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Sefammelte

Schriften nnd Dichtungen

von

Richard Wagner. Beitte eialiage

Dritter Band.

Leipzig. Verlag von E. W. Fritzſch. 1897.

Alle Rechte, auch das der Ueberfehung, im Ganzen und Einzelnen vorbehalten.

Drud von C. G. Mdder In Leipzig.

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ZAuhaltsverzeichniß.

Einleitung zum dritten und vierten Bande . . . . . Die Kunſt und bie Revolution. . . 2. 2.2... Das Kunftwerk ber Bulunft . 2 2 200. „Wieland ber Schmiebt”, ald Drama entworfen . Runft und Klima... 22 2 2 onen

Oper und Drama, erfter Theil:

Die Oper und das Wefen der Mufll.. . . .

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Einleitung zum dritten und vierten Bande,

In feiner Gejchichte Friebrich’3 des Großen bezeichnet Tho⸗ mas Carlyle den Ausbruch der franzöfifchen Revolution als den beginnenden Aft der Selbſt-Verbrennung einer in Lug und Trug dahinfaulenden Nation, und weiſt feine Leſer folgender- maßen darauf hin:

„Dort ift euer nächſter Meilenftein in der Geſchichte

„der Menſchheit! Jenes allgemeine Aufbrennen des Luges „und Truges, wie im Feuer ber Hölle. Der Eid von fünf⸗— „undzwanzig Millionen Menſchen, welcher ſeitdem der „Eid aller Menfchen geworden ift, „„wir wollen lieber fterben, als länger unter Lügen leben!” das ift der „neue Alt in der Weltgeſchichte. Der neue Alt ober „wir können e3 einen neuen Theil nennen; Drama ber Weltgeſchichte, dritter Theil. Wenn der zweite Theil „vor 1800 Jahren anfing, jo glaube ich, daß dieß der „dritte Theil fein wird. Dieß ift das wahrhaft Himmlifch- „Hölliiche Ereigniß: das feltfamfte, welches feit taufend Jahren ftattgefunden. Denn es bezeichnet den Ausbruch „ber ganzen Menſchheit in Anarchie, in den Glauben und „die Praxis der Regierungsloſigkeit das heißt (mern „man aufrichtig fein will) in eine unbezwingliche Empörung gegen Lügen-Herrfcher und Lügen» Lehrer was ih „menfchenfreundli auslege ala ein Suchen, ein ſehr

Richard Wagner, Gel, Sqhriſten IIL 1

2 Einleitung zum dritten und vierten Banbe.

„unberwußtes, aber doc ein todesernſtes Suchen nach „wahren Herricern und Lehrern. Dieſes Ereigniß „ber ausbrechenden Selbſt-Verbrennung, vielfarbig, mit „lautem Getöfe, die ganze Welt auf viele Hundert Jahre „in anarchiſche Flammen einhüllend, follten alle Menfchen „beachten und unterfuchen und erforfchen, als das Selt- „Samfte, was fich je zugetragen. Jahrhunderte davon liegen „noch vor und, mehrere traurige, ſchmuzig-aufgeregte Jahre „hunderte, die wenig nütze. Vielleicht nod) zwei Jahr- „hunderte, vielleicht noch zehn eines ſolchen Entwide- nlungsganges, ehe das Alte vollftändig außgebrannt ift „und das Neue in erfennbarer Geftalt erjcheint. Das „taufendjährige Reich der Anarchie; kürzt es ab, gebt „euer Herzblut Hin, ed abzufürzen, ihr herdiſch „Weiſen, die da kommen!“

Wenn ich in der vollen Aufregung des Jahres 1849 einen Aufruf, wie ihn die zunächft hier folgende Schrift: „die Kunſt und die Revolution“ enthielt, erlaffen fonnte, glaube ich mit dem legten Anrufe des greifen Geſchichtsſchreibers mich in vollfom- mener Übereinftimmung befunden zu haben. Ich glaubte an die Revolution, wie an ihre Notwendigkeit und Unaufpaltfamfeit, mit durchaus nicht mehr Übertreibung als Carlyle: nur fühlte ich mich zugleich auch berufen, ihr die Wege ber Rettung anzu— zeigen. Lag es mir fern dad Neue zu bezeichnen, was auf ben Trümmern einer lügenhaften Welt als neue politifhe Ord— nung erwachſen follte*), jo fühlte ich mich Dagegen begeiftert, das Runftwerf zu zeichnen, welches auf den Trümmern einer lügen- haften Kunſt erftehen follte. Dieſes Kunſtwerk dem Leben felbft als prophetifchen Spiegel feiner Zukunft vorzuhalten, bünfte mich ein allerwichtigfter Beitrag zu dem Werfe der Abdämmung des Meeres der Revolution in das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menfchheit. Ich war fo kühn, der Heinen Schrift als Motto folgende Behauptung voranzuftellen: „Wo einft bie

*) Auch Carlyle vermag biefe nur zu bezeichnen als „ben Tod ber Anarchie: oder eine Bet, die nod) einmal ganz auf That» ſachen, befieren oder ſchlechteren, aufgebaut wirb und in welder ber Iügende, phrafenhafte Lehrer des falichen Scheines eine erloſchene Species geworben ift, von der man wohl weiß, daß fie hinab- gegangen ift in's Nichts!“

Einleitung zum dritten und vierten Bande. 3

Runft fehwieg, begann die Staatsweisheit und Philofophie: wo jetzt der Staatsweiſe und Philoſoph zu Ende ift, da fängt wieder der Rünftler an“.

Es ift nicht nöthig, hier des Hohnes zu gedenken, welchen meine fühne Anmaaßung mir zuzog, da ich im Verlaufe meiner hierauf bezüglichen, mit dem Folgenden im Bufammenhange vor» gelegten, fchriftftellerifchen Thätigfeit gemügende Weranlafjung zur Abwehr gröblichiter Einfprüche erhielt; auch habe ich fowohl über die Entſtehung dieſer Arbeiten, als über die charakteriftiſchen Anregungen dazu, in jener, bereitö früher angezogenen, als Ab⸗ ſchluß diefer ganzen Periode für den Schluß des vierten Bandes aufbewahrten „Mittheilung an meine Freunde“, fowie in einem fpäteren Zukunftsmuſik“ betitelten Aufſatze, alles hierauf Be— zügliche fattfam behandelt. Nur will ich erwähnen, daß, was meinen fo parador ericheinenden Anfichten befonderd die Ver⸗ fpottung unferer Kunftfritifer zuzog, in ber begeifterten Erregt- heit zu finden ift, welche durchweg meinen Styl beherrfchte, und meinen Aufzeichnungen mehr einen dichterifchen, als wiſſenſchaft- lich kritiſchen Charakter gab. Zudem war; der, Einfluß eines un- wählfamen Hereinziehen’3 philofophifcher Marimen der Mlarheit meine? Ausdruckes, befonderd bei allen Denjenigen, melde meinen Anfchauungen und Grumbanfichten nicht folgen fonnten oder wollten, nachtheilig. Aus ber damals, mich lebhaft antegen- den Lektüre mehrerer Schriften Ludwig Feuerbach's hatte ich verfchiedene Bezeichnungen für Begriffe entnommen, melde ih auf fünftlerifche Worftellungen anwendete, denen fie nicht immer deutlich entſprechen Tonnten. Hierin gab ic) mid) ohne keitifche Überlegung der Führung eines geiftreichen Schriftftellers Hin, der meiner damaligen Stimmung vorzüglich dadurch nahe trat, daß er der Philofophie (in welcher er einzig die verfappte Theologie aufgefunden zu haben glaubte) den Abſchied gab, und dafür einer Auffaffung des menfchlichen Weſens ſich zuwendete, in welcher ic} deutlich den von mir gemeinten fünftlerii hen Men- {hen wieberzuerfennen glaubte. Hieraus entfprang eine gewiſſe leidenſchaftliche Verwirrung, melde ſich als Voreiligfeit und Un- deutlichkeit im Gebrauche philojophiicher Schemata kundgab.

Ju dieſem Betreff halte ich es für nöthig, haupiſächlich zweier Begrifföbezeichnungen zu erwähnen, deren Misverftänd- licfeit mir feitdem auffällig geworden iſt.

1“

4 Einleitung zum” dritten und vierten Bande.

Dieb bezieht ſich zunächft auf den Begriff von Willkür und Unmwillfür, mit welchem jebenfalls, ſchon Tängft. vor meinem Hinzuthun, eine große Verwirrung vorgegangen var, ba ein abjectivifch gebrauchtes „unwillkürlich“ zum Subftantiv er- hoben wurbe. Über den Hieraus entftandenen Misbrauch kann fich nur Derjenige vollſtändig aufklären, welcher von Schopen= hauer über die Bedeutung des Willens ſich belehren ließ: wem dieſe unermeßliche Wohlthat zu Theil ward, weiß dann, daß jenes misbräuchliche ‚Unwillkür“ in Wahrheit „ver Wille“ heißen ſoll, jenes „Willfür“ aber ben durch Die Reflexion beein- flußten und geleiteten, den fogenannten Verſtandes-Willen be zeichnet. Da dieſer Ießtere mehr auf die Eigenfchaften der Er- fenntniß, welche irrig und duch den rein individuellen Zweck migleitet fein fann, ſich bezieht, wird ihm als „Willfür“ die üble Eigenſchaft beigemefien, in welcher er aud) in biefen vorliegen- ben Schriften durchgehends verftanden ift; wogegen dem reinen Willen, wie er als Ding an fich im Menfchen fi) bewußt wird, die wahrhaft produkliven Eigenſchaften zugeſprochen werben, welche bier dem negativen Begriffe: „Unmwillfür, wie es fcheint in Folge einer aus dem populären Sprachgebrauch entſprun— genen Verwirrung, zugetheilt find. Da eine durchgehende Be— richtigung in biefem Sinne zu’ weit führen und fehr ermüdend fein müßte, fei daher der geneigte Leſer erfucht, im vorfommen« den, Bedenken erregenbden Sale, der Hier gegebenen Erklärung ſich erinnern zu wollen.

Des weiteren will es mich zu befürchten bünfen, daß die in Folge der gleichen Weranlafjung von mir durchgehends ge- brauchte Bezeichnung: Sinnlichkeit, wenn nicht für mich jchäb- liche Misverftändniffe, fo doch erſchwerende Unklarheit herbor- rufen fönnte. Da der mit dieſer Bezeichnung gegebene Begriff auch in meiner Darftellung nur dadurd einen Sinn erhält, daß . er dem Gedanken, oder wie es die Abficht hierbei deutlicher

machen würde ber „Gedanklichkeit“, entgegengeftellt wird, fo wäre ein abjolutes Misverſtändniß allerdings wohl ſchwierig, indem hier leicht die zwei entgegengefeßten Faktoren der Kunft, und der Wiffenfchaft erfannt werden müflen. Außerdem, daß jenes Wort im gemeinen Sprachgebrauche in der üblen Bedeu- tung bed „Senfualismus“, oder gar der Ergebung an die Sinnen- Tuft verftanden wird, bürfte es aber an und fürfic, fo gebräuch-

Einleitung zum dritten und vierten Bande. 5

lich es auch in der Sprache unſerer Philoſophie geworden iſt, in theoretiſchen Darſtellungen von ſo warmer Aufgeregtheit, wie den meinigen, beſſer durch eine weniger zweideutige Bezeichnung erſetzt werden. Offenbar handelt es ſich hier um die Gegenſätze der intuitiven und der abftraften Erkenniniß und deren Reful- tate, vor Allem aber auch um die fubjektiven VBefähigungen zu diefen verjchiedenen Erkenntnißarten. Die Bezeihnung: An— ſchauungsvermögen würde für die erftere ausreichen, wenn nicht für das ſpezifiſch Tünftlerifhe Anſchauungsvermögen eine ftarfe Verſchärfung nöthig dünkte, für welches immerhin: ſinnliches Anfhauungsvermögen, endlich ſchlechthin: Sinn- lichkeit, fowohl für das Vermögen, wie für das Objekt feiner Thätigkeit, und bie Kraft, welche beide in Rapport fegt, bei behalten zu müfjen unerläßli bünfte

In die allergrößte Gefahr könnte aber ber Verfaſſer durch feine Häufige Anziehung des „Kommunismus“ gerathen, wenn er mit dieſen vorliegenden Kunftichriften Heute in Paris auf treten wollte; denn offenbar ftellt er fich, dem „Egoismuß“ gegen- über, auf die Seite biefer höchſt verpönten Kategorie. Ich glaube nun zwar, daß der gewogene beutfche Leſer, welchem diejer be griffliche Gegenſatz fogleich einleuchten wird, über das Bedenken, ob er mich umter die Parteigänger ber neueften Parifer „Com- mune“ zu ftellen habe, one bejondere Mühe hinauskommen wird. Doch will ich nicht läugnen, daß ich auf biefe (den gleichen Feuer⸗ bach ſchen Schriften in demfelben Sinne entinommene) Bezeich- nung bes Gegeuſatzes des Egoismus’ durch Kommunismus, nicht mit der Energie, wie es von mir hier gejchehen ift, eingegangen fein würde, wenn mir in biefem Begriffe nicht auch ein ſozial⸗ politiſches Ideal ald Prinzip aufgegangen wäre, nach welchem ich daS „Volt“ in dem Sinne der unvergleichlichen Produktivität der vorgeſchichtlichen Urgemeinſchaftlichleit auffaßte, und dieſes im vollenbetften Maaße als allgemeinſchaftliches Weſen der Zu⸗ kunft wieder hergeſtellt dachte. Bezeichnend für meine Erfah— rungen nach ber praftifchen Seite iſt es nun, daß ich in ber erſten der vorliegenden Schriften, „bie Kunft und bie Revolution“, welche ih urfprünglich für ein in Paris (mo ich mid) im Sommer 1849 einige Wochen aufhielt) erſcheinendes politiſches Journal beftimmt hatte, jene Bezeichnung: Kommunismus, umging, wie es mich dünkt aus Furcht vor einem groben Misverftändniffe

6 Einleitung zum dritten und vierten Bande.

von Seiten unferer, in ber Auffafjung mancher Begriffe oft doch etwas allzu „finnlichen“ franzöfiichen Brüder; wogegen ich fie ohne Bedenken in meine fpäteren, fofort für Deutfchland be- ftimmten Kunftfehriften aufnahm, was mir jept als ein Zeugniß meines tiefen Vertrauen's in bie Eigenſchaften des deutſchen Geiſtes von Werth iſt. Im weiteren Verlauf erſcheint mir jetzt aber auch die Erfahrung wichtig, daß mein Aufſatz in Paris gänz- li) unverftanden blieb, und man nicht begriff, was ic} namentlich in einem politifchen Journale zu jener Zeit damit jagen wollte; dem zu Folge er dort auch nicht zur Veröffentlihung gelangte.

Dod war e& wohl nicht nur unter dem Eindrude biejer und ähnlicher Erfahrungen, daß ſich der ideale Kern meiner Ten- den; immer mehr von der Berührung mit ber politifchen Er- vegtheit ded Tages zurüdzog, und bald ſich immer reiner als künftlerifches Ideal herausbildete. Hiervon giebt ſchon die Auf- einanberfolge der in diefen näcjften Bänden zufammengeftellten Schriften eine genügende Auskunft, und der Lefer wird dieß am beften aus dem, mitten zwifchen diefe Schriften eingeftreueten dramatifchen Entwurf zu einem „Wieland ber Schmied“ erkennen, welcher genau in ber Zeit, in welche er hier geftellt ift, von mir auögearbeitet wurde. Blieb nun jene fünftleriiche Idee, welche ich bisher als mein innigft erworbenes Eigenthum unter allen Formen ihrer Darftellung mir feftgehalten habe, die einzige wahre Ausbeute einer ungemein aufgeregten Arbeit meine ganzen Wejens, und kounte ich endlich diefer Idee einzig als ſchaffender Künftler ohne Beunruhigung wieder nachleben, jo durfte mit der Beit der Glaube an den deutjchen Geift, und das immer mäch- tiger mich einnehmende Vertrauen zu ber ihm vorbehaltenen Be- ftimmung im Rathe der Völfer, mit auch nach der äußeren Seite der menfchlichen Gefchide, fo weit Die Sorge um dieſe mit leiden- ſchaftlicher Beunruhigung in meine Vorſtellungen getreten war, einen dem Künftfer jo nöthigen hoffnungsvollen Gleichmuth be— leben. Bereit? die zweite Auflage von „Oper und Drama“ konnte ich mit einer Widmung an einen feitdem gewonnenen Freund, deſſen belehrender Anregung ich die erfreulichiten. Aufe ſchlüſſe nach der zufeßt angedeuteten Seite Hin verdankte, ein leiten, um ihm, über die gegenfeitig uns befebenden Hoffnungen hin, auch als Künftler die Hand zu reichen.

Ih möchte nun die hieran fid) Fnüpfenden Betrachtungen

Einleitung zum dritten und vierten Bande. 7

für jegt dadurch abfchließen, daß ic) noch einmal auf die an— fänglich mitgetheilte Auffaffung TH. Carlyle's von der Bebeu- tung der großen, mit der franzöfifchen Revolution, angetretenen Weltepoche zurüdweife. Nach der eigenen hohen Meinung, welche der geiftvolle Geſchichtsſchreiber von ber Beftimmung des deut- fchen Volles und feines Geiftes der Wahrhaftigfeit kundgiebt, dürfte es nämlich als fein leerer Zroft ericheinen, daß wir die heroiſchen Weifen“, welche er zur Abkürzung ber Zeiten der grauenhaften Weltanarchie aufruft, in dieſem deutſchen Wolfe, welchem durch feine vollbrachte Reformation eine Nöthigung zur Theilnahme an der Revolution erfpart zu fein ſcheint, als urborbeftimmt geboren erfennen. Denn mir ift e8 aufgegangen, daß, wie mein Kunftideal ſich zu der Realität unfered Daſein's überhaupt verhalte, dem deutjchen Wolfe die gleiche Beftimmung in feinem Verhältnifje zu der in ihrer „Selbftverbrennung“ bes geiffenen, ung umgebenden politifchen Welt zugetheilt ſei.

Die Runft und die Revolution (1849.)

Fat allgemein ift heutigen Tageß die lage der Künſtler über den Schaden, den ihnen die Revolution verurfache. Nicht jener große Straßenkampf, nicht die plögliche und heftige Erſchüt⸗ terung des Staatögebäudes, nicht der fehnelle Wechſel der Re— gierung werden angellagt: ber Eindrud, den folde gewaltige Ereigniſſe an und für ſich hinterlaffen, ift verhäftnigmäßig meift nur flüchtig und auf furze Beit ftörend: aber der beſonders nad) Haltige Charakter ber legten Erfhütterungen ift e8, der daß biß- herige Runfttreiben fo töbtlich berührt. Die bisherigen Grund- lagen des Erwerbes, des Verkehrs, des Neichthums find jetzt bedroht, und nach hergeſtellter äußerer Ruhe, nach volllommener Wiederkehr der Phyſiognomie des geſellſchaftlichen Lebens, zehrt tief in den Eingeweiden dieſes Lebens eine ſengende Sorge, eine quälende Angſt: Verzagtheit zu Unternehmungen lähmt den Kredit; wer ſicher erhalten will, entſagt einem ungewiſſen Ge— winn, die Induſtrie ſtockt, und die Kunſt hat nicht mehr zu leben.

Es wäre graufam, den Tauſenden von dieſer Noth Betrofs feuer ein menfchliches Mitleid zu verfagen. War noch vor fur zem ein beliebter Künftler gewöhnt, von dem behaglich forglofen Theile unferer vermögenden Geſellſchaft für feine gefälligen

Die Kunſt und die Revolution. 9

Zeiftungen goldenen Lohn und gleichen Anſpruch auf behaglich forglofes Leben zu gewinnen, fo ift es für ihn mun hart, von ängitlich gefchlofienen Händen fi zurüdgemiefen und ber Er werbönoth preißgegeben zu fehen: er theilt Hiermit ganz das Schichſal des Handwerkers, ber feine gejchidten Hände, mit denen er dem Reichen zuvor taufend angenehme Bequemlichkeiten ſchaffen durfte, nun müßig zu dem Bungernben Magen in ben Schooß legen muß. Er hat alfo recht, ſich zu beflagen, denn wer Schmerz, fühlt, dem hat die Natur das Weinen geftattet. Ob er aber ein Necht hat, fi) mit der Kunft felbft zu verwechſeln, feine Noth als die Noth der Kunſt zu Magen, die Revolution, indem fie ihm die behagliche Nahrung erjchwert, als die grundſätzliche Sein- din der Kunft zu bejchuldigen, dieß dürfte in Frage zu ftellen fein. Ehe hierüber entfchieben würde, möchten zuvor wenigſtens diejenigen Künftler zu befragen fein, welche durch Ausſpruch und That fundgaben, daß fie die Kunft rein um der Kunft feloft willen. liebten und trieben, und von denen dieß Eine erweiglid) ift, daß fie auch damals litten, als jene ſich freuten.

Die Frage gilt alfo der Kunft und ihrem Weſen feldft. Nicht eine abſtrakte Definition derſelben foll und hier aber beichäf- tigen, denn es handelt fi natürlich nur darum, die Bedeutung ber Kunſt als Ergebuiß des ftaatfichen Lebens zu ergründen, die Kunft als foziales Produkt zu erkennen. Eine flüchtig überjicht- liche Betrachtung der Hauptmomente der europäifchen Kunſt- geſchichte fol und Hierzu willkommene Dienfte Ieiften, und zur Aufflärung über die vorliegende, wahrlich nicht unwichtige Frage verhelfen.

Wir Können bei einigem Nachdenken in unferer Kunft Feinen Schritt thun, ohne auf den Zuſammenhang derjelben mit der Runft der Griechen zu treffen. In Wahrheit ift unfere mo- derne Kunft nur ein Glied in der Kette der Kunftentwidelung des gefammten Europa, und biefe nimmt ihren Ausgang von den Griechen.

Der griechiſche Geift, wie er fich zu feiner Wlüthezeit in Staat und Kunft zu erkennen gab, fand, nadjdem er bie rohe Naturreligion der afiatifchen Heimath überwunden, und ben ſchönen und ftarken freien Menfchen auf die Spike feines

10 Die Kunft und die Revolution.

religiöfen Bewußtſeins geftellt Hatte, feinen entfprechendften Ausdrud in Apollon, dem eigentlihen Haupt und National- gotte der hellenifhen Stämme.

Apollon, der den chaotiſchen Drachen Python erlegt, bie eitlen Söhne der prahlerifchen Niobe mit feinen tödtlichen Ge— offen vernichtet hatte, der durch feine Priefterin zu Delphoi den Fragenden das Urgeſetz griechiſchen Geiſtes und Wefens ver- kündete, und fo dem in leidenſchaftlicher Handlung Begriffenen den ruhigen, ungetrübten Spiegel feiner innerſten, unwanbel- bar griedifchen Natur vorhielt, Apollon war der Vollftreder von Zeus’ Willen auf ber griechiſchen Erde, er war daß grie- chiſche Volk.

Nicht den weichlichen Mufentänzer, wie ihn ung bie fpätere, üppigere Kunſt der Bildhauerei allein überliefert hat, haben wir und zur Blüthezeit bed griechiſchen Geiftes unter Apollon zu denken; fondern mit ben Bügen heitern Exnftes, ſchön, aber ftark, kannte ihn der große Tragifer Aiſchylos. So lernte ihn die fpartanifche Jugend kennen, wenn fie den ſchlanken Leib durch Tanzen und Ringen zu Anmuth und Stärke entwidelte; wenn der Knabe vom Geliebten auf das Roß genommen, und zu keden Abenteuern weit in das Land hinaus entführt wurde; wenn der Züngling in die Reihen der Genofjen trat, bei denen er feinen anderen Unfpruch geltend zu machen hatte, als den feiner Schön- heit und Liebenswürdigfeit, in denen allein feine Macht, fein Reichthum Tag. So fah ihn der Athener, wenn alle Triebe feines ſchönen Leibes, feines raftlofen Geiftes ihn zur Wiedergeburt feines eigenen Weſens durch den idealen Ausdrud der Kunft hindrängten; wenn die Stimme, voll und tönend, zum Chor⸗ gefang fi erhob, um zugleich des Gottes Thaten zu fingen und den Tänzern den ſchwungvollen Takt zu dem Tanze zu geben, der in anmuthiger und fühner Bewegung jene Thaten felbſt dar- ftellte; wenn er auf Harmonifch georbneten Säulen das edle Dad mwölbte, die weiten Halbfreife des Amphithenters über ein- ander reihte, und die finnigen Anorbnungen ber Schaubühne entwarf. Und fo ſah ihn, den herrlichen Gott, der von Dionyſos begeifterte tragifche Dichter, wenn er allen Elementen der üppig aus dem fhönften menfchlichen Leben, ohne Geheik,-von felbft, und aus innerer Naturnothwendigfeit aufgefproßten Fünfte, das tühne, bindende Wort, die erhabene bichterifche Abficht zuwies,

Die Kunft und die Revolution. 11

die fie alle wie in einen Brennpunkt vereinigte, um das höchfte erdenkliche Kunſtwerk, dad Drama, hervorzubringen.

Die Thaten der Götter und Menjchen, ihre Leiden, ihre Wonnen, wie fie ernft und Heiter als ewiger Ryythmus, als ewige Harmonie aller Bewegung, alles Dafeins in dem hohen Weſen Apollon’3 verkündet lagen, hier wurden fie wirklich und wahr; denn Alles, was fich in ihnen bewegte und lebte, wie es im Zuſchauer fi) bewegte und lebte, Hier fand es feinen voll- enbetften Ausbrud, mo Auge und Ohr, wie Geift und Herz, lebendig und wirklich Alles erfaßten und vernahmen, Alles Teib- lich und geiftig wahrhaftig fahen, was die Einbildung ſich nicht mehr nur vorzuftellen brauchte. Solch’ ein Tragödientag war ein Gottesfeſt, denn hier ſprach der Gott ſich deutlich und ver- nehmbar aus: der Dichter war fein hoher Priefter, der wirklich und leihbaftig in feinem Kunſtwerke darinnen ftand, die Neigen der Tänzer führte, die Stimme zum Chor erhob und in tönenden Worten die Sprüche göttlichen Wiſſens verkündete,

Das war dad griechifche Kunſtwerk, das der zu wirklicher, febendiger Kunſt gewordene Apollon, das war das griechiſche Bolt in feiner höchften Wahrheit und Schönheit.

Dieſes Volk, in jedem Theile, in jeder Perfönlichkeit über- reich an Individualität und Eigenthümlichkeit, raftlos thätig, im Biele einer Unternehmung nur den Ungriffspunft einer neuen Unternegmung erfaffend, unter ſich in beftändiger Reibung in täglich wechjelnden Bündniffen, täglich ſich neu geftaltenden Kämpfen, heute im Gelingen, morgen im Mislingen, heute von äußerfter Gefahr bedroht, morgen feinen Feind bis zur Ver— nichtung bedrängend, nad, innen und außen in unaufhaltfamfter, feeiefter Entwidelung begriffen, dieſes Volt ftrömte von der Stantöverfammlung, vom Gerichtämarkte, vom Lande, von den Schiffen, aus dem Kriegslager, aus fernften Gegenden, zufam- men, erfüllte zu Dreißigtauſend das Umphitheater, um bie tief- finnigfte aller ZTragödien, den Prometheus, aufführen zu fehen, um fih vor dem gemwaltigften Kunſtwerke zu ſammeln, ſich ſelbſt zu erfaffen, feine eigene Thätigfeit zu begreifen, mit feinem Weſen, feiner Genofjenfchaft, feinem Gotte ſich im die innigfte Einheit zu verfchmelzen und fo in edelfter, tiefiter Auhe Das wieder zu fein, was es vor menigen Stunden in raftlofefter Auf- regung und gefondertfter Individualität ebenfalls gemefen war.

12 Die Kunft und die Rebolution.

Stets eiferfüchtig auf feine größte perfönliche Unabhängig- leit, nad) jeder Richtung hin den „Zyrannen“ verfolgend, ber, möge er felbft weife und ebel fein, dennoch feinen kühnen freien Willen zu beherrſchen ftreben könnte; verachtend jenes mweichliche Vertrauen, das unter dem fchmeichlerifhen Schatten einer frem- den Fürforge zu träger egoiftifcher Ruhe fich lagert; immer auf der Hut, unermüdlich zur Abwehr äußeren Einfluffes, Teiner noch fo altehrwärdigen Überlieferung Macht gebend über fein freies, gegenwärtige Leben, Handeln und Denten, verftummte der Grieche vor dem Anrufe des Chores, orbnete er fich gern der finnreichen Übereinfunft in der ſceniſchen Anordnung unter, ge- horchte er willig der großen Nothwendigkeit, deren Ausſpruch ihm der Tragifer durd den Mund feiner Götter und Helben auf der Bühne verfündete. Denn in der Tragödie fand er fid ja felbft wieder, und zwar das ebeljte Theil feines Wejens, ver- einigt mit den ebelften Theilen des Geſammtweſens der ganzen Nation; aus ſich felbft, aus feiner innerften, ihm bewußt werden» den Natur, ſprach er ſich durch daB tragifche Kunſtwerk das Drafel der Pythia, Gott und Prieiter zugleich, herrlicher gött⸗ licher Meuſch, er in der Allgemeinheit, die Allgemeinheit in ihm, als eine jener Taufenden von Faſern, welche in dem einen Leben der Pflanze aus dem Erdboden hervorwachſen, in ſchlanker Ge— ftaftung in die Lüfte fih heben, um bie eine ſchöne Blume her vorzubringen, die ihren wonnigen Duft der Ewigkeit fpendet. Dieſe Blume war dad Kunftwerk, ihr Duft der griechiiche Geift, der und noch Heute beraufcht und zu dem Bekenntniſſe entzüdt, lieber einen halben Tag Grieche vor dem tragifchen Kunſtwerke fein zu mögen, als in Emigfeit ungriedifcher Gott!

Genau mit der Auflöfung des athenifchen Staates hängt der Verfall der Tragödie zufammen. Wie ſich der Gemeingeiit in taufend egoiftiiche Richtungen serfplitterte, Töfte fi) auch das große Geſammtkunſiwerk der Tragödie in die einzelnen, ihm in- begriffenen Kunſtbeſtandtheile auf: auf den Trümmern der Tra- gödie weinte in tollem Lachen der Komödiendichter Ariftophanes, und aller Funfttrieb ſtockte endlich vor dem ernften Sinnen der ' Philoſophie, welche über die Urſache der Vergäuglicfeit bes menfchlihen Schönen und Starken nachdachte.

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Der Philoſophie, und nicht der Kunft, gehören bie zwei Jahrtauſende an, die feit dem Untergange ber griechiſchen Tra- göbie bis auf unfere Tage verfloffen. Wohl fandte die Kunft ab und zu ihre bligenden Strahlen in die Nacht des unbefriebigten Dentens, des grübelnden Wahnſinns ber Menfchheit; doc dieß maren nur die Schmerzend- und Freudenausrufe bes Einzelnen, der aus dem Wufte der Allgemeinheit ſich rettete und als ein . aus weiter Fremde glücklich Verirrter zu dem einfam rieſelnden, Taftalifchen Quelle gelangte, an dem er feine burftigen Lippen Iabte, ohne der Welt den erfrifchenden Trank reichen zu dürfen; ober es war die Kunft, die irgend einem jener Begriffe, ja Ein- bildungen diente, welche die leidende Menfchheit bald gelinder, bald herber drüdten, und die Freiheit des Einzelnen wie der Allgemeinheit in Feſſeln ſchlugen; nie aber war fie ber freie Ausdrud einer freien Allgemeinheit felbit: denn die wahre Kunft ift höchfte Freiheit, und nur die höchfte Freiheit Tann fie aus ſich Tundgeben, kein Befehl, feine Verordnung, kurz fein außerfünft- leriſcher Zweck Tann fie entftehen laſſen.

Die Römer, deren nationale Kunft frühzeitig vor dem Ein- fluffe der ausgebildeten griechifchen Künfte gewichen war, ließen fich von griedifchen Architekten, Bildhauern, Malern bedienen, ihre Schöngeifter übten fi) an griechifcher Rhetorik und Vers— Eunft; bie große Vollsſchaubühne eröffneten fie aber nicht ben Göttern und Helden des Mythus, nicht den freien Tänzern und Sängern bes heiligen Chores; fondern wilde Veftien, Löwen, Panther und Elephanten mußten fich im Amphitheater zerflei- ſchen, um dem römiſchen Auge zu ſchmeicheln, Gladiatoren, zur Kraft und Geſchicklichkeit erzogene Sklaven, mußten mit ihrem Tobesröcheln das römische Ohr vergnügen.

Diefe brutalen Weltbefieger behagten ſich nur in der pofitiv- ften Realität, ihre Einbildungskraft fonnte fi nur in materiellfter Verwirklihung befriedigen. Den, dem öffentlichen Leben ſchüch— tern entflohenen, Philofophen Tießen fie getroft ſich dem abitraf- teften Denken überliefern; in der Öffentlichfeit ſelbſt Tiebten fie, fi) der allerfonkreteften Morbluft zu überlaffen, das menſchliche Leiden in abfoluter phyfifcher Wirklichkeit ſich vorgeſtellt zu fehen.

Diefe Gladiatoren und Thierkämpfer waren nun die Söhne aller europäifchen Nationen, und die Könige, Edlen und Uns edlen biejer Nationen waren alle gleih Sklaven des römischen

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Imperatord, der ihnen ſomit ganz praktiſch bewies, daß alle Menſchen gleich wären, wie wiederum biefem Imperator jelbft von feinen gehorfamen Prätorianern fehr oft deutlich und handgreiflich gezeigt wurde, daß auch er nicht? weiter als ein Sklave fei.

Diefed gegenfeitig und allfeitig ſich fo Mar und unläugbar bezeugende Sklaventhum verlangte, wie alles Allgemeine in der Welt, nad} einem ſich bezeichnenden Ausdrucke. Die offenkundige Erniedrigung unb Ehrlofigfeit Aller, dad Bewußtſein des gänz- lichen Berfuftes aller Menſchenwürde, der endlich nothwendig eintretende Efel vor den einzig ihnen übrig gebliebenen ma- teriellften Genüffen, die tiefe Verachtung alles eigenen Thuns und Treibens, aus dem mit der Sreiheit längft aller Geift und tünftleriiche Trieb entwichen, dieſe jämmerliche Exiſtenz ohne wirklichen, thaterfülten Lebens konnte aber nur einen Ausdrud finden, der, wenn auch allerdings allgemein, wie der Buftand jelöft, doch der geradefte Gegenfag der Kunft fein mußte. Die Kunſt ift Freude an fich, am Dafein, an der Allgemeinheit; der Buftand jener Beit am Ende der römifhen Weltherrfchaft war dagegen Selbſtwerachtung, Efel vor dem Dafein, Grauen vor der Allgemeinheit. Alfo nicht die Kunſt konnte der Ausdruck diefes Buftandes fein, fondern da8 Chriſtenthum.

Dad Chriſtenthum rechtfertigt eine ehrloje, unnüge und jämmerlihe Eriftenz des Menfchen auf Erden aus ber wunder: baren Liebe Gottes, der den Menfchen keinesweges wie die fchönen Griechen irrtHümlih wähnten für ein freubiges, felbft- bewußte8 Dafein auf der Erbe gefchaffen, fondern ihn hier in einen efelhaften Kerker eingeichloffen habe, um ihm, zum Lohne feiner darin eingefogenen Selbftverachtung, nach dem Tode einen endlofen Zuftand allerbequemfter und unthätigfter Herrlichkeit zu bereiten. Der Menfch durfte daher und foltte fogar in dem Buftande tieffter und unmenfchlicher Berfunfenheit verbleiben, teine Lebensthätigfeit follte er üben, denn dieſes verfluchte Leben war ja die Welt des Teufels, d. i. der Sinne, und durch jedes Schaffen in ihm hätte er daher ja nur dem Teufel in die Hände gearbeitet, weßhalb denn auch der Unglüdliche, der mit freu diger Kraft dieſes Leben ſich zu eigen machte, nad; den Tode ewige Höllenmarter erleiden mußte. Nichtd wurde vom Men- ſchen gefordert al der Glaube, d. 5. das Bugejtändniß feiner

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Elendigfeit, und dad Aufgeben aller Selbftthätigkeit, ſich dieſer Elendigfeit zu entwinden, auß der nur die unverdiente Gnade Gottes ihn befreien follte,

Der Hiftorifer weiß nicht fiher, ob dieſes die Anſicht jenes armen galiläifhen Bimmermannsfohnes ebenfalls geweſen fei, welcher beim Anblide des Elends feiner Mitbrüder ausrief, er fei nicht gefommen, den Frieden in die Welt zu bringen, fondern das Schwert, der in liebevoller Entrüftung gegen jene heuch- leriſchen Pharifäer donnerte, bie feig der römijchen Gewalt ſchmei⸗ chelten, um defto herzloſer nach unten Hin das Wolf zu nechten und zu binden, der endlich allgemeine Menfchenliebe prebigte, die er doch unmöglich Denen Hätte zumuthen können, welche fich feloft alle verachten follten. Der Forſcher unterjcheidet nur deut- licher den ungeheuren Eifer des wunderbar befehrten Phari« ſäers Paulus, mit welchem diefer in der Belehrung der Heiden augenfällig glücklich die Weifung befolgte: „Seid Hug wie bie Schlangen“ u. f. w.; er vermag aud den ſehr erfennbaren ge- ſchichtlichen Boden tiefiter und allgemeinfter Verſunkenheit des civilifirten Menſchengeſchlechtes zu beurtheilen, aus welchem bie Pflanze des endlich fertigen chriſtlichen Dogmas feine Befruch- tung. empfing. So viel aber erkennt ber redliche Künftler auf den eriten Blid, daß das Chriftenthum weber Kunft war, noch irgendwie aus fich die wirkliche lebendige Kunſt hervorbringen Tonnte.

Der freie Grieche, der ſich an bie Spige ber Natur ftellte, konnte auß ber Freude des Menfchen an fi die Kunft erfchaffen: der Chriſt, der die Natur und fich gleichmäßig verwarf, fonnte feinem Gotte nur auf dem Altar der Entfagung opfern, nicht feine Thaten, fein Wirken durfte er ihm als Gabe barbringen, fondern duch die Enthaltung von allem jelbftändig kühnen Schaffen glaubte er ihn fich verbindlich machen zu müfjen. Die Kunft ift die höchfte Thätigkeit des im Einklang mit fi und der Natur finnlich ſchön entwidelten Menſchen; der Menſch muß an der finnlichen Welt die höchſte Freude haben, wenn er aus ihr das künſtleriſche Werkzeug bilden fol; denn aus ber finnlichen Welt allein kann er auch nur den Willen zum Kunſtwerk faflen. Der Chriſt, wenn er wirklich das feinem Glauben entfprechende Kunſtwerk ſchaffen wollte, hätte umgekehrt aus dem Wefen bes abftraften @eifted, der Gnade Gottes, den Willen faſſen und in

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ihm das Werkzeug finden müffen, was hätte aber dann feine Abficht fein Lönnen? Doc nit die ſinnliche Schönheit, welche für ihn die Exfcheinung des Teufeld war? Und wie hätte je ber Geift überhaupt etwas ſinnlich Wahrnehmbares erzeugen fönnen?

Jedes Nachgrübeln ift Hier unfruchtbar: bie hiſtoriſchen Er— ſcheinungen fprechen ben Erfolg beider entgegengefeßter Rich- tungen am beutlichften aus. Wo ber Grieche zu feiner Erbauung ſich auf wenige, des tiefften Gehaltes volle Stunden im Amphi— theater verfammelte, ſchloß ſich der Chrift auf Lebenszeit in ein Kloſter ein: dort richtete die Vollsverſammlung, hier bie In— quifition; dort entwidelte ſich der Staat zu einer aufrichtigen

Demokratie, hier zu einem heuchleriſchen Abfolutismus.

Die Heuchelei ift überhaupt der Herborftechenbfte Zug, die eigentliche Phyfiognomie der ganzen chriſtlichen Jahrhun- derte biß auf unfere Tage, und zwar tritt dieſes Lafter ganz in dem Maaße immer greller und unverſchämter hervor, als bie Menſchheit aus ihrem inneren unverfiegbaren Duell, und troß des Chriftenthums, ſich neu erfrifchte und der Löfung ihrer wirk- lichen Aufgabe zureifte. Die Natur ift fo ftark, fo unvertilgbar immer neu gebährend, daß feine erdenkliche Gewalt ihre Zeu— gungskraft zu ſchwächen vermöchte. In die fiechenden Adern ber römifchen Welt ergoß ſich das gefunde Blut der frifchen ger— maniſchen Nationen; trog der Annahme des Chriſtenthums blieb ein ſtarker Thätigkeitätrieb, Luft zu fühnen Unternehmungen, ungebänbigtes Selbftvertrauen dad Element der neuen Herren der Welt. Wie in der ganzen Geſchichte des Mittelalterd wir aber immer nur auf den Kampf der weltlichen Gewalt gegen den Despotismud ber römiſchen Kirche als ben hervorſtechendſten Zug treffen, fo Tonnte auch da, wo er ſich auszuſprechen fuchte, der kunſtleriſche Ausdruck diefer neuen Welt immer nur im Gegenſatze, im Kampfe gegen den Geift des Chriſtenthums fich geltend machen: als der Ausbrud einer vollkommen harmoniſch geftimmten Einheit der Welt, wie es die Kunft der griechifchen Welt war, konnte fi) bie Kunft der chriftlich-enropäifchen Welt nicht kundgeben, eben weil fie in ihrem tiefften Innern, zwiſchen Gewiffen und Lebenstrieb, zwiſchen Einbildung und Wirklichteit, unbeilbar und unverföhnbar gejpalten war. Die ritterfiche Poeſie des Mittelalters, die, wie das Juſtitut des Ritterthums ſelbſt, dieſen Zwieſpalt verſöhnen ſollte, konute in ihren bezeichnendſten

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Gebilden nur die Lüge dieſer Verföhnung darthun; je Höher und tühner fie fi) erhob, deſto empfindlicher Haffte der Abgrund zwiſchen dem wirklichen Leben und ber eingebildeten Eriftenz, zwiſchen dem rohen, Teibenjchaftlichen Gebahren jener Ritter im leiblichen Leben, und ihrer überzärtlichen, verhimmelnden Auf- führung in der Vorſtellung. Eben deshalb ward das wirkliche Leben aus einer urſprünglich edlen, durchaus nicht anmuthlofen Vollsſitte zu einem unfläthigen und lafterhaften, weil es nicht aus ſich heraus, aus ber Freude an ſich und feinem ſinnlichen Gebahren ben Kunfttrieb nähren durfte, fondern für alle giftige Thätigkeit auf das Chriſtenthum angewieſen war, welches von vornherein alle Lebensfreude verwies und als verdammlich dar- ftellte. Die ritterfiche Poefie war die ehrliche Heuchelei des Sanatismus, der Aberwitz des Heroismuß: fie gab die Konven— tion für die Natur.

Erſt als das Glaubendfeuer der Kirche ausgebrannt war, als die Kirche offenkundig fi nur noch als finnlih wahrnehm- barer weltliher Despotismus, und in Verbindung mit dem durch fie geheiligten, nicht minder finnlich wahrnehmbaren, weltlichen Herrfcherabfolutismus fundgab, follte die fogenannte Wieber- geburt der Fünfte vor ſich gehen. Womit man fich fo lange ben Kopf zermartert hatte, das wollte man leibhaftig, wie die welt- lich prunfende Kirche feldft, endlich vor fich fehen: dieß war aber nicht ander8 möglich als dadurch, daß man die Augen aufmachte, und fo den Sinnen wieber ihr Recht widerfahren ließ. Daß man nun bie Gegenftände des Glaubens, die berflärten Ge— ſchöpfe der Phantafie, ſich in finnlicher Schönheit und mit Fünfte Terifcher Freude an diefer Schönheit vor die Augen ftellte, dieß war bie bollfommene Verneinung des Chriſtenthums ſelbſt: und daß die Anleitung zu diefen Kunftihöpfungen aus ber heib- niſchen Kunft der Griechen felbft hergenommen werden mußte, das war die ſchmachvollſte Demüthigung bes Chriſtenthums. Nichtsdeſtoweniger aber eignete ſich die Kirche dieſen neu er— wachten Kunſttrieb zu, verſchmähte es ſomit nicht, ſich mit den fremden Federn des Heidenthums zu ſchmücken, und ſich ſo als offenkundige Lügnerin und Heuchlerin hinzuſtellen.

Aber auch das weltliche Herrenthum hatte ſeinen Antheil an der Wiederbelebung der Künſte. Nach langen Kämpfen in befeftigter Gewalt nach unten, erwedte den Fürften ein forgen-

Aidard Wagner, Gef. Schriten II. 2

18 Die Kunft und die Revolution.

Iofer Reichtyum die Luft zum feineren Genufie dieſes Reichthums: fie nahmen dazu bie ben Griechen abgelernten Künfte in ihren Sold: die „freie“ Kunft diente den vornehmen Herren, und man weiß bei genauer Betradhtung nicht genau anzugeben, wer mehr Heuchler war, ob Ludwig XIV., als er ſich an feiner Hofbithne in gewandten Verfen griechiſchen Tyrannenhaß vorreziticen ließ, oder Corneille und Racine, al fie gegen die Gunftbegeugungen ihres Herren die Freiheitsgluth und politiiche Tugend des alten Griechenlands und Roms ihren Theaterhelden in den Mund legten.

Konnte nun aber die Kunſt da wirklich und wahrhaftig vor⸗ handen fein, wo fie nicht als Ausdruck einer freien ſelbſtbewußten Allgemeinheit auß dem Leben emporblühte, fondern von ben Mächten, welche eben diefe Allgemeinheit an ihrer freien Selbft- entwidelung hinderten, in Dienft genommen und deßhalb auch nur willfürlih aus fremden Zonen verpflanzt werden konnte? Gewiß nicht. Und doc werden wir ſehen, daß die Kunſt, ftatt ſich von immerhin refpeftablen Herren, wie die geiftige Kirche und geiftreiche Fürſten es waren, zu befreien, einer viel ſchlim⸗ meren Herrin mit Haut und Haar ſich verkaufte: ber Induftrie.

Der griechifhe Zeus, der Water des Lebens, fandte den Göttern, wenn fie die Welt durchfchweiften, vom Olympos einen Boten zu, den jugendlichen, ſchönen Gott Hermes; er war der geſchäftige Gedanle des Zeus: beflügelt ſchwang er ſich von den Höhen in die Tiefen, die Allgegenwart des höchſten Gottes zu

fünden; auch dem Tobe des Menfchen war er gegenwärtig, er geleitete die Schatten ber Geſchiedenen in das ftille Meich ber Naht; denn überall, wo die große Nothwendigfeit der natür- lichen Ordnung fich deutlich verkündete, war Hermes thätig und erfennbar, wie der ausgeführte Gedanke des Zeuß.

Die Römer hatten einen Gott Mercurius, ben fie dem griechifchen Hermes verglichen. Seine geflügelte Gejchäftigfeit gewann bei ihnen aber eine praftiiche Bedeutung: fie galt ihnen

als die beivegliche Betriebfamkeit jener ſchachernden und wuchern⸗ den Kaufleute, die von allen Enden in den Mittelpunkt der römi- chen Welt zufammenftrömten, um den üppigen Herren biejer Welt gegen vorteilhaften Gewinn alle finnlichen Genüffe zuzu—

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führen, welde die nächſt umgebende Natur ihnen nicht zu bieten vermochte. Dem Römer erſchien ber Handel beim Überblid feines Weſens und Gebahrens zugleich als Betrug, und wie ihn diefe Krämerwelt bei feiner immer fteigenden Genußfucht ein noth« wendiges Übel dünfte, hegte er doch eine tiefe Verachtung vor ihrem Treiben; und fo ward ihm der Gott der Kaufleute, Mer- fur, zugleich zum Gott der Betrüger ‘und Spitzbuben.

Diefer verachtete Gott rächte fich aber an den hochmüthigen Römern, und warf ſich ftntt ihrer zum Herren der Welt auf: denn Frönet fein Haupt mit dem Heiligenfcheine hriftlicher Heu- helei, ſchmückt ſeine Bruft mit dem jeelenlofen Abzeichen ab» geftorbener feudaliſtiſcher Ritterorden, jo Habt ihr ihn, den Gott der mobernen Welt, ben Heilig-hochadeligen Gott der fünf Pro- cent, ben @ebieter und Feſtordner unferer heutigen Kunſt. Leibhaftig feht ihr ihn in einem bigotten englifhen Banquier, deſſen Tochter einen ruinirten Ritter vom Hofenbandorden heis tathete, vor euch, wenn er fich von den erften Sängern der ita- Hienifchen Oper, lieber noch in feinem Salon, als im Theater Gedoch · auch hier um feinen Preis am heiligen Sonntage) vor⸗ fingen läßt, weil er den Ruhm Hat, fie Hier noch theurer bezahlen zu müffen, al3 dort. Das ift Merkur und feine gelehrige Die- nerin, die moderne Kunft

. Das ift die Kunft, wie fie jet die ganze civilifirte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Weſen ift die Induftrie, ihr moraliſcher Zwecd der Gelderiverb, ihr äſthetiſches Vorgeben die Unterhal- tung der Gelangweilten. Aus dem Herzen unferer modernen Geſellſchaft, aus dem Mittelpunkte ihrer kreisförmigen Be— wegung, der Geldſpekulation im Großen, ſaugt unſere Kunſt ihren Lebensſaft, erborgt ſich eine herzloſe Anmuth aus den leb⸗ loſen Überreſten mittelalterlich ritterlicher Konvention, und- läßt ſich von da mit ſcheinbarer Chriſtlichkeit auch das Schärflein des Armen nicht verſchmähend zu den Tiefen bes Proletariats herab, entnervend, entfittlihend, entmenfchlichend überall, wos bin fih das Gift ihres Lebenzfaftes ergieht. J

Ihren Lieblingsfig Hat fie im Theater aufgeſchlagen, ge⸗ ade wie bie griechiſche Kunſt zu ihrer Blüthezeit; und fie hat ein Recht auf dad Theater, weil fie der Ausdrud des gültigen öffentlichen Lebens unferer Gegenwart ift. Unfere moderne thea- tralifche Kunft verfinnlicht den herrjchenden Geift unferes öffent-

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lichen Lebens, fie drüdt ihn in einer alltäglichen Verbreitung aus wie nie eine andere Kunft, denn fie bereitet ihre Feſte Abend für Abend fait in jeder Stadt Europas. Somit bezeichnet fie, als ungemein verbreitete dramatifche Kunft, dem Anfcheine nad die Blüthe unferer Kultur, wie die griehifhe Tragödie den Höhe- punkt des griechifchen Geiſtes bezeichnete: aber dieſe ift Die Blüthe der Säulniß einer hohlen, feelenlofen, naturwidrigen Ordnung der menſchlichen Dinge und Verhältniſſe.

Diefe Ordnung der Dinge brauchen wir Hier nicht felbft näher zu harakterifiren, wir brauchen nur ehrlich den Inhalt und das öffentliche Wirken unferer Funft, und namentlich eben der theatralifchen zu prüfen, um den herrſchenden Geiſt der DOffentlichkeit in ihr wie in einem getreuen Spiegelbilbe zu er- tennen: denn fol’ ein Spiegelbild war die öffentliche Kunft immer.* B Und fo erfennen wir denn in unſerer öffentlichen theatra—

liſchen Kunft Teineswege das wirkliche Drama, diefes eine, un« theilbare, größte Kunſtwerk des menschlichen Geiftes: unfer Theater bietet bloß den bequemen Raum zur lodenden Schau ftellung einzelner, kaum oberflächlich verbundener, künſtleriſcher, ober beſſer: funftfertiger Leitungen. Wie unfähig unfer Theater ift, als wirkliches Drama die innige Vereinigung aller Kunft- zweige zum höchſten, vollendetſten Ausdrude zu bewirken, zeigt ſich ſchon in feiner Theilung in die beiden Sonderarten des Schauſpiels und der Oper, wodurch dem Schaufpiel der iden- liſirende Ausdruck der Muſik entzogen, der Oper aber von vorn- herein der Kern und die höchſte Abficht des wirklichen Dramas abgesprochen ift. Während im Allgemeinen das Schaufpiel jomit nie zu idealem, poetifchem Schwunge fi erheben konnte, fon= dern aud) ohne des Hier zu übergehenden Einfluffes einer un fittlichen Öffentlichkeit zu gedenken faft ſchon wegen der Armuth an Mitteln des Ausdrudes aus der Höhe in die Tiefe, au dem erwärmenden Elemente der Leidenfchaft in das erlältende der Intrigue fallen mußte, ward vollends die Oper zu einem Chaos durch einander flatternder finnlicher Elemente ohne Haft und Band, aus dem fich ein Jeder nach Belieben auflefen Tonnte, was feiner Genußfähigteit am beften behagte, hier den zierlichen Sprung einer Tänzerin, dort die verwegene Pafjage eines Sän- gers, hier den glänzenden Effekt eines Dekorationsmalerſtückes,

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dort den verblüffenden Ausbruch eines Orcheſtervulkans. Ober lieſt man nicht heut’ zu Tage, dieſe oder jene neue Oper ſei ein Meiſterwerk, denn fie enthalte viele fChöne Arien und Duetten, auch jei die Inftrumentation des Orcheſters jehr brillant u. ſ. w.ꝰ Der Zwed, der einzig den Verbrauch fo mannigfaltiger Mittel zu rechtfertigen hat, der große dramatiſche Zweck fällt den Leuten gar nicht mehr ein.

Solche Urtheile find bornirt, aber ehrlich; fie zeigen ganz einfach, um was es dem Zuhörer zu thun ift. Es gibt auch eine große Anzahl befiebter Künftler, welche durchaus nicht in Abrede ftellen, daß fie gerade nicht mehr Ehrgeiz hätten, als jenen bor= nirten Zuhörer zu befriedigen. Sehr richtig urtheilen fie: wenn der Prinz von einer auſtrengenden Mittagstafel, der Banquier von einer angreifenden Spekulation, der Arbeiter vom ermüben-

. ben Tagewerke im Theater anlangt, fo will er ausruhen, fich zerſtreuen, unterhalten, er will ſich nicht anftrengen und von Neuem aufregen. Diejer Grund ift fo ſchlagend wahr, daß wir ihm einzig nur zu entgegnen haben, wie es ſchicklicher fei, zu dem angegebenen Zwede alles Mögliche, nur nicht das Material und da8 Vorgeben der Kunft verwenden zu wollen. Hierauf wird und dann aber erwidert, daß, wolle man die Kunſt nicht fo ver: wenden, die Kunſt ganz aufhören und dem öffentlichen Leben gar nicht mehr beizubringen fein, d. 5. der Künſiler nichts mehr zu leben haben würde.

Nach diefer Seite Hin ift alles jänmerlih, aber treuherzig, wahr und ehrlich: civilifirte Verſunkenheit, modern chriſtlicher Stumpffinn!

Was fagen wir aber bei unläugbar jo bewandten Umftän- den zu dem, heuchlerifchen Vorgeben manches unferer Kunftheroen, beffen Ruhm an der Tagesordnung ift, wenn er fich den melan- choliſchen Anſchein wirklich künſtleriſcher Begeiſterung giebt, wenn er nach Ideen greift, tiefe Beziehungen verwendet, auf Erjchütterungen Bedacht nimmt, Himmel und Hölle in Bewegung fegt, kurz, wenn er fich fo gebärdet, wie jene ehrlichen Tages: fünftfer behaupteten, daß man nicht verfahren müſſe, wolle man feine Waare los werden? Was jagen wir dazu, wenn ſolche Heroen wirklich nicht nur unterhalten wollen, fondern ſich jelbft in die Gefahr ftürzen, zu langweilen, um für tieffinnig zu gelten, wenn fie jomit felbft auf großen Erwerb verzichten, ja doch

22 * Die Kunft und die Revolution.

nur ein gebotener Meicher vermag das! foggr um ihrer Schöpfungen willen ſelbſi Geld ausgeben, fomit alfo das höchſte moderne Selbftopfer bringen? Bu was dieſer ungeheure Auf: wand? Ad, es giebt ja noch Eines außer Gelb: nämlich Das, was man unter anberen Genüffen auch durch Gelb Heut’ zu Tage fi verſchaffen kann: Ruhm! Welder Ruhm ift aber in unferer öffentlichen Kunſt zu "erringen? Der Ruhm derfelben * Öffentlichfeit, für welche diefe Kunft berechnet ift, ımd welder der Ruhmgierige nicht anders beizufommen vermag, ald wenn er ihren trivialen Anfprüchen dennoch fih unterzuordnen weiß, So belügt er denn fich und das Publikum, indem er ihm fein ſcheckiges Kunftwerk gibt, und das Publikum belügt ihn und fich, indem es ihm Beifall fpendet; aber dieſe gegenfeitige Lüge‘ ift der großen Lüge des modernen Ruhmes an ſich wohl ſchon werth, wie wir e8 denn überhaupt beritehen, unfere alleveigenfüchtigften . Leidenſchaften mit den ſchönen Hauptlügen von „Patriotismus“, „Ehre“, „Gefeglichkeitsfinn“ u. f. w. zu behängen.

Woher fommt es aber, daß wir e3 für nöthig Halten, uns gegenfeitig fo offenkundig zu belügen? Weil jene Begriffe und Tugenden im Gewiſſen unferer herrfchenden Zuſtände allerdings vorhanden find, zwar nicht in ihrem guten, aber doch in ihrem

ſchlech ten Gewiſſen. Denn jo gewiß es ift, daß dns Edle und Wahre wirklich vorhanden ift, jo gewiß ift es auch, daß bie ‚wahre Kunſt vorhanden ift. Die größten und ebeliten Geifter,

* Geifter, vor denen Aiſchylos und Sophokles freudig als Brüder fi geneigt haben würden, haben feit Jahrhunderten ihre Stimme aus ber Wüfte erhoben; wir haben fie gehört und noch tönt ihr Auf in unferen Ohren: aber aus unferen eitlen, ges meinen Herzen haben wir den lebendigen Nachklang ihres Rufes verwiſcht; wir zittern bor ihrem Ruhm, laden aber vor ihrer Kunft, wir ließen fie erhabene Künſtier fein, verwehrten ihnen aber das Kunſtwerk, denn das große, wirkliche, eine Kunſtwerk können fie nicht allein ſchaffen, ſondern dazu müſſen wir mit wirken. Die Tragödie des Aiſchylos und Sophofles war dad Wert Athen's.

Was nüßt nun dieſer Ruhm ber, Edlen? Was nüßte es uns, da Shakeſpeare als zweiter Schöpfer den unendlichen Reichthum der wahren menfchlichen Natur ung erſchloß? Was nüßte e8 uns, daß Beethoven der Mufit männliche, ſelbſtän—

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dige Dichterfraft verlieh? Fragt die armfeligen Karrikaturen eurer Theater, fragt die gaſſenhaueriſchen Gemeinpläge eurer DOpernmufifen, und ihr erhaltet die Antwort! Aber, braucht ihr erſt zu fragen? Ach nein! Ihr wißt es recht gut; ihr wollt e8 ja

eben nicht anders, ihr ſtellt eu nur, als wüßtet ihr es nicht!

Was ift nun eure Funft, was euer Drama?

Die Februnrrevolution entzog in Paris den Theatern die öffentlide Theilnahme, viele von ihnen brohten einzugehen. Nah den Junitagen kam ihnen Cavaignac, mit der Aufrecht- haltung der beftehenden geſellſchaftlichen Ordnung beauftragt, zu Hülfe und forderte Unterftügung zu ihrem Weiterbeftehen. Barum? Weil die Brodlofigkeit, dad Proletariat durd) das Eingehen der Theater vermehrt werden würde. Alſo bloß dieſes Interefje hat der Stant am Theater! Er fieht in ihm bie induftrielle Anftalt; nebenbei wohl aber auch ein geiftfchwächen- des, Bewegung abforbirenbes, erfolgreiches Ableitungsmittel für die gefahrdrohende Regſamkeit des erhikten Menjchenverftandes, welcher im tiefften Mismuth über die Wege brütet, auf denen die entwürbigte menſchliche Natur wieder zu jich felbft gelangen ſoll, fei es auch auf Koften des Beſtehens unferer fehr zweck- mäßigen Theaterinftitute!

Nun, dieß ift ehrlich ausgeſprochen, und der Unverhohlen- heit dieſes Ausſpruches ganz zur Seite ftcht die Mlage unferer modernen Künftlerfhaft und ihr Haß gegen die Revolution. Was hat aber mit diefen Sorgen, diefen Klagen die Runft gemein?

Halten wir nun die öffentliche Kunſt des modernen Europa in ihren Hauptzügen zu der öffentlichen Kunft der Griechen, um uns beutli den charafteriftifchen Unterfchieb derſelben vor die Augen zu ftellen.

Die öffentliche Kunft ber Griechen, wie fie in der Tragödie ihren Höhepunft erreichte, war der Ausdrud des Tiefiten und Edelſten be Vollsbewußtſeins: das Tiefite und Ebelfte unferes menſchlichen Bewußtſeins ift der reine Gegenſatz, die Vernei- nung unferer Öffentlichen Kunſt. Dem Griechen war die Auf-

"führung einer Tragödie eine religiöſe Feier, auf ihrer Bühne be»

wegten ſich Götter und fpenbeten den Menſchen' ihre Weisheit: unfer ſchlechtes Gewiſſen ſtellt unfer Theater jelbit fo tief in der

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Öffentlichen Achtung, daß es bie Angelegenheit der Polizei fein darf, dem Theater alles Befaſſen mit religiöfen Gegehitänden zu verbieten, was gleich charakteriftiich ift für unfere Religion wie für unfere Kunft. In den weiten Räumen des griechifchen Umppitheaterd wohnte das ganze Volt den Vorftellungen bei; in unferen vornehmen Thentern faulenzt nur der bermögende Theil defjelben. Seine Runftwerkzeuge zog der Grieche aus den Ergebniſſen höchſter gemeinfchaftliher Bildung; wir auß denen tieffter ſozialer Barbarei. Die Erziehung ded Griechen machte ihn von frühefter Jugend an fich felbft zum Gegenſtande Fünft- Jerifcher Behandlung und Fünftlerifchen Genuffes, an Leib wie an Geift: unſere ftumpffinnige, meift nur auf zufünftigen -in= duftriellen Erwerb zugefchnittene Erziehung bringt und ein alber- ned und doch Hodmüthiged Behagen an umferer Fünftlerifchen Ungefhidlichfeit bei, und läßt uns die Gegenftände irgend wel Ger fünftlerifchen Unterhaltung nur außer und fuchen, mit uns gefähr demjelben erlangen, wie der Wüftling den flüchtigen Liebesgenuß einer Proftituirten aufſucht. So war ber Grieche ſelbſt Darfteller, Sänger und Tänzer, feine Mitwirkung bei der Aufführung einer Tragödie war ihm höchſter Genuß an dem Kunſtwerke felbft, und e3 galt ihm mit Recht als Auszeichnung, durch Schönheit und Bildung zu diefem Genufje berechtigt zu fein: wir laffen einen gewiſſen Theil unſeres geſellſchaftlichen Proletariats, das ſich ja in jeder Klaſſe vorfindet, zu unferer Unterhaltung abrichten; unfaubere Eitelfeit, Gefallſucht, und, unter gewiſſen Bedingungen, Ausficht auf fehnellen, reichlichen Gelderwerb füllen die Reihen unſerer Theaterperfonale. Wo der griechifche Künftler, außer durch feinen eigenen Genuß am Kunſiwerie dur den Erfolg und die öffentliche Buftinmung befoßnt wurde, wird ber moderne Künftler gehalten und be= zahlt. Und fo gelangen wir denn dahin, den weſentlichen Unterfcjied feſt und jcharf zu bezeichnen, nämlich: die griechifche öffentlihe Kunft war eben Kunſt, die unfrige künſtleriſches Handwerk.

Der Künftler hat, außer an dem Zwecke feines Schaffens, fon an diefem Schaffen, an der Behandlung des Stoffes und deſſen Formung felbft Genuß; fein Produziren ift ihm an und für fi) erfreuende und befriedigende Thätigfeit, nicht Arbeit. Dem Handwerker gilt nur ber Zwed feiner Bemühung, der

Die Kunft und die Revolution. 25

Nugen, den ihm feine Arbeit bringt; die Thätigfeit, Die er ver- wendet, erfreut ihn nicht, fie ift ihm nur Vejchwerde, unumgäng- liche Nothrveridigteit, die er am liebften einer Maſchine aufbürden möchte: feine Arbeit verinag ihn nur aus Zwang zu fefleln; deß⸗ halb ift er aud) nicht mit dem Geifte dabei gegenwärtig, fonbern beftändig darüber hinaus bei dem Zweckee, den er fo gerade wie möglich erreichen möchte. Iſt nun aber der unmittelbare Zweck des Handwerkers nur die Befriedigung eines eigenen Bedürf- niffe, 3. B. die Herftellung feiner eigenen Wohnung, feiner eige- nen Geräthichaften, Kleidung u. |. w., fo wird ihm mit dem Behagen an ben ihm verbleibenden nützlichen Gegenftänden all- mãhlich auch Neigung zu einer ſolchen Zubereitung des Stoffes, wie fie feinem perjönlihen Geſchmacke zufagt, eintreten; nach der Herftellung des Notäwendigften wird daher fein auf weniger drängende Bebürfniffe gerichtetes Schaffen ſich von felbft zu einem fünftlerifhen erheben: giebt er aber das Probuft feiner Arbeit von ſich, verbleibt ihm davon nur der abjtrafte Geldes⸗ wertd, fo fann fi) unmöglich feine Thätigfeit je über den Cha- rafter dev Geſchäftigleit der Mafchine erheben; fie gilt ihm nur als Mühe, ald traurige, faure Arbeit. Dieß Letztere iſt das Loos des Sklaven der Induftrie; unfere heutigen Fabriken geben ung , das jammervolle Bild tiefiter Entwürdigung des Menjchen: ein beftändiged, geift- und leibtödtendes Mühen ohne Luft und Liebe, oft faft ohne Biwed.

Die beflagenswerthe Einwirkung des Chriſteuthums läßt fi) auch hierin nicht verfennen. Setzte dieſes nämlich den Zweck des Menſchen gänzlich außerhalb feines irdiſchen Dafeins, und galt ihm nur diefer Zweck, der abfolute, außermenfchliche Gott, fo fonnte das Leben nur in Bezug auf feine unumgänglicht no! wendigen Bedürfniſſe Gegenftand menjchliher Sorgfalt fein; denn, da man daß Leben nun eimal empfangen hatte, war man auch verpflichtet, es zu erhalten, bis es Gott allein gefallen möchte, und von feiner Laſt zu befreien: kleinesweges aber durften feine Bedürfniffe ung Luft zu einer liebevollen Behandlung des Stoffes erwecken, den wir zu ihrer Befriedigung zu verwenden hatten; nur der abftrafte Zweck der nothbürftigen Erhaltung des Lebens Tonnte unfere finnliche Thätigkeit rechtfertigen, und fo fehen wir mit Entiegen in einer heutigen Baumtvollenfabrit den Geift des Chriſtenthums ganz aufrichtig verkörpert: zu Gunſten der Reichen

26 Die Kunft und die Revolution.

ift Gott Induſtrie geworben, die den armen hriftlichen Arbeiter _ gerade nur fo lange am Leben erhält, bis himmlische Handels- Eonftellationen die gnadenvolle Nothwendigkeit herbeiführen, ihn in eine befjere Welt zu entlaffen.

Das eigentliche Handwerk, fannte der Grieche gar nicht. Die Beihaffung der fogenannten nothwendigen Lebensbedürfniſſe, welche, genau genommen, die ganze Sorge unferes Privat wie öffentlichen Lebens’ ausmacht, dünfte den Griechen nie würdig, ihm der Gegenftand befonderer und anhaltender Aufmerfamfeit zu fein. Sein @eift lebte nur in der Öffentlichkeit, in der Volls— genoffenfchaft: die Bedürfniſſe dieſer Öffentlichkeit machten feine Sorge aus; dieſe aber befriebigte der Patriot, der Staatsmann, der Künftler, nicht der Handwerker. Zu dem Genufje der Offent- lichkeit fchritt der Grieche aus einer einfachen, prunflofen Häus- lichkeit: ſchändlich und niedrig hätte es ihm gegolten, hinter prachtvollen Wänden eines Privatpalaftes der raffinirten Üppig- keit und Wolluft zu fröhnen, wie fie heut’ zu Tage den einzigen Gehalt des Lebens eines Helden der Börſe ausmachen; benn hierin unterjchied ſich der Grieche eben von dem egoiftiichen orien- talifirten Barbaren. Die Pflege feines Leibes verſchaffte er ſich in den gemeinfamen öffentlichen Bädern und Gymnafien; die einfach edle Kleidung war der Gegenftand künſtleriſcher Sorg- falt meiften® der rauen, und wo er irgend auf die Nothiven- digfeit des Handwerkes ftieß, Tag e3 eben in feiner Natur, diefem alsbald die Fünftlerifche Seite abzugewinnen und es zur Kunft zu erheben. Das gröbfte der häuslichen Hantirung wies er aber von fih ab dem Sflaven zu. .

Diefer Sklave ift nun die verhängnißvolle Angel alles Weltgefchides geworden. Der Save hat, durch fein bloßes, als nothwendig erachtetes Dafein als Sflave, die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller Schönheit und Stärke des -griechifchen Sonder: menſchenthumes aufgebedt, und für alle Zeiten nachgetviefen, daß Schönheit und Stärke, ala Grundzüge des öffent» lihen Lebens, nur dann beglüdende Dauer haben können, wenn fie allen Menfchen zu eigen find.

Leider aber ift es bis jetzt nur bei diefem Nachweiſe geblie- ben. In Wahrheit bewährt fi die Jahrtaufende lange Re— volution des Menfchenthumes faft nur im Geifte der Reaktion: fie hat den fchönen freien Menfchen zu fi, zum Sklaventhum

Die Kunft und die Revolution. 27

herabgezogen; ber Slave ift nicht frei, fondern der Freie ift Slave geworben. \

Dem Griechen galt nur der ſchöne und ſtarke Menfch frei, und diejer Menſch war eben nur er: was außerhalb dieſes grie- chiſchen Menfchen, des Apollonpriefters lag, war ihm Barbar, und wenn er ſich feiner bediente Sklave, Sehr richtig war auch der Nicht-Örieche in Wirklichkeit Barbar und SHave; aber er war Menſch, und fein Barbarentfum, fein Sklaventhum war nicht feine Natur, ſondern fein Schiefal, die Sünde der ' Geſchichte an feiner Natur, wie es heut’ zu Tage die Sünde der Geſellſchaft und Civiliſation ift, daß aus den gefündefterr Völ— fern im gefünbeften Klima Elende und Krüppel geworben find. Diefe Sünde der Gefchichte follte ſich aber an dem freien Grie- hen ſelbſt gar bald ebenfalls ausüben: wo das Gewiſſen der abfoluten Menſchenliebe in den Nationen nicht lebte, brauchte der Barbar den Griechen nur zu unterjodhen, fo mar e& mit feiner Freiheit auch um feine Stärke, feine Schönheit gethan; und in tiefer Zerknirſchung follten zweihundert Millionen im römiſchen Reich wüſt durch einander gemworfener Menſchen gar bald empfinden, daß fobald alle Menfchen nicht gleich frei und glüdlich fein können alle Menfchen glei Sklave und elend fein müßten.

Und fo find wir denn bis auf den heutigen Tag Sklaven, nur mit dem Trofte des Wiffens, daß wir eben alle Sklaven find: Sklaven, denen einft hriftliche Apoftel und Kaifer Konftantin

riethen, ein elendes Diesſeits geduldig um ein beſſeres Jenſeits "Hinzugeben; Sklaven, denen heute von Banquierd und Fabrik⸗ befigern gelehrt wird, den Zweck des Dafeins in der Handwerks- arbeit um das tägliche Brot zu fuchen. rei von dieſer Skla— verei fühlte ſich zu feiner Beit nur Kaiſer Konftantin, der über daB, ihnen als nutzlos dargeftellte irdiſche Leben feiner gläubigen - Unterthanen als genußfüchtiger Heidnifcher Defpot verfügte; frei fühlt fich Heut’ zu Tage, wenigftens im Sinne ber öffentlichen Sklaverei, nur Der, welcher Geld hat, weil er fein Leben nach + Belieben zu etwas Unberem, ald eben nur dem Gewinne des . Xebend verwenden kann. Wie nun das Beſtreben nach Befreiung aus der allgemeinen Sfaverei in der römijchen und, mittelalter- Tichen Welt fih als Verlangen nad) abfoluter Herrſchaft fund: gab, fo tritt e8 heute als Gier nad) Geld auf; und wundern wir

28 Die Kunft und bie Revolution.

und daher nicht, wenn auch die Kunſt nach Gelde geht, denn nach feiner Sreiheit, feinem Gotte ftrebt Alles: unfer Gott aber ift dad Geld, unfere Religion der Gelderwerb.

Die Kunft bleibt an ſich aber immer, was fie ift; wir müffen nur fagen, daß fie in der modernen Öffentlicfeit nicht vorhan- den ift: fie lebt aber, und hat im Bewußtfein des Individuums immer als eine, untheilbare jchöne Kunft gelebt. Somit ift der Unterſchied nur der: bei den Griechen war fie im öffentlichen Berußtfein vorhanden, wogegen fie heute nur im Bewußtſein des Einzelnen, im Gegenfage zu dem öffentlichen Unbemußtjein davon, da ift. Zur Beit ihrer Blüthe war die Kunſt bei den Gries en daher konſervativ, weil fie bem öffentlichen Bewußtſein als ein gültiger und entſprechender Ausbrud vorhanden war: bei uns ift die echte Kunſt revolutionär, weil fie nur im Gegenſatze zur gültigen Allgemeinheit eriftirt.

Bei den Griechen war das vollendete, dad dramatiſche Kunſtwerk, der Inbegriff alles aus dem griechiſchen Wefen Dar- ftellbaren; e8 war, im innigen Bufammenhange mit ihrer Ger ſchichte, die Nation felbft, die fi bei der Aufführung des Kunft- werkes gegenüber ftand, fich begriff, und im Verlaufe weniger Stunden zum eigenen, ebeliten Genuffe fich gleichſam felbft ver zehrte. Jede Zertheilung diefes Genuſſes, jede Berfplitterung der in einen Punkt vereinigten Kräfte, jedes Nugeinandergehen der Elemente nach verſchiedenen bejonderen Richtungen mußte diefem herrlich einen Kunſtwerke, wie dem ähnlich beichaffenen Staate ſelbſt, nur nachtheilig fein, und deßwegen durfte es nur fortblühen, nicht aber ſich verändern. Somit war die Kunft Tonfervativ, wie die edelſten Männer des griedhifchen Staates zu der gleichen Zeit fonfervativ waren, und Aiſchylos ift der be zeichnendfte Ausdrud dieſes Konſervativismus: fein herrlichſtes fonfervatives Kunſtwerk ift die Orefteia, mit der er fi als Dichter dem jugenblihen Sophofles, wie als Staatsmann dem revolutionären Perikles zugleich entgegenftellte. Der Sieg des Sophofles, wie der des Perifles, war im Geifte der fort= fchreitenden Entwidelung der Menfchheit; aber die Niederlage des Aiſchylos war der erſte Echritt abwärts von der Höhe der griechiſchen Tragödie, der erfte Moment der Auflöfung des athenifchen Staates.

Mit dem fpäteren Verfall der Tragödie hörte die Kunft

Die Kunft und die Revolution. 29

immer mehr auf, der Ausdruck des öffentlichen Bewußtſeins zu fein: das Drama löſte ſich im feine Beſtandiheile auf: Mhetorif, - Bildhauerei, Malerei, Mufit u. |. w. verließen den Reigen, in dem fie vereint ſich bewegt hatten, um nun jede ihren Weg für ſich zu gehen, ſich felbftändig, aber einfam, egoiſtiſch fortzubil- den. Und fo war e8 bei der Wiedergeburt der Künfte, daß wir zunächſt auf dieſe vereinzelten griechijchen Fünfte trafen, wie fie aus ber Auflöfung ber Tragödie ſich entwickelt Hatten: das große griechiſche Geſammtkunſtwerk durfte unferem verwilderten, an fi irren und zerfplitterten Geifte nicht in feiner Fülle zuerft aufftoßen: denn wie hätten wir es verftehen ſollen? Wohl aber mußten wir und jene vereinzelten Kunſthandwerke zu eigen zu machen; denn als eble Handwerke, zu denen fie ſchon in der römiſch⸗ griechiſchen Welt herabgefunfen waren, lagen fie unferem Geifte und Weſen nicht fo ferne: der Zunft und Handwerks: geift de3 neuen Bürgerthums regte ſich lebendig in den Städten; Zürften und Vornehme gewannen es lieb, ihre Schlöffer an- mutiger bauen und verzieren, ihre Säle mit reizenderen Ge— mälden ausſchmücken zu laffen, als es die rohe Kunft des Mittel- alter8 vermocht hatte. Die Pfaffen bemächtigten ſich der Rhetorik für Die Kanzeln, dev Mufit für den Kirchenchor; und es arbeitete ſich die neue Handwerkswelt tüchtig in die einzelnen Künfte der Grie- Gen hinein, fo weit fie ihr verſtändlich und zweckmäßig erfchienen.

Jede diejer einzelnen Künfte, "zum Genuß und zur Unter- haltung der Reichen üppig genährt und gepflegt, hat num die Welt mit ihren Produkten reichlich erfüllt; große Geifter haben in ihnen Entzüdendes geleiftet: die eigentliche wirkliche Kunft ift aber durch und feit der Nenaiffance noch nicht wiedergeboren worden; denn das vollendete Kunftwerf, der große, einige Aus— drud einer freien ſchönen Offentlichfeit, da8 Drama, die Tra- gödie,-ift fo große Tragiker auch hie und da gebichtet haben noch nit wiebergeboren, eben weil e8 nicht wieder ge- boren, -fondern von Neuem geboren werden muß.

Nur die große Menfchheitsrevolution, deren Beginn die griechiſche Tragödie einſt zertrümmerte, kann auch biefes KRunftwert und gewinnen; denn nur die Revofution kann aus ihrem tiefften Grunde Das von Neuem, und jchöner, edler, allge- meiner gebären, was fie dem fonferbativen Geiſte einer früheren Beriode ſchöner, aber befehränkter Bildung, entriß und verfchlang.

30 Die Kuuft und die Revolntion.

Aber eben bie. Revolution, nit etwa die Reſtau— ration, kann uns jenes, höchfte Kunſtwerk wiedergeben. Die Aufgabe, die wir vor uns haben, ift unendlich, viel größer als die, welche bereits einmal gelöft worden ift. Umfaßte daß grie- chiſche Kunſtwerk den Geift einer ſchönen Nation, jo foll das Kunſtwerk der Bufunft den Geiſt ber freien Menſchheit über alle Schranken der Nationalitäten hinaus umfaffen; das nationale Weſen in ihm barf nur ein Schmud, ein Reiz individueller Man- nigfaltigfeit, nicht eine hemmende Schranke fein. Etwas ganz Underes haben wir daher zu ſchaffen, als etiva eben nur bad Griechenthum wieder herzuftellen; gar wohl ift die‘ thörige Re— ftauration eines Scheingriechenthums im Kunſtwerke verjucht worden, was ift von Künſtlern bisher auf Beftellung nicht verfucht worden? Uber etwas Anderes als weſenloſes Gaufel-

" fpiel hat nie daraus heroorgehen fünnen: e3 waren dieß eben nur Kundgebungen deſſelben heuchleriſchen Strebens, welches wir in unferer ganzen offiziellen Eivilifationsgefchichte immer im Ausweichen des einzig richtigen Strebens begriffen jehen, des Strebens der Natur.

Nein, wir wollen nicht wieder Griechen werden; denn was

- die Griechen nicht wußten, und mweßwegen-fie eben zu Grunde

- gehen mußten, daß willen wir. Gerade ihr Fall, deſſen Urfache wir nad) langem Elend und aus tiefitem allgemeinen Leiden Heraus erfennen, zeigt und deutlich, maß wir werden müffen: er zeigt uns, daß wir alle Menfchen lieben müffen, um uns felbft wieder lieben, um Freude an und felbjt wieder gewinnen zu kön⸗ nen. Aus dem entehrenden Sklavenjoche des allgemeinen Hand⸗ werlkerthums mit feiner bleichen Geldjeele wollen wir und zum freien fünftlerifchen Menſchenthume mit feiner ftrahlenden Welt- feele aufſchwingen; aus mühjelig beladenen Tagelöhnern der Induftrie wollen wir Alle zu fchönen, ftarfen Menfchen werben, denen die Welt gehört als ein ewig unverfiegbarer Duell höchſten fünftlerifchen Genuffes.

Bu diefem Ziele bebürfen wir der allgewaltigften Kraft der Revolution; denn nur die Revolutionskraft ift die unfrige, die an das Biel Hindringt, an daß Ziel, deffen Erreichung fie einzig dafür rechtfertigen kann, daß fie ihre erite Thätigkeit in der Ber- fplitterung der griechifchen Tragödie, in der Auflöfung des athenifhen Staates ausübte,

Die Kunft und die Revolution. 31

. Woher follen wir num aber diefe Kraft ſchöpfen im Bu- ſtande tieffter Entkräftung? Woher die menſchliche Stärke gegen den Alles lähmenden Drud einer Civilifation, welhe den Men- ichen vollfommen verläugnet? Gegen den Übermuth einer Kul- tur, welche den menſchlichen Geift nur ald Dampffraft der Ma⸗ ſchine verwendet? Woher das Licht zur Erleuchtung jenes herrſchenden, graufamen Aberglaubens, daß jene Civilifation, jene Kultur an fi) mehr werth feien, als der wirkliche lebendige

Menſch? Daß der Menſch nur als Werkzeug jener gebietenden abftraften Mächte Werth und Geltung Habe, nit an fi und als Menſch?

Wo ber gelehrte Arzt Fein Mittel mehr weiß, da wenden wir und endlich verzweifelnd wieder an die Natur. Die Natur, und nur die Natur, kann auch bie Entwirrung des großen Weltgeſchickes allein vollbringen. Hat die Kultur, von dem Glau- ben des Chriftentfums an die Verwerflichkeit der menfchlichen Natur ausgehend, den Menjchen verläugnet, jo hat fie ſich eben einen Zeind erſchaffen, der fie nothwendig einft jo iveit ber- nichten muß, als der Menſch nicht in ihr Raum hat: denn diefer Zeind ift eben die ewig und einzig lebende Natur. Die Natur, die menſchliche Natur wird den beiden Schweitern, Kultur und Civilifation, das Geſetz verkündigen: „fo weit ih in euch ent⸗ halten bin, ſollt ihr leben und blühen; ſo weit ich nicht i in euch bin, ſollt ihr aber ſterben und verdorren!“

In dem menfchenfeindlicen Fortſchreiten der Kultur fehen -wir jedenfalls dem glüdlichen Erfolge entgegen, daß ihre Laft und Beſchränkung der Natur fo riefenhaft anwachſe, daß fie der zufammengepreßten unfterblichen Natur enblih die nöthige Schnellkraft giebt, mit einem einzigen Rude die ganze Laft und Beengung weit von ſich zu ſchleudern; und dieſe ganze Kultur- anhäufung hätte fomit die Natur nur ihre ungeheure Kraft er- kennen gelehrt: die Bewegung diefer Kraft aber ift die Re— volution.

Bie äußert fi auf dem gegenwärtigen Standpunkte der ſozialen Bewegung nun diefe revolutionäre Kraft? Äußert fie ſich nicht zunächft ald der Trotz des Handwerkers auf dad mo- ralifche Bewußtſein von feiner Arbeitfamfeit gegenüber der laſter⸗ haften Trägheit oder unfittlichen Gefchäftigkeit der Reichen? Wil er nicht, wie aus Rache, dad Prinzip der Arbeit zur einzig be

32 Die Kunft und die Revolution.

rechtigten Meligion der Geſellſchaft erheben? Den Reichen ziwin- gen, gleich ihm zu arbeiten, um auch im Schweiße feines An— geſichts fein tägliches Brot fich zu verdienen? Hätten wir nicht zu fürchten, daß die Ausſührung dieſes Zwanges die Anerkennung jenes Prinzipes gerade das menjchenentwürdigende Handwerker thum endlich zur abjoluten Weltmacht erheben, und, um bei unſerem Hauptgegenftande zu bleiben, bie Kunft geradezu ‚für alle Zeit unmöglich machen müßte?

In Wahrheit ift dieß Die Befürchtung mandjes redlichen Freundes der Kunſt, ſogar manches aufrichtigen Menfchenfreun- des, dem es um den Schuß des ebleren Kernes unferer Civi— liſation wirklich allein zu thun ift. Dieſe verfennen aber dad eigentliche Wefen der großen fozialen Bewegung; fie beirren die zur Schau getragenen Theorien unferer doktrinären Sozialiften, welche mit dem gegenwärtigen Beftande unferer Geſellſchaft un- mögliche Verträge jchließen wollen; fie täufcht der unmittelbare Ausdrud der Entrüftung des leidendſten Theiles unferer Gefell- ſchaft, welcher in Wahrheit aber ein tieferer, eblerer Naturbrang zu Grunde liegt, der Drang nad) würdigem Genuffe des Lebens, deffen materiellen Unterhalt der Menſch fich nicht mit dem Auf- wande aller feiner Lebenskräfte mühfelig mehr verbienen, fon» dern defien er fi ald Menſch erfreuen will: es ift ſomit, genau betrachtet, der Drang auß dem Hanbwerfertfume heraus zum. fünftlerifchen MenfchentHum, zur freien Menfchenwürbe,

Gerade an der Kunft ift es nun aber, dieſem fozialen Drange feine edelſte Bebeutung erfennen zu Laffen, feine wahre Richtung ihm zu zeigen. Aus ihrem Buftande civilifirter Barbarei Tann | die wahre Kunft fi nur auf den Schultern unferer großen fo

zialen Bewegung zu ihrer Würde erheben: fie hat mit ihr ein

gemeinfchaftliches Biel, und beide Können es nur erreichen, wenn fie es gemeinschaftlich erkennen. Dieſes Biel ift der ftarke und ſchöne Menſch: die Revolution gebe ihm die Stärke, bie Runft die Schönheit!

Den Gang der fozialen Entwidelung, wie er die Gefchichte durchſchreiten wird, hier näher zu bezeichnen, kann weder unjere Aufgabe fein, noch dürfte überhaupt in diefem Bezuge ein boftri- närer Kalkül dem von aller Vorausfegung unabhängigen ge- ſchichtlichen Gebahren der geſellſchaftlichen Natur des Menjchen etwas vorzeichnen Tönnen. Nichts wird gemacht in der Gejdichte,

Die Kunft und bie Revolution. 33

fondern Alles macht ſich felbft nach feiner inneren Nothivendig- keit. Unmöglich kann aber der Buftand, in welchem bereinft die Bewegung ala bei ihrem Biele angelommen fein wird, ein an= derer als ein dem gegenwärtigen gerabezu entgegengefeßter fein, fonft wäre die ganze Geſchichte ein kreisförmiges, unruhiges Durcheinander, Teinesweged aber die nothiwendige Bewegung eines Stromes, welder bei allen Biegungen, Abweichungen und Uberſchwemmungen, dennoch immer in ber Hauptrichtung fich ergießt.

In diefem tünftigen Zuftande nun dürfen wir die Men- ſchen erfennen, wie fie fi) von einem legten Aberglauben, d. i. Verfennen der Natur, befreit haben, eben jenem Aberglauben, durch welchen der Menſch ſich bisher nur als das Werkzeug zu einem Zwecke erblidte, der außer ihm felbft lag. Weiß ber Menſch fich endlich ſelbſt einzig und allein als Zweck feines Dafeind, und begreift er, daf er diefen Selbſtzweck am volltommenften nur in der Gemeinfhaft mit allen Menfchen erreicht, jo wird fein ges ſellſchaftliches Glaubensbekenntniß nur in einer pofitiven Be— ftätigung jener Lehre Jeſus' beftehen fönnen, in welcher er er- mahnte: „Sorget nicht, was werden wir effen, was werben wir trinken, noch auch, womit werden wir und leiden, denn diefes Hat euch euer Himmlifcher Vater Alles von ſelbſt gegeben!” Diefer Himmlifche Vater wird dann fein anderer fein, als die foziale Vernunft der Menjchheit, welche die Natur und ihre Fülle fh zum Wohle Aller zu eigen macht. Eben daß bie rein phy— ſiſche Erhaltung des Lebens bisher der Gegenitand der Sorge, und zwar der wirklichen, meift alle Geiftesthätigkeit lähmenden, Leib und Seele verzehrenden Sorge jein mußte, darin lag das Laſter und der Fluch unferer gefelligen Einrichtungen! Diefe Sorge hat den Menfchen ſchwach, knechtiſch, ftumpf und elend gemacht, zu einem Geſchöpfe, das nicht lieben und nicht haſſen fann, zu einem Bürger, der jeden Augenblid den legten Reſt feines freien Willens Hingab, wenn nur diefe Sorge ihm er— leichtert werden Tonnte.

Hat die brüberliche Menfchheit ein- für allemal diefe Sorge von fich abgeworfen, und fie wie der Gricche dem Sklaven ber Mafchine zugetviefen, diefem fünftlichen Sflaven des freien, ſchöpferiſchen Menfchen, dem er bis jetzt diente wie der Zetijch- anbeter bem von feinen eigenen Händen verfertigten Götzen, fo

Rihard Wagner, Gef. Schriften m. 3

34° Die Kunft und bie Revolution.

wird all’ fein befreiter Thätigfeitötrieb fich nur noch als Fünft- lerifcher Trieb kundgeben. Im weit erhöhten Maaße werden wir fo daS griechifche Lebenselement wiedergewinnen: was dem Griechen der Erfolg natürlicher Entwidelung war, wirb uns das Ergebniß geſchichtlichen Ringens fein; was ihm ein Halb un- bewußtes Geſchenk war, wird uns als ein erfämpftes Wiffen verbleiben, denn was die Menfchheit in ihrer großen Gejammt- heit wirffih weiß, das kann ihr nicht mehr entfchwinden. Nur Starte Menfchen fennen bie Liebe, nur die Liebe erfaßt die Schönheit, nur die Schönheit bildet die Kunft. Die Liebe der Schwachen unter ſich kann ſich nur als Kitel der Wol- luſt äußern; die Liebe des Schwachen zum Starken ift Demuth und Furcht; die Liebe des Starken zum Schwachen ift Mitleid und Nachſicht: nur die Liebe des Starken zum Starken ift Liebe, denn fie ift freie Hingebung an Den, ber und nicht zu zwingen vermag. Sm jedem Himmelsftriche, bei jedem Stamme, werben die Menfchen durch die wirkliche Freiheit zu gleicher Stärke, durch die Stärke zur wahren Liebe, durch die wahre Liebe zur Schönheit gelangen können: die Thätigfeit der Schönheit aber ift die Kunſt. a3 uns als der Zweck bed Lebens erfcheint, dafür erziehen wir und und unfere Kinder. Bu Krieg und Jagd ward der Ger— mane, zu Enthaltfamfeit und Demuth der aufrichtige Chrift, zu induftriellem Erwerb, felbft duch Kunft und Wiſſenſchaft, wird der moberne Staatsunterthan -erzogen. Iſt unferem zukünftigen freien Menfchen der Gewinn des Lebensunterhältes nicht mehr der Zweck des Lebens, fonbern ift durch einen thätig gewordenen neuen Glauben, oder beffer: Wifien, der Gewinn bes Lebens- unterhaltes gegen eine ihm entjprechende natürliche Thätigfeit uns außer allem Zweifel gefegt, kurz ift die Induſtrie nicht mehr unfere Herrin, fondern unfere Dienerin, fo werden wir den Zweck des Lebens in die Freude am Leben fegen, und zu bem wirklichſten Genuffe diefer Freude unfere Kinder durch Erziehung fähig und tüchtig zu machen ſtreben. Die Erziehung, von der bung der Kraft, von der Pflege ber körperlichen Schönheit aus- gehend, wird fchon aus ungeftörter Liebe zu dem Kinde, und aus Freude am Gebeihen feiner Schönheit, eine rein künſtleriſche werden, und jeder Menſch wird in irgend einem Bezuge in Wahrheit Künftler fein. Die Verfchiedenartigfeit der natürlichen

Die Kunft und die Revolution. 35

Neigungen wird die mannigfachſten Künfte, und in ihnen die mannigfachften Richtungen, zu einem ungeahnten Reichthume ausbilden; und wie das Wifjen aller Menfchen endlich in dem einen thätigen Wiffen des freien, einigen Menſchenthumes feinen religiöfen Ausdrud finden wird, fo werben alle diefe reich ent widelten Künfte ihren verſtändnißreichſten Vereinigungspunlt im Drama, in der herrlichen Menfchentragödie finden. Die Tra— göbien werden die Feſte der Menſchheit fein: in ihnen wird, los— gelöft von jeber Konvention und Etiquette, ber freie, ftarfe und ſchöne Men die Wonnen und Schmerzen feiner Liebe feiern, würdig und erhaben das große Liebedopfer feines Todes voll» ziehen.

Diefe Kunft wird wieder konſervativ fein; aber in Wahr⸗ heit und ihrer wirklichen Dauer- und Blüthekraft wegen wird fie fi) von felbft erhalten, nicht eines aufer ihr liegenden Zweckes wegen bloß nad Erhaltung jchreien, denn jehet: dieſe Kunft geht nicht nad) Geldel

„Utopien! Utopien!“ höre ich fie rufen die großen Weifen und Überzuderer unferer modernen Staatd- und Kunftbarbarei, die fogenannten praftij—hen Menfchen, die in der Handhabung ihrer Praktik fi täglich nur durch Lügen und Gemwaltftreiche, oder wenn fie nämlich ehrlich find höchſtens durd Un wiſſenheit Helfen können.

„Schönes Ideal, das, wie jedes Ideal, uns nur vorſchwe— ben, von dem zur Unvollkommenheit verdammten Meufchen lei— der aber nicht erreicht werden foll.“ So feufzt der gutmüthige Schwärmer für das Himmelreich, in welchem, wenigjtens für feine Berfon, Gott den unbegreiflichen Fehler diefer Erd- und Menfhenfhöpfung wieder gut machen wird.

Sie Ieben, leiden, lügen und läftern thatſächlich in dem widerlicäften Zuſtande, dem ſchmuzigen Bobenfage eines in Wahr- heit eingebilbeten und deßhalb unvermwirffichten Utopiend, mühen und überbieten fi) in jeder Kunſt der Heuchelei für die Aufrecht» Haltung der Lüge diejes Utopiens, auß welchem fie täglich als verftümmelte Krüppel gemeinfter und frivolfter Leidenfchaft auf den platten, nadten Boden der nüchternften Wahrheit jämmer-

3.

36 Die Kunft und die Revolution.

lich herabfallen, und Halten oder verfchreien die einzig natürliche Erlöfung aus ihrer Verzauberung für Chimäre, für ein Utopien, gerade wie die Leidenden im Narrenhaufe ihre verrüdten Eins bildungen für Wahrheit, die Wahrheit aber für Verrücktheit Halten.

Kennt die Gefchichte ein wirkliches Utopien, ein in Wahr- beit unerreichbares Ideal, jo war es dad Chriftenthum; denn fie bat klar und beutlich gezeigt, und zeigt e8 noch jeden Tag, daß feine Prinzipien fi nicht verwirklichen ließen. Wie fonnten diefe Prinzipien aud) wirklich Iebendig werben, in das wahrhafte Leben übergehen, da fie gegen das Leben gerichtet waren, das Lebendige verläugneten und verdammten? Das Chriſtenthum ift rein geiftigen, übergeiftigen Gehaltes; es predigt Demuth, Entfagung, Beratung alles Irdifchen, und in diefer Beratung Bruderliebe: wie jtellt fi) die Erfüllung heraus in der mo- dernen Welt, die ſich ja doc) eine chriſtliche nennt und die hrift- liche Religion als ihre unantaftbare Baſis fefthält? Als Hoch— muth der Heuchelei, Wucher, Raub an ben Gütern der Natur und egoiftijche Verachtung der leidenden Nebenmenfchen. Woher nun diefer kraſſe Gegenjag in der Ausführung gegen die Idee? Eben weil die Idee krank, der momentanen Erſchlaffung und Schwächung ber menſchlichen Natur entkeimt war, und gegen bie wahre, gejunde Natur des Menfchen fich verfündigte. Wie jtarf diefe Natur aber ift, wie unverjiegbar ihre immer nen gebärende Fülle, das Hat fie gerade unter dem allgemeinen Drude jener Idee bewiefen, die, wenn ihre innerfte Konfequenz ſich erfüllt hätte, ben Menfchen eigentlich gänzlich von der Erde vertilgt haben müßte, da ja auch die Enthaltung von der Geſchlechtsliebe in ihr als höchſte Tugend begriffen war. Ihr feht nun aber, daß trotz jener allmächtigen Kirche der Menfc in folder Fülle vor— Banden ift, daß eure hriftlich-öfonomiiche Staatsweisheit gar nicht einmal weiß, was fie mit diefer Fülle anfangen foll, daß ihr euch nad) fozialen Morbmitteln umfchet zu ihrer Vertilgung, ja daß ihr wirklich froh wäret, wenn der Menſch vom Chriften- thume umgebracht worden wäre, damit der einzige abjtrafte Gott eures lieben Ich's allein nur noch auf dieſer Welt Raum ge— winnen dürftel

Das ſind die Menſchen, die über „Utopien“ ſchreien, wenn der geſunde Menſchenverſtand ihren wahnſinnigen Experimenten gegenüber an bie wirklich und einzig ſichtbar und greiflich vor—

Die Kunft und die Revolution. 37

handene Natur appellirt, wenn er von der göttlichen Vernunft des Menschen nichts meiter verlangt, als daß fie ung ben In— ftinft des Thieres in der forgenlofen, wenn auch nicht bemühungs⸗ Iofen, Auffindung der Mittel feines Lebensunterhaltes erjegen fol! Und wahrlich, fein höheres Refultat verlangen wir bon ihr für die menfcjliche Geſellſchaft, um auf diefer einen Grund» Tage das Herrlichfie, reichfte Gebäude ber wirklichen ſchönen Kunft der Zukunft aufzubauen!

Der wirkliche Künftler, der ſchon jet ben rechten Stand— punkt erfaßt hat, vermag, da diefer Standpunlt doc) ewig wirk- lich vorhanden ift, ſchon jet daher an dem Kuuſtwerke der Zu— kunft zu arbeiten. Jede der Schmwefterfünfte hat auch in Wahrheit von je ber, umd fo auch jebt, in zahlreichen Schöpfungen ihr hohes Bewußtſein von fich fundgegeben. Wodurch aber litten von je her, und vor Allem in unferem Heutigen Buftande, die begeifterten Schöpfer jener edlen Werke? War ed nicht durch ihre Berührung mit der Außenwelt, alfo mit der Welt, der ihre Werke angehören jollten? Was hat wohl den Architekten empört, wenn er feine Schöpferkraft auf Beftellung an Kafernen und Miethwohnhäufern zerfpfittern mußte? Was kränkte den Maler, wenn er die wiberliche Frage eines Millionärd porträtiren, mas den Mufiter, wenn er Zafelmufifen tomponiren, was den Dich— ter, wenn er Leihbibliothefcomane fchreiben mußte? Was war dann fein Leiden? Daß er feine Schöpfungsfraft an den Erwerb vergeuben, feine Kunſt zum Handwerk machen mußte! Was aber hat endlich der Dramatiker zu leiden, wenn er alle Künſte zum höchſten Kunſtwerk, zum Drama vereinigen will? Alle Lei- den der übrigen Künftler zufammen!

Was er fchafft, wird zum Kunſtwerke wirklich erft dadurch, daß es vor der Öffentlichkeit in das Leben tritt, und ein dra- matifches Kunſtwerk tritt nur durch das Theater in das Leben. Bas find aber heut’ zu Tage dieje, über die Hülfe aller Fünfte verfügenden Xheaterinftitute? Imduftrielle Unternehmungen, und zwar felbft da, wo Staaten ober Fürften fie beſonders do» tiren: ihre Zeitung wird meiften® denfelben Männern übertragen, die geftern eine Spekulation in Getreide dirigirten, morgen einer Unternehmung in Buder ihre twohlerfernten Kenntniffe widmen, falls fie nicht ihre Kenntniffe in den Myfterien bed Kammer— herrndienſtes oder ähnlichen Zunktionen für das Erfaffen der

38 Die Kunft und bie Revolution.

theatralifchen Würde außgebilbet Haben. So lange man in einem Theaterinftitute, dem herrſchenden Charakter der Öffentlichfeit nach, und bei der dem Theaterdireftor auferlegten Nothwendig⸗ Zeit, mit dem Publitum eben nur als gefchicter Taufmännifcher Spefulant zu verkehren, nichts anderes als ein Mittel für den Geldumlauf zur Produktion von Binfen für das Kapital erblict, ift es natürlich auch ganz folgerichtig, daß man nur einem in solchem Bezug Gefchäftskundigen feine Leitung, d. 5. Ausbeu- tung, übergiebt; denn eine wirklich Fünftlerifche Leitung, alfo eine folde, die dem urfprünglichen Zwecke des Theaters ent- fpräche, würbe allerdings ſehr übel im Stande fein, den mobernen Zweck defjelben zu verfolgen. Eben deßhalb muß es aber jedem Einſichtsvollen deutlich werden, daß, foll das Theater - irgendwie feiner natürlichen eblen Beftimmung zugemwenbet wer⸗ den, es von ber Nothwendigkeit inbuftrieller Spekulation durch⸗ aus zu befreien ift.

Wie wäre dieß möglich? Diefe einzige Inftitut follte einer Dienftbarfeit entzogen werden, welcher heut’ zu Tage alle Men— ſchen und jede gefellfchaftfiche Unternehmung ber Menjchen unter- worfen find? Sa, gerade das Theater foll in diefer Befreiung allem Übrigen vorangehen; denn das Theater ift die umfafjendfte, die einflußreichite Kunftanftalt; und ehe der Menſch feine edelſte Thätigfeit, die fünftlerifche, nicht frei ausüben kann, wie follte er da hoffen nad niedereren Richtungen hin frei und felbftänbig zu werben? Beginnen wir, nachdem ſchon der Staatädienit, der Armeebienft, wenigiten fein induſtrielles Gewerbe mehr ift, mit der Befreiung ber öffentlichen Kunſt, weil, wie ich oben an— deutete, gerade ihr eine unſäglich Hohe Aufgabe, eine ungemein wichtige Thätigfeit bei unferer fozinlen Bewegung zuzutheilen iſt. Mehr und beffer als eine gealterte, durch den Geiſt der Öffentfichfeit verläugnete Religion, wirkungsvoiler und ergrei- fender als eine unfähige, lange an fich irre gewordene Staats— meißheit, vermag die ewig jugendliche Kunft, die ſich immer aus fi und dem edelften Geifte der Zeit zu erfrifchen vermag, dem leicht an wilde Klippen und in ſeichte Flächen abweichenden Steome leidenſchaftlicher fozialer Bewegungen ein fehönes und hohes Biel zuzuweiſen, das Biel edler Menſchlichkeit.

Liegt euch Freunden ber Kunſt wirklich daran, die Kunſt vor den drohenden Stürmen erhalten zu wiffen, jo begreift, daß fie

Die Kunft und die Revolution. 39

nicht nur erhalten, fonbern wirklich exit zu ihrem eigenthüm- lichen wahren, vollen Leben gelangen ſolll

Iſt es euch redlichen Staat3männern wahrhaft darum zu thun, dem von euch geahnten Umfturze der Gefelljchaft, dem ihr vielleicht deßhalb nur wiberftrebt, weil ihr bei erfchüttertem Glau- ben an die Reinheit der menſchlichen Natur nicht zu begreifen bermögt, wie diefer Umfturz einen fehlerhaften Zuftand nicht in einen noch biel ſchlimmeren verwandeln follte, ift e8 euch, fage ich, darum zu thun, diefer Umwandlung ein Iebensträftiges Unterpfand fünftiger fehönfter Gefittung einzuimpfen, fo helft una nad) allen Kräften, die Kunft fi und ihrem edlen Berufe felbft wiederzugeben!

Ihr leidenden Mitbrüder jedes Theiles der menfchlichen Geſellſchaft, die ihr in heißem Grollen darüber brütet, wie ihr aus Sklaven des Geldes zu freien Menfchen werden möchtet, begreift unfere Aufgabe, und helft uns bie Kunſt zu ihrer Würde zu erheben, damit wir euch zeigen können, wie ihr dad Handwerk zur Kunſt, den Knecht der Anduftrie zum fchönen felbftbewußten Menfchen erhebet, der der Natur, der Sonne und den Sternen, dem Tode und der Ewigkeit mit verſtändnißvollem Lächeln zu— ruft: auch ihr feid mein, und id bin euer Herr!

Die ih euch anrief, wäret ihr einverftanden und einig mit uns, wie leicht wäre es eurem Willen, die einfachen Maßregeln in das Werk zu fegen, die das unaugbleibliche Gebeihen jener wichtigften aller Runftanftalten, des Theaters, zur Folge haben müßten, Am Staat und an der emeinde wäre e3, zunächft ihre Mittel gegen den Zwed abzumägen, um das Theater in den Stand zu fegen, nur feiner höheren, mwahrhaften Beftimmung nachgehen zu können. Diefer Zweck wird erreicht, wenn Die Theater gerade jo weit unterjtügt werden, daf ihre Verwaltung nur noch eine rein fünftlerifche fein darf, und niemand beſſer wird dieſe zu führen im Stande fein, als alle die Künftler ſelbſt, welche fi zum Kunſtwerke vereinigen und durch eine zweckmäßige Verfaſſung ihre gegenfeitige gedeihliche Wirkjamfeit ſich gewähr- leiſten: bie vollftändigfte Freiheit kann fie einzig zu dem Gtre . ben verbinden, ber Abficht zu entfprechen, um deren Willen fie von der Nothwendigkeit induftrieller Spekulation befreit find; und diefe Abficht ift die Kunſt, die nur der Freie begreift, nicht der Sklave bed Erwerbes.

40 Die Kunft und die Revolution.

Der Richter ihrer Leiftungen wird die freie Öffentlichkeit fein. Um aber aud) diefe der Kunft gegenüber völlig frei und unabhängig zu machen, müßte in dem betretenen Wege noch ein Schritt weiter gegangen werben: das Publikum müßte unent- geltlihen Zutritt zu den Vorftellungen des Theaters haben. So lange das Geld zu allen Lebensbebürfniffen nöthig iſt, fo lange ohne Geld dem Menfchen nur bie Quft und kaum das Waffer verbleibt, Töunte die zu treffende Maßregel nur bezweden, die wirklichen Theateraufführungen, zu denen fi) das Publikum verfammelt, nicht al3 Leiftungen gegen Bezahlung erfchei- nen zu laffen, eine Anſicht von ihnen, die befanntlih zum allerſchmachvollſten Werfennen des Charakter8 von Kunftvorftel- lungen führt: die Sache des Staates, oder mehr noch der be— treffenden Gemeinde, müßte es aber fein, aus gejammelten Kräften die Künftler für ihre Leiftungen im Ganzen, nicht im Einzelnen zu entfchädigen.

Wo die Kräfte hierzu nicht hinreichen, würde es für jept und für immer beffer fein, ein Theater, welches nur als in- duftriele Unternehmung feinen Fortbeſtand finden könnte, gänz— lich eingehen zu laſſen, mindeftens auf ebenfo lange, al3 das Be— dürfniß in der Gemeinde ſich nicht kräftig genug erweiſt, um feiner Befriedigung da nöthige gemeinfame Opfer zu bringen.

Iſt dann die menſchliche Geſellſchaft dereinft jo menſchlich ſchön und edel entwidelt, wie wir es allerdings durch die Wirk- fanıfeit unferer Kunſt allein nicht erreichen werden, wie wir es aber im Verein mit den unausbleiblich bevorjtehenden großen fozialen Revolutionen hoffen bürfen und erftreben müſſen, fo werben die theatralifchen Vorftellungen auch die erften gemein- ſamen Unternehmungen fein, bei denen der Begriff von Geld und Erwerb gänzlic) ſchwindet; denn, gedeiht die Erziehung unter den obigen Vorausfegungen immer mehr zu einer künſtleriſchen, fo werden wir einft fo weit alle felbft Künſtler fein, daß wir gerade als Künftler zuerft nur um ber Sache, der Kunftange- legenheit jelbft, nicht um eines nebenbei liegenden gewerblichen Zweckes willen, zu einer gemeinfamen freien Wirkfamfeit uns vereinigen können.

Die Kunft und ihre Jnftitute, deren zu wünfchende Organi- fation hier eben nur fehr flüchtig angedeutet werben dürfte, können fomit die Vorläufer und Mufter aller Tünftigen Ge—

Die Kunft und die Revolution. 4

meindeinftitutionen werden: der Geift, der eine Fünftlerifche Kör- perichaft zur Erreichung ihres wahren Zweckes verbindet, würde ſich in jeber anderen gejellichaftlihen Vereinigung wieberge- winnen lafjen, die fi einen bejtimmten menſchenwürdigen Zweck ftellt; denn eben al’ unfer zufünftiges gefellfchaftliches Ge— bahren ſoll und kann, wenn wir dad Nichtige erreichen, nur rein tünftlerifcher Natur noch fein, wie es allein den edlen Fähig- teiten des Menſchen angemefjen ift.

So würde und denn Jeſus gezeigt haben, daß wir Men- ſchen alle glei) und Brüder find; Apollon aber würde dieſem großen Bruderbunde das Siegel der Stärke und Schönheit auf- gedrüdt, er würde den Menfchen vom Zweifel an feinem Werte zum Bewußtſein feiner höchſten göttlichen Macht geführt haben. So laßt und denn den Altar der Zukunft, im Leben wie in der Iebendigen Kunft, den zwei erhabenften Lehrern der Menjchheit errichten: Jeſus, der für die Menjchheit litt, und Apollon, der fie zu ihrer freudenvollen Würbe erhob!

Das

Kunſtwerk der Bukunft.

L Der Menfc und die Kunſt im Allgemeinen.

1. Natur, Menſch und Kunft.

Wie der Menſch fich zur Natur verhält, jo verhält die Kunſt fih zum Menfchen.

Als die Natur fich zu der Fähigkeit entwidelt hatte, welche . die Bedingungen für das Dafein des Menfchen in ſich ſchloß, entftand auch ganz von felbit der Menſch: ſobald das menſch- liche Leben aus ſich die Bedingungen für das Erfcheinen des Kunſtwerkes erzeugt, tritt dieſes auch von felbft in das Leben.

Die Natur erzeugt und geftaltet abſichtslos und unwillkür— lich nad Bedürfniß, daher aus Nothwendigfeit: diefelbe Noth- wenbigfeit ift bie zeugende und geftaltende Kraft des menjch- lichen Lebens; nur was abſichtslos und unwillkürlich, entſpringt dem wirklichen Bebürfniffe, nur im Bedürfniſſe liegt aber der Grund des Lebens.

Die Nothwendigkeit in der Natur erfennt der Menſch nur aus dem Zufammenhange ihrer Erjcheinungen: fo lange er diefen nicht erfaßt, dünkt fie ihn Willkür.

Dad Kunftiwert der Zukunft. 43

Bon dem Augenblide an, wo der Menfch feinen Unterſchied von der Natur empfand, fomit überhaupt erſt feine Entwidelung als Menſch begann, indem er ſich von dem Unbemwußtjein thie- riſchen Naturlebens losriß, um zu bewußtem Leben überzugehen, als er fich demnach der Natur gegenüberftellte, und, aus dem hieraus zunächft entfpringenden Gefühle feiner Abhängigkeit von ihr, fi) dad Denken in ihm enttwidelte, von diefem Augen- blide an beginnt der Irrthum als erfte Nußerung des Bewußt⸗ feins. Der Irrthum ift aber der Vater der Erkenntniß, und die Geihichte der Erzeugung der Erfenntniß aus dem Irrthume ift die Geſchichte des menſchlichen Gefchlechtes von dem Mythus der Urzeit bis auf den heutigen Tag.

Der Menſch irrte von da an, wo er die Urſache der Wir- tungen der Natur außerhalb des Weſens der Natur felbft ſetzte, der finnlihen Erſcheinung einen unfinnfichen, nämlich als menſch- lich willkürlich vorgeftellten Grund unterſchob, den unendlichen Zufammenhang, ihrer unbewußten, abfichtölofen Thätigkeit für abfichtliches Gebahren zufammenhangslofer, endlicher Willens- äußerungen hielt. In der Löſung dieſes Irrthumes befteht die Erfenntniß, und dieſe ift das Begreifen ber Nothwendigkeit in den Erſcheinungen, deren Grund und Willkür bäuchte,

Durch diefe Erkenntniß wird die Natur ſich ihrer ſelbſt be— mußt, und zwar im Menfchen, der nur durch feine Selbftunter- ſcheidung von der Natur dazu gelangte, die Natur zu erkennen, indem fie ihm fo Gegenftand wurde: diefer Unterfchied hört aber da wieder auf, wo der Menich das Wefen der Natur ebenfalls als fein eigenes, für alles wirklich Vorhandene und Lebende, alfo für dad menſchliche Dafein nicht minder als für das Dafein der Natur, diefelbe Nothwendigfeit, daher nicht allein den Zu— fammenhang der natürlichen Erſcheinungen unter ſich, ſondern auch feinen eigenen Zufammenhang mit der Natur erfennt.

Gelangt nun die Natur, durch ihren Bufammenhang mit dem Menfchen, im Menfchen zu ihrem Bewußtfein, und foll die Bethätigung dieſes Bewußtſeins das menfchliche Leben ſelbſt fein, gleichſam als die Darstellung, das Bild der Natur, fo erreicht das menfchliche Leben felbft fein Verftändnig durch die Wiſſenſchaft, welche fich diefes wiederum zum Gegenftande ber Erfahrung macht; die Bethätigung des durch die Wiffenfchaft er- rungenen Bewußtfeins, die Darftellung des durch fie erkannten

44 J Das Kunſtwerk der Zukunft.

Lebens, das Abbild feiner Nothwendigleit und Wahrheit aber iſt die Kunft*).

Der Menſch wird nicht eher Das jein, was er fein kaun und fein full, al3 bis fein Leben der treue Spiegel der Natur, die bemußte Befolgung der einzig wirklichen Nothwendigkeit, der inneren Naturnothwendigkeit ift, nicht die Unterorduung unter eine äußere, eingebildete und der Einbildung nur nachge— bildete, daher nicht notwendige, fondern willfürlihe Macht. Dann wird aber der Menſch auch wirklich erſt Menſch fein, wäh: rend er biß jegt immer nur noch einem ber Religion, der Natio- nalität oder dem Staate entnommenen Prädifate nad) eriftirt. Ebenfo wird nun auch die Kunft nicht eher Das fein, was fie fein kann und fein fol, als bis fie daß treue, bewußtjeinverfün- dende Abbild des wirffichen Menfchen und de3 wahrhaften, natur= nothiwendigen Lebens der Menfchen ift oder fein kann, bis fie alfo nicht mehr von den Irrthümern, Verkehrtheiten und unnatür- lichen Entftellungen unferes modernen Lebens die Bedingungen ihres Dafeind erborgen muß.

Der wirkliche Menfch wird daher nicht eher vorhanden fein, al3 bis die wahre menſchliche Natur, nicht willfürfihe Staats: geſetze fein eben geftalten und ordnen; die wirkliche Kunſt aber wird nicht eher leben, ald bis ihre Geftaltungen nur den Geſetzen der Natur, nicht der befpotifhen Laune der Mode untertvorfen zu fein brauchen. Denn wie der Menſch nur frei wird, wenn er fi) feines Zufammenhanges mit der Natur freudig bewußt wird, jo wird die Kunft nur frei, wenn fie fid) ihres Zufanmenhanges mit ben Leben nicht mehr zu fhämen hat. Nur im freudigen Bewußtfein feines Bufammenhanges mit der Natur überwindet der Menſch aber feine Abhängigkeit von ihr; ihre Abhängigkeit vom Leben überwindet die Kunft aber nur im Zufammenhange mit dem Leben wahrhafter, freier Menſchen.

2. Leben, Wiſſenſchaft und Kunft. Geftaltet der Menſch das Leben unwillkürlich nach den Bes griffen, welche fih aus feinen willkürlichen Anfgauungen der

b. v. die Kunſt im Allgemeinen, oder die Kunſt der Zukunft in's Befondere.

Das Kunftwert der Zukunft. 45

Natur ergeben, und Hält er den unwillkürlichen Ausdruck diefer Begriffe in der Religion feft, fo werben fie ihm in der Wifjen- ont Gegenſtand willfürlicher, bewußter Anſchauung und Unter uchung.

Der Weg der Wiſſenſchaft iſt der vom Irrthum zur Er— kenntniß, von der Vorſtellung zur Wirklichkeit, von der Religion zur Natur. Der Menfch fteht daher im Beginne der Wiſſenſchaft dem Leben fo gegenüber, wie beim Unfange des, von der Natur ſich unterfcheidenden, menfchlichen Lebens, er den Erſcheinungen der Natur gegenüber ftand. Die Willfürlichfeit der menſchlichen Anfhauungen in ihrer Zotalität uimmt die Wiſſenſchaft auf, während neben ihr da8 Leben felbft in feiner Totalität einer un⸗ willkũrlichen, nothwendigen Entwidelung folgt. Die Wifjen- ſchaft trägt fomit die Sünde des Lebens, und büßt fie an ſich durch ihre Selbſtvernichtung: fie endet in ihrem reinen Gegen- faße, in der Erkenntniß der Natur, in der Anerkennung des Un- bewußten, Unmilltüclichen, daher Nothiwendigen, Wirklichen, Sinnlihen. Das Weſen der Wiſſenſchaft iſt ſonach endlich, das des Lebens unendlich, wie der Irrthum endlich, die Wahrheit aber unendlich if. Wahr und lebendig iſt aber nur, was finn- lich ift und den Bedingungen ber Sinnlichkeit gehorcht. Die höchſte Steigerung des Irrthumes ift der Hochmuth der Wiffen- ſchaft in der Verläugnung und Verachtung der Sinnlichkeit; ihr höchſter Sieg dagegen der, von ihr felbft herbeigeführte, Unter- gang dieſes Hochmuthes in der Anerkennung der Sinnlichkeit.

Das Ende der Wiſſenſchaft ift das gerechtjertigte Unbe- wußte, das ſich bewußte Leben, die als finnig erfannte Sinnlich- keit, ber Untergang der Willkür in dem Wollen des Nothwen— digen. Die Wiffenfhaft ift daher das Mittel der Erfenntniß, ihr Verfahren ein mittelbares, ihr Zweck ein vermittelnder; wo⸗ gegen das Leben das Unmittelbare, fich ſelbſt Beftimmende ift. Iſt nun die Auflöfung der Wiffenfchaft Die Anerfennumg des unmittelbaren, fich felbſt bedingenden, alfo des wirklichen Lebens ſchlechtweg, fo gewinnt diefe Anerkenntniß ihren aufrichtigften un- mittelbaren Ausdruck in der Kunft, oder vielmehr im Kunſtwerk.

Wohl verfährt der Künſtler zunächft nicht unmittelbar; fein Schaffen ift allerdings ein vermittelndes, auswählendes, will- türliches: aber gerade da, wo er vermittelt und auswählt, ift das Werk feiner Thätigkeit noch nicht das Kunftwerf; fein Ber:

46 Das Kunftwerk der Zukunft.

fahren ift vielmehr das der Wilfenfchaft, der fuchenden, forſchen—⸗ den, daher willfürlihen und irrenden. Erft da, wo die Wahl getroffen ift, wo dieſe Wahl eine nothiwendige war und das Nothwendige erwählte, da alfo, wo der Künftler fih im Gegenſtande felbft wiedergefunden hat, wie der vollkommene Menſch ſich in der Natur wiederfindet, erft da tritt das Kunft- wert in das Leben, erft da ift es etwas Wirkliches, fich ſelbſt Beftinmendes, Unmittelbares.

Das wirkliche Kunſtwerk, d. h. das unmittelbar finn- li bargeftellte, in dem Momente feiner leiblichften Erſcheinung, ift daher auch erft die Erlöfung des Künftlers, die Vertilgung der legten Spuren der ſchaffenden Willfür, die unzweifelhafte Bejtimmtheit des bis dahin nur Vorgeftellten, die Befreiung ded Gedanken in der Sinnlichkeit, die Befriedigung des Lebensbebürfnifjes im Leben.

Das Kunftiverk in diefem Sinne, als unmittelbarer Lebens⸗ akt, ift fomit die vollitändige Verjöhnung der Wiſſenſchaft mit dem Leben, der Siegeskranz, den die befiegte, durch ihre Be— fiegung exföfte, dem freu von ihr erfannten Sieger hulbigend darreicht.

3. Das Volt und die Kunft.

Die Erlöfung des Denkens, der Wifjenfchaft, in das Kunſt— werk würbe unmöglich fein, wenn das Leben jelbft von der wiſſen⸗ ſchaftlichen Spekulation abhängig gemacht werden könnte, Würde dad bewußte, willfürliche Denken dad Leben in Wahrheit voll- Tommen beherrſchen, könnte es ſich deö Lebenstriebes bemächtigen und ihn nad) einer andern Abſicht, als der Nothwendigkeit des abfoluten Bedürfniffes verwenden, jo wäre das Leben felbft ver- neint, um in die Wiſſenſchaft aufzugehen; und in der That hat die Wifjenfhaft in ihrem überfpannteften Hochmuthe von folhem Triumphe geträumt, und unfer regierter Staat, unfere moderne Kunft find die geſchlechtsloſen, unfruchtbaren Kinder dieſer Träume.

Die großen unwillkürlichen Irrthümer des Volkes, wie fie in ihren veligiöfen Anfchauungen von Anfang herein ſich kund⸗

Dad Kunftwert der Zukunft. 47

gaben und zu den Ausgangspunkten willkürlichen, ſpekulativen Denkens und Syſtematiſirens in der Theologie und Philoſophie wurden, haben ſich in dieſen Wiſſenſchaften, namentlich ver- mittelſt ihrer Adoptivſchweſter, der Staatsweisheit, zu Mächten erhoben, welche nicht geringere Anſprüche machen, als, kraft innewohnender göttlicher Unſehlbarkeit, die Welt und das Leben zu ordnen und zu beherrſchen. Unlösbar würde demnach ber Irrthum in alle Ewigieit in fiegreiher Berftörung fortwähren, wenn diefelbe Lebensmacht, die ihn unwillkürlich hervorbrachte, nicht, kraft innewohnender natürlicher Nothwendigfeit, ihn praf- tiſch wiederum vernichtete, und zwar mit folder Beftimmtheit und Augenſcheinlichkeit, daß die, übermüthig vom Leben ſich auß- fondernde, Intelligenz enblich feine andere Rettung vor wirt. lihem Wahnfinne zu erfehen hat, als in der unbedingten Un- erfennung dieſes einzig Beſtimmten und Augenſcheinlichen. Diefe .Sebendmadht aber ift da8 Volt.

Wer ift das Volt? Nothwendig müfjen wir zunächſt in der Beantwortung diefer überaus wichtigen Frage und einigen.

Das Volt war von jeher der Inbegriff aller der Einzel- nen, welde ein Gemeinſames ausmachten. Es war vom An- fange die Familie und die Geichlechter; dann bie durch Sprach- gleihheit vereinigten Geſchlechter als Nation. Praktifch durch die römische Weltherrſchaft, welche die Nationen verſchlang, und theoretifch durch das Chriſtenthum, welches nur noch den Men- fen, d. h. den hriftlichen, nicht nationalen Menfchen, zuließ, bat fi der Begriff des Volkes dermaßen ermeitert ober auch verflüdtigt, daß wir in ihm entweder den Menfchen überhaupt, ober nach willfürlicher politifher Annahme, einen gewiſſen, ge— wöhnlich den nigtbefigenden, Theil der Staatsbürgerſchaft be- greifen tönnen. Außer einer frivolen, hat diefer Name aber aud) eine unverwiſchbare moraliſche Bedeutung erhalten, und um diefer letzteren Willen geſchieht e8 namentlich, daß in be» wegungsvollen, beängitigenben Zeiten, fi gern Alles zum Volke zählt, Jeder vorgiebt, für dad Wohl des Volkes beforgt zu fein, Keiner fi von ihm getrennt wiſſen will, Auch in unferer neueften Zeit ift. baher im verfchiedenartigften Sinne oft die Frage aufs geworfen worden: wer ift denn das Voll? Kann in der Ge- jammtheit aller StaatSangehörigen ein befonderer Theil, eine gewiſſe Partei derfelben, diefen Namen für fid, allein anfprechen?

48 Das Kunftwerk der Zukunft.

Sind wir nicht vielmehr Alle „das Volk“, vom Bettler bis zum Zürften?

Diefe Frage muß nad; dem entſcheidenden, weltgeſchicht⸗ lichen Sinne, der ihr jet zu Grunde liegt, alfo beantwortet werben:

Das Volk ift der Inbegriff aller Derjenigen, welche eine gemeinfhaftlihe Noth empfinden. Bu ihm gehören daher alle Diejenigen, welche ihre eigene Noth als eine gemeinſchaft⸗ liche erfennen, ober fie in einer gemeinſchaftlichen begründet finden; fomit alle Diejenigen, welche die Stillung ihrer Noth nur in der Stillung einer gemeinfamen Noth verhoffen bürfen, und demnach ihre geſammte Lebenskraft auf die Stillung ihrer, al3 gemeinfam erfannten, Noth verwenden; denn nur bie Noth, welche zum Äußerſten treibt, ift die wahre Noth; nur diefe Noth ift aber die Kraft des wahren Bedürfniſſes; nur ein gemeinfames Bebürfniß ift aber das wahre Bedürfniß; nur wer ein wahres Bedürfniß empfindet, hat aber ein Recht auf Ber friebigung beffelben; nur die Befriedigung eined wahren Be— dürfniffes ift Nothwendigkeit, und nur da8 Wolf handelt nad Nothwendigfeit, daher unwiderſtehlich, fiegreih und einzig wahr.

Wer gehört nun nicht zum Volke, und wer find feine Feinde?

Ale Diejenigen, die feine Noth empfinden, deren Lebenstrieb aljo in einem Bedürfniſſe beiteht, das fich nicht bis zur Kraft der Noth fteigert, fomit eingebildet, unwahr, egoiftiich, und in einem gemeinfamen Bedürfniſſe daher nicht nur nicht ent⸗ halten ift, fondern als bloßes Bebürfniß der Erhaltung des Über- fluſſes als welches ein Bedürfniß ohne Kraft der Noth einzig gedacht werden kann dem gemeinfamen Bebürfnifje geradezu entgegenfteht.

Wo feine Noth ift, ift fein wahres Bedürfniß; wo fein wahres Bedürfniß, feine nothwendige Thätigfeit; wo feine noth- wendige Thätigfeit ift, da ift aber Willfür; wo Willkür herrſcht, da blüht aber jedes Lafter, jedes Verbrechen gegen die Natur. Denn nur dur Burüddrängung, durch Verfagung und Ver— wehrung ber Befriedigung des wahren Vebürfniffes, Tann das eingebilbete, unwahre Bedürfniß fich zu befriedigen fuchen.

Die Befriedigung des eingebildeten Bedürfniſſes ift aber der Luxus, welcher nur im Gegenſatze und auf Koften der

Das Kunftwert der Bufunft. 49

Entbehrung des Nothivendigen von der anderen Seite erzeugt und unterhalten werben fann.

Der Luxus ift ebenfo herzlos, unmenſchlich, unerſättlich und egoiſtiſch, als das Bedürfniß, welches ihn hervorruft, das er aber, bei aller Steigerung und Überbietung ſeines Weſens nie zu ſtillen vermag, weil das Bedürfniß eben ſelbſt kein natür— liches, deßhalb zu befriedigendes iſt, und zwar aus dem Grunde, weil es als ein unwahres, auch feinen wahren, weſenhaften Gegenſatz hat, in den e3 aufgehen, fich aljo vernichten, befrie- digen könnie. Der wirkliche, finnlihe Hunger hat feinen natür- lichen Gegenfag, die Sättigung, in welchen er durch die Speifung aufgeht: das unnöthige Bedürfniß, dad Bedürfniß nad; Luxus, ift aber ſchon bereit Luxus, Überfluß ſelbſt; der Irrthum in ihm kaun daher nie in die Wahrheit aufgehen: es martert, verzehrt, brennt und peinigt ſtets ungeftillt, läßt Geift, Herz und Sinne vergebend ſchmachten, verſchlingt alle Luft, Heiterfeit und Freude des Lebens; verpraßt um eines einzigen, und dennoch unerteichbaren Augenblickes der Erlabung willen, die Thätigfeit -und Lebenskraft Taufender von Nothleidenden; febt vom ungeftilten Hunger abermals Taufender von Armen, ohne feinen eigenen Hunger nur einen Augenblick fättigen zu können; er hält eine ganze Welt in eifernen Ketten des Deſpo— tismus, ohne nur einen Augenblid die goldenen Ketten jenes Tyrannen brechen zu können, der es ſich eben ſelbſt ift.

Und diefer Teufel, dieß wahnfinnige Bebürfniß ohne Be— dürfniß, dieß Bedürfniß des Bedürfnifies, dieß Bedürfniß des Luxus, welches der Luxus ſelbſt if, regiert die Welt; er ift die Seele diefer Induftrie, die den Menfchen töbtet, um ihn als Mafchine zu verwenden; die Seele unfered Staates, der den Menfchen ehrlos erklärt, um ihn als Unterthan wieber zu Gnaden anzunehmen; die Seele unferer deiſtiſchen Wiſſenſchaft, welche einem unfinnlichen Gotte, als dem Ausflufje alles geiftigen Luxus, den Menſchen zur Verzehrung vormirft; er ift ad! die Seele, die Bedingung unſerer Kunft!

Wer wird nım die Erlöfung aus diefem unfeligiten Bus ſtande vollbringen?

Die Noth, welde der Welt das wahre Bedürfniß empfinden Tafjen wird, das Bebürfniß, welches feiner Natur nad wirklich aber auch zu befriedigen ift.

Rihard Wagner, Gef. Ecriften Ul. 4

50 Das Kunftwerk der Zukunft.

Die Noth wird die Hölle des Luxus endigen; fie wird die zermarterten, bebürfnißfofen Geifter, die diefe Hölle in ſich ſchließt, da3 einfache, ſchlichte Bedürfniß des rein menſchlich finnlihen Hungerd und Durftes lehren; gemeinſchaftlich aber wird fie ung auch hinweiſen zu dem nährenden Brote, zu dem Maren ſüßen Waffer der Natur; gemeinfam werden wir wirklich genießen, gemeinfam wahre Menſchen fein. Gemeinfam werden wir aber aud den Bund ber heiligen Nothiwendigkeit fließen, und der Bruderkuß, der diefen Bund befiegelt, wird dad gemeinfame Kunſtwerk der Zukunft fein. In ihm wird auch unfer großer Wohlthäter und Erlöfer, der Vertreier der Notwendigkeit in Fleifh und Blut, das Volk, kein Unterjchiedenes, Befon- deres mehr fein; denn im Kunſtwerk werden wir Eins fein, Träger und Weifer der Nothwendigkeit, Wiſſende des Unbe— wußten, Wollende de3 Untillfürlihen, Beugen der Natur, glückliche Menſchen.

4

Das Volt als die bedingende Kraft für das Kunſtwerk.

Alles Beſtehende hängt von den Bedingungen ab, durch die es befteht: nicht3, weber in der Natur noch im Leben, fteht ver- einzelt da; Alles hat feine Begründung in einem unendlichen Bufammenhange mit Allem, fomit auch das Willfürlihe, Uns nöthige, Schädlihe. Das Schädfiche übt feine Kraft in der Ver— Hinderung des Nothwendigen, ja es berdanft feine Kraft, fein Dafein, einzig diefer Verhinderung, und ift fomit in Wahrheit nichts Anderes, als die Ohnmacht bes Nothwendigen. Wäre diefe Ohnmacht eine fortwährende, jo müßte die natürliche Ord— nung ber Welt aber eine andere fein, als fie ift; das Willfür- liche wäre das Nothwendige, das Nothwendige aber das Un- uöthige. Jene Schwäche ift aber eine vorübergehende, daher nur anfceinende; denn die Kraft des Nothwendigen Iebt und waltet namentlich auch als, im Grunde einzige Bedingung des Beſtehens des Willfürlihen. So befteht der Luxus der Reichen einzig durch die NotHdurft der Armen; und gerade die Noth der Armen ift es, welde unaufgörlich dem Lurus der Reichen neuen Verzeh-

Das Kunftwert ber Zukunft. 51

rungsſtoff vorwirft, indem der Arme, aus Bedürfniß der Nah— rung für feine Lebenskraft, dieſe eigene Lebenskraft dem Reichen opfert,

So Hat au einft bie Lebenskraft, dad Lebensbedürfniß der tellurifchen Natur, diejenigen ſchädlichen Kräfte, oder viel- mehr die Macht des Borhandenfeins derjenigen Efementarver- bindungen und Erzeugungen genährt, welche fie daran verhin- derten, die ihrer Lebenskraft und Fähigkeit wahrhaft entjprechende Außerung von fi zu geben. Der Grund Hiervon ift der in Wirk- lichfeit vorhandene Überfluß, die ftrogende Überfüle vorhan- dener Zeugungskraft und Lebensſtoffes, die unerſchöpfliche Er- giebigkeit der Materie: das Bedürfniß der Natur ift daher höchſte Mannigfaltigfeit und Vielheit, und die Befriedigung dieſes Be— dürfniſſes erreichte fie endlich dadurch oder vielmehr damit, daß fie um fo zu fagen der Ausſchließlichkeit, der maflenhaf- ten, durch fie jelbft zuvor aber üppig genährten, Einzelheit ihre Kraft verfagte, d. 5. fie in die Vielheit auflöfte. Das Aus- ſchließliche, Einzelne, Egoiftijche, vermag nur zu nehmen, nicht aber zu geben: es Tann fi nur zeugen laſſen, ift felbft aber zeugungdunfähig; zur Zeugung gehört das Ih und das Du, das Aufgehen de3 Egoismus in den Kommunismus. Die reichte Zeugungskraft ift daher in der größten Vielheit, und als die Erdnatur in ihrer Entäußerung zur mannigfaltigften Vielheit ſich befriedigt Hatte, gelangte fie fomit in den Buftand von Sät— tigung, Selbftzufriedenheit, Selbftgenuß, der fich in ihrer gegen- wärtigen Harmonie kundgiebt; fie wirkt jegt nicht mehr in mafjen- hafter, totaler Umgeftaltung, ihre Periode der Revolution ift abgefchloffen, fie ift jet das, was fie fein kann, fomit von jeher fein konnte und werben mußte, fie Hat ihre Lebenskraft nicht mehr an die Zeugungsunfähigfeit zu vergeuden, fie hat durch ihr ganzes, unendlich weites Gebiet die Vielheit, das Männ- liche und das Weibliche, daS ewig ſich ſelbſi Erneuende und Erzeugende, dad ewig fich ſelbſt Ergänzende, ſich felbft Befrie— digende, in das Leben gerufen, und in diefem unendlichen BZufammenhange ift fie num beftändig, unbedingt fie felbft ge- worden. B In der Darftellung dieſes großen Entwickelungsprozeſſes der Natur am Menſchen felbft ift nun das menſchliche Ge— schlecht, feit feiner Selbftunterfheidung von der Natur, begriffen.

4*

52 Das Kunftwert ber Bufunft.

Diefelbe Nothwendigkeit ift die treibende Kraft in ber großen Menfchheitörevolution, dieſelbe Befriedigung wird dieſe Revo— lution abfchließen.

Jene treibende Kraft, die eigentliche Lebenskraft ſchlecht⸗ weg, wie fie fich im Lebensbedürfniffe geltend macht, ift aber ihrer Natur nad) eine unbewußte, unmwillfürliche, und eben wo fie dieß ift im Wolfe —, ift fie aud) einzig die wahre, ent ſcheidende. In großem Irrthume find daher unfere Volksbelehrer, wenn fie wähnen, dad Wolf müſſe erft wiffen mas es wolle, d. h. in ihrem Sinne wollen folle, ehe es aud fähig und be— rechtigt wäre, überhaupt zu wollen. Aus diefem Irrthume rühren alle umfeligen Halbheiten, alles Unvermögen, alle ſchmachvolle Schwäche der legten Weltbewegungen her.

Das wirklich Gewußte ift nichts anderes als da, durch das Denken zum erfaßten, dargeftellten Gegenftande gewordene, wirklich und ſinnlich Vorhandene; bad Denken ift jo lange will- türlich, als es das finnlich Gegenmwärtige und das den Sinnen entrücte Abweſende oder Vergangene nicht mit der unbeding- teften Unerfennung feines nothwendigen Bufammenhanges ſich vorzuftellen vermag; denn das Bewußtſein biefer Vorftellung ift eben das vernünftige Wiffen. Je wahrhafter aber das Wiſſen ift, deſto aufrichtiger muß e3 fich wiederum als einzig durch feinen Bufammenhang mit dem, zur finnlichen Erſcheinung ger langten, wirklich Zertigen und Vollendeten bebingt erfennen, die Bedingung der Möglichkeit des Wiſſens fomit als in der Wirklichkeit begründet ſich eingeftehen. Sobald das Denken aber, von ber Wirklichkeit abftrahirend, das zukünftige Wirkliche konſtruiren will, vermag es nicht das Wiſſen zu probuziren, fondern es äußert fi als Wähnen, das ſich gewaltig unter» icheidet vom Unbemußtfein: erft wenn es fid) in die Sinnlich- feit, in das wirflid, finnlihe Bedürfniß ſympathetiſch und rüd- haltslos zu verfenfen vermag, kann ed an der Thätigfeit des Unbewußtjeind Theil nehmen, und erft das, durch das unmwill- fürliche, nothiwendige Bedürfniß zu Tage Geförderte, die wirk- liche ſinnliche That, Tann wieder befriedigender Gegenftand des Denkens und Wiffend werben, denn der Gang der menſchlichen Entwidelung ift der vernunftgemäße, natürlihe, vom Unbe— wußtfein zum Berwußtfein, vom Unmiffen zum Wiffen, vom Be— dürfniffe zur Befriedigung, nicht von der Befriedigung zum Be-

Das Kunftwerk der Zukunft. 53

dürfniffe, wenigſtens nicht zu dem Bedürfniſſe, deffen Ende jene Befriedigung war. J

Nicht Ihr Intelligenten ſeid daher erfinderiſch, ſondern das Volk, weil es die Noth zur Erfindung treibt: alle großen Er— findungen find die Thaten des Volkes, wogegen die Erfindungen der Intelligenz nur die Ausbeutungen, Ableitungen, ja Zer— fplitterungen, Verſtümmelungen der großen Vollserfindungen find. Nicht Ihr Habt die Sprache erfunden, fondern das Volk; Ihr Habt ihre finnliche Schönheit nur verderben, ihre Kraft nur brechen, ihr inniges Verftändniß nur verlieren, das Verlorene mühjelig nur wieder erforfchen können. Nicht Ihr ſeid die Er— finder der Religion, fondern das Volt; Ihr Habt nur ihren innigen Ausbrud entftellen, den im ihr liegenden Himmel zur Hölle, die in ihr ſich kundgebende Wahrheit zur Lüge machen tönnen. Nicht Ihr feid die Erfinder des Staates, fondern das Bolt; Ihr Habt ihn nur aus der natürlichen Verbindung Gleich- bebürftiger zum unnatüclihen Bufammenzwang Ungleihbebürf- tiger, auß einem wohlthätigen Schußvertrage Aller zu einem übelthätigen Schugmittel der Bevorrechteten, aus einem weichen, nachgiebigen Gewande am bewegungsfreudigen Leibe der Menſch⸗ heit zu einem ftarren, nur ausgeftopften Eifenpanzer, der Bierde einer hiſtoriſchen Rüſtkammer gemacht. Nicht Ihr gebt dem Volke zu leben, fondern es giebt Euch; nicht Ihr gebt dem Volke zu denken, ſondern es giebt Euch; nicht Ihr follt daher das Rolf lehren wollen, fondern Ihr follt Euch vom Wolfe Iehren laſſen: und an Euch wende ich mich fomit, nit an das Volt, denn dem find nur wenige Worte zu jagen, und felbft der Bu: ruf: „Thu' wie du mußt!“ ift ihm überflüffig, weil es von ſelbſt thut, wie es muß; fondern ich wende mich im Sinne des Volkes nothwendig aber in Eurer Ausdrudsmeife au Euch, Ihr Intelligenten und Klugen, um Euch mit aller Gutherzigfeit des Volles die Erlöfung aus Eurer egoiftiichen Verzauberung an dem Maren Duell der Natur, in ber liebevollen Umarmung bed Volles da, wo ich jie fand, wo fie mir als Künftler ward, wo id), nad) langem Kampfe zwifchen Hoffuung aus Junen und Verzweiflung nah Außen, den Kühnften, zuverfichtlichiten Glau— ben an die Zukunft gewann, ebenfall® anzubieten.

Das Volt aljo wird die Erlöfung vollbringen, indem es ſich genügt und zugleich feine eigenen Feinde erlöft. Sein Ver-

54 Das Kunftwert ber Zukunft.

fahren wird das Unmwillfürliche der Natur fein: mit der Noth- wendigkeit elementarifchen Waltend wird e8 den Bufammen- hang zerreißen, der einzig die Bedingungen der Herrfchaft der Unnatur ausmacht. So lange diefe Bedingungen beftehen, fo lange fie ihren Lebensſaft aus der vergeudeten Kraft des Volkes faugen, fo fange fie jelbft zeugungsunfähig die Beugungs- fähigfeit des Volkes nutzlos in ifrem egoiftiihen Beftehen aufs zehren, fo lange ift auch alles Deuten, Schaffen, Ändern, Beſſern, Reformiren*) in diefen Buftänden nur willfürlich, ziwed« und fruchtlos. Das Volk braucht aber nur das durch die That zu verneinen, was in der That nichts nämlich unnöthig, überflüffig, nichtig ift; e8 braucht dabei nur zu wiſſen, mas es nicht will, und dieſes lehrt ihn fein unwillkürlicher Lebens— trieb; es braucht dieſes Nichtgewollte durch die Kraft feiner Noth nur zu einem Nichtfeienden zu machen, das Vernich— tungswerthe zu vernichten, fo fteht das Etwas der enträthfelten Zukunft auch ſchon von ſelbſt da.

Sind die Bedingungen aufgehoben, dem bie Überflüffigen gejtatten vom Marfe des Nothwendigen zu zehren, fo ftehen von felbft die Bedingungen da, welche da8 Nothiwendige, dad Wahre, das Unvergängliche in das Leben rufen: find die Bedingungen aufgehoben, die das Bedürfniß bed Luxus beftehen Iafjen, fo find von felbft die Bedingungen gegeben, welche das noth— wendige Bedürfniß des Menſchen durch den üppigften Über- fluß der Natur und der eigenen menſchlichen Erzeugungsfähig- keit im unbenflich reichſten, dennoch aber entjprechenditen Maaße zu befriedigen vermögen. Sind die Bedingungen der Herrſchaft der Mode aufgehoben, jo find aber auch die Bebingungen der wahren Kunſt von ſelbſt vorhanden, und mie mit einem Baus berſchlage wird fie, die Zeugin edelften Menſchenthumes, bie hochheilige, herrliche Kunft, in derfelben Fülle und Vollendung blühen, wie die Natur, als die Bedingungen ihrer jeßt und er= fchlofjenen harmoniſchen Geftaltung aus den Geburtswehen der Elemente Hervorgingen: gleich dieſer jeligen Harmonie der Natur wird fie aber dauern und immer zeugend fi) erhalten, als reinfte,

*) Ber nährt wohl weniger Hoffnung für den Erfolg feiner reformatoriſchen Bemühungen, als Derjenige, der gerade am reb- lichften dabei verfährt? .

Das Kunſtwerk der Zukunft. 55

vollendeifte Befriedigung des edelften und wahrften Bedürfniſſes des vollfommenen Menſchen, d. 5. des Menfchen, der das ift, was er feinem Weſen nach fein Tann und deßhalb fein foll und wird.

5.

Die kunftwibrige Geftaltung des Lebens der Gegenwart unter der Herrjhaft der Abſtraktion und der Mode.

Das Erſte, der Anfang und Grund alles Vorhandenen und Denkbaren, ift das wirkliche finnlihe Sein. Das Innewerden feines Lebensbedürfniſſes als des gemeinfamen Lebensbebürf- niſſes feiner Gattung, im Unterfdiede von der Natur und ber in ihr enthaltenen, vom Menfchen unterfchiedenen, Gattungen lebendiger Wefen, iſt der Anfang und Grund des menſch— lichen Denkens. Das Denken ift demnach die Fähigkeit de Men- ſchen, dad Wirkliche und Sinnliche nad) feinen Außerungen nicht nur zu empfinden, fondern nad) feiner Wejenheit zu unterjcheiben, endlich in feinem Zufammenhange zu erfafien und fi barzu- ftellen. Der Begriff von einer Sade ift bad im Denken barge- ftellte Bild feines wirklichen Wefens: die Darftellung der Bilder aller erfenntlichen Wejenheiten in einem Gefammtbilde, in mwel- chem das Denken fich die im Begriff dargeftellte Wejenheit aller Realitäten nad ihrem Bufammenhange vergegenftändlicht, ift das Werk der höchſten Thätigfeit der menſchlichen Seele, des Geiſtes. Muß in diefem Gejammtbilde der Menſch das Bild, den Begriff, auch feines eigenen Weſens mit eingeſchloſſen haben, ja, ift dieſes vergegenftändlichte eigene Wefen iiberhaupt die künſtleriſch darftellende Kraft in dem ganzen Gedankenkunſtwerke, fo rührt diefe Kraft und die durch fie dargeftellte Totalität aller Realitäten, doch nur von dem realen, finnlihen Menſchen, ihren legten Grunde nad aljo aus feinem Lebensbebürfniffe, und end⸗ lich aus der Bedingung, welche diefes Lebensbedürfniß herbow- zuft, dem realen, finnlichen Dafein der Natur, her. Wo im Denken diefe verbindende Kette aber fahren gelafjen wird, wo es, nad) doppelter und dreifacher Gelbitvergegenftändlihung ſich feloft endlich als feinen Grund erfaffen, wo fi) der Geift nicht

56° Das Kunftwert ber Zukunft.

als letzte und bebingtefte, fondern als erſte und unbedingtefte Thätigkeit, daher als Grund und Urfache der Natur begreifen will, da ift auch das Band der Nothwendigfeit aufgehoben, und die Wilfür rapt ſchrankenlos, unbegrenzt, frei, wie unfere Metaphyfifer wähnen, buch bie Werkitätte der Ge— danken, ergießt ſich als Strom des Wahnfinnd in die Welt der Wirklichkeit.

Hat der Geiſt die Natur erfchaffen, hat der Gedanke das Wirkliche gemacht, ift der Philofoph eher als der Menſch, fo ift Natur, Wirklichkeit und Meuſch auch nicht mehr nothwendig, ihr Dafein, als überflüfjig, ſogar ſchädlich; das Überflüffigite aber ift da8 Unvolltommene nad dem Vorhandenfein des Bolltommenen. Natur, Wirklichkeit und Menſchen erhielten demnach nur dann einen Siun, eine Berechtigung ihres Vor- handenſeins, wenn der Geift, der unbedingte, einzig ſich ſelbſt Grund und Urfache, daher auch Gefeg feiende Geift, nad) feinem abfoluten, ſouverainen Gutbünfen fie verwendet. Iſt der Geift an fich die Nothwendigkeit, fo ift dad Leben das Willfürliche, ein phantaſtiſches Maskenſpiel, ein müjfiger Beit- vertreib, eine frivole Laune, ein „car tel est notre plaisir‘‘ des ©eiftes; fo ift alle rein menfchlihe Tugend, vor Allem die Liebe, etwas nad Gutbefinden Deutbare® und gelegentlih zu Ver— neinended; fo ift alles rein menschliche Bedürfniß Luxus, der Luxus aber das eigentliche Bedürfniß; fo ift der Reichthum der Natur das Unnöthige, die Auswüchſe der Kultur aber find das Nöthige; jo ift dad Glück der Menſchen Nebenſache, der abſtrakte Staat aber Hauptfahe; das Volk der zufällige Stoff, der Fürſt und der Smtelligente aber der notwendige Werzehrer dieſes Stoffes.

Nehmen wir das Ende fr den Anfang, die Befriedigung für das Bebürfniß, die Sättigung für den Hunger, fo ift Be— mwegung, Fortgang, aber auch nur denkbar in einem erfünftelten Bedürfnifie, in einem durch Stimulation erzeugten Hunger; und dieß ift in Wahrheit die Lebensregung unferer ganzen heutigen Kultur, und ihr Ausdrud ift die Mode.

Die Mode ift das künſtliche Reizmitlel, das da ein un— natürliches Bedürfniß erweckt, two da8 natürliche nicht vorhanden ift: was aber nicht aus einem wirklichen Bebürfniffe hervorgeht, ift willfürlich, unbedingt, tyranniſch. Die Mode ift deßhalb die

Das Kunftwert der Zukunft. 57

unerhörtefte, wahnfinnigfte Tyrannei, die je aus der Verkehrt⸗ heit des menschlichen Weſens hervorgegangen ift: fie fordert von der" Natur abfoluten Gehorjam; fie gebietet dem wirklichen Be— dürfniffe vollfommenfte Selbftverläugnung zu Gunften eines eingebilbeten; fie zivingt dem natürlichen Schönheitsfinn des - Menjchen zur Anbetung bes Häßlichen; fie töbtet feine Gefund- heit, um ihm Gefallen an der Prankheit beizubringen; fie zerbricht feine Stärke und Kraft, um ihn an feiner Schwäche Behagen finden zu laſſen. Wo bie läcerlichfte Mode herrſcht, da muß die Natur als das Lächerlichite anerkannt werden; wo die ver— brecheriſcheſte Unnatur Herrfcht, ‘da muß bie Hußerung der Natur als das höchſte Verbrechen erfcheinen; wo die Verrüdtheit die Stelle der Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit ald Ver— rüdte eingefperrt werben.

Das Weſen der Mode ift die abfoluteite Einförmigfeit, wie ihr Gott ein egoiftifcher, gefchlecht3lojer, zeugungsunfähiger ift; ihre Thätigkeit ift daher willkürliche Veränderung, unnöthiger Wechſel, unruhiges, verwirrtes Streben nach Gegenſatz zu ihrem Weſen, eben dem der abfoluten Einförmigkeit. Ihre Macht ift die Macht der Gewohnheit. Die Gewohnheit aber ift der unüberwindliche Depot aller Schwachen, Zeigen, in Wahrheit Bedürfnißloſen. Die Gewohnheit ift der Kommunismus des Egoismus, das erhaltungszähe Band gemeinjchaftlihen, noth— Iofen Eigennußes; ihre Fünftliche Lebensregung ift eben bie der Mobe,

Die Mode ift daher nicht künſtleriſche Erzeugung aus ſich, fondern nur künſtliche Ableitung aus ihrem Gegenfaße, der Natur, don ber fie fi) im Grunde doch einzig ernähren muß, wie ber Luxus ber vornehmen Klaſſen ſich wiederum nur aus dem Drange nad) Befriedigung natürliher Lebensbedürfnifje der niederen, arbeitenden Mlaffen ernährt. Auch die Willfür der Mode kann daher nur aus der wirklichen Natur ſchaffen: alle ihre Geital- tungen, Schnörkel und Bierrathen haben endlich doch nur in der Natur ihr Urbild; fic kann, wie all’ unfer abftraftes Denken in feinen weiteften Abirrungen, jchließlich doc, nicht Anderes er- denfen und erfinden, als was feinem urfprünglichen Wefen nad) in der Natur und im Menfchen finnlich und förmlich vorhanden iſt. Uber ihr Verfahren ift ein hochmüthiges, von der Natur willkũrlich ſich lostrennendes: fie ordnet und befiehlt da, wo

An

58 Das Kunftwert ber Zukunft.

Alles in Wahrheit fich nur unterzuorbnen und zu gehorchen hat. Somit fann fie in ihren Bildungen nur die Natur entftellen, nicht aber barftellen; fie fann nur ableiten, nicht aber erfin« den, denn Erfinden ift in Wahrheit nicht3 anderes als Auf- finden, nämlich Auffinden, Erkennen der Natur.

Das Erfinden der Mode ift daher ein mechaniſches. Das Mechaniſche unterſcheidet ſich vom Künftlerifchen aber dadurch, daß es von Ableitung zu Ableitung, von Mittel zu Mittel geht, um endlich doc; immer wieder nur ein Mittel, die Mafchine, herborzubringen; wogegen das Künftlerifche gerade den entgegen= gejegten Weg einfchlägt, Mittel auf Mittel Hinter ſich wirft, von Ableitung auf Ableitung abfieht, um endlich beim Duell aller Ableitung, alles Mittels, der Natur, mit verftändnißvoller Be- friebigung feines Bedürfniſſes anzulommen.

So ift denn die Mafchine der kalte, herzloſe Wohlthäter der luxus bedürftigen Menſchheit. Durch die Machine hat diefe endlich aber auch noch den menfchlichen Verftand fich unterthänig gemacht; denn vom künſtleriſchen Streben, vom künſtleriſchen Auffinden abgelenkt, verläugnet, verunehrt, verzehrt er fich end⸗ li) im mechaniſchen Raffiniven, im Einswerden mit der Mafchine, ftatt im Einswerden mit der Natur im Kunſtwerke.

Dad Bedürfniß der Mode ift fomit der fehnurgerade Gegen- ſatz des Vebürfniffes der Kunſt; denn das Bedürfniß der Kunft kann unmöglich da vorhanden fein, wo die Mode die gefeß- gebenbe Gewalt des Lebens ift. In Wahrheit konnte das Streben einzefner begeifterter Künſtler unferer Beit auch nur darauf zielen, jenes nothiwendige Bedürfniß vom Standpunkte und dur bie Mittel der Kunſt erft aufzuregen: fruchtlos und eitel muß jedoch al’ folches Bemühen angefehen werben. Das Unmöglichite fir den Geift ift, Bedürfniß zu erweden; dem wirklich vorhandenen Bedürfniffe zu entiprechen, hat ber Menfch überall und ſchnell die Mittel; nirgends aber, e8 hervorzurufen, wo die Natur es verfagt, mo die Bedingungen dazu in ihr nicht vorhanden find. Iſt aber das Bedürfniß des Kunſtwerkes nicht da, jo ift das Kunftwert ebenfo unmöglih; nur die Bufunft vermag ed ung exftehen zu laffen, und zwar durch das Erſtehen feiner Bedingun- gen auß dem Leben.

Nur aus dem Leben, aus dem einzig auch nur das Be— dürfniß nach ihr erwachſen kann, vermag die Kunſt Stoff und

Das Kunſtwerk der Zukunft. 59

Form zu gewinnen: two da8 Leben von der Mode geftaltet wird, fann die Kunft nicht aus ihm geftalten. Der von der Nothmen- digfeit des Natürlichen irrthümlich fi) lostrennende Geift übt willkürlich, und im fogenannten gemeinen Leben ſelbſt unwill- Türlich, feinen entjtellenden Einfluß auf Stoff und Form des Lebens in einer Weife aus, baf der in feiner Zoßtrennung end- lich umfelige, nach wirklicher gefunder Nahrung aus der Natur, nad feiner Wiedervereinigung mit ihr berlangende Geift den Stoff und die Form für feine Befriedigung im wirklichen gegen- wärtigen Leben nicht mehr zu finden weiß. Drängt es ihn, im Streben nad Erlöfung, zur rüdhaltslofen Anerkennung ber Natur, kann er fi) mit diefer nur in ihrer getreueften Parftel- fung, in der finnlich gegenwärtigen That des Kunſtwerkes ver- föhnen, fo erfieht er, daß diefe Verſöhnung nicht Durch Anerken— nung und Darftellung der finnfihen Gegenwart, nämlich diefes durch die Mode eben entftellten Lebens, zu gewinnen ift. Un— willfürlih muß er deßhalb in feinem künftlerifhen Erlöſungs⸗ drange willfürlich verfahren; ex muß die Natur, die im gefunden Leben fi) ihm ganz von felbft barbieten würde, da auffuchen, wo er fie in minderer, endlich in mindeſter Entftellung zu ger wahren vermag. Überall und zu jeder Beit Hat jedoch der Venjch der Natur dad Gewand wenn nicht der Mode doch der Sitte umgeworfen; die natürlicfte, einfachfte, edelſte und ſchönſte Sitte ift allerdingd die mindefte Entftellung der Natur, fie ift vielmehr das ihr entſprechendſte menſchliche Kleid: die Nach ahmung, Darftellung diefer Sitte, ohne melde ber moderne Künftfer von nirgends her wiederum die Natur darzuftellen ver- mag, ift dem heutigen Leben gegenüber aber dennoch eben- falls ein willkürliches, bon der Abjicht unerlösbar beherrfchtes erfahren, und was fo im redlichſten Streben nad) Natur ges ſchaffen und geftaltet wurde, erfcheint, fobald es vor daß öffent- liche Leben der Gegenwart tritt, entweder unverftändlich, oder gar wieder als eine erfundene neue Mode.

In Wahrheit Haben wir auf diefe Weife dem Streben nach Natur innerhalb des modernen Lebens und im Gegenfae zu ihm nur die Manier und den häufigen, unruhigen Wechſel der— jelben zu verdanfen. Un der Manier Hat fich aber unwillfürlich wieder das Weſen der Mode offenbart; ohne nothwendigen Zu— ſammenhang mit dem Leben, tritt ſie, ebenſo willkürlich maß—

60 Das Kunftwerk der Zukunft.

gebend in die Kunft, wie die Mode in das Leben, verſchmilzt fi) mit der Mode, und beherrſcht, mit einer der ihrigen gleichen Macht, jedwede Kunſtrichtung. Neben ihrem Ernfte zeigt fie fich mit faft nicht minderer Nothiwendiefeit auch in volliter Läcerlichkeit; und neben Antife, Renaiffance und Mittelalter bemächtigen Rokkoko, Eitte und Gewand wilder Stämme in neu: entdedten Ländern, wie die Urmode der Chinefen und Japaneſen, fi) als „Manieren“ zeitweife, und mehr ober weniger, aller unferer Runftarten; ja, der religiös indifferenteften vornehmen Theaterwelt wird der Fanatismus religiöfer Eeften, der luxu— riöfen Unnatur unferer Modemelt die Naivetät ſchwäbiſcher Dorf- bauern, den feiftgemäfteten Göttern unſerer Induftrie die Norh des Hungernden Proletarierd, mit feinen anderen Wirkungen als denen unzureichender Stimulanz, von der leichtwechſelnden Tagesmanier vorgeführt.

Hier fieht denn der Geift, in feinem künſtleriſchen Streben nad) Wiebervereinigung mit der Natur im Kunſtwerke, fich zu der einzigen Hoffnung auf die Zukunft hingewieſen, oder zur traurigen Kraftübung der Nefignation gedrängt. Cr begreift, daß er feine Erlöfung nur im finnlich gegenwärtigen Kunſtwerke, daher alfo nur in einer wahrhaft funjtbebürftigen, d. 5. kunſt⸗ bedingenden, aus eigener Naturwahrheit und Schönheit kunſt— zeugenden, Gegenwart zu gewinnen hat, und hofft daher auf die Zukunft, d. 5. er glaubt an die Macht der Nothiwendigfeit, der das Werk der Zukunft vorbehalten if. Der Gegenwart gegen- über aber verzichtet er auf das Erfcheinen des Kunſtwerkes an ber Oberfläche der Gegenwart, der Offentlichteit, folglich auf die Öffentlichkeit felbft, foweit fie der Mode gehört. Das große Ge- ſammtkunſtwerk, das alle Gattungen der Kunft zu umfaſſen Hat, um jede einzelne diefer Gattungen al3 Mittel gewiſſermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunſten der Erreichung des Ge— faınmtzwedes aller, nämli der unbebingten, unmittelbaren Darftellung der vollendeten menfchlichen Natur, dieſes große Geſammtkunſtwerk erfennt er nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, fondern als das nothwendig denkbare ge- meinfame Werk der Menfchen der Zukunft, Der Trieb, der fich als einen nur in der Gemeinfamfeit zu befriedigenben erkennt, entfagt der modernen Gemeinfamfeit, diefem Zufammenhange willfürliher Eigenjuht, um in einfamer Gemeinfamfeit mit fich

Das Kunftwert der Zukunft. 61

und der Menfchheit der Zukunft fich Befriedigung zu gewähren, fo gut der Einfame e3 fann. .

6. Maßſtab für das Kunftwerk der Zukunft.

Nicht kann der einfame, nach feiner Erlöfung in der Natur fünftlerifch ftrebende Geift dad Kunſtwerk der Zukunft fchaffen; nur der gemeinfame, durch daß Leben befriedigte, vermag dich. Aber er fann es fich vorſtellen, und daß dieſe Vorftellung nicht nur ein Wähnen werde, ‚davor bewahrt ihn eben die Eigenfchaft feines Strebens, des Strebens nad) ber Natur. Der nad) ber Natur fich. zurücfehnende, und deßhalb in der modernen Gegen- wart unbefriedigte Geift, findet nicht nur in der Totalität der Natur, fondern namentlich auch in der gefchichtlich vor ihm dar— gelegten menfhlichen Natur, die Bilder, durch deren Auſchau— ung er fi) mit dem Leben im Allgemeinen zu verfühnen vermag. Zür alles Zukünftige erfennt er in diefer Natur ein in engeren Gränzen bereit3 dargeſtelltes Bild: diefe Gränzen zum weiteften Umfange ſich außgedehnt zu denken, Tiegt in der Vorftellungs- fähigfeit feines naturdürftigen Triebed.

Bmwei Hauptmomente der Entwidelung der Menfchheit liegen in ber Gefchichte deutlich vor: der geſchlechtlich natio— nale und der unnationale univerfelle. Gehen wir jegt in der Zufunft der Vollendung biefes zweiten Entwidelungdganges entgegen, fo haben wir in der Vergangenheit den vollendeten Abſchluß jenes erfteren deutlich erfennbar vor Augen. Bis zu welcher Höhe der Menſch, jo weit er fich nach geichlechtlicher Abkunft, nad) Sprachgemeinfchaft, nad) Gleihartigkeit des Kli— ma’3 und der natürlichen Beſchaffenheit einer gemeinfKaftlichen Heimath, dem Einfluffe der Natur unbewußt überließ, unter diefem faft unmittelbar bildenden Einfluffe ſich zu entwickeln ver mochte, haben wir wahrlich nur mit freudigſtem Entzüden an- zuerkennen vollen Grund. In der natürlichen Sitte uller Völker, fo weit fie den normalen Menſchen in ſich begreifen, ſelbſt der als roheſt verfchrieenen, Iernen wir die Wahrheit der menſchlichen Natur erft nach ihrem vollen Adel, ihrer wirklichen Schönheit, erfennen. Nicht eine wahre Tugend hat irgend welche Religion

62 Das Kunftwert der Zukunft.

al3 göttliche Gebot in fih aufgenommen, die nicht in biefer natürlichen Sitte von felbft inbegriffen geweſen wäre; nicht einen wirklich menfchlichen Rechtöbegriff hat der jpätere civilifirte Staat nur leider bis zur vollkommenen Entftellung! entwidelt, der in ihr nicht bereits feinen ficheren Ausdrud erhalten; nicht eine wahrhaft gemeinnügige Erfindung hat die jpätere Kultur mit hochmüthigem Undante! ſich zu eigen gemacht, die fie nit aus dem Werke des natürlichen Verſtandes der Pfleger jener Sitte abgeleitet hätte. B

Daß die Kunſt aber nicht ein künſtliches Produkt, daß das Bedürfniß ber Kunft nicht ein willkürlich hervorgebrach⸗ te3, jondern ein dem natürlichen, wirklichen und unentftellten Menſchen ureigenes ift, wer beweift dieß fchlagender, als eben jene Bölter? Ja, woraus fönnte unfer Geift iiberhaupt dem Beweis für ihre Notwendigkeit führen, wenn nicht aus der Wahr- nehmung dieſes Runfttriebes und der ihm entſproſſenen herrlichen Srüchte bei jenen natürlich entwidelten Völkern, bei dem Volke überhaupt? or welcher Exfcheinung ftehen wir aber mit de= müthigenderer Empfindung von der Unfähigkeit unferer frivolen Kultur, al3 vor der Kunft der Hellenen? Auf fie, auf diefe Runft der Lieblinge der allliebenden Natur, der ſchönſten Men— fchen, die und die zeugungsfrohe Mutter bis in die nebelgraueften Tage heutiger modiſcher Kultur als ein unläugbares, fiegreiches Zeugniß von dem, was fie zu leiften vermag, vorhält, auf die herrliche griechiſche Kunſt bfiden wir Hin, um aus ihrem innigen Verſtändniſſe zu entnehmen, wie dad Kunftwerf der Zus Zunft beſchaffen fein müfle! Die Natur hat Alles gethan, was fie konnte, fie hat den Hellenen gezeugt, an ihren Brüften genährt, durch ihre Mutterweisheit ihn gebilbet: fie ſtellt ihn ung hin mit Mutterftolz und ruft uns Menfchen allen aus Mutter liebe num zu: „Das that ich für Euch, nun thut Ihr auß Liebe zu Euch, was Ihr könnt!“

So haben wir denn bie helleniſche Kunſt zur menſch- lien Kunſt überhaupt zu maden; die Bedingungen, unter denen fie eben nur Hellenifche, nicht allmenichliche Kunft mar, von ihr zu löfen; da8 Gewand der Religion, in welchem fie einzig eine gemeinfam hellenifche Kunſt war, und nach deſſen Abnahme fie ald egoiftifche, einzelne Kunftgattung, nicht mehr dem Bedürfniffe der Allgemeinheit, fondern nur dem bes Luxus

Das Kunſtwerk der Zukunft. 63

wenn aud eines ſchönen! entiprechen fonnte, dieß Ge— wand der fpeziell Hellenifhen Religion Haben wir zu dent Bande der Religion der Zukunft, der der Allgemeinfamteit, zu erweitern, um eine gerechte Vorftellung vom Kunſtwerle ber Bufunft ſchon jet uns machen zu können. Wber eben dieſes Band, diefe Religion der Zukunft, vermögen wir Unjeligen nicht zu knüpfen, weil wir, fo viele wir derer auch fein mögen, die den Drang nad) dem Kunſtwerke der Zukunft in fich fühlen, doch nur Einzelne, Einfame find. Das Kunſtwerk ift die lebendig bargeftellte Religion; Religionen aber erfindet nicht der Künftler, die entftehen nur aus dem Volke,

Genügen wir und alfo dadurch, daf wir für jet ohne alle egoiftijche Eitelkeit, one Befriedigung in irgend melcher eigenfüchtigen Illuſion ſuchen zu wollen, redlich und mit liebe voller Hingebung an die Hoffnung für das Kunftwerk der Zu— kunft, zunächſt das Wefen der Runftarten prüfen, die heute in ihrer Zerſplitterung das allgemeine Kunſtweſen der Gegen- wart ausmachen; ftärken wir unferen Blick zu diefer Prüfung an der Kunft der Hellenen, und führen wir dann fühn und gläubig den Schluß auf dad große, allgemeinfame Kunſt— wer! der Zukunft!

I.

Der künflerifche Menſch und die von ihm unmittelbar abgeleitete Kunf.

1.

Der Menſch als fein eigener Fünftlerifher Gegenftand und Stoff.

Der Menſch ift ein äußererund innerer. Die Sinne, denen er fi) als fünftlerijcher Gegenftand baritellt, find dad Auge und das Ohr: dem Auge ftellt fi) der äußere, dem Ohre der innere Menſch dar.

Das Auge erfaßt die leibliche Geftalt des Menſchen, vergleicht fie der Umgebung und unterſcheidet fie von ihr. Der

64 Das Kunftwert ber Zukunft.

Teibliche Menſch und die umvillfürlichen Äußerungen feiner, durch äußere Berührung empfangenen, Eindrüde in finnlihem Schmerz ober finnlicher Wohlempfindung, ſtellen fi dem Auge unmittel- bar bar; mittelbar theilt er ihm aber auch die Empfindungen des, dem Auge unmittelbar nicht erfennbaren, inneren Menfchen mit, durch Miene und Gebärde; namentlich aber wiederum durch den Ausdrud des Auges felbit, welches dem anfchauenden Auge ums mittelbar begegnet, vermag er dieſem nicht nur die Gefühle des Herzens, fondern ſelbſt die harakteriftiiche Thätigkeit des Ver— ftande8 mitzutheifen, und je beftimmter ſchon der äußere Menſch den inneren auszudrücken vermag, deſto höher giebt er fich als ein fünftlerifcher fund.

Unmittelbar teilt fi) aber der innere Meuſch dem Ohre mit, und zwar durch den Ton ſeiner Stimme. Der Ton iſt der unmittelbare Ausdrud des Gefühle, wie es feinen phyfifhen Sig im Herzen, dem Punkte des Ausganges und der Rüdkehr der Blutberegung, Hat, Durch den Sinn des Gehöres dringt der Ton aus dem Herzensgefühle wiederum zum Herzendgefühle: Schmerz und Freude des Gefühlsmenſchen theilen fi durch den mannigfaltigen Ausdruck des Tones der Stimme wiederum dem Gefühlsmenſchen unmittelbar mit, und wo die Ausdrucks- und Mittheilungsfähigkeit ded äußeren leiblichen Menſchen für die Eigenſchaft des außzudrüdenden und mitzutheilenden, inneren Herzendgefühles an das Auge, feine Schranke findet, da tritt die entſcheidende Mittheilung durch den Ton der Stimme an das Gehör, und durch das Gehör an das Herzensgefühl ein.

Wo jebod) wieberum ber unmittelbare Ausdruck des Tones der Stimme, in der Mittheilung und genau unterfheidbaren Be— ftimmtheit der einzelnen Herzensgefühle an ben mitfühlenden und theilnehmenden inneren Menſchen, feine Schranke findet, da tritt der, duch den Ton der Stimme vermittelte, Ausdruck der Sprache ein. Die Sprade ift das verdichtete Element der Stimme, das Wort die gefeftigte Maffe des Tones. In ihr theilt fi das Gefühl durch das Gehör an das Gefühl mit, aber an das ebenfall3 zu verdichtende, zu gefeftigende Gefühl, dem es ſich zum ficheren, unfehlbaren Verftändnifie bringen will Sie ift fomit das Organ des ſich verftehenden und nach Verftändie gung verlangenden befonderen Gefühle, des Verſtandes. Dem unbeftimmteren, allgemeinen Gefühle genügte die unmittel-

Das Kunftwert der Zukunft. " 65

bare Eigenfchaft des Tones; es verweilte daher bei ihm, als dem an und für fich ſchon befriedigenden, finnlich wohlgefälligen Aus— drude: in der Quantität feiner Ausdehnung vermochte es fogar feine eigene Qualität in ihrer Ulgemeinheit bezeichnend auszu—⸗ ſprechen. Das beftimmte Bedürfuiß, das fich in der Sprache verftändlih zu machen fucht, ift entfchiedener, drängender; es verweilt nicht im Behagen an feinem finnlichen Ausdrude, denn es hat da8 ihm gegenftändliche Gefühl in feiner Unterfchieden- heit von einem allgemeinen Gefühle barzuftellen, daher zu ſchil— dern, zu befchreiben, was der Ton ald Ausdrud des allgemeinen Gefühles unmittelbar gab. Der Sprechende hat deßhalb von verwandten, aber ebenfal3 unterfchiedenen Gegenftänden Bilder zu entnehmen und fie zufammenzuftellen. Zu diefem vermittel- ten, komplizirten Verfahren hat er fi an und für ſich auszu— breiten; unter dem Hauptdrange nach Verſtändigung befchleunigt er aber dieß Verfahren durch möglichft kürzeſtes Verweilen beim Tone, durch völlige Außerachtlaſſen feiner allgemeinen Aus— drudsfähigkeit. Durch diefe nothwendige Entfagung, durch diefes Aufgeben des Wohlgefallens am finnlichen Elemente des eigenen Ausdrudes mindeftend des Grades von Wohlgefallen, wie der Leibesmenſch und Gefühlsmenfch ihn an ihrer Ausdrudd- weife zu finden vermögen, wird der Verſtandesmenſch aber auch fähig, vermöge feines Organes der Sprache den ficheren Ausdrud zu geben, an welchem jene ftufenweife ihre Schranken fanden. Sein Vermögen ift unbegrängt: er jammelt und fcheibet das Allgemeine, trennt und verbindet nach Bedürfniß und Gut- dünfen die Bilder, die alle Sinne ihm von der Außenwelt zu führen; verfnüpft und Löft das Befondere und Allgemeine je nach Ermefien, um feinem Verlangen nach ſicherem, verftändlichem Ausdrude feines Gefühles, feiner Anfhauung, feines Willens zu genügen. Nur da findet er jeboc wiederum feine Schranke, mo er in ber Erregtheit feines Gefühles, in der Lebendigkeit der Freude ober in der Heftigkeit des Schmerzes, alfo da, wo das Befondere, Willfürlihe vor der Allgemeinheit und Unwill- türlichteit des ihn beherrichenden Gefühles an fich zurüdtritt, wo er aud dem Egoismus feiner bedingten, perſönlichen Empfindung fih in der Gemeinfamkeit der großen, allumfafenden Empfin- dung, fomit der unbebingten Wahrheit des Gefühles und der Empfindung überhaupt wieberfindet, wenn er alfo da, wo Ridard Wagner, Ge. Schriften LIL ö

66 Das Kunftwert der Zukunft,

er ber Nothwendigteit, ſei es des Schmerzes oder der Freude, feinen individuellen Eigenwillen unterzuordnen, demnach nicht zu gebieten, ſondern zu gehorchen hat, nach dem einzig ent- ſprechenden unmittelbaren Ausdrude feines unendlich gefteiger- ten Gefühles verlangt. Hier muß er wieder nach dem allgemeinen Ausdrude greifen, und gerade in der Stufenreihe, in der er zu feinem befonderen Standpunkte gelangte, Hat er zurüczufchreiten, bei dem Gefühlsmenſchen den ſinnlichen Ton des Gefühles, bei dem Leibesmenfchen die finnlihe Gebärde bed Leibes zu ent lehnen; denn wo es den unmittelbarften und doc, fiherften Aus» drud des Höchſten, Wahrften, dem Menfchen überhaupt Aus- drüdbaren gilt, da muß eben auch der ganze, vollfommene Menſch beifammen fein, und dieß ift der mit dem Leibed- und Herzens: menfchen in innigfter, durchdringendfter Liebe vereinigte Ver— ftandesmenfch, feiner aber für fich allein.

Der Fortfchritt des äußeren Leibesmenfchen, durch ben Ge— fühlamenfhen zum Verftandesmenfchen, ift der einer immer ver- mehrten Qermittelung: ber Verſtandesmenſch ift, wie fein Aus- drudßorgan, die Sprache, der allervermittelite und abhängigfte; denn alle unter ihm liegenden Qualitäten müfjen normal ent widelt fein, ehe die Vebingungen feiner normalen Qualität vorhanden find. Die bedingtefte Fähigkeit ift zugleich aber die gefteigertfte, und die, auf die Erkenntniß feiner höheren, unüber- botenen Qualität begründete Freude an ſich, verführt ben Der: ftandeömenfchen zu dem Hochmüthigen Wähnen, die Qualitäten, die ihm Grundlage find, als Dienerinnen feiner Willkür verwen- ben zu dürfen. Dieſen Hochmuth befiegt aber die Allgewalt der finnlihen Empfindung und des Herzendgefühles, fobald fie als allen Menfchen gemeinjame, ald Empfindungen und Gefühle der Gattung, dem Verſtandesmenſchen ſich kundgeben. Die einzelne Empfindung, das einzelne Gefühl, wie fie in ihm als Indivi— duum durch dieſe eine, befondere und perſönliche Berührung mit diefem einen, beſonderen und perjünlichen Gegenſtande, fich zei— gen, vermag er zu Öunften einer von ihm begriffenen, reicheren Kombination mannigfaher Gegenftände zu unterdrüden und zu beherrjchen; die reichite Kombination aller ihm erfennbaren Gegen- ftände führt ihm aber endlich) den Menfhen al Gattung und in feinem Bufammenhange mit der ganzen Natur vor, und vor diefem großen, allgewaltigen Gegenftande bricht

Das Kunftwerk ber Zukunft. 67

fi) fein Hochmuth. Er fann nur noch das Allgemeinfame, Wahre, Unbedingte wollen; fein eigenes Aufgehen nicht in ber Liebe zu dieſem oder jenem Gegenftande, jondern in ber Liebe über- haupt: fomit wird der Egoift Kommunift, der Eine Alle, der Menſch Gott, die Kunftart Kunſt.

2.

Die drei reinmenfhligen Runftarten in ihrem urſprünglichen Vereine.

Jene drei fünftlerifchen Hauptfähigfeiten des ganzen Men- ſchen Haben fi zum dreieinigen Ausdrude menſchlicher Kunſt unmittelbar und von felbft außgebilbet, und zwar im urjprüng- lien, urentftandenen Kunſtwerke der Lyrik, fowie in bdefien fpäterer bewußtvoller, Höchfter Vollendung, dem Drama.

Tanzkunſt, Tonkunft und Dichtkunft heißen die brei urgeborenen Schweftern, die wir ſogleich da ihren Reigen ſchlin— gen fehen, wo die Bedingungen für die Erfcheinung der Kunft überhaupt entftanden waren. Sie find ihrem Wefen nach un- trennbar ohne Auflöfung des Reigens der Kunft; denn in diefem Reigen, der die Bewegung der Kunft ſelbſt ift, find fie durch ſchönſte Neigung und Liebe finnlich und geiftig fo wundervoll feft und lebenbedingend in einander verſchlungen, daß jede ein- zelne, aus dem Reigen Iosgelöft, leben- und bemegungslos nur ein künſtlich angehauchtes, erborgtes Leben noch fortführen Tann, nicht, wie im Dreiverein, felige Geſetze gebend, fondern zwang⸗ volle Regeln für mechanifche Bewegung empfangend.

Beim Anſchauen dieſes entzüdenden Reigens ber ächteften, adeligften Mujen des fünftleriichen Menfchen, gewahren wir jegt die drei, eine mit der anderen liebevoll Arm in Arm biß an den Naden verſchlungen; dann bald diefe bald jene einzelne, wie um ben anderen ihre ſchöne Geftalt in voller Selbftändig- teit zu zeigen, fi aus der Verfchlingung löfend, nur noch mit der äußerften Handfpige die Hände der anderen berührend; jetzt die eine, vom Hinblid auf die Doppelgeftalt ihrer feſtumſchlun⸗- genen beiden Schweitern entzückt, dieſer ſich neigend; dann zwei, vom Reize der einen hingeriſſen, huldigungsvoll fie grüßend, um endli Alle, feft umſchlungen, Bruft an Bruft, Glied

5*

68 Das Kunftwerk der Zukunft.

an lied, in brünftigem Liebeskuffe zu einer einzigen, wonnig« lebendigen Geftalt zu verwachſen. Das ift das Lieben und Leben, Freuen und Freien der Kunft, der Einen, immer fie fel- ben und immer anderen, überreich ſich ſcheidenden und überjelig ſich vereinigenden.

Dieß ift die freie Kunft. Der füß und ftark beivegende Drang in jenem Reigen der Schweftern, ift der Drang nad Sreiheit; der Liebekuß der Umfchlungenen, die Wonne ber gewonnenen Freiheit.

Der Einfame ift unfrei, weil beſchränkt und abhängig in ber Unliebe; der Gemeinfame frei, weil unbefchränft und unabhängig durch die Liebe.

In Allem, was da ift, ift das Mächtigfte der Lebens- trieb; er ift die unmiderftehlihe Kraft des Zuſammenhanges der Bedingungen, die das, was ba ift, erft hervorgerufen haben, ber Dinge oder Lebenskräfte aljo, die in dem, was durch fie it, das find, was fie in diefem Vereinigungspunkte fein können und fein wollen. Der Menſch befriedigt fein Lebensbebürfniß durch Nehmen von der Natur: dieß ift kein Raub, fondern ein Empfangen, in fi Aufnehmen, Verzehren deſſen, was, als Lebensbedingung des Menſchen in ihn aufgenommen, verzehrt fein will; denn dieſe Lebensbedingungen, ſelbſt Lebensbedürf- niffe, heben fich ja nicht durch feine Geburt auf, fie währen und nähren fi in ihm und durch ihn vielmehr fo lange als er lebt, und die Auflöfung ihres Bundes ift eben erſt ber Tod. Das Lebensbedürfnig des Lebensbebürfnifjeg ded Men- ſchen ift aber dad Liebesbedürfniß. Wie die Bedingungen de3 natürlichen Menfchenlebens in dem Liebesbunde unterge- ordneter Naturkräfte gegeben find, die nad Verſtändniß, Er- löfung, Aufgehen in dem Höheren, eben dem Menſchen, ver- langten, fo findet der Menſch fein Verjtändniß, feine Erlöſung und Befriedigung, gleihfall® nur in einem Höheren; diefes Höhere ift aber die menfchlihe Gattung, die Gemeinfhaft der Menſchen, denn e3 giebt für den Menfchen nur ein Hö- heres als er ſelbſt: die Menfchen. Die Befriedigung feines Xiebeöbebürfnijjes gewinnt aber der Menfh nur durch das Geben, und zwar durch da8 Sichſelbſtgeben an anbere Menſchen, in höchfter Steigerung an die Menſchen über- haupt. Das Entjeglihe in dem abjoluten Egoiften ift, daf er

Das Kunftwerk der Bufunft. 69

aud in den (anderen) Menfhen nur Naturbedingungen feiner Erxiftenz erfennt, fie wenn auch auf ganz befonbere, barbarifch tultivirte Weife verzehrt wie die Früchte und Thiere der Natur, alfo nicht geben, fondern nur nehmen will.

Wie aber der Menſch, fo wird aud alles von ihm Aus- gehende oder Abgeleitete nicht frei, außer durch die Liebe. Frei— heit ift befriedigtes nothwendiges Bedürfniß, höchſte Freiheit befriedigtes höchſtes Bedurfniß: das höchſte menſchliche Be— dürfniß aber iſt die Liebe.

Nichts Lebendiges Tann aus der wahren unentitellten Na- tur des Menſchen hervorgehen ober von ihr ſich ableiten, mas nicht auch der charakteriſtiſchen Wefenheit diefer Natur vollfom- men entſpräche: das charafteriftifchefte Merkmal diefer Wejenheit ift aber das Liebesbedürfniß.

Jede einzelne Fähigkeit des Menfchen ift eine befchränfte; feine vereinigten, unter ſich verftändigten, gegenfeitig ſich Hel- fenden, alfo feine ſich liebenden Fähigkeiten find aber die fich genügende, unbefchränfte, allgemein menfchliche Fähigkeit. So hat denn auch jede Fünftlerifche Fähigkeit des Menichen ihre natürlichen Schranken, weil der Menfch nit einen Sinn, fondern Sinne überhaupt hat; jede Wähigfeit Teitet ſich aber nur bon einem gewiſſen Sinne her; an ben Schranken dieſes Sinnes hat daher auch dieſe Fähigkeit ihre Schranken. Die Gränzen der einzelnen Sinne find aber auch ihre gegenfeitigen Berührungspunfte, die Punkte, mo fie in einander fließen, fich verftändigen: gerade fo berühren, verftändigen fich die von ihnen hergeleiteten Wähigfeiten. Ihre Schranken heben ſich daher in der Verftändigung auf; nur was ſich Tiebt, Tann ſich aber ver- ſtändigen, und lieben Heißt: den anderen anerkennen, zugleich alfo fich felbft erkennen; Erkenntniß durch die Liebe ift Freiheit, die Freiheit der menſchlichen Fähigkeiten Allfähigkeit:

Nur die Kunft, die diefer Allfähigfeit des Menſchen ent- ſpricht, ift fomit Frei, nicht die Kunſtart, die nur von einer einzelnen menſchlichen Fähigkeit herrührt. Tanzkunſt, Tonkunſt und Dichtkunſt find vereinzelt jede beſchränkt; in der Berührung ihrer Schranken fühlt jede fich unftei, ſobald fie an ihrem Gränz⸗ pumfte nicht der anderen entfprechenden Kunſtart in unbedingt anerlennender Liebe die Hand reiht. Schon das Erfaſſen diefer Hand Hebt fie über die Schranke hinweg; die volftändige Um-

70 Das Kunſtwerk der Zukunft.

ſchlingung, das vollftändige Wufgehen in der Schweiter, d. h. das vollſtändige Aufgehen ihrer felbft jenfeit8 der geftellten Schranke, läßt aber die Schranfe ebenfall3 vollſtändig fallen; und find alle Schranken in dieſer Weife gefallen, fo find weder die Kumftarten, noch aber auch eben diefe Schranken mehr vor— handen, fondern nur die Kunſt, die gemeinfame, unbeſchränkte Kunft ſelbſt.

Eine unſelig falfchverftandene Freiheit ift num aber die des in der Vereinzelung, in der Einfamfeit frei fein Wollenden. Der Trieb, fih aus der Gemeinfamfeit zu Iöfen, für fi, ganz im Befonderen frei, jelbftändig fein zu wollen, Tann nur zum geraden Gegenſatze dieſes willkürlich Erſtrebten führen: zur vollfommenften Unfelbftändigfeit. Gelbftändig ift nichts in der Natur, al3 das, was die Bedingungen feines Selbſtſtehens nicht nur in fich, fondern auch außer fi hat: die inneren Be— dingungen find eben erft vermöge der äußeren vorhanden. Was ſich unterfheiden fol, muß nothwendig das haben, wovon es ſich zu unterſcheiden hat. Wer ganz er felbft fein will, muß erft erfennen, was er ift; dieß erfennt er aber erft im Unterfchiede von dem, wa8 er nicht ift: wollte er das von ihm ſich Unter- fcheidende von fich abtrennen, fo wäre er felbft eben ja nichts Unterſchiedenes, fomit fich felbft Exfennbared mehr. Um ganz das fein zu wollen, was er für fich ift, muß der Einzelne ganz und gar das nicht zu fein brauchen, was er nicht ift; ganz was er nicht ift, ift ja aber das von ihm Unterfchiedene, und nur in der vollften Gemeinſamkeit mit dem von ihm Unterfchiedenen, im vollſten Wufgehen in der von ihm unterfchiebenen Gemein- ſamkeit kann er eben erſt vollfommen das fein, was er ift, fein fol, und vernünftigerweife nur fein will. Nur in Kommunis- mus findet fi der Egoismus vollftändig befriedigt.

Der Egoismus, der fo unermeßlichen Jammer in die Belt und fo beklagenswerthe Verftümmelung und Unwahrheit in die Kunſt gebracht Hat, ift allerding8 anderer Art, als der natürliche, vernünftige, der in der Allgemeinfamfeit ſich voll- ftändig befriedigt, Er wehrt vol frommer Entrüftung die Be— zeichnung des Egoismus von fi) ab, nennt ſich Bruder und Chriftene Kunft- und Kiünftlerliebe; ftiftet Gott und der Kunſt Tempel; errichtet Spitäler, um das Franke Alter jung und gefund, Schulen, um die geſunde Jugend alt und krank

Das Kunſtwerk der Zukunft. 71

zu machen; gründet Fakultäten, Rechtsbehörden, Verfaffungen und Staaten und was Alles noch, nur, um zu beweifen, daß er nicht Egoismus fei: und dieß ift gerade der allerunerlößbarite und deßhalb einzig verderbliche für fih und die Allgemeinheit. Dieß ift die Vereinzelung der Einzelnen, in der alle3 vereinzelte Nichtige Etwas, das ganze Allgemeine aber Nichts fein fol; in der ſich jeder brüftet, ganz für fid) etwas Beſonderes, Originelles zu fein, während das Ganze in Wahrheit dann nichts Beſon— dered und ewig nur Nachgemachtes it. Dieß ift die Selbftän- digfeit de3 Individuums, bei welcher jeder Einzelne, um durch— and „mit Gottes Hülfe frei“ zu fein, auf Koften des Anderen lebt, das zu fein borgiebt, was Andere find, kurz, die umge— Tehrte Lehre Zeus’: „Nehmen ift feliger, denn Geben” befolgt.

Dieb ift der wahre Egoismus, in welchem jede einzelne Runftart ſich als allgemeine Kunft gebärden möchte, während fie in Wahrheit dadurch ihre wirkliche Eigenthümlichkeit nur noch verliert. Prüfen wir näher, was unter folhen Beding- ungen aus jenen- drei holbfeligen helfenifchen Schweitern ge- worden ift!

3. Tanzkunft.

Die realfte aller Kunftarten ift die Tanzkunft. Ihr Fünft- leriſcher Stoff ift der wirkliche leibliche Menſch, und zwar nicht ein Theil defjelben, fondern der ganze, von ber Fußſohle bis zum Scheitel, wie er dem Auge fich darftellt. Sie ſchließt daher in fi) die Bedingungen für die Kundgebung aller übrigen Kunft- arten ein: der fingende und fprechende Menſch muß nothwendig Teiblicher Menſch fein; durch feine äußere Geftalt, durch das Gebahren feiner Glieder gelangt der innere, fingende und iprechende Menich zur Anſchauung; Ton» und Dichtkunft wer- den in ber Tanzkunft (Mimik) dem volltommenen kunftempfäng- fichen Menfchen, dem nicht nur hörenden, fondern aud) fehenden, erſt verftänblich.

Frei wird das Kunſtwerk erft, indem es ſich unmittelbar den entfprechenden Sinnen kundgiebt, wenn in feiner Mitthei- fung an biefe Sinne der Künftler des ſicheren Verftändniffes

72 Das Kunftwerk der Zukunft.

des von ihm Mitgetheilten ſich bewußt wird. Der höchſte, mit= theilungsmwertheite Gegenftand der Kunft ift der Menſch; zu vollfommen bewußter eigener Beruhigung theilt fich der Menſch endlich nur durch feine leibliche Geftalt dem ihr entiprechenden Sinne, dem Auge, mit. Ohne Mittheilung an das Auge bleibt alle Kunft unbefriedigend, daher ſelbſt unbefriebigt, unfrei: fie bleibt, bei höchſter Vollendung ihres Ausdrudes für das Ohr ober gar nur fir das Tombinirende, mittelbar erfeßende Dent- vermögen, biß zu ihrer verftändigungävollen Mittheilung auch an dad Auge, nur eine wollende, noch nicht aber volltommen lönnende; Fönnen muß aber die Kunft, und vom Können hat ſehr entjprechend in unferer Sprache die Kunft aud) ihren Namen.

Sinnliches Schmerz oder Wohlempfinden giebt der Leibeö- menfch unmittelbar an und mit den Gliedern feines Leibe fund, welde Schmerz oder Luft empfinden; Schmerz- oder Wohlempfinden des ganzen Leibes drüdt er durch beziehungs- volle, zu einem Bufammenhange fic ergänzende Bewegung aller ober der ausdrucksfähigſten Glieder aus; aus der Beziehung zu einander feldft, dann aus dem Wechfel der ſich ergänzenden, deutenden Bewegungen, endlich aus der mannigfachen Verän— derung diefer Bewegungen wie fie von dem Wechjel der von weicher Ruhe bis zu leidenſchaftlichem Ungeſtüm bald allmählich, bald heftig ſchnell fortichreitenden Empfindungen bedingt wer: den, entitehen die Geſetze unendlich wechſelnder Bewegung ſelbſt, nach denen der Fünftferifch ſich darftellende Menſch fich kundgiebt. Der von rohefter Leidenfchaftlichkeit beherrichte Wilde kennt in feinem Tanze faft feinen anderen Wechſel, ala den gleichförmigften Ungeftümes und gleichförmigfter, apathiſcher Ruhe. Im Reichtfume und in der Mannigfaltigfeit der Über- gänge fpricht ſich der ebfere gebildete Menſch aus; je reicher und mannigfaltiger diefe Ubergänge, defto ruhiger und geficherter die Anordnung ihres beziehungsvollen Wechiels: das Geſetz biefer Orduung ift aber der Rhythmus.

Der Rhythmus ift keinesweges eine willfürliche Annahme, nach welcher der fünftferifche Menſch feine Leibesglieber etwa bewegen ſoll, fondern er ift die dem künftleriichen Menfchen bewußt gewordene Seele der notwendigen Bewegungen ſelbſt, durch welche diefer feine Empfindungen unwillkürlich mitzutheis

Das Kunſtwerk der Zukunft. 73

len ftrebt. ft die Bewegung mit der Gebärde feldft der gefühl- volle Ton der Empfindung, fo ift der Rhythmus ihre berftän- digungsfähige Sprache. Je fehneller der Wechfel der Empfin- dung, deſto leidenſchaftlich befangener, defto unklarer ift fi der Menſch feldft, und defto unfähiger ift er daher auch, feine Em— pfindung verftänbfich mitzuteilen; je ruhiger der Wechſel, deſto anſchaulicher wird dagegen die Empfindung, Ruhe ift Ber- weilen; Verweilen ber Bewegung ift aber Wiederholen der Be— wegung: was fich wieberholt, läßt fi zählen, und das Geſetz diefer Bählung -ift der Rhythmus.

Durd den Rhythmus wird der Tanz erft zur Kunft. Er ift das Maaß ber Bewegungen, durch welche die Empfindung fi) veranſchaulicht, das Maaß, durch welches fie erft zur Verſtändniß ermöglichenden Anfchauung gelangt. Als felbft- gegebenes Geſetz der Bewegung ift aber fein Stoff, durch den er äußerlich erfennbar und manfgebend wird, nothwendig aus einem anderen, als dem ber Leibesbewegung, entnommen; nur durch ein don mir Unterſchiedenes kann ich mich ſelbſt erkennen; das von ber Leibesbemegung Unterfchiebene ift aber das, mas fi) einem von dem Sinne, dem die Leibesbewegung fi Tund- giebt, unterfchiedenen Sinne mittheilt; und diefer ift das Ohr. Der Rhythmus, wie er aus der Nothwendigkeit der nad) Ver ſtändlichung ftrebenden Leibesbewegung hervorgegangen, theilt ſich als äußerlich dargeftellte, maaßgebende Nothwendigkeit, als Geſetz, dem Tanzenden zunächſt durch den nur dem Ohre wahr« nehmbaren Schall mit, gerade wie in der Muſik das ab» ftrahirte Maaß des Rhythmus, der Takt, durch eine wiederum dem Auge erfenntliche Bewegung mitgetheilt wird; die, in der Nothwendigkeit der Bewegung ſelbſt bedingte, gleichmäßige Wiederholung ftellt fi dem Tanzenden als auffordernde, be dingende Leitung feiner Bewegungen in der gleichmäßigen Wie- derholung des Schalle dar, wie er am einfachften zunächſt duch Bufammenfclagen der Hände, dann hölzerner, metallener oder fonftiger ſchallgebender Gegenftände erzeugt wird.

Dem Tänzer, der fi die Anordnung feiner Bewegungen durd) ein äußerlich wahrnehmbares Gefeg darſtellt, genügt jedod) die bloße Beſtimmung bed Beitabjchnittes, in ber ſich bie Be— wegung wieberholt, nicht voljtändig; wie die Bewegung nad dem fehnellen Wechfel von Zeitabſchnitt zu Zeitabſchnitt felbft

74 Das Kunſtwerk der Bukunft.

dauernd anhält ımd zu einer berweilenden Darftellung wird, fo will er auch den nur plötzlich und mit fofortigem Verſchwin⸗ den ſich fundgebenden Schal zu dauerndem Verweilen, zur Ausdehnung in der Zeit genöthigt willen; er will endlich die Empfindung, welche feine Bewegungen befeelt, im Verweilen des Schalled ebenfalls ausgebrüdt Haben, denn nur fo wird das feloftgegebene Maaß des Rhythmus ein dem Tanze vollkommen entfprechendes, indem es nicht nur eine Bedingung feines We— fens, fondern nad) Möglichkeit alle feine Bedingungen umfaßt: das Maaf fol alfo das in einer anderen, verwandten Kunſtart vergegenftänblichte Wefen des Tanzes felbft fein.

Diefe andere Kunftart, in welcher die Tanzkunft nothwen— dig ſich zu erfennen, wieberzufinden, aufzugehen ſich ſehnt, ift die Tonfunft, die das marfige Gerüft ihres Knochenbaues im Rhythmus eben aus der Tanzkunft empfängt.

Der Rhythmus ift das natürliche, unzerreißbare Band der Tanzkunſt und Tonkunſt; ohne ihn feine Tanzkunſt und feine Tonkunft. Iſt der Rhythmus als beiegungbindendes, einheit- gebendes Gejeß, der Geift der Tanzkunft nämlich die Ab— ſtraktion ber leiblichen Bewegung —, fo ift er, als fich bewe— gende, fortfchreitende Kraft dagegen das Gebein der Tonkunft. Je mehr dieſes Gebein ſich mit dem Sleifche ded Tones um- hüllt, defto umfenntlicher verliert fih das Geſetz der Tanzkunſt in da3 befondere Wefen der Tonkunſt; um fo mehr erhebt die Tanzkunſt fi aber auch zur Fähigkeit des Ausdruckes tieferer Herzensfülle, mit welchem fie einzig dem Weſen ded Tones zu entfprechen vermag. Das Iebendigite Fleisch des Tones ift je- doch die menfhlige Stimme, das Wort aber gleichſam wieder der knochige, muskulöſe Rhythmus der menfchlichen Stimme. In der Entjhiebenheit und Beftimmtheit des Wortes findet die bemegungtreibende Empfindung, mie fie aus der Tanzkunſt fi in die Tonkunft ergoß, aber endlich den unfehl- baren, ſicheren Ausbrud, durch welchen fie ſich als Gegenftand zu erfaffen und Mar auszuſprechen vermag. Somit gewinnt fie durch den zur Sprache gewordenen Ton, in der zur Dichtkunft newordenen Tonkunſt ihre höchſte Befriedigung zugleich mit ihrer befriedigendften Erhöhung, indem fie von der Tanzkunft zur Mimik, von der breiteften Darftellung allgemein Teiblicher Empfindungen, zum dichteſten, feinften Ausbrude beftimmter,

Das Kunftwerk der Zukunft. 75

geiftiger Affefte des Gefühles und der Willenskraft ſich auf ſchwingt.

Durch dieſes aufrichtigfte, gegenfeitige Durchdringen, Er— zeugen und Ergänzen aus fich felbft und durch einander, ber einzelnen Künſte wie es in Bezug auf Ton und Dichtkunft hier vorläufig nur angebeutet wurde, wird das einige Kunſt⸗ werf der Lyrik geboren: in ihm ift jede, was fie ihrer Natur nad) fein kann; was fie nicht mehr zu fein vermag, entlehnt fie nicht egoiftifch von der anderen, fondern die andere ift es felbft für fie Im Drama, der vollenbetften Geftaltung ber Lyrik, entfaltet jede der einzelnen Künfte aber ihre höchſie Fähigkeit, und namentlich auch die Tanzkunſt. Im Drama ift ſich der Menſch nah feiner vollften Würde künſtleriſcher Stoff und Gegenstand zugleih: hat die Tanzkunſt in ihm die ausdrucks— volle Einzel- oder Gefammtbetvegung der bon den Einzelnen oder von den Gefammten Fundzugebenden Empfindungen un- mittelbar barzuftellen, und ift daS aus ihr erzeugte Geſetz des Rhythmus dad Verftändigung leitende Maaß alles in ihm Dar- geftellten überhaupt, fo veredelt fie fih im Drama zugleich zu ihrem geiftigften Ausdrucksvermögen, dem der Mimik. Als mimifche Kunft wird fie zum unmittelbaren, alfergreifenden Aus- drude des inneren Menfchen, und nicht mehr der rohſinnliche Rhythmus des Schalles, ſondern der geiftig finnliche der Sprache ſtellt fi ihr als, feinem urſprünglichſten Wefen nach dennoch felbftgegebenes, Gefeg dar. Was die Sprache zu verftändlichen ftrebt, alle die Empfindungen und Gefühle, Unfchauungen und Gedanken, wie fie von weichſter Milde bis zur unbeugbarften Energie ſich fteigern und endlich als unmittelbarer Wille ſich Tundgeben, all’ dieß wird unbedingt verftändliche, glaubhafte Wahrheit nur durch die Mimik, ja die Sprache felbft wird als finnlicher Ausdrud nicht ander wahr und überzeugend, als durch unmittelbares Bufammenmirfen mit der Mimi. Yon diefer feinen Höhe breitet im Drama die Tanzfunft fi) wieder abwärts bis zu ihrer urfprünglichften Eigenthümfichfeit aus, biß dahin, two die Sprache nur noch ſchildert und deutet, wo die Tonfunft nur als befeelter Rhythmus der Schweſter noch huldigt, mo dagegen durch die Schönheit de3 Leibes und feiner Bewegung einzig der nöthig gewordene unmittelbare Ausdrud einer allbeherrſchenden, allerfreuenden Empfindung gegeben zu werden vermag.

76 Das Kunftwert der Zukunft.

So erreiht im Drama die Tanzkunſt ihre höchſte Höhe und ihre vollfte Fülle, entzüdend wo fie anorbnet, ergreifend wo fie fi) unterordnet; immer und überall fie felbft, weil im=- mer unwillkürlich und deßhalb nothwendig, unentbehrlich: nur da, wo eine Runftart nothwendig, unentbehrlich ift, ift fie zu- gleich ganz das, was fie ift, jein kann und fein foll.

Wie beim Thurmbau zu Babel die Völker, ald ihre Spra- hen fi) verwirrten und ihre Verftändigung unmöglich wurde, ſich ſchieden, um jedes feinen beſonderen Weg zu geheit: fo ſchieden die Kunftarten, als alles Nationalgemeinfame in taus fend egoiftifche Beſonderheiten fich zerfplitterte, fi aus bem folgen, bis in den Himmel ragenden Bau de3 Drama's, in welchem fie ihr gemeinfam beſeelendes Verſtändniß verloren hatten.

Beachten wir für jeßt, welches Schickſal die Tanzkunſt er- Tebte, al fie den Reigen der Schmweitern verließ, um auf gut Glück allein fi in die Welt zu verlieren.

Gab die Tanzkunſt e8 auf, der griesgrämig-tendenziös eurypideiſch fchulmeifternden Dichtkunft länger zur Berftän- digung die Hand zu reihen, die dieſe übelfaunifh hochmüthig bon ſich wies, um fie nur, zu einer Zmedleiftung bemüthig dargeboten, wieder zu erfaffen; ſchied fie fi) von der philos fophifchen Schweiter, die in trübfinniger Frivolität ihre jugend- lichen Reize nur noch zu beneiden, nicht mehr zu lieben ver- mochte, fo konnte fie die Hilfe der ihr nächiten, der Tonkunft, doc nie vollftändig entbehren. Durch ein unauflösbares Band war fie an fie gebunden, die Tonfunft hatte den Schlüffel zu ihrer Seele in ihren Händen. Wie nad) dem Tode des Vaters, in deffen Liebe fie Alle ſich vereinigten und al’ ihr Lebensgut als ein gemeinfames wußten, die Erben eigenfüchtig abwägen, mas ihnen zum befonderen Eigen gehöre, jo erwog aber aud) die Tanzkunft, daß jener Schlüffel von ihr gefchmiebet fei, und forderte ihn, als Bedingung ihres abgejonderten Lebens, für ſich allein zurüd. Gern entfagte fie dem gefühlvollen Tone der Stimme ihrer Schweiter; durch diefe Stimme, deren Mark das Wort der Dichtfunft war, Hätte fie fich ja unerlösbar an dieſe Hochmüthige Leiterin gefeffelt fühlen müffen! Uber jenes Werk⸗ zeug, aus Holz oder Metall, das mufifalifche Inftrument, das ihre Schwefter im liebevollen Drange, auch den todten

Das Kunftwert der Zukunft. . 77

Stoffen der Natur ihren feelenvollen Athem einzuhaudhen zur Unterftägung und Steigerung ihrer Stimme fich gebildet hatte, dieß Werkzeug, daS ja genügend die Fähigkeit bejaß, ihr das nothwendige leitende Maaß des Taktes und des Rhyth— mud’, fogar mit Nachahmung des Stimmentonreizes der Schwe— fter darzuftellen, das mufifalifhe Inftrument nahm fie mit ſich, ließ unbefümmert die Schweiter Tonkunft im Glauben an dad Wort durch den uferlofen Strom riftliher Harmonie dahin ſchwimmen, und warf mit leichtfertigem Selbftvertrauen ſich in die Iuguöbebürftigen Räume der Welt.

Bir kennen diefe hochaufgeſchürzte Gejtalt: wer ift ihr nicht begegnet? Uberall wo plumped modernes Behagen zum Berlangen nad) Unterhaltung ſich anläßt, ftellt fie fih mit höch— fter Gefälligfeit ein, und leitet für’3 Geld, was man nur will. Ihre höchfte Fähigkeit, mit der fie nichts mehr anzufangen mußte, die Fähigkeit, durch ihre Gebärden, ihre Mienen, den Gedanken der Dichtkunſt in feinem Verlangen nad) wirklicher Menjchwer- dung zu erlöfen, hat fie in ftupider Gedankenioſigkeit fie weiß nicht an wen? verloren oder verſchenlt. Sie hat mit allen Zügen ihres Geſichtes, wie mit allen Gebärden ihrer Glie- der, nur noch unbegrängte Gefälligfeit auszubrüden. Ihre ein— ige Sorge ift, fo erſcheinen zu können, als ob fie irgend etwas abzuſchlagen vermöchte, und dieſer Sorge entlebigt fie ſich in dem einzigen mimifhen Ausdrucke, deſſen fie noch fähig ift, in dem unerjdjütterlichften Lächeln unbedingtefter Bereitwilligkeit zu Allem und Jedem. Bei diefem unveränderlich feſtſtehenden Ausdrude ihrer Gefichtözüge entfpricht fie dem erlangen nad Abwechjelung und Bewegung nur noch durch die Beine; alle Kunftfähigkeit ift ihr vom Scheitel herab durch den Leib in die Füße gefahren. Kopf, Naden, Leib und Schenkel find nur noch zum unbermittelten Einladen durch fich felbit da, wogegen bie Füße allein übernommen haben darzuftellen, was fie zu leiften vermöge, wobei Hände und Arme, des nöthigen Gleichgewichtes wegen, fie ſchweſterlich unterftügen. Was im Privatleben, wenn umfere moderne Staat3bürgerjchaft, dem Herkommen und einer gejelfchaftlich zeitvertreibenden Gewohnheit gemäß, fi auf fogenannten Bällen zum Tanze anläßt, man ſich mit civilifirt Hölgerner Ausdrucksloſigkeit ſchüchtern anzubeuten er- laubt, daS ift jener grundgütigen Tänzerin geftattet, auf öffent-

78 Das Kunſtwerk der Zukunft.

liher Bühne mit unummundenfter Aufrichtigfeit auszuſprechen; denn ihr Gebahren ift ja nur Kunft, nicht Wahrheit, und wie fie einmal außer dem Gefege erklärt ift, fteht fie nun über dem Gejege: wir fünnen und durch fie reizen laffen, ohne ja deßhalb im gefitteten Leben ihren Reizungen zu folgen, wie im Gegenfage hierzu auch die Religion Neigungen zu Güte und Zugend darbietet, denen im gewöhnlichen Leben uns hinzu— geben wir dennoch durchaus nicht genöthigt find. Die Kumft ift frei, und die ZTanzlunft zieht aus dieſer Freiheit ihren Vorteil; und daran thut fie recht, wozu wäre fonft die Frei— heit da?

Wie mochte diefe edle Kunft fo tief fallen, daß fie in un— jerem öffentlichen Kunftleben nur noch als Spige aller in fich vereinigten Buhlerfünfte ji) Geltung zu verfhaffen, ihr Leben zu friften vermag? | Daß fie in den unehrenhafteften Feſſeln niedrigfter Abhängigkeit unrettbar fi gefangen geben nu? Weil alles aus feinem Bufammenhange Gerifjene, Einzelne, Egoiftijche, in Wahrheit unfrei, d. h. abhängig von einem ihm Fremdartigen werden muß. Der bloße leiblihe Sinnenmenſch, der bloße Gefühls-, der bloße Verſtandesmenſch, find zu jeder Selbftändigfeit al3 wirklicher Menſch unfähig; die Ausſchließ— lichfeit ihres Weſens läßt diejes zum ausſchreitenden Unmaaß führen, denn das gebeihlihe Maaß giebt ſich und zivar von felbft nur in der Gemeinſamkeit des Gleichartigen und doch Unterfchiedenen; das Unmaaß aber ift die abfolute Unfreiheit eined Weſens, und dieſe Unfreiheit ftellt ſich nothwendig als äußere Abhängigkeit dar.

Die Tanzlunft gab in ihrer Trennung von der wahren Mufit und namentlich auch von der Dichtkunft, nicht nur ihre höchſte Fähigkeit auf, fondern fie verlor auch von ihrer Eigen- thümlichkeit. Eigenthümlich ift nur das, was aus ſich ſelbſt zu erzeugen vermag: die Tanzkunft war eine vollkommen eigen- thümliche, fo lange fie aus ihrem innerften Wefen und Vedürf- niffe die Geſetze zu erzeugen vermochte, nach denen fie zur ver ftändigungsfähigen Erſcheinung fam. Heut‘ zu Tage ift nur nod der Volts-, der Nationaltanz eigenthümlih, denn auf unnachahmliche Weife giebt er aus fi, wie er in die Erſchei— nung tritt, fein beſonderes Wefen in Gebärde, Rhythmus und Takt fund, deren Gefege er unwillkürlich felbft ſchuf, und die

Das Kunftwert der Zukunft. 79

als Geſetze erſt erkennbar, mittheilbar werden, wenn fie aus dem Volkskunſtwerke, als fein abftrahirtes Wefen, wirklich her- vorgegangen find. Weitere Entwidelung des Vollstanzes zur reicheren, alfähigen Kunft ift nur in Verbindung mit der, Durch ihn nicht mehr beherrſchten, fondern wiederum frei gebahrenden Tonkunft und der Dichtkunſt möglich, weil in der verwandten Tähigkeit, und unter den Anregungen diefer Künfte, fie ihre eigenthünliche Fähigkeit allein im volliten Maaße entfalten und erweitern Tann. Das Kunftwerk der griechiſchen Lyrik zeigt ung, wie die, der Tanzkunft eigenthümlichen Gefege bes Rhythmus, in der Tonkunft und namentlich in ber Pichtkunft, durch bie Eigenthümlichkeit gerade diefer Künfte, wieder unendlich man- nigfaltig und charakteriftifch weiter entwidelt und bereichert, der Zanzkunft unerjchöpflic neue Anregung zum Auffinden neuer, ihr wiederum eigenthümlicher Bewegungen gaben, und wie jo in lebensfreudiger, überreicher Wechſelwirkung die Eigenthüm- lichkeit einer jeden Kunftart zu ihrer vollendetſten Fülle ſich er- heben konnte. Dem modernen Volkstanze durften die Früchte folder Wechjelwirtung nicht zu gut kommen: wie alle Volis— tunſt der modernen Nationen durch die Einwirkung des Chriften- thumes und der hriftlich-ftaatlichen Civilifation in ihrem Keime zurückgedrängt wurde, hat auch er, als einſame Pflanzenart, nie zu reicher mannigfaltiger Entwidelung gedeihen können. Den- noch find die einzigen eigenthümlichen Erſcheinungen im Ge— biete des Tanzes, die umjerer Heutigen Welt befannt werden, nur bie Produkte des Volkes, wie fie dem Charakter bald diefer ober jener Nationalität entleimten oder felbft noch entleimen. Alle unfere civilijiete eigentliche Tanzkunft ift nur eine Kompi- Tation diefer Vollstänze: die Volksweiſe jeder Nationalität wird von ihr aufgenommen, verwendet, entjtellt, aber nicht weiter entwidelt, weil fie als Kunſt immer nur von fremder Nahrung fi erhält. Ihr Verfahren ift daher immer nur ein abſichtsvolles, künſtliches Nachahmen, Bufammenfegen, ein In: einanberfchieben, keineswegs aber Zeugen und Neugeftalten; ihr Veen ift dad der Diode, die aus bloßem Verlangen nad Ab- wechſelung heute diefer, morgen jener Weife den Vorzug giebt. Sie muß ſich daher willkürliche Syfteme machen, ihre Abficht in Regeln bringen, in unnöthigen Vorausfegungen und Annahmen fi tundgeben, um von ihren Züngern begriffen und ausgeführt

80 Des Kunftwert ber Zukunft.

werden zu fönnen. Die Syſteme und Regeln vereinfamen fie aber als Kunft vollend8 ganz, und verwehren ihr jebe ges funde Verbindung zur gemeinfhaftlihen Wirkjamfeit mit einer anderen Runftart. Die nur durch Geſetze und willfürliche Nor- men am künſtlichen Leben erhaltene Unnatur ift durchaus ego— iftife, und wie fie aus ſich ſelbſt zeugungsunfähig ift, wird ihr auch jede Begattung unmöglid.

Dieſe Kunft hat daher fein Liebesbedürfniß; fie kann nur nehmen, nicht aber geben; fie zieht allen fremden Lebensſtoff in fi) Hinein, zerfegt und verzehrt ihn, Löft ihn in ihr eigenes unfruchtbares Weſen auf, vermag aber nicht mit einem außer ihr begründeten Lebenselemente fi zu vermifchen, weil fie felbft fi nicht zu geben vermag.

So läßt fi unfere moderne Tanzkunſt in der Panto- mime auch zu der Abficht des Drama’ an; fie will, wie jede vereinfamte egoiftifche Kunftart, für ſich Alles fein, Ulles können und Alles allein vermögen; fie will Menjchen, menſchliche Vor— fälle, Zuftände, Konflikte, Charaktere und Beweggründe dar- ftellen, ohne von der Fähigkeit, durch welche der Menſch erft fertig ift, der Sprache, Gebraud zu machen; fie will dichten, ohne der Dichtkunft fi zuzugeſellen. Was gebiert fie num in diefer jpröden Unvermifchtheit und „Unabhängigkeit? Das allerabhängigfte, früppelhaft verftümmeltfte Geſchöpf: Menfchen, die nicht reden können, und nicht etwa, weil ihnen durch ein Unglüd die Gabe der Sprache verfagt wäre, fondern die auß Eigenfinn nicht fprechen wollen; Parfteller, die ums jeden Augen- blid aus einer umfeligen Verzauberung erlöft dünken, fobald fie es einmal über fi) gewännen, bem peinlihen Stammeln ber Gebärde dur ein gefund geſprochenes Wort ein Ende zu machen, denen aber die Megeln und Vorfchriften der pantomimifchen Zanzkunft verbieten, durch einen natürlichen Sprachlaut ihr uns befledtes Tanzfelbftändigkeitögefühl zu entweihen.

So jammervoll abhängig ift aber diejes ſtumme abjolute Schauſpiel, daß e3 im glüdlihen Falle nur mit dramatijchen Stoffen fi) abzugeben getraut, die zu der menfchlichen Vernunft in gar feine Beziehung zu treten brauchen, aber felbft in den günftigften Fällen diefer Art fi zu dem ſchmählichen Auskunfts- mittel genöthigt fieht, feine eigentliche Abficht dem Bufchauer durch ein ertlärendes Programm mitzutheilen!

Das Kunftwert der Zukunft. 8

Und hierbei giebt ſich unläugbar noch das edelfte Beftreben der Tanzkunft fund; fie will doch wenigſtens Etwas fein, fie ſchwingt fich doch zu der Sehnſucht nah dem höchſten Kumft- werke, dem Drama, auf; fie fucht ſich dem widerlich Tüfternen Blicke der Frivolität zu entziehen, indem fie nach einem Eünft- Ierifhen Schleier greift, der ihre ſchmachvolle Blöße deden foll. Aber in melde unwürdigſte Abhängigleit muß fie gerade bei der Kundgebung dieſes Strebens ſich werfen! Mit welch’ jäm— merlicher Entjtellung muß fie das eitle Verlangen nad) unnatür- licher Selbftändigfeit büßen. Sie, ohne deren höchſte, eigen- thümlichfte Mitwirkung das höchfte, edelfte Kunſtwerk nicht zur Erfcheinung gelangen Tann, muß aus dem Vereine ihrer Schweſtern gefchieden von Proftitution zur Lächerlichfeit, von Lächerlichkeit zur Proftitution fich flüchten!

D herrliche Tanzkunſt! O ſchmähliche Tanzkunſt!

4. Tonkunſt.

Das Meer trennt und verbindet die Länder: ſo trennt und verbindet die Tonkunſt die zwei äußerſten Gegenſätze menſch- licher Kunſt, die Tanz und Dichtkunſt.

Sie iſt das Herz des Menſchen; das Blut, das von ihm aus ſeinen Umlauf nimmt, giebt dem nach außen gewandien Fleiſche ſeine warme, lebenvolle Farbe, die nach innen ſtre— benden Nerven des Gehirnes nährt es aber mit wellender Schwungkraft. Ohne die Thätigleit des Herzens bliebe die Thä— tigkeit des Gehirnes nur ein mechaniſches Kunſtſtück; die Thä— tigkeit der äußeren Leibesglieder ein ebenſo mechaniſches, gefühl- loſes Gebahren. Durch das Herz fühlt der Verſtand ſich dem ganzen Leibe verwandt, ſchwingt der bloße Sinnenmenſch ſich zur Verſtandesthätigleit empor.

Das Drgan des Herzens aber iſt der Ton; feine fünft- leriſch bewußte Sprache, bie Tonkunſt. Sie iſt die volle, wal⸗ lende Herzensliebe, die das ſinnliche Luſtempfinden adelt, und den unſinnlichen Gedanken vermenſchlicht. Durch die Tonkunſt verſtehen ſich Tanz⸗ und Dichtkunſt: in ihr berühren ſich mit liebevollem Durchdringen bie Geſetze, nach denen Seibe ihrer

Richard Wagner, Gef. Schriften III.

82 Das Kunftwerf der Zukunft.

Natur gemäß fich funbgeben; in ihr wird das Wollen beider zum Unwillfürlichen, da8 Maaß der Dichtkunft, wie der Takt der Tanztunft, zum nothwendigen Rhythmus des Herzensſchlages.

Empfängt fie die Bedingungen, unter denen fie fih kund— giebt, von ihren Schweftern, jo giebt fie ihnen fie in unenblicher Verfchönerung als Bedingung ihrer eigenen Kundgebungen zu— rück; führt die Tanzkunft ihr eigeneg Bewegungsgefetz der Ton- kunſt zu, fo weift diefe ihr e8 als feelenvoll finnlich verförperten Rhythmus zum Maake verebelter, verftändficher Bewegung wieder an; erhält fie von der Dichtfunft die finnvolle Reihe ſcharfgeſchnittener, durch Bedeutung und Maaß verſtändnißvoll vereinter Wörter als gedankenreich finnlihen Körper zur Feſti— gung ihres unendlich flüffigen Tonelementes, fo führt fie ihr diefe geſetzvolle Reihe mittelbar vorftellender, zu Bildern, noch nicht aber zu unmittelbarem, nothwendig wahrem Ausdrud ver⸗ dichteter, gedankenbaft⸗ſehnſüchtiger Sprachlaute, al gefühls- unmittelbare, unfehlbar rechtfertigende und erlöfende Melodie wieber zu.

In tonbefeeltem Rhythmus und Melodie gewinnen Tanzkunſt und Dichtkunft ihr eigene Wefen, finnlich vergegen- ſtändlicht, und unendlich verſchönert und befähigt, wieder zurück, erkennen und lieben fi ſelbſt. Rhythmus und Melodie jind aber die Arme der Tonkunſt, mit denen diefe ihre Schweftern zu liebevollem Verwachfen umfchlingt; fie find die Ufer, durch die fie, das Meer, zwei Kontinente verbindet. Tritt dieſes Meer von den Ufern zurück, und breitet fi) die Wüfte des Ab— grundes zwifchen ihm und den Ufern aus, fo wird fein fegel- frohes Schiff mehr von dem einen zum anderen Kontinente tragen; auf immer bleiben fie getrennt, bis etwa medanifche Erfindungen, vielleicht Eifenbahnen, die Wüfte fahrbar zu machen vermögen: dann fegt man wohl auch mit Dampfſchiffen vollends über das Meer; die Athemfraft des allbelebenden Windhauches erfegt der Dualm der Mafchine: weht der Wind naturgemäß nad; Dften, was kümmert's? die Mafchine klap— pert nad) Weiten, wohin man gerade will; der Tanzmacher holt fi fo, über den dampfbezwungenen Meeredrüden der Mufik, vom Dichtungskontinente her das Programm zu einer neuen Pantomime, der Bühnenftücverfertiger vom Tanzkontinente fo viel Beinſchwungſtoff, als ihn gerade zum Lockermachen einer

Das Kunftwert der Zukunft. 83

verſtockten Situation nöthig dünkt. Sehen wir, was aus der Schweſter Tonkunft ward, feit dem Tode des allliebenden Va— ters Dramal

Noch dürfen wir dad Bild des Meeres für das Wefen der Tonfunft nicht aufgeben. Sind Rhythmus und Melodie die Ufer, an denen die Tonkunft die beiden Kontinente ber ihr urverwandten Künfte erfaßt und befruchtend berührt, fo ift der Ton ſelbſt ihr flüffiges ureigenes Element, die unermeßliche Ausdehnung diefer Flüffigfeit aber da8 Meer der Harmonie. Das Auge erfennt nur die Oberfläche dieſes Meered: nur die Tiefe ded Herzens erfaßt feine Tiefe. Aus feinem nächtlichen Grunde herauf dehnt es fid zum fonniggellen Meeresfpiegel aus: von dem einen Ufer Freifen auf ihm die weiter und weiter gezogenen Ringe des Rhythmus; aus ben fchattigen Thälern des anderen Ufer erhebt ſich der ſehnſuchtsvolle Lufthauch, der dieſe ruhige Fläche zu den anmuthig fteigenden und finfenden Wellen der Melodie aufregt.

In dieſes Meer taucht fi der Menſch, um erfrifcht nud ſchön dem Tageslichte fic) wieberzugeben; fein Herz fühlt fich munderbar erweitert, wenn er in dieſe, aller undenkbarſten Möglichfeiten fähige Tiefe hinabblict, deren Grund fein Auge nie ermeſſen fol, deren Unergründlichfeit ihn daher mit Staus nen und ber Ahnung des Unendlichen erfüllt. Es ift die Tiefe und Unendlichkeit der Natur felbft, die dem forfchenden Men ſchenauge den unermeßlichen Grund ihres ewigen Keimens, Beugen3 und Sehnen verhilft, eben, weil dad Auge nur das zur Erfcheinung Gelommene, das Entkeimte, Gezeugte und Er: ſehnte erfaffen kann. Dieje Natur ift aber wiederum feine andere, als die Natur des menfchlihen Herzens felbit, das bie Gefühle des Lieben und Sehnens nad) ihrem unendlichiten Weſen in ſich fchließt, das die Liebe und das Sehnen ſelbſt ift, und wie e8 in feiner Unerfättlichfeit ſich felbft nur will ſich felbft auch nur erfaßt und begreift.

Negt dieſes Meer aus feiner eigenen Tiefe fich felbft auf, gebiert e8 den Grund feiner Bewegung aus dem Urgrund fei- ne3 eigenen Elementes, fo ift aud) feine Bewegung eine enblofe, nie beruhigte, ewig ungeftillt zu fich ſelbſt zurüctehrende, ewig wieberverlangend von Neuem fich erregende. Entbrennt die ungeheure Fülle dieſes Sehnens aber an einem außerhalb ihm

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84 Das Kunſtwerk der Zukunft.

liegenden Gegenftande; tritt aus der ficheren, feitbeftimmten Er— ſcheinungswelt diefer maaßgebende Gegenftand zu ihm; zündet der fonnenumftrahlte, ſchlank und rüftig fich bemegende Menich dur den Blitz feines glänzenden Auges die Flamme diefes Sehnens, erregt er mit feinen ſchwellenden Athem die elafti- ſche Maſſe des Meerkryſtalles, möge die Gluth noch fo hoch lodern, möge der Sturm noch fo gewaltig die Meeresfläche aufs mühlen, die $lamme leuchtet endlich, nach dem Verdampfen wilder Gluthen, doch als mildglänzendes Licht, die Meeres- fläche, nach dem Verſchäumen riefiger Wogen, träufelt fi end- lich dod nur noch zum wonnigen Spiele der Wellen; und ber Menſch, froh der füßen Harmonie feines ganzen Wefens, über- läßt fi im leichten Nachen dem vertrauten Efemente, fteuert fiher nad) der Weifung jenes wohlbekannten, mildglänzenden Lichtes.

Der Hellene, wenn er fein Meer beichiffte, verlor nie das Küftenland aus dem Auge: ihm war c8 der fichere Strom, der ihn von Geftade zu Geftabe trug, auf dem er zwifchen dem wohlvertrauten Ufern nach) dem melobifhen Takte der Ruder dahinfuhr, hier das Auge dem Tanze der Waldnymphen, dort das Ohr dem Götterhymnus zugewandt, deſſen finnig me- lodiſchen Wortreigen die Lüfte aus dem Tempel von ber Berg- höhe ihm zuführten, Auf der Fläche des Waſſers fpiegelten ſich ihm, von blauem Ätherſaume begränzt, getreu die Füften des Landes mit Zeljen, Thälern, Bäumen, Blumen und Menſchen: und dieſes reizend 'wogende, vom frifchen Fücheln der Lüfte an— muthig bewegte Spiegelbild dinfte ihn Harmonie.

Bon den Ufern des Lebens fchied ſich der Chriſt. Weiter und unbegrängter fuchte er das Meer auf, um endlich auf dem Ozeane zwiſchen Meer und Himmel gränzenlos allein zu fein. Das Wort, das Wort des Glaubens war fein Kom— paß, ber ihn uuverwaudt nur nad dem Himmel wies, Über ihm ſchwebte diefer Himmel, nad) jedem Horizonte hin ſenkle er fi) als Gränze des Meeres herab; nie aber erreichte der Segler diefe Gränze: von Jahrhundert zu Jahrhundert ſchwamm er unerlöft der immer vorfchivebenden und nie doch erreichten neuen Heimath zu, bis ihn der Zweifel an die Tugend feines Kompaffes erfaßte, bis er auch ihn als letztes menfchliches Gau— kelwerk grimmig über Bord warf, um nun, aller Bande ledig,

Das Kunftwert der Zukunft. 85

fteuerlo8 der unerjhöpflihen Willtür der Meereswogen fich übergab. In ungeftillter, zorniger Liebeswuth regte er die Tiefen des Meeres gegen den unerreichbaren Himmel auf: die Uners jättlichfeit der Gier des Liebens und Sehnens feloft, das gegen- ſtandslos ewig und ewig nur fich felbft Lieben und erfehnen muß, biefe tieffte, unerlögbare Hölle des raftlojeften Egoismus, der ohne Ende fi) ausdehnt, wünſcht und will, und ewig und ewig doch nur fi wünſchen und wollen kann, trieb er gegen

die abftrakte blaue Himmelsallgemeinheit au, das gegenſtands— bedürftigfte allgemeine Verlangen gegen die abjolute Un- gegenftändlichkeit ſelbſt. Selig, unbedingt felig, im weiteften, ungemefjenften Sinne jelig fein, und zugleich doch ganz es felbft bleiben zu wollen, war die unerfättlihe Sehnfucht "des chriſtlichen Gemüthes. So hob jich das Meer aus feinen Tiefen zum Himmel, jo ſank e8 vom Himmel immer wieder zu feinen Tiefen zurüd; ewig es felbit, und deßhalb ewig unbefriedigt, wie das maaßloſe, allbeherrfchende Sehnen des Herzens, dad nie ji) geben, in einem Gegenjtande aufgehen zu dürfen, jon- dern nur es ſelbſt zu fein fi) verdammt,

Doch in der Natur ringt alles Unmäßige nad Maaß; alles Gränzenlofe ziehet ſich ſelbſt Gränzen; die Elemente verdichten‘ ſich endlich zur beftinmten Erſcheinung, und auch das fchranfen- loſe Meer chritlihen Sehnens fand das neue Küftenland, an dem ich fein Ungeſtüm brechen konnte. Wo wir am fernen Horizonte die ſtets erjtrebte, nie aber gefundene Einfahrt in den unbegrängten Himmelsraum wähnten, da entdedte endlich der lühnſte aller Seefahrer Sand, menfchenbewohntes, wirkliches, feliges Sand. Durch feine Entdedung ift der weite Ozean nicht nur ermefjen, fondern den Menfchen auch zum Binnenmeere ge- macht worden, um das fich die Küjten nur zu undenflich weiter rem Kreiſe außbreiten. Hat Columbus und aber gelehrt den Ozean zu beſchiffen, und fo alle Kontinente der Erde zu verbin- den; ift durch feine Entdeckung weltgeſchichtlich der kurzſichtige nationale Menſch zum alfichtigen, univerfellen, zum Men- chen überhaupt geworden, jo find durch den Helden, der das weite, uferloje Meer der abfoluten Mufit bis an feine Gränzen durhfchiffte, die neuen, ungeahnten Küften gewonnen worden, die dieſes Meer von dem alten urmenſchlichen Kontinente nun nicht mehr trennt, ſondern für die neugeborene, glüdjelige fünft-

86 Das Kunftwerk der Bukunft.

leriſche Menfchheit dev Zukunft verbindet; und dieſer Hero ift fein anderer als Beethoven.

Als die Tonkunſt ſich aus dem Reigen der Schweitern los⸗ Löfte, nahm fie, als unerläßlichite nächite Lebensbedingung, wie die leichtertige Schwefter Tanzkunſt fid) von ihr das rhyth— mifche Maaß entnommen hatte, von ber finuenden Schweiter Dichtkunſt dad Wort mit; aber nicht etwa da8 menfchenjchöpfe- riſche, geiftig dichtende Wort, fondern nur das körperlich un— erläßliche, den verdichteten Ton. Hatte fie der ſcheidenden Tanz: funft den rhythmiſchen Takt zum befiebigen Gebrauche überlaffen, fo erbaute fie fi) num einzig durch das Wort, dad Wort des chriſtlichen Glaubens, diejes flüfjige, gebeinlos verſchwimmende, das ihr ohme Widerjtreben und gern bald vollkommen Macht über fi ließ. Je mehr das Wort zum bloßen Stammeln der Demuth, zum bloßen Lallen unbedingter kindlicher Liebe ſich verflüchtigte, deſio nothweudiger fah die Tonkunſt ſich veranlaft, aus dem unerſchöpflichen Grunde ihres eigenen flüffigen Weſens ſich zu geftalten. Das Ringen nach folder Geftaltung ift der Aufbau der Harmonie.

Die Harmonie wächſt von unten nach oben als ſchnurgerade Säule aus der Zufammenfügung und Ubereinanderſchichtung verwandter Tonftoffe. Unaufhörliher Wechſel folder immer neu auffteigenden und neben einander gefügten Säulen macht die einzige Möglichkeit abfoluter harmonifcer Bewegung nad der Breite zu aus. Das Gefühl nothwendiger Sorge für die Schönheit diefer Bewegung nad) der Breite ijt dem Weſen der abjoluten Harmonie fremd; fie Fennt nur die Schönheit des Farbenlichtwechſels ihrer Säulen, nicht aber die Anmuth ihrer zeitlid) wahrnehmbaren Anordnung, denn diefe ift das Werk des Rhythmus. Die unerfhöpflichte Mannigfaltigteit jenes Farbenlichtwechſels ift dagegen der ewig ergiebige Duell, aus dem fie mit maaplofem Selbftgefallen unaujhörlich neu ſich dar— äuftellen vermag; der Lebenshauch, der diejen raſtloſen, nach Willkür fi wiederum felbjtbedingenden, Wechſel bewegt und befeelt, ijt das Wejen des Tones jelbft, der Athem unergründ:- licher, allgewaltiger Herzensſehnſucht. Im Reiche der Harmonie iſt daher nicht Anfang und Ende, wie die gegenftandalofe, ſich feldjt verzehrende Gemüthsinbrunſt, unkundig ihres Quelles, nur fie ſeibſt if, Verlangen, Sehnen, Stürmen, Schmachten,

Das Kunftwerk der Zukunft. 87

Erfterben, d. 5. Sterben ofne in einem Gegenftande ſich be friebigt zu Haben, alfo Sterben ohne zu fterben, fomit immer wieder Zurücklehr zu fich felbft.

So lange das Wort in Macht war, gebot es Anfang und Ende; als es in den bodenlofen Grund der Harmonie verfant, als es nur noch „Üchzen und Seufzen der Seele“ war wie auf der brünftigften Höhe der katholiſchen Kirchenmuſik —, ba ward aud) das Wort willtürlich auf der Spitze jener harmonijchen Säufen, der unrhythmiſchen Melodie, wie von Woge zu Woge geworfen, umd bie unermeßlihe harmonifhe Möglichteit mußte au fi nun felbft die Gefege für ihr enbliches Erſcheinen geben. Dem Vefen der Harmonie entfpricht fein anderes fünftlerifches Vermögen des Menfchen: nicht au den finnlich beftimmten Be— wegungen des Leibe, nicht an der ftrengen Folge bes Denkens vermag e3 ſich zu fpiegeln, nicht wie der Gedanke an der er« kannten Nothwendigkeit der finnlichen Erſcheinungswelt, nicht wie die Leibesbewegung an ber zeitlich wahrnehmbaren Darftel- lung ihrer unwillkürlichen, ſinnlich wohlbedingten Beſchaffenheit, fein Maaß ſich vorzuſtellen: fie iſt wie eine dem Menfchen wahr- nehmbare, nicht aber begreifliche Naturmacht. Aus ihrem eigenen maaßloſen Grunde muß die Harmonie ſich, aus äußerer nicht innerer Nothwendigkeit zu ſicherer, endlicher Erſcheinung ſich abzuſchließen, Geſetze bilden und befolgen. Dieſe Geſetze der Harmoniefolge, auf das Weſen der Verwandtſchaft ſo gegrüudet, wie jene harmoniſchen Säulen, die Aklorde, ſelbſt aus der Ver— wandtſchaft der Tonſtoffe ſich bildeten, vereinigen ſich nun zu einem Maaße, welches dem ungeheuren Spielraum willkürlicher Möglichkeiten eine wohlthätige Schranke ſetzt. Sie geftatten die mannigfaltigite Wahl aus dem Bereiche harmonifcher Familien, dehnen die Möglichkeit wahlverwandtfchajtlicher Verbindungen mit den Öliedern fremder Familien bis zum freien Belieben aus, verlangen jedod; vor Allem ſichere Befolgung der vertwandtichaft- lichen Hausgefege der einmal gewählten Familie und getveues Berharren bei ihr, um eines feligen Endes willen. Dieſes Ende, alfo das Maaß der zeitlichen Ausdehnung ded Tonftüdes über- haupt, zu geben oder zu bedingen, vermögen die unzähligen An— ftandsregeln der Harmonie aber nicht; fie können, als wifjen- ſchaftlich Tehr- oder erfernbarer Theil der Tonkunft, die flüffige Tonmaſſe der Harmonie jondern und zu begränzten Körpern ab»

883 Das Kunftwert ber Zukunft.

ſcheiden, nicht aber das zeitliche Maaß diefer begränzten Maſſen bejtimmen.

War die ſchrankenſetzende Macht der Sprache verichlungen, und Tonnte die zur Harmonie gewordene Tonkunſt unmöglich auch noch ihr zeitlich maafgebended Gefeg aus fich finden, fo mußte fie fi) an den Reft des, von der Tanzfunft ihr übrig ge Iafjenen, rhythmiſchen Taktes wenden; rhythmiſche Figuren mußten die Harmonie beleben; ihr Wechfel, ihre Wiederkehr, ihre Trennung und Vereinigung, mußten die flüffige Breite der Har— monie, wie urfprünglid) das Wort den Ton, verdichten und zum zeitlich ſicheren Abſchluß bringen. Eine innere, nad) rein menſch— licher Darftelung verlangende Nothwendigkeit lag diefer rhyth⸗ miſchen Belebung aber nicht zum Grunde; nicht der fühlende, denkende und wollende Menſch, wie er durch Sprache und Leibes= bewegung ſich Fundgiebt, war ihre treibende Kraft; fondern eine in fih aufgenommene äußere Nothwendigkeit dev nad) egoiftis ſchem Abſchluß verlangenden Harmonie Dieſes rhythmiſche Wechſeln und Geſtalten, das ſich nicht nach innerer Nothwen— digkeit bewegte, konnte daher nur nad) willtürlihen Gejegen und Erfindungen belebt werden; und dieſe Gefege und Erfindungen find die des Kontrapunktes.

Der Kontrapunft, in feinen mannigfaltigen Geburten und Ausgeburten, ift das künſtliche Mitfichjeloftipielen der Kunft, die Mathematit des Gefühles, der mechaniſche Rhythmus der egoiftiihen Harmonie. In feiner Erfindung gefiel fi) die ab- ftrafte Tonfunft dermaßen, daß fie fi) einzig und allein als ab- folute, für ſich beftehende Kunft ausgab; als Kunft, die durch- aus feinem menſchlichen Vedürfnifie, jondern rein ſich, ihrem abfoluten göttlichen Wefen, ihr Dafein verdante. Per Willfür- liche düult fich ganz natürlid) aud) der abfolnt Alleinberechtigte. Ihrer eigenen Willfür allein hatte aber allerdings auch die Mufit nur ihr felbftändiges Gebahren zu danken, denn einem Seelen- bedürfniffe zu entfprechen waren jene tonmechanifchen, fontra= punktiſchen Kunſtweriſtücke durchaus unfähig. In ihrem Stolze war daher die Muſik zu ihrem geraden Gegentheile geworben: auß einer Herzensangelegenheit zur Verſtandes ſache, aus dem Ausdrude unbegrängter chriſtlicher Gemüthsſehnſucht zum Rechnenbuche moderner Borſenſpekulation.

Der lebendige Athem der ewig ſchönen, gefühlsadeligen

Das Runftwert ber Zukunft. 89

Menfchenitimme, wie fie aus der Bruft des Volkes unerjtorben, immer jung und friſch herausdrang, blies auch diefes fontra- punktifche Kartenhaus über den Haufen. Die in unentftellter Anmuth fi) treu gebliebene Volksweiſe, das mit der Dichtung innig verwebte, einige und ſicher begränzte Lied, hob ſich auf feinen elaftijchen Schwingen, freubige Erlöfung kündend, in die Regionen der ſchönheitsbedürſtigen, wifjenfchaftlich muſikaliſchen Kunftwelt hinein. Dieſe verlangte es wieder Menſchen dar- zuftellen, Menſchen nicht Pfeifen fingen zu lafjen; der Volksweiſe bemächtigte fie ſich Hierzu, und fonftruirte aus ihr die Opern-Arie. Wie die Tanzkunft ſich des Vollstanzes be- mädtigte, um nach Bedürfniß an ihm fid) zu erfriſchen, und ihn nad) ihrem maaßgeblichen Modebelieben zur Kunfttombination zu verwenden, fo machte es aber auch die vornehme Opernton- tunft mit der Volksweife: nicht den ganzen Menſchen hatte fie erfaßt, um ihu in feinem ganzen Waaße nun Fünftlerijch nach feiner Naturnotöwendigfeit gewähren zu laſſen, fondern nur den fingenden, und in feiner Singweiſe nicht die Volksdichtung mit ihrer innewohnenden Zeugungsfraft, fondern eben bloß die vom Gedicht abftrahirte melodifche Weije, der fie nach Belieben nun modiſch konventionelle, abſichtlich nichtsfagenfollende Wort- phrafen unterlegte; nicht das fchlagende Herz der Nachtigall, fondern nur ihren Kehlſchlag begriff man, und übte fich ihn nach⸗ zuahmen. Wie der Runfttänzer feine Beine abrichtete, in den monnigfachften und doch einförmigften Biegungen, Renkungen und Wirbelungen den natürlichen Volkstanz, den er auß ſich nicht weiter entwideln konnte, zu variiren, fo richtete der Runftjänger eben nur feine Kehle ab, jene von dem Munde bes Volles abgelöfte Weife, die er nimmer aus ihrem Weſen neu zu erzeugen fähig war, durch unendliche Verzierungen zu umjchrei- ben, durd) Schnörkel aller Arten zu verändern; und fo nahm eine mechanische Sertigfeit anderer Art nur wieder den Platz ein, den die kontrapunktiſche Gejdidlichkeit geräumt Hatte. Die wider— liche, unbeſchreiblich efelhafte Entftellung und Verzerrung der Voltsweiſe, wie fie in dev modernen Opernarie denn nur eine + berftümmelte Volksweiſe ift fie in Wahrheit, keinesweges eine befondere Erfindung fid) fundgiebt, wie fie zum Hohn aller Natur, alles menjchlichen Gefühles, von aller ſprachlich dic)- teriſchen Baſis abgelöft, als Ieb: und feelenfofer Modetand bie

90 Das Kunftwert der Zukunft,

Ohren unferer blöbfinnigen Operntheaterwelt kigelt, brauchen wir hier nicht weiter zu charakteriſiren; wir müfen nur mit jam« mervoller Aufrichtigfeit uns eingeftehen, daß unfere moderne Öffentlichkeit in ihr eigeutlich daß ganze Weſen der Muſik einzig begreift.

Aber abgelegen von diejer Öffentlichkeit, und ben ihr dienen- den Modewaaren-Berfertigern und Händlern, follte das eigen- thümlichfte Weſen der Tonkunſt aus feiner bobenlofen Xiefe, mit aller unverlorenen Fülle feiner ungemefjenen Zähigfeit, fich zur Erlöfung am Sonnenlichte der allgemeinfamen, einen Kunft der Zukunft aufſchwingen, und diefen Aufſchwung follte fie von dem Boden aus nehmen, der der Boden aller rein menfchlichen Kunft ift; der plaftifchen Leibesbewegung, dargeſtellt im mufifalifhen Rhythmus.

Hatte die menfchlihe Stimme, im Lallen des chriſtlich ftereotgpif—hen, ewig unb ewig, bis zur vollften Gebanfenfofig- keit wiederholten Wortes, ſich endlich volftändig zum nur noch ſinnlich flüffigen Tonwerkzeuge verflüchtigt, vermöge deſſen Die von der Dichtkunft gänzlich abgezogene Tonkunſt allein nod ſich darftellte, fo waren neben ihr die, durch die Mechanik vermit- telten Tonmwerfzeuge, als üppige Begleiter der Tanzkunſt, zu immer gefteigerter Ausbrudsfähigfeit ausgebildet worden. Als Trägern der Tanzweife war ihnen die rhythmiſche Melodie zum ausſchließlichen Eigenthume angewiefen; dadurch, daß fie in ihrem vereinigten Wirken mit Leichtigkeit das Clement der Hriftlichen Harmonie in fih aufnahmen, fiel ihnen der Beruf aller weiteren Entwidelung der Tonkunft aus fid, zu. Der harmonifirte Tanz ift die Baſis des reichten Kunſtwerkes der modernen Symphonie. Auch der Harmonifirte Tanz fiel als wohlſchmeckende Beute in die Hände des kontrapunktirenden Mechanismus: diefer löſte ihn von feiner gehorfamen Ergeben- heit an feine Gebieterin, die leibliche Tanzkunſt, und Tieß ihn nun nad; feinen Regeln Sprünge und Wendungen machen. In das lederne Riemenwerk diefes Eontrapunftifch geſchulten Tan- zes durfte aber nur der warme Athemhauch der natürlichen Volls- weife dringen, fo dehnte es ſich al8bald zu dem elaftischen Fleiſche menſchlich ſchönen Kunſtwerkes aus, und dieſes Kunſtwerk ift in ſeiner höchſten Vollendung die Symphonie Haydn's, Mo— zart's und Beethoven's.

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In der Symphonie Haydn’3 bewegt fich die rhythmiſche Tanzmelodie mit heiterfter jugendlicher Friſche: ihre Verſchlin— gungen, Berjegungen und Wiebervereinigungen, wiewohl buch die höchſte Tontrapunttifche Gefchieklichkeit ausgeführt, geben ſich doch fait faum mehr als Refultate ſolch' gefchidten Verfahrens, fondern vielmehr als dem Charakter eined, nach phantafiereichen Geſetzen geregelten Tanzes eigenthümfich, fund: jo warm durch— dringt fie der Hauch wirklichen, menfchlich freudigen Lebens. Den, in mäßigerem Beitmaaße ſich bewegenden Mittelfag der Symphonie fehen wir von Haydn der ſchwellenden Ausbreitung der einfachen Vollögefangsweife angewiefen; fie dehnt fi in ihm nach Geſetzen des Melos', wie fie dem Weſen ded Geſanges eigenthümlich jind, durch ſchwungvolle Steigerung und, mit mannigfaltigem Ausdrud belebte, Wiederholung aus. Die fo fi) bedingende Melodie ward das Element der Symphonie des gejangreihen und gefangfrohen Mozart. Er hauchte feinen Inftrumenten den ſehnſuchtsvollen Athem der menſchlichen Stimme ein, ber fein Genius mit weit vorwaltender Liebe fich zuneigte. Den unverfiegbaren Strom reicher Harmonie leitete er in das Herz der Melodie, gleichfam in raftlojer Sorge, ihr, der nur von Jnftrumenten borgetragenen, erfagweife die Gefühls- tiefe und Inbrunft zu geben, wie fie der natürlichen menfchlichen Stimme al3 unerfchöpflicher Quell des Ausdrudes im Innerften des Herzens zu Grunde liegt. Während Mozart in feiner Sym- phonie Alles, was von ber Befriedigung dieſes feines eigen- thümlichiten Dranges ablag, mehr oder weniger, nad) herfümm- licher und in ihm ſelbſt ftabil werbender Annahme, mit ungemein geſchicktem fontrapunftifchen Verfahren, gemiffermaaßen nur ab⸗ fertigte, erhob er jo die Gefangsausdrudsfähigkeit des Inſtru— mentalen zu ber Höhe, daß dieſes nicht allein Heiterkeit, ftilles, inniges Behagen, wie bei Haydn, fondern die ganze Tiefe un— enblicher Herzensfehnfucht in fich zu faſſen vermochte.

Die unermeßlihe Fähigkeit der Inftrumentalmufit zum Ausdrude urgemwaltigen Drängen und Verlangens erſchloß ſich Beethoven. Er vermochte ed, das eigenthümliche Wefen ber Hriftlichen Harmonie, dieſes unergründlihen Meeres unbe fchränttefter Fülle und raſtloſeſter Bewegung, zu losgebundener Freiheit zu entfeffeln. Die harmoniſche Melodie benn jo müffen wir die vom Sprachverd getrennte zum Unterfchied von

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der rhythmiſchen QTanzmelodie bezeichnen war, nur von In— ftrumenten getragen, des unbegränzteften Ausdruckes, wie der ſchrankenloſeſten Behandlung fähig. In langen zufammenhängen- den Zügen, wie in größeren, Heineren, ja Heinjten Bruchtheilen, wurde fie in den dichterifchen Händen des Meiſters zu Lauten, Sylben, Worten und Phrafen einer Sprache, in der das Un- erhörtefte, Unfäglicfte, nie Ausgeſprochene, ſich kundgeben Konnte. Jeder Buchftabe diefer Sprache war unendlich feelen- volles Element, und das Maaß der Fügung dieſer Elemente un« begrängt freieg Ermeſſen, wie es nur irgend der nad unermeß- lichem Ausdrude des unergründlicften Sehnens verlangende Tondichter ausüben mochte. Froh dieſes unausſprechlich aus— drudsvollen Sprachvermögens, aber leidend unter der Wucht des tünftlerifchen Seelenverlangens, das in feiner Unendlichkeit nur fi) ſelbſt Gegenftand zu fein, nicht außer ihm fich zu befriedigen, vermochte, fuchte dev überjelige unfelige, meerfrohe und meer- müde Segler nad) einem ſicheren Anferhafen au8 dem wonnigen Sturme wilden Ungeftümes. War fein Sprachvermögen umend« lic), jo war aber aud) das Sehnen unendlich, das diefe Sprache durch feinen ewigen Athem befebte: wie nun das Ende, die Be— friedigung dieſes Sehnen in derfelben Sprache verfünden, die eben nur der Ausdrud dieſes Sehnens war? Iſt der Ausdrud unermeßlichen Herzensfehnens in dieſer urelementarhaften, ab- foluten Tonſprache angeregt, fo ift nur die Unendlichkeit dieſes Ausdruckes, wie die des Sehnens jelbit, Nothwendigkeit, nicht aber ein endlicher Abſchluß als Befriedigung des Seh— uens, ber nur Willkür ſein kann. Mit dem, der rhythmiſchen Tanzmelodie entlehnten, beſtimmten Ausdrucke vermag die In— ſtrumentalmuſik eine am ſich ruhige, ſicher begränzte Stimmung darzuſtellen und abzuſchließen; eben weil er ſein Maaß einem urſprünglich außerhalb liegenden Gegeuſtande, der Leibes— bewegung, entnimmt. Giebt ein Tonſtück von vornherein nur diefem Ausdrude fi) Hin, der mehr oder weniger immer nur als Ausdrud der Heiterkeit zu faſſen fein wird, fo liegt, felbft bei reichſter, üppigfter Entfaltung alles tonlichen Sprachvermögens, jede Art von Befriedigung dod) ebenjo nothwendig in ihn be— gründet, als diefe Befriedigung rein willfürlih und in Wahr: heit deßhalb unbefriedigend fein muß, wenn jener ficher begrängte Ausdrud ſchließlich zu den Stürmen unendlicher Sehnfucht nur

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fo hinzutritt. Der Übergang aus einer unendlich erregten, fehn- füchtigen Stimmung zu einer freudig befriebigten kann noth— wendig nicht anders ftattfinden, als durch Aufgehen der Sehn— fucht in einem Gegenftande. Diefer Gegenftand kann, dem Charakter unendlichen Sehnens gemäß, aber nur ein endlich, ſinnlich und ſittlich genau fich darjtellender fein. An einem fol- hen Gegenftande findet jedoch die abfolute Mufit ihre ganz be ftimmten Gränzen; fie kann, ohne die willfürlichiten Annahnen, nun und nimmermehr den finnlic und fittlich beitimmten Men— ſchen aus ſich allein zur genau wahrnehmbaren, deutlich zu unter= ſcheidenden Darftellung bringen; fie ift, in ihrer unendlichſten Steigerung, doch immer nur Gefühl; fie tritt im Geleite der ſittlichen That, nicht aber als That ſelbſt ein; fie kann Ge: fühle und Stimmungen neben einander ftellen, nicht aber nad Nothwendigkeit eine Stimmung aus der andern entwideln; ihr fehlt der moralifhe Wille,

Welche unnahahmliche Kunft wandte Beethoven in feiner C-moll-Symphonie nicht auf, um aus den Ozean unendlichen Sehnens fein Schiff nach dem Hafen der Erfüllung Hinzuleiten? Er vermochte es, den Ausdruck feiner Muſik bis faſt zum mo» ralifhen Entſchluſſe zu fteigern, dennoch aber nicht ihn felbft auszuſprechen; und nad) jedem Anſatze des Willens fühlen wir uns, ohne fittlihen Anhalt, von ber Möglichkeit beängftigt, ebenfo gut, ald zum Siege, au. zum Rüdfall in das Leiden ge- führt zu werden; ja diefer Rückfall muß uns faft notwendiger ala der moraliſch unmotivirte Triumph dünken, der nicht ala nothwendige Errungenfchaft, fondern als willfürliches Gnaden- geſchenk uns ſittlich, wie wir auf da8 Sehnen des Herzens es verlangen, daher nicht zu erheben und zu befriedigen vermag.

Wer fühlte ſich von diefem Siege aber wohl unbefriedigter al3 Beethoven felbft? Gelüftete es ihn nach einem zweiten diefer Art? Wohl das gebanfenlofe Heer der Nahahmer, die aus glo— riofem Dur-Jubel nad) ausgeftandenen Moll-Beſchwerden ſich unaufhörliche Siegesfeite bereiteten, nicht aber den Meifter felöft, der in feinen Werfen die Weltgefhichte der Mufit zu fehreiben berufen war.

Mit ehrfurchtsvoller Scheu mied er e3, von Neuem fih in da8 Meer jenes unftillbaren ſchrankenloſen Sehnens zu ftürzen. Zu deu heiteren lebensfrohen Menschen richtete er feinen Schritt,

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die er auf frifcher Aue, amı Rande bes duftenden Waldes unter fonnigem Himmel gelagert, ſcherzend, koſend und tanzend ge- wahrte. Dort unter bem Schatten der Bäume, beim Raufchen des Laubes, beim traulichen Riefeln des Baches, fchloß er einen befeligenden Bund mit der Natur; da fühlte er fich Menfch und fein Sehnen tief in den Bufen zurücdgedrängt vor der Allmacht füß beglüdender Erfcheinung. So dankbar war er gegen diefe Erſcheinung, daß er die einzelnen Theile des Tonwerkes, das er in ber fo angeregten Stimmung ſchuf, getreu und in reblicher Demuth mit den Lebensbildern überjchrieb, deren Anſchauen in ihm es hervorgerufen Hatte: Erinnerungen aus dem Lanb- leben nannte er das Ganze.

Uber eben nur „Erinnerungen“ maren ed au, Bilder, nicht unmittelbare finnlihe Wirklichkeit. Nach dieſer Wirklichkeit aber drängte e8 ihn mit der Allgewalt künſtleriſch nothroendigen Sehnend. Seinen Tongeftalten felbft jene Dich- tigkeit, jene unmittelbar erfennbare, finnlich fichere Feftigfeit zu geben, wie er fie an den Erfcheinungen der Natur zu jo befeligen- dem Trofte wahrgenommen hatte, das war die liebevolle Seele de3 freudigen Triebes, der uns die über Alles Herrliche A-dur-Symphonie erjhuf. Aller Ungeftüm, alles Sehnen und Toben des Herzend wird hier zum wonnigen Übermuthe der Freude, die mit bacchantiſcher Allmacht uns durch alle Räume der Natur, durch alle Ströme und Meere des Lebens hinreißt, jauchzend felbftbewußt überall, wohin wir im fühnen Takte dieſes menſchlichen Sphärentanzes treten. Diefe Symphonie ift die Upotheofe des Tanzes feldft: fie ift der Tanz nach feinem höchften Wefen, die feligfte That der in Tönen gleichfam idealifch verlörperten Leibesbewegung. Melodie und Harmonie ſchließen fi auf dem marfigen Gebeine de3 Rhythmus wie zu feiten, menfchlihen Geftalten, die bald mit riefig gelenfen Gliedern, bald mit elaftiich zarter Gefchmeibdigfeit, ſchlank und üppig fast vor unferen Augen ben Neigen jchließen, zu dem bald lieblich, bald kühn, bald ernft*), bald ausgelaſſen, bald finnig, bald

*) Bu bem feierlich daherſchreitenden Rhythmus des zweiten Satzes erhebt ein Nebenthema feinen klagend ſehnſüchtigen Geſang; an jenem Rhythmus, der unabläfftg feinen fiheren Schritt durd das ganze Tonftäd vernehmen läßt, Tomiegt ſich dieſe verlangende Me- lodie, wie ber Epheu um bie ide, ber, ohne diefe Umſchlingung

Das Kunftwert ber Bufunft, 95

jauchzend, die unfterbliche Weife fort und fort tönt, bis im legten Wirbel der Luft ein jubelnder Kuß die legte Umarmung be ſchließt.

Und doc waren dieſe ſeligen Tänzer nur in Tönen vor» geitellte, in Tönen nachgeahmte Menfchen! Wie ein zweiter Pro- metheus, der aus Thon Menichen bildete, Hatte Beethoven aus Zon fie zu bilden gefucht. Nicht aus Thon oder Ton, ſondern aus beiden Maffen zugleich follte aber der Menſch, das Eben- bild des Lebenſpenders Zeus erfchaffen fein. Waren des Pro- metheus Bildungen nur dem Auge dargeftellt, jo waren bie Beethoven’3 ed nur dem Ohre. Nur, wo Auge und Ohr fi gegenfeitig feiner Erfheinung verfichern, ift aber der ganze fünftlerifhe Menfh vorhanden.

Aber wo fand Beethoven die Menjchen, denen er über das Element feiner Muſik die Hand Hätte anbieten mögen? Die Menfchen, deren Herzen fo weit, daß er in fie den allmächtigen Strom feiner harmoniſchen Töne ſich hätte ergießen laſſen können? Deren Geftalten jo markig ſchön, daß feine melodifchen Rhyth- men fie hätten tragen, nicht zertreten müflen? Ad, von nirgends her fam ihm ein brüberlicher Prometheus zu Hilfe, der diefe Menfchen ihm gezeigt hättel Er felbit mußte ſich aufmachen, das Land der Menſchen der Zukunft erft zu entdeden.

Vom Ufer bes Tanzes ftürzte er fi abermals in jenes end⸗ loſe Meer, aus ben er fid) einft an diefes Ufer gerettet hatte, in das Dleer umerfättlichen Herzensjehnens. Aber auf einem ftark gebauten, riejenhaft feſt gefügten Schiffe machte er ſich auf die ftürmifche Fahrt; mit fiherer Fauſt drüdte er auf das mächtige Steuerruber: er kannte das Ziel ber Fahrt, und war entjchlof- fen, e8 zu erreichen. Nicht eingebildete Triumphe wollte er fi bereiten, nicht nach kühn überftandenen Beſchwerden zum müßigen Hafen der Heimath wieder zurüdlaufen: fondern bie Gränzen des Ozeans wollte er ermefjen, dad Land finden, das jenjeits der Waſſerwüſten liegen mußte.

des mächtigen Stammes, in üppiger Berlorenheit wirr und kraus am Boden ſich hinwinden würde, nun aber, ald reicher Schmud der zanhen Eichenrinde, an der fernigen Geftalt bes Baumes felbft fichere unverflofjene Geftalt gewinnt. Wie gedanfenlos ift dieje tief bedeut- fame Erfindung Beethoven’3 von unferen ewig „nebenthematifiren- den“ modernen Inftrumentaltomponiften ausgebeutet worden!

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So drang der Meifter durch die unerhörteften Möglichfeiten der abfoluten Tonſprache, nicht, indem er an ihnen flüchtig vorbeifchlüpfte, ſondern indem er fie vollftändig, bis zu ihrem Testen Laute, aus tieffter Herzensfülle ausſprach, bis dahin vor, wo ber Seefahrer mit dem Senkblei die Meeredtiefe zu mefjen beginnt; wo er im weit borgeftredten Strande ded neuen Kontinentes die immer wachſende Höhe feiten Grundes berührt; mo er fidh zu entfcheiden Hat, ob er in den bodenlojen Ozean umfehren, oder an bem neuen Geſtade Anker werfen will. Nicht rohe Meerlaune Hatte den Meifter aber zu fo weiter Fahrt ge- trieben; er mußte und wollte in der neuen Welt landen, denn nad) ihr nur hatte er die Fahrt unternommen. Müftig warf er den Anfer aus, und dieſer Unter war das Wort. Dieſes Wort war aber nicht jenes willkürliche, bedeutungsloſe, wie es im Munde des Modefängerd eben nur ald Knorpel des Stimms tones hin⸗ und hergekäut wird; fondern dad nothtvendige, all- mädjtige, allvereinende, in das der ganze Strom der vollften Herzendempfinbung fi zu ergießen vermag; ber ſichere Hafen für den unftet Schweifenben; das Licht, das der Nacht unend- lichen Sehnens leuchtet: das Wort, daS der erlöfte Weltmenſch aus der Fülle des Weltherzens ausruft, dad Beethoven als Krone auf die Spitze feiner Tonfhöpfung ſetzte. Dieſes Wort mar: „Sreude!“ Und mit diefem Worte ruft er ben Menfchen zu: „Seid umſchlungen, Millionen! Diefen Kuß der gan— zen Welt!" Und diefes Wort wird die Sprache des Kunft- werfes der Zukunft fein.

Die legte Symphonie Beethoven’3 ift die Erlöfung der Muſik aus ihren eigenften Elemente heraus zur allgemein- famen Kunft. Sie ift das menſchliche Evangelium der Kunft der Zukunft. Auf fie ift fein Sortfchritt möglich, denn auf fie unmittelbar Tann nur das vollendete Kunftwerk der Zukunft, das allgemeinfame Drama, folgen, zu dem Beethoven und ben tünftlerifhen Schlüffel gefchmiedet hat.

So hat die Muſik aus fi vollbradt, was keine der anderen geſchiedenen Künfte vermochte. Jede dieſer Künfte Half ſich in ihrer öden Selbftändigfeit nur dur Nehmen und egoiſtiſches Entlehnen; und feine vermochte es daher, fie ſelbſt zu fein, und aus ſich das vereinigende Band für Alle zu weben. Die Tonkunft, inbent fie ganz fie feldft war, und aus

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ihrem ureigenften Elemente fi) bewegte, gelangte zu der Kraft des großartigften, liebevollſten Selbftopfers, ſich felbft zu be- herrſchen, ja zu verläugnen, um ben Schweftern die erlöfende Hand zu reichen. Sie hat als das Herz fich bewährt, das Kopf und Glieder verbindet; und nicht ohne Bedeutung ift e8, daß gerade die Tonkunft in ber modernen Gegenwart eine jo un gemeine Ausdehnung durch alle Ziveige der Öffentlichkeit ge» wonnen bat.

Um über den widerſpruchsvollſten Geift diefer Öffent- lichkeit ſich Har zu werden, haben wir zunächft aber zu beherzigen, daß feinesweges ein gemeinfames Zuſammenwirken der Künftlerfchaft mit der Öffentlichkeit, ja nicht ein— mal ein gemeinfames Zuſammenwirken der Tonkünft- Ier felbft jenen großartigen Prozeß, wie wir ihn joeben vor- gehen fahen, vollführt Hat, fondern lediglich ein über- reiches künſtleriſches Individuum, das einfam dem Geift der, in der Öffentlichkeit nicht vorhandenen Gemeinfamfeit in fid) aufnahm, ja aus der Fülle feines Wefens, vereint mit der Fülle mufifalifher Möglichkeit, dieſe Gemeinfamteit, als eine künſtleriſch von ihm erfehnte, fogar erſt in fi produzirte. Wir ſehen, daß diefer wundervolle Schöpfungsprozeß, wie er bie Symphonieen Beethoven's al3 immer geftaltender Lebenzaft durchdringt, von dem Meifter nicht nur in abgefchiedenfter Ein- famfeit vollbracht wurde, fondern von der künſtleriſchen Ge— noſſenſchaft gar nicht einmal begriffen, vielmehr auf das Schmählihfte misverftanden worden ifl. Die Formen, in denen der Meifter fein künſtleriſches, weltgejchichtliches Ringen tundgab, blieben für die fomponirende Mit und Nachwelt eben nur Formen, gingen durch die Manier in die Mode über, und trog dem fein Inftrumentalfomponift felbft in dieſen Formen nur noch die mindefte Erfindung kundzugeben vermochte, verlor doch feiner den Muth, fort und fort Symphonieen und ähnliche Stüde zu fehreiben, ohne im Mindeften auf ben Gebanfen zu gerathen, daß die legte Symphonie bereit gefchrieben fei.*)

*) Ber eigens bie Geſchichte ber Iuftrumentalmuſik ſeit Beet- hoven zu fchreiben fi vorgenommen bat, wird ohne Zweifel von einzelnen Erſcheinungen in Bieter BVeriode zu berichten haben, die eine befonbere und fefjelnde Aufmerkſamkeit auf fih zu ziehen ganz gewiß im Stande find. Wer die Gedichte der Künfte von einem

Ridarb Wagner, Gef. Schriften II. T

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So Haben wir denn auch erleben müflen, daß die große Welt- entdedungsfahrt Beethoven's, dieſe einmalige, durchaus uns wieberholbare Thatfache, wie wir fie in feiner Freubenfymphonie als letztes, kühnſtes Wagniß feines Genius vollbracht erfennen, in blödefler Unbefangenheit nachträglich wieder angetreten und ohne Beſchwerden glücklich überjtanden worden ift. Ein neues Genre, eine „Symphonie mit Chören“, weiter ſah man darin nichts! Warum fol Der ober Jener nicht aud) eine Symphonie mit Chören fchreiben können? Warum foll nicht nGott der Herr“ zum Schluß aus voller Kehle gelobt werben, nachdem er geholfen Hat, drei vorangehende Inſtrumentalſätze fo geſchickt wie möglich zu Stande zu bringen? So hat Eolum= bus Amerika nur für ben füßlichen Schacher unferer Zeit entdedt!

Der Grund diefer widerlichen Erfheinung Tiegt aber tief im Wefen unferer modernen Mufit feldft. Die von ber Dit: und Tanzkunft abgelöfte Tonkunft ift Feine den Menſchen unwilllürlich nothwendige Kunft mehr. Cie hat ſich felbft nach Gefegen konſtruiren müffen, die, ihrem eigenthümlichen Wefen entnommen, in feiner rein menschlichen Erſcheinung ihr ver- wandtes, verbeutlichendes Maaß finden. Jede der anderen Künſte hielt fi) an dem Maaße der äußeren menschlichen Geftalt, des äußerlichen menſchlichen Lebens, ober der Natur feit, mochte es dieß unbedingt Vorhandene und Gegebene auch noch jo willfür- lich entftellen. Die Tonkunſt, die nur an dem fcheuen, aller Einbildungen, aller Täufchungen fähigen Gehöre ihr äußerlich menſchliches Maaß fand, mußte ſich abftraktere Gejege bilden, fo weitfichtigen Standpunkte aus betrachtet, al e3 Hier nothwendig ift, hat einzig an die entſcheidenden Hauptmomente im ihr ſich zu halten; er muß unbeachtet laſſen, was von biefen Momenten ab- Tiegt oder von ihnen ſich nur ableitet. Ye unverfennbarer aber in folhen einzelnen Erſcheinungen große Fähigkeit ſich kundgiebt, deſto ſchlagender beweifen, bei ber Unfruchtbarkeit ihred ganzen Kunſt- treiben8 überhaupt, gerade fie, daß im ihrer befonderen Kunftart, mohl in Bezug auf technifches Verfahren, nicht aber auf ben leben- digen Geift etwas zu entdeden übrig geblieben ift, wenn einmal Das in ihr ausgeſprochen wurde, was Beethoven in der Muſik ausſprach. In dem großen allgemeinfamen Kunftwerte ber Zukunft wird ewig neu zu erfinden fein, nicht aber in der einzelnen Kunftart, ſobald biefe wie bie Mufit durch Beethoven bereit3 zur Allgemein» Kae Hingeleitet if, und dennoch in ihrem einfamen Fortbilden verharrt.

Das Kunftwerk ber Butunft, 99

und biefe Geſetze zu einem vollftändigen wiſſenſchaftlichen Sy— ſteme verbinden. Dieß Syſtem war die Baſis der modernen Mufit: auf dieſes Syſtem wurde gebaut, auf ihm Thurm auf Thurm geftellt, und je fühner der Bau, defto unerläßlicher Die fefte Grundlage, diefe Grundlage, die an ſich aber keines— meges die Natur war. Dem Plaftifer, dem Maler, dem Dichter wird in feinem künſtleriſchen Geſetze die Natur erflärt; ohne inniges Verftändniß der Natur vermag er nichts Schönes zu ſchaffen. Dem Mufiler werden die Gejege ber Harmonie, des Kontrapunkte erflärt; fein Erlerntes, ohne welches er kein muſilaliſches Gebäube aufführen Tann, ift ein abftrattes, wiſſen— ſchaftliches Syſtem; durch erlangte Geſchicklichleit in feiner An- wenbung wird er Zunftgenoffe, und von diefem zunftgenöffiichen Standpuntte aus fieht er nun in die Welt der Dinge Hinein, die ihm nothwendig eine andere erfcheinen muß, als dem unzunft- genöffiichen Weltfinde, dem Laien. Der uneingeweihte Laie fteht nun verbußt vor dem Fünftlichen Werke der Kunft- mufif, und vermag fehr richtig nichts andere bon ihm zu erfaſſen, als das allgemein Herzanregende; dieß tritt ifm aus dem Wun- derbaue aber nur in der unbebingt ohrgefälligen Melodie ent gegen: alles Übrige läßt ihn kalt oder beunruhigt ihn auf tonfufe Weiſe, weil er es fehr einfach nicht verfteht und nicht verftehen ann. Unſer mobernes Konzertpublitum, welches der Kunitz ſymphonie gegenüber fi warm und befriedigt anftellt, Lügt und heuchelt, und die Probe diefer Lüge und Heuchelei können wir jeden Augenblick erhalten, ſobald wie e8 denn aud in den berühmteften Konzertinftituten gefchieht nad einer ſolchen Symphonie irgenb ein modern melobiöfes Operntonftüd vor» getragen wird, wo wir dann den eigentlichen mufifalifchen Puls des Aubitoriums in ungeheuchelter Freude fogleich ſchlagen hören.

Ein durch fie bedingter Zuſammenhang unferer Kunftmufif mit der Öffentlichkeit ift durchaus zu läugnen: wo er fid) Fund- geben will, ift er affeftirt und unwahr, oder bei einem gewiffen Vollspublibum, welches ohne Affektation don dem Draſtiſchen einer Beethoven’schen Symphonie zuweilen ergriffen zu werben vermag, minbeftend unflar, und der Eindrud biefer Tonwerke fider ein unvollftändiger, lüdenhafter. Wo dieſer Bufammen- Bang aber nicht vorhanden ift, kann der zünftige Bufammenhang der Kunftgenofjenfchaft nur ein äußerliher fein; das Wachen

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und Geſtalten der Kunſt aus innen heraus kann nicht aus der Gemeinſchaft ſich bedingen, die eben nur eine künſtlich ſyſtema—⸗ tifche ift, fondern nur in dem Einzelnen, aus der Individualic tät des befonderen Wejens, vermag ſich ein natürlicher Geftal- tung3- und Entwidelungätrieb, nach inneren unwillkürlichen Ge- fegen zu bethätigen. Nur an der Eigenthümfichfeit und Fülle einer individuellen Künftlernatur Tann derjenige künſtleriſche Schöpfertrieb fi nähren, der nirgends in des äußeren Natur ſelbſt fich Nahrung zu verfchaffen vermag; denn nur diefe Ju— bividualität vermag in ihrer Vefonberheit, in ihrem perfönlichen Anfhauen, in ihrem eigenthümlichen Verlangen, Sehnen und Wollen, diefer Kunftmafje den Geftaltung gebenden Stoff zu- zuführen, den fie in der äußeren Natur nicht findet: erſt an der Individualität dieſes einen, befonderen Menjchen wird die Mufit zur vein menſchlichen Kunſt; fie verzehrt diefe Individualität, um aus der Berfloffenheit ihre Elementes felbft zur Verdich- tung, zur Individualität zu gelangen.

So fehen wir denn in der Muſik, wie in den anderen Künften, aber aus ganz anderen Gründen, Manieren oder fogenannte Schulen meift nut aus der Individualität eines befonderen Künft- lers hervorgehen. Diefe Schulen waren die Zunftgenoſſenſchaf- ten, bie fi um einen großen Meifter, in welchem ſich das Weſen der Mufif individualifirt Hatte, nahahmend, ja nachbetend, fan melten. So lange nun die Mufif ihre kunſtweltgeſchichtliche Aufgabe noch nicht gelöft Hatte, vermochten die weit ausgedehnten Üfte diefer Schulen, unter diefer oder jener verwandtfchaftlichen Befruchtung zu neuen Stämmen zu verwachſen; jobald aber dieje Aufgabe von der größten aller mufifafifchen Individualitäten vollftändig gelöft war, fobald die Tonkunft aus ihrer tiefften Zülle duch die Kraft jener Individualität auch die meitefte Form zerſchlagen Hatte, in der fie eine egoiftifch felbftändige Kunft zu fein vermochte, fobald, mit einem Worte, Beethoven feine Teste Symphonie gejchrieben hatte, konnte alle mufifafifche Bunftgenoffenfhaft fliden und ftopfen, wie fie wollte, um einen abfoluten Muſikmenſchen zu Stande zu bringen: eben nur ein geflidter und geftopfter jchediger Phantaſiemenſch, fein nervig ftämmiger Naturmensch konnte aus ihrer Werkftatt mehr Hervor- neben. Auf Haydn und Mozart konnte und mußte ein Beethoven Tommen; ber Genius der Mufit verlangte ihn mit Nothwendig⸗

Das Runftwert der Zukunft. 101

keit, umd ohne auf ſich warten zu laſſen, war er da; wer will nun auf Beethoven das fein, was dieſer auf Haydn und Mozart im Gebiete der abfoluten Mufit war? Das größte Genie würde hier nichts mehr vermögen, eben weil ber Genius der abfoluten Mufit feiner nicht mehr bedarf. Ihr gebt.euch vergebene Mühe, zur Beſchwichtigung Eures . läppifchegoiftiihen Probuftionsfehnens, bie vernichtende muſik⸗ weltgeſchichtliche Bedeutung ber Ießten Beethoven'ſchen Sym- phonie läugnen zu wollen; Euch rettet felbjt Eure Dummheit nicht, durch die Ihr es ermöglicht, dieſes Werk nicht einmal zu verftehen! Macht was Ihr wollt; ſeht neben Beethoven ganz hinweg, tappt nad Mozart, umgürtet euch mit Sebaftian Bad; Schreibt Symphonicen mit ober ohne Geſang, ſchreibt Meffen, Dratorien, dieſe gejchlechtölofen Opernembryonen! macht Lieber ohne Worte, Opern ohne Text —: Ihr bringt nichts zu Stande, was wahres Leben in ſich habe. Denn feht, Euch fehlt der Glaube! Der große Glaube an die Nothwendigkeit deffen, was Ihr thut! Ihr Habt nur den Glauben der Albern- heit, den Aberglauben an die Möglichkeit der Nothwendigkeit Eurer egoiftiihen Willkür!

Beim Überblide der geſchäftigen Einöde unferer ınufifa- liſchen Kunſtwelt; beim Gewahren der unbedingteiten Beugungs- unfähigteit dieſer gleichwohl ewig ſich beliebäugelnden Kunft- mafje; beim Anblicke diefes geftaltlofen Breies, befjen Bodenſatz verſtockte, pebantifche Unverſchämtheit ift, und aus bem, bei allem tieffinnenben, urmufifalifhen Meifterbüntel, endlich doch nur gefüglsfüderliche, italieniſche Opernarien oder freche franzö- fiſche Kanfantanzweifen an das volle Tageslicht der modernen Öffentlichkeit als kunſtlich deftillite Dünfte.zu fteigen vermögen; kurz, bei Erwägung diefes vollfommenen ſchöpferiſchen Un- vermögens, fehen wir uns ohne Schred nad) dem großen ver— nichtenden Schidjalsjhlage um, der biefem ganzen, unmäßig außgebreiteten Mufifftame ein Ende made, um Raum zu ſchaffen dem Kunftwerke der Zukunft, in welchem die wahre Mufit wahr- lich feine geringe Rolle zu übernehmen haben wird, dem aber auf diefem Boden Luft und Athem ſchlechterdings verjagt find*).

*) So weit ih mic) auch, im Verhältniß zu den anderen Kunft- arten, über das Weſen der Mufit hier verbreitet Habe (mas übrigens

102 Das Kunftwert der Zukunft.

5. Dichtkunſt.

Geſtattete es uns die Mode oder der Gebrauch, die ächte und wahre Schreib⸗ und Sprechart: tich ten für Dichten, wieder aufzunehmen, fo gewännen wir in den zufammengeftellten Namen der drei urmenfchlichen Fünfte, Tanz, Ton- und Tichtkuuſt, ein ſchön bezeichnendes finnliche8 Bild von dem Weſen diefer brei- einigen Schweftern, nämlich einen vollfommenen Stabreim, wie ex unferer Sprache urſprünglich zu eigen if. Bezeichiiend wäre diefer Stabreim beſonders aber auch wegen der Stellung, welche die „Tichtkunft“ in ihm einnähme: als letztes Glied des Reimes ſchlöſſe fie nämlich diefen exft wirklich zum Reime ab, indem ‚zwei ftabverwandte Worte erſt duch das Hinzutreten oder Er— zeugen bed Dritten zum bollfommenen Reime erhoben werden, jo daß ohne diefes dritte Glied die beiden 'erften nur zufällig vorhanden, mit ihm und durch baffelbe erſt als nothwendig dar- geftellt find, wie Mann und Weib erft durch das von ihnen gezeugte Kind als wirklich nothwendig bebingt erſcheinen.

Wie in diefem Reime die Wirkung von Hinten nad vorn, von dem Schluffe zu dem Anfange zurücgeht, fo fohreitet fie

lediglich ſowohl in ber befonderen Eigenthümlichkeit, als in dem, aus biefer Eigenthümlichteit genägrten, bejonderen und wirklich er- jebnißreihen Entwidelungdgange der Mufit feinen Grund hatte), b bin id mir dennod) ber mannigfachen Lüdenhaftigleit meiner Darftellung wohl bewußt; es bebürfte aber nicht eines Buches, jon- dern vieler Bücher, um das Unfittlide, Weichliche und Niederträch- tige in den Bändern des Bufammenhanges unjerer modernen Mufit mit ber Offentiichteit erichöpfend darzulegen; um die unfelige, ge- fühlsfberfläffige Eigenihaft der Tonkunſt zu ergründen, bie fe zum Gegenftande der Spekulation unjerer erziehungsfüchtigen „Woltäver- befjerer“ macht, welche den Honig der Dufit zwilchen den eſſigſauren Schweiß des mishandelten Fabrifarbeiterd, zur einzig mögliden Lin- derung feiner Leiden, tröpfeln wollen (etiva fo, wie unjere Gtaatd- und Borſentlugen bemüft find, Die geichmeidigen Lappen ber Reli gion zwiſchen die Haffenden Lüden der polizeilichen Menjhen-Fhrforge zu ftopfen); um endlich die traurige pſychologiſche Erſcheinung zu erflären, daß ein Menſch nit nur feig und ſchlecht, jondern aud dumm fein fann, ohne durch biefe Eigenihaften verhindert zu wer» den, ein ganz rejpeltabler Muftter zu fin.

Das Kunftwert der Zulunft. 103

aber mit nicht minderer Nothivendigfeit ebenfalls umgekehrt vor: die Unfangsglieder erhalten durch das Schlußglied wohl exit ihre Bedeutung als Reim, das Schlußglied ohne die Anfangs- glieder ift aber an und für fi) gar nicht erſt denkbar. So ver- mag die Dichtkunſt das wirkliche Kunftwert und bieß ift nur das ſinnlich unmittelbar dargeftellte gar nicht zu fchaffen, ohne die Künfte, denen die finnliche Erſcheinung unmittelbar an- gehört; der Gedanke, dieſes bloße Bild der Erſcheinung, ift an fi geftaltlos, und erft, wenn er den Weg wieder zurüdgeht, auf dem er erzeugt wurde, Tann er zur Künftlerifchen Wahrnehm- barfeit gelangen. In der Dichtkunſt fonımt die Abficht der Kunft fi überhaupt zum Bewußtſein: die anderen Kunftarten enthal- ten in fid) aber die unbewußte Nothwendigkeit diefer Abſicht. Die Dichtkunft ift der Schöpfungsprozeß, durch den das Kunft- werk in das Leben tritt: aus Nichts vermag aber nur der Gott Zehova etwas zu machen, der Dichter muß das Etwas haben, und diefes Etwas ift der ganze fünftlerifche Menſch, der in der Tanz- und Tonkunſt das zum Geelenverlangen gewordene finn- liche Verlangen kundgiebt, welches durch fich erft die dichterifche Abſicht erzeugt, in ihr feinen Abfchluß, in ihrer Erreichung feine Befriedigung findet.

Überall, wo das Wolf didhtete, und nur von dem Volke oder im Sinne des Volfes kann allein wirklich gebichtet werben, trat auch die dichteriſche Abſicht nur auf den Schultern der Tanz und Zonfunft, ald Kopf des vollfommen vorhandenen Menſchen, in dag Leben. Die Lyrik des Orpheus hätte die wil- den Thiere fiher nicht zu ſchweigender, ruhig ſich lagernder Un- dacht vermocht, wenn der Sänger ihnen etiva bloß gebrudte Ger dichte zu leſen gegeben hätte: ihren Ohren mußte die tönende Herzenzftimme, ihren nur nach Fraß fpähenden Augen der an: mutig und Fühn ſich bewegende menschliche Leib der Art erſt imponiren, daß fie unwillkürlich in diefem Menfchen nicht mehr nur ein Objekt ihred Magens, nicht nur einen freſſenswerthen, fondern auch Hörens- und jehenswerthen Gegenftand erkannten, ehe fie fähig wurden, feinen moralifchen Sentenzen Aufmerf: famteit zu fchenten.

Auch das wirflihe Volks epos war keinesweges eine etwa nur rezitirte Dichtung: die Gefänge des Homeros, wie wir fie jet vorliegen Haben, find aus der kritiſch fondernden und zu—

104 Das Kunftwerk der Zukunft.

fammenfügenden Redaktion einer Zeit hervorgegangen, in ber das mwahrhafte Epos bereit? nicht mehr lebte. Als Solon Ge fege gab und SPeififtratos eine politifhe Hofhaltung einführte, fuchte man bereit nach den Trümmern des untergegangenen Voilsepos, und richtete ſich das Gefammelte zum Gebraud der Lektüre her ungefähr wie in der Hohenftaufenzeit- die Bruch— ftüde der verloren gegangenen Nibelungenlieber. Ehe dieſe epi- ſchen Gejänge zum Gegenftande folder Titterarifchen Sorge ge worden waren, hatten fie aber in dem Wolke, durch Stimme und Gebärbe unterftügt, als leiblich dargeftellte Kunftwerfe geblüht, gleihfam als verdichtete, gefeftigte, Iyriihe Gejangstänze, mit vorherrfchendem Verweilen bei der Schilderung der Handlung und der Wiederholung heldenhafter Dialoge. Dieſe epiih-Iyrir ſchen Darftellungen bilden das unverfennbare Mittelglied zwiſchen der eigentlichen älteften Lyrik und der Tragödie, den normalen Ubergangspunft von jener zu diefer. Die Tragödie war daher das in das öffentliche politifche Leben eintretende Vollskunſt⸗ werk, und an ihrem Erſcheinen können wir fehr deutlich das von einander abweichende Verfahren in ber Weife des Kunftichaffens des Volkes und des bloß litterärgeſchichtlichen Machens der für genannten gebildeten Kunftwelt wahrnehmen. Als näulich das lebendige Epos zum Gegenftande kritifc-litterarifcher Vergnü— gungen des peififtratifchen Hofes wurde, war diejes im Volls⸗ leben in Wahrheit bereits verblüht, aber nicht etwa, weil dem Volke der Athem ausgegangen, fondern weil es das Alte be— reits zu überbieten, aus unverfiegbarer, Fünftlerifcher Fülle das undollfommenere Kunſtwerk ſchon zu dem vollfommeneren aus: zudehnen vermochte. Denn während jene Profefjoren und Litte- raturforſcher im fürftlihen Schloffe an der Konftruftion eine litterarif den Homero3 arbeiteten, mit Behagen an ihrer eigenen Unprobuftivität fi dem Staunen über ihre Klugheit hingaben, vermöge deren fie einzig das Verlorengegangene und nicht im Leben mehr Vorhandene zu verftehen vermochten, brachte Thefpis bereits jeinen Karren nad; Athen geſchleppt, ftellte ihn an den Mauern der Hofburg auf, rüftete die Bühne, betrat fie, auß dem Chore des Volkes heraugfchreitend, und ſchilderte nicht mehr, wie im Epos, die Thaten der Helden, fondern ftellte fie felbft als diefer Held dar.

Bei den Volfe ift Alles Wirklichkeit und That; c8 han—⸗

Das Kunftwert der Zutunft. 105

delt, umd freut fih dann im Denken feines Handelns. So jagte daS heitere Volt von Athen bie trübfinnigen Söhne bes Tunftfinnigen Peiſiſtratos bei einer hitzigen Veranlaſſung zu Hof ımd Stadt. hinaus, und bedachte dann, wie es bei diejer Gelegenheit ein ſich felbit angehörendes, freies Volk geworben ſei; fo ftellte e8 die Bretter ber Bühne auf, ſchmückte als Tra- göde fih mit Gewand und Maske eines Gottes oder Helden, um ſelbſt Gott ober Held zu fein, und die Tragödie war er- ſchaffen, deren Blüthe es mit wonnigem Bewußtfein von feiner Schöpferkraft genoß, deren metaphufifchen Grund aufzufuchen es aber ber kopfzerbrecheriſchen Spekulation unferer heutigen Hofteaterdramaturgen rückſichtslos genug allein überließ.

Die Blüthe der Tragödie dauerte genau.fo lange, als fie aus bem Geiſte des Volles heraus gebichtet wurde, und biejer Geift chen ein wirklicher Vollsgeiſt, nämlich ein gemeinjamer, war, Als die nationale Volksgenoſſenſchaft fich ſelbſt serjplit- terte, als das gemeinfame Band ihrer Religion und ureigenen Sitte von den fophiftifchen Nadelftichen des egoiftiich ſich zer- fegenden athenifchen Geiftes zerſtochen und zerftüct wurde. da Hörte auch das Volkskunſtwerk auf: da bemächtigten ſich die Vrofefforen und Doktoren der ehrbaren Litteratenzunft bes in Trümmer zerfallenden Gebäudes, ſchleppten Balken und Steine beifeit, um an ihnen zu forfchen, zu fombiniren und zu mebitiren. Ariftophanifch lachend Lie das Volk den gelehrten Inſekten den Abgang feine Verzehrten, warf die Kunft auf ein paar taufend Jahre zu Seite, und machte aus innerer Nothwendigkeit Welt: geihichte, während Jene auf alerandrinifchen Oberhofbefehl Lit- teraturgefdhichte zufammenftoppelten.

Das Weſen der Dichtkunft, nad) der Auflöfung der Tra— göbie, und nach ihrem Ausfcheiden aus ber Gemeinjamfeit mit der darftellenden Tanz: und Tonkunſt, läßt fih, troß ber ungeheuren Anſprüche, die fie erhob, leicht genug zu einer genügenden Überſicht darſtellen. Die einfame PDidtfunft dichtete nicht mehr; fie ftellte nicht mehr dar, fie beſchrieb nur; fie vermittelte nur, fie gab nicht mehr unmittelbar; fie ftellte wahrhaft Gebichtetes zufammen, aber ohne das lebendige Band des Zufanmenhaltes; fie regte an, ohne die Anregung zu befriedigen; fie reizte zum Leben, ohne jelbjt zum Leben zu ges Tangen; fie gab den Katalog einer Bildergalerie, aber nicht die

106 Das Kunſtwerk der Zukunft.

Bilder ſelbſt. Das minterfiche Geäfte der Sprache, Icdig des fommerlihen Schmuded des lebendigen Laubes der Töne, ver- krüppelte fih zu den dürren, lautlofen Zeichen der Schrift: ftatt dem Ohre theilte ftumm fie fih nun dem Auge mit; bie Dichterweiſe ward zur Schreibart, zum Schreibftyl der Geiſteshauch des Dichters.

Da faß fie nun, die einfame grämliche Schweiter, Hinter der qualmenden Lampe im büfteren Bimmer, ein weiblicher Fauſt, der über Staub und Mottenfraß hinweg aus dem uns befriedigenden Weben und Kreuzen der Gebaufen, auß ber ewigen Marter der Vorftellung und Einbildung, in das mirf- liche Leben hinaus fich fehnte, um mit Fleiſch und Bein, niet- und nagelfeft, unter wirklichen Menſchen als wirklicher Menſch zu gehen und zu ftehen. Achl ihr Fleiſch und Bein Hatte die arme Schwefter in übergedanfenvoller Gebanfenlofigkeit von ſich fahren laſſen: wa3 ihr nun fehlte, der körperloſen Seele, konnte fie jegt immer nur befchreiben, wie fie es von ihrem trüben Zimmer aus, durch dad Fenſter des Denkens, in der lieben weiten Sinnenwelt Icben und ſich bewegen ſah; von dem Ge— liebten ihrer Jugend Fonnte fie ewig nur ſchildern: „fo ſah er aus, fo gebahrten feine Glieder, fo bligte fein Auge, fo tönte feiner Stimme Mlang!” Uber al’ dieß Schildern und Beſchrei— ben, fo wohlgefällig fie es auch felbft zur Kunft erheben wollte, fo erfindungsreich fie fi auch bemühte, e8 in Sprach- und Schriftformen zu erfegendem fünftferiichem Trofte ſich zu ge ftalten, es war dod) immer nur ein eitel überflüſſiges Be— mühen, die Stillung eines Bedürfniſſes, das nur aus einem will- türlich zugezogenen, organifchen Fehler entiprang; es mar nicht? Anderes als ber nothdürftig reiche Vorrath an, im Grunde widerlichen, Sprachzeichen eines Stunmen.

Der wirkliche gefunde Menfch, wie er in feiner vollen leib⸗ lichen Geftalt vor uns fteht, befchreibt nicht, wa8 er will und men er liebt, fondern er will und liebt, und theilt uns durch feine fünftlerifhen Organe die Freude an feinem Wollen und Lieben mit: dieß thut er im dargeftellten Drama nach höchſter Zülle beftimmt und unmittelbar. Dem Drange nad) erfegenber Schilderung, nach Fünftlich vergegenftändlichender Beſchreibung der, von der Erſcheinung losgelöſten, Dichtkunft, und dem uns ſäglich umftändfihen erfahren, mit den fie hier zu Werke

Das Kunftwert ber Zukunft. 107

gehen muß, haben wir einzig biefe millionenfache Maſſe dider Bücher zu verbanfen, durch die fie im Grunde nur den Sammer ihrer Unbeholfenheit Hat mittheilen wollen. Diefer ganze un⸗ durchdringliche Wuft der aufgefpeicherten Litteratur ift in Wahr⸗ heit nichts Anderes, als dag trotz Millionen Phrafen ewig nicht zu Wort kommende, Jahrhunderte lang in Verſen und in Profa fi) abmühende Stammeln des nad; feinem Aufs gehen in der natürlichen Unmittelbarteit verlangenden, ſprach- unfähigen Gedankens.

Diefer Gedanke, die höchſte und bebingtefte Thätigfeit bes künſtleriſchen Menfchen, Hatte von dem warmen, fehönen Leibe, defien Sehnen ihn gezeugt und genührt, ſich losgetrennt wie von einem hemmenben, fefielnden Bande, das an feiner unbegrängten Freiheit ihn Hindere: jo glaubte das cKhriftlihe Sehnen vom finnlihen Menſchen ſich losreißen zu müſſen, um im fchranten- Iofen Himmelgäther zu freiefter Willkür fich außzubehnen. Wie unablösbar jener Gedanke und dieſes Sehnen aber von dem Weſen der menſchlichen Natur fei, das follte ihnen in dieſer Trennung gerade erft fund werben: fo hoch und luftig fie aufs ſchweben mochten, immer nur konnten fie es in der Geftalt des leiblichen Menſchen. Den Körper, wie er an die Geſetze der Schwere gebunden ift, vermochten fie allerdings nicht mit fich zu nehmen; wohl aber eine von ihm abftrahirte, dunftig flüffige Maoffe, die unwillkürlich Form und Gebahren des menſchlichen Leibes wieder annahm. So ſchwebte der bichterifche Gedanke als menſchlich geftaltete Wolfe in der Luft, die ihren Schatten außbreitete über das wirkliche, leibliche Erdenleben, zu bem fie ewig nur herabblidte und in dem fie ſich aufzulöfen verlangen mußte, wie aus ihm ja allein fie ihre dunftigen Nebellebensfäfte ſog. Die wirkliche Wolfe löft fid) auf, indem fie die Bedingun- gen ihres Dajeind der Erde wieder zurüdgiebt: als befruchtender Regen ſenkt fie fih auf die Gefilde herab, dringt tief in das durftige Erdreich Hinein, tränft die jchmachtenden Keime der Pflanze, die dann in üppiger Fülle fi) dem Sonnenlichte er- ſchließt, dem Lichte, das die fchattende Wolfe zuvor der Flur entzogen hatte. So foll ber bichterifche Gedanke das Leben wie der befruchten, nicht als eitle, wefenlofe Wolfe zwifchen das Le— ben und das Licht fich mehr lagern.

Was auf jener Höhe bie Dichtkunſt gewahrte, war eben

108 Das Kunftwert ber Zukunft.

nur das Leben: je höher fie ſich hob, defto überfichtlicher ver- mochte fie es zu erſpähen; in je größerem Zuſammenhange fie

es fo aber zu erfafjen im Stande war, defto lebhafter jteigerte in ihr ſich das Verlangen, diefen Bufammenhang zu erfaffen, gründlich zu erforjhen. So ward die Dichtkuuſt Wiffenfhaft, Philoſophie. Dem Drange, die Natur und die Menſchen ihrem Wefen nad) zu erkennen, verdanken wir die umenblid) reiche Kitteratur, deren Kern jenes gedanfenhafte Dichten ift, wie es fi) uns in der Menſchen- und Naturkunde und in der PHilo- jophie Tundgiebt. Je Iebhafter in diefen Wiſſeiiſchaften das Verlangen nad) Darftellung ded Erkannten ſich ausſpricht, defto mehr nähern ſie fich wieder dem künftlerifchen Dichten, und der ertsichbarften Vollendung in der Verfinnlihung des allgemeinen Gegenſtandes gehören die herrlichen Werke aus dieſem Kreiſe der Litteratur an. Nichts Anderes vermag aber endlich die tieffte und allgemeinfte Wiffenfchaft zu wiſſen, als dad Leben ſelbſt, und der Juhalt des Lebens ift fein anderer als der Menſch und die Natur: vollfomntenfte Verfiherung ihrer feloft erhält daher die Wifjenfhaft nur wieder im Kunftwerk, in dem Werte, das den Menfchen und die Natur fo weit diefe im Menfchen ſich zum Bewußtſein gelangt unmittelbar barftellt. Die Er— füllung der Wiffenfchaft ift fomit ihre Erlöſung in die Dicht: Zunft, aber in diejenige Dichtkunſt, die in ſchweſterlicher Ges meinſchaft mit den übrigen Künſten zum vollendeten Kunftwerfe ſich anläßt, und diefes Kunſtwerk ift fein anderes als das Drama

Das Drama ift nur als volliter Ausbrud eines gemein- ſchaftlichen künſtleriſchen Mittheilungsverlangens denkbar; dieſes Verlangen will ſich aber wiederum nur an eine gemeinſchaftliche Theilnahme fundgeben. Wo ſowohl dieſe als jenes fehlt, ift das Drama fein nothwendiges, fondern ein willfürliches Kunft« produkt. Ohne daß jene Bedingungen im Leben vorhanden waren, hat num ber Dichter für ſich allein, im Drange nach un= mittelbarer Darftellung des von ihm erkannten Lebens, das Drama zu fchaffen verſucht; jein Schaffen mußte daher allen Mängeln willfürlichen Verfahrens unterliegen. Genau nur in dem Grabe, als fein Drang aus einem gemeinfchaftlichen her» vorging, und an eine gemeinfchaftlihe Theilnahme ſich aus— ſprechen konute, finden wir jeit der Wiederbelebung des Drama’s

Tas Runfhwert der Zukunft. 109

die notwendigen Bedingungen deffelben erfüllt, und das Ver langen, ihnen zu entfprechen, mit Erfolg belohnt.

Ein gemeinſchaftlicher Drang zum dramatifchen Kunſtwerke Tann nur in Denjenigen vorhanden fein, welche gemeinſchaftlich das Kunſtwerk wirklich darftellen: dieſe find, nach unferen Bes griffen, die Schaufvielergenoffenfhaften. Solche Ge— noffenfchaften jehen wir am Schluffe des Mittelalters unmittel« bar aus dem Bolfe hervorgehen: Diejenigen, die fpäter fi) ihrer bemeifterten, und vom Standpunkte der abfoluten Dichtkunſt aus, ihnen dad Geſetz machten, erwarben ſich das Verdienſt, in Grund und Boden das verborben zu haben, was Derjenige, der ummittelbar aus ſolch' einer Genoſſenſchaft hervorging, mit ihr und für fie dichtete, zum Staunen aller Zeiten erſchaffen hatte. Aus der innigiten, wahrhafteften Natur des Volkes heraus dichtete Shalefpeare für feine Schaufpielgenoffen dad Drama, das und um fo ftaunenswürbiger erfcheint, als wir duch die Macht der nadten Rebe allein und ohne alle Hülfe verwandter Kunftarten es erftehen fehen: nur eine Hülfe ward ihm zu Theil, die Phantafie feines Publifums, das mit Ichhafter Theilnahme ſich der Begeifterung der Genofien des Dichters zuwandte. Ein unerhörtes Genie, und eine nie wieder erjchie- nene Gunft glüdlicher Unftände, exfegten gemeinfchaftlic, was ihnen gemeinjaftlich abging. Das ihnen gemeinfame Schöpfer rifche war aber das Bedürfniß, und wo dieſes in wahr- Hafter, naturnothwendiger Kraft fi) äußert, ba vermag der Menſch auch dad Unmöglihe, um es zu befriedigen: aus ber Armuth wird Fülle, aus dem Mangel Überfluß; die ungeſchlachte Geſtalt des fchlichten Volkskomödianten Spricht in Helbengebärben, der rauhe Klang ber Alltagsfprache wird tönende Seelenmuſik, das rohe, mit Teppichen umhangene Brettergerüft wird zur Welt: büßne mit aM’ ihren reihen Scenen. Nehmen wir dieß Kunft- wert aus ber Fülle glüdlicher Bebingungen hinweg, ftellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft, wie fie aus dem Bedürfniſſe dieſer einen, gerade fo gegebenen Zeitperiode her» vorging, jo fehen wir aber zu unferer Trauer, daß die Armuth dod nur Armuth, der Mangel doch nur Mangel war; daß Shafe- fpeare wohl ber gewaltigfte Dichter aller Zeiten, fein Kunftwert aber nod nicht das Werk für alle Zeiten war; daß, nicht fein Genius, wohl aber der unvollenbete, nur wollende, noch nicht

110 Das Kunſtwerk der Zukunft.

aber könnende künftlerifche Geift feiner Zeit, ihn do nur zum Thefpis der Tragödie der Zukunft machte. Wie ber Karren des Thefpis, in dem geringen Zeitumfange ber athenifchen Kunft- blüthe, fich zu der Bühne des Aiſchylos und Sophoffes verhält, fo verhält fich die Bühne Shakeſpeare's in dem ungemefjenen Beitraume der allgemeinfamen menſchlichen Kunftblüthe, zu bem Theater der Zukunft. Die That des alleinigen Chafefpeare, die ihn zu einem allgemeinen Menfchen, zum Gott machte, ift doch nur die That des einfamen Beethoven, bie ihn die Sprache der künſtleriſchen Menfchen der Zukunft finden ließ: erjt wo dieſe beiden Prometheus? Shakefpeare und Beethoven ſich bie Hand reihen; wo die marmornen Schöpfungen des Phibiad in Fleiſch und Blut fi bewegen werden; wo bie nachgebildete Natur, aus dem engen Rahmen an ber Bimmerwanb bes Ego- iften, in dem weiten, von warmem Leben durchwehten, Rahmen ber Bühne der Zukunft üppig ſich ausdehnen wird, erit da wird, in der Gemeinſchaft aller feiner Kunftgenoffen, auch der Dichter feine Erlöfung finden.

Auf dem weiten Wege von ber Bühne Shakeſpeare's zu dem Runftwerfe der Bufunft follte der Dichter feiner einfamen Unfeligfeit erft noch recht inne werben. Aus der Genoſſenſchaft der Darfteller war der bramatifche Dichter naturgemäß her- borgegangen; in thörigem Hochmuthe wollte er fi nun über bie Genofien erheben, und ohne ihre Liebe, ohne ihren Drang, ganz für fi) Hinter dem Gelehrtenpulte dad Drama Denen diftiren, aus deren freiem Darftellungstriebe e8 doch einzig nur unwillkürlich erwachfen, und deren gemeinfamem Wollen er nur die bindende, einigende Abficht zuweifen fonnte. So verftummten dem Dichter, der den Fünftlerifchen Lebensdrang beherrſchen, nicht mehr nur außfprechen wollte, die zu dienenden Sklaven erniebrigten Organe der dramatiſchen Kunſt. Wie der Birtuos die Taten des Klavieres auf- umd nieberdrüdt, fo wollte der Dichter num das künſtlich aneinandergefügte Schaufpielerperfonal wie ein hölzernes Inftrument fpielen, auß dem man gerade nur feine fpezielle Kunftfertigkeit Hören, auf dem man nur ihn, den fpielenden Virtuoſen, wahrnehmen follte. Dem ehrgierigen Ego- iften erwiderten die Taften des Inſtrumentes auf ihre Weife: je bravourwüthiger er darauf Ioshämmerte, defto mehr ſtockten und klapperten fie.

Das Kunſtwerk der Zukunft. 111

Goethe zählte einft nur vier Wochen reinen Glückes aus feinem überreichen Leben zufammen: die umfeligften Jahre feines Lebens erwähnt er nicht bejonders; wir kennen fie aber: es waren bie, in denen er jene ftodende und verftimmte Inſtru⸗ ment ſich zu feinem Gebrauche herrichten wollte. Ihn, ben Ge- maltigen, verlangte ed, auß der lautloſen Einöde funftlitterari« ſchen Schaffens fi in das lebendige, klangvolle Kunſtwerk zu erlöfen. Wefjen Auge war fiherer und umfaſſender im Erfennen des Lebens, als das feinige? Was er erjehen, gefchildert und befchrieben, da8 wollte er nun auf jenem Inftrumente zu Gehör bringen. O Himmel! wie entftellt, wie unfennbar klangen ihm feine, in dichterifche Muſik gebrachten, Anſchauungen entgegen! Was hat er mit dem Stimmhammer pochen müflen, was bie Saiten ziehen und dehnen, bis wimmernd fie endlich fprangen! Er mußte erfehen, daß in der Welt Alles möglich ift, nur nicht, daß der abjtrafte Geift die Menjchen regiere: wo dieſer Geiſt nicht auß dem ganzen gefunden Menſchen herauskeimt und feine Blüthe entfaltet, da läßt er ſich nicht von oben Herein ein- gießen. Der egoiſtiſche Dichter kann durch feine Abſicht mecha— niſche Puppen ſich bewegen laſſen, nicht aber aus Maſchinen wirkliche Menſchen zum Leben bringen. Von der Bühne, wo Goethe Menſchen machen wollte, verjagte ihn endlich ein Pudel; zum warnenden Beiſpiele für alles unnatürliche Regieren von Oben!

Wo ein Goethe gejcheitert war, mußte es guter Ton wer- den, von borne herein ſich als gefcheitert anzufehen: die Dichter dichteten noch Schaufpiele, aber nicht für die ungehobelte Bühne, Sondern für das glatte Papier. Nur was fo in zweiter oder dritter Qualität noch hier ober da, der Lofalität angemeffen, herumbichtete, gab ſich mit den Schaufpielern ab; nicht aber ber vornehme, ſich ſelbſt dichtende Dichter, der von allen Lebens- farben nur noch die abftrafte preußiiche Landesfarbe, Schwarz auf Weiß, anftändig fand. So erfchien denn das Unerhörte: für die ftumme Lektüre gefchriebene Dramen!

Behalf ſich Shakefpeare im Drange nad) unmittelbarem Leben mit dem rohen Gerüfte feiner Volksbühne, jo genügte der egoiſtiſchen Refignation des modernen Dramatiferd die Buch— händlertafel, auf der er fich lebendig todt zum Markte auslegte. Hatte das ſinnlich erſcheinende Drama fi) an das Herz des

112 Das Kunftwert ber Zukunft.

Volkes geworfen, fo legte das „im Verlag“ erfchienene Bühnen- ſtück ſich der GeneigtHeit des Kunftkritifer8 zu Füßen. Aus einer ſtlaviſchen Abhängigkeit in die andere ſich fügend, ſchwang ſich fo die dramatiſche Dichtlunft nach ihrem eitlen Wähnen zur unbegränzten Sreiheit auf; diefe läftigen Bedingungen, unter denen allein ein Drama in dad Leben treten konnte, durfte fie ja nun ofne alle Umftände über den Haufen werfen; nur was leben will, Hat der Nothwendigkeit zu gehorchen, was aber viel mehr als leben, nämlich todt fein will, das kann mit fi machen, was es Luft Hat: das Willkürlichſte iſt in ihm das Noth— wendigſte, und je unabhängiger von den Bedingungen der finn- lichen Erſcheinung, deſto freier durfte die Dichtkunft fi nur noch dem Sichſelbſtwollen, der abſoluten Selbftbewunderung überlaffen.

So war durch die Aufnahme des Drama’ in die Litteratur nur eine neue Form gewonnen, in der die Vichtkunft jetzt wieder ſich felbft dichten konnte, vom Seben nur ben zufälligen Stoff entnehmend, den fie willkürlich zur einzig notwendigen Selbfte verherrli hung benugen durfte. Aller Stoff, alle Form mar ihr nur dazu da, einen abſtrakten Gedanken, das ibealifixte felbit: füchtige liebe Ich des Dichters, dem Iefenden Auge auf das Drin- genbfte anzuempfehlen. Wie treulos vergaß fie dabei, daß fie alfe, auch die tomplizirteften ihrer Formen, doch nur diefem hoch⸗ müthig verachteten finnlihen Leben erſt zu verdanken hattel Bon der Lyrik durch alle Dichtungsformen hindurch bis zu dieſem Titterarifchen Drama, giebt es nicht eine einzige, die nicht der leiblichen Unmittelbarkeit des Volkslebens, ald bei weiten rei- nere und edlere Form entblüht wäre. Was find alle die Er- gebniffe des ſcheinbar felbftändigen Geſtaltens der abſtrakten Dichttunſt in Bezug auf Sprache, Vers und Ausdruck, gegen die immer friſch gezeugte Schönheit, Mannigfaltigkeit und. Vull- endung der Volkslyrit welche die Forſchung jet in höchſtem Reichthume erft wieder unter Schutt und Trümmer herborzus ziehen bemüht ift? Dieſe Volkslieder find ohne Tonweiſe aber gar nicht zu denfen: was aber nicht nur gefprochen, fondern auch gefungen wurde, gehörte dem unmittelbar fich fundgebenden Leben an; wer fpricht und fingt, der drüdt zugleich auch durch Gebärde und Bewegung feine Gefühle aus, wenigftend wer dieß unwillkürlich thut, wie das Volk, allerdings nicht

Das Kunftwert der Zukunft. 113

der geſchulte Zögling unferer Geſangsprofeſſoren. Wo die fo geartete Kunft blüht, da erfindet fie von jelbft aber auch immer neue Wendungen des Ausdrudes, neue Formen der Dichtung, und die Athener lehren und ja, wie im Fortſchritte diefer Selbft- bildung das höchſte Kunſtwerk, die Tragödie geboren werden konnte. Dagegen muß nun die vom Leben abgewandte Dicht kunſt ewig unfruchtbar bleiben; al’ ihr Geftalten fann immer nur dad der Mode, das des willfürlihen Kombinirens nicht Erfindens fein; unglüdlih in jeder Berührung mit der Ma- terie, wendet fie fih daher immer wieder nur zum Gedanken zurüd, diefem raſiloſen Triebrade des Wunfches, des ewig be— gehrenden, ewig ungeftillten Wunfches, der die einzig mög- liche Befriedigung in der Sinnlichkeit von ſich abweiſend ewig nur ſich wünſchen, ewig nur fich verzehren muß.

Aus dieſem Zuftande der Unfeligfeit heraus vermag das gedichtete Litteraturdrama ſich nur dadurch wieder zu erlöſen, daß e3 zum Iebendigen wirklichen Drama wird. Der Weg diefer Erlöfung ift wiederholt, und aud) in neuerer Zeit, oft einge lagen worden, von Manchem aus vedlicher Sehnſucht, von Zielen leider aber auch nur aus keinem anderen Grunde, als weil die Bühne unvermerft ein einträglicherer Markt, als die Buchhändfertafel geworden war.

Die Offentligkeit, möge fie aud in nod) fo großer ge- ſellſchaftlicher Entftellung ſich zeigen, hält fi immer nur an das Unmittelbare und ſinnlich Wirkliche; ja bie Wechſelwirkung des Sinnlichen macht im Grunde nur das aus, was wir Öffentlic- keit nennen. Hatte die hochmüthig unfähige Dichtkunft fi von diefer unmittelbaren Wechſelwirkung zurüdgezogen, fo Hatten, in Bezug auf das Drama, die Schaujpieler ſich diefer allein bemädtigt. Sehr richtig gehört die theatrafifche Offentlichleit eigentlich auch nur der darftellenden Genoffenfchaft allein. Wo aber Alles fich egoiftifch abfonderte, wie der Dichter von biefer Genoſſenſchaft, der er der Sache gemäß urſprünglich unmittel- bar angehört, da trennte auch die Genoſſenſchaft daS gemein- ſchaftliche Band, das fie einzig zu einer fünftlerifchen machte, Wollte der Dichter unbedingt nur fich auf der Bühne fehen, beftritt er fomit von vornherein ber Genofjenfchaft ihre künſt⸗ lerifde Bebeutung, fo löfte aus ihr mit weit natürlicherer Berechtigung auch ber einzelne Darſteller ſich los, um unbedingt

Rigard Wagner, Geſ. Schriften II. 8

114 Das Kunftwert der Zukunft.

wiederum nur fid) geltend zu machen; und hierin warb er vom Publikum, dad unwilllürlich fi immer nur an die abfolute Er— ſcheinung Hält, mit aufmunterndfter Veiftimmung unterftügt. Die Schaufpiellunft wurde hierdurch zur Kunft des Schaufpie- ler3, zur perſönlichen Virtuofität, d. h. derjenigen egoiftiichen Kunftäußerung, die unbedingt wiederum nur ji, die abfolute Glorie der Perſönlichkeit will. Der gemeinfame Zwed, durch weldyen einzig dad Drama zum Kunftwerfe wird, lag dem per= ſönlichen Virtuoſen bis zur unfenntliiten Serne ab, und mas die Schaufpieltunft als eine gemeinfame, auf den Geift der Ge— meinfamfeit einzig begründete, ganz von felbft erzeugen muß, das dramatijche Kunftwert, das will diefer eine Virtuoſe, oder die Zunft der Virtuoſen, gar nicht, fondern fich, das feiner perſönlichen Kunftfertigfeit jpeziel Eutſprechende, das feine Eitel- feit einzig Lohnende allein. Hundert der fähigften Egoiften, wenn fie alle auf einer Stelle verfammelt find, vermögen aber nit das zu vollbringen, was nur das Werk der Gemeinfantleit fein kaun, wenigftend nicht eher, als bis fie eben aufhören, Egoiften zu fein; fo lange fie dieß aber find, ift ihre, unter äußerem Zwange einzig zu ermöglichende, gemeinſchaftliche Wirkſamkeit nur die des gegenfeitigen Neides und Haſſes, und oft gleicht daher unfere Schaubühne dem Kampfplate der beiden Löwen, auf dem wir nur noch die Schwänze erbliden, bis auf welche diefe fich gegenfeitig aufgefrefien Haben. Nichtödeftoweniger ift dennoch da, wo felbjt nur diefe Bir- tuofität des Darftellers für das Publitum den Begriff der Schauſpielkunſt ausmacht, wie in ben meiften franzöfifchen Thea- tern und jelbft in der Opernmelt Jtaliens, eine natürlichere Aufe- rung des fünjtlerifchen Darſtellungstriebes vorhanden, als dort, wo ber abftrafte Dichter dieſes Triebes zu feiner Gelbftverherr- lichung ſich bemächtigen will. Aus jener Virtuoſenwelt Taun, wie die Erfahrung jo oft bewieſen hat, bei einer ber künft- leriſchen Befähigung entſprechenden gefunden Herzensnatur, ein dramatiſcher Darfteller hervorgehen, der durch eine einzige Leiftung und das höchſte Wejen der dramatifhen Kunſt deut- licher zu erſchließen vermag, als hundert Kunſtdramen für fi. Wo hingegen die dramatiſche Kunftpoefie aud für die lebendige Darftellung allein erperimentiren will, vermag fie nur Birtuofen und Publitum vollends ganz zu verwirren, oder mit. allem Eigen-

Das Kunftwert der Zukunft. 115

dünfel ſich in die ſchmählichſte Ahhängigfeit zu begeben. Sie bringt entweber nur todtgeborene Kinder zur Welt, und das ift ihre befte Thätigfeit, denn hiermit ſchadet fie Doch nichts, oder fie impft ihre ureigene Krankheit de Wollens und Nicht⸗ könnens wie eine verzehrende Peſt den noch halbwegs gefun- den Gliedern der Schaufpielkunft ein. Jedenfalls muß fie nach den zwangvollen Gefegen der abhängigiten Unfelbftändigfeit verfahren: fie muß fi, um nur irgend welche Form zu gewinnen, überall dahin umfehen, wo diefe Form irgendwo aus der. wirklich Iebendigen Schaufpielfunft hervorgegangen war. Dieje wird denn bei uns in der neueften Beit fait nur den Schülern Mo— liöre’3 entnommen.

Bei dem lebhaften, jeder Aoftraktion im Grunde immer feindlichen Volke der Franzofen, lebte die Schaufpielfunft fo weit fie nicht vom Einfluffe. bes Hofes beherrſcht wurde meiſt von ſich felbft: was unter all’ dem übermächtigen, Tunftfeind- lichen Einwirken unferer allgemeinen fozialen Zuftände aus der modernen Schaufpielfunft Geſundes ſich entwiceln konnte, haben wir, feit dem Erfterben des Shakeſpeare ſchen Drama’s, einzig den Franzoſen zu verbanfen. Aber auch bei ihnen hat unter dem Drude bed, allem Gemeinfamen töbtlihen, herrſchenden Weltgeiſtes, deſſen Weſen der Lurus und die Mode ift, das wirkliche, vollendete, dramatiſche Kunftwert auc nicht nur an- nähernd ſich erzeugen können: das einzige Gemeinfame in der modernen Welt, der Spefulationd- und Schacdergeift, hat auch bei ihnen alle Keime der wahren dramatifchen Kunft in ego- iftifcher Berfpaltung gehalten. Kunftformen, die diefem fümmer- lichen Weſen entſprechen, Hat die franzöfifche Dramatik allerdings aber gewonnen: bei aller Unfittlichteit des Inhaltes, fpricht ſich ungemeined Geſchick in ihnen aus, diefen Inhalt jo ſchmackhaft wie möglich zu machen, und immer haben jie das Auszeichnende an fi, daß fie aus dem Wefen gerade der franzöfifhen Schau- fpieltunft, alfo aus dem Leben, wirklich hervorgegangen find.

Unfere beutfchen Dramatiker, aus dem millfürlichen In— halte ihrer dichterifchen Abſicht nad Erlöfung in irgend einer notwendig erfcheinenden Form fi fehnend, ftellten ſich, da fie nichts zu bilden vermochten, dieſe nothwendige Form willkürlich dar, indem fie nach dem franzöfifhen Schema griffen, ohne zu bebenfen, daß dieſes einem ganz verjdiedenen, wirklichen Be—

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116 Das Kunftwerk der Zukunft,

bürfniffe entfprungen war. Wer nicht aus Nothwendigkeit ver- fährt, Hat aber die Wahl nad) Belieben. So waren auch unfere Dramatiker mit der Annahme ber franzöſiſchen Form durchaus noch nicht ganz befriedigt: es fehlte zum Gebräu noch dieß und jenes, etwa Shakeſpeare ſche Verwegenheit, etwas ſpaniſches Pathos, und als Zuthat Überrefte Schiller ſcher Idealität oder Iffland'ſcher Bürgergemüthlichkeit; dieß Alles nun nad fran- zöſiſchem Rezepte unerhört pfiffig angemacht, mit journaliſtiſcher Bedachtſamkeit auf den neueſten Skandal zugerichtet, dem be— liebteſien Schauſpieler, da der Dichter nun einmal ſelbſt das Komödienfpielen nicht erlernt hat, die Rolle womöglich wieder⸗ um eines Dichters zugetheilt, dieß und jened noch mit Hinzu, wie e8 gerade die Umftände fügen —: fo haben wir dad mo- dernſte dramatifche Kunſtwerk, den in Wahrheit ſich felbft, d. 5. feine handgreiflihe Unfähigkeit dichtenden Dichter.

Genug von dem beifpiellofen Sammer unferer theatra- liſchen Dichtkunft, mit der wir im Grunde hier allein doch nur zu thun haben, da wir die eigentliche Litteraturpoefie durd- aus nicht in den Kreis unferer näheren Betrachtung zu ziehen haben; denn wir ſuchen im Hinblid auf das Kunftwerk der Zu- kunft die Dichtfunft da auf, wo fie lebendige, unmittelbare Kunſt werden will, und dieß ift im Drama, nicht aber ba, wo fie auf dieſes Lebendigwerden verzichtet, und bei aller Fülle der Ge- danten bie Bedingungen ihres eigenthümlichen Schaffens doc) nur ber troftlofen künſtleriſchen Unfähigkeit unferes öffent lichen Lebens entnimmt. Die Litteraturpoefie ift der einzige traurige und undermögende! Xroft des, nach dichteriſchem Genuß verlangenben, einfamen Menfchen der Gegenwart: der Troſt, den fie gewährt, ift aber in Wahrheit nur daß geiteigerte Verlangen nad dem Leben, nad dem lebendigen Kunft- werke; denn der Trieb dieſes Verlangens ift ihre eigene Seele, mo er fi nit ausſpricht, nicht offen und mit Macht fich tundgiebt, da ift die legte Wahrheit auch aus diefer Poefie ver- ſchwunden:. je redlicher und ungeftümer er jedoch in ihr Iebt, defto wahrhaftiger ift aber auch das Zugeſtändniß ihrer eigenen Troftlofigfeit in ihr ausgeſprochen, und als einzig mögliche Be- friebigung „ihres Verlangens ihre Selbſtvernichtung, ihr Aufgehen in das Leben, in da8 lebendige Kunſtwerk der Zukunft von ihr befannt.

Das Kunftwerf der Zukunft. 117

Erwägen wir, wie dieſem warmen, fchönen Verlangen der Litteraturpoefie einft entſprochen werden müfle, und überlafjen wir während deſſen unfere moberne dramatifche Dichtkunſt den glorreichen Triumphen ihrer ftupiden Eitelkeit!

6.

Bisherige Verfuhe zur Wiebervereinigung ber drei menſchlichen Runftarten.

Bei überfichtlicher Wahrnehmung des Gebahrens jeder der drei rein menſchlichen Kunftarten nad) ihrem Losreißen aus dem urfprünglichen Vereine, mußten wir deutlich erfennen, daß genau da, wo die eine Kunſtart die andere berührte, wo die Fähigfeit der anderen für die der einen eintrat, fie aud) ihre natürliche Gränze fand: über diefe Gränze vermochte fie fi von biefer Runftart wieder bis zu ber dritten, und durch diefe dritte wieder bis zu fich felbft, bis zu ihrer befonderften Eigenthümlichkeit zucüd, außzubehnen, jedoch nur nach den natürlichen Gefegen der Liebe, der Hingebung an das Gemeinfame durch die Liebe. Wie der Mann durch bie Liebe in Die Natur bes Weibes fich ver- fentt, um durch dieſes in ein Drittes, dns Find aufzugehen, in dem Dreivereine dennoch aber nur ſich, in fich jedoch fein er- weitertes, ergänztes und verbollftändigtes Wefen liebend wieder- findet: fo vermag jede der einzelnen Kunſtarten, im vollfom- menen, gänzlich befreiten Kunſtwerke fich felbit miederzufinden, ja fich felöft, ihr eigenſtes Wefen, ald zu biefem Kunſtwerke er- weitert anzufehen, fobald fie auf dem Wege wirklicher Liebe, durch Verfenkung in die verwandten Kunftarten, wieder zu fi zurückkommt, und. den Lohn ihrer Liebe in dem bollfommenen Kunſtwerke findet, zu dem fie ſelbſt fich erweitert weiß. Nur die Runftart, die das gemeinfame Kunſtwerk will, erreicht Somit aber auch die höchſte Fülle ihres eigenen befonderen Weſens; wogegen diejenige, die nur ſich, ihre Höchite Fülle fchlechtiveg aus fich allein will, bei allem Luxus, den fie auf ihre einfame Erfcheinung verwendet, arm und unfrei bleib. Der Wille zum gemeins famen Kunftwerfe entfteht aber im jeder Kunftart unwillkürlich, unbewußt von felbft, fobald fie an ihren Schranken angelangt, der entfprechenden Kunſtart fi) giebt, nicht aber von ihr zu

118 Das Kunftwert der Zukunft.

nehmen ftrebt: ganz fie felbft bleibt fie, wenn fie ganz fich ſelbſt giebt: zu ihrem Gegentheile muß fie aber werden, wenn fie endlich ganz von der anderen fid, nur erhalten muß: „weſſ' Brot ich effe, deſſ' Lieb ic) finge”. Wenn fie aber ganz einer anderen ſich giebt, fo bleibt fie auch ganz in ihr enthalten, ver- mag ganz aus ihr in die dritte überzugehen, um fo im gemein= ſamen Kunſtwerke in höchfter Fülle ganz fie felbft wiederum u fein. 5 Von allen Kunftarten bedurfte, ihrem innerften Weſen nad), feine der Vermählung mit einer anderen fo fehr, als die Tonkunſt, ‘weil fie in ihrer ſonderlichſten Eigenthümlichkeit eben nur tie ein flüffiges Naturefement zwiſchen den, beftimmter amd individueller fih gebenden, Wefenheiten der beiden anderen Runftarten ausgegoffen ift. Nur durch die Rhythmen des Tan— zes, ober nur ald Trägerin des Wortes, vermochte fie aus ihrem unendlich verichwimmenden Wefen zu genau unterfcheidbarer, charakteriftifcher Mörperlichkeit zu gelangen. Keine der anderen Runftarten vermochte fi) aber unbedingt Tiebevol in das Ele— ment der Tonkunft zu verſenken: jede ſchöpfte nur auß ihm fo weit, als es ihr zu einem beftimmten egoiftifchen Zwecke dienlich ſchien; jede nahm nur von ihr, gab fich ihr aber nicht, fo daß die Tonkunft, die aus Lebensbedürfniß überall Hin die Hand aus— ſtreckte, fich endlich felbft nur noch durch Nehmen zu erhalten fuchen mußte. So verfchlang -fie zunächft das Wort, um nach Belieben mit ihm zu machen, was fie verlangte: verfügte fie nun über dieſes Wort in der chriftlihen Mufit nach unbebingter Ge— fühlswillfür, fo verlor fie aber auch an ihm, fo zu fagen, das Knochenmark, deſſen fie, im Sehnen nach Menfchwerbung, zu der Flüſſigkeit ihre Blutes bedurfte, und an dem fie ſich zu kernigem Fleiſche hätte verdichten köunen. Ein nothmwendiged neues kräf⸗- tige8 Erfaſſen des Wortes, um an ihm fich zu geftalten, gab ſich in der proteftantifhen Kirchenmuſik Fund, und drängte bis zum fichlichen Drama in der Paſſionsmuſik, in der dad Wort nicht mehr bloßer verſchwimmender Gefühlsausdrud war, fon- dern zum Handlung zeichnenden Gedanken ſich erfräftigte. In diefen Hirchlichen Dramen nöthigte die, immer noch borherr- fchende und Alles nur für fich konſtruirende, Mufil, gleichlam die Dichtkunft, fich ernftlich und männlich mit ihr zu befaffen: die feige Dichtkunft ſchien aber wie vor dieſer Zumuthung zu er-

Das Kunftwerf der Zukunft. 119

ſchrecken; es dünfte fie angemeffen, dem gewaltig anſchwellenden Ungeheuer der Mufit, wie um es zu begütigen, einige zu erübris gende Biffen von fi zum Fraße Hinzumerfen, nur aber, um, wieberum egoiftifch gebietend, in ihrer befonderen Sphäre, ber Literatur, ganz und ungejtört fie felbft bleiben zu dürfen. Diefer eigenfühtig feigen Stimmung der Dichtkunſt zur Tonkunft haben wir bie naturwibrige Außgeburt des Oratorium’3 zu berban- Ten, wie es fi) aus der Kirche enblich in den Konzertjanl ver- pflanzte. Das Oratorium will Drama fein, aber genau nur fo weit, als e8 der Muſik erlaubt, die unbedingte Hauptſache, die einzig tonangebende Kunftart im Drama zu fein. Wo die Dicht: kunſt für ſich das Alleinige fein wollte, wie im rezitirten Schaus fpiele, da nahm fie die Muſik in ihren Dienft zu Nebenzweden, zu ihrer Bequemlichkeit, wie z. B. zur Unterhaltung der Zu— fchauer in ben Zwiſchenalten, oder auch zur Steigerung der Wir- kung gewiffer ftummer Handlungen, wie eine3 behutfamen Spitz- bubeneinbruches und dergleichen mehr. Nicht minber gefhah dieß von der Tanzkunft, wenn fie ftolz zu Roffe ſaß und von der Mufit ganz ergebenft den Steigbügel ſich Halten ließ. Gerade fo machtet e8 nun die Tonkunſt im Oratorium mit der Dichtkunft: fie ließ fi) von ihr eben nur die Steine zu Haufen tragen, aus denen fie nad) Belieben ihr Gebäude aufführen Konnte. Zur underfchämteften Äußerung ihre immer anſchwellenden Hoc; muthes beftimmte fich die Muſik aber endlich in der Oper. Hier nahm fie den Tribut der Dichtkunſt bis anf den letzten Heller in Anſpruch: die Poeſie follte ihr nicht mehr nur Verfe machen, nicht mehr wie im Oratorium, menfchliche Charaktere und dramatifche Bufammenhänge nur andeuten, um ihr Anhalt zur Ausbreitung zu geben, fonbern fie follte ihr ganzes Wefen, Alle was fie irgend vermochte, vollftändige Charaktere und komplizierte dra— matifche Handlungen, Kurz das ganze gedichtete Drama ſelbſt ihr zu Füßen legen, um nad) Belieben mit diefem Huldigungsge- fchenfe machen zu dürfen, was ihre Laune ihr eingäbe.

Die Oper, als fcheinbare Vereinigung aller drei ber- wandten Kunftarten, ift der Sammelpunft der eigenfüchtigiten Beftrebungen diefer Schweſtern geworben. Unläugbar fpricht die Tonkumft in ihr das fuprematifche Recht der Gefeßgebung an, ja ihrem aber egoiftifch geleiteten Drange zum eigent- lichen Kunſtwerke, dem Drama, Haben wir bie Oper lediglich zu

120 Das Kunſtwerk der Zufunft.

verbdanfen. In dem Grade, als Tanz und Dichtkunft, ihr aber nur dienen follen, vegt ſich jedoch, aus den Gegenden ber egoiftifchen Geftaltungen. biefer Her, ein beftändiges Reaftiond- gelüft gegen die herrſchſüchtige Schweſter auf. Dicht- und Tanze Kunft Hatten fich auf ihre Weife das Drama beſonders ange eignet; Schaufpiel und pantomimifches Ballet waren die beiden Territorien, zwifchen denen fi} die Oper num ergoß, von beiden in fi aufnehmend, was ihr, zur egoiftifchen Selbftverherrlihung der Mufif unerläßlich ſchien. Schaufpiel und Ballet waren fich aber ihrer gewaltfamen Sonderfelbftändigfeit fehr wohl bewußt: fie liehen fi der Schwefter nur wider Willen her, und jeden- falls nur mit dem tückiſchen Vorſatze, bei irgend geeigneter Ge— Tegenheit in vollſter Breite ſich allein geltend zu maden. So wie die Dichtkunſt den pathetiſchen, der Oper allein zufagenden Gefühlsboden verläßt, und ihr Netz der modernen Antrigue aus- wirft, it Schweſter Mufit gefangen und muß, wollend ober nicht, ohne an ihnen Haften zu fönnen, die öden Spinnfäben drehen unb menden, welche die raffinirende Theaterſtückmacherin allein zum Gewebe verbinden kann: da ſchwirrt und zwitſchert fie denn wohl noch wie in ber franzöfifhen Pfiffigfeitsbper, bis ihr endlich mismuthig der Athem ausgeht, und Schweſter Profa ganz allein ſich nur noch breit macht. Die Tanzkunft Hingegen darf nur irgend melde Lüde im Athemholen der geſetzgebenden Sängerin erfehen, irgend weldes Erkalten bes Lavaſtromes muſikaliſchen Gefühlserguffes, ſogleich ſchwingt fie ihre Beine bis zu ihrer Ausdehnung über die ganze Bühne, tanzt die Schwe— fter Muſik von der Scene hinweg in das einzige Orchefter noch . hinunter, dreht, ſchwenkt und wirbelt ſich fo Iange, bis da8 Pu: blikum den Wald vor lauter Bäumen, d. h. die Oper vor lauter Beinen gar nicht mehr fieht.

So wird die Oper zum gemeinfamen Vertrage des Egoiß- mus der drei Künſte. Die Tönkunft, um ihre Suprematie zu retten, verträgt mit ber Tanzkunſt auf fo und fo viele Viertel- ftunden, die ihr ganz allein gehören follen: in diefer Beit fol die Kreide auf den Schuhfohlen die Geſetze der Bühne fchreiben, nach dem Syſteme der Beinſchwingungen, nicht aber dem der Tonſchwingungen, Muſik gemacht werden; auch foll den Sän- gern ausdrücklich verboten fein, nach irgend welcher anmuthiger Leibesbewegung ſich gelüften zu laſſen, dieſe fol nur dem

Das Kunftwert der Zukunft. 121

Zänger, gehören, wogegen ber Sänger, auch ſchon zur Bonfer virung feiner Stimme, zur volftändigften Enthaltung von mie mifcher Gebärbenluft verpflichtet fein fol. Mit der Dichtkunft feßt fie aber zu deren höchſter Befriedigung feit, daß man auf der Bühne gar feinen Gebrauch von ihr machen, ja ihre Verfe und Worte möglichft gar nicht einmal ausſprechen wolle, um fie dafür, als gebrudtes und nothwendig nachzulefendes Textbuch, ganz wieder Litteratur, ſchwarz auf weiß, fein zu laffen. So ift denn der edle Bund gefchloffen, jede Kunſtart wieder fie ſelbſt, und zwifchen Tanzbein und Textbuch ſchwimmt die Mufit wieder der Länge und Breite nad) wie und wohin fie Luft Hat. Das ift die moderne Sreiheit im getreuen Abbilde ber Kunſt!

Nach fo ſchmählichem Vertrage mußte aber die Tonkunft, fo glänzend fie auch in ber Oper zu herrſchen ſchien, dennoch ihrer demüthigften Abhängigfeit inne werden. Ihr Lebenshaud; ift die Herzengliebe; will diefe auch nur fi, nur ihre Befriedigung, fo ift fie zu dieſer Befriedigung eines Gegenftandes nit nur bloß ebenjo bebürftig, wie das Sehnen der Sinnen und Ber fandesliebe, fondern fie empfindet dieß Bedürfniß glühender und drängender als jene. Die Stärke ihre Bebürfniffes giebt ihr den Muth der Selbftaufopferung, und hat Beethoven diefen Muth in einer Fühnften That ausgeſprochen, jo Haben Tonbichter, wie Gluck und Mozart, nicht minder durch herrliche, Tiebe- reiche Thaten diefe Freude kundgegeben, mit der der Liebende in feinen Gegenftand fich verfenft, um aufzuhören, er ſelbſt zu fein, zum Lohne dafür aber unendlich mehr zu werden. Da, wo dad don vornherein nur für egoiftifche Kundgebung ber einzelnen Künfte zugerichtete Bauwerk der Oper nur irgend die Bebin- gungen in ſich aufzeigte, die daS volle Aufgehen der Muſik in die Dichtkunſt ermöglichen, haben diefe Meifter die Erlöfung ihrer Kunft zum gemeinfamen Kunſtwerke vollbracht. Der unabmwend- bare ſchädliche Einfluß herrſchender ſchlechter Buftände erklärt und aber die große Vereinzelung jener ſchönen Thaten, ſowie die Bereinzelung der Tondichter felbft, die fie vollbrachten; was unter gewiſſen glüdfichen, doch aber fait nur zufälligen Umſtän— den bem Einzelnen möglich war, giebt ber Mafje der Erſchei— nungen noch lange kein Gefeß: in diefer erfennen wir aber nur das zerfplitterte egoiftifche Walten der Willfür, das ja das Ver:

122 Das Kunſtwerk der Zukunft,

fahren aller bloßen Nachahmung ift, meil fie nicht auß fich felbft ſchafft. Gluck und Mozart, fowie die jehr wenigen ihnen ver- wandten ZTondichter*), dienen und auf dem öben, nächtlichen Meere der Opernmufit nur als einfame Leitfterne zum Erkennen der rein Fünftlerifchen Möglichkeit des Aufgehens der reichiten Muſik in noch reichere dramatifche Dichtkunſt, nämlih in Die Dichtkunſt, die durch dieſes freie Aufgehen der Mufit in fie erſt zu ber allvermögenden dramatiſchen Kunft wird. Wie unmöglich da3 vollendete Kunſtwerk unter den und beherrſchenden Buftän- den ift, bemweift aber gerade, daß, nachdem Gluck und Mozart die höchſte Fähigkeit der Muſik aufgededt, dieſe Thaten ohne den mindeſten Einfluß auf unfer eigentliche8 modernes Kunftgebah- ven geblieben find, daß bie Funken, die ihrem Genius ent- fprangen, nur gleich gaufelndem Feuerwerke unferer Kunſtwelt vorſchwebten, durchaus aber nicht da8 Feuer zu zünden ver- mochten, das durch fie entbrennen mußte, wenn der Brennftoff wirklich vorhanden geweſen wäre.

Die Thaten Gluck's und Mozart's waren aber auch nur einfeitige Thaten, d. 5. fie dedten nur die Fähigkeit und ben nothwendigen Willen der Muſik auf, ohne von ihren Schwefter- fünften verftanden zu werben, ohne daß dieſe gemeinfchaftlic, und aus gleich wahr empfundenem Drange nad) Aufgehen in einander, zu jenen Thaten beigetragen, ober ihrerſeits fie er- widert hätten. Nur aus gleichem, gemeinfchaftlichem Drange aller drei Kunftarten Tann aber ihre Erlöfung in das mahre Kunſtwerk, fomit dieſes Kunſtwerk ſelbſt ermöglicht werden. Erſt wenn der Trotz aller drei Kunſtarten auf ihre Selbſtändigkeit ſich bricht, um in der Liebe zu dem anderen aufzugehen; exit wenn jede fich felbft nur in der anderen zu lieben vermag; erit wenn fie felbft als einzelne Künfte aufhören, werden fie alle fähig, daS vollendete Kunſtwerk zu ſchaffen; ja ihr Aufhören in diefem Sinne ift ganz von ſelbſt ſchon dieſes Kunſtwerk, ihr Tod unmittelbar fein Leben.

Somit wird das Drama der Zufunft genau dann von felbft daftehen, wenn nicht Schaufpiel, nicht Oper, nicht Pantomime mehr zu leben vermögen; wenn die Bedingungen, die fie ent«

*) Unter biejen ift aber namentlich ber Meifter der franzöfiichen Schule aus dem Unfange dieſes Jahrhunderts zu gebenten.

Das Kunftwert der Zufunft. 123

ftehen Tießen und bei ihrem unnatürlichen Leben erhielten, voll- ftändig aufgehoben find. Diefe Bedingungen heben fih nur duch das Eintreten derjenigen Bedingungen auf, welde das Kunſtwerk der Zukunft aus fich erzeugen. Nicht vereinzelt können diefe aber entftehen, fondern nur im vollften Bufammenhange mit den Bedingungen aller unferer Lebensverhältniſſe. Nur wenn bie herrſchende Religion des Egoismus, die auch die ge- fammte Kunft in verfrüppelte, eigenfüchtige Kunftrichtungen und Runftarten zerfplitterte, auß jedem Momente des menjchlichen Lebens unbarmherzig verdrängt und mit Stumpf und Stiel aus— gerottet ift, Tann aber die neue Religion, und zwar ganz von ſelbſt, in das Leben treten, die aud die Bedingungen des Kunſiwerkes der Zukunft in fich ſchließt.

Ehe wir uns mit fehnendem Auge zu der Vorftellung des Anblides diefes Kunſtwerkes wenden, wie wir fie aus ber reinen -Zerneinung unſeres jegigen Kunſtweſens uns zu gewinnen haben, ift es aber nöthig, zuvor noch einen, unferem Zwecke entfprechen- den Blick auf dad Wefen ber fogenannten bildenden Künfte zu werfen.

IH.

Der Menſch als künflerifcher Bildner ans natür- lichen Stoffen.

1. Baukunft.

Wie der Menſch in erfter und höchfter Beziehung ſich felbft Gegenftand und Stoff künftlerifher Behandlung wird, dehnt er fein Verlangen nad} fünftlerifcher Darſtellung auch auf die Begen- ftände der ihm umgebenden, befreundeten und dienenden Natur aus. Genau in dem Grade, als in der Darftellung ber Natur der Menfch die Beziehung derfelben zu ſich zu erfaflen, ſich als den zum Bewußtfein Erwachten und Bemwußtfein Erwedenden in den Mittelpunft feiner Naturanfchauungen zu ftellen weiß, ver- mag er die Natur ſelbſt fich fünftlerifch darzuftellen, und dem

124 Das Kunftwert der Zukunft,

Einzigen, für den diefe Darftellung berechnet fein kann, den Menſchen, aus wenn auch nicht gleich bedürfnißvollem doch ähnlihem Drange, als das Kunftwerk, deſſen Gegenftand und Stoff er eben felbft ift, mitzutheilen. Nur aber der Menſch, der bereit aus fi und an fi das unmittelbar menfch- liche. Kunſtwerk hervorgebracht Hat, ſich ſelbſt alfo fünftlerifch zu erfaffen und mitzutheilen vermag, ift daher auch fähig, die Na— tur ſich künſtleriſch darzuftellen; nicht der unentwidelte, natur- unterwürfige. Die Völker Afiens und felbft Ägyptens, denen die Natur nur noch als willfürliche elementarifche oder thieriſche Macht fid) darftellte, zu der ſich der Menſch unbedingt leidend ober bis zur Selbitverftümmelung ſchwelgend verhielt, ftellten die Natur au al anbetungswürbigen und für die Anbetung darzuftellenden Gegenstand voran, ohne fie, gerade eben deß— halb, zum freien, künſtleriſchen Bewußtfein fi) erheben zu kön— nen. Hier wurde denn aud) der Menf nie ſich felbft Gegen- ftand künſtleriſcher Darftellung, fondern, da der Menich alles Perſönliche mie die perfönliche Naturmacht unwillkürlich endlich doc nur nach menfchlihem Maaße zu begreifen ver— mochte, fo trug er feine Geftalt auch nur, und zwar in wider- lichſter Entſtellung, auf die darzuftellenden Gegenftände der Natur über.

Erſt den Hellenen war es vorbehalten, daß rein menfch- liche Kunſtwerk an ſich zu entwideln, und von ſich aus es zur Darftellung der Natur auszudehnen. Bu dem menſchlichen Kunſt⸗ werke fonnten fie aber gerade nicht eher reif fein, als bis fie die Natur in dem Sinne, wie fie ſich dem Aſiaten darftellte, über- munden, und den Menfchen in fo weit an die Spike ber Natur geftellt hatten, als fie jene perſönlichen Naturmächte als boll- fommen menſchlich ſchön geftaltete und gebahrende Götter fid, vorjtellten. Exit als Zeus vom Olympos die Welt mit feinem lebenfpendenden Athem durchdrang, ald Aphrodite dem Meer- ſchaume entjtiegen war, und Apollon den Inhalt und die Form feines Weſens als Geſetz jchönen menfhlichen Lebens fundgab, waren die rohen Naturgögen Afiend verſchwunden, und trug der künſtleriſch ſchön fi) bemußte Menſch das Geſetz feiner Schön— heit auch auf ſeine Auffaſſung und Darſtellung der Natur über.

Bor ber Göttereiche zu Dodona neigte ſich der, des Natur- orakels bedürftige, Urhellene; unter dem ſchattigen Laub-

Das Kunftwerk der Bukunft. 125

dache, und umgeben von den grünenden Baumfäulen des Göt— terhaines, erhob der Orphifer feine Stimme: unter dem ſchön gefügten Giebeldahe und zwiſchen den finnig gereihten Marmorfäulen des Göttertempels ordnete aber der kunſt⸗ freudige Lyriker feine Tänze nach dem tönenden Hymnos, und in dem Theater, dad von dem Götteraltare— als feinen Mittelpunfte aus, fi zu der verftändnißgebenden Bühne, wie zu den weiten Räumen für die, nad) Berftändniß verlan- genden, Zufchauer erhob, führte der Tragöde das lebendigſte Werk vollendetfter Kunft aus.

So ordnete der Fünftlerifche und nad fünftlerifher Selbftdarftellung verlangende Menſch nad) feinem künſt- leriſchen Bedürfniſſe die Natur fi unter, damit fie ihm nad) feiner höchften Abſicht diene. So bebang der Lyriker und Trar göbe den Architekten, der das feiner Kunſt würdige, wiederum fünſtleriſch ihr entfprechende, Gebäude aufführen foltte.

Das nächfte, natürliche Bedürfniß drängte den Menfchen zur Herrichtung von Wohn: und Schußgebäuben: in dem Lande und bei dem Volke, von dem ſich all’ unfere Kunſt herſchreibt, follte aber nicht dieſes rein phyſiſche Bedürfniß, fondern bad Vebürfnig des künſtleriſch fich felbit darftellenden Menfchen das Bauhandwerk zur wirklichen Kunft entwideln. Nicht die könige lichen Wohngebäude des Theſeus und Agamemnon, nicht die rohen Felfengemäuer der peladgifchen Burgen find als Bau— funftwerfe uns zur Vorftellung oder gar Anſchauung gelangt, ſondern die Tempel der Götter, die Tragödientheater

+ des Volles. Alles was nach dem Verfalle der Tragödie, d. 5. der vollendeten griehifhen Kunft, von biefen Gegenftänden der Baufunft ablag, ift feinem Weſen nah afiatifhen Urs fprunges. ö Wie der ewig naturunterwürfige Aſiate ſich die Herrlichkeit des Menfchen endlich nur in diefem einen, unbedingt Herrfchen- den, dem Defpoten, barzuftellen vermochte, fo häufte er auch alle Pracht der Umgebung nur um dieſen „Gott auf Erden“ an: bei diefer Anhäufung blieb Alles nur auf Befriedigung desjenigen egoiſtiſch finnlihen Werlangens berechnet, welches bis zum un« menfchligen Taumel immer nur fi will, biß zum Raſen nur ſich liebt, und in ſolchem ftet3 ungeftillten Sinnenfehnen Gegen- ftände über Gegenftände, Mafjen über Mafjen häuft, um der,

126 Das Runftwert der Zukunft.

zum Ungeheuren ausgedehnten Einnlichfeit endliche Befriedi- gung zu gewinnen. ®er Luxus ift ſomit das Wejen der afia- tiſchen Baukunft: feine monftröfen, geiftegöben und finnverwir- renden Geburten find bie ſtadiähnlichen Paläfte der Defpoten Afiens.

Wonnige Ruhe und edles Entzüden faßt und dagegen beim heiteren Anblide der hellenifchen Göttertempel, in denen wir die Natur, nur durch den Anhauch menfchliher Kunſt vergeiftigt, wieder erfennen. Der zum bolfögemeinfhaftlihen Schauplage höchſter menſchlicher Kunſt erweiterte Göttertempel war aber das Theater. In ihm war die Kunft, und zwar die gemeinfchaft- liche und an die Gemeinfchaftlichkeit ſich mittgeilende Kunft, ſich ſelbſt Geſetz, maaßgebend, nach Notwendigkeit verfahrend, und ber Nothwendigkeit auf das Volltommenfte entjprechend, ja, aus diefer Notwendigkeit die kühnften und mundervolliten Schöpfungen hervorbringend. Hiergegen entſprachen die Woh— nungsgebäube der Einzelnen gerade eben nur wieder dem Be— dürfniffe, aus dem fie entftanden: waren fie urjprünglic aus Holzftämmen gezimmert und ähnlich dem Zelte des Adilleus nad) ben einfachſten Gefegen der Zwedmäßigfeit gefügt, fo ſchmückten fie fi wohl zur Blüthezeit helleniſcher Bildung mit glatten Steinwänden und erweiterten ſich, mit ſinnvoller Bezug- nahme, zu Räumen der Gaftfreiheit; nie aber dehnten fie ſich über dad natürliche Bedürfniß bes Privatmannıes aus, nie fuchte der Einzelne in ihnen und durch fie ein Verlangen ſich zu be friedigen, das er in edelſter Weife nur in der gemeinfamen Offentlichkeit geftillt fand, auß der e8 im Grunde aud einzig entjpringen fann.

Gerade umgekehrt war die Wirkſamkeit der Baufunft, als das gemeinfane öffentliche Leben erloſch, und das egoiftiiche Be— hagen des Einzelnen ihr das Geſetz machte. Als der Privat mann nicht mehr ben gemeinfamen Göttern Zeus und Apol— Ion, fondern nur nod dem einfam feligmadhenden Plutos, dem Gotte des Reichthumes, opferte, als Jeder für ſich ein— zeln das fein wollte, was er zuvor nur in der Gemeinfamteit war, da nahm er fi aud den Architekten in Eold und gebot ihm, den Götzentempel des Egoismus ihm zu bauen. Dem reichen Egoiften genügte aber der ſchlanke Tempel der finnen- den Athene für fein Privatvergnügen nicht: feine Privatgöttin

Das Kunftwert ber Zukunft. 127

war die Wolluft, die immer verfchlingende, unerſättliche. Ihr mußten afiatiihe Maffen zur Verzehrung dargereicht werben, und ihren Saunen fonnten nur krauſe Schnörlel und Bierrathen zu entiprechen ſuchen. So fehen wir denn wie aus Rache für Alexander's Eroberung den Deſpotismus Afiens feine Schönheit vernichtenden Arme in das Herz ber europäifchen Welt hineinftreden, und unter ber römifhen Imperatorenherrſchaft glüctlich feine Macht bis dahin ausüben, daß die Schönheit nur nod aus ber Erinnerung erlernt werden konnte, weil fie aus dem lebendigen Bewußtſein der Menfchen bereit3 vollfommen entſchwunden war.

Wir gewahren nun, in ben blühendften Jahrhunderten der römiſchen Weltherrſchaft, die widerliche Erfcheinung des in das Ungeheure gefteigerten Prunkes der Paläfte der Kaifer und Reichen anf der einen Geite, und der bloßen wenn aud) toloſſal fih Tundgebenden Nüplichkeit in den öffentlichen Bauwerken.

Die Öffentlichkeit, wie fie eben nur zu einer gemein- famen Äußerung des allgemeinen Egoismus herabgeſunken war, hatte fein Bedürfniß nad) dem Schönen mehr, fie kannte nur noch den praftifhen Nugen. Dem abjolut Nützlichen war das Schöne gewichen; denn die Freude am Menfchen hatte: fich in die einzige Luft am Magen zufammengezogen; auf die Be— friedigung des Magens führt ſich aber, genau genommen, al’ dieß öffentliche Nüglichleitswefen*) zurüd, und nament- li in unferer, mit ihren Nüplichkeit3erfindungen fo prahlen« den, neueren Beit, die, bezeichnend genug! je mehr fie in diefem Sinne erfindet, um fo weniger fähig ift, die Magen der Hungernden wirklich zu füllen. Da, wo man nicht mehr wußte,

*) Allerdings ift bie Beſorgung des Nüplihen dad Erfte und Nothwendigfte: eine Zeit, welche aber nie über biefe Sorge hinaus zu dringen vermag, nie fie hinter fi werfen kann, um zum Schönen zu gelangen, fondern diefe Sorge al einzig maafgebende Reglerin in alle des Öffentlichen Lebens und ſelbſt der Kunft hinein- trägt, ift eine wahrhaft barbariſche; nur ber unnatürlichften Eivilifatiom aber ilt es möglich, ſoiche abjolute Varbarei zu pro- duziven: fie häuft immer und ewig die Hindernifie für dad Nügliche, um immer und ewig ben Anſchein zu haben, nur auf dad Nüpliche bedacht zu fein.

128 Das Kunſtwerk der Zukunft.

daß das wahrhaft Schöne infofern auch das Allernülichfte ift, als es im Leben fich eben nur kundgeben fan, wenn bem Lebens⸗ bebürfniffe feine naturnothwendige Befriedigung gefichert, und nicht duch unnüge Nützlichkeitsvorſchriften erſchwert oder gar verwehrt wird, da, wo die Sorge der Öffentlihteit alfo nur in der Fürforge für Eſſen und Trinken beftand, und die mög- lichſte Stillung diefer Sorge zugleich als die Lebensbebingung der Herrſchaft der Reichen und Cäfaren, und zwar in fo riefigen Verhältnifie ſich kundgab, wie unter der römifchen Weltherr- ſchaft, da eutſtanden die erftaunlichen Straßen- und Waffer- leitungen, mit denen wir heut’ zu Tage durch unfere Eifenbahn- ftraßen zu wetteifern fuchen; da wurde die Natur zur mel- tenden Kuh und die Baufunft zum Milche imer: die Pracht und Üppigfeit der Reichen Iebte von der Hug abgefchöpften Rahmenhaut der gewonnenen Milch, die man blau und wäſſerig duch jene Wafjerleitungen dem lieben Pöbel zuführte.

Aber diejes Nüplichleitsbemühen, diefer Prunf, gewann bei den Römern großartige Form: bie heitere Öriechenwelt lag ihnen auch nod nicht jo fern, daß fie durch ihre nüchterne Praktik, wie aus ihrem afiatifchen Prachttaumel, nit liebäugelnde Blide ihr noch hätten zumerjen können, fo daf tiber alle römiſche Bauwelt in unferen Augen mit Recht immer noch ein majeftätifher Bauber ausgebreitet liegt, der uns faft als Schönheit erſcheint. Was und nun aber aus biefer Welt über die Kirchtgurmfpigen des Mittelalter zugefommen ift, das entbehrt alles ſchönen wie maje: ftätifchen Baubers; denn wo wir, wie an unferen foloffalen Kir- chendomen, noch eine finftere, unerfreuende Majeftät zu ge- wahren vermögen, erbliden wir leider von Schönheit blutwenig mehr. Die eigentlichen Tempel unferer modernen Religion, die Börfengebäude, werden zwar fehr finnreich wieder auf, griechiſche Säulen Fonftruirt; griedifche Giebelfelder laden zu Eifenbahnfohrten ein, und auß dem athenifchen Parthenon ſchreitet und die abgelöfte Militärwache entgegen, aber, fo erhebend aud) diefe Ausnahmen find, fo find fie doch eben nur Ausnahmen, und die Regel unferer Nützlichkeitsbaukunſt ift un Täglich Heinlih und häßlich. Das Anmuthigſte und Großartigfte, was aber aud) die moderne Baufunft hervorzubringen vermöchte, müßte fie jedod immer ihrer ſchmählichſten Abhängigkeit inne werben lafjen: denn unfere öffentlichen, wie Privatbedürfuiſſe

Dad Kunftwerk der Zukuuft. 129

find der Art, daß die Baufunft, um ihnen zu entjprechen, nie zu produziren, immer nur nachzuahmen, zufammenzuftellen ver- mag. Nur das wirflihe Bedürfniß macht erfinderiih: das wirkliche Bebürfniß unferer Gegenwart äußert fih aber nur in Sinne des ftupideften Utilismus; ihm können nur mechanifche Vorrichtungen, nicht aber fünftlerifche Geftaltungen entſprechen. Bas über dieß wirkliche Bedürfniß Hinausliegt, ift aber das Be— dürfniß des Luxus, des Unnöthigen, und durch Uberflüffiges, Unnöthige vermag ihm auch nur die Baufunft zu dienen, d. h. fie wiederholt die Bauwerke früherer, aus Schönheitbebürf- niß produzirender Beiten, ftellt die Einzelheiten diejer Werte nach Iuguriöjem Belieben zufammen, verbindet aus unruhigem Verlangen nad Abwechſelung alle nationalen Bauftyle ber Welt zu unzufammenhängenden, jchedigen Geftaltungen, kurz fie verfährt nach der Willfür der Mode, deren frivole Geſetze fie zu den ihrigen machen muß, eben weil fie nirgends aus innerer, ſchöner Nothwendigkeit zu geftalten Hat.

Die Baukunft Hat infofern alle demüthigenden Schidfale der getrennten, rein menfchlichen Kunftarten an ſich mit zu er- leben, als fie nur durch das Bedürfni des, fich ſeibſt als ſchön tundgebenden oder nach diefer Kundgebung verlangenden Men- hen, zu wahrhaft ſchöpferiſchem Geftalten veranlaft werden ann. Genau mit dem Verblühen der griehifhen Tragödie ber gann auch ihr Fall, trat nämlich die Schwächung ihrer eigen- thümlihen Produftiongkraft ein; und die üppigften Monumente, die fie zur Verhertlichung des Foloffalen Egoismus der fpäteren Zeiten, ja felbft desjenigen des chriftlichen Glaubens, aufrichten mußte, erſcheinen gegen die erhabene Einfalt und die tieffinnige Bebeutjamleit griechifcher Gebäude zur Zeit der Blüthe der Tragödie wie geile Auswüchſe üppiger nächtliher Träume gegen die heiteren Geburten des ſtrahlenden, allducchdringenden Ta— geslichtes.

Nur mit der Erlöſung der egoiſtiſch getrennten veinmenfch- lihen Kunftarten in das gemeinfame Kunftwert der Bufuuft, mit der Erlöfung des Nützlichkeitsmenſchen überhaupt in den Fünftlerifden Menfhen der Zukunft, wird aud bie Baukunft aus den Banden der Knechtſchaft, aus dem Fluche der Zeugungsunfähigleit, zur freieften, unerſchöpflich fruchtbarften Kunfttgätigkeit erlöft werden.

Rigard Wagner, Ge. Seiten IIL J %

130 Das Kunftwert der Zukunft.

2. Bildhauerkunft.

Afioten und Ägypter waren in der Darftellung ber fie be- herrſchenden Naturerfheinungen von der Nachbildung der Ge— ftalt der Thiere zu der menſchlichen Geftalt ſelbſt überge- gangen, unter welcher fie, in unmäßigen Verhältniffen und mit widerlicher naturfgmbolifher Entftellung jene Mächte ſich vor- zuftellen fuchten. Nicht den Menſchen wollten fie nachbilden, fondern unmillfürlih, und weil als Höchſtes der Menſch endlich immer nur fich felbft, fomit auch feine eigene Geftalt fich denken Tann, trugen fie das deßhalb eben auch verzerrte Men: ſchenbild auf den anzubetenden Gegenftand der Natur über.

In diefem Sinne, und von ähnlicher Abſicht hervorgerufen, fehen wir auch bei ben älteften Hellenifchen Stämmen Götter, d. 5. göttlich gedachte Naturmächte, unter menfchlicher Geftalt als Gegenftände der Anbetung in Holz oder Stein dargeftellt. Dem religiöfen Bebürfniffe nach Vergegenſtändlichung der un— fichtbaren, gefürchteten ober verehrten göttlichen Macht, entſprach die ältefte Bildhauerkunſt durch Formung natürlicher Stoffe zur Nachahmung der menfhlihen Geftalt, wie die Baufunft einem unmittelbar menfchlichen Bebürfniffe entſprach durch Ver⸗ wendung und Fügung natürlicher Stoffe zu einer, dem bejon- deren Bwede zufagenden, gewiffermaßen verdichtenden Nad- ahmung der Natur, wie wir z. B. im Göttertempel ben verdichtet dargeftellten Götterhain zu erfennen haben. War diefer Abficht gebende Menſch in der Baukunſt ein nur auf nädjfte, unmittelbarfte Nüglichfeit bedachter, jo Fonnte die Kunft aur Handwerk bleiben ober zum Handwerk wieber werden; war er dagegen ein fünftlerifcher, ftellte er ſich als ſolchen, der fi) bereits felbft Stoff und Gegenftand Fünftlerifcher Behand» ung geworben war, an ben Ausgangspunkt der Ubficht, jo er- hob er auch da8 Bauhandwerk eben zur Kunſt. So lange der Mensch ſich ſelbſt in thierifcher Abhängigkeit von der Natur em⸗ pfand, vermochte er die anzubetenden Mächte diefer Natur, wenn er auch bereit unter menſchlicher Geftalt fie fi vorftellte, doch eben nur nad dem Maaße bildlich darzuftellen, mit welchem er fi maß, nämlich in dem Gewande und mit den Attributen der

Dad Kunſtwerk der Zukunft. 131

Natur, von der er fich thieriſch abhängig fühlte; in dem Grabe, als er fich, feinen eigenen unentftellten Leib, fein eigenes, rein menſchliches Wermögen, zum Stoffe und Gegenftande für fünft- Ierifche Behandlung erhob, vermochte er aber auch feine Götter in freiefter, unentftelltefter menſchlicher Geſtalt, im Abbilde fich darzuftellen, bis dahin, wo er endlich unummunden, biefe ſchöne menſchliche Geſtalt felbft als eben nur menſchliche Geftalt zu feiner äußerften Befriedigung fi vorführte.

Wir berühren hier den ungemein wichtigen Scheidepunft, an welchem das lebendige menſchliche Kunſtwerk ſich zerfplit: texte, um in der Plaſtik mit monumentaler Bemegungslofigfeit, wie verfteinert, künſtlich fortzuleben. Die Erörterung biefes Punktes mußte für die Darftellung der Bildhauerkunft aufge hoben bleiben.

Die erfte und ältefte Gemeinfchaftlichfeit der Menſchen war das Werk der Natur. Die rein gejchlechtliche Genoſſeuſchaft, d. 5. der Inbegriff aller Derer, die von einem gemeinſchaftlichen Stammbater und ber von ihm ausgegangenen Leibeöfproffen

ſich ableiteten, ift da8 urfprüngliche Vereinigungsband aller in der Gejchichte und vorfommenden Stämme und Völker. In den Überlieferungen der Sage bewahrt diefer gefchlechtlihe Stamm, wie in immer Iebhafter Erinnerung, dad unwillkürliche Biffen von feiner gemeinſchaftlichen Herkunft: die Eindrüde der befon- ders gearteten Natur, die ihn umgiebt, erheben diefe fagenhaften Gefchlechtserinnerungen aber zu veligiöfen Vorftellungen. So mannigfaltig und reich nun diefe Erinnerungen und Vorftellungen durch geſchlechtliche Vermifhung, fowie, namentlich auf den Wan- derungen ber Stämme, dur Wechfel der: Natureindrüde bei den Iebhafteften Geſchichtsvölkern fich angehäuft, gedrängt und neugeftaltet haben mögen, jo weit diefe Bölfer in Sage und Religion aus den engeren Kreifen ber Nationalität das Ge— denfen ihres befonderen Urfprunges, fomit auch bis zur An— nahme allgemeiner Herkunft und Abſtammung ber Menfchen überhaupt bon ihren Göttern, als von den Göttern überhaupt ausdehnen mochten, fo Hat doch zu jeder Zeit, mo Mythus und Religion im lebendigen Glauben eines Vollsſtammes Tebteı, das befonder8 einigende Band gerade dieſes Stammes immer nur in eben dieſem Mythus und eben diefer Religion gelegen. Die gemeinfame Zeier der Erinnerung ihrer gemeinſchaftlichen g*

132 Das Kunftwert der Zukunft.

Herkunft begingen die helleniſchen Stämme in ihren religiöfen Seften, d. 5. in der Verherrlihung und Verehrung bes Gottes ober des Helden, in welchem fie fich al ein gemeinfame3 Ganzes inbegriffen fühlten. Am lebendigſten, wie aus Bedürfniß das immer weiter in die Vergangenheit Entrüdte fi mit höchfter Deutlichkeit feitzuhalten, verfinnlichten fie ihre Nationalerinne- rungen endlich aber in der Kunft, und Hier am unmittelbarften im bollendetften Kunſtwerke, der Tragödie. Das Iyrifche wie dad dramatifche Kunſtwerk war ein religiöfer Alt: bereits aber gab fich in diefem Afte, der urfprünglichen einfachen religiöfen Geier gegenüber gehalten, ein gleichfam künſtliches Beſtreben Tund, nämlich das Beftreben, willkürlich und abſichtlich diejenige gemeinfchaftliche Erinnerung fi vorzuführen, die im gemeinen Leben an unmittelbar Icbendigem Eindrude ſchon verloren Hatte. Die Tragödie mar fomit die zum Kunſtwerke gewordene reli- giöfe Feier, neben welcher die herkömmlich fortgefegte wirkliche veligiöfe Tempelfeier nothwendig an Annigkeit und Wahrheit fo ſehr einbüßte, daß fie eben zur gedaufenlofen herfömmlichen Ceremonie wurde, während ihr Kern im Kunſtwerke forilebte.

In ber höchft wichtigen Außerlichfeit des religiöfen Aktes ſtellt ſich die Geſchlechtsgenoſſenſchaft unter gewiſſen altbedeu- iungsvollen Gebräuchen, Formen und Bekleidungen, als eine gemeinſchaftliche dar: dad Gewand der Religion iſt, fo zu fagen, die Tradjt des Volksſtammes, an welcher er fi gemein- ſchaftlich und auf den erften Blick erkennt. Diefes, durch uraltes Herfommen geheiligte Gewand, dieſe gewiſſermaßen religiös- gefellfchaftlihe Konvention, hatte fi von der religiöfen eier auf bie Fünftferifche, die Tragödie, übergetragen: in ihm und nah ihr gab der darftellende Tragöde ſich als wohlbefannte, verehrte Geftalt der Volfsgenofienfhaft fund. Keineswegs nur die Größe des Theaters und die Entfernung der Zuſchauer be dangen etwa die Erhöhung der menfchlichen Geftalt durch den Kothurn, oder geftatteten etwa eben nur die ftabile tragifche Maske, fondern biefe, Kothurn und Maske, waren noth- wenbige, religiös bedeutungsvolle Attribute, die im Geleite an— derer ſymboliſcher Abzeichen dem Darfteller erſt feinen wichtigen, priefterlichen Charakter gaben. Wo nun eine Religion, wenn fie aus dem gemeinen Leben zu weichen beginnt und vor ber politifchen Richtung deſſelben ſich vollends zurüdzieht, nur ihrem

Das Kunftwert der Zukunft. 133

äußeren Gewande nad} eigentlich noch kenntlich vorhanden ift, bieß Gewand aber, wie bei den Athenern, nur noch als Bes Heidung der Kunft die Geftaltungen wirklichen Lebens anzu— nehmen vermag, da muß dieſes wirkliche Leben als unverhüllter Kern der Religion auch unummunden offen fi bekennen. Der Kern der hellenifchen Religion, auf den all’ ihr Wefen im Grunde einzig fi) bezog, und wie er im wirklichen Leben bereits unwill⸗ türlich als einzig fich geltend machte, war aber: der Menfd. An der Kunft war es, dieß Bekenntniß Har und deutlich auszu- fprechen: fie that e8, indem fie das letzte verhüllende Gewand der Religion von fi warf, und in voller Nadtheit ihren Kern, den wirklichen leiblihen Menfchen zeigte.

Mit diefer EntHülung war aber auch daß gemeinſchaftliche Kunftwerf vernichtet: das Band der Gemeinfhaft in ihm war eben jenes Gewand der Religion geweſen. Wie der Inhalt des gemeinfamen Mythus und der Religion als Gegenftand ber darftellenden dramatifhen Kunſt nach dichterifcher Deutung und Abſicht, endlich nad) eigenfüchtig dichterifcher Willfür, bereits umgemwanbelt, verwendet und gar entftellt wurbe, war der reli- giöfe Glaube aber auch ſchon vollftändig aus dem Leben ber, nur noch politifh mit einander verfetteten, Vollsgenoſſenſchaft verfchtwunden. Diefer Glaube, die Verehrung der Götter, die fiere Annahme von der Wahrheit der alten Geichlechtsüber- fieferungen, hatten jedoch das Band der Gemeinfamkeit ausge» macht: war ed nun zerriffen und als Aberglaube verfpottet, fo war damit allerdings der unläugbare Inhalt diejer Religion als unbedingter, wirklicher, nadter Menſch zum Vorſchein gefom- men; dieſer Menſch war aber nicht mehr ber gemeinfame, von jenem Bande zur Geſchlechtsgenoſſenſchaft vereinte, fondern der egoiftifche, abfolute, einzelne Menſch, nadt und ſchön, aber Ioßgelöft aus dem fchönen Bunde der Gemeinjamteit.

Bon bier ab, von der Berftörung der griechifchen Religion, von ber Zertrümmerung des griechifchen Naturftaates und ſei— ner Auflöfung in den politiihen Staat, von der Zerfplit- terung des gemeinfamen tragifchen Kunſtwerkes, beginnt für die weltgeſchichtliche Menfchheit beftinmt und entſchieden ber neue, unermeßlid) große Entwidelungögang von der unterge- gangenen geſchlechtlich -natürlichen Nationalgemein- famteit zur veinmenfchlihen Allgemeinſamkeit. Das

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Band, das ber, im nationalen Hellenen ſich bewußt werdende, volltommene Menjch, mit diefem Bewußtwerden, als beengende Feſſel zerriß, fol fich als allgemeinfames nun um alle Men- ſchen fhlingen. Die Periode von biefem Zeitpunfte bis auf unfere Tage ift daher die Geſchichte des abfoluten Egois- mus, und das Ende diefer Periode wird feine Erlöfung in den Kommunismus*) fein. Die Kunft, die diefen einjamen, ego- iftifchen, nadten Menſchen als den Ausgangspunkt der bezeich- neten weltgeſchichtlichen Periode als ſchönes, mahnendes Mo- nument uns hingeſtellt hat, iſt die Bildhauerkunſt, die ihre Blüthe genau dann erreichte, als das menſchlich gemeinſame Kunſiwerk der Tragödie von ihrer Blüthe herabfant.

Die Schönheit des menſchlichen Leibes war bie Grundlage aller helleniſchen Kunſt, ja fogar des natürlichen Staates gewefen; wir wiffen, daß bei dem abeligften der Hel- leniſchen Stämme, bei den fpartanifchen Doriern, die Gejunbheit und unentftellte Schönheit des neugeborenen Kindes die Be— dingungen ausmachten, unter denen ihm allein da8 Leben ge- ftattet war, während Häßlichen und Miögeborenen das Necht zu leben abgefprocdhen wurde. Diefer ſchöne madte Menſch ift der Kern alle Spartanertfumes: auß der mwirkfihen Freude an der Schönheit des vollkommenſten menſchlichen, des männlichen Leibes, ſtammte die, alles ſpartaniſche Staatsweſen durchdrin⸗ gende und geſtaltende, Männerliebe her. Dieſe Liebe giebt ſich uns in ihrer urſprünglichen Reinheit, als edelſte und un— eigenſüchtigſte Außerung des menſchlichen Schönheitsſinnes kund. It die Liebe des Mannes zum Weibe, in ihrer natürlichſten Huße- rung, im Grunde eine egoiftifch genußfüchtige, in welcher, wie er in einem beftimmten finnlichen Genuſſe feine Befriedigung findet, der Mann nad) feinem vollen Weſen nicht aufzugehen vermag, fo ftellt fi die Männerliebe als eine bei weitem höhere Neigung dar, eben weil fie nicht nad) einem beftimmten finnlichen Genuffe ſich jehnt, fondern der Dann duch fie mit feinem ganzen Wefen in das Wefen des geliebten Gegen-

*) Es iſt polizei-gefährlich biefe® Wort zu gebrauden: dennoch giebt es eines, welches beſſer und beftimmter ben reinen Gegenſatz zu Egoismuß bezeichnet. Wer fi heut’ zu Tage ſchämt, ald Egoift zu gelten unb dad will ja Niemand offen und unummunden —, der muß es fi ſchon gefallen lafjen, Kommunift genannt zu werben.

Das Kunftwert der Zukunft. 135

ftandes fich zu verfenten, in ihm aufzugehen vermag; und genau nur in dem Grade, als das Weib bei vollendeter Weiblichkeit, in feiner Liebe zu dem Manne und durch fein Verſenken in fein Weſen, auch das männliche Element dieſer Weiblichleit ent- wickelt und mit dem rein weiblichen in ſich zum vollfommenen Abſchluſſe gebracht Hat, fomit in dem Grade, als fie dem Manne nit nur Öeliebte, fondern auch Freund ift, vermag der Mann ſchon in der Weibesliebe volle Befriedigung zu finden*). Das höhere Element jener Männerliebe beitand aber eben darin, daß es das finnlich egoiftifche Genußmoment ausſchloß. Nichtsdeſto- weniger ſchloß in ihr fich jeboch nicht etwa nur ein reingeiftiger Freundſchaftsbund, fondern die geiftige Freundſchaft war erft die Blüte, der vollendete Genuß der finnlichen Freundſchaft: diefe entjprang unmittelbar aus der Freude ander Schönheit, und zwar der ganz leiblichen, finnlichen Schönheit des geliebten Mannes. Diefe Freude war aber fein egoiftiiches Sehnen, fon- bern ein vollftändiges Ausſichherausgehen zum unbebingteften Mitgefühl der Freude des Geliebten an fich ſelbſt, wie fie ſich unwillkürlich durch das lebensfrohe, ſchönheiterregte Gebahren dieſes Glüdlichen ausſprach. Diefe Liebe, die in dem ebelften, finnlich-geiftigen Genießen ihren Grund Hatte, nicht unſere briefpoſtlich litterariſch vermittelte, geiftesgejchäftliche, nüchterne Freundſchaft, war bei ben Spartanern die einzige Erzieherin der Jugend, die nie alternde Lehrerin des Fünglinges und Man- nes, die Anordnerin der gemeinfamen Zefte und fühnen Unter nehmungen, ja die begeifternde Helferin in der Schlacht, indem fie e8 war, welche die Liebesgenoffenfchaften zu Kriegsabtheilun gen und Heeredordnungen verband, und die Taktik der ZTobes- kühnheit zur Rettung des bedrohten, oder zur Rache für den ger fallenen Geliebten nad) unverbrüchlichſten, naturnothwenbigften Seelengefegen vorjchrieb. Der Spartaner, der fomit unmittel-

*) Die Erlöfung des Weibed in bie Mitbetheiligung an ber männlichen Natur ift dad Werk chriſtlich germaniſcher Entwidelung: dem Griechen blieb ber Piosiiöe Prozeß ebler eniſprechender Ver— mannlichung des Weibes unbekanni; ihm erſchien alles fo, wie es ſich unmittelbar und unvermittelt gab, das Weib war ihm Weib, der Mann Mann, und fomit trat bei ihm eben ba, wo die Liebe gum Beibe naturgemäß befriedigt war, dad Verlangen nad; dem

mne ein.

136 Das Kunftwert der Zukunft.

bar im Leben fein reinmenſchliches, gemeinfchaftliches Kunſtwerk ausführte, ftellte ſich dieſes unwillkürlich auch nur in der Lyrik dar, diefem unmittelbarften Ausdrucke der Freude an fih und am eben, das in feiner nothiwendigen Hußerung faum zum Bewußtſein der Kunft gelangt. Die fpartanifche Lyrik neigte fih, in der Blüthe de3 natürlichen dorifchen Staates, auch jo überwiegend zur urfprünglichen Baſis aller Kunft, dem Ieben- digen Tanze, hin, daß charakteriftifh genug! ung aud) faft gar fein litterarifches Denkmal derſelben verblieben ift, eben weil fie nur reine, ſinnlich ſchöne Lebensäußerung war, und alles Abziehen der Dichtkunft von ber Ton- und Tanzkunft verwehrte. Selbft der Übergang aus der Lyrik zum Drama, wie wir ihn in ben epijchen ©efängen zu erkennen haben, blieb den Spar- tanern fremd; die homerifchen Gefänge find, bezeichnend genug, in ionifcher, nicht in dorifher Mundart gefammelt. Während die ionischen Völker, und namentlich ſchließuch die Athener, unter lebhaftefter gegenfeitiger Berührung fih zu politifhen Staaten entwidelten, und die aus dem Leben verſchwindende Religion fünftlerifch in der Tragödie nur noch fich darftellten, waren die Spartaner, al3 abgefchlofjene Binnenlänbler, bei ihrem urhelfe- niſchen Wefen verblieben, und ftellten ihren unvermifchten Natur- ftaat als ein lebendiges fünftlerifches Monument den wechjel- vollen Geftaltungen des neueren politifchen Lebens gegenüber. Alles, was in dem jähen Wirbel der raftlos zerftörenden neuen Zeit Rettung und Anhalt fuchte, richtete damals feine Augen auf Sparta; der Staatsmann ſuchte die Formen dieſes Urftantes zu erforfchen, um fie fünftlich auf den politifchen Staat der Gegen: wart überzutragen; der Künftler aber, ber das gemeinfame Kunftwert der Tragödie vor feinen Augen ſich zerfegen und zer- ſchälen fah, blicte dahin, wo er den Kern dieſes Kunſtwerkes, den ſchönen urhelleniſchen Menfchen, gewahren und für die Kunft erhalten fünnte. Wie Sparta als Iebendes Monument in bie Neuzeit hineinragte, fo hielt die Bildhauerfunft den aus dieſem lebenden Monumente erfannten urhellenifchen Menfchen als ſtei— nerneß, lebloſes Monument vergangener Schönheit für die leben— dige Barbarei fommender Zeiten feit.

Aber als man aus Athen feine Blicke nad) Sparta richtete, nagte bereitö der Wurm des gemeinfamen Egoismus verderbniß- voll auch an diefem ſchönen Staate. Der peloponefiiche Krieg

Das Kunftiver? der Zukunft. 137

hatte ihn unwillkürlich in den Strudel der Neuzeit Hineingeriffen, und Sparta Hatte Athen nur durch bie Waffen befiegen fönnen, die die Athener zuvor ihnen fo furchtbar und unangreiflich ges macht hatten. Statt der ehernen Münzen diefen Dentmälern der Verachtung des Geldes gegen die Hochſtellung des Menſchen häufte fich geprägtes afiatijches Gold in den Kiſten des Spar- tanerd; bon dem herkömmlichen nüchternen Gemeindemahle zog er fi zum üppigen Gelage zwiſchen feinen vier Wänden zurüd, und die ſchöne Männerliebe artete wie fchon fonft bei den anderen Hellenen in widerliches Sinnengelüft aus, jo das Motiv diefer Liebe wodurch fie eben eine höhere als die Srauenliebe war in ihr unnatürliches Gegentheil verwandelnd.

Diefen Menfchen, ſchön an fich, aber unfchön in feinem egoiftifchen Einzelnfein, Hat und in Marmor und Erz die Bild» hauerkunſt überliefert, bewegungslos und falt, wie eine ber- fteinerte Erinnerung, wie die Mumie des Griechenthums. Diefe Kunſt, im Solde der Reichen zur Verzierung ber Paläfte, gewann um fo leichter eine ungemeine Ausbreitung, als das künftlerifche Schaffen in ihr fehr bald zur bloßen medja- nifchen Arbeit herabſinken konnte. Der Gegenftand der Bild- hauerei ift allerdings der Menſch, der unendlich mannigfaltige, charakteriſtiſch verſchiedene und in ben verfchiedenften Affekten ſich fundgebende: aber den Stoff zu feiner Darftellung nimmt diefe Kunſt von der finnlichen Außengeftalt, aus der immer nur die Hülle, nicht der Kern des menfchlichen Wefens zu entnehmen ift. Wohl giebt fich der innere Menſch auf das Entjprechendfte auch durd feine äußere Erfcheinung fund, aber vollfommen nur in und duch die Bewegung. Der Bildhauer kann von diefer Bewegung aus ihrem mannigfaltigften Wechſel nur diejen einen Moment erfafien und wiedergeben, die eigentliche Be: wegung fomit nur durch Abſtraktion von dem finnlich vorſtehen⸗ den Kunftwerfe nach einem gewiſſen, mathematiſch vergleichen- den Kalkül errathen lafjen. War das richtigfte und entfprechend fiherfte Verfahren, um aus diefer Armuth und Unbehülflichkeit heraus zur Darftellung wirklichen Lebens zu gelangen, einmal gefunden, war dem natürlichen Stoffe einmal das vollendete Maaß der menfchlichen äußeren Erſcheinung eingebilbet, und ihm die Fähigkeit, dieſes überzeugend und zurüdzufpiegeln, ein- mal abgewonnen, fo war dieſes eutdedte Verfahren ein

138 Das Kunftwerk der Zukunft.

fider zu erlernendes, und von Nachbildung zu Nachbildung tonnte die Bildhauerkunft undenflich lange fortleben, Anmuthi— ges, Schönes und Wahres hervorbringen, ohne dennoch aus wirklicher, künſtleriſcher Schöpferkraft Nahrung zu empfangen. So finden wir denn aud, daß zu der Zeit der römischen Welt- herrſchaft, als aller Fünftlerifche Trieb längft erftorben war, die Bilbhauerkunft in zahlreicher Fülle Werke zu Tage brachte, denen künſtleriſcher Geift inne zu wohnen ſchien, troßdem fie doch nur der glücklich nachahmenden Mechanik in Wahrheit ihr Dafein verdanften: fie konnte ein ſchönes Handwerk werden, al3 fie auf⸗ gehört Hatte, Kunft zu fein, was fie genau nur fo lange war, als in ihr noch zu entdeden, zu erfinden war; die Wiederholung einer Entdedung ift aber eben nur Nachahmung.

Durch das eifengepanzerte, oder mönchiſch verhüllte Mittel- alter her, leuchtete der Iebensbebürftigen Menſchheit endlich zu= erft das ſchimmernde Marmorfleiſch griechiſcher Leibesfhönheit wieder entgegen: an dieſem ſchönen Geftein, nicht an dem wirk- lichen Leben der alten Welt, follte die neuere den Menſchen wiebererfennen lernen. Unſere moderne Bildhauerkunft ent- keimte micht dem Drange nad) Darftellung des wirklich vor- handenen Menfchen, ben fie durch feine modifche Verhüllung kaum zu gewahren vermochte, ſondern dem Verlangen nach Nach- ahmung des nahgeahmten, ſinnlich unvorhandenen Menfchen. Sie ift der redliche Trieb, aus einem durchaus unfhönen Leben heraus, die Schönheit aus der Vergangenheit fid) zurückzukon- ſtruiren. War der aus der Wirklichkeit verſchwindende ſchöne Menſch der Grund der fünftlerifchen Ausbildung der Bildhauerei geweſen, die, wie im Zefthalten eines untergegangenen Gentein- famen, fi ihn zu monumentalem Behagen aufbewahren wollte, fo konnte dem modernen Drange, jene Monumente für ſich zu wieberholen, gar nur die gänzliche Abweſenheit dieſes Men- chen im Leben zu Grunde liegen. Dadurch, daß diefer Drang jomit fih nie aus dem Leben und im Leben befriebigte, fondern nur von Deonument zu Monument, von Stein zu Stein, von Bild zu Bild fich fort und fort bewegte, mußte unfere, die eigent- liche Bildhauerkunſt nur nachahmende, moderne Bildhauerkunft in Wahrheit den Charakter eines zünftiſchen Gewerles annehmen, in welchem der Reichthum von Regeln und Normen, nach denen fie verfuhr, im Grunde nur ihre Armuth als Kunſt, ihre Un-

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fähigkeit zu erfinden, offenbart. Indem fie fi und ihre Werke ftatt des im Leben nicht vorhandenen ſchönen Menſchen Binftellt, indem fie als Kunft gewiffermaßen von diefem Mangel lebt, geräth fie aber endlich in eine egoiftifch einfame Stel— lung, in welcher fie, fo zu jagen, nur dem Wetterkünder der im Leben noch herrſchenden Unfhönheit abgiebt, und zwar mit einem gewiffen Behagen an dem Gefühle ihrer relativen Noth- wenbdigfeit bei fo beftellten Witterungsverhältwiffen. Gerade jo lange nur vermag nämlich die moberne Bildhauerkunft irgend welchem Bedürfniffe zu entiprechen, als der fchöne Menfc im wirklichen Leben nicht vorhanden ift: fein Erſcheinen im Leben, fein unmittelbar durch fi) maßgebendes Geftalten, müßte ber Untergang unferer heutigen Plaftik fein; denn das Bedürfniß, dem fie einzig zu entjprechen vermag, ja das fie durch fih künftlich erjt angeregt, ift das, welches aus der Unfchönheit des Lebens fich herausfehnt, nicht aber das, welches aus einem wirklich ſchönen Leben nad) der Darftellung diefes Lebens einzig im lebenden Kunftwerfe verlangt. Das wahre, ſchöpferiſche, fünftlerifche Verlangen geht jedoch aus Fülle, nicht aus Mangel hervor: die Fülle der modernen Bildhauerkunſt ift aber die Fülle der auf und gelommenen Monumente griechifcher Plaſtik; aus diefer Fülle ſchafft fie nun aber nicht, fondern durch den Mangel an Schönheit im Leben wird fie ihr nur zugetrieben; fie verfenft ſich in diefe Fülle, um vor dem Mangel zu flüchten.

So ohne Möglichkeit zu erfinden, verträgt fie ſich endlich, um nur irgendwie zu erfinden, mit der vorhandenen Geftaltung des Lebens: wie in Berzweiflung wirft fie ſich das Gewand ber Mode vor, und um bon diefem Leben wiebererfannt und belohnt zu werben, bildet fie das Unſchöne nach, um wahr, d. h. nad) unferen Begriffen wahr, zu fein, giebt fie e8 vollends gar auf, ſchön zu fein. So geräth die Bildhauerkunft unter dem Beftehen derjelben Bedingungen, die fie am künſtlichen Leben erhalten, in den unfeligen, unfruchtbaren oder Unfchönes zeugenden Bus ftand, aus dem fie fid) nothwendig nad) Erlöfung fehnen muß: die Lebendbebingungen, in die fie fich erlöft wünfcht, find jedoch genau genommen die Bedingungen dedjenigen Lebens, dem gegen- über die Bildhauerkunft als felbftändige Kunft gerabesweges auf hören muß. Um fchöpferifch werden zu können, fehnt fie ſich nad der Herrſchaft der Schönheit im wirklichen Leben, auß dem fie

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einzig lebendigen Stoff zur Erfindung zu gewinnen verhofft: diefe Sehnſucht müßte aber, fobald fie erfüllt ift, die ihm inne wohnende egoiftifche Täufhung in fo weit offenbaren, als die Bedingungen zum nothwendigen Schaffen der Bildhauerkunſt im wirklich Teiblih ſchönen Leben jedenfall aufgehoben fein würden.

Im gegenwärtigen Leben entfpricht die Bildhauerfunft, als felöftändige Kunft, eben nur einem relativen Bebürfniffe: dieſem verdankt fie aber in Wirklichkeit ihr heutiges Dafein, ja ihre Blüthe; der andere, dem modernen entgegengefeßte Buftand ift aber ber, in welchem ein nothwendiges Bedürfniß nach ben Wer- ten der Bildhauerkunft nicht füglich gedacht werden fann. Hul- digt der Menſch im vollen Leben dem. Prinzipe der Schönheit, bildet er feinen eigenen lebendigen Leib ſchön, und freut ex ſich diefer an ihm felbft Fundgegebenen Schönheit, jo ift Gegenftand und fünftlerifcher Stoff der Darftellung diefer Echönheit und der Freude an ihr unzweifelhaft der vollfommene, warme, leben⸗ dige Menfch feldft; fein Kunftwerk ift dad Drama, und bie Erlöſung der Plaftit ift genau die der Entzauberung des Steines in das Fleifh und Blut des Menſchen, aus dem Bemwegungslofen in die Bewegung, aus dem Mo— numentalen in da8 Gegenwärtige. Erſt wenn der Drang des künſtleriſchen Bildhauers in die Seele des Tänzers, bed mimiſchen Darftellers, des fingenden und fprechenden, über- gegangen ift, Tann biefer Drang als wirklich geftillt, gebacht werden. Erſt wenn die Bildhauerfunft nicht mehr eriftitt, oder, nad) einer anderen als ber menſchlich Teiblihen Richtung Hin, al3 Skulptur in die Architektur aufgegangen, wenn die ftarre Einfamkeit diefes einen, in Stein gehauenen Menjchen in die unendlich ftrömende Bielheit der Icbendigen wirklichen Menfchen ſich aufgelöft Haben wird; wenn wir die Erinnerung an ge liebte Todte in ewig neu lebendem, feelenvollem Fleiſch und Blut, nicht wiederum in tobtem Erz oder Marmor und vor— führen; wenn wir aus dem Steine uns die Bauwerke zur Ein- hebung des Iebendigen Kunſtwerkes errichten, nicht aber den lebendigen Menfchen in ihm und mehr vorzuftellen nöthig haben, dann erft wird die wahre Plaftif auch vorhanden fein.

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3. Malerkunſt.

Wie da, wo uns der Genuß an dem ſymphoniſchen Spiele eines Orcheſters verſagt iſt, wir am Klaviere durch einen Auszug dieſen Genuß uns zurüdzurufen verſuchen; wie wir den Ein— drud, den ein farbige Ölgemälde in einer Bildergalerie auf und machte, da, wo und der Anblick dieſes Gemälbes nicht mehr verftattet ift, und durch einen Kupferſiich zu vergegenwärtigen traten, fo hatte die Malerkunft, wenn nicht in ihrer Ent» ftehung, doc) in ihrer fünftferifchen Ausbildung, dem ſehnſüch— tigen Bebürfniffe zu entfprechen, das verloren gegangene, menjch- lich lebendige Kunftwerf der Erinnerung wieder vorzuführen.

Ihren rohen Anfängen, wo fie gleich der Bildhauerei aus dem noch unkünftlerijchen religiöfen Vorſtellungsdrange ent: fprang, haben wir Hier vorüberzugehen, indem fie fünftlerifche Bedeutung erft von da an gewinnt, wo das lebendige Kunft- wert der Tragödie verblich und dafür bie hellen farbigen Geftal- tungen der Malerkunft die wunderbollen, bebeutungsreichen Scenen für da3 Auge feitzuhalten fuchte, die zu unmittelbaren lebenswarmen Eindrude fi nicht mehr darbuten.

So feierte das griehiihe Kunstwerk in ber Malerei feine Nachblũthe. Diefe Blüthe war nicht mehr jene dem reichſten Leben unwillkürlich und naturnothwendig entfprießende; ihre Noth- wendigleit war vielmehr eine Kulturnothwendigkeit; fie ging aus einem bemwußten, willfürlichen Drange hervor, nämlich dem Biffen von der Schönheit der Kunft, und dem Willen, diefe Schönheit gleichfam zum Verweilen in einem Leben zu zivingen, dem fie unbemwußt, unwillkürlich nicht mehr al3 nothwendiger Ausdrud feiner innerften Seele angehörte. Die Kunft, die ohne Geheiß und ganz von felbft aus der Gemeinfamteit des Volks— lebens aufgeblüht war, hatte durch ihr wirkliches Vorhaudenſein und an ber Betrachtung ihrer Exfcheinung, zugleich au den®e- griff von ihr erſt zum Dafein gebracht; denn nicht die Idee, der Runft hatte fie in das Leben gerufen, fondern fie, die wirt: lich vorhandene Kunft, hat die Idee von fich entwidelt. Die mit Naturnothwendigkeit treibende künſtleriſche Kraft des Volkes war nun erftorben; was fie geſchaffen, lebte nur noch in ber Er-

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innerung ober in ber fünftlichen Wiederholung. Während das Volk in Allem, was es that, und namentlich aud) in der Selbft- vernichtung feiner nationalen igenthümlichleit und Abge— ſchloſſenheit, durch alle Zeiten hindurch immer wieder nur nad) innerer Nothwendigkeit, und fo im Zufammengange mit dem großartigiten Entwidelungsgange des menſchlichen Gefchlechtes verfuhr, vermochte das einfame fünftlerifche Gemüth, dem bei feinem Sehnen nach dem Schönen der Lebensdrang des Volkes in feinen unfchönen Außerungen unverftändlich bleiben mußte, fi) nur durch den Hinblid auf da8 Kunſtwerk einer vergangenen Zeit zu tröften, und, bei der erfannten Unmöglichkeit, dieß Kunft- wert willfürlih von Neuem zu befeben, feinen Troft ſich fo mohltgätig wie möglich, durch lebensgetreue Auffrifhung des aus der Erinnerung Erkennbaren, von Andauer zu machen, wie wir die Züge eine geliebten Tobten durch ein Portrait und zur Erinnerung bewahren. Hierdurd) wurde die Kunft ſelbſt zu einem Runftgegenftande; der bon ihr gewonnene Begriff ward ihr Gefeg, und die Rulturfunft, die erlernbare, an ſich immer nadhjzuweifende, begann ihren Lebenslauf, der, wie wir heut’ zu Tage fehen, in den unkünſtleriſcheſten Zeiten und Lebensverhält- niſſen ohne Stoden ſich fortfegen kann, jedoch nur zum ego- iſtiſchen Genuß des vom Leben getrennten, vereinzelten, kunſt⸗ ſehnſüchtigen Kulturgemüthes.

Von dem thörigen Verfahren, durch bloße nachahmende Wiederholung das tragiſche Kunſtwerk ſich zurück zu konſtruiren, wie ihm die alexandriniſchen Hofdichter 3.8. fi hingaben, unterfchied ſich jedoch die Malerkunft auf das Vortheilhafteite, indem fie das Verlorene verloren gab, und dem Drange, e8 wieder vorzuführen, durch Ausbildung einer bejonderen, eigenthüm— lichen, Fünftlerifchen Fähigkeit des Menfchen entſprach. War die Außerung diefer Fähigkeit eine vielfach vermittelte, fo gewann die Malerei vor der Bildhauerei doch bald einen wichtigen Vor— zug. Das Werk des Bildhauers ftellte in feinem Material den ganzen Menfchen nad) feiner vollfommenen Form dar, und ftand infofern dem lebendigen Kunſtwerke des ſich felbft darftellenden Menfchen näher, als das Werf der Malerei, das von diefem ge: wiffermaßen nur den farbigen Schatten zu geben vermochte: wie in beiden Nahbildungen dad Leben dennoch unerreihbar war, und Bewegung in ihren, Darftellungen nur dem beſchauenden

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Denfer angebeutet, ihre denkbare Möglichkeit der Phantafie des Befchauerd, nach gewiffen natürlichen Gefegen der Abftraftion, zur Ausführung nur überlaffen werden Tonnte, fo vermochte die Malerei, eben weil fie noch idenler don der Wirklichkeit abfah, noch mehr nur auf künſtleriſche Täuſchung ausging als die Bild- hauerei, auch vollftändiger zu dichten als diefe. Die Malerei brauchte fich endlich nicht, wie die Bildhauerei, mit der Darftel- lung dieſes Menfchen, ober dieſer gewiſſen, ihrer Darftellung nur möglichen, Gruppen ober Aufftellungen zu begnügen; die künſtleriſche Täufhung ward in ihr vielmehr fo zur vorwiegen— ben Nothivendigfeit, daß fie nicht nur nach Tiefe und Breite be ziehumgsreich ſich ausdehnende menschliche Gruppen, jondern auch den Umkreis ihrer außermenjchlihen Umgebung, die Na- turfcene felöft in das Bereich ihrer Darftellung zu ziehen Hatte, Hierauf begründete fi ein vollfommen neues Moment in der Entwidelung de3 künſtleriſchen Anſchauungs- und Darftellungs- vermögens des Menfchen: nämlich dieß des innigen Begreifens und Wiebergebend der Natur durch die Landſchaftsmalerei.

Dieſes Moment ift von der entfcheidendften Wichtigfeit für die ganze bildende Kunft: es bringt diefe, die in der Archi⸗ teftur bon der Unfhauung und fünftlerifhen Benugung der Natur zu Gunften des Menſchen ausging, in der Plaſtit, wie zur Vergötterung des Menfchen, ſich allein nur noch auf diefen als Gegenftand bezog, zum vollendeten Abſchluß dadurch, daß es fie vom Menfchen aus mit immer volllommenerem Verftänd- niß endlich ganz wieber der Natur zumanbte, und zwar indem e3 die bildende Kunft fähig machte, die Natur ihrem Wefen nad innig zu erfaffen, die Architektur gleichfam zur vollfom- menen, lebensvollen Darftellung der Natur zu erweitern. Der menfchlihe Egoismus, ber in der nadten Architektur die Natur immer nur noch auf fid) allein bezog, brach fich gewiſſermaßen in der Landſchaftsmalerei, melde die Natur in ihrem eigenthüm- lichen Wefen rechtfertigte, den fünftlerifchen Menfchen zum Tiebe- vollen Aufgehen in fie bewog, um ihn unendlich erweitert in ihr fih wiederfinden zu Laffen.

Als griechiſche Maler die Scenen, die zuvor in der Lyrik, dem Iprifchen Epos und der Tragödie durch wirkliche Dartel- Tung Auge und Ohr vorgeführt worden waren, durch Beichnung und Farbe erinnerung3voll ſich feftzuhalten und wiederum dar-

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zuſtellen fuchten, galten ihnen one Bmeifel die Menſchen allein als der Darftellung würdige und für fie maafgebende Gegen- fände, und der fogenannten hiſtoriſchen Richtung verdanken wir die Entwidelung ber Malerei zu ihrer erften Kunſthöhe. Hielt fie fomit das gemeinfame Kunftwerk in der Erinnerung feft, fo blieben, al8 die Bedingungen ſchwanden, die auch das ſehnſüchtige Feſthalten dieſer Erinnerungen Hervorriefen, zwei Wege offen, nad; denen die Malerei als ſelbſtändige Kunft ſich weiter zu entwideln Hatte: das Portrait und die Landſchaft. In ber Darftellung der Scenen des Homeros und der Tragifer war die Landſchaft ald nothwendiger Hintergrund bereitd erfaßt und wiebergegeben worden: gewiß aber erfaßten fie die Griechen zur Blüthezeit ihrer Malerei noch mit keinem anderen Auge, als der Grieche feinem eigenthümlichen Geifte nad, überhaupt fie je zu erfaffen geneigt war. Die Natur war dem Griechen eben zur der ferne Hintergrund des Menfchen: weit im Vordergrunde ftand der Menſch felbft, und die Götter, denen er die beivegende Naturmacht zuſprach, waren eben menſchliche Götter. Allem, was er in der Natur erſah, fuchte er menfchliche Geftalt und menfchliches Wefen anzubilden, und als vermenſchlicht Hatte Die Natur für ihn gerade den unendlichen Reiz, in deifen Genuß feinem Schönheitöfinne e8 unmöglich war, fie, wie vom Stand» punkte jũdiſch modernen Utilismus' aus, ſich nur als einen roh finnlich genießbaren Gegenftand zu eigen zu machen. Dennoch nährte er dieſe ſchöne Selbftbeziehung zur Natur nur durch einen unwillkürlichen Irrthum: bei feiner Wermenjchlihung der Natur Tegte er ihr auch menſchliche Motive unter, die, als. in der Natur wirfend, nothwendig dem wahren Wefen der Natur gegenüber gehalten, nur willkürlich gedacht werben konnten. Wie der Menfch, feinem befonderen Wefen nad, im Leben und in feinem Verhäitniß zur Natur aus Nothwendigkeit Handelt, entjtellt er ſich unwillfürlich in feiner Vorftellung das Wefen der Natur, wenn er fie nad) menſchlicher Nothwendigfeit, nicht nad) der ihrigen, gebahrend fich denkt. Sprach dieſer Irrthum bei den Griechen ſich ſchön aus, wie er bei anderen, namentlich, afiatifchen, Völkern ſich meift häßlich äußerte, fo war er nichtödeftomeniger doc ein dem Hellenifchen Leben felbft grundverderblicher Irr⸗ thum. Als der Hellene aus der geſchlechtlich nationalen Urgemein- ſchaft fich Tosgelöft, als er das umwillfürlih ihr entnommene

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Maaß ſchönen Lebens verloren Hatte, vermochte dieſes nothwen⸗ dige Maaß fich nirgends ihm aus einer richtigen Anſchauung der Natur zu erfegen. Er hatte unbewußt in der Natur gerade nur fo lange eine bindende, umfafjende Nothwendigteit erblidt, als diefe Rothwendigkeit ald eine im gemeinfamen Leben bedingte ihm jelbft zum Bewußtſein kam: Yöfte diefes ſich in feine egoifti fchen Atome auf, beherrfchte ihn nur die Willkür feines mit der Gemeinfamkeit nicht. mehr zufammenhängenden Eigenwillens, ober enbli eine, aus biefer allgemeinen Willfür Kraft gewin— nende, wiederum willfürliche äußere Macht, fo fehlte bei feiner mangelnden Exrfenntniß der Natur, welche er nun ebenfo will kürfich wähnte als ſich ſelbſt und die ihn beherrſchende weltliche Macht, das fihere Maaß, nach dem er fein Weſen wiederum hätte exfennen können, und das fie, zu deren größtem Heile, den Menſchen darbietet, die in ihr die Nothwendigkeit ihres Weſens und ihre nur im weiteiten, allumfafjendften Zufammenhange alles Einzelnen wirkende, ewig zeugende Kraft erkennen. Keinem an- deren, al diefem Irrthume find die ungeheuerlichften Ausſchwei— fungen des griechifchen Geiftes entjprungen, die wir während des byzantinichen Kaiſerthumes in einem Grade gewahren, der uns ben hellenifchen Charakter gar nicht mehr erfennen läßt, und der im Grunde dod nur die normale Krankheit feines Weſens war. Die Philofophie mochte mit noch fo redlihem Bemühen den Bufammenhang der Natur zu erfaffen ſuchen: Hier gerade zeigte es fi, wie unfähig die Macht der abjtraften Intelligenz ift. Allen Ariftoteleffen zum Hohne ſchuf fi) das Wolf, das aus dem millionenfachen allgemeinen Egoismus heraus abjolut felig werden wollte, eine Religion, in der die Natur zum reinen Spiel- ball menſchlich raffinivender Glückſeligkeitsſucht gemacht wurde. Mit der Anficht des Griechen, welche der Natur menſchlich will türliche Geitaltungsmotive unterjtellte, brauchte ſich nur die jüdifch-orientalifhe Nützlichkeitsvorſtellung von ihr zu begatten, um bie Dißputationen und Delete der Konzilien über das Weſen der Zrinität und die deßhalb unaufhörlih geführten Streitig- keiten, ja Volkskriege, als Früchte diefer Begattung der ftaunen- den Geſchichte als unmwiberlegliche Thatfachen zuzuführen.

Die römifche Kirche machte nad, Ablauf des Mittelalters aus der Annahme der Unbeweglichkeit der Erbe zwar noch einen Glaubensartikel, vermochte e8 dennoch aber nicht zu wehren, daß

Rigard Wagner, Gej. Sqhriſten III. 10

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Amerika entdeckt, die Geſtalt der Erde erforfcht, und endlich die Natur fo weit der Erfenntniß erfchlofien wurde, daß der Zu— fammenhang aller in ihr fich kundgebenden Erjcheinungen ihrem Weſen nach unzweifelhaft erwieſen ift. Der Drang, ber zu diejen Entdeungen führte, fuchte gleichzeitig fich in derjenigen Kunft- art ebenfalls auszuſprechen, in der er am geeignetften zu künft- leriſcher Befriedigung gelangen konnte. Beim Wiedererwachen der Künfte knüpfte auch die Malerei, im Drange nad) Verede- tung, ihre fünftlerifche Wiedergeburt an die Antike an; unter dem Schuge der üppigen Kirche gebieh fie zur Darftellung kirch⸗ licher Hiftorien, und ging von diefen zu Scenen wirklicher Ge- ſchichte und aus dem wirklichen Leben über, jederzeit ſich des Vor— theiles erfreuend, biefem wirklichen Leben Form und Farbe noch entnehmen zu Tönnen. Je mehr die finnlihe Gegenwart dem eutſtellenden Einfluffe der Mode zu erliegen Hatte, und während die neuere Hiftorienmalerei, um ſchön zu fein, von der Unſchön—⸗ beit des Lebens fih zum Konftruiren aus dem Gedanken und zum willkürlichen Kombiniren von, wiederum ber Kunſtgeſchichte nicht dem Leben felbft entnommenen, Manieren und Stylen gedrängt fah, machte fich, von der Darftellung des modiſchen Menſchen abliegend, diejenige Richtung der Malerei aber Bahn, ber wir das liebevolle Verſtändniß der Natur in der Land» ſchaft verdanken.

Der Menſch, um den ſich bisher die Landſchaft wie um ihren egoiſtiſchen Mittelpunkt immer nur gruppirt hatte, ſchrumpfte in der Fülle der Umgebung ganz in dem Grade immer mehr zufam- men, al3 im wirklichen Leben er fich immer mehr unter dad un- mwürdige Joch der entftellenden Mode beugte, fo daß er endlich in der Landſchaft die Rolle zuertheilt befam, die zuvor der Land» ſchaft im Verhältniß zu ihm zugewieſen war. Wir können unter den gegebenen Umftänden, diefen Fortfchritt der Landſchaft nur als einen Sieg der Natur über die fchlechte, menjchenent- würdigende Kultur feiern; denn in ihm behauptete fi auf bie einzig mögliche Weife die unentftellte Natur gegen ihre Feindin, indem fie, gleihfam Schuß fuchend, wie aus Noth dem innigen Berftändniffe des künſtleriſchen Menfchen ſich erſchloß.

Die moderne Naturmwiffenfchaft und die Landſchafts— malerei find die Erfolge der Gegenwart, die und in millen- ſchaftlicher wie künſtleriſcher Hinficht einzig Troft und Rettung

Das Kunftwert ber Zukunft. 147

vor Wahnſinn und Unfähigkeit bieten, Mag, bei der troftlofen Berfplitterung aller unferer künſtleriſchen Richtungen, das ein> zelne Genie, das ihnen zur momentanen, fait gewaltſamen Bereinigung dient, um fo Erftaunenswürbigeres leiften, ala weder das Bedürfniß noch die Bedingungen zu feinem Kunſtwerke vor⸗ handen find: das gemeinfame Genie der Malerkunft ergießt ſich doch einzig faft nur in der Richtung ber Landſchaftsmalerei; denn hier findet es unerfchöpflichen Gegenftand und durch ihn un= erſchöpfliches Vermögen, während e8 nad; anderen Richtungen hin al Darfteller der Natur nur mit willkürlichem Sichten, Sondern und Wählen verfahren kann, um unferem durchaus unfünftlerifhen Leben irgend kunſtwürdige Gegenftände ab- zugewinnen. Je mehr die fogenannte Hiftorienmalerei buch Diäten und Deuten ben ſchönen wahren Menfhen und das fchöne wahre Leben aus den, der Gegenwart entlegenften Er— innerungen uns borzuführen ſich bemüht, je mehr fie, bei dem ungeheuren Aufwande von Qermittelungen hierbei, die zwang⸗ voll auf ihr laftende Aufgabe befennt, mehr und etwas anderes fein zu müffen, als dem Weſen einer Kunftart zu fein gebührt, deſto mehr hat auch fie fich nach einer Erlöfung zu fehnen, die, wie die einzig nothwendige der Bildhauerei, eigentlich nur in ihrem Aufgehen darin ausgeſprochen fein könnte, woher fie ursprünglich die Kraft zum künftlerifchen Leben gewonnen hatte, und dieß war eben das lebendige menſchliche Kunſtwerk ſelbſt, deſſen Erſtehen aus dem Leben die Bedingungen vollkommen aufheben müßte, die ihr Daſein und Gedeihen als ſelbſtändige Kunſtart nothwendig machen fonnten. Ein gejundes, nothwen— diges Leben vermag die menfchenbarftellende Malerkunft unmöglid) da zu führen, two, ohne Pinfel und Leinwand, im lebendigften künftlerifhen Rahmen, der ſchöne Menfch fich felbit vollendet darftellt. Was fie bei redlichem Bemühen zu errei⸗ hen ftrebt, erreicht fie am volltommenften, wenn fie ihre Farbe und ihr Verftändniß in der Anordnung auf die lebendige Plaftit des wirklichen dramatiſchen Darſtellers überträgt; wenn bon Leinwand und Kalt herab fie auf die tragifche Bühne fteigt, um ben Künſtler an fich felbft das ausführen zu laſſen, was fie vergebens ſich bemüht, durch Häufung der veichiten Mittel ohne wirkliches Leben zu vollbringen.

Die Landſchaftsmalerei aber wird, als letzter und voll-

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148 Das Kunftwerk der Zukunft.

endeter Abſchluß aller Bildenden Kunft, die eigentliche, leben⸗ gebende Seele der Architektur werben; fie wird uns fo Iehren die Bühne für das dramatiſche Kunſiwerk der Zukunft zu er- richten, in welchem fie felbft lebendig, den warmen Hinter- grund der Natur für den lebendigen, nicht mehr nachgebil- deten, Menſchen barftellen wird.

Dürfen wir fo dur die höchite Kraft der bildenden Kunft uns die Scene des gemeinfamen Kunſtwerkes der Zukunft, in ihr alfo die innig erfannte und verftandene Natur als ge- wonnen betrachten, fo vermögen wir num auf dieſes Kunſtwerk ſelbſt nähere Schfüffe zu ziehen.

W. Grundzüge des Auufwerkes der Bukunft.

Betrachten wir die Stellung der modernen Kunſt ſo weit ſie in Wahrheit Kunſt iſt zum öffentlichen Leben, ſo erkennen wir zunãchſt ihre vollſtändige Unfähigkeit, auf dieſes öffentliche Leben im Sinne ihres ebelften Strebend einzuwirfen. Der Grund hiervon ift, daß fie, als bloßes Kulturproduft, aus dem Leben nicht wirklich ſelbſt hervorgegangen ift und nun, als Treibhauß- pflanze, unmöglich in dem natürlichen Boden und in dem natür- lichen Rlima der Gegenwart Wurzel zu ſchlagen vermag. Die Kunft ift das Sondereigenthum einer Künftlerflaffe geworden; Genuß bietet fie nur denen, die fie verftehen, und zu ihrem Verſtändniß erfordert fie ein befonderes, dem wirklichen Leben abgelegenes Studium, da8 Studium der Kunftgelehrfamteit. Diejed Studium und das aus ihm zu erlangende Verſtändniß glaubt zwar Heut’ zu Tage fich Jeder zu eigen gemacht zu haben, der fi) das Gelb zu eigen gemacht hat, mit dem er die außge- botenen Kunftgenüffe bezahlt: ob die große Zahl vorhandener Kunſtliebhaber den Künftler in feinem beten Streben aber zu verftehen vermögen, wird diefer Künftler bei Befragen jedoch nur mit einem tiefen Seufzer zu beantworten haben. Ermägt er num aber bie unendlich größere Maſſe Derjenigen, die durch die Ungunft unferer fozialen Verhältniſſe nad) jeder Seite hin ſowohl dom Verftändniffe, als felbft vom Genuſſe der modernen

Das Kunftwert der Zukunft. 149

Kunft ausgefchloffen bleiben müffen, fo Hat der Heutige Künftler inne zu werben, daß fein ganzes Kunfttreiben im Grunde nur ein egoiftifches, felbftgefälliges Treiben ganz für fi, daß feine Kunft dem öffentlichen Leben gegenüber nichts anderes als Luxus, Überfluß, eigenfüchtiger Zeitvertreib ift. Der täglich wahrgenom⸗ mene und bitter beffagte Abftand zwifchen fogenannter Bildung und Unbildung ift fo ungeheuer, ein Mittelglied zwifchen beiden fo undenkbar, eine Verföhnung fo unmöglich, daß, bei einiger Aufrichtigfeit, die auf jene unnatürfiche Bildung begründete mo- derne Kunſt zu ihrer tiefften Beſchämung ſich eingeftehen müßte, wie fie einem Qebengelemente ihr Dafein verdanke, welches fein Dafein wiederum nur auf die tieffte Unbildung der eigentlichen Maſſe der Menfchheit ftügen kann. Das Einzige, was in diefer ihr zugewiefenen Stellung die moderne Kunſt vermögen follte und in reblichen Herzen zu vermögen ftrebt, nämlich Bildung zu verbreiten, vermag fie nicht, und zwar einfach aus dem Grunde, weil die Kunft, um irgendwie im Leben wirken zu kön— nen, felbft die Blüthe einer natürlihen, d. 5. von unten heraufgewachſenen, Bildung fein muß, nie aber im Stande fein Taun, von oben herab Bildung auszugießen. Im beften Falle gleicht daher unfere Rulturkunft Demjenigen, der in einer frem⸗ den Sprache einem Volke fich mittheilen will, welches diefe nicht Iennt: Alles, und namentlich auch das Geiftreichfte, was er her⸗ vorbringt, Tann nür zu den Tächerlichften Verwirrungen und Misverftändniffen führen.

Stellen wir und zunächft dar, wie die moderne Kunft zu verfahren haben müßte, um theoretifch zu ihrer Erlöfung aus der einfamen Stellung ihres unbegriffenen Wefens heraus, und zum allgemeinften Verſtändniſſe des öffentlichen Lebens borzu- ſchreiten: wie dieſe Erlöfung aber dur die praktiſche Ver— mittelung des öffentlichen Lebens allein möglich werben kann, wird fi) dann Teicht von felbft herausſtellen.

Die bildende Kunft, fahen wir, kann zu ſchöpferiſchem Gedeihen einzig dadurch gelangen, daß fie nur uoch im Bunde mit dem Tünftlerifchen, nicht dem auf bloße Nüglichkeit be— dachten Menſchen zu ihren Werken ſich anläßt.

150 Das Kunſtwerk ber Zukunft.

Der künſtleriſche Menſch kann fi nur in der Vereinigung aller Kunftarten zum gemeinfamen Sunftwerfe vollfommen genügen: in jeder Vereinzelung feiner fünftleriichen Fähig- feiten ift er unfrei, nicht vollftänbig Das, was er fein Tann; mogegen er im gemeinjamen Kunſtwerke frei, und vollſtän⸗ dig Daß if, was er fein Fann.

Das wahre Streben ber Kunſt ift Daher das allumfaf- fende: jeder vom wahren Runfttriebe Beſeelte will durch die höchſte Entwidelung feiner befonderen Fähigfeit nicht die Verherrlichung diefer befonderen Fähigkeit, fondern bie Verherrlihung des Menfhen in der Kunft überhaupt er- reichen.

Das höchfte gemeinfame Kunſtwerk ift das Drama: nad feiner möglichen Fülle fann es nur vorhanden fein, wenn in ihm jede Kunftart in ihrer höchſten Fülle vorhanden ift.

Das wahre Drama ift nur denkbar als aus dem gemein famen Drange aller Künfte zur unmittelbarften Mitthei— lung an eine gemeinfame Offentlichkeit hervorgehend: jede einzelne Runftart vermag der gemeinfamen Öffentlichkeit zum vollen Verftändniffe nur durch gemeinfame Mittheilung mit den übrigen Kunftarten im Drama ſich zu erfchließen, denn die Abficht jeder einzelnen Runftart wird nur im gegenfeitig fich ver- ſtändigenden und verftändnißgebenden Zuſammenwirken aller Runftarten vollftändig erreicht.

Die Arditeltur ann feine höhere Abſicht haben, als einer Genoſſenſchaft Fünftferifch ſich durch fich felbft darftellender Menſchen die räumliche Umgebung zu fchaffen, die dem menfcd- lichen Kunſtwerke zu feiner Kundgebung nothwendig if. Nur dasjenige Bauwerk ift nad; Nothwendigkeit errichtet, dad einem Bwede des Menſchen am bienlichiten entfpricht: der höchſte Zweck des Menfchen ift der fünftleriiche, der höchſte Künftlerifche das Drama. Im gewöhnlichen Nußgebäude hat der Baufünftler nur dem niebrigften Zwecke der Menfchheit zu entiprechen: Schön- heit ift in ihm Zurus. Im Luxusgebäude hat er einem unnöthi« gen und unnatürlihen Bedürfniffe zu entfprechen: fein Schaffen ift daher willkürlich, unprodultiv, unfhön. Bei der Konſtruk⸗ tion desjenigen Gebäudes Hingegen, daS in allen feinen Theilen einzig einem gemeinfamen fünftlerifchen Zwede entfprechen fol, aljo des Theaters, hat der Baumeifter einzig als Künftler

Das Kunftwerk ber Zukunft. 151

und nad) den Rüchſichtsnahmen auf das Kunſtwerk zu ver- fahren. In einem vollfommenen Theatergebäude giebt bis auf die Heinften Einzelheiten nur das Bebürfnig der Kunſt Maaß und Geſetz. Dieß Bedürfniß ift ein Doppeltes, dad des Gebens und des Empfangens, welches ſich beziehungsvoll gegenfeitig durchdringt und bedingt. Die Scene hat zunädjft die Aufgabe, alle räumlichen Bebingungen für eine auf ihr darzuftellende ge- meinfame bdramatifhe Handlung zu erfüllen: fie bat zweitens diefe Bedingungen aber im Sinne der Abſicht zu löſen, dieſe dramatifche Handlung dem Auge und dem Ohre der Bufchauer zur verftänblichen Wahrnehmung zu bringen. In der Anord- nung des Raumes ber Bufchauer giebt das Bebürfniß nach Berftändniß des Kunſtwerkes optifh und aluſtiſch das nothwen⸗ dige Geſetz, dem, neben der Zweckmäßigkeit, zugleich nur durch die Schönheit der Anordnungen eutſprochen werden Tann; denn das Verlangen des gemeinfamen Zuſchauers ift eben das Ver— fangen nad) dem Kunſtwerk, zu deffen Erfaſſen er durch Alles, was fein Auge berührt, beftimmt werben muß*). So verfept er durch Schauen und Hören fi gänzlich auf die Bühne; der Dar- fteller ift Künſtler nur duch volles Aufgehen in das Publikum, Alles, was auf dev Bühne athmet und ſich bewegt, athmet und bewegt fich durch ausdrucksvolles Verlangen nah Mitteilung, nah Angefchaut-Ungehörtwerben in jenem Raume, ber, bei immer nur verhältnißmäßigem Umfange, vom fcenifheu Stand- punkte aus dem Darfteller doch die gejammte Menfchheit zu enthalten bünkt; aus dem Zuſchauerraume aber verſchwindet das Publitum, diefer Repräfentant des öffentlichen Lebens, ſich

*) Die Aufgabe des Thentergebäubed der Zukunft darf durch unfere mobernen Theatergebäude feinesweged als gelöft angejehen werben: in ihnen find herfömmlihe Annahmen und Gejege maah- jebend, bie mit den Erforbernifien ber reinen Kunft nicht? gemein haben. Wo Erwerböfpelulation auf ber einen, und mit ihr luxuridſe Prunkſucht auf der anderen Geite beftimmend einwirken, muß das abfolute Intereſſe der Kunft auf das Empfindlicfte beeinträchtigt werben, und fo wird fein Baumeifter ber Welt z. B. e8 vermögen, die durch die Trennung unſeres Publikums in die unterjdiebdenften Stände und Staatsbürgertategorien gebotene Übereinanderihihtung unb Serfplitterung der Sufönnerräune zu einem Gejee ber Schön- heit zu erheben. Denft man fih in bie Räume des gemeinfamen Theaters der Zukunft, jo erfennt man ohne Mühe, daß in ihm ein ungeahnt reiches Feid ber Erfindung offen ſteht.

152 Das Kunſtwerk ber Zukunft.

ſelbſt; es lebt und athmet nur noch in dem Aunftiverfe, das ihm das Leben felbft, und auf der Scene, die ihm der Welt- raum dünkt.

Solche Wunder entblühen dem Bauwerke de Architekten, ſolchen Zaubern vermag er realen Grund und Boden zu geben, wenn er die Abſicht des höchften menfchlihen Kunſtwerkes zu der feinigen madt, wenn er die Vebingungen ihres Lebendig- werbend aus feinem eigenthümlichen fünftlerifhen Vermögen heraus in da8 Dafein ruft. Wie kalt, regungslos und tobt ftellt ſich Hiergegen fein Bauwerk dar, wenn er, ohne einer Höheren Abficht als der des Lurus fi anzuſchließen, one die Fünft- leriſche Nothwendigkeit, welche ihm im Theater nach jeder Seite hin das Sinnigſte anordnen und erfinden läßt, nur nad der ſpekulirenden Laune feiner felbftverherrlihungsfüchtigen Willkür zu verfahren, Maſſen und Zierrathen zu ſchichten und zu reihen bat, um heute die Ehre eined übermüthigen Reichen, morgen die eines modernifirten Jehova's zu verfinnlihen!

Aber auch die fchönfte Form, das üppigfte Gemäuer von Stein, genügt dem dramatifchen Kunſtwerke nicht allein zur voll fommen entjprechenden räumlichen Bedingung feines Exfcheis nend. Die Scene, die dem Zuſchauer das Bild des menfchlichen Lebens vorführen fol, muß zum vollen Berftändniffe bes Le— bens auch das lebendige Abbild der Natur darzuftellen vermögen, in welchem der fünftlerifhe Menſch erſt ganz als folder fich geben kann. Die Wände biefer Scene, die kalt und theilnahmlos auf den Künftler herab und zu dem Publitum Hin ftarren, müffen ſich mit den frifchen Farben der Natur, mit dem warmen Lichte des Äthers ſchmücken, um würdig zu fein an dem menſch- lichen Kunſtwerke Theil zu nehmen. Die plaftifhe Architektur fühlt hier ihre Schranke, ihre Unfreiheit, und wirft fich Tiebe- bedürftig der Malerfunft in die Arme, die fie zum fchönften Aufs gehen in die Natur erlöfen ſoll.

Hier tritt die Sandfhaftsmalerei ein, von einem ge- meinfamen Bebürfniffe hervorgerufen, dem nur fie zu entfprechen vermag. Was der Maler mit glüdlichem Auge ber Natur ent fehen, was er als fünftlerifcher Menſch der vollen Gemeinfamfeit zum künſtleriſchen Genuffe barftellen will, fügt ex Hier als fein reiches Theil dem vereinten Werfe aller Fünfte ein. Durch ihn wird die Scene zur vollen künſtleriſchen Wahrheit: feine Zeich-

Das Kunſtwerk der Zukunft. 153

nung, feine Farbe, feine warm belebende Anwendung bes Lichtes zwingen bie Natur der Höchiten künftlerifchen Abſicht zu dienen. Was der Landſchaftsmaler bisher im Drange nad Mittheilung des Erfehenen und Begriffenen in ben engen Rahmen des Bild- ſtückes einzwängte, was er an der einfamen Zimmerwand des Egoiften aufhängte, oder zu beziehungsloſer, unzufammen- bängenber und entftellender Übereinanderjchichtung in einem Bilderfpeiher dahingab, damit wird er nun den weiten Rahmen der tragifhen Bühne erfüllen, den ganzen Raum der Scene zum Zeugniß feiner naturfchöpferiichen Kraft geftaltend. Was er durch den Pinfel und durch feinfte Farbenmiſchung nur anbeuten, der Täufchung nur annähern fonnte, wird er bier durch künſtleriſche Verwendung aller ihm zu Gebote ftehenden Mittel der Optik, der fünftlerifchen Lichtbenugung, zur vollendet täufchenden Anſchauung bringen. Ihm wird nicht die fheinbare Rohheit feiner Künftlerifchen Werkzeuge, dad anfheinend Gro— teste ſeines Verfahrens bei der fogenannten Deforationsmalerei beleidigen, benn er wird bebenfen, daß auch der feinfte Pinfel zum vollendeten Kunſtwerke fich doc immer nur als demüthi— gendes Organ verhält, und der Künſtler erſt ſtolz zu werben hat, wenn er frei ift, d. 5. wenn fein Kunſtwerk fertig und Te bendig, und er mit allen Helfenden Werkzeugen in ihm aufge gangen ift. Das vollendete Kunſtwerk, das ihm von der Bühne entgegentritt, wird aber aus diejem Rahmen und von der vollen gemeinfamen Öffentlichleit ihn unendlich mehr befriedigen, als fein früheres, mit feineren Werkzeugen geſchaffenes; er wird die Benugung des fcenifchen Raumes zu Gunften diefes Kunſtwerkes um feiner früheren Verfügung über ein glattes Stüd Leinwand willen wahrlich nicht bereuen: denn, wie im ſchlimmſten Falle fein Wert ganz daffelbe bleibt, gleichviel auß welchem Rahmen es gejehen werde, wenn e8 nur den Gegenftand zur verftändniß- vollen Anſchauung bringt, fo wird jedenfalls fein Kunſtwerk in diefem Rahmen einen lebenvolleren Eindrud, ein größeres, all- gemeinered Verftändniß hervorrufen, als das frühere landſchaft- liche Bildftüd,

Das Organ zu allem Naturverftändniß ift der Menfch: ber Landſchaftsmaler Hatte dieſes Verſtändniß nicht nur an den Menfchen mitzutheilen, fondern durch Darftellung des Menfchen in feinem Naturgemälde auch erſt deutlich zu machen. Dadurch,

154 Das Kunſtwerk der Zukunft.

daß er fein Kunſtwerk nun in den Rahmen ber tragischen Bühne ftellt, wird er den Menfchen, an den er fich mittheilen will, zum gemeinfamen Menſchen der vollen Öffentligjkeit erweitern und die Befriedigung Haben, fein Verftändniß auf diefen auögedehnt, ihn zum Mitfühlenden feiner Freude gemacht zu haben; zugleich aber wird er dieß öffentliche Verſtäudniß dadurch erſt vollkom⸗ men herbeiführen, daß er fein Werk einer gemeinfamen höchiten und allverftändlichften Kunftabficht zuordnet, dieſe Wbficht aber don dem wirklichen leibhaftigen Menfchen mit aller Wärme feines Weſens dem gemeinfamen Verftändniffe unfehlbar erfchlofien wird. Das allverjtändlicjite ift die Dramatifche Handlung, eben weil fie erft fünftferifch vollendet ift, wenn im Drama gleichſam alle Hülfsmittel der Kunft Hinter fi) geworfen find, und das wirkliche Leben auf das Treueſte und Begreiflichfte zur unmittel- baren Anfhauung gelangt. Jede Kunftart tHeilt ſich verſtänd— fi nur in dem Grade mit, ald der Kern in ihr, der nur durch feinen Bezug auf den Menfchen oder in feiner Ableitung von ihm das Kunſtwerk beleben und rechtfertigen fann, dem Drama zureift. Allverſtändlich, vollkommen begriffen und gerechtfertigt wird jedes Kunftfchaffen in dem Grade, als es im Drama aufs geht, vom Drama durchleuchtet wird*).

*) Dem modernen Landſchaftsmaler fann e3 nicht gleichgültig fein zu gewahren, von wie Wenigen in Wahrheit fein Wert heut’ zu Tage verftanden, mit welch' ftumpffinnigem, blödem Behägen von der Philifterwelt, die ihm bezahlt, fein Naturgemälde eben nur beglogt wird; wie die fogenannte „jhöne Gegend“ ber bloßen müffigen, gedanfenlofen Schauluft derſelben Menfhen, ohne Be- bürfnig, Befriedigung zu gewähren im Stande it, deren Hörfinn durch unfere moderne inhalisloſe Mufitmacherei nicht minder biß zu jener albernen Freude errregt wird, die dem Künftler ein ebenjo etelhafter Lohn für feine Leiftung tft, als fie der Abficht des In- buftriellen allerdings volllommen entipricht. Unter der „Ihönen Gegend“ und der „hübic Mingenden Muflt* unferer Zeit ar eine traurige Verwandtſchaft, deren Berbindungsglied ber finnige Gedanke ganz gewiß nicht ift, fondern jene ſchwapperige, niederträch- tige Gemäüthlichkeit, die fih vom Anblid der menichlihen Leiden in ber Umgebung eigenfüchtig zurüdwendet, um fi ein Brivat- himmelden im blauen Dunfte der Naturallgemeingeit zu miethen: Alles hören und fehen diefe Gemäthlihen gern, nur nicht den wirf- lien, unentftellten Menſchen, der mahnend am Ausgange ihrer Träume ſteht. Gerade dieſen müſſen wir nun aber in den Vordergrund ftellen!

Das Kunftwert der Zukunft. 155

Auf die Bühne des Architekten und Malers tritt nun der künſtleriſche Menſch, wie der natürlihe Menſch auf den Schauplap der Natur tritt. Was Bildhauer und Hiftorien- maler in Stein und auf Leinwand zu bilden ſich mühten, das bilden fie nun an ſich, an ihrer Geftalt, den Gliedern ihres Leibes, den Zügen ihres Untliges, zu bewußtem, fünftlerifchem Leben. Derfelbe Sinn, der den Bildhauer leitete im Begreifen und Wiedergeben ber menjchlichen Geftalt, leitet den Dar— fieller num im Behandeln und Gebahren feines wirklichen Kör- vers. Daffelde Auge, das den Hiftorienmaler in Zeichnung und Sarbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufſtellung der Grup- pen, dad Schöne, Anmuthige und Charafteriftifche finden Tieß, ordnet nun die Fülle wirklicher menſchlicher Erfheinung. Bildhauer und Maler Löften vom griehifchen Tragiker einft ben Kothurn und die Maske ab, auf dem und unter welder ber wahre Menfch immer nur nad einer gewiſſen religiöfen Kon— vention noch ſich bewegte. Mit Recht haben beide bildende Künfte diefe Teßte Entſtellung des reinen künſtleriſchen Men- chen vernichtet, und fo den tragifchen Darfteller der Zukunft in Stein und auf Leinwand im Voraus gebildet. Wie fie ihn nach feiner unentftellten Wahrheit erfahen, follen fie ihn nun in Wirklichkeit fich geben laffen, feine bon ihnen gewiſſermaßen befchriebene Geftalt Teibhaftig zur bewegungsvollen Darftellung bringen.

So wird die Täuſchung der bildenden Kunſt zur Wahrheit im Drama: dem Tänzer, dem Mimiler, reiht ber bildende Künftler die Hand, um in ihm feldft aufzugehen, felbft Tänzer und Mimiker zu fein. So weit ed irgend in feiner Fähigkeit liegt, wird diefer den inneren Menfchen, fein Fühlen und Wollen, an das Auge mitzutheilen haben. In vollfter Breite und Tiefe gehört ihm der fcenische Raum zur plaftifchen Kundgebung feiner Geſtalt und feiner Bewegung, als Einzelner oder im Verein mit den Genoffen der Darſtellung. Wo fein Vermögen aber endet, wo die Fülle feines Wollend und Fühlend zur Entäuße— rung des inneren Menfchen durch die Sprache ihn Hindrängt, da wird das Wort feine deutlich bewußte Abficht künden: er wird zum Dichter, und um Dichter zu fein, Tonkünftler. Als Tänzer, Tonkünftler und Dichter ift er aber Eines und Daſſelbe, nichts Anderes als barftellender, fünftlerifher

156 Das Kunftwert der Zukunft.

Menſch, der ſich nad der höchſten Fülle feiner Fähig— teiten an die höchſte Empfängnißfraft mittheilt.

In ihm, dem unmittelbaren Darfteller, vereinigen ſich Die drei Schwefterfünfte zu einer gemeinfamen Wirkfamfeit, bei mel- her die höchſte Fähigfeit jeder einzelnen zu ihrer höchſten Ent- faltung kommt. Indem fie gemeinfam wirken, gewinnt jede von ihnen das Vermögen, gerade Das fein und leiften zu können, was fie ihrem eigenthümfichften Wefen nad) zu fein und zu leiften verlangen. Dadurch, daß jede da, two ihr Vermögen endet, in die andere, von da ab vermögende, aufgehen kann, bewahrt fie fih rein, frei und felbftändig als das, was fie ift. Der mi- mifhe Tänzer wird feine Unvermögens ledig, fobald er fingen und ſprechen kann; die Schöpfungen der Tonkunft ge winnen allverftändigende Deutung durch den Mimifer wie durch das gebichtete Wort, und zwar ganz in dem Magße, als fie felbft in der Bewegung des Mimiferd und dem Worte des Dichters aufzugehen vermag. Der Dichter aber wird mahrhaft erft Menſch durch fein Übergehen in das Fleiſch und Bfut des Dar- ſtellers; weiſt er jeber fünftlerifchen Erſcheinung die fie alle bindende und zu einem gemeinfamen Ziele Hinleitende Abficht an, fo wird diefe Abfiht aus einem Wollen zum Können erſt dadurch, Daß eben diefes dichterifche Wollen im Können der Darftellung untergeht.

Nicht eine reich entwicelte Fähigkeit der einzelnen Künſte wird in dem Geſammtkunſtwerke der Zukunft unbenüßt verblei- ben, gerade in ihm exft wird fie zur vollen Geltung gelangen. So wird namentlich auch die in der Anftrumentalmufit fo eigen- thünilich mannigfaltig entwickelte Tonkunft nach ihrem reichiten Vermögen in diefem Kunftwerke ſich entfalten Fönnen, ja fie wird die mimiſche Tanzkunft wiederum zu ganz neuen Erfin- dungen anregen, wie nicht minder den Athem der Dichtkunft zu ungeahnter Fülle ausdehnen. In ihrer Einfamkeit hat die Muſik fih aber ein Organ gebildet, welches des unermeßlichiten Aus- drudes fähig ift, und dieß ift das Orcheſter. Die Tonſprache BeetHoven’3, buch das Orcefter in das Drama eingeführt, ift ein ganz neues Moment für das dramatifche Kunſtwerk. Ver— mögen die Architektur und namentlich die ſceniſche Landichafts- malerei ben bdarftellenden dramatifchen Künftler in die Umgebung der phufiichen Natur zu ftellen, und ihm aus dem unerſchöpf-

Dad Kunftwerk der Zukunft. 157

lichen Vorne natürlicher Erſcheinung einen immer reichen und beziehungsvollen Hintergrund zu geben, fo ift im Orcheſter, diefem lebenvollen Körper unermeßlich mannigfaltiger Harmonie, dem darftellenden individuellen Menfchen ein unverfiegbarer Duell gleichfam künſtleriſch menfchlihen Naturelementes zur Unterlage gegeben. Das Orchefter ift, fo zu fagen, der Boden unendlichen, allgemeinfamen Gefühles, aus dem das individuelle Gefühl des einzelnen Darſtellers zur höchſten Fülle herauszu— wachſen vermag: es Löft den ftarren, unbeweglichen Boden der wirklichen Scene gerifjermaßen in eine flüſſigweich nachgiebige, eindrudempfängliche, ätherifche Fläche auf, deren ungemefjener Grund das Meer des Gefühles jelbit ift. So gleicht da Or— hefter der Erde, die dem Antäos, fobald er fie mit feinen Füßen berüßrte, neue unfterbliche Lebenskraft gab. Seinem Weſen nad vollkommen der fcenifchen Naturumgebung des Dar- fteller# entgegengejept, und deßhalb als Lokalität fehr richtig auch außerhalb des fcenifchen Rahmens in den vertieften Vordergrund gejtellt, macht e8 zugleich aber den vollfonmen ergänzenden Ab- ſchluß diefer feenifhen Umgebung des Darftellerd aus, indem es das unerſchöpfliche phyſiſche Naturelement zu dem nicht minder unerſchöpflichen künſtleriſch menſchlichen Gefühlsele- mente erweitert, das vereinigt den Darſteller wie mit dem at⸗ moſphäriſchen Ringe des Natur- und Kunftelementes umfchließt, in welchem ex fich, gleich dem Himmelskörper, in höchſter Fülle ficher bewegt, und aus welchem er zugleich nad) allen Seiten hin feine Gefühle und Anſchauungen, bis in das Unendlichſte er- weitert, gleichfam in die ungemefjenften Fernen, wie der Him- melöförper feine Lichtftrahlen, zu entfenden vermag.

So, im wechſelvollen Reigen ſich ergänzend, werben bie vereinigten Schweterkünfte bald gemeinfam, bald zu zweien, bald einzefn, je nad) Bedürfniß ber einzig Maaß und Abficht gebenden bramatifchen Handlung, ich zeigen und geltend machen. Bald wird die plaftifhe Mimik dem leidenſchaftsloſen Erwägen des Gedankens lauſchen; bald der Wille des entfchloffenen Ge- dankens fi in den unmittelbaren Ausdrud der Gebärde er- gießen; bald die Tonkunſt die Strömung des Gefühles, die Schauer der Ergriffenheit allein auszufprechen haben; balb aber werben in gemeinfamer Umfchlingung alle drei den Willen bed

158 Das Kunftwert der Zukunft.

Drama’3 zur unmittelbaren, Tönnenden That erheben. Denn Eines giebt es für fie-alle, die hier vereinigten Kunftarten, was fie wollen müffen, um im Können frei zu werden, und das ift eben da8 Drama: auf die Erreichung der Abſicht des Drama’s muß es ihnen daher allen ankommen. Sind fie fi diefer Ab— fit bewußt, richten fie allen ihren Willen nur auf deren Aus— führung, fo erhalten fie auch die Kraft, nach jeder Seite hin die egoiftiichen Schößlinge ihres befonderen Weſens von ihrem eigenen Stamme abzufchneiden, damit der Baum nicht geſtaltlos nad jeder Richtung hin, fondern zu dem ftolzen Wipfel der Äſte, Zweige und Blätter, zu feiner Krone aufwachſe.

Die Natur des Menfchen, wie jeder Kunftart, ift an fih überreih und wmannigfaltig: nur Eines aber ift die Seele jedes Einzelnen, fein nothiendigfter Trieb, fein bedürfnißkräf- tigfter Drang. Iſt dieſes Eine von ihm als fein Grundweſen erfannt, fo vermag er, zu Gunften der unerfäßlichen Erreichung diefes Einen, jedem ſchwächeren, untergeorbnetem Gelüfte, jedem unfräftigen Sehnen zu wehren, deſſen Befriedigung ihn am Er- langen des Einen hindern könnte, Nur der Unfähige, Schwache, tennt fein nothwendigſtes, ſtärkſtes Seelenverlangen in fich: bei ihm übermiegt jeden Augenblid das zufällige, von außen ge— Tegentfich angeregte Gelüften, das er, eben weil ed nur ein Ge— tüften ift, nie zu fillen vermag, und daher, von Einem zum Anderen willkürlich hin uud her gefchleudert, felbft nie zum wirklichen Genießen gelangt. Hat dieſer Bedürfnißloſe aber die Macht, die Befriedigung zufälliger Gelüfte hartnäckig zu ver- folgen, fo entjtehen eben die ſcheußlichen, naturwidrigen Erfchei- nungen im Leben und in der Kunft, die und als Auswüchſe mahnfinnigen egoiftifchen Treibens, als morbluftige Wolluft des Defpoten, oder als geile moderne Opernmufit, mit fo unfäg- lichem Efel erfüllen. Erkennt der Einzelne aber ein ſtarkes erlangen in fi, einen Drang, der alles übrige Sehnen in ihm zurüdtreibt, aljo deu nothwendigen, inneren Trieb, der feine Seele, fein Wejen ausmacht, und ſetzt er alle feine Kraft daran, diefen zu befriedigen, fo erhebt er auch feine Kraft, wie feine eigenthümlichfte Zähigfeit, zu der Stärke und Höhe, bie ihm irgend erreichbar find.

Der einzelne Menſch kann aber bei voller Gefundheit des

Das Kunſtwerk der Zukunft. 159

Leibes, Herzens und Verſtandes Tein höheres Bedürfniß em- finden, al das, welches allen ihm Gleichgearteten gemeinfam ift; denn es Tann zugleich, al ein wahres Bedürfniß, nur ein ſolches fein, welches er in der Gemeinfamkeit allein zu befriedigen vermag. Das nothwendigfte und ftärffte Bedürfniß des voll⸗ tommenen künftlerijhen Menſchen ift aber, ſich felbft, in ber höchſten Fülle feines Wejen, der volliten Gemeinſamkeit mit- zutheilen, und dieß erreicht er mit nothwendigem allgemeinen Verftändniß nur im Drama. Im Drama erweitert er fein be- fonderes Weſen durch Darftellung einer individuellen Perfön- lichkeit, die er nicht ſelbſt ift, zum allgemein menſchlichen Weſen. Er muß vollftändig aus fich heraußgehen, um eine ihm fremde Perſonlichleit nad) ihrem eigenen Wefen fo vollftändig zu er- faſſen, als es nötig ift, um fie darftellen zu fönnen; er gelangt hierzu nur, wenn er dieſes eine Individuum in feiner Berüh— rung, Durhdringung und Ergänzung mit anderen und buch andere Ynbividualitäten, alſo aud da8 Weſen dieſer anderen Individualitäten felbft, jo genau erforfcht, jo lebhaft wahrnimmt, daß es ihm möglich ift, dieſe Berührung, Durchdringung und Ergänzung an feinem eigenen Weſen ſympathetiſch inne zu wer⸗ den; und ber vollfommene fünftlerifche Darfteller ift daher der zum Wefen ber Gattung erweiterte einzelne Menfch nad; der höchſten Fülle feines eigenen bejonderen Weſens. Der Raum, in dem fidh diefer wundervolle Prozeß beiverfitelligt, ift aber die theatralifhe Bühne; das künſtleriſche Geſammtwerk, welches er zu Tage fördert, dad Drama. Um in diefem einen höchſten Kunftwerfe fein befonderes Wefen zur höchſten Blüthe feines Inhaltes zu treiben, hat aber der einzelne Künftler, wie die ein- zelne Kunftart, jede willkürliche egoiftifhe Neigung zu unzei— tiger, dem Ganzen undienliher, Ausbreitung in ſich zurüdzu- drängen, um bejto kräftiger zur Erreichung der höchſten ges meinjamen Abſicht mitwirken zu können, die ohne das Einzelne, wie ohne zeitweife Beſchränkung des Einzelnen, wiederum gar nicht zu verwirklichen ift.

Diefe Ubficht, die des Drama’s, ift aber zugleich die einzige wahrhaft fünftlerifche Abficht, die überhaupt auch nur verwirk⸗ licht werden Tann: was von ihr abliegt, muß fi nothwendig in das Meer bed Unbeftimmten, Unverftändlichen, Unfreien, verlieren. Diefe Abficht erreicht aber nicht eine Runftart für

160 Das Kunſtwerk ber Zukunft.

ſich allein*), fondern nur alle gemeinfam, und daher ift das allgemeinfte Kunſtwerk zugleich das einzig wirkliche, freie, d. 5. das allgemein verftänbliche Kunſtwerk.

V.

Der Künſtler der Iukunft.

Haben wir in allgemeinen Zügen das Wejen des Kunſtwerkes angebeutet, in welchem alle Fünfte zu ihrer Erlöfung durch all-

*) Der moderne oa ufpieinigter wird ſich am ſchwerſten gereigt fühlen zugugeftehen, daß aud jeiner Sunftart, der Dicht unft, dad Drama nit allein angehören follte; namentlich wird er fi nicht überwinden fönnen, es mit dem Tondichter theilen zu folen, nämli, wie er meint, da8 Schauſpiel in die Oper aufgehen u laſſen. Sehr richtig wirb, fo lange die Oper befteht, das Gchau- Prier beftehen müffen, und ebenjo gut auch die Pantomime; fo lange ein Streit hierüber denkbar ift, bleibt aber auch das Drama ber Zukunft felbft undenfbar. Liegt der Zweifel von Geiten des Dich- ter8 jedoch tiefer, und det er fi daran, daß es ihn nicht begreif- lid düntt, wie ber Geſaug gang und für alle Fälle die Stelle des rezitirten Dialoges einnehmen folle, jo ift ihm zu entgegnen, daß er fih nad zwei Seiten hin über den Charakter des Kunſtwerkes der Zukunft mod nicht Mar geworben ift. Erſtens ermißt er nicht, da in dieſem Kunftwerke bie Muſik durchaus eine andere Stellung u erhalten Hat, ala in der modernen Oper: daß fie nur da, mo he die vermögenbfte ift, in voller Breite fi zu entfalten, ba- gegen aber überall, wo z. B. die dramatiihe Sprache das Koth- wenbdigfte ift, ſich diefer volltommen unterzuordnen hat; dab aber gerade bie Mufit die Fähigfeit Bent, ohne gänzlih zu ſchweigen, em gedankenvollen Elemente ber Sprache fih jo unmerklich anzu- ſchmiegen, daß fie biefe faft allein gewähren läßt, während fie den- noch fie unterftügt. Erkennt dieß der Dichter an, fo hat er zweitens nun einzufehen, daß Gedanken und Gituationen, denen aud die leiſeſte und zurüdhaltendfte Unterftäßung ber Muſik noch zudringlich und läftig erigeinen müßte, nur dem Geifte unferes modernen Schau» fpieled entnommen fein fönnten, ber in bem Kunſtwerke ber Bufunft ganz und gar feinen Raum zum Wthmen mehr finden wird. Der Menſch, der im Drama ber Bukunft fi) darftellen wird, hat mit dem profaifh intriguanten, ftantsmobegefeplihen Wirrwarr, ben unfere modernen Dichter in einem Schaufpiele auf das Umftänb- lichſte zu wirren und zu entwirren haben, durchaus nichts mehr zu thun: Fein naturgefegliches Handeln und Reden ift: Ja, ja! und Nein, nein! wogegen alles Weitere von Übel, d. 5. modern, überfläffig ift.

Das Kunftwerk ber Zufunft. 161

gemeinftes Verſtändniß aufzugehen haben, fo fragt es ſich nun, welche die Lebensbedingungen fein müffen, die dieſes Kunſtwerk und diefe Exrlöfung als nothwendig hervorrufen Können. Wird es die verjtänbnißbebürftige und nad) Verſtändniß ringende mo» derne Kunft für fi, aus eigenem Ermeſſen und Vorausbedacht, nad willfürliher Wahl der Mittel und mit überlegter Feſt— fegung des Modus der als nothwendig erfannten Wereinigung, vermögen? Wird fie eine fonftitutionelle Charte oftroyiren kön— nen, um zur Veritändigung mit der fogenannten Unbildung des Volkes zu gelangen? Und wenn fie dieß über fich bringt, wird diefe Verftändigung durch diefe Konftitution wirklich ermöglicht werden? Kann die Kulturkunſt von ihrem abftraften Stand- punkte aus in das Leben dringen, oder muß nicht vielmehr das Leben in bie Kunſt dringen, da Leben aus fich her- aus die ihm allein entfprechende Kunft erzeugen, in ihr auf- gehen, ftatt daß bie Kunft (mohlverftanden: die Rultur- kunſt, die außerhalb des Lebens entitandene) aus ſich das Leben erzeuge uud in ihm aufgehe?

Berftändigen wir uns zuerft darüber, wen wir und unter dem Schöpfer de3 Kunſtwerkes der Zukunft zu denken haben, um von ihm aus auf die Lebensbedingungen zu ſchließen, die ihn und fein Kunſtwerk entjtehen laſſen können.

Wer aljo wird der Künftler der Zukunft fein?

Ohne Biweifel der Dichter *).

Wer aber wird der Dichter fein?

Unftreitig der Darfteller.

Wer wird jedoch wieberum der Darfteller fein?

Nothwendig die Genoſſenſchaft aller Künftler.

Um Darfteller und Dichter naturgemäß entftehen zu fehen, ftellen wir und zuvörderſt die Fünftlerifche Genoſſenſchaft der Zukunft vor, und zwar nicht nad) mwillfürlichen Annahmen, fon= dern nad) der nothwendigen Solgerichtigkeit, mit der wir von dem Kunftwerfe felbft auf diejenigen fünftlerifchen Organe weiter zu fchließen haben, Die es feinem Wefen nach einzig in das Leben rufen können.

*) Den Tondichter fei es und geftattet als im Sprach dichter mit inbegriffen anzujehen, ob perjönli ober genofjenihaftlic, das gilt hier gleich).

Richard Wagner, Gef. Schriten TIL. 11

162 Das Kunſtwerk der Zufunft.

Das Kunſtwerk der Zufunft ift ein gemeinfames, und nur aus einem gemeinfamen Verlangen kann es hervorgehen. Dieſes Verlangen, das wir bisher nur, als der Wefenheit der einzelnen Kunftarten nothwendig eigen, theoretifch dargeftellt Haben, ift praftifch nur in der Genoſſenſchaft aller Künftler denk: bar, und die Vereinigung aller Künftler nach Zeit und Ort, und zu einem beftimmten Zwecke, bildet diefe Genoffen- ſchaft. Diefer beftimmte Zwed iſt das Drama, zu dem fie fich Alle vereinigen, um in ber Betheiligung an ihm ihre befondere Kunſtart zu der höchſten Fülle ihres Wefens zu entfalten, in diefer Entfaltung fi gemeinfhaftli alle zu durddringen, und als Frucht diefer Durchdringung eben das Tebendige, finnlich gegenwärtige Drama zu erzeugen. Das, was Allen ihre Theil- nahme ermöglicht, ja was fie nothivendig macht und was ohne diefe Theilnahme gar nicht zuc Erfcheinung gelangen Könnte, ift aber der eigentliche Rern des Drama's, die dramatiſche Handlung.

Die dramatifche Handlung iſt, als innerlichite Bedingung des Drama’3, zugleich dasjenige Moment im ganzen Kunſtwerk, welches das allgemeinfte Verſiändniß deſſelben verfihert. Un— mittelbar dem (vergangenen oder gegenwärtigen) Leben ent nomnıen, bilbet fie gerade in dem Maafe das verftändnißgebende Band mit dem Leben, als fie der Wahrheit des Lebens am ge- treueften entfpricht, das Verlangen deifelben nad) feinem Ber- ftändniffe am geeignetften befriedigt. Die dramatiſche Handlung ift fomit der Bmeig vom Baume des Lebens, der unbewußt und unwillkürlich diefem entwachſen, nad) den Gefeßen des Lebens gebfüht Hat und verblüht ift, nun aber, von ihm abgelöft, in ben Boden der Kunſt gepflanzt wird, um zu neuem, f&önerem, unvergänglihem Leben aus ihm zu bem üppigen Baume zu erwachſen, der dem Baume des wirklichen Lebens feiner inneren, nothiwendigen Kraft und Wahrheit nad) boll- kommen gleicht, dem Leben ſelbſt gegenftänblich getvorden, dieſem fein eigened Wefen aber zur Anfchauung bringt, da8 Unberwußt- fein in ihm zum Bewußtſein von ſich erhebt.

In der dramatiſchen Handlung ſtellt fi) daher die Noth- wendigkeit de3 Kunftwerfes dar; ohne fie, ober ohne irgend wel- hen Bezug auf fie, ift alles Kunftgeftalten willkürlich, unnöthig, zufällig, unverſtändlich. Der nächte und mwahrhaftigfte Kuuſt-

Das Kunftwert der Zukunft. 163

trieb offenbart fi) nur in dem Drange aus dem Leben heraus in das Kunſtwerk, denn es ift der Drang, das Unbewußte, Un- willtürlihe im Leben fi als nothwendig zum Berftändni und zur Anerkennung zu bringen. Der Drang nad; Verftändigung ſetzt aber Gemeinſamkelt voraus: der Egoiſt hat ſich mit Nie mand zu verftändigen. Nur aus einem gemeinfamen Leben kann daher der Drang nad) verftändnißgebender Vergegenftändlihung diejes Lebens im Kunſtwerle hervorgehen; nur die Gemeinfam- teit der Künftler kann ihn ausfprehen, nur gemeinschaftlich tönnen diefe ihn befriedigen. Ex befriebigt fid) aber mir in der getreuen Darftellung einer dem Leben entnommenen Handlung: zur Fünftlerif hen Darftellung geeignet kann nur eine folche Hand- lung fein, die im Leben bereit3 zum Abſchluſſe gefommen ift, über die als reine Thatfache fein Zweifel mehr vorhanden ift, von der twillfürliche Annahmen über ihren nur möglichen Abs ſchluß nicht mehr ſich bilden fönnen. Erſt an dem im Leben Vollendeten vermögen wir die Nothwendigkeit feiner Erſcheinung zu fafjen, den Bufammenhang feiner einzelnen Momente zu bes greifen: eine Handlung ift aber erft vollendet, wenn der Menfch, von dem biefe Handlung vollbracht wurde, der im Mittelpunkt einer Begebenheit ftand, die er als fühlende, denfende und wollende Perfon, nach feinem nothwendigen Weſen leitete, will- türliden Annahmen über fein mögliches Thun ebenfalls nicht mehr unterworfen ift; diefen unterworfen ift aber ein Menſch, fo lange er lebt: erjt mit feinem Tode ift er bon diejer Unter worfenheit befreit, denn wir willen num Alles, was er that und was er war. Diejenige Handlung muß ber dramatiſchen Kunft als geeignetfter und würdigſter Gegenftand ber Darftellung er- ſcheinen, die mit dem Leben der fie beſtimmenden Hauptperfon zugleich abjchließt, deren Abſchluß in Wahrheit Fein anderer ift, als der Abſchluß ded Lebens diefed Menſchen ſelbſt. Nur die Handlung ift eine vollfommen wahrhafte und ihre Nothivendig- feit und Mar darthuende, an deren Vollbringung ein Menfch die ganze Kraft feines Weſens fegte, die ihm fo nothwendig und unerläßlid, war, daß er mit der ganzen Kraft feines Wefens in ihr aufgehen mußte. Davon überzeugt er und auf da8 Unmiber- leglichfte aber nur dadurch, daß er in der Geltendmadung. der Kraft feines Weſens wirklich perfönlich unterging, fein per ſönliches Dafein um der entäußerten Nothwendigkeit feines 418

164 Das Kunftwert der Zukunft.

Weſens willen wirklich aufhob; daß er bie Wahrheit feines Weſens nicht nur in feinem Handeln allein, was uns, fo lange er handelt, noch willkürlich erjcheinen darf —, fondern mit dem vollbrachten Opfer feiner Perfönlichkeit zu Gunſten dieſes nothwendigen Handelns, uns bezeugt. Die lebte, voll- ftändigfte Entäußerung feines perfönlichen Egoismus’, die Dar- Tegung feines vollfommenen Aufgehens in die Allgemeinheit, giebt und ein Menſch nur mit feinem Tode fund, und zwar nicht mit feinem zufälligen, fondern feinem nothwendigen, dem durch fein Handeln aus der Fülle feines Weſens bedingten Tode.

Die Geier eines ſolchen Todes ift die würdigſte, die von Menfchen begangen werden faun. Gie erſchließt und nach dem, durch jenen Tod erkannten, Weſen diefed einen Menfchen die Fülle des Inhaltes des menfchlichen Weſens über- haupt. Am vollftommenften verfihern wir und bes Exfannten aber in der bewußtvollen Darftellung jenes Todes jelbft, und, um ihn uns zu erklären, durch die Darftellung derjenigen Handlung, deren nothwendiger Abſchluß jener Tod war. Nicht in den widerlichen Zeichenfeiern, wie wir fie in unferer hrijtlich- modernen Lebensweiſe durch beziehungsloſe Gefänge und banale Kirchhofsreben begehen, ſondern durch die künftlerifhe Wieder⸗ belebung des Todten, durch Iebensfreudige Wiederholung und Darftelung feiner Handlung und feine Todes im dramatifchen Kunftwerle werden wir die Feier begehen, die und Lebendige in ber Liebe zu dem Geſchiedenen hoch beglüct und fein Wejen zu dem unfrigen macht.

Iſt das Verlangen nach diefer dramatifchen Feier in der ganzen Künftlerihaft vorhanden, und Tann nur ber Gegenftand ein würbiger und den Drang zu feiner Darftellung rechtfertigen- der fein, der und gemeinfhaftlich diefen Drang erwedt; fo hat doch die Liebe, die allein als thätige und ermöglichende Kraft Hierbei gedacht werden kann, ihren unergrünblidy tiefen Sig in dem Herzen jedes Einzelnen, in welchem fie, nad) der befonderen Eigenthümlichkeit der Individualität dieſes Ein- zelnen, wiederum zu befonderer treibender Kraft gelangt. Diefe beſonders treibende Kraft der Liebe wird ſich am drängendften immer in dem Einzelnen fundgeben, der feinem Wefen nach, überhaupt oder gerade in dieſer beftimmten Periode feines Leben, fi diefen einem beftimmten Helden am verwandteften fühlt,

Das Kunftwert der Zukunft. 165

durch Sympathie dad Weſen dieſes Helben ſich am beſonderſten zu eigen macht, und feine künſtleriſchen Fahigkeiten am geeig- netften dazu ermißt, gerade diefen Helben durch feine Darftellung für fi, feine Genoffenfhaft und die Gemeinjamfeit überhaupt, zu überzeugender Erinnerung wieder zu beleben. Die Macht der Individualität wird fi nie geltender machen als in der freien künftlerifchen Genoſſenſchaft, weil die Anregung zu ge- meinfamen Entihlüffen gerade nur von Demjenigen ausgehen kann, in dem die Individualität fo kräftig fi ausfpricht, daß fie zu gemeinfamen freien Entichlüffen zu beftimmen vermag. Diefe Macht der Individualität wird gerade nur in den ganz befonderen, beftimmten Fällen auf die Genoſſenſchaft wirken lönnen, wo fie wirklich, nicht erfünftelt, ſich geltend zu machen weiß. Eröffnet ein künſtleriſcher Genoſſe feine Abficht, dieſen einen ‚Helden barzuftellen, und begehrt er hierzu bie, feine Ub- ficht einzig ermöglicyende, gemeinfame Mitwirkung der Genoffen- ſchaft, jo wird er feinem Verlangen nicht eher entiprochen fehen, als biß es ihm gelungen ift, die Liebe und Vegeifterung für fein Vorhaben zu erweden, die ihn felbft beleben, und die er nur mitzutheilen vermag, wenn feiner Individualität die dem be» fonderen Gegenftande entfprechende Kraft zu eigen ift.

Hat der Künftler durch die Energie feiner Begeifterung feine Abficht zu einer gemeinfamen erhoben, fo ift von da an das fünftlerifhe Unternehmen ebenfall3 ein gemeinjames; mie aber die darzuftellende dramatiſche Handlung ihren Mittel- punkt in dem Helden diefer Handlung hat, fo behält das ge- meinfame Kunſtwerk aud) feinen Mittelpunkt in dem Darfteller dieſes Helden: feine Mitdarfteller und fonft Mitwirkenden ver- Halten fi im Kunſtwerke zu ihm fo, wie die mithandelnden Berfonen, diejenigen alfo, an benen der Helb ald an den Segenftänden und Gegenfägen feines Wejend feine Handlung Yundgab, fowie die allgemeine menſchliche und natürliche Umgebung, fi im Leben zu dem Helden verhielten, ‚nur mit dem Unterjhiebe, daß vom darſtellenden Helden mit Bemwußt- fein geftaltet und geordnet wird, was dem wirklichen Helden fih unwillkürlich darftellte. Der Darfteller wird in feinem Drange nach Fünftlerifcher Reproduktion der Handlung fomit Dichter. Er ordnet nach künſtleriſchem Maaße feine eigene Handlung, fowie alle Iebendigen gegenftändlichen Beziehungen

166 Das Kunſtwerk der Zukunft.

zu feiner Handlung. Uber nur in dem Grade erreicht er feine eigene Abficht, als ex fie zu einer gemeinfamen erhoben hat, als jeder Einzelne in dieſer gemeinfamen Abficht aufzugehen ver- langt, genau alfo in dem Maafe, in welchem er vor allem feine befondere perfönliche Abficht felbft au) in der gemeinfamen aufzugeben vermag, und fo gewiſſermaßen im Kunftwerfe bie Handlung des gefeierten Helden nicht nur darftellt, fondern

- fie moralifch durch fich jelbft wiederholt, indem er nämlich durch diefes Aufgeben feiner Perfönlichkeit beweiſt, daß er auch in feiner fünftlerifhen Handlung eine notwendige, bie ganze Individualität feines Weſens verzehrende Handlung voll- bringt*).

Die freie fünftlerifche Genoffenfchaft ift daher der Grund und die Bedingung des Kunſtwerkes ſelbſt. Aus ihr geht der Darfteller hervor, der in der Begeifterung an dieſem einen, feiner Individualität beſonders entiprechenden Helden, fi, bi3 zum Dichter, zum künſtleriſchen Geſetzgeber der Ge— noſſenſchaft erhebt, um von dieſer Höhe vollfommen wieder in die Genoſſenſchaft aufzugehen. Das Wirken dieſes Geſetzgebers

*) Wie wir hierbei dad tragiſche Element des Kunſtwerkes der Zukunft in feiner Entwidelung aus dem Leben und durch bie tünftlerifche Genofjenfhaft berührt haben, fo dürfen wir auf das Tomifche Element defjelben durch Umkehrung derjenigen Bedingungen fließen, welche das tragijche als nothwendig zur Erſcheinung bradten.

eld der Komödie wird ber umgefehrte Held der Tragöbie fein: wie dieſer als Kommunift, b. 5. als Einzelner, der burd die Kraft feined Weſens aus innerer, freier kr rm keit in ber Allgemein- heit aufgeht, fi unwilltürlih nur auf feine Umgebung und Gegen» füge bezog, fo wird jener als Saeitt, als Feind der Allgemeinheit, fi) dieſer zu entziehen oder fie willtärlic auf fih allein zu beziehen ftreben, in diefem Streben aber von ber Allgemeinheit in den mannig- jaltigften und abwechſelndften Geftalten betämpft, gebrängt und end- ich befiegt werben. Der Egoift wird gezwungen in die Allgemein- heit aufgehen, die ſe daher bie eigentliche Handelnde, vielfahe Perſon fein, die bem immer Handeln wollenden, nie aber Tönnenden, Egoiften jo lange als willfürlih wechſelnder Zufall erſcheint, bis fie im ge- drängteften Kreife ihn umſchiießt, und er, ohne Luft zum weiteren eigenfücdtigen Athmen, feine legte Rettung endlich nur in der un- bedingteften Unerfennung ihrer Rothmenbigteit erfieht. Die fünft- leriſche Genofienihaft, ala Repräfentant der Allgemeinheit, wirb fomit in der Komödie einen nod) unmittelbareren Antheil an der Dichtung ſelbſt Haben, als in der Tragdbie.

Das Kunftwerk der Zukunft, 167

ift daher immer nur ein periodifches, dad nur auf den einen befonderen, von ihm aus feiner Individualität angeregten, und zum gemeinfamen fünftlerifchen Gegenſtand erhobenen Fall ſich zu erftreden Hat; es ift daher keinesweges ein auf alle Fälle ſich ausdehnendes. Die Diktatur de3 dichterifchen Darftellers ift naturgemäß zugleich mit der Erreihung feiner Abficht zu Ende, eben diejer Abficht, die er zu einer gemeinfamen erhoben Hatte und in Die er aufging, fobald fie ald eine gemeinfame ſich der Gemeinfamfeit mitiheilte. Jeder einzelne Genoſſe vermag fi zur Ausübung dieſer Diktatur zu erheben, wenn er eine be fondere, feiner Individualität in dem Maaße entjprechende Ab- ficht Tundzugeben hat, daß er fie zu einer gemeinfdaftlichen zu erheben vermag; denn in derjenigen künſtleriſchen Genoſſenſchaft, die zu feinem anderen Zwecke, als zu dem der Befriedigung ge- meinſchaftlichen Kunftdranges ſich vereinigt, kann unmöglich je etwas Anderes zu maßgebender, gejehlicher Beſtimmung ge langen, als das, was die gemeinfchaftliche Befriedigung herbei— führt, alfo die Kunſt felbjt und die Geſetze, melde, in der Vereinigung des Individuellen mit dem Allgemeinen, ihre voll- Tommenften Erſcheinungen ermöglichen.

In der gemeinfhaftlichen Vereinigung der Menfchen ber Bufunft werben diefelben Gefege innerer Nothwendigkeit ein zig als beftimmend ſich geltend machen. Eine natürliche, nicht gemwaltfame, Vereinigung einer größeren oder geringeren Anzahl von Menſchen kann nur durch ein, diefen Menſchen gemeinfames Bedürfniß hervorgerufen werden. Die Befriedigung dieſes Be dürfniſſes ift der alleinige Zwed der gemeinfchaftlihen Unter: nehmung: nad) dieſem Zwecke richten fi die Handlungen jedes Einzelnen, fo lange das gemeinfame Bedürfniß zugleich das ſtärkſte ihm felbft eigene ift; und dieſer Bived giebt dann ganz von ſelbſt die Gefege für dog gemeinjchaftliche Handeln ab. Dieje Geſetze find nämlich felbft nicht? Anderes; als die zur Erreihung des Bwedes dieulichſten Mittel. Das Erkennen ber zweddien- lichſten Mittel ift Demjenigen verfagt, der zu dieſem Zwecke durch Fein wahres nothwendiges Bedürfniß gedrängt wird: da mo dieß aber vorhanden ift, entfpringt das richtigite Erfennen dieſer Mittel aus der Kraft des Bebürfnifjes ganz von felbft, und namentlich eben durch die Gemeinſamkeit diejes Bebürfniffes. Natürliche Vereinigungen haben daher auch gerade nur fo lange

168 Das Kunftwert der Zukunft.

einen natürlichen Beſtand, als das ihnen zu Grunde liegende Bedürfniß ein gemeinfamed und feine Befriedigung eine noch zu erſtrebende ift: ift der Zweck erreicht, fo ift diefe Vereinigung, mit dem Bebürfniffe, das fie hervorrief, gelöft, und erft aus neu entftehenden Bedürfniſſen entitehen auch wieder neue ereini- gungen Derjenigen, denen wieberum dieſe neuen Bedürfuiſſe ge- meinfam find. Unfere modernen Staaten find infofern bie un» natürlichiten Vereinigungen der Menfchen, weil fie, an und für ſich nur durch äußere Willtür, z. B. dynaftifche Samilieninter- eſſen, entftanden, eine gewiſſe Anzahl von Menjchen ein= für allemal zu einem Zwecke zufammenfpannen, der einem ihnen gemeinfamen Bedürfniffe entweber nie entiprochen hat, oder unter der Veränderung der Beiten ihnen Allen doch keinesweges mehr gemeinfam ift. Alle Menfchen haben nur ein gemeinfchaft- liches Bedürfniß, welches jedoch nur feinem allgemeinften Ins halte nad) ihnen gleihmäßig inne wohnt: das ift das Bedürfniß zu leben und glüdlich zu fein. Hierin liegt da3 natürliche Band aller Menſchen; ein Bebürfniß, dem die reiche Natur der Erbe vollfommen zu entfprechen vermag. Die bejonderen Be— dürfniffe, wie fie nach Zeit, Ort und Individualität ſich kund⸗ geben und fteigern, können in dem vernünftigen Buftande ber zufünftigen Menfchheit allein die Grundlage der befonderen Ver— einigungen abgeben, welde in ihrer Totalität die Gemeinſchaft aller Menfchen ausmachen. Dieſe Vereinigungen werden gerade fo wechfeln, neu ſich geftalten, ſich Löfen und wiederum Tnüpfen, al8 die Bebürfniffe wechſeln und wiederkehren; fie werden von Dauer fein, wo fie materiellerer Art find, auf den gemeinfchaft- lichen Grund und Boden ſich beziehen, und überhaupt den Ver— keht der Menſchen in fo weit betreffen, als diefer aus gewiſſen, fih gleichbleibenden, örtlichen Beitimmungen als nothwendig erwäcjlt; fie werben ſich aber immer neu geftalten, in immer mannigfaltigerem und regerem Wechfel ſich fundgeben, je mehr fie aus allgemeineren höheren, geiftigen Bedürfniſſen hervor: gehen. Der ftarren, nur durch äußeren Zwang erhaltenen, jtaat- lichen Bereinigung unferer Zeit gegenüber, werden bie freien Bereinigungen ber Zukunft in ihrem flüffigen Wechſel bald in ungemeiner Ausdehnung, bald in feinfter naher Gliederung das zufünftige menfchliche Leben felbft darftellen, dem der raftlofe Wechſel mannigfaltigfter Iudividualitäten unerfchöpflich reichen

Das Kunftwert der Bufunft. 169

Neiz gewährt, während das gegenwärtige Leben*) in feiner mo- diſch polizeilichen Einförmigteit daß leider nur zu getreue Abbild des modernen Staates, mit feinen Ständen, Anftellungen, Standredten, ftehenden Heeren und was fonft noch Allee in ihm ftehen möge barftellt.

Keine Vereinigungen werben aber einen veicheren, ewig er- frifchenderen Wechſel haben, al3 die fünftlerifchen, weil jede Individualität in ihnen, fobald fie fi dem Geifte der Gemein: famteit entſprechend zu geben weiß, durch fi und ihre gegen- wärtig dargethane Abficht, zur Ermöglichung diefer einen Ab- fit, eine neue Vereinigung hevorruft, indem fie ihr befonderes Bedürfniß zu dem VBebürfniffe einer, foeben aus dieſem Bebürf- niffe entftehenden, Vereinigung erweitert. Jedes in das Leben tretende Dramatifche Kunſtwerk wird fomit das Werk einer neuen, vorher noch nie dageweſenen und fo nie fich wiederholenden, Vereinigung von Künftlern fein: ihre Vereinigung wird von dem Augenblide an beftehen, wo der dichteriſche Darfteller des Hel- den feine Abficht zur gemeinfamen der ihm nöthigen Genofien- ſchaft erhob, und in dem Yugenblide wird fie aufgelöft fein, mo diefe Abficht erreicht ift.

Auf diefe Weife Tann nichts ftarr und ftchend in dieſer Fünfte leriſchen Vereinigung werden: fie findet nur zu dieſem einen, heute erreichten, Zwede der Feier diefed einen bejtimmten Helden ftatt, um morgen unter ganz neuen Bedingungen, duch die begei- fternde Abſicht eines ganz verſchiedenen anderen Judividuums, zu einer neuen Vereinigung zu werden, die ebenſo unterſchieden von der vorigen iſt, als ſie nach den ganz beſonderen Ge— ſetzen ihr Werk zu Tage fördert, die, als zweddienlichfte Mittel zur Verwirklichung der neu aufgenommenen Abficht, ſich eben⸗ falls als neu und ganz fo nod) nie dagemefen ergeben.

So und nicht anderd muß die Künftlerfchaft der Zukunft befchaffen fein, fobalb fie eben fein anderer Bmed, als das Kunftwerf, vereinigt. Wer wird demnach aber ber Künftler der Zukunft fein? Der Dichter? Der Darfteller? Der Mu- ſiler? Der Plaftiler? Sagen wir es furz: das Voll. Das felbige Bolt, dem wir felbft heut’ zu Tage das in un ſerer Erinnerung lebende, von uns mit Entftellung

* Und namentlich auch unfer modernes Theaterinftitut.

170 Das Kunftwert der Zukunft.

nur nadgebildete, einzige wahre Kunſtwerk, dem wir die Kunft überhaupt einzig verdanken.

Wenn wir Vergangenes, Vollbrachtes zufammenftellen, um und von einem bejonderen Gegenſtande nach feiner allgemeinen Erſcheinung in der Gefdichte der Menfchheit ein Bild barzu- ftellen, jo können wir mit Sicherheit die einzelnften Büge des— felben bezeichnen, ja aus genauefter Betrachtung fol’ ein- zelnen Zuges erwächft uns oft das ficherfte Verſtändniß des Ganzen, dad wir bei feiner verjchwimmenden Allgemeinheit oft nur nad) diefem einzelnen, beſonderen Buge erfaſſen müfjen, um von ihm aus zu einer Vorftellung bed Allgemeinen zu gelangen, und ed ift, wie in dem gegenwärtig uns vorgeführten Gegen- ftande der Kunft, die Fülle genau ſich darbietender Einzelheiten fo groß, daß twir, um den Gegenftand nach feiner Allgemeinheit darzuftellen, nur einen beftimmten Theil derfelben, eben den, der für unfere Anſchauungsweiſe uns gerade am bezeichnendften er— ſcheint, in Betracht ziehen dürfen, um uns in ihnen nicht zu ver— lieren, und fo den größeren allgemeinen Zweck im Auge zu behalten. Gerade umgekehrt ift der Fall, wenn wir einen zu- Tünftigen Buftand uns darſtellen wollen; wir haben zu folchem erfahren nur einen Maafftab, und der liegt gerade eben nicht in dem Raume der Zufunft, auf dem der Buftand fich geftalten fol, fondern in der Vergangenheit und Gegenwart, aljo da, mo alle die Bedingungen noch Icbendig vorhanden find, welche den erfehnten zufünftigen Buftand heute eben noch unmöglich machen, und gerade fein volles Gegentheil nothwendig erſcheinen Iafien. Die Kraft des Vebürfniffes drängt und zu einer nur ganz all- gemeinen Vorftellung Hin, wie wir fie nicht bloß mit dem Wunſche des Herzens, fondern vielmehr nach einem. nothwendigen Ver— ftandesichluffe auf den Gegenfag zu dem Heutigen, als ſchlecht erfannten Buftande zu fallen Haben. Alle einzelnen Züge*)

*) Wer fih aus feiner WBefangenheit in dem trivialen, un⸗ natürlihen Wefen unferer modernen Kunftzuftände durchaus nicht au erheben vermag, wird um biefer Einzelheiten willen die abgeihmad- teften Fragen aufwerfen, Zweifel tundgeben, nicht begreifen tönnen und wollen; auf die taufend Möglichkeiten von Zweifeln und Fragen biefer Art im Voraus etwa hier antworten zu follen, wird Niemand

Das Kunſtwerk der Zukunft. 171

müffen aus biefer Vorftellung Hinmegbleiben, weil fie nur nach willfürlihen Annahmen als Bilder unſerer Phantafie ſich dar- ftellen könnten und ihrem Weſen nad) doc nur gerade dem heutigen Buftande entnommen fein, immer nur, wie fie ben &e- gebenheiten der Gegenwart entjprungen, ſich uns darbieten bürf- ten. Nur das Vollbrachte und Zertige können wir wiſſen; die lebenvolle Geftaltung der Bufunft. kann unbeftritten eben nur das Wert des Lebens ſelbſt fein! Iſt fie vollbracht, jo werden wir mit einem Blide Mar begreifen, was heute wir nur nad) Laune und Willkür unter dem unüberwindlichen Eindrude der gegenwärtigen Verhältniffe und vorgaufeln könnten.

Nichts ift verderblicher für das Glück der Menfchen geweſen, als diefer wahnfinnige Eifer, dad Leben ver Zukunft durch gegen» wärtig gegebene Geſetze zu ordnen: dieſe widerliche Sorge für die Zukunft, die in Wahrheit nur dem trübfinnigen abfoluten ' Egoismus zu eigen ift, fucht im runde immer bloß zu erhalten, das, was wir heute gerade haben, für alle Lebenszeit und zu ver— ſichern: fie Hält daS Eigenthum, das für alle Emigfeit niet- und nagelfeft zu bannende Eigenthum, als den einzig würdigen Gegen- ftand menſchlich thätiger Vorausſicht feft, und fucht baher nad) Möglichkeit dad felbftändige Lebensgebahren der Bufunft zu be ſchranken, den feldftgeftaltenden Lebenstrieb ihr, als böfen, aufr regenden Stachel, thunlichft ganz außzureißen, um dieſes Eigen- tum als unverfiegbaren, nach dem Naturgefeg der Fünfprocent ewig ſich neu erzeugenden und ergänzenden Stoff behaglichiten Käuens und Schlingend, vor jeder unbehutfamen Berührung zu fügen. Wie bei diefer großen modernen Hauptftaatsforge ber Menich für alle zufünftigen Zeiten als ein grundſchwaches oder immer zu bemistrauendes Weſen gedacht wird, das einzig durch ein Eigenthum erhalten ober durch Geſetze auf der rechten Bahn zu leiten fei, fo ift uns auch in Bezug auf die Kunſt und die Künſtler nur das Runftinftitut die einzige Gemwährleiftung des Gedeihens Beider: ohne Akademien, Inftitutionen und Geſetzbücher ſcheint ung jeden Augenblick die Kunſt fo zu fagen aus dem Leimen

von Demjenigen verlangen, ber ſich überhaupt nur dem dentenden Künftler, nicht aber dem ftumpffinnigen modernen Kunſtinduſtriellen möge biefer nun in Litteratur, Kritit oder Produktion machen mitteilt.

172 Das Kunſtwerk der Bufunft.

gehen zu müflen; denn eine freie, felbftbeftimmende Thätigfeit bon Künftlern ift und gar nicht denkbar. Dieß hat feinen Grund aber nur darin, daß wir wirklich eben feine wahren Künftler, wie überhaupt Feine wahren Menſchen find; und fo wirft das Gefühl unferer eigenen, aber durch Feigheit und Schwäche gänz- lich felbft verſchuldeten, Unfähigkeit und Erbärmlicfeit ung in die ewige Sorge zurück, Geſetze für die Zukunft zu machen, durch deren gewaltfame Aufrechthaltung wir im Grunde nur bezwecken, daß wir nie wahre Künftler, nie wahre Menfchen werben.

So iſt es. Wir fehen die Zufunft immer nur mit dem Auge der Gegenwart, mit dem Auge, da8 alle Menſchen der Zukunft immer nur nad dem Maaße mefien fann, daS es, ald Maaß der gegenwärtigen Menfchen, zum allgemein menſchlichen Maaf über- haupt macht. Wenn wir fchließlich mit Nothwendigkeit das Bolt als den Künftler der Bufunft erfannt haben, fo fehen wir, diefer Entdedung gegenüber, den intelligenten Künſtleregoismus der Gegenwart in verachtungsvolles Staunen außbrechen. Er ver— gißt volftändig, daß in den Beiten der gefchlechtlich-nationafen Gemeinfamfeit, die ber Erhebung des abfoluten Egoismus jedes Einzelnen zur Religion vorangingen, und die unfere Hiftorifer als die der ungeſchichtlichen Mythe und Fabel bezeichnen, das Volk in Wahrheit bereitö ber einzige Dichter und Künſtler war; daß er allen Stoff und alle Zorn, wenn fie irgend gefunbes Leben Haben follen, einzig biefem dichtenden und Kunfterfinden- den Volle entnehmen Tann, und erblidt das Volk dagegen einzig nur in ber Geftalt, in welcher er es auß ber Gegenwart vor fein kulturbebrilltes Auge ftellt. Er glaubt von feinen er- habenen Standpunkte aus einzig feinen Gegenfaß, die rohe ge- meine Maffe, unter dem Wolfe begreifen zu müflen; ihm fteigen im Hinblid auf da8 Volt nur Bier- und Schnapsdünſte in die Nafe; er greift nach dem parfümirten Tafchentuche, und fragt mit civifificter Entrüftung: „was? Der Pöbel foll uns künftig im Kunſtmachen ablöfen? Der Pöbel, der uns nicht einmal ver- fteht, wenn wir Kunſt Schaffen? Aus der qualmigen Kneipe, aus der dampfenden Selbdüngergrube ſollen und bie Gebilde der Schönheit und Kunft aufiteigen?"

Sehr richtig! Nicht aus der ſchmutzigen Örundlage Eurer heutigen Kultur, nit aus dem widerlichen Bodenſahe Eurer modernen feinen Bildung, nicht aus den Bedingungen, die Eurer

Das Kunftwert der Bufunft. 173

modernen Civilifation die einzig denfbare Baſis des Dafeind geben, fol das Nunftwerf der Zukunft entftehen. Bedenlt aber, daß diefer Pobel keinesweges ein normales Probuft der wirk- fihen menfhlihen Natur ift, fondern vielmehr das künſtliche Erzeugniß Eurer unnatürlihen Kultur; daß alle die Lafter und Scheußlicjfeiten, die Euch an diefem Pöbel anwidern, nur die verzweiflungsvollen Gebärden des Kampfes find, den bie wirkliche menſchliche Natur gegen ihre graufame Unterdrüderin, die moderne Civilifation, führt, und das Abfchredende in biefen Gebärden keinesweges die wahre Miene der Natur, fondern viel- mehr der Widerſchein der gleißneriſchen Frage Eurer Stuats- und Griminalkultur ift. Vedenkt ferner, daß da, wo ein Theil der ftaatlichen Geſellſchaft nur überflüffige Kunft und Litte— ratur treibt, ein anderer Theil nothwendig nur den Schmuß Eures unnüßen Dafeins zu tilgen Hat; daß da, mo Schöngeiſterei und Mode cin ganzes unnöthige Leben erfüllen, Rohheit und Plumpheit die Grundzüge eines andern, Euch notwendigen, Leben ausmachen müffen; daß da, wo ber bebürfnißlofe Luxus feinen alleöverzehrenden Heißhunger gewaltſam zu ftillen fucht, das natürliche Bedürfniß auf der anderen Seite nur durch Plad und Noth, unter den entftellendften Sorgen, ſich mit dem Luxus zugleich befriedigen fann. So fange Ihr intelligenten Egoiften und egoiftiihen Feingebildeten in fünftlihem Dufte erblüht, muß es nothwendig einen Stoff geben, aus deffen Lebenzfafte Ihr Eure füßlichen Parfüms deftillirt: und biefer Stoff, dem Ihr feinen natürlichen Wohlgeruch entzugen Habt, ift nur biefer übelathmige Vöbel, vor beffen Nähe es Euch efelt, und von dem Ihr Euch im Grunde einzig doch nur durch jeuen Parfüm untericheidet, den Ihr feiner natürlichen Unmuth entpreßt habt. So lange ein großer Theil des Geſammtvolkes in Staats-, Gerichtd- und Univerfitätsämtern in unnüßefter Gefchäftigfeit koſtbare Lebens— träfte vergeudet, muß allerdings ein ebenfo großer, wenn nicht noch größerer Theil befjelben in überjpanntefter Nugthätigleit mit feinen eigenen auch jene vergeubeten Lebenskräfte erfegen helfen, und, was das Allerſchlimmſte ift! wenn fomit in diefem unmäßig angefpanuten Theile des Volles das Nüßliche, das nur Nugenbringende, zur bewegenden Seele aller Thätigfeit geworden ift, fo muß die widerliche Erſcheinung fi) heraus— ftellen, daß der abfolute Egoismus überalhin feine Lebensgeſetze

174 Das Kunftwerf der Bukunft.

geltend macht, und aus Bürger: und Bauerpöbel Euch wieberum mit häßlichſter Grimaſſe angringt*).

Weder Euch no diefen Pöbel verftehen wir aber unter den Volke: nur wenn weder diefer noch Ihr mehr vorhanden feid, können wir und erſt das Borhandenfein des Volkes vor- ftellen. Schon jept lebt das Volk überall da, wo Ihr und der Pöbel nicht feib, d. h. e3 Tebt mitten unter Euch beiden, nur ba Ihr nit von ihm wißt: wißt Ihr don ihn, fo feid Ihr auch ſchon Rolf; denn von der Fülle des Volles Tann man nicht willen, ohne an ihr Theil zu Haben. Der Höchſtgebildete wie der Ungebilbetfte, der Wiflendfte wie der Unwiſſendfie, der Hoch- geftellteite, wie der Niebergeftellteite, der im üppigen Schooße des Luxus Aufgewachfene, wie der aus dem unfauberen Neſte der Ar— muth Emporgefrochene, der in gelehrter Herzlofigkeit Auferzogene wie ber in lafterhafter Rohheit Entwidelte, fobald er einen Drang in ſich fühlt und nährt, der ihn aus dem feigen Behagen an bem verbrecherifchen Zufammenhange unferer gejelichaftlichen und ftaatlihen Buftände, oder aus der flumpffinnigen Unter- gebung unter fie Heraußtreibt, ber ihn Efel an den fchalen Freuden unferer unmenfchlihen Kultur, ober Haß gegen ein Nütz⸗ lichfeitöwefen, dad nur dem Bebürfniflofen, nicht aber dem Be— dürftigen Nutzen bringt, empfinden läßt, der ihm Verachtung gegen den felbitgenügfamen Unterwürfigen (diefen allerunmwür- digften Egoiften!) oder Zorn gegen den übermüthigen Frevler an der menfchlichen Natur eingiebt, nur Derjenige alfo, der nicht aus diefem Zufammenhange des Hochmuthes und der Feigheit, der Unverfchämtheit und ber Demuth, daher nicht auß dem ftaat3- gefeglihen Rechte, das biefen Bufammenhang gewährleiſtet, fonbern auß der Fülle und Tiefe der wahren, nadten menjch- lihen Natur und dem unverjährbaren Rechte ihres abfoluten Bedürfuiffes die Kraft zum Wideritand, zur Empörung, zum An- griffe gegen den Bedränger dieſer Natur ſchöpft, der deshalb widerftehen, fich empören und angreifen muß, und biefe Noth— wendigkeit offen und unzweifelhaft dadurch befennt, daf er jedes andere Leiden um ihretwillen zu ertragen und, wenn e3 gilt, fein Leben felbft zu opfern vermag, nur der gehört jegt zum

*) Es ift, ald ob dem Verfaſſer etwas von dem Charakter der neueften Barifer „®emeinde“-Borgänge geahnt hätte, 8.

Das Kunftwerk der Zukunft. 175

Volke, denn er und alle ihm Gleichen fühlen cine gemeinfame Noth. Diefe Noth wird dem Volke die Herrfchaft des Lebens geben, fie wird es zur einzigen Macht des Lebens erheben. Diefe Noth trieb einft die Jfraeliten, da fie bereitö zu ftumpfen, ſchmutzigen Laftthieren geworden waren, durd) das rothe Meer; und durch das rothe Meer muß aud) uns die Noth treiben, follen wir, von unferer Schmad gereinigt, nad) dem gelobten Lande gelangen. Wir werben in ihm nicht ertrinfen, e3 ift nur den Pharaonen diefer Welt verderblich, die ſchon einft mit Mann und Maus, mit Roß und Reiter, drin verfchlungen wurden, die übermüthigen, ftolzen Pharaonen, die da vergeffen hatten, daß einst ein armer Hirtenfohn durch feinen Mugen Rath fie und ihr Land vor dem Hungertobe bewahrte! Das Volt, das aus— erwählte Volk, z0g aber unverfehrt durd) das Meer nad) dem Sande der Verheißung, das es erreichte, nachdem der Sand der Wüfte die legten Flecken knechtiſchen Schmuges von feinem Leibe gewaſchen hatte.

Da die armen Sfraeliten mich einmal in das Gebiet ber ſchönſten aller Dichtung, der ewig neuen, ewig wahren Volks— dichtung geleitet haben, fo will ich zum Abfchiede noch den In— halt einer herrlichen Sage zur Deutung geben, die ſich einft das rohe, uncivilifirte Volk der alten Germanen, aus feinem anderen Grunde, al3 dem innerer Nothwendigkeit, gedichtet Hat.

Wieland der Schmiedt ſchuf aus Luft und Freude an feinen Thun die Auuftreichften Gefchmeide, Herrliche Waffen ſcharf und ſchön. Da er am Meeresftrande badete, gewahrte er eine Schwanenjungfrau, die mit ihren Schweflern durch die Lüfte geflogen kam, ihr Echwanengewand ablegte, und ebenfalls in die Wellen des Meeres fi tauchte. Bon heißer Liebe ent- brannte Wieland; er ftürzte fi in die Fluth, befänpfte und ge— wann das wundervolle Weib. Liebe brach auch ihren Stolz; in feliger Sorge für einander, lebten fie wonnig vereint. Einen Ring gab fie ihm: deu möge er fie nie wiedergewinnen lafien; denn wie fie ihn liebe, fehne fie fich doch auch nad) der alten Freiheit, nach dem Fluge durch die Lüfte zu dem glüdlichen Ei— lande ihrer Heimath, und zu diefem Fluge gäbe der Ring ihr die

176 Tas Kunftwert der Zukunft.

Macht. Wieland ſchmiedete eine große Zahl von Ringen, dem bes Schwanenweibes gleich, und hing fie an einem Bafte in fei- nem Haufe auf: unter ihnen follte fie den ihrigen nicht erkennen.

Bon einer Fahrt fam er einft heim. Weh! "Da mar fein Haus zertrümmert, fein Weib aus ihm in weite Gerne entflogen!

Einen König Neiding gab es, der hatte viel von Wieland's Kunft gehört; ihn gelüftete e8 den Schmiebt zu fangen, daß er fortan ihm einzig Werke fchaffen möge. Auch einen gültigen Vorwand fand er zu ſolcher Gewaltthat: da8 Golbgefteiit, daraus Bielaud fein Geſchmeid bildete, gehörte dem Grund und Boden Neiding’s an, und jo war Wieland's Kunft ein Raub am Fönig- lichen Eigenthume. Er war nun in fein Haus gebrungen, überfiel ihn jeßt, band ihn und fehleppte ihn mit ſich fort.

Daheim an Neiding’s Hofe follte Wieland nun dem Könige allerhand Nüpliches, Feſies und Dauerhafted ſchmieden: Geſchirr, Zeug und Waffen, mit denen der König fein Meich mehrte. Da Neiding zu ſolcher Arbeit dem Schmiedte die Baude löfen und ihm die freie Bewegung feines Leibes lafjen mußte, fo Hatte er doc zu forgen, wie er ihm bie Flucht hindern möchte: und er— findung8voll verfiel er darauf, ihm die Fußſehnen zu durch— ſchneiden, da er weislich erwog, baf der Schmiedt nicht die Füße, fondern nur die Hände zu feiner Wrbeit gebrauchte.

So faß er nun ba in feinem Jammer, ber funftreiche Wie- land, der frohe Wunderfchmiebt, gelähmt, Hinter der Eſſe, an ber ex arbeiten mußte, feines Herrn Reichthum zu mehren; hinkend, verfrüppelt und häßlich, wenn er fich erhob! Wer mochte das Maoß feines Elendes ermeſſen, wenn er zurückdachte an feine Sreiheit, an feine Kunſt, an fein ſchönes Weib! Wer bie Größe feines Grimmes gegen diefen König, der ihm fo ungeheure Schmach angethan!

Durch die Eſſe blickte er fehnend auf zu dem blauen Himmel, durch den die Schwanenmaid einft geflogen fam; dieſe Luft war ihr ſeliges Reich, durch das fie wonnig frei dahinſchwebte, während er den Dualm und Dunft des Schmiedeheerdes zum Nupen Nei- ding's einathmen mußte! Der ſchmähliche, an fich felbft gefettete Mann, nie follte er fein Weib wiederfinden Können!

Ah! da er doch unfelig fein foll auf immer, da ihm doch fein Troſt, Feine Freude mehr erblühen fol, wenn er doch Eines wenigſtens gewänne: Mache, Rache an diefem Neiding,

Das Kunftwerk ber Zukunft. 177

der ihn aus nieberträchtigem Cigenuuß in jo endloſen Sammer gebracht Hatte! Wenn ed ihm möglich wäre, diefen Elenden mit feiner ganzen Brut zu vernichten!

Furchtbaren Racheplänen fann er nad, Tag um Tag mehrte fich fein Elend, Tag um Tag wuchs das unabweisbare Verlangen nad) Race. Wie wollte aber er, der hinkende Krüppel, ſich zu dem Kampfe aufmachen, der feinen Beiniger verderben follte? Ein gewagter Fühner Schritt, und er ftürzte zum Gejpötte des Feindes ſchmachvoll zu Boden!

„O, du geliebtes fernes Weib! Hätte ich deine Flügel! Hätte ich deine Flügel, um, mich rächend, dem Elende mich ent ſchwingen zu können!“

Da ſchwang bie Roth ſelbſt ihre mächtigen Flügel in des gemarterten Wieland’ Bruft, und wehte Begeifterung in fein finnendes Hirn. Aus Noth, aus furchtbar allgewaltiger Not, Iernte der gefnechtete Künftler erfinden, was noch feines Men- fchen Geift begriffen Hat. Wieland fand es, wie er fid Flügel ſchmiedetei Flügel, um kühn fi zu erheben zur Race an feinem einiger, Slügel, um weit hin ſich zu ſchwingen zu dem feligen Eilande feines Weibes!

Er that ed, er vollbrachte e8, was die höchſte Roth ihm eingegeben. Getragen von dem Werke feiner Kunſt flog er auf zu der Höhe, von ba herab er Neiding's Herz mit tödt- lichem Geſchoſſe traf, ſchwang er in monnig kühnem Fluge durch die Lüfte fi dahin, wo er die Geliebte feiner Jugend wieberfand.

D einziges, herrliches Bolt! Das haft Du ge- dichtet, und Du felbft bift diefer Wieland! Schmiede Deine Flügel, und ſchwinge Did auf!

Rigard Wagner, Gel. Schriſten III. 12

Wieland der Hehmiedt, als Drama entworfen.

Perfonen:

Wieland, der Schmiebt.

Eigel, der Schutz. N Brüber. Helferich, der Arzt. Schwanhilde.

Neiding, König der Niaren. Bathilde, ſeine Tochter.

Gram, ſein Marſchall.

Erſter Akt.

Wꝛart Rorieg, walviger Uferraum am Meere, im Borbergrunde zur Seite Wie land's ‚Haus mit der Gehmiede, melde frei davor fteht.)

Erfte Scene.

Wieland fit und ſchmiedet an einem goldenen Geſchmeide; feine Brüder Eigel und Helferich Iehnen neben ihm und fehen ihm zu. Der Schmiebt fingt zu feiner Arbeit, die foeben der Vollendung nahe ift; er wünfcht feinem Geſchmeide Kraft, den Frauen, die e3 tragen, in den Augen ihrer Liebften immer neuen Reiz zu verleihen, denn: „gefteht es nur, Reiz und Schön— heit thut den Frauen noth, wollen fie die Männer an ſich bin- den; ein Huger Mann forgt darum wohl dafiir, daß nie der

Bieland ber Schmiedt. 179

Frau, bie er immer lieben will, an Heiz es gebreche. Seht, wie ich für euch forge: dieß Geſchmeide ſchuf ich euren Frauen. mei Spangen find’3, die theil’ ich unter euch.”

Eigel und Helferich find erfreut, danfen und Toben ihren Bruder, und fragen, wie fie ihm erwidern follen?

Wieland. „Schmied’ ih aus Liebe nicht für euh? Für eure Frauen ſchaff' ich erft recht aus Liebel Kein König darf mid; heißen, was ic) nur gerne thue. Doch Cigel, rathe bu, mas ich für dich gejchmiedet?“

Eigel. „Ein neues Wert? Fürwahr, du ſaßeſt ange einfam dort am Heerb; verhungert wäreft du, hätt! ich mit Jagd» beute dich nicht verforgt! Nun ſag', was ſchufeſt du fo emfig?”

Wieland. „Schau’ her, den Stahlbogen hier für dich, wenn du auf Jagen gehftl“

Eigel, entzüdt, prüft den Bogen, und lobt ihn als den ftärfften, ſchwungkräftigſten und fehönftgeformten, den man je gewinnen fünne.

Bieland. „So erleg’ ung heute noch ein gutes Wild! In hehren Thaten follft du einft ihn aber fpannen. Dir, Helferich, der du aus buftenden Kräutern den Heiltrank ung gewinnſt, dir ſchuf ich dieß zierliche Gefäß aus Gold, daß du ihn darin verwahrft!”

Helferih erftaunt über bie Schönheit des Fläſchchens, und Iobt, daß er nun den Heiltrunt mit fi tragen könne

Wieland. „Bald folft du mächtig deine Kunft bewähren, denn bald fol ſich blutiger Streit im Wikingenland erheben; gar mande Wunde heilft du dann den edlen Wifingsfprofien! Noc einen Helden giebt es, den ich liebe; für den, feht, ſchuf ich dieſes Schwert: das follt ihr, theure Brüder, dem König Rothar bringen! Gegen die Neidinge fol er es ſchwingen, die Norbland's freie Männer Inechten!“

Die Brüder. „Was weißt du von Rothar?*

Wieland. „Wachilde, dad holde Meerweib, daS dem König Wiking einft unferen Vater gebar, die erſchien mir dort aus den Wogen und gab mir Runde. Gar viel hat fie mir ver- traut, von Wate, unferem Vater; wie die Kifte uns zu freiem Eigen von Wifing warb beftimmt, wie Wiking's Söhne, die eine Königstochter ihm gebar, von Mifgefchid gedrängt würden; wie aber Rothar num in Heldenkraft erblühe,. und um

12*

180 Wieland der Schmiedt.

ihn ſich Alles ſchaare, was Neiding’3 wachſender Macht mwiber- ſtehe. Dieß Alles meld’ ih euch wohl Heute Abend, beim trau- lichen Mahll⸗

Helferich. „So komm' mit uns; die Sonne ſank ſchon tief, und du haſt dein Tagwerk doch wohl vollbracht: wer ſchuf ſo viel Wunderwerke als du?“

Eigel. „Zum heutigen Mahl erlege ic) zuvor mit dem neuen Bogen noch ein edles Wild! defj’ follft du dich, Wieland, freuen!”

Helferich. „Auch follft du uns geloben, nun bald ein Weib zu nehmen, daß unjere Liebesforge um dich fi mehren Tönne.“

Wieland (at aufmeram nad; dem Meere hingeblict; jedt ruft er plöp« td). „Seht ihr dort es durch die Lüfte fliegen?“

Eigel (dee and) näger hinblict) „Drei feltene Vögel, wie ich feine noch ah!”

Helferich. „Sie kommen näher!"

Eigel. „Hei, fürwahr! Jungfrauen ſind's, mit Schwanen- flügeln ſchweben fie durch die Lüftel“

Helferich. „Nach Weiten geht der eilende Flug!“

Wieland. „Mic dünft, der Einen giebt die Eile Müh'; fie ift ermüdetl“

Eigel. „Doc verſchwunden find fie nun; um die Wald- ede ging der Flug.“

Helferich (mit Eiger fih nad) dem Borbergrunde wenden). „XBo= her die famen, da blutete wohl mander Held.”

Eigel. „Schildmädchen waren es ſicher, im Nordland er- hoben fie Streit." (Su Wieland, der unvermandt noch nachtliath) „Nun, Wieland, fomm’! Was ftarrft du in die Luft? Wo mein Auge nichts erjpäht, da gemahrft bu wahrlich nichts!“

Wieland Geseittert und traurig, tief auffeufzend). „Oh, Könnt’ ich fliegen! In den Lüften freit' ich ein Weib!"

Helferid. „KRomm’ heim zum Mahl“

Bieland (one fi umzumenden). „DBereitet es wohl, ich folg' ench bald!“ (Die Brüder gehen fort. Wieland ſpäht immer aufmerfiam nad dem Meere) „Ha, dort ſeh' ich die Eine nieberjchmeben: was der Schüße nicht ſah, erkannte ih. Sie ift matt verwundet wohl: fie vermag nicht im Fluge fich gegen den Wind zu halten! Sie blieb zurüd finkt immer tiefer der Wind

" Wieland der Schmiebt. 181

drüdt fie nach dem Waſſer! Sie ift ihrer nicht mächtig, ſchon taucht fie auf die Fluthl Friſch, Wieland! In der Meeres: moge erjagft du dir wohl dein Wild!“ (Ex ipringt In das Meer und

ol m banı Rad) einer Beil it Ihn wiede J J 3 5 125 Gh ———

Zweite Scene.

Schwanhilde aid opnmähtig von Wieland an das Land gebracht, re Arme find In mächtigen Sjwanenflügeln verborgen, die matt und {jlaff $erabfängen). Wieland (legt fie an der Schmiede anf eine Moosbant nieder). Er gewahrt, daß fie unter den linken Flügel verwundet ift, betrachtet näher, und erfennt, daß die Flügel abzulöfen find, und wie er dieß vollbriugen müffe; er löſt vorfichtig die Flügel von Armen und Naden, und erfennt mit Entzüden ein ſchönes, wohlgeftaltetes Beib. So vermag er aud nun fiher zur Wunde zu gelangen; es ijt ein Speerftih. Schnell entfinnt er fi) des Heilmittels, das Helferich ihm für folhe Wunden gegeben, und kommt mit einem Kraute wieder zurüd; nachdem er ihr dieß auf die Wunde gelegt, verbindet er fi. Dann lauſcht er ihrem Athem. Sie kommt allmählich zu fi, ſchlägt die Augen auf und erblidt Bieland. Sie erſchrickt über ihren Aufenthalt, und wähnt fi in Neiding’3 Macht gefallen. Wieland beruhigt fie: er habe fie aus dem Meere gerettet und ihre Wunde geheilt: fie ſolle ihm darum nicht zürnen. Sie fühlt fi der Flügel beraubt, machtlos in eines fremden Mannes Gewalt. „OD Schweftern, liebe böfe Schweſtern! Beh, ihr ließet mich hilflos zurüd! Wie fol ich die Mutter je wiederfinden!“ Sie weint heftig.

Wieland tröftet fie: „Verließen dich die Schweftern, fo fei num in meinem Schu; dich, holdes, feliges Weib, laß mich bejchügen mit meinem Leben! Es gelingt ihm, fie zu be- ruhigen: er bittet fie zärtlich, fich zu fchonen, daß die Wunde fiher heile.

Schwanhilde. „So bift du nicht von Neiding's Stamme?“

Wieland. „D nein! ich bin aller Neidinge Feind. Schon jchmiebete ich dos Schwert, daß fie vertilgen fol. rei wohne ich mit meinen Brüdern hier, feinem Könige find wir unterthan. Doch fage mir, wer bift du, wundervolle Frau?“

Schwanhilde ift von Wielanb’3 Liebe gerührt; fie wünfcht ganz vergeffen zu können, wer fie fei und woher fie kam, da fie

182 Bieland der Schmiedt.

nun wohl fühlt, daß ihr Vergeſſen troftreicher fein müſſe, als Gedenken! Sie erzählt Wieland, der ſich neben fie geſetzt bat, wer fie fei. König Iſang im Norbland war der Vater ihrer Mutter; der Fürft der Lichtalben entbrannte in Liebe zu dieſer: als Schwan nahte ex fid ihr und entführte fie weit über das Meer, nad den „heimlichen Eilanden“. In Liebe vereint, wohnten fie dort drei Jahre, biß die Mutter in thörichtem Eifer zu wiſſen begehrte, wer ihr Gatte fei, wonach zu fragen er ihr verboten hatte, Da ſchwamm der Albenfürft als Schwan duch die Fluthen da= don, in weiter Serne ſah die jammernde Mutter, wie er auf feinen Zlügeln fi in das Luftmeer erhob. Drei Töchter hatte fie geboren, Schwanhilde und ihre Schweitern: denen wuchſen alle Jahre Schwanenflügel, welche die Mutter aus Sorge, auch fie möchten ihr entfliegen, ihnen jedesmal abftreifte und vor ihren Bliden verbarg. Nun kam aber Kunde über das Meer, daß König Yang von Neiding überfallen, getöbtet, und fein Sand von ihm geraubt worden fei. Da entbrannte in der Mut- ter Born und Race; fie begehrte Neiding zu ftrafen, beflagte, nur Töchter, feinen Sohn geboren zu haben; gab daher den Töchtern die wohlverſchloſſen gehaltenen Fluggewänder, hieß fie als Walküren nad Norbland fliegen, um Rachekampf gegen Neiding zu erheben. Nun hätten fie die Männer erregt, und mit ihnen gegen ben räuberifchen König geftritten; eher wand⸗ ten fie fi) nicht zur Umkehr, als bis Schwanhilde verwundet worben; leider habe fie aber, wie Wieland wiffe, den Schwe- ftern dor Wundmübigfeit nicht mehr folgen können. „Nun bin ih in deiner Machtl”

Wieland ift Hingeriffen, ſchwört fie zu lieben und nie fie zu berlaffen.

Schwanhilde. „Liebft du mid, wirklich?“ Sie zieht einen Ring vom Finger und reicht ihn Wieland. „Sieh', diefer Ring erregt dir Liebeözauber: trägt ihn ein Weib, ber Mann, ber fich ihr naht, muß dann in Liebe für fie glüh’n; ber wohl auch ge wann mir nur beine Liebe.“

Wieland, der den Ring empfangen, fühlt durch diefe Hin- gebung feine Liebe nur wachfen; er bittet fie, den Ring nie zu tragen, da er fie mehr noch ohne ihn liebe.

Schwanhilde, gerührt und beruhigt, räth ihm, dennoch den Ring nicht von fi zu geben, denn für den Mann, ber

Wieland der Schmiedt. 183

ihn trage, enthalte er den Siegerftein, der in jedem Kampfe ihm Sieg verfichere.

Wieland will au von diefer Eigenfhaft keinen Nutzen ziehen; er hängt ihn hinter der Thüre feine Haufe an einem Baft auf: „hier hänge du, weder ich noch mein Weib bedürfen dein!“

Schwanhilde „O Wieland, muß ich mic) deiner Liebe aun erfreuen, und darf ich nie wünfchen, ihr Leid und Kum— mer zu erregen; muß ich num immer bei bir weilen wollen, fo nimm dieß Fluggewand, birg e8 wohl und verſchließ' es feft! Denn erblid’ ich die Flügel, und weiß ich fie in meiner Macht, fo fehr ich dich liebe, nicht Könnte ich ber Luft widerftehen, auf ihnen mich in die Lüfte zu ſchwingen: fo wonnig ift der Flug, fo felig das Schweben im Haren Meere ber Luft, daß, wer ein⸗ mal e3 genoß, nie des Sehnens darnach ſich erwehren fann: er muß es ftilen, wird ihm die Macht dazu!“

Wieland erfchridt über die Vegeifterung Schwanhilde's; er rafft Haftig das Fluggewand zufammen. „Und die Liebe hielte Dich nicht?"

Schwanhilde dintt ergriffen an Wieland's Bruft, Sie weint und ruſhh: Nun lebt wohl, theure Schweftern! Leb' wohl, liebe arme Mutter! Schwanhilde ſieht euch nie wieber!“

Wieland ift Hingeriffen von ihrer Liebe und ihrem Schmerz. Doc ift er beforgt um fie: noch fei fie nicht ganz ges heilt, ihre Stirne glühe im Fieber. Er bittet fie, in fein Haus zu treten, und auf feinem Lager fich außzuruben; er gehe dann, feinen Bruder Helferich zu holen; der fei der gefchidtefte Arzt, und werde fie fchnell ganz heilen. Er geleitet die Müde, die ihn liebevoll umſchlingt, in das Haus.

Dritte Scene.

(&8 it voller Abend geworben. Ein Schiff Iegt feitwärt® Im Gintergrunde an; aus ihm fleigen vorfichtig Bathilde und Srauen an das Land. Gie ipägen, ol Wieland amwelenb ji. Da fie lin In Rurgem mieber auB ber Tüte treten Tepen, Halten fie ich hinter Gebüid zurüd.)

Wieland (im Begriff, die Thare zu fließen, Hält an, und kampft mit ſich, ob er nicht wieder umtehre). „Sch verſchloß dad Fluggewand nicht: doch, ſchläft fie nicht, die Müde und Kranfe? Und bin id nicht zurüd, ehe fie erwacht? Oder follte ich Verdacht gegen

184 Wieland der Schmiebdt.

fie Hegen? Eollte id) fie als gefangene Beute Halten? O nein, frei foll fie mic) fieben!” Freudig erregt verläßt er die Thüre. Dann kehrt er wieder um. „Doc, ſchließe ich wohl die Thüre? Um fie zu halten? Du Thor! Wollte fie entflicgen, zur Efie Hinaus, zum Fenſter in den Hof hinaus, fände ihr Flug leicht den Weg! Dod) fie fchläft, drum ſchütze fie die gute Thüre, daß Keiner fie ftöre.“ Er ſchließt ab, und geht mit dem Ausrufe: „Nun, Brüder, folt ihr Wunder hören, wie fehnell id) ein Weib mir gewann!” raſchen Schrittes über die Ecene ab. Bathilde cin Waffenräftung teitt mit den Grauen Hervon, „Meine Runen wiefen mich recht; hieher floh die Verwundete, denn be— kannt ift biefer Strand wegen feiner Heilfraft; nun möge Gram Wieland fangen; das Wichtigfte vollbring’ id) felbft. Gewinne ich den Ring des Schwanenweibes, dann bin id des mächtig: ften Kleinodes Herrin, und felbft mein Water verdanke einzig mir feine Macht.“ (Ele geht an die Thure und betrachtet das Schloß.) „Bürwahr, das kunſtreichſte Schloß, das je gefchmiedet ward! Doch was ift Menjchenkunft gegen Bauberkraft?" Sie be- rührt das Schloß mit einer Heinen Springiwurzel; die Thüre, nad) außen gehend, öffnet ſich von felbft; an der Rüdwand der Thüre gewahrt Bathilde fogleih den, von -Wieland am Baſte aufgehängten, Ring Schwanhilde's. Sie erkennt ihn, löſt ihn vom Baſte und fchlicht die Thüre wieder feft, wie zuvor.

Bierte Scene.

‚eu angetommene Sie Jaben am Etranbe angelegt. Oxam IR mit bemaflues ten Männern an dad Land geftiegen. Bathilbe, die den Ring angeftedt Bat, geht ihm freubig entgegen) „Wohl Dies ich euch recht, Gram; gelingt die That, fo Hat mein Vater dir viel zu danken: fängft du den kunſtreichſten Echmiedt, daß er ihm dienen muß, fo gewannft du ihm mehr, als ein neues Königreich. Stellt nach ihm aus im Walde, dorthin fah ich ihn gehn. Daß er auch willig folge, ver— nichtet Alles, was ihm hier lich und werth. Verbrennt ihm Haus und Hof, daß anderswo er Glück fuchen müſſe.“ Männer haben fid) entfernt, um Wieland nadjzuftellen; in das Haus werden Seuerbrände geworfen.

Gram erflärt in feuriger Erregtheit Bathilden, für fie und auf ihr Geheiß dad Kühnfte wie das Echredlichfte vollbringen zu wollen, dürfe er je Hoffen, fie zu geivinnen.

Wieland der Schmiebt. 185

Bathilde erräth die Macht des Ringes über ihn, der fonft fo falt und mürrifch, und freut fi) der Bewährung diefer Macht. Sie befiehlt ihm, ihr umerjchütterlich tren zu fein, und fie wolle ihm lohnen; mit ihr folle er einst ihres Vaters Lande beherrfchen. Sie nimmt von ihm Abſchied, und befteigt mit den Frauen ihr Schiff, in dem fie vom Ufer abfährt.

Man vernimmt vom Haufe her Schwanhilde's Ungitruf: „Wieland, Wieland!" Getöfe von der Waldfeite her. Wie- land wird von den Männern Gram's Herbeigeichleppt; um ihn übermältigen zu können, hat man ihm eine Verhüllung über die Augen geworfen, bie ihn noch jeßt des Geſichtes beraubt. Erift an Händen und Füßen gebunden, und fo wird er vor Gran hingelegt.

Sram. „Du bift Wieland, der Wunderfchmiebt?"

Bieland. „Wer feib ihr, daß ihr den Freien bindet?"

ram. „Bift du Wieland, der fo viel Wunderwerke fchuf, jo fag’, wo nahmft du das Gold dazu her, wenn nicht als Dieb aus jener Berge Grund, die eines Königs Eigenthum?“

Wieland. „Das Gold? Das will id dir wohl fagen. Du weißt, daß einft Idung den Göttern war geraubt, fie, die ihnen ewige Jugend gab, fo lange fie unter ihnen weilte: da alterten bie Götter, ihre Schönheit ſchwand, und von Freia's Seite wich Odur, den nun ihr Reiz nicht mehr band. Yduna ward den Göttern wieder gewonnen; mit ihr kehrte Jugend und Schönheit ihnen zurüd, nur Obur fehrte der Freia nicht wie der. Auf jenen Seljen figt nun die hehre trauernde Göttin und weint um ben Gemahl oft Heiße, goldene Thränen; diefe Thränen nun gewinn' ich aus dem Fluſſe, da Hinein fie fallen, und ſchmiede aus ihnen manch’ wonnig Werk, zur Freude glüdlicher Menſchenl“

Gram. „Du ſchwatzeſt da lieblich, doch lügſt du dich nicht frei; denn gewannſt du ſelbſt aus Freia's Thränen das Gold, fo find dieſe doch auch eines Königs Eigenthum, und ihm nur ſollſt du fortan nun ſchmieden!“ Er befiehlt, ihn nach dem Schiffe zu tragen.

Wieland wehrt ſich heftig und verlangt zu wiffen, was mit feinem Weibe geſchehen.

Gram. „Wo war dein Weib?“

Wieland. „In meinem Haufe ließ ich es ſchlafend.“

186 Bieland der Schmiedt.

Gram lacht grimmig, und reißt ihm die Binde von den Augen. „Schau’ auf, dort ift dein Haus!“

Wieland erblidt fein Haus in heller Flammengluth. Er fchreit vor Entfegen auf: „Schwanhilde, Schwanhildel Antworte mir!“ feine Antwort. „Tobt! Verbrannt! Rache!” Mit furchtbarer Kraftanftrengung fprengt er feine Bande. „Ein Stümper ſchmiedete die Ketten!" Er entreißt einem Nahefiehenden das Schwert und greift Gram an, diefer weicht. Wieland ftößt in ein Horn. Vor feiner Wuth weicht Ulles zu rüd. Seine Brüder, Eigel und Helferih, kommen mit Freun- den ihm zu Hilfe. Mehrere von Gram's Leuten werben erlegt; Gram und die Uebrigen fliehen dem Strande zu, ſtürzen ſich in die Schiffe und rudern haftig von dannen. Wieland donnert den Sliehenden Flüche nach, fhilt fie Meuchler und Zeiglinge. Dann ehrt er Heftig nach vorn zurüd; fein Haus ift eine zu— fammengeftürzte Branbjtätte, feine Spur von Schwanhilde ift zu erbliden. Er mwähnt fie verbrannt, und will fid) voll Ver: zweiflung in die Gluth ftürzen. Seine Brüder halten ihn zurüd. Da fpringt er auf, er will Rache nehmen, die Fliehenden ver- folgen. Er eilt nad dem Strande, fein Boot ift da; ein abge» ſchlagener Baumftamm liegt am Ufer; ihn ftößt er in das Wafler, und auf ihm will er dem Feinde nachſetzen. Seine Brüder ftellen ihm das Unmögliche einer folchen Fahrt vor; die Fliehen- den könne er auf feine Weije mehr erreichen und in welchem Lande er fie treffen folle, wiſſe er ja auch nicht, da Reiner die Räuber kenne, und wiſſe woher fie gefommen. Sie bieten ihm an, fogleich zu Rothar zu fahren, und ihm Wieland’ Schwert zu bringen. Wieland will fie nicht hören. Er ruft feine Ahnin, dad Meerweib Wahilde an; in ihre Sorge empfiehlt er fich: möge fie auß tiefftem Meeresgrunde die Wogen bewegen, daß fie ihn zu dem fernen Strande trieben, wo er Rache üben könnte. Er fpringt auf den Baumſtamm, und ftößt ihn mit einer Stange fo gewaltig ab, daß er jäh in das Meer hinaustreibt. Aus der Ferne ruft Wieland feinen Brüdern, die ihm Glück zu der verivegenen Fahrt wünfchen, ein letztes Lebewohl zu.

Wieland der Schmiedt. 187

Zweiter Akt.

‚9m Biarenlanb, Rönig Reibing:s dal, Des Burberarunb Reit ai Sale bar: aus, (05 führen Eeppen srats zu Reibing’s, Unts zu Batgitbe's Blohngemadi Nach Hinten zu führen breite Stufen In ben Hofeaum Hinab; biefer If mit Hagen Mauern und einem Zyurme umfcplofien. &6 If kurz vor Anbruc; ded Morgens.)

Erfte Scene.

BatHilde enttäßt Gram aub ihrem Wohngemaqh, Die Stiege nad} ber Halle Sinab.) Gram ift von Neiding, der ihn wegen des Misglücens des Anſchlages auf Wieland zürnte, von Amt und Hof ver- wiefen. Er hat ſich jegt zu VBathilde gewagt, um fie wegen Aus— ſöhnung mit ihren Vater anzugehen.

Bathilde verjpricht, ihm zu Willen zu fein, und zweifelt nicht am Erfolg. Sie hege ein mächtiges Kleinod, das ihr den Bater ganz zu Willen ftellen folle. Nur um Eines habe fie Sorge. Wieland fei hier.

Gram ift verwundert und erfchroden.

Bathilde. „Hörteft du nichts von der wunderbaren Ans funft eines Mannes, der auf einem Baumftamme hier an ben Strand geſchwommen fam? Der König nahm ihn gaftlid auf, da er ihm zu dienen verfprad. Durch ſchöne Werke, die er ihm jchmiebete, hat der Fremde Neiding’3 höchſte Gunft gewon⸗ nen; ſchon vergißt diefer feinen Kummer, daß er Wieland nicht gefangen. Goldbrand nennt ſich der Schmiedt; dod Wieland iſt's, ich hab’ ihn erfannt.“

Sram. „Was ſucht er hier unter fremdem Namen?“

Bathilde. „Auf Rache z0g er aus, doch nur auf Unge— fähr, da er feine Feinde nicht fennt.“

Gram. „Was hält ihn nun ab, weiter zu zieh'n?“

Bathilde. „Seine Rache vergaß er, da ihn nun Liebe bindet. Seines Weibes vergaß er, das er tobt wähnt, da er für ein anderes Weib entbrannt.“

ram. „Wer wirkte folhe Wunder in dem Wüthenben ?“

Bathilde. „Meine Nähe.“

ram. „So ift er mein Nebenbuhler?“

Bathilde. „Er iſt's, drum folft du Helfen ihn zu ver- nichten. Vertraue mir! Noch Heute ſollſt du zurüdberufen

188 Wieland der Schmiedt.

werben, und höchfter Ehren wieder genießen. Das geminne ih von Neiding, um der Macht des Ringes willen.“

Gram. „Trübe ift mein Sinn, feit id vor Wieland floh.“

Bathilde. „Das laß mich nun an ihm rächen.“

Gram. „Seit ich fo ſchnell in Liebe zu dir entbrannte, verfolgt mich Misgeihid.”

Bathilde. „Doch um biefer Liebe willen, follft du von mir erhoben fein! Sei treu, und fpähe auf Wieland, wie du dich rächeft und ihn verderbeſt: mit mir follft dann einft du hier herrſchen!“

Gram. „So ſtark und muthig, wie ich war, verdankt' ich einem Weib nun Ruhm und Ehre?“

Bathilde. „Erkenne, wie ſtark und muthig ein Weib fein Tann! Es tagt! So fliehe jetzt! Nimm dieſen Schlüſſel für das Thor; verbirg dich in der Nähe: fiehft du ein weißes Tuch auß meinem Fenſter wehen, fo komme fühn und offen her zur Halle; das fei die Botfchaft deines Glückes.“ Er verlangt fie zu umarmen; fie wehrt ihm: „Nach Wieland’8 Falle bin ic) dein!“ (Eile trennen fi. Bathitde geht in ihr Gemiach zurüd; Bram ver» {@Giinbet jeltwärts Im Hofraum. Tagesanbrud.)

Zweite Scene.

Am großen Hoftfore wird flart angeffopft, zwei Hofmannen Reiding’s (ringen bon®ber Kropp bie nad} Des Mön1gb @rmiache fOget unb auf der fi 8 Jept zum Schlafen ausgeftredt lagen, auf, und sufen:, „Wer da?” Antwort: „Voten aus Wifingenland.*

Ein Mann. „An wen feid ihr entboten?“

Antwort. „An den Niarendrojt endet uns König

Rothar.” De Daen DE anne Boben In kre Dürner; ber oe on ten get mg Retningra Gemach um den König zu meden, der andere ven Hinab, um dab große Hofthor zu

entrieg, (Eigel und Helferic (prengen zu vi Seren; fie fteigen ab, und werben von

den Wannen zur Halle geleitet. Auf ben Yornzuf find von —— Geiten anb dem Hofe Mannen zujammengetreten. Er reicht den Voten dem en )— Neiding ıtommt aus feinem Gemache die Treppe herab. Er begrüßt

die Boten und ftellt jid) erfreut, von König Rothar Kunde zu vernehmen. Er befiehlt, das Frühmahl zu richten, und nimmt auf dem Hocfige Platz. Das Mahl wird beftellt, die Boten und die Hofmannen nehmen Sige am Tifche vor dem Hochfige ein.

Wieland der Schmiebt. 189

Neiding fragt, die Botſchaft müfle wohl große Eile haben, da bie Boten ſelbſt zur Nachtzeit geritten, wo Jeder gern doch ruhe?

Eigel. „Schon lange haben wir feine Ruhe; bie ift ung genommen, feit wir eine ſchlimme That zu vergelten haben.“

Helferih. „Heilmittel fuchen wir nun Tag und Nacht, für großen Harm, den ein ſchmerzlicher Verluſt uns ſchuf.“

Neiding. „Was werbt ihr nun Botſchaft für König Rothar?“

(@äprenb der Gemäceh mich von ben, Gprechenben wieberflt ungefohen und ge-

Eigel. „Ein gutes Sänet brachten wir ihm, das unfer Bruder gefcämiebet.“

Helferid. „Mit dem Schwerte will Rothar nım ftreiten, und manches Unrecht rächen.“

B Neiding. „Ein Hehrer Gewinn ift ein gutes Schwert, doch Hehrer noch ein Schmiedt, der folche Schwerter ſchmiedet! Hat Rothar euern Bruder?”

Eigel. „Nein, ber entſchwand und.“

Helferih. „Wir fuchen ihn.“

Neiding Mens). „Sandt’ ich nicht einen Dummen aus, jegt ſchmiedete Wieland mir Waffen!“ rat) „Wo ift nun Wieland geblieben?"

Eigel. „Bon Schädern ward er überfallen, getöbtet warb ihm fein Weib.”

Helferih. „Nun ift er auf Rache in weite Berne ges zogen.”

Neiding. „So möge er ziehen, feine Zeit ift auß! Denn wißt, ein anderer Schmiedt fand ſich, der Wieland’3 Kunſt noch übertrifft, und gern und willig dient mir der.“

Helferih. „Wie hieße der Helb?“

Neiding. „Goldbrand. Das kündet König Rothar: Goldbrand ift der kunftreichfte Schmiebt, und mir fehmiebet er Waffen.“

Eigel. „Doc gab es einen Droft der Niaren, ber ftellte Wieland nach?“

Neiding. „Seid ihr feine Brüder, ihr müßtet e8 genau wiſſen.“

Helferih. „Wir Einfamen kannten die Schächer nicht; erft Rothar gab und fichere Spur. O, hätte fie Wieland gewußt!“

190 Wieland der Schmiebt.

Neiding. „Und nad) Niarenland führt euch Einfame die Spur?“

Eigel und Helferich (ringen fänel auf und ſtellen ſich enticloffen dor Reiding Hin). „An Neiding, den Niarendroft, ſandte uns König Rothar. Jetzt, Reiding, höre feine Botſchaftl“

Neiding. „Zwei üble Gefellen fanbte er mir; nicht Wonniged mögen fie künden. Nun rebet, ihr kühnen Helden!“

Eigel. „Zum Erften frägt Rothar, der Wilingenjproß: wer gab bir, Droft der Niaren, die Macht, im Norblande König zu fein?“

Neiding. „Der frechen Frage erwidre ih: mich wählten Freie zum Bürften.“

Helferih. „Wir wifjen, wie du dich wählen läſſ'ſt; auch Wieland wollteſt du zwingen, zum Herrn dich zu erfiefen.“

Eigel. „Durch Lift und Trug heßteft die Freien du wider einander, daß fie ſelbſt dir zu dienen ſich zwangen. Bu jpät reut fie ihre Thorheit. Boten fandten fie nun an Rothar, der fol als Helfer ihnen kommen, um ihre Knechtſchaft zu brechen.”

Neiding (mit unterdtüctem Heftigen Zoe). „Drei wilde Weiber flogen mir in’8 Sand, die berücten durch Zauber manchen Mann, daß er mir Treue brach; fie erhuben Streit und flogen davon; mancher Verräther, den fie nun im Stiche ließen, fam jegt wohl zu Rothar, vor meinem Born ſich zu bergen.“

Eigel. „Bum Bweiten fünbet dir Rothar: weil du ben König Yang erjchlagen und feiner Sprofien Erbe an Dich reißeft, fo will er num vollenden die Rache, die Iſang's Ente linnen trieb, als Schildmädchen nach Nordland zu fliegen.“

Helferih. „Blutſühne fordert er für den Erfchlagenen. Willig ſollſt du dich Rothar unterwerfen, deine Tochter zum Weibe ihm geben, wo nicht, jo ſchwört er, in Monatsfrift in das Niarenland zu fahren, den Maben bein Herz und den Eulen deinen Hof zu geben.”

Neiding deinen Gere und Grimm beherrichend). „hr ſelbſt Eule und Rabe, die ihr jo unliebliche Werbung in's Land mir bringt! Pflegt Rothar jo zu freien, alle Bräute der Welt muß er ge winnen. Nun ruht euch aus, ihr theuern Boten, noch habe ich manden guten Raum zur Ruhe für euch, wo euch die Eulen nicht beſchweren. Ruht wohl, indeß ich auf Antwort ſinne.“

Wieland der Schmiebt. 191

Eisel und Helferic werden na Reiding's Gemache Hinaufgeleitet. Reiding erfebt Ad) uncubtg von feinem Giße, und ſqreitet bewegt einge) (Er ergießt fich in Haf gegen Rothar und deſſen ungeftüme, Heldenhafte Jugend. Sol’ raſches Blut fei im Stande, mit einem fühnen Streiche Alles zu zerftören, was ein bedachtſamer Mann dur Lift, Trug und Gewalt mühjelig in langer Zeit aufgebaut! „Wer hilft mir nun, bem Stechen, der den Vater vom Hofe jagen, und dafür feine Tochter zum Weibe nehmen will, zu begegnen? Hei, ihr bier, meine Helden! Euch gab ich reiches Gut umd Machti Nicht Söhne hab’ ih: ihr follt mich beerben und neben Bathilden, feinem Weibe, herrſche nach meinem Tode im Norbland der, der jegt mir Sieg über Rothar verfchafft, daß wir ihm die hochmüthige Werbung vergelten!"

Wieland dritt unter den Wannen fern. „Zum Siegen braucht

gute Schwerter: nun prüfe, König, dieß Gefchmeidel“ & ——— ein nadtes Echwert, dieſer erfaßt eb, verſucht feine Schärfe und

Neiding überfchüttet den Schmiedt mit Lob. Solches

Schwert fei noch nie gefchmiedet worden! Wie es Luft zum

. Rampfe und Bewußtfein des Sieges bem erwecke, der e8 ſchwinge! Er fühle fi verjüngt und jugendliche Heldenkraft in feinen Adern glüh’'n! „DO Goldbrand, theueriter Mann! Der Gott, der di in mein Land geführt, der mollte mic) mächtig und ſelig wiffen! Komm’, Rothar! Ich fürchte dich nicht!“

Wieland. „Wie id dieß Schwert geſchmiedet, das Dich fo fiegeöluftig macht, fo fchmiebe ich ihrer für dein ganzes Heer in Monatsfrift, das will ich dir geloben!“

Neiding. „Das wäre mir Sicherheit des Sieges! Wie wollt’ ich dir lohnen! Des Goldes gäb’ ich dir mehr, als je zur Luft du dir verſchmieden könnteſt.“

Wieland. „Siegft du, König, jo fei deine Tochter mein Weibl!“

Neiding. „Den Lohn feßt’ ich, und will ihn gewähren, dem Schwedenreden zum Trogl"

Dritte Scene. Bathilde Aommt eitig aus ihrem Gemache herab; bei threm Anblic fühle fi Wieland gauberfaft gefeffel. Mile weichen efrerbletig zurch. Vorige. BatHilde nimmt ihren Vater bei Seite und dringt in ihn, fie einfam zu ſprechen, fie Habe ihm Wichtiged zu verkünden,

192 Wieland ber Schmiedt.

Neiding. „Ihr theuren Mannen, harret mein, daß ich

mit meinem Kinde auf Antwort finne für Rothar!l“ Ge fibrigen giehen ih aub der Que In ben Hinteren, feiern Raum zuräd.) (Bietanbr ale Bilas fegntt a Sul BatgibE geräte, Die mit Ihnen Hufe merffamteit wiederum nad) feinen Wilden forict, weicht am langfamften: man fieht ihn enait, \öwermktiig' ven Qofeaum' dan) Vertafen Reiking un Mathilde allein im Borbergrunde.,

Bathilde. „Gedenkſt du des Tages, da bu mich fchalteft, daß ich als Maid bir von der Mutter ward geboren? „„Was gaben günftige Götter mir Macht, da fie den Sohn mir ver: fagten?!”“ So riefeft du. Die Mutter töbtete der Gram.“

Neiding. „Zu mas das jegt? Ein Sohn erblühet mir nimmermehr!”

Bathilde. „Weil ich daran dich mahnen muß, wie bu ferner mich fehalteft, wenn ich Runen ſchnitt, und heimliche Künfte erlernte: „„Wa3 fol dir das Wiffen? Nie wirft du einen Sohn mir errathen!““ So riefſt du: mich ſchmerzte bein herber Spott!“

Neiding. „Was kommft du, zur Dual mir mein Sorgen zu mehren?“

Bathilde. „Preiſe nun deine Xochter, und preife ihr Wiſſen! Denn ih nur allein vermag dich jeßt zu erretten und zähle auf deinen Dank. Den Sieg über Rothar dir zu fihern, hab’ ich durch Fräftiges Wiſſen mich bemüht: fieh’ diefen Reif an meinem Singer! Er birgt einen Stein, der, trägft du ihn, in jedem Streite dir Sieg gewährt: ihn hab’ ich Dir erworben.“

Neiding. „Von einem Siegerftein hörte ich oft; wie er- marbft du ihn, daß du feiner Tugend fo ficher bift?“

Bathilde. „Der Schwanenmädchen Eine trug ihn an fi), die den letzten Streit dir im Nordlanb erregten.“

Neiding. „Unheil den Kühnen, die mich fait verdarben!“

Bathilde. „Wieland vermählte ſich die, die bein Speer verwundete; fie ließ ihm ben Ming. Entging deinem Marſchall der Schmiedt, fo gewann ich doch den Ring.”

Neiding. „Du weile Tochter, welch' Glück Haft du mir erworben!“

Bathilde. „Den Ring ftel’ ich dir zu, doch kann ich's nicht eher, ald biß du Wieland unſchädlich gemacht.“

Neiding. „Was kümmert und Wieland? Und wie fol’ ich ihn erreichen?”

Bathilde. „Wo wäreſt du nun, riethe beine Tochter

Bieland der Schmiedt. 193

nicht für dich? Wieland iſt's, dem du mic; foeben zum Weib verjprochen!” J

Neiding. „Ha! Der Mann, der wundergleich auf einem Baumſtamme mir an das Land geſchwommen kam? Wär's möglich!”

Bathilde. „Rein And'rer iſt's, als Wieland; ich ſah ihn, in feiner Heimath!* J

Neiding (reubich. „So hätt’ ich Wieland ſelbſt? Sei ruhig, Kind; nicht weiß er, wer ich bin, noch daß id) ihm nach— geftellt; er dient mir gern nnd ift defi' froh: fo mag es denn auch bleiben!“ .

Bathilde. „Dir dient er nicht, um mich iſt's ihm zu thun, Auf Rache zog er auß, er, der fo furdtbar in feinem Zorne! Doc; geheimnißvoll zog ihn die Liebe an diefen Strand; denn mic) muß er lieben, fo lange ich diefen Ring am Finger trage, der dem Weibe Liebeszauber, denn Manne Siegerkraft verleiht. Biehft du nun zum Gtreite, und gebe ich dir den Ring. fo ſchwindet der Liebeszauber über Wieland; er erwacht aus ber Blindheit, und furdtbar wird feine Rache fein: die Schwer- ter, bie er ſchmiedet, fie wendet er gegen uns!“

Neiding. „Und wahrlich diente er mir dann nicht mehr, der wundervolle Schmiebt! Jetzt fehe ich wohl, Wieland muß ich binden, und wohl mic, gegen ihn verwahren, daß ich ihn in meiner Gewalt habe, wenn er erwacht! O, feliges Kind! Welche Gaben dan? ich dir! Du giebft mir Sieg und den loſt⸗ barften Mann der Welt zu eigen! Nun fag’ den Lohn, den du wãhlſt l*

Bathilde. „Was du im Born verhängt, das ſollſt du num widerrufen. Gram fehre aus dem Banne zurüd!” J

Neiding. „Er hat mir ſchlecht gedient, daß er dem Schmiedte floh!”

Bathilde. „Erkenne die ſchreckliche Kraft von Wieland's Zorn, da ber muthigſte deiner Helden vor ihm wich! La diefen bein Heer führen, und wie durch meine Sorge bir der Ring gewonnen, fo gieb mir Gram zum Gemahll“

Neiding. „Muß ich Dir gehorchen, fo thu' ich's doch um- gern; einen mächtigen König hätt’ ich zum Eidam mir gewünſcht!“

Bathilde. „Laff’ mich die Mächtige fein: ich brauche nur ein Weib zum Manne.“

Rihard Wagner, Gel Sqhriſten III. 18

194 Wieland ber Schmiedt.

Neiding. „Du kühnes, übermuthiges Kind! Willſt du dich zum Manne ſchaffeud“

Bathilde. „Was nützten dir deine Mannen, wär' ich jebt nicht? Bedenke wohl, König, wen dir bein Weib geboren!“ (Sie gebt In Ifc Gemad; zurhl.)

Neiding ift "rgerlich über die Wahl feiner Toter. Er beargwohnt Sram und feine Treue, und befchließt, ihn auf. eine

geſchickte Weile aus dem Wege zu räumen, . ohne Bathilde s Verdacht zu erwecken. Er will Wieland vor deſſen eigenem Falle gegen Gram hetzen. Er ruft in vergnügter Stimmung ſeine Mannen aus dem Hofraume herauf, und verkündet ihnen die Gewißheit des Sieges, die er gewonnen: er iſt entſchloſſen, die Boten Rothar's mit trotziger Antwort nach Hauſe zu ſchicken. Seine Mannen verheißen ihm Ruhm und erhöhte Macht, er müſſe noch über alles Nordland herrſchen, wenn er den Stamm der übermüthigen Wikingen vollends vernichtet Habe. Neiding verheißt ihnen neuen Beſitz und neue Reichthümer.

Vierte Scene.

Gram (eitt auf. Der König habe ihn rufen laſſen.

Neiding. „Wie ſchnell ward dir die Botſchaft fund’! ne ng: Geheime Pfade find ihm bekannt; vor-ihm hüt' ich mich wohl!“ aut) „Nun, Sram, den Bann löf’ ich von dir. Doc höre: mich fordert Rothar heraus, auf Boten beruft er fich, die ihm gemelbet, übel feien mir die Niaren ſelbſt geftimmt. Nun müßte ich Niemand, dem ich mistrauen follt’, da du mir veblich dienft. Hatte ich je auf dich Verdacht, jo will ich Rothar lehren, wie fehr er ſich täuſcht, da ich gerade bir mit gutem Glauben mein Heer zur Führung gebe. Du follft mir Heerfürft fein! Gewinnſt du Sieg, fo gebe ich dir den verheißenen Preis, und mit Bathilde ſollſt du neben mir den Hodfig theilen.“

ram. Deſſ ſollſt du dich nie gereuen: dir diene ich treu und Dir gewinne ich den Sieg!“

Neiding. „Nun ruft mir Goldbrand Her! Du, Gram, magft zur Seite ftehen, und achte wohl, ob du den Schmiebt mir kennſt!“ Wieland kommt) „Mein wunberboller Schmiebt, jetzt gilt's! Mit übler Untwort fende ich Rothar's Boten heim. In Mondenfrift' muß ich nun das ftarfe Wilingenheer erwarten:

Wieland ber Shmieht. - 196

die verheeren mir wohl da8 Land und machen den Hof mir wüſte, wenn wir in guter Feldſchlacht fie nicht fehlagen! Wann ſchmiedeſt du mir num die verheißenen Schwerter?“

Wieland drop und saftig. „Gieb mir das zurüd, was ich heute dir gab, und das dich jo erfreute; nad, feinem Mufter - ſchmiede ich dir in Mondenfrift Schwerter zu Haufl*

Neiding weit ifm das Schwerh. „Deine Kunft ift groß und jelig der König, dem eim folder Schmiedt fein Lebelang dient!”

Wieland. „Selig der Schmiedt, der um deiner Tochter willen fein Lebelang dir dienen darf!“

Neiding. „Bathilde verſprach ich dem zur Ehe, der mir Sieg verfhafft, nicht dem .nur, der mir Schwerter ſchmiedet. -Ein And’rer ift nun da, der mir Sieg verjpricht wie du; mit ihm mußt du jet Wettftreit halten, daß du den Preis nicht verliert. Drum Hüte did wohl, Wieland, Huger Schmiebt!”

‚Wieland (iäsrt seftig auf). „Wer nennt mich Wieland?“ '

Neiding. „Hier ift’Einer, der did) von Nahe kennt. Ih .

will's ihm banken, daß du mir Schwerter ſchmiedeſt, wenngleich er. einft ungeſchickt dir wich, den ex doch fangen follte: doch büßt er's wohl durch Sieg über Rothar, will er Bathilden gewinnen. Schau’ did um, Wieland!“

Bieland erblidt Gram, der ihm mit finfterem Zorne dad Geficht bietet. Eutſetzen und Wuth bemächtigen ſich feiner; Erinnerung erwacht in ihm, aber noch unklar. Grimmig ſchaut ex fi) um, wie um ſich zu überzeugen, wo er fei. Plöhlich ge- ,. wahrt er Eigel und Helferich, die foeben aus dem Gemache links auf bie Treppe herausichreiten. „Meine Brüder! Dort mein Feind!“ Faft will er fi auch des Schwanenweibes entfinnen, - da erblidt er, rechts ſich wendend, Bathilde, welche erſchrocken aus ihrem Gemache heraustritt. Er glaubt mwahnfinnig zu werben. Alles ſchwirrt ihm durcheinander, und drängt fi endlich nur zu einem Ausbruche eiferjüchtigen und wüthenden Haſſes gegen Gram zufammen. „Erfahrt, wie Wieland’s Schwerter fchneiben!“ (Fr Iäläst @ram durch deſſen Eiſenrüſtung Sinburd zit einem Gtreie tobt barnieber.)

Bathilde war dazwiſchen getreten und hatte die Hand vor Gram audgejtredt; Wieland hat in blinder Wuth ihre Hand mit dem Schwerte sefreiit Sie ſchreit laut auf.

13*

196 Wieland der Schmiedt.

Wieland entftürzt das Schwert; er faßt nach Bathilde's verwundeter Hand; dieſe zieht fie Haftig zurüd um ben Ring zu verbergen, ber durch ben Hieb befchädigt worden ift. Wieland finkt betäubt vor ihr auf die Kniee

Neiding, in geheucheltem Borne über Wieland's Frevel- that, befiehlt, ihn zu binden.

Eigel und Helferich fpringen entfegt Hinzu; fie verthei— digen Wieland vor den Andringenden.

Neiding ruft ihnen zu, als Königsboten den Frieden nicht zu brechen: „den Frieden geb’ ih eu, daß ihr Rothar melbet, er möge fommen, wie er wolle und müſſe. Wieland ſelbſt ſchmiede mir die Schwerter, die durch das Eifen der Wi- fingen ſchneiden follen, wie dieß Mufterfchwert vor euren Augen durch meines Marſchalls Rüftung ſchnitt!“

Bathilde, außer ſich vor Born und Wuth, verlangt Bie- land's jofortigen Tod.

Neiding. „Richt doch! Was würde mir ber todte Wie- land nügen? Der lebendige Schmiebt gilt mir mehr als ein Reich! Waffenſchmuck und Geſchirre foll er mir ſchmieden; trau- rig ift ein Herrſcher, dem ſolch' ein Künſtler fehlt: er giebt zur Macht erſt den Genuß. Kein Fünftlerifches Glied foll ihm ges ſchädigt werden: doch, daß ich feiner ficher fei und Flucht ihm nie gelinge, durchſchneidet ihm die Sehnen an den Füßen! Hinkt er ein wenig, was thut's? Zum Schmieden braucht er nur Arm’ und Händel Die werben ihm wohl verwahrt!”

Wieland, bereit3 übermannt und gebunden, foll von ben Mannen abgeführt werden.

Eigel und Helferich werfen fi) abermals dazwiſchen: fie beſchwören Neiding, fold’ argen Frevel nicht zu begehen, und drohen mit Rothar's Rache.

Neiding befiehlt im Übermuth fie zu züchtigen.

MDeB dringt auf fie ein.) ‚Die Brüder rufen Wieland ihr Rache⸗ gelübde zu, und ſchlagen ſich zum Hofe durch, wo fie ſich ſchnell auf die Rofje ſchwingen und Davonjagen.

Wieland ruft ihnen verzweiflungsvoll nad: nicht Män- ner bänden ihn, ein Weib hielt’ ihn in Banden! Wieland, den ſchmerzlichen Blick auf Bathilde geheftet, wird fortgefchleppt.

Bieland der Schmiedt. 197

Dritter Akt.

(Wieland 's Schmiede mit einer breiten Gfje in der Mitte, weiche faft das ganze Deden geölt dam) +

Erfte Scene.

Wieland auf Krüden geftügt, fit am Heerde und mie det. Der Hammer entfällt iym. Das Herz will ihm vor Zorn und Weh erftiden. Ex, der freie, Kinftlerifche Schmiedt, der aus Luft und Freude an jeiner Kunſt, die wundervollſten Ge— ſchmeide ſchuf, um mit ihnen Die zu erfreuen und zu waffnen, die er liebte, denen er Ruhm und Sieg gönnte, hier muß er, geſchändet und befhimpft, an feinen. eigenen Ketten ſchmieden, Schwerter und Schmud für den, der ihn in Schmach und Elend warf. Und doch, wenn in ihm ber tiefite Unmuth und der Drang nad) Rache fich erregen, hält ihn ein unbefiegliches Ge— fühl zurüd: die untilgbare Liebe zu der Königstochter, die ihn doch haſſe, das raftlofe Sehnen nach dem Weibe, das er doch nicht liebe! Dieß Gefühl quält ihn am meiften. Immer muß er an fie denfen, und denkt er an fie, jo ſchwindet ihm alle Erinnerung: feine Jugend, feine einftige Freiheit, feine wonnig=heitere Kunfl, und was je ihn entzüdt, alles verwirrt fi vor feinem Sinne und fliehet feine Gedanken. Ya, dieß unzerftörbare wilde Liebesfehnen treibt ihn endlich zum Arbeiten, läßt feine Rnechtesmühe ihn liebgemwinnen, durch die e8 ihm ſcheint, als könne er, troß feiner Schmach, einft ſeibſt noch diefe Konigstochter gewinnen! Ja, das kunſtreichſte, unerhörtefte

‚Berl möchte er erfinden, um es von ben Füßen dieſer dürſtin zertreten zu laffen, wenn fie über die Trümmer feines Werkes ihm dann zulädle! Dann greift er denn mit alter Quft wie- der zu den Werkzeugen, und ein rüſtiges feuriges Lieb enttönt feinem Munde zum Saufen der Schmiebebälge, zum Sprühen der Funken, zum Takte des Hammers. Da drängen ſich wie- der wilde, grelle Ausrüfe in fein Lieb: ein ungeheurer Ekel faßt ihm plößlich vor feiner Sklavenarbeit. Wüthend wirft er das Werkzeug fort, Scufzer und Jammer überwältigt ihn! Er wollte er wäre todtl

. 198 Bieland der Schmiedt.

Ziveite Scene. .

Es Hopft an die Thire. Er will nicht öffnen: „Ein neuer

Plager!“ Eine Frauenftimme begehrt Einlaß. (Wieland ertennt Batditde; erflaunt und entzüdt, madıt er ſich auf feinen Krüden Haftig zur Türe auf umb enfriegelt fie.)

Bathilde ift verftört: fie hat den einfamen ‘Gang ge- wagt, um fi aus größter Noth zu Helfen. Sie zählt auf Wieland's Liebe zu ihr, daß er’ ihr nicht nur fein Leid zufügen, ſondern aud den nöthigen Dienft ihr erweiſen werde. Sie weiß : aber auch, feine Liebe zu ihr müfle wahr und wirklich fein, wenn fie ohne höchfte Gefahr ihren Zweck erreichen, foll. Sie verfährt deßhalb mit größter Vorficht, um fich zu verſichern.

Wieland entſchuldigt feine 'entitellte Geftalt;' mit Bitter- keit und Schmerz wirft er ihr ihren Antheil an feinen Leiden vor. Sie müfje wohl Gram fehr geliebt Haben, da fie feinen . Tod an ihm geräctl

Bathilde räth ihm mit verftelltem Wohlwollen an, fi ihre Gunft wieder zu eriverben, duch eine Arbeit, von der fie mwiffe, daß nur feine Kunft fie verrichten könne. Zuvor aber müſſe fie wiffen, ob er fie auch wirflich liebe, und in nichts ihr zuwider fein wolle.

Wieland. Sie wifle wohl, mit welch’ ſchmerzlichem Sehnen er an ihr hange. Nur er vermöge nicht zu begreifen, mas ihr an feiner Liebe gelegen fein könne?

- Bathilde. „Gedenke, wie beim Morde Gram’3 du mit dem fürchterlihen Schwerte auch meine Hand geftreift: ein Ring, den ich am Finger trage, ſchützte mid; vor der Schneide. Doch diefen Ring verlegte der Streich, daß der Stein, den er fchließt, num jeine Saffung verloren.”

Wieland. „Geringer Schade! Zur Sühne ſchinied' ich dir ‚gern einen Reif, der jenen hundertfach übertrifft.“

Bathilde. „Gerade an dieſem Ringe ift mir's aber ge legen, und fo viel, deß ich höchſte Gunſt und Liebe dir gewähre, fafſeſt du von Neuem- den Stein.“

Wieland. „Was ſpotteſt du meiner?. Um fo leichten Dienftes willen? Baprlic, du famft mich zu verföhnen.“

BatHilde. „Nein, Wieland! Biweifle nicht! Was ich ver- ſprach, das Halte ih ſicherlich: denn glaube, ich erfenne auch deinen Werthl“ -

" Wieland der Schmiedt. 199

Auf Wieland’3 Erftaunen und mißtrauifches Bweifeln, fieht Bathilde ſich gedrängt, ihm den hohen Werth begreiflich zu maden, den fie auf jenen Stein lege. „Der Stein ift ein Siegerftein: fol ihm der Water in fo ſchlechter Faſſung im Kampfe gegen Rothar führen, jo muß ich fürchten, den ‚Stein werde er verlieren und mit ihm den Sieg.“

Wieland erfennt nun den hohen Werth an, glaubt fomit an die Größe des Dienftes, den er zu leiften vermöge, und ‚hofft. Er begehrt den Ring zu: fehen.

Bathilde Hält ihn noch ängftlich zurüůck: „Wieland, ich verſpreche mich dir, drum ſage mir, ob du mich wirllich Tiebft?“

Wieland betheuert mit ſchmerzlichem Ungeſtüm.

Bathilde. „Du hegſt arge Entwürfe: beſchwöre mir deine Treue und daß du aller Rache entfagft!" :

Wieland. „Nichts habe ich zu rächen, als meine. Läh— * mung: ſchändet fie mich nicht in deinen Augen, fo bin ich wieder

ſchön, und alle Rache ſchwöre ich ab!"

Bathilde in höchſter Ungft, umſchlingt ihn verführeriſch und frägt: „Wieland, ſchwurſt du einen freien Schwur?“

Wieland (emtreibt IGe erfiht den Ring). „Bei biefem Ringe

ſchwör' ich sl·

Bathilde heftet in furchtbarer Angſt ihren Blick anf Wie- land. Diefer betrachtet den Ring genau: Gräßliche Erregtheit bemächtigt fic feiner. Entzückt und entfegt ruft er aus: „Schwan- Hilde, mein Weib!” (BatHitde ſchreit laut auf und bleibt erflaret ftefen).

Wieland. „Schäcer -verbrannten mein Haus mein Weib! Diebe ftahlen den Ring, der mich trog! Um ihn vergaß ich der Rache! Hal Wohl führte Wachhilde, die Ahne, mich recht! Hierher trieb mich ihr Geleitel lind ich, der um Rache Fam, ftürze mid) in des Feindes Schlingen! Und dieß Alles durch des unſeligen Ringes Kraft! Vathilde, ſchändliches Weib, wie gewaunſt du den Ring?”

BatHilde Caum iger mise. „Vom Daft an der Thüre ſtahl ich ihn!“

Wieland (immingt fd wathend an bie Thate, verfcieht fe fet und faht. Batzitde, „Verflucht feift du, diebifhes Höllenweib! Ha, wie ſchlau du wähnteit durch Siebe mich zu fangen, die bu doch

" Biebe ‚nie empfandeft! Wie theuer wohl liebteft du Gram, den

200 Bieland der Schmiedt.

du fo an mir gerächt! So viel, wie ich aud), galt er dir! Um Steine und Ringe lähmeft bu freie Männer und morbeft ihre Frauen! Nicht mich, mein Weib doch räche ich jet an dir! Stirb!“ (&r jolt mit dem Hammer nad) ihr auß,)

BatHilde direit im Auferften Entfegen. „Dein Weib Iebtl“ (Wieland ſteht betroffen) „Dich täufchten deine Sinne, da du fie tobt wähnteſt!“

Wieland. „Was Tügft du?“

Bathilde. „Zödte mich! Aber glaube mir: fie lebt!“

Wieland. „Sie lebt? Wu?“ J

Bathilde. „Auf meiner Heimfahrt blickte ich in jener Nacht über den Uferwald und gewahrte die Schwanenfchweitern, wie fie im die Tiefe des Waldes fich fenkten: zu Zwei waren fie und zu Drei erhuben fie fich wieber, um über Wald und Meer nad Weften zu fliegen.“

Wieland. „Nad ihrer Heimath! Sie fand dad Gewand! Sie rettete fih und mir jamntervollem, lahmen Mann ent⸗ ſchwand fie num ewig! Ad, mas ward mir daß befannt! Nun geihah mir graufamer als je zuvor! Wäre ich. blind ge- bfieben, als Knecht hätte ich gefhmiedet und endlich wohl die Kette gefüßt, die mic) band. Nun weiß id), wer ich war, welch’ feliger freier Mann! Nun weiß ih, daß das holdeſte Weib mir lebt, und daß ic) Elender nie fie erreichen, nie fie jehen werbel Bergehe denn, du lahmer, Hintender Prüppel! Du Spott und Scheufal! Verlacht von Männern, verhöhnt von Weibern und Kindern! Vergehe! Dir blüht nur Spott, nie Race, nie Liebe!” (Er färzt in furchtbarem Schmerze zufammen.)

Bathilde fteht wie verfteinert da, das menfchliche Elend erfennt fie in furchtbarfter Wahrheit vor fih. Tiefer Jammer bemächtigt fich ihrer Seele. Wieland Liegt lautlos am Boden. Sie blidt um ſich fie könnte fliehen fie mag es nicht. Sie Hält erfchroden Wieland für todt: fie neigt fich zu ihm hin— ab, und laufcht feinem Athem. Aus gepreßtem Herzen ruft fie ihn mit tiefen Mitleiden an: er Hört fie nicht. Sie weint heftig. Langfam erhebt Wieland ein wenig fein Haupt, und ftarrt vor fi Hin; mit kaum hörbarer Stimme beginnt er dann:

Wieland. „Schwanhilde, du lichte, Hehrel Schmwingft bu di wonnig durd die Lüfte? Schwebſt du felig über blauem Meere? GSiehft du mich hier am Boden kriehen, den Wurm,

Bieland der Schmiebt. 201

den feine tüdifchen Feinde zertraten? Ihm wehret die Scham dir zuzurufen, daß er dich Liebe! Der rüflige Schwimmer in Meereöwogen, der mochte di) wohl gewinnen: wie teilte der Lahme jebt die Fluthen? Wie fteuerte er ſtark dur das Meer, Tießeft du aus Lüften dich nieder auf die Woge? Un mic ge- Tettet, fchleppe ich meine Schmach an den Füßen nach: die Sehnen des Steuers find mir zerichnitten!” (Mit immer gefeigertem Ausdeud.) „Schwanhilde! Schwanhilde! O könnte ich mich von der Erbe erheben, die mein Fuß nur mit Schmerzen in ſchmählicher Schwäche berührt! Wie einft ich durch die Fluthen ſchwamm, ach! könnt' ich durch die Lüfte fliegen! Stark find meine Arme, um Schwingen zu rühren und furchtbar ift meine Noth! Deine Flügel! deine Flügel! Hätt' ich deine Flügel, rüftig durch die Lüfte flöge ein Held, der feinem Elend ſich rächend eni- ſchwungen!“

In heftigfter Erregung ftarrt er fchweigend aufwärts. Bathilde ruft ihn fanft an; er bebeutet fie durch eine heftig ab- wehrende Gebärde zum Schweigen. Sie blidt ihm ängftlic in das Antlig: fie fieht feine Lippen heftig zittern, feine Augen in immer lebhafterem Glanze leuchten. An den Krücken erhebt er ſich in wachſender Begeifterung, bis zur vollften Höhe feiner Geftalt.

Bathilde (entzüdt und entiegt. „Der Götter Einer fteht

"dor mirl®

Wieland «mit bebender Bruf), „Ein Menih! Ein Menſch in höchſter Noth!” (Dann in furhtbares Entzüden aussregend) „Die Noth! Die Noth ſchwang ihre Flügel, fie wehte Begeifterung in mein Hirn! Ich fand’s, was noch fein Menſch erdacht! Schwan- Hilde! Wonniges Weib, ic) bin dir nah’! Zu dir ſchwing' ich mid auf“

BatHilde. „Kann ich dir Helfen? Sag’, wie ich dich rette!-

Wieland. „Was willſt du, Weib? Was weideſt du bich an mir? lieh’ fern!“

BatHilde causer fh. „O Wieland! Wieland! Sieh’ meinen Jammer! Sieh’ das Weh, das mich zerfchneidet! Verzeih', ver zeihe der Unfeligen, göttliher Mann! In Schmerzen, die fie verzehren, muß fie dich Herrlichen lieben!“

Wieland. „Iſt's der Ring in meiner Hand, der dich ent- züct?“ (Er wirft ihu auf den Heerd.) „Der fol mir and're Dienfte tun, als falfche Liebe in dir nähren!”

202 Wieland ber Schmiedt.

Bathilde. „Nein, nicht der Bauber dieſes Ringes, ber Zauber deiner Leiden läßt mich did) lieben! Doch nicht als Gatten, als Menſchen muß ich dich lieben! Wieland, Wie- land! Hehrer, jammervoler Mann! Wie ſühn' ich meine Schub?" .

Wieland. „Liebe! Und von aller Schuld bift du frei.”

Bathilde —88 „Wen ſoll ich lieben?“

Wieland. „Aus its mit deines Water? Macht; ein ſiet⸗ reicher Befreier qhratet Rothar in dieß Land: der dich zum Weibe begehrt, verſchmähe ihn nicht! Er iſt von meinem Stamme!- Sei ftolz und glüclich ihm zur Seite, und gebär' ihm frohe Hel- den!“

Bathilbe (merztih und ergeben). „Sag ich ihm, daß Wie land mir verföhnt?“

Bieland. „Sag's ihm, und meld’ ihm meine Thaten!“

Bathilde stürzt vor ihm auf die Kniee; er erhebt fie und heißt fie enteilen, denn jegt müffe er an fein Werk gehen. Er entläßt fie durch die Thüre: fie wirft einen Ießten, ſchmerz⸗ lich wehmüthigen Blick auf Wieland und verläßt dann mit ge— fenttem Haupte die Schmiede.

Dritte Scene.

Wieland fegt fi) an ben Heerd, hebt die.Bälge, ſchürt die Gluth, und läßt fi in eifriger Regſamkeit zur Arbeit an. Sein höchſtes Meifterwert will er fchaffen. Die Schwertklingen, die er fo fein und fchneidig für Neiding gejchmiebet, fie will er zu ſchwungvoll leichten Flügelfedern umſchmieden; "dur Schienen jollen fie für die Arme verbunden werden; im Naden. wo ſich die Schienen in einander zu fügen haben, foll der Wun- derftein aus Schwanhilde's Ring den bindenden Schluß geben, ' als zauberfräftige Age, an der daß Flügelpaar fi) bewege. Plöglich Hält er ein: er hört aus der Luft durch die Eſſe den

Ruf feines Namens herabdringen; er blidt auf ber Rauch verwehrt ihm zu fehen. Er lauft: -

Schwanhilde’3 Stimme läßt fid) ‚von oben herab ver- nehmen: „Wieland! Wieland! Gedenkſt du mein?“

Wieland cent. „Schwanhilde! Mein feliges Weib! Biſt du mir nah’? Suchſt du mich auf, dem du fo weit entflohn?“

Wieland der Schmiebt. 203

Schwanhilde's Stimme: „Stürme wehter mich fort von dir: aus feliger Heimath zu dir fehnt ich mich nun!“

"Wieland. „Schwangft du aus wonniger Heimath dich her? In Noth und Jammer fuchft du mich auf?“

Schwanhilde. „In Lüften ſchweb' ich nah über bir, dich zu tröften in Jammer und Noth!”

Wieland. „In Noth bin ich, doch Iehrte mich Noth, dem Jammer mic zu entſchwingen.“

Schwanhilde. „Schmiedeft du Waffen, ſtarker Schmiedt, zu Streit und Kampfe zu fteh’n?“ J

Wieland: „Waffen ſchuf ich für meinen Feind! Nicht wüßte ih zum Kampfe zu fteh'n! Berfchnitten find mir die Sehnen am Zub, das Roß nicht kann ich mehr zwingen zum Nitt, nicht rüſtig duch Wogen mehr fteuern, ein holdes Weib mir zu werben!” .

Shwanhilde „O Wieland! . rufe! Was wirkft du nun, um Freiheit dir zu erwerben?“

i Bieland. „Ein Wert wir® ih, das foll mir Helfen, werb’ ich um Rode an Räubern hienieden, werb' id um eine mwonnige Frau, die hoc) ob dem Haupte mir ſchwebtl· (Immer froher und übermütfigee) „Sie ſoll dem Lahmen nie mehr entfliegen, er folgt ihr wohin fie fi -[htwingt.“ .

Schwauhilde. „Wieland! Du Kühnfter! Schmiebeit du Wunder, herrlicher Mann?“ . ö

Wieland (od aufjubeind. „Ich fehmiebe mir Flügel, bu felig’ Weib! Auf Flügeln heb' ich mich in die Luft! Vernichtung laß ich den Neidingen hier, ſchwinge gerächt mid zu bir!“

Schwanhilde. „Wieland! Wieland! Mächtigſter Mann! Freieſt du mich in den freien Lüften, nie entflieg’ ich dir jel“

Wieland. „In den Lüften, du Hehre, harre mein! Dort. . will id) dich wieder gewinnen. Senle did nieder auf den nahen Forſt; bald fiehft du mich durch das Quftmeer ſchwimmen, mit mächtigen Schtwingen feine wonnigen Wogen zertheilen!“

Schwanhilde. „Leb’ wohl, mein Holder! Ich harte dein anf dem nahen Forit, du göttlicher Wunderfchmiedt!“

Unter dem Bmeigefange hat Wieland in immer fteigender Erregtheit fein Werk vollendet. Es pocht an die Thüre. Nei— ding begehtt Einlaß. Wieland in furdtbarer Freude ſpringt auf, läßt Neibing und feine Begleiter ein, ſchließt dann unver⸗

204 Wieland der Schmiedt.

merkt wieber hinter ihnen zu, und wirft den Schlüffel in das Teuer auf dem Heerd.

Vierte Scene.

Neiding freut fi) Über Die große Thätigkeit Wieland’s; weithin dat man ihn hämmern gehört. Die Hofleute lachen und fpotten über Wieland, ob feiner rüftigen Vehendigfeit im Ge brauche der Krücken; wie gut er fih zu helfen wife; auf feinen gefunden Füßen fei er faum fo ſchnell geweſen. Neiding ver- bietet den Spott: des Mannes große Kraft jege ihn in Erſtau— nen. Jeder andere wäre nad) dem Erlittenen vielleicht erlegen; ſolche Geiftesftärke aber, mit der fich Wieland in feine ſchlimme Lage ſchicke, zeige eble, hohe Art. Er ſchmeichelt ihm, und wünfcht, er möge immer fo guter Laune bleiben, munter und rüftig fein, dann folle er e8 wahrlich gut bei ihm haben.

Wieland amit almägtic immer geimmigerem Hof). „Wie gut würd' ich's wohl bei dit Haben? Vielleicht wie ein Logel, den bu im Walde gefangen? Die Flügel verjchnitteft du ihm, daß er bir nicht entfliege; doch, daß er mit feines Sanges füher lage dein Ohr erfreue, blendeft du ihm die Augen wohl, daß aus ewiger Nacht in angftvollem Sehnen nad) feinem Weibchen er rufe? dann veichft du ihm wohl füße Beeren, den lahmen Blin— den zu löhnen? Wie gut, Neibing, daß ih nur Füße hatte, nicht Slügel aud)., Dir fiele wohl bei, daß ich auch fingen fönnte, wie im Walde der frohe Vogell“

Neiding. „Was fol das, Wieland? Grämft du dich und verlorft fhon die Gebuld?“

Wieland. „Ich finge dir Lieder, fo gut ich fann!“

Neiding. „So laß die Lieder, fie wollen mir nicht gefallen. Um beiner ſcharfen Schwerter willen Haft du mich zum freunde. Was du verſpracheſt, das forb’re ich jegt von dir. Die Friſt ift um; mit großem Heere fiel Rothar ſchon in Nordland ein: ſchufſt du die Schwerter, die und noth? Bathilde kannſt du noch gewinnen!”

Wieland. „Hältft du dem Vogel füße Beeren vor? Im Walde pflücft er wohl bald fie fich ſelbſt!“

Neiding. „Ende das Lied, und fag’ von den Schwertern!“

Bieland ber Schmiedt. 205

Wieland. „Was brauchft du Schwerter? Du Haft ja den herrlichen Siegerftein! Den trägft du Heldenfönig, ruhig am Singer, und fieheit mit Luft, wie Rothar's ftreitliched Heer deinem bloßen Wunſche erliegt.“

Neiding. „Fürwahr, ich preife den Stein, den mir Bat- bilde verwahrt. Doc was kümmert er dich? Du Knecht, Haft mir Schwerter zu ſchmieden.

Bieland. „Unnüg find Schwerter dem, der durch Wunderfteine fiegt! Mehr frommten neue Krüden mir, daß noch behender zu deinem Dienft ich flöge Hin und Her, ald auf den, Weidenftöden ich es vermochte. Sieh’, aus Klingen ſchuf ich mir Krücken; die laſſen die Füße mich gerne vermiffen.“

Neiding. „Bift du, vafend? Die Schwertklingen ver- ſchmiedeſt du zu Tand?*

Wieland (inter dem Heerde ſteheud und mit ben Urmen in die Schienen deb Blügelpaares fahren). „Solhen Tand jchafft fi ein einfamer lahmer Mann! Hei! was mid) der Krüden Schwung erfreut!" NEE ra

Neiding „Welch' grimmes Feuer nährſt du auf dem Heerbe?“

Bieland. „Mit meinen Krüden fa’ ich die Gluth; der Bälge nicht Hab’ ich mehr nöthig; die will ich dir, König, erjparen!“

Neiding. „Was jagft du ben Brand nach uns daher?“

Wieland «mit furtbarer Etimme). „Die Kraft der Schwingen prüf ich nur, ob fie mich mächtig zur Effe hinaußtragen, wenn euch das Feuer verzehrt!” (Wadjender Rauch verfänt den Heerd und Wie« Ianb Hinter ijm. @euerglutfen erfafien Boden und Wände.)

Neiding Garu entjept nach der Tpkze. „Werraihl Wir find gefangen! reift den Verräter, eh’ wir erſticken!“

Wieland ift im Rauche gänzlich unfichtbar geworden. Als die Leute auf den Heerd eindringen, um Wieland zu greifen, ftürzt mit einem fucchtbaren Krache die Eſſe ein, fo daß nur die Seitenwände noch ftehen. Dichte Beuerlohe ſchlagi von allen Seiten auf. Über dem Qualme in der Luft ſieht man Wieland mit außgebreitetem Flügelpaare fchweben.

Neiding dia Todesangm. „Wieland, rette mihl"

Wieland (eflen Geftalt von der Helauffclagenden Sluth bluttoth er- ieuchtet worden, „Vergehe, Neiding, hin ift dein Leben, Hin ift

206 Wieland der Schmiebt.

dein Reich! Der Siegerftein ſchließt mir die Flügel im Naden! . Dort meine Brüder! Mothar naht! Deine Tochter ift fein Weib, fie fluchet dirl. Nichts bleibt von dir und deiner Macht, als die Runde von der Rache eines freien Schmiebtes, ‚und dem Ende feiner Knechtſchaft! Vergehe, Neiding, vergehel”

Fünfte Scene. De eamie Arzt vollendt gang Aufaumen und Degräßt Reid Ing und bie Geingen ter ihren Trümmern.)

Eigel und Helferich eilen an der Spige von Rothar's Heer herbei. Eigel fprengt an den Rand der Trümmer; er ge- wahrt Neiding mit dem Tode ringend, und drüdt einen Pfeil auf ihn ab. Siegesjubel erfüllt die Bühne Der einziehende, Rothar wird von den Niaren ald Befreier begrüßt. Son- niger, leuchtender Morgen. Im Hintergrunde ein Zorft. Alle bliden voll Staunen und Ergriffenheit zu Wieland auf. Diefer hat fich höher geſchwungen, der bligende Stahl feiner. Flügel leuchtet in hellem Sonnenglanze.

Schwanhilde ſchwebt mit außgedreiteten: Schwanen-

flügeln vom Walde her ihm entgegen: fie erreichen u und fliegen der Ferne zu. .

Kunſt und. Klima.

(1850.)

Den öffentlich außgefprochenen Unfichten des Verfaſſers über die Zukunft der Kunft, im gefolgerten Einflange mit dem Fort- ſchrilte des menschlichen Gefchlechtes zur wirklichen Freiheit, ift unter anderen namentlich auch der Einwurf gemacht worden, daß dabei der Einfluß des Klima's auf die Befähigung der Menfchen zur Kunſt außer Acht gelaffen, und z. 8. von den modernen nörblicheren europäifchen Nationen ein zufünf-

. tiges künſtleriſches Anſchauungs- und Geftaltungsvermögen vor- außgefegt werde, dem Die natürliche Veſchaffenheit ihres Himmel⸗ ſtriches durchaus zuwider ſei.

Es darf nicht unwichtig erſcheinen, das übte Berftänbnif

* der Sache, das biefem Einwurfe zu Grunde liegt, durch eine in den allgemeinften Grundzügen gehaltene Darftellung der wirk— lichen Beziehungen zwiſchen Kunft und Klima aufzubeden, wo— bei alle weiteren Folgerungen auf die einzelnen Büge für jetzt dem theilnehmenden Leſer überlafien bleiben mögen.

Bie wir wiffen, daß es Himmelsförper giebt, welche die nothwendigen Bedingungen für das Vorhandenſein menſchlicher

- Wejen noch nicht, oder überhaupt nicht, herborzubringen ver- mögen, fo wiflen wir, da auch die Erde einft dieſer Fähigkeit

208 Kunft und Klima.

fich noch nicht entäußert Hatte. Die gegenwärtige Befchaffenheit unſeres Planeten zeigt und, daß er felbit jegt keinesweges auf jedem Theile feiner Oberflähe das Dafein des Menfchen ge— ftattet: wo feine klimatiſche Äußerung ſich in ungebrochener Aus- ſchließlichteit Tundgiebt, wie im Sonnenbrande der Saharah ober in ben Eißfteppen bes Nordens, ift der Menſch unmöglich. Erſt da, wo dieſes Klima feinen unbedingten und allbeherrfchenden einförmigen Einfluß in einen durch Gegenfäße gebrochenen, be dingten und nachgiebigen auflöft, fehen wir. die unermeßlich mannigfaltige Reihe organifcher Gefchöpfe entftehen, deren höchſte Stufe der bewußtfeinfähige Menſch ift.

Wo nun aber die Himatifhe Natur durch den allbeichügen- den Einfluß ihrer üppigften Fülle den Menfchen unmittelbar, wie die Mutter das Rind, in ihrem Schooße wiegt, alfo da, mo wir die Geburtsftätte des Menſchen erfennen bürfen, da wie in den Tropenländern ift auch der Menſch immer Kind

geblieben, mit allen guten und ſchlimmen Eigenfchaften des Kindes. Erſt da, mo fie diefen allbedingenden, überzärtlichen Einfluß zurüdzog, wo fie den Menjchen, wie die verftändige Mutter den erwachjenden Son, ſich und feiner freien Selbft- beftimmung überließ, aljo da, wo bei verfühlender Wärme des unmittelbar fürforgenden klimatiſchen Natureinfluffes der Menſch für fich ſelbſt zu forgen Hatte, ſehen wir dieſen der Ent- faltung feiner Weſensfülle zureifen. Nur durch die Kraft des⸗ jenigen Bedürfniffes, das die umgebende Natur als überbes forgte Mutter ihm nicht fogleich beim Kaum-Entftehen ablaufchte und ftillte, fondern um deſſen Befriedigung .er felbit bejorgt fein mußte, warb er fich dieſes Bedürfniſſes, fomit aber auch jeinee Kraft bewußt. Dieſes Bewußtſein erlangte er durch da8 Innewerden feine Unterfhiedes von der Natur, dadurch, daß fie, die ihm die Befriedigung feines Bedürfniſſes nicht mehr darreichte, fondern der er e8 abgewinnen mußte, ihm Gegenftand der Beobachtung, Erforſchung und Bewälti— gung wurde.

Der Fortfchritt des menfchlichen Geſchlechtes in der Aus— bildung ber ihm innewohnenden Fähigkeiten, die Befriedigung feiner durch gefteigerte THätigkeit wiederum gefteigerten Bedürf- niffe der Natur abzugewinnen, ift die Kulturgefhichte. An ihr entwidelt fi) dev Menfd im Gegenfage zur Natur, alſo

Kunft und Klima. 209

zur Unabhängigkeit von ihr. Nur der durch Gelbftthätigfeit naturunabhängig gewordene Menſch iſt der geſchichtliche Menſch, und nur der gefhihtlihe Menſch hat aber bie Runft in das Leben gerufen, nicht der primitive, naturab⸗ Hängige.

Die Kunft ift die höchſte gemeinfchaftliche Lebensäußerung bes Menfchen, der nad felbfterfämpfter Befriedigung feiner natürlichen Bebürfniffe fi der Natur in feiner Siegesfreude darftellt: feine Runftwerfe fchließen gleichjam die Lüden, die fie für Die freie Gelbftthätigfeit des Menſchen gelaffen Hatte; fie bilden fomit den Abſchluß der Harmonie ihrer Geſammter⸗ ſcheinung, in welcher nun der bemwußte, unabhängige Menſch als ihre Höchfte Fülle mit eingefchloffen ift. Da, wo die Natur in ihrer Überfülle Alles war, treffen wir daher weder den freien Menſchen, noch die wahrhafte Kunft an; erft da, wo fie wie wir fagten jene Lüden ließ, wo fie jomit Raum gab der freien Selbftentwidelung des Menfchen und feiner aus Bedürf- niß erwachienden Thätigfeit, ward die Kunft geboren.

Allerdings Hat ſomit die Natur auf die Geburt der Kunft eingewirft, wie dieſe ja in ihrem höchſten Ausdrucke ber ver- ftändnißvolle Abſchluß, die bemußte Wiedervereinigung mit der vom Menſchen erkannten Natur ift: jedoch nur dadurch, daß fie den Schöpfer der Kunft, den Menfchen, den Bedingungen überließ, die ihn zum Selbftbewußtfein treiben mußten, und dieß that fie, indem fie von ihm zurückwich und einen nur bes dingten Einfluß auf ihn ausübte, nicht dadurch, daß fie ihn im Schooße ihres vollſten, unbedingteften Einflufjes feſthielt. Aus der überzärtliden Mutter ward fie ihm eine verſchämte Braut, die er duch Stärke und Liebenswürdigfeit für feinen un- endlich erhöhten Liebesgenuß erft zu gewinnen hatte, und die nur duch feinen Geift und feine Kühnheit überwältigt, der Liebesumarmung fi überließ. Nicht in den üppigen Tropen= ländern, nit in dem mohllüftigen Blumenlande Indien ward daher die wahre Kunft geboren, fonbern an dem nadten, meerumfpülten Zelfengeftaben von Hellas, auf dem fteinigen Boden und unter dem dürftigen Schatten de3 Ölbaumes bon Attika ſtand ihre Wiege: denn hier litt und Tämpfte unter Entbehrungen Herakles hier ward der wahre Menſch erft geboren.

Richard Wagner, Gef. Sqhriſten III, 14

210 Kunft und Klima,

Bei der Betrachtung der hellenifchen Kulturgeſchichte fpringen und vor Allem die Umftände in die Augen, welche die Ent- widelung des Menfchen zur höchſten Tyätigkeit, und durch fie zur Unabhängigkeit von der Natur, und enblih von ben- jenigen beengenben menfchlihen Berhältniffen, die feiner Natur am unmittelbarften entjprungen waren, begiünftigten. Dieſe Umftände finden wir allerdings fehr deutlich in der Befchaffen- heit des Schauplages der hellenifchen Geſchichte gegeben; aber diefe Beichaffenheit fpricht ſich emtfcheidend gerade darin aus, daß die Natur durch ihren Einfluß den Hellenen nicht ver- wöhnte, fondern ihrer Zürforge ihn entmöhnte, daß fie ihn erzog, und nicht verzog, wie den weichlichen Aſiaten. Alles übrige auf die hellenifche Entwidelung entſcheidend Einwirfende, bezieht fi auf die individuelle Mannigfaltigfeit der zahlreichen, dicht neben einanbergedrängten, verſchiedenen Nationalftämme, auf deren Individualität allerdings die Beſchaffenheit ihrer Wohnorte wefentlich einwirkte, aber doch immer nur in dem, zu freier Thätigkeit treibenden Sinne, wie auf die Gefammtnation überhaupt, jo daß das Werk der Bildung und Entwidelung diefer Individualitäten weit mehr der Gefchichte als der Natur zuzuerfennen ift. Die bedingende Kraft der hellenifchen Ge— ſchichte ift fomit der thätige Menſch, und ihr ſchönſtes Ergeb⸗ niß, die Blüthe helleniſchen Selbſtbewußtſeins, die rein menſch⸗ liche Kunſt, d. i. diejenige Kunft, die an dem wirklichen, fi als das höchſte Produkt der Natur erfennenden Menſchen, ihren Stoff und Gegenstand fand. Die fpätere bildende Kunft war der Lupus, der Überfluß der helleniſchen Kunſt: in ihr fpendete die Blume des hellenifhen Kunſtweſens bie reihen Säfte, bie fie im reinmenſchlichen Kunſtwerke, aus ſich erzeugt und in ihrem teufchen Blüthenlelche noch verſchloſſen hielt, al8 Überfülle an ihre Umgebung: fie ift die Samenvergeudung ber überreichen, kraftſtrotzenden hellenifchen Kunft. Diejer Same fiel, von dem Menſchen ab, wieder auf die umgebende Flimatifche Natur, und auf ihrem Boden, zwiſchen Gefträuch und Bäumen, auf Belfen, Fluren und Auen entfproßten biefem Samen die üppigen Ge bitde menſchlicher Kunft, die von der Überfülle menſchlichen nuambgend zu uns bis in die heutige Beit ihre Kunde gelangen ließen.

In der bildenden Kunſt bezog fich der Menſch allerdings

Kunft und Klima, 211

wieder unmittelbar auf die umgebende klimatiſche Natur, jedoch immer nur darin, baß er fein Bebürfniß wie feine Kräfte gegen fie abwog, fein rein menſchliches Ermeflen und Gefallen mit ber Nothwendigkeit ihres Gebahrens in Einklang ſetzte Nur aber der freie, an fich felbft vollendete Menfch, wie er ſich im Kampfe gegen die Sprödigfeit der Natur entwidelt hatte, ver- ftand dieſe Natur, und wußte endlich die Überfülle feines Weſens zu einer, feiner Genußkraft entfprechenden, harmoniſchen Er— gänzung der Natur zu verwenden. Die ſchöpferiſche Fähigkeit lag fomit immer in dem naturunabhängigen Wejen bed Menfchen, ja in der Überfülle diefes Weſens, nicht aber in einer unmittelbar produftiven Einwirkung der Mimatifhen Na- tur, begründet.

Die Entäußerung jener Überfülle war aber auch der Tobes- grund dieſes kunſtſchöpferiſchen Menſchen: je mehr er feinen Samen weithin über die Gränzen feines hellenifhen Mutter: landes außftreute, je weiter er diefe Überfülle nach Afien ergoß, und von da zurüd als üppigen Strom in bie pragmatijd-pro- ſaiſche, zu abfofuter Genußfucht hingedrängte Römerwelt Ieitete, deſto fichtbarer ftarb die Schöpferfraft dieſes Menfchen dahin, um endlich mit feinem Tode ber Ehre eines abftraften Gottes Platz zu machen, der zwiſchen den reihen Bild- und Bauwerken, die den Begräbnißplag dieſes Menfchen ſchmückten, in melandjo- liſchem Unfterblichfeit3behagen bahin wandelte Won da ab regiert Gott die Welt Gott, der die Natur zur Verherr- lichung feines perfönlichen Ruhmes gemacht hat. Aus dem un- begreiflichen Willen Gottes werden von nun an bie menjch- lichen Dinge normirt, nicht mehr nad) der Unwillkür und Noth- wenbigfeit der Natur, umd es iſt daher ſehr undhriftlich von unferen modernen chriſtlichen Kunſtproduzenten gedacht und ge- handelt, wenn fie auf „Klima“ und „natürlichen Boden“ fich als verwehrende oder begänftigende Bebingungen für bie Kunft berufen. Betrachten wir, was unter Jehoba’3 Fügung aus dem kunftfähigen Menfchen geworben ift!

Das Erfte, was und beim Hinblid auf die Entwidelung der modernen Nationen in die Augen leuchtet, ift, daß dieſe Entwidelung nur höchſt bedingt unter dem Einfluffe der Natur, ganz unbedingt aber unter der verwirrenben, entftellenden Ein- wirkung einer fremden Civilifation ftattgefunden Hat; daß alſo

j 14*

212 Kunft und Klima.

unfere Kultur und Civilifation nicht von Unten, aus dem Bor den der Natur gewachien, fondern von Oben, aus dem Himmel der Pfaffen und dem Corpus juris Juftinian’3, eingefüllt wor⸗ den ift.

Mit ihrem Eintritte in die Geſchichte warb dem natür- lichen Stamme ber neueren europäifchen Nationen dad Reis des Römerthumes und Chriſtenthumes aufgepfropft, und die Frucht des hieraus entjtandenen künftlichen Gewächſes, das in alljeitig verfrüppelter Ungeheuerlichkeit auf⸗ und auswuchs, genießen wir in umferer heutigen barbariſchen Civilifation. Won vorn berein in ihrer Selbitentfaltung verhindert, vermögen mir gar nicht zu ermeffen, zu welchen Geftaltungen die Urſprünglichkeit und Mimatifhe Eigenthümlichkeit jener Nationen ſich hätten entwickeln können: wollen wir ben Grad fünftlerifcher Bildung, defien Erreichung auf dem Wege der Selbftentfaltung ihnen zuzutrauen fein dürfte, auch noch fo gering annehmen (was aber durdaus ungerecht und einfeitig mwärel), fo haben wir uns hier jedoch gar nicht um dieſe Frage zu bekümmern, fondern bloß einzugeftehen, daß eine folche ungeftörte Selbftentwidelung durch-⸗ aus nicht ftattgefunden hat. Wer biergegen einwenden will, daß allerdings unfere Eigenthümlichkeit großen Einfluß auf die Geftaltung fremdübertommener SKulturmomente gehabt Habe, der hat vollfommen Recht, wenn er 3. B. behauptet, das Chriften-

thum von Nilkäa fei ein anderes als das von Berlin; jehr lächer-

lich würde er ſich aber machen, wenn er was aud ſchon einigen Gottjeligen eingefallen ift eine natürliche Dispofition der Germanen zum Chriſtenthume aus dem Inhalte der Edda- lieber nachmweifen wollte.

Wohl ift im Entwidelungögange der modernen Nationen ihre klimatiſche Originalität ebenfalls mit eingefloffen, und zwar aus dem unverfiegbaren Strome des Volkes, aus feiner eigen- thümlichen Anſchauungs- und Dichtungsweife; allein immer nur füdenhaft und unvollkommen, bruchſtückweiſe und unfelbftändig hat der wahre Volksgeiſt unter den von oben und außen auf ihn drüdenden Einflüffen ſich kundgeben können. Unfere Bil- dung ift daher eine ganz wiberjpruch8volle und fonfufe, nicht Ergebniß der Natur und des Klima’, oder einer Kulturgefchichte, die ſich in nothwendiger Beziehung zu diefen gebildet hätte, fondern der Erfolg eines gewaltjamen Drudes gegen dieſe Natur,

Kunft und Klima. 213

der Abſtraltion von Natur und Klima, des wahnfinnigen Kam— pfes zwifchen Geift und Körper, Wollen und Können. Der öde Rampfplag, auf dem diefe verrüdte Schlacht einhertobte, ift der Boden de3 Mittelalters: unentfchieden, wie ihrer Natur nad) fie bleiben mußte, ſchwankte die Schlacht hin und her, als und

die Türken zu Hülfe kamen, und die leten Profeſſoren der

griechiſchen Kunft und in das Abendland Herüberjagten. Die Wiedergeburt, nicht alfo eine Geburt der Künſte ging num vor fi: der letzte Reſt griechifcher Kunftfchönheit ward uns gelehrt. Die Leichenfteine auf den Grabftätten ber längft ver- forbenen griedifchen Kunft, jene von Sturm und Wetter zer- nagten, alles lebendigen farbigen Schmudes beraubten Stein- und Erzbildungen erklärten und dieſe Gelehrten, fo gut fie eben ſelbſt fie noch verftanden. Waren jene Monumente, wie wir fagten, nur die Grabſteine des einft lebendigen hellenifchen Kunft- menfchen, bie legte, geiftechaft verblichene Todesabſtraktion von feinem einftigen warmfühlenden, fchönthätigen Leben, fo fernten wir an ihnen felbft die Kunſt eben nur wieder als einen abftraften Begriff fennen, den wir wie vorher den unfinnlien Himmelsgott von oben herein in das wirkliche Leben eingießen zu müffen glaubten. Aus diefem abftraften Be griffe ift nun unfere moderne Kunſt tonftruirt worden, wohl gemerkt aber: unfere bildende Kunft, d. 5. die der bildenden Kunft der Griechen, die an und für fi ſchon nur der Luxus der griechiſchen Kunft war, aus Bedürfniß des Luxus wiederum nur nachgeahmte, und zwar nicht nachgeahmt nach der Fülle, mit der fie einft au dem Leben hervorging, lebendig und blühend daftand, fondern nach der kümmerlichen Entftellung, in der fie fi) und nad) den Unmettern der Beit, und aus ihrem Bu- fammenhange mit Natur und Umgebung geriffen, bruchftücweife und willkürlich da- und dorthin zerftreut, darbot. Nun bringen mir dieſe, ihres fchügenden und wärmenden Farbenfchmudes beraubten Monumente, nackt und frojterftarrt in den chriftlich germanifhen Sand der Mark Brandenburg gefchleppt, ftellen fie zwifchen die windigen Kiefern von Sansſouci auf, und Hap- pern mit den Zähnen einen gelehrten Seufzer über die Ungunft des Klima's hervor: daß aber unter diefer Ungunft unfere Ber: liner Kunſtgelehrten noch nicht vollftändig verrüdt geworden find, das fchreiben wir mit Recht der unverbienten Gnade Gottes zu!

214 Kunft und Klima.

Allerdings haben diefe Gelehrten nun Recht, wenn fie, das Bert ihrer luxuriöſen Willkür betrachtend, finden, daß wir in diefem Werke ftümperhaft, unfelbftändig und ohne Nothmwendig« teit verfahren, daß in unferem Klima die nachgeahmte bildende Kunft der Griechen nur ein Treibhausgewächs, nicht aber eine natürliche Pflanze fein kann. Aus diefer Einfiht Tann einem Bernünftigen aber doch nur einleuchten, daß unfere ganze Kunft eben nichts werth ift, weil fie feine aus unferem wirklichen Weſen und in harmoniſch ergänzender Bufammenmirkung mit der und umgebenden flimatifchen Natur Herborgegangen ift; keinesweges it jebod damit bemwiefen, daß in unferem Klima eine unjeren wahren menjchlichen Bedürfniſſen entfprechende Kunft nicht fi entfalten fönnte, denn wir find ja noch gar nicht dazugelommen, ungeftört nach unferem gemeinjchaft- lichen Bebürfniffe uns künſtleriſch zu entwideln!

Der Hinblid auf unfere Kunft Iehrt und alfo, daß wir durchaus nicht unter der Einwirkung der klimatiſchen Natur, fondern der von diefer Natur gänzlich abliegenden Geſchichte ftehen. Daß unfere heutige Gefchichte von denfelden Menſchen gemacht wird, die einft auch das griechifche Kunſtwerk hervor: brachten, davon haben wir ung nun ganz deutlich zu überzeugen und eben nur zu erforjchen, was diefe Menfchen fo grundver- ſchieden gemacht Hat, daß Jene Werke der Kunft, wir nur Waaren luxuriöſer Induftrie ſchufen. Dann aber werden wir auch erfennen, wie unſer Weſen im Grunde doch wieder ein ger

- meinfchaftliches ift, wie unſere Ausgangspunlte zwar ganz ver- ſchieden find, die Endpunkte aber, wenn auch ebenfall8 verändert, doch wieder zufammenfallen müfen. Der Grieche, aus dem Schooße der Natur Herborgehend, gelangte zur Kunft, ald er fi von dem unmittelbaren Einfluffe der Natur unabhängig ge macht Hatte; wir, von der Natur gewaltſam abgelenkt, und auß der Dreffur einer himmliſchen und jwriftifchen Civilifation her borgegangen, werben erſt zur Kunft gelangen, wenn wir biefer Eivififation volfftändig den Rüden kehren und mit Bewußtfein und wieder in die Arme der Natur werfen.

Nicht der Betrachtung der klimatiſchen Natur, jondern des Menfchen, bes einzigen Schöpfer8 der Kunft, Haben wir und daher zuzuwenden, um genau zu erfennen, was biefen heutigen europätfchen Menfchen funftunfähig gemacht Hat, und als dieſe

Runft und Klima. 215

übel einwirkende Macht erfennen wir dann mit voller Beftimmt- heit unfere, gegen alles Klima ganz gleihgültige Civilifation. Nicht unfere Eimatifche Natur Hat die übermüthig kräftigen Volker des Nordens, die einft die römiſche Welt zertrümmerten, zu Inechtifchen, ftumpffinnigen, blöbblidenden, ſchwachnervigen, häßlichen und unfauberen Menfchenfrüppeln herabgebracht, nit fie Hat aus den und unerfennbaren, frohen, thatenluftigen, felbftvertrauenden Heldengeſchlechtern unſere hypochondriſchen, feigen und kriechenden Staatsbürgerſchaften gemacht, nicht fie hat aus dem geſundheitſtrahlenden Germanen unferen ſtro phulöfen, aus Haut und Knochen gewebten Leineweber, aus’ jenem Siegfried einen Gottlieb, aus Speerſchwingern Püten- dreher, Hofräthe und Herrjefusmänner zu Stande gebracht, fondern der Ruhm dieſes glorreichen Werkes gehört unferer pfäffifden Pandektencivilifation mit all’ ihren herrlichen NRefultaten, unter denen, neben unſerer Induftrie, auch unjere unmwürdige, Herz und Geift verfümmernde Kunſt ihren Ehren- plaß einnimmt, und welche ſchnurgerade aus jener, unferer Na- tur ganz fremden Civilifation, nicht aber auß der Nothwendig⸗ keit diefer Natur herzuleiten find.

Nicht jener Civilifation, fondern ber zuünftigen, unferer Himatifen Natur im richtigen Verhältniffe entjpre- chenden, wirklichen und wahren Kultur wird demnach aber auch erſt das Kunſtwerk entblühen, dem jet Luft und Athen verfagt ift, und auf deſſen eigenthümliche Bejchaffenheit wir gar nicht eher Schlüffe zu ziehen vermögen, als bis wir Menfchen, die Schöpfer dieſes Kunſtwerkes, und nicht im vernünftigen Ein- Hange mit dieſer Natur entwidelt denken können.

Aus dem Kerne unferer Geſchichte Haben wir daher für jegt auf unfere Zukunft zu fließen; aus dem Wefen der Men- ſchen, wie fie ſich in der Geſchichte nur unter dem allerbedingte> ſten Einfluffe der Natur zu freier Selbitbeftimmung heraus- arbeiten, haben wir zu forjchen, wie biefe freien, wahrhaftigen Menſchen der Zukunft fi in der Kunft zur Natur verhalten werben.

Welcher ift nun der Kern diefer Geſchichte?

Gewiß fehlen wir nicht, wenn wir in Kürze ihn fo be zeichnen:

Im Griechenthume entwidelt fi) der Menſch zur vollen

216 Kunft und Klima.

bewußten Selbſtunterſcheidung von der Natur: das künſtleriſche Monument, in welchem dieſer ſelbſtbewußte Menſch ſich ver— gegenftändlichte, iſt die farbloſe Marmorſtatue, der in Stein außgefprochene Begriff der reinen menſchlichen Form, welchem die Philoſophie wiederum vom Steine ab⸗ und in die reine Ab⸗ ftraftion des menſchlichen Weſens auflöſte. Dieſem einfamen, endlich nur noch im Begriffe exiſtirenden Menſchen, in welchem bei ſinnlich unvorhandener Gemeinfamfeit der Gattung das Weſen der reinen Perſönlichkeit als Weſen der Gattung vorgeſtellt war, goß das populäre Chriſtenthum ben Lebens⸗ hauch leidenſchaftlicher Herzensſehnſucht ein. Der Irrthum des Philoſophen ward zum Wahnſinn der Maſſe; der Schauplatz feiner Raſerei iſt das Mittelalter: auf ihm ſehen wir den von der Natur losgelöſten Menſchen, jein perfönliches egoiftifches, und als ſolches ohnmächtiges, Wefen für das Wefen der menſch- lichen Gattung Haltend, mit Gier und Haft durch phyſiſche und moralifche Selbftverftimmelung feiner Exlöfung in Gott nach— jagen, unter welchem er dad in Wahrheit vollfommene Wefen der, menſchlichen Gattung und ber Natur nad) unwillkürlichem Irrẽthume begriff. Als einzig mögliche wahre, daher auch un- bewußt, und endlich bewußt erftrebte Erlöſung aus diefem Bu- ftande der Unfeligfeit, erfennen wir num daß Aufgehen des egoiftifden Wejend des Individuums in das gemeinfame Weſen der menfchlichen Gattung, die Verfinnlihung des ab-

ſtrakten Begriffes des Menfhen in dem wirklichen, wahren und

befeligenden Gemeinweſen der Menſchen. War fomit der Kern der afiatiſchen, bis zum Abſchluſſe der griechiichen, Geſchichte das aus der Natur herauswachſende Weſen des Menſchen, ſo iſt der Kern der neueren europdiſchen Geſchichte die Auflöſung dieſes Begriffes in die Wirklichleit der Menſchen.

Den Menſchen nun, die ſich als Gattung einig und alls vermögend wiffen, ftellt ſich aber auch nicht mehr dieſe oder jene befondere klimatiſche Naturbefchaffenheit al bedingende Schranke entgegen: ihnen, als einiger Gattung, feßt nur die ebenfalls einige, gefammte Natur der Erde eine Schranfe. Diefer ganzen Erbnatur, wie fie im Bufammenhange mit dem ganzen Weltall von ihnen erfaunt worden ift, wenden ſich nun die gemeinfamen Menſchen der Zukunft zu, nicht aber mehr als zu ihrer Schranke wie dem getrennten Egoiften feine befondere Naturumgebung

Kunft und Klima. 217

erſchien, fondern als zu der Bedingung ihre Dafeind, Le- ben& und Schaffens.

Erſt in diefem großen, beglüdenden Bufammenhange wer- den wir zu wahrer fünftlerifcher Schöpferkraft gelangen; erſt wenn die Künftler vorhanden find, wird auch die Kunft vor— handen fein. Diefe Künftler find aber die Menſchen, nicht Bäume, Wäſſer oder Himmelsſtriche. Diefe gemeinfamen künft- lerifchen Menſchen werden im Einklange, zur Ergänzung und zum barmonifchen Abfchluffe mit der gemeinfamen Natur ihre Kunftwerke fchaffen, und zwar gerade nach der Befchaffenheit und Eigenthümlichkeit, die das "befondere Bedürfniß ber bejon- deren Eigenthümlichkeit der Natur gegenüber hervorruft und bedingt, don der Grundlage diefer Beſonderheit aber biß zum gemeinjamen Abſchluſſe mit der gemeinfamen Natur als zu ihrer höchſten Fülle vorfchreitend,

Ehe jeboch die Menfchen nicht wieber aus Bedürfniß Kunft- werke ſchaffen, fondern wie jetzt aus Luxus und Willkür, werben fie auch nicht wiſſen, ihre Werfe mit der Natur in nothiwendigen Einklang zu fegen: ſchaffen fie aber aus Bedürfniß und das wahre Bebürfnig ber Kunft kann nur ein gemeinfames fein —, fo wird fein Klima der Erbe, daB überhaupt den Menfchen zu= täßt, fie für das Kunſtwerk behindern, im Gegentheil, die Sprö- digkeit ber klimatiſchen Natur wird ihren reinmenfchlichen Kunſt⸗ eifer nur fördern.

Der Einwurf dagegen; daß ſelbſt zur Erzeugung des Kunſt⸗ bedürfniffes beſonders begünftigende klimatiſche Einwirkungen wie jonifher Himmel nothwendig feien, ift in bem Sinne, in dem er heut’ zu Tage hervorgebracht wird, bornirt oder heuch- leriſch, und feinem Inhalte nad) unmenſchlich. Überall, wo das Klima nicht verwehrt, daß es ftarfe und freie Menfchen giebt, wird e8 auch nicht Kindern, daß diefe Menſchen ſchön feien und das Bedürfniß der Kunft empfinden. Dad Fatum des Klima's ift nur da wirklich anzuertennen, wo e3 durch die Un- bezmwingbarfeit feines Einfluſſes den Menfchen gar nicht auf- tommen, fondern nur das menſchliche Thier vegetiren Täßt: auch diefe Thiere werben einft im Fortſchritte der wahren Kul- tur verfchtwinden, wie ihrer fo viele Arten ſchon jetzt verichwun- den, oder durch Austaufch des Klima's und Vermiſchung ber Arten zum normalen Menſchen herangewachſen find. Wo aber,

218 Kunft und Klima.

wie gefagt, die Menſchen bis zur Überwindung ihrer Abhängig- keit von ber Mimatifchen Natur gelangen, werden fie, in immer ausgedehnterer gefhichtlicher Berührung mit allen, zu gleicher Unabhängigkeit gelangten Menſchen, nothwendig auch bis zur Überwindung jeder Äbhängigkeit von denjenigen Bebrückungen

fortfehreiten, welche als Ergebniffe irrthümlicher Vorſtellungen aus den Beiten jenes Befreiungsfampfes von ber Natur ihnen verblieben, und als hemmende Autoritätögewalten das religiöfe wie politijche Gewiſſen der Menfchheit beherrſchten. Das ge- meinfame religiöfe Bewußtfein jener Menfchen der Zukunft muß daher nothwendig diefen Ausdrud gewinnen:

Es giebt feine höhere Kraft als die gemeinfchaft- lie der Menfhen; es giebt nichts Liebens- werthere3 als die gemeinfhaftliden Menſchen.

Nur durch die höchſte Liebeskraft gelangen wir aber zur wahren Freiheit, denn es giebt feine wahre Sreiheit ald die allen Menſchen gemeinfhaft- liche.

Die Mittlerin zwiſchen Kraft und Freiheit, die Exlöferin, ohne welche die Kraft Rohheit, die Freiheit aber Willfür bleibt, ift fomit die Liebe; nicht jedoch jene geoffenbarte, von oben herein uns verfünbete, gelehrte und anbefohlene, deßhalb auch nie wirklich gewordene wie die hriftliche, fondern bie Liebe, die aus ber Kraft der umentftellten, wirklichen menſch- lichen Natur hervorgeht; die in ihrem Urfprunge nichtS anderes als die thätigite Lebensäußerung diefer Natur ift, die fid in reiner Freude am finnlichen Dafein ausfpricht, und, von der Geſchlechtsliebe ausgehend, durch die Kindes⸗, Bruder- und Freundesliebe bis zur allgemeinen Menſchenliebe fort— ſchreitet.

Dieſe Liebe iſt denn auch die Grundlage aller wahren Kunſt, denn nur durch ſie entſproßt die natürliche Blüthe der Schönheit dem Leben. Auch die Schönheit iſt uns jetzt nur ein abſiralter Begriff, und zwar nicht einmal ein vom wirklichen Le ben, fondern von der erlernten griedifchen Kunſt, abgezogener Begrifl. Was nur in ber Freude und mit dem Verlangen aller Sinne empfunden und gefühlt werben Tann, das ift zum Gegenftand der Spekufation in der Üfthetit geworden, und ber

Kunft und Klima. 219

Definition des Metaphyſikers gegenüber, feufzt unſer moderner Kunftgelehrter wiederum nach joniſchen Himmelsſtrichen, unter denen (feinem Bebünfen nad) einzig die Schönheit gedeihen - Tonnte. Wiederum hat er unwillkürlich nur daß einzig und ver- bliebene, matt verblichene Verbindungsband der griechiſchen Kunſt mit unferer Zeit, die bildende Kunft, vor Augen, und namentlih auch das natürliche Material, aus. dem fie bildete: ex vergibt fomit wiederum, daß der Bildner jener Statuen zuerft und vor allem künftlerifcher Menſch war, und daß er in jenen Werken nur dad wirkliche Kunſtwerk nachahmte, welches er an unb mit feinem eigenen, warmen, lebendigen Leibe ausge führt Hatte. Die Schönheit, welcher der Bildner endlich mar« morne Monumente ſetzte, hatte er zuvor mit höchſter Freude der Sinne wirflih empfunden und genoffen; diefer Genuß war ihm ein unwillkürliches Bedürfniß gemejen, und dieſes Be— dürfniß war fein anderes als die Liebe, Wie hoch ſich dieſes Liebesbedürfniß bei dem befonderen Wolfe der Hellenen fteigern onnte, dieß erfahren wir auß dem Gange feiner geſchichtlichen Entwidelung: e8 blieb weil e8 eben nur das Bedürfniß eines befonderen Volles war im Egoismus haften, und fonnte daher feine Kraft endlih nur gewiffermaßen muthwillig ver- geuben, um nad) diefer Vergeudung, durch Gegenliebe nicht er- neuert, in philofophifcher Wbftraftion zu erfterben. Ermeſſen wir nun dagegen, welcher der untwillfürfiche Drang der geſchicht⸗ lichen Menfchen der Gegenwart ift, erfennen wir, daß fie ihre Erlöfung nur dur die Verwirflihung Gottes in ber finn- lichen Wahrheit der menſchlichen Gattung erreichen können, daß ihr inbrünftiges Bedürfniß fi nur in der allgemeinen Menjchenliebe zu ftillen vermag, und daß fie mit unfehlbarer Nothwendigkeit zu diefer Befriedigung gelangen müffen, fo haben wir mit voller Sicherheit auch auf ein zufünftiges Qebend- element zu ſchließen, in welchem die Liebe, ihr Bedurfniß bis in bie weiteften Kreiſe der Allmenſchlichleit ausdehnend, ganz ungeahnte Werke ſchaffen muß, die, von dem unerhört mannig- faltigften, aber wirklih empfundenen und lebendigen Schönheitägefühle gebildet, jene uns verbliebenen Reſte griechi⸗ fer Kunft zum unbeachtungswerthen Spielkram für Läppifche Kinder machen müfjen. Schließen wir demnach alfo:

220 Kunft und Klima.

Was ber Menſch liebt, das gilt ihm für ſchön; was Fräf- tige, freie Menfchen, die in der Gemeinfchaftlichfeit ganz das find, was fie ihrem Weſen nach fein können, gemeinfchaftlich lieben, dos ift aber wirklich ſchön: Feinen anderen natürlichen Magßſtab giebt e8 für die wirkliche nicht eingebildete Schön- beit. In der Freude an dieſer Schönheit werden die zufünftigen Menfchen Kunſtwerke ſchaffen, wie fie zur Befriedigung ihres unendlich gefteigerten Bedürfniſſes fie werden fchaffen müſſen. Überell, und in jedem Klima, werden dieſe Werke gerade fo befchaffen fein, wie fie dem rein. menfchlichen Bedürfniſſe der klimatiſchen Natur gegenüber zu entfprechen haben: fie werben deßhalb ſchön und volltommen fein, weil fi das höchſte Be— dürfniß des Menfchen in ihnen befriedigt. Im ſchrankenloſen Verkehr der zukünftigen Menfchen werden fi aber alle ‚die in- dividuellen Eigenthümlicfeiten, wie fie bem menfchlichen Be— dürfniffe nach ber Beſonderheit de3 Klima's entfprungen find, fobald fie fi zur Höhe des allgemein Menſchlichen, daher allgemein Verftändlihen, erhoben haben —, gegenfeitig anregend und befruchtend mittheilen, und in dieſem Austauſche zu gemeinfamen, allmenſchlichen Kunſtwerken heran- blühen, von deren Fülle und Herrlichfeit unfer, heute noch fo befchränfter, ewig nur am Alten und Todten Mebender Kunſt⸗ verftand fich gar feine Vorftellung zu machen vermag.

Muß nun, um folches Werk der Zukunft zu ermöglichen, die Erbe die Menfchen wieder in ihren Schooß nehmen und, mit ſich ſelbſt, ſie neu gebären?

Wahrlich! damit würde fie und einen argen Streich ſpielen, denn gewiß würde dann die Erdnatur nur alle die Beding- ungen vernichten, die gerabe fo, wie fie jet vorhanden find, und, bei richtigen Verſtändniß, die Nothwendigfeit einer Ge— ftaltung der menfchlichen Zukunft zeigen, wie. wir fie Bier an- gedeutet haben. Denn nicht eher faſſen wir Hoffnung, Muth und zuverfichtlihen Glauben an die Bufunft, als bis wir und überzeugen, daß die Erfüllung unferer Geifteswünfche nicht von der früheren irrigen Vorausſetzung abhängt, die Menfchen hätten nöthig fo zu fein, wie fie unferen willkürlichen, immer nur don ber Vergangenheit abftrahirten, Begriffen nad) fein follten, fondern von dem Wiffen, daß fie gerade nur fo zu fein braucyen, wie fie ihrer Natur nach fein fönnen, und deß—

Kunft und Klima. 221

halb fein follen und werden. Nicht Engel, fondern eben Menſchen!

Das Klima, von dem als grundbebingend für die Kunſt Bier vernünftiger Weife allein nur die Rede fein kann, ift aber:

Das wirkliche nicht eingebildete Weſen ber menfhlihen Gattung.

Oper und Drama.

dorwort zur erfien Auflage.

Ein Freund tHeilte mir mit, daß ich mit bem bißherigen Aus- ſpruche meiner Anſichten über die Kunft bei Vielen weniger da- duch Ärgerniß erregt Hätte, Daß ich den Grund der Unfrucht- barkeit unſeres jegigen Kunſtſchaffens aufzudeden mich bemühte, als dadurch, daf ich die Bedingungen künftiger Sruchtbarkeit deſſelben zu bezeichnen ftrebte. Nicht? Tann unfere Buftände treffender charakterifiren, als diefe gemachte Wahrnehmung. Wir fühlen Alle, daß wir nicht dad Rechte thun, und ftellen dieß ſomit auch nicht in Abrede, wenn es uns deutlich gefagt wird; nur wenn und gezeigt wird, wie wir das Mechte thun könnten und daß dieſes Rechte keinesweges etwas Menfchenunmögliches, fon- dern ein fehr wohl Mögliches, und in Zukunft fogar Rothwen⸗ diges jei, fühlen wir uns verlegt, weil una dann, müßten wir jene Möglichfeit einräumen, der entſchuldigende Grund für das Beharren in umfruchtbaren Zuftänden benommen wäre; benn uns ift wohl jo viel Ehrgefühl anerzogen, nicht träge und feig erfcheinen zu wollen; wohl aber mangelt e8 und an dem natür- lichen Stachel ber Ehre zu Thätigfeit und Muth. Auch dieß Argerniß werde ich durch die vorliegende Schrift wieder Hervor- rufen müffen, und zwar um fo mehr, als ih mich bemühe, in ihr nicht nur allgemeinhin wie e3 in meinem „Kunftwerte der Zukunft“ geſchah —, fondern mit genauem Eingehen auf das Befondere die Möglichkeit und Nothwendigkeit eines gedeih⸗

Vorwort zur erften Wuflage. 223

licheren Kunſtſchaffens im Gebiete der Dichtkunſt und Muſik nach⸗ zuweiſen.

daſt muß ich aber fürchten, daß ein anderes Ärgerniß dieß⸗ mal überwiegen werde, und zwar das, welches ich in der Dar» legung der Unmürdigleit unferer modernen Opernzuftände gebe. Viele, die es felbft gut mit mir meinen, werben es nicht begreifen Tönnen, wie id) es vor mir felbft vermochte, eine berühmte Per: ſönlichkeit unferer heutigen Operntomponiftenwelt auf das Scho- nungsloſeſte anzugreifen, und dieß in der Stellung als Opern⸗ Tomponift, in ber ich felbft mich befinde und den Vorwurf bes unbezähmteiten Neides leicht auf mich ziehen müßte.

Ih läugne nicht, daß ih lange mit mir gekämpft habe, ehe ich mid) zu dem, was ich that, und wie ich es that, entfchloß. Ich babe Alles, was in biefem Angriff enthalten war, jede Wendung des zu Sagenden, jeben Ausdruch, nad der Abfafjung ruhig überlefen und genau erwogen, ob ich es jo der Öffentlichfeit über- geben follte, bis ich mich endlich davon überzeugte, daß ih bei meiner haarſcharf beftimmten Anſicht von der wichtigen Sache, um bie es fi handelt nur feig und unwürdig felbft bejorgt fein würde, wenn ich mich über jene glängendfte Erſcheinung der mobernen Opernfompofitiondwelt nicht gerade fo ausſpräche, als ich es that. Was ich von ihr fage, darüber ift unter den meiften ehrlichen Künftlern Tängft fein Biweifel mehr: nicht aber der ver- ftedte Groll, fondern eine offen erflärte und beſtimmt motivirte Feindſchaft ift fruchtbar; denn fie bringt die nöthige Erſchütte- rung hervor, die die Elemente reinigt, das Lautere vom Unlaus teren fonbert, und ſichtet, was zu fichten ift. Nicht aber dieſe Feindſchaft bloß um ihrer felbft willen zu erheben war meine Abficht, fondern ich mußte fie erheben, da ich nad) meinen, biß- ber nur allgemeinhin außgefprochenen Anſichten jegt noch bie Nothwendigkeit fühlte, mich genau und beftimmt im Beſonderen tunbzugeben; denn es liegt mir daran, nicht nur anzuregen, fon- dern mich auch vollkommen verftänblich zu machen. Um mid) verftändlih zu machen, mußte ich auf die bezeichnenbften Er- fcheinungen unferer Kunft mit dem Singer Binweifen; biejen Finger konnte id) aber nicht wieber einziehen und mit der geballten Fauft in die Tajche fteden, fobald diejenige Erſcheinung ſich zeigte, an ber fih uns ein nothwendig zu löſender Irrthum in der Kunft am erfictlichften darftellt, und die, je glängender fie

224 Oper und Drama.

ſich zeigt, defto mehr das befangene Auge blendet, das vollfom- men Kar jehen muß, wenn es nicht vollſtändig erblinden fol. Wäre ih fomit in der einzigen Rüdficht für diefe eine Perſön— lichteit befangen geblieben, fo konnte ich die vorliegeride Arbeit, zu ber ich mich, meiner Überzeugung nach, verpflichtet fühlte, entwweber gar nicht unternehmen, ober ich mußte ihre Wirkung abfichtlich verſtümmeln; denn ich hätte das Erſichtlichſte und für daß genaue Erſehen Nothivendigfte mit Bewußtſein verhüllen müffen,

Welches num auch das Urtheil über meine Arbeit fein werde, Eine wird ein Jeder, auch der Beindgefinntefte, zugeſtehen müffen, und das ift der Ernft meiner Abficht. Wem ich dieſen Ernſt durch das Umfaffende meiner Darſtellung mitzutheilen vermag, der wird mich für jenen Angriff nicht nur entſchulbigen, ſondern er wird auch begreifen, baß ich ihn weder aus Leichtfinn, noch weniger aber aus Neid unternommen habe; er wird mich auch barin rechtfertigen, baß ich bei der Darftellung des Wiber- lien in unferen Kumfterfheinungen den Exnft vorübergehend mit ber Heiterfeit der Jronie vertaufchte, die und ja einzig den Anblick des Wiberwärtigen erträglich machen kann, während fie auf der anderen Seite immer noch am mindeften verlegt.

Selbft von jener künftlerifhen Perjönlichfeit hatte ich aber nur Die Seite anzugreifen, mit der fie unferen öffentlichen Kunft- zuftänden zugelehrt ift: erſt nachdem ich fie miv nur von dieſer Seite her vor die Augen ftellte, vermochte ich meinem Blicke, wie es hier nöthig war, gänzlich die andere Seite zu verbergen, mit ber fie Beziehungen zugefehrt fteht, in denen auch, ich einit mit ihr mich berührte, die von der künſtleriſchen Öffentlichkeit aber fo vollkommen abgewanbt Liegen, daß fie nicht vor diefe zu ziehen find, felbft wenn es mic) faft dazu drängte, zu geftehen, wie auch ich mid) einft irrte, ein Geſtändniß, das ich gern und unummunden leifte, jobalb ich mich meines Irrthumes be— mußt geworden bin.

Konnte ich mich nun hierbei vor meinem Gewiflen rechtſer⸗ tigen, fo hatte ich die Einwürfe der Klugheit um fo weniger zu beachten, als ich mir vollfommen darüber Mar fein muß, daf ich von da an, wo ich in meinen fünftferifchen Arbeiten die Rich- tung einſchlug, die id) mit dem vorliegenden Buche als Schrift: fteller vertrete, vor unferen öffentlihen Kunftzuftänden in bie

Einleitung. 225

Achtung verfiel, in der id; mich Heute politifc und kunſtleriſch zugleich befinde, und aus ber ich ganz gewiß nicht als Einzelner erlöft werden kann.

Aber ein ganz anderer Vorwurf könnte mir noch von Denen gemacht werben, die Das, was ich angreife, in feiner Nichtigkeit für fo ausgemacht Halten, daß es ſich nicht der Mühe eines fo umftändlicden Angriffe verlohne. Diefe Haben durchaus Un- recht. Was fie wiſſen, wiſſen nur Wenige; was dieſe Wenigen aber wifjen, da8 wollen wieberum bie Meiften von ihnen nicht wiffen. Das Gefährlichfte ift die Halbheit, die überall ausge breitet ift, jedes Kunſtſchaffen und jebes Urtheil befangen Hält. IH mußte mich aber im Bejonderen fcharf und beftimmt auch nach diefer Seite Hin außfprechen, weil es mir eben nicht ſowohl an bem Ungriffe lag, als an dem Nachweiſe der künſtleriſchen Möglichkeiten, die fich deutlich erſt darftellen können, wenn wir auf einen Boden treten, von dem die Halbheit gänzlich verjagt ift. Wer aber bie künſtleriſche Erſcheinung, die heut’ zu Tage den öffentlichen Geſchmack beherrſcht, für eine zufällige, zu überfehenbe, hält, der ift im Grunde ganz in demſelben Irr- thume befangen, auß welchem jene Erfcheinung in Wahrheit ſich herleitet, und dieß eben zu zeigen, war die nächſie Abficht meiner vorliegenden Arbeit, deren weitere Abficht von Denen gar nicht gefaßt werden fann, die ſich zuvor nicht über die Natur jene8 Irrthumes vollftändig aufgeklärt haben.

Hoffnung, fo verftanden zu werben, wie ich es wünſche, babe ih nur bei Denen, die den Muth haben, jedes Vorurteil zu brechen. Möge fie mir bei Vielen erfüllt werben!

Züri, im Januar 1851. Einleitung.

i Keine Erſcheinung kann ihrem Weſen nad) eher vollftändig be⸗ griffen werden, als bis fie ſelbſt zur vollften Thatfache geworden iſt; ein Irrthum wird nicht eher gelöft, als bis alle Möglich- feiten feines Beſtehens erſchöpft, alle Wege, innerhalb dieſes Beftehend zur Befriedigung des nothwendigen Bedürfniffes zu gelangen, verfucht und außgemeffen worden find.

Richard Wagner, Bei. Schriften IIL 15

226 Oper und Drama:

Als ein unnatürliches und nichtiges konute und das Wejen

der O per erft klar werden, ald die Unnatur und Nichtigkeit in ihr zur offenbarften und widerwärtigſten Erſcheinung fam; der Irrthum, welcher der Entwidelung diefer muſikaliſchen Kunft- form zu Grunde liegt, fonnte uns erft einleuchten, als die edel⸗ ften Genie mit Aufwand ihrer ganzen küuſtleriſchen Lebens» kraft alle Gänge feines Labyrinthes durchforfcht, nirgend aber den Ausweg, überall nur den Rückweg zum Ausgangspunfte des Irrthumes fanden, bis diefes Labyrinth endlich zum bergen- den Narrenhaufe für allen Wahnfinn der Welt wurde. .„_ Die Wirffamleit der modernen Oper, in ihrer Stellung zur Offentlichkeit, ift ehrliebenden Künftlern bereits feit lange ein Gegenftand des tiefften und heftigiten Widerwillens geworben; fie Magten aber nur die Verderbtheit des Gefchmades und bie Frivolität derjenigen Künftler, die fie außbeuteten, an, ohne darauf zu verfallen, daß jene Verberbtheit eine ganz natürliche, und dieje Srivolität demnach eine ganz nothwendige Erfheinung mar. Wenn die Kritik das wäre, was fie ſich meiftens einbildet zu fein, fo müßte fie längft das Räthſel des Irrthumes gelöft und ben Widerwillen des ehrlichen Künſtlers gründlich gerecht- fertigt Haben. Statt deſſen hat auch fie nur den Inſtinkt diefes Widerwillend empfunden, an die Löſung des Räthſels aber ebenfo befangen nur Herangetappt, ald der Künftler ſelbſt inner halb des Irrthumes nad; Ausweggängen fich bewegte.

Dos größe Übel für Die Kritit liegt Hierbei in ihrem Weſen ſelbſt. Der Kritiker fühlt im fich nicht die drängende Nothwen— digfeit, die den Künftfer felbft zu der begeifterten Hartnädigfeit treibt, in der er endlich ausruft: fo ift ed und nicht anders! Der Kritiker, will er hierin dem Künftler nachahmen, kann nur in den widerlichen Fehler der Anmaßung verfallen, d. 5. des zuverfichtlich gegebenen Ausſpruches irgend einer Anficht von ber Sache, in der er nicht mit künſtleriſchem Inſtinkte empfindet, fondern über die er mit bloß äfthetifher Willkür Meinungen äußert, an deren Geltendmachung ihm vom Standpunkte der abftraften Wiſſenſchaft aus liegt. Erkennt num der Kritiker feine richtige Stellung zur fünftlerifchen Erſcheinungswelt, jo fühlt er fich zu jener Scheu und Vorſicht angehalten, in ber er immer nur Erſcheinungen zufammenftellt und das Bufammengeftellte wieber neuer Forſchung übergiebt, nie aber das enticheidende

Einleitung. '227

Wort mit enthuſiaſtiſcher Beftimmtheit auszufprechen wagt. Die Kritik lebt fomit vom „allmählichen” Fortjchritte, d. H. der ewigen Unterhaltung des Irrthumes; fie fühlt, wird der Irrthum gründlich gebrochen, fo tritt dann die wahre, nadte Wirklichkeit ein, die Wirklichkeit, an der man fi nur noch erfreuen, über die man aber unmöglich mehr Feitifiven kann, gerade wie ber Liebende in ber Erregtheit ber Liebedempfindung ganz gewiß nicht dazu kommt, über das Wefen und den Gegenftand jeiner Liebe nachzudenken. An dieſem vollen Erfülltfein von dem Wefen der Kunft muß es der Kritik, fo Tange fie befteht und beftehen ‚Tann, ewig gebrechen; fie kann nie ganz bei ihrem Gegenftande fein, mit einer vollen Hälfte muß fie fi) immer abwenden, und zwar mit der Hälfte, die ihr eigenes Weſen ift. Die Kritik lebt vom „Doch“ und „Uber“. Verſenlte fie fi ganz auf den Grund der Erfcheinungen, fo müßte fie mit Vejtimmtheit nur dies Eine außfprechen Können, eben den erfannten Grund, voraußgefeht, daß der Kritiker überhaupt die nöthige Fähigkeit, d. h. Liebe zu dem Gegenftande, habe: dies Eine iſt aber gemeinhin der Urt, daß, mit BeftimmtHeit ausgeſprochen, e8 alle weitere Kritik geradezu unmöglich machen müßte So hält fie ſich vorfichtig, um ihre3 Lebens willen, immer nur an die Oberfläche der Er— ſcheinung, ermißt ihre Wirkung, wird bebenklih, und fiehe da! das feige, unmännliche. „Jedoch“ ift da, die Möglich keit umendlicher Unbeftimmtheit und Kritik ift von Neuem ger wonnen!

Und doc) Haben wir jegt Alle Hand an die Kritik zu legen; denn durch fie allein kann der, duch die Erfcheinungen enthüllte, Irrthum einer Kunftrichtung und zum Bewußtſein fommen; nur aber durch das Wiſſen von einem Irrthume werden wir feiner ledig. Hatten die Künſtler unbewußt diefen Irrthum genährt und endlich bis zur Höhe feiner ferneren Unmöglichkeit gefteigert, fo müffen fie, um ihn vollfommen zu überwinden, eine lepte männliche Anftrengung machen, felbft Kritik zu üben; fo ver— nichten fie den Irrthum und Heben die Kritik zugleih auf, um von da ab wieder, und zivar erſt wirklich, Künftler zu werben, die forgenlo8 dem Drange ihrer Begeifterung fich überlaffen fün- nen, unbefümmert-um alle äfthetifche Definition ihres Vorhabens. Der Augenblid, der diefe Anftrengung gebieteriſch fordert, ift aber jegt exrfhienen: wir müſſen thun, was wir nicht laſſen

15*

228 Oper und Drama:

dürfen, wenn wir nicht in verächtlichem Blödſinn zu Grunde gehen wollen.

Welcher ift nun der von ung Allen geahnte, noch nicht aber gewußte Irrtum?

Ich habe die Arbeit eines tüchtigen und erfahrenen Kunft- kritikers vor mir, einen längeren Artikel in der Brockhaus'ſchen „Gegenwart“: „Die moderne Oper“. Der Verfaſſer ftellt alle bezeichnenden Erſcheinungen der modernen Oper auf Fenntniß: volle Weiſe zufammen und lehrt an ihnen recht deutlich Die ganze Geſchichte des Irrthumes und feiner Enthüllung; er bezeichnet diefen Irthum fait mit dem Finger, enthüllt ihn fait vor unfe- ven Augen, und fühlt fi wieder fo unvermögend, feinen Grund mit Beitimmtheit außzufprechen, daß er dagegen es vorziehen muß, auf dem Punkte des nothwendigen Ausſpruches angefom- men, fi) in die allerirrigften Darftellungen der Erſcheinung ſelbſt zu verlieren, um fo gewiſſermaßen den Spiegel wieder zu trüben, der bis dahin uns immer heller entgegenleuchtete. Er weiß, daß die Oper feinen gefchichtlichen (fol heißen: natürlichen) Ur— fprung hat, daß fie nicht aus dem Wolfe, fondern aus fünft- leriſcher Willkür entftanden ift; er erräth den verderblichen Cha- rafter diefer Willkür ganz richtig, wenn er es als einen argen Mißgriff der meiften jet lebenden deutſchen und franzöſiſchen DOpernlomponiften bezeichnet, „daß fie auf dem Wege der muſi— kaliſchen Charafteriftit Effekte anftreben, die man allein durch das verftandesfharfe Wort der dDramatifhen Dichtung erreichen Tann“; er kommt auf da8 wohlbegründete Bedenken bin, ob die Oper nicht wohl an fi ein ganz widerſpruchvolles und unnatürliches Kunftgenre fei; er ftellt in den Werfen Meyerbeer’8 allerdings Hier fait ſchon ohne Bewußtſein dieſe Unnatur als bis auf die unfittlichite Spige getrieben dar, und, ftatt nun das Nothivendige, von Jedem faft ſchon Gewußte, rund und kurz auszufprechen, fucht er plölich der Kritit ein ewiged Leben zu bewahren, indem er fein Bedauern darüber ausfpricht, daß Mendelsfohn’s früher Tod die Lö— fung des Räthſels verhindert, d. h. hinausgeſchoben hättel Was ſpricht der Kritiker mit diefem Bedauern aus? Doc nur die Annahme, daß Mendelsjogn, bei feiner feinen Intelligenz und feiner außerordentlichen mufitalifhen Befähigung, entweder im Stande hätte fein mifjen, eine Oper zu ſchreiben, in welcher

Einleitung. 229

die Herandgeftellten Widerfprüche dieſer Kunſtform glänzend widerlegt und ausgeſöhnt worden, oder aber dadurch, daß er troß jener Intelligenz und Befähigung dieß nicht vermögend gewefen wäre, dieſe Widerjprüche endgültig bezeugt, dad Genre fomit als unnatürlich und nichtig dargeftellt Hätte? Diefe Darlegung glaubte der Kritiker alfo nur von dem Wollen einer beſonders befähigten muſikaliſchen Perſönlichkeit abhängig machen zu können? War Mozart ein geringerer Mufiter? Sit es möglich, Vollenbeteres zu finden, als jedes Stüd feines „Don Juan“ ? Was aber Hätte Mendelsſohn im glüdlichjten Falle An— deres vermocht, ald Nummer für Nummer Stücke zu liefern, die jenen Mozart'ſchen an Vollendung gleichfämen? Oder will der Kritiker etwad Anderes, will er mehr, als Mozart leiftete? In der That, das will er: er will den großen, einheit- vollen Bau bes ganzen Drama's, er will genau ge- nommen das Drama in feiner höchſten Fülle und Potenz. An wen aber ftellt er dieſe Forderung? An den Mufiter! Den ganzen Gewinn feines einfihtsvollen Über- blickes der Erſcheinungen der Oper, den feiten Knoten, zu dem er alle Fäden der Erkenntniß in feiner geſchickten Hand zufam- mengefaßt hat, läßt er fchließlich fahren, und wirft Alles in das alte Chaos wieder zurid! Er will fi ein Haus bauen laſſen, und wendet ſich an den Skulptor ober Tapezierer; der Arditelt, der aud) den Skulptor und Tapezierer, und fonft alle bei Herrihtung des Haufes nöthigen Helfer mit in fich be- greift, weil er ihrer gemeinfamen Thätigfeit Zweck und Anord- nung giebt, der fällt ihm nicht ein! Er hatte das Räthſel felbft gelöft, aber nicht Tageshelle hatte ihm die Löfung gegeben, fon- dern nur die Wirkung eines Bliges in finfterer Nacht, nach deſſen Verſchwinden ihm plöpfich die Pfade nur noch unerfennbarer als vorher geworden find. So tappt er num endlich in vollfter Zinfterniß umher, und da, wo fi) der Irrthum in nadtefter Widerwärtigkeit und proftituirtefter Blöße für den Handgriff erkenntlich hinftellt, wie in der Meyerbeer'ſchen Oper, da glaubt der vollftändig Geblendete plöglich den hellen Ausweg zu er: fennen: er ftolpert und ftrauchelt jeden Augenblid über Stod und Stein, bei jedem Taften fühlt er ſich ekelhaft berührt, fein Athem verfagt ihm bei ftidend unnatürlicher Luft, die er ein. faugen muß, und doc) glaubt er ſich auf dem richtigen, ge-

230 Oper und Drama:

funden Wege zum Heile, weßhalb er fi aud) ale Mühe giebt, ſich über alles Das zu belügen, was ihm auf diefem Wege eben Hinderlih und von böfem Anzeichen ift. Und doch wandelt ex, aber eben nur unbewußt, auf dem Wege de8 Heiles; dieſer

. it in Wirklichkeit der Weg aus bem Irrthume, ja, er ift ſchon mehr, er ift das Ende dieſes Weges, denn er ift die in der höch— ften Spige des Irrthumes auögefprochene Vernichtung dieſes Irrthumes, und diefe Vernichtung Heißt Hier: der offentundige Tod der Oper, ber Tod, ben Mendelsſohn's guter Engel befiegelte, als er feinem Schüglinge zur rechten Beit die Augen zubrüdte! .

Daß die Löfung des Räthſels vor und liegt, daß fie in den Erſcheinungen klar und deutlich ausgeſprochen ift, Kritifer wie Künftler ſich aber von ihrer Erfenntniß willkürlich noch abmen- den können, das ift das wahrhaft Beklagenswerthe an unferer Kunftepoche. Seien wir noch fo redlich bemüht, und nur mit dem wahren Inhalte der Kunſt zu befaffen, ziehen wir noch fo ehrlich entrüftet genen die Lüge zu Felde, dennod) täufchen wir und über jenen Inhalt und kämpfen wir nur mit der Unkraft diefer Täufchung wieder gegen jene Züge, fobald wir über das Weſen der wirkungsreichſten Runftform, in der die Mufit fi) der Offentlichkeit mitteilt, gefliſſentlich in demfelben Irrthume beharren, dem unwilikürlich biefe Kunftform entfprungen und dem jegt allein ihre offentundige Berfplitterung, die Darlegung ihrer Nichtigkeit, zuzuſchreiben ift. Es ſcheint mir fait, als ge: höre für Euch ein großer Muth und ein beſonders fühner Ent- ſchluß dazu, jenen Irrthum einzugeftehen und offen ausſprechen zu follen; es ift mir, als fühlet Ihr das Schwinden aller Noth- wendigfeit Eures jetzigen mufifalifhen Kunftproduzivens, fobald Ihr den, in Wahrheit nothwendigen, Ausſpruch gethan hättet, zu dem Ihr Euch deßhalb nur mit dem höchften Selbftopfer an- laſſen könntet. Wiederum will e8 mich aber bedünken, als er- fordere e8 weder der Kraft noch der Mühe, am allerwenigften des Muthes und der Kühnheit, fobald es ſich um nichts weiter handelt, al3 da3 Dffentundige, längft Gefühlte, jegt aber ganz unläugbar Gewordene einfah und ohne allen Aufwand von Staunen und Betroffenheit anzuerkennen. Faſt ſcheue ich mich, die kurze Formel der Aufdeckung des Irrthumes mit erhobener Stimme auszuſprechen, weil id mi ſchämen möchte, etwas fo

Einleitung. 231

Klares, Einfaches und in fich felbft Gewifies, daß meinem Be— dünken nach alle Welt es Längft und bejtimmt gewußt haben muß, mit der Bedeutung einer wichtigen Neuigfeit kundzuthun. Wenn ich diefe Formel nun dennoch mit ftärkerer Betonung aus⸗ fpreche, wenn ich alfo erfläre, der Zrrthum in dem Kunſt— genre der Oper beftand darin,

daf ein Mittel des Ausdruckes (die Mufif) zum

Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (dad Drama)

aber zum Mittel gemacht war, fo gefchieht dieß keinesweges in dem eitlen Wahne, etwas Neues gefunden zu haben, fondern in der Abficht, den in diefer Formel aufgedeckten Irrthum handgreiffich deutlich Hinzuftellen, um fo gegen die unfelige Halbheit zu Felde zu ziehen, die fich jegt in Kunft und Kritit bei und audgebreitet hat. Beleuchten wir mit der Bünde der in der Aufdeckung dieſes Irrthumes enthaltenen Wahrheit die Erſcheinungen unferer Opern-Kunft und Kritik, jo müſſen wir mit Staunen erfehen in welchem Labyrinthe bed Wahnes wir beim Schaffen und Beurtheifen bisher ung beiveg- den; e8 muß und erklärlich werden, warum nicht nur im Schaffen jedes begeifterte Streben an den Klippen der Unmöglichkeit fchei- tern mußte, fondern auch beim Beurtheilen die geſcheidteſten Köpfe felbft in das Faſeln und Irrereden geriethen.

Sollte es zuvörderſt nöthig fein, das Richtige im jener tundgegebenen Aufdeckung des Irrthumes im Sunftgenre der Oper nachzuweifen? Sollte es bezweifelt werben fünnen, daß in der Oper wirklich die Mufit al Zweck, da8 Drama aber nur als Mittel verwandt worden jei? Gewiß nit. Der Fürzejte Überblid der geſchichtlichen Entwidelung der Oper belehrt uns hierüber ganz unirüglich; Jeder, der ſich um Darftellung diefer Entmwidelung bemühte, dedte durch feine bloße Geſchichts— arbeit unwillfürlid) die Wahrheit auf. Nicht aus den mittel- alterlichen Volksſchauſpielen, in welchen wir die Spuren eines.

„natürlichen Zufammenwirfens der Zonfunft mit der Dramatik finden, ging die Oper hervor; fondern an ben üppigen Höfen Italieus merkwürdiger Weife des einzigen großen europäifchen Kulturlaudes, in welchem fi dad Drama nie zu irgend welcher Bedeutung entwidelte fiel es vornehmen Leuten, die au Baleftrina’8 Kirchenmufit Leinen Geſchmack mehr fanden, ein fi) von Sängern, die bei Seiten fie unterhalten follten, Arien,

232 DOper und Drama:

d. 5. ihrer Wahrheit und Naivetät entkleidete Vollsweiſen, vor- fingen zu laffen, denen man willfürliche, und aus Noth zu einem Anſcheine von dramatiſchem Zufammenhang verbundene, Verd- texte unterlegte. Diefe dramatiſche Kantate, deren Inhalt auf Alles, nur nicht auf das Drama, abzielte, ift die Mutter unferer Oper, ja fie ift die Oper felbft. Je meiter fie fi) von diefem Entftehungspunfte aus entwidelte, je folgerechter fich die, als nur noch rein muſikaliſch übriggebliebene, Form der Arie zur Unterlage für die Kehlfertigkeit der Sänger fortbildete, deſto Harer ftellte fich für den Dichter, der zur Hilfe bei dieſen muſikaliſchen Divertiſſements herbeigezogen wurde, die Yufgabe heraus, eine Dichtungsform herzurichten, die gerade zu weiter gar nicht8 dienen follte, al3 dem Bebürfniffe des Sängers und der mufifalifchen Arienform den nöthigen Wortveröbebarf zu liefern. Metaftafio’3 großer Ruhm. beftand darin, daß er dem Mufiter nie die mindefte Verlegenheit bereitete, vom dra— matifchen Standpunkte aus ihm nie eine ungewohnte Forderung ftellte, und fomit ber allerergebenfte und verwendbarfte Diener dieſes Muſikers war. Hat fich diefes Verhältniß des Dichters zum Mufiter bis auf den heutigen Tag um ein Haar geändert? Wohl darin, was nach rein mufifaliihem Dafürhalten Heute für dramatiſch gilt und allerdings von ber altitalienifchen Oper fi unterfcheidet, keineswegs aber darin, was das Charakteriftifche der Stellung felbit betrifft. ALS dieſes gilt heute wie bor 150 Jahren, daß der Dichter feine Infpirationen von Mufifer erhalte, daß er den Saunen der Muſik laufche, der Neigung des Mufifers ſich füge, den Stoff nad) deſſen Gejhmade wähle, feine Charaktere nach der, für die rein mufifalifche Kombination er- forderlihen, Stimmgattung der Sänger modele, dramatiſche Unterlagen für gewiffe Tonftüdformen, in denen der Mufiter fi ergehen und ausbreiten will, herbeifchaffe, kurz, daß er in feiner Unterordnung unter den Mufiler das Drama nur aus ſpeziell muſikaliſchen Intentionen des Komponiſten heraus kon— ſtruire, oder, wenn er dieß Alles nicht wolle ober könne, fich gefallen laſſe, für einen unbrauchbaren Operntertdichter ange- fehen zu werden. Iſt dieß wahr oder nicht? Ich zweifle, daß gegen dieſe Darftellung das Mindefte eingemendet werden könnte.

Die Abſicht der Oper lag alſo von je, und ſo auch heute,

Einleitung. 233

in der Mufif. Bloß um der Wirkfamkeit der Mufit Anhalt zu irgendwie gerechtfertigter Ausbreitung zu veridaffen, wird die Abficht des Drama's herbeigezogen, natürlich aber nicht um die Abficht der Mufif zu verdrängen, fondern vielmehr ihr nur als Mittel zu dienen. Ohne Unftand wird dies auch von allen Seiten anerkannt; Niemand verſucht e8 aud) nur, die bezeichnete Stellung des Drama's zur Mufit, des Dichters zum Tonkünftler, zu Täugnen: nur im Hinblid auf die ungemeine Verbreitung und. Wirkungsfähigkeit der Oper hat man geglaubt, mit einer monftröfen Erſcheinung fi) befreunden zu müſſen, ja ihr die Möglichkeit zugufprechen, in ihrer unnatürlihen Wirkſam⸗ teit etwas Neues, ganz Unerhörtes, noch nie zuvor Geahntes zu leiften, nämlich auf der Baſis der abfoluten Mufif das wirflide Drama zu Stande zu bringen.

Wenn id) nun als Zweck dieſes Buches mir den zu führen- den Beweis dafür geſeht habe, daß allerdings aus dem Zu- fammenwirfen gerabe unferer Mufit mit der bramatifchen Dichtkunſt dem Drama eine noch nie zuvor geahnte Bedeutung zu Theil werden könne und müffe, fo habe ich, zur Erreihung dieſes Zweckes, zunächft mit ber genauen Darlegung des un- glaublichen Irrthumes zu beginnen, in dem Diejenigen befangen find, welche jene höhere Geftaltung des Drama's durch das Weſen unjerer modernen Oper, aljo aus der naturwibrigen Stellung der Dichtkunſt zur Mufik, erwarten zu dürfen glauben.

Wenden wir unfere Betrachtung zubörderft daher aus— ſchließlich dem Weſen diefer Oper zu!

Erſter Theil. Die Oper und das Wefen der Mufik.

L

Jedes Ding lebt und beſteht durch die innere Nothwendigkeit ſeines Weſens, durch das Bedürfniß ſeiner Natur. Es lag in der Natur der Tonkunſt, fi zu einer Fähigkeit des mannig— faltigiten und beftimmteften Ausbrudes zu entwideln, zu ber fie, wiewohl dad Bebürfniß dazu in ihr lag, nie gelangt fein

234 Oper und Drama:

würde, wenn ſie nicht in eine Stellung zur Dichtkunſt gedrängt worden wäre, in ber fie Anforderungen an ihr äußerſtes Ver— mögen entjprechen zu wollen fich genöthigt ſah, ſelbſt wenn biefe Anforderungen auf das ihr Unmoͤgliche ſich richten mußten.

Nur in feiner Form kann ſich ein Weſen ausſprechen: ihre Formen verdankte die Tonkunft dem Tanze und dem Liede. Dem bloßen Sprachdichter, der fich zur Erhöhung des ihm zu Gebote ftehenden Ausdrudes für dad Drama der Mufit bedienen wollte, erfchien diefe nur in jener beichränften. Tanz- und Lied⸗ form, in welcher fie ihm unmöglich die Fülle des Ausdrudes zeigen Konnte, beren fie in Wahrheit dod) fähig war. Wäre die Tonkunft ein für allemal zu dem Sprachdichier in einer Stel- lung verblieben, wie diefer in ber Oper fie jegt zu ihr einnimmt, jo würde fie von diefem nur nad) ihrem bejchränfteften Ver» mögen verwendet worden und nie zu der Fähigkeit gelangt fein, ein fo überaus mächtiges Ausdrudsorgan zu werben, als fie es heute ift. Es mußte der Mufit fomit vorbehalten fein, fich felbft Möglichkeiten zuzutrauen, die in Wahrheit für fie. Unmöglich- keiten bleiben jollten; fie mußte fi in den Irrthum ftürgen, ais veined Ausdrudsorgan für fi aud das Auszudrückende deutlich beftimmen zu wollen; fie mußte fi) in daß hochmüthige Unter- nehmen wagen, da Anordnungen zu treffen und Abfichten aus— fprechen zu wollen, wo fie in Wahrheit einer, aus ihrem Wefen gar nicht zu faffenden Abſicht fi) unterzuordnen, in diefer Unterordnung aber auch an ber Verwirklichung biefer Abficht einen einzig ermöglichenden Antheil haben kann.

Nah zwei Seiten hin Hat fi) nun dns Wefen der Mufit in dem von ihm aus beftimmten Kunftgenre der Oper entwidelt: nad) einer ernften durch alle die Tondichter, welche die Laft der Verantwortung auf fich fühlten, die der Muſik zugetheilt mar, als fie die Abſicht des Drama's für fi) allein übernahm, nad) einer frivolen durch alle die Mufiter, die, wie von dem Inſtinkt der Unmöglichkeit der Löfung einer unnatürlichen Aufgabe getrieben, diefer den Rüden wandten, und, nur auf den Genuß des Vortheiles bedacht, den die Oper einer ungemein ausgedehnten Öffentlichteit gegenüber gewonnen Hatte, einem ungemifcht mufifalifchen Experimentiren fi) bingaben. Es iſt nothwendig, daß mir die erfte, die ernjte, Seite zubörberft näher in da8 Auge fafjen.

Die Oper und bad Wefen der Muſil. 235

Die muftfalifche Grundlage der Oper war wie wir wiflen nichts Underes als die Arie, die Arie aber wiederum nur dad vom Runftfänger der vornehmen Welt vorgeführte Volks— lied, deſſen Wortgedicht außgelaffen und durch das Produkt des dazu beftellten Runftdichter8 erjegt wurde. Die Ausbildung der Volksweiſe zur Opernarie mar zunächſt das Werk jenes Kunft- fängers, dem es an fich nicht mehr an dem Vortrage der Weile, fondern an der Darlegung feiner Kunftfertigfeit gelegen war: er beftimmte die ihm nothiwendigen Ruhepunfte, den Wechfel des bemegteren oder gemäßigteren Gefangsausdrudes, die Stel- fen, an denen er, frei von allem rhythmiſchen und melobifchen Zwange, feine Gefdidlichfeit nach vollitem Belieben allein zu Gehör bringen fonnte. Der Komponift legte nur dem Sänger, der Dichter wieder dem Komponiften das Material zu deſſen Birtuofität zurecht.

Das natürliche Verhältnig zwiſchen den künſtleriſchen Fak— toren des Drama's war hierbei im Grunde noch nicht aufge— hoben, es war nur entitellt, indem der Darſteller, die nothwen⸗ digfte Bedingung für die Möglichkeit de Drama's, nur der Vertreter einer einzigen befonderen Geſchicklichkeit (der abſoluten Gefangsfertigkeit), nicht aber aller gemeinjamen Fähigkeiten des fünftlerifchen Menſchen war. Diefe eine Entjtellung de3 Cha- ralters des Darftellerd war es auch nur, welche bie eigentliche Verdrehung im’ natürlichen Verhältniffe jener Faktoren hervor⸗ rief, nämlich die abjolute Voranftellung des Muſikers vor dem Dichter. Wäre-jener Sänger ein wirklicher, ganzer und voller dramatiſcher Darfteller gewefen, jo hätte der Komponift noth- wendig in feine richtige Stellung zum Dichter kommen müffen, indem diefer e8 war, welcher beftimmt und für alles Übrige maafgebend die dramatifche Abſicht ausgeſprochen und ihre Ver: wirklichung angeordnet hätte. Der jenem Sänger zunädjft ftehenbe Dichter war aber der Komponift, der Komponiſt, der eben nur dem Sänger half feine Abſicht zu erreichen, diefe Abficht, die von aller dramatifchen, ja nur dichterifchen Beziehung über- haupt losgelöſt, durchaus nichts Anderes war, als feine fpezifiiche Geſangskunſtfertigkeit glänzen zu laſſen.

Diefes urfprüngliche Verhältniß der Fünftlerifhen Faktoren der Oper zu einander haben wir uns feft einzuprägen, um im Verfolge genau zu erkennen, mie dieſes entjtellte Verhältniß

236 Oper und Drama:

durch alle Bemühungen, es zu berichtigen, nur immer noch mehr verwirrt werben fonnte.

Der dramatifchen Kantate wurde, durch das Iuguriöfe Ver- langen der vornehmen Herren nad Abwechſelung im Vergnügen, da8 Ballet Hinzugefügt. Der Tanz und die Tanzweiſe, ganz fo willtürlich dem Volkstanze und der Volkstanzweiſe entnom- men unb nachgebildet, wie die Opernarie e8 dem Volksliede mar, trat mit ber jpröben Unvermifchungsfähigteit alles Un— natürlichen zu der Wirkſamkeit des Sängers hinzu, und dem Dichter entftand, bei folder Häufung des innerlich gänzlih Zu— fammenhangstofen, natürlich die Aufgabe, die Kundgebungen der vor ihm außgelegten Kumftfertigfeiten zu einem irgendwie gefügten Bufammenhange zu verbinden. Ein immer mehr als nothwendig ſich herausftellender dramatifcher Zuſammenhang verband nun unter des Dichters Hilfe das, was an ſich eigent- lich nad gar feinem Sufammenhange verlangte, fo daß die Ab- ficht des Drama’ von äufßerlicher Noth gedrungen nur angegeben, keineswegs aber aufgenommen wurde Ge— ſangs⸗ und Tanzweiſe ftanden in volliter, Tältefter Einſamkeit nebeneinander zur Schauftellung ber Gefchidlichkeit des Sän- ger3 oder des Tänzers; nur in dem, was fic zur Noth verbinden follte, in dem mufifafifch vezitivten Dialoge, übte der Dichter feine untergeordnete Wirffamfeit aus, machte das Drama ſich irgendwie bemerflich.

Auch dad Rezitativ ift keinesweges auß einem wirklichen Drange zum Drama in der Oper, etwa al3 eine neue Erfindung, hervorgegangen: lange bevor man biefe redende Gefangsweije in die Oper einführte, hat fich die chriftliche Kirche zur gotteß- dienftlihen Rezitation biblifcher Stellen ihrer bedient. Der in diefen Rezitationen nad) ritualifcher Vorſchrift bald ſtehend ge- worbene, banale, nur noch ſcheinbar, nicht aber wirklich mehr fprechende, mehr gleichgültig melodifche, als ausdrucksvoll re dende Tonfal ging zunächſt, mit wiederum nur mufifalifcher Willkür gemobelt und variirt, in die Oper über, fo daß mit Arie, Tanzweife und Rezitativ der ganze Apparat des mufifalifchen Drama's und zwar bis auf die neuefte Oper dem Wejen nach unverändert feftgeftellt war. Die dramatischen Pläne, die diefem Apparate untergelegt wurden, gewannen ebenfalls bald ftereotypen Beſtand; meiſtens der gänzlich mißverftandenen

Die Oper und das Weſen ber Mufit. 237

griehifhen Mythologie und Heroenwelt entnommen, bildeten fie ein theatralifches Gerüft, dem alle Fähigkeit, Wärme und Theilnahme zu erweden, volftändig abging, das dagegen bie Eigenſchaft befaß, fih zur Benutzung von jedem Komponiften nad Belieben Herzugeben, wie denn auch die meiften biefer Terte don den verjchiebenften Muſikern wiederholt komponirt worden find.

Die fo berühmt gewordene Revolution Gluck's, die vielen Unfenntnißvollen ald eine gänzliche Verdrehung der biß bahin üblichen Anſicht von dem Weſen der Oper zu Gehör gefommen ift, beftand nun in Wahrheit nur darin, daß der mufifalifche Komponift fi gegen die Willkür des Sänger empört. Der Komponift, der nächft dem Sänger die Beachtung des Publi— kums bejonder auf fich gezogen hatte, da er es war, der diefem immer neuen Stoff für feine Geſchicklichkeit Herbeifchaffte, fühlte fi) ganz in dem Grade von der Wirkſamieit dieſes Sängers beeinträchtigt, als es ihm daran gelegen war, jenen Stoff nad eigener erfinderifcher Phantafie zu geitalten, fo daß auch fein Berk, und vielleicht endlih nur fein Werk dem Zuhörer fich vorftelle. Es ftanden dem Komponiften zur Erreihung feines ehrgeizigen Zieles zwei Wege offen: entweder den rein ſinn⸗ lichen Inhalt der Arie, mit Benugung aller zu Gebote ſtehenden und noch zu erfindenden mufifalifchen Hilfsmittel, bis zur höch- ften, üppigften Fülle zu entfalten, oder und dieß ift der ern- ftere Weg, den wir für jet zu verfolgen haben die Willkür im Bortrage diefer Arie dadurch zu befchränfen, daß der Kom- ponift der vorzutragenden Weife einen dem unterliegenben Wort- tegte entjprechenden Ausdruck zu geben fuchte. Wenn dieſe Terte ihrer Natur nad) als gefühlvolle Reben handelnder Perfonen gelten mußten, fo war es von jeher gefühlvollen Sängern und Komponiften ganz von felbft auch ſchon beigefommen, ihre Vir— tuofität mit dem Gepräge der nöthigen Wärme auszuftatten, und Gluck war gewiß nicht der Erſte, der gefühlvolle Arien fehrieb, noch feine Sänger bie Erften, die folche mit Ausdruck vortrugen. Daß er aber die jchidliche Nothwendigkeit eines der Textunter⸗ Tage entfprechenden Ausdrudes in Arie und Rezitativ mit Be- wußtjein und grundfäglid ausſprach, daS macht ihm zu dem Ausgangöpunft für eine allerdings vollftändige Verände— rung in der bißherigen Stellung der fünftlerifhen Faltoren ber

238 Oper und Drama:

Oper zu einander. Von jegt an geht die Herrſchaft in der An— ordnung der Oper mit Beftimmtheit auf den Komponiften über:

.ber Sänger wird zum Organ der Abjicht des Komponiften,

und diefe Abficht ift mit Bewußtſein dahin ausgeſprochen, daß dem dramatifchen Inhalte der Textunterlage durch einen wahren Ausdrud deſſelben entſprochen werden ſolle. Der unſchicklichen und gefühlloſen Gefallſucht des virtuoſen Sängers war alſo im Grunde einzig entgegengetreten worden, im Übrigen aber blieb e8 in Bezug auf den ganzen unnatürlichen Organismus der Oper durchaus beim Alten. Arie, Rezitativ und Tanzſtück ftehen, für fih gänzlich abgefchloffen, ebenſo unvermittelt neben einander in ber Gluckſchen Oper ba, ald es vor ihr, und biß heute fait immer noch der Fall ift.

In der Stellung des Dichterd zum SKomponiften war nicht das Mindefte geändert; eher war die Stellung des Kom- poniften gegen ihn noch diktatorifcher gemorden, da er, bei aus⸗ geſprochenem Bewußtſein von feiner dem virtuofen Sänger gegenüber Höheren Aufgabe, mit vorbedachterem Eifer die Anordnungen im Gefüge der Oper traf. Dem Dichter fiel e8 gar nicht ein, in diefe Anordnungen ſich irgendwie einzumifchen; er konnte die Mufif, der nun einmal die Oper ihre Entftehung verbanfte, gar nicht anders faffen als in jenen engen, ganz be— ftimmten Formen, die er als felbft den Mufifer wiederum gänzlich bindend vorfand. Es wäre ihm undenklich erfchienen, durch Anforderungen der dramatifchen Nothwendigkeit an fie, auf diefe Formen in dem Grade zu wirken, daß fie ihrem Wefen nad aufgehört Hätten, Schranken für die freie Entwidelung der dramatifchen Wahrheit zu fein, da er eben nur in diefen dein Muſiker jelbft unantaftbaren Formen das Wejen der Mufit begriff. Er mußte daher, gab er ſich nun einmal zur Dichtung eines Opernterte8 ber, peinlicher als der Mufifer felbſt auf die Beobachtung jener Formen bedacht fein, und höchſtens dieſem Muſiler es überlafjen, auf dem ihm heimifchen Felde Erweite- rungen und Entwidelungen auszuführen, zu denen er fi nur | behülflich erzeigen, nie aber anforbernd fich ftellen konnte. So— mit wurde vom Dichter felbft, der dem Momponiften mit einer gewiſſen Heiligen Scheu zufah, diefem die Diktatur in der Oper eher noch vollftändiger zugeführt, als beitritten, da er wahrnahm, welch’ ernften Eifer der Muſiler an feine Aufgabe fepte.

Die Oper und das Wefen der Muſik. 239

Erſt Gluck's Nachfolger waren aber darauf bedacht, aus diefer ihrer Stellung für wirkliche Erweiterung der vorgefun- denen Formen Vortheil zu ziehen. Diefe Nachfolger, unter denen wir die Komponiften italienifcher und franzöfiicher Her- kunft zu begreifen haben, welche dicht am Ende des vorigen und im eriten Anfange dieſes Jahrhunderts für die Parifer Opern: theater fchrieben, gaben ihren Gefangftüden, bel immer vollen- deterer Wärme und Wahrheit des unmittelbaren Ausdruckes, zugleich eine immer ausgebehntere formelle Grundlage. Die herkömmlichen Einfcpnitte der Arie, im Wefentlichen zwar immer nod) beibehalten, wurden mannigfaltiger motivirt, Übergänge und Verbindangsglieber felbft in das Bereich des Ausdruckes gezogen; das Rezitativ ſchloß fih unwillkürlicher und inniger an die Arie an, und trat als nothwendiger Ausdrud felbit in die Arie hinein. Eine namentliche Erweiterung erhielt die Arie aber dadurch, daß an ihrem Vortrage je nach dem drama- tiſchen Bedürfniffe auch mehr als eine Perjon theilnahm, und fo da8 weſentlich Monologiſche der früheren Oper fi vor tHeilhaft verlor. Stüde wie Duette und Terzette waren zwar auch ſchon früher Tängft befannt; daß in einem Stüde Bmei ober Drei fangen, hatte im Wefentlichen aber nicht das Min— defte im Charakter der Arie geändert: dieſe blieb in der melo- dien Anlage und in Behauptung des einmal angeſchlagenen thematifchen Tone8g der eben nicht auf individuellen Aus— drud, fondern auf eine allgemeine, ſpezifiſch-muſikaliſche Stim- mung fi) bezog vollfommen fich gleich, und nicht? Wirkliches änderte ſich in ihr, gleichviel ob fie als Monolog oder als Duett vorgetragen wurde, als höchſtens gan, Materielles, nämlich daß die mufifalifhen Phrafen abwechſelnd von verſchiedenen Stim- men, ober gemeinſchaftlich, durch bloß harmoniſche Vermittelung als zwei- oder dreiftimmig u. f. w., gefungen wurden. Dieß fpezififch Muſikaliſche ebenfo weit zu deuten, daß es des lebhaft wechjelnden individuellen Ausdrudes fähig wurde, dieß war die Aufgabe und das Werk jener Komponiften, wie es ſich in ihrer Behandlung des fogenannten dramatiſch-muſikaliſchen En- femble’3 barftellt. Die mefentliche muſikaliſche Eſſenz dieſes Enſemble's blieben in Wahrheit immer nur Arie, Rezitativ und Tanzmeife: nur mußte, wenn einmal in Arie und Rezitativ ein der Tertunterlage entfprechender Gejangsausdrud als ſchickliches

240 Oper und Drama:

Erforberniß erkannt worden war, folgerichtig die Wahrheit dieſes Ausdrudes auch auf alles Das ausgedehnt werden, was in diefer Tertunterlage fi) von dramatifchem Bufammenhang vor- fand. Dem redlichen Bemühen, diefer nothwendigen Sonfe- quenz zu entiprechen, entfprang bie Erweiterung ber älteren muſilaliſchen Formen in der Oper, wie wir fie in den ernften Opern Cherubini’8, Mehul's und Spontini’s antreffen: wir Tönnen fagen, in diefen Werfen ift das erfüllt, was Glud wollte oder wollen fonnte, ja, es ift in ihnen ein für allemal das erreicht, was auf der urfprünglichen Grundlage der Oper ſich Natürliches, d. h. im beften Sinne Folgerichtiges, ent wideln konnte.

Der jüngfte jener drei Meifter, Spontini, war aud fo vollfommen überzeugt, das höchſte Erreichbare im Genre der Oper wirklich erreicht zu haben; er Hatte einen fo feiten Glau— ben an die Unmöglichkeit, feine Leitungen irgendwie überboten zu fehen, daß er in allen feinen fpäteren Kunſtproduktionen, die er den Werfen aus feiner großen Pariſer Epoche folgen ließ, nie aud) nur den mindeften Verſuch machte, in Form und Be— deutung über den Standpunft, den er in diefen Werfen ein- nahm, Hinauszugehen. Er jträubte fich hartnädig, die fpätere ſogenannte romantifche Entwidelung der Oper für irgend etwas Anderes als einen offenbaren Verfall der Oper anzuerkennen, fo daß er Denjenigen, denen er fich ſeitdem hierüber mittheilte, den Eindrud eines bis zum Wahnfinu für ſich und feine Werke Eingenommenen machen mußte, währen er eigentlich doch nur eine Überzeugung ausſprach, der in Wahrheit eine Ferngefunde Anfiht vom Weſen der Oper fehr wohl zu Grunde lag. Spon- tini fonnte, beim Überblid des Gebahrens der modernen Oper, mit vollftem Rechte fagen: „Habt Ihr die weentliche Form der muftfafifchen Opernbeftandtheile irgendwie weiter entwidelt, als Ihr fie bei mir vorfindet? Oder habt Ihr etwa gar irgend etwas Berftänbliches oder Gefundes zu Stande bringen können mit wirklicher Übergehung diefer Form? Iſt nicht alles Un- genießbare in Euren Arbeiten nur ein Reſultat Eures Heraud- tretend aus diefer Form, und habt Ihr alles Genießbare nicht nur innerhalb diefer Formen Herborbringen können? Wo befteht diefe Form nun großartiger, breiter und umfangreicher ald in meinen drei großen Parifer Opern? Wer aber will mir jagen,

Die Oper und das Wefen der Muſik. "241

daß er diefe Zorn mit glühenderem, gefühlvollerem und ener: giſcherem Inhalte erfüllt habe, als ih?”

Es dürfte ſchwer fein, Spontini auf diefe Fragen eine Antwort zu geben, bie ihn verwirren müßte; jedenfalls noch ſchwerer, ihm zu beweifen, daß er wahnfinnig fei, wenn er ung für wahnfinnig hält. Aus Spontini fprict die ehrliche, über- zeugte Stimme de3 abfoluten Muſikers, der da zu erfennen giebt: „Wenn der Mufifer für fich, als Unorbner der Oper, das Drama zu Stande bringen will, jo fann er, ohne fein gänzliches Unvermögen hierzu darzulegen, nicht einen Schritt weiter gehen, als ich gegangen bin.” Hierin Tiegt aber unwillkürlich des Weiteren die Aufforderung ausgeſprochen: „Wollt Ihr mehr, fo müßt Ihr Euch nicht an den Mufifer, fondern an den Dichter wenden.”

Wie verhielt fih nun zu Spontini und deſſen Genofjen diefer Dichter? Bei allem Heranwachſen der mufifalifchen Opern- form, bei aller Entwidelung der in ihr enthaltenen Ausdrucks- fähigfeit veränderte die Stellung ded Dichter fi doch nicht im Mindeften. Er blieb immer der Bereiter von Unterlagen für die ganz felbftändigen Experimente des Komponiften. Fühlte diefer, durch gewonnene Erfolge, fein Vermögen zu freierer Bes wegung innerhalb feiner Zorm wachſen, jo gab er dadurch dem Dichter nur auf, ihn mit weniger Befangenheit und ÜÄngftlichteit bei Zuführung des Stoffes zu bedienen; er rief ihm gleichjam zu: „Sieh’, was ich vermag! Genire Did) num nicht; vertraue meiner Fähigkeit, aud) Deine gemagteften dramatifchen KRom- binationen mit Haut und Haar in Mufit aufzulöfen!“ So ward der Dichter vom Mufiter nur mit fortgeriffen; er durfte ſich ſchämen, feinem Herrn hölzerne Stedenpferde vorzuführen, mo bdiefer im Stande war, ein wirkfiches Roß zu befteigen, da er wußte, daß ber Reiter die Bügel tüchtig zu handhaben ver- ftand, diefe mufifalifhen Zügel, die dad Roß in der wohl- geebneten Opernreitbahn ſchulgerecht Hin- und herlenken follten, und ohne die weder Muſik noch Dichter es zu befteigen fich ge- trauten, aus Furcht, es feße hoch über die Einhegung hinweg und Tiefe in feine wilde, herrliche Naturheimath fort.

So gelangte der Dichter neben dem Komponiften aller» Richard Wagner, Gef. Schriften III. 16

242 Dper und Drama!

dings zu fleigender Bedeutung, aber doc nur genau in dem Grade, als der Mufifer vor ihm her aufwärts ftieg und er diefem nur folgte; die ftreng mufifalifchen Möglichkeiten allein, die ber Komponift ihm wies, hatte der Dichter einzig ald maaßgebend für alle Unordnung und Geftaltung, ja jelbft Stoffauswahl im Auge; ex blieb fomit, bei allem Ruhm, den auch er zu ärnten begann, immer gerade nur der gefchicte Mann, ber es vermochte, den „dramatiſchen“ Komponiften fo entſprechend und nühlich zu bedienen. Sobald der Komponift felbft feine andere Anficht von der Stellung des Dichters zu ihm gewann, als er fie der Natur der Oper nach vorfand, konnte er fich ſelbſt auch nur für den eigentlichen verantwortlichen Faktor der Oper anfehen, und fo mit Recht und Fug auf dem Standpunkte Spontini’s, als dem zwedmäßigften, ftehen bleiben, da er fi die Genugthuung geben durfte, auf ihm alles Das zu leiften, was irgend den Mufifer möglich war, wenn er der Oper, als muſikaliſchem Drama, einen Anſpruch als gültige Kunftform gewahrt wiſſen wollte,

Daß im Drama felbft aber Möglichkeiten lagen, die in jener Runftform wenn fie nicht zerfallen follte gar nicht auch nur berührt werden durften, dieß ftellt fi uns jet wohl deutlich heraus, mußte dem Komponiften und Dichter jener Pe— riode aber vollitändig entgehen. Won allen dramatifhen Mög— lichkeiten konnten ihnen nur diejenigen aufitoßen, bie in jener ganz beftimmten und ihrem Weſen nad durchaus befchränften Opernmufilform zu verwirklichen waren. Die breite Ausdeh- nung, das lange Verweilen bei einem Motiv, defien der Mufiker bedurfte, um in feiner Form fich verftändfich auszufprechen, die ganze rein muſilaliſche Buthat, die ihm als Vorbereitung nöthig war, um gleichjam feine Glode in Schwung zu feßen, daß fie ertöne und namentlid) jo ertöne, daß fie einem beftimmten Charakter ausdrucksvoll entſpreche, machten es von je dem Dichter zur Aufgabe, nur mit einer ganz beftimmten Gattung von dramatifchen Entwürfen ſich zu befafien, die in fih Raum Hatten für die gedehnte, gefchraubte Gemächlichkeit, die dem Muſiker für fein Erperimentiren unerläßlfih war. Das bloß Nhetorifche, phraſenhaft Stereotype in feinem Ausdrude war für den Dichter eine Pilicht, denn auf diefen Boden alfein Tonnte der Mufifer Raum zu der ihm nöthigen, in Wahrheit aber gänz-

Die Oper und das Wefen der Muſik. 243

lich undramatifchen, Ausbreitung erhalten. Seine Helden kurz, bejtimmt und voll gedrängten Inhaltes fprechen zu lafien, hätte dem Dichter nur den Vorwurf der Unpraftifabilität feines Ge dichtes für den Komponiften zuziehen müſſen. Fühlte der Dichter ſich alſo nothgedrungen, feinen Helden, diefe banalen, nichts— fagenden Phrafen in den Mund zu legen, jo konnte er auch mit dem beften Willen von der Welt es nicht ermöglichen, den fo redenden Perjonen wirklichen Charakter, und dem Zuſam— menhange ihrer Handlungen das Siegel voller dramatifcher Wahrheit aufzubrüden. Sein Drama war immer mehr nur ein Borgeben des Drama's; alle Konfequenzen der wirklichen Abſicht des Drama's zu ziehen, durfte ihm gar nicht beifommen. Er überfegte baher, ſtreng genommen, eigentlich auch nur das Drama in die Opernſprache, jo baß er meiſtens fogar nur längft Selunne und auf ber Bühne des geſprochenen Schaufpieles bis zum Überbruß bereits bargeftellte Dramen für die Oper be- arbeitete, wie die in Paris namentlich mit den Tragödien des Theätre francais der Fall war. Die Abficht des Drama’s, die hiernach innerlich Hohl und nichtig war, ging offenkundig fomit immer nur in die Intentionen des Komponiſten über; von biefem erwartete man Das, was ber Dichter von vornherein aufgab. Ihm dem Komponiften mußte daher auch allein mur zus fallen, diefer inneren Hohlheit und Nichtigkeit des ganzen Wer- tes, fobald er fie wahrnahm, abzuhelfen; er mußte ſich alſo die unnatürliche Aufgabe zugetheilt jehen, von feinem Standpunkte aus, vom Standpunkte Desjenigen, der die vollkommen bar- gelegte dramatifche Abſicht nur vermöge bes ihm zu Gebote ftehenden Ausdrudes zu verwirklichen helfen joll, dieſe Abficht felbft zu fallen und in das Leben zu rufen. Genau genommen hatte der Muſiker demnach bedacht zu fein, dad Drama wirklich zu dichten, feine Muſik nicht nur zum Ausdrucke, fondern zum Inhalte: ſelbſt zu machen, und diefer Inhalt follte, der Natur der Sache gemäß, fein anderer als dad Drama jelbft fein. Bon hier an beginnt auf das Erkennbarfte die wunderliche Verwirrung der Begriffe vom Wefen der Muſik durch das Prä- dilat „Dramatifh“. Die Mufik, die, als eine Kunſt des Aus— drudes, bei höchſter Fülle in dieſem Ausbrude nur wahr fein Tann, bat Hierin naturgemäß ſich immer nur auf das zu bes ziehen, was fie auddrüden foll: in der Oper ift dieß ganz ent- 16*

244 Dper und Drama:

f&hieden die Empfindung des Redenden und Darftellenden, und eine Mufit, die dieß mit überzeugendfter Wirkung thut, ift ge— rade Das, was fie irgend fein fann. Eine Mufik, die aber mehr fein, ſich nicht auf einen auszubrüdenden Gegenftand beziehen, ſondern ihn ſelbſt erfüllen, d. h. dieſer Gegenſtand zugleich fein will, ift im Grunde gar feine Mufit mehr, fondern ein von Mufit und Dichtkunſt phantaftifch abſtrahirtes Unding, das fi) in Wahrheit nur ald Karrifatur verwirklichen kann. Bei allen verfehrten Beſtrebungen ift die Muſik, die irgend wirkungsvolle Mufit, wirklich auch nicht? Anderes geblieben, als Ausdrud: jenen Beftrebungen, fie zum Inhalte und zwar zum Inhalte des Drama’3 felbft zu machen, entjprang aber Das, was wir al3 ben folgerichtigen Verfall der Oper, und fomit als die offen- kundige Darlegung der gänzlihen Unnatur dieſes Kunftgenres zu erfennen haben.

War die Örundlage und ber eigentliche Inhalt der Spon- tini’fchen Oper Hohl und nichtig, und die auf ihnen fi) kund⸗ gebende mufifafifche Form bornirt und pebantifch, jo war fie in diefer Beſchränktheit doch ein aufrichtiges, in ſich Mares Be: tenntniß von Dem, was in diefem Genre zu ermöglichen fei, one die Unnatur in ihm zum Wahnfinn zu treiben. Die mo— derne Oper ift dagegen die offene Kundgebung diefes wirklich eingetretenen Wahnfinned. Um ihr Weſen näher zu ergründen, wenden wir und jet jener anderen Richtung ber Entiwidelung der Oper zu, Die wir oben als bie frivole bezeichneten, und durch deren Vermengung mit der foeben befprochenen erniten eben jener unbefchreiblich tonfufe Wechfelbalg zu Tage gefördert worben ift, den mir, nicht felten ſelbſt von anfcheinend vernünf- tigen Leuten, „moderne dramatifche Oper“ nennen hören.

I.

Schon fange vor Gluck wir erwähnten deſſen bereits ift es edel begabten, gefühlvollen Komponiften und Sängern ganz von felbft angelommen, den Vortrag der Opernarie mit innigem Ausdrude audzuftatten, bei Gefangsfertigkeit und trotz der Bir- tuofenbravour überall da, wo es Die Tertunterlage geftattete, und felbft, wo fie dieſem Ausdrucke nirgends entgegenfam, durch

Die Oper und das Wefen ber Muſik. 245

Mittheilung wirllichen Gefühles und wahrer Leidenihaft auf ihre Zuhörer zu wirken. Es Bing dieſe Erſcheinung ganz von der individuellen Aufgelegtheit der muſilaliſchen Zaftoren der Oper ab, und in ihr zeigte ſich das wahre Weſen der Muſik infomeit fiegreich über allen Formalismus, als dieſe Kunft, ihrer Natur nad, fih als unmittelbare Sprache des Herzens kundgiebt.

Wenn wir in ber Entwidelung der Oper diejenige Richtung, in welcher durch Gluck und feine Nachfolger dieje edelfte Eigen- ſchaft der Mufif grundfäglich zur Anordnerin des Drama's erhoben wurde, als die refleftirte bezeichnen wollen, fo haben wir Dagegen jene andere Richtung, in welcher namentlich auf italienifchen Operntheatern diefe Eigenjchaft bei glücklich be— gabten Mufitern ſich bewußtlos und ganz von felbft geltend machte, die naive zu nennen. Von jener ift es charakteriftiich, daß fie in Paris, als überfiedeltes Probuft, vor einem Publi- tum fi) ausbildete, das, an ſich durchaus unmuſikaliſch, mehr der wohlgeordneten, blendeuden Redeweiſe, ald einem gefühl vollen Inhalte der Rede jelbft mit Anerkennung fich zumenbet; wogegen Diefe, die naive Richtung, den Söhnen des Heimath- landes der modernen Mujif, Italiens, vorzüglich zu eigen blieb.

Bar e8 au ein Deutfcher, der diefe Richtung in ihrem höchſten Glanze zeigte, fo ward fein hoher Beruf ihm doch ge- rade nur dadurch zugetheilt, daß feine Fünftlerifche Natur von der ungetrübten, fledenlofen Klarheit eines hellen Wafjerfpie- gels war, zu welchem die eigenthümliche fchönfte Blüthe i lieniſcher Mufik ſich neigte, um ſich wie im Spiegelbilde ſelbſt zu erfchauen, zu erfennen und zu lieben. Diefer Spiegel war aber nur die Oberfläche eines tiefen, unendlichen Meeres des Sehnens und Verlangens, dad aus der unermehlichen Fülle feines Wefens fi zu feiner Oberfläche, als zu der Außerung feines Inhaltes, ausbehnte, um aus dem liebevollen Gruße der ſchönen Erſcheinung, die wie im Durfte nad Erkenntniß ihres eigenen Weſens zu ihm hinab ſich neigte, Geftalt, Form und Schönheit zu gewinnen.

Ber in Mozart den erperimentirenden Mufifer erkennen will, der von einem Verfuche zum anderen fich wendet, um z. B. das Problem der Oper zu löfen, der Tann biefem Irrthume, um ihn aufzumiegen, nur den anderen an die Geite ftellen, daß

246 Oper und Drama:

er 3. B. Mendelsfohn, wenn diefer, gegen feine eigenen Kräfte mistrauifch, ſcheu und zögernd aus weitefter Ferne nur nach und nad) fi annähernd der Oper zumandte, Naivetät zufpricht*). Der naive, wirklich begeifterte Künſtler ftürzt fi) mit enthufi- aftifcher Sorglofigfeit in fein Kunftwerf, und erft wenn dieß fertig, wenn es in feiner Wirklichkeit fich ihm barftellt, gewinnt er, aus feinen Erfahrungen, die ächte Kraft der Reflerion, die ihn allgemeinhin vor Täufhungen bewahrt, im befonderen Falle, alfo da, wo er durch Begeiſterung fi wieder zum Kunſtwerke gebrängt fühlt, ihre Macht über ihn dennod aber vollftändig wieber verliert. Von Mozart ift mit Bezug auf feine Lauf: bahn al3 Operntomponift Nichts charakteriftifcher, al3 die unbe- forgte Wahllofigfeit, mit der er fi) au feine Arbeiten machte: ihm fiel e8 fo wenig ein, über den der Oper zu Grunde Tiegen- den äfthetifchen Sfrupel nachzudenken, daß er vielmehr mit größter Unbefangenheit an die Kompofition jedes ihm aufgege- benen Opernterted fich machte, fogar unbefünmert darum, ob diefer Tert für ihn, al reinen Muſiker, dankbar fei oder nicht. Nehmen wir alle feine hier und da aufbewahrten äfthetifchen Bemerkungen und Ausſprüche zufammen, fo verfteigt all’ feine Neflerion gewiß fich nicht höher, als feine berühmte Definition von feiner Nafe. Er war fo ganz und vollftändig Mufiter, und Nichts als Mufiter, daß wir an ihm am allererfichtlichten und überzeugendften die einzig wahre und richtige Stellung des Mu- filer8 aud zum Dichter begreifen können. Das Wichtigfte und Entfcheidenfte für die Mufit leiftete er unbeftreitbar gerade in der Oper, in der Oper, auf deren Geftaltung mit gleichſam dichterifcher Machtvollfommenheit einzuwirken ihm nicht im Ent» fernteften beifam, fondern in der er gerade nur Daß leiftete, mad er nad} rein mufitalifhem Vermögen leiften konnte, dafür aber eben durch getreuefte3, ungetrübteftes Aufnehmen ber dich- terifchen Abfiht wo und mie fie vorhanden war dieſes fein rein muſikaliſches Vermögen zu folder Fülle ausbehnte, daß wir in feiner feiner abfolut muſikaliſchen Kompofitionen, nameutlich auch nicht in feinen Juſtrumentalwerken, die muſi— tatiſche Runft von ihm fo weit und reich entwidelt fehen, als in

*) Beide thut der, in ber Einleitung erwähnte, Verfaſſer des Artikels über die „moderne Oper.

Die Oper und dad Weſen der Mufit. 247

feinen Opern. Die große, edle und finnige Einfalt feines rein mufifalifhen Inftinktes, d. h. des ummilltürlichen Innehabens des Wejens feiner Kunſt, machte e8 ihm fogar unmöglih, da als Komponift entzüdende und beraufchende Wirkungen herbor- zubringen, wo die Dichtung matt und unbedeutend war. Wie wenig verftand dieſer reichjtbegabte aller Mufiter das Kunftftüd unferer modernen Mufitmacher, auf eine fchale und unwürdige Grundlage golbflimmernde Mufittgürme aufzuführen, und ben Hingerifjenen, Begeifterten zu fpielen, wo alles Dichtwert hohl und leer ift, um fo recht zu zeigen, daß der Mufifer der wahre Hauptkerl fei und Alles machen fünne, felbft aus Nichts Etwas erfchaffen ganz wie ber liebe Gott! O wie ift mir Mozart innig lieb und hochverehrungswürbig, daß es ihm nicht möglich war, zum „Titus“ eine Mufit wie die des „Don Juan“, zu „Cosi fan tutte“ eine wie die des „Figaro“ zu erfinden: wie ſchmählich hätte dieß die Muſik entehren müflen! Mozart machte immerfort Mufif, aber eine [höne Muſik konnte er nie ſchreiben, als wenn er begeiftert war. Mußte dieſe Vegeifte- rung von innen, aus eigenem Vermögen kommen, fo ſchlug fie bei ihm doch nur dann heil und leuchtend hervor, wenn fie von außen entzündet wurde, wenn dem Genius göttlichfter Liebe in ihm der liebenswerthe Gegenftand fich zeigte, den er, brünftig feldftvergeffen, umarmen konnte. Und fo wäre ed gerade der abſoluteſte aller Mufifer, Mozart, gemefen, der längſt ſchon das Opernproblem uns Har gelöft, nämlich das wahrſte, ſchönſte und vollfommenfte Drama dichten geholfen hätte, wenn eben der Dichter ihm begegnet wäre, dem er als Muſiker gerade nur zu helfen gehabt haben würde. Der Dichter begegnete ihm aber nicht: bald reichte ihm nur ein pedantifch langweiliger, oder ein frivol aufgewedter Operntertmadher feine Arien, Du— etten und Enfembleftüde zur Rompofition bar, die er dann, je nad der Wärme, die fie ihm erwecken konnten, fo in Mufit fegte, daß fie immer den entfprechendften Ausdrud erhielten, deſſen fie nad .ihrem Inhalte irgend fähig waren.

So hatte Mozart nur das unerjhöpfliche Vermögen der Mufit dargethan, jeder Anforderung des Pichters an ihre Aus— drudsfähigkeit in undenklichfter Fülle zu entfprechen, und bei ‚feinem ganz unrefleftirten Verfahren Hatte ber Herrliche Mufiter auch im der Wahrheit des dramatijchen Ausbrudes, in der un-

248 Oper und Drama:

endlichen Mannigfaltigfeit feiner Motivirung, dieſes Vermögen der Mufit in bei weiten reicherem Maaße aufgededt, als Gluck und alle feine Nachfolger. Etwas Grundfägliches war aber in feinem Wirken und Schaffen jo wenig ausgeſprochen, daß bie mächtigen Schwingen feine Genius das formelle Gerüft der Oper eigenilich ganz unberührt gelaffen Hatten: er Hatte in die Gormen der Oper nur den Feuerſtrom feiner Muſik ergoffen; fie jelöft waren aber zu unmächtig, diefen Strom in fi} feitzubalten, fondern er fioß aus ihnen dahin, wo er in immer freierer und unbeengenderer Einhegung feinem natürlichen Verlangen nad fi ausdehnen konnte, bis wir ihn in den Symphonieen Beet hoven's zum mächtigen Meere angeſchwollen wieberfinden. Wäh- rend in der reinen Inſtrumentalmuſik die eigenfte Fähigkeit der Mufit fih zum ungemefjenften Vermögen entwidelte, blieben jene Opernformen, gleich ausgebranntem Mauerwerk, nadt und froftig in ihrer alten Geftalt ftehen, harrend des neuen Gaftes, der feine flüchtige Heimath in ihnen auffhlagen follte. Nur für die Gefgichte der Muſik allgemeinhin ift Mozart von fo über- raſchend wichtiger Bedeutung, keinesweges aber für die Geſchichte der Oper, als eine3 eigenen Kunſtgenre's, im Beſonderen. Die Oper, die in ihrem unnatürlichen Dafein an feine Gefege wirt: licher Nothiwendigfeit für ihr Leben gebunden mar, konnte jedem erſten beften Mufifabenteurer als gelegentliche Beute verfallen.

Dem unerquidlichen Anblide, den das Kunftichaffen der ſo— genannten Nachfolger Mozart's darbietet, können wir hier füg- lid) vorbeigehen. Eine ziemliche Reihe von Komponiften bildete fid) ein, Mozart's Oper fei etwas durch die Form Nachzuahmen: des, wobei natürlich überfehen wurde, daß diefe Form an ſich Nichts, und Mozart’3 mufifaliiher Geift eben Alles gemefen war: die Schöpfungen des Geiſtes durch pedantifche Anordnun- gen nachzukonſtruiren, ift aber noch Niemand gelungen.

Nur eines blieb in diefen Formen noch auszuſprechen übrig: hatte Mozart in ungetrübtefter Naivetät ihren "rein mufikfünft- leriſchen Gehalt zu höchſter Blüthe entwidelt, fo war der eigent- liche Grund des ganzen Opernivefens, dem Duell feiner Entftehung gemäß, mit unverhülltefter, nadtefter Offenheit in denſelben For—

Die Oper und dad Weſen ber Mufit. 249

men noch kundzuthun; e8 war der Welt noch deutlih und un- ummunden zu fagen, welchem erlangen und melden Anfor— derungen an die Kunft eigentlich die Oper Urfprung und Dajein verbanfe; daß dieſes Verlangen keinesweges nach dem wirklichen Drama, fondern nad) einem durch den Apparat der Bühne nur gemürzten keinesweges ergreifenden und innerlich bes lebenden, ſondern nur beraufchenden und oberflächlich ergegen- den Genuffe ausging. In Stalien, mo au dieſem noch unbewußten erlangen die Oper entjtanden war, follte end» lich mit vollem Bewußtſein ihm auch entjprochen werden.

Wir müffen hier näher auf das Welen der Arie zurüd- tommen.

So lange Arien komponirt werden, wird der Grundcharal: ter dieſer Kunftform ſich immer als ein abfolut muſikaliſcher herauszuſtellen haben. Das Volkslied ging aus einer unmittel- baren, eng unter fi) verwachfenen, gleichzeitigen Gemeinwirk— ſamkeit der Dichtkunft und der Tonkunſt hervor, einer Kunft, die wir im Gegenfae zu ber von uns einzig faſt nur noch begrif- fenen, abfichtlich geftaltenden. Kulturkunft, kaum Kunft nennen möchten, fondern vielleicht durch: unwillkürliche Darlegung des Volksgeiſtes durch künſtleriſches Vermögen, bezeichnen dürften. Hier ift Wort und ZTondichtung Eind. Dem Volke fällt es nie ein, feine Lieder ohne Tert zu fingen; ohne den Wortvers gäbe es für dad Volf keine Tonweife. Variirt im Laufe der Zeit und bei verfchiedenen Abftufungen des Volksſtammes die Tonweiſe, fo variirt ebenfo auch der Wortverd; irgendwelche Trennung ift ihm unfaßlich, beide find ihm ein zueinandergehöriges Ganzes, wie Mann und Weib. Der Lurusmenfc hörte diefem Volksliede nur auß der Ferne zu; aus dem vornehmen Palafte lauſchte er deu vorüberziehenden Schnittern, und was von der Weife herauf in feine prunkenden Gemächer drang, war nur die Tonweiſe, während die Dichtweife für ihm da unten verhallte. War diefe Tonweiſe der entzüdende Duft der Blume, der Wortvers aber der Leib dieſer Blume felbft mit all’ feinen zarten Zeugungs- organen, jo zog der Luxusmenſch, der einfeitig nur mit feinen Geruchönerven, nicht aber gemeinfinnig mit dem Auge zugleich genießen wollte, diejen Duft von der Blume ab, und beftillirte Tünftlich den Parfüm, den er auf Fläſchchen zog, um nad Bes lieben ihn willkürlich bei fich führen zu können, ſich und fein

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prachtvolles Geräth mit ihm zu neßen, wie er Luft hatte. Um fi auch an dem Anblicke der Blume felbft zu erfreuen, Hätte er nothwendig näher Hinzugehen, auß feinem Palaſte auf bie Waldwieſe Herabfteigen, durch Äſte, Zweige und Blätter ſich durchdrängen müſſen, wozu der Vornehme und Behagliche kein Verlangen hatte. Mit dieſem wohlriechenden Subſtrate be— ſprengte er nun auch die öde Langeweile feines Lebens, die Hohl- heit und Nichtigkeit feiner Herzendempfindung, und das Fünft« leriſche Gewächs, das diefer unnatürlichen Befruchtung entſproß, war nicht? Underes, als die Opernarie. Sie blieb, mochte fie in noch fo verfchiedenartige willfürliche Verbindungen gezivun- gen werden, doch ewig unfruchtbar, und immer nur fie felbft, Das, was fie war und nicht anders fein Eonnte: ein bloß mufi- kaliſches Subftrat. Der ganze Iuftige Körper der Arie verflog in die Melodie; und diefe mard gefungen, endlich gegeigt und ge- pfiffen, ohne nur irgend noch ſich anmerfen zu laſſen, daf ihr ein Wortvers oder gar Wortfinn unterzuliegen habe. Je mehr diefer Duft aber, um ihm irgendwelchen Stoff zum törperlichen Anhaften zu bieten, zu Experimenten aller Urt fi hergeben mußte, unter denen das pomphaftefte das ernftliche Worgeben des Drama's war, defto mehr fühlte man ihn ‚von al’ der Miſchung mit Sprödem, Srembartigem angegriffen, ja an wollüftiger Stärke und Lieblichfeit abnehmen. Der diefem Dufte nun, uns natürlich wie er war, wieder einen Körper gab, der, nachgemacht wie er war, doch wenigſtens fo tänfchend wie möglich jenen na- türlihen Leib nachahmte, der einft dieſen Duft aus feiner natür- lichen Zülle, als den Geift feines Wefens, in die Lüfte ausſandte; der ungemein geſchickte Verfertiger fünftlicher Blumen, die er aus Sammt und Seide formte, mit täufchenden Farben bemalte, und deren trodenen Kelch er mit jenem Parfümfubftrate nete, daß es aus ihm zu duften begann, wie fait aus einer wirklichen Blume; biefer große Künftler war Joachimo Roffini. Bei Mozart Hatte jener melodiſche Duft in einer herrlichen gefunden, ganz mit fi einigen, künſtleriſchen Menfchennatur einen fo nährenden Boden gefunden, daß er aus ihr heraus felbit wieder bie ſchöne Blume ächter Kunſt trieb, die und zu innigftem Seelenentzüden Hinreißt. Auch bei Mozart fand er jedod nur diefe Nahrung, wenn das ihm Verwandte, Gefunde, Reinmenfd- liche als Dichtung zur Vermählung mit feiner ganz muſikaliſchen

Die Oper und das Weſen der Mufit. 251

Natur ſich ihm darbot, und faft war es nur glüdficher Zufall, wenn wiederholt dieſe Erjcjeinung ihm entgegen fam. Wo Mo- zart von diefem befruchtenden Gotte verlafjen war, da vermochte aud das Künftliche jenes Duftes fi nur mühſam, und doch nur ohne wahres, nothiwendige Leben, wiederum künftlich zu er- halten; die noch jo aufwandvoll gepflegte Melodie erkrankte am Ieblofen, falten Sormalismus, dem einzigen Erbtheile, das der früh Verſcheidende feine Erben Hinterlafjen konnte, ba er im Tode eben fein Leben mit fich nahm.

Was Rofjini in der erſten Blüthe feiner üppigen Jugend um fid) gemahrte, war nur die Ernte des Todes. Blickte er auf die ernfte frangöfifche, fogenannte dramatiſche Oper, fo erkannte er mit dem Scharfblide jugendlicher Lebensluſt eine prunfende Leiche, die felbft der in prachtvoller Einfamkeit dahinfchreitende Spontini nicht mehr zu beleben vermochte, da er wie zur feierlichen Selbftverherrlihung ſich bereits ſelbſt lebendig ein: balfamirte. on keckem Inftinkte für das Leben getrieben, riß NRoffini auch diefer Leiche die pomphafte Larve vom Geficht, wie um ben Grund ihres einftigen Lebens zu erfpähen; durch alle Pracht der ftolz verhüllenden Gewänder hindurch entdeckte er da dieſes den wahren Lebensgrund auch diefer gewaltig ſich Ge- bahrenden —: die Melodie. Blidte er auf die heimifche italienifhe Oper und das Werk der Erben Mozart's, nichts An: deres gewahrte er, ald wiederum den Tod, den Tod in in Halt8lofen Formen, ald deren Leben ihm die Melodie aufging, bie Melodie ſchlechtweg, ohne alle das Vorgeben von Cha— ralter, das ihm durchaus Heuchlerifch bünfen mußte, wenn er auf Das fah, was ihm Unfertiges, Gewaltſames und Halbes ent- fprungen war.

Leben wollte aber Ruffini, und um dieß zu können, begriff er fehr wohl, daß er mit Denen Ieben müſſe, die Ohren hatten, um ihn zu hören. Als das einzige Lebendige in der Oper war ihm die abfolute Melodie aufgegangen: fo brauchte er bloß bar- auf zu achten, welche Art von Melodie er anfchlagen müßte, um gehört zu werden. Über den pedantifchen Partiturenktam ſah er hinweg, horchte dahin, wo die Leute ohne Noten fangen, und was er da hörte, war Dad, was am unmillfürlichiten aus dem ganzen Opernapparate im Gehöre haften geblieben war, die nadte, obrgefällige, abjolut melodifhe Melodie, d. 5.

252 Oper und Drama:

die Melodie, die eben nur Melodie war und nichts Anderes, die in die Ohren gleitet man weiß nicht warum, die man nadfingt man weiß nicht warum, die man heute mit der vun geftern vertaufcht und morgen wieder vergißt man weiß auch nicht warum, die ſchwermüthig Mingt, wenn wir luſtig find, die Iuftig Mingt, wenn wir verftimmt find, und bie wir und doch vorträllern wir willen eben nicht warum.

Diefe Melodie ſchlug denn Roffini an, und fiehe da! das Geheimniß der Oper warb offenbar. Was Reflerion und äfthetifche Spekulation aufgebaut Hatten, riſſen Roſſini's Opern- melobieen zufammen, daß es wie mefenlofes Hirngefpinnft ver- wehte. Nicht anders erging es der „dramatiſchen“ Oper, wie der Wiffenfchaft mit den Problemen, deren Grund in Wahrheit eine irrige Anſchauung war, und die bei tiefftem Forſchen immer nur irriger und unlösbarer werden müffen, bis endlich das Alexandersſchwert fein Werk verrichtet, und den Leberfnoten mit- ten durchhaut, daß die taufend Riemenenden nad) allen Seiten Hin auseinanderfallen. Dieß Alexandersſchwert ift eben die nadte That, und eine ſolche That vollbrachte Roffini, als er alle8 Opern- publitum der Welt zum Beugen der ganz beitimmten Wahrheit machte, daß dort die Leute nur „hübfche Melodieen“ Hören wollten, wo es irrenden Künftlern zuvor eingefallen war, durch den mufitalifhen Ausdruck den Inhalt und die Abficht eines Drama’ fundzuthun.

Alle Welt jubelte Roffini für feine Melodieen zu, ihm, der es ganz vortrefflich verſtand, aus der Verwendung diefer Me- lodieen eine beſondere Kunſt zu machen. Alles Organiſiren der Form ließ er ganz bei Seite; die einfachſte, trodenfte und über- fichtlihfte, die er nun vorfand, erfüllte er dagegen mit dem ganzen folgerichtigen Juhalte, deffen fie einzig von je beburft hatte —: narkotiſch-berauſchende Melodie. Ganz unbefümmert um die $orm, eben weil er fie durchaus unberührt ließ, wandte ex fein ganze Genie nur zu den amüfanteften Gaufeleien auf, die er innerhalb diefer Formen aufführen ließ. Den Sängern, die zuvor auf dramatiichen Ausdrud eined langweiligen und nihtöfagenden Worttertes ſtudiren mußten, fagte er: „Macht mit den Worten, was Ihr Luft Habt, vergeßt aber vor Allem nur nit, für Inftige Läufe und melodiſche Entrechats Euch tüchtig applaudiren zu laffen“. Wer gehorchte ihm lieber, ald die Sän-

Die Oper umd das Wefen ber Muſik. 253

ger? Den Inftrumentiften, die zuvor abgerichtet waren, pa: thetifche Gefangsphrajen fo intelligent wie möglich in itberein- ftimmendem Gejammtfpiele zu begleiten, jagte er: „Macht's Euch leicht, vergeßt vor Allem nur nicht, da, mo ic) Jedem von Euch Gelegenheit dazu gebe, für Eure Privatgeſchicklichleit Euch ges hörig beflatichen zu laſſen“. Wer dankte ihm eifriger, als die Inftrumentiften? Dem Operntertdichter, der zuvor unter ben eigenfinnig befangenen Anordnungen des dramatifhen Kompo— niften Blut geſchwitzt Hatte, fagte er: „Freund, mad’, wad Du Luft Haft, denn Dich brauche ic) gar nicht mehr“. Wer war ihm verbundener für folhe Enthebung von undankbarer, ſaurer Mühe, als der Operudichter?

Wer aber vergötterte für alle diefe Wohlthaten Roffini mehr, als die ganze civilificte Welt, fo weit fie die Operntheater fafjen fonnten? Und wer hatte mehr Grund dazu, als fie? Wer mar, bei fo vielem Vermögen, jo grundgefällig gegen fie, als Roffini? Erfuhr er, daß das Publikum diefer einen Stadt befonder gern Läufe der Sängerinnen hörte, da8 der anderen Dagegen lieber fchmachtenden Geſang, fo gab er für die erfte Stadt feinen Sängerinnen nur Läufe, für die zweite nur ſchmach— tenden Gefang. Wußte er, daß man hier gern die Trommel im Orcheſter hörte, fo ließ er fogleid) Die Ouvertüre zu einer länd- lichen Oper mit Trommelwirbel beginnen; wurde ihm gefagt, daß man dort leidenfhaftlih das Erejcendo in Enſembleſätzen liebte, fo ſetzte er feine Oper in der Form eines beftändig mieder- fehrenden Ereſcendo's. Nur einmal hatte er Grund, feine GSefälligfeit zu bereuen. Für Neapel rieth man ihm, forgfältiger in feinem Satze zu verfahren: feine folider gearbeitete Oper fprad nicht an, und Roffini nahm ſich vor, nie in feinem Leben wieder auf Sorgfalt bedacht zu fein, felbft wenn man ihn dieß anriethe.

Überfah Roffini den ungeheuten Erfolg feiner Behandlung der Oper, fo ift e8 ihm nicht im Mindeften als Eitelfeit und an- maaßender Hochmuth zu deuten, wenn er lachend ben Leuten in das Geficht rief, er habe das wahre Geheimniß der Oper gefun- den, nad; welchem alle feine Vorgänger nur irgend umbergetappt. Wenn er behauptete, e3 würbe ihn ein Leichtes fein, die Opern aud feiner größten Vorgänger, und gelte es ſelbſt Mozart’8 „Don Juan“, vergeffen zu machen, und zwar einfach dadurch,

254 Dper und Drama:

daß er daſſelbe Sijet auf feine Weiſe wieder fomponire, fo ſprach ſich hierin keinesweges Arroganz, jondern der ganz fichere Inftintt davon aus, was das Publitum eigentlich von der Oper verlange. In der That würden unfere Mufifreligiöfen der Er- ſcheinung eines Roffini’fhen „Don Juan“ nnr zu ihrer vollften Schmach zuzufehen gehabt haben; denn mit Sicherheit ließe fich annehmen, daß Mozart’3 „Don Juan“ vor dem eigentlichen, ent» ſcheidenden Theaterpublitum wenn nicht auf immer, fo doch für eine längere Zeit dem Roſſiniſchen hätte weichen müſſen. Denn dieß ift der eigentliche Ausfchlag, den Roffini in der Opern- frage gab; er appellirte mit Haut und Haar der Oper au das Publikum; er machte diefed Publitum mit feinen Wünfchen und Neigungen zum eigentlichen Faltor der Oper.

Hätte das Opernpublifum irgendwie ben Charakter und die Bebeutung des Volkes, nad) dem richtigen Sinne dieſes Wor— te3, an fich gehabt, fo müßte ung Roffini als der allergründ- lichſte Revolutionär im Gebiete der Kunft erfcheinen. Einem Theile unferer Gefellfchaft gegenüber, der aber nur als ein un« natürlicher Auswuchs des Vvoikes und in feiner fozialen Über- flüffigfeit, ja Schädlichfeit, nur als das Raupenneſt anzufehen ift, welches die gefunden, nährenden Blätter des natürlichen Vollsbaumes zernagt, um aus ihm höchſtens die Lebenskraft zu erlangen, als Iuftige, gaufelnde Schmetterlingsfchaar ein ephe- mered, luxuriöſes Dafein dahinzuflattern, einem folden Volksabhube gegenüber, der auf einem zu fehmußiger Rohheit verſunkenen Bodenſatze ſich nur zu Iafterhafter Eleganz, nie aber zu wahrer, ſchöner menſchlicher Bildung erheben konnte, alfo um ben bezeichnendften Ausdrud zu geben unferem Opern- publikum gegenüber, war Rojfini jedoh nur Reaktionär, während wir lud und jeine Nachfolger als methodifche, prin⸗ zipielle, nach ihrem weſentlichen Erfolge machtloſe, Revolu- tionäre anzufehen Haben. Im Namen des Iuguriöfen, in der That aber einzig wirklichen Inhalte der Oper und der kon- fequenten Enttwidelung deſſelben, reagirte Joachimo Roffini ebenfo erfolgreich gegen die boftrinären Revoiutionsmaximen Glucks, ald Fürft Metternich, fein großer Proteftor, im Namen des unmenfchlichen, in Wahrheit aber einzigen Inhaltes des euro- päifhen Staatsweſens und der folgerichtigen Geltendmachung deſſelben, gegen die boftinären Mazimen der liberalen Revo—

Die Oper und bad Weſen ber Mufit. 255

Iutionäre reagirte, welche innerhalb dieſes Staatsweſens, und ohne gänzliche Aufhebung feines unnatürlichen Inhaltes, in den- felden Formen, die diefen Inhalt ausſprachen, das Menfchliche und ernünftige herftellen wollten. Wie Metternich den Staat mit vollem Rechte nicht anders, als unter der abfoluten Mon- archie begreifen konnte, jo begriff Roffini mit nicht minderer Konfequenz die Oper nur unter der abfoluten Melodie,

Beide fagten: „Wollt Ihr Staat und Oper, hier habt Ahr Staat und Oper, anbere giebt es nicht!“

Mit Roffini ift die eigentliche Gefchichte der Oper zu Ende. Sie war zu Ende, als der unbewußie Keim ihres Weſens fich zu nadtejter, bewußter Fülle enttwidelt hatte, der Mufiker als der abfolute Faktor biefes Kunſtwerkes mit unumfchränkter Machtvollkommenheit, und der Gefchmad des Theaterpublifums als die einzige Richtſchnur für fein Verhalten anerkannt war. Sie war zu Ende, ald jedes Vorgeben des Drama's bis zur Grundfäglichkeit thatfächlich befeitigt, den fingenden Darftellern die Ausübung ohrgefälligfter Gefangsvirtuofität als ihre einzige Aufgabe, und ihre hierauf begründeten Anfprüche an den Kom- poniften als ihr unveräußerlichſtes Necht zuerlannt waren. Sie war zu Ende, als die große mufifalische Öffentlichkeit unter der vollſtaͤndig charakterlofen Melodie einzig den Inhalt der Mufil, in dem loſen Bufammenhange der Operntonftüde einzig das Ge füge der mufifalifchen Form, unter der narkotifch beraufchenden Wirkung eines Opernabends einzig das Wefen der Mufit ihrem Eindrude nad; allein noch begriff. Sie war zu Ende an jenem Tage, al3 der von Europa vergötterte, im üppigften Schooße des Luxus dahinlächelnde Roffini es für geziemend hielt, dem weltſcheuen, bei fich verftedten, mürriſchen, für balbverrüdt ge- haltenen Beethoven einen Ehrenbeſuch abzuftatten, den diefeer nicht erwiderte. Was mochte wohl das lüftern ſchweifende Auge bed wollüftigen Sohnes Italia's gemwahren, als es in den unheimlichen Glanz des ſchmerzlich gebrochenen, fehnfuchtfiechen und doch tobeömuthigen Blides feined un begreiflichen Gegners unmwillfürlich ſich verſenkte? Schüttelte ſich ihm das furchtbar wilde Kopfhaar des Meduſenhauptes, das Nie- mand erfhaute, one zu fterben? So viel ift gewiß, mit Rof- fini ftarb die Oper.

256 Dper und Drama:

Bon der großen Stadt Paris aus, in der bie gebildetſten Kunfttenner und Kritiker noch Heute nicht begreifen fönnen, welch' ein Unterfchieb zwiſchen zwei berühmten Komponiften, wie Beet- hoven und Roffini, ftattfinden ſolle, als etwa der, daß dieſer fein himmlifches Genie auf die Kompofitionen von Opern, jener dagegen auf Symphonieen verwandt habe, von diejem fplen- diden Sige moderner Muſikweisheit aus follte dennoch der Oper nod eine verwunderliche Lebensverlängerung bereitet werben. Der Hang am Dafein ift urkräftig in Allem, was ba ift. Die Oper war einmal da, wie das Byzantiniſche Kaifertfum, und ganz wie dieſes beftand, wird fie beſtehen, jo lange irgend bie unnatürlichen Bedingungen vorhanden bleiben, die fie inner- lich tobt immer noch am Leben erhalten, bis enblich die ungezogenen Türfen fonımen, die einft ſchon dem Byzantiniſchen Reiche einmal ein Ende machten und fo grob waren, in ber prunfend Heiligen Sophienfirche ihre wilden Roſſe zur Krippe zu führen.

Als Spontini mit fi) die Oper für tobt anfah, irrte er fich, weil er die „dramatifche Richtung“ der Oper für ihr Wefen hielt: er vergaß die Möglichfeit eines Roffini, der ihm volltom- men das Gegentheil beweifen könnte. Als Roffini mit bei weitem größerem Rechte die Oper mit fi für fertig Hielt, irrte er ſich zwar weniger, weil er dad Weſen der Oper erkannt, deut- lich dargethan und zur allgemeinen Geltung gebracht hatte, und font annehmen fonute, nur noch nachgeahmt, nicht aber mehr überboten zu werben. Dennoch täufchte aber aud) er ſich dar- über, daß aus allen biöherigen Richtungen der Oper nicht eine Karrifatur zufammengefegt werden fünnte, die nicht nur bon der Öffentlichteit, fondern aud von kunſtkritiſchen Köpfen als eine neue und weſentliche Geftalt der Oper aufgenommen fein dürfte; denn er wußte zur Beit feiner Vlüthe noch nicht, daß e3 den Ban- fiers, für Die er bis dahin Muſik gemacht Hatte, einmal einfallen würde, ſelbſt auch zu fomponiren.

O wie Ärgerte er fich, der fonft fo leichtfinnige Meifter, wie ward er 588 und übelgelaunt, fi, wenn auch nicht an Genialität, dod in der Gefchiclichkeit der Ausbeutung der öffentlichen Kunſt⸗ nichtöwürbigleit übertroffen zu fehen! O wie war er ber „dis- soluto punito“, die andgeftochene Kourtifane, und von welchen ingrimmigen Verdruſſe ob dieſer Schmach war er erfüllt, als er

Die Oper und das Weſen der Mufit. 257

dem Pariſer Operndirektor, der ihn bei augenblicklich eingetre- tener Windftille einlud, den Parifern wieder Etwas vorzublafen, anttwortete, er würde nicht eher zurüdfommen, als bis dort „die Zuden mit ihrem Sabbath fertig wären!“ Er mußte er- tennen, daß, fo lange Gottes Weißheit die Welt regiert, Alles feine Strafe findet, ſelbſt die Uufrichtigfeit, mit der er ben Leuten gejagt Hatte, was an der Oper wäre, und ward, um mohl- verdiente Buße zu tragen, Fiſchhändler und Kirchenkomponiſt.

Nur auf weiterem Ummege können wir jedoch zur berftänd- lichen Darftellung des Weſens der modernſten Oper gelangen.

III.

Die Geſchichte ber Oper ift ſeit Roſſini im Grunde nichts An- deres mehr, ald die Gedichte der Opernmelobdie, ihrer Deu- tung dom künſtleriſch fpefulativen, und ihres Vortrages vom wirkungsfüchtigen Standpunfte der Darftellung aus.

Roſſini's don ungeheurem Erfolge gefröntes Verfahren hatte unmwillfürlich die Komponiften vom Aufſuchen des drama- tifchen Inhaltes der Arie, und von dem Verſuche, ihr eine fon- fequente dramatiſche Bedeutung einzubilden, abgezogen. Das Weſen der Melodie feldft, in welde fich das ganze Gerüft der Arie aufgelöft hatte, war es, was jet den Inſtinkt wie Die Spekulation de3 Komponiften gefangen nahm. Man mußte empfinden, daß felbft an der Arie Gluck's und feiner Nachfolger das Publitum nur in dem Grabe fich erbaut hatte, al3 die durch die Tertunterlage bezeichnete allgemeine Empfindung im rein me— Todifchen Theile diefer Arie einen Ausdruck erhalten Hatte, der wiederum in feiner Allgemeinheit fih nur als abfolut ohrgefäl- lige Tonweiſe kundgab. Wird uns dieß an Glud ſchon volltom- men deutlich, fo wird an dem Ießten feiner Nachfolger, Spon- tini, e8 und zum Handgreifen erfichtlih. Sie Alle, dieſe ernften mufitalifchen Dramatiker, hatten ſich mehr oder minder felbft belogen, wenn fie die Wirkung ihrer Mufit weniger der rein melodifchen Effenz ihrer Arien, als der Verwirklichung der, von ihnen benjelben untergelegten, dramatiſchen Abficht zuſchrieben. Das DOperntheater war zu ihrer Beit, und namentlich in Paris, der Sammelplag äjthetifher Schöngeifter und einer vornehmen

Richard Wagner Gel. Schriften ILL. 17

258 Oper und Drama:

Welt, die fi darauf fteifte, ebenfalls äfthetifh und ſchöngeiſtig zu fein. Die ernfte äfthetifche Intention der Meifter ward von diefem Publikum mit Reſpekt aufgenommen; die ganze Glorie des fünftlerifchen Geſetzgebers ftrahlte um den Mufifer, der es unternahm, in Tönen das Drama zu fchreiben, und fein Publi— tum bildete fid) wohl ein, von der dramatiſchen „Deflamation“ ergriffen zu fein, während es in Wahrheit doch nur von dem Neize der Arienmelodie Hingerifien war. ALS das Publikum, durch Roffini emanzipirt, fi) dieß endlich offen und unummwun- den eingeitehen durfte, beitätigte es fomit eine ganz unläugbare Wahrheit und rechtfertigte dadurch die ganz folgerichtige und natürliche Erfcheinung, daß da, wo nicht nur der äußerlichen Un- nahme, fondern auch der ganzen künftlerifchen Anlage des Kunft- werkes gemäß, die Muſik die Hauptſache, Bwed und Ziel war, die nur helfende Dichtkunſt und alle durch fie angebeutete dra- matifche Abficht wirkungslos und nichtig bleiben müfle, Dagegen die Mufif alle Wirkung durch ihr eigenftes Vermögen ganz allein hervorzubringen habe. Alle Äbſicht, fich felbft dramatiich und charakteriſtiſch geben zu mollen, konnte die Mufit nur in ihrem wirklichen Wefen entftellen, und dieſes Wefen fpricht ſich, ſobald die Muſil zur Erreichung einer Höheren Abſicht nicht nur helfen und mitwirfen, fondern für ſich ganz allein wirken will, nur in der Melodie, ald dem Ausbrude einer allgemeinen Empfin— dung, aus.

Allen Operntomponiften mußte durch Roſſini's unmwider- Tegliche Erfolge dieß erfihtlidh werden. Stand tiefer fühlenden Mufikern Hiergegen eine Erwiderung offen, jo konnte es bloß die fein, daß fie den Charakter der Roffini’schen Melodie nit nur als feiht und ungemiüthlich, fondern als das Weſen der Melo- die überhaupt nit erſchöpfend begriffen. Es mußte ſolchen Mufifern die fünftlerifche Aufgabe fich darſtellen, der unftreitig allmächtigen Melodie den ganzen vollen Ausdrud ſchöner menfch- licher Empfindung zu geben, der ihr ureigen ift; und in den Streben, diefe Aufgabe zu löfen, fehten fie die Reaktion Nof- ſini's über das Wefen und die Entftehung der Oper hinaus bis zu dem Duelle fort, aus dem aud) die Arie wiederum ihr tünftliche8 Leben gefchöpft Hatte, bis zur Reftauration der urfpränglihen Tonweiſe des Volksliedes.

Von einem deutfchen Mufifer ward diefe Umwandelung

Die Oper und das Weſen ber Mufit. 259

der Melodie zuerft und mit auferorbentlihem Erfolge in das Leben gerufen. Karl Maria von Weber gelangte zu feiner Kimftlerifchen Reife in einer Epoche geſchichtlicher Entwidelung, wo ber erwachte Freiheitstrieb fi) weniger no, in den Men⸗ ſchen, als folen, fondern in den Völkern, ald nationalen Mafjen, fundgab. Pas Unabhängigfeitägefühl, das in der Po- litit fich noch nicht auf das Reinmenſchliche bezog, als reinmenfche liches Unabhängigfeitögefühl fi daher auch noch nicht als ab» ſolut und unbedingt erfaßte, fuchte, wie fich felbft unerklärlich, und mehr zufällig als nothwendig erwedt, noch nach Berech- tigungsgründen, und glaubte dieſe in der nationalen Wurzel der Volker finden zu bürfen. Die Hieraus entftehende Bewegung glich in Wahrheit weit mehr einer Rejtauration, als einer Revo— Iution; fie gab ſich im ihrer Außerften Verirrung als Sucht der Wieberherftellung bes Alten und Verlorenen fund, und erjt in der neueften Zeit haben wir erfahren dürfen, wie diefer Irrtyum nur zu neuen Seffeln für unfere Entwidelung zur wirklich menfch- lien Sreiheit führen fonnte: dadurch, daß wir dieß erfennen mußten, find wir nun aber auch mit Bemußtfein auf die rechte Bahn getrieben worden, und zwar mit ſchmerzlicher, aber Heil- famer Gewalt.

Ih Habe nicht im Sinne, hier die Darlegung des Weſens der Oper als im Einflange mit unferer politifchen Entwidelung ftehend zu geben; der willfürlihen Wirkung der Phantafie ift hier ein zu beliebiger Spielraum geboten, als daß bei folchem Be— ginnen nicht die abſurdeſten Abenteuerlichteiten außgehedt wer: ben könnten, wie es denn aud) in umerbaulichiter Fülle im Bezug auf diefen Gegenftand bereit3 gefchehen ift. Es liegt mir vielmehr daran, das Unnatürliche und Widerſpruchsvolle dieſes Kunſtgenre's, fowie feine offenfundige Unfähigkeit, die in ihm vorgegebene Abficht wirklich zu erreichen, einzig aus feinem Weſen ſelbſt zur Erklärung zu bringen, Die nationale Richtung aber, die in der Behandlung der Melodie eingefchlagen wurde, hat im ihrer Bedeutung und Verirrung, endlich in ihrer immer Mlarer werdenden und ihren Irrthum kundgebenden Zerfplit- terung und Unfruchtbarkeit, zu viel Übereinftimmendes mit den Irrthümern unferer politischen Entwickelung in den leßten vierzig Jahren, als daß die Beziehung hierauf übergangen werden könnte.

In der Kunft, wie in der Politif, hat diefe Richtung dag

17%

260 Oper und Drama:

Bezeichnende, daß der ihr zu Grunde liegende Irrthum in feiner eriten Unwillfürlichkeit fi mit verführerifcher Schönheit, in feiner eigenfüchtig bornirten endlichen Haldftarrigfeit aber mit wiber- licher Häßlichkeit zeigte. Er war ſchön, jo lange der, nur befan= gene, Geift der Freiheit ſich in ihm ausſprach; er ift jegt efel- haft, wo der Geift der Freiheit in Wahrheit ihn bereit3 gebrochen bat, und nur gemeiner Egoismus ihn noch künſtlich aufrecht erhält.

In der Mufif äußerte fich die nationale Richtung bei ihrem Beginne um fo mehr mit wirklicher Schönheit, als der Charakter der Muſik fid) überhaupt mehr in allgemeiner, als in fpezififcher Empfindung ausſpricht. Was bei unferen dichtenden Roman- tikern fich als römiſch-katholiſch myſtiſche Angenverdreherei und feudal⸗ritterliche Liebedienerei kundgab, äußerte ſich in ber Muſik als heimiſch innige, tief und weitathmig, in edler Anmuth er« blühende Tonweiſe, als Tonweiſe, wie fie dem wirklichen, Iegten Seelenhauche des verſcheidenden naiven Volksgeiſtes ab- gelaufht war.

Dem über Alles liebenswürdigen Tondichter des „reis fügen“ fehnitten die wollüftigen Melodieen Roffini’s, in denen alle Welt ſchwelgte, widerlich ſchmerzlich in das reinfühlende Künftlerherz; er konnte es nicht zugeben, daß in ihnen der Quell der wahren Melodie läge; er mußte der Welt beweifen, daß fie nur ein unreiner Ausflug dieſes Quelles jeien, der Duell felbft aber, da wo man ihn zu finden wiſſe, in ungetrübtefter Klarheit noch fliege. Wenn jene vornehmen Gründer der Oper auf den Volksgeſang nur hinlaufchten, jo hörte num Weber mit angeftrengtefter Uufmerffamfeit auf ihn. Drang der Duft der ihnen Volksblume von der Waldwiefe auf in die prunfenden Gemädher der Tururiöfen Muſikwelt, um dort zu portativen Wohl gerüchen beftillirt zu werden, fo trieb die Sehnſucht nach dem Unblide der Blume Weber aus den üppigen Sälen hinab auf die Waldwieſe felbft: dort gewahrte er die Blume am Duell des munter rieſelnden Baches, zwijchen Eräftig buftendem Waldgrafe auf wunderbar gefräufeltem Moofe, unter ſinnig raufchendem Laubgezweige der alten ftämmigen Bäume. Wie fühlte der felige Künftler fein Herz erbeben bei diefem Anblicke, beim Einathmen diefer Fülle des Duftes! Er konnte dem Liebesdrange nicht wider- stehen, ber entnervten Menjchheit diefen heilenden Anblick diefen belebenden Duft zur Exlöfung von ihrem Wahnfinne zuzuführen,

Die Oper und bad Wefen der Muſik. 261

die Blume felbft ihrer göttlich zeugenden Wildniß zu entreißen, um fie als Allerheiligftes der fegenbebürftigen Luxuswelt vor- zuhalten: er brach fie! Der Unglüdlihe! Oben im Prunlgemache ſetzte er die ſüß Verfchämte in die koſtbare Vafe; täglich negte er fie mit frifhem Waſſer aus dem Waldquell. Doch ieh”! die fo keuſch gefchloffenen ftraffen Blätter ent- falten fi), wie zu fchlaffer Wolluft ausgedehnt; ſchamlos ent- hüllt fie ihre edlen Zeugungsglieder und bietet fie mit grauen- voller Gleichgültigkeit der riechenden Nafe jedes gaunerifhen Wollüftlings dar. „Was ift dir, Blume?“ ruft in Seelenangit der Meifter: „vergifieft du fo die ſchöne Waldwieſe, wo bu fo keuſch gewachſen?“ Da läßt die Blume, eines nach dem anderen, die Blätter fallen; matt und welk zerftreuen fie fich auf dem Teppich; und ein Ießter Hauch ihres füßen Duftes weht dem Meilter zu: „Ich fterbe nur, da du mich braddeft!” Und mit ihr ftarb der Meifter. Sie war die Seele feiner Kunft, und diefe Kunft der räthjelvolle Haft feines Lebens geweſen. Auf der Waldwieſe wuchs feine Blume mehr! Zyroler Sänger famen von ihren Alpen: fie fangen dem Fürften Metternich vor; der empfahl fie mit guten Briefen an alle Höfe, und alle Lords und Bankier amüfirten fi) in ihren geilen Salons an dem Iuftis gen Jodeln der Alpenkinder und wie fie von ihrem „Dierndel” fangen. Jet marfchiren die Burſchen nad, Bellini'ſchen Arien zum Morde ihrer Brüder, und tanzen mit ihrem Dierndel nad) Donizetti ſchen Opernmelodieen, denn die Blume wuchs nit wieder!

Es ift ein charakteriftiiher Bug der deutfchen Volls melodie, daß fie weniger in furzgefügten, keck und ſonderlich be— megten Rhythmen, fondern in langathmigen, froh und doc) ſehnſüchtig gefchwellten Zügen ſich uns kundgiebt. Ein deutfches Lied, gänzlid) ohne harmoniſchen Vortrag, ift uns undenkbar: überall hören wir e3 mindeſtens zweiſtimmig gefungen; die Kunft fühlt fi ganz von felbft aufgefordert, den Baß und bie leicht zu ergänzende zweite Mittelitimme einzufügen, um den Bau der harmonischen Melodie vollftändig vor fi) zu haben. Diefe Melodie ift die Grundlage der Weber'ſchen Volksoper: fie ift, frei aller lokal-nationellen Sonderlicjfeit, von breitem, allge meinem Empfindung3ausdrude, hat feinen anderen Echmud, als das Lächeln füßefter und natürlichſter Innigkeit, und fpricht

262 Dper und Drama:

jo, dur die Gewalt unentjtellter Anmuth, zu den Herzen ber Menfchen, gleihviel welcher nationalen Sonberheit fie angehören mögen, eben weil in ihr das Reinmenfchliche jo ungefärbt zum Vorſchein kommt. Möchten wir in der weltverbreiteten Wirkung der Weber'ſchen Melodie das Weſen deutſchen Geiftes und feine vermeintliche Beftimmung beffer erfennen, als wir in der Züge von feinen fpezifiichen Qualitäten e8 thunl

Nach diefer Melodie geftaltet Weber Alles; was er, gänz lich von ihr erfüllt, gewahrt und wicbergeben will, was er jo im ganzen Gerüfte der Oper für fähig erfennt oder fähig zu machen weiß, in diefer Melodie fi auszudrüden, fei es aud nur da— durch, daß er ed mit ihrem Athem überhaucht, mit einem Thau— tropfen aus dem Selche der Blume es beiprengt, das mußte ihm gelingen zu hinreißend wahrer und treffender Wirkung zu bringen. Und diefe Melodie war ed, die Weber zum wirklichen Faktor feiner Oper machte: das Vorgeben des Drama's fand durch diefe Melodie infoweit feine Verwirffichung, als das ganze Drama von vornherein wie vor Sehnſucht Hingegoffen war, in diefe Melodie aufgenommen, von ihr verzehrt, in ihr exlöft, durch fie gerechtfertigt zu werden. Betrachten wir fo den „Frei⸗ ſchüthen“ als Drama, fo müſſen wir feiner Dichtung genau die: jelbe Stellung zu Weber's Muſik zumeifen, als der Dichtung de3 „Tankredi“ zur Mufil Roſſini's. Die Melodie Roſſini's be— dingte den Charakter der Dichtung des „Tanfredi” ganz eben- fo, als Weber's Melodie die Dichtung des Kind’ihen „reis ſchützen“, und Weber war hier nicht? Underes, als was Roffini dort war, nur er ebel und finnig, was diefer frivol und finn- fih*). Weber öffnete nur die Arme zur Aufnahme de3 Drama’s um fo viel weiter, als feine Melodie die wirkliche Sprache des Herzens, wahr und ungefäljcht war: was in ihr aufging, war wohl geborgen und ficher vor jeder Entſtellung. Was in diefer Sprade, bei al’ ihrer Wahrheit, dennoch ihrer Beſchränktheit wegen nicht außzujprechen war, da8 mühte fid) auch Weber ver: gebens herauszubringen; und fein Stammeln gilt un hier als

*) Was ich hier unter „ſinnlich“ verftehe, im Gegenſatze zu der Sinnlicteit, Die ich als das verwirklichende Moment des Kunft- werles fee, möge aus bem Burufe eines italienifhen Publikums u das im Entzüden über ben Geſang eines KRaftraten in ben Schrei ausbrach: „Geſegnet fei das Meſſerchen!“

Die Oper und das Wefen der Mufit. 263

das redliche Bekenntniß von der Unfähigkeit der Mufit, felbft wirffih Drama zu werden, nämlich, das wirkliche, nicht bloß für fie zugefchnittene, Drama im ſich aufgehen zu lafjen; wo— gegen fie vernünftiger Weife in dieſem wirklichen Drama auf- zugehen Hat.

Wir Haben die Geſchichte der Melodie fortzufeßen.

Bar Weber im Auffuchen der Melodie auf das Volk zu: rüdgegangen, und traf er im deutſchen Wolfe bie glüdliche Eigenſchaft naiver Innigkeit ohne beengende nationelle Sonder: lichteit an, fo hatte er die Opernfomponiften im Allgemeinen auf einen Quell Hingelenft, dem fie nun überall, wohin ihr Auge zu dringen vermochte, als einem nicht übel ergiebigen Brunnen nachſpäheten.

Zunächſt waren es franzöſiſche Komponiſten, die auf Zubereitung des Krautes Bedacht nahmen, das bei ihnen als heimiſche Pflanze gewachſen war. Schon längſt hatte ſich bei ihnen das witzige oder fentimentale „Couplet“ auf der Volks— bühne im vezitirten Schaufpiele geltend gemadt. Seiner Natur nach mehr für den heiteren, oder wenn für den empfindfamen, doch nie für den leidenfchaftlichen tragifchen Ausdruck geeignet, hat es ganz von felbft auch den Charakter des dramatifchen Genre's beftimmt, in welchem es mit vorherrſchender Abficht angewandt wurde. Der Franzofe ift nicht gemacht, feine Empfin« dungen gänzlich in Muſik aufgehen zu laſſen; fteigert fich feine Erregtheit bis zum Verlangen nad) muſikaliſchem Ausdrude, jo muß er dabei jprechen oder mindeftens dazu tanzen können. Wo bei ihm das Couplet aufhört, da fängt der Kontretanz an; ohne den giebt’3 feine Mufit für ihn. Ihm ift beim Couplet das Spreden fo fehr die Hauptfache, daß er es auch nur allein, nie mit Anderen zufammen fingen will, weil man fonft nicht deutlich mehr verftehen würde, was gefprochen wird. Auch im Kontretanze ftehen ſich die Tänzer meiften einzeln gegenüber; jeder macht für fi, was er zu machen Hat, und Umfchlingungen des Paares finden nur ftatt, wenn der Charakter des Tanzes überhaupt es gar nicht anders mehr zuläßt. So fteht im franzö- fiſchen Vaudeville alles zum muſikaliſchen Apparate Gehörige einzeln, und nur durch die gefhwäßige Proja vermittelt, neben

264 Oper und Drama:

einander da, und wo das Couplet von Mehreren zugleid, ge- fungen wird, gefdieht dieß im peinlichiten mufifafifhen Ein= Hange von ber Welt. Die ſranzöſiſche Oper ift daS erweiterte Vaudeville; der breitere mufifalifche Apparat in ihr ift für die Form der fogenannten dramatiſchen Oper, für den Inhalt aber demjenigen virtuofen Elemente entnommen, das durch Roſſini feine üppigfte Bedeutung erhielt.

Die eigentHümliche Blüthe diefer Oper ift und bleibt immer da8 mehr geſprochene als gefungene Eouplet, und deſſen mufi= kaliſche Effenz die rhythmiſche Melodie des Kontretanzes Auf diefed nationale Produft, dad immer nur ald Nebenläufer der dramatifchen Abficht, nie aber zu ihrer wirklichen Aufnahme in fi) verwendet worden war, gingen franzöfiiche Opernfompo- niften mit erwogener Abfichtlichfeit zurüd, als fie auf der einen Seite des Todes der Spontini'ſchen Oper inne wurden, auf der anderen Seite aber die weltberaufchende Wirkung Roffini’3, wie namentlich aud) den herzbewegenden Einfluß ber Melodie Weber's gewahrten. Der Lebendige Inhalt jenes franzöfifchen Nationals produfte8 war aber bereitö verſchwunden; fo lange Hatten Qaube- ville und komiſche Oper an ihm gefogen, daß fein Duell in trodenfter Dürre nicht mehr zu fließen vermochte. Wo die natur= bebürftigen Kunſtmuſiker nach dem erſehnten Raufchen bes Baches Hinhorchten, konnten fie e8 vor dem profaifchen Klippklapp ber Mühle nicht mehr vernehmen, deren Rad fie felbft mit dem Waſſer trieben, das fie auß feinem natürfichen Bette im breter- nen Ranale zu ihr Hingeleitet hatten. Wo fie das Rolf fingen hören wollten, tönten ihnen nur ihre efelhaften wohlbelannten Baubeville-Mafchinen-Fabrilate entgegen.

Nun ging die große Jagd auf Volksmelodieen in frember Herren Ländern 108. Bereits hatte Weber felbft, dem bie hei— miſche Blume welfte, in Forkel's Schilderungen der arabiſchen Mufit fleißig geblättert und ihnen einen Marfch für Harems- mwächter entnommen. Unfere Sranzofen waren flinfer auf den Beinen; fie blätterten nur im Neifehandbuche für ZTouriften, und machten fi) dabei felbft auf, ganz in der Nähe zu hören und zu fehen, wo irgend nod) ein Stüd Vollsnaivetät vorhanden wäre, wie es ausfähe und wie es Hänge. Unfere greife Civilifation warb wieder Findifch, und Findifche reife fterben bald!

Dort im fchönen, vielbefudelten Lande Stalien, deffen

Die Oper und das Weſen der Muflt. 265

mufitalifches Fett Roſſini fo vornehm behaglich für Die ber- magerte Kunſtwelt abgefchöpft hatte, faß der ſorglos üppige Meifter und ſah mit verwundertem Lächeln dem Herumfrabbeln der galanten Parifer Volksmelodieen-Jäger zu. Einer von diefen war ein guter Reiter, und wenn er nach hajtigem Ritte vom Pferde ftieg, wußte man, daß er eine gute Melodie gefun- den hatte, bie ihm vieles Gelb einbringen würde. Diefer ritt jegt wie beſeſſen durch allen Fiſch- und Gemüſekram des Marktes von Neapel hindurch, daß Alles rings umherflog, Gefchnatter und Gefluhe ihm nachfolgte, und drohende Fäufte fich gegen. ihn erhoben, jo daß ihm mit Bligesichnelle der Inſtinkt von einer prachtvollen Fiſcher⸗ und Gemijehändler-Revolution in die Nafe fuhr. Aber hiervon war noch mehr zu profitiven! Hinaus nad) Portici jagt der Parifer Reiter, zu den Barken und Regen jener naiven Fiſcher, die da fingen und Fiſche fangen, ſchlafen und wüthen, mit Weib und Kind fpielen und Mefjer werfen, fich todtſchiagen und immer Dabei fingen. Meifter Auber, geiteh’, da8 war ein guter Ritt und befjer, al3 auf bem Hippo- gryphen, der immer nur in die Lüfte fchreitet, aus denen doch eigentlich gar Nichts zu holen ift, als Schnupfen und Er- taltung! Der Reiter ritt heim, ftieg vom Roß, machte Roffini ein ungemein verbindliches Kompliment (ev mußte wohl, mwarum?), nahm Ertrapoft nad) Paris, und was er im Hand- umbrehen dort fertigte, war nicht Anderes als die „Stumme von Bortici”.

Diefe Stumme war bie nun ſprachlos gewordene Mufe des Drama's, bie zwiſchen fingenden und tobenden Maſſen einfam traurig, mit gebrodenem Herzen dahinwandelte, um vor Lebensüberbruß ſich und ihren unlösbaren Schmerz end⸗ lich im künſtlichen Wüthen bes Theatervulfanes zu erjtiden!

Roffini ſchaute dem prächtigen Spektakel aus der Ferne zu, und alß er nad) Paris reifte, hielt er es für gut, unter ben ſchneeigen Alpen ber Schweiz ein wenig zu raften und wohl darauf hinzuhorchen, wie die gefunden, kecken Burjchen bort mit ihren Bergen und Kühen fich muſikaliſch zu unterhalten pflegten. In Paris angelangt, madte er Auber fein verbinblichftes Kompliment (er wußte wohl, warum?), und ftellte der Welt mit vieler Baterfreude fein jüngftes Find vor, da3 er mit glüd- licher Eingebung „Wilhelm Tell“ getauft Hatte.

265 Oper und Drama:

Die „Stumme von Portici” und „Wilhelm Tel” wurden num die beiden Axen, um die fi) fortan die ganze fpefulative Opernmufitwelt bewegte. Ein neues Geheimniß, den halbver- weiten Leib der Oper zu galvanifiren, war gefunden, und fo lange Eonnte die Oper nun wieder leben, als man irgend noch nationale Befonderheiten zur Ausbeutung vorfand. Alle Län der der Kontinente wurden durchforicht, jede Provinz außge- plündert, jeder Vollsſtamm bis auf den legten Tropfen feines mufifalifchen Blutes ausgefogen, und der gewonnene Spiritus zum Gaudium der Herren und Schächer der großen Opernwelt in bligenden Feuerwerken verpraßt. Die deutſche Kunſtkritik aber erkannte eine bedeutungsvolle Annäherung der Oper an ihr Biel; denn nun habe fie die „nationale“, ja wenn man will fogar die „Hiftorifhe“ Michtung eingefchlagen. Wenn die ganze Welt verrüdt wird, fühlen ſich die Deutfhen am feligften Dabei; denn defto mehr haben fie zu deuten, zu errathen, zu finnen und endlich —- damit ihnen ganz wohl werde zu Haffifiziren!

Betrachten wir, worin die Einwirkung des Nationalen auf die Melodie, und durch fie auf die Oper beftand.

Das Volksthümliche ift von jeher ber befruchtende Quell aller Kunſt gemwejen, fo lange ald e8 frei von aller Reflerion in natürlich auffteigendem Wachsthum ſich bis zum Kunstwerke erheben konnte. In der Gefellichoft, wie in ber Kunft, Haben wir nur vom Volle gezehrt, ohne daß wir es mußten. In weitefter Entfernung vom Volke hielten wir Die Frucht, von der wir lebten, für Manna, das und Privilegirten und Wnserlefenen Gottes, Reichen und Genies, ganz nad himmliſcher Willkür auß der Luft herab in das Maul fiel Als wir dad Manna aber verpraft hatten, fahen wir und num hungrig nach den Fruchtbäumen auf Erden um, und raubten diefen nun, als Räuber von Gottes Gnaden, mit keckem, räu— beriſchem Bewußtfein ihre Früchte, unbefümmert darum, ob wir fie gepflanzt oder gepflegt Hatten; ja, wir Hieben die Bäume jelbft um bis auf die Wurzeln, um zu fehen, ob nicht auch diefe durch Fünftliche Zubereitung ſchmachhaft oder doch wenig- ſtens verfchlingbar gemacht werben könnten. So räubeten wir den ganzen ſchönen Naturwald des Volles aus, daß wir mit ihm nım als nadte, hungerleidige Bettler daftehen.

Die Oper und das Weſen ber Mufit. 267

So hat denn auch die Opernmuſik, da fie ihrer gänzlichen Zeugungsunfähigfeit und bes Vertrocknens aller ihrer Säfte bewußt wurde, ſich auf das Volkslied geftürzt, bis auf feine Wurzeln es auögefogen, und fie wirft nun den fajerigen Reſt der Frucht in efelhaften Opernmelodieen dem beraubten Volke als efende und geſundheitsſchädliche Nahrung Hin. Aber auch fie, die Opernmelodie, ift nun ohne alle Ausficht auf neue Nah: rung geworben; fie hat Alles verfchlungen, was fie verichlingen konnte; ohne mögliche neue Befruchtung geht fie unfruchtbar zu Grunde: fie faut num mit der Todesangſt eines fterbenden Gefräßigen an ſich felber herum, und dieſes widerliche Herum- tnaupeln an fich feldft nennen deutſche Kunſtkritiker „Streben nach höherer Charakteriſtik“, nachdem fie zuvor dad Umfchlagen jener außgeplünderten Vollsfruchtbäume „Emanzipation ber Maffen“ getauft haben!

Das wahrhaft Volksthümliche vermochte der Opernkom— ponift nicht zu erfafen; um bieß zu Eönnen, hätte er felbjt aus dem Geifte und den Anfchauungen des Volfes ſchaffen, d. h. im Grunde ſelbſt Volk fein müſſen. Nur das Sonderliche konnte er faflen, in welchem fi) ihm die Bejonderheit des Volfs- thümlihen fundgiebt, und dieß ift da8 Nationale Die Fär— bung des Nationalen, in den höheren Ständen bereits gänzlich vermifcht, Iebte nur noch in den Theilen des Volfes, die, an die Scholle des Feldes, des Ufer oder des Bergthales geheitet, von allem befruchtenden Austaufch ihrer Eigenthimlichkeiten zurüdgehalten worden wären. Nur ein ftarr und ftereotyp Ge: worbenes fiel daher jenen Ausbeutern in die Hände, und in diefen Händen, die um ed nach Iuguriöfer Willkür verwenden zu können ihm erſt nod) die legten Faſern feiner Beugungs- organe ausziehen mußten, konnte es nur zum modiſchen Ruriofum werden. Wie man in der Kleidermode jede beliebige Einzelnheit fremder, bisher unbeachteter Volkstrachten zu un— natürlihem Auspuße verwendete, fo wurden in der Oper ein zelne, vom Leben verborgener Nationalitäten losgelöſte Büge in Melodie und Rhythmus, auf das ſcheckige Gerüfte überlebter, inhalt3lofer Formen gefeßt.

Einen nit unweſentlichen Einfluß mußte biefes Verfahren jedoch auf das Gebahren diefer Oper ausüben, den wir jeßt näher zu betrachten haben: nämlich die Veränderung in dem

268 Oper und Drama:

Verhältniffe der darftellenden Faktoren der Oper zu einander, die, wie erwähnt, ald „Emanzipation der Maſſen“ auf gefaßt worden ift.

IV.

Jede Kunſtrichtung nähert ſich ganz in dem Grade ihrer Blüthe, als ſie das Vermögen zu dichter, deutlicher und ſicherer Geſtaltung gewinnt. Das Volt, das im Anfange fein Staunen über die weithin wirkenden Wunder der Natur in den Ausrüfen lyriſcher Ergriffenheit äußert, verdichtet, um den ftaunenerregen- den Gegenftand zu bewältigen, die weitverzweigte Natur- erſcheinung zum Gott, und ben Gott endlich zum Helden. Im diefem Helden, ald dem gedrängten Bilde feines eigenen Wejens, erfennt es fich felbft, und feine Thaten feiert e8 im Epos, im Drama aber ftellt es ſelbſt fie dar. Der tragiiche Held ber Griechen ſchritt au dem Chor Heraus und ſprach zu ihm zurüd- gewandt: „Seht, fo thut und Handelt ein Menich; was Ihr in Meinungen und Sprüchen feiertet, das ftelle ich Euch als un« widerleglidh wahr und nothwendig dar“. Die griehifche Tragödie faßte in Chor und Helden das Publitum und das Kunſtwerk zufammen: dieſes gab fi in ihr mit dem Urtheile über fi als gedichtete Anſchauung zugleich dem Volke, und genau in dem Grade reifte da8 Drama als Kunftwerk, als das verbdeutlichende Urtheil des Chores in den Handlungen der Helden jelbft fi fo unwiderleglich ausdrüdte, daß der Chor von der Scene ab ganz in das Volk zurüdtreten, und dafür als befebender und verwirklichender Theilnehmer der Handlung als folder felbft behilflich werden konnte. Shakeſpe are's Tragödie fteht infofern unbedingt über der griedifchen, als fie für die künſtleriſche Technik die Nothwendigfeit des Chores vollfommen überwunden hat. Bei Shafefpeare it der Chor in lauter an ber Handlung perjönfich betheiligte Individuen aufgelöft, welche für fih ganz nach derfelben individuellen Nothiwendigkeit ihrer Meinung und Stellung handeln, wie ber Hauptheld, und felbft ihre fcheinbare Unterordnung im Fünft- Terifchen Rahmen ergiebt ſich nur aus den ferneren Berührungs- punkten, in denen fie mit dem Haupthelden ftehen, keinesweges aber aus einer etwa prinzipiellen techniſchen Verachtung der

Die Oper und dad Weſen der Mufit. 269

Nebenperfonen; denn überall da, wo die felbft untergeorbnetfte Perſon zur Theilnahme an der Haupthandlung zu gelangen bat, äußert fie ſich ganz nad) perſönlich charalteriſtiſchem, freiem Ermeſſen.

Wenn die fiher und feſt gezeichneten Perſönlichkeiten Shafejpeare’3 im weiteren Verlaufe der modernen dramatiſchen Kunft immer mehr von ihrer plaftifhen Individualität verloren und bis zur bloßen ftabilen Charaktermasfe ohne alle Indivi—

dualität herabfanfen, fo ift dieß dem Einfluffe des ſtändiſch uniformirenden Staates zuzufchreiben, der das Recht der freien Perſönlichkeit mit immer töbtliherer Gewalt unterbrüdte. Das Schattenſpiel folher innerlich hohlen, aller Individualität baren Charaktermasken ward die dramatiihe Grundlage der Oper. Je inhalt3lofer bie Perfönlichleiten unter diefen Masken waren, deſto geeigneter erachtete man fie zum Singen der Opernarie. „Prinz und Prinzeſſin“, das ift die ganze dramatiſche re, um bie fi die Oper drehte, und bei Licht bejehen jetzt noch dreht. Alles Individuelle konnte diefen Opernmasfen nur durch den äußeren Anftrich kommen, und endlich mußte die Be- fonderheit der Lofalität des Schauplages ihnen das erfegen, was ihnen innerlich ein⸗ für allemal abging. Als die Kompo— niften alle melodifche Produktivität ihrer Kunſt erſchöpft hatten und vom Volke fi die Lokalmelodie erborgen mußten, griff man endlich auch zum ganzen Lofale ſelbſt: Dekorationen, Koſtüme, und das, was dieſe auszufüllen hatte, die bewegungs- fähige Umgebung der Operndor, ward endlich die Haupt ſache, die Oper felbft, welche von allen Seiten ihr flimmerndes Licht auf „Prinz und Prinzeffin“ werfen mußte, um die armen Unglüdlihen am folorirten Sängerleben zu erhalten.

So war denn der Kreislauf des Drama's zu feiner töbt- lichen Schmach erfült: die individuellen Perjönlichkeiten, zu denen einft der Chor des Volkes ſich verdichtet hatte, ver- ſchwammen in buntfchedige, mafjenhafte Umgebung ohne Mittel- punkt. Als diefe Umgebung gilt und in der Oper der ganze ungeheure fcenifhe Apparat, der durch Maſchinen, gemalte Leinwand und bunte Kleider und als Stimme bes Chores zu: ſchreit: „Ich bin Ich, und feine Oper ift außer mir!“

Wohl Hatten fon früher edle Künftler des Schmudes des Nationalen fi bedient; nur da aber vermochte ed einen wirt

270 Oper und Drama:

lichen Zauber auszuüben, wo es eben nur als gelegentlich er: forderlicher Schmud einem durch charakteriſtiſche Handlung belebten, dramatiſchen Stoffe beigegeben und ohne alle Dften- tation eingefügt war. Wie trefflih mußte Mozart feinem Osmin und feinem Figaro ein nationales Kolorit zu geben, ohne. in der Türkei und in Spanien, ober gar in Büchern, nach der Farbe zu fuchen. Jener Osmin und jener Figaro waren aber wirflihe, von einem Dichter glüdlich entworfene, vom Mufifer mit wahrem Ausdrude ausgeftattete und vom gefunden Darfteller gar nicht zu verfehlende, individuelle Charaktere. Die nationale Zuthat unferer modernen Operntomponiften wird aber nicht auf folhe Individualitäten verwandt, fondern fie fol dem an fi) ganz Charafterlofen eine irgendwie charakte— riftifche Unterlage, zu Belebung und Nechtfertigung einer an und für fi ganz gleichgiltigen und farblofen Exiſtenz, exit geben. Die Spite, auf die alles gefunde Volksthümliche aus- läuft, daß rein menſchlich Charakteriftiiche, ift in unferer Oper von vornherein als farblofe, nichtsbedeutende Arienfänger- Masfe verbraucht, und diefe Maske foll nun durch den Wider: fchein der umgebenden Farbe nur Fünftlich belebt werden, weh- Halb denn auch diefe Farbe der Umgebung in den allergrelliten und fchreiendften Kleckſen aufgetragen wird.

Um die öde Scene um den Urienfänger herum zu beleben, bat man das Wolf, dem man feine Melodie abgenommen hatte, felbft endlich auf die Bühne gebracht; aber natürlich konnte das nicht das Volk fein, das jene Weile erfand, fondern die ge- lehrig abgerichtete Maffe, die nun nach dem Takte ber Opern- arie hin- und hermarfcirte. Nicht dad Wolf brauchte man, fondern die Maffe, d. 5. den materieflen Überreft von dem Volke, dem man den Lebensgeiſt außgefaugt hatte. Der mafjen- hafte Chor umferer modernen Oper ift nicht? Anderes, als bie zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaſchinerie des Theaters, der ftunme Prunk der Couliſſen in bemegungsvollen Lärm umgefegt. „Prinz und Prinzeffin“ Hatten mit dem beften Willen Nichts mehr zu fagen, als ihre tauſendmal gehärten Schnörkelarien: man fuchte das Thema endlich dadurch zu variiren, daß das ganze Theater von der Couliſſe bis zum ver- hundertfachten Choriften diefe Arie mitfang, und zwar je höher die Wirkung fteigen fol gar nicht einmal mehr viel-

Die Oper und dad Weſen der Mufit. 271

ftimmig, fondern im wirklichen tobenden Einklange. In dem heut’ zu Tage fo berühmt gewordenen „Unifono“ enthüllt fi) ganz erfichtlich ber eigentliche Kern der Abſicht der Maffen- anmwendung, und im Sinne der Oper hören wir ganz richtig die Maffen „emanzipirt“, wenn wir fie, wie in den berühmteften Stellen der berühmteften modernen Opern, bie alte, abge: drofchene Arie im hundertſtimmigen Einklange vortragen Hören. So Hat unfer Heutiger Staat die Maſſe ebenfalls emanzipirt, wenn er fie in Soldatenuniform bataillonsweife aufmarfciren, lints und rechts ſchwenken, ſchultern und präfentiven läßt: wenn die Meyerbeer ſchen „Hugenotten“ fi zu ihrer höchſten Spige erheben, hören wir an ihnen, was wir an einem preu- Bilden Gardebaiaillon fehen. Deutiche Kritiker nennen's wie gefagt Emanzipation der Maſſen.

Die fo „emanzipirte” Umgebung war im Grunde genom- men aber wieber aud) nur eine Maske. Wenn wirklic charaf- teriftifches Leben in den Hauptperfonen der Oper nicht vorhanden war, jo fonnte dieß wahrlich dem maffenhaften Apparate noch weniger eingegofien werden. Der Widerjchein, der von diefem Apparate aus belebend auf die Hauptperfonen fallen follte, tonnte daher von irgendwelcher ergiebigen Wirkung nur dann fein, wenn aud die Maöfe der Umgebung von Außen woher einen Anftrich erhielt, der über ihre innere Hohlheit täufchte. Diefen Anſtrich gewann man aus dem biftorifhen Koſtüm, das das nationale Kolorit noch prägnanter machen mußte.

Man follte annehmen, hier, beim Einmifchen de3 Hiftorifchen Motives, habe nun dem Dichter die Aufgabe zugetheilt werden müffen, entſcheidend in die Geftaltung der Oper einzugreifen. Leicht dürfen wir aber unferen Irrthum einfehen, wenn wir bedenken, welchen Gang bisher die Fortbildung der Oper ge: nommen hatte, wie fie alle Bhafen ihrer Entwidelung nur dem verzweifelten Streben des Mufiferd, fein Werk am fünftlichen Dafein zu erhalten, verdanten mußte, und felbft zur Verwen— dung hiftorifher Motive nicht durd ein als nothwendig empfundene8 Verlangen, fih an ben Dichter zu ergeben, ſon— dern durd) den Drang rein muſitaliſcher Umftände hingewieſen

272 Oper und Drama:

ward, durch einen Drang, der wiederum nur aus der ganzen unnatürlichen Aufgabe des Mufifers, im Drama Abſicht umd Ausdrud zugleich geben zu follen, hervorging. Wir werden fpäter auf die Stellung des Dichter zu unferer modernften Oper noch zurüdfommen; für jet verfolgen wir ungeftört vom Standpunfte de wirklichen Faltor8 der Oper, des Mufiters, aus, bis wohin fein irriges Streben ihn führen mußte.

Der Mufiter, der mochte er fid) gebärden, wie er wollte nur Ausdrud und nicht? ald Ausdrud geben fonnte, mußte ganz in dem Maafe auch das wirfliche Vermögen zu gefundem und wahren Ausdrude verlieren, als er den Gegenſtand feines Ausdrudes, in feinem verkehrten Eifer, dieſen Gegenftand felbft zu zeichnen, felbft zu dichten, zum grumbfäßfih matten und inhaltzlofen Schema herabtwürdigte. Hatte er nicht vom Dichter den Menſchen verlangt, fondern vom Mechaniker den Glie- - dermann, ben er mit feinen Gemändern nad; Belieben bra- pirte, um durch den Farbenreiz und die Anordnung diefer Ge— wänder allein zu entzüden, fo mußte er num, da er das warme Pulſiren des menſchlichen Leibes an dem Gliedermanne unmög- lich darftellen Tonnte, bei fomit immer größerer Verarmung feiner Ausdrudömittel endlih nur noch auf unerhört mannig- faltige Variation in den Farben und Falten feiner Gewänder bedacht fein. Das hiſtoriſche Gewand der Oper das ergiebigfte, weil ed nad) Klima und Zeitalter auf das Buntefte zu wechjeln im Stande war, ift aber eigentlich) doch nur das Werk des Dekorationsmalerd und Theaterſchneiders, wie dieſe beiden Faltoren denn in Wahrheit die allerwichtigften Bundesgenoſſen de3 modernen Opernfomponiften geworden find. Allein auch der Mufifer unterließ es nicht, feine Zonfarbenpalette für das hiftorifche Koſtüm herzurichten; wie hätte er, der Schöpfer der Oper, ber fid) den Dichter zum Bedienten gemacht hatte, den Maler und Schneider nicht auch ausſtechen follen? Hatte er dad ganze Drama, mit Handlung und Charakteren, in Mufit aufgelöft, wie follte es ihm unmöglich bleiben, auch die Zeich- nungen und Farben des Malers und Schneiders muſikaliſch zu Waffer zu machen? Er vermochte e8, alle Dämme nieder zureißen, alle Schleufen zu öffnen, die da8 Meer vom Lande trennen, und fo in der Sündfluth feiner Mufit das Drama mit Mann und Maus, mit Pinfel und Scheere zu erfäufen!

Die Oper und das Wefen ber Muſik. 273

Der Mufiter mußte aber auch die ihm prädeftinirte Auf- gabe erfüllen, der deutjchen Kritik, für die Gottes allgütige Für- forge bekanntlich die Kunſt gefchaffen hat, die Freude des Ge- ſchenkes einer „hiftorifhen Muſik“ zu machen. Sein hoher Ruf begeifterte ihn, gar bald das Nichtige zu finden.

Wie mußte eine „Hiftorifche“ Mufit ſich anhören, wenn fie die Wirkung einer folchen machen follte? Jedenfalls anders, als eine nicht Hiftorifhe Mufil. Worin Iag hier aber der Un— terſchied? Offenbar darin, daß die „hiftorifhe Muſik“ von der gegenwärtig gewöhnten jo verſchieden fei, als das Koftüm einer früheren Zeit von dem der Gegenwart. War e8 nicht das Klügſte, genau fo, wie man das Koſtüm dem betreffenden Zeitalter ges treu nachahmte, auch die Mufif diefem Zeitalter zu entnehmen? Leider ging dieß nicht fo Leicht, denn in jenen im Koftüm fo pifanten Zeitaltern gab es barbarifcher Weife noch feine Opern: eine allgemeine Opernfprache war ihnen daher nicht zu entnehmen. Dagegen fang man damals in den Kirchen, und dieſe Kirchen- gefänge haben in der That, wenn man fie heute plöglich fingen läßt, unferer Muſik gegenüber gehalten, etwas überraſchend Fremdartiges. Vortrefflich! Kirchengefänge her! Die Religion muß aufs Theater wandern! So ward die mufifalifch Hifto- riſche Koftümnoth zur chriftlich religiöfen Operntugend. Für das Verbrechen bed Raubes der Vollsmelodie verſchaffte man fi) römifch=Tatholifche und evangelifch-proseftantifhe Kirchenabfolus tion, und zwar gegen die Wohlthat, die man der Kirche dadurch erwies, daß, wie zuvor die Maffen, num auch die Religion um im Ausdrucke der deutfchen Kritik Tonfequent zu bleiben durch die Oper „emanzipirt“ mwurbe,

So ward der DOpernfomponift vollftändig zum Erföfer der Welt, umd in dem tiefbegeifterten, vom ſelbſtzerfleiſchendem Schwärmereifer unmwiderftehlich hingeriffenen Meyerbeer haben wir jebenfalld den modernen Heiland, das weltfündentragende Lamm Gottes zu erfennen.

Dennoch fonnte diefe entfündigende „Emanzipation ber Kirche“ nur bedingäweife vom Muſiker vollzogen werden. Wollte die Religion durch die Oper befeligt fein, jo mußte fie ſich ge- fallen Laien, nur einen gewiffen, vernünftiger Weife ihr zuge- hörigen Pla unter den übrigen Emanzipirten einzunehmen. Die Oper, ald Befreierin der Welt, mußte die Religion beherr-

Rigard Wagner, Gef. Eiheiften III. 18

274 Oper und Drama:

fchen, nicht die Religion die Oper; follte die Oper zur Kirche werden, jo war die Religion ja nicht von der Oper, ſondern diefe von ihr emanzipirt. Für die Reinheit des mufifalifch-hifto- riſchen Koftümes Hätte e8 ber Oper allerdings erwünfcht fein tönnen, nur noch mit der Religion zu thun zu haben, benn bie einzig verwendbare hiftorifche Muſik fand ſich nur in der Kirchen- muſit vor. Nur mit Mönden und Pfaffen zu thun zu haben, hätte aber ber Heiterkeit der Oper empfindlich ſchaden müffen: denn das, was durch die Emanzipation der Religion verherrlicht werben follte, war ja eigentlich nur die Opernarie, dieſer üppig entfaltete Urkeim alles Opernwefend, ber keinesweges im Ber: langen nad) andächtiger Sammlung, fondern nach unterhaltenber Berftreuung wurzelte. Genau genommen war bie Religion nur als Beifchmad zu verwenden, ganz wie im wohlgeordneten Staats- leben: das Hauptgemürz mußte „Prinz und Prinzeſſin“, nebft gehöriger Zuthat von Spigbuben, Hofer und Vollschor, Eou- iffen und Kleidern bleiben.

Wie war nur aud) dieß ganze hochwürdige Opernkollegium in Hiftorifche Muſik umzufegen?

Hier eröffnete fi dem Mufiter das unabfehbar graue Nebel- feld reiner, abfoluter Erfindung: die Aufforderung zum Er- ſchaffen aus Nichts. Sieh’ da, wie ſchnell er mit ſich einig wurde! Er hatte mur dafür zu forgen, daf die Muſik immer ein wenig anders Hinge, ald man ber Gewohnheit nad an- nehmen müffe, daß fie zu Hingen hätte, fo Hang jedenfalls feine Mufit fremdartig, und ein richtiger Schnitt des Theater- fchneiderd genügte, um fie vollftändig „Hiftorifch” zu machen.

Die Mufil, als reichftes Vermögen des Ausbrudes, erhielt nun eine ganz neue, ungemein pitante Aufgabe, nämlich: den Ausdrud, ben fie überhaupt fehon zum Gegenftande ded Aus- drudes gemacht hatte, wiederum dur) fich felbft zu widerlegen; der Ausdrud, der ohne ausdruckswerthen Gegenftand an und für fi nichtig war, wurde im Streben, diefer Gegenftand für ſich felbft zu fein, wiederum verneint, fo daß das Reſultat unferer Welterfchaffungstheorien, nad) denen aus zwei Ver— neinungen da8 Etwas entftanben ift, von dem Operntomponiften vollftändig erreicht werden mußte. Wir empfehlen der deutſchen Kritit den hieraus entftandenen Opernſtyl als „emanzipirte Metaphufit”.

Die Oper und das Weſen der Muflt. 275

Betrachten wir dieß Verfahren etwas näher.

Wollte der Komponift einen unmittelbar entſprechenden nadten Ausbrud geben, fo konnte er bieß mit dem beiten Willen nicht anderd als in der mufifalifchen Sprechweife, die und Heute eben als verftändlicher mufifalifcher Ausdrud gilt; beabfichtigte er nun, biefem ein hiſtoriſches Kolorit zu verleihen, und konnte er dieß im Grunde nur dadurch für erreichbar halten, daß er ihm einen überhaupt frembartigen, ungewohnten Beillang gab, jo fand ihm zunächſt allerdings die Ausdrucksweiſe einer früheren mufifalifgen Epoche zu Gebote, die er nach Belieben nahahmen, und von der er nach willfürlichem Ermefjen entnehmen konnte. Auf diefe Weife hat fi) denn aud; der Komponift aus allen, irgend fchmadhaften Styleigenthümlichkeiten verſchiedener Zeiten einen fchedigen Sprachjargon zufammengejegt, der an und für fich feinem Streben nad) Fremdartigfeit und Ungewohntheit nicht übel entſprechen konnte. Die mufilalifhe Sprache, ſobald fie ſich vom ausdruckswerthen Gegenftande Ioslöft, und ohne Inhalt nach opernarienhafter Willfür ganz allein ſprechen, d. 5. eben nur fingend und pfeifend plaubern will, ift für ihr Weſen aber fo ganz und gar der bloßen Mode unterworfen, daß fie ent weder nur biefer Mode fich unterorbnen, oder im glüdlichen Falle fie nur beherrichen, d. 5. die neuefte Mobe ihr zuführen ann. Der Jargon, den fomit der Komponift erfand, um ber hiſtoriſchen Ubficht zu lieb fremdartig zu ſprechen, wird, wenn er Glüd macht, augenblidlich wiederum zur Mode, die, einmal angenommen, plöglih gar nicht mehr frembdartig erfcheint, fondern das Kleid ift, welches wir Alle tragen, bie Sprache, die wir Alle fprechen. Der Komponijt muß verzweifeln, fi durch feine eigenen Erfindungen fomit immer wieber in dem Beftreben, frembartig zu erfcheinen, behindert zu fehen, unb er muß nothgedrungen daher auf ein Mittel verfallen, ein- für alle- mal frembartig zu erjcheinen, fobald er feinen Beruf zur „Biftos riſchen“ Muſik erfüllen wil. Er muß baher ein- für allemal darauf bedacht fein, felbft den entftellteften Ausbrud weil er einmal durch ihn zur mobifchen Gewoßnheit gemacht worden ift in ſich wiederum zu entjtellen: er muß fi vornehmen, genau genommen, da „Nein“ zu fagen, wo er eigentlich „Ja“ fagen will, da ſich freudig zu gebärden, wo er Schmerz aus: drüden ſoll, da jammernd zu wimmern, wo er fidh behaglicher

18*

276 J Oper und Drama:

Luſt Hinzugeben hätte. Wahrlich, fo und nicht anders ift es ihm möglich, in allen Fällen fremdartig, fonderbar, wie von Gott- weißwoher Tommend, zu erfcheinen; er muß ſich geradesweges verrüdt ftellen, um „Hiftorifch-charakteriftifch“ zu erfheinen. Hier⸗ mit ift denn auch in Wirklichkeit ein ganz neues Clement ges wonnen: der Drang zum „Hiftoriichen“ Hat zur hyſteriſchen Ber- rüdtheit geführt, und diefe Verrüdtheit ift zu unferer Freude bei Licht befehen garnichts Anderes, ald wie nennen wir es gleih? Neuromantil.

V.

Der Verdrehung aller Wahrheit und Natur, wie wir ſie für den muſilaliſchen Ausdruck von den franzöfifhen fogenannten Neu- tomantifern ausüben fehen, war aus einem Gebiete der Ton- tunft, das von ber Oper volltommen abſeits lag, eine ſcheinbare Nechtfertigung, vor Allem aber ein nährender Stoff zugeführt worden, die zufammen wir unter ber Bezeichnung des Misper- ftändniffes Beethoven's leicht begreifen können.

Sehr wichtig ift ed, zu beachten, daß Alles, was auf bie ©eftaltung der Oper bis in bie neueften Beiten einen wirflichen und entfcheidenden Einfluß ausübte, Tediglih aus dem Ge— biete der abfoluten Muſik, feinesmeged aber aus dem der Dichtkunft, oder aus einem gefunden Zuſammenwirken beider Künfte, ſich herleitete. Wie wir finden mußten, daß von Roffini an die Geſchichte der Oper mit Beftimmtheit nur noch in bie Geſchichte der DOpernmelodie außlaufe, fo fehen wir aud in der neneften Zeit alle Einwirkung auf da8 immer hiſtoriſch-dra⸗ matiſchere Gebahren der Oper nur von dem Komponiften aus— gehen, der im nothgedrungenen Streben, die Opernmelobie zu variiren, von Folge zu Folge dahin getrieben wurde, in biefe feine Melodie das Vorgeben felbft hiſtoriſcher Chorakteriftif aufs zunehmen, und dadurch dem Dichter bezeichnete, was er dem Mufiter, um deſſen Vornehmen zu entiprehen, liefern müſſe. War nun dieſe Melodie bisher als Geſangsmelodie Fünftlich fortgepflangt worden, als Melodie, die, von der bedingenden dichteriſchen Unterlage abgelöft, dennoch im Munde ober in ber Kehle des Sängerd neue Bedingungen zu weiterer Rulturent-

Die Oper und dad Weſen der Mufik. 277

midelung erhielt, und gewann fie diefe Bedingungen nament- lich auch aus einem erneueten Ablaufchen ber urjprünglichen Naturmelobie, vom Munde des Volkes, fu wandte fih nun ihr heißhungriges Hinhorchen endlich dahin, wo die Melodie, vom Munde des Sängers wiederum abgelöft, aus der Mechanik des Inſtrumentes fernere Lebensbedingungen gewonnen hatte. Die Inftrumentalmelodie, in die Operngefangsmelodie*) überfegt, ward fo zum Faltor des vorgegebenen Drama's: in ber That, jo weit mußte e8 mit bem unnatürlichen Genre der Oper kommen!

Während die Opernmelodie, ohne wirkliche Befruchtung duch die Dichtkunſt, nur von Gewaltſamkeit zu Gewaltſamleit fortfchreitend, fi ein mühfeliges, zeugungsunfähiges Leben er- alten konnte, Hatte die Inftrumentalmufit fi das Vermögen gewonnen, die harmoniſche Tanz und Liedweiſe durch Zerlegung in Neinere und Heinfte Theile, durch neues und mannigfaltig verſchiedenartiges Aneinanderfügen, Ausdehnen oder Verlürzen diejer Theile, zu einer befonderen Sprache auszubilden, die jo lange im höheren fünftlerifchen Sinne wilfürlich und für das Reinmenſchliche ausdrudsunfähig war, als in ihr das Verlangen nad klarem und verftändlicdem Wiedergeben beftimmter, indi= vidueller menſchlicher Empfindungen fich nicht als einzig maaß- gebende Nothwendigfeit für die Geftaltung jener melodifchen Sprachtheife kundthat. Daß der Ausbrud eines ganz beftimm- ten, klarverſtändlichen individuellen Inhaltes in dieſer, einer Empfindung nur nach ihrer Allgemeinheit gewachſenen Sprache in Wahrheit unmöglich war, hat erft derjenige Injtrumental- tomponift aufzubeden vermocht, bei welchem das Derlangen, einen folhen Inhalt außzufprechen, zum verzehrend glühenden Lebenstriebe alles Tünftlerifchen Geſtaltens wurde.

Die Geſchichte der Inſtrumentalmuſik ift von da an, wo jene3 Berlangen fih in ihr fundgab, die Geſchichte eines Fünft- lerifchen Irrthumes, der aber nicht, wie der de3 Operngenre's,

*) Daß die Gefangämelodie, die nicht aus dem Wortverſe ihre febengebenden Bebingungen erhielt, fondern biefem nur aufgelegt wurde, an fi bereit3 nur Inftrumentalmelodie war, miffen wir jegt ſchon beachten; an beſonders geeigneter Stelle werben wir aber hierauf, und auf die Stellung Bier Melodie zum Orcefter, näher aurädlommen.

278 Oper und Drama:

mit Darlegung einer Unfähigfeit der Muſik, fondern mit der Kundgebung eines unbegränzten inneren Vermögens derſelben endete. Der Irrthum Beethoven's war der de Columbus*), der nur einen neuen Weg nad) dem alten, bereit3 befannten Indien aufjuchen mollte, dafür aber eine neue Welt felbft ent- dedte; auch Columbus nahm feinen Irrthum mit fi in das Grab: er ließ feine Genofien dur einen Schwur bekräftigen, daß fie die neue Welt für das alte Indien hielten. So, immer noch im vollften Irrthume befangen, löſte dennoch feine That der Welt die Binde vom Geficht, und lehrte fie auf das Un- widerleglichſte die wirkliche Gejtalt der Erbe und die ungeahnte Fulle ihres Meichtyumes erkennen. Uns ift jegt das uner- fchöpfliche Vermögen der Muſik durch den urkräftigen Irrthum Beethoven's erfchloffen. Durch fein unerfchroden kühnſtes Be— mühen, das künſtleriſch Nothwendige in einem künſtleriſch Un- möglichen zu erreichen, ift uns bie unbegränzte Fähigkeit ber Muſik aufgewiefen zur Löſung jeder denkbaren Aufgabe, ſobald fie eben nur Das ganz und allein zu fein braucht, was fie wirf- lich ift Kunſt des Ausdrudes.

Des Irrthumes Beethoven's und des Gewinnes feiner fünft- Terifchen That konnten wir aber erft inne werben, als wir feine Werke im vollen Bufammenhange zu überbliden vermochten, als er und mit feinen Werfen zu einer abgefchlofjenen Erſcheinung geworden war, und an ben fünftlerifchen Erfolgen feiner Nach- tommen, die den Irrthum des Meifterd als einen ihnen felbft nicht eigenen und ohne die riefige Kraft jenes feines Verlangen in ihr Kunſtſchaffen aufnahmen, ber Irrthum felbft und Mar werben mußte. Die Zeitgenofjen und unmittelbaren Nachfolger Beethoven's gewahrten in defien einzelnen Werfen jedoch gerabe nur Das, was ihnen, je nad) der Kraft ihrer Empfänglichkeit und Auffafjungsfähigkeit, bald aus dem hinreißenden Eindrude des Ganzen, bald aus der eigenthümlichen Geftaltung des Ein- zelnen auffallend erkennbar war. So lange Beethoven, im Ein- Hange mit dem Geifte feiner muſikaliſchen Zeitumgebung, eben nur die Blüthe dieſes Geifte® in feinen Werfen nieberlegte, *) Schon in meinem „Runftwert der Zukunft“ verglich ich Beet- thoven mit Columbus: ih muß dieſen Vergleih hier nochmals auf- nehmen, weil in ihm noch eine wichtige, früher von mir nicht be— rührte Üpnlichteit enthalten ift.

Die Oper und das Weſen der Mufit. 279

konnte der Refler feines Kunſtſchaffens auf feine Umgebung nur ein wohlthätiger fein. Won da an jedoch, wo, im genauen Bu- fammenhange mit jchmerzlich ergreifenden Lebenseindrüden, in dem Künftler da8 Verlangen nad) deutlihem Ausdrucke bejon- derer, charakteriftiih individueller Empfindungen wie zur verftändlichen Kundgebung an die Theilnahme der Menjhen zu immer drängenberer Kraft erwuchs, aljo von ba an, wo es ihm immer weniger mehr darauf anfam, überhaupt Muſik zu maden und in diefer Mufik fich gefällig, feſſelnd oder befeuernd allgemeinhin auszudrüden, fondern als ihn fein innered Wefen mit Nothwendigkeit drängte, einen beftimmten, feine Gefühle und Anſchauungen erfüllenden Inhalt fiher und genau faßlich durch feine Kunft zum Ausdruck zu bringen, von ba an bes ginnt die große, fchmerzliche Leidensperiode des tieferregten Menſchen und nothmendig irrenden Künftlers, der in den ge— maltigen Budungen ſchmerzlich wonnigen Stammelns einer py— thiſchen Begeifterung dem neugierigen Zuhörer, der ihn nicht verftand, weil der Begeiſterte fich ihm eben nicht verftändlich machen konnte, ben Eindrud eines genialen Wahnfinnigen machen mußte.

In ben Werfen aus der zweiten Hälfte feines Künftler- lebens ift Beethoven meift gerade da unverftändlich oder vielmehr misverſtändlich —, wo er einen befonderen individuellen Inhalt am verftändlichften ausfprechen will. Er geht über das, nah unmwillfüclicher Konvention al faßli anerkannte, abjolut Mufitalifche, d. h. in irgend welcher Erkennbarkeit der an und Siedweife dem Ausdrude und der Form nah Ühn- liche hinaus, um in einer Sprache zu reden, die oft als willfür- liche Auslaſſung der Laune erfcheint, und, einem rein muſikaliſchen Bufammenhange unangehörig, nur durch das Band einer dic) terifchen Abficht verbunden ift, die mit dichterifcher Deutlichkeit in der Mufit aber eben nicht außgejprochen werben konnte. Als unmillfürliche Verſuche, ſich eine Sprache für fein Verlangen zu bilden, müfjen die meiften Werfe Beethoven's aus jener Epoche angefehen werben, jo daß fie oft wie Skizzen zu einem Gemälde ericheinen, über deffen Gegenſtand wohl, nicht aber über deſſen verftändliche Unordnung der Meifter mit fi) einig war. Das Gemälbe felbft fonnte er aber nicht eher ausführen, als bis er den Gegenjtand ſelbſt nad) feinem Ausdrucksvermögen geftimmt,

280 Oper und Drama:

d. 5. ihm nach feiner allgemeineren Bedeutung erfaßt, und das Individuelle in ihm in die eigenthümlichen Farben der Tonkunft ſelbſt zurüdverlegt, fomit den Gegenjtand ſelbſt gemifjermaßen mufifafifirt hatte. Wären nur dieſe eigentlichen fertigen Gemälde, in denen fi Beethoven mit entzüdend wohlthuender Klarheit und Faßlichkeit ausſprach, vor die Welt gelangt, fo hätte das Misverftändniß, das der Meifter bon fich verbreitete, jedenfalls weniger verwirrend und berüdend einwirken müſſen. Bereits war aber der mufifalifche Ausdrud, in feiner Losgetrenntheit bon den Bedingungen des Ausdrudes, mit unerbittliher Noth— menbigfeit dem bloßen modifchen Belieben, und fomit allen Be— dingungen ber Mode felbft verfallen; gemiffe melodiſche, har⸗ monifche oder rhythmiſche Züge fhmeichelten heute dem Ohre fo verführerifch, daß man ſich bis zum Übermaaß ihrer bediente, ver- fielen aber nad) einer furzen Beit durch Abnutzung dem Efel in dem Grabe, daß fie dem Gejchmade oft plötzlich unausftehlich oder lächerlich erfchtenen. Wem es nun eben daran lag, Mufit für das öffentliche Gefallen zu machen, den mußte Nicht? wich- tiger bünfen, al3 in den foeben harakterificten Bügen des abjolut melodifhen Ausdrudes fo auffallend neu wie möglich zu er— feinen, und da die Nahrung folder Neuheit immer nur aus dem mufifalifchen Kunſtgebiete felber kommen, nirgends aber den wechſelnden Erfcheinungen des Lebens entnommen werden konnte, fo mußte jener Mufifer mit Recht eine ergiebigfte Aus— beute gerade in dem Werfen Beethoven's erjehen, die wir als Skizzen zu feinen großen Gemälden bezeichneten, und in benen das Ringen nad Auffindung eines neuen mufifalifhen Sprach— vermögen nad) allen Richtungen Hin in oft frampfhaften Zügen fi kundthat, die dem unverftändnißvoll Hinhorchenden wohl fonderbar, originell, bizarr und jedenfall® ganz neu vorfommen . mußten. Das jäh Abfpringenbe, fchnell und Heftig fich Durch— freuzenbe, namentlich aber das oft faft gleichzeitige Ertönen diht in einander verwobener Accente ded Schmerzes und ber Freude, des Entzückens und des Entſetzens, wie es bet umwill- kürlich fuchende Meifter in den feltfamften harmoniſchen Melis- men und Rhythmen zu neuen Ausdruckslauten miſchte, um durch fie zum Ausſpruche beftimmter individueller Empfindungsmos mente zu gelangen, dieß Alles fiel, in feiner ganz formellen Äußerlichteit erfaßt, zur bloß techniſchen Zortbildung jenen

Die Oper und das Wefen der Mufif. 281

Komponiften zu, die in ber Aufnahme und Verwendung biefer Beethoven'ſchen Sonberlichfeiten ein üppig nährendes Element für ihr Allerweltsmufiziven erfannten. Während der größere Theil der älteren Mufifer in Beethoven's Werken nur Das begreifen und gelten laſſen konnte, was von bes Meifterd eigen- thümlichftem Wefen ablag und nur al3 die Blüthe einer früheren, unbeforgteren muſikaliſchen Kunſtperiode erfchien, Haben jüngere Tonfeger Hauptfächlich das Hußerlihe und Sonderbare der jpä- teren Beethoven'ſchen Manier nachgeahmt

War Hier aber nur eine Äußerlichfeit nachzuahmen, weil der Inhalt jener ſeltſamen Büge das in Wahrheit unausge- ſprochene Geheimniß des Meiſters bleiben follte, jo mußte für fie mit gebieterifher Nothwendigkeit auch irgendwelder inhalt licher Gegenftand gefucht werden, der troß feiner, der Natur der Sache gemäßen Allgemeinheit, Gelegenheit zur Verwendung jener, auf da3 Beſondere, Individuelle hindeutenden Büge dar bot. Dieſer Gegenftand war natürlich nur außerhalb der Mufit zu finden, und für die ungemifchte Inftrumentalmufit konnte dieß wiederum nur in ber Phantafie fein. Das Borgeben der mufifalifchen Schilderung eines der Natur oder dem menjch- lichen Leben entnommenen Gegenſtandes wurde als Programm dem Zuhörer zu Händen gebradt, und der Einbildungstraft blieb es überlaffen, der einmal gegebenen Hinweifung gemäß alle die mufifaliichen Sonderbarfeiten ſich zu deuten, die num in feſſelloſer Willkür bis zum bunteſten chaotiſchen Gewirre los— gelaſſen werden konnten.

Deutſche Muſiker ſtanden dem Geiſte Beethoven's nahe genug, um der abenteuerlichſten Richtung, die aus dem Mis— verftändniffe des Meiſters hervorging, fern zu bleiben. Sie fuchten fih vor den Konfequenzen jener Ausdrucksmanier zu retten, indem fie ihre äußerſten Spitzen abſchliffen, und durch Wiederaufnahme älterer Ausdrucksweiſen und ihre Verwebung mit dieſer neueften, ſich einen, in feiner künſtlichen Miſchung allgemeinen, fo zu fagen abftraften Mufitityl bildeten, in wel- chem eine fange Zeit ganz anftändig und ehrfam fortzumufiziven war, ohne daß don draſtiſchen Individualitäten große Störungen in ihm zu befürchten ftanden. Wenn Beethoven auf ung mei ſteus den Eindrud eines Menfchen macht, der uns Etwas zu jagen hat, was er aber nicht deutlich mittheilen kann, fo er-

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feinen feine modernen Nachfolger dagegen wie Menjchen, die und auf eine oft veizend umftändliche Weife mittheilen, daß fie uns Nichts zu jagen haben.

In jenem, alle Runftrichtungen verzehrenden Paris aber war es, wo ein mit ungewöhnlicher mufifalifcher Intelligenz be— gabter Franzoſe auch die hier bezeichnete Richtung bis in ihr äußerftes Ertrem hineinjagte. Hector Berlioz ift der unmit- telbare und energifchfte Ausläufer Beethoven's nach der Seite hin, von welcher dieſer fid) abwandte, fobald er mie ih es zuvor bezeichnete von ber Skizze zum wirklichen Gemälde vorſchritt. Die oft flüchtig Hingeworfenen, keden und grellen Bebderftriche, in denen Beethoven feine Werfuche zum Auffinden neuen Ausdrucksvermögens ſchnell und ohne prüfende Wahl aufzeichnete, fielen als faſt einzige Erbſchaft des großen Künft- lers in des begierigen Schülers Hände. War es eine Ahnung davon, daß Beethoven's vollendetfte8 Gemälde, feine legte Sym« phonie, aud daS letzte Werk biefer Art überhaupt bleiben würbe, die Berlioz, ber num auch große Werke ſchaffen mollte, nad eigenfüchtigem Ermefjen davon abzog, an jenen Gemälden des Meiſters eigentlichen Drang zu erforichen, diefen Drang, der wahrlid) ganz wo anderd Hinging, al3 nad Gättigung phan- taftiicher Willfür und Laune? Gewiß ift, daß Berlioz' Fünft- leriſche Begeifterung aus dem verliebten Hinftarren auf jene fonderbar krauſen Federſtriche ſich erzeugte: Entfegen und Ent- züden faßte ihn beim Unblide diefer räthjelhaften Zauberzeichen, in bie der Meifter Entzüden und Entfegen zugleich gebannt hatte, um durch fie dad Geheimniß kundzuthun, dad er nie in der Mufif ansprechen konnte, und einzig doch nur in der Mufit außfprechen zu können wähnte. Bei diefem Anblide faßte ben Hinftarrenden der Schwindel; wire und bunt tanzte ein heren- haftes Chaos vor den Augen, deren natürliche Sehfraft einer erblöbeten Vielfichtigfeit wich, in welcher ber Geblendete da far- bige, fleifhige Geftalten zu erbliden vermeinte, wo in Wahrheit nur geipenftiiche Knochen und Rippen ihren Spuf mit feiner Vhantafie trieben. Diefer geipenftiich erregte Schwindel war aber wirklich nur Berlioz' Begeifterung: erwachte er aus ihm, fo gewahrte er, mit der Abfpannung eines durch Dpium Be täubten, eine froftige Leere um fich her, die nun zu beleben er fich mühte, indem er die Erhigung feines Traumes ſich künſtlich

Die Oper und das Weſen der Mufit. 283

zurückrief, was ihm nur durch peinlich mühfame Abrichtung und Verwendung feines mufitaliichen Hausrathes gelingen wollte, In dem Beftreben, die feltfamen Bilder feiner graufam erhigten Phantafie aufzuzeichnen und der ungläubigen ledernen Welt feiner Parifer Umgebung genau und handgreiflich mitzu- theilen, trieb Berlioz feine enorme muſikaliſche Intelligenz bis zu einem vorher ungeahnten tedjnijchen Vermögen. Das, mas er ben Leuten zu fagen hatte, mar fo wunderlich, fo ungewohnt, fo gänzlich unnatürlich, daß er bieß nicht jo gerade heraus mit ſchlichten, einfachen Worten jagen konnte: er bedurfte dazu eines ungeheuren Apparates der Eomplizirteften Mafchinen, um mit Hülfe einer unendlich fein geglieberten und auf dad Mannigfal- tigite zugerichteten Mechanik Das kundzuthun, was ein einfach menſchliches Organ unmöglich ausfprechen fonnte: eben weil es etwas ganz Unmenfhlihes war. Wir kennen jet die über- natürlichen Wunder, mit denen einjt bie Priefterfchaft kindliche Menſchen der Art täufchte, daß fie glauben mußten, irgend ein lieber Gott gebe fie ihnen fund: Nichts als die Mechanik hat von je dieſe täufchenden Wunder gewirkt. So wird auch heut’ zu Tage das Übernatüclie, eben weil e3 dad Unnatürliche ift, dem verblüfften Publitum nur durch die Wunder der Me- chanik vorgeführt, und ein ſolches Wunder ift in Wahrheit das Berlioz'ſche Orcefter. Jede Höhe und Tiefe der Fähigkeit diefed Mechanismus hat Berlioz bis zur Entwidelung einer wahrhaft ftaunenswürdigen Kenntniß ausgeforfcht, und wollen wir die Erfinder unferer Heutigen inbuftriellen Mechanik als Wohlthäter der modernen Staatsmenſchheit anerkennen, jo müſſen wir Berlioz als den wahren Heiland unferer abfoluten Mufitwelt feiern; denn er hat es deu Mufifern möglich gemacht, den allerunfünftlerifchjten und nichtigiten Inhalt des Mufit- machens durch unerhört mannigfaltige Verwendung bloßer me— chaniſcher Mittel zur verwunberlichften Wirkung zu bringen. Berlioz felbft veizte beim Beginn feiner fünftlerifchen Laufe bahn gewiß nicht der Ruhm eines bloß mechaniſchen Erfinders: in ihm lebte wirklich Tünftlerifcher Drang, und diefer Drang war brennender, verzehrender Natur. Daß er, um diefen Drang zu befriedigen, durch das Ungefunde, Unmenfchliche in ber zuvor näher befprochenen Richtung bis .auf den Punkt getrieben wurbe, wo er ald Künftler in der Mechanik untergehen, ald übernatür-

284 Oper und Drama:

licher, phantaftifcher Schtwärmer in einen allverſchlingenden Ma- terialismuß verfinfen mußte, das macht ihn außer zum wars nenden Beifpiele um fo mehr zu einer tief bedauernswürdigen Erſcheinung, als er noch heute von wahrhaft künſtleriſchem Seh— nen verzehrt wird, wo er doch bereit3 rettungslos unter dem Wuſte feiner Maſchinen begraben liegt.

Er ift das tragifhe Opfer einer Richtung, deren Erfolge von einer anderen Geite her mit ber allerjchmerzlofeften Un— verſchämtheit und dem gleichgültigiten Behagen von ber Welt außgebeutet wurden. Die Oper, zu ber wir und nun zurüds wenden, verfchludte auch die Berlioz'ſche Neuromantit als feifte, wohlſchmeckende Aufter, deren Genuß ihr von Neuem ein glaues, grundbehagliches Anſehen gab.

Der Oper war aus dem Gebiete der abſoluten Muſik ein ungeheurer Zuwachs an Mitteln des mannigfaltigſten Aus— drudes durch das moderne Orcheſter zugeführt worden, das im Sinne des Opernfomponiften nun ſelbſt ſich „dra— matiſch“ zu gebärden abgerichtet war. Zuvor war das Orcheſter nie etwas Anderes als der harmoniſche und rhythmiſche Träger der Opernmelodie gewefen: mochte es in biefer Stellung noch fo reich und üppig ausgeſtattet worden ſein, immer blieb es dieſer Melodie untergeordnet, und wo es zur unmittelbaren Theilnahme an dieſer Melodie, zu ihrem Vortrage ſelbſt gelangte, diente es doch gerade immer nur eben dazu, diefe Melodie, als unbebingte Herrfcherin, durch gleichſam prachtvollſte Ausſtat- tung ihres Hofitantes, deſto glänzender und ftolzer erjcheinen zu laſſen. Alles, was zur nothmwendigen Begleitung der dra- matifchen Handlung gehörte, wurde für das Orcheſter dem Ge— biete des Ballet3 und der Pantomime entnommen, auf welchem fi) der melodifche Ausdruck ganz nach ben gleichen Geſetzen aus der Volkstanzweiſe entwidelt hatte, wie die Opernarie auß ber Volksliedweiſe. Wie diefe Weile dem millfürlichen Belieben des Sänger? und endlich de3 erfindungsfüchtigen Komponiften, fo Hatte jene dem des Tänzer und Pantomimifer8 ihre Ber- zierung und Ausbildung zu verdanken gehabt: in beiben war aber unmoglich die Wurzel ihres Weſens anzutaften geweſen,

. Die Oper und das Weſen der Muflt. 285

weil dieſe außerhalb des Opernkunſtbodens, den Yaltoren der Oper unerfenntlih und unzugänglich ftand, und dieſes Weſen fpra fi in der feharf gezeichneten melißmatifchen und rhyth- miſchen Form aus, deren Hußerlicjfeit die Komponiſten wohl variiren, deren Linien fie aber nie verwiſchen durften, ohne gänzlich anhaltslos im allerunbeftimmteften Ausdrudschaos da— hin zu ſchwimmen. So war die Bantomime jelbft von der Tanz⸗ melodie beherrfcht worden; der Pantomimiter konnte Nichts durch Gebärden für ausdrucksmöglich halten, als was die, an firenge rhythmiſche und melismatijche Konvenienzen gefeſſelte Zanzmelobie irgendwie entſprechend zu begleiten im Stande war: er blieb ftreng gebunden, feine Bewegungen und Gebär- den, und fomit dad duch fie Auszudrückende, nur nad dem Vermögen der Mufit abzumefien, ſich und fein eigenes Der- mögen nad) dieſem zu mobeln und ftereotypifch feitzufegen, ganz wie in der Oper der fingende Darfteller fein eigenes dra- matifche8 Vermögen nad) dem Vermögen des ftereotypen Arien: ausdrudes temperiren, und fein eigenes, nach der Natur der Sache in Wahrheit eigentlich zum Geſetzgeben berechtigtes Ver: mögen unentwidelt laſſen mußte.

In der naturwibrigen Stellung ber fünftlerifchen Faktoren zu einander war denn in Oper wie in Pantomime der mufifa- liſche Ausdrud an ftarrem Formalismus Haften geblieben, und namentlih hatte aud) das Orchefter als Begleiter de3 Tanzes und der Pantomime nicht die Fähigfeit des Ausdruckes gewinnen tönnen, die es hätte erreichen müflen, wenn der Gegenjtand der Orchefterbegleitung, die dramatiſche Pantomime, fich nad ihrem eigenen unerſchöpflichen inneren Vermögen entwideln und fo an fich dem Orcefter den Stoff zu wirklicher Erfindung zu⸗ weiſen hätte dürfen. Nichts Anderes als jener unfreie, banale rhythmiſch⸗ melodiſche Ausdrud in der Begleitung pantomimifcher Altionen war bisher dem Orchefter auch in der Oper möglich gewefen: einzig durd; Üppigfeit und Glanz im äußerlichſten Kolorit hatte man ihn zu bariiren berfucht.

In der felbjtändigen Inftrumentalmufit war nun dieſer ftarre Ausdrud gebrochen worden, und zwar dadurch, daß feine melodiſche und rhythmiſche Form wirklich in Stücke zerfchlagen ward, die nım nach rein mufifalifchem Ermeſſen zu neuen, un endlich mannigfaltigen Formen verfchmolzen wurden. Mozart

286 Oper und Drama!

begann in feinen fomphonifchen Werfen noch mit der ganzen Melodie, die er, wie zum Spiele, kontrapunktiſch in immer Hei- nere Theile zerlegte; Beethoven's eigenthümlicftes Schaffen begann mit diefen zerlegten Stüden, aus denen er vor unferen Augen immer reichere und ftolzere Gebäude errichtet; Berlioz aber erfreute fi an der Fraufen Verwirrung, zu der er jene Stüde immer bunter Durch einander ſchüttelte, und die ungeheuer Komplizirte Maſchine, den Kaleidoflop, worin er bie bunten Steine nad) Belieben durch einander rüttelte, reichte er dem mos dernen Opernfomponiften im Orcheſter bar.

Diefe zerfchnittene, zerhadte und in Atome zerfegte Melo- die, deren Stüde er nach Belieben, je widerſpruchsvoller und ungereimter, befto auffallenber und abfonderlicher, an einander fügen Eonnte, nahm nun der Opernfomponift vom Orchefter in den Gefang felbft auf. Mochte diefe Urt melodiichen Ver— fahrens, in Orcheſterſtücken allein angewandt, phantaftifch launen⸗ haft erjcheinen, fo war hier doch Alles zu entſchuldigen; bie Schwierigkeit, ja Unmöglichfeit, fi in ber Mufit allein mit voller Beſtimmtheit außzufprechen, hatte felbft die ernfteften Meifter fon zu diefer phantaſtiſchen Launenhaftigteit verführt. In der Oper aber, mo mit dem ſcharfen Worte der Dichtkunft dem Muſiker der ganz natürliche Anhalt zu ſicherem, unfehl- barem Ausdrucke gegeben war, ift biefe freche Verwirrung jebed Ausdrudes, diefe abfichtlich raffinirte Werftümmelung jedes irgend noch gefunden Organes dieſes Ausdruckes, wie es fi in der fragenhaften Aneinanderreihung der unter ſich frembartigften und grundverfchiedenften melodijchen Elemente in ber mobern- ften Opernweife fundgiebt, nur dem vollftändig eingetretenen Wahnfinne des Komponiſten zuzufchreiben, der in dem hoch— müthigen Worgeben, da8 Drama aus abjofut mufifalifchem Ver⸗ mögen für fi) allein, mit nur dienender Hilfe des Dichters, zu erfhaffen, nothwendig bis dahin fommen mußte, wo wir ihn zum Gelächter jebes Wernünftigen heut’ zu Tage ange tommen fehen.

Vermöge bed ungeheuer angemwachjenen muſikaliſchen Ap- parate8 glaubte der Konponiſt, ber fich feit Roffini nur nad der frivolen Seite in entwidelt und nur von der abfoluten DOpernmelodie gelebt Hatte, fich nun auch berufen, vom Stand: punkte der melodifchen Srivolität auß zur dramatifhen „Cha

Die Oper und das Wefen der Muſik. 237

rakteriſtik“ fühn und keck vorfchreiten zu dürfen. Als folcher „Charatteriftiter* wird nicht nur vom Publitum, das Tängft zu feinem tieflompromittirten Mitverbrecher an der Wahrheit der Muſik gemacht worden war, fondern auch von der Kunſtkritik der berühmtefte moberne Opernfomponift gefeiert. Im Hinblick auf größere melodifche Reinheit früherer Epochen, und im Ver gleich mit biefer, wird die Meyerbeer'ſche Melodie zwar als frivol und gehaltlo8 von der Kritik verworfen; in Rückſicht auf die ganz neuen Wunder im Gebiete der „Charakteriftit”, die feiner Muſik entblüht feien, wird dieſem Komponiften aber Sünbenablaß ertheilt, wobei denn dad Geftändniß mit un- terläuft, daß man mufifalifch-dramatiihe Charakter: iftil am Ende nur bei frivoler, gehaltlofer Melodik für möglich halte, was fchlieklich einzig wieder ben Afthetifer mit bebenflihem Miötrauen gegen dad Operngenre überhaupt er- füllt.

Stellen wir uns überſichtlich das Weſen dieſer mobernen „Eharatteriftif” in der Oper dar.

VI.

Die moderne „Charakteriftif“ in der Oper unterfcheibet ſich ſehr wefentli von Dem, wad vor Roffini in der Gluckſchen ober ber Mozart’schen Richtung uns für Charakteriſtik gelten muß.

lud war wiflentlih bemüht, im deflamirten Rezitativ wie in der gefungenen Arie bei voller Beibehaltung dieſer For: men und neben der inftinftmäßigen Hauptforge, den gewohnten Forderungen an ihren rein mufikalifchen Inhalt zu entfprechen, die in der Tertunterlage bezeichnete Empfindung fo getreu wie möglich durch ben mufifaliihen Ausdrud wiederzugeben, vor Allen aber auch den rein deffamatorifchen Accent des Verſes nie zu Gunften dieſes mufifalifchen Ausbrudes zu entftellen. Ex gab fih Mühe, in der Muſik richtig und verſtändlich zu fprechen.

Mozart konnte feiner ferngefunden Natur nach gar nicht anders al3 richtig ſprechen. Er ſprach mit derſelben Deutlichfeit den rhetoriichen Zopf, wie den wirklich dramatiſchen Accent aus: bei ihm blieb Grau grau, Roth roth; nur daß diefes Grau wie diefes Roth, in den erfriichenden Thau feiner Muſik getaucht, in

288 Oper und Drama!

alle Nüancen der urfprünglicden Farbe ſich auflöfte, und fo als mannigfaltigfte® Grau, wie als mannigfaltigftes Roth fih dar— bot. Unwillkürlich adelte feine Muſik alle nach theatralifcher Kon- venienz ihm hingeworfenen Charaktere dadurch, daß fie gleichjam den rohen Stein jchliff, ihn nach allen Seiten dem Lichte zuwandte und in ber Richtung endlich feithielt, in welcher das Licht die glängendften Farbenſtrahlen aus ihm z0g. Auf diefe Weife ver- mochte er die Charaktere de8 „Don Juan“ 5.8. zu einer folchen Zülle des Ausdrudes zu erheben, daß e3 einem Hoffmann beis kommen burfte, bie tiefften, geheimnißvollften Beziehungen zwi— ſchen ihnen zu erfennen, von denen weder Dichter noch Kom— ponift ein wirkliches Bewußtſein Hatten. Gewiß ift aber, daß Mozart durch feine Muſik allein unmöglich in diefer Art hätte harakteriftifch fein können, wenn die Charaktere felbft im Werte des Dichter nicht vorhanden geweſen wären. Je mehr wir durch die glühende Farbe der Mozart'ſchen Muſik auf den Grund zu blicken vermögen, mit defto größerer Sicherheit erfennen wir die ſcharfe und beſtimmte Federzeichnung des Dichters, die durch ihre Linien und Striche die Farbe des Mufiferd erſt bedang, und ohne die jene wundervolle Muſik geradesweges unmöglich war.

Die in Mozart’8 Hauptwerke von und angetroffene, fo über- raſchend glückliche Beziehung zwifchen Dichter und Komponiſten fehen wir aber im ferneren Verlaufe ber Entwidelung der Oper gänzlich wieder verfchwinden, bis, wie wir fahen, Rofjini fie gänzlich aufhob, und die abfolute Melodie zum einzig bered)- tigten Saftor ber Oper machte, dem alles übrige Intereffe, und vor Allen die Betheiligung des Dichters, fi vollfommen unter- zuordnen hatte. Wir fahen ferner, daß der Einſpruch Weber’s gegen Roffini nur gegen die Seichtigkeit und Charakterlofigkeit diefer Melodie, keinesweges aber gegen die unnatürliche Stel- fung des Mufiferd zum Drama felbft gerichtet war. Im Gegen- theile verftärfte Weber dad Unnatürliche diefer Stellung nur noch dadurch, daß er durch charakteriftifche Veredelung feiner Melodie fi eine noch erhöhte Stellung gegen den Dichter zu- theilte, und zwar gerade um fo viel erhöht, als feine Melodie die Roffini’fche eben an harakteriftiichem Adel übertraf. Zu Roſ- fini gefellte ji der Dichter als Iuftiger Schmaroger, den ber Komponift als vornehmer, aber Leutfeliger Mann mit Auftern und Champagner nach Herzensluft traftirte, jo daß der folgfame

Die Oper und dad Weſen der Mufit. 289

Poet bei feinem Herrn der Welt fich befler befand, als bei dem famofen Maeftro. Weber dagegen, erfüllt von unbeugjamem Glauben an die charafteriftifche Reinheit feiner einen und un— theilbaren Melodie, Inechtete ſich den Dichter mit dogmatifcher Graufamkeit und zwang ihn, den Scheiterhaufen ſelbſt aufzu: richten, auf dem der Unglüdliche, zur Nahrung des Feuers der Weber'ſchen Melodie, ſich zu Aſche verbrennen laſſen follte. Der Dichter des „Freiſchützen“ war noch ganz ohne es zu wiffen zu diefem Selbftmorde gefommen: aus feiner eigenen Afche heraus proteftirte er, als die Wärme des Weber'ſchen Feuers noch die Luft erfüllte, und behauptete, diefe Wärme rühre von ihm her: er irete fich gründlich; feine hölzernen Scheite gaben, nur Wärme, als fie vernichtet verbrannt waren; einzig ihre Aſche, ben profaifchen Dialog, konnte er nach dem Brande noch als fein Eigenthum auögeben.

Weber fuchte ſich nach dem „Freiſchützen“ einen gefügigeren Dichterknecht, und nahm zu einer neuen Oper eine Frau in Sold, von deven unbedingterer Unterordnung er fogar verlangte, daß fie nad) dem Brande ded. Scheiterhaufens nicht einmal die Aſche ihrer Profa nachlaſſen follte: fie follte fi mit Haut und Haar in der Gluth feiner Melodie verbrennen laſſen. Uns ift aus der Korrefpondenz Weber’3 mit Frau von Chezy während der Un- fertigung des Euryanthetertes befannt geworden, mit welch’ peinlicher Sorgfalt er fich genöthigt fühlte, wiederum feinen dich- terifchen Helfer bis auf das Blut zu quälen; wie er verwirft und vorſchreibt, und wieder vorfchreibt und vermwirft; Bier ftreicht, dort binzuverlangt; hier verlängert, dort verfürzt haben will, ja feine Unordnungen bis auf die Charaktere felbft, ihre Mo- tive und Handlungen erftredt. War er hierin etwa ein krank— after Eigenfinniger, oder ein übermüthiger Parvenü, der, durch den Erfolg feines „Sreifchügen“ eitel gemacht, jegt als Despot befehlen wollte, wo er naturgemäß zu gehorchen gehabt hätte? O nein! Aus ihm ſprach mit Teidenfchaftlicher Erregtheit nur die ehrliche ünftlerifche Sorge des Mufifers, der, duch den Drang der Umftände verführt, es übernommen hatte, das Drama jelbit aus ber abfoluten Melodie zu konſtruiren. Weber war hierbei in einem tiefen Irrthume, aber in einem Irrthume, der ihm mit Nothwendigfeit Hatte ankommen müffen. Er hatte die Melodie zu ihrem ſchönſten, gefühlvollften Abel erhoben, er wollte fie num

Rigard Wagner, Gel. Sqhriſten IIL 19

290 Oper und Drama

als Mufe des Drama’s felbft krönen, und durch ihre ftarfe Hand all’ daS lüderliche Gezücht von der Bühne jagen lafien, das biefe entweihte. Hatte er im „Freiſchützen“ alle lyriſchen Büge der Operndichtung in diefe Melodie Hingeleitet, jo wollte er num aus den Lichtftrahlen ſeines melodiſchen Sternes das Drama felbft ausgießen. Man könnte fagen, feine Melodie zur „Euryanthe“ fei eher fertig gemwefen, als die Dichtung; um dieſe zu liefern, brauchte er nur Jemand, der feine Melodie vollkom— men im Ohre und im Herzen Hatte, und ihr bloß nachdichtete; da praltiſch dieß aber nicht möglich war, fo gerieth er mit feiner Dichterin in ein ärgerlich theoretiſches Hin- und Herzanken, in welchem weder von der einen, noch der anderen Geite her eine Hare Verftändigung möglich wurde, fo daf wir gerade an diefen Falle bei ruhiger Prüfung recht deutlich zu erfehen haben, bis zu welcher peinlichen Unficherheit Männer von Weber's Geifte und fünftlerifcher Wahrheitsliebe Durch das Feſthalten eines fünft- leriſchen Grundirrthumes verleitet werden fönnen.

Das Unmögliche mußte endlich aud) Weber unmöglich blei— ben. Er konnte durch al’ feine Andeutungen und Verhaltungs= befehle an ben Dichter Feine dramatifche Unterlage zu Stande befommen, die er vollftändig in feine Melodie hätte auflöjen Können, und zwar gerade deßwegen, weil er ein wirkliches Drama zu Tage fördern wollte, nicht nur ein mit Igrifchen Momenten erfülltes Schaufpiel, von dem er wie im „Freiſchützen“ eben Nichts als bloß diefe Momente für feine Muſik zu verwenden gehabt hätte. In dem Terte der „Euryanthe“ blieb neben dem dramatiſch⸗lyriſchen Elemente für dad wie id) mich ausdrüdte bie Melodie im Voraus fertig war, doc) fo viel, der abfoluten Muſik fremdartige Beigabe übrig, daß Weber es mit feiner eigentlichen Melodie nicht zu beherrichen vermochte. Wäre diejer Tert das Werk eines wirklichen Dichter gewefen, der den Mu— ſiker fo nur zu feiner Hilfe herbeigerufen hätte, wie jet e8 dem Dichter vom Muſiker gefchehen war, jo würde diefer Mufifer in der Liebe zu dem vorliegenden Drama nicht einen Yugenblid in Verlegenheit gerathen fein: er würde da, wo er für feinen brei- teren mufifalifchen Ausdrud keinen nährenden oder rechtjertigen- den Stoff erkannte, fih nur nad) feinem geringeren Vermögen, dem einer untergeordneten, dem Ganzen dennoch aber immer Hilfreihen Begleitung, beteiligt, und nur da, mo ber vollſte

Die Oper und das Wefen ber Muſik. 291

mufifafifche Ausdrud nothwendig und aus dem Stoffe bebungen war, auch nad} feinem vollften Vermögen eingewirkt haben. Der Text der „Euryanthe“ war jedoch aus dem umgefehrten Ver— hältniſſe "zwifchen Muſiker und Dichter hervorgegangen, und der eigentlich dichtende Komponift vermochte überall da, wo er na- turgemäß abzuftehen ober zurüdzutreten gehabt hätte, jet nur eine doppelt gefteigerte Aufgabe für fich zu erfehen, nämlid) die Aufgabe, einem mufifalifh völlig fpröden Stoffe dennoch ein volllommen muſikaliſches Gepräge aufzubrüden. Dieß hätte Weber nur gelingen können, wenn er fid) iu die frivole Rich— tung der Muſik fhlug; wenn er, von aller Wahrheit‘ gänzlich abjehend, dem epikureifchen Elemente der Muſik die Zügel ſchießen ließ, und & la Roffini Tod und Teufel in amüfante Melodieen umgefept hätte. Allein gerade Hiergegen erhob ja Weber feinen träſtigſten künſtleriſchen Einfpruch: feine Melodie ſollte überall charaktervoll, d. 5. wahr und ber gegenſtändlichen Empfin⸗ dung entſprechend fein. Er mußte alſo zu einem anderen Ver⸗ fahren ſchreiten.

Überall da, wo feine in langen Zügen ſich lundgebende, meiſt im Voraus fertige und auf den Text, gleich einem glän⸗ zenden Gewande, bahingebreitete Melodie diefem Texte einen zu erfennbaren Zwang hätte anthun müffen, brach er diefe Melodie feldft in Stüde, und bie einzelnen Theile feines melodifchen &e- bäubes fügte er dann, je nad) der deflamatorijchen Erforderniß der Textworte, zu einem, künſtlichen Mofait zufammen, das er wieber mit einem feinen melodifchen Firniß überzog, um fo den ganzen Gefüge für den äußeren Anblid immer noch den Anfchein der abjoluten, möglicft jelbft von den Tertworten loszulöſen⸗ den, Melodie zu bewahren. Die beabfichtigte Täufhung gelang ihm aber nicht.

Nicht nur Roffini, fondern Weber ſelbſt auch Hatte die ab: folute Melodie fo entjhieden zum Hauptinhalt der Oper erhoben, daß diefe, aus dem dramatifchen Zuſammenhange herausgerifien und jelbft der Textworte entfleidet, in ihrer nadteften Ge— ftalt Eigenthum des Publikums geworden war. Eine Melodie mußte gegeigt und geblafen, oder auf dem Klaviere gehänmer! werben Eönnen, ohne daburd im Mindeften etwas von ihrer eigentlichen Eſſenz zu verlieren, wenn fie eine wirkliche Publi— fumömelodie werden wollte. Auch in Weber’3 Opern ging dad

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292 . Oper und Drama:

Publitum nur, um’ möglichſt viele folder Melodieen zu hören, und fehr Hatte der Meifter fich geirrt, wenn ex ſich jchmeichelte, auch jenes überfirnißte deflamatorifche Mofait von dieſem Pu— blitum für Melodie angenommen zu fehen, worauf ed grund- Täglich dem Komponiften doch wiederum ankam. Konnte dieſes Mofaik in den Augen Weber's ſelbſt nur durch den Worttert ge— rechtfertigt erfcheinen, fo war auf der einen Seite das Publikum und zwar bier mit vollem Rechte durchaus gleihgiltig gegen die Tertworte; auf der anderen Seite aber mußte es ſich wieder heraußftellen, daß dieſer Tert doch nicht einmal volltom- men entjprechend in der Mufif tviedergegeben war. Gerade dieſe unzeitige, halbe Melodie wandte die Aufmerffamteit des Zu— hörers von Wortterte ab und der Spannung auf die Bildung einer Melodie zu, die in Wahrheit aber nicht zu Stande fam, fo daß dem Zuhörer dad Verlangen nad; Darlegung eines dich— terifchen Gedankens im Voraus erftict, ber Genuß einer Melodie aber um fo empfindlicher geſchmälert wurde, als das Verlangen nad) ihr erwedt, nicht aber erfüllt worden war. Außer da, wo in der „Euryanthe“ der Tonfeger nad) künftlerifchem Ermeſſen feine volle natürliche Melodie für gerechtfertigt halten durfte, fehen wir in demjelben Werke zugleich nur da fein höheres fünft- leriſches Streben mit wirklichem und ſchönem Erfolge gekrönt, wo er ber Wahrheit zu Liebe der abjoluten Melodie gänz- lich entjagt, und wie in ber Anfangsſcene des erften Alktes durch den edelften und treueiten mufifalifchen Ausdrud bie gefühlvolle dramatiſche Rebe, als ſolche, jelbft wiedergiebt; wo er ſomit die Abficht feines eigenen fünftlerifchen Schaffens nicht mehr in die Mufik, ſondern in die Dichtung ſetzt, und die Mufit nur zur Förderung diefer Abſicht verwendet, welche in folder Fülle und überzeugender Wahrheit wiederum nur durch die Muſik zu ermöglichen war.

Die „Euryanthe“ ift von der Kritit nicht in dem Maafe beachtet worden, als fie es ihres ungemein lehrreichen Inhaltes wegen verdient. Das Publikum ſprach ſich unentſchieden, halb angeregt, halb verſtimmt, aus; die Kritik, die, im Grunde ge— nommen, immer nur nad) der Stimme des Publitums horcht, um je nad) ihrer vorgefaßten Meinung fich entweder ganz nad) ihr und dem äußeren Erfolge zu richten, oder auch fie blind- lings zu befämpfen, hat es nie vermocht, die grundverjchiedenen

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Elemente, die ſich in diefem Werke auf das Wiberfpruchvollfte berühren, ar zu fichten und aus dem Streben des Komponiften, fie zu einem Barmonifchen Ganzen zu vereinigen, feine Erfolg: loſigkeit zu rechtfertigen. Nie ift aber, fo lange e8 Opern giebt, ein Wert verfaßt worden, in welchem die inneren Widerfprüche des ganzen Genre's von einem gleich begabten, tief empfinden- den und mwahrheitliebenden Tonfeger, bei ebelftem Streben, das Beſte zu erreichen, Tonfequenter durchgeführt und offener dar- gelegt worden find. Diefe Widerjprüche find: abfolute, ganz für fi allein genügende, Melodie, und durch— gehends wahrer dramatifher Ausdrud. Hier ‚mußte nothwendig Eines geopfert werden, die Melodie oder das Drama. Roffini opferte das Drama; der edle Weber wollte es durch die Kraft feiner finnigeren Melodie wieder Herftellen. Er mußte erfahren, daß dieß unmöglich fei. Müde und erſchöpft von der qualvollen Mühe feiner „Euryanthe”, verfenkte er fih in die weichen Polfter eine3 orientalifchen Märchentraumes; durch das Wunderhorn Oberon’8 hauchte er feinen legten Lebensathem von fich. J

Was dieſer edle, liebenswürdige Weber, durchglüht von dem heiligen Glauben an die Allmacht ſeiner reinen, dem ſchönſten Volksgeiſte abgewonnenen Melodie, erfolglos erſtrebt Hatte, das unternahm nun ein Jugendfreund Weber's, Jakob Meyer— beer, vom Standpunfte der Roſſini'ſchen Melodie auß zu be— werfitelligen.

Meyerbeer machte alle Phaſen der Entwicelung diefer Me— lodie mit durch, und zwar nicht aus abftrafter Ferne, fondern in ganz realer Nähe, immer an Ort und Stelle. Als Jude Hatte er feine Mutterfprache, die mit dem Nerve feines innerften Weſens untrennbar verwachſen geweſen wäre: er fprad) mit demfelben Interefje in jeder beliebigen modernen Sprache und ſetzte fie ebenfo in Mufit, ohne alle andere Sympathie fir ihre Eigen- thümlichkeiten, als die für ihre Fähigkeit, der abfoluten Mufit nad) Belieben untergeordnet zu werden. Dieſe Eigenſchaft Meyer- beer's hat ihn mit Gluck vergleichen laſſen; auch dieſer kompo— nirte als Deutſcher italieniſche und franzöſiſche Opernterte. Im der That Hat Gluck nicht aus dem Inſtinkte der Sprache (die in

294 Dper und Drama:

jolchem Falle immer nur die Mutterfprache fein Tann) heraus feine Muſil gejchaffen; worauf e8 ihm bei feiner Stenung als Mufifer zur Sprade anfam, war die Rede, wie fie ald Auße- rung des Sprachorganismus' auf der Oberfläche diefer Taufende bon Organen ſchwebt; nicht aus der zeugenden Kraft diefer Organe ftieg fein Produktionsvermögen durch die Rede zum mufifaliichen Ausdrud hinauf, fondern vom losgelösten mufifalifchen Aus- drud ging er zur Rebe erft zurüd, nur um dieſen Ausdruck in feiner Unbegründetheit irgendwie zu rechtfertigen. So konnte Glud jede Sprache gleichgültig fein, weil e& ihm eben nur auf die Rede ankam; hätte die Muſik in diefer trandfcendenten Rich- tung durch die Rebe auch bis auf den Organismus der Sprache ſelbſt durchdringen Können, fo hätte fie allerdings ſich volllom⸗ men umgeftalten müffen. Ich muß, um den Gang meiner Darftellung Hier nicht zu unterbrechen, diefen äußerft wichtigen Gegenftand zu einer gründlichen Erörterung am geeigneten Orte meiner Schrift aufbewahren; für bier genüge e8, den Umftand der Beachtung zu empfehlen, daß Glud es auf die Iebendige Rede überhaupt gleichviel in welcher Sprahe ankam, da er in ihr allein eine. Rechtfertigung für die Melodie fand; feit Roffini war diefe Rede aber gänzlich durch die abfolute Melodie aufgezehrt, nur ihr materielljtes Gerüft diente in Vokalen und Konfonanten als Anhalteftoff des mufifalifhen Tone. Meyer: beer war durch feine Öleichgiltigkeit gegen den @eift jeder Sprache und durch fein hierauf begründetes Vermögen, ihr Hußerliches mit leichter Mühe ſich zu eigen zu machen (eine Fähigkeit, die durch unfere moderne Bildung dem Wohlftande überhaupt zu- geführt ift) ganz darauf hingewieſen, e8 nur mit der abfoluten, von allem ſprachlichen Zufammenhange losgelöſten Mufif zu thun zu haben. Außerdem war er dadurch fähig, überall an Ort und Stelle den Erfcheinungen in dem bezeichneten Entwidelungs- gange der Opernmuſik zuzufehen: er folgte immer und überall= hin feinen Schritten. Beachtenswerth ift es vor Allem, daß er diefem Gange eben nur folgte, nie aber mit ihm, geſchweige denn ihm irgendwie voraußging. Er gli dem Staare, der dem Pflugſchare auf dem Felde folgt, und aus der foeben aufgewühl- ten Aderfurde fuftig die an die Luft gejeten Regenwürmer aufs pidt. Nicht eine Richtung ift ihm eigenthümlich, ſondern jebe hat er nur feinem Vorgänger abgelauſcht und mit ungeheurer

Die Oper und das Weſen der Mufit. 295

Oftentation ausgebeutet, und zwar mit fo erſtaunlicher Schnel- ligfeit, daß der Vormann, dem er laufchte, kaum ein Wort aus- gefprochen Hatte, al3 er auch die ganze Phraje auf diefes Wort bereit ausſchrie, unbefümmert, ob er den Ginn dieſes Wortes richtig verftanden hatte, woher es denn gemeiniglich kam, daß er eigentlich doch immer etwas Anderes fagte, als was der Vor— mann hatte außfprechen wollen; ber Zärmen, den die Meyer: beer’fche Phraſe machte, war aber fo betäubend, daß der Vor— mann gar nicht mehr zum Sumdgeben bed eigentlihen Siunes feiner Worte Fam: mochte er wollen ober nicht, er mußte endlich, um nur au mitreden zn dürfen, in jene Phrafe felbft mit ein» ftimmen.

In Deutfchland einzig gelang es Megerbeer nicht, eine Ju— gendphrafe aufzufinden, die irgendwie auf das Weber’iche Wort gepaßt hätte: was Weber in melodiſcher Lebensfülle kundgab, tonnte fich in Meyerbeer’3 angelerntem, trodenem Formalismus nicht nachſprechen laſſen. Er laufchte, der unergiebigen Mühe überdrüffig, freunbes:verrätheriich endlih nur noc den Roſ— fin’’fchen Sirenentlängen, und zog in das Land, wo dieſe Ro— finen gewachſen waren. So wurde er zur Wetterfahne des euro» päifchen Opernmufitwetterd, die fi immer beim Windwechſel zunächſt eine Zeit lang unfchlüffig um und um dreht, biß fie, erft nach dem Seftitehen der Windrichtung, auch felbft ftill Haftet. So komponirte Meyerbeer in Italien gerade auch nur fo lange Opern & la Roffini, bis in Paris der große Wind fich zu drehen anfing, und Auber und Rofjini mit „Stumme“ und „Tell“ den neuen Wind biß zum Sturm anbliefen! Wie ſchnell war Meyer- beer in Paris! Dort aber fand er in dem franzöfifch aufge griffenen Weber (man denfe au „Robin des bois“) und dem verberliozten Beethoven Momente vor, die weder Auber noch Roſſini, ald ihnen zu fern abliegend, beachtet hatten, die aber Meyerbeer vermöge feiner Allermeltsfapazität jehr richtig zu wür- digen verftand. Er faßte Alles was fi) ihm fo darbot, in eine ungeheuer bunt gemifchte Phrafe zufammen, vor deren grellem Auffchrei plögfich Auber und Roffini nicht mehr gehört wurden: der grimmige Teufel „Robert“ holte fie alle mit einander.

Es hat etwas fo tief Betrübendes, beim Überblide unferer Dperngefchichte nur von den Todten Gutes reden zu kön— nen, die Lebenden aber mit ſchonungsloſer Bitterkeit verfolgen

296 Oper und Drama:

zu müſſen! Wollen wir aufrichtig fein, weil wir e8 müffen, jo haben wir zu erfennen, daß nur die abgejchiedenen Meifter diefer Kunft die Glorie des Märtyrertfumes verdienen, weil, wenn fie in einem Wahne befangen waren, dieſer Wahn ſich in ihnen fo edel und ſchön zeigte, und fie felbit fo ernft und Heilig an feine Wahrheit glaubten, daß fie ihr künſtleriſches Leben mit ſchmerzvollem und doc freubigem Opfer für ihn ließen. Kein lebender und ſchaffeuder Tonfeger ringt aus innerem Drange mehr nach ſolchem Märtyrertgume; der Wahn ift fo weit aufge- det, daß Niemand mehr mit ftarfem Glauben in ihm befangen ift. Ohne Glauben, ja ohne Freude, ift die Opernkunſt ihren modernen Meijtern zu einem bloßen Artitel für die Spekulation herabgefunfen. Selbſt das Roſſini'ſche wollüftige Lächeln ift jegt nicht mehr wahrzunehmen; überall nur das Gähnen der Lange- weile oder das Grinfen des Wahnfinns! Faft zieht und der Un- blid des Wahnfinns noch am meiften an; in ihm finden wir doch noch den legten Athemzug jened Wahnes, dem einft jo eble Opfer entblühten. Nicht jener gaunerifchen Geite in der efcl- haften. Ausbeutung unferer Operntheaterzuftände wollen wir daher jeßt gedenken, wo wir ben legten lebenden und noch ſchaffenden Operntompofitions-Helden in feinem Wirken uns darftellen müffen: diefer Anblid könnte uns nur mit einem Un— willen erfüllen, in welchem wir vielleicht zu unmenſchlicher Härte gegen eine Perjönlichleit hingeriffen würden, wenn wir diefer die garftige Verberbtheit von Buftänden allein zur Laft legen wollten, die auch dieſe Perfönlichteit gewiß um fo mehr gefan- gen halten, als fie und auf ber ſchwindelndſten Spike derfelben, wie mit Krone und Szepter angethan, erſcheint. Wiffen wir nicht, daß Könige und Fürften, gerade in ihrem willfürlichiten Handeln, jet die Allerunfreieften find? Nein, betrachten wir in diefem Opernmufiffönige nur die Züge des Wahnfinns, durch die er und bedaueruswürdig und abmahnend, nicht aber ver— achtungswerth erfcheint! Um der ewigen Kunft willen müſſen wir aber die Natur dieſes Wahnſinns genau kennen lernen, weil wir aus feinen Verzerrungen am beutlichiten den Wahn zu erforfchen vermögen, der einem Kunftgenre fein Daſein gab, über deffen irrthümliche Grundlage wir Mar werden müffen, wenn wir mit gejundem jugendlichen Muthe die Kunſt ſelbſt wieder verjüngen wollen.

Die Oper und das Weſen ber Muflt. 297

Auch zu dieſer Erforſchung können wir jet in Turzen, raſchen Schritten vorwärts fchreiten, da wir dem Weſen nad den Wahnſinn fehon dargethan haben, den wir daher jegt nur _ nod in einigen kenntlichſten Zügen beobachten dürfen, um über ihn ganz ſicher zu fein.

Wir fahen die frivole d. 5. die von jedem wirklichen Zu- fammenhange mit den dichterifchen Tertworten abgelöfte Opern- melodie, durch Aufnahme der Nationalliebweife geſchwängert, bis zum Vorgeben hiſioriſcher Eharatteriftit ſich anlaffen. Wir beobachteten ferner, wie, bei immer mehr fchwindender charaf- teriſtiſcher Individualität der handelnden Hauptperfonen des mufitalifhen Drama’s, der Charakter der Handlung den um« gebenden „emanzipirten“ Mafjen zugetheilt wurde, von benen.biefer Charakter als Reflex erſt auf die handelnden Haupt- perfonen wieber zurüdfallen ſollte. Wir bemerkten, daf der um- gebenden Maffe nur durch das Hiftorifche Koftüm ein unterfcheie dender, irgend erlennbarer Charakter aufgeprägt werden Eonnte, und fahen den Komponiften um feine Suprematie zu behaup« ten gebrängt, den Deforationsmaler und Theaterfchneider, denen das Berbienft der Herſtellung hiſtoriſcher Charakteriftit eigentlich zufiel, durch die ungewöhnlichſte Verwendung feiner rein muſilaliſchen Hilfsmittel wiederum außzuftechen. Wir fahen endlich, wie dem Komponiften aus der verzweifeltften Richtung der Inftrumentalmufit eine abfonderlihe Art von Mofaitmelo- die zugeführt wurde, melde durch ihre willfürlichften Bufam- menfegungen ihm daß- Mittel bot, jeden Augenblid fo oft ihn darnach verlangte fremdartig und feltfam zu erſcheinen, ein Verfahren, dem er durch die munberlichite, “auf rein materiels les Auffallen berechnete, Verwendung des Orcheſters dad Ge— präge ſpeziellſter Charakteriſtik aufdrücken zu können glaubte.

Wir dürfen nun nicht aus den Augen laſſen, daß alles Dieß am Ende doch ohne Mitwirkung des Dichters unmöglich war, und wenden uns daher nun für einen Augenblick zur Brüs * fung des mobernften Verhältniſſes des Muſikers zum Dichter.

Die neue Opernrichtung ging durch Roffini entſchieden von alien aus: dort war der Dichter zur völligen Null herabge—

- funfen. Mit der Überfiedefung der Roſſini'ſchen Richtung nach

298 . Der und Drama:

Paris finderte fich auch die Stellung des Dichters. Wir bezeich- neten bereit8 die Eigenthümlichfeit der franzöfifchen Oper, und erfannten, daß der unterhaltende. Wortjinn des Couplets der Kern derfelben war. In der franzöfiichen komiſchen Oper Hatte der Dichter vordem dem Komponiſten nur ein bejtimmtes Feld angewiejen, das er für fich zu bebauen hatte, während dem Dich- ter der eigentliche Beſitz des Grundſtüdes verblieb. War nun auch jenes Mufiktercain, der Natur der Sache nad, allmählich fo angeſchwollen, daß es mit der Zeit das ganze Grundſtück ein- nahm, fo blieb doch dem Dichter immer noch der Titel des Be fie, und der Muſiker galt als der Lehnsmann, der zwar das ganze Lehn als erbliches Eigenthum betrachtete, dennoch aber wie im weiland römifch-deutihen Reiche dem Kaiſer als feinem Lehnsherrn Huldigte. Der Dichter verlieh und der Mufiler ge- noß. In diefer Stellung ift immer noch das Gefündefte zu Tage gefommen, was der Oper als dramatiſchem Genre entiprießen fonnte. Der Dichter bemühte fich wirklich, Situationen und Cha- raktere zu erfinden, ein unterhaltendes und fpannendes Stüd zu liefern, daß er erjt bei der Ausführung den Muſiler und deſſen Formen zurichtete, fo daß die eigentliche Schwäche dieſer feanzöfifchen Operndichtungen mehr darin lag, daß fie ihrem Inhalte nach die Muſik meift gar nicht als nothwendig bedangen, als darin, daß fie von vornherein vor der Mufit verſchwom⸗ men wären. Auf dem Theater der „Opsra comique‘‘ war dieſes unterhaltenbe, oft liebenswitrbige und geiſtvolle Genre heimifch, in welchem gerade dan immer das Beſte geleiftet wurde, wenn die Mufit mit ungezwungener Natürlichkeit in die Dichtung ein treten Tonnte. Dieſes Genre überfegten nun Scribe und Auber in die pomphaftere Sprache der fogenannten „großen Oper“. In der „Stummen von Bortici” können wir nod deutlich ein gut angelegte Theaterftüc erfennen, in welchem noch nirgend& mit auffallender Abſichtlichkeit das dramatiſche Intereſſe einem rein muſikaliſchen untergeordnet iſt: nur iſt in dieſer Dichtung die dramatiſche Handlung bereits ſehr weſentlich in die Bethei— ligung der umgebenden Maſſen verlegt, jo daß die Hauptper— fonen faft mehr nur redende Repräfentanten der Mafje, als ‚wirkliche, aus individueller Nothwendigkeit handelnde Perſonen abgeben. So ſchlaff ließ bereit3 der Dichter, vor dem imponiren- den Chaos der großen Oper angelangt, den Pferden des Opern-

Die Oper und das Wefen der Muſik. 299

wagens die Bügel jchießen, biß er diefe Zügel bald ganz auß der Hand verlieren ſolltel Hatte diefer Dichter in der „Stummen“ und im „Tell“ die Zügel noch in der Hand, weil weder uber noch Roffini etwas Anderes beifam, als in der prächtigen Opern- tutfche es ſich eben recht mufifalifch bequem und melodiöß be- haglich zu machen unbefümmert darum, wie und wohin der mohlgeübte Kutſcher den Wagen Ienkte —, fo trieb e8 num aber Mederbeer, dem jenes üppige melodifche Behagen nicht zu eigen war, dem Kutſcher feldft in die Zügel zu fallen, um durch das Bidzad der Fahrt das nöthige Auffehen zu erregen, das ihm nicht auf fi zu ziehen gelingen wollte, jobald er mit nichts Anderem ald feiner mufifaliihen Perſönlichkeit allein in der Kutſche ſaß.

Nur in einzelnen Unefdoten ift es und zu Ohren gekommen, mit welch' peinigender Duälerei Meyerbeer auf feinen Dichter, . Scribe, beim Entwurfe feiner Opernfüjets einwirkte. Wollten wir aber diefe Anekdoten auch nicht beachten, und müßten wir . gar Nicht? von dem Geheimniffe der Opernberathungen zwifchen Scribe und Meyerbeer, fo müßten wir doc an ben zu Stande gekommenen Dichtungen felbft Mar fehen, welcher beläftigende und verwirrende Zwang auf den fonit fo jchnell fertigen, fo leicht, geſchickt und verftändig arbeitenden Scribe gebrüdt haben muß, als er die bombaſtiſch baroden Texte für Meyerbeer zu fammenfegte. Während Scribe fortfuhr, für andere Operntom- poniften leicht fließende, oft interefjant entworfene, jedenfalls mit vielem natürlichen Geſchick ausgeführte dramatiſche Dic- tungen zu verfafien, die mindeſtens immer eine beftimmte Hand⸗ lung zum Grunde hatten, und dieſer Handlung entſprechende, leicht verftändliche Situationen enthielten, verfertigte ber- felbe ungemein routinirte Dichter für Meyerbeer den ungefün- deften Schwulft, den verfrüppeltften Galimathias, Aktionen ohne Handlung, Situationen von der unfinnigften Verwirrung, Charaktere von der läcerlichften Sragenhaftigfeit. Dieß Tonnte nicht mit natürlichen Dingen zugehen: fo leicht giebt ſich ein nüchterner Verftand, wie der Scribe's, nicht zu Experimenten der Verrüctheit her. Scribe mußte felbft erft verdreht gemacht werben, ehe er einen „Robert der Teufel” zu Tage fürberte; er mußte erſt allen gefunden Sinnes für dramatiſche Handlung beraubt werben, ehe er in den „Hugenotten“ fi zum bloßen

300 Dper unb Drama:

Kompilator deforativer Nüancen und SKontrafte hergab; er mußte gemwaltfam in die Myfterien hiſtoriſcher Spitzbubenſchaft eingeweiht werben, ehe er fich zu einem „Propheten“ der Gau— ner beftimmen ließ.

Wir erfennen bier einen ähnlichen beftimmenben Einfluß de3 Komponiften auf den Dichter, wie ihn Weber bei feiner „Euryanthe“ auf deren Dichterin ausübte: aber aus meld’ grundverſchiedenen Motiven! Weber wollte ein Drama herge- ftellt haben, das überall, mit jeder feenifchen Nitance, in feine eble, feelenvolle Melodie aufzugehen vermöchte; Meyerbeer wollte dagegen ein ungeheuer buntjchediges, Hiftorifch-toman- tifches, teuflifchereligiöfes, bigott-wollüftiges, frivol-heiliges, geheimnißvoll » freches, ſentimental⸗ gauneriſches dramatifches Allerlei haben, um an ihm erft Stoff zum Auffinden einer un— geheuer Furiofen Mufit zu gewinnen, was ihm wegen des unbefieglichen Leders feines eigentlichen mufifaliihen Naturells wiederum nie wirklich recht gelingen wollte. Er fühlte, daß aus all’ dem aufgefpeiherten Vorrathe muſikaliſcher Effektmittel et- was noch gar nicht Dageweſenes zu Stande zu bringen war, wenn er, aus allen Winkeln zufammengefehrt, auf einen Haufen in krauſer Verwirrung gefchichtet, mit theatralifchem Pulver und Kolophonium verjegt, und num mit ungeheurem Knall in die Luft gefprengt würde Was er daher von feinem Dichter verlangte, war gewiſſermaßen eine Infcenefegung bed Berlioz'⸗ ſchen Orcheſters, nur mohlgemerft! mit demüthigendfter Herabftimmung deſſelben zur feichten Baſis Roſſini'ſcher Ge— ſangstriller und Fermaten der „dramatiſchen“ Oper wegen. Alle vorräthigen muſikaliſchen Wirkungselemente durch das Drama etwa zu einem harmoniſchen Einklange zu bringen, hätte ihm für ſeine Abſicht höchſt fehlerhaft erſcheinen müſſen; denn Meyerbeer war fein idealiſtiſcher Schwärmer, ſondern mit klu— gem, praktiſchem Blicke auf das moderne Opernpublikum über- ſah er, daß er durch harmoniſchen Einklang Niemand für ſich gewonnen haben würde, dagegen durch ein zerſtreutes Allerlei eben auch Alle befriedigen müßte, nämlich Jeden auf ſeine Weiſe. Nichts war ihm daher wichtiger, als wirre Buntheit und buntes Durcheinander, und der Iuftige Scribe mußte blut ſchwitzend ihm den dramatifchen Wirrwarr auf das Allerberech- netfte zufammenftellen, vor dem nun der Mufifer mit faltblütiger

Die Oper und bad Weien ber Muſik. 301

Sorge ftand, ruhig überlegend, auf welches Stüd Unnatur irgend ein Fetzen aus feiner mufifafifchen Vorrathskammer jo auffallend und ſchreiend wie möglich paffen dürfte, um ganz ungemein felt- fam und daher „harakteriftifh" zu erſcheinen.

So entwidelte er in den Augen unferer Kunſtkritik das Ver⸗ mögen der Mufit zu hiſtoriſcher Charakteriſtik, und brachte es biß dahin, daß ihm als feinite Schmeichelei gefagt wurde, die Texte feiner Opern feien fehr ſchlecht und erbärmlic, aber was verftünde dagegen feine Muſik aus diefem elenden Zeuge zu machen! So war ber vollfte Triumph der Muſik erreicht: der Komponiſt hatte den Dichter in Grund und Boden ruiniert, und auf den Trümmern der Operndichtkunft ward der Mufiter als eigentlicher wirklicher Dichter gekrönt!

Das Geheimniß der Meyerbeer’shen Opernmufit ift der Effeft. Wollen wir uns erklären, was wir unter dieſem „Effekte“ zu veritehen haben, jo ift es wichtig, zu beachten, daß wir und gemeinhin des näherliegenden Worte „Wirkung“ hier- bei nicht bedienen. Unfer natürliches Gefühl ſtellt fich den Be— griff „Wirkung“ immer nur im Zuſammenhange mit der vor- hergehenden Urſache vor: wo wir nun, mie im vorliegenden Sale, unwillküclich zweifelhaft darüber find, ob ein folder Bu: fammenhang beftehe, oder wenn wir fogar darüber belehrt find, daß ein folder Zufammenhang gar nicht vorhanden fei, jo ſehen wir in ber Berlegenheit und nach einem Worte um, das den Ein- drud, den wir z. B. von Meyerbeer’ihen Mufitftüden erhalten zu haben vermeinen,. doch irgendwie bezeichne, und fo wenden wir ein aisländifches, unferem natürlihen Gefühle nicht un— mittelbar nahe ftehendes Wort, wie eben dieſes „Effekt“ an. Wollen wir daher genauer Das bezeichnen, was wir unter diefem orte verftehen, jo dürfen wir „Effeft“ überjegen duch „Wir- tung ohne Urſache“.

In der That bringt die Meyerbeer'ſche Mufit auf Die- jenigen, die fih an ihr zu erbauen vermögen, eine Wirkung ohne Urſache hervor. Dieß Wunder war nur der äußerten Mufit möglich, d. 5. einem Ausdrucksvermögen, das fi (in der Oper) von jeher von allem Ausdruckswerthen immer unabhän-

302 Oper und Drama:

giger zu machen fuchte, und feine vollftändig erreichte Unab- bängigfeit von ihm dadurch kundgab, daß es den Gegenftand des Ausbrudes, der diefem Ausdrude allein Tafein, Maaß und Rechtfertigung geben follte, zu fittlicher wie künſtleriſcher Nich- tigkeit in dem Grade herabdrüdte, daß er nun Dafein, Maaß und Rechtfertigung allein erft auß einem Alte mufifalifchen Bes liebens gewinnen fonnte, der fomit ſelbſt alles wirklichen Aus— drudes bar geworben war. Diefer Alt felbft konnte aber wie derum nur in Verbindung mit anderen Momenten abjoluter Wirkung ermöglicht werden. In ber ertremften Yuftrumental- muſik war an bie rechtfertigende Kraft der Phantajie appellirt, welcher durch ein Programnı, oder auch nur durch einen Titel, ein Stoff zum außermufifalifhen Anhalt gegeben wurde: in ber Oper aber jollte diefer Anhalteftoff verwirklicht, d. h. der Phan- tafie jede peinliche- Mühe erfpart werden. Was dort aus Mo- menten des natürlichen ober menſchlichen Erſcheinungslebens programmatifch herbeigezogen war, follte hier in materiellfter Nealität wirkfich vorgeführt werden, um eine phantaftifche Wir- tung fo ohne alle Mitwirkung der Phantafie felbft hervorzu— bringen. Diefen materiellen Anhalteſtoff entnahm der Kom- ponift num der fcenifchen Mechanik felbft, indem er die Wir- tungen, die fie hervorzubringen vermochte, ebenfall3 rein für fi) nahm, d. h. fie von dem Gegenftande loslöſte, der, außer- halb des Gebietes der Mechanik, auf dem Boden der lebendar— ftellenden Dichtkunft ftehend, fie hätte bedingen und rechtfertigen Tonnen. Machen wir und an einem Beifpiele, welches die Meyerbeer’ihe Kunft überhaupt auf das Erſchöpfendſte charak— terifirt, hierüber vollkoumen Mar.

Nehmen wir an, ein Dichter fei von einem Helden be— geiftert, von einem Streiter für Licht und Freiheit, in befien Bruſt eine mächtige Liebe für feine entwürdigten und in. ihren Beiligften Rechten gekränkten Brüder flamme Er will diefen Helden darftellen auf dem Höhepunkt feiner Laufbahn, mitten im Lichte feiner thatenvollen Glorie, und wählt hierzu folgenden entſcheidenden Geſichtsmoment. Dit den Volksſchaaren, die feinem begeifterten Rufe gefolgt find, die Haus und Hof, Weib und Find verließen, um im Kampfe gegen mächtige Unterbrüder zu fiegen ober zu fterben, ift der Held vor einer feften Stadt angelangt, bie von den kriegsungeübten Haufen in biutigem

Die Oper und das Weſen ber Mufit. 303

Sturme erobert werden muß, wenn dad Befreiungswerk einen fiegreihen Fortgang haben fol. Durch vorangegangene Unfälle ift Entmuthigung eingetreten; fchlechte Leidenfchaften, Zwie— fpalt und Verwirrung wüthen im Heere: Alles ift verloren, wenn heute nicht noch Alle getvonnen wird. Das ijt die Lage, in der Helden zu ihrer volliten Größe wachen. Der Dichter läßt den Helden, ber fich foeben im nächtlicher Einſamkeit mit dem Gotte in fi, dem Geifte veinfter Menfcenliebe, berathen und durch feinen Hauch ſich geweiht hat, im Grauen ber Mor: gendämmerung heraußtreten unter die Schaaren, die bereits uns einig geworden find, ob fie feige Beftien oder göttliche Helden fein follen. Auf feine mächtige Stimme fammelt fi, das Volt, und Diefe Stimme dringt bis auf das innerfte Mark der Men- ſchen, die jet des Gottes in fich auch inne werden: fie fühlen fi) gehoben und veredelt, und ihre Begeiſterung hebt den Hel— den wieber höher empor, denn aus ber Begeifterung drängt er nun zur That. Ex ergreift die Sahne und ſchwingt fie Hoch nach den furchtbaren Mauern diejer Stadt hin, dem feiten Walle der Zeinde, die, fo lange fie Hinter Wällen ficher find, eine beſſere Zufunft der Menſchen unmöglih machen. „Auf denn! Sterben ober Siegen! Diefe Stadt muß unfer fein!" Der Dichter bat fich jegt erſchöpft: er will auf der Bühne den einen Augen— blid nun ausgebrüdt fehen, wo plöglich die hoch erregte Stime mung wie in überzeugendfter Wirklichkeit vor uns Hintritt; bie Scene muß uns zum Weltſchauplatze werden, die Natur muß fih im Bunde mit unferem Hochgefühle erflären, fie darf ung nit mehr eine kalte, zufällige Umgebung bleiben. Siehe da! Die Heilige Noth drängt den Dichter; er zertheilt die Mor- gennebel, und auf fein Geheiß fteigt leuchtend die Sonne über die Stadt herauf, bie nun dem Siege der Vegeifterten geweiht ift.

Hier ift die Blüthe der allmächtigen Kunft, und diefe Wun- der ſchafft nur die dramatiſche Kunft.

Allein nad folhem Wunder, dad nur der Begeifterung des dramatiſchen Dichters entblühen, und durch eine liebevoll aus dem Leben felbft aufgenommene Erſcheinung ihm ermög- licht werben kanu, verlangt es den Opernfomponiften nicht: er will die Wirkung, nicht aber die Urſache, die eben nicht in feiner Macht liegt. Im der Hauptfcene des „Propheten” von Meyerbeer, die im Außerlichen ber foeben gejchilderten gleid)

304 Oper und Drama:

ift, erhalten wir die rein finnliche Wirkung einer dem Volks— gefange abgelaufchten, zu raufchender Fülle gefteigerten, hym— nenartigen Melodie für das Ohr, und für das Auge die einer Sonne, in ber wir ganz und gar nichts Unberes, als ein Meifter- ftüd der Mechanik zu erkennen haben. Der Gegenftand, der von jener Melodie nur erwärmt, von biefer Sonne nur be= ſchienen werden follte, der hochbegeiſterte Held, ber fich aus innerfter Entzüdung in jene Melodie ergießen mußte, und nach dem Gebote der drängenden Notwendigkeit feiner Situn- tion das Erfcheinen diefer ‘Sonne herborrief, der rechtfer— tigende, bedingende Kern ber ganzen üppigen Dramatifchen Frucht ift gar nicht vorhanden*); ftatt feiner fungirt ein. harak» teriſtiſch koſtumirter Tenorfänger, dem Meyerbeer durch feinen dichteriſchen Privatfecretär, Scribe, aufgegeben bat, fo ſchön wie möglich zu fingen und fich dabei etwas kommuniſtiſch zu ge baren, damit die Leute zugleich auch etwas Pikantes zu denfen hätten. Der Held, von dem wir vorhin fpradhen, ift ein armer Teufel, der aus Schwachheit die Rolle eines Betrügers über- nommen hat, und ſchließlich auf das Kläglichſte nicht etwa einen Irrthum, eine fanatiiche Verblendung, der zur Noth noch eine Sonne hätte deinen fönnen, fondern feine Schwäde und Lügenhaftigfeit bereut.

Welche Nüdjichten zufammengemwirkt haben, um ſolch' un- würdigen Gegenftand unter dem Titel eined „Propheten“ zur Belt zu förbern, wollen wir hier ununterfucht laſſen; es genüge

* Mir kann entgegnet werben: „Deinen glorreichen Volts⸗ beiden haben wir nicht gewollt: ber ift überhaupt nur eine nad träglihe Ausgeburt Deiner revolutionären Privatphantafie; bagegen haben wir einen unglüdlihen jungen Menfchen barftellen wollen, der, buch üble Erfahrungen verbittert uub von betrügeriichen Wolts- aufmieglern verführt, fi) zu Verbrechen hinreißen läßt, die er fpäter durch eine aufrichtige Neue wieder jühnt.“ Ich frage nun nach der Bebeutung des Sonneneffeftes, und man könnie mir nod antworten: „Das ift ganz uach der Natur gezeichnet; warum fol nicht fruh— morgens bie Sonne aufgehen?” Das wäre nun zwar eine ſehr pral- tiſche Entfhuldignng für einen unmwillfürlihen Sonnenaufgang; ben-

- no aber müßte ich darauf beharren, Euch wäre biefe Sonne nicht fo unverfehens eingefallen, wenn Eud eine Situation, wie bie vorhin von mir angebeutete, doch in Wahrheit nicht vorgeſchwebt Hätte: bie Situation ſelbſt behagte Euch allerdings nicht, wohl aber beabfid- tigtet Ihr ihre Wirkung. B

Die Oper und das Weſen der Muflt. 306

uns, dad Ergebniß zu betrachten, das wahrlich lehrreich genug iſt. Zunächſt erjehen wir in dieſem Beifpiele die vollfommene fittliche und künſileriſche Verumehrlihung des Dichters, an dem, wer e3 mit dem Komponiften am beiten meint, fein gutes Haar mehr finden darf: aljo die dichterifche Abficht foll ung nicht im Mindeften mehr einnehmen, im Gegentheil, fie fol und an- wibern. Der Darfteller fol uns ganz nur nod) als koſtümirter Sänger intereffiren, und dieß Tann er in der genannten Scene nur durch dad Singen jener bezeichneten Melodie, die demnach ganz für fi ald Melodie Wirkung macht. Die Sonne Tann und foll daher ebenfalls nur ganz für fi wirfen, nämlich als auf dem Theater ermöglichte Nachahmung der wirklichen Sonne: der Grund ihrer Wirkung fällt ſomit nicht in das Drama, fondern in die reine Mechanif zurüd, die im Momente der Er: ſcheinung ber Sonne einzig zu denfen giebt: denn wie würde der Komponift erfchreden, wollte man’ diefe Erjcheinung etwa

. gar als eine beabfichtigte VerHlärung des Helden, ald Streiters für die Menfchheit auffaffen! Im Gegenteil, ihm und feinem Publikum muß Alles daran liegen, von folhen Gedanken abzu— lenken und alle Aufmerkſamkeit allein auf das Meifterftüd der Mechanik ſelbſt Hinzuleiten. So ift in dieſer einzigen, von bem Publitum fo gefeierten Scene alle Kunft in ihre mechaniſchen Beſtandtheile aufgelöft: die Außerlichkeiten der Kunft find zu ihrem Wefen gemacht; und als diefes Wefen erfennen wir den Effekt, den abjoluten Effekt, d. h. den Reiz eines künſtlich entlodten Liebeskitzels, ohne die Thätigkeit eines wirklichen Liebeögenufied.

Ich habe mir nicht vorgenommen, eine Kritit ber Meyer beer’fhen Opern zu geben, fondern an ihnen nur das Wejen der modernften Oper, in ihren Zufammenhange mit dem ganzen Genre überhaupt, darzuftellen. War ich durch bie Natur des Gegenftanded gezwungen, meiner Parftellung oft den Charakter einer hiſtoriſchen zu geben, fo durfte ich mich dennoch nicht ver- leitet fühlen, dem eigentlichen hiſtoriſchen Detailliren mich hin⸗ zugeben. Hätte ich im Beſonderen die Fähigkeit und den Beruf Megerbeer’3 zur dramatiſchen Kompofition zu charakterifiren, fo würbe ich zur eier der Wahrheit, die ich vollftändig aufzubeden

Richard Wagner, Gel. Schriften II. 20

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mid) bemühe, eine merkwürdige Erſcheinung in feinen Werken am ſtärkſten Hervorheben. In ber Meherbeer'ſchen Mufit giebt fih eine fo erjchredende Hohlheit, Seichtigfeit und Fünft- Terifche Nichtigkeit fund, daß wir feine ſpezifiſch mufifalifche Befähigung namentlich auch zufammengehalten mit der der bei Weitem größeren Mehrzahl feiner Tomponirenden Beitgenofjen vollfommen auf Null zu ſetzen verfucht find. Nicht, daß er dennoh zu fo großen Erfolgen vor dem Opernpublitum Eu— ropa's gelangt ift, fol uns bier aber mit Verwunderung er- füllen, denn dieß Wunder erklärt ſich durch einen Hinblid auf dieſes Publitum fehr leicht, ſondern eine rein künſtleriſche Beobachtung fol uns fefelg und belehren. Wir beobadjten näm— lid), daß bei der auögeiprochenften Unfähigkeit des berühmten Komponiften, aus eigenem mufifalifchem Wermögen das geringfte Tünftlerifche Lebenszeichen von fich zu geben, er nichtsdeſtoweniger an einigen Stellen feiner Opernmufif ſich zu der Höhe des aller- umnbeftreitbarften, größten künſtleriſchen Vermögens erhebt. Dieſe Stellen find Erzeugniffe wirklicher Begeifterung, und prüfen wir näher, fo erfennen wir auch, woher diefe Vegeifterung an- geregt war, nämlich aus der wirklich dichterifchen Situation. Da, wo der Dichter feiner zwingenden Rüdficht für den Muſiker vergaß, wo er bei feinem dramatifch ompilatorifhen Verfahren unmillfitlih auf einen Moment getroffen war, in dem er die freie, erfriſchende menjchliche Lebensluft einathmen und wieber aushauden durfte, führt er plöglih auh dem Muſiker biefen Athemzug als begeifternden Hauch zu, umd der Komponift, der bei Erſchöpfung alles Vermögens feiner mufifalifchen Vor⸗ gängerfchaft nicht einen einzigen Zug wirklicher Erfindung von - fi) geben Eonnte, vermag jegt mit einem Male ben reichiten, ebeliten und feelenergreifendften mufifalifchen Ausdruck zu finden. Ich erinnere hier namentlich an einzelne Büge in ber befannten ſchmerzlichen Liebesfcene des vierten Uftes ber „Hugenotten“, und vor Allem an die Erfindung der wunderbar ergreifenden Melodie in Ges-dur, der, wie fie als duftigfte Blüthe einer, alle Faſern des menschlichen Herzens mit wonnigem Schmerze er— greifenden Situation entiproßt ift, nur ſehr Weniges, unb ge wiß nur das Vollendetfte aus Werken ber Mufif an bie Seite geftellt werden Tann. Ich hebe dieß mit aufrichtigfter Freude und in wahrer Begeifterung hervor, weil gerade in dieſer Er-

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ſcheinung das wirffihe Weſen der Kunft auf eine fo Mare und unmiberlegliche Weiſe dargethan wird, daß wir mit Ent- züden erſehen müfjen, wie die Fähigleit zu wahrhaftem Kunſt- ſchaffen auch dem allerverborbenften Muſikmacher ankommen muß, fobald er das Gebiet einer Nothivendigkeit betritt, die ſtarker ift, als feine eigenfüchtige Willfür, und fein verfehrtes Streben plöglih zu feinem eigenen Heile in die wahre Bahn ächter Kunſt Ienft.

Aber daß hier eben nur einzelner Züge zu erwähnen iſt, nicht aber eines einzigen ganzen, großen Zuges, nicht z. B. der ganzen Liebesfcene, deren ich gebachte, fondern nur bereinzelter Momente in ihr, das zwingt und vor Allem nur über bie grau- fame Natur jenes Wahnfinnes nachzudenken, der die Entwide- hung der ebeliten Fähigkeiten des Mufiferd im Keime exftict, und feiner Mufe das fade Lächeln einer wiberlihen Gefallfucht, oder das verzerrte Örinfen einer verrüdten Herrſchwuth aufs prägt. Diefer Wahnfinn ift der Eifer des Mufifers, alles Das für fi) und aus feinem Vermögen beftreiten zu wollen, was er in fi und feinem Vermögen gar nicht befigt, und an deſſen gemeinfamer Herftellung er nur theilnehmen fann, wenn ed ihm aus bem eigenthümlichen Vermögen eine Anderen zuge führt wird. Bei dieſem unnatürlichen Eifer, mit dem der Mu- filer feine Eitelkeit befriedigen, nämlich fein Vermögen in dem glänzenden Lichte eines unermeßlichen Könnens darftellen wollte, bat er dieſes Vermögen, das in Wahrheit ein überauß reiches ift, bis zu der beitelhaften Armut herabgebracht, in der und jeßt die Meyerbeer’fche Opernmufif erfcheint. Im eigenfüchtigen Streben, ihre engen Formen als alleingiltige dem Drama auf zudringen, hat dieſe Opernmufit die ärmliche und beläftigende Steifheit und Unergiebigfeit jener Formen bis zur Unerträg- lichkeit herausgeſtellt. Im der Sucht, reich und mannigfaltig zu erſcheinen, ift fie als mufifalifhe Kunft zur volliten geiftigen Dürftigkeit herabgeſunken, und zum Borgen von der materiell- ften Mechanik hingebrängt worden. In dem egoiftifchen Vor— geben erjchöpfender dramatifcher CHarakterijtif durch bloß muſi— Talifche Mittel, hat fie aber vollends alle natürliche Ausdrucks- vermögen verloren, und fi dafür zur fragenhaften Poffenreißerin herabgewürdigt.

Sagte ih nun zu Anfang, der Irrthum im Runftgenre

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der Oper habe darin beftanden, „daß ein Mittel des Ausdruckes (die Mufil) zum Bivede, der Zweck des Ausbrudes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“, fo müſſen wir nun ben Kern des Wahnes und endlich des Wahnfinns, ber das Kunft- genre der Oper in feiner vollften Unnatürlichkeit, bis zur Lächer- lichleit dargethan Hat, dahin bezeichnen,

Daf jenes Mittel des Ausdruckes ans ſich Die Ab-

ficht des Drama’3 bedingen wollte,

vo.

Wir find zu Ende; denn wir haben das Bermögen ber Mufif in der Oper bis zur Kundgebung ihres gänzlichen Unvermögens verfolgt.

Wenn wir heut’ zu Tage von Opernmuſik im eigentlichen Sinne reden, fprechen wir nicht mehr von einer Kunft, ſondern von einer bloßen Modeerſcheinung. Nur der Kritiler, ber Nichts don drängender kunſtleriſcher Nothwendigkeit in ſich fühlt, ver- mag noch Hoffnungen oder Zweifel über die Zukunft ber Oper auszufprechen; der Künftler felbft, fobald er ſich nicht zum Spe— kulanten auf das Publitum herabwirdigt, bezeugt dadurch, daß er neben der Oper hin ſich Auswege fucht und Hierbei namentlich auf die nachzufuchende energiſche Theilnahme des Dichterd ver- fällt, daß er die Oper felbft bereit3 für tobt hält.

Hier aber, in diefer nachzufuchenden Theilnahme des Dichter, treffen wir auf den Punkt, über den wir zu voller, tagesheller, bewußter Klarheit gelangen müſſen, wenn wir daß Berhältnig zwiſchen Mufifer und Dichter in feiner wirkfichen gefunden Natürlichkeit erfaſſen und feftitellen wollen. Diefes Verhältniß muß ein dem bißher gewohnten vollkommen entgegen: gejebtes fein, .jo gänzlich verändert, daß der Mufifer zu feinem eigenen Gebeihen nur dann in ihm fi) zurechtfinden wird, wenn er alle Erinnerung an die alte unnatürlicde Verbindung aufgtebt, deren leßte3 Band ihn immer wieder in den alten unfruchtbaren Wahnfinn zurüdziehen müßte.

Um uns dieß einzugehende gefunde und einzig gebeihliche Verhältniß vollfommen deutlich zu machen, müfjen wir vor Allem

Die Oper und das Wefen der Muſik. 309

das Wefen unferer heutigen Muſik und nochmals, ges drängt aber beftimmt, vorführen.

Wir werden am fehnelliten zu einem Haren Überblide ge langen, wenn wir das Weſen ber Mufit kurz und bündig in den Begriff der Melodie zufammenfafjen.

Wie das Innere wohl der Grund und die Bebingung für das Äußere ift, in dem Hußeren ſich aber erft das Innere beut- lich und beftimmt fundgiebt, fo find Harmonie und Rhyth— mus wohl bie geftaltenben Organe, die Melodie aber ift erſt die wirkliche Geftalt der Muſik jelbit. Harmonie und Rhythmus find Blut, Fleifh, Nerven und Knochen mit al’ dem Einge weibe, das gleich jenen beim- Anblide des fertigen, lebendigen Menjchen dem beſchauenden Auge verſchloſſen bleibt; die Me- lodie dagegen ift diefer fertige Menſch jelbft, wie er fich unferem Auge darftellt. Beim Aublide dieſes Menfchen betrahten wir einzig die fchlanfe Geftalt, wie fie in ber formgebenden Ub- grenzung der äußeren Hauthülle ſich und ausdrückt; wir verſenken uns in den Anblick der ausdrudsvolliten Äußerung diefer Ge⸗ ftalt in den Geſichtszügen, und haften endlich beim Auge, der Tebenbollften und mittheilungsfähigften ÄAußerung des ganzen Menſchen, der durch dieſes Organ, das fein Mittheilungsver- mögen wieberum nur aus der univerfelliten Fähigkeit, die Äuße— rımgen der umgebenden Welt anfzunehmen, getvinnt, zugleich fein Innerſtes am überzeugenbften uns kundgiebt. So ift die Melodie der vollendetfte Ausdrud des inneren Wefend ber Mufit, und jede wahre, durch dieſes innerfte Weſen bedingte Melodie fpricht auch durch jene3 Auge zu uns, das am ausdrucks⸗ vollften dieſes Innere uns mittheilt, aber immer fo, daß wir eben nur den Strahl des Augenfternes, nicht jenen inneren, an fich noch formlofen Organismus in feiner Nadtheit erbliden.

Wo das Volk Melodien erfand, verfuht es, wie der leib⸗ lich natürliche Menſch, der durch den unwillkürlichen Uft ge- ſchlechtlicher Begattung den Menfchen erzeugt und gebiert, und zwar den Menſchen, der, wenn er an das Licht des Tages ges langt, fertig ift, fogleich durch feine äußere Geftalt, nicht aber etwa erft durch feinen aufgededten inneren Organismus fi kundgiebt. Die griechiſche Kunſt faßte dieſen Menſchen noch

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vollfomnen nur nad feiner äußeren Geftalt auf und bemühte fich, fie auf das Getreuefte und Lebendigfte endlich in Stein und Erz nachzubilden. Dad Chriſtenthum dagegen ver— fuhr anatomifch; es wollte die Seele des Menfchen auffinden, öffnete und zerſchnitt den Leib und dedte al’ den formlofen inneren Organismus auf, der unferen Blick anmwiberte, eben weil er nicht für das Auge ba ift oder da fein fol. Im Aufſuchen ber Seele hatten wir aber ben Leib getöbtet; al wir auf den Quell des Lebens treffen wollten, vernichteten wir bie Außerung dieſes Lebens, und gelangten fo nur auf todte Innerlichkeiten, die eben nur bei vollfommen ununterbrochener Außerungsmög- lichfeit Bedingungen des Lebens fein konnten. Die aufgefuchte Seele ift aber in Wahrheit nichts Anderes, als das Leben: wa3 der chriftlihen Anatomie zu betrachten übrig blieb, war daher nur der Tod,

Das Chriſtenthum Hatte die organifche künſtleriſche Lebens⸗ regung des Volkes, feine natürliche Zeugungskraft erftidt: es hatte in fein Fleiſch gefchnitten, umd mit dem bualiftifchen Sezir- mefjer auch feinen fünftlerifchen Lebensorganismus zerjtört. Die Gemeinfamteit, in der fich allein die fünftleriihe Beugungs- Kraft des Volkes bis zum Vermögen vollendeter Kunftfchöpfung erheben kann, gehörte dem Katholizismus: nur in ber Einfam- keit, da, wo Volksbruchtheile abgelegen von der großen Heer- ftraße des gemeinfamen Lebens mit ſich und ber Natur fi allein fanden, erhielt ſich in kindlicher Einfalt und dürftiger Beſchränktheit das mit der Dichtung untrennbar berwachjene Volkslied.

Sehen wir zunächſt von dieſem ab, ſo gewahren wir da— gegen auf dem Gebiete der Kulturkunſt die Muſik einen uner— hört neuen Entwickelungsgang nehmen: uämlich den aus ihrem anatomifch zerlegten, innerlich getöbteten Organismus heraus zu neuer Lebensentfaltung durch Bufammenfügung und neues Vermachfenlaffen der getrennten Organe. Im chriftlichen Kirchengefange Hatte ſich die Harmonie felbftändig ausgebildet. Ihr natürliches Lebensbedürfniß drängte fie mit Nothwendigkeit zur Äußerung als Melodie; fie beburfte zu dieſer Äußerung aber unerläßlic, des Anhaltes an das Form und Bewegung gebende Organ des Rhythmus, das fie als ein willkürliches, faft mehr eingebilbetes, als wirkliches Maaß, dem Tanze ent-

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nahm. Die neue Vereinigung Tonnte nur eine Fünftliche fein. Wie die Dichtkunſt nah den Regeln, die Ariftotele® von den Tragikern abftrahirt Hatte, Eonftruirt wurde, fo mußte die Muſik nach wiffenfchaftlihen Annahmen und Normen hergerichtet wer- den. Es war dies in der Beit, wo nad) gelehrten Rezepten und aus chemiſchen Defokten fogar Menſchen gemacht werben foll- ten. Einen folhen Menfchen fuchte auch die gelehrte Muſik zu fonfttuiren: der Mechanismus follte den Organismus her- ftellen, ober boch erjegen. Der raftloje Trieb all’ diefer mecha— nifchen Erfindfamfeit ging in Wahrheit aber doch immer nur auf den wirklichen Menfchen hinaus, auf den Menſchen, der aus dem Begriffe wieberhergeftellt, fomit endlich zum wirklich organiſchen Leben wieder erwachen ſollte. Wir berühren bier den ganzen ungeheuren Entwidelungdgang ber mobernen Menschheit!

Der Menſch, den die Muſik Heritellen wollte, war in Wirk— lichkeit aber nichts Anderes, ald die Melodie, d. h. dad Mo— ment beftimmtefter, überzeugendfter Lebensäußerung des wirklich Tebenbigen, inneren Organismus ber Mufil. Je weiter ſich die Muſik in diefem nothivendigen Verlangen nach Menſchwerdung entwidelt, jehen wir mit immer größerer Entſchiedenheit das Streben nad) deutlicher melodiſcher Kundgebung fih bis zur ſchmerzlichſten Sehnfucht fteigern, und in den Werfen feines Muſikers fehen wir diefe Sehnjucht zu folder Macht und Ge— malt erwachſen, wie in ben großen Inſtrumentalwerken Beet- hoven's. Yu ihnen bewundern wir die ungeheuerften Anftren- gungen des nad; Menſchwerdung verlangenden Mechanismus, die dahin gingen, alle feine Beftandtheile in Blut und Nerven eined wirklich, lebendigen Organismus aufzulöfen, um durch ihn zur unfehlbaren Üußerung ais Melodie zu gelangen.

Hierin zeigt fich bei Beethoven der eigenthümliche und ent- icheidende Gang unferer ganzen Kunſtentwickelung bei Weiten wahrhaftiger, als bei unſeren Opernfomponiften. Diefe erfaßten die Melodie ald etwas, außerhalb ihres Kunſtſchaffens Tiegen- des, Fertiges; fie löften die Melodie, an deren organifcher Er- zeugung fie gar feinen Theil genommen hatten, vom Munde des Voltes los, riffen fie fomit aus ihrem Organismus heraus, und verwandten fie eben nur nad) willkürlichem Gefallen, ohne diefe Verwendung irgendivie ander, ald durch luxuriöſes Be—

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fieben zu rechtfertigen. War jene Volksmelodie die äußere Ge— ftalt des Menſchen, fo zogen die Operntomponiften diefem Men- fen gewiſſermaßen feine Haut ab, und bebedten mit ihr einen Gliedermann, wie um ihm menfchliche8 Anſehen zu geben: fie Ionnten hiermit höchſtens nur bie civilifirten Wilden unſeres halbhinſchauenden Opernpublikums täufchen.

Bei Beethoven dagegen erkennen wir den natürlichen Le— bensdrang, die Melodie aus dem inneren Organismus der Muſik heraus zu gebären. In feinen wichtigften Werfen ftellt er bie Melodie feinesweged als etwas von vornherein Fertiged Hin, fondern er läßt fie aus ihren Organen heraus gewiſſermaßen vor unferen Augen gebären; er weiht und in dieſen Gebärungs- akt ein, indem er ihn uns nad} feiner organijchen Nothwendig- feit vorführt. Das Entfcheidendfte, was der Meifter in feinem Hauptwerfe und endlich aber fundthut, ift die von ihm als Muſiker gefühlte Nothwendigkeit, fih in die Arme bed Dich— ter8 zu werfen, um den Akt der Beugung der wahren unfehl« bar wirklichen und erlöfenden Melodie zu vollbringen. Um Menſch zu werden, mußte Beethoven ein ganzer, d. h. ge meinjamer, den gejchlechtlichen Bedingungen des Männlihen und Weiblichen unterworfener Menſch werden. Weld’ ernſtes, tiefes und fehnfüchtiges Sinnen entbedte bem unendlich reihen Mufifer endlich erft die fehlichte Melodie, mit der er in die Worte des Dichterd ausbrah: „Freude, ſchöner Götter- funken!“ Mit diefer Melodie ift un aber auch das Geheim- niß der Muſik gelöft: wir wiffen nun, und haben die Fähig- keit gewonnen, mit Bewußtfein organifch fehaffende Künftler zu fein.

Verweilen wir jeßt bei dem wichtigiten Punkte unferer Unterfuhung, und laffen wir uns dabei von der „Freubde-Me- lodie“ Beethoven's leiten.

Die Volksmelodie bot uns bei ihrer Wiederauffindung von Seiten der Kulturmuſiker ein zweifaches Intereſſe: das der Freude an ihrer natürlichen Schönheit, wo wir ſie unentſtellt im Zoffe ſelbſt antrafen, und das der Forſchung nach ihrem inneren Organismus. Die Freude an ihr mußte, genau genom- men, für unfer Kunſtſchaffen unfruchtbar bleiben; wir hätten uns, dem Gehalt und der Form nad, fireng nur in einer dem Vollsliede felbft ähnlichen Kunftgattung beivegen müfien, um

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mit einigem Erfolge auch diefe Melodie nahahmen zu können; ja, wir hätten felbft im genaueften Sinne Volkskünſtler fein müffen, um die Fähigkeit dieſer Nahahmung zu gewinnen; wir hätten fie eigentlich aljo gar nicht nachzuahmen, fondern ald Wolf felbſt wieder zu erfinden haben müffen.

Wir fonnten dagegen, in einem ganz anderen von dem des Volfes himmelweit verfchiedenen Kunftfchaffen befangen, diefe Melodie im gröbiten Sinne eben nur verwenden, und zwar in einer Umgebung und unter Bedingungen, die fie noth- wendig entjtellen mußten. Die Gedichte der Opernmuſik führt fi im Grunde einzig auf die Geſchichte diefer Melodie zurüd, in welcher nad) gewiſſen, denen der Ebbe und Fluth ähnlichen Gefegen, die Perioden der Aufnahme und Wiederaufnahme ber Volksmelodie mit denen ihrer eintretenden und immer wieder überhandnehmenden Entftelung und Cntartung wechſeln. Diejenigen Mufifer, die diefer üblen Eigenſchaft der zur Opern- arie gewordenen Volksmelodie am ſchmerzlichſten inne wurden, fahen fi) daher auf die mehr oder weniger deutlich empfundene Nothwendigkeit hingebrängt, auf bie organifhe Beugung der Melodie felbft bedacht zu fein. Der Operntomponift ftand der Auffindung des dazu nöthigen Verfahrens am nächſten, und gerabe ihm mußte fie doch nie glüden, weil er zu dem einzig der Befruchtung fähigen Elemente der Dichtkunſt in einem grundfalfchen Verhältniffe ftand, weil er in feiner unnatürlichen und uſurpatoriſchen Stellung dieſes Element gewifjermaßen der Beugungsorgane beraubt Hatte In feiner verkehrten Stellung zum Dichter mochte der Komponift e8 anfangen, wie er wollte, überall ba, wo das Gefühl fich auf die Höhe bes melodiſchen Ergufjes aufſchwang, mußte er auch feine fertige Melodie mitbringen, weil der Dichter fi von vornherein der ganzen Form zu fügen hatte, in welcher jene Melodie fich Eundgeben follte: diefe Form war aber von fo gebieterifcher Einwirkung auf die Geftaltung der Opernmelodie, daß fie in Wahrheit auch ihren wejenhaften Inhalt beftimmte.

Diefe Form mar von der Volksliedweiſe entnommen, ihre äußerlichite Geftaltung, der Wechjel und die Wieberfehr der Bewegung im rhythmiſchen Zeitmaaße fogar der Tanzweiſe entlehnt, bie allerding8 mit der Liedweife urfprünglich Eins war. In biefer Form war nur variirt worden, fie jelbit aber

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blieb dad unantaftbare Gerüfte der Dpernarie bis auf die neueften Beiten. Nur in ihr blieb einzig ein melodifcher Aufbau denkbar; natürlich blieb dieß aber aud immer nur ein Auf- bau, der durch bieß Gerüfte von vornherein beftimmt war. Der Mufiker, der, fowie er in diefe Form eintrat, nicht mehr erfinden, fondern nur noch variiren konnte, war fomit von vornherein jedes Vermögens zur organifchen Erzeugung der Melodie be— taubt; denn die wahre Melodie ift, wie wir fahen, felbft Äußerung eined inneren Organismus; fie muß daher, wenn fie organifch entftanden fein foll, gerade eben aud ihre Form fi feldft geftalten, und zwar eine Form, wie fie ihrem inneren Weſen zur beitimmteften Mittheilung entſprach. Die Melodie, die hingegen aus der Form Eonftruirt wurde, fonnte nie etwas Anderes, ald Nachahmung derjenigen Melodie fein, die fi) eben in jener Form urfbrünglich ausſprach“). Das Streben, diefe Form zu brechen, wird uns daher aud) bei vielen Opernfomponiften erſichtlich: mit künſtleriſchen Erfolge wäre fie doc) aber nur dann überwunden worben, wenn entfprechende neue Forinen gewonnen worden wären; die neue Form wäre eine wirkliche Kunftform doch aber nur dann geivefen, wenn fie als beſtimmteſte Uußerung eines bejonderen mufifalifchen Organismus’ ſich fundgegeben hätte: aller mufilalifche Organismus ift feiner Natur nad aber ein weib- licher, er ift ein nur gebärenbder, nicht aber zeugender; die zeugende Kraft liegt außer ihm, und ohne Befruchtung von dieſer Kraft vermag fie eben nicht zu gebären. Hier liegt das ganze Geheimniß der Unfruchtbarkeit ber modernen Mufitt B

*) Der Opernkomponiſt, der in der Arienform fich zu emwiger Unfruchtbarkeit verdammt jah, ſuchte fi ein Feld für freiere Be⸗ wegung bed muſikaliſchen Wusbrudes im Rezitativ. Allein auch diefed war eine beitimmte Form; verließ der Mufiter ben bloß- thetorif hen Ausbrud, ber dem Wezitativ eigen ift, um die Blume des erregteren Gefühles erblühen zu laſſen, jo ſah er ſich beim Ein- tritt der Melodie immer wieder in die Mrienform Hineingebrängt. Bermied er daher grunbfäglic die Arienform, jo Tonnte er eben nur wieder in der bloßen Rhetorit bed Rezitatives haften bleiben, ohne je zur Melodie fi aufzufchtwingen, außer wohlgemertt! da, wo er mit jhönem Gelbftvergeiien den zeugenden Keim be Dichters in fi aufnahm.

Die Oper und bad Weſen ber Muſik. 315

Wir bezeichneten Beethoven's Tünftlerifches Verfahren in feinen wichtigſten Inſtrumentalſätzen als „Vorführung des Altes der Gebärung der Melodie”. Beachten wir hierbei das Charakteriftiiche, daf, wenn ber Meifter und wohl erit im Verlaufe des Tonſtückes die volle Melodie als fertig Hinftellt, diefe Melodie dennoch beim Künftler von Anfang herein ſchon als fertig vorauszuſetzen ift: er zerbrach nur von vorn⸗ herein die enge Form, eben die Form, gegen bie ber Opern⸗ tomponift vergebens antämpfte, er zeriprengte fie in ihre Beftandtheile, um diefe durch organiſche Schöpfung zu einem neuen Ganzen zu verbinden, und zwar dadurd, daß er die Be— ſtandtheile verſchiedener Melodieen ſich in wechielnde Berührung jegen Tieß, wie um die organiſche Verwandtſchaft der ſcheinbar unterfchiedenften folcher Beſtandtheile, fomit die Urverwandt⸗ ſchaft jener verfchiedenen Melodien ſelbſt, darzuthun. Beet hoven deckt und Hierbei nur den inneren Organismus ber abfoluten Mufif auf: es Ing ihm gewiſſermaßen daran, dieſen Organismus aus ber Mechanik Herzuftellen, ihm fein inneres Leben zu vin- diziren, und ihn und am lebendigſten eben im Alte ber Gebärung zu zeigen. Das, womit er diefen Organismus befruchtete, war aber immer nur noch die abfolute Melodie; er belebte ſomit diefen Organismus nur dadurch, daß er ihn fo zu fagen . im Gebären übte, und zwar indem er ihn bie bereit8 fertige Melodie wicdergebären ließ. Gerade durch dieſes Verfahren fand ex fich aber dazu Hingedrängt, dem num bis zur gebärenden Kraft neubelebten Organismus der Mufit auch den befruchten- den Samen zuzuführen, und diefen entnahm er ber zeugenden Kraft des Dichters. Fern von allem Afthetifchen Experimentiren, konnte Beethoven, der bier unbewußt den Geift unſeres künſt⸗ leriſchen Entwidelungsganges in fih aufnahm, doc nicht anders als in gewiſſem Sinne fpelulativ zu Werke gehen. Er ſelbſt war feinesweged durch ben zeugenden Gedanken eines Dichters zum unmwillfürlichen Schaffen angeregt, ſondern er fah fi in mufifalifcher Gebärungsluft nach dem Dichter um. So erſcheint ſelbſt feine Freude-Melodie noch nicht auf ober durch die Verſe des Dichters erfunden, fondern nur im Hinblid auf Schiller's Gedicht, in der Anregung durch feinen allgemeinen Inhalt, verfaßt. Erſt wo Beethoven von bem Inhalte dieſes Gedichtes im Verlaufe bis zur dramatijchen Unmittelbarkeit ges

316 Dper und Drama:

ſteigert wird*), fehen wir feine melodiſchen Kombinationen immer beftimmter auch aus dem Wortverfe des Gedichtes hervor— wachen, fo daß der unerhört mannigfaltigite Ausdrud feiner Muſik gerade nur dem, allerdings höchſten Sinne bed Gebichtes und Wortlautes in folder Unmittelbarfeit entfpricht, daß die Mufit von dem Gedichte getrennt und plöglich gar nicht mehr denkbar und begreiflich erjcheinen kann. Und Hier ift der Punkt, wo wir dad Refultat der äjthetifchen Forſchung über den Organis- mus de3 Vollsliedes mit erhellendfter Deutlichkeit durch einem fünftlerifchen Akt felbft bethätigt fehen. Wie die lebendige Vollsmelodie untrennbar vom lebendigen Volksgedichte ift, abgetrennt von diefem aber organifch getöbtet wird, jo vermag der Organismus der Muſik die wahre, lebendige Melodie nur zu gebären, wenn er vom Gedanken des Dichters befruchtet wird. Die Mufit ift die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger; und auf dem Gipfel des Wahnfinned mar die Mufit daher angelangt, al3 fie nit nur gebären, fondern auch zeugen wollte,

Die Muſik ift ein Weib.

. Die Natur des Weibes ift die Liebe: aber diefe Liebe ift die empfangende und in ber Empfängniß rüchhaltslos ſich hingebenbe.

Dad Weib erhält volle Individualität erft im Momente der Hingebung. Es ift dad Wellenmädchen, das ſeelenlos durch die Wogen feined Elementes dahinrauſcht, bis es durch die Liebe eines Mannes erſt die Seele empfängt. Der Blick der Unſchuld im Auge des Weibes iſt der endlos Mare Spiegel, in welchem der Mann fo lange eben nur die allgemeine Fähigkeit zur Liebe erkennt, bis er fein eigened Bild in ihn zu erbliden vermag: hat er fi) darin erfannt, fo ift aud) die Allfähigkeit des Weibes zu der einen brängenden Nothiwenbigfeit verdichtet, ihn mit ber Allgewalt volliten Hingebungseiferd zu lieben.

Das wahre Weib liebt unbedingt, weil es Tieben muß,

*) Ich weife namentlich auf das „Seid umfchlungen, Millionen!" und die Verbindung dieſes Thema’s mit dem „Freude, fhöner Got⸗ terfunten!“ Hin, um mich ganz deutlich zu maden.

Die Oper und das Weſen ber Muflt. 317

Es hat keine Wahl, außer da, wo es nicht Tiebt. Wo es aber lieben muß, da empfindet ed einen ungeheuren Bmang, der zum erften Mal aud) feinen Willen entwidelt. Diefer Wille, der fich gegen den Zwang auflehnt, ift die erfte und mädhtigfte Regung der Anbividualität des geliebten Gegenftandes, die, durch das Empfängniß in das Weib gedrungen, es fekbft mit Individualität und Willen begabt hat. Dieß ift der Stolz des Weibed, ber ihm nur aus der Kraft der Individualität erwäcjt, die es eingenommen hat und mit der Noth ber Liebe zwingt. So kämpft es um des geliebten Empfängnifies willen gegen den Zwang ber Liebe ſelbſt, biß es unter der Allgewalt dieſes Zwanges inne wird, daß er, wie fein Stolz, nur bie Rraftausübung der empfangenen Individualität felbit ift, daß die Liebe und der geliebte Gegenftand Eins find, daß es ohne diefe weder Kraft noch Willen Hat, daß es von dem Augenblicke an, wo ed Stolz empfand, bereit3 vernichtet war. Das offene Belenntniß diefer Vernichtung ift dann das thätige Opfer der legten Hingebung des Weibes: fein Stolz geht fo mit Bemußt- fein in das Einzige auf, was es zu empfinden vermag, was es fühlen und denken fann, ja, was es felbft if, in bie Liebe zu diefem Manne.

Ein Weib, das nicht mit diefem Stolze der Hingebung liebt, liebt in Wahrheit gar nicht. Ein Weib, dad gar nicht liebt, ift aber die unwürbigfte und widerlichſte Erſcheinung der Welt. Führen wir uns die harakteriftifcheften Typen folder Frauen vor!

Man hat die moberne italienifche Opernmufif fehr treffend eine Quftdirne genannt. Eine Buhlerin kann fich rühmen, immer fie felbft zu bleiben; fie geräth nie außer ſich, fie opfert fich nie außer wenn fie felbjt Quft empfinden ober einen Wortheil ge— minnen will, und für diefen Fall bietet fie nur den Theil ihres Weſens fremdem Genuffe dar, über den fie mit Leichtigkeit ver- fügen fann, weil er ihr ein Gegenftand ihrer Willkür gemorden iſt. Bei der Liebesumarmung der Buhlerin ift nicht dad Weib gegenwärtig, fonbern nur ein Theil feines finnlichen Organis- mus: fie empfängt in der Liebe nicht Individualität, fondern fie giebt fich ganz generell wiederum an dad Generelle hin. So ift die Buhlerin ein unentwideltes, verwahrloftes Weib, aber fie übt doc) wenigſtens finnlihe Funktionen bes weiblichen Ge—

318 Oper und Drama:

ſchlechtes aus, an denen wir das Weib noch wenn auch mit Bedauern zu erfennen vermögen.

Die franzöfifche Opermuſit gilt mit Recht als Kokette. Die Kofette reizt e8, bewundert, ja gar geliebt zu werden: die ihr eigenthümfiche Freude am Bewundert⸗ und Geliebtjein kann fie aber nur genießen, wenn fie felbft weder in Bewunderung noch gar in Liebe für den Gegenftand, dem’ fie Beides einflößt, befangen ift. Der Gewinn, den fie ſucht, ift die Freude über " ſich feloft, die Befriedigung der Eitelkeit: daß fie beivundert und geliebt wird, ift der Genuß ihres Lebens, der augenblicklich ihr getrübt wäre, fobald fie ſelbſt Bewunderung oder Liebe empfänbe. Liebte fie felbjt, jo wäre fie ihres Selbſtgenuſſes beraubt, denn in der Liebe muß fie notwendig fich felbft vergefien, und dem ſchmerz⸗ lichen, oft felbftmörberifchen Genuſſe des Anderen fich hingeben. or nicht8 hütet ſich daher die Kokette jo fehr, als vor ber Liebe, um das Einzige, was fie liebt, unberührt zu erhalten, nämlich fich ſelbſt, d. H. daS Wefen, das feine verführeriiche Kraft, feine angeübte Individualität, doch erſt ber Liebesannäherung des Mannes entnimmt, dem fie die Kokette fein Eigenthum fomit zurückhält. Die Kofette lebt daher vom biebifhen Egois- mus, und ihre Lebenskraft ift froftige Kälte. Im ihr ift die Natur des Weibes zu ihrem miberlichen Gegentheile verkehrt, und von ihrem falten Lächeln, daß und nur unfer verzerrtes Bild zurüdipiegelt, wenden wir uns wohl in Verzweiflung zur italienifchen Zuftdirne hin.

Aber noch einen Typus entarteter rauen giebt es, ber - und gar mit widerwärtigem Grauen erfüllt: das ift die Prüde, als welche uns die fogenannte „deutfche”*) Opernmuſik gelten muß. Der Buhlerin mag es begegnen, daß in ihr für ben

Unter „deutſcher“ Oper verftehe id; Hier natärli nicht die

Beberkie Oper, a Verena vn der man um fo mehr ſpricht, je weniger fie in Wahrheit eigentlich vor- handen ift, wie das „deutiche Reich“. Das Beſondere diefer Oper befteht darin, daß fie ein Gebachtes und Gemachtes derjenigen mo- dernen deutſchen Komponiften ift, die nicht dazu fommen, frangöfiige oder italieniihe Opernterte & tomponiren, was fie einzig verhindert, italienifhe oder franzöftiche Opern zu fchreiben, und ihnen zum nad träglicden Troſte die ftolze Einbildung erwedt, etwas ganz Beſon - deres, Auserwähltes zu Stande bringen zu können, da fie doch viel mehr Mufit verftünden, als bie Statlener und Franzoſen.

Die Oper und bas Weſen der Mufil. 319

umarmenden Jüngling plöglic bie Opfergluth der Liebe aufe ' fchlägt, gedenken wir des Gottes und der Bajabere! —; der KRofette mag ed fich ereignen, daß fie, die immer mit ber Liebe fpielt, in diefem Spiele fi eng verftridt und troß aller Gegen- wehr der Eitelfeit fi von dem Netze gefangen fieht, in welchem fie num mweinend den Verluſt ihres Willens beflagt. Nie aber wird dem Weibe dieſes ſchöne Menfchliche begegnen, daß ihre . Unbefledtheit mit orthodoxem Glaubensfanatismus bewacht, dem Weibe, deſſen Tugend grundſätzlich in der Lieblofigkeit ber fteht. Die Prüde ift nad) den Negeln des Unftandes erzogen, und Hat das Wort „Liebe* von Jugend auf nur mit fcheuer Verlegenheit auöfprechen gehört. Sie tritt, das Herz voll Dogma, in die Welt, blickt ſcheu um fich, gewahrt bie Buhlerin und bie Kofette, ſchlägt an die fromme Bruft und ruft: „Ich danke. Dir, Her, daß ich nicht bin wie Dieſel“ Ihre Lebenskraft ift der Anftand, ihr einziger Wille die Verneinung ber Liebe, die fie nicht anders kennt, als in dem Weſen der Buhlerin und Kofette. Ihre Tugend ift die Vermeidung des Lafterd, ihr Wirken die Unfruchtbarfeit, ihre Seele impertinenter Hochmuth. Und wie nahe iſt gerade dieſes Weib dem allerefelhafteften Falle! Im ihrem bigotten Herzen regt fi) nie bie Liebe, in ihrem forglam verftecten Fleiſche wohl aber gemeine Sinnenluft, Wir kennen die Konventifel ber Frommen und die ehrenwerthen Städte, in denen die Blume ‚ver Muderei erblühte! Wir haben die Prüde in jedes Lafter ber franzöfifchen und itafienifchen Schwefter ver- fallen jehen, nur noch mit dem Lafter der Heuchelei befledt, und leider ohne alle Originalität!

Wenden mir und ab von dem abfheulichen Anblide, und fragen wir nun, was für ein Weib foll die wahre Mufit fein?

Ein Weib, das wirflich liebt, feine Tugend in feinen Stolz, feinen Stolz aber in fein Opfer feßt, in das Opfer, mit dem es nicht einen Theil feines Weſens, fondern fein ganzes Wefen in der reichiten Fülle feiner Fähigkeit hingiebt, wenn ed empfängt. Das Empfangene aber froh und freudig zu gebären, das ift bie That de Weibes, und um Thaten zu wirken, braucht daher das Weib nur ganz Das zu fein, was es ift, durchaus aber nicht Etwas zu wollen: denn es Kann nur Eines wollen, Weib fein! Das Weib it dem Manne daher dad ewig Mare und erkenntliche Maaß der natür-

320 Oper und Drama:

lichen Untrügfichfeit, benn es ift das Volltommenfte, wenn es nie aus dem Kreiſe der ſchönen Unwillkürlichkeit heraustritt, in den es durch Das, was fein Wefen einzig zu befeligen vermag, durch die Nothwendigleit ber Liebe gebannt ift

Und Hier zeige ich Euch nochmals den herrlichen Mufiter, in welchem die Mufit ganz Das war, was fie im Menfchen zu fein vermag, wenn fie eben ganz nach der Fülle ihrer Wefenheit Muſik und nichts Anderes als Mufik ift. Blickt auf Mozart! Bar er etwa ein geringerer Mufifer, weil er nur ganz und gar Mufifer war, weil er nicht3 Anderes fein konnte und wollte als Muſiker? Seht feinen „Don Juan“! Wo Hat je die Muſik fo unenbli reihe Individualität gewonnen, fo fiher und be— ftimmt in reichfter, überſchwenglichſter Fülle zu charakterifiren vermocht, als Hier, wo der Mufifer der Natur feiner Kunſt nach nit im Mindeften etwas Anderes war, ald unbedingt liebendes Weib?

Doc, halten wir an, und zwar gerade hier, um uns gründlich zu befragen, wer denn der Mann fein müffe, den dieſes Weib fo unbedingt lieben foll? Erwägen wir mohl, ehe wir die Liebe dieſes Weibes preiögeben, ob die Gegenliebe des Mannes etwa eine zu erbettelnde, oder eine auch ihm noth— wendige und erlöfende fein müfje?

Betrachten: wir genau den Dichter!

Geſammelte

Schriften und Dichtungen

von.

Rihard Wagner. Deitte Auflage. -Bierter Band.

Leipzig. Berlag von E. W. Fritzſch. 1898.

Alle Rechte, andy das der Ueberfehung, im Ganzen und Einzelnen vorbehalten.

Dru@ don C. ©, Röder In Leipzig.

Inhaltsverzeichniß.

Seite Oper und Drama, zweiter und dritter Theil: Das Schauſpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. ee 1 Dichttlunſt und Tonkunſt im Drama ber Bufunft . . 108

Eine Mittheilung an meine Freunde... 2... .. 230

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Oper und Drama.

Zweiter und dritter Theil,

Bweiter Theil.

Das Schaufpiel und das Wefen ber

dramatiſchen Dihtkunft.

As gef fing in feinem „Zaofoon“ fich bemühte, die Grenzen der Dichttunſt und Malerei aufgufugen und zu bezeichnen, hatte er die Dichtkunft im Auge, die felbft bereits nur noch Schilderei war. Er geht von Vergleihd- und Grenzlinien aus, die er zwiſchen dem plaftifchen Bildwerke, welches und die Scene des Zubeöfampfes Laokoon's darftellt, und der Schilderung zieht, welche Virgilius in feiner „Aeneis“, einem für die Lektüre ges ſchriebenen Epos, von derſelben Scene entwirft. Berührt Lefe fing im Laufe feiner Unterfuchung ſelbſt den Sophoffes, jo hat er babei wiederum nur den litterarifchen Sophofles in Sinne, wie er vor uns fteht, ober, wenn er das lebendig aufgeführte tragifche Kunftwerf des Dichters felbjt in das Auge faht, ftellt ex dieß unwillkürlich auch außer allem Vergleich mit dem Werte der Bildhauerei oder Malerei, weil nicht daS lebendige tragifche Kunftwert dieſen bildenden Künſten gegenüber begrenzt iſt, ſou— dern dieſe zu jenem gehalten, ihrer fümmerlihen Natur nach ihre notwendigen Schranken finden. Überall da, wo Leffing der Dichtkunft Grenzen und Schranken zumeilt, meint er nicht

Richard Wagner, Ge) Schriſten IV.

2 Oper und Drama:

das unmittelbar zur Anſchauung gebrachte, finnlid, dargeftellte dramatifhe Kunſtwerk, das in ſich alle Momente der bil— denden Kunft nach höchjfter, nur in ihm erreihbarer Fülle ver- einigt und aus ſich erft diefer Kunft höhere künſtleriſche Lebens- möglichkeit zugeführt Hat, fondern den dürftigen Todesſchatten dieſes Kunſiwerkes, das erzählenbe, ſchildernde, nicht an bie Sinne, fondern an die Einbildungskraft ſich fundgebende Litte- raturgebicht, in welchem dieſe Einbildungskraft zum eigentlichen darftellenden Faktor gemacht worden war, zu dem fich das Ge— dicht nur anregend verhielt.

Eine folde künſtliche Kunſt erreicht irgendwelche Wir- tung allerding8 nur durch genauefte Beobachtung von Grenzen und Schranken, weil fie forgfam darauf bedacht fein muß, durch borfichtigftes Verfahren die unbegrenzte Einbildungskraft, die ftatt ihrer die eigentliche Darftellerin zu fein Hat, vor jeber ausfchmweifenden Verwirrung zu bewahren, um fie Dagegen auf den einen gebrängten Punkt Hinzuleiten, in welchem fie den be— abfihtigten Gegenftand fich fo deutlich und beftimmt wie mög- lich vorzuftellen vermag. An die Einbilbungäfraft einzig wen- den ſich aber alle egoiſtiſch vereinzelten Künfte, und namentlich aud) die bildende Kunſt, die daS wichtigſte Moment der Kunſt, die Bewegung, nur durch den Appell an bie Phantafie ermög- lichen Tann. Wie diefe Künfte deuten nur an; wirkliche Darftellung wäre ihnen aber nur durch Kundgebung an bie Univerfalität der Kunftempfänglichleit des Menfchen, durch Mit- teilung an feinen vollfommenen ſinnlichen Organismus, nicht an feine Einbildungskraft möglich, denn das wirkliche Kunft- werf erzeugt fich eben nur durch den Fortſchritt aus der Ein- bildung in die Wirklichkeit, das ift: Sinnlichkeit.

Leſſing's redliches Bemühen, die Grenzen jener getrenn⸗ ten Kunſiarten, die eben nicht mehr unmittelbar darſtellen, fon- dern nur noch ſchildern konnten, zu bezeichnen, wird num heut’ zu Tage von Denen auf das Geiſtloſeſte misverftanden, denen ber ungeheure Unterfchied zwifchen dieſen Künften und der eigentlich wirklihen Kunſt unbegreiflih bleibt. Indem fie immer nur dieſe einzelnen, an ſich für bie unmittelbare Dar- stellung ohnmächtigen, Kunſtarten vor Augen haben, können fie natürlich die Aufgabe jeder derjelben und fomit (mie fie wäh: nen müffen) der Kunft überhaupt nur darein ſetzen, daß fo

Das Schaufpiel und das Wefen der bramatifhen Dichttunſt. 3

ungeftört wie möglich die Schwierigkeit überwunden werde, der Einbildungsfraft buch Schilderung einen feiten Anhalte- punkt zu geben; die Mittel zu diefer Schilderung häufen, Tann ſehr richtig die Schilderung nur verwirren, und bie Phan- tafie, indem fie durch Vorführung ungleiher Schilderungsmittel beängitigt ober zerftreut wird, von der Erfaffung des Gegen- ſtandes nur ablenken.

Reinheit der Kunftart wird daher das erfte Erforderniß für ihre Verftändlichfeit, wogegen Miſchung der Kunftarten diefe Verſtändlichkeit nur trüben fan. In der That kann und nichts Verwirrendered vorkommen, als wenn 3. ®. der Maler feinen Gegenftand in einer Bewegung darftellen wollte, deren Schilderung nur dem Dichter möglich ift; vollfommen wider wärtig erfcheint und aber gar erit ein Gemälde, in welchem die Verſe des Dichters einer Perfon in den Mund gefchrieben find. Wenn der Mufiter d. h. der abjolute Muſiker zu malen verfucht, jo bringt er weder Muſik noch ein Gemälde zu Stande; wollte er aber die Anfchauung eined wirklichen Gemäldes durch feine Mufit begleiten, jo dürfte er ficher fein, daß man weder das Gemälde noch feine Muſik verftehen würde. Wer fi die Bereinigung aller Fünfte zum Kunſtwerke nur fo vorftellen kann, als ob darunter gemeint fei, daß z. ®. in einer Gemäldegalerie und zwiſchen aufgeftellten Statuen ein Goethe ſcher Roman vor= gelefen und dazu noch eine Beethoven'ſche Symphonie vorge fpielt würde*), der Hat allerdings Recht, wenn er auf Tren—⸗ nung der Kunſte befteht und es jeder einzelnen zugewieſen laſſen will, wie fie ſich zu möglichft deutlicher Schilderung ihres Gegenſtandes verhelje. Daß aber von unferen mobernen Äſthe— tifern aud) das Drama in die Kategorie einer Kunftart geftellt, und als folhe dem Dichter als befonderes Eigenthum in dem Sinne zu geſprochen wird, daß die Einmifhung einer anderen

*) So in ber That ftellen fich kindiſch⸗kluge Litteraten da3 von mir bezeichnete „vereinigte Kunſtwerk“ vor, wenn fie dieß für einen [ft bed „müften Durdeinanderwerfend” aller Kunftarten anfehen zu müflen glauben. Ein ſächſiſe Kritiker findet aber aud für gut, meinen Appell an bie Sinnlichkeit ala groben „Senſualismus“ auf- aufaflen, worunter er natürlich Bauchgelüfte verftanden wiſſen will. Ran kann den Blöbfinn biefer Afthetiter nur durch ihre lügneriſche Abſicht erflären. 1%

4 Oper und Drama:

Kunft, wie der Muſik, in daffelbe der Entfhuldigung bebürfe, keinesweges aber als gerechtfertigt anzufehen ſei, das heißt aus der Leſſing'ſchen Definition eine Konſequenz ziehen, von deren Berechtigung in dieſer nicht eine Spur vorhanden iſt. Diefe Zeute fehen aber im Drama nichts Anderes, als einen Litte— raturzweig, eine Gattung der Dichtkunſt wie Roman oder Zehrgedicht, nur mit dem Unterfchiede, daß jenes, anftatt bloß gelefen, von verſchiedenen Perfonen auswendig gelernt, dekla— mitt, mit Geften begleitet und von Thenterlampen beleuchtet wer- den fol. Zu einem auf der Bühne dargeitellten Litteraturdrama würde fich eine Muſik allerdings faſt ebenfo verhalten, als ob fie zu einem aufgeftellten Gemälde vorgetragen würde, und mit Necht ift daher daS fogenannte Melodrama als ein Genre von unerquidfichiter Gemifchtheit verworfen worden. Dieſes Drama, das unfere Litteraten einzig im Sinne haben, ift aber ebenfo wenig ein wahres Drama, als ein Klavier*) ein Orchefter, ober gar ein Sängerperfonal ift. Pie Entitehung bed Littera- turdrama’8 verdankt ſich ganz demfelben egoiftiichen Geiſte un— ferer allgemeinen Kunftentwidelung, wie dad Klavier, und an ihm will ich diefen Gang in Kürze recht deutlich machen.

- Das ältefte, ächtefte und fehönfte Organ der Muſik, das Organ, dem unfere Mufif allein ihr Dafein verdankt, ift die menfhlide Stimme; am natürlichften wurde fie durch das Blasinftrument, diefes wieder durch das Saiteninftrument nachgeahmt: der fymphonifche Bufammenklang eines Orcheſters von Blas- und Streichinftrumenten ward wieder von der Orgel nachgeahmit; die unbehilfliche Orgel aber endlich durch das leicht bandhabbare Klavier erjegt. Wir bemerken hierbei zunächſt, daß das urſprüngliche Organ der Muſik von der menſchlichen Stimme bis zum Klavier zu immer größerer Ausdrucksloſigkeit berabfanf. Die Inftrumente des Orchefters, die ben Sprach— laut der Stimme bereit3 verloren hatten, vermochten den menfch- lichen Ton in feinem unendlich, mannigfaltigen und lebhaft wec- felnden Ausdrudövermögen noch am genügendften nachzuahmen; die Pfeifen der Orgel konnten diejen Ton nur noch nad) feiner

*, Eine Pioline zum Klavier gefpielt, vermiſcht ſich ebenfo- wenig mit biefem Inftrumente, wie die Mufit zu einem Litteratur- drama fih mit diefem vermiſchen würde.

Das Schaufpiel und dad Weſen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 5

Zeitdauer, nicht aber mehr nach feinem wechſelnden Ausdrude fefthalten, bis endlich das Klavier felbft diefen Ton nur noch anbeutete, feinen wirklichen Körper aber der Gehörphantafie fich zu denfen überließ. So Haben wir in Klavier ein Inſtrument, welches die Muſik nur noch fehildert. Wie kam es aber, daß der Mufiker fi) endlich mit einem tonlofen Inſtrumente begnügte? Aus feinem anderen Grunde, als um allein, ganz für fi, ohne gemeinfames Zuſammenwirken mit Anderen, fih Mufit machen zu können. Die menjhlihe Stimme, die an und für fi) nur in Verbindung mit ber Sprache ſich melodiſch kundzugeben vermag, ift ein Individuum; nur das übereinftimmenbe Zu— fammenwirfen mehrerer folder Individuen bringt die ſympho— nifche Harmonie hervor. Die Blad- und Streichinftrumente ftanden der menfhlihen Stimme aud; darin noch nahe, da aud) ihnen biefer individuelle Charakter zu eigen blieb, durch den jedes von ihnen eine beftimmte, wenn auch noch fo reich zu mobulirende Klangfarbe befaß, und zur Herborbringung har- monifcher Wirkungen zum ebenfalls gemeinfamen Bufammen- wirken genöthigt war. In der chriſtlichen Orgel waren bereits alle dieſe lebendigen Individualitäten in todte Pfeifenregiiter gereiht, die auf: den bejehlenden ZTaftentritt ded einen und un- theilbaren Spieler8 ihre mechaniſch hervorgetriebenen Stimmen zur Ehre Gottes erhoben. Auf dem Klaviere endlich konnte der Virtuos ohne die Beihilfe irgend eines Anderen (der Orgel» fpieler Hatte noch des Bälgetreters bedurft) eine Unzahl von Hopfenben Hämmern zu feiner eigenen Ehre in Bewegung ſetzen, denn dem Buhörenden, der an einer tönenden Mufit ſich nicht mehr zu erfreuen hatte, blieb nur noch die Bewunderung der Fertigkeit des Taſtenſchlägers zur Beachtung übrig. Wahr- ich, unfere ganze moderne Kunft gleicht dem Kfaviere: in ihr verrichtet jeder Einzelne das Werk einer Gemeinfamkeit, aber leider eben nur in abstracto und mit vollfter Tonlofigfeit! Häm- mer aber feine Menjchen!

Wir wollen nım das Litteraturbrama, in das unfere Üfthe- tifer mit fo puritaniftiihem Hochmuthe der Herrlich athmenden Mufit den Eintritt verjperren, vom Standpunkte des Mlaviere3*)

*) Mir gilt es wahrlid nit bedeutungslos, daß derjenige Klaviervirtuos, der in unferen Tagen nad) jeder Geite hin die

6 Oper und Drama:

aus rüdwärt bis auf den Urfprung dieſes Klavieres verfolgen, und was gilt es? wir treffen endlich auf den lebendigen menſchlichen Spradton, der mit dem Gefangtone ein und daffelbe ift, und ohne den wir weder Klavier noch Litteratur— drama fennen würden.

I

Das moderne Drama hat zweierlei Urfprung: einen natür- lichen, unferer geſchichtlichen Entwidelung eigenthümlichen, den Roman, und einen frembartigen, unferer Entwidelung durch Reflexion aufgepfropften, das, nad) den misverftandenen Regeln des Ariftoteles aufgefaßte griehijhe Drama.

Der eigentliche Kern unferer Poefie liegt im Roman; im Streben, diefen Kern fo ſchmachhaft wie möglich zu machen, find unfere Dichter wiederholt auf fernere oder nähere Nahahmung de3 griechiſchen Drama's verfallen.

Die höchfte Blüthe des dem Roman unmittelbar entjprun- genen Drama’ Haben wir in den Scaufpielen des Shafe- fpeare; in weitefter Entfernung bon diefem Drama treffen wir auf deſſen bolltommenften Gegenſatz in ber „Tragédie“ bes Nacine. Zwiſchen beiden Enbpunften ſchwebt unfere ganze übrige dramatijche Litteratur umentjhieden und ſchwankend hin und her. Um ben Charakter dieſes unentjhiedenen Schwankens genau zu erfennen, müſſen wir uns etwas näher nad) bem natür-

+ lichen Urfprunge unſeres Drama’ umfehen.

Wenn wir feit dem Erlöfchen der griechiſchen Kunft und im Gange der Weltgeichichte nach einer Kunftperiode unfehen, deren wir ung mit Stolz erfreuen wollen, fo ift bie die Periode der fogenannten „Renaiffance“, mit der wir den Ausgang bed

äußerfte Spin des Virtuoſenthumes kundthat, daß der Wunder⸗ mann des Klavieres, Liſzt, gegenwärtig mit jo wudtvoller Energie dem tönenden Orcefter und, gleihfam durch dieſes Orcheſter, der lebendigen menſchlichen Stimme fi zuwendet.

Das Schaufpiel und bad Weien ber dramatiſchen Dichtkunſt. 7

Mittelalterd und den Beginn der neueren Beit bezeichnen. Hier ftrebt mit wahrer Riejenkraft der innere Menfch, fi zu äußern. Der ganze Gährungsftoff der wunderbaren Miſchung germaniſch individuellen Heroenthumes mit dem Geifte bes römijch-fatholis ziſirenden Chriſtenthumes drängte fi) von innen nach außen, gleihfam um in der Außerung feines Weſens den unlösbaren inneren Skrupel 108 zu werden. Überall äußerte fi biefer Drang nur als Luft zur Schilderung, denn unbedingt gauz und gar ſich ſelbſt geben kann nur der Menſch, der im Inneren ganz mit fi einig ift: das war aber der Künftler der Renaifjance nicht; diefer erfaßte dad Äußere nur in der Begierde, vor dem inneren Bwiefpalte zu fliehen. Sprach ſich biefer Trieb am er- Tenntlichiten nach der Richtung der bildenden Künfte hin aus, fo ift er in der Dichtung nicht minder erſichtlich. Nur ift zu beachten, daß, wie die Malerei ſich zu treuefter Schilderung des Iebendigen Menſchen angelafjen Hatte, die Dichtkunft ſich von der Schilderung bereit3 ſchon zur Darftellung wandte, und zwar indem fie vom Roman zum Drama vorſchritt.

Die Poefie des Mittelalterd hatte bereitd das erzählende Gedicht hervorgebracht und bis zur höchſten Blüthe entwidelt. Diefes Gedicht fchilderte menfchlihe Handlungen und Vorgänge, und deren bemegungsbollen Bufammenhang, in der Weije, wie ähnlich der Maler ſich bemüht, die charakteriftifhen Momente folder Handlungen und vorzuführen. Das Vermögen des Dich— ters, der von der unmittelbaren, lebendigen Darftellung der Handlung duch wirkliche Menfchen abſah, war aber fo unbe grenzt, als die Einbildungsfraft des Lejer8 oder Zuhörers, an. die er ſich einzig wandte. Diefe Vermögen fühlte fi) zu dem ausſchweifendſten Kombinationen von Vorfällen und Lofalitäten um fo mehr veranlaft, als fein Geſichtskreis fich über ein immer anfchwellendere® Meer außen vorgehender Handlungen ver— breitete, wie fie eben aus dem Gebahren jener abenteuerfüchtigen Zeit herborgingen. Der Menſch, der in fich umeinig mit fich felbft war, und im Runftichaffen dem Zwieſpalte ſeines Inneren ent fliehen wollte, wie er zubor vergeblich fi} gemüht hatte, dieſen Zwieſpalt felbft fünftlerifch zu bemältigen*), fühlte nicht den Drang, ein beitimmtes Etwas feines Inneren auszufprechen,

*) Denten wir an bie eigentliche chriftliche Poefie.

8. Oper und Drama:

fondern diefes Etwas vielmehr erſt in der Außenwelt zu ſuchen: ex zerjtreute ſich gewiſſermaßen nad; Innen durch willigftes Exr- faffen alles von der Außenwelt ihm Worgeführten, und je man- nigfaltiger und bunter er dieſe Erſcheinungen zu mifchen ver ftand, defto ficherer durfte er eben den unmillfürlihen Bived innerer Berftreuung zu erreichen Hoffen. Der Meifter dieſer liebenswürdigen, aber aller Innerlichkeit, alles Haftes der Seele entbehrenden Kunft war Arivfto.

Je weniger aber, nach ungeheuren Ausſchweifungen, diefe fchimmernden Gemälde der Phantafie den inneren Menfchen wiederum zu zertrenen vermochten, je mehr diefer Menjch unter dem Drude politiiher und religiöfer Gewaltfamkeiten zur Kraft anftrengung eines Gegendrudes aus feinem inneren Wefen felbft gebrängt wurde, defto deutlicher erfennen wir aud) in der vor— liegenden Dichtungsart da8 Streben ausgeſprochen, der Maſſe des vielartigen Stoffes von Innen heraus Herr zu werben, feiner Geſtaltung einen feften Mittelpuntt zu geben, und dieſen Mittel- punkt als Are des Kunſtwerkes aus ber eigenen Anfchauung, aus dem feiten Wollen eines Etwas, in bem fi daß innere Weſen außfpricht, zu entnehmen. Diefes Etwas ift der Ge— bärungsftoff der neueren Beit, die Verdichtung des individuellen Weſens zu einem beftinmten fünftlerifhen Wollen. Aus der ungeheuren Mafje der äuferen Erfcheinungen, wie fie vorher dem Dichter ſich nicht bunt und vielartig genug darftellen konnten, werden nun die unter fi) verwandten Beftandtheile gefonbert, die Mannigfaltigkeit der Momente zur beftimmten Zeichnung des Charakters der Handelnden verdichtet. Wie unendlich wichtig für alle Unterfuchung des Weſens der Kunſt ift e8 nun, daß dieſer innerliche Drang des Dichters, wie wir es beutlich vor ums fehen, fid) endlich nur dadurch zu befriedigen vermodjte, daß er auch zur beftimmteften Äußerung durch die unmittelbare Dar- ftellung an die Sinne gelangte, mit einem Worte, daß ber Roman zum Drama wurde! Die Bewältigung ded äußeren Stoffes zur Kundgebung der inneren Anſchauung von dem Wefen dieſes Stoffes konnte nur dann gelingen, wenn der Gegenftand ſelbſt in überzeugendfter Wirklichkeit den Sinnen vorgeführt wurde, und dieß war eben nur im Drama zu ermöglichen.

Das Drama des Shafefpeare ift mit volliter Noth- wendigkeit aus bem Leben und unferer geſchichtlichen Entwickelung

Das Schaufpiel und das Wefen der dramatiſchen Dichtkunſt. 9

herborgegangen: feine Schöpfung war fo aus der Natur unferer Dichtkunſt bedingt, wie dad Drama ber Zukunft ganz, natur= gemäß auß der Befriedigung der Bebürfniffe geboren werden wirb, die das Shafefpenre’fhe Drama angeregt, noch nicht aber geſtillt Hat.

Shakeſpeare, ben wir und Hier immer im Qereine mit feinen Vorgängern und nur als deren Haupt denken müſſen, verdichtete den erzählenden Roman zum Drama, indem er ihn gemwiflermaßen für die Darftellung auf der Schaubühne überfeßte. Die vorher von ber redend erzählenden Poefie nur gefchilberten menfhliden Handlungen ließ er nun von wirklich redenden Menfchen, die für die Dauer der Darſtellung in Ausfehen und Gebärde mit den darzuftellenden Perfonen bes Romanes fich ibentifizirten, Auge und Ohr zugleich vorführen. Er fand hierzu eine Schaubühne und Schaufpieler vor, die bis dahin als unter- irdiſch verborgene, heimlich aber immer noch fortriefelnde Duell-

- aber bed wirklichen Volkskunſtwerkes dem Auge des Dichters ſich entzogen hatten, von feinem jehnfüchtig fuchenden Blide aber jchnell entbedt wurden, als die Noth ihn zu ihrer Auf⸗ findung trieb. Das Eharakteriftifche diefer Volksſchaubühne war aber, daß die Schaufpieler, die daher fich auch vorzugsweiſe fo nannten, auf ihr dem Auge, umb abfichtfi gerade faft nur dem Auge fi mittheilten. Ihre Darftellungen auf freiem Plate vor der weithin außgedehnten Menge konnten Iebiglich fait nur durch die Gebärde wirken, und in ber Gebärde fprechen fich Deutlich eben nur Handlungen, nicht aber fobald die Sprade fehlt die inneren Motive diefer Handlungen aus, jo daß das Spiel diefer Darfteller feiner Natur nad) ebenfo von grotesker, maſſenhaft gehäufter Handlung ftrogte, ald der Roman, deſſen zerſtreute Vielftoffigkeit der Dichter eben zufammenzudrängen fi) bemühte. Der Dichter, der diefem Volksſchauſpiele zufah, mußte finden, daß aus Mangel einer verftänblichen Sprache dieſes zu eben der ungeheuerlihen Vielhandlichkeit gedrängt fei, wie der erzählende Romandichter durch die Unfähigfeit, feine geſchilderten Perfonen und Vorgänge wirklich darzuftellen. Er mußte den Schaufpielern zurufen: „Gebt mir Eure Bühne, ich gebe Euch meine Rede, fo ift und Beiden geholfen”!

Wir fehen num vom Dichter zu Gunften des Drama's bie Volksſchaubühne zum Theater verengen. Ganz fo wie die Hand-

10 Oper und Drama:

Tung felöft durch deutliche Darlegung der Beweggründe, die fie hervorrufen, zu beftimmten wichtigften Momenten berfelben zu- fammengedrängt werden mußte, ftellte fi; die Nothwendigkeit heraus, auch den Schauplag zufammenzudrängen, und zwar namentlich aus Rückſicht auf den Zuſchauer, der num nicht mehr bloß ſchauen, fondern auch deutlich Hören follte. Wie auf den Raum, hatte fi diefe Beſchränkung au auf die Beitdauer des dramatifchen Spieles auszudehnen. Die Möfterienbühne des Mittelalter, auf weitem Unger oder auf freien Plägen und Straßen ber Städte aufgefchlagen, bot der verfammelten Volks: menge eine tagelang, ja, wie wir noch heute e8 erfahren, mehrere Tage lang dauerndes Schauſpiel dar: ganze Hiftorien, vollftändige Lebensgefchichten wurden aufgeführt, auß melden die ab⸗ und zumogende Zuſchauermaſſe nad; Belieben für ihre Schauluft ſich auswählen konnte, was ihr das Sehenswertheſte erſchien. Solch' eine Aufführung war das vollftändig entſprechende Seitenftüd der ungeheuer bunten und vielftoffigen Hiftorien des Mittelalters ſelbſt: gerade fo larvenhaft charakterlos, ohne alle individuelle Lebensregung, hölzern und grob zugefchnitten waren die vielhandelnden Perfonen diefer gelejenen SHiftorien, wie die Darfteller jener zur Schau gebrachten. Aus benfelben Gründen, die den Dichter beftimmten, die Handlung und den Schauplatz zu verengen, Hatte er jomit auch die Beitdauer der Aufführung zufammenzubrängen, weil er feinen Bufchauern nicht mehr Bruchſtücke, fondern ein in fi) abgeſchloſſenes Ganzes vor⸗ führen wollte, fo daß er die Kraft der Fähigkeit des Zufchauerz, eitem vorgeführten feſſelnden Gegenftande feine ungetheilte Auf» merffamfeit fortgejegt zuzumenden, zu feinem Maafftab für die Zeitdauer diefer Aufführung machte. Das Kunſtwerk, das nur an die Phantafie appellirt, wie der gelefene Roman, Tann in jeiner Mittheilung fich leicht unterbreden, weil die Phantafie fo willfücliher Natur ift, daß fie feinen anderen Gejegen, als der Laune des Zufalls gehorcht: was aber vor die Sinne tritt, und diefen mit überzeugender, unfehlbarer Beſtimmtheit ſich mit- theifen will, hat nicht nur nad) der Eigenſchaft, Fähigkeit und natürlich begrenzten Kraft diefer Sinne fi zu richten, ſondern fi) ihnen auch volftändig, von Kopf bis zu Buß, von Anfang bis zu Ende, vorzuführen, wenn es nicht, Durch plößliche Unter- brechung oder Unvollftändigfeit feiner Vorführung, zur noth-

Das Schaufpiel und das Weſen der bramatifchen Dichtkunſt. 11

wendigen Ergänzung eben nur wieber an die Phantafie, aus der es fi) gerade an die Sinne wandte, appelliven will.

Nur Eines blieb auf diefer verengten Bühne noch gänzlich nur der Phantafie überlaffen, die Darftellung der Scene ſelbſt, in welcher Die Darſteller den Iofalen Exfordernifien ber Handlung gemäß auftraten. Teppiche umhingen die Bühne; die Inſchrift einer leicht zu wechſelnden Tafel zeigte dem Bufchauer den Ort, ob Palaft, Strafe, Wald oder Feld, an, der ald Scene gedacht werben follte. Durch dieſen einen, der damaligen Büh— nenkunft noch unumgänglich nöthigen Appell an die Phantafie, blieb im Drama dem buntftoffigen Romane und der vielhand- lichen Hiftorie noch Thor und Thür offen. Fühlte der Dichter, dem es bis jetzt immer nur noch um die leiblich redende Dar- ftellung de3 Romanes zu thun war, die Nothwendigfeit einer naturgetreuen Darftellung auch der umgebenden Scene noch nicht, jo konnte er die Nothwendigkeit, die darzuftellende Hand» lung in no immer beftimmtere Begrenzung der wichtigſten Momente derfelben zufammenzubrängen, aud) nicht empfinden, Wir fehen hieran mit erfichtlichfter Deutlichkeit, wie zur voll⸗ enbetiten @eftaltung bes Kunſtwerkes einzig die entſcheidende Notwendigkeit hindrängt, die dem Wefen der Kunſt gemäß ben Künftler beftimmt, aus der Phantafie fi an die Sinne zu wen- den, bie Phantafie aus ihrer unbeftimmten Thätigfeit durch die Sinne zu einer feften, verftändnißvollen Wirkſamkeit zu ver— mögen. Diefe, alle Kunft geftaltende, da8 Streben des Künft- lers einzig befriedigende, Nothwendigfeit erwächſt und nur aus der Beitimmtheit einer univerſell finnlihen Anfhauung: nd wir al®’ ihren Anforderungen volltommen gerecht, jo treibt auch fie uns zum volltommenften Kunſtſchaffen. Shakeſpeare, ber die eine Nothwendigkeit der naturgetreuen Darſtellung der um- gebenden Scene noch nicht empfand, und daher die Vielftoffig- teit des von ihm dramatifch behandelten Romaned gerade nur fo weit fihtete und zufammenbrängte, als die von ihm empfun= dene Nothwenbigfeit eined verengten Schauplage und einer be- grenzten Zeitdauer ber von wirklichen Menſchen dargeftellten Handlung es erheifchte, Shakeſpeare, der innerhalb dieſer Grenzen Hiftorie und Roman zu fo überzeugend charalteriſtiſcher Wahrheit belebte, daß er zum erften Male Menſchen von fo mannigfaltiger und draſtiſcher Individualität darftellte, wie noch

12 Oper und Drama:

fein Dichter vor ihm es vermocht hatte, dieſer Shafefpeare ift nichtsdeſtoweniger in feinen, durch die eine bezeichnete Noth- wendigkeit noch nicht geftalteten, Dramen der Grund und der Ausgangspunkt einer beifpiellofen Verwirrung in der drama- tifchen Kunſt über zwei Jahrhunderte hindurch, bis auf unfere Tage, geworben.

Dem Romane und dem loſen Gefüge der Hiftorie war im Shakefpare’fhen Drama, wie ich mich ausdrüdte, eine Thüre offen gelafjen worden, durch die fie nad) Belieben aus- und ein= gehen konnten: diefe Thüre war die der Phantafie überlafjene Darftellung der Scene. Wir werben nun fehen, daß die Hieraus entftehende Verwirrung ganz; in’ dem Grade vorwärts fchritt, als diefe Thüre von anderer Seite her auf dad Rückſichtsloſeſte zugefchlagen ward, und die gefühlte Mangelhaftigkeit der Scene wiederum zu willkürlichen Gewaltſamkeiten gegen das lebendige Drama felbft trieb.

Bei ben fogenannten romanifchen Nationen Europa's, unter denen die ſchrankenloſe Abenteuerlichkeit des alle germani« ſchen und romanifhen Elemente bunt durcheinander werfenden Romanes am tollften gewäthet hatte, war auch dieſer Roman am unfähigften zur PDramatifirung geworden. Der Drang, aus der konzentrirten Innerlichkeit des menfchlichen Weſens heraus die bunten Äußerungen der früheren phantaftiichen Laune zu bes ftimmten, deutlichen Erſcheinungen zu gejtalten, gab fi) vorzüg- lich nur bei den germaniſchen Nationen kund, die den innerlihen Krieg des Gewiſſens gegen marternde äußere Satzungen zur proteftantifhen That machten. Die romanischen Nationen, bie äußerlich unter dem Joche des Katholizismus verblieben, erhiel- ten fi fortwährend in der Richtung, nad) welcher fie vor dem inneren unlösbaren Bwiefpalte nad) Außen Hin flohen, um von Außen her wie id) mic) zubor ausdrückte nad; Innen ſich zu zerjtreuen. Die bildende Kunft, und eine Pichtkunft, Die als ſchildernde der bildenden dem Wejen, wenn auch nicht der Außerung nad, gleihfam, find die eigenthümlichen, von Außen her zerftreuenden, feflelnden und ergögenden Fünfte dieſer Nationen,

Bon feinem heimiſchen Vollksſchauſpiele wandte fich der ge

Dad Schaufpiel und dad Wefen der dramatiſchen Dichtkunſt. 13

bildete Italiener und Zranzofe*) ab; in feiner rohen Einfalt und Sormlofigkeit erinnerte e3 ihn an den ganzen Wuft des Mittelalter, den er eben wie -einen fchmeren, beängftigenden Traum von fid) abzujhütteln bemüht war. Dagegen ging er auf die hiſtoriſche Wurzel feiner Sprache zurüd, und wählte zunächſt aus römifchen Dichtern, den litterariſchen Nachahmern der Gries hen, ſich Mufter auch für daS Drama, das er zur Unterhaltung der fein erzogenen vornehmen Welt ald Erſatz für das, nur noch den Pöbel ergebende, Volksſchauſpiel vorführte. Malerei und Arditeltur, die Hauptfünfte der romaniſchen Renaifjance, Hatten das Auge diefer vornehmen. Welt jo geſchmackvoll und zu folden Anſprüchen ausgebildet, daß das rohe, mit Teppichen verhängte Bretgerüft der brittifchen Schaubühne ihm nicht behagen konnte. Als Schauplag ward in den Paläften der Fürften den Schau- fpielern der prachtvolle Saal angewiefen, in welchem fie mit ge— ringen Mobificationen ihre Scene herzuſtellen Hatten. Stabilität der Scene warb als maaßgebendes Haupterforderniß für das ganze Drama feftgeftellt, und hierin begegnete fich die angenom-

. mene Geſchmacksrichtung der vornehmen Welt mit dem modernen Urfprunge des ihr vorgeführten Drama’s, den Regeln des Arifto- teles. Der fürftliche Zufchauer, deſſen Auge durch die bildende Kunft zu feinem vornehmften Organe pofitiven Genußfinnes ge-" macht worden tvar, liebte es nicht, gerade diefen Sinn binden zu follen, um der Phantafie, der geficht3lofen, ihn unterzuordnen, und zwar um fo weniger, al3 er grundfäglich der Erregung der unbejtimnten, mittelalterlich geftaltenden Phantafie auswich. Es hätte ihm die Möglichkeit geboten werden müffen, die Scene, bei jeder Beranlaffung des Drama’ zum Wechſel derfelben, dem Gegenftande getreu mit malerifcher und plaftifher Genauigteit Dargeftellt zu jehen, um diefen Wechfel felbft geftatten zu können.

*) Da ich feine Geſchichte des modernen Drama’s ſchreibe, jon- dern in der Entwidelung bejjelben, meinem Bwede gemäß, nur bie» jenigen zwei Hauptrichtungen nachzuweiſen habe, in welchen fic bie

Srundverſchiedenheit jener Entwidelungswege am beutlichiten aus- fpricht, Habe ich das ſpaniſche Theater Übergangen, weil in ihm allein dieſe verihiedenen Wege fi charakteriftiih freugen, wodurch es zwar an ſich unvergleichlich bedeutend wirb, für und aber nicht ‚mei jo entſchiebene Gegenfäge herausbildet, wie fie, für alle neuere Entteidetung des Drama's maaßgebend, in Shakeſpeare und ber franzöfiihen Tragödie vorliegen.

14 Oper und Drama:

Was fpäter bei der Miſchung der dramatiſchen Michtungen er- möglicht wurbe, war hier aber gar nicht zu verlangen nöthig, weil andererfeit3 die Ariftoteliichen Regeln, nach denen biefes fingivte Drama konſtruirt wurde, aud) die Einheit der Scene zu einer wichtigen Bedingung defjelben machten. Gerade Das aljo, was ber Britte bei feinem organifchen Schaffen ded Drama’ aus Innen als äußered Moment noch unbeachtet ließ, ward zu einer, von Außen Her geftaltenden, Norm für das franzöfifche Drama, das fo aus dem Mechanismus heraus ſich in das Leben hinein zu konſtruiren fuchte.

Wichtig ift es nun, genau zu beachten, wie dieſe äußerliche Einheit der Scene die ganze Haltung des franzöfifchen Drama’ dahin bebang, daß die Darftellung der Handlung fait ganz von diefer Scene außgefchloffen, und dafür nur der Vortrag der Rede in ihr zugelaffen wurde. Somit mußte auch grunbjäglich der don Handlung ftroende Roman, das poetiſche Grundelement des mittelalterlichen und neueren Lebens, von der Darftellung auf diefer Scene ausgeſchloſſen bleiben, da die Vorführung feines vielglieberigen Stoffes ohne Häufige Verwandlung der Scene gerabeswege unmöglich war. Alſo nicht nur die äußerliche Form, fondern auch der ganze Zufchnitt der Handlung, und mit ihm endlich der Gegenftand der Handlung felbit, mußte den Muftern entnommen werden, die für die Form den franzöſiſchen Schauſpieldichter beftimmt hatten. Er mußte Handlungen wäh— Ien, die nicht erft von ihm zu einem gebrängten Maafe dra- matiſcher Darftellungsfähigfeit verdichtet zu werben brauchten, fondern folche, die bereits zu einem foldem Maafe verdichtet ihm vorlagen.

Aus ihrer heimiſchen Sage Hatten die griechifchen Tragiker ſich ſolche Stoffe, als höchſte künſtleriſche Blüthe diefer Sage, verdichtet: der moderne Dramatiker, der von den äußerlichen Regeln ausging, die jenen Dichtungen entnommen worden waren, konnte das poetiſche Lebenselement ſeiner Zeit, das nur in der geradezu unigekehrten Weiſe Shakeſpeare's zu bewältigen war, nicht zu der Dichtigkeit zuſammendrängen, daß es dem äußerlich aufgelegten Maaße entfprochen hätte, und Nicht? als Die na— türlih entftellende Nahahmung und Wiederholung jener ſchon fertigen Dramen blieb ihm daher übrig. In Racine’3 Tragedie haben wir fomit auf der Scene die Rede, Hinter der

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunft. 15

Scene die Handlung: Beweggründe mit davon abgelöfter und außerhalb verlegter Bewegung, Wollen ohne Können. Alle Kunft warf fi) daher auch nur auf die Außerlichkeit der Rede, die ganz folgerichtig in Jtalien (von woher das neue Kunftgenre auögegangen war) auch alsbald fi in jenen mufialifchen Vor— trag verlor, den wir bereits umftändlicher als den eigentlichen Inhalt des Opernweſens kennen gelernt haben. Auch, die fran- zöftiche Tragedie ging mit Nothwendigkeit in die Oper über: lud fprad den wirklichen Inhalt dieſes Tragödienweſens aus.

* Die Oper war jomit die vorzeitige Blüte einer unreifen Frucht, auf unnatürlichem, künſtlichem Boden gewachſen. Womit das italienifche und franzöfifihe Drama begann, mit der äußeren Form, dazu fol dad neuere Drama durch organifche Entwicke- lung aus fi Heraus, auf dem Wege des Shafeipeare’schen Drama’s, erft gelangen, und dann auch erſt wird die natürliche Frucht des mufifalifhen Drama's reifen.

Zwifchen diefen zwei äußerften Gegenfägen, dem Shake— fpeare’fhen und dem Racine’fchen Drama, erwuch nun aber zunächſt das moderne Drama zu feiner zwitterhaften, un— natürlichen Geftalt, und Deutfhland war der Boden, von dem fich diefe Frucht nährte.

Hier beftand der romanifche Katholizismus in gleicher Stärke neben dem germanifchen Proteftantismug fort: nur wurden beide in einen fo heftigen Konflitt mit einander verwidelt, daß, un- entſchieden wie er trogdem blieb, eine natürliche Kunftblüthe fi nit aus ihm entfaltete. Der innerlihe Drang, ber fich bei dem Britten auf die Dramatifche Darftellung der Hiftorie und des Ro- manes warf, blieb beim deutſchen Proteftanten im hartnädigen Bemühen, ben innerlichen Zwieſpalt ſelbſt innerlich zu fchlich. ten, haften. Wir haben einen Luther, der fich in der Kunſt wohl bis zur religiöfen Lyrik erhob, aber feinen Shafefpeare. Der vömifch-katholifche Süden konnte jedoch nie zu dem genial leichtfinnigen Vergeſſen des innerlichen Zwieſpaltes fi auf- ſchwingen, in welchem die romaniſchen Nationen ſich zur bilben- den Kunſt anliegen: mit finjterem Ernſte bewachte er feinen reli- giöfen Wahn. Während ganz Europa fi auf die Kunft warf,

16 Oper und Drama:

blieb Deutfchland ein finnender Barbar. Nur was fi) draußen bereits überlebt Hatte, flüchtete fich nach Deutfchland, um in feinem Boden noch zu einem Nachfommer zu erblühen. Engliſche Ko: möbdianten, denen die Darjteller der Shakeſpeare ſchen Dramen daheim ihr Brod entzogen Hatten, kamen nad; Deutſchland, um dem Bolte ihre grotesk pantomimijchen QTafchenfpielereien vor— zumachen: erft lange darauf, als auch e8 in England verblüht war, folgte das Shakeſpeare'ſche Drama felbit nad; deutſche Schaufpieler, die vor der Bucht ihrer langweiligen dramatiſchen Schulmeifter flohen, bemächtigten ſich deffelben, um es für ihre Praxis herzurichten.

Vom Süden her war dagegen die Oper, dieſer Ausgang des romaniſchen Drama's, hereingedrungen. Ihr vornehmer Ur- ſprung aus den Paläjten der Fürſten empfahl fie wiederum den deutſchen Zürften, fo daß dieſe Fürften Die Oper in Deutfchland einführten, während wohlgemerkt! das Shakeſpeare'ſche Schaufpiel von dem Volke eingeholt ward. Ju der Oper ftellte ſich der fcenifhen Mangeldaftigkeit der Shakeſpeare'ſchen Bühne als volliter Gegenſatz die üppigite und geſuchteſte Ausftattung diefer Scene entgegen. Das mufikalifche Drama mar recht eigent- lich ein Schaujfpiel geworden, während das Schaufpiel ein Hörfpiel geblieben war. Wir haben hier nicht mehr nöthig, den Grund der fcenifch-beforativen Ausfchweifung im Operngenre zu unterſuchen: dieß loſe Drama war von Außen Fonjtruirt, und von Außen her, durch Luxus und Pracht, fonnte es auch nur am Leben erhalten werden. Nur iſt es wichtig, zu beobachten, wie biefer fcenijche Prunk mit dem unerhört bunteften, außsgejucht mannigfaltigften Wechſel fcenifcher Vorführungen an das Auge, aus der bramatifchen Richtung hervorging, in der urjprünglich die Einheit der Scene ald Norm aufgejtellt worden war. Nicht der Dichter, der, indem er den Roman zum Drama zufammen- drängte, infoweit feine Vieljtoffigfeit noch unbefchränft Tieß, als er die Scene zu ihren Gunften durch den Appell an die Phan- tafie Häufig und ſchnell zu wechſeln vermochte, nicht der Dichter Hat, um etwa von biefem Appell an die Phantafie ſich an die Beftätigung der Sinne zu wenden, jenen raffinirten Mes chanismus zur Verwandlung wirklich dargeftellter Scenen er- Funden, fondern das Verlangen nad) äußerliher Unterhaltung und deren Wechfel, die bloße Uugenbegierde, Hat ihn Hervorge

Das Schaufpiel und das Wefen der dramatiſchen Dichtkunſt. 17

bradt. Hätte diefen Apparat der Dichter erfunden, jo müßten wir auch annehmen, er habe die Noihwendigfeit des häufigen Scenenwechſels aus einer Nothwendigfeit der Vielitoffigkeit des Drama’3 felbft als Bedürfniß gefühlt: da der Dichter, wie wir fahen, von Innen heraus organiſch fonftruirte, würde bei jener Annahme fomit bewiefen fein, daß die Hiftorielle und romanhafte Vielftoffigkeit ein nothwendiges Bedingniß des Drama's fei; denn nur die unbeugjame Nothwendigkeit dieſes Bedingniſſes hätte ihn dazu treiben können, dem Bedürfniffe der Vielftoffig- keit duch Erfindung eines fcenifchen Apparate zu entfprechen, durch melden die Vieljtoffigkeit auch als bunte, zerftreuende BVielfcenigkeit fi äußern mußte. Gerade unigefehrt war es aber der Fall. Shafefpeare fühlte ſich von der Notwendigkeit der dramatifhen Darſtellung der Hiftorie und des Romanes ger drängt; in dem friſchen Eifer, diefem Drange zu entfprechen, kam in ihm das Gefühl von der Nothwendigkeit auch einer natur getreuen Darftellung der Scene noch nicht auf; hätte er noch diefe Nothwendigfeit für die vollfommen überzeugende Darftel- kung einer dramatif—hen Handlung empfunden, jo würde er ihr duch ein noch bei Weitem genaueres Sichten und dichteres Zu— fammenbdrängen ber Vielſtoffigleit des Romaues zu entfprechen gefucht Haben, und zwar ganz in ber Weife, wie er bereits ben Schauplatz und die Zeitdauer der Darftellung, und ihretwegen die Vielftoifigkeit jelbit, zufammengedrängt hatte. Die Unmög- lichkeit, den Roman noch enger zu verdichten, auf die er hierbei unfehlbar gejtoßen wäre, müßte dann ihn aber über die Natur des Momaned dahin aufgellärt haben, daß dieſe mit der des Drama's in Wahrheit nicht übereinftimme, eine Entdedung, die wir erft machen konuten, als uns die undramatijhe Vielſtoffig- feit der Hiftorie aus der Verwirklichung der Scene zu Ge— fühl kam, die durch den Umftand, daß fie nur angedeutet zu werben braud)te, Shafefpeare den dramatiſchen Roman einzig ermöglichte.

Die Nothwendigkeit einer dem Orte der Handlung entfpre= enden Darftellung der Scene konnte nun mit der Zeit nicht ungefühlt bleiben; die mittelalterliche Bühne mußte verfchwin- den und der modernen Pla machen. Ju Deutſchland wurde fie durch den Charakter der Volksſchauſpielkunſt beftimmt, die ihre dramatifche Grumdlage, feit dem Erſterben der Paſſions⸗ und

Richard Wagner, Gel. Säriften IV. 2

18 . Oper und Drama:

Möfterienfpiele, ebenfalls der Hiftorie und dem Romane ent- nahm. Zur Beit des Auffchwunges der deutſchen Schauſpielkunſt um die Mitte ded vorigen Jahrhunderts bildete dieſe Grundlage der, dem damaligen Volksgeiſte entiprechende, bür- gerlihe Roman. Er war unendlich gefügiger und namentlich bei Weitem weniger reich an Stoff, als der Hiftoriiche oder fagen- hafte Roman, der Shafefpeare vorlag: eine ihm entſprechende Darftellung der Iofalen Scene kounte fomit auch mit viel we— nigerem Aufwande hergeftellt werben, als es für die Shake— ſpeare ſche PDramatifirung des Romanes erforderlich geweſen wäre. Die von dieſen Schauſpielern aufgenommenen Shake— fpeare’fchen Stüde mußten fi) nad) jeder Seite Hin, um für fie darſtellbar zu werben, bie beſchränkendſte Umarbeitung gefallen Iafien. Ic übergehe hier alle für diefe Umarbeitung maaßgeben- den Gründe, und hebe nur den einen, ben des rein fcenifchen Erforderniffes, heraus, weil er für ben Bmwed meiner Inter: fuchung für jegt der wichtigfte ift. Jene Schaufpieler, die erften Überfiedler des Shafefpeare anf das deutſche Theater, verfuhren fo redlich im Geifte ihrer Kunſt, daß es ihnen nicht einfiel, feine Stüde etwa dadurch aufführbar zu machen, daß fie entweder den häufigen Scenenwechſel in ihnen durch bunte Verwandlung ihrer theatralifchen Scene felbft begleitet, ober gar ihm zu Liebe der wirklichen Darftellung der Scene überhaupt entfagt hätten und zu der fcenenlofen mittelalterlihen Bühne zurüdgefehrt wären, ſondern fie behielten den einmal eingenommenen Standpunkt ihrer Kunft bei und orbneten ihm die Shakeſpeare'ſche Bielfcenig- feit infoweit unter, als fie unwichtig bünfende Scenen gerades— weges außließen, wichtigere Scenen aber zufammenfügten. Erſt vom Standpunkte der Litteratur auß gewahrte man, was bei diefem Verfahren vom Shakeſpeare'ſchen Kunftwerte verloren ging, und drang auf Wieberheritellung der urfprünglichen Ge- ftaltung der Stüde auch für die Darftellung, für welche man zwei entgegengefegte Vorſchläge machte. Der eine, nit ausgeführte Vorſchlag, ift der Tied’iche. Tied, das Weſen des Shakeſpeare'- ſchen Drama’3 volllommen erfennend, verlangte die Wiederher- ftellung der Shafefpeare’ihen Bühne mit dem Appell an die Phantafie für die Scene. Dieſes Verlangen war durchaus folge- richtig und ging auf ben Geift des Shafefpeare’fhen Drama’ Hin. Iſt ein halber Reſtaurationsverſuch in der Geſchichte aber

Das Schaufpiel und das Wefen der dramatiſchen Dichtkunſt. 19

ſtets unfruchtbar geblieben, fo hat fi} ein tadifaler dagegen von je ald unmöglich erwieſen. Tieck war ein radikaler Reftaurator, als folcher ehrenwerth, aber ohne Einfluß. Der zweite Bor- ſchlag ging dahin, den ungeheuren Apparat der Opernfcene zur Darftellung des Shalkeſpeare ſchen Drama's auch durch getreue Herftellung der von ihm urfprünglich nur angedeuteten, häufig wechfelnden Scene abzurichten. Auf ber neueren englifchen Bühne überjegte man die Shalefpeare'ſche Scene in allerrealfte Wirk- lichkeit; die Mechanik erfand Wunder für die ſchnelle Verwand⸗ Kung der umftändlichft ausgeführten Bühnendekorationen: Trup⸗ penmärfche und Schlachten wurden mit überrafchenditer Ge— nauigfeit dargeftellt. Auf großen deutſchen Theatern ward die Verfahren nachgeahmt.

Bor dieſem Schaufpiele ftand nun prüfend und verwirrt der moderne Dichter. Das Shakefpeare’iche Drama hatte als Lit- teraturftüd auf ihn den erhebenden Gindrud der vollendetiten dichteriſchen Einheit gemacht; jo lange es nur an feine Phan- tafie fich gewendet hatte, war diefe vermögend geivefen, aus ihm ein harmoniſch abgejchloffenes Bild fi zu entnehmen, dad er nun, bei Erfüllung bed wiederum nothwendig erwachten Ver— Iangens, dieſes Bild durch vollftändige Darftellung an die Sinne verwirklicht zu fehen, plögli vor feinen Augen gänzlich ſich ver- mifchen fah. Das vermirflichte Bild der Phantafie Hatte ihm nur eine unüberfehbare Mafje von Realitäten und Aktionen gezeigt, aus denen das verwirrte Auge das Gemälde der Einbildungs- kraft durchaus nicht wieder zurüdzufonftruiven vermochte. Zwei Hauptwirkungen äußerte diefe Erfcheinung auf ihn, die fich beide in ber Enttäufhung über die Shakeſpeare ſche Tragödie kund⸗ gaben. Der Dichter entfagte von nun an entweder dem Wunfche, feine Dramen auf der Bühne bargeftellt zu fehen, um daß dem Shakeſpeare ſchen Drama entnommene Phantafiebild ungeftört nad feiner geiftigen Abficht wiederum nachzubilden, d. h. er ſchrieb Litteraturbramen für die ftumme Lektüre, oder er wandte fi, um auf der Bühne fein Phantafiebild praftifch zu verwirklichen, mehr ober weniger unwillkürlich der reflektirten Geftaltung des Drama’s zu, deffen modernen Urfprung wir in dem, nach den Ariftoteliihen Einheitöregeln konſtruirten, anti liſirenden Drama zu erkennen Hatten.

Beide Wirkungen und Richtungen find die geftaltenden Mo-

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20 Oper und Drama:

tive in den Werfen der zwei bebeutendften dramatifchen Dichter der neueren Zeit, Goethe's und Schiller’8, deren ich, fo weit e3 für den Zweck meiner Unterſuchung erforderlich ift, hier näher gedenten muß.

Goethe’ Laufbahn als dramatifcher Dichter begann mit der Dramatifirung eine bollblutig germanifchen Ritterromanes, des „Götz von Berlichingen“. Das Shakeſpeare'ſche Verfahren war bier ganz getreu befolgt, der Roman mit allen feinen auß- führliden Zügen fo meit für die Bühne überſetzt, als die Ver: engung berjelben unb die Zufammendrängung der Zeitdauer der dramatiſchen Aufführung es geftatteten. Goethe traf aber bereits auf die Bühne, auf der dad Lokal der Handlung nad) den Er- forderniſſen derfelben, wenn auch roh und dürftig, dennoch mit bejtimmter Abſicht zur Darftellung gebracht wurde. Diefer Um- ftand veranlafte den Dichter, fein mehr vom litterariſch-, ala ſceniſch⸗dramatiſchen Standpunkte aus verfaßtes Gedicht nach träglic) für die wirkliche Darftellung auf der Bühne umzuarbeiten: durch Die legte Geftalt, die ihm aus Rüdficht auf die Exforder- niffe der Scene gegeben wurde, hat das Gedicht die Frifche bes Romane verloren, ohne dafür die volle Kraft des Drama’s zu gewinnen.

Goethe wählte nun für feine Dramen zunächſt bürgerliche Romanftoffe. Dad Charakteriftiihe des bürgerlihen Ro— manes bejteht darin, daß die ihm zu Grunde liegende Hand» lung von einem umfaffenderen Zufammenhange Hiftorifcher Hand» Tungen und Beziehungen fi vollitändig Iostrennt, nur ben fozialen Niederſchlag diefer geſchichtlichen Ereigniffe als bebin- gende Umgebung feithält, und innerhalb diefer Umgebung, die im Grunde doch nur die zur Barblofigfeit Herabgebämpfte Rüd: wirkung jener hiſtoriſchen Begebenheiten ift, mehr nach gebieterifch von diefer Umgebung auferlegten Stimmungen, al3 nach inneren, zu vollfommen geftaltender Außerung befähigten Beweggründen ſich entwidelt. Diefe Handlung ift ebenfo befchränft und arm, als die Stimmungen, durch Die fie hervorgerufen wird, ohne Frei⸗ heit und felbftändige Innerlichkeit find. Ihre Dramatifirung ent- ſprach aber ſowohl dem geiftigen Geſichtspunkte des Publikums, al3 namentlich auch der äußeren Möglichkeit der ſceniſchen Dar-

Das Schauſpiel und dad Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 21

ſtellung, und zwar dieß infoweit, als auß diefer ärmlichen Hand» Img nirgends Nothwendigfeiten für die praftifhe Scenirung herborgingen, denen biefe nicht von vornherein zu entſprechen bermocht hätte. Was ein Geilt wie Goethe unter folhen Be— ſchränkungen dichtete, müffen wir faft nur aus der von ihm ge= fühlten Nothiendigfeit der Unterorbnung unter gewiſſe be— ſchränkende Maximen zur Ermöglichung des Drama's überhaupt, gewiß aber weniger als aus einer freiwilligen Unterordnung unter den beſchränkten Geiſt der Handlung des bürgerlichen Ro— manes und die Stimmung des Publikums, die ihn begünſtigte, ſelbſt hervorgegangen anſehen. Aus dieſer Beſchränkung erlöfte ſich Goethe aber zu feſſelloſeſter Freiheit durch gänzliches Auf- geben des wirklichen Bühnendrama’s. Bei feinem Entwurfe des „Sauft“ hielt er nur die Vortheile einer dramatifchen Darlegung für das Litteraturgedicht feit, die Möglichkeit einer fcenifchen Aufführung mit Abfiht gänzlich außer Acht laſſend. In diefem Gedichte ſchlug Goethe zum erften Male mit vollem Bewußtjein den Grundton des eigentlichen poetifchen Elementes der Gegen- wart an, das Drängen ded Gedankens in die Wirklich- keit, den er künſtleriſch aber noch nicht in die Wirklichfeit des Drama's erlöfen konnte. Hier ift der Scheidepunft bes mittel alterlichen, bis zur Seichtigkeit des bürgerlichen verflachten Ro— manes und des wirklich dramatifchen Stoffes der Zukunft. Wir müfen e8 uns vorbehalten, auf die Charakteriftif diefes Scheidepunktes näher einzugehen: für jegt gelte uns die Erfah— rung für wichtig, daf Goethe, auf diefem Scheidepunft angelangt, weder einen wirklichen Roman, noch ein wirkliches Drama zu geben vermochte, fondern eben nur ein Gedicht, das der Vortheile beider Gattungen nad; abftrahirtem fünftlerifchem Maaße genoß.

Bon dieſem Gebichte, das wie eine immer Iebendig riefelnde Duellader fi durch das ganze Fünftlerleben des Dichters mit geftaltender Anregung bahinzieht, jeden wir hier ab, und ver- folgen Goethe's Kunftihaffen immer wieder da, wo er mit er= neueten Verſuchen fi) dem feenifhen Drama zuwandte.

Von dem dramatifirten bürgerlichen Romane, den er im „Egmont“ dur Ausdehnung der Umgebung bis zum Bufam- menhange weitverzweigter Hiftorifcher Momente von Innen ber aus zu feiner höchſten Höhe zu fleigern verfuchte, war Goethe mit dem Entwurfe zum „Fauſt“ entſchieden abgegangen: reizte

22 Oper und Drama:

ihn nun noch das Drama als vollendetfte Gattung der Dicht- kunſt, fo geſchah dieß namentlich durch Betrachtung deffelben in feiner vollendeten ünftlerifchen Form. Diefe Form, die ben Italienern und Franzoſen, dem Grabe ihrer Kenntniß des An- tifen gemäß, nur als äußere zwingende Norm verſtändlich war, ging dem geläuterteren Blide deutſcher Forſcher als ein mwefent- liches Moment der Äußerung griechifchen Lebens auf: die Wärme jener Form vermochte fie zu begeiftern, als fie die Wärme dieſes Leben aus feinen Monumenten felbft herausgefühlt hatten. Der deutfche Dichter begriff, daß die einheitliche Form der griechifchen Tragödie dem Drama nicht von Außen aufgelegt, fondern durch den einheitlihen Inhalt von Innen Heraus neu belebt werben müſſe. Der Juhalt des modernen Lebens, der fi immer nur noch im Romane verſtändlich zu äußern vermochte, war unmög— lich zu fo plaftifcher Einheit zufammenzubrängen, daß er bei verftändfiher dramatifcher Behandlung fi) in der Form bes griechifchen Drama’s hätte ausfprechen, diefe Form aus ſich recht- fertigen oder gar nothwendig erzeugen können. Der Dichter, dem es Bier um abjolute fünftlerifche Geftaltung zu thun mar, konnte aud) jet immer nur nod zu dem Verfahren der Fran— zoſen wenigſtens äußerlich zurüdfehren; er mußte, um die Form des griechiſchen Drama’ für fein Kunftwerk zu rechtfer⸗ tigen, auch den fertigen Stoff des griechiſchen Mythos dazu ver— wenden. Wenn Goethe zu dem fertigen Stoffe der „Sphigenia in Tauris“ griff, verfuhr er aber ähnlich wie Beethoven in feinen wichtigften ſymphoniſchen Sätzen: wie Beethoven ſich ber fer- tigen abfofuten Melodie bemächtigte, fie gewiſſermaſſen auflöfte, zerbrach, und ihre Glieder durch neue organifche Belebung zu— fammenfügte, um den Organismus der Mufif felbft zum Ge— bären der Melodie fähig zu machen, fo ergriff Goethe den fertigen Stoff der „Iphigenia“, zerfegte ihn in feine Beftand- theile, und fügte diefe durch organifch belebende dichterifche Ge- ftaltung von Neuem zufammen, um fo den Organismus des Drama’ felbft zur Zeugung ber vollendeten dramatifchen Kunſt⸗ form zu befähigen. Aber nur mit diefem, im Voraus bereits fer- tigen Stoffe konnte Goethe dieß Verfahren gelingen: an feinem dem modernen Leben oder dem Romane entnommenen durfte der Dichter zu gleichem Erfolge gelangen. Wir werben auf den Grund diefer Erſcheinung zurüdfommen: für jegt genügt es,

Das Schaufpiel und dad Weſen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 23

aus dem Überblide des Goethe ſchen Kunſtſchaffens zu beftätigen, daß der Dichter auch von diefem Verfuche des Drama’3 ſich wieder abwandte, fobald es ihm nicht um abfolutes Kunſtſchaffen, fon- dern um die Darftellung des Lebens jelbft zu thun war. Diefes Leben, in feiner vielgliederigen Verzweigung und von nah’ und fern willenlos beeinflußten äußeren Geftaltung, konnte auch Goethe nur im Romane zu verftändlicher Darlegung bewältigen. Die eigentlie Blüthe feiner modernen Weltanfhauung konnte der Dichter nur in der Schilderung, im Appell an die Phantafle, nicht in der unmittelbaren dramatifchen Darftellung uns ntit- theilen, fo daß Goethe'3 einflußreichites Kunſtſchaffen ſich wieder in den Roman verlieren mußte, aus dem er im Beginn feiner dichterifhen Laufbahn mit Shakeſpeare'ſchem Drange fi zum Drama gewendet hatte.

Schiller begann, wie Goethe, mit dem dramatifirten, Ro- mane unter dem Einfluffe des Shakeſpeare ſchen Drama’s. Der bürgerliche und politifche Roman beſchäftigte feinen dramatiſchen Geftaltungstrieb fo lange, bis er an den modernen Duell dieſes Romanes, die nadie Gejchichte feldft, gelangte, und aus diefer das Drama unmittelbar zu konſtruiren ſich bemühte. Hier zeigte fih die Sprödigkeit des gefchichtlichen Stoffes und feine Un- fähigkeit zur Darftellung in dramatifcher Form. Shafefpeare überfegte die trodene, aber redliche Hiftorifche Chronik in die Iebenvolle Sprache des Drama's; diefe Chronik zeichnete mit ge— nauer Treue und Schritt für Schritt den Gang der hiftorifchen Ereigniffe und die Thaten der in ihnen handelnden Perjonen auf: fie verfuhr ohne Kritit und individuelle Anfchauung, und gab fomit daß Daguerreotyp der gefchichtlichen Thatfachen. Shafe- ſpeare Hatte dieſes Daguerreotyp nur zum farbigen. Ölgemälde zu beleben; er hatte den Thatjachen die notwendig auß ihrem Zufammenhange errathenen Motive zu entnehmen, und diefe dem Blut und Fleiſche der handelnden Perfonen einzuprägen. Im Übrigen blieb das Gerüft ber Geſchichte von ihm völlig unan= getaftet: feine Bühne erlaubte ihm das, wie wir fahen. Der modernen Scene gegenüber erfannte der Dichter aber bald die Unmöglichkeit, die Gefchichte mit der hroniftiihen Treue Shake— fpeare’3 fiir das Schaufpiel Herzurichten; er begriff, daß nur dem für feine Länge oder Kürze ganz unbeforgten Romane ed möglich gewefen war, die Chronit mit lebendiger Schilderung

24 Oper und Drama:

der Charaktere außzuftatten, und daß nur bie Bühne Shafe- ſpeare's wiederum es erlaubt hatte, diefen Roman zu dem Drama zufammenzubrängen. Suchte er nun. den Stoff zum Drama in der Geſchichte ſeibſt, ſo geſchah dieß mit dem Wunſche und dem Streben, den hiſtoriſchen Gegenſtand durch unmittelbar dich— teriſche Auffaſſung von vornherein ſo zu bewältigen, daß er in der, nur in möglichfter Einheit verſtändlich ſich kundgebenden Form des Drama’3 vorgeführt werden Tonnte. Gerade in dieſem Wunfche und Streben liegt aber der Grund der Nichtigkeit unſeres hiſtoriſchen Drama's. Geſchichte ift nur dadurch Geſchichte, daß ſich in ihr mit unbedingteſter Wahrhaftigkeit die nackten Hand— lungen der Menſchen uns darſtellen: fie giebt und nicht die in— neren Gefinnungen der Menfchen, fondern läßt uns aus ihren Handlungen erft auf diefe Gefinnungen ſchließen. Glauben wir nun dieſe Gefinnungen richtig erfannt zu haben, und wollen wir die Geſchichte nun als aus diefen Gefinnungen gerechtfertigt dar- ftellen, jo vermögen wir dieß eben nur in der reinen Gejchicht8- fchreibung, oder mit erreichbarfter Künftlerifcher Wärme im Hiftorifchen Romance, d.h. in einer Kunftform, in der wir durch feinen äußerlichen Zwang genöthigt find, den Thatbeitand der nadten Geſchichte durch willfürlihe Sichtung oder Zufammen- drängung zu entftellen. Wir können die aus ihren Handlungen erfannten Gefinnungen gejhichtliher Perfonen auf feine Weife entſprechend und verftändlichen, als durch getreue Darſtellung derfelben Handlungen, aus denen wir jene Gefinnungen erfannt haben. Wollen wir aber, um die inneren Beweggründe zu Hand- lungen uns zu verbeutlichen, die Handlungen, die aus ihnen herborgingen, dem Zwecke ihrer Darftellung zu Liebe, in irgend Etwas verändern oder entjtellen, jo kann dieß nothwendig wieder nur durch die Entftellung der Gefinnungen, ſonach mit der gänz- lichen Verneinung der Gefchichte jelbft gefchehen. Der Dichter, der es verfuchte, mit Umgehung der chroniftifchen Genauigkeit geſchichtliche Stoffe für die dramatiſche Scene zu verarbeiten, und zu biefem Zwecke über den Thatbeitand der Geſchichte nach mwillfürlichem, künſtleriſch-formellem Ermefjen verfügte, konnte weder Geſchichte, noch aber aud) ein Drama zu Stande bringen,

Halten wir, zur Verdeutlichung des Geſagten, Shafefpeare’s Hiftorifche Dramen mit Schiller's „Wallenftein“ zufammen, fo mäffen wir beim erften Blide erkennen, wie hier mit Umgehung

Das Schaufpiel und bad Weſen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 25

der äußerlichen gefchichtlichen Treue zugleich auch der Inhalt der Geſchichte entftellt wirb, während dort bei chroniftifher Ge— nauigfeit der charakteriſtiſche Inhalt der Geſchichte auf das Über- zeugendfte wahrhaftig zu Tage tritt. Ohne Zweifel war aber Schiller ein größerer Geſchichisforſcher als Shakeſpeare, und in feinen vein hiftorifchen Arbeiten entfchulbigt er fi völlig für feine Auffaflung der Gefchichte als dramatifcher Dichter. Worauf es uns jet hierbei aber ankommt, ift die faktifche Beſtätigung Deflen, daß wohl für Shafefpeare, auf beffen Bühne für die Scene an die Phautaſie appellirt wurde, nicht aber für uns, die wir aud) die Scene überzeugend an die Sinne bargeftellt Haben wollen, der Hiftorie der Stoff zum Drama zu entnehmen ift. Selbft Schiller war es aber auch nicht möglich, den noch fo ab» ſichtlich von ihm zugerichteten Hiftorifchen Stoff zu der von ihm in's Auge gefaßten dramatiſchen Einheit zufammenzudrängen: Alles, was der Gefchichte erſt ihr eigentliche Leben giebt, die weithin ſich erftredende, und wiederum nad dem Mittelpuntte bedingend hinwirfende Umgebung, mußte er, da er ihre Schil— derung doch als unerläßlich fühlte, außerhalb de8 Drama’s, in ein ganz felbftändig abgefchloffenes Sonderſtück verlegen, und das Drama felbft in zwei Dramen auflöfen, was bei den mehr- theiligen hiftorifhen Dramen Shakeſpeare's eine ganz andere Bedeutung hat, da in ihnen ganze Lebensläufe von Perfonen, ‚bie zu einem BHiftorifchen Mittelpunkte dienen, nach ihren wich— tigften Perioden abgetheilt find, während im „Wallenſtein“ nur eine ſolche, an Stoff verhältnißmäßig gar nicht überreiche, Pe— riode, blof wegen ber Umftändlichfeit der Motivirung eines zur Untlarheit getrübten hiſtoriſchen Momentes, mehrtheilig gegeben wird. Shafefpeare würde auf feiner Bühne den ganzen dreißig- jährigen Krieg in drei Stüden gegeben haben.

Dieſes „dramatijche Gedicht” wie Schiller felbft es nennt war dennoch der reblichite Verfuch, der Gefchichte, als folcher, Stoff für das Drama abzugemwinnen.

In der weiteren Entwidelung de Drama's fehen wir von nun an von Schiller die Nücficht auf die Hiftorie immer mehr fallen laſſen, einerſeits um bie Hiftorie felbft nur als Verklei— dung eines befonderen, dem allgemeinen Bilbungdgange des Dichters eigenen, gedanfenhaften Motive zu verwenden, andererſeits um dieſes Motiv immer beftimmter in einer Form

26 Oper und Drama:

des Drama's zu geben, die der Natur der Sache nad, und na= mentlich auch feit Goethe's vieljeitigen Verſuchen, zum Gegen- ftande fünftlerifcher Spekulation geworben war. Schiller gerieth bei dieſer zwedlichen Unterordnung und willfürlichen Beſtim— mung de3 Stoffes immer tiefer in den notwendigen Fehler der bloß vefleftivenden und rhetoriſch fich gebahrenden Darftellung de3 Gegenftandes, bis er dieſen endlich ganz nur noch nad) der Form beftimmte, die er als rein künſtleriſch zweckmäßigſte der griechiſchen Tragödie entnahm. An feiner „Braut von Meffina“ verfuhr er für die Nahahmung der griedifchen Form noch be— ftimmter, al3 Goethe in der „Iphigenia“: Goethe Fonftruirte ſich dieſe Form nur fo weit zurüd, als in ihr die plaftiiche Ein- heit einer Handlung ſich fundgeben follte; Schiller fuchte aus diefer Form ſelbſt den Stoff des Drama's zu geftalten.. Hierin näherte er fi dem Verfahren ber frauzöſiſchen Tragödiendichter; nur unterfchied er ſich von ihnen weſentlich dadurch, daß er die griechiſche Form vollftändiger herftellte, als jie dieſen mitgetheilt worden war, umd daß er den Geiſt diefer Form, von dem biefe gar Nichts wußten, zu befeben und dem Stoff ſelbſt einzuprägen fuchte. Er nahm Hierzu von der griechiſchen Tragödie das „Fa- tum“ allerding3 nur nad dem ihm möglichen Verſtändniſſe von ihm auf, und fonftruirte aus diefem Fatum eine Hand» lung, die nad ihrem mittelalterlihen Kojtim den lebendigen Vermittelungspunft zwifchen ber Antike und dem modernen Ver: ftänbniffe bieten follte. Nie ift vom rein kunſthiſtoriſchen Stand- punkte aus fo abjichtlich gefchaffen worden, als in dieſer „Braut bon Meffina*: was Goethe in der Vermählung des Fauft mit der Helena andeutete, follte hier durch künſtleriſche Spekulation verwirklicht werben. Diefe Verwirklichung glücte aber entjchie- den nicht: Stoff und Form wurben gleichmäßig getrübt, fo daf weder der mittelalterliche, gewaltſam gebeutete Roman zur Wir- tung, noch auch die antike Form zur Maren Anſchauung kam. Wer möchte aus diefem fruchtlofen. Verſuche Schiller’3 nicht gründliche Belehrung ziehen? Verzweifelnd wandte aud Schiller von diefer Form fi) wieder ab, und fuchte in feinem legten dramatiſchen Gedichte, „Wilhelm Tel“, durch Wieder- aufnahme der dramatijhen Romanform wenigſtens feine dichtes riſche Friſche zu retten, die unter feinem ältpeifen Grperimen- tiren merklich erſchlafft war.

Das Schaufpiel und dad Weſen der dramatifchen Dichtkunſt. 27

Auch Schiller's dramatifches Kunftichaffen fehen wir alfo im Schwanfen zwiſchen Hiftorie und Roman, dem eigentlichen - poetifchen Lebengelemente unferer Zeit, einerfeit, und der voll⸗ enbeten Zorm des griechiſchen Drama's andererfeit# befangen: mit allen Safern feiner dichterifchen Lebenskraft haftete er an Jenem, während fein höherer Fünftlerifcher Geftaltungsbrang ihn nach Diefer hintrieb,

Was Schiller befonderd charakterifirt, ift, daß in ihm der Drang zur antilen, reinen Kunſtform zum Drange nah dem Idealen überhaupt ſich geftaltete. Er war fo ſchmerzlich betrübt, * diefe Form nicht mit dem Inhalte unſeres Lebenselementes künft- lerifch erfüllen zu können, daß ihm endlich vor ber Ausbeutung dieſes Elementes durch künſtleriſche Darftellung ſelbſt efelte, Goethe's praktiſcher Sinn verſöhnte ſich mit unſerem Lebens» elemente durch Aufgeben der vollendeten Kunſtform und Weiter⸗ bildung der einzigen, in der dieſes Leben ſich verſtändlich aus— ſprechen konnte. Schiller kehrte nie zum eigentlichen Romane wieder zurück; das Ideal ſeiner höheren Kunſtanſchauung, wie es ihm in der antiken Kunſtform aufgegangen war, machte er zum Weſen der wahren Kunſt ſelbſt: dieß Ideal ſah er aber nur vom Standpunkte der poetiſchen Unfähigkeit unſeres Lebens aus, und, unfere Lebenszuftände mit dem menjchlichen Leben überhaupt verwechjelnd, konnte er fich endlich die Kunft nur als ein vom Leben Getrenntes, die höchſte Runftfülle al ein Ge— dachtes, nur annäherungsweife aber Erreichbares dorftellen.

So biieb Schiller zwifhen Himmel und Erde in ber Luft ſchweben, und in diefer Schwebe hängt nach ihm unfere ganze dramatifhe Pichtlunft. Jener Himmel ift in Wahrheit aber nichts Anderes, als die antike Kunſtform, und jene Erde der praktifhe Roman unferer Zeit. Die neuefte dramatifche Dichtkunſt, die als Kunft nur von den, zu litterarifchen Denk malen gewordenen Verfuchen Goethe's und Schiller's Iebt, hat das Schwanfen zwiſchen den bezeicneten entgegengefegten Rich⸗ tungen bis zum Taumeln fortgefegt. Wo fie aus der bloßen fitterarifchen Dramatif ſich zur Darftellung des Lebens anließ, ift fie, um ſceniſch wirkungsvoll und verſtändlich zu fein, immer in die Plattheit des bramatificten bürgerlichen Romanes zurüd- gefallen, ober wollte fie einen höheren Lebensgehalt außfprechen, fo ſah fie ſich genöthigt, das. falfche dramatiſche Federgewand

28 Oper und Drama:

allmählich immer wieder vollftändig von ſich abzuftreifen, und als nadter fechd- oder neunbändiger Roman der bloßen Lektüre fich vorzuftellen.

Um unfer ganzes Funftlitterarifches Schaffen für eimen fchnellen Überblid zufammenzufaffen, reihen wir die aus ihm berborgehenden Erjcheinungen in folgende Orbnung.

Am verftändlichiten vermag unfer Lebenselement fünftle- tif nur der Roman darzuftellen. Im Streben nad) wirfungs- vollerer, unmittelbarerer Darftellung feines Stoffes, wirb der Roman dramatifirt. Bei erfannter und von jedem Dichter neu erfahrener Unmöglichfeit dieje Beginnend wird der im feis ner Vielhandlichkeit ftörende Stoff zur, erft unmwahren, dann vollſtändig inhaltsloſen Unterlage des modernen Bühnen ftüdes,: d. h. des Schaufpieles, welches wiederum nur dem mobernen Xheatervirtuofen zur Unterlage dient, herabgebrüdt. Von diefem Schaufpiele wendet fih der Dichter, fobald er feine Berfinfens in die Couliffenroutine gewahr wird, zur uns geftörten Darftellung des Stoffes im Romane zurüd; die ber- gebend von ihm erftrebte vollendete dramatiſche Form läßt er fi) aber als etwas gänzlich Fremdes durch die thatfächliche Aufführung des wirklich griedifhen Drama's vorführen. In der Litteratur-Cyril bekämpft, verſpottet, beflagt und be meint er aber endlich den Widerfpruch unferer Lebenszuftände, der ihm für die Kunft als Widerſpruch zwifchen Stoff und Form, für das Leben als Widerfpruch zwifchen Menſch und Natur erſcheint.

Merkwürdig ift e8, daß die neuefte Zeit diefen tiefen, un- verföhnbaren Widerfpruch kunſtgeſchichtlich mit einer Augen: fälligfeit dargethan Hat, daß eine Zorterhaltung bes Irrthumes in Bezug auf ihn jedem nur Halbhellblidenden unmöglich er: feinen muß. Während der Roman überall, und namentlich, bei den Sranzofen, nad) letztem phantaftiihen Ausmalen der Hiftorie fi auf die nadtefte Darftellung des Lebend der Gegen- wart warf, dieſes Leben bei feiner Iafterhafteften fozialen Grund» lage erfaßte, und, bei vollendeter Unfchönheit als Kunſtwerk, das litterarifche Kunſtwerk des Romanes ſelbſt zur revolutio- nären Waffe gegen dieſe ſoziale Grundlage ſchuf, während der Roman, ſage ich, zum Aufruf an die revolutionäre Kraft des Volkes wurde, die dieſe Lebensgrundlage zerſtören ſoll,

Das Schaufpiel und daB Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 29

vermochte ein geiftvoller Dichter, der als fehaffender Künftler nie die Fähigkeit gefunden hatte, irgendwelchen Stoff für das wirkliche Drama zu bemältigen, einen abfoluten Fürften’zu dem Befehl an feinen Theaterintendanten, ihm eine wirkliche grie- chiſche Tragödie mit antiquarifcher Treue aufführen zu laſſen, wozu ein berühmter Komponift die nöthige Muſik anfertigen mußte. Dieſes Sophofleifhe Drama erwies ſich unferem Leben gegenüber als eine grobe künſtleriſche Nothlüge: als eine Züge, welche die fünftleriihe Noth hervorbrachte, um die Un- wahrheit unſeres ganzen Kunſtweſens zu bemänteln; als eine Züge, welche die wahre Noth unferer Beit unter allerhand künſt⸗ Ierifhem. Vorwande Hinwegzuläugnen fuchte. ber eine bes ftimmte Wahrheit mußte und dieſe Tragödie enthüllen, nämlich die: daß wir fein Drama haben und fein Drama haben fünnen; daß unfer SLitteratur-Drama vom wirklichen Drama gerade fo weit entfernt fteht, als das Klavier vom ſymphoniſchen Gefang menſchlicher Stimmen; daß wir im modernen Drama nur durd) die ausgedachteſte Vermittelung litterariſcher Mechanik zur Hervorbringung von Dichtkunft, wie auf dem Klaviere durch Tomplizirtefte Qermittelung der technifchen Mechanik zur Her- vorbringung don Muſik gelangen können, das Heißt aber einer feelenlofen Dichtkunft, einer tonlofen Mufil.

Mit diefem Drama hat allerdings die wahre Mufit, das liebende Weib, nicht3 zu fchaffen. Die Kofette kann fich dieſem ſpröden Manne nahen, um ihn in die Nepe der Gefallfuht zu verftriden; die Prüde kann ſich an den Impotenten anſchließen, um fi mit ihm in Gottjeligfeit zu ergehen; die Buhlerin läßt fich von ihm bezahlen und verladht ihn: das wahrhaft liebesfehn- füchtige Weib wendet ſich aber ungerührt von ihm ab!

Wollen wir num näher erforfchen, was dieſes Drama im- potent machte, jo haben wir den Stoff genau zu ergründen, von dem es fi) ernährte. Diefer Stoff war, wie wir erjahen, der Roman; und auf das Weſen de3 Romanes müſſen wir daher nun beftimmter eingehen.

30 Oper und Drama:

II.

Der Menſch iſt auf zwiefache Weiſe Dichter: in der Anſchau— ung und in der Mittheilung.

Die natürliche Dichtungsgabe ift die Fähigkeit, die feinen Sinnen don Außen fi fundgebenden Erfcheinungen zu einem inneren Bilde von innen ſich zu verdichten; bie fünftlerifche, diefes Bild nach Außen wieder mitzutheilen.

Wie daB Auge die entfernter Tiegenden Gegenftände nur in immer verjüngtem Maaßſtabe aufzunehmen vermag, kann auch das Gehirn bed Menjdjen, der Ausgangspunkt des Auges nad) Innen, am deffen, durch den ganzen inneren Lebensorga— nismus bedingte Thätigfeit diefed die aufgenommenen äußeren Erſcheinungen mittheilt, zunächit fie nur nach dem verjüngten Maaße ber menſchlichen Individualität erfaflen. In dieſem Maafe vermag aber die Thätigkeit des Gehirnes die ihm zuge- führten, nun von ihrer Naturwirklichkeit losgelöſten Erſchei— nungen zu ben umfafjendften neuen Bildern zu geftalten, wie fie aus dem doppelten Bemühen, fie zu fichten oder in Bufam- menhange fi) vorzuführen, entitehen, und dieſe Thätigfeit des Gehirnes nennen wir Phantafie.

Das unbewußte Streben der Phantafie geht num dahin, des wirklichen Maaßes der Erjcheinungen inne zu werben, und dieß treibt fie zur Mittheilung ihres Bildes wieder nad) Außen, indem fie ihr Bild, um ed der Wirklichkeit zu vergleichen, diefer gewiffermaßen anzupafjen fucht. Die Mittheilung nach Außen vermag aber nur auf künſtleriſch vermitteltem Wege vor ſich zu

* gehen, die Sinne, welde die äußeren Erſcheinungen unmwill- fürlih aufnahmen, bedingen, zur Mittheilung des Phantafie- bildes wiederum an fie, die Abrihtung und Verwendung bes organischen ÄAußerungsvermögens des Menjchen, der fich ver- ftänblih an dieſe Sinne mittheilen will. Vollkommen verftänd- lich wird das Phantafiebild in feiner Äußerung nur, wenn es fi in eben dem Maafe wieder an die Sinne mittheilt, in wel- Gem diefen die Erfcheinungen urſprünglich fich fundthaten, und an der, feinem erlangen endlich entfprechenden Wirkung feiner Mittheilung wird der Menjch erft des richtigen Maaßes der Er- ſcheinungen in fo weit inne, als er die als das Maaß erkennt,

Das Schaufpiel und dad Wefen der dramatiſchen Dichttunft. 31.

in welchem die Erfeinungen dem Menfchen iiberhaupt ſich mittheilen. Niemand kann fich verftändfich mittheilen, als an Die, welche die Erfcheinungen in dem gleichen Maaße mit ihm fehen: dieſes Maaß ift aber für die Mittheilung das verbichtete Bild der Erfcheinungen felbft, in welchem dieſe fi dem Menſchen erfenntlich barftellen. Dieſes Maaß muß daher auf einer ge— meinfamen Anſchauung beruhen, denn nur was biefer gemein« ſamen Anſchauung erkenntlich ift, Yäßt fich ihr künftlerifch wie— derum mittheilen: ein Menſch, defien Anſchauung nicht bie gemeinfame ift, Tann fi auch nicht künſtleriſch kundgeben. Nur in einem beichränkten Maaße innerer Anſchauung bon Weſen ber Erſcheinungen hat fich feit Menfchengedenten bisher der künſtleriſche Mittheilungstrieb bis zur Fähigleit überzeu- genbfter Darftellung an die Sinne ausbilden fönnen: nur ber geiechifchen Weltanſchauung konnte bis heute uoch das wirkliche Kunftwert des Drama's entblühen. Der Stoff diefed Drama’ war aber der Mythos, und aus feinem Wejen können wir allein das höchſte griechifche Kunſtwerk umd feine und berücdende Form begreifen.

Im Mythos erfaßt die gemeinfame Dichtungskraft des Volles die Erſcheinungen gerade nur noch fo, wie fie das Teib- liche Auge zu fehen vermag, nicht wie fie am fich wirklich find. Die große Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen, deren wirklichen Bufammenhang der Menſch noch nicht zu faflen vermag, macht auf ihn zunächit den Eindrud der Unruhe: um diefe Unruhe zu überwinden, fucht er nad einem Bufammenhange der Erfcheis nungen, ben er als ihre Urſache zu begreifen vermöge: den wirk- lichen Bufammenhang findet aber nur ber Werftand, der die Erſcheinungen nad ihrer Wirklichkeit erfaßt; der Bufammen- bang, den der Menſch auffindet, der die Erjcheinungen nur noch nad) den unmittelbarften Eindrüden auf ihn zu erfaflen vermag, Kann aber bloß das Werk der Phantafie, und die ihnen unter- gelegte Urſache eine Geburt der dichteriſchen Einbildungskraft fein. Gott und Götter find die erſten Schöpfungen der menſch⸗ lichen Dichtungskraft: in ihnen ftellt ji der Menſch dad Weſen der natürlichen Erſcheinungen als von einer Urſache hergeleitet dar; als diefe Urfache begreift er aber unwillkürlich nichts An- deres, als fein eigenes menfchliches Weſen, in welchem dieſe gedichtete Urſache auch einzig mur begründet ift. Geht nun der

32 Dper und Drama:

Drang des Menfchen, der die innere Unruhe vor der Mannig- faltigfeit der Erſcheinungen bewältigen will, dahin, die gedichtete Urſache derjelben fich jo deutlich wie möglich darzuftellen, da er Beruhigung nur’ durd) diefelben Sinne wiederum zu ges winnen vermag, durch die auf fein Innere beunruhigend gewirkt wurde, fo muß er den Gott ſich auch in derjenigen Geftalt

“vorführen, die miht nur dem Wefen feiner rein menfchlichen

Anſchauung am beftimmteften entjpricht, fondern auch als äußer- liche Geftalt ihm die verjtändlichite ift. Alles Verſtändniß kommt und nur duch die Liebe, und am unwillfürlichiten wird der Menfh zu den Wefen feiner eigenen Gattung gedrängt. Wie ihm die menfchliche Geftalt die begreiflichite ift, fo wird ihm au dad Wefen der natürlichen Erfcheinungen, die er nad) ihrer Wirklichkeit noch nicht erfennt, nur durch Verdichtung zur menfch- lichen Geftalt begreiflih. Aller Geſtaltungstrieb des Volkes geht im Mythos fomit dahin, den weiteiten Zuſammenhang ber mannigfaltigften Erſcheinungen in gedrängtefter Geftalt fich zu verfinnlichen: diefe zunächſt nur von der Phantafie gebildete Geſtalt gebart fich, je deutlicher fie werden fol, ganz nach menſch⸗ licher Eigenfhaft, trogdem ihr Inhalt in Wahrheit ein über- menſchlicher und übernatürlicher ift, nänılich diejenige zufammen- wirkende vielmenſchliche oder allnatürlicde Kraft und Fähigkeit, die, al3 nur im Bufammenhange des Wirkend menſchlicher und natürlicher Kräfte im Allgemeinen gefaßt, allerdings menjch- lich und natürlich ift, gerade aber dadurch übermenfhli und übernatürfich erfcheint, daß fie der eingebildeten Gejtalt eines menfchlich dargeftellten Individuun zugeſchrieben wird. Durch die Fähigkeit, jo durch feine Einbildungskraft alle nur denkbaren Realitäten und Wirflichkeiten nach weiteſtem Umfange in ge drängter, deutlicher plaftifcher Geftaltung fi vorzufühten, wird das Volk im Mythos daher zum Schöpfer der Kunſt; denn Fünft« lerifchen Gehalt und Form müffen nothiwendig dieſe Geftalten gewinnen, wenn, wie e3 wieberum ihre Eigenthümlichkeit ift, fie nur dem Verlangen nah faßbarer Darſtellung der Exfchei- nungen, fomit dem fehnfüchtigen Wunfche, fi) und fein eigenftes Weſen dieſes gottjhöpferifhe Weſen jelbit in dem dar- geftellten Gegenſtande wieder zu erfennen, ja überhaupt erſt zu erkennen, entſprungen find. Die Kunſt ift ihrer Bedeutung nach nicht Anderes, als die Erfüllung des Verlangens, in einem

Das Schaufpiel und das Wefen ber dramatiſchen Dichttunſt. 33

dargeftellten bewunderten oder geliebten Gegenftande fich jelbft zu erkennen, fich in den, durch ihre Darftellung bemältigten Er— fcheinungen der Außenwelt wieber zu finden. Der Künftler fagt fi in dem von ihin dargeftellten Gegenftande: „So bift Du, fo fühlft und deufft Du, und fo würbeft Du handeln, wenn Du, frei von ber zwingenden Willfür der äußeren Lebendeindrüde, nad) der Wahl Deined Wunfches handeln könnteſt“. So ftellte das Volk im Mythos fi) Gott, jo den Helden, und fo endlich den Menſchen dar.

Die griechifche Tragödie ift die fünftlerifche Verwirklichung des Inhalte und bed Geiſtes des griechiſchen Mythos. Wie in diefem Mythos der weitverzweigtefte Umfang der Erfcheinungen zu immer dichterer Geftalt zufammengebrängt wurde, jo führte da8 Drama dieſe Geftalt wieber in bichtefter gebrängtefter Form vor. Die gemeinfame Unfhauung vom Weſen der Erſcheinungen, die im Mythos ſich aus der Natur-Anfhauung zur menschliche fittlichen verdichtete, tritt bier, in beftimmtefter, verbeutlichendfter Form an die univerfellfte Empfängnißfraft des Menſchen fich kundgebend, als Kunſtwerk aus der Phantafie in die Wirklichkeit ein. Wie im Drama die zuvor im Mythos immer nur noch ges dachten Geſtalten in wirklich Leiblicher Darftellung durch Men- ſchen vorgeführt wurden, fo drängte auch die wirklich dargeftellte Handlung, ganz dem Wefen des Mythos entiprechend, fich zu plaftifcher Dichteit zufammen. Wird die Gejinnung eines Men- fen nur in feiner Handlung uns überzeugend offenbar, und befteht der Charakter eines Menfchen eben in ber bollfommenen Übereinftimmung feiner Gefinnung mit feiner Handfung, fo wird diefe Handlung, und fomit die ihr zu Grunde liegende Gefin- nung ganz im Sinne des Mythos auch erſt dadurch bes deutung3voll und einem umfangreichen Inhalte entiprechend, daß auch) fie in volliter Gebrängtheit ſich Fundgiebt. Eine Hand- Tung, die aus vielen Theilen befteht, ift entweder, wenn alle diefe Theile von inhalt3voller, entſcheidender Wichtigkeit find, eine übertriebene, außfchweifende und unverſtändliche, oder, wenn biefe Theile nur Anfänge und Abſätze von Handlungen enthalten, eine Heinfiche, willfittliche und inhaltsloſe Der In- halt einer Handlung ift die ihr zu Grunde liegende Gefinnung; fol diefe Gefinnung eine große, umfangreiche, das Wefen des Menfchen nad; irgend einer beftimmten Richtung hin eteßofendr

Rigard Wagner, Sei. Gariften IV.

34 Oper und Drama:

fein, fo bedingt fie auch die Handlung als eine entjcheidende, einzige und untheilbare, denn nur in einer folhen Handlung wird eine große Gefinnung ung offenbar. Der Inhalt des grie— chiſchen Mythos war feiner Natur nad) von diejer umfang- reichen, aber dichtgedrängten Beſchaffeuheit, und in der Tragödie äußerte ſich diefer mit vollfter Beftimmtheit aud) als diefe eine, nothwendige und entfcheidende Handlung. Diefe eine Hand» fung in ihrer wichtigſten Bedeutung aus der Gefinnung der Handelnden vollfommen geredjtfertigt Hervorgehen zu laſſen, das mar die Aufgabe des tragiſchen Dichters; die Nothiwendig- teit der Handlung aus der bargelegten Wahrheit der Gefinnung zum Zerftändniffe zu bringen, darin beftand die Löfung feiner Aufgabe. Die einheitvolle Form feines Kunſtwerkes war ihm aber in dem Gerüfte des Mythos vorgezeichnet, dad er zum Iebenvollen Baue nur auszuführen, keinesweges aber um eines willlürlich erdachten Fünftlerifhen Baues willen zu zerbröckelu und neu zuſammenzufügen hatte. Der tragiſche Dichter theilte den Inhait und das Weſen des Mythos nur am überzeugend- ften und verftändfichiten mit, und die Tragödie ift nichts Anz deres, als die fünftlerifche Vollendung des Mythos ſelbſt, ber Mythos aber da8 Gedicht einer gemeinfamen Lebensanfhauung.

Suchen wir und nun deutlich zu machen, welches die Le bensanfhauung der modernen Welt ift, die im Roman ihren fnftferifchen Ausdrud gefunden Hat.

Sobald der refleftirende Verſtand von ber eingebildeten Geftalt abjah und nad; der Wirflichfeit der Erfcheinungen forfchte, die in ihr zufammengefaßt waren, gewahrte er zumächit da, wo die dichterifche Anſchauung ein Ganzes ſäh, eine immer wachſende Vielheit von Einzelnheiten. Die anatomische Wiflen- ſchaft begann ihr Werk, und verfolgte den ganz entgegengefepten Weg der Volfsdichtung: wo diefe unwillkürlich verband, trennte jene abſichtlich; wo diefe den Bufammenhang ſich barftellen wollte, trachtete jene nur nad; genaueftem Erkennen der Theile; und fo mußte Schritt für Schritt jede Volksanſchauung ver- nichtet, als abergläubifc, überwunden, als findifch verlacht wer— ben. Die Naturanfhauung des Volkes ift in Phyfit und Chemie,

Das Schauſpiel und das Weſen ber bramatifcen Dichtfunft. 35

feine‘ Religion in Theologie und PHilofophie, fein Gemeinde ſtaat in Politit und Diplomatie, feine Kunſt in Wiffenfchaft und Äſthetik, fein Mythos aber in die geſchichtliche Chronik aufs gegangen.

Auch die neue Welt gewann ihre geftaltende Kraft aus dem Mythos: aus der Begegnung und Mifhung zweier Haupt: mythenkreiſe, die nie ſich vollftändig durchdringen und zu pla> ſtiſcher Einheit fi erheben konuten, ging der mittelalterliche Roman hervor.

In Hriftliden Mythos war Das, worauf der Grieche alle äußeren Erfcheinungen bezog und was er daher zum ficher geftalteten Qereinigungspunft aller Natur- und Weltanſchau— ungen gemacht hatte, der Menſch, das von vornherein Un— begreiffiche, fich felbft Iremde geworden. Der Grieche war von Außen, durd) ben Vergleich der äußeren Erfcheinungen mit dem Menſchen, zum Menfchen gefommen: in feiner Geftalt, in feinen unwillkürlich gebildeten ſittlichen Begriffen, fand er, vom Schwei⸗ fen in den Weiten der Natur zurücklehrend Maaß und Beruhi—⸗ gung. Dieſes Maaß war aber ein eiugebildeted und nur fünft: leriſch verwirklichtes: mit dem Verfuche, im Staate e8 abjichtlic) zu realifiren, dedte ji) der Widerſpruch jenes eingebildeten Manfed mit der Wirklichkeit der realen menfchlichen Willkür infoweit auf, als Staat und Individuum fid) nur durch offen- barſte Übertretung jenes eiugebildeten Maaßes zu erhalten ſuchen mußten. Als die natürliche Sitte zum willfürlid, vertragenen Geſetz, die Stammesgemeinfhaft zum willkürlich konſtruirten politijchen Staate geworden waren, lehnte num gegen Gefeg und Staat fi) wieder der unmillfürliche Lebenstrieb bes Menſchen mit dem vollen Unfcheine der egoiftiichen Willtür auf. In dem Zwieſpalte zwiſchen Dem, was der Menfch für gut und recht erkannte, wie Gejeß und Staat, und Den, wozu fein Glüd- feligfeitötrieb ihn drängte, der individuellen Freiheit, mußte der Menſch ſich endlich unbegreiflich vorkommen, und diefes Irreſein an fi war der Ausgangspunft des hriftlichen Mythos. In diefem ſchritt der, der Ausfühnung mit ſich bedürftige, in- dividuelle Menſch bis zur erfehuten, im Glauben aber ver- wirffiht gedachten Erlöfung in einem anferweltlihen Weſen vor, in welchem Gejeg und Staat infoweit vernichtet waren, als fie in feinem unerſorſchlichen Willen mit inbegriffen gedacht

gr

36 Oper und Drama:

wurden. Die Natur, aus welcher der Grieche bis zum deutlichen Erjaffen des Menſchen gelangt war, Hatte der Chrift gänzlich zu überfehen: galt ihm als ihre höchſte Spige der in fi un- einige, erlöfung3bebürftige Menſch, fo konnte fie ihm nur noch uneiniger und an fi) verdammungswürdiger erfcheinen. Die Wiſſenſchaft, welche die Natur in ihre Theile zerlegte, ohne das wirffiche Band diefer Theile noch zu finden, fonnte die Hriftliche Anſicht von der Natur nur unterftügen.

Körperliche Geſtalt gewann der chriftliche Mythos aber an einem perfönlichen Menfchen, der um des Verbrechens on Geſetz und Staat willen den Martertod erlitt, in ber Unterwerfung unter die Strafe Geſetz und Staat als äußerliche Nothwendig- keiten vechtfertigte, durch feinen freiwilligen Tod zugleich aber auch Gefe und Staat zu Gunften einer inneren Nothwendigteit, der Befreiung des Individuums duch Erlöfung in Gott, auf hob. Die hinreißende Gewalt des chriſtlichen Mythos auf das Gemüth befteßt in der von ihm bargeftellten Berflärung durch den Tod. Der gebrochene tobesberaufchte Blick eines geliebten Sterbenden, der, zur Erkennung der Wirklichkeit bereits unver- mögend, uns mit dem legten Leuchten ſeines Glanzes noch ein- mal berührt, übt einen Eindrud der herzbemältigendften Weh— muth auf uns aus; diefer Blick ift aber begleitet von dem Lächeln der bleichen Wangen und Lippen, das, an fi nır dem Wohl- gefühle des emblich überftandenen Todesſchmerzes im YAugen- blide ber eintretenden vollftändigen Auflöfung entiprungen, auf und den Cindrud boraußempfundener überirdifcher Seligfeit macht, dig eben nur durch Erfterben des leiblichen Menfchen ge wonnen werben fönne. So, wie wir ihn in feinem Verſcheiden fahen, fteht der Hingefchiedene nun vor dem Blide unferer Er- innerung; alle Willfürlicfeit und Unbeftinmtheit feiner finn- lichen Lebensäußerung nimmt unfer Gedenken von feinem Bilde fort; den nur noch Gedachten fieht unfer geiftige8 Auge, der Blick der gebenfenden Minne, in dem fanftdämmernden Scheine leidenlofer, füßruhiger Glüchſeligkeit. So gilt und der Augen- blick des Todes als der der wirklichen Erlöfung in Gott, denn durch fein Sterben ilt der Geliebte, in unferem Gedenken an ihn, von ber Empfindung des Lebens gefchieden, deren Wonnen wir, in der Sehnſucht nad) eingebildeten größeren Wonnen, unein- gedent find, deren Schmerzen wir aber, namentlich auch in dem

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 37

Verlangen nach dem verklärten Seligen, einzig als das Weſen der Empfindung des Lebens feſthalten.

Dieſes Sterben, und die Sehnſucht nach ihm, iſt der ein⸗ zige wahre Inhalt der aus dem chriſtlichen Mythos hervorge⸗ gangenen Kunft: er äußert fi als Scheu, Efel und Flucht vor dem wirklichen Leben, und als Verlangen nad) dem Tode. Der Tod galt dem Griechen nicht nur als eine natürliche, fondern auch · fittlihe Nothwendigfeit, aber nur dem Leben gegen- über, welches an ſich ber wirkliche Gegenftand auch aller Kunft- anſchauung war. Dad Leben bedang aus ſich, aus feiner Wirk lichleit und unwillkürlichen Nothwendigteit, den tragifhen Tod, der an fi nichts Anderes war, ala der Abſchluß eines durch Entwidelung volliter Individualität erfüllten, für die Geltends machung diefer Individualität aufgewendeten Lebens. Dem Chriſten aber war der Tod an fich der Gegenftand; das Leben erhielt für ihn nur Weihe und Rechtfertigung als Vor⸗ bereitung auf den Tod, als ‚Verlangen nad dem Sterben, Die bewußte, mit aller Kraft des Willens ausgeführte Abſtreifung des finnlichen Leibes, die abſichtliche Vernichtung des wirklichen Dafeins, war der Gegenftand der Hriftlichen Kunft, der fomit ſtets nur gefchildert, beichrieben, nie aber, und am allertwenigften im Drama, dargeftellt werden konnte. Das entſcheidende Element des Drama’3 ift die künſtleriſch verwirklichte Bewegung eine fcharf beftimmten Inhalted: eine Bewegung kann unjere Theilnahme aber nur fejleln, wenn fie zunimmt; eine abneh— mende Bewegung ſchwächt und zerftreut unfere Teilnahme, außer da, io fid) in ihr eine nothwendige Beruhigung borüber- gehend ausbrüdt. Im griehifhen Drama wächſt die Bewegung vom Beginne an zu immer bejchleunigterem Laufe, bis zum er⸗ habenen Sturme der Kataftrophe; dad ungemifchte, wahrhaftige Hriftliche Drama müßte mit dem Sturme des Lebens beginnen, um die Bermegung zum ſchwärmeriſchen Erſterben abzuſchwächen. Die Paſſionsſpiele des Mittelalters jtellten die Leidensgeſchichte Jefus’ in der Form wechſelnder, leiblich außgeführter Bilder bar: das wichtigſte und ergreifendfte diefer Bilder führte Jeſus am Kreuze hängend vor: Hymnen umd Pfalmen wurden mäh- rend biefer Ausftellung gefungen. Die Legende, dieſer chriſtliche Roman, vermochte einzig den chriſtlichen Stoff zur anziehenben Darftellung zu bringen, weil fie wie es bei dieſem

38 Oper und Drama:

Stoffe einzig möglich war nur an die Phantafie, nicht aber an bie finnlihe Anſchauung fi wandte. Nur der Muſik war es vorbehalten, diefen Stoff auch durch äußere, finnlih wahr nehmbare Bewegung barzuftellen, jedoch nur dadurch, daß fie ihn gänzlich zum bloßen Gefühlsmomente auflöfte, zur Farben- mifchung ohne Zeichnung, die in der farbigen Berfloffenheit der Harmonie jo erloſch, wie der Sterbende auß der Wirklichkeit des Lebens zerfließt.

Der zweite, dem chriftlichen Mythos entgegengefegte, auf die Anfchauung und die Kunftgeftaltung der neuen Zeit ent- ſcheidend einwirkende Mythenkreis, ift die heimifche Sage ber neueren europäifchen, vor allem aber der deutfchen Zölfer.

Der Mythos diefer Völker wuchs, wie der der hellenifchen, auß der Naturanfhauung zur Bildung von Göttern und Helden. In einer Sage der Siegfriedsfage vermögen wir jetzt mit ziemlicher Deutlichfeit bis auf ihren urſprünglichen Keim zu bliden, der uns nicht wenig über dad Wejen des Mythos über- haupt belehrt. Wir fehen hier natitrliche Erfcheinungen, wie die des Tages und der Nacht, des Auf- und Unterganges der Sonne, duch die Phantafie zu handelnden, und um ihrer That willen verehrten oder gefürchteten Perfönlichfeiten verdichtet, Die aus menfchlich gedachten Göttern endlich zu wirklich vermenfchlichten Helden umgefchaffen wurden, welche einft wirklich gelebt haben ſollten, und von denen die lebenden Gefchledhter und Stämme ſich Teiblich entfproffen rühmten. Der Mythos reichte fo, maaß— gebend und geftaltend, Unfprüche rechtfertigend und zu Thaten befeuernd, in das wirkliche Leben hinein, wo er als religiöfer Glaube nicht nur gepflegt wurde, fondern ala bethätigte Re— figion felöft ſich kundgab. Ein unermeßlicher Reichthum verehrter Vorfälle und Handlungen füllte diefen, zur Heldenfage geftal- teten religiöfen Mythos an: fo mannigfaltig dieſe gedichteten und befungenen Handlungen aber auch fid geben mochten, fo erſchienen fie doch alle nur als Variationen eines gewiffen, fehr beftimmten Typus von Begebenheiten, den wir bei grünblicher Forſchung auf eine einfache religiöfe Vorftellung zurüdzuführen vermögen. In diefer religiöfen, der Naturanſchauung entnom- menen Vorſtellung Hatten, bei ungetrübter Entwidelung des

Das Schauſpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 39

eigenthümlichen Mythos, die bunteften Äußerungen ber unend- lich verzweigten Sage ihren immer nährenden Ausgangsquell: mochten die Geftaltungen der Sage bei den vielfachen Geſchlech— tern und Stämmen ſich auß wirklichen Erlebniffen immer neu bereichern, fo geſchah die dichterifche Geftaltung de3 neu Exlebten doch unwilltürlih immer nur in ber Weife, wie fie der dich— terifchen Anſchauung einmal zu eigen war, und diefe wurzelte tief in derſelben religiöfen Naturanfchauung, die einft den Urs mythos erzeugt hatte.

Die dichterifch geftaltende Kraft diefer Völker war alfo ebenfall3 eine religiöfe, unbewußt gemeinfame, in der Uranſchau— ung vom Weſen der Dinge wurzelnde. An diefe Wurzel Iegte num aber bad Chriſtenthum die Hand: dem ungeheuren Neid) thume der Zweige und Blätter des germaniſchen Vollsbaumes vermochte der fromme Belehrungseifer der Chriften nicht beizus kommen, aber die Wurzel fuchte er auszurotten, mit der er u den Boden des Dafeind gewachſen war. Den religiöfen Glauben, die Grundanfhauung vom Weſen der Natur, hob das Chriften- thum auf und verdrängte ihn duch einen neuen Glauben, durch eine neue Anfchauungsweife, die ben alten ſchnurgerade ent— gegengejegt waren. Wermochte ed nun auch nie den alten Glau—

ben vollftändig außzurotten, fo nahm es ihm doch wenigitend feine üppig zeugende künſtleriſche Praft: was aber dieſer Kraft bisher entwachſen war, die unermeßlich veich geftaltete Sage, dieß blieb nun, al von dem Stamme und der Wurzel Iosgelöftes Geäft, die fortan aus ihrem Keime ſelbſt ungenährte, dad Volk ſelbſt nur noch kümmerlich nährende Frucht. Wo zuvor in der religiöfen Bolldanfchauung der einheitlich bindende Haft für alle noch jo mannigfaltigen Geftaltungen der Sage gelegen hatte, fonnte nun, nad) Bertrümmerung dieſes Hafted, nur noch ein loſes Gewirr bunter Geftalten übrig bleiben, das halt- und band- 108 in der nur noch unterhaltungsfüchtigen, nicht mehr aber ſchöpferiſchen Phantafie herumſchwirrte. Der zeugungsunfähig gewordene Mythos zerfegte ſich in feine einzelnen, fertigen Bes ftandtheile, feine Einheit in taufendfache Vielheit, der Kern feiner Handlung. in ein Unmaaß von Handlungen. Diefe Handlungen, , om fi) nur Individualificungen einer großen Uchandluug, gleich ſam perfönliche Variationen .derjelben, dem Wefen des Volfes als deſſen Äußerung notäwendigen, Haudlung, wurden

40 Oper und Drama:

wiederum in der Weife zerfplittert und entftellt, daß fie nach willlürlichem Belieben in ihren einzelnen Theilen wieber zufam= mengejeßt und verwendet werben konnten, um den raftlofen Trieb einer Phantafie zu nähren, bie innerlich gelähmt und der nach Außen geftaltenden Fähigkeit beraubt nur auch Äußerliches noch verfchlingen, nicht Innerliches mehr von ſich geben konnte. Die Zerfplitterung und das Erfterben des deutſchen Epos, wie es und in den wirren Geftaltungen des „Heldenbuches“ vor- liegt, zeigt fi uns in einer ungeheuren Mafje von Handlungen, die um fo größer anſchwillt, ald jeder eigentliche Inhalt ihnen verloren geht.

Diefem Mythos, für den dem Wolfe durch die Annahme des Chriftentfumes alles wahre Verſtändniß feiner urfprüng« lichen Iebenvollen Beziehungen vollftändig verloren ging, ward, als das Leben. feine einheitvollen Leibes durch den Tod fich in das Vielleben von Myriaden märdenhafter Würmer aufgelöft hatte, die chriſtlich-religiöſe Anſchauung wie zu neuer Be— lebung untergelegt. Dieſe Anſchauung konnte nach ihrer in- nerſten Eigenthümlichkeit eigentlich nur dieſen Tod des Mythos beleuchten und mit myſtiſcher Verklärung ausſchmücken: fie recht⸗ fertigte feinen Tod gewiſſermaßen, indem ſie all' jene maſſen⸗ haften und bunt fich durchkreuzenden Handlungen, die an fi nicht aus einer noch begriffenen und dem Volke eigenen Gefin- nung erklärt und gerechtfertigt werden konnten, in ihrer launen⸗ haften Willkür fich darftellte, und, da fie ihre vechtfertigenden Beweggründe nicht zu faflen vermochte, fie nach dem chriftlichen Tode, als dem erlöfenden Ausgangspunkte Hinleitete. Der hrift- liche Ritterroman, ber Hierin den getreuen Ausdruck des mittels alterlichen Lebens giebt, beginnt mit dem viellebigen Leichenrefte bed alten Heldenmythos, mit einer Menge von Handlungen, deren wahre Gefinnung und unbegreiflih und wilfürlich er- ſcheint, weil ihre Motive, die in einer ganz anderen als der chrift- lichen Lebensanfchauung beruhen, dem Dichter verloren gegan- gen find: die Zweckloſigkeit und Unbefugtheit diefer Handlungen durch fich ſelbſt darzuftellen, und aus ihnen für das unwillkür⸗ liche Gefühl die Nothiwendigfeit des Unterganges ber Handeln den, fei es durch aufrihtige Annahme der chriſtlichen, zur Beihaulichkeit und Unthätigfeit auffordernden Lebensregeln, ober durch die äußerfte Vethätigung der chriſtlichen Anſchauung,

Das Schaufpiel und dad Weſen der bramatifchen Dictkunft. 41

den Märtyrertod felbft zu vechtfertigen, dieß war die natür⸗ liche Richtung und Aufgabe des geiftlihen Rittergedichtes. Der urfprüngliche Handlungsftoff des Heidnifhen Mythos hatte ſich aber bereit aud zur ausſchweifendſten Mannigfaltige keit durch die Miſchung aller nationalen, ähnlich dem germani- ſchen von ihrer Wurzel abgelöften, Sagenftoffe bereichert. Durch das Chriſtenthum waren alle Völker, die ſich zu ihm befannten, , von dem Boden ihrer natürlichen Anſchauungsweife losgeriſſen, und die ihr entfproffenen Dichtungen zu Gaufelbildern für die feffelloje Phantafie umgeſchaffen worden. In den Rreuzzügen hatte Abend- und Morgenland bei. mafienhafter Berührung diefe Stoffe ausgetauſcht und ihre Vielartigkeit bis in daS Ungeheure ausgedehnt. Begriff früher im Mythos das Vol nur dad Hei- miſche, fo fuchte e8 jegt, wu ihm das Verſtändniß des Heis miſchen verloren gegangen war, Erſatz durch immer neues Fremdartiges. Mit Heißhunger verichlang ed alles Auslän- diſche und Ungemohnte: ſeine nahrungswüthige Phantafie er- ſchöpfte alle Möglichkeiten der menſchlichen Einbildungskraft, um fie in unerhört bunten Abenteuern zu verpraffen. Diefen Trieb vermochte die hriftliche Anfchauung endlich nicht mehr zu Ienten, obſchon fie ihn ſelbſt im Grunde erzeugt hatte, da er urfprünglich nichts Anderes war, al3 ber Drang, vor der uns verftandenen Wirklichkeit zu fliehen, um in einer eingebildeten Welt fi zu befriedigen. Diefe eingebildete Welt mußte, bei noch fo großer Ausſchweifung der Phantafie, ihr Urbild aber doch immer nur ben Erfcheinungen der wirklichen Welt entnehmen: die Einbildungsfraft konnte endlich wieder nur wie im Mythos verfahren: fie drängte alle ihr begreiflichen Realitäten der wirk- lichen Welt zu gebichteten Bildern zufammen, in denen fie das Weſen von ZTotalitäten individualifirte und dadurch fie zu un— geheuerlihen Wundern ausſtattete. Auch biefer Drang ber Phantafie ging in Wahrheit, wie im Mythos, wiederum nur zur Auffindung der Wirklichkeit, und zwar der Wirklichkeit einer un- geheuer ausgedehnten Außenwelt Hin, und feine Verhätigung in diefem Sinne blieb nicht aus. Der Drang nad) Abenteuern, in denen man 'da8 Phantafiebild fi zu verwirklichen fehnte, ver—⸗ dichtete fi enblich zum Drange nad) Unternehmungen, in denen, - nad taufendfältig erfahrener Fruchtlofigfeit des Abenteuers, das erſehnte Biel der Erkennung der Außenwelt, im Genuffe der

42 Oper und Drama:

Frucht wirklicher Erfahrungen, mit ernftem, auf die beftimmte Erreihung gerichtetem Eifer aufgeſucht wurde. Kühne, in be— wußter Abficht unternommene Entdeckungsreiſen, und tiefe, auf ihre Ergebniffe begründete Forſchungen der Wiſſenſchaft ent— hüllten und endlich die Welt, wie fie in Wirklichkeit ift. -— Durch diefe Exfenntniß ward der Roman des Mittelalter vernichtet, und der Schilderung eingebildeter Erfcheinungen folgte die Schilderung ihrer Wirklichkeit.

Diefe Wirklichkeit war aber nur in den, für unfere Thätig- keit unnahbaren, Erfcheinungen der Natur eine von unferen Irrthümern unberührte, unentftellte geblieben. An dev Wirklich- keit des menſchlichen Lebens hafteten unfere Irrthümer aber mit dem entftellendften Biwange. Auch fie zu überwinden, und das Leben des Menfchen nah der Nothwendigkeit feiner indi— viduellen und fozinlen Natur zu erkennen und endlich, weil es in unferer Macht fteht, zu geftalten, das ift der Trieb der Menſchheit feit der nach Außen von ihr errungenen Fähigfeit, die Erfcheinungen der Natur in ihrem Wefen zu erkennen; denn aus biefer Erfenntniß haben wir das Maaß für die Erkenntniß auch des Wefens des Menfchen geivonnen.

Die Hriftliche Anfhauung, die den Drang der Menfchen nad Außen unwillkürlich erzeugt Hatte, aus ſich aber ihn weder ernähren nod) lenken fonnte, hatte ſich diefer Erſcheinung gegen- über in fich feloft zum ftarren Dogma zufommengezogen, gleich- fam um vor der ihr unbegreiflichen Erſcheinung ſich feldft zu retten. Hier befundete fih nun die eigentliche Schwäche und widerſpruchvolle Natur diefer Anfchauung. Das wirkliche Leben und der Grund feiner Erfcheinungen war ihr von je etwas Un- begreifliche3 gemwejen. Den Zwieſpalt zwiſchen dem Geſetzesſtaat und der Willfür des individuellen Menſchen Hatte fie um fo weniger überwinden können, als in ihm einzig ihr Urfprung und Wefen mwurzelte: war der individuelle Menſch vollkommen mit der Gejellfchaft verföhnt, ja, nahm er aus ihr die vollfte Be- friedigung feines Slüdjeligfeitötriebed, fo mar aud jede Noth- wenbigfeit der chriftlichen Anſchauung aufgehoben, dad Chriften- thum ſelbſt praftifch vernichtet. Wie urfprünglich im menfchlichen

Das Schaufpiel und dad Weſen der dramatiihen Dichtkuuſt. 43

Gemüthe aus diefem Zwieſpalte aber diefe Anfchauung hervor- gegangen war, fo nährte das Chriſtenthum als Welterſcheinung fi auch lediglich von diefem fortgefegten Biwiefpalte, und ihn abfihtlih zu unterhalten mußte daher zur Lebensaufgabe der Kirche werben, fobald fie einmal ihres Lebensquelles fich voll- tommen bewußt ward.

Auch die chriſtliche Kirche Hatte nad) Einheit gerungen: alle Kundgebungen bes Lebens follten in fie, al3 den Mittel punkt de3 Lebens, auslaufen. Sie war aber nicht ein Mittel- punft, fondern ein Endpunkt bes Lebens, denn das Geheimniß des wahrften chriftlichen Wefend war der Tod. Am anderen Endpunkte ftand nun aber der natürliche Duell des Lebens felbft, deſſen der Tod eben nur durch Vernichtung Herr zu werben ver- mag: die Gewalt, die dieſes Leben aber ewig dem chriſtlichen Tode zuführte, war feine andere als der Staat ſelbſt. Der Staat war der eigentliche Lebensquell der chriftlichen Kirche; diefe mwüthete gegen ſich felbft, al3 fie gegen den Staat kämpfte. Was die Kirche im herrſchſüchtigen, aber redlichen, mittels alterlichen Glaubenseifer beftritt, war der Reſt von altheidnifcher Gefinnung, der ſich in der individuellen Selbſtberechtigung der weltlichen Machthaber ausſprach: fie drängte diefe Machthaber dadurch, daß fie ihnen die Nachſuchung ihrer Berechtigung durch göttliche Veftätigung vermitteljt der Kirche auferlegte, aber ges maltfam zur Konfolidirung des abfoluten, niet- und nagelfeften Staates hin, wie al3 ob fie gefühlt hätte, fol’ ein Staat fei ihr zu ihrer eigenen Eriftenz nöthig. So mußte die hriftliche Kirche ihren eigenen Gegenſatz, den Staat, endlich felbft be feftigen helfen, um in einer bualiftifchen Eriftenz ihre eigene zu ermöglichen: fie ward felbft zu einer politifchen Macht, weil fie fühlte, daß fie nur in einer politifchen Welt eriftiren fünne. Die Hriftliche Anſchauung, die in ihrem innerften Bewußtſein eigent- lich den Staat aufhob, ift, zur Kirche verdichtet, nit nur zur Rechtfertigung des Staates geworden, jondern fie hat fein, die freie Individualität zwingendes Beſtehen erſt zu ſolch' briden- der Fühlbarkeit gebracht, daß von nun an der nad) Außen ge- leitete Drang der Menfchheit ſich auf die Befreiung von Kirche und Staat zugleich gerichtet Hat, wie zur letzten Verwirklichung der nad ihrem Weſen erfhauten Natur der Dinge auch im menſchlichen Leben felbft.

44 J J Oper und: Drama:

Bunäcft aber war die Wirklichkeit des Lebens und feiner Erſcheinungen ſelbſt in der Weife aufzufinden, wie die Wirklich- keit der natürlichen Exfcheinungen durch Entdeckungsreiſen und wiſſenſchaftliche Forſchungen aufgefunden worden war. Der 6i8 jeßt dahin nach Außen gerichtete Drang der Menfchen kehrte nun zur Wirklichkeit auch des fozialen Lebens zurüd, und zwar mit um fo größerem Eifer, als fie, nach äußerſter Flucht in aller Welt Enden, des Zwanges diejer fozialen Zuftände nie fich ent» Iedigen hatten können, ſondern überall ihm unterworfen geblie- ben waren. Dad, vor dem man unwillfürlich geflohen war, und dem man in Wahrheit doch nie entfliehen fonnte, mußte endlich als in unferen eigenen Herzen und in unferer unwillfürlichen Anfhauung vom Weſen der menschlichen Dinge fo tief begründet erkannt werden, daß vor ihm eine bloße Flucht nad Außen un— möglich war. Aus den unendlichen Räumen der Natur zurück Tommend, wo wir die Einbildungen unferer Phantafie vom Wefen der Dinge widerlegt gefunden hatten, fuchten wir nothgedrun- gen in einer Haren und deutlichen Beſchauung auch der menſch⸗ lichen Zuftände dieſelbe Widerlegung für eine eingebildete, un⸗ richtige Anficht von ihnen, auß der heraus wir felbft fie fo genährt und geftaltet Haben mußten, als wir zuvor die Erfcheinungen der Natur au unferer irrthümlichen Anficht und geftaltet Hatten. Der erſte und wichtigfte Schritt zur Erkenntniß beftand daher darin, die Erſcheinungen des Lebens nach ihrer Wirklichkeit zu erfaffen, und zwar zunächſt one alle Beurtheilung, fondern mit dem Bemühen, ihren Thatbeftand und Bufammenhang uns fo erfichtlih und der Wahrheit entiprechend wie möglich vorzu- führen. So lange Seefahrer nad) vorgejaßten Meinungen die zu entdeckenden Gegenftände ſich vorgeftellt hatten, mußten fie durch die endlich erfannte Wirklichkeit fich immer enttäufcht fehen; der Erforſcher unferer Lebenszuftände Hielt jich daher zu immer größerer Vorurtheilslofigfeit an, um ihrem wirklichen Weſen deſto ficherer auf den Grund zu kommen. Die ungetrübtefte Anfhauungsweife der nadten, unenttellten Wirklichkeit wird von nun an die Richtſchnur des Dichters: die Menſchen und ihre Zuftände wie fie find, nicht wie, man fie zuvor fi) einbilbete, zu begreifen und darzuftellen, ift fortan Die Aufgabe nicht min» der des Geſchichtsſchreibers, als des Künftlers, der die Wirklich- teit des Lebens im gebrängten Bilde ſich vorführen will, und

Dad Schaufpiel und dad Weſen ber dramotiſchen Dichttunſt. 45

Shakeſpeare war der unübertroffene Meiſter in dieſer Kunſt, die ihn die Geſtalt ſeines Dramas erfinden ließ.

Aber nicht im wirklichen Drama war, wie wir ſahen, dieſe Wirklichkeit des Lebens künſtleriſch darzuftelen, ſondern nur im ſchildernden, beſchreibenden Romane, und zwar aus Gründen, über die uns dieſe Wirklichkeit einzig ſelbſt belehren Tann.

Der Menſch kann nur im Bufammenhange mit den Men- ſchen überhaupt, mit feiner Umgebung, begriffen werden: los⸗ gelöft auß diefem mußte gerade der moderne Menfch als das Allerunbegreiflichfte erfcheinen. Der vaftlofe innere Zwie— fpalt dieſes Menſchen, der zwifchen Wollen und Können fich ein Chaos don marternden Vorftellungen gefchaffen Hatte, die ihm zum Kampfe gegen ſich jeldft, zur Geldftzernagung und zum Teiblofen Aufgehen in den hriftlihen Tod getrieben hatten, war nicht fowohl, wie das Chriſtenthum es verfucht hatte, aus der Natur des individuellen Menſchen ſelbſt, als aus der Ver- irrung dieſer Natur, in welche fie eine unverſtändnißvolle An- ſchauung des Weſens der Gefellfchaft gebracht Hatte, zu erklären. Jene peinigenden Borftellungen, melde diefe Anſchauung trüb- ten, mußten’ auf die ihnen zu Grumde liegende Wirklichkeit zu- rüdgeführt werden, und als dieſe Wirflichfeit Hatte der Forſcher den wahren Zuftand der menfchlicden Geſellſchaft zu erkennen. Uber auch diefer Zuftand, in welchem taufendfache Berechtigun- gen dich millionenfache Rechtiofigfeiten fi ernährten, und der Menſch vom Menſchen durch eingebildete, und nad) der Einbil- dung verwirklichte, unüberfteigbare Schranfen getrennt war, konnte nicht aus fich ſelbſt begriffen werden; er mußte aus ben zu Rechten gewordenen Überlieferungen der Geſchichte, aus dem thatſächlichen Inhalte und endlich aus dem Geifte der gejchicht- lichen Vorfälle, aus den Gefinnungen, die fie hervorriefen, er- Härt werben.

Als folhe gefchichtliche Thatfachen Häuften fi vor dem menſchenſuchenden Blide des Forſchers eine jo ungeheure Maffe berichteter Vorgänge und Handlungen, ‘daß die überreiche Stoff- fülle des mittelalterlichen Romanes ſich dagegen als nadte Armuth darftellte. Und dennoch war diefe Maffe, die bei näherer

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Betrachtung fih zu immer vielgliedrigerer Werzweigung auß- dehnte, von dem vorſcher nach der Wirklichkeit der menſchlichen Zuftände bis in Die weiteften Fernen zu durchdringen, um aus ihrem erbrüdenden Wufte da? Einzige, um das es fi folder Mühe verlohnte, den wirklichen unentftellten Menſchen nad) der Wahrheit feiner Natur zu entdeden. Bor der umnüberfehbaren Fülle gefichtlicher Realitäten mußte ber Einzelne für feinen Forſchungseifer fich Grenzen ſtecken: er mußte aus einem größeren Bufammenhange, den er nur noch andeuten durfte, Momente Tosreißen, um an ihnen mit größerer Genmuigfeit einen engeren Bufammenhang nachzuweiſen, ohne weldyen jede gefchichtliche Darſtellung überhaupt unverftändlich bleibt. Uber auch in den engften Grenzen ift diefer Zuſammenhang, aus dem eine gejchicht- liche Handlung einzig begreiflic) ift, nur durch die umftändlicjfte Vorführung einer Umgebung zu ermöglichen, für die wir irgend- melde Theilnahme wiederum nur empfinden fünnen, wenn fie und durch belebtefte Schilderung zur Anfhauung gebracht wird. Der Forſcher mußte durch die gefühlte Nothwendigkeit diefer Schilderung wieder zum Dichter werden: fein Verfahren fonnte aber nur ein, bem des dramatifchen Dichters geradezu entgegen- gejegted fein. Der dramatifche Dichter drängt die Umgebung der handelnden Perfon zur leicht überjehbaren Darftellung zu— fammen, um die Handlung diefer Perfon, die er ihrem Juhalte wie ihrer Hußerung nad) wiederum zu einer umfaffenden Haupt- Handlung zufammendrängt, aus der wefenhaften Gejinnung des Individuums hervorgehen, in ihr diefe Individualität fich zum Abſchluß bringen zu laffen, und an ihr daB Wefen des Menſchen nad einer beftimmten Richtung Hin überhaupt darzuftellen. Der Romandichter Hingegen hat die Handlung der gefchicht- lien Hauptperfon aus der äußeren Nothmendigfeit der Ums gebung begreiflich zu machen: er hat, um ben Eindrud gefchicht- licher: Wahrhaftigkeit auf und zu bewirken, vor Allem den Charakter diefer Umgebung zum Verſtändniſſe zu bringen, weil in ihr alle die Anforderungen begründet liegen, die dad Indi— viduum beftimmen, fo und gerade nicht anders zu handeln. Im geſchichtlichen Romane ſuchen wir und den Menfchen begreiflich zu machen, ben wir vom rein menfchlichen Standpunkte aus eben nicht verftehen können. Wenn wir ung die Handlung eines ge- ſchichtlichen Menſchen nadt und bloß als rein menſchliche vor

Dos Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichttunft. 47

stellen wollen, fo muß fie uns höchſt willkürlich, ungereimt und jedenfall unnatürlich erſcheinen, eben weil wir die Gefinnung diefer Handlung nicht auß der rein menſchlichen Natur zu recht⸗ fertigen vermögen. Die Gefinnung einer gefchichtlichen Perſon ift die Gefinnung diefe Individuums aber nur infoweit, als fie aus einer gemeingiltigen Anficht vom Wefen der Dinge ſich auf ihn überträgt; dieſe gemeingiltige Unficht, die eine rein menſch- Tide, jederzeit und am jedem Orte giltige nicht ift, findet ihre Erklärung aber nur wieder in einem rein geſchichtlichen Verhält⸗ niffe, das ſich im Laufe der Zeiten ändert und zu feiner Beit daſſelbe ift. Dieſes Verhältniß und feinen Wechjel können wir und aber wiederum nur erffären, wenn wir Die ganze Kette ge- ſchichtlicher Vorfälle verfolgen, die in ihrem vielgliederigen Zu— ſammenhange auf ein einfacheres Geſchichtsverhältniß fo mirkten, daß es gerade diefe Geftalt annahm und gerade diefe Geſin— nung in ihr als gemeingiltige Unficht fi) Fundgab. Das Indi— viduum, in* befien Handlung dieſe Gefinnung fih nun äußern fol, muß daher, um feine Gefinnung und Handlung uns be greiflich zu machen, auf das allermindefte Maaß individueller Freiheit herabgedrüdt werben: feine Gefinnung, ſoll fie er- klärt werben, ift nur aus der Gefinnung feiner Umgebung zu rechtfertigen, und dieſe wiederum kann fi uns nur in Hand- Tungen deutlich machen, die um fo mehr den vollen Raum der künſtleriſchen Darſtellung zu erfüllen haben, als auch die Um— gebung nur in vielgliederigſter Berzweigung und Ausdehnung und verftändlid wird.

So kann der Romandichter ſich fait Iebiglih nur mit der Schilderung der Umgebung befchäftigen, und um verjtändlich zu werden, muß er umftändlid fein. Was der Dramatiker für das Verftändniß der Umgebung vorausfeßt, darauf hat der Ro— mandichter fein ganzes Darftellungsvermögen zu verivenden; die gemeingiltige Anſchauung, auf die der Dramatifer von vorn⸗ herein fußt, hat der Romandichter im Laufe feiner Darftelung erft fünftlich zu entwiceln und feftzuftellen. Das Drama geht daher von Innen nah Außen, der Roman von Außen nad Innen. Aus einer einfachen, allverftändlichen Umgebung erhebt fi der Dramatiker zu immer reicherer Entwidelung ber Indi— vidualität; aus einer vielfachen, mühfam verftändlichen Um— gebung finft der Romandichter erfhöpft zur Schilderung bes

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Individuums herab, das, an fi) ärmlih, nur durch jene Um- gebung individuell außzuftatten war. Im Drama bereichert eine vollftändig aus ſich entmidelte kernige Individualität die Um— gebung; im Roman ernährt die Umgebung den Heißhunger einer leeren Individualität. So dedt und das Drama den Organis- mus der Menfchheit auf, indem die Individualität fich als Weſen der Gattung darftellt; der Roman aber ftellt den Mechanismus der Geſchichte dar, nad welchem die Gattung zum Weſen der Imdivibualität gemacht wird. Und fo ift auch das Kunftfchaffen im Drama ein organifhes, im Roman ein mechaniſches; denn da8 Drama giebt und den Menſchen, der Roman erflärt uns den Staat3bürger; jenes zeigt und die Fülle der menjch- lichen Natur, diefer entſchuldigt ihre Dürftigfeit aus dem Staat: das Drama geftaltet ſonach aus innerer Nothwendigkeit, ber Roman aus Außerlihem Bwange.

Aber der Roman war fein willfürlihes, ſondern ein noth- wendiges Erzeugniß unſeres modernen Entwidelungöganges: er gab den redlichen künſtleriſchen Ausdrud von Lebenszuftänden, die fünftlerifh nur duch ihm, nicht durch das Drama darzu— ftellen waren. Der Roman ging auf Darftellung der Wirklich- teit auß, und fein Bemühen war fo ächt, daß er vor diefer Wirk- lichteit ſich als Kunſtwerk endlich ſelbſt vernichtete.

Seine höchſte Blüthe als Kunſtform erreichte der Roman, als er vom Standpunkte rein künſtleriſcher Nothwendigleit aus das Verfahren des Mythos in der Bildung von Typen ſich zu eigen machte. Wie ber mittelalterliche Roman mannigfaltige Er— ſcheinungen fremder Völker, Länder und Klimate zu verbichteten, wunderhaften Geftalten zufammendrängte, jo ſuchte der neuere hiſtoriſche Roman die mannigfaltigften Außerungen des Geiftes ganzer Geſchichtsperioden als Kundgebungen des Wefens eine be- fonderen gejhichtlihen Individuums darzuftellen. Hierin konnte den Romandichter die übliche Art der Geſchichtsanſchauung nur unterftügen. Um das Ubermaaß gefchichtlicher Thatſachen vor unferem Blicke überfihtlich zu ordnen, pflegen wir gemeinhin nur die Hervorragendften Perfünlichfeiten zu beachten, und in ihnen den Geift einer Periode als verförpert anzujehen. Als ſolche Perfönlichleiten hat uns die chroniſtiſche Geſchichtskunde meiſt nur die Herrſcher überliefert, fie, and deren Willen und Anorbnung gejhichtlihe Unternehmungen und ftaatlide Ein-

Das Schaufpiel und dad Wefen der dramatifchen Dichtkunſt. 49

richtungen Hervorgingen. Die unklare Gefinnung und wider ſpruchsvolle Handlungsweife diefer Häupter, vor Allem aber auch der Umftand, daß fie.ihre angeftrebten Bwede in Wirklichkeit nie erreichten, hat ung zunächft den Geift der Gejchichte dahin miß- verftehen lafjen, daß wir die Willfür in ben Handlungen der Herrfchenden aus höheren, unerforfchlichen, den Gang und dag Biel der Gefchichte Ienfenden und vorausbeſtimmenden Einflüffen erflären zu müſſen glaubten. Jene Faktoren der Geſchichte ſchie- nen uns willenloſe, oder in ihrem Willen ſich ſelbſt widerſpre— chende Werkzeuge in ben Händen einer außermenſchlichen, gött- lichen Macht. Die endlichen Ergebniffe der Gefchichte fetten wir für den Grund ihrer Bewegung, oder fiir das Ziel, dem ein höherer Geift in ihr vom Beginn herein mit Bewußtſein zuge- ftrebt hätte. Aus dieſer Unfiht glaubten die Ausleger und Darſteller der Gefchichte ſich nun auch berechtigt, die willkürlich erfcheinenden Handlungen der herrſchenden Hauptperfonen ber Gedichte aus Gefinnungen, in denen ſich das umtergelegte Ber mußtfein eine3 leitenden Weltgeiftes fpiegelte, herzuleiten: fomit zerftörten fie die umbewußte Nothwendigkeit ihrer Handlungs- motive, und als fie ihre Handlungen vollkommen gerechtfertigt wähnten, ftellten fie fie erjt als vollftändig willfüclih dar. Durch dieſes Verfahren, bei welchem die gefchichtlihen Hand» lungen durch willkürliche Kombination verändert und entftellt werden durften, gelang es dem Romane, einzig Typen zu er⸗ finden, und als Kunſtwerk ſich zu einer gewiſſen Höhe zu fhmwin- gen, auf welcher er von Neuem zur Dramatifirung geeignet er- ſcheinen mochte. Die neuefte Zeit hat viel folcher Hiftorifchen Dramen geliefert, und die Freude am Gefchichtemachen zu Gunften der dramatifhen Form ift gegenwärtig noch fo groß, daß unfere Zunftfertigen hiſtoriſchen Xheatertafchenfpieler das Geheimnif der Geſchichte felbft zum Vortheil der. Bühnenftüctmacherei ſich erſchloſſen wähnen. Sie glauben fih um fo gerechtfertigter in ihrem Verfahren, als fie es felbft ermöglicht haben, die voll- endetfte Einheit von Ort und Beit ber dramatifchen Herftellung der Hiftorie aufzwlegen: fie find in das Innerſte de3 ganzen Geſchichtsmechanismus eingedrungen, und Haben al fein Herz das Vorzimmer de3 Fürſten aufgefunden, in welchem zwiſchen Lever und Souper Menſch und Staat ſich gegenſeitig in Ord⸗ nung bringen. Daß aber ſowohl dieſe künſtleriſche Einpeit wie Richard Wagner, Gel. Säriften IV.

50 Oper und Drama:

diefe Hiftorie erlogen find, etwas Unmahres aber auch nur von erlogener Wirkung fein kann, das hat ſich am heutigen, Hifto- tifhen Drama deutlich herausgeftellt. Daß bie wahre Gedichte fein Stoff für das Drama ift, das wiffen wir nun aber aud, da diefes Hiftorifche Drama uns deutlich gemacht hat, daß felbit der Roman nur duch Verfündigung an der Wahrheit der Geſchichte ſich zu der ihm erreichbaren Höhe als Kunftform auffhwingen fonnte. on diefer Höhe ift nun der Roman wieder herabgeftiegen, um, mit Wufgebung der von ihm erzielten Reinheit als Kunft- werk, zur treuen Darftellung des geſchichtlichen Lebens ſich an- zulaſſen. . Die ſcheinbare Willfür in den Handlungen gefchichtlicher Hauptperfonen konnte zur Ehre der Menfchheit nur dadurch er- Härt werden, daß der Boden aufgefunden wurde, aus dem auch fie als nothwendig und unwillkürlich hervorwuchſen. Hatte man diefe Notäiwendigfeit zuvor in ber Höhe, über ben gefchicht- lichen Hauptperfonen ſchwebend, und fie nach transfzendenter Weisheit als Werkzeuge verbrauchend, ſich vorftellen zu müſſen geglaubt, und war man endlich von der fünftlerifchen wie wifjen- ſchaftlichen Unfruchtbarkeit dieſer Anſchauung überzeugt worden, . jo fuchten Denker und Dichter nun diefe erflärende Nothwendig- keit in der Ziefe, in der Grundlage aller Geſchichte, aufzu: finden. Der Boden der Gefchichte ift Die foziale Ratur des Menfhen: aus. dem Bedürfniffe des Individuums, fih mit den Weſen feiner Gattung zu vereinigen, um in der Gefeliſchaft feine Fähigkeiten zur höchiten Geltung zu bringen, erwächſt die ganze Bewegung ber Geſchichte. Die gefhichtlichen Erjcheinun- gen find die Hußerungen der inneren Bewegung, deren Kern die foziale Natur des Menſchen ift. Die nährende Kraft diefer Na- tur ift aber dad Individuum, das nur im der Befriedigung feine unwillkürlichen Liebeöverlangens feinen Glüdfeligkeit- trieb ftillen kann. Aus den Üußerungen diefer Natur nun auf ihren Kern zu fließen, aus dem Tode der vollendeten That- fache auf da8 innere Leben bes jozialen Triebes der Menfchen, aus welchem jene als fertige, reife und ſterbende Frucht hervor» gewachſen war, zurüdzugehen, darin befundete ſich der Ent- widelungsgang ber neuen Zeit. Was der Denker nach feinem Weſen erfaßt, fucht der Künftler in feiner Erfheinung darzu⸗

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 5 1

ftellen: die Erſcheinungen der Gefelliaft, die auch er für den Boden der Geſchichte erfannt Hatte, ſtrebte ber Dichter fi in einem Bufammenhange vorzuführen, aus dem er fie zu erflären vermochte. Als den erfenntlichften Bufammenhang der Erſchei⸗— nungen der Gejellichaft erfaßte er die gewohnte Umgebung des bürgerlichen Lebens, um in der Schilderung feiner Buftände ſich den Menjchen zu erklären, der, von ber Theilnahme an den Hufe rungen. der Geſchichte entfernt, ihm doc diefe Hußerungen zu bedingen fchien. Diefe bürgerliche Geſellſchaft war aber wie ich mic) zuvor bereits außdrüdte nur. ein Niederſchlag der von Oben. herab auf fie brüdenden Gefchichte, wenigſiens ihrer äußeren Form nach. Seit der Konfolidirung des modernen Staates beginnt allerdings die neue Lebendregung der Welt von der bürgerlichen Geſellſchaft auszugehen: die lebendige Energie der geſchichtlichen Erſcheinungen ftumpft fid) ganz in dem Grabe ab, als die bürgerliche Gefelihaft im Staate ihre Forderungen ‘zur Geltung zu bringen ſucht. Gerade durch ihre innere Theil: nahmloſigkeit an den geſchichtlichen Exfcheinungen, durch ihr trä— ges, intereſſeloſes Zujchauen, offenbart fie uns aber den Drud, mit dem fie auf ihr laſten, und gegen den fie fich eben mit er— gebenem Widerwillen verhält. Unfere bürgerliche Geſellſchaft ift infofern fein lebenvoller Organismus, als fie von Oben herab, aus den rückwirkenden Hußerungen der Geſchichte, in ihrer Ge ftaltung beeinflußt ift. Die Phyfiognomie der bürgerlichen Ge— ſellſchaft ift die abgejtumpfte, entftellte, bis zur Ausdrucksloſig-⸗

" Zeit geſchwächte Phyfiognomie der Gefchichte: was dieſe durch lebendige Bewegung im Athem der Beit ausdrückt, giebt jene durch träge Ausbreitung im Raume. Diefe PHyfiognomie ift aber die Larve der bürgerlichen Geſellſchaft, unter der fie dem menfchenfuchenden Blicke diefen Menjchen eben noch verbirgt: der Tünftlerifche Schilderer diefer Gefelichaft fonnte nur noch die Züge diefer Larve, nicht aber die des wahren Menjchen beichreis ben; je getreuer dieſe Befchreibung ‚war, deito mehr mußte das Kunſtwerk an lebendiger Ausdruckskraft verlieren.

Ward nun aud) diefe Larve aufgehoben, um unter ihr nad) den ungejchminften Bügen der menſchlichen Geſellſchaft zu for- fchen, fo mußte fi dem Auge zumädjit ein Chaos von Uns

. Schönheit und Formlofigfeit darbieten. Nur im Gewande der Geſchichte Hatte der durch diefe Gefchichte erzogene, an feiner

52 Oper und Drama:

wahren gefunden Natur verdorbene und verfrüppelte Menfch ein für den Künftler erträgliches Ausſehen erhalten. Dieß Ge— wand von ihm abgezogen, erfahen wir zu unferem Entſehßen in ihm eine verfchrumpfte, efelerregende Geitalt, die in Nichts dem wahren Menfchen, wie wir aus der Fülle feines natürlichen Weſens ihn in Gedanken und vorgeftellt Hatten, mehr ähnlich fah, als in dem fchmerzlichen Leidensblicke bes fterbenben Kran: ten, dieſem Blide, aus dem dad Chriſtenthum feine ſchwär— meriſche Begeifterung gefogen hatte. Bon diefem Anblide wandte ſich der Kunſtſehnſüchtige ab, um wie Schiller im Reiche des Gedanken fi Schönheit zu träumen, oder wie Goethe ihn mit dem Gewande Fünftlerifcher Schönheit, fo gut e8 auf ihn paffen mochte, ſich zu verhüllen. Sein Roman „Wilhelm Meifter“ mar ein foldjeg Gewand, durch da8 Goethe ſich den Anblick der Wirklichkeit erträglich zu machen fuchte: es entfprad der Wirklichkeit des nadten modernen Menfchen infoweit, als diefer ſelbſt als nad; fünftlerifch fchöner Form ftrebend gedadht - und dargeftellt wurde.

Bis dahin war für das fünftlerifche Uuge, wie nicht minder für den Blick des Gefchichtöforfchers, die menſchliche Geftalt in die Tracht der Hiftorie oder in die Uniform des Staates ver- hüllt geweſen: über diefe Tracht Hatte phantafirt, über biefe Form disputirt werden Fönnen. Dichter und Denker hatten eine ungeheure Auswahl beliebiger Geftaltungen vor fich, unter denen fie je nad, fünftlerifchem Verlangen oder willfürlicher Annahme den Menfchen fi) vorftellen, fonnten, den fie immer nur noch in jenem Gewande begriffen, das von Außen her ihm umgelegt war. Noch die Philoſophie Hatte ſich durch dieſes Gewand über die wahre Natur des Menſchen beirren laſſen; der hiſtoriſche Romandichter war in einem gewiſſen Sinne aber eigentlich nur Koftümzeichner geweſen. Mit der Aufdedung der wirklichen Geftalt der modernen Gejelihaft nahm nun der Roman eine praftifchere Stellung ein: der Dichter fonnte jegt nicht mehr tünſtleriſch phantafiven, wo er die nadte Wirklichkeit vor fich enthüllt Hatte, die den Vefchauer mit Grauen, Mitleiden und Born erfüllte. Er brauchte aber nur dieſe Wirklichkeit darzu— ftelfen, ohne ſich über fie befügen zu wollen, er durfte nur Mitleiden empfinden, fo trat aud feine zürnende Kraft in das Leben. Er konnte noch dichten, als er die furchtbare Unfittlichfeit

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatifhen Dichtkunſt. 53

anferer Gefelichaft nur noch darzuftellen bemüht war: der tiefe Unmuth, der ihm aus feiner eigenen Darftellung erwachſen mußte, trieb ihm aber aus einem bejchaulichen dichterifchen Behagen, in dem er jid) immer weniger mehr zu täufchen vermochte, heraus in die Wirklichkeit‘ jelbft, um im ihr für das erfannte wirkliche Bedürfniß der menfchlichen Geſellſchaft zu ftreiten. Auf ihrem Wege zur praftifchen Wirflichfeit jtreifte auch die Romandich— tung immer mehr ihr fünftlerifche8 Gewand ab: die als Runft- form ihr mögliche Einheit mußte fih um durch Verftändlichkeit zu wirken in die praftifche Vielheit der Tageserfcheinungen felbſt zerfegen. Ein fünftlerifches Band war da unmöglich, wo Alles nad Auflöfung rang, wo da3 zwingende Band de hifto- rifchen Staates zerriffen werden ſollte. Die Romandichtung ward Yournalismus, ihr Inhalt zerfprengte fih in poli= tiſche Artikel; ihre Kunft ward zur Rhetorik der Tribüne, der Athem ihrer Rede zum Aufruf an das Bolt.

So ift die Kunſt des Dichters zur Politik geworden: Keiner kann dichten, ohne zu politifiren. Nie wird aber der Po- litiker Dichter werden, ald wenn er eben aufhört, Politiker zu fein: in einer rein politifchen Welt nicht Politiker zu fein, Heißt aber jo viel, als gar nicht exiſtiren; wer fich jeßt noch unter der Politik hinwegftiehlt, belügt ſich nur um fein eigenes Dafein. * Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden fein, als bis wir feine Bolitif mehr haben.

Die Politik ift aber das Geheimniß unferer Geſchichte und der aus ihr hervorgegangenen Zuftände. Napoleon ſprach es aus. Er fagte zu Goethe: die Stelle des Fatums in der an- tifen Welt vertrete feit der Herrfchaft der Römer die Politik. Verſtehen wir den Ausfpruch des Büßers von St. Helena wohll In ihm faßt ſich in Mürze die ganze Wahrheit Deſſen zu= fammen, was wir zu begreifen haben, um auch über Inhalt und Form des Drama’s in das Reine zu kommen.

II.

Das Fatum der Griechen ift die innere Naturnothiwen- digfeit, aus der fich ber Grieche weil er fie nicht ver»

54 DOper und Drama!

ftand in ben willkürlichen politifhen Staat zu befreien - ſuchte. Unfer Fatum ift der willfürliche politifche Staat, der fi) uns als äußere Nothwendigfeit für dad Beſtehen der Geſellſchaft daritellt, und aus dem wir uns in die Naturnoth- wendigteit zu befreien fuchen, weil wir fie verftehen gelernt, und als die Bedingung unferes Daſeins und feiner Geſtaltungen er- kannt haben.

Die Naturnotäwendigteit äußert ſich am ftärkiten und um. überwindlichften im phyſiſchen Lebenstriebe des Individuums, unverftändlicher und willfürlicher deutbar aber in der fitt- lichen Anſchauung der Gefellfchaft, auß welcher der um- willkürliche Trieb de3 Individuums im Staate endlich beeinflußt ober beurtheilt wird. Der Lebenstrieb des Individuums äußert fi immer neu und unmittelbar, das Wefen der Gefellichaft ift aber die Gewohnheit und ihre Unfchauung eine vermit- telte. Die Anfhauung der Geſellſchaft, ſobald fie dad Wefen des Individuums und ihre Entſtehung aus dieſem Weſen noch nicht volllommen begreift, ift Daher eine beichräntenbe und hem⸗ mende, und ganz in dem Grabe wird fie immer tyrannifcher, als das belebende und neuernde Weſen des Individuums aus unwillfürlichem Drange gegen die Gewohnheit anfämpft. Diefen Drang misverſtand der Grieche, der ihn vom Standpuntte der ſittlichen Gewohnheit aus als ftörend erkannte, num dahin, daß

“er ihn au8 einem Bufammenhange herleitete, in welchem das handelnde Individuum als unter einem Einfluffe ftehend ge: dacht wurde, welcher ihn feiner Freiheit im Handeln, nad) der er das fittlich Gewohnte gethan haben würde, beraubte. Da das Individuum duch feine gegen die fittliche Gewohnheit ver- übte That ſich dor der Geſellſchaft verdarb, mit dem Bewußtſein der That aber inſoweit wieder in die Geſellſchaft eintrat, als er fi aus ihrem Bewußtſein felbft verdammte, ſo erſchien der Akt unbewußter Verfündigung einzig aus einem Fluche erklärbar, der auf ihm ohne fein perfönliches Verſchulden ruhe. Diefer Fluch, der im Mythos als göttliche Strafe für eine Urfrevel- that, und auf dem befonderen Geſchlechte bis zu deſſen Unter- gange Haftend, dargeftelt ward, ift in Wahrheit aber nichts Anderes, al3 die fo verfinnlichte Macht der Unmillfür im um— bewußten, naturnothiwendigen Handeln des Individuums, wo— gegen die Geſellſchaft ald das Bewußte, Willfürliche, in Wahr:

Das Schaufpiel und dad Weſen ber bramatiihen Dichtkunſt. 55

heit zu Exflärende und zu Entſchuldigende erſcheint. Erklärt und entihuldigt wird fie aber nur, wenn ihre Auſchauung eben- falls ald eine unwillkürliche, und ihr Bewußtjein als auf einer irethümlichen Anſchauung vom Wefen bed Individuums bes gründet erfannt wird. -

Machen wir und dieſes Verhältniß aus dem auch ſonſt fo bezeihnungsvollen Mythos vom Dibipus Har.

Didipus hatte einen Mann, der ihn durch eine Beleidi- gung gereizt und endlich zur Nothwehr gedrängt, erichlagen. Hierin fand die -öffentlihe Meinung nichtd Verdammungswür- diges, denn dergleichen Fälle trugen ſich Häufig zu, und erflärten- fih aus der Allen begreiflichen Nothiwendigkeit ber Abwehr eined Ungriffes. Noch weniger beging Dibipus einen Frevel

aber darin, daß er, zum Lohne einer dem Lande erwiefenen Wohl- that, die verwittwete Königin beffelben zum Weibe nahm.

Aber ed entdedte fich, daß der Erſchlagene nicht nur der Gemahl diefer Königin, fondern auch der Water, und fomit fein hinterlaſſenes Weib die Mutter des Didipus waren.

Kindliche Ehrfurcht vor dem. Vater, Liebe zu ihm, und der Eifer der Liebe, im Alter ihn zu pflegen und zu ſchützen, waren dem Menſchen fo ummwillfürliche Gefühle, und auf diefe Gefühle begründete ſich fo ganz von felbjt die weſentlichſte Grundan- ſchauung ber, gerade duch fie zur Gejellichaft verbundenen Menſchen, daß eine That, welche dieſe Gefühle am empfind- lichften verlegte, ihnen unbegreiflih und verdammungswürdig vorfommen mußte. Diefe Gefühle waren aber fo ſtark und uns überwinblid, daß felbft die Rückſicht, wie jener Vater zuerft feinem Sohne nad dem Leben trachtete, fie nicht bewältigen Tonnte: in dem Tode: bes Laiod warb wohl eine Strafe für dieſes fein ältere Verbrechen erkannt, jo daß wir in der That gegen feinen Untergang ſelbſt unempfindlich find; aber biejes Verhaltniß war bennod nicht vermögend, uns irgenbiwie über die That des Didipus zu beruhigen, die ſich ſchließlich immer nur als ein Batermorb Fundgab.

Noch heftiger fteigerte fich aber ber öffentliche Widerwille gegen ben Umftand, daß Didipus feiner eigenen Mutter ſich ver-

56 Dper und Drama:

mählt und Kinder mit ihr gezeugt hatte. Im Familienleben, der natürlichſten aber befchränteften Grundlage der Gejell- ſchaft, Hatte es fich ganz von ſelbſt Heraußgeftellt, daß zwiſchen Eltern und Kindern, ſowie zwiſchen den Gefchwiftern felbit eine ganz andere Zuneigung ſich entwidelt, als fie in ber Heftigen, plöglichen Erregung der Gefchlechtäliebe fich fundgiebt. In der Familie werben die natürlichen Bande zwifchen Erzeugern und Erzeugten zu ben Banden der Gewohnheit, und nur aus der Gewohnheit entiwidelt fi wiederum eine natürliche Neigung der Geſchwiſter zu einander. Der erſte Reiz der Gefchlechts- liebe wird der Jugend aber aus einer ungewohnten, fertig aus den Leben ihr entgegentretenden Erſcheinung zugeführt; das Übermwältigende dieſes Reizes ift fo groß, dafs er das Familien- glied eben auß der gewohnten Umgebung der Familie, in der diefer Reiz fi nie ihm Darbot, Herauszieht und zum Umgange mit dem Ungewohnten fortreißt. Die Geſchlechtsliebe ift die Aufwieglerin, melde die. engen Schranken der Familie durch bricht, um fie ſelbſt zur größeren menſchlichen Geſellſchaft zu erweitern. Die Anſchauung vom Wefen der Samilienliebe und dem ihm entgegengefegten der Geſchlechtsliebe ift Daher eine un- willfürliche, der Natur der Sache felbft entnommene: fie beruht auf der Erfahrung und der Gewohnheit und ift daher eine ftarke, mit unüberwindlichen Gefühlen und einnehmende.

Didipus, der feine Mutter ehelichte und mit ihr Kinder zeugte, ift eine Erfcheinung, die und mit Grauen und Abſcheu erfüllt, weil fie unfere gewohnten Beziehungen zu unferer Mutter und die buch fie gebildeten Anſichten unverſöhnlich verlegt.

Waren nun dieſe, zu fittlichen Begriffen erwachſenen An— fiten nur deßhalb von fo großer Gtärfe, weil fie unwillkürlich aus dem Gefühle der menſchlichen Natur hervorgingen, fo fragen mir nun: verging fih Oidipus gegen die menſchliche Natur, als er feiner Mutter fi) vermählte? Ganz gewiß nicht. Die verlegte Natur Hätte ſich fonft dadurch offenbaren müſſen, daß fie auß diejer Ehe feine Kinder entfiehen ließ; gerade die Natur zeigte ſich aber ganz willig: Jokaſte und Didipuß, bie ſich als zwei ungewohnte Exfcheinungen begegneten, liebten fich, und fanden fich erſt von dem Augenblide an in ihrer Liebe geftört, als ihnen von Außen befannt gemacht wurde, daß fie Mutter

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 57

und Sohn ſeien. Didipus und Jokaſte wußten nicht, in welcher fozialen Beziehung fie zu einander. fanden: fie Hatten unbewußt nad) der natürlichen Unwillkür des rein menfchlichen Individuums gehandelt; ihrer Verbindung war eine Bereicherung der menſch⸗ lien Gefelihaft in zwei Träftigen Söhnen und zwei edlen Töchtern entfproffen, auf welchen nun, wie auf den Eltern, der unabwendbare Fluch diefer Geſellſchaft Iaftete. Das betroffene Paar, das mit feinem Bewußtſein innerhalb der fittlihen Ge ſellſchaft ftand, verurtheilte fich felbft, als es feines unbewußten Frevels gegen die GSittlichkeit inneward: dadurd, daß es ſich um feiner Büßung willen vernichtete, bewies es die Stärke des fozialen Ekels gegen feine Handlung, der ihm ſchon vor der Handlung durch Gewohnheit zu eigen war; dadurd, daß es die Handlung dennod) troß des fozialen Bewußtſeins ausübte, be- zeugte es aber die noch bei Weitem größere und unwiberfteh- lichere Gewalt der unbewußten individuellen menſchlichen Natur. Wie bedeutfam ift es nun, daß gerade diefer Didipus dag Räthſel dev Sphinz gelöft Hatte! Er ſprach im Voraus feine Rechtfertigung und feine Verdammung zugleich felbft aus, da er al3 den Kern diejes Räthſels den Menfchen bezeichnete. Aus dem Halbthierifchen Leibe der Sphinx trat ihm zunächft das menſchliche Individuum nad feiner Naturunterworfenheit ent gegen: ald das Halbthier aus feiner öden Felſeneinſamkeit ſich felbftzerfhmetternd in den Abgrund geftürzt hatte, wandte fich der kluge Näthfellöfer zu den Städten der Menfchen, um den ganzen, den fozialen Menfchen, aus feinem eigenen Untergange errathen zu laſſen. Als er fich die leuchtenden Augen ausftach, die einem despotiſchen Beleidiger Zorn zugeflammt, und einem edlen Weibe Liebe zugeftrahlt Hatten, ohne zu erjehen, daß Jener fein Bater und Diefe feine Mutter war, da ftürzte er fich zu der zerfchmetterten Sphing hinab, deren Räthſel er mun ald noch ungelöft erkennen mußte. Erſt wir haben dieſes Näthfel zu löfen, und zwar dadurch, dak wir die Unmillfür des Indivi— duums aus der Gejellihaft, deren höchfter, immer erneuernder und belebender Reichthum fie ift, felbft red)tfertigen. Bunädjft laßt uns aber noch den weiteren Verlauf der Didipusfage berühren, und fehen, wie fid) die Geſellſchaft gebarte, und wohin fich ihr fittlihes Bewußtſein verirrtel Aus den Zerwirfniffen der Söhne des Didipus erwuchs

58 Oper und Drama:

Kreon, dem Bruder der Jokaſte, die Herrichaft über Theben. Als Here befahl er, der Leichnam des einen der Söhne, Poly- neifes, der mit dem anderen, Eteokles, zugleich im Briüber- zweilampfe gefallen mar, folle unbegraben den Winden und Vögeln preiögegeben fein, während der des Eteolles in feier« lichen Ehren beftattet wurde: wer dem Gebote zuwider handle, " folle felbft Iebendig begraben werben. Antigone, beiber Brü- der. Schwefter, fie, die den blinden Vater in das Elend beglei- tet hatte trogte mit vollem Bewußtſein dem Gebote, beftattete des geächteten Bruders Leichnam, und erlitt Die vorausbeſtimmte Strafe. Hier fehen wir den Staat, der unmerflih auß der Geſellſchaft hervorgewachſen war, auß ber Gewohnheit ihrer Anſchauung ſich gemährt Hatte und zum Vertreter dieſer Ge— wohnheit infofern wurde, daß ex eben nur fie, die abftrafte Ge— wohnheit, deren Kern bie Furcht und der Wibermille vor dem Ungemohnten ift, vertrat. Mit der Kraft dieſer Gewohnheit außgeftattet, wendet der Staat ſich num vernichtend gegen- bie Geſellſchaft ſelbſt zurüd, indem er die natürliche Nahrung ihres Dofeins in den unmillfürlichiten und heiligften fozialen Gefühlen ihr vermehrt. Der vorliegende Mythos zeigt und genau, wie fich dieß zutrug: betrachten wir ihn num näher.

Welchen Vortheil Hatte wohl Kreon von dem Erlaſſe des graufamen Gebotes? Und mas vermochte ihn, es für möglich zu halten, daß ein ſolches Gebot nicht durch die allgemeine Ent- rüftung zurüdgewiefen werben müßte? Eteokles und Poly neifes hatten nach dem Untergange de Vaters beſchloſſen, ihr Exbe, die Herrfchaft über Theben, fo unter fich zu theilen, daß fie abwechſelnd e8 verwalteten. Cteofles, der das Erbe zuerit genoß, verweigerte, .al3 Polyneikes aus freiwilliger Verbannung zur feſtgeſetzten Beit zurüdtem, um nun auch für feine Srift daß Erbe zu genießen, feinem Bruder die Übergabe. Somit war er eidbrüdjig. - Veftrafte ihn dafür bie eidheiügende Geſellſchaft? Nein; fie unterftügte ihn in feinem Vorhaben, bad ſich auf einen, Eidbruch gründete. Hatte man die Scheu vor ber Heiligkeit des Eides bereit8 verloren? Nein; im Gegentheile: man Hagte zu ‚den Göttern um bes Übels des Eidbruches, denn man fürd;tete, er würde gerächt werben. Troß bes böfen Gewiſſens Tiefen ſich aber die Burger Thebens Eteofles’ Verfahren gefallen, meil der Gegenftand bes Eides, der von den Brüdern befchworene

Das Schauſpiel und daB Weſen ber dramatiſchen Dichttunſt. 59

Bertrag, ihnen für jegt bei Weitem läftiger ſchien, als die Fol⸗ gen eines Eibbruches, die durch Opfer und Spenden an bie Götter vielleicht befeitigt werben konnten. Was ihnen nicht gefiel, war der Wechfel der Herrſchaft, die beftändige Neirerung, weil die Gewohnheit bereit# zur wirklichen @efeßgeberin ge- worden war. Auch beurfundete ſich in -diefer Parteinahme der Bürger für Eteokles ein praktifcher Inſtinkt vom Wefen des Eigenthumes, das Jeder gern allein genießen, mit einem An- deren aber nicht theilen wollte: jeber Bürger, ber im Eigenthume die Gemwäßrleiftung gewohnter Ruhe erfannte, mar ganz von felbjt der Mitfculdige der unbrüderlichen That des oberften Eigenthümerd Eteokles. Die Macht der eigennügigen Gewohn⸗ heit unterjtüßte alfo Eteoklles, und gegen fie fämpfte nun der verrathene Polyneiles mit jugendlicher Hitze an. In ihm lebte uur das Gefühl einer rächenswürdigen Kränkung: er ſammelte ein Heer gleichfühlenber, Heldenhafter Genoffen, z0g vor bie eibbruchfchügende Stadt und bedrängte fie, um den erbräube- riſchen Bruder. au ihr zu verjagen. Dieje, von einem durchaus gerechtfertigten Unwillen eingegebene Handlungsweiſe erſchien den Bürgern Thebens nun wieder als ein ungeheurer Frevel; denn Polyneiles, als er feine Vaterſtadt befriegte, mar unbe— dingt ein fehr fchlehter Patriot. Die Freunde des Poly« neife8 waren aus allen Volksſtämmen zujammengetreten: fie machte ein rein menſchliches Intereſſe der Sache des Polyneikes geneigt, und fie vertraten fomit das Reinmenſchliche, die Ge— ſellſchaft in ihrem meiteften und natürlicften Sinne, gegenüber einer beſchränkten, engherzigen, eigenfüchtigen Geſellſchaft, die unvermerft vor ihren Undrängen zum knöchernen Staate zu— fammenfchrumpfte. Um den langen Krieg zu enden, for derten fi die Brüder zum Zweikampf: Beide fielen auf ber BWalftatt. -

Der Huge Kreon überjchaute nun den Zufammenhang der Vorfälle, und erfannte aus ihm das Weſen ber öffentlichen Meinung, als deren Kern er die Gewohnheit, die Sorge und den Widerwillen vor der Neuerung erfaßte. ie fittlihe An, * fit vom Weſen der Gefellfchaft, die in dem großgerzigen Didi pus noch fo ftark war, daß er fi, aus Ekel vor feinem unbe» mußten Frevel gegen fie, felbft vernichtet hatte, verlor ihre Kraft ganz in dem Grade, als das fie bebingende Reinmenjchliche in

60 Oper und Drama:

Widerftreit mit dem ftärkften Intereffe der Gefellfchaft, der ab- foluten Gewohnheit, d. 5. dem gemeinfamen Eigennug, kam. Diefes fittlihe Bewußtſein trennte fich überall da, wo es mit der Praxis der Geſellſchaft in Widerftreit gerieth, von diefer ab und fegte fi als Religion feit, wogegen fi die praftifche Gefelfchaft zum Staate geftaltete. In der Religion blieb die Sittlichkeit, die vorher in der Geſellſchaft etwas Warmes, Lebendige geweſen war, nur nod etwas Gedachtes, Ge wünfchtes, aber nicht mehr Ausführbares: im Staate handelte man dagegen nad) praktifchem Ermefien des Nutzens, und wurde hierbei das fittlihe Gewiſſen verlegt, fo beſchwichtigte man dieß durch ſtaatsunſchädliche Religionsübungen. Der große Vortheil war hierbei, daß man in der Meligion wie im Staate Jemand gewann, auf den man feine Sünden abmwälzen Tonnte: die Ber- brechen des Staates mußte der Fürft*) ausbaden, die Verſtöße gegen die religiöfe Sittlichfeit hatten aber die Götter zu verant- worte. Eteokles war ber praftiiche Sündenbod des neuen Staated gewejen: die Folgen feines Eidbruches Hatten die gü- tigen Götter auf ihn zu leiten gehabt; die Stabilität des Staates aber follten (jo hofften fie wenigitend, wenn es leider aud) nie geihah!) die waderen Bürger Thebens für fich fchmeden. Wer fi wieder zu ſolchem Sündenbode hergeben wollte, war ihnen daher willlommen; und das war der kluge Kreon, der. mit ben Göttern ſich wohl abzufinden wußte, nicht aber der hitzige Poly: neifes, der um eine einfachen Eibbruches willen jo wild an die Thore ber guten Stadt klopfte.

Kreon erlannte aber auch auß der eigentlichen Urfache des tragiſchen Schickſals der Laiden, wie grundnachfichtig die The- bäer gegen wirkliche Frevel feien, wenn dieſe nur die ruhige bürgerliche Gewohnheit nicht ftörten. Dem Vater Laios war

=) Die fpätere Demokratie war bie offene Übernahme des Sündenträgeramte3 von allen Bürgern zufammen; fie geftanden ſich hierbei ein, fo weit über fih aufgeflärt zu fein, daß fie felbit ber Grund ber fürftlichen Willfür waren. Hier ward denn auh bie Religion offen zur Kunft, und ber Staat zum Zummelplag ber egoiftiihen Verjönlichkeit; auf der Flucht vor der individuellen Un« willfür gerieth der Staat in die Herrſchaft der individuellen Willkür ftarktriebiger Perſönlichkeiten; und naddem Wthen einem Alti— biades zugejauchzt, und einen Demetrios vergöttert hatte, Iedte es enblih mit Wohlbehagen ben Speichel eines Nero.

Das Schaufpiel und das Wefen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 61

von der Pythia verfünbigt worden, ein ihm zu gebätender Sohn würde ihm bereinft umbringen. Nur um Fein öffentliches Ärger⸗ niß zu bereiten, gab der ehrwürdige Vater heimlich den Befehl, das neugeborene Rnäblein in irgend welcher Waldede zu töbten, und bewies ſich hierin Höchft rückſichtsvoll gegen das Gittlich- Teitögefühl der Bürger Thebens, die, wäre der Mordbefehl öf- fentlich vor ihren Augen ausgeführt worden, nur den Ärger dieſes Skandals und die Aufgabe, ungewöhnlich viel zu ben Göttern zu beten, leinesweges aber den nöthigen Abſcheu em= pfunden haben würden, ber ihnen die praftiihe Verhinderung der That und die Strafe des bemußten Sohnesmörders ein gegeben hätte; denn bie Kraft des Abſcheues wäre ihnen ſogleich duch die Rüdfiht erftidt worden, daß durch diefe That ja die Ruhe im Orte gemährleiftet war, die ein in Bufunft jeden falls ungerathener Sohn geftört Haben müßte. Kreon hatte bemerkt, daß bei Entdedung der unmenfchlichen That des Laios diefe That felbft eigentlich feine rechte Entrüftung hervorgebracht hatte, ja, daß e8 Allen gewiß lieber geweſen wäre, wenn ber Mord wirklich vollzogen worden, denn da wäre ja Alles gut geweſen, und in Theben hätte es feinen fo ſchrecklichen Skandal gegeben, ber die Bürger auf lange Jahre in fo große Beun- ruhigung ſtürzte. Ruhe und Ordnung, feldft um den Preis des nieberträchtigften Verbrechens gegen die menſchliche Natur und felbft die gewohnte Sittlichfeit, um ben Preiß des be mußten, abfichtlihen, von der unväterlichſten Cigenfucht ein« gegebenen Mordes eines Kindes durch feinen Water, waren jedenfalls berückſichtigungswerther, als die natürlichſte menſch— liche Empfindung, die dem Vater ſagt, daß er ſich ſeinen Kin— bern, nit aber dieſe fich aufzuopfern habe. Was war nun diefe Geſellſchaft, deren natürliches Sittlichkeitsgefühl ihre Grundlage geweſen war, geworden? Der fchnurgerade Gegen— faß diefer eigenen Grundlage: die Vertreterin der Unfittlichkeit und Heuchelei. Das Gift, daS fie verdarb, war aber -- die Gewohnheit. Der Hang zur Gewohnheit, zur unbebingten Ruhe, verleitete fie, den Duell zu verftopfen, aus dem fie ſich ewig friſch und gefund hätte erhalten können; und diefer Duell war das freie, au& feinem Wefen ſich felbft beftimmende Indi— viduum. In ihrer höchften Verderbtheit ift der Gefellichaft die Sittlichkeit, d. 5. das wahrhaft Menfchlihe, auch nur durch

62 Oper und Drama:

das Individuum wieber zugeführt worden, dad nad dem un« millfürlihen Drange der Naturnothivendigfeit ihr gegenüber handelte und fie moraliſch verneinte. Auch diefe jchöne Recht⸗ fertigung ber wirklichen menſchlichen Natur enthält noch in beutlichften Bügen der weltgejdichtliche Mythos, den mir vor ung haben.

Kreon war Herrfcher geworben: in ihm erkannte das Bolf den richtigen Nachfolger des Laios und Eteokles, und er be= ftätigte dieß vor den Augen der Bürger, als er den Leichnam- des unpatriofijchen Polyneiles zur entjeglihen Schmach ber Unbeerdigung, feine Seele fomit zu ewiger Ruhelofigkeit ver- urtheilte. Dieß war ein Gebot von höchſter politifcher Weißheit: dadurch befeftigte Kreon feine Macht, indem er ben Cteofleß, der durch feinen Eidbruch die Ruhe der Bürger gewährleiftet hatte, rechtfertigte und fomit deutlich zu verftehen gab, daß auch er gewillt fei, durch jedes auf fich allein zu nehmende Verbrechen gegen die wahrhafte menſchliche Sittlichkeit das Beſtehen des Staates in Ruhe und Ordnung zu gewährleiften. Durch fein Gebot gab er fogleih den beftimmteften und Fräftigften ‘Beweis feiner. ftaatöfreundlichen Gefinnung: er ſchlug der Menschlichkeit in's Angefiht und rief e3 lebe der Staat!

In dieſem Staate gab es nur ein einfam trauernded Herz, in das ſich die Menfchlichkeit noch geflüchtet hatte: das war das Herz einer füßen Jungfrau, aus deſſen Grunde die Blume der Liebe zu allgemaltiger Schönheit erwuchs. Antigone verftand nichts don der Politik: fie liebte. Sudite. fie den Polyneikes zu vertheidigen? Forſchte fie nad Rüdfichten, Beziehungen, Rechtöftandpunkten, die feine Handlungsweife er- klären, entſchuldigen oder rechtfertigen konnten? Nein; fie liebte ihn. Liebte fie ihn, weil er ihr Bruder war? Bar nicht Eteoffe auch ihr Bruder, waren nit Didipus und Jokaſte ihre Eltern? Konnte fie nad) den furchtbaren Er— lebniffen anders als mit Entfegen an ihre Familienbande denken? Sollte fie aus ihnen, den gräßlich zerrifienen Banden der näch- ften Natur, Kraft zur Liebe gewinnen können? Nein, fie tiebte Polyneikes, weil er unglüdlich war, und nur die höchſte Kraft der Liebe ihn von feinem Fluche befreien konnte. Was num war diefe Liebe, die nicht Geſchlechtsliebe, nicht Eltern- und Rinbedliebe, nicht Gejchwiiterliebe war? Sie war bie

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dictkunft. 63

höchfte Blüthe von allen. Aus den Trümmern ber Gefchlecht3-, Eitern- und Geſchwiſterliebe, welche die Geſellſchaft verläugnet und der Staat verneint hatte, wuchs, von den unbertilgbaren Keimen aller jener Liebe genährt, bie reichſte Blume reiner Menſchenliebe hervor.

Antigone's Liebe war eine vollbewußte. Sie mußte, was fie that, fie wußte aber auch, daß fie es thun mußte, daß fie feine Wahl hatte und nad) der Nothwendigkeit der Liebe Handeln mußte; fie wußte, daß fie dieſer unbewußten zwingenden Nothivendigkeit der Selbftvernihtung aus Sympathie zu gehorchen Hatte; und in diefem Bewußtfein des Unbemußten war fie der vollendete Menfch, die Liebe in ihrer höchſten Fülle und Allmadt. Untigone fagte den gottfeligen Bürgern von Thebe: ihr habt mir Vater und Mutter verbammt, weil fie

- unbewußt fi) liebten; ihr Habt den bewußten Sohnesmörber Laios aber nicht verdammt, und ben Bruberfeind Eteolles bes fügt: nun verdammt mich, die ih aus reiner Menfchenliebe handle, fo ift da8 Maaß eurer Frevel voll! Und fiehe! ber Liebeäflud Antigone’3 vernidtete den Staat! Leine Hand rührte ſich für fie, als fie zum Tode geführt ward. Die Staatöbürger weinten und beteten zu den Göttern, daß fie die Pein des Mitleidens für die Unglüdliche von ihnen nehmen möchten; fie geleiteten fie, und tröfteten fie bamit, baf - es nun doch einmal nicht anders fein Könnte: die ftaatliche Ruhe und Ordnung forderten num leider das Opfer ber Menfchlichkeit! Uber da, wo alle Liebe geboren wird, ward auch ber Rächer der Liebe geboren. Ein Jüngling entbrannte in Liebe für An— tigone; er entbedte fich feinem Water und forderte von feiner Vaterliebe Gnade für die Verdammte: hart ward er zurüdge:" wieſen. Da erftürmte der Züngling das Grab der Geliebten, das fie lebend empfangen ‘hatte: er fand fie tobt, und mit dem Schwerte durchbohrte er felbft fein Tiebendes Herz. Dieß war aber der Sohn des Kreon, des perjonifizirten Staates: vor dem Anblide der Leiche des Sohnes, der aus Liebe feinem Vater hatte fluchen müffen, ward der Herrfcher wieder Vater. Das Viebesfchwert des Sohnes drang: furdtbar fehneidend in fein Herz: tief im Innerften verwundet ftürzte der Staat zufammen, um im Tode Menſch zu werden.

Heilige Antigone! Dich rufe ih nun an! Laß

64 Oper und Drama:

Deine Sahne wehen, daß wir unter ihr vernichten und erlöfen!

Wunderbar, daß, als der moderne Roman zur Politik, die Politik aber zum blutigen Schlachtfelde geworden, und der Dichter dagegen, im fehnenden Verlangen nach dem Anblide der vollendeten Runftform, einen Herrfcher zum Beſehl der Aufe führung einer griechifchen Tragödie vermochte, diefe Tragödie gerabe feine andere fein mußte, al3 unfere. „Antigone”. Man fuchte nad) dem Werke, in welchem fi) die Kunjtform am reinften ausſprach, und fiehe da! es war genau das⸗ ſelbe, deſſen Inhalt die reinite Menſchlichkeit, die Ver— nichterin ded Staates war! Wie freueten fi die gelehrten alten Kinder über dieſe „Antigone“ im Hoftheater zu Potsdam! Sie ließen aus der Höhe ſich die Rofen ftreuen, welche die er— löſende Engelſchaar „Fauſt's“ als Liebeöflammen auf die be ihmwänzten „Did- und Dünnteufel vom kurzen graden und Tangen frummen Horne“ herabflattern läßt: leider erwedten fie ihnen aber nur das widerliche ©elüfte, das Mephiftopheles unter ihrem Brennen empfand, nicht Liebe! Das „ewig Weib: liche zog“ fie nicht „hinan“, fondern das ewig Weibiiche brachte fie vollends nur herunter

Das Unvergleichliche de3 Mythos iſt, daß er jederzeit wahr, und fein Inhalt, bei dichtefter Gebrängtheit, für alle Zeiten un— erſchöpflich iſt. Die Aufgabe ded Dichters war es nur, ihn zu deuten. Nicht überall ftand ſchon der griechifhe Tragifer mit voller Unbefangenheit vor dem von ihm zu deutenden Mythos: der Mythos felbft war meift gerechter gegen das Weſen der In— dividualität, als der bedeutende Dichter. Den Geift diefes Mythos hatte der Tragifer aber infoweit volltommen in fi aufgenommen, als er das Wefen der Individualität zum unverrückbaren Mittel- punkte des Kunſtwerkes machte, aus welchem dieſes nad) allen Richtungen hin ſich ernährte und erfrifchte. So unentftellt ftand dieſes urzeugende Wefen der Judividualität vor ber Seele des Dichters, daß ihr ein Sophoffeifher Aias und Philoktetes entfprießen fonnten, Helden, die feine Rückſicht der allerflüg-

Das Schaufpiel und das Wefen der bramatiihen Dichtkunſt. 65

ften Weltmeinung aus ber felbftvernicgtenden Wahrheit und NotHwendigkeit ihrer Natur herausloden konnte zum Verſchwim⸗ men in ben feichten Gewäſſern der Politif, auf denen der wind» Tundige Odyſſeus fo meifterlich hin- und Herzufchiffen verftand.

Den Didipusmythos brauchen wir auch heute nur feinem innerften Wefen nad} getreu zu deuten, fo gewinnen wir am ihm ein verſtändliches Bild der ganzen Geſchichte der Menſchheit dom Anfange der Gefellihaft bis zum nothwendigen Unter gange ded Staates. Die Nothwendigfeit dieſes Unterganges ift im Mythos vorausempfunden; an der wirklichen Gejchichte ift es, ihn auszuführen.

Seit dem Bejtehen des politifhen Staates geſchieht fein Schritt in der Geſchichte, der, möge er. felbft mit noch fo entſchiedener Abficht auf feine Vefeftigung gerichtet fein, nicht zu feinem Untergange Hinleite. Der Staat, als Abjtraftum, ift von je immer im Untergange begriffen gewejen, ober richtiger, ex ift nie exft in die Wirklichfeit getreten; nur die Stanten in eonereto ‘haben in beftändigem Wechſel, als immer neu aufs tauchende Variationen de3 unausführbaren Thema’s ein gemwalt- fames, und dennoch ſtets unterbrochene® und beſtrittenes Beſtehen gefunden. Der Staat, als Abftraftum, ift bie fire Idee wohlmeinender aber irrender Denter, als Kon— tretum die Ausbeute für die Willfür gemaltfamer oder ränfe- voller Individuen gemwefen, die den Raum unferer Geſchichte mit dem Inhalte ihrer Thaten erfüllen. Mit, diefem fonfreten Staate als deffen Inhalt Ludwig XIV. mit Recht ſich bezeich- nete wollen mir und hier nicht weiter mehr befaflen; auch fein Kern geht und auß der Didipusfage auf: als den Keim aller Verbrechen erkennen wir die Herrſchaft des Laios, um deren ungefepmälerten Befiges willen biefer zum unnatirlichen Vater ward. Aus diefem zum Eigenthum gewordenen Be: fige, der wunderbarer Weile als bie Grundlage jeder guten Ordnung angefehen wird, rühren alle Frevel des Mythos und der Geſchichte her. Faſſen wir nur noch den abftrakten Staat in's Auge. Die Denker dieſes Staates wollten die Unvoll- tommenheiten der wirklichen Geſellſchaft nad; einer gedachten Norm ebnen und ausgleichen: daß fie diefe Unvollkommenhei— ten aber ſelbſt als das Gegebene, der „Gebrechlichkeit“ der menſchlichen Natur einzig Entjprechende, fefthielten, und nie

Richard Wagner, Gef. Schriften IV. 5

66 Oper und Drama:

auf den wirklichen Menfchen jelbft zurüdgingen, der aus erſten unwillkürlichen, endlich aber irrthümlichen Unfchauungen .jene Ungleichheiten ebenfo hervorgerufen hatte, als er durch Erfah— rung und daraus entfprießende Berichtigung ber Irrthümer auch ganz von felbft die volllommene d. 5. den wirklichen Bedürfniffen der Menſchen entſprechende Geſellſchaft her= beiführen muß, da8 war der große Irrthum, aus dem der politiihe Staat fi) bis zu der unnatürlihen Höhe entwidelte, von welcher herab er die menſchliche Natur leiten wollte, die er gar nicht verftand und um fo weniger verftehen konnte, je mehr ex fie leiten wollte,

Der politifche Staat Iebt einzig von den Laftern ber Gefellfhaft, deren Tugenden ihr einzig von der menſch— lihen Individualität zugeführt werden. Vor den Laftern der Geſellſchaft, die er einzig erbliden Tann, vermag er ihre Tugenden, die fie von jener Individualität gewinnt, nicht zu erkennen. In dieſer Stellung drüdt er auf die Geſellſchaft in dem Grade, daf fie ihre lafterhafte Seite aud) auf die Indivi— dualität hinkehrt, und fomit ſich endlich jeden Nahrungsquell verftopfen müßte, wenn die Nothwendigfeit der individuellen Unwillkür nicht ftärkerer Natur wäre, al3 die willfürlihen Vor— ftellungen bes Politikers. Die Griechen misverftanden im Fatum die Natur ber Individualität, weil fie bie fittliche Ge— wohnheit der Gefelljchaft ftörte: um dieſes Fatum zu befämpfen, moffneten fie ſich mit dem politiichen Staat. Unfer Fatum ift nun der politifhe Staat, in weldem bie freie Individualität ihr verneinendes Schidjal erkennt. Das Weſen des politiichen Staates ift aber Willkür, während das der freien Individua— Tität Nothwendigkeit. Aus diefer Individualität, die wir in taufendjährigen Kämpfen gegen den politifchen Staat als das Berechtigte erkannt haben, die Gefellfchaft zu organifiren, ift die und zum Bewußtſein gefommene Wufgabe der Bufunft. Die Geſellſchaft in diefem Sinne organifiven heißt aber, fie auf die freie Gelbitbeftimmung des Individuums, als auf ihren ewig unerfhöpflihen Duell, gründen. Das Unbewußte der menſchlichen Natur in der Gefellfhaft zum Bemwußtfein bringen, und in diefem Bewußtſein nicht? Anderes zu willen, als eben die allen Gliedern der Geſellſchaft gemein- ſame Nothwendigkeit der freien Gelbftbeftimmung

Das Schaufpiel und bad Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 67

des Individuums, heißt aber fo viel, ald den Staat vernichten; denn der Staat jchritt durch die Gefellichaft zur Zerneinung ber freien Selbftbeftimmung des Individuums vor, don ihrem Tode Iebte er.

IV.

Für bie Kunſt, um Die es bei diefer Unterſuchung und einzig zu thun war, Liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über Alles wichtige Moment.

Die Darftellung des Kampfes, in welchem fi das Indi— viduum vom politifchen Staate oder vom religiöfen Dogma zu befreien fuchte, mußte um jo nothwendiger bie Aufgabe des Dich- ters werben, als das politiiche Leben, von dem entfernt der Dich- ter endlich nur noch ein geträumtes Leben führen fonnte, von den Wechſelfällen dieſes Kampfes ſelbſt, als von feinem wirt lichen Inhalte, mit immer vollerem Bewußtſein erfüllt war. Laſſen wir den religiöfen Staatsdichter bei Seite, der aud) als Künftler den Menjchen mit graufamem Behagen feinem Götzen opferte, fo haben wir nur ben Dichter vor uns, der, von wahr- haftem ſchmerzlichem Mitgefühle für die Leiden des Inbit duums erfüllt, als folches felbft und durch die Darftellung feines Kampfes fi) gegen den Staat, gegen die Politit wendete. Die Individualität, welche der Dichter in den Kampf gegen deu Staat führte, war aber der Natur der Sache nad feine rein menſchliche, fondern eine durch den Staat ſelbſt bedingte. Sie war von gleicher Gattung wie der Staat und nur der inner: halb des Staates liegende Gegenſatz von deſſen äußerſter Spipe. Bewußte Individualität, d. h. eine Individualität, die ung be— ftimmt, in dieſem einen Falle fo und nicht anders zu Handeln, gewinnen wir nur in der Gefellfchaft, welche und exit den Fall vorführt, in welchem wir uns zu enticheiden haben. Das Individuum ohne Geſellſchaft ift uns als Individualität voll⸗ Tommen undenkbar; denn erft im Verkehr mit anderen Indivi— duen zeigt ſich Daß, worin wir unterſchieden von ihnen und an und bejonders find. War nun die Gefellfchaft zum politifchen Staate geworben, fo bedang dieſer die Bejonderheit der Indi⸗ vidualität aus feinem Weſen ebenfo, und als Staat im

dr

68 Dper und Drama:

Gegenſatze zur freien Geſellſchaft natürlich nur bei Weiten ftrenger und kategoriſcher als die Geſellſchaft. Eine Indivi« dualität Tann Niemand fhildern, ohne ihre Umgebung, bie fie als ſolche bedingt: war die Umgebung eine natürliche, der Ent- widelung der Individualität Luft und Raum gebende, frei nach innerer Unwillkür an der Berührung mit diefer Individualität foeben ſich elaftifch neu geftaltende, fo konnte diefe Umgebung in ben einfachften Bügen treffend und wahr bezeichnet werben; denn nur durch die Darſtellung der Individualität hatte die Umgebung’ ſelbſt erft zu charakteriſtiſcher Eigenthümkichkeit zu gelangen. Der Staat ift aber keine ſolche elaſtiſch biegfame Um— gebung, fondern eine dogmatiſch ftarre, feſſelnde, gebieteriiche Mad, .die dem Individuum vorausbeftimmt, fo folft Du denken und handeln! Der Staat hat fich zum Erzieher der Indi- vidualität aufgemworfen; er bemächtigt fi) ihrer im Mutterleibe durch Vorausbeſtimmung eines ungleichen Antheiles an ben Mitteln zu ſozialer Selbſtändigleit; er nimmt ihr durch Auf- nöthigung feiner Moral ihre Unwillfürlichkeit der Unfchauung, und weift ihr, als feinem Eigenthume, die Stellung an, die fie zu der Umgebung einnehmen fol. Seine Individualität verdankt der Staatöbürger dem Staate; fie heißt aber nichts Anderes als feine vorausbeftimmte Stellung zu ihm, in welcher feine rein menſchliche Individualität für fein Handeln vernichtet und nur höchſtens auf Das beſchränkt ift, maß er ganz ftill vor fich Hin denkt.

Den gefährlichen Winkel des menſchlichen Hirnes, in wel- Gen fih die ganze Individualität geflüchtet Hatte, fuchte der Staat mit Hilfe de3 religiöfen Dogma's wohl ebenfalls auszu- fegen; Hier mußte er aber machtlos bleiben, indem er fich nur Heuchler erziehen Tonnte, d. 5. Staatsbürger, die auders handeln, als fie denfen. Aus dem Denken erzeugte fich aber zuerft auch die Kraft des Widerftandes gegen den Staat. Die erfte rein menſchliche Freiheitsregung befundete fi in der Abwehr des religiöfen Dogma’s, und Denkfreiheit warb nothgebrungen

endlich vom Staate geftattet. Wie äußert fi) nun aber dieſe bloß

dentende Individualität im Handeln? So lange der Staat vorhanden ift, wird fie nur als Staatsbürger, d. h. als In— bividualität, deren Handlungsweiſe nicht die ihrer Denfungsmeife entiprechende ift, handeln fünnen. Der Staatsbürger ift nicht

Das Schaufpiel und das Weſen der bramatiihen Dichtkunft. 69

vermögend, einen Schritt zu hun, der ihm nicht im Voraus ald Pflicht oder ald Verbrechen vorgezeichnet ift: der Charakter feiner Pflicht und feines Verbrechens ift nicht der feiner Indivi— dualität eigene; er mag beginnen, was er will, um auß feinem nod fo freien Denken zu handeln, er kann nicht aus dem Staate heraußfchreiten, dem auch fein Verbrechen angehört. Er kann nur dur) den Tod aufhören, Stantöbürger zu fein, alſo da, wo ex auch aufhört, Menſch zu fein.

Der Dichter, der num den Kampf der Indivibualität gegen den Staat darzuftellen hatte, konnte daher nur den Staat bar» ftellen, die freie Individualität aber bloß dem Gedanken an- deuten. Der Staat war das Wirkliche, feit und farbig Vor— handene, die Individualität dagegen das Gedachte, geftalt- und farblo8 Unvorhandene. Alle die Züge, Umriffe und Farben, die der Individualität ihre fefte, beſtimmte und erfennbare Fünft- leriſche Geſtalt verleihen, hatte ber Dichter der politiſch gefon- derten und ſtaatlich zujammengepreßten Geſellſchaft zu entnehmen, nicht aber der Individualität felbft, die in der Berührung mit anderen Inbividualitäten fich felbft zeichnet und färbt. Die fo- mit nur gedachte, nit dargeftellte Amdividualität konnte daher auch nur an ben Gedanken, nicht an das unmittelbar er- fafiende Gefühl dargejtellt werden. Unfer Drama mar daher ein Appell an den Verftand, nicht an dad Gefühl. Es nahm fomit die Stelle de Lehrgedichtes ein, welches einen dem Leben entnommenen Stoff nur fo weit barftellt, als e8 der Abficht ent- fpricht, einen Gedanken dem Berftande zur Mittheilung zu bringen. Zur Mittheilung eines Gedankens an den Berftand hat der Dich: ter aber ebenjo umſtändlich zu verfahren, als er gerade höchſt einfach und fchlicht zu Werke gehen muß, wenn er fih an das unmittelbar empfangende Gefühl wendet. Das Gefühl erfaßt nur das Wirkliche, ſinnlich Bethätigte und Wahrnehmbare: an das Gefühl theilt fih nur das Vollendete, Abgeſchioſſene, Das, was fo eben ganz daß ift, maß es jegt fein Tann, mit. Nur das mit fi Einige ift ihm verftänblich; dad mit fi) Uneinige, noch nicht wirklich und beitimmt ſich Kundgebende, verwirrt das Ge- fühl und nöthigt e8 zum Denken, aljo zu einem Tombinivenden Alte, der das Gefühl aufhebt.

Der Dichter, der fich an das Gefühl wendet, muß, um ſich ihm überzeugend kundzugeben, im Denken bereits jo einig mit

70 Dper und Drama:

fich fein, daß er aller Hilfe des Iogifchen Mechanismus fi be— geben und mit vollem Bewußtfein an das untrüglihe Empfäng- niß des unbewußten, rein menfchlihen Gefühle mittheifen Tann. Er hat bei diejer Mitteilung daher fo ſchlicht und (vor der finn- lichen Wahrnehmung) unbedingt zu berfahren, wie bem Gefühle gegenüber bie wirkliche Erſcheinung wie Luft, Wärme, Blume, Thier, Menſch fi kundgiebt. Um das höchſte Mittheilbare, und zugleich überzeugend Berftändlicfte die rein menſchliche Individualität durch feine Darſtellung mitzutheilen, Hat aber der moderne dramatifche Dichter, wie ich zeigte, gerabe entgegen- gefegt zu verfahren. Aus der ungeheuren Maffe ihrer wirklichen Umgebung, im erfihtlih Maaß, Form und Farbe gebenden Staate und der zum Staate erftarrten Gefchichte, Hat er diefe Individualität erft unendlich mühſam herauszukonſtruiren, um fie endlich, wie wir fahen, immer nur dem Gedanken darzuftellen*). Das, was unfer Gefühl von vornherein unwillkürlich erfaßt, ift einzig die Form und Farbe des Staates. Won unferen eriten Jugendeindrüden an fehen wir den Menfchen nur in der Geftalt und dem Charakter, die ihm der Staat giebt; die durch den Staat ihm anerzogene Individualität gilt unferem unwillkürlichen Ge— fühle al3 fein wirkliches Wefen; wir können ihn nicht anders faffen, al3 nach den unterfcheidenden Dualitäten, die in Wahr- beit nicht feine eigenen, fondern die durch den Staat ihm ver- liehenen find. Das Volk kann heut’ zu Tage den Menſchen nicht anders fallen, ald in ber Standeduniform, in der es ihn ſinnlich und leibhaftig von Jugend auf vor fich fieht, und dem Volle theilt ſich der „Vollsſchauſpieldichter“ auch nur verftändlich mit, wenn er es nicht einen Augenblick aus diejer ſtaatsbürgerlichen Illuſion reißt, die fein’ unbewußtes Gefühl dermaßen befangen *) Goethe ſuchte im „Egmont“ dieſe, im Verlaufe bes ganzen Stüdes aus ber Biftorifch-ftaatlidh bebingenden Umgebung mit müh- ſamer Umftändlichleit losgelöfte, in ber Kerkereinjamkeit und un= mittelbar vor dem Tode ſich einigende rein menſchliche Individualität dem Gefühle darzuftellen, und mußte deihalb zum Wunder und me Ruf reifen. Wie bezeichnend ift es, daß gerabe ber ibeali- irende Schi biefen ungemein bebeutungsbollen Zug von Goethes hochſter Wahrhaftigkeit nicht verſtehen donnte! Wie irr- war es aber auch bon Beethoven, daß er nicht erſt zu biefer jundererfheinung, jondern von vornherein mitten in bie —8 profaifche Expofition zur ungeit Mufif jeptel

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 71

hält, daß es in die höchſte Verwirrung gefegt werden müßte, wenn man ihm unter diefer finnlichen Erſcheinung den wirklichen Menſchen hervorkonſtruiren mwollte*). Um die rein menſchliche Individualität darzuftellen, Hat der moderne Dichter fi daher nit an bad Gefühl, fondern an den Verſtand zu menden, wie fie für ihn felbft ja auch nur eine gedachte ift. Hierzu muß fein Verfahren ein ungeheuer umftänbliches fein: er muß alles Das, was dad moderne Gefühl als dad Begreiflichite faßt, fo zu fagen vor den Augen dieſes Gefühles langſam und höchft vorſichtig feiner Hülle, feiner Form und Farbe entkleiden, um während biejer Entfleidung, nad) fyftematifher Berechnung, das Gefühl nad) und nad) zum Denken zu bringen, da die von ihm gewollte Individualität endlich nur eine gedachte fein fann. So muß der Dichter aus dem Gefühle ſich an den Verjtand wenden: das Gefühl ift für ihn das Hinderliche; erft wenn er ed mit höchſter Behutfamkeit überwunden Hat, kommt er zu feinem eigent: lichen Vorhaben, der Darlegung eines Gedankens an den Ver- ftand. -

Der Verftand ift fomit von vornherein die menfchliche Zähigfeit, an die der moderne Dichter fich mittheilen will, und zu ihm kann er einzig duch dad Organ bes fombinirenden, zer⸗ ſetzenden, theilenden und trennenden Verſtandes, die von dem Gefühle abitrahirte, die Eindrüde und Empfängniffe des Ge— fühle nur noch ſchildernde, vermittelnde und bedingte Wort- ſprache reden. Wäre unfer Staat ſelbſt ein würdiger Gegenftand bes ©efühles, fo würbe der Dichter, um fein Vorhaben zu erreichen, im Drama gewiſſermaßen von der Muſik zur Wortfprache über- zugehen haben: in der griechifchen Tragödie war es faft ähnlich der Fall, aber aus umgefehrten Gründen. Ihre Grundlage war die Lyrik, aus der fie jo zur Wortſprache vorjchritt, wie die Ges ſellſchaft aus dem natürlichen, fittlich veligiöfen Gefühlsverbande

Wi) Es müßte dem Volke gehen mie ben beiben Kindern, bie vor einem Gemälde ftanden, dad Adam und Eva barftellte, und bie nicht unterfceiden Tonnten, wer der Mann und wer bie Gran fei, weil fie unbefleidet waren. Wie beitimmend für alle unjere An⸗ fhauung ift es wiederum, daß unfer Auge gemeinigli dur den Unblid einer unverhülten menſchlichen Sehatt in bie ano Ver⸗ legenheit geſeht wird, und wir fie fogar gewöhnlich garſtig finden: unjer eigener Leib wird uns erft durch Nachdenken veritändlich!

72 Oper und Drama:

zum politifchen Staate. Die Rückkehr aus dem Berftande zum Gefühle wird infoweit der Gang des Drama's der Bukunft fein, al wir aus der gedachten Individualität zur wirklichen vor— fcreiten werben. Der moderne Dichter hat aber auch vom Be— ginn herein eine Umgebung, den Staat, barzuftellen, die jedes rein menschlichen Gefühlsmomentes bar, und im höchiten Gefühls— ausdruck unmittheilbar iſt. Sein ganzes Vorhaben kann er da- her nur durch das Mittheilungsorgan des kombinirenden Ver— ftandes, durch die ungefühlvolle moderne Sprache erreichen; und mit Recht dünkt es den heutigen Schaufpieldichter ungeeignet, verwirrend und ftörend, wenn er die Mufif für einen Zweck mit verwenden follte, der irgend verſtändlich nur als Gedanke an den Verſtand, nicht aber an das Gefühl als Affelt auszuſprechen ift.

Welche Geftaltung des Drama's würde in dem bezeichneten Sinne nun aber der Untergang bed Staates, die gefunde orga— nische Geſellſchaft hervorrufen ?

Der Untergang des Staates Tann vernünftiger Weiſe nicht8 Anderes heißen, als das fich verwirflichenbe religiöfe Be— wußtfein der Gefellfhaft von ihrem rein menſchlichen Wefen. Diefes Bewußtfein kann feiner Natur nad) fein von Außen eingeprägtes Dogma fein, d. 5. nicht auf geſchichtlicher Tradition beruhen, und nicht durch den Staat anerzogen wer— den. So lange irgend eine Lebenshandlung ald äußere Pflicht von und gefordert wird, fo lange ift der Gegenſtand biefer Hand⸗ fung fein Oegenftand eines religiöfen Bewußtſeins; denn aus religiöfem Bewußtſein handeln wir aus uns felbft, und zwar fo, wie wir nicht ander handeln können. Religiöſes Bewußtſein heißt aber allgemeinfames Bewußtſein, und allgemeinfam Tann ein Bewußtfein nur fein, wenn es das Unbewußte, Unmwill- fürliche, Reinmenfchliche als das einzig Wahre und Nothwendige weiß, und aus feinem Wiſſen rechtfertigt. So lange bad Rein- menſchliche und in irgend welcher Trübung vorſchwebt, wie es im gegenwärtigen Buftande unferer Geſellſchaft und gar nicht anders vorſchweben fann, fo lange werden wir auch in millionen- fach verfchiedener Anficht darüber befangen fein müflen, wie der Menſch fein folle: fo lange wir, im Irrthume über fein wahres

Das Echaufpiel und das Weſen ber dramatiſchen Dichtkunft. 73

Weſen, uns Vorftellungen davon bilden, wie dieſes Wejen fi kundgeben möchte, werden wir auch nach willfürlichen Formen ſtreben umd fuchen müſſen, in welchen dieſes eingebildete Wejen fi fundgeben folle. So lange werden wir aber aud Staaten und Religionen haben, bis wir nur eine Religion und gar feinen Staat mehr haben. Wenn diefe Religion aber noth- wendig eine allgemeinfame fein muß, fo Tann fie nicht? Anderes fein, als die durch das Bewußtſein gerechtfertigte wirkliche Na— tur des Menſchen, und jeder Menfch muß fähig fein, diefe un- bewußt zu empfinden und unwillkürlich zu bethätigen. Dieſe ge meinfame menjchlihe Natur wird am ftärkiten von dem Indi— viduum, als feine eigene und individuelle Natur, empfunden, mie fie fih in ihm als Lebens» und Liebestrteb kundgiebt: die Befriedigung dieſes Triebes ift es, was den Einzelnen zur Geſellſchaft drängt, in welcher er eben dadurch, daß er ihn nur in der Gefellfhaft befriedigen fann, ganz von felbft zu dem Bewußtfein gelangt, daß als ein religiöfes, d. h. gemein- james, feine Natur rechtfertigt. In der freien Gelbftbe- ftimmung der Individualität liegt daher der Grund der gefellfhaftlihen Religion der Zukunft, die nicht eher in das Leben getreten fein wird, als bis diefe Individu- alität durch die Geſellſchaft ihre fürderndfte Rechtfertigung er- hält.

Die unerfchöpfliche Mannigfaltigfeit der Beziehungen Ieben- diger AIndividualitäten zu einander, die unenblihe Fülle ſtets neuer und in ihrem Wechſel immer genau der Eigenthümlichteit , diefer Tebenvollen Beziehungen entſprechender Formen, find wir gar nicht im Stande auch nur andeutungsweife und vorzuftellen, da wir bis jet alle menjchlichen Beziehungen nur in der Geftalt geſchichtlich überlieferter Berechtigungen und nach ihrer Voraug- beitimmung durch die ftaatlich ftändifhe Norm wahrnehmen tönnen. Den unüberjehbaren Reichthum lebendiger individueller Beziehungen vermögen wir aber zu ahnen, wenn wir fie al vein menſchliche, immer voll und ganz gegenwärtige faflen, b. 5. wenn wir alles Außermenſchliche oder Ungegenwärtige, was als Eigen- thum und gefchichtliches Recht im Staate zwifchen jene Bezieh- ungen ſich geftellt, das Band der Liebe zwiſchen ihnen zerriſſen, fie entinbivibualifirt, ſtändiſch uniformirt, und ſtaatlich ftabili= firt hat, auß ihnen weit entfernt benfen.

74 Oper und Drama:

In höchſter Einfachheit innen wir und jene Beziehungen aber wieberum vorftellen, wenn wir die unterfceibenditen Haupt- momente des individuellen menfchlichen Lebens, welches auß ſich auch das gemeinfame Leben bedingen muß, als charalteriſtiſche Unterfcheidungen ber Geſellſchaft felbft zufammenfaffen, und zwar ald Jugend und Alter, Wahsthum und Reife, Eifer und Ruhe, Thätigfeit und Beſchaulichkeit, Unwillkür und Bewußtjein.

Das Moment der Gewohnheit, welches wir am naivſten im Feſthalten fozial-fittlicher Begriffe, in feiner Verhärtung zur ftaat3-politifhen Moral aber als vollftändig der Entwidelung der Individualität feinbfelig, und endlich als entfittlichend und das Reinmenſchliche verneinend erkannten, ift ald ein unwillfür- lich menschliches dennoch wohlbegründet. Unterfuchen wir aber näher, fo faſſen wir in ihm nur ein Moment der Vielſeitigkeit der menſchlichen Natur, die fi im Individuum nad) feinem Lebensalter beftimmt. Ein Menſch ift nicht derfelbe in der Jugend wie im Alter: in der Jugend fehnen wir und nach Thaten, im Alter nah Ruhe. Die Störung unferer Ruhe wird und im Alter ebenfo empfindlich, al die Hemmung unferer Thätigteit in der Jugend. Das Verlangen des Alters vechtfertigt ſich von ſelbſt aus der allmählichen Aufzehrung des Thätigleitötriebes, deren Gewinn Erfahrung ift. Die Erfahrung ift an fich aber wohl genuß- und lehrreich für den Erfahrenen felbft; für den belehrten Unerfahrenen kann fie aber dann nur von beftimmen- dem Erfolge fein, wenn entweder diefer von leicht zu bewältigen- dem, ſchwachem Thätigkeitätriebe ift, oder die Punkte der Er- fahrung ihm als verpflictende Richtſchnur für fein Handeln zwangsweiſe auferlegt würden: nur durch diefen Zwang ift aber ber natürliche Thätigfeitötrieb des Menſchen überhaupt zu ſchwächen; dieſe Schwächung, die und beim oberflächlichen Hin- blick ald eine abfolute, in der menfchlichen Natur an fich begrün- dete erfheint, und aus ber wir fomit unfere zur Thätigkeit wiederum anhaltenden Geſetze zu rechtfertigen fuchen, ift daher nur eine bedingte.

Wie die menfhlihe Geſellſchaft ihre erſten fittlichen Be— geiffe auß der Familie empfangen Hat, trug fi in fie auch die Ehrfurcht vor dem Wlter über: dieje Ehrfurdt war in ber Fa— milie aber eine durch die Liebe hervorgerufene, vermittelte, be—

Das Schaufpiel und das Weſen der dramatifhen Dichtkunſt. 75

dingte und motivirte; der Vater liebte vor Allem feinen Sohn, riet ihm aus Liebe, ließ ihn aus Liebe aber aud; gewähren. In der Geſellſchaft verlor fich diefe motivirende Liebe aber ganz in dem Grabe, als die Ehrfurcht von der Perſon ab fi auf die Borftellungen und außermenfchliche Dinge bezog, die an fi) unwirklich zu uns nicht in ber Iebendigen Wechſelwirkung ftanden, in welcher die Liebe die Ehrfurcht zu erwidern, d. h. die Furcht von ihr zu nehmen, vermag. Der zum Gott geivordene Vater fonnte und nicht mehr lieben; der zum Geſetz gewordene Rath der Eltern konnte ung nicht mehr frei gewähren laffen; die zum Staat gewordene Familie Eonnte uns nicht mehr nad der Unwillkür ber Billigung ber Liebe, fondern nad} den Satzungen Kalter Sittlichkeitsverträge beurtheilen. Der Staat dringt und nad feiner verftändigften Auffaffung die Erfahrungen ber Geſchichte als Richtſchnur fir unfer Handeln auf: wahr haftig Handeln wir aber nur, wenn wir aus unwillkürlichem Handeln felbft zur Erfahrung gelangen; eine durch Mittheilung und gelehrte Erfahrung wird für und zu einer erfolgreichen erſt, wenn wir durch unmillfürliches Handeln fie wiederum ſelbſt machen. Die wahre, vernünftige Liebe des Alters zur Jugend beftätigt fich alfo dadurch, daß es feine Erfahrungen nit zu dem Maafe für das Handeln der Jugend macht, fon- bern fie felbft auf Erfahrung anweiſt, und dadurch feine eige- nen Erfahrungen bereichert; denn das Charakteriftifhe und Überzeugenbe einer Erfahrung ift eben das Individuelle an ihr, das Beſondere, Kenntlihe, was fie dadurch erhält, daß fie aus dem unwillkürlichen Handeln diefes einen, befon- deren Individuums in diefem einen und befonderen Falle ge- wonnen warb.

Der Untergang de Staates heißt daher fo viel, ald der Hinwegfall der Schranke, welche durch bie egoiftifche Eitelkeit der Erfahrung als Vorurtheil gegen die Unmwillfür des indivi- buelfen Handelns fich errichtet Hat. Diefe Schranke nimmt gegen- wärtig die Stellung ein, die naturgemäß der Liebe gebührt, und fie ift nach ihrem Wefen die Lieblofigkeit, d. h. das Ein- genommenfein ber Erfahrung von ſich, und der endlich gewaltfam durchgeſetzte Wille, nichts Weiteres mehr zu erfahren, die eigen- füchtige Bornirtheit der Gewohnung, die graufame Trägheit der Ruhe. Durch die Liebe weiß aber der Water, daß er noch

76 Oper und Drama:

nit genug erfahren Hat, fondern daß er an den Erfahrungen feines Kindes, die er in der Liebe zu ihm zu feinen eigenen macht, fi unendlich zu bereichern vermag. In ber Fähigkeit des Ge- nuffes der Thaten Anderer, deren Gehalt es durch die Liebe für ſich zu einem genieenswürdigen und genußgebenden Gegenftand zu machen weiß, bejteht die Schönheit der Ruhe des Alters. Diefe Ruhe ift da, wo fie durch die Liebe naturgemäß vorhanden ift, keinesweges eine Hemmung bes Thätigkeitstriebes der Jugend, fondern feine Förderung. Sie ift da8 Raumgeben an die Thätig« keit der Jugend in einem Clemente der Liebe, da8 an der Be- fhauung dieſer Tätigkeit zu einer Höchften fünftleri- ſchen Betheiligung an ihr felbft zum fünftlerifchen Lebenselemente überhaupt wird.

Das bereitö erfahrene Alter it vermögend, die Thaten der Jugend, in welchen biefe nach unwillfürlichem Drange und mit Unbewußtjein ſich fundgiebt, nad ihrem charakteriſtiſchen Gehalte zu faſſen und in ihrem Bufammenhange zu über- bliden: e3 vermag dieſe Thaten alſo vollfommener zu recht- fertigen, als die Handelnde Jugend jelbft, weil es fie fich zu erklären und mit Bewußtſein darzuftellen weiß. In der Ruhe des Alters gewinnen wir jomit dad Moment Hödjfter dich— terifher Fähigkeit, und nur der jüngere Mann vermag fi) diefe ſchon anzueignen, der jene Ruhe gewinnt, d. b. jene Gerechtigkeit gegen die Erfcheinungen des Lebens.

Die Liebesermahnung des Erfahrenen an den Unerfahrenen, des Ruhigen an ben Leidenfchaftlichen, des Beichanenden an den Handelnden, giebt fih am überzeugendften und erfolgreichiten dur getreue Vorführung bes eigenen Weſens des unwillkürlich Thätigen an diefen mit. Per in unbemwußtem Lebenseifer Be— fangene wird nicht durch allgemeine fittlihe Ermahnung zur urtheilfähigen Erkenntniß feine Weſens gebracht, ſondern voll- ftändig ann die nur gelingen, wenn er in einem vorgeführten treuen Bilde fich ſelbſt zu erbliden vermag; denn die richtige Exkenntniß ift Wiedererfennung, wie das richtige Bewußtſein Wiffen von unferem Unbemwußtjein. Der Ermahnende ift der Berftand, das bewußte Anfhauungsvermögen des Erfahrenen: das zu Ermahnende ift da8 Gefühl, der unbewußte Thätigfeitd- trieb des Exfahrenden. Der Verſtand kann nichts Anderes wiſſen, als die Rechtfertigung des Gefühles, denn er ſelbſt iſt nur

Das Schauſpiel und das Weſen der dramatiſchen Dichtkunſt. 77

die Ruhe, welche der zeugenden Erregung des Gefühles folgt: er ſelbſi rechtfertigt ſich nur, wenn er aus dem unmillfürlichen Gefühle ſich bedingt weiß, und ber aus dem Gefühle gerecht- fertigte, nicht mehr im Gefühle dieſes Einzelnen befangene, fon- dern gegen das Gefühl überhaupt gerechte Verſtand ift die Vernunft. Der Verftand ift als Vernunft infofern dem Gefühle Überlegen, als er die Thätigfeit des individuellen Ges fühles in der Berührung mit feinem, ebenfall8 aus individuellem Gefühle tätigen Gegenftande und Gegenſatze allgerecht zu be urtheilen vermag: ex ift die höchſte foziale, durch die Gefellichaft einzig felbft bebingte Kraft, welche die Spezialität des Gefühles nad) feiner Gattung zu erkennen, in ihr wieberzufinden und aus ihr fie wiederum zu rechtfertigen weiß. Er ift fomit auch fähig, zur Außerung durch das Gefühl ſich anzulaffen, wenn es ihm darum zu thun ift, dem nur Gefühlvollen ſich mitzutheilen, und die Liebe leiht ihm dazu die Organe. Er weiß dur das Gefühl der Liebe, welches ihn zur Mittheilung drängt, daß dem leidenſchaftlichen, im unwillkütlichen Handeln Begriffenen nur Das verftändlich ift, was ſich an fein Gefühl wendet: wollte er fih an feinen Verſtand wenden, fo ſetzte er Das bei ihm voraus, was er durch feine Mittheifung fich eben ſelbſt erft gewinnen foll, und müßte unverftändlich bleiben. Das Gefühl faßt aber nur das ihm Gleiche, wie der nadte Verſtand als folder ſich aud nur dem Verſtande mittheilen kann. Das Gefühl bleibt bei der Reflexion des Verftandes kalt: nur die Wirflicheit der ihm verwandten Erfcheinung kann es zur Theilnahme feſſeln. Dieje Erſcheinung muß das ſympathetiſch wirkende Bild des eigenen Wefens des unwillkürlich Handelnden fein, und ſympathetiſche Wirkung bringt es nur hervor, wenn es fi) in einer Handlung ihm darftellt, die fi) aus demſelben Gefühle rechtfertigt, wel⸗ ches ex aus dieſer Handlung und Rechtfertigung als fein eigenes mitfühlt. Aus dieſem Mitgefühle gelangt er ebenfo unmwillfürlich zum Verftändniffe feines eigenen individuellen Weſens, wie er an ben Gegenftänden und Gegenfägen feines Fühlens und Han- delns, an denen im Bilde fein eigenes Fühlen und Handeln ſich entwidelte, au das Weſen diejer Gegenfäge erfennen lernte, und zwar dadurch, daß er, durch lebhafte Sympathie für fein eigenes Bild aus fich Heraußverfegt, zur unwillkürlichen Theit- nahme an dem Fühlen und Handeln auch feiner Gegenfäge hin⸗

78 Oper und Drama:

geriffen, zur Anerkennung und Gerechtigkeit gegen bieje, die nicht mehr feiner Befangenheit im wirklichen Handeln gegen überftehen, beftimmt wird,

Nur im vollendetiten Kunftiverke, im Drama, vermag fich daher die Anfhauung des Erfahrenen vollkommen erfolgreich mitzutheilen, und zwar gerade bewegen, weil in ihm durch Ver⸗ wendung aller fünftleriichen Ausdrudsfägigteiten des Menſchen die Abſicht des Dichters am vollftändigften aus dem Verftande an dad Gefühl, nämlich künftlerifh an die unmittelbarften Em— pfängnißorgane bed Gefühles, die Sinne, mitgetheilt wird. Das Drama unterſcheidet ſich als vollendetftes Kunſtwerk von allen übrigen Dichtungsarten eben dadurch, daß die Abfiht im ihm duch ihre vollftändigfte Verwirklichung zur volliten Unmerflichfeit aufgehoben wird: wo im Drama die Abſicht, d. 5. der Wille des Verftandes, noch merklich bleibt, da ift auch der Eindrud ein erfältender; denn wo wir den Dichter noch wollen fehen, fühlen wir, daß er noch nit fann. Das Können des Dichters ift aber das vollfommene Aufgehen der Abficht in das Kunftwert, die Gefühlswerdung bed Verſtandes. Nur dadurch erreicht er feine Mbficht, daß er die Erfcheinungen bes Lebens nad ihrer vollften Unwilllür vor unferen Augen ver- ſinnlicht, alfo das Leben jelbft ans feiner Nothwendigkeit recht- fertigt: denn nur diefe Nothwendigkeit vermag das Gefühl zu verftehen, an das er fich mittheilt.

Bor dem bargeftellten dramatifchen Kunſtwerke darf Nichts mehr den fombinirenden Verſtande aufzufuchen übrig bleiben: jede Erſcheinung muß in ihm zu dem Abfchluffe kommen, der unfer Gefühl über fie beruhigt: denn in der Beruhigung dieſes Gefühles, nach feiner höchſten Erregtheit im Mitgefühl, Tiegt die Ruhe felbft, die und unmilltürlid dad Verſtändniß bes Le— bens zuführt. Im Drama müffen wir Wiffende werden durch das Gefühl. Der Verftand fagt und: fo ift es erft, wenn uns dad Gefühl gefagt hat: fo muß es fein. Dieß Gefühl wird fid) aber nur durch fich felbft verftändlich: es verfteht feine an- . dere Sprache, als feine eigene. Erfcheinungen, die und nur durch den unendlich vermittelnden Verſtand erflärt werben Können, bleiben dem Gefühle unbegreiflid) und ftörend. Eine

Dad Schaufpiel und dad Wefen der dramatifhen Dichtkunſt. 79

Handlung kann daher nur dann im Drama erklärt werben, wenn fie dem Gefühle vollkommen gerechtfertigt wird, und bie Aufgabe des dramatiſchen Dichters ift es fomit, nicht Hand⸗ lungen zu erfinden, ſondern eine Handlung aus der Nothwen- digfeit des Gefühles der Art zu verftänblichen, daß wir der Hilfe des Verftandes zu ihrer Rechtfertigung gänzlich entbehren dürfen. Sein Hauptaugenmerk hat der Dichter daher auf die Wahl der Handlung zu richten, die er fo wählen muß, daß fie, ſowohl ihrem Charakter wie ihrem Umfange nad, ihre vollftändige Rechtfertigung aus. dem Gefühle ihm ermöglicht; denn in biefer Rechtfertigung beruht einzig die Erreichung feiner Abſicht.

Eine Handlung, die nur aus hiſtoriſchen, ihrem Grunde nach ungegenwärtigen Beziehungen erklärt, vom Standpunkte des Staates aus gerechtfertigt, oder durch Berüdfichtigung reli⸗ giöfer, von Außen eingeprägter, nicht gemeinſam innerlicher Dogmen begriffen werden kann, ift wie wir fahen nur dem Verftande, nicht dem Gefühle barzuftellen: am genügendften Tonnte dieß durch Erzählung und Echilderung, durch Appell an die Einbildungskraft des Verſtandes, nicht durch unmittelbare Vorführung an das Gefühl und feine beftimmt erfafjenden Or- gane, die Sinne, gelingen, weil eine folhe Handlung für diefe Sinne recht eigentlich unüberfchaubar war, und eine Maſſe von Beziehungen in ihr außerhalb aller Möglichkeit, fie zur finnlichen Anſchauung zu bringen, liegen und nur dem kombinirenden Dent- organe zum erftändniß überlafjen bleiben mußten. In einem Hiftorifch-politifchen Drama kam es daher dem Pichter barauf an, feine Abſicht als ſolche ſchließlich ganz nadt zu geben: das ganze Drama blieb unverftändlich und eindrudslos, wenn nicht endlich diefe Abficht, in Form einer menſchlichen Moral, aus einem ungeheuren Wufte, zur bloßen Schilderung verwen⸗ deter, pragmatijcher Motive, recht erfichtlih zum Vorſchein Fam. Man frug fi im Verlaufe eines folhen Stüdes unwillkürlich: „Was will der Dichter damit fagen?“

Die Handlung num, die vor dem Gefühle und durch das Gefühl gerechtfertigt werben foll, befaßt fich mit feiner Moral, fondern alle Moral beruht eben nur in der Rechtfertigung diefer Handlung aus dem unwillkürlichen menſchlichen Gefühle Sie ift ſich felbft Zweck infofern fie eben nur aus dem Gefühle, dem

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ſie entwächſt, gerechtfertigt werden ſoll. Dieſe Handlung kann daher nur eine ſolche fein, Die aus ben wahrſten, d. h. dem Ge⸗ fühle begreiflichſten, den menſchlichen Empfindungen nahe— liegendſten, ſomit einfachſten Beziehungen hervorgeht, aus Beziehungen, wie ſie nur einer, dem Weſen nach mit ſich einigen, von unweſenhaften Vorſtellungen und ungegenwärtigen Berech- tigungsgründen unbeeinflußten, nur fi) ſelbſt und feiner Vergan⸗ genheit angehörigen menfchlichen Geſeliſchaft entipringen können. Keine Handlung des Lebens fteht aber vereinzelt da: fie hat einen Zufammenhang mit den Handlungen anderer Menschen, durch die fie, gleichwie aus dem individuellen Gefühle des Han- deinden felbft, bedingt wird. Den ſchwächſten Bufanmenhang haben nur eine, unbedeutende Handlungen, bie weniger ber Stärke eines nothwendigen Gefühles, als der Willfür der Laune zur Erflärung bedürfen. Je größer und entjcheibender jedoch eine Handlung ift, je mehr fie nur aus der Stärke eines noth- ‚wendigen Gefühles erklärt werden faun, in einem deſto be— ftimmteren und weiteren Zufammenhange fteht fie auch mit den Handlungen Anderer. Eine große, das Wefen des Menſchen nach einer Richtung bin am erfichtlichiten und erjchöpfenditen darftellende Handlung geht nur aus der Reibung mannigfaltigfter und ftarfer Gegenfäge hervor. Um diefe Gegenjäge ſelbſt ge- recht beurteilen, und die in ihnen fich Fundgebenden Handlungen aus den individuellen Gefühlen der Handelnden begreifen zu fönnen, muß eine große Handlung aber in einem weiten reife von Beziehungen dargeftellt werden, denn erjt in dieſem Kreife ift fie zu verftehen. Die erfte und eigenthümlichite Aufgabe des Dichters beſteht demnach darin, daß er einen ſolchen Kreis bon vornherein in das Auge faht, feinen Umfang vollfommen ermißt, jebe Einzelheit der in ihm liegenden Beziehungen genau nad) ihrem Maaße und ihrem Verhältnifie zur Haupthanblung er- foriht, und nun das Maaß feines Verftändniffes von ihnen zu dem Maaße ihrer Verfländlichfeit al Fünftlerifche Erſcheinung macht, indem er ihren weiten Kreis nach feinem Mittelpunfte Bin zufammendrängt umd ihn fo zur verftändnißgebenden Peri— pherie des Helden verdichtet. Diefe Verdichtung ift das eigentliche Werk des dichtenden Verſtandes, und dieſer Berftand ift der Mittel- und KHöhepunft des ganzen Menfchen, der von ihm aus fich in den empfangenben und mittheilenden ſcheidet.

Das Schaufpiel und das Weſen ber dramatiihen Dichtkunſt. 81

Wie die Erſcheinung zunächft von dem nach Außen gewen⸗ deten unwillfüclihen Gefühle erfaßt, und der Einbildungskraft als erfter Thätigkeit des Gehirnes zugeführt wird, fo Hat der Verſtand, der nichts Anderes, als bie nach dem wirklichen Maaße der Erſcheinung georbnete Einbildungskraft ift, für die Mit- theilung des bon ihm Erfannten durch die Einbildungsfraft wiederum an dad unmillfürlihe Gefühl vorzuſchreiten. Im Verſtande fpiegeln fi die Erſcheinungen als das, was fie wirf- lich find; diefe abgefpiegelte Wirklichkeit ift aber eben nur eine gebachte: um dieſe gedachte Wirklichteit mitzutheilen, muß er fie dem Gefühle in einem ähnlichen Bilde darftellen, als wie das Gefühl fie ihm urſprünglich zugeführt Hat, und dieß Bild ift das Werk der Phantaſie. Nur durch die Phantafie ver- mag der Verſtand mit den Gefühle zu verkehren. Der Verftand Tann die volle Wirklichkeit der Erſcheinung nur erfaflen, wenn er das Bild, in welchem fie von ber Phantafle ihm vorgeführt wird, zerbricht und fie in ihre einzelnften Theile zerlegt; fo wie er biefe Theile fi wieder im Zuſammenhange vorführen will, hat er fogleich wieber fi ein Bild von ihr zu entwerfen, das der Wirklichkeit der Erfcheinung nicht mehr mit vealer ©enauig- feit, fondern nur in. dem Maafe entjpricht, in welchem ber Menſch fie zu erkennen vermag. So fegt auch die einfachite Handlung den Verftand, der fie unter dem anatomifhen Mir kroſtope betrachten will, durch bie ungeheure Bielgliebrigfeit ihres Zufammenhanges in Staunen und Verwirrung; und will er fie begreifen, fo fann er nur durch Entfernung des Mitcoffo- pes und durch Vorführung des Bildes von ihr, das fein menjch- liches Auge einzig zu erfaffen vermag, zu einem Verſtändniſſe gelangen, das fchließli nur duch dad vom Verſtande ge- redhtfertigte unmillfürliche Gefühl ermöglicht wird. Diefes Bild der Erfcheinungen, in welchem das Gefühl einzig biefe zu begreifen vermag, und welches der Berftand, um fich dem Ges fühle verftändlich zu machen, demjenigen nachbilben muß, wel- ches ihm ursprünglich durch die Phantafie vom Gefühle zu- geführt war, ift für die Abſicht des Dichter, der auch die Er- ſcheinungen des Lebens aus ihrer unüberjehbaren Vielgliedrigkeit zu dichter, leicht überfhaubarer Gejtaltung zufammendrängen muß, nichts Anderes, als dad Wunder.

Rigard Wagner, Gef. Schriften IV. 6

82 Oper und Drama:

V.

Das Wunder im Dichterwerke unterſcheidet ſich von dem Wunder im religiöſen Dogma dadurch, daß es nicht, wie dieſes, die Natur der Dinge aufhebt, ſondern vielmehr ſie dem Ge— fühle begreiflich macht.

Das jüũdiſch⸗chriſtliche Wunder zerriß den Zuſammenhang der natürlichen Erſcheinungen, um den göttlichen Willen als über der Natur ſtehend erſcheinen zu laſſen. In ihm wurde keinesweges ein weiter Zuſammenhang, zu dem Bivede eines Verftändnifies deſſelben durch dad unwillkürliche Gefühl, ver- dichtet, ſondern e8 wurde ganz um feiner felbft willen verwendet; man forderte es als Beweis einer übermenjchlihen Macht von Demjenigen, der ſich für göttlich ausgab, und an den man nicht eher glauben wollte, als biß er vor den leibhaften Uugen der Menfchen ſich ald Herr der Natur, d.h. als beliebiger Verdreher der natürlihen Ordnung der Dinge auswies. Dieß Wunder ward demnad von Dem verlangt, den man nit an fi und aus feinen natürlichen Handlungen für wahrhaftig hielt, fon- dern dem man erft zu glauben fi vornahm, wenn er etwas Unglaubliches, Unverftändliches ausführte. Die grundfäß- lie Verneinung des Verftandes mar alſo etwas, vom Wunberfordernden wie Wunderwirfenden gebieteriih Voraus— gejeßtes, wogegen der abfolute Glaube das vom Wunder- thäter Geforberte und vom Wunderempfangenden Gewährte war.

Dem dichtenden Verftande liegt nun, fir den Eindrud feiner Mittheilung, gar Nicht? am Glauben, fondern nur am Ges fühlsverftändniß. Er will einen großen Bufammenhang na türliher Erſcheinungen in einem ſchnell verftändlichen Bilde darftellen, und diefes Bild muß daher ein den Erfcheinungen in der Weife entjprechendes fein, daß das unwillkürliche Gefühl es ohne Widerjtreben aufnimmt, nicht aber zur Deutung exit auf gefordert wird; mogegen das Charakteriftiihe des dogmatiſchen Wunders eben darin befteht, daß es den unmillfürlich nad) feiner - Erklärung fuchenden Verftand, durch Die dargethane Unmöglich- feit e8 zu erflären, gebieterifch unterjocht, und in dieſer Unter- jodung eben feine Wirkung ſucht. Das dogmatifche Wunder ift daher ebenfo ungeeignet für die Kunft, als das gedichtete Wun-

Dad Schaufpiel und das Wefen der dramatiſchen Dichtkunſt. 83

der das höchſte und nothwendigſte Erzeugniß bes künſtleriſchen Anfhauungd und Darſtellungsvermögens ift. Stellen wir und das Verfahren des Dichters in der Bil- bung feines Wunders deutlicher vor, fo fehen wir zunächſt, daß - et, um einen großen Zufammenhang gegenjeitig ſich bedingender Handlungen zu verftänblihem Überblide darftelen zu fönnen, diefe Handlungen in ſich felbft zu einem Maaße zufammendrän« gen muß, in welchem fie bei leichteſter Überfichtüichteit dennoch Nichts don der Fülle ihre Inhaltes verlieren. Ein bloßes Kür— zen oder Ausſcheiden geringerer Handlungsmomente würde an ſich bie beibehaltenen Momente nur entftellen, da dieſe ftärferen Momente der Handlung für das Gefühl einzig ald Steigerung aus ihren geringeren Momenten gerechtfertigt werden können. Die um de dichteriſch überfichtlichen Raumes wegen ausgeſchie— denen Momente müfjen baher in die beibehaltenen Hauptmomente ſelbſt mit übergetragen werben, d. 5. fie müſſen in ihnen auf irgend welche, für das Gefühl kenntliche Weife mitenthalten fein. Das Gefühl kann fie aber nur befhalb nicht vermifien, weil ed . zum Verſtändniß der Haupthandlung des Mitempfindens der Beweggründe bedarf, aus denen fie Herborging, und die in jenen geringeren Hanblungsmomenten fi) fundthaten. Die Spitze einer Handlung ift an ſich ein flüchtig vorübergehender Moment, der als reine Thatfache vollfommen bedeutungslos ift, fobald er nit aus Gefinnungen motivirt erfcheint, die an fi unfer Mit- gefühl in Anſpruch nehmen: die Häufung folher Momente muß den Dichter aller Fähigkeiten berauben, fie an unfer Gefühl zu rechtfertigen, denn dieſe Rechtfertigung, die Darlegung der Mo- tive, ift e8 eben, wa8 ben Raum des Kunſtwerkes einzunehmen hat, der vollfommen vergeubet wäre, wenn er von einer Mafje unzurechtfertigender · Handlungsmomente erfüllt würde.

Im Intereſſe der Verftändlichkeit Hat der Dichter daher die Momente der Handlung fo zu beſchränken, daf er den nöthigen Raum für die volle Motivirung der beibehaltenen gewinne: alle die Motive, die in den ausgeſchiedenen Momenten verftedt lagen, muß er den Motiven zur Haupthandlung in einer Weife ein- fügen, daß fie nicht als vereinzelt erjcheinen, weil. fie vereinzelt auch ihre befonderen Handlungsmomente eben die ausgeſchie⸗ denen bedingen würden; fie müflen dagegen in dem Haupt: motive fo enthalten fein, daß fie dieſes nicht zerjplittern, ſondern

6*

84 Dper und Drama:

als ein Ganzes verftärfen. Die Verftärkung de Motives be- dingt aber nothwendig auch wieder die Verſtärkung des Hand» lungsmomentes ſelbſt, der an ſich nur bie entjprechenbe Kußerung des Motives ift. Ein ſtarkes Motiv kann fich nicht in einem ſchwachen Handlungsmomente äußern; Handlung und Motiv müßten dadurch umverftändlich werden. Um alfo das durch Aufnahme aller, im gewöhnlichen Leben nur in vielen Hand- fungsmomenten ſich äußernder Motive, verftärkte Hauptmotiv verftändlich fundzugeben, muß auch die aus ihm bedingte Hanb- fung eine verſtärkte, mächtige, und in ihrer Einheit umfangreichere fein, al3 wie fie das gewöhnliche Leben Hervorbringt, in welchem ganz diefelbe Handlung fih nur im Bufammenhange mit bielen Nebenhandlungen in einem ausgebreiteten Raume und in einer größeren Beitausdehnung zutrug. Der Dichter, der ſowohl diefe Handlungen, wie biefe Raum- und Beitaußdehnung, zu Gunften eines überfichtlichen Verſtändniſſes zufammendrängte, hatte dieß Alles nicht etwa nur zu befchneiden, ſonderen feinen ganzen wefentlichen Inhalt zu verdichten: die verdichtete Geſtalt des wirklichen Lebens ift von diefem aber nur zu begreifen, wenn fie ihm ſich gegenübergehalten vergrößert, verftärkt, unge wöhnlich erfcheint. Im feiner vielhandlichen Zerftreutheit über Raum und Zeit vermag eben der Menich feine eigene Lebend- thätigfeit nicht zu verftehen; das für das Verftändniß zufam- mengedrängte Bild diejer Thätigkeit gelangt ipm aber in der vom Dichter geſchaffenen Gejtalt zur Anfhauung, in welchem dieſe Thätigfeit zu einem verftärkteften Momente verdichtet ift, da8 an fich allerdings ungewöhnlich und wunderhaft erfcheint, feine Une gewöhnlichkeit und Wunderhaftigfeit aber in ſich verfchließt, und vom Befchauer keinesweges als Wunder aufgefaht, ſondern als verftänblichfte Darftellung der Wirklichkeit begriffen wird.

Bermöge dieſes Wunders ift ber Dichter aber fähig, die unermeßlichften Bufammenhänge in allverjtändlichfter Einheit darzuftellen. Ye größer, je umfafjender der Zufammenhang ift, den er begreiflich machen will, deſto ſtärker Hat er nur die Eigen- ſchaften feiner Geftalten zu fteigern; er wird Raum und Zeit, um fie der Bewegung diejer Geftalten entſprechend erſcheinen zu laſſen, aus umfangreichiter Ausdehnung ebenfalls zu wunder⸗ barer Geſtaltung verdichten, bie Eigenſchaſten unendlich zer- itreuter Momente des Raumes und der Beit ebenfo zu dem In—

Das Schaufpiel und das Weſen der bramatiihen Dichtkunſt. 85

Halte einer gefteigerten Eigenfchaft machen, wie ex die zerftreuten Motive zu einem KHauptmotive fammelte, und die Nußerung dieſer Eigenfchaft ebenfe fteigern, wie er die Handlung aus jenem Mo- tive verſtärkte. Gelbft die ungewöhnlichſten Geftaltungen, die bei diefem Verfahren der Dichter vorzuführen Hat, werben in Wahrheit nie unnatürliche fein, weil in ihnen nicht dad Weſen der Natur entftelt, fondern nur ihre Hußerungen zu einem über- fihtlichen, dem fünftlerifchen Menfchen einzig verftändlichen Bilde zufommengefaßt find. Die dichteriſche Kühnheit, welche die Auße- rungen der Natur zu ſolchem Bilde zufammenfaßt, kann gerade erft und mit Erfolge zu eigen fein, weil wir eben durch die Erfahrung über das Wefen ber Natur aufgellärt find.

So lange die Erſcheinungen der Natur den Menjchen nur exft ein Objekt der Phantafie waren, mußte die menſchliche Ein- bildungsfraft ihnen auch unterworfen fein: ihr Scheinweſen be- herrfchte und beftimmte fie auch für die Anſchauung der menfch- lien Erſcheinungswelt in der Weife, daß fie das Unerklärliche nämlid: dad Unerklärte in ihr aus der willfürlichen Be- ftimmung einer außernatürlihen und außermenſchlichen Macht herleiteten, die endlich im Mirafel Natur und Menſch zugleich aufpob. Als Reaktion gegen den Mirafelglauben machte fich dann ſelbſt an den Dichter die rationell profaifhe Forderung gel- tend, dem Wunder aud) für die Dichtung entfagen zu follen, und zwar gejchah dieß in den Zeiten, wo die biß dahin nur mit dem Auge der Phantafie betrachteten natürlichen Erſcheinungen zum Gegenftande wiſſenſchaftlicher Werftandesoperationen gemacht wurden. So lange war aber auch der wiſſenſchaftliche Verſtand über dad Wefen diefer Erfcheinungen nicht mit ſich im Reinen, als er nur in ber anatomischen Aufdeckung all’ ihrer innerlichen Einzelheiten fie als begreiflich ſich barftellen zu können glaubte: erft von da an find wir über fie im Gewifjen, wo wir die Natur als einen lebendigen Organismus, nicht als einen aus Abficht Tonftruirten Mechanismus, erfannt haben; wu wir darüber Har wurden, daß fie nicht gefhaffen, fondern felbit dad immer Werdende iſt; daß fie das Beugende und Gebärende al3 Männ- liches und Weibliches zugleich im fih fehließt; daß Raum und Beit, von denen wir fie umfchloffen hielten, nur Abftraftionen von ihrer Wirklichkeit find; daß wir ferner an diefem Wiſſen im Allgemeinen uns genügen laſſen können, weil wir zu feiner Be—

86 Dper und Drama:

ſtätigung nicht mehr nöthig haben, uns ber weiteften Fernen durch mathematifchen Kalkül zu verfichern, da wir in allernächſter Nähe und an der geringften Erſcheinung der Natur die Beweiſe für Daffelbe finden tönnen, was und aus weiteiter Ferne mur zur Beftätigung unferes Wiffens von der Natur zugeführt zu werben vermag. ' Seitdem wiffen wir aber auch, daß wir zum Genuffe der Natur da find, weil wir fie genießen können, d. 5. zu ihrem Genuffe fähig find. Der vernünftigfte Genuß der Natur ift aber der, der unfere univerſelle Genuffähigfeit befriedigt: in der Univerfalität der menschlichen Empfängniß- organe und in ihrer höchſten Steigerungsfähigkeit für den Ge auß, liegt einzig das Maaß, nach welchem der Menſch zu genießen hat, und der Künftler, der fich diefer höchften Genußfähigkeit mitteilt, hat daher aus diefem Maaße einzig aud) das Maaf der Erſcheinungen zu nehmen, die er nad ihrem Zufammenhange ihm mittHeilen will, und biejes braucht fi nur infofern nach den Außerungen der Natur in ihren Erſcheinungen zu richten, als fie ihrem inhaltlichen Wefen zu entiprechen haben, welches ber Dich» ter durch Steigerung und Verſtärkung nicht entjtellt, fondern eben in feiner Außerung nur zu dem Maaße zufammendrängt, welches dem Maaße des erregteften menſchlichen Verlangens nad) dem Verſtändniſſe eines größten Zuſammenhanges ent- ſpricht. Gerade das vollfte Verſtändniß der Natur ermöglicht es exit dem Dichter, ihre Erfeheinungen in wunderhafter Geftaltung und borzuführen, denn nur in dieſer Geftaltung werben fie als Bedingungen gefteigerter menfhlider Handlungen uns verftändlid.

Die Natur in ihrer realen Wirklichkeit ficht nur der Ver⸗ ftand, der fie in ihre einzelnjten Theile zerfegt; will er diefe Theile in ihrem Iebenvollen organifhen Zufammen- hange fich darftellen, fo wird die Ruhe der Betrachtung bes Verſtandes unmillfürlih durch eine Höher und höher erregte Stimmung verdrängt, die endlich nur noch Gefühlsftimmung bleibt. In diefer Stimmung bezieht der Menſch die Natur un— bewußt wiederum auf ſich, denn fein individuell menſchliches Gefühl gab ihm eben die Stimmung, in welder er die Natur nad) einem bejtimmten Eindrude empfand. In höchſter Gefühls— erregtheit erjieht der Menſch in der Natur ein theilnefmenbes Weſen, wie fie denn in Wahrheit in dem Charakter ihrer Er:

Das Schaufpiel und das Weſen ber dramatiſchen Dichtlunft. 87

ſcheinung auch den Charakter der menſchlichen Stimmung ganz unausweichlich beftimmt. Nur bei voller egoiftifcher Mälte des Verſtandes vermag er fih ihrer unmittelbaren Einwirkung zu entziehen, wiewohl er ſich auch dann ſagen muß, daß ihr mittelbarer Einfluß ihm doch immer beftimmt. In großer Er- vegtheit giebt e3 für den Menfchen aber aud feinen Zufall mehr in der Begegnung mit natürlichen Erfpeinungen: die Auße⸗ rungen der Natur, die aus einem wohlbegründeten organifchen Zufammenhange von Erſcheinungen unfer gewöhnliches Leben mit ſcheinbarer Willkür berühren, gelten ung bei gleichgiltiger oder egoiftiich befaugener Stimmung, in ber wir entweder nicht Luſt oder nicht Zeit haben, über ihre Begründung in einem na- türlichen Bufammenhange nachzudenken, als Bufal, den wir je nad) der Abjicht unfere® menſchlichen Vorhabens als günftig zu verwenden oder als ungünftig abzuwenden und bemühen. Der Tieferregte, wenn er plöglih aus feiner inneren Stimmung zu der umgebenden Natur fich wendet, findet, je nad) ihrer Rund» gebung, entweder eine fteigernde Nahrung oder eine umwan— delnde Anregung für feine Stimmung in ihr. Yon wem er fi auf diefe Weife beherrſcht oder unterftügt fühlt, bem theilt er ganz in dem Maaße eine große Macht zu, ald er fich felbft in großer Stimmung befindet. Seinen eigenen empfundenen Zu- ſammenhang mit der Natur fühlt er unwilllürlich auch in einen großen Bufammenhange ber gegenwärtigen Naturerſcheinungen mit fi, mit feiner Stimmung, außgedrüdt; feine durch fie ge- nährte ober umgewandelte Stimmung erkennt er in der Natur wieder, die er fomit in ihren mächtigften Hußerungen fo auf ſich bezieht, wie er ſich durch fie beftimmt fühlt. In diefer von ihm empfundenen großen Wechſelwirkung brängen fid) vor feinem Gefühle der Erfcheinungen der Natur zu einer beftimmten Ge— ftalt zufammen, der er eine individuelle, ihrem Eindrude auf ihn und feiner eigenen Stimmung entjprechende Empfindung, und endlich auch ihm verftändlihe Organe, diefe Empfindung außzufprechen, beilegt. Ex ſpricht dann mit ber Natur, und fie antwortet ihm. Verſteht er in diefem Gefpräche die Natur nicht befier, als der Betrachter derſelben duch das Mikroſkop? Was verfteht diefer von der Natur, als Das, was er nicht zu verftehen braucht? Jener vernimmt aber Das von ihr, mad ihm in der höchſten Erregtheit feines Weſens nothwendig ijt und

88 Oper und Drama:

worin er die Natur nad) einem unendlich großen Umfange ver- fteht, und zwar gerade fo verfteht, wie der umfafjendite Ver— ftand fie fi nicht vergegenmwärtigen kann. Hier liebt der Menſch die Natur; er abelt jie und erhebt fie zur jympathetifchen Theilnehmerin an der höchſten Stimmung des Menfchen, deſſen phyſiſches Dafein fie unbewußt aus fi bebang.*)

Wollen wir nun das Werk des Dichter3 nad} deſſen höchſtem dentbarem Vermögen genau bezeichnen, fo müffen wir e8 den aus dem Marften menſchlichen Bewußtſein gerechtfer— tigten, der Anſchauung des immer gegenwärtigen Le— ben3 entfprechend neu erfundenen, und im Drama zur

verftändlidften Darftellung gebrachten Mythos nennen.

Wir haben und nur noch zu fragen, duch welche Aus— drudsmittel diefer Mythos am verftändlichjten im Drama darzuſtellen ift, und müffen Hierzu auf das Moment des ganzen Kunſtwerkes zurüdgehen, das es feinem Wefen nad) bedingt, und dieß ift die nothwendige Necdtfertigung der Hand— lung aus ihren Motiven, für bie fi der dichtende Verſtand an das unwillfürliche Gefühl wendet, um in. deſſen unerzwuns gener Mitempfindung dad Verjtändniß für fie zu begründen. Bir fahen, daß die, für das praftifche Verſtändniß nothwendige Verdichtung der mannigfaltigen, und in der realen Wirklichkeit unermeßlid weit verzweigten Handlungdmomente aus dem Ber- langen des Dichters bedingt war, einen großen Zuſammenhang von Erfcheinungen des menſchlichen Lebens darzuftellen, aus welchem einzig die Nothivendigfeit diefer Erſcheinungen begriffen werden kann. Diefe Verdichtung konnte er, um feinem Haupt: zwecke zu entiprechen, nur dadurch ermöglichen, daf er in die Motive der für die wirkliche Darftellung beftimmten Momente

*) Was find taufend ber ſchönſten arabiſchen Hengfte ihren Käufern, die fie auf englifhen Pferdemärkten nad ihrem Wuchle und ihrer nüglihen Eigenſchaft prüfen, gegen Das, was Jein Rob Zanthos dem Adhillens war, ald es ihn vor dem Tobe warnte? Wahrlich, ich taufche dieſes meifjagende Roß bed gätttigen Renners nit gegen Alexauder's Hochgebildeten Bukephalos, der befannt- lich ae Pierbeposträt des Apelles die Schmeichelei erwies, es ans zuwiehern

Das Schaufpiel und das Weſen ber bramatifhen Dichtkunſt. 89

der Handlung alle die Motive, die den ausgefchiedenen Hand⸗ Iungömomenten zu Grunde Iagen, mit aufnahm, und dieſe Aufs nahme dadurch vor dem Gefühle rechtfertigte, daß er fie als eine Berftärfung der Hauptmotive erjheinen ließ, die aus fich heraus wieder eine Verftärkung der ihnen entfprechenden Hand» Iungömomente bedangen. Wir fahen endlich, daß diefe Verftär- tung des Handlungsmomentes uur durch Erhöhung befjelben über das gewöhnliche menschliche Maaß, durch Dichtung des der menſchlichen Natur wohl vollfommen entfpredhenden, ihre Fähigfeiten aber in erregtefter, dem gewöhnlichen Leben uner- reichbarer Potenz fteigernden Wunder erreicht werden Tonnte, bes Wunders, welches nicht außerhalb des Lebens ftehen, ſondern gerade aus ihm nur fo Herborragen fol, daß es fich über dem gewöhnlichen Leben Hin kenntlich macht, und haben jegt und nur noch genan darüber zu verftänbigen, worin bie Verſtärkung der Motive beftehen ſoll, die jene Verftär- tung der Handlungsmomente aus ſich zu bedingen haben.

Was heißt in dem bargelegten Sinne „Verftärkung der Motive“?

Unmöglih kann hierunter wie wir bereit3 ſahen eine Häufung der Motive gemeint fein, weil diefe, ohne mögliche Außerung als Handlung, dem Gefühle unverſtändlich und felbſt dem Berftande wenn erflärlih doch ohne Rechtfertigung bleiben müßten. Diele Motive bei gedrängter Handlung künnen nur Hein, launenhaft und unwürdig erſcheinen, und unmöglich anders, als in ber Karikatur zu einer großen Handlung ver- wendet werden. Die Verftärfung eines Motive Tann daher nicht in einer bloßen Hinzufügung Meinerer Motive zu ihm be- ftehen, fonbern in dem vollkommenen Aufgehen vieler Motive in dieſes eine. Das verſchiedenen Menſchen zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Umſtänden eigene, und je nach dieſen Verſchiedenheiten ſich beſonders geſtaltende Intereſſe ſoll, ſobald dieſe Menfchen, Zeiten und Umſtände im Grunde von typiſcher Ähnlichkeit find, und an ſich eine Wefenheit der menſchlichen Natur dem befchauenden Bewußtfein deutlich machen, zu dem Interefje eines Menſchen, in einer bejtimmten Zeit und unter beftimmten Umftänden gemacht werden. Alles äußer- lich Verſchiedene fol in dem Intereſſe dieſes Menfchen zu einem Beitimmten erhoben werben, in welchem fi dad Intereſſe aber

90 Dper unb Drama:

nah feinem größten und erfchöpfendften Umfange kundgeben muß. Dieß heißt aber nichts Anderes, als diefem Intereſſe alles Bartikulariftiiche, Zufällige entuehmen, und es in feiner vollen Wahrheit als nothwendigen, rein menfchlihen Gefühlsauss drud geben. Eines ſolchen Gefühlsausdruckes ift der Menſch unfähig, der über fein nothwendiges Intereſſe mit ſich noch nicht einig ift; deſſen Empfindung nod nicht den Gegenftand gefun- den hat, der fie zu einer beftimmten, nothwendigen Äußerung drängt, fondern vor madhtlofen, zufälligen, unſympathetiſchen äußeren Erſcheinungen ſich nod in fich felbft zerfplittert. Tritt diefe machtvolle Erſcheinung aus ber Außenwelt aber an ihn hinan, die ihn entweber fo feindfelig fremd berührt, daß er feine volle Individualität zu ihrem Abſtoße von fih zuſammenballt, oder mit ſolcher Unwiderſtehlichkeit anzieht, daß er fich mit feiner ganzen Individualität in fie aufzugehen fehnt, fo wird auch fein Intereſſe bei vollfter Beftimmtheit ein jo umfangreiches, daß es alle feine fonftigen zerfplitterten, unkräftigen Jutereſſen in fi aufnimmt und ‚volftändig verzehrt.

Dad Moment diefer Verzehrung ift der Aft, den der Dichter vorzubereiten Hat, um ein Motiv der Art zu verftärken, daß aus ihm ein ftarfer Hanblungsmoment hervorgehen Tann; und dieſe Worbereitung ift daß Ießte Werk feiner gefteigerten Thätigeit. Bis Hierher reicht fein Organ, dad des dichtenden Berftandes, die Woriſprache, aus; denn biß hierher hatte er Interefien darzulegen, an deren Deutung und Geftaltung ein nothwendiges Gefühl noch feinen Antheil nahm, die aus ge gebenen Umftänden von Außen her verjdhiedenartig beeinflußt wurden, ohne daß hieraus nach Innen in einer Weiſe beſtim— mend eingewirkt ward, durch welche dad innere Gefühl zu einer nothmwendigen, wiederum nad) Außen beftimmenden, wahlloſen Thätigfeit gedrängt worben wäre. Hier orbnete noch der kom— binirende, in Einzelheiten zerlegende, oder dieſe und jene Ein— zelheit auf diefe oder jene Weife in einander fügende, Verftand; hier Hatte er nicht unmitelbar darzuftellen, fondern zu ſchil⸗ dern, Bergleihungen zu ziehen, Ähnliches durch Ähnliches be— greiflich zu machen, und hierzu reichte nicht nur fein Organ der Wortſprache aus, ſondern es war da einzige, duch das er ſich verſtändlich maden fonnte. Da, wo aber dad von ihm Vorbereitete wirklich werben fol, wo er nicht mehr zu ſondern

Das Schaufpiel und das Weſen ber dramatiſchen Dichttunſt. 91

und zu vergleichen, ſondern das alle Wahl Verneinende und dagegen ſich ſelbſt beſtimmt und unbedingt Gebende, das ent⸗ ſcheidende und bis zur entſcheidenden Kraft geſtärkte Motiv in dem Ausdrucke eines nothwendigen, gebieteriſchen Gefühles ſelbſt fi) Tundgeben laſſen will, da kann er mit ber nur ſchildernden, deutenden · Wortfprache ‚nicht mehr wirken, außer wenn er fie ebenfo fteigert, wie er dad Motiv gefteigert hat, und dieß vermag er nur durch diefen Erguß in die Ton» ſprache.

VI.

Die Tonſprache ift Anfang und Ende der Wortſprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verftanded, der Mythos Anfang und Ende der Geichichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtfunft ift. Die Vermittlerin zwiſchen Anfang und Mit- telpunft, wie zwifchen diefem und dem Ausgangepunfte, ift die Phantafie.

Der Gang dieſer Entwidelung ift aber ein ſoicher, daß er nicht eine Rückkehr, ſondern ein Fortſchtitt bis zum Gewinn der höchſten menſchlichen Fähigkeit ift, und nicht nur von der Menjch- heit im Allgemeinen, fondern von jedem fozialen Individuum dem Weſen nad durchſchritten wird.

Wie im unbewußten Gefühle alle Keime zur Entwideluug bes Verftandes, in dieſem aber. die Nöthigung zur Rechtfertigung

des unbewußten Gefühles Liegt, und erft der aus dem Verftande dieſes Gefühl vechtfertigende Menſch der vernünftige Menſch ift; wie in dem Durch die Gefchichte, die auf gleiche Weife aus ihm entftand, geredhtfertigten Mythos erft das wirklich verftänd- liche Bild des Lebens gewonnen wirb: jo enthält auch die Lyrik alle Keime der eigentlihen Dichtkunſt, die endlich nothwendig aur die Rechtfertigung der Lyrik außfprechen lann, und das Werk diefer Rechtfertigung ift eben das höchſte menfchliche Kunſt- wert, dad vollkommene Drama.

Das urfprünglichfte Außerungsorgan des inneren Menfchen ift aber die Tonſprache, als unwillkürlichſter Ausdrud bes von Außen angeregten inneren Gefühles. Eine ähnliche Aus— drudsweife, wie die, welche noch heute einzig den Thieren zu

92 Oper und Drama:

eigen ift, war jedenfall® auch die erſte menfchlide; und dieſe Tönnen wir und jeden Uugenblid ihrem Weſen nach bergegen- märtigen, jobald wir aus unfrer Wortfprache die ftumnen Mit- lauter ausſcheiden und nur noch die tönenden Laute übrig Laffen. In diefen Vofalen, wenn mir fie und von den Konfonanten ent= Heibet denken, und in ihnen allein den mannigfaltigen und ge= fteigerten Wechfel innerer Gefühle nad) ihrem verfchiedenartigen, ſchmerzlichen oder freudvollen Inhalte, kundgegeben vorſtellen, erhalten wir ein Bild von ber erſten Empfindungsiprache der Menſchen, in der fi) das erregte und gefteigerte Gefühl gewiß aur in einer Fügung tönender Ausdrud3laute mittheilen konnte, die ganz von felbft als Melodie ſich darftellen mußte. Dieſe Melodie, welche von entjprechenben Leibesgebärden in einer Weife begleitet wurde, daß fie felbit gleichzeitig wiederum nur als der entiprechende innere Ausdrud einer äußeren Kundgebung durch die Gebärbe erjchien, und deßhalb auch von der wechieln- den Bewegung diefer Gebärde ihr zeitliche Maaß im Rhyth— mus ber Art entnahm, daß fie e8 diefer wieder als melodifch gerechtfertigtes Maaß für ihre eigene Kundgebung zuführte, diefe rhythmiſche Melodie, die wir, in Betracht der unendlich größeren Vielſeitigkeit des menſchlichen Empfindungsvermögens gegenüber dem der Thiere, und namentlich auch deßhalb, weil fie eben in ber feinem Thiere zu Gebote ſtehenden —Wechſel⸗ wirkung zwiſchen dem inneren Ausdrude der Stimme und dem äußeren der Gebärbe*) fi) undenklich zu fteigern vermag, mit Unrecht nad) ihrer Wirkung und Schönheit gering anjchlagen würden, diefe Melodie war ihrer Entftehung und Natur nad) von fi) aus fo maafgebend für den Wortverd, daß dieſer in einem Grade aus ihr bedingt erfcheint, der ihn geradeweges ihr unterorbnete, wa3 ung heute noch aus der genauen Betrachtung jebe3 ächten Volksliedes einleuchtet, in welchem wir den Worts vers deutlich aus der Melodie bedingt erkennen, und zwar fo, daß er fich ben ihr eigenthümlichften Anordnungen, auch für den Sinn, oft vollfommen zu fügen hat.

Diefe Erſcheinung zeigt uns fehr erklärlich die Entftehung

) Das Thier, das feine Empfindung am melodiſcheſten aus« brüdt, der Waldvogel, ift ohne alles Vermögen, feinen Geſang durch Gebärben zu begleiten.

Das Schaufpiel und das Weſen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 93

der Sprader). Im Worte fucht fi der tönende Laut der reinen Gefühlsfprache ebenfo zur kenntlichen Unterſcheidung zu bringen, als das innere Gefühl die auf die Empfindung ein wirkenden äußeren Gegenftände zu unterfcheiben, ſich über fie mitzutheilen, und endlich den inneren Drang zu dieſer Mitthei- lung jelbft verftändlich zu machen fucht. In der reinen Ton— ſprache gab das Gefühl bei der Mittheilung des empfangenen Eindrudes nur fi felbft zu verſtehen, und vermochte dieß, unterftüßt bon der Gebärde, durch die mannigfaltigfte Hebung und Senkung, Ausdehnung und Kürzung, Steigerung und Ab- nahme der tünenden Laute: um aber die äußeren Gegenftänbe nad) ihrer Unterfcheibung felbft zu bezeichnen, mußte das Gefühl auf eine dem Eindrude des Gegenftandes entiprechende, biefen Eindrud ihm vergegenwärtigende Weife den tönenden Laut in ein unterſcheidendes Gewand Heiden, das es dieſem Eindrude und in ihm fomit dem Gegenftande felbft entnahm. Dieſes Ge— wand wob fie aus ftummen Mitlautern, die es als Un- oder Ablaut ober auch aus beiden zufammen dem tönenden Laute fo anfügte, daß er von ihnen in der Weife umfchlofien, und zu einer beftimmten, unterfcheidbaren Kundgebung angehalten wurde, wie der unterfchiebene Gegenftand fich felbft nach Außen durch ein Gewand das Thier durch fein Zell, ber Baum durch feine Rinde u. |. w. als ein befonderer abſchloß und kundgab. Die fo beffeideten und durch diefe Bekleidung unterjchiebenen Vokale bilden die Sprahmurzeln, aus deren Fügung und Bufammenftellung das ganze ſinnliche Gebäude unferer unenb- lich verzweigten Wortjprache errichtet ift.

Beachten wir zunächft aber, mit welch’ großer inftinftiver Vorſicht ſich diefe Sprache nur ſehr allmählich von ihrer näh— renden Mutterbruft, der Melodie, und ihrer Milch, dem tönen-

. ben Laute, entfernte. Dem Weſen einer ungefünftelten An— ſchauung der Natur, und dem Verlangen nad; Mittheilung der Eindrüde einer folden Anfhauung entſprechend, ftellte bie Sprache nur Verwandtes und Ähnliches zufammen, um in diefer Bufammenftellung nicht nur dad Verwandte durch feine Ühn-

*) Ich denke mir bie Entftehung der Sprache aus ber Melodie zit in einer chronologiſchen folge, jondern in einer architektoniſchen rdnung.

94 Oper und Drama:

lichkeit deutlich zu maden und das Ähnliche durch feine‘ Ver- wandtſchaſt zu erflären, fonderg aud, um durch einen Ausdruck, der auf Ähnlichkeit und Verwandtſchaft feiner eigenen Momente fi ftüßt, einen defto beftimmteren unb verftändliheren Eindrud auf daß Gefühl Hervorzubriugen. Hierin äußerte ſich die ſinnlich dichtende Kraft der Sprache: fie war zur Bildung unterjchie- dener Wusdrudsmomente in ben Sprachwurzeln dadurch gelangt, daß fie den im bloßen fubjeftiven Gefühldausdrude auf einen Gegenstand nad) Maaßgabe feines Eindruckes verwen⸗ beten tönenden Laut in ein umgebendes Gewand ftummer Laute gelleidet Hatte, welches dem Gefühle als objeftiver Ausdruck des Gegenſtandes nad) einer ihm felbft entnommenen Eigenfchaft galt. Wenn die Sprade nun folhe Wurzeln nad) ihrer Ühn- lichkeit und Verwandtſchaft zufammenftellte, fo verbeutlichte fie dem Gefühle in gleichem Maaße den Eindrud der Gegenftände, wie. den ihm entiprechenden Ausdruck durch gefteigerte Verſtär⸗ fung dieſes Ausdrudes, durch welche fie den Gegenftand felbft wiederum als einen verftärkten, nämlich als einen an ſich viel» fachen, feinem Wefen nad) durch Verwandtſchaft und Hhnlichteit aber einheitlichen bezeichnete. Dieſes bichtende Moment der Sprade ift die Alliteration oder der Stabreim, in dem wir die urältefte Eigenſchaft aller Dichterifchen Sprache er

Tennen. J Im Stabreime werden die verwandten Sprachwurzeln in der Weiſe zu einander gefügt, daß ſie, mie fie ſich dem finn- lichen Gehöre als ähnlich lautend darftellen, auch ähnliche Gegen- ftände zu einem Gefammtbilde von ihnen verbinden, in welchem . das Gefühl ſich zu einem Abſchluſſe über fie Außern will. Ihre ſinnlich keuntliche Ähnlichleit gewinnen fie entweder aus der Verwandtſchaft ber tönenden Laute, zumal wenn fie ohne Ton- fonirenden Anlaut nad) vorn offen ftehen*); oder auß der Gleich» heit dieſes Anlautes ſelbſt, der fie eben ais ein dem Gegenſtande entfprechendes Beſonderes charakterifit**); oder aud aus der Gleichheit -deö, die Wurzel nad Hinten jchließenden Ablautes (als Afjonanz), fobald in diefem Ablaute bie individualifirende Kraft Tiegt***). Die Vertheilung und Unordnung diefer id

*) „Erb’ und eigen.“ „Immer und ewig.” * „Rob und Reiter.“ „Froh und frei.“ **e) „Hand und Mund.” Recht und Pflicht.“

Das Schaufpiel und das Wejen der dramatiſchen Dichtkunft. 95

reimenden Wurzeln geſchieht nach ähnlichen Gefegen wie die, welche und nach jeder künftlerifchen Richtung Hin in der für dad Verftändniß nothwendigen Wiederholung derjenigen Mo- tive beftimmen, auf die wir ein Hauptgewicht legen, und die wir deßhalb zmifchen geringeren, von ihnen ſelbſt wiederum ber dingten Motiven fo aufitellen, daß fie ald die bebingenden und mefendaften lenntlich erſcheinen.

Da ich mir vorbehalten muß, zum Zweck der Darlegung der möglichen Einwirkung des Stabreimes auf unſere Muſil zu diefem Gegenftande felbft näher zurüchzukehren, begnüge ich mich jetzt nur darauf aufmerkſam zu machen, in welchen bedingten Verhältniſſe der Stabreim und der durch ihn abgeſchloſſene Worwers zu jener Melodie ſtand, die wir als urſprünglichſte Kımdgebung eines mannigfaltigeren, in feiner Mannigfaltigkeit ſich aber wieder zur Einheit abfchließenden menſchlichen Ge fühles zu verftehen haben. Wir haben nicht nur den Wortvers feiner Ausdehnung nach, ſondern aud) den feine Ausdehnung beftimmenden Stabreim feiner Stellung und überhaupt feiner Eigenfhaft nad, uns nur aus jener Melodie zu erflären, die in ihrer Kundgebung wiederum nad) der natürlichen Fähigkeit bes menſchlichen Athemd, und nad; ber Möglichkeit des Herbor- bringens ftärterer Betonungen in einem Athem bedingt war. Die Dauer einer Ausftrömung des Athemd durch das Sing- organ beftimmte die Ausdehnung eines Abfchnittes der Melodie, in welchem ein beziehungsvoller Theil derjelben zum Abſchluſſe Tommen mußte. Die Möglichkeit biefer Dauer beftimmte aber auch die Zahl der befonberen Betonungen in dem melodijchen Abjcnitte, die, waren bie befonderen Betonungen von leiden- ſchaftlicher Stärke, wegen bes fehnelleren Verzehrens bed Athems durch fie, vermindert, ober. erforberten dieſe Betonungen bei minderer Stärke einen ſchnelleren Athemverbrauch nicht, ver- mehrt wurde. Diefe Betonungen, die mit der Gebärde zuſammen⸗ fielen und durch fie fi zum rhythmiſchen Maaße fügten, ver- dichteten fich ſprachlich in die ftabgereimten Wurzelwörter, deren Zahl und Stellung fie jo bebangen, wie der dur den Athem bedingte melodiſche Abſchnitt die Länge und Ausdehnung des Verſes beftimmte. Wie einfach ift die Erflärung und das Verſtändniß aller Metrik, wenn wir uns die vernünftige Mühe geben, auf die natürlichen Bedingungen alles menſchlichen Kunft-

96 Oper und Drama:

vermögens zurüdzugehen, auß denen wir auch einzig wieder nur zu wirklicher Kunftproduftivität gelangen Können!

Verfolgen wir für jet aber nur den Entwidelungsverlauf der Wortjprade, und verjparen wir es und, auf die von ihr verlafjene Melodie fpäter zurüdzufommen.

Ganz in dem Grade, als das Dichten aus einer Thätigkeit des Gefühles zu einer Angelegenheit bed Verſtandes wurde, löſte fi) der in der Lyrik vereinigte urjprüngliche und ſchöpferiſche Bund der Gebärden-, Ton- und Wortfprache auf; die Wort» ſprache war das Kind, das Vater und Mutter verließ, um in der weiten Welt ſich allein fortzuhelfen. Wie ſich vor dem Auge des heranwachfenden Menfchen die Gegenftände und ihre Beziehungen zu feinem. Gefühle vermehrten, jo häuften ſich die orte und Wortverbindungen der Sprache, die den vermehrten Gegenftänden und Beziehungen entiprechen follten. So lange hierbei der Menſch die Natur noch im Auge behielt, und mit dem Gefühle fie zu erfaſſen vermochte, fo lange erfand er auch noch Sprachmurzeln, die den Gegenftänden und ihren Beziehun- gen charakteriftiich entfprachen. Als er diefem befruchtenben Duelle feine Sprachvermögens im Drange de3 Lebens aber end- lich den Rüden kehrte. da verdorrte auch feine Erfindungskraft, und er hatte fich mit dem Vorrathe, der ihm jet zum übermachten Erbe geworden, nit aber mehr ein immer neu zu erwerbender Befig war, in der Weife zu begnügen, daß er die ererbten Sprach- wurzeln nad) Bebürfniß für außernatürliche Gegenftände doppelt und dreifach zufammenfügte, um diefer Bufammenfügung willen fie wieber kürzte und zur Unfenntlichfeit namentlich auch dadurch entftellte, daß er den Wohllaut ihrer tönenden Wofale zum haſtigen Sprachklange verflüchtigte, und durch Häufung der, für die Verbindung unverwandter Wurzeln nöthigen, ftummen Laute das Iebendige Fleiſch der Sprache empfindlich verbörrte. Als die Sprache fo das, nur duch das Gefühl zu ermöglichende, un: willkürliche Verftändniß ihrer eigenen Wurzeln verlor, konnte fie in diefen natürlich auch nicht mehr den Betonungen jener nährenden Muttermelodie entſprechen. Sie begnügte ſich, ent weder da, wo wie im griechiſchen Alterthum der Tanz

Das Schaufpiel und das Befen ber dramatifhen Dichtkunſt. 97

ein unvermißlicher Theil der Lyrik blieb, fo lebhaft wie möglich der Rhythmik der Melodie fi anzufchmiegen, oder fie fuchte da, wo wie bei den modernen Nationen der Tanz fih immer vollitändiger von ber Lyrik ausſchied, nad) einem anderen Bande für ihre Verbindung mit den melodifchen Athemabfägen, und verſchaffte fich dieß im Endreime.

Der Endreim, auf den wir wegen feiner Stellung zu uns ferer Muſik ebenfalls zurückkommen müffen, ftellte fi am Aus— gange des melodifchen Abſchnittes auf, ohne den Betonungen ber Melodie felbft mehr entiprechen zu können. Er knüpfte nicht mehr das natürliche Band der Ton- und Wortſprache, in wel chem der Stabreim wurzelhafte Verwandtſchaften zu den melo- difchen Betonungen für den äußeren und inneren Sinn verſtänd⸗ lich vorführte, ſondern er flatterte nur loſe am Ende der Bänder der Melodie, zu welcher der Wortvers in eine immer willfür- lichere und unfügfamere Stellung gerieth. Je verwidelter und vermittelnber aber enblich die Wortfprache verfahren mußte, um Gegenftände und Beziehungen zu bezeichnen, die nur der geſellſchaftlichen Konvention, nicht aber der ſich ſelbſt beftimmen- den Natur der Dinge angehörten; je mehr die Sprache bemüht fein mußte, Bezeichnungen für Begriffe zu finden, die, an fich von natürlichen Erfcheinungen abgezogen, wieder zu Kombi— nationen biefer Abſtraktionen verwandt werben follten; je mehr fie hierzu die urfprüngliche Bedeutung der Wurzeln zu doppelt und dreifacher, künftlich ihnen untergelegter, nur noch zu den— tender, nicht mehr zu fühlender, Vebeutung binauffchrauben mußte, und je umftänblicer fie fi) den mechanifchen Apparat herzuftellen hatte, der diefe Schrauben und Hebel bewegen und ftügen follte: defto mwiberfpenftiger und fremder ward fie gegen jene Urmelodie, an die fie endlich jelbft die entferntefte Erinne- rung verlor, als fie fi athem- und tonlos in da8 graue Ge— wühl der Profa ftürzen mußte.

Der buch die Phantafie aus dem Gefühle verdichtete Ver» ftand gewann in der profaijchen Wortſprache ein Organ, durch welches er allein, und zwar ganz in bem Grabe fich verftänblich machen konnte, in welchem fie dem Gefühle unverftändlich ward. In der modernen Proja fprechen wir eine Sprache, die wir mit dem Gefühle nicht verftehen, deren Zufammenhang mit den Ges genftänden, die durch ihren Eindrud auf ung die erbung der

Richard Wagner, Gel Schriſten IV.

98 Oper und Drama:

Sprahwurzeln nad) unferem Vermögen bedang, uns unfenntlich geworden ift; die wir fprechen, wie fie und von Jugend auf ge: lehrt witb, nicht aber wie wir fie bei erwachfender Selbftändig- keit unferes Gefühles etwa aus und und den Gegenftänden felbft begreifen, nähren und bilden; deren Gebräuchen und auf Die Logik des Verſtandes begründeten Forderungen wir unbedingt gehorchen müffen, wenn wir und mittheilen wollen. Diefe Sprache berußt dor unferem Gefühle jomit auf einer Konvention, bie einen beftimmten Bwed hat, nämlich nach einer beftimmten Norm, in der wir denken und unfer Gefühl beherrfchen follen, ung in der Weife verftändlich zu machen, daß wir eine Abfiht des Verftandes an den Verftand darlegen. Unfer Gefühl, das fich in der urjprünglichen Sprache unbewußt ganz von felbjt aus— drückte, können wir in dieſer Sprache nur befchreiben, und zwar auf noch bei Weitem umftänblichere Weife, als einen Gegenſtand des Verftandes, weil wir auß unferer Verftandesfprache auf eben die fomplizirte Weife und zu ihrem eigentlichen Stamme Hinab= ſchrauben müffen, wie wir zu ihr uns von biefem Stamme Binaufgefchraubt haben. Unfere Sprache beruft demnach auf einer religidß=ftantlich-hiftorifchen Konvention, die unter der Herrſchaft der perfonifizirten Konvention, unter Ludwig XIV., in Frankreich fehr folgerichtig von einer Akademie auf Befehl aud al gebotene Norm feitgeftellt ward. Auf einer ftet3 leben⸗ digen und gegenwärtigen, wirklich empfundenen Überzeugung beruht fie dagegen nicht, fondern fie ift das angelernte &egen- theil diefer Überzeugung. Wir fönnen nad) unferer innerften Empfindung in diefer Sprache gewiſſermaßen nicht mitſprechen, denn es ift uns unmöglich, nad; dieſer Empfindung in ihr zu erfinden; wir Können unfere Empfindungen in ihr nur bem Zerftande, nicht aber dem zuderfichtlich verftehenden Gefühle mit- theilen; und ganz folgerichtig fuchte fi daher in unferer mo- dernen Entwidelung dad Gefühl aus der abfoluten Berftandes- ſprache in die abfolute Tonſprache, unfere Heutige Muſik, zu flüchten. "

In der modernen Sprahe kann nicht gebichtet werden, d. h. eine dichteriſche Abficht kann in ihr nicht verwirklicht, fondern eben nur als ſolche ausgefprochen werden.

Das Schaufpiel und daB Weſen ber dramatiſchen Dichtkunſt. 99

Die dichteriſche Abficht ift nicht eher verwirklicht, als bis fie aus dem Verftande an das Gefühl mitgetheilt ift. Der Ver— ftand, der nur eine Abficht mittheilen will, die in der Sprache des BVerftandes volfftändig mitzutheilen ift, läßt fich nicht zu einer dichterifchen, d. h. verbindenden, Abſicht an, fondern feine Abſicht ift eine zerſetzende, auflöfende. Der Verſtand dichtet nur, wenn er das Zerftreute nach feinem Bufammenhange erfaßt, und dieſen Bufanmenhang zu einem unfehlbaren Ein— drude mittheilen wil. Ein Zufammenhang ift nur von einem, dem Gegenftande und der Abficht entfprecyenden, entfernteren Stanbpuntte aus überjichtlich wahrzunefmen; dad Bild, dad ſich jo dem Auge darbietet, ift nicht die reale Wirklichkeit des Gegenſtandes, fondern nur die Wirklichkeit, die diefem Auge als Bufammenhang erfaßbar ift. Die reale Wirklichkeit vermag nur ber löſende Verſtand nad) ihren Einzelheiten zu erkennen, und durch fein Organ, die moderne Verftandesfprache, mitzu— theilen; die ideale, einzig verftänbliche Wirklichkeit vermag nur der dichtende Verftand als einen Bufammenhang zu verftehen, fann fie aber verftändlih nur durch ein Organ mittheilen, das dem verdichteten Gegenftande als ein verdichtendes auch darin entipricht, daß es ihn dem Gefühle am verftänblichften mittheilt. Ein großer Bufammenhang von Erfcheinungen, aus welchem dieſe als einzelne allein erflärbar waren, ift wie wir ſahen nur durch Verdichtung diefer Erfcheinungen barzuftellen; diefe Ver— dichtung Heißt für Die Erfcheinungen des menſchlichen Lebens Vereinfachung, und um dieſer willen Verſtärkung der Hand- lungsmomente, die wieberum nur auß verftärkten Motiven her- vorgehen konnten. Ein Motiv verftärft ſich aber nur durch Aufs gehen der in ihm enthaltenen verſchiedenen Verſtandesmomente in ein entſcheidendes Gefühls moment, zu beffen überzeugender Mittheilung der Wortdichter nur durch das urfprünglihe Organ de3 inneren Seelengefühles, die Tonfprade, gelangen kann.

Der Dichter müßte feine Abficht aber unverwirklicht fehen, wenn er fie dadurch unverhüllt aufdedte, daß er erft im Augen- blide der höchften Noth zu dem erlöfenden Ausbrude der Ton- ſprache griffe. Wollte er erft da, wo als vollendetſter Ausdruck des gefteigerten Gefühles die Melodie einzutreten hat, die nadte Wortſprache zur vollen Tonſprache umftimmen, fo würde er Verftand und Gefühl zugleich in die Höchfte Verwirrung ftürzen,

7%

Mil

100 Oper und Drama:

aus der er beide nur durch das unverholenſte Auſdecken feiner Abficht wieder reifen könnte, alfo dadurch, daß er das Vor— geben des Kunſtwerkes offen wieber zurücknähme, d. 5. an den Verſtand feine Abficht als folche, an das Gefühl aber einen durch die Abficht nicht beftimmten, zerfließenden und überflüfjigen Ge— fühlsausdruck, den unferer modernen Oper, mittheilte. Die fer- tige Melodie ift dem Verſtande, der bis zu ihrem Eintritte einzig, und felbft auch für die Deutung erwachſender Gefühle, befchäf- tigt geweſen wäre, unverſtändlich; er kann nur in dem Verhält- niffe an ir theilnehmen, als er jelbft in das Gefühl übergegan- gen ift, welches in feiner wachfenden Erregung bis zur Vollendung feines erfchöpfendften Ausdrudes gelangt. An dem Wachſen die- ſes Ausdrudes bis zu feiner höchſten Fülle Tann ber Berftand nur don dem Augenblide an theilnehmen, wo er auf ben Boden des Gefühles tritt. Diefen Boden betritt der Dichter aber mit Beitimmtheit von da an, wo er fich aus der Abſicht des Drama’s zu deren Verwirklichung anläßt, denn das Verlangen nad) biefer Verwirklichung ift in ihm bereit3 die nothwendige und drängende Erregung deſſelben Gefühles, an daS er einen gedachten Ge— genftand zum ficheren, erlöfenden Verſtändniſſe mittheilen will. Seine Abfiht zu verwirffichen kann der Dichter erft von dem Augenblide an hoffen, wo er fie verſchweigt und ala Geheim- niß für ſich behält, d. h. fo viel, al3 wenn er fie in ber Sprache, in der fie als nadte Verftandesabficht einzig mitzutheilen wäre, gar nicht mehr außfpricht. Sein erlöfendes, nämlich verwirk- lichendes, Werk beginnt erft von da an, wo er in ber erlöfenden und verwirffihenden neuen Sprache ſich fundzugeben vermag, in ber er ſchließlich ben tiefiten Inhalt feiner Abſicht am über- zeugendften einzig auch kundthun Tann, alfo von da an, wo dad Kunſtwerk überhaupt beginnt, und das ijt von dem erften Auftritte des Drama’ an.

Die von vornherein anzuftimmende Tonfprade ift daher dad Ausdrudsorgan, durch welches der Dichter ſich ver- ftänblich machen muß, der ſich aus dem Verftande an das Ge- fühl wendet, und Hierfür fih auf einen Boden zu ftellen Hat, auf dem er einzig mit dem Gefühle verkehren kann. Die von dem dichtenden Verſtande erjehenen verftärkten Handlungsmomente Tonnen, ihrer nothwendig verftärften Motive wegen, nur auf einem Boben zu verftändlicher Erſcheinung kommen, der an und

Das Schaufpiel und das Weſen ber dramatifhen Dichtkunſt. 101

für fi ein über das gemöhnliche Leben und feinen üblichen Aus- drud erhobener ift, und fo über den Boden des gewöhnlichen Ausdrude3 hervorragt, wie jene verftärkten Geftalten und Mo— tive über die des gewöhnlichen Lebens hervorragen ſollen. Diefer Ausdrud kann aber ebenfo wenig ein unnatürlicher fein, als jene Handlungen und Motive unmenfchlihe und unnatirlihe fein dürfen. Die Geftaltungen des Dichterd haben dem wirklichen Leben injofern vollkommen zu entiprechen, als fie diefe nur in feinem gedrängteften Bufammenhange und in der Kraft feiner höchſten Erregtheit darftellen follen, und jo fol daher auch ihr Ausbrud nur der de3 erregteften menschlichen Gefühles, nach feinem höchſten Vermögen für die Kundgebung, fein. Unnatürs li müßten die Geftalten des Dichterd aber erfcheinen, wenn fie, bei höchfter Steigerung ihrer Handlungsmomente und Motive, diefe durch das Organ des gewöhnlichen Lebens kundgäben; un- verftändlich und lächerlich jedoch jogar, wenn fie abwechſelnd fich dieſes Organes und jened ungewöhnlich erhöhten bebienten; ebenfo wie wenn fie vor unferen Augen den Boden des gewöhn⸗ lichen Lebens abwechſelnd mit jenem erhöhten des dichteriſchen Kunſtwerkes vertaufchten *).

Betrachten wir die Thätigfeit des Dichter8 nun näher, fo fehen wir, daß die Verwirklichung feiner Abficht einzig darin be— fteht, die Darftellung der verftärkten Handlungen feiner gebich- teten Geftalten durch Darlegung ihrer Motive an dad Gefühl, und dieſe wieder durch einen Ausdrud zu ermöglichen, der in- fofern feine Thätigfeit einnimmt, als die Erfindung und Herftellung dieſes Ausdrudes in Wahrheit erſt die Vorführung jener Motive und Handlungen möglich madt.

Diefer Ausdrud ift fomit die Bedingung der Verwirk- lichung feiner Wbficht, die ohne ihm nie aus dem Bereiche des Gedankens in dad der Wirflichfeit zu treten vermag. Der hier einzig ermöglichende Ausdruck ift aber ein durchaus anderer, als der de3 Sprachorganes des dichterifhen Verſtandes felbft.

*) Hierin hat in Wahrheit ein überwiegend wichtiges Moment unferer modernen Romit beitanden.

102 Oper und Drama:

Der Berftand ift daher von der Nothwendigkeit gebrängt, ſich einem Elemente zu vermählen, welches feine bichterifche Abficht als befruchtenden Samen in fi) aufzunehmen, und diefen Samen durch fein eigenes, ihm nothwendiges Wefen fo zu nähren und zu geftalten vermöge, daß es ihn als verwirflichenden und er- Töfenden Gefühlsausbrud gebäre. .

Dieſes Element ift dafjelbe weibliche Mutterelement, aus deſſen Schooße, dem urmelodiſchen Ausdrucksvermögen als es von dem außer ihm liegenden natürlichen, wirklichen Gegen- ftande befruchtet ward, das Wort und die Wortfprache fo her— vorging, wie der Verftand aus dem Gefühle erwuchs, der fomit die Verdichtung diefes Weiblihen zum Männlichen, Mitthei- Tungsfähigen ift. Wie der Verftand nun wiederum das Gefühl zu befruchten hat, wie es ihn bei diefer Befruchtung drängt, fich von dem Gefühle umfaßt, in ihm ſich gerechtfertigt, von ihm ſich wiebergefpiegelt, und in dieſer Wiederſpiegelung fich ſelbſt wiebererfennbar, d. 5. fi überhaupt erkennbar, zu finden, fo drängt e8 das Wort dad Verftandes, fi im Tone wieder zu erkennen, die Wortſprache in der Tonſprache fich gerechtfertigt zu finden*). Der Reiz, der diefen Drang erivedt und zur höch⸗ ften Erregtheit fteigert, Tiegt außerhalb des Gedrängten in dem Gegenftande feiner Sehnfucht, der ſich ihm zuerſt durch die Phan- tafie die allmächtige Vermittlerin zwiſchen Verſtand und Ge— fühl in feinem Reize vorftellt, an dem er fich aber erft befrie- digen Tann, wenn er fi) in jeine volle Wirklichkeit ergießt. Diefer. Neiz ift die Einwirkung des „ewig Weiblichen“, die ben egoifti« ſchen männlichen Verſtand aus fi Herauslodt, und felbjt nur dadurch möglich ift, daß das Weibliche das ſich Verwandte in ihm anregt: das, wodurch der Verjtand dem Gefühle aber ver- wandt äft, ift das Reinmenfchliche, das, mas das Wefen der menſchlichen Gattung, als folder, ausmacht. An diefem Rein- menſchlichen nährt fi da8 Männliche wie das Weibliche, das durch die Liebe verbunden erft Menſch ift.

Der nothwendige Drang des dichtenden Verſtandes in Dies jem Dichten ift daher die Liebe, und zwar bie Liebe des

te es mir trivial ausgelegt werben können, wenn id hier mit Bezug auf meine Darfelin des betreffenden Mythos an Oidipus erinnere, der bon Sotafe geboren war, und mit Jotaſte die Erlöferin Untigone erzeugte? .

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Zukunft. 103

Mannes zum Weibe: nicht aber jene frivole, unzüchtige Liebe, in welcher der Mann nur fi durch einen Genuß befriedigen will, fondern die tiefe Sehnſucht, in der mitempfundenen Wonne bes Liebenden Weibes fich aus feinem Egoismus erlöft zu wiſſen; und diefe Sehnſucht iſt das dichtende Moment des Ver- ſtandes. Das nothwendig aus ſich zu Spendende, der nur in der brünſtigſten Liebeserregung aus ſeinen edelſten Kräften ſich verdichtende Samen der ihm nur aus dem Drange, ihn von fich zu geben, d. h. zur Befruchtung ihn mitzutheilen, erwächſt, ja an ſich dieſer gleichſam verkörperlichte Drang ſelbſt iſt dieſer zeugende Samen iſt die dichteriſche Abſicht, die dem herrlich liebenden Weibe Muſik den Stoff zur Gebärung zuführt.

Belauſchen wir nun den Alt der Gebärung dieſes Stoffes.

Dritter Theil.

Dichtkunſt und Tonknnſt im

Drama der Zukunft. L

Der Dichter Hat bisher nach zwei Seiten hin verfucht, das Dr gan des Verſtandes, die abfolute Wortiprache, zu dem Gefühls- ausbrude zu ftimmen, in welchem es ihm zur Mittheilung an das Gefühl behilflich fein follte: Dusch dad Versmaaß nad der Seite der Rhythmik, duch den Endreim nad) ber Seite der Melodik hin.

Im Versmaaße bezogen fi die Dichter des Mittelalters mit Beitimmtheit noch auf die Melodie, ſowohl was die Zahl der Sylben, als namentlich was die Betonung betraf. Nach— dem die Abhängigkeit des Verſes von einer ftereotypen Melodie, mit ber er nur noch durch ein rein äußerliches Band zufammen- hing, zu knechtiſcher Pebanterie ausgeartet war wie in den

104 Dper und Drama!

Schulen der Meifterfinger —, wurde in neueren Beiten aus der Profa heraus ein von irgend welcher wirklicher Melodie gänz- lich unabhängiges Versmaaß dadurch zu Stande gebradt, daß man den rhythmiſchen Versbau der Lateiner und Griechen fo wie wir ihn jet in der Litteratur dor Mugen haben zum Mufter nahm, Die Verfuhe zur Nahahmung und Aneignung dieſes Muſters knüpften fich zunähft an das Verwandteſte an, und fteigerten fi) nur jo allmählich, daß wir des Hier zu Grunde liegenden Irrthumes erft dann vollftändig gewahr werden fonn- ten, al3 wir auf ber einen Seite zu immer innigerem Berftänd- niß der antifen Rhythmik, auf der anderen Seite, durch unfere Verſuche fie nachzuahmen, zu der Einficht der Unmöglichkeit und Sruchtlofigfeit diefer Nachahmung gelangen mußten. Wir wifjen jeßt, daß das, was die unenblihe Mannigfaltigfeit der griechie ſchen Metrif erzeugte, die unzertrennliche lebendige Bufammen- wirkung der ZTanzgebärde mit der Ton-Wortfpradhe war, und alle Hieraus Hervorgegangenen Versformen nur durch eine Sprache fi bedangen, welche unter diefer Zuſammenwirkung fich gerade jo gebildet Hatte, daß wir aus unferer Sprache Heraus, deren Bildungsmotiv ein ganz anderes war, fie in ihrer rhythmiſchen Eigenthümlichkeit faft gar nicht begreifen können.

Das Beſondere der griechiichen Bildung ift, daß fie der rein leiblichen Erſcheinung des Menfchen eine jo bevorzugenbe Aufmerkfamfeit zuwandte, daß wir diefe als die Baſis aller grie= chiſchen Kunft anzufehen haben. Das Iyrifche und dad dramar tifche Kunſtwerk war die duch die Sprache ermöglichte Vergeiſti— gung der Bewegung biefer leiblichen Erfcheinung, und die monu= mentale bildende Kunſt endlich ihre unverholene Vergötterung. Zur Ausbildung der Tonkunft fühlten fi die Griechen nur fo weit gedrungen, al3 fie zur Unterftüung ber Gebärde zu dienen hatte, deren Inhalt die Sprade an fich fehon melodiſch aus- drüdte. In ber Begleitung der Tanzbewegung durch bie tönende Wortſprache gewann dieſe ein fo feites proſodiſches Maaß, d. 5. ein fo beftimmt abgemogenes, rein finnliche8 Gewicht für die Schwere und Leichtheit der Sylben, nach welchem ſich ihr Ver- hältniß zu einander in ber Beitdauer orbnete, daß gegen bieje rein finnlie Beſtimmung (die nicht willkürlich war, ſondern auch für die Sprache von der natürlichen Eigenſchaft der tünens den Laute in den Wurzeliglben, oder der Stellung biefer Laute

Diätkunft und Tonkunſt im Drama ber Zukunft. 105

zu verſtärkten Mitlautern fich herleitete) ber unwillkürliche Sprachaccent, durch welchen auch Sylben Herborgehoben wer« den, denen das finnlihe Gericht Feine Schwere zutheilt, fogar zurüdzuftehen Hatte, eine Burüdftellung im Rhythmos, die jedoch die Melodie durch Hebung des Sprachaccented wieder aus⸗ glich. Ohne diefe verfühnende Melodie find num aber die Metren bes griechiſchen Versbaues auf uns gelommen (wie die Ardi- tektur ohne ihren einftigen farbigen Schmud), und den unend⸗ lich mannigfaltigen Wechjel diefer Metren felbft können wir ung wieberum noch weniger aus dem Wechfel ber Tanzbewegung er⸗ Hären, weil wir diefe eben nicht mehr vor Augen, wie jene Melodie nicht mehr vor Ohren haben. Ein unter folgen Um- ftänden von der griechiichen Metrik abſtrahirtes Versmaaß mußte daher alle denkbaren Widerfprüche im fi) vereinigen. Zu feiner Nachahmung erforderte es vor Allem einer Veftimmung unferer Sprachſylben zu Längen und Rürzen, die ihrer natürlichen Be— Ichaffenheit durchaus zuwider war. In einer Sprache, bie fich bereit8 zu vollſter Profa aufgelöft hat, gebietet Hebungen und Senkungen des Sprachtoned nur noch der Accent, den wir zum med der Verftändlihung auf Worte oder Sylben legen. Diefer Accent ift aber durchaus nicht ein für ein- und allemal giltiger, wie das Gewicht der griechiichen Profodie ein für alle Fälle giltiges war; fondern er wechſelt ganz in dem Mane, als dieſes Wort oder diefe Sylbe in der Phrafe, zum Zwecke der Verſtändlichung, von ftärkerer oder ſchwächerer Be— deutung ift. Ein griechiſches Metron in unferer Sprache nadj- bilden fönnen wir nur, wenn wir einerfeit3 ben Accent willkür— lich zum profodifchen Gewichte umftempeln, oder andererfeit3 den Vccent einem eingebildeten profobifchen Gewichte auf- opfern. Bei ben bisherigen Verſuchen ift abwechſelnd Beides geſchehen, fo daf die Verwirrung, welche ſolche rhythmiſch fein ſollende Verſe auf das Gefühl hervorbrachten, nur durch will- türliche Anordnung des Verſtandes geſchlichtet werden konnte, der fi das griechiſche Schema zur Verſtändlichung über den Wortvers ſetzte, und durch dieſes Schema fi ungefähr Das fagte, was jener Maler dem Beichauer feines Bildes fagte, unter daß er die Worte gefchrieben Hatte: „dieß ift eine Kuh“.

Wie unfähig umfere Sprache zu jeder rhythmiſch genau beftimmten Kundgebung im Berfe ift, zeigt ſich am erfichtlichften

106 Oper und Drama:

in dem einfachften Versmaaße, in das fie ſich zu Heiden gewöhnt hat, um fo beſcheiden wie möglid fi) doch in irgend welchem rhythmiſchen Gewande zu zeigen. Wir meinen den fo- genannten Jamben, auf welchem fie als fünffüßiges Ungeheuer unferen Augen und leider auch unferem Gehöre am häu— figften ſich vorzuführen pflegt. Die Unfchönheit dieſes Metrons, fobald es wie in unferen Schaufpielen ununterbrochen borgeführt wird: ift an und für ſich beleibigend für das Ge— fühl; wird nun aber wie e3 gar nicht anders möglich ift feinem eintönigen Rhythmos zu. Liebe dem lebendigen Sprach- aecente noch der empfindlichite Bwang angethan, fo wird das Anhören folder Verſe zur vollftändigen Marter; denn, dur den verſtümmelten Sprachaccent vom richtigen und ſchuellen Ver— ftändniffe des Auszubrüdenden abgelenkt, wird dann der Hörer mit Gewalt angehalten, fein Gefühl einzig dem ſchmerzlich er- müdenden Nitte auf dem hinfenden Jamben Hinzugeben, defjen Happernder Trott ihm endlich Sinn und Verftand rauben muß. Eine verftändige Schaufpielerin ward von den Jamben, als fie von unferen Dichtern auf der Bühne eingeführt wurben, fo beängftigt, daß fie für ihre Rollen biefe Verſe ſich in Profa auß- ſchreiben ließ, um durch ihren Anblick nicht verführt zu werben, den natürlichen Sprachaccent gegen ein dem Verſtändniſſe fchäd- liches Skandiren des Verſes aufzugeben. Bei diefem gefunden Verfahren entbedte die Künftlerin gewiß fogleich, daß der ver- meintlihe Jambe eine IUufion des Dichters war, bie fofort verfhwand, wenn der Vers in Profa außgefchrieben und dieſe Proſa mit verftändlihem Ausdrude vorgetragen wurde; fie fand gewiß, daf jede Verszeile, wenn fie von ihr nach unwillkürlichem Gefühle ausgeſprochen und nur mit Rüdficht auf überzeugend verftänbliche Kundgebung des Sinnes betont wurde, nur eine ober höchſtens zwei Sylben enthielt, auf denen ein bevorzugen- des Weilen mit verfchärfter Betonung zugleich nothwendig war, baß bie übrigen Sylben zu diefer einen oder zwei accentuirten fi nur im gleichmäßigen, durch Zwiſchenverweilungen ununter- brocdenen, Heben und Senten, Steigen und Hallen, fi ver- hielten, proſodiſche Längen und Kürzen unter ihnen nur da= durch aber zum Vorſchein kommen Tonnten, daß den Wurzel- ſylben ein unſerer modernen Sprachgewohnheit gänzlich fremder, das Berftändniß einer Phraſe durchaus jtörender, ja vernichtens

Diätkunft und Tonkunft im Drama der Zukunft. 107

der Mecent aufgebrüdt würde, ein Accent nämlich, ber fi zu Gunften des Verſes als ein rhythmiſches Verweilen kund⸗ geben müßte.

Ich gebe zu, daß gute Versmacher von ſchlechten ſich eben dadurch unterfchieden, daß fie Die Längen des Jamben nur auf Wurzelfglben verlegten, und Die Kürzen dagegen auf Ein- oder Ausgangsſylben: werden bie fo beftimmten Längen aber, wie es doch in der Wbficht bes Jambos liegt, mit rhythmiſcher Ge— nauigfeit vorgetragen ungefähr im Werthe von ganzen Taft- noten zu halben Taktnoten —, fo ftellt fi gerade hieran ein Verftoß gegen unferen Sprachgebrauch heraus, der einen, un- ſerem Gefühle entiprechenden, wahren und verftändlichen Aus» drud vollftändig verhindert. Wäre unferem Gefühle eine pro- ſodiſch gefteigerte Duantität der WurzelfgIben gegenwärtig, fo müßte es dem Mufifer gauz unmöglich gewefen fein, jene jam- bifchen Verſe nad} jedem beliebigen Rhythmos außfprechen zu Iaffen, namentlich aber auch die unterfcheidende Quantität ihnen der Urt zu benehmen, daß er zu gleich langen und furgen Noten die im Vers als lang und kurz gebachten Sylben zum Vortrag bringt. Nur an den Accent war aber der Mufiler gebunden, und erft in der Muſik gewinnt diefer Accent von Sylben, bie in ber gewöhnlichen Sprache als eine Kette rhythmiſch ganz gleicher Momente zum Hauptaccente fid) wie ein fteigender Auftalt verhalten, eine Bedeutung, weil er hier dem rhythmiſchen Gewichte der guten und ſchlechten Takttheile zu entſprechen, und durch Steigen ober Sinken des Tones eine bezeichnende Unter ſcheidung zu gewinnen hat. Gemeinhin jah ſich im Jamben der Dichter aber auch genöthigt, von der Veftimmung der Wur- zelſylbe zur profodifhen Länge abzufehen, und aus einer Reihe gleich accentuirter Sylben nach Belieben oder zufälliger Fügung diefe oder jene auszumählen, der er bie Ehre einer proſodiſchen Länge zutheilte, während er dicht dabei durch eine für das Ver— ftändniß nothwendige Wortftellung veranlaßt wurde, eine Wur- zelſylbe zur proſodiſchen Kürze herabzujegen. Das Geheim: niß dieſes Jamben ift auf unferen Scaufpieltheatern offen geworden. Verſtändige Schaufpieler, denen daran lag, ſich dem Verſtande de3 Buhörer8 mitzutheilen, haben ihn als nadte Proſa geſprochen; umverftändige, die vor dem Takte des Verſes deſſen Inhalt nicht zu faſſen vermochten, haben ihn als finn-

108 Oper unb Drama:

und tonlofe, gleich unverftändlie wie unmelodifche, Melodie deflamirt,

Da, wo eine auf profobifde Längen und Kürzen zu bes geündende Khythmik im Sprachverſe nie verſucht wurde, wie bei den romaniſchen Völkern, und wo die Verdzeile daher nur nad) der Zahl der Sylben beftimmt ward, bat fi der End— reim als unerläßlihe Bedingung für den Vers überhaupt feit-

In ihm charakterifirt ſich das Wefen der hriftlichen Me- Iodie, als deren ſprachlicher Überreft er anzufehen ift. Seine Bedeutung vergegenmwärtigen wir uns fogleih, wenn wir den kirchlichen Choralgefang und vorführen. Die Melodie biejes Sefanges bleibt rhythmiſch gänzlich unentſchieden; fie bewegt ſich Schritt für Schritt in volltommen gleichen Taktlängen vor fi, um nur am Ende bes Athems, und zum neuen Athemholen zu verweilen. Die Eintheilung in gute und fchlechte Takttheile ift eine Unterlegung fpäterer Beit; die urjprüngliche Kicchen- melodie wußte von folder Einteilung nichts: für fie galten Wurzel und Bindeſylben ganz glei; die Sprache hatte für fie feine Berechtigung, fondern nur die Fähigkeit, ſich in einen Ge— - fühlsausdrud aufzulöfen, deſſen Inhalt Furcht vor dem Herren und Sehnfucht nach dem Tode war. Nur wo ber Athem aus— ging, am Schluffe des Melodieabſchnittes, nahm die Wortſprache Antheil an der Melodie durch den Reim der Endſylbe, und diefer Reim galt jo beftimmt nur dem letzten außgehaltenen Tone der Melodie, daß bei fogenannten weiblichen Wortendungen ge- rade nur die kurze Nachſchlagſylbe fi zu reimen brauchte, und der Reim einer folhen Sylbe einem vorangehenden oder fol- genden männlichen Endreime giltig entſprach: ein deutlicher Ber weiß für die Abwefenheit aller Rhythmik in diefer Melodie und in diefem Berfe.

Der von diefer Melodie durch den weltlichen Dichter end» lich losgetrennte Wortverd wäre ohne Endreim als Vers völlig unkenntlich gewefen. Die Zahl der Sylben, auf denen ohne alle Unterfcheidung gleichmäßig verweilt, und nad) denen einzig die Verszeile beftimmt wurde, fonnte, da der Athemabſchnitt des Geſanges fie nicht fo merklih wie in ber gejungenen Melodie

Dichtkunſt und Tonfunft im Drama der Zukunft. 109

unterſchied, die Verszeilen nicht von einander als Tenntlich ab- fondern, wenn nicht der Endreim den hörbaren Moment dieſer Abſonderung fo bezeichnete, daß er den fehlenden Moment der Melodie, den Wechfel des Gefangathems, erfeßte. Der Endreim erhielt fomit, da auf ihm zugleid, als auf dem ſcheidenden Vers— abjage verweilt wurde, eine fo wichtige Bedeutung für ben Sprachvers, daß alle Sylben der Verszeile mur wie ein vorbe⸗ veitender Angriff auf die Schlußfylbe, wie ein verlängerter Auf- takt des Niederfchlages im Reime, zu gelten hatten.

Diefe Bewegung auf die Schlußfglde Hin entſprach ganz dem Charakter der Sprache der romanifchen Völker, die, nach der mannigfaltigften Miſchung fremder und abgelebter Sprach; beſtandtheile, ſich in folcher Weife herausgebildet hatte, daß in ihr das Verſtändniß der urfprünglichen Wurzeln dem Gefühle volftändig vermehrt blieb. Am deutlichften erkennen wir dieß an der franzöfifhen Sprache, in welcher der Sprachaccent zum vollfommenen Geſetze der Betonung der Wurzelfylben, wie fie dem Gefühle bei irgend noch vorhandenem Zufammenhange mit der Sprachwurzel natürlich fein müßte, geworden ift. Der Fran— zoſe betont nie anders als die Schlußfylbe eines Wortes, liege bei zufammengejegten ober verlängerten Worten die Wurzel auch noch fo weit vorn, und fei die Schlußfylbe auch nur eine untefentlihe Anhangsſylbe. In der Phrafe aber drängt er alle Worte zu einem gleichtönenden, wachſend beſchleunigten Angriffe des Schlußwortes, ober befier der Schlußiylbe, zufammen, worauf er mit einem ſtark erhobenen Accente verweilt, ſelbſt wenn dieſes Schlußwort wie gewöhnlih durchaus nicht das wichtigite der Phrafe ift, denn, ganz biefem Sprachaccente zuwider, Tonftruirt der Franzoſe die Phrafe durchgehends fo, daß er ihre bedingenden Momente nad vorn zufammendrängt, während 3. ®. der Deutſche diefe an den Schluß der Phrafe verlegt. Diefen Widerftreit zwifchen dem Inhalte der Phrafe und ihrem Ausdrucke duch den Sprachaccent können wir uns leicht aus dem Einfluffe des endgereimten Verſes auf Die gewöhnliche Sprache erflären. Sobald fich biefe in befonderer Erregtheit zum Ausdrucke anläßt, äußert fie ſich unwillfürlich nad dem Cha- ralter jened Verſes dem Überbleibfel der älteren Melodie, wie dagegen der Deutſche im gleichen alle in Stabreimen fpricht 5.8. „Bittern und Zagen“, „Schimpf und Schande”.

110 Oper und Drama:

Das Bezeichnendfte des Endreimes ift fomit aber, daß er, ohne beziehungsvollen Zufammenhang mit der Phrafe, als eine Nothhilfe zur Herftellung des Verſes erfcheint, zu deren Ge- brauch der gewöhnliche Sprachausdruck fich gedrängt fühlt, wenn er fi) in erhöhter Erregtheit kundgeben will. Der endgereimte Vers ift dem gewöhnlichen Sprachausdrucke gegenüber der Ver- ſuch, einen erhöhten Gegenjtand auf ſolche Weife mitzutheilen, daß er auf das Gefühl einen entiprechenden Eindrud hervor- bringe, und zwar dadurch, daf der Sprachausdruck ſich auf eine andere, von dem Alltagsausdrucke ſich unterfcheidende Art mit- theile. Diefer Alltagsausdruck war aber das Mittheilungs- organ des Verſtandes an den Verftand; durch einen von dieſem unterjchiebenen, erhöhten Ausbrud wollte der Mittheilende dem Verftande gewiſſermaßen ausweichen, d. h. eben an das vom Verſtande Unterjchiedene, an das Gefühl, fi wenden. Dieß ſuchte er dadurd zu erreichen, daf er da finnliche Organ des Sprachempfängniffes, welches die Mittheilung des Verſtandes in ganz gleichgiltiger Unbemußtheit aufnahm, zum Bewußtſein feiner Thätigfeit erwedt, indem er in ihm ein rein finnliches Gefallen an dem Ausdrude ſelbſt Hervorzubringen ſucht. Der im Endreim fich abſchließende Wortverd vermag nun wohl das finnlide Gehörorgan fo weit zuc Aufmerkſamkeit zu beftimmen, daß es fich durch Laufchen auf die Wiederkehr des gereimten Wortabſchnittes gefeffelt fühlen mag: hierdurch wird ed aber eben erſt nur zur Aufmerkſamkeit geitimmt, d. h. es geräth in eine gefpannte Erwartung, die dem Vermögen des Gehörorganes genügend erfüllt werden muß, wenn es fid) zu fo reger Theil- nahme anlafjen, und endlich fo vollftändig befriedigt werden fol, daß ed das entzüdende Empfängniß bem ganzen Empfin- dungsvermögen des Menfchen mittheilen Tann. Nur wenn das ganze Gefühlsvermögen des Menfchen zur Theilnahme an einem, ihm durch einen empfangenden Sinn mitgetheilten, Gegenftande vollftändig erregt ift, gewinnt dieſes bie Kraft, ſich aus voller Zufammengebrängtheit nach Innen wiederum in der Weife aus- zubehnen, daß es dem Verftande eine unendlich bereicherte und gewürzte Nahrung zuführt. Da es bei jeder Mittheilung doch nur auf Verftändniß abgefehen ift, jo geht auch die dichteriſche Abficht endlih nur auf eine Mittheilung an den Verftand hin aus: um aber zu biefem ganz ficheren Verſtändniſſe zu gelangen,

Dichttunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 111

feßt fie ihn da, wohin fie ſich mittheilt, nicht von vornherein voraus, fondern fie will ihn an ihrem Verftändniffe ſich gewiſſermaßen erft erzeugen lafien, uud das Gebärungsorgan biefer Zeugung ift, fo zu fagen, das Gefühlsvermögen des Menfchen. Dieſes Ge- fühlövermögen ift aber zu biefer Gebärung nicht eher willig, als biß es durch ein Empfängniß in die allerhöchfte Erregung ver- jegt ift, in welcher es die Kraft des Gebärens gewinnt. Diefe Kraft kommt ihm aber erſt durch bie Noth, und die Noth durch die Überfülle, zu der das Empfangene in ihm angewachfen ift: erft Das, was einen gebärenden Organismus übermächtig er- fült, nöthigt ihn zum Alte des Gebärens, und der Akt des Ge— bärens des Verſtandniſſes der dichterifchen Abſicht ift die Mit» theilung diefer Abficht von Seiten des empfangenden Gefühles an den innern Berftand, den wir als die Beendigung der Noth des gebärenden Gefühles anfehen müflen.

Der Wortdichter nun, der feine Abficht dem nächftempfangen= den Gehörorgane nicht in folder Fülle mittheilen kann, daß dieſes durch die Mittheilung in jene höchſte Erregtheit verſetzt werde, in welcher es das Empfangene wiederum dem ganzen Empfindungsvermögen mitzutheilen gedrängt wäre, Tann entweber dieſes Organ, will er e8 andauernd feſſeln, nur er- niedrigen ımd abftumpfen, indem er es feines unendlichen Em— pfängnißvermögens gewifjermaßen vergeſſen macht, oder er entfagt feiner unendlich bermögenden Mitthätigfeit vollftändig, er läßt die Feſſeln feiner finnlichen Theilnahme fahren, und benußt es wieder nur als ſtlaviſch unfelbitändigen Zwiſchen⸗ träger der unmittelbaren Mittheilung des Gedanken? an ben Gedanken, des Verftandes an ben Verſtand, d. h. aber fo viel als: der Dichter giebt feine Abficht auf, er Hört auf zu dichten, er regt in dem empfangenden Berjtande nur das bereit? ihm Be⸗ kannte, früher ſchon durch finnliche Wahrnehmung ihm Zuge» führte, Alte, zu neuer Kombination an, theilt ihm aber felbft feinen neuen Gegenſtand mit. Durch bloße Steigerung ber Wortſprache zum Reimverſe lann der Dichter nichts Anderes er- reichen, old dad empfangende Gehör zu einer theilnahmlofen, Tindifch oberflächlichen Aufmerkſamkeit zu nöthigen, die für ihren GSegenftand, eben den außbrudslofen Wortreim, ſich nicht nad Innen zu erſtreden vermag. Der Dichter, deſſen Abficht num nicht bloß die Erregung einer fo untheilnehmenden Aufmerkſam⸗

112 Oper und Drama:

teit war, muß endlich von der Mitwirkung des Gefühles ganz, abjehen, und feine fruchtlofe Erregung ganz wieder zu zerftreuen fuchen, um ſich ungeftört wieder nur dem Verſtande mittheilen zu können.

Wie jene höchfte, gebärungskräftige Gefühlserregung einzig zu ermöglichen ift, werben wir nun näher erkennen lernen, wenn wir zubor noch geprüft Haben, in welcher Beziehung unfere mo= derne Mufit zu dieſem rhythmiſchen ober endgereimten Verſe der heutigen Dichtlunft fteht, und welchen Einfluß diefer Ver auf fie zu äußern vermochte.

Getrennt von dem Wortverfe, der ſich von ihr Tosgelöft hatte, war die Melodie einen befonderen Entwidelungsweg ge— gangen. Wir haben diefen früher bereit8 genauer verfolgt und erkannt, daf die Melodie ald Oberfläche einer unendlich ausge— bildeten Harmonie und auf den Schwingen einer mannigfaltig- ften, dem leiblihen Tanze entnommenen und zu üppigiter Fülle entfalteten Rhythmik, als felbftändige Kunſterſcheinung zu ben Anſprüchen erwuchs, von fi aus die Dichtkunſt zu beftimmen und das Drama anzuordnen. Der wiederum felbftändig für fit) ausgebildete Wortvers konnte, in feiner Gebrechlichkeit und Unfähigkeit für den Gefühlsausdrud, auf diefe Melodie überall da, wo er in Verührung mit ihr geriet, eine geitaltende Kraft ausüben; im Gegentheil mußte bei feiner Berührung mit ber Melodie feine ganze Unmahrheit und Nichtigkeit offenbar wer- den. Der rhythmiſche Vers ward von der Melodie in feine, in Wahrheit ganz unrhythmiſchen BeftandtHeile aufgelöft, und nad) dem abfoluten Ermeſſen der rhythmiſchen Melodie ganz neu ge— fügt: der Endreim ging aber in ihren mächtig an dad Gehör an« tönenden Wogen Hang und ſpurlos unter. Die Melodie, wenn fie fi) genau an den Wortvers hielt und fein für bie finnliche Wahrnehmung konſtruirtes Gerüft durch ihren Schmud exit recht tenntlih machen wollte, dedte von biefem Verfe gerade Das auf, was der verftändige Deffamator, dem es um dad Verſtändniß des Inhaltes zu thun war, an ihm eben verbergen zu müflen glaubte, nämlich feine ärmliche, den richtigen Sprachausdruck entftellende, feinen finnvollen Inhalt verwirrende äußere Faſſung,

Diätkunft und Tonkunft im Drama der Zukunft. 113

eine Saffung, die, fo Iange fie eine nur eingebifdete, den Sinnen nicht merklich aufgedrungene blieb, am mindeften zu ftören vermochte, bie aber dem Inhalte alle Möglichteit des Ver— ftändniffes abſchnitt, fobald fie dem Gehörfinne mit beftimmen- der Prägnanz fi kundthat und diefen dadurch veranlaßte, fi zwiſchen die Mittheilung und die innere Empfängniß als ſchroffe Schrante aufzuftellen. Ordnete ſich die Melodie fo dem Wort- verſe unter, begnügte fie fich, feinen Rhythmen und Reimen eben nur die Fülle des gefungenen Tones beizugeben, jo bewirkte fie jeboch nicht nur die Darſtellung der Lüge und Unfhönheit der ſinnlichen Faſſung des Verſes zugleich mit der Unverſtändlichung ſeines Inhaltes, ſondern ſie ſelbſt beraubte ſich aller Fähigkeit, fich in ſinnlicher Schönheit darzuſtellen und den Inhalt des Wortverſes zu einem ergreifenden- Gefühlsmomente zu erheben.

Die Melodie, die ſich ihrer auf dem eigenen Felde der Mufit erworbenen Zähigfeit für unendlichen Gefühlsausdrud bewußt blieb, beachtete daher die finnliche Faſſung des Wortverfes, der fie für ihre Geftaltung aus eigenem Vermögen empfindlich bes einträchtigen mußte, durchaus gar nicht, fondern feßte ihre Auf- gabe barein, ganz für fi, als felbftändige Geſangsmelodie, in einem Ausdrude fih fundzugeben, der ben Gefühldinhalt des Wortverſes nach ſeiner weiteſten Allgemeinheit ausſprach, und zwar in einer beſonderen rein mufifalifhen Faſſung, zu ber ſich der Wortvers nur wie die erklärende Unterſchrift zu einem Ges mälbe verhielt. Das Band des Zuſammenhanges zwiſchen Me— Iodie und Vers blieb da, wo die Melodie nicht auch den Inhalt des Verſes von fi wies, und die Volale und SKonfonanten feiner Wortſylben nicht zu einem bloßen finnlichen Stoffe zum BZerfäuen im Munde des Sängers verwendete, der Sprach— accent. Glud’3 Bemühen ging, wie ich früher bereit er- wähnte, nur auf die Rechtfertigung des bis zu ihm in Bezug auf den Vers meift willfüclichen melodiſchen Accentes durch ben Sprachaccent. Hielt fi nun der Mufifer, dem es nur um melodiſch verftärkte, aber an fich treue Wiedergebung, des natür- lichen Sprachausdruckes zu thun war, an den Accent der Rede, als an dad Einzige, was ein natürliches und Verſtändniß geben- des Band zwifchen der Rede und der Melodie knüpfen Tonnte, fo hatte er hiermit den Vers vollftändig aufzuheben, weil er aus ihm den Accent als das einzig zu Betunende herausheben,

Rigard Wagner, Bei. Schriften IV, 8

114 Dper und Drama:

und alle übrigen Betonungen, feien es nun bie eines eingebil- deten profobijchen Gewichtes, ober die des Endreimes, fallen laſſen mußte. Er überging den Vers fomit auß bemfelben Grunde, der den verftändigen Schaufpieler beftimmte, den Vers als natürlich accentuirte Profa zu ſprechen: Hiermit Iöfte Der Mufiter aber nicht nur den Vers, ſondern auch feine Melodie in Proſa auf, denn nichts Anderes als eine mufifalifche Proſa bfieb von der Melodie übrig, die nur ben rhetoriſchen Accent eines zur Profa aufgelöften Verſes durch den Ausdruck des Tones verftärkte. In der That hat fich der ganze Streit in ber verjchiebenften Auffafjung der Melodie nur darum gedreht, ob und wie die Melodie durch den Wortverd zu beftimmen fei. Die im Voraus fertige, ihrem Wefen nad aus dem Tanze ge wonnene Melodie, unter welcher unfer modernes Gehör das Weſen der Melodie überhaupt einzig zu begreifen vermag, will fi nun und nimmermehr dem Sprachaccente des Wortverfes fügen. Diefer Uccent zeigt fi bald in diefem, bald in jenem Gliede des Wortverjes, und nie kehrt er an der gleichen Stelle der Verszeile wieber, weil unfere Dichter ihrer Phantafie mit dem Gaufelbilbe eined profodifch rhythmiſchen, oder durch den Endreim melodiſch geftimmten Verſes fejmeichelten, und über diefem Phantafiebilde den wirklichen lebendigen Sprachaccent, als einzig rhythmiſch maaßgebendes Moment auch für den Vers, vergaßen. Ja, biefe Dichter waren im unproſodiſchen Verſe nicht einmal darauf bedacht, den Sprachaccent mit Beftimmtheit auf da8 einzig kenntliche Merkmal dieſes Verſes, den Endreim, zu legen; fonbern jedes unbedeutende Nebenwort, ja jebe gänzlich unzubetonende Endfylbe, ward von ihnen umfo häufiger in ben Enbreim geftellt, als die Eigenjchaft des Neimes ihnen gewöhnlicher ift. Eine Melodie prägt fid) aber nur dadurch dem Gehöre fahlich ein, daß fie eine Wiederkehr beftimmter melodiſcher Momente in einem beftimmten Rhythmos enthält; tehren folche Momente entweder gar nicht wieder, oder machen fie fi dadurch unkenntlich, daß fie auf Tatttheilen, die ſich rhythmiſch nicht entfprechen, wiederkehren, jo fehlt der Melo- die eben dad bindende Band, welches fie erft zur Melodie macht, wie ber Wortvers ebenfalld erſt durch ein ganz ähn- liches Band zum wirklichen Verſe wird. Die jo gebundene Me- Todie will nun auf den Wortvers, der dieſes bindende Band

Dichtkunſt und Tonfunft im Drama ber Zukunft. 115

aber nur in ber Einbildung, nicht in der Wirklichkeit befigt, nicht paffen: der, dem Sinne des Verſes nad einzig hervor zuhebende Sprachaccent entſpricht den nothwendigen melismi- ſchen und rhythmiſchen Accenten der Melodie in ihrer Wieber- kehr nicht, und der Mufifer, der die Melodie nicht aufopfern, fondern fie vor Allem geben will, weil er nur in ihr bem Gefühle verftändlich ſich mittheilen Tann, fieht fich daher ge— nöthigt, den Sprachaccent nur da zu beachten, wo er ſich zu⸗ fällig der Melodie anfchließt. Dieß Heißt aber fo viel, als allen Bufammenhang der Melodie mit dem Verſe aufgeben; denn, fieht fich der Mufifer einmal gedrängt, den Sprachaccent außer Acht zu laſſen, jo kann er fich noch viel weniger gegen die eingebildete profodifche Rhythmik des Verſes verpflichtet fühlen, und er verfährt mit biefem Verſe als urſprünglich veran- laſſendem Sprachmomente endlich allein nur nad abjolut melo» diſchem Belieben, das er fo lange für volltommen gerechtfertigt erachten Tann, als es ihm daran gelegen bleibt, in der Me— lodie den allgemeinen Gefühlsinhalt des Verſes fo wirkſam wie möglich außzufprechen.

Wäre je einem Dichter das wirkliche Verlangen angefommen, den ihm zu Gebote ftehenden Sprachausdruck zur überzeugenden Fülle der Melodie zu fteigern, jo müßte er zunächft fi) bemüht haben, den Sprachaccent als einzig manfgebendes Moment für den Vers fo zu verwenden, daß er in feiner entjprechenden Wiederkehr einen gefunden, dem Verſe ſelbſt wie der Melodie nothwendigen Rhythmos genau beftimmt hätte. Nirgends fehen wir davon aber eine Spur, oder wenn wir diefe Spur erkennen, ift e8 da, wo ber Versmacher von vornherein auf eine dichterijche Abſicht Verzicht leiſtet, nicht dichten, fondern als unterthäniger Diener und Wortdandlanger des abjoluten Muſikers abgezählte und zu verreimende Sylben zufammenftellen will, mit denen der Mufifer in tieffter Verachtung für die Worte dann macht, was er Luft hat.

Wie bezeichnend ift es Dagegen, daß gewiffe ſchöne Verſe Goethe's, d. h. Verfe, in denen der Dichter ich bemühte, jo weit e3 ihm möglich war, zu einem gemiflen melodifchen Schwunge zu gelangen, von den Muſikern gemeinfam als zu ſchön, zu vollendet für die muſikaliſche Kompofition bezeichnet werden! Das Wahre an der Sache iſt, daß eine volllommen dem Sinne

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116 Oper und Drama:

entfprechende mufifalifche Kompofition auch dieſer Verſe fie in Proſa auflöfen, und aus diefer Proſa fie ald jelbftändige Me- Iobie erft wiebergebären müßte, weil unferem mufifalifchen Ge— fühle es ſich unwillkürlich darftellt, daß jene Vers melodie eben- falls nur eine gedachte, ihre Erſcheinung ein Schmeichelbild der Phantafie, fomit eine ganz andere als bie mufilalifche Mes lodie ift, die in ganz beſtimmter finnliher Wirklichkeit ſich Fund- zugeben hat. Halten wir daher jene.Werfe für zu ſchön zur Kompofition, fo fagen wir damit mur, daß es uns leid thut, fie als Verſe vernichten zu follen, was wir mit weniger Herzbefflemm- ung uns erlauben, ſobald uns eine minder refpeftable Bemühung des Dichter gegenüberfteht; fomit geftehen wir aber ein, daß wir ein richtiges Verhältniß zwiſchen Werd und Melodie ung gar nicht dorftellen können.

Der Melodiker der neueften Zeit, der al’ die fruchtlofen Verfuche zu einer entfprechenden, gegenfeitig ſich erlöfenden und ſchöpferiſch beftimmenden Verbindung des Wortverjes mit der Tonmelodie überfhaute,. und namentli auch den übeln Ein- fluß gewahrte, den eine treue Wiedergebung des Sprachaccentes auf die Melodie bis zu ihrer Entftellung zur mufifalifchen Profa ausubte, fah fi, fohald er auf der anderen Geite wieder die Entjtellung ober gänzliche Verläugnung bed Verſes durch + die frivole Melodie von ſich wies, veranlaßt, Melodieen zu kom— poniren, in welchen er aller verdrießlihen Berührung mit dem Verſe, den er an fich reipeftirte, der ihm für die Melodie aber läftig war, gänzlih auswid. Er nannte dieß „Lieber ohne Worte“, und fehr richtig mußten Lieber ohne Worte auch der Ausgang von Streitigkeiten fein, in denen zu einem Entſcheid nur dadurch zu kommen war, daß man fie ungelöft auf fi) bes ruhen ließ. Diefes jetzt fo beliebte „Lied ohne Worte ift bie getreue Überjegung unferer ganzen Mufit in das Klavier zum bequemen Handgebrauche für unjere Kunft-Commisvoya- geurs; in ihm fagt der Mufifer dem Dichter: ‚Mach', was Du Luft Haft, ich mache auch, was ich Luft Habe! Wir vertragen ung am beften, wenn wir Nichts mit einander zu ſchaffen haben“.

Sehen wir nun, wie wir dieſem „Mufifer ohne Worte“ durch die drängende Kraft der höchſten dichterifchen Abficht auf eine Weife beifommen, daß wir ihn vom fanften Klavierſeſſel herunterheben und in eine Welt höchiten künſtleriſchen Ber:

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 117

mögend verjeßen, bie ihm bie zeugende Macht des Wortes er- fchließen foll, des Wortes, deſſen er fich fo mweibifch bequem entledigte, des Wortes, bad Beethoven auß den ungeheuren Mutterwehen der Muſik heraus gebären ließl

IL

Wir haben, wenn wir in einer verftändlichen Beziehung zum Leben bleiben wollen, au8 der Proſa unferer gewöhnlichen Sprade ben erhöhten Ausdrud zu gewinnen, in welchem die dichteriſche Abficht allvermögend an das Gefühl fih kundgeben fol. Ein Sprachausdrud, der daB Band des Bufammenhanges mit der gewöhnlichen Sprache dadurch zerreißt, dab er feine finnliche Kundgebung auf fremd Hergenommene, dem Weſen un- ferer gewöhnlichen Sprache uneigenthümliche wie die näher bezeichneten proſodiſch⸗ rhythmiſchen Momente ftügt, Tann nur verwirrend auf da8 Gefühl wirken.

In der mobernen Sprache finden nun feine anderen Be tonumgen ftatt, als die des proſaiſchen Spradaccentes, der nirgends auf dem natürlichen Gewichte der Wurzelſylben eine fefte Stätte hat, fondern für jede Phraſe don Neuem dahin

berlegt wird, wo er dem Sinne der Phrafe gemäß zu dem Bwede bes Verſtändniſſes einer beftimmten Abſicht nöthig ift. Die Sprache des modernen gewöhnlichen Lebens unterſcheidet ſich von der dichterifchen älteren Sprache namentlich aber dadurch, daß fie um des Verftändniffes willen einer bei Weitem gehäufs teren Verwendung von Worten und Phrafenbjäßen bebarf, al diefe. Unfere Sprache, in der wir uns im gewöhnlichen Leben über Dinge verftändigen, die wie fie von der Natur über- haupt fernab liegen von der Bebeutung unferer eigentlichen Sprachwurzeln gar nicht mehr berührt werden, hat ſich der mannig- faltigften, berwideltften Windungen und Wendungen zu be dienen, um die, mit Bezug auf umfere gejellfchaftlichen BVerhält- niffe und Anſchauungen -abgeänderten, umgeftimmten oder neu vermittelten, jedenfall unferem Gefühle entfrembeten Bedeu— tungen urſprünglicher ober von fremdher angenommener Sprad- wurzeln zu umfchreiben, und ihr konventionelles Verſtändniß zu ermöglichen. Unjere, zur Aufnahme dieſes vermittelnden

118 Oper und Drama:

Apparated unendlich gedehnten und zerfließenden Phrafen wür— den vollfonmen unverjtändlich gemacht, wenn ber Sprachaccent in ihnen ſich durch hervorgehobene Betonung der Wurzeiſylben häufte. Diefe Phrafen können dem Verſtändniſſe nur dadurch erleichtert werden, daß der Sprachaccent in ihnen mit großer Sparfamkeit nur auf ihre entſcheidendſten Momente gelegt wird, wogegen natürlich) alle übrigen, ihrer Wurzelbedeutung nach noch fo wichtigen Momente, gerade ihrer Häufung wegen, in der Be— tonung gänzlich fallen gelafjen werben müſſen.

Bedenken wir nun recht, was wir unter der, zur Verwirk— lichung der Dichterifchen Abſicht nothwendigen Verdichtung und Bufammendrängung der Hanblungsmomente und ihrer Motive zu veritehen haben, und erkennen wir, daß biefe wieberum nur durch einen ebenfo verbichteten und zufammengebrängten Aus— drud zu ermöglichen find, fo werden wir dazu, wie wir mit un- ferer Sprache zu verfahren haben, ganz von felbft gedrängt. Wie wir von diefen Handlungsmomenten, und um ihretwillen von ben fie bedingenden Motiven, alles Bufälige, Kleinliche und Unbeftimmte außzufcheiden Hatten; wie wir auß ihrem In— Halte alle8 von Außen ber Entftellende, pragmatiſch Hiftorifche, Staatliche und dogmatiſch Religiöfe Hinwegnehmen mußten, um diefen Inhalt als einen rein menfchlichen, gefühlsnothwendigen darzuftellen, fo haben wir auch aus dem Spradhausbrude alles von dieſen Entftellungen des Reinmenſchlichen, Gefühlsnoth- wendigen Herrührende und ihnen einzig Entjprechende in der Weiſe auszuſcheiden, daß von ihm eben nur dieſer Kern übrig- bleibt. Gerade Das, was biefen rein menjchlichen Inhalt einer ſprachlichen Kundgebung entftellte, ift e8 aber, was die Phraſe fo ausdehnte, daß der Sprachaccent in ihr fo fparfanı vertheilt, und dagegen dad Yallenlaffen einer unverhältniß- mäßigen Anzahl unzubetonender Wörter nothwendig werben mußte. Der Dichter, der dieſen unzubetonenden Wörtern ein profodifches Gewicht beilegen wollte, gab fich deßhalb einer voll- tommenen Täuſchung hin, über bie ihn ein gemifjenhaft ſtan⸗ dirter Vortrag feines Verſes infofern aufflären mußte, ald ex durch diefen Vortrag, den Sinn der Phrafe entftellt und un— verftändlich gemacht fah. Wohl beitand dagegen allerdings die Schönheit eines Verſes bisher darin, daß der Dichter aus der Phraje fu viel wie möglich alles Das ausſchied, was als er-

Digttunft und Tonkumft im Drama ber Zukunft. 119

drüdende Hilfe vermittelnder Wörter den Hauptaccent zu maſſen⸗ haft umgab: er fuchte die einfachften, der Vermittelung am we nigften bebürftigen Außbrüde, um die Accente fi näher zu rüden, und löfte Hierzu, fo viel er konnte, auch den zu Dichten den Gegenftand aus einer drüdenden Umgebung hiſtoriſch-ſozi⸗ aler und ftaatlichreligiöfer Verhältniffe und Bedingungen los. Nie vermochte zeither der Dichter dieß aber bis zu dem Punkte, wo er feinen Gegenftand unbedingt nur noch an das Gefühl hatte mittheilen können, wie er den Ausdrud auch nie bis zu diefer Steigerung brachte; denn biefe Steigerung zu höchſter Gefühlsäußerung wäre eben nur im Aufgehen des Verſes in die Melodie erreicht worden, ein Aufgehen, da®, wie wir fahen, weil wir es jehen mußten, nicht ermöglicht worden ift. Wo der Dichter aber, ohne des Aufgehens ſeines Verſes in die wirkliche Melodie, den Sprachvers ſelbſt zu bloßen Gefühls- momenten verdichtet zu haben glaubte, da wurde er, wie ber darzuftellende Gegenftand, weder vom Verſtande mehr, noch aber aud vom Gefühle begriffen. Wir kennen Verſe der Art als Verſuche unferer größten Dichter, ohne Mufit Worte zu Tönen zu ftimmen.

Nur der dichterifchen Abficht, über deren Wefen wir uns im Vorhergehenden bereit verftändigt haben, kann es bei ihrem nothwendigen Drauge nad) Verwirklihung zu ermöglichen fein, die Proſaphraſe der modernen Sprache von all’ dem mechanisch vermittelnden Wörterapparate fo zu befreien, daß die in ihr liegenden Accente zu einer ſchnell wahrnehmbaren Kundgebung zufammengedrängt werben fünnen. Cine getreue Beobachtung des Ausbrudes, defjen wir uns bei erhöhter Gefühlgerregung felöft im gewöhnlichen Leben bedienen, wird dem Dichter ein untrügliches Maaß für die Zahl der Uccente in einer natürlichen Phraſe zuführen. Im aufrichtigen Affekte, wo wir alle fonven- tionellen, die gedehnte moderne Phrafe bedingenden Rüdfichten fahren laſſen, fuchen wir und immer in einem Athem kurz und bündig fo beftimmt wie möglich außzubrüden: in biefem ge drängten Ausdrude betonen wir aber auch durch die Kraft des Uffeltes bei Weitem ftärfer al3 gemöhnlich, und zumal rüden wir die Accente näher zufammen, auf denen wir, um fie wichtig und dem Gefühle ebenjo eindringlich zu machen, als wir unfer Gefühl in ihnen außgedrüct wiſſen wollen, mit lebhaft

120 Oper und Drama,

erhobener Stimme verweilen. Die Bahl diefer Accente, die um- willfürli während der Ausftrömung eines Athems fi zu einer Phraſe, oder zu einem Hauptabſchnitte der Phraſe abjchließen, wird ftet8 im genauen Verhältniſſe zum Charakter der Erregt- heit ftehen, jo daß z. B. ein zürnender, thätiger Affekt auf einem them eine größere Bahl von Uccenten ausftrömen laſſen wird, während dagegen ein tief und ſchmerzlich leidender in wenigeren, länger tönenden Accenten bie ganze Athemkraft ver ehren muß.

Je nach der Art des fundzugebenden Affektes, in den fich der Dichter fympathetifch zu verfegen weiß, wird biefer daher die Zahl der Accente einer, durch den Athem fich beftimmenden, durch den Inhalt des Ausdrudes entweder zur vollen Phrafe ober zum wefentlichen Phrafenabfchnitte fi geftaltenden, Wort- reihe feftjtellen, in welcher die übermäßige Zahl von, der fom- pligirten Litteraturphrafe eigenthümlichen, vermittelnden und verdeutlichenden Nebenwörtern in dem Maaße verringert wor- den ift, daß diefe den für den Accent nöthigen Athen, tro ihrer fallengelaffenen Betonung dennoch, ihrer numeriſchen Häufung wegen, nicht unnüß aufzehren. Das für den Gefühlsausdrud fo Schadliche in der fomplizirten modernen Phrafe beitand näm- li darin, daß die zu große Mafje unzubetonenber Nebentwörter den Athem des Sprechenden in der Weife in Anſpruch nahm, daß er, bereits erfchöpft oder aus fparender Vorficht, auch auf dem Hauptaccente nur kurz verweilen fonnte, und jo das Ber- ftändniß des haftig accentuirten Hauptwortes nur dem Verſtande, nicht aber dem Gefühle mittheilen durfte, welches ſich nur ber Fülle bes finnlihen Ausdrudes gegenüber zur Theilnahme an= laſſen Tann. Die von dem Dichter bei gebrängter Redefaſſung beibehaltenen Nebenmworte werden, in ihrer minderen, gerade nur notäwenbigen Bahl, zu dem durch den Sprachaccent betonten Worte ſich fo verhalten, wie die flummen Mitlauter zu dem tönenden Wofale, den fie umgeben, um ihn unterjheidend zu in dividualiſiren und auß einem allgemeinen Empfindungsausbrude zum verbeutlichenden Ausdrucke eines befonderen Gegenftandes zu verdichten: eine vor dem Gefühle durch Nichts gerechtfertigte ftarfe Häufung der Konfonanten um den Vokal benehmen diejem feinen Gefüglswohllaut ebenfo, wie eine bloß durch den vermit- tefnden Verſtand veranlaßte Häufung von Nebenwörtern um

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Butunft. 121

das Hauptwort diefes dem Gefühle unfenntlich macht. Dem Ge fühle ift Verftärfung des Konfonanten durch Verdoppelung ober Verdreifachung nur dann don Nothivendigfeit, wenn dadurch der Vokal eine fo draftiihe Färbung erhält, wie fie wiederum der braftifchen Beſonderheit des Gegenftandes, den die Wurzel ausdrüdt, entſpricht; und fo wird eine verftärfte Bahl der bes ziehungsvollen Nebenwörter nur dann vor bem Gefühle gerecht fertigt, wenn durch fie das accentuirte Hauptwort in feinem Aus- drude beſonders gefteigert, nicht aber mie in der modernen Phraſe gelähmt wird. Wir fommen Biermit auf die na— türliche Grundlage de3 Rhythmos im Sprachverfe, wie er in den Hebungen und Sentungen des Accentes ſich barftellt, und wie er einzig durch Steigerung zum mufifalifchen Rhythmos in höchſter Beſtimmtheit und unendlichſter Mannigfaltigfeit ſich äußern kann.

Welche Zahl von Hebungen des Tones wir, dem Charakter der auszudrückenden Stimmung gemäß, für einen Athem, ſomit für eine Phraſe oder einen Phrafenabichnitt, auch zu beitimmen haben, nie werben biefe Hebungen felbft von ganz gleicher Stärke fein. Eine vollfommen gleiche Stärke der Accente geftaitet zuvörderſt der Sinn einer Rebe nicht, welche ſtets bedingende

. und: bedingte Momente in fi) jehließt, und je nad) ihrem Cha- rakter das bedingende gegen das bedingte, oder umgefehrt das bebingte gegen das bebingende Hervorhebt. Uber auch das Ge- fühl geftattet eine gleiche Stärke der Accente nicht, weil gerade das Gefühl nur durch leicht merkbare, finnlich ſcharf beftimmte Unterfheidung der Ausdrudsmomente zur Theilnahme erregt werben fann. Wenn wir zu erkennen haben, daß diefe Theil- nahme de3 Gefühles endlich am ſicherſten nur durch Modulation des mufifalifchen Tones zu beftimmen ift, fo wollen wir für jeßt diefer Steigerung noch nicht gedenten, fondern und nur den Ein- Fluß vergegenwärtigen, den Die ungleiche Stärke der Accente zu- nächſt auf den Rhythmos der Phrafe ausüben muß. Sobald wir bie zufammengedrängten, und aus einer brüdenden Um— gebung von Nebenwörtern befreiten, Accente nad) ihrer Unter— ſcheidung als ftärkere und ſchwächere fundgeben wollen, fo kön—

122 Oper und Drama!

nen wir dieß nur auf eine Weife, die vollftändig den guten und ſchlechten Hälften des mufifalifchen Taktes, ober was im Grunde daſſelbe ift den guten und ſchlechten Taten einer mufifalifcden Periode entſpricht. Diefe guten und ſchlechten Takte oder Takthälften machen als jolche fich dem Ge— fühle aber nur dadurch keuntlich, daß fie unter ſich in einer Be— ziehung ftehen, die wiederum durch die Hleineren zivijchenliegen- den Bruchtheile des Taltes vermittelt und verdeutlicht wird. Gute und jchlechte Takthälfte, ſobald fie ganz nadt neben ein- ander ftehen, wie in der kirchlichen Choralmelodie —, könnten an fi nur dadurch dem Gefühle ſich Tenntlich machen, daß fie ſich ihin als Hebung und Senkung des Accentes barftellten, wo— durch die ſchlechte Talthälfte in der Periode den Accent voll- kommen verlieren müßte und als folcher gar nicht mehr gelten Lönnte: nur dadurch, daß die zwiſchen der guten und ſchlechten Zakthälfte liegenden Taktbruchtheile rhythmiſch zum Leben, und zum Anteile an dem Accente der Takthälften gebracht werben, läßt ſich auch der ſchwächere Accent der fchlechten Talthälfte als Accent zur Wahrnehmung bringen. Die accentuirte Wort⸗ phrafe bedingt nun aus fi) die charalteriſtiſche Beziehung jener Taktbruchtheile zu den Takthälften, und zwar auß den Sen- tungen bed Accentes und dem Verhältniſſe dieſer Senkungen zu den Hebungen. Die an ſich unbetonten Worte oder Sylben, die wir in die Senkung ſetzen, ſteigen im gewöhnlichen Sprad)- ausbrude durch anfchwellende Betonung zum Hauptaccente hin⸗ auf, und fallen von dieſem durch abnehmende Betonung wieder herab. Der Punkt, bis zu welchem fie herabfallen, und von wel- chem fie von Neuem zu einem Hauptaccente wieder Hinauffteigen, ift aber der ſchwächere Nebenaccent, der wie dem Sinne ber Rede, fo aud) ihrem Ausdrude gemäß durch den Haupt accent bedingt wird, wie der Planet durch den Fixſtern. Die Bahl der vorbereitenden oder nachfallenden Sylben hängt allein von dem Sinne der dichterifchen Rede ab, von welder wir an= nehmen, daß fie ſich in höchſter Gebrängtheit außbrüdt; je noth- wendiger aber dem Dichter es erſcheint, die Zahl der vorbereilenden oder nachfallenden Sylben zu verftärken, deſto charakterifticher vermag er dadurch den Rhythmos zu beleben und dem Accente ſelbſt befondere Bedentung zu geben, wie er auf der anderen Seite den Charakter der Accente wiederum dadurch beſonders

Dichtkunſt und: Tontunft im Drama der Zukunft. 123

zu beftimmen vermag, daß er ihn ohne alle Vorbereitung und Nachfall dicht neben den folgenden Accent ſetzt.

Sein Vermögen ift Hierin unbegrenzt mannigfaltig: voll⸗ kommen Tann er fich defien aber nur bewußt werden, wenn er den accentuirten Sprachrhythmos bis zum mufifalifchen, von der Tanzbewegung unendlich mannigfaltig belebten, Rhythmos ftei- gert. Der rein muſikaliſche Takt bietet dem Dichter Möglichkeiten für den Sprachausdruck dar, denen er für den nur gefprochenen Wortverd von vornherein entfagen mußte. Im nur geſprochenen Wortverſe mußte der Dichter fich darauf befchränten, die Zahl der Sylben in der Senkung nicht über zwei auszubehnen, weil bei drei Sylben der Dichter e8 nicht hätte vermeiden können, daß eine diejer Sylben bereit? als Hebung zu betonen gemefen wäre, was feinen Werd natürlich fogleich über den Haufen ges worfen hätte. Dieſe faljche Betonung Hätte er num nicht zu fürchten gehabt, fobald ihm wirkliche proſodiſche Längen und Kürzen zu Gebote gejtanden hätten; da er aber die Betonungen nur auf den Sprachaccent verlegen konnte, und dieſer dem Verſe zu lieb als auf jeder Wurzeliglbe möglich angenommen werben mußte, fo konnte er über fein kenntliches Maaß verfügen, wel⸗ ches den wirklichen Sprachaccent fo unfehlbar nachgewiejen hätte, daß nicht auch Wurzelſhlben, denen der Dichter feine Betonung beigelegt wiſſen wollte, mit dem Sprachaccente belegt worden wären. Wir fprechen hier natürlich von dem gefchriebenen, durch die Schrift mitgetheilten und der Schrift nachgefprochenen Verſe: den, der Literatur unangehörigen, lebendigen Werd haben wir aber ohne rhytämifch-mufifalifche Melodie gar nicht zu verftehen, und wenn wir die auf und gekommenen Monumente ber grie— chiſchen Lyrik in’3 Wuge faffen, fo erfahren wir gerade an diejen, daß ber von uns nur noch gefprochene griechijche Vers, wenn wir ihn nad unwillkürlicher Sprachaccentuation außfprechen, ung eben die Berlegenheit bereitet, Sylben duch den Accent zu betonen, bie in ber wirklichen rhythmiſchen Melodie als im Auf» tafte mit inbegriffen, an ſich unbetont blieben. An dem bloß gejprochenen Verſe können wir nichtmehr ald zwei Sylben in der Senkung verwenden, weil und mehr als zwei Sylben ſogleich den richtigen Uccent entrüden würden, und wir bei der hieraus erfolgen- den Auflöfung des Verſes und fogleih in die Nothwendigleit ver⸗ fegt ſehen müßten, ihn nur noch als flüchtige Profa auszufprechen.

An.

124 Dper und Drama:

Es fehlt uns für den geſprochenen ober zu fprechenden Vers nämlich das Moment, dad uns die Beitandauer der Hebung in ber Weiſe feft beftimme, daß wir nach ihrem Maaße die Sen- fungen wieder genau berechnen könnten. Wir fönnen die Dauer einer accentuirten Sylbe nad) unferem bloßen Ausſprachever- mögen nicht über die doppelte Dauer unbetonter Sylben er- ftreden, ohne der Sprache gegenüber in den Fehler des Dehnens, oder wie wir ed auch nennen Singens zu verfallen. Dieſes „Singen“ gilt da, wo e8 nicht wirklich zum tönenben Ge— fange wird und fomit die gewöhnliche Sprache volltommen aufs hebt, in biefer gewöhnlichen Sprache mit Recht als Fehler; denn es ift als eine bloße tonlofe Dehnung des Vokales, oder gar des Konfonanten, durchaus unſchön. Dennoch liegt diefem Hange zum Dehnen in der Ausſprache da, wo er nicht eine bloße dia- Ieftifche Ungewöhnung ift, ſondern bei gefteigerter Erregtheit fich unwilltürlih zeigt, Etwas zu Grunde, was unfere Projo- difer und Metrifer jehr wohl zu beachten gehabt hätten, wenn fie ſich griechifche Metren erflären wollten. Sie hatten nur un: feren, von ber Gefühlömelobie losgelöſten, haftigen Sprachaccent im Obre, als fie das Maaß erfanden, nad) welchem allemal zwei Kürzen auf eine Länge gehen follten; die Erklärung griechiſcher Metren, in denen zuweilen ſechs und nody mehr Kürzen ſich auf zwei oder auch nur eine Länge beziehen, hätte ihnen fehr leicht fallen müſſen, wenn fie. den im mufifalifhen Takte lang ausgehaltenen Ton auf der fogenannten Länge im Gehöre gehabt hätten, wie ihn jene Lyriker mindeftend noch im Gehöre hatten, als fie zu befannten Volksmelodieen den Wortvers vari- irten. Diefer auögehaltene, rhythmiſch gemefjene Ton ift es, den der Sprachversdichter jeßt aber nicht mehr im Gehöre Hatte, wogegen er nur noch ben flüchtig verweilenden Sprachaccent kannte. Halten wir nun aber diefen Ton feft, defien Dauer wir im mufifaliihen Takte nicht nur genau beftimmen, fondern auch nach feinen rhytämifchen Bruchtheilen auf dad Mannig- faltigfte zerlegen können, fo erhalten wir an dieſen Bruchtheilen die rhythmiſch gerechtfertigten und nach ihrer Bedeutung geglie- derten, melodifchen Ausdrucksmomente für die Sylben der Sen- tung, deren Zahl fich einzig nur nad) dem Sinne der Phraje und der beabfichtigten Wirkung des Ausdruckes zu beftimmen hat, da wir im mufifalifchen Takte das fichere Maaß gefunden

Diätkunft und Tonkunft im Drama ber Bukunft. 125

haben, nach welchem fie zum unfehlbaren Berftändniffe kommen müffen.

Diefen Takt hat der Dichter aber nad) dem von ihm beab- fihtigten Ausdrucke allein zu beftimmen; er muß ihn felbft zu einem kenntlichen Maaße machen, nicht etwa als ein folches fich aufnöthigen laſſen. Als ein Tenntliches beftimmt er es aber da⸗ durch, daß er die gehobenen Accente ihrem Charakter nad, ob ftarte oder ſchwächere in der Art vertheilt, daß fie einen Athem— ober Phrafenabjchnitt, dem ein folgender zu entſprechen vermag, bilden, und dieſer folgende als nothwendig für den erften be— dingt erſcheint; denn nur in einer nothivendigen, verftärfenden

- ober beruhigenden Wiederholung ftellt fi ein wichtiges Aus— drudömoment dem Gefühle verjtändlih dar. Die Anordnung der ftärferen und ſchwächeren Accente ift daher maaßgebend für die Taltart und ben rhythmiſchen Bau der Periode. Stellen wir uns eine ſolche maaßgebende Anordnung, als aus der Abs ſicht des Dichters fich herleitend, mit Folgendem vor.

Nehmen wir einen Ausbrud an, der von der Beſchaffenheit ift, daß er einem Athem die Betonung von drei Accenten ges ftattet, von denen der erfte ber ftärffte, der zweite (mie meift immer in diefem Salle anzunehmen ift) der ſchwächere, ber dritte dagegen wieder ein gehobener fein foll, jo wiirde der Dichter un- mwillfürlich eine Phrafe von zwei geraden Takten anordnen, von denen der erite auf feiner guten Hälfte ben ftärfften, auf feiner ſchlechten Hälfte den ſchwächeren, der zweite Takt auf feinem Niederſchlage aber den dritten, wiederum gehobenen Accent ent- halten würde. Die fchlechte Hälfte des zweiten Taltes würde zum Wthembolen und zum Auſtakte des erften Taftes der zweiten rhythmiſchen Phrafe verwendet werden, melde eine entſprechende Wiederholung der erften enthalten müßte. In dieſer Phrafe würden die Senfungen fi fo verhalten, daß fie. als Auftaft zu dem Niederfchlage des erften Taktes Hinaufitiegen, als Nach— taft von dieſem zu ber jchlechten Tafthälfte Hinabfielen, und von diefer als Auftakt zu der guten Hälfte des zweiten Taktes wieder hinaufftiegen. Die duch den Sinn der Phrafe etwa geforderte Verſtärkung and des zweiten Accentes würde (außer durch die melodiſche Hebung des Tones) rhythmiſch Leicht auch dadurch zu ermöglichen fein, daß entweder die Senkung zwifchen ihm und dem erften Accente, oder auch der Auftakt zu dem dritten gänz-

126 Oper und Drama:

lich ausfiele, was gerade diefem Zwiſchenaccente eine gejteigerte Aufmerkſamkeit zuziehen müßte.

Möge diefe Andeutung, der leicht zahlloſe ähnliche hinzu— zufügen wären, genügen, um auf bie unendliche Mannigfaltig- keit hinzuweifen, die dem Sprachverſe für feine ſtets ſinnvolle rhythmiſche Kundgebung zu Gebote fteht, wenn in ihm der Sprahausdrud, ganz feinem Inhalte gemäß, fi zum nothwen⸗ digen Aufgehen in die mufifalifhe Melodie in der Weife anläßt, daß er dieſe als die Verwirklichung feiner Abſicht auß ſich be- dingt. Durch die Zahl, Stellung und Bedeutung ber Accente, fowie durch Die größere oder mindere Beweglichfeit der Sen« Tungen zmwifchen ben Hebungen und ihre unerſchöpflich reichen Be— siehungen zu diefen, ift aus dem reinen Sptachvermögen heraus eine folde Fülle mannigfaltigfter rhythmiſcher Kundgebung be dingt, daß ihr Reichtfum und die aus ihnen quellende Befruch- tung des rein mufifalifchen Vermögens des Menfchen durch jede neue, aus innerem Dichterdrange entjprungene Kunftihöpfung nur als umermeßlicher fi Herausftellen muß.

Wir find durch den rhythmiſch accentuirten Sprachvers be reits fo dicht auf den gehaltenen Geſaugston hingemiefen wor— den, daß wir dem hier zu Grunde liegenden Gegenftande jetzt notwendig näher treten müffen.

Behalten wir fortgejegt das Eine im Auge, daß die dich- terifche Abficht fi nur durch vollftändige Mittheilung derſelben aus dem Veritande an das Gefühl verwirklichen läßt, fo haben wir hier, wo die Vorftellung bes Aktes diefer Verwirklichung durch jene Mittheilung uns bejcäftigt, ale Momente des Aus— druckes genau nach ihrer Fähigfeit zu unmittelbarer Kundgebung an die Sinne zu erforfchen, denn durch die Sinne unmittelbar empfängt einzig da8 Gefühl. Wir hatten zu diefem Zwecke aus der Wortphrafe alles Das auszufheiden, was fie für das Ges ' fühl eindrud3los und zum bloßen Organe des Verſtandes machte; wir drängten ihren Inhalt dadurch zu einem rein menfchlichen, dem Gefühle faßbaren zufammen, und gaben biefem Inhalte einen ebenfo gedrängten ſprachlichen Ausdruck, indem wir bie notwendigen Accente der erregten Mebe durch dichte Annähe-

Ditkunft und Tonkunft im Drama der Zukunft. 127

rung an einander zu einem, das Gehör (namentlich auch durch Wiederholung der Uecentenreihe) unwillkürlich feffelnden Rhyth— mos erhoben.

Die Uccente der fo beftimmten Phraſe können num nicht ander als auf Sprachbeftanbtheife fallen, in welchen der rein menjcliche, dem Gefühle faßbare Inhalt am entfchiedenften ſich ausbrüdt; fie werben daher jtetd auf diejenigen bebeutfamen Sprachwurzelſylben fallen, in welchen uriprünglic nicht nur ein beftimmter, dem Gefühle faßlicher Gegenstand, fondern auch die Empfindung, bie dem Eindrude dieſes Gegenftandes auf uns entſpricht, von und audgebrüdt wurde,

‚Che wir unfere ſtaatlich-politiſch ober religiös-dogmatiſch, bis zur vollſten Selbftunverftändlichfeit umgebilbeten Empfin- dungen nicht bis zu ihrer urfprünglicden Wahrheit gleichjam zurüd zu empfinden vermögen, find wir auch nicht im Stande, den finnlichen Gehalt unferer Sprachwurzeln zu faſſen. Was die wifjenfchaftliche Forſchung uns über fie enthüllt hat, kann nur den Verſtand belehren, nicht aber das Gefühl zu ihrem Verftänd- niffe beftimmen, und fein wiſſenſchaftlicher Unterricht, wäre er auch noch fo populär bis in unjere Volksſchulen hinabgeleitet, würde dieſes Sprachverſtändniß zu erwecken vermögen, dad und nur dur einen ungetrübten liebevollen Verkehr mit der Natur, aus einem nothivendigen Bebürfniffe nad) ihrem rein menfch- lichen Werftändniffe, Kurz aus einer Noth fommen kann, wie der Dichter fie empfindet, wenn er dem Gefühle mit überzeugen» der Gemißheit ſich mitzutheilen gedrängt iſt. Die Wiſſenſchaft bat und den Organismus der Sprache aufgededt; aber was fie und zeigte, war ein abgejtorbener Organismus, den nur die höchſie Dichternoth wieder zu beleben vermag, und zwar da— durch, daß fie die Wunden, die das anatomifche Sezirmefjer ſchnitt, dem Leibe der Sprache wieder jchließt, und ihm ben Athen einhaucht, der ihn zur Selbftbewegung befeele. Dieſer Athem aber ift die Mufil.

Der nad; Erlöfung ſchmachtende Dichter fteht jet im Win- terfrofte der Sprache ba, und biidt fehnfüchtig über die prag- matiſch profaifchen Schneefläen hin, von denen daB einit jo üppig prangende Gefilde, dad Holde Angefiht der liebenden Mutter Erde bebedt ifl. Vor feinem fchmerzlich heißen Athem- hauche ſchmilzt aber da und dort, wohin er ſich ergießt, der ſtarre

. 128 Opyper und Drama:

Schnee, und fiehe da! aus dem Schooße der Erde fprießen ihm frifhe grüne Keime entgegen, die auß den erftorben ge- wähnten alten Wurzeln neu und üppig emporichießen, bis die warme Sonne de3 nie alternden neuen Menfchenfrühlings herauffteigt, allen Schnee hinwegſchmilzt, und den Keimen Die wonnigen Blumen entblühen, die mit lächelndem Auge froh die Sonne begrüßen.

Jenen alten Urwurzeln muß, wie den Wurzeln ber Pflan- zen und Bäume fo lange fie noch in dem wirklichen Erdboden ſich feitzuhalten vermögen, eine immer neu zeugende Kraft inne- wohnen, jobald auch fie auß dem Boden bes Volkes felbft noch nicht herausgeriſſen worden find. Das Volk bewahrt ‚aber, unter ber froftigen Schneebede feiner Civilifation, in der Un-

willkür feines natürlichen Sprachausdruckes die Wurzeln, durch die es felbft mit dem Boden ber Natur zufammenhängt, und Jeder wendet fih ihrem unwillkürlichen Verſtändniſſe zu, der aus der Haß unſeres ftantögefhäftlichen Sprachverkehres fich einer liebevollen Anfhauung der Natur zufehrt, und fo dem Gefühle diefe Wurzeln durch einen unbewußten Gebrauch vom ihren verwandtſchaftlichen Eigenfhaften erſchließt. Der Dichter ift nun aber der Wifjende des Unbemwußten, der abfichtliche Darfteller des Unwillkürlichen; das Gefühl, das er dem Mitgefühle kundgeben will, lehrt ihn ben Ausbrud, deffen ex fi) bedienen muß: fein Verftand aber zeigt ihm die Noth- mendigfeit dieſes Ausdrudes. Will der Dichter, der fo aus dem Bewußtfein zu dem Unbewußtjein fpricht, ſich Rechenſchaft von dem natürlichen Zwange geben, aus dem er dieſen Ausbrud und feinen anderen gebrauchen muß, fo lernt er bie Natur dieſes Ausdrudes Fennen, und in feinem Drange zur Mittheilung ge— winnt er auß dieſer Natur daS Vermögen, dieſen Ausdrud als einen nothwendigen feldft zu beherrſchen. Forſcht nun der Dichter nach der Natur des Wortes, das ihm von dem Gefühle als das einzige bezeichnende für einen Gegenftand, oder eine durch ihn erwedte Empfindung, aufgenöthigt wird, fo erfennt ex diefe ziwingende Kraft in der Wurzel dieſes Wortes, die aus der Nothwendigkeit des urſprünglichſten Empfindungszwanges des Menſchen erfunden oder gefunden ward. Verſenkt er ſich tiefer in den Organismus diefer Wurzel, um der gefühlszwin- genden Sraft inne zu werben, die ihr zu eigen fein muß, weil

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft, 129

fie aus ihr fo beftimmend ſich auf. fein Gefühl äußert, fo gewahrt er endlich den Duell diefer Kraft in dem rein finnlichen Körper diefer Wurzel, defjen urfprünglichfter Stoff der tönende Laut iſt. . .

Diefer tönende Laut ift daß verkörperte innere Gefühl, das feinen verförperuden Stoff in dem Momente feiner Kundgebung nad; Außen gewinnt, und zwar gerade jo gewinnt, wie er ſich nad der Befonberheit ber Erregung in dem tönenden Zaute diefer Wurzel fundgiebt. In biefer Hußerung des inneren Gefühles Liegt nun auch der zwingende Grund ihrer Wirkung durch Anregung bed entſprechenden inneren Gefühles des an— ‚deren Menjchen, am den jene Äußerung gelangt; ımb biejer Gefühlszwang, will ihn der Dichter auf Andere fo ausüben, wie er ihn felbft empfand, ermöglicht ſich nur durch die größte Fülle in der Hußerung des tönenden Lautes, in weichem ſich daß be— fondere innere Gefühl am erfhöpfendften und überzeugenditen einzig mittheilen Tann.

Diefer tönende Laut, der bei volliter Kundgebung der in ihm eithaltenen Fülle ganz von felbft zum mufifalifhen Tone wird, ift für die befondere Eigenthümlichkeit feiner Kundgebung in der Spradhmurzel aber durch die Mitlauter beftinmt, bie ihn auß einem Momente allgemeinen Ausdrudes zum befon- deren Ausdrucke biefe einen Gegenftandes oder biefer einen Empfindung beftimmen. Der Konfonant hat fomit zwei Haupt wirffamteiten, die wir, ihrer entſcheidenden Wichtigkeit wegen genau zu beachten haben.

Die erfte Wirffamfeit des Konſonanten bejteht darin, daß er dem tönenden Laut ber Wurzel zu beftimmter Charafte- riftif dadurch erhebt, daß er fein unendlich flüffiges Element fiher begrenzt, und durch die Linien diefer Umgrenzung gewiſſer⸗ maßen feiner Farbe die Zeichnung zuführt, die ihm zur genau unterfcheidbaren, kenntlichen Geftalt macht. Dieſe Wirkſamkeit des Konfonanten ijt demnach vom Vokale ab nach Außen ge wandt. Sie geht darauf hin, das vom Vokale zu Unterjcheidende beftimmt von ihm abzufondern, zwifchen ihm und dem zu Unter- ſcheidenden ſich gleichſam als Grenzpfahl Hinzuftellen. Dieſe wichtige Stellung nimmt der Konſonant vor dem Volale, als

Rigard Wagner, Gel. Sqhriften IV. 9

130 Oper und Drama:

Anlaut, ein; als Ablaut, nad dem Vokale, ift er infofern von minderer Wichtigkeit für die Abgrenzung des Vokales nach Außen, als diefer in feiner charakteriftiihen Eigenfhaft fich be- reits vor dem Mitllingen des Ablautes kundgegeben haben muß, und dieſes fomit mehr aus dem Vokale ſelbſt als fein ihm noth- wendiger Abſatz bedingt wird; wogegen er allerdings dann von entſcheidender Wichtigkeit ift, wenn der Ablaut durch Verftär- tung des Ronfonanten den vorlautenden Bofal in der Weiſe beftimmt, daß der Ablaut felbft zum cdharakteriftiihen Haupt- momente der Wurzel fich erhebt.

Auf die Veitimmung des Volales durch den Konfonanten tommen wir nachher zurüd; für jegt Haben wir die Wirkſamkeit des Konfonanten nad) Außen und vorzuführen, und dieſe Wirk famfeit äußert er am entjcheidendften in der Stellung vor bem Vokale der Wurzel, als Anlaut. In diefer Stellung zeigt er und gewifjermaßen das Angeſicht der Wurzel, deren Leib als warmſtrömendes Blut der Vokal erfüllt, und deren, dem be— trachtenden Auge abliegende Rückſeite der Ablaut ift. Verſtehen mir unter bem Ungefichte der Wurzel die ganze phyſiognomiſche Außenfeite des Menfchen, die uns biefer beim Begegnen zu— wendet, fo gewinnen wir eine genau entjprechende Bezeichnung für die entjcheidende Wichtigfeit des konſonirenden Anlautes. In ihm zeigt fi ung bie Individualität ber begegnenden Wurzel zunäcft, wie der Menſch zunächſt durch feine phyſiognomiſche Außenfeite und als Individualität erſcheint, und an dieſe Außen- feite Halten wir uns fo lange, bis das Innere durch breitere Ent- widelung fih uns hat fundgeben können. Dieſe phyfiognomifche Außenfeite der Sprachwurzel theilt fich fo zu fagen dem Auge des Sprachverſtändniſſes mit, und dieſem Wuge hat fie der Dichter auf das Wirkungsvollite zu empfehlen, ber, um von dem Gefühle vollftändig begriffen zu werben, feine Ge- ftalten dem Auge und dem Ohre zugleich vorzuführen Hat. Wie nun aber da8 Gehör eine Erfcheinung unter vielen anderen als tenntlih und Aufmerkſamkeit feſſelnd nur dadurch faſſen kann, daß fie fih ihm in einer Wiederholung vorführt, bie ben an— deren Erſcheinungen eben nicht zu Theil wird, und durch dieſe Wiederholung ihm als daS Ausgezeichnete hinftellt, daß als ein Wichtige3 feine vorzügliche Theilnahme erregen foll, jo ift auch jenem „Auge“ des Gehöre3 die wiederholte Vorführung der

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 131

Erſcheinung nothwendig, die fi als eine unterfchiebene und be- ftimmt kenntliche ihm darſtellen foll. Die nad) der Nothwendig⸗ teit de Athems rhythmiſch gebundene Wortphrafe theilte ihren inhaltlihen Sinn nur dadurch verftändlih mit, daß fie durch mindeftend zwei ſich entfprechende Accente, in einem dad Be— dingende wie bad Bedingte umfafienden Bufammenhange, ſich Tundgab. In dem Drange, das Verftändniß der Phraſe al eines Gefühlsausdrudes dem Gefühle zu erſchließen, und im Vewußtfein, daß diefer Drang nur durch die erregtefte Theil- nahme des unmittelbar empfangenden finnlichen Organes zu be friebigen ift, hat nun der Dichter die nothwendigen Uccente des rhythmiſchen Verfes, um fie dem Gehöre auf das Wirkungsvollſte zu empfehlen, in einem Gewande vorzuführen, das fie nicht nur von ben unbetonten Wurzelwörtern der Phrafe vollfommen un- terjcheibet, fondern dieſe Unterfcheidung dem „Auge“ des Ge- höres auch dadurch merklich macht, daß es fich als ein gleiches, ähnliches Gewand beider Accente barftellt. Die Gleichheit der Phyfiognomie der durch den Spradjfinn accentuirten Wurzel: wörter macht dieſe jenem Auge fchnell fenntlih, und zeigt fie ihm in einem verwandtſchaftlichen Verhältniſſe, das nicht nur dem finnlihen Organe ſchnell faßlich ift, fondern in Wahrheit aud dem Sinne ber Wurzel innewohnt.

Der Sinn einer Wurzel ift die in ihr verkörperte Empfin- dung von einem Gegenftande; erſt die verkörperte Empfindung ift aber eine verftänbliche, und diefer Körper ift ſowohl felbft ein finnliher, als auch ein nur von dem entſprechenden Ge- hörfinne entjcheibend wahrnefmbarer. Der Ausdrud des Dich- terd wird daher ein ſchnell verftändlicher, wenn er die auszu—⸗ drüdende Empfindung zu ihrem innerften Gehalte zufamnıen- drängt, und dieſer innerjte Gehalt wird in feinen bedingenben wie bedingten Momente nothwendig ein. verwandtihaftlih ein= heitlicher fein. Eine einheitliche Empfindung äußert fi) aber unwillkürlich aud in einem einheitlichen Ausdrude, und diejer einheitliche Ausdruck gewinnt feine vollfte Ermöglihung aus der Eingeit der Sprachmwurzel, die ſich in der Vermandtichaft des bedingenden und des bedingten Hauptmomentes der Phrafe offenbart. Eine Empfindung, die fi in ihrem Ausbrude durch den Stabreim der unmillfürlich zu betonenden Wurzelmörter rechtfertigen Tann, ift und, fobald die Verwandtichaft der Wur⸗

gr

132 Oper und Drama:

zeln durch den Sinn der Rede nicht abſichtlich entftellt und uns Tenntlic wird wie in der modernen Sprache —, ganz uns zweifelhaft begreiffih; und erft wenn dieſe Empfindung in foldem Ausbrude als eine einheitliche unfer Gefühl unwillkürlich beftimmt hat, rechtfertigt fi vor unferem Gefühle auch die Miſchung diefer Empfindung mit einer anderen. Eine gemifchte Empfindung dem bereit beitimmten Gefühle ſchnell verjtändlich zu maden, hat die dichterifche Sprache wiederum im Stab- reime ein unendlich vermögendes Mittel, das wir abermals als ein ſinnliches in der Bedeutung bezeichnen fönnen, daß auch ein umfafender und doch beitimmter Sinn in der Sprachwurzei ihm zu Grunde liegt. Der finnig-finnlihe Stabrein vermag den Ausdruck einer Empfindung mit dem einer anderen zunächft durch feine rein finnlihe Eigenfhaft in der Weife zu verbinden, daß die Verbindung dem Gehöre lebhaft merklich wird und als eine natürliche fih ihm einfchmeichelt. Der Sinn des ftabge reimten Wurzelwortes, in welchem bereits die neu hinzugezogene andere Empfindung fich fundgiebt, ftellt fi), durch die unwill- kürliche Macht des gleichen langes auf das finnliche Gehör, an ſich aber ſchon al3 ein Verwandtes heraus, als ein Gegen- fag, der in der Gattung der Hautempfindung mit inbegriffen ift, und als folcher nad) feiner generellen Verwandtſchaft mit der zuerſt ausgedrüdten Empfindung durch das ergriffene Gehör dem Gefühle, umd durch diefes endlich felbft dem Verſtande, mitgetheilt wird*).

Das Vermögen des unmittelbar empfangenden Gehöres ift hierin fo unbegrenzt, daß es bie entfernteft von fich abliegenden Empfindungen, fobald fie ihm in einer ähnlichen Phyfiognomie vorgeführt werben, zu verbinden weiß, und fie dem Gefühle als verwandte, rein menfchliche, zur umfafjenden Aufnahme zumeift. Wa3 ift gegen diefe allumfafjende und allverbindende Wunber- macht des finnlichen Organes der nadte Verftand, ber ſich diefer Wunderhilfe begiebt und den Gehörfinn zum fHavifchen Lajt- träger feiner ſprachlichen Induſtriewaaren-Ballen macht! Diejes finnlihe Organ ift gegen Den, ber ſich ihm Tiebevoll mittdeilt, fo Hingebend und überfchwenglich reich an Liebesvermögen, daß es das durch den wühleriſchen Verſtand millionenfach Berriffene

Dichtkunſt und Tontunft im Drama der Zukunft. 133

und Zertrennte als Reinmenſchliches, urfprünglich und immer und ewig Einiges wieberherzuftellen, und dem Gefühle zum ent- züdendften Hochgenuſſe darzubieten vermag. Naht Eud) diefem herrlichen Sinne, Ihr Dichter! Naht Euch ifm aber als ganze Männer und mit vollem Vertrauen! Gebt ihm da8 Umfang- reichſte, was IHr zu faſſen vermögt, und was Euer Verjtand nicht binden kann, daS wird diefer Siun Euch binden und als unenblihes Ganzes Euch wieder zuführen. Drum fommt ihm herzhaft entgegen, Aug’ in Aug’; bietet ihm Euer Angeficht, das Angeficht des Wortes, nicht aber das welfe Hintertheil, das Ihr ſchlaff und matt im Endreim Eurer profaifchen Rede nad ſchleppt und dem Gehöre zur Abfertigung Hinhaltet, wie als ob es Eure Worte um den Lohn dieſes Findifchen Geklingels, das man Wilden und Albernen zur Beſchwichtigung vormacht, ungeftört durch feine Pforte zu dem neu zerjegenden Hirne einlaffen folle. Das Gehör ift fein Rind; es ift ein ftarfes, liebevolle Weib, das in feiner Liebe Den am höchſten zu be— feligen vermag, der in ſich ihm den volliten Stoff zur Beſeli— gung zuführt,

Und wie wenig boten wir biß jeßt noch dieſem Gehöre, da wir ihm foeben nur den konſonirenden Stabreim zuführten, durch den allein ſchon es uns das Verſtändniß aller Sprache erſchloß! Forſchen wir weiter, um zu ſehen, wie dieſes Sprach⸗ verftändniß durch die höchſte Erregung des Gehöres ſich zum höchſten Menfchenverftändniffe zu erheben vermag.

Wir haben nochmals zu dem Konfonanten zurückzukehren, um ibn in feiner zweiten Wirkſamkeit uns vorzuftellen.

Die befähigende Kraft, felbft Die anfcheinend verfchiedenften Gegenftände und Empfindungen dem Gehöre duch den Reim des Anlautes als verwandt vorzuführen, erhält der Konfonant, der hierin feine Wirkſamkeit nach Außen fundgab, wiederum nur aus feiner Stellung zu dem tönenden Vokale der Wurzel, in der er feine Wirkfamfeit nah Innen, durch Beſtimmung des Charalter8 des Vokales felbft, äußert. Wie der Konfo- nant den Vokal nach Außen abgrenzt, jo begrenzt er ihn auch nad Innen, d. 5. er beftimmt die befondere Eigenthümlichteit feiner Kundgebung durch die Schärfe oder Weicjheit, mit ber

134 Oper und Drama:

ex ihn nach Innen berührt”). Diefe wichtige Wirkung des Kon- fonanten nad Innen bringt und aber in fo unmittelbare Be— rührung mit dem Vokale, daß wir jene Wirkung zu einem großen Theile wiederum nur aus dem Wofale felbft begreifen Tönnen, auf den wir, als den eigentlichen vechtfertigenden In— Halt der Wurzel, mit unwiderſtehlicher Nothiwendigfeit hinge- wieſen werben.

Wir bezeichneten die umgebenden Konfonanten als das Gewand des Volales, oder, beftimmter, als feine phyſiognomiſche Außenfeite. Bezeichnen wir fie nun, und zumal um ihrer er- Tannten Wirkung nad Innen willen, noch genauer als das organiſch mit dem Inneren des menſchlichen Leibes verwachſene Fleiſchfell deſſelben, ſo erhalten wir eine getreu entſprechende Vorſtellung von dem Weſen des Kouſonanten und des Vokales, ſowie von ihren organiſchen Beziehungen zu einander. Faſſen mir den ®ofal als den ganzen inneren Organismus des Ieben- digen menfchlichen Leibe, der aus ſich heraus die Geftaltung feiner äußeren Erfcheinung jo bedingt, wie er fie dem Auge bes Befchauenden mittheilt, fo Haben wir den Konfonanten, die ſich als dieſe Erfheinung eben dem Auge darftellen, außer diejer Wirffamkeit nach Außen auch die wichtige Thätigfeit zuzufprechen, die darin hefteht, daß fie dem inneren Organismus durch die verzweigte Zuſammenwirkung der Empfindungsorgane diejenigen äußeren Eindrüde zuführen, die diefen Organismus für feine Befonderheit im Außerungsvermögen wiederum beftimmen. Wie nun das Fleifchfell des menfchlichen Leibes eine Haut Hat, die es nad) Außen vor dem Auge begrenzt, fo hat es auch eine Haut, die es nach Innen ben inneren Lebensorganen zumendet: mit diefer inneren Haut ift e8 von diefen Organen aber keinesweges

*) Der Sänger, ber aus dem Vokale den vollen Ton zu ziehen hat, empfindet ſehr lebendig den beſtimmenden Unterſchied, den ener- giſche Konfonanten wie K, R, P, T —, ober gar verftärkte wie Schr, Sp, St, Pr —, und ſchlaffere, weiche wie G, 8, 8, D, W, auf den tönenden Laut äußern. Ein verſtärkter Ablaut nd, rt, ſt, ft giebt da, wo er murzelhaft ift wie in „and“, „hart“, „Haft“, „Kraft“ —, dem Bolale mit folcher Beftimmtheit die Eigenthümlichfeit und Dauer feiner Kundgebung an, daß er biefe letztere als eine kurze, lebhaft gebrängte geradesweges bedingt, und daher ald dharakteriftiihes Merkmal der Wurzel zum Reime als Afjonanz fi beftimmt (wie in „Hand“ und „Mund“),

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 135

volftändig abgefondert, fonbern an ihr hängt ed vielmehr mit diefen in der Weife zufanmen, daß es von ihnen feine Nahrung und fein nad; Außen zu wendendes Geſtaltungsvermögen ge— winnen fann. Das Blut, diefer nur in ununterbrochenem ließen lebengebende Saft des Leibes, dringt von dem Herzen aus, vermöge jenes Bufammenhanged des Fleiſchfelles mit den inneren Organen, bis in die äußerjte Haut dieſes Fleiſches vor; von ba aus fließt e8 aber, mit Hinterlafjung der nötigen Nah- rung, wieder zurücd zum Herzen, welches nun, wie in Überfülle inneren Reichthumes, durch den Athem der Lungen, die bem Blute zur Belebung und Erfrifhung den äußeren Luftftrom zuführten, dieſen von feinem bewegten Inhalte gefchtwängerten Luftfteom, als eigenfte Kundgebung feiner lebendigen Wärme, nad Außen unmittelbar felbft ergießt. Dieſes Herz ift ber tönende Laut in feiner reichiten, felbftändigften Thätigfeit. Sein belebendes Bat, dad er nad Außen zum Konfonanten verbichtete, ehrt, da es in feiner Überfülle durch dieſe Verdich— tung durchaus nicht aufgezehrt werden fonnte, von diefem zu feinem eigenften Sige zurüd, um durch den das Blut wiederum unmittelbar belebenden Luftſtrom ſich ſelbſt im höchſter Fülle nach Außen zu wenden.

Nach Außen wendet ſich der innere Menſch als tönender an das Gehör, wie feine äußere Geftalt ſich an das Geſicht " wandte. Als diefe äußere Geftalt des Wurzelvokales er» Tannten wir den Ronfonanten, und wir mußten, da Vokal wie KRonfonant ih an das Gehör mittheilen, dieß Gehör uns nad) einer hörenden und fehenden Eigenſchaft vorftellen, um dieſe legtere für den Konfonanten, gleichſam den äußeren Sprach menſchen, in Anfpruch zu nehmen. Stellte ſich diefer Konfonant, den wir nach feiner äußerften und michtigften, finnlichen wie finnigen, Wirkjamfeit im Stabreime und vergegenwärtigten, nun ° dem „Auge“ des Gehöres bar, fo theilt fich dagegen jegt ber Vokal, den wir nad) feiner eigenften Iebengebenden Eigenfchaft erkannten, dem „Ohre“ des Gehöres ſelbſt mit. Nur aber, wenn er nad) feiner vollften Eigenfchaft, ganz in der felbftän- digen Fülle, wie wir fie den Konfonanten im Stabreime ent- falten ließen, nicht nur als tönender Laut, fondern als lau— tender Ton fich Fundzugeben vermag, ift er int Stanbe, jenes „Ohr“ des Gehöres, deſſen „Sehfraft* wir nach Höchfter Fähig-

136 Dper und Drama!

keit für den Konfonanten in Anſpruch nahmen, nach der unenb- lichen Fülle feines hörenden Vermögens in dem Grade zu er- füllen, daß es im daß nothwendige Übermaag von Entzüden geräth, aus welchem e3 da8 Empfangene an das zu höchſter Er- regung zu fteigernde Allgefühl des Menſchen mittheilen muß. Wie fi und zu vollfter, befriedigendfter Gewißheit nur der- jenige Menfch darftellt, der unferem Auge und Ohre zugleich ſich fundgiebt, fo überzeugt auch das Mittheilungsorgen des inneren Menſchen unfer Gehör nur dann zu vollftändigiter Ge— wißheit, wenn e3 fi dem „Auge und dem Ohre“ dieſes Gehöres gleichbefriedigend mittHeilt. Dieß gefchieht aber nur durch die Wort-Tonfprade, und der Dichter wie der Mufifer theilte biöher nur den halben Menfchen mit: der Dichter wandte fid) nur an das Auge, der Mufifer nur an das Ohr dieſes Gehöres. Nur dad ganze fehende und hörende, das ift das vollfommen verftehende Gehör, vernimmt aber den inneren Menſchen mit untrüglicher Gewißheit.

Jene zwingende Kraft, die der Sprachwurzel innewohnte und den nach ſicherſtem Gefühlsausdrucke ſuchenden Dichter mit Nothwendigkeit dazu beſtimmte, ſich gerade dieſes einen, ſeiner Abſicht einzig entſprechenden Wurzelwortes zu bedienen, erkennt dieſer Dichter nun mit überzeugendſter Gewißheit in dem tönen- den Vokale, fobald er ihn in feiner höchſten Fülle ald wirklichen athembefeelten Ton fih vorführt. In diefem Tone fpricht fi am unverfennbarften der Gefühlsinhalt des Vokales aus, der aus innerfter Nothwendigkeit gerade in biefem und feinem an- deren Vokale ſich äußern fonnte, wie diefer Vokal, dem äußeren Gegenftande gegenüber, gerade diefen und feinen anderen Kon- fonanten aus ji nach Außen verdichtet. Diefen Vokal in feinen höchſten Gefühlsausdrud auflöfen, ihn nach höchſter Fülle im Herzenögefangstone ji) ausbreiten und verzehren laſſen, Heißt für den Dichter fo viel, ald das bisher willfürlich und deßhalb beuntuhigend Erjcheinende in feinem dichteriſchen Ausdrude zu einem Unwillfürlichen, da8 Gefühl jo beitimmt Wiebergebenden als beftimmend Erfaffenden, machen. Volle Beruhigung gewinnt er daher nur in ber vollſten Erregtheit feines Ausdruckes; da- dur, daß er fein Ausbrudsvermögen nad) ber Höchften, ihm innewoßnenden Fähigkeit verwendet, macht er es einzig zu dem Organe de Gefühles, das dem Gefühle wiederum unmittelbar

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft, 137

ſich mittHeilt; und aus feinem eigenen Sprachvermögen erwächſt ihm dieſes Organ, fobald er es nad) feiner ganzen Fähigkeit ermißt und verwendet.

Der Dichter, der zu möglichft beftimmter Mittheilung einer Empfindung bereit die, nady Sprachaccenten ‚geordnete Reihe im muſikaliſchen Takte fi fundgebender Wörter durch den fon- fonirenden Stabreim zu einem, dem Gefühle leichter mittheil- baren ſinnlichen Verftändniffe zu bringen fuchte, wird dieß Ges füglsverftändniß nun -immer vollkommener ermöglichen, wenn er die Vokale der accentuirten Wurzelmörter, wie zuvor ihre Konfonanten, wiederum zu einem Neime verbindet, der ihr Ver- ftändniß dem Gefühle auf das Beſtimmendſte erſchließt. Das Verftändniß des Volaled begrünbet ſich aber nicht auf feine ober- flächliche Verwandtſchaft mit einem gereimten auderen Wurzel- volale, fondern, da alle Vokale unter ſich urverwandt find, auf die Aufdelung diefer Urverwandtſchaft durch die volle Geltendmachung feines Gefühlsinhaltes vermöge des mufilalifhen Tones. Der Vokal ift jelbft nichts Au— deres, ald der verdichtete Ton: feine befondere Kundgebung beftimmt fich durch feine Wendung nad) der äußeren Oberfläche des Gefühlslörpers, der wie wir ſagten dem Auge des Gehöres das abgefpiegelte Bild des äußeren, auf den Gefühls— körper wirkenden, Gegenftandes barftellt; die Wirkung bes Gegenftandes auf den Gefühlskörper felbft giebt der Vokal durch unmittelbare Außerung bes Gefühles auf dem ihm nächften Wege fund, indem er feine, von Außen empfangene Individua— lität zu der Univerfalität des reinen Gefühlsvermögens aus— dehnt, und dieß geſchieht im mufitalifhen Tone. Was ben Vokal gebar und ihn zu befonderiter Verdichtung zum Konfo- nanten nad; Außen beftimmte, zu dem kehrt er, von Außen be— veichert, ald ein befonderer zurüd, um fi) in ihm, dem nun ebenfalls Bereicherten, aufzulöfen: diefer bereicherte, individuell gefeitigte, zur Gefühlsuniverfalität ausgedehnte Ton ift das erlöfende Moment des dichtenden Gedankens, der in diefer Er- löſung zum unmittelbaren Gefühlserguffe wird.

Dadurch, daß der Dichter den Vokal des accentuirten und ftabgereimten Wurzelwortes in fein Mutterelenent, den muſi— talifhen Ton, auflöft, tritt er mit BeftimmtHeit nun in die Ton— ſprache ein: von dieſem Wugenblide an hat er die Verwandt

138 Oper uud Drama:

ſchaft der Accente nicht mehr nad; einem, jenem Auge des Ge— höres erfennbaren Maaße zu beftunmen, fondern die für das ſchnelle Empfängniß des Gefühles als nothwendig erforderliche Verwandtſchaft der zu muſilaliſchen Tönen gewordenen Vokale beftimmt ſich nun nad) einem Maaße, das, nur jenem Ohre des Gehöres erkennbar, in feiner empfängnißfähigen Eigenthümlich- leit ſicher und gebieteriſch begründet iſt. Die Verwandtſchaft der Volale zeigt ſich ſchon für die Wortſprache als eine ihnen allen urgleihe mit folder Beftimmtheit, daß wir Wurzelfylben, denen ber Anlaut fehlt, allein fchon aus dem Dffenftehen des Vokales nad) vorn ald ftabzureimende erfennen, und Hierin keinesweges durdy die volle äußere Ähnlichkeit des Bofales be ſtimmt werden; wir reimen z. B. „Aug’ und Ohr“*). Diefe Urverwandtfchaft, die in der Wortſprache als ein unbewußtes Gefühlsmoment ſich erhalten Hat, bringt die volle Tonſprache dem Gefühle zum untrüglichen Bewußtjein; indem fie den be- fonderen Vokal zum mufifaliihen Tone erweitert, theilt fie feine Befonderheit unferem Gefühle ald in einem urberwandtidaft- lichen Verhältniſſe enthalten und aus diefer Verwandtſchaſt ge- boren mit, und läßt ung als die Mutter der reichen Zolalfamilie das unmittelbar nad) Außen gewandte rein menſchliche Gefühl feloft erkennen, das fi) nur nad) Außen wendet, um wiederum unferem rein menfchlihen Gefühle fih mitzutheilen.

Die Darftellung der Verwandtichaft der zu Tönen gewor— denen Volallaute an unſer Gefühl kann daher nicht mehr der Wortdichter bewerfftelligen, fondern der Tondichter.

II.

Der charakteriſtiſche Unterfchied zwifchen Wort» und Ton: dichter befteht darin, daß der Wortdichter unendlich zerftreute, nur dem Berftande wahrnehmbare Handlungs, Empfindungs:

*) Wie vortrefflich bezeichnet in biefem Meime die Sprache die

‚mei nad Außen offenliegendften Empfängnißorgane durch die nad

ußen ebenfalls offenliegenden Vokale; es ift, ald ob dieſe Organe

hierin als mit der ganzen Fülle ihrer univerjelen Empfängnißfraft

u a Innern unmittelbar und nadt nad) Außen gewandt fi unbgäben.

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 139

und Ausdrucksmomente auf einem, dem Gefühle möglichſt er- Iennbaren Punkt zufammendrängte; wogegen nun der Tondichter den zufammengebrängten dichten Punkt nach feinen vollen Ge- fühlsinhalte zur höchſten Fülle auszubehnen hat. Das Ver— fahren des dichtenden Verftandes ging im Drange nah Mit teilung an das Gefühl dahin, aus den weiteften Fernen fich zu Dichtefter Wahrnehmbarkeit durch das finnfihe Empfängniß- vermögen zu fammeln; von hier aus, vom Punkte der unmittel: baren Berührung mit dem finnlihen Empfängnißvermögen, hat fih das Gedicht ganz fo außzubreiten, wie das empfangende finnliche Organ, das zur Wahrnehmung des Gedichtes ſich eben- falls auf einen dichten, nad) Außen gewandten Punkt zufammen- drängte, unmittelbar durch bie Empfängniß fi) in weitere und immer weitere Kreiſe, biß zur Erregung alles innerlihen Em- pfindungsvermögens, ausbreitet.

Das Berfehrte in dem nothgedrungenen Verfahren des ein- famen Dichter und des einfamen Mufifer lag bisher eben darin, daß der Dichter, um dem Gefühle fich faßlich mitzuteilen, ſich in jene vage Breite außbehnte, in der er zum Schilderer taufen= der von Einzelnheiten wurde, die eine beftimmte Geftalt ber Phantaſie fo kenntlich wie möglich vorführen follten: die von vielfahen bunten Einzeluheiten bedrängte Phantafie Tonnte fi) des vorgeführten Gegenitanded endlich immer wieder nur da— durch bemächtigen, daß fie diefe verwirrenden Einzelnheiten ge— nan zu faffen fuchte, und hierdurch in die Wirkſamkeit des reinen Verftandes ſich verlor, an den der Dichter fich einzig nur wieder wenden konnte, wenn er von ber mafienhaften Breite feiner Schilderungen betäubt ſich ſchließlich nach einem ihm vertrauten Anhaltspunkte umſah. Der abfolute Mufiter jah fi) dagegen bei feinen Geftalten gedrängt, ein unenblich weites Gefühls— element zu beftimmten, dem Verſtande möglichſt wahrnehmbaren Punkten zufammenzudrängen; er mußte hierzu ber Fülle feines Elemente3 immer mehr entjagen, dad Gefühl zu einem an fi) aber unmöglihen Gedanken zu verdichten ſich mühen, und endlich biefe Verdichtung nur durch vollftändige Entllei- dung von allem Gefühlsausdrucke als eine gedachte, einem be- liebigen äußeren Gegenftande nachgeahmte Erfcheinung, der will- fürlihen Phantafie empfehlen. Die Mufif glich fo dem lieben Gotte unferer Legenden, der vom Himmel auf bie Erbe herab-

140 Dper und Drama:

ftieg, um fi dort aber erfichtlich zu machen, Geftalt und Ge— wand gemeiner Alltagsmenjchen annehmen mußte: feiner merfte in dem oft zerlumpten Bettler mehr den lieben Gott. Der wahre Dichter fol nun aber kommen, der mit bem hellfehenden Auge der höchſten erlöfungöbebürftigen DichternotH in dem ſchmutzigen Bettler den erlöfenden Gott erkennt, Krüden und Lumpen von ihm nimmt, und auf dem Hauche feines fehnfüchtigen Verlan— gend mit ihm fi) in die unendlichen Räume aufichtwingt, in bie der befreite Gott mit feinem Athem unendliche Wonnen des feligften Gefühles auszugießen weiß. So wollen wir die kärg— lie Sprache de Alltagsleben, in welchem wir noch nit Das find, was wir fein können, und deßhalb auch nod nit kund— geben, was wir fundgeben können, Hinter und werfen, um im Kunftwerke eine Sprache zu reden, in der wir einzig Das aus—

zufprechen vermögen, was wir fundgeben müffen, wenn wir

ganz Das find, was wir fein fönnen.

Dem Zondichter Hat num die Töne des Verſes nad ihrem verwandtſchaftlichen Ausdrudsvermögen fo zu beftimmen, daß fie nicht nur den Gefühlsinhalt dieſes oder jenes Vokales, als befonderen Vokales, fundgeben, fondern diefen Inhalt zu: gleich als einen allen Tönen des Verſes verwandten, und diefen verwandten Inhalt als ein befonderes Glied der Ur— verwandtſchaft aller Töne dem Gefühle darftellen.

Dem Wortdichter war die Aufdelung einer dem Gefühle und durch dieſes dem Verſtande endlich ſelbſt einleuchtenden Verwandtſchaft der von ihm hervorgehobenen Accente nur durch den fonfonirenden Stabreim der Sprachwurzeln möglich; was diefe Verwandtſchaft beftimmte, war aber gerade nur die Be— fonderheit des gleichen Konfonanten; Tein anderer Konfonant Tonnte fi mit dieſem reimen, und die Verwandtſchaft war daher nur auf eine befondere Familie beſchränkt, die gerade nur da: durch dem Gefühle kenntlich war, daß fie als eine durchaus ges trennte Familie fi fundgab. Der Tondichter dagegen Hat über einen verwandtſchaftlichen Zuſammenhang zu verfiigen, der biß in das Unendliche reicht; und mußte ſich der Wortdichter Damit begnügen, durch die volle Gleichheit ihrer anlautenden Konſo—

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 141

nanten gerabe nur bie beſonders herborgehobenen Wurzelmörter feiner Phrafe dem Gefühle als ſinnlich wie finnig verwandt vor⸗ zuführen, fo hat ber Muſiker dagegen bie Verwandtichaft feiner Töne znnähft in der Ausdehnung darzuftellen, daß er fie von den Xccenten aus über alle, auch unbetonteren Vokale der Phraſe ausgießt, jo daß nicht die Vokale der Accente allein, fondern alle Vokale überhaupt al3 unter ſich verwandt dem Ge— fühle fich darftellen.

Wie die Accente in ber Phrafe ihr befonderes Licht nicht nur zuerft duch den Sinn, fondern in ihrer finnlihen Kund- gebung durd) bie in der Senkung befindlichen, unbetonteren Wör- ter und Sylben erhalten, fo haben auch die Haupttöne ihr be- ſonderes Licht von den Nebentönen zu gewinnen, welche zu ihnen fi) ganz fo zu verhalten Haben, wie die Auf- und Abtakte zu den Hebungen. Die Wahl und Bedeutung jener Nebenwörter und Eylben, fowie ihre Beziehung zu den accentuirten Wörtern ward zunächſt von dem Berftandesinhalte der Phrafe beftimmt; nur in dem Grade, als diefer Verftandesinhalt durch Verdich— tung umfangreicher Momente zu einem gedrängten, dem Gehör- finne auffallend wahrnehmbaren Ausdrude gefteigert wurde, ver- wandelte er fi in einen Gefühlsinhalt. Die Wahl und Bes deutung der Nebentöne, ſowie ihre Beziehung zu den Haupttönen - ift nun vom Verftandesinhalte der Phrafe infofern nicht mehr abhängig, als diefer im rhythmiſchen Verſe und im Stabreime bereit zu einem Gefühlsinhalte ſich verdichtet Hat, und die volle Verwirklichung dieſes Gefühlsinhaltes durch feine unmittelbarfte Mittheilung an die Sinne von da an einzig nur noch bewerk- ftelligt werben foll, wo durch die Auflöfung des Vokales in ben Gefangston die reine Sprache des Gefühles als die einzig noch

vermögende anerkannt worden iſt. Won dem mufifaliihen Er-

tönen des Vokales in der Wortjprache an ift das Gefühl zum beftimmten Anordner aller weiteren Kundgebung an die Sinne erhoben worden, und das mufifafifche Gefühl beftimmt nun allein noch die Wahl und Bebeutung der Neben- wie Haupttöne, und zwar nad) der Natur der Tonverwandtſchaft, deren befonderes Glied durch den nothwendigen Gefühlsausbrud der Phrafe zur Wahl entjdieden wird.

Die Verwandtichaft der Töne ift aber die muſikaliſche Har- monie, bie wir hier zunächſt nach ihrer Ausdehnung in der

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Fläche aufzufaflen Haben, in welcher fich die Gliedfamilien der weitverzweigten Verwandtſchaft der Tonarten barftellen. Be: halten wir jegt die hier gemeinte Horizontale Ausdehnung der Harmonie im Auge, jo behalten wir una ausdrücklich die allbe- ftimmende Eigenfchaft der Harmonie in ihrer vertifalen Aus— Dehnung zu ihrem Urgrunde für den entfcheidenden Moment unferer Darftellung vor. Jene horizontale Ausdehnung als Oberfläche der Harmonie, ift aber die Phyſiognomie berjelben, die dem Auge des Dichters noch erkennbar it: fie ift der Wafler- fpiegel, der bem Dichter noch fein eigenes Bild zurüdipiegelt, wie er dieß Bild zugleich auch dem befchauenden Auge Desjenigen, an den der Dichter fich mittheilen wollte, zuführt. Dieſes Bild aber ift in Wahrheit die vermirklichte Abficht des Dichtere, eine Verwirklichung, die dem Mufifer wiederum nur möglich ift, wenn ex auß der Tiefe des Meeres der Harmonie zu deſſen Ober: fläche auftaucht, auf der eben die entzüdende Wermählung des zeugenden dichteriſchen Gedankens mit dem unendlichen Ge— bärung3vermögen der Muſik gefeiert wird.

Jenes wogende Spiegelbild ift-die Melodie. In ihr wird der dichteriſche Gedanke zum unwillkürlich ergreifenden Ge— fühlamomente, wie das mufitalifhe Gefühlsvermögen in ihr die Fähigkeit gewinnt, ſich beftimmt und überzeugend, als ſcharf be grenzte, zu plaftiiher Individualität geftaltete, menſchliche Er- ſcheinung kundzugeben. Die Melodie ift die Erlöfung des un- endlich bedingten dichteriſchen Gedankens zum tiefempfundenen Bewußtſein höchfter Gefühlsfreiheit: fie iſt das gewollte und dargethane Unwillkürliche, dad bewußte und deutlich verkündete Unbewußte, die gerechtfertigte Nothwendigkeit eines aus mei- tefter Verzweigung zur beftimmteften Gefühlsäußerung berdich- teten, unendlich umfangreichen Inhaltes.

Halten wir nun diefe, auf der horizontalen Oberfläche der Harmonie als Spiegelbild des dichteriichen Gedankens erſchei— nenbe, und der Urverwandtfchaft der Töne durch Aufnahme in eine Familie diefer Verwandtſchaft die Tonart eingereihte Melodie gegen jene mütterlihe Urmelodie, aus der einft die Wortfprache geboren wurbe, fo zeigt fich uns folgender überaus

Diätkunft und Tontunft im Drama der Zukunft. 143

wichtige, unb hier mit Veftimmtheit in's Auge zu faſſende Unters ſchied.

Aus einem unendlich verfließenden Gefühlsvermögen dräng- ten fi) zuerft menſchliche Empfindungen zu einem allmählich immer beftimmteren Inhalte zufammen, um fi in jener‘ Ur melodie der Art zu äußern, daß der naturnothwendige Fortſchritt in ihr fi) endlich bis zur Ausbildung der reinen Wortfprache fteigerte. Das Bezeichnendfte der älteften Lyrik ift Das, dag in ihr die Worte und der Vers aus dem Tone und ber Melodie hervorgingen, wie fich die Leibeögebärde aus ber allgemein hin— deutenden und nur in öfterfter Wiederholung verftändlichen Tanzbewegungen zur gemefjeneren, beftimmteren mimifchen Ge— bärbe verfürzte. Je mehr ſich in ber Entwidelung bes menjch- lichen Geſchlechtes das unwillkürliche Gefühlsnermögen zum will: Kürlihen Verſtandesvermögen verbichtete; je mehr demnach auch der Inhalt der Lyrik aus einem Gefühlsinhalte zu einem Ver- ftanbesinhalte ward, deſto erfennbarer entfernte ſich auch das Wortgedicht von feinem urjprünglichen Bufammenhange mit jener Urmelodie, deren e3 fi) gewifjermaßen für feinen Vortrag nur noch bediente, um einen fältereren didaltiſchen Inhalt dem altgewoßhten Gefühle fo ſchmachaft wie möglich zuzuführen. Die Melodie felbft, wie fie einft dem Urempfindungsvermögen der Menſchen als notwendiger Gefühlsausdruck entblüht war und in dem ihr entiprechenden Vereine mit Wort und Gebärde ſich zu der Fülle entwidelt hatte, die wir noch Heute in ber ächten Vollsmelodie wahrnehmen, vermochten jene refleftivenden Ber ftandesdichter nicht zu modeln und dem Inhalte ihrer Ausdrucks- weiſe entſprechend zu variiren; noch weniger aber war es ihnen möglih, aus diefer Ausdrudsweiſe ſelbſt zur Bildung neuer Melodieen fi anzulaffen, weil eben der Fortſchritt ber allge- meinen Enttvidelung in diefer großen Bildungsperiode ein Hort ſchreiten aus dem Gefühle zum Verftande war, und der wachjenbe Verſtand in feinem Experimentiren fih nur gehindert fühlen konnte, wenn er zur Erfindung neuer Gefühlsausbrüde, die ihm fern lagen, irgendwie gebrängt worden wäre.

&o lange die lyriſche Form eine von der Öffentlichkeit erfannte und geforderte blieb, variirten daher die Dichter, bie dem Inhalte ihrer Dichtungen nad) zum Erfinden von Melodieen unfähig geworden waren, vielmehr das Gedicht, nicht aber bie

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Melodie, die fie unverückt ftehen ließen, und der zu fieb fie nur dem Ausdrude ihrer dichterifchen Gedanten eine äußerlihe Form verliehen, welche fie als -Tertvariation ber unveränderten Me lodie unterlegten. Die fo überreiche Form der auf und gelom- menen griechifchen Sprachlyrik, und namentlid) aud) die Chor- gefänge der Tragifer, können wir und als aus dem Inhalte diefer Dichtungen nothwendig bedingt gar nicht erflären. Der meift didaktiſche und philoſophiſche Inhalt dieſer Gefänge fteht gemeinhin in einem fo lebhaften Widerfpruche mit dem finnlichen Ausdrude in der überreic wechjelnden Rhythmik der Verfe, daß wir diefe fo mannigfaltige finnlihe Kundgebung nicht als aus dem Inhalte der dichterijchen Abficht an ſich hervorgegangen, fondern als aus der Melodie bedingt, und ihren unwandelbaren Anforderungen mit Gehorſam zurechtgelegt, begreifen fünnen. Noch Heute kennen wir die ächteften Volksmelodieen nur mit fpäteren Terten, die zu ihnen, den einmal beftehenden und be— liebten Melodieen, auf dieje oder jene äußere Beranlafjung hin nachgedichtet worden find, und wenn auch auf einer bei Wei- tern niebrigeren Stufe verfahren noch heute, zumal franz zöfifche, Waudevilledichter, indem fie ihre Verſe zu befannten Melodieen dichten und diefe Melodieen kurzweg dem Darfteller

+ bezeichnen, nicht unähnlich den griechiſchen Lyrikern und Tra— gödiendichtern, die jedenfalls zu fertigen, ber älteften Lyrik ur eigenen und im Munde des Volkes namentlich bei‘ heiligen Gebräuchen fortlebenden Melodieen die Verſe dichteten, deren munberbar reiche Rhythmik uns jet, da wir jene Melobieen nicht mehr fennen, in Erftaunen ſeht. .

Die eigentliche Darlegung der Abficht des griechiſchen Tra- gödiendichters enthüllt aber, nad) Inhalt und Form, der ganze Verlauf ihrer Dramen, ber fi unitreitbar au dem Schooße der Lyrik zur DVerftandesreflerion hin bewegt, wie ber Gefang des Chores in die nur noch geſprochene jambijche Rede der Han— delnden ausmiündet. Was diefe Dramen in ihrer Wirkung ung aber noch als fo ergreifend Hinftellt, daS ift eben das in ihnen beibehaltene, und in den Hauptmomenten ftärker wiederkehrende Igrifche Element, in deſſen Verwendung der Dichter mit vollem Bewußtſein verfuhr, gerade wie der Didaktifer, der feine Lehr- gedichte der Zugend in den Schulen im gefühlbeftimmenden Iyri= ſchen Gefange vorführte. Nur zeigt und ein tieferer Blick, daß der

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 145

tragiſche Dichter feiner Abficht nach minder unverholen und red⸗ lich war, wenn er fie in das Igrifche Gewand einkleidete, al8 da, wo ex fie unummunden nur noch in der gefprochenen Rebe außdrüdte, und in dieſer didaktiſchen Rechtſchaffenheit, aber künſtleriſchen Unredlichleit, liegt der ſchnelle Verfall der griechiſchen Tragödie begründet, ber das Volt bald anmerkte, daß ſie nicht fein Ge— fühl unwillkürlich, fondern feinen Berftand willfürlich beſtimmen wollte. Euripides hatte unter der Geißel des ariftophanifchen Spottes blutig für dieſe plump von ihm aufgededte Lüge zu büßen. Daß dann die immer didaktifch abfichtlichere Dichtkunft zur ſtaats⸗ prattiſchen Rhetorik, und endlich gar zur Sitteraturproja werden mußte, war die äußerfte, aber ganz natürliche Konſequenz der Entwickelung des Berftandes aus dem Gefühle, und für den künſtleriſchen Ausdruck der Wortſprache aus der Melodie.

Die Melodie, deren Gebärung wir jet laufchen, verhält fich aber zu jener mütterlichen Urmelodie al ein vollkommener Gegenfag, den wir nun, nad) den vorangegangenen umftänb- licheren Betrachtungen, als ein Fortſchreiten aus ben Verftande zum Gefühl, aus der Wortphrafe zur Melodie, gegenüber dem Fortfchreiten aud dem Gefühle zum Verſtande, aus der Melodie zur Wortphrafe, kurz zu bezeichnen haben. Auf dem Wege des Fortſchreitens von der Wortjprache zur Tonſprache gelangten wir bis auf die horizontale Oberfläche der Harınonie, auf ber ſich die Wortphrafe des Dichter als mufifalifche Melodie abfpiegelte. Wie wir nun von diefer Oberfläche aus uns des ganzen Gehaltes der unermeßlichen Tiefe ber Harmonie, dieſes urverwandtſchaft⸗ lichen Schooßes aller Töne, zur immer außgebehnteren Ber wirklichung der bichterifchen Äbſicht bemächtigen, und fo die dichterifche Abſicht als zeugendes Moment in die volle Tiefe jenes Urmutterelementes in der Weife verfenfen wollen, daß wir jede3 Atom dieſes ungeheueren Gefühlschaos’ zu bewußter, inbi- vidueller Kundgebung in einem dennoch nie fi verengenben, fondern ſtets fi) erweiternden Umfange bejtimmen; ber künſt- leriſche Fortſchritt alfo, der fich in der Ausbreitung einer be— ftimmten, bewußten Abſicht in ein unendliches, und bei aller Unermeßlichleit dennoch wieberum genau und beftimmt fi kund⸗ gebendes Gefühlsvermögen herausftellt, joll num der Gegen- ſtand unferer weiteren fehließlichen Darftellung fein.

Ridard Wagner, Gel Säriften IV 10

146 Oper und Drama:

Beftimmen wir zunächft aber nod Eines, um unferen heu- tigen Erfahrungen gegenüber und verftändlih zu machen.

Wenn wir die Melodie, wie wir fie biß jet nur bezeich- neten, al3 äußerfte, vom Dichter nothwendig zu erfteigende Höhe des Gefühlsausdrudes der Wortſprache fahten, und auf diefer Höhe den Wortverd bereit3 auf der Oberfläche der mufifalijchen Harmonie wiebergefpiegelt erblicten, jo erfennen wir bei näherer Prüfung zu unferer Überrafhung, daß dieſe Melodie der Er- ſcheinung nad) vollkommen diefelbe ift, Die auß der unermeßlichen Tiefe der Beethoven'ſchen Mufit an deren Oberfläche ſich heraufbrängte, um in der „neunten Symphonie“ das helle Sons nenlicht des Tages zu grüßen. Die Erſcheinung diefer Melodie auf der Oberfläche des harmonifchen Meeres ermöglichte ſich, wie wir fahen, nur aus dem Drange des Mufiferd, dem Dichter Aug’ in Auge zu fehen; nur. der Wortverd des Dichters war vermögend, fie auf jener Oberfläche feftzuhalten, auf der fie fonft ſich nur als flüchtige Erfcheinung kundgegeben hätte, um ohne diefen Anhalt ſchnell wieder in die Tiefe des Meeres unterzufinken. Diefe Melodie war der Liebeögruß des Weibed an den Mann; das umfafjende „ewig Weibliche” bewährte ſich hier liebevoller als das egoiftifche Männliche, denn e3 ift die Liebe jelbft, und nur als höchſtes Liebesverlangen ift das Weibliche zu fallen, offenbare e3 fich nun im Manne oder im Weibe. Der geliebte Mann wich, bei jener wundervollen Begegnung dem Weibe nod) aus: was für dieſes Weib ber höchſte, opferduftigfte Genuß eined ganzen Lebens war, war für den Mann nur ein flüchtiger Liebesraufh. Erſt der Dichter, deſſen Abſicht wir und hier dar- ftellten, fühlt ſich zur Herzinnigften Vermählung mit dem „ewig Weiblichen“ der Tonkunft jo unwiderſtehlich ſtark gedrängt, daß er in diefer Vermählung zugleich, feine Erlöfung feiert.

Durch den erlöjenden Liebeskuß jener Melodie wird der Dichter nun in die tiefen, unendlichen Geheimnifje der weiblichen Natur eingeweiht: er fieht mit anderen Augen und fühlt mit anderen Sinnen. Das bodenlofe Meer der Harmonie, aus dem ihm jene befeligende Erſcheinung entgegentauchte, ift ihm fein Gegenſtand der Scheu, der Furcht, des Grauſens mehr, wie als ein unbefannteß, fremdes Elemeut e3 feiner Borftellung zuvor erſchien; nicht nur auf den Wogen dieſes Meered vermag er nun zu ſchwimmen, fondern mit neuen Sinnen begabt taucht

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 147

er jetzt bis auf den tiefiten Grund hinab. Aus feinem einfamen, furchtbar weiten Mutterhaufe Hatte es das Weib hinausgetrieben, um des Nahens des Geliebten zu harren; jetzt fenkt diefer mit der Vermäßlten ſich hinab, und macht fich mit allen Wundern der Tiefe traulich bekannt. Sein verftändiger Sinn duchdringt Alles Klar und befonnen bis auf den Urquell, von dem aus er die Wogenfäulen ordnet, die zum Sonnenlichte emporfteigen follen, um an feinen Scheine in wonuigen Wellen dahinzumallen, nach dem Säufeln des Weftes janft zu plätjchern, oder nach den Stürmen de3 Nordes ſich männlich zu bäumen; denn aud dem Athem des Windes gebietet nun der Dichter, denn diefer Athen ift nicht Underes, als der Hauch unendlicher Liebe, der Liebe, in deren Wonne ber Dichter erlöft ift, in deren Macht er zum Walter der Natur wird. .

Prüfen wir das Walten des tonvermählten Dichterd num mit nühternem Auge.

Das verwandtfchaftliche Band der Töne, deren rhythmiſch bewegte, und in Hebungen und Senkungen gegliederte Reihe die Versmelodie ausmacht, verdeutlicht ſich dem Gefühle zunächſt in der Tonart, die aus fi) die befondere Tonleiter beitimmt, in welcher die Töne jener melodifchen Reihe als befondere Stufen enthalten find. Wir fahen bis dahin den Dichter in dem noth- wendigen Streben begriffen, die Mittheilung feines Gebichtes an das Gefühl dadurch zu ermöglichen, daß er den aus weiten Kreifen gefammelten und zufammengedrängten Einzelheiten feiner ſprachorganiſchen Ausdrudömittel das unter ſich Fremdartige be- nahm, indem er fie, namentlich auch durch den Reim, in möglichſt darftellbarer Verwandtſchaft dem Gefühle vorführte. Diefem Drange lag dad unmillfürliche Wiffen von der Natur des Ge— fühles zu Grunde, da8 nur das Einheitliche, in feiner Einheit das Bedingte und Bedingende zugleih Enthaltende, das mit⸗ geteilte Gefühl alfo nad feinem Gattungsweien, in der Art erfaßt, daß e3 ſich von den in ihm enthaltenen Gegenſätzen nicht nad) eben diefem Gegenfage, ſondern nad) dem Weſen der Gat-

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tung, in welchem die Gegenfäße verjöhnt find, beitimmen Täßt. Der Verſtand löſt, dad Gefühl bindet; d. h. der Verſtand löſt die Gattung in die ihr inliegenden Gegenfäge auf, das Gefühl bindet die Gegenfäge wieder zur einheitlichen Gattung zufammen. Diefen einheitlihen Ausdrud gewann der Dichter am vollftän- digften endlich im Aufgehen des, nach Einheit nur ringenden Wortverſes in die Geſangsmelodie, die ihren einheitlichen, das Gefühl unfehlbar beſtimmenden Ausdrud aus der, den Sinnen unwillkürlich ſich darftellenden Verwandtſchaft der Töne gewinnt.

Die Tonart ift die gebumbenfte, unter ſich eng verwandteſte Samilie der ganzen Tongattung; als wahrhaft verwandt mit der ganzen Tongattung zeigt fie ſich und aber da, wo fie aus der Neigung ihrer einzelnen Tonfamilienglieder zur unwillkür— lichen Verbiudung mit amderen Tonarten fortfchreite. Wir können die Tonart hier ſehr entfprechend mit den alten patriar- chaliſchen Stammfamilien der menjchlichen Geſchlechter verglei= hen: in diefen Samilien begriffen fi nad unwillfürlihem Irr— thume die ihnen Angehörigen als Beſondere, nicht als Glieder der ganzen menſchlichen Gattung; die Geſchlechtsliebe des In— dividuums, die fi nicht an einer gewöhnten, fondern nur an einer ungewöhnten Erſcheinung eutzündete, war es aber, was die Schranken der patriarchaliſchen Familie überftieg und Die Verbindung mit anderen Familien knüpfte. Das Chriſtenthum hat die Einheit der menſchlichen Gattung in ahnungsvoller Ver— zückung verkündet: die Kunſt, die dem Chriftenthume ihre eigen- ihümlichſte Entwidelung verdankte, die Muſik, hat jenes Evan- gelium in fi) aufgenommen und zu ſchwelgeriſch entzüdender Kundgebung an das finnlihe Gefühl als moderne Tonſprache geftaltet. Wergleichen wir jene urpatriarchalifchen National» melodieen, die eigentlihen Samilienüberlieferungen bejonderer Stämme, mit der Melodie, die aus dem Fortichritte der Muſik duch die chriſtliche Entwidelung uns heute ermöglicht ift, To finden mir dort al3 harafteriftifches Merkmal, daß fi die Me- lodie faſt nie aus einer beftimmten Zonart herausbewegt, und mit ihr bis zur Unbeweglichleit verwachſen erſcheint: dagegen hat die ung mögliche Melodie die unerhört mannigfaltigfte Fühig- feit erhalten, vermöge der harmonifchen Modulation bie in ihr angefchlagene Haupttonart mit ben entfernteften Tonfamilien in Verbindung zu fegen, fo daf und in einem größeren Tonſatze

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Bufunft. 149

die Urverwandtſchaft aller Tonarten gleichfam im Lichte einer befonderen Haupttonart vorgeführt wird.

Die unermehliche Ausdehnungs- und Verbindungsver- mögen bat den modernen Mufiter fo beraufcht, daß er, aus diefem Rauſche wieberum ernüchtert, fogar abſichtlich nad jener befchränfteren Familienmelodie fih umfah, um durch eine ihr nachgeahmte Einfachheit fich verftändlich zu machen. Dieſes Um- ſehen nach jener patriarhalifchen Beſchränktheit zeigt uns bie eigentliche ſchwache Seite unferer ganzen Mufit, in ber wir bisher fo zu fagen die Rechnung ohne den Wirth gemacht hatten. Won dem Örundtone der Harmonie auß war die Mufit zu einer ungeheuer mannigfaltigen Breite aufgefchoffen, in der dem zwed- und ruhelos daherfhwimmenden abjoluten Mufiter endlich bang zu Muthe wurde: er fah vor fi Nicht wie eine unendlihe Wogenmafje von Möglichkeiten, in fich felbft aber warb er fich feines, dieje Möglichkeiten beftimmenden Zweckes bewußt, wie die hriftliche Allmenſchlichkeit auch nur ein ver⸗ ſchwimmendes Gefühl ohne den Anhalt war, der es einzig al ein deutliches Gefühl rechtfertigen konnte, und biefer Unhalt ift der wirkliche Menih. Somit mußte der Mufifer fein unge heures Schwimmpermögen faft bereuen; er jehnte ſich nach den urheimathlichen ftilen Buchten zurüd, two zwiſchen engen Ufern das Waſſer ruhig und nad) einer beftimmten Stromrichtung floß. Was ihn zu biefer Rückkehr bewog, war nichts Anderes, als die empfundene Bmedlofigfeit feines Umherſchweifens auf hoher See, genau genommen aljo das Bekenntniß, eine Fähigkeit zu befigen, die er nicht zu nußen vermöge, die Sehnſucht nad dem Dichter. Beethoven, der kühnfte Schwimmer, ſprach biefe Sehnfucht deutlich auß; nicht aber nur jene patriarchalifhe Me— lodie ftimmte er wieder an, fondern er fprac auch den Dichter- vers zu ihr aus. Schon an einer anderen Stelle machte id in diefem lehteren Bezuge auf ein ungemein wichtige Moment aufmerffam, auf das ih hier zurüdtommen muß, weil es uns jet zu einem neuen Anhaltspunkte aus dem Gebiete ber Erfah— rung zu dienen hat. Jene wie id) fie zur Charakteriftif ihrer Hiftorifchen Stellung fortfahre zu nennen patriacchalifche Melodie, die Beethoven in der „neunten Symphonie“ als zur Beftimmung bes Gefühles endlich gefundene anftimmt, und von ber ich früher behauptete, daß fie nicht aus dem Gedichte

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Schiller's entftanden, ſondern daß fie vielmehr, außerhalb des Wortverſes erfunden, diefem nur übergebreitet worden fei, zeigt fi) und als gänzlich in dem Tonfamilienverhältniffe beſchränkt, in welchem fi das alte Nationafvoltslied bewegt. Sie enthält fo gut wie gar feine Modulation und erfcheint in einer ſolchen tonleitereigenen Einfachheit, daß fich in ihr die Abficht des Mu- fifers, als eine auf den Hiftorifhen Duell der Mufit rüdgängige, unverhofen deutlich ausſpricht. Dieſe Abficht war eine noth— wendige für die abfolute Muſik, die nicht auf der Baſis ber Dichtkunft fteht: der Mufifer, der fi nur in Tönen Mar ver- ftändlich dem Gefühle mittheilen will, kann dieſes nur durch Herabftimmung feines unendlichen Vermögens zu einem ſehr befchränften Maaße. Als Beethoven jene Melodie aufzeichnete, fagte er: fo können wir abfoluten Mufiter uns einzig ver⸗ ftändlich kundgeben. Nicht aber eine Rückkehr zu dem Alten ift der Gang der Entwidelung alles Menſchlichen, fondern der Sortjhritt: alle Rückkehr zeigt fi uns überall als feine natür- liche, fondern als eine fünftliche. Auch die Rückkehr Beethoven's zu der patriachalifchen Melodie war, wie dieſe Melodie ſelbſt, eine fünftfiche. Aber die bloße Konftruktion diefer Melodie war auch nicht der Fünftferifche Zweck Beethoven's; vielmehr jehen wir, wie er fein melodifches Erfindungsvermögen abfichtlih nur für einen Augenblick fo weit herabftimmt, um auf der natür- lichen Grundlage der Muſik anzufommen, auf ber er dem Dichter feine Hand hinzuftreden, aber auch die des Dichters zu ergreifen vermochte. Als er mit dieſer einfachen, bejchränkten Melodie die Hand des Dichter in der feinigen fühlt, jehreitet er. mm auf dem Gedichte felbft, und aus diefem Gedichte, feinem Geifte und feiner Form nach geftaltend, zu immer fühnerem und mannig- faltigerem Tonbau vorwärts, um uns endlich Wunder, wie wir fie bisher noch nie geahnt, Wunder wie daß „Seid umfchlungen, Millionen!“, „Ahneſt du den Schöpfer, Welt?" und endlich das fiher verftändliche Bufammenertönen des „Seid umjchlun- gen“ mit dem „Freude, ſchöner Götterfunfen!” aus dem Vermögen ber dichtenden Tonſprache entftehen zu laſſen. Wenn wir nun den breiten melodifchen Bau in der mufitalifchen Aus- führung de3 ganzen Verſes „Seid umſchlungen“ mit der Me- lodie vergleiden, die ber Meifter aus abjolutem mufitalifchen Vermögen über den Vers „Freude, ſchöner Götterfunken“ gleich

Digtkunft und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 151

fam nur audbreitete, fo gewinnen wir ein genaues Verſtändniß des Unterjchiedes zwiſchen der wie ich fie nannte patris archaliſchen Melodie und der auß ber dichterifchen Abficht auf dem Wortverfe emporwachjenden Melodie. Wie jene nur im bejchräntteften Tonfamilienverhältniffe ſich deutlich kundgab, fo vermag dieſe und zwar nicht nur ohme unverftändfich zu werben, fondern gerade erſt um dem Gefühle recht verſtändlich zu fein die engere Verwandtſchaft der Tonart, durch die Verbindung mit wieberum verwandten Tonarten, bis zur Ur- verwandtſchaft der Töne überhaupt außzubehnen, indem fie fo daS ficher geleitete Gefühl zum unendlichen, rein menfchlichen Gefühle erweitert.

Die Tonart einer Melodie ift dad, was die in ihr enthal- tenen verſchiedenen Töne dem Gefühle zunächſt in einem ber» wandtſchaftlichen Bande vorführt. Die Veranlafjung zur Er— weiterung dieſes engeren Bande zu einem auögebehnteren, reicheren leitet ſich noch aus der dichterifchen Abficht, infofern fie fi im Sprachverfe bereit3 zu einem Gefühlsmoment ver- dichtet hat, und zwar nach dem Charakter des befonderen Aus— druckes einzelner Haupttöne her, die eben vom Verſe aus be— ftimmt worden find. Diefe Haupttöne find gewiſſermaßen die jugendlich erwachienden Glieder der Familie, die ſich aus der ge— wohnten Umgebung ber Familie Heraus nach ungeleiteter Selb- fändigfeit fehnen: diefe Selbftändigfeit gewinnen fie aber- nicht als Egoiften, fondern durch Berührung mit einem Anderen, eben außerhalb der Familie Liegenden. Die Jungfrau gelangt felbftändigem Heraudtreten aus der Familie nur durch die Liebe des Jünglings, der als der Sprößling einer anderen Familie die Jungfrau zu fich hinüberzieht. So iſt der Ton, der aus dem Kreife der Tonart Hinaustritt, ein bereit? bon einer anderen Tonart angezogener und von ihr beftimmter, und in diefe Ton— art muß er fi) Daher nad) dem nothwendigen Geſetze der Liebe ergießen. Der aus einer Tonart in eine andere brängende Leit- ton, der durch dieſes Drängen allein ſchon die Verwandtſchaft mit diefer Tonart aufdedt, fann nur ald von dem Motive der Liebe beftimmt gedacht werden. Daß Motiv der Liebe ift das aus dem Subjelte heraußtreibende, und dieſes Subjekt zur Ver» bindung mit einem anderen nöthigende. Dem einzelnen Tone ann dieſes Motiv nur aus einem Bufammenhange entjtehen,

152 Oper und Drama: "

der ihn als bejonderen beftimmt; ber beftimmende Bufammen- bang der Melodie liegt aber in dem finnlichen Ausdrude der Wortphrafe, der wiederum aus dem Sinne dieſer Phrafe zu⸗ erſt beftimmt wurde. Betrachten wir genauer, fo werben wir erfehen, daß Hier diefelbe Veftimmung maaßgebend ift, die be reits im Stabreime entfernter Tiegende Empfindungen unter fich verband.

Der Stabrein verband, wie wir fahen, dem finnlichen Ge— höre bereit8 Sprachwurgeln von entgegengefeßtem Empfindung3- ausdruck (mie „Luft und Leid“, „Wohl und Web“), und führte fie jo dem Gefühle als gattungsverwandt vor. In bei Weiten erhöhten Maaße des Ausbrudes vermag nun die muſilaliſche Modulation fol’ eine Verbindung dem Gefühle anfchauli zu machen. Nehmen wir z. B. einen ftabgereimten Vers von voll⸗ tommen gleichem Empfindungsgehalte an, wie: „Liebe giebt Luft zum Leben“, fo würbe hier der Mufifer, wie in ben ftab- gereimten Wurzeln der Accente eine gleiche Empfindung finnlich ſich offenbart, auch feine natürliche Veranlafjung zum Hinaus- treten aus der einmal gewählten Tonart erhalten, fondern er mürbe die Hebung und Senkung des mufitalifhen QTones, dem Gefühle vollfommen genügend, in derfelben Tonart beftimmen. Segen wir dagegen einen Vers von gemifchter Empfindung, wie: „bie Liebe bringt Luft und Leid“, jo würde hier, wie der Stabreim zwei entgegengefeßte Empfindungen verbindet, ber Mufiter auch aus ber angeichlagenen, der erften Empfindung entfprechenden Tonart, in eine andere, der zweiten Empfindung, nad) ihrem Verhältniffe zu der in der erften Tonart beftimmten, entſprechende überzugehen fid) veranlaßt fühlen. Das Wort Luſt“, welches als äußerfte Steigerung der erften Empfindung zu der zweiten hinzubrängen fcheint, würde in diefer Phrafe eine ganz andere Betonung zu erhalten haben, als in jener: die Liebe giebt Luft zum Leben“; der auf ihm gefungene Ton würde unmillfürlich zu dem beftimmenden Leitton werden, wel- her mit Nothwendigfeit zu der anderen Zonart, in der das „Leid“ auszufprechen wäre, Hindrängte. In diefer Stellung zu einander würde „Luft und Leid“ zu einer Kundgebung einer bejonderen Empfindung werden, deren Eigenthümlichkeit gerade in dem Punkte läge, two zwei entgegengejegte Empfindungen als fi} bebingend, und fomit als nothivendig fich zugehörend,

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 153

als wirklich verwandt, fi darftellten; und diefe Kundgebung ift nur in der Muſik nach ihrer Fähigkeit der harmoniſchen Mo— dulation zu ermöglichen, weil fie vermöge diefer einen bindenden Zwang auf das finnliche Gefühl ausübt, zu dem feine andere Kunſt die Kraft befigt. Sehen wir aber zunäcft noch, wie die mufifaliihe Modulation mit dem Versinhalte gemeinfam wieder auf die erſte Empfindung zurüdzufeiten vermag. Laſſen wir dem Verſe „die Liebe bringt Luft und Leid” al zweiten folgen: „doch in ihr Weh auch weht fie Wonnen“, fo würde „mwebt“ wieder zum Leitton in die erfte Tonart werben, wie von hier die zweite Empfindung zur exften, nun bereicherten, wieder zurüdtehrt, eine Nüdkehr, die der Dichter vermöge des Stabreimes an die finmlihe Gefühlswahrnehmung nur als einen Sortfehritt der Empfindung des „Weh“ in die der „Won- nen“, nicht aber als einen Abſchluß der Gattung ber Empfin- dung „Liebe“ darftellen Tonnte, während der Muſiker gerade dadurch vollfommen verftändlich wird, daß er in die erfte Tonart ganz merflich zurüdgeht, und die Gattungsempfindung baher mit Beftimmtheit als eine einheitliche bezeichnet, wa8 dem Dichter, - der den Wurzelanlaut für den Stabreim wechſeln mußte, nicht mögli war. Allein der Dichter deutete durch den Sinn beider Verſe die Gattungdempfindung an: er verlangte fomit ihre Verwirflihung vor dem Gefühle, und beftimmte den ver- wirklichenden Mufifer für fein Verfahren. Die Rechtfertigung für fein Verfahren, das als ein unbedingtes uns willkürlich und unverſtändlich erſcheinen würde, erhält der Mufiler daher aus der Abſicht des Dichters, aus einer Abficht, die diejer eben nur andeuten ober höchitend nur für die Bruchtheile feiner Kund⸗ gebung (eben im Stabreime) annähernd verwirklichen konnte, deren volle Verwirklichung aber eben nur dem Mufiker möglich ift, und zwar dur das Vermögen, die Urberwandtfchaft der Zöne für ‚eine vollfommen einheitliche Kundgebung ureinheit licher Empfindungen an das Gefühl zu verwenden.

Wie unermeßlich groß dieſes Vermögen ift, davon machen wir uns am leichteften einen Begriff, wenn wir und ben Sinn der beiben oben angeführten Verſe in ber Art beftimmter noch dargelegt denfen, daß zwiſchen dem Fortſchritte aus ber einen Empfindung und der im zweiten Verſe fchon auögeführten Rück— tehr zu ihr eine längere Folge von Verſen die mannigfaltigfte

154 " Oper und Drama:

Steigerung und Miſchung zwifchenliegender, theils verftärken« der, theils verfühnender Empfindungen, bis zur endlichen Riüd- kehr zur Hauptempfindung, ausdrückte. Hier würde die mufi- taliſche Modulation, um bie dichterifche Abficht zu verwirklichen, in die verſchiedenſten Tonarten hinüber und zurüd zu leiten haben; alle die berührten Tonarten würden aber in einem ge- nauen verwandtſchaftlichen Verhältniſſe zu der urfprünglichen, Tonart erjheinen, von der aus das befondere Licht, welches fie auf den Ausdrud werfen, wohl bedingt, und die Fähigkeit zu diefer Lichtgebung gewifjermaßen felbft erſt verliehen wird. Die Haupttonart würde, ald Grundton der angefchlagenen Empfin- dung in fi die Urverwandtſchaft mit allen Zonarten offen⸗ baren, die beitimmte Empfindung fomit, vermöge des Ausdrudes, während ihrer Äußerung in einer Höhe und Ausdehnung kund⸗ thun, daß nur das ihr Verwandte für die Dauer ihrer Außerung unfer Gefühl beſtimmen könnte, unfer allgemeine Gefühlsver— mögen von biefer Empfindung, vermöge ihrer gefteigerten Aus— dehnung einzig erfüllt würde, und fomit diefe eine Empfindung zur alumfafjenden, allmenſchlichen, unfehlbar verſtändlichen er hoben worden wäre, x Iſt hiermit die bichterifch-mufifalifche Periode bezeichnet worden, wie fie fi nad einer Haupttonart beftimmt, fo können mir vorläufig das Kunftwerf als das für den Ausdrud vollen- detfte bezeichnen, in welchem viele folhe Perioden nach höchſter Fülle fich fo darftellen, daß fie, zur Verwirklichung einer höchſten dichterifchen Abficht, eine aus der anderen ſich bedingen und zu einer reihen Gefammttundgebung fich entwideln, in welcher das Weſen de3 Menfchen nad) einer entſcheidenden Hauptrichtung bin, d. 5. nad) einer Richtung Hin, die das menfchliche Weſen volltommen in fi zu faflen im Stande ift (mie eine Hauptton- art alle übrigen Tonarten in fi zu faſſen vermag), auf das Sicherfte und Begreiflichſte dem Gefühle dargeftellt wird. Diefes Kunſtwerk ift da vollendete Drama, in welchem jene umfafjende Nichtung des menſchlichen Weſens in einer folgerihtigen, ſich wohl bedingenden Weihe von Gefühlamomenten mit folder Stärke und Überzeugungskraft an, dns Gefühl ſich kundgiebt, daß, als nothwendige beftimmtefte Nußerung des Gefühlsinhaltes der zu einem umfafjenden Gefammtmotiv gefteigerten Momente, die Handlung aus diefem Reichthume von Bedingungen als

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letztes unwillkürlich geforbertes, und fomit vollfommen verftan- denes Moment hervorgeht.

Ehe wir vom Charakter der dichterifh-mufifalifh melo- difchen Periode aus auf dad Drama, wie e8 aus ber gegenfeitig fi bedingenden Entwidelung vieler nöthiger folder Perioden zu erwachien hat, weiter fchließen, müffen wir zuvor jedoch genau noch da8 Moment beitimmen, welches auch die einzelne melo- diſche Periode nad) ihrem Gefühlgausbrude aus dem Vermögen der reinen Muſik heraus bedingt, und und das unermeßlich bin- dende Organ zur Verfügung ftellen foll, durch deſſen eigen- thümlichſte Hilfe wir das vollendete Drama erft ermöglichen können. Dieß Organ wird und aus der wie ich fie bereits nannte vertifalen Wusbehnung der Harmonie, da, wo fie fi aus ihrem Grunde herauf bewegt, erwachſen, wenn wir der Harmonie felbft die Möglichkeit theilnehmendfter Mitthätigteit am ganzen Kunſtwerke zuwenden.

IV.

Mir haben bis jegt die Bebingungen für den melobifchen Fortſchritt aus einer Tonart in die andere als in der dichteriſchen Abficht, fo weit fie bereits felbft ihren Gefühlsinhalt offenbart hatte, liegend nachgewieſen, und bei diefen Nachweis bewieſen, daß der veranlaffende Grund zur melodifhen Bewegung, als ein auch vor dem Gefühle gerechtfertigter, nur aus dieſer Abficht entftehen könne. Was biejen, dem Dichter notwendigen Fort- ſchritt einzig ermöglicht, liegt natürlich aber nicht im Bereiche der Wortfprache, fondern ganz beftimmt nur in dem der Mufit. Diefes eigenfte Element der Mufit, die Harmonie, ift Das, was nur infoweit noch bon der dichteriſchen Abſicht bedingt - wird, als es das andere, weibliche Element ift, in welches ſich diefe Abficht zu ihrer Verwirklichung, zu ihrer Erlöfung ergießt. Denn es ift dieß das gebärende Element, das die dichteriſche Abficht nur als zeugenden Samen aufnimmt, um ihn nad) den eigenften Bedingungen feines weiblichen Organismus zur fer- tigen Erſcheinung zu geftalten. Diefer Organismus ift ein be— fonberer, individueller, und zwar eben fein zeugender, fonbern ein gebärender: er empfing vom Dichter den befruchtenden Samen,

156 Oper und Drama!

die Frucht aber reift und formt er nad} feinem eigenen individu⸗ ellen Qermögen.

Die Melodie, wie fie auf der Oberfläche der Harmonie er- Scheint, ift für ihren emtfcheidenden rein mufifalifchen Ausbrud einzig aus dem bon unten Her wirkenden Grunde der Harmonie bedingt: wie fie fi felbft als Horizontale Reihe fundgiebt, hängt fie durch eine jenkrechte Kette mit dieſem Grunde zufammen. Diefe Kette ift der harmoniſche Akkord, der ald eine vertifale Neihe nächft verwandter Töne, aus dem Grundtone nad) der Oberfläche zu auffteigt. Das Mitklingen diejes Aftordes giebt dem Zone der Melodie erft die befondere Bebeutung, nad; wel- her er zu einem unterfchiedenen Momente des Ausbrudes als einzig bezeichnend verwendet‘ wurde. So wie der aus bem Grundtone beftimmte Aftord dem einzelnen Tone der Melodie erſt feinen befonderen Ausdrud giebt indem ein und der— felbe Ton auf einem anderen ihm verwandten Grundtone eine ganz ambere Bedeutung fir den Ausdrud erhält —,fo beitimmt fich jeder Fortfchritt der Melodie aus einer Tonart in die andere ebenfalls nur nad dem wechſelnden Grundtone, der den Leitton der Harmonie, als folhen, aus fi) bedingt. Die Gegenwart diefe8 Grundtones, und des aus ihm beftimmten harmonifchen Aftordes, ift vor dem Gefühle, welches bie Melodie nach ihrem harakteriftiichen Ausdrude erfaffen fol, unerläßlih. Die Gegen- mart der Grundharmonie heißt aber: Miterflingen berfelben. Dad Miterklingen der Harmonie zu der Melodie überzeugt dad Gefühl erft vollftändig von dem Gefühlsinhalte der Melodie, die ohne dieſes Miterflingen dem Gefühle Etwas unbeftimmt ließe; nur aber bei vollfter Beitimmtheit aller Momente bes Ausdrudes beitimmt ſich auch das Gefühl ſchnell und unmit- telbar zur unwillkürlichen Theilnahme, und volle Beftimmtheit des Ausdruckes Heißt aber wiederum nur: vollftändigfte Mittheilung all’ feiner nothmwendigen Momente an die Sinne.

Das Gehör fordert aljo gebieteriich au) das Miterklingen der Harmonie zur Melodie, weil es erft durch dieſes Miterklingen fein ſinnliches Empfängnißvermögen volllommen erfüllt, fomit befriebigt erhält, und demuach mit nothwendiger Beruhigung dem wohlbebingten Gefühlsausbrude der Melodie fich zumenden ann. Das Miterklingen der Harmonie zur Melodie ift daher

Dichttunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 157

nicht eine Erſchwerung, fondern die einzig ermöglichende Er- leichterung für das Verftändniß des Gehöres. Nur wenn die Harmonie ſich nicht als Melodie zu äußern vermöchte, aljo wenn die Dielodie weder aus dem Tanzrhythmus noch aus dem Wortverſe ihre Rechtfertigung erhielte, ſondern ohne biefe Rechtfertigung, die fie einzig vor dem Gefühle als wahrnehmbar bedingen Tann, fi) nur als zufällige Erſcheinung auf ber Ober- fläche der Alkorde willkürlich wechjelnder Grundtöne kundgäbe, nur dann würde das Gefühl, ohne beſtimmenden Anhalt, duch die nadte Kundgebung der Harmonie beunruhigt werden, weil fie ifm nur Anregungen, nicht aber die Befriedigung des Angeregten zuführte.

Unfere moderne Mufit Hat fich gewiflermaßen aus der nadten Harmonie entwidelt. Sie hat fi willfürfih nad) der unend- lien Fülle von Möglichkeiten beftimmt, die ihr aus dem Wechjel der Grundtöne, und der aus ihnen fich Herleitenden Aftorbe, fi darboten. So weit fie diefem ihren Urjprunge ganz getreu blieb, Hat fie auf das Gefühl auch nur betäubend und verwir- rend gewirkt, und ihre bunteften Kundgebungen in diefem Sinne haben nur einer gewiſſen Mufikverftandesfchwelgerei unferer Künftler felbft Genuß geboten, nicht aber dem unmufikverftändigen Laien. Der Laie, fobald er nicht Mufitverjtändniß affektirte, hielt fich daher einzig nur an die feichtefte Oberfläche der Me- iodie, wie fie ihm in dem rein finnlichen*) Reize des Gejangs- organed vorgeführt wurde; wogegen er dem abjoluten Mufiter zuvief: „Ich verftehe Deine Muſik nicht, fie ift mir zu gelehrt“. " Hinwider handelt e3 ſich nun bei der Harmonie, wie fie als rein mufifalifch bedingende Grundlage ber dichterifchen Melodie miterffingen fol, durchaus nicht um ein Verſtändnis in dem Sinne, nach welchem fie jet vom gelehrten Sondermufifer ver ftanden und vom Laien nicht verftanden wird: auf ihre Wirk ſamkeit als Harmonie hat fi) bein Vortrage jener Melodie die Aufmerffamfeit des Gefühles gar nicht zu lenken, fondern wie fie felbft fhweigend den harakteriftiihen Ausdrud der Mes Iodie bedingen würde, durch ihr Schweigen dad Verſtändniß dieſes Ausdrudes aber nur unendlich erſchweren, ja den Mufit- gelehrten, der fie jich hinzuzudenken hätte, es einzig erſchließen

*) Ich erinnere an das „Raftraten-Mefferchen”.

158 J Oper und Drama:

müßte, fo fol das tönende Miterklingen der Harmonie eine abftrafte und ablenfende XThätigfeit des Fünftlerifhen Muſikver— ftandes eben unerforderlih machen, und den mufifalifhen Ge— fühlsinhalt der Melodie als einen unwillkürlich kenntlichen, ohne alle zerftreuende Mühe zu erfafjenden, dem Gefühle leicht und ſchnell begreiflih zuführen.

Wenn jomit bisher der Mufifer feine Mufit, jo zu fagen, aus der Harmonie heraus konſtruirte, fo wird jet der Ton- dichter zu der aus dem Sprachverſe bedingten Melodie die an- dere nothwendige, in ihr aber bereit3 enthaltene, rein mufilalifche Bedingung, als miterflingende Harmonie, nur wie zu ihrer Kenntlichmachung nod mit Hinzufügen. In der Melodie des Dichters ift die Harmonie, nur gleichjam unausgefprochen, ſchon mitenthalten: fie bedang ganz unbeachtet die außdrudsvolle Be— deutung ber Töne, die der Dichter für die Melodie beftimmte. Diefe ausdrudvolle Bedeutung, die der Dichter unbewußt im Ohre hatte, war bereitö die erfüllte Bedingung, die fenntlichfte Äußerung der Harmonie; aber diefe Äußerung war für ihn nur eine gedachte, noch nicht ſinnlich wahrnehmbare. An die Sinne, die unmittelbar empfangenden Organe des Gefühles, theilt ex fich jedoch an feiner Erlöfung mit, und ihnen muß er daher die melodijche Äußerung der Harmonie mit den Bedingungen diefer Äußerung zuführen, denn ein organifches Kunſtwerk ift nur Das, was das Bedingende mit dem Vedingten zugleich in fi ſchließt und zur fenntlichften Wahrnehmung mittHeilt. Die bisherige ab- folute Mufit gab harmonifhe Bedingungen; ber Dichter würde nur das Bebingte in feiner Melodie mittheilen, und daher ebenſo unverftändlich als jener bleiben, wenn er die harmoniſchen Be- dingungen der aus dem Sprachverſe gerechtfertigten Melodie nicht vollftändig an das Gehör fundthäte.

Die Harmonie fonnte aber nur der Muſiker, nicht der Dichter erfinden. Die Melodie, die wir den Dichter aus dem Sprachverſe erfinden fahen, war, ald eine harmoniſch bedingte, daher eine von ihm mehr gefundene, als erfundene. Die Be- dingungen zu diefer mufifaliihen Melodie mußten erſt vorhan- den fein, ehe der Dichter fie als eine mwohlbedungene finden

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 159

fonnite. Diefe Melodie bedang, ehe fie der Dichter zu feiner Er— Löfung finden konnte, bereit3 der Mufifer aus feinem eigenften Bermögen: er führt fie dem Dichter als eine harmoniſch gerecht- fertigte zu, und nur die Melodie, wie fie aus dem Wefen ber modernen Muſik ermöglicht wird, ift die den Dich— ter .erlöfende, feinen Drang erregende wie befrie- digende Melodie.

Dichter und Muſiker gleichen hierin zwei Wanderern, die von einem Sceidepunfte ausgingen, um von da aus, jeder nad Der entgegengejegten Richtung, raftlo8 gerade vorwärts zu fchreiten. Auf dem entgegengefegten Punkte der Exde begegnen fie fich wieder; jeder hat zur Hälfte den Planeten ummandert. Sie fragen fi num aus, und Einer theilt dem Anderen mit, was er gefehen und gefunden hat. Der Dichter erzählt von den Ebenen, Bergen, Thälern, Fluren, Menſchen und Thieren, die er auf feiner weiten Wanderung durch das Feftland traf. Der Mufifer durchſchritt die Meere und berichtet von den Wundern des Ozeans, auf dem er oftmals dem Verſinken nahe war, deſſen Tiefen und ungeheuerliche Geftaltungen ihn mit wollüftigem Grauſen erfüllten. Beide, von ihren gegenfeitigen Berichten an— geregt und unmiberftehlich beftimmt, da8 Andere von Dem, was fie ſelbſt jahen, ebenfalls noch) kennen zu lernen, um den nur auf die Vorftellung und Einbildung empfangenen Eindrud zur wirk- lichen Erfahrung zu machen, trennen fih nun nochmals, um Jeder feine Wanderjchaft um die Erde zu vollenden. Am erften Ausgangspuntte treffen fie fich dann endlich wieder; der Dichter hat num aud die Meere durchſchwommen, der Muſiker die Feſt⸗ länder durchſchritten. Nun trennen fie fi nicht mehr, denn ‘Beide kennen nun die Erde: was fie früher in ahnungvollen Träumen fi) fo und fo geftaltet dachten, iſt jetzt nach feiner Wirklichkeit ihnen bewußt geworben. Sie find Eins; denn Jeder weiß und fühlt, was der Andere weiß und fühlt. Der Dichter ift Muſiker geworden, der Muſiker Dichter: jetzt find fie Beide vollfommener künſtleriſcher Menſch.

Auf dem Punkte ihrer erſten Zuſammenkunft, nach der Umwanderung der erften Erdhälfte, war das Geſpräch zwiſchen Dichter und Muſiker jene Melodie, die wir jet im Auge haben, die Melodie, deren Äußerung der Dichter aus feinem innerften erlangen heraus geftaltete; deren Kundgebung der

160 Oper und Drama:

Mufifer aus feinen Erfahrungen heraus aber bedang. Als Beide fi zum neuen Abſchiede die Hände drüdten, hatte Jeder von ihnen Das in der Vorftellung, was er felbft noch nicht erfahren hatte, und um bdiefer überzeugenden Erfahrung willen trennten fie fich eben von Neuem. Betrachten wir den Lichter zunächſt, wie er fi) ber Erfahrungen des Mufiferd bemächtigt, die er nun felbft erfährt, aber geleitet‘ von dem Mathe des Muſikers, der die Meere bereit8 auf kühnem Schiffe durchlegelte, den Weg zum feften Lande fand,.und die jicheren Fahrſtraßen ihm genau mitgetheilt hat. Auf diefer neuen Wanderung werden wir jehen daß der Dichter ganz derſelbe wird, ber der Muſiker auf feiner dom Dichter ihm vorgezeichneten Wanderung über die andere Erdhälfte wird, fo daß beide Wanderungen nun als eine und diefelbe anzufehen find.

Wenn der Dichter jegt fih in die ungeheuren Weiten der Harmonie aufmacht, um in ihnen gleichſam den Beweis für die Wahrheit der vom Mufifer ihm „erzählten“ Melodie zu gewin— nen, fo findet er nicht mehr die unmwegfamen Tonöden, die der Muſiker zunächſt auf feiner erften Wanderung antraf; fondern zu feinem Entzüden trifft er daS wunderbar fühne, feltfam neue, unendlich fein und doch riefeuhaft feit gefügte Gerüft des Meer: ſchiffes, das jener Meerwanderer fich ſchuf, und das der Dichter nun befchreitet, um auf ihm ficher die Fahrt durch die Wogen anzutreten. Der Mufiter hatte ihn den Griff und die Hand- habung des Steuers gelehrt, die Eigenſchaft der Segel, und all’ das feltfam und finnig erfundene Nöthige zur ficheren Fahrt bei Sturm und Wetter. Am Steuer diefes herrlich die Fluthen durchſegelnden Schiffes wird der Dichter, der zuvor mühſam Schritt für Schritt Berg und Thal gemefjen, fi) mit Wonne der allvermögenden Macht des Menjchen bewußt; von feinem hohen Borde aus dünfen ihn die noch fo mächtig rüttelnden Wogen millige und treue Träger feines edlen Schidjales, dieſes Schid- fale der dichteriſchen Abſicht. Dieſes Schiff ift dad gewaltig ermöglichende Werkzeug feined weiteften und mächtigſten Wil- lens; mit brünftig danfender Liebe gedenft er des Muſilers, der es aus ſchwerer Meereönoth erfand und feinen Händen nun überläßt: denn dieſes Schiff ift der ficher tragende Bemwäl- tiger der unendlichen Fluthen der Harmonie, das Orcheſter.

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Bufunft. 161

Die Harmonie ift an fich nur ein Gedachtes: den Sinnen wirklich wahrnehmbar wird fie erft al Polyphonie, oder be- ftimmter noch ais polyphonifhe Symphonie.

Die erfte und natürliche Spmphonie bietet der harmouiſche Bufammenflang einer gleichartigen polyphonifhen Tonmafje. Die natürlichfte Tonmafie ift die menfchlihe Stimme, welche fich nad Geflecht, Alter und individueller Beſonderheit ftimmbe- gabter Menfchen in verfchiedenartigem Umfange und in mannig= faltiger Mlangfarbe zeigt, und duch harmoniſche Bufammenmwir- tung dieſer Indivibualitäten zur natürlichften Offenbarerin ber polyphoniſchen Symphonie wird. Die hriftlich religiöfe Lyrik erfand diefe Symphonie: in ihr erfchien die Vielmenſchlichkeit zu einem Gefühlsausdrucke geeinigt, deſſen Gegenſtand nicht das individuelle Verlangen als Kundgebung einer Perſönlichkeit, ſondern das individuelle Verlangen der Perfünlichkeit als un- endlich verftärkt durch die Kundgebung genau befjelben Verlan⸗ gens bon einer ganz gleich bedürftigen Gemeinfamfeit war; und dieſes Verlangen war die Sehnſucht nach Auflöfung in Gott, der in der Vorftellung perfonifizirten hochſten Potenz der ver- langenden individuellen Perfönlichkeit felbft, die zu dieſer Stei— gerung der Potenz einer an fi als nichtig empfundenen. Per⸗ fönlichkeit ſich durch daS gleiche Verlangen einer Gemeinſamleit, und durch die innigfte harmoniſche Verſchmelzung mit diejer Ge meinfamfeit, gleihfam ermuthigte, wie um auß einem gleichge- ftimmten gemeinfamen Vermögen bie Kraft zu ziehen, bie der nichtigen einzelnen Perfönlichfeit abging. Das Geheimniß diefes Verlangen follte aber im Verlaufe der Entwidelung der Hrift- lichen Menfchheit offenbar werden, und zwar als rein individuell perfönlicher Inhalt deſſelben. Als rein individuelle Perfönlich- keit hängt der Menſch fein Verlangen aber nicht mehr an Gott, als ein nur Vorgeftelltes, fondern er verwirklicht den Gegen- ftand feines Verlangens zu einem Realen, ſinnlich Vorhandenen, defien Erwerbung und Genuß ihm praftifch zu ermöglichen ift. Mit dem Erlöfchen des rein religiöfen Geiſtes des Chriften« thumes verſchwand auch eine nothwendige Bedeutung des poly- phonifchen Kicchengefanges, und mit ihr die eigenthümliche Form feiner Kundgebung. Der Kontrapunft, als erfte Regung des immer klarer auszufprechenden reinen Individualismus, begann mit fcharfen, ätzenden Zähnen das einfach Prapbonifäe Vokal⸗

Richard Wagner, Gef. Schriften IV.

162 Oper und Drama:

gewebe zu zernagen, und machte e8 immer erfichtlicher zu einem oft nur mühfam noch zu erhaltenden Fünftlichen Bufammenklang innerlich unübereinftimmender, indivibueller Kundgebungen. In der Oper endlich löſte ſich das Individuum vollſtändig aus dem Vokalvereine los, um als reine Perſönlichkeit ganz unge- hindert, allein und ſelbſtändig ſich kundzugeben. Da, wo ſich dramatiſche Perſönlichkeiten zum mehrſtimmigen Geſange an— ließen, geſchah dieß im eigentlichen Opernſiyle zur ſinnlich wirkſamen Verſtärkung des individuellen Ausdruckes, ober im wirklich dramatiſchen Style als, durch die höchſte Kunſt ver⸗ mittelte, gleichzeitige Kundgebung fortgeſetzt ſich behauptender charalteriſtiſcher Inbividualitäten.

Faſſen wir nun das Drama der Zufunft in das Auge, wie wir es und als Verwirklichung ber von uns beftimmten bich- terifchen Abſicht vorzuftellen haben, jo gemahren wir in ihm nir= gends Raum zur Aufftellung von Individualitäten von fo unter- georbneter Beziehung zum Drama, daß fie zu dem Zwedce po= Inphonifcher Wahrnehmbarmahung der Harmonie, dur nur muſikaliſch ſymphonirende Theilnahme an ber Melodie der Haupt- perfon, verweubet werben fünnten. Bei der Gebrängtheit und Berftärkung der Motive, wie der Handlungen, können nur Theil⸗ nehmer an der Handlung gebadjt werben, die auß ihrer nothwen⸗ digen individuellen Kundgebung einen jeberzeit entſcheidenden Einfluß auf diefelde äußern, alfo nur Perfönlickeiten, die wiederum zur mufifalifhen Kundgebung ihrer Individualität einer mehritimmigen fymphonifchen Unterjtügung, das ift: Ber- deutlihung ihrer Melodie, bedürfen, keinesweges aber außer in nur felten erſcheinenden, vollkommen gerechtfertigten und zum höchſten Verſtändniſſe nothwendigen Fällen zur bloß har— monifchen Rechtfertigung der Melodie einer anderen Perſon dies nen können. Selbſt der bisher in ber Oper verwendete Chor wird nach der Bedeutung, die ihm in den noch günftigften Fällen dort beigelegt warb, in unferem Drama zu verſchwinden haben; auch er ift nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die bloß mafjenhafte Kundgebung vollftändig benom⸗ men wird. Eine Mafje kann und nie intereffiren, ſondern bloß verblüffen: nur genan unterfcheibbare Individualitäten Tönnen unfere Theilnahme feſſeln. Auch der zahlreicheren Umgebung, da wo fie nöthig ift, den Charakter individueller Theilnahme an

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Zukunft. 163

den Motiven und Handlungen des Drama's beizulegen, ift die nothwendige Sorge bed Dichters, ber überall nad deutlichſter Verſtändlichkeit feiner Anordnungen ringt: Nichts will er ver- deden, fondern Alles enthüllen. Er will dem Gefühle, an das er fi) mittheilt, ben ganzen lebendigen Organismus einer menfch- chen Handlung erſchließen, und erreicht die nur, wenn ex dieſen Organismus ihm überall in der wärmften, felöftthätigften Kund- gebung feiner Theile vorführt. Die menschliche Umgebung einer dramatifchen Handlung muß und fo erideinen, als ob dieſe be- fondere Handlung und die in ihr begriffene Perfon uns nur deßhalb über die Umgebung hervorragend ſich darſtelle, weil fie in ihrem Bufammenhange mit diefer Umgebung und gerabe von der einen, dem Beſchauer zugewandten Seite, und unter ber Beleuchtung gerade diefes, jeßt fo fallenden Lichtes, gezeigt wird. Unfer Gefügl muß in dieſer Umgebung aber jo beitimmt fein, daß wir durch die Annahme nicht verlegt werben können, ganz von berfelben Stärke und Theilnahmerregungsfähigteit würde eine Handlung und die in ihr begriffene Perjon fein, die ſich und zeigten, wenn wir den Schauplah von einer anderen Seite ber, und bon einem anberen Lichte beleuchtet, betrachteten. Die Umgebung nämlich muß fi unſerem Gefühle fo daritellen, daß wir jedem Gliede derjelben unter anderen, als den nun einmal gerabe fo beitimmten Umftänden, die Fähigfeit zu Motiven und Handlungen beimeffen Können, bie unfere Theilnahme ebenfo feſſeln würden, als die gegenwärtig unferer Beachtung zunächſt zugewandten. Das, was ber Dichter in den Hintergrund ftellt, tritt nur dem notwendigen Gefichtöftandpunfte des Zuſchauers gegenüber zurüd, der eine zu reich gegliederte Handlung nicht überfehen fönnen würde, und dem der Dichter dehalb nur die eine, leicht faßliche Phyfiognomie des darzuftellenden Gegenftan- des zufehrt. Die Umgebung ausſchließlich zu einem lyriſchen Momente machen, müßte fie im Drama unbebingt herabfeßen, indem dieß Verfahren der Lyrik ſelbſt zugleich eine ganz faljche Stellung im Drama zuweilen müßte. Der lyriſche Erguß fol im Drama der Zukunft, dem Werke des Dichters, der aus dem Verſtande an dad Gefühl fi} mittheilt, wohlbedingt aus den vor unferen Augen zufammengebrängten Motiven erwachſen, nicht aber von vornherein unmotivirt fi außbreiten. Der Dichter die⸗ ſes Drama's will nicht auß dem Gefühle zu deſſen Rechtfertigung 118

164 Oper und Drama!

vorfchreiten, fondern das aus dem Verſtande gerechtfertigte &e- fühl ſelbſt geben: diefe Rechtfertigung geht vor unferem Gefühle ſelbſt vor fi, und beftimmt fi aus dem Wollen der Handeln- ben zum unwillkürlich nothwendigen Miüffen, d. i. Können; der Moment der Verwirklichung diefed Wollend durch das unmill- kürliche Müffen zum Können ift der Igrifche Erguß in feiner höchſten Stärke ald Ausmündung in die That. Das Iyrifche Moment hat daher aus dem Drama zu wachen, aus ihm als nothwendig erfcheinend fi zu bedingen. Die bramatifche Ums gebung fann fomit nicht unbedingt im Gewande der Lyrik er- feinen, wie es in unjerer Oper der Fall war, ſondern aud) fie bat ſich erft zur Lyrik zu fteigern, und zwar durch ihre Theil- nahme an der Handlung, für welche fie uns nicht als lyriſche Maſſe, fondern al3 wohlunterjchiedene Gliederung ſelbſtändiger Indivibualitäten zu überzeugen hat.

Nicht der fogenannte Chor alfo, noch auch die handelnden Hauptperjonen felbft, find vom Dichter als muſikaliſch fympho- nirender Tonkörper zur Wahrnehmbarmachung der harmonifchen Bebingungen der Melodie zu verwenden. In der Blüthe des tyriſchen Erguſſes bei volltommen bedingtem Untheile aller han⸗ beinden Perfonen und ihrer Umgebung an einem gemeinfchaft- lichen Gefühlsausbrude, bietet fich einzig dem Tondichter bie polyphonifche Vokalmaſſe dar, der er die Wahrnehmbarmachung der Harmonie übertragen Tann: auch hier jedoch wird es bie nothwendige Aufgabe des Tondichters bleiben, den Antheil der dramatiſchen Individualitäten an dem Gefühlserguſſe nicht als bloße harmoniſche Unterſtützung der Melodie kundzugeben, fon dern gerade auch im harmonifchen Bufammenklange die Individualität des WBetheiligten in beftimmter, wiederum melo- difcher Kundgebung ſich kenntlich machen zu lafien; und eben hierin wird fein höchſtes, durch den Standpunkt unferer mufi- kaliſchen Kunft ihm verliehenes, Vermögen fih zu bewähren haben. Der Standpunkt umferer felbftäudig ertwidelten mufis Talifchen Kunft führt ihm aber auch das unermeßlich fähige Organ zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie zu, das, neben der Be- friedigung de3 reinen Bebürfniffes, zugleich in ſich das Ver— mögen einer Charalterifirung ber Melodie befigt, wie es ber fomphonirenden Vokalmaſſe durchaus verwehrt war, und bieß Organ ift eben das Orcheſter.

Dichttunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 165

Das Orcheſter haben wir jetzt nicht nur, wie ich es zubor bezeichnete, als den Bewältiger der Fluihen der Harmonie, ſon⸗ dern als die bewältigte Fluth der Harmonie ſelbſt zu betrachten. Im ihm ift das für die Melodie bedingende Element der Har- monie, au einem Momente ber bloßen Wahrnehmbarmahung diefer Bedingung, zu einem charakteriftifch überaus mitthätigen Drgane für die Verwirklichung der dichterifchen Abficht bewäl- tigt. Die nadte Harmonie wird auß einem, vom Dichter zu Gun⸗ ften der Harmonie nur Gedachten, und durch die gleiche Ge fangstonmaffe, in welcher die Melodie erjcheint, im Drama nicht zu Verwirklichenden, im Orcheſter zu einem ganz Realen und be ſonders Vermögenden, durch deſſen Hilfe dem Dichter dad voll endete Drama in Wahrheit erft zu ermöglichen ift.

Das Orchefter ift der verwirffichte Gedanke der Harmonie in höchſter, Iebendigfter Beweglichkeit. Es ift die Verdichtung ber Glieder des vertifalen Allordes zur felbftändigen Kund— gebung ihrer verwandtfchaftlichen Neigungen nad} einer horizon« talen Richtung Hin, in welcher fie fi mit freiefter Bemwegungs- fähigkeit ausdehnen, mit einer Bewegungsfähigkeit, die dem Drcheſter von feinem Schöpfer, dem Tanzrhythmos, verliehen worden ift.

Zunãchſt Haben wir hier das Wichtige zu beachten, daß das Inftrumentalorchefter nicht nur in feinem Ausdrudövermögen, ſondern ganz beftimmt aud in feiner Klangfarbe ein von der Vokaltonmaſſe durchaus Unterſchiedenes, Unberes ift. Das mufi- taliſche Inftrument ift gewiſſermaßen ein Echo ber menjchlichen Stimme von ber Beichaffenheit, daß wir in ihm nur nod den, in den mufitalifhen Ton aufgelöften Vokal, nicht aber mehr den wortbeftimmenden Ronfonanten vernehmen. In dieſer Loßgelöft- heit vom Worte gleicht der Ton des Anftrumentes jenem Urtone der menſchlichen Sprache, der ſich erit am Konfonanten zum wirklichen Vokale verbichtete, und in feinen Verbindungen der heutigen Wortſprache gegenüber zu einer befonderen Sprache wird, die mit ber wirklichen meufchlichen Sprache nur noch eine Gefühls-, nicht aber Verſtandesverwandiſchaft hat. Diefe vom Worte gänzlich) Tosgelöfte, ober der. konſonantiſchen Entwidelung der nnfrigen fern gebliebene, reine Tonſprache hat num an ber Individualität ber Inftrumente, durch welche fie einzig zu fprechen tar, wiederum befondere individuelle Eigen:

166 Oper und Drama:

thümlichfeit gewonnen, die von dem gewiſſermaßen Tonfo- nirenden Charakter des Inftrumentes ähnlich beftimmt wird, wie die Wortiprache durch die fonfonirenden Mitlauter. Dan Könnte ein mufifalifches Inſtrument in feinem bejtimmenden Ein- fluffe auf die Eigenthümlichkeit des auf ihm Fundzugebenden Tones als den Fonfonirenden wurzelhaften Aulaut bezeich— nen, der ſich für alle auf ihm zu ermöglichenden Töne ald bin= - dender Stabreim barftellt. Die Verwandtſchaft der Inftru- mente unter ſich twitcde ſich demnach fehr leicht nad} der Ähnlichkeit dieſes Anlautes beftimmen laſſen, je nachdem biefer ſich gleich fam als eine weichere ober härtere Ausſprache des ihnen ur fprünglich gemeinſchaftlichen gleichen Konfonanten kundgäbe. In Wahrheit befigen wir Jnftrumentfamilien, denen ein urſprüng⸗ Lich gleicher Anlaut zu eigen ift, welcher ſich nad; dem verſchie— denen Charakter der Samilienglieber nur auf eine ähnliche Weife abftuft, wie z. ®. in der Wortſprache die Konfonanten P, B und W; und wie wir beim W wieder auf die Ähnlichteit mit dem F ftoßen, fo dürfte fich leicht die Verwandtſchaft der In— ftrumentfamilien nach einem fehr verzweigten Umfange auffinden laſſen, deffen genaue Gliederung, wie die charakteriftiiche Ver⸗ wendung ber Glieber in ihrer Zufammenftelung nad) der Ahn- lichfeit ober Unterjchiebenheit, und das Orcheſter nad) einem noch bei Weitem individuelleren Sprachvermögen bor- führen müßte, als es ſelbſt jegt gefchieht, wo das Orchefter nad) feiner finnvollen Eigenthümlichkeit noch lange nicht genug er- fannt iſt. Diefe Erfenntniß fann und allerdings aber erft dann tommen, wenn wir dem Orcheſter eine innigere Theilnahme am Drama zuweifen, als es bisher der Fall ift, wo e3 meift nur zur Iuzuriöfen Bierrath verwendet wird.

Die Befonderheit des Sprachvermögens des Orcheiterd, die fi aus feiner finnlihen Cigenthümlichfeit ergeben muß, be- halten wir uns zu einer ſchließlichen Betrachtung der Wirffam- feit des Orcheſters vor; um mit nöthiger Vorbereitung zu diefer Betrachtuug zu gelangen, gilt es für jetzt zunächft Eines feitzu- ftellen: die vollkommene Unterfhiedenheit des Dr— cheſters in feiner rein finnlihen Kundgebung von ber ebenfalls rein finnliden Kundgebung ber Vokalton— maffe. Das Orcheſter ift von diejer Vokaltonmaſſe ebenfo unter- ſchieden, wie der foeben bezeichnete Inſtrumentalkonſonant bon

Dichtkunſt und Tonfunft im Drama ber Zukunft. 167

dem Sprachfonfonanten, und fomit der von beiden bedingte oder entſchiedene tönende Laut es ift. Der Konfonant des Inftrus mente3 beftimmt ein- für allemal jeden auf dem Inſtrumente herborzubringenden Ton, während ber Volalton ber Sprache ſchon allein aus dem wechfelnden Anlaute eine immer andere, unendlich mannigfaltige Färbung befommt, vermöge welder das Tonorgan der Sprachſtimme eben das reichſte und vollkommenſte, nämlich organiſch bedingteſte iſt, gegen das die erdenklich man⸗ nigfaltigfte Miſchung von Orcheftertonfarben ärmlich erſcheinen muß, eine Erfahrung, die allerdings Diejenigen nicht machen können, die von unſeren modernen Sängern die menſchliche Stimme, bei Hinweglaſſung aller Konſonanten und Beibehaltung nur eines beliebigen Vokales, zur Nachahmung des Orchefter- inftrumente8 verwendet hören, und demnach diefe Stimme wies derum als Inſtrument behandeln, indem fie z. B. Duette zwi⸗ ſchen einen Sopran und einer Slarinette, einem Tenor und einem Waldhorn, zu Gehör bringen.

Wenn wir ganz außer Acht laſſen wollten, daß der Sänger, den wir meinen, ein künſtleriſch Menfchen barftellender Menſch ift und die Fünftlerifchen Ergüffe feines Gefühles nach der höch— ften Nothwendigfeit der Menfchwerdung des Gedankens an— ordnet, fo würde ſchon die rein finnfihe Kundgebung feines Sprachgejangstoned in ihrer unendlichen individuellen Mannig- faltigkeit, wie fie aus dem charalteriſtiſchen Wechfel der Kon fonanten und Volale hervorgeht, fich nicht nur als ein bei Weiten reihere3 Tonorgan als dad Orchefterinftrument, ſondern auch al8 ein von ihm gänzlich unterſchiedenes darſtellen; und biefe Unterſchiedenheit des finulichen Tonorganed bejtimmt auch ein für allemal die ganze Stellung, die da8 Orcheſter zu dem bar- ftellenden Sänger einzunehmen hat. Das Orcheſter hat den Ton, dann die Melodie und den harakteriftiichen Vortrag des Sängers zunächit als einen aus dem inneren Bereiche der mufitalifchen Harmonie wohlbedingten und gerechtfertigten zur Wahrnehmung zu bringen. Dieſes Vermögen gewinnt das Orcheſter ald ein vom Gejangdtone und der Melodie des Sängers Ioßgelöftes, freiwillig und um feiner eigenen, als felbftändig zu rechtfertigen- den Kundgebung willen, theifnehmend fi) ihm unterorbnender Harmonifcher Tonkörper, nie aber durch den Verſuch wirklicher Miſchung mit dem Gefangstone. Wenn wir eine Melodie, von

168 Oper und Drama:

der menſchlichen Sprachftimme gefungen, von Inftrumenten fo begleiten laſſen, daß der wejentliche Veſtandtheil der Harmonie, welcher in den Intervallen der Melodie liegt, auß dem harmos niſchen Körper der nftrumentalbegleitung fortgelaffen bleibt und durd die Melodie der Geſangsſtimme gleichfam ergänzt werben foll, fo werben wir augenblidlic gewahrt, daß die Har- monie eben unvollftändig, und die Melodie dadurch eben nicht vollftändig harmonifch gerechtfertigt ift, weil unfer Gehör die menſchliche Stimme, in ihrer großen Unterfchiebenheit von ber finnlihen Klangfarbe der Inftrumente, unwillkürlich von diefen getrennt wahrnimmt, und fomit nur zwei verſchiedene Mo— mente, eine harmoniſch unvollftändig gerechtfertigte Melodie, und eine lüdenhafte harmonifche Begleitung, zugeführt erhält. Diefe ungemein wichtige, und noch nie Tonfequent beachtete Wahrnehmung vermag uns über einen großen Theil der Uns wirkſamkeit unferer bisherigen Opernmelodik aufzuklären, und über die mannigfachen Irrthümer zu belehren, in die wir über die Bildung der Gefangsmelodie dem Orcheſter gegenüber ver- fallen find: Hier ift aber genau der Ort, wo wir und biefe Be— Ichrung zu verſchaffen haben.

Die abfolute Melodie, wie wir fie bisher in der Oper ver— wendet haben, und die wir, bei fehlender Bedingung derfelben aus einem nothiwendig zur Melodie ſich geitaltenden Wortverfe, aus reinem mufifalifchen Ermeſſen der uns altbefannten Wolfd« lied- und Tanzmelodie durch Variation nachkonſtruirten, war, genau betrachtet, immer eine aus ben Inftrumenten in die Ge— fangaftimme überſetzte. Wir Haben uns hierbei mit unmwillfür- lihem Irrihume die menſchliche Stimme immer als ein, nur be= fonder8 zu berüdjichtigendes, Orchefterinftrument gedacht, und als folches fie auch mit der Orcheiterbegleitung verwebt. Dieje Verwebung geſchah bald der Urt, wie ich e8 bereitö anführte, näm« lich daß die menſchliche Stimme als ein wefentliches Veftand- theil der Inftrumentalharmonie verwendet ward, bald aber auch auf die Weife, daß die Inftrumentalbegleitung die harmo⸗ niſch ergänzende Melodie zugleih mit vortrug, wodurch aller- dings das Orchefter zu einem verftändlichen Ganzen abgeichlofien wurde, in diefem Abſchluſſe aber auch zugleid) den Charakter

Diätlunft und Zonfunft im Drama ber Zukunft. 169

der Melodie ald einen der Inftrumentalmufit ausſchließlich eige- nen aufdeckte. Durch die nöthig befundene vollftändige Auf- nahme ber Melodie in das Orcheiter befannte der Mufiker, daß dieje Melodie eine ſolche fei, die, nur von der ganz gleichen Tonmafje volftändig harmoniſch gerechtfertigt, auch von dieſer Mafie allein verftändlich vorzutragen fei. Die Gejangsftimme erſchien im Vortrage der Melodie auf diefem harmoniſch umb melodiſch vollftändig abgefchloffenen Tonkörper im Grunde durch⸗ aus überflüffig und als ein zweiter, entftellender Kopf ihm un- natürlich aufgefegt. Der Zuhörer empfand dieſes Misverhält- niß ganz unwillkürlich: er verſtand die Melodie des Sängers nicht eher, als bis er fie, frei von den dieſer Melodie hin- derlichen wechſelnden Spracjvofalen und Ronfonanten die ihn beim Erfaſſen der abjoluten Melodie beunruhigten —, nur noch bon Inſtrumenten vorgetragen zu Gehör bekam. Daß unfere beliebteften Opernmelodieen erſt, wenn fie vom Orcheſter mie in Konzerten und auf Wachtparaden, oder .auf einem barmonifchen Inftrument vorgetragen dem Publikum zu Ge— hör gebracht wurden, von diefem Publifum auch wirklich ver- ftanden, und ihm erft dann geläufig wurden, wenn es fie ohne Worte nachſingen konnte, diefer offentundige Umſtand Hätte und ſchon längſt über die gänzlich faliche Auffaffung ber Ge— fangsmelodie in der Oper aufklären follen. Dieje Melodie war eine Gefangsmelodie nur infofern, als fie der menfchlichen Stimme nad) ihrer bloßen Inftrumentafeigenfhaft zum Vortrage zugewiefen war, einer Eigenſchaft, in deren Entfaltung fie durch die Konfonanten und Vokale der Sprachworte empfindlich benachtheiligt wurde, und um beretmillen die Geſangskunſt auch folgerichtig eine Entwidelung nahm, wie wir fie Heut’ zu Tage bei den modernen Opernfängern auf ihrer ungenirteften tort= loſen Höhe angelangt fehen.

Am auffalenditen fam dieß Misverhältnig zwifchen der Mlangfarbe des Orchefter8 und der menſchlichen Stimme aber da zum Vorfchein, wo ernfte Tonmeifter nad) charakteriftifcher Kundgebung der dramatifchen Melodie rangen. Während fie als einzige Band der rein muſikaliſchen Verſtändlichkeit ihrer Motive unmillkürlich immer nur noch jene, foeben bezeichnete, Inſtrumentalmelodie im Gehöre hatten, fuchten fie einen bejon- deren jinnigen Ausdrud für fie in einer ungemein künſtlichen,

170 Dper und Drama:

und von Note zu Note, von Wort zu Wort reichenden, Harmo- niſch und rhythmiſch accentuirten Begleitung der Inftrumente genau zu beftimmen, und gelangten jo zur erfertigung bon Mufikperioden, in denen, je forgfältiger bie Inftrumentalbegleis tung mit dem Motive der menſchlichen Stimme verwoben war, diefe Stimme vor dem unwillkürlich trennenden Gehöre für fich eine unfaßbare Melodic kundgab, deren verftänblichende Ber dingungen in einer Begleitung vorhanden waren, die, wiederum unwillkurlich Tosgelöft von der Stimme, an fi dem Gehöre ein unerklärliches Chaos blieb. Der Hier zu Grunde liegende Sehler war alfo ein zweifacher. Erftlich: Verkennung des be= ftimmenden Wefens der dichteriſchen Geſangsmelodie, die als abfolute Melodie von ber Inftrumentalmufit herbeigezogen wurde; und zweitens: Verkennung der vollftändigen Unterſchiedenheit der langfarbe*) der menſchlichen Stimme von der der Orchefter- infteumente, mit denen man die menfchlihe Stimme um rein mufifalifcher Anforderungen willen vermifchte.

Gilt es nun hier, ben bejonderen Charakter der Gefangs- melodie genau zu bezeichnen, fo geſchieht dieß damit, daß mir fie nicht nur finnig, fondern auch finnlih aus dem Wortverfe her- vorgegangen, und durch ihn bedingt, uns nochmal deutlich ver⸗ gegenwärtigen. Ihr Urfprung liegt, dem Sinne nad}, in dem Weſen der nad Verftändnig durch das Gefühl ringenden dich— terifchen Abficht, der finnlihen Erſcheinung nah in dem Organe des Verftandes, ber Woriſprache. Yon diefem bedingen- den Urfprunge aus fchreitet fie in ihrer Außbildung biß zur Kundgebung des reinen Gefühlsinhaltes des Verſes vermöge

*) Der abftrafte Mufiler gewahrte auch nicht die volllommene Bermifhungsunfäigfeit der Klangfarben 3. B. des Klavier und der Rioline. Ein YHauptbeftandtheil feiner kunſtleriſchen Lebend- freuden beftand darin, Rlavierfonaten mit Bioline u. f. w. zu fpielen, ohne gewahr zu werden, daß er eine nur gedachte, nicht aber zu wirklichem Gehör gebrachte Mufit zu Tage förderte. So war ihm dad Hören über dad Gehen vergangen; denn was er hörte, waren eben nur harmoniſche Abftraftionen, für bie fein Gehörfinn einzig noch empfänglid war, während das lebendige Fleiſch des mufifalifchen Ausbrudes ihm gänzlid) unwahrnefmbar bleiben mußte.

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 171

der Auflöfung der Vokale in den mufifalifhen Ton bis dahin vor, wo fie mit ihrer rein mufifalifchen Seite fich dem eigenthüm- lichen Elemente ber Muſik zumendet, aus welchem dieſe Seite einzig bie ermöglichende Bedingung für ihre Erſcheinung erhält, während fie bie andere Seite ihrer Geſammterſcheinung unver rüdt dem finnvollen Elemente der Wortfprache zugefehrt läßt, aus welchem fie urjprünglich bedingt war. In diefer Stellung wird die Versmelodie das bindende und verftändlichende Band zwiſchen der Wort- und Tonſprache, ald Erzeugte auß der Ver mählung der Dichtkunft mit der Mufil, als verkörpertes Liebes⸗ moment beider Künfte. Zugleich ift fie fo aber auch mehr und fteht höher, als der Vers der Dichtkunft und die abfolute Me- lodie der Muſik, und ihre nad) beiden Seiten hin erlöfende wie von beiden Seiten her bedingte Erſcheinung wird zum Heile beider Künſte nur dadurch möglich, daß beide ihre plaftifche, von den bebingenden Elementen getragene, aber wohl geſchie— dene, individuell felbftändige Kundgebung als folche nur unter- ftügen und ftet3 vechtfertigen, nie aber durch überfließenbe Ver- miſchung mit berjelben ihre plaftiihe Individualität verwiſchen.

Rollen wir und nun das richtige Verhältniß diefer Melodie zum Orchefter deutlich verfinnlichen, fo können wir dieß in fols genbem Bilde.

Wir verglichen zuvor dad Orchefter, ald Bewältiger ber Fluthen der Harmonie, mit dem Meerſchiffe: es geſchah dieß in dem Sinne, wie wir „Seefahrt“ und „Schifffahrt“ als gleich- bedeutend ſetzen. Dad Orchefter als bewältigte Harmonie, wie mir es dann wieberum nennen mußten, dürfen wir jegt um eines neuen, felbftändigen Gleichniſſes“) willen, im Gegenſatze zu dent Dean, als den tiefen, dennoch aber bis auf den Grund vom Sonnenlichte erhellten, Haren Gebirgslandfee betrachten, befjen Uferumgebung von jedem Punkte des Sees aus deutlich erfenn- bar iſt. Aus den Baumftämmen, bie dem fteinigen, uran— geſchwemmten Boden der Landhöhen entwuchſen, warb num ber Nahen gezimmert, der, durch eiferne Klammern feftgebunden,

*) Nie Tann ein verglihener Gegeuftand dem anderen voll Tommen gleichen, fondern die Apnlichteit fih mur mad einer Ride tung, nit nah allen Richtungen Hin behaupten; vollkommen gleich find fih nie die Gegenftände organifder, fondern nur die medha- nifcher Bildung.

172 Dper und Drama:

mit Stener und Ruder wohlverfehen, nad) Geftalt und Eigen- fchaft genau in der Abficht gefügt wurde, vom See getragen zu werben, und ihn durchſchneiden zu können. Diefer Nachen, auf den Rüden des Sees gejegt, durch ben Schlag der Ruder fort- bewegt, und nad) der Richtung des Steuerd geleitet, ijt Die Versmelodie des bramatifchen Sängers, getragen von den Hangvollen Wellen des Orcheſters. Der Nachen ift ein durchaus Anderes als der Spiegel des Sees, und doch einzig nur ge zimmert und gefügt mit Rüdficht auf da8 Waffer und in genauer Erwägung feiner Eigenfchaften; am Lande ift der Nachen voll- Tommen unbrauchbar, höchſtens nach feiner Zerlegung in gemeine Bretplanken als Nahrung ded bürgerlichen Kochheerdes nußbar. Erft auf dem See wird er zu einem wonnig Lebendigen, Ges tragenen und doc Gehenden, Bewegten und bennod immer Nuhenden, das unfer Auge, wenn ed über ben See ſchweiſt, immer wieber auf ji zieht, wie die menfcjlich ſich darftellende Abſicht des Daſeins des wogenden, zubor und zwecklos erſchie⸗ nenen Sees. Doc ſchwebt der Nachen nicht auf der Ober- fläche des Waſſerſpiegels: ber See kann ihn nad) einer fiheren Richtung nur tragen, wenn er mit dem vollen ihm zugefehrten Theile feines Körpers: fid) in das Waſſer verſenkt. Ein dünnes Bretchen, dad nur die Oberfläche des Sees berührte, wird von feinen Wellen je nad ihrer Strömung richtungslos da- und dorthin geworfen; während wiederum ein plumper Stein gänz- lich in ihn verfinfen muß. Nicht aber nur mit der vollen ihm . zugefehrten Geite feines Körpers verſenkt fi der Nachen in den See, fondern auch dad Steuer, mit deu feine Richtung beftimmt wird, und das Ruder, welches diefer Richtung die Bewegung giebt, erhalten dieſe beitimmende und bewegende Kraft nur durch ihre Berührung mit dem Waffer, die den wirkungsvollen Drud der leitenden Hand erſt ermöglicht. Pas Ruder ſchneidet mit jeber vorwärts treibenden Bewegung tief in bie klingende Waſſer⸗ fläche ein; aus ihr erhoben, läßt es das an ihm gehaftete Naß in melodiſchen Tropfen wieder zurüdfließen.

Ich habe nicht nöthig, dieß Gleichniß näher zu deuten, um mich über das Verhältniß in der Berührung der Worttonmelodie der menſchlichen Stimme mit dem Orcheſter verftänblich zu machen, denn dieß Verhältniß ift vollkommen entſprechend in ihm dar geftellt, was uns nod) genauer einleuchten wird, wenn wir

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 173

die uns befannte eigentliche Opernmelodie ald den fruchtlofen Verſuch de3 Muſikers bezeichnen, die Wellen des Sees felbft zum tragbaren Nahen zu verdichten.

Wir Haben jet nur noch das Orcheſter als ein felbftän- diges, an fi) von jener Versmelodie unterjchiedened Element zu betrachten, und feiner Fähigkeit, diefe Melodie nicht nur duch Wahrnehmbarmahung der fie vom rein muſikaliſchen Stanbpunfte aus bedingenden Harmonie, fondern auch durch fein eigenthümliches, unendlich ausdrucksvolles Sprachvermögen fo zu tragen, wie ber See den Nachen trug, uns Mar zu ver⸗ ſichern.

V.

Das Orcheſter beſitzt unläugbar ein Sprach vermögen, und die Schöpfungen unſerer modernen Inſtrumentalmuſik haben und dieß aufgedeckt. Wir haben in den Symphonieen Beethoven's dieß Sprachvermögen zu einer Höhe entwideln gefehen, von der aus es fi gedrängt fühlte, jelbft Das außzufprechen, was es feiner Natur nad) eben aber nicht ausfprechen kann. Jetzt, wo wir in der Wortverdmelodie ihm gerade Das zugeführt haben, was es nicht außfprechen konnte, und ihm als Träger dieſer ihm verwandten Melodie die Wirffamkeit zuwiefen, in der e8 voll- Iommen beruhigt eben nur Das nod) außfprechen foll, mas e3 feiner Natur nad) einzig ausfprehen kann, haben wir dieſes Spracjvermögen des Orchefter deutlich dahin zu bezeich- nen, daß e8 dad Vermögen ber Kundgebung des Unausſprech— lien ift,

Diefe Bezeichnung fol nicht etwas nur Gedachtes ausbrüden, fondern etwas ganz Wirkliches, Sinnfälliged. .

Bir fahen, daß das Orcheiter nicht etwa ein Kompler ganz gleichartiger verſchwimmender Tonfähigfeiten ift, fondern daß es aus einem unermeßlich reich zu erweiternben Vereine von Snftrumenten befteht, die als ganz beftimmte Individualis täten den auf ihnen hervorzubringenden Ton ebenfal3 zu indi- vidueller Kundgebung beftimmen. ine Tonmafje ohne jede ſolche individuelle Beftimmtheit ihrer Glieder ift gar nicht vor- handen, und kunn höchſtens gedacht, nie aber verwirklicht wer- den. Das, was diefe Individualität aber bejtimmt, ift wie

174 Dper und Drama:

wir fahen die befondere Eigenthümlichkeit des einzelnen In- ftrumentes, das gleichjam den Vokal des Hervorgebrachten Tones durch feinen fonfonirenden Anlaut als einen befonderen, unter- fchiedenen bedingt. Wie fi) num diefer fonfonirende Anlaut nie zu der finnvollen, vom Berftande des Gefühles aus bedingten Bedeutung des Wortfprachlonfonanten erhebt, noch auch bes Wechſels und de3 fomit wechſelnden Einflufje® auf den Vokal fähig ift, wie diefer, fo verdichtet fi die Tonſprache eines In— ſtrumentes unmöglich zu einem Ausbrude, der nur dem Organe des Verſtandes, der Wortfpradhe, erreichbar ift; fondern fie ſpricht, ald reined Organ des Gefühles, gerade nur Das aus, was der Wortſprache an fich unausſprechlich ift, und von unferem verſtandesmenſchlichen Standpunkte aus angefehen alſo ſchlecht⸗ bin das Unausſprechliche. Daß dieſes Ünausſprechliche nicht ein an ſich Unausſprechliches, ſondern eben nur dem Organe unfere8 Verſtandes unausſprechlich, fomit alfo nicht ein nur Ge— dachtes, fondern ein Wirkliches ift, das thun ja eben ganz deut- li) die Inſtrumente des Orchefter8 Fund, von denen jebes für fi, unendlich mannigfaltiger aber im wechſelvoll vereinten Wirken mit anderen Inſtrumenten, e8 Mar und verftänbfich außfpricht*).

Faſſen wir nun zunächſt dad Unausfprecjliche in daB Auge, was das Orchefter mit größter Beftimmtheit auszubrüden ver⸗ mag, und zwar im Vereine mit einem anderen Unausfprechlichen, ber Gebärbe.

Die Gebärbe des Leibes, wie fie ſich in der bedeutungs- vollen Bewegung der ausbrudsfähigften Glieder und endlich der Geſichtsmienen als von einer inneren Empfindung beftimmt Tundgiebt, ift infofern ein vollfommen Unausſprechliches, als die Sprache fie nur zu fchildern, zu deuten vermag, während eben nur jene Glieder ober jene Mienen fie wirklich ausſprechen tonnten. Etwas, was die Wortiprache vollfommen mittheifen Kann, alfo ein vom Berftand an den Berftand mitzutheilender Gegenftanb, bebarf der Begleitung oder ber Verflärtung durch

*) Diefe leichte Erlärung ded Unausſprechlichen“ könnte man wohl nicht mit Unrecht auf al’ das —— e ausdehnen was, vom Standpunkie des Sprechenden aus, von dieſem für ab- folnt unausſprechlich ausgegeben wird, und an ſich ſehr wohl aud- ſprechlich iſt, wenn nur das entſprechende Organ dazu verwendet wird.

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Bukunft. 175

die Gebärde gar nicht, ja bie unnöthige Gebärde könnte die Mittheilung nur ftören. Bei einer ſolchen Mittheilung ift, wie wir früher fahen, das finnliche Empfängnigorgan des Gehöres aber auch nicht erregt, ſondern es dient nur als theilnahmlofer Zermittler. Die Mittheilung eines Gegenftandes aber, den die Wortſprache nicht zu völliger Überzeugung an das notwendig aud zu erregende Gefühl kundgeben kann, alfo ein Ausbrud, der fi in den Affeft ergießt, bedarf durchaus der Verftärkung durch eine begleitende Gebärde. Wir fehen alfo, daß, wo das Gehör zu größerer ſinnlicher Theilnahme erregt werben foll, der Mittheilende ſich unmillfürlih auch an das Auge zu wenden hat: Ohr und Auge müffen fi einer höher gejtimmten Mit theilung gegenfeitig verfichern, um dem Gefühle fie überzeugend zuzuführen. Die Gebärde fprach in ihrer nöthig gemorbenen Mittheilung an das Auge nun aber Das aus, was die Wort- ſprache eben nicht mehr auszubrüden vermochte, konnte fie es, fo war die Gebärbe überflüffig und ftörend. Daß Auge war durch die Gebärde fomit auf eine Weife erregt, der das entfprechende Gleichgewicht der Mittheilung an das Gehör noch fehlte: dieſes Gleichgewicht ift zur Ergänzung des Eindrudes zu einem dem Gefühle vollfommen verftändlichen aber nöthig. Der in ber Erregung zur Melodie gewordene Wortverd löſt endlich wohl den Verſtandesinhalt der urſprünglichen Sprad- mittheifung zu einem Gefühlsinhalte auf: das der Gebärde voll- kommen entſprechende Moment ber Mittheilung an das Gehör ift in diefer Melodie aber noch nicht enthalten; gerade in ihr, ald erregteftem Sprachausbrude, lag erft bie Beranlaffung zur Steigerung der Gebärde ald eines verſtärkeuden Momente, defien die Melodie noch bedurfte, eben weil das ihm dem verftärkten Momente der Gebärde volltommen Entfprechende noch nicht in ihr enthalten fein konnte. Die Versmelodie ent» hielt fomit nur die Bedingung zur Kundgebung der Gebärbe; Das, was die Gebärde vor den Gefühle aber fo rechtfertigen fol, wie der Sprachvers durch die Melodie, oder die Melodie durch die Harmonie zu rechtfertigen beſſer noch zu verdeut⸗ lien war, Tiegt jedoch außerhalb des Vermögens der Me- lodie, die auß dem Sprachverſe hervorging und mit einer wejen- haften, unerläßlich bedingten Geite ihre Korpers eben ber Wortſprache zugewandt bleibt, die das Beſondere ber Gebärbe

176 ‚Oper und Drama:

nicht auszufprechen vermag, die Gebärde deßhalb zu Hilfe rief, und num dad ihr vollftändig Entipredhende dem bar- nad) verlangenben Gehöre eben nicht mittheilen Tann. Das fomit in der Worttonfprache Unausſprechliche der Gebärde ver: mag nun aber die, von biefer Wortfprache gänzlich Losgelöfte Sprache des Orchefter8 wiederum jo an das Gehör mitzutheilen, wie die Gebärde ſelbſt e8 an dad Auge kundgiebt.

Die Fähigkeit hierzu gewann das Orcheſter auß der Be— gleitung der finnlichften Gebärde, der Tanzgebärde, der dieſe Begleitung eine aus ihrem Weſen beftimmte Notwendigkeit für ihre verftänbliche Kundgebung war, indem ſich bie Tanzgebärde, wie die Gebärde überhaupt, zur Orcheftermelobie etwa fo ver» hält, wie der Wortvers zu der aus ihm bedingten Gejangs- melodie, fo daß Gebärde und Orcheftermelodie erſt eben ſolch' ein Ganzes an fi Verſtändliches bilden, wie die Wortton- melobie für fi. Ihren finnlichiten Berührungspunkt, d. h. den Punkt, wo beide die eine im Raume, die andere in der Beit, Die eine dem Auge, die anbere dem Ohre fi} als ganz gleich und gegenfeitig aus fich bedingt kundgaben, hatten Tanz: gebärbe und Orcefter im Rhythmos, und in biefem Punkte müffen beide, nach jeder Entfernung bon ihm, nothiwendig wieder zurüdfallen, um in ihm, ber ihre urfprünglichfte Verwandtſchaft aufbedt, verftänblich zu bleiben oder zu werben. on biefem Punkte aus erweitert ſich aber in gleichem Maaße die Gebärde wie da8 Orcheſter zu bem, beiden eigenthümlichſten Sprachver- mögen. Wie die Gebärde in diefem Vermögen ein nur ihr Ausfprechliches an das Auge fundgiebt, fo theilt das Orchefter das dieſer Kundgebung wiederum genau Entjprechende ganz fo an dad Gehör mit, wie im Ausgangspunkte ber Verwandtſchaft der muſikaliſche Rhythmos das, in den finnlich wahrnefmbarften Momenten der Tanzbewegung dem Wuge Kundgegebene dem Gehöre verbeutlichte. Das Niedertreten bes nad; der Erhebung wieder gefenkten Fußes war dem Auge ganz dafjelbe, was dem Ohre der accentuirte Taktniederfchlag war; und fo ift dann auch dem Gehöre bie von Inftrumenten vorgetragene bewegungsvolle Zonfigur, welche die Taktniederſchläge melodifch verbindet, ganz daffelde, was dem Auge die Bewegung des Fußes ober ber fonftigen ausdrudsfähigen Xeibeöglieber zwiſchen ihrem, dem Taktnieberfchlage entſprechenden, Wechſel iſt. Je meiter ſich

Dichttunſt und Tonkunſt im Drama ber Zukuuft. 177

aun die Gebärbe von ihrer beftimmteften, zugleich aber auch befchränkteften Grundlage des Tanzes entfernt; je fparjamer fie ihre ſchärfſten Accente vertheilt, um in den mannigfaltigften und feinften Übergängen des Yusbrudes zu einem unendlich fähigen Sprachvermögen zu werden, befto mannigfaltiger und feiner geftalten fih nun auch die Zonfiguren ber Inſtru— mentenfprache, die, um das Unausſprechliche der Gebärbe über- zeugend mitzutheilen, einen melodifhen Ausdruck eigenthüm- ficjfter Urt gewinnt, deſſen umermeßlich reiche Fähigkeit fich weder nach Inhalt noch Form in der Wortſprache bezeichnen Täßt, eben weil diefer Inhalt und diefe Form durch Die Orchefter- melodie ſich bereit3 .‚vollftändig dem Gehöre fundgiebt, und nur noch bon dem Auge wieberum empfunden werben laun, und. zwar als Inhalt und Form der, jener Melodie entfprechen- den, Gebärde.

Daß dieſes eigenthümliche Sprachvermögen bed Orcheſters in der Oper bisher ſich nod) bei Weitem nicht zu der Fülle hat entwideln können, deren e8 fähig ift, findet feinen Grund eben darin, Daß wie ich dieß an feinem Orte bereit3 erwähnte bei dem Mangel aller wahrhaft dramatifchen Grundlage ber Oper das Gebärbenfpiel für fie ganz unvermittelt noch aus der Tanzpantomime herübergezogen war. Dieſe Ballettanzpanto- mime fonnte nur in ganz beichräntten, ber möglichften Verſtänd⸗ lichfeit wegen endlich zu ftereotypen Annahmen feſtgeſetzten Be— wegungen und Gebärden fi fundgeben, weil fie ber Bedingun- gen gänzlid) entbehrte, die ihre größere Mannigfaltigfeit als nothwendig beftimmt und erflärt hätten. Diefe Bedingungen ent- hält die Wortſprache, und zwar nicht die zu Hilfe gezogene, fondern die, die Gebärde zu Hilfe ziehende Wortiprache. Das erhöhte Sprachvermögen, welches das Orcheſter in Pantomime und Oper daher nicht gewinnen Tonnte, fuchte e3 fi), wie im inftinktiven Wiffen von feiner Fähigkeit, in der, von der Pan: tomime Tosgelöften, abfoluten Inftrumentalmufit zu erwerben. Wir fahen, daß dieſes Streben in feiner höchiten Kraft und Aufrihtigkeit zu dem Verlangen nad Rechtfertigung duch das ort und die vom Worte bedingte. Öebärde führen mußte, und haben jeßt nur noch zu erkennen, wie von der anderen Seite her bie vollftändige Verwirklichung der bichterifchen Abficht nur wieberum in ber höchſten, verbeutlichendften Rechtfer—

Richard Wagner, Bel. Exriften IV.- -18

178 Dper und Drama:

tigung der Wortverömelodie durch das vollendete Sprachver- mögen des Orcheſters, im. Vereine mit ber Gebärde, zu ermög- lichen ift.

Die dichterifche Abficht, wie fie fih im Drama verwirklichen will, bedingt den höchſten und mannigfaltigften Ausdruck der Gebärde, ja fie erfordert ihre Mannigfaltigkeit, Kraft, Feinheit und Beweglichkeit in einem Grade, wie fie nirgends anders, als eben einzig nur im Drama nothiwendig zum Vorſchein kommen tönnen, und für dieſes Drama daher von ganz befonberer Eigen: thümlichkeit zu erfinden find; denn die dramatische Handlung ift mit allen ihren Motiven eine bis zur Wunderbarfeit über das Leben erhobene und gefteigerte. Die Gedrängteit der Hand- lungsmomente und ihrer Motive war dem Gefühle nur in einem wieberum gebrängten Ausdrucke verſtändlich zu machen, der fich aus dem Wortverje bis zur unmittelbar das Gefühl beftimmen- den Melodie erhob. Wie diefer Ausdrud ſich nun bis zur Me lodie fteigert, bedarf er nothwendig auch einer Steigerung der von ihm bedingten Gebärbe über da8 Maa der gewöhnlichen Nedegebärde. Diefe Gebärde ift aber, dem Charafter des Dra- ma’3 gemäß, nicht nur die monologijche Gebärde eines einzelnen Individuums, fonbern eine, aus ber charalteriſtiſch beziehungs- vollen Begegnung vieler Individuen zur höchiten Mannigfaltig- keit ſich fteigernde fo zu fagen: „vielftimmige* Gebärde. Die dramatifche Abficht zieht nicht nur die innere Empfindung an ſich in ihr Bereich, fondern, um ihrer Verwirklichung willen, ganz beſonders die Rundgebung dieſer Empfindung in der äufe- ren leiblichen Erſcheinung der darftellenden Perfonen. Die Pan⸗ tomime begnügte fid, für Geftalt, Haltung und Tracht der Dar- fteller mit typifchen Masten: das allvermögende Drama reift den Darftellern die typifhe Masle ab denn ed befigt dazu das rechtfertigende Sprachvermögen —, unb zeigt fie ald be- fondere, gerade jo und nicht anders fi) Fundgebende Indivibua- litäten. Die dramatifche Abficht beftimmt daher bis in den ein- zelnften Bug Geftalt, Miene, Haltung, Bewegung und Tracht des Darftellers, um ihn jeden Augenblid als dieſe eine, fehnell und beftimmt kenntliche, von allen ihr Begegnenden wohl unter- ſchiedene Individualität erfcheinen zu laſſen. Diefe draſtiſche Unterfcheibbarfeit der einen Individualität ift aber nur zu er- möglichen, wenn alle ihr begegnenden und auf fie ſich beziehen-

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Bufunft. 179

den SInbividualitäten genau in berfelben, ficher beftimmten, draftifchen Unterſcheidbarkeit fid) darftellen. Wergegenwärtigen wir und nun die Erſcheinung folder fharf abgegrenzten Indi- vidualitãten in den unendlich wechſelvollen Beziehungen zu ein» ander, auß denen die mannigfaltigen Momente und Motive der Handlung fih entwideln, und ftellen wir fie und nach dem un« endlich erregenden Eindrude vor, den ihr Anblick auf unfer machtvoll gefefjelted Auge hervorbringen muß, fo begreifen wir aud das Bedürfniß des Gehöres nad, einem, diefem Eindrude auf das Auge vollfommen entiprechenden, ihm wieberum vers ſtändlichen Eindrude, in welchem der erfte ergänzt, gerechtfertigt oder verbeutlicht erfcheint; denn: „Durch zweier Zeugen Mund wird (erft) die (volle) Wahrheit fund“.

Das, was dad Gehör zu vernehmen verlangt, ift aber ge— nau das Unausſprechliche des vom Auge empfangenen Ein- drudes, das, was an ſich und in feiner Bewegung die bichte- rifche Abſicht durch ihr nächſtes Organ, die Wortfprache, nur veranlaßte, nicht aber dem Gehöre überzeugend num mittheilen ann. Wäre diefer Anblid für das Auge gar nicht vorhanden, fo könnte die Dichterifche Sprache ſich berechtigt fühlen, die Schil- derung und Beſchreibung des Eingebildeten an die Phantafie mitzutheilen; wenn es ſich aber bem Auge, wie die höchite dich— terifche Abſicht es verlangte, ſelbſt unmittelbar darbietet, ift Die Schilderung der dichterifchen Sprache nicht nur vollfommen übers flüffig, fondern fie würde auch gänzlich eindrud8los auf das Ge— hör bleiben. Dad ihr Unausfprechliche theilt dem Gehöre nun aber gerade die Sprache bes Orcheſters mit, und eben aus dem Verlangen des, durch das ſchweſterliche Auge angeregten Ge- höres gewinnt biefe Sprache ein neues, unermeßliches, ohne diefe Anregung ſtets aber jchlummerndes oder wenn aus eigenem Drange allein erweckt unverftänblich ſich funbgeben- des Vermögen.

Das Sprachvermögen des Orcheſters Iehnt ſich auch für die hier beſtimmte geſteigerte Aufgabe zunächſt noch an ſeine Ver— wandtſchaft mit dem der Gebärde ſo an, wie wir ſie vom Tanze aus kennen lernten. Es ſpricht in Tonfiguren, wie fie dem in- dividuellen Charalter beſonders entſprechender Inſtrumente eigen-

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thümlich find, und durch wiederum entfprechende Mifhung der harakteriftifchen Individualitäten des Orchefter8 zur eigenthüm- lichen Orcheſternielodie ſich geftalten, das in feiner finnlichen Erfcheinung und durch die Gebärde an dad Auge ſich Kund— gebende fo weit aus, ald zur Deutung biefer Gebärde und Er- fcheinung auc für das Verftändniß des Auges, wie zur ente ſprechend verftänblichen Deutung derfelben Erfcheinung für das unmittelbar erfafjende Gehör, eben fein Drittes, nämlich die ver⸗ mittelnde Wortſprache, nöthig war.

Beftimmen wir und hierüber genau. Wir fagen gemein- hin: „Ich Iefe in Deinem Auge“; das heißt: „Mein Auge ge- mahrt, auf eine nur ihm verftändfiche Weife, aus dem Blide Deines Auges eine Dir innewohnende unwillkürliche Empfindung, die ich wiederum unwillkürlich mitempfinde“. Erftreden wir die Empfindungsfähigfeit des Auges nun über Die ganze äußere Geftalt des wahrzunehmenden Menfchen, auf feine Erjcheinung, Haltung und Gebaͤrde, fo haben wir zu beftätigen, daß das Auge die Äußerung diefes Menfchen untrüglich erfaßt und verfteht, fobald er eben nad) vollftändiger Unwillfürlichkeit fich kundgiebt, innerlich mit fid) vollkommen einig ift, und feine in— nere Stimmung in höchſter Aufrichtigkeit äußert. Die Momente, in denen ſich der- Menfch fo wahrhaft Fundgiebt, find aber nur die der vollfommenften Ruhe, oder der höchſten Erregtheit: was zwifchen biefen beiden äußerften Bunften liegt, find die Über- gänge, die ganz in dem Grabe nur von der aufrichtigen Leiben- ſchaft beftimmt werden, als fie fich ihrer höchften Erregtheit nähern, oder von biefer Erregtheit fich wieber einer harmoniſch verföhnten Ruhe zuwenden. Diefe Übergänge beftehen auß einer Miſchung willkürlicher, reflektirter Willensthätigfeit, und unbe- wußter, nothivendiger Gmpfindung: die Beitimmung folder Übergänge nad} der nothwendigen Richtung der unwillfürlichen Empfindung Hin, und zwar mit unerläßlichem Fortſchritte zur Ausmündung in die wahre, vom reffeftirenden Verſtande nicht mehr. bedingte und gehemnte Empfindung, ift der Inhalt der dichteriſchen Abſicht im Drama, und für diefen Inhalt findet der Dichter eben den einzig ermöglichenden Ausbrud in der Wort: verömelobie, wie fie ais Bluthe her Worttonfpradhe erfcheint, die mit der einen Seite bem refleftirenden Verſtande, mit der anderen Seite aber der unwillkürlichen Empfindung als Organ

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber tukuuft. 181

zugewandt iſt. Die Gebärde verſtehen wir hierunter Die ganze äußere Kundgebung der menſchlichen Erſcheinung an das Auge nimmt an dieſer Entwidelung einen nur bedingten Antheil, weil fie nur eine Geite hat, und zwar die Empfindungsgfeite, mit der fie fid) dem Auge zumendet: die Seite, die fie aber dem Auge verbirgt, ift eben diejenige, welche die Worttonfprache dem Verſtande zufehrt, und die demmd dem Gefühle ganz unkennt- lich bleiben würde, wenn dem Gehöre dadurch, daß die Wort- tonſprache mit ihren ‚beiden Seiten, wiewohl mit der einen ſchwächer und minder erregend, fi) ihm zuwendet, nicht das ge- fteigerte Vermögen erwachſen könnte, auch dieje, dem Auge ab- gewandte Seite dem Gefühle verſtändlich zuzuführen.

Die Sprache des Orcheſters vermag dieß durch das Gehör, indem fie fich durch ebenfo innige Anlehnung an die Versmelo- die, wie zuvor an die Gebärde, zur Mittheilung ſelbſt des Ge⸗ dankens an das Gefühl fteigert, und zwar des Gedankens, den die gegenwärtige Versmelodie als Kundgebung einer ge miſchien, noch nicht volllommen geeinigten Empfindung nicht außfprechen Tann und will, der nod) weniger aber von der Ge— bärde dem Auge mitgetheilt werben kann, weil die Gebärde das Gegenwärtigfte ift, und fomit von ber, in ber Versmelodie fund» gegebenen unbeftimmten Empfindung als eine ebenfall3 unbe- ftimmte, oder diefe Unbeftimmtheit allein ausdrüdende, dem Auge fomit die wirkliche Empfindung nicht Mar verftändlichende be- dingt wird.

In der Berömelodie verbindet fich nicht nur die Wortſprache mit der Tonfpradhe, fondern auch das von dieſen beiden Organen Ausgedrüdte, nämlicd) das Ungegenwärtige mit den Gegenwär- tigen, der Gedanke mit der Empfindung. Das Gegenmwärtige in ihr ift die unwillkürliche Empfindung, wie fie fi nothwendig in den Ausdrud der muſilaliſchen Melodie ergießt; das Ungegen- märtige ift der abftrafte Gedanke, wie er in ber Wortphraſe als refleltirtes, willkürliches Moment feftgehalten wird. Beitim- men wir und num näher, was wir unter bem Gedanken zu ver ftehen haben.

Auch hier werben wir ſchnell zu einer Haren Vorſtellung gelangen, wenn wir den Gegenftand vom künſtler iſchen Stand»

182 Oper und Drama:

punkte aus erfaffen, und feinem finnlichen Urfprunge auf den Grund gehen.

Etwas, was wir duch irgend ein Mittheilungsorgan oder durch die Gefammtverwendung aller unferer Mittheilungdorgane gar nicht außfprechen können, felbft wenn wir es wollten, ift ein Unding, das Nichts. Alles, wofür wir dagegen einen Ausdrud finden, ift auch etwas Wirffiches, und dieſes Wirkliche erfennen wir, wenn wir und den Ausdruck felbft erklären, den wir unmillfürlich für die Sache verwenden. Der Ausdrud: Gedanke, ift ein fehr leicht erklärlicher, fobald wir auf feine finnfihe Sprachwurzel zurüdgehen. Ein „Gedanke“ ift das im „Gedenken“ ung „Dünlende* Bild*) eines Wirkfichen, aber Ungegenmwärtigen. Dieſes Ungegenmwärtige ift feinem Urfprunge nah ein wirklicher, ſinnlich wahrgenommener Gegenftand, der auf und an einem anderen Orte oder zu einer anderen Zeit einen bejtimmten Eindrud gemacht hat: diejer Eindrud Hat ſich unferer Empfindung bemädhtigt, für die wir, um fie mitzutheilen, einen Ausdrud erfinden mußten, der dem Eindrude des Gegenftanbes nad) dem allgemein menſchlichen Gattungsempfindungsvermögen entſprach. Den Gegenftand konnten wir fomit nur nad dem Eindrude in ums aufnehmen, den er auf unfere Empfindung machte, und diefer von unferem Empfindungsvermögen wiederum beitimmte Eindrud ift das Wild, das und im Gedenken der Gegenftanb felbft dünkt. Gedenken und Erinnerung ift fomit daffelbe, und in Wahrheit ift der Gedanke das in der Erinnerung wieberfehrende Bild, welches als Eindrud von einem Gegen- ftande auf unfere Empfindung von diefer Empfindung felbft geftaltet, und von der gedenfenden Erinnerung, dieſem Beug- niffe von dem dauernden Vermögen der Empfindung und der Kraft des auf fie gemachten Eindrudes, der Empfindung felbft zu lebhafter Erregung, zum Nachempfinden des Einbrudes, wie- der vorgeführt wird. Uns hat die Entwidelung des Gedankens zu bem Vermögen bindender Kombination aller jelbftgeronnenen ober überlieferten Bilder von, in ber Erinnerung bewahrten Eindrüden ungegenivärtig gewordener Objekte, das Denken,

Ähnlich Können wir uns „Geiſt“ ſehr ſchön aus ber ihm gleihen Wurzel „giehen“ deuten: nad einem natürlichen Sinne ift er das von uns fih „Außgießende”, wie ber Duft das von ber Blume fi Ausbreitende, Ausgießende iſt.

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 183

wie es und in ber philofophifchen Wifjenfchaft entgegentritt, hier nicht zu befchäftigen; denn der Weg bed Dichters geht aus der PHilofophie heraus zum Kunftwerke, zur Verwirklichung des Gedankens in ber Sinnlichkeit. Nur Eines haben wir noch genau zu beftimmen. Etwas, was nicht zuerft einen Ein- drud auf unfere Empfindung gemacht hat, können wir auch nicht denken, und die vorangehende Empfindungderfcheinung ift die Bedingung für die Geftaltung des fundzugebenden Gedankens. Auch der Gedanke ift Daher von der Empfindung angeregt, und muß fi) notwendig wieder in die Empfindung ergiehen, denn er ift das Band zwifchen einer ungegenmwärtigen und einer gegenwärtig nah Kundgebung ringenden Em— pfindung.

Die Versmelodie des Dichter verwirklicht num, gewiſſer⸗ maßen vor unferen Augen, den Gedanken, d. h. die aus dem Gedenken bargeftellte ungegenwärtige Empfindung, zu einer gegenwärtigen, wirklich wahrnehmbaren Empfindung. In dem veinen Wortverſe enthält fie die aus der Erinnerung geſchilderte, gedachte, befchriebene ungegenwärtige, aber bedingende Em- pfindung, in der rein muſikaliſchen Melodie Dagegen die bedingte neue, gegenwärtige Empfindung, in bie fi) die gedachte, an- regende, ungegenmwärtige Empfindung als in ihr Verwandtes, neu Verwirklichtes auflöft. Pie in diefer Melodie kundgegebene, vor unferen Augen aus dem Gedenlken einer früheren Empfin- dung wohl entwidelte und gerechtfertigte, ſinnlich unmittelbar ergreifende und das theilnehmende Gefühl ficher beftimmende Em- pfindung ift mın eine Erſcheinung, die uns, denen fie mitgetheilt wurde, fo gut angehört al Dem, der fie ung mittheilte; und wir können fie, wie fie dem Mittheilenben als Gedanke d. 5. Erinnerung wieberkehrt, ganz ebenjo als Gedanken bewahren. Der Mittheilende, wenn er im Gedenken diefer Empfindungs- erſcheinung ſich aus diefem Gedenken wiederum zur Kundgebung einer neuen, abermals gegenwärtigen Empfindung gedrängt fühlt, nimmt dieſes Gedenken jegt nur als geſchilderten, dem erinnernden Verſtande kurz angedeuteten, umgegenmärtigen Mo— ment fo auf, wie er in berfelben Werömelodie, in ber es zu jener jet der Erinnerung anvertrauten melodifchen Erſcheinung fich äußerte, das Gebenfen einer früheren, uns ihrer Lebendig- keit nach entrücten Empfindung, als empfindungszeugenden Ge—

184 Dper und Drama:

danken fundgab. Wir, die wir die neue Mittheilung empfangen, vermögen aber jene, jegt nur noch gedachte Empfindung, in ihrer rein melodiſchen Kundgebung felbft, duch das Gehör feftzuhalten: fie ift Eigenthum der-reinen Mufif geworden, und, von dem Orcheſter mit entſprechendem Ausdrude zur finn- lichen Wahrnehmung gebracht, erſcheint fie und als das Ver- wirklichte, Vergegenwärtigte bes vom Mittheilenden foeben nur Gedachten. Eine ſolche Melodie, wie fie als Erguß einer Empfindung und dom Darſteller mitgetheilt worden ift, ver- wirklicht und, wenn fie vom Orcheſter ausdrucsvoll da vorge— tragen wird, wo der Darfteller jene Empfindung nur noch in der Erinnerung hegt, den Gedanken dieſes Darftellers: ja, jelbft ba, wo der gegenwärtig fid) Mittheilende jener Empfindung fic) gar nicht mehr bewußt erfcheint, vermag ihr charakteriſtiſches Erflingen im Orcheſter in uns eine Empfindung anzuregen, bie zur Ergänzung eines Zufammenhanges, zur höchſten Verftänd- üchkeit einer Situation durch Deutung von Motiven, die in dieſer Situation wohl enthalten find, in ihren darftellbaren Momenten aber nicht zum hellen Vorſchein fommen können, uns zum Ge- danken wird, an fi) aber mehr als der Gedanke, nämlich der bergegenwärtigte Gefühlsinhalt des Gedankens ift.

Dad Vermögen des Mufifers, wenn e3 von der dichterifchen Abſicht zu ihrer höchſten Verwirklichung verwendet wird, ift hierin durch das Orcheſter unermeßlich. Ohne von der dichterifchen Abſicht bedingt zu werden, hat der abfolute Mufiter bisher auch bereits ſich eingebildet, mit Gebanfen und der Kombination von Gedanken zu ihun zu Haben. Wenn fchledhtweg muſikaliſche Themen „Gedanken“ genannt wurden, fo war dieß entweder eine gebanfenloje Verwendung biefes Wortes, oder eine Kund⸗ gebung der Täufhung des Muſikers, der ein Thema einen Ge: danken nannte, bei dem er fich allerdings etwas gedacht hatte, was aber Niemand verftand als höchitens Der, dem er Das, was er fich gedacht Hatte, in nüchternen Worten bezeichnete, und den er dadurch erfuchte, fich dieß Gedachte nun auch bei dem Thema zu denken. Die Mufit kann nicht denken; fie kann aber Gedanken verwirkfihen, d. h. ihren Empfindungsinhalt als einen nicht mehr erinnerten, fondern vergegenwärtigten kundthun: dieß kann fie aber nur, wenn ihre eigene Kundgebung von der dichterifchen Abſicht bedingt ift, und diefe wiederum ſich nicht al3 eine nur

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Zufumft. 185

gedachte, fondern zunächſt durch das Organ des Verftandes, die Wortſprache, Har dargelegte offenbart. Ein mufitaliiches Motiv Kann auf das Gefühl einen beftimmten, zu gebankenhafter Thür tigkeit ſich geftaltenden Eindrud nur dann herborbringen, wenn die im dem Motive außgefprochene Empfindung vor unferen Augen von einem beftimmten Individuum an einem beftimmten Gegenftande al3 ebenfalls beftimmte, d. 5. wohlbedingte, kund⸗ gegeben ward. Der Wegfall diefer Bedingungen ftellt ein mu- filalifches Motiv dem Gefühle als etwas Unbeftimmtes Hin, und etwas Unbeftinmtes Tann in derfelden Erſcheinung noch fo oft wiederkehren, e8 bleibt und immer ein eben nur wieberfehrendes Unbeftimmtes, bad wir aus einer von uns empfundenen Noth- wendigfeit feiner Erſcheinung nicht zu rechtfertigen, und daher mit nichts Underem zu verbinden im Stande find. Das’ mufi- talifche Motiv aber, in dad fo zu fagen vor unferen Augen der gebanfenhafte Wortverd eines bramatifchen Darftellerd ſich ergoß, ift ein nothwendig bedingtes; bei feiner Wiederkehr theilt fid) uns eine beftimmte Empfindung wahrnehmbar mit, und zwar wieberum als die Empfindung Desjenigen, der ſich foeben zur Rundgebung einer neuen Empfindung gedrängt fühlt, die aus jener jept von ihm unausgefprochenen, uns aber durch das Orcheſter finnlich wahrnehmbar gemachten ſich Herleitet. Das Mitllingen jenes Motives verbindet und daher eine un— gegenwärtige bedingende mit der aus ihr bedingten, foeben zu ihrer Kundgebung ſich anlaffenden Empfindung; und indem wir fo unfer Gefühl zum erhellten Wahrnehmer des organifchen Wachſens einer beftimmten Empfindung aus ber anderen machen, geben wir unferem Gefühle da Vermögen des Denkens, d. 5. hier aber: das über das Denken erhöhte, unwillkürliche Wiſſen des in der Empfindung verwirklichten Gedankens.

Bevor wir und zur Darftellung der Ergebniffe wenden, die aus dem bisher angebeuteten Vermögen der Orchefterfprache für die Geftaltung des Drama’s ſich herausstellen, müffen wir, um den Umfang dieſes Vermögens vollftändig zu ermeflen, noch über eine äußerfte Fähigkeit deffelben uns genau beftimmen. Die hiermit gemeinte Fähigkeit ſeines Sprachvermögens gewinnt

186 DOper und Drama:

das Orcheſter aus einer Vereinigung feiner Fähigkeiten, die ihm nad) der einen Seite hin durch feine Anlehnung an die Gebärde, nach der anderen durch feine gedenfende Aufnahme der Vers— melodie erwuchſen. Wie die Gebärde von ihrem Urfprunge, der finnlichften Tanzgebärde, bis zur geiftigften Mimik fid) entwidelte; wie die Versmelodie vom bloßen Gedenken einer Empfindung bis zur gegenwärtigften Kumdgebung einer Empfindung vorfchritt, fo wächſt auch das Sprachvermögen des Orcheſters, das aus beiden Momenten feine geftaltende Kraft gewann, und an bem Wachſen beider zu ihrem äußerften Vermögen ſich ernährte und fteigerte, von biefem doppelten Nahrungsquelle aus zu einer be fonderen höchiten Fähigkeit, in der wir die beiden getheilten Arme de3 Orchefterftromes, nachdem er durch einmünbende Bäche und Flüſſe reichlich geſchwängert worden ift, gleichfam fi) wieder verbinden und gemeinfam dahinfließen jehen. Da, mo die Ge- bärde nämlich volllommen ruht, und die melobifche Rede des Darftellerd gänzlich ſchweigt, alfo ba, wo da8 Drama aus noch unausgefprochenen inneren Stimmungen herauß ſich vor— bereitet, vermögen diefe biß jegt noch unaußgefprochenen Stim- mungen vom Orcheſter in ber Weife außgefprochen zu werden, daß ihre Kundgebung den, von ber dichterifchen Äbſicht als noth- wendig bebungenen Charakter der Ahnung an fi trägt.

Die ‚Wong ift die Kundgebung einer unaußgefprochenen, weil im Sinne unferer Wortfprahe noch unausſprech-⸗ lichen Empfindung. Unausſprechlich iſt eine Empfindung, die noch nicht beſtimmt ift, und unbeftimmt ift fie, wenn fie noch nicht durch den ihr entfprechenden Gegenftand beitimmt ift. Die Bewegung diefer Empfindung, die Ahnung, ift fomit das unwillkürliche Verlangen der Empfindung nad Beitimmung durch einen Gegenftand, den fie auß der Kraft ihres Bedürfuiſſes wieberum felbft vorausbeftimmt, und zwar als einen folchen, der ihr entfprechen muß, und deſſen fie deßhalb Hart. In feiner Kundgebung als Ahnung möchte ich das Empfinbungsvermögen der wohlgeftimmten Harfe vergleichen, deren Saiten vom durch— fteeifenden Windzuge erflingen, und des Spielerd harten, der ihnen deutliche Allorde entgreifen ſoll.

Eine folde ahnungsvolle Stimmung hat der Dichter und zu erweden, um aus ihrem Verlangen heraus und felbft zum nothwendigen Mitfhöpfer des Kunftwerles zu

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 187

maden. Indem er dieſes Verlangen und hervorruft, verichafft er ſich in unferer erregten Empfänglichfeit die bebingende Kraft, welche die Geftaltung der von ihm beabſichtigten Erſcheinungen gerade fo, wie er fie feiner Abficht gemäß geftalten muß, einzig ihm ermöglichen kann. In der Herborbringung folder Stim— mungen, wie der Dichter in ber unerläßlichen Mithilfe unſererſeits fie und erweden muß, hat die abfolute Inftrumentalfprache ſich bisher bereits al3 allvermögend bewährt; denn gerade die An— regung unbeftimmter, ahnungsvoller Empfindungen war ihre eigenthümlichſte Wirkung, die überall da zur Schwäche werden mußte, wo fie die angeregten Empfindungen auch deutlich be— ftimmen wollte. Wenden wir diefe außerordentliche, einzig er⸗ möglichende Fähigkeit der Inftrumentalfprache nun auf die Mo- mente des Drama’8 an, wo fie von Dichter nad} einer beitimm- ten Abfiht in Wirklichkeit gejegt werben fol, jo hätten wir ung nun darüber zu verftändigen, woher diefe Sprache die finnlichen Ausdruddmomente zu nehmen habe, in denen fie ſich der dich— teriſchen Abficht entſprechend kundgeben fol.

Wir ſahen bereits, daß unſere abſolute Inſtrumentalmuſik die ſinnlichen Momente für ihren Ausdruck aus einer, unſerem Ohre urvertrauten Tanzrhythmik und der ihr entſtammten Weiſe, ober aus dem Melos des Vollsliedes, wie er unſerem Gehöre ebenfalls anerzogen ift, entnehmen mußte. Das immerhin durch aus Unbeftimmte in diefen Momenten fuchte der abfolute In— ftrumentalfomponift dadurch zu einem beftimmten Ausbrude zu erheben, daß er diefe Momente nach Verwandtſchaft und Unter fchiebenheit, durch wachſende und abnehmende Stärke, wie durch beichleunigte und gehemmte Bewegung des Vortrages, und end- lich durch beſondere Charalteriſtik des Ausdrudes vermöge der mannigfaltigen Individualität der Toninftrumente, zu einem der Phantafie dargeftellten Bilde fügte, daß er ſchließlich doch nur wieder durch genaue außermuſilaliſche Ungabe des geſchilderten Gegenftandes erſt deutlich zu machen fi) gebrängt fühlte. Die fogenannte „Tonmalerei” ift der erfichtliche Aus- gang der Entwidelung unferer abfoluten Inſtrumentalmuſik ge» weſen: in ihr Hat dieſe Kunſt ihren Ausdrud, der fich nicht mehr an da8 Gefühl, jondern an die Phantafie wendet, empfindlich erfältet, und Jeder wird biefen Einbrud deutlich wahrnehmen, der auf ein Beethoven'ſches Tonftüd eine Mendelsſohn'ſche oder

188 Oper und Drama:

gar eine Berlioz'ſche Orchefterfompofition Hört. Dennoc) ift nicht zu läugnen, daß diefer Entwickelungsgang ein nothwendiger war, und bie beftimmte Wendung zur Tonmalerei aus aufrich- tigeren Motiven hervorging, ald z. B. die Rüdfehr zum fugirten Style Bach's. Namentlich ift aber auch nicht zu verfennen, daß das finnliche Vermögen der Inftrumentalfprahe durch die Ton- malerei ungemein gefteigert und bereichert worden ifl. Er- fennen wir nun, daß dieſes Vermögen nicht nur in das Uner- meßliche gefteigert, fondern feinem Ausdrude zugleih das Er⸗ tältende vullftändig benommen werben Tann, wenn ber Ton— maler ftatt an die Phantafie fich wieder an das Gefühl wenden darf, was ihm dadurch geboten wird, daß ber von ihm nur an ben Gedanken mitgetHeilte Gegenftand feiner Echilderung als ein gegenmwärtiger, wirflicher an die Sinne kundgethan wird, und zwar eben nicht als bloßes Hilfsmittel zum erftändniffe feine Tongemäldes, ſondern als aus einer höchſten dichterifchen Abſicht, zu deren Verwirklichung das Tongemälde das Helfende fein fol, bedingt. Der Gegenftand des Tongemälbes konnte nur ein Moment aus dem Naturleben oder aus dem Menfchen- Teben felbft fein. Gerade folhe Momente au dem Natur oder Menfchenleben, zu deren Schilderung ſich bisher der Mufifer angezogen fühlte, find es nun aber, deren ber Dichter zur Bor- bereitung wichtiger dramatischer Entwidelungen bedarf, und deren mächtiger Hilfe der bisherige abfolute Schaufpieldichter, zum höchſten Nachtheile für fein gewolltes Kunſtwerk, von vorn⸗ herein entfagen mußte, weil er jene Momente, je vollftändiger fie von der Scene aus dem Auge ſich ausdrücken follten, ohne die ergänzende und gefühlbeitimmende Mitwirkung der Mufit fie ungeredhtfertigt, ftörend, lähmend, nicht aber Helfend und fördernd Halten mußte.

Jene vom Dichter nothwendig in und anzuregeuden unbe⸗ ſtimmten, ahnungsvollen Empfindungen werden immer mit einer Erſcheinung in Verbindung zu ſtehen haben, die ſich wiederum an das Auge mittheilt; dieſe wird ein Moment der Naturum- gebung, oder des menſchlichen Mittelpunktes dieſer Umgebung ſelbſt fein, jedenfalls ein Moment, deſſen Bewegung ſich noch nicht aus einer beſtimmt kundgegebenen Empfindung bedingt, denn dieſe kann nur die Wortſprache in dem, bereits näher be— zeichneten, Vereine mit der Gebärde und der Muſik ausſprechen,

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 189

alfo die Wortfprache, deren beftimmende Kundgebung wir uns hier eben als eine durch das angeregte Verlangen exit her- vorzurufende deufen. Keine Sprache ift fähig, eine borbereitende Nude fo bewegungsvoll auszubrüden, als bie Inftrumental- ſprache: diefe Ruhe zum bemegungsvollen Verlangen zu fteigern, ift ihr eigenthümlichſtes Vermögen. Was ſich und aus einer Naturfcene oder aus einer ſchweigſamen, gebärdelofen menſch- lichen Erfcheinung an das Auge darbietet, und von bem Auge aus unfere Empfindung zu ruhiger Betrachtung beftimmt, das vermag die Mufit in der Weife der Empfindung zuzuführen, daß fie, von dem Momente der Ruhe ausgehend, diefe Empfin- dung zur Spannung und Erwartung bewegt, und fomit eben das Verlangen erivedt, deffen der Dichter zur Kundgebung feiner Abſicht als ermöglichende Hilfe unfererfeitS bedarf. Dieſer An— regung unſeres Gefühle nad einem beftimmten Gegenftande hin hat der Dichter fogar nötig, um uns felbft auf eine bejtim- mende Erfheinung für daS Auge vorzubereiten, nämlich felbft die Erfcheinung der Naturfcene oder menſchlicher Perfönlid)- keiten und nicht eher vorzuführen, als bis unfere auf fie erregte Erwartung fie, in der Art wie fie ſich fundgiebt, als nothwen- dig, weil der Erwartung enifprechend, bedingt.

Der Ausdrud der Muſik wird, bei der Verwendung diefer äußerften Fähigkeit, fo lange ein gänzlich vager und unbeftim- mender bleiben, als er nicht die joeben bezeichnete dichteriſche Abſicht in fi aufnimmt: diefe aber, welche ſich auf eine be— ſtimmte zu verwirklichende Erſcheinung bezieht, vermag im Vor- aus dieſer Erſcheinung die finnlichen Momente des vorbereiten» den Tonftüdes fo zu entnehmen, daß fie in beziehungsvoller Weiſe ihr ganz fo entfpreden, wie die endlich vorgeführte Er— ſcheinung den Erwartungen entfpricht, die das boraußverkün- dende Tonſtück in uns erregte. Die wirkliche Erſcheinung tritt demnach als erfüllte Verlangen, als gerechtfertigte Ahnung vor und hin; und rufen wir und nun zurüd, daß der Dichter die Er- ſcheinungen des Drama's als über dad gewöhnliche Leben her⸗ vorragende, wunderbare dem Gefühle vergegenwärtigen muß, fo haben wir auch zu begreifen, daß diefe Erfcheinungen ſich als ſolche ung nicht kundgeben würden, oder daß fie und unverftänd» lich und frembartig vorfommen müßten, wenn ihre endlich nadte Kundgebung nicht aus umferer vorbereiteten und zu ahnung3-

190 Oper unb Drama:

voller Erwartung gefpannten Empfindung in ber Weile als nothwendig bedingt werden Tönnte, daß wir fie ald Erfüllung einer Erwartung geradesweges fordern. Nur ber jo vom Dichter erfüllten Tonfprache des Orcheſters ift e8 aber möglich, diefe nothwendige Erwartung in und anzuregen, und ohne feine künſt⸗ leriſche Hilfe vermag da8 wundervolle Drama daher weder ent- worfen noch ausgeführt zu werden.

VI.

Wir haben nun alle Bänder des Zufammenhanges für den einigen Ausdrud des Drama’3 erfaßt, und und jet mur noch darüber zu verftändigen, wie fie unter ſich verknüpft werben follen, um als einige Form einem einigen Gehalte zu ent- . fprechen, der nur durch die Möglichkeit diefer einigen Form als ein ebenfall3 einiger erft fi zu geftalten vermag.

Der lebengebende Mittelpunkt des dramatifchen Ausdrudes ift die Bersmelodie des Darftellerß: auf fie bezieht fih als Ahnung die vorbereitende abfolute Orcheftermelodie; aus ihr Teitet fih al Erinnerung der „Gedanke“ des Inftrumental- motives ber. Die Ahnung ift das fi ausbreitende Licht, das, indem es auf den Gegenftand fällt, die dem Gegenftande eigen- thümliche, von ihm ſelbſt auß bedingte Farbe zu einer erficht- lichen Wahrheit macht; die Erinnerung ift die gewonnene Farbe ſelbſt, wie fie der Maler dem Gegenftande entnimmt, um fie auf ihm verwandte Gegenftände überzutragen. Die dem Auge finnfällige, ftet3 gegenwärtige Erſcheinung und Bewegung des Verkunders der Versmelodie, des Darftellers, ift die dramatiſche Gebärbe; fie wird dem Gehöre verdeutlicht Durch dad Orcheſter, das feine urfprünglichfte und nothwendigſte Wirfamfeit als harmonische Trägerin der Versmelodie ſelbſt abſchließt. An dem Gejammtausdrude aller Mittheilungen des Darfteller3 an das Gehör, wie an dad Auge, nimmt dad Orcheſter fomit einen ununterbroddenen, nad) jeder Seite Hin tragenden und verbeutlichenden Antheil: es ift der bewegungsvolle Mutterfchooß der Mufil, aus dem das einigende Band des Ausbrudes er: wächſt. Der Chor der griehifhen Tragödie hat feine gefühlsnothwendige Bedeutung für das Drama im modernen

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 191

Orcheſter allein zurüdgelaſſen, um in ihm, frei von aller Be— engung, zu unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung ſich zu ent- wideln; feine reale, individuell menſchliche Erfcheinung ift da⸗ für aber aus der Orcheſtra Hinauf auf die Bühne verfept, um den, im griechiſchen Chore liegenden Keim feiner menſchlichen Individualität zu höchſter felbitändiger Blüthe, als unmittelbar handelnder und Ieidender Theilnehmer des Drama's ſelbſt, zu entfalten.

Betrachten wir nun, wie ber Dichter vom Orcheſter auß, in welchem er vollitändig zum Mufifer geworden ift, ſich zu feiner Abſicht, die ihm bis Hierher geführt, zurüchvendet, und zwar, um fie, durch die num unermeßlich reich ihm erwachſenen Mittel de3 Ausdrudes, volltummen zu verwirklichen.

Die dichterifche Abſicht verwirklicht ſich zunächſt in der Versmelodie; den Träger und Verbeutliher der reinen Melodie fernten wir im harmonischen Orcefter erfennen. Es bleibt nun noch genau zu ermefien, wie jene Versmelodie fi zum Drama ſelbſt verhalte, und welche ermöglichende Wirkfamfeit bei diefem Verhältniffe das Orchefter ausiiben könnte.

Wie haben dem Orchefter bereits die Fähigfeit abgewon— nen, Ahnungen und Erinnerungen zu erweden; die Ahnung haben wir als Vorbereitung der Erſcheinung, welche endlich in Gebärde und Versmelodie fih kundgiebt, die Erinnerung Dagegen als Mbleitung von ihr gefaßt, und wir müffen nun genau beftimmen, was, der dramatiſchen Nothwendigkeit ge— mäß, gleichzeitig mit der Ahnung und Erinnerung den Raum des Drama’s in der Weife erfüllt, daß Ahnung und Erinnerung zur bollften Ergänzung feines Verftändniffes eben nothwendig waren.

Die Momente, in denen das Orchefter ſich fo felbftändig außfprechen durfte, müflen jedenfalls ſolche fein, die das volle Aufgehen des Sprachgedanfens in die muſikaliſche Empfindung von Geiten der dramatiſchen Perſönlichkeiten noch nicht ermög- lichen. Wie wir dem Wachen der mufitalifhen Melodie aus dem Sprachverſe zufahen, und dieſes Wachſen ald aus ber Natur des Sprachverjed bedingt erkannten; wie wir die Redht-

192 Dper und Drama:

fertigung, d. 5. da8 Verſtändniß ber Melodie aus dem bebin- genden Spraciverfe nicht nur als ein Fünftlerifch zu Denkendes und Auszuführendes, fondern als ein nothwendig vor unferem Gefühle organifh zu Bewerkftelligendes und im Gebärungd- prozeffe ihm Worzuführendes begreifen mußten: fo haben wir

auch die dramatifhe Situation aus den Bedingungen heraus-

wachſend und vorzuftellen, die fi) vor unferen Augen zu ber Höhe fteigern, auf welcher die Versmelodie als einzig entiprechen- der Ausdrud eines beftimmt ſich Tundgebenden Empfindungs- momentes und nothwendig erſcheint.

Eine fertige, geſchaffene Melodie ſo ſahen wir blieb uns unverſtändlich, weil willkürlich deutbar; eine fertige, ge— ſchaffene Situation muß uns ebenfo unverſtändlich bleiben, wie die Natur und unverftändlid, blieb, fo lange wir fie als etwas Erſchaffenes anfahen, wogegen fie uns jeßt verſtändlich ift, wo wir fie als das GSeiende, d. h. das ewig Werbende, erfennen, als ein Seiendes, defjen Werden in nächſten und meiteften Kreifen uns ſtets gegenwärtig ift. Dadurch, daß ber Dichter fein Kunſtwerk und im fteten organifchen Werben vorführt, uud uns felbft zu organifch mitwirfenden Zeugen dieſes Werdens macht, befreit er feine Schöpfung eben von allen Spuren feines Schaffens, vermöge befien er, ohne die Vertilgung feiner Spuren, uns nur in das gefühllos Kalte Staunen verjegen könute, mit dem uns das Anſchauen eines Meifterftüces der Mechanik er- füllt, Die bildende Kunft kann nur das Fertige, d. h. das Bewegungsloſe, Hinftellen, und den Beſchauenden fomit nie zum

. überzeugten Zeugen des Werdens einer Erſcheinung machen.

Der abfolute Mufifer verfiel in feiner weiteften Verirrung in den Fehler, bie bildende Kunſt hierin nachzuahmen, und das Fertige anftatt des Werbenden zu geben. Das Drama allein ift das, räumlich und zeitlich an unfer Auge und unfer Gehör fo fi mittheilende Kunſtwerk, daß wir an feinem Werden felbit- thätigen Mitantheil nehmen, und das Gewordene baher als ein Nothwendiges, Har Verftändliches duch unfer Gefühl erfaffen.

Der Dichter, der und mun zu mitthätigen, einzig ermög- lihenden Zeugen bes Werdens feines Kunſtwerkes machen will, hat fich wohl zu hüten, auch nur den Heinften Schritt zu thum, der das Band des organifchen Werdens zerreißen, und jomit unfer unwillkürlich gefefjeltes Gefühl durch willfürliche Zu—

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 193

muthung verlegen tönnte: fein wichtigfter Bundeögenofje wäre ihm augenblidlich untren gemacht. Organifches Werden ift aber nur dad Wachfen von Unten nach Oben, das Hervorgehen aus niebereren Organiömen zu höheren, die Verbindung bebürftiger Momente zu einem befriedigenden Momente. Wie num die dic) terifche Abficht die Momente der Handlung und ihre Motive aus folhen fammelte, die im gewöhnlichen Leben wirklich, nur

ihrem Bufammenhange nad) umendlid ausgedehnt und umüber-

ſehbar weit verzweigt, vorhanden find; wie fie Diefe Momente und Motive um einer verftänblichen Darftellung willen zufammen- drängte und in diefer Bufammendrängung berftärkte: fo hat die dichterifhe Abfiht um ihrer Verwirflihung willen genan ebenfo zu Werfe zu gehen, wie fie in der gedadten Dichtung jener Momente verfuhr; benn ihre Abſicht verwirklicht ſich nur dadurch, daß fie unſer Gefühl zur Theilhaberin an ihrer ge- dachten Dichtung macht. Das Allerfaßlichſte ift dem Gefühle unfere Anfhauung des gewöhnlichen Lebens, in welchem wir aus Neigung und Bebürfniß gerade fo handeln, wie wir e8 ge- wohnt find. Sammelte der Dichter daher aus diefem Leben und ber ihm gewohnten Anfchauung feine Motive, fo hat er auch feine gedichteten Geftalten zumäcft uns nach einer Äußerung vorzuführen, die diefem Leben nicht fo fremb ift, daß fie vom den ihm Befangenen gar nicht verjtanden werben könnte Er Hat fie daher uns zuerft in Lebenslagen zu zeigen, bie eine fennt- liche Ähnlichteit mit denen Haben, in denen wir uns ſelbſt be» funbden Haben oder doch befunden haben Tönnen; auf folder Grundlage erft kann er ftufentweife zur Bildung von Situationen auffteigen, deren Kraft und Wunderbarkeit und eben aus bem gewöhnlichen Leben herausverjegen, und den Menfchen und nach der höchſten Fülle feined Vermögens zeigen. Wie dieſe Situa- tionen durch die Fernhaltung alles zufällig Erſcheinenden in der Begegnung ſtark fundgebender Individualitäten zu der Höhe mwachjen, auf der jie uns über das gewöhnliche menſchliche Maaß erhoben fcheinen, fo hat nothivendig auch der Ausdruck ber Hanbelnben und Leibenden ſich aus einem, dem gewöhnlichen Leben noch fenntlihen, nur mit wohlbedingter Steigerung zu einem ſolchen zu erheben, wie wir ihn in ber mufitalifchen Vers— melodie als einen über den gewöhnlichen Ausbrud erhöhten be» zeichneten. Richard Wagner, Gef. Säriften IV. 18

194 " Oper unb Drama!

Es gilt num aber den Punkt zu beftimmen, ben wir als ben niebrigften für die Situation und den Ausdrud feftzufegen haben, und von dem wir zu jenem Wachien vorfchreiten ſollen. Betrachten wir näher, jo wird dieſer Punkt genau berfelbe fein, auf den wir uns ftellen müſſen, um die Verwirklichung ber dich⸗ terifhen Abſicht durch Mittheilung derſelben überhaupt zu er möglichen, und diefer Tiegt da, wo die bichterifche Wbficht fich vom gewöhnlichen Leben, aus dem fie hervorging, trennt, um fein gebichtetes Bild ihm vorzuhalten. Auf diefem Punkte ftellt fi) der Dichter mit dem lauten Bekenntniſſe feiner Abficht den im gewöhnlichen Leben Befangenen gegenüber, und ruft fie zur Aufmerkſamkeit auf: er fann nicht eher vernommen werden, als bis diefe Aufmerkſamkeit ihm willig zugewandt ift, bis un- fere, durch das gewöhnliche Leben zerftreuten Empfindungen ſich zu einer gedrängten erwartungsvollen Empfindung ebenfo ſam— mein, wie der Dichter in feiner Abficht bereitö die Momente und Motive der dramatifhen Handlung aus biefem ſelben Leben gefammelt hat. Die willige Erwartung, oder der ermartungs- volle Wille der Zuhörer ift num das erſte ermöglichende Mo— ment für das Kunftwerk, und es beftimmt den Ausdrud, im welchem der Dichter ihm entfprehen muß nidt mur um verftanden zu werden, fondern um zugleich fo verftanden zu werden, wie die Spannung auf etwas Außergewöhnliche es verlangt.

Diefe Erwartung Hat der Dichter von vornherein für die Kundgebung feiner Abficht zu benugen, und zwar dadurch, daß er fie als eine unbeftimmte Empfindung nad} der Richtung feiner Abſicht Hin Ienkt, und feine Sprade ift, wie wir fahen, hierzu vermögender, als die unbeftimmt beftimmende der reinen Mufit, des: Orchefterd. Das Orchefter drüdt die erwartungsvolle Empfindung ſelbſt aus, die uns vor der Erfcheinung des Kunft- werkes beherrſcht; je nach der Richtung hin, wo es ber dichteri⸗ ſchen Abſicht entſpricht, leitet und erregt es unſereꝰ allgemein geſpannte Empfindung zu einer Ahnung, die eine, als noth⸗ wendig geforberte, beftimmte Erſcheinung endlich zu erfüllen hatt). Führt der Dichter num bie erwartete Erſcheinung auf

*) Dak id Hiermit nicht die Heutige Opernouvertüre meine, Habe id an Diefem Ort nur Turzweg Hr Berühten; jeter, Berftändige

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 195

der Scene ald dramatifhe Perfon vor, fo würde e8 das ange- regte Gefühl nur verlegen und enttäufchen, wenn diefe in einem Sprachausdrucke ſich fundgeben follte, der ung plöhlich wieber * bie gewöhnlichſte Äußerung des Lebens zurüdriefe, aus dem wir foeben verfegt waren*). In der Sprade, die unfere Empfin- dung anregte, foll auch jene Perſon ſich mun kundgeben, und zwar als eine folche, auf die eben unjere Empfindung hingeleitet war. In dieſer Tonſprache muß die dramatifche Perfon fprechen, follen wir fie mit dem angeregten Gefühle veritehen: fie muß in ihr aber zugleich fo fprechen, daf fie die in ung angeregte Empfin- dung zu beftimmen vermag, und unfere allgemeinhin angeregte Empfindung beftimmt fi nur dadurch, daß ihr ein feiter Punkt ge- geben wird, um welchen fie ſich als menſchliches Mitgefühl ſammein, und an welchem fie zur befonderen Theilnahme an dieſem einen, in biefer beftimmten Lebenslage befindlichen, von dieſer Uns gebung beeinflußten, von diefem Willen bejeelten, und in biefem Vorhaben begriffenen Menfchen fich verdichten kann. Diefe, dem Gefühle notwendigen Bedingungen der Kundgebung einer Ju⸗ bivibualität können überzeugend nur in der Wortiprache bar- gelegt werben, in berfelben Sprache, die dem gewöhnlichen Leben unwillkürlich verftändlich it, umb im welcher wir uns gegenfeitig eine Lage und einen Willen mittheilen, denen die— jenigen ähnlich fein müſſen, welche die dramatifche Perſon uns jegt darlegt, fobald fie bon und berftanden werben follen. Wie unfere erregte Stimmung aber bereit forderte, daß dieſe Wort- ſprache eine von ber Tonfpradhe, die unfere Empfindung eben erregte, nicht durchaus umterfchiedene fein dürfe, fondern mit ihr bereits verjchmolzen fein müfje. gleichfam al8 der Der: ftändlicher, aber zugleich auch Theilhaber der angeregten Em- pfindung —, fo. beitimmt fich auch ganz von felbft hierdurch ſchon der Inhalt des von ber dramatifchen Perſon Pargelegten

weiß, daß diefe Tonftüde fobald in ihnen überhaupt Etwas zu verftehen war anftatt vor bem Drama, nad demſelben vorge» tragen werben müßten, um veritanden zu werben. Die Eitelfeit verführte den Mufiter, in ber Ouvertüre und im_glüd- lichſten Sale die Ahnung jhon mit abjolut mufifalifher Gewiß— heit über ben Gang des Drama's erfüllen zu wollen.

*) Die ftetö noch beibehaltene Zwiſchenaltsmuſik in den Schau · ſpielen iſt ein berebted Zeugniß von ber Kunftgebanfenlofigfeit un- jerer Schaufpiel-Dichter und Anorbner,

. 18*

196 DO per und Drama:

wieberum als ein über den Inhalt einer gewöhnlichen Lebens- Tage fo erhobener, als der Ausdruck es über den bed gemwöhn- lichen Lebens ift; und der Dichter hat fih nur an das Charak- teriftifche dieſes geforderten und gewonnenen Ausdruckes zu halten, er hat nur darauf bedacht zu fein, diefen Ausdrud mit dem ihn vecjtfertigenden Inhalte zu erfüllen, um fich des erhobenen Standpunkte genau bewußt zu werden, auf dem er, vermöge des bloßen Mitteld des Ausbrudes, für die Geltend- machung feiner Abficht angelangt iſt.

Diefer Standpunkt ift ein bereit fo erhöhter, daß der Dich— ter das Ungewöhnliche und Wunderbare, das ihm zur Verwirk- lihung feiner Abſicht nothivendig ift, unmittelbar von hier aus feine Entwidelung nehmen Iafjen fann, weil er es fogar fchon muß. Das Wunderbare der dramatiſchen Yndividualitäten und Situationen entwickelt ex ganz in dem Grade, als ihm dazu der Ausdrud zu Gebote fteht, nämlich als die Sprache der Dar⸗ fteller, nad) genauer Berichtigung der Baſis ber Situation als einer dem menſchlichen Leben entnommenen und verftändlichen, fi) aus der bereits tönenden Wortſprache zu ber wirklichen Tonſprache erheben fann, al3 deren Blüthe die Melodie er- fcheint, wie fie von dem beitimmten, verficherten Gefühle ala Kundgebung des rein menfchlichen Empfindungsinhaltes der beftinnmten und verſicherten Individualität und Situation ge— fordert wird.

Eine von diefer Baſis ausgehende und bis zu folder Höhe wachſende Situation bildet an fi ein deutlich unterjchiebenes Glied des Drama’s, dad dem Inhalte und der Form nach aus einer Kette folcher organifcher lieber bejteht, Die fich gegenfeitig fo bedingen, ergänzen und tragen müſſen, wie die organifchen Ölieder des menſchlichen Leibes, der dann ein vollfommener, lebendiger ift, wenn er aus all’ den Gliedern, die ihm durch gegenfeitige8 Sichbebingen und Ergänzen ausmachen, befteht, feine ihm fehlen, eine ihm aber auch zu viel find.

Das Drama ift aber ein immer neuer und neu ſich geftal- tender Leib, der mit dem menfchlichen nur Das gemein Hat, daß er lebendig ift, und fein Leben aus innerem Lebensbedürfniffe heraus bedingt. Dieſes Lebensbebürfniß des Drama’ ift aber

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 197

ein verſchiedenes, denn es geftaltet fich nicht auß einem immer gleichbleibenden Stoffe, fondern es nimmt diefen Stoff aus den unendlich mannigfaltigen Exfcheinungen eines unermeßlich viel- fach zufammengefegten Lebens unterfchiebener Menfchen in unter- ſchiedenen Umftänden, die wiederum nur ein Gemeinfames haben, nämlid daß fie eben Menfchen und menfchliche Umftände find. Die nie gleiche Individualität der Menfchen und Um- ftände erhält durch gegenfeitige Berührung eine immer neue Phyſiognomie, die der bichterifchen Abficht ftet3 neue Noth- wenbigfeiten für ihre Verwirklichung zuführt. Aus diefen Noth- wendigkeiten hat fi) da8 Drama, jener wechſelnden Individuali— tät entjprechend, immer anders und neu zu geftalten; und Nichts zeugte daher mehr für die Unfähigfeit vergangener und gegen- wärtiger Runftperioden zur Geftaltung des wahren Drama’s, als daß Dichter und Muſiker von vornherein nach Formen fuchten und Formen feitftellten, die ihnen das Drama infofern erſt er- möglichen follten, als fie in diefe Formen einen beliebigen Stoff zur Dramatifirung einzugießen hätten. Keine Form war für die Ermöglichung bed wirklichen Drama's aber beängftigender und unfähiger, als die Opernform mit ihrem einfürallemaligen Zuſchnitte von, dem Drama ganz abliegenden, Geſangſtüds— formen: fo viel unfere Opernfomponiften fi mühten und quälten fie außzubehnen und zu vermannigfadhen, das unergie- bige, zufammenhanglofe Stückwerk konnte wie wir an feinem

Orte dieß fahen nur vollends zu Wuft und Unrath fich zer- ſtücken.

Führen wir uns dagegen nun überſichtlich die Form des von uns gemeinten Drama's vor, um fie, bei allem wohlbe— dungenen und nothivendigen, immer neu geftaltenden Wechfel, als eine dem Weſen nach vollfommen, ja einzig einheitliche zu erfennen. Beachten wir aber auch, was ihr diefe Einheit er- möglicht.

Die einheitliche künſtleriſche Form ift nur als Kund- gebung eines einheitlichen Inhalte denkbar: den einheitlichen Inhalt erfennen wir aber nur daran, daß er fi) in einem fünft- leriſchen Ausdrucke mittheilt, durch den er fih vollſtändig an das Gefühl funbzugeben vermag. Ein Inhalt, der einen zwiefachen Ausdrud bedingen würde, d. 5. einen Ausdruck, durch den ber Mittheilende ſich abwechſelnd an den Verſtand und an

198 Oper und Drama:

das Gefühl zu wenden Hätte, ein folder Inhalt Könnte ebenfalls nur ein ziwiejpältiger, uneiniger fein. Jede künftlerifche Ub- ſicht ringt urfprünglich nach einheitlicher Geftaltung, denn nur in dem Grade, als fie diefer Geftaltung fi} nähert, wird über- Haupt eine Kundgebung zu einer künftferiichen: ihre nothwendige Spaltung tritt aber genau von da ab ein, wo der zu Gebote geftellte Ausdrud die Abficht nicht mehr volljtändig mitzutheilen vermag. Da e3 der unwillkürliche Wille jeder künftlerifchen Abſicht ift, fih an das Gefühl mitzutheilen, fo kann der fpal= tende Wusdrud nur ein folcher fein, welder daß Gefühl nicht volljtändig zu erregen vermag: das Gefühl vollitändig erregen muß aber ein Ausdrud, der dieſen feinen Inhalt vollitändig mittheilen will. Dem bloßen Wortſprachdichter war dieſe voll- ftändige Erregung bes Gefühles durch fein Ausdrucksorgan unmöglid), und was er daher durch dieſes dem Gefühle nicht mittheifen konnte, mußte er, um den Inhalt feiner Abficht voll- ftändig auszuſprechen, dem Verſtande fundgeben: diefem mußte er Das zu denken überlafjen, was er von dem Gefühle nicht em- pfinden laſſen fonnte, und er fonnte endlich auf dem Punkte der Entſcheidung feine Tendenz nur als Sentenz, d. h. als nadte, unverwirklichte Abjicht, außfprechen, wodurch er den Inhalt feiner Abficht felbit nothgedrungen zu einem unkünſtleriſchen erniebrigen mußte. Erſcheint num das Werk des bloßen Wortſprachdichters als unverwirklichte dichteriſche Abficht, fo iſt das Werk des ab- ſoluten Muſikers dagegen als ein der dichteriſchen Abſicht gänz- lich bares zu bezeichnen, da durch den rein muſikaliſchen Aus— drud das Gefühl wohl vollftändig angeregt, nicht aber bejtimmt werben konnte. Der Dichter mußte des unzureichenden Aus- drudes wegen den Inhalt in einen Gefühls- und einen Ver- ftandesinhalt fpalten, und das angeregte Gefühl fomit in eben der ruheloſen Unbefriebigtheit laſſen, wie er den Verftand in ein unzubefriebigende8 Nachſinnen über biefe Ruhelofigfeit des Gefühles verfegte. Der Muſiker zwang nicht minder ben Ver— ftand zur Auffuchung eines Inhaltes des Ausdrudes, der das Gefühl fo vollftändig aufregte, ohne gerade in dieſer volliten Aufregung ihm Beruhigung zuzuführen. Der Dichter gab diefen Inhalt als Sentenz, der Mufifer um irgend eine, in Wahr- heit unvorhandene, Abfiht anzugeben als Titel der Kompo- fition. Beide hatten fich jhließlih aus dem Gefühle an ‚den

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama der Zukunft. 199

Berftand zu wenden; der Dichter um ein unvollftändig er- regtes Gefühl zu bejtimmen, der Mufifer um vor einem zwecklos erregten Gefühle ſich zu entſchuldigen.

Wollen wir daher den Ausdruck genau bezeichnen, der als ein einiger auch einen einigen Inhalt ermöglichen würde, fo bes ftimmen wir ihn als einen folchen, der eine umfafjendfte Abſicht des dichteriſchen Verftandes am entiprechenbften dem Gefühle mitzuteilen vermag. Ein folder Ausdrud ift nun derjenige, der in jedem feiner Momente die dihterifhe Abficht in fi ſchließt, in jedem fie aber aud) vor dem Gefühle verbirgt, nämlid fie verwirklicht. Selbft der Wort: tonſprache wäre dieſes vollitändige Bergen ber dichteriichen Ab- fit nicht möglich, wenn ihr nicht ein zweites, mitertönenbes Tonfprahorgan zugegeben werben könnte, welches überall ba, wo die Worttonfprade, als unmittelbarfte Bergerin der bich- teriichen Abficht, in ihrem Ausdrucke nothivendig fo tief ſich Herab- fenfen muß, daß fie, um der ungerreißlichen Verbindung diefer Abſicht mit der Stimmung des gewöhnlichen Lebens willen, fie mit einem faft ſchon durchfichtigen Tonfchleier nur noch verdeden tan, das Gleichgewicht de einigen Gefühlsausdruckes volltommen aufrecht zu erhalten vermag.

Das Orcheiter ift, wie wir jahen, diefes, bie Einheit des Ausdrudes jeberzeit ergänzende Sprachorgan, welches da, mo der Worttonſprachausdruck der dramatiſchen Perfonen fi, zur deutlicheren Beſtimmung der dramatiſchen Situation, bis zur Darlegung feiner kenntlichſten Verwandtſchaft mit. dem Außdrude des gewöhnlichen Lebens als Verſtandesorgan herabfenkt, durch fein Vermögen der mufifalifhen Kundgebung der Erinnerung ober Ahnung den gejenkten Ausbrud ber dramatiſchen Perfon der Art auögleicht, daß das angeregte Gefühl ftet3 in feiner ge- hobenen Stimmung bleibt, und nie durch gleiches Herabſinken in eine reine Verſtandesthätigkeit fich zu verwandeln Hat. Die gleiche Höhe bed Gefühles, von ber dieſes nie herabzufinken, fondern. nur noch fi zu fteigern hat, beſtimmt fich durch die gleiche Höhe bed Ausdrudes, und durch diefen die Gleichheit, das ift: Einheit des Inhaltes.

Beachten wir aber wohl, daf die außgleichenden Ausdrucks- momente des Orcheſters nie aus der Willkür des Muſikers, als etwa bloß Tünftlihe Klangzuthat, fondern nur aus der

200 Oper und Drama:

Abſicht des Dichters zu beftimmen find. Sprechen diefe Mo— mente etwas mit der Situation der dramatiſchen Perfonen Un— zufommenhängendes, ihnen Überflüffiges, aus, fo ift aud die Einheit des Ausdrudes durch Abweichung vom Inhalte geftört. Die bloße abſolut muſikaliſche Ausfhmüdung geſenkter oder borbereitender Situationen, wie fie in der Oper zur Selbſtver⸗ herrlichung der Muſik in fogenannten „Ritornells“, Zwiſchen⸗ fpielen, und felbft auch zur Geſangsbegleitung beliebt wird, hebt die Einheit des Ausdrudes vollftändig auf, und wirft die Theil- nahme des Gehöres auf die Kundgebung der Mufit nicht mehr als Ausdruck, ſondern gewiffermaßen als Ausgedrüdtes ſelbſt. Auch jene Momente müſſen nur durch die dichteriſche Ab- ſicht bedingt fein, und zwar in der Weiſe, daß fie als Ahnung ober Erinnerung unfer Gefühl immer einzig nur auf die dra— matiſche Perfon und das mit ihr Zufammenhängende oder von ihr Ausgehende hinweiſen. Wir dürfen diefe ahnungs- oder er- innerungöbollen melodiſchen Momente nicht ander8 vernehmen, als daß fie-und eine von und empfundene Ergänzung der Kund— gebung der Perfon erfcheinen, bie jegt vor unferen Augen ihre volle Empfindung noch nicht äußern will ober kann.

Dieſe melodifchen Momente, an fi) dazu geeignet, das Ge— fühl immer auf gleicher Höhe zu erhalten, werben uns durch das Orcheſter gewiffermaßen zu Gefühlswegweifern ducch den gan- zen vielgewundenen Bau des Drama’d. An ihnen werden wir zu teten Mitwiffern des tiefften Geheimmiſſes der bichterifchen Abficht, zu unmittelbaren Theilnehmern an deſſen Bermirk- lichung. Zwiſchen ihnen, als Ahnung und Erinnerung, fteht die Versmelodie als getragene und tragende Individualität, wie fie fi auß einer Gefühlsumgebung, beftehend aus den Momenten der Kundgebung ſowohl eigener als eintirfender fremder, be reits empfundener oder noch zu empfindenber Gefühlsregungen, heraus bedingt. Dieſe Momente beziehungsvoller Ergänzung des Gefühlsausbrudes treten zurüd, fobald das mit fi) ganz einige hanbelnde Individuum zum volliten Uusdrude der Vers— melodie ſelbſt fehreitet: dann trägt das Orcheſter dieſe nur noch nad} feinem verdeutlichenden Vermögen, um, wenn ber farbige Ausdrud der Verämelodie fich wieder zur nur tönenden Wort: phrafe Herabjenkt, von neuem durch ahnungsvolle Erinnerungen den allgemeinen Gefühlsausdruck zu ergänzen, und nothwendige

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 201

Übergänge der Empfindung gleichſam aus unferer eigenen, im⸗ mer rege erhaltenen Teilnahme zu bedingen.

Diefe melodifchen Momente, in denen wir uns der Ahnung erinnern, während fie ung die Erinnerung zur Ahnung machen, werben nothiwendig nur den mwichtigften Motiven bes Dra- ma’3 entblüht fein, und die wichtigften bon ihnen ‚werden wie- derum an Bahl denjenigen Motiven entiprechen, die der Dichter als zufammengedrängte, verftärkte Grundmotive der ebenfo ber- ftärkten und zufammengedrängten Handlung zu den Säulen ſeines dramatiſchen Gebäudes beftimmte, die er grunbjäßlich nicht in verwirrender Vielheit, jondern in plaftifch zu ordnender, für leichte Uberſicht nothweudig bedingter geringerer Zahl ver- wendet. In diefen Grundmotiven, die eben nicht Sentenzen, fondern plaftifhe Gefühlsmomente find, wird die Abficht des Dichters, ald eine durch das Gefühlsempfängniß verwirklichte, am verftändlichften; und der Mufifer, als Verwirklicher der Ab- ſicht de3 Dichters, hatte diefe zu melobifchen Momenten verdich- teten Motive, im vollften Einverftändniffe mit der dich— terifhen Abſicht, daher leicht fo zu orbnen, daß in ihrer wohlbedingten wechfelfeitigen Wiederholung ihm ganz von ſelbſt auch die höchſte einheitliche mufifalifche Form entjteht, eine Zorm, wie fie ber Muſiker bisher willkürlich ſich zufammenftellte, die aus ber dichterifhen Abficht aber erft zu einer nothiwen- digen, wirfli einheitlichen, das ift: verſtändlichen, fih ge ftalten kann.

In der Oper hatte ber Mufifer bisher eine einheitliche Form für daß ganze Kunſtwerk gar nicht auch nur angeftrebt: jedes einzelne Öefangsftüd war eine ausgefüllte Form für fich, bie mit den übrigen Tonftücden ber Oper nur ihrer äußeren Struktur nach als ähnlich, keinesweges aber einem formbedingenden In— Halte nach wirklich zufammenhing. Das Bufammenhangslofe war fo recht eigentlich der Charakter der Opernmufif. Nur das einzelne Tonftüd hatte eine in ſich zufammenhängende Form, die aus abfolut muſikaliſchem Ermeſſen Hergeleitet, durch die Ge— wohnheit erhalten, und dem Dichter als Zwangsjoch aufgelegt war. Das Bufammenhängende in diefen Formen beftand darin,

202 . Oper und Drama:

daß ein von vornherein fertiges Thema mit einem zweiten Mittel- thema abmwechfelte, und nach muſilaliſch motivirter Willkür fich wiederholte. Wechfel, Wiederholung, Verkürzung und Verlän- gerung ber Themen machten die einzig durch fie bedingte Be— mwegung des größeren abfoluten Anftrumentaltonftüdes, des Symphonieſatzes, aus, der aus einem, vor dem Gefühle mög- lift zu rechtfertigenden Zuſammenhange der Themen -und ihrer Wiederkehr eine einheitvolle Form zu gewinnen ftrebte. Die Rechtfertigung diefer Wiederkehr beruhte aber immer nur auf einer gedachten, nie verwirklichten Annahme, und nur die dich⸗ terifche Abſicht kann dieſe Rechtfertigung wirklich ermöglichen, weil fie biefe ald eine nothtvendige Bedingung ihrer Verftänd- lichfeit geradesweges erfordert.

Die zu genau unterfcheibbaren, und ihren Inhalt volltom- men verwirklichenden melodifchen Momenten gewordenen Haupt motive der dramatiſchen Handlung bilden ſich in ihrer bezie- hungsvollen, ftet8 wohlbedingten dem Reime ähnlichen Wiederkehr zu einer einheitlichen künſtleriſchen Form, die ſich nit nur über engere Theile des Drama’, fondern über das ganze Drama felbft*) als ein bindender Bufammenhang erftredt, in welchem nicht nur diefe melodifchen Momente als gegenfeitig fi) verftänblicdend und fomit einheitlich erfcheinen, fondern auch die in ihnen verförperten Gefühls- oder Erſcheinungsmotive, al ftärkfte der Handlung und bie ſchwächeren derſelben in ſich ſchlie— gend, als fich gegenfeitig bedingende, dem Weſen der Gattung nad) einheitlihe dem Gefühle fi kundgeben. In diefem Bufammenhange ift die Verwirklichung ber vollendeten einheit- lichen Form erreicht, und durch dieſe Form bie Kundgebung eines einheitlichen Juhaltes, fomit diefer Inhalt ſelbſt in Wahrheit erſt ermöglicht.

Faſſen wir alles Hierauf Bezügliche nochmals zu einem er- ſchöpfenden Ausdrude zufammen, fo bezeichnen wir alfo die vollendetſte einheitliche Kunftform als diejenige, in welcher ein weiteſter Zufammenhang von Erfcheinungen des menſchlichen Lebens als Inhalt ſich in einem fo vollfommen verftänb-

”) Der einheitlihe Bufammenhang ber Themen, ben bisher ber Muſiker in der Quverture berzuftellen fi bemügee, fol im Drama felbft gegeben werben.

Dichtkunſt und Tontunft im Drama der Bukunft. 203

lichen, Ausdrude an daS Gefühl mittheilen Tann, daß dieſer In- halt in al’ feinen Momenten fich ald ein das Gefühl volltommen erregenber und vollkommen befriebigender fundgiebt. Der In— halt hat alfo ein im Ausdrude ſtets gegenmwärtiger, und biefer Ausdrud daher ein den Inhalt nad feinem Umfange ftet3 vergegenmwärtigenber zu fein; denn das Ungegenmwärtige erfaßt nur der Gedanke, nur das Ge— genwärtige aber das Gefühl.

In diefer Einheit des ſtets vergegenmwärtigenden, und den Inhalt nad) jeinem Bufanmenhange umfafjenden Ausdruckes iſt zugleich und einzig entſcheidend auch das bißherige Problem der Einheit des Raumes und der Zeit gelöft.

Raum und Zeit konnten, als Abftraftionen von ber wirk— lichen leiblichen Eigenſchaft der Handlung, nur darum die Aufs merffamfeit unferer Drama-konſtruirenden Dichter feſſeln, weil ein einiger, bollfommen verwirflichender Ausdruck des geivollten dichteriſchen Inhaltes ihnen nicht zu Gebote ftand. Raum und Zeit find gedachte Eigenſchaften wirklicher finnlicher Erſcheinun⸗ gen, bie, ſobald fie gedacht werden, in Wahrheit die Kraft der Kundgebung bereit verloren Haben: der Körper dieſer Abftraf- tionen ift das Wirkliche, Sinnfällige der Handlung, die in einer beftimmten räumlichen Umgebung, und in einer von ihr aus fich bedingenden Andauer der Bewegung fi kundgiebt. Die Ein- heit des Drama's in die Einheit von Raum und Zeit feßen, heißt fie in Nichts fegen, denn Raum und Zeit find an fi Nichts, und werden erſt Etwas dadurch, daf fie von etwas Wirk⸗ lichem, einer menſchlichen Handlung und ihrer natürlichen Um— gebung, verneint werden. Diefe menfchlihe Handlung muß das an ſich Einheitliche, das ift: Bufammenhängende, fein; nach der Möglichkeit, ihren Bufammenhang zu einem überſchaulichen zu machen, bedingt ſich die Annahme ihrer Zeitdauer, und nad der Möglichfeit einer vollfommen entfpredhenden Darſtellung der Scene bedingt fih die Ausdehnung im Raume; denn fie will nur Eines: ſich dem Gefühle verftändficd) machen. In dem einigiten Raume und in der gedrängteften Zeit Tann ſich nad) Be lieben eine vollfommen uneinige und zufammenhangslofe Hand-

204 Oper und Drama

Yung ausbreiten, wie wir dieß denn auch in unferen Einheit3- ftüden zur ©enüge fehen. Die Einheit der Handlung bedingt ſich dagegen aus ihrem verjtänblichen Bufammenhange felbft; nur durch Eines kann fie aber diefen verftändfich kundgeben, und diefes ift nicht Raum und Beit, fondern der Ausdrud. Haben mir dieſen Ausdrud als einheitlichen, d. 5. zufammenhängenden und ſtets den Bujammenhang vergegenwärtigenden, mit dem Borhergehenden genau ermittelt und als wohlzuermöglichend be— zeichnet, fo Haben wir auch in biefem Ausdrude das in Zeit und Raum nothwendig Getrennte ald ein Wiebervereinigteß und, da wo ed zum Zerftänbniffe nöthig war, ftet# Vergegenwärtigtes gewonnen; denn feine nothwendige Gegenwart liegt nicht im Raume und in der Zeit, jondern in dem Eindrude, der in Raum und Zeit auf uns ſich äußert. Die beim Mangel diejes Ausdruckes entftandenen Bedingungen, wie fie fih an Raum und Beit nüpften, find dur den Gewinn dieſes Ausbrudes fomit aufgehoben, Beit und Raum durch die Wirklichkeit des Drama's vernichtet.

So wird denn da wirkliche Drama durd) Nichts von Außen ber mehr beeinflußt, fondern e8 ift ein organic Seiendes und Werdendes, welches ſich aus feinen inneren Bebingun- gen an ber einzigen, es wiederum bebingenbden Berührung mit Außen, an der Nothwendigfeit des Verſtändniſſes feiner Kund- gebung und zwar feiner Kundgebung als folchen wie ed ift und wird entwidelt und gejtaltet, feine berftändliche Geſtaltung aber dadurch gewinnt, daß e8 aus innerftem Bebürf- niffe heraus fich den allermöglichenden Ausbrud feines Inhaltes gebiert,

VII.

In der hiermit beendigten Darſtellung habe ich Möglichkeiten des Ausdruckes bezeichnet, deren eine dichteriſche Abſicht ſich be— dienen kann, und deren die höchſte dichteriſche Abſicht zu ihrer Verwirklichung ſich bedienen muß. Die Wahrmachung dieſer Möglichkeiten des Ausdruckes bedingt ſich einzig aus ber höch— ſten dichteriſchen Abſicht: dieſe kann aber erſt gefaßt werben, wenn der Dichter jener Möglichkeiten fi bewußt if.

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 205

Wer mich hiergegen fo verftanden Hat, ala wäre e8 mir darum zu thun geweſen, ein willkürlich erdachtes Syſtem aufzu= ftellen, nach dem fortan Muſiker und Dichter arbeiten follten, der Hat mich nicht verftehen wollen. Wer ferner aber glauben will, dad Neue, was ich etwa fagte, beruhe auf abfoluter An— nahme und fei nicht identifch mit der Erfahrung und der Natur des entwidelten Gegenftandes, der wird mid) nicht verftehen können, auch wenn er e3 wollte. Das Neue, das ic) etwa fagte, ift nichts Anderes als das mir bewußt gewordene Unbemwußte in der Natur der Sache, das mir als dentendem Künftler bewußt ward, da ih Das nad) feinem Zufammenhange erfaßte, was von Künftlern bisher nur getrennt gefaßt worben ift. Ich habe fo- mit nicht Neues erfunden, fondern nur jenen Zuſammenhang gefunden. -

Es bleibt mir nur noch übrig, dad Verhältniß zwiſchen Dichter und Mufiter, wie ed aus der obigen Darftellung herborgeht, zu bezeichnen. Um dieß in Kürze zu thun, beantwor- ten wir und zunächſt die Frage: „Hat fi der Dichter dem Mu- filer, und der Mufifer dem Dichter gegenüber zu befhränten?“

Die Freiheit des Individuums hat bisher nur in einer weifen Beſchränkuug nad) Außen möglich gefhienen: Mäßi« gung feiner Triebe, jomit der Kraft feined Vermögens war die erfte Anforderung ber ftaatlihen Gemeinfamfeit an ben Ein- zelnen. Pie volle Geltendmahung einer Individualität mußte als gleichbedeutend mit der Beeinträchtigung der Individualität Anderer angefehen werden, und Selbftbejchräntung der Indie vidualität war dagegen höchſte Tugend und Weisheit. Ge— nau genommen war biefe, vom Weiſen gepredigte, von Lehr» dichtern befungene, vom Staate endlich als Unterthanspflicht, von der Religion als Pflicht der Demuth geforderte Tugend eine niemal3 vorhandene, gewollte aber nicht ausgeübte, gedachte aber nicht verwirklichte; und fo lange eine Tugend geforbert wird, wird fie in Wahrheit auch nicht ausgeübt werden. Die Ausübung dieſer Tugend war entweder eine despotiſch erzwun⸗ gene jomit alfo ohne das Verdienft dev Tugend, wie es gedacht wurde; oder fie war eine nothwendig freiwillige, un refleftirte, und dann war die ermöglichende Kraft nicht der ſelbſt⸗

206 Oper und Drama:

befchräntende Wille, fondern die Liebe. Diefelden Wei- fen und Gejeßgeber, welche die Ausübung der Selbſtbeſchränknug durch Reflexion forderten, refleftirten nicht einen Augenblid dar- über, daß fie Knechte und Sklaven unter fich hatten, denen fie jede Möglicjfeit der Ausübung diefer Tugend abſchnitten; und doch waren biefe in Wahrheit die Einzigen, welche fi wirklich um eine8 Anderen willen bejhränften, weil fie dazu gezwungen waren: unter ſich beftand bei jener herrſchenden und reflektiren- den Ariftofratie bie Selbjtbeihränfung nur in der Mlugheit des Egoismus, die ihnen die Abfonderung, dad Unbekümmertſein um Andere anrietd, und dieſes Gehenlafjen Underer, bad in äußerlichen, der Hochachtung und Freundſchaft abgeborgten For⸗ men ſich einen ganz anmuthigen Schein zu geben wußte, war ihnen gerade nur Dadurch möglich, daß andere Menjchen, eben als Knechte und Hörige, ihnen zu Gebote ftanden, die jene ab- gejonderte, wohlbegrenzte Selbftändigkeit ihren Herren einzig ermöglichten. Wir fehen im der, jeden wahrhaften Menſchen empörenden, furchtbaren Entfittlihung unferer heutigen fozialen Zuftände das nothwendige Ergebniß ber Forberung einer un möglichen Tugend, die fehließlic durch eine barbarifche Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verſchwinden dieſer Forderung und der Gründe, aus denen fie gejtellt wurde, nur die Aufhebung der unmenſchlichen Ungleichheit der Men- {chen in ihrer Stellung zum Leben, kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbftbefchräntung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglihung der freien Liebe. Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem Maaße Hexbei, denn fie ift eben nicht Selbftbefchränfung, fondern unendlich mehr, nämlich höchſte Kraftentwidelung unferes in- dividwellen Vermögens zugleich mit dem nothwen- digften Drange der Selbſtaufopferung zu Gunſten eines geliebten Gegenftandes.

Wenden wir nun dieſe Erkenntniß auf den vorliegenden Fall an, fo fehen wir, daß die Selbftbefhräntung bed Dichterd wie de3 Mufiter in ihrer höchſten Konfequenz den Tod des Drama’3 herbeiführen, ober vielmehr feine Belebung gar nicht erſt ermöglichen würde. Sobald Dichter und Muſiker ſich gegen- feitig befchräntten, könnten fie nichts Anderes vorhaben, als jeder feine_befondere Fähigkeit für fih glänzen zu laſſen, und da der

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 207

Gegenftand, an dem fie diefe Fähigkeiten zum Glänzen brächten, eben da8 Drama wäre, jo würde es biefem natürlich wie dem Kranken zwifchen zwei Ürzten gehen, von denen jeder feine Ge- ſchicklichkeit nach einer entgegengejegten Richtung der Wiffenfchaft bin zeigen wollte: der Kranke würde bei der beften Natur zu Grunde gehen müfjen. Beſchränken fid) Dichter und Muſiler nun gegenfeitig aber nicht, fondern erregen fie in ber Liebe ihr. Vermögen zur höchſten Macht, find fie in der Liebe fomit ganz, was fie irgend jein können, gehen fie in dem fich dargebrachten Opfer ihrer höchſten Potenz gegenfeitig in fi unter, jo ift dad Drama nad) feiner höcften Fülle geboren.

It die dDichterifche Abficht als folhe noch vor» handen und merklich, fo ift fie im Ausdrude des Muſikers noch nicht untergegangen, d. h. verwirklicht; ift aber der Ausdrud des Mufilers als folder noch kenntlich, fo ift er auch von der bichterifchen Abficht noch nicht erfüllt; und erft wenn er in der Verwirklichung diefer Abficht als ein Beſonderes, Merk: liches untergeht, ift weder Abficht noch Ausbrud mehr vorhan- den, fondern das Wirkliche, was beide wollten, ift gefonnt, und dieſes Wirkliche ift das Drama, bei defien Vorführung wir weder an Wbficht noch Ausdruck mehr erinnert werden jollen, ſondern defien Inhalt als eine, vor unferem Gefühle als noth— wendig gerechtfertigte menfchliche Handlung, und unwillkürlich erfüllen fo.

Erflären wir dem Muſiker daher, daß jedes, auch das geringfte Moment feines Ausdrudes, in welchem die dich— terifhe Abſicht nicht enthalten, und mweldes von ihr zu ihrer Verwirklichung nicht als nothwendig bedingt ift, überfläffig, ftörend, ſchlecht ift; daß jede feiner Kundgebungen eine eindrudd- Tofe ift, wenn fie unverftändlich bleibt, und daß fie verſtändlich aur dadurch wird, wenn fie bie dichterifche Abſicht in fich ſchließt; daß er, als Verwirklicher der dichterifchen Abficht, aber ein un- endlich Höherer ift, als er in feinem willfürlihen Schaffen ohne diefe Abficht war, denn als eine bedingte, befriedigende Kund⸗ gebung ift bie feinige felbft höher als die der bebingenben be dürftigen Wbfiht an fi, die wiederum dennoch bie höchſte, menſchliche ift; daß er endlich, als von dieſer Abſicht in feiner Kundgebung bedingt, zu einer bei Weitem reicheren Kundgebung ſeines Vermögens veranlaft wird, als er es in feiner einfamen

208 Dper und Drama:

Stellung war, wo er um möglichfter Verſtändlichkeit wegen ſich felbft befhränfen, nämlich. zu einer Thätigleit an- halten mußte, die nicht feine eigenthümliche als Mufiler war, während er gerade jetzt zur unbeſchränkteſten Entfaltung feines Vermögens nothwendig aufgeforbert ift, weil er ganz nur Mu— ſiker fein darf und fol.

Dem Dichter erflären wir aber, daß feine Abficht, wenn fie im Ausdrude des von ihm bedingten Muſikers fo meit fie eine an das Gehör kundzugebende ift nit voll- ftändig verwirklicht werben könnte, auch feine höchſte dich- terifche Abficht überhaupt ift; daß überall da, mo feine Abficht noch kenntlich ift, er auch noch nicht vollſtändig gebichtet hat; daß er daher feine Abſicht ala eine höchſte dichteriſche nur bar- nach bemeffen fann, daß fie im mufifalifhen Ausdrucke volltommen zu verwirklichen ift.

Das Magß des Dichtungswerthen bezeichnen wir ſchließlich daher fo: wenn Boltaire von der Oper fagte: „waß zu albern ift, um gefproden zu werden, das läßt man fingen“, fo fagen wir von dem vor und liegenden Drama dagegen: was nicht werth ift gefungen zu werben, ift aud nit der Dich— tung werth.

Nach dem Gefagten dürfte es faft überflüffig erfcheinen, noch die Frage aufzumerfen, ob wir und Dichter und Muſiker in zwei Perfonen, oder nur in einer zu benten haben follen?

Der Dichter und der Mufifer, den wir meinen, find fehr gut als zwei Perfonen zu denen. Der Muſiker könnte fogar, in feiner praftifchen Wermittelung zwiſchen der dichterifchen Abſicht und ihrer endlichen leibhaftigen Verwirklichung durch die that- ſächliche fcenifche Darftellung, vom Dichter nothivendig ald be fondere Perfon bedingt fein, und zwar al eine, wenn aud) nicht nothwendig nach dem Lebensalter, doch nad dem Charakter jüngere als ber Dichter. Diefe jüngere, der unwillkürlichen Lebensäußerung au im lyriſchen Momente näher ftehende Perſon dürfte dem erfahreneren, refleftivenden Dichter wohl ge— eigneter zur Verwirklichung feiner Abficht erfcheinen, als er ſelbſt; unb aus feiner natürlichen Neigung zu dieſem Jüngeren, Er- regungsfreudigeren würbe, fobald diefer die vom Üllteren ihm mitgetheilte dichterifche Abſicht mit williger Begeifterung in ſich

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Zukunft. 209

aufnähme, die fchöne ebelfte Liebe hervorblühen, die wir als die ermöglichende Kraft de Kunſtwerkes erfannt haben. Schon daß der Dichter feine wie nicht anders möglih hier nur an- gedeutete Abficht von dem Jüngeren volllommen verftanden wüßte, und daß diefer Jüngere fähig wäre, feine Abficht zu ver— ftehen, würde den Liebesbund fnüpfen, in welchem ber Mufifer zum nothwendigen Gebärer des Empfangenen würde; denn fein Antheil an dem Empfängniffe ift der Trieb, mit warmem, vollem Herzen das Empfangene weiter mitzutheilen. An diefem, in einem Underen erregten Triebe würde ber Dichter jelbft eine im- mer fteigende Wärme für fein Erzeugniß gewinnen, bie ihn zur mitthätigften Theilnahme auch an der Geburt ſelbſt beftimmen müßte. Gerade die Doppelthätigfeit der Liebe müßte eine nad jeder Seite hin unendlich anregende, fördernde und ermöglichende tünftlerifche Kraft äußern.

Betrachten wir aber die Stellung, die gegenwärtig Dichter und Mufiter zu einander einnehmen, und erfennen wir biefe nad den Grundſätzen der Selbftbefchränkung als egoiftifche Ab⸗ fonberung fo georbnet, wie wir fie zwifchen allen Faltoren un— ferer Heutigen ftaatlihen Gejelihaft wahrzunehmen haben, fo fühlen wir allerdings, daß da, wo einer unwürdigen Öffentlic)- teit gegenüber Jeder für ſich glänzen will, nur der Einzelne den Geiſi der Gemeinfaft in fi aufnehmen und nach immerhin unpermögenden Kräften pflegen und entwideln kann. Nicht Zweien kann gegenwärtig der Gedanke zur gemeinfchaftlichen Ermöglichung des vollendeten Drama's kommen, weil Zweie im Austauſche dieſes Gedankens der Offentlichkeit gegenüber die Unmöglichteit der Verwirklichung mit nothwendiger Aufrichtig⸗ keit ſich eingeſtehen müßten, und dieſes Geſtändniß ihr Unters nehmen daher im Keime erftiden würde. Nur der Einſame ver— mag in feinem Drange die Bitterfeit dieſes Geftändniffes in fi zu einem beraufchenden Genufje umzuwandeln, der ihn mit truns Tenem Muthe zu dem Unternehmen treibt, da8 Unmögliche zu ermöglichen; denn er allein ift von zwei künſtleriſchen Gewal⸗ ten gebrängt, denen er nicht widerftehen Tann, und von benen ex ſich willig zum Gelbftopfer treiben läßt“).

*) Ih muß Hier ausbrüdiih meiner ſelbſt Erwähnung tun, und zwar lediglich aus dem Grunde, den in meinem Leſer etwa

Rijard Wagner, Gef. Säiften IV. 14

210 DOper und Drama:

Werfen wir noch einen Blick auf unfere mufifalifh-dra- matiſche Offentlicheit, um aus ihrem Buftande ung deutlich zu machen, warum das von ung gemeinte Drama unmöglich jeßt zur Erſcheinung kommen kann, und wie dad dennoch gewagte nicht Verftändniß, fondern nur höchſte Verwirrung hervorrufen müßte,

Wir mußten als unerläßlihe Grundlage eines vollendeten fünftlerifchen Ausdrudes die Sprache felbft erfennen. Daß wir das Gefühlsverſtändniß der Sprache verloren Haben, mußten mir als einen durch Nichts zu erjegenden Verluſt für die dich terifche Kundgebung an das Gefühl begreifen. Wenn wir nun die Möglichkeit der Wiederbelebung der Sprache für den fünft- leriſchen Ausdruck barlegten, und auß diefer, dem Gefühlsver⸗ ftändniffe wieder zugeführten Sprache den vollendeten mufi- talifchen Ausdrud ableiteten, fo fußten wir allerdings auf einer Vorausfegung, die nur durch das Leben felbft, nicht durch den künftleriſchen Willen allein verwirklicht werden fann. Nehmen wir aber an, daß der Künftler, dem bie Entwidelung des Lebens nad) feiner Nothwendigkeit aufgegangen ift, diefer Entwidelung entftandenen Verdacht von mir abzumweifen, als ob ich mit der hier gi jehenen Darftellung des vollendeten Drama’s gleihfam einen

jerſuch zur Verftändlidung meiner eigenen Lünftleriihen Arbeiten in dem Sinne unternommen hätte, dab ich bie von mir geftellten Anforderungen in meinen Opern erfüllt, aljo dieß gemeinte Drama felbft ſchon zu Stande gebradt hätte. Niemand kann es gegenwär- tiger fein als mir, daß die Berwirklihung des von mir gemeinten Drama’3 von Bedingungen abhängt, die nit in dem Willen, ja jelbft nicht in ber Fähigfeit des Einzelnen, fei diefe auch unendlich größer al3 die meinige, jondern nur in einem gemeinfamen Zuſtande und in einem dur ihn ermöglichten gemeini&aftlihen Bufammen- wirken liegen, von denen jegt gerade nur dad volle Gegentheil vor- handen ift. Dennoch geftche ih, daß meine künftlerifchen Arbeiten wenigftend für mid von großer Wichtigkeit waren, denn fie müffen mir leiber, fo weit ih um mich fehe, al8 bie einzigen Beugniffe eines Strebens gelten, aus befien Erfolgen, jo gering find, einzig Das zu erlernen war, was ih aus Unbewußtjein zum Bewußtſein ge» langend erlernte, und Hoffentlich zum Heile der Kunft jebt mit voller Überzeugung ausſprechen fann. Nicht auf meine Leiftun- en, fondern auf Das, was mir aus ihnen fo zum Bewußtſein ge» 'ommen ift, daß id) e3 als Überzeugung ausſprechen kann, bin ich ſtoiz.

Dichttunſt und Tontunft im Drama ber Zukunft. 211

mit geitaltendem Bewußtſein entgegenzufommen habe, fo wäre deſſen Streben, feine prophetifhe Ahnung zur künſtleriſchen That zu erheben, gewiß als volltommen gerechtfertigt anzuerkennen und jedenfalls ihm das Lob zuzuertheilen, für jegt nad einer vernünftigften fünftlerifchen Richtung ſich bewegt zu haben. erbliden wir nun die Sprachen der europäifchen Na— tionen, die bisher einen felbftändigen Antheil an der Entwicke— lung bes mufilalifhen Drama’3, der Oper, genommen haben, und dieſe find nur Staliener, Franzoſen und Deutſche —, fo finden wir, daß von biefen drei Nationen nur bie deutſche eine Sprache befigt, Die im gewöhnlichen’ Gebrauche noch un= mittelbar und kenntlich mit ihren Wurzeln zufammenhängt. Ita- liener und Franzoſen jprechen eine Sprache, deren wurzelhafte Bedeutung ihnen nur auf dem Wege des Studiums aus älteren, fogenannten tobten Sprachen verftänblich werben Tann: man Tann fagen, ihre Sprache als ber Nieberfchlag einer hiſto— rifhen Völkermiſchungsperiode, deren bedingender Einfluß auf diefe Völker gänzlich geſchwunden ift fpricht für fie, nicht aber fprechen fie felbit in ihrer Sprache. Wollen wir nun an- nehmen, daß auch für dieſe Sprachen ganz neue, von und noch nicht geahnte Bedingungen zur gefühlsverſtändlichen Umgeftal- tung aus einem Leben hervorgehen fünnten, daS, frei von allem Hiftorifchen Drude, in einen innigen und beziehungsvollen Ver— tehr mit der Natur tritt, und dürfen wir jedenfall auch ver- fichert fein, daß gerade die Kunft, wenn fie in dieſem neuen Leben Das iſt, was fie fein foll, auf jene Umgeftaltung einen ungemein wichtigen Einfluß äußern wird, fo müſſen wir erkennen, daß ein folder Einfluß derjenigen Kunft am ergiebigften entjprießen muß, welche in ihrem Ausbrude ſich auf eine Sprache gründet, deren Bufanmenhang mit der Natur dem Gefühle jeht ſchon noch Tenntlicher ift, al3 es bei ber italienifchen und franzöſiſchen Sprache der Fall ift. Jene vorahnende Enttwidelung des Ein- fluſſes des fünftlerifchen Ausdrudes auf den des Lebens kann zu⸗ nächſt nicht von Kunſtwerken ausgehen, deren ſprachliche Grund» Tage in ber italienifchen und franzöfifchen Sprache liegt, fondern von allen modernen Opernſprachen ift nur die deutfche befähigt, in ber Weife, wie wir es als erforderlich erkannten, zur Belebung des fünftlerijchen Ausdruckes verwandt zu werden, ſchon weil fie die einzige ift, die auch im gewöhnlichen Leben den Accent 14*

212 Oper und Drama:

auf den Wurzelſylben erhalten hat, während in jenen ber Accent nad willfürlicher naturwidriger Konvention auf an fi be deutung8lofe Beugungsfylben gelegt wird.

Das über Alles wichtige Grundmoment der Sprache alfo iſt es, das uns für den Verſuch eined vollfommen zu rechtfer— tigenden, höchſten künftlerifhen Ausdruckes im Drama auf die deutſche Nation hinweiſet; und wäre es dem künſtleriſchen Willen’ allein möglich, das vollendete dramatifche Kunſtwerk zu Tage zu fördern, fo fünnte dieß jet nur in deutſcher Sprache geſchehen. a3 diefen fünftlerifchen Willen als einen ausführbaren bedingt, liegt zunächit aber in der Genoſſenſchaft der künſtleriſchen Darfteller: betrachten wir die Wirkjamkeit diefer auf deutſchen Bühnen. b

Italieniſche und franzöfiihe Sänger find gewohnt, nur muſikaliſche Kompofitionen vorzutragen, die auf ihre Mutter- ſprache verfaßt find: jo wenig diefe Sprache in einem vollkom⸗ men naturgemäßen Zufammenhange mit der mufifalihen Me- Iodie ftehen mag, fo ift doch Eines bei dem Bortrage italienifcher ober franzöfiiher Sänger unverfennbar, die genaue Beachtung und Kundgebung der Rede al folcher. Iſt diefes bei den Franzoſen noch erfichtlicher als bei den Stalienern, fo muß doch Jedem die Deutlichkeit und Energie auffallen, mit der auch dieſe die Worte auöfprechen, und dieß namentlich in ben bdraftifchen Phrafen des Nezitatives. Bor Allem aber muß dieß Eine an Beiden anerkannt werden, daß fie ein natürlicher Inſtinkt davor bewahrt, je den Sinn der Rede durch einen falſchen Ausdruck zu entſtellen.

Deutſche Sänger ſind dagegen gewohnt, zum überwiegend größten Theile nur in Opern zu ſingen, die aus der italieniſchen oder fronzoſiſchen Sprache in die deutſche überſetzt find. Bei diefen Überjegungen ift nie weber ein bichterifcher noch muſi— Kalifcher Verftand thätig geweſen, ſondern fie wurden von Leuten, die weder Dichtkunft noch Mufit berftanden, im geſchäftlichen Auftrage ungefähr fo überfegt, wie man Beitungsartifel ober Kommerznotizen überträgt. Gemeinhin waren dieſe Überfeger vor Allem nicht mufifalifch; fie überfegten ein italienijches oder franzöfifches Textbuch für fih, al Wortdichtung, nad einem

Dichtkunſt und Tonkunſt im Drama ber Zukunft. 213

Versmaaße, welches als fogenanntes jambifches unverftändiger Weiſe ihnen dem gänzlih unchythmifchen des Driginales ent» ſprechend vorkam, und ließen dieſe Verſe von mufifgefchäftlichen Ausfchreibern unter die Muſik fo ſetzen, daß die Sylben den Noten der Zahl nach zu entjprechen hatten. Die dichteriſche Mühe bes überſetzers Hatte darin beftanden, die gemeinfte Proſa mit läppiſchen Endreimen zu verfehen, und da diefe Endreime ſelbſt oft peinliche Schwierigkeiten barboten, war ihnen den in der Mufit fait gänzlich unhörbaren zu Liebe auch die natürliche Stellung der Wörter bis zur vollſten Unverftändlichkeit verdreht worden. Diefer an und für fich häßliche, gemeine und finnver- wirrte Vers wurde nun einer Muſik untergelegt, zu deren be— tonten Accenten er nirgends paßte: auf gedehnte Noten kamen turze Sylben, auf gebehnte Sylben aber kurze Noten; auf bie mufifafifch betonte Hebung kam die Senkung bed Verſes, und fo umgefehrt*). Bon biefen gröbften finnfichen Verſtößen ſchritt bie. Überfegung bis zur vollfommenen Entftellung des Sinnes vor, und prägte dieſe dem Gehöre recht gefliffentlich noch durch zahlreiche Wortwieberholungen in einer Weife ein, daß dieſes unwillkürlich fi) vom Texte gänzlih ab und nur noch auf die rein melodiſche Kundgebung wandte. In ſolchen Überfegun- gen mwurben der deutſchen Kunftkritit Die Opern Gluck's vorge führt, deren weſentliche Eigenthümlichkeit in einer getreuen Des Homation der Rebe beftand. Wer eine Berliner Partitur von einer Gluck'ſchen Oper gejehen, und ſich von der Beſchaffenheit der deutſchen Tertunterlage überzeugt Hat, mit welcher dieſe Werke dem Publitum vorgeführt twurden, der Tann einen Begriff von dem Charakter der Berliner Kunſtäſthetik erhalten, die aus Gluck's Opern fi einen Maaßſtab für dramatifhe Deklamation bildete, von welcher man auf litterarifchem Wege von Paris aus fo viel vernommen hatte, und die man nun auch merkwürdiger Weiſe aus den Aufführungen wieder erkannte, die in jenen alle richtige Dellamation über den Haufen werfenden Über- fegungen vor fid) gingen.

*) Ich hebe diefe gröbften Verſtoße heraus, nicht weil fie in Überjegungen gerade immer vorfamen, fondern weil fie ohne Sänger und Hörer zu ftören oft vorkommen Tonnten: ich bebiene

ich daher des Superlatived, um ben Gegenftand nad} feiner Tennt- lichften Phnfiognomie zu bezeichnen.

214 Dper und Drama:

Bei Weiten wichtiger, als auf die preußifche Afthetit, war aber ber Einfluß dieſer Überfegungen auf unfere deutſchen DOpernfänger. Der vergeblihen Mühe, die Tertunterlage in Übereinftimmung mit den Noten ber Melodie zu bringen, mußten fie fid) nothgedrungen bald entwinden; fie gewöhnten fi} daran, den Tert als einen finngebenden "immer unbeachteter zu laffen, und durch diefe Unbeachtung ermunterten fie von Neuem die Überfeger zu immer vollendeterer Nachläſſigkeit in ihren Arbeiten, die endlich immer mehr nur die Veftimmung erhielten, als gedrudte Tertbücher dem Publikum ganz in dem Sinne, wie Inhaltsprogramme zur Erffärung einer Pantomime dienen ſollen, in die Hände gegeben zu werben. Unter ſolchen Umftän- den gab ber dramatifche Sänger ſchließlich auch noch die unnüge Mühe der deutlichen Ausſprache der Vokale und Konfonanten auf, die für den Gefang, den er nun als reines mufifalifches Inſtrument ausführte, ihm nur hinderlich und erfchwerend waren. Es blieb ihm und dem Publikum fomit vom ganzen Drama nichts weiter übrig als die abjolute Melodie, die unter jo bewandien Umftänden nun aud) auf das Rezitativ übertragen ward. Da die Grundlage deſſelben im Munde bes überjegten deutſchen Sängers nicht mehr die Rede war, fo gelangte das Rezitativ, mit dem er fo nicht wußte was anfangen, für ihn bald zu einem eigenthümlichen Werte: e8 mar nämlich dieß Rezitativ durch das Beitmaaß der Melodie nicht mehr gebunden, und frei von dem peinlihen Takte des Orchefterdirigenten, fand ber Sänger bier eine Gelegenheit, nach Belieben in der Produktion feiner Stimme fih zu ergehen. Das Rezitativ ohne Rede war für ihn ein Chaos zufammenhangslofer Noten, aus denen er num jedes- mal diejenigen herausholen durfte, die feiner Stimmlage fich be— ſonders günftig zeigten; ſolch' ein Ton, ber ſich aller vier bis fünf Noten einmal darbot, ward nun zur Wonne befriebigter Stimmeitelfeit fo lange ausgehalten, biß der Athem ausging, und jeder Sänger liebte es daher fehr, mit einem Rezitativ aufs zutreten, weil dieß ihm die befte Gelegenheit gab, ſich nicht etwa als dramatiſcher Redner, ſondern als Eigenthümer eines guten Stimmkehlkopfes und tüchtiger Lungen auszuweiſen. Deflenungeachtet blieb das Publikum dabei, daß biefer oder jener Sänger ſich ald dramatiſcher Sänger außzeichne: man verftand darunter genau dafjelbe, was man an einem Biolinvir-

Dichtkunſt und Tonfunft im Drama ber Zukunft. 215

tuofen rühınte, wenn er duch Abftufungen und Übergänge den rein muſikaliſchen Vortrag unterhaltend und intereffant zu machen wußte.

Die künſtleriſchen Ergebniffe Hieraus kann man fich leicht vorftellen, wenn man plöglih biefen Sänger die Wortverd- melodie, über bie wir und genau verftändigt haben, zum Vor— trage geben mollte. Sie würden fie um fo weniger vortragen können, als fie fi) bereit3 daran gewöhnt haben, auch in Opern, die auf deutſche Texte fomponirt find, mit dem gleichen Ver— fahren wie bei überjegten Opern durchzufommen; und hierin wurden fie von unjeren modernen deutſchen Opernfomponiften ſelbſt unterftügt. Bon jeher ift die deutſche Sprache von deutfchen Komponiften nad; einer willfürlichen Norm behandelt worden, die fie von ber Sprachbehandlung entnahmen, wie fie fie in den Opern der Nation vorfanden, von der die Oper als fremdes Produft zu und übergefiedelt worden ift. Die abfolute Opernmelodie, mit ihren ganz beftimmten melismifchen unb rhythmiſchen Befonberheiten, wie fie in Stalien im ziemlichen Einklange mit einer willkürlich accentuirbaren Sprache fih auß- - gebildet hatte, war auch deutſchen Opernfomponiften das von Anfang herein Maaßgebende geweien; biefe Melodie war von ihnen nachgeahmt und variirt worden, und ihren Anforderungen hatte ſich die Eigenthümlichkeit unferer Sprache und ihres Xc- centes fügen müffen. on jeher ift von unjeren Komponiſten die deutſche Sprache wie eine überfegte Unterlage für die Me- Iodie behandelt worden, und wer ſich von dem, was ich meine, deutlich überzeugen will, der vergleiche genau z. B. Winter's „Unterbrochenes Opferjeft“. Außer dem gänzlich willkürlich ver- wendeten Sinnfprachaccente, ift jelbft der finnliche Accent der Wurzelſylben dem Melismus zu Liebe oft gänzlich ver- dreht; gewiſſe Wörter von zufammengefegtem, boppeltem Wur- zelaccente find aber geradesweges für unfomponirbar erklärt, oder wenn fie durchaus angewandt werben mußten in einem unferer Sprache ganz fremden, entftellenden Accente mufifalifch wiebergegeben worden. Selbft der fonft jo gemifjen« hafte Weber ift der Melodie zu Liebe gegen die Sprache oft ' noch durchaus rückſichtslos. In neueften Zeiten ift von beut- ſchen Operntomponiften geradesweges ber aus ben Überfegungen herrührende fprachbeleidigende Tonaccent nachgeahmt, und als

216 ö Dper und Drama:

eine Erweiterung des Opernfprachvermögens beibehalten wor- den, fo daß Sänger, denen eine Wortverömelobie, wie wir fie meinen, zum Vortrage gegeben würde, in unferem Sinne zu diefem Vortrage durchaus unfähig gemadjt wären. Das Charakteriftifche diefer Melodie liegt in ber beftimmten Beding- ung ihres mufifalifchen Ausdrudes aus dem Sprachverfe nach feiner ſinnlichen und finnigen Eigenfhaft: nur aus biefen Be- dingungen geftaltete fie ſich fo, wie fie fich mufifalifch kundgiebt, und das ftet3 Gegenmwärtige, von uns Mitempfunbdene diefer Bebingungen ift wiederum die nothwendige Bedingung für ihr Verſtändniß. Diefe Melodie nun, von ihren Bedingungen los— gelöft, wie unfere Sänger fie vom Sprachverſe volllommen los— Töfen würden, bliebe eine unverjtänblihe und eindrudßlofe; könnte fie dennoch nad) ihrem rein mufifalifchen Gehalte wirken, fo wiirde fie wenigftens nie in dem Sinne wirken, wie fie es der dichteriſchen Abſicht nach fol, und dieſes wäre ſelbſt menn jene Melodie an ſich dem Gehöre Gefallen erweden follte eben die Vernichtung ber dramatiſchen Abficht, welche in jene ‚Melodie, wenn fie beziehungsvoll im Orcheſter wiederfehrt, die Bebeutung einer gemahnenden Erinnerung fegt, eine Be- deutung, die ihr nur zu eigen fein fann, wenn fie nicht als ab- folute Melodie, fondern als einem Tundgegebenen beftimmten Sinne entfprechend von uns erfaßt worden ift, und als folche bewahrt werden fann. Ein Drama, in der Worttonfprache, wie wir fie bezeichneten, fundgegeben, würde bon unferen ſprach⸗ loſen Sängern dargeftellt daher nur einen rein muſikaliſchen Eindrud auf den Zuhörer noch machen können, und diefer würde fi, bei dem Wegfall der bezeichneten Bedingungen für das Verftändniß, folgendermaßen herausſtellen. Der fpradjlofe Ger fang müßte uns überall da gleichgiltig und gelangweilt ftimmen, wo wir ih nicht zu der Melodie ſich erheben jehen, die ald ab- folute, in ihrer Kundgebung und durch unfer Empfängnig vom Sprachverje Iosgelöfte, unfer Gehör feſſelte und zur Theilnahme beftimmte. Diefe Melodie, vom Orcheſter als bebeutung3volles dramatifched Motiv der Erinnerung zurüdgerufen, würde und eben nur die Erinnerung an fie, als nadte Melodie, nicht aber an das 'in ihr fundgegebene Motiv erweden, ihre Wiederkehr an einer anderen Stelle des Drama's und alfo vom gegenwär- tigen Momente abziehen, nicht aber ihm uns verftändlichen.

Diätkunft und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 217

Ihrer Vebeutung ledig könnte dieſe Melodie unfer Gehör, durch das unfere innere Empfindung eben nicht angeregt ift, fondern in dem nur der Durft nad) äußerlichem, d. 5. unmotivirt wech— felndem Genuß erweckt wurde, bei ihrer Wieberfehr faft nur ermüden, und Das als beläftigende Armuth in der Kundgebung erſcheinen Iaffen, was in Wahrheit einem reihen Gebanten- gehalte am finnvollften und finnfälligften entipriht. Das Ge- hör, das bei nur mufifalifcher Erregung aber auch eine Befrie- digung im Sinne des ihm gewohnten, enger begrenzten mufi- kalifchen Gefüges fordert, würde burch die große Ausdehnung diefed Gefüges über das ganze Drama vollftändig verwirrt werden; denn dieſe große Ausdehnung auch der mufifalifchen Form Tann nur von dem, fir daß wirkliche Drama geftimmten Gefühle nach ihrer Einheit und Verſtändlichkeit gefaßt werden: dem für dieſes Drama aber nicht geftimmten, fondern im finn- lichen Gehöre einzig haftenden Gefühle würde die große ein- heitliche Form, zu welcher die Meinen, engen, gegenfeitig un- zuſammenhängenden Zormen erweitert wären, ganz und .gar unfenntlich bleiben; und das ganze mufifalifhe Gebäude müßte daher ben Eindrud eines zufammenhangslofen, zerriſſenen, un- überfehbaren Chaos machen, defjen Dafein wir und aus Nichts als der Willfür eines phantaftifchen, in ſich unklaren, unver mögenden Muſikers erklären könnten.

Was uns in diefem Eindrude aber noch mehr beftärken müßte, wäre bie ſcheinbar zerrifjene, zügellofe und wüſt durch⸗ einanbergreifende Kundgebung des Orchefterd, deffen Wirkung , auf den abfoluten Gehörfinn nur dann eine befriedigende fein Tann, wenn fie in feftgeglieberten, melodiös betonten Tanzrhuth- men fich fonfequent äußert.

Das, was dad Orcheſter zunächft nad) feinem befonberen Vermögen auszubrüden hat, ift wie wir fahen die dra= - matiſche Gebärde der Handlung. Beachten wir nur, welchen Einfluß auf die nothwendig erforderliche Gebärde der Umftand haben muß, daß der Sänger ohne Sprache fingt. Der Sänger, der nicht weiß, daß er der Darfteller einer zunächſt ſprachlich außgebrüdten und beftimmten dramatiſchen Perſoönlichkeit ift, demnah auch nicht ben Bufammenhang feiner dramatiſchen Kundgebung mit der der ihn berühtenden Perfönlichkeiten Tennt, fomit felbft nit weiß, was er ausdrückt, ift folglich ganz

218 Oper und Drama:

gewiß aud nicht im Stande, die zum Verſtändniſſe der Hand- fung erforderliche Gebärde dem Auge kundzugeben. Er wird, fobald fein Vortrag der eines ſprachloſen muſikaliſchen Anftru= mentes ift, fi dur) die Gebärbe entweder gar nicht außdrüden, oder fie nur in der Weife gebrauchen, wie ungefähr ber Inftru- mentalvirtuos fich genöthigt fieht, zur Hervorbringung des To— ne3 in verfchiedenen Lagen und in verfchiebenen Momenten bes finnlihen Ausdrudes ſich ihrer als einer phyſiſch ermöglichenden zu bedienen. Dieſe phyſiſch mothwendigen Momente der Ge- bärbe find dem vernünftigen Dichter und Muſiler unwillkürlich gegenwärtig geweſen: er Tennt ihre Erſcheinung im Voraus; er hat fie aber zugleich in Übereinftimmung mit dem Sinne bes dramatifchen Ausdruckes gefegt, und ihnen fomit die Eigenſchaft einer bloß phufiich ermöglichenden Hilfe genommen, indem er eine durch den phyfifchen Organismus, zur Hervorbringung dieſes Toned und dieſes befonderen muſikaliſchen Ausbrudes, bedingte Gebärde genau mit Der Gebärde in Einklang feßte, die zugleich dem ausgebrüdten Sinne in der Kundgebung der dramatiſchen Perfönlichkeit entjprechen fol, und zwar in der Weife,. daß die dramatifche Gebärde, die ihren Grund allerdings auch in einer phyfiſch bedingten haben muß, dieſe phyfifche nach einer höheren, dem bramatifchen Berftändnifie nöthigen Bedeutung rechtferti» gen, fie als rein phufifche ſomit deden und aufheben foll. Dem nad den Regeln der abjoluten Geſangskunſt geſchulten Theater: fänger ift nun eine gemifle Konvention gelehrt worben, nach welcher er auf der Bühne feinen Vortrag dur die Gebärde zu begleiten habe. Dieſe Konvention befteht in nichts Anderem, als in einer, der Tanzpantomime entnommenen, Beranftändi- gung der phyſiſch durch den Gefangsvortrag bedingten Gebärde, die bei ungefchulteren Sängern in groteßfe Übertreibung und Noheit außartet. Dieſe konventionelle Gebärde, die an und für fi) nur dazu wirkt, den abgehenden Sprachſinn der Melodie noch vollfommen zu berbeden, bezieht ſich aber auch nur auf die Stellen de3 Drama’3, wo ber Darſteller wirklich fingt: jobald er damit aufhört, Hält er ſich auch für die Gebärde zu Feiner weiteren Kundgebung verpflichtet. Unfere Opernkomponiſten haben nun die Paufen des Gefanges zu Oxchefterzwifchenfpielen benußt, in denen entweder einzelne Inftrumentiften ihre befon- dere Geſchicklichleit zu zeigen hatten, ober der Komponift felbit

Dichttunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 219

die Aufmerkſamkeit des Publikums auf feine Kunft der Inftru- mentaliweberei zu ziehen ſich vorbehielt. Diefe Zwiſchenſpiele werben von den Sängern, fobald fie nicht mit dankenden Ver— beugungen für erhaltenen Applaus beſchäftigt find, wiederum nach gewiſſen Regeln des theatralifchen Anftandes ausgefüllt: man geht auf die andere Seite des Profceniums, ober fchreitet nad) dem Hintergrunde wie um zu fehen, ob Jemand käme, tritt wieber nad vorn und ſchlägt die Uugen gen Himmel We— niger für anftändig, dennoch aber für erlaubt und durch bie Verlegenheit gerechtfertigt, gilt e8, wenn man fi während fol- her Paufen zu den Mitfpielenden neigt, verbindlich mit ihnen ſich unterhält, die Falten bes Gewandes in Ordnung bringt, ober endlich auch gar Nichts thut, und gebuldig daß Orchefter- ſchickſal über fi ergehen läpt*).

Zu diefem Gebärdenſpiel unferer Opernfänger, dad ihnen durch den Geift und die Form der überfegten Opern, in denen fie faft einzig zu fingen gewöhnt find, geradesweges diltirt ift, halte man num die nothiwendigen Anforderungen des von uns gemeinten Drama’3, und fchließe aus der vollftändigen Nicht erfüllung diefer Anforderungen auf den verwirrenden Eindrud, den das Drchefter auf den Buhörer hervorbringen muß. Das Orcheſter, nach der Wirkſamkeit, die wir ihm verliehen, war in feinem Vermögen des Ausdruckes des Unausfprechlichen nament- lich dazu beftimmt, die dramatijche Gebärde in der Weife zu tragen, zu deuten, ja getviffermaßen erſt zu ermöglichen, daß das Unausfprechliche der Gebärde durch feine Sprache und zum vollen Verſtändniſſe gebracht würde Es nimmt fomit jeben Augenblid den raftlofeften Antheil an der Handlung, deren Motiven und Ausdrud; und feine Kundgebung foll grundfäglic an fich feine vorausbeftimmte Form haben, ſondern feine einigfte Form erft durch feine Bedeutung, durch fein antheilnehmendes Verhalten zum Drama, durch Einswerden mit dem Drama ger winnen. Nun denke man fi) 3. B. eine leidenschaftlich ener- - gifche Gebärde des Darftellers, die ſich plötzlich und mit fchnel- lem Verſchwinden fundgiebt, vom Orcheſter gerade fo begleitet

*) Soll id der Ausnahmen erwähnen, bie gerade dadurch, daß fie ohne Einfluß auf fie blieben, und die Macht ber Regel ger zeigt haben? i

220 Dper and Drama:

und außgebrüct, wie dieſe Gebärde e8 bedarf: bei vollfom- mener Übereinftimmung muß bieß Bufammenmwirken von er- greifender, ficher beftimmenber Wirkung fein. Die bedingende Gebärde fällt auf der Bühne aber nun aus, und wir gewahren den Darfteller in irgend welcher gleichgiltigen Stellung: wird nun der plötzlich außbrechende und heftig verſchwindende Dr- Hefterfturm uns nicht als ein Ausbruch der Verrücktheit des Romponiften erfheinen? Wir fünnen nad Belieben diefe Fälle vertaufendfältigen: von allen benfbaren feien nur ‚folgende angeführt.

Eine Liebende entließ foeben den Geliebten. Sie betritt einen Stanbpunft, von dem aus fie ihm in die Ferne nachbliden ann; ihre Gebärde verräth unwillfürlih, daß der Scheidende noch einmal ſich gegen fie umwendet; fie ſendet ihm einen ſtum⸗ men legten Liebesgruß zu. Dieſen anziehenden Moment be- gleitet und deutet uns das Orchefter in der Weife, daß es den vollen Gefühlsinhalt jenes ftummen Liebesgrußes und durd) die gedenkende Vorführung der Melodie vergegenwärtigt, bie zubor die Darftelerin in dem wirklich gejprochenen Gruße und fund» that, mit welchem fie den Geliebten empfing, ehe fie ihn entließ. Diefe Melodie, wenn fie zuvor von einer ſprachloſen Gänge rin gefungen war, macht bei ihrer Wiederfehr an und für fich nicht den fprechenden, Gedenken erwedenden Eindrud, ben fie jest hervorbringen foll; fie erfcheint uns nur als bie Wieder- holung eines vielleicht lieblichen Thema's, das ber Komponift noch einmal vorführt, weil es ihm felbft gefallen Hat, und er damit zu kolettiren ſich für berechtigt Hält. Faßt die Sängerin dieſes Nachfpiel aber eben nur als ein „Orcheſter-Ritornell auf, führt fie jenes Gebärdenfpiel gar nicht aus, und bleibt fie dafür gleichgiftig im Vorbergrunde ftehen um eben nur den Verlauf eines Ritornell8 abzuwarten, jo giebt e8 für den Bus hörer gar nichts Peinlicheres, als jened Zwiſchenſpiel, das, ohne Sinn und Bedeutung, gerade nur eine Länge iſt, und füglich geſtrichen ſein ſollte.

Ein anderer Fall iſt aber endlich der, wo eine durch das Orcheſter verſtändlichte Gebärde geradesweges von entjcheiben- der Wichtigkeit iſt. Eine Situation hat ſich abgeſchloſſen; Hinderniſſe find beſeitigt, die Stimmung iſt befriedigt. Dem Dichter, der aus dieſer Situation eine ſolgende als nothwendig

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama ber Zukunft. 221

ableiten will, Tiegt aus diefer zu verwirklichenden Abficht daran, , jene Stimmung als in Wahrheit nicht vollkommen befriedigend, jene Hinbernifje ber bisherigen Situation nicht als gänzlich befeitigt empfinden zu lafjen; es fommt ihm darauf an, bie fcheinbare Beruhigung der dramatiſchen Perſonen uns als eine Selbſttäuſchung derſelben erfennen zu laſſen, und deßhalb unfer Gefühl fo zu ftimmen, daß wir eine weitere, veränderte Ent- wickelung ber Situation aus unferer mitſchaffenden Sympathie als nothivendig bedingen, und er führt und zu biefem Zwecke die bedeutungsvolle Gebärbe einer geheimnißvollen Berfon vor, müt welcher diefe, aus deren bis jetzi enthüllten Motiven wir für eine fehließlich befriedigende Löfung in Beſorgniß find, der entf&eidenden Perfon droht. Der Inhalt diefer Drohung ſoll uns als Ahnung erfüllen, und das Orcheſter fol den Charakter diefer Ahnung uns verbeutlihen, und vollftändig kann es das nur, wenn ed fie an eine Erinnerung knüpft; er beftimmt zu diefem wichtigen Momente daher die ſcharf und energiſch bes tonte Wiederholung einer melodiſchen Phrafe, bie wir bereits früher als den mufifalifhen Ausdrud eines, auf die Drohung beziehungsvullen Wortverſes vernommen haben, und die bon der harakteriftifchen Beſchaffenheit ift, daß fie und bad Gedenken an eine frühere Situation deutlich hervorruft, und jept, im Zerein mit der drohenden Gebärde, und zur ergreifenden, und das Gefühl unwillkürlich beftimmenden Ahnung wird. Diefe drohende Gebärde fällt nun aber aus; die Situation Hinter- läßt auf und den Eindrud einer vollfommen befriedigenden, nur das Orcheſter macht ſich gegen alle Erwartung plöglich mit einer mufitalifchen Phrafe breit, deren Sinn wir dem früheren fprach- ofen Sänger nicht haben abgewinnen können, und deren Rund» gebung an diefem Orte wir daher für eine phantaftifhe, rügens- würdige Willkür des Komponiften halten..

Dieß fei genug, um bie demüthigenden weiteren Konſe— quenzen auf bad Verftändniß unfered Drama’ zu ziehen!

Ich habe allerdings bier der gröbften Verſtöße erwähnt; daß fie aber auf Bühnen, die noch vom beften Geiſte befeelt find, dennoch in jeder Opernaufführung vorkommen können, wird ſowohl Niemand in Abrede ftellen, ber daS Weſen dieſer Aufführung vom Standpunkte der dramatifchen Forderung aus beobachtet Hat, als es und einen Begriff von der Künftferijchen

222 Oper und Drama:

Entfittlihung zu geben vermag, die unter unferen Bühnenfän- gern namentlich duch den hervorgehobenen Umftand ein- geriffen ift, daß fie meift nur überfegte Opern fingen. Denn, wie gefagt, bei Jtalienern und Franzoſen findet man Das, was ich hier rügte, micht, oder doch bei Weiten nicht in dem Grabe und bei den Stalienern ſchon deßwegen nicht, weil die Opern, die fie zu fingen Haben, durchaus feine anderen Anforderungen an fie ftellen, als die, denen fie eben in ihrer Weife volllommen. genügen fönnen.

Gerade auf deutfchen Bühnen, alfo in der Sprache, in ber es für jetzt am vollkommenſten zu ermöglichen wäre, würbe das don uns gemeinte Drama nur die höchſte Verwirrung und das gänzlichfte Misverftändnig hervorrufen. Barfteller, denen bie Abſicht des Drama’ in ihrem nächſten Yundamentalorgane der Sprade gar nicht gegenwärtig und fühlbar ift, können dieſe Abficht auch nicht faſſen, und verfuchten fie vom rein muſi⸗ kaliſchen Standpunkte aus mie es zumeiſt gefchieft dieſe Abſicht zu erfaſſen, ſo müßten ſie dieſe nur misverſtehen, und in irrthümlicher Befangenheit gewiß Alles, nur nicht eben dieſe Abficht verwirklichen.

Dem Publifum*) bliebe fomit nur noch die, von ber dramatifchen Abficht losgelöſte, Mufit übrig, und dieſe Mufit

*) Unter dem Bublitum Tann ich nie die Einzelnen verftehen, die vom abftraften Kunftverftändnifje aus ſich mit Erſcheinungen be- ken die auf der Bühne nicht verwirklicht werben. Unter dem

ublitum verftehe ih nur die Gefammtheit der Bufchauer, denen ohne fpezifiih gebilbeten Kunftverftand das vorgeführte Drama zum volftändigen, gänzlich mühelofen Gefühlsverftändnig kommen fol, bie in ihrer Tpeitnahme daher nie auf die Verwendung ber Kunftmittel, fonbern einzig auf den burd fie verwirklichten Gegen- ftand der Kunft, dad Drama, als vorgeführte allverftänblichte Handlung, gelenkt werben follen. Das Publikum, das demnach ohne alle Bunfoerftanbesanftrengung genießen fol, wird in feinen Anfprüchen durchaus beeinträchtigt, wenn die Darftellung aus den angegebenen Gründen die dramatiſche Abficht nicht verwirt- licht, und es ift volllommen in feinem Rechte, wenn es einer folden Darftellung den Rüden wendet. Dem Kunftverftändigen bagegen, ber bie unverwirklichte dramatifhe Abſicht aus dem Tertbude und aus ber kritiichen Deutung ber Mufit wie fie ihm von unferen

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 223

würde genau nur da Eindrud auf die Zuhörer machen können, wo fie ſich von der dramatifchen Abſicht in der Weife zu ent- fernen fehiene, daß fie ganz für fi einen ohrgefälligen Reiz darböte. Won dem fcheinbar unmelodiſchen Gefange der Sänger ab nämlich „unmelodifh* im Sinne der gewohnten, auf den Gefang übergetragenen Snftrumentalmelodie müßte das Publitum fi) nad) Genuß aus dem Orchefterfpiele umfehen, und hier würde es vielleicht von Einem gefeffelt werden, nämlich von dem unwillkürlichen Reize einer ſehr wechfelvollen und mannigfaltigen Inftrumentation.

Um das außerordentlich ermöglihende Sprachorgan des Orcheſters zu ber Höhe zu fteigern, daß es jeden Yugenblid das _ in der dramatifchen Situation Tiegende Unaußfprechliche dem Gefühle deutlich kundgeben könne, hat der von ber bichterifchen Abſicht erfüllte Muſiler wie wir bereitd erklärten nicht etwa fich zu beſchränken, ſondern feine Erfindungsgabe ganz nad) der von ihm empfunbenen Nothwendigkeit eines treffend» ften, beftimmteften Ausdrudes zum Auffinden des mannigfal- tigften Sprachvermögens des Orcheſters zu ſchärfen; fo lange dieſes Spradjvermögen noch nicht zu fo individueller Kund— gebung fähig ift, als feiner die unendliche Mannigfaltigfeit der dramatifchen Motive bedarf, kann das Orchefter, das in feiner einfarbigeren Kundgebung der Individualität diefer Motive nicht zu entjprechen vermag, nur ftörend weil nicht vollfom- men befriedigend mitertünen, und im vollfommenen Drama müßte es daher, wie alles nicht gänzlich Entfprechende, eine ablentende Aufmerffamkeit auf fi) ziehen. Gerade eine ſolche Aufmerkfamfeit fol ihm, unferer Abficht gemäß, aber nicht zu— gewendet werben dürfen; ſondern dadurch; daß es überall auf da8 Entſprechendſte ber feinften Individualität des dra— matiſchen Motives ſich anfchmiegt, fol das Orcheiter alle Auf- merkfamfeit von ſich, ald einem Mittel des Ausdrudes, ab, auf den Gegenitand des Ausdrudes mit unwillkürlichem Zwange hinlenken, fo daß gerade die allerreichſte Or—

Orcheſtern gewöhnlich gut ausgeführt zu Ohren kommt fich, der Darftellung zum Trotze, als verwirklicht zu benfen bemüht, ift eine geiftige Anftrengung zugemuthet, die ihm allen Genuß des Sunft- werfe3 rauben, und Das zur abipannenden Arbeit machen muß, was ihn unmwilltärlic erfreuen und erheben ſollte.

224 Oper und Drama:

Heiterfprache mit dem fünftlerifchen Zwecke ſich kundgeben ſoll, - gewifjermaßen gar nicht beachtet, gar nicht gehört zu werden, nämli) nicht in ihrer meanifchen, fondern nur in ihrer or= ganiſchen Wirkfomfeit, in der fie Eins ift mit dem Drama. Wie müßte es nun diefen dichteriſchen Muſiker demüthigen, wenn er vor feinem Drama dad Publifum mit einziger und be- fonberer Aufmerkfamfeit der Mechanik feines Orcheſters zu= gewandt fähe, und ihm eben nur dad Lob eines „jehr gefchicten Inſtrumentiſten“ ertheilt würde? Wie müßte e8 ihm, dem einzig aus der dramatifchen Abſicht Geftaltenden, zu Muthe fein, wenn Kunftlitteraten über fein Drama berichteten, fie hätten ein Text- buch gelefen, und dazu Flöten, Geigen und Trompeten wunder- lich durcheinander mufigiren gehört? Könnte dieſes Drama unter den bezeichneten Umftänden aber eine andere Wirkung hervorbringen?

Und do! Sollen wir aufpören, Künftler zu fein? Ober follen wir und der nothwendigen Einficht in die Natur ber Dinge begeben, bloß weil wir einen Wortheil daraus ziehen Tonnen? Wäre es aber Fein Vortheil, nicht nur Künftler, fondern auh Mann zu fein, und follte eine fünftliche Uns mwifjenheit, ein weibifche3 von und Abweiſen der Erkenntniß ung mehr Zortheil bringen, als ein kräſtiges Bewußtſein, daS ung, wenn wir alle Seibſtſucht bei Seite ſetzen, Heiterkeit, Hoff» nung, und vor Allem Muth zu Thaten giebt, die uns erfreuen müffen, wenn fie auch noch fo wenig von äußerem Erfolge ge- krönt find?

Gewiß! Nur die Erkenntniß kann uns ſchon jegt beglüden, während die Unfenntniß und in einem hypochondriſchen, freud⸗ Iofen, gefpaltenen, faum wollenden, nirgends aber fönnenden Aterkunftichaffen erhält, durch das wir nad) Innen unbefriebigt, nad Außen ohne befriedigende Wirkung bleiben.

Blickt um Euch, und feht, wo Ihr lebt, und für wen Ihr Kunſt ſchafft! Das uns die fünftlerifchen Geuoſſen zur Dar: ftellung eines dramatifchen Kunſtwerkes unvorhanden find, müffen wir erfennen, wenn wir irgend durch den fünftlerifhen Willen geihärfte Augen haben. Wie würden wir und nun irren, wenn

Dichttunſt und Tontunft im Drama ber Zukunft, 225

wir dieſe Erſcheinung bloß aus einer, von ihnen felbft verfchul- deten Entſittlichung unſerer Opernſänger erllären wollten; wie wüurden mir und nun täufchen, wenn wir dieſe Erſcheinung für eine zufällige, nicht aber aus einem weiten, allgemeinen ‚Bufam- menhange bedingte anfehen zu müfjen glaubten! Seßen wir

. den Fall, uns würde irgendwie daß Vermögen, auf Darfteller und. auf eine Darftellung vom Standpunkte der künſtleriſchen Intelligenz aus fo einzuwirken, daß einer höchſten dramatiſchen Abficht in diefer Darftellung volllommen entjprohen würde, fo müßten wir dann erſt recht lebhaft inne werben, daß uns ber eigentliche Ermöglicher des Kunſtwerkes, dad nach ihm bebürftige und aus feinem Bebürfnifje ed allmächtig mitgejtaltende Pur blitum, abginge. . Das Publifum unferer Theater Hat kein Be⸗ dürfniß nad) dem Kunſtwerke; e3 will fi vor der Bühne zer= ftreuen, nicht aber fammeln; und dem Berftreuungsfüchtigen find künſtliche Einzelnheiten, nicht aber die fünftlerifche Ein- heit Bebürfnif. Wo wir ein Ganzes gäben, würde das Pu— blitum mit unwillkürlicher Gewalt dieſes Ganze in zufammen- hangsloſe Theile zerfegen, oder im allerglüdlichiten Falle würde es Etwas verjtehen muͤſſen, was es nicht verjtehen will, weß— halb es mit vollem Bewußtſein einer ſolchen künſtleriſchen Ab⸗ ſicht den Rücken wendet. Aus dieſem Erfolge würden wir den Beweis dafür erhalten, warum auch eine ſolche Darſtellung jetzt gar nicht zu ermöglichen iſt, und warum unſere Opern» fänger gerade Das fein müſſen, was fie jetzt find und gar nicht anders fein können.

Um uns nun biefe Stellung des Publilums zur Darſtellung zu erflären, müfen wir nothwendig zur Beurtheilung dieſes Vublikums felbft fchreiten. Wir fönnen im Hinblide auf frühere ‚Zeiten unferer Theatergejchichte mit Recht dieſes Publitum als im wachfenden Verfalle begriffen uns vorftellen. Das Vorzüge liche und befonber Seine, was bereit3 in unferer Kunſt ges Ieiftet worben iſt, dürfen wir nicht als aus ber Luft gelommen betradten; fonbern wir müffen finden, daß es ſehr wohl mit aus dem Geſchmacke Derjenigen angeregt war, denen es vor geführt werben follte. Wir finden diefes feinfüglende, gefhmad- volle Publikum in feiner lebhafteſten und beſtimmendſten Theil⸗ nahme am Kunſtſchaffen in der Periode der Renaiſſance uns entgegentreten. Hier jehen wir die Fürſten und den Adel die

Rigard Wagner, Ge. Sqhriſten IV.

226 Oper und Drama:

Kunft nicht allein beſchützen, fondern für ihre feinften und Fühnften Geftaltungen in ber Weiſe begeiftert, daß diefe aus ihrem be- geifterten Bedürfniſſe geradesweges als Herborgerufen zu be— tradhten find. Dieſer Abel, in feiner Stellung als Abel nirgends angefochten, Nichts wiffend von der Plage bes Knechteslebens, daB feine Stellung ihm ermöglichte, dem induftriellen Erwerbs⸗ geift des bürgerlichen Lebens fich gänzlich fernhaltend, Heiter in feinen Paläften und muthig auf den Schlachtfeldern dahinlebend, Hatte Auge und Ohr zur Wahrnehmung des Anmuthigen, Schönen, und ſelbſt Charakteriftifchen, Energifhen geübt; und auf fein Ge heiß entftanden die Werke der Kunft, die und jene Beit als Die glüdlichfte Kunftperiode feit dem Untergange der griechifchen Kunft bezeichnen. Die unendliche Anmuth und Feinheit in Mo- zart's Tonbildungen, die dem grotesk gewöhnten heutigen Pu— bfifum matt und langweilig vorfommen, ward von den Nad- tommen dieſes Adels genofjen, und zu Kaiſer Joſeph flüchtete fich Mozart vor der feiltänzerifchen Unverjhämtheit der Sänger feines „Figaro“; den jungen franzöfiichen Kavalieren, die duch ihren begeifterten Applaus der Adill-Arie in der Glud’schen „Iphigenia in Aulis“ die bis dahin ſchwankende Aufnahme des Werke als eine günftige entſchieden, wollen wir nicht zürnen, und am allerwenigften wollen wir vergefien, daß, während die großen Höfe Europa’3 zu politifhen Heerlagern intriganter Diplomaten geworden waren, in Weimar eine deutjche Fürften- familie ſorgſam und entzücdt den Tühnften und anmuthigften Dichtern der deutſchen Nation lauſchte.

Der Beherricher des öffentlichen Kunſtgeſchmackes ift nun aber Derjenige geworden, der bie Künftler jept fo bezahlt, wie der Adel fie fonft belohnt hatte; ber für fein Geld ſich das Kunſtwerk beftellt, und die Wariation des von ihm beliebten Thema’ einzig als das Neue Haben will, durchaus aber fein neues Thema feloft, und diefer Beherrfcher und Befteller ift ber Philiſter. Wie diefer Philiſter die Herzlofeite und feigfte Geburt unferer Eivilifation ift, fo ift er der eigenwilligfte, grau—⸗ famfte und ſchmutzigſte Kunftbrotgeber. Wohl it ihm Alles recht, nur verbietet er Alles, was ihn.daran erinnern könnte, daß er Menfc fein folle, ſowohl nach der Seite der Schönheit, als nad der des Muthes Hin: er will feig und gemein fein, und diefem Willen hat ſich die Kunft zu fügen, fonft, wie gefagt,

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Bufunft. 227

ift ihm Alles vecht. Wenden wir und eilig von feinem An— blide ab!

Wollen wir mit diefer Welt Verträge fließen? Nein! Denn auch die bemüthigenditen Verträge würden uns als Aus— geſchloſſene Hinftellen. J

Hoffnung, Glauben und Muth können wir nur ſchöpfen, wenn wir auch den modernen Staatöphilifter nicht als ein be— dingendes allein, fondern ebenfall® als ein bebingtes Moment unferer Civilifation erfennen, und nad) den Bedingungen auch diefer Erfcheinung in einem Bufammenhange forjchen, wie wir es mit Bezug auf die Kunft Hier gethan haben. Nicht eher ges winnen wir Glauben und Muth, als bis wir im Hinhorchen auf den Herzſchlag der Gefchichte jene ewig Iebendige Duellader riefeln hören, bie, verborgen unter dem Schutte ber Hiftorifchen Civilifation, in urfprünglichfter Friſche unverfiegbar dahinfließt. Wer fühlte jegt nicht die furchtbar bleiche Schwüle in den Lüften, die den Ausbruch eine Erdbebens vorausverfündigt? Die wir das Riefein jener Duellader hören, follen wir und vor dem Erd⸗ beben fürchten? Wahrlich nicht! Denn wir wiffen, es wirb nur den Schutt außeinanderreißen, und dem Duelle das Strombett bereiten, indem wir feine lebendigen Wellen auch fließen ſehen werden.

Wo nun der Staatémann verzweifelt, ber Politiler die Hände ſinken läßt, der Sozialiſt mit fruchtloſen Syſtemen ſich plagt, ja ſelbſt der Philoſoph nur noch deuten, nicht aber vor— ausverkünden kann, weil Alles, was uns bevorſteht, nur in unwilllürlichen Erſcheinungen ſich zeigen kann, deren ſinnliche Kundgebung Niemand ſich vorzuführen vermag, da iſt es der Künſtler, der mit klarem Auge Geftalten erſehen kann, wie fie der Sehnſucht ſich zeigen, die nad; dem einzig Wahren dem Menfhen verlangt. Der Künftler vermag ed, eine noch ungeftaltete Welt im Voraus gejtaltet zu fehen, eine noch unge worbene auß der Kraft ſeines Werbeverlangens im Voraus zu genießen. Aber fein Genuß ift Mittheilung, und wendet er fi ab von den finnfofen Heerden, die auf dem graslofen Schutte meiden, und fchließt er um fo inniger die feligen Einfamen an die Bruſt, die mit ihm ber Quellader lauſchen, fo findet er

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. 228 Oper und Drama:

aud die Herzen, ja die Sinne, denen er ſich mittheilen kann. . Wir find Ültere und Jüngere: denke der Ältere nicht an ſich, fondern Tiebe er ben Jüngeren um bed Vermächtniſſes willen, das er in fein Herz zu neuer Nahrung ſenkt, es fommt ber Tag, an dem einft diefes Vermächtniß zum Heile ber menſch- lichen Brüder aller Welt eröffnet wird! _

Wir fahen den Dichter im fehnfüchtigen Drange nad) dem. vollendeten Gefühlsausdrucke da anlangen, wo er jeinen Vers . auf dem Spiegel des Meeres der Harmonie als mufitalifche Me- lodie abgefpiegelt fah: 6i8 zu dieſem Meere mußte er dringen, nur der Spiegel dieſes Meeres konnte ihm das erfehnte Bild "zeigen, und dieſes Meer konnte er nicht aus feinem Willen er⸗ ſchaffen, fonbdern e8 war das Andere’ feines Weſen, Bas, mit dem er fi vermähfen mußte, das er aber nicht aus ſich beftim- men und in das Daſein rufen fonnte. So fann der Künftler nicht das ihm nothwendige, ihn erlöfende Leben der Zukunft aus feinem Willen bejtimmen und in das Dafein rufen; es ift das Andere, ihm Entgegengefeßte, nad) dem er fich jehnt, dahin es ihn drängt, was, wenn es ſich ihm von einem entgegenftehenden Pole Her ſelbſt zuführt, erft für ihn vorhanden ift, feine Erſchei—⸗ nung in fih aufnimmt und. ihm erfenntlich wieder zufpiegelt. Das Leben de3 Meeres der Zukunft kann aber diefes Spiegel- bild wieberum nicht auß fid) erzeugen: es ift ein Mutterelement, das das Empfangene nur gebären Tann. Diejen befruchtenden Samen, der einzig in ihm gedeihen kann, führt ihm nun der Dichter, d. i. der Künftler der Gegenwart, zu: es ift dieſer Samen der Inbegriff alles feinften Lebensfaftes, den die Vergangenheit in ihm fammelte, um als nothwendigen befruchtenden Keim ihn der Zukunft zuzuführen, denn dieſe Zufunft ift nit an— ders denkbar, als aus der Vergangenheit bedingt. Die Melodie nun, die endlich auf dem Wafferfpiegel des Har- monifchen Meere der Zukunft ſich abfpiegelt, ift das heilfehende Auge, mit dem dieſes Leben aus der Tiefe feines Meergrundes nad) dem Heiteren Sonnenlichte Heraufblict: ‚der Vers, deſſen Spiegelbild fie nur ift, ift aber das eigenfte Gedicht des Künſtlers * der Gegenwart, dad er nur aus feinem befonderften Vermögen,

Dichtkunſt und Tonkunft im Drama der Zukunft. 229

aus ber Fülle feiner Sehnfucht erzeugte; und fo, wie diefer Vers, wird daß ahnungsvoll bedingende Kunſtwerk des ſehnſüchtigen Künſtlers der Gegenwart fi mit dem Meere bes Lebens der Bufunft vermählen. In diefem Leben der Zukunft wird die Kunſtwerk Bas fein, mas es heute nur erfehnt, noch nicht aber wirklich fein Tann: jenes Leben der Zukunft, wird aber ganz Das, was es fein kann, nur dadurch fein, daß es dieſes Kunſtwerk in feinen Schooß aufs nimmt,

Der Erzeuger des Kunſtwerkes der Zukunft ift Niemand Anderes als der Künftler der Gegenwart, ber das Leben der Zukunft ahnt, und in ihm enthalten zu fein fi fehnt. Wer diefe Sehnfuht aus feinem eigenften Vermögen in ſich nährt, der lebt ſchon jept in einem befferen Leben; nur Einer aber fann dieß: .

der Künftler. '

Eine Mittheilung an meine Freunde. (1851.)

Die Veranlaſſung zu biefer ausführlichen Mittheifung” ent« fprang mir daraus, daß ich die Nothiwenbigfeit fühlte, mich über den jcheinbaren oder wirklichen Widerſpruch zu erklären, in wel- Gem bie dichterifche Eigenfchaft und künſileriſche Geftaltung meiner biöherigen Opern-Dichtungen und der aus ihnen ent- ftandenen mufifalifhen Kompofitionen, mit ben Anfichten und

. Behauptungen ftehen, die ich kürzlich ausführlicher niederichrieb und unter dem Titel „Oper und Drama“ ber Öffentlichkeit vorlegte.

Diefe Erflärung beabfichtige ich in diefer Mittheilung an meine Freunde zu richten, weil ich nur von Denen verftanden*) zu werben Hoffen kann, welche Neigung und Bedürfniß fühlen mich zu verftehen, und dieß können eben nur meine Freunde fein.

Zür folche kann ich aber nicht Die halten, welche vorgeben

*) Ich erkläre ein- für allemal, daß, wenn ih im Verlaufe biejer Mittheilung von „mich verflehen“ oder „mich nicht verftehen” ſpreche, dieß nie in dem Sinne geſchieht, als meinte ich etwa zu er- haben, zu tiefiinnig ober zu Hochgegeben zu fein; fondern ich ftelle an Den, ber mich verftehen fol, einzig bie Forderung, daß er mid fo und nicht anders jehe, wie ich wirflih bin, und in meinen fünft- leriſchen Mittheilungen, genau eben nur Das als wejentlid ertenne, - was meiner Mit und meinem Darftellungsvermögen gemäß in ihnen von mir Fundgegeben wurde.

Eine Mittheilung an meine Freunde. 231

mid ald Künſtler zu lieben, ald Menfch*) jedoch mir ihre Sympathie verfagen zu müfjen glauben. it die Abfonderung des Künftlerd vom Menfhen eine ebenſo gebanfenlofe, wie die Scheidung der Seele vom Leibe, und fteht es feft, daß nie ein Künftler geliebt, nie feine Kunſt begriffen werden fonnte, ohne daß er, mindeſtens unbewußt und unwillkürlich aud) ald Menjc geliebt, und mit feiner Kunft auch fein Leben verftanden wurde, fo fann weniger als je gerade gegenwärtig, und bei der heilfofen Misbeſchaffenheit unſerer öffentlichen Kunftzuftände, ein Künftler meine Strebens geliebt und feine Kunft fomit verftanden werben, wenn dieſes Verſtändniß unb jene ermög- lichende Liebe nicht vor Allem auch in der Sympathie, d. 5. dem Mitleiden und Mitfühlen mit feinem allermenſchlichſten Leben begrünbet ift.

Am allerwenigiten können jedoch Die mir ald Freunde gelten, die, von den Eindrüden einer unvollkommenen Kenntniß meiner künſtleriſchen Seiftungen beftimmt, das Schwanfende und Unfichere dieſes ihres Verftändniffes auf den künſtleriſchen Gegen- ftand felbft übertragen, und einem eigenthümlien Charakter bes» jelben Das beimefjen, was feinen Grund nur in ihrer eigenen Verwirrung findet. Die Stellung, in der dieſe dem Künſtler gegenüber treten und mit mühevollftem Aufwande von Klugheit fi zu behaupten fuchen, nennen fie die einer unparteiiichen Mritil, und unter allen Umftänden geben fie vor, die eigent- lichen „wahren Freunde“ des Künſtlers zu fein, deſſen wirkliche Feinde Die wären, die ſich ihm mit voller Sympathie zur Seite ſtellen. Unſere Sprache iſt ſo reich an Bezeichnungen, daß wir, bei verlorengegangenem Gefühlsverſtändniſſe derſelben, nad, Willkür fie verwenden zu können und zwiſchen ihnen Unter ſcheidungen feitftellen zu dürfen glauben. So verwendet und unterſcheidet man auch „Liebe* und „Freundſchaft“. Mir ift es bei erwachſenem Bewußtſein nicht mehr möglich geblieben, eine Freundſchaft ohne Liebe zu denen, geſchweige denn zu em— pfinden; noch ſchwieriger fällt e8 mir einzufehen, wie moberne

*) Gie verfiehen übrigens unter „Menih genau genommen nur a ra —— in meinem bejonberen alle vielleicht aber Fir der ſeine eigenen Anſichten hat, und dieſen rüucſichtslos nachgeht.

232 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Kunftkeitit und Freundſchaft für ben kritiſirten Künftler gleich" bebeutend fein Tönnten.

Der Künftler wendet fih an das Gefühl, und nit an den Berftand: wird ihm mit dem Verſtande geantwortet, fo wirb hiermit gefagt, daß er eben nicht veritanden worden ift, und unfere Kritik ift in Wahrheit nicht? Anderes als das Geftändniß de3 Unverftändnifjes des Kunſtwerkes, daß nur mit dem Gefühle verftanden werden kann allerdings mit dem gebildeten und dabei nicht verbilbeten Gefühle. Wen es nun treibt, Beugniß von feinem Unverftändnifle des Kunſtwerkes abzulegen, der follte vernünftiger Weife nur Eines zu erforfchen fi vornehmen, näms lich die Gründe, warum er ohne Verftänbniß blieb. Hierbei würbe er allerdings zulegt auch bei der Eigenichaft des Kunft- werkes felbft anfonımen, jeboch erſt wenn er Aufklärung über das Nächite gewonnen hätte, nämlich über die Bejchaffenheit der finnlihen Erſcheinung, in welder ſich das Kunſtwerk an fein Gefühl wandte. Vermochte biefe Erſcheinung nicht fein Gefühl zu erregen oder zu befriedigen, fo müßte er vor allem ſich die Einfiht in eine offenbare Unvollfommenheit des Kunſtwerkes zu verfchaffen fuchen, und zwar in die Gründe einer geftörten Har- monie zwifchen der Abficht des Künſtlers uud der Befchaffenheit der Mittel, duch die er diefe Abficht eben dem Gefühle mit- theilen wollte. Nur Zweies könnte dann feiner Erforſchung ſich darbieten, nämlich: ob die Mittel der Darftellung an die Sinne der fünftlerifchen Abficht entjprechend waren, oder ob dieſe Ab⸗ ficht felbft in Wahrheit eine künſtleriſche war? Wir fprechen hier nicht von dem Werke der bildenden Kunſt, in welchem die Dar- ftellung als technifche Arbeit die wejenhafte Schöpfung des Künft- lers feldft ift; fondern vom Drama, deſſen finnliche Erſcheinung von der Technik des Dichterd nur bedingt, nicht aber mie vom bifdenden Künftler verwirklicht wird, und diefe Ver: wirklichung erft durch eine eigenthünliche befondere Kunſt, die dramatische Darftellung3kunft, gewinnt. Iſt nun durch bie finn- liche Erſcheinung, die hier das Werk der dramatiſchen Daritel- lungskunſt ift, nicht auf das Gefühl des kritifchen Freundes fiher und beftimmend gewirkt worden, fo müßte · er vor allen Dingen einfehen, daß bie Daritellung jedenfalls eine ungenügende war; benn das Wefen jeder finnfichen Darftellung beiteht eben * darin, daß fie fiher und beftimmend auf das Gefühl zu wirken

Eine Mittheilung an meine Freunde. 233

hat. Das Unentſprechende der Mittel erfennend, bliebe ihm fo- mit nur · übrig zu erforfchen, worauf fi) das Misverhältniß zwiſchen Abficht und Mittel gründe: ob die Abſicht von der Be- ſchaffenheit fei, daß fie. entweder der Verwirklichung unwerth, oder zur Verwirklichung durch künſtleriſche Mittel überhaupt un- geeignet fei, oder ob dad Misverhältniß einfach in der Un— befchaffenheit der Mittel beruhe, die zu einer beftimmten Zeit, an einem beftimmten Orte und unter beftimmten äußerlich ge- gebenen Umftänden, fi eben als unzureichend zur Verwirk-, liung der beftimmten künſtleriſchen Abſicht herausſtellten. Hier gälte es alfo mit voller Beftimmtheit eine künſtleriſche Abſicht zu verftehen, die nur fo weit verwirfficht ift, als es fich den be= ſchränkten Mitteln ber Technik des bramatifchen Dichter er- Taubt. Wber gerade auch dieſes Verftändnig kann, der Natur jeder künſtleriſchen Abficht nach, nicht mit dem reinen Ver— ftande, fondern nur mit dem Gefühle gefaßt werden, und zwar mit einem mehr ober weniger fünftlerifch gebildeten Gefühle, wie es nur Denen zu eigen fein kann, die fid) mit dem Künftler in mehr ober weniger gleicher Lage befinden, unter Lebensbe— Dingungen, die den feinen ähnlich find, ſich entwideln, und vom Grumbe des Weſens und Herzens aus fo mit ihm ſympathiſiren, daß fie jene Abficht unter gewiſſen Umftänden als ihre eigene aufzunehmen im Stande fird, und an dem Streben nad) ihrer Verwirklichung einen notwendigen innigen Antheil ‚zu nehmen vermögen.

s Dieß können offenbar nur die wirklich liebenden Freunde des Künſtlers fein, nicht aber der abſichtlich fern von ihm ſich ab ftellende Kritifer. Blickt der abfolute Kritiker von feinem Standpunkte aus auf ben Künftler, fo fieht er geradesweges gar nichts; denn ſelbſt Das, was er einzig zu fehen vermag, fein eigenes Bild im Spiegel feiner Eitelfeit, ift vernünftig betrachtet Nichts. Die Unvollkommenheit der Erſcheinung des Kunſtwerkes gewahrt er zunächft nicht da, wo fie wirklich begründet liegt; er gewahrt fie höchſtens nur an dem empfun- denen unvollfommenen Eindrude, und fucht diefen nun aus der Beſchaffenheit der künſtleriſchen Abficht felbft zu rechtfertigen, die er eben nicht zu begreifen im Stande war. In biefem Ver- fahren hat er fich bereit fo geübt, daß er gar nicht einmal mehr auf ben Verſuch ausgeht, fich durch die finnliche Erfcheinung des

234 Eine Mittheilung an meine Freunde,

Kunſtwerkes beftimmen zu laſſen, fondern er glaubt fi, bei feiner Geibtheit im Sache, mit dem gebrudten oder geſchriebenen ‚Hefte, in welchem der Dichter oder Mufifer jo weit fein tech- niſches Vermögen ihm dieß geftattete feine Abficht als ſolche kundthat, begnügen zu dürfen, und trägt feine unbemußter Weiſe im Voraus empfundene Unbefriedigung auf diefe Ab- ficht infofern über, al er in diefer an fidh fie begründet wiſſen mil. Iſt diefe Stellung die alerunfähigfte für das Verftändnig des Kunftwerkes überhaupt und namentlich in der Gegenwart, fo ift fie es doch einzig, welche der heutigen Kunſtkritik ihr un⸗ endlich papierenes Leben ermöglicht. Aber felbft mit diefer meiner leider ebenfalls papierenen Mittheilung wende ich mich nicht an fie, die in jener Stellung fich felig und ſtolz fühlen: ich weife jebes Beichen ihrer kritiſchen Freundſchaft für mich zurüd; denn was ich ihnen ſelbſt über mich und meine fünft- leriſchen Leiftungen fagen könnte, würden fie nicht verſtehen dürfen, und zwar aus dem Grunde, weil fie Alles auf der Welt ſchon wiffen zu müſſen glauben.

Habe ih mich fo darüber erflärt, an wen ich mich nicht wende, fo Habe ich ganz von felbft Diejenigen bezeichnet, an die ich mich mittheile. Es find dieß Die, die mit mir als Künftler und Menſch ſoweit fympathifiren, daß fie meine Abfichten zu verftehen vermögen, welche ich ihnen eben nicht in volllommen entſprechender Verwirklichung durd). die. finnlihe Erſcheinung vorführen Tann, weil bie Bedingungen dafür im öffentlichen Runftleben der Gegenwart fehlen, und über welche ich mich da— her nur Denjenigen verſtändlichen Tann, die mit mir gleich fühlen und empfinden, kurz: an meine Freunde, bie mid lieben.

Nur diefe Freunde aber, die vor Allem für den Künftler auch als Menfchen Theilnahme empfinden, find fähig ihn zu verftehen, und zwar nicht nur in der Gegenwart, melde bie Verwirklichung der edelſten bichterifchen Ubfichten vermehrt, fon- dern überhaupt und in allen Fällen. Das abfolute Kunits werk, das ijt: das Kunftwerf, das weber an Ort und Zeit gebunden, noch von bejtimmten Menjchen unter beftimmten Um— ftänden an wiederum beftimmte Menſchen bargeftellt und von diefen verftauden werben foll, ift ein vollftänbiges Unding, ein Schattenbild äfthetiicher Gedankenphantafie. Won der Wirk lichleit der Kunſtwerke verſchiedener Beiten hat man den Begriff

Eine Mittheitung an meine Freunde. 235

der Kunft abgezogen: um dieſem Begriffe eine wieder gedachte Reolität zu geben, da man ohnedem ihn fich ſelbſt in Gedanken nicht faßlich vorftellen Tonnte, Hat man ihn mit einem eingebil- deten Körper bekleidet, der als abfolutes Kunſtwerk, eingeltan- dener ober nicht eingeftandener Maaßen, das Spufgebilb im Hirne unferer äfthetijchen Kritiker ausmacht. Wie diefer ein- gebildete Körper alle Merkmale feiner gedachten ſinnlichen Er— ſcheinung mur den wirklichen Eigenfchaften der Kunſtwerke der Vergangenheit entnimmt, fo ift ber’ äfthetifche Glaube an ihn auch ein wefentlich Zonfervativer, und "die Bethätigung dieſes Glaubens daher an fi die vollſtändigſte künſtleriſche Unfrucht⸗ barfeit. Nur in einer wahrhaft unkünſtleriſchen Zeit konnte der Glaube an jened Kunftiverk in den Köpfen natürlich nicht in den Herzen der Menfchen entftehen. Die Vorftellung von ihm gewahren wir in der. Öefchichte zuerft zur Zeit der Aleran- driner, nach dem Erfterben der griechiſchen Kunſt; zu dem dog⸗ matifchen Charakter, den dieſe Vorftellung aber in umferer Beit angenommen hat, zu ber Strenge, Hartnädigfeit und vers folgungsfüchtigen Graufamfeit, mit der fie in unferer öffentlichen Kunſtkritik auftritt, Tonnte fie jedoch nur erwachſen, als ihr gegen- über aus dem Leben felbft wieder neue Keime des wirklichen Kunſtwerkes entiproßten, deren Eigenfchaft jeder geſund fühlende Menſch, ganz erklärlich nur nicht gerade unfere, einzig vom Alten, Audgelebten lebende Kunſtkritik erkennen fonnte. Daß die neuen Keime, namentlich aud) der Kritik gegenüber, noch nicht zur voll- ftändigen Entfaltung als Blüthe gelangen können, ift es, was ihrer fpefulativen Thätigfeit immer neue ſcheinbare Berechtigung zuführt; denn unter anderen Abftraftionen von den Kunſtwerken der Vergangenheit, hat fie fi) auch den Begriff von ber, dem Kunſtwerke nöthigen, Wirklichkeit feiner finnlihen Erfheinung abgezogen: fie gewahrt nun diefe Bedingung, mit deren Er— füllung fie allerdings vollftändig aufhören müßte zu exiſtiren, an den Keimen einer neuen lebenvollen Kunſt noch nicht erfüllt, und fpricht ihnen eben deßwegen wieberum die Berechtigung zum Zeven, genau genommen alfo die Berechtigung des Triebe, zur Blũthe der finnlichen Exfcheinungen zu gelangen, ab. Hierdurch ge- räth die äfthetifche Wiſſenſchaft in eine wahrhaft kunftmörderifche, bis zur dogmatifchen Grauſamkeit fanatifirte Thätigfeit, indem fie dem Eonfervativen Wahngebilde eines abjoluten Kunſtwerkes,

236 Eine Mitteilung an meine Freunde,

das fie aus dem einfachen Grunde nie verwirklicht fehen kann, weil feine Verwirklichung bereit8 in der Gefchichte Längft Hinter uns Tiegt, die Wirklichfeit der natürlichen Anlagen zu neuen Runftwerfen mit reaktionärem Eifer aufgeopfert wiſſen will.

j . Das, was jene Anlagen einzig zur Erfüllung, jene Keime einzig

zur Blüthe bringen Tann, Das alfo, was das äfthetiiche Wahn- gebilde des abjoluten Kunſtwerkes ein- für allemal über den Haufen werfen muß, iſt ber Gewinn ber Bedingungen für die vollkommen entiprechende finnliche Erſcheinung des Kunft- werke aus und vor dem wirklichen Leben. Das abfolute, d. i. unbebingte Kunftwerf, ift, als ein nur gebachtes, natürlich weder an Zeit und Ort, noch an beftimmte Umftände gebunden: es kann 3. ®. vor zweitauſend Jahren für die athenifche Demokratie " gebichtet, worben fein, und heute vor dem preußifchen Hofe in Potsdam aufgeführt werden; in ber Vorftellung unferer Hithe- tifer muß es ganz denſelben Werth, ganz diejelben weienhaften Eigenfchaften haben, gleichviel ob Hier oder dort, heute oder da⸗ mals: im @egentheile bildet man fi wohl gar noch ein, daß &, wie gewifle Weinforten, durch Ablagerung gewinne, und erft heute und Bier fo recht und ganz verftanden werben könne, weil man ja aud) z. B. ſelbſt das demokratiſche Publitum Athen's fi mit hinzudenken, und an der Kritik dieſes gedachten Publi- tuins, ſowie des bei ihm vorauszuſetzenden Eindruckes vom Kunft- werke, einen unendlich vermehrten Duell der Erkenntniß gewin⸗ nen könne*). So erhebend nun dieß Alles für den modernen Menfchengeift fein mag, fo ſchlimm fteht es dabei nur um bie Eigenfhaft eines Kunftgenufies, der natürlich gar nicht vorhan- den fein fann, weil ein ſolcher Genuß nur durch das Gefühl, nicht aber durch den Ungegenmwärtiges kombinirenden Verſtand

*) So wiffen auch jet unfere litterariſchen Müffiggäuger fih unb ihrem äfthetifch-politiich faullenzenden Leſepublikum teine er- quidlihere Unterhaltung zu vericaffen, als nochmais und immer wieder an Shalefpeare herumzuichreiben. Sie begreifen aller- dingd nicht, daß ber Shakeſpeare, ben fie mit ihren ſchwammig - kritiſchen Saugorgauen auszullen, Teinen Pfifferling werth ift, und Hödften® als da® Papier zur Uusftellung ihres Wemuthözeugnifies "taugt, ba fie mit fo Übertliehender Bonne fi felbft_ geben. Der Shateipeare, ber uns einzig eiwas werth fein Tann, if ber immer neu ſchaffende Dichter, der zu jeder Zeit Das iſt, was Shakeſpeare zu feiner Zeit war. _

j Eine MittHeilumg an meine Freunde. 237 zu gewinnen iſt. Soll daher, dieſem unerquicklichen kritiſchen

Kunſtgedankengenuſſe gegenüber, es zu einem wirklichen Genuſſe

fommen, unb ift. diefer, der Natur der Kunft gemäß, nur durch das Gefühl zu ermöglichen, fo bleibt wohl nichts übrig, als fi an das Kunſtwerk zu wenden, welches feiner Eigenfchaft nach dem von uns gedachten, monumentalen Kunſtwerke gerade fo entgegenfteht, wie ber lebendige Menſch der marmornen Statue. Dieſe Eigenſchaft des Kunftwerfes befteht aber darin, daß es

nach Ort, Zeit und Umſtänden auf das Schärfſte beſtimmt fi

kundgiebt; daß es daher in feiner lebendigften Wirkungsfähig-⸗ keit gar nicht zur Erſcheinung kommen kann, wenn es nicht an einem beſtimmten Orte, zu einer beſtimmten Zeit und unter be ftimmten Umftänden zur Erſcheinung kommt; daß es demnach jede Spur des Monumentalen' von fih abftreift.

Die Erkenntniß der Nothwendigkeit diefer Eigenſchaft wird ung getrübt, und die auf diefe Erfenntniß begründete Forde— zung für das wirkliche Kunſtwerk bleibt fomit von und ungeftellt, wenn wir nicht vor allem- zum richtigen Berjtändniffe Deſſen gelangen, was wir unter dem Univerfal-Menſchlichen zu fallen haben. So lange wir nicht dazu fommen zu erfennen, und nach jeder -Seite Hin finnfällig zu bethätigen, daß das Wefen der menſchlichen Gattung eben in der menſchlichen Individualität befteht, und dagegen, wie ed biöher in Religion und Staat der Fall war, das Weſen der Individualität in bie- Gattung jeßen, folgerichtig es diefer aufopfern, fo lange werben wir auch nicht begreifen, daß das ftet3 voll und ganz Gegenwärtige ein- für allemal das ganz oder theilweiſe Ungegeniwärtige, da8 Mo— numentale, zu verdrängen habe. In Wahrheit haften wir jetzt mit allen unferen Kunftbegriffen Hi fo ganz und gar in der Vorſtellung des Monumentalen, daß wir Kunſtwerken nur in dem Grade Geltung zuſprechen zu können glauben, ald wir ihnen den nıonumentalen Charakter beilegen dürfen. Hat dieſe Anfiht allerdings Berechtigung dem Erzeugniffe der frivolen, nir- gends ein wahres menſchliches Bedürfniß befriedigenden, Mode gegenüber, jo müſſen wir doch einjehen, daß fie im Grunde nur eben eine Reaktion des edleren menſchlichen Naturfhamgefühles gegen: bie verzerrten Hußerungen der Mode ift, mit dem Auf- hören der Wirffamfeit der Mode ſelbſt aber ohne alle weitere Berechtigung, nämlich ohne allen ferneren Grund daftehen müßte.

238 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Ein abfoluter Refpelt vor dem Monumentalen ift gar nicht denkbar: er ann ſich in Wahrheit nur auf eine äfthetijche Ab- neigung gegen eine wiberliche und unbefriedigende Gegenwart ftügen. Gerade dieſer Gegenwart fiegreich beizufommen hat aber dieſe Abneigung, fobald fie fih nur als Eifer für das Monumentale kundgiebt, nicht die nöthige Kraft: die höchſte Be— thätigung dieſes Eiferd kann am Ende nur darin beitehen, daß da8 Monumentale ſelbſt zur Mode gemacht wird, wie dieß in Wahrheit heut’ zu Tage der Zall ift. Somit fommen wir aber nie aus dem Lebenskreiſe Heraus, dem ber ebeljte Trieb des monumentalen Eifers ſich eben zu entziehen ftrebt, und fein ver⸗ nünftiger Ausweg ift aus biefem Widerfpruche denfbar, als die gemaltfame Entziehung der Lebensbedingungen ſowohl der Mode al3 des Monumentalen, weil auch die Mobe dem Monumen- talen gegenüber ihre volle Berechtigung hat, nämlich als Reaktion des unmittelbaren Lebenstriebes der Gegenwart gegen die Kälte eine unempfindenden Schönheitsfinnes, wie er ſich in ber ges maltfamen Neigung für das Monumentale fundgiebt. Die Ver— nichtung des Monumentalen mit ber Mode zugleich Heißt aber: der Eintritt des immer gegenwärtigen, ftet3 neu beziehungd- vollen und warm zu empfindenden Kunſtwerkes in das Leben, was wiederum fo viel heißt, ald ber Gewinn der Bebingungen für dieſes Kunſtwerk aus dem Leben, Den Charakter diefes Kunſtwerkes dahin feftzuftellen, daß es nicht dad Werk unferer heutigen bildenden Kunſt infofern biefe nothgebrungen ſich nur als monumentale tundgiebt, und fich ſelbſt nur unferem monumentalen Eifer verdankt —, fondern einzig dad Drama fein fönne; daß ferner dieſes Drama nur dann dem Leben gegen- über feine richtige Stellung finden dürfte, wenn es in jedem feiner Momente diefem Leben vollftändig gegenwärtig, in feinen bejonderiten Beziehungen ihm fo angehörig, wie aus ihm hervor⸗ gegangen, nad) der Individualität des Ortes, der Zeit und der Umftände fo eigentHümlich erfcheint, daß es zu feinem Berftänd- niffe, d. 5. zu feinem Genuffe, nicht bes refleftirenden Verſtan⸗ des, fondern des unmittelbar erfafjenden Gefühles bebürfe; daß endlich dieſes Verftändniß nur dann ermöglicht werben könne, wenn. ber an und für fi) gefühlsverſtändliche Inhalt in der entiprechenden Erfcheinung an die Sinne, fomit dur) daB uni« verfell-fünftleriihe Ausdrucksvermögen des Menjchen wiederum

Eine Mitteilung an meine Freunde. 239

an das univerfellsfünftlerifche Empfängnißvermögen des Men-

ſchen fi kundgäbe, nicht durch eine getrennte Eigenſchaft jenes einen Bermögend an eine wiederum gefonderte dieſes anderen: dieß im Allgemeinen darzuftellen, war der Zweck meiner Schrift „dad Kunftwerk der Zukunft“. Worin der Unterfchieb zwiſchen Diefem Kunſtwerke, und jenem, unferen kritiſchen Äſihetikern einzig vorjchwebenden, monumentalen Kunſtwerke beftehe, Tiegt Jedem, der mich verftehen mollte, offen da; und zu behaupten, daß Das, was ich wollte, bereit vorhanden ſei, fonnte nur Denen beifommen, für die bie Kunft in Wahrheit gar nicht vor- handen ift.

Nur eine Stellung, in der ich mic) nothwendig Hierbei bes fand, konnte auch Vorurtheilsloferen Grund zum Auffinden von Widerfpruch geben. Ich fege nämlich als die Bedingung für das Erſcheinen des Kunſtwerkes in allererfter Stelle das Leben, und zwar nicht dad im Denken willfürlic twiebergefpiegelte des Philoſophen umd Hiftorifers, fondern das allerrealfte, finnlichfte Leben, ben freiejten Duell der Unwillkürlichleit. Won meinem Standpunkte als Künftler der Gegenwart aus entwerfe ich aber Grundzlige „des Kunſtwerkes der Zukunft“, und zwar in Be ziehungen auf eine Form, die nur ber Fünftleriiche Trieb eben jene3 Lebens ber Zulunft fich ſelbſt bilden dürfte. Ich will mich biergegen nicht bloß dadurch rechtfertigen, daß ich. nur auf die allgemeinften Züge de3 Kunſtwerkes Hindeutete, fonbern ich weiſe nicht nur zu meiner Nechtfertigung, fondern überhaupt zum Berftändniffe meiner Abficht darauf Hin, daß allerdings der Künftler der Gegenwart einen in jeder Hinfiht entſcheiden⸗ den Einfluß auf das Kunſtwerk der Zukunft haben muß, und daß er biefen Einfluß fehr wohl im Voraus berechnen könne, eben weil er ſchon jegt diefes Einfluffes ſich bewußt werden muß. ' Dieſes Bewußtſein erwächſt ihm, bei feinem ebelften Drange, aus dem Innewerden feiner tiefiten Unbefriebigung dem Leben der Gegenwart gegenüber: ex fieht fih für die Verwirklichung von Möglichkeiten, deren Vorhandenſein ihm auß feinem eigenen fünftlerifhen Vermögen zum Bewußtſein gefommen ift, auf das Leben ber Zukunft einzig angemwiefen. Wer nun von diefem Le ben der Zukunft die fataliftifche Anficht hegt, daß wir rein gar nicht von ihm und vorftellen fönnten, der befennt, daß er in feiner menfchlichen Bildung nicht fo weit gelangt ift, einen ver⸗

240 | Eine Mitteilung an meine Freunde.

nünftigen Willen zu haben: der vernünftige Wille ift aber . das - Wollen des erkannten Unwillkürlichen, Natürlihen, und diefen Willen kann alerdingd nur Der als für das Leben ber Zukunft geftaltend voraußjegen, der dazu gelangt ift, ihn felbft au für fi zu fallen. Wer von der Geftaltung der Zukunft nicht den Begriff hat, daß fie eine nothwendige Konſequenz des vernünftigen Willens ber Gegenwart fein müfle, der hat über- haupt auch feinen vernünftigen Begriff von ber Gegenwart und von. ber Vergangenheit: wer nicht in fich felbft Initiative des Charafterd bejigt, der vermag auch in der Gegenwart keine Ini⸗ tiative für die Zukunft zu erfehen. Die Initiative fir das Kunft- wert der Zukunft geht aber von dem Künſtler der Gegenwart aus, der diefe Gegenwart zu begreifen im Stande ift, ihr Ber- mögen und ihren nothwendigen Willen in ſich aufnimmt, und mit dieſen eben fein Sklave der Gegenwart mehr bleibt, fondern fich als ihr bewegendes, wollendes und geftaltendes Organ, als den bewußt wirkenden Trieb ihres aus ſich heraus ftrebenden Lebensdranges kundgiebt.

Den Lebenstrieb der Gegenwart erfennen, heißt: ihn be— thätigen müfjen. ‘Gerade die VBethätigung bes Lebendtriebes un- - ferer Gegenwart äußert ſich aber nicht anders, als in einer Vorausbeſtimmung ber Bufunft, und zwar eben nicht als .einer vom Mechanismus der Vergangenheit abhängigen, fondern als einer frei und felbftändig in al’ ihren Momenten aus fi, d. h. dem Leben Heraus geftaltenden. Diefe VBethätigung ift die Ver- nichtung des Monumentalen, und für die Kunſt äußert jie ſich in der Richtung, die ſich in die unmittelbarite Berührung mit dem ftetS gegentärtigen Leben fegt, und dieß ift die bramatifche Richtung. Die Erkenntniß der Notwendigkeit. diefer Richtung für die Kunft, um fie mit dem Leben in eine immer neu fördernde, alles Monumentale überwindende, Wechſelwirkung zu feken, führt den Künſtler natürlich auch zur Erkenntniß der Unfähigkeit des Öffentlichen Lebens der Gegenwart, jene Richtung der Kunft aus ſich zu rechtfertigen, mit ihr ſich zu verfchmelzen; denn unfer öffentliches Leben, fo weit es mit.den Erſcheinungen der Kunſt in Berührung teitt, Hat ſich unter der außfchließlichen Herrſchaft des Monumentalen und der, gegen dad Monumentale reagirenz den Mode geftaltet. Im Übereinftimmung mit dem öffentlichen Leben der Gegenwart konnte daher nur derjenige Künftler fchaffen,

Eine Mittheilung an meine Freunde. 241

der entweber die Monumente der Vergangenheit nachahmte, oder fi zum Diener ber Mode Hergab: Beide find aber in Wahrheit feine Künſtler. Der wahre Künftler, der in der bezeichneten wirk⸗ lich dramatifchen Richtung ſich bewegte, konnte dagegen mur in Unübereinftimmung mit dem Geifte des öffentlichen Lebens der Gegenwart fi) fundgeben: wie aber gerade von ihm erſt daß Kunftwert als das wahre Kunſtwerk erkannt wird, welches in feiner finnlicäften Erſcheinung dem Leben verftändnißvoll fich erſchließen Tann, fo mußte er nothwendig die Verwirklichung feines höchften fünftlerifchen Wollens in dad Leben der Zukunft, als ein von ber Herrihaft des Momiumentalen wie der Mobe befreiten, fegen; er mußte feinen künſtleriſchen Willen fomit geradesweges auf das Kunſtwerk der Zukunft richten, gleichviel ob es ihm ober Anderen erft vergönnt fein werde, ben Boden dieſes ermöglichenden und verwirkfichenden Lebens der Zukunft zu betreten. Zu dieſem Willen Tonnte allerdings nicht der abfolute . Denfer oder Kritifer gelangen, fondern nur der wirkliche Künftler, dem auf feinem Tünftlerifchen Standpunkte im Leben der Gegen: wart Denken und Kritik jelbft zu einer nothwendigen, wohlbe- dingten Gigenfhaft feiner allgemein künſtleriſchen Thätigkeit werden mußte. Sie enttwidelt ſich bei ihm notwendig durch bie Betrachtung feiner Stellung zum öffentlichen Leben, das er nicht mit der Falten Gleichgiltigkeit eines abfolut kritiſchen Erperimen- taliften, fondern mit dem warmen Verlangen, fi ihm verftänd- nißvoll mitzutheilen, anſchaut. Was dieſer Künftler im An- ſchauen des öffentlichen Lebens der Gegenwart gewahrt, ift zu: nädjft die volle Unfähigkeit, durch die mechaniſchen Werkzeuge der einzig herrſchenden monumentalen, oder mobifchen Kunft, fi eben verſtändnißvoll mittheilen zu können. Habe ich hier einzig den wirklichen dramatiſchen Dichter im Auge, fo meine ich das Unvorhandenfein der theatralifchen Kunft und der brama- tifchen Scene, die jeine Abficht zu verwirklichen im Stande wären. Die modernen Theater find entweder die Werkzeuge ber monu- mentalen Kritik man denke an ben Berliner Sophofles, Shafefpeare u. f. m. ober ber abfoluten Mode. Die Mög- lichkeit, diefe Theater gänzlich zu umgehen, Kann ihm nur mit Berzichtleiftung auf jede, auch nur annähernde Verwirklichung feiner eigentlichen Abficht erwachfen: er muß Dramen für bie Rigard Wagner, Gef. Sqhriſten IV. 16

242 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Lektüre ſchreiben. Da aber gerade dad Drama nur in feiner vollſten finnlichen Erſcheinung erft zum Kunſtwerke wird, fo muß ex endlich, um feiner Hauptrichtung nicht gänzlich zu entfagen, mit einer undollfommenen Verwirklichung feiner Abſicht fich begnügen.

Seine Abfiht wäre aber au dann erſt volllommen ver- wirflicht, wenn er fie nicht nur von ber Scene herab ganz ent- fprechend außgebrüdt fähe, fondern wenn dieß zugleich zu einer beftimmten Zeit, unter beftimmten Umftänden, und an eine be- ftimmte, dem Dichter in irgend melcher Beziehung verwandte, Zuſchauerverſammlung gefhähe. Eine dichterijche Abficht, die ich unter beftimmten Werhältniffen und Umgebungen faßte, hat ihre ganz entſprechende Wirkung nur, wenn ich fie unter den⸗ felben Verhältniſſen und an diefelbe Umgebung mittheile: nur dann kann diefe Abficht ohne Kritik verftanden, ihr rein menfch- licher Inhalt empfunden werden, nicht aber weun alle dieſe lebengebenden Bedingungen geſchwunden find, und die Berhält- niffe fich geändert haben. Wenn z. B. vor der erſten franzö- ſiſchen Revolution unter einer ganzen Gattung frivolgenußfüch- tiger Menjchen die Stimmung vorhanden war, in der ein Don Juan die allerbegreiflichfte Erfcheinung, den wahren Ausdruck diefer Stimmung ausmacht; wenn diefer Typus don Rünftlern erfaßt, und in letzter Verwirklichung durch einen Darfteller uns vorgeführt wurde, der in feinem ganzen Naturell jo für die Perſönlichkeit eines Don Juan ſich eignete, wie z. B. auch die italieniſche Sprache ſich eignet, dieſer Perſönlichkeit einen ent- ſprechenden Ausdruck zu geben, ſo war die Wirkung einer ſolchen Darſtellung zu jener Zeit gewiß eine ganz beſtimmte und unzweifelhafte auf da8 Gefühl. Wie fteht es nun aber, wenn heute, vor dem gänzlich veränderten, börjengefchäftlichen oder geheimregierungsräthlihen Publitum der Gegenwart, und von einem Darfteller, der gern Kegel ſchiebt und Vier trinkt, und dadurch aller Verführung entgeht feiner Frau untren zu werden, derfelbe Don Juan gefpielt, und noch dazu in deutſcher Sprache und in einer Überfegung vorgeführt wird, in der jebe Spur des italienifchen Sprachcharakters verwifcht werden mußte? Wird diefer Don Juan nicht mindeftend ganz anders verftanden, als e3 die Ubficht des Dichters war, und ift dieſes ganz andere im beiten Falle nur durch die Kritik vermittelte Verſtändniß,

Eine Mitteilung an meine Freunde. 243

nicht in Wahrheit gar fein Verſtändniß des Don Juan mehr? Ober vermögt Ihr eine ſchöne Gegend zu genießen, wenn Ihr fie bei finfterer Nacht feht?

Bei der zufälligen und zerfplitterten Weife, wie der ainſtler jetzt vor das Publikum gelangt, muß er gerade um fo unver- ftändlicher werden, je mehr bie künſtleriſche Abficht, der fein Werk entfprang, einen wirklichen Bufammenhang mit dem Leben bat; denn eine ſolche Abſicht kann nicht eine zufällige, aus äſthe— tifcher Willkür allgemeinhin gefaßte, abftrafte fein, ſondern zu künſtleriſcher Erſcheinungskraft reift fie nur dann, wenn fie durch Zeit und Umftände zu befonderer charakferiftifcher Individualität fi) geftaltet. Kann die Verwirklichung einer folhen Abficht nur dann einen entfprechenden Erfolg Haben, wenn fie noch bei voller Wärme der Verhältniſſe, die fie im Dichter geboren, und vor denen, bie bewußt oder unbewußt in diefen Verhältniſſen mitbetheiligt waren, zur Erfcheinung kommt, fo muß nun ber Künftler, der fein Wert als monumentales behandelt jieht, das

leichgiltig zu jeder beliebigen Zeit oder vor jeder beliebigen

ffentlichfeit vorgeführt wird, jeder denkbaren Gefahr des Miß- verftändniffes ausgeſetzt fein; und einzig an Diejenigen fann er ſich dann halten, die in ihrer Sympathie für ihn überhaupt, aud dieſe feine Stellung begreifen, und durd ihren Antheil an feinem Streben, daß fie namentlich au in eben " diefer feiner Stellung unendlich, erſchwert finden, in ſelbſtſchöpfe— riſcher Sreitwilligleit die Fülle von ermöglichenden Bedin— gungen ihm erfegen, die feinem Kunſtwerke von der Wirklich- feit verfagt find. Dieſe mitfühlenden und mitſchöpferiſchen Freunde find es alfo einzig, denen es mich hier mitzutheifen mich drängt.

Ihnen, denen ich mich nie fo mittheilen Konnte, wie es mein einziger Wunſch wäre mich ihnen mittheilen zu können, habe ich nun, um mich ihnen vollkommen verftändlich zu machen, die Widerfprüche zu erflären, in denen meine bis jeßt dem Publitum vorgeführten Operndichtungen zu meinen neuerdings ausgefprochenen Anſichten über das Operngenre überhaupt ftehen. Ich ſpreche zunächſt von den Dichtungen, weil in ihnen nicht nur da8 Band meiner Kunft mit meinem Leben am offenften vorliegt, fonbern auch weil ich an ihnen deutlich zu machen habe, daß meine mußlaliſche Ausführung, meine Opern-

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244 Eine Mittheilung an meine Freunde,

kompoſitionsweiſe, eben aus dem Wefen biefer Dichtungen fich . . bebang. j . Die Widerfprüche, deren. ich Hier gedente, find allerdings’ für Denjenigen gar wicht vorhanden, der ſich gewöhnt Hat, eine Erſcheinung nicht. anders, als auch nad) ihrer Entwidelung in der Beit zu beobachten. Wer bei ber Beurteilung einer Er— ſcheinung auch biefe Entwidelung in Betracht zieht, dem Können Widerſprüche nur dann aufftoßen, wenn fie eine von Raum und Zeit Iosgelöfte, unnatürlihe, unbernünftige ift: da8 Moment der Entwidelung aber ganz außer Acht laſſen, bie in der Zeit getrennten und wohl unterfchiedenen Phaſen derfelben in eine unterfchiebölofe Mafje zufammenfaffen, Heißt jedoch jelbft eine unnatürliche, unvernünftige Anſchauungsweiſe, und fie fann nur . unferer monumental-Biftorifchen Kritik zu eigen fein, nicht der gejunden Kritik des theilnehmenden, empfindenden Herzens, An biejem kritikloſen Gebaren unferer heutigen Kritik ift unter an- beren eben der Standpunkt ſchuld, von dem aus fie Alles nad) dem monumentalen Maaßſtabe beurtheilt: für fie ftehen bie . Künftler und die Werke aller Zeiten und Völker neben und unter einander da, und die Unterfchiede zwiſchen ihnen gelten ihr nur als Funfthiftorifche, nach der abſtrakten Jahreszahl zu berich- . tende und zu berichtigende, nicht als Iebendig und warm zu empfindenbe; denn bei wirklicher Empfindung muß und die gleich- zeitige Wahrnehmung derfelben eine geradesweges unerträglidhe fein, ungefähr fo peinlich unangenehm, wie wenn wir in einer Mufitaufführung S. Bach neben Beethoven hören. Auch in Bezug auf mich haben Kritiker, die ſich den Anfchein gaben mein Kunſtwirken im Bufammenhange zu beurtheilen, mit biefer un kritiſchen Unachtjamfeit und Gefühlfofigfeit verfahren: Anfichten, die ich über da8 Wefen der Kunſt von einem Standpunkte aus Tundgebe, den ich durch allmähliche, ftufenweife Entwidelung mir erft gewonnen, beziehen fie, als für ihre Beurtheilung maaß- gebend, rückwärts auf das Wejen der Fünftlerifchen Arbeiten, in melden id) eben den natürlichen Entwidelungsgang nahm, der mich zu jenem Standpunkte führte. Wenn ich 4.8. eben nit vom Standpunkte der abftralten Üfthetit, fondern von bem bed erfahrenen Künſtlers aus das chriſtliche Prinzip als funftfeindlic oder kunſtunfähig bezeichne, fo zeigen jene Kritiker mir den Widerfprud, in dem ich mich mit meinen früheren

Eine Mittheilung an meine Freunde. 245

dramatifchen Arbeiten befände, die allerdings bon einer gewiſſen, der modernen Entwidelung unausweichlich eigenthümlichen We— fenheit des chriftlichen Prinzipes erfüllt find: keinesweges fällt ihnen aber ein, daß, wenn fie den neugewonnenen Standpunkt mit dem verlafjenen älteren vergleichen, dieß eben zwei wefent- lich verjchiebene, jedoch folgerichtig auß einander entwickelte feien, unb daß viel eher ber neue Standpunkt auß dem älteren zu er⸗ klären, als dieſer verlafjene von dem betretenen aus zu beur- theilen gewefen wäre. Im Gegentheife: da fie von dem neuen Stanbpuntte aus in meinen älteren Arbeiten‘, die fie als von diefem Standpunkte aus entworfen und ausgeführt anzufehen für gut finden, eine Intonfequenz, einen Widerſpruch gegen jene Anfichten, erbliden müſſen, treffen fie gerade, auch Hierin den beften Beweis für bie Irrigfeit diefer Anfichten, denen ich ſelbſt in ber ‚Eünftlerifchen Praxis ja widerſpräche; und fomit ſchlagen fie auf die mühelofefte Weife von der Welt zwei Fliegen mit einem Schlage, indem fie meine fünftlerifche wie theoretiſche Thätigfeit als den Akt eines unfritifch gebildeten, fonfufen und ertravaganten Kopfes bezeichnen. Das, was fie felbit jo zu Werte bringen, nennen fie aber in Wahrheit „Kritik“, und noch dazu aus ber hiſtoriſchen“ Schule!

ö Ich Habe hier einen wefentlichen Punkt der oben gemeinten Widerfprüche berührt: ich hätte ihm, da ich mich jetzt uur meinen Freunden mitiheilen will, vielleicht gänzlich unbeachtet laſſen tönnen, weil in Wahrheit Jemand mein Freund nur daun fein Tann, wenn er jenen Widerſpruch als einen nur fcheinbaren ſich ſelbſt zu erklären vermag. Dieſe Selbfterflärung ift jedoch un- endlich erſchwert durch die lüdenhafte und unvollftändige Weiſe, in der gerade ich aud) meinen Freunden ſelbſt mich mittheilen tann. Der eine hat biefe, der andere jene meiner dramatifhen . Arbeiten fich vorführen gefehen, wie e8 eben der Zufall fügte; feine Neigung für mic) entftand gerade auß dem Bekanntwerden mit diefem einen Werfe; aud) dieſes fam ihm wohl nur unvoll- kommen zur Erfcheinung; aus feinem eigenen Wejen und Gtre- ben Hatte er viel zu ergänzen, und einen vollen Genuß konnte er am Ende nur dadurch gewinnen, daß er zu einem vielleicht oft überwiegend großen Theile fich ſelbſt, fein eigenes Tichten und Trachten, in den genußipendenden Gegenftand mit hinein- legte. Hier kommt aber der Punkt, wo wir vollkommen una Har

246 Eine Mittheilung an meine Freunde.

werben müfjen: meine Freunde müffen mich ganz ſehen, um fich zu erflären, ob fie mir ganz Freunde fein können. Ich kann nichts halb abgemadjt laſſen wollen; ich kann nicht zugeben, da, was Nothivendigkeiten in meiner Entwidelung waren, Gut: müthigen als Bufälligkeiten erjcheinen bürfen, die fie, je nach dem Grade ihrer Neigung, ſich zu meinen Gunften deuten köun— ten. Gerade alfo au an meine Freunde wende id mic, um ihnen volle Aufflärung über meinen Entwickelumgsgang zu geben, wobei aud jene fcheinbaren Widerſprüche vollſtändig gelöft werben müffen.

Hierzu will ich aber nicht auf dem Wege eines abftraft fri- tifchen Verfahrens zu gelangen fuchen, fondern meinen Ent wickelungsgang mit der Treue, wie ich ihn jetzt zu überblicken vermag, an meinen Arbeiten und an ben Lebensftimmungen, die fie hervorriefen, fortfchreitend nicht in abftrafter Allgemein- beit Alles auf einen Haufen werfend nachweiſen.

Bon meinen früheften Künftlerifchen Arbeiten werde ich kurz zu berichten haben: fie waren die gewöhnlichen Verſuche einer noch unentwidelten Individualität, fi gegen das Generelle der Kunfteindride, die und von Jugend auf beftimmen, im allmäh— lichen Wachsthume zu behaupten. Der erfte Tünftlerifche Wille ift nichts Anderes, als die Vefriedigung des unwillkürlichen Triebes der Nachahmung Deſſen, was am einnehmendften auf uns wirkt.

Wenn id) mir das fünftlerifche Vermögen am beften zu er- klären fuche, jo Tann ich bieß nicht anders, al3 wenn ich es zu⸗ nädft in die Kraft bed Empfängnißvermögens fee. Den unfünftlerifchen, politifchen Charakter mag es auszeichnen, daß

Her von Jugend auf den äußeren Eindrüden einen Rüchalt ent- gegenfegt, der fih im Laufe der Entividelung bis zur Berech- nung des perfönlichen Vortheiles, den ihm fein Widerftand gegen die Außenwelt bringt, bis zur Zähigfeit, diefe Außenwelt rein nur auf fich, ſich ſelbſt aber nie auf fie zu beziehen, fteigert. Den tünftlerifchen, unpolitifhen Charakter beftimmt jedenfall das Eine, daß er ſich rückhaltslos den Eindrüden Hingiebt, die fein

Eine Mittheilung an meine Freunde. 247

Empfindungsweien ſympathetiſch berühren. Gerade aber bie Macht diefer Eindrüde mißt ſich wieder nach der Kraft bes Empfängnißvermögens, das nur dann bie Kraft des Mitthei- lungsdranges gewinnt, wenn es bis zu einem entzüdenben Übermanfe von den Eindrüden erfüllt if. In der Fülle diefes Übermaaßes liegt die künſtleriſche Kraft bedingt, denn fie ift nichts Anderes, als das Bedürfniß, das überwuchernde Empfäng- niß in der Mittheilung wieder von fi zu geben. Nach zwei Richtungen Hin äußert ſich diefe Kraft, je nachdem fie nur von künſtlerifchen Eindrüden, oder endlich auch von ben Einbrüden des Lebens ſelbſt angeregt war. Daß, was den Rünftler als ſolchen zuerſt beftimmt, find jedenfalls die vein fünftlerifchen Eindrüde; wird feine Empfängnißkraft durch fie vollftändig ab- forbirt, fo daß die fpäter zu empfindenden Lebenseindrüde fein Vermögen bereit8 erſchöpft finden, fo wird er ſich als abſoluter Künftler nach der Richtung hin enttwideln, die wir als die weib- liche, d. 5. das weibliche Element der Kunft allein in ſich fafjende; zu bezeichnen haben. In dieſer treffen wir alle die Künftler an, deren Thätigfeit heut’ zu Tage eigentlich die Wirkjamfeit der modernen Kunſt außmacht; fie ift die vom Leben ſchlechtweg ab- geſonderte Kunftwelt, in welcher die Kunft mit fich feldft fpielt, vor jeder Berührung mit der Wirklichkeit d. h. nicht eben nur der Wirklichkeit der modernen Gegenwart, ſondern der Lebens» wirffichkeit überhaupt empfindlich fich zurüdzieht, und dieſe als ihren abfoluten Feind und Widerfaher in der Meinung betrachtet, daß das Leben überall und zu jeder Beit der Kunft wiberftrebe, und daher auch jede Mühe, dad Leben ſelbſt zu ge- ftalten, eine fir den Künftler vergeblihe und demgemäß unan- ftändige fei: hier finden wir vor Allem die Malerei, und na- mentfic die Mufil. Anders verhält e8 ſich da, mo bie voraus entwidelte Fünftlerifche Empfängnißkraft das Vermögen der Em- pfängniß der Lebenseindrüde nur beftimmt und geftaltet, nicht geſchwächt, fondern vielmehr im Höchiten Sinne geftärkt hat. In der Richtung, in der ſich diefe Kraft entwidelt, wird das Leben felbft endlich nach fünftlerifchen Eindrüden aufgenommen, und die Kraft, die aus der Überfülle biefer Eindrüde zum Mit- theilungsdrange erwächſt, ift Die eigentlich wahrhaft Dichterifche. Diefe fondert fich nicht vom Leben ab, fondern vom fünftlerifhen Standpunkte aus ftrebt fie ihm felbft geftaltend beizukommen.

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248 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Bezeichnen wir diefe als die männliche, zeugungsfähige Richtung in der Kunſt. .

Ber etwa glauben wollte, ich hätte bei meiner gegenwär⸗ tigen Mittheilung im Sinne, mir die Ölorie eines „Genie'3“ zu vindiziren, dem wiberfpreche ih im Voraus mit "Geftimmtefter Abfiht. Im Gegentheile fühle ich mid) im Stande nachzuweiſen, daß ed ungemein oberflählid und nichtsſagend geurtheilt ift, wenn wir gewöhnlich die entfcheidende Wirkſamkeit einer befon- deren fünftlerifchen Praft aus einer Befähigung ableiten, die wir vollkommen ergründet zu haben glauben, indem wir fie kurzweg „Genie“ nennen. Dad Vorhandenſein diefed Genie's gilt uns nämlich an ſich als ein reiner Zufall, den Gott oder die Natur nad Belieben da- oder dorthin wirft, ofne daß da8 mit ihm verliehene Geſchenk oft nur an den rechten- Dann, käme: denn wie oft hören wir, Diefer oder Jener wiſſe mit feinem Genie nicht was anfangen? Ich beziehe die Kraft, die wir gemeinhin Genie nennen, nur auf das Vermögen, das ich foeben näher bes zeichnete; Das, mas auf diefe Kraft fo mächtig wirkt, daß fie endlich zur vollen Produktivität aus fi gelangen muß, haben wir in Wahrheit als den eigentlichen @eftalter und Bildner, als die einzig wiederum ermögligjende Bedingung ber Wirkfamfeit diefer Kraft anzufehen, und dieß ift die außerhalb diefer einzelnen Kraft bereits entwidelte Kunſt, wie fie aus den Kunſtwerken der Bor: und Mittvelt zu einer allgemeinfamen Subftanz ſich ge ftaltet, und, verbunden mit dem wirklichen Leben, auf das In— dividuum in der Eigenfchaft derjenigen Kraft wirkt, die ich be reit8 anderswo die fommuniftifche genannt habe. Es bleibt unter biefem Alles erfüllenden und geftaltenden Eindrude der Kunft und des Lebens ſelbſt dem Individuum zunächſt alfo nur Eines als fein eigen übrig, nämlich: Kraft, Lebenskraft, Kraft der Aneignung des Verwandten und Nöthigen, und biefe ift eben jene von mir bezeichnete Empfängnißkraft, die fobald fie rückahltslos liebevoll gegen das zu Empfangenbe ift in ihrer dvollendetften Stärke nothwendig endlich zur probuftiven Kraft werden muß. In Beiten, wo diefe Kraft, wie die Kraft des Individuums überhaupt, durch die ftaatliche Bucht ober die gänzliche Außgelebtheit der anregenden äußeren Lebend- und Kunſtform durchaus vernichtet worden ift, wie in China ober am Ende der römiſchen Weltherrfchaft, find auch die Erjchei-

Eine Mitteilung an meine Freunde. 249°

nungen, die wir Genie's nennen, nie vorgefommen: ein deut⸗ licher Beweis dafür, daß fie nicht durch die Willkür Gottes ober ber Natur in daß Leben geworfen werben. Dagegen fannte man dieſe Erſcheinung ebenfowenig in den Zeiten, two jene beiden ' ſchaffenden Kräfte, die individualiſtiſche und die koinmuniſtiſche, in feſſelloſer Natürlichkeit immer neu zeugend und gebärend ſich gegenſeitig durchdrangen dieß find die ſogenanuten vorgejchicht- lichen Zeiten, in denen Sprache, Mythos und Kunft in Wahr- heit geboren wurden; damals kannte man Das, was wir Genie nennen, ebenfalls nicht: Keiner war ein Genie, weil es Alle, waren. Nur in Zeiten, wie den unferigen, fennt oder nennt man Genie's, mit welchem Namen wir diejenige künftlerifche Kraft bezeichnen zu müffen glauben, die der Zucht des Staates und des herrfchenden Dogma’s, fowie der trägen Mitwirkung an der Aufrechthaltung zerfalender Fünftlerifcher Formen fich entziehen, um neue Richtungen einzujchlägen und mit bem Inhalte ihres Weſens zu beleben. Betrachten wir näher, fo finden wir aber, daß diefe neuen Richtungen durchaus Feine willfürlihen und dem Einzelnen allein eigenthümlichen, ſondern nur Fortſetzungen einer längſt bereits eingeſchlagenen Hauptrichtung find, in der fi vor unb gleichzeitig neben bem Einzelnen eine gemeinfame, in unendlich mannigfahe und vielfältige Inbividualitäten ge glieberte Kraft ergoß, deren nothwendiger, bewußter oder un- bewußter Trieb ‚eben die Vernichtung jener Formen durch Bil- dung neuer Lebens und Kunftgeftaltungen war. Gerade auch hier jeden wir daher eine gemeinjame Kraft, die in ihrer einzig ermöglihenden Wirkjamfeit die individuelle Kraft, die wir blöd- finnig bisher mit der Bezeichnung „Genie“ ergründet zu Haben glaubten, als folche in fich ſchließt und, nad) den modernen Be— griffen von ihr, geradesweges aufhebt. Allerdings ift wiederum jene gemeinfame, Tommuniftifche Kraft nur dadurch vorhanden, daß fie in der individuellen Kraft vorhanden ift; denn fie ift in Wahrheit nichts Anderes, als die Kraft der rein menfchlichen . Imbividualität überhaupt: die endlich zur Erſcheinung kommende Form iſt aber keinesweges, wie wir es oberflächlich betrachten, das Werk der einzelnen Individualität, fondern dieſe nimmt an dem gemeinfamen Werke, nämlich der finnlichften Öffenbarung einer vorhandenen Möglichteit durch deren Verwirklichung, nur vermöge der einen Weſenheit ihrer Kraft Antheil, die ich oben

250 "Eine Mittheilung an meine freunde.

bereits bezeichnete, und die ich in ihrer triebthätigften Eigenſchaft jegt noch genauer beftimmen will. Ein mythiſcher Bug, den ich troß der Vermahnungen der hiſtoriſch⸗politiſchen Schule an mich anführe, wird dieß ftatt meiner Definition thun.

Das ſchöne Meerweib Wachhilde Hatte dem König Wiking ein Söhnlein geboren: dem nahten die drei Normen, um ihm Gaben zu verleihen. Die erfte Norn verlieh ihm Leibesftärte, die zweite Weisheit, und ber erfreute Water führte bie beiden dankend zum Hochfige neben fich: die britte aber verlieh dem Söhnlein „den nie zufrieb’nen Geift, der jtet3 auf Neue finnt“. Den Bater erfchredte diefe Gabe, und er verjagte der jüngften Norn den Dank: entrüftet hierüber nahm dieſe, zur Strafe des väterlichen Undanfes, ihre Gabe zurüd, Nun erwuchs der Sohn zu großer Länge und Stärke, und was nur zu wiflen tar, dad

- wußte er bald, Nie aber empfand er ben Trieb zum Thun und Schaffen, er war mit jeber Lage feine Lebens zufrieden, und fand fich in Alles. Nie liebte er, noch haßte er aber auch: weil er num gerade ein Weib befam, fo zeugte er auch einen Sohn, und that den zu fundigen Zwergen in die Lehre, damit er was Nechtes Ierne, und biefer Sohn war jener Wieland, den die Noth einft Iehren follte ſich Flügel zu ſchmieden. Der Alte aber ward bald zum Spott der Leute und Kinder, meil Jeder ihn neden durfte, ohne daß es ihn aufbrachte; denn er war ja fo weife zu willen, daß Leute und Kinder gern neden und fpotten: nur wenn man ihm gegen feine Mutter etwas vorbrachte, ward er empfindlich; auf fie wollte er nichts kommen Iaffen. Kam er an ben Meeredfund, fo fiel e8 ihm nicht ein, ein Schiff zu bauen, um darüber zu feßen, fondern, fo lang er nun eben war, watete er hinein: daher nannte ihn auch das Volk „Wate“. Einft wollte er fich nad) feinem Söhnlein erkundigen, ob da in ber Lehre gut thäte und ordentlich lernte: er fand das Felſenthor zur Höhle der Bmerge verfchloffen, denn dieſe Hatten Übles mit dem Rinde im Sinne, und wollten der Ankunft des Wlten weh— ren; feine Sorge kam ihm aber an, denn er war immer zufrieden; er feßte fi) am Eingange nieder und fchlief ein. on feinem ftarfen Schnarchen erdröhnte ein Felsſtück, das über feinem Haupte Bing, fo daß es auf ihn herabſtürzte und ihn tödtete. Das war das Leben des ftarfen und weiſen Riefen Wate: zu ihm hatte Wiking's Vaterjorge den Sohn des wonnigen Meerweibes

Eine Mittheilung an meine Freunde. 251

Wachhilde erzogen, und fo wirft du biß auf den heutigen Tag erzogen, mein deutſches Wolf!

Die eine verſchmähte Gabe: „der nie zufried’ne Geift, der ſtets auf Neues finnt“, bietet und Allen bei unferer Geburt die jugendliche Norn an, und durd) fie allein könnten wir einft Alle „Genie's“ werden*); jeßt, in unferer erziehungsfüchtigen Welt, führt nur noch der Zufall uns Diefe Gabe zu, der Zufall, nit erzogen zu werden. Bor der Abwehr eines Vater, der an meiner Wiege ftarb, ficher, fehlüpfte vielleicht die fo oft verjagte Norn an meine Wiege, und verlieh mir ihre Gabe, die mic, Zuchtloſen nie verließ, und, in voller Anarchie, das Le ben, die Kunſt, und mich felbft zu meinem einzigen Erzieher machte.

. Ich übergehe die unendlich mannigfaltige Verſchiedenheit der Eindrüde, die von Jugend auf mit großer Lebhaftigkeit auf mich wirkten: fie wechſelten in ihrer Wirkung ganz in dem Grabe, als fie fi) mir darboten. Ob ich unter ihrem Einfluffe Jemand als „Wunderkind“ erfchienen bin, muß ich fehr bezweifeln: mes chaniſche Kunftfertigkeiten wurden nie qn mir ausgebildet, auch fpürte ih nie dem mindeften Trieb dazu. Neigung zum Ko— möbiefpielen empfand id}, und befriebigte fie auch bei mir auf der Stube; jebenfall® war dieß durch die nähere Berührung meiner Familie mit dem Theater angeregt: auffallend war da= bei nur mein Widerwille, felbft zum Theater zu gehen; kindiſche Eindrüde, die ich vom Haffifchen Altertfume und dem Ernſte der. Antike, fo weit fie auf dem Gymnaſium mir befannt wur- den, empfing, mögen mir eine gewiſſe Verachtung, ja einen Ab» ſcheu vor dem geſchminkten Komddiantenwefen beigebracht haben. Um_ beitimmteften warf fi mein Nahahmungseifer auf das Dichten und Mufitmahen, vielleiht weil mein Stiefvater, Portraitmaler, zeitig ftarb, und fo das Malerbeifpiel aus meiner nächſten Nähe ſchwand; fonft Hätte ich wahrſcheinlich auch zu malen begonnen, wiewohl ich. mich entfinnen muß, daß die Er- lernung der Technik des Beichnend mic; fehr ſchnell anwiderte. Ich ſchrieb Schaufpiele, und das Bekanntwerden mit Beethoven’3

*) Über diefe Behauptung ärgerte fi, feiner Beit, ber Köl- nifche Profeſſor Biſchoff; er bett fie für eine ungebührlide Bu- muthung an fi und feine Freunde.

252 Eine Mitteilung an meine Freunde.

Symphonien, da8 bei mir erft im fünfzehnten Lebensjahre er- folgte, beftimmte mid; endlich auch leidenſchaftlich zur Muſik, die allerdings von jeher ſchon mächtig auf mich gewirkt Hatte, namentlich durch Weber's „Freiſchützen“. Nie ließ mich bei meinem Studium der Mufit der dichteriſche Nachahmungstrieb ganz. los; er ordnete fich jedoch dem mufifalifchen unter, für deſſen Vefriedigung id) ihn nur herbeizog: So entfinne ich mich, angeregt durch die Paftoral-Symphonie, mid; an ein Schäfer- fpiel gemacht zu Haben, das in feiner dramatiſchen Beziehung wieder durch Goethe's „Laune ber Verliebten“ angeregt war. Hier machte ih gar feinen dichteriſchen Entwurf, fchrieb Mufit und Verſe zugleich, und ließ fo die Situationen ganz aus dem Mufit- und Verſemachen entftehen.

Nach vielen Abſchweifungen bald nach dieſer, bald nach jener Seite Hin, traf mich) der Eindrud der Julirevolution im angetretenen achtzehnten Lebensjahre. Er war heftig und viel- fach anregend; namentlich war, nach großer Begeifterung für das fämpfende, ſchließlich meine Trauer um das gefallene Polen ſehr Iebhaft. Noch aber waren diefe Eindrücke auf meine fünft« leriſche Entwidelung nicht von erfennbarer Geſtaltungskraft; fie waren in Bezug Hierauf nur allgemeinhin anregend: jo ftark war mein Empfängnißvermögen noch von rein Künftlerifchen , Eindrüden- beftimmt und zum Nachahmungstriebe angeregt, daß ich gerade um dieſe Zeit mich am ausſchließlichſten mit Mufit bejgäftigte, Sonaten, Duvertüren und eine Symphonie ſchrieb, und fogar einen mir angebotenen Tert zu einer Oper „Kosziußfo” von mir wies. Dennoch richtete ſich mein Reproduktionseifer auf da8 Drama, d. h. aber eben nur die Oper. Nach einem Gozzi’fhen Märchen dichtete ich mir einen Operntezt „die Feen“; die danials Herrfchende „romantiſche“ Oper Weber's und auch des gerade an meinem Aufenthaltsorte, Leipzig, zu jener Zeit- neu auftretenden Marfchner, beftimmte mich zur Nahahmung. Wad ich mir verfertigte, war durchaus nichts Yndered, ald was ich eben wollte, ein Operntext: nach den Eindrüden Beethoven’s, Weber's und Marfchner’3 auf mich fegte id) ihn in Muſik. Den- noch reizte mich an bem Gozzi'ſchen Märchen nicht bloß bie auf- gefundene Fähigkeit zu einem Operntexte, fondern der Gtoff ſelbſt ſprach mich Iebhaft au. Eine Zee, die für den Beſitz eines geliebten Mannes der Unfterblicheit entfagt, Tann die Sterb-

Eine Mitthellung an meine Freunde. 253

lichkeit nur duch die Erfüllung harter Bedingungen gewinnen, deren Nichtlöfung von Seiten ihres irdifchen Geliebten fie mit dem harteſten Looſe bedroht; ber Geliebte unterliegt der Prü- fung, die darin beitand, daß er die Zee, möge fie fich ihm (in gezwungener erftellung) auch noch fo 688 und graufam zeigen, nit ungläubig verftieße. Im Gozzi'ſchen Märden wird die Tee nun in eine Schlange verwandelt; ber veuige Geliebte ent- zaubert fie dadurch, daß er bie Schlange tußt: fo geminnt er fie zum Weibe. Ich änderte diefen Schluß dahin, da die in einen Stein verwandelte Fee durch des Geliebten fehnfüchtigen Ge— fang entzaubert, und dieſer Geliebte dafür vom Feenkönig “nicht mit der Gewonnenen in fein Land entlaffen —, fondern mit ihr in die unfterblihe Wonne der Feenwelt felbft aufge nommen wird. Diefer Zug dünkt mich jegt nicht unwichtig: gab mir ihn damals aud nur die Mufit und der gewohnte DOpernanblid ein, fo lag doch hier ſchon im Keime ein wichtiges . Moment meiner ganzen Entwidelung kundgegeben. IH war.nun in dem Alter angelangt, wo ber Sinn des Menſchen, wenn je ihm dieß möglich wird, fi unmittelbarer auf die nächfte Lebensumgebung wirft. Die phantaftifche Lü- berlichfeit des deutſchen Stubentenlebens war mir, nach heftiger Ausſchweifung, bald zuwider geworden: für mich hatte das Weib begonnen vorhanden zu fein. Die Sehnſucht, die fih nirgends im Leben ftillen konnte, fand wieder eine ideale Nah— rung ‚durch die Leklüre von Heinfe'3 Ardinghello, fowie ber Schriften Heine'3 und anderer Glieder des bamaligen „jungen“ Litteraturbeutfchlanbes. Die Wirkung ber fo empfangenen Ein- drüde äußerte fich im wirklichen Leben bei mir fo, wie fi unter dem Drude unferer ſittlichbigotten Geſellſchaft die Natur einzig äußern, kann. Mein künſtleriſcher Mittheilungstrieb dagegen entledigte fich dieſer Lebenseindrücke nach der Richtung der gleich zeitig empfangenen fünftlerifchen Eindrüde Hin; unter dieſen waren von befonderer Lebhaftigfeit die der neueren franzöſiſchen und feloft der italienifchen Oper geweſen. Wie dieſes Genre in Wahrheit die deutſchen Operntheater eroberte und faft einzig auf ihrem Repertoire fich behauptete, war fein Einfluß auf Den- jenigen ganz unabweisbar, ber fi in einer Lebensftimmung, wie die angebeutete damals mir eigene, befand; in ihm ſprach fi, wenigitens für mich, in der Richtung der Muſik ganz Das

254 Eine Mitteilung an meine Freunde.

aus, was ich empfand: freubige Lebensluſt in der nothgedrun⸗ genen Hußerung als Frivolität. Uber eine perfönlihe Er- ſcheinung war e8, bie dieſe Neigung in mir zu einem Enthufias- mus eblerer Bebeutung anfachte: dieß war die Schröder- Devrient bei einem Gaftipiel auf der Leipziger Bühne. Die entferntefte Berührung mit dieſer außerorbentlihen Frau traf mich elektriſch: noch lange Zeit, bis ſelbſt auf den heutigen Tag, fah, hörte und fühlte ich fie, wenn mich der Drang zu künft- leriſchem Geftalten belebte.

Die Frucht aM diefer Eindrüde und Stimmungen war eine Oper: „das Liebeöberbot, oder die Novize von Pa— lermo“. Den Stoff zu ihr entnahm ich Shakeſpeare's „Man für Maaß“. Iſabella war es, die mich begeifterte: fie, die als Novize aus dem Klofter fchreitet, um von einem Hartherzigen Statthalter Gnade für ihren Bruder zu erflehen, der wegen bed Verbrechens eines verbotenen, und dennoch von der Natur gejegneten Liebesbundes mit einem Mädchen, nad) einem bra- Tonifchen Gefege zum Tode verurteilt if. JIſabella's keuſche Seele findet vor dem falten Richter fo trifftige Gründe zur Ent- ſchuldigung des verhandelten Verbrechens, ihr gefteigertes Ge- fühl weiß diefe Gründe mit fo hinreißender Wärme vorzutragen, daß ber ftrenge Sittenwahrer jelbit von leidenſchaftlicher Liebe zu bent herrlichen Weibe erfaßt wird. Dieſe plöglic entflammte Leidenſchaft äußert fid, bei ihm dahin, daß er die Begnadigung des Bruders um ben Preis der Liebesgewährung von Seiten der ſchönen Schwefter verheißt. Empört durch dieſen Antrag, greift Iſabella zur Lift, um den Heuchler zu entlarven und den Bruder zu retten. Der Statthalter, dem fie mit Verftellung zu

, gewähren beriprochen hat, findet dennoch für gut, feine Begna- digungsverheißung nicht zu halten, um bor einer wmerlaubten Neigung fein ftrenged richterliches Gewiſſen nicht aufzuopfern. Shakeſpeare ſchlichtet die entftandenen Konflikte durch die öffentliche Zurüdkunft des bis dahin im Werborgenen beobady- tenden, Fürften: feine Entſcheidung ift eine ernfte und begründet fi auf das „Maaß für Maaß“ des Richters. Ich dagegen Löfte den Knoten ohne ben Fürſten durch eine Revolution. Den Schauplag Hatte ich nach der Hauptſtadt Siciliens verlegt, um die ſüdliche Menjchenhige als helfendes Element verwenden zu tönnen; vom Statthalter, einem puritaniſchen Deutſchen, Tieß

Eine Mittheilung an meine Freunde. 255

ic) auch den beborftehenden Karneval verbieten; ein verivegener junger Mann, ber fi) in Iſabella verliebt, reizt das Volt auf, die Masten anzulegen und das Eifen bereit zu Halten: „wer ſich nicht freut bei unfrer Luft, dem ſtoßt das Meſſer in die Bruſt!“ Der Statthalter, von Iſabella vermocht jelbft maskirt zum GStellbihein zu kommen, wird entdedt, entlarbt und vers höhnt, der Bruder, noch zur rechten Zeit vor der vorbereite- ten Hinrichtung, gewaltſam befreit; Iſabella entſagt dem Klofter- noviziat und reicht jenem wilden Karnevalsfreunde die Hand: in voller Maskenprozeſſion fchreitet Alles dem heimkehrenden Fürften entgegen, von dem man vorausſetzt, daß er nicht fo verrüdt wie fein Statthalter fei.

Vergleicht man dieſes Süjet mit dem der „een“, fo fieht man, daß die Möglichfeit, nach zwei grundverfhiedenen Rich tungen Hin mic zu entwideln, vorhanden war: dem heiligen Ernte meined urfprünglichen Empfindungswefens trat Bier, durch die Lebenseinbrüde genäht, eine fee Neigung zu wildem finnlihem Ungeftüme, zu einer trogigen Freudigkeit entgegen, die jenem auf das Lebhaftefte zu widerſprechen ſchien. Ganz erfichtlih wirb mir dieß, wenn ich namentlich die mufifalifche Ausführung beider Opern vergleiche. Die Muſik übte auf mein Empfindungsvermögen immer einen entjheidenden Haupteinfluß aus; es fonnte dieß gar nicht anders fein in einer Periode meiner Entwidelung, wo die Lebenseindrücke noch nicht eine fo nächſte und feharf beftimmende Wirkung auf mich äußerten, daß fie mir die gebieterifche Kraft der Individualität verliehen hätten, mit der ich jenes Empfindungsvermögen auch zu einer beftimmten Wirkſamkeit nad) Außen anhalten konnte. Die Wirkung der empfangenen Lebenseindrüde war nur nod) genereller, nicht in— dividueller Art, und fo mußte bie generelle Mufif noch mein individuelles künſtleriſches Geftaltungsvermögen, nicht aber dieſes jene beherrſchen. Die Muſik auch zu dem „Liebesverbote” hatte im Voraus geftaltend auf Stoff und Anordnung gewirkt, und biefe Muſik war eben nur ber Reflex der Einflüfje der mo- dernen franzöfifhen und (für die Melodie) felbft italienifchen Oper auf mein beftig ſinnlich erregtes Empfindungövermögen. Wer diefe Rompofition mit der der „Feen“ zufammenhalten würbe, müßte faum begreifen fönnen, wie in fo kurzer Beit ein fo auffallender Umſchlag der Richtungen ſich bewerkftelligen

256 . Eine Mittheilung an meine Freunde.

Tonnte: die Ausgleichung beider follte das Werk meines weiteren künſtleriſchen Entwidelungsganges fein.

Mein Weg führte mich zunächſt gerabesweges zur Frivoli⸗ tät in meinen Runftanfchauungen; es fällt bieß in die erſte Beit meined Betretens ber praftifchen Laufbahn als Mufifdirektor beim Theater. Das Einftubiren und Dirigiren jener leichtge- Ienfigen franzöfifhen Modeopern, das Pfiffige und Proßige _ ihrer Orcheftereffekte, machte mir oft kindiſche Freude, wenn ich dom Dirigirpulte aus links und rechts daß Beug loslaſſen durfte. Im Leben, welches von nun an mit Beſtimmtheit das bunte Theaterleben ausmachte, ſuchte ich durch Zerſtreuung Befriedi⸗ gung eines Triebes, ‚der ſich für das Nächſte, Greifbare, als Genußſucht, für die Muſik als flimmernde, prickelnde Unruhe tkundgab. Meine Kompoſition der „Seen“ wurde mir durchaus gleichgiltig, bis ich ihre beabfichtigte Aufführung ganz aufgab. Eine, unter den ungünftigften Umftänden mit gewaltfamem Eigenfinne durchgeſetzte, gänzlich unverftänblihe Aufführung des „Liebesverbotes“ ärgerte mich wohl; doc vermochte dieſer Eindruck mic noch keinesweges von dem Leichtfinne zu heilen, mit dem ich Alles anfaßte. Die moderne Vergeltung des modernen Leichtſinnes brach aber auch bald auf mich herein. Ich mar verliebt, Heirathete in Heftigem Eigenfinne, quälte mich und Andere unter dem wiberlichen Eindrude einer befiglofen Häuslichkeit, und gerieth fo in das Elend, deſſen Natur es ift, Tauſende und aber Taufende zu Grunde zu richten.

Ein Drang entwidelte fi fo in mir bis zur zehrenben Sehnſucht: aus der Kleinheit und Erbärmlichkeit der mich be— herrſchenden Verhältnife herauszufommen. Diefer Drang bezog fi jedoch nur in zweiter Linie auf das wirkliche Leben felbft; in erftem Buge ging er auf eine glänzende Laufbahn als Künftler hinaus. Dem Meinen deutſchen Theatertreiben mich zu ent ziehen, und geradesweges in Paris mein Glüd zu verſuchen, dad war es endlich, worauf ich meine Thätigkeit fpannte. Ein Roman von H. König „die Hohe Braut“ war mir in die Hände gefomnen; Alles, was ich las, hatte nur nad; feiner Fähigkeit, als DOpernftoff verwendet werden zu können, Intereſſe für mich: in meiner damaligen Stimmung ſprach mic) jene Lektüre um fo mehr an, als fchnell dag Bild einer großen fünfaftigen Oper für Paris aus ihr mir in die Augen fprang. Einen vollitän-

Eine Mittheilung an meine Freunde, 257

digen Entwurf davon ſchicte ich direlt an Scribe nad) Paris, mit der Bitte, ihn für die dortige große Oper zu bearbeiten, und mir zur Kompofition zumweifen zu laffen. Natürlich führte dich zu Nichts.

Mein Häußfiches Trübfal vermehrte fi; der Drang, einer unwürdigen Lage mich zu entwinden, fteigerte ſich zu dem hef- tigen Begehren, überhaupt etwas Großes und Erhebendes zu beginnen, ſelbſt mit vorläufiger Wußerachtlaffung eines nächſten praftifchen Zweckes. Diefe Stimmung ward in mir lebhaft ge- nährt und befeftigt dur Die Lektüre von Bulwer's „Rienzi”. Aus dem Sammer des modernen Privatlebens, dem ich nirgends aud nur den geringften Stoff für fünftlerifche Behandlung ab» gewinnen durfte, riß mich die Vorftellung eines großen Hiftorifch- politiſchen Ereigniſſes, in defjen Genuß ich eine erhebende Ber- ftreuung auß Sorgen und Buftänden finden mußte, bie mir eben nicht ander, als nur abſolut Funftfeinblich erfchienen. Nach meiner künſtleriſchen Stimmung ftand ich Hierbei jedoch immer noch auf dem mehr ober meniger rein mufifalifchen, beffer noch: opernhaften Standpunkte; diefer Rienzi, mit feinem großen Gedanken im Kopfe und im Herzen, unter einer Um— gebung der Moheit und Gemeinheit, machte mir zwar alle Nerven vor fympathetifcher Liebesregung exzittern; dennoch entfprang mein Plan zu einem Kunſtwerke erft aus dem Inne— werden eined rein Inrifchen Elementes in der Atmoſphäre des Helden. Die „Friedensboten“, der kirchliche Auferftehungsruf, die Schlachthymnen, das war e8, was mich zu einer Oper: Rienzi, beftimmte.

Bevor ich jedoch zur Ausführung meines Planes fchritt, trug ſich Manches in meinem Leben zu, was mic), von dem ger faßten Gedanken ab, nad) Außen zerftreute. Ich ging damals, als Mufikdiretor einer dort neu gebildeten Theatergeſellſchaft, nad) Riga. Der etwas geordnetere Buftand, und das wirkliche Ausgehen der Direktion auf mindeſtens gute Vorſtellungen, gaben mir nochmals die Abſicht ein, für die eben mir zu Gebote ftehenden Kräfte etwas zu jchreiben. So begann id; bereits bie Kompofition eines Tomifchen Operntextes, den ich nad) einer drolligen Erzählung aus „taufend und einer Nacht“, jedoch mit gänzlicher Mobernifirung bed Stoffes, angefertigt Hatte. Auch bier verleideten ſich mir jedoch ſchnell meine Besiegungen

Rigard Wagner, Gef. Schriften IV.

258 Eine Mittheilung an meine Freunde.

zum Theater: Das, was mir unter „Komödiantenwirthfchaft” verftehen, that fi vor mir bald in vollfter Breite auf, und meine, in der Abficht fie für diefe Wirthſchaft herzurichten, angefangene Kompofition, efelte mich plöglich fo heftig an, daß ich Ulles bei Seite warf, dem Theater gegenüber mich immer mehr nur auf die bloße Ausübung meiner Dirigentenpflicht beichräntte, vom Umgange mit dem Theaterperfonale immer vollftändiger abjah, und nad; Innen in die Gegend meine Weſens mid, zurüdzog, wo der fehnfüchtige Drang, den gewohnten Verhältniffen mich zu entreißen, feine ftachelnde Nahrung fand. In biefer Zeit lernte ich bereit3 den Stoff des „fliegenden Holländers“ kennen; Heine erzählt ihn gelegentlich einmal, als er einer Aufführung gedenkt, der er bon einem aus biefem Stoffe gemachten Theater- ftüde in Amſterdam wie ich glaube beiwohnte. Diefer Gegenftand reizte nich, und prägte fi) mir unausloſchlich ein: noch aber gewann er nicht die Kraft zu feiner nothwendigen Wiedergeburt in mir.

Etwas recht Großes zu machen, eine Oper zu fehreiben, zu deren Aufführung nur die bedeutendften Mittel geeignet fein follten, die ich daher nie verfucht fein könnte in den Verhält- niffen, die mich drückend und beengend umgaben, vor das Publi- tum zu bringen, und die mich fomit, um ihrer einftigen Auffüg- zung willen, beftimmen follte Alles aufzubieten, um auß jenen Verhaltniſſen herauszufonımen, das entſchied mich nun, den Plan zum „Rienzi“ mit vollem Eifer wieder aufzunehmen und auszuführen. Auch hier fiel mir bei der Tertverfertigung im Wefentlichen noch nichts Anderes ein, als ein wirkungsvolles Opernbuch zu fchreiben. Die „große Oper“, mit all’ ihrer fce- nifchen und mufifafifchen Pracht, ihrer effeftreichen, mufifalifch: maffenhaften Leidenſchaftlichkeit, fand vor mir; und fie nicht etwa bloß nachzuahmen, jondern, mit rückhaltsioſer Verſchwen⸗ dung, nach allen ihren bisherigen Erjcheinungen fie zu über- bieten, das wollte mein fünftlerifcher Ehrgeiz. Dennoch würde ich gegen mich felbft ungerecht fein, wenn ich in dieſem Ehrgeize Alles inbegriffen jehen wollte, was mich bei der Konzeption und Ausführung meines Nienzi beftimmte. Der Stoff begeifterte mid) wirklich, und Nichts fügte ich meinem Entwurfe ein, was nicht eine unmittelbare Beziehung zu dem Boden diefer Be geifterung Hatte. Es handelte ſich mir zu allernächft um meinen

Eine Wittheilung an meine Freunde. 259

Nienzi, und erft wenn ich mich Hier befriedigt fühlte, ging ich auf die große Oper los. In rein künſtleriſcher Beziehung war diefe große Oper aber gleichfam die Brille, durch die ich unbe- " wußt meinen Rienziftoff ſah; nichts fand ich an diefem Stoffe erheblich, was nicht durch jene Brille erblidt werden konnte. Wohl fah ich immer ihn, diefen Stoff; und nie Hatte ich zunächit beftimmte rein mufitalifche Effekte im Auge, die ich etwa nur an biefem Stoffe anbringen wollte; nur ſah ich ihn nicht anders als in der Geftalt von „fünf Akten“, mit fünf glänzenden „sie nale’3“, von Hymnen, Aufzügen und mufifalifchem Waffen- geräufh. So verwandte ic) auch durchaus noch feine größere Sorgfalt auf Sprache und Vers, als es mir nöthig fchien, um einen guten, nicht trivialen, Operntert zu liefern. Ich ging nicht darauf aus, Duette und Terzette zu fchreiben; aber fie fanden fich hie und da ganz vom felbft, weil ich meinen Stoff eben nur durch die „Oper“ hindurch ſah. Im Stoffe fuchte ih 3. ©. auch keinesweges eben nur einen Vorwand zum Ballet; aber mit den Augen des Opernfomponiften gewahrte ih in ihm ganz von felbft ein Feſt, das Rienzi dem Wolfe geben müſſe, und in weldem er ihm eine draſtiſche Scene aus der alten Ge— ſchichte als Schaufpiel vorzuführen habe: dieß war die Gedichte der Lufretia und der mit ihr zufammenhängenden Vertreibung der Tarquinier aus Rom*). So beftinmte mich in allen Theilen meines Vorhabens allerdings ftet3 nur der Stoff, aber ich be- ftimmte den Stoff wiederum nach der einzig mir vorſchwebenden großen DOpernform. Meine künſtleriſche Individualität mar den Eindrüden des Lebens gegenüber noch in ber Wirkung rein künſtleriſcher, oder vielmehr kunſtförmlicher, mechanifch bedingen- der Eindrüde durchaus befangen. .

Als ich die Kompofition der beiden erjten Akte diefer Oper beendigt, drängte mich endlich meine äußere Lage dazu, voll— kommen mit meinen bisherigen Verhältniffen zu brechen. Ohne im Geringften mit ausreichenden Mitteln dazu verfehen zu fein, ohne die mindefte Ausficht, ja ohne nur einen bekannten Men-

*) Daß biefe Pantomime auf ben Theatern, bie den Rienzi aufführten, außbleiben mußte, war ein empfindlicher Nachtheil für mid; denn das an ihre Stelle tretende Ballet Ienkte die Beurthei- lung von meiner ebleren Intention ab, und ließ fie in biefer Scene nichis Anderes als einen ganz gewöhnlichen Opernzug erbliden.

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260 Eine MittHeilung an meine Freunde.

ſchen dort vermuten zu ditrfen, machte ich mich gerabesweges von Riga nach Parid auf. Unter den mwiderlichiten Umftänden ward eine vier Wochen dauernde Seereife zurüdgelegt, bie mich aud) an die Küfte Norwegen's brachte. Hier tauchte mir der „fliegende Holländer“ wieder auf: an meiner eigenen Lage ge- mann er Seelenkraft; an den Stürmen, den Waſſerwogen, dem norbifchen Felſenſtrande und dem Sciffgetreibe, Phyfiognomie und Farbe. Paris verwiſchte mir jedoch zunächſt wieder dieſe Geſtalt. Es iſt unnöthig, die Eindrücke näher zu ſchildern, die Paris mit ſeinem Kunſtweſen und Kunſtgetreibe auf einen Menſchen in meiner Lage machen mußte; in dem Charakter meiner Thä— tigkeit und Unternehmungen wird ifr Einfluß am leichteſten wieder zu erfennen fein. Den zur Hälfte fertigen Rienzi Iegte ich zunächft bei Seite, und mühte mich auf jede Weife zum Be— Tanntwerben in der Weltftabt zu gelangen. Hierzu fehlten mir aber vor Allem die perfönlichen Eigenjchaften: kaum hatte ich das Sranzöfifhe, dad mir an fich inftinktmäßig zuwider war, für dad allergewöhnlichſte Bedürfniß erlernt. Nicht im Min- deften fühlte ich Neigung, das franzöſiſche Weſen mir anzueignen; aber ich fchmeichelte mir mit der Hoffnung, ihm auf meine Weiſe beifommen zu können; ich traute der Muſik, als Uller- weltsſprache, die Eigenschaft zu, zwifchen mir und dem Parifer Weſen eine Muft auszufüllen, über deren Vorhandenfein mich mein innered Gefühl nicht täufhen konnte. Wenn ich den - glänzenden Aufführungen der großen Oper beiwohnte, was übri« gend nicht häufig geſchah, fo ftieg mir eine wohlfüftig ſchmeich- lerifhe Wärme auf, die mich zu dem Wunfche, zu der Hoffnung, ja zu der Gewißheit erhigte, hier noch triumphiren zu fönnen: diefer Glanz der Mittel, von einer begeifternden Fünftlerifchen Abficht verwendet, ſchien mir der Höhepunkt der Kunſt zu fein, und. ich fühlte mich durchaus nicht unfähig, diefen Höhepunkt zu erreichen. Außerdem entjinne ic) mich einer fehr bereitwilligen Stimmung, mid; an allen Erſcheinungen jener Kunftwelt zu er- wärmen, bie irgendwie meinem Biele verwandt fich darftellten: das Seichte und Inhaltsloſe verdedte fi mir durch einen Glanz der finnlichen Erſcheinung, wie ich ihn noch nie wahrgenommen hatte. Ext fpäter fam mir zum Bewußtſein, wie ich mich dennoch hierüber, durch eine faft fünftliche Erregtheit, felbft täufchte:

Eine Mittheilung an meine Freunde. 261

diefe gutwillige, gern bis zur leichtfertigen Hingeriſſenheit ſich fteigernde Erregtheit, näbrte fi, mir unbewußt, aus dem Ge- fühle meiner äußeren Lage, die ich als eine ganz troftlofe er- kennen mußte, wenn ich mir plößlich eingeftanden hätte, daß all’ dieſes Kunſtweſen, das die Welt ausmachte, in der ich vorwärts tommen follte, mich zu tieifter Verachtung anwiderte. Die äußere Noth zwang mich, diefes Geftändniß fern von mir zu halten; ich vermochte dieß mit der gutmüthig bereitwilligen Laune eined Menſchen und Künftlers, den ein unwillkürlich drängendes Lie— besbebürfniß in jeder Lächelnden Erfheinung den Gegenftand feiner Neigung zu erkennen glauben läßt.

In diefer Lage und Stimmung fah ich mic veranlafit, auf bereit3 übertwundene Standpunkte mic zurüdzuftellen. Aus— fichten waren mir geboten worden, eine Oper leichteren Genre's auf einem untergeordneteren Theater zlır Aufführung gebracht zu fehen: ich griff deßhalb zu meinem „Liebeöverbote“ zurüd, von dem eine Überjegung begonnen wurde. Durch die Bejchäftigung Hiermit fühlte ich mich innerlich um fo mehr gebemüthigt, als ich mir äußerlich den Anſchein der Hoffnung auf diefe Unternehmung zu geben gezwungen war. Um mich durch Sänger der Pa- rifer Salonswelt empfehlen zu laſſen, komponirte ich mehrere franzöſiſche Romanzen, die, trog meiner entgegengefeßten Abſicht zu ungewohnt und ſchwer erfchienen, um endlich wirklich gefun- gen zu werben. Aus meinem tief unbefriedigten Innern ſtemmte ich mich gegen die widerliche Rückwirkung diefer äußer- lichen fünftlerifchen Thätigfeit, durch den ſchnellen Entwurf und die ebenfo raſche Ausführung eines Orchefterftüdes, das ich „Ouvertüre zu Goethe's Fauſt“ nannte, das eigentlich aber nur den erften Sa einer großen Fauſtſymphonie bilden follte.

Bei vollfommener Erfolglofigfeit aller meiner Beftrebungen nad) Außen, drängte die äußere Noth mic) endlich zu einer noch immer tieferen Herabftimmung des Charafterd meiner künſtleri⸗ ſchen Thätigkeit: ich erklärte mich felbft bereit zur Anfertigung der Mufit zu einem gaffenhauerifchen Vaudeville für ein Youlevarb- theater. Auch dazu gelangte ich aber vor der Eiferfudt eines mufifalifhen Geldeinnehmers nicht. So mußte es mir faft als

.Erlöfung gelten, als ich gezwungen war, mich mit ber Anferti- gung bon Melodieenarrangementd aus „beliebten“ Opern für das Cornet & pistons zu beſchäftigen. Die Beit, die mir dieſe

262 Eine Mitteilung an meine freunde.

Arrangements übrig ließen, verwendete ich nun auf die Vollen- dung der Kompofition der zweiten Hälfte des Rienzi, für dem ich jegt nicht mehr an eine franzöfifche Überfegung dachte, ſon— dern irgend ein deutſches Hoftheater in Ausficht nahm. Die drei ‚legten Ufte diejer Oper wurden unter den bezeichneten Umftän= den in verhältnigmäßig ziemlich kurzer Zeit fertig.

Nach Beendigung des Nienzi, und bei fortwährender Ta- gesbeihäftigung mit mufifhänblerifcher Lohnarbeit, geriet ich auf einen neuen Ausweg, meinem gepreßten Innern Luft zu machen. Mit der Fauftouverture hatte ich e8 zuvor rein mufi- Talifch verſucht; mit der muftfalifchen Ausführung eines älteren dramatifchen Plane, des Rienzi, fuchte ich der Richtung, die mid) eigentlich nach Paris geführt hatte und für die ih mir num Alle verſchloſſen fah, ihr Tünftlerifches Recht angedeihen zu laſſen, indem ich fie für mich abſchloß. Mit diefer Vollendung ftand ich jegt gänzlich außerhalb des Bodens meiner bisherigen Vergangenheit. Ich betrat nun eine neue Bahn, die der Res volution gegen die fünftlerifhe Öffentlidfeit ber Gegenwart, mit deren Zuftänden ich mich bisher zu befreunden gefucht Hatte, als ich in Parid deren glänzendfte Spige auffuchte. Das Gefühl der Nothwendigkeit meiner Empörung machte mic zunächft zum Schriftfteller. Der Verleger der Gazette mu- sicale gab mir, neben den Arrangements von Melodieen, um mir Geld zu verichaffen, auch auf, Artikel für fein Blatt zu ichreiben. Ihm galt beides vollkommen gleich: mir nicht. Wie id in jener Arbeit meine tieffte Demüthigung empfand, ergriff ich diefe, um mic) für die Demüthigung zu rächen. Nach eini- gen, allgemeineren mufifalifhen Artikeln, ſchrieb ih eine Art von Kunſtnovelle; „eine Pilgerfahrt zu Beethoven“, mit welcher im Zuſammenhange ich eine zweite folgen ließ: „bad Ende eines Muſilers in Paris”. Hierin ftellte ich, in erbichteten Bügen und mit ziemlihem Humor, meine eigenen Schidfale, namentlih in Paris, bis zum wirklichen - Hungertode, dem ich glüdficherweife allerdings entgangen war, dar. Was ich fchrieb, war in jedem Zuge ein Schrei der Empörung gegen unfere modernen Kunft- zuftände: es ift mir verfichert worden, daß dieß vielfach amüfirt habe. Meinen wenigen treuen Freunden, mit denen ih in trübfelig traufiher Zurüdgezogenheit des Abends bei mir mic) zufammenfand, hatte ich hiermit aber außgefprochen, daß bon

Eine MittHeilung an meine Freunde. 263

mir vollftändig mit jedem Wunfche und jeder Ausficht auf Paris gebrochen, und der junge Mann, der mit jenem Wunfche und jener Ausficht nad) Paris kam, wirklich des Todes geftorben fei. Es war eine wohllüſtig ſchmerzliche Stimmung, in der ih

mid) damals befand; fie gebar mir den längſt bereit8 empfan- genen „liegenden Holländer”. Alle Jconie, aller bittere ober Humoriftifhe Sarkasmus, wie er in ähnlichen Lagen all’ unferen fehriftftellernden Dichtern als einzige geftaltende Trieb» kraft verbleibt, war von mir zunächft in den genannten und ihnen noch folgenden litterariſchen Ergüffen vorläufig fo weit losgelaſſen und ausgeworfen worben, daß ich nad dieſer Ent ledigung meinem inneren Drange nur durch wirkliches künſt⸗ leriſches Geftalten genügen zu können in den Stand geſetzt war. Wahrſcheinlich hätte ich nach dem Erxlebten, und von dem Stand- punfte auß, auf den mich die Lebenserfahrung geftellt hatte, dieſes Vermögen nicht gewonnen, wenn ich eben nur fchrifts ftelevifch-bichterifche Fähigkeiten von Jugend auf mir angeeignet hätte; vielleicht wäre ich in die Bahn unferer modernen Littes raten und Thenterftüddichter getreten, die unter den Heinlichen Einflüffen unferer formellen Lebensbeziehungen, mit jedem ihrer profaifchen ober gereimten Zederzüge, gegen wiederum formelle fußerungen jener Beziehungen zu Felde ziehen, und fo ungefähr einen Krieg führen, wie ihn in unferen Tagen General Willifen und feine Getreuen gegen die Dänen führten; ich würde fehr ver- muthlih jo um mid populär auszudrüden die Han- tirung des Treibers ausgeübt haben, der auf den Sad Schlägt, wenn er ben Eſel meint: wäre id) nicht durch Eines höher be— fähigt geweſen, und dieß war mein Crfülltfein von der Mufit. Über das Wefen der Mufit habe ich mid; neuerdings zur Genüge ausgeſprochen; ich will ihrer Hier nur als meined guten Engeld gebenfen, der mich als Künſtler bewahrte, ja in Wahr- beit erft zum Künftler machte von einer Beit an, wo mein em- pörtes Gefühl mit immer größerer Beſtinmtheit gegen unfere ganzen Kunftzuftände ſich auflehnte. Daß diefe Auflehnung nicht außerhalb des Gebietes der Kunft, vom Standpunfte weber des fritifirenden Litteraten, noch des funftverneinenden, fozia- liſtiſch rechnenden, politifchen Mathematikers unferer Tage, aus geihab, fondern daß meine revolutionäre Stimmung mir felbft den Drang und die Fähigkeit zu fünftlerifhen Thaten erwedte,

264 "Eine Mittheilung an meine Freunde.

dieß verdanfe ich mie gefagt nur der Mufil. Soeben nannte ich fie meinen guten Engel. Diefer Engel war mir nicht vom Himmel herabgefandt; er fam zu mir aus dem Schmweiße des menſchlichen Genie's von. Fahrhunderten:- er 'berührte nicht mit unfühlbar fonniger Hand etwa den Scheitel meines Hauptes; in der blutwarmen Nacht meines heftig verlangenden Herzens nährte er ſich zu gebärender Kraft nach Außen für die Tages- welt, Ich ann den Geift der Mufil nicht anders fufien, ala in der Liebe. on feiner heiligen Macht erfüllt, gewahrte ich, bei erwachſender Sehkraft des menschlichen Lebensblides, nicht einen zu kritiſirenden Formalismus vor mir, fondern durch dieſen Sormalismus hindurch erfannte ih, auf dem Grunde der Er- ſcheinung, durch fympathetiihe Empfindungskraft dad Bedürfniß der Liebe unter dem Drude eben jenes liebloſen Formalismus'. Nur wer das Bedürfniß der Liebe fühlt, erfennt daſſelbe Be— dürfniß in Anderen: mein von der Muſik erfüllte künſtleriſches Empfängnißvermögen gab mir die Fähigkeit, dieſes Bedürfniß aud in der Kumftwelt überall da zu erkennen, mo ich durch die abtoßende Berührung mit ihrem äußerlichen Sormalismus mein eigenes Liebeövermögen verlegt, und aus biefer Verlegung ge- abe mein eigene Liebesbebürfniß thätig erwacht fühlte. So empörte ich mich aus Liebe, nicht aus Neid und Ärger; und fo ward ich daher Künſtler, nicht Fritifcher Litterat.

Den Einfluß, den mein mufifalifhes Empfindungswefen

" auf die Geftaltung meiner Tünftlerifchen Arbeiten, namentlich auch auf die Wahl und Bildung der dichteriſchen Stoffe ausübte, will ih feinem Weſen nad) bezeichnen, wenn ich an der Darftellung der Entftehung und bes Charakter der Urbeiten, die von mir unter diefem Einfluffe zu Tage kamen, dieſe Bezeichnung mir für das Verftändniß erleichtert haben werbe. Für jet gebe ich diefe Darftellung.

Die Richtung, in die ich mich mit der Konzeption des „flie- genden Holländerd” ſchlug, gehören die beiden ihm folgenden dramatiihen Dichtungen, „Tannhäufer“ und Lohengrin“, an. Mir ift der Vorwurf gemacht worden, daß ich mit biefen Arbeiten in die wie man meint durch Meyerbeer’3 „Ro- bert der Teufel” überwundene und gefchloffene, von mir mit meinem „Rienzi“ bereit jelbft verlafjene, Richtung der „roman- tiſchen Oper“ zuridgetreten fei. Für Die, welche mir diefen

Eine Mittheilung an meine Freunde. 265

Vorwurf machen, ift die romantifhe Oper natürlich eher vor- handen, al8 die Opern, die nach einer fonventionell Haffifizie renden Annahme „romantiſche“ genannt werben. Ob ich von einer fünftlerifch formellen Abficht aus auf die Konftruftion von „romantifchen“ Opern ausging, wird ſich heraußftellen, wenn ich die Entſtehungsgeſchichte jener drei Werke genau erzähle,

Die Stimmung, in ber id) den „fliegenden Holländer“ em— pfing, Habe ich im Allgemeinen bezeichnet: die Empfängnik war genau fo alt, als die Stimmung, die ſich anfangs in mir nur vorbereitete, und, gegen berüdende Eindrücke ankämpfend, end⸗ lich zu der Hußerungsfähigkeit gelangte, daß fie in einem ihr angehörigen Kunſtwerke fih ausdrüden konnte. Die Geftalt de3 „fliegenden Holländers“ ift das mhthifche Gedicht des Vol- kes: ein uralter Zug des menfchlichen Weſens fpricht fich in ihm mit herzergreifender Gewalt aus. Diefer Zug ift, in feiner all- gemeinften Bebeutung, die Sehnfucht nad Ruhe aus Stürmen des Lebens. In der heitern hellenifchen Welt treffen wir ihn in den Irrfahrten des Odyſſeus und in feiner Sehnfucht nach der Heimath, Haus, Heerd und Weib, dem wirklich Erreich- baren und endlid Erreihten des bürgerfreudigen Sohnes bes alten Hellas. Das irdiſch heimathloſe Chriſtenthum faßte dieſen Bug in die Geftalt des „ewigen Juden“: diefem immer und ewig, zweck- und freudlos zu einem längft außgelebten Leben berdammten Wanderer blühte feine irdiſche Erlöfung; ihm blieb al einziges Streben nur die Sehnfucht nah dem Tode, als einzige Hoffnung die Ausficht auf das Nichtmehrfein. Am Schluſſe de3 Mittelalters Ienkte ein neuer, thätiger Drang bie Völker auf da8 Leben hin: weltgeſchichtlich am erfolgreichften äußerte er ſich als Entdedungstrieb. Das Meer ward jegt der Boben des Lebens, aber nicht mehr das Meine Binnenmeer der Hellenenwelt, ſondern das erdumgürtende Weltmeer. Hier war mit einer alten Welt gebrochen; die Sehnſucht bes Odyſſeus nad Heimath, Heerd und Eheweib zurüd, hatte fi, nachdem fie an den Leiden de3 „ewigen Juden” bis zur Sehnfucht nach dem Tobe genährt worden, zu dem Verlangen nad} einem Neuen, Unbefannten, noch nicht fihtbar Vorhandenen, aber im Voraus Empfundenen, gefteigert. Diefen ungeheuer weit ausgedehnten Zug treffen wir im Mythos des fliegenden Holländers, diefem Gedichte des Seefahrervolles aus der weltgefchichtlihen Epoche

266 Eine Mittheilung an meine Freunde,

der Entdeckungsreiſen. Wir treffen auf eine, vom Bolkögeifte bewerfftelligte, merfwürbige Mifhung des Charakter des ewigen Juden mit dem des Obyffeus. Der Holländifche Seefahrer ift zur Strafe feiner Kühnheit vom Teufel (das ift hier fehr erficht- lich: dem Elemente der Wafferfluthen und der · Stürme) ver- dammt, auf dem Meere in alle Ewigkeit raſtlos umherzuſegeln. Als Ende feiner Leiden erfehnt er, ganz wie Ahasveros, dem Tod; diefe, dem ewigen Yuben noch vermehrte Erlöfung kann der Holländer aber gewinnen durch ein Weib, das fih aus Liebe ihm opfert: die Sehnfucht nad) dem Tobe treibt ihn fomit zum Aufſuchen dieſes Weibes; dieß Weib ift aber nicht mehr die heimathlich forgende, vor Beiten gefreite Penelope des Odyſſeus, fondern es ift dad Weib überhaupt, aber dad noch unvorhan- dene, erfehnte, geahnte, unendlich weibliche Weib, fage ich es mit einem Worte heraus: bad Weib ber Zukunft.

Die war ber „fliegende Holländer“, ber mir aus ben Siümpfen und Fluthen meines Lebens fo wiederholt und mit fo ummiberftehlicher Anziehungskraft auftauchte; das war daß erfte Volksgedicht, daß mir tief in das Herz drang, und mich als fünftlerifhen Menſchen zu feiner Deutung und Geftaltung im Kunftiwerfe mahnte.

Von Hier an beginnt meine Laufbahn als Dichter, mit der ich die des Verfertigers von Opernterten verließ. Und doch that ich hiermit feinen jähen Sprung. Nirgends wirkte die Re— flegion auf mid ein; denn Reflerion ift nur aus der Kombi- nation vorhandener Erfheinungen als Beiſpiele zu gewinnen: die Erfcheinungen, die mir auf meiner neuen Bahn als Beifpiele hätten dienen fönnen, fand ich aber nirgends vor. Mein Ber: fahren war neu; es war mir aus meiner innerften Stimmung angemwiefen, von dem Drange zur Mittheilung diefer Stimmung aufgenöthigt. Ich mußte, um mich von Innen heraus zu bes freien, d. 5. um mich gleihfühlenden Menfchen aus Bebürfniß des Verftändniffes mitzutheilen, einen durch die äußere Erfah: rung mir noch nicht angewiefenen Weg als Künftler einfchlagen, und was hierzu drängt, ift Nothivendigfeit, tief empfunbene, nicht aber mit dem praftifchen Verſtande gemußte, zwingende Nothwendigkeit.

Stelle ich mich hiermit meinen Freunden als Dichter vor, ſo ſollte ich faſt Bedenken tragen, ſchon mit einer Dichtung, wie

Eine Mittheilung an meine Freunde. 267

der meined fliegenden Holländers, es zu thun. Im ihr ift fo Vieles noch umentfchieben, das Gefüge der Situationen meift noch fo verſchwimmend, die bichterijche Sprache und ber Vers oft noch des indivihuellen Gepräges fo bar, daß namentlich un fere modernen Theaterftücdichter, die Alles nah einer abge ſehenen Form konſtruiren, und von dem eitlen Wiffen ihrer an- gelernten formellen Fähigfeit auß auf das Auffinden beliebiger Stoffe zur Behandlung in diefer Form ausgehen, die Vezeich- nung dieſer Dichtung als folcher mir für eine Hart zu züchtigende Frechheit anrechnen werden. Weniger als die Furcht vor diefer zu erwartenden Strafe, würde mich mein eigenes Bedenken gegen die Form diefer Dichtung fümmern, wenn es meine Abficht wäre, mich mit dieſem Gedichte überhaupt als eine vollendete Erſchei- nung hinzuftellen; wogegen e8 mic) gerade reizt, meinen Freun⸗ den mich in meinem Werden vorzuführen. Die Form der Dich tung des fliegenden Holländer war mir aber, wie überhaupt die Form jeder meiner nachherigen Dichtungen, bis auf bie äußerjten Züge der mufitalifchen Ausführung, von dem Stoffe infoweit angewiefen, als er mir zum Eigenthum einer entfdeis denben Lebensſtimmung geworben war, und id durch Übung und Erfahrung auf dem eingefchlagenen Wege felbft mir bie Fäbigfeit zu künſtleriſchem Geftalten überhaupt gewonnen Hatte. Auf das Charalteriſtiſche dieſes Geftaltens zurüdzulommen behalte ich mir, wie gefagt, vor. Für jeßt fahre ich fort, die Entſtehungsgeſchichte meiner Dichtungen zu verfolgen, nachdem ich eben nur auf ben entjeheidenden Wendepunkt meines künſt⸗ leriſchen Entwickelungsganges auch in formeller Hinfiht aufs mertfam gemacht Haben wollte.

Unter äußeren Umftänden, die id} anderswo“) bereits mei- nen reunden berichtete, führte ich ben „fliegenden Holländer“ mit großer Schnelligkeit in Dichtung und Muſik aus. Ich Hatte mid) von Parid auf das Land zurüdgezogen, und trat von hier aus wieder in erjte Berührung mit meiner beutfchen Heimath. Mein Rienzi war in Dresden zur Aufführung angenommen worden. Diefe Annahme galt mir im Allgemeinen für ein fat überrafhend aufmunterndes Liebeszeichen und einen freund»

*) Siehe bie autobiographifche Skizze im erften Bande biefer Sammlung.

268 Eine Mittheilung an meine Freunde.

lichen Gruß aus Deutfchland, die mid um fo wärmer für Die Heimath ftimmten, als die Parifer Weltfuft mich mit immer eifigerer Kälte anmehte. Mit all’ meinem Tichten und Trachten war id) ſchon ganz nur noch in Deuticland. Ein empfindungs⸗ voller, fehnfüchtiger Patriotismus ftellte ji bei mir ein, von dem ich früher durchaus feine Ahnung gehabt hatte. Diefer Patriotismus war frei von jeber politifchen Beifärbung; denn jo aufgeflärt war ich allerdings ſchon damals, daß daß politifche Deutfhland, etwa dem politifchen Frankreich gegenüber, nicht die mindefte Anziehungskraft für mic befaß. Es war dad Ge- fühl der Heimathlofigkeit in Paris, das mir Die Sehuſucht nach der deutfchen Heimath erwedte: dieſe Sehnfucht bezog ſich aber nicht auf ein Altbefanntes, Wieberzugewinnendes, ſondern auf ein geahntes und gewünſchtes Neues, Unbelanntes, Erſtzuge⸗ gewinnended, von dem ich nur das Eine wußte, daß id; es hier in Paris gewiß nicht finden würde. Es war die Gehnfucht meine3 fliegenden Holländer nach dem Weibe, aber, wie gejagt, nicht nach dem Weibe des Odyſſeus, ſondern nad) dem erlöfenden Weibe, deſſen Büge mir in feiner ficheren Geftalt entgegentraten, das mir nur wie das weibliche Efement über- haupt vorſchwebte; und dieß Element gewann hier den Ausdrud der Heimath, d. 5. des Umjchloffenfeins von einem innig ver- trauten Allgemeinen, aber einem Allgemeinen, das ic) noch nicht fannte, fondern eben erft nur erfehnte, nach der Verwirklichung bes Begriffes „Heimath”; wogegen zuvor das durchaus Fremde meiner früheren engen Lage als erlöjendes Element vorfchwebte, und der Drang, es aufzufinden, mic) nach Paris getrieben Hatte. Wie ich in Paris enttäufcht worden mar, follte ich es num auch in Deutfhland werden. Mein fliegender Holländer hatte aller- dings die neue Welt noch nicht entdedt: fein Weib konnte ihn nur durch ihren und feinen Untergang erlöfen. Doc fahren wir fort!

Ganz ſchon nur mit meiner Rückkehr nad Deutfchland, und mit der Befchaffung der nöthigen Mittel dazu bejchäftigt, mußte ich, gerade um diefer letzteren willen, nad) der Beendi- gung bes fliegenden Holänderd noch einmal zur mufifhänd- leriſchen Lohnarbeit greifen. Ich machte Mlavieraußzüge von Halevy'ſchen Opern. Ein getvonnener Stolz bewahrte mid) aber beveitS vor ber Bitterkeit, ‚mit der mich früher diefe De—

Eine Mittheilung an meine Freunde. 269

mũthigung erfüllt hatte, Ich behielt guten Humor, korreſpon⸗ dirte mit der Heimath wegen ber vorrüdenden Burüftungen zur Aufführung des Nienzi; auß Berlin traf feloft die Veftätigung der Annahme meines fliegenden Holländer zur Wufführung ein. Ich lebte ganz ſchon in der erjehnten, num bald zu betretenden heimifchen Welt.

In diefer Stimmung fiel mir da8 deutſche Vollsbuch vom „Zannhäufer“ in bie Hände; dieſe wunderbare Geftalt der Volksdichtung ergriff mich fogleich auf das Heftigfte; fie konnte dieß aber auch erft jegt. Keineswegs war mir der Tannhäufer an fi eine völlig unbekannte Erſcheinung: ſchon früh war er mir duch Tiechs Erzählung befannt geworben. Er hatte mid, damals in der phantaſtiſch myſtiſchen Weife angeregt, wie Hoff mann’3 Erzählungen auf meine jugendliche Einbildungskrajt gewirkt hatten; nie aber war von biefem Gebiete aus auf meinen Tünftlerifchen Geftaltungstrieb Einfluß ausgeübt worden. Das durchaus moderne Gedicht Tied’3 las ich jegt wieder durch, und begriff nun, warum feine myſtiſch kokette, katholiſch frivole Ten- denz mich zu feiner Theilnahme beftimmt Hatte; es warb mir dieß aus dem Vollsbuche und dem ſchlichten Tannhäuferliede er- fichtlich, aus bem mir daS einfache ächte Vollögedicht der Tann— häufergeftalt in fo unentftellten, ſchnell verjtänblihen Bügen entgegentrat. Was mid) aber vollends unmwiberftehlich anzog, mar bie, wenn auch fehr Iofe Verbindung, in die ich den Tann-. häufer mit dem „Sängerkrieg auf Wartburg“ in jenem Volks- buche gebracht fand. Auch diefes dichterifche Moment hatte ich bereits früher durch eine Erzählung Hoffmann’3 kennen gelernt; aber, gerade wie bie Tieck ſche vom Tannhäuſer, Hatte fie mic) ganz ohne Anregung zu dramatifcher Geftaltung gelaſſen. Jetzt gerieth ich darauf, dieſem Süngerfriege, der mic) mit feiner gan- zen Umgebung fo unendlich heimathlich anwehte, in feiner ein— fachften, ächteften Geftalt ‘auf die Spur zu kommen,; dieß führte mid) zu dem Gtubium des mittelhochdeutſchen Gedichtes vom „Sängerkriege”, das mir glüdficher Weife einer meiner Freunde, ein beutfcher Philolog, der es zufällig in feinem Beſitze hatte, verſchaffen Tonnte. Diefes Gedicht ift, wie befannt, unmittel- bar mit einer größeren epiſchen Dichtung „Lohengrin“ in Bufammenhang gejeßt: auch dieß ftubirte ich, und Hiermit war mir mit einem Schlage eine neue Welt dichterifchen Stoffes

270 Eine Mittheilung an meine Freunde.

erſchloſſen, von der ih zuvor, meift nur auf bereit Zertiges, für das Operngenre Geeigneted außgehend, nicht eine Ahnung gehabt Hatte. Ich muß die hieraus gewonnenen Eindrüde näher bezeichnen.

Wichtig wird es mandem Anhänger der Hiftorifc-dich- terifhen Schule fein, zu erfahren, daß ich zwiſchen ber Vollen- dung de3 fliegenden Holländer8 und ber Konzeption des Tann häufers, mich mit dem Entwurfe zu einer Hiftorifchen Opern- dichtung befcäftigte; unerfreulich, und als Beweis für meine Unfäpigfeit wird es ihm gelten, wenn er erfährt, daß ich Dielen Entwurf gegen den des Tannhäufers fahren ließ. Ich will für jest hier einfach nur den Hergang berichten, weil ich den hierher bezüglichen äfthetifchen Gegenftand bei der Erzählung eines fpäteren Konfliftes ähnlicher Art, näher zu beſprechen Beran- lafjung gewinnen werbe.

Meine Sehnſucht nad) der Heimath Hatte, fagte ich, Nichts von dem Charakter des politiichen Patriotismus; dennoch würde ih unwaßr fein, wenn ich nicht geftehen wollte, daß aud) eine politifche Bedeutung der deutfchen Heimath meinem Verlangen vorſchwebte: natürlich konnte ich diefe aber nicht in der Gegen⸗ wart finden, und eine Berechtigung zu dem Wunfche einer fol- hen Bebeutung wie unfere ganze hiſtoriſche Schule mur in der Vergangenheit auffuchen. Um mich zu vergewiſſern über Das, was ich an der deutſchen Heimath, mach der ich mich doch ſehnte, denn eigentlich Tiebte, führte ih mir das Bild der Ein- drüde meiner Jugend zurüd, und um dieß Far und deutlich zu erſehen, ſchlug ich im Buche der Gefchichte nach. Bei diefer Ge- legenheit fuchte ich auch noch nad) einem Opernitoffe: nirgends in ben großen Bügen der alten deutſchen Kaiſerwelt bot er ſich mir aber dar, und ohne deutliches Wiſſen fühlte ich, daß diefe Büge, un durchaus getreu umd verftändlich Dargeftellt zu mer- den, ganz in dem Grabe fich ber Fähigkeit zur Dramatifirung überhaupt entzogen, als fie namentlid auch meiner muſikaliſch⸗ fünftlerifchen Anſchauung, mit unumfangbarer Sprödigleit ſich entwanden. Un einem Buge endlich Haftete ich, weil ich hier ein freieres Gewährenlaſſen meines bichterifchen Geftaltungs- triebe3 mir zu erlauben für geftattet Halten durfte. Es war dieß ein Bug aus dem letzten Momenten der Hohenftaufifchen Welt. Manfred, Friedrich's II. Sohn, reißt fi) auß dem

Eine Mittheilung an meine freunde. 271

Buftande der Muthlofigfeit und Verſunkenheit in lyriſche Er- gegung, wirft fi), von äußerfter Noth gedrängt, nach Luceria, der Stadt, die von feinem Vater den aus Gicilien verjeßten Sarazenen mitten im Hochheiligen Kirchenftaate zum Wohnort angemiefen worden war, und gewinnt, zunächſt durch die Hilfe diefer ftreitlihen und leicht zu begeifternden Söhne Urabiens, da8 ganze, vom Papſte und ben herrichenden Welfen ihm be- ftrittene Reich Appulien und Sicilien; mit feiner Krönung ſchloß der dramatiſche Entwurf. Im diefen rein gefchichtlihen Vor— gang mob ich eine erdichtete weibliche Geftalt: ich entfinne mich jest, daß fie mir auß dem Unfchauen einer bereits längft mir zu Gefiht gelommenen Zeichnung, ald Erinnerung entjprang: ed mar bieß eine Darftellung Friedrich's IL., umgeben von feinem faft ganz arabiſchen Hofe, aus welchem namentlich fingende und tanzende ‚orientalische Frauengeftalten Iebhaft meine Phan- tafie feffelten. Den Geift dieſes Friedrich’, meines Lieblinges, verförperte ich nun in der Erſcheinung einer jungen Sarazenin, der Frucht einer Liebedumarmung Friedrich's und einer Tochter Arabiend während jenes friedlichen Aufenthaltes bes Kaijerd in Palaſtina. Das Mädchen Hatte daheim von bem tiefen Falle des gibelinifchen Haufes Kunde erhalten; mit dem Feuer des— felben arabifhen Enthuſiasmus', der noch jüngft dem Driente Liebeslieder für Bonaparte eingab, machte fie ſich nach Appulien auf. Dort, am Hofe des entmuthigten Manfred, erſcheint fie als Prophetin, begeiftert, reißt zu Thaten Hin; fie entzündet die Araber in Luceria, und führt, überall hin Euthuſiasmus aus— gießend, den Sohn des Kaiferd von Sieg zu Sieg bis zum Throne, Geheimnißvoll verbarg fie ihre Abkunft, um auch in Manfred felbft durch das Räthſel ihrer Erſcheinung zu wirken; er liebt fie heftig, und will das Geheimniß durchbrechen: fie weift ihn prophetiſch zurück. Bei einem Anfchlag auf fein Leben fängt fie den tödtlichen Stoß mit ihrer Bruft auf: fterbend be— kennt fie fi) als Manfred's Schweſter, und läßt ihre volle Liebe zu ihm errathen. Der gefrönte Manfred nimmt für immer von feinem Glücke Abſchied.

Dieſes, wohl nicht glanz- und wärmeloſe Bild, das meine heimathsſehnſüchtige Phantafie mir in der Beleuchtung eines Biftorifhen Sonnenunterganggfcheine8 zuführte, vertifchte fich ſogleich, als meinem inneren Auge die Geftalt des Tannhäufers

272° Eine Mittheilung an meine Freunde.

ſich darſtellte. Jenes Bild war mir von Außen vorgezaubert ; diefe Geſtalt entfprang aus meinem Inneren. In ihren unend- lich einfachen Zügen war fie mir umfaffender, und zugleich be— ftimmter, deutlicher, als das reichglänzende, ſchillernde und prangende hiftorifch-poetifche Gewebe, dad wie ein prunfend faltiges Gewand die wahre, ſchlanke menfchliche Geftalt verbarg, um deren Anblick es meinem inneren Verlangen zu thun mar, und die eben im plöglich gefundenen Tannhäufer ſich ihm dar— bot. Hier war eben dad Volks gedicht, da8 immer den Kern der Erſcheinung erfaßt, und in einfachen, plaftifchen Zügen ihn wiederum zur Erfheinung bringt; während bort, in der Ge— ſchichte d. 5. nicht wie fie an ſich war, fondern wie fie uns einzig fenntlich vorliegt diefe Erſcheinung in unendlich bun— ter, äußerlicher Zerftreutgeit fi) fundgiebt, und nicht eher zu jener plaftifchen Geſtalt gelangt, ald bis das Vollsauge fie ihrem Weſen nad; erfieht, und als künſtleriſchen Mythos geftaltet.

Diefer Tannhäufer war unendlich mehr als Manfred; denn er war ber Geift des ganzen gibelinifchen Geſchlechtes für alle Zeiten, in eine einzige, beſtimmte, unendlich ergreifende und rührende Geftalt gefaßt, in diefer Gejtalt aber Menſch bis auf den heutigen Tag, bis in da8 Herz eined Tebensfehnfüchtigen Künftlers. Doc von diefen Beziehungen fpäter!

Für jept berichte ich bloß noch, daß ich auch in ber Wahl des Tannhäuferftoffes gänzlich ohne Reflexion verfuhr, und be— ftätige fomit nur die Erſcheinung, daß ich, ohne kritiſches Be— mußtfein, durchaus unwillkürlich zu meiner Entſcheidung mid) beftimmt fühlte. Durch meine Erzählung allein erhellt es, wie ganz ungrundfäglih ich mit dem fliegenden Holländer meine neue Bahn eingefchlagen Hatte. Mit der „Sarazenin“ war ich im Begriffe gewefen, mehr oder weniger in die Richtung meines „Rienzi“ mich zurüdzumerfen, um eine große fünfaftige „Bifto- riſche“ Oper zu verfertigen: erjt der übermältigende, mein in! viduelles Wefen bei weitem energifcher erfaffende Stoff des Tann: . häufers, erhielt mich im Sefthalten der mit Nothwendigkeit ein- geichlagenen neuen Richtung. Es geſchah dieß, wie id num berichten will, unter noch andauernden lebhaften Konflikten mit zufälligen äußeren Einflüffen, die allmählich meine Richtung mir auch zu immer beutlicherem Bewußtſein bringen follten.

Endlich, nad) fast dreijährigem Aufenthalte, verließ ich,

Eine Wittgeilung an meine Freunde. 273

neunundzwanzig Jahre alt, Paris. Meine direkte Reife nach Dresden führte durch das thüringifhe Thal, aus dem man die Wartburg auf ber Höhe erblickt. Wie unſäglich heimiſch und anregend wirkte auf mic der Anblick diefer mir bereits gefeiten Burg, die ih wunderlich genug! nicht eher wirklich be— fuchen follte, als fieben Jahre nachher, wo ich bereitd ver⸗ folgt von ihr aus den legten Blick auf dad Deutſchland warf, das ich damals mit fo warmer Heimathsfreude betrat, und nun als Geächteter, landesflüchtig verlaffen mußte!

Ich traf in Dresden ein, um die verſprochene Aufführung meines Rienzi zu betreiben. Vor dem wirklichen Beginne ber Proben machte ich noch einen Ausflug in das böhmifche Gebirge: dort verfaßte ih den vollftändigen fcenifchen Entwurf des „Tann⸗ häuſer“. Bevor ich an feine Ausführung gehen fonnte, follte ich mannigfaltig unterbrochen werben. Das Einftubiren meines Rienzi begann, dem manche Burechtlegungen und Anderungen der auöfchweifenb weit außgeführten Kompoſition borangingen. Die Beihäftigung mit der endlichen Aufführung einer meiner Opern unter fo genügenden Verhältniffen, wie fie mir das Dred- dener Hoftheater darbot, war filr mich ein neues Efement, das lebhaft zerftreuend auf mein Juneres wirkte. Ich fühlte mich damal3 von meinem Grundweſen fo heiter abgezogen, und auf das Praftifche gerichtet aufgelegt, daß ich es ſogar vermochte, einen früheren, Tängft bereit8 vergefienen Entwurf zu einem DOpernfüjet, nad dem König'ſchen Romane „die hohe Braut”, für meinen nachmaligen Kollegen im Dresdener Hoffapellmeifter- amte, der eben ein Operntertbebürfniß zu empfinden glaubte, und den ich mir dadurch zu verbinden fuchte, in Teichten Opernverfen nebenbei mit auszuführen”). Die wachſende Theilnahme ber Sänger für meinen Rienzi, namentlid) der höchſt liebenswürdig fich äußernde Enthuſiasmus des ungemein begabten Sängers ber Hauptrolle, berührten mic) außerordentlih angenehm und er- hebend. Nach langem Ringen in den Heinlichiten Verhältnifien;

*) 8 ift dieß berfelbe Text, der nachdem mein Kollege es bedenklich gefunden haben mußte, etwas auszuführen, was ich ihm abtrat von Kittl, ber nirgends ein beſſeres Operhtertbudh er- halten konnte, al3 eben biejes, fomponirt, unb unter bem Zitel „bie Franzoſen vor Nizza“, mit veridiebenen K. K. öſterreichiſchen Ab- änderungen, in Prag zur Aufführung gebracht worden iſt.

Richard Wagner, Gef. Schriſten IV. 18

274 Eine Mitteilung an meine Freunde.

nad härteſtem Kämpfen, Leiden und Entfagen unter dem lieb- Iofen Parifer Kunft- und Lebensgetreibe, befand ich mic; fchnell in einer anerfennenden, fördernden, oft liebevoll entgegenfom- menden Umgebung. Wie verzeihlich, wenn id) begann mid) Täu- ſchungen zu überlaffen, aus denen ich doch mit ſchmerzlicher Em- pfindung wieber erwachen mußte! Durfte num, aber Eine ger eignet fein, mich über meine wahre Stellung zu ben beftehenden Berhältnifien zu täufchen, fo war dieß ber ungemeine Erfolg der Aufführung meines Rienzi in Dresden: ich ganz Einfamer, Verlaſſener, Heimathlofer, fand mich plötzlich geliebt, bewundert, ja von Vielen mit Erftaunen betrachtet; und, dem Begriffe un- ferer Verhältniffe gemäß, ſollte diefer Erfolg für meine ganze Lebeusexiſtenz eine gründlich) dauernde Baſis des bürgerlichen und Eünftlerijchen Wohlbefindens gewinnen durch meine, Alles überrafchende Ernennung zum Kapellmeifter der Königlich Säch- ſiſchen Hoflapelle.

Hier war e8, wo eine große, dur die Umftände mir auf- genöthigte, dennoch aber nicht ganz unbewußte Selbfttäufchung der Grund zu einer neuen leidenvollen, aber entjcheidenden Ent: widelung meines menfchlic-künftleriichen Wefend wurde. Meine früheften, dann meine Parifer, und endlich jelbft meine bereits in Dredben gemachten Erfahrungen, hatten mich nicht mehr im Unflaren über den wirffihen Charakter unferer ganzen öffent- lichen Kunftzuftände, namentlich auch fo weit fie von unferen Runftinftituten felbft ausgehen, gelaffen; mein Widerwille, mit ihnen mich anders einzulafjen, als höchſiens dig mir nöthige Auf- führung meiner Opern es erforderte, war ſchon zu großer Stärke in mir gebiehen. Daß nicht der Kunſt, wie ich fie erfennen ge- lernt hatte, fondern einem durchaus anderen, nur mit bem fünft- leriſchen Anſcheine ſich ſchmückenden Interefie, in den Erſchei— nungen unſeres öffentlichen Kunſtlebens gedient wird, war ge— rade mir zur beftimmteften Einficht gefommen. Noch aber war ich micht auf den eigentlichen Grund ber Urfachen diefer Erjcheis nung gebrungen, die ich fomit mehr nur für zufällig und will- türlich beftimmbar halten mußte: exit jegt follte mir allmählich diefer Grund ſchmerzlich Mar werden. Gegen meine wenigen näheren Freunde äußerte ich meine innerlihe Abneigung, und mein barauf begrünbdetes Bedenken gegen die Annahme ber mir in Ausſicht geftellten Hoffapellmeifterftelle unverholen. Sie

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tonnten mich‘ nicht begreifen; und das war natürlich, denn ih ſelbſt Tonnte eben nur meine innerliche Abneigung, nicht aber, vom praftifchen Verſtande begreifliche, Gründe derfelben, aus— drüden. Der Rückblick auf meine bißherigen zerrütteten, kummer⸗ ‚vollen äußeren Verhältniſſe, die von nun an ſicher georbnet wer- den follten; dann aber die Annahme, daß ich bei der getvonnenen, mir fo günftigen Stimmung der Umgebung, und namentlich bei dem beftechend ſchönen Beftande der vorhandenen Runftmittel, jebenfal3 viel Gutes für die Kunft zu Tage fördern können würde, befämpften, wie bei noch mangelnder Erfahrung gerade nad} dieſer Seite, hin leicht erklärlich ift, bald fiegreich meine Ab⸗ neigung. Das Innewerden der hohen Meinung, die man ge wohnter Weife von einer ſolchen Stellung hegt; der Glanz, in dem meine Beförderung zu ihr Anderen erichien, biendeten auch mich endlich, einen auferordentlichen Glücksfall in Dem zu er fehen, was ſehr bald die Quelle eines zehrenden Leidens für mich werben follte. Ich ward froh und freudig! König. licher Kapellmeifter.

Die ſiunlich behagliche Stimmung, "die mir durch ben Um- ſchwung meiner äußeren Verhältnifje gefommen war, und durch den erften Genuß einer gefiherten Lebenslage, namentlich aber aud) einer öffentlichen Zuneigung und Bewunderung, ſich bis zu einem wohllüftig freudigen Selbftgefühle fteigerte, verführte mid; bald immer gründfier zur Verfennung und Misverwen- dung meine3 eigentlichen Weſens, wie es ſich bis dahin mit noth-

wendiger Konfequenz entwidelt hatte. Zunächſt täufchte mich - die, immerhin wohl nicht durchaus grundlofe, Annahme eines.

fchnellen, oder wenn langſameren doch unausbleiblichen, Tohnbringenden Erfolges meiner Opern durch ihre Verbreitung über bie deutſchen Theater. Werführte mich der Hartnädige Glaube Hieran in der Folge immer mehr zu Opfern und Unter nehmungen, die bei außbleibendem Erfolge meine äußeren Ver— hältniffe von Neuem zerrütten mußten, fo Ienfte der ihm zu runde Tiegende, mehr oder weniger auf haftigen Genuß zie- ‚Iende Trieb, mic) eine Zeit lang unmerklich auch von meiner eingefchlagenen fünftleriihen Nichtung ab. Das Hierauf Bes zůgliche dünft mich der Mittheilung nicht unwerth, weil in ihm ein gewiß nicht unbedeutende Material zur Beurtheilung der Entwidelung einer künſtleriſchen Indivibualität Liegt.

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276 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Sogleich nach dem Erfolge des Rienzi auf dem Dresdener Hoftheater, faßte die Direktion den Beſchluß, auch meinen „flie- genden Holländer” alsbald zur Aufführung bringen zu laffen. Die Annahme diefer Oper von Seiten der Berliner Hoftheater- intendanz, war nichts Anderes als eine künſtlich veranlaßte, wohlfeile und durchaus erfolglofe Gefälligfeitöbezeigung ge— wejen. Bereitwillig erfaßte ich das Anerbieten ber Dresdener Direftion, und ftudirte die Oper fehnell ein, ohne fonderliche Sorge für die Mittel der Aufführung: das Werk erſchien mir unendlich einfacher für die Darftellung, al der vorangegangene Nienzi, die Anordnung ber Scene leichter und verftändlicher. Die männliche Hauptpartie zwang ich faft einem Sänger auf, der genug Erfahrung und Selbſtkenntniß hatte, um fi) der Auf- gabe nicht gewachfen zu fühlen. Die Aufführung misglüdte in der Hauptſache durchaus. Diefer Erfheinung gegenüber fühlte ſich das Publikum um fo weniger zu Erfolgsbezeigungen beftimmt, als e3 von dem Genre felbft verbrießlich berührt wurde, indem es durchaus etwas dem Mienzi Ähnliches ertvartet unb verlangt Hatte, nicht aber etwas ihm geradesweges Entgegenge- feßted. Meine Freunde waren betreten über dieſen Erfolg; es lag ihnen faft nur daran, feinen Eindrud fi und dem Publitum zu verwifhen, und zwar durch eine feurige Wiederaufnahme bes Nienzi. Ich felbft war verftimmt genug um zu ſchweigen, ‚und den fliegenden Holländer unvertheidigt zu laſſen. In meiner, bereit bezeichneten, damaligen Hauptftimmung lag es, daß ich das zunächft Erfolgreiche vorzog, und nad) Innen zu mich mit den Hoffnungen betäubte, die in jemer bisher erfolgreichen Richtung ſich mir darboten. Ich gerieth unter diefen äußeren Eindrüden von Neuem in ein Schwanken, das auf eine ftarf beuntuhigende Weife durch meine Berührungen mit der Schrö- der-Devrient vermehrt wurde.

Bereits deutete ih an, welchen außerordentlichen und nad; Haltigen Eindrud in früherer Jugend die künſtleriſche Lebend- erſcheinung diefer in jeder Hinfiht ungewöhnlichen Frau auf mic gemacht hatte. Seht, nad) einer Zwiſchenzeit von acht Jah: ren, trat ich mit ihr in perjönliche Berührung, deren Grund und Zweck meine Tünftlerifche, mir tief bedeutfame Beziehung zu ihr war. Ich traf dieſe geniale Natur mit fi) und ihrem Weſen in die mannigfaltigften Widerfprüche verwidelt, bie mich fo beun-

Eine Mittheilung an meine Freunde. 277

rubigend mit berührten, als fie mit feibenfchaftlicher Heftigkeit in ihr fi) äußerten. Die Verzerrtheit und widerliche Hohlheit unferes modernen Theaterweſens war um fo weniger ohne Ein- Fluß auf die Künftlerin geblieben, als diefe, weder als Künft- lerin noch als Weib, jene falte Ruhe des Egoismus’ bejaß, mit der fi 3. B. eine Jenny Lind gänzlich außer dem Rahmen des modernen Theaters ftellt, und fi frei von jeder fompromit- tirenden Berührung mit diefem erhält. Die Schröder-Devrient war weder in der Kunſt noch im Leben eine Erſcheinung jenes Virtuoſenthums, das nur dur dollftändige Wereinzelung ge deiht und in ihr allein zu glänzen vermag: fie war hier wie bort durchaus Dramatiferin, im vollen Sinne des Wortes; fie war auf die Berührung, auf die Verſchmelzung mit dem Ganzen Hin gedrängt, und dieß Ganze war eben in Leben und Kunft unjer ſoziales Leben und unfere theatralifche Kunft. Ich habe nie einen großherzigeren Menfchen im Kampfe mit Heinliheren Vor⸗ ftellungen gefehen, als bie, welche dieſer Frau, durch ihre wies derum nothiwendige Berührung mit ihrer Umgebung, von Außen zugeführt worden waren. Auf mich wirfte meine innige Theil- nahme für dieſes künftlerifche Weib faft weniger anregend, als peinigenb, und zivar peinigend, weil fie mich ohne Befriedigung anregte. Sie jtudirte die „Senta“ in meinem fliegenden Hol- länder, und gab biefe Rolle mit fo genial fchöpferiicher Voll⸗ endung, daß ihre Leiftung allein diefe Oper vor völligem Un- verftändniffe von Seiten des Publikums rettete, und felbft zur lebhafteften Begeifterung hinriß. Mir erweckte dieß nun ben Wunſch, für fie felbft unmittelbar zu dichten, und ich griff um dieſes Zweckes willen zu dem verlaffenen Plane der „Sarazenin“ zurück, den ich nun ſchnell zu einem vollftändigen ſceniſchen Ent wurfe ausführte. Dieſe ihr vorgelegte Dichtung ſprach fie aber wenig an, namentlih um Beziehungen willen, die fie gerade in ihrer damaligen Lage nicht wollte gelten laffen. Ein Grundzug meiner Heldin ging in den Satz auß: „bie Brophetin kann nicht wieder Weib werden“. Die Künftlerin wollte aber ohne & beſtimmt auszuſprechen das Weib durchaus nicht aufgeben; und erft jet muß ich geftehen, ihren ficheren Inſtinkt richtig würdigen zu können, wo mir bie Exfcheinungen, denen gegen- über fich ihr Inſtinkt geltend machte, verwifcht worden find, wos gegen die große Trivialität derfelben mich damald in einem

278 Eine Mitteilung an meine Freunde.

Grade anmiderte, daß ich, von ihnen auf die Fünftlerifche Frau zurüdblidend, diefe in einem ihrer unmwürbigen Begehren be- griffen halten mußte,

Ich geriet) unter folden Eindrüden in einen Widerftreit mit mir, der unferer ganzen mobernen Entwidelung eigenthüm- lich ift, und nur von Denen nicht empfunden oder als irgendwie bereit3 abgemacht angejehen wird, die überhaupt Feine Kraft zur Entwidelung haben, und dafür mit angeleruten vielleicht feloft neueften Meinungen fich für ihr Anfhauungsvermögen begnügen. Ich will verfuchen, biefen Widerftreit in Kürze fo zu bezeichnen, wie er fi in mir und meinen Verhältniffen äußerte.

Durch die glückliche Veränderung meiner äußeren Lage, durch die Hoffnungen, die ich auf ihre noch günftigere Entwicke⸗ fung ſetzte, endlich durch perſönliche, in einem gewiſſen Sinne beraufchende Berührungen mit einer mir neuen und geneigten Umgebung, war ein Verlangen in mir genährt, das mich auf Genuß Hindrängte, und um dieſes Genuffes willen mein inneres, unter leibenvollen Einbrüden der Vergangenheit und durch den Kampf gegen fie, in mir geitaltetes Weſen von feiner eigenthim- fihen Richtung ablenkte. Ein Trieb, der in jedem Menjchen zum unmittelbaren Leben Hindrängt, beflimmte mich in meinen befonderen Berhältniffen als Künftler nun in einer Richtung, die mich wiederum fehr bald und heftig anefeln mußte. Diefer Trieb wäre im Leben nur zu ftillen geweſen, wenn ih auch als Künftler Glanz und Genuß durch volftändige Unterordnung meined wahren Wefend unter die Anforderungen bed öffentlichen Kunſtgeſchmackes zu erftreben gejucht hätte; ich hätte mich der Mode und der Spekulation auf ihre Schwächen hingeben müſſen, und hier, an biefem Punkte, wurde e8 meinem Gefühle Kar, daß ich beim wirklichen Eintritte in diefe Richtung vor Ekel zu Grunde gehen müßte. - Sinnlichfeit und Lebendgenuß ftellten ſich fomit meinem Gefühle nur in ber Geftalt Defjen dar, was unfere moderne Welt als Sinnlichkeit und Lebensgenuß bietet; und als Künftler ftellte ſich dieß mir ald erreichbar wiederum nur in der Richtung dar, die ich bereit ald Ausbeutung unſeres elen- den öffentlichen Kunſtwefens kennen gelernt hatte. Im Punkte der wirklichen Liebe beobachtete ich zu gleicher Beit an einer von mir beimunderten Frau die Erſcheinung, daß ein dem meinigen

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gleiches Verlangen ſich nur an den trivialften Begegnungen be- friedigt wähnen durfte, und zwar in einer Weife, daß der Wahn dem Bebürfniffe nie wahrhaft verhüllt werden konnte. Wanbte ich mich nun endlich hiervon mit Widerwillen ab, unb verdantte ic) die Kraft meines Widerwillend nur meiner bereitö zur Gelbftän- digkeit entwidelten, menfchli-fünftlerifhen Natur, jo äußerte fie fi, menſchlich und küuſtleriſch, nothwendig als Sehnſucht nad Befriedigung in einem höheren, edleren Elemente, das, in feinem Gegenfage zu der einzig unmittelbar erfennbaren Genuß- finnlicjteit der mich weithin umgebenden modernen Gegenwart in Leben und Kunft, mir al8 ein reines, keuſches, jungfräuliches, unnahbar und ungreifbar liebendes erfcheinen mußte. Was end» lich tonnte diefe Liebesſehnſucht, das Edelſte, was ich meiner Natur nach zu empfinden vermochte, wieder Anderes fein, ald das erlangen nah dem Hinfchwinden aus der Gegenwart, nad) dem Erfterben in einem Elemente unendlicher, irdiſch un- vorhandener Liebe, wie e8 nur mit dem Tobe erreichbar ſchien? Was war aber dennoch im Grunde dieſes Verlangen Anderes, als die Sehnſucht der Liebe, und zwar ber wirklichen, auß dem Boden der vollſten Sinnlichkeit entkeimten Liebe, nur einer Liebe, die fi auf dem efelhaften Boden der modernen Sinn- lichkeit eben nicht befriedigen konnte? Wie albern müffen mir nun die in moderner Lüberlichfeit geiftreich gewordenen Kri- tifer vorfommen, die meinem „Zannhäufer“ eine ſpezifiſch chriſt⸗ liche, impotent verhimmelnde Tendenz andichten wollen! Das Gedicht ihrer eigenen Unfähigkeit erfennen fie einzig im Gedichte Deſſen, den fie eben nicht begreifen können.

Ich Habe hier die Stimmung genau bezeichnet, in der mir die Geftalt des Tannhäuſers mahnend wieberkehrte, und mich zur Vollendung feiner Dichtung antrieb. Es war eine verzehrend üppige Exregtheit, die mir Blut und Nerven in fiebernder Wal- lung erhielt, als ich die Mufit des Taunhäuſers entwarf und ausführte. Meine wahre Natur, bie mir im Efel vor der mo- dernen Welt und im Drange nad einem Edleren und Edelſten ganz wiedergefehrt war, umfing wie mit einer heftigen und brün- ftigen Umarmung bie äußerften Geftalten meines Weſens, die beide in einen Strom: Höchftes Liebesverlangen, münbeten. Mit diefem Werke ſchrieb ich mir mein Todesurtheil: vor ber mobernen Runftwelt Tonnte ich nun micht mehr auf Leben hoffen.

280 Eine Mittheilung an meine Freunde. x

Dieß fühlte ih; aber noch mußte ich es nicht mit voller Klar. heit: dieß Wiffen follte ich mir erſt noch geminnen. Zuvörderft Habe ich noch mitzutheilen, wie auch durch wei— tere Erfahrungen von Außen her ic) in meiner Richtung be— ftimmt wurde. Meine Hoffnungen auf fchnelle Erfolge durch Verbreitung meiner Opern auf beutjchen Theatern, blieben durch— aus unerfällt; von ben bebeutendften Direktionen wurben mir meine PBartituren oft fogar im uneröffneten Palete ohne Annahme zurüdgefhidt. Nur durch große Bemühungen. perjön- licher Freundfchaft gelang e8, in Hamburg den Rienzi zur Auf⸗ führung zu bringen: ein durchaus ungeeigneter Sänger verbarb die Hauptpartie, und der Direltor ſah ji, bei einem mühfam aufrecht erhaltenen, ungenügenden Erfolge, in feinen ihm er- regten Hoffnungen getäuſcht. Ich erfah dort zu meinem Erſtau— nen, daß feldft diefer „Rienzi“ den Leuten zu hoch gegeben war. Mag ich jelbft jegt noch fo falt auf dieſes mein früheres Werk zurüdbliden, fo muß ich doch Eines in ihm gelten laffen, den jugendlichen, heroiſch gejtimmten Enthufiasmus, der ihn durch— weht. Unſer Publikum Hat fi) aber an den Meifterwerfen der modernen Opernmadjfunft gewöhnt, Stoff zu Theaterenthufias- mus fi aus etwas ganz Anderem herauszufinden, als auß ber Grundftimmung eines dramatiſchen Werkes. In Dresden half mir etwas Anderes auf, nämlich) der rein finnliche Ungeftüm der Erſcheinung, die dort unter Umftänden, die in diefem Bezuge glüdlih waren, und namentlich durch den Glanz der Mittel und des Naturell's des Hauptfängers, in beraufchender Weife auf das Publikum wirkte. Hiergegen machte ich wieder andere Erfahrungen mit dem „fliegenden Holländer“. Bereits hatte der alte Meifter Spohr diefe Oper ſchnell in Kaſſel zur Aufführung gebracht. Dieß war ohne Aufforderung meiner Seits gejchehen; dennoch fürchtete ih, Spohr fremd bleiben zu müſſen, weil ich nicht einzufehen vermochte, wie meine jugenbliche Richtung fi zu feinem Gefchmade verhalten fönnte Wie war ich erftaunt und freudig überrafcht, als diefer graue, von der modernen Mufikwelt ſchroff und falt fich abfcheidende, ehrwürdige Meifter in einem Briefe feine volle Sympathie mir kundthat, und diefe einfach durch die innige Freude erflärte, einem jungen Künſtler zu begegnen, dem man es in Allem anfähe, baß ed ihm um die Kunft Ernft feil Spohr, der Greiß, blieb ber einzige deutſche

Eine Mittheilung an meine Freunde. 281

Rapellmeifter, der mit warmer Liebe mic, aufnahın, meine Arbeie ten nad Kräften pflegte, und unter allen Umftänden mir treu und freundlich gefinnt blieb. Auch in Berlin kam nun der fliegende Holländer zur Aufführung; ich erhielt keinen Grund zu einer eigentlichen Unzufriebenheit mit ihrer Beſchaffenheit. Die Erfahrung ihres Eindrudes auf das Publikum war mir bier aber fehr wichtig: die mißtrauifcheite, zum Schlechtfinden aufgelegtefte Berliner Kälte befjelben, die den ganzen erften Aft über angehalten Hatte, ging im Verlaufe des zweiten Aktes in vollſte Wärme und Ergriffenheit über. Ich konnte den Erfolg nicht anders als durchaus günſtig betrachten: dennoch verſchwand die Oper fehr bald vom Repertoir. Ein ſicherer Inftinkt für das moderne Theaterweſen leitete die Direktion, indem fie dieſe Oper, ſelbſt wenn fie gefiel, als unpaffend für ein Opernrepertoir an⸗ ſah. Ich erkenne heute, wie richtig Hiermit überhaupt über das Weſen ber Theaterfunft geurtheilt ift. Ein Stüd für daß Re— pertoir, das längere Zeit hindurch, oder vielleicht immer, ab» wechſelnd mit anderen Stücken feines Gleichen, einem Publikum vorgeführt werben foll, darf aus feiner Stimmung entitanden fein, und zu feinem Verſtändniſſe feine Stimmung nöthig haben, die von einer beſonderen individuellen Natur ift. Es müſſen hierzu Stüde verwandt werben, die entweder von ganz allgemein gleichgiltiger Stimmung, oder einer Stimmung überhaupt ganz bar find, alfo auch auf die Erwedung einer bejonberen Stim- mung beim Publitum gar nicht ausgehen, und nur durch den äußerlichen Reiz ber Vorführung, durch mehr oder weniger rein perfönlicde Theilnahme für die darftellenden Virtuoſen, eine zer- ftreuenbe Unterhaltung zu bewirken im Stande find. Die Vor— führung älterer, fogenannter Haffischer Werke, die zu wirklichem Berftänbniffe allerdings nur durch Erweckung individueller Stim- mungen gelangen könnten, ift nirgends das Werk der Überzeu- gung ber Thenterbirektoren, fondern, auch, für den Erfolg, nur eine mühfam künſtlich erfüllte Forderung unferer äfthetifchen Keitil. Die Stimmung, die mein „fliegender Holländer“ im glücklichen Falle zu erweden vermochte, war aber eine fo präg- nante, ungewohnte und tieferregte, daß felbft Diejenigen, die ganz von ihr erfüllt worden waren, unmöglich Häufig und ſchnell hintereinander aufgelegt fein Tonnten, in dieſelbe Stimmung ſich wieberum verjegen zu laflen. Bon folchen Stimmungen will ein

282 " Eine Mittheilung an meine Freunde,

Publikum, will jeder Menſch, überrafcht werden: der Heftige und tiefnachwirkende Schlag biefer Überrafhung ift auch als Bwed des Kunſtwerles das Wohlthätige und Erhebende in der Wirkung einer dramatiſchen Vorftellung. Dieſelbe Über- raſchung gelingt entweder nie wieber, oder nur bei fehr feltener Wieberholung, und nach allmählich durch das Leben bewirkter Verwiſchung bed empfangenen’ erften Eindrudes; wogegen bie gewaltfame Anreizung, mit bewußter Abficht diefe Überrafchung fi) zu verfchaffen, ein krankhafter Zug unferer modernen Kunſt- ſchwelgerei ift. Won Menfchen, die ſich ftet3 aus dem Leben wahrhaft fortentwideln, ift, ftreng genommen, diefelbe Wirkung von der Aufführung beffelben dramatifchen Werkes gar nie wieder zn gewinnen; und dem erneueten Werlangen könnte nur ein neue3 Kunſtwerk entfprechen, das wiederum aus einer eben= falls neuen Entwidelungsphafe bes Künſtlers Herborgegangen ift. Ic berühre hier Das, was ih in der Einleitung gegen . da8 Monumentale in unferem KRunfttreiben außfprach, und be- ftätige fomit auß der Erforfchung und vernünftigen Deutung ber vorhandenen Erfcheinungen, das Bebürfniß nach dem ſtets neuen, immer der Gegentvart unmittelbar entſprungenen und ihr allein angehörigen Kunſtwerke der Zukunft, das eben nicht ald eine monumentale, fondern als eine das Leben ſelbſt, in feinen ver- ſchiedenſten Momenten wieberjpiegelnde, in unendlich wechſeln⸗

der Vielheit fi kundgebende Erſcheinung berftanden werden

ann,

Begriff ich die auch zu jener Zeit noch nicht klar, fo drängte es als Wahrnehmung ſich doch meiner Empfindung auf, und zwar namentlich durch Innewerden des ungemein ftarfen Ein— drudes, den mein „liegender Holländer“ auf Einzelne ge- macht hatte. In Berlin, wo ich übrigens durchaus unbefannt war, empfing ich von zwei Menſchen einem Manne und einer rau, die, mir zuvor ganz fremd, der Eindrud des fliegenden Hollänberd plögli mir zugeführt Hatte bie erfte beitimmte Genugthuung und Aufforderung für die von mir eingefchlagene eigenthümliche Richtung. Won jegt an verlor ich immer mehr das eigentliche „Publilum“ aus den Augen: die Öefinnung ein- zelner, beftimmter Menſchen nahm für mich bie Stelle ber nie deutlich zu faſſenden Meinung der Mafje ein, die mir in diefem Bezuge noch ganz Gedankenloſen bis dahin in un

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Eine Mittheilung an meine Freunde. 283

beftimmteften Umtiffen als ber Gegenftand vorgejchwebt Hatte, an ben ich mich al Dichter mittheilte. Das Verſtändniß meiner Abſicht ward mir immer deutlicher zur Hauptſache, und um dieß Verftändniß mir zu verfihern, wandte ih mich unwill- kürlich nun eben nicht mehr an die mir fremde Maſſe, fondern an bie individuellen Perfönlickeiten, die mir nach ihrer Stim- mung und Gefinnung deutlich gegenwärtig waren. Dieſe bes ftimmtere Stellung zu Denen, an die id} mich mittheilen wollte, übte von nun an auch einen fehr wichtigen Einfluß auf mein künſtleriſches Geſtaltungsweſen aus. Iſi der Trieb, feine Abficht verftändlich mitzutheifen, der wahrhaft geitaltunggebende im Künftler, fo wird feine Thätigfeit nothwendig durch die Eigen- thümlichleit Deffen beftimmt, von dem er feine Abſicht verftan- den willen will. Steht ihm als folder eine unbeftimmfe, nie - deutlich ertennbare, in ihren Neigungen nie ſicher zu erfaſſende, daher auch nie von ihm ſelbſt wirklich zu verftehende, Maſſe gegenüber, wie wir fie im heutigen Theaterpublitum vorfinden, fo wird der Künftler nothwendig auch für die Darlegung feiner Abficht zu einer verſchwimmenden, in das Allgemeine oft willen» 108 fi verlierenden, undeutlichen Geftaltung, ja genau ge nommen ſchon für den Stoff felbft beftimmt, der ihm gar nit anders, als für’ eine verſchwimmende Geftaltung geeignet, beifommen ann. Die auß einer folchen Stellung ſich ergebende, ungänftige Beſchaffenheit der künſtleriſchen Arbeit, fam meinem Gefühle jegt an meinen bisherigen Opern zur Wahrnehmung. Ih empfand, den Erfcheinungen der modernen Theaterkunft gegenüber, wohl den bebeutenberen Inhalt meiner Schöpfungen, zugleich aber auch das Unbeftimmte, oft Undeutliche der Geftal- tung dieſes Inhalte, dem jene nothwendige, ſcharfe Indivi- dualität fomit feloft noch nicht zu eigen fein Tonnte. Nichtete ic) nun meinen Mittheilungstrieb unmwillfürlih an die Empfäng-- lichkeit mir vertrauter, gleichfühlender, beitimmter Individuen, fo gewann ich hierdurch die Fähigkeit eines fichereren, deutlicheren Geftaltend. Ich ftreifte, ohne hierbei mit reflektirter Abfichtlich- keit zu Werke zu gehen, das gewohnte Verfahren des Geitaltens in das Mafjenhafte, immer mehr von mir ab; trennte die Um— gebung von dem Gegenftande, der früher oft gänzlich in ihr verſchwamm, fchärfer ab; hob diefen defto deutlicher hervor, und gewann fo die Fähigkeit, die Umgebung jelbft aus opernhafter,

284 Eine Mittheilung an meine Freunde.

weitgejtredter Ausdehnung, zu plaftiihen Geftalten zu ber- dichten.

Unter ſolchen Einflüſſen, und bei dieſem Verfahren, führte ich meinen „Zannhäufer“ aus, und vollendete ihn nach wieber- holten und verfchiedenartigen Unterbrechungen.

Ich hatte mit diefer Arbeit einen neuen Entwidelungsweg in ber mit dem „fliegenden Holländer“ eingefchlagenen Richtung zurüdgelegt. Mit meinen ganzen Wefen war ich in fo verzeh- venber Weife dabei thätig geweſen, daß ich mich entfinnen muß, wie ich, je mehr ich mich der Beendigung der Arbeit näherte, von der Vorſtellung beherrſcht wurde, ein fchneller Tod würde mich an dieſer Beendigung verhindern, fo daß ich bei der Aufzeich- nung ber legten Note mich völlig froh fühlte, wie als ob ich einer Lebensgefahr entgangen wäre.

Sogleich nach dem Schluffe biefer Arbeit war ed mir ver- gönnt, zu meiner Erholung eine Reife in ein böhmifches Bad zu maden. Hier, wie jedesmal wenn ich mich der Theaterlampen- Iuft und meinem „Dienfte* in ihrer Atmofphäre entziehen konnte, fühlte ich mich bald leicht und fröhlich geftimmt; zum erften Male machte ſich eine, meinem Charakter eigenthümliche Heiterkeit, auch mit fünftlerifcher Bedeutung merklich bei mir geltend. Mit faft willfürlicher Abfichtlicleit hatte ich in ber legten Zeit mich be- reits dazu beftimmt, mit Nächitem eine komiſche Oper zu ſchrei⸗ ben; ich entfinne mich, daß zu diefer Beftimmung namentlich der wohlgemeinte Rath guter Freunde mitgewirkt hatte, die von mir eine Oper „leichteren Genre's“ verfaßt zu fehen wüuſchten, weil dieſe mir den Zutritt zu den beutfchen Theatern verfchaffen, und fo für meine äußeren Verhältniſſe einen Erfolg herbeiführen follte, deſſen hartnädiges Ausbleiben diefe allerdings mit einer bebenflichen Wendung zu bedrohen begonnen Hatte. Wie bei den Athenern ein heiteres Satyrfpiel auf die Tragödie folgte, erſchien mir auf jener Vergnügungsreife plötzlich das Bild eines lomiſchen Spieles, das in Wahrheit als beziehungsvolles Satyr- fpiel meinem „Sängerkriege auf Wartburg“ fi anfchließen tkonnte. Es waren dieß „die Meifterfinger zu Nürnberg“, mit Hand Sachs an ber Spitze. Ich fahte Hand Sachs als bie legte Erſcheinung des künſileriſch produftiven Wolfögeiftes auf, und ftellte ihn mit diefer Geltung der meifterfingerlihen Spieß- bürgerfhaft entgegen, deren durchaus drolligem, tabulatur-poe=

Eine Mittheilung an meine Freunde. 285

tiſchem Pebantismus ich in ber Figur bed „Merker's“ einen ganz perfönlihen Ausdruck gab. Diejer „Merker“ war befannt- lich (oder unferen Kritikern vielleicht auch nicht bekanntlich) der von ber Singerzunft beftellte Aufpaffer, der auf die, den Regeln zuwiderlaufenden Zehler der Vortragenden, und namentlich der Aufzunehmenden, „merken“ und fie mit Strichen aufzeichnen mußte: wen fo eine gewiſſe Anzahl von Strichen zugetheilt war, der hatte „verfungen”. Der Ültefte der Zunft bot nun Die Hand feiner jungen Tochter demjenigen Meifter an, der bei einem be- vorftehenben öffentlichen Wettfingen den Preis gewinnen würde. Dem Merfer, der bereitd um das Mädchen freit, entfteht ein Nebenbuhler in der Perſon eines jungen Nitterfohnes, der, von der Lektüre des Heldenbuches und der alten Minnefinger be- geiftert, fein verarmtes und verfallenes Ahnenſchloß verläßt, um in Nürnberg bie Meifterfingerkunft zu erlernen. Ex meldet ſich zur Aufnahme in die Bunft, hiezu namentlich durch eine ſchnell entflammte Liebe zu dem Preismädchen beftimmt, „dad nur ein Meifter der Zunft gewinnen fol”; zur Prüfung beftellt, fingt er eim enthufioftiches Lied zum Lobe der Frauen, das bei dem Merker aber unaufhörlihen Anftoß erregt, fo daß der Afpirant ſchon mit der Hälite feine Liedes „verfungen“ hat. Sachs, dem der junge Mann gefällt, vereitelt dann in guter Abficht für ihn einen verzweiflungsvollen Verſuch das Mädchen zu entführen; hierbei findet er zugleich aber auch Gelegenheit, den Merker entfeglich zu ärgern. Dieſer nämlich, ber Sachs zuvor wegen eines immer noch nicht fertigen Paares Schuhe, mit der Abſicht, ihn zu demüthigen, ‚grob angelaffen Hatte, ftellt fi in der Nacht vor dem Fenfter bes Mädchens auf, um ihr das Lied, mit dem er fie zu gewinnen hofft, als Ständen zur Probe vor⸗ zufingen, da es ihm darum zu thun ift, ſich ihrer, bei der Preiß- ſprechung entfheidenden Stimme dafür zu verſichern. Sachs, deſſen Schufterwerfftatt dem befungenen Haufe gegenüber Liegt, fängt beim Veginne des Merter’3 ebenfalls laut zu fingen an, weil ihm wie er dem darüber Exboften erflärt dieß nöthig fei, wenn er fo fpät ſich noch zur Arbeit mad) erhalten wolle: daß die Arbeit aber dränge, wiſſe Niemand beſſer als eben der Merker, ber ihn um feine Schuhe fo Hart gemahnt habe. End» lich verſpricht er dem Unglücklichen einzuhalten, nur ſolle er ihm geitatten, die Fehler, die er nach feinem Gefühle in dem Liede

286 Eine Mittheilung an meine Freunde.

des Merker's finden würbe, auch auf feine Art als Schuſter anzumerten, nämlich jedesmal mit einem Hammerſchlage auf den Schuh überm Leiften. Der Merker fingt nun: Sachs klopft oft und wieberholt auf den Leiſten. Wüthend fpringt der Merfer auf; Jener frägt ihn gelaffen, ob er mit feinem Liebe fertig fei? „Noch lange nicht“, fehreit Diefer. Sachs Hält nun lachend die Schuhe zum Laden heraus, und erklärt, fie jeien juft von den „Merfer- zeichen“ fertig getvorden. Mit dem Reſte feines Gejanges, den er in Verzweiflung ohne Abſatz herausfchreit, fällt der Merker vor der heftig kopfſchüttelnden Frauengeftalt am Fenſter jäm- merlih dur. Troſtlos Hierüber fordert er am anderen Tage von Sachs ein neued Lied zu feiner Brautbewerbung; Diefer giebt ihm ein Gedicht des jungen Ritters, von dem er borgiebt nicht zu wiffen, woher e8 ihm gelommen fei: nur ermahnt er ihn, genau auf eine pafjende „Weife“ zu achten, nad} der e8 gefungen werben müffe. Der eitle Merker hält ſich hierin für volltommen figer, und fingt nun vor dem öffentlichen Meifter- und Volls— gerichte das Gedicht nad) einer gänzlich unpafjenden und ent- ftellenden Weife ab, fo daß er abermals, und dießmal entfchei= dend durchfält. Wüthend Hierüber wirft er Sachs, der ihm ein ſchändliches Gedicht aufgehängt Habe, Betrug vor; Diefer erklärt, das Gedicht fei- durchaus gut, nur müſſe es nach einer entfprechen- den Weife gefungen werden. Es wird feitgefegt, wer die richtige Weiſe wiſſe, fole Sieger fein. Der junge Ritter leiftet dieß, und gewinnt die Braut; den Eintritt in die Zunft, bie ihm nun angeboten wird, verſchmäht er aber. Sachs vertheidigt da die Meifterfingerfchaft mit Humor, und fehließt. mit bem Reime: „Berging’ das heil'ge römifhe Reich in Dunft, Uns bliebe doch die heil’ge deutſche Kunſt.“

So mein ſchnell erfundener und entworfener Plan. Raum hatte ich ihn niebergefchrieben, fo ließ es mir aber auch ſchon feine Ruhe, den ausführlicheren Plan des „Lohengrin“ zu ent- werfen. Es geſchah dieß während deſſelben kurzen Babeaufent- haltes, trotz der Ermahnungen des Arztes, mit derlei Dingen mich jetzt nicht zu beſchäftigen. Eine beſondere Bewandtniß mußte es damit haben, daß ich gerade jetzt ſo ſchnell von dem erquicklichen Meinen Ausfluge in das Gebiet des Heiteren, in die fehnfüchtig ernfte Stimmung zurüdgetrieben ward, mit ber id) den „Lohengrin“ zu erfafjen fo leidenschaftlich mich gebrängt

Eine Mittheifung an meine Freunde. 287

fühlte. Mir ift e8 jet Mar geworben, aus welchem Grunde jene heitere Stimmung, wie fie fi in ber Konzeption der „Meifter- finger“ zu genügen fuchte, von feiner wahrhaften Dauer bei mir fein tonnte. Sie fprad) ſich damals nur erft noch in der Ironie aus, und bezog fich als folhe mehr auf das bloß formell-fünft- Ierifche meiner Richtung und meines Wefens, als auf ben Kern deffelben, wie er im Leben felbft wurzelt. Die einzige, für unfere Offentlichkeit verftändliche, und deßhalb irgendwie wirt fame Form des Heiteren ift, jobald in ihr ein wirklicher Gehalt ſich kundgeben foll, nur die Jronie. Sie greift das Naturwidrige unferer öffentlichen Buftände bei der Form an, und ift hierin wirffam, weil die Form, als dag ſinnlich unmittelbar Wahr- nehmbare, dad Einleuchtenbfte und Jedem Verſtändlichſte - ift; während ber Inhalt diefer Form eben das Unbegriffene ift, in welchem wir unbewußt befangen find, und aus dem wir unwill⸗ kürlich immer wieder zur Äußerung in jener, von uns ſelbſt ver- fpotteten, Form gebrängt werben. So ift die Ironie felbjt bie Form ber Heiterkeit, in der fie ihrem wirklichen Inhalte und Weſen nad) nie zum offenen Durchbruch, zur Helfen, ihr ſelbſt eigenthümlichen Nußerung als wirkliche Lebenskraft kommen ann. Der Kern der Erſcheinung unferer unnatürlihen Allgemeinheit und Öffentlichkeit, den die Ironie unberührt laſſen muß, ift fomit nit für die Kraft der Heiterfeit in ihrer veinften, eigenthüm- lichſten Kundgebung angreifbar; ſondern fie ift e8 nur für Die Kraft, die ſich als Widerftand gegen ein Lebenselement äußert, welches mit feinem Drude eben die reine Kundgebung der Heis terfeit hemmt, So werben wir, wenn wir dieſen Drud empfinden, aus der urjpriinglichen Kraft der Heiterkeit, und um dieſe Kraft in ihrer Reinheit wieberzugewinnen, zu einer Wiberftandsäuße- rung getrieben, die ſich dem modernen Leben gegenüber nur als Sehnfucht, und endlich als Empörung, fomit in tragifchen ‚Zügen, fundgeben fanı, .

Meine Natur reagirte in mir augenblidlich gegen den uns vollfommenen Verſuch, durch Ironie mich des Inhaltes der Kraft meines Heiterkeitstriebes zu entäußern, und ich muß diefen Ver- ſuch jegt ſelbſt als die legte Äußerung des genußfüchtigen Ver— langens betrachten, daß mit einer Umgebung der Trivialität ſich ausföhnen wollte, und dem ich im Tannhäuſer bereit3 mit ſchmerz⸗ licher Energie mich entwunden hatte.

288 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Iſt es mir nun aus dem Innerſten meiner damaligen Stim- mung erklärlich, warum ich von jenem Verſuche fo plöglid und mit fo verzehrender Leidenfchaftlichfeit auf die Geftaltung des Lohengrinſtoffes mich warf, fo leuchtet mir jegt aus der Eigen- thümlichfeit dieſes Gegenſiandes ſelbſt aud ein, warum gerade er fo ummiberftehlich anziehend und fefielnd mich einnehmen mußte. Es war dieß nicht blof die Erinnerung daran, wie mir diefer Stoff zum erften Male im Bufanmenhange mit dem Tann häufer vorgeführt worden war; am allerwenigften war es haus» hälterifche Sparfamfeit, die mic) etwa vermocht hätte, den ge— jammelten Borrath nicht umfommen zu laffen: daß ich in dieſem Bezuge eher verſchwenderiſch war, erhellt aus dem Berichte über meine künſtleriſche Thätigkeit. Im Gegentheile muß ich hier bezeugen, daß damals, als ich im Bufammenhange mit dem Tannhäuſer den Lohengrin zuerft Fennen lernte, dieſe Erſchei— nung mich wohl rührte, keinesweges mich aber zunächſt ſchon beftimmte, dieſen Stoff zur Ausführung mir vorzubehalten. Nicht nur, weil ich zunähft vom Tannhäufer erfüllt worden war, ſondern auch weil die Form, in ber Lohengrin mir entgegentrat, einen faft unangenehmen Eindruck auf mein Gefühl machte, faßte ich ihn damals noch nicht fhärfer in da Auge. Das mittel- alterlihe Gedicht brachte mir den Lohengrin in einer zwielichtig myſtiſchen Geftalt zu, die mich mit Mistrauen und dem gewiſſen Widerwillen erfüllte, den wir beim Anblide der gejchnigten und bemalten Heiligen an den Heerſtraßen und in den Kirchen katho— fifcher Länder empfinden. Erſt als der unmittelbare Eindrud diefer Lektüre fi) mir verwiſcht hatte, tauchte die Geftalt des Lohengrin wiederholt und mit wachſender Anziehungskraft vor meiner Seele auf; und diefe Kraft gemann von Außen her na: mentlich auch dadurch Nahrung, daß ich den Lohengrinmythos in feinen einfacheren Zügen, und zugleich nad) feiner tieferen Bedeutung, ald eigentlies Gedicht bed Vollkes kennen lernte, mie er aus ben läuternden Forſchungen der neueren Sagenkunde hervorgegangen ift. Nachdem ich ihn fo als ein edles Gedicht des ſehnſüchtigen menſchlichen Verlangens erfehen Hatte, das feinen Keim keinesweges nur im chriftlichen Übernatürlichfeitähange, fondern in der wahrhafteften menjchlichen Natur überhaupt Hat, ward dieſe eftalt mic immer vertrauter, und der Drang, um der Kundgebung meines eigenen inneren Verlangens twillen mich ihrer

Eine Mittheilung an meine Freunde. 289

zu bemächtigen, immer ftärfer, jo daß er zur Beit der Vollendung meines Tannhäuferd geradesweges zur heftig brängenden Noth warb, bie jeben anderen Verſuch, mich ihrer Gewalt zu entziehen, gebieterifh von mir wies. Auch Lohengrin ift fein eben nur der criftlichen An— ſchauung entwachjenes, fondern ein uralt menfchliches Gebicht; wie e3 überhaupt ein grünblicher Irrthum unferer oberflächlichen Betrachtungsweiſe ift, wenn wir die fpezifiich chriftliche An— ſchauung für irgendwie urfchöpferifch in ihren Geftaltungen hal: ten. einer ber bezeichnendften und ergreifenditen chriftlichen Mythen gehört dem chriftlichen Geifte, wie wir ihn gewöhnlich faffen, ureigenthümfich an: er hat fie alle auß ben rein menfch- lichen Anſchauungen der Vorzeit überfommen und nur nad) feiner befonderen Eigenthümlichkeit gemodelt. Won dem widerſpruchs⸗ vollen Weſen diefes Einfluffes fie fo zu läutern, daß mir das rein menfchliche, ewige Gedicht in ihnen zu erfennen vermögen, dieß war die Aufgabe des neueren Forſchers, die dem Dichter zu vollenden übrig bleiben mußte. Wie der Grundzug des Mythos vom „fliegenden Holländer“ im bellenifchen Odyſſeus eine uns mod) deutliche frühere Geftal- tung aufmeift; wie derfelbe Odyſſeus in feinem Loswinden aus den Armen der Kalypſo, feiner Flucht vor den Neizungen der Rirke, und feiner Sehnſucht nach dem irdifch vertrauten Weibe der Heimath, die dem helleniſchen Geifte erfenntlihen Grundzüge eined Verlangens ausdrüdte, das wir im Tannhäufer unendlich gefteigert und feinem Inhalte nach bereichert wiederfinden: fo treffen wir im. griechiſchen Mythos, der an und für fi gewiß noch keinesweges älteften Geftglt deſſelben, auch ſchon auf den Grundzug des Lohengrinmpthos. Wer kennt nicht „Beus und Semele“? Der Gott Tiebt ein menfchliches Weib, und naht ihr um dieſer Liebe willen ſelbſt in menfchlicher Geitalt; die Lie- benbe erfährt aber, daß fie den Geliebten nicht nach feiner Wirt: lichkeit erkenne, und verlangt nun, vom wahren Eifer der Liebe getrieben, der Gatte ſolle in der vollen finnlichen Erſcheinung feines Wefen fich ihr fundgeben. Zeus weiß, daß er ihr ent- ſchwinden, daß fein wirklicher Anblick fie vernichten muß; er felbft leidet unter biefem Bewußtſein, unter dem Zwange, zu ihrem Verderben das Verlangen der Liebenden erfüllen zu müffen: er vollzieht fein eigened Tobesurtheil, als ber menfchentöbtliche Ridard Wagner, Gef. Sqriſten IV. 19

290 ° Eine Mittdeilung an meine Freunde. j

Glanz feiner göttlichen Erſcheinung die Geliebte vernichtet. Hatte etwa Priejterbetrug diefen Mythos gedichtet? Wie thö- richt, von der ftaatlich:religiöfen, Kaftenhaft eigenfüchtigen Aus- beutung des ebelften menfchlichen Verlangens auf die Geftaltung und wirkliche Bedeutung der Gebilde zurüdfchließen zu wollen, die einem Wahne entblühten, der den Menfchen eben erſt zum Menfchen madte! Kein Gott Hatte die Begegnung de Zeus und der Semele gedichtet, jondern der Menfch in jeiner aller- menſchlichſten Sehnſucht. Wer hatte den Menfchen gelehrt, daß ein Gott in Liebesverlangen nad ben Weide der Erde entbrenne? Gewiß nur der Menfch felbft, der auch dem Gegenftanbe feiner eigenen Sehnfucht, möge fie noch fo Hoch hinaus über die Ören- zen des irdiſch ihm Gewohnten gehen, nur das Wefen feiner rein menſchlichen Natur einprägen Tann. Aus den höchiten Sphären, in die er durd) die Kraft feiner Sehnfucht fih zu ſchwingen ver- mag, fann er endlich doch wiederum nur bad Reinmenſchliche verlangen, den Genuß feiner eigenen Natur als das Allererſeh⸗ nenswertheſte begehren. Was ift num das eigenthirmlichite Weſen dieſer menſchlichen Natur, zu der die Sehnſucht nach meiteften Fernen fi), zu ihrer einzig möglichen Befriedigung, zurüdwen- det? Es ift Die Nothwendigkeit der Liebe, und das Weſen diefer Liebe ift in feiner wahreften Hußerung Verlangen nad voller finnlider Wirklichkeit, nad) dem Genufje eines mit allen Sinnen zu fafjenden, mit aller Kraft des wirklichen Seins feft und innig zu umfchließenden Gegenftandes. Muß in diefer endlichen, ſinnlich gewiſſen Umarmung ber Gott nicht vergehen und entſchwinden? Iſt der Menſch, der nad; dem Gotte ſich fehnte, nicht verneint, vernichtet? Iſt die Liebe in ihrem wahreften und höchften Wefen fomit nicht aber offenbar ge worden? Bemundert, Ahr Hochgefcheuten Kritiker, das All- vermögen der menfchlichen Dichtungskraft, wie e8 fich im Mythos des Volkes offenbart! Dinge, die Jhr mit Eurem Berftande nie begreifen Könnt, find in ihm, mit einzig fo zu ermög- lichenber, für das Gefühl deutlich greifbarer, ſinnlich vollen- deter Gewißheit dargethan. .

Das ätherijhe Gebiet, auß dem der Gott herab nach dem Menschen ſich fehnt, Hatte durch die chriſtliche Sehnfucht fih in die undenflichften Fernen ausgedehnt. Dem Hellenen war es nod das molkige Reich bes Bliges und bes Donners, aus dem

Eine Mittheilung an meine Freunde, 291

der lockige Zeus ſich herabſchwang, um mit kundigem Wiffen

Menſch zu werben: dem Chriſten zerfloß der blaue Himmel in ein unendliches Meer ſchwelgeriſch fehnfüchtigen Gefühles, in dem ihm alle Göttergeftalten verſchwammen, bis endlich nur fein eigene8 Bild, ‚der jehnfüchtige Menfh, aus dem Meere feiner Phantafie ihm entgegentreten konnte. Ein uralter und mannig« fach wiederholter Zug ‚geht durch die Sagen ber Völfer, die an Meeren oder an meermündenden Flüſſen wohnten: auf bem blauen Spiegel der Wogen nahte ihnen ein Unbefannter von höchſter Anmuth und reinfter Tugend, der Alles hinriß und jedes Herz durch ummiberftehlichen Zauber gewann; er war ber erfüllte Wunſch de3 Sehnfuchtövollen, der über dem Meeresipiegel, in jenem Lande, daS er nicht erfennen konnte, das Glück fich träumte. Der Unbelannte verſchwand wieder, und zog über die Meered- wogen zurück, fobald nad} feinem Weſen geforfcht wurde. Einft, fo ging die Sage, war, von einem Schwane im Nachen gezogen, im Scheldelande ein wonniger Held vom Meere der angelangt: dort babe er die verfolgte Unfchuld befreit, und einer Jungfrau fich vermählt; da diefe ihn aber befrug, wer er fei und woher er fomme, habe er wieder von ihr ziehen und Alles verlafien müffen. Barum dieſe Erſcheinung, al fie mir in ihren ein- fachſten Zügen befannt ward, mich fo unwiderſtehlich anzog, daß ich gerade jet, nach der Vollendung des Tannhäufer, nur noch mit ihr mich befaffen fonnte, dieß ſollte durch die nächſtfolgen⸗ den Lebenseindrücke meinem Gefühle immer deutlicher gemacht werden.

Mit dem fertigen Entwurfe zu der Dichtung des Lohengrin kehrte ich nad) Dresden zurüd, um ben Tannhäufer zur Auf führung zu bringen. Mit großen Hoffnungen von Seiten der Direktion, und mit nicht unbedeutenden Opfern, die fie der ge— mwünfchten Erfüllung diefer Hoffnungen brachte, ward diefe Auf- führung vorbereitet. Das Publitum hatte mir in der enthufi« aftifchen Aufnahme des Rienzi, und in der Fälteren des fliegenden Holländer8 deutlich vorgezeichnet, was ich ihm bieten müßte, um es zufrieden zu ftellen. Seine Erwartung täufchte ich vollftän- big: verwirrt und umbefriedigt verließ es die erſte Vorftellung des Tannhäufer. Das Gefühl der vollfommenften Einfam- leit, in der ich mich jeßt befand, übermannte mid). Die wenigen Freunde, bie bon Herzen mit mir fympathifirten, fühlten ſich

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292 Eine Mittgeilung an meine Freunde.

ſelbſt durch das Peinliche meiner Lage fo bebrüdt, daß bie Kund⸗ gebung ihrer eigenen unwillkürlichen Verftimmung das einzige befreundete Lebenszeichen um mid) war. Cine Woche verging, ehe eine: zweite, zur Verbreitung des Verſtändniſſes und zur Berichtigung von Irrthümern fo nöthig fcheinende Vorftellung des Zannhäufer ftattfinden konnte. Diefe Woche enthielt für mich das Gewicht eined ganzen Lebens. Nicht verlegte Eitelkeit, fondern der Schlag einer gründlich vernichteten Täuſchung be— täubte mic) damals nad) Innen. Es wurde mir Kar, daß id) mit dem Tannhäufer nur zu den wenigen, mir zunächft vertrauten Sreundeöherzen geſprochen Hatte, nicht aber zu dem Publikum, an das ich mich dennoch durch die Aufführung des Werkes un« willfürfid wandte: hier war ein Wiberfpruch, ben ich für voll- Iommen unlösbar halten mußte. Nur eine Möglichteit ſchien mir vorhanden zu fein, auch das Publikum mir zur Theilnahme zu gewinnen, nämlih wenn ihm das Verſtändniß er- ſchloſſen würde: hier fühlte ich aber zum erften Male mit grö- Berer Beftimmtheit, daß der bei und üblid) gewordene Charakter der Opernvortellungen durchaus Dem wiberftreite, was ich von einer Aufführung forderte. Yu unferer Oper nimmt der Sänger, mit der ganz materiellen Wirffamfeit feines Stimm- organes, die erfte Stelle, der Darfteller aber eine zweite, oder gar wohl nur ganz beiläufige Stellung ein; dem gegenüber fteht ganz folgerichtig ein Publikum, welches zunächſt auf Befrie- digung eines wohllüftigen Verlangens de3 Gehörnerves ganz für fi ausgeht, und von dem Genuffe einer dramatifchen Dar- ſtellung fomit faft ganz abfieht. Meine Forderung ging nun aber gerabeöweges auf das Entgegengefegte aus: ich verlangte in erfter Linie den Darfteller, und den Sänger, nur als Helfer des Darftellerd; fomit alfo auch ein Publikum, welches mit mir die felbe Forderung ftellte. Erſt wenn diefe Forderung erfüllt war, mußte ich einfehen, daß überhaupt von dem Eindrude des mite getheilten Gegenſtandes bie Rede fein konnte; daß dieſer Ein- drud aber unbedingt nur ein Yanz verwirrter fein mußte, wenn die Erfühung jener Forderung von feiner Seite her bewert- ftelligt wurde. So mußte ich mir in Wahrheit wie ein Wahn- finniger erfcheinen, der in die Luft Hineinredet, und von biefer verftanden zu werben bermeint; denn ich vedete öffentlich bon Dingen, die um fo unverftändlicher bleiben mußten, als bie

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Sprade nicht einmal verftanden ward, in ber ich fie fundgab. Das allmählich entftehende Intereſſe eines Theile des Publi- kums für mein Werk dünfte mid fo als die gutmüthige Theil— nahme befreundeter Menfchen an dem Schidjale eines theuren Wahnfinnigen: diefe Theilnahme beitimmt und, auf die Irre: reden des Leidenden einzugehen, ihnen einen Sinn zu entrathen, in dieſem entrathenen Sinn ihm endlich wohl auch zu antworten, um fo feinen traurigen Zuſtand ihm erträglich zu machen; felbft Gleichgiltigere drängen fi) dann wohl herbei, denen es eine pifante Unterhaltung gewährt, die Mittheilungen eines Wahn- finnigen zu vernehmen, und an den ab und zu verſtändlichen Bügen feines Gefpräches in eine ſpannende Ungemißheit darüber zu gerathen, ob der Wahnfinnige plögfich vernünftig, oder ob fie ſelbſt verritct geworden feier. So und nicht anders begriff ich von nun an meine Stellung zum eigentlichen „PBublitum“. Dem mir geneigten Willen der Direktion, und vor Allem dem guten Eifer und dem glüdlichen Talente der Darfteller gelang es, meiner Oper einen allmähli—hen Eingang zu verſchaffen. Diefer Erfolg vermochte mich aber nicht mehr zu täufhen; ih mußte jegt woran ich mit dem Publikum war, und hätte id) daran noch zweifeln können, jo würden mic) weitere Erfahrungen vollends zur Genüge darüber haben aufklären müffen.

Die Folgen meiner früheren Verblendung über meine wahre Stellung zum Publitum ftellten ſich jet mit Schrecken ein: die Unmöglichkeit, dem Tannhäufer einen populären Erfolg, oder überhaupt nur Verbreitung auf den deutſchen Theatern zu verfchaffen, trat mir hell entgegen; und Hiermit Hatte ich zugleich den gänzlichen Verfall meiner äußeren Lage zu erkennen. Faſt nur, um mich vor biefem Verfalle zu retten, that id; noch Schritte für die Verbreitung diefer Oper, und faßte dafür namentlich Berlin in dad Auge. Bon dem Intendanten dev königlich preu= ßiſchen Schaufpiele ward ich mit dem kritiſchen Bedeuien ab» geiviefen, meine Oper fei für eine. Aufführung in Berlin zu „epiich“ gehalten. Der Generalintendant der Töniglich preu— Bifchen Hofmuſik ſchien dagegen einer anderen Anfiht zu fein. Als ich durch ihn beim König, um dieſen für die Aufführung meines Werkes zu intereffiren, um die Erlaubniß zur Dedilation de8 Tannhäuferd an ihn nachſuchen ließ, erhielt ic) als Antwort den Math, ich möchte, da einerfeitö der König nur Werke an-.

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nehme, die ihm bereitö befannt feien, andererfeit# aber einer Aufführung der Oper auf dem Berliner Hoftheater Hinderniffe entgegenftünden, da8 Belanntwerden Seiner Majeftät mit dem fraglichen Werke zubor dadurch ermöglichen, daß ich Einiges daraus für Militärmufit arrangirte, wa8 dann dem Könige während ber Wachtparade zu Gehör gebracht werben follte. Tiefer konnte ich wohl nicht gebemüthigt, und beftimmter zur, Erkenntniß meiner Stellung gebracht werden! Bon nun an hörte unfere ganze moderne Runftöffentlichkeit immer grundfäß- licher auf für mic zu exifticen. Uber welche war nun meine Lage? Und welcher Urt mußte die Stimmung fein, die gerade jest, und dieſen Exfcheinungen, diefen Eindrüden gegenüber, mid) drängte, mit jäher Schnelle die Ausführung des Lohengrin vorzunehmen? Ich will fie mir und meinen Freunden deutlich zu machen ſuchen, um zu erflären, welche Bedeutung für mid das Gedicht des Lohengrin haben mußte, und in welcher ich es einzig als fünftferifcher Menfch erfaſſen konnte.

IH war mir jet meiner vollften Einſamkeit als fünft- Ierifcher Menſch in einer Weife bewußt geworden, daß ich zu— nächſt einzig aus dem Gefühle diefer Einfamfeit wiederum Die Anregung und dad Vermögen zur Mitteilung an meine Um— gebung ſchöpfen konnte. Da fich dieſe Anregung und dieſes Vermögen fo fräftig in mir fundgaben, daß ich, felbft ohne alle bewußte Ausfiht auf Ermöglichung einer verftändlihen Mit: theilung, mich dennod eben jet auf das Leidenſchaftlichſte zur Mittheilung gedrängt fühlte, fo konnte dieß nur auß einer ſchwärmeriſch fehnfüchtigen Stimmung hervorgehen, wie fie aus dem . Gefühle jener Einfamfeit entſiand. Im Tannhäuſer hatte ich mich aus einer frivolen, mic anwidernden Sinnlichkeit dem einzigen Ausdrude der Sinnlichkeit der modernen Ge— genwart heraus gejehnt; mein Drang ging nad) dem unbe: kannten Reinen, Keufchen, Yungfräulihen, ais dem Elemente der Befriedigung für ein ebleres, im Grunde dennoch aber finn- liches Verlangen, nır ein Verlangen, wie ed eben bie frivole Gegenwart nicht befriedigen Tonnte, Auf die erjehnte Höhe des Neinen, Keufchen, hatte ich mich durch die Kraft meines Ver- langend nun gefchwungen: ich fühlte mich außerhalb der mo— dernen Welt in einem Maren Heiligen Ütherelemente, das mic) in ber Verzückung meines Cinfamfeitögefühles mit den wohl:

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füftigen Schauern erfüllte, die wir auf der Spige der hohen Alpe empfinden, wenn wir, vom blauen Quftmeer umgeben, hinab auf bie Gebirge und Thäler bliden. Solche Spigen er- immt der Denker, um auf diefer Höhe fi frei, „geläutert” bon allem „Irdiſchen“, fomit als höchſte Summe der menfd- lichen Potenz zu wähnen: er vermag bier endlich fich felbft zu genießen, und bei diefem Gelbftgenuffe, unter der Einwirkung der fälteren Atmofphäre ber Alpenhöhe, endlich felbft zum mo— numentalen Eißgebilde zu erftarren, als welches er, als Philo- foph und Kritiker, mit froftigem Selbftbehagen die warme Welt der febendigen Erfcheinungen unter ſich betrachtet. Die Sehn fucht, die mich aber auf jene Höhe getrieben, war eine Fünft- Terifche, finnlich menſchliche geweſen: nicht der Wärme bes Le— bens wollte ich entfliehen, fondern ber moraftigen, brobelnden Schwüle der trivialen Sinnlichfeit eines beftimmten Lebens, des Lebend der mobernen Gegenwart. Mid) wärmte auch auf jener Höhe der Sonnenftrahl der Liebe, deren wahrhaftigfter Drang mich einzig aufwärts getrieben hatte. Gerade diefe felige Einfamfeit erwedte mir, ba fie faum mich umfing, eine neue, unfäglich bewältigende Sehnſucht, die Sehnſucht aus der Höhe nad der Tiefe, aus dem fonnigen Glanze der keufcheften Reine nah dem trauten Schatten der menſchlichſten Liebesumarmung. Von diefer Höhe gewahrte mein verlangender Blick das Weib: da8 Weib, nah dem fi der „fliegende Holländer” aus ber Meeredtiefe feines Elendes auffehnte,; das Weib, das dem „Tannhäufer“ aus den Wohllufthöhlen des Wenusberges als Himmelöftern den Weg nad) Oben wies, und das nun au fonniger Höhe Lohengrin hinab an die wärmende Bruft der Erde zog.

Lohengrin fuchte das Weib, das an ihn glaubte: das nicht früge, wer er fei und woher er fomme, ſondern ihn liebte, wie er fei, und meil er fo fei, wie er ihm erſchiene. Er fuchte das Weib, bem er ſich nicht zu erflären, nicht zu rechtfertigen habe, ſondern das ihn unbedingt Tiebe. Er mußte deßhalb feine höhere Natur verbergen, denn gerade eben in der Nicht aufdedung, in der Nichtoffenbarung dieſes höheren oder richtiger gejagt: erhöhten Weſens konnte ihm die einzige Gewähr liegen, daß er nicht um dieſes Weſens willen nur be wundert und angeftaunt, ober ihm als einem Unverftanbenen

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ambetung3voll demithig gehufdigt würde, wo e8 ihm eben nicht nad Bewunderung und Anbetung, fondern nad dem Einzigen, was ihn aus feiner Einfamfeit erlöfen, feine Sehn— fucht ftillen fonnte, nad Liebe, nad Geliebtfein, nach Verftandenjein dur die Liebe, verlangte. Mit feinem höchften Sinnen, mit feinem wiſſendſten Bewußtfein, wollte er nichts Auderes werben und fein, als voller, ganzer, warm⸗ empfindender und marmempfundener Menſch, alſo überhaupt Menſch, nicht Gott, d. h. abfoluter Künftler. So erfehnte er fi das Weib, das menschliche Herz. Und fo ftieg er herab aus feiner wonnig öden Einfamkeit, als er den Hilferuf dieſes Weibes, biefes Herzens, mitten aus der Menfchheit da unten vernahm. Uber an ihm haftet unabftreifbar ber verrätherifche Heiligenfchein der erhöhten Natur; er. kann nicht ander3 als wunderbar erſcheinen; das Staunen der Gemeinheit, dad Gei— fern des Neides, wirft feine Schatten bis in das Herz des lie- - benden Weibes; Bmeifel umd Eiferfucht bezeugen ihm, daß er nicht verjtanden, fondern nur angebetet wurde, und ent- reißen ihm das Geftändniß feiner Göttlichkeit, mit dem er ver _ nichtet in feine Einfamfeit zurückkehrt.

Es mußte mir damals, und muß mir felbft Heute noch ſchwer begreiflich erſcheinen, wie das Tieftragifche dieſes Stoffes und diefer Geftalt unempfunden bleiben, und der Gegenftand dahin misverftanden werben konnte, daß Lohengrin eine Talte, verlegende Erſcheinung fei, die eher Widerwillen, ald Sym- pathie zu erweden vermöge. Diejer Eintwurf warb mir zuerft gemacht von einem mir befreundeten Manne, deſſen Geift und Wiſſen ih hochſchätze. Un ihm machte ich jedoch zunädjft eine Erfahrung, die in der Folge fi mir wieberholt hat, nämlich die, daß beim unmittelbaren Bekanntwerden mit meiner Dichtung nichts Anderes als ein durchaus ergreifender Eindrud fi kund- that, und jener Einwurf ſich erft danı einfand, wenn ber Ein- drud des Kunſtwerkes ſich verwiſchte, und ber kälteren, reflef- tirenden Kritik Platz machte*). Somit war dieſer Einwurf

*) Dieß bezeugt mir neuerdings wieder ein geiſtreicher Bericht erſtatter, der während der Aufführung bes Lohengrin in Weimar nad) feinem eigenen Geftändnifje keinen let zur Kritit er⸗ Eng gintegr ungeftört einem ergreiſenden Genuſſe hingegeben war. Der Zweifel, der ihm nachher entſiand, iſt zu meiner Freude und

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nicht ein unwillkürlicher Akt der unmittelbaren Herzendempfin- dung, fondern ein willfürlicher der vermittelten Verſtandes— tHätigfeit. Ich fand an diefer Erfcheinung daher das Zragifche des Charalters und der Situation Lohengrin's als eine im mo⸗ dernen Leben tief begründete beftätigt: fie wiederholte ſich an dem Kunſtwerke und deſſen Schöpfer ganz fo, wie fie am Helden dieſes Gedichtes ſich darthat. Den Charakter und die Situation dieſes Lohengrin erfenne ich jegt mit Marfter Überzeugung als den Typus des eigentlihen einzigen tragifchen Stof- fes, überhaupt der Tragik des Lebendelementes ber modernen Gegenwart, und zwar von ber gleichen Bedeu— tung für die Gegenwart, wie die „Untigone” in einem allerdings anderen Verhältniſſe für daß griechiſche Staats- Ieben es war*). Uber diefes höchſte und wahrſte tragijche Mo- ment der Gegenwart hinaus giebt es nur noch die volle Einheit von Geift und Sinnlichkeit, das wirklich und einzig heitere Element des Lebens und der Kunft ber Zukunft nad) deren höchſtem Vermögen. Ich geftehe, daß mich der Geift der zweifelfüchtigen Kritit felbft fo weit anftedte, eine gewaltſame Motivirung und Abänderung meines Gedichtes ernſtlich in Anz griff zu nehmen. Durch meine Theilnahme an diefer Kritif war ich für kurze Zeit fo fehr aus dem richtigen Verhältniffe zu dem Gedichte gerathen, daß ic) wirklich bis dahin abirrte, eine ver- änderte Loſung zu entwerfen, nad) welcher es Lohengrin ver- ftattet fein follte, feiner enthüllten Höheren Natur ſich zu Gunften feines weiteren Verweilens bei Elfa zu begeben. Das vollitän- dig Ungenügende, und in einem höchſten Sinne Naturwidrige diefer Löfung, empfand aber nicht nur ich felbft, der ich in einer Entfremdung meines Wefend fie entwarf, fondern aud mein feitifcher Freund: wir fanden gemeinfchaftlih, daß das unfer modernes kritiſches Bewußtſein Beunruhigende in der unab-

Hiebften Rechtfertigung, bem wirflihen Künftler zu keiner Beit angelommen: diejer fonnte mid; ganz verffehen, was bem triti- ſchen Menſchen unmöglid war.

*) Gerabe wie meinem Krititer, mochte es nämlich dem athe- niſchen Staatsmanne ergehen, bet unter dem unmittelbaren Ein- drude des SKunftwertes unbedingt für Antigone jympathifirte, am anderen Tage in ber Gerihtäfigung gewiß aber felbit fein ſtaat- liches Todesurtgeil über die menſchliche Heldin ausſprach.

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änderfichen Eigenthümlichkeit des Stoffes felbft liege; daß biefer Stoff andererfeit3 aber unfer Gefühl fo eindrudsvoll anrege und beftimme, daß er in Wahrheit zu uns einen Bezug haben müſſe, der feine Vorführung ais Kunſtwerk und als eine mächtige Bes reiherung unferer Empfindungseindrüde, fomit der Yähigfeit unſeres Empfindungsvermögens, wünjcen laſſen müſſe.

In Wahrheit ift diefer „Lohengrin“ eine. durchaus neue Erſcheinung für das moderne Bemußtjein; denn fie fonnte nur aus der Stimmung und Lebensanſchauung eines künſtleriſchen Menfchen Hervorgehen, ber zu feiner anderen Beit als ber jegigen, und unter feinen anderen Beziehungen zur Kunft und zum Leben, als wie fie aus meinen individuellen, eigenthümlichen Verhält- niffen entitanden, fi) gerade bis auf den Punkt entwidelte, wo mir diefer Stoff al3 nöthigende Aufgabe für meine Geftalten er- ſchien. Den Lohengrin verjtehen fonnte fomit nur Derjenige, der ſich von aller modern abjtrahirenben, generalifirenden An⸗ ſchauungsform für die Erfcheinungen des unmittelbaren Lebens frei zu machen vermochte. Wer ſolche Erſcheinungen, wie: fie dem individuellſten Geftaltungsvermögen unmittelbar thätiger Lebensbeziehungen entipringen, nur unter einer allgemeinen Kategorie zu faſſen verfteht, kann an ihnen fo gut wie Nichts bes greifen, nämlid) nicht die Erſcheinung, fondern eben nur die Kategorie, in die fie als in eine voraus fertige in Wahr- heit gar nicht gehört. Wem am Lohengrin nichts weiter begreif- lich erſcheint, als die Kategorie: Chriſtlich-romantiſch, der be— greift eben nur eine zufällige Außerlichteit, nicht aber das Weſen feiner Erſcheinung. Diefes Wefen, ald das Wefen einer in Wahr- heit neuen, noch nicht dageweſenen Erſcheinung, begreift nur dasjenige Vermögen des Menſchen, durch das ihm überhaupt erft jede Nahrung für den Fategorificenden Verſtand zugeführt wird, und dieß ift das reine ſinnliche Gefühlsvermögen. Nur das in feiner ſinnlichen Erſcheinung vollftändig fi) darftellende Kunft« werk führt ben neuen Stoff aber jenem Gefühlsvermögen mit der nothiwendigen Eindringlicjkeit zu; und nur wer dieß Kunft- werk in biefer vollftändigen Erſcheinung empfangen Hat, aljo nur der nach feinem höchſten Empfängnißvermögen volltommen befriebigte Gefühlsmenfch, vermag auch ben neuen Stoff voll- Tommen zu begreifen. Hier nun treffe ich auf den Hauptpunft des Tragifchen in der Situation des wahren Künſtlers zum Leben

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der Gegenwart, eben bderfelben Situation, die im Stoffe des Lohengrin von mir ihre künſtleriſche Geftaltung erhielt: das nothiwendigfte und natürlichite Verlangen diefes Künftlers ift, durch das Gefühl rüchaltslo8 aufgenommen und verftanden zu werben; und bie durch da3 moderne Runftleben bedingte Unmöglichkeit, dieſes Gefühl in der Unbefangenheit und zweifelloſen Beſtimmtheit anzutreffen, als er es fir fein Ver— ſtandenwerden bedarf, der Zwang, ſtatt an das Gefühl fich faſt einzig nur an ben kritiſchen Verſtand mittheilen zu bürfen, dieß eben ift zunächft da3 Tragifche feiner Situation, das ich als künſtleriſcher Menſch empfinden mußte, und das mir auf dem Wege meiner weiteren Entwidelung fo zum Bewußtſein Tommen follte, daß ich endlich in offene Empörung gegen ben Drud diefer Situation ausbrach.

Ich nähere mich num der Darftellung meiner neueften Ent- midefungsperiobe, die id) noch ausführlicher berühren muß, weil der Zweck biefer ganzen Mittheilung hauptſächlich die Berich— tigung der feheinbaren Widerfprüce, die zwiſchen dem Wefen meiner fünftlerifchen Wrbeiten und dem Charakter meiner nener- dings ausgeſprochenen Anfichten über die Kunft und ihre Stel- Tung zum Leben, aufzufinden wären, und zum Theil von ober- flächlichen Kritilern bereit? auch aufgeftochen worden find. Bu diefer Darftellung fchreite ich durch den ununterbrochenen Bericht meiner fünftlerifchen Thätigfeit und ber ir zu Grunde Tiegenden Stimmungen, ftreng an das Bisherige anfnüpfend, fort.

Die Kritik Hatte fi undermögend erwieſen, die Geftalt der Dichtung meines Lohengrin zu verändern, und bie Wärme meines Eifers für ihre vollftändige fünftleriiche Ausführung war durch diefen fiegreihen Konflift meines nothwendigen fünftlerifchen Gefühle mit dem modernen kritiſchen Bewußtfein, nur noch glühender .angefacht worben: in diefer Ausführung, fühlte ih, lag die Beweisführung für die Nichtigfeit meines Ge— füles. Es warb meiner Empfindung Har, daß ein weſentlicher Grund zum Misverftändniß der tragifchen Bedeutung‘ meines Helden in der Annahme gelegen hatte, Lohengrin fteige aus einem glänzenden Meiche leidenlos unertvorbener, Talter Herr- lichkeit herab, um diefer Herrlichkeit, und der Nichtverlegung eines unnatürlichen Geſetzes willen, das ihn willenlos an jene Herrlichkeit bände, Tehre er dem Konflikte der irdifchen Leiden-

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haften den Rüden, um fich feiner Gottheit wieder zu erfreuen. Bekundete ſich Hierin zunächit ber willfürliche Charakter der mo- dernen kritiſchen Anfchauung die von dem unwillkürlichen Ein— drude der Erſcheinung abfieht, und diefen willkürlich nach fi beftimmt; und hatte id) leicht zu erfennen, daß dieſes Misver⸗ ftändniß eben nur aus einer willfürlichen Deutung jenes binden: den Gefeges entiprang, welches in Wahrheit fein äußerlich auf: gelegtes Woftufat, fonbern der Ausdruck bed nothwendigen inneren Weſens des, aus herrlicher Einſamkeit nad; Verſtändniß durch Liebe Verlangenden ift: fo hielt ich mich zur Verſicherung des beabfichtigten richtigen Eindrudes mit defto größerer Ber ftimmtheit an bie urfprüngliche Geftalt bes Stoffes, die in ihren naiven Bügen mich felbft fo unmwiberftehlich beftimmt Hatte. Um diefe Geftalt ganz nach dem Eindrude, ben fie auf mid) gemacht, künſtleriſch mitzutheilen, verfuhr ich mit noch größerer Treue, als beim „Zannhäufer* in der Darftellung der hiſtoriſch ſagen⸗ haften Momente durch die ein fo außerordentlicher Stoff einzig zu überzeugend wahrer Erſcheinung an die Sinne fommen Tonnte. Dieß beftimmte mic) für die ſceniſche Haltung und den ſprach- lichen Ausdruck in der Richtung, in welcher ich fpäter zur Auf⸗ findung von Möglichfeiten geführt wurde, die mir in ihrer noth- wendigen Konfequenz allerdings eine gänzlich veränderte Stellung der Faktoren des biöherigen opernſprachlichen Ausdrudes zu weiſen follten. Auch nad) biefer Richtung hin leitete mich aber immer nur ein Trieb, nämlid, das von mir Erſchaute fo deut- lich und verftändlich wie möglich der Anſchauung Anderer mit- zutheilen; und immer war es aud) Bier nur der Stoff, der mid) in allen Richtungen hin für die Form beftimmte. Höchſte Deut- lichkeit war in der Ausführung fomit mein Hauptbeftreben, und zwar eben nicht die oberflächliche Deutlichkeit, mit der fi uns ein feichter Gegenftand mittheilt, fondern die unendlich reiche und mannigfaltige, in ber fich einzig ein umfaſſender, weithin beziehungsvoller Inhalt verftändlich darftellt, was aber ober- flächlich und an Inhaltsloſes Gewöhnten allerdings oft gerabed- weges unflar vorkommen muß.

Erſt bei dieſem Deutlichkeitäftreben in der Ausführung, entfinne id mich, da8 Wefen des weiblichen Herzens, wie ih es in ber liebenden Elſa darzuftellen hatte, mit immer größerer Beftimmtheit erfaßt zu haben. Der Künftler kann nur dann zur

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Fähigkeit überzeugender Darftellung gelangen, wenn er mit volliter Sympathie in das Wefen des Darzuftellenden ſich zu verfegen vermag. In „Elſa“ erjah ich von Unfang herein den von mir erjehnten Gegenſatz Lohengrin's, natürlich jedoch nicht den biefem Weſen fern abliegenden, abfoluten Gegenſatz, fondern vielmehr dad andere Theil feines eigenen Weſens, den Gegenfaß, der in feiner Natur überhaupt mit enthalten, und nur bie nothwendig von ihm zu erfehnende Ergänzung feines männlichen, bejonderen Wejens if. Elfa ift da8 Unbemwußte, Univilffürlide, in welchem das bewußte, willkürliche Wefen Lohengrin's fi zu erlöfen fehnt; dieſes Verlangen ift aber, ſelbſt wiederum das unbewußte Notwendige, Unwillkürliche im Lohengrin, durch das er dem Weſen Elſa's fi) verwandt fühlt. Durd das Vermögen dieſes „unbewußten Bewußtſeins“, wie ich es felbft mit Lohengrin empfand, kam mir auch bie weibliche Natur und zwar gerade ald es mic) zur treueften Darftellung ihres Weſens drängte zu immer innigerem Verſtändniſſe. Es gelang mir, mich durch dieſes Vermögen fo vollftändig in dieſes weibliche Weſen zu verjegen, daß ich zu gänglichem Einverftänd- niffe mit der Außerung deſſelben in meiner liebenden Elfa fam. Ich mußte fie jo berechtigt finden in dem endlichen Ausbruche ihrer Eiferfucht,. daß ich das rein menfchlihe Weſen der Liebe gerade in biefem Ausbruche erft ganz verftehen Ternte; und ich litt wirklichen, tiefen, oft in heißen Thränen mir entftrömen- den Jammer, ald ich unabweißlih bie tragifche Nothiven- digkeit der Trennung, der Vernichtung ber beiben Liebenden empfand. Diejes Weib, das ſich mit hellem Wiffen in ihre Ver— nichtung ftürzt um de3 nothwendigen Weſens der Liebe willen, das, wo e3 mit fehwelgerifher Anbetung empfindet, ganz auch untergehen will, wenn e3 nicht ganz den Geliebten umfafjen kann; dieſes Weib, das in ihrer Berührung gerade mit Lohen- gein untergehen mußte, um auch diefen der Vernichtung preis- zugeben; dieſes fo und nicht ander& lieben fönnende Weib, das "gerade durch den Ausbruch ihrer Eiferfucht erft aus der ent- zückten Anbetung in das volle Wefen der Liebe geräth, und dieß Weſen dem hier noch Unverftändnißvollen an ihrem Untergange offenbart; dieſes Herrliche Weib, vor dem Lohengrin noch ent⸗ ſchwinden mußte weil er e8 aus feiner bejonderen Natur nicht verſtehen lonute ich hatte e8 jegt entbedt: und ber verlorene

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Pfeil, den ich nach dem geahnten, noch nicht aber gewußten, eblen Zunde abfhoß, war eben mein Lohengrin, den ich verloren geben mußte, um mit Sicherheit dem wahrhaft Weiblihen auf bie Spur zu fommen, das mir und aller Welt die Exrlöfung bringen fol, nachdem der männliche Egoismus, felbft in feiner edelften Geftaltung, ſich jelbftvernichtend vor ihm gebrochen hat. Elſa, das Weib, das bisher von mir unverftandene und nun ver- ftandene Weib, dieſe nothiwendigfte Wefenäußerung der rein- ften finnliden Unwillkür, hat mich zum vollftändigen Revo= futionär gemacht. Sie war ber Geiſt des Volkes, nach dem ich auch als fünftlerifcher Menfch zu meiner Erlöfung verlangte.

Doc diefes jelig empfundene Wiſſen lebte zunächſt noch ſtill in meinem einfamen Herzen: nur allmählich reifte es zum lauten Belenntniß.

Ich muß jet meiner äußeren Lebensftellung gedenken, wie fie ſich in jener Beit geftaltete, wo ich bei häufigen und lan⸗ gen Unterbrechungen an ber Ausführung bes Lohengrin arbeitete. Dieſe Stellung war die meiner inneren Stimmung wiberfprechendfte. Ich zog mich in immer größere Einfamteit zu⸗ rüd, und lebte in innigem Umgange fait nur nod) mit einem Freunde, der in der vollen Sympathie für meine fünftlerifche Entmwidelung jo weit ging, den Trieb und die Neigung zur Entwidelung und Geltendmadung feiner eigenen fünftlerifchen Fähigkeiten wie er mir ſelbſt erflärte fahren zu laſſen. Nichts Anderes konnte ich jo wünfchen, als in ungeftörter Zu- rüdgezogenheit ſchaffen zu fönnen; bie Möglichkeit ber, wiederum mir einzig nöthigen, verftändnißvollen Mittheilung des Geſchaf⸗- fenen, kümmerte mic) damals kaum. Ich fonnte mir fagen, daß meine Einfamfeit nicht eine egoiftifch von mir aufgefuchte, fon dern ledigiich von der Ode weit um mich herum mir ganz von ſelbſt geoffenbarte fei. Nur ein widerlich feſſelndes Band Hielt mid) noch am unfere öffentlichen Kunftzuftände feft, die Ver- pflihtung, auf möglichen Gewinn aus meinen Arbeiten bedacht zu fein, um meiner äußeren Lage aufzuhelfen. So hatte ich noch immer für äußeren Erfolg zu forgen, trogdem ich dieſem für mic) und mein inneres Bebirfniß bereit# gänzlich entjagt Hatte. Die Annahme meine „ZTannhäufer“ war mir in Berlin ver- weigert; nicht mehr für mich, fondern für Andere beforgt, be mühte ich mic) dort um die Aufführung meines für mich Längft

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abgethanen „Rienzi”. Hierzu beftimmte mic, einzig bie Erfah— rung des Erfolges biefer Oper in Dresden, und die Berechnung des äußeren Vortheiled, ben ein ähnlicher Erfolg, bei den dort gewährten Tantidmen von den Einnahmen der Rorftellungen, mir in Berlin bringen follte. Ic entfinne mid) jept mit Schreden, in welchen Pfuhl von Widerfprüchen ber übeliten Art diefe bloße Beſorgniß um äußeren Erfolg, bei meinen ſchon damals feft ftehenden Fünftlerifch menfchlichen Gefinnungen, mi brachte. Ich mußte mich dem ganzen modernen Lafter ber Heu- chelei und Lügenhaftigfeit ergeben: Leuten, die ich in Grund und Boden berachtete, fehmeichelte ich, oder minbeftens verbarg ich ihnen forgfam meine innere Gefinnung, weil fie, den Um- ftänden gemäß, die Macht über Erfolg oder Nichterfolg meiner Unternehmung hatten; klugen Menfchen, die auf der meinem wahren Weſen entgegengejegten Seite ftanden, und von denen ich wußte, daß fie mich ebenfo mistrauiſch beargwöhnten, als fie ſeibſt mir innerlich zumider waren, fuchte ich durch künſtliche Unbefangenheit Mistrauen und Argwohn zu benehmen, wobei ich doch wiederum deutlich empfand, daß mir die nie wirklich gelingen konnte. Dieß Alles mußte natürlich auch ohne den einzig beabfichtigten Erfolg bleiben, weil ich nicht anders als fehr ftümperhaft zu lügen verftand: meine immer wieber durch brechende aufrichtige Gefinnung fonnte mich aus einem gefähr- lichen Menfchen nur noch zu einem lächerlichen machen. Nichts ſchadete mir z. B. mehr, als daß ih, im Gefühl: des Beſſeren mas ich zu leiften vermochte, in einer Anſprache an das Künſt⸗ Terperfonale beim Beginn ber ©eneralprobe, das Übertriebene der Anforderungen für den Kraftaufwand, das fi im Rienzi vorfand, und dem die Künftler mit großer Anſtrengung zu ent ſprechen Hatten, als eine von mir begangene „fünftferiiche Jugend» fünde“ bezeichnete: die Rezenfenfen brachten dieſe Äußerung ganz warm vor das Publikum, und gaben diefem fein Verhalten gegen ein Werk an, das der Komponift ſelbſt als ein „Durdaus ver⸗ fehlte“ bezeichnet hätte, und deſſen Vorführung vor das funft- gebildete Berliner Publikum fomit eine züchtigungswerthe Frech⸗ heit fei. So hatte id, meinen geringen Erfolg in Berlin in Wahrheit mehr auf meine ſchlecht gejpielte Rolle des Diplo- maten, als auf meine Oper zu beziehen, die, wenn id) mit vollem Glauben an ihren Werth und an meinen Eifer, dieſen Werth

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zur Geltung zu bringen, an daS Werk gegangen wäre, vielleicht daſſelbe Glüd gemacht hätte, was Werfen von bei weitem ge- ringerer Wirkungskraft dort zu Theil wurde.

Es war ein gräßlicher Zuftand, in welchem ich von Berlin zurückkehrte; nur Diejenigen, welche meine oft anhaltenden Aus- brüche einer ausgelaſſenen ironifchen Luftigfeit mißverftanden, konnten fich darüber täufchen, daß ich mich jegt um fo unglüd- licher fühlte, als ich felbft mit dem nothgedrungenen Verſuche zu meiner Gelbftentehrung gemeinhin Lebensklugheit ge« nonnt durchgefallen war. Nie ward mir der ſcheußliche Bwang, mit dem ein unzerreißbarer Zuſammenhang unferer modernen Kunft: und Lebenszuſtände ein freie8 Herz ſich unter- joht und zum ſchlechten Menfchen macht, klarer, als im jener Zeit. War hier für den Einzelnen ein anderer Ausweg zu fin- den, als der Tod? Wie lächerlich mußten mir bie Mugen Albernen erjcheinen, die in der Sehnfucht nad} diefem Tode ein „durch die Wiſſenſchaft bereits überwundenes“, und "daher ver- werfliches Moment chriſtlicher Überfpanntheit“ finden zu müffen glaubten! Bin ich in dem Verlangen, mid) ber Nichtöwürdigfeit der modernen Welt zu entwinden, Chrift geweſen, nun fo war ich ein ehrlicherer Chrift als alle Die, die mir jegt ben Abfall vom Chriſtenthume mit impertinenter Frömmigkeit vorwerfen.

Eines hielt mich aufrecht: meine Kunft, die für mich eben nicht ein Mittel zum Ruhm- und Gelderwerb, fondern zur Rund» gebung meiner Anfhauungen an fühlende Herzen war. Als ich nun aud die Macht des äußeren Zwauges, der zulegt mich noch zur Spekulation auf äußeren Erfolg hingedrängt Hatte, bon mir wies, ward ich gerade jeßt erft vecht deutlich inne, wie unerläßlich nothwendig es mir fei, um die Bildung des fünft- Terifchen Organes mid; zu bemühen, durch das ich mid) in meinem Sinne mittheilen Tonnte. Dieſes Organ war daß Theater, ober beffer: die theatraliſche Darſtellungskunſt, die von mir jeht immer mehr als das einzig erlöſende Moment für den Dichter erlannt wurde, der ſein Gewolltes erſt durch dieſes Moment zur befriedigend gewiſſen, ſinnlich gekonnten That erhoben ſieht. In dieſem über Alles wichtigen Punkte Hatte ich mich bisher immer mehr nur den Fügungen de Bufalled überlaffen: jegt fühlte ich, daß es hier, au einem beftimmten Orte, unter beitimmten Um⸗ ftänden gelte, das Richtige und Nöthige zu Stande zu bringen,

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und daß dieß nie zu Stande käme, wein nicht in einer nächſten Nähe Hand dazu angelegt würde. Der Gewinn der Möglid- teit, meine künſtleriſchen Abfichten durch bie theatraliihe Dar- ftellungstunft irgendwo aljo am beften gerade hier in Dred- den, wo id) war und wirkte vollfommen finnlich verwirklicht zu fehen, erfchien mir von jet ab als das nächſte Erzielens— werthe; und bei diefem Streben ſah id) vorläufig ganz von der Beſchaffenheit des Publikums ab, das ich mir ſchon dadurch zu gewinnen dachte, daß ihm ſceniſche Darftellungen von der geiftig finnlihen Vollendung vorgeführt würden, daf die zu erringende Theilnahme feines rein menjchlichen Gefühles nad} einer höheren Richtung Hin Teicht ſich beftimmen Tieße.

In diefem Sinne wandte ich mid) nun zu dem Kunftinftis tute zurüd, an deſſen Leitung ich jet bereit8 gegen ſechs Jahre als Kapellmeifter beteiligt geiwejen war. Ich fage: ic) wandte mich zu ihm zurüd, meil meine bis dahin gemachten Erfah- rungen mich bereitö zu einer hoffnungslofen Öteichgiltigfeit gegen dafjelbe geftimmt hatten. Der Grund meiner inneren Ab- neigung gegen die Annahme der Kapellmeifterftelle an irgend einem Theater, und gerade auch bei einem Hoftheater, war mir im erlaufe meiner Verwaltung diefer Stelle zu immer beut- licherem Bewußtſein Har geworden. Unfere Theaterinftitute Haben im Allgemeinen teinen anderen Bed, als eine allabendlich zu wiederholende, nie energifch begehrte, fondern vom Spefulationd- geifte aufgedrungene umd von der fozialen Langeweile unferer großſtädtiſchen Vevölferungen mühelos bahingenommene, Unier- baltung zu beforgen. Alles, was vom rein fünftlerifchen Stand- punkte aus gegen diefe Beſtimmung des Theater reagirte, hat fi von je als wirkungslos erwiefen. Nur daraus fonnte ein Unterfchied entftehen, wem dieſe Unterhaltung verſchafft werben foltte: dem in künſtlicher Rohheit erzogenen Pöbel der Städte wurden grobe Späße. und kraſſe Ungeheuerlicheiten vorgeführt; den fittfamen Philiſter unferer Bürgerflaffen vergnügten mo— raliſche Familienftüde; den feiner gebildeten, durch Kunftlurus verwöhnten höheren und höchſten Klaſſen munbeten nur raffinirtere, oft mit äfthetifchen Grillen garnirte Kunftgerichte. Der eigentliche Dichter, der fi) ab und zu mit feinen Anſprüchen durch die ber drei genannten Klaſſen hindurch geltend zu machen ſuchte, warb ſtets mit einem, nur unſerem Theaterpublikum

Rigard Wagner, Gef. Schriften IV. 20

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eigenthümlichen Hohne, dem Hohne der Langeweile, zurüdge- wieſen, mindeſiens fo lange, als er nicht als Antiquität zur Garnirung jenes Kunftgerichted wilfährig und tauglich gewor⸗ den war. Das Befondere ber größeren Theaterinftitute befteht aun darin, daß fie in ihren Leiftungen fämmtliche drei Klaſſen des Publikums zu befriedigen ſuchen; ihnen ift ein Zuſchauer⸗ vaum gegeben, in welchem fich jene Klaſſen j on nad} der Höhe ihrer Gelbbeiträge vollitändig von fi abfondern, und fo ben Künftler in die Lage verfegen, Diejenigen, an die er ſich mit- theilen fol, bald in dem fogenannten Paradiefe, bald im Par⸗ terre, bald in den Ranglogen aufzufuchen. Der Direktor ſolcher Inſtitute, der zunächſt feine andere Aufgabe hat, als auf Geld- erwerb audzugehen, hat nun abwechſelnd bie verſchiedenen Klaſſen des Publikums zu befriedigen: er thut dieß, gewöhnlich mit Be- rüdfichtigung de3 bürgerlichen Charakter ber Tage ber Woche, durch Vorführung der verfchiebenartigften Produkte der Theater- ftüdfchreibefunft, indem er heute z. B. eine grobe Bote, morgen ein Philifterrührftüd, und am dritten Tage eine pfiffig zugerich- tete Delikateffe für Feinſchmecker vorführt. Die eigentliche Auf- gabe mußte nun bleiben, aus allen drei genannten Hauptgat- tungen ein Genre von Theaterftüden zu Stande zu bringen, welches gemacht fei dem ganzen Publikum auf einmal zu genü- gen, und mit großer Energie hat die moderne Oper dieſe Auf- gabe erfüllt: fie Hat das Gemeine, Philifterhafte und Raffinirte in einen Topf geworfen, und feßt nun dieß Gericht dem Kopf an Kopf gebrängten gemeinfamen Thenterpublilum vor. Der Oper ift es fo gelungen, den Pöbel raffinirt, den Vornehmen pöbelhaft, die gefanmte Bufchauermaffe aber zu einem pöbelhaft raffinirten Philifter zu machen, der ſich in der Geftalt des Theaterpublikums jegt nun mit feinen verwirrten Anforderungen dem Manne gegen: über ftellt, der die Leitung eines Kunftinftitutes übernimmt. Diefe Stellung wird den Theaterdireftor weiter nicht be unruhigen, der es eben nur darauf abzufehen Hat, dem „Publi- tum“ das Geld auß der Taſche zu Ioden; die hierauf bezügliche Aufgabe wird auch mit großem Takte und nie fehlender Sicher⸗ heit von jedem Direftor unjerer großen oder Heinen ftädtifchen Theater gelöft. Verwirrend wirft dieſe Stellung aber auf Den- jenigen, der von einem fürftlichen Hofe zur Leitung ganz defiel- ben Inſtitutes berufen wird, dad aber darin von jenen Anftalten

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ſich unterfcheidet, daß ihm der Schuß des Hofes in der Zuſiche⸗ rung der Deckung vorkommender Ausfälle in den Einnahmen verliehen ift. Vermöge dieſes ſichernden Schuge3 müßte ſich der "Direktor eines folchen Hoftheater8 beftimmt fühlen, von ber Spekulation auf ben bereit3 verdorbenen Geſchmack der Maffe abzufehen, und vielmehr auf die Hebung dieſes Geſchmackes da- duch zu wirken, daß ber Geift der theatralifchen Vorführungen nad dem Ermefien der höheren Kunftintelligenz beftimmt werde. In Wahrheit ift dieß auch urfprünglich bei Gründung ber Hof- theater die mohlgemeinte Abficht geiftvoller Fürſten, wie Joſeph IL, geweſen; fie hat ſich auch als Tradition bis auf die Hoftheater- intenbanten der neueren Beit fortgepflanzt. Zwei praktiſche Um: ftände hinderten aber die Geltendmadhung dieſer an und für ſich mehr hochmüthig wohlwollend chimäriſchen, als wirklich er- reichbaren Abſicht: erſtlich, die perſönliche Unfähigkeit des beſtellten Intendanten, der meiſtens ohne Rüdficht auf etwa ge— wonnene Fachkenntniß oder ſelbſt nur natürliche Diſpoſition für Kunſtempfänglichkeit, aus der Reihe ber Hofbeamten gewählt wurde; umb zweitens: bie Unmöglichkeit, der Spekulation auf den Geihmad des Publikums in Wahrheit zu entfagen. Gerade die reichlichere Unterftügung der Hoftheater an Geldmitteln war nur zu Vertheuerung des Tünftleriichen Materiald verwendet worden, für deflen Heranbildung gründlich zu forgen den ſonſt fo erziehungsfüchtigen Leitern unferes Staates, mit Bezug auf die theatralifhe Kunft, nie eingefallen war; und hierdurch ftei- gerte ſich die Koſtſpieligkeit dieſer Inftitute fo fehr, daß gerade auch dem Direktor eines Hoftheaters die Spekulation auf das zahlende Publikum, ohne deſſen thätigfte Mithilfe die Ausgaben nicht zu erſchwingen waren, zur reinen Nothwendigkeit wurde. Diefe Spekulation nun in dem Sinne jedes anderen Theater- unternehmerd glüdlih auszuüben, machte dem vornehmen Hof- theaterintendanten aber wiederum das Gefühl von feiner höheren Aufgabe unmöglich, die bei feiner perſönlichen Unbefähigung, dieſe Aufgabe nach ihrer richtigen Bedeutung zu faflen jedoch unglüdlicher Weife nur im Sinne eines gänzlich inhaltsloſen Hofbünkel3 verftanden, und dahin aufgegriffen werben kounte, daß wegen irgend einer unfinnigen Weranftaltung der Inten⸗ dant fi) damit entſchuldigte, bei einem Hoftheater ginge dieß Niemand etwas an. Somit kann die Wirkfamfeit eines heutigen B 20*

308 Eine Mitteilung an meine Freunde.

Hoftheaterintendanten nothgebrungen nur in bem beftändig Zur Schan getragenen Konflitte eines ſchlechten Spefulations- geiſtes mit einem höfiſchbornirten Hochmuthe beftehen. Die Ein- fiht in diefe Notwendigkeit ift fo leicht zu gewinnen, daß ich bier diejer Stellung nur erwähnt, nit aber fie ſelbſt näher be— leuchtet Haben will.

Daß ſich Keiner, auch der am beften Geftimmte und, um der Ehre willen, für das Gute am zugängliciten Diſponirte, den zwingenden Einwirkungen diefer unnatürlihen Stellung ent- ziehen Tann, ſobald er fie eben nicht gänzlich aufzugeben fich ent fchließt, dieß mußte mir aus meinen Dresdener Erfahrungen volltommen erjichtlih werben. Diefe Erfahrungen ſelbſt um- ftändlicher zu bezeichnen, glaube ich gewiß nicht nöthig zu haben; kaum wird es der Verfiherung bedürfen, daß ich unter ben immer erneuten und immer wieder für fruchtlo8 erfannten Ver— fuchen, der perfönlichen Geneigtheit meines Intendanten für mich einen entjeheidend günftigen Einfluß auf die Theaterangelegen- heiten abzugemwinnen, enblid) felbft in einen martervoll fchwanfen- den, unficheren, tappend irrenden und widerſpruchsvollen Gang gerieth, von dem ich mich nur durch vollſtäudiges Burücziehen und Beſchränken auf meine ftrifte Pflicht, zu befreien vermochte.

Wandte ich mich nun aus dieſer Burücdgezogenheit wieber dem Theater zu, fo,fonnte dieß, nad) der erfahrenen Fruchtloſig⸗ keit aller vereinzelten Berfuche, nur im Sinne einer grundjäß« lichen gänzlichen Umgeftaltung deffelben fein. Ich mußte er- kennen, daß ich Hier nicht mit einzelnen Exfcheinungen, fondern mit einen großen Zufammenhange von Erjcheinungen zu thun hatte, von dem ich allmählich immer mehr inne werden mußte, daß aud) er wiederum in einem unendlich weit verzweigten Bu- fammenhange mit unferen ganzen politifhen und fozialen Bu- ftänden enthalten fei. Auf dem Wege des Nachſinnens über die Möglichkeit einer gründlichen Änderung unferer Thentervergält- niffe, warb ich ganz vom felbft auf die volle Erkenntniß der Nichtswürdigkeit der politifhen und fozialen Zu— ftände hingetrieben, die aus fidh gerade feine anderen öffentligen Runftzuftände bedingen fonnten, ald eben die don mir angegriffenen. Diefe Erkenntniß war für meine ganze weitere Lebensentwickelung enticheidend.

Nie hatte ih mich eigentlich mit Politit befchäftigt. Ich

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entfinne mich jeßt, ben Erſcheinungen der politifchen Welt genau nur in den Maaße Aufmerkſamkeit zugewendet zu haben, als in ihnen ber Geift der Revolution fi kundthat, nämlich, ald die reine menſchliche Natur fich gegen dem politifchejuriftifhen For- malismus empörte: in diefem Sinne war ein Kriminalfall für mid) von demfelben Intereſſe, wie eine politifche Aktion. Stets konnte ich nur für den Leidenden Partei nehmen, und zwar ganz in dem Grade eifrig, ald er fich gegen irgend melden Brud wehrte: niemals habe ich e8 vermocht, irgend einer politiſch kon⸗ ftruftiven Idee zu lieb diefe Parteinahme fallen zu laſſen. Da- ber war meine Theilnahme an der politiſchen Erſcheinungswelt infofern ftet3 fünftlerifher Natur geweſen, als ich unter ihrer formellen Außerung auf ihren rein menſchlichen Inhalt blidte: erſt wenn ich dieſes Formelle, wie es fi aus juriftifch-traditio- nellen Rechtspunkten geftaltet, von den Erſcheinungen abftreifen, und auf ihren inhaltlichen Kern als rein menschliches Weſen treffen konnte, vermochten fie mir Sympathie abzugeminnen; denn hier erfah ich dann genau dafjelbe drängende Motiv, mas mi als tünftferifchen Menſchen aus der ſchlechten ſinnlichen Form der Gegenwart zum Gewinn einer neuen, bem wahren menfchlichen Weſen entfprechenden, finnfichen Geftaltung heraud- trieb, einer Geftaltung, die eben nur durch Vernichtung ber finnlihen Form der Gegenwart, alſo durch die Revolution zu gewinnen ift.

So war id} von meinen künſtleriſchen Standpunkte aus, namentlich auch auf bem bezeichneten Wege des Sinnens über die Umgeſtaltung des Theater3*), bis dahin gelangt, daß ich die Notwendigkeit der hereinbrechenden Revolution von 1848 voll- tommen zu erkennen im Stande war. Die politifh formelle Richtung, in die ſich damals zumal in Deutſchland zunächit der Strom der Bewegung ergoß, täufchte mich über daS wahre Weſen der Revolution wohl nicht: doch hielt es mich anfangs noch fern von irgend welcher Betheiligung an ihr. Ich vermochte es, einen umfaſſenden Plan zur Reorganifation des Theaters außzuarbeiten, um mit ihm, fobald die revolutionäre Frage an

*) Ich hebe dieß gerade hervor, fo abgeihmadt e8 aud von Denen aufgefaßt wird, die fi über mich, ald „Mevolutionär zu Gunften de3 Theaters“, luſtig machen.

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dieſes Inftitut gelangen würde, gut gerüftet hervorzutreten. Es entging mir nicht, daß bei einer voraus zu fehenden neuen Ord⸗ nung des Staatshaushaltes, der Zweck der Unterftügungsgelder für dad Theater einer peinlichen Kritit ausgeſetzt jein würde: jobald es hierzu käme, und, wie voraußzufehen war, ein.öffent- licher Nugen aus der Verwendung jener Gelder nicht begriffen werben würde, follte mein vorgelegter Plan zunächſt das Ge— ftändniß diefer Nuß- und Zwedloſigkeit nicht nur vom ſtaats- ölonomifchen, fondern namentlich eben auch vom Standpunkte des rein künſtleriſchen Intereffes aus, enthalten; zugleih aber den wahren Zwed der theatralifchen Kunſt vor der bürgerlichen Geſellſchaft, und die Nothwendigkeit, einem folhen Zwede alle nöthigen Mittel der Erreichung zur Verfügung zu ftellen, Den- jenigen vorführen, die mit gerechter Entrüftung im bisherigen Theater ein nutzloſes, oder gar ſchädliches öffentliches Inſtitut erſahen.

Es geſchah dieß Alles in der Vorausſetzung einer fried- lichen Löfung der objchwebenden, mehr reformatorifhen als revolutionären ragen, und des ernftlichen Willens von Oben herab, die wirkliche Reform felbft zu bewerfftelligen. Der Gang der politifchen Ereignifje mußte mich bald eines Anderen beleh- ven: Reaktion und Revolution ftellten ſich nadt einander gegen- über, und die Nothwendigkeit trat hervor, ganz in das Alte zurüczufehren, ober gar mit dem Alten zu brechen. Die von nie gemachte Wahrnehmung der höchjiten Unflarheit der ftrei- tenden Parteien über das Wefen und ben eigentlichen Zuhalt der Revolution, beftimmte mich eines Tages felbft öffentlich gegen die bloß politifc, formelle Auffaffung der Revolution, und für die Nothwendigkeit, daß der. rein menſchliche Kern derfelben deutlich in da3 Auge gefaßt werde, mich auszufprechen. An dem Erfolge dieſes Schrittes gewahrte ich nun erit erfichtlich, wie es bei unferen Politifern um die Erkenntniß des Geiftes der Revo» Iution ftand, und daß eine wirkliche Revolution nie von Oben, vom Standpunfte der erlernten Intelligenz, fondern nur von Un- ten, aus dem Drange des rein menjchlichen Bebürfniffes, zu Stande kommen kann. Die Lüge und Heuchelei der politifchen Parteien erfüllte mich mit einem Efel, der mich zunächſt wieder in bie vollfte Einſamkeit zurüdtrieb.

Hier verzehrte fi mein nah Außen ungeftillter Drang

Eine Mittheilung an meine Freunde. 311

wieber in künftlerifchen Entwürfen. Zwei folder Entwürfe, die mich bereits feit längerer Zeit bejchäftigt Hatten, ftellten ſich mir jegt faft zugleich dar, wie fie der Eigenthümlichkeit ihres In— halte nach mir überhaupt faft für Eins galten. Noch während der mufifalifchen Ausführung des „Lohengrin“, bei der id) mich immer wie in einer Dafe in der Wüfte gefühlt Hatte, bemäch— tigten fi) beide Stoffe meiner dichteriichen Phantafie: es waren dieß „Siegfried“ und „Friedrich der Rothbart“.

Nochmals, und zum legten Male, ftellten fi mir Mythos und Gedichte gegenüber, und drängten mich dießmal fogar zu der Entjheidung, ob ich ein mufifalifche Drama, oder ein rezi- tirtes Schaufpiel zu fehreiben hätte. Ich Habe es mir für hier aufbehalten, über den Hier zu Grunde liegenden Konflikt mich genauer mitzutheilen, weil ich erft hierbei zu einer beftimmten Löfung, und fomit zum Bewußtſein über die Natur diefer Trage gelangte,

Seit meiner Rückkehr aus Paris nach Deutſchland, Hatte mein Lieblingsftubium das des deutſchen Alterthumes ausge madt. Ich erwähnte bereit3 näher des damals tief mich er- füllenden Verlangens nach der Heimath. Diefe Heimath fonnte in ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit mein Verlangen auf feine Weife befriedigen, und ich fühlte, daß meinem Triebe ein tie ferer Drang zu Grunde lag, der in einer anderen Sehnſucht feine Nahrung haben mußte, ald eben nur im Verlangen nad; der modernen Heimath. Wie um ihn zu ergründen, verfenfte ich mich in das urheimifche Element, da8 uns aus den Dich tungen einer Vergangenheit entgegentritt, die und um fo wärmer und anziehender berührt, als bie Gegenwart und mit feindfeliger Kälte von fi) abftößt. Alle unfere Wünſche und heißen Triebe, die in Wahrheit uns in die Zukunft hinübertragen, ſuchen wir aus den Bildern der Vergangenheit zu finnlicher Erfennbarkeit zu geftalten, um fo für fie die Form zu getvinnen, bie ihnen die moberne Gegenwart nicht verfchaffen kann. In dem Streben, den Wünfchen meines Herzens Fünftlerifche Geftalt zu geben, und im Eifer, zu erforichen, was mich denn jo unmwiderftehlich zu bem urheimathlichen Sagenquelle Hinzog, gelangte ih Schritt für Schritt in das tiefere Älterthum hinein, wo ich denn endlich zu meinem Entzüden, und zwar eben dort im höchſten Alter- thume, den jugendlich ſchönen Menſchen in der üppigften Friſche

312 Eine Mitteilung an meine Freunde.

feiner Kraft antreffen ſollte. Meine Studien trugen mich fo duch die Pichtungen des Mittelalterd hindurch bis auf ben Grund des alten urdeutſchen Mythos; ein Gewand nah bem anderen, da8 ihm die fpätere Dichtung entftellend umgeworfen Hatte, vermochte ich von ihm abzulöfen, um ihn fo endlich im feiner keuſcheſten Schönheit zu erbliden. Was ich hier erfah, war nicht mehr die hiftorifch fonventionelle Figur, an der ung das Gewand mehr als die wirkliche Geftalt intereffiren muß; fondern der wirkliche, nadte Menſch, an dem ich jede Wallung des Blutes, jedes Zuden der kräftigen Muskeln, in uneingeeng- ter, freiefter Bewegung erkennen durfte: der wahre Menſch überhaupt.

Gleichzeitig Hatte ich diefen Menfchen au in der Ge— ſchichte aufgeſucht. Hier boten fih mir Verhältniffe, und nichts als DVerhältniffe; den Menfchen ſah ich aber nur info- weit, al3 ihn die Verhältnifje beftimmten, nit aber wie er fie zu beftimmen vermocht hätte. Um auf den Grund diefer Ver- hältniſſe zu kommen, die in ihrer zwingenden Kraft den ftärfften Menſchen zum Vergeuden feiner Kraft an ziellofe und nie er— reichte Zwecke nöthigten, betrat id) von Neuem ben Boben bes hellenifchen Alterthumes, und warb aud; hier endlich wiederum nur auf den Mythos bingewiefen, in welchem ih den Grund auch diefer Berhältniffe erkannte: nur waren in dieſem My- 1503 jene fozialen Verhältniſſe in ebenfo einfachen, beftimmten und plaftiihen Zügen fundgegeben, ald ich zubor in ihm ſchon die menfchliche Geftalt felbft erfannt hatte; und auch von biefer Seite her leitete mich der Mythos gerade wieder einzig auf diefen Menſchen als den unmillfürlihen Schöpfer der Verhältniſſe hin, die in ihrer dofumental-monumentalen Entftellung als Ge ſchichtsmomenie, als überlieferte irrtHümliche Vorftellungen und Rechtöverhältnifie, endlich den Menfchen zwangvoll beherrfchten, und feine Sreiheit vernichteten.

Hatte mich nun ſchon Tängft die Herrliche Geftalt des Sieg- fried angezogen, jo entzüdte fie mich doc vollends erft, als es mir gelungen war, fie, von aller fpäteren Umkleidung befreit, in ihrer veinften menfchlichen Erſcheinung vor mir zu fehen. Erſt jet auch erfannte ich die Möglichkeit, ihn zum Helden eined Drama's zu machen, was mir nie eingefallen war, fo lange ih ihn nur auß bem mittelalterlichen Nibelungenliede kannte.

Eine Mitteilung an meine Freunde, 313

Bugleich mit ihm war mir aus dem Studium der Gefchichte aber auch Friedrich I. entgegengetreten: er erſchien mir, wie er dem fagengeftaltenden deutſchen Wolfe erſchienen war, als eine ge- ſchichtliche Wiedergeburt des altheidniſchen Siegfried. Als bie politiichen Bewegungen ber legten Zeit hereiubrachen, und in Deutfchland zumächft im Verlangen nach politischer Einheit ſich tundgaben, mußte es mich dünken, als ob Friedrich I. dem Volke näher liegen und eher verftändlich fein würde, ald ber rein menfchliche Siegfried. Schon Hatte ich den Plan zu einem Drama entworfen, das in fünf Aften Friedrich vom ronkalifchen Reichs— tage bis zum Antritte feines Kreuzzuges barftellen follte. Un- befriedigt wandte ich mich aber immer wieder von dem Plane ab. Nicht die bloße Darſtellung einzelner geſchichtlicher Mo- mente hatte mid, zu dem Entwurfe veranlaßt, fondern ber Wunſch, einen großen Bufammenhang von Verhältniffen in der Weiſe vorzuführen, daß er nach einer leicht überfchaulichen Ein- heit erfaßt und verftanden werben follte Um meinen Helben, und die Verhältnifie, die er mit ungeheurer Kraft zu bewältigen ftrebt, um endlich ſelbſt von ihnen bewältigt zu werden, zu einem deutlichen Verſtändniſſe zu bringen, mußte ich mich, ge— rade dem geſchichtlichen Stoffe gegenüber, zum Verfahren des Mythos Hingedrängt fühlen: die ungeheure Maſſe geſchichtlicher Vorfälle und Beziehungen, aus der doch fein Glied ausgelafjen werben durfte, wenn ihr Zuſammenhang verftändlih zu über blicken fein follte, eignete fich weder für die Form, noch für das Wejen des Drama’s. Hätte ich dieſer nothwendigen Forderung der Geſchichte entiprechen wollen, jo wäre mein Drama ein un= überſehbares Konglomerat von dargeftellten Vorfällen gewor- den, die dad Einzige, was ich eigentlich darftellen wollte, in Wahrheit gar nicht zum Vorſchein hätten kommen laſſen; und ich würde daher mit meinem Drama fünftlerijch genau in den- ſeiben Fall gelommen fein, wie der Held: nämlich, von den Verhältniffen, die ich bewältigen, d. h. geftalten wollte, würde ich jelbft überwältigt und erbrüdt worden fein, ohne meine Abſicht zum Verftändniffe gebracht zu haben, wie Friedrich feinen Willen nicht zur Wusführung bringen konnte. Ich Hätte, um meine Abſicht zu erreichen, daher die Maffe der Verhältniffe ſelbſt durch freie Geftaltung bewältigen müffen, und würde fona in ein Verfahren gerathen fein, das die Geſchichte ge-

314 Eine Mittheilung an meine Freunde.

radesweges aufgehoben hätte*): das Widerſpruchsvolle Hiervon mußte mir aber einlemchten; denn eben das Charakteriftiihe des Friedrich war es für mich, daß er ein geſchichtlich er Held fein folte. Wollte ih nun zum mythiſchen Geftalten greifen, fo hätte ich in letzter und höchiter, dem modernen Dichter aber ganz un⸗ erreichharer, Geftaltung endlich bei bem reinen Mythos an- kommen müffen, den nur das Volk bis jetzt gedichtet hat, und den ich in reichfter Vollendung bereitd im Siegfried bor- gefunden hatte, J

Ich kehrte jetzt zu derſelben Zeit, wo ich mit dem wider⸗ lichen Eindrucke, den bie politiſch-formelle Tendenz in dem inhaltsloſen Treiben unſerer Parteien auf mich machte, von der Öffentlichkeit mic) zurückzog zum „Siegfried“ zurück, und zwar nun auch mit vollem Bewußtſein von der Untauglichkeit der reinen Gefchichte für die Kunſt. Bugleich aber hatte ich hier⸗ mit ein künſtleriſch ſormelles Problem für mein Bewußtjein mit Beftimmtheit gelöft, und dieß war die Frage über bie Giltigkeit des reinen (nur gejprochenen) Schaufpieles für da8 Drama der Zukunft. Diefe Frage ftellt fi mir keinesweges vom formell fpefulativen Kunſtſtandpunkte aus vor, fondern ich gerieth auf fie einzig durch die Beſchaffenheit des darzuſtellenden dichterifchen Stoffe, die mich allein nur noch für die Geftaltung beftimmte. Als mich äußere Anregungen veranlaßten, mic; mit dem Ents wurfe des „Friedrich Rothbart“ zu befchäftigen, kam mir nicht einen Wugenblid ein Zweifel darüber an, daß es fich hier nur um ein geſprochenes Schaufpiel, keinesweges aber um ein muſi⸗ kaliſch auszuführendes Drama Handeln könnte. In der Periode meine8 Lebens, wo ich meinen Rienzi Tonzipirte, hätte es mir vielleicht ankommen können, aud) ben „Rothbart“ für einen DOpernftoff zu Halten; jept, wo es mir nicht mehr darauf ankam, Opern zu fchreiben, fondern überhaupt meine dichteriſchen An⸗ ſchauungen in der Iebendigften künſtleriſchen Form, im Drama, mitzutheilen, fiel es mir nicht im Entfernteften ein, einen Hifto- riſch⸗politiſchen Gegenſtand anders, ald im gefprochenen Schaur

*) Meine Studien, die ih in dieſem Sinne machte, und durch deren nothwendigen Charakter ich eben beftimmt wurde vom dem Vorhaben abzuftehen, legte ic vor einiger Zeit, unter dem Titel „bie Wibelungen“, in einer Tleinen Schrift meinen Freunden allerbings nicht der hiſtoriſch⸗juriſtiſchen Kritit Öffentlich vor.

Eine Mittheilung an meine Freunde. 315

fpiele auszuführen. Als ich nun diefen Stoff aber aufgab, ge- ſchah dieß keinesweges aus Bedenlen, die mir etwa ald Opern» dichter und Komponiften erwachſen wären, und mir es verwehrt hätten, aus dem Fache, in welchem ich geübt war, herauszutreten: Tondern es fam dieß wie ich zeigte lediglich daher, daß ich die Ungeeignetheit bes Stoffes für dad Drama überhaupt ein- fehen lernen mußte, und auch dieß warb mir nicht einzig aus Tünftferifch formellen Bedenken ar, jondern aus derfelben Un« befriedigung meines rein menſchlichen Gefühls, welches im wirk Tichen Leben durch den politifchen Formalismus unferer Beit ver- Tegt wurde. Ich fühlte, daß ich das Höchfte, was ich dom rein menſchlichen Standpunkte aus erſchaute und mitzutheilen ver- Iangte, in der Parftellung eines hiſtoriſch-politiſchen Gegen ftandes nicht mittheifen fonnte; daß die bloße verftändliche Schilderung von Verhältniffen mir die Darflellung der rein menſchlichen Individualität unmöglich machte; daß ich demnach hier das Einzige und Wefentliche, worauf e8 mir ankam, nur zu errathen gegeben, nicht aber wirklich und finnlic an das Gefühl vorgeführt Haben würde: und aus biefem Grunde ver« warf id mit dem hiſtoriſch-politiſchen Gegenitanbe zugleich nothwendig auch diejenige dramatiſche Kunſtform, in der er einzig noch vorzuführen geweſen wäre; denn ich erkannte, daß dieſe Form nur aus jenem Gegenſtande hervorgegangen, und durch ihn zu rechtfertigen war; daß ſie aber gänzlich unvermögend ſei, den, von mir nun einzig nur noch in dad Auge gefaßten, rein menſchlichen Gegenftand überzeugend an das Gefühl mit- zutheilen, und daß demnach mit dem Verſchwinden des Hiftorifch- politijchen Gegenftandes, notwendig in Zukunft auch die Schau- fpielform, als eine für den neuen Gegenftand ungenügende, uns behilftiche und mangelhafte, verfhwinden müßte.

Ich fagte, daß mich zum Wufgeben eines Schaufpielftoffes nicht meine Fachſtellung als Opernkomponiſt veranlaft habe; nichtöbeftomeniger habe ich aber zu beftätigen, daß eine Erkennt⸗ niß des Wejend des Schaufpieles und des, dieſe Form bebin« genden, Hiftorifch-politiihen Gegenftandes, wie fie mir aufging, allerdingd einem abjoluten Schaufpieldichter oder dramatifchen Literaten nicht. entftehen konnte, fondern lediglich einem kunſt leriſchen Menſchen, der eine Entwidelung, wie die meinige es war, unter der Einwirkung des Geiftes der Muſik nahm.

316 Eine Mittheilung an meine Freunde,

Bereit3 als ich meine Parifer Periode beſprach, tHeilte ich mit, daß ich die Muſik und mein Innehaben derfelben als den guten Engel anfähe, der mich, bei meiner Empörung gegen die fchlechte moderne öffentliche Kunft, als Künftler bewahrte umd vor einer bloß Litterarifc-kritifchen Tätigkeit behütete. Bei biefer Ge— legenheit behielt ich es mir vor, den Einfluß näher zu bezeichnen, den meine mufifalifche Stimmung auf mein fünftlerifhes Ge— ftalten außübte. Iſt die Beſchaffenheit dieſes Einfluffes gewiß auch Keinem entgangen, der die Darftellung de3 Entftehens meiner Dichtungen aufmerkſam verfolgte, fo muß ich hier doch noch beitimmter darauf zurückkommen, weil gerade jegt biefer Einfluß bei einer wichtigen künſtleriſchen Entſcheidung mir zum vollen Bewußtſein kam.

Noch mit dem „Rienzi“ hatte ich nur im Sinne eine „Oper“ zu fchreiben; ich fuchte mir zu diefem Zwecke Stoffe, und, nur um bie „Oper“ befümmert, nahm ich biefe aus fertigen, auch der Form nad} bereitö mit fünftlerifcher Abficht geftalteten Dich⸗ tungen*): ein dramatiſches Märchen von Gozzi, ein Schaufpiel von Shakefpeare, endlich einen Roman von Bulwer richtete ich mir eigend zum Bwede der Oper her. Beim Rienzi erwähnte ich bereits, daß ich den Stoff, wie es übrigens bei der Ratur eine3 Hiftorifhen Romane gar nicht anders thunlich war, freier nad meinen Eindrüden von ihm bearbeitete, und zwar in ber Weife, wie ich ihn fo drückte ich mich aus durd) die „Opern- brille“ gejehen Hatte. Mit dem „fliegenden Holländer“, deffen Entftehen aus befonberen eigenen Lebenzftimmungen ich ſchon genauer bezeichnet Habe, ſchlug ich eine neue Bahn ein, indem ich ſelbſt zum künſtleriſchen Dichter eines Stoffes ward, der mir nur in feinen einfach rohen Zügen als Volksſage vorlag. Ich war von nun an in Bezug auf alle meine dramatifchen Arbeiten zunächſt Dichter, und erft in der volftändigen Ausführung bes Gedichtes warb ich wieder Mufifer. Allein ich war ein Dichter, der des muſikaliſchen Ausdrucksvermögens für die Ausfüh- rung feiner Dichtungen fih im Voraus bewußt war; ich hatte dieſes Vermögen fo weit geübt, daß ich meiner Fähigkeit, e8 zur

*) Hierin kam ich alfo für dad Formelle ich weiter, als der geihidte Lorging in feinem Fache, der ſich ebenfalls fertige Theater- ftüde als Operntegte zurecht machte,

Eine Mittheilung an meine Freunde. 317

Verwirkllichung einer dichteriſchen Abfiht zu verwenden, voll⸗ kommen inne war, und auf bie Hilfe dieſer Fähigteit beim daffen dichteriſcher Entwürfe nicht nur ſicher rechnen, ſondern in dem Wiſſen Hiervon dieſe Entwürfe ſelbſt freier nach dichteriſcher Nothwendigkeit geſtalten konnte, als wenn ich ſie mit beſonderer Abficht für die Muſik geſtaltet Hätte. Zuvor Hatte ich die Fähig- teit des mufifalifchen Wusdrudes mir in der Weife anzueignen gehabt, wie man eine Sprache erlernt. Wer’ eine fremde, uns gewohnte Sprade noch nicht vollkommen inne hat, muß in Allem, was er ſpricht, auf die Eigenheit diefer Sprache Rüdjicht nehmen; um ſich verſtündlich außzudrüden, muß er fortwährend auf diefen Ausdrud ſelbſt bedacht fein, und was er fprechen will, abficht- lich für ihm berechnen. Er ift fomit für jede feiner Kumdgebun- gen in der Beobachtung der formellen Regeln der Sprache be- fangen, und Hierbei ann er noch nicht fo ganz aus feinem un» willtürlichen Gefühle heraus fprechen, wie es ihm um das Herz ift, was er empfindet und was er erſchaut; er muß vielmehr feine Empfindungen und Anſchauungen für ihre Kundgebung jelbft nad) dem Ausdrucke modeln, defjen er nicht fo mächtig ift wie ber Mutterjprache, in ber er, gänzlich unbelümmert um den Ausdrugt, den richtigen Ausdrud ohne es zu wollen von ſelbſt findet. Seht Hatte ich aber bie Sprache der Muſik vollkommen erlernt; ich Hatte fie jegt inne wie eine wirkliche Mutterſprache; in dem, was ich fundzugeben Hatte, durfte ich mich nicht mehr um das Formelle des Ausdruckes jorgen: er ſtand mir zu Ge— bote ganz wie ich feiner bedurfte, um eine beftimmte Anſchau⸗ ung oder Empfindung nad) innerem Drange mitzutheilen. Eine ungewohnte Sprache fprict man ohne Mühe aber nur dann volltommen richtig, wenn man ihren Geift in fi aufgenommen hat, wenn man in biefer Sprache ſelbſt empfindet und denkt, und fomit genau eben Das ausſprechen will, was ihrem @eifte nad einzig in ihr auögefprochen werden kann. Erſt wenn wir ganz aus dem Geifte einer Sprache heraus ſprechen, ganz un« willfürfih in ipm empfinden und denken, erwächft und aber auch die Fähigkeit, diefen Geift ſelbſt zu erweitern, daß in der Sprache Auszubrüdende mit dem Ausdrucke zugleich zu bereihern und außzudehnen. Das in der muftfalifchen Sprache Auszudrüdende find nun aber einzig Gefühle und Empfindungen: fie drüdt den von unferer, zum reinen Berftandesorgan gewordenen Wort-

318 Eine Mittheilung an meine Freunde.

ſprache abgelöften Gefühlsinhalt der rein menschlichen Sprache überhaupt in vollenbeter Fülle aus. Was fomit der abfoluten muſikaliſchen Sprache für ſich unausbrüdbar bleibt, .ift die ge- naue Beitimmung des Gegenftandes des Gefühle und der Em- pfindung, an welchem dieſe ſelbſt zu ficherer Beſtimmtheit ge- langen: bie ihm nothwendige Erweiterung und Ausdehnung des mufifafijhen Sprachausdruckes beteht demnach im Gewinne des Vermögens, au das Individuelle, Befondere, mit kennt⸗ licher Schärfe zu bezeichnen, und dieſes gewinnt fie nur in ihrer Vermählung mit der Wortſprache. Nur aber dann kann bieje Bermählung eine erfolgreiche fein, wenn die muſikaliſche Sprache zu allernächſt an das ihr Befreundete und Werwanbte der Wort- ſprache anfnüpft; genau da Hat die Verbindung vor ſich zu gehen, wo in der Wortfprache jelbft bereitö ein unabweisliches Verian⸗ gen nach wirklichen, finnlihem Gefühlsausbrude ſich kundgiebt. Dieß beftimmt fi aber einzig nad) dem Inhalte ded Auszu— drüdenden, inwiefern diefer aus einem Verftandes- zu einem Gefühlsinhalte wird. Ein Inhalt, der einzig dem Verftande faßlich ift, bleibt einzig aud nur der Wortſprache mittheilbar; je mehr er aber zu einem Gefühlsmomente ſich ausdehnt, defto beftimniter bebarf er auch eines Ausdruckes, den ihm in entſpre— hender Fülle endlich mur die Tonſprache ermöglichen Tann. Hiernach beitimmt fi ganz von felbft der Inhalt Deflen, was der Wort-Tondichter außzufprechen Hat: es ift das von aller Konvention Iosgelöfte Reinmenſchliche.

Mit der gewonnenen Fähigfeit, in der Tonfprache frei nach meiner Unwillkür zu fprechen, konnte ich natürlich auch nur im Geiſte diefer Sprache mich mitzutheilen haben, und wo e8 mich als künſtleriſchen Menfchen am entfceidendften zur Mittheilung drängte, beftimmte ſich der Inhalt meiner Mittheilung nothwen⸗ dig nach dem Geifte des Ausdrucksvermögens, bad mir als höch- ſtes zu eigen war. Die dichterifchen Stoffe, die mich zum künſt⸗ lerifhen Geftalten drängten, fonnten nur von der Natur fein, daß fie vor Allem mein Gefühlsweſen, nicht mein Berftandes- weſen einnahmen: nur das Reinmenfchliche, von allem Hiftorifch- formellen Losgelöfte konnte mich, fobald es mir in feiner wirl- lichen, natürliden und von Außen nicht getrübten Geftalt zur Erſcheinung kam, zur Teilnahme ftimmen, und zur Mittheilung bed Erſchauten anregen. Was ich erfchaute, erblidte ich jehi

Eine Mittheilung an meine Freunde. 319

nur aus dem Geifte der Mufik, nicht aber der Mufif, deren for- melle Beftimmungen mich für den Ausdrud noch befangen ge= halten hätten, fondern der Muſik, die ich volllommen inne hatte, in ber id) mic) außdrüdte wie in einer Mutterfprache. Mit diefem Vermögen konnte ich mich jegt frei und ungehemmt nur noch auf das Auszubrüdende richten; nur nod der Gegen— ftand des Ausdrudes war mir das für mein Geftalten Beach- tenswerthe. Gerade durch die gewonnene Fähigkeit des mufi- kaliſchen Ausdrudes ward ich fomit Dichter, weil ich mich nicht mehr auf den Ausdruck felbft, ſondern auf den Gegenftand bed- ſelben als geftaltender Künftler zu beziehen hatte. Ohne auf bie Bereicherung des muſikaliſchen Augbrudßverhögens auszugehen, mußte ich dieſes doc) ganz von ſelbſt außbehnen durch Die Gegen- ftände, um deren Ausdruck e3 mir zu thun war.

In der Natur des Fortſchrittes aus dem mufifalifchen Empfindungsiefen zur Geftaftung bichteriiher Stoffe Ing es nun ganz von ſelbſt bedingt, daß ich den verſchwimmenderen, allgemeineren Gefühlsinhalt dieſer Stoffe zu immer deutlicherer,

individuellerer Beſtimmtheit verdichtete, und fo endlich da an- kommen mußte, wo der unmittelbar auf das Leben ſich beziehende Dichter ſicher und feſt das durch den muſikaliſchen AÄusdruck Kundzugebende bezeichnet und von fich aus beſtimmt. Wer da- her aufmerfjam die Bildung der drei hier vorgelegten Dichtun- gen betrachtet, wird finden, wie ih im „fliegenden Holländer“ in weiteften, vageften Umrifjen Das zeichnete, was id; im „Tann: häuſer“, und endlich im „Lohengrin“ mit immer deutlicherer Beſtimmtheit zu fiherer Geftaltung brachte. Indem ich mich bei diefem Verfahren immer mehr auf das wirkliche Leben zu be— ziehen vermochte, mußte ich zu einer beftimmten HZeit, und unter beftimmten äußeren Einbrüden, endlich felbft wohl jo weit fom- men, daß fich mir ein dichteriſcher Stoff, wie der befprochene „Friedrich Rothbart“, darbot, für deſſen Geftaltung ich dem mufifalifhen Ausdrude geradesweges hätte entfagen müſſen. Gerade hier aber war e8, wo mein bisher unbewußtes Ver— fahren in feiner künſtleriſchen Nothivendigfeit mir zum Be- mwußtfein fommen mußte. An diefem Stoffe, der mich der Mufit gänzlich vergeffen gemacht hätte, ward ich der Geltung wahrer dichterifcher Stoffe überhaupt inne; und da, wo ich mein mu— ſikaliſches Ausdrucksvermögen unbenugt. hätte Lajfen

320 Eine Mitthellung an meine Freunde.

müffen, fand ih aud, daß id; meine gewonnene dich— terifhe Fähigkeit der politifhen Spekulation unter- zuordnen, fomit meine künftlerifhe Natur überhaupt zu verläugnen gehabt Haben würde, Gerade hier erhielt ich aber auch die dringendfte Veranlaffung, über die Natur des geihichtlich-politiihen Lebens dem rein menſchlichen Leben gegen- über mir zum Bewußtſein zu kommen, und als ich den „Friedrich“, mit dem ich mich biefem politifchen Leben am bichteften genähert hatte, mit vollem Wiſſen und Willen aufgab, um deſto beftimmter und gewiſſer in Dem, was ich wollte, den „Siegfried“ vorzu- nehmen, hatte ich eine neue und entſcheidendſte Periode meiner Künftferifchen und menſchlichen Entwidelung angetreten, Die Pe: riobe des bewußten fünftlerifhen Wollens auf einer voll- fommen neuen, mit ımbewußter Nothwenbigfeit von mir ein- gefchlagenen Bahn, auf der ih nun als Künftler und Menſch einer neuen Welt entgegenfchreite.

Ich Habe Hier den Einfluß bezeichnet, den mein Innehaben des Geiftes der Mufil auf die Wahl meiner dichteriſchen Stoffe, und ihre wiederum dichteriſche Geftaltung ausübte; demnächft habe ich nun darzuftellen, welche Rückwirkung mein auf bieje Weiſe beftimmtes dichteriſches Verfahren wiederum auf meinen mufifalif hen Ausbrud und deffen Form äußerte. Diefer rüd- wirkende Einfluß gab ſich in der Hauptfache in zwei Momenten fund: in ber dramatiſch-muſikaliſchen Form überhaupt, und in der Melodie in's Beſondere.

Beftimmte mic, von bem bezeichneten Wendepunkt meiner künſtleriſchen Richtung an, ein» für allemal.der Stoff, und zwar der mit dem Auge der Mufif erfehene Stoff, fo mußte id in feiner Geftaltung nothwendig biß zur allmählichen gänzlichen Aufhebung ber mir überlieferten Opernform fortichreiten. Diefe Opernform war an und fir ſich nie eine beftimmte, dad ganze Drama umfafjende Form, fondern vielmehr nur ein will fürliches SKonglomerat einzelner Eleinerer Gefangſtücksſormen, die in ihrer ganz zufälligen Aneinanderreihung von Arten, Duetten, Terzetten u. ſ. w, mit Chören und fogenannten Enfembleftüden, in Wahrheit das Weſen der Opernform ausmachten. Bei ber dichteriſchen Geftaltung meiner Stoffe fam es mir nun unmög lich mehr auf eine entfprechende Ausfüllung diefer vorgefundenen Zormen au, fondern einzig auf eine gefühlsverftänbliche Dar-

Eine Mitteilung an meine Freunde, 321

ftellung de3 Gegenftanded im Drama überhaupt. In dem gan- zen Verlaufe des Drama's fah ich feine anderen Abſchnitte oder Unterfcheidungen möglich, al3 bie Akte, in welchen der Ort oder bie Beit, oder die Scenen, in welchen bie Perfonen der Hand» lung wechſeln. Die plaftiihe Einheit des mythiſchen Stoffes brachte e8 nun mit fi, daß in meiner ſceniſchen Unorbnung alles feine Detail, wie e8 zur Erklärung verwidelter hiſtoriſcher Vorfälle dem modernen Schaufpieldichter unentbehrlich ift, durch aus unnöthig war, und die Kraft der Darftellung auf wenige, immer wichtige und entſcheidende Momente ber Entwidelung Tonzentriert werben konnte. Bei diefen wenigeren Scenen, in denen jedesmal eine enticheidende Stimmung ſich zur vollen Geltung zu bringen Hatte, durfte ich in der Ausführung mit einer, bereit® in der Anlage wohlberechneten, den Gegenftand erſchöpfenden Andauer verweilen; ich war nicht genöthigt, mit Andeutungen nur mich zu begnügen, und um ber äußeren Öfonomie willen haſtig von einer Andeutung zur andern mid) zu wenden; fondern ich fonnte mit der nöthigen Ruhe den einfachen Gegenftand bis in feine letzten, dem dramatiſchen Ber- ſtändniſſe Mar zu erfchließenden Beziehungen, deutlich barftellen. Dur die fo fi beftimmende Natur des Stoffes war ich beim Entwurfe meiner Scenen nicht im mindejten gedrängt, auf ir= gend welche mufitalifche Form im Voraus Rüdficht zu nehmen, weil fie felbft die mufifalifche Ausführung, als eine ihnen durch⸗ aus nothwendige, aus ſich bebangen. Bei dem immer fichereren Gefühle Hiervon konnte mir es fomit gar nicht mehr einfallen, bie nothwendig aus der Natur der Scenen erwachjende mufi« talifhe Form durch willfürliche äußere Annahmen, durch ge- waltfame Einpfropfung der fonventionellen DOperngefangftüds- formen, in ihrer natürlichen Geftaltung zu unterbrechen und zu hemmen. Somit ging ich durchaus nicht grundſätzlich, etwa als teffeftirender Sormumänderer, auf bie Berftörung ber Urien-, Duett» oder fonftigen Opernform aus; fondern die Auslaffung diefer Form erfolgte ganz von felbjt aus der Natur des Stoffes, um deſſen gefühlöverftändliche Darftellung durch den ihm noth- wendigen Ausdrud es mir ganz allein zu thun war. Das un» willfürfihe Wiffen von jener traditionellen Form beeinflußte mic) noch bei meinem „fliegenden Holländer“ fo fehr, das jeder aufmerkſam Prüfende erkennen wird, wie fie mich hier oft noch Rihard Wagner, Gef. Schriften IV. a

322 Eine Mittheilung an meine Freunde.

für Die Anordnung meiner Scenen beftinmte; und erſt allmäh- ld, mit dem „Tannhäufer“, und noch entſchiedener im „Lohen- grin®, alfo nad) immer deutlicher gewonnener Erfahrung von der Natur meiner Stoffe und ber ihnen nöthigen Darftellungs- weife, entzog ich mich jenem formellen Einfluffe gänzlih, und bedang die Form der Darftellung immer beftimmter nur nach der Erforderniß und der Eigenthümlichteit des Stoffes und der Situation.

Auf da8 Gewebe meiner Muſik äußerte diefes, durch Die Natur des dichterifchen Gegenftandes beftimmte Verfahren, einen ganz befonderen Einfluß in Bezug auf die harakteriftiihe Ver— bindung und Verzweigung der thematifhen Motive. Wie die Fügung meiner Scenen alles ihnen fremdartige, un— nöthige Detail ausfchloß, und alles Intereſſe nur auf die vor— maltende Hauptftimmung leitete, fo fügte ſich aud) der ganze Bau meine Drama's zu einer beftimmten Einheit, deren leicht zu überfehende Glieder eben jene wenigeren, für die Stimmung jederzeit entjeheidenden Scenen oder Sitnationen, ausmachten: feine Stimmung durfte in einer diefer Scenen angeichlagen werben, die nicht in einem wichtigen Bezuge zu den Stimmun- gen der anderen Scenen ftand, fo die Entwidelung der Stim- mungen aus einander, und die überall kenntliche Wahrnehmung diefer Entwidelung, eben die Einheit de8 Drama's in feinem Ausdrude herftellten. Jede diefer Hauptftimmungen mußte, ber Natur des Stoffes gemäß, aud einen beftimmten mufitalifchen Ausdrud gewinnen, ber fi) der Gehörempfindung als ein be- ſtimmtes muſikaliſches Thema herausſtellte. Wie im Verlaufe des Drama's die beabſichtigte Fülle einer entſcheidenden Haupt: ſtimmung nur durch eine, dem Gefühle immer gegenwärtige Entwickelung der angeregten Stimmungen überhaupt zu erzeu⸗ gen war, fo mußte nothwendig auch ber, das finnliche Gefühl unmittelbar beftimmende, mufitalifche Ausdrud an diefer Ent widelung zur höchſten Fülle einen entjcheidenden Antheil neh- men; und bieß geftaltete ſich ganz von felbft durch ein, jeberzeit harakteriftiiches, Gewebe der Hauptthemen, das fich nicht über eine Scene (wie früher im einzelnen Operngefangftide), fon- dern über das ganze Drama, und zwar in innigiter Be— ziehung zur dichteriſchen Abſicht, außbreitete. Ich habe die charalieriſtiſche Eigenthümfichkeit, und das für das Gefühle

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verſtändniß der dichteriſchen Abſicht ſo ungemein Erfolgreiche des bier gemeinten thematiſchen Verfahrens, vom theoretiſchen Standpunkte aus genau bezeichnet und gerechtfertigt im dritten Theile meines Buches: Oper und Drama; indem ich hier da— rauf verweiſe, habe ich, dem Bivede dieſer Mitteilung gemäß, nur noch darauf aufmerffam zu machen, wie ich auch auf dieſes Verfahren, das in feiner beziehungsvollen Ausdehnung tiber das ganze Drama nie zuvor angewandt worben ift, nicht durch Re— flegion, fondern einzig durch praftifhe Erfahrung, und dur die Natur meiner fünftlerifchen Abſicht, hingeleitet worden bin. Ich entfinne mich, noch ehe ich zu der eigentlichen Ausführung de3 „fliegenden Holländers“ fchritt, zuerft die Ballade der Senta im zweiten Akte entworfen, und in Vers und Melodie ausge— füßrt zu haben; in diefem Stüde legte ich unbewußt den thema= tifchen Keim zu der ganzen Mufit der Oper nieder: e8 war das berdichtete Bild de3 ganzen Drama’s, wie es vor meiner Seele ftand; und als ic) die fertige Arbeit betiteln jollte, Hatte ich nicht übel Luft, fie eine „Dramatifche Ballade” zu nennen. Bei der endlihen Ausführung der Kompofition, breitete fih mir das empfangene thematifche Bild ganz unwillkürlich als ein vollitän- diges Gewebe über das ganze Drama aus; ich Hatte, ohne weiter e3 zu wollen, nur die verſchiedenen thematifchen Keime, die in der Ballade enthalten waren, nad; ihren eigenen Richtun- gen bin weiter und vollftändig zu entwideln, fo hatte ich alle Hauptftimmungen diefer Dichtung ganz von ſelbſt in beftimmten thematifchen Geftaltungen vor mir. Ich hätte mit eigenfinniger Abſicht willfürlih al Dperntomponift verfahren müffen, wenn ih in ben verſchiedenen Scenen für biejelbe wiederfehrende Stimmung neue und andere Motive hätte erfinden wollen; wozu id, da ich eben nur die verftändlichfte Darftellung des Gegen- Standes, nicht aber mehr ein Konglomerat von Opernftüden im Sinne Hatte, natürlich nicht die mindefte Veranlaffung empfand. ühnlich verfuhr ih nun im Tannhäuſer, und endlich im Lohengrin; nur daß ich Hier nicht von born herein ein fertiges mufifalifches Stüd, wie jene Ballade, vor mir hatte, fondern dad Bild, in welches die thematifchen Strahlen zufammenfielen, aus der Geftaltung der Scenen, aus ihrem organiſchen Wachſen aus fich, ſelbſt erft ſchuf, und in wechſelnder Geftalt überall da es erſcheinen Tieß, wo es für das Verſtändniß der Hauptfituationen al*

324 Eine Mittheilung an meine Freunde,

nöthig war. Außerdem gewann mein Verfahren, namentlich im Lohengrin, eine beftimmtere künſtleriſche Form durch eine jeder- zeit neue, dem Charakter der Situation angemefjene, Umbildung des thematifchen Stoffes, der fi für die Muſik als größere Mannigfaltigkeit der Erſcheinung auswies, als dieß z. ®. im fliegenden Holländer der Fall war, wo das Wiebererfcheinen des Thema's oft noch nur den Charakter einer abfoluten Reminiscenz (in welchem dieß ſchon vor mir bei anderen Komponiften vorge Tommen war) hatte.

Ih habe nun noch den Einfluß meines allgemein bichterifchen Verfahrens auf die Bildung meiner Themen felbft, auf die Melodie, zu bezeichnen.

Aus der abfolut mufifalifchen Periode meiner Jugend her entfinne ich mid, oft auf den Einfall geraten zu fein, wie ich e3 wohl anzufangen hätte, um recht originelle Melodieen zu er— finden, die einen befonderen, mic eigenthümlichen Stempel tra- gen follten. Je mehr ich mich der Periode näherte, in welcher ich mich für mein muſikaliſches Geftalten auf ben dichterifchen Stoff bezog, verſchwand dieſe Beforgtheit um Beſonderheit der Melodie, bis ich fie endlich gänzlich verlor. In meinen früheren Opern ward id) rein durch die traditionelle oder moberne Me- lodie beftimmt, die ich ihrem Wejen nad) nachahmte, und, eben in jener Beforgniß, duch harmonifhe und rhyihmiſche Künfte- leien nur als beſonders und eigenthümlich zu mobeln fuchte. Immer hatte ich aber mehr Neigung zur breiten, lang fi hin— dehnenden Melodie, als zu dem kurzen, zerriffenen und kontra⸗ punktifch gefügten Melismus der eigentlichen Rammerinftrumen- talmufit: in meinem „Liebesverbote“ war ich offen auf die Nach— bildung der mobernen italienischen Kantilene verfallen. Im „Rienzi“ beftimmte mich überall da, wo mich nicht bereits fchon - der Stoff zur Erfindung beftimmte, ber italienifch-franzöfiiche Melismus, wie er mid, zumal aus ben Opern Spontini’8 angeiprochen Hatte. Die dem modernen Gehöre eingeprägte DOpernmelobie verlor nun aber ihren Einfluß auf mid) immer mehr und enblic) gänzlich, als ich mich mit dem „fliegenden Hol- länder“ beichäftigte. Lag dieß Abweiſen bes äußeren Einfluffes zunächſt in der Natur des ganzen Verfahrens, das ich mit dieſer Arbeit einfhlug, begründet, fo erhielt ih nun aber auch eine entfchädigende Nahrung für meine Melodie ans dem Vollsliede,

Eine Mittheilung an meine Freunde. 325

dem ich mich hierbei näherte. Schon in jener Ballade beftimmte mi dad unmillfürlihe Innehaben der Eigenthümlichfeiten des nationalen Vollsmelismus'; noch entfcheidender aber in dem Spinnerliede, und namentlich in dem Liede der Matrojen. Das, was die Vollksmelodie dem mobernen italienijchen Melismus gegenüber am kenntlichſten auszeichnet, ift hauptfächlich ihre ſcharfe rhythmiſche Belebtheit, die ihr vom Bollstanze her eigenthümlich ift; unfere abfolute Melodie verliert genau in dem Grade die populäre Verftändlichteit, ald fie von dieſer rhyth⸗ miſchen Eigenfchaft ſich entfernt, und da die Geſchichte der mo= dernen Opernmufif eben nur bie der abfoluten Melodie ift*), fo erfcheint e8 fehr erklärlich, warum die neueren, namenilich die franzöfifchen Komponiften und ihre Nachahmer, gerabed- weges wieder bei ber reinen Zanzmelodie anfommen mußten, und der Kontretanz, nebft feinen Abarten, gegenwärtig die ganze moberne Opernmelodie beftimmt. Mir war e3 aber nun nicht mehr um Opernmelodieen zu thun, fondern um ben entfprer chendſten Ausdruck für meinen barzuftellenden Gegenftand; im „fliegenden Holländer“ berührte ich daher wohl die rhythmiſche Volksmelodie, aber genau mur da, wo der Stoff mich überhaupt in Berührung mit dem, mehr oder weniger nur im Nationalen fi kundgebenden, Vollselemente brachte. Überall da, wo ih die Empfindungen dramatiſcher Perfönlikeiten auszudrücken hatte, wie fie von dieſem im gefühlvollen Gefpräche Tundgegeben wurden, mußte ich mich der rhythmiſchen Volksmelodie durch⸗ aus enthalten, ober vielmehr, ich fonnte auf dieſe Ausdrucks- weife gar nicht erft verfallen; fondern hier war bie Rebe jelbft, nad ihrem empfindungsvollften Inhalte, auf eine Weife wieber- zugeben, daß nicht der melodifche Ausdrud an fi, ſon— dern die ausgedrüdte Empfindung bie Theilnahme bes Hörerd anregte. Die Melodie mußte daher ganz von felbft aus der Rebe entitehen; für ſich, als reine Melodie, durfte fie gar keine Aufmerkſamkeit erregen, fondern dieß nur fo weit, als fie der finnlichfte Ausdrud einer Empfindung war, die eben in ber Rede deutlich beftimmt wurde. Mit dieſer nothwendigen Auf- fafjung des melobifchen Elementes ging ich nun vollſtändig von dem üblichen Opernfompofitions-Berfahren ab, indem ich auf

*) Siehe „Oper und Drama”, erfter Theil,

326 Eine Mittheilung an meine Freunde,

die gewohnte Melodie, in einem gewifjen Sinne fomit auf die Melodie überhaupt, mit Abfichtlichkeit gar nicht mehr ausging, fondern eben nur aus der gefühlvoll vorgetragenen Rede fie entftehen ließ. Wie dieß aber nur unter dem fehr allmählich meichenden Einflufje der gewohnten Opernmelodie geſchah, das wird aus der Betrachtung meiner Mufit zum „fliegenden Hol- länder“ ſehr erfichtlich: hier beftimmte mid, der gewohnte Melis- mus noch fo fehr, daß ich fogar die Geſangskadenz hie und da noch ganz nadt beibehielt; und es fann dieß Jedem, der auf der anderen Seite eingeftehen muß, daß ich eben mit dieſem fliegen- den Holländer meine neue Richtung in Bezug auf die Melodie einfchlug, als Beweis dafür ‚dienen, mit wie wenig berechnender Reflerion ich in dieſe Bahn einlenkte. In der ferneren Ent- widelung meiner Melodie, wie ich fie ebenfo unwillkürlich im „Tannhäufer” und „Lohengrin“ verfolgte, entzog ich mid, aller= dings immer beftimmter jenem Einflufje, und zwar ganz in dem Maafe, ald nur noch die im Sprachverſe ausgebrüdte Em— pfindung für ihren gefteigerten muſikaliſchen Ausdruck mich bes ftimmte; dennoch ift aud) Hier, und namentlich nod im Tann— häuſer, die vorgefoßte Form der Melodie, d.h. die als nothwen⸗ dig gefühlte Abficht Die Rede eben als Melodie fundzugeben, noch deutlich erfennbar. Ich wurde, wie ich mir nun Har ge- worben bin, zu dieſer Abficht noch durch eine Unvollkommen— heit des modernen Verſes gedrängt, in dem ich eine natür- liche Nahrung und Bedingung für die finnlihe Kundgebung des mufifalifhen Ausdrudes als Melodie noch; nicht finden konnte. Über das Wefen des modernen Verfes habe ich mich ebenfalls im britten heile jenes angeführten Buches beftimmt ausge— ſprochen; und ich berühre daher feine Eigenfchaft hier nur infos weit, als e3 feinen gänzlihen Mangel au wirklichem Rhyth— muß betrifft. Der Rhythmus de3 modernen Verſes ift ein nur eingebildeter, und am beutlichiten mußte dieß der Tonſetzer empfinden, ber eben nur auß dieſem Verſe den Stoff zur Bil- dung der Melodie nehmen wollte. Ich war diefem Verſe gegen- über genötbigt, der melodifchen Rhythmik entweber gänzlich zu entrathen, oder, fobald id) vom Standpunkte der reinen Mufit aus das Bedürfniß nach ihr empfand, den rhythmiſchen Beſtand⸗ theil der Melodie, nach willkürlich melodiſcher Erfindung, eben aus der abfoluten Opernmelodie zu entnehmen, und ihn dem

Eine Mitteilung an meine Freunde. 327

Verſe oft künſtlich aufzupfropfen. Überall, wo mid, wieberun der Ausdruck der poetiichen Rede jo vorwiegend beftimmte, daß ich die Melodie vor meinem Gefühle nur aus ihr rechtfertigen Tonnte, mußte dieſe Melodie, fobald fie in feinem gemwaltfamen Verhältniſſe zum Vers ftehen follte, fait allen rhythmiſchen Charakter verlieren; und bei dieſem Verfahren war ich unend⸗ lich gewiffenhafter und von meiner Aufgabe erfüllter, als wenn ich umgekehrt die Melodie durch willkürliche Rhythmik zu be— leben ſuchte.

Ich gerieth hierbei in die innigſte und endlich fruchtbarſte Beziehung zum Verſe und zur Sprache, aus denen einzig die geſunde dramatiſche Melodie zu rechtfertigen iſt. Die Einbuße meiner Melodie an rhythmiſcher Beſtimmtheit, oder beſſer: Auf⸗ fälligkeit, erſetzte ich ihr nun aber durch eine harmoniſche Be— lebung des Ausdruckes, wie nur gerade ich ſie als Bedürfniß für die Melodie fühlen konnte. War die gewohnte Opernmelo— die, in ihrer endlich höchſten Armuth und ftereotypen Unmandel- barfeit, von ben modernen Opernfomponiften durch die raffinir- teften Künfteleien*) eben nur neu und pifant zu machen verfucht worden, fo hatte die harmoniſche Beweglichkeit, die ich meiner Melodie gab, im Gefühle eines ganz anderen Bedürfniſſes ihren Grund. Die herkömmliche Melodie hatte ich eben vollſtändig aufgegeben; ohne Nahrung und Rechtfertigung für ihren vhyth- miſchen Beftandtheil aus dem Sprachverfe, gab ich ihr nun, ans ftatt des falſchen rhythmiſchen Gewandes, dagegen eine har moniſche Charakteriftit, die fie, bei entfcheidender Wirkfamfeit auf das ſinnliche Gehör, jederzeit zum entfprechendften Aus- drude der im Verſe vorgetragenen Empfindung machte. Ich er- höhte ferner daß Individuelle dieſes Ausdruckes durch eine immer bezeichnendere Begleitung des Inſtrumentalorcheſters, das an und für ſich die harmoniſche Motivirung der Melodie zu verſinnlichen hatte; und mit entſchiedenſter Beſtimmtheit habe ich dieſes, im Grunde einzig auf die dramatiſche Melodie gerichtete Verfahren, im Lohengrin beobachtet, in welchem ich fomit die im „fliegenden Holländer“ eingejchlagene Richtung

*) Man bente 5. ®. an bie efelhaft gequälten Harmonifchen Variationen, mit benen man bie alte abgedrofchene Roſſini'ſche Schlußkadenz zu etwas Appartem zu machen fuchte.

328 Eine Mitteilung an meine Freunde.

mit notwendiger Konfequenz zur Vollendung führte. Nur Eines blieb in diefer fünftleriih formellen Richtung mir noch aufzufinden übrig, nämlich: eine neu zu geminnende rhyth— miſche Belebung der Melodie durch ihre Rechtfertigung aus dem Verſe, auß der Sprache felbft. Hierzu follte ih nun auch gelangen, und zwar nicht durch Umkehr auf meiner Bahn, fon- dern durch Tonfequente Verfolgung meiner eingefchlagenen Rich- tung, deren Eigenthümlichkeit darin beftand, daß ich nicht aus der Form mie faft alle unfere mobernen Künſtler fon= dern aus dem dichteriſchen Stoffe meinen fünftlerifhen Trieb bildete.

Als ich den „Siegfried“ entwarf, fühlte ih, mit vor— Täufigem gänzlichen Abſehen von ber mufifafifchen Ausfüh- rungsform, die Unmöglichkeit, oder mindeſtens die bollftändige Ungeeignetheit davon, dieſe Dichtung im modernen‘ Verſe aus— zuführen. Ich war mit der Konzeption bed „Siegfried“ bis dahin vorgedrungen, wo ich den Menjchen in ber natürlichiten, hei— terften Fülle feiner ſinnlich belebten Kundgebung vor mir ſah; kein Biftorifches Gewand engte ihn mehr ein; fein außer ihm entftandene8 Verhältniß hemmte ihn irgendwie in feiner Be megung, die aus dem innerften Duelle feiner Lebensluft jeder Begegnung gegenüber ſich fo beitimmte, daß Irrthum und Ver: mirrung, aus dem wildeften Spiele der Leibenfchaften genährt, rings um ihn bis zu feinem offenbaren Verderben ſich häufen tonnten, ohne daß der Held einen Augenblick, felbft dem Tode gegenüber, den inneren Duell in feinem. wellenden Erguffe nach Außen gehemmt, oder je etwas Anderes für berechtigt über ſich und feine Bewegung gehalten hätte, als eben die nothwendige Ausftrömung des raftlo8 quillenden inneren Lebensbrunnens. Mic) hatte „Elfa“ diefen Mann finden gelehrt: er war mir der männlich verförperte Geift der ewig und einzig zeugenden Un- willlür, des Wirkers wirklicher Thaten, des Menſchen in der Fülle höchſter, unmittelbarfter Kraft und zmweifellofefter Liebens- würdigleit. Hier, in ber Bewegung biefes Menfchen, war fein gebanfenhaftes Wollen der Liebe mehr, fondern leibhaftig Iebte fie da, ſchwellte jede Ader und regte jede Muskel des Heiteren Menſchen zur entzüdenden VBethätigung ihres Weſens auf. ©o, wie biefer Menfch fich bewegte, mußte aber nothwenbig auch fein vebender Ausbrud fein; hier reichte der nur gedachte mo-

Eine Mittgeilung an meine Freunde. 329

derne Vers mit feiner verſchwebenden, körperloſen Geftalt nicht mehr aus; der phantaftifche Trug der Endreime vermochte nicht mehr als fcheinbares Fleiſch über die Abweſenheit alles leben⸗ digen Knochengerüſtes zu täuſchen, das dieſer Verslörper nur als willkürlich dehnbares, Hin und her zerfahrendes Schleim- Inorpelwert noch im ſich faßt. Den „Siegfried“ mußte ich geradesweges fahren lafjen, wenn ich ihn nur in Diefem Verſe hätte ausführen können. Somit mußte ic) aufeine andere Sprach⸗ melodie finnen; und doch Hatte ih in Wahrheit gar nicht zu finnen nöthig, fondern nur mich zu entſcheiden, denn an bem urmythiſchen Duelle, wo ich den jugendlich ſchönen Siegfried- menſchen fand, traf ich auch ganz von felbft auf den finnfich vollendeten Sprachausdruck, in dem einzig diefer Menſch fich Tundgeben fonnte. Es war bieß ber, nach dem wirklichen Sprach⸗ accente zur natürlichften und lebendigſten Rhythmik ſich fügende, zur unendlich mannigfaltigften Kundgebung jeberzeit leicht fich befähigende, ftabgereimte Vers, in welchem einft das Volk felbft dichtete, ala e8 eben noch Dichter und Mythenfchöpfer war.

Über dieſen Vers, wie er feine Geftaltung aus der tief in- nerft zeugenden Kraft der Sprache felbft gewinnt, und bon ſich aus biefe zeugende Kraft in das weibliche Element der Mufit, zur Gebärung der auch rhythmiſch vollendeten Tonmelodie er- gießt, habe ich mich ebenfal3 in dem letzten Theile meines Buches „Oper und Drama“ ausführlich ausgeſprochen; und ich könnte nun, da ich die Auffindung auch diefer formellen Neuerung, als nothwendig aus meinem fünftlerifhen Schaffen bedingt, nach— gewiefen, den Bed meiner Mittheilung überhaupt als erreicht anfehen. Da ic) meine Dichtung von „Siegfried’8 Tod“ jeßt noch nicht öffentlich vorlegen Tann, muß mir alle weitere Andeu- tung über fie als zwecklos, und jedenfalls als leicht mißverftänd- lich erſcheinen. Nur inwieweit die Bezeichnung meiner dichteris ſchen Entwürfe, und der Lebensftimmungen, aus benen fie ent- ſprangen, noch zur Erklärung oder Rechtfertigung meiner ſeitdem veröffentlichten Kunſtſchriften mir von Wichtigkeit erfcheint, darf ich es für zwedgemäß halten, auch hierüber jetzt noch mic mit zutheilen. Ich thue dieß in Kürze um fo lieber, als ich bei dieſer Mittheilung, außer dem im Beginn angegebenen, noch einen bejonderen Bmwed habe, nämlich den, meine Freunde mit dem Gange meiner Entwidelung bis auf den heutigen Tag, jo

330 Eine Mittheilung an meine Freunde.

weit befannt zu machen, daß ich, wenn ich demnächſt wieder mit einer neuen dramatiſchen Arbeit öffentlih vor fie trete, Hoffen darf, vollfommen mir Vertrauten mich mitzutheilen. Seit einiger Zeit bin id) gänzlich aus diefem unmittelbar fünftlerifchen Ber- tehre mit ihnen getreten; wieberholt, und fo auch jet noch, konnte ich mich ihnen nur als Schriftfteller mittheifen: welche Bein diefe Art der Mittheilung für mic) ausmacht, brauche ich Denen, die mich als Künftler fennen, wohl nicht erft zu ver— fern; fie werden e8 an dem Style meiner fchriftitellerifchen Arbeiten ſelbſt erjehen, in welchem ich auf das Umſtändlichſte mid) quälen muß, Das auszubrüden, was ich fo bündig, Leicht und ſchlank im Kunftwerfe felbft tundgeben möchte, fobald deſſen entſprechende finnliche Erfcheinung ebenfo nah’ in meiner Macht ftünde, al3 feine fünftferifch technifche Aufzeichnung mit der Fe— der auf das Papier. So verhaßt ift mir aber daß fchriftftelerifche Weſen und die Noth, die mich zum Schriftfiellern gedrängt Hat, daß ich mit diefer Mittheilung zum Ießten Male als Litterat vor meinen Freunden erfchienen fein möcjte, und deßhalb Hier alles Das noch aufnehme, was ich, unter den obwaltenden erſchweren⸗ den Umftänden, ihnen noch glaube fagen zu müfjen, um fie be ftimmt darauf Hinzuweifen, was fie bon meiner neueften dra- matifchen Arbeit, wenn fie in der Aufführung ihnen vorgeführt werben fol, fi) zu erwarten haben; benn diefe wünſche ich dann ohne Vorrede in das Leben einzuführen”).

Ich fahre alfo fort.

Meine Dichtung von „Siegfried’3 Tod“ hatte ich entworfen und auögeführt, einzig um meinem inneren Drange Genüge zu thun, keinesweges aber mit dem Gedanken an eine Aufführung auf unferen Theatern und burd die vorhandenen Darftellungs- mittel, bie ich in jeder Hinficht für durchaus ungeeignet dazu halten mußte. Erft ganz neuerdings ift mir die Hoffnung erwedt worden, unter gewifjen günftig ſich geftaltenden Umftänden, und mit der Beit, dieß Drama der Offentlichfeit vorführen zu können, jeboch erft nach glüdlich von Statten gegangenen Borbereitun gen, die mir diefe Vorführung als eine wirfjame nah Möglich teit gewährleiften follen. Dieß ift zugleich der Grund, weßhalb

*) Diefer Wunſch follte num freilich nicht in Gefältung, gehen.

Eine Mitteilung an meine Freunde. 331

ich die Dichtung ſelbſt noch für mich zurüdbehalte. Damals, im Herbft 1848, dachte id an die Möglichkeit der Aufführung von „Siegfried's Tod” gar nicht, fondern fah feine bichteriih technifche Vollendung, und einzelne Verſuche zur mufifalifchen Ausführung, nur für eine innerliche Genugihuung an, die ich, zu jener Beit des Ekels vor den öffentlichen Ungelegenheiten und der Zurüdgezogenheit von ihnen, mir felbft verſchaffte. Diefe vereinfamte traurige Stellung al Fünftlerifcher Menſch, mußte mir aber gerade hieran wieberum zum fehmerzlichiten Bewußtſein tommen, und ber nagenden Wirkung dieſes Schmerzes konnte id nur durch Befriedigung meines raftlofen Triebes zu neuen Entwürfen mehren. Es drängte mic, Etwas zu dichten, das gerade dieſes mein fehmerzliched Bewußtfein, auf eine dem gegen- märtigen Leben verftändliche Weife mittheile. Wie id) mit bem „Siegfried“ durch die Kraft meiner Sehnfucht auf den Urquell des ewig Reinmenſchlichen gelangt war, fo kam ich jeßt, wo ich diefe Sehnfucht dem modernen Leben gegenüber durchaus un- ftillbar, und von Neuem nur die Flucht vor diefem Leben, mit Aufgebung feiner Forderungen an mid) durch Selbftvernichtung, als Erlöfung erfennen mußte, aud) an dem Urquell aller mo— dernen orftellungen von diefem Verhältniffe an, nämlich dem menſchlichen Jeſus von Nazareth.

Bu einer, namentlid) für den Künftler ergiebigen Beurthei— lung der wundervollen Erſcheinung dieſes Jeſus' war ic) da— durch gelangt, daß ich den fombolifchen Chriſtus von ihm unter- ſchied, der, in einer gewiſſen Zeit und unter beftimmten Umftän- den gedacht, ſich unferem Herzen und Verſtande als fo leicht begreiflich darſtellt. Betrachtete ich die Zeit und die allgemeinen Zebendzuftände, in denen ein fo liebendes und Tiebebedürftiges Gemüth, wie dad Jefus’, ſich entfaltete, jo war mir nichts na— türlicher, al daß der Einzelne, der eine fo ehrlofe, Hohle und erbärmlihe Sinnlichkeit, wie die der römifchen Welt, und mehr noch der den Römern unterworfenen Welt, nicht vernichten und zu einer neuen, ber Gemüthsſehnſucht entſprechenden Sinnlicd;- feit geftalten fonnte, nur aus biefer Welt, fomit auß der Welt überhaupt hinaus, nach einem befjeren Jenſeits, nad; dem Tode, verlangen mußte. Sah ich nun die Heutige moderne Welt von einer ähnlichen Nichtswürdigkeit, als die damals Jeſus um- gebenbe erfüllt, fo erkannte ich jept nur, der charakteriftifchen

332 Eine Mittheilung an meine Freunde.

Eigenfchaft der gegenwärtigen Buftände gemäß, jenes Berlan- gen in Wahrheit als in der finnlichen Natur bes Menfchen be- gründet, der aus einer ſchlechten, ehrloſen Sinnlichkeit ſich eben nad einer ebleren, feiner geläuterten Natur entiprechenden Wahrnehmbarkeit fehnt. Der Tod ift Hier nur das Moment ber Verzweiflung; er ift ber Berftörungdaft, den wir an und aus— üben, weil wir ihn als Einzelne nicht an den ſchlechten Buftänden ber uns zwingenden Welt ausüben können. Der Aft der wirflihen Vernichtung ber äußeren, wahrnefmbaren Bande jener ehrlofen Sinnlichkeit ift aber die und obliegende geſunde Kundgebung dieſes, bisher auf die Gelbftvernichtung gerichteten Dranged. Es reizte mich nun, die Natur Jeſus', wie fie unferem, der Bewegung bed Lebend zugewandten Bewußtſein deutlich geworden ift, in der Weife darzuthun, daß dad Selbſt⸗ opfer Jeſus nur die unvolltommene Außerung desjenigen menfd)- lichen Zriebes fei, der dad Individuum zur Empörung gegen eine liebloſe Allgemeinheit drängt, zu einer Empörung, bie der durchaus Einzelne allerdings nur duch Selbftvernichtung be ſchließen Tann, die gerade aus diefer Selbftvernichtung heraus aber noch ihre wahre Natur dahin kundgiebt, daß fie wirklich nicht auf den eigenen Tod, fondern auf die Verneinung ber lieb: Iofen Allgemeinheit außging*).

Im dieſem Sinne fuchte ich‘ meiner empörten Stimmung Luft zu machen mit dem Entwurfe eines Drama's „Jeſus von Nazareth". Zwei überwältigende Bedenken hielten mic) aber von ber Ausführung des Entworfenen ab: diefe erwuchſen einer- ſeits aus der widerſpruchvollen Natur des Stoffes, wie er uns eben vorliegt; andererfeit8 aus der erfannten Unmöglichkeit, auch dieſes Werk zur öffentlichen Aufführung zu bringen. Dem Stoffe, wie er nun einmal durch das religiöfe Dogma umd die populäre Vorſtellung von ihm dem Volke ſich eingeprägt Hat, mußte ein zu empfindlicher Zwang angethan werden, wenn ich mein mor dernes Bewußtſein von feiner Natur in ihm fundgeben wollte; an feinen populären Momenten mußte gedeutet, und mit mehr philoſophiſcher als fünftlerifcher Abfichtlichleit geändert werben, um fi) der gewohnten Anſchauungsweiſe unmerklich zu entziehen,

Wie ſehr in dieſer M der Künftler thati wor, Cutgeht Daht una, Aufeſſang nur ber Rünhler, thene

Eine Mitteilung au meine Freunde, 333

und in dem von mir erfannten Lichte zu zeigen. Hätte ich nun ſelbſt dieß zu überwinden vermocht, jo mußte ich aber doch ein- jehen, daß das Einzige, was dieſem Stoffe die von mir beab- fihtigte Bedeutung geben fonnte, eben unfere mobernen Zu— ftände waren, und daß, nur gerade jegt dem Volke vorgeführt, diefe Bedeutung von Wirkung fein könnte, nicht aber dann, wenn bdiefelben Zuftände durch die Revolution zerftört waren, mo jenfeit3 dieſer Buftände zugleich aber aud nur die einzige Möglichkeit zu erjehen war, da8 Drama dem Volke öffent- lich vorführen zu können.

Denn fo weit war ic) bereit8 über den Charakter der da- maligen Bewegung mit mir einig geworden, daß wir entwweber vollſtändig in dem Alten verbleiben, oder vollftändig dad Neue zum Durchbruch bringen mußten. Ein Marer, täuſchungsloſer Blick auf die äußere Welt belehrte mich entjcheidend, daß ich den „Jeſus bon Nazareth“ durchaus aufzugeben hatte. Diefer Blid, den ich aus meiner brütenden Einfamfeit heraus auf bie politifche Außenwelt warf, zeigte mir jegt die nahe bevorftehende Kata- ftrophe, die Jeden, dem es um eine grünbliche und weſentliche Änderung der ſchlechten Yuftände Ernft war, verjhlingen mußte, ' wenn er jeine Eriftenz, felbft in dieſen ſchlechten Zuftänden, über Alles liebte. Dem bereits offen und frech ausgeſprochenen Trotze des außgelebten Alten gegenüber, das um jeben Preis fi in feiner Exiſtenz erhalten wollte, mußten meine früher gefaßten Pläne, wie der einer Theaterreform, mir jegt Eindifch vorfoms men. Ich gab fie auf, wie Alles was mich mit Hoffnung erfüllt, und fo über die wahre Lage der Dinge getäufcht hatte. Im Vorgefühle der unvermeidlichen Entfcheidung, die auch mic, mochte ic} thun was ich wollte, treffen mußte, fobald id; eben nur meinem Weſen und meinen Öefinnungen treu blieb, floh ich jet jede Beichäftigung mit kümſtleriſchen Entwürfen; jeder Feberzug, den ich geführt hätte, kam mir lächerlich vor, jetzt, wo ich unmöglidy noch durch eine fünftlerifche Hoffuung mich belügen und betäuben fonnte. Des Morgens verließ ich mein Zimmer mit dem öden Schreibtifche, und wanderte einfam hinaus in das Freie, um mich im erwachenden Frühlinge zu fonnen, und in feiner wachfenden Wärme alle eigenfüchtigen Wünſche von mir zu werfen, die mich irgend noch mit täufchenden Bildern an eine Welt von Buftänden feſſeln fonnten, aus der all’ mein Verlan-

334 Eine Mittgeilung an meine Freunde.

gen mit Ungeftim mic, Hinaudtrieb. So traf mich der Dres- dener Aufitand, den ich mit Vielen für den Beginn einer all- gemeinen Erhebung in Deutfchland hielt: wer follte nach Dem Mitgetheilten fo blind fein wollen, nicht zu erjehen, daß ich da feine Wahl mehr Hatte, wo ich nur noch mit Entſchiedenheit einer Welt den Rüden kehren mußte, der ich meinem Wejen nad längſt nicht mehr angehörte!

Mit Nichts kann ich das Wohlgefühl vergleichen, dad mich nad) Überftehung der nächſten ſchmerzlichen Eindrüde durchdrang, als ich mich frei fühlte, frei von der Welt martern- der, ftet3 unerfüllter Wünfche, frei von den Verhältniſſen, in denen diefe Wünfche meine einzige, verzehrende Nahrung ge- weſen waren! Als mich, den Geächteten und Verfolgten, feine Rüdfiht mehr band zu einer Lüge irgend welcher Art, als ich jede Hoffnung, jeden Wunfch auf diefe jegt fiegreiche Welt hinter mic) geworfen, und mit ziwanglofefter Unumwundenheit laut und offen ihr zurufen konnte, daß id, der Künftler, fie, diefe jo ſcheinheilig um Kunft und Kultur beforgte Welt, aus tiefftem Grunde des Herzens veradhte; als ich ihr fagen fonnte, daß in ihren ganzen Lebensadern nicht ein Tropfen wirklichen fünft- leriſchen Blutes fließe, daß fie nicht einen Athemzug menfchlicher Gefittung, nicht einen Hauch menfchlicher Schönheit aus ſich zu ergießen vermöge: da fühlte ich mich zum erften Male in meinem Leben duch und durch frei, Heil und heiter, mochte ih auch nicht wiffen, wohin ich den nächſten Tag mich bergen follte, um des Himmel3 Luft athmen zu dürfen.

Wie ein ſchwarzes Bild aus einer längft abgethanen gräf- lichen Vergangenheit war nochmals jenes Paris an mir vor— übergezogen, dahin ich auf den Rath eines mohlmeinenden Freun⸗ des, der hier mehr für mein äußerliches Glüd als meine innere Befriedigung beforgt fein konnte, zunächſt mich gewandt Hatte, und das ich jet, beim erſten Wiedererfennen feiner efelhaften Geftalt, wie ein nächtliches Gejpenft von mir wies, indem ih eilend aus ihm fortfloh und nad) ben frifchen Alpenbergen der Schweiz mid; wandte, um wenigftend nicht mehr den Peſtgeruch des modernen Babel zu athmen. Hier, im Schuge ſchnell gewon- nener bieberer Freunde, fammelte ich mic zunächſt zur öffent lichen Kundgebung eine Proteſtes gegen die augenblidlihen Befieger der Revolution, denen ich wenigftens den Titel ihres

Eine Mittheilung an meine Freunde. 335

Herrenrechtes abzuftreiten Hatte, nach welchem fie fich für die Be— fchüger der Kunft außgeben. So ward ich wiederum zum Schrift: fteller, wie ich es einft in Pariß geworden war, als ich meine Wünſche auf PBarifer Kunftrugm Hinter mich warf und gegen das Zormelle des Herrfchenden Kunſtweſens mich empörte: jetzt hatte ich mich aber gegen diefe3 ganze Kunſtweſen in feinem Bu- fammenhange mit dem ganzen politifch-jozialen Zu— ftande der modernen Welt auszufprechen, und ber Athen, den ich hierzu fehöpfen mußte, hatte von anhaltenderer Natur zu fein. Im einer Heineren Schrift „die Kunft und die Revo— Tution“ dedte ich zunädft diefen Zufammenhang auf, und wies den Namen ber Kunft für Das, was gegenwärtig unter diefem fehügenden Titel zur Spekulation auf die Schlechtigfeit und Eiendigfeit de3 modernen „Publitums“ fich anläßt, gebüh- rend zurück. Im einer etwas ausführlicheren Abhandlung, die unter dem Titel des „Kunftwerkes der Zukunft” erfchien, wies ich den töbtlichen Einfluß jenes Zufammenhanges auf das Wefen der Kunft felbft nach, die bei ihrer egoiftifchen Berftücelung in die modernen Einzelnfünfte unfähig geworden fei, das wirkliche, allein giltige, weil allein verftändliche, und einen rein menfch- lichen Inhalt zu faſſen allein fähige, Kunſtwerk zu Stande zu bringen. In meiner neueften fchriftitelerijchen Arbeit: „Oper und Drama“, zeigte ich nun, beftimmter auf den rein künft- leriſchen Gegenjtand eingehend, wie Die Oper bisher irrthüm— lich von Krititern und Künftler für das Kunſtwerk angefehen worden fei, in welchem die Keime, oder gar bie Vollendung des don mir gemeinten Runftwerfes der Bufunft bereit3 zur Exfchei- nung gelommen wären; und wies nad), daß nur aus der voll- ftändigen Umkehrung des bisherigen fünftleriihen Verfahrens bei der Oper einzig das Richtige geleiftet werden könnte, indem ic) Hierbei das Ergebniß meiner eigenen künſtleriſchen Erfah— rungen meiner Daritellung des vernünftigen und allein zmed- mäßigen Verhältniſſes zwiſchen Dichter und Mufiler zu Grunde legte. Mit diefer Arbeit, und mit der hier gemachten Mitthei- fung, fühle ih nun, dem Drange, der mic) zulegt zum Schrift— fteller machte, Genüge gethan zu haben, indem ich mir fagen zu dürfen glaube, daß, wer mid) nun noch nicht verfteht, mich unter allen Umftänden auch nicht verftehen Tann, weil er nicht will.

Während biefer fehriftftellerifchen Periode hörte ich jedoch

336 Eine Wittheilung an meine Freunde. \

nie ganz auf, auch mit Künftlerifchen Entwürfen mich zu tragen.

War id im Allgemeinen mir über meine Lage wohl auch fo Har,

daß ich an die Möglichkeit, jegt eined meiner Werfe aufgeführt | zu fehen, um fo weniger glaubte, als ich felbft mit Grundfäg-

lichkeit jebe Hoffnung und fomit jeden Verſuch eines gedeihlichen _ Befaſſens mit unferen Theatern überhaupt aufgegeben Hatte; | und hegte ic) innerlich fomit ganz und gar nicht die Abficht, ja

fogar die vollfte Abneigung dagegen, durch neue Verjuche das Unmögliche möglich machen zu wollen, jo fand ſich doch zunächit äußere Veranlaffung genug, mic; mwenigftend wieder in entfern- tere Berührung mit unferer öffentlichen Kunft zu fegen. Ich mar gänzlic) hilflos in die Verbannung gegangen, und ein mög- licher Erfolg al3 Opernfomponift in Paris mußte meinen Freun⸗ den, und endlich felbft wohl auch mir, als der einzige Duell dauernder Sicherung meiner Exiſtenz gelten. Nie aber konnte ich in meinem Inneren an die Möglichkeit eines folhen Erfolges denfen, und dieß zwar um jo weniger, als mich jedes Befafjen mit dem Barifer Opernweſen, nur im Gedenken daran, bis auf den Grund meiner Seele anwiderte; der äußeren Noth gegen- über, und meil felbft meine theilnehmendften Freunde meinen Widerftand gegen diefen Plan nicht ald durchaus gerechtfertigt zu begreifen vermochten, verfuchte ich endlich dennoch, mich zu einem leßten, marterbollen Kampfe gegen meine Natur zu zivin- gen. Auch Hierbei wollte ich jeboch feinen Schritt von meiner Richtung abweichen, und entwarf für meinen Pariſer Opern: dichter den Plan zu einem „Wieland der Schmiedt”, ben meine Freunde nad) meiner Deutung bereit8 aus dem Schluſſe des „Kunſtwerkes der Zukunft“ kennen. So ging id) nochmals nad Paris: dieß war und wird nun für immer das letzte Mal gewefen fein, daß ich aus äußeren Nüdjichten mich zum Zwange meiner wirfichen Natur beftimmte. Diefer ßwang drüdte fo furchtbar ſchmerzlich und zeritörenb auf mich, daß ich dießmal, rein nur duch die Wucht dieſes Druckes, dem Unter- gange nahe gerieth: ein alle meine Nerven lähmendes Übelbe- finden befiel mid von meinen Eintritt in Paris an fo heftig, daß ic) ſchon dadurch allein zum Aufgeben aller nöthigen Schritte für mein Vorhaben genöthigt ward. Bald wurde mein Übel und meine Stimmung fo unerträglich, daß ich, von unwillkürlich gewaltfamem Lebensinſtinkte getrieben, um meiner Rettung willen

Eine Wittheilung an meine Freunde. 337

zum Äußerjten zu fehreiten mich anließ, zum Bruche mit Allem, was mir irgend noch freund gefinnt war, zum Fortziehen in Gott weiß welche? wilbfremde Welt. In dieſem Außerften, wohin ich gekommen, warb ich nun von ächteften Freunden aber begriffen: fie leiteten mich an der Hand einer unendlich zarten Liebe von meinem Schritte zurüd. Dank ihnen, die allein e8 wiſſen, wen ich meinel

Ja, ich lernte jegt die vollſte, ebelfte und ſchönſte Liebe fennen, bie einzig wirkliche Liebe, die nicht Bedingungen auf» ftellt, fondern ihren Gegenftand ganz jo umfaßt, wie er ift und feiner Natur nach nicht anders fein kann. Sie Hat mid auch der Kunſt erhalten! Burüdgefehrt, trug ich mich von Neuem mit dem Gedanken, „Siegfried’8 Tod“ mufitalifch vollends aus- zuführen: es war bei biefem Entfchluffe aber noch halbe Ver— zweiflung im Spiele, denn ich wußte, ich würde diefe Muſik jetzt nur für daS Papier fchreiben. Das unerträglih Mare Wiſſen hiervon verleibete mir von Neuem mein Vorhaben; ich griff im Gefühle davon, daß ich in meinem Streben meift doch noch fo gänzlich misverftanden würbe*) wieber zur Schriftftellerei, und ſchrieb mein Buch über „Oper und Drama“. Bon Neuem war id nun wieber gänzlich verftimmt und niedergefchlagen in Bezug auf ein zu erfafjendes Fünftlerifches Vorhaben: neu er-

- haltene Beweiſe von ber Unmöglichkeit, mich künſtleriſch ver—

fändli jet dem Publikum mittheilen zu Können, brachten mir wieder eine gründliche Unluft zu neuen dramatiſchen Wrbeiten bei; und offen glaubte ich mir geftehen zu müffen, daß es mit meinem Runftichaffen ein Ende habe. Da hob mich aus mei— nem tiefften Mismuthe ein Freund auf: durch ben gründlich. ften und Hinreißendften Beweis, daß ich nicht einfam ftand und wohl tief und innig verftanden wire felbft von Denen, die mir fonft faft am fernften ftanden —, hat er mich von ‚Neuem,

*) Nichts Tonnte mir dieß unter Unberen wieder mehr aufdeden, al3 ein Brief, den ich von einem früheren Freunde, einem namhaften Romponiften, erhielt, und worin biefer mid ermahnte, „doch von der Bolitit zu lafjen, bei ber im Ganzen doch nichts herausfäme*. Diefe ich weiß nicht genau ob abfihtlihe oder un⸗ abfihtlihe Befangenheit, mich durchaus für einen Politifer Halten und ben rein fünftleriihen Gehalt meiner b:reit3 ausgeſprochenen Anfihten gefliffentlich überfehen zu wollen, Hatte für mid etwas Empdrended.

Rigard Wagner, Gej. Schriften IV. 22

338 Eine Wittheilung an meine freunde.

und nun ganz zum Künftler gemacht.‘ Diefer wunderbare Freund it mir Franz Lifzt.

Ih muß des Charakters diefer Freundſchaft Hier näher er- mähnen, da fie gewiß Manchen parador erſcheint. Ich habe mi in den Ruf bringen müffen, nad} vielen Seiten hin abftoßend und durchaus feindfelig zu fein, fo daß die Mittheilung eined liebevollen Verhältniffes mix hier in einem gewiſſen Sinne zum Bedürfniß wird.

Ich begegnete Liſzt zum erften Male in meinem Leben während meined früheften Aufenthaltes in Paris, und zwar be reits in ber zweiten Periode dieſes Aufenthaltes, zu jener Beit, mo id gedemüthigt und von tiefem Efel ergriffen jeber Hoffnung, ja jedem Willen auf einen Parifer Erfolg entjagte, und in dem Afte innerliher Empörung gegen jene Kunſtwelt begriffen war, ben ich oben näher bezeichnete. In diefer Begeg- nung trat mie nun Lift gegenüber, als ber vollendetfte Gegen- faß zu meinem Wefen und meiner Lage. In diefer Welt, in ber aufzutreten und zu glänzen e8 mic) verlangt hatte, als ich dus Heinlichen Verhältniffen heraus mic) nad Größe fehnte, war Lifzt vom jugenblichften Alter an unbewußt aufgewachfen, um ihr under und Entzüden zu einer Zeit zu werden, wo ich be reits durch die Kälte und Lieblofigkeit, mit der fie mich berührte, fo weit von ihr abgeftoßen wurde, daß ich ihre Hohlheit und Nichtigkeit mit der vollen Witterfeit eines Getäufchten zu erfen- nen vermochte. Somit war mir Lifzt mehr als eine bloß zu be- argwohnende Erſcheinung. Ich Hatte feine Gelegenheit, mid, meinem Wefen und meinen Leiftungen nach ihm bekannt zu machen; fo oberflächlich, al8 er mich eben. nur kennen lernen Tonnte, war baher auch die Urt feiner Begegnung mit mir, und war bieß bei ihm ganz erffärlich, namentlich bei einem Men- fen, dem ſich täglich die mannigfaftigften und wechſelndſten Erfcheinungen zubrängten, fo war ich doch gerade damals nicht in der Stimmung, mit Ruhe und Billigfeit den einfachſten Er— tlärungsgrund eines Benehmens aufzufuchen, das an ſich freundlich) und zuvorkommend, nur gerade mid; eben zu ver⸗ legen im Stande war. ch befuchte Lifzt, wuher diefem erften Male, nie wieder, und ohne ebenfalls auch THr-zu fennen, ja mit völliger Abneigung dagegen ihn Tennen lernen wollen

Eine Mittheilung an meine Freunde. 339 °

blieb er für mid) eine von den Erfcheinungen, die man als von Natur ſich fremd und feindfelig betrachtet. Was ich in dieſer fortgefegten Stimmung wiederholt gegen Andere ausſprach, kam Lifzt fpäterhin einmal zu Gehör, und zwar zu jener Beit, wo ich durch ‚meinen „Rienzi” in Dresden fo plößliches Aufſehen erregt hatte. Er war betroffen darüber, von einem Menſchen, den er faft gar nicht kennen gelernt- hatte, und den Tennen zu Iernen ihm nun nicht ohne Werth fchien, fo heftig mißverftanden worden zu fein, als ihm auß jenen Äußerungen es einleuchtete. Es hat für mid) jegt, wenn ich zurückdenke, etwas ungemein Nührended, die angelegentlichen und mit einer wirklichen Aus- dauer fortgejegten Verſuche mir vorzuführen, mit benen Lifzt fi) bemühte, mir eine andere Meinung über fich beizubringen. Noch / lernte er zunächſt nicht? von meinen Werfen fennen, und eo-ſprach fomit noch feine eigentliche fünftlerifhe Sympathie für mich aus. feiner Abficht, in nähere Berührung mit mir zu treten; fondern lediglich der rein menfchlihe Wunſch, in der Verührung mit einem Anderen feine zufällig entftandene Disharmonie fort- beftehen zu laſſen, dem ſich vielleicht ein unendlich zarter Zweifel darüber beimijchte, ob er mich nicht etwa gar wirklich verlegt habe. Wer in allen unferen fozialen Verhältniſſen, und nament- lich in den Beziehungen der modernen Künftler zu einander, die grenzenloß eigenfüchtige Lieblofigfeit und gefühllofe Unacht- jamfeit der Berührungen Tennt, der muß mehr als erftaunen, er muß durch und durch entzüct fein, wenn er von dem Ver— Halten einer Perfönlichteit Wahrnehmungen macht, wie fie mir fi von jenem außerorbentlihen Menſchen aufdrängten.

Noch nicht aber war ih damals im Stande, dad ungemein Neizende und Hinreißende der Kundgebung von Liſzt's über Alles liebenswürdigem und liebendem Naturell zu empfinden: ich betrachtete bie Unnäherungen Liſzt's an mich zunächſt erſt noch mit einer gewiffen Verwunderung, ber ich Bweifeljüchtiger oft fogar geneigt war eine faft triviale Nahrung zu geben. Liſzt hatte nun in Dresben einer Aufführung des Rienzi, die er beinahe erzwingen mußt, beigewohnt; und auß aller Welt Enden, wohin er. ir. Laufe feiner Virtuofenzüge gelangt war, erhieft ich, bald durch dieſe bald durch jene Perfon, Zeugniſſe von dem raſuoſen Eifer Liſzt's, feine Freude, die er bon meiner Mufit empfunden Hatte, Anderen mitzutheilen, und fo wie

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340 Eine Mittheilung an meine Freunde,

ich fat am liebften annähme ohne alle Abficht, Propaganda für mich zu machen. Es gefchah dieß zu einer Beit, wo es fi mir anbererfeit3 immer unziweifelhafter herausftellte, daß ich mit meinen dramatiſchen Arbeiten ohne allen äußeren Exfolg bleiben würde. Ganz in dem Maaße nun, al dieſe gänzlicde Erfolg- Tofigfeit immer deutlicher, und endlich ganz entſchieden fich Fund» gab, gelangte Lifzt dazu, aus feinem eigenften Bemühen meiner Kunft einen nährenden Bufluchtdort zu gründen. Er gab das Herumfehweifen auf, ließ ſich ber im volliten Glanze ber prunfendften Städte Europa’3 Heimiſche in dem Heinen be— ſcheidenen Weimar nieder und ergriff den Taftftod als Dirigent. Dort traf ich ihn daß letzte Mal, als ih noch ungewiß über den eigentlihen Charakter der mir drohenden Verfolgung wenige Tage auf der, endlich nöthig werdenden Flucht aus Deutſchland, im Thüringer Lande weilte. Un dem Tage, mo es erhaltenen Anzeichen nad mir immer unzweifelhafter und endlich gewiß wurde, daß meine perjönliche Lage bem allerbe- denflichften Falle ausgeſetzt ſei, ſah ich Lilzt eine Probe zu meinem Tannhäufer Ddirigiren, und war eritaunt, durch dieſe Zeiftung in ihm mein zweites Ich wiederzuerfennen: was id fühlte, als ich diefe Muſtk erfand, fühlte er, als er fie aufführte; mas ich fagen wollte, als ich fie niederfchrieb, fagte er, als er fie ertönen ließ. Wunderbar! Durch diefes feltenften aller Freunde Liebe gewann ich in bem Augenblide, wo ich heimathlos wurbe, die wirkliche, Tangerfehnte, überall am falſchen Orte gefuchte, nie gefundene Heimath für meine Kunſt. Als ih zum Schweifen in die Ferne verwiefen wurde, zog ſich der Weitumbergefchmeifte an einen Heinen Ort dauernd zurüd, um biefen mir zur Heimath zu ſchaffen. Überall und immer forgend für mich, ftet3 ſchneli und entſcheidend Helfend, wo Hilfe nöthig war, mit weitgeöffne tem Herzen für jeden meiner Wünfche, mit Hingebendfter Liebe für mein ganzes Wefen, ward Lifzt mir Das, was ich nie zuvor gefunden Hatte, und zwar in einem Maafe, deſſen Fülle wir nur dann begreifen, wenn es in feiner vollen Ausdehnung und wirklich umfchließt. .

Am Ende meines letzten Barifer Aufer:*haltes, als ich krank elend und verzweifelnd vor mic, Hinbrütete, fie. mein Blick auf die Partitur meines, faft ganz ſchon von mir vergeſſenen Lohen⸗ grin. Es jammerte mich plöglich, daß diefe Töne aus "den

Eine MittHeilung an meine Freunde. 341

todtenbleichen Papier heraus nie erffingen follten: zivei Worte ſchrieb id an Liſzt, deren Antwort feine andere war, als die Mittheilung der für die geringen Mittel Weimar’! um- faffendften Vorbereitungen zur Aufführung des Lohengrin. Was Menfhen und Umftände ermöglichen konnten, geſchah, um das Werk dort zum Verftändniffe zu bringen. Die bei dem jet unausweichlich Tüdenhaften Wefen unjerer Theatervorftellungen einzig das nöthige Verſtändniß ermöglichende, twillensthätige Phantafie des Publikums fonnte, unter dem Einfluffe der heu— tigen Gewohnheit, noch nicht fogleih zu entfcheidender Kraft ſich anlaffen: Irrthum und Misverftändniß erſchwerten den an= geftrebten Erfolg. Was war zu thun, um das Mangelnde zu exjegen, nad) allen Seiten hin dem Berftändniffe und fomit dem Erfolg aufzuhelfen? Liſzt begriff es fchnell und that es: er fegte dem Publikum feine eigene Anfchauung und Empfindung von dem Werfe in einer Weife vor, die an überzeugender Bes rebtheit und Hinreißender Wirkjamfeit ihres Gleichen noch nicht gehabt. Der Erfolg Iohnte ihm; und mit diefem Erfolge tritt er num bor mich hin, und ruft mir zu: Sieh’, fo weit haben wir's gebradt, nun ſchaff' ung ein neues Wert, damit wir's noch weiter bringen! J In der That waren es dieſer Zuruf und dieſe Aufforde- rung, die fogleich in mir ben lebhafteſten Entfchluß zum Uns griffe einer neuen künſtleriſchen Arbeit erwedten: ich entwarf und vollendete in fliegender Schnelle eine Dichtung, an deren mufitafifche Ausführung id) bereits Hand legte. Für die fofort zu bewerkftelligende Aufführung hatte ich einzig Liſzt und die— jenigen meiner $reunde im Auge, bie ich nach meinen letzten Erfahrungen unter dem lokalen Begriffe: Weimar zufammen- Aalen durfte. Wenn id) nun in neuefter Zeit dieſen Ent- ſchluß in ſehr wefentlichen Punkten ändern mußte, jo daß er in ber Form, im welcher er bereits der Offentlichfeit mitgeteilt wurde, in Wahrheit nicht mehr ausgeführt werben Tann, jo liegt der Grund hiervon zunädjit in der Bejchaffenheit des dich- terifhen Stoffes, über deſſen einzig entfprechende Darftel- lung id mir eher eh erſt vollfommen Har geworden bin. Ich halte es Hesiucht unwichtig, hierüber meinen Freunden mid; in Kürze. „tießlich noch mitzutheilen. - MS ich die Ausführung von „Siegfrieb’8 Tod“ bei jedem

342 Eine Mitteilung an .meine Freunde.

Verſuche, fie ernftlih in Angriff zu nehmen, immer wieder ala zwecklos und unmöglid erkennen mußte, fobald ic) dabei die beftimmte Abſicht einer fofortigen Darftellung auf der Bühne fefthielt, drängte mich nicht nur im Allgemeinen mein Wiſſen von der Unfähigkeit unferer jegigen Opernfängerfhaft zur Ver— wirffihung einer Aufgabe, wie ich fie in diefem Drama ftellte, fondern namentlich auch die Beforgniß, meine dichterifche Ub- fit al folge in allen ihren Theilen dem von mir einzig nur nod) bezweckten Gefühlsverftändniffe nicht nur des heutigen, fondern irgend eines Publikums erjchließen zu können. Bu aller: erft Hatte ich diefe weitumfaſſende Abficht in einem Entwurfe des Nibelungenmythos’, wie er mir zum bichterifchen Eigenthume geworben war, ‚niedergelegt: „Siegfried's Tod” war, wie ich jetzt erſt exjehe, nur ber erfte Verſuch geweſen, einen wichtigften Moment dieſes Mythos’ zur dramatifchen Darftellung zu brin- gen; unmillfürfih Hatte ich mich bemühen müfjen, in biefem Drama eine Fülle großer Beziehungen anzudeuten, nn den gegebenen Moment nach feinem ftärkiten Inhalte begreifen zu laflen. Diefe Andeutungen kounten natürlich aber nur in epifcher Form dem Drama eingefügt fein, und hier war der Punkt, der mid mit Mistrauen gegen die Wirfungsfähigfeit meines Drama's im richtigen Sinne einer feenifchen Daritellung erfüllte. Won diefem Gefühle gepeinigt gerieth ich darauf, einen ungemein anfpredhenden Theil des Mythos', der eben in „Sieg- fried's Tod“ nur erzählungsweife hatte mitgetheilt werden kön⸗ nen, felbftändig al8 Drama auszuführen. Bor Allem war es aber eben ber Stoff felbft wiederum, der mich fo lebhaft zu feiner dramatifchen Bildung anregte, daß e8 nur noch Lilzt’s Aufforderung bedurfte, um mit Bligesichnelle den „jungen Siegfried“, den Geminner des Horted und Erwedcer ber Brünnhilde, in das Dafein zu rufen.

Wiederum mußte ich num jedoch an diefem „jungen Sieg« fried“ dieſelbe Erfahrung machen, wie fie ähnlich zuvor mir nSiegfrieb’8 Tod" zugeführt Hatte: je reicher nnd vollftändiger durch ihm meine Abſicht mitzutheilen id, in Stand gefegt worden mar, defto drängender mußte ich, gerade nur. diefer wachſenden Fülle wegen, empfinden, daß auch mit diefen Ze'hen Dramen mein Mythos noch nicht vollftändig in die Sinnlichkeit „8 Dra- ma’ aufgegangen war, fonbern da Beziehungen don der €.“

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Eine Mittheilung an meine Freunde, 343

ſcheidendſten Wichtigkeit außerhalb der wirklichen dramatiſchen Darftellung unverſinnlicht gelaffen, und ber reflektirenden Kom— bination des Bufchauerd allein zugewieſen geblieben waren. Daß aber diefe Beziehungen, dem einzigen Charakter des ächten My— t508’ gemäß, von ber Beſchaffenheit waren, daß fie nur in wirklichen finnlihen HandlungSmomenten fi ausſpra— hen, fomit in Momenten, die allein verftändlich immer nur im Drama barzuftellen find, dieß hat mich endlich, da ich, zu meinem Entzüden dieſer Eigenfhaft inne ward, die wahrhaft entfprechende vollendete Form für die Kundgebung meiner um⸗ faſſenden dichterifchen Abficht finden laſſen.

Die Herftellung diefer Form vermag ich jegt nun meinen Sreunden als ben Inhalt des Vorhabens, dem id mich fortan einzig zuwende, Hiermit anzufünbigen.

Ich beabfichtige meinen Mythos in drei volfftändigen Dramen*) vorzuführen, denen ein großes Vorſpiel voraus: zugehen hat. Mit diefen Dramen, obgleich jedes von ihnen aller- dings ein in ſich abgeſchloſſenes Ganzes bilden foll, habe ich dennoch Feine „Repertoirſtücke“ nach den modernen Theater begriffen im Sinne, jondern für ihre Darftellung Halte ich fol- genden Plan feft:

Un einem eigens dazu beftimmten Feſte gedente ich dereinft im Laufe dreier Tage mit einem Vorabende jene drei Dramen nebit dem Vorfpiele aufzuführen: den Zweck diefer Auf⸗ führung erachte ich für vollkommen erreicht, wenn es mir und meinen künſtleriſchen Genoffen, den wirklichen Darſtellern, ge- lang, an diefen vier Abenden den Zuſchauern, die um meine Abſicht kennen zu lernen ſich verfammelten, dieſe Abficht zu wirklichem Gefühls- (nicht kritiſchem) Verſtändniſſe künſt— leriſch mitzutheilen. Cine weitere Folge iſt mir ebenſo gleich⸗ giltig, als ſie mir überflüſſig erſcheinen muß.

Aus dieſem Plane für die Darſtellung vermag nun auch jeder meiner Freunde die Beſchaffenheit meines Planes für die dichteriſche und muſikaliſche Ausführung zu entnehmen, und Jeder, ber ihn billigen fann, wird zunächſt mit mir auch gänz-

*) Ich fchreibe feine Opern mehr: ba ich feinen willfürlihen Namen für meine Arbeiten erfinden wid, jo nenne ich fie Dramen, weil hiermit wenigftend am beutlichften ber Standpunkt bezeichnet wird, von dem aud Das, was ich biete, empfangen werben muß,

344 Eine Mittheilung an meine Freunde.

li) unbefümmert, darum fein, wie und mann biefer Plan fi dereinft vor der Offentlichleit verwirklichen folle, da er da8 Eine menigftend begreifen wird, daß ich bei diefem Unternehmen nicht mehr mit unferem heutigen Theater zu tHun habe. Wenn meine Freunde diefe Gewißheit feft in ſich aufnehmen, fo ges rathen fie dann mit mir endlich wohl au darauf, wie und unter welden Umftänden ein Plan, wie der genannte, aus— geführt werden könne, und viclfeicht erwächſt jo mir auch ihre einzig ermöglichende Hilfe dazu.

Nun denn, ich gebe Euch Beit und Muße, darüber nach— - zubenfen: denn nur mit meinem Werke feht Ihr mich wieder! -

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