centralnervensystem ab, durch welche noch Reize zugeführt werden, seien es die gegenwärtig wieder in Aufnahme Allobiosis atrophischer Muskeln. 647 kommenden besonderen trophisclien Reize oder blos irradiirtc Bewogungsimpulse. Man kuimte vennuthen, dass die übrig bleibende Substanz sich überhaupt nielit aotiv unter Assimilation und Dissimi- lation erhielte, sondern einfach liegen gebliebene todte Substanz ohne Stott'wechsel sei. Gegen dieses einfache Liegenbleiben todter Muskel- substanz zwischen den lebenden übrigen Geweben spricht der rasche Schwund des nach Nervendurchsclineidung entstehenden Muskeldetri- tus, ein Schwund, welcher nach den Angaben der Untersucher inner- halb weniger Monate an Stelle des Muskels nur noch einen bindege- webigen Strang übrig lässt. Die Substanz, welche sich in unseren Fällen erhalten hat, ist aber offenbar keine Muskelsubstanz , sondern es sind Insubstantiirungen anderer Assimilations- und Dissiniilationsprocess e [?]. Es wird meiner Meinung nach ein wichtiger Weg für das Fort- sehreiten unserer Erkenntniss sein, dem Wesen solcher, nach Auf- hebung derFunction der Organe, selbstständig erhaltungs- fähig gewordener oder gebliebener „Pardalprocesse des »or malen Lehens" nachzuspüren. Denn offenbar müssen sie, ver- ändert oder unverändert, schon als Theile, als Glieder der reichen Processfolge, welche den normalen Lebensprocess des Muskels dar- stellt, vorhanden gewesen sein. Von dieser complicirten Process- folge können offenbar blos diejenigen der Assimilation fähigen Pro- cesse übrig bleiben, welche auch ohne die specifische Function und ohne die übrigen Gheder des Muskelprocesses sich fortzusetzen ver- mögen; und dazu scheinen sie auch blos dann fähig zu sein, wenn keine kräftige Concurrenz um Nahrung und Raum zu bestehen ist. Sind sie dieser unterworfen, wie es bei den fast hypertrophi- schen langen Rückenmuskeln unseres Kyphotischen der Fall war, so imterliegen und schwinden sie, wie wir sahen, vollkommen. Hier dagegen sind sie nur der geringen Concurrenz mit dem Binde- gewebe unterworfen, welcher sie mit den Jahren bekanntlich auch mehr und mehr zum Opfer fallen. Für die weissen Blut ze 11 en, welche sonst so geneigt sind, allenthalben Absterbendes oder nicht durch Function Erhaltenes und Gekräftigtes aufzuzehren, scheinen sie ent- weder zu chemisch [4171 reizlos oder noch zu lebenskräftig oder von 648 Nr. 8. Selbstregulsiion der morphologischen Muskellänge des Menschen. beidem etwas zu seiu , so dass auch diese sie miversehrt gelassen liaben und nicht wie in durch Druck anämisch gemachte Muskeln in sie eingedrungen fa.ssww^ daran, ob das Individuum seine Beine fast blos zum Stehen (beson- ders auch üt'ter zAim einbeinigen Stehen) und (ielien oder aucli zu öfterem Hocken verwendet hat. SchHesslich ist zu vermuthen, dass überhaui>t nicht die normalen sondern durch Caries verzehrte oder durch entzüudhclie Processe alterirte Kuoclien mit einander in Verbindung getreten sind. Nehmen wir desliall) zum N'ergleiche den zur Herstellung unserer Structuren günstigsten Fall , sodass also möglichst wenig der zweckmässigen Structur als neu gebildet aufzufassen wäre. Fig. 7, S. 691, stellt dies Verhalten grob schematisch in den Hauptrichtungen der Spongiosa- bälkcheu dar, wobei aber zu beachten, dass, statt der gezeichneten viereckigen Maschen am Gelenkrand der Epiphyse rundliche Maschen und in der Mitte der Epiphyse zum Theil Kuochen- lam eilen vorhanden sind, sodass in natm-a die gezeichneten Richtungen nur eben deutlich erkennbar hervortreten. Der Vergleich dieser Rich- tungen mit denen der Bälkchen des Präparates lässt deutlich erkennen, dass keiner der drei Structurtypen einfach durch Ausfüllung der vorderen grossen Lücke hätte entstehen können, sondern das in allen dreien, am wenigsten aber im dritten, ausser der neuen Structur [131] in der Ergänzungsmasse noch Umän- derungen der alten Structuren noth wendig waren. Damit ist erkannt, dass wir in den Structuren unseres Präparates grösstentheils directe (s. S. 539} zweckmässige ,, Anpassungen an neue func- tionelle Verhältnisse" zu erblicken haben. Mit der Gewinnung dieser Einsicht wird das Interesse eines Theiles der Leser dieser Abhandlung befriedigt sein; ein anderer, wohl kleinerer Theil wird aber den berechtigten Wunsch hegen, in die Lage versetzt zu werden, selber die sjyecielle functionelle Bedeiituny dieser durch einen Vergleich im Allgemeinen als zweck- mässig erkannten neuen Structiiren beurtheileu und danach ihre Zweckmässigkeit selber ableiten zu können. Um dieses Ziel vollkommen zu erreichen, wäre vieljähriges Studium der Mathematik, Mechanik, Elasticitätslehre und graphischen Statik erforderüch. Wir müssen uns daher mit einem geiingeren, blos angenähertem Maasse 678 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. von Verständniss begnügen; und ich will versuchen die nüthigen Grundbegriffe für dieses Verständniss auf ganz elementare Weise zu entwickeln, so wie ich sie mir durch Nachdenken und Experimente grösstentheils selber erworben habe. Ableitung statischer trajectorieller Structureu im Allgemeinen. Sind zwei Puncte oder Theilchen gegeben, welche durch zwischen ihnen wirkende Kräfte in ihrer gegenseitigen Lage er- halten werden, so werden sie jedem Versuch, diese ihre relative Lage zu einander zu ändern, einen gewissen Widerstand entgegensetzen ; die Fähigkeit zu diesem Widerstand gegen Deformation heissti^es, c, d, ausgehenden Druck- trajectorien zu einander zu bestimmen. Alle Puncte des Balkens werden bei seiner Biegung, wie man sieh leicht vorstellen kann, wenn mau die Biegung stark vollzogen denkt, der Stelle des grössten Druckwiderstandes, der Linie AB oder wenigstens einem Theile der- selben, genähert; also müssen von allen Puncten Trajectorien gegen diese Linie hin gehen. Es ist selbstverständlich, dass in der ßeihen- folgc, in welcher diese Puncte von a nach d hin aufeinanderfolgen, auch ihre Trajectorien sich innerhalb AB ordnen, also sich nicht überkreuzen; schon nach dem Principe des kürzesten Weges. Ueber die relativen Entfernungen dieser so in gewisser Reihenfolge bei BA ankommenden Drucklinien von einander können wir einen Einbhck erhalten, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass bei der Biegungsde- formation, wie Fig. 6 anschaulich macht, schon aus geometrischen Gründen bei B die grösste Näherung der Theile also auch der grösste Wider- .0^ stand stattfinden muss. Alle Druck- trajectorien kommen bei AB zu- sammen und häufen sich natür- lich ju" 0 p o r t i 0 n a 1 den Wider- \ ^^.^-—-"^ ständen, werden sich also gegen Fig. 6. die Oberfläche, gegen B hin dichter zusammendrängen, gegen J. hin immer weiter von einander entfernen, wie dies Fig. 5 zeigt. Bezüglich der Drucktrajectorien ist oben bereits dargethan, dass jeder Druck zugleich eine Dehnung hervorbringt, deren Richtung stärkster Beanspruchung rechtwinkelig zur Druckrichtung steht. Dem- nach hätten wir nur nüthig, in das Schema der Drucklinien das System rechtwinkelig dazu stehender Linien einzuzeichnen , um d i e Richtungen der Zugtractorien zu erhalten. Dies würde zwar zum richtigen Ziele führen . da die so gezogenen Linien die Beanspruch- Nr. 9. Knöchenie Kniegelenksankylose des Menschen. nngs grosse in ihnen niclit mit ausdrücken, aber nur auf Grund einer für einen grossen Theil des Balkens falschen Vorstellung. Denn dies gilt nur bei reiner Druckwirkung; bei einem dagegen auf Biegung in Anspruch genommenen Gebilde, z. B. dem unseren der Fig. 5, ist nur ganz auf der Druckseite der Druck die primäre und daher zugleich stärkere Beanspruchung, und der Zug daselbst secundär bedingt. Im entgegengesetzten T h e i 1 e ist umge- kehrt der Zug die primäre und daher überwiegende Be- anspruchung; während in einem IJebergangsgebiet beide Bean- spruchungen direct erzeugt werden und sich einander an Grösse nähern oder gleichen. Ebenso wae alle Theile des Balkens der Linie Ä B oder wenigstens einem Theile derselben genähert werden, so werden gleichzeitig auch alle Theile von der Linie A C oder wenigstens von einem Theile derselben entfernt, und es müssen daher Zugspannungen zwischen diesen von einander entfernten [137] Theilen vorhanden sein, welche alle gegen ^■1 C hin convergircn und sich aus dem gleichen Grunde wie auf der Druckseite gegen B, hier gleichfalls gegen die Oberfläche, also gegen C hin ansammeln und zugleich durch ihre entgegen- gesetzten Richtungen bei gleicher Grösse von beiden Hälften des Balkens her sich das Gleichgewicht halten. Da ferner Zug stets zugleich eine Näherung von Theilen erzeugt, welche in rechtwinkeliger Richtung zum Zug am grös.sten ist, so müssen die Drucktrajectoricn an der hier convexen Zugseite, also im Gebiete des überwiegenden Zuges [bei functioueller Gestalt des Balkens] rechtwinkelig zur Obertiäche beginnen und in der Umgebung von AB diese Richtung bis fast in die Nähe der neutralen Axe beibehalten um dann rasch zu einer Neigung von 45" zu derselben umzubiegen. Damit haben wir die Biegungstrajectorien, soweit es uns aliein durch Ueberlegung möglich ist, in ihrem Verlaufe bestimmt. Das Wesentliche w a r , dass einerseits alle Theile des Balkens gegen A B hingedrängt werden, und dass dem entsprechende Drucklinien ent- stehen , welche an der convexen Seite -unseres Modelies rechtwinkelig anfangen, die neutrale Axe unter 45" schneiden und in AB recht- winkelig eintreffen, sodass sich die Spannungen beider Seiten in AB Ableitung trajeetorieller Structuren: 3. Biegungsconstruction. 689 das Gleichgewiclit halten. Andererseits werden alle Puncte des Balkens von AC entfernt, wodurch Zugspannungen entstehen, die von allen Seiten nach Ä C convergiren und zugleich die Drucktrajectorien allent- halhen reelitwinkelig schneiden. Beide Arten von Trajectorien häufen sich entsprechend der Zunahme der Beanspruchung am stärksten in der Symmetrieebene und in deren Nähe gegen die Oberfläche des Balkens hin dichter zusammen. Hat nun ein in der beschriebenen Weise geformter und auf Biegung beanspruchter Balken, statt massiv zu sein, im Innern nur Bälkchen, welche aber in den geschilderten Richtungen verlaufen und sich zu entsprechenden continuirlicheu Linien zusammen schli essen, so kann er bei geeigneter Anordnung, Zahl und Stärke dieser Bälkchen, ebenso tragfähig sein als der massive; und alle Theile desselben werden bei der Function gleich stark beansprucht. Zu- gleich entstehen keine besonderen Abscheerungstrajectorien, da allent- halben nur Beanspruchung auf axial gerichteten Zug und Druck in den Bälkchen stattfindet'). [1) Bei Biegungsbeanspruchung in einer bestimmten Ebene wird also die oberflächliche Substanz der .Biegungsseiten'^ am stärksten in Anspruch genommen, besonders im Mittelstück des Balkens, und die dadurch bedingten beiden , compacten' Druck- und Zuglagen werden durch innere Systeme von Druck- und Zugbälkchen gegeneinander befestigt, welche au den die Biegungseinwirkung auf- nehmenden resp. fortpflanzenden Enden besonders stark entwickelt sind. Die beiden Seitenflächen (siehe S. .511; dagegen könnten offen sein und die Spongiosa zeigen; sofern nicht eine andere Ursache, wie Druck von Nachbarorganen, daselbst die Entstehung einer dünnen Lage von Stützmaterial veranlasst. So ist es, wie ich fand, bei dem Radius des Delphin, da dieser we.sentlich in ein- und derselben Ebene auf Biegung in Anspruch genommen wird; er zeigt eine prachtvolle Biegungsconstruction des „geraden" Balkens, s. die Figur S. 727 Anm. Wird aber ein Balken abwechselnd nach .verschiedenen' Richtungen auf Biegung in Anspruch genommen, so muss er gegen jede dieser Richtungen hin, also eventuell auf allen Seiten eine entsprechend dicke Lage von Compacta erhalten. Sobald aber letzteres der Fall ist, wird bei jeder Biegungsrichtung der die derzeitige „Seitenfläche" bildende Theil der compacten Rinde eine überflüssig feste Stütze der jeweiligen Zugseite gegen die Druckseite bilden; die innere Spongiosa ist also im ganzen AI ittelstücke vollkommen entlastet und wird daher schwinden, sofern das Princip der Inactivitätsatrophie in irgend einer Weise thätig ist, wir er- halten eineRöhre. Rundliche Säulen, welche mehr als 6—8 mal so lang als dick sind, werden selbst bei der Hauptsache nach axial gerichtetem Druck in Folge ihrer Länge bereits in dieser Weise beansprucht und daher hohl construirt; dies ist W. Roax, Gesammelte Abhandiaugen. J. 44 690 Nr. 9. Knöcherne Kniegeleoksankylose des Menschen. Zum Schluss ist noch eine Beziehung zwischen der inneren trajectoriellen Structur und der äusseren Gestalt zu erwähnen. Es wird dem Leser auffallen, dass blos auf der con- vexen Seite der Fig. 5 auf Seite 684 die Trajectorien parallel resp. recht- winkelig zur Abgrenzungskante des Balkens stehen, während an der concave°n Seite im Bereich des dreieckigen Theiles a FB die Trajec- torien schräg enchgeu, und dass ausserdem dieser ganze Theil jeder Stütze nach B zu entbehrt, also bei der Biegung nur im Ganzen mitbewegt wird, ohne wesentUchen Biegungswiderstand zu leisten. Er stellt somit blos einen functionslosen Anhang dar und gehört nicht zu dem Balken, sofern man letzteren als ein den auf ihn wirkenden Kräften Widerstand leistendes Gebilde betrachtet. Dieser „fuuctiouell" begrenzte Balken endigt mit dem Trajec- torium aB; es gilt also hier dasselbe [138] Gesetz, wie an der convexen Seite, dass das letzte Trajectorium des einen Systemes der Abgrenzungskante parallel ist, indem es selbst die Abgrenzung bildet und die Trajectorien des anderen Systemes rechtwinkelig von ihm entspringen. Die Oberfläche wird also in diesem Falle blos durch die letzte Lage der Trajectorien dargestellt, und nicht blos die Structur sondern auch die äussere Gestalt ist dann vollkommen durch die Function bestimmt: das Gebilde hat ausser der „f unctionellen Structur" (s. S. 763) auch eine „functionelle Gestalt" (s. S. 361, Anm. 1, S. 435, 462 u. 561). Specielle Bedeutung der neuen Structur unseres Präparates. Gehen wir nun zu unserem Präparate über, so hat dieses eine weit complicirtere Gestalt als das behandelte Schema der Fig. 5 auf Seite 684, wird aber gleichfalls der Hauptsache nach auf Bie- gung in Anspruch genommen. In der Mitte der concaven Seite findet sich ein Vorsprung, ober- uud unterhalb dessen daher dünnere Stelleu vorhanden sind. Die schon ein Grund, warum auch unsere entsprechenden, sogenannten ,1 an gen Knochen hohl, Böhrcnknochen sind (s. S. 363), ^vozu noch kommt, dass s.e bei den beab- sichtigten Functionen abwechselnd stark nach verschiedenen Seiten auf Biegung beansprucht werden.] Specielle Bedeutung der neuen Structur. 691 stärkste Biegung wird daher nicht in der Mitte sondern an einer dieser beiden Stellen und zwar an der schwächsten derselben eintreten. An ihr wird die Linie resp. Fläche liegen, welche wir vorhin in einfacheren \'erhältuissen als Symmetrieebeue bezeichnet haben, und in dieser der Mittelpunct der ganzen Construction, um welche sich alle Zug- und Druckbälkcheu ordnen. Bei der Entscheidung darüber, welches die schwächste Stelle ist, kommt ausser der Dicke natürlich auch die Breite und Dichtigkeit der Knochen in Betracht; [139] danach liegt diese Stelle femoralwärts ; am Gummimodell ist dasselbe nur durch Verschmälerung auf einer Seite erzeugt worden. Der ^'erlauf der Balken im ersten Structiir-Typim des Präparates, Fig. 8, hat dieselben Charaktere der Biegungsconstruction wie im Modell Fig. 9 und wesentlich dieselben wie in der ausführlich erläuterten Fig. 5 auf Seite 684, sodass kein Zweifel sein kann, dass der Structur- Fig. 7. typus I, wie er sich unmittelbar unter der medialen ,, Oberfläche" der vereinigten Knochen findet , im Wesentlichen eine trajectorielle Biegungsconstruction vorstellt. Nur eine wesenthche Abweichung tritt in der Abbildung im Verlaufe der Bälkchen an der concaven Seite hervor. Die Druckbälkcheu [140] seh Hessen sich nicht von beiden entgegengesetzten Seiten zu geschlossenen Bogen zusammen, 44* 692 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. sondern von der Tibia her steigen die Bälkchen nach der hinteren Compacta des Femur aufwärts, was wohl daher rührt, dass noch ein besonders starker Druck von dieser Compacta her nach unten fortge- Fig. 8. -^-^ Fig. 9. pflanzt wird, wie des Weiteren beim zweiten Ty])us erörtert werden wird. Zum grüssten Thiil rührt die Unmöglichkeit, die Bälkchenrich- tungen in ihrem Zusauimenlauf zu vc ilVilgen, von der grossen Menge hier ausgebrochener obcrlliichlicher Substanz her. llr. Prof. Kösteb, Specielle ßedeutnng der neuen Structur. 693 welcher das Präparat vor zwölf Jahreii in vollkommnerem Zustande gesehen und auch von dieser Seite her abgezeichnet hat, hat ganz deut- lich die die Bogen schliessenden Bälkchen noch dargestellt und theilt mir auf Anfrage freundlichst mit, sich zwar nicht mehr zu erinnern, ob wirk- lich diese Schlussbogen vorhanden waren; wohl aber entsinnt er sich, die Skizze seiner Zeit ganz objectiv und noch ohne jede Reflexion über die eventuelle Bedeutung der Structur entworfen zu halien. Diese wertlivolle Zeichnung ist hier nicht reproducirt, weil sie in der spe- Fig. 10. eiellcn Linienführung eine Anzahl , im Sinne des Zeichners kleiner aber für die mathematische Natur der Verhältnisse schon erheblicher Abweichungen enthält. Wir dürfen aber auf Grund dieser Abbil- dungen annehmen, dass die mehr oberflächliche Schicht in der That die von beiden Seiten her sich zusammen schliessenden Druckbogen besessen hat; womit die Uebereinstimmung der neu entstandenen Structur mit einer functiouellen Biegungsconstruction eine vollkommene geworden ist. [141] Leichter verständlich ist der j^ivcite S/)nc/iirli/pi(s(s. Fig. 11 S. ()94). Ich ahmte die ihn nach meiner Meinung bedingenden Verhält- 694 Nr. 9. Knöcherne Knicgelenksankylose des Menschen. nisse nach, imleiu ich die Guininiplattte, nachdcra sie für sieh als Modell zu Typus I gedient liatte, wie Fig. 12 zeigt, von den Seiten her aus- schnitt und an beiden Enden zwischen je zwei, die Compactae reprä- sentirende, seitlicli gleichfalls ausgeschnittene Holzplatten brachte und durch Leim befestigte. Denken [142] wir uns dieses so entstandene Modell, Fig. 12, von beiden Enden her zusammengebogen, so ^v-ird auch Mer wie bei reiner Biegung an der concaven Seite Druck, au der couvexen Seite Zug entstehen. Der Druck aber wird nur durch die Balken J5.B, der Zug durch die Balken CC ausgeübt; und da die Angriffspuncte dieser beiden Arten von Beanspruchung an das gemein- same ^^erbindungsstück relativ weit von einander liegen, so kann sich jedes von beiden Beanspruchungssystemen bis zu einem gewissen Grade selbstständig entwickeln. Von den Angriffsstellen des Zuges werden Zugtrajectorien ausgehen , welche die beiden Stellen mit einander verbinden und eventuell gegen die Mitte etwas divergiren. Von jedem Druckende dagegen werden radiär nach allen Seiten Drucklinien ausgehen und in der Symmetrieebeue, wo sie von beiden Seiten her zusammenstossen , sich gegeneinander richten , sodass sie Spocielle Bodeutiiiig der neuen S^triictur. 695 allerorts die Symmetrieebene rechtwinkelig tretfen , ebenso wie bei reiner Bieouno-. Man kann sich den Verlaut'stypus solcher Trajectorien leicht vollkommen rein znr Anschanung bringen, wenn man einen in oben (S. 673) angegebener Weise mit Paraffin bestrichenen Gummi- k-«^ Fig. 13. balken gleichzeitig von gegenüberliegenden circumscripten Stellen ein- drückt; da erhält man die in Fig. 13 abgebildeten Curven. Haben die pressenden Kräfte nicht wie hier vollkommen entgegengesetzte Rieh- 696 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. tuug, sondern stehen sie etwas schräg [143] gegeneinander, so werden auch die Drucktrajectorien nicht mehr beiderseits von der Vereinio-unss- linie gleich, sondern mehr nach der Richtung der Convergenz der Druckkräfte hin sich ausbreiten, wie Modell Fig. 12 und Präparat Fig. 11 übereinstimmend erkennen lassen. Genauer genommen sind aber doch die beiden Arten von Bean- spruchung in gewisser Weise aneinander gebunden, da die Schenkel B und C jederseits nur die Ausläufer desselben Ganzen sind und daher nur gemeinsam bewegt werden können, eine Verbindung, welche bei den Schenkelknochen durch die seitUche Compacta zwischen der vorderen und hinteren Compacta dargestellt wird. Je mehr das ganze Gebilde gebogen wird, um so mehr wird in Folge dessen die Ver- bindungslinie der Enden der Zugstangen CC der Verbindungslinie der Enden der Druckbalken BB genähert werden, wodurch ein Druck dieser beiden Beanspruchungssphären gegeneinander ent- steht. Indem sich die Drucksphäre schon an sich gegen die Zugsphäre vorwölbt und sich ihr nun auch noch im Ganzen nähert, -ndrd die durch den Zug intendirte Abplattung der Zugsphäre verhindert und im Gegen- theil eine Verwölbung nach dieser Richtung hin bewirkt, wenn sie noch nicht vorhanden war. Aber indem die Zugsphäre dabei Wider- stand leistet, wird umgekehrt die vorgewölbte Drucksphäre ihrerseits eine entsprechende Abplattung erfahren. Zwischen beiden Sphären findet also Druck statt, welcher natürlich auf dem kürzesten Wege zwischen beiden Sphären am stärksten ist, also in so viel als möglich rechtwinkelig zu beiden Systemen stehenden radiären -Richtungen sich von der concaven nach der convexen Seite fortpflanzt. Soll nun ein in gleicher Weise geformtes und beanspruchtes Ge- bilde den Widerstand mit einem Minimum von Material (s. S. 681) leisten, so müssen in den Zugrichtungen auf der convexen Seite und in den Druckrichtungen eoncaverseits der gegebenen Ableitung ent- sprechend gerichtete und continuirlich in einander sich fortsetzende ßälkchen angebracht werden und nach den früheren Erörterungen jederseits zugleich durch rechtwinkelig dazu stehende schwächere Bälkchen untereinander verbunden werden. Eine derartige Vereinigungsweise durch nur zwei Svsteme würde Specielle Bedeutung der neuen Structur. 697 schon einen gewissen Widerstand gegen Biegung zu leisten vermögen, welcher aber um so geringer wäre, je geneigter die beiden vereinigten Theile zai einander stehen ; denn um so grösser ist bei gleichem Grade der Biegung, um z. B. einen Winkelgrad, die Näherung der Zugzone gegen die Druckzone ; dies deshalb, weil der Abstand beider aus geo- metrischen (Irihidon mit der Differenz der Sinus der halben Neigungs- winkel beider Schenkel zu einander abnimmt. Es muss zu grösserem Widerstände noch ein drittes „System"' als Stützsystem der beiden anderen Systeme gegeneinander zwischen dieselben eingefügt werden, um diese beiden in constanteu Abständen zu erhalten. Noch nöthiger wäre dies dritte System, wenn die Druckbalken B und die Zugbalken C nicht als sehr fest gegen [144] einander anzusehen wären; dann würde derselbe Fall eintreten wie bei Biegung einer Gummi- oder einer dünnen Blechröhre; d. h. die vordere und die hintere Wand würden sich auf grössere Strecken einander nähern ; und um AViderstaud zu leisten, müsste das Gebilde eine weit herauf- reichende vollkommene Biegungsconstructiou in sich bergen, welche derjenigen von Typus I ähnlich wäre. Hier aber ist gerade das Charakteristische und die Eigenthümlichkeit der Structur Bedingende, dass zwei Röhren aus dicker Campacta mit einander verbunden sind, in Folge dessen fast nur an ihrer schwächeren Vereinigungsstelle durchgehende Biegungsbeanspruchuug entsteht, während von weiter entfernt davon gelegenen Stellen kein Biegungsdruck nach der Ver- einigungsstelle sich fortpflanzen kann. Noch ein die Structur beeinflussendes Moment ist zu erwähnen. Wenn das in der geschilderten Weise gestaltete Gebilde gebogen wird, so nähern sich die Druckarme DB nicht nur in Folge des in der Rich- tung DB wirkenden Druckes einander, sondern ausserdem durch Drehung um BB. Dadurch werden die Anfänge D der Arme DB einander genähert und zugleich von der Symmetrieebeue bei JP entfernt. Dieser Entfernung wird zu gi-össerer Haltbarkeit durch besondere Balkenzüge DF Widerstand zu leisten sein. Vergleichen wir nun die so in ihrer Bedeutung erkannte Structur auf dem Gummimodell mit dem Structurschema des Präparatschnittes Fig. 11, so ergiebt sich eine vollkommene Uebereinstimmung 69g Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. in allen w e s e n t li c h e n Z ü g e n , abgesehen davon, dass das Druck- system die rückwärts umgebogenen Trajectorien des Modells nicht er- kennen lässt, was von quantitativ anderer Vertheiluug der Beanspruch- ung herrührt, und dass im Femur aufwärts noch einige Reste der alten normalen Structur sichtbar werden, welche aber in ihrer Richtung schon etwas im Sinne des neuen Stützsystemes umgearbeitet sind und durch die Stützen bh noch mehr zu der neuen Function befähigt werden. Vergleicht man nun noch zu eingehenderem Verständniss beider erörterter Structurtypen diese selbst miteinander, so wird eine grosse Aehnlichkeit nicht übersehen werden können, ent- sprechend der gleichen Hauptfunction, der sie zu dienen haben. Die Unterschiede ergeben sich daraus, dass beim zweiten Typus von den Seiten her nur relativ wenig Druck einwirken konnte, weshalb jetzt nur von Einer Stelle jederseits herkommende Druckbeanspruchung sich in dem ganzen anliegenden Gebiete ausbreiten und daher radiär diver- girende Drucklinien bilden konnte; während bei den vollständigen Balken durch die von allen Seiten her convergirenden Druck- [145] linien eine solche Ausbreitung unmöglich gemacht wird. .Mit den Seiten- theilen fehlt ausser den seitlichen Drucklinieu natürlich auch die seit- liche Fortsetzung der Zugtrajectorien. Das im zweiten Typus beson- ders unterschiedene dritte System, das „Stützsystem" gehört eigentlich zu dem Drucksystem und ist nur durch die seithchen Defecte von ihm getrennt und so mit einer gewissen Selbstständigkeit ausgestattet worden. Dass die Balken desselben sich nicht, wie in Fig. 9 bei reiner Biegung, von beiden Seiten her im geschlossenen Bogen vereinigen, ist vielleicht durch die Vorwölbung des Drucksystemes bedingt. An dem Gummi- modell ist in dieser Sphäre mannigfacher Beanspruchung keine deut- liche Structur erkennbar gewesen; da aber die Trajectorien des Stütz- systemes nicht frei endigen können, so sind sie in der Fig. 11 bis auf das Drucksystem verlängert und zum Ausdruck des zweifelhaften Verlaufes zum Theil gabehg getheilt. Der Mittelpunct der Construction des zweiten Typus liegt in einer Linie, welche von dem hinteren Vorsprung in der mittleren Richtung des Stützsystemes gezogen wird; während, wie erwähnt, der Mittelpunct der Construction des ersten Typus beträchtUch höher gelegen ist. Dieser Specielle Bedeutung der neuen Structur. Widerspruch, dass dasselbe Gebilde sicli um zwei verschiedene Puncte am stärksten biegen soll, löst sich dadurch, dass je nach der Variation der Richtung der biegenden Kräfte nach aussen oder innen bei einem Gebilde von so complicirtera Querschnitt die Stelle stärkster Biegung etwas wechseln kann. Die Friidispositiou xai einer so ungleichen Be- anspruchung ist schon durcli die, wii' erwähnt, nach einwärts gerichtete Stellung der Tibia zum Oberschenkel gegeben. Der dritte Typus ist sehr einfach (siehe Fig. 4 auf Seite 671). Da an der Stelle, wo diese Construction sich findet, die beiden Knochen hinten nicht mit einander durch Knocheusubstauz vereinigt worden sind (siehe S. 750), so fehlt hier natürlich auch der Druckwider- stand für die Biegung; und damit würde die Biegungsfestigkeit überhaupt fehlen, sofern nicht das Druckpolster von Typus II mit als Stütze diente, was nur auf Querschnitten, die uns aber nicht zur \'eriugung stehen, einen deutlich erkennbaren structurellen Ausdruck finden kann. Das Zugsystem, welches an der Convexität beide Knochen auch in diesem Durchschnitte verbindet, ist nach dem früher Dar- gelegten jetzt ohne weitei'es verständlich. Gegen die Tendenz der Näherung dieses die vordere Wandung bildenden Systemes an die hintere Wandung sind ciuergestellte Balken nüthig, um die Näherung zu verhindern. Da aber die beiden hinteren Compactae hier frei endigen, ohne wie in Typus II durch ein Drucklager verbunden zu sein, so wird die Tendenz dieser Näherung mit der gleichzeitigen Tendenz zur Näherung gegen die vordere Wandung Resultanten ergeben, die im Femm- abwärts, in der Tibia aufwärts und zugleich gegen das Zug- system gerichtet sind, um schliesslich wie immer dasselbe rechtwinkelig zu durchsetzen. Im Femur bildet sich dabei, wie man aus Vergleichung der [146] Fig. 4 S. 671 mit Fig. 7 auf S. 691 sieht, wesentlich dieselbe Structur neu, wie sie normaler Weise schon im Femur weiter aufwärts vorhanden ist. In der Tibia dagegen ist diese ganze Structur neu, in- dem sie in dem Grade der Krümmung ihrer Bälkchenzüge wesentlich von der an der äusseren Grenze des inneren Condylus sich findenden normalen Structur abweicht. Fig. 7 kann für diesen Vergleich nicht verwendet werden, weil die Structur der Tibia an dieser lateralen Stelle schon wesentlich anders ist als in einem Schnitte durch die 700 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. Mitte der Pfaune des iunereu Coudylus, welchen diese Abbildung darstellt. An einer Stelle des Präparates ist hinten eine noch von dem ostitischen Process übrige schmale Brücke zwischen den Compactae beider Knochen vorhanden, welche aber zu weit vorn liegt, um die viel weiter hinten gelegene und daher zuerst beanspruchte Drucksub- stanz des zweiten Tj'pus unterstützen zu können. Deshalb ist sie auch nicht weiter ausgebildet worden. Die Zugbalken bilden in allen drei Typen eine gemeinsame, ziem- lich parallelfaserige Masse, deren Vorhandensein und überaus kräftige Ausbildung darauf hinweisen, dass nicht mehr wie beim nor- malen Gelenk ein besonderes, den Zugwiderstand leisten- des, „ausserhalb" der Knochen liegendes Organ vorhanden gewesen ist, dass also der Quadriceps mit seiner Sehne und dem Lig. patellare zu dieser Function durchaus in.sufficient waren, soweit sie überhaupt noch existirteu. Dieser Ersatz führt uns die wichtige normale Fiinrfion denselben und zugleich der Kniescheibe lebhaft vor Augen; letztere, indem sie normal das leistet, was hier in Typus II von dem besonderen ,, Stützsysteme" versehen wird, ohne welches ja auch eine gewisse, aber geringere Festigkeit in der Stellung möglich wäre. Ein wesent- licher Unterschied besteht aber uatürhch darin, dass Quadriceps, Lig. patellare und Patella die gleiche Festigkeit in „ver- schiedenen" Stellungen, diese Bälkchensysteme aber starke Festig- keit nur in Einer Stellung beider Knochen zu einander ermöglichen. Was nun au unserem Präparate die BczicJning ;su-iscJie)i Structur und äusserer Gestalt angeht, so ist solche am ersten Typus (Fig. 8 S. 691) nicht sicher zu beurtheilen, da hier die Structur nicht bis an den Rand des Präparates freigelegt ist; wenn wir aber das vorhandene Structurbild nach seinem Typus bis an den Rand ergänzen, so ist zu sehliessen, dass eine üebereinstimmung beider in der Art vorhanden ist, wie wir sie vorn, S. 690 als das Characteristicum der ..functioneJIen Gestalt" bezeichnet haben. Noch deuthcher zeigt sich dies im Typus II (Fig HS. 694), wo auf beiden Seiten in der daselbst neugebildeten Sul>stauz das letzte trajec- ,Functionelle Gestalt' der Knochon. 701 torielle Bälkchen „parallel"' dem Greuzcoiitour verläuft, indem es ihn selbst darstellt, während die Bälkchen des anderen Systemes „rechtwinkelig" dazu anheben. Auf dem Schnitte des Typus III (Fig. 4 S 671) zeigen .sich dagegen noch einige nicht zu dem Bereich der functionellen Structur gehörende also überflüs.sige Anhänge. Ist hier also noch ein über- [147] flüssiger ßest, wohl ent- zündlicher Abkunft vorhanden, so sehen wir aber gleich wie in den beiden anderen Typen auch in diesem Typus im Be- reich der unter Einwirkung der Function neugebildeten Systeme vollkommeue Harmouie zwischen Gestalt und Structur. In Anknüpfung an die hier beregte Frage der „functionellen Gestalt" sei noch hinzugefügt, dass es ein allgemeines, wohl von Vielen schou geahntes'), aber noch nicht formulirtes Gesetz ist, dass die normalen Knochen des Er ivachsenen zugleich mit ihrer functionellen Structur auch eine functionelle Ge- stalt haben, NB. aller Orten, wo nicht äus.sere Ein Wirkungen ihnen eine fremde Gestalt aufzwingen (s. S. 736 u. 759). Dies drückt darin aus, dass die Oberfläche des Knochens die Selbst- begrenzung seiner durch die Function bedingten Struc- tur darstellt, also allenthalben den oberflächlichsten Structur- theilen des Hauptsystemes jeder Stelle parallel und damit zu- gleich „rechtwinkelig" zu dem Sj'stem der secundären Beanspruch- ung verläuft, .sodass also nichts der Function Fremdes solchem normalen Knochen angefügt ist-) (s. S. 721 Anm.). Mit diesem Gesetz der „functionellen Gestalt" im Verein mit dem- der ..functionellen Structur" ist erst die vorhandene Z wechmässigheit unserer Knochen vollkommen hezeichnet; und die alte Gewohnheit, aus der Gestalt der Knochen auf ihre Function zu .schliessen, hat so nachträglich ihre wissen- schaftliche Begründung erfahren. Sind aber äussere, die Gestaltung 1) Dies ist wohl zuerst von Jl'lius Woi.ff geschehen; siehe Virchow's Arch. 1870, Bd. ÖO, S. 419. -) L'eber den Begriff der .Function" des Knochens s. Seite 736, 720 Anm. und Seite 7.59. 702 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksaiikylose des Menschen. (Ludwig Fick), nicht aber die Function beeinflussende und somit die ,,f unctiouelle Selbstgestaltuug" hemmende Kräfte thätig. so giebt sich das mechanische Bestreben zur f unctionelleu Gestaltung noch deutlich dadurch zu erkennen, dass die Abweich- ung von solcher Gestaltung möglichst gering ist, was ich anderen Ortes des Genaueren nachweisen werde. Nehmen wir nun zum iSchlusse noch eine ..analytische" Betrach- tung des in unserem Präparate als directe Anpassung an neue Verhältnisse morphologisch Geleisteten vor, um zu erkennen, ob, wenn auch sehr vollkommene trajectorielle Structuren neu entstanden sind, dies auch unter Anwendung aller der Struc- turformen, welche normal bei ähnlicher Gelegenheit vorkommen, geschehen ist, oder ob vielleicht in Folge der Unmöglichkeit die eine oder die andere Form direct neu zu gestalten, andere weniger zweck- mässige Tj'pen zur Aushülfe herangezogen worden sind. Einer solchen Betrachtung muss ein vollständiges analytisches Schema der überhaupt vorkommenden Structur-Forraen der Knochen zu Grunde gelegt werden. Vollständige Ueb ersieht der fun ction eilen Structur- formen der Knochen. Die früheren Eintheilungen der Spongiosa konnten diesen Anspruch nicht erheben. Bii;h.\t') unterscheidet nur Fasern und Blättchen, welche letzteren manchmal, wenn sie nahe bei einander liegen, Arten von Canälen bilden. Hexle ^) unterscheidet die spongiöse Substanz als zellige (cellulosa) und netzförmige (reticularis), je nach- dem die Zwischenräume durch engere und weitere Oelfnungen mit einander communiciren, mid lässt sie zusammengesetzt sein aus Bläs- chen und Plättchen. Hyrtl^) sondert die Spongiosa in drei Arten [148] in: ,, schwammige Substanz" aus Blättchen mit weiten Lücken, „zelUge Substanz", wenn die Lücken zwisclicn den Bälkchen sehr 1) Xavieu BicHAT. Allgoniciiio Anatomie. Deutsch von Pkaff. 1803. Bd. 11. S. 18. ä) J. Hem.k, Allgemeine Anatomie. 1840. S. 813. 3) Hyrtl, Lehrbucli der Anatomie des Menschen. 1873. 12. Aufl. 8. 194. «statische £Iemcntartheile' der Substantia spongiosa ossea. 703 klein sind und „Netzsubstanz", wenn die Blättchen die Feinheit von „Knochenfasern" angenommen haben. Einen wesentlichen Schritt weiter that jüngst H. v. Meyer '), indem er an Stelle dieser rein for- malen eine functionell begründete Eintheilung gab. Er unterscheidet zwei Form typen: a) Der ruudmaschige Typus, welcher den rundlichen Knochen angehört, — geeignet, allseitigen Widerstand zu leisten. b) Der Liingslamellentypus, welcher der Diaphyse des Röhren- knochens angehört, — geeignet, einem in der Richtung der Axe des Knochens kommenden Drucke oder Zuge Wider- stand zu leisten. c) Eine Mittelform bei rundlichen Knochen, welche nur von zwei einander gegenüberliegenden Seiten Druck empfangen. Dazu fügt V. Meter noch bei rundlichen Knochen, welche mehr- seitigen Druck empfangen, eine in der Mitte des Knochens gelegene grossmaschige intermediäre Spongiosa. Auch dieses Schema gewährt iudess nocli keine vollständige Uebersicht über die functionell verschiedenen Formen der Spongiosa und die sie zusammensetzenden statischen Elementartheile. Von letzteren unterscheide ich drei Formen: I. Statische Elementartheile der KiiOfhcns!»ong:iosa, Elementa statica substautiae spongiosae osseae , oder Formen der Bau- steine, welche die Spongiosa zusammensetzen. 1. Knochenröhrcheu, ThIhiU ossei. Für Beanspruchung in „einer" Hauptrichtung, uäuilich in Richtung der Axe des Röhrchens, aber mit kleinen Abweichungen nach',,alleu" Seiten. a) mit wenig durchbrochener Wandung. Tubuli completi; für grosse Festigkeit. b) mit vielfach durchbrochener Wandung, Tubuli incom- pleti; für geringere Festigkeit. 1) H. V. Meyer, Zur genaueren Kenntniss der Substantia spongiosa der Knochen Stuttgart 1882. 704 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. 2. Knocheuplättchen, Lamella staticae, eben oder ein weni^? gekrümmt. Das Beiwort „staticae'" dient zur Unterscheidung von den microscopischen Knochenlamellen, (Haverischen Lamellen, General- lamellen). Dient zur Häufung des Widerstandes in den Richtungen einer Fläche. . [149] a) Im Verhältniss zur Länge schmale Plättchen, Lamel- lae tenues. P'ür Beanspruchung nur in einer Hauptricli- tung (der Längsrichtung), aber mit geringen Variationen der Beanspruchungsrichtung in der Ebene des Plättchens, und für geringe Verstärkung des Widerstandes in diesen Längs- richtungen. b) Breite Plättchen, Lamellae latae, welche sich häufig zu grösseren Knochenplatten, Laminaeosseae, vereinigen. Für hochgradigen Wechsel der Beanspruehungs- richtung innerhalb der Flächenausdehnuug des Plättchens, sowde für starke Häufung des Widerstandes in den Pich- tungen desselben. 3. Kuochenbälkchen, Trabeculae osseae, macroscopisch soHde, annähernd cylindrische Gebilde. Für Beanspruchung nur in Einer ganz constanten Richtung (der Längsrichtung des Balkens). [4. Knöcherne Kugelschalen, PiJae osseae, siehe Seite 709.] 5. Uebergangsformen zwischen allen vier Typen mit ent- sprechenden Functionen, zum Theil auch als entwickelungsgeschicht- liche Durchgangsstadien von den „primären Elementen", den Tubuli ossei.- Aus diesen Elementartheileu werden zusammengesetzt folgende : IL Formell der S|ioiigiosa, Formationes substantiae spon- giosae osseae^). Sie dient zur Vcrtheilung des Widerstandes auf einen grösseren Kaum, als für Widerstandleistung durch [1) Die Definitionen wurden beim Wiederabdruck zum Theil etwas schärfer be- zeichnend gefasst] „Formationen'' der Substantia spongiosa ossea. 705 ein compactes Stück bei reiner Druck- und Zug- oder Biegungs- Beanspruchung nöthig wäre, also una grössere statische Flächen (s. S. 680 Anm.), so^v-ie auch elastischen Widerstand zu erzeugen; [bezügjicli der Bieguugsbeanspruchung siehe ausserdem S. 689]. I. Köhrchenspougiosa, Spongiosa tubulosa, aus sich imiig berührenden gleichgericliteteu I^älochenröhrche^. Für starken Wider- stand auf noch relativ engem Raum gegen die beim Elementartheil charakterisirte Beanspruchung : a) Spongiosa tubulosa complefa, aus Röhrchen mit wenig durchbrochener Wandung. Dient ausser dem Angegebeneu zugleich der Ersparniss von besonderem Materiale für die secundäre (zur Hauptrichtung rechtwinkelig stehende) Bean- spruchung. Findet sich dauernd: in Wirbel, Rippe des Wal- tisches, im ol:.eren Theil unseres Calcaneus bei sehr kräftigen Menschen (auch in der Compacta der Röhrenknochen). *Ist die Jugend form unserer Compacta der Knochen des Schädeldaches, anderer platter Knochen und eines Theiles der Compacta der Röhrenknochen [in der Diaphyse gegen die angrenzende Epiphyse hin]. b) Spongiosa tubulosa incompleta, aus Röhix-heu mit vielfach durchbrochener Wandung, für entsprechend geringere „relative Beanspruchung" (s. S. 680). Sie ist die embryonale Form der vSpongiosa unserer Röhrenknochen und findet sich von län- gerer Dauer z. B. beim Rind (z. B. in der Tibia), in den Phalangen des Walfisches. II. -Maschen- oder Netzspongiosa, 6>oM;//o.9rt reticularis, netzförmige oder fachwerkähnliche Verbindung von schmalen Bälkchen oder Plättcheu [und danach als Spongiosa trabe- culosa und lamellosa zu bezeichnen] oder aus beiden gemischt. Sie chent der \^ertheilung des Widerstandes auf einen noch grösseren Kaum als die Röhrenspongiosa. Eintheilung: 11501 A. Nacli der Form der Maschen: a) Rundmaschige Spongiosa für starken Wechsel der \V. Ro US, Gesammelte Abhandlungen. I. 45 706 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksarkylose des Menschen. Beanspruchuiig.sriclitung nach vielen Seiten'). Sie konunt ausser definitiv auch vorübergehend functionc-ll bedingt als Jugendform der ersten Spougiosa mancher kurzen und platten Knochen [s. S. 685, Anm.], so wie als Unibildung.s- form der eckigmaschigen Spongiosa zu einer neuen Function vor. Sind die Maschenräume fast vollkommen umschlos- sen, so entsteht die Unterform der ,. zelligen Spongiosa", Spongiosa cellulaiis (Henle), s. oben. a) Vollkommen runde xMaschen, Spongiosa glohata, für hochgradigen Wechsel der Beanspruchungsrichtungen nach allen Seiten (z. B. im Kopfe der Kugelgelenke dicht unter der Oberfläche). ß) Ovale Maschen, Spougiosa ovo tu, für geringereu Wechsel der Beanspruchungsrichtung um die Längsrich- tung der Maschen, b) Rechteckigmaschige Spongiosa, Spougiosa rectan- (/??/«;«, für CO nstante Beanspruchungsrichtung; und vollkommene Zerlegung dieser Beanspruchung in prmiäre und secundäre (s. oben S. 679 u. f.); sie stellt die höchste Stufe der Differenzirung dar. a) Spongiosa rectangulata recta, aus rechtwinkeligen Maschen mit geraden Bälkchenzügen (siehe B a), für an- nähernd parallel gerichtete Druck- und Zugbeanspruch- ungen, Uebertragung der Beanspruchung zwischen gleich grossen Flächen. ß) Spongiosa rectangulata ciirvato, aus rechtwinkeligen Maschen aber mit im einen oder in beiden Systemen ge- bogene u Bälkchenzügen: trapezförmige (ev. dreieckige) Maschen, für Sammlung der Beanspruchung von einem grösseren auf einen kleineren Raum, resp. umgekehrt für ^'erthcilung der Beanspruchung auf eine grössere Fläche, z. r.. im Calcaneus, im Schenkelknochen (so bei Biogungs- [1) Es ist ohne Weiterps verstiindlicli . .lass starkem Wechsel der Bean- spruchungsrichtung nur r und o Maschen entsprechen können, da diese allein nachbauen Richtungen gleich, also auch in jeder Richtung gleich widerstandsfähig sind (s. S. 710).] .Formationen'' der Substantia spongiosa ossea. 707 beansprucliuno-). (Ausserdem noch rhombisclie Masclien). Alle auch als blosse Uebergangsstufe zur Ausbildung von a. ß. Nach der Anordnung der Maschen: al Aus geordneten Masehen, Substantia spongiosa (globata, ovata, rectangularis) ordinata: die Bälkchen oder Plättchen benachbarter Maschen verbinden sich zu „continuirlicheu", geraden (siehe A b a) oder allmählich sich biegen- den (siehe A b /?) „Zügen" zu Tr actus ossei. Stadium vollkommener Anpassung an vorherrschende resp. constante Beanspruchungsrichtung. b) Ungeordnete Maschen, Substantia spongiosa in or- dinata: die Bälkchen oder Plättchen benachbarter Maschen haben erheblich verschiedene Richtungen und verbinden sich nicht zu „continuirlichen Zügen". Bei sehr wechselnder Bean- spruchuugsrichtung, oder bei noch unvollkommener Anpas- sung an eine neue Beanspruchungsrichtung. III. Plattenspongiosa, Spongiosa laminosa; aus grossen Platten, welche durch Bälkchen oder Plättchen quer verbunden sind. Für hohen Widerstand, zumeist bei starkem Wechsel der Bean- spruchungsrichtung aber blos innerhalb der [151] Fläche der Platte mit Zerfällung in primäre und secundäre Beanspruchung; [in den Condylen der Winkelgelenke, besonders des Femur]. Ausser diesen Hauptformen der Spongiosa kommen noch viele Abweichungen als Uebergangsf ormeu mit entsprechenden gemischten Functionen vor, und man findet oft verschiedene Formen nebeneinander. Im oberen Ende der Tibia oder im unteren Ende des Femur sind fast alle Formen nebeneinander zu fin- den, jede aber an ihrer, gehörigen, durch die oben bezeichneten Functionen bestimmten Stelle. In der obigen Beschreibung der Structuren unseres Präparates ist in Hinsicht auf deu beschränkten Zweck der blossen Richtungs- beschreibung das AVort „Bälkchen" allgemein auch für Plättchen und Rohrchen angewendet worden. Die auch als blosse Jugendform auftretenden Typen der Substantia spongiosa, der Rölirchentypus und der rund- 4.j 708 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankjiose des Menschen. zollige Typus .sind vielleicht auch zu dieser Zeit schon functionell bedingt, indem bei dem noch vorhandenen „Knorpelreichthiim" die Beanspruchiotgsrichtnngen noch i )i höherem Maasse variircn als später nach dem Schwunde desselben; daher auch beim Rührchentypus der Diaphysen die vor- handene radiäre Richtung, so ^'iel ich sehe, immer in die Haujit- richtung der Beanspruchung fällt. Wo diese Typen nicht bleibende sind, werden sie unter stärkerer Durchbrechung der Wandung in die Maschenform verwandelt und eventuell bis zum rechteckigen Typus umgearbeitet. Das Knochen röhrchen wurde von mir seiner besonderen Function wegen als statischer Elenientartheil aufgefasst, wie dies in der Technik auch geschieht. Aber auch genetisch ist es, wie wir sahen, als ein Elementargebilde zu betrachten, indem es primär als einheitHches Gebilde erzeugt wird und secundär Plättchen und Bälk- chen aus sich hervorgehen lassen kann '). Die Röhrchen im Röhren- knochen des Neugeborenen stellen schon die Uebergangsstufe zu den andei-en Formen dar, indem schmale Plättchen und Bälkchen sich vorfinden, welche aber noch deutlich die röhrenförmige Anordnung erkennen lassen. Bios an der Epiphyscnlinie findet mau, wie bekannt, noch ziemlich vollkommen umschlossene aber viel feinere Röhrchen, aus welchen dann unter Schwund von Zwischen, wanduugen die weiteren Röhrchen gebildet werden. In der älteren Literatur tauchen mehrfach Kuochenröhrchen auf, so bei Leuwexhoek, Reichel; doch sind es wohl nicht die hier als statische Elementartheile aiifgefassten Bildungen, da diese beim erwachsenen Menschen nur noch an ganz vereinzelten Stellen besonders starker „relativer Beanspruch- ung" (S. 680) sich finden, [152] so im Calcaneus kräftiger Menschen, ausserdem, wie erwähnt, in der Tibia des Rindes au den Stelleu stärkster Beanspruchung, dauernd bei den Wa alt liieren, wo I) Damit ,soll aber nicht hohauptet sein, dass Röhrchen nicht auch secundär durch Verschmelzung von Lamellen oder durch röhrenförmige Usur aus dichterer Spongiosa erzeugt werden können. Darüber muss erst die weitere Untersuchung entscheiden. Vorkommnisse bei der Ausbildung neuei statischer Structuren scheinen schon jetzt auf einen solchen Modus hinzudeuten. „Formationen" der Substantia spongiosa ossea. 709 auch die C'ompacta dauernd daraus gel)ildet ist und wo die AVirhel ein sehr dünnwandiges Stützsystem daraus gebildet liabeu, welches an Knoch en ersparnlss unsere Spougiosa rectaugulata aus dem o Ij c n angedeuteten Grunde (iu Folge der durch die diclite Berührung der Rührchen bedingten Ersparuug „besonderen" Materiales für die „seeundäre" Beanspruchung, hier die Ringspannung übertrifft'). Lange bekannt sind aber die statischen Knocheuröhrchen, soweit sie mit den HAVERs'schen Röhrchen unserer Compacta zusammenfallen, und sie sind mit ihnen identisch, soweit sie in der Richtung der Beanspruchung gelegen sind und daher ihre oben charakterisirte specifischc statische Func- tion ausüben können (siehe dagegen S. 718). Genetisch steht den Knocheuröhrchen gleich, und bildet, Avie wir sahen, das Aequivalent für die kurzen Knochen und die Epiphysen die rundmaschige Spongiosa; da ihr Element, die runde Zelle oder Masche, aber weder eine differenzirte Function sondern im Gegentheil Widerstandsfähigkeit nach allen Riclitungen besitzt, noch iu Folge dieser Eigenschaft durch \'ereinigung ihrer Elemente eine differenzirte Art von A\'iderstand leistet, so wurde sie nicht als „sta- tisches I-llement" aufgeführt. [Doch braucht mau diesen Grund nicht als stichhaltig anzusehen und kann dami die „knöcherne Kugel- schale", Fila ossea (von pila, Ball) unter die statischen E 1 e m e n t a r t h e i 1 e der Spongiosa a u f u e h m e n , mit der Einschrän- kung, dass sie (gleich dem Röhrchen) niclit isolirt vorkommt, und daher blos ,, innen" ,,rund", aussen aber durch die Vereinigung mit anderen ihres Gleichen nicht für sich abgegrenzt ist. Bei ge- dachter Abgrenzung wäre sie als Würfel vorzustellen, doch wider- [1) Ua auch bei uns die Spongiosa tubulosa die genetisch primäre Form ist, 80 entsteht die Frage, warum sie bei den Waalthieren erhalten bleibt und in den Wirbeln sogar noch zu einem besonderen Typus von sehr dünnwandigen, aber sich allenthalben berührenden Röbrchen ausgebildet wird, während sie bei uns zur trabeculäreii Form umgearbeitet wird. Nachdem einmal die Tubuli stark durchbrochen sind, kann die Umbildung zur Spongiosa rectangulata functionell bedingt sein, d. h. auf die früher von mir dargelegte Weise (s. S. 434 u. II, S. 221) durch die Vertheilung der Beanspruchung in diesem Netze veranlasst werden] 710 Nr. 9. KlaOcherne Kniegelenksankylose des Menschen. spräche schou diese gedachte Abgrenzung ilirer Function ; denn das Wesenthche der Spougiosa globata ist, dass in dem nicht ganz mit Knochen erfüllten Raum die Lücken rund sind, so dass das zwischen den Lücken vorhandene Fachwerk von Knochensubstanz nach sehr verschiedenen, nicht in einer Ebene liegenden Richtungen gleich widerstandsfähig ist.] Im Unterschiede zur runden Zelle sind die Tubuli ossei und die genetisch secundären Gebilde, die Plättchen und Bälkchen wegen ihrer beschränkten Function und der darauf l>eruhen- den Fähigkeit durch verschiedene Zusammensetzung Gebilde ver- schiedener Functionen hervorgehen zu lassen, oben als statische Ele- mente bezeichnet worden '). [i| Die MiiMchenweite derSubstantia spongiosa ist abhängig einmal von der Stärke der Beanspruchung im Verhältniss zu der wie oben (S. 680) darge- than, durch andere Momente bestimmten Breite resp. ganzen Dicke des Scelet- theiles, also von der „relativen Beanspruchung" des Scelettheiles. Je stärker bei gleicher Dicke des ganzen Knochens die Beanspruchung ist. umso enger sind ceteris paribus die Maschen, weil die Bälkchen entsprechend dicker werden. Die Spongiosa stellt ihrem Wesen nach eine Zerlegung der mehr oder gleichmässig auf die ganze Aufnahmefläche wirkenden Kräfte auf in Ab- ständen von einander stehende, Widerstand leistende Theile, also zugleich eine Sammlung der Einwirkung gegen jeden dieser Theile dar; unter der Auf- nahmefläche der Einwirkung müssen daher die Maschen noch enger sein, und ihre Weite muss in Relation stehen zur eigenen Dicke der .\ufuahniefläcbe; denn eine dünne Substanzlage kann die Einwirkung nicht vollkommen auf weit von einander entfernte Stützen übertragen. Unter der dünnen Compacta der Gelenk- enden ist daher die, in. Folge des Wechsels der Beanspruchung rundmaschige (s. S. 706 Anm. u. 709) Spongiosa aus diesem und dem vorigen Grunde eng; und die Spongiosa tubulosa unter der noch dünneren, ja gar nicht vollkommen geschlossenen Lage der harten Aufnahmeschicht neben den intermediären Epiphysenknorpcln ist in Folge dessen noch feiner maschig. Erst allmählich kann die ursprünglich auf eine Fläche gleichmässig vertheilte Beanspruchung auf in grösseren Abständen befindliche widerstehende Theile gesammelt, resp. in solche Theilbeanspruchungen zerlegt werden, eine Nothwendigkeit, welcher die ungleiche Maschenweite in jedem Scelettheile entspricht. Ist der Scelettheil sehr kurz, d. h. in Richtung der Haupt beanspruchung klein im Verhältniss zur Breite der Aufnahracfläche, so ist diese Vergrösserung der Maschen in der Mitte des Scelettheiles entsprechend geringer. Feinmaschige Spongiosa mit entsprechend dünnen Bälkchen ist natürlich sehr elastisch im vulgären Sinne, d. h. sie giebt stark nach und kehrt dann wieder zu ihrer früheren Form zurück. In Folge dessen ist sie aber nicht fähig, grosser lebendiger Kraft zu widerstehen; deshalb haben die Thiere an Stellen, wo letztere einwirkt, grosse Maschen mit dicken Balken nsp. Platten unter dicker Aufnahme- fläche; so findet sich z. B. an der Basis des Processus frontalis des Stirnbeines des Statische Elementartbeile der Substantia compacta. 711 Dil auch neugebiklete Compacta au unserem Präparate vor- handen ist, so seien auch die statischen Elemente dieser erwähnt. Kleinoiita statica substnntiao coinpuctae osseae. Für Zusammen- dräugung des testen Materiales auf den kleinsten Raum zum Zwecke der Erreichung höchst möglichen Widerstandes an der beschränkten Stelle der stärksten relativen Beanspruchung (S. (ISO). Sie wird gebildet aus: 1. Knoche nr Öhr dien , Tubuli ossei substantiae com- pactae (Lamellensysteme der H.wEus'schen Kauälchen) a) in der Richtung der Beanspruchung gelegene, für starken Widerstand in einer Hauptrichtung bei Ersparung besonderen Materiales für die secundäre Beanspruchung (Ringspannung); b) mit der Längsase nicht in der Richtung der Hauptbean- spruchung gelegene Rührcheu oder blosse Bruchstücke von Röhrehen (aus den Bildungsmechauismen sich ergebende aber nicht höchst zweckmässige Bildungen, s. S. 718). 2. P I a 1 1 e n , L a m i u a e substantiae c o m p a c t a e (vereinigte Schichten von Generallamellen). Numuehr sind wir im Stande, die principiell wichtige Frage zu beant- [153] worten, ob alle Grundstructurformen der Spon- giosa und Compacta auch in iiathologischen Fällen als Anpassungen an neue Functionen gebildet werden und ihrer specifischen Function entsprechende Verwendung Büffels eine ,Fachwerk-Spongiosa ■" rectaiigulata laminosa von 5 bis 7 Centi- meter Maschenweite aus mehrere Millimeter dicken, entsprechend grossen Platten; ebenso haben die Strausse in ihren Schenkelknochen sehr weite Spongiosa laminosa; ■während die Pferde trotz ihres schnellen Laufes viel feiner maschige trabecaläre Spongiosa besitzen, wohl weil sie unter geschickter Verwendung ihrer Muskeln viel elastischeren, allmählichen Widerstand leisten und so die Härte des Stosses beim Auf- und Absprung sehr mildern (s. S. 737). Die Dicke der statischen Elementartheile, der Bälkchon oder Plättchen steht natürlich in Beziehung zur Grösse ihrer Beanspruchung und daher auch zur Maschen- weite. Diese functionellen Momente lassen aber wohl immer eine gewisse Variations- breite, innerhalb deren individuelle Verschiedenheiten vorkommen können. Soweit den functionell bedingten Structurverhältnissen ohne entsprechende Func- tion bereits im Embryo entsprochen wird, werden die betreffenden Structuren also durch vererbte, von der Functionirung unabhängige Mechanismen ausgebildet; diese letz- teren müssen aber phylogenetisch irgendwie erworben worden sein, sei es durch Aus- lese aus Keimplasmavariationen oder ["?] durch Vererbung .erworbener' Eigenschaften.] 712 Nr. 9. ELiiöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. finden, oder ob Adelleicht gewisse Formen oder Combiuationen in solchen Fällen constant verniisst werden. Eine erneute Durchsicht der Structuren unseres Präparates belehrt uns, dass fast alle die unterschiedeneu Structurformen an demselben in angemessener Ver- wendung vorhanden sind. Lamelläre Spougiosa aus Platten, welche parallel zur Biegungsebene stehen, bilden die Mitte des ersten Struc- turtypus ; deutliche Andeutungen des ßöhrentypus sind auf einzelnen Schnitten an der Concavität vorhanden als Ausdruck geringer seit- licher Abweichungen von der Hauptbiegungsrichtung beim Seitwärts- ötemmen des Beines. Von dem ^Maschentj-pus ist die am wenigsten differenzirte, gerundete Form noch in überreichem i\Iaasse vertreten, hier als Zeichen noch ungenügender Ausarbeitung der ursprünglich entzündlich gebildeten Producte zu regelmässig in einer Richtung fun- girendenTheilen; daher vorzugsweise auf Seiten der Tibia, wo weiter abwärts noch rein entzüudliclic Spougiosa sich findet ; oder als Zeichen der Umarbeitung präexistircuder quadratischer Maschen zur Function in anderer Richtung im Femm- (Fig. 11 b S. G94). Doch ist auch die höchste D i f f e r e n z i r u n g s s t u f e , die r e c h t e c k i g e M a s c h e n- form, sauber ausgearbeitet, ueuge bildet vorhanden und sogar zu 3 bis 4 cm langen coutinuirlich verlaufenden Balken Zügen, Tr actus ossei der Spougiosa rectangulata recta et curvata ordinata ausgebildet; diese durchgehenden Balken sind ent- sprechend ihrer Function gerade, wie im Stützsystem des Typus II, oder in trajectoriellem Bogen gekrümmt im Zugsystem aller drei Tj-pen. Für typische dreieckige Maschen als Dauerform ist hier keine Ge- legenheit gegeben, doch habe ich sie an anderen Präparaten gleich wie die trapezförmige Spougiosa als directe Anpassungen wohl aus- gebildet angetroffen, so bei Ankylose des Hüftgelenkes, wo viele Balken- züge nach einem Puncte hin convergiren müssen. Demnach köntien also alle „statischen Elemente" der Knochenspongiosa, sowie aUe normaler Weise daraus gebildeten „Spongiosafy2^en" bei HersteJlttny einer, nenen fnnctioneUen Verhältnissen entsprechenden Structnr er- zeugt und in der ihrer specifischen Function entsprechen- den Weise vertvendet iverden. Analytisches Ergebniss der functionellen Knoclienanpassung. 713 Die Substautia compacta angehend, so ist in unserem Prä- parate, wie erwähnt, unzweifelhaft viel neugebildete Compacta vor- handen; aber es ist nicht leicht zu sagen, an welcher Stelle im Speciollen das Neugebildete liegt, ob nach innen gegen die Spongiosa zu oder nach aussen von der alten Compacta. An einer Stelle neben (lein Vorsprung an der Concavität ist es am wahrscheinlichsten, dass der äussere Theil der neugebildete ist. Die Compacta zeigt sich daselbst zwar aus H.WERs'schen Röhrcheu gebildet, welche aber nur zum kleinen Theil in der Richtung der Beanspruchung liegen; wälirend letzteres bei der normalen Compacta doch vorherr- schend der Fall ist. Generallamellen sind nicht erkennbar. [154:] Es würde nun noch zu erörtern sein, auf welche Weise die neugebildete, wunderbar zweckmässige Structur entstanden ist, und welchen gestaltenden Kräften sie ihre Entstehung verdankt. Hierin müssen wir uns aber bescheiden. Die allgemeinen Priucipien, zufolge deren Zweckmässiges als sogenam^te directe Anpassung (s. S. 721) entstehen kann, sind in meiner Schrift ,.Der Kampf der Theile im Organismus" eingehends erörtert worden und zugleich ist (S. 356 — 358) die iVnwendung auf die Knochen kurz augedeutet und in einem Auto- referat (s. S. 434 — 436, sowie ßd. II S. 221) noch etwas weiter ausge- führt worden. Genaueres kann nur auf Grund besonderer, meiner- seits zwar unternommener aber noch nicht abgeschlossener Versuche dargelegt werden. Ueberblicken wir zum Schluss das Resultat unserer etwas laugen Untersuchung und Erörterung, so fand sich in einer Syno- stose der inneren Coudylen des Femur und der Tibia eine grosse Mannigfaltigkeit von Structurverhältnisseu , welche sich aber bei genauerer Durchsicht auf drei wesentlich verschiedene Typen und deren Uebergänge ineinander zurückführen liess. Zwei von diesen Struetm-typen waren durchaus von der normalen Structur der ver- einigten Knochen verschieden; und alle nahmen ein viel grösseres Gebiet ein als die spongiöse Substanz der normalen Knochen, indem der 714 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. bei der Beugung des Unterschenkels an der X'orderseite des Knies entstellende grosse Zwischenraum zwIscIrh I'einur und Tibia im Bereich der Synostose vollkommen ihucii gesetzmässig structurirte Knochenmasse eingenommen war. Diese neue Zwischenknochenmasse war mit der nach oben und unten sich anschliessenden Spongiosa der alten Knochen vollkommen zu einer functionellen Einheit ver- bunden, sodass sich keine Grenze z^\^schen ganz Neuem und durch Umbildung des Alten Entstandenen aui'finden liess (S. 664—672). Die drei Structurtypen entsprachen ungleichen Arten der Inan- spruchnahme der Knochen an jenen Stelleu; und zwar entstanden bei den beiden ersten Typen diese besonderen Beanspruchungsver- hältnisse dadurch, dass Gebilde, welche gar nicht zusammen gehören, starr vereinigt worden waren . und dass nunmehr die verschiedenen Theile desselben Knochens , welche normal einheitlich zusammen- wirken, zufolge ihrer Vereinigung mit entsprechenden Theileu des Nach- barorganes bei der Thätigkeit des so hergestellten Gcsaramtgebildes in besonderer Weise fungirende Systeme bildeten. Dies galt erstens für die Verschmelzung der medialen Flächen beider Knochen, wo in der gebil- deten grossen zusammenhängenden Fläche im Wesentlichen eine [155] typische Biegungsbeanspruchimg und dem entsprechende Structur entstand; und galt zweitens für die Vereinigung der hohlen Stellen beider Knochen, wo, in Folge der Verschmelzung der beiden vorderen bezw. 1 lin- ieren compactenLagen mit einander, gesonderte Beanspruchungs- herde in der vereinigenden Knocheumasse sich bilden mussten, die auch zu einer besonderen Structur Veranlassung waren (S. 675— 677). Die Richtigkeit dieser Auffassung liess sich an besonders angefertigten, diesen Auffassungen angepassteu Gummimodellen darthun, nachdem wir einige Methoden aufgefunden hatten, die in dem Gummi bei der Biegung sich bildenden Linien stärksten Zuges vnid Druckes auf der Oberfläche sichtbar zu machen und zu fixiren (S. 673 u. 674). Die Vergleichung dieser durch mechanische Selhsterzeugung darge- stellte» Trajectorien mit den Balkensystemen des Präparates ergab die Identität beider in den wesentlichen Charakteren ; womit die trajec- torielle s. .statische Bedeutung der neutii Structuren dargethaii war. Der dritte einfachere Structurtyiius wurde durch das Fohlen einer ver- ZusanmienfassuDg. 715 liuigeudt'n Knocheiimasse zwischen tlen beiden liinteren Compactae bewirkt, und war ohne Nachbildung im Modell genügend verständlich. Um weiterhin die so in ilirer allgemeinen Bedeutung als zweck- mässige Anpassung au neue \'erhältnissc erkannte Ötructur auch in der Bedeutung ihrer wesentlichen Einzelheiten zu verstehen (S. G90 — 700), so weit dies ohne Mathematik und graphische Statik möglich ist, musste vorher eini' Itcihe von Betrachtungen angestellt werden, welche, von den einfachsten Fällen trajectorieller Structuren zu den complicirteren fortschreitend, uns möglichst unserem Ziele zu nähern suchte (8. 678 bis 690). Ein darauf angestellter Vergleich der äusseren (lestalt des Prä- parates mit seiner inneren Structur (S. 700) gewährte einen weiteren Ein- blick in den Grad der stattgehabten directen Anpassung, indem sich die äussere Gestalt zumeist in einer Weise der Structur augeschmiegt zeigte, welcher der Charakter der höchsten Vollkommenheit zukommt. Diese Art äusserer Gestalt wurde, in Folge ihrer allgemeinen Bedeu- tung, mit einem besonderen Namen belegt und als „fttnclioneUe Gestalt" bezeichnet. Zugleich wurde erwähnt, dass auch die nor- malen Knochen entweder eine solche „f unctionelle Ge- stalt" besitzen, oder im Falle äusserer Hindernisse sich eiuer solchen möglichst uähern. Erst durch diesesGesetz im Verein mit dem der ,,f unctionel len Structur" wird somit die Zweckmässigkeit, welche unsere Knochen be- sitzen, vollkommen bezeichnet (S. 700 u. 701). Der Vollständigkeit halber wurde zuletzt noch ein analytischer Vergleich der Structur des Präparates mit der normalen Knochen- structur angestellt, um zu ermitteln, ob alle Bauelemente und Formationen der normalen Spongiosa auch durch die soge- nannte directe Anpassung neu erzeugt und zweckent- sprechend verwendet werden [156] können. Hierfür war es nöthig, zunächst ein Schema der stutischen Elementartheile der normalen Spongiosa und ein Schema der verschiedenen Sponyiosaurten aufzustellen (S. 702—710); die Vergleichung der so unterschiedenen Arten von Structurtheilen mit den Elementen der neugebildeten Structur bestätigte die obige Vermuthung (S. 711). 716 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. Damit haben wir in vorstehender xVbhandluno- die Producte einer in ganz neuen Verhältnissen das ilinen entsprechende Zweckmässige schaffenden Thätigkeit des Organismus eines Individuums (s. S 719) kennen gelernt, und dieselbe sich gleich- zeitig an i)ebeneinancle7- gelegenen, zusammenhängen- den Stelleu in einer Mannigfaltigkeit und Feinheit he- thätigen sehen, wie sie wohl nur äusserst selten sich zu zeigen Gelegenheit hat. In der Erkenntniss dieser Fein- heit und Mannigfaltigkeit der Leistungen des wunderbaren, uns zuerst durch Jlliu.? Wolff') und Koester-) bekannt gewordeneu Principes liegt derWerth und der Lohn unserer Untersuch- ung. Wir dürfen jetzt schliessen, dass die Herv orhrin g u n g keiner, auch der complicirtesten Comhinationen der Knoche»- Eöhrchen, -Büllcchen und -Plättchen zn einer nenen ,,func- tionellen" Structur unseren Knochenhildungsprincipien zu schwer ist, dass die hierbei wirksamen, gestaltenden Kräfte in der Production der genannten Structurelemente und in ihrer zweck- mässigsten Verwendung zu functionellen Structuren von unbe- grenzter Leistungsfähigkeit sind, sofern ihnen nur in der ,, Wirkungsdauer" keine Schranken gesetzt werden^). Unz weckmässigkeit in der eigenen Structur der stati- schen Elementartheile der Knochen. Eine andere fast ebenso wichtige Frage, welche in dieser Arbeit nicht in den Bereich der Untersuchung gezogen wurde, verbleibt noch ungelöst: die Frage, ob bei dieser directeu Anpassung die statischen Elemente der trajectoriellen Structuren, oh die Bälkchen, Fl ättchen nnd Möhrchen und ihre Verbindungstheile seihst auch eine fuvct ionellc Structur erlangen. Dass sie einer 1) J. Woi.FK, Beiträge zur Lehre von der Heiluns der Fracturen. v. Laxoen- beck's Archiv für Chirurgie. Bd. XIV. 1872. '^) Koester, Verhandlungen der physicalisch-niedicinischen Gesellschaft zu Würz- burg. Juni 1872. 3) Ueber die mögliche Entstehungsweise dieser Structur s. S. 356—358, 434 bis 436 und Bd. II S. 221. UnZweckmässigkeiten der Structur mancher „statischen Klementartheile". 717 solchen beiiüthigen, um auch ilirerseits das Maximum au W'idfi'staudsfühi t;;kcit hieten /,u können, kann bei iln-er Zu- sammensetzung aus statisch sehr uugleichwerthigem Materiale, aus weichen Zellen, zugt'esten Fasern uud starrer Kittsubstanz (v. Ebner'), JvAssowiTZ ^) und bei der auch in ihnen in P'olge dieses Aufbaues nocli stattfindenden ungleichen Beanspruchung nicht zweifelhaft sein. Eine erneute Trüfung der Knochenstructur im Sinne der fundamentalen Entdeckungen v. Ebner's über die feinere Structur der Tela ossea unter gleichzeitiger Rücksichtnahme auf die speci eilen Bean- spruchungsrichtungen des geflechtartigen, des parallel- faserigen und des lamel- [157] lösen Knochengewebes wird darüber Aufschluss geben*). Gegenwärtig lässt sich ohne specielle Untersuchung nur Eines sagen, nämlich, dass im lamellöseu Knochengewebe die Lage der (annähernd linsenförmig platten) Knochenzellen mit der „breiten" Fläche „parallel" der Flächenausbreitung der La- mellen und der vorzugsweise rechtwinkelige N^erlauf ihrer Ausläufer durch die Lamelle die Festigkeit um das möglichst kleine Maass vermindern und damit zugleich auch die ein- geschlossene Zelle möglichst vor Druck sichern. Bei jeder anderen Stellung dagegen würde der Verlust an Festigkeit ein grösserer werden, um bei reehtwdnkeliger Lage der platten Zellen gegen die Lamelle und gegen die Druckrichtung ein Maximum zu erreichen, welclies die Festigkeit um die Hälfte oder mehr vermindern könnte. Ferner ist die Bildung concentrischer sich berührender Lamellen und ihre zugfeste Verbindung durch schräge, die Abscheerung hemmende Fasern ein ausgezeichnetes con- structives Princip, welches sich auf's Höchste bewähren muss, 1) V. V. Ebner, üeber den feineren Bau der Knochensubstanz. Wiener .Sitzungs- berichte der math.-nat. Classe. Bd. LXXII. Abth. 3. 1877. 2) M. Kas-sowitz, Die normale Ossification. Wiener medicinische Jahrbücher von Stricker. 1879. [3) Diese Prüfung ist neuerdings an einem Knochenbälkchen von B. Soi.ger (Ueber die Architectur der Stützsubstanzen, Leipzig 1S92, 36 Seiten) (S. 21, Fig. 3) vorgenommen worden mit dem Resultate, dass die Structur desselben keine func- tionelle ist.l 718 Nr. 9. J^Dücherne Kniegelenksankylose des Menschen. „sofern diese Lamellen in der Richtung der Beanspruchung gelegen sind"; was zwar vorherrschend, aber wie wir sahen, nicht immer der Fall ist. Da in den unzweckmässiger Weise „schräg" und „quer" zur Druckrichtung gestellten H-WERs'schen Lamellensystemen, die Zellen noch dieselbe Lage zu den Lamellen behalten als in den in Riclitung des Druckes stehenden Systemen, obgleich dies jetzt sehr unzweckmässig ist, so sehen wir hier schon (nn bei (jeeigneter Verivendung höchst zweck- mässiges, aher ivie es scheint ^.stabiles''', „nicht anpassiings- fähiges" BiUlnngsprincip nnziveclcmässige Prodncte liefern, und erkennen damit schon eine Grenze der Leistungsfähigkeit der KnochenbiJdungsprincipien ^). [1) B. Solger bildet (loco S.715 citat. Fig. 4) ein darauf bezügliches Präparat ab und scheint daselbst meiner Auffassung, dass diese Anordnung unzweckmässig ist, zuzustimmen. In einer späteren Schrift (üeber geknickte Knochenlamellcn. Anat. Anz. 1893, S. 28 — 33) dagegen sagt er Seite 43: , Sollte damit wirklich eine Grenze der (seil, das Zweckmässige producirenden) Leistungsfähigkeit derKnocheu- bildungsprincipien (Rolx) gegeben sein, oder wäre es nicht vielmehr gerathen, anzunehmen, dass es mit unserer Einsicht in das Problem der Architectur des fertigen und der Architectur-Um wälzung des wachsenden Knochens noch nicht ganz befriedigend bestellt ist?" Dass unsere bezügliche f^insicht noch sehr mangelhaft ist. habe ich in dieser und in früheren Schriften wiederholt hervorgehoben. Dieser Mangel hindert aber nicht, schon jetzt mit Sicherheit auszusprechen, dass es z. B. für die , Festigkeit' einer gothischen Kirche , unzweckmässig" ist, wenn die langen schmalen Fenster, statt in Richtung der Schwere, also des Druckes, schief oder wagrecht angebracht würden, und das.s es dieselbe functionelle Bedeutung hat, wenn die nicht wider- standsfähigen, linsenförmig platten Knochenzellen mit ihrer Flächen- ausdehnung „schräg oder rechtwinkelig' zur Druck richtung im Knochenbälkchen oder -Röhrchen stehen. Solger negirt weiterhin auch die , functionelle' Bedeutung von K n 0 c h e n s t r u e t u r c n , die ich als solche auffasse, indem er ersteren Ortes S. 30 sagt; „Diaphyse und Kpiphyse gehen somit bis zur Vollendung dos Wachs- thums, also 20 Jahre, ihren eigenen Weg, obgleich sie doch in derselben Weise bei Druck und wohl auch bei Zug in Anspruch genommen werden Die Epipbysen sind es, die den Druck zuerst aufnehmen; die typische Druck- und Zugarchitectur wird aber häufig erst jenseits der Epi- physenfuge innerhalb der Diaphyse deutlich. Daraus schliesso ich, dass die Lehre von der Architectur der Spongiosa dringend einer Revision Kinweiidungen gegen die funetionelle Bedeutung der spongioseu Structur. 719 Ifli lioffe in absehbarer Zeit weitere Mittheilunsen hierüber sowie ö^ über die Kuochenbildungsprincipien uml die Art ilirer Tliätigkc-it bei bedarf/ (Die gesperrt gedruckten Theile sind hiir und in den folgenden Citaten von mir hervorgehoben). Und Seite 19 findet sich die Stolle: „Die Lehre von der Architectur der Substantia spongiosa hat im Laufe der Zeit eine so eihebliche Umgestaltung erfahren, dass ihr der Werth eines erklärenden Principcs, der ihr ur- sprünglich beigelegt wurde, zum grossen Theile verloren gegangen ist." Zu Krsterem ist zu bemerken: So lange die knöcherne Diaphyse und Epiphyse noch durch eine Knorpelplatte, also eine nicht starre, sondern relativ weiche Lage getrennt sind, ist jedes von ihnen in Bezug auf die Richtungsverhältnisse seiner inneren Beanspruchung, besonders für Druek- einwirkung ein „selbststiindiger ' Scelettheil, und dies umso mehr, je dicker und je weicher dieser Zwischenknorpel ist, also je stärker der eine Theil sich bei Druckeinwirkung gegen den anderen, wenn auch im Ganzen sehr wenig, ver- schieben kann (s. aucli S. 708). Die Art der Umsetzung des auf das ganze Stück einwirkenden Druckes ist in jedem einzelnen dieser harten Theile von der Gestalt desselben abhängig und deshalb in der kurzen Epiphyse wesentlich anders (s. S. 679) als in der, in Folge ihrer im Verhältniss zu ihrer Dicke mehrmals grösseren Länge, auf „Biegung" beanspruchten Diaphyse (s. S. 689 Anm). Dass aber neben einer „dünnen" Druckaufnahmefläche „eng- maschige" Spongiosa functionell nöthig ist und dass bei Wechsel in der Richtung des Druckes, wie ihn die Auflagerung von Knorpel an der Druck- aufnahmetläche schon an sich bedingt, ,.rundlich-ni aschige" Spongiosa sieh finden muss, ist oben (S. 710) erörtert worden. Erst weiter im Inneren der langen Diaphyse ist vollkommene .Constanz der Beanspruchungsrich- tung" vorhanden und daher daselbst erst die Bedingung für die Ent- stehung von Spongiosa „ordinata rectangulata" gegeben, welche Spongiosa fürSoifiKR allein die , typische" Druck- und Zugarchitectur zu repräsentiren scheint. InWirklichkeit aber stellt jede der von mir oben unterschiedenen Spongiosa-Formationen, an dem ihrer specitischen Function entsprechenden Orte verwendet, „typische Druck- resp. Zugarchitectur" dar. Weiterhin nimmt Solger offenbar noch an, dass die functionelle Structur allein durch die Belastungsverhältnisse im Sinne der Wirkung der Schwere bedingt sei, denn er sagt doco cit. 1892, S. 31 Anm.): „Die Knochen der oberen Extremität (des Menschen wenigstens) wollten sich ohnehin nie recht ihrem Gesetze fügen", und (S. 4*): „Man ist seit H. vox Mf.vkh's Arbeiten über die .\rchitectur der Spongiosa geneigt, jede auch die geringfügigste Anhäufung von Knochensubstanz von flächenhafter Ausdehnung, namentlich, Avenn man sie in dem Sceletstüek der unteren Extremitäten trifft, von dem Gesichtspuncte der graphischen Statik zu betrachten". Nach der von RAf BKR •*), m i r vs. S. 120, Nr.4, S. 681 Anm., Nr. 10 u. 11 ) u. ZscHOKKE ***) *) Zur Kenntniss der Röhrenknochen. Zool. Anz. 1893. Nr. 437. Sep.-Abdr. S. 4. •*) A. Racbeb, Elasticität und Festigkeit der Knochen. 1876. ***) E. ZsCHOKKK, Weitere Untersuchungen über das Verhältniss der Knochen- bildung zur Statik und Mechanik des V'ertebratensceletes. Zürich 1892. 720 Nr. 9. Knöcherne Kniegelenksankylose des Menschen. der directen Anpassung machen zu können. Diesmal mussten wir uns mit einem Hinweis auf die früher gegebene allgemeine Ableitung vertretenen Autfassung dagegen ist es für den Knochen einerlei, ob er durch die Wirkung der Schwerkraft oder durch iluskelwirkung gedrückt resp. gezogen wird; und bei dieser Auffassung erkennt man, dass die normale Structur derKnochen der oberen Extremität des erwachsenen Menschen ebenso vollkommen den „statischen'' Gesetzen entspricht, wie die der unteren Extremitäten (s. Nr. 10, S. 6). Zu den statischen s. functionellon Structurcn in diesem Sinne gehört auch die Structur des Calcanus, obschon dieselbe beim Menschen und beim Säugethier trotz anscheinend verschiedener Function in der grossen Hauptsache übereinstimmt; denn wenn man die Beanspruchung beider genau erwägt, so geht sie beim Gehen und Springen bei beiderlei Lebewesen einerseits vom Sprung- bein und andererseits vom hinteren Ende (von .len sich ansetzenden oder in ihrer Sehne daselbst umbiegenden Wadeumuskeln) und vom vorderen Ende aus; auch beim Stehen des Menschen auf dem Calcanus geht die Beanspruchung gleichfalls einerseits vom hinteren Ende aus. In meinen Schriften wird nirgends von statischer Structur blo3 im Sinne ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die .Schwerkraft' gesprochen*). Noch in einem Flugblatte vom Februar 1894, nachdem ihm also wohl die ihm übersandte kleine Schrift Nr. 10 hatte bekannt sein können, ersucht Solger um Zu- .sendung von Material, um den Nachweis liefern zu können, dass wir nicht blos mit den Anforderungen de s Technikers, der nur, t od te Maschine n" zu construiren weiss, an die Betrachtung der blutdurchströmten, des Wachsthums und damit innerer und äusserer Wandlungen fähiger Scelettheile treten dürfen. Dieser Nachweis braucht gewiss nicht erst neuerdings erbracht zu werden (s. S. 356—358, 434-436 u. Nr. 10 u. Bd. II S. 221 und Jfi.. Wolff's Buch, das „Transformationsgesetz"). Kein Einsichtiger wird verkennen, dass wir über die Lebensvorgänge der Knochen sowohl beim Erwachsenen wie noch mehr beim Embryo und während der Jugend noch sehr wenig wissen (s. Nr. 10, S. 18 u. 13); und es war schon frühi-i- ausgesprochen, dass die normalen Bildungsvorgänge während des Embryonallebens und der Jugend (s. S. 356 u. Bd. II, S. 2;^2) nicht immer das statisch Beste prudu- ciren, dass keine vollkommene Identität zwischen den Producten der mehr oder weniger von der Function unabhängigen embryonalen Bildung und den Producten der funct ioneilen Anpassung besteht. In Bd. II S. 232 wird SoLOKn auch bereits seine neue Beobachtung verzeichnet finden, dass die Epiphysen und Diaphysen an den sogenannten inter- mediären Epiphysenlinien (NB. jedes dieser Gebilde für sich betrachtet) keine .statische Gestalt" haben. Dazu ist aber auch keine Veranlassung vor- handen, da beide Thcile, Epiphyse und Diaphyse, abgesehen von den erwähnten, durch die Weichheit des intermediären Knorpels bedingten und die , Structur" beeinflussenden feinen Verschiebungen gegen einander, sich im Groben nur gemeinsam bewegen und nur gemeinsam bewegen sollen; es musste daher zackenförmiges Ineinander- *) F. Eichbaum dagegen steht noch auf dem Standpunct , dass die Knuchcn blos durch die , Belastung" in Anspruch genommen werden (Beiträge zur Statik und Mechanik des Pferdescelets. Berlin 1890). (Daselbst ist auf Seite 16 die obige Figur 6 von mir, S. 687, wesentlich unrichtig reproducirt.) der Neuerzeuguug zweckiiiässiger Structuren begnügen. Nur darauf sei noch bmgewiesen, dass diese „directe Anpassung." eine -directe" Bildung des Zweckmässigen nur in Rezu. auf das Ind.vHluum" ist. während sie im Einzelnen unter fortwähren- der l^eubildung und nacliheriger Wiederzerstörung von Knochentheilen durch bestmnnt locali.sirte Auslese unter den „Theilen" vor sich geht lUKl dass somit auch hier das sogenannte Zweckmässio-e der Auslese seine Entstehung verdankt. "^ SchHesshch darf nicht unerwähnt bleiben, dass wir das Präparat zwar auf einer hohen Stufe der Zweckmässigkeit, gleichwohl aber ersMui^dem Wege zur Vollkommenheit antrafen; denn die kl^ZH^:^'''' '"""'"" '""'''*^* "'"■'"^"- "» "«^"-'^ Epiphysenlösu„g ve.- Für den ausgewachsenen Menschen vertrete ich nach wie vor d.e Auffassung, dass der , normale' Aufbau der Spongiosa aus den '^el InTtr U "^\^''^'=^- Elenaenten- von geringen%bwLXge„.abi sehen, allenthalben ,tunct:onelle s. statische Structur' darstelU auf h,A f "r'^°^^° ^■''^J ^'^ ^«Ib«^'- aufmerksam gemacht und zwar sogar auch ZäTnir-rr'' r ^"^•^--''"- ^-rsachen beruhen (s. Nr.'l 0, l 7 Uw!vh ■■ °'V''''"'"' ^'"''"^"'' '"^ ''°'^'''-«" A»t-«" hervorgehobenen Abweichungen von der statischen Structur der Knochen des Erwach" enen beruhen, soweit sie nicht überhaupt pathologische Producte be r ffen V. Rkckl,xg„a.se.x), nach meiner Auffassung auf zwei Ursachen: erstens auf der ngsamen ^^ nkung besonders des Pnncipes der Inactivitätsatrophie, wenig de Activitatshypertrophie, so z. B. die langsame Umänderung der Knoche;structu zu. statischen Structur an und neben der intermediären Epiphysenlinie nach deren Verknocherung; und zweitens auf den Structurumänderungen, die durch die fort- wahrende Zerstörung und Erneuerung der Knochensubstanz bedingt sind 1° Folge dieses etwas langsamen Verlaufes der functionellen Anpassung aber Ircbfe"; r t, !'!■"" '" '""' d-«e Anpassung hervorgebrachten stauchen Architectur der bubstantia spongiosa ihren Werth als die Knochenstructur erklärendes Princ.p zum grossen Theil verloren habe, ist nicht zu Dill i^e n. Wir verfügen (ausser in dem vorstehend geschilderten Objectej besonders in der grossen Abhandlung Jiui-. WoiKr's über so ausgezeichnete Beispiele von Anpassung der Knochenstructur an weit von der Norm abweichende functionelle Verhältnisse, dass ein Zweifel an dem Thätigsein diese Anpassung leistender gestaltender Reactionsweisen überhaupt nicht mehr bestehen kann. Vermissen wir aber solche Anpassung unter Verhältnissen m denen wir glaubten, sie nach unseren bisherigen Erfahrungen erwarten zu müssen' SD wird es unsere Erkenntniss wesentlich bereichern, zu erforschen' aus welchen besonderen Gründen dies sichergestellte Princip im ge- gebenen Falle nicht zu erkennbarer Wirkung gelangte.] \V. Ron X, Gesammelte Abhandlangon. I. jo 7Jv> Nr. 9. Knöcberae Kniegelenksackylose des Mepschen. neue einseitige Art der Biegungsbeanspruchung muss eine Aenderung der Knochenstructur und Gestalt mcht nur an der Vereinigungsstelle der beiden Scelettheile , sondern im ganzen Verlaufe derselben bewirken. Eine Andeutung der- artiger Umänderung war schon sehr ausgeprägt auf dem Querschnitte des Femur zu erkennen, mdem die Compacta vorn und hinten bedeu- tend verstärkt, an den Seiten dagegen [158] rariticirt war. Sicher waren daher auch an den entfernteren Knochentheilen und -Enden bereits entsprechende Aenderungen vorhanden; da diese Theile aber fehlen, indem das Präparat aus einer Zeit stammt, m der man noch nicht daran dachte, dass jeder Knochen ein functionelles Ganzes bildet, in welchem kein Theil für sich eine wesentliche Aenderung erfahren kann. ohn. das Ganze in allen seinen Theilen in Mitänderung zu ziehen, so muss auf diese Einsicht verzichtet werden. Breslau, August 1884. Nr. 10. Kritisches Referat über „Das Gesetz der Transformation der Knochen'") von Julius Wolff. 1893. (Berliner klinische Wochenschrift 1893. Nr. 21 u. f.). Mit 2 Textfiguren. Inhalt (von Seiten des Referenten). Seite Vielseitigkeit der functionellen Structur des Femur . 726 Ursache der Rührengestalt 728 Typische Biegun gsconstruct ion der V^orderarmknochen des Delphin . 727 Es besteht kein „Streben zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Func- tion' im Knochen 732, 751, 754 Indirecte Wachsthumshcmniung der Scelettheile durch Druck 734 Definition der , Function" der Knochen 786 Abweichungen von der ,f u n c tionel le n Gestalt' 737 Ungenügende Inactivitätsatrophie bei don Knochen von Sirenen .... 738 Zeitverhältnisse der functionellen Knochenanpassung 739 Kritik des Beweismateriales für expansives Kn ochen wachsthum . 741 Deutung der Vorgänge bei der Heilung der Knochenbrüche 749 1) Berlin 1892, gr. Folio, XllI, 152 S., 12 Tafeln in Lichtdruck. 46* 724 Nr. 10. Referat über J. Woi.kf's ^Tratisformationsgesetz der Knochen" [1] Das Werk Jll. Woi.ff's über die Transformation der Knochen liegt vor uns in eleganter, durch Beihülfe seitens der Königl. Preussi- schen Academie der Wissenschaften geförderter Ausstattung. Der Verfasser hat es sich angelegen sein lassen, durch voll- kommene Durcharbeitung, übersichtliche GUederung des Stoffes und klare Darstellung in guter Sprache dieser eleganten äusseren Form auch im Innern zu entsprechen. Das Buch ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung der haupt- sächlichsten früheren Specialarbeiten des Verfassers, des bekannten unermüdlichen, zielbewussten Forschers auf theoretischem und prac- tischem Gebiete der Erforschung und Verwerthnng des Wachsthums und sonstigen Lebens der Knochen. Wir begrüssen es dankbar, dass WoLKF sich der Mühe unterzogen hat, die bisherigen Früchte semer Lebensarbeit einheitiich zusammenzufassen und dieselben geläutert und unter einem höheren Gesichtspuncte vereinigt uns darzubieten, mid dass die Academie der Wissenschaften die Ausstattung des Werkes mit photographischen, im Lichtdrucke reproducirten und so mö<.lichst naturgetreuen Abbildungen der vielen vom Verfasser gesammelten, überaus lehrreichen Präparate unterstutzt hat. Das Werk ist sowohl von practischer wie theoretisclier Bedeu- tnnc^ Mir als Theoretiker hegt es ob, blos den theoretischen Iheü desselben zu würdigen; und da ich aufgefordert bin, das Werk em- gehend zu besprechen, glaube ich, mich nicht damit begnügen m dürfen die bleibenden Errungenschaften dieses inhaltreichen Werkes zu schildern; sondern ich glaube den Verfasser damit zu ehren, ..e den berechtigten Anforderungen der Leser dieser Zeitschrift zu ent- sprechen und zugleich der Wissenschaft zu nützen, wenn ich dabei nicht den Maassstab des Freundes, sondern den der reinen strengen Wissenschaft anwende und diejenigen Stellen nicht mit Stillschweigen übergehe, an die noch Widerspruch sich heften kann. Dies erscheint um so angezeigter, als der Verfasser eine unverkennbare Neigung zur apodictischen Aeusserungsform besitzt und diese Form anwendet auch bei Gegenständen, über welche unsere und seine kenntinsse Das „Transformationsgesetz' gehört zur functionellen Anpassung. 725 not'li sehr liickeuhat't sind. [2] Doch sei gleieli hiuzAigefügt , dass durcli die zu machenden, mehrfachen Einwendungen der Wertli des Buclies im Ganzen niclit beeinträchtigt wird, obschon sich mein Widerspruch bei manclier au sich wiclitigen Frage regen wird; denn gieicliwolil betrifft er keinen Gegenstand, der für die Kichtigkeit der Tendenz des gesammten Werkes so wesenthch wäre, dass mit dessen Verneinung auch der wesentUche Gedankengang des ganzes Buches alterirt würde. Dieser Gedankengang ist dem Referenten, der selber das gleiche Thema wiederholt behandelt hat, so geläufig, dass ihm in Folge dessen manches bereits als selbstverständüch erscheint, was Wolff in seinem, wie er selber sag-t, in erster Linie für Chü-urgen bestimmten Werke ausfülirlich und mit grossem Nachdruck darlegt und begründet, so dass die volle Würdigung dieser Theile besser dem zweiten Referenten überlassen bleibt. Der Inhalt des Buches dreht sich im Wesentlichen um die von Wulff im Jahre 1871 gemachte fundamentale Entdeckrmg, dass die Knochen sich in ihrer Structur neuen statischen Bedingungen, das heisst neuen Druck- und Zugeinwirkungen derart anzupassen ver- mögen, dass in genügend langer Zeit der Knochen die dieser neuen Funetionsweise vollkommen entsprechende, zweckmässigste Structur und Gestalt erlangt. Diese Thatsache wird in dem Buche nach allen practischen und theoretischen Consequeuzen hin mit Geschick und Fleiss verfolgt und verwerthet. Nach der theoretischen Seite ist die Verwerthung früher bereits vom Referenten geschehen in seiner Schrift: „Der Ivampf der Theile im Organismus" ; und dabei war die damals vor- liegende empirische Arbeit Wolff's einer der Grundsteine für die aufgestellte Theorie der functionellen Anpassung. Unter dem Trausf ormationsgesetz der Knochen versteht nun A\'oi.FF nicht, wie man wohl zunächst erwarten möchte, ein Gesetz der allmälilicheu Umbildung der Knochen vom Anfang ihrer normalen Entxrickelung an, sondern blos das Gesetz derjenigen Aenderungen, welche für alle Organe von mir als,,function eile Anpassungen" bezeichnet worden sind ; darunter sind zu verstehen die Anpassungen 72G Nr. 10. Referat über J. Wolff's „TiWormatiopsgeset^dei^KnochenV der Organe an Functionen durch Au.sübung dieser Func- tionen. Die functionelle Anpassung stellt ein Princip der directen Selbstgestaltung des Zweckmässigen dar. Da die functionelle Anpassung der Knochen sich den vom lleL formulirten allgemeinen Gesetzen der f unctionellon Anpassung einordnet mid von Wolff die dabei dem Knochen- gewebe als solchem eigenthümlichen Vorgänge dieser Anpassung uicht ermittelt worden sind, so lag eine wissenschaftliche Ver- anlassung nicht vor, noch einen besonderen Namen einzu- führen- sondern die Arbeit Wolff's hätte sich an das Bekannte und Recipirte am einfachsten unter dem für sich verständüchen Titel: Die functionelle Anpassung der Knochen" angeschlossen. " WoLFF definirt das „Gesetz von der Transformation der Knochen" als „dasjenige Gesetz, nach welchem im Gefolge primärer Abändermigen der Form und Inanspruchnahme, oder auch blos der Inanspruchnahme der Knochen, bestimmte, nach mathematischen Regeln eintretende Umwandlungen der inneren Architectur und ebenso besümmte, denselben mathematischen Regeln folgende secundäre Umwandlungen der äusseren Form der betreffenden I^ochen voll- ""'^ ^ Verf schildert zunächst die normale Knochenarchitectur des coxalen Femurendes und ihre Bedeutung, deren Wesen darin besteht, dass mit einem Minimum von Materialaufwand die zweckmässigste Form dar- [3] gestellt wird; das Femm- ."ie die anderen Knochen .teilen in ihrer Structur eine Vollkommenheit dar, die von der con- itruirenden Technik nie erreicht, sondern die nur theoretisch abge- leitet werden kann. Bei der speciellenSclnlderung der 8truetur des Oberschenkels wird naturgemäss die Bedeutung dieser Structur als einer Krahnen- construction also seine Stützfunction des Körpers gegen die Schwer- kraft sorgfältig erörtert. Nur gelegentlich findet sich daneben eme flüchtige Andeutung C.lmakn's erwähnt, des Inhalts, dass der Ober- schenkel auch noch anderer Inanspruchnahme ^Mderstaud ,u leisten vermag. Es hätte sich um die Vollkommenheit der \ Vielseitigkeit der functionellen Structur des Femur. 727 Leistungen des structurellen Priucipes an allcu Knochen darzutliiui, wohl empfohlen, au diesem einzigen behandelten Beispiele aueh den structurellen Ausdruck dieser anderen Functionen nachzu- weisen, zumal da durch dieselben erhebliche Abweichungen von der reinen Krahuenconstructiou hervorgerufen worden sind: denn eine reine, der Bieguugsbeanspruchung blos in einer Kbene angepasste Krahnenconstruction würde allenthalben rechtwinkligen Querschnitt haben und blos an der Zug- und Druckseite Compacta darbieten, an den beiden ,, Seitenflächen" aber ohne Compacta, somit eigentlich offen sein, ähnlich wie nach meiner Beobachtung die wesentlich der Biegungsbeanspruchung in einer einzigen Fläche angepasste Constructiou des ßadius des Delphin solches darbietet, wobei che Seitenflächen nur durch eine ganz dünne Abgrenzungsschicht geschlossen sind , während au den Haupttlächen die Compacta sehr dick ist^) (s. S. 689 Anm.). Ferner [1) Diese nach den functionellen Verhältnissen von mir erwartete und danach beobachtete Biegungsconstruction für Biegungsbeanspruchung wesentlich blos in einer Fläche an dem Radius der Sirenen (des Delphin), ist in einer Weise typisch ausgebildet, wie sie noch an keinem sonstigen Scelettheil beobachtet worden ist, auch nicht am Sternum der Säuger, weil keiner so vollkommen die dazu ge- eigneten functionellen Verhältnisse darbietet. Deshalb sei sie hier noch durch einige Abbildungen demonstrirt, Fig. 1 zeigt den mittleren, in der Richtung der Biegungsbeanspruchung ge- führten Längsschnitt des Radius eines Delphin in natürlicher Grösse, die Ulna bietet auf dem entsprechenden Längsschnitt wesentlich dasselbe Verhalten dar. In Fig. 1. Radius des Delphin, Längsschnitt ii) Richtung der Biegungsbeanspruchung. dem LTmriss sind in schematischer Weise die Richtungen der Spongiosazüge einge- tragen; dieselben sind in natura vollkommen deutlich und ohne jede Mühe zu erkennen; die Substantia compacta ist ringsherum weiss gelassen. Die Bedeutung solcher 728 Nr. 10. Referat über J. Wolff's , Transformationsgesetz der Knochen". ist die Röhrengestalt des Oberschenkelschaftes ein einer reinen Ivrahnencoustructiou vollkommen fremdes Motiv; sie ist durcli die Biegungsconstruction wurde S. 683 dargelegt. Hier sei nur vom Speciellen noch einiges hinzugefügt. Die B ie gungsf 1 ä eh eu oder Hauptflächen, welche von der Biegungseinwir- kuni; (lirect betroffen werden, sind mit sehr starker Compacta versehen, welche sich dann nach innen zu allmählich in die Spongiosa auflöst und so die typisch gerichteten Spongiosazüge hervorgehen lässt. Letztere bilden zwei rechtwinkelig sich kreuzende Bogensysteme, je eines fast rechtwinkelig gegen eine der beiden Compactalagen aus- laufend. Im Mittelpuncte der Construetion a, also an der .entlasteten" Stelle ist der Canalis nutritius. Da beide Knochen proximal dicker sind als distal, so ist auch dio Construetion dem angepasst und der Nullpuiu-t proximal von der Mitte der Länge gelagert. Unter den überknorpelten Berühiungsüächen mit den proximalen und distalen Nachbarscelettbeilen liegt eine viel dünnere Lage von Compacta, auf welche eine rund- und sehr kleinmaschige Spongiosa (Spongiosa globata) folgt (entsprechend dem S. 685 Anm., 709 u. 719 Anm. dargelegten Principe); in diese strahlt die Endauflösung der Compacta der beiden Hauptflächen divergirend als Stützbalken in Form von spongiosa tubulosa, weshalb hier auch kein rechtwinkelig dazu stehendes System nöthig und vorhanden ist, hinein. Dies ist die Druckconstruction zur Druckaufnahme von den, resp. zur Druckfortpflanzung auf die anderen Scelettheile. Weiter nach innen folgt die Spongiosa der reinen Biegungsconstruction mit ihren typisch gebogenen Spongiosazügen. Entsprechend der stetig geringer werden- den relativen Beanspruchungsgrüsse (s S. 680 Anm.) findet sich zunächst noch Spongiosa tubulosa iucompleta. dann Spongiosa lamellosa und nahe dem Nullpunct Spongiosa trabeculosa (siehe S. 705); gleichzeitig nimmt auch die Maschenweite der Spongiosa zu. Figur 2 zeigt die mittleren Querschnitte beider Vorderarmknochen. Es tritt wieder die grosse Dicke der Comp acta an den ,.Biegungsflächen^ hervor, während Fig. 2. /rTTTi ' I'' T,' ■"' - Radius t'lna des Deljihin, im Querschnitt. an den , Seitenflächen" des Radius die Spongiosa liis an die Oberfläche geht und nur durch eine ganz dünne continuirliche Lage abgesclilossen ist, entsprechend der Aus- führung S. 689 Anm. Bei der Lina dagegen ist nur an der inneren Seitenfläche keine eigentliche Compacta vorhanden, aber doch eine recht dichte Spongiosa, während auf der Radialseite eine dicke, fast ganz dichte Knochenanlage sich findet, deren Bedeutung nur bei genauer Berücksichtigung der Liewegungsart und sonstiger statt- findender Einwii-kungen erkannt werden kann. Das gilt auch für die Spongiosa I Vielseitigkeit der functionellen Structur des Femur. 729 Biegungsbeansprucliung nach amlereu KielitungX'ii, liier insbesondere durch Biegungsbeansprucliung auch nach vorn und hinton statt hlos nach innen bedingt (s. S. 364); durch diesen Wcchf^el der ]>ieg- Tiugsrichtungen ist auch das gelegentliche Vorkommen einer ein- oder zweifachen Röhreulanielle im Innern des Knochens veranlasst. Zu diesen Abweichungen von der Krahnenconstruction kommen dann noch abweichende äussere Gestaltungen und innere Bälkchensysteme, welche durch die Einwirkung sich ansetzender Muskeln bedingt sind') Der au sich richtig geschilderte Verlauf der Ivnocheubälk- chen in der neutralen Faserschicht mitten zwischen der Zug- und Druckseite des oberen Oberschenkelendes erscheint mir dagegen nicht richtig gedeutet. Wolff sagt nämlich, weil hier weder Druck noch Zug stattfinde, müsse hier eine gewissermaassen „indifferente", neutrale Structur aus senkrecht und parallel zur Axe stehenden Bälkcheu sich finden. Es leuchtet dagegen ein, dass wenn daselbst ^^•irkhch weder Druck noch Zug stattfände, daselbst überhaupt keine Bälkcheu vorhanden sein dürften. Das Richtige ist nach meiner der Querschnitte. Diese zeigt in der Ulna zwei gebogene, reclitwinkelig sich kreuzende und schief zur Mittellinie des Querschnittes stehende Systeme. Dasselbe ist auch noch ulnarwiirts im Radius der Fall, während lateral ein quer, die beiden Compactae verbindendes .System von dichter Spongiosa tubulosa incompleta sehr ausgeprägt sicli findet, weshalb wiederum das bei Spongiosa lamellosa und trabeculosa stets sich findende zweite, rechtwinkelig zu den Hauptbälkchen stehende System fehlt, da die tubulöse Form dies nicht nüthig hat (s. S. 705) ; die mittlere Gegend zwischen diesen Ijeiden Abschnitten des Radius dagegen hat keine unzweifelhaft hervortretende Haupt- richtungen, und ist daher diese Stelle der Zeichnung nur als annähernd richtig anzusehen. Ich fasse die schrägen Bogenzüge auf dem Querschnitte als dadurch bedingt auf. dass die Flosse nicht rechtwinkelig zu ihrer Hauiitfläche durch das Was.ser bewegt, sondern zugleich derartig gedreht wird, dass ilire Längsmittellinie statt einer Ebene etwa einen Kegelmantel besehreibt, dessen Axe zum Theil durch die Ulna hindurchgeht. Auf den in der Hauptbi egu ngsricht ung geführten Längs- schnitten, wie z.B. Fig. 1, kann diese Art der Bewegung auch bei der Ulna keine hervortretende Wirkung auf die Structur ausüben, wohl aber auf den Querschnitten. Diese Structur ist also eine prächtige Bestätigung der zweckmässigsten (Gestal- tung nicht blos in den Richtungsverhältnissen, sondern auch in der Verwendung der von mir unterschiedenen Spongiosatypen entsprechend der gegebenen Defi- nition ihrer speciellen functionellen Bedeutung (s. S. 703 u. f.). [1) Hierüber siehe auch S. 736 und R.\l'beb, Elasticität und Festigkeit der Knochen 1876, sowie Zschokke, Weitere Untersuchungen über das Verhältniss der Knochenbildung zur Statik und Mechanik des Vertebratenscelets 1892, S. 16.] 730 Nr. 10. Referat über J. Wolff's , Transformationsgesetz der Knochen'. Auffassung, dass die Druck- uud Zugbalkeu diese Fläche unter Wink flu von 45" schneiden (wie eine gedachte mittlere Längs- linie in Fig. 1 S. 727); uud du.s.': wir in dieser Schnittfläche den Durch- schnitt dieser Balken als senkrechtes System seheu; die Theile dieses Systems sind dann wie überall durch rechtwinkelig darin stehende Bälkchen gegeneinander gestützt (siehe S. 728 Fig. 2 links im Radius). Da ferner Wolff die Erörterung der speciellen structurellen Principien auf das Femur beschränkt, und zwar IJos auf das recht- winkehge Bälkchensystem desselben, wird die Basis seiner Ausein- andersetzungen eine zu schmale , indem die Darstellung der anderen coustructiven Principien fehlt, obgleich dieselben sich auch bei der Anpassung des Knochens au neue A'erhältnisse , besonders als Yov- stufen der Vollendung oft vorfinden. Das betrifft nach der vom Ref. gegebenen (s. S. 702 — 710) vollständigen analytischen Ueber- sicht aller Formen von „structurellen Elementar- [4] theilen" the Knochenröhrchen (Tubuli ossei) und von „Forma- tionen der Spongiosa" dem entsprechend die Spongiosa tubulosa, ferner die rundmaschige , bei Wechsel der Beanspruchungsrichtuug nöthige Spongiosa globata und ovata, sowie die Spongiosa inordiuata. Nach der normalen Kuochenstructm* erörtert Wolff die Trans- formationen der inneren Ai-chitectur und der äusseren Gestalt der Knochen. Er berührt dabei kurz die normalen Gestaltumbilduugen , um danach eingehender „diejenigen Abänderungen der Form und Archi- tectur in's Auge zu fassen, welche eintreten, wenn die Knochen, sei es eines jugendlichen oder erwachsenen Individuums, unter ^'el•hält- nissen functiouiren, welche von der Norm abweichen". Er theilt diese, zuerst von ihm richtig gedeuteten Aeuderungen ein in „Umänderungen der Ai-chitectur und Form, welche bei patho- logischen Aenderungeu der Knochenform in Folge der dadurch lieding- ten Aeuderungen der Function entstehen, und in solche, welche blos durch geänderte Inanspruchnahme der Knochen hervorgerufen werden". In beiden Fällen entstehen bei genügend lauger Zeit die diesen neuen Functionsweisen entsprechendsten äusseren Formen und inneren Struc- turon. Er resumirt : Functionelle Orthopädie. 731 „Dieser Betrachtuiij;' koiuüit eine grundlegfiule Bedeutung für die Lelu'e von den Deformitäten zu. Indem nämlicli die Natur in der soeben beschriebeneu Weise verfährt, indem sie bei blossen Störungen der Inanspruchnahme eines Knochens die Form desselben abändert, erzeugt sie dasjenige, was wir eine Deformität, und zwar eine Deformität im engeren Sinne des Wortes nennen." ,,Wir haben fortan in diesen Deformitäten uielits anderes zu sehen, als den Aus- druck der ,.funetionellen Anpassung" der Knochen an die veränderte statische Inanspruchnahme des deformen Gliedes." Darauf folgt dann die wichtige Anwendung dieses, das Zweck- mässige schaffenden Gestaltungsprincipes zur Heilung von Deformi- täten durch geeignete absichtlich herbeigeführte Abänderungen der statischen Inanspruchnahme der Knochen, ein Princip, dessen gescliick- ter Verwerthung der Verfasser ungeahnte practische Erfolge auf dem Gebiete der vom Ref. sogenannten ,,f unctionellen Orthopädie" s. IIS. 160) verdankt. Die Besprechung dieser Erfolge bleibt dem Fachmann vorbehalten. WoLFF bringt dann in der specielleu Beschreibung und Deutung- zahlreicher, in der angegebenen Weise naturgetreu abgebildeter, aus- gezeichneter Beispiele von in diesem Sinne veränderten Knochen ein reiches B e w e i s m a t e r i a 1 für die "Wirksamkeit der vorher erörterten Principien. Darauf schreitet Wolff zur Erklärung der Umänderungen weiter und schliesst sich dabei der vom Kef. aufgestellten Theorie der f u n c t i o n e 1 1 e n A n p a s s u n g an (s. Nr. 4), welche auf der trophischeu Wirkung der fuuctionellen Reize (bei den Muskeln auf der tropliischen Wirkung der Vollziehung der Function) beruht. Den Knochen an- gehend, besteht diese Wirkung nach den Darlegungen des Ref. darin, dass durch die bei der Tragfunction des Knochens in dem- selben entstehenden Zug- und Druckspannungen, also molecularen Erschütterungen, die der Knochensubstanz anliegenden resp. eingefügten specifischeu Zellen zur KnochenbiMung (Apposition) angeregt werden; während an den Stellen, wo solche Spannungen lange Zeit ausbleiben oder nur in geringer Intensität stattfinden, Resorption des Knochens, 732 Nr. 10. Referat über J. Wolff's „Transformationsgesetz der Knochen*. I n a c t i V i t ä t s a t r o ]) h i e desselben stattfindet. An den b ei A e n- d e r u u g d e r F u n c t i o n eines Kiiochens resp. Ivnochen- [5] bälkchens, -ßliittcliens oder -Röhrchens stärker belasteten Stellen desselben wird also Kuochenanbildung, an den entlasteten Stellen Schwund eintreten und so allmählich der Knochen eine der neuen Function entsprechende Structur und Gestalt erlangen (s. II S. 221). Das Specielle betreffende Abweichungen Wolff's von dieser Auffassung werden weiter unten erwähnt werden. WoLFF gedenkt zunächst, historisch vorgehend, einiger eigener bezüglicher Aeusserungeu, welche er als ^'orläufer meiner Auffassung betrachtet. Er sagt S. 76: ,,Allc tStott'zuuahme des Knochens und ebenso aller Schwund von Knochensubstauz ist (NB. beim erwachsenen Individuum) ausschliesslich von den statischen Bedingungen abhängig, unter welchen der Knochen sich befindet." Diese etwas unbestimmte Auf- fassung erhält genaueren Inhalt durch die folgenden Worte: „Das Agens dieses Abhängigkeitsverhältnisses ist bei physiologischen Zuständen das Streben zur Erhaltung der Function, d. i. der statischen Diensttauglichkeit des Knochens , bei pathologischen Knochenkrüm- mungen das Streben zur Wiederherstellung der Function. Hier ist also die erste Idee dessen , was Roux .später treffend den trophischen Reiz der Function genannt hat, von mir ausgesprochen worden." Die vorstehend durch gesperrten Druck markirten Worte Wolff's kann ich jedoch nicht billigen; und dass ein ,, Streben" zur Erhaltung oder zur Wiedorhci-stellung der Function in den Knochen vorhanden sei, steht in directem Gegensatze zu der von mir gegebenen, rein mechanischen Erklärung, [nach welcher sogar für das „ganze Individuum" unzweck- mässige, ja nachtlieilige Bildungen in Folge der functionellen Anpassung entstehen (s. S. 352), sofern der Knochen unter ab- norme Functionsbedingungen gebracht wird und daher diesen sich an- passt. Von einem im Knochen selber liegenden, sei es auch mecha- ni.schem „Streben zur Erhaltung und Wiederherstellung" der Function etwa vergleichbar d er „Regeuerationsfähigkeit" niederer Thiere ist beim „Menschen" nach Ablauf der embryo- nalen I'eriode selbstständiger inmununter Bilduu"-skräfte f Im Knochen ist kein , Streben' zur Erhaltung der Function. 733 nichts zu bemerken; sondern der Knochen formt beim Krwaciise- nen l>los mechanisch unter den äusseren Einwirkungen, ihnen sich anpassend. Dies geht schon daraus hervor, dass bei vollkomme- ner Ruh igstellung durch zu gut liegenden Verband die Heilung derFractureu verzögert wird, während selbststündigesRegeue- rationsbestreben dabei gerade sich am besten bethätigen könnte.] Zugleich sei ein kleiner historischer Irrthum berichtigt. Wolff nimmt an, dass meine Schrift über den Kampf der Theile im Organismus auf Anregung oder unter Verwendung von du Bois- Reymond's Rede über die Uebung entstanden sei; mein Buch erschien jedoch am Anfang Februar desselben .Jahres, in dessen Monat August du Bois-Reymo\d seine Rede über die Uebuug hielt; auch citirt du Bois-Reymoxd, wenn auch nicht meine Schrift selber, so doch ein bereits erschienenes Referat über dieselbe. Ueber die histologischen Vorgänge bei der functionellen Kuochen- umformung hat Wolff keine Untersuchungen angestellt; er musste sich daher mit dem Hinweis begnügen, dass sie noch unbekannt sind und citirt eine bezügliche frühere Aeusserung von sich des Inhaltes, „dass die neu entstehenden Knochen partien sich aus jedem behe- lligen Bindegewebe bilden können und müssen, welches zufällig au irgend einer Stelle liegt, in welche die „Richtungen" des durch die ver- änderte Inanspruchnahme veränderten Druckes und Zuges fallen." Der erste Theil dieses Satzes bedürfte, wie mir scheint, zunächst eines Beweises und der zweite Theil ist in dieser Formulirung sicher un- zutreffend. \"erfasser bespricht dann im vierten Abschnitt des Buches die Ursachen der Knochenformen, zunächst historisch, dann kritisch. Dieser Kritik kann icli nicht überall zustimmen. So wird z. B. als „wesentHch zutreffend" die Auffassung Reichert's bezeichnet, dass im sich entwickelnden Organismus sich die Bestandtheile über- all in gegenseitiger genauer Berührung finden, dass gleichwohl aber von einer mechanischen Einwirkung aufeinander nicht die Rede sein könne. Die ältere Auffassung, dass vermehrter Druck wachsthumhem- 73i Nr. 10. Referat über J. Wolff's ,Transtormationsgesetz der Knochen". raend, Druckentlustung wachsthuuiföi'denid wirke, die Wolff kurz als Drucktheorie bezeichnet, wird von ihm total verworfen. Dies geschieht ohne Rücksicht darauf, dass (nach Meinung des Ref.) in der jugendlichen Periode des selbstständigen Knorpehvachs- tliunis mid der diesem nachfolgenden Knocheubildung'), diese Annahmen [6] wohl zutreffend sein werden, und dass der Wider- spruch daher gegenwärtig nur auf die Periode des functiouell ausgelösten Knochen wachs thums (s. S. 348), und zwar noch dazu blos des nicht „einem vorausgegangenen Knorpelwachsthum nachfolgen- den"^), sich zu beschränken habe; danach gilt die von Wolff vertretene entgegengesetzte Ansicht schliesslich blos 'für die nicht ,,in Richtung" des Druckes und Zuges selber, son- dern in ,. rechtwinkelig" dazu stehender Richtung erfolgende 1) Auf diese Weise werden auch die Gclenkformen der Knochen hervor- gebracht. Ueber die besonderen Momente, welche dabei noch betheüigt sind, habe ich mich auf der Naturforscherversammhuig zu Wien, Sept. 1S94 (Verhandlungen der Ges. d. Naturf. u. Aerzte, 2. Theil, Bd. 11. S. .365), in der Discussion zu dem Vor- trage des Herrn Dr. Boegle über die geometrische Entstehung der Gelenkfornien in folgender Weise geäussert, was, meine frühereu Ausführungen (S. 354 u. 376) etwas ergänzend, hier mitgetheilt sei: „W. Rmx bemerkt, dass die Ableitung der Gelenkformen durch Herrn Bokgi.e keine Beziehungen zur wirklichen Genese der.selben. weder zur Onto- noch Phylo- genese habe. Es sind keine festen Erzeugungslinien vorhanden, durch deren Bewegungen bestimmte Gestaltung von Gelenktheilen erzeugt würde; sondern Kopf und Pfanne passen sich gegenseitig an einander au. Die Gelenkform ist abhängig von den immanenten Wach st hu nisten denzen der Scelettheile (des Knorpels) und von der Anordnung der sie gegen einander bewegenden Muskeln, wie Rui'X schon durch Experimente ermittelt hat. Scelettheile und Muskeln wirken beide auf einander anpassend. Kugelgelenke finden sich blos da, wo die Muskeln derartig angeordnet sind, dass sie Bewegungen um unendlich viele Axen hervor- bringen; die Spiral- und Schneckenformen sind dadurch bedingt, dass unsere Muskeln nicht zu vollkommenen Antagonistengruppen geordnet sind, sondern dass die Antagonisten etwas schief zu einander oder excentrisch gerichtet sind. Onto- genetisch ist die Hauptform der Gelenke vererbt und entsteht ohne Muskel wirk un g: aber die feinere Ausgestaltung und besonders die , An- passung' bei „Variationen" der Scelettheile oder der Muskeln erfolgt durch die Muskel Wirkung bei Bewegungen, aber weniger durch Abschleifen als durch Druck, indem an den Stellen stärksten Druckes das Wachsthum des Knorpels ge- hemmt wird, an Stellen geringeren Druckes stärker stattfindet, bis gleicher Druck auf den verschiedenen Stellen derselben Fläche hergestellt ist." [ä) Bezüglich dessen siehe die Erörterung über Eutstehung der keilförmigen Gestalt der Wirbelkörper bei Scoliose. II. S. 48 Anm.] » Indirecte Hemmung des Knoclienwachsthums durch Druck. 735 Anbikluiig von Knochen. Ferner lehlt die weitere vom Ref. formvilirte Beschränkung (s. Hofm.\nn-Sch\vai,be's Jahresber. der Ana- tomie 1887, S. 7(;ö, Roix' Referat über Kraus), dass der Knochen blo.s an den mit ..Knorpel" bedeckten Fläelien starken Druck „dauernd" aufzunehmen vermag; während an Stellen, wo viel schwächerer Druck dauernd auf mit „Periost" oder ,, Endost" bekleidete Flächen stattfindet, Schwund des Knochens an dieser Druckaufnahmefläche die Folge ist, sofern die Grösse des Druckes nicht eben unter einer gewissen Grenze liegt, so z. B. nicht geringer ist als der mittlere Blutdruck in der Vena jugularis interna am Foramen jugulare, dessen Weite bei gesteigertem Druck vergrössert wird. Bei der beabsichtigten „mathematischen" Widerlegung der Druck- theorie kommen als Beweismaterial mehrere mir nicht zulässig schei- nende Begründungsweisen vor, so: „Seit Culmann's Entdeckung der Analogie des ^'erlaufes der Bälkcheu in der spongiösen Knochenregiou mit den Richtungen der Druck- und ZugUmen der graphischen Statik wissen wir, dass ver- meln-ter Druck die Knochensubstanz uiclit zum Schwunde, sondern im Gegeutheil zur Ausbildung bringt, und dass das Maass der Anbil- dung an jeder einzelnen Stelle direct proportional der Stärke des Belastungsdruckes ist, weil in dem Grade, in welchem der Druck verstärkt wird, mehr Material erforderlich ist, um dem Druck Widerstand leisten zu können." „Wir mssen , dass eine Druckent- lastung nicht Anbildung, sondern im Gegeutheil Schwund von Knochen- substanz bewirkt, weil an den vom Druck entlasteten Stellen die Kuochensubstanz statisch überflüssig sein würde". Diese causalen Ausdrucksweisen sind nicht correct. Verfasser spricht ferner ganz allgemein aus, dass die Stellen stärksten Druckes und dem entsprechend stärkster Knochenanbildung fern von den Berührungspuncteu des belastenden und belasteten Knochens lägen; dies gilt jedoch blos für die Spannungsver- theilung, bei Biegungbeanspruchungeu und ist bei reinen Druck- oder Zugbeanspruchungen anders, oft geradezu umgekehrt. Dieser Irrthum wird dann auch bei der Erörterung der Folgen von Abwei- 736 Nr. 10. Referat über J. Woi.ff's „Transformationsgesetz der Knoclion'. chuiigen der Druckstellen von der Norm verwendet, obgleich bei Aenderung selbst einer Biegungsbeauspruchung die Aenderung der Druck- und Zugvertheilung in der Nähe der geänderten Druckauf- uabmeüäche am stärksten ist. Darauf erörtert Wolff die vom Ref. sogenannte ..fnnctioneUe GestalV (s. II, S. 213, I, S. 361, 436, (i'.lO, 700 und 763) der Knochen, deren Princip Wolff schon vorher annähernd erkannt und ausgesprochen hatte; er verweist dai'aui', dass nach seinen pathologischen Präparaten solche einer Function entsprechende Ge- stalt aucli in ganz neuen ^Verhältnissen entstehen kann. Zugleich wird die Absicht Hoffa's, an .Stelle der Bezeichnung ,,functionelle Gestalt" die für den Knochen vom Ref. als Synonym gebrauchte Bezeichnung: ,, statische Gestalt" einzuführen, ,,weil die der statischen Inanspruchnahme entsprechende Knochenform sich auch an den Knochen gelähmter und somit nicht functionirender Glieder herausbildet", zurückgewiesen. Ich ersehe aus dieser Aeusserung Hoffa's, dass derselbe meine Bezeichnung ,,functiünelle Gestalt" missdeutet hat; denn sie bezeichnet nicht blos die An]>as- sung der Knochengestalt an das Fungireu des ,, ganzen" Gliedes, also an die ,,Thätigkeit" der [7] Muskeln und an die mit ihrer Hülfe hervorgebrachten ,, Belastungen", sondern sie bezeichnet dasFungireu des Knochens an sich (s. S. 120); vuid dies findet auch an gelähmten Gliedern durch Span- nung und Schwere umgebender Theile statt (s. S. 294, 7(il). Da aber die Function der Knochen als Stützorgane stets eine statische ist, so können wir in diesem Sirme von einer statischen Gestalt und Structur der Knochen reden; wie Ref. im Unterschied dazu bei Hohlmuskeln von einer ,, dynamischen" Gestalt und Struc- tur gesprochen hat. Für alle bezüglichen Organe passend hat Ref. deshalb den allgemeinen Namen der „fuuctionellen" Structur und Gestalt eingeführt und damit bezeichnet, dass Structur und Gestalt bei diesen Organen v o 1 1 k o m m e n der besonderen Function derselben angepasst sind; dass „Gestalt und Structur somit rein der Ausdruck der specifischen Function dieser Ge- bilde sind (s. S. 357, 436, 462, 678). Abweichungen von der functionellen Gestalt und Structur. 737 Dies ist aluT nur lu'i «(.'ui gen Organen (z. B. den Fnss- mal Ilanilwurzelknoehen, den Plialangenknochen, den Gelii)ri. keine rein functionelle Gestalt, da sie statt des ihrer l''unction entsprechenden mehr elliptischen Querschnittes durch den Druck der anliegenden Muskeln einen dreieckigen Querschnitt erhalten hat. Trotz dieser nicht functionellen Gestalt fungirt sie aber voll- kommen gut; blos unter Aufwand von etwas mehr Knochensubstanz als bei vollkommen fuuctioneller Gestalt nöthig wäre ; und die Structur passt sich dann dieser Gestalt und der dadurch bedingten Druck- und Zugvertheiluug vollkommen an. Aeussere Abweichungen von der ,, functionellen Ge- stalt"' der Knochen sind überwiegend häufig. Doch kom- men, wie ich beobachtet habe, auch innere Abweichungen vor. So ist beim Rind und Schaf che Mark höhle, besonders stark in den Phalangen- und Metatarsuskuochen, auf Kosten der rein statischen Struc.tur entwickelt; und stellenweise findet sich daher sogar nach innen von der Spougiosa eine Lage Com- pacta. Ich vermuthe, dass diese Abweichungen von der statischen Structur durch die festere Consistenz des Knochenmarkes oder viel- leiclit noch zugleich durch eine besondere Function desselben, welche seine Vermehrung nöthig macht, bei diesen Thieren bedingt sind. Beim Schwein und Pferd, welche gleich uns weiches Knochenmark haben, findet sich dies Verhalten nicht; sondern beim Pferd ist umgekehrt eine Markhöhle selbst in der Tibia kaum vor- handen, wofür ich die Ursache in den heftigen Stössen, W. Rous, Gesammelto Abbandlangen. I. 47 738 Nr. 10. Referat über J. Wolff's , Transformationsgesetz der Knochen". * welche ihre Richtung strenger fortpflanzen, vermuthe (siehe S. 710 Anni.); aucli kommt bei verschiedenen Menschen eine grössere oder geringere Ausdehnung der Markhöhle vor; Ver- schiedenheiten, die ich auf die Gewohnheiten ruhigeren Gehens resp. häufigeren Spriugens zurückführen möchte. Eine durcliaus anders bedingte Abweichung von der f un et i Quellen inneren Gestalt resp. Structur lindet sich nach meiner Auffassung bei Sirenen, indem deren Knochen im Bereiche der Diaphyse in grosser Ausdehnung durch und durch compact sind, also der Spongiosaund MarkhöljJe entbehren (z. B. Rhytina, Halitherium Schinzi) [s. S. 442], während an anderen Stellen desselben Knochens, z. B. an dem vertebralen Ende der Rippen [8] des Halitherium, wie ich spätei- wahrzunehmen Gelegenheit erhielt, eine Spongiosa mit deutlicher, wenn auch nicht .sauber ausgearbeiteter f unctioueller Structur vorhanden ist. BeiHalicore ist die Compacta des Rippenkörpers zwar noch ausserordentlich dick, umschliesst aber schon eine Spongiosa, die am vertebralen Ende vollkommen functionelle Structur besitzt. Dieses von dem unserer Knochen abweichende \'erhalten scheint mir dadurch bedingt, dass bei ersteren Thieren trotz des Vorkommens von Knochenresorption, wie sie schon am einzelnen Organ in der Bildung der Canäle für die Einlagerung der vorhan- denen secundären Haverischen Lamellensysteme sich bekundet, der Mechanismus der luactivitätsatrophie der Knochen, d. h. des Auflösens entlasteter Knocheusubstanz , noch kaum ausge- bildet ist. BeiHalicore ist dieser letztere Mechanismus da- gegen wohl schon viel thätiger. wenn schon er in seinen Leis- tungen weit hinter denen bei uns zurückbleibt. Dagegen ist aus der f unctionellen ,, äusseren" (icstalt von Knochen der Sirenen zu schliessen, dass wenigstens das Princip der Acti- vitätshypertrophie gut thätig ist. Es fehlt also den Knochen der Sirenen noch in höherem oder minderem Maasse das zur Her- stellung einer leistungsfähigen Structur mit dem Minimum an Material nöthige „Gleichgewiclit zwischen der Activitäts- hypcrtroi)hie und der luactivitätsatrophie", resp. das nöthige \'^erhältniss der Wirkungsgrösse l)eiiler Principien. Zeitliches der functionellen Knochenanpassung. 739 Diese häufigen Abweieliuugen von der rein functionellen Gestalt und Struetur hekumlen, dass die normale Knoohenform nicht die , .einzig mögliche" für die normale Function ist. Im fünften Abschnitt spricht Wolkk von der ,, Transformations- kraft" und ihrer Verwerthung als einer „therapeutischen Kraft". Diese Kraft detinirt Wolff folgendermaassen: „die Kraft, mittels welclier sie also, je nach der gescheheneu Abänderung des Gebrauches und Nichtgebrauches ein Jfal die normale Form und Architectur der Knochen in eine abnorme, und das andere Mal umgekehrt die abnorme in eine normale umwandelt, nennen wir die Transformationskraft im weiteren Sinne des Wortes". An anderer Stelle nennt er sie eine ,, Naturkraft", die die Knochen zu gestalten vermag. Als Theoretiker kann ich dieser Bezeichnung in keiner Beziehung zustimmen. Von einer besonderen umbildenden Kraft kann hier nicht gesprochen werden; und Wolff würde dadurch mit seinen früheren Aeusserungen in Widerspruch gerathen , in denen er sich meiner Theorie der functionellen Anpassung angeschlossen hat. Ich nehme also an, Wollf hat mit dieser nicht passenden Bezeich- nung blos einen Hülfsausdruck zu geben gewünscht, um in Kürze von der Grosse der Leistungfähigkeit des functionellen An- passungsvermögens sprechen zu können. Diese Grösse scheint Wolff sehr zu überschätzen, indem er sagt: ,,Die Transformatious- kraft ist aber eine therapeutische Kraft von unermesslicher Grösse. Ich nenne sie unermesslich gross, weil es ihr gegenüber keinen Wider- stand giebt". ,,Der Härtegrad des Knochens, seine Elasticität, seine ( 'omprimirbarkeit, seine Dehnbarkeit und seine Altersverhältnisse kommen dieser therapeutischen Kraft gegenüber ganz und gar nicht in Betracht. Der allerhärteste Knochen der Erwachsenen verhält sich ihr gegenüber nicht anders als der Ivnocheu des Kindes, ja man darf bildhch sagen, nicht anders als wäre er von Wachs". Es felilt gegenwärtig noch sehr zu Bestimmungen über die Zeit, welche zur Ausliildung neuer functionellcr Knochenstruc- turen nöthig ist; aljer schon auf (irund meiner eigenen wenigen Erfahrungen kann ich [9] sagen, dass die Zeiten sehr ungleich sind, 47* 740 Nr. 10. Referat über J. Wolff's „Transformationsgesetz der Knochen". und dass die Umarbeitung compacter Kuocheusubstanz viel- mal melir Zeit erfordert, als die der spongiösen Substanz. Im sechsten Abschnitt zielit Wolkf weitere Schlussfolgerungen aus den Thatsachen der functionollen Anpassung der Knochen. Er weist darauf hin, dass die bei der functiouellen Anpassung stattfin- denden inneren Structuränderungen die Irrthümliclikeit der Fi.or- RE.\s'schen Auffassung von der „Passivität" der fertig gebildeten Tela ossea darthuu. Aber Wulff geht nach der Richtung der Acti- tivität der fertigen Tela ossca meiner Meinung nach zu weit mit der Aeusserung: ,, Das Transformationsgesetz zeigt, dass jedes kleinste P a r t i k e 1 c h e n , sei es an der Oberfläche oder im Innern des Kno- chens gelegen, innerhalb der Bälkchen der Spongiosa oder inmitten der Lamellensysteme der compacten Kuochenregiou , während der ganzen Lebensdauer des Individuums eine absolute Beweglich- keit beibehält, bestehend in einer den mathematischen Gesetzen folgenden, uubechngten Anpassungsfähigkeit au die statische Inan- spruchnahme, welche der Gesammtknochen beim Functioniren erfährt, d. i. in der vollkommensten Keactionsf ähigkeit auf jede noch so g e r i n g e V e r ä n d e r u n g d i e s e r I u a n s p r u c h n a h m e." Dass jedes einzelne Partikelchen der gebildeten Knochen eine Anpassungsfähigkeit, eine entsprechende absolute Be- weglichkeit habe, möchte ich nicht so allgemein, sondern nur bezüglich des Vermögens, bei dauernder Entlastung resorbirt zu werden, vertreten. Und dass die vollkommenste Reactionsfähig- keit auf jede noch so geringe \'eränderung der Inanspruchnahme vorhanden sei , kann ich auch nicht bestätigen , denn nach meiner Erfahrung ist der U m b i 1 d u n g s )i r o c e s s ein ziemlich lang- samer; und früher dienende, jetzt uuzweckmässige, ü]>erf lüs.'^ige K noch entheile können Jahre lang bestehen bleilien, ehe sie ganz dem Schwunde verfallen .sind. WoLFF fährt fort: ,,Es konnte — mit anderen Worten — fest- gestellt werden, dass jedes kleinste Partikelchen in jeglichem Moment bereit ist unterzugehen, solmld es durcii irgend eine Aenderung der Inanspruchnahme des Gesammtknochens statisch üjter- flüssig geworden ist, und dass andererseits in jeglichem Moment an Nutzen der Laagsamkeit der Inactivitätsatrophie der Knochen. 741 jedem beliebigen Kiiochenpunct, d. h. also aueli mitten in den micro- scopischen Lücken, in den Knochenkörperchen nnd in der Inter- cellularsubstanz der fertigen Tela ossea neue Knoclieupartikelchen entstellen, sobald das Vorhandensein derselben durch irgend eine Aenderung der statischen Verhältnisse erforderlich gemacht worden ist." Danach müssten unsere Knochen ihre ({estalt und Structur jeden Tag mehrmals gänzlich umändern, je nachdem wir gerade sitzen, liegen, stehen, in der rechten oder linken Hand tragen etc. Es scheint mir doch sehr zweckmässig, dass dies nicht „festgestellt" worden ist, und dass daher die Theile nicht gleich verschwinden, sobald sie durch irgend eine Aenderung der Inanspruchnahme zeitweilig über- flüssig geworden .sind denn wenn während einer Art der Thätigkeit alle zu derselben nicht gebrauchten Knocheutheile gleich schwinden würden, wäre wohl zu befürchten, dass sie beim Ueliergange von einer Körperhaltung zur anderen nicht rasch genug wieder neu gebildet werden könnten. Es ist entschieden besser, dass der Knochen auch bei längerer partieller ünthätigkeit noch den früherer Thätig- keit angepassten Bau behält, und dass er somit nicht blos einer einzigen jeweiligen Functionsweise und Grösse, son- dern einer ganzen Reihe solcher sich wiederholender Func- tionen angepasst ist und bleibt, wenn wir schon [10] dabei stets etwas Knocheusubstanz mittragen müssen, die im Moment gerade nicht nöthig ist ; wie es ja mit den Muskeln und allen anderen, gleich- falls der functionellen Anpassung fähigen, also der Activitätshyper- trophie und der Inactivitätsatrophie unterliegenden Organen glücklicher Weise auch der Fall ist. Ebensowenig ist durch die functionelle Anpassungsfähigkeit der Knochen ,, festgestellt", dass „mitten in den microscopischen Lücken in den Knochenkörperchen und in der Intercellularsubstanz der fer- tigen Tela ossea neue Knoclieupartikelchen entstehen". Wolff dagegen erklärt den aus der functionelleiv Anpassung der Knochen gezogenen i^chluss auf interstitielles s. expansives Wachsthum unter allen bezüglichen Beweisen für den sichersten und als für sich allein 742 Nr. 10. Referat über J. Wolff's „Transformationsgesetz der Knochen". schon ausreichend. Wir haben aber oben gesehen, dass die Theorie des Ref. ganz ohne diese Annahme auskommt. WoLFF stellt nun auch das andere Beweismaterial für e rpansives Knock enwachsthum zusammen und bringt selber zu seinen vielen frülieren noch einige weitere, vermeinthch beweisende Experimente. Zunächst Wiederholungen des du HAMEL'schen Versuches mit einem aussen uin einen Röhrenknochen gelegten Ring, deren Ergebnisse nach ihm nur durch Annahme einer Dickenexpansion der Diaphyse zu erklären sind. Ich halte dagegen Wolff's Inter- pretation nicht für die einzig mögliche. Was zunächst die von ihm beobachtete besondere Verenge- rung der Markhöhle in der Gegend des aussen liegenden Ringes durch K nochenneuliildung angeht, so braucht diese nicht nach Wolff durch einen, vom aussen liegenden Ring aus- gehenden, also durch den Knochen hindurch auf die Innenfläche sich erstreckenden Reiz bedingt zu sein; sondern sie lässt sich, obgleich sie etwas abweichende Beschaffenheit besitzt, vielleicht als Folge func- t i 0 u e 1 1 e r H y p e r t r 0 p h i e d e u t e n . Diese würde dadui'ch hervorgerufen sein, dass, so lange der Ring noch nicht auf seiner Aussenseite von Knochensubstanz überlagert ist, der Knochen an dieser Stelle ent- sprechend dem Gesammtwachsthum also der Gewichtszunahme des jugendlichen Thieres stärker in Anspruch genommen wird, ohne dass dieser verstärkten Function durch Verdickung des Knochens von aussen her, wo die Beanspruchung am stärksten ist, in Folge des daselbst anschliessenden Ringes , durch Anlagerung entsjirochen werden könnte. In Folge dessen steigert sich die Beanspruchung im ganzen Querschnitt mit zunehmendem Gewicht des Thieres so, dass auch innen stärkere Spannungen stattfinden, die die anliegenden Osteoblasten zur Thätigkeit anregen. Dass diese ueugebildete Sub- stanz später wieder schwindet, nämlich wenn bereits längere Zeit nach aussen vom Ringe die Continuität hergestellt ist, führe ich auf die alsdann im Innern stattfindende Entlastung, also auf Inactivitäts- atrophie zurück; luid dass diese Atrophie nach Wolff bei manchen Thieren (Kaninchen) rascher als bei den anderen (Kall)) vor sich geht, hat nichts Verwunderliches. Gegen expansives Knochenwachstlium. 743 Die von WoLFF sogenannte Einbiegung des Knochens an der Stelle des Ringes deutet er als eine Hemmung des expansiven Wachsthums durch den aussen aufliegenden, geschlossenen Drahtring, widn-end an den benachbarten Stellen diese Expansion vor sich gehen konnte. Woi.ff theilt mit, dass die HAVERs'schen Lamellen der Ein- biegungsstelle continuirlich in die Lamellen der oben und unten angrenzenden, mehr aussen liegenden Theile übergehen ; was iür eine Umformung durch Biegung der früher schon vorhandenen Lamellen spreche. I^eider giebt er nur eine einzige vergrösserte Abbildung einer solchen Stelle und zwar eine mit der Hand gezeichnete und dann erst durch Lichtdruck vervielfältigte, und ausserdem von einem Objecte, an welchem nach aussen vom Ring bereits eine dicke, trag- fähige Knochenschicht gebildet ist, so dass [11] an der Knochensub- stanz nacli innen vom Ring bereits Resorption anzunehmen ist und auch von Wolff selber angegeben wird. Diese wichtige Stelle, von deren feinstem Detail allein die ganze Deutung des Versuches abhängt, müsste durch eine ganze Reihe genauester, wo möglich microphotograpliischer Alibildungen aus verschiedenen Stadien des \"orgauges dargestellt werden; denn der kleinste Irrthum des Zeichners kann hier die wesentlichen Charak- tere verwischen. Die gegebene Abbildung ist aber als nicht genau wohl schon dadurch gekennzeichnet, dass die äusserste an einem Ende weit abgebogene imd von Wolff als abgehobenes Periost bezeichnete Lamelle in der einen Hälfte ihrer Länge als lamellöses Knochenge- gewebe dargestellt ist. Bei meiner Annahme der Erweiterung der oberhalb und unterhalb des Ringes gelegenen Stellen statt durch Expansion durch äussere Auflagerung und innere Resorption würden durch die continuirliche Fortpflanzung des Druckes und des Zuges fortwährend innigere, mehr tragfähige Verbindungen zwischen den neugebildeten äusseren und den nach innen vom Ring liegenden Lamellen hergestellt werden; dies würde durch Anlagerung unter^'er- wendung des Raumes H.WERs'scher Kanäle geschehen, welche letzteren eben dadurch für die Möglichkeit innerer Archi tecturumänderungen von der grössten Bedeutung 744 Nr. 10. Referat über J. Wolff's „Transformationsgesetz der Knochen'. zu \v e r d e n v e r möge n. Durch diese secundären \'crbindungen müssen aber gleichfalls bogenförmige Uebergänge zwischen den inneren und diesen äusseren Lamellen entstehen; und sobald nun, nach genügender Herstellung einer Continuität der Knochensul)stanz nach aussen vom Ring, durch die entsprechend zunehmende innere Entlastung innen, d.h. von der Markhöhle aus Resorption stattfindet, werden gleichzeitig diese Bogen noch sauberer ausgebildet werden, da in Richtung der Bogen noch Druckfortpflanzung längere Zeit statt liat und also zunächst nur zwischen ihnen liegende Theile entlastet und daher resorbirt werden. Die Verhältnisse dieser Stelle sind also äusserst complicirt; und die Entscheidung wird schliesslich nur unter genauester Berücksichtigung der Stellung der einzelnen Knocheukörperchen mög- lich sein. Da nun Wulff der Complicirtheit dieser Verhältnisse in seiuer Darstellung nicht gedacht hat, so ist wohl anzunehmen, dass .sie auch bei der Besichtigung und Deutung der Präparate nicht genügend berücksichtigt worden ist. Die spätere äussere Ueberdeckung des Ringes mit Knochensubstanz braucht gleichfalls nicht unbedingt im Sinne von AVoLFF geschehen zu sein, welcher sagt: ,, Damit nun der Knochen wieder functionsfähig werde, haben sich im zweiten Stadium — während die Einbiegung noch fortbestand — zur Aus- füllung der Rinne an der periostalen Knochenoberfläche neue Knochen- massen gebildet. Diese neuen Knochenmassen, die also nicht etwa der FLovREXs'schen unausgesetzten appositionellen Thätigkeit des Periostes, sondern vielmehr dem Rorx'schen ,,trophischen Reiz der Function" ihre Entstehung verdanken, charakterisiren sich durch den normalen gradlinigen \'erlauf ihrer Gefässe und Lamellen und durch ihre nor- male Färbung, als eine functionelle, statische, rein physiologische Bildung. Die .\hisse ist aufzufassen als die Summe einer Reihe von Lüngsbälkchen, die sich zu compacter Knochenmasse verdichtet haben, wie es für die betreffende Knochenstelle im Dienste der Function naeli den (iesetzen diT Statik erforderlicli war. Das sogen. „Hinein- wandern" des Ringes geschiilit also ..durch complicirte und merk- würdige Vorgänge, in denen wir das wunderl)are Walten des- Gegen expansives Knochenwaclistlium. 745 selben Gesetzes erkannt liabcn, welches im nonmikni nnd patholoj>i- scheu Zustande alle niacroscopischen und microseopischen \'ei'hältnisse der Knochen beherrscht". [12] Ich halte nicht für bewiesen, dass die äussere Ueberdeckung des Ringes geschehe, „damit" der Knochen wieder functionsfähig werde, und dass diese Ueberdeckuug in ihrem Anlange durch das von mir zur Erklärung der functiouellen Anpassung aller Organe ver- wendete Princip der trophischen Wirkung der functionellen Reize ver- mittelt werde. Letzteres deshalb nicht, weil aussen, una:ittelbar neben dem Ring i'unctionelle Reize weder auf Knochensubstanz noch, in Form von Druck, auf Bindegewebe wirken können, da hier die Knochensubstauz in Richtung des Druckes oder Zuges unter- brochen ist und daher au dieser Stelle kein Druck oder Zug auf sie stattfinden kann, selbst wenn die Knochensubstanz dem Ringe an dessen Rändern so eng anläge, dass dieser mit zur Fortpflanzung des Druckes verwendet würde. Andererseits kann das dem Ring aussen anliegende Bindegewebe gleichfalls nicht gedrückt werden. Zwar könnte Zug in minimalem Riaasse auf dasselbe ausgeübt werden; doch haben Säugethiere wohl weder nor- maler noch pathologischer Weise wirklichen reinen ..Zikj- Jinochen'\ d. h. Knochen, welcher blos auf „Zug", gar nicht auf Druck in Anspruch genommen wird, und daher auch durch Zugwirkuug auf Bindegewebe aus diesem entstehen könnte; obschou solcher Knochen bei Vögeln als Sehneukuochen sehr verbreitet ist. Die erste feinste Knochenanlage oder Stange, welche den Ring aussen überdeckt, muss demnach anderer Ursache ihre Entstehung verdanken, sei es der selbstständigen nicht functionellen Knochen- bildung seitens des jugendlichen Periostes, welches nach der, unter oder neben dem Ring, stattfindenden Unterbrechung desselben jeder- seits mit einem freien Rande endigt, oder auch einer Knochenbildung, die durch die reizende Wirkung des Ringes in dem ihm anliegenden Periost veranlasst wird. Ist aber erst ein Mal eine aucli nur äusserst feine Continuität von Knochensubstauz ülier die ganze Breite des Ringes nach aussen von ihm an einem Theil der Peripherie gebildet, dann kann das Princip der 746 Nr. 10. Referat über J. Wolff's ,Transforraation8gesetz der Knochen". tropliischen \\'iikiing des f unctioiiellen Reizes voll zur Geltung kommen und rasch seitliche weitere Ausbreitung und Ver- dickung der äusseren Verbindung bewirken, da gerade die äusserste Substanzlage „langer" Scelettheile (s. S. 689 Anm.) am stärksten ge- drückt und gedehnt, also am stärksten molecular gespannt wird, wo- durch nach meiner Aniialnne, die anliegenden Osteoblasten und vielleicht auch die Tela ossea selber zu weiterer bil- dender Thätigkeit angeregt werden. AVie die Wiederholung des du HAMEL'schen Ring-Versuches durch Wulff zur Zeit nicht als wirklich beweisend für expansives Knochen- Wachsthum angesehen werden kann, so künnen Zweifel weiterhin auch in Bezug auf die Beweiskraft der gleichfalls mitgetheilten Ver- suche bestehen, in denen Wolff an der Innenseite der Tibia oder innen hinten in die Tibia einen langen Draht mit umgebogenen und eingesteckten Enden befestigte unter dem Erfolg, dass beim weiteren Wachsthum der lange Knochen sich nach der Seite des Drahtes krümmte. Diese Versuche sind nicht genügend variirt und wieder- holt und gleichfalls nicht genau genug geschildert, und die Resultate nicht genau genug abgebildet, um blos die eine Deutung durch inter- stitielles Wachsthum zuzulassen; denn wenn z. B., um nur eine Möglichkeit anzuführen, die Thiere dieses Bein mit dem langen Draht, resp. diesen Fuss beim Gehen entsprechend abnorm gestellt und daher in abnormer Richtung gedrückt hätten, so müsste sich dieses Bein eben nach dem Princip der functionellen An])assung der Knochen dementsprechend umgestalten. Aehnliches gilt bezüglich der im vorliegenden Werke als Beweis- material des interstitiellen Knochenwachsthums eitiiten früheren Ver- suche Wolff's und anderer Autoren, in denen Löcher oder Stifte in Schädelknochen und Drahtringe in Unterkiefer ange- bracht worden waren; obschon wohl kein Zweifel mehr besteheu kann, dass die in ein und demselben Knochen befindlichen Marken ihren Abstand oft weit über die Versuchsfehlerbreite hinaus ver- grössert haben. [13] Es ist jedoch von keinem Autor bewiesen worden, aber nach meiner Meinung durchaus eines besonderen Beweises bedürftig. \ Gegen expansives Knochenwachsthum. 747 dass diese Vergrösserung des Abstandes der Marken gerade durcli expansives Knochenwachsthum der zwisciienliegenden Knoclien- partieu und nicht durch „Wanderung der Marken" in der umgebenden Kuochensubstanz hervorgebracht Avorden sei. Die Entscheidung über diese Alternative wird vielleicht an einer Serie von etwa 20 zugleich und in gleicher Weise operirten und nach einander im Abstand von etwa je drei Tagen getüdteten, annähernd gleich jungen Thieren durch genaues Studium von Flächenschnit- ten, derdieMarken umgebenden Kuochenpartien Zugewinnen sein, zumal wenn während des Versuches zugleich mit Krapp gefüttert wurde. \'or der Beseitigung der angedeuteten zweiten Möglichkeit jedoch kann dem Auseinauderweichen der Marken eine Beweiskraft für interstitielles Knochenwachsthum nicht zuerkannt werden, selbst wenn man sich zur Zeit etwa nicht vorstellen könnte, wie solche Wanderung der Marken gerade in diesen Richtungen mög- lich wäre und wodurch sie bedingt sein könnte'). Es ist oft genug vorgekommen , dass ,,man sich etwas nicht denken konnte", was dann später nach gewonnenem tieferen Einblick in die Verhältnisse im Gegentheil als ,, selbstverständlich" aufgefasst wurde. In einer durch so vielfach sich widersprechende Resultate als äusserst complicirt gekennzeichneten Sachlage wie der des Knochen- wachsthums dürfen wir meiner Meinung nach kein einziges Beweisglied auslassen, dürfen uns nicht mit blosser „Wahr- scheinlichkeif" begnügen , wenn wir vermögen , Gewissheit an deren Stelle zu setzen. Ausserdem kann mau sich zur Zeit wohl einen Mechanismus denken, zufolge dessen die in den Unter- kiefer als Marken befestigten Drahtschlingen sich von einander entfernen könnten ohne Betheiliguug von expan- sivem Knochenwachsthum. Die Drähte könnten aussen von Binde- gewebe umwachsen und befestigt werden ; in Folge dessen auf jeden [1) Solche Wandeiun g »im' Knochen befestigter Gebilde findet nach Entfernung eines Zahnes bei Verkleinerung der Zahnlücke durch Zusammenrücken der Nachbarzähne statt, und zwar, ohne dass der Kiefer dieser Seite im Ganzen kleiner wird, also ohne entsprechenden .interstitiellen Schwund'.] 748 Nr. 10. Referat über J. Woi.n's , Transformationsgesetz der Knochen". Drahtring ein, wenn auch schwacher, so doch stetiger und Ijcim Kauen verstärkter Zug nacli aussen vom Knochen stattfände, der an der zugewendeten Seite des Loches Druckschwund durch den Draht her- vorrufen würde; während an der anderen Seite des jugendlichen Knochens das Loch wieder mehr oder weniger ausgefüllt würde; wie denn auch von einigen Autoren ein solches ^'or^ücken an den Rand und Lockerwerden des Drahtringes, ja ein Durchschneiden desselben an der Vorderseite des Unterkieferastes beobachtet worden ist ; ein Verhalten, das aber einfach als Ausdruck von Resorption am ganzen Rande gedeutet wurde. Solcher schon oben erwähnte Drucksch wund des Knochens an nicht mit ,, Knorpel" überkleideten Druckaufnahmeflächen ist ja durch manche Thatsachen, so z. B. bei anliegenden Tumoren etc., \'enenectasien über allen Zweifel festgestellt. Wesentlich der gleiche Mechanismus liesse sich unter Verwendung des, allerdings von manchen Autoren bezweifelten, inter- stitiellen Wachsthumes des Periostes bei der Vergrössern ng des Abstandes derjenigen Drahtstifte denken, welche durch die g a n z e D i c k e e i n e s S c h ä d e 1 k n o c h e n s gesteckt worden waren. Bei Annahme von appositiouellem Randwachsthum dieser Knochen wird das interstitiell wachsende Periost gedehnt. Ein Draht, welcher nicht durch den ganzen Knochen durchgeht und daher blos in einer Periostlage steckt, wird in Folge dessen gegen den Rand des Knochens hin mit dieser Periostseite geneigt gestellt werden ; bei einem Draht aber, der an beiden Seiten eine Periostschichte durch- setzt, müssen beide Zugwirkungen in Bezug auf Veranlassung von Schiefstellung sich aufheben, sofern beide Drahttheile gleich dick sind; dieser Zug am Drahte wird aber Drnckschwund an der dailun-h stetig gedrückten Ivnochenstelle veranlassen können. Bei blossen Loeh- marken [14] könnte das sie ausfüllende, mit dem Periost verwachsene Bindegewebe dieselbe Wirkung ausüben. Es ist nebensächlich, ob gerade diese speciellen \'orstellungen richtig sind oder nicht; jedenfalls aber ist es nöthig, dass die bis- herige Lücke in der Beweis^f üb rung bei demSchluss auf die ,,specielle Ursache" des Auseinanderrückens der Vorgänge bei der Heilung der Fracturen. 749 Markiu sorgfältig ausgelüllt werde, elie ein sicheres l'rt heil darüber ausgesprochen werden kann, ob dies Auseinanderrücken durch cntsj)rechendc Wanderung der Marken im Knochen oder wirk- lich durch Expansion des zwischen den Marken liegen- den Knochens hervorgebracht ist. P^vcntuell ist festzustellen, wie gross der Antheil jeder von beiden Arten des Geschehens dabei ist. Zur Ausfüllung dieser Lücke im Beweise aber ist die Ausfüllung der Lücke unserer Kenntnisse nöthig und zwar derart, dass wir statt der bisherigen blossen Constatirung einer V^ergrösse- rung des Markenabstandes am Schlüsse des ^^ersuches eine voUkommeneKenntniss der bezüglichen \'orgäuge während des ganzen Versuches auf die eben angegebene Weise uns verschaffen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass selbst, wenn die Vergrösse- rung der Markenabstäude sich als durch Wanderung der Stifte resp. der durch Bindegewebe ausgefüllten Löcher im Ivnochen bedingt zeigen sollte, und interstitielles Knochenwachsthum also nicht nach- zuweisen ist, immer noch die scheinbar auf ,, interstitiellen Knochenschwund" hindeutende, zuerst von Gurlt nachGeleuk- resectionen, weiterhin von Wolff constatirte „Abnahme der Länge'" der distal von dem betreffenden Gelenk gelegenen Theile der Gliedmassen der Erklärung bedarf und derselben erhebliche Schwierig- keiten l)ereiten wird. Bei der weiterhm folgenden Erörterung der Bedeutung des Trans formationsgesetzes für die Lehre von der Heilung der Kuochenbrüche stellt Wolff folgende, seine Auffassung bezeich- nenden Sätze auf: „Nachdem es mis durch die Kenutniss der statischen Bedeutung der inneren Architectur der Knochen klar geworden ist, dass jede mit Dislocation geheilte Fractur sämmtlichen oder doch den meisten Bälkchen des ganzen Knochens ihre Druck-, Zug- und Scheerfertigkeit raubt, ergiebt es sich leicht, dass die Zusammennietuug der Fragmente nur der kleinere und nur der nebensächliche Theil der Arbeit sein kann, welche der Natur obliegt, während sie die Haujitarbeit zu voll- ziehen hat an allen den unendlich zahlreichen Partikelchen der von der N'erletzung gar nicht direct betroffenen Theile des Knochens. TöO Nr. 10. Referat über .1. AVoi.ff's ,Transformationsgesefz der Knochen". ,,Mag also der verklebende Lack au der Bruchstelle noch .so voluminös sein, und mag er zugleich noch so fest sein, wie Stahl, so hat doch durch diesen Lack allein die Xatur so gut wie Nichts gethan für die Wiederherstellung der Function, für das Gefühl der Sicherheit, welches der Kranke beim Wiedergebrauche des Gliedes gewinnen muss, und welches er nur gewinnen kann nach Restitution der ver- lorenen Festigkeit sämmtlicher Partikelchen des ganzen Knochens." Diesen Urtheilen kann ich fast durchweg nicht zustimmen. Dass „eine mit Dislocation geheilte Fractur sämmtlichen, oder doch den meisten Bälkchen des ganzen Knochens, ihre Druck-, Zug- und Scheerfestigkeit raubte", ist nicht richtig. Diese Festigkeit ist für die andersgerichtete Inanspruchnahme nur vermindert. Es ist nach diesem ^'organge eine immer noch recht erhebliche Festigkeit vorhanden. Zwei erst jüngst schief durch Kuochencallus fest vereinigte, daher noch wenig statisch transformirte Femurstücke, die man ja hau- [15] figer zu sehen bekommt als gut umgeformte, leisten schon einen erheblichen Widerstand, der für den gewöhuUchen Gebrauch gewiss ausreicht; das geht auch schon dai'aus hervor, dass die statischen inneren Umänderungen erst im Laufe von Jahren sich mehr und mehr in successive vollkommenerer Weise ausbilden, somit erst während das Glied schon lange im Gebrauch ist; und eben erst durch cüesen Gebrauch geschehen diese hochgradigeren Umänderungen. Dass das unsichere Gefühl des Patienten beim Gebrauche eines erst jüngst geheilten, fracturirt gewesenen Gliedes durch die noch nicht erfolgte Restitution der (angeblich) verlorenen statischen Festigkeit der Partikelchen des Knochens bedingt sei, ist wohl nur Phantasie, jedenfalls von Wolff nicht bewiesen. WoLFF meint weiterhin, seine „Präparate zeigen, dass die bisher als alleinige Thätigkeit der Natur bei der Heilung der Knochenbrüche angesehene Verkittung der Fragmeute in Wirkliclikeit etwas Neben- sächliches, ja ganz Entbehrliches ist. Sie zeigten, dass das Ziel der Natur vielmehr auf die Beseitigung der eingetretenen Fuuctions- unfähigkeit jedes einzelnen Partikelcheus des ganzen gebrochenen Knochens gerichtet ist; ja dass es der Natur in letzter Instanz Hülfe zufälliger Umstände bei der Heilung von Fractuien. 751 nielit riwa l)los darauf ankommt, dem gebrochenon Knochen, son- dern viohnohr darauf, dem ganzen Kürpergliede, wel('hcs den gebroche- nen Knoclien enthält, M'icder zur Function zu verhelfen." ,,Die nebensächliche, bezw. entbehrliche Rolle, welche bei dieser Ai-bcit der Natur der Verkittung der Fragmente zugewiesen ist, wird uns hei der Betrachtung derjenigen Präparate klar, l)ei wclclicn entweder wegen zu grossen Abstandes der Bruchflächen von einander es überhaupt zu keiner Verkittung hatte konnaien können, oder bei welchen in Folge krankhafter Allgemeinzustände des Organismus der Kitt nicht hart geworden , mid demgeraäss eine Pseudarthrose eingetreten ist. Die Präparate zeigen, dass in solchen Fällen die Natur auch ohne Verkittung ihr Ziel erreicht. Sie richtet in den Fällen erster Art statische, die Fragmente an einander haltende Brücken an fern von den Bruchfläclien entlegenen Stellen auf; während sie bei eingetretener l'siudarthrose. da sie den gebrochenen Knochen selbst nicht fuuctions- fähig zu machen vermag, für die Function des verletzten Körper- ghedes sorgt, indem sie die Architectur und die Gestalt des Nachbar- knochens in zweckentsprechender Weise umformt." Der \'erfasser segelt hier, wie man sieht, mit teleologischem, rein zielbewusstem Winde und von der mechanischen Selbstge- staltung des Zweckmässigen durch den oben erörterten Mechanismus der functionellen Anpassung, welchen er weiter unten wieder aner- kennt, wird kein Gebrauch gemacht: ,,Die Natur erreicht ihr Ziel, wenn es auf dem einen Wege nicht geht . so auf einem anderen." Das ist aber auch thatsächlich nicht richtig; denn oft erreicht sie dies ,.Ziel" nicht; wenn z. B. die Dislocation der Bruchenden für ihre Vereinigung durch Callus zu gross ist, so werden leider nicht immer Brücken zwischen weit von den Bruch- flachen entlegenen Stellen hergestellt; sondern dies ist nur ein Aus- uahmsfall, der blos dann möglich ist,- wenn zufällig abgelöste Periost- theile derart vertheilt sind, dass die von ihnen ausgehenden Wuche- rungen einander und die Fragmente erreichen können. Von einem Zielstreben kann nicht die Rede sein. Bezüglich der Pseudarthi'ose verweist \\'olkf auf das ihm von mir übergebene Präparat einer Pseudarthrose der Thibia mit starker Hj-pertrophie der Fibula; dieser 752 Nr. 10. Referat über J. Woi.ff's „Transformationsgesetz der Knocben". Fall ist aber auch rein mechanisch erklärbar: da der Mann seinen Unterschenkel gebrauchte, ehe die Fractur consolidirt war, konnte sich der ganze Druck natürlich nur durch den einen Knochen fort- pflanzen, der noch [16] die Druck- Continuität zwischen Oberschenkel und Fuss herstellte; dadurch hypertrophirte dieser Knochen, wie ich in meiner Schrift über den Kampf der Theile bezüglich dieses Präparates schon ausgeführt habe (s. S. 165). Bei der Heilung der Fractur unterscheidet Wulff mit Recht zwei verschiedene Processe: einen Entzüudungs- oder Verkit- tungsprocess, welcher den Callus liefert, und diesem folgend den Transformationsprocess. Bezüglich des vom ersteren Pi'ocess geheferteu Materiales sagt er: ,,Das spätere Schicksal des Entzün- dungsproductes ist keineswegs ein zwiefaches, derart, dass ein Theil desselben untergeht, ein anderer Theil die Vorstufe eines bleibenden Gebildes darstellt. \'ielmehr ist das ganze Entzündungsproduct dem Untergange verfallen. Die viel erörterte „Rückbildung" des Callus besteht also lediglich in seinem Schwunde, — nicht aber in der Con- soHdation eines Theiles des Callus." Bezüglich des Transf ormationsprocesses äussert sich WOLFF : „Die Intensität und der Umfang des Processes sind ausschliess- lich abhängig von dem trophischeu Reiz der Function." „Das Product dieses Processes ist vom ersten Moment seines Entstehens au achtes fertiges, dem noi-malen histologisch gleiches Knochengewebe. Es hat gleich demjenigen Knochengewebe, welches sich als Anpassung an die normalen Wachsthumsveräuderungen der Function bildet, keine besondere Matrix; sondern nimmt eine Molecüle aus jedem gerade an Ort und Stelle befindlichen bindegewebigen Stoffe, den es im Kampf der Theile auszunützen vermag. Es nimmt also, — wenn es sich um diejenige Partie des Trausforraationsproductes handelt, welche sich an der Bruchstelle befindet, — seine Molecüle auch vielleicht ein Mal, aber dann eben nur zufällig mid eben nur an dieser einzigen Stelle, aus den Zerfallstrümmeru des Eutzündungsproductes." Beweise für letztere Behauptungen werden nicht erbracht. Ich habe dagegen an l'räparaten von noch nicht für die Ausbildung einer Vorgänge bei der Herstellung nur statischer Structur. 753 ■statischen Structur genügend lange consolidirten Fracturen gcsolicn, dass parallel den Haupttrajectorien verlaufende Oaiiiile in denCallus hinein gebildet waren; ein Vorgang, bei dessen weiterer Fortsetzung die dazwischen übrig gebliebeueii Theile des Callus direct trajectorieller Röhrchen oder Bälkchen dar- stellen würden; sodass dabei der Callus, soweit er brauchbar gelegen ist, vorübergehend direct zur statischen Structur verwendet werden kann. Ausserdem können auch die zuerst gebildeten stati- •^chen Structuren lange Zeit überhaupt nichts Fertiges, Definitives darstellen; vielmehr müssen diese, nach meiner Auffassung lange Zeit fortwährend umgeändert werden. Denn der Druck und Zug pflanzt sich durch alle die Verbindung beider Stücke herstellenden Kuochentheile fort, durch die arünstiffer gelegenen stärker, durch die von den Hauptfortpflanzungslinieu abge- legenen ^-eniger stark. Sind in Folge dessen letztere Stellen resorbirt, erstere verstärkt worden, so geschieht die Druckübertragung in den übrig gebhebeuen Theilen A\-ieder in etwas anderer Weise als vorher, was neue Stellen stärksten und geringsten Druckes und daher neue Appositions- und Resorptionsstellen schafft Dies geht so fort lange Zeit, bis schliesslich l)los noch Kuochentheile mit an» ä her n d , .y 1 e i c h s tarJcer^'' Beanspruch u n g Vorhände n s i nd; iromit die functionelle Structur und zugleich diefunctio- nelle äussere Gestalt erreicht ist. Die bei diesen Structurumbildungen vorkommenden Umbildungen der Spongiosaformen und ihrer statischen Elementartheile, die Umbildung der Tubuli ossei in Lamellae staticae imd dieser in Trabeculae osseae wiederholen in mehr oder weniger typischer Weise die auch im [17j Verlaufe der normalen Entwickelung vorkommenden Umbildungen, deren feinere \'orgän£e uns noch unbekannt sind. Wollf kanu daher in der schliesshchen Bildung von Bälkchen keine Stütze dafür finden, dass das Product der Transformation vom ersten Momente des Entstehens an ein fertiges sei. Indem ^^eder die rein practischen Capitel von uns übergangen W. Roux. Gesammelte Abhandlungen I. ^° 754 Nr. 10. Referat über J. Wolfk's , Transformationsgesetz der Knochen'. werden, gelangen wir zu weitereu Schlussfolgerungeu , die aus der i'unctionflleu Anpassung der Knochen zu zielien sind. Zunächst wer- den die entsprechenden Anpassuugserscheiuuugeu in an- deren Organen auf Grund der Untersuchungen des Referenten besprochen, darauf ein Vergleich mit dem Verhalten der Pflanzen gezogen, und weiterhiu für den Stoffwechsel des Knochens die Ansicht ausgesprochen, dass ,, vielleicht gewisse feste Gewebstheile, in deren fuuctionellei- und statischer Bedeutung sich während der Dauer des Lebens nichts wesentliches ändert, für die ganze Lebens- dauer oder doch für einen sehr grossen Theil der Lebensdauer des Organismus persistent sind." WoLFF dehnt dann seine bezüglich der Heilung der Fracturen ausgesprochenen Ansichten auf die Regeneration im Allgemeinen aus, indem er sagt : „Die wahre Triebfeder der Regeneration ist eine ganz andere, als man bisher annahm. Wir wissen jetzt, dass es unter phj'siologischen und pathologischen \'erhältnisscn nur ein einziges formgestalteudes Princip giebt, nämlich die Function, oder genauer der trophische Reiz der Function. Wie unter normalen Verhältnissen das Streben der Natur, die Function zu erhalten, den Fortbestand oder das neue Entstehen diensttauglicher Formen bedingt, so ist unter pathologischen Verhältnissen das Streben der Natur, die Function wieder herzustellen, das alleinige formbildende Princip (was oben, S. 730, scliou als unzutreffend bezeichnet worden ist). Wir haben so- mit nach der Lehre des Transformationsgesetzes in der Regeneration der Gewebe höherer Lebewesen nichts anderes zu sehen als den Aus- druck der Anpassung an die Function unter neuen, dui'ch bestimmte pathologische Störungen bedingten Verhältnissen; und es werden dieser Lehre gemäss die bisherigen Auffassungen des Regeneratiousprocesses überall eine Abänderung erfahren müssen." Diese Auffassung des ^'erl's. von der Regeneration ist jedoch offenbar eine viel zu einseitige; der Autheil der functionellen An- passung an die Regeneration ist noch nicht annähernd bekannt, aber vorsichtiger und wolil zutreffender bereits von P. Fhai.ssk und D. Barfurth besprochen worden^). 1) Siehe II, S. 837. i Regeneration und fuuctiouelle Anpassung. 755 Dann erörtert Wulff die Bedeutung der Knochenaupassung in neuen Verhältnissen für eine Zurückweisung teleologischer Anschau- ungen und weist im nächsten Capitel auf den Nutzen hin, den die Theorie der Mechanik durch die Bestätigung ihrer theoretischen Er- gebnisse in der Knocheustructur gefunden hat. Endlich wird die Bedeutung des Transformationsgesetzes für ICapp's Lehre von der Organprojection, des Inhalts, dass der Mensch in seine Werkzeuge die Formen seiner natürlichen Organe unbewusst verlegt oder projicirt, erörtert, worüber wir den verhüllenden Mantel der cliristhchen Nächstenliebe breiten wollen, da dieser ganzen Lehre der ursächliche Zusammenhang zwischen un.sereu Organen und ihrer angeblichen Projection in die Aussenwelt und damit jede sachliche Berechtigung fehlt. [18] Zum Schluss seines Werkes citirt der Verfasser die Ver- wendung, welche Referent für die Vervollständigung der De.scendenz- lehre aus den von Wolff nachgewiesenen Thatsachen der fuuctionellen Anpassung der Knochen gemacht hat. Ucberblicken wir den theoretischen Theil der Arbeit Wolff's, so sehen wir, dass letzterer ein Gebiet behandelt hat, auf dem man in vielfacher Beziehung anderer Meinung sein kann, als der Verfasser. Dies war iudess von vornherein zu erwarten, da das Knocheu- lebeu offenbar sehr complicirte Vorgänge und Erschei- nungen einschliesst, derart, dass selbst über die schein- bar einfache Frage des interstitiellen Kuochenwachs- thums noch die widersprechendsten Auffassungen von autoritativen Seiten vertreten werden. Gleichwohl sind die Grundthatsachen und Grundgedanken des ganzen Werkes, welche wir zugleich in erster Linie "\^^0LFF selber verdanken, ohne Wider- spruch geblieben. Der dem Werk beigegebene Atlas naturgetreuer Abbildungen einer grossen Anzahl äusserst insti'uctiver Präparate stellt eine That- sachensammlung von unvergänglichem Werthe dar; und ebenso sind die aus ihnen abgeleiteten allgemeinsten Folgerungen von wesent- Ucher Bedeutung. Der Widerspruch haftete, wie wir sahen, nur an 756 Nr. 10. Referat über J. Wolff's „Transfonnationsgesetz der Knochen". speciellcn Verhältnissen der Interpretation ; und es werden viele weitere Arbeiten nöthig sein, ehe die jetzt strittigen Fragen entschieden sein werden. Auf Wolff's Forschungen beruht die Lehre der fuuctionellen Anpassung der Knochen; und er hat die practische Anwendung dieses wichtigen Principes nach allen möglichen Richtungen durchgeführt und das Gleiche nach der Seite der Theorie hin versucht. Soviel in letzterer Hinsicht auch noch zu thun übrig bleibt, so ist doch, in erster Linie auf Grund der Beobachtungen Wolff's, die Lehre von der fuuctionellen Anpassung der Knochen zur Zeit einer der am besten ausgearbeiteten Abschnitte der Lehre von der functionellen Anpassung überhaupt. Innsbruck, den 4. Januar 1893. Nr. 11. Artikel Anpassung', functionelle'). 1894. Aus der Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, speciell : Encyclopädische Jahrbücher, Band IV, 1894. [14] Unter dem Vermögen der functionellen Anpassung versteht man nach Wilhelm Roux die Fälligkeit der meisten Orgaue, durch ver- stärkte Ausübung ihrer Function sich in höherem Maasse gestaltlich au (heselben anzupassen, wie umgekehi-t aueli durch längere Zeit hin- durch dauernde geringere Ausübung der Function in ihrer Leistungs- fähigkeit herabgesetzt zu werden. Ausser der Bethätigung dieses Ver- mögens werden auch die speciellen gestaltlichen Productc dieser Thätig- keit als functionelle Anpassungen bezeichnet (Genaueres s. S. 462 u. f.). Die functionelle Anpassung ist eiue c^uantitative und eine quali- tative. Die quantitative functionelle Anpassung vergrössert bei nicht zu rascher Steigerung der mittleren Functionsgrösse die Grösse des Organes so lange, bis durch Activitätshypertrophie ein „morpho- logisches Gleichgewicht" (s. S. 636 u. 555) zwischen der neuen Functions- grösse und der Grösse des Organes hergestellt ist. 1) Dieser Bericht enthält über die besondere practische Bedeutung bean- spruchende functionelle Anpassung der Scelettheile einiges meine früheren Darstellungen und auch den Originalartikel Ergänzende. In anderer Hinsicht dagegen bedingte die gebotene Kürze die Auslassung wesentlicher Thcile, bezüglich deren daher auf die vorstehenden Originalabhandlungen verwiesen werden muss. 758 t^Nr. 11. Functionelle Anpassung. Bei Organen, deren verschiedenen Dimensionen verschiedene Functionen zukommen, wird liei einer Verstärkung einer dieser Func- tionen blos diejenige Dimension des Organes vergrössert, welche die verstärkte Function leistet; so z. B. werden Muskeln, welche zur Pro- duction stärkerer Spannung verwendet werden, blos dicker, bei Verwendung zu grö.s!3erer Excursion der von ihnen bewegten Theile blos länger (Gesetz der ,,dimensionalen Activitätshypertroploie" Rone). Das Umgekehrte geschieht bei längere Zeit herabgesetzter mittlerer Functionsgrösse als sogenannte ,,Inactivitätsatrophie", die gleichfalls eine der erwähnten Hypertrophie entsprechende dimen- sionale Beschränkung zeigt. Bei den „laugen" Knochen (s. Nr. 9, S. 689 Anm.) findet aus statischen Gründen die Activitätshypertrophie durch ^^erdick- ung derselben vorzugsweise nach aussen hin statt, wäh- rend die Inactivitätsatrophie aus gleichen Gründen fast ausschliesslich innen, d. h. unter Vergrösseruug der Markhöhle luid der Spongiosaräume, sich vollzieht. Auch die Länge der Scelet- t heile unterliegt, wie es scheint, einer functionellen Anpassung, indem bei häufigerem Wechsel der Beanspruchung (z. B. bei vielem Springen) die jugendlichen Scelettheile durch Anregung des Wachsthums der Epiphysenknorpel und „die ihm nach- folgende Ossification" (s. S. 734 u. II, S. 48 Anm.) länger werden, während umgekehrt (Gurlt, Jcl. Wolff), sogar noch nach der knöcher- nen Vereinigung (Synostose) der Epiphysen mit den Diaphysen, in Folge von Gelenksresection, die distal davon gelegenen, also schwächer gebrauchten Füsse und Hände kürzer werden. Die qualitative functionelle Anpassung besteht darin, dass bei durch functionelle Selbstregulation (s. S. 400 u. f.) oder direct durch den Willen gesteigerter mittlerer Functionsgrösse neben der cpiantitativen Zunahme auch die specifische Leistungsfähigkeit in gewissem, aber be- schränktem Maasse eine Steigerung crfälu't. Ihr steht gegenüber eine oft sehr erhebliche Verminderung der specifischen Leistungsfähigkeit nacli längerer Herabsetzung der mittleren Leistuugsgrösse. Beide Principien, das die Functionsfähigkeit steigernde und das vermindernde, wirken langsam; die Inactivitätsatrophie Begritr der , Function'' dci- Knochen. 759 noch liingsamer als die Activitätshypertrophie. Letzteres ^"el•lullten hat den \'ortheil, dass man sich rascher an eine gesteigerte Leistungsfähigkeit anpasst, als man durch Mangel an Thätigkeit die Fälligkeit /.u derselben verliert, so dass man auch niu-ii längerer Un- thätigkeit noch leistungsfähig bleibt. Die steigende qualitative functionelle Anpassung vollzieht sich oft rascher als die cjualitativ ver- mindernde; erstere bei den Ganglienzellen der Hii-nrinde sogar mo- mentan; beide sind natürlich structurell bedingt. [15] Uebrigens kann in gewissem Sinne auch die fjualitative functionelle Anpassung als eine quantitative betrachtet werden, indem bei ihr die Zahl der leistungsfähigeren letzten lel)ensthätigen Elementarbestandtheile (s. II, S. S3 u. f.) in den be- treffenden Gebilden gegenüber den weniger leistungsfähigen Bestand- theiicn zunimmt. Da zur Erhaltung des bereits Gebildeten ein viel geringeres Maass von Activität ausreichend ist als zur Bildung durch die Function, so können manche früher, sei es durch selbstständige vererbte Bil- dungsprocesse oder durch Activitätshypertropliie producirte, Organ- theile oder ganze Organe auch an Stellen erhalten bleiben, wo nur noch gelegentlich und mein- zufälliger Weise functionelle Erregungen ihnen zu Theil werden, wie z. B. die Muskeln der Ohrmuschel oder, zeitweise. Kuochensubstanz an fast entlasteten Stellen. Doch ist dies normaler Weise, wie es scheint, nur an solchen Stellen der Fall , wo nicht thätigere Organe den Raum dieser weniger thätigen Theile in Anspruch nehmen. Wo dagegen ein, dvn-ch stärkeren Druck der Organe vermittelter Kampf um den Raum (S. 234, 256) statt- findet, kann sich im erwachsenen Individuum (s. S. 348) meist nur Thätiges erhalten, abgesehen von den wenigen normalen Theilen, deren ererbte frühere selbstständige, d. h. hier von der Functioni- ruug unabhängige, E r h a 1 1 u n g s f ä h i g k e i t (s. S. 348) in dieser Periode noch nicht geschwunden ist, sowie von abnormen Producten (Tumoren, vielleicht auch manchen Exostosen etc.). Zum Verständniss sowohl der productiven wie der blos erhal- tenden Leistungen der functionellen Anpassung ist eine klare Vor- stellung von dem Begriff der ..Function" jedes betreffenden 760 Nr. 11. Fuuctionelle Anpassung. Organes nötlüg; das Fehlen dieser Vorstellung bezüglich der „Sceletthoile" hat in letzterer Zeit mehrfach zu irr- thünilichen Einwendungen gegen die functionelle Anpus- .sung geführt. Jedes der „Gewebe", aus welchem die Orgaue bestehen, hat seine besondere Functions weise (s. 11, S. 229 Auni.); und an jeder Stelle des Körpers, wo ein Gewebe zu dieser Function veranlasst wird, ist es, nachdem es aus irgend einer normalen oder pathologischen Ursache daselbst gebildet ist, dauernd erhaltungs- fähig, auch wenn diese Function vom ,, Individuum" weder gewollt, noch ihm nützlich ist. Die Function ..iinserer^^ Knochen- siihsf ans z.B. ist, Druck, eventuell wechselnd mit Zug, Wider- stand zu leisten; und wo Knochensubstanz gedrückt wird'), ist sie entsprechend (S. 680 Anm.) dauernd erhaltuugsfähig, daher auch z.B. an Exostosen, auf welche, sei es bei irgend welchen Bewegungen, durch Bindegewebsstränge oder durch Muskeln, Zug- und damit ,, Bie- gungsbeanspruchung" (S. 683) ausgeübt wird, welche letztere stets mit Production von Druck verbunden ist (gauz abgesehen von der über- haupt sehr langsauion Resorption selbst ganz entlasteter com- pacter Knochensubstanz). Da die functionelle Anpassung der Scelettheile, also der Stützorgane des Körpers, sehr gross und jiractisch besonders wichtig ist, so soll auf sie etwas genauer eingegangen werden. [I) Es ist daran zu denken, dass jeder nicht axial gerichtete Zug z. B. inserirender Muskeln (und die Säusethier-Muskcln resp. Sehnen greifen nie axial an den Scelettheilen an, wie es dagegen Vogelmuskeln an verknöcherten Sehnen thun) Biegungsbeanspruchung und damit neben dem Zug zugleich Druck an be- stimmten Stellen des betreffenden Gebildes hervorbringt (S. 681 u. f.). Da dieser Druck mit der bei der Bewegung der (ielenke wechselnden Richtung der Sehnen zum Scelettheil seine ftrüsse und mit dem Wechsel äusserer Belastung oder Widerstände einerseits und der Thiitigkeit der Antagonisten andererseits auch seinen Ort wechselt, so werden nacheinander alle T heile auf Druck in Anspruch genommen werden können, so dass die Säuger wohl keinen reinen „Zugknorhen" haben. Selbst die „Zugbalken' des Schenkelhalses werden, z. B. bei Thiitigkeit der Glutaei med. und min oder bei Lagerung des Menschen auf der Seite, auf Druck in Anspruch genommen (S. 682 Anm.): und selbst die verknöcherten Vogelsehnen werden bei den Bewegungen der Gelenke etwas , gebogen", sind also auch keine ganz reinen Zug- knochen. Es ist die Frage, ob „primär" blos auf Zug in Anspruch genommene Knochensubstanz (S. 682) überhaupt sich dauernd erhalten kann.] Definition der „functionellen Gestalt' der Knochen. 761 Jeder einzelne Scclettlieil hat eine besondere normale Fnnetion, welche dnreh seine Gestalt und durch seine Lage zwischen anderen drückenden, respective ziehenden Thcilen, also durch die Lage seiner Druck-, respective Z u gau fn ahm ef lachen, sowie durch deren Grösse und Gestalt und durch die Grösse des von iluien aus auf ihn einwirkenden Druckes, respective Zug^s bestimmt wird (s. S. 120 u. 736). Dieser besonderen Function sind die normalen Scelettheile sowohl in ihrer Gestalt (wie in dem Aufbau ihrer spongiösen Structur) in hohem Maasse angepasst (fuuctionelle statische Gestalt und Structur, s. S. 6U0); der Grad dieser Anpassung ist aber verschieden zu beurtheilen, je nachdem mau den Begriff der „Function" enger oder weiter fasst. Bisher bezeichneten manche Autoren nach Hermann MEraR die Structur der Knochen als eine „statische" in dem beschränkten Sinne, dass sie durch das Stehen des ganzen Individuums bedingt und diesem angepasst sei und daher auch nur an den dabei am meisten belasteten unteren Extremitäten und den Wirbelkörpern des Menschen ausge- bildet sei. Diese Auffassung ist jedoch eine viel zu enge (S. 719 Anm.). Unter der statischen Function der Knochen müssen wir [16] verstehen, dass die Scelettheile in jeder normalen, irgendwie hervor- gebrachten und erhaltenen Stellung derselben zu einander dem auf sie ausgeübten Druck und Zug widerstehen, womit sie zurErhaltuug, also zur Stabilität dieses gegebenen Zustandes beitragen. Dabei könnte es gleichgiltig scheinen, ob der Druck, respective Zug auf den Scclettlieil von K u o c h e n , M u s k e 1 n oder anderen AV e i c h t h e i 1 e n her fortgepflanzt, und ob er durch die Schwerkraft oder Muskelwirkung (s. S. 120, 2iU) oder durch anderen Organdruck veranlasst wird ^). Bei dieser umfassenden Definition der Function, welche ßlle diese Arten von Druck resp. Zug als gleichwerthig annimmt, wäre dann allen normalen erw'ach- senen Knochen in gleicher Weise eine ,, vollkommen" sta- tische sive functionelle Gestalt und Structur zuzusprechen, das heisst, sie sind (von einigen noch nicht ganz aufgezehrten Resten 1) Siehe S. 681 Aiim. 1 unJ die schöne Arbeit von E. Zskhokkk, Untersuchungen über das Verhältniss der Knochenbildung zur Statik und Mechanik des Vertebraten- Sceletes. Zürich 1892. 762 - Nr. 11. Functionelle Anpassung. aus der .Jugendzeit an den Epiphj^senlinien abgesehen) ihnen derart angepasst, dass sie ilmen mit einem Minimum an Material widerstehen, also sie enthalten nichts Ueberflüssiges, Nichtgespanntes, und das Vor- handene ist deu gegebenen Verhältnissen entsprechend zweckmässig angebracht. Bei der Beurtheilung dieser Verhältnisse ist zu berücksichtigen, dass selbst so variable Gebilde wie Sesambeine eine ihrer besonderen, sei es constanten oder variablen Druckrichtung angepasste Structur erlangen; ja sogar an abnormen Gebilden, wie spongiösen Exostosen und selbst periostitischen Auf- lagerungen, kommt beim Fehlen anderer störender Momente eine den oben genannten Einwirkungen entsprechende statische Structur vollkommen ausgebildet vorM, wie auch an Knochenvorsprüngen, die als Varietäten auftreten, so z. B. an dem Frocessns troch- Jearis des Fersenbeines, welcher in Gestalt und Structur vollkommen dem Druck der Sehne des Peroneus longus, eventuell noch der ^\'irkung des Peroneus hrevis angepasst ist und bei starker Ent- wickelung sogar durch gegen die Umgebung etwas abgesetzte Grenzen geradezu zu einer ,,functionellen Gestalt" individualisirt ist. Auch der Procegsus supracondyloideus hiimcri lässt, wenn er spon- giöse Substanz enthält, deutlich eine functionelle Structur erkennen. Bei dieser Fassung der functionellen Gestalt sind jedoch zwei zunächst in ihrer Localisation wesentlich verschiedene Wirkungen als gleichwerthig angenommen, welche aber auch weder in statischem Sinne noch in ihrer gestaltenden Wirkungsgrössc gleichwerthig sind. Dies betrifft die von den „üherhnorjjclten'' Flüchen (also den Berüh- rungsflächen der Scelettheile) aus stattfindenden Drnckwirknngen und die von deu Anlief tungsstellen der Muskeln unruchung stehenden Bälkchen doch einer solchen Richtung ent- sprechen. Dies ist besonders erwähnenswerth für die Bälkchen, welche der Torsion Widerstand leisten (v. Recklkghausex) '), da deren Bedeutung bisher zumeist verkannt worden war. Ferner hat noch jüngst zu Missdeutungen Veranlassung gegeben das Uebersehen des Momentes, dass nur an solchen Stellen der Knochen rechtwinkelige Spongiosa- Maschen der Function entsprechen und daher sich vorfinden, wo der Druck, respective Zug immer genau in ein und derselben Richtung wirkt; während andererseits an Stellen, wo die Druckriclitung wechselt, die indifferente Form der Spongiosa mit rundlichen (s. S. 706Anm., 709), kleineren (S. 710 Anm.) Maschen nöthig ist, so z. B. allenthalben da, wo der Druck von dem relativ weichen Gelenkkuorpel (S. 719 Anm.) aus auf Knochen über- tragen wird. Erst weiter innen im knöchernen Scelettheile ist voll- kommene Constauz der Druckrichtung vorhanden; und da findet .sich dann auch, beim Erwachsenen rein ausgebildet, die Strui'tur der I) V. Recklixghausex , Ueber normale und pathologische Architecturen der Knochen. Deutsche med. Wochenschr. 1893. Nr. 21. 7G6 Nr. 11. FuDctionelle Anpassung. Spongiosa rectangnlata ordiuata mit ihren coutinuirlich durch grosse Strecken durchgehenden Balkenzügen (s. S. 707). Auf dem Vermögen der Knochen zur functionellen Anpassung beruht die „functioncllc Orthopädie" (Roux, s. U, S. 160), d.h. die Corrigirung abnormer [18] Formen der Stützorgane und Bänder durch künstHciie Her.steHuug der Bedingungen zu normaler Functionirung, wonach dann die entsprechende normale Form und Structur der Organe beim Gebrauche allmählich von sellier sich herstellt, ein Verfahren, welches besonders von Jul. Wolff ausgebildet und mit Erfolg verwerthet worden ist (s. S. 731). Nicht blos passiv thätige Organe, wie Knochen und Bänder, sondern auch activ thätige Organe, wie Muskeln und Drüsen, haben eine ihrer besonderen Function mehr oder weniger vollkommen ange- passte Gestalt und Structur, die dann zum Unterschied von ersterer auch als dynamische Gestalt und Structur (Roix) zu bezeichnen .sind. Der linke Herzventrikel z. B. besitzt fast vollkommen dyna- mische Gestalt und Structur, währeud die Gestalt des rechten Ven- trikels und der ^'orhöfe vorzugsweise ihrer Umgebung angepasst ist; wohl aber entspricht ihre Structur wieder vollkommen dieser Gestalt und der durch sie bedingten Functionsweise. Die Structur und zum grössten Tlieil auch die Gestalt der Blutgefässe, der Galleublase, der Harnblase und des Darmrohres sind gleichfalls als „functionell sive dynamisch" im obigen Sinne zu liezeichnen. Alle diese erwähnten Gestalt- und Structurverhältnisse werden durch die Vollziehung der betreffenden Functionen unbeab- sichtigt und unbewusst von uns vervollkommnet, wie die ent- sprechenden Hypertrophien bei Hindernissen für die Entleerung dieser Hohlorgaue beweisen. Absichtliehe \'errichtung von Functionen zum Zwecke der Anpassung an dieselben bezeichnen wir als ,,Ucbuug". Da es jedoch nicht rathsam erschien, den Bedeutungsumfang dieses volksthümlichen Ausdruckes willkürlich zu vergrösseru und auf Unbewusstes und Unbeabsichtigtes, ja eventuell Schädliches(s. S. 352), gern Vermiedenes auszudehnen und so von'„Uebung" der Knochenbälkchen und der Blut- gefässe oder der Fasern des Trommelfelles oder einer Exostose etc. "i Theorie der functionellen Anpassung. 767 ZU sproelien, so wurde liir das gauze tiebiet dieser directen, durch die \*oil/,iehung der Functiou bedingten Aupassungsvorgänge vom Verfasser der Ausdruck „t'unctionelle Anpassung" vorgeschlagen und ohne Widerspruch allgemein angenommen. Auf der functionellen Anpassung beruht alles geistige und körperliehe Lernen, sowie das Gewöhnen. Sie ist also auch die (Grundlage aller Cultur und aller menschlichen Thätigkeit überhaupt. Zur Erklärung dieser Function hielt man bis vor Kurzem die ,,functionelle Hyperämie" für ausreichend, d. h. für die an den Weichtheilen beobachtete Thatsache, dass die Organe während, resp. nach der Functionirung mehr P>lut zugeführt erhalten als bei Unthätigkeit. Dadurch lassen sich jedoch die feineren Erschei- nungen der functionellen Anpassung, aus denen sich die grösseren \'eränderungen zumeist erst integriren : z. B. die dimensionale H}-per- trophie und Atropliie, die Anpassung im Gehirn und Rückenmark, die functionelle Structur der Organe, nicht erklären , da diese Form- verhältnisse x-iel kleiner, feiner sind als die Weite der Capillarmaschen. Auch bekunden die Thatsacheu, dass selbst bei Verringerung der Nahrungszufuhi-gelegeuheit (bei unvollkommener Inanitiou oder nach \'erschluss eines zuführenden Arterienstammes) die t hat igen Organe sich oft noch wohl erhalten, ja hj-pertrophiren können, und zwar auf Kosten der unthätigen Organe. Eine vollkommene Theorie der functionellen Anpassung hat \'erfasser (s. Nr. 4) auf die Annahme gegründet, dass der „functio- nelle" Reiz, resp. der ,,Act der Vollziehung der Function" (bei Muskeln undDrüsen), speciell bei denKnochen, die dm-cliDrurk und Zug bewirkte Erschütterung und Spannung einen trophischeu Reiz auf die Zellen ausüben, zufolge dessen dieselben unter vermehrter Nahrungs- aufnahme wachsen, event. sich vermehren (resp. die Osteoblasten an den Stelleu stärkeren Reizes mehr Knochen bilden); während umge- kehrt bei dauernder Inactivität durch Fehlen dieser Reize die Ernäh- rung der Zellen sinkt, so dass sie das Verbrauchte nicht genügend ersetzen [19] (resp. che Knocheusubstanz allmählich ihre Widerstands- fähigkeit gegen die in Folge der Inactivität gebildeten Osteoklasten, 768 , Nr. 11. Functionelle Anpassung. ohne oder mit Betheiligung von andrängenden anderen Organen ver- liert). Vielfach ist dabei betheiligt ein Kamjit' der Organe um den Raum, bei Nahrungsmangel auch um die Nahrung, ein Kampf, welcher ursprünglich wesentlich zur Ausbildung und zur Herrschaft derjenigen Gewebsqualitäten beitragen musste , die durch den fuuctionellen Reiz trophisch erregt und so gekräftigt wurden i). Literatur: Ausser den vorstehenden Abhandlungen dieses Bandes besonders: H. Strasser, ZurKenntnissderfunctionellen Anpassung der quergestreiften Muslieln 1883. — JuL. WoLFF, Ueber die innere Architectur der Knochen. VincHOw's Arch. 1870, L. — Derselbe, Das Gesetz der Transformation der Knochen Berlin 1892. — W. Roix, Kritisches Referat über letzteres Werk Wolff's. Berliner klin. Wochenschr. 1893, Nr. 21 u. f. — H. Nothnagel,' Ueber Anpassungen und Ausgleichungen bei patholog. Zuständen : I. Muskeln, II. Drüsen, III. Blutgefässe. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 10, 11 und 15; sowie: Die Anpassung des Organismus bei pathologischen Veränderungen. Vortrag z. Internat, med. Congr. in Rom. Wiener med. Blätter 1894, April. — Gust. ToRMER, Das Entstehen der Gelenkformen. .\rch. f. Entwickelungsmechanik, Bd. I. 1894 und 1895. 1) Die bis hierher in diesem Bande vereinigten Abhandlungen stellen zugleich eine wesentliche Erweiterung des LAMARCK'schen Principes durch Ausdehnung der directen, speciell der .functionellen' Anpassung von der früheren Anwendung desselben Mos zur Ableitung der groben zweckmässigen Gestalt der Organe auf die functionelle Structur und die aus ihr sich integrirende fnnctionelle Gestalt der Organe, sowie eine mechanische Erklärung dieses Principes dar. Dieser Inhalt und die S. 410 u. f. gegebene neue Ableitung der ersten Entstehung des Lebens scheint dem bezüglichen Referenten in Merkei.-Boxxet's Ergebnissen Bd. III, 1898, dem Verfasser des Artikels: ,AIte und neue Probleme der Phj-logenese", Henry FAmFiELD Osborx unbekannt geblieben zu sein. I Nr. 12. Ueber eine im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen') (Mycelites ossifragus). 1887. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, XLV. Leipzig, Wilhelm Exgelmann 1887. Hiezu Tafel IIl. Inhalt. Seite I. Thatsachen 770 Eigenthümliche Canäle in der Rippe von Rhytina Stellen . . . 770 Charaktere der Canäle 770 ScheideAviinde 77o Schläuche 77-5 Weiteres Vorkommen ähnlicher Canäle in fossilen Knochen . . 776 Charaktere derselben 781 II. Bedeutung der neuen Canäle 785 Sie sind keine normalen Bildungen 785 Sie entstanden nach der Bildung des Knochens 785 Entstehungsursachen 786 Mügliohe anorganische Ursachen 787 Mögliche organische Ursachen: 789 a) des Tbierreiches 789 b) des Protistenreiches 790 c) des Pflanzeareiches 791 1) Eine vorläufige Mittheilung über dieses Thema findet sich unter dem objec- tiveren Titel : , Ueber eigenartige Kanäle in recenten und fossilen Knochen^ im „anatom. Anzeiger" Bd. 1, 1886, Nr. 11, S. 276. \V. Kons, Gesammelte Abhandlungen. I. *9 770 Nr. 12. Ueber efiie im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen. Seite Algen 791 Pilze 79-2 Bedeutung der Scheidewände 793 Bedeutung dieser Caniile für die Zerstörung der Urkunden der Stammesgeschichte 801 [227] In Knochenschliffen aus einem Rippenstück der Rhj^tina Stelleri, welches ich durch Vermittelung des Herrn Prof. Has^je der Güte des Freiherrn E. von Nordenskjöld verdanke , fielen mir eigen- thümliche Streifenbildungen auf, welche die Knochensubstanz der ÜAVERs'schen Lamelleusysteme auf grosse Strecken hin in verschie- denen Richtungen durchsetzen. Diese Streifen sind parallel eontourirt und bestehen aus weniger glänzender Substanz, als das umgebende Knochengewebe, und wenn, wie es häufig der Fall ist, die Streifen sich so stark aus der Schliffebene herausbiegen, dass ihr optischer Querschnitt eingestellt werden kann, so zeigt sich letzterer stets kreis- rund. Die Bildungen konnten somit nicht blos als Spalten aufgefasst werden , von denen sie sich auch durch den Mangel scharfer Ecken und sonstiger feinerer Merkmale augenfällig unterschieden. Nachdem durch Behandlung mit Chlorofoi'm der C'anadabalsam aus den Schliffen entfernt war, zeigten sich die Bildungen als mit Luft erfüllte runde C anale in der Knochensubstanz, deren genaueres Verhalten wir nun kennen lernen wollen. Allen bezüglichen Bildungen kommt eine Anzahl übereinstimmen- der besonderer Eigen.scbaften zu, welche die Zusammengehörigkeit derselben bekunden und zum Theil zugleich dazu dienen können, sie von den sonstigen in der Knochensubstanz vorkommenden Canal- bildungen, von den HAVEns"schon Blutgefässcanälen und den Aus- läufern der Kuochenkörperchen , trotz mancher übereinstimmender Eigenschaften zu unterscheiden. [228] Unsere Canäle wechseln in der Weite zwischen 2 und 6 /.i (0,002—0,006 mm); meist aber beträgt ihr Durchmesser 4,«. Die HAVERs'schen Canäle variiren zwischen 8 — 200 /< Querdurchmesser und die mittlere Weite beträgt im compacten Knochen der Rhytina- I Beschreibung der eigenthümlichen Canäle der Rliytinarippe. 771 rippe etwa 20 — öÜ /(. Sic siiul somit viel weiter, wälirend die Aus- läufer der sogenannten ,,Knochenkürperchen", d. h. derjenigen Hohl- räume in der Knochensubstanz, innerhalb deren die Knochenzellen während des Lebens sich befanden, mit ihren zwischen 0,4—0,9 /.i schwankenden Diu-chmessern l'ünf- bis zehnmal enger sind. Charak- teristischer aber als dieses Verhalten sind die Eigenthümliehkeiten im \'erlaufe der Canäle. Die Blutgefässoanäle sind stets von concen- trischen Lamellen von Knochensubstanz, den HAVEKs'schen Lamellen umgeben , sofern der Canal nicht eben erst durch IJsur schon vor- handener Knochensubstanz entstanden ist und sich dann durch seine zwanzig- und mehrmal grössere Weite von unseren Canälen unter- scheidet. Diese letzteren dagegen durchbrechen die H.\vERs\schen Lamellensysteme in den verschiedensten Richtungen. Dasselbe thun indess auch die Ausläufer der Knochenkörperchen, wenn auch unter Vorherrschen der radiären Richtung; doch erstrecken sich diese Aus- läufer stets nur bis zu benachbarten anderen Knochenkörperchen, oder, bei den direct den Blutgefässcanälen benachbarten Knochen- körperchen, bis zu diesen hin; während unsere Canäle nicht blos häufig alle Lamellen eines solchen concentrischen Lamellensystems durchbrechen, sondern gelegentlich auch noch durch ein zw'eites (s. Fig. 1) und ein drittes Sj'stem innerhalb eines einzigen Schliffes verfolgbar sind. Nicht selten kommt es vor, dass Canäle längs der Grenze zweier benachbarter HAVERs'scher Lamellensysteme oder zwischen zwei Lamellen desselben Systemes verlaufen und daher das zugehörige Blutgefäss im Bogen umziehen (s. Fig. 2). Alle drei Arten von Canälen geben Verästelungen ein. Bei den beiderlei normulen Canälen gilt jedoch im Allgemeinen die Regel, dass jeder der Aeste dünner ist als der Stamm, weil sie dazu dienen, den Inhalt des Stammes auf grössere, aus einander liegende Gebiete zu vertheüen. Bei unseren Canälen dagegen sind in der Regel die Aeste eben so stark als der Stamm, wenn schon auch das andere Verhalten gelegentlich vorkommt, oder der eine, alsdann gewöhnlicli mehr die Richtung des Stammes fortsetzende Ast auch die Dicke des Stammes beibehält, während der seitlich abgehende Ast dünner ist. Unsere Canäle behalten also, so oft sie sich auch verzweigen, zumeist 49* 772 Nr. 12. Ueber eine im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen. die gleiche Dicke wie am Anfang ; oder wenn einige Aeste feiner waren, so gehen weiter peripher aus ihnen wieder Aeste von der Stärke des ursprünglichen [229] Stammes hervor (s. Fig. 3), während man au deu Blutgefässen bei schwacher Vergrösserung sehr gut sieht, wie diese mit der weiteren Verzweigung immer feiner werden. Die Verästelungsstelle selber ist bei- unseren Canälen gewöhnlich nicht erweitert, manchmal sogar etwas eingeschnürt (s. Fig. 3); bei den Blutgefässcanälen dagegen hebt sich der Ast stets mit dem von mir beschriebenen (siehe Nr. 1 u. 2), hydrodynamisch bedingten und gestalteten Ursprungskegel allmählich aus dem Stamme empor, wo- durch letzterer selber au der Verzweigungsstellc auch eine allmäh- liche Verbreiterung innerhalb der Verzweigungsebene erfährt. Ein weiterer sehr charakteristischer Unterschied besteht darin, dass jede der beiderlei normalen Arten von Canälen sich mit ihren Zweigen vielfach netzförmig unter einander verbinden, während unsere C'anäle, auch wenn sie so reichlich und dicht bei einander liegen, dass sie auf deu ersten Blick ein diclitmaschiges Netzwerk zu bilden scheinen, doch bei genauerer Betrachtung mit stärkerer Vergi'össerung fast immer deutlich erkennen lassen, dass keine geschlossenen Maschen vorhanden sind, dass die Canäle immer blos nach einer Seite hin, nämlich im Verlaufe der Richtung auf den Stamm hin zusammen- mündeu, welcher letztere eben hierdurch allein als solcher kenntlich wird, da ihm eine Ueberlegeuheit in der Stärke abgeht. Es liegt also blos ein dichtes Geäst eventuell zugleich auch ein Geflecht, nicht aber ein Netzwerk vor (s. Fig. 1). Dem entsprechend sind bei den physiologischen Canälen blinde Enden sehr selten, während sie an unseren C!anälen allenthalben aufgefunden werden können. Diese blinden Enden sind gewöhnlich einfach abgerundet, manch- mal aber ein wenig kolbenförmig erweitert, oder seltener ein wenig verjüngt. Der Ursprung der Stämme unserer Canäle findet meist aus den grösseren, manchmal auch aus feineren Blutgefässcanälen statt, von welchen aus sie, wie erwähnt, die Knochensubstanz der' benach- barten HAVERs'schen Lamellensysteme in den verschiedensten Kieh- tungen, Anfangs manchmal mit Vorherrschen der radiären Richtung f Beschreibung der eigenthUnilicheii Cauäle der Rhytiiiarippe. 773 (lurclibreclien. Unmittelbar neben dem Gefässcanal liiidc-ii sie sicli gewöhnlich in grösserer Zahl vor und bilden ein enges GeHecht (s. Fig. 1). Der grössere Theil der Ganiüe endigt jedoch schon nach kurzem N'erlaufe blind und nur ein kleinerer Theil setzt sich unter mannigfachen Verästelungen weiter fort. An manchen Stellen sind die \'erästelungen nur spärlich vorhanden (Fig. 1), an anderen dagegen reichlicher (Fig. 3). Erwähuenswerth erscheint es noch, dass bei diesen Durchbrechungen der Knochensubstanz wenn überhaupt, jedenfalls nur äusserst selten, einige [230] der doch so reichlich eingestreuten Knochenkörperchen eröffnet werden ; n:eist dagegen gelingt es, an den Stellen solcher scheinbarer Communicationcn der C'anäle mit den Knochenkörperchen unter Anwendung stärkerer Vergrösserung zu erkennen, dass der Canal dicht ober- oder unterhalb des Kuochen- körperchens vorbeiläuft, ohne mit letzterem zu communiciren. An den noch in Canadabalsam liegenden Präparaten wurden einige Male deutliclie quer gestellte Scheidewände wahrgenommen, welche das Lumen des Cauales in getrennte Abtheilungen sonderten. Letzteres Verhalten war besonders deutlich, wenn auf der einen Seite von dem Septum der Canal mit Luft erfüllt war. Der Luftc3dinder endigte dann am Septum deutlich mit einem queren Coutour, während das andere im \' erlaufe des Canales gelegene freie Ende des Luft- cylinders eine in Folge der Capillarität entstehende abgerundete Grenze gegen die Flüssigkeitsschicht des Canadabalsams darbot. Sehr häufig werden aber Scheidewände vorgetäuscht, wenn ein Canal sich schroff umbiegt, oder einen Ast in die Tiefe sendet, oder wenn eine Knochen- faser oder ein Ausläufer eines Knochenkörperchens dicht über oder unter einem der Canäle quer hinwegläuft. Letzteren Falles erkennt man dann bei genauerem Zusehen, dass eines oder beide Enden dieses Gebildes über den betreffenden Längscontour des Canales hinaus sich erstrecken. Nach Entkalkung eines des Canadabalsams beraubten Schliffes mit ö^/oiger Salzsäure traten die Scheidewände deutlicher hervor und koimten in manchen Cauälen in Abständen vom Lö — 20fachen des Querdurchmessers der Canäle, ja an einzelnen Stellen in noch geringeren 774 Nr. 12. Ueber eine im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen. Entfernungen von einander, wahrgenommen werden (s. Fig. 3). Ihre Dicke sc-lnvankt zwischen 0,4 uuil 0,6 //. An manchen Stellen des Präparates dagegen waren in den Canälen Scheidewände nicht oder nur sehr spärlich auffindbar. Die Scheidewände bestehen aus glänzen- der Substanz und durchsetzten das Lumen thoils in rein querer (Fig. 4 «), theils auch in etwas schiefer (Fig. 4 h und //) Richtung. Sie sind theils gerade, theils etwas gebogen (Fig. 4 c und (j) und in Bezug auf ilire Dicke entweder allenthalben im freien \^erlauf gleich dick, oder in der Mitte etwas verdickt. Manchmal ist blos das Septum vorhanden (Fig. 4f); in anderen Fällen steht es in Verbindung mit einer dünneu Schicht einer das Lumen des Canales auskleidenden Substanz, welche denselben Glanz und leicht gelblichen Schimmer zeigt, wie die des Septums selber (Fig. 4 a, h, /). In einigen Fällen zeigt dieses eine oder zwei Durchbrechungen (Fig. 4 d und r), oder es ist blos ein ringförmiger Ansatz im Innern des Canales wahrnehm- bar, der vielleicht als Rest eines zerstörten Septums aufzufassen ist. Von besonderer Wichtigkeit ist das [231] Verhalten des äusseren Contours der Canäle neben den Scheidewänden. Derselbe läuft nämlich daselbst nicht immer glatt und dem der anderen Seite parallel fort, sondern ist häufig von einer Seite oder von beiden Seiten her deutlich eingezogen, so dass also der Knochencanal daselbst ein wenig verjüngt ist (Fig. 4 r/, /(). Nicht selten aber auch ist dicht vor dieser Verjüngung der Canal auf einer oder auf beiden Seiten der Membran ein wenig erweitert (Fig. 4 /, /). Auch ist manch- mal der auf der einen Seite des Septums gelegene Canal enger als der auf der anderen Seite (/). Die Septumbildung ist also häufig zugleich verknüpft mit bestimmten Umformungen des Canales selber an der betreffenden Stelle und die Aeuderung des Lumens kann sich ilaiui auf einer Seite von dem Septum noch weiterhin fort- erhalten. Bei Behandlung der Präparate mit Jod und Schwefelsäure, so wie mit Chlorzinkjodlösung konnte trotz der vorausgegangenen Behand- lung der Präparate mit schwacher Salzsäure eine blaue Färbung an der Substanz der Scheidewände und der manchmal vorhandenen sogleich zu beschreibenden Schläuche nicht wahrgcnonunen werden; J Beschreibung der eigenthümlichen Canäle der Rhytinarippe. 775 und dasselbe negative Resultat ergab sich auch nach vorheriger Be- handlung des Objoctcs mit chlorsanrem Kali und Salpetersäure. Auch an nicht neben den Scheidewänden gelegenen Stellen der ( anale konnte auf kleine Strecken iiin eine die Knocheucanäle aus- kleidende besondere glänzende A\'and uugsschieht von 0,3 — 0,1!// deutlieh wahrgenommen werden, die sich dann an ihrem Ende scharf gegen den hlos von der anliegenden Knochensubstanz gebildeten schmalen, gleichfalls aber doppelt contourirt erscheinenden Abgren- zungscontour absetzte. An einigen Stellen gelang es sogar, diese Schläuche isolirt wahrzunehmen. In einigen H.WERs'schen Cauäleu waren nämlich die Blutgefässwände noch wohlerhalten, hatten sich aber bei der Behandlung mit Salzsäure von der Wandung des knöcher- nen Canales zurückgezogen. In dem dadurch zwischen beiden ent- standenen freien Räume sah ich einige Male die Schläuche frei aus ihren Knochencanälchen heraus und nach dem Blutgefäss herüber treten , wie dies Fig. 2 darstellt. Zugleich ist auf dieser Figur eine besondere, relativ seltene Form unserer Canäle abgebildet, die sich dadurch auszeichnet, dass der Caual eng beginnt und in seinem Ver- lauf nach der Peripherie des Ha vers' sehen Lamellensystemes sich keulenartig erweitert. An den entkalkten Schnitten ist häufig in den C'anälen ein gelblich glänzender Inhalt von bröckeliger oder unregel- mässig gefalteter, häutiger Gestalt wahrnehmbar. Die Grenzcon- touren der Knocheucanäle sind nicht glatt, sondern jeder der beider- seitigen Contoureu macht fortwährend vielfache feine, denen des anderen nicht ent- (232^ sprechende Biegungen, so dass unsere obige Angabe der gleichweiten Beschaffenheit und der daraus sich ergebenden liarallelen Contourirung der Canäle nur in der Weise aufzufassen ist, dass trotz dieser fortwährenden fernen Schwankungen der Caual auf grosse Strecken Irin annähernd dieselbe Weite behält (Fig 1). Die Verbreitung unserer Canäle in dem ganzen (Quer- schnitt der Rippe angehend, ist zu erwähnen, dass sie nur im inneren Theile des Knochens sich vorfinden, innerhalb einer IJindenzone von 2 — 3 mm dagegen fehlen. Das damit allein als Ausbreitungsgebiet der Canäle verbleibende Binnenfeld von ca. 30 qcm Flächeninhalt ist aber in seiner Knochensubtanz in nichts erkennbar verschieden von 776 Nr. 12. Ueber eine im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen. der Rindenzone, sondern es ist wie diese durchaus aus com- pacter, harter, un verwitterter Knochensubstanz gebildet. (Ueber die auffallende Thatsache, dass so langgestreckte Knochen im Inneren weder eine Markhöhle, noch, abgesehen von den Enden der Rippe, auch nur schwammige Substanz haben, welches Verhalten die Ver- anlassung zu meiner Untersuchung dieser Knochen war, habe ich anderen Ortes Weiteres mitgetheilt, s. S. 442). Die Vertheilung unserer Canäle in diesem compacten Binneufelde ist eine unregelmässige; sie schüesst sich, wie erwähnt, an die HAVERs'schen Canäle, aber mit Aus- lassung vieler derselben, an. \"on einander benachbarten der. letzteren aus findet manchmal ein Uebergreifen unserer Canäle in die gegen- seitigen Ursprungsgebiete statt ; während andererseits auch nicht selten che canalish-ten Stellen durch mehrere qcm grosse, imcanalisirte Felder von einander getrennt sind. Um die spärlichen grösseren Blutgefäss- canäle von 30 — 60 /< Durchmesser sind die Geflechte reiclilicher ent- wickelt, am reichlichsten um den einzigen im Inneren sich findenden grossen Canal von 2,5 mm Durchmesser. Herr Professor Has.'^e, welchem ich die vorstehend geschilderten Bildungen demonstrirte , entsann sich, ähnliche Bildungen an fossilen Wirbeln gesehen und auch auf einigen Abbildungen') seines Werkes über das natürhche System der Elasmobranchier an- deutungsweise mit dargestellt zu haben. Er war zugleich so gütig, mir seine reiche Sammlung von Schliffen fossiler Wirbel zur Durch- sicht anzubieten und mir die nüthige Auskunft über die Herkunft der einzelneu Stücke zu ertheilen. Bei dieser Durchsicht fanden sieh in vielen der Wirbel Bildungen mit wesentlich denselben Charakteren, als die vorstehend beschriebenen, und zwar nicht blos im Knochen-, sondern auch im K u o r p e 1 g e w e b e. Auch die Weite der Canäle ist zum Theil ganz die- [233] selbe, zum Theil schwankt sie um diese Grösse als Mittelwerth. Da die Wirbel aus verschiedenen Formationen der Erdrinde stammen, so lasse ich zunächst eine Uebersiclit derjenigen Systeme und Abtheilungen folgen, in denen Wirbel mit solchen 1) C. Hasse, Das natiuHcho System der Elasmobramhier auf Grundlage des Baues und der Entwickelung der Wirbelsäule. Jena 1S79. Taf. XVlil, Fig. 25 u. 26. Äehnliche Canäle in fossilen Knochen und Knorpeln. 777 Canälen gefunden worden sind, unter gleichzeitiger Angabe der betre Gewebes. der betreffenden Thiergattuug und des von den Canälen durchsetzten Tertiärsj'stem. Pliocän : Crag, Antwerpen : Raja (Knorpel). Miocän : Molasse von Pfullendorf : Squatina (Knorpel) ; Squatinorajidae (Knorpel), unbestimmte Teleostier (Fig. (j) und Saurier (Knochen). Molasse von Baltringen bei Biberach : uube- stünmter Teleostier. Oligocän: Osterweddiugen: Squatina (Knorpel). Grobkalk von üieckholz: Otodus (Knorpel). Königsberg i. Pr. : unbestimmter Selachier. Eocän: Eisenerz von Kressenberg: Gauoide (in ver- kalktem Knorpel) mid Otodus (Knoi'pel). Claiborne, Alabama: Otodus (Knorpel). Ellerberk: Trvgon und Rhinobatus (Knorpel). Kreidesystem. Senon: C'iplj', Maastricht: Galeus, Raja, Astrape, Squatina, Otodus, MyUobatis (Knorpel), unbestimmter Teleostier (I^ochen). Aachen: Squatina, jMyliobatis (Knorpel). Orel, Russland: Oxyrhina (Knochen), Saurier (Knorpel). Tm-on: Planer Kalk, Strehlen: Larana (Fig. 10)', Squatina, Rhinobatus (Knorpel). Pläner Kalk, Weisskohla: Otodus (Knorpel). Cenoman: — Gault: Aptien. St. Di/.icr: Trygon (Knorpel). Neocom : Unbestimmt: Kreide von Südindieu: Ichthyo- saurus (im Knochen). 778 Nr. 12. üeber eine im Knochen lebende Gruppe von Fadenpilzen. Jurasyst em. Obere Abtheilg. : Baden: Saurier (Knochen). Kimmeridge-Clay, Cliotoverhill : Saurier (Kno- chen). Längerke, Hannover: Saurier (Knochen). ?: Streptospondylus (Knochen). [234:] Mittlere Abtheilg. : Dive.s, Normandie : Teleosaurus (im Knorpel, wenige auch im Knochen) (Fig. 8 u. 11). Untere Abtheilg. : — Trias System. Keuper: Ilmin.?ter, Zone der Avicula contorta: Theco- doutosaurus (im Knochen und verkalkten Knorpel [Fig. 9]). Muschelkalk: Keirt'linger Kalk: Ichthj-osaurus (im Knochen unlanx paläontologischerseits , so wie Ferd. Cohn, Eidam und Fr.-v.nk Schwarz botanischerseits bin ieli bei der vorstehenden, mehrfach auf mir ferner Hegende Gebiete übergreifenden Abhandhing für bereitwilligst ertheilte fachmännische Auskunft, sowie Herrn Professor Hasse für die Ueberlassung des Untersuchungsmateriales zu besonderem Danke verpflichtet. Breslau, August 1886. Erklärung der Abbildungen. Tafel III. Fig. 1. Rhytina Stelleri, Rippenquerschliff. Vergr. LW. Fig. 2. Desgleichen. Querschliff eines HAVERs'schen Lamellensystemes. Mit Salzsäure entkalkt. Vergr. 4.50. Fig. 3. Desgleichen. Mit Salzsäure entkalkt. Kinige Canäle isolirt gezeichnet. Vergr. 600. Fig. 4. Desgleichen. Entkalkt. Scheidewände der Canäle. Vergr. SOG. Fig. 5. Künstliche Scheidewände in Capillarröhrchen. Vergr. 20. Fig. 6. hsolirte (kieselsaure?) Ausgüsse aus dem Wirbel eines unbestimmten Selachiers von Königsberg i. Pr., Oligocän. Vergr. 800. Fig. 7. Canäle in zahnbeinähnlichum Gewebe von Brunn bei Wien. Miocän. Vergr. 450. Fig. 8. Schliff aus einem Wirbel von Teleosaurus. Dives, Normandie. Mittleres Jurasystem. Vergr. 450. Fig. 9. Desgleichen eines Wirbels von Thecodontosaurus. Zone der Avicula contorta. Keuper, Trias. Vergr. 400. Fig. 10. Desgleichen eines Wirbels von Lamna. Pläner Kalk bei Strehlen. Turon. Vergr. 480. Fig. 11. Desgleichen eines Wirbels von Teleosaurus. Dives, Normandie. Mitt- leres Jurasystem. Vergr. 500. Fig. 12. Desgleichen eines Wirbels von Ichthyosaurus. Reiftlinger Kalk. Muschelkalk, Trias. Vergr. 500. Zusammenfassung'. Uebersiclit der hauptsächlichsten, im vorliegenden Bande ermittelten oder erörterten gestaltenden Wirkungsweisen (Naturgesetze)^) und Regeln. § 1. Die lebenstliätigen Theile gleicher Ordnung und Function im Organismus stehen in Folge tlieils ihrer nicht vollkommenen quali- tativen Gleichheit, theils ihrer örtlichen Verschiedenheit in directen resp. indirecten Wechselwirkungen zu einander, welche zur Ausmerzung 1) Als Naturgesetze bezeichnet man liei strenger Auffassung allein Ab- leitungen lies Naturgeschehens aus seinen Componenten (Ursachen), also die Formulirung der Wirkung dieser Componenten. Da der Ausdruck „Natur- gesetz" auf anthropomorpher Auffassung der Natur beruht, wollen wir ihn allmäh- lich verlassen und das Wesentliche selber nennen, d. h. statt seiner die Bezeichnung Wirkungsweise der Conipoiienteii gebrauchen (siehe „Einleitung" zum Archiv für Entwickelungsmechanik 1. 1894. S. 2). Wirkuiij^swpisc bezeichnet die Art der Wirkung zweier oder mehrererCom- ponenten (sog. Ursachen) auf einander. Die Componenten werden dabei angegeben, sind somit zuvor ermittelt; wenn sie richtig angegeben sind, muss ihre wahrge- nommene Wirkungsweise auch in allen gleichen Fällen die gleiche, also eine „be- ständige' sein; denn gleiche Ursachen geben stets gleiche Wirkungen (Folgen). Bios wenn unsere angenommenen Ursachen nicht die richtigen oder nicht vollständig waren, können unter alsdann nur scheinbar gleichen Verhältnissen verschie- dene Wirkungen zur Beobachtung gelangen. Die Componenten, in welche wir zur Zeit das organische gestaltende Ge- schehen zerlegen können, sind selber meist äusserst mannigfach zusammengesetzt: complex. Unsere nächste Aufgabe ist es, diese complexen Componenten, diese nächsten Ursachen des beobachteten Geschehens richtig zu erkennen und zu bezeichnen, und mit ihnen die richtige, also „beständige" Wirkung zu verknü]ift'n. Eine weitere Aufgabe ist es, diese complexen Componenten und ihre Wirkungsweisen 51* 80i Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. von bestimmten Theilen, somit zum alleinigen Ueberlebeu und /An- züchtung anderer Theile führen (S. 216—222). § 2. Die speciellen Wirkungen dieser ,.Tlieilauslese" sind qualitative und gestaltende: a) qualitative Wirkungen: Die Züchtung der von den vorgekommenen Variationen unter den bestehenden Verhältnissen dauerfähigsteu Quali- täten der lebensthätigen Theile (s. S. 231-260). Dazu gehört als wichtigste die Züchtung von Lebenssub- stanzen, welche durch die Function in der „morphologischen Assimilation" gestärkt (trophisch erregt) werden; diesen Sub- stanzen kommt eine l)e8ondere Bedeutung für die Gestaltung der Lebewesen zu (S. 278—303, 332—348, II 216-226). b) gestaltende (örtliche) Wirkungen: Diese Wirkungen der inneren Züchtung bilden zweckmäs- sige Grösse und Lage (also auch Structur) der fungirenden Gebilde aus (siehe Register: functionelle Anpassung und 8. 350—370). § 3. Das Leben der Theile der höheren Thiere ist causal vorläufig in zwei Perioden zu scheiden (S. 348): erstens in eine „embryonale" Periode, in welcher sich die Gestaltung der Theile sowie die Erlialtung des Gebildeten rein zufolge „besonderer" d. h. nicht ,,functionell" ausge- löster Gestaltungskräfte vollzieht; zweitens in eine darauffolgende Periode reiu functio- nellen Lebens, innerhalb deren zur weiteren Ausgestal- tung und in geringerem Maasse auch zur blossen Erhal- tung des Gestalteten die Functioniruug oder die functionelle Reizung desselben nöthig ist (S. 348, 205, 581, II 281). in immer einfachere zu zerlegen oder auch gleich schon einfache Componenlen aus dem organischen Gestaltungsgeschehen abzuspalten. Regeln bezeichnen blos eine Beständigkeit des Geschehens ohne Beziehung auf dessen Ursachen. Sie stellen somit den noch nicht causal , auch nicht aus den nächsten complexen oder einfachen Componenten ableitbaren Thcil des als con- stant erkannten Geschehens dar. Ueber die den nachstehenden Forninlirungen beizulegende Bedeutung siehe die Einleitung Seite Xlll. Gestaltende Wiikimgsweisen ^Naturgeset^e) und Regeln. 805 § 4. !i) Diese Perioden grenzen sich zeitlich für verschiedene Or- gane und Gewebe verschieden gegeneinander ab (S. 373) nnd können ausserdem auch in einander übergreifen (S. 635), indem schon wahrem 1 ilcr „embryonalen" Periode der Functiouirung oder der functionellen Reizung gestaltende Wirkungen zukommen. (Es muss also für jedes Organ erst die Phase resp. die Zeitdauer festgestellt werden, inner- halb deren seine Gestaltungen in diesem 8inne „selbst- .ständige" sind, und nach welcher normaler Weise die gestaltende Wirkung der Function an ihm beginnt.) b) In der „embryonalen" Periode werden viele Gestaltungen durch besondere Kräfte producirt, z. B. Gelenke, geeignete Grösseuverhältnisse etc. (Ö. 373), welche später, d. h. in der Periode des rein fimctionellen Lebens durch funotio- nelle Anpassung hervorgebracht werden können (S. 205, II 222). § 5. Die „morphologische functionelle Anpassung" oder die „gestal- tenden Wirkungen der Function" bringen direct d.h. „innerhalb des Lebens einer Person" das sog. Zweckmässige, die Dauerfähigkeit der einzelnen Person Herstellende resp. Erhöhende hervor. Diese Wir- kungen bestehen in der Herstellung der zur Erhaltung der Person nöthigen Grösse, Gestalt, Structur und zum Theil auch Lage der Orgaue. § 6. Alle diese im Speciellen überaus mannigfaltigen Wirkungen leiten sich von einfachen, elementaren Wirkungsweisen ab: nämlich davon, dass a) der functionelle Reiz resp. die Vollziehung der Function (die Functiouirung) Anregung der „morphologischen A.ssimiIation" des die Function vollziehenden Substrates resp. seiner Matricularsubstanzeu bewirkt (s. § 2a und S. 240, 278 — 330), in Verbindung mit b) dem weiteren Verhalten, dass ohne den functio- nellen Reiz resp. ohne die Vollziehung der Function in der Periode rein functionellen Lebens die zur Erhaltung resp. zum Ersätze des Gebildeten nöthige morphologische Assimilation auf die Dauer nicht in genügendem Maasse stattfindet. § 7. Die Grösse der Aufnahme, sowie die functionelle und morpho- logische Verarbeitung der Nahrung, also die Ernährungsgrösse 806 Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze") und Regeln. der Zellen und Organe wird, das Vorhandensein von Nahrungs- material vorausgesetzt, nicht in erster Linie durch die Grösse der Ernährungsgelegenheit, sondern durch innere Zustände der sich ernährenden (Tchilde bestimmt. Die Ernährung ist eine active Leistung des Ernährten nml kann innerhalb gewisser Grenzen bei verminderter äusserer Ernährungsgelegenheit vcrgrössert, bei ver- grösserter Ernährungsgelegenheit vermindert sein (S. 307, 311). In der Periode des ,, embryonalen" Lebens ist diese Grösse von der Grösse der immanenten Waclisthumsfähigkeit abhängig; in der Periode rein functionellen Lebens wird sie durch die Grösse des statt- gehabten ^^erbrauches und der trophischen Wirkung der Function, also durch die Functionsgrösse bedingt. § 8. Die allgemeinen gestaltenden Leistungen der .,tro])hischen Wirkung der Function auf das ihr dienende Substrat" sind in der Periode rein functionellen Lebens folgende: a) Dauernde mittlere Vergrösseruug der Vollziehung der Func- tion (resp. der entsprechende functionelle Reiz) wirkt innerhalb normaler Grenzen derart auf das fungirende Substrat, dass dasselbe so lange vergrössert wird (Activitätshypertrophie), bis ein, bestimmten „Bildungs-Coeffieienten"entsprechendesGleich- gewicht zwischen Organgrösse und Functionsgrösse hergestellt ist: „Functionelle Grösse" der Organe (8. 252, 266—269, 562, 637, II 222). b) Dauernde Verkleinerung der mittleren Functionsgrösse veranlasst in der „Periode des functionellen Lebens" der Organe eine bei verschiedenen Geweben verschieden laugsame, be- stimmten ,,Erhaltungscoefficienten" entsprechende \'erkleine- rung der Organe (Inactivitätsatrophie). c) Die Erhaltungscoefficicntcn des functionell Gebildeten sind kleiner als die Bildungscoefticicnten ; d. h. zur functionell be- dingten Ausbildung einer bestimmten Organgrösse ist ein grösseres Maass mittlerer Function nöthig, als zur blossen Er- haltung des bereits Gebildeten (S. 555, 559, 281 Anm.). § 9. Die in §8 characterisirten gestaltenden Wirkungen sind elementare, d. h. die .einzelnen kleinsten fungirenden Theilchen Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. 807 rcvsp. iluv iMatrices betreffondc; sie localisiren sicli dalier ent- sprccliend der Localisation der Function, resp. des i'unctio- nellen Reizes innerhalb des aus diesen Theilen gebildeten Complexes. Daraus ergeben sich iDlgcnde gestaltende Specialwirkungen: a) Die \'^ergrösserung (resp. Verkleinerung) der Function ver- grössert (resp. verkleinert) blos diejenigen Dimensionen der Organe, welche an der Verstärkung (resp. Verkleinerung) der l'unction betheiligt sind: Dimensional beschränkte Wir- kungsweise der functionellen Anpassung (S. 166, 627 — 639). b) Die Organe erlangen eine der Localisation der Function im Organ entsprechende Structur: eine „functionelle Structur'', die so fein ist, als der Aufbau aus den fungirenden Elementar- theilen (resp. ihren Matrices oder deren Bildungsmechanismen) es möglieh sein lässt. c) Durch die Activitätshypertrophie an den Stellen und in den Richtungen stärkster Function verbunden mit der der ersteren nachfolgenden Inactivitätsatrophie an den Stellen und in den Richtungen schwächerer Function findet bei vollkommener oder annähernder Con stanz der Beanspruchung,sricbtung Localisation des fungirenden Substrates blos, resp. überwiegend an den Stellen und in den Richtungen stärkster Func- tion statt; diese Richtungen sind: 1. die primär gegebene Richtung stärkster Function; 2. die secundäre Richtung stärkster Function, welche reclitwinkelig zur ersteren steht (s. S. 681). So entsteht bei den Widerstand leistenden Organen (Knochen, Fascien, Trommelfell) die statische, bei den activ gerichtet fun- girenden Organen (Hohlmuskeln des Darms, der Gefässe etc.) die dynamische functionelle Structur. d) Die Organe erlangen eine der Localisation der Function mög- lichst entsprechende Gestalt: die „functionelle Gestalt", soweit deren Ausbildung nicht durch den Druck der Nachbar- organe beschränkt wird. § 10. Durch die „rein functionellen Correlationen" der Organe und die erwähnten „gestaltenden Wirkungen der Finiction" (die morpho- Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. logische functionelle Anpassung) wird bei manciien selbstständigen neuen Variationen eines oder einiger Organe, sei es bereits im embryonalen oder erst im postcmbryonalen Leben einer „Person" eine diesen primären Variationen functionell entsprechende, sog. zweck- mässige Aenderung anderer Organe bewirkt und so die „functionelle Harmonie" der Theile des Organismus gleich in neuen inneren Verhältnissen hergestellt (s. S. 37ü). § 11. Die functionellen Reize, welchen zugleich .'-olche tro- phische Wirkungen zukommen, sind: A. Bei den passiv fungirenden Organen: a) fürfaseriges Bindegewebe: Zug, in-imäreroder secundärer (durch Umsetzung von Druck in Zug entstellender); (S. 229 A.) b) für Knorpel: Druck oder Zug mit starker Abscheerung verbunden (II 226—231); c) für Knochen: Druck (mit Zug wechselnd oder ohne Zug) aber ohne oder nur mit minimaler Abscheerung (s. Knochen). B. Bei den activ fungirenden Organen: Muskeln, Drüsen, Sinnes- zellen, Ganglienzellen, Nerven ist dieser trophisch wirkende Reiz der die active Thätigkeit der Orgaue auslösende Reiz; doch scheint bei ihnen mehr erst der Vollziehung der Function, also der „Functionirung" diese gestaltende trophische Wirkung in vollem Maasse zuzukommen (s. S. 635 u. f.). Hpecielle Organgestaltungen, welche durch die gestalten- den Wirkungsweisen der Gewebe unter Wirkung der Func- tion entstehen können (s. § 4 b), nebst einigen anderen ursächhchen Ableitungen von Organgestaltungeu. § 12. Bindegewebige Organe: a) Unter Wirkung con staut gerichteten stärksten Zuges kann ein aus gleichmässig verwirrten jugendlichen Bindegewebs- fasern obiger Qualität gebildetes Organ im Laufe eines einzigen persönlichen Lebens zum Theil unter dirocter Umordnung durch den Zug, besonders aber unter Wachsthum und Neu- bildung von Fasern in den Riclitungen stärkster Zugwirkung zu einem Organ mit überwiegend rechtwinkelig zu einander ■ Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. 809 stehenden und zwar in den Richtungen primären und secun- dären stärksten Zuges stehenden Fasern umgebildet werden (Sehnen, Bänder, Fascien). Da beim Bindegewebe die Inaetivi- tätsatrophie nur gering ist (S. 385), so wird das ^"orherrschen der Fasern in den Richtungen stärilisen Scelettlieilen nach der vor;uis<;esi'angenen Knor[)('lzerstürun.<;' und -\'erkalkung (siehe §13) (He Knoeheubilclun<; im Cent ru ni unil bei den langen knorpehgen Scelettheilen an der, nieiit der iVbscheerung unterliegenden Oberfläche des Mittel- stückes, hier (S. 684) schon ohne vorausgegangene Knorpelver- kalkung. Mit der Bildung dieser diaphysären Knochensehale wird der mittlere innere Theil der knorpeligen Diaphyse vor Druck, Zug und Abscheeruug geschützt, was zu seiner Zerstörung führt. c) Andererseits wird mit der Bildung dieser festeren Diaphyse bei stattfindenden Gelenkbewegungeu eine neue Stelle stärkster. Verschiebung, also Abscheerung und damit stärkster Knorpelbildung an der Grenze der Diaphyse gegen die Epi- physe geschaffen, die intermediäre Epiphyseuscheibe (siehe Epiphyse, Diaphyse). d) Die Apophysen sind Theile, welche gleich den Epiphysen gegen den ossificirten Theil etwas verschoben werden; und zwar geschieht dies bei ersteren durch annähernd tan- gential angreifende Sehnen und Muskeln. e) Indem der ossificirte Theil seine nächste knorpelige Umgebung ruhig stellt, also vor Abscheerung schützt, schreitet die Knorpel- zerstörung und Verkalkung und die nachfolgende Ossification peripher fort. f) Es würde daher bald das präformirte Knorpelstück fast ganz Substitutionen ossificirt sein, w'enu nicht das anfangs „embr3'o- nale" später „functionell" bedingte Knorpel wa ch sth u m statt- fände. Sobald dies Wachsthum (aus noch unbekannten Gründen) aufhört, werden die intermediären und die Gelenk-Knorpellagen auf ein allein noch functionell (durch Abscheerung und Druck) erhaltbares Minimum an Dicke reducirt. g) Danach scheint (aus unbekannten locaUsirten Gründen) an den intermediären Epiphysenscheiben auch diese functionelle Er- haltungsiähigkeit zu schwinden (sofern nicht etwa die hier vor- handenen Zacken bei der erwähnten minimalen Dicke schon 812 Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. ZU starke Ruhigstelluiig bedingen; siehe S. 720 u. Register: Epiphysen, Knochen), li) Unter der Wirkung constanter, d. h. coustant gericliteter, -localisirter und im Mittel gleich grosser Beanspruchung auf einen beliebig structurirten und gestalteten Knochen entsteht im Laufe der Zeit in ihm eine Structur, welclie die „stati- schen Elementartheile" (Bälkchen, Plättchen und Röhrchen, S. 703) nur in den Riclitungen stärkster primärer und secuudärer Inanspruchnahme, also zugleich rechtwinkelig zu einander orientirt darbietet und somit in ihrem Aufbaue aus „diesen s t a t i s c h e n E 1 e m e n t a r t h e i 1 e n" der Function vollkommen angepasst ist: functionelle, speciell statische Structur des Knochens. i) Dies geschieht dadurch, 1. dass an den Stellen stärkeren Druckes (resp. Zuges) Knocheuanbilduug ausgelöst wird, was zur Folge hat, dass 2. anderen, in Richtung und an Stellen weniger intensiver Einwirkung liegenden Knochentheilen der Reiz molecularer Erschütterung und Spannung entsprechend entzogen wird, was Resorption zur Folge hat (Inactivitäts- atrophie) [II 221]. k) Diese gestaltenden Einzelvvirkungen integrirea sich auch zu starker Beeinflussung der G e s a m m t g e s t a 1 1 des Scelettheiles. Dieselbe wird im Laufe genügender Zeit in Folge der starken Inactivitätsatrophie der Knochen der constanten Beanspruchung derart angepasst, dass alle sie zusammensetzenden , .statischen Elementartheile" im Mittel gl eich stark in Anspruch genommen werden: functionelle, speciell statische Gestalt des Knochens. 1) Aus diesen Reactionen der Stütz- und Bindesubstanzen (§ 12, 13, 14a) zusammen leitet sich die ,, Selbstgestaltung von neuen Gelenken ab: die Pseudarthrose. An der Stelle ,, stärkster" Verschiebung entsteht resp. bleibt die Zusammenhangstrennung: ein Spalt; daneben, also au der Stelle starken Druckes mit Reibung (somit Abscheerung) entsteht und bleibt der Knorpel, an der ruhigeren Stelle daneben Knochen; in der Peripherie der Berührungsflächen dieser Scelettheile, also an den Stellen Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. 813 reinen Zuges entstellt Bindegewebe (Gelenkkapsel und Bänder), auf dessen Innenseite, also bei Verscbiebung mit Reibung des Bindegewebes Sjaiovialis. § 1;"). Muskeln: a) Uegulation von Dicke unil Länge: Durch Ueberwin- dung im Mittel grösserer Widerstände werden die Muskeln blos dicker, durch Ausübung grösserer mittlerer Verkürzung werden sie morphologisch (s.S. 623) länger: Dimensional anpassende Wirkungsweise der Activitätshyper- trophie (S. 166, 627-636). (lieber die gestaltende Wirkung im Mittel „stärkerer Impulse" sowie grösserer „Häufigkeit" des Gebrauches s. S. 284, 589 A. ; über die Auszüchtung günstiger Ansatzstellen und Faserrich- tungen im personellen Leben s. S. 353, 654.) b) Werden die Muskelfasern ceteris paribus länger, so verkürzen sich die zugehörigen Sehnenfasern; werden die Muskelfasern ceteris paribus kürzer, so werden die Sehnen länger und zwar unter sehniger Umwandlung der Muskelfaserenden. S. 616 — 622. c) Ursachen der F i e d e r u n g : Die Sehnenfasern sind über 40 mal dünner als die zugehörigen Muskelfasern. Indem viele Sehnen- fasern zu einer einheitlichen, d.h. ausdicht zusammenliegenden Fasern gebildeten Sehne zusammengefasst werden, entsteht Convergenz und Schiefstellung der zugehörigen Muskel- fasern gegen die Sehne : F i e d e r u u g. (Dieses Gestaltverhält- niss gestattet zugleich möglichste Ausnutzung gegebenen be- stimmt gestalteten Raumes für die Anbringung von Muskel- fasern hl ihm aber auf Kosten der Ausnutzung der Energie, welche entsprechend der Schiefstellung der Fasern zur Sehne auf innere Arbeit verwendet wird.) d) Die Sehnen entstehen, soweit ihre Lage nicht durch die Lage des directen Ursprungs der Muskelfasern vom Periost bestimmt ist (S. 586), an den am stärksten durch Nachbarn gedrückten Seiten der Muskeln ; das Muskelfleisch dagegen entwickelt sich nach den Seiten geringsten Druckes hin (s. Sehnen). § 16. Drüsen. 814 Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. a) Die Anordnung der Drüsenzellen sowie die lobuläre Gliede- rung an sich werden durch die Gestaltungskräfte, welche in den specili sehen Theilen Hegen, hervorgebracht. 1)) Die Grösse der Drüsen und zum Theil auch die der einzelnen Acini, sowie die Zalü der letzteren ^\^rd durch functionelie Anpassung regulirt. c) Die Grösse und zum Tlieil auch die Gestalt der Lobuli werden bei den niclit „netzförmig" structurirten, also bei den aus baumartig verästelten, blind endigenden Drüsenschläuchen gebildeten Drüsen gleichfalls durch die in den specifischen Theilen selber liegenden Kräfte (oder durch letztere Kräfte unter Vermitteluug von die Function beeinflussenden Momenten) bewirkt. Die specielle Gestalt der Lobuli ist dagegen durch die enge Zusammenfassung der Läppchen durch Bindegewebe oder durch die Zusammendrängung dm'ch äussere Nachbar- theile unter Abplattung der Läppchen aneinander veranlasst '). d) Die Gestalt und zum Theil auch die Grösse der Läppchen der engmaschig netzartig structurirten Leber ist durch die Anordnung und die functionell mögliche Länge derBlut- capillaren bedingt. e) Diese Gestalt sowie die mehr oder weniger ausgeprägte periphere Sonderung der Leberläppchen wird durcli die mehr oder weniger grössere Fähigkeit der jeweiligen E n d Verästelungen der V e n a p o r t a e , in das anschliessende Capillaruetz hinein weitgabelige, zweitheilige dickere Endäste zu bilden, bedingt, als ähnliche Fähigkeit bei den Endverästelungen der Vena hepatica vorlianden ist'); bei manchen Thiereu , z. B. beim Schweine , kommt dazu noch ein Vermögen zu llächenhafter Vermehrung des die V. portae bealeitendeu Bindegewebes zwischen die Acini hinein. f) Das von den Leberzellen der Säuger gebildete „Fachwerk" wird in seiner speciellen Gestaltung durch die Anpassung des specifischen Parenchyms an die Lage und Gestalt der Blut- capillaren hervorgebracht (von der Grösse der Abstände, also ') Siehe „Einleitung" z. Arcli. für Kutwirkclungsmechanik, 1894, Hd. 1, S. 17. Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. 815 der Maschenweite der Blutcapillarcii abgesehen, denn diese Grösse wh'd durch das Parenchj'm bedingt). g) Die Gestalt und specifische definitive Anonhunig der Säuge- thierleberzellen ist durch die in ihrer morphologisclien Quahtät begründete Fähigkeit jeder Leberzelle nach mehreren Seiten zu secernireu, also durclühreMultipolarität bedingt (lococit. S. 7). Diese Eigenschaft macht auch Nahrungsaufnahme jeder Zelle von mehreren Seiten her nöthig und bedingt so die erwähnte An- schmiegung des Parenchyms an das Blutcapillarnetz, während bei den anderen Drüsen dieBlutcapillaren sich an das specifische Parenchym anschmiegen und sich dessen Gestalt anpassen. § 17. Rlutgefässe. a) Die Anlage sowie die Aulagestelleu der typisch gelagerten grösseren Blutgefässe und ihrer typischen Hauptverästelungen werden durch besondere (d. h. nicht durch die „Functio- nirung'" der Blutgefässe bedingte) gestaltende locale Ur- sachen bestimmt (s. S. 83, 205, 327); dasselbe ist auch bei dem nachträghchen Schwund von Gefässen der Fall (s. S. 327). h) Alle Blutgefässe werden als Capillaren angelegt. c) Ein Theil derselben wächst zunächst „selbstständig" weiter (S. 326). d) Melfach aber werden durch Steigerung des mittleren Blut- di'uckes und der mittleren durchfliessendeu Flüssigkeitsmenge entsprechend gelegene Capillaren bei Vergrösserung des Netzes an den Zufuhr- s. Vertheilungsstellen des Blutes zu Arterien, au den Sammelstellen zu Venen umgebildet. e) Die Intima der Blutgefässe passt sich unter normalen Ver- hältnissen und soweit nicht äusserer Zwang hemmend, defor- mirend auf das Gefäss wirkt, in der Kichluug und Gestalt ihrer Lichtung an die hämodynamisch angestrebte Eigen- gestalt des Blutstrahles derart an, dass das Lumen der Gefässe an jeder einzelnen Stelle diejenige Gestalt und Richtung er- laugt, die der Blutstrahl nach den unmittelbar vorher be- stehenden, also als gegeben anzusehenden Verhältnissen, bei „fi'eiem" Ausfluss von selber annehmen würde (S. 97). f) In Folge dieser Anpassung erlangt z. B. die Lichtung der Astur- 816 Gestaltende Wirkungsweisen (Naturgesetze) und Regeln. Sprünge beim Fehlen äusseren Zwanges auf die Gefässe die Gestalt eines „frei" aus einer seitlichen, annähernd ovalen OefEnuug der Gefässwandimg des Stammes ausspringendeu Blutstrahles (S. 75). g) Diese Wirkungsweise kann darauf beruhen, dass die Intiraa derart wachst, dass sie nicht (oder bei äusserem Zwang auf die Gefilsse möghchst wenig) von den Flüssigkeitsstrahlen ge- stossen wird (S. 1)7), somit (möglichst) nur der Blutspan- nung ausgesetzt wird (S. 96, 365). h) Die Blutgefässwandung passt sich in ihrer Länge normaler Weise an die Länge der Unterlage der verbundenen Theile, in ihrer mittleren, d. h. morphologischen Wanduugsdicke (besonders iu der Tuuica media) au die mittlere Höhe der Blutspannung (S. 97 und 98), in dem Umfang der Wandung (also iu der Weite ihrer Lichtung) an die mittlere durch- strömende Blutmenge an. i) Bei zu raschem Wechsel iu der Grösse dieser Functionen können diese gestaltenden Reactioneu der Gefässwandung in- sufficient werden; es resultireu dann entsprechende Abwei- chungen von den vorstehend charakterisirten Gestaltungen, so z. B. Schlängelungen, also Vergrösserung der Länge statt blosser Verdickung, sowie Erweiterung des Lumens mit Ver- dünnung der Wandung statt Verdickung derselben bei zu rascher anhaltender Steigerung des mittleren Blutdruckes (S. 168). k) Diese functionellen Verhältnisse werden von dem V'erbrauch in den ernährten Bezirken aus regulirt (S. 316). 1) Die morphologische Anpassung an den gesteigerten mittleren Verbrauch geschieht in dem Ca]iillarbezirk zunächst derartig, dass in Folge dieser Steigerung die Bildung neuer Capillaren iu der Capillarwanduug der betreffenden" Stellen ausgelöst wird. Eine nervöse, vasomotorische Regulation der Weite der zuführenden und (vielleicht auch) der abführenden Gefässe vermittelt dann die Möglichkeit zur nachfolgenden morphologischen Anpassung an diese Gebrauchssteigeruug. Autoren- und Sach-Register siehe am Schliisse des zweiten Bandes. W.Rour. ges. .Whandl ith. EntH'Kki-limii.stnec/iuiiik . Bd.T. A'S /. Tufr. Iv' Rcuj: cUi Verlag V. Willi Engelmann in I.cMp/., p/.iq JQr lMi<>y.>s DruAim v H. Stä/tj, Wnäia^ ]\' Rour. //" s .Whoridl iih Enlmike!uru/s:iH-t:/irinil.-. Bd.INS/. Tut- '!■ nai (mssp Verlag V. Willi higelmann In I.cipzin U'.ffoit-c. i/rs. .Ihha/ltU uh A'/tJt\-ttAt/t/ftff.sr/iec/ififiii- . ßd / X^ 12 'ic,r m d. e. r V\ J n i II II ^ e r €, /, , X l M r n n H L i I M I ! i ! ! n H M -\ //. o- "i o:- /■^C '< c^cv:^- Verlaq V. Wilh HiujelinaTin in l,ei[)zi[) r\ >• ^i .^■,Cj. »