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Gesammelte Schriften

von

Ernst Troeltsch

Dr theol, phil, jur.

Zweiter Band

Zur

religiösen Lage, Religionsphilosophie

und Ethik

Tübingen

Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)

1913

Zur

religiösen Lage,

Religionsphilosophie

und Ethik

von

Ernst Troeltsch

Dr theol, phil, jur.

Tübingen

Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1913

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Copyright 19 13 by J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von H. Laupp jr in Tübingen.

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Dem Gedächtnis Paul de Lagardes

o gewidmet

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VII

Vorwort.

Dieser zweite Band enthält im Unterschiede von dem ersten nichts bisher UnveröffentHchtes. Allein die hier vereinigten Auf- sätze waren teilweise an schwer zugänglichen Orten zerstreut, andrerseits sind sie hier sämtlich neu bearbeitet. Wo ich ältere Ansichten habe stehen lassen, ist es genau angegeben. Es ge- schah, weil von ihnen aus sich der Sinn der Gedankenbildung oft sehr deutlich erläutert ; es wird die Konsequenz des Gedankens sichtbar, die mich vorwärts getrieben hat. In ihrer Vereinigung ergeben die Aufsätze, die teilweise geradezu Monographien sind, ein Bild des Ganzen, wie es mir vorschwebt. Nur durch viele Einzeluntersuchungen und immer neues Durchdenken der Prin- zipien kann man zu einem solchen Ganzen kommen. Insbesondere muß die historische Situation klar sein, aus der heraus man das neue Ganze erstrebt. Was mir hier vorschwebt, wird aus diesem Bande völlig deutlich werden: es ist ein relativ konservatives System der Erhaltung und Sammlung unserer religiösen Kräfte auf dem Boden eines kritischen Transzendentalismus, der dem Spezifisch-Religiösen die Eingliederung in das wissenschaftliche Denken und doch die Freiheit der selbständigen Bewegung ge- währt. Für die Zukunft wird es sich darum handeln, die Reli- gionsphilosophie und Ethik auszuführen, für die so die Grund- legung geschaffen ist, und dem dann die Glaubenslehre und christliche Sittenlehre folgen zu lassen, die sich aus einer solchen Religionsphilosophie und Ethik entwickeln müssen. Für die gegen- wärtige geistige Situation ist Religionsphilosophie und allgemeine Ethik entscheidend. Aber für die Sache selbst liegt natürlich der Schwerpunkt in der konkreten Ausführung des religiös-ethi- schen Gedankens selbst. Er kann nur eine Neuformung der christlich-prophetischen Gedankenwelt sein, da ich weder an die Religionslosigkeit der Zukunft noch an die der angeblich neuen Kultur entsprechende neue Zukunftsreligion glaube.

VIII Vorwort.

Ich habe im Vorwort des ersten Bandes meine Dankesschuld an Albrecht Ritschi abgetragen, dem ich meine wesentliche theo- logische Schulung verdanke, nachdem ich in dem Unterricht der vortrefflichen Erlanger Theologen der achtziger Jahre das heutige Luthertum gründlich kennen gelernt hatte. Wenn ich den zwei- ten Band dem Gedächtnis meines anderen großen Göttinger Leh- rers widfne, so soll auch das nur einen Ausdruck tiefer Dank- barkeit, nicht eine bedingungslose Gefolgschaft bedeuten. Die Schwächen und Schrullen Paul de Lagardes sind mir wohlbekannt; wer den Göttinger Stadtklatsch jener Jahre kannte, weiß davon mehr als andere Leute und mehr, als wahr ist. Insbesondere habe ich mit seinem Antisemitismus, seiner Unterschätzung Pau- lus und Luthers, seiner katholisierenden Romantik und seiner Verkennung der großen modernen sozialen Umwälzungen nichts zu tun. Aber das ändert daran nichts, daß die Weite seines historischen Blickes, die wesentlich historische und nicht speku- lative Erfassung des Religiösen, die starke selbstgewisse Religio- sität und die Zusammenschau des Religiösen mit den Gesamt- bedingungen des Lebens, insbesondere den politischen Verhält- nissen, mir seiner Zeit eine ganz außerordentliche, fast erschütternde Anregung gaben. Lagarde hatte der Religion gegenüber die Vorteile, die der echte Philologe vor dem theoretisierenden Philo- sophen voraus hat. Er kannte zugleich die Theologie gründlich und wußte sie zu schätzen und war doch innerlich frei von ihr. Er hatte einen sachlichen Wahrheitsblick, der bei aller gelegentlichen Phantastik doch die Dinge scharf erfaßte, und hatte den Mut, sie beim rechten Namen zu nennen. In allen diesen Punkten fühle ich mich ihm dauernd tief verpflichtet. Im übrigen habe ich mir meine Selbständigkeit auch ihm gegenüber gewahrt oder vielmehr bald zurückgewonnen. Man möge daher in dieser Widmung nicht den Schlüssel zu meinen Lehren suchen, sondern nur den Ausdruck der Pietät gegenüber einem der besten deutschen Männer und einem der selbständigsten Denker über religiöse Dinge.

Der dritte Band, der meine Aufsätze zur Entstehungsgeschichte des modernen Geistes sammeln soll, wird in möglichster Bälde folgen.

Heidelberg, 8. April 1913.

Ernst Troeltsch.

IX

Inhalt.

Seite

1. Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart i 21

2. Aus der religiösen Bewegung der letzten Jahre (Jentsch, Eucken,

A. Drews) 22 44

3. Der Modernismus 45 67

4. Die Religion im deutschen Staate 68 90

5. Die Kirche im Leben der Gegenwart 91 108

6. Religiöser Individualismus und Kirche 109 133

7. Gewissensfreiheit (Aus Anlaß des Falles Jatho) 134 145

8. Religion und Kirche 146 182

9. Voraussetzungslose Wissenschaft (Aus Anlaß des Falles Spahn und

des Mommsenschen Protestes) 183 192

IG. Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft 193 226

1. Das Zurücktreten der kirchlichen Gesichtspunkte in der histori- schen Theologie 194 197

2. Die Erhaltung der kirchlich-apologetischen Interessen in der syste- matischen Theologie 197 200

3. Der Vermittelungscharakter der Schleiermacherschen und Ritschl-

schen Dogmatik 200 209

4. Die Wiederauflösung dieser Vermittelung zwischen historischem

und dogmatischem Denken 209 221

5. Die Bedeutung der allgemeinen Religionsphilosophie für die Lö- sung dieses Zwiespaltes 221 226

11. Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen . . . 227 327

1. Die historische Herausbildung der Gegensätze seit der Renaissance 227 241

2. Die Naturwissenschaften und die auf ihre moderne Fassung be- gründeten Weltanschauungsmotive 241 249

3. Die moderne autonome Ethik 249 262

4. Die Weltanschauungsmotive und -Wirkungen der modernen Kunst 262 294

5. Der EntwickelungsbegrifF und der Evolutionismus 294 324

6. Die Lage und Aufgabe des christlichen Denkens dem gegenüber 324 327

12. Christentum und Religionsgeschichte 328 363

13. Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie .... 364 385 Troeltsch, Gesammelte Schriften. II.

X Inhalt.

Seite

14. Was heißt »Wesen des Christentums«? 386 451

1. Aus der literarischen Diskussion über Harnacks Wesen des Chri- stentums 386 391

2. Die Voraussetzungen des Wesensbegriffes 391 401

3. Das Wesen als Kritik 401 411

4. Das Wesen als Entwickelungsbegriff 411 423

5. Das Wesen als Idealbegriff 423 432

6. Subjektivität und Objektivität in der Wesensbestimmung . . . 437 448

7. Das Ergebnis 448 451

15. Wesen der Religion und der Religionswissenschaft 452 499

1. Der Transzendentalismus als philosophische Voraussetzung der Religionsphilosophie 452 463

2. Fixierung des Gegenstandes durch Unterscheidung der naiven und

der vvissenschaftlich-reflektierten Religion 463 469

3. Die verschiedenen Versuche zu wissenschaftlicher Bearbeitung der Religion 469 477

4. Die modernen Hauptsysteme 477 487

5. Probleme und Gliederung der Religionswissenschaft von den Vor- aussetzungen des kritischen Idealismus aus : A. Religionspsycho- logie. B. Erkenntnistheorie der Religion. C. Geschichtsphiloso- phie der Religion. D. Metaphysische Gehalte und Beziehungen

der religiösen Gottesidee 487 499

16. Die Dogmatik »der religionsgeschichtlichen Schule« 500 524

17. Atheistische Ethik 525—551

18. Grundprobleme der Ethik 552 672

1. Die Geschichte der christlichen Ethik und ihre Bedeutung für die Problemstellung der heutigen christlichen Ethik 552 570

2. Darstellung der ethischen Theorie Wilhelm Herrmanns . . . 570 607

3. Einreihung dieser Theorie in die geschichtliche Entwickelung der

Ethik 607—616

4. Formal-autonome Gesinnungsethik und objektiv-teleologische Gü- terethik 616—625

5. Das Verhältnis des christlichen Ethos zur Kantischen Ethik der formalen Autonomie 626 639

6. Die Erlösung und die Gnadenversittlichung in der christlichen

Ethik 639—653

7. Verhältnis der überweltlichen und der innerweltlichen Güter im christlichen Ethos und in der ethischen Theorie 653 669

8. Das Problem der Beziehung von Sittlichkeit und Religion, er- läutert aus den bisherigen Sätzen 699 672

19. Moderne Geschichtsphilosophie 673 728

I. Problem des Historischen im heutigen religiösen Denken und dar- aus entspringende Bedeutung der Geschichtsphilosophie . . . 673 679

Inhalt. XI

Seite

2. Die logisch-transzendentale Grundposition von Rickerts Geschichts- philosophie 679 688

3. Ausgangspunkt der Geschichtsphilosophie von der Logik des em- pirischen Geschichtserkennens, das seinerseits aus dem Gegensatz

gegen die Logik der empirischen Naturwissenschaften bestimmt wird 688 698

4. Das geschichtsphilosophische Problem selbst in seinem Hervor- gang aus der empirischen Geschichtsforschung und seinem trotz- dem neuen und selbständigen, normativen ethisch-kulturphilosophi- schen Charakter 698 703

5. Darlegung der geschichtsphilosophischen Theorie in ihrem Ver- hältnis zu den übrigen Haupttheorien der Geschichtsphilosophie 703 712

6. Stellungnahme zu dieser Fortbildung des Transzendentalismus . 713 719

7. Bedenken und Ergänzungen : A. Fragen der Psychologie. B. Be- griff der Typen, Analogien und Tendenzen. C. Zusammenhang

dieser Geschichtsphilosophie mit einer Metaphysik der Freiheit 719 728

20. Historische und dogmatische Methode in der Theologie .... 729 753

21. Das religiöse Apriori 754 768

22. Die Bedeutung des Begriffes der Kontingenz 769 778

23. Die Mission in der modernen Welt 779 804

24. Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie . . . 805 836

25. Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur mo- dernen Philosophie . . " 837 862

1. Das Problem der Lage 837 842

2. Der Monismus 842 846

3. Glaube und Geschichte 846 851

4. Das Problem der Askese 851 855

5. Religiöser Individualismus und religiöse Gemeinschaft .... 855 860

6. Der Personalismus und Theismus der prophetisch-christlichen Le- benswelt in seiner Wahlverwandtschaft mit dem Transzendenta- lismus 860 862

Namenregister 863 866

Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart.

(Aus: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart,

1903-)

Das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts brachte in Theologie und Religionswissenschaft eine große und tiefgreifende Verände- rung hervor. Freilich befanden wir uns seit fast zwei Jahrhunderten in einer religiösen Gärung und Revolution, deren Folge war, daß man außer in den Kreisen der erneuerten katholischen und pro- testantischen Rechtgläubigkeit zu der kirchlichen Ueberlieferung eine gebrochene Haltung einnahm. Man faßte entweder von einer wissenschaftlichen Gesamtanschauung der Religion aus die Idee und das Wesen des Christentums in einem wesentlich veränderten Sinne auf, oder man bekannte überhaupt unabhängig von den hi- storischen Religionen eine ethisch und künstlerisch gefärbte Religio- sität, die zwar mit dem Christentum zusammenhing, aber doch als eine spezifisch moderne Religiosität sich empfand. Immer aber blieb man dabei gebunden an eine unsichtbare Welt des Wahren, Schönen und Guten, an Ideen, die über der breiten Alltags- und Erfahrungswirklichkeit walten und in ihr dem tiefer blickenden Auge als der Ausfluß der göttlichen Quelle aller Wirklichkeit sich offenbaren. Das Zeitalter Leibnizens, Kants und Goethes war noch lebendig neben der kirchlichen Restauration, und seine man- nigfachen Ausgleichungen mit dem Christentum hatten noch Halt in den allgemeinen Anschauungen der Gebildeten. Von alledem aber begann man sich in den vierziger Jahren in steigendem Maße abzuwenden. Es erhob sich das Evangelium der reinen Diesseitig- keit, die Lehre von der Emanzipation des Fleisches und der Sinn- lichkeit gegen den bisher sie vergewaltigenden Spiritualismus, die Zuwendung zum Praktischen und Positiven, das sicher nachgewie- sen werden und darum als sichere Basis unserer Existenz behandelt werden kann. Alles das, was bloß gedacht, gefühlt, empfunden werden kann, begann man als das Fragliche, Unsichere und Be-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. I

2 Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart.

denkliche zu betrachten, und dasjenige, was für das Leben prak- tische Reformen und Verbesserungen und für die Wissenschaft erfahrungsmäßig nachweisbare Wirklichkeit versprach, begann man als das allein Beachtenswerte anzusehen. Es brach auch in Deutsch- land das Zeitalter des Kapitalismus und der rein rationalistischen Demokratie herein. Damit begann die kälteste und ödeste Zeit, die Kirche, Theologie, Religionswissenschaft und Philosophie in den letzten Jahrhunderten erlebt haben, deren Frost und Ermattung uns heute noch, wo sie allmählich zu weichen beginnt, in den Gliedern liegt. Unbegrenztes Mißtrauen gegen alles, was aus der Region des Unsichtbaren und Geheimnisvollen, des Gedank- lichen und bloß Idealen stammt, und ebenso unbegrenztes Ver- trauen auf die seligmachende Kraft alles Irdischen und Praktischen, auf den von selbst zu immer höherer Entwicklung treibenden Fortschritt der Intelligenz : das machte in der Hauptmasse lite- rarischer Betätigungen den Geist der Zeit aus.

Es ist selbstverständlich, daß damit die ungünstigsten Be- dingungen für das religiöse Denken geschaffen waren. Die Ver- flachung und Ausdörrung des inneren Lebens hat sich ja auch auf anderen Gebieten bemerkbar genug gemacht. P^ür Theologie und Religionswissenschaft, die eben noch im deutschen Idealismus und der Romantik einen so großen Anlauf genommen und das über uns waltende Geheimnis in so mannigfacher reicher Betrachtung zu lichten unternommen hatten, war es aber insbesondere wie eine plötzliche tödliche Veränderung des Klimas. Und doch war es nicht einfach ein großer Abfall. Die geistige Wandlung hatte ihre Gründe in wichtigen praktischen Veränderungen und Neuerungen. Die Probleme des inneren Menschen traten nur zurück, weil die des äußeren ihr Recht verlangten. Die Liquidation der ungeheuren napo- leonischen Krisis hatte in fast allen europäischen Staaten unhaltbare politische Zustände hervorgebracht, die Verfassungsfragen und Na- tionalitätsfragen zu brennenden Lebensinteressen machten. Nicht minder arbeitete der Freiheitsgeist der französischen Revolution mit seinen unabsehbaren Konsequenzen weiter und zog den ganzen reich entfalteten Idealismus in den Bann des einseitig politischen P'reiheitsgedankens. Vor allem aber begann eine P^olge der Revolu- tion und der auf sie folgenden wirtschaftlichen Entwickelung langsam zu reifen, die niemand erwartet hatte und die doch so natürlich war, die Erhebung einer rein sozialen Bewegung, die neben den politischen Interessen der Bourgeoisie die materiellen

Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart. 2

und sozialen Interessen der freizügig gemachten, ihre Arbeitskraft beliebig verkaufenden und dadurch der Industrie zugetriebenen Massen in den Vordergrund schoben. So ergaben sich nationale, liberal-politische und soziale Bewegungen, alle aus der Konsequenz der Lage entstanden, alle wirkliche Bedürfnisse verfolgend, alle den Sinn auf praktische und konkrete Forderungen lenkend, und daher alle mit der Wirkung, das Denken von den Problemen des inneren Menschen abzuziehen.

Zu alledem fügte es der Zusammenhang der Dinge, daß die liberal-politische und die soziale Bewegung ihren nährenden Herd behielten in dem klassischen Mutterland der Revolution und der Aufklärung, von wo ja auch der erste Anstoß zu ihnen und den sie befördernden Reformen ausgegangen war. Es vollzog sich ein erneuter Kontakt mit der französischen Revolution und dadurch mit den abstrakt rationalistischen Ideen des 18. Jahrhunderts, nachdem der erste Kontakt in der Zeit der großen klassischen Literatur und der Steinschen und Hardenbergschen Reformen eine starke Milderung und Brechung ihres Geistes gewesen war. Jetzt strömte von neuem eine Flut Voltaireschen Geistes mit dem politischen Liberalismus ein, und die freiheitliche Volksbewegung durchtränkte sich mit dem unhistorischen Geiste, der alles an dem ewig unveränderlichen Maßstab des aufgeklärten, den Trug der Priester und der Könige durchschauenden Individualismus mißt. Das schöne Wort * liberal« wurde zur Parole für die abstrakte Gleichmachung, für den Sturz aller diese Gleichmachung hindernden historischen Gewalten und insbesondere für die Beseitigung alles Einflusses des kirchlichen Lebens. Ihm sollte nur die Tole- ranz gewährt werden, die abgelebten und einflußlosen Gewalten gewährt werden kann, die Toleranz der Ignorierung und Gleich- gültigkeit. Für die Liberalen selbst aber gab es nur die Religion des Glaubens an den unausbleiblichen Fortschritt und an die seligmachende Kraft der Majoritäten. Schrofl"er noch wurde diese Stellung zur Religion bei der im Schatten der liberalen Bourgeoisie erwachsenden und bald selbständig werdenden sozialen Bewegung. Hier genoß und genießt freilich auch die Religion ofl'iziell die Toleranz der Geichgültigkeit und Verachtung, in Wahrheit aber wurde sie von einer hier herrschenden offiziellen wissenschaftlichen Doktrin gehaßt, verfolgt und mit endlosen Vergröberungen Vol- taireschen Hohnes Übergossen. Und auch die in jenem Gemisch der fünfziger und sechsziger Jahre vorerst noch am stärksten

A Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart.

herrschende nationale Bewegung geriet bei ihrer Opposition gegen die ihren V\'ünschen sich versagenden Regierungen, bei dem Bündnis der Regierungen und der Orthodoxie in immer engeren Zusammenhang mit den Uberalen und parlamentarischen Forde- rungen. Damit aber hat auch sie in religiösen Dingen sich dem Geist des damaligen Liberalismus genähert, und wenn sie auch noch wenigstens ein Minimum von Sympathie mit der freien wissenschaftlichen Theologie behielt, so hat doch auch sie im ganzen die religiösen Probleme für veraltet und überwunden, kaum der Kenntnis und des Eifers wert erachtet. Auch das Wort na- tionalliberal wurde vielfach identisch mit gleichgültig und stolz auf Unwissenheit in religiösen Dingen.

Bedeutet alles das die Zuwendung zu neuen Interessen, die zwar mit leidenschaftlich verfochtenen Ideen zusammenhängen, aber doch ganz auf praktische Reformen und Lebensgestaltungen hinweisen, so kam der ganz nüchterne, praktische Geist aus der allmählichen Veränderung der Erwerbs- und Lebensweise. Die klassische Literatur und ihr Publikum hatte sich aus den Kreisen des gebildeten einfachen Mittelstandes, der Beamten und Pastoren zusammengesetzt und war eng verflochten mit dem beschränkten Leben der deutschen Kleinstaaten. Die werdenden größeren Ver- hältnisse, die das 19. Jahrhundert beherrschende Schaffung eines Welthandels und einer diesem Handel zugrunde liegenden Industrie, schließlich der außerordentliche materielle Aufschwung, alles hat die geistige Lage gründlich verändert und mit außerordentlicher Steigerung des Wohlstandes und der Durchschnittsbildung doch einen praktisch-realistischen Sinn begründet, der dem Reichtum und der Blüte des geistigen Lebens nicht günstig war. Auch die großen Leistungen der Politik und der politischen Erziehung durch Bismarck, die den schwärmenden und ideologischen Deut- schen immer wieder die P'orderung der Realpolitik, der Zurück- stellung blof.^ ethischer und ideeller Mächte ins Herz schrieb, hat das ihrige getan, um diesen Geist zu verstärken. Die ersten De- zennien des neuen Reiches waren erfüllt von dem Hochgefühl einer endlich praktisch und nüchtern gewordenen, zu Reichtum und Wohlfahrt führenden, auf allgemeiner nützlicher Durchschnitts- bildung begründeten Kultur, deren wir heute nicht mehr allzugerne gedenken.

Vor allem aber hatte sich damit auch innerhalb des geistigen Lebens selbst ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Die Industrie

Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart. C

brachte die Technik mit sich und die Technik die Naturwissen- schaften. Ebenso hat der neue Zufluß französischen Geistes den engen Zusammenhang des Geistes des i8. Jahrhunderts mit den Naturwissenschaften und der naturwissenschaftUchen Denkweise nach Deutschland verpflanzt. Die in Frankreich nie abgebrochene Präponderanz der Naturwissenschaften wirkte auf den deutschen Geist, der durch die klassische Philosophie und Literatur aus dieser Verbindung mit der westlichen Wissenschaft herausgetreten und eigene Wege gegangen war. Mit Abscheu wandte man sich von der die Kehrseite des Idealismus und der Romantik bildenden Natur- philosophie eines Schelling und Hegel ab. Die deutschen Natur- forscher holten sich in Paris wieder die exakte naturwissenschaftliche Schulung. Einmal aber mit dieser Geistesrichtung wieder in Bezie- hung gebracht, stürzte sich der in den Regionen des Gedankens, der Abstraktion, der Geistigkeit und Poesie dem realen Leben der Natur fremd gewordene Geist mit wahrem Heißhunger und mit Leiden- schaft auf diese neue konkrete, anschauliche Wirklichkeit. Die immer weiter gepflegten physikalischen, astronomischen und medizinischen Wissenschaften bereicherten sich durch Chemie, Physiologie und Biologie, und ein außerordentlicher Aufschwung aller dieser Wissenschaften erzeugte sowohl einen neuen Zusammenhang mit dem praktischen Leben als eine neue Grundrichtung des Denkens, Beide stimmten darin überein, daß die Erkenntnis der konkreten, experimentell, mikroskopisch und teleskopisch faßbaren Wirk- lichkeit allein wahrhaft der Zeit würdige Erkenntnis sei, und beide traten dadurch mit dem realistischen Sinn der Zeit in engste Verbindung. Man kehrte sich von der bisherigen Speku- lation und philosophisch-idealistischen Naturbetrachtung und strebte nach dem Ideal einer streng kausalen und mechanischen An- schauung der Dinge. Hegel erschien einem Physiologen wie Brücke als die »Nationalschande Deutschlands«, und ein solches Urteil wurde als Urteil über die ganze abgelaufene idealistische Epoche allgemein. Indem man aber so die Verbindungsbrücke, die mit der deutschen Philosophie verband, abbrach, mußte man sich eine neue Philosophie konstruieren, die dann naturgemäß in die Bahnen der alten vorkantischen Aufklärungsphilosophie zurück- lenkte und unter dem Eindrucke des alles beherrschenden Ein- flusses der gesetzmäßigen Körperwelt wieder Geist und Seelenleben als völlig durch Natur- und Körperwelt bedingt oder gar von ihnen hervorgebracht betrachtete. Man kämpfte wieder wie im

6 Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart.

i8. Jahrhundert den Kampf um die Seele; die neue Physio- logie, die die Abhängigkeit aller Geistestätigkeiten von dem Nervensystem und dem Gehirn zeigte, schien nun definitiv zu- ungunsten der Seele zu entscheiden. Vollends seit die von ihrem Urheber so sehr viel vorsichtiger gemeinte Lehre Darwins auch den Zweck aus dem Leben der Organismen verbannt zu haben schien und alle scheinbare Zweckmäßigkeit nur als ein Ueber- bleibsel der zufällig im Kampf ums Dasein besser angepaßten Wesen darstellte, da glaubte man von all den uralten Illusionen definitiv befreit zu sein, die über, hinter oder in den Dingen etwas Geistiges oder Geistähnliches als Kern und Wesen behaupteten. Die Darwinistische Begeisterung, die uns heute wie ein eben ver- fliegender Rausch anmutet, glaubte alle Philosophie ersetzen zu können durch die Lehre von der Entwicklung, in der lediglich glücklich summierte Zufälle des mechanischen Getriebes die scheinbar selbständige Welt des Geistes und der Menschheit hervorbringen, und die von selbst zu immer besserer, praktischerer Anpassung und immer glücklicherer Auslese im Kampf ums Da- sein drängt.

Die besten und größten unserer Naturforscher machten diese wunderliche Philosophie nicht mit, aber dem Volk wurde sie als die neuzeitliche Weltanschauung dargeboten, und hier ist sie von den Spitzen allmählich herabgesunken bis zur Masse, die heute noch fest an diese Dogmen glaubt, die Theologie haßt und der Religionswissenschaft, sobald sie mit der Religion Ernst macht, nur Mißtrauen entgegenbringt. Aber nicht bloß von dieser Seite her drohte der Theologie Kaltsinn und Haß, sondern auch von Seite der historischen Wissenschaft, die zwar den Zusammenhang mit ihrer Mutter, der klassischen deutschen Literatur, festhielt, die aber doch auch ihrerseits dieses Band gerade an der wichtigsten Stelle lockerte oder löste und dem exakten, empirischen und detail- listischen Geiste der Zeit verfiel. War die neue Historie noch im Geiste eines Ranke aufs engste verbunden gewesen mit dem Gedanken einer Gesamtgeschichte der Menschheit und beherrscht von dem Ideal eines zentralen Kultur- und Geisteszweckes, zu dem alles ein Beitrag war, so erschienen gerade diese Gedanken als nebel- haft, unwirklich, unbeweisbar, als luftige und gewalttätige Speku- lation, die den Wirklichkeitssinn verloren habe. So sagte jetzt auch die Historie dem philosophischen Idealismus ab und verstieß den irreführenden Gedanken eines einheitlichen Menschheitsziels. Sie

Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart. 7

verfiel der Detailarbeit und dem Spezialistentum, immer spezia- lisierter und technischer, bis alle Uebersicht und Gemeinsamkeit überhaupt verloren ging und das Wiederausgraben alter Dinge Wert gewann um seiner selbst willen. Oder die Historie trat in den Dienst der politischen und patriotischen Ideen, widmete sich der Verfassungs- und Rechtsgeschichte und der Verbreitung poli- tischer Einheitsideen, auch hier praktisch und wirklichkeitsbedürftig. So oder so, immer wurde die Historie abgelenkt von dem Ge- danken eines gottgesetzten Zieles und eines einheitlichen Hinter- grundes der Geschichte. Ja, gerade umgekehrt brachte es das Uebergewicht der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Zeit dahin, das Wesen aller Geschichte lediglich in der Aus- wirkung der Konsequenzen wirtschaftlicher und technischer Ge- samtlagen zu sehen. Damit wurde die Historie naturgemäß gleich- gültig und feindselig gegen jeden selbständigen und übersinnlichen Kern der Religionswissenschaft, die gerade einen solchen Ge- danken nicht ertragen kann, ohne sich selbst aufzugeben. Aber auch auf ihrem eigenen, immer mehr der Philologie verfallenden Gebiete hörte die Religionsgeschichte auf ein Ganzes zu bilden und nach einer einheitlichen Idee zu suchen. Sie wurde zu Darstellungen einzelner Religionsgebiete ohne jedes Streben nach Zusammenhang. Hervorragende Philologen schufen treffliche Dar- stellungen aus dem Gebiete der indischen, griechischen, ger- manischen und slavischen Religion, denen nur das eine fehlte, die Beziehung auf die grundlegenden Wahrheitsfragen der Reli- gion. Seit vollends der Darwinismus in den wilden Völkern der Gegenwart den Rest der Urmenschheit hatte erkennen lassen, wurde die Religionswissenschaft gar zur Erforschung der Gebräuche und Sitten der Wilden, aus denen sich die Einsicht in den Ur- sprung und damit in das Wesen der Religion ergeben sollte. Und der Religionsbegriff, den man hierbei fand, sei es daß Furcht oder Hoffnung oder Toten- und Geisterverehrung oder der Tierkult das Wesen der Religioh konstituieren sollten, verleugnete diesen seinen Ursprung aus der Abstraktion von armen Wilden nicht. Alles das drückte schv.er auf die Theologie. Mehr noch als die einzelnen Lehren und Anschauungen war der Geist der Handgreiflichkeit und Nützlichkeit, der Skepsis gegen alles Ueber- sinnliche und des Mißtrauens gegen alle einheitlichen und letzten Zwecke ihr hinderlich. Zwar die neue Rechtgläubigkeit der Hengstenbergs chen Schule wurde durch diese Wandlung nur

8 Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart,

wenig geschädigt. Sie konnte mit Triumph darauf hinweisen, daß nur eintreffe, was sie als Folge des modernen Unglaubens prophezeit habe, daß es in der Tat kein Mittelding zwischen Orthodoxie und Atheismus gebe und daß man entschlossen wählen müsse zwischen dem Christus der Kirche und Kelial. Der Eifer ihrer Gläubigen wurde durch diese Entwicklung gestärkt, und schließlich hat sie ihr auch manche neue Proselyten zugeführt, denen es in dieser Welt der Wissenschaft zu kühl und gemütlos wurde. Schwer aber wurde die wissenschaftliche Theologie be- troffen. Sie mußte, um leben und wirken zu können, ihren Rück- halt an den gebildeten Klassen haben, deren Zustimmung und lebendige Teilnahme ihr die Schwierigkeiten des Bruches mit den historisch-dogmatischen Ueberlieferungen des Kirchentums über- winden helfen mußten, und sie konnte diesen Rückhalt nur in der allgemeinen Ueberzeugung finden, daß Natur und Geschichte Auswirkung und Ausdruck einer geistigen, zweckvoll wirkenden Macht sind, die sich im Leben der Religion mit zunehmender Klarheit dem Herzen offenbart. Wurde diese Ueberzeugung ver- flüchtigt und zu einem schüchternen Privatglauben weniger, der sich nicht mehr hervorwagt, dann war ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Die wissenschaftliche Theologie hatte am Anfang des Jahrhunderts in der Schule Schleiermachers und Hegels einen großartigen Aufschwung genommen. Die sogenannte Tübin- ger Schule und vor allem ihr großer Meister, Baur, schienen so- dann im Bunde mit der modernen Philosophie eine wahrhaft wis- senschaftliche Auffassung und Ausgestaltung des Christentums bewirkt zu haben. Es war die große Zeit der modernen wissen- schaftlichen Theologie, die erste Durchführung einer wirklich hi- storischen Gesamtauffassung von Entstehung und Werden des Christentums und eine religionsphilosophische Konstruktion seines religiösen Gehaltes als der absoluten Vollendung der religiösen Idee überhaupt. Aber die Philosophie, mit der sie arbeiteten, war die idealistisch-monistische Spekulation Hegels, von der die neue Zeit sich abwandte, und die Idee einer in Natur und Geschichte sich gesetzmäßig entfaltenden, im Christentum sich vollkommen offen- barenden Weltvernunft schien doch auch für die religiöse Emp- findung selbst nicht unbedenklich. Sie stieß nicht bloß auf die Ungunst der Zeit, die nur mehr zwischen einem fanatischen Kon- fessionalismus und einer völligen Indifferenz die Wahl übrig glaubte, sondern sie trug auch Schwierigkeiten und Mängel in sich selbst.

Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart. g

So hat es denn in der Tat nicht an Gegnern gefehlt, die ihr Inkonsequenz und Halbschlächtigkeit vorwarfen. Sie hielten ihr das von ihr selbst anerkannte moderne Natur- und Geschichtsbild entgegen als das Element der Zerstörung, das sie selbst ergreifen und vernichten müsse. Es hat auch in ihren eigenen Reihen nicht an Apostaten gefehlt, die beides nunmehr in dem Lichte des neuen nüchternen, ideenfeindlichen Realismus sahen und die ihre Aufgabe darin erkannten, die Theologie zu zertrümmern. Noch heute ist aus diesem Kampfe der Name D. F. Straußens in aller Erinnerung, der nach aufrichtigen Versuchen, von seinem »Leben Jesu« aus ein positiveres Verhältnis zur Theologie zu gewinnen, sich entschlossen hatte, der Theologie den Abschied zu geben, und ihr in einer Analyse der Dogmatik zum Abschied den Totenschein ausstellte. Die Theologie habe zu viel von ihrem Jenseitigkeits- und Geheimnisgeiste aufgegeben und zu viel von dem konkreten gesetzUchen modernen Naturbild und Ge- schichtsbild aufgenommen, als daß sie noch leben könne ; es bleibe ihr nichts anderes übrig als überhaupt den Geist total auf- zugeben. Viel machtvoller aber als dieses verstandeskühle Buch wirkte der leidenschaftliche Haß eines anderen Schülers der modernen Theologie, der mit Grimm und Wut sich auf die in ihr enthaltenen Reste von Mystik und idealistischer Weltbetrachtung stürzte, die Klarheit und Konkretheit des Naturerkennens allein als wirkliche Wissenschaft anerkennend. Ludwig Feuerbach sah sich als den Mann an, dem es gegeben war, endlich das Geheimnis der Theologie zu enthüllen und dadurch die Theologie von all dem geheimnisvollen Zauber zu demaskieren. Die Natur ist das ewige gesetzmäßige Reich der Körperwelt. Gedanken und Zwecke gibt es nur im menschlichen Gehirn und nicht in der Welt und einem ihr angeblich zugrunde liegenden göttlichen Wesen. Die Religion ist nichts anderes als die Projektion mensch- licher Geistesweise und menschlicher Zwecke in das Universum, als läge ihm Geist und Plan, Mittel und Zwecke zugrunde, wäh- rend es in Wahrheit tote, gleichgültige Materie ist. Und dieser Wahn der Religion hat seinen Grund nicht in irgend einer rationalen Notwendigkeit, das Universum gedanklich und begrifflich so aufzu- fassen, sondern nur in der ewigen Not und Angst, in Furcht und Hoffnung des menschhchen Herzens, das in die kalte tote Welt einen ihm ähnlichen und seine Zwecke fördernden Geist hinein- dichtet, um in Wahn und Idee einen Schutz und ein Glück zu

lO Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart.

haben, das die Wirklichkeit nicht gewährt. Das Christentum ist nichts anderes als der Höhepunkt dieses Wahns, die kühnste Versteifung der Menschheit in diese Regionen imaginären Glückes, die Herabziehung eines erträumten Himmels in der Menschwer- dung Gottes und die Himmelfahrt des Herzens nach einem Traum- paradies in der Himmelfahrt Christi. Wunder, Mysterien und Geheimnis, der absolute Widerspruch ist daher das Wesen der Religion ; denn anders kann das Phantasieland nicht für wirklich gehalten werden. Strauß und Feuerbach haben sich von hier aus immer mehr dem populären Materialismus genähert und sind in die Nachbarschaft von Carl Vogt, Büchner und Moleschott getreten. Strauß wurde als Vertreter eines mit Poesie und Musik wie mit nationaler Gesinnung temperierten Materialismus der lite- rarische Liebling und Meister des Deutschland der 70er Jahre; der gröbere und radikalere Feuerbach wurde der Märtyrer der neuen Bildung, dem die Gartenlaube den Dank des deutschen Volkes aussprach. Beide aber erschienen als die endgültigen Totengräber der Theologie in Deutschland.

Zu ihnen gesellte sich nun aber noch in Frankreich einer der reichsten und begabtesten Geister, ausgerüstet mit einer un- vergleichlichen Kunst des Stils und Biegsamkeit der Phantasie, der von der Seite der Historie her den Glauben an die zentrale Bedeutung des Christentums erschütterte. Ernst Renan, der Zögling des Klerikalseminars zu Issy und Paris, hatte mit dem katholischen Priestertum gebrochen, und, in seinem Herzen an der Religion hängend, wurde er zum Zögling der großen deutschen Philosophie und der wissenschaftlichen deutschen Theologie. Ob- wohl er in Philosophie mit Vorliebe dilettierte und die Meinungen der Philosophen wie in einem Kaleidoskop durcheinander spielen zu lassen liebte, obwohl auch er der mechanischen und positiven Natur- wissenschaft seinen Tribut zu zahlen strebte, blieb er doch immer wesentlich Historiker, und zwar Historiker von universalem Blick und von feinster Fähigkeit anempfindenden Verständnisses. Innerhalb der Historie aber blieb ihm der Hauptgegenstand die Religions- geschichte und innerhalb dieser die Geschichte des Christentums. Sein Lebenswerk ist daher eine große Geschichte Israels und eine vielbändige Geschichte der Entstehung des Christentums bis zur fertigen Ausbildung des Katholizismus. Von diesem Riesen- werk ist leider nur der schwächste Bestandteil, das Leben Jesu, allgemein bekannt, das nicht viel mehr als eine aus wunderbar

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lebendigen Eindrücken des Landschaftsbildes geschöpfte, höchst subjektive und sehr sentimentale Umdichtung der Evangelien ist in die Geschichte eines Mannes, der, wenn er nicht Jesus ge- wesen wäre, hätte Renan^ der jugendliche priesterlich und religiös begeisterte gefühlvolle Renan, sein mögen. Das Ganze des Werkes aber ist durchaus ernst zu nehmen, trotz des während der Arbeit sich wandelnden Standpunktes und trotz starker Subjektivitäten. Das Verhängnisvolle dieses Werkes liegt an einem ganz anderen Punkte als in dem Leben Jesu ; es liegt in dem historischen Skeptizismus und Relativismus, der vor lauter Anempfindung an tausend gewesene religiöse Gefühle und Meinungen keinen Mut mehr zu eigenem Standpunkt gewinnt ; in der Gebrochenheit eines religiösen Gefühls, das in allen Erscheinungen der Religions- geschichte die tiefe geheimnisvolle Stimme des Jenseits vernimmt, aber wehmütig darauf verzichtet, aus diesem Geschwirr von Stimmen irgend eine Einheit und irgend ein Ziel herauszuhören. Die geschichtliche Kenntnis und Vielseitigkeit erdrückt den Menschen durch die Erinnerungen des tausendfach Gewesenen und nimmt ihm Mut und Kraft zu eigenen Hervorbringungen. Die hin und her spielende Relativität alles Geschichtlichen, wo jedes Vorzüge und jedes Nachteile hat und alles an seiner Zeit hängt, macht jede Nährung und Festigung aus der Geschichte unmöglich. Wissenschaftlich verstehen kann man nur eine Re- ligion und ein Geistesleben, das man gläubig geteilt und das man dann überwunden und aufgegeben hat. So ist die wissen- schaftliche Theologie notwendig eine Mischung von Glaube und Unglaube. Die Historie macht den modernen Menschen zum ent- täuschten und wehmütigen Zuschauer des Wechsels ; und wenn auch die mechanische Naturwissenschaft das Welträtsel nicht löst, sondern die Geheimnisse alle übrig läßt, so tötet um so sicherer die Historie die Theologie. Denn die spekulative Historie mit ihrem Glauben an Zusammenhang, Ziel und Entwicklungsgesetz war ein deutscher, schwerfälliger ideologischer Traum. Dieser »renanisme«, der in Frankreich eine Macht wurde und dort vor allem jenen Geist der Müdigkeit und Blasiertheit herbeigeführt hat, hat auch bei uns verführerisch und zerstörend genug gewirkt. Für viele ist er der letzte und der endgültigste unter den Toten- gräbern der Theologie.

Ganz so schlimm stand es nun freilich nicht. Denn die Welt der literarischen Neuigkeiten und der vielgelesenen Bücher ist

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noch nicht identisch mit der der menschlichen Herzen. Aber eine neue Zeit war es doch. Die wissenschaftliche Theologie konnte sich nicht verbergen, daß sie Gegensätze und Schwierigkeiten an sich hatte, die manchem dieser Vorwürfe ein relatives Recht gaben. Sie war etwas zu sehr angekränkelt von der Blässe des Gedankens und bedurfte der Erfrischung durch einen kräftigen, die Wirklich- keit des religiösen Lebens studierenden Realismus. Ihr war alles zu sehr die bloße notwendige Auswirkung eines logischen Ge- dankenprogramms ; sie sah in der Religion zu sehr bloß die ge- fühlsmäßige Empfindung der Einheit der Wirklichkeit, die sich zu dem Gedanken der logischen Einheit, Verkettung und Notwendigkeit der aus dem göttlichen Wesen folgenden Lebensfülle erst theoretisch erheben sollte. Sie verkannte die Religion in ihrer naiven, durch keine Philosophie und Wissenschaft verkümmerten und gelähmten Kraft, sie studierte sie nicht in ihrem wirklichen Leben, sondern konstruierte sie aus einer Theorie. Sie sorgte sich zu viel um die Anerkennung und Einverleibung des notwendigen Naturzusammen- hangs in den Gedanken des göttlichen Wirkens, das damit alle Frei- heit, Lebendigkeit und Spontaneität verlor, das dem Menschen gerade den heißbegehrten Zugang aus einer W^elt des bloßen Not- wendigen und Auseinanderfolgenden in die Welt der schöpferischen Freiheit und der neues Leben zeugenden Lebendigkeit versperrte. Sie sah in der Geschichte zu sehr die sukzessive Ausführung eines logischen Programms; sie ignorierte die vielen Brüche und Kata- strophen, den Niedergang und Absturz, der auf große Zeiten folgt, die unvergleichliche und unableitbare Besonderheit des In- dividuellen und Einmaligen, und sie huldigte dem Wahn, als wäre der Fortschritt der Zeit eben damit auch jedesmal ein Fortschritt des Gedankens und der Wahrheit.

Aus der Kritik und Selbstkritik dieser wissenschaftlichen Theologie gingen um die Mitte des Jahrhunderts die neuen An- sätze hervor, in denen das religiöse Problem unserer Zeit mit neuen Mitteln und Voraussetzungen angefaßt wurde und denen es gelungen ist, die christliche Gedankenwelt in ein neues Licht zu setzen. Zu ihren Wirkungen gesellte sich seit dem Ausgang des Jahrhunderts ein neu erwachtes Religionsbedürfnis als Gegen- wirkung gegen die mechanisch-technisch-kapitalistische Welt. Mit diesem zusammen erwachten dann freilich auch religiöse Reform- bestrebungen, die mehr als irgend eine bisherige Bewegung über das Christentum hinausdrängten und nun von der ethischen und

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religiösen Seite her der christlichen Ideenwelt und den Versuchen zu ihren Um- und Neubildungen einen Widerstand entgegensetz- ten, wie ihn vorher die Indifferenz und der Naturalismus ihr ent- gegengesetzt hatten. Aber immerhin trat doch in der wissen- schaftlichen Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte, die philo- sophisch von der Erneuerung des Kantianismus begleitet war, eine verhältnismäßige Festigung und Neubildung der christlichen Ideenwelt ein, die man kennen und verstehen muß, wenn man die Wünsche und Gegensätze der unmittelbaren Gegenwart beur- teilen will.

Zunächst entstand mitten heraus aus der wissenschaftlichen Theologie durch einen Schüler Baurs, durch Albrecht R i t s c h 1 , eine neue große theologische Schule, die Göttinger Schule, die jenen Bedenken Rechnung trug. Ritschi behielt im allgemeinen den Rah- men der bisherigen Betrachtung bei, indem auch er eine allgemeine psychologisch-entwicklungsgeschichtliche Auffassung der Religion zugrunde legte. Aber er faßte die Religion unabhängiger von den Rücksichten auf die Einbefassung des allgemeinen gesetzlichen Naturbegriffes in den Gottesgedanken. Jedenfalls ist das Letztere die allgemeinste Bedeutung seiner Theologie, während sein Ver- such von der Baurschen Religionsphilosophie und Religionsge- schichte wieder auf einen historisch-kritisch vereinfachten Biblizis- mus zurückzugehen, sehr bald als wirkungslos erkannt werden mußte. Er hatte einen inneren instinktiv-religiösen und ethischen Widerwillen gegen alles, was an Pantheismus und Monismus er- innert. Die Religion ist ihm eine sittliche Erhebung des der Natur und ihrem Ablauf sich entgegensetzenden Willens und die Ergreifung eines heiligen göttlichen Willens, der nicht identisch ist mit der Entwicklung des notwendigen Weltprozesses, sondern über den Weltprozeß hinaus die Seele erhebt in eine Sphäre der Freiheit, die Unabhängigkeit gegenüber dem Naturlauf und Ab- hängigkeit vom heiligen Willen Gottes ist. Wie eine solche Auf- fassung der Religion mit der Gesetzlichkeit der Erscheinungswelt fertig werden mag, schien ihm eine Sache für sich. Jedenfalls for- derte für ihn die Religion, wo sie sie selber ist und wo sie nicht von Philosophie und Spekulation gegen sich selbst mißtrauisch gemacht ist, gerade die Lösung von dem Banne des gesetzlichen Weltpro- zesses und die Erhebung zur göttlichen Macht als zu einer von der Welt verschiedenen, die gerade durch ihre Unterschiedenheit von der Welt von ihr zu befreien und über sie zu erheben vermag. Der

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hierin enthaltene Gegensatz ist ihm der unauflösbare Grundgegen- satz, die Paradoxie der Religion, um deren willen eben die Welt- kinder sie nicht wollen und nicht verstehen, und um deren willen der Fromme in ihr erst sein wahres Leben findet. Gilt das von der Religion im allgemeinen, so galt es für Ritschi im höchsten Grade vom Christentum, der höchsten Offenbarung des religiösen Glaubens. Der Glaube haftete ihm nicht an Theorien und Speku- lationen, sondern an dem Leben wirkenden persönlichen Eindruck des Bildes Jesu, das uns mit einer nirgends wieder dagewesenen Gewalt von der Realität Gottes und der übersinnlichen Welt überführt, das uns auf Gott vertrauen läßt trotz Not und Sünden- angst.

Aber Ritschi und seine Schule waren nicht die einzigen, die solchen Widerspruch erhoben. Zugleich hat in der lehrreichsten und tiefsinnigsten Weise gerade in der Auseinandersetzung mit dem ästhetisch-monistischen Geiste der Hegeischen und der gan- zen klassischen Religionsphilosophie der Däne Kierkegaard einen ähnlichen, nur viel leidenschaftlichem Widerspruch erhoben und ihn in Schriften von höchster künstlerischer Vollendung und unerreichter Kunst der Zergliederung verkündet. Ritschi blieb ein Mann des kirchlichen Luthertums, der nur durch einen verein- fachten, auf das Praktisch-Wesentliche dringenden, antiphilosophi- schen Biblizismus das protestantische Kirchentum erneuern und damit die christliche Kultur zur Festigkeit, Klarheit und Gesund- heit führen wollte. Kierkegaard dagegen brach mit dem Kirchen- tum und der Kultur überhaupt. Er stellte sich völlig auf das Heils- bedürfnis des Subjektes als auf den innersten Trieb auch des mo- dernen Menschen. Von hier aus wollte er die kompromißlose radikale Christlichkeit der Bibel als Erlösung gerade des ästheti- sierenden, modernen Weltmenschen. Auch er ist ein Zögling der Theologie, der es dann freier und größer gefunden hat, für die Interessen der Theologie zu kämpfen, ohne sich an die engen- den Schranken eines theologischen, praktischen oder akademischen Berufes zu binden. Unvergleichlich genialer als Ritschi, aber ohne dessen realistische Ruhe und geschichtswissenschaftliche Durchbil- dung, ein Dichter und Denker, dessen Herz am religiösen Problem hing, hat er sich auf den in der klassisch-romantischen Religions- philosophie enthaltenen Geist der Immanenz, der Allgesetzlichkeit, des ästhetischen Einheitsgefühls, auf die die Brüche und Abgründe des Lebens verhüllende Auffassung der Religion als der bloßen

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Empfindung der Einheit des Endlichen und Unendlichen, gestürzt. In ihnen hat er den geschworenen Feind der Religion gesehen, der sie in den Schranken der Welt und der Diesseitigkeit fest- hält und den Menschen nicht zu dem großen Entweder-Oder kommen läßt, wo er sich für die Welt und ihren sich von selbst fortbewegenden Naturlauf oder für die in sie hineingreifende und den Menschen erhebende und verwandelnde Kraft Gottes ent- scheiden muß. Die Schönheit und die Poesie und die von ihr empfundene Harmonie und Einheit des Universums in allen Ehren. Sie sittigt und veredelt den Menschen und zeigt ihm einen gei- stigen Grund und Kern der Dinge. Aber sie ist ein Spiel und Genuß der Phantasie und sieht in allen Kämpfen und Katastro- phen überall doch die versöhnende Harmonie. Sie weiß nichts von dem wirklichen großen Kampfe des sittlichen und des reli- giösen Menschen, der zwischen zwei Welten steht, und der nicht im ästhetischen Schein und Spiel, sondern nur in wirklicher Wahl und Entscheidung, im wirklich durchgefochtenen Kampf den Frieden findet, wenn er sich dem Strom der Gesetzeswelt entgegenstemmt und sich von Gott in die Freiheitswelt erheben läßt durch lebendige Offenbarung und Kundgebung des gött- lichen Willens. Sie weiß auch nichts von dem Optimismus, der alles Zurückbleiben und alle Mängel nur aus den Bedingungen des Werdens und Noch-nicht-vollendet-seins erklärt und von der Entwicklung alle dem Ziel entgegengetragen wähnt. Sie weiß auch hier nichts von Einheit, sondern nur von Bruch und Kampf, von dem Widerstand der Masse gegen die göttliche Welt und von dem Sieg der Wenigen, die ihren natürlichen Menschen überwan- den und die Ueberwelt in ihr Herz aufnahmen. Jesus behält ihm recht, wenn er sagt, daß jeder sein Leben verlieren müsse um es zu gewinnen, und daß der Weg zum Heil schmal sei und nur wenige ihn finden, während der Weg breit ist, der zur Verdamm- nis führt.

Was so der kirchliche Theologe und der radikale Individua- list jeder in seiner Weise gefordert haben, das ist zu einem weit und groß formulierten religiösen Programm geworden bei Artur Bonus, einem der feinfühligsten, wenn auch öfter etwas exzen- trischen, Deuter des religiösen Lebens der Gegenwart. Er über- gibt die Natur und die Geschichte der reinen strengen Wissen- schaft, aber fordert daneben die freie, durch keine philosophische Rücksicht gehemmte Selbstaussprache dessen, was am christ-

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liehen Glauben sich heute lebendig fühlt. Eingriffe in das Ge- biet der Wissenschaft vermeidend soll er auf dem ihm frei- bleibenden Gebiete die Gegenwart und Zukunft der übersinnlichen Welt prophetisch und poetisch aussprechen, den alten christ- lichen Mythos ersetzen durch einen neuen, der jedenfalls durch den Gedanken der Ueberhöhung aller Kultur, der Zerreißung aller abstrakten Gesetzesnetze und der Gewinnung ewig-persönlichen Lebens mit dem alten Christentum verbunden ist. Noch fehlt es freilich fast überall an dem Mute hierzu. Aber diese Aufspü- rung der lebendigen, nicht verwissenschaftlichten Religion hat doch durch die feine Endosmose, die alle geistige Arbeit unmittelbar miteinander verbindet, wenigstens der historischen Erforschung des Christentums ihre Methoden und Ziele gegeben, durch die sie sich von der Hegeischen spekulativen Methode losriß. Sie hat den dialektisch-begrifflichen Charakter beseitigt, der die Geschichte konstruierte und aus logisch gefundenen Entwicklungsreihen die Geschichte ableitete.

Wie Ritschi und Kierkegaard die Religion aus religiösen und ethischen Gründen von dem monistischen Alleinheitsgedanken eman- zipierten, so hat in der neueren Kirchengeschichte die liebevolle Versenkung in die Quellen und Urkunden, in die Tatsachen selbst, die Religion in ihrer prinzipiellen Unabhängigkeit von dem logi- schen Einheitsbedürfnis des Denkens und ihre Geschichte in dem ganzen unableitbaren Reichtum des Mannigfaltigen, in dem Auf und Nieder, den Höhepunkten und Depressionen, in dem schwan- kenden Kampf der emporziehenden großen und der niederziehen- den kleinlichen Kräfte, verstehen gelehrt. Man faßte sie nicht mehr auf nach einem zum voraus konstruierten Begriff, sondern studierte sie wie ein selbständiges, an Geheimnissen und Ueber- raschungen reiches Gebilde der Wirklichkeit. Hier hat die selt- same Freiheit von allem Bedürfnis nach wissenschaftlicher Gene- ralisation und die völlige Unabhängigkeit von jeder Dogmatik vor allem Bernhard Duhm zu einem mächtigen Anreger gemacht. Das gab bei Beibehaltung der bisherigen Erkenntnisse dem Ganzen mehr Farbe und Leben, ließ den jähen Wechsel und die Kon- traste, die irrationalen Widersprüche des Lebens, die Bedeutung des Individuellen mehr hervortreten. Vor allem lernte man die Bedeutung der produktiven großen Epochen, der führenden Per- sönlichkeiten und der Stifter ganz anders verstehen. Die Reli- gionen sind nicht l'reischwebende Gedankensysteme oder inner-

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liehe, überall spontan sich gleich erzeugende Empfindungen, son- dern sie haften an den großen grundlegenden Erschließungen des göttlichen Lebens in ihren Propheten und Stiftern. Sie sind darum nicht bloß gemütvoll erwärmte philosophische Systeme oder ins eigene Herz blickende Beschaulichkeit, sondern Glaube an Propheten und Offenbarungen, und ihre Macht über das Leben hängt an der Energie dieses Glaubens. So ergab sich vor allem ein tieferes Verständnis der Persönlichkeit Jesu und das Bestreben, die Bindung des Christentums an sie in ihrer histori- schen Kraft und Lebendigkeit zu begreifen. In diesem Geiste hat sich die historische Theologie zu großartigen Leistungen ent- wickelt, in denen die beste Arbeit der Theologie überhaupt steckt und die zu den Perlen unserer historischen Literatur gehören. In der alttestamentlichen Forschung haben der Holländer Kuenen und die Deutschen Eduard Reuß und Julius Wellhausen sowie die Engländer Cheyne und Robertson Smith die Ergebnisse Vat- kes großartig erweitert und eine lebensvolle Anschauung der Religionsgeschichte Israels im Verhältnis zur Religion des übrigen Altertums entworfen. Wellhausens »Israelitische und jüdische Geschichte« ist ein klassisches Meisterstück, das auch jedem Laien verständlich ist. Die neiitestamentliche Forschung hat manche Ueberkühnheiten einer durch erfolgreiche Korrektur der Ueber- lieferung ermutigten konstruktiven Zurechtrückung der Urkunden aufgegeben, die ganze Anschauung konkreter, psychologisch fein- fühliger gestaltet, aber dabei die Baursche Betrachtung im gan- zen festgehalten. Heinrich Holtzmann, Adolf Jülicher und Karl Weizsäcker, der Nachfolger Baurs auf dem Tübinger Lehrstuhl, haben in Werken von großartiger Reife und Durchbildung die moderne Forschung über die Entstehung des Christentums und über die Anfänge der christlichen Gemeinden allgemein zugäng- lich gemacht. Unabsehbar vollends ist die F"orschung über die Entwicklungsgeschichte des Christentums, wenigstens in bezug auf die interessantesten Punkte, das Urchristentum, die Frühzeit des Katholizismus und die Reformationsgeschichte. Die Zusam- menfassung des diese Studien leitenden Geistes ist Adolf Har- nacks großes W^erk, das unter dem Titel Dogmengeschichte eine überaus lebendig entworfene, gedankenreiche und erleuchtende Darstellung und Auffassung der Gesamtentwicklung des Christen- tums bietet. Freilich ist mit alledem schwerlich das letzte Wort gesprochen. Je mehr man in der Religionsgeschichte gerade die Re-

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ligion und die praktische Leistung sucht und je mehr man Dogma und Apologetik nur als Spiegelungen der eigentlichen Grund- bewegungen ansieht, um so mehr wird die Geschichte des Chri- stentums in die Religionsgeschichte seiner Umgebung und in die allgemeine Kulturgeschichte sowie in die Erkenntnis der sozialen Bewegungen hineingezogen. Hier türmen sich dann ganz neue Probleme auf, die in dem herkömmlichen Begriff der Kirchen- und Dogmengeschichte noch keinen Platz gefunden haben. Ins- besondere von einer Erforschung der Geschichte des christlichen Ethos, das damit in den Vordergrund tritt, ist bis jetzt noch kaum die Rede.

Alle diese Arbeiten bewegen sich auf dem Boden der spe- ziellen Erforschung der Entstehung und des Wesens des Christen- tums, aber sie sind wie die früheren geleitet von dem Grundgedanken einer allgemeinen historischen Methode und eines engen Zusam- menhangs der menschlichen Religionsgeschichte überhaupt. Auch hier wird das Christentum nach allgemeiner historischer Methode als Bestandteil und Höhepunkt der Religionsgeschichte erforscht, und allgemeine Beobachtungen, die sich aus der Religionsge- schichte über Wesen, Entwicklungsbedingungen und Entwicklungs- weisen der Religion ergeben haben, haben hier die fruchtbarsten Anregungen geliefert. So konnte es nicht ausbleiben, daß trotz der Konzentration auf das Christentum und seine konkrete Eigen- art doch immer wieder gerade aus dieser Arbeit sich das Bedürf- nis nach Zusammenfassung und Ueberschau, nach prinzipieller Klar- heit über Wert und Bedeutung des Christentums innerhalb des flutenden Ganzen der Religionsbildungen erhob. Versteht man unter Religionsphilosophie die Analyse des psychologischen Wesens der Religion, die Herausstellung ihres Wahrheitsgehalts und die Beurteilung ihrer Geschichte auf das Maß der darin erreichten und die Religionen abstufenden Wahrheit, so bedurfte eine solche Theologie dringend der Religionsphilosophie. Hier aber ist ihre Lage immer noch eine überaus schwierige und iso- lierte. Sie entbehrt des Anschlusses an eine wenigstens einiger- maßen allgemein anerkannte prinzipielle Betrachtung des Wesens und der Geschichte der Religion. Die alte Religionsphilosophie des klassischen, philosophisch-literarischen Zeitalters ist den neuen An- forderungen nur mehr sehr bedingt gewachsen, und sie ist von der positivistischen und skeptischen Plut der Zeit überdies allenthalben unterwühlt. Sie bedurfte eines neuen aus der religionswissenschaft-

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liehen Einzelforschung hervorgehenden Aufbaus und eines domi- nierenden prinzipiellen Grundgedankens, der wieder eine einheit- liche Betrachtung ermöglicht. Dem aber war das Zeitalter so un- günstig wie möglich. Die Religionsphilosophie war verschollen, und es gab nur mehr empirische Einzelforschung von Philologen und Ethnologen, die der Frage nach dem Ziel und Ideal der Re- ligion völlig gleichgültig gegenüberstanden. Auch die allmähliche Rückkehr der Philosophie aus der naturwissenschaftlichen und darwinistischen Fremde zu ihren eigentlichen Problemen hat im Neukantianismus sich gerade an dieses Problem am wenigsten ge- wagt, und erst allmählich treten jetzt zusammen mit den Versuchen der Neubegründung der Ethik und der Geistesphilosophie die hierfür unentbehrlichen religionsphilosophischen Probleme wieder zutage. So ist auch manches inzwischen geschehen. Aber die schönen Werke des Engländes Eduard Caird und des Deutschen Otto Pfleiderer sind doch 'im Grunde Nachzügler der Hegeischen Schule, und das hinreißende Buch von August Sabatier, dessen Sensations- erfolg die ^ürs't!g'e"Läge 'in Frankreich interessant beleuchtet und auf den französischen Reformkatholizismus großen Eindruck ge- macht hat, ist doch für die eigentlich wissenschaftliche Forschung zu rhetorisch und elegant. Am glücklichsten angepackt ist das Problem von Rudolf Eucken und seiner Schule. Unabhängig von ihm, aber vielfach mit ihm übereinstimmend verfolgt der Verfas- ser dieser Zeilen das Ziel, die Theologie an eine selbständige und rein wissenschaftliche Religionsphilosophie anzugliedern. Auch Wilhelm Wundts und seines gewaltigen Werkes über die Völker- psychologie ist hier zu gedenken. Aber auch das ist vorerst noch eine Anweisung auf die Zukunft.

Diese Mängel empfindend und zugleich die Forderung kon- kreter, realistischer Auffassung der Religion teilend hat einer der anregendsten und bedeutendsten, wenn auch zugleich einer der seltsamsten, theologischen Denker aus der Philologie diese Lücke zu ergänzen gestrebt. Paul de Lagarde war ein Kind des romantischen Berlin Friedrich Wilhelms IV, ein Zögling der klas- sisch-romantischen Denkweise und zugleich nicht ohne Einfluß des ätzenden, alles kritisierenden Berliner Geistes. Er hat in seiner Jugend auf Schleiermachers Knien gesessen und als Jüngling von Friedrich Rückert Arabisch gelernt. Als junger Mann hat er mit verwegener Keckheit die neue Rechtgläubigkeit verteidigt. Auf Reisen und Forschungen, die er gemeinsam mit dem bekannten

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romantisch-liberalen Diplomaten K. J. v. Bimsen machte, wurde er zum Philologen und Kulturforscher im umfassendsten Sinne des Wortes, der die Philologie als den Schlüssel zu Seele und Geist der Menschheit ansah und doch zugleich die höchste Genauigkeit und Korrektheit als erste Pflicht anerkannte. Seine Herzensnei- gung aber blieb die Theologie, und so bildete er ein Ideal der Theologie, wonach sie vergleichende, allgemeine Religionswissen- schaft ist, die ein Heer von Forschern in die einzelnen Gebiete entsendet, die alten Urkunden aller Völker als die Akten der Religionsgeschichte studiert und aus diesem Erkenntnismaterial eine Vergleichung aufbaut, in der die einzelnen Religionen an Kraft, Stärke und Tiefe des von ihnen erschlossenen inneren Le- bens sich messen. Er zweifelte nicht, daß das Christentum hier- bei sich als höchste religiöse Kraft offenbaren werde, aber er verlangte hierbei die volle Durchführung der Konsequenzen einer solchen Betrachtung für die Auffassung des Christentums, dessen Zukunftsbild er nur in blassen Umrissen vor seinen Augen auf- tauchen sah. In hartem Daseinskampf verbittert, hat er schließ- lich ein mit übermäßiger Weichheit wechselndes übermäßiges Selbstgefühl entwickelt, und, ein niemals ganz in sich ausgegliche- ner Geist, hat er mit tiefen und geistvollen Gedanken zugleich die wunderlichsten Schrullen hervorgesprudelt. Aber seine in ge- waltiger Sprache geschriebenen »Deutschen Schriften« haben ihm trotz alledem schließlich eine Wirkung eröffnet, die seiner großen und bedeutenden Gedanken würdig war. Nicht als ob seine philologisch-religionsgeschichtliche Theologie den Mangel einer prinzipiellen Religionsbetrachtung ersetzt und als ob seine tief religiöse, aber doch oft auch von der Skepsis angenagte Persön- lichkeit ein neues Fundament für die Betrachtung der Religion gelegt hätte. Aber sie hat das Bedürfnis nach alledem in den Herzen geweckt und hat nicht bloß auf die Theologen, sondern vor allem auf die Laien gewirkt, Ernst und Größe der Fragen ihnen vor Gefühl und Gewissen gestellt ; sie hat den lebendigen Eindruck davon erweckt, daß es von diesen Dingen eine Wissen- schaft geben müsse und daß diese Wissenschaft nicht in eine philosophisch ermattete, aller Zuversicht und Gebetskraft beraubte Religion auslaufen könne, sondern nur in erneute Belebung der wesentlichen Kräfte des Christentums.

Noch herrscht in unserem geistigen Leben die Mattigkeit und die Verwirrung, und auch diese Gedanken eines Lagarde sind

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mehr ein Zeichen der Sehnsucht nach tieferem persönlichem Le- ben und nach festerem Anschluß an die lebendige religiöse Kraft des Christentums als ein Mittel zur Lösung des Problems. Aber diese uns wieder erfüllende Sehnsucht nach Kraft und Leben, diese Abneigung gegen die hohle Skepsis, gegen die bloße Nütz- lichkeit, gegen die bloß naturwissenschaftliche und gegen die bloß historische Bildung versprechen eine Zusammenfassung all der Strebungen und Arbeiten, die in zünftiger und unzünftiger Theo- logie des 19. Jahrhunderts immerhin reichlich hervorgetreten sind. Es hat nicht den Anschein, als ob gerade die offizielle Kirche von sich aus sehr viel tun werde zur Lösung dieser Probleme. Im Gegenteil, der Katholizismus rüstet sich zur Ausscheidung des Modernismus, und wenigstens die deutsch-protestantischen Kir- chen, vor allem die preußische, werden diesem Beispiel nachzu- folgen versucht sein. Die große moderne religiöse Bewegung, das wiedererwachte Religionsbedürfnis, bewegt sich außerhalb der Kirchen und zumeist auch außerhalb der Theologie. In der Tat ist schwer zu sagen, was bei dieser stark ästhetisch und literarisch gefärbten religiösen Bewegung herauskommen mag, zu deren Charak- teristik etwa der Name Maeterlincks genannt sein mag. Aber der Mensch, der immer im Grunde derselbe bleibt und der auch durch die Evolution des 19. Jahrhunderts nichts Neues geworden ist, wird, wie stets bisher, die bloße Negierung und Blasiertheit, das bloß Praktische und Irdische, so wenig aushalten wie ein bloß literarisches Spiel mit Gedanken und den romantischen Geschmack für das Interessante. Er wird die Wissenschaft zwingen, ihm die Quelle aller Kraft wieder freizulegen oder freizugeben, die Religion.

So möge den Schluß dieser Darstellung ein Wort des Man- nes bilden, den ich zuletzt genannt habe und der mit heißem Herzen über Programm und Forschung der Zukunft sann. Er erwartet sie nicht von den Theologen, sondern von der Einkehr unseres Geschlechtes bei seinem wahren inneren Wesen und von dem Blick in die Religionsgeschichte :

»Nicht human sollen wir sein, sondern Kinder Gottes; nicht liberal, sondern frei ; nicht konservativ, sondern deutsch ; nicht gläubig, sondern fromm; das Göttliche in jedem von uns leib- haftig lebend, und wir alle vereint zu einem sich ergänzenden Kreise : Keiner wie der andere und keiner nicht wie der andere ; tägHch wachsend in neidloser Liebe, weil auf dem Weg auf- wärts zu Gott wohl einer dem andern immer näher kommt, aber nie einer den Wes des andern schneidet.«

Aus der religiösen Bewegung der Gegenwart.

(Aus: Die neue Rundschau, 1910.)

Berichterstattungen über religiöse Bewegungen haben ihre große Schwierigkeit. Dabei ist nicht die Schwierigkeit gemeint, die aus der verschiedenen Auffassung und Beurteilung der ein- zelnen Erscheinungen entsteht und die, wie politische Gegensätze, sehr persönliche und leidenschaftliche Urteile mit sich zu bringen pflegt. Hier muß man den Mut seiner Meinung haben und im übrigen diejenigen, welche auf eine ernste, gerechte, die verschie- denen Motive achtende Erörterung nicht eingehen wollen, im Na- men der Vernunft oder im Namen des Glaubens geringschätzige oder höhnische Bemerkungen machen lassen, soviel sie wollen. Die eigentliche Schwierigkeit liegt vielmehr in der Beobachtung der Tatsachen selbst. Die Wandlungen der religiösen Stimmungen und die Bildung verschiedener Gruppen liegt so sehr im Dunkel und in der Mannigfaltigkeit des persönlichen Lebens, daß immer erst die Ergebnisse nach langer verborgener, unterirdischer Aus- breitung hervortreten und die eigentlichen letzten Quellen fast niemals zu fassen sind. Hier herrscht nicht die Logik der Be- griffe, und die Entwickelung spinnt sich nicht am Faden der Reihenfolge der Bücher ab. Hier wirkt der Druck der sozialen Lage, die Mannigfaltigkeit des persönlichen Erlebens, die Eigen- art der Individuen, die Mitteilung des verborgensten inneren Daseins von Person zu Person, das ganze und undurchschaubare Spiel kleiner und kleinster Seelenregungen, die sich zu geistigen Mächten langsam und unmerklich zusammenballen. Freilich hängt dann die größere Ausbreitung und öffentliche Wirksamkeit schließ- lich an erkennbar hervortretenden Persönlichkeiten oder an ein- flußreichen Büchern. Aber in beiden brechen doch die dunkel empfundenen und langsam zusammenstrebenden Kräfte erst ans Licht. Und auch da bleiben oft die bedeutsamsten und wirksamsten Erscheinungen wenisf beachtet und treten ihre Wirkungen oft erst

Aus der religiösen Bewegung der Gegenwart. 2^

an ganz anderen Stellen zutage. So ist z. B. die Wirksamkeit von Johannes Müller, der erst in großen Vortragsreisen seine Ge- danken ausstreute und nun auf Schloß Mainburg eine Art stiller Gemeinde um sich sammelt, trotz großer Verbreitung seiner Schriften sowohl von den offiziellen kirchlichen und theologischen Stellen, als auch von unserer intellektuellen Welt wenig beachtet worden ; und doch formen sich in den unfaßbaren Einwirkungen dieses Mannes bedeutsame religiöse und ethische Kräfte, deren Einsatz in die religiöse Bewegung unserer Tage meines Erachtens sehr erheblich ist und durch alle möglichen Vermittelungen auch bei solchen zum Vorschein kommt, die von dem ursprünglichen Quellort gar nichts wissen. Solcher Beispiele gibt es nicht wenige. Daher ist eine Berichterstattung von Hause aus hier nicht in der Lage, einen systematischen nnd erschöpfenden Ueberblick über das Ganze der unendlich widerspruchsvollen und spannungsreichen Bewegungen zu geben. Es muß genügen, von der Gegenwart den allgemeinen Eindruck zu gewinnen, daß in der Pendelbe- wegung des geistigen Lebens die religiösen Lebensinhalte wieder im Ansteigen begriffen sind und daß Aesthetik, Philosophie und verwandte Interessen denn sie haben im Grunde alle einon gemeinsamen Zug zum Metaphysischen wieder mit zunehmender Energie und Leidenschaft an dem Geheimnis unseres Daseins bohren. Die Macht, die die Kirchen heute über unser politisches Leben ausüben, hat ihren Grund nicht bloß in allerhand Aeußer- Uchkeiten und Zufälligkeiten, sondern in der Furcht großer Massen vor der Auflösung der Religion und der religiösen Er- ziehung durch den modernen antichristlichen Radikalismus. Der Ruf »die Religion ist in Gefahr« ist der wirksame Schlachtruf, mit dem beide Konfessionen ihre Anhänger und Mitläufer stets in Bewegung zu setzen vermögen. Andererseits ist aber auch die Leidenschaft des Kampfes gegen das Christentum gestiegen und treten Ersatzbildungen aller Art in Vereinen und Gesellschaften auf, die dem metaphysischen Drang eine neue Befriedigung mit philosophisch-intellektualistischen, mit indisch-buddhistischen oder auch mit spiritistischen Mitteln verschaffen wollen. Und zwischen diesen Polen bewegt sich in Kunst und Dichtung, in Belletristik und Feuilleton, in Wissenschaft und Popularisationsliteratur eine Masse von religiösen und halbreligiösen Gedanken und Bedürf- nissen hin und her, die sich überhaupt nicht formulieren läßt. Unter diesen Umständen muß eine Berichterstattung auf

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jeden Gedanken systematischer Uebersicht verzichten und darf sich dem Zufall anvertrauen, der der Redaktion einer Zeitschrift Bücher zur Besprechung zuführt, die teils durch die Bedeutsamkeit ihres Inhaltes, teils durch das von ihnen erregte Aufsehen sym- ptomatisch für die Lage sind und hinter deren Inhalt oder hinter deren Wirkungen sich jene anonymen Ursprünge verbergen, aus denen solche Dinge in letzter Linie hervorzugehen pflegen.

Ein solches Buch aus katholischer Atmosphäre heraus ist das Werk von Karl Jentsch »Christentum und Kirche in Ver- gangenheit, Gegenwart und Zukunft<' (Leipzig, Haberland 1909). Jentsch ist einer der unabhängigsten, erfahrungsreichsten und ehrlichsten Schriftsteller, die allgemeine religiöse, ethische und philosophische Fragen vor der Oeffentlichkeit populär zu behandeln pflegen, und man möchte seinen besonnenen Urteilen eine nach- drückliche Wirkung wünschen. Der Ideen- und Gefühlskreis, aus dem heraus er denkt und urteilt, ist der Katholizismus, dem er als junger, höchst idealistisch gesinnter Priester selber gedient hat, den er dann nach dem Vatikanum als Altkatholik zu refor- mieren helfen suchte und den er heute als freier unabhängiger Privatmann in einer ganz selbständigen und eigentümlichen W^eise vertritt. Er lehrt uns damit die tiefen, nicht so leicht auszu- rottenden Motive des Katholizismus kennen und zeigt doch auch die schweren Gefahren und Schäden des herrschenden Katholizis- mus. Jentsch empfindet katholisch in dem Sinne, als er eine religiöse Bedeutung Christi sich nur denken kann im Zusammen- hang mit einer von Christus ausgehenden großen einheitlichen Weltgemeinschaft und Heilsanstalt, die durch ein Christi Tätigkeit fortsetzendes Priestertum zusammengehalten wird in gemeinsamer Erkenntnis und in gleichartigem Kultus. P'ür ihn liegt in der israelitisch-christlichen Religionsgeschichte, in der Person Jesu, in der Bibel und in der Entwickelung der christlichen Idee wirklich eine über die gewöhnliche Welt hinausführende göttliche Üften- barung und Veranstaltung, und das hat ihm nur Sinn, wenn der einheitlichen Stiftung auch eine einheitliche Wirkung, die Einheit der Weltkirche, entspricht. Er empfindet weiter katholisch, indem er den symbolischen und sakramentalen Kultus mit seinem Zurück- treten des Intellekts und der Predigt hinter den undefinierbaren Stimmungsträgern anschaulicher und die Phantasie beschäftigender Vorgänge für ein stärkeres und dauerhafteres Erregungs- und Erziehungsmittel des religiösen Lebens hält als die individualistische

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und intellektualistische Predigt. Durch den Zusammenhang mit der Urgeschichte der Kirche und durch die Ausbreitung über alle Erdteile ist ihm dieser Kultus zugleich von einem verstärkenden Eindruck der Massengefühle und der Ti'adition begleitet, den keine daneben entstandene und daneben stehende kirchliche Neugründung ersetzen kann. Von dieser Grundanschauung aus fixiert er in seinem Buch zuerst das christliche Dogma, das ihm mit Recht im wesentlichen im ethischen Theismus und in dessen Verbindung mit der religiösen Würdigung Jesu als der Offenbarung dieses theistischen Gotteswillens besteht. Das trinitarisch-christologische Dogma, das zusammen mit dem Dogma von der Kirche das einzige wirkliche katholische Dogma bilde, glaubt er in diesem sehr einfachen Sinne deuten zu können. Gegen die Ersetzung des Christentums durch eine pantheistische Mystik, die den mo- dernen, an dem Gedanken der gesetzlichen Einheit der Natur genährten monistischen Instinkten so sehr entspricht, macht er Gründe philosophischer und religiöser Art geltend, die mir völlig durchschlagend erscheinen. Die Wirkung des so begründeten und fortgepflanzten Gottesglaubens sieht er als den Sinn der christ- lichen Erlösung an, die er von der paulinischen Erlösungslehre befreit sehen will und einfach erkennt in »der Erlösung von der Furcht vor bösen Gottheiten und Dämonen, in der Beruhigung über die jenseitigen Folgen der Sünden, in der Anregung zu Werken der Nächstenliebe und in der Anleitung zu einer ver- nünftigen Lebensgestaltung, in der tröstenden und beruhigenden Hoffnung auf eine jenseitige Vollendung«. Von da aus entwickelt er auch den Sinn der katholischen Ethik, der Mystik und der Askese, wobei er die Bedeutung der Seelenleitung für die unge- heure Masse der Durchschnittsmenschen, die in letzter Linie welt- überwindende Konsequenz jeder religiösen Ethik und die Ueber- schreitung der Durchschnittsleistungen durch heroische Anstren- gungen sehr verständig als bedeutsame und wertvolle katholische Forderungen bezeichnet.

Mit dieser Zeichnung eines bleibend wertvollen Kernes und Sinnes des Katholizismus verbindet er eine scharfe Kritik seiner tatsächlichen modernen Entwickelung. Er tadelt die übermäßige Zentralisation und Uniformierung in Dogma und Verwaltung, die zu einem unerträglichen Orthodoxismus und Dogmatismus geführt haben und jede freie individuelle Bewegung aufheben. Er ver- wirft die Behandlung des kultischen Symbolismus als Sakraments-

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Zauber und dingliche Gnadeneinflößung, die ganze Ausbreitung der neuen Devotionen und Kulte, die nur der Wundersucht und Phantastik Vorschub leisten. Vor allem verwirft er die Intoleranz und den Anspruch auf einen anderen als einen geistigen Einfluß im Wettbewerb der Konfessionen und der verschiedenen geistigen Gruppenbildungen. Es ist eine Kritik, die ähnlich wie die des katholischen Modernismus überhaupt, die Verinnerlichung, die Ver- geistung und Beweglichkeit des religiösen Lebens verlangt und wesentliche katholische Grunddogmen, den Sakramentalismus und die hierarchische Unfehlbarkeit, aufhebt. Sie lebt des ideali- stischen Glaubens, daß auch ohne diese psychischen und mate- riellen Zwangsmittel die Einheit des Katholizismus sich behaupten würde.

Wie weit nun freilich eine solche Einheit auch dann noch fest- gehalten werden kann und wie weit überhaupt eine solche Reform des Katholizismus möglich ist, ist schwer zu sagen. Ich halte die Wahrscheinlichkeit nicht für groß. Die wirkliche Entwickelung widerspricht dem auf der ganzen Linie. Wohl richtet sich der Katholizismus auf ein paritätisches Zusammenleben und auf die Toleranz anderer Religionsgemeinschaften im modernen Staate ein und geht damit von seinem mittelalterlichen Prinzip gründlich ab. Aber er tut es doch nur, um damit in seinem eigenen, ihm verbleibenden Bezirk seine ausschließende Herrschaft um so stärker aufzurichten. Es ist der charakteristische Zug der modernen ka- tholischen Entwickelung, die Nichtkatholiken preiszugeben und bei ihnen die furchtbarsten Verderbnisse zu dulden, um dann wenigstens die P'reiheit zu haben, die eigenen Angehörigen seinen strengsten und ausschließlichen Maßstäben zu unterwerfen. So hat der Bischof v. Ketteier einmal die Lage charakterisiert. Daher sammelt der Katholizismus die katholische Bevölkerung in katholischen Gruppen aller Arten und sucht eine völlige soziale Scheidung der katholischen und nichtkatholischen Bevölkerungsteile herzu- stellen. Er kann die Gesellschaft nicht mehr von oben und als Ganzes beherrschen, dafür zerklüftet und teilt er sie von innen heraus. Was er auf der einen Seite an Universalität verliert, gewinnt er auf der anderen Seite an ausschließender Intensität. Er kann dann hoffen in den modernen Demokratien durch die so bearbeiteten Bevölkerungsmassen auch indirekt an der Beein- flussung des Staates in den Parlamenten Anteil zu gewinnen und Schulverhältnisse, Paritätswünsche und Aehnliches nach seinem

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Sinne zu erledigen oder doch wenigstens zu beeinflussen. Diese ungeheure Gefahr, gegen die es kein Mittel zu geben scheint und die durch den antichristlichen Radikalismus der Kulturkämpfer nur gesteigert wird, hat Jentsch nicht genügend beachtet und darum auch die leidenschaftlichen Proteste gegen die zunehmende Zerklüftung nicht gerecht genug angesehen. Im übrigen aber ist seine Darstellung überaus lehrreich. Sie zeigt die tiefen und ernsten religiösen Energien, die viele Millionen von Katholiken beseelen, in ihrem eigentlichen reinen Sinne. Sie zeigt vor allem, wie zahllose hochgebildete Menschen Katholiken sein können, nicht ohne Kritik an ihrer Kirche, aber in dem Gefühl, hier Dinge zu besitzen, die nirgends sonst zu finden sind, und in der Hoff- nung, daß die notwendigen Reformen sich schon einmal finden würden. Und über das hinaus zeigt das Buch nicht bloß die Bedeutung des Katholizismus, sondern auch die Bedeutung des Christentums überhaupt, das bei allen Gefahren und Einseitigkeiten doch den Massen eine seelische Tiefe und gesunde mutige Lebens- auffassung gibt, die keine bloß philosophische Meinungsgruppe ihnen zu geben vermöchte. Ich stimme hier seinem Schlußurteil durchaus zu: »Gerade die großartige Kulturentwickelung der neueren Zeit ist es, die das Christentum, indem sie es von seinen Verirrungen und Fanatismen heilt, wieder in seinem ursprünglichen Geiste wirksam macht. Das Christentum ist nicht das Kultur- element, sondern eins unter vielen, aber allerdings ein wichtiges und unentbehrliches, erfreuliche soziale und sittliche Wirkungen hervorbringend. Darum Vorsicht und Rücksicht bei der Auf- klärungsarbeit, damit nicht mit einem verhältnismäßig harmlosen Aberglauben und einem den gebildeten Katholiken lästigen Vor- urteil die so heilsame Religion selbst und mit ihr so manches unschätzbare Kulturgut vernichtet werde.« Das gilt nicht bloß vom Katholizismus, sondern von dem ererbten religiösen Kapital unserer Völker und Länder überhaupt. Es wird leichter zerstört als ersetzt und eine neue geistig-ethische Grundlage für das Ge- samtleben wird nicht aus dem Stegreif gemacht. Solche Ansichten sind freilich nicht nach dem Geschmack der Radikalen von rechts und von links, sind aber nichtsdestoweniger sehr richtig und heilsam.

Jentsch richtet den Blick wesentlich auf die großen kirch- lichen Massen und hofft den Fortschritt in Gestalt einer verstän- digen und dem modernen Geistes- und Gefühlsleben mehr Rech-

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nung tragenden Reform der kirchlichen Leitung. Pls ist auch das ein typischer Zug katholischen Empfindens. So hat einst Erasmus gedacht und so denken heute noch die katholischen Modernisten aller Länder. Ihre Empfindungen sind geschult und gebildet in der Form des Autoritätsgedankens. Ihre Urteile sind durchdrungen von den Voraussetzungen und Selbstverständlich- keiten der Massenpsychologie. Das moderne Antichristentum ist für Jentsch wesentlich Literatur, und zwar Literatur eines zwar lauten und redseligen, aber verhältnismäßig engen Kreises, der neben den großen eigentlichen Hauptmassen des werktätigen und einer festen Lebensrichtung bedürfenden Volkes steht. Eine Massenkirche ist ihm das Antichristentum nur in der Sozialdemo- kratie geworden, aber auch hier glaubt er nicht an die Dauer dieses materialistischen Gegenbildes des kirchlichen Erlösungs- dogmas. So hat er auch eine geringe Meinung von der philo- sophischen Religiosität, von der im Zusammenhang mit dem deutschen Idealismus erfolgten Neubildung einer humanen Christ- lichkeit, wie sie bei einem Teil des Protestantismus, bei der kritischen protestantischen Theologie und bei zahlreichen philo- sophischen Denkern, vorliegt. Auch das ist ihm wesentlich Lite- ratur und zwar Literatur von Gelehrten für Gelehrte. Darin kann ich ihm jedoch nur sehr eingeschränkt recht geben; nicht bloß, weil eine in der protestantischen Form des religiösen Individualis- mus und der freien Gewissensüberzeugung gebildete Empfindung eine derartige rein persönliche und in ihrer Verbreitung unkon- trollierte Ideenwelt für etwas Gutes und Richtiges zu halten ge- neigt ist, sondern auch und vor allem, weil die tatsächliche Wir- kung dieser Literatur doch gar nicht so gering ist, wie es bei dem Mangel jeder Organisation und jedes Massenzusammenhanges scheint. Es liegt doch auch hier eine große und bedeutsame religiöse Ideenrichtung vor, die teils innerhalb, teils neben der Kirche auf Unzählige wirkt. Man mag der Meinung sein, daß eine solche Richtung stets die großen Massenwirkungen der Kirche voraussetzt, indem sie diese sublimiert und individualisiert und in die Zusammenhänge des modernen idealistischen Denkens ein- stellt, daß sie ohne diese nährende Unterschicht ein bloßer Schatten und Dunst wäre. Das ist wohl möglich. Aber eine solche Sublimierung ist eben doch ein Bedürfnis weitester Kreise, die im Christentum unvergänglich wertvolle Kräfte sehen, aber mit der kirchlichen Form dieser Kräfte nichts mehr anzufangen wissen,

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wobei sie teils neben den Kirchen stehen bleiben, teils von diesen eine Organisation verlangen, die auch ihnen Platz und Wirkungs- möglichkeit in diesen großen sozialen Organisationen des reli- giösen Lebens sichert. Daß diese Richtung eine erhebliche Rolle in dem Suchen und Drängen der Zeit spielt, zeigt eine andere literarische Erscheinung, die Werke des Jenenser Philosophen Rudolf P2ucken. Diese zahlreichen, durchaus nicht besonders bequem lesbaren und umfangreichen Werke erscheinen in immer neuen, sich immer rascher folgenden Auflagen und sind in meh- rere Sprachen übersetzt. Die Verleihung des Literaturpreises der Nobelstiftung bezeugt die große internationale Stellung dieses Denkers, dessen Arbeit immer stärker sich auf die religiöse und ethische Reform und Neukräftigung des modernen Geistes richtet. Eucken folgt im allgemeinen der Ideenwelt, die durch die Namen Kant, Fichte, Schleiermacher, Schelling, Hegel, Fries und Herbart bezeichnet ist und die schon ihrerseits damals eine solche Sublimierung der Kerngedanken des Christentums für die Be- dürfnisse eines individualistisch-autonomen und dem Weltbild der modernen Wissenschaft zugewandten Denkens war. Sie war dann durch die erneuerte Orthodoxie und die Reaktion, durch den achtundvierziger Radikalismus, durch eine neue von Frankreich herüberschlagende Welle naturalistischer und skeptischer Auf- klärung erstickt worden. Dann trat sie im Gegensatze hierzu mit dem Neukantianismus der siebziger Jahre schüchtern wieder hervor, um allmählich erstarkend alle Folgeerscheinungen wieder der Reihe nach hervorzubringen, die seinerzeit das Kantische Denken in seiner Entwicklung bis zu Hegel und Schopenhauer hervorgebracht hatte. Euckens Eigentümlichkeit innerhalb dieser Bewegung ist in erster Linie eine sehr feine intuitive Empfindung für die seelische Lage des modernen Menschen. Er zeichnet immer von neuem den großen Widerspruch seines Daseins : der unge- heuren schaffenden Anspannung des freien Denkens und des tech- nisch-sozial gestaltenden Willens entspricht ein Resultat, das in einem die Freiheit des Willens und die Selbständigkeit der Ver- nunft aufhebenden Gesetzesmechanismus des Weltbildes, in einer die freie persönliche Entfaltung vernichtenden Uebergewalt tech- nisch-materieller Interessen und in einer immer mehr schabionisieren- den Gesellschaftsverfassung besteht. Er zeigt die seelischen Wir- kungen von alledem in einer seichten selbstzufriedenen Fortschritts- aufklärung, in einer gleichgültigen und völlig materiellen Gedanken-

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losigkeitder bloßen Arbeit und Genußsucht, in der alle Grundlagen aufwühlenden und verneinenden relativistischen Skepsis, in einem auf alle Vollendung persönlicher Lebensziele verzichtenden Pessi- mismus, schließlich in dem leidenschaftlichen Gegenschlag einer neuromantischen Uebersteigerung und Ueberfeinerung der Per- sönlichkeit. Von diesen Eindrücken her gewann er die Ueber- zeugung, daß die Festigung der religiösen Weltanschauung das einzige Mittel zur Vertiefung und zur Gesundheit zugleich ist. So hat sich seine Arbeit immer mehr auf die Probleme des »Wahrheitsgehaltes der Religion« und des -Sinnes des Lebens« zusammengezogen, zugleich aber auch an ein immer breiteres Publikum gewandt. (Der Wahrheitgehalt der Religion 452 S. 1905. Der Sinn des Lebens 1909.)

Der Einsatzpunkt Euckens ist die Unterscheidung einer natur- wissenschaftlich- und psychologisch-gesetzlichen, entwicklungs- geschichtlichen Betrachtung der Dinge von der Selbstbetrachtung und Selbsterfassung der Vernunft, die, indem sie diese Erkenntnisse hervorbringt, nicht selber eine bloße P"olgeerscheinung des Wirk- hchkeitszusammenhanges sein kann, sondern ein eigenes selb- ständiges, gerade im Erkennen von der erkannten Wirklichkeit sich unterscheidendes Prinzip mit der Kraft eigener oder auto- nomer Gültigkeits- und Richtigkeitsurteile sein muß. Es ist das im allgemeinen der Kantische Grundgedanke. Eucken erweitert den Gedanken jedoch dahin, daß er diese schaffende und aus eigenen inneren Notwendigkeiten sich erzeugende Leistung der Vernunft einmal über die Gesamtheit der Kulturfunktionen in Moral, Recht, Kunst und Religion ausbreitet und daß er weiter- hin in diesem Unterschied nur erst eine Andeutung des eigent- lichen tiefen inneren Gegensatzes unsers Daseins findet. Die Vollentfaltung dieses Gegensatzes führt zur scharfen Trennung der Vernunft vom bloß vorgefundenen Bestand, zu einer vom Mittel- punkte her immer weiter ausgreifenden Ausbreitung der Kulturlei- stung, zu einem großen^ die vorgefundene natürliche und psycho- logische Wirklichkeit erst gestaltenden und bearbeitenden Arbeits- zusammenhang. Er nennt das das »Geistesleben« im Unterschied von dem bloß vorgefundenen, naturhaften und den Unterschied nur erst keimhaft enthaltenden »Seelenleben«. Der weitere Ge- dankenfortschritt von hier aus ist, daß dieses Geistesleben in seiner Entfaltung und Entwickelung einen inneren Entwickelungs- und Strebezusammenhang zeigt, der uns nötigt, es noch tiefer auf eine

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einheitliche geistige Kraft metaphysisch zurückzuführen. Diese Kraft bricht aus der Seelennatur hervor, wendet sich gegen sie und beherrscht und gestaltet sie aus verborgenen, im Arbeitsprozeß der Kultur immer tiefer sich erschließenden Gründen. Das führt auf einen metaphysischen Dualismus zwischen Seele und Geist, der sich in der Erfahrung auftut und der nur in einer verborge- nen und an sich unerkennbaren letzten Lebenseinheit seinen ein- heitlichen Ausgangs- und Zielpunkt haben kann. Indem aber diese verborgene letzte Lebenseinheit sich in der Erfahrung spaltet in ein gesetzliches Naturdasein der Körper- und Seelen- welt und eine aus der Natur heraus gegen sie sich wendende und in dieser Arbeit den Lebensgehalt gewinnende Freiheit, wird der Gedanke der sich durch eigene Tat setzenden und im Ge- horsam gegen das Geistesgesetz gestaltenden Persönlichkeit zum eigentlichen Sinn des Lebens und der Welt. Daher muß für die Lebewesen die Vollendung der Freiheit und der Persönlichkeit irgendwie das höchste, vermutlich in ein Jenseits hineinreichende Ziel sein. Für den Weltgrund oder Gott aber muß mit dem höchsten Weltziel der Persönlichkeit doch auch seinerseits die sich selbstsetzende Tat, die sich selbstschaffende Persönlichkeit, der eigentliche Wesenskern sein, den freilich keine Theorie er- schöpft und definiert, den aber der Gedanke in die Welt hinein- denken muß und den das religiöse Gefühl von Hause aus in sich als seinen innersten Besitz und sein unmittelbares Erlebnis trägt. Es ist die Funktion der Religion intuitiv und gefühlsmäßig diesen Zusammenhang der Freiheit oder der Kulturvernunft mit dem Lebensgrund des Universums als einen persönlich-lebendigen zu empfinden, und darum ist die Religion das Rückgrat des Geistes- lebens und des menschlichen Arbeitsprozesses. Die Religion selbst aber wiederum erfaßt sich am tiefsten in derjenigen Ge- staltung des religiösen Gefühls, welche diesen Gehalt der Welt an persönlichem Leben zum Mittelpunkt hat und sich diese An- schauung konkret lebendig zu vergegenwärtigen weiß.

Es ist klar, wie nahe verwandt diese Denkweise mit den wichtigsten Grundgedanken eines unabhängig von seinem supra- naturalen Dogma verstandenen Christentums ist. So ist es selbst- verständlich, daß Eucken die religiöse Zukunftsentwickelung im Sinne einer dementsprechenden Fortbildung und Umbildung des Christentums bestimmen möchte. Auch ist es für jeden, der die Bedeutung der sozialen Organisation für die Religion kennt, klar,

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daß er für diese Gedanken Raum in den Kirchen des Protestan- tismus verlangen muß. Ein Protestantismus, der auf Grund seines religiösen Individualismus und seines kritischen Wahrheitssinnes einem philosophisch mitbedingten Christentum freien Raum zu lebendiger und freudiger Wirksamkeit läßt neben den mehr kon- servativen, populären und unphilosophischen Formen des reli- giösen Bewußtseins, das scheint ihm die religiöse Forderung der Zukunft. Aus dem gleichen Grunde interessiert sich Kucken auch für den modernistischen Katholizismus. Er weiß sehr wohl, daß ohne Fühlung mit den kirchlichen Organismen diese Gedanken nur allzuleicht in der Tat bloße »Literatur« sind. Ich brauche dem nicht hinzuzufügen, daß mir diese Forderung voll berechtigt erscheint und daß auch meiner Ansicht nach einer der großen und wichtigen Zukunftswege der kommenden Religiosität in die Richtung eines philosophisch und wissenschaftlich beeinflußten Humanitätschristentums von protestantischem Charakter weist. Es mag der leidenschaftlichen Durchschlagskraft und der robusten Anschaulichkeit entbehren, ist dafür aber auch frei von dem Dogmatismus, der Intoleranz und der kümmerlichen Apologetik des dogmatischen Protestantismus. Gegenüber den außerchrist- lichen und antichristlichen Bewegungen aber hält es den Zu- sammenhang mit den historischen Kräften und den alten in schweren Kämpfen geschaffenen Gemeinschaften fest. Vor allem behauptet es den Personalismus im Ideal des Menschen wie im Gedanken Gottes, ohne den alles Menschentum und alle Wirk- lichkeit zerfließt und wohl sich idealisieren mag, aber niemals durch Berührung mit einer realen höheren Wirklichkeit über sich selbst und sein vorgefundenes Dasein hinauskommt. Gerade in der Richtung auf die Herausarbeitung des der Welt immanenten Dualismus, auf die metaphysische Festigung und Vollendung des Persönlichkeitsgedankens scheinen mir überhaupt die tiefsinnigsten philosophischen Bewegungen der Gegenwart hinauszugehen, und es ist schwerlich zu viel gewagt, wenn man einen evolutionisti- schen Theismus, eine Ethik und Religion der Gewinnung und Vollendung der Persönlichkeit durch Tat und Freiheit, als das große Thema der kommenden philosophischen Spekulation be- trachtet. In diesem Rahmen aber haben dann die christlichen Ideen Raum zu charakteristischer und selbständiger Ausprägung, wenn das freilich auch nicht ohne gründliche Umwandelung des kirchlichen Dogmas möglich sein wird. Wie die Kirchen sich

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dazu Stellen werden und stellen können, ist dann freilich eine andere Frage, von der hier nicht weiter die Rede sein soll. Das innere religiöse Drängen der Zeit aber geht auf eine Wieder- gewinnung der Persönlichkeit, und die neue Spekulation ist nur ein philosophischer Reflex davon. Ob nun aber diese Spekula- tion bei Eucken schon bis zum letzten und schwierigsten Kerne des Problems vorgedrungen ist, das mag man allerdings fraglich finden. Das Wesen der modernen Philosophie und des modernen Denkens ist im Unterschied vom antiken und mittelalterlichen die Bestimmtheit durch den mathematisch-mechanischen Naturbegriff als Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie wie der Metaphysik. Seit Galilei und Descartes liegen hierin die ersten Gewißheiten und dieser Gedanke ist zu einem beinahe gefühlsmäßigen und instinktiven Vorurteil des modernen Menschen geworden. Soferne nun in diesem Naturbegriff die Voraussetzung eines streng in sich selbst geschlossenen Zusammenhanges liegt, aus dem nichts heraus und in den nichts herein wirken kann, so lange er seinen eigentlichsten Ausdruck im Satz von der Erhaltung der Energie findet, hat das geistig- persönhche Leben neben ihm immer eine sehr erschwerte Existenz. Man mag mit Leibniz und Spinoza den Naturzusammenhang begleitet sein lassen durch die Parallele des Geistes oder mit Kant den Naturzusammenhang lediglich phänome- nal, aber allbestimmend denken, immer erhält Persönlichkeit und Geist Gottes wie des Menschen hier etwas Schattenhaftes und Rätsel- haftes, das sich gegenüber dem allein Festen, dem geschlossenen Kräfte- und Bewegungssystem der Natur, schwer behauptet. Aus eben diesem Grunde geht die prophetisch-christliche Ideenwelt bis heute besser zusammen mit dem antiken und mittelalterlichen Denken als mit dem modernen. Wenn sie bis heute in stets er- neuerten Systemen der Freiheit immer wieder Halt gewinnt, so ist das ein Zeichen für die Unzulänglichkeit des modernen Natur- begriffes für alle wesenhaften Triebe und Gewißheiten der mensch- hchen Persönlichkeit. Aber die Freiheit selbst ist bis jetzt gegen- über jenem Naturbegriff nirgends genügend sicher gestellt. Das wird überhaupt nicht möglich sein, ehe nicht dieser Natur- begriff selbst metaphysisch und erkenntnistheoretisch aus seiner Stellung als einziges, erschöpfendes und allumfassendes Mittel der Naturdeutung zurückgedrängt und der irrationalen Macht des Lebens mehr Raum geschaffen ist. Diesen Fragen ist Eucken bisher aus dem Wege gegangen. Ihre Aufwerfung und Beant-

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wortung aber kann allein dem religiösen Gedanken wieder wirk- lich Luft machen. Ansätze dazu gibt es genug. Hamann, F. H. Jacobi, der Schelling der Freiheitsphilosophie in älterer Zeit, William James und Bergson in neuerer Zeit versuchten Durchbrüche in dieser Richtung. Noch aber ist das erlösende Wort nicht gefunden. Es wird ohne die Mithilfe der Naturforscher wohl überhaupt nicht gefunden werden können.

Aus diesem Grunde widerspricht auch meine eben ausgespro- chene Zukunftsprophezeiung, die ich vor allem auf den Eindruck der Konsequenzen des modernen Neukantianismus, auf die Beobachtung des Stimmungswandels bei unserer denkenden Jugend und auf die überall erkennbare Abwendung von dem Mythus des naturalistischen Allgesetzes stütze, noch den lautesten und lebhaftesten Aeußerungen der heute das große Wort führenden Intellektuellen. Deren Schlag- wort heißt »Monismus«. Die hierdurch bezeichnete Stimmung und Richtung setzt sich aus sehr verschiedenen Motiven zusammen. Einmal und vor allem wirkt darin gerade jener naturalistische Gedanke eines die gesamte Wirklichkeit umfassenden und restlos erklärenden Allgesetzes, wobei die Kausalität gedeutet ist als lediglich in einer Umwandlung immer gleichbleibender Kräfte- beträge in bloß andere Formen bestehend. Das ergibt dann den Gedanken der unveränderlichen, sich immer selbst gleichen und nur in den einzelnen Teilen sich wandelnden, aber bei jedem Wandel nur den gleichen Kräftebetrag anders erscheinen lassen- den Weltsubstanz. Sofern dabei von Einheit und Weltsubstanz die Rede ist, mag das an den religiösen Gedanken der Weltein- heit in Gott anklingen und mag man meinen, damit für die Re- ligion den richtigen naturwissenschaftlich geforderten Ersatz ge- wonnen zu haben. Das ist freilich eine ungeheuerliche Illusion. Denn damit ist auch der religiöse Gedanke, wie jeder andere, an sich nichts als eine beliebige Umwandlungsform der Ener- gien, und es kommt ihm nur eine naturalistische Notwendig- keit am gegebenen Ort seines Auftretens zu, aber keine innere Notwendigkeit und Richtigkeit ; in Wahrheit ist er damit in seinem Wesen vernichtet. Weiterhin wirkt das Motiv des Ent- wickelungsgedankens, der auch bei einer durchweg idealistischen Fassung doch die Entfaltung eines einheitlichen, kontinuierlichen, von dem Naturgeschehen zum Geistesgeschehen aufsteigenden Prozesses der verborgenen Weltvernunft bedeutet. Hier herrscht der Kausalitätsgedanke nicht in der Deutung als Umwandlung

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von Energien in immer gleichbleibendem Kraftbetrag, sondern in der Deutung als Kontinuierlichkeit, die jedes Folgende trotz seiner Neuheit aus dem Vorangehenden innerlich herauswachsen läßt, also den Gedanken der Fortleitung und der produktiven Neu- setzung verbindet, ein Unterschied gegenüber dem naturalistischen Kausalitätsbegriff, der selten in seiner Bedeutung scharf genug erkannt und betont wird. Indem hier ein produktiver geistiger Hintergrund der Wirklichkeit behauptet und als in dem Welt- geschehen sich offenbarend und verwirklichend vorgestellt wird, hat man einen wirklich religiösen Gedanken. Die Frage ist dabei nur, ob man das Ziel dieses Weltprozesses in der Heraushebung der Persönlichkeit und dementsprechend den Grund dieses Welt- prozesses als dem Persönlichkeitsziel wesensverwandt betrachten will, oder ob man unter dem Eindruck des vielen Zweckwidrigen in der Welt, der Schwierigkeit des Gedankens der Vollendung der Persönlichkeit in einem nachirdischen Leben und der Wider- sprüche jeder konkret personalistischen Fassung des Gottes- begriffes das optimistische Ziel der Persönlichkeitsvollendung und den personalistischen Gottesgedanken preisgeben will, um statt dessen eine unpersönliche, nur im Entwickelungsprozeß die Per- sönlichkeit vorübergehend erzeugende und wieder in sich zurück- schlingende Weltsubstanz zu behaupten. Das erste ist die Lehre Hegels, die als immanenter Theismus zu verstehen ist, das zweite ist die Umwandlung des Hegeischen Gedankens unter Schopen- hauerschen Einflüssen. Auch die heutige Neigung, den Entwicke- lungsgedanken rein relativistisch zu behandeln und auf die Er- reichung absoluter Wahrheiten und Werte zu verzichten, führt zu Resignation und mildem Pessimismus. Ein drittes Motiv des »Monismus« ist die moderne Aesthetik und künstlerische Natur- verherrlichung, die in der Natur als solcher etwas Göttliches sieht und in der Kunst den geheimen Einklang der Mannigfaltigkeit mit der Einheit, der Materie mit dem Geist findet und geoffenbart glaubt. Ihr ist die Kunst, und zwar die in diesem Sinne schaf- fende und empfindende ganz bestimmte Kunstrichtung, das eigent- liche Organ derjenigen religiösen Erkenntnis, die überhaupt mög- lich ist und die mit den Sätzen der monistischen Philosophie wenigstens annähernd sich berührt. Dazu kommt als letztes, wenn auch vermutlich seltenstes, Motiv die wirklich religiöse Macht einer pantheistischen Mystik, die, an indischen und neuplatonischen Vorbildern belebt, den Wechsel und die Leiden der Endlichkeit

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in dem Gefühl der Identität von Gott und Welt verzehrt. Doch ist sie meist nur ästhetisch-literarischer Sport, bei dem die Konse- quenz der Askese und der wirklichen Weltverneinung ausbleibt, die bei wirklichem Ernst sonst aus solchen Systemen folgen müßte. Der moderne Mensch spielt lieber ästhetisch mit derartigen Ge- danken und dispensiert sich durch die künstlerische Versetzung in sie von den praktischen Wirkungen.

Aus diesen verschiedenen Motiven ist ein scharfer Gegensatz o-egen den christlichen Theismus und den ethischen Dualismus zusammengeflossen, dem die »Monistenbünde« in organisierten Vereinen Ausdruck zu geben sich entschlossen haben, wie auch andere Vereine, z. B. der für ethische Kultur, eine vom Christen- tum unabhängige Gestaltung der geistigen Zukunft herbeiführen, das Christentum und die Kirchen durch höhere Bildungen ersetzen wollen. Das sind allbekannte Dinge. In den Vordergrund ge- treten sind sie in letzter Zeit besonders sensationell durch den von Professor Arthur Drews eröffneten Vortragsfeldzug gegen das Christentum und insbesondere gegen das wissenschaftlich beein- flußte Humanitätschristentum, wie es ein Teil der Philosophen und vor allem die fortschrittlichen protestantischen Theologen vertreten. (Christusmythe, 3. Aufl. 1910, S. 231, dazu J. Weiß, Jesus von Nazareth, Mythus oder Geschichte.? Weinel, Ist das »liberale Jesusbild« widerlegt.? Zimmern. Der Streit um die Christusmythe.) Es handelt sich dabei um ein Doppeltes, um etwas Altes und sehr Ernstes und um etwas relativ Neues und lediglich Sensationelles. Das erste ist der Gegensatz einer pan- theistisch und entwickelungsgeschichtlich bestimmten Religiosität, die in allem Werden lediglich die Einheit des Entwickelungs- prinzipes empfindet und daher etwas völlig Innerliches, ein an keinerlei historische Autoritäten und Urbilder gebundenes, immer neu sich wiederholendes Urphänomen ist, gegen den dualistischen Theismus des Christentums, der durch die religiöse Erhebung den Menschen zu einer natur- und weltunterschiedenen, in Gottes Leben gefestigten Persönlichkeit machen will und der diese reli- giöse Erhebung an die Vergegenwärtigung einer Selbsterschließung Gottes in Jesus knüpft, jedenfalls die subjektive Religiosität in großen geschichtlichen Urbildern verankert. Die Preisgabe des Persönlichkeitsgedankens gibt dabei dem Pantheismus die pessi- mistische Wendung, daß das Ergebnis des Geschichts- und Kul- turprozesses die Selbstvernichtung der Pers.önlichkeit in dem

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pantheistischen Urgrund sein müsse. Das alles sind Dinge, die irgendwie aus der ganzen modernen Literatur heraussprechen und die uns allen wohl bekannt sind. Ganz anders aber ist die zweite Tendenz der Drew'sschen Streitschrift. Es ist der Nachweis, daß Jesus überhaupt nie existiert habe, daß die ganze Jesusverehrung eine welthistorische apokryphe Dichtung ist und daß somit alles kirchliche und fortschrittliche Christentum gleicherweise auf einer nun endlich durchschauten Lüge beruhe. An diesem Todesstreich müsse das Christentum zugrunde gehen, auch wenn die eigentlich sachlichen, in erster Reihe genannten Gründe gegen den inneren Kern seiner Religiosität diese Wirkung nicht erreichen könnten. Ist so ganz von außen, von der historischen Kritik, die Grund- lage des Christentums zerstört und es als ein ungeheurer welt- historischer Humbug entlarvt, so wird auch seine religiöse Inner- lichkeit zerfallen müssen. Dann wird die Bahn für den »religiösen Fortschritt«, das heißt für eine mit der Wissenschaft übereinstim- mende Religion, frei, die Drews nur in einem pessimistisch ge- wendeten Monismus des Entwickelungsgedankens und in einer Theologie des unbewußten Weltsubstrates anerkennen kann. Drews ist der Theologe des pantheistischen Monismus, der die Theo- logen des personalistischen Dualismus als Schwindler entlarvt und damit seine Theologie ins Recht setzt.

Charakteristisch für die Lage ist dabei die Frontstellung von Drews. Die Katholiken pflegt er bei seinen Disputationen über- haupt nicht herauszufordern, er hat das Gefühl, daß an ihrer Geschlossenheit seine Angriffe von vornherein abprallen. Auch die protestantische Orthodoxie pflegt er nicht auf den Kampfplatz zu rufen, sondern sie vielmehr wegen ihrer Konsequenz zu loben, die, wenn sie schon die Religion in geschichtlichen Größen ver- ankert, wenigstens diese auch vergöttlicht. Das wird ihm auch von diesen entsprechend gedankt, indem er ihnen als Kronzeuge für die Erbärmlichkeit und Hohlheit der »liberalen« Theologie dient, obwohl sie allen Anlaß hätten derartige Danaergeschenke zu fürchten. Aller Grimm und Hohn der Monisten und Drews' insbesondere wendet sich mit den kräftigsten Verunglimpfungen gegen die Inkonsequenten und Halben, gegen die fortschrittlichen protestantischen Theologen, die genügend gemeinsame wissenschaft- liche Voraussetzungen mit ihm haben, um von ihnen aus ange- griffen werden zu können und denen er im Bunde mit den kon-

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sequenten Radikalen von rechts und links den Garaus machen möchte.

Zu dem sensationellen Teil dieser Behauptungen ist nicht viel zu sagen. Die ganze Methode, die Existenz Jesu erst dann gelten zu lassen, wenn die Behauptung der Nichtexistenz wider- legt ist, ist eine völlig gewalttätige Verschiebung des ganzen historischen Problems, die man andern geschichtlichen Persönlich- keiten gegenüber lächerlich finden würde. Die Beseitigung der außerchristlichen Zeugnisse und die Verwandlung der großen altchristlichen Literatur in einen Haufen von Unterschiebungen und Fiktionen ist eine Ungeheuerlichkeit, die nur jemand begehen kann, der in diesen Literaturen nicht zu Hause ist. Die Kon- struktion schließlich eines alten, vorchristlichen Kultgottes namens Jesus und der Aufgreifung dieses Kultes durch Paulus ist eine kecke dilettantische Phantastik. Als ernster Kern des ganzen historischen Problems bleibt nur übrig, was längst in den Kreisen der Historiker des Urchristentums als Hauptfrage formuliert wor- den ist, wie nämlich aus Wirken und Verkündigung Jesu der Glaube der Urgemeinde und des Paulus an Jesus als ein eigent- lich himmlischen Ursprung besitzendes Wesen, als Kultgegenstand und Erlöser, habe entstehen können. Zur Erklärung hat man bis jetzt nur eine EüUe von bereits vorchristlichen Aussagen über den Messias, dessen Prädikate auf Jesus von der gläubigen Ge- meinde übertragen wurden. Damit aber läßt sich in der Tat die Frage schwerlich erledigen. Das ist der wirkliche Stand des Pro- blems. Man wird sich für die weitere Auflösung an die Analogien des Heiligenkultus, die Heroisierungen und Divinisierungen halten müssen. Die Franziskuslegende bietet mancherlei Analogien. Aber es ist gewiß, daß der Vorgang ganz bisher nicht aufgehellt ist, und es ist möglich, daß das nie gelingen wird. Aber um deswillen die ganze altchristliche Literatur auf den Kopf zu stellen und das Problem durch die Behauptung der Vermenschlichung eines alten Kultgottes statt durch die der kultischen Vergöttlichung einer mächtigen historischen Persönlichkeit zu erklären, diesen Ausweg zu finden, blieb dem »monistischen« P"anatismus vorbehalten.

Der phantastische Aufputz des Problems und die Disputation darüber in Volksversammlungen, die in diesen Dingen ohne jede Möglichkeit eigenen wissenschaftlichen Urteils sind, wäre nicht nötig gewesen. Es steckt des Ernsten genug in der Sache, das ernst ver- handelt werden könnte. Einmal liegt hier ein noch ungelöstes oder

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mangelhaft gelöstes historisches Problem vor, wie nämlich überhaupt die Entstehung des urchristlichen Christusglaubens und infolgedessen des altchrisdichen Christusdogmas historisch-psychologisch zu ver- stehen sei. Doch gehört diese Frage mehr der Wissenschaft als der religiösen Bewegung an. Der letzteren gehören dagegen im eigentlichsten Sinne die anderen Fragen an : die Entgegensetzung eines pessimistisch gewendeten Pantheismus gegen den christ- Hchen Optimismus des Erlösungsglaubens und den personalistisch- theistischen Gottesgedanken; die Schwierigkeit, religiöse Gegen- wartsüberzeugungen an historische Mächte und Tatsachen anzu- knüpfen, die, sobald sie Gegenstand einer wissenschaftUchen Kritik werden, nicht mehr die dazu nötige Bestimmtheit, Gewißheit und Durchsichtigkeit haben ; schließlich die Frage, ob, wenn man trotzdem seine religiösen Ueberzeugungen auf solche einer kriti- schen Betrachtung ausgesetzte geschichtliche Tatsachen begründen will, man dann von Jesus überhaupt genügend Sicheres und Voll- ständiges wisse, um von einem religiösen Verhältnis zu ihm über- haupt reden zu können.

Das sind in der Tat Lebensfragen des gegenwärtigen Christen- tums und vor allem des auf die historisch-philosophische moderne Bildung eingehenden Christentums. Es ist nicht möglich, sie hier zu verhandeln. Sie seien nur ehrlich als solche anerkannt, und ich will nur um eben derselben Ehrlichkeit willen in Kürze meine Stellung dazu andeuten. Da scheint es mir ein großer Irrtum zu sein, in dem pessimistischen Pantheismus einen großen »religiösen Fortschritt <' zu sehen. Jedes andächtige, vor Gott in Ehrfurcht sich beugende Gemüt wird darin, sofern er von der modernen Wissenschaft her konstruiert ist, nur kalte und tote Verstandes- künste sehen, und jeder nach dem tiefsten Wert des Lebens strebende Wille wird in der Herabsetzung der Persönlichkeit zu einem Durchgangspunkt im Entwickelungsprozeß des Unbewußten nur die Negation und keine Position empfinden. Auch eine wissen- schaftHche Notwendigkeit dieses Gedankens vermag ich schlechter- dings nicht einzusehen. Denn von einer wirklichen logischen Ein- heit ist in diesem Pantheismus doch nicht die Rede. Er bleibt ein Pluralismus mit einer höchst fraglichen metaphysischen Ver- einheitlichung im Unbewußten ; auch das soviel mißhandelte Kausalitätsprinzip scheint mir in keiner Weise die Besonderheit und Persönlichkeitsbestimmung des Einzelwesens ausschließen zu können. Das Bedürfnis nach Einheit, bei dem die erfahrungs-

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mäßige Vielheit immer zugleich anerkannt und beseitigt wird, scheint mir gewaltig übertrieben zu sein, und das »Blockuniver- sum«, wie William James zu sagen pflegt, scheint mir ein Mythus zu sein, wie nur je irgendein theologischer Begriff ein Mythus gewesen ist. Rein wissenschaftlich gesprochen würde ich eine radikale Skepsis gegenüber allem Uebersinnlichen bevorzugen. Glaubt man aber einmal die großen idealen Nötigungen des menschlichen Bewußtseins metaphysisch ausdeuten zu sollen und zu dürfen, so finde ich den Gedanken eines die Einzelbewußtseine in sich schließenden Allbewußtseins und eine Emporentwickelung des persönlichen Lebens bis zur Gewinnung einer naturüberlegenen Gotteinigkeit vernünftiger, den Tatsachen und Forderungen des Bewußtseins entsprechender. Die reine pantheistische Mystik selbst aber, die Drews in diesen Zusammenhang erst hineinzieht, halte ich wohl für ein ursprüngliches religiöses Erlebnis, aber für ein dürftiges und unentwickeltes, oder für ein Verfallsprodukt des religiösen Lebens, wo dieses, von allem konkreten Inhalt gelöst, nur mehr unbestimmt in sich selber schwingt.

Was die beiden anderen Fragen anbetrifft, so glaube ich, daß von einer theistisch-personalistischen Denkweise her die An- knüpfung der eigenen religiösen Kraft an überlegene, die reli- giösen Kräfte von sich ausstrahlende Persönlichkeiten von Hause aus und naturgemäß geringerem Widerstand begegnet als von einer pantheistischen her, ja vielmehr von einer solchen aus immer wieder als Bedürfnis entsteht. Das religiöse Leben bedarf, je höher und reicher es entwickelt ist, um so mehr zu seiner Kräftigkeit des An- schlusses an die Geschichte und an die großen Urbilder. Es hört darum doch nicht auf, ein eigenes, persönlich erlebtes und sich selbständig fortentwickelndes zu sein. Ob man von Jesus ins- besondere genug sicher und unabhängig von Gelehrtenautorität weiß, um eine ungebrochene persönliche Beziehung auf ihn haben zu können, ist freilich gerade gegenwärtig, wo theo- logische Apologetik und antichristliche Instinkte eine Atmo- sphäre des äußersten Mißtrauens geschaffen haben, schwer mit Sicherheit zu sagen. Jedenfalls ist eine solche Beziehung nicht ohne weiteres allen zuzumuten, wenn ich auch glaube, daß nur eine krankhafte Hyperkritik uns hier hindert das Einfache und Wesentliche zu sehen. Es ist an und für sich natürlich mög- lich, die christliche Ideenwelt auch ohne spezifischen Anschluß gerade an Jesus zu pflegen und zu betätigen. Aber meines Er-

Aus der religiösen Bewegung der Gegenwart. aj

achtens wird eine den christlichen Glaubensinhalt in sich tragende Religiosität nie darauf verzichten, alle ihre Gedanken und Ge- wißheiten und Hoffnungen um die Vergegenwärtigung dieser Per- sönlichkeit zu sammeln, bei der es dann nicht möglich und nicht nötig ist, das, was sie wirklich gewesen ist und was der Glaube von Jahrtausenden in sie hineingesehen und hineingeliebt hat, zu trennen. Von bloßen Begriffen und Lehren wird keine wahre religiöse Gemeinschaft leben können, sie wird sie immer anschauen wollen in lebendigen Persönlichkeiten, und unter diesen wird ihr Jesus immer die stärkste bleiben, solange sie überhaupt seinen Glauben teilt. Auf dieser Tatsache beruht der ganze Kultus, und eine kultlose Religion ist keine wirkliche lebendige Religion.

Damit ist das Gesamturteil über diese neueste Sensation ge- geben.

Als mythengeschichtliche Aufhellung der wahren Entste- hung des Christentums ist das Buch von Drews eine Unge- heuerUchkeit. Unter Häufung aller möglichen Göttergleichungen, die von Krischnah, Jason und Josua bis zu Baidur, Herakles und Adonis gehen, wird der Name Jesus als Name eines vorchrist- lichen mystischen Kultgottes erklärt, der durch Sterben und Auf- erstehen den Lebensprozeß der Gläubigen beeinflußt. Diesen Kultgott habe Paulus in Tarsus vorgefunden und als Allegorie der mit Gott identischen, im Leiden die Welt wieder authebenden Menschheit gedeutet, wobei die individuelle Religiosität nur die Identität mit diesem Leben und Sterben im göttlichen Welt- prozeß überhaupt sei ; die Beziehungen auf einen Menschen Jesus in den paulinischen Briefen seien interpoliert. Zu der Erdichtung eines Menschen Jesus aber, der erst durch seinen Tod zu jenem Gott-Jesus erhöht worden sei, sei es erst gekommen, als unbe- kannte Gegner der mit einem geschichtlichen Jesus überhaupt unbekannten paulinischen Lehre eine Legitimation gegen Paulus nötig hatten und sich diese in der Erdichtung eines ge- schichtlichen Menschen Jesus, verschafften, indem sie durch an- gebliche persönliche Berührungen mit diesem Menschen einen Vorzug vor Paulus sich zu sichern versuchten. Den Widerspruch hätten sie damit verdeckt, daß sie ihren geschichtlichen Jesus als die Menschwerdung des von Paulus gelehrten Gottes Jesus erklärten und damit der Kirche den Widersinn einer in einem einmaligen Geschichtsmoment fixierten Gottheit aufluden bis heute. In der Kirche gegen Paulus durchgedrungren sei diese

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Erdichtung, weil sie den Begehern des Jesuskultus eine vor den römischen Religionsgesetzen sichernde Deckung verliehen habe: die Christen konnten sich als Judensekte ausgeben und damit den Genuß der den Juden geltenden Toleranz- gesetze verschaffen. So sei das kirchliche Christusdogma als Verderbung der großartigen allegorischen Christusidee des Paulus entstanden. Hier scheint mir jedes Wort der Kritik überflüssig. Sofern sein Buch eine Fortsetzung der theologischen Forschungen über das Urchristentum ist, plaudert Drews die in den engeren Kreisen von Theologen und Philologen verhandelten schwierigsten und ernstesten Fragestellungen der Welt der Volksversammlungen aus : es ist in der Tat die große Frage, wie der übrigens nicht erst paulinische, sondern urchristliche Christusglaube historisch-psychologisch zu verstehen sei. Aber die Antwort, die Drews gibt, ist abenteuerlich und wesentlich von dem Interesse diktiert, das Christentum gründlich zu entwurzeln.

Als religiöse Lehre wird das Buch für eine Zeitlang das Hand- buch der antichristlichen Propaganda werden, ähnlich wie Häckels Welträtsel, und zugleich Wasser auf die Mühlen der Orthodoxen leiten. Allein das ist nicht Drews wirkliche Absicht. Er meint vielmehr durch Herausschälung des pessimistischen Pantheismus als echter Lehre des Paulus das Wahrheitsmoment des Christentums zu retten und es zu einer religiösen Wiedergeburt der Gegenwart fort- bilden zu können : »Das Leben der Welt als Gottes Leben, die kampf- erfüllte und leidvolle Entwickelung der Menschheit als göttliche Kampfes- und Passionsgeschichte; der Weltprozeß als Prozeß eines Gottes, der in jedem einzelnen Geschöpfe ringt, leidet, siegt und stirbt, um im religiösen Bewußtsein des Menschen die Schranken der Endlichkeit zu überwinden und seinen dereinstigen Triumph über das gesamte Weltleid vorwegzunehmen, das ist die Wahrheit der christlichen Erlösungslehre. In diesem Sinne den Grundgedanken erneuern, aus dem das Christentum hervorgegan- gen und der unabhängig ist von aller geschichtlichen Beziehung, das heißt wirklich auf den Ausgangspunkt dieser Religion zurück- gehen.« Die eigentlichen Feinde dieses religiösen Fortschrittes sind ihm die »liberalen« Theologen, die den von den Gegnern des Paulus aus sehr selbstsüchtigen Gründen erfundenen historischen Jesus verherrlichen und damit den erbärmlichsten Theismus, Opti- mismus und Jenseitsglauben verbinden. Sie sind die armen Opfer jenes Schwindels der Paulus-Gegner und putzen den von diesen

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erfundenen geschichtlichen Jesus zu einer reUgiösen Größe auf, die nur dem geschichtslosen Jesus-Gott des echten Paulus zukommt. Damit haben sie die Religion an eine historische P'älschung ge- hängt und von Grund aus verdorben. Auf ihr Schuldkonto kommt der gegenwärtge Tiefstand der Religion. Die Retter aus dieser Not aber seien heute die neuen Monistenbünde : »Wenn die Vertreter des monistischen Gedankens, die vor kurzem sich zu organisieren angefangen haben, sich über die Bedeutung jenes Gedankens erst einmal klarer geworden sein werden, als sie es gegenwärtig meist noch sind, wenn sie dahin gelangt sein werden einzusehen, daß die wahre Einheitslehre nur Alleinheitslehre, ein idealistischer Monismus im Gegensatze zu dem heute noch überwiegenden naturalistischen Monismus im Sinne eines Häckel, sein kann, wenn damit ihre gegenwärtige unfruchtbare Verneinung aller Religion sich zu einer positiven, auch religiös vollgültigen Weltanschauung vertieft haben wird, dann, aber auch erst dann werden sie der Kirche wirklich Abbruch tun und wird die heute noch in ihren Kinderschuhen steckende monistische Bewegung zu einer inneren Gesundung und Erneuerung unseres gesamten geistigen Lebens führen können.« Er will das »verglimmende Feuer der Religion auf den Boden des (pessimistischen) Pantheismus retten<' : das ist die Triebfeder dieser Dogmatik, und der von ihr neukonstru- ierten heiligen Geschichte, und das ist die Aufgabe der Monisten- bünde. Die Zukunft wird zeigen, was die Monistenbünde nicht bloß für den Kampf gegen das Christentum, sondern auch für eine positive Neugestaltung unseres religiösen Lebens leisten. Ich glaube nicht, daß es sehr viel sein wird, auch wenn ich von meinen persönlichen Anschauungen ganz absehe. Die Theologen um Häckel und die um Drews werden sich nie vertragen, und auch den letzteren fehlt die innere Kraft für eine starke populäre religiöse Bewegung; es ist eine höchst fragwürdige Philosophie, die wohl bei Leuten religiösen Anklang finden kann, die für den Pantheismus disponiert sind oder die in der modernen Skep- sis jeden außerhalb der Kirche aufleuchtenden Funken religiösen Gefühls hoffnungsvoll begrüßen, aber die gar keine Beziehung zu allen religiösen Kräften und Organisationen unseres Volkes hat. Die religiösen Probleme Europas kreisen um den Personalismus und nicht, wie die Indiens, um den Antipersonalismus ').

') Zu den Sätzen über Drews vgl. auch die spätere Abhandlung: »Was heißt Wesen des Christentums?«

AA Aus der religiösen Bewegung der Gegenwart.

Damit möge der Bericht abgebrochen sein. Schon diese zufällig hcrausgegriftenen Beispiele zeigen, wie intensiv das reli- giöse Suchen auch der Gegenwart ist. Sie zeigen freilich aber auch, wie weit die Geister und Gruppen auseinandergehen. Eine Einigung in den grundlegenden Fragen der Weltanschauung und Ethik scheint für die europäische Kultur ferner als je zu sein, wenigstens für die Kreise der Bildung, der Literatur und des akademischen Studiums, für die höhere bürgerliche Gesellschaft. Aber immer wird es bei solchen Betrachtungen der religiösen Gegenwartsbewegung geraten sein nicht zu vergessen^ daß in den großen alten Kirchen Millionen eine gefestigte Weltanschauung besitzen und daß diese unwissenschaftliche Religiosität den Be- dürfnissen Unzähliger entspricht, die nicht Wissenschaft und Er- kenntnis, sondern ein festes Heil und eine starke Erschütterung der Phantasie bedürfen. Die Kirchen als Hüter der Autorität und die Sekten als Heilbringer und Erreger der Phantasie be- gegnen echten Bedürfnissen und verfügen über psychologisch- soziologische Kräfte, von denen die bürgerliche Bildungsschicht nicht gerne Kenntnis nimmt. Darin hat Jentsch, der ein guter Kenner des Volkes ist und mit ihm als Priester gelebt hat, un- zweifelhaft Recht. Es ist eine Beorderung im Interesse einer ge- sunden Zukunftsentwickelung, daß die beiden verschiedenartigen Schichten religiösen Lebens nicht in gegenseitiger Verachtung jede Fühlung miteinander verlieren. Diese P"ühlung herzustellen und immer neu zu suchen ist das Wesen der sogenannten libe- ralen Theologie, die, sofern sie Theologie ist, darin ihr wesent- liches Recht und ihre Bedeutung hat. Aber gerade dadurch steht sie auch zwischen zwei Feuern und ist ihre Zukunft schwer be- droht. Nimmt man noch den Ansturm der Christentumsfeindschaft des Proletariats hinzu, von dem hier nicht weiter zu reden war, so sind die Aussichten auf religiöse Einigung und religiösen Frieden recht gering. Die Lage sieht nach schweren Geistes- kämpfen der Zukunft aus. Aber es ist möglich, daß es in solchen wieder zu echtem religiösen Ernst kommen mag. In solcher Hoff- nung mag man das dumpfe Unbehagen der religiösen Gegenwart, die offenen und verborgenen Spannungen der Lage, ertragen.

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Der Modernismus.

(Aus: Die Neue Rundschau, 1909.)

Die Encyclica pascendi dominici gregis und der an sie sich anschließende literarische Kampf hat die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung wieder einmal auf die innere Lage des römischen Katholizismus v^nd damit auf das kirchliche Problem des modernen Lebens überhaupt gelenkt. Unsere Intellektuellen um diesen charakteristischen französischen Ausdruck zu gebrau- chen — pflegen im Allgemeinen von diesen Dingen keine Kennt- nis zu nehmen ; sie gefallen sich in einer bewußten und gewollten Unwissenheit über alle Kräfte und Strebungen der kirchlichen und christlichen, ebenso auch der populären religiösen Bewe- gungen wie des Sektentums, der Theosophie und des Spiritismus. Diese Unkenntnis drückt die Verachtung überlebter und veralte- ter Dinge aus und bewirkt am besten die völlige Immunität gegen jede Ansteckung durch diese Ideenwelt selbst. Sie überlassen diese Bewegungen sich selbst und ihrem eigenen angeblichen Auflösungsprozeß, außerdem den Politikern und Machthabern, die mit diesen Dingen sich abfinden mögen, wie sie können, und meistens, wenigstens in Deutschland, ihnen kräftigen Vorschub tun. Nur wenn in einzelnen Punkten die Macht der Kirchen ein- mal besonders deutlich zum Vorschein kommt, etwa in neuen Vorlagen der Schulgesetzgebung oder in Maßnahmen der Schul- verwaltung oder in einer den Intellektuellen nicht genehmen Aus- dehnung des Kampfes gegen »Schmutz, Unsittlichkeit und Nackt- heit«, dann schäumt die Entrüstung auf und verlangt im Namen des fortgeschrittenen Zeitalters die Zurückdrängung dieser Mächte der Vergangenheit, etwa gar die Trennung der Kirche vom Staat, als ob dafür in Deutschland irgendwelche ernste Voraus- setzungen und Möglichkeiten bestünden und als ob damit der Machtkampf nicht bloß verschoben wäre. So haben sie auch

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Der Modernismus.

bei Gelegenheit des Feldzuges des Papstes gegen die sog. Mo- dernisten nur ein " mitleidiges Lächeln für die armen Schwärmer und unklaren Köpfe übrig gehabt, welche glauben, daß der Ka- tholizismus noch reformabel und lebendig sei, und nicht wissen, daß er längst abgestorben und der geistigen Nichtigkeit verfallen ist, welche das Wasser einer völlig veralteten Welt mit dem Oel einer gründlich modernen zusammenschütteln wollen und damit nur beweisen, daß sie an einem von Hause aus unmöglichen Unternehmen sich mühen.

So einfach aber liegt die Sache durchaus nicht, wie ein Blick auf die wirklichen Kräfte in unseren modernen Staatswesen zeigen kann. Die Geringschätzung dieser Bewegungen ist etwas ganz Aehnliches wie seiner Zeit die Ignorierung des aufsteigenden Proletariats durch die Bourgeoisie, die es damit sich zugleich vom Leibe zu halten und in seiner Nichtigkeit zu erweisen meinte. In Wahrheit können unsere Intellektuellen mit den religiösen Bewe- gungen ähnliche Dinge erleben, wie die Bourgeoisie mit dem Proletariat, und sie haben sie bereits großenteils erlebt und nur verschmäht, etwas daraus zu lernen. Das Dogma, daß die Reli- gion überhaupt in dem wissenschaftlichen Zeitalter im Absterben begriffen und nur mehr als sehr subjektive Privatliebhaberei ein- zelner zu tolerieren sei, blendet sie und läßt sie die fortdauernde Macht dieser Dinge und ihre vor unseren Augen sich vollziehende beständige Neubildung nicht sehen. Die im üblichen Religions- unterricht ihnen kund gewordene, unverkennbare Schwäche und bloße Defensive der theologischen Dogmatik, die alle geistige P'ührung verloren hat und hinter den modernen Entwickelungen oft genug mit sophistischer Apologetik hergeht, täuscht sie über die lebendige Macht des religiösen Gedankens in denjenigen Kreisen, denen alle Dogmatik und Apologetik gleichgültig ist, weil sie keiner bedürfen, oder in den- jenigen, die dem religiösen Drang der Zeit neue Bahnen öffnen wol- len und daher von beidem ungebunden sind. Das religiöse Den- ken ist die Urform alles menschlichen Denkens; es rinnt und quillt aus allen Ritzen des menschlichen Herzens, auch wo es gar nicht besonders auf Religion ausgeht, wie heute noch jeder wirk- liche Dichter zeigt. Es ist die Glut aller großen schöpferischen Epochen, die ein Ideal verwirklichen, weil sie es glauben, und es ist die Rettung aller ermüdeten und abgearbeiteten, die wie- der ihre Kräfte sammeln und erneuern wollen. So bildet es den Untergrund aller populären Empfindungen auch heute noch, bricht

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es an allen Ecken und Enden immer wieder hervor in den buntesten Formen und hebt es sich deutlich gerade heute empor als Samm- lung aus der Oede und Aeußerlichkeit einer überreizten und zerstreuenden technischen und materiellen Kultur. Dabei ist dann nur selbstverständlich, daß die Kirchen mit ihren alten po- pulären Organisationen und ihren starken Mitteln der Volksbear- beitung diese Kräfte guten Teiles an sich ziehen und ihre popu- läre Massenwirkung außerordentlich verstärken. Mit welchem Er- folge das der Katholizismus getan hat, liegt jedermann vor Augen. Auf protestantischem Boden sind freilich bei uns die lutherischen Staatskirchen stark zurückgeblieben hinter den aus- serordentlichen Kräfteentfaltungen des Calvinismus und der Sek- ten in den angelsächsischen Demokratien, aber auch sie sind wirksam genug; die Herrschaft der Konservativen in Deutsch- land beruht nicht auf ihnen, aber wäre ohne sie nicht denkbar. Daß Zentrum und Konservative derart in die Höhe gestiegen sind, wie sie es in Deutschland getan haben, hat gewiß viele kom- plizierte Ursachen, darunter auch rein wirtschaftliche und politische. Aber die einfachsten Gründe sind doch die religiösen Gründe selbst. Von einem sie bloß verhöhnenden oder nur mitleidig duldenden Liberalismus zurückgestoßen, halten sich die religiösen Menschen an die Gruppen, bei denen sie Anschluß finden. Sie lassen sich lieber Dogmen gefallen, die ihnen nicht ganz ein- leuchten und mit denen die Kirche und die Theologen sich ab- finden mögen, als die Geringschätzung und Verhöhnung ihrer Gefühle im Namen der Bildung und Wissenschaft. Diejeni- gen, die bei sich selbst derartige Gefühle nicht kennen oder sie wenigstens in den Formen kirchlicher oder halbkirchlicher Gläu- bigkeit sich nicht vorstellen können, halten das stets von neuem für Heuchelei, für Deckmäntel politischer, wirtschaftlicher, privat- egoistischer Bestrebungen, und wundern sich stets von neuem, wie das in unseren Zeiten möglich sei. Es ist aber ganz außer- ordentUch einfach möglich. Denn es steckt dahinter nichts als die alte, niemals aussterbende Kraft wirklicher religiöser Gefühle und Strebungen, mit denen sich, wie mit allen Gruppen- und Macht- organisationen, tausendfach nach eben so alter Sitte allerhand materielle und weltliche Zwecke unübersehbar verbinden. Das kommt dann bei der herrschenden Demokratie, deren Vereins- wesen und öffentliche Meinungsbildung diesen Strebungen ebenso zu Diensten steht wie ihren Gegnern, schließlich auch in den

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Machtverhältnissen zum Ausdruck. Indem der Liberalismus der Bildung und Wissenschaft durch den Abfall des Sozialismus töd- lich geschwächt ist, wird er von der anderen Seite her auch durch die religiösen Massenbewegungen zurückgedrängt. Das ist in Deutschland sein Schicksal gewesen, es wird es seit der Demo- kratisierung auch in Oesterreich sein. Die Intellektuellen sind also in Wahrheit gar nicht die Herrschenden. In den angelsäch- sischen Ländern dagegen ist völlig umgekehrt der politische Libe- ralismus größtenteils mit bestimmten religiösen Gruppen verbunden und sind überdies alle Verhältnisse von alter Kirchlichkeit durch- tränkt, so daß dort von der Ablösung alles Fortschritts vom religiösen Leben überhaupt nicht die Rede sein kann , auch nicht beim Liberalismus selbst. Nur in Frankreich bestehen Verhältnisse, die die Anschauungen unserer Intellektuellen zu rechtfertigen scheinen, wie man sich denn in der Tat auf die- ses Mutterland aller europäischen Revolutionen gerne beruft. Aber wenn dort die Demokratie allerdings die Kirche zerstört hat, so hat das dort seinen ganz besonderen Grund, nämlich in dem Umstand, daß dort die Kirche die Todfeindin der Demokratie und der Republik war und in einer hetzerischen Agitation ohne- gleichen die bestehende Ordnung bekämpfte ; in der Wahl zwi- schen der alten französischen Kirche und der das Ergebnis aller französischen politischen Entwickelung bildenden Demokratie hat das Volk sich für die letztere entschieden und die Kirche preisgegeben. Die eigensinnig verbohrte Politik des Papstes hat dann weiter das ihrige getan, um die Kirche immer weiter zu schwächen und im- mer weiter mit der Demokratie zu entzweien. Es wäre aber durchaus verkehrt, aus diesen französischen Ereignissen allzu weit- gehende Folgerungen für andere Länder zu ziehen. Auch für Frank- reich selbst ist das letzte Wort hierüber noch nicht gesprochen, geschweige denn, daß in anderen Ländern und Verhältnissen der Untergang des Christentums und der Kirchen so leicht zu erwar- ten wäre. Daß der Katholizismus die Lösung vom Staate sehr gut zu ertragen vermag und als selbständige Macht sich sehr glänzend zu enwickeln imstande ist, das zeigt der amerikanische Katholizismus, der politisch und sozial, aber auch intellektuell eine recht erhebliche Stellung in den Vereinigten Staaten ein- nimmt. Und auch auf den leidenschaftlichen ReligionshafS der Sozialdemokratie sind in dieser Sache keine Hoffnungen zu setzen. Es ist klar und oft genug erkannt, daß die sozialdemo-

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kratische Erlösunglehre und Eschatologie nur eine materialistische Verkleidung religiöser Hoffnungen auf den Sieg des Guten ist und daß ihre offiziellen Lehren den Charakter intolerantester Dogmen haben. Damit ergibt sich aber die Folge, daß bei dem unaus- bleiblichen Zerfall dieser Ideale, die, sei es durch die Folgen einer Revolution, sei es durch praktische Ernüchterung, ihren absoluten Charakter werden verlieren müssen, dann der religiöse Trieb wieder zu sich selbst zurückkehren wird. Aller Vermutung nach werden die Sekten mit ihrer starken Beteiligung des Indi- viduums und ihren radikalen Erlösungsideen die religiösen Erben der Sozialdemokratie werden, wie man denn überhaupt in der Zukunft mit einer ungeahnten Entwickelung des Sektenwesens zu rechnen haben wird.

Aber nicht nur die Massen, soweit sie nicht sozialdemokra- tisch infiziert sind, bilden den Bereich lebendiger und unverwüst- Hcher kirchHcher Kräfte. "Auch in den Mittel- und Oberschichten sind sie in sehr viel weiterem Umfang zu Hause, als man nach der Unbekümmertkeit und Geringschätzung der Intellektuellen gegenüber diesen Dingen annehmen müßte. Freilich war hier im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts der Rückgang enorm, aber er ist allem Anschein nach zum Stillstand gekommen und das Interesse rückt wieder vor. Die Verheißungen des Liberalis- mus sind nicht in Erfüllung gegangen, der radikale Atheismus der Sozialdemokratie stößt Unzählige zurück auf die alten Posi- tionen, die religiöse Oede und Dürre wird Andern unerträglich. Es gibt selbstverständlich auch in diesen Schichten Unzählige mit religiösem Trieb und Bedürfen. Sie wenden sich zunächst an die Kirchen, oft mit vielen persönlichen Vorbehalten, aber doch mit dem Bedürfnis des Anschlusses und in der Hoffnung zeitgemäßer Reformen in ihnen. Die theologische, halbtheolo- gische und religiöse Literatur aller Konfessionen ist in einem starken Aufschwung begriffen, und unzählige Idealisten meinen, von diesen großen Organisationen des Ideals her müsse doch das Volksleben geistig durchdrungen werden können ; es habe keinen Sinn, sich neben sie zu stellen, wo sie doch vorhanden sind und den höchsten Zwecken dienstbar gemacht werden können ; das Gute, das in ihnen liege, müsse fruchtbar gemacht werden können, und es sei ein selbstmörderischer Doktrinarismus, nur die Differenzen zu betonen. Von derartigen Anschluß- und Reformversuchen aus kommen viele freilich erst recht zur Trennung und rächen sich dann

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leidenschaftlich an ihren verlorenen Idealen. Andere aber finden von hier den Uebergang zu einem immer stärkeren Anschluß an kirchliche Gruppen, in denen nun einmal Ordnung und Zusam- menhang sein muß und der Einzelne sich ja persönlich ziemlich viel vorbehalten kann. Und neben dem gibt es die überzeugten hinreißenden leidenschaftlichen Gläubigen, sei es im traditionali- stischen, sei es im reformerischen Sinne, die heute wie jemals die Uebermacht des zielbewußten Willens über bloß geistreiche und gelegentlich auch nicht geistreiche Skepsis dartun.

Das gilt von allen Kirchen überhaupt. Es gilt vom Prote- stantismus und den Sekten genau so wie vom Katholizismus. Das zu verstehen ist ein überaus wichtiger Punkt. Es ist eine vollkommene Selbsttäuschung des Protestantismus, wenn er mit der modernen Geisteswelt identisch zu sein meint und daher sich allein das fortschreitende Leben zuschreibt, während der Katho- lizismus das rein traditionelle Verharren in einer veralteten Welt darstelle. Dagegen spricht schon die einfache Tatsache, daß ja der Protestantismus von der modernen Religionskrisis ebenso schwer betroffen ist als der Katholizismus, daß auch er in den meisten Kirchen höchst archaistische, der modernen Welt völlig unerträgliche Elemente festhält, und daß ein Anschluß an moder- nes Geistesleben ihm wohl leichter fällt als dem Katholizismus, daß aber dieses Geistesleben sein genuines Erzeugnis so wenig ist als das des Katholizismus. Es ist eben modern und einigt sich allerdings leichter mit dem protestantischen Individualismus und kritischem Triebe als mit dem katholischen Autoritätswesen und Dogma, aber es ist doch auch ihm gegenüber in wichtigsten Punkten etwas Neues und Fremdes. Es steht nicht so, daß der Protestantismus die lebendige Religion wäre und der Katholizis- mus die tote. Beide sind starke lebendige Ingredienzien unseres ganzen heutigen Lebens ; und, wenn der Protestantismus dem aktiven, individualistischen und kritischen Charakter der moder- nen Welt innerlich näher steht, so hat doch auch die Religion des Katholizismus Bestandteile, die dauernden menschlichen Bedürf- nissen entsprechen und darum immer Leben an sich ziehen. Er hat im Unterschied von der Gedankenmäßigkeit des predigenden Protestantismus einen Kultus im Sinne des sinnlich-übersinnlichen wunderbaren Verkehrs mit der Gottheit, wie ihn alle primitive und alle heidnische Religion auch hat und wie es der Urform alles religiösen Kultus entspricht. Er hat gegenüber der prote-

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stantischen Zersplitterung und Verselbständigung des Individuums die Autorität und Seelenleitung, die mit einer ganz außerordent- lichen moralischen Erbweisheit verbunden ist und Unzähligen ein Mittel aus Nöten der Unklarheit und Schwäche ist. Er hat an Stelle der staatsabhängigen oder vereinsartigen vielfachen Gebilde des protestantischen Kirchentums die ungeheure Weltgemein- schaft, die die Länder aller Weltteile um das Zentrum der Kirche in einer ungeheuren Gemeinschaft sammelt und der religiösen Phantasie jederzeit einen Weltzusammenhang vor Augen stellt. Er hat die ungebrochene Kontinuität mit den historischen Grund- lagen des Christentums, die ohne Brüche und Zwischenbildungen jeden mit den Wurzeln der Vergangenheit so gradlinig verbindet wie mit der lebendig-produktiven päpstlichen Autorität der Gegenwart. Er hat schließlich neben der offiziellen kirchlichen Lehre die Unterschicht der frei beweglichen populären Reli- gion mit neuen Kulten, neuen Wundern und der ganzen unabgeschlossenen Produktion volksmäßiger Religion, die ihm immer neue Reizmittel und immer neue Ablenkungen ermög- licht. Das mag alles für die moderne Kultur und den mo- dernen Staat sehr gefährlich oder sehr unangenehm sein, es mag an den reinsten Idealen des Christentums gemessen eine arge Veräußerlichung sein; aber es sind Motive und Kräfte, die mit der Menschennatur gegeben sind, die immer wieder kommen und die dem Katholizismus jedenfalls ein eigenes Leben sichern. Er mag höchst gefährlich sein, aber er ist nicht tot und gleichgültig. Er ist wie die andern christlichen Kirchen ein immer noch außer- ordentlich lebendiges Element des Volkslebens, eben deshalb auch seinerseits erfüllt von allen Bedürfnissen der Anpassung und des Fortschrittes unter Wahrung seines eigenen Wesens wie die andern Kirchen auch. Zwar hört man freilich in der kirchlichen Lite- ratur und Presse die fortwährenden Klagen über den Rückgang der kirchlichen Ideenherrschaft, über den Verfall des Christentums und die moderne Religionslosigkeit. Aber es sind doch mehr die Klagen über die Unzugänglichkeit einer numerisch nicht allzu- großen Bildungsschicht, die einen großen Teil der Macht und der sozialen Vorzugsstellungen innehat, auch die Angst um eine dar- aus folgende Entzweiung von Bildung und Kirche, die auf die Dauer der Kirche sehr gefährlich werden müsse und auch in der Tat sehr gefährlich werden würde, wenn unsere »Bildung« ihrer- seits starke ethische und religiöse Mächte zu entfalten wüßte. Aber

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alle Welt weiß, daß sie das nicht tut. Daher denn auch der eigen- tümliche Wechsel der Szene und Beleuchtung, wenn man die Dinge von den Gesichtspunkten und Interessen dieser Bildungs- schicht aus beleuchtet sieht. Da kommen dann die Klagen über die unausrottbare Macht des Pfaffentums, über die Unwissenheit und den Aberglauben, über die Heuchelei und Intoleranz, über die Zähigkeit einer alles durchwuchernden Macht von Institutionen und Gedanken, die trotz aller ihr ausgestellten Totenscheine un- begreiflicherweise nicht sterben will.

Aus diesen Verhältnissen ist der sogenannte Modernismus zu verstehen. Er ist das Selbstverständlichste von der Welt, ist im Katholizismus immer vorhanden gewesen und wird in irgendeiner Form immer wieder kommen. Er ist nichts anderes als die An- passung der Kirche an die moderne Welt, die Aufnahme ihrer wissenschaftUchen Methoden und Erkenntnisse in das religiöse Denken, die Verarbeitung ihrer sozialen und politischen Ideale durch die Ethik der Kirche, der praktische Kompromiß mit der modernen Entwicklung des .Staates und der Gesellschaft. Nur wenn man sich eine völlig falsche Vorstellung von der Abge- schlossenheit der katholischen Dogmatik und Ethik macht, kann man sich über ihn wundern und ihn als unbegreifliche Konse- quenzwidrigkeit empfinden. Er mag wohl konsequenzwidrig sein und ist es meiner Ansicht nach sicherlich. Aber von der Konse- quenzhat noch nie eine große Lebensmacht allein existiert, und seine Konsequenzwidrigkeit ist vielleicht sein kräftigstes Lebensprinzip. Die Konsequenz ist für das Leben überhaupt sehr gleichgültig und für das kirchliche und religiöse insbesondere. Der Katholizismus ist nicht das W\mder starrer Konsequenz, als das ihn der Aberglaube in seiner mit heimlicher Angst gepaarten Unkenntnis betrachtet. Er ist von Anfang an ein unendlich kompliziertes, widerspruchsvolles System, das phantastische Volksreligion und philosophische Dog- matik, revolutionären Individualismus und absolute Autorität, sprödeste Besonderung des Einzelnen und fast sozialistische und kommunistische Sozialideale, weltliche Kulturethik und jenseitige Askese, lebendiges Laientum und priesterliche Herrschaft immer neu zu kombinieren versucht hat, ein Meisterstück der Vermitte- lung, das in der kirchlichen Autorität sich nur den letzten Regu- lator schuf, wenn diese Vermittelungen zu Reibungen und Unklar- heiten führen. Warum sollte er nicht auf die Idee kommen, heute Mit- telalter und moderne Welt zu vereinigen, nachdem er in der Ver-

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gangenheit Kirche und Antike, kriegerisch-feudales Germanentum und kirchliche Ethik, städtische Kultur und Ordenswesen, Renaissance und Papsttum vereinigt hat? Man darf doch nie vergessen, daß das große kirchliche Lebens- und Kultursystem des Mittelalters eine tausendjährige lebendige Macht bedeutet und manche Vorzüge vor der atomistischen und intellektualistischen Gesellschaft der Gegen- watt hatte, die nicht bloß weltfremden Romantikern heute noch einleuchten. Da hatte die Kirche wirklich die Kultur sich eingegliedert, und von daher stammt ein heute noch für viele ehrwüdiges Kultur- programm der Kirche mit reichen Möglichkeiten, den Forderungen des Gesamtlebens gerecht zu werden. Man vergesse insbesondere nicht, daß der Katholizismus der sog. Gegenreformation erst in kirchlicher Anpassung die Renaissance zur Weltmacht geführt hat und den Katholizismus mit den feinsten intellektuellen und künstlerischen Säften genährt hat, wie es unter den protestan- tischen Konfessionen nur der Anglikanismus ihm nachtat und der französische und niederländische Calvinismus nur annähernd erreichte, während das deutsche Luthertum dieser Welt innerlich fremd blieb und nur den humanistischen Akademismus aufnahm. Freilich ist der Katholizismus seit der Aufklärung und Restauration viel gröber und abgeschlossener geworden. Aber er hat aus seinen großen Zeiten viel bewahrt. Auch bleiben in der kirchlichen Doktrin viele offene Stellen, viele Entwickelungsmöglichkeiten, vor allem die alte theologische Kunst, durch Deutung aus schwarz weiß zu machen, die Virtuosität der Ausflüchte und Vermittelungen, aber auch der leidenschaftliche und hoffnungsvolle Wille, dem Glauben die Führung zu erhalten, und die von keinen Zweifeln angefressene Ueberzeugung, daß natürliche und kirchliche Wahr- heit, weil aus derselben Quelle stammend, sich finden und vereinigen müssen. Tridentinum und Vatikanum haben zwar den Spielraum erheblich eingeschränkt. Aber das Vatikanum läßt doch noch vieles offen, indem es den Kathedralcharakter der allein schlecht- hin zwingenden Entscheidungen an sehr unklare Bestimmungen ge- bunden hat, und indem es so aufgefaßt wird, als entlaste es den Laien und Priester von der Sorge um das Dogma, das nun allein der kirchlichen höchsten Autorität überlassen bleibt und im Leben daher weniger genau genommen zu werden braucht. Die kirch- lich hierarchische Autorität schafft wohl die letzte Regelung und Ordnung; aber bis die Dinge dazu reif sind, müssen sie von der lebendigen Arbeit in Bewegung gesetzt und durchgeprobt sein.

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So muß vor allem diese Arbeit in Ang^riff genommen werden. Ihr Resultat kann der Vorsehung anheimgestellt werden. Ein liberaler Papst, der Traum aller modernen Katholiken, wird dann das Gute für die Kirche herausholen und anerkennen.

Es hat sich ja doch auch die katholische Kirche überhaupt stark modernisiert. Sie hat auf das Korrelatideal des römisch- deutschen Kaisertums, auf die direkte Leitung und Untertänigkeit der Herrscher und Völker längst verzichtet. Sie beherrscht ein geistiges Weltreich, aus dem die Telegramme von Australien und Peru, von Japan und Kapstadt einlaufen, und überläßt Staaten und Regierungen sich selbst, behält sich nur die Berücksichtigung ihrer allerdings weitgehenden Forderungen an sie vor. Sie hat ihr ganzes Kirchenrecht stark spiritualisiert und, wo es, wie in Amerika, nicht anders ging, mit der völligen Trennung vom Staat sich trefflich abzufinden gewußt. Sie hätte es auch in Frankreich gekonnt, wenn nicht das französische Gesetz ausdrücklich den reinenVereinscharakter der Gemeinden unter Ignorierung ihres hierar- chischen, vom kanonischen Recht geforderten Charakters hätte durchsetzen wollen. Sie hat den alten Legitimismus und Roya- lismus längst beiseite gelegt und ihre ganze Existenz auf die parla- mentarischen Demokratien, auf die Bildung katholischer Parteien, begründet, damit den demokratischen Gedanken sich angeeignet. Sie hat die ungeheuren sozialen Bewegungen der Zeit erkannt und zum Teil erfolgreich in ihre Kanäle geleitet, in denen sie dem Ziel einer stark sozialistisch gefärbten, aber ständisch ge- gliederten Gesellschaftsordnung entgegenstrebt. Sie hat auf Grund ihrer alten Lehre von der Unterbauung der Gnade und des Wunders durch die Natur und die Vernunft das Leben als einen aufsteigenden Kosmos betrachten gelernt, in dem sie auch den modernen Leistungen der Vernunft einen freilich kirchlich kontrollierten Raum gewährt, aber, da sie nicht alles kontrollieren kann, in Wahrheit recht viel Bewegungsfreiheit verstattet. Sie hat das Ordenswesen modernisiert und ermäßigt und es überall in den Dienst ihrer Propaganda, der Schule, der Karität, der Mission gestellt, der Arbeitsscheu, dem Bettel, dem frommen Müßiggang nach Möglichkeit gewehrt. So hat sie, der kurz- sichtige Polemik stets die Jenseitigkeit und Askese vorzuhalten pflegt, sich geradezu als Prinzip der Kultur und des Fortschrittes proklamiert. Man lese die Reden des Düsseldorfer Katholiken- tages, und man wird finden, daß hier alles trieft von Kultur,

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Nationalgefühl, literarischer und künstlerischer Fortschrittsstimmung, sozialer Reform, alles unter der maßgebenden und harmonisierenden Leitung der Kirche, die die krankhaften Einseitigkeiten und Ueberstürztheiten der modernen Kultur vermeide und alles auf das richtige Maß und die richtigen Grenzen zurückführe. Und alles das geschieht mit dem Segen des Papstes, der freilich den romanischen Ländern derartigen Segen zu spenden selten in der Lage ist; aber was in angelsächsischen und germanischen Ländern möglich ist, das muß doch auch den Patrioten, Sozialreformern und Gebildeten der ersteren als möglich erscheinen.

Und wenn die Kirche das als Ganzes getan hat, so sind einzelne Gruppen in ihr begreiflicherweise jederzeit weiter ge- gangen. Sie wollten mehr als bloße politisch-soziale Anpassung, als bloße Anerkennung der Vernunft und Kultur. Sie wollten die spezifischen Formen moderner Wissenschaft und Bildung re- zipiert wissen und meinten, daß gerade eine so festgefügte In- stitution, die ihren Schwerpunkt im Kultus und im Recht hat, dogmatisch sehr viel Freiheit gewähren könne und müsse. So hat seinerzeit der Katholizismus der Aufklärung einen erstaunlich weitgehenden Kompromiß vollzogen. Man lese die Auszüge aus den Kollegheften des Würzburger Seminarregens und späteren Weihbischofs Zirkel. Hier ist die Kantische Moraltheologie voll- kommen akzeptiert und alles Kultische und Dogmatische nur als psychologisch unentbehrliche mythische Hülle der Idee betrachtet. Dann kamen die Verschmelzungen mit der Romantik und der deutschen spekulativen Philosophie, die Rezeption der modernen Historie bei Döllinger und Hefele. Alles das wurde freilich niedergeschlagen durch den kurialistischen Katholizismus der Reaktionszeit. Aber man betrachtete in katholisch-reformerischen Kreisen diese Reaktion als einseitig kurialistische Theologie, die das wirkliche Leben nicht bändigen dürfe, als eine Ein- seitigkeit römischen Prälatendenkens, die die Gesamtkirche wieder korrigieren werde und müsse. So kam der liberale Katholizismus, der im Bunde mit den liberalen Parteien Auf- klärung und Freiheit anstrebte, der freilich teils infolge der Abwendung des Liberalismus von allen kirchlichen Interessen, teils infolge der Verdammung durch die kurialistische Theologie kein freundliches Schicksal fand. Und nun kommt heute der Modernismus, eine rein wissenschaftliche und religiöse Richtung, welche subjektive Verinnerlichung und wissenschaftliche Auf-

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richtigkeit für die Kirche will und außerdem eine ehrliche Ak- zeptierung des modernen Staatslebens. Der Ketzername, den hier die kurialistischen Theologen geprägt haben, ist in der Tat vortrefflich. Es handelt sich wirklich um die allereinfachsten Dinge. Die Katholiken sind der faulen Apologetik, der dog- matisch gebundenenExegese, der überall gefesselten Kirchenhistorie, der albernen Legenden und der Wundersucht, des überall be- tonten Gegensatzes gegen alle sonst bewährten wissenschaftlichen Grundsätze satt und sind doch von der Wahrheit der ethischen und religiösen Lebenssubstanz der Kirche so fest überzeugt, daß sie meinen , ehrliche Wahrhaftigkeit der Forschung und freie Innerlichkeit und Menschenliebe müßten sich finden können, müßten gerade in der großen Weltkirche eine die ganze Welt befreiende und reinigende Harmonie herstellen können, wenn man nur den Mächten der Wahrheit ehrlich den Lauf ließe. Es ist vor allem der ungeheure Eindruck der modernen Bibelkritik, Religionsge- schichte und Kirchengeschichte, nicht zum mindesten der Eindruck Renans und der deutschen historischen Theologie, die diese Wir- kung hervorgebracht haben. Man empfindet die offizielle Theo- logie als Wissenschaft der Ausflüchte und will eine Forschung, die mit Texten und Denkmälern in wirklicher, ehrlicher Ueber- einstimmung ist. Dabei steckt man selbst viel zu tief in den katho- lischen Idealen, um im Ernste an eine dauernde Entzweiung und Erschütterung glauben zu können. Die Religion der Gottes- und Menschenliebe, der ehrliche, wissenschaftliche Wahrheitswille und die Weltbrüderschaft der Kirche müssen sich finden können. Das ist selbstverständlich. Erst nebenher und in zweiter Linie sind es Wirkungen der modernen Philosophie, von denen her die ka- tholische natürliche Theologie und der apologetische Unterbau zerbricht. Aber auch hier empfindet man an dieser Philosophie vor allem die ehrliche und vorurteilsfreie Begründung von innen, vom Bewußtsein, vom Erleben her und meint, das zerstöre nur eine wertlose Apologetik, öffne aber mit dem modernen Prinzip der Bewußtseinsimmanenz nur erst die eigentlichen Quellen religiöser Innerlichkeit und Gcfühlswärme. Auch hier stellt man wesentlich Fragen und lebt man in der Hoffnung, daß sie sich werden be- friedigend beantworten lassen. Man will nur wieder wissenschaft- lich ehrlich werden, mit der Sprache der Allgemeinheit reden, mit den bewährten Voraussetzungen arbeiten; man will nicht länger den gelben Hut einer besonderen kirchlichen Erkenntnismethode

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tragen, die in allen anderen Dingen längst aufgegeben ist und in der Kirche zu nichts nütze ist als zu faulen Schulbeweisen, die einem draußen niemand abnimmt. Man will vor allem den rein geistlichen und religiösen Charakter der Kirche wieder herstellen, der sie ohne Gewalt- und Zwangsverfahren rein auf die geistige Wirksamkeit stellt, die Zugehörigkeit zu ihr an Freiwilligkeit bindet und damit erst ein ehrliches Verhältnis zu den modernen Staaten ermöglicht.

So handelt es sich also im Modernismus nicht um ein System oder eine bestimmte Theologie, wie sie die Theologen der Enzy- klika mühsam zu konstruieren unternommen haben, sondern um allgemeine und oft sehr unklare Stimmungen und Bedürfnisse. Der Katholizismus, so wie er ist, ist ein Erzeugnis des Mittelalters, und trotz starker Modernisierungen ist er es wenigstens in Dogma und Theologie geblieben. Ja, um sich für die nach der einen Seite vollzogene Modernisierung zu entschädigen, hat er nach der Seite des Dogmas und der Wissenschaft das Mittelalter, d. h. den heiligen Thomas, ausdrücklich wieder hervorgeholt. Er hat sein Kirchenrecht stark spiritualisiert, dafür aber sein Dogma stark verrechtlicht. Er hat nach außen seine Herrschaftsansprüche gemildert, dafür aber nach innen sich stark zentralisiert. Nun beginnt gegen dieses künstliche, seit der Restaurationsperiode wieder aufgerichtete dogmatische Mittelalter der Sturm loszubrechen. Das moderne Leben ist in die Kirche hineingebrochen, ähnlich wie in den Protestantismus und in das Judentum. Die Formen und Strebungen sind zahllose, die Hoffnungen enthusiastisch und unbegrenzt. Nur bei einigen W^enigen nimmt die Bewegung feste Formen einer bestimmten Theorie an; von diesen ist auch die Beschreibung des Modernismus in der Enzyklika entnommen. Es sind vor allem Tyrrell und Loisy, zwei in der Tat an Charakter und Geist wahrhaft hervorragende Männer von vollster Geistes- freiheit und reichster wissenschaftlicher Bildung, dabei von einer bewunderungswürdigen Reinheit und Festigkeit des Willens. Es sind unter den Denkern und literarischen Vertretern unserer Zeit zwei charakteristische Typen, die tief hineinblicken lassen in das innerste Wesen unserer großen geistigen Kämpfe.

Tyrrell, die stärkste mystisch-religiöse Natur unter den Re- formern, ist ein Kenner aller religionsphilosophischen Literatur, ein Schüler des edlen Kardinals Newman, der dessen entwicke- lungsgeschichtliche Anschauung vom Wesen des Katholizismus

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noch weiter verinnerlicht und subjektiviert hat. Er ist Mitglied des Jesuitenordens gewesen und dann freiHch, als ihm der Orden doch zu unbequem wurde, ausgetreten, aber auch dann der Seel- sorger und Berater Unzähliger geblieben. Er führt in seinen be- wunderungswürdigen, durch Zartheit und Energie zugleich aus- gezeichneten Schriften den religiösen Kampf gegen den Herzpunkt des kurialistisch-mittelalterlichen Systems. So hat er jüngst in einer gegen den belgischen Primas gerichteten Schrift, »Medievalism«, seine Position glänzend auseinandergesetzt. Es handelt sich um den Kampf gegen das Mittelalter in der Kirche und, da dieses auf dem Prinzip eines buchstäblich- gesetzlich verbindenden Wahrheitsbegriffes, auf der Idee göttlich mitgeteilter und autorisierter Lehren beruht, um den Kampf gegen diesen Wahrheitsbegriff, um die Verinnerlichung und Subjekti- vierung der religiösen Erkenntnis. Einem göttlich mitgeteilten Lehrgesetz könne und müsse man allerdings gewaltsam Kirche, Gläubige, Fürsten und Völker unterwerfen. Aber ein solches Lehrgesetz besitze in Wahrheit die Kirche nicht, und das sei überhaupt eine unreligiöse, rohe Idee. Die Kirche habe nur ein von Jesus entzündetes religiöses und ethisches Leben, das sich in Lehren und Dogmen einen bildlich-symbolischen Ausdruck jeweils gegeben hat und das die Berechtigung jener Dogmen an das Maß der von ihnen gedeckten religiösen Lebenssubstanz bindet. Es sind die Lehren der Kantischen Moraltheologie verbunden mit einer warmen Gefühlsmystik und einer romantisch-entwickelungs- geschichtlichen Auffassung vom werdenden, den geistigen und religiösen Erfahrungsbesitz ausdeutenden Gemeingeist. Der Gemein- geist der Kirche sei es, der diese Lehren aus sich hervorbringe, in ihnen sich fixiere und in Konzilien und Lehrentscheidungen seinen Ausdruck finde. So seien diese Lehren ein weicher Stoff, der von neuen Zeiten in neue Formen gepreßt und, soweit nötig, korrigiert werden dürfe. Der christliche Gemeingeist werde das auch in Gegenwart und Zukunft bewirken, und das unfehlbare Lehramt habe nur die Bedeutung, diese Revisionen des Dogmas schonend und kontinuierlich, ausgleichend und weitsichtig für die Gesamtheit der Kirche zu regulieren. Die Gegenwart fordere Vereinfachung und religiös-ethische Deutung des Dogmas, P"rei- gebung einer Geschichtsforschung, die seine Genesis aus dem christlichen Gemeinbewußtsein heraus psychologisch und kritisch versteht, und Ausbau der Kirche als einer rein geistlichen, auf

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weltliche Macht verzichtenden Gemeinschaft. Daß das gelingen müsse und könne, sei dem Glauben sicher, und wenn es nicht jetzt geschehe, so werde es die Zukunft bringen.

Loisy ist demgegenüber mehr der Historiker und Kritiker, der in erster Linie für die Geschichte des Christentums die streng philologische und außerdem die vergleichende religionsgeschicht- liche Methode fordert. So eignet er sich die Bibelkritik im voll- sten Umfange an und auch die modernen Forschungen über die Entstehung des Christentums, die Predigt Jesu, die Bildung der Dogmen aus dem Urchristentum heraus. Er bezeichnet diese Forschungen als etwas von aller Philosophie und Spekulation Un- abhängiges, als etwas durch rein philologische Methode schlecht- hin Evidentes. Eine Absicht auf Reform der kirchlichen Dogmen selbst verbindet er damit nicht unmittelbar. Er sieht in ihnen aus der Konsequenz des Christentums erwachsene, seinen jeweiligen inneren Stand spiegelnde ' und insofern ihm völlig angemessene Ausdrucksformen, die mit den Mitteln einer vergangenen, über- haupt nicht historisch-kritisch, sondern religiös-legendarisch denken- den Zeit sagen, was sie am Christentum empfand. Für die Gegen- wart allerdings empfindet er die Lage als schwierig. Hier ist alles problematisch geworden. Es gilt nur überhaupt die Weltbrüder- schaft der Kirche zu behaupten und mit ihr die ethisch-religiöse Substanz des Christentums. Die Dogmen mögen vorläufig nach Bedürfnis gedeutet oder auch zurückgestellt werden. Hier kann erst die Zukunft die Entscheidung der Krisis bringen, aber man müsse der Wahrheit den Weg lassen und die Kirche müsse sich ihr unterwerfen lernen. Seine jüngst von ihm herausgegebenen Briefe, die ihn als theologischen Berater suchender Theologen und als mannhaften Bekenner gegenüber Papst und Kurie zeigen, hauchen eine Stimmung der Wehmut und des Schmerzes, der Resignation und der Zukunftssorge aus, aber auch reinster, männ- lichster Wahrhaftigkeit und festesten Glaubens an einen ethischen Theismus, der ihm der Kern des Christentums ist. »Die religiöse Grundfrage der Zeit«, schreibt er an einen Abbe, »ist nicht zu wissen, ob der Papst unfehlbar ist, ob es Irrtümer in der Bibel gibt, ja nicht einmal die Gottheit Christi oder das Vorhandensein einer Offenba- rung, sondern das große und einzige Problem, zu wissen, ob das Uni- versum tot, leer, taub, ohne Seele und Herz ist, ob der Mensch in ihm steckt ohne ein Echo, das wahrhaftiger und wirklicher ist als er selbst. Für das Ja oder Nein gibt es keine zwingenden

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Vernunftbeweise. Unsere Kenntnis vom Universum ist zu ober- flächlich und ungenügend, als daß man von ihm intellektuell ein adäquates System konstruieren könnte. Aber gerade diese Ohn- macht nimmt uns das Recht, Gott zu leugnen, sie begründet nur Zweifel und Fragestellungen. Auf der anderen Seite sind und haben wir nicht das innerste Bewußtsein des Universums um sich selbst, wir haben keine Intuition von seinem Geheimnis. So ver- fügen wir nur über eine ungenügende Erfahrung, die wir betätigen, als handelten wir von außen auf die Welt, obwohl wir in Wahrheit ein wesentlicher und ununterschiedener Teil des Weltganzen sind, und über ein unbestimmtes Gefühl von dem, was in ihrem Grunde jene Unendlichkeit ist, in die wir uns verlieren, nämlich etwas, das im vergrößerten Maßstabe uns gleicht, von dem wir ein Reflex sind, obwohl unsere eigene Idee über es nur ein Reflex von uns selber ist. Der Akt, in dem wir unser Vertrauen zu dem mora- lischen Sinn des Universums betätigen, ist an sich selbst und notwen- dig ein Akt des Glaubens. Aber es ist doch zugleich ein souveräner Vernunftakt, nicht bloß wegen der Wahrscheinlichkeitsgründe, die ihm zur Seite stehen und gegen den naturalistischen Atheis- mus sprechen, sondern weil dieser Akt, in dem wir Gott bejahen, uns selbst bejaht, uns das Gleichgewicht gibt, uns vollendet, uns an das Leben anpaßt, eine unmittelbare Erfahrung der Wahrheit ist, die er enthält, und folglich uns erlaubt, die Möglichkeiten eines bloßen Illusionscharakters zu vernachlässigen, welche eine vom äußeren Gegebenen ausgehende Denkweise immer wieder nahe legt. Ist dieser mit der Vernunft identische Glaube erobert, dann ist die Substanz der biblischen Ofl'enbarung, des Christus- glaubens, der Kirche zugleich gesichert, wenn auch freilich die Art, sie zu verstehen und sie in diesen Glaubensformen lebendig zu machen, eine Veränderung des traditionellen Rahmens des katholischen Gedankens nötig macht . . . Nähere ich mich damit dem Monismus und Pantheismus } Ich weiß es nicht. Das sind alles nur Worte. Ich will mich an die Sachen halten. Der Glaube will den Theismus, der reine Intellektualismus strebt zum Pan- theismus. Sicherlich fassen beide zwei Seiten des Wahren ins Auge und die Verbindungslinie ist uns verborgen.« Prinzipieller kann man auf die Gegenwartsprobleme nicht eingehen, und doch kann man dem gläubigen Katholiken, der Loisy in alledem ge- blieben ist, nachempfinden, daß er sie in der von Jesus aus- gehenden großen Gemeinschaftsorganisation gelöst sehen möchte,

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um durch eine Art religiöser Sozialpädagogik, auf die ihm die Unfehlbarkeit zusammenschrumpft, den Menschen zur Sicherheit eines ethischen Glaubens zu verhelfen, der sich nicht neben seinen großen bisherigen Organisationen, sondern in ihnen an- bauen soll.

Es ist begreiflich, daß so weit, wie diese Führer, wenige gehen. Aber der Boden hebt sich überall mit mehr oder minder gefährlichen Schwankungen. Weithin ist vor allem im Klerus alles in Bewegung und in der Ahnung und Hoffnung großer kommender Umwälzungen, Aber auch die Laien sind in Be- wegung. Einige der Führer gehören dem Laienstande an. Der bekannte Baron Friedrich von Hügel in London, einer der be- deutendsten religiösen Charakterköpfe der Gegenwart, ist der Patriarch und die Seele der weitverzweigten Verbindung frommer und doch fortschrittlicher Kreise. Die Italiener und Franzosen, die ihren Ländern eine ethische und religiöse Wiedergeburt aus bloßem Positivismus und Materialismus wünschen und dabei natur- gemäß nur an den Katholizismus denken können, halten eine neue, aus der modernen Lebensbewegung regenerierte »religiöse Kultur« des Katholizismus für eine selbstverständliche Forderung der Zu- kunft. Aus dieser Idee ist das von Laien geleitete tapfere Rinnovamento zu verstehen, und die Unbefangenheit, mit der hier von allen Seiten gelernt wird, ist erstaunlich. Hinter ihm stehen Herren des lombardischen Adels von vielseitiger Bildung und patriotischem Kulturinteresse, die in ihrem mächtig aufblühenden Vaterlande auch eine geistig-religiöse Wiedergeburt für unentbehr- lich halten und sich durch die traditionelle Stellung ihrer Fami- lien gegen päpstliche Bannstrahlen gesichert glauben.

Die Wirkungen dieser Bewegung sind außerordentlich. Sie durchdringen die ganze Kirche, freilich von Deutschland und Süd- amerika abgesehen Der deutsche Katholizismus steht unter dem Drucke des Zentrums, das keine Verwirrung seiner Schlachtreihen durch theologische Neuerungen zuläßt, und ist daher fast völlig frei vom Modernismus. Schell ist viel konservativer als die fran- zösischen, italienischen und englischen Modernisten und hat rasch seinen Commer gefunden. In jenen Ländern dagegen sind die Einflüsse breit und intensiv. Sie gehen von den höchsten Re- gionen bis zu den untersten und ärmsten Priestern, die aus dem Dunkel der Sakristeien und Seminare an die Luft des allgemeinen öffentlichen Lebens wollen. Zur Charakterisierung der Lage will

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ich hier nur die Schilderung einer französischen anonymen Schrift »Les Lendemains - de l'Encyclique« wiedergeben. Sie stimmen überein mit dem, was mir mündlich vielfach berichtet worden ist. »Leo XIII. , dessen Auge gütig war und gerne auf die Dinge der Erde blickte, wußte wohl, daß die Kirche litt und daß die Krank- heit die edelsten Teile ergriff. Modernist ein wenig von Natur, mehr noch durch Politik, war er nachsichtig gegen die Ausbrüche der Modernisten. Er wollte lieber mit seinem Jahrhundert ver- handeln als scheinen es zu vergewaltigen. Er hatte Respekt vor einigen seiner größten Verkehrtheiten. Er liebte die Naturwissen- schaften und empfahl sie den Seminaren, er öffnete die vatika- nischen Archive und lud die Historiker ein, frei die Wahrheit auszusprechen ; er ging soweit, den katholischen Exegeten zu empfehlen, es zu machen wie die übrigen, die orientalischen Sprachen zu studieren und das zu benutzen, ,was man die Kritik nennt'. Er scheint durch geheime Autorisation sich sogar an der Bewegung beteiligt zu haben, deren kühner Ausdruck der Kongreß der Religionen zu Chicago wurde. Er zögerte lange, ehe er den Amerikanismus verdammte. Die heftigsten Versuche konnten ihn in den letzten Monaten seines Lebens nicht bewegen, den Krieg gegen Loisy zu erklären. Er hatte sogar über diesen Gegenstand geäußert, ,daß es richtig sei, den Exegeten über exegetische Dinge zu Rate zu ziehen wie den Arzt über medi- zinische oder den Advokaten über Rechtsangelegenheiten'. Alles allerdings Kühnheiten, die vielen bedenklich erschienen, und wor- über die reinen Katholiken im Andenken an Pius IX. seufzten, und die er selbst, gealtert und enttäuscht, wohl gegen das Ende bereut hat. Denn die Resultate entsprachen in der Tat nicht seinen Erwartungen. Man hatte seinen Liberalismus ernster ge- nommen, als er selbst ihn nahm. Der Modernismus hat sich ver- breitet und ermutigt, und es sah nicht aus, als wollte er sich in weisen Grenzen halten. Er begann in vollen Strömen zu rauschen, und Gott allein wußte, ob es für viele Dinge noch ein Morgen gab, denen man gewöhnt war die Ewigkeit zu versprechen. Er hatte fast alle Intelligenzen der Kirche erobert, die katholischen Universitäten und Seminare waren ergriffen, die offiziellen Ver- teidiger der Orthodoxie, Dominikaner und Jesuiten, hatten nicht widerstehen können, und die Hierarchie selbst ließ sich mitreißen und wurde schwach.«

Die Gefahr war in der Tat nach allem, was man hört, groß ;

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der neue Papst hat nicht ohne Grund losgeschlagen. Alles spricht dafür, daß die Bewegungen nicht bloß äußerlich und gelegentlich am Katholizismus haften, daß er selbst in lebhafter Bewegung ist.

Da kam der Schlag, der sie zerschmettern sollte. Hören wdr auch hierüber den vorhin angeführten Anonymus. »Die bäuerliche und rein praktische Gläubigkeit dessen, den Deutsch- land als Nachfolger Leos XIII. durchgesetzt hat, seine ruhige und stolze Unkenntnis des , profanen Wissens', sein unerschüttertes landpfarrerliches Vertrauen zu den scholastischen Leistungen der guten Priester, die ihre Zöglinge in dem venezianischen Seminar in guter Disziplin zu halten wußten, seine natürliche Gering- schätzung der Dinge und Menschen der Welt, haben ihn davor bewahrt, von neuem mit einem so unfruchtbaren und demütigen- den Experiment zu beginnen. Niemand hat lauter als Pius X. sich gerühmt, alle menschliche Neugier zu verachten und alle Klugheit des Fleisches mit Füßen zu treten. In intellektuellen und politischen Konflikten war es genügend, daß irgendeine Ent- scheidung sich der Meinung der Weltklugen empfahl, um seinen Sinn für das Uebernatürliche zu alarmieren und zum Gegenteil zu bestimmen. Leo XIII. wollte der Wissenschaft Waffen ent- nehmen, um die Wissenschaft zu bekämpfen. Pius X. nimmt seine Zuflucht zu weniger rationalistischen, zu rascher wirkenden, und, wie er unverhohlen hofft, einflußreicheren Mitteln. Er erinnert sich daran, daß die Kirche eine Hierarchie ist und keine Aka- demie, daß sie kein Bedürfnis hat nach Studien und Diskussionen, wenn es genügt zur Befehlsgewalt zu greifen, daß Rom die Wahr- heit von niemand zu lernen braucht, weil es die Herrin über die Wahrheit für alle ist, daß die Fragen, die den letzten Gedanken Leos XIII. verdüstert und, wie man sagt, noch seinen Todeskampf beunruhigt haben, lediglich Fragen der , Wachsamkeit', des , Eifers', der , Festigkeit' sind, daß es lediglich gilt zu handeln, aber das dann kräftig.«

So kam es zu der Enzyklika, die bekannt ist. Sie konstruiert das System der Modernisten und stellt hier in allererster Linie fest, daß die Unterscheidung von Religion und Theologie, der Rückgang auf die Innerlichkeit der Ueberzeugung, die Hingebung an eine entwickelungsgeschichtliche Geschichtsforschung tödlich sind für die Idee des Uebernatürlichen, auf der die kurialistische Theorie und der mittelalterliche Katholizismus erbaut sind. Darin haben die Theologen sicher recht. Die Frage ist nur, ob der

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Katholizismus nicht eben von seiner mittelalterUchen Gestalt sich entfernen könne und müsse, und das behaupten die Verurteilten noch heute. Daran schließt sich dann das Strategem des Ver- nichtungsfeldzuges, das wesentlich darin besteht, den heranwach- senden Klerus der Zukunft von jedem Luftzug modernen Wesens sorgfältig abzuschließen, den verseuchten Klerus der Gegenwart dagegen auszuhungern und durch Demütigungen mürbe zu machen.

Der furchtbare Schlag ist gefallen. Die hierarchische Auto- rität hat ihr langes Schweigen gebrochen und mit einer Aus- giebigkeit und Heftigkeit geredet, die unerhört ist in der Geschichte der Enzykliken. Die Frage ist, was er wirken wird und wie sich die gebildete europäische Welt dazu zu stellen hat.

Ueber die Wirkung ist schwer zu urteilen. Sie hat eine Un- menge menschlichen Elends mit sich gebracht. Die großen Führer sind aufrecht geblieben und bleiben bei ihrer literarischen und bera- tenden Tätigkeit. Andere sind zusammengebrochen und begraben ein geknicktes Gewissen unter Zukunftshoffnungen. Das hoffnungs- volle Rinnovamento hat sein Erscheinen eingestellt als augen- blicklich der Lage unangemessen. Alle erklären von der Enzyklika nicht getroffen zu sein und versichern, daß sie an der Sache selbst nichts ändern können; die Sache selbst komme immer wieder. Paul Sabatier, der berühmte Biograph des heiligen Franz und Enthusiast für den Modernismus, versichert mir, die Bewegung ginge großartig weiter. Der mehrfach er- wähnte Anonymus meint: »Man wird fortfahren, mit der Kritik der Evangelien als die Grundideen Jesu, zugleich als die heute allein noch wirksamen Ideen, zu betrachten: das Vertrauen auf den himmlischen Vater, die Bruderschaft der menschlichen Familie und die Hoffnung auf das Gottesreich als ein Reich der Gerech- tigkeit und Liebe, die Herzensreinheit als alleinige Bedingung des Heils, den Anschluß an Jesus, durch den die frohe Botschaft an die Menschen gekommen ist ; und man wird fortfahren in dem ganzen folgenden theologischen Katholizismus nur die natürliche und notwendige Stütze für die von Jesus gebrachten Hoffnungen, die veränderliche kultische und dogmatische Hülle zu sehen, die die christlichen Grundwahrheiten einschließt und ausdrückt und ohne die die unaussprechliche Verkündigung sich unterwegs ver- loren hätte und nicht bis zu uns gekommen wäre. Unter dem Schutz ehrfürchtiger Beobachtung dieser Hülle, was kann sie da hindern Katholiken zu bleiben und mit ebenso viel Recht als der

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Papst selbst des Schatzes der Wirkungen und Tugenden zu ge- nießen, den hundert Generationen frommer Menschen angehäuft haben.« Ob ein solcher Optimismus berechtigt ist, ist schwer zu sagen. In solchen Dingen ist schlecht prophezeien. Für meine Person wäre ich allerdings geneigt, den Schlag für tödlich zu halten. Er ist die Konsequenz der ungeheuren Verengung, die der Katholizismus im Vatikanum erlitten hat. Nun kann ein Federstrich das Leben von Millionen töten, weil durch Bezweif- lung dieses Federstriches die innere Struktur der Kirche sich auflösen müßte. Es ist ein Tag des Schreckens und Entsetzens für das geistige Leben der katholischen Kirche, und damit auch für das aller Völker, die auf absehbare Zeit mit starken katho- lischen Bevölkerungsbestandteilen zu rechnen haben. Sie werden noch fremder und schroffer gegen das allgemeine Leben sich abschließen; Polemik und Kampf werden noch roher und gröber werden; der Bildungskatholizismus wird verschwinden, ohne daß darum die Agitationskraft eines so wundervoll funktionierenden Autoritätssystems geringer würde. So lag es schon beim Vati- kanum, und so liegt es heute wieder bei der Encyclica pascendi dominici. Die späteren Geschlechter werden die Folgen spüren, wie sie heute die Folgen des Vatikanums spüren.

Liegen die Dinge aber so, dann ist für die moderne Bil- dungswelt schwer dazu die richtige Stellung zu gewinnen. Es geht an diesem einen Punkt das ganze religiöse Problem der Gegenwart auf. Die Sache verhält sich ja nicht so sehr viel anders auf dem protestantischen Gebiet. Auch hier kämpft kirchliche Autorität und Tradition heftig gegen den Modernismus und ist ein Geist gleich dem der Enzyklika weder selten noch wirkungslos. Es gibt Leute genug, die sich darüber freuen und damit den erhofften Zusammenbruch des Christentums um ein erhebliches näher rücken sehen. Aber damit, daß die religiösen Kreise von dem modernen Leben sich absperren, sind sie noch keineswegs dem Untergang preisgegeben. Es wäre eine verhängnisvolle Illusion, wollte man sich dieser Hoffnung hingeben. Die Absperrung ist doch immer nur eine bedingte, und vor allem mit dem praktischen Leben bleiben sie durch tausend Kanäle verbunden. In ihnen walten starke Kräfte, deren die Menschen bedürfen ; und die Welt der Intellektuellen ist keineswegs so voll von Sieges- zuversicht, moralischer Kraft, religiösem Schwung, so frei von intoleranten Dogmen und durchsichtigen Vorurteilen, daß ihren

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. c

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Überlegenen Kräften ein selbstverständlicher Sieg zu prophezeien wäre. Die Lage ist daher schwierig und wird vermutlich noch schwie- riger werden, wenn der konservativ-liberale Eisblock der Bülow- schen Aera geschmolzen sein wird. Man wird die Macht der Kirchen wieder kennen lernen und einsehen, daß man sie nicht schadenfroh der Engherzigkeit überlassen darf. Vorerst aber ist zu dieser Einsicht wenig Lust vorhanden, und so sind allgemeine Programme überflüssig und wirkungslos. Sehe jeder, wo er bleibe, und wer sich Verständnis für die großen religiösen Kräfte der Menschheit bewahrt hat, mag überall, wo er das Gute und Wahre findet, es pflegen, ob seine Form nun ganz seinen Wünschen entspricht oder nicht. Er fördere in den gegebenen Kirchen und, wenn er es außerhalb findet, außerhalb ihrer den Gedanken einer in Gott begründeten Menschenwürde und einer in Gott einmün- denden Menschenliebe und frage nicht allzu genau, ob auch die Konsequenz des Gedankens von der Theologie überall gewahrt wird. Er wundere sich vor allem nicht, daß die Kirchen die Massen mit einer dem modernen Leben völlig fremden Ideenwelt beherrschen, wenn er selber nichts dazu tut, daß es in den Kirchen anders wird, und nur hoft"t, daß die Kirchen an der Ver- achtung der Gebildeten und an Simplizissimuswitzen sterben sollen. Das werden sie niemals tun, man wird nur die Möglich- keit der Einwirkung auf sie damit verlieren. So würde meiner Meinung nach im Grunde nichts anderes übrig bleiben, als in den Kirchen dem wahrhaft innerlichen und freien religiösen Leben zur Existenz und Selbstbehauptung zu helfen, wo irgend es sich regt, und zwar gilt das für katholische und protestantische Kirchen, die man ja doch beide immerdar nebeneinander behalten wird. Das wäre das einfachste Mittel, der schwierigen Lage abzu- helfen. Es ist aber zurzeit jedenfalls das unpopulärste. So muß man die Dinge gehen lassen, wie sie gehen. Die Zeit wird kommen, wo ihre Konsequenzen auch für blöde Augen sichtbar werden, wo die moderne Hypertrophie der Wissenschaft sich wundern wird über die vielen Dinge, die die »Wissenschaft« nicht gesehen hat. Das Christentum wird sicherlich in seinem eigentlichen ethischen und religiösen Gehalt nicht untergehen, aber welche Wege es nehmen wird, ist bei der Ratlosigkeit und In- differenz unserer Bildungsschichten unerkennbar. Darüber möge ein des Vorurteils Unverdächtiger, Ernst Renan, sprechen, der einem an ihn sich wendenden katholischen Priester schrieb :

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»Die katholische Kirche ist eine große Sache, ihre gegenwärtige Lage ist so außerordentlich, so tragisch, daß unsere Zeit vielleicht eine der Krisen erleben mag, in denen die schulmäßige Logik nicht ausreicht. Zwei Dinge sind sicher. Der Katholizismus wird nicht untergehen und der Katholizismus kann nicht bleiben, wie er ist. Es ist wahr, daß wir nicht begreifen, wie er sich ändern kann. Diese Stunden, wo alle Auswege verrammelt scheinen, das sind die großen Stunden der Vorsehung. «

Das gilt nun freilich nicht bloß vom Katholizismus. Gerade der Modernismusstreit mit seiner Literatur, in der neben inkon- sequentem Enthusiasmus und kurzsichtiger Einzelkritik die tiefsten und wärmsten Töne angeschlagen und die weitsichtigsten und prinzipiellsten Gedanken erläutert werden, zeigt uns, daß es im Grunde die Lage des Christentums überhaupt ist, um die es sich handelt. Die protestantischen Länder haben nur den außer- ordentlichen Vorteil, daß sie nicht an die unerbittliche Logik der hierarchischen Autoritätslehre geschmiedet sind, sondern aus der freier beweglichen religiösen Subjektivität religiöse Neubildungen hervorbringen können. Wollte der Himmel, daß sie davon auch einigen nennenswerten Gebrauch machen möchten und die Be- hörden das Leben nicht wieder totschlagen, das sich ohne ihre Anweisung regt!

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Die Religion im deutschen Staate.

(Aus: Patria, Band XIII, 1912,)

Bernhard Kellermann schließt eine ausführliche, höchst anmu- tige und allem Anscheine nach sehr verständnisvolle Darstellung Japans mit dem Bericht, daß er bei der Heimreise auf seinem Dampfer alles Gesehene noch einmal überdachte und dabei zu dem Ergebnis kam, daß er so gut wie nichts von alledem ver- standen habe. Das ist ein bißchen die Lage aller, die fremde Völker und Kulturen als Reisende zu beobachten und zu durch- dringen hoffen, auch wenn die fremde Welt einem unendlich näher steht als Japan, und auch wenn man durch literarische Studien seine Beobachtungen zu ergänzen imstande ist. So wird ein mehr oder minder flüchtiger Reiseaufenthalt in England oder Nordamerika, das Studium historischer Arbeiten über diese Län- der, die Versenkung in ihre Zeitschriften und Zeitungen, die An- teilnahme an ihrer Literatur sicherlich einen gewissen Einblick gewähren, aber in die Tiefen des seelischen Verständnisses des fremden Volkes dringt man doch überaus schwer ein. Insofern ist es mit dem vollen Verständnis fremden Lebens eine nicht unbedenkliche Sache, wenn man sich als Ergebnis eine innere Durchdringung und Durchleuchtung dieses Lebens denkt. Greif- barer und sicherer aber sind die Wirkungen, wenn man sich als Ergebnis eine klarere Beurteilung der eigenen Heimatswelt denkt. Diese voll zu verstehen, ist doch immer erst durch die Wahr- nehmung der Kontraste einer fremden Welt möglich. Sie zeigt ihr wahres Gesicht erst, wenn man sie von den Gestaden frem- der Meere und aus dem Wirbel fremden Lebens heraus hinter sich liegen sieht. Die großen Kontraste springen gerade bei sol- cher nicht allzusehr ins einzelne gehenden Anschauung und Kennt- nis des Fremden deutlich ins Licht, und von ihnen aus erleuchtet sich die eigene Welt oft sehr viel besser als die fremde.

In diesem Sinne hat denn auch die Kenntnisnahme von den

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großen angelsächsischen Völkern stets auf uns Deutsche gewirkt. Sie ist neben der Vergleichung mit den Völkern romanischer Kultur die wichtigste Quelle unserer Selbsterkenntnis. Dabei er- scheinen England und die Union trotz der außerordentlichen zwischen ihnen bestehenden Unterschiede doch in einer Aehn- lichkeit, die nicht bloß durch die Gemeinsamkeit der Sprache vor- getäuscht wird, sondern die in gewissen gemeinsamen Kontrasten gegen unser Leben begründet ist. Versuchen wir diese Kon- traste herauszuheben, so liegen sie vor allem an der ganz ande- ren Stellung der Religion im gesellschaftlichen und staatlichen Leben. Deutsche Gelehrte, die aus der deutschen, so ziemlich reli- gionslosen akademischen Atmosphäre in jene Welt verschlagen werden und ihre Eindrücke schildern, pflegen über nichts mehr zu klagen, als über die unerträgliche Macht der Orthodoxie und der Prüderie, wie sie jene Vorherrschaft religiöser Gedanken zu nennen pflegen, und die sie mehr oder minder als Heuchelei an- zusehen geneigt sind. Das gleiche ist der Stil deutscher Zeitungs- korrespondenten, die aus jenen Ländern unsere Presse versorgen und in der Regel mehr oder minder ironisch den »Cant« zu schildern pflegen, der angelsächsische Profitsucht und Herrsch- gier mit religiösen und humanitären Phrasen zu umgeben und dem harmlosen Kontinent auf diese Weise annehmbar zu machen suche. Wieviel »Gant«, den bekanntlich die Engländer selbst oft tadeln, darin enthalten sein mag, wie sehr bei solchem Tadel ver- schiedene, ganz getrennte Volks- und Interessenschichten ver- mengt und auf ein gar nicht bestehendes gemeinsames Niveau ge- zogen sein mögen, das mag hier ununtersucht bleiben. Er wird in Wirklichkeit auf keiner sehr viel anderen Stufe stehen als die ist, auf der bei uns streng pietistische, selbstgerechte und splitter- richterliche Kreise stehen, nur daß das, was wir nur als Eigen- schaft kleiner Kreise kennen, dort Eigenschaft großer Volksmas- sen ist und darum sich mit dem öffentlichen Leben und den poli- tischen Interessen durchdringt. Was für uns bedeutsam ist, das ist etwas ganz anderes. Das ist die viel stärkere gesellschaft- liche Rolle des religiösen Elements, die in tausend Dingen der Sitte und öffentlichen Ordnung sichtbar wird, die in dem mächtig ent- wickelten Missionswerk sich darstellt, die neben den gefestigten und ihre Anhänger sehr fest anfassenden Kirchen immer neue Er- weckungsbewegungen und Sektenbildungen mit sich bringt. Die moderne Kritik fehlt nicht, aber sie beherrscht sehr viel schma-

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lere Kreise. Ob sie nicht auch dort sehr viel weiter vordringen wird, und ob nicht auch dort die scheinbar unvermeidliche sozial- demokratische Klassenbildung die Arbeiterschaft dem Glauben entfremden wird, das steht dahin. Jedenfalls ist es noch nicht so. Ebenso gibt es natürlich auch dort den Gegensatz der bru- talen Macht- und Herrschaftsmoral gegen die christliche Liebes- und Humanitätsmoral. Aber der Gegensatz wird mehr verhüllt, und die Jingos dürfen es nur selten wagen, das Christentum als den Krankheitskeim des modernen Machtstaates zu bezeichnen, wie dies unser Pangermanismus eifrigst tut und wie es die stille Voraussetzung der neudeutschen Schneidigkeit ist. Sehr charak- teristisch sind hier die seltsam widerspruchsvollen Verbindungen beider Welten, die Roosevelt stets von neuem und vermutlich mit voller Ehrlichkeit unternimmt. Die religiöse Indifferenz, die Verhöhnung der christlichen Moral, die Verbreitung geist- reicher Radikalismen ist dort nicht das Zeichen der guten Gesell- schaft und der Intellektuellen wie bei uns. Vielmehr sind sie durch Achtung und Schonung gegenüber diesen Volkskreisen, wenn nicht durch persönliche Anteilnahme an ihnen, charakteri- siert. Selbst ein geistiger Revolutionär wie Bernhard Shaw hat einen starken puritanischen Untergrund, von dem die nichts ahnen, die in ihm einen englischen Nietzsche bewundern. Dort weiß man, daß die Religion Nervenkräfte spart, und dementsprechend pflegt oder schont man diese Reserven eines geschäftlich so überaus angestrengten Volkslebens.

Aber nicht bloß die starke Stellung des religiösen Elements in der Gesellschaft ist das Auffallende. Mindestens ebenso wich- tig ist der Umstand, daß diese Stellung eine solche in der Ge- sellschaft, aber nicht im Staate, in der Politik und im Partei- wesen ist. Das ist vollkommen klar in Amerika. Hier herrscht bekanntlich die volle Trennung allen religiösen und staatlichen Lebens. Sie wird in erster Linie um der Religion willen verlangt, da der Staat in das Gewissen schlechterdings sich nicht ein- mischen dürfe. Sie ist aber ebenso eine politische Lebensfrage, indem so die politischen Interessen- und Gruppenbildungen von den Rivalitäten der zahlreichen und sehr verschiedenen Denomi- nationen unabhängig bleiben und ihren rein rationellen, staatlichen Nützlichkeitszwecken nachgehen können. Die staatliche Ordnung ist dem Amerikaner eine reine Nützlichkeitsfrage, und die läßt er mit den ganz andersartigen, alles verwirrenden religiösen In-

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teressen nicht verquicken. Der amerikanischen Demokratie ist im Unterschied von allen aus den festländischen Revolutionen ge- borenen Demokratien ein höchst konservativer Sinn eigentümlich, mit dem sie ihre Verfassung und deren Grundzug, die Trennung des staatlichen und religiösen Wesens, gegen alle Gefahren popu- lärer Launen schützt. Die Trennung ist so ein Grundgesetz, das von allen mit äußerster Sorgfalt als Zeichen amerikanischer Bürgergesinnung hochgehalten wird, und zu dem sich die Katho- liken mit dem gleichen demokratischen Pathos bekennen wie irgendwelche Protestanten. Das Charakteristische hierbei ist aber, daß diese Trennung nur eine politische ist und als solche sorg- fältigst aufrechterhalten wird, aber keine soziale. Als Macht der Gesellschaft, als Helfer in allen humanitären Werken und Inter- essen, als Unterstützung der moralischen, ja auch der polizeilichen Ordnung, sind die Denominationen aufs höchste geschätzt und wird ihre Hilfe herangezogen.- In Chicago z. B. ereignete sich während meiner Anwesenheit eine ungewöhnliche Häufung von Mordtaten. Die Folge war ein Ersuchen des Stadtrats an die Geistlichen sämt- licher Religionskörper, ihre Hilfe dagegen zur Verfügung zu stel- len. In dieser sozialen Herrschaft des Religiösen ist auch das be- gründet, was die kontinentalen Theoretiker der Trennung als die Inkonsequenzen der Amerikaner bezeichnen, wie die Ausschrei- bung eines Bußtages durch den Kongreß, die Eröffnungen der Kongreßsitzungen durch abwechselnde Geistliche verschiedener Denominationen, die Seelsorge in den Gefängnissen, die Behand- lung des Eides und der Feiertage in manchen Einzelstaaten, die Forderung mindestens eines allgemeinen Gottesglaubens in man- chen Verfassungen, die Verlesung biblischer Abschnitte in den konfessionslosen Schulen usw. Das alles hat seinen Grund darin, daß wir es mit einer völligen politischen Trennung vom Staate, aber mit einer starken geistigen Herrschaft in der Gesellschaft zu tun haben. Für den Amerikaner sind das keine Inkonsequen- zen, weil er ja nicht die Ausschaltung der Religion aus der Ge- sellschaft und ihre Verweisung in harmlose Vereine, sondern die moralische Stütze für die Gesellschaft und die Ausschaltung aus den politischen Kämpfen will, weil er im Staat eine lediglich auf Ordnung und Wohlfahrt beruhende Zweckmäßigkeitsinstitution und in der Kirche eine damit wohl verträgliche Organisation der moralischen und überirdischen Interessen erkennt. Die Wirkung davon ist dann eben eine uns Deutsche überraschende Herrschaft

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der Religion über das soziale Leben und eine uns noch unge- wohntere Ausschaltung aus allem politischen Treiben. Bei uns ist sie umgekehrt in der Gesellschaft ziemlich bedeutungslos, dagegen durch die Verbindung mit gewissen Parteigruppierungen entschei- dend in der Politik.

Auf den ersten Anschein sehr viel anders, im Grunde aber doch ähnlich liegen die Dinge in England. Auch hier ist die soziale Machtstellung der Religion eine unvergleichlich stärkere als bei uns. Damit hängt zusammen, daß die dogmatischen Streitigkeiten zurücktreten und die praktisch-soziale Leistung, die Verbindung getrennter Gruppen in praktischen Werken, eine viel größere Bedeutung besitzt. Ein sicherer Selbsterhaltungstrieb schützt die alte angestammte Religion vor übermäßiger intellektueller Zersetzung; ein konservativer Instinkt achtet die schwer ersetz- baren, geistigen Weltanschauungsgrundlagen, auch wenn man sich persönlich nicht sehr dafür interessiert. Freilich scheint die Betei- ligung des religiösen Elements an dem Staate und dem Parteiwesen hier erheblich größer zu sein als in Amerika. Die Staatskirche empfindet sich als einer der großen Vorzüge des insularen König- reiches, und andererseits kämpft ein starker Bruchteil des Dissent für die Liberalen. Allein das ist doch nur scheinbar ein Zusammen- hang mit der Politik. In Wahrheit herrscht auch hier die grund- legende Staatsauffassung, die den Staat für eine Sache der welt- lichen Wohlfahrt und Zweckmäßigkeit hält und ihn mit geistigen und religiösen Zielen überhaupt nicht in Verbindung bringt. Die Kehrseite davon ist die Zurückhaltung des Staates von aller Glaubenspolitik, wenn er auch rechtlich und verwaltungsmäßig genug mit der staatskirchlichen Institution zu tun hat. So ist es möglich, daß die staatskirchliche Geistlichkeit politisch völlig un- abhängig ist, für Weltfrieden und Völkerversöhnung entgegen aller Machtpolitik eintreten kann, soziale Unternehmungen höchst sozialistischen Geistes pflegen kann im Gegensatz gegen alle In- teressen des herrschenden Großkapitals. Das halten dort nur we- nige für »staatsgefährlich« und »national unzuverlässig«. Auf der anderen Seite folgt der Dissent begreiflicherweise dem für den Mittelstand eintretenden und die Entstaatlichung begünstigenden Liberalismus. Aber diesem folgen ebenso die Männer der Bent- hamschen Aufklärung. Der Liberalismus an und für sich erhält dadurch kein religiöses Gepräge und hat mit der Glaubenspolitik nichts zu tun. Es gibt hier nicht die allgemeine Trennung des

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Staates von der Kirche, sondern, wie F. A. Lange zu sagen und es als das weitaus Wichtigere zu bezeichnen pflegte, die Trennung des Staates vom Glauben. Es ist die Trennung, die calvinistisch erzogenen Völkern unter modernen Verhältnissen naheliegt: einer- seits eine utilitarische Staatsauffassung, die sich um Recht und irdisches Wohl bemüht und für ihre Autorität die Beimischung des religiösen Elements gar nicht nötig hat, andrerseits eine sehr hohe praktische Schätzung der Religion, die die Grundlage der gesellschaftlichen Gesundheit und den Gegenstand der höchsten geistigen Interessen bildet.

Demgegenüber sind nun unsere Verhältnisse verschieden genug. Das Entscheidende ist vor allem die ganz andersartige Stellung der Religion in der Gesellschaft. Das Christentum befindet sich in Deutschland trotz einer sehr großen und eifrigen Anhängerschaft in einer sehr schwierigen Lage, und, da das Christentum die einzige ernstlich in Betracht kommende Religiosität in unserem Volke ist, so ist unser Zustand der einer schweren Religionskrisis. Unsere gebildete Welt steht teils unter dem Einfluß unserer großen klassi- schen Epoche^ von deren religiösen Elementen nur mehr der kategorische Imperativ und ein poetisches Natur- und Humanitäts- gefühl lebendig geblieben ist und gepflegt wird. Anderenteils steht sie unter dem Einfluß Frankreichs, desjenigen europäischen Landes, das mit dem Christentum am meisten gebrochen hat, dessen Literatur seit 1848 die aufgeklärten und demokratischen Geister bestimmt und dessen alles zersetzende Belletristik und nichts respektierendes Artistentum gerade die feinsten Geister heute beeinflußt. Dazu kommt, daß die proletarische Unterschicht systematisch in den schroffsten Haß gegen die Kirchen und damit auch gegen das kaum von ihnen unterschiedene Christentum überhaupt hineingetrieben worden ist. Diesem verbleibt ab- gesehen von den gleich zu charakterisierenden großen, religions- politisch bedingten Parteien von den Intellektuellen nur der in seinem Umfang freilich schwer abzuschwächende Bruchteil, dem das Christentum unaufgebliche W^ahrheiten zu enthalten scheint, der aber sie nicht recht zu formulieren und vor allem sie nicht für ein religiöses Gemeinschaftsleben fruchtbar zu machen versteht. Außer- dem verbleibt ihm der große, ja vermutlich der größte Teil des Mittelstandes und des Landvolkes, für die die Religion Weltan- schauung, Erbauung und gute väterliche Sitte repräsentiert. Unter diesen Umständen ist die Gesamtlage zweifellos eine kritische. Mit

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dem größten und prinzipiellsten Scharfsinn werden bei uns die Gegen- sätze der modernen und christlichen Welt untersucht. Mitleids- lose theoretische Klarheit wird erstrebt und praktische Abstump- fungen und Kompromisse werden verhöhnt. Wir kommen uns den Angelsachsen gegenüber unendlich viel weiter fortgeschritten vor in bezug auf wissenschaftliche Klarheit und Erfassung der Wesensgegensätze. Wir sind origineller, kühner und rücksichts- loser in der Kritik und haben gar keinen Sinn dafür, daß man aus bloß praktischen Gründen die religiöse Lebenssubstanz eines Volkes schonen könne oder solle. Ein frischer und tapferer schottischer Pfarrer, historisch sehr gelehrt, sportlich prächtig ausgebildet, dogmatisch sehr einfach und praktisch empfindend, meinte mir gegenüber einmal, in Deutschland möchte er nicht Pfarrer sein ; das sei überhaupt kein christliches Land. In der Tat, wer nur die deutsche Belletristik und das deutsche Universi- tätswesen kennte, würde mit vollem Rechte sagen können, daß er von der Christlichkeit unseres Landes nichts bemerke. Nicht um- sonst taucht in jedem Jahrzehnt immer wieder in irgendeinem Buch hervorragender Zeitbeurteiler die Frage auf: Können wir noch Christen sein.^ Die letzte Behandlung dieses Themas durch Rudolf Eucken zeigt gerade bei all ihrem religiösen Ernst die praktische Begründetheit dieser Frage. Im Stillen liegt sie auf den Lippen aller Gebildeten, wobei es für den kritischen Charakter der Lage gleichgültig ist, ob sie mehr bejaht oder mehr verneint wird.

In scharfem Kontrast zu dieser Stellung der Religion in der Gesellschaft steht nun aber ihre außerordentliche Bedeutung in der staatlichen Politik. Die innere Politik ist seit der Besiegung des Liberalismus durch Bismarck geradezu dadurch bestimmt. Wie kommt das }

Es kommt, kurz gesagt, davon her, daß die in der vorherigen Uebersicht nur angedeuteten großen Minoritätsgruppen konfessio- neller Altgläubigkeit mit ganz bestimmten großen politischen Parteibildungen innerlich verwachsen oder zu solchen ausgewachsen sind. Es kommt insbesondere daher, daß diese Parteien für die politischen Notwendigkeiten eines von allen Seiten bedrohten Staates ein stärkeres Gefühl haben, als die Sozialdemokraten und als die rein politischen Demokraten es besitzen oder falls die letzteren sich hierin geändert haben sollten bisher besessen haben. Dazu kommt, daß unser Staat nicht wie der amerika- nische Kontinent und die englische Insel eine gewisse Unangreif-

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barkeit besitzt. Er mußte daher in erster Linie als militärische Monarchie konstruiert werden, wofür nun wieder die Erhaltung aller für Disziplin und Autorität günstigen Kräfte unerläßlich ist. Es kommt weiter dazu, daß unser Staat nicht wie der angelsächsische lediglich dem Recht und der Wohlfahrt dient, sondern in der Ueberlieferung lutherischer Kultur und deutsch-idealistischer or- ganischer Staatsauffassung als Erziehungs- und Gesinnungsstaat eingerichtet ist, der materielles und geistiges Wohl in gleicher Weise verwaltet und der daher mit den höchsten geistigen Gütern zusammen als ein ethischer Wert an sich empfunden werden will. Es kommt schließlich dazu die schicksalsreiche deutsche Ge- schichte, die der Reformation nicht erlaubte, das ganze deutsche Volk zu erobern, sondern ihren Siegeslauf hemmte und da- durch die große konfessionelle Mischung der Bevölkerung schuf; in dieser behauptete sich der Katholizismus tatenlustiger und glaubenseifriger als in den rein katholischen Ländern.

Aus dieser Sachlage ergeben sich nun folgende Beziehungen der politischen Gruppen zu den religiösen Mächten.

Das Zentrum ist die Zusammenfassung der katholischen Minorität zu politischer Aktion und zur Wahrung des Einflusses der katholischen Weltanschauung und Ethik auf das staatliche Gesamtleben. Es ist dabei dogmatisch durch und durch mittel- alterlich. Der dogmatische Modernismus, der in rein katholischen Ländern aufkommen konnte, hat in diesem kämpfenden Katholi- zismus nie eine stärkere Vertretung gefunden. Dagegen ist eben dieses Zentrum in politisch-sozialer Hinsicht dem modernen Staats- leben gar nicht so fremd, als diejenigen meinen, die nur an seine Dogmatik und Philosophie und seinen Geisteszwang denken. Einerseits hat der Katholizismus von jeher das Gesellschaftsideal einer relativen Vertretung der Rechte des Individuums, und vor allem der gedrückten Individuen, aufgestellt, den Ausgleich und die gegenseitige Rücksicht der Ständegruppen gefordert und durch die in letzter Instanz entscheidende kirchliche Autorität diese Harmonie der Interessen zu erzwingen vermocht. Er besaß mit anderen Worten immer ein recht gesundes politisch-soziales Ideal und eine erhebliche Kraft, das Ideal nicht bloß im Programmzu- stand zu lassen. Die Kehrseite davon ist dann freilich der ent- setzliche dogmatische Geisteszwang. Auf der anderen Seite aber hat der Zentrumskatholizismus einen politisch-sozialen Modernis- mus entwickelt, der auf die sozialen Forderungen und die sozialen

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Organisationskünste der Gegenwart einzugehen versteht und der mit dem konfessionell gemischten Staate vortrefflich zu paktieren imstande ist, ja, der sich auch den Anforderungen einer realisti- schen Machtpolitik, wie sie unter sündigen Menschen zur Bändi- gung der Bosheit sein muß, nicht verschließt, ohne doch dem großen Leviathan der Staatsallmacht bedingungslos zu huldigen. Die Freiheit des katholischen Geistes vom Staate ist stets seine Forderung gewesen, und dadurch steht er dem modernen politischen Denken gar nicht so fern. Es ist daher wohl begreiflich, daß eine solche Partei nicht bloß strenge Katholiken, sondern auch mehr freigesinnte, aber die politisch-soziale Mischung von Freiheit und Autorität bejahende Geister sammelt, und ihre Erfolge waren durchaus geeignet, die ansteckende Begeisterung zu erzeugen, ohne die eine große Partei sich nicht behauptet. Zudem hatte sie in Geistlichkeit und Orden und in den von ihnen entwickelten Organisationstalenten eine unübertreffliche, unentgeltliche Armee von Hilfsarbeitern, die andere Parteien nicht für die ungeheuer- sten Geldopfer erlangen könnten. Ihre Agitatoren und Organi- satoren bezahlt der Staat, und die Parteikasse ist nur ein Zuschuß zu den so bereits bezahlten Kriegskosten. Ebenso aber ist be- greiflich, daß die Staatsgewalt mit einer solchen Partei nicht bloß rechnen, sondern auf ihre Hilfe zum guten Teil sich aufbauen muß. Die Dynastien fühlen in ihr den verwandten Geist der Autorität und Zentralisation und finden daher bei ihnen trotz gelegentlicher schroffer Ueberhebung über die weltliche Gewalt mehr Rückhalt als an der instinktiv zur Republik neigenden Demokratie ; solange und soweit sie Gefühls- und Instinktpolitik treiben, werden sie immer das Zentrum der Demokratie vorziehen. Nur realpolitisch ist für sie eine etwaige Stützung auf die Demokratie möglich ; das tut aber in Wahrheit doch nur eine so locker sitzende Dynastie, wie die savoyische in Italien, wo ihr überdies der klerikale Apparat nicht zu Händen ist. Aber auch die reine Staatsgewalt als solche findet beim Zentrum eine Berücksichtigung staatlicher Notwendig- keiten und eine Förderung sozialer Aufgaben, die sie mit allerhand Konzessionen auf dem Gebiet der Schule, der Personalbesetzungen, der Kolonial- und Missionspolitik so lange nicht zu teuer bezahlt, als die Demokratie ihr keinen festen Rückhalt für die realen Staatsnotwendigkeiten darbietet. Rechnet man dazu noch, daß bei der deutschen Zersplitterung des Parteiwesens das Zentrum immer eine der größten und unveränderlichsten Parteien ist, so

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erklärt sich der politische Einfluß auch von dieser Seite her. So entsteht dann aber freilich auch ein äußerlicher Zwangskatho- lizismus, der, wie z. B. gegenwärtig in Bayern, in geradezu lächerlichem Gegensatz zu den wirklichen religiösen Gefühlen der gebildeten Bevölkerung steht. Daran wird wenig zu ändern sein, solange das Zentrum bleibt, wie es ist. Eine Aenderung wäre nur denkbar, wenn dem deutschen Katholizismus auch dieser politisch-soziale Modernismus verboten würde, wie das heute die Frage in dem Streite zwischen der sogenannten Berliner und Kölner Richtung ist, oder wenn der katholische Glaubens- eifer nachließe und sein religiöses Denken mit der modernen Welt mehr ausgliche.

Die zweite große, nicht auf die Religion aufgebaute, aber die Religion nachdrücklichst verwendende und ihr dadurch eine politische Machtstellung verschaffende Partei sind die Konservativen. Sie sind in erster Linie eine politische Partei, die Partei des preußischen Großgrundbesitzes und der ihm angeschlossenen Bauern und eines Teiles des gewerblichen Mittelstandes, verstärkt durch die Be- amten und durch die ganze Schar derer, die im Anschluß an diese Gesellschaftsschicht den Zugang zu vornehmen und offi- ziellen Kreisen suchen. Es ist im Kern die alte herrschende Schicht des nördlichen Deutschland, die unzweifelhaft in ihren vererbten Verhältnissen starke Herrschereigenschaften ausgebildet hat und einen spezifisch politischen Sinn besitzt. Sie ist mit diesem Herrschaftsgeiste die Seele des von ihr innerlich doch wieder vielfach geschiedenen höheren Beamtentums, der Träger der spezifisch preußischen militärischen Disziplin und des barschen Autoritätswesens im niederen Beamtentum. All das hat mit reli- giösen Elementen zunächst gar nichts zu tun, sondern steht mit seinem realistischen Macht- und Gewaltgeiste ihnen geradezu ent- gegen. Allein sie spielen doch für diese ganze Partei indirekt eine außerordentliche Rolle. Die ganze Herrscherstellung des Feudalismus und indirekt damit auch die seiner Kopien hängt eng zusammen mit der Entwicklung des deutschen Luthertums, wie die angelsächsische demokratische und kaufmännische Religio- sität mit der des Calvinismus jener Länder zusammenhängt. Das Luthertum war ursprünglich freilich eine höchst innerliche spiritua- listische Religiosität, aber indem es von hier aus die Gleichgültig- keit der weltlichen Dinge für die Seele und die Berechtigung aller gegen die Erbsünde und Bosheit geschaff'enen weltlichen

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Gevvaltordnungen lehrte, kam es unter die Uebergewalt der be- stehenden Machtverhältnisse. In seinen ursprünglichen sozialen Instinkten wesentlich bürgerlich-patriarchalisch und seine feste Berufsgliederung mit dem Geist der Treue, Gewissenhaftigkeit und Anspruchslosigkeit durchdringend, ist es politisch von den als Träger des göttlichen Weltregiments verehrten Staatsgewalten abhängig geworden und sozial auf den Gebieten des Feudalismus zu einer patriarchalischen Verherrlichung der herrschenden Stände ausgeschlagen. Diese haben wiederum ihrerseits die Religion in dem derart bestimmten Sinne gepflegt und verwendet, ihre eigentliche Stellung damit ethisch vor sich selbst und vor den Massen gerecht- fertigt. So beruht bis zum Tage die gefühlsmäßige Stellung der Herrenklasse in ihren eigenen Augen und in denen ihrer Unter- gebenen auf jenen patriarchalischen Gefühlen der Ergebung in die irdische Autorität, die von Gott zur Ordnung der weltlichen Dinge bestellt und dafür nur an ihr Gewissen gebunden ist. Das bedeutet eine enorme gefühlsmäßige Festigung der Machtstellung und eine Entwicklung von ganz bestimmten damit verbundenen ethischen Eigenschaften der Herrscher und Beherrschten. Aber es bedeutet noch viel mehr. Es bedeutet die Möglichkeit, den ganzen im Sinne des lutherischen Katechismus patriarchalisch empfindenden Mittelstand um der gleichen religiösen Grundstimmung willen an sich zu ziehen. Es vereinigt die bäuerliche Ethik mit der junker- lichen. Es gestattet schließlich, eine Menge von klassenmäßig völlig Fernstehenden, aber religiös Uebereinstimmenden an die Partei zu fesseln. So verbirgt die Partei sich und anderen ihren Klassencharakter und wird zur Partei der patriarchalisch-autori- tativen Lebens- und Gesellschaftsauffassung, die sich als die Er- halterin des alten Ethos gegenüber dem demokratischen Indivi- dualismus und der rationalistischen Autonomie empfindet und darstellt. Sie verbirgt den Klassencharakter nicht bloß, sie über- windet ihn dadurch bis zu einem gewissen Grade. Das patriar- chalische soziale Ethos, die Erhaltung der alten Gesellschafts- grundlagen und der Kampf für die väterliche dogmatische Gläubigkeit wird ein »konservatives« Programm. Indem damit die religiösen Leidenschaften gegen allen Liberalismus und gegen alles moderne Denken aufgestachelt werden, indem die politische Vorherrschaft zur Benutzung der Kirche als Propagandamittel und zur strengen Durchführung des Dogmas in Schule und Kirche verwendet wird, gewinnt die Partei Machtelemente, die von der

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höchsten populären Bedeutung sind. Sie führt den politischen Machtkampf mit Hilfe der Kirche und verkirchlichten Schule und gibt sich damit ein alle Glaubensleidenschaften entfesselndes ideales Programm. Daß sie damit die ihnen ohnedies sozial nahe- stehenden Dynastien und deren Machtmittel an sich zieht, ver- steht sich von selbst. Daraus aber ergibt sich eine den Konser- vativen bewußt und unbewußt zur Verfügung stehende Staats- religion, die mehr konservativ als christlich ist und die den einen Teil der Bevölkerung in leidenschaftlichen Haß gegen den modernen Geist hineinjagt, den anderen zum äußerlichen Mit- machen zwingt und von allen Strebern und Realpolitikern zweck- entsprechend verwendet wird. Ihnen vor allen ist die teils wirk- liche, teils scheinbare Machtstellung des Religiösen zu danken, und sie verbinden sich zu diesem Zwecke nötigenfalls mit dem ihnen übrigens recht fernstehenden Zentrum. Je klarer die moderne Religionskrisis zutage tritt, um so öfter finden sich die beiden feindlichen christlichen Parteien doch als Vertreter einer überwiegenden Gemeinsamkeit zusammen, und damit ist dann die politische Herrschaft der Religion erst recht besiegelt. Das Schlagwort »Die Religion ist in Gefahr!« ist für beide ein immer wieder die populären Gefühle gewisser Kreise sicher aufstachelndes Mittel zur Befestigung ihrer Herrschaft. Es sind die Kreise, die schon überdies die Gunst der politischen Machtverteilung für sich haben. Dem Volke muß die Religion auch wider seinen Willen erhalten werden; die Gemeinden haben einen Anspruch darauf, gegen sich selbst geschützt zu werden, wie mit unübertrefflicher Charakteristik einmal eines der Häupter des preußischen Ober- kirchenrates erklärte. Die so gegen sich selbst geschützten Ge- meinden sind die Grundlage einer staatserhaltenden, nationalen, d. h. im Grunde die alten Machtverhältnisse konservierenden Politik. Hier hängt eins am andern.

Unter diesen Umständen ist es klar, daß die gesamte poli- tische Linke schon aus äußerlich politischen Gründen eine sehr schwierige Stellung zur Religion haben müßte, auch wenn sie nicht innerlich und gedanklich in einem Mißverhältnis zu ihr sich befände. Druck erzeugt Gegendruck, Leidenschaft entflammt Leidenschaft. So herrscht hier ein unverhohlener Haß gegen die konservative Staatsreligion und gegen die den Staat zwingende Religion des päpstlichen Weltreiches, ein Haß, dem schließlich alles Religiöse überhaupt verdächtig wird als Mittel, das politische

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und kulturelle Machtstreben der Linken zu brechen. Man muß sich nur den immer wieder ergebnislosen Kampf der Linlcen ver- gegenwärtigen, um zu empfinden, mit welcher Abneigung die Liberalen dem dabei als Haupthindernis empfundenen religiösen Element gegenüberstehen müssen. Sie haben das Vertrauen zu seiner Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit und Selbständigkeit verloren und sehen in ihm nur das teils künstliche, teils mit der Unbil- dung naturwüchsig verbundene politische Machtmittel des Gegners. Hier ist alles das eingetreten, was die Angelsachsen von einer Verbindung beider Lebensinteressen befürchteten und um der Religion und des Staates willen zu vermeiden suchten.

Am wenigsten noch trifft das zu auf die freilich stark zu- sammenschmelzenden Reste des alten Liberalismus, die National- liberalen. Sie erstreben einen gemäßigten Fortschritt, eine Frei- gebung der Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb des festen Rah- mens einer wohlgefügten Gesellschaft, eine Versöhnung der mo- dernen geistigen Bildung mit den historischen Institutionen. Erwei- terung der bisherigen Staatsgewalt durch Mitbeteiligung des Volks- willens, Freigebung von Wissenschaft und Bildung ohne Auflösung der alten ethischen Lebensgrundlagen, Bewegungsfreiheit für die moderne Wirtschaft ohne Umsturz des sozialen Gefüges, eine elastische Erweiterung des alten Staates ohne eigentlich neues Staatsideal : das sind die Grundzüge dieses Liberalismus. Er ist keine umfassende neue Weltanschauung, sondern die Aufpfropfung der modernen Welt auf die alte. Ebendeshalb hat diese Gruppe auch kein religiöses oder antireligiöses Programm, sondern in diesen Dingen nur die Parole einer freien Bewegung der gege- benen Kirchen unter dem Einfluß der modernen Wissenschaft. Tun die Kirchen das, so werden sie mit eigenen religiösen Problemen beschäftigt und politisch nicht wesentlich bedeutsam sein. Man schirmt in der Theologie den Einfluß der Wissenschaft und überläßt die Kirchen im übrigen sich selbst in der Erwartung, daß die Wissen- schaft schon ihre Schuldigkeit tun werde, ihnen die ärgsten Gift- zähne auszureißen, ohne sie zu zerstören. Daher kommt hier eine gewisse Neigung zu den fortschrittlichen religiösen Be- strebungen, die man sehr unpassend »liberale Theologie« nennt, aber ohne Feuer, Begeisterung und Opferwilligkeit. Hier herrscht die Trennung von Staat und Glaube im Sinne einer überwiegend wohlwollenden Indifferenz, die jeder Richtung ihre Entwicklungs- möglichkeit wahren und alle vom politischen Einfluß ausschalten

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möchte. Wenn der Katholizismus sich einer solchen Einwirkung der Wissenschaft widersetzt, so flammt gegen ihn die Stimmung des Kulturkampfes auf. Seit dessen kläglichem Ausgang ist auch das Interesse an diesen Dingen immer geringer geworden. Wie dieser Liberalismus überhaupt vom älteren englischen Liberalismus befruchtet ist, so stellt er die mit jenem Liberalismus verbundene Religionspolitik in den charakteristischen deutschen Abänderungen dar : alles ist theoretischer und wissenschaftlicher, unpraktischer und unlebendiger, indifferenter und kraftloser.

Ganz anders aber steht die Sache bei den erklärten Demo- kraten. Sie haben eine prinzipielle Weltanschauung und wollen dementsprechend einen prinzipiellen Neubau des Staates. Ihre Weltanschauung ist die der französischen Revolution, d. h. rein rationalistisch, und dadurch so verschieden von aller Demokratie calvinistischen Ursprungs. Das Beherrschende ist bei ihnen nicht sowohl die Freiheit, die Eröffnung der Entwicklungsmöglichkeiten, als die Gleichheit der Rechte und Pflichten, die trotz der natür- lichen Ungleichheiten an Begabung und Kraft als eine rationelle Folgerung aus der wesentlich gleichen Vernunftanlage aller bis zur äußerst möglichen Grenze entwickelt werden soll. Eine Volks- bildung, die jedem mit der Volksschule die freie Einsicht in das wissenschaftlich Wahre gewähren soll ; eine politische Organisation, die jedem Einzelwillen die Mitwirkung an der Bildung des Ge- samtwillens ermöglicht; eine Ethik des freien Gewissens, die jeder aus sich selbst schöpft und die vermöge der gemeinsamen Ver- nunft mit der jedes anderen schließlich übereinstimmen wird ; eine von jedem religiösen Deismus gereinigtes Vertrauen zur Entwicklung der Neuzeit oder zum Fortschritt, der den Sieg der individuellen Vernunft bedeuten und in ihr auch die nötige soziale Gemeinschaft erzeugen wird : das sind hier die Grundzüge. Es ist selbstverständlich nicht ausgeschlossen, daß ernste Christen, namentlich pietistische individualistischer tlerkunft, einem solchen Programm sich anschließen können. Schwäbische Demokraten und Pietisten liegen nicht weit auseinander. Aber einmal hat der Haß gegen die politische Verwertung der Religion hier im ganzen alles Christentum diskreditiert. Dann aber ist auch nicht zu verkennen, daß dieses Ideal der Gleichheit dem christlichen Grundgedanken in der Tat nicht wesensverwandt ist. Das christ- liche Ethos ist individualistisch, betont den Wert der einzelnen Seele, sucht vor allem die Gedrückten zu heben und zu stärken,

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 6

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§2 Die Religion im deutschen Staate.

aber es sucht doch gerade auch in den Tugenden der vertrauen- den Hingebung, der ergänzenden Ausgleichung und tätigen Für- sorge eine spezifische Quelle ethischer Werte zu öffnen, die dem starr in sich verschlossenen rationellen Individualismus der De- mokratie unsympathisch sind. Es pflegt ferner eine Unterordnung des Einzelwillens unter Gott und einen Realismus der Einrichtung auf Bosheit und Selbstsucht, die mit dem Vernunftstolz und dem Optimismus einer solchen Weltanschauung schwer verträglich sind. Es besteht also in der Tat ein instinktiver innerer Gegensatz nicht im Dogma und Mythus, sondern vor allem im Ethos. Daher verhält sich die Demokratie auch im Innersten ablehnend. Sie löst das Problem lieber wie die französische Demokratie durch die For- derung der radikalen Trennung von Kirche und Staat, durch die Verweisung der Religion an freie Vereinsbildungen, wo jeder seines Glaubens leben und keiner einen Einfluß auf die Oeffent- lichkeit üben kann. Es ist dabei die Voraussetzung, daß die Macht der Religion über das öff"entliche Leben sofort aufhören werde, sobald ihr die Stütze des Staates entzogen ist. Dann mögen sich völlig freie Glaubensmeinungen in den Winkel irgend- welcher Vereinsbildung drücken. Sind sie erst einmal völlig aus der Schule entfernt und spielen sie in politischen Personalfragen keine Rolle mehr, so werden sie keine Gefahr mehr sein. Daß diese Voraussetzung von der Harmlosigkeit der kommenden reli- giösen Vereine berechtigt sei, das garantiert freilich nur die rationalistische Weltanschauung. Ein starker Druck auf diese Vereine und eine Bekämpfung ihrer Ideenwelt durch den demo- kratischen Staat dürfte kaum zu umgehen sein, wie denn auch beides in Frankreich nicht fehlt. Der ganze Gedanke ist trotz der Berufung auf die amerikanische Trennung durchaus uname- rikanisch. Hier liegen wir unter dem französischen Wind.

Am schroffsten ist die Stellung gegen das Christentum bei der Sozialdemokratie. Insofern sie Demokratie im Stile des 48 er Radikalismus ist, verstehen sich für sie alle die Gründe von selbst, die auch bei der Demokratie in dieser Richtung wirken. Inso- fern sie den politischen Gleichheitsgedanken der Demokratie aber ausweitet auf die Forderung einer möglichsten Gleichheit auch der wirtschaftlichen Existenzmittel und damit zu den alle altlibe- rale PVeiheit aufhebenden Idealen einer gemeinsamen Organisation von Gütererzeugung und Güterverteilung fortschreitet, entwickelt sie eine ihr eigentümliche, wesentlich auf die Philosophie des

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ökonomischen Prozesses aufgebaute Weltanschauung. Zwar hat diese Weltanschauung nach der ethischen Seite mannigfache Be- rührungen mit dem christlichen Ethos der Nächstenliebe und Brüderlichkeit, der Sympathie gegenüber Armen und Gedrückten, der Ueberordnung der Gemeinschaft über das bloße Individuum. Es gibt auch vor allem außerhalb Deutschlands christliche Sozialdemokraten und sozialdemokratische Pfarrer, was keinen wirklichen Christen wundern dürfte. Allein der heute herrschende und die deutsche sozialistische Parteibildung bestimmende Marxis- mus ist ganz unverkennbar dem Christentum nicht bloß aus äußerlichen und zufälligen, sondern aus inneren und notwendigen Gründen schroff entgegengesetzt. Es ist gewiß für keinen Billig- denkenden zu verkennen, daß der Sozialismus eine nur allzu natür- liche Folgeerscheinung der modernen wirtschaftlichen Bewegung und der Bevölkerungssteigerung ist, daß er in der Hebung der unte- ren Klassen einen bemerkenswerten Idealismus und vielfache ethi- sche Kräfte entfaltet. Aber ebenso klar ist, daß die Weltanschau- ung, die er in einer Kombination der Entwicklungsidee, des 48 er Materialismus und des Klassenkampfes angenommen hat, der christlichen Ideenwelt trotz all jener Berührungen total entgegen- gesetzt ist. Die vollkommene Diesseitigkeit, der ganz überwie- gende Utilitarismus, der Klassenkampf, die Ersetzung Gottes durch das Entwicklungsgesetz und seine Dialektik, der völlig dok- trinäre, alles Böse nur als Folge mangelnder Volksbildung erklä- rende Optimismus, der ganze Geist bewußter, eigener, selbstmäch- tiger Schicksalsgestaltung: das sind ebenso viele Gegensätze. Unter diesen Umständen bleibt der Religionspolitik der Partei hier nur die Erklärung der Religion zur gänzlich wirkungslosen Privatsache und die Forderung der Trennung von Kirche und Staat als ausdrückliches Mittel, die Religion unwirksam zu ma- chen. Sie selbst bedarf für ihr vereinheitlichtes und zentrali- siertes Gesellschaftsideal einer selbständigen und schlechthin ein- heitlichen Weltanschauung, deren formelle Aehnlichkeit mit den Dogmen der Kirche und mit der Intoleranz der schroffsten Kirch- lichkeit oft genug mit vollem Recht hervorgehoben worden ist. Aber das ist dann eben deshalb eine völlig dem Christentum ent- gegengesetzte Weltanschauung, die gerade um des agitatorischen Charakters willen diesen Gegensatz immer neu betonen muß. Nur als geschlossene Doktrin kann sie den doch stets noch gefährlichen Gegensatz des christlichen Ethos brechen. Sie ist daher die Gegen-

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kirche des Atheismus, der rein diesseitigen Erlösungs- und Zu- kunftshoffnung, des rein utiHtarischcn SoHdaritätsethos und besitzt dadurch eine den kirchlichen Parteien verwandte Schlagkraft ein- heitlicher absoluter Ueberzeugungen. Das alles ist wieder kon- tinentaler, deutscher, französischer Geist, aber ganz und gar nicht der Geist der angelsächsischen Arbeiterbewegungen.

Das ist das Bild der Sachlage, wenn man die typischen Er- scheinungen mit der für einen Ueberblick unentbehrlichen Außer- achtlassung der massenhaften Vermittlungen, Unklarheiten und Unbestimmtheiten heraushebt. Was ist nun aber die praktische Wirkung dieser Sachlage.''

Sie ist natürlich eine sehr verschiedene, je nachdem wir nach der Wirkung auf den Staat oder auf die Religion fragen.

In der ersten Hinsicht ist die Wirkung nicht gerade eine un- günstige zu nennen ; immer vorausgesetzt, daß es sich um einen jungen, von allen Seiten bedrohten und darum vor allem an der auswärtigen Politik interessierten Militärstaat handelt, der nicht beurteilt werden kann wie Nordamerika oder die Schweiz oder wie das englische Weltreich mit seinem insularen Mittelpunkt. Die beiden konfessionellen Parteien sind Kräfte der Autorität, des realen Machtsinnes, dem dynastischen Monarchismus, dem mili- tärischen Gehorsamsgeiste und der metaphysischen Verklärung des Beamtentums innerlich verwandt. Sie sind es gerade im Zu- sammenhang mit ihren religiösen Ideen. So ist es natürlich, daß der von Bismarck geschaffene Staat heute auf sie in erster Linie sich stützt. Ihnen nähert sich in einem gewissen Abstand der gemäßigte Liberalismus in der allgemeinen politischen, macht- staatlichen Haltung und dadurch in den politischen Kräftekom- binationen, die nun einmal die konservativ-klerikalen Parteien begünstigen. In demselben Maße mindert sich freilich auch seine Schlagkraft gegenüber der geistigen Unfreiheit und den drücken- den Standesdifferenzierungen und gerät er in den Selbstwiderspruch zwischen der nationalen Machtpolitik und dem liberalen Kultur- interesse. Diese Logik wird auch die Demokratie an sich erfahren, wenn sie realpolitisch den militärischen Bedürfnissen Rechnung trägt und damit die dem militärischen Geiste förderlichen Macht- gruppierungen verstärkt. Nicht umsonst sind die Militärforderungen immer ihre Schicksalsfragen, und aus demselben Grunde versagt die Sozialdemokratie bei allen militärischen und außerpolitischen Fragen. Die modernen Kulturparteien haben am Militarismus

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und der ihn stützenden alten Ständegliederung ihren eigentlichen Gegner und können daher ihm keine Zugeständnisse machen, so unentbehrlich er in der großen politischen Gesamtlage des deut- schen Staates ist. Da die konservativ-klerikalen Parteien aber mit der Stützung des Militarismus die ihnen günstige Gesellschafts- verfassung zugleich stützen, so sind sie für ihn gegen kirchliche und religionspolitische Zugeständnisse zu haben. Der Regierung bleibt unter diesen Umständen gar nichts anderes übrig, als sich auf sie vor allem zu verlassen, auch wenn nicht schon ihre eige- nen Instinkte sie überwiegend auf die Seite dieser Gruppen drängten.

Durch diese Konstellation wird die geschilderte Sachlage sich vermutlich noch lange behaupten. Das grundlegende Ereignis des neuen deutschen Staates, die Beseitigung des Liberalismus durch Bismarck, nachdem er dessen Einheitsstreben für die Reichs- gründung erst verwertet hatte, hat vermutlich gleichfalls in dieser Logik seinen Grund. Abgeneigt oder nicht imstande, den Libe- ralismus in diesem Sinne zu erziehen, verlegte er mit der ganzen Gewalt seines Willens den Schwerpunkt der Entwicklung wieder zurück in die dem Machtstaate günstigeren Parteien. Von einem solchen Standpunkte aus erscheinen dann die innerpolitischen Wirkungen der geistigen Unfreiheit, des brutalen Zwanges, der erbitternden Klassentrennung, der konfessionellen Absonderung als unvermeidliche und unangenehme Nebenwirkungen, die man nach Vermögen bekämpft, aber schließlich sich gefallen läßt. Nur wer nicht in der äußeren Politik und der Erhaltung der Schlag- kraft für sie die Hauptaufgabe unseres gegenwärtigen Staates sieht, wird in diesen Nebenwirkungen die Hauptwirkungen sehen und alles auf deren Bekämpfung abstellen. Das aber wäre eine Verkennung der schwierigen allgemeinen Lage und würde vor- aussetzen, daß die Fragen der inneren Geistes- und Klassen- politik auch für die anderen Staaten die Hauptfragen würden. Aber immerhin sind diese Nebenwirkungen drückend und erbitternd genug und verwirren das ganze geistige und moralische Leben.

Sehr viel ungünstiger ist nun aber die Wirkung dieser Sach- lage auf die Religion. Hier ist die verhängnisvolle Folge, daß alle Religion als beinahe identisch erscheint mit den beiden kon- fessionellen Parteien, daß aller Haß, der diese trifft, sich auch auf das von ihnen vertretene Christentum erstreckt. Die Par- teien [der Linken sind dadurch in eine Abneigung gegen das Christentum hineingetrieben, die weit über ihre instinktive Grund-

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Haltung der Sache gegenüber hinausgeht. Dadurch entsteht nun eine vollständige Verwirrung. Zur konservativen Staatsreligion halten eine Menge von Leuten, denen sie innerlich gleich- gültig ist. Andererseits stößt der Liberalismus zahllose von sich, die im Grunde nur durch ihr positiveres Verhältnis zur Religion von ihm geschieden sind. Bringt das schon Verwirrung und Unwahrhaftigkeit im Ueberfluß hervor, so ist die Zwangsreligion in einem Zeitalter gründlichster wissenschaftlicher Erschütterung der kirchlichen Dogmen und schärfsten ethischen Gegensatzes der Gesellschaftsstruktur gegen den religiösen Patriarchalismus ein Hohn auf die wirkliche geistige Lage. Eine konfessionelle Minderheit be- herrscht die ungeheure Majorität mit Mitteln und mit Gründen, die mit wirklicher Religion nichts zu tun haben. Das erweckt den Schein der Altersschwäche, der Unwahrhaftigkeit und Verlogenheit alles offiziellen Christentums, und verführt andererseits die Fana- tiker dazu, einer widerstrebenden Bevölkerung die Religion zwangs- weise zu erhalten, so lange sie noch die Macht dazu haben. Alle Bestrebungen aber, die überkommene Religiosität unseres Volkes mit der modernen Gedanken- und Lebenswelt auszuglei- chen, kommen dadurch zwischen zwei Feuer. Sie werden von den Konfessionellen mit allem Fanatismus bekämpft, als wären sie die einzigen Gegner, während sie in Wahrheit doch nur diejeni- gen Gegner sind, denen sie allein wirklich an den Kragen kom- men können. Umgekehrt werden sie von den Radikalen als un- klare und halbschlächtige Reste der alten Weltanschauung be- handelt, die um so gefährlicher sind, als sie eine Lebensfähigkeit des Christentums vorzutäuschen imstande sein könnten. So wer- den diese Bestrebungen, wie aller gemäßigte Fortschritt, zerrie- ben, während doch nirgends sich ein anderer Weg der religiösen Weiterentwicklung auftut. Unter diesen Umständen hat das mo- derne Religionsbedürfnis, das gerade im Gegensatz gegen die ökonomische Materialisierung und die politische Brutalisierung mit leidenschaftlicher Stärke erwacht ist, nirgends Aussicht sich zu sammeln, zu organisieren, zu klären und an einen geschichtlichen Untergrund anzuknüpfen. Damit aber verzehrt es sich in sich selbst und wdrd zum literarisch-ästhetischen Spiel. Seit langem hat man nicht so heiß nach Religion verlangt, und noch selten war sie so schwer zu finden.

Können diese Verhältnisse gebessert werden ? Können jene Nebenwirkungen der politisch-militärischen Lage verringert werden

Die Reliffion im deutschen Staate. «7

und kann die innere geistige Entwickelung für religiöse Verstän- digung und Vertiefung günstiger werden ?

Die Antwort wird nach Temperament und Lebenskenntnis sehr verschieden ausfallen. Einige Punkte aber sind immerhin klar und fest. Der Katholizismus kann nicht anders werden. Hier ist nur möglich, daß die mit der vatikanischen Zentralisierung einsetzende Ausscheidung alles Modernismus, auch alles politisch- sozialen, seine Anhängerschaft schließlich doch verringert, und daß eine billigere Behandlung der Religionsfragen von selten der Liberalen und der sogenannten »Wissenschaft« nicht die Katho- liken in die Arme des Zentrums treibt. Auch die Sozialdemokra- tie wird, solange sie die Massen durch leidenschaftliche Radika- lismen aufpeitschen und einigen muß und kann, nicht anders werden. Sie wird nur sein, solange sie an ihr Dogma glaubt, und wie lange dieses Dogma sich der Widerlegung durch die Wirk- lichkeit entziehen kann, ist nicht entfernt zu berechnen. So lange sie aber an ihr Dogma glaubt, wird trotz allem ehrenwerten christlichen Sozialismus an ihrer parteipolitischen Gesamthaltung gegenüber dem Christentum nichts geändert werden.

Aenderungen wären nur bei den Konservativen und der Demokratie möglich. Die Konservativen könnten an und für sich wohl sich auf ihr rein politisches Programm beschränken und da- her lediglich in ihren Kreisen auf Altgläubigkeit dringen. Sie könnten auf eine Zwangsbehauptung der Altgläubigkeit, auf eine Auferlegung des Glaubens auf die widerstrebenden Schultern ver- zichten. Sie könnten eine Kirchen- und eine Religionspolitik trei- ben, die die religiösen Gruppen sich selbst zur ferneren Ausein- andersetzung ihrer geistigen Kräfte überläßt. Sie könnten sich begnügen, auf diesen Kampf mit geistigen Mitteln einzuwirken und auf Gewaltmittel zu verzichten. Sie könnten das um so leichter, als ein solcher Verzicht auf den Zwang zu den ältesten und echtesten Bestandteilen lutherischen Glaubens gehört. Sie könnten in Schule und Universität dem siegreichen Bestand moderner Erkenntnisse offen und prinzipiell das ihm gebührende Feld einräumen, ohne an politischem und ethischem Gehalt zu ver- lieren. Wenn sie dadurch Fanatiker von sich abstoßen, so gewinnen sie dafür zahllose andere, die zur modernen Bildung eine andere Stellung einnehmen; und auch die Fanatiker würden sich schließ- lich beruhigen, wenn sie keinen weltlichen Arm mehr in Bewegung setzen könnten. Eine Modernisierung der Konservativen, ähnlich

gg Die Religion im deutschen Staate.

wie Beaconsfield die Tories modernisiert hat, wäre nicht undenk- bar, und die Freigebung der religiösen Kräfte würde gewiß nicht zu Ungunsten des Glaubens wirken , wie England und Amerika zeigen. Es müßten diese Kräfte nur erst selber wieder ehrlich und sauber werden. Das war auch das Programm eines hervorragenden Konservativen älteren Schlages, Paul de Lagar- des, dessen Abhandlung »Ueber das Verhältnis des deutschen Staates zur Theologie, Kirche und Religion « noch heute trotz mancher Exzentrizitäten zum Bedeutendsten gehört, was über die- ses Thema gelesen werden kann. Etwas ähnliches ist auch der Sinn, wenn man heute aus konservativen Reihen die Forderung eines »Kulturkonservatismus« erheben hört. Es wäre also eine Aenderung der konservativen Religionspolitik sehr wohl von den eigenen Grundsätzen der Konservativen aus möglich und denkbar. Von rein religiösen Gesichtspunkten aus hat Rudolf Sohm, ein wesentlich konservativer Mann, gerade das Luthertum an seine echteste Grundlehre, an die Lehre von der zwangsfreien Inner- lichkeit des Geistes, erinnert.

Andererseits könnte die Demokratie, wie sie den realpoli- tischen Notwendigkeiten Rechnung tragen gelernt hat, so auch den religiösen Instinkten und Kräften schonender und achtungs- voller begegnen, ein Verständnis für die ungeheure Macht einer jahrtausendalten Volksreligion gewinnen und das moderne Reli- gionsbedürfnis ernst nehmen, das sich vom reinen Rationalismus einer fortschrittsgläubigen Aufklärung nicht befriedigen läßt. Sie könnte einsehen, daß gerade die Freiheit doch einer metaphysisch- religiösen Verankerung bedarf, wenn sie gegen die Brutalität der Wirklichkeit behauptet werden soll, und daß dieses metaphysi- sche Suchen einer der besten Züge im Geiste der Gegenwart be- deutet. Sie könnte versuchen, die ihr entgegenkommenden Sei- ten des Christentums zu würdigen und könnte zugeben, daß die- ses Suchen an dem alten religiösen Besitz doch schwerlich vor- beigehen kann, sondern ihn fortentwickeln muß, wenn überhaupt etwas zustande kommen soll. Inbesondere könnte sie das ameri- kanisch-englische Vorbild darüber belehren, daß die sogenannte »Trennung« für sich allein überhaupt keine Lösung des Problems ist. Entweder ist sie ein Kampf gegen die Kirchen und wird dann alle Leidenschaften aufstacheln und kann unberechenbar wirken. Oder sie setzt eine Vorbereitung durch eine geistig-ethi- sche Entwicklung voraus, in der die Religion eine gesellschaftlich

Die Religion im deutschen Staate.

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gesicherte und geachtete Stellung gewinnt und von sich selbst aus eine Trennung der Funktionen wünschen muß. Nur das letz- tere könnte segensreich wirken. Das würde aber eine wirkliche innere Achtung und Anerkennung des religiösen Lebens voraus- setzen. Und in dieser Hinsicht könnte die Demokratie unzweifel- haft sehr viel mehr tun, ohne sich selber aufzugeben. Es ist ja auch in dieser Hinsicht in den letzten Jahren sehr viel besser geworden. Gerade in solchen Ausgleichungen wird die hohe nationale Bedeutung Naumanns zu erkennen sein. Aber es ist klar, daß wir auch hier von einer ähnlichen Befreundung religiöser und politisch-liberaler Ideen weit entfernt sind, wie sie für den englischen Liberalismus selbstverständlich ist.

So wäre wohl eine mittlere Linie möglich, auf der sich beide Gruppen in Bezug auf das Religionsproblem unserer deutschen Kultur wenigstens nähern könnten. Dann würden jene poli- tischen Nebenwirkungen bedeutend gemildert werden und dann würde in das religöse Leben wieder mehr mannhafte Aufrichtig- keit und ehrliche Arbeit des Suchens und Findens einkehren können. Es wäre irrig, zu übertreiben und zu sagen, daß die Auffindung einer solchen mittleren Linie entscheidend sei für den Fortbestand und die Zukunft des Deutschen Reiches, da dieses auf jede absehbare Zeit keine reine Demokratie werden und auch niemals sich in einen konfessionellen Feudalstaat zurückverwandeln könnte. Ueber Fortbestand und Zukunft entscheiden weit realere Dinge, politische und wirtschaftliche Entwicklungen in erster Linie. Aber daß die geistige und sittliche Gesundheit, die Freude am deutschen Staate und damit die Lebenskraft des Staates unend- lich bei einer solchen Mittellinie gewinnen würden, das darf man wohl zu behaupten wagen.

Das sind die Gedanken des politischen und zugleich religiös empfindenden Menschen zu diesem Gegenstande. Der rein religiöse Mensch aber würde sagen, daß auch er eine solche Mittellinie wünschen muß, daß aber für ihn die wahre Welt der ewigen Werte mit dem Deutschen Reich und der Auffindung dieser Mittellinie nicht zusammenfällt, daß er trotz allen Parteien, trotz der überwiegenden Masse der machthungrigen und fanatischen Theologen und trotz den Realpolitikern und Alldeutschen eine ewige Welt des Geistes sucht und von ihr aus mit verhältnis- mäßiger Gemütsruhe zusieht, ob diese Mittellinie gerade in Deutschland gefunden wird oder nicht. Das bedeutet keinen

QO Die Religion im deutschen Staate.

Quietismiis und keinen Verzicht auf Mitarbeit. Aber es be- deutet, daß man weder an sich noch an der Welt verzweifelt, wenn die geistigen Dinge in einem geliebten Vaterland nicht gehen, wie sie zum Wohl des Ganzen gehen müßten. Man wird dann nicht nervös und glaubt dann auch nicht aus Pflicht gegen das Ganze etwas mitmachen zu müssen, was man nur halb billigen kann. Man wird nicht um politischer Zwecke willen einen Glauben affektieren, den man nicht hat, und wird eben- sowenig um deswillen eine Religionsfeindschaft unterstützen, die man für nicht minder oberflächlich als unheilvoll ansieht. Der unab- hängig denkende religiöse Mensch muß sich heute in eine ge- wisse Isolierung finden und muß einer besseren Zukunft vertrauen können, die wohl auch für unser deutsches geistiges Leben mög- lich ist. Bis dahin gilt es harren und hoffen und an seinem Teil arbeiten, ohne sich irremachen zu lassen. Solche Festigkeit ist aber dann auch für den Staat etwas wert in all unserer Unruhe und Verworrenheit, inmitten aller Streberei und aller demagogi- schen Phrase.

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Die Kirche im Leben der Gegenwart.

(Aus: Weltanschauung, Philosophie und Religion, hg. von Frischeisen- Köhler, Berlin 191 1.)

Vor kurzer Zeit sprach in einer großen liberalen Versamm- lung ein gefeierter Redner und bekannter Gelehrter über das Pro- gramm des Liberalismus und darunter auch über das kirchenpolitische Programm. Er trat ein für volle Toleranz unter Wahrung der Rechte des Staates, für Anerkennung alles »echten« religiösen Sinnes und für Vermeidung alles Kulturkampfes. Zum Schluß meinte er aber, das beste kirchenpolitische Programm habe ein Schwarzwälder Bauer entwickelt, der sagte : >Die Geistlichen sollen die Kranken besuchen, für die Toten sollen sie beten, aber die Gesunden sollen sie in Ruhe lassen.« Das letztere war der Versammlung offenbar aus dem Herzen gesprochen; denn sie bekundete ihre Zustimmung mit leidenschaftlichem Beifall. Der Hohn über die Kirchen ist in diesen Kreisen das Populärste, und auch das Bekenntnis zur Toleranz ist hier nicht sehr verschieden von einer Aeußerung der Geringschätzung.

Bald darauf besuchte mich ein Geistlicher vom Lande, der im Gespräch auch auf die liberalen Wahlaussichten kam. Sein Wahlkreis war bisher liberal vertreten und hatte nun einen libe- ralen Landwirt aufgestellt. Er versuchte für diesen Stimmung zu machen. Darauf sei ihm aber immer erwidert worden, die Land- wirtschaft trenne nicht, aber die Liberalen seien gegen die Reli- gion, und da wählten sie lieber konservativ oder Zentrumsleute, die doch auch wenigstens Christen seien und schließlich keine schlechte Politik für den Bauern machten. Mein Besucher hielt infolgedessen die Sache für aussichtlos und erachtete es für rich- tiger, jede politische Meinungsäußerung zu unterlassen, um sich die Stellung nicht zu untergraben,

Oder ein anderes Beispiel. In der Beilage der Vossischen Zeitung schrieb Simmel, einer der scharfsinnigsten und gedanken-

q2 Die Kirche im Leben der Gegenwart.

reichsten unter den lebenden Philosophen, einen Aufsatz über die Lage der Religion in der heutigen Welt. Er meinte dort, die moderne Wissenschaft habe in der Tat jeden Gedanken an Gott und an göttliches Wirken unmöglich gemacht, aber sie habe natürlich die Tatsache des religiösen Gefühls selbst nicht be- seitigen können. Dieses liege als eine besondere Zuständlichkeit und Stimmung im Menschen und brauche nicht bekämpft zu werden ; man müsse es nur als einen seelischen Schwingungszu- stand fassen, ohne auf Gott und Gottesgedanken zu reflektieren, eine Religion ohne Gott und ohne Gemeinschaft, aber als ein wesentlicher Bestandteil im Reichtum menschlichen Seelenlebens und als ein heilsames Gegengewicht gegen die Selbstzufrieden- heit und Abgeschlossenheit unseres Kulturgefühls. Also die Re- ligion mediatisiert und individualisiert zu einem Stimmungszustand für Aestheten und Literaten, und alle Kirchen und aller Kirchen- glaube getötet von der Wissenschaft.

Gleichzeitig erschien von Johannes Schlaf, dem bekannten Dichter der modernen Literaturbewegung, ein Schriftchen über Kirche und Christusdogma. Hier warnte er vor der Zerreißung des politisch-sozialen und des religiösen Menschen als vor einem modernen demokratischen Vorurteil widersinnigster und gefährlich- ster Art. Das religiöse und das Gesamtleben gehörten zusammen, und dieses zöge Kraft und Gesundheit aus jenem. Dann aber sei das einzige zusammenhaltende Band, der Christusglaube, nicht zu zerschneiden. Nur durch ihn gebe es eine starke und die Gesellschaft umfassende Religionsgemeinschaft. Also die Religion nur als Kirche und Gemeinschaft voll entfaltet und als solche dem Gesamtleben unentbehrlich, zu einer Wiedergeburt ihrer wesentlichsten Grundgedanken gerade von der Gegenwart berufen.

Zu diesen Beispielen nehme man hinzu die Flut von apo- logetisch-theologischen Schriften, von freigeistig-aufklärerischer Polemik und von vermittelnden Ausgleichen, die Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion, Kultur und Christentum mit einander versöhnen oder verbinden, oder gegen einander abgrenzen wollen. Und schließlich denke man an die ungeheure Indifferenz derer, die davon überhaupt nichts wissen oder nichts wissen wollen. Dann hat man ein Bild von dem Rauch und Dunst der INIeinungen und Urteile, der Leidenschaften und Gleichgültigkeiten, der Para- doxien und Geistreichigkeiten, die über der Existenz der modernen Kirchen liegen.

Die Kirche im Leben der Gegenwart.

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Welches ist nun aber die Realität, die unter diesem Rauch und Dunst, unter diesem Wirrsal widersprechender Meinungen liegt als unzweifelhafte Tatsache und gegebener Sachverhalt?

Darauf ist schwer zu antworten. Die Dinge liegen in den verschiedenen Ländern sehr verschieden. In den romanischen Nationen herrscht der schroffe immer mehr zentralisierte und romanisierte Katholizismus und neben ihm ein oft ganz in Ma- terialismus übergehender Positivismus. Aber die Kirche völlig aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt, auf eine rein private Existenz angewiesen hat nur Frankreich. Dort wächst jetzt in breitem Umfange eine wirklich kirchenlose Bevölkerung auf, und erst, wenn dieser Zustand ein halbes Jahrhundert gedauert haben wird, wird man sagen können, wie eine kirchenlose Nation aus- sieht, welchen Gewinn und welchen Schaden sie davon gehabt hat. In den übrigen romanischen Nationen sitzt die Macht der Kirche noch tief genug, namentlich bei den Frauen und dem Landvolk, und auch in den Oberschichten fehlt es nirgends auch in Frankreich nicht an solchen, welche die idealistischen Kräfte der Kirche neu zu beleben und dem modernen Leben einzugliedern oder beizuordnen für möglich und notwendig halten : man trifft hier die edelsten und gebildetsten Männer. Bei den angelsächsischen Nationen wiederum herrscht von der mit allen Institutionen und der sozialen Oberschicht eng verbundenen Church of England ganz abgesehen das mit ihrer Art von De- mokratie eng verbundene Freikirchentum, das die Religion nicht um ihrer Unbeweisbarkeit und Bedenklichkeit, sondern um ihrer Größe und Heiligkeit willen der Staatsregelung entzieht, zugleich aber die allerstärkste soziale Macht der Kirchen nicht aus-, sondern einschließt. Zu allen großen Fragen des öffentlichen Lebens nehmen hier die Kirchen frei Stellung : die Trockenlegung oder Entalkoholisierung eines großen Teiles von Amerika ist zum guten Stück ihr Werk. Indifferenz und Skepsis werden auch in England und Amerika nicht selten sein. Aber man schont die Kirchen als eine Art nervensparender Kraft, als eine der großen historischen Gesellschaftsmächte, die man nicht ohne Schaden zerstört und die man lieber aufs Praktische ablenkt, statt sie mit billigem und gefahrlosem Hohn oder Grimm zu überschütten. In Deutschland schließlich ist die Lage der Dinge durch das alte Staatskirchen- tum bedingt, das die privilegierten Kirchen mit dem Staat aufs engste verbindet, den kirchlichen Religionsunterricht erzwingt, die

QA Die Kirche im Leben der Gegenwart.

kirchliche Konvention für alle Beamten und Staatsabhängigen verbindlich macht, "Schule und Bildungswesen stark kirchlich be- einflußt und den kirchlichen Ansprüchen in innerer Politik und Kolonialwesen die denkbar stärkste Rechnung trägt. Ein unge- taufter Leutnant ist so unmöglich wie ein konfessionsloser Bahn- schaffner ; und der ehemalige Korpsbursche schwärmt als Ver- waltungsbeamter oder gar als Konsistorialrat für gläubige Professoren und propagiert den Sittlichkeitsverein. Von dieser Seite her be- trachtet ist die Herrschaft der Kirchen eine außerordentliche und mit den Wurzeln aller Institutionen eng verbundene. Dazu kommt, daß diese Staatskirchen seit der großen europäischen Restauration im Beginn des 19. Jahrhunderts sämtlich zu ihren alten konser- vativen dogmatischen Positionen zurückgekehrt sind, eben dadurch zu Mitteln konservativer Festigung der regierenden Gewalten in Wahrheit oder im Glauben dieser Gewalten geworden sind und zugleich den Widerpart gegen alle die sozial auflösenden oder aufreizenden Strömungen der modernen Welt bilden. Sie stellen ihnen eine enge Verbindung politisch-sozialen Konservatismus, dogmatisch-intellektuellen Archaismus und lebendiger, von den konservativen Traditionen genährter Religiosität gegenüber. In dieser Verschlingung von Interessen und Kräften sind sie ver- bündet mit allen Kräften, die dem modernen Individualismus und der unendlich zersplitterten modernen Weltanschauung, sowie den Wirrsalen einer modernen Ethik entgegenstehen.

Das alles zeigt, daß die Machtstellung der Kirchen auch nicht bloß auf den äußeren Gewaltmitteln beruht. Sie haben freilich keinen Boden mehr in den von der Sozialdemokratie be- arbeiteten Unterschichten und wenig Boden bei den sogenannten Intellektuellen, bei der naturwissenschaftlichen und ästhetisch- literarischen Bildung des städtischen und vor allem des groß- städtischen Bürgertums, das mit derselben Intoleranz, wie früher die Kirche, den Ton in der Literatur angibt. Aber sie haben festesten Boden in den breiten Massen des Landes, in dem mitt- leren kleinen Bürgertum und in der amtlichen und adligen Ober- schicht. Und zwar herrschen sie hier überall ganz überwiegend in ihrer konservativen, durch tausend Machtmittel geschützten, das religiöse Gefühl und den Autoritätssinn stärker entzündenden Gestalt. Aber daneben muß man dann noch an die Unzähligen denken, die an einer besonderen Machtstellung der Kirchen kein Interesse haben, die aber die religiösen Kräfte des Christentums

Die Kirche im Leben der Gegenwart. qc

für sich und unser geistiges Leben nicht missen wollen, die es vielmehr mit dem modernen Leben verbinden und irgendwie aus- gleichen wollen. Sie wollen keine Schule ohne jeden Religions- unterricht, keine Dörfer ohne die Vertrauensstellung des Pfarrers und die Sammlung der Dorfgemeinde um die Kirche, keine künst- lichen Trennungen dessen, was jahrhundertelang zusammengehörte und für jedes einfache Gefühl mit dem Ganzen des sozialen Lebens zusammenschmilzt. Sie wollen Erneuerung, Bewegungsfreiheit, Ausgleichung des christlichen Lebens mit dem modernen. Die ungeheure populär-theologische Literatur, die heute gedruckt wird, wird nicht von den strengen Kirchenmännern und nicht von den Freigeistern gelesen. Sie deutet auf breite Schichten, die Erhaltung und Fortbildung zugleich wünschen und die nur bei unserer lutherischen Gewöhnung, alle kirchlichen Dinge dem Amt und den Theologen zu überlassen, äußerlich nicht hervor- treten.

Dazu kommt noch ein Weiteres. Es handelt sich in der ganzen Frage gar nicht bloß um die Staatskirchen, sondern auch um die Sekten, die neben ihnen in beständig steigendem Maße emporkommen, die das Entsetzen des Kirchenmannes bilden und von denen der Intellektuelle keine Notiz zu nehmen pflegt, weil sie überhaupt nicht in seinen Horizont fallen. Hier kann von einer künstlichen Züchtung und Herrschaft des christlichen Ge- dankens nicht die Rede sein. Denn hier beruht alles auf Freiwillig- keit, und hat man gleicherweise mit der Feindschaft des Staates und der Kirche zu rechnen, die ein derartig revolutionäres Prinzip für höchst verhängnisvoll halten. Und doch pulsiert in ihnen bei aller Enge und Kleinlichkeit die stärkste und leidenschaftlichste Religiosität der Gegenwart, ein vollkommen ungebrochenes Ver- trauen zum religiösen Mythus, eine strenge Opfergesinnung und ein höchst propagandistischer Zug. Der Unterschied liegt freilich noch tiefer, und erst wenn man ihn beachtet, erkennt man die ganze Bedeutung des Kirchenproblems. Die Kirchen sind Volks- kirchen, nicht bloß vom Staate gehalten, sondern auch von der allgemeinen Meinung als ein objektiver Zusammenhang angesehen, in den man hineingeboren wird, der, wie Sprache und Sitte, wie Militär und Schule, nun einmal zum gegebenen Bestände gehört. Man kann sich ihm innerlich entziehen, man kann ihn vergessen und ignorieren, aber er ist da. Die Kirchen sind Institutionen, deren Wahrheits- und Heilsbesitz von Teilnahme und Zustimmung,

gg Die Kirche im Leben der Gegenwart.

von Leistung und Würdigung der Kirchengiieder ganz unabhängig sind, die ihren Sdiatz durch Offenbarung und Stiftung haben und ihn an Jeden heranbringen, damit er davon sich ergreifen lasse, die aber das Zusammentreten und die Vereinigung der er- griffenen Subjekte selbst gar nicht fordern. Eben deshalb ver- langen sie vom Staat, daß er die Teilnahme an ihnen, die Unter- stellung unter ihre Heilsvvirksamkeit, Jedem zugänglich mache, daß sie mit dem Staate selbst als eine alle Bürger umfassende Atmosphäre behandelt werden. Der einzelne kann sich dann dem gegenüber verhältnismäßig frei verhalten, wenn nur das Ganze behauptet wird. Weil die Kirchen nun aber derart mit dem Gesamtleben verschmelzen und mit allen politischen, gesell- schaftlichen und Erziehungsinteressen sich verfilzen, so müssen sie irgendwie Fühlung haben mit der allgemeinen Kultur, ihren Mythus der Wissenschaft, ihre Ethik dem Staat und der Gesell- schaft, dem Militarismus und Kapitalismus, dem Monarchismus und den Ordnungsparteien anbequemen. Sie müssen ihre Ortho- doxie versetzen mit Apologetik, ihre hochgespannte Ethik mit Legalität und Opportunismus, ihre Erziehung mit staatlich aner- kannter Pädagogik. Und dabei haben sie gerade da, wo dies Bestreben ernst genommen wird, oft die gründlichsten Ver- schmelzungen mit der modernen Kultur vollzogen, so daß sie von dieser kaum mehr unterscheidbar sind. Und wo sie sich von ihr unterscheiden, geschieht es vielmehr durch gewaltsame Behaup- tung eines aller Wissenschaft ins Gesicht schlagenden Dogmas als durch den Gegensatz gegen die kapitalistisch-militärisch-pa- triotische Ethik. Gerade durch diese notgedrungene und oft mit echtestem Eifer erkämpfte Kulturfreundschaft stehen nun aber die Kirchen nach einer anderen Seite im Nachteil gegen'.'die Sekten, sofern nämlich die Macht und Freiwilligkeit des religiösen Lebens in Frage kommt. Die Kirchen befriedigen das moderne wissen- schaftliche Bewußtsein doch nie oder selten und verlieren darüber die robuste Stoßkraft, die Wehrhaftigkeit, die Leidenschaft und die Lebendigkeit der Sekten. Dadurch ziehen diese nicht bloß die religiösen Elemente ohne tiefere Bildungsansprüche an sich und zwar auf den untersten und obersten Stufen der Gesell- schaft — sondern sie reißen überhaupt alle mit, die in kleinem Kreise lebendig und individuell sich betätigen wollen, die starke religiöse Anregung und Reizung der Phantasie brauchen und die auch selber bei der Sache etwas tun wollen. Aus diesen Gründen

Die Kirche im Leben der Gegenwart. q7

ist wohl Überhaupt ein zunehmendes Ansteigen der Sekten zu erwarten, je mehr die Fortschrittstraume und der Entwickelungs- jubel von den Tatsachen und Enttäuschungen gedämpft sein wird. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das Erlösungsdogma der Sozial- demokratie nach der Widerlegung dieses Dogmas durch die Tat- sachen seine Gläubigen an die Sekten vererben wird ; zu den Landeskirchen haben sie wohl für immer alles Zutrauen und alle Lust verloren. Dagegen haben die Kirchen andererseits freilich den Vorteil, zu einem beständigen Ausgleich mit dem Gesamt- leben genötigt zu sein, das Kulturleben in sich aufzunehmen und den religiösen Gedanken beweglicher zu machen. Dabei ergeben sich dann aber die harten Zusammenstöße des kirchlichen Mythus und der modernen Wissenschaft, der religiösen Ethik und der weltlichen Kulturmoral, die das Leben der Kirchen mit den all- bekannten heißen Kämpfen füllen und ihre Wirksamkeit dadurch wieder empfindlich erschweren.

So ist die Lage bunt genug, und kann von einem langsamen Aussterben der Kirchen und des Christentums, das uns die In- tellektuellen stets von neuem versichern, nicht die Rede sein. Es ist eher möglich, daß mit einer zunehmenden ständisch-bureau- kratischen Rückbildung unserer Gesellschaft und mit dem Banke- rott der tausend konkurrierenden modernen Geistreichigkeiten ein recht starker religiöser Rückschlag eintreten wird, zu dem die heutige Neuromantik ebenso den Auftakt bilden mag, wie seiner Zeit die alte die Ouvertüre zu dem Drama der Restauration ge- spielt hat. Kann sein, kann auch nicht sein. Jedenfalls das Aussterben der Kirchen und des Christentums ist trotz aller Un- christlichkeit unserer führenden Intelligenz und vor allem der Universitätsprofessoren nichts weniger als sicher. Die drei, an Wert und Bedeutung äußerst ungleichen, Führer der heutigen Bildung, Marx, Nietzsche und Häckel, werden schwerlich dauernd die Führung behalten. Das weltanschauungsbildende Element der Marxistischen Lehre ist heute schon in voller Zersetzung be- griffen, der Geschichtsmaterialismus zu einer nützlichen Anregung neben anderen geworden und die proletarische Erlösungslehre von den Tatsachen widerlegt. Nietzsche hat viel zu tief mit dem innersten Gehalt des religiösen Problems selber gerungen, um nicht durch seine reine und scharfe Antithese den Rück- und Umschlag in das Religiöse selbst am stärksten zu bewirken, während für die Massen der Nietzsche-Kultus eine Mode ist, in

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 7

q3 Die Kirche im Leben der Gegenwart.

der neurasthenische Sklavenseelen sich am Jargon der Herren- sprache berauschen oder vergnügen. Häckels Philosophie gehört zu den ephemeren Riesenerfolgen der Plattheit, die immer v^ieder- kehren und die durch solche anderer Plattheiten abgelöst zu werden pflegen.

Wie soll und kann man sich unter diesen Umständen zu den Organisationen des christlich-religiösen Lebens stellen.!^ Die Antwort muß für verschiedene Länder verschieden ausfallen. Hier sei in erster Linie an die deutschen Verhältnisse gedacht. Den Sekten gegenüber ist die Frage überflüssig. Sie entwickeln sich von selbst und sind nicht zu beeinflussen. Sie wird man arbeiten lassen müssen ohne kleinliche Schikanen, so schwer mancher treue Pfarrer die Einbrüche in seine Gemeinde empfinden mag, und so empfindlich ihr Gegensatz gegen alle Kultur ist. Von einer Stellungnahme kann nur den Kirchen gegenüber die Rede sein, auf die staatliche Organisation und Verfassung, öffent- liche Meinung und wissenschaftliche Arbeit wirken können.

Das Problem ist freilich einfach für alle entschlossenen tra- ditionalistischen Kirchengläubigen. Sie werden Schutz durch den Staat und die gesellschaftliche Konvention, Einfluß auf die Schule und Fernhaltung des modernen Denkens von den theologischen Fakultäten verlangen, außerdem durch innere Mission und soziale Liebestätigkeit die »Entfremdeten« wieder zu gewinnen suchen. Sie halten die moderne Welt für einen vorübergehenden Triumph des Unglaubens und des Bösen und hoffen auf den Sieg des Glaubens ihrer Väter. Diese Stellung aber wird niemand teilen können, der die moderne Welt sowohl in ihrer wissenschaftlich- ästhetisch-intellektuellen als in ihrer sozialen und politischen Be- sonderheit verstanden hat. Nicht minder einfach ist die Sachlage für alle radikalen Christentumsgegner und Kirchenfeinde. Sie suchen lediglich mit überlegenem Hohn das alte Ecrasez l'infame zu wiederholen und zu vervielfachen ohne Sorge um den Ersatz für die verlorengehenden P\mktionen der Kirche im geistigen und gesellschaftUchen Organismus. Allenfalls können diesen Ersatz Gesellschaften für ethische Kultur, Goethebünde oder Monistenbünde leisten, wenn man durchaus an ihm interessiert ist. Oder sie träumen von einer völlig individualistischen, rein persönlichen Religiosität, die jeder für sich habe und um sich verbreite, völlig neu und völlig frei, ohne jeden konkreten Inhalt, gerade als ob nicht die Fortdauer der Kirchen allein die reli-

Die Kirche im Leben der Gegenwart. qq

giösen Gedankenmassen lieferte, die sie in so erhabener Frei- heit variieren können, wie der Pianist über fremde Themata phantasiert. Sie sind Virtuosen, die einen fremden Stoff brau- chen, um an ihm ihre Eigenheit zu entwickeln, und die ohne solchen Stoff ins Leere fallen. Oder sie sehen in der Idee einer Menschheitsgemeinschaft und eines sozialen Organismus den Niederschlag und den verbleibenden Rest der religiösen Ideen- welt, gleich als ob nicht die natürlichen Differenzen und der Konkurrenzkampf nur in dem höheren Medium einer übermensch- lichen und die Natur überhöhenden Lebenswelt gefunden werden könnte.

Anders steht die Frage für diejenigen, die ein selbständiges und eigene Lebenstiefen besitzendes religiöses Leben für einen wesentlichen Bestandteil unseres geistigen Seins halten, die die uns heute so unentbehrliche Verinnerlichung und Vertiefung, Ge- sundung und Vereinfachung, Zusammenfassung und Verbindung nicht ohne Mitwirkung gerade des religiösen Gedankens für mög- lich halten, und die nicht bloß neben dem Christentum keine nennenswerte religiöse Kraft in unserer Welt erblicken, sondern auch an sich im Christentum jedenfalls unverlierbare religiöse Kräfte und Wahrheiten enthalten sehen, gleichviel was unbekannte Zukunftszeiten noch bringen oder nehmen werden.

Von da aus sind sehr verschiedene Stellungnahmen möglich. Soll man den Alpdruck des Staatskirchentums und die Unwahr- haftigkeit seiner Konventionsherrschaft zu beseitigen streben, in- dem man auf ein Freikirchentum hinstrebt, das den Kirchen Wahrheit und Freiheit, Leben und Ueberzeugung zurückgibt.? Aber man kann es zum Nutzen des religiösen Lebens nur tun, wenn eine solche Verfassungsänderung nicht aus Gleichgültigkeit gegen die doch nur mehr private Bedeutung, sondern aus Achtung vor der irdischer Gewalt nicht unterliegenden Hoheit der Religion erfolgt. Dann aber entfesselt man Mächte von unberechenbarer Tragweite und wird dem Kampf um die Freikirche sofort der Kampf um die Freischule folgen. Man wird in den Kirchen die Orthodoxie und den Kulturgegensatz steigern und andererseits große Massen jeder religiösen Einwirkung entziehen. Auf dem Lande vollends wird man Zustände herbeiführen, die der Bauer bei unserer deutschen Ueberlieferung nicht versteht und leiden- schaftlich bekämpft. Und vor allem, man will etwas, was in unseren politischen Verhältnissen ganz undurchführbar ist, wo-

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lOO Die Kirche im Leben der Gegenwart.

gegen die Koalition von Konservativen und Zentrum schon bereit liegt.

Oder soll man die Kirchen sich selbst überlassen und außer- halb ihres Schattens für ein modernes vertieftes geistiges Leben kämpfen.? Das geschieht ja in der Hauptsache heute in der ganzen nicht kirchlich-religiösen Literatur. Aber dann hat man überall die Feindschaft und die Gegenwirkung der Kirchen, er- fährt man von der Geringschätzung der Kirchen überall die Neben- v^irkung der religiösen Skepsis überhaupt, und beraubt man sich desjenigen Organs, das im Grunde allein an alle Stände und alle Seelen herankommt, und das, da es nun einmal da ist, doch gerade der Verinnerlichung und Vertiefung der Religion dienen müßte, statt der geistigen Entzweiung, dem mythischen Archais- mus und dem Kampfe gegen die moderne Welt. Und wo ist der große neue religiöse Gedanke, der den Kirchen entgegen- gestellt werden könnte? Es werden gnostische, mystische, brah- manische, buddhistische, neuplatonische Gedanken erneuert, die weit zurückstehen an persönlichem Lebensgehalt hinter der pro- phetisch-christlichen Lebenswelt.

Oder soll man die Kirchen als Ganzes zu modernisieren, das Christentum fortzuentwickeln, Kultur und Religion in einem neuen Dogma zu versöhnen suchen.? Auch das geschieht heute vielfach, und es sind oft gerade die Ehrlichsten und Besten, die daran arbeiten. Allein das ist als eine wirklich durchgreifende Reform der Kirchen, als einheitliche Revision ihres Dogmas und ihres Kultus ganz unmöglich. Sie sind so durch und durch historisch-konservative Organisationen, daß eine solche Revolution undenkbar ist, und die Gemütsart breiter Schichten wie zahlloser einzelner hängt so unlösbar am alten Dogma, daß das neben einer Unmöglichkeit auch ein schweres Unrecht wäre. Ueberdies ist der ganze so oft gehörte Gedanke einer Versöhnung von Re- ligion und Kultur in sich selbst nicht ohne schwere Bedenken. Die Größe der Religion besteht gerade in ihrem Kulturgegensatz, in ihrem Unterschiede von Wissenschaft und sozial-utilitarischer Moral, in ihrer Aufbietung überweltlicher und übermenschlicher Kräfte, in ihrer Entfaltung der Phantasie und ihrer Richtung auf das, was jenseits der Sinne ist. Die mit der Kultur versöhnte Religion wird meist nichts als eine schlechte Wissenschaft und oberflächliche Moral sein, verliert aber gerade ihr religiöses Salz. Es könnte sich höchstens darum handeln, sie von den Eingriffen

Die Kirche im Leben der Gegenwart. lOI

in gesicherte moderne Erkenntnisse zurückzuhalten und eine neue religiöse Produktion in Bewegung zu setzen, die unter Voraus- setzung des modernen Weltbildes aus eigener innerer Kraft die religiöse Ideenwelt spezifisch religiös neugestaltet und ihr einen neuen Mythos schafft. Aber das könnte nur aus den eigenen religiösen Kräften hervorgehen, an denen es überall fehlt, und könnte nicht durch eine »Versöhnung« bewirkt werden; denn bei einer solchen Versöhnung ist meistens die Religion der opfernde Teil ; sie ist eine societas leonina.

Unter diesen Umständen wird jede Stellungnahme etwas sehr Persönliches und Subjektives sein. Mir scheint, es ist nichts anderes möglich, als durch eine gute wissenschaftliche Bildung und eine gründhche praktische Lebenskenntnis den Geistlichen und Religionslehrern ein wirkliches Eingehen auf die moderne Welt zu ermöglichen und im übrigen ihnen eine möglichst per- sönliche lebendige und frische eigene Ausbildung ihres religiösen Denkens und Fühlens freizugeben mit allen den dabei sich er- gebenden Unterschieden und Ungleichheiten. Weiterhin wäre den Einzelgemeinden gleichfalls in Pfarrwahl, Liturgie und Liebes- tätigkeit möglichst freier Spielraum zu lassen, auch hier mit der Folge recht verschiedener einzelner Gestaltungen. Schließlich und vor allem wäre zu wünschen eine stärkere Beteiligung des ganzen Laienelements an den kirchlichen Aufgaben, ein Druck auf den Staat zur Gewährung oder Erleichterung dieser Frei- heiten, eine Mitwirkung an den Gemeinden zur Ausnützung der Freiheiten und zu praktischer Arbeit, womit die Kirchenregie- rungen aus ihrer bureaukratischen Uniformität herausgelockt werden könnten. Im übrigen müssen die religiösen Fragen und Interessen unseres Lebens frei und rücksichtslos, aber ohne Hohn und Gift in der freien Literatur diskutiert werden. Die Rück- wirkung davon auf die Kirchen bleibt nicht aus, und die eigent- liche Kirche des modernen Menschen ist nun einmal oft genug die freie Literatur. In der Schweiz sind diese Gedanken an- nähernd verwirklicht, und es zeigt sich dort ihre günstige und ungünstige Wirkung zugleich. Jedenfalls aber kann man damit ehrlich leben und arbeiten. Allerdings hängt diese Gestaltung dort sehr eng mit der allgemeinen demokratischen Grundlage zusammen, ein Hinweis darauf, wie eng diese Dinge mit der allgemeinen politischen Entwicklung verbunden sind. Vermutlich werden die Dinge bei uns schließlich ähnliche Wege gehen.

IQ2 Die Kirche im Leben der Gegenwart.

Es ist das also durchaus kein neues Programm. Etwas Eigentümliches hat es höchstens durch die vorausgegangenen Erwägungen. Wenn sie ihm wirklich zugrunde liegen und seinen Geist bestimmen, dann wird es das wirklich der Lage ent- sprechende Programm sein. Neues ist in diesen unendlich viel besprochenen Fragen überhaupt nicht möglich und nicht nötig. Das Einfachste ist oft das Beste. Man wird einem solchen Pro- gramm den Vorwurf des Subjektivismus, der Prinziplosigkeit, des Provisoriums machen. Aber ohne Subjektivismus ist in den un- endlich differenzierten rnodernen Verhältnissen auch in der Re- ligion nicht auszukommen. Allumfassende generelle Prinzipien haben bei der Unklarheit und Unfertigkeit der ganzen Lage keinen Sinn, abgesehen davon, daß sie in der nächsten erkenn- baren Zukunft undurchführbar sind. Neue Kirchen gründet die Gegenwart nicht, und eine »liberale« Uniformität an Stelle der »orthodoxen« ist gerade von dem Prinzip modernen religiösen Denkens aus ebenso unrichtig, als sie faktisch undurchführbar wäre. Ein Provisorium ist das gewiß, und es ist wohl möglich, daß unserer Welt große Umwälzungen auf religiösem Gebiete bevorstehen. Aber niemand vermag sie vorauszusagen und zu ahnen. Neue Kräfte sind noch unbekannt, und irgendeinen Er- satz haben wir außer allerhand literarischem Geschwätz überhaupt nicht. Wo man aber das Neue nicht kennt und nichts anderes hat, hält man sich an das, was man besitzt. Wir haben darin unzweifelhaft bleibende und ewige Kräfte und unter allen Um- ständen Schätze an Charakter, Kraft, Einfachheit, Reinheit, Hoff- nung und Schwungkraft, von denen diejenigen nichts ahnen, die alles nur vom literarischen Hörensagen kennen. Es geht nicht ohne einen tiefgreifenden Subjektivismus, der innerhalb der ge- gebenen Organisationen die alten Schätze nach persönlichen Stimmungen und mit unendlichen Verschiedenheiten neugestaltet, neubelebt und in Gegenwartsleben umwandelt so gut oder schlecht, als er es kann. Es ist nur die Gewissenhaftigkeit zu fordern, die sich wirklich nach Vermögen und ohne den widerwärtigen Appetit auf Paradoxie und Modernität in die alten Schätze ver- tieft, und die persönliche Verinnerlichung, der es auf reHgiöses Leben und nicht auf Phrasen ankommt. Hier mag die Bewegung von einer charaktervollen archaistischen Christlichkeit bis zu einer das Christentum nur zum Thema ihrer Variationen machenden Neugläubigkeit durch alle Nuancen hindurchgehen. Die Pünheit

Die Kirche im Leben der Gesrenwart.

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der Kirchen, jedenfalls der protestantischen, wird dadurch nicht gefährdet. Sie konnten allerdings seinerzeit nicht entstehen mit den Prinzipien der Lehrfreiheit und der Toleranz, sie mußten sich erst durchsetzen mit der ganzen Härte der orthodoxen Glaubens- herrschaft. Aber einmal entstanden, gefestigt und mit allen In- stitutionen verbunden, halten sie sich durch ihr eigenes historisches Gewicht. Daß sie das ewig tun werden, das ist nicht wahrschein- lich und nicht nötig. Sind sie wirklich erledigt, so mögen sie zugrunde gehen. Heute sind sie es nicht, und darum möge man sie lebendig und ehrlich machen, auch auf Kosten der Ein- heit und Gleichförmigkeit. Andererseits kann man ja auch sicher sein, daß ein wirklicher Christusleugner und Gegner des Christen- tums nicht einer christlichen Gemeinde wird dienen wollen. Das war auch Kalthoff in Bremen nicht, und diejenigen seiner Nach- folger, die es waren, haben es auf der Kanzel nicht ausgehalten. Freilich kann ein derartiges Programm zunächst nur für die protestantischen Kirchen gelten. Aber auch für den Katholizis- mus liegen die Dinge nicht so ganz anders. Auch hier gibt es neben dem scheinbar alles beherrschenden und immer schroffer zentralisierten Restaurationskatholizismus, der ein Feind des modernen Lebens im innersten Wesenszuge ist, Anpassungen, Ausgleichungen und Neubildungen, die freilich in Deutschland sich am wenigsten ans Licht wagen und überall des so schroff verurteilten Modernismus verdächtig sind. Aber es ist ihm trotz alledem möglich, seinen Pakt mit der modernen Welt zu machen, sich als Konfession neben anderen Konfessionen einzurichten und auf das Ideal der Alleingeltung zu verzichten, die geistliche und religiöse Sphäre von der politisch-weltlichen zu scheiden und in jene sich zu vertiefen, in dieser sich von Uebergriffen zurück- zuhalten, das Dogma zurückzustellen und das Leben zu betonen, die Unterstufe der »natürlichen Vernunft«, auf der erst das geist- liche Reich sich erhebt, in Gemeinschaft mit den Nichtkatholiken zu entwickeln. Ja, es ist eine der großen Zukunftsfragen unserer Kultur, ob der Katholizismus sich in dem kurialistischen Sinne immer weiter verhärten oder ob er im modernen Sinne sich an- passen und ausgleichen und seine, wie jedermann zugestehen muß, sehr erheblichen ethischen und sozialen Kräfte unserer Ge- sellschaft zur Verfügung stellen wird. So unumgänglich der Kampf gegen den kurialistisch-zentralisierten Katholizismus mit seinen schlechthin zerstörenden und feindseligen Absichten gegen-

I04 I-''ß Kirche im Leben der Gegenwart.

Über der modernen Kultur ist, so sehr haben wir allen Anlaß, mit Billigkeit und Gerechtigkeit den freien Katholizismus zu be- trachten und zu unterstützen. Jener kann noch einmal eine ernste Gefahr für unser deutsches Leben bilden, ernster als die Sozial- demokratie, weil er dauerhafter ist als diese. Da gibt es kein anderes Mittel, als seine Milderungen und Versöhnungen mit der modernen Welt nicht zu hindern durch Hohn und Unfreundlich- keit, sondern sie nach Kräften zu befördern. Da an sein Ab- sterben auf absehbare Zeit nicht zu denken ist, so muß man mit ihm rechnen und ihn überall unterstützen, wo er vom Mittelalter loskommt und modernes Leben in sich aufnimmt. Die innere Krisis in ihm ist größer, als die Nichtbeteiligten wissen, und das Vatikanum hat das letzte Wort über den Katholizismus so wenig gesprochen als die unter uns verbreitete prinzipielle Katholiken- feindschaft.

Alles das klingt stark nach Kompromissen. Allein ohne Kompromisse geht es bei diesem Neben- und Ineinander einer alten und neuen Welt, die beide tiefe und unverlierbare Werte enthalten, nicht ab. Im Grunde waren die Kirchen immer ein Kompromiß von Hause aus, während die kompromißlosen Sekten eine radikale Kulturfeindschaft vertreten. Diese Kompromißnatur der Kirchen gilt es nur auch für die Gegenwart klar anzuer- kennen und auszuweiten, Sie müssen den modernen Lebens- bewegungen Platz bei sich einräumen, und, da das heute nicht mehr in Gestalt einer uniformen Gesamtanpassung geschehen kann, muß es in Gestalt der Freigebung sehr verschiedener Ein- zelanpassungen geschehen. Das muß offen und ehrlich geschehen, dann haben wir wieder Gesundheit und Geradheit. Die Kirchen als Volkskirchen und große Organisationen müssen auf jede ab- sehbare Zeit bleiben, wobei die nähere Gestaltung ihres Ver- hältnisses zum Staate gegenüber der Erhaltung der großen Ge- samtorganisation selbst Nebensache ist. Sie müssen bleiben, da sie nicht ersetzt werden können, da sowohl ein Gewimmel kultur- loser Sekten als ein Zwangskurs angeblicher wissenschaftlicher Weltanschauung äußerst verhängnisvoll wäre. Aber sie müssen, wenigstens die protestantischen, elastisch werden zur Beherrschung der verschiedenen, mit der Religion sich eigentümlich verbindenden Strömungen des heutigen Lebens.

Gewiß ist nicht zu leugnen, daß ein solches Programm keines- wegs aus rein religiösen Fragen und Interessen hervorgeht. Es

Die Kirche im Leben der Gegenwart. jqC

geht offenkundig zugleich von den Interessen der Gesamtkultur aus. Allein die Frage nach der Stellung der Kirchen im Ge- samtleben läßt sich von rein religiösen Interessen aus überhaupt nicht beantworten. Das Beispiel Kierkegaards kann zeigen, wie ein von rein religiösen Interessen aus entworfenes Programm aussehen würde : kirchenfeindlich, kulturfeindlich, ungeheuer einseitig und leidenschaftlich, eine völlige Beiseitesetzung aller außerreligiösen Lebensinhalte. So können einzelne radikale und einseitig aus- geprägte Individuen ihre Stellung zum Leben nehmen und damit eine ernste Mahnung daran sein, daß das Heil der Seele mehr wert ist als alle Welt. Aber eine ausschließlich religiöse Antwort auf unsere Frage ist aus eben diesem Grunde unmög- hch. Die Antwort muß den religiösen und Kulturinteressen Rechnung tragen, und das geschieht eben durch den Gedanken einer elastisch gemachten Volkskirche. Ist sie elastisch genug, dann wird sie auch Raum haben für die schroff und radikal religiösen Geister, denen die katholische Kirche im Mönchtum ein Ventil schuf und denen der Protestantismus als radikalen Subjektivisten Raum geben könnte. Das rein und schroff reli- giöse Interesse könnte dabei befriedigt werden, und solche reine, einseitig herausgearbeitete Religion könnte ein Salz der Erde sein. Mehr aber kann im religiösen Interesse nicht verlangt werden. Der Mensch ist kein rein und einseitig oder heroisch und radikal religiöses Wesen im allgemeinen. Das sind immer nur wenige. Er ist in der Masse ein vielseitig interessiertes und zur Harmoniesierung und Ausgleichung genötigtes Wesen, was ja nicht bloß gegenüber der rein und das heißt einseitig aus- gebildeten Religiosität, sondern gegenüber allen rein und einseitig herausgebildeten Lebenswerten gilt. Eben deshalb verlangt sein Gesamtinteresse bezüglich der Religion nach einer umfassenden und den Ausgleich bewirkenden Organisation, das heißt nach der Volks- kirche. Es kann sich nur darum handeln, den Ausgleich in der für die Gegenwart nötigen Weise zu vollziehen. Das aber ist die Freigebung der Einzelgemeinde, soweit sie irgend möglich ist, ohne die Gesamtorganisation unmöglich zu machen. Geschieht das, so wird gerade innerhalb einer so elastischen Organisation das Kulturinteresse und das rein religiöse Interesse zur Befriedigung kommen können, soweit etwas derartiges in dem immer nur labilen und stets neu sich organisierenden Gleichgewicht mensch- licher Interessen überhaupt möglich ist.

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Daneben soll nun aber nicht verkannt werden, daß es für das Programm der Pflege des religiösen Lebens in Gestalt der möglichst umfassenden Volkskirche außer einer solchen wesent- lich realistischen Begründung auch eine sehr idealistische und eigentümlich religiöse Begründung gibt. Dabei ist wiederum in der Hauptsache nur an den Protestantismus zu denken, für den allein es ja Programme und Reformen geben kann. Der Ge- danke der Kirche hängt nämlich in schroffem Unterschiede von einem radikalen Individualismus, wie der Kierkegaards ist, mit dem Gedanken der Gnade, des die Individuen tragenden und hervorbringenden Gemeingeistes, der rein geistigen, rechtlich nicht faßbaren und darum frei sich äußernden christlichen Geistesmacht, zusammen, die sich ganz beliebige Organisationen geben kann und nie mit diesen zusammenfällt. Dieser göttliche Gemeingeist oder der in ihm lebendige und fortwirkende Christus ist erkenn- bar am »Wort Gottes«, d. h. an der Bibel, an der freien leben- digen Predigt, an den sakramentalen Gemeindefeiern. Den Inhalt des »Wortes« bildet dabei dasjenige, was zugleich allein den In- halt des lebendigen Geistes bilden kann, die Gewißmachung über Gottes sündenvergebende Gnade und damit die Weckung der Kraft zu allem Guten und des sieghaften Vertrauens zum schließ- lichen Triumphe des Guten. Ein solcher Geist ist seinem Wesen nach unabhängig von Buchstabe, Dogma und Recht, kann nur vom Geiste erkannt und gerichtet werden, ist darum auf eine rein geistige und innerliche W^irksamkeit angewiesen. Aber diese innerliche Wirksamkeit verlangt das Mittel einer objektiven Ver- kündigung und die Grundlage eines überindividuellen, den ver- schiedenen Stufen religiöser Reife gleich übergeordneten geistigen Gemeinbesitzes und damit die breite und umfassende Volks- kirche. Innerhalb ihrer ist jede Verkündigung berechtigt, die aus dem »Worte« wesentlich zu schöpfen sich bewußt ist, und der Widerstreit der verschiedenen hierbei sich ergebenden Verkün- digungsarten ist rein geistlich, ohne Recht und Zwangsgewalt zu schlichten durch das feste religiöse Vertrauen, daß sich im Streit der Gedanken und im Wetteifer praktischer Bewährung der gött- liche Geist von selbst durchsetzen werde. Für diesen Kirchen- begriff als den eigentlichen Sinn der Gedanken Luthers über die Kirche sind Männer wie Rudolf Sohm, Wilhelm Herrmann und Erich Förster energisch und geistvoll eingetreten. Sie glauben darin auch das Mittel für eine richtiere Einschätzung der Kirche

Die Kirche im Leben der Gegenwart.

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im Leben der Gegenwart und für die Lösung ihrer heutigen or- ganisatorischen Aufgaben zu finden. Neuerdings hat Otto Scheel in seinem religionsgeschichtlichen Volksbuch über die Kirche diese Gedanken sogar als bereits im neutestamentlichen Sinne des Wortes »Kirche« enthalten bezeichnet und damit diese höchst modernen individualistisch-spiritualistischen Lösungen des Kirchen- problems nach echter Protestantenart auch aus dem Neuen Testa- ment begründet.

Allein wie solche Begründungen für ganz moderne Dinge immer etwas verdächtig sind, so ist der ganze Gedanke derartig überidealistisch, eine so sehr ins Modern-Ideelle gesteigerte Ver- geistigung eines sehr viel massiveren lutherischen Gedankens, daß ihm für die theoretische Begründung des Wertes der Kirche und für die praktische Gestaltung ihrer heutigen Organisation nicht allzuviel, jedenfalls nicht der allein entscheidende Grundgedanke, zu entnehmen ist. Gewiß liegt darin die edelste Anschauung vom Wesen des Kirchentypus und eine religiöse Rechtfertigung dieses Typus gegenüber dem überall hereinbrechenden Sektentypus und radikalen Individualismus. Aber wesentliche Seiten des Kirchen- problems bleiben dabei außer Beachtung: das Verhältnis der Kirche zur geistigen Kultur und das Verhältnis zu den Anforde- rungen einer doch immer nötigen und durch die heutigen theo- logisch-philosophischen Unterschiede doch recht verwickelten Or- ganisation. Beide Fragen lagen in ihrer heutigen Gestalt gänzlich außerhalb des Horizontes Luthers, vom Neuen Testament gar nicht zu reden, und erfordern darum auch selbständige und neue Antworten. So mag dieser Kirchenbegriff geeignet sein, neben der kulturpolitischen und soziologischen Begründung auch von der innerlichst religiösen Wertung her den Begriff der Volks- kirche als einer breiten und großen, die verschiedensten Stufen subjektiver Christlichkeit umfassenden Gnadenanstalt zu begründen. Er mag weiter geeignet sein, dem altgläubigen Protestantismus durch nachdrückliche Erinnerung an Luthers ursprünglich stark spiritualistisch gefärbte Anschauung die Anerkennung einer ver- innerlichten und geistigeren Fassung der religiösen Gemeinschaft abzugewinnen. Aber von einem alles überblickenden, nicht mehr rein theologischen Standpunkte aus ist diese Begründung nicht genügend. Für einen solchen kommt ebenso und noch mehr in Betracht, daß neben den kulturlosen, wenn auch zu sozial nütz- licher Massenwirkung befähigten Sekten und neben dem radikalen,

J08 Die Kirche im Leben der Gegenwart.

die höchsten und einseitigsten religiösen Maßstäbe anlegenden Indi- vidualismus die Kirche mit ihrer Umfassung verschiedener Reife- stufen und mit der ihr durch ihre Größe und Volksbedeutung auferlegten Notwendigkeit eines Anschlusses an die allgemeine Kultur auf absehbare Zeit die geeignetste und unterstützungs- würdigste Form unseres religiösen Lebens ist. Ebenso muß von einem solchen aus hinzugefügt werden, daß die Kirche in der heutigen Lage zur Lösung dieser Aufgabe nur befähigt ist, wenn sie ihre rechtliche Organisation und technische Verwaltung auf die ungeheure Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit des modernen Lebens und Denkens einrichtet, d. h. wenn sie auf jeden Zwang formulierter Bekenntnisse verzichtet, mit dem bloßen allgemeinen Bekenntnis zur Bibel und zu Christus als dem Meister und Haupt der Christenheit zufrieden ist und im übrigen den Gemeinden möglichste liturgische und kultische Freiheit, den Geistlichen mög- lichsten Schutz der Gewissensfreiheit gewährt. All das aber geht über jenen bloß spiritualistisch-idealen und darum sehr unbe- stimmten Kirchenbegriff der genannten Juristen und Theologen weit hinaus, und erst durch diese darüber hinausgehenden Be- stimmungen wird er brauchbar für die Beantwortung der großen Frage nach der Stellung und Bedeutung der Kirchen im Leben der Gegenwart.

Nicht ein irgendwie gearteter theologischer Begriff der Kirche, auch nicht ein philosophischer Begriff der Religion, schließlich auch kein abstrakter Begriff der Kultur kann die Antwort auf die Frage geben, sondern nur eine Analyse der konkreten ge- gebenen Verhältnisse und der in ihnen liegenden Möglichkeiten und Interessen. Ebendeshalb hat die Antwort auch nur Bedeu- tung für die Gegenwart, nicht für die frühere Geschichte und Bedeutung der Kirche und nicht für alle vor uns liegende Zukunft.

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Religiöser Individualismus und Kirche.

Vortrag im Badischen Wissenschaftlichen Pre- digerverein, nach dem Stenogramm gedruckt.

1910. (Aus: Protestantische Monatshefte, 1911.)

Dem Wunsch, der an mich herangetreten ist, hier zu spre- chen, habe ich selbstverständhch entsprochen. Denn es gehört mit zu unsern ersten Pflichten nicht bloß, sondern auch zu unsern besten Freuden, wenn wir das Gefühl haben können, mit der Geistlichkeit des Landes, in dem wir wirken, auch innerlich zu- sammenzuhängen und zwar nicht nur in den Jahren, wo die Herren unsere Schüler sind, sondern auch in den Jahren, wo sie unsere Schüler nicht mehr sind und uns vollkommen selbständig gegen- übertreten.

Freilich muß man aber bei einer derartigen Aufgabe sein Thema wählen aus dem Bereich dessen, was man gerade im Augenblick unter der Hand hat. Nun trifft es sich glücklich, daß die Themata, die ich augenblicklich unter der Hand habe, sehr aktuelle und praktisch wichtige Dinge sind.

Wenn man auf die Schwierigkeiten, auf die Lage unserer ganzen kirchlichen und geistlichen Arbeit, sieht, dann wird man im Vergleich zu früheren Zeiten sagen dürfen, daß unser ganzer Klerus wohl selten im ganzen und großen so gut beschaffen war, selten durchschnittlich so gut gepredigt worden ist wie heute, daß im allgemeinen eine durchgängig gute, wissenschaftliche Bil- dung, eine durchgängig ernste und strenge Lebensauffassung, hohe und ernste Gesinnung vorhanden ist, und daß trotzdem die Auf- gaben selten so schwierig gewesen sind, wie sie in der Gegen- wart sind.

Die Schwierigkeiten haben Gründe verschiedener Art. Aber eine der wichtigsten Schwierigkeiten erhebt sich von der Seite her, die ich Ihnen in diesem Vortrag näher bezeichnen möchte.

j JO Religiöser Individualismus und Kirche.

Sie liegt in der uns allen wohl bekannten und viel beklag- ten Unkirchlichkeit. Sieht man auf die praktischen Verhältnisse hin, wie sie tatsächlich bestehen, so ist beteiligt an unserm kirch- lichen Leben im wesentlichen die Mittelschicht unseres Volkes und die ländliche Schicht. Die städtischen Unterschichten der Arbeiterschaft sind im ganzen und großen mit geringen Ausnah- men überhaupt nicht zu haben ; und die städtischen Oberschich- ten der sogenannten Bildung sind ebenfalls nur sehr bedingt zu haben. Die Gründe davon sind gar nicht überwiegend die einer besonderen Opposition gegen Religion und religiöse Dinge über- haupt, es ist vielmehr eine spezifische Unkirchlichkeit und Ab- neigung gegen das religiöse Leben in Gestalt der Kirche und mit den Voraussetzungen der Kirche. Die Meinung ist : Religion ist nichts, was in Gemeinschaft betrieben werden kann, nichts was amtlich, was offiziell betrieben werden kann, ist überhaupt nichts, was übereinstimmend gestaltet werden kann; sie ist Privatsache des Einzelnen; da halte sich jeder, wie er kann, da sehe jeder, wo er bleibe ; die Kirchen im ganzen und großen mit ihrem Kult und ihren Gottesdiensten sind eine Vergewaltigung, oder sie sind überflüssig, man kann sich das alles selber sagen, man geht andere Wege kurz sie bleiben seitwärts. Es sind die Gründe dieser Erscheinung also zum großen Teil dahin zu bezeichnen, daß das religiöse Leben sich andere Bahnen sucht als die kirch- lichen.

Und nun ist das nicht bloß der Fall bei jenen oben und unten sich von dem kirchlichen Leben ablösenden oder auch be- reits abgelösten Schichten, sondern es dringt eine derartige Ge- sinnung und Stimmung auch tief hinein in die eigentlich vor allen zur kirchlichen Mitarbeit berufenen Kreise. Innerhalb der jungen Theologen, der studierenden Theologen, der Sachkenner, die aus ihren Studien das religiöse Leben geschichtlich und theologisch ken- nen, ist die Parole eines kirchenfreien, ja kirchenfeindlichen Indivi- dualismus, wie Sie wissen werden, weit genug verbreitet. Es ent- zieht uns das zum guten Teil die wertvollsten Mitarbeiter. Denn Leute, die eine so ausgesprochen starke persönliche Eigenart, ein so tiefes und eigentümliches persönliches Leben haben, daß sie die kirchliche Fessel überhaupt nicht ertragen können, das sind immerhin Leute, in denen Kraft und Leben vorhanden ist. Es ist daher immerhin im höchsten Grade zu bedauern, wenn uns solche Leute verloren gehen. Ich habe neulich mit einem jungen

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Theologen gesprochen, der mich besucht hat. Er fragte: »Kann man und soll man eigentlich Pfarrer werden ? Die ganz großen Menschen, wie die Propheten und Jesus, die haben von einer Kirche nichts gewußt, haben keine Kirche gewollt ; sie waren keine Pfarrer und keine Prediger und bedurften dessen nicht. Und wenn man nun sagt: die Massen bedürfen der Kirche übrigens mit erheblicher Einschränkung, wie die Erfahrung zeigt so ist das nur ein Zeichen ihrer Bedürftigkeit. Der Kultus, der Gottesdienst ist eigentlich nichts anderes als eine öffentliche Bekundung der religiösen Schwäche der Menschen, die von ande- ren angeregt und auf die Beine gebracht werden wollen, und wo man den Leuten gegenüber möglichst große und starke Worte machen muß, um sie ein wenig in Bewegung zu setzen. Gerade der Kultus, der Gottesdienst ist die Stätte der Phrase und Un- wahrhaftigkeit, die Stätte der Unkraft und der religiösen Unfähig- keit. Was hat es unter diesen Umständen für einen Sinn, Pfarrer zu werden.? Man kann seinem Herrgott dienen in anderen Le- benszusammenhängen, und wenn man eine starke religiöse Kraft in sich ausbildet, so ist sie vielleicht an jedem anderen Ort besser angewendet, als auf der Kanzel und im geistlichen Amt.« Sie wissen, wie die von manchen hervorragenden Persönlichkeiten der Gegenwart ausgehenden Einwirkungen, wie die von Johannes Müller, von Lhotzky und Verwandten ausgehenden Anschauungen unsere Jugend nicht nur, sondern überhaupt die tüchtigen, ange- regten Menschen mit einer gewissen Kirchenfeindschaft, einem ge- wissen Kirchenüberdruß, erfüllen. Solche Leute vereinigen sich dann gerne mit jenem Kirchenüberdruß, der von der sog. Bildung und Wissenschaft geäußert wird, um wenigstens in gemeinsamer Ablehnung gegenüber der Kirche und ihrer Bindung und Steif- heit sich zu vereinigen in einem gewissen Gesinnungs- und Ge- dankenmilieu. So liegt unzweifelhaft die Sache, und nichts macht Amt und Beruf schwieriger, als die Empfindung, daß man es im wesentlichen mit einer wohl sehr wichtigen und bedeutenden und jeder Achtung würdigen Volksschicht zu tun hat, aber doch mit einer begrenzten Volksschicht, und daß man gerade die Leute, die man eigentlich erreichen möchte, so unendlich schwer erreicht. Es sind, glaube ich, ganz wenige Pfarrer, die sagen können, daß in dieser Hinsicht ihre Wünsche und ihre berechtigten Wün- sche — befriedigt werden, daß sie wirklich an die Menschen herankommen, mit denen innerlich zu ringen, mit denen sich in-

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nerlich auseinander zu setzen, die innerlich hereinzuziehen in unsere Arbeit und in unsere Interessen, eigentHch eine ihrer Hauptaufgaben und eins ihrer Hauptlebensziele wäre. Wir haben einen derartigen hochgesteigerten antikirchlichen religiösen Indi- vidualismus unter uns. Das bedeutet, wie ich hervorhebe, nicht Unreligiosität, aber Unkirchlichkeit.

Was haben wir nun von einer solchen Unkirchlichkeit zu halten, wie hat man sich ihr gegenüber zu stellen ?

Da müssen wir zunächst freilich Bescheid wissen über Sinn und Wesen dieser Unkirchlichkeit, dieses zwar religiös gesinnten, aber unkirchlichen Individualismus. Zu diesem Zweck ein paar historische Betrachtungen, die nicht um der historischen Erkennt- nis willen, sondern lediglich um die Tatsachen der Gegenwart aufzuhellen, hier ihren Ort finden mögen. Von Anfang an hat das christliche Leben in einer Doppelform existiert, in der kirch- lichen Lebensform und in der Lebensform der Sekte. Das Charakte- ristische in der kirchlichen Lebensform ist der Gedanke der An- stalt, der Heilanstalt, wo das von Christus und den Aposteln Er- wirkte sozusagen wie ein Depositum, wie ein Schatz bereit liegt, unabhängig von den individuellen persönlichen Leistungen, von den Anstrengungen, aber auch von den Fehlern und von den Sünden der Kirchenglieder, der Gläubigen, als ein objektiver, jederzeit bereit liegender Gnadenschatz, der verwaltet wird in vollkommener Ob- jektivität von den Amtsführern, die ihn in Sakrament und Wort ausspenden, und wo diese Ausspendung überall lediglich die Hin- nahme eines völlig objektiven, mit Wort und Sakrament gegebe- nen Gutes ist durch den es aneignenden persönlichen Glauben. So ist die Kirche eine große Heils- und Wunder- und Gnaden- anstalt, in der die Wahrheiten fertig sind, in der die Heils- und Lebenskräfte bereit liegen, und wo alles nur auf die Aneignung des sozusagen objektiv verkörperten Gnadenschatzes eingerichtet ist, völlig unabhängig von der subjektiven Leistung oder von der subjektiven Nichtleistung. Das hängt aufs engste zusammen mit einem großen christlichen Grundgedanken. Der Gnadengedanke, der Gedanke des Heils allein aus Gnade, des geschenkten Gutes, der Unabhängigkeit des Heiles von subjektivem Laufen und Ma- chen und Rennen, die Gegebenheit des Heilsschatzes, kurz der ganze Gnadencharakter, hängt daran.

Weiter hängt damit eine andere wichtige Eigenschaft der Kirche zusammen. Nur unter dieser Bedingung der Unabhängig-

Religiöser Individualismus und Kirche.

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keit von dem Maß der subjektiven persönlichen Leistung im ein- zelnen Fall sind überhaupt Volkskirchen möglich. In der Volks- kirche, in der Massenkirche, hat man mit einer unendlich variie- renden Intensität der sittlichen Leistung zu tun, man hat sich tausend Dingen anzubequemen. Machte man die Zugehörigkeit abhängig von der sittlichen Leistung der Verbundenen, dann würde man die Kirche unmöglich machen. Nur dann, wenn die Heilsgüter völlig unabhängig ausgeteilt werden über Millionen, nur dann sind Massenkirchen möglich. Daher die Heilsanstalten der Kirche, die Kindertaufe z. B., womit grundlegend gesagt ist, daß die Heilsgüter völlig unabhängig sind von der subjektiven Leistung. Denn unabhängit? davon wird allen Gliedern der Kirche das von der Kirche verwaltete Heil durch die Taufe zugeführt. Dies ist alles eine Notwendigkeit, die mit der Kirche als Volks- kirche zusammenhängt, ist das Schiboleth der Volkskirche.

Demgegenüber steht" nun aber von Anfang an das, was ich den Sektentypus nennen möchte, etwas was auch aus wesent- lichen christlichen Grundgedanken entspringt, eine Vereinigung im religiösen Leben auf Grund wirklicher Christlichkeit, auf Grund wirklicher Wiedergeburt, auf Grund wirklicher Erneuerung des Menschen. Und da eine solche nur erkennbar ist an dem ganzen Gehaben des Menschen, an dem Leben, an der praktischen Lei- stung, so wird die Zusammengehörigkeit der Christen abhängig sein von dem Nachweis, von der Ueberzeugung ihrer wirklichen Erneuerung, ihrer Wiedergeburt. Wir bekommen da etwas, was nicht Anstalt, nicht Stiftung ist, in der die Heilsgüter bereit lie- gen; wir haben vielmehr die Vereinskirche vor uns, wo die Vereins- glieder sich sammeln auf Grund wirklicher Christlichkeit und nur solche in ihren eigenen engeren Kreis aufnehmen, von deren wirk- licher Christlichkeit sie überzeugt sind. Daher das Schiboleth der Vereinskirche, daß nicht die objektiv vorhandenen und ausgeteilten Heilsgüter in Sakrament und Predigt das Wesen der Sache sind, sondern daß immer erst noch hinzukommen muß das Wirken des heiligen Geistes, daß nicht das bloße Genießen des Leibes und Blutes Christi wirksam ist, daß das bloße Erleiden der Wasser- taufe nichts wirkt, sondern daß das wirklich Erneuernde die tatsächliche W^irksamkeit und Lebendigkeit des Geistes ist. Da- her die Verwerfung der Kindertaufe. Das ist die deutlichste Leugnung der Volkskirche, das deutlichste Kennzeichen der Vereinskirche als einer Zusammenscharung selbständiger, bewuß-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 8

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ter Christen. Sie ist nicht eine Massengemeinschaft mit objektiv gegebenen Heilsgütern, bei denen es im einzelnen Falle gleich ist, wieweit sie subjektiv angeeignet werden oder nicht.

Beides ging immer neben einander her. Auch auf dem Gebiete der Reformation ist neben dem großen kirchlichen Grundgedanken der Reformatoren die Sekte hergegangen in der täuferischen Ge- stalt, zum Teil Männer von wahrhaft rührender, tüchtiger, braver christlicher Gesinnung, die um ihres Glaubens willen gelitten haben. Sie bildeten keine Volkskirche, sondern eine eng geschlossene Ge- meinschaft, in der sie praktisch die christliche Moral, wie sie sie verstanden, mit weitgehender Gütergemeinschaft, Verweigerung des Eides usw. pflegten. Dazu gehörten aber weiter noch viele andere wie Sebastian Franck, Schwenkfeld u. a. Der Pietismus ist auch nichts anderes als eine solche Bewegung gegen die Kirche der großen Masse des Volkes, gegen die Anstaltskirche. Er ist das Be- kenntnis zur Vereinskirche, d. h. zur Vereinigung jedenfalls im engeren Sinne und engeren Kreise der wahrhaft Wiedergeborenen, weshalb der Pietismus überall die Wirkungslosigkeit der bloßen Pre- digt betont und dem Sakrament eine Wirkung nur dann einräumt, wenn der Empfänger bereit ist, in wahrhaft innerer Erhebung es zu genießen, wenn es also nicht bloß objektiv genossen wird. Aus diesen Strömungen, die die Christenheit immer begleitet haben : der Behauptung der Nicht-Objektivität der Heilsgüter und dem Wertlegen auf den persönlichen Glauben, auf die Echtheit, die Innerlichkeit, die Wärme der religiösen Empfindung aus diesen Gedanken heraus haben wir einen großen Teil unseres heutigen religiösen Individualismus und Subjektivismus zu verstehen. Denn sowie dieser aus den engen Sektenkreisen und aus dem Gemein- schaftsleben pietistischer Zirkel herausgeht, dann wird er über- haupt der reine Individualismus. Einem solchen radikalen Indi- vidualismus ist die Kirche als Massenkirche lediglich die Durch- schnittsanstalt, wo alles fertig und fest ist und unabhängig vom Wechsel subjektiver, persönlicher Ueberzeugung, aber darum auch wirkungslos, äußerlich und amtlich, lediglich eine Fiktion, die nicht zerstört werden darf; denn sonst würden die Leute sich die christlichen Anforderungen überhaupt nicht gefallen lassen.

Solche historische Kräfte, die, wie gesagt, im innersten Wesen des Christentums begründet sind, die die andere Seite neben dem Kirchengedanken darstellen, Erscheinungen, in denen oft das Beste und Wertvollste des heutigen Christentums zu finden ist, stecken in

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dem von uns beklagten Individualismus. Wenn dann noch etwas Abneigung der empfindlichen Gemütsart unserer Zeit gegen die enge und steife dogmatische Form des kirchlichen Wesens und die apologetischen Künste der Theologie dazu kommt, dann pflegt man sich in das Reich des Mystischen zurückzuziehen, wie es auch manchem von uns, wenn wir ehrlich sein wollen, sympathisch ist. Ich wenigstens kann nicht leugnen, es hat dies auch für mich immer etwas Verführerisches ; es steckt darin irgend ein Moment des Wahren und Lebendigen.

Eine ganz andere Quelle des religiösen Individualismus der Gegenwart liegt nun aber weiterhin auf dem intellektuellen Ge- biet, in der großen und allgemeinen Tatsache, über die ich kein Wort zu verlieren brauche, daß die dogmatische Gedankenwelt der Kirche, wie sie sich geformt hat in dem Jahrtausend seit Beginn der Kirche, sich in einem heftigen inneren Gegensatz gegen fast alle Grundbegriffe des modernen Denkens befindet. Das ist eine Tatsache, die nicht zu bestreiten ist, die jedermann kennte wenn sie auch nicht überall anerkannt wird, und unser ganzes Leben erfüllt. Das bringt naturgemäß ein ^gewisses Mißtrauen gegen die kirchliche Predigt mit sich. Und wenn nun noch da- zu kommt, daß die Theologie im wesentlichen sich auf das bessere Teil der Tapferkeit, nämlich die Vorsicht, verlegt und Konfliktsfälle und Schwierigkeiten vermeidet und überall nur ein IsoUerstühlchen sucht, auf dem man sitzen kann; wenn man die Theologie aufatmen sieht, so oft sie nachgewiesen bekommt, daß es doch noch gehe, sobald man da etwas weg tue und dort etwas zulege : dann steigert sich das Mißtrauen zur Abneigung. Wir wollen offen reden, das ist der Eindruck, den die Theologie auf unzählige Menschen hervorbringt und der sie ihnen schlechter- dings ungenießbar macht. Dazu besteht das Mißtrauen, daß jeder Theologe ein verkappter kunstvoller oder kunstloser Apologet ist, der immer um ein paar Millimeter mehr oder weniger handelt, die er ab- und zugeben kann. Ist er liberal, so läßt er viel nach, ist er konservativ, so läßt er wenig nach, aber es zielt immer darauf hinaus. Das ergibt lediglich eine Atmosphäre des Mißtrauens. Die wirklich großen Gegensätze bringt man selten übrigens auch aus guten Gründen, man will die Leute nicht aufregen, nicht unsicher machen und in die Schwierigkeiten hineinjagen zur Aussprache, man bleibt bei Halbheiten und Vermittlungen. Und dadurch ergibt sich das Gefühl : mit dem theologischen und kirchlichen Christen-

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tum Steht es bedenklich; es ist in vieler Hinsicht ganz schön und gut, aber man weiß nicht, was man damit machen soll. Im Grunde bietet es den Leuten fertige Wahrheiten, die frühere Jahrhunderte geschaffen haben, und dann modernisiert es sie offen oder verstohlen. In Wahrheit ist aber eine tiefe geistige Gärung vorhanden. Man weiß nicht, was kommen wird; man fühlt, daß das religiöse Denken der Menschen eine gründliche Wandlung erfahren wird und daß es so nicht bleiben kann. Unter diesen Umständen hat man das Gefühl einer peinlichen Unsicherheit ; namentlich der Laie hat das Gefühl, daß er von dem Theologen leicht ein wenig, ich will einmal sagen, wie von den päpstlichen Theologen im Fall der Borromäus-Enzyklika direkt zugegeben wurde, etwas über den Löffel halbiert wird. In Wahrheit ist die Stimmung die : wir stehen alle im Suchen, wir haben wenig fer- tigen Besitz ; natürlich haben wir die Substrate für den künftigen Besitz, aber einen wirklich fertigen Besitz haben wir nicht. Wir sind allseitig Suchende. Dann ist aber kein großer Unterschied zwischen der Lage des wissenschaftlich und des religiös suchen- den Menschen. Dann tritt die Forderung einer Anerkennung der Unfertigkeit unseres Wissens prinzipiell auch auf religiösem Gebiete auf, die Forderung der Autonomie des Denkens, die auf allen Ge- bieten, auch auf den Gebieten der Moral und der Religion, bean- sprucht wird. Da heißt es dann: es muß jeder sich in Gottes Namen seinen Weg nach bestem Wissen und Gewissen selber suchen, und jeder Suchende ist ein Eigener. Und so überträgt sich die Stim- mung, die für die Wissenschaft selbstverständlich ist, daß jeder nur durch sein eigenes Suchen sich vorwärts helfen kann, auch auf die Religion. So sind unzählige Menschen überzeugt, auch auf religiösem Gebiet habe jeder seine Gedanken sich selbst zurecht zu legen, so gut er kann. Und wenn er das tut, denkt er natürlich sehr unkirchlich, hat wenig Geduld für die Predigten, die anders sind als die Gedanken, die er sich zurecht gelegt hat, und die wenig Verständnis verraten für die neuen Dinge unseres Geisteslebens, Dann geht er lieber abseits. Er mag sich nicht schelten lassen, wo er sich doch im Recht fühlt. Er liest dies und jenes und denkt: unser Herrgott wird ein Einsehen haben, in solchen Zeiten kann man nicht zu sicheren Ueberzeugungen kommen ; der wird es nicht so scharf nehmen wie die Pfarrer und unser Kirchregiment ; da folge ich meinem Kopf, das Suchen der Wahrheit wird mich retten, sei es auch nur >wie durchs Feuer«.

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Dazu kommt noch ein Drittes : die Zerstörung, die Auflösung des Gemeinsamkeitsgedankens in unserer ganzen politischen und sozialen Welt überhaupt, des Gemeinsamkeitsgedankens im alten Sinne, daß es sich um fertige, vorverordnete, göttliche Stiftungen handelt. In der Zeit, wo die Kirche den Staat und alles be- herrschte, hat man geglaubt, auch der Staat sei von Gott gestiftet, und, was da sei an Obrigkeit, an Königen usw., sei von Gott eingesetzt. Alles sei objektive Bindung, alles sei Stiftung, und das einzelne Individuum gliedere sich lediglich ein ; es habe sich unter- und einzuordnen in die gegebenen Ordnungen ; es gehe hervor aus diesen Stiftungen und Anstalten. Sie wissen, dem- gegenüber hat das 18. Jahrhundert die gründliche, fundamentale Umwandlung alles politischen und sozialen Denkens gebracht, die Zerstörung der vor den Individuen geordneten, angeblich göttlichen Stiftungen und Bindungen. Alle Gemeinschaft geht für das moderne Empfinden hervor aus der Arbeit und dem bewußten Willen der Individuen. Man pflegt dies das Naturrecht zu nennen, und das Naturrecht ist bis zum heutigen Tage nicht ausgestorben. Alle Gemeinschaft ist demgemäß zu verstehen nach Analogie des Vereins, wo sich die Leute vereinigen zur Verfolgung gemeinsamer Zwecke, wo sie sich die Ordnungen, denen sie sich unterwerfen, frei- willig geben, weil eben eine Ordnung nötig ist. Hierin haben Sie den Charakterzug des modernen politischen und sozialen Denkens vor sich. Der Liberalismus ist ja nichts anderes als die Grundidee der Neukonstruktion aller politischen und sozialen Kräfte von der freiwilligen Vereinigung der Individuen her, die zu irgend einem bestimmten Zweck sich sammeln und dann so verständig sein müssen, sich selbstgewählten Ordnungen und Vorständen unter- zuordnen; sonst gibt es eben Unordnung. Von da aus kann er dann ein ziemlich konservatives Gesicht gewinnen. Aber der leitende Grundgedanke ist das freiwillige Zusammentreten der Individuen. Von diesem Standpunkt aus werden die Kirchen als Anstalten nicht mehr verstanden, sie werden betrachtet als Kult- vereine ; der Staat ist eine Genossenschaft, ist ein Verein, alles und jedes ist im letzten Grund ein Verein. Davon ging seiner- zeit die Kritik an den überlieferten sozialen und politischen Ge- staltungen aus, davon ging auch die Neukonstruktion aus. Denn unser ganzes politisches und soziales Gebäude ist aufgebaut auf der Wahl, auf der Beteiligung der Individuen. Das Wahlrecht soll sein ein allgemeines, ein gleiches, ein geheimes, um nicht beein-

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flußt ZU sein; alle sollen im gleichen Maße beteiligt sein an der Konstitution des Gemeinschaftskörpers. Alle Gemeinsamkeit ist bewußt hervorgebrachter Kollektivwille. Wo Sie diese Ueber- zeugung instinktiv durch die Menschenmassen hindurch verbreitet finden, da müssen Sie sich klar sein, daß Sie darin das direkte Gegen- teil eines kirchlichen Gedankens vor sich haben. Es besteht viel- mehr eine Wahlverwandtschaft mit der unkirchlichen Sekte, die noch mehr ist als Wahlverwandtschaft; denn zum Emporkommen jenes liberal-politischen Gedankens hat die dem Sektengedanken sich nähernde innere Entwicklung des Calvinismus erheblich bei- getragen. Jedenfalls steht die Sache so, daß Freiheit, Gleichheit, Menschenrechte und Gewissensfreiheit, d. h. die vollkommene Freiheit, sich zu religiösen Gemeinschaften zusammenzutun, als Grundforderung des ganzen modernen liberalen und demokratischen Denkens zu betrachten ist. Das geht hinein bis in die sozial- demokratische Bewegung, die im Grunde auch individualistisch denkt und nur zugunsten der einzelnen Individuen die Einzelnen stark einschränkt, um durch die dem Einzelnen von der Gesamt- heit zuzuteilende Quote ihm einen höheren Anteil an den Gütern des Lebens zu bieten. So begreifen Sie, daß überall unmittelbar mit dem liberalen, demokratischen Denken, unmittelbar mit dieser ganzen modernen Atmosphäre, die Folgerung verbunden ist : auch die Kirche, die religiöse Gemeinschaft kann nichts anderes sein als ein frei sich bildender Verein. Davon ist dann die Konsequenz die, daß alle, die bei der Kirche nicht mittun wollen, nicht mit- zutun brauchen, und daß nur die zusammengehören können, die wirklich übereinstimmen, so daß der Zerfall der Kirche in einzelne Konventikel und die Bildung einer großen kirchenlosen Masse die naturnotwendige Folge dieser Grundanschauungen wäre. Das sind keine weltfernen Theorien, sondern allgemein herrschende Maß- stäbe und Voraussetzungen, die unser ganzes soziales und poli- tisches und unser geistiges Leben durchdringen, und die auch auf das kirchliche hereindringen.

Nun brauche ich Ihnen ja kaum die Folgen zu zeigen, die alles das hat und an denen die Tragweite und die Bedeutung der Sache sehr deutlich wird. Hierin ist begründet, neben anderen auch vorhandenen Gründen, die ganz ungeheuere Entwicklung des Sekten- und Gemeinschaftswesens in der Gegenwart. Das ist ein Ding, dem man nicht sehr gerne in die Augen sieht. Aber es ist gar keine Frage, daß neben der Abneigung gegen dog-

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matische und ethische Mängel der Landeskirchen vor allem das individualistische Bedürfnis, das Selber-Mittun und Selber- BestimmenwoUen, der Zusammenschluß der eigentlich Wieder- geborenen, der eigentlichen Christen, es ist, was dieser Sekten- und Gemeinschaftsbewegung ihre Kraft und ihre Antriebe gibt. Diese Gemeinschaften sind den Landeskirchen sehr gefährlich, indem sie ihnen die besten Leute wegnehmen und gerade in die kirchlich-gesinnten Gemeinden eindringen, während sie in den unkirchlichen etwas weniger günstigen Boden finden.

In diesen Tatsachen, die ich geschildert habe, wurzelt eine weitere allgemeine Erscheinung, die Forderung der Trennung von Staat und Kirche, von Kirche und Schule. Denn es ist das von dieser Grundanschauung aus eine selbstverständliche Forderung, Wie sollte etwas, das auf freiwilliger Vereinigung der in gemein- samer Ueberzeugung sich. Treffenden begründet ist, zugleich auch eine Staatsangelegenheit sein können.^ Der Staat kann in dem allgemeinen staatlichen Interesse der Wohlfahrt und des Rechts die Menschen in große Zwangsvereinigungen hineinbringen; aber in so zarten, gewissensmäßigen Dingen, wie die persönliche Religion es ist, kann er sie nicht zusammenzwingen, sondern hier muß er jedem erlauben, seine Meinung aus eigener Initiative zu bilden. Und wenn das der Fall ist, wenn er weder jemand zur Zuge- hörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft zwingen, noch die Gestaltung einer religiösen Vereinigung beeinflussen kann, ist die notwendige Folge die Trennung der Kirche vom Staat. Eine daran sich unmittelbar weiter anschließende Folgerung ist dann aber die Trennung der Kirche von der Schule. Denn die Darbietung eines kirchlichen Religionsunterrichts in der Schule, gestützt durch die Garantien, die der Staat gewährt, ist doch auch ein gewisser indirekter Zwang, macht Dinge, die nur im Kreise freien Zusammenschlusses und freier Vereinigung ihr Recht haben, zu allgemeinen, öffentlichen Angelegenheiten, die man zwangsweise allen Kindern in der Schule zuführt. Da hilft es schließlich auch nichts^ daß man die erklärten Dissidenten herausläßt, womit schon das Prinzip durchbrochen ist, sondern hier kann nur reiner Tisch gemacht werden, indem man sagt : in diese dem freien Gemein- schaftsleben übergebenen Dinge hat der Staat nichts hineinzureden, diese Gemeinschaften aber auch dem Staate nicht, und folglich müssen sie aus der Schule. Das sind Konsequenzen, die überall hervortreten, und ich zweifle nicht, daß wir in diesen Dingen

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auch in Deutschland noch großen Kämpfen entgegengehen werden. Weiter eine härmlosere Sache: die Vereinsbildung. Wir ver- stehen heute kaum mehr, daß in den 30 er, 40 er und 50 er Jahren des letzten Jahrhunderts, als die Vorstufen für den Verein für Innere Mission zutage traten, hervorragende Kirchenmänner wie der Han- noveraner Petri die innere Mission für ein Werk des Satans erklärt haben. Was heute uns einen gewissen Trost gewährt, weil es einen neuen Zugang zur Bevölkerung uns geöffnet hat, war ihnen ein Werk des Satans, weil es das depositum fidei einschränkt und das re- volutionäre Prinzip in sich enthält: freie Vereinsbildung und außer- amtliche Mission kraft des frei verkündeten Wortes. Wenn man Vereine bilden darf, in denen die Seelen erst geweckt werden sollen, so schien das die Revolution in Person. So hat man denn die Innere Mission und andere religiöse Vereine lange Zeit mißtrauisch betrachtet. Heute haben die Kirchenregimente sich mit ihnen abgefunden, ja können sie gar nicht mehr entbehren. Ihr Gegensatz gegen den Begriff der Kirche ist darum doch un- verkennbar. Sie sind die Konkurrenten der Kirche, wenn auch unentbehrliche. Denken Sie an den Evangelischen Bund, an den Gustav-Adolf-Verein, an allerhand Aehnliches. Sie bekommen die Leute außerhalb der Kirche verhältnismäßig leicht in ihren Kreis, zumal wenn sie ihre Versammlungen noch mit einem Vergnügen ausstatten. Aber Sie dürfen sich nicht verhehlen, welch schwere Konkurrenz das ist für den eigentlichen kirchlichen Gedanken. Das ist auch ein individualistischer Gedanke, und die Leute ge- wöhnen sich, nicht mehr zu unterscheiden zwischen religiösen Versammlungen, zwischen Versammlungen des Evangelischen Bundes zum Beispiel, und der Kirche. Sie sagen : da singt man »Ein' feste Burg ist unser Gott«, und dort singt man »Ein' feste Burg ist unser Gott«. Die Leute werden sich daran gewöhnen, werden an religiösen Lebensmächten festgehalten, aber kirchlicher werden sie in den seltensten Phallen dadurch, oft vielmehr un- kirchlicher.

Weiter. Denken Sie an die vielfach umlaufende Meinung : Religion ist Privatsache. Das ist nicht nur eine sozialdemokratische Lehre, das ist, wenn sie wollen, die Konvention, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Kein Mensch fragt den andern nach seiner Religion und Konfession; das gibt nur eine unangenehme Unterhaltung; es ist eine Unhöflichkeit, wenn man zudringlich wird und die Leute fragt, wie sie darüber denken. Es versteht

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sich vollkommen von selbst, daß die Religion, wie das Heiligtum des einzelnen, so auch das Geheimnis des einzelnen sei. Es gilt in der guten Gesellschaft als Unanständigkeit, wenn man jemand wegen seiner kirchlichen, seiner religiösen oder irreligiösen, etwa seiner monistischen, Anschauung wegen anders behandelt als die anderen. Im allgemeinen achtet und ehrt man die gegenseitige Ueberzeugung, wenn sie auch der eigenen diametral entgegen- steht. Es ist das eine ganz gute und lobenswerte Gesinnung; wir würden doch auch wenig profitieren, wenn wir uns die Köpfe heiß über diese Dinge reden wollten. Aber diese Tat- sache ist schon die Proklamation eines außerordentlich weit- gehenden religiösen Individualismus, und dieses Verfahren wür- den die alten Kontroversprediger des i6. Jahrhunderts als bösen Indifferentismus beinahe epikureischer Art bezeichnet haben. Die- ses Verhalten der privaten Gesellschaft ist aber auch die Regel des öffentlichen Hier scheidet außer bei den Extremen die Diskussion religiöser Dinge aus, und auf diesem Gebiete ist Unwissenheit keine Schande. Unsere großen politischen Parteien haben aus diesem Grunde für das religiöse Leben kein Ver- ständnis. Sie sagen : das ist Privatsache, und sie meinen es dabei nicht bös und nicht schlecht. Aber sie steigern damit auch die Empfindung, daß es sich hier nicht um Dinge von öffentlichem Interesse handelt.

Alles in allem : Das ist die Sachlage, die wir heute vor uns haben.

Was macht man demgegenüber.? Ganz falsch und verkehrt kann das nicht alles sein. Außerdem tragen wir etwas von diesen Ideen, von diesen Meinungen, diesen Selbstverständlichkeiten in uns selbst, und es bleibt nichts anderes übrig, als einen sehr weitgehenden Einfluß diesem modernen Individualismus und Sub- jektivismus einzuräumen. Wir sind in Wahrheit darin schon ziem- lich weit gegangen, wir tun es nur nicht prinzipiell. Aber gerade das ist die Hauptsache : man müßte es prinzipeil und mit gutem, ehrlichem Gewissen tun. Denn das, was der Theologe zuerst braucht, ist ein gutes und ehrliches Gewissen. Das wird ihm so außerordent- lich schwer gemacht. Man müßte prinzipiell jedem einzelnen Theo- logen zubilligen, daß er in seiner persönlichen Entwicklung einen eigenen Weg gehen darf, daß, wenn er wirkhch die Absicht hat, christliches Leben zu verkünden, er sich dogmatisch und ethisch zu einer eigenen Persönlichkeit ausbilden darf. Daß das übermäßig

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viele tun werden, davor brauchen wir nicht Angst zu haben : auch bei den Theologen sind die von Persönlichkeit strotzenden Na- turen nicht diejenigen, die die Ueberzahl sind. Aber man müßte die Leute dazu erziehen, müßte es ihnen gestatten, müßte ihnen manches durch die Finger sehen und sagen : in Gottes Namen, das ist einer, der auf eigene Gefahr hineindringt in das Reich der großen und heiligen Geheimnisse, und der sich vor der Ge- meinde und dem Kirchenregiment nicht geniert. Dazu gehört allerdings, daß er sich auch nicht zu genieren braucht, auch nicht vor der Gemeinde, der er in voller Ehrlichkeit sagen darf: ich biete euch das Evangelium so, wie ich es verstehe und es tun kann. Man kann und muß den studierenden jungen Theologen sagen: »Was ihr jetzt lernt, das sind die Grundlagen. Erst kommt das Handwerk ; man kann nicht von vornherein zu einem indivi- duellen Schuster oder Schneider ausgebildet werden. Daher kommt zuerst das Handwerk. Aber nachher, wenn Sie es können, sollen Sie individuelle Arbeit machen. Sie sollen alles, was sie lernen, nur als Grundlage ansehen. Sie sollen die eig'ene religiöse Gesamtpersönlichkeit im vollen Umfang ethischer, politischer und sozialer Betätigung nach eigenem innerem Lebenstrieb so aus- bilden, daß die volle Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit da ist.« Darum muß immer wieder gekämpft werden. Unter solchen Um- ständen ist es dann aber unmöglich, zu erwarten, daß auf diesem Wege eine gemeinsame Schablone, eine gemeinsame Bindung an dogmatische Lehren, entstehen könne. Auf die gleichartige Dog- matik, ob orthodox oder liberal, muß überhaupt verzichtet wer- den. Man muß den Leuten Freiheit lassen, eigene Menschen zu werden, muß sie nach rechts oder links gehen lassen und darf die akademische Dogmatik nur als Bildungsstoff betrachten, an dem die jungen Leute denken lernen. Sie verstehen mich wohl. Das ist kein unbedingter Subjektivismus. Denn das »eigene« schließt das Sichhineinarbeiten in die göttlichen Lebenstiefen nicht aus. Aber wir erreichen damit, daß wir die volle Ehrlichkeit bekommen, daß wir Zutrauen, vor allem auch zu uns selber ge- winnen. Daran fehlt es manchen Theologen, und das hängt daran, weil sie nicht mit voller Freiheit und Energie zu eigen- artigen Predigerpersönlichkeiten sich entwickeln können.

Was dem einzelnen Prediger so zuzubilligen ist, das ist nun aber vor allem auch der einzelnen Gemeinde zuzubilligen. Man braucht hier nicht oder brauchte wenigstens nicht Angst zu haben vor

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allzu weitgehender Benutzung dieser Freiheit. Wenn die Ge- meinden das Interesse hätten, einen örtlichen Sondercharakter zu entwickeln, ein Interesse hätten an einer besonderen, ihnen eigenen liturgischen Ausgestaltung, wenn sie nicht untergingen in den tausend kleinen Rivalitäten des Alltags und den Intriguen der Pfarrwahlen, sondern in Wahrheit und innerlich das Recht und die Kraft hätten, eine individuelle Stellung innerhalb der Landes- kirche einzunehmen, so wäre das lediglich ein Segen. Es ist nicht einzusehen, was es schaden könnte, wenn eine Gemeinde den Wunsch hätte, z. B. eine besondere liturgische Eigenart zu haben. Heute merkt sie, wenn ein Pfarrer eine andere Agende in Ge- brauch nimmt, das nicht einmal; da muß erst jemand kommen, der ihr sagt: »Das ist nicht die rechte!« Also eine möglichst weitgehende Autonomie der Gemeinde, die innere Lebendigkeit voraussetzt. Daran fehlt es aber. Die Gemeinden sollten indivi- duell behandelt werden, so daß sie empfinden würden, daß sie innerhalb der Landeskirche zu einer besonderen Entwicklung be- rechtigt und verpflichtet sind.

Dann kommt weiter dazu, wie wir in Predigt und Unterricht unsere Zuhörer zu behandeln pflegen. Da ist die große Frage : Bieten wir ihnen nur fertige Wahrheiten dar, so gefärbt oder so gefärbt.!^ Wollen wir sie nur belehren und hineinziehen in norma- tive Ueberzeugungen .? Oder stehen wir ihnen gegenüber als ge- meinsam mit ihnen Suchende da } Ist der Gottesdienst, den wir mit ihnen pflegen, eine Darreichung aus einer bloß bald mehr rechts, bald mehr links verstandenen, aber objektiv fertigen und gültigen Wahrheit.^ Oder muß eingestanden werden, daß jedenfalls in der Lage der Dinge, wie sie heute ist, wir alle über ein gewisses gemeinsames Grundgut hinaus selber Suchende sind, daß infolgedessen sogar der Gottesdienst und die Predigt nicht nur ein Empfangen der Wahrheit, sondern ein gemeinsames Suchen der Wahrheit ist.? Und daß wir das nun auch übertragen auf den Unterricht, natürlich nicht bei den kleinsten Kindern, das ver- steht sich von selbst. Der Unterricht an den Mittelschulen kann nicht einfache Erziehung zur Bejahung fertiger Wahrheit sein. Die jungen Leute werden von der Umgebung mit Skepsis und Kritik von allen Seiten her erfüllt und lernen in dem profanen Hauptunterricht Grundsätze ernsten wissenschaftlichen Beweises. Sie haben empfänglichen Sinn, aber stecken voll von Kritik, und zwar auch von berechtigter Kritik. Sie vergleichen den Unter-

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rieht in den verschiedenen Fächern und fühlen die besondere Art und Schwachheit des Religionsunterrichts. Muß man da die Sache nicht auch so anpacken, daß man die Leute von vorn- herein erzieht zu gemeinsamem Suchen? Natürlich muß man aus- gehen von gewissen Grundanschauungen, man kann nicht alles auflösen in Skepsis. Aber man muß die Leute von vornherein in ihrem Empfinden und Denken so anleiten, daß sie wissen: unser heutiges Religionsleben ist in vieler Hinsicht ein suchen- des und nicht fertiges. Kultus und Gottesdienst bieten nicht fertigen Besitz, sondern sind gemeinsame Erwerbung eines reli- giösen Besitzes, wobei die Gemeinde zurückwirkt auf den Pfarrer und der Pfarrer auf die Gemeinde, und beide miteinander wo- möglich vorwärts kommen sollen, und beide sich nicht zu schä- men brauchen, daß sie in unverblümtester Weise sich eingestehen: nicht daß ich es schon ergriffen hätte, ich jage ihm aber nach. Ich kann nicht sehen, welchen Schaden das mit sich brächte, sondern glaube, daß wir in Wahrheit nur gewinnen würden.

Und schließlich die letzte Folge: Wir müssen uns entschließen, den Menschen, die nicht christlich oder nur sehr schwach christ- lich empfinden, also den Konfessionslosen, gegenüber das Recht der Konfessionslosigkeit einzuräumen ; wir dürfen nicht der offene oder verkappte Missionar sein. Das ist eine außerordentlich wichtige Sache. Meines Erachtens müssen wir einen Konfessions- losen, mag er gute oder schlechte Gründe dafür haben, in Ruhe lassen. Wir müssen dazu kommen zu sagen: »Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen ; ich achte aber auch dich, du kannst ein guter und tüchtiger Mensch sein, wir wollen uns gegen- seitig nicht als Missionsobjekte behandeln.« Dieser Fiktion, als müßten wir uns gegenseitig bekehren, müssen wir uns entschlagen. Ich will darauf hinweisen, wie die Amerikaner das mit Leichtig- keit fertig bringen. Die subjektive Ehrlichkeit, die Güte relativ genommen und die Begründetheit seiner Ueberzeugungen ist beim andern immer zunächst vorauszusetzen und, erst wenn es sich um ernste Auseinandersetzungen handelt, ist die Kontroverse mit Gründen zu führen. Wir werden, wenn wir es selbst auch nicht wollen, gezwungen werden, auf eine solche Haltung einzu- gehen, und es wird für die Kirche eine Aufgabe werden, den Ton der Predigt nicht immer auf die Alleinberechtigung der christ- lichen Ideenwelt zu stimmen. Die Leute haben das volle Recht, sich ihre religiöse Anschauung selbst zu bilden, und sind wieder

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SO ZU behandeln, als seien sie alle Christen oder als seien sie wenigstens lauter Missionsobjekte, die in allererster Linie bekehrt werden müssen. Wir betrachten natürlich unseren religiösen Be- sitz und unsere Gemeindefeier als das Höchste, was man religiös erreichen kann, und hoffen, daß von ihnen werbende und an- ziehende Kraft ausgeht. Aber wir dürfen daneben nicht die da- von unabhängige Religiosität verkennen und uns nicht aufdrängen wollen. Die missionarische Tätigkeit ist nicht Sache des Gottes- dienstes und des Unterrichts, sondern bestimmter einzelner dazu Befähigter und Getriebener oder auch bestimmter kirchlicher Son- dereinrichtungen. Das Ganze darf aber nicht selber vor allem auf den Ton der Ausschließlichkeit gestimmt sein. Wir müssen uns auf die unabänderliche Tatsache einrichten, daß die bewußte Christen- heit nicht zusammenfällt mit der Masse des Volkes, und daß es engere christliche Kreise gibt, die im übrigen es nicht als ihre erste Aufgabe ansehen, andere zu bekehren, sondern erst vor der eige- nen Tür zu kehren. Wenn wir das tun, so handeln wir wieder im Sinne eines religiösen Individualismus, den wir nicht mehr beseitigen können und wollen, weil er etwas Wahres in sich trägt. Nun stellen solche Verhältnisse freilich außerordentliche Anforderungen an das Kirchenregiment. Das darf man nicht verkennen. Schleiermacher hebt hervor, daß die Kirchen- regimente zu denen er übrigens neben dem eigentlichen Kirchenregiment auch die theologischen Gelehrten rechnet, weil sie einigen Einfluß auf die Kirche besäßen! die Aufgabe hätten, mit größter Umsicht und Ruhe die sich ergebenden Schwierigkeiten zu regulieren und die einzelnen zu Konzessionen zu bewegen; das Kirchenregiment sei sozusagen die ausgleichende Kraft, die im allgemeinen froh sein muß, wenn die individuellen Kräfte, Persönlichkeiten und Gemeinden, sich rühren, und die sich darauf beschränken muß, eventuelle Schwierigkeiten auszu- gleichen, und zu diesem Zweck einer sehr weitausgreifenden Bildung und Kenntnis, aber auch sehr großer Lebens- und Menschenkenntnis bedürfe. Das bedeutet für die Männer des Kirchenregiments nicht bloß hohe geistige und ethische Anforde- rungen an diese Persönlichkeiten, sondern auch unaufhörliche Schwierigkeiten und Kämpfe. Aber solche Kämpfe werden ihm immer weniger erspart werden. So wie ich die Lage verstehe, steht es so, daß wir unter allen Umständen vor den größten reli- giösen Zukunftskämpfen stehen. Wenn der Protestantismus und

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seine Kirchenregimenter es hierbei nicht fertig bringt, daß seine Glieder sich in ihren verschiedenen individuellen Bildungen neben- einander vertragen, dann geht er rettungslos der Sektenbildung, der Atomisierung entgegen, geradeso wie der Katholizismus rettungslos der Verknöcherung anheimfällt. Dann werden sich nach und nach immer mehr Teile von der offiziellen Kirche los- trennen, und dann stehen wir, ich kann nichts anderes kommen sehen, vor der langsamen Auflösung nicht des Christentums, aber der Kirche. Was dann kommt, weiß man nicht. Man kann sich ja darein ergeben und denken: unser Herrgott wird es schon gut machen. Aber es ist nicht notwendig, daß wir leichtsinnig etwas an den Instrumenten verderben, die doch helfen können, daß wir die großen religiösen Lebenskräfte uns und unserm Volke, das wir lieb haben, erhalten. Hier aber liegt eine ungeheure Verantwortung und eine hohe Aufgabe für die Kirchen- leiter, die heute bedeutende Persönlichkeiten nötiger haben als je, die aber auch verständnisvoll unterstützt werden müssen, wo sie selber verständig sind.

Zum Schlüsse möchte ich noch hervorheben, daß ein der- artiger Individualismus selbstverständlich auch seine Grenzen hat. Denn das ist nun die Kehrseite der Sache. Man kann so weit gehen, wie man es überhaupt verantworten kann, mit der Auto- nomie der einzelnen Predigerpersönlichkeit und der einzelnen Gemeinde in der Achtung anderer Ansichten. Soll aber über- haupt eine Gemeinschaft bestehen bleiben, so dürfen die Bäume des Individualismus nicht in den Himmel wachsen. Das ist etwas, was wir uns schlechterdings klar machen müssen : es ist in jeder Hinsicht notwendig, der Gemeinschaft Konzessionen zu machen. Und das werden wir nur dann tun, wenn wir die Gemeinschaft nicht als etwas empfinden, was erst hinterher zur Sache noch hin- zukommt und bloß ein Produkt der Individuen ist. Wir müssen die Kirche als Gemeinschaft des Geistes Christi auffassen, den wir zwar nicht verstehen als fertiges Depositum von Dogmen und Kult- regeln, aber als etwas, was von Christus ausstrahlt, als eine un- geheure Macht, die der gemeinsame Lebensgeist ist, aus dem wir alle unsere Kraft nehmen, so daß wir diese Gemeinschaft nicht durch unser Tun und Wollen zusammensetzen, sondern als die dem einzelnen Individuum übergeordnete Gemeinschaft des Geistes Christi empfinden. Es ist das corpus mysticum Christi, das man empfinden muß als jedem einzelnen Individuum

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vor- und übergeordnet. Wenn wir unser Empfinden und Denken in dieser Selbstverständlichkeit formen und schulen, dann werden wir es auch als selbstverständlich ansehen, daß die Landeskirche sich als Ausdruck des corpus mysticum Christi empfinden muß. Und wenn wir das tun, wird es uns möglich werden, die unerträglichen Konsequenzen eines radikalen Individualismus zu beschneiden. Wir müssen es uns dabei freilich eingestehen, daß es hierfür positive, fest ausmachbare Grenzen nicht gibt. Wenn man uns einwirft: »Ihr müßt ja dann gegen eure eigenen Prinzipien handeln«, so ist das leicht gesagt. Aber man kann eben nicht allgemein sagen, wie weit man gehen darf. Man muß dessen gewärtig sein, daß es Konflikte gibt. Man muß einen Querkopf einmal zu weit gehen lassen. Das ist nicht das größte Unglück. Aber man muß auch damit rechnen, daß ein solcher einmal hinausgedrängt wird. Das sind die Opfer, die in solchem Kampfe fallen; es ist das nicht zu ver- meiden. Hier kann nur. praktisch von Fall zu F'all entschieden werden, auch auf die Gefahr hin, daß man einmal inkonsequent handelt. Auch für die Kirche ist die Konsequenz nicht der erste Ruhm, sondern man möchte sagen, der Anfang der Verholzung und Geistlosigkeit. Und ist man einmal dabei, daß man der Konsequenz etwas abbricht, dann kommen Fälle vor, die im ein- zelnen peinlich und schmerzlich sind. Aber man m^uß die Geduld und Ruhe haben, daß man sagt: das kann nicht anders sein. Hier gibt es nur den Takt und den Kompromiß zwischen verschiedenen berechtigten Bedürfnissen, der nicht von vorn herein durch die Theorie geregelt werden kann.

So werden uns doch auch ganz bestimmte Grenzen des Indi- vidualismus deutlich. Der Geistliche soll seine Predigerpersön- lichkeit wie seine Predigt frei und möglichst aus innerem Triebe bilden. Er darf aber nicht der Meinung sein, daß er im Gottes- dienst niemals etwas anderes sagen dürfe, als was er schlechthin vertreten kann. Leute, die so empfinden, sind gewiß achtenswert, aber zu Pfarrern nicht geeignet. Wer einer Gemeinde dienen will innerhalb einer historischen Gemeinschaft, muß sich sagen: ich muß den Willen haben, die besten Kräfte für sie lebendig zu machen. Auf unsern Fall angewendet: er muß Liebe haben zur badischen Landeskirche und Sinn für ihre Tradition. Ich muß, was ich biete, herausarbeiten wollen aus der Vergangenheit, ich muß den Willen haben, es zu tun aus der Bibel heraus und aus der kirchlichen Tradition heraus, wie ich sie verstehe; ich darf mich

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aber nicht auf den Standpunkt stellen : »Ich will nur auf den eigenen Kopf hin predigen, die Agende nach meinem eigenen Kopf ge- stalten.« Es ist immer zu wünschen, daß der Kopf und die Agende zusammenstimmen. Ist es einmal nicht der Fall, so mag er es für sein Recht halten, Agenden und Liturgien seinem Gefühl nach Möglichkeit anzupassen. Aber wenn einer dabei in ernsten Zwie- spalt mit seiner Gemeinde gerät, der darf nicht verlangen, daß um seiner einzelnen persönlichen Wahrhaftigkeit willen die Ge- meinde schließlich abhängig werde von seinen rein persönlichen Ueberzeugungen. Das ist ein Dilemma, das erkenne ich ohne weiteres an. Das Dilemma ist aber wieder einer der Punkte, wo die Konsequenz nichts hilft; hier hilfts nichts als ein Kompromiß. Es muß einer den Willen haben, aus eigenster ernster Arbeit seine Persönlichkeit und Ueberzeugung zu gestalten. Den Leu- ten aber klar zu machen, daß die Bibel ein Unsinn und die Re- formation ein welthistorisches Unglück sei, wer in diesem Sinne predigen wollte, ja nun, dafür gibt es andere Plätze als die christ- liche Kanzel. Wer das Vaterunser nicht mehr beten kann, mag ein achtenswerter Mann sein, aber es geht für einen Geistlichen nicht. Der Geistliche ist nicht nur sich selbst und seiner Ehr- lichkeit, sondern auch der Gemeinde, vor der er steht, und der Gesamtgemeinde des Landes, in der er steht, verpflichtet. Wie er sich hilft, ist seine Sache. Aber da ist es freilich notwendig, daß das Kirchenregiment doppelt entgegenkommend sei und empfinde, wie schwierig die Lage für den einzelnen ist. Wenn Pfarrer, Gemeinde und Kirchenregiment einsehen würden, daß hier Schwierigkeiten vorliegen, wenn der Pfarrer nicht nur den eigenen Kopf durchsetzen will, sondern in möglichster Ueberein- stimmung mit der Gemeinde handelt, und wenn das Kirchen- regiment nicht bloß durch die P'inger sehen, sondern auch er- muntern Vv^ollte zur Freiheit, indem es sagt: es ist ganz recht so, schaffet, was an euch ist und einigt euch mit eurer Gemeinde die Liturgie ist eine Sache, von der Vater Luther gesagt hat, sie sei äußeres Menschenwerk und tue gar nichts zur Seligkeit , so würden sie erkennen, daß hierin ein Kompromiß zu schließen ist. Zum Verständnis des Ernstes und der Verantwortlichkeit, die hierin liegt, sind die jungen Theologen von Anfang an zu erziehen. Sie dürfen nicht ins Amt hinaus mit der Meinung, sie könnten durch- aus nichts predigen, was sie nicht unbedingt persönlich vertreten können. Sie können ja in ihrem ersten Vikariatsjahr noch gar nicht

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wissen, was sie in 30 Jahren vertreten werden. Ist ihr Wille, andern mit ihrer religiösen Kraft dienen zu wollen, stark genug, dann müs- sen sie an ihrem eigenen Kopfe, ihrer eigenen Ehrlichkeit und Wahrheitsüberzeugung soviel abbrechen können, daß sie erst dann, wenn es unauflösliche Konflikte, wenn es Seelenkonflikte gibt, die Segel streichen. Ich habe als junger Vikar auch eine Agende gehabt, die mir peinlich war. Ich habe mich dabei auf den Stand- punkt gestellt: entweder verlasse ich die Arbeit, an der doch mein Herz hängt, oder ich unterwerfe mich der Liturgie, die ja vielleicht gar nicht so bleibt, sondern hoff'entlich einmal verständig geändert wird. Es kann freilich eine wahrhafte Not werden, und dann muß Besserung eintreten. Jedenfalls aber kann man nicht mit dem Kopf durch die Wand, und es ist das nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht richtig. Es ist innerlich, ich möchte sagen, religiös und moralisch nicht recht. Hier hat man die Pflicht, soweit es das Gewissen dulden kann, Konzessionen zu machen.

Ebenso steht es mit der Autonomie der Gemeinde. Wir dür- fen nicht vergessen, daß die Gemeinden aufeinander angewiesen sind, daß die Landeskirche nicht ein Aggregat einzelner Gemein- den ist, die sich sagen : »Wir setzen ein möglichst billiges Kirchen- regiment ein, das die äußere Ordnung aufrecht zu erhalten hat,« sondern sie müssen sich empfinden als Glieder eines Ganzen mit gegenseitiger Wechselwirkung, müssen sich der Einheit des corpus mysticum Christi bewußt sein und müssen aufeinander Rücksicht nehmen, wobei auch hier wieder die Konflikte nicht ausbleiben werden. Denn eine städtische Gemeinde mit starker Intelligenz oder eine Arbeitergemeinde werden anders empfinden als eine ländliche Gemeinde, eine Bauerngemeinde. Es ist schwer, so ver- schiedene Gemeinden unter einen Hut zu bringen. Namentlich der Unterschied von Stadt und Land spielt auch in religiösen und kirchlichen Dingen eine große Rolle und verlangt auch hier gegenseitige Rücksicht. Die Gemeinden müssen lernen, wenn sie christliches Gemeindebewußtsein haben, sich ineinander zu schicken, und das heißt auch in diesem Falle Opfer bringen; wobei ich hervorheben möchte, daß nicht nur Opfer an fort- schrittlicher Ueberzeugung gebracht werden dürfen, sondern die Opfer müssen gegenseitig gebracht werden. Man muß bereit sein, Opfer zu bringen, oder sich damit abfinden, daß die kirch- liche Gemeinschaft aufgelöst wird. Wer das für kein Unglück

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. g

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hält, nun ja ; wer das aber für ein Unglück hält, was es nach meiner Ansicht sicher ist, der muß sich sagen : wir wollen Frie- den halten um der Liebe willen im corpus Christi. Wir müssen es dahin bringen, daß die einzelnen Christen sich abgewöh- nen zu denken: »die Religion ist eine Sache für die Pfarrer und für die Kirche, die haben es miteinander abzumachen, und mir steht es frei, mir davon anzueignen, was ich will ; predigt der Pfarrer gut, so gehe ich in die Kirche, predigt er nicht gut, so gehe ich nicht in die Kirche ; die Religion ist Angelegenheit der Theologen, die zanken sich darüber ; ich nehme daraus, was ich will ; die Pfarrer bleiben ja da, wenn ich sie brauche, kann ich sie haben.« Es müssen vielmehr die einzelnen Gemeindeglieder, die religiös strebenden und sozial empfindenden Menschen von heute , fühlen lernen , daß in der Religion keiner lediglich auf sich selber steht, sondern daß auch das eine Arbeit der Gemeinsamkeit ist, daß es überhaupt ein wirklich starkes religiöses Leben nur gibt in gegenseitiger Ergänzung und Stärkung. Das halte ich für eins der größten Leidwesen der Gegenwart, daß die Empfindung dafür so sehr abhanden gekommen ist, daß im reli- giösen Leben keiner sich selber steht und sich selber fällt. Es ist nicht möglich, in diesen Sachen ohne Unterstützung auszu- kommen, ohne das Echo, das uns die gemeinsame Kultübung, die gemeinsame Andacht, bringt. Man erfährt das oft genug am eigenen Leibe. Ich leugne es nicht, daß einem die Lust, am Gottesdienst teilzunehmen, heute geringer wird. Daß man dann aber etwas verliert, ganz abgesehen von der Predigt, das ist selbst- verständlich. Wenn man einen Kultus haben könnte, wo die Ge- müter zusammenstehen in gemeinsamer Liebe, wo man wirklich im Ernste singen kann: »Herz und Herz vereint zusammen«, dann würden die Leute sagen : das ist wirklich ein Gewinn. Aber die Leute haben es sich abgewöhnt, und das können die Pfarrer allein nicht anders machen. Die Leute müssen es von sich aus lernen, vielleicht durch eigenen Schaden lernen, daß die Hauptsache nicht die Predigt ist, sondern daß man die Predigt im wesent- lichen erträgt. Das möchte ich offen sagen. Sie wird vom Pfarrer und von der Gemeinde ertragen. Ausnahmsweise kann sie sehr gut sein, dann danken wir dem Pfarrer und sind froh, dafi wir etwas derartiges erhalten haben. Aber von einem Men- schen, der alle acht Tage, oder, wenn es gut geht, alle vierzehn Tage reden muß, verlangen, daß er uns immer packen soll, das

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ist das Törichteste, was man verlangen kann. Es ist nur zu ver- langen, daß der Betreffende mit Gewissenhaftigkeit und Geschmack seines Amtes walte. Dann nimmt man keinen Anstoß, und es wird immer eine Saite darin sein, die einen Ton weckt oder auch einen starken Ton aus der Brust des Hörers herausholt. Die Predigt ist nicht die Hauptsache, die Christen lernen das hoffent- lich noch. Sie ist nicht die Hauptsache, sondern sie gehört bloß zur Sache, da ein evangelischer Gottesdienst ohne Predigt kaum vorzu- stellen ist. Aber die Hauptsache ist die gemeinsame Andacht, die Stimmung der Feier und schöne Gebete, gut gesprochen. Die kultische gute Haltung des Geistlichen ist dabei sehr wesentlich. Der Gottesdienst muß als Ganzes mit Liedern und Gebeten eine Kraft und Stimmung der Erhebung um sich verbreiten und in den Alltag dadurch nachhallen. Das ist alles, was man verlangen kann. Das müssen die Leute lernen und dem Gottesdienst so gegenüberstehen. Wenn aber die Leute sagen : »Der Pfarrer muß mir meine Religion machen; heute hat er sie nicht gut ge- macht, ich komme so schnell nicht wieder«, so ist das gänzlich falsch. Der Pfarrer macht die Religion nicht, die Leute müssen sie sich selber machen. Der Pfarrer kann sie nur vertiefen und zusammenknüpfen, die Religion aber macht der Pfarrer nicht. Es ist also im Hauptpunkt ziemlich gleichgültig, ob der Pfarrer gute oder schlechte Religion macht in der Predigt, die Menschen müs- sen die Religion selbst machen. Aber das müssen die Leute lernen, daß in der Gemeinsamkeit, in der gemeinsamen Versen- kung und Vergegenwärtigung der großen christlichen Grundsätze und der christlichen Geschichte, unsere Religion erwächst. Das müssen die Menschen von sich aus finden und wieder lernen. So kann schließlich eine Besserung in diesen Dingen erst ein- treten, wenn die Menschen den reinen, bloßen Vereinsgedanken, diesen rein liberalen und demokratischen Vereinsgedanken, aus dem Kopfe bekommen. Mag es noch lange dauern, aber es wird kommen. Je mehr dieser bloße Vereinsgedanke sich auswirkt und seine Konsequenzen zieht, um so mehr wird man sehen, daß es so nicht zu machen ist. Die Gemeinden entstehen nicht durch freiwil- liges Zusammentreten der Individuen. Es gibt solche Vereine, gewiß, das sind dann Kegelklubs oder Wohltätigkeitsorganisationen und derartiges, aber eine große Geistes- und Lebensgemeinschaft ist das nicht. Die Kirche ist zwar nicht eine von Gott geschaffene Heilsanstalt, aber ein großes historisches Gesamtgut, wo nicht

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jeder Einzelne herzugelaufen ist und in jedem Augenblick der Verein wieder aufgelöst werden kann. Das müssen die Gemein- den empfinden lernen, und das werden sie nur durch die Er- kenntnis der Geschichte erwerben. Geradeso wie der moderne Staat sich vom Individualismus her rekonstruiert hat, so wird auch in der Kirche der Individualismus sich ausleben müssen, und dann wird man sehen, daß er seine großen inneren Schranken und, übertrieben, seine große Unwahrheit hat. Es bleibt die Wahrheit, daß ein die einzelnen Individuen erst hervorbringender und im Zusammenhang haltender übergeordneter Gemeingeist die schaf- fende Kraft aller menschlichen Dinge ist. Das wird man dann auch bei uns wieder lernen, und das wird eine Umkehrung unserer Gefühle bewirken.

Damit möchte ich schließen. Ich hebe nur zum Schluß her- vor : die eigentliche Heilung des großen Schadens, von dem ich erzählt habe, liegt nicht in erster Linie an uns Theologen. Wir können das in der Hauptsache nicht selber machen. Wir können zwar vieles bessern und in bezug auf die Freiheit der Predigerper- sönlichkeit und Gemeinde können wir vieles durchführen, wie viel Schwierigkeiten sich auch hier erheben mögen. Wir müssen durch die Erziehung einwirken und im kleinen bessern. Aber im großen werden die Schäden, von denen wir hier sprechen, erst dann geheilt sein, wenn die Menschen im großen und nicht nur auf dem religiösen Gebiet, wieder die Ueberzeugung gewon- nen haben, daß die großen Lebenskräfte nicht durch das Zu- sammentreten der Menschen geschaffen werden, sondern durch die großen Gemeinschaften mit mächtigen Gemeinschaftskräften. Darauf müssen wir warten, daß das die Menschen lernen ; unsere Belehrungen und Klagen werden wenig ändern. Wer da meint, daß die religiöse Gemeinschaft durch das Zusammentreten von frei übereinstimmenden Individuen entstehe, den müssen wir ge- währen lassen. Es wird dieser Individualismus seine Gemein- schaft auflösende Konsequenz und gerade diejenige, die er am wenigsten will, die der vollständigen Mittelmäßigkeit, hervorbringen. Denn, wenn es so weit ist, daß jeder es nur noch mit sich selbst zu tun hat, gibt es freilich keine Konflikte mehr, aber eine fürchter- liche Mittelmäßigkeit. Die Radikalsten auf unserm Gebiete würden, wenn sie alle andern auch zu Individualisten machten, nicht nur Zusammenhanglosigkeit hervorbringen, sondern vor allem Mittel- mäßigkeit. Sowie das Prinzip des Individualismus wirklich durch-

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gedacht und durchgelebt wird, dann erscheinen auch seine Schran- ken. Das muß man als Ergebnis der jetzigen Entwicklung ab- warten. Uns bleibt nichts anderes übrig, als in Geduld unsere Arbeit weiter zu tun und so viel zur Erhaltung unserer Sache zu tun, als wir können. Wir stehen hier vor einer Zukunftsentwick- lung die nicht im Belieben eines Predigervereins liegt, auch nicht einer Generalsynode, ja nicht einmal eines Parlaments. Das sind große allgemeine Dinge, die ihren eigenen Gesetzen unterliegen. Ich zweifle nicht, daß das Bild wieder einmal anders wird. Die Jünger Christi stehen vor großen Aufgaben, vor kommenden schwe- ren Krisen. Es sind vielleicht solche für die soziale Verfassung der Völker überhaupt, jedenfalls solche für die Kirchen. Da wollen wir für unser Teil zusammenhalten, was möglich ist. Wir wollen uns ausrüsten mit beidem : mit dem religiösen Bekenntnis einer persönlich wahrhaftigen, aus eigenem inneren Lebenstrieb heraus schaffenden Persönlichkeit, und auf der andern Seite mit einem wirklichen Willen, die Gemeinschaft des corpus mysticum Christi zu pflegen, an das wir uns aus Liebe gebunden fühlen.

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(Bei Anlaß des Falles Jatho aus »Christliche Welt«, 191 1-)

Es war das erste Funktionieren des neuen Spruchgerichts, und man sieht nun, wohin die Reise geht. Das gibt der Er- regung über den Fall Jatho die große allgemeine Bedeutung, die noch weit hinausgeht über den erschütternden Eindruck, den das Persönliche und Besondere dieses Falles macht. Herzbewegend ist er aber auch für die akademischen Theologen, deren schon ohnedies so schwere Arbeit hierdurch noch schwerer geworden ist. Von ihnen hat man in der Sache bisher wenig vernommen. Es werden auch die Vorwürfe nicht ausbleiben, daß sie, deren Unterricht und Forschung gerade den Pfarrern diese Kämpfe mit verursacht, ihnen nicht auch klar und deutlich zur Seite stehen. Die Gründe des Schweigens werden sehr verschiedene und dar- unter sehr ehrenwerte sein. Allein so wenig bedeutend die Stimme eines Gelehrten unter den heutigen Verhältnissen ist, so muß doch um der Klarheit und Ehrlichkeit willen hier geredet werden und dürfen die Pfarrer, mit denen wir eng zusammen- gehören, nicht im Stich gelassen werden. So erwächst auch für den einzelnen die Pflicht, sich zu äußern. Das, was Herrmann in der »Christlichen Welt« zu dem Fall aus der Art seines Wesens und Gedankens heraus geschrieben hat, ist jedenfalls durchaus nicht aller Meinung. Viele von uns werden hier viel lieber mit Bonus oder Seil gehen und überdies noch einige eigene Gedan- ken zur Sache haben. In diesem Sinne sind die folgenden Zeilen gemeint.

Das Besondere und Persönliche dieses Falles hängt nun frei- lich nicht mit der heute vorherrschenden Richtung der kritisch- wissenschaftlichen Theologie zusammen. Der Mann, der verurteilt worden ist, ist ein poetisch fühlender und sprechender Mystiker, in vieler Hinsicht ähnlich den alten Spiritualisten im Sinne eines Sebastian Frank oder Angelus Silesius. Er gehört nicht, wie die

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von Ritschi ausgehende Richtung, einer erkenntnistheoretisch- ethischen Theologie an, die das alte Dogma in seinem rein praktisch-religiösen Sinne zu deuten bestrebt ist. Er gehört auch nicht zu den Historikern, die von der Kritik der Bibel und von der Religionsgeschichte ausgehen. Er hat überhaupt keine fest- geprägte Theologie, und die Historie ist ihm in Kritik und Un- kritik gleichgültig. Er redet wie alle Mystiker bald gleich einem Pantheisten, bald gleich einem Theisten. Er gehört nicht zu denen, die sich klar sind über Gott. Er meint, daß über Gott alle sich unklar sind, die ihn nicht mehr mit den sieben Engel- chören im siebenten Himmel thronend sehen: so dürfe doch wohl auch er ein bischen unklar sein. Er kann die Erlösung nicht scholastisch definieren und spricht von Selbsterlösung durch den Glauben; aber da er Gott und Selbst nicht unterscheidet, ist ihm die Erlösung doch wieder Gottes Werk. Er poetisiert, symbolisiert und allegorisiert die Bibel wie alle Mystiker, und entnimmt ihr doch alle Fülle lebendigsten und konkretesten Ge- haltes. Er weiß mit dem historischen Christus nicht viel anzu- fangen und spricht vom Christus in uns, dem lebendigen Christus der Gegenwart und Zukunft, der aber doch überall die Züge des neutestamentlichen Jesus trägt. So kommt es zu den buntesten Widersprüchen und den verblüffendsten Paradoxien in seiner Theologie, die keine Theologie ist und keine sein will, sondern nur die Aussprache eines lebendig erregten religiösen Gemütes. Seine Bibel will keinem anderen Buche wehren, auch zur Bibel zu werden, wenn es religiöse Kraft und Leben in sich trägt; aber die Bibel bleibt ihm das Mittel religiöser Unterweisung vor allen. Nur in einem Punkte unterscheidet er sich scharf von den älteren Mystikern: in seinem Optimismus und seiner Diesseitigkeit. Hier wirkt auf ihn die ganze moderne Poesie und entwickelungs- geschichtliche Naturanschauung. Hier ist er eins mit den Selbst- verständlichkeiten und Voraussetzungen des spezifisch modernen Menschen und taucht sie ein in die goldene Wärme seines kind- lichen Glaubens. Gerade das aber hat ihm außer seinen offen- bar hervorragenden Gaben der persönlichen Einwirkung und geistlichen Berufsarbeit seine tiefe Wirkung verliehen. Er findet sich mit dem modernen Menschen in seinen Vorurteilen und Instinkten, die auch in der kritischen Schultheologie igno- riert oder apologetisch beiseite geschoben werden. Es sind einmal hier die bösen Professoren wirklich nicht schuld, sondern

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der Eindruck des modernen Wesens, wie ihn der Pfarrer in einer tatsächlich an die Menschen herankommenden Tätigkeit kennen lernt und auf ihn eingehen muß, wenn er verstanden und mit- gefühlt sein will. So hat Jatho sich eine Großstadtgemeinde ge- wonnen, wie man sie heute überhaupt nicht mehr für möglich gehalten hätte. Er hat nicht bloß die »kirchlichen Kreise« seiner sogenannten Gemeinde, sondern seine Gemeinde selbst gewonnen, und gerade durch das, was ihn von aller gangbaren Theologie der Gegenwart unterscheidet.

Diesen Mystiker hat nun die offizielle Landeskirche als »un- vereinbar mit dem in der heiligen Schrift verfaßten und in den Bekenntnissen (wobei vorsichtigerweise nicht angegeben ist: in welchen .?•) bezeugten Worte Gottes« ausgeschieden. Die Kirche hat die Mystiker nie geliebt, weil ihr Subjektivismus, ihr unfaß- barer Spiritualismus und ihre Verlegung aller Erlösung in die lebendige Gegenwart all ihren Autoritäts- und Anstaltsinstinkten entgegengesetzt ist. Sie hat auch diesen modernen Mystiker nicht vertragen, obwohl seine ganz singulare Theologie sie mit keiner gefährlichen Schule bedrohte und obwohl sein Verhältnis zu seiner Gemeinde ein stark persönliches Innigkeits- und Liebesver- hältnis war, bei dem alles auf das Praktische und wenig auf das Theologische ankam. Das Spruchgericht fragte nicht nach seinem Glauben und nach seinem W^erke, sondern nach seiner Theologie, ob sie noch möglich ist oder ob sie nicht mehr möglich ist. Es fand insbesondere seine unbedenkliche Annäherung an die Lieb- lingsideen der modernen Bildungsschicht unerträglich und unver- ständlich. In dem Gericht saßen außer korrekten Männern der Ordnung und einigen Hinterwäldlern der Kultur gewiß Männer, denen der Entscheid sehr schwer geworden sein wird. Aber sie kennen den modernen Menschen nur aus der Literatur, aus der Polemik und Widerlegung in Kirchenblättern. Sie kennen ihn nicht von Mensch zu Mensch, von Herz zu Herz und können sich eine wirklich religiöse Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit bei ihm gar nicht vorstellen. Vor ihnen verbirgt er sich und mit ihnen spricht er sich nicht aus, wenn er ihnen begegnet. Sie verkehren nur mit Ihresgleichen und empfangen und geben unter- einander sich alle theologischen und kirchlichen Ehren ; und, da sie ziemlich viele sind, meinen sie, die anderen seien im Grunde eine Ausnahme, die schon von selbst verschwinden werde. So haben sie den wunderlichen HeiUgen ausgestoßen. Der Pfar-

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rer aber, der in unseren Städten auf den modernen Menschen wirken will, kann sich dem modernen Wesen nicht so entziehen, wie die kirchlichen Notabein, die der König, sorgfältig ausgesiebt, in das Spruchgericht berufen hat. Er muß darauf eingehen oder auf diese Kreise verzichten. Da trifft es sich eigen, daß gerade der Mann, der mit unerhörtem Erfolge auf die moderne Lebens- welt praktisch und seelsorgerlich eingegangen ist, zum ersten Opfer des neuen Spruchgerichtes wird, das in Wahrheit einer Humanisierung und Modernisierung des Ketzerprozesses hatte dienen sollen.

Die Kluft, die jeder in der modernen Welt innerlich Lebende längst kannte, die aber die offiziellen Theologen in der Art des Vogel Strauß behandeln, ist damit blitzartig erhellt. Die Verhältnisse, wie sie wirklich sind und in der theologischen und kirchenrechtlichen Fiktion stets verhüllt werden, sind sonnenklar aufgedeckt. Der Mystiker ist der am wenigsten kirchlich und dogmatisch Drapierte, darum ist er das erste Opfer; seine segensreiche Wirksamkeit, alle Liebe seiner Gemeinede kann ihn nicht retten. Obwohl sein praktisches Wirken sicherlich im eigentlichsten Geiste Jesu ist, so ist es doch nicht nach dem Sinne der Kirche, die eben nicht der Geist Christi, sondern eine im Laufe der Zeit mit bestimmten Dogmen ausgestattete, mit allen Autoritäten und Institutionen, allen politi- schen und sozialen Machtverhältnissen verwurzelte Anstalt ist und die von der ganzen inneren Bewegtheit und Unfertigkeit des um einen religiösen Lebensgehalt ringenden modernen Men- schen durch eine Welt geschieden ist. Der Konflikt mußte ein- mal kommen, der Stoff zu ihm lag überall bereit. Wäre Jatho vorsichtiger und theologischer gewesen, so wäre er vielleicht nicht gerade bei ihm ausgebrochen. Es ist nur gekommen, was ir- gendwo und irgendwie kommen mußte. Daß der vernichtende Strahl gerade Jathos Amtstätigkeit getroffen hat, die unter allen Umständen eine ethisch und religiös besonders lebendige und innige gewesen ist, das macht ihn nur noch schmerzlicher und bewegender, aber er beleuchtet dafür auch um so schärfer die tiefen inneren Gegensätze unter den protestantischen Christen der Gegenwart. Es ist ein ausgesucht klassischer Fall, den man nicht besser hätte konstruieren können, wenn man das Fiktive und Vorgebliche, das Scheinbare und Gewaltsame an unseren protestantischen Kirchenverhältnissen enthüllen wollte.

Jatho gebührt für seine aufrechte Festigkeit und der Kölner

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Gemeinde für ihre Treue jeder Dank und jede Anerkennung. Dem Spruchgericht wollen wir die »gläubige« Presse und die Denunzianten danken lassen, deren Agitation den Fall gemacht hat, und die das Spruchgericht am liebsten in Permanenz er- klären möchten, bis alle Häupter der verhaßten modernen Theo- logie gefallen sind.

Aber das ist nur das Besondere gerade dieses ersten Falles. In Wahrheit birgt das Spruchgericht selbst und seine mit die- ser ersten Funktion eingeschlagene Entwicklungsrichtung noch viel weiter gehende , das ganze Dasein des protestantischen Kirchentums und die protestantische Christenheit betreffende Probleme in sich. Die echten Christen unter den Richtern wer- den sich gerade in diesem schmerzlichen Falle besonders schwer zur Absetzung entschlossen haben. Aber sie glaubten ein Prinzip vertreten zu sollen, gegen das alle Rührung und alles menschlich Gute nicht aufkommen könne, das Prinzip einer wenigstens in den Hauptpunkten zu wahrenden staatskirchlichen »Konformität«. Man kann kein besseres Wort dafür wählen als dieses Stichwort der Elisabethanischen und Stuartschen Kirchenidee. Die Motive des Spruchgerichts sind unzweifelhaft mit den selbstverständ- lichen modernen Milderungen dieselben gewesen wie die der Elisabethanischen Kirchenmänner, die auch um Kirche und Ord- nung treu besorgte Ehrenmänner zum größern Teil gewesen sind. Dasjenige, worin die Konformität behauptet werden soll, ist kleiner, schmäler und unbestimmter geworden. An Stelle der bischöflichen Zeremonien und der Neununddreißig Artikel steht »das in der Schrift verfaßte und in den ungenannten Be- kenntnissen bezeugte Wort Gottes«. Um so nötiger wird die Wahrung dieses Restbestandes, die Häretiker mögen im übrigen persönlich so rührende und lautere Menschen sein, wie sie wollen.

Was gegen die königlich großbritannische Konformität sich erhob und sie schließlich zertrümmerte, das war die independente Forderung der Gewissensfreiheit. Diese Forderung ist auch heute der Gegensatz gegen die Konformität der königlich preußi- schen Religion. Aber es ist ein neuer und wichtiger Zug in diesem Gegensatze. Die Gewissensfreiheit, wie wir sie heute haben, ist eine Gewissensfreiheit außer und neben der Kirche und eine P'reiheit zur Bildung neuer Kultusgemeinschaften. Man kann austreten, wenn man nicht mehr mittun will, und man kann Sekten oder Dissidentengemeinden organisieren. Freilich

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wird das erstere von der amtlichen Welt oft erschwert und das letztere nach Möglichkeit chikaniert ; der Schulzwang zum Reli- gionsunterricht ist gleichfalls ein Zeichen, wie diese Gewissens- freiheit nicht eben gern gesehen wird und wie die privilegierten Kirchen eine recht ungenierte Unterstützung des Staates fin- den. Aber immerhin besteht doch tatsächlich eine solche Ge- wissensfreiheit, die durch die Freiheit der Presse und der Wissen- schaft unterstützt wird. Aber genügt das dem eigentlichen Be- dürfnis nach Gewissensfreiheit ? Ein Volk, das in großen Massen christlich gesinnt ist, seine alten kirchlichen Gemeinschaf- ten liebt und an das Zusammenfallen der allgemeinen Ordnung mit der kirchlichen Gemeinschaft von alters her gewöhnt ist, das nicht austreten will in das Nichts der Konfessionslosigkeit und sich nicht abdrängen lassen mag in abgesplitterte Freige- meinden, hat wenig von solcher Gewissensfreiheit. Es will Gewissensfreiheit nicht neben oder außer, sondern in seiner alten Kirche. Sie ist Werk und Stiftung unsrer Vorfahren, wir haben selbst für sie gearbeitet und gesteuert ; wir wollen nicht austreten, sondern in ihr die religiöse Unterweisung und Er- bauung haben, die wir für uns und unsre Kinder nicht ent- behren mögen. Wir wollen sie hier freilich so, wie wir sie ver- stehen und lieben können, mit Geistlichen unserer Wahl und im Sinne des Eingehens auf unser religiöses Empfinden. Dazu treibt nicht ein Uebermaß des Subjektivismus oder krittelsüch- tige Aufklärung, sondern die aller Welt bekannte Tatsache, daß die heutige protestantische Christenheit unter dem Einfluß des modernen Lebens und Denkens in ungeheuren Massen mit dem alten Dogma schlechterdings nichts anzufangen weiß, son- dern eine andere ihr verständliche und gleichartige Verkündi- gung verlangt. Alle Welt weiß das, und die Kirche sollte so tun dürfen, als existiere das nicht } als könnte sie die gänzlich verschiedene und uneinige Masse ihrer Gläubigen an ein nur undeutlicheres und unverschwommeneres staatskirchliches Glau- bensminimum binden ? als könnte sie ihre ganze bisherige Stel- lung behaupten und beanspruchen, wie wenn in ihrem Kirchen- volk sich nichts geändert hätte .^

Hier liegt der Kern des Problems, das der Prozeß Jatho mit schmerzlicher Klarheit enthüllt. Denn verurteilt worden ist nicht ein einzelner exzentrischer Pastor, sondern seine Gemeinde und alle Gesinnungsverwandten, alle, die »mit dem in der

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Schrift verfaßten und in den Bekenntnissen bezeugten Worte Gottes« nicht vereinbar sind, die aber doch Christen sein und in ihrer alten väterHchen Kirche bleiben wollen. Das ist die Frage : Gibt es für Solche Gewissensfreiheit in der Kirche.^ Und da solche Leute nicht einzelne seltene Vögel sind, sondern wohl etwa die Hälfte des ganzen Kirchenvolkes, so ist es eine Frage nicht im Interesse kleiner Minoritäten, sondern im Interesse der Christen von heute überhaupt. Es ist auch eine Frage im In- teresse der Nation, die einem so großen Bruchteil ihrer selbst die ihm ersehnte Gewissensfreiheit zu gewähren wünschen muß und die einseitige Bindung durch eine nur auf die Indifferenz und Bequemlichkeit gestützte Konformität nicht im Interesse des Staates und des Volksganzen finden kann.

Hier an diesem Punkte zeigen sich die eigentlichen Folgen und Lehren des Falles Jatho. Die Vertreter der »Trennung von Staat und Kirche« sehen die Wahrung der Gewissensfrei- heit in der Möglichkeit des Austrittes und in der Freigebung der von jeder staatlichen Hilfe entblößten Kultorganisationen. Das ist das Ergebnis, das die Zertümmerung der Stuartschen Konformität seinerzeit schließlich für England und dann für den modernen .Staat überhaupt gehabt hat. Der Gedanke Cromwells selbst war freilich ein charakteristisch anderer, wovon gleich noch zu reden ist. Aber das Ergebnis der großen englischen Revo- lution ist faktisch und auf die Dauer lediglich die Freigebung des Dissent und im Verfolg davon die Entstaatlichung der Kirchen und Kulte gewesen. Das ist heute das liberale Kirchenprogramm, und es bringt in der Tat große Erleichterungen. Hier ist die Ge- wissensfreiheit erobert, außerhalb des Schattens der Kirche leben und sterben zu können und den Strenggläubigen die Kirchen- bildung freizustellen, die dann so schwarz sein können als sie Lust haben. So wird der Fall Jatho der täglich wachsenden Trennungs-Parole mächtige neue Kräfte und Argumente zu- führen. Sie wird eines der Stichworte werden bei der irgend- wann einmal sicher kommenden Neuverteilung der innerpoli- tischen Machtverhältnisse. Allein diese Lösung schafft gerade das durch den Fall Jatho beleuchtete schwere Problem nicht aus der Welt und ist den wirklichen Bedürfnissen sehr wenig angemessen. Die Leute wollen ja nicht aus der Kirche heraus, sondern wollen nur Lebensmöglichkeit in der Kirche. Außerdem wäre mit der Schaffung eines halben Dutzends von Kirchen-

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körpern strengster Härte und Orthodoxie wenig für das Ganze geholfen. Der Einfluß dieser freikirchUchen Orthodoxien auf die Gesellschaft wäre immer noch ein recht drückender, wie er das in Amerika unzweifelhaft ist. Andererseits würden kleine freisinnige Christengemeinden des Schwunges und der histori- schen Größe entbehren, die nur eine große religiöse Gemein- schaft mit sich bringt. Da ist mit der Staatskirche, die nicht gleich hundert Pfarrer absetzen kann und vollends bei den Laien bereitwilligst durch die Finger sieht, immer noch besser geholfen. Ihr Mangel ist nur die Unaufrichtigkeit und Ver- stecktheit, die Toleranz unter der Hand, aus nicht-religiösen Opportunitätsgründen : der läßt es nirgends zur Klarheit, Freude, Kraft und Geradheit kommen. Die Zerschlagung der Staatskirche und die Preisgebung der Religions- und Gemeinschaftsbildung an eine in ihrem eigenen Kreis schrankenlose Orthodoxie kann nur von denen verlangt werden, die meinen, dann blieben nur kleine Kreise zurückgebliebener Sonderlinge übrig und alle son- stige Welt sei froh, der »Infame« entronnen zu sein. Das ist aber nicht richtig. Wie jene oben erwähnten Altgläubigen den moder- nen Menschen nur aus der Zeitung kennen, so kennen wiederum diese Radikalen die Welt der Christlich-Gläubigen nur vom Hörensagen und aus der Literatur und unterschätzen sowohl ihre Zahl als ihre geistige und moralische Bedeutung. Helfen kann nur Gewissensfreiheit i n der Kirche, eine Umgestaltung der umfassenden Volkskirche im Sinne der Independenz der Gemein- den, die sich ihre Pfarrer nach ihren Bedürfnissen wählen und suchen können. Das war auch in Wahrheit das Programm der Cromwellschen Independenten oder, genauer gesprochen, der Cromwellschen Kirchenpolitik: nicht Zerschmetterung oder end- lose Zerteilung der Kirche, sondern Herabsetzung der Kirche zu einem undogmatischen Organismus der Kirchenpflege und -Ver- waltung, innerhalb dessen die Einzelgemeinde sich den Pfarrer ihres Herzens suchen konnte, wenn sie ein zum Suchen drängen- des Herz überhaupt hatte. Die Kirche hatte nur eine Prüfungs- kommission, die die praktische und theologische Brauchbarkeit fest- stellte und im übrigen den Episkopalisten, Baptisten, Indepen- denten usw. nach Bedarf ihre Wünsche erfüllte. Cromwell oder die Staatsgewalt hielt seine Hand über das System und erhielt die verwaltungsmäßige Einheit der Kirche, ließ aber innerlich die Gruppen alle gewähren und die ihnen gemäßen Pfarrer suchen.

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Gewissensfreiheit.

So hat Cromwell seine Kirche regiert, und ein Pietist wie Baxter bezeugte ihm, daß es dem wirklich christlichen Leben nicht übel bekommen sei. Erst als die Stuartsche Reaktion und Konformi- tät wieder gesiegt hatte, blieb von der ganzen Reform lediglich die Gewissensfreiheit außer und neben der Kirche übrig, die die zweite Revolution sicherte und die von dieser her in unser moder- nes Staatsrecht übergegangen ist. Das eigentliche Cromwellsche Ideal einer Gewissensfreiheit ohne Zerschlagung des alten Orga- nismus, ohne Abdrängung in wurzellose Splittergemeinden ist verloren gegangen, obwohl man Eines hätte tun können und das Andere nicht lassen. Nur in der Schweiz haben wir heute solche Gewissensfreiheit in der Kirche.

Dies Ideal rührt sich heute wieder und muß für praktisch- besonnene deutsche Protestanten, die an dem Werke ihrer Väter ihren Anteil behalten wollen, als die einzige Lösung der durch den Fall Jatho neu beleuchteten Schwierigkeiten erscheinen. Wir sind erst bei der Aufwerfung der Frage, noch nicht bei ihrer Beantwortung. Die praktische Lösung vollends würde ab- hängig sein von einer neuen Gestaltung der politischen Machtver- hältnisse, die kein Mensch voraussagen kann. Aber wir müssen dem uns bedrängenden Wirrsal und Elend gegenüber wenigstens für uns selbst ein Programm besitzen und wissen, was wir wollen. Das allein gibt Klarheit und gibt auch Gerechtigkeit gegenüber den Altgläubigen, die zweifellos auch ihrerseits in großer Ge- wissensnot sich befinden. Mit dem bloßen Absetzen erfolgreicher moderner Pfarrer ist es nicht getan, und gute Nerven, die ohne Wehleidigkeit und Humanitätsdusel im Interesse von Autorität und Ordnung jeden gefährlichen Funken auszutreten entschlossen sind, lösen das Problem nicht mehr. Dazu ist es zu spät und dazu ist das Kampfmittel der bloßen Absetzung zu zahm. Dazu helfen nur Henker und Schwert, Scheiterhaufen und Dragonaden. Mit der bloßen Zwangspensionierung schüchtert man einige Geistliche ein und scheucht die Söhne der Bildungsschicht vom Studium der Theo- logie weg. Durch den Druck auf die theologischen Fakultäten ver- hindert man die Beförderung fortschrittlicher Theologen und mindert bei guten Köpfen die Lust zur Habilitation. Die ersten Auszüge aus der Begründung des Urteils des Spruchgerichts sind inzwi- schen erschienen. Es ist der richtige kalte ketzerrichterliche Dogmatismus. Aber dieser verhält sich doch zu dem Dogmatis- mus der Inquisition wie die Zwangsentfernung vom Amte zur

Gewissensfreiheit.

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Verbrennung. So peinlich eine solche Absetzung und Behand- lung für Pfarrer und Gemeinde auch ist, so lief es beide in ihrer Existenz trifft, es ist, wie die Quälerei der theologischen Fakultäten, schließlich mehr ein Schmerz für die Beteiligten als ein Schlag gegen die Idee. Solche Kriegsführung ist zu matt. Das hilft nicht viel und macht die Kirche nur verhaßt und lächer- lich. Man muß schon zu andern Lösungen des Problems greifen. Entweder die herrschende Kirche bekennt sich grundsätzlich zur Ausrottung alles freien Christentums und mißhandelt dann nicht bloß die Pfarrer, sondern zwingt auch die Laien zur Korrektheit oder sie erkennt ebenso grundsätzlich die Neuheit der Verhält- nisse an, in welcher die schwindsüchtige Konformität im Sinne jener ungenannten Bekenntnisse überhaupt keine Bedeutung hat. Eine neue Lage verlangt ein neues System, nicht klägliche Ab- schwächungen des alten. Und hier ist das einzig Mögliche : Beschränkung der Konformität auf das Technische der Ver- waltung und Freigebung der Gemeinden zur Wahl von Pfarrern, die, indem sie selbst Christen und Protestanten zu sein erklären, an die christliche Ideenwelt nach ihrem freien Gewissen sich binden mögen und mit ihren Gemeinden sich zurechtfinden mögen. So kommt Rechts und Links zu seinem Recht und kann es Frieden, Vertrauen und Freude geben. Gewiß liegen auch darin noch große Schwierigkeiten, wie denn das Problem der Abgren- zung von Gemeinschaftsinteressen und individueller Freiheit das immer nur annähernd lösbare große Problem alles menschlichen Da- seins ist. DaßaberunsergegenwärtigesKirchenrechtund dasSpruch- gericht jedenfalls eine ungenügende und unglückselige Lösung des Problems ist, das steht fest. Um der Schwierigkeit einer neuen Lösung willen allein kann man nicht an einer völlig gerichteten alten Lösung festhalten. Es gilt, die neuen Mittel zu suchen. Wo ein Wille ist, da ist ein Weg ; und zu allererst gilt es, den Willen zu erziehen und zu leiten. Dann wird der Weg sich finden.

Nicht an unseren Dogmatikern und Historikern liegt jetzt die Aufgabe. Die ersteren können in diesem Elend nicht viel Neues mehr finden. Sie mögen sich entschließen, etwas offener auf die wirklichen Probleme des Lebens einzugehen und ihre religiösen Ideen etwas weniger unter alten Formeln zu verstecken und zu knicken. Aber mehr können sie nicht. Sie können ruhig aufhören, mit Hilfe der Kaftanschen Dogmatik

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Gewissensfreiheit.

die Quadratur des Zirkels finden zu wollen. Was dabei her- auskommt^ ist nur- das Spruchgericht und ein Spruch wie der, den wir eben erlebt haben. Wer jetzt in die Front gehört, das sind Kirchenjuristen mit breiter historischer Bildung und offenem religiösen Blick. Sie müssen den Ausweg aus einer Not finden, die nicht in der Dogmatik, sondern in der Struktur der protestantischen Staatskirchen liegt. Wir haben das groß- artige vielverkannte Kirchenrecht Sohms und die fein besonne- nen Entwürfe Otto Mayers. Auf diesem Wege gilt es vorwärts zu gehen, unbekümmert um die mittelparteilichen Verehrer des Gefäßes, die schließlich jeden Inhalt schlucken, wenn nur das Gefäß ganz bleibt und man nur nicht allzu genau weiß, was drin- nen ist.

Gewiß bleiben auch dann große Schwierigkeiten für die Gewissensfreiheit übrig. Aber vieles, was man dagegen zu hören pflegt, ist gänzlich unbedeutend. Man komme uns nicht mit der Rede, die Kirche würde so zu einem Sprechsaal. Lieber ein Sprechsaal als ein Bureau oder ein Kunststück ! Man male nicht die fürchterlichsten Folgen und extremsten Möglichkeiten aus, wie eine Frankfurter gläubige Resolution. Ein Carlo Borromeo würde sich nicht zum protestantischen Pfarrer wählen lassen, und auch von Herrn Arthur Drews ist es nicht wahr- scheinlich. Am unerhörtesten aber ist es, es als eine Verletzung der Gewissensfreiheit für zarte christliche Gewissen zu be- zeichnen, wenn Leute wie Jatho in der Kirche geduldet werden müssen. Das ist keine Gewissensfreiheit, die nicht mit der Frei- heit des eigenen Gewissens zufrieden ist, sondern auch noch verlangt, daß man nicht durch Duldung eines anderen gekränkt werde. Hierfür das Wort Gewissensfreiheit zu brauchen, ist ent- weder eine alberne und empörende Sophistik, oder eben jene giftige und intolerante Rechthaberei, die man mit dem Ideal der Gewissensfreiheit bekämpft. Es ist die Argumentation der Leute, die auch von der ewigen Seligkeit meinen, es sei kein rechtes Vergnügen dabei, wenn nicht alle Heiden und Ketzer ewig ge- braten würden.

Gewiß wird es auch dann Fälle geben, wo der Konflikt zwischen Gemeinden und ihren Pfarrern oder die bewußte Ver- lassung der Christlichkeit uns zu Beseitigung von Geistlichen nötigen, wenn sie nicht von selbst die Kanzel verlassen. Aber zu solchen Fällen würde es bei denen sicher nicht kommen, die

Gewissensfreiheit.

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selbst mit allem Eifer Christen sein wollen und sich auf die ihnen gemäßen Elemente der Bibel und Luthers berufen. Zu solchen unvermeidlichen Opfern würde dann insbesondere ein Jatho nicht mehr gehören. Andrerseits könnten Konflikte von Gemeinden und Pfarrern durch Versetzungen und Austausch oder durch Vorsorge für Bildung von Minoritätsgemeinden gelöst werden, wenn nur überhaupt erst einmal der Grundsatz solcher »Gewissensfreiheit in der Kirche« anerkannt ist. Es kann auch dann immer noch schwierige und schmerzliche Fälle geben; aber einen Fall Jatho gibt es dann nicht mehr, wo Pfarrer und Gemeinde verurteilt werden, weil sie Christen sein wollten und sind, ohne ein vom Spruchgericht anerkennbares Recht dazu zu haben.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II.

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Religion und Kirche.

(Aus: Preußische Jahrbücher, 1895) 2).

Für jeden aufmerksamen Beobachter, der nicht gegebene Verhältnisse als selbstverständUch hinnimmt, sondern sie als in be- stimmten geschichtlichen Voraussetzungen und in der inneren Natur der großen menschlichen Lebensgesetze begründet erken- nen will, bieten die kirchlichen Zustände der Gegenwart reichen Stoff zum Nachdenken. Vor unseren Augen spielt sich in der Tat ein höchst merkwürdiges Schauspiel al^. Man kann es kurz mit dem Satze bezeichnen: Alle Welt spricht von der Unkirch- lichkeit der Gegenwart, sei es im Tone des Triumphes, sei es in dem der Klage ; aber die Kirchen üben trotzdem eine steigende Macht in der inneren Politik sowie vor allem in der Schule, in der organisationsbedürftigen Unterschicht und in den Konventio- nen der anständigen satisfaktionsfähigen Gesellschaft. Ohne daß die Lehren der Kirchen im Empfinden und Denken des Volkes neue oder tiefere Wurzeln geschlagen hätten vielmehr das Gegenteil ist der Fall , droht in Deutschland die Gefahr einer sehr lebhaften Reaktion. Das religiöse Leben der Völker ist in tiefster Verwirrung und Unklarheit, aber die Kirchen üben eine oft auch die unkirchliche P"römmigkeit an sich ziehende Macht aus und machen ihre traditionellen Forderungen mit gesteigerter Härte geltend. Die Intellektuellen schalten sich selbst aus ihrem Getriebe aus und steigern damit nur die Macht der Kirchen. Das ganze Volk lernt in seiner Kindheit den Katechismus und studiert Bibel und Kirchengeschichte; die meisten aber vergessen all das vollständig und lassen sich beherrschen von denen, die diese Dinge nicht vergessen. Und wo sie in Freigemeinden oder in die Konfessionslosigkeit auswandern, da entlasten sie die Kirchen

-) Dieser Aufsatz stellt den Stand meiner Anschauungen vor Inangriffnahme der > Soziallehren« dar und ist durch die Ergebnisse der letzteren zu ergänzen. Doch ist er vielleicht gerade um deswillen zur Erläuterung der Problemstellung von Interesse.

Religion und Kirche. ^/n

von schwierigen Elementen, deren Entfernung im Grunde nur erwünscht ist. Die Kinder der Dissidenten bekommt man doch in den Religionsunterricht. Die immer noch bescheidene Aus- trittsbewegung ist den Kirchen nur erwünscht, solange sie nicht die Spitzen der Gesellschaft und des Besitzes ergreift. Bei diesen aber ist durch Indifferenz und Konvention dafür gesorgt, daß die Gefahr nicht groß wird.

In all diesen Zuständen äußert sich nicht etwa bloß eine augenblickliche zufällige Verkettung von Umständen. Das ist ge- wiß auch einigermaßen der Fall. Jene Zähigkeit und jene Macht- stellung der Kirchen, ihr Beharren bei den alten Grundlagen und ihre Kräftigung durch die Verstärkung derselben, ihre un- ausrottbare Herrschaft auch über die völlige Indifferenz, alles das läßt sich zum Teil aus der Angst der Regierungen vor erneuten Ausbrüchen der Revolution und aus der Macht massiver Be- schränktheit über die große Masse erklären. Diese beiden Mo- mente und anderes, was noch genannt werden könnte, sind aber doch nur einzelne neben anderen und nicht die wichtigsten. Wer vielmehr aus der Geschichte die ungeheure Macht aller Institutio- nen über das Leben gelernt hat und wer den historischen Geist jener großen Gesellschaftsgebilde auf sich hat wirken lassen, der empfindet deutlich, daß es sich hier um Erscheinungen handelt, die in der inneren Natur der Kirchen und ihres Verhältnisses zum Gesamtleben selbst begründet sind. Die Kirchen üben eine merk- würdige Gewalt über alle an ihnen näher Beteiligten aus, auf die Regierungen, die im Bunde mit diesen Institutionen das Volks- leben zu leiten suchen, wie auf die Beamten und Mitarbeiter der Kirchen, welche ihre Aufgaben fördern wollen. Auch wo man diese Gewalt nur widerwillig über sich ergehen läßt, setzt sie sich doch durch, und vollends die Gleichgültigkeit unterwirft sich ihr bedingungslos. Es ist die Frage, worin diese Eigentümlich- keit des Kirchentums begründet ist, wie jene widerspruchsvollen Erscheinungen aus ihr sich erklären.

Man könnte diese Frage einfach damit zu beantworten ver- suchen, daß man sagt, darin zeige sich nur die Macht der Reli- gion, jenes auch in allen Wirrnissen wissenschaftlicher Reflexion, politischer und sozialer Kämpfe doch immer sein Recht verlangen- den Grundbedürfnisses der menschlichen Natur, das sich noch niemals durch irgendwelche Bildungs- und Gesellschaftskrisen dauernd hat beirren lassen und auch unter den ungünstigen Um-

I^g Religion und Kirche.

ständen immer Mittel und Wege, und dann gerade die merk- würdigsten und widerspruchsvollsten, zu seiner Befriedigung ge- funden hat. Diese Antwort wäre aber doch nur zum Teil rich- tig. Natürlich ist der letzte Grund der Kirchen die Unausrott- barkeit der Religion und gewiß ist die gegenwärtige Stellung der Kirchen auch durch den religiösen Rückschlag gegen die Leer- heit des Liberalismus und die öde Gottlosigkeit des Materialismus zu erklären Aber daraus allein ergeben sich die bestimmten Erscheinungen nicht, von denen die Rede ist. Die Gegenwart besitzt außerordentlich viel religiöses Leben, das in gar keinem oder doch nur in ganz losem Zusammenhange mit der Kirche steht. Die starke Wirkung der deutschen Schriften Lagardes, auch der Erfolg der wunderlichen Orakelsammlung des Rem- brandt-Deutschen, die begeisterte Verehrung Wagners und Liszts, oder auch nur der Verkauf der Drummondschen Heftchen lassen einen Blick in derartige Strömungen tun. Kirche und Religion decken sich durchaus nicht. Die Religion ist zwar der Grund und die treibende Kraft der Kirchenbildungen, unterscheidet sich aber sehr deutlich von den Kirchen selbst und übt ihre Macht in wesentlich anderer Weise aus als die kirchlichen Institutionen. Zwar suchen die Kirchen sich dadurch zu befestigen, daß sie sich selbst als wesentliches und ursprüngliches Ingredienz der Religion hinstellen. Allein das ist ein Quid pro quo, das völlig glaublich zu machen nur der katholischen Kirche gelungen ist. An und für sich ist die Religion vielmehr der direkte Gegensatz gegen die feste Form der Kirche. Die Religion ist flüssig und lebendig, jederzeit durch unmittelbare Berührung aus Gott schöpfend, höchst innerlich, persönlich, individuell und abrupt. Die lebendigsten Zeiten der Religion sind die unkirchlichsten, die enthusiastischen, das Individuum und seinen Herzensdrang hervortreten lassenden. Die jüdischen Apokalyptiker und ihre Gläubigen, die Mystiker und Mönche des Islam, die urchristlichen Wiederkunftsgläubigen und Geistesträger, die Anfänge der Franziskanerbewegung, die deutschen Reformatoren und Wiedertäufer, die englischen Inde- pendenten und Quäker sind der lebendigste Beweis dafür. Die Kirche dagegen ist etwas Festes, immer Gleiches, das den Besitz der Offenbarung den einzelnen entzieht und immer die Unmittel- barkeit der Religion aufhebt. Ihr Hauptanliegen ist, eine äußere, den Schwankungen subjektiver Begeisterung entrückte Autorität aufzurichten und auf irgend eine Weise die Zwanesmittel sich zu

Religion und Kirche. lÄQ

verschaffen, mit denen eine solche Autorität aufrecht erhalten wird. Die Religion als solche umfaßt und durchdringt den gan- zen Menschen, sie kann sich in der subjektiven Frömmigkeit mit allen Seiten des sittlichen und geistigen Lebens harmonisch ver- binden, ja sie ist der einzige Untergrund, aus dem heraus sich Leben und Persönlichkeit einheitlich gestalten läßt, weil nur in ihr die harmonische Einheit des Daseins überhaupt erlebt wird. Die Kirchen isolieren die Religion als ein besonderes Lebens- gebiet, dessen Pflege und Ordnung ihnen zusteht, dem sie Inhalt und Richtung in einer ganz bestimmten Weise geben und das sie dadurch in einen mehr oder minder deutlichen Gegensatz zum übrigen Leben bringen. In ihnen wird die Religion zum. Gegenstand eines gesonderten Interesses und einer besonderen Arbeit gemacht, wodurch das Bewußtsein um die Einheitlichkeit des Lebens gestört und die zu einem eigenen, selbständigen Or- ganismus ausgewachsene und verfestigte Religion in mancherlei Kämpfe mit anderen Organisationen geführt wird, ohne die Fähig- keit der Anpassung und des Ausgleiches, welche die rein sub- jektive Frömmigkeit noch besitzt. Die Religion ist etwas Un- berechenbares und Mysteriöses, dessen innere Bewegungsgesetze niemand völlig zu durchdringen imstande ist, hat gerade ihren Zauber in diesem sie umwehenden Hauche einer rein persönlichen, undurchdringlichen Ursprünglichkeit. Die Kirchen sind etwas durch und durch Verständiges, aus verständigen Erwägungen im hellen Lichte der Geschichte entstanden, nach Regeln einer sehr verständigen Erbweisheit geleitet und auf wohl berechnete Insti- tutionen begründet. Sie rationalisieren immer die rein religiöse Autorität gewisser Grundanschauungen zum Träger einer recht- lichen Verbindlichkeit, die hieran angeknüpft das ganze Religions- wesen in bestimmte und berechenbare Bahnen zu bringen ge- eignet ist. Eben deshalb ist auch die Macht, welche die Religion als solche ausübt, eine so ganz andere als die von den kirch- lichen Institutionen ausgehende. Die Macht der Religion ist die Macht der Ueberzeugung und Begeisterung über die Gemüter, sie ist nur bei wirklicher religiöser Erhebung vorhanden und äußert sich für gewöhnlich nur in den inneren Wirkungen der Ruhe, der Sammlung und Stärkung. Nur vorübergehend bricht sie in großen, plötzlich aufflammenden Volksbewegungen los, um sich bald darauf wieder in das Innere der Menschen zurückzu- ziehen. Die Kirchen dagegen herrschen außer durch ihre rein

I cq Religion und Kirche.

religiöse Wirkung auch noch besonders durch Konformität und UeberUeferung, durch Dauer und Umfang, durch äußere Autorität und vollstreckbaren Zwang. Ihr Herrschaftsgebiet ist ein außer- ordentUch viel breiteres als das der wirklichen Religion. Ihnen kommt die Unwissenheit des Aberglaubens, die Bequemlichkeit und Geringschätzung der Gleichgültigen, das Autoritätsbedürfnis der Massen ebenso zugute wie die begeisterte Hingabe und die innige Gläubigkeit der wirklich FVommen. Insbesondere ist für sie von besonderer Bedeutung , daß auch die Staatsgewalten geistig unter ihrem Einfluß stehen oder doch zu diesem tiefsten und mächtigsten Faktor des öffentlichen Lebens, zu dieser einzi- gen, wirklich lenkbaren Organisation der geistigen Kräfte, ein ge- ordnetes, Beeinflussung und Paktieren ermöglichendes Verhältnis gewinnen müssen. Die eigentümliche Macht der Kirchen und die Betätigungsweise dieser Macht kann also nicht einfach aus dem Wesen der Religion selbst fließen, sondern aus derjenigen Um- gestaltung und Ordnung der Religion, welche die kirchliche Or- ganisation zu der bloßen Macht der subjektiven Frömmigkeit hinzubringt.

Das wird sich uns genauer zeigen, wenn wir einen Blick auf die großen Kirchenbildungen der Geschichte werfen. Wie alle großen Triebe des menschlichen Wesens so lebt auch die Religion nur in der Gemeinschaft und erzeugt sie immer Gemeinschaft, ja sie wohl noch mehr als andere Triebe, da sie von der Ueberzeugung lebt, daß sie Mächte kennt, deren Wesen gerade das Aner- kanntwerden durch eine Mehrzahl verlangt. Die Meinung ver- schiedener Forscher ist vielleicht nicht unrichtig, daß von der religiösen Kultgemeinschaft alle menschliche Gemeinschaft ihren Ausgang genommen habe. Aber die religiöse Gemeinschaft, so notwendig sie gewisse Ordnungen und Regeln erzeugt, ist als solche noch nicht Kirche. Die Kirchen sind organisierte Ge- meinschaften, die unabhängig von jeder anderen Gemeinschaft rein für sich ausschließlich das religiöse Interesse an einem von allem Irdischen gesonderten Gute pflegen. Erst in solchen Ge- meinschaften kommt wie die religiöse Organisation zu einem reinen Ausdruck, so auch die geschilderte Rückwirkung auf die Religion zu ihrer vollen Kraft. Eine solche Organisation ist aber überall da unmöglich, wo die Religion noch mit den Grenzen be- stimmter Stämme und Völker zusammenfällt, weil sie Götter ver- ehrt, die an ein bestimmtes Volk, an einen bestimmten Boden,

Religion und Kirche. j C j

an bestimmte Funktionen gebunden sind. Hier fällt die Religions- gemeinschaft zusammen mit der natürlichen Gemeinschaft des Volkes, des Stammes, der Familie. Sie bildet nur eine Seite des durch natürliche, ethnographische und politische Verhältnisse gebildeten Gemeinschaftslebens überhaupt und erfordert keine über diese Grenzen übergreifende oder von ihnen unabhängige Organisa- tion ihrer selbst. Hier bezieht sich der religiöse Glaube und der Kul- tus auf das bestimmte Verhältnis der Volks-, Stammes- oder Orts- götter zu den Hoffnungen und Gütern des Volkslebens, ohne von alledem unterschiedene und über all das hinaus liegende rein religiöse Güter des Gemütes mit Bewußtsein zu erstreben, und eben damit fehlt jeder Anlaß, das Leben der Religion von dem des Volkes und Staates getrennt zu organisieren. Die Religion und das Sakralrecht ist hier ein Teil des Staats- und Familien- rechtes, untrennbar verflochten mit der Sitte und Gewohnheit des Gesamtlebens, wie dieses zersplittert in eine Mehrzahl verschie- dener, natürlich bedingter Gruppen. Es gibt keine Parochien und keine Gemeindehäuser, nur Götterwohnungen und Kultbeamte. Die Priester sind Staatsbeamte, oder bei selbständiger Entwicklung ihrer Bedeutung, wie in Neupersien und Aegypten, doch nur die Repräsentanten der Bedeutung der Götter für ein bestimmtes Volk in verschiedenen bestimmten Beziehungen. Auch die begab- testen Völker des Altertums haben keine Kirche gebildet. Es gibt keine römische und keine athenische Kirche, sondern nur gen- tilicische und politische Kulte. Wohl macht sich auch in diesen Gemeinschaftsbildungen die Verfestigung der Religion durch Tra- dition und Autorität geltend. Allein diese Verfestigung haftet eigentlich nur an der Pflicht einer unerschütterlich treuen und völlig ordnungsmäßigen Ausübung des Kultus. Der Glaube ist nur in- sofern unantastbar, als er unmittelbar die Unterlage des Kultus bildet. Ja der Glaube kann wesentlich erschüttert sein, wenn die alten Kultpflichten immer noch mit strenger Regelmäßigkeit beobachtet werden, wie das römische Sakralwesen mit besonders lehrreicher Deutlichkeit zeigt, ein Hinweis auf dasjenige, worin hier die Rückwirkung der Gemeinschaftlichkeit und ihrer Ordnungen auf die Religion besteht. Dogmatik und Orthodoxie, Häresie und Heterodoxie sind hier unbekannt. Soweit die religiöse Vorstel- lungswelt nicht durch den Kultus festgelegt ist, erfreut sie sich einer unbegrenzten Beweglichkeit und Umbildungsfähigkeit. Es ist das einem Jeden aus der religiösen Gedankenwelt der grie-

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chischen Literatur bekannt. Die durch solche Verhältnisse be- dingte, äußerlich begründete und auf das Sakralwesen sich be- schränkende Kultgemeinschaft geht überall der Entstehung der innerlichen und individuellen Frömmigkeit voraus, welche allein erst die Grundlage kirchlicher Organisation bilden kann. Wohl entsteht jene überall allmählich bei der Zersetzung solcher Ge- meinschaften durch die wissenschaftlich reflektierende Erschütterung der gewohnheitsmäßigen Grundlagen oder durch die überall aus dem Schöße der Naturreligion auftauchende enthusiastische und asketische Mystik. Aber hieraus entstehen keine Kirchen, sondern nur Konventikel und Sekten, wie die kleinen einflußreichen Ge- meinden orphischer und dionysischer Gläubigen in Griechenland, die synkretistischen Kultusbünde der späten Kaiserzeit, die große Heilsversicherungsanstalt der eleusinischen Mysterien, die ordens- artig vereinigten Schüler der Philosophen u. a. All das sind nur an dem großen Volkskörper haftende kleine Organisationen, keine selbständigen Kirchen, aber ein Vorspiel der Kirchenbil- dung. Der Eleusinische Mysterientempel war ein Gemeindehaus und die Gemeinschaft der Mysten war über die Welt verbreitet als ein von Ort und Staat unabhängiger religiöser Bund. Aehn- lich sind die Attis- und Mithrasmysterien selbständige religiöse Organisationen, bei denen aus dem Erlösungsdogma und Erlö- sungsritus auch eine Erlösungsgemeinde folgt. Aber all das ist doch überall erst am Uebergang aus den polytheistischen National- religionen in die großen Monotheismen.

Anders steht es bei den Weltreligionen. Hier wird ein Gott geglaubt und verkündigt, der unabhängig von Ort, Volk und Zeit der alleinige Gott aller Welt ist und von Allen gleichermaßen Unterwürfigkeit fordert. Die Gottheit greift über alle Unter- schiede und Grenzen hinüber und wendet sich nicht an Stamm und Volk, sondern an den Menschen als solchen, an das allge- meine menschliche Hoffen und Sehnen, das jede Menschenbrust der Gottheit gleich entgegenführt. Die religiösen Güter fallen nicht mehr zusammen mit den Gütern des partikularen Stammes- und Volkslebens, überhaupt nicht mit den äußeren, weltlichen Gütern, sondern gehen in der Hauptsache auf ein allgemeines, gleiches, alle beseligendes und aller irdischen Verschiedenheit weit überlegenes, einheitliches und rein religiöses Gut des Ge- mütes. Hier entsteht daher das Bedürfnis nach einer in alle Welt gehenden Propaganda. Die P^hre Gottes fordert, daß alle

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Welt ihn anerkenne. Die Menschenliebe fordert, daß alle Welt das Heil der Einen Wahrheit genieße. Und zwar erfolgt hier die Propaganda nicht in politisch-religiösen Eroberungskriegen, wie etwa die greuelvollen Kriege Assurs waren, sondern in der Mission, der Predigt, der Gemeindebildung. Hier ist der einfache, selbstverändliche Rückhalt in der natürlichen Volksgemein- schaft weggenommen und damit das Bedürfnis gegeben, rein aus dem religiösen Motiv als solchem organisierte, Kultus, Predigt, Erziehung und Mission in die Hand nehmende Gemeinschaften zu bilden. Hier ist das religiöse Gut ein von den natürlichen Gütern des Volkslebens verschiedenes und daher nicht mehr zu- gleich mit den Organisationen des letzteren zu erreichen und zu erledigen. Es fordert eine besondere Veranstaltung für sich, die ihre eigenen Zwecke und ihren eigenen Zusammenhang hat. Der Innenwelt des Gemütes entstammend und allen Schwankungen des Gemütslebens und des Denkens preisgegeben, verlangt es Schutz für seinen Inhalt und als tiefste, von Gott selbst stammende Wahrheit bedarf es einer völligen Wandellosigkeit und Unantast- barkeit. Hier wird Lehre und Glaube die Hauptsache, erst hier entsteht der dogmatische Eifer und die dogmatische Intoleranz und damit eine auf den Schutz des Glaubens berechnete Organi- sation. So erwächst hier mit Notwendigkeit eine rein religiöse Gesellschaftsbildung, die getrieben ist, über die natürlichen Volks- unterschiede übergreifend eine allgemeine religiöse Gemeinschaft der Menschen herzustellen, oder, wo dieses Streben gehemmt bleibt oder nur in dem Glauben an eine ideale Zusammengehörigkeit zum Ausdruck kommt, doch wenigstens hier und dort eine von der poli- tischen und sozialen Organisation völlig unabhängige, ihren eigenen Interessen lebende, rein religiöse Organisation zu schaffen. Nur die Weltreligionen haben daher Kirchen erzeugt. Nur im Buddhis- mus, im Judentum, im Islam und im Christentum gibt es solche Organisationen, und die verschiedene Befähigung dieser Religionen zur Weltreligion spiegelt sich auch höchst lehrreich in ihren Kirchenbildungen ab.

Hier tritt uns zuerst die wundersame Religion des Buddha entgegen, des Erlösers von Ostasien, der von der leeren panthe- istischen Spekulation der Brahmanen sich abwendend nicht mehr das All-Eine in mystischer Ekstase zu suchen fortfuhr, sondern in Erkenntnis des ewigen Elends der Welt sich der unerforsch- lichen beglückenden Ordnung ergab, welche aus der Unrast des

j CA Religion und Kirche.

Weltkreislaufes, aus der Endlosigkeit der Seelenwanderung einen Ausweg in der Ertötung des Eigenwillens und des Daseinstriebes eröffnet. Hiermit ist schon gesagt, daß diese Religion zu einer Sammlung aller Erlösungsgläubigen, zur Sicherstellung des Er- lösungsglaubens und des Erlösungsweges, führen mußte. Während das Brahmanentum die mystische Umdeutung der alten Volks- religion bedeutet und wie alle reine Mystik etwas sehr persön- liches, lediglich als Sonderdeutung an der Volksreligion Haftendes ist, behauptet der Buddhismus eine allgemeingültige religiöse Meta- physik, die für alle Stände und Kasten gilt, und sammelt er die Erkennenden und Bedürftigen aus allen Lagern um seine Wahrheit. Das ist nichts anderes als eine Kirchenbildung. In der Tat hat da- her auch der Buddhismus seinen Bibelkanon und seine Dogmatik, seine Disziplin und sein Kirchenrecht hervorgebracht, die sämt- lich Glaube und Wandel, Mission und Zusammenschluß in be- stimmter Weise regeln und ihre Autorität durch Zurückfüh- rung auf die Offenbarung des Buddha gewinnen. Er hat zur Festsetzung dieser Bestimmungen seine Konzilien gehalten, hat ein bestimmtes Verhältnis zur Staatsgewalt gewinnen müssen und seinen Konstantin gefunden. Aber eben in diesem Wesen der buddhistischen Frömmigkeit, in ihrem Alles vergleichgültigen- den Pessimismus, in ihrer Beschränkung auf Erlösung des Indi- viduums, in ihrem metaphysischen und philosophischen Charakter war zugleich die Schwäche dieser Kirchenbildung begründet. Wie diese eigentümliche Frömmigkeit nur bei dem vergrübelten und tatenlosen Wesen der Inder, nur als Endergebnis einer panthe- istisch zersetzten Naturreligion, möglich war, so blieb diese Ge- meinschaft in ihrem echten Sinne auch immer auf Indien be- schränkt. Außerhalb Indiens hat der ursprüngliche Buddhismus in mancherlei Verschmelzungen mit den Volksreligionen sein ech- tes Wesen verloren. Aber auch auf seinem eigenen Boden mußte seine Kirchenbildung eine überaus schwache sein. Es war im Grunde nur ein Orden wandernder und zu bestimmten Jahres- zeiten in ihren Ordensgebieten sich aufhaltender Bettelmönche, welche von der Welt völlig gelöst der Meditation und der Pro- paganda lebten, aber eines großen Laienstandes bedurften, von dem sie ihren Unterhalt bezogen. Bei der weitabgewandten Passi- vität und der tüftelnden Grübelei der Mönche hat er seinen Or- den niemals zu einer Kirche im vollen Sinne zu organisieren ver- mocht, zur Erzeugung einer Zentralgewalt fehlte ihm Festigkeit, Zu-

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sammenhang, Teilnahme an der Welt und ihren Dingen und insbe- sondere der Besitz eines positiven religiösen Gutes. So hat er den Vorteil der Kirchenbildung niemals voll genossen, wohl aber ihre Nachteile, die Zersplitterung im Kampf um Dogmen und Riten. Er hat sich in hadernde Sekten und Kongregationen aufgelöst, und damit ist der alte echte Buddhismus bis auf geringe Reste verschwunden. Der spätere und heutige Buddhismus aber hat eine Vielzahl von Kirchenbildungen hervorgebracht, die neben den Volksreligionen Chinas, Japans und Hinterindiens stehen und deren religiöses und soziologisches Wesen bis jetzt noch unserer Erkenntnis sich verbirgt. Nur das scheint klar, daß ihnen die Exklusivität der christlichen Kirchenbildung fehlt.

Um ungefähr die gleiche Zeit erhob sich in Westasien eine Weltreligion von ganz andersartigem Charakter, die zur propa- gandistischen Weltreligion umgewandelte Religion Israels. Unter den vielen mit ihren Staaten zermalmten Volksreligionen Vorder- asiens hat nur diese Rehgion den Untergang ihres Staates über- lebt. Im Angesicht des drohenden Verderbens hatten die großen Propheten das Geschick Jahves von dem Israels gelöst, sie er- kannten und predigten in ihm den Gott der unvergänglichen, aller Welt gebietenden sittlichen Ordnungen , der nicht mit seinem Volke untergeht, sondern vielmehr dieses zur Strafe seiner Sünden dem Gericht verfallen läßt, aus dem nur der fromme und reuige Rest zurückkehren wird, um die wahre Frömmigkeit dann zu leben und zu verkündigen. Als Licht der Heiden, als Prophet des alle Welt um sein Heiligtum versammelnden Gottes sollte Juda unter den Völkern wirken, bis Alle den wahren und ewigen Gott anbeten würden auf dem Berge Zion. Damit war eine Religion gegeben, die durch ihren monotheistischen Gottesglauben, ihre humane Ethik, ihre Hoffnung auf Weltbekehrung und ihre Arbeit an diesem Ziel die ganze Menschheit zu einer Universal- religion zusammenzufassen streben mußte und eben damit zu- gleich eines organisatorischen Mittelpunktes und einer festen Norm ihrer Wahrheit und ihres Inhaltes bedurfte. Es entstand deshalb zugleich mit dieser Umwandlung der Religion das Ge- setz, die Thora des Moses, welche die geltende Wahrheit und die geltenden Kultbestimmungen in einem bestimmten Sinne zu- sammenfaßte und zuspitzte und durch Zurückführung des Ganzen auf die Offenbarung Jahves durch Moses sich eine feste, göttliche Autorität verlieh. Auf Grund der Thora, die die Elemente der

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Dogmatik, der Ethik, des Rituals und des Kirchenrechts festlegte, wurde daher von den zurückkehrenden Frommen eine Kirche im eigentlichen Sinne des Wortes aufgerichtet. Durch die persische Überherrschaft aller politischen Interessen und Obliegenheiten entledigt, wandte sich die ganze Kraft der rein religiösen Auf- gabe zu. So entstand eine Zentralkultstätte, die das Herz der großen Landes- und Diasporagemeinde wurde, eine priesterliche, streng geordnete Zentralregierung, eine das Gesetz nach allen Seiten auslegende und befestigende juristische und theologische Tradition, eine aus der ganzen Welt zu zahlende Kirchensteuer, die Verpflichtung zur Wallfahrt aller Gläubigen an die Zentral- stätte, um vor dem Angesichte Jahves zu erscheinen. Die von Gott gesammelte , gebildete und erzogene Gemeinde hat im Wunder der Offenbarung, des Gesetzes und des Kultheiligtums einen anstaltartigen Gemeinbesitz, der dem Individuum vorgeord- net ist und bei allen Anforderungen an seine Gesetzestreue es doch in die Athmosphäre einer zuvorkommenden göttlichen Bun- desgnade und Bundestreue stellt. Die Rückwirkung einer der- artig zur Anstalt und Gemeinschaft objektivierten Religion auf die individuelle Frömmigkeit ist das Gefühl des Getragenseins durch eine auf das Ganze der Gemeinde gerichteten Gnade. Aber wie diese Religion selbst nur in einem bedingten Sinne Weltreligion war, so war auch diese Kirche ein eigentümliches Zwitterwesen. Die Religion Judas war eine Weltreligion in Form einer Volks- religion, Die Völker waren zu Gott berufen nur durch Israel und die Beschneidung hindurch. Das Gesetz enthielt unter all- gemein humaner Frömmigkeit und Moral auch all die Vorschriften politisch nationaler Besonderung, die den Juden über den Heiden immer erheben sollten. Die erwählende und zusammenhaltende Gnade war die Bundschließung mit einem Volke, das Gottes Willkürwille aus der Völkerwelt herausgegriffen und sich zum Knechte gebildet hatte, um an ihm seine Herrlichkeit und Heilig- keit zu offenbaren. So war diese Kirche nur die ins Unend- liche erweiterte jüdische Volksgemeinde. Ja, diese Kirche war als solche gar nicht das letzte Wort des Glaubens. Sie war nur ein Not- und Ersatzgebilde. Was sie zur Kirche machte, die von allem politischen geschiedene, rein religiöse Organisation, war nur ein Provisorium für die Zeit, wo Jahve die Herrschaft der Heiden noch ^gewähren ließ und das nach den Tagen des großen Heidengerichtes wieder dem politisch-religiösen Volks-

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Staate eines neuen David weichen sollte. Noch ist keine Rede von einer rein geistigen und völlig internationalen Heilsanstalt, in der sich das Individuum am Heil der Seele und an der Gnade genügen lassen kann. Diese Kirche blieb immer gebunden an das nationale Heiligtum Jahves und an die rechtmäßige Verrichtung des Kultus in ihm. Die beiden widersprechenden Elemente des Judentums haben sich oft aneinder gerieben. Seit der seleucidischen Verfolgung und der daran anknüpfen- den Wiederaufrichtung des Staates erlangte unter furchtbarer Erregung die politisch-nationale, durch die kirchliche Organi- sation mit dem Glauben unlösbar verbundene Auffassung der Religion das Uebergewicht. Das universale Element des Juden- tums, bereichert und neugestaltet durch die wunderbare Persön- lichkeit Jesu, wurde folgerichtig ausgeschieden und die jüdische Kirche eilte dem großen Weltgerichte entgegen, in dem freilich nicht die Heiden, sondern die Juden unterlagen. Seitdem ist der Judaismus wieder eingeschrumpft auf seine Blutsgemeinschaft und der Erfolg der kirchlichen Organisation war nur die end- gültige Verhärtung der Religion, ihre vollständige Verschmelzung mit dem Kirchengesetz. Die Synagoge trat an die Stelle des Tempels, ihr Einheitsband bildet das Blut und das Gesetz, die Erinnerung und die Hoffnung. Der Missionsdrang und die Ent- wicklungsfähigkeit sind dahin, aber eine zähe Widerstandskraft ohnegleichen ist geblieben.

Dem Judentum nahe verwandt ist der Islam. Der Prophet Arabiens trat unter dem Einfluß von jüdischen und christlichen Lehrern in die Voraussetzungen der israelitischen Heils- und Offenbarungsgeschichte ein und erkannte in sich den Vollender dieser Offenbarung, der den reinen Glauben Abrahams an den einen, allmächtigen Gott und an das Gericht nach dem Tode von jüdi- schen und christlichen Irrlehren reinigen und zum Eigentume der Söhne Ismaels machen sollte. Mit diesem Glauben zugleich legte er den Bekennern auf Grund göttlicher Offenbarung ein Gesetz der Kultpflichten, der Armensteuer, des Bekenntnisses und der sittlichen Hauptgebote auf, den Koran, die Nachbildung der jüdischen und christlichen heiligen Bücher. In höchst charakteri- stischer Weise äußern sich sofort die zusammenfassenden und organisierenden Wirkungen dieser religiösen Gedanken, die schon von Haus aus im Koran einen festen Stützpunkt mitbrachten. Die strengen altarabischen Stammesschranken wurden niedergerissen

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und verschwanden mit den alten Göttern und den alten Volks- grundlager. Die früher Getrennten wurden zu einer religiösen Gemeinde vereinigt, deren Organisation derjenigen der älteren universalistischen Religionen nachgebildet war. Hier ist freilich die ganze Bildungsgeschichte von Kultus und Gemeinde noch unaufgehellt, nur die Ergebnisse sind deutlich. In jedem Orte versammelte sich die Gemeinde um die Moschee, die Synagoge des Islam, um den Prediger und Vorbeter ; über dem Ganzen stand der Prophet und dessen Offenbarungsbuch, später der Nach- folger des Propheten, der Kalif, der das geistliche Haupt der Gemeinde ist, und eine unermeßliche, mit tüftelnder Sorgfalt ge- sammelte und kommentierte Tradition. Eine berufsmäßige Theo- logie schuf im Kampf mit allerlei Häresien ein orthodoxes Dogma, eine theologische Jurisprudenz arbeitet Ritual und Kirchenrecht mit peinlicher Sorgfalt aus. Die Staatsgewalt stellte sich der Orthodoxie zur Verfügung, wie umgekehrt die Orthodoxie die festeste Stütze der Staatsgewalt bildete. Aber gerade in diesem Verhältnis zur Staatsgewalt zeigt sich die Beschränktheit des Islam. Denn es ist nicht ein bloß tatsächliches Paktieren der beiden auf einander angewiesenen Mächte, sondern eine prinzi- pielle Vereinerleiung der politischen und der geistlichen Gewalt. Der Universalismus des Islam war im Grunde doch nur ein theo- retischer, mit einer gewissen Gewaltsamkeit entlehnter. Sein religiöses Gut war im Grunde kein gegen die weltlich-nationalen Güter selbständiges. Er ist die Anpassung der Ideen der älteren Religionen an nationalarabische Verhältnisse, die Einigung und Erhebung der Beduinenstämme. Seine Kirche ersetzte von Hause aus den Staat. Sie war ein religiös-militärischer Kommunismus, wie ihn der gewaltige Omar folgerichtig aus den Ideen des Pro- pheten entwickelte. Die Gemeinde der Gotteskämpfer eroberte die Welt für Allah und Arabien und machte die Bewohner der eroberten Länder zu Staatsheloten, welche bei ihrem Glauben bleiben, aber durch ihre Steuern und ihren Landbau die musli- mische Militär- und Religionsgemeinde ernähren sollten. Staats- oberhaupt und geistliches Oberhaupt fallen zusammen , ja die geistliche Gewalt macht erst zum Staatsoberhaupt. Die Staats- steuer ist die religiöse Armensteuer und der Zins der Ungläubi- gen. Alle religiösen Bewegungen werden zu politischen und um- gekehrt. Das galt freilich nur von dem alten Islam, der das Weltreich des Kalifats schuf. Mit dem Zerfall des letzteren

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lösten sich Staat und Kirche auf in eine Anzahl einzelner Staaten, in welchen sich das Verhältnis der geistlichen und weltlichen Gewalt in ähnlicher Weise an den Herrscher knüpft. Von einer organisierten und zentralisierten Weltgemeinschaft, wie die christ- liche Kirche es geworden ist, ist nicht die Rede. Mekka und die Mekkapilgerschaft, der Koran und die Tradition halten die Ge- meinschaft aufrecht, aber innerhalb ihrer bilden sich verschiedene Mittelpunkte. Das Gesetz Mohammeds , nicht eine kultische Gnadenanstalt, bewirkt den Zusammenhang. Von einer Kirche sind nur die ersten Elemente entwickelt. Wenn der osmanische Sultan als Schutzherr Mekkas die Stellung des Kalifen fort- führt, so ist das nur eine theologische Fiktion. In Wahrheit existiert die alte Kirche des Korans nicht mehr. Sie ist zerteilt, verwittert und erstarrt, in sehr verschiedene Richtungen ausein- andergegangen. Gleichwohl aber treiben ihre universalistischen Elemente heute noch in' Afrika und im indischen Archipel zu höchst wirksamen Missionszügen, und in den alten muslimischen Staaten ist die Religion derart verfestigt, daß an ein Eindringen neuer Gedanken nur sehr schwer zu denken ist. Aus diesem Grunde ist trotz allen Veränderungen und Schwächen, trotz allen Europäisierungen an wirkliche Aenderungen auf dem Gebiete der muslimischen Welt nicht zu denken. Das große Kirchengesetz, der Koran, sitzt ihr zu tief im Herzen und ist zu eng mit allen Institutionen verbunden, als daß jene Aenderungen den Weg für neues Leben eröffnen könnten. Für die Berechnung des zukünftigen Ganges der Menschheit ist daher der Islam eines der undurch- sichtigsten Rätsel, über dessen Lösung kaum die berufensten Kenner des Orients Vermutungen wagen dürfen.

Bedeutet der Islam im Verhältnis zum Judentum inhaltlich eine Rückbildung und kommt deshalb die von ihm übernommene universalistische Tendenz in seiner Kirchenbildung nur sehr mangel- haft und widerspruchsvoll zum Ausdruck, so hat die andere Tochter des Judentums, das Christentum, eine um so reichere und einheitlichere Entwicklung erlebt. Es ist die universalste und von allen irdisch-menschlichen Gütern am meisten gelöste Reli- gion. Aus dem Schöße des Judentums entbunden hat es dessen Gottesglauben vertieft zu dem Glauben an eine allen Seelen ge- genwärtige und für alle bestimmte Offenbarung der göttlichen Liebe, die aus Sünde, Schwäche, Elend und Weltverlorenheit die Menschen zu dem erhebt, was allein ewigen Wert hat, zu der

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Gemeinschaft mit Gott. Die Reinheit des Herzens, die im Gericht vor Gott bestehen kann, und die Liebe, welche die von Gott er- fahrene Liebe an den Brüdern übt, sind die Prinzipien seiner Ethik, welche dadurch die gesetzliche Aeußerlichkeit und die mannigfache nationale und zerimonale Gebundenheit der jüdischen Ethik abgestreift und aus dieser eine rein auf die allgemein menschlichen Güter des mit Gott geeinigten Gemüts sich richtende Sittlichkeit entwickelt hat. Die Welt und ihre Dinge sind gut und recht an ihrem Orte, wenn auch hier überall der Satan und die Selbstsucht des fleischlichen Menschen zu fürchten ist. Sie reichen nirgends in die Frömmigkeit selbst hinein, und, wo sie diesen eine Konkurrenz bereiten, sind sie bedingungslos niederzu- halten. An sich selbst kommen sie für die Frömmigkeit nicht in Betracht. Diese ist vielmehr mit allem Ernst und aller Begeisterung auf das ewige Ziel der menschlichen Persönlichkeit über aller Zeit und Welt, auf das wahre Gut, das Gut des reinen Herzens, gerichtet. In dieser reinen Verinnerlichung und Individualisierung des religiö- sen Glaubens und in dieser freudigen Zuversicht einer alle zum Heilsgut führen wollenden Liebe ist es die universalste Religion der Geschichte. Sie ist es dadurch, daß sie am wenigsten das religiöse Element mit zeitlichen und irdischen Interessen und Ge- gebenheiten verbindet. Es hat dementsprechend auch die am strengsten organisierten und die am reinsten aus dem religiösen Gute heraus entwickelten Kirchen hervorgebracht, die mit dem höchsten Aufgebot aller Machtmittel dieses Gut zu sichern unternehmen, und zwar nicht bloß Eine Kirche, sondern bei der Fülle seiner Trieb- kraft und seiner Anpassungsfähigkeit eine ganze Anzahl großer und mächtiger Kirchen, die sämtlich eine eigentümliche Auffas- sung der christlichen Frömmigkeit vertreten. Das erklärt sich aus der Energie seiner von allem Nationalen und Irdischen ge- lösten Frömmigkeit, die lediglich das Heilsgut im Auge hat und bei jeder großen Veränderung der inneren Stimmung der Völker- welt lediglich auf dieser Grundlage religiöser Gesinnung neue Gemeinschaften und Sicherungsanstalten zu erzeugen die Kraft hat. Freilich Jesus selbst hat keine Kirche gegründet. Er hat nur den Samen ausgestreut, der in stillen und gottergebenen Herzen Frucht bringen sollte, und einen engeren Kreis von Sendboten ausgebildet, der die wahrhaft Gläubigen erwecken und sammeln sollte für die große Stunde des kommenden Gottesreichs, in der alle Ideale erst verwirklicht und die Kluft zwischen Welt und

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religiösem Heil überwunden werden würden. Als er nach kurzer Wirksamkeit schied, hat er nur diese begeisterte, messiasgläubige Jüngerschaft und eine Gemeinde hinterlassen, die seine Hoffnung auf Weltgericht und Erlösung teilte, seine Gebote hielt und seine Liebe übte, die in ihm die Bürgschaft der göttlichen Liebe und Gnade dankbar erkannte und seine Wiederkunft von den Wolken des Himmels erwartete. Auch die ersten Gemeinden, welche die- ses Glaubens lebten, waren keine Kirche in dem Sinne einer organischen und zentralisierten religiösen Gemeinschaft. Wenn sie sich einzeln und im ganzen »Ecclesia« nannten, so bedeutet das die Selbstauffassung als neues Volk Gottes, neues Israel, Ge- samtheit der Christusverehrer, hat aber nichts zu tun mit den ersten Versuchen der gemeindlichen Organisation. Noch ist das Wort »Kirche« eine halb apokalyptische, halb jüdisch-theokratische Selbstbezeichnung für die gemeinsame Berufung und Erwählung, für den gemeinsamen kultischen und Offenbarungsbesitz, aber kein Organisationsprinzip. Die Christusverehrer legten nicht die Hand an eine Ordnung, die doch bald mit der Welt bei den Po- saunen des Gerichts untergehen würde. Sie genossen noch in Prophetie und allerlei Gnadengaben die Unmittelbarkeit der Offen- barung und göttlichen Einwirkung. Nur in ganz losem, rein per- sönlich begründetem Verband fühlten sie sich verbunden als der Leib Christi durch den gemeinsamen Geist, der die Wunder der Erkenntnis und der Liebe wirkte, durch die Mildtätigkeit, welche in Almosen, Gastfreundschaft, Empfehlungsbriefen von einer Ge- meinde zur andern sich betätigte und das Gegengewicht gegen die auch hier oft heftig hervorbrechende Zwietracht bildete, durch die Verehrung der überlieferten Worte des Herrn und der großen apostolischen Persönlichkeiten, die selbst freilich schon die Einigkeit unter sich nur mit einer gewissen Mühe zu wahren vermocht hatten. Wohl bildeten die Einzelgemeinden in sich selbst gewisse Ordnungen aus, aber ihr Leben beruhte doch haupt- sächlich noch auf der Anerkennung hervorragend begabter Per- sönlichkeiten und ehrwürdiger Stifter, welchen eine noch völlig ungebrochene, starke Wundergläubigkeit die Autorität göttlicher Berufung und Begabung zuschreiben durfte. Erst als die Wieder- kunft ihres Herrn ausblieb und man sich dauernd in der Welt einzurichten genötigt war, als die Gemeinden sich vergrößerten und weithin zerstreut die persönliche Fühlung verloren und als ebendamit das Eindringen fremder Einflüsse den alten Glauben

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der Missionare zu verändern drohte, entstand die Notwendigkeit einer zusammenfassenden und das Heilsgut schützenden Organi- sation, welche natürlich an die bisher frei anerkannten Autori- täten und die gewohnheitsmäßig entwickelten Ordnungen an- knüpfte. So empfing sie auch ihren Namen von dem Gedanken der »Ecclesia« her, in welchem bisher allein die Einheit sich dargestellt hatte, und der von da ab zum Ausdruck für alle selb- ständig religiöse Organisation geworden ist^).

Es entstand die sog. altkatholische Kirche. Von dem Vor- bild der Gemeinde der Welthauptstadt geleitet, unter Führung von Männern, die wir nur zum kleinen Teile noch kennen, rein aus eigener Kraft, ohne Mithilfe des Staates erhob sich der große Verfassungsbau der christlichen Kirche, der durch Herstellung rechtlich gültiger Grundlagen und Kriterien erst die vollständige Sicherung der Heilswahrheit und des richtigen Kultusvollzuges ermöglichte. In dieser Organisation schuf sich die Kirche eine feste Norm der Lehre durch Aufstellung des biblischen Kanons, durch Fixierung der ihn umspielenden Tradition, regelte sie den Eintritt in die Kirche durch Forderung von Noviziat und Bekennt- nis und das Verhalten in der Kirche durch feste Bußdisziplin, festigte sie das kirchliche Leben durch Ordnung der Festfeiern, des Kalenders, der Sakramente, des Kultus und des Ritualsr machte sie die Theologie unschädlich durch offizielle Anerken- nung des an ihr berechtigt Erscheinenden und Verdammung alles darüber Hinausgehenden oder dahinter Zurückbleibenden. Das Mittel, durch welches eine solche Organisation gefestigt wurde, war hier wie überall die Zurückdatierung des gewohnheitsmäßig Gewordenen in die Offenbarung selbst, die Vergöttlichung der Grundelemente des gegebenen Zustandes. So wurde hier die Stellung des Gemeindehauptes, des die Eucharistie und mit ihr Lehre, Kultus und Kirchengut verwaltenden Bischofs auf die Offenbarung selbst begründet und ihm kraft Stiftung von Christus

3) Ich möchte nicht unterlassen zu bemerken, daß hierauf sich meines Erach- tens das relative Recht der Bemerkungen Sohms über die »rein religiöse Größe der Kirche« im Urchristentum beschränkt. Die Notwendigkeit der Organisationen war dadurch nicht ausgeschlossen ; im Gegenteil, das Christentum begann, wie noch heute jede neue Sekte und Erweckung, mit Organisationsfragen. Sohm hat jene »rein religiöse Kirche« zu einem supranatural-mystischen Ding gesteigert, das frei- lich nichts mit dem Recht, aber auch wenig mit der Geschichte zu tun hat. Das gleiche gilt von Scheel, »Die Kirche im Urchristentum«, 1912.

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her sowie kraft apostolischer Sukzession ein wunderbares, an die- sem Amte haftendes Vermögen zur Schaffung übernatürUchen Rechtes zugeschrieben. Derart war im Bischof eine übernatürHch eingesetzte und befähigte Autorität geschaffen und in der Suk- zession der Bischöfe eine rechtlich geregelte Fortsetzung der Autorität. Ganz ähnlich wurden die von den Bischöfen geleiteten Synoden der Gemeinden durch Zurückführung auf das Apostel- konzil vergöttlicht und auf Grund dieser übernatürlichen Würde zu rechtlich verbindenden Autoritäten gemacht. Schließlich wurde die über den Einzelsynoden stehende allgemeine Synode der Bischöfe der Christenheit zur letzten entscheidenden Autorität emporgehoben. So bildete sich langsam und in verschiedenen Provinzen verschieden fortschreitend eine gewaltige kirchliche Or- ganisation zur Sicherung und Pflege des christlichen Heilsgutes, die großartigste Leistung der untergehenden Antike, die in die- sen Bau ihre ganze noch übrige politische und geistige Kraft, ihr lebensmüdes Sehnen und Hoffen hineinbaute und schließlich ihr politisches Erzeugnis, das römische Weltreich, mit dem großen Reiche der neuen Religion verbinden mußte. Mit diesem gewal- tigen Werke neigte sich der Tag der alten Völker.

Aber die volle Konsequenz dieser Organisation war noch nicht gezogen. Sie drängte auf eine monarchische Spitze hin, wie sie auf der monarchischen Organisation der Gemeinde be- ruhte. Nur die Anerkennung einer solchen durch ihre göttliche Einsetzung und Ausrüstung zum Erlaß verbindlicher Entscheidungen befähigten Spitze gewährte eine völlige Sicherung und Unantast- barkeit des Kircheninstituts, während die synodale Autorität bei dem Mangel einer zu Berufung und Schließung rechtsgültig be- fähigten Stelle und bei der Abhängigkeit der Gültigkeit ihrer Be- schlüsse von der tatsächlichen Rezeption diesen Zw^eck nur sehr mangelhaft erfüllte. Schon sehr frühe hat der römische Stuhl in Berufung auf die Vorzugsstellung Roms und die Nachfolge Petri eine derartige Bedeutung beansprucht. Ehe es aber zu einer Aus- einandersetzung dieses Anspruches mit den rivalisierenden Stühlen von Konstantinopel und Alexandrien kam, trat die Trennung des Reiches in die beiden Hälften ein und wurde dem römischen Stuhl ein Feld ganz neuer Aufgaben und Entwickelungen eröffnet, während die alte Reichskirche bei ihren bisherigen Bestimmungen blieb und immer mehr in der Verehrung des kirchlichen Alter- tums die einzige Grundlage der Kirche erkannte. Durch den

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Islam von der Lösung schwerer Probleme befreit ergab sie sich völlig der Pflege einer absoluten, unveränderlichen Orthodoxie. Sie ist die »orthodoxe Kirche«, wie sie sich mit Genugtuung nennt. Absoluter Traditionalismus und mystisch bewundernde Hingabe an das ein für allemal fertige Werk der heiligen Bischöfe und Synoden ist das Prinzip dieser Kirche und ist es auch ge- blieben, nachdem sie durch den Eintritt der Slaven neues Blut erhalten hatte.

Von der Umklammerung durch die byzantinische Staatskirche befreit und auf den Boden ganz neuer politischer Verhältnisse versetzt, vermochte die abendländische Kirche oder vielmehr der römische Bischof das Ideal einer Fortbildung des bisherigen Be- standes zu einer stets lebendigen und aktionsfähigen, aber doch zugleich absolut göttlichen Autorität seiner Verwirklichung näher zu bringen. Der ethisch und praktisch geartete, mehr juristisch und politisch gerichtete Sinn des Abendlandes schuf so unter sorgfältiger Aufrechterhaltung der Stabilität doch ein im Grunde neues Kircheninstitut, den Gottesstaat der Gnade, der als Nach- folger der sündigen Weltreiche die verlorene Menschheit in die wahre rettende Gemeinschaft aufnimmt, den wahren Zwecken dienstbar macht und zum wahren Ziele der Seligkeit führt. Er ist der Erbe des römischen Weltstaates und Weltrechtes, ein Rechtsbau ohne gleichen, beruhend auf einem Rechtskodex, der aus theoretischen Ansprüchen und Vergöttlichungen gewordener Zustände zusammengewoben ist, ähnlich, nur unendlich viel klarer und sicherer, wie seinerzeit die Thora des Moses. Die Eine lebendige und absolute Autorität, welche erst die Seele aller übri- gen Heilsgarantien, der Tradition, des Kanons, der Konzilien, des corpus juris bildet, ist der Universalmonarch des Gottesstaates, der Nachfolger Petri und Stellvertreter Christi, gewissermaßen die Fortsetzung der Menschwerdung Gottes, die Quelle aller Amts- gewalt und aller Fähigkeit zur Gnadenausspendung, von welcher die Bischöfe erst ihre übernatürliche sacerdotale Macht erhalten. Es ist ein gewaltiges Reich, das wir vor uns sehen, gestützt auf ein höchst kompliziertes geistliches Steuersystem, auf ein uner- meßliches Beamtenheer, auf die Leibmiliz der Bettelorden und der Jesuiten, auf eine tief greifende geistliche Strafgewalt, auf ein von findigen Juristen ausgearbeitetes Rechtssystem, in alle Ver- hältnisse des Erdkreises eingreifend durch das Kommando an die Bischöfe und durch direkte diplomatische Vertretung, beständig

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aktionsfähig und einheitlich geleitet durch ein von Gott einge- setztes Haupt, dem seine Ministerien zur Seite stehen. Es ist nicht ein Reich neben anderen Reichen. Die Konsequenz drängt zum Ideal des absoluten Weltreiches überhaupt. Der Gottesstaat muß freilich mit der wichtigen Unterscheidung eines direkten und eines indirekten Regiments überall regieren, weil er von Gott und die Welt voll Sünde ist. Die natürliche Welt ist sündig getrübt und kann daher nicht einer völlig freiwilligen Einordnung in die Gnadenwelt überlassen werden. Ihre Angelegenheiten sind der höheren Einsicht und den höheren Zwecken des Gottes- staates unterzuordnen. Um des göttlichen Heilsgutes willen, das nur in der Kirche ist, hat alles sich der Kirche zu unterwerfen^ welche von sich aus dann die Welt und das Leben organisiert für ihre Zwecke, die weltlichen Berufe und die politischen Ge- walten als Lehen zur Verwaltung gibt. Indem die Kirche um des Heiles willen die Welt verneint, beherrscht sie zum Zweck der Reinhaltung und Durchführung des Heiles die Welt, wie nie- mals vorher ein Staat geherrscht hat. Alle Gebiete des Lebens werden von ihr in die Hand genommen, Literatur und Wissen- schaft wird beaufsichtigt und organisiert, das politische Staaten- system geleitet und das bürgerliche Leben bis in seine wirtschaft- lichen Funktionen hinein gestaltet. Wo sich das nicht in Wirk- lichkeit erreichen läßt, wird wenigstens der Anspruch erhoben und für günstige Zeiten aufbewahrt. Auch in einer völlig ver- wandelten Welt behauptet die Kirche noch heute diesen An- spruch auf das Ideal der civiltä cattolica. Erst in unseren Tagen hat sie der Durchführung dieser Ansprüche einen neuen Anstoß gegeben, indem sie die letzte Konsequenz zog und in dem Un- fehlbarkeitsdogma dem Papst nun auch kraft göttlichen Rechtes zusprach, was er tatsächlich bisher geübt und erstrebt hatte. Wie jede Belebung der eigentlichen Triebkräfte eines Organismus, so hat auch diese Maßnahme kräftigend und stärkend auf die ka- tholische Kirche gewirkt, wenn sie auch freilich dadurch völlig irreformabel geworden ist. Von ihr gilt jetzt in Wahrheit : sit ut est aut non sit. In dieser Vollendung des Prinzips ist die katho- lische Kirche der vollkommenste Typus der Kirchenbildung, den die Welt gesehen hat, das klassische Beispiel kirchenbildender Gesetze und ihrer Wirkungen. In Vorzügen und Nachteilen zeigt sie alle Wirkungen der Verkirchlichung der Religion, viel bewun-

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dert und viel beneidet, aber auch eine Last, unter der Völker und Gewissen seufzen.

Allerdings hat die katholische Kirche dieses Ziel nicht für den ganzen Umfang ihres Gebietes erreicht. Ehe sie zur Ver- wirklichung ihres Ideals gelangte, hat sich ein großer Teil der europäischen Völker von ihr abgesplittert. Im 15. und 16. Jahr- hundert fand der große Umschwung des gesamten europäischen Kulturlebens statt, wo die Verselbständigung der nationalen, geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen eine weltliche Kultur heraufführte, die mit der katholischen Zivilisation brach. Eine Teilerscheinung dieses allgemeinen Umschwunges ist der Um- schwung des religiösen Lebens, den wir Reformation nennen. Gegen den kirchlichen Zwang und die Veräußerlichung der Reli- gion erhob sich eine lebendige Regung der Volksseele, eine dem neuen Leben homogene Frömmigkeit der Freiheit, der Innerlichkeit, der unmittelbaren Gottesgemeinschaft. Sie hatte naturgemäß zu- nächst nicht die Absicht eigener, neuer Kirchenstiftung. Ihre ersten Ideale religiöser Gemeinschaft waren durchaus nur im Vertrauen auf die unversiegliche innere Macht des Evangeliums und auf die persönliche subjektive Hingebung an das Evangelium begründet. Aber auch sie konnte sich der Notwendigkeit nicht entziehen, ihre Auffassung des Heilsgutes zu festigen und zu sichern und wurde so zur Kirchenbildung getrieben, obwohl die neue Frömmigkeit mit ihrer prinzipiellen Innerlichkeit und Freiheit einer Kirchen- bildung manche Schwierigkeiten entgegensetzte. Aber sie teilte doch mit dem Katholizismus die Voraussetzung einer göttlichen Wunder- und Heilsanstalt, an deren objektivem Gemeinbesitz und deren übernatürlicher Autorität und Kraft das Individuum erst zum Glauben kommt. So entstanden denn entsprechend den bei- den verschiedenen Grundauffassungen zwei neue Kirchenbildun- gen, die lutherischen und die calvinistischen Kirchen, welche im Anschluß an die bisherige Entwicklung des Landeskirchentums und bei ihrer Anerkennung der politischen Gewalten sich als Landeskirchen organisieren konnten, ohne darüber das Band der Gemeinsamkeit unter sich zu verlieren.

Auch für Luther war wie für den Katholizismus die Kirche eine von Christus gestiftete Anstalt des Heils, auf festem, objek- tivem Grunde erbaut und von einem göttlich bestellten Amte getra- gen. Vom Gedanken der Heilsanstalt und der sie begründenden göttlichen Autorität hat er sich nie getrennt. Nur war diese Autorität

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für ihn nicht der durch Sukzession und Gnadenbegabung zu rechts- gültiger Entscheidung befähigte Bischof, sondern die heiUge Schrift, das niemals wirkungslos bleibende, immer von innerer Geistes- wirkung getragene Wort Gottes. Dabei kam für ihn zunächst nur das Evangelium, d. h. die Botschaft von der in Christus ge- stifteten Sündenvergebung mit ihrer einer unmittelbaren subjektiven Aneignung fähigen religiösen Bedeutung in Betracht. Aber seine Betrachtung der Sakramente und des Amtes, sowie seine Ver- wertung einzelner Schriftstellen zeigen von Anfang an, wie durch und durch objektiv diese Bestimmung gemeint ist. Als es dann aber galt, die Autorität genauer zu umschreiben, rückte immer mehr die inspirierte Schrift als solche in den Vordergrund. Seine Genossen und Nachfolger haben sie dann folgerichtig im strengsten Sinne zur Grundlage des Kirchentums gemacht. Sie, die sich selbst auslegt, durch und durch klar und sicher, immer Buße und Rechtfertigung wirkend, sie ist das eigentliche organisierende Prinzip der neuen Kirche. An ihr und der ihr entsprechenden Sakraments- verwaltung ist die Kirche immer sichtbar und kontrollierbar, während freilich ihre geistUchen Wirkungen unsichtbar sind. Von diesem festen Punkte, von der reinen Schriftlehre aus, werden die neuen Kirchen organisiert. Die Lehre, die durch sich selbst klar und fertig ist, muß in ihrer Reinheit aufrecht erhalten werden gegenüber allen Trübungen, Häresien und Irrtümern, sie muß in ihrer Wirk- samkeit unterstützt werden durch Regelung der Verwaltung der Schrift d. h. durch Unterstützung, Versorgung und Kontrollierung der Beamten, der Ausleger der Schrift. Beides wird als Aufgabe der Landesregierung bezeichnet, die als Inhaberin der Landfriedens- gewalt alle Vergehungen gegen Lehre und Sittengesetz der Schrift zu bestrafen hat und als vornehmstes Mitglied der Kirche dieser ihre Macht für Bestallung, Besoldung und Beaufsichtigung der Geist- lichen leihen muß. Die Schrift und deren theologische Inter- pretation wird von der Landesgewalt in ihrer Reinheit und Allein- herrschaft geschützt^ die Diener am Wort werden von ihr erhalten und kontrolUert. Da sich hierzu die politischen Landesbehörden doch nicht sachkundig genug bewährten, wurden Kollegien von sachkundigen Geistlichen und Juristen gebildet, die im Namen des Landesherrn diese Schutzmacht und Beaufsichtigung ausübten. Damit war die lutherische Konsistorialverfassung begründet. Es ist eine eigentümlich komplizierte Organisation, welche die Selb- ständigkeit der religiösen Einwirkung mit dem Zwangsapparat

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des Kirchentums zu vereinigen sucht. Die Folge davon war die Auslieferung der Kirchen an die Landesherren und deren Hoftheo- logen, die volle Unmündigkeit der Gemeinden, welche rein passiv das Wort über sich ergehen lassen mußten und sonst nichts zu tun hatten. Eine weitere Folge der Begründung des Instituts auf die so zu behütende Reinheit der Schriftlehre war ein ungeheurer Doktrinarismus. Die Schrift ist Grundlage der Lehre, des Gottes- dienstes, aller Kasualhandlungen, des Unterrichts. Ueberall muß die reine Lehre ertönen, welche von selbst das Heil wirken wird. Die lutherischen Kirchen predigen ohne Unterlaß; ja ihr Idealis- mus besteht gerade darin, daß nichts getan wird als gepredigt. Sie leben vom »Wort« und sie kranken am »Wort*. Ein jeder muß die ganze reine Lehre kennen und darf sich nicht wie der Katholik mit der allgemeinen Bereitwilligkeit zum Gehorsam begnügen. Diese tief innerliche Frömmigkeit des Herzensglaubens schuf sich eine auf die reine Lehre gebaute Kirche und verwuchs so selbst unlösbar mit der reinen Lehre. Daher die tiefe Erschütterung dieser Kirchen seit dem Aufkommen des modernen Toleranzstaates und der moder- nen Wissenschaft. Ihre kirchliche Organisation ist heute in einer von den Juristen nur schlecht verhehlten völligen Unordnung, ihre Lehre in einem vollen Widerspruch zwischen wirklichem Bestand und offiziellem verpflichtendem Grund. In diesen wenigen Worten ist der kirchliche Jammer der Gegenwart erschöpfend ausgedrückt und damit ist auch gesagt, daß er aus dem Wesen dieser Kirchen- ordnung heraus unheilbar ist.

In scharfem Gegensatz zu diesen leidsamen, cäsaropapisti- schen Kirchen stehen die von gewaltiger Energie und lebhafter Ge- meindetätigkeit erfüllten Kirchen Calvins, welche in heroischen Riesenkämpfen den Protestantismus in Europa gerettet und nach der neuen Welt hinübergetragen haben. Ihr Hauptgedanke ist nicht die Heilswirkung der Schrift, sondern die prädestinatianische Wirkung Gottes, die sich zwar der Schrift bedient, aber nicht schon durch die Schrift selbst allein wirkt. Hieraus ergab sich für die reformierte Frömmigkeit überhaupt eine mehr atomistische Be- trachtung der Gemeinden als Gemeinschaft der Erwählten, das Drängen auf Bewährung der Erwählung im rechten christlichen Lebenswandel. So wurde hier die Kirchenbildung in erster Linie begründet auf das Prinzip der Selbstregierung der Gemeinde durch ihre Vertreter, welche die reine Lehre in der Gemeinde aufrecht erhalten und für den reinen Wandel durch die Kirchenzucht sorgen.

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Die SO ZU Übende Disziplin als Mittel, Wandel und Lehre in der Gemeinde der Erwählten zu regulieren und in streng christlichem Sinne zu gestalten, ist das grundlegende Prinzip der reformierten Kirchen und wurde dementsprechend als in der Schrift vorgeschriebene und eingesetzte Stiftung Christi d. h. als Gegenstand des Glaubens angesehen. Es ist bekannt, mit welchem Opfermut, mit welchem harten Ernst diese Gemeinden sich behauptet und gestaltet haben und wie diese ihre lebendige Kraft den Protestantismus zu einer Weltmacht erhob. Die feste Begründung der Kirche auf das anfänglich freilich noch recht aristokratisch gedachte Repräsen- tativsystem und die Stärke der durch die Disziplin ausgeübten Gewalt ermöglichten ihr auch die Behauptung einer größeren Unabhängigkeit vom Staat, auf dessen Mithilfe für die Exeku- tion der Gemeindeurteile Calvin noch nicht hatte verzichten wollen, der aber bei der feindlichen Stellung der französischen und englischen Kirchen zur Staatsgewalt bald entbehrlich wurde. Aber dieses auf menschliche Disziplin begründete Kirchenrecht hatte doch bedenkliche Lücken. Sowie das Interesse an der bis- herigen Lehre zurücktrat, konnten die independentistischen Konse- quenzen des atomistischen Gemeindebegriffes hervortreten und konnte die Erwählung in der rein subjektiven, inneren Erleuch- tung gefunden werden. Beides ist in der großen englischen Refor- mation der Fall gewesen, freilich nicht ohne Mitwirkung fremder uncalvinistischer Einflüsse. Independenten und Quäker haben diese Konsequenzen des religiösen Individualismus gezogen und damit die reformatorische Religionsbewegung in die weltliche Be- wegung des modernen Individualismus überzuführen geholfen. Die Pilgerväter haben das neue kirchliche Prinzip der indepen- denten Gemeinden, der völligen Freiheit der Kirche vom Staate und des Staates von der Kirche, nach Amerika hinüber getragen. Seitdem hat sich Sekte auf Sekte aus der reformierten Kirche ent- wickelt, hat sich Freikirche auf Freikirche innerhalb ihrer alten Organismen gebildet. Ihre demokratischen Vertretungs- und Synodalprinzipien sind in die lutherischen Kirchen eingezogen und sind dort nur deswegen noch nicht zur Ausübung ihrer zer- sprengenden Wirkungen gekommen, weil in Wahrheit doch die alte staatliche Begründung und Aufrechterhaltung des Kirchen- instituts in Geltung geblieben ist und weil die religiöse Indifferenz in den vertretenden Körperschaften das Feld den konservativen, mit den alten Rechtsgrundlagen einigen Richtungen überlassen

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hat. Die auf das Repräsentativsystem begründete Freikirche ist das Ergebnis der -reformierten Entwickelung. Aber die größere Freiheit und BewegHchkeit dieser Kirchen besteht doch nur in der größeren Leichtigkeit sich zu zerteilen und in Einzelkirchen sich zu zerlegen. Innerhalb einer so entstandenen Einzelkirche pflegt dann um so strengere Tyrannei der Lehrzucht und Sitten- zucht zu herrschen. Beispiele hierfür sind die Freikirchen der Schweiz und das Gewimmel der amerikanischen Denominationen. In diesem Sinne einer Garantie für Rechtgläubigkeit und Kirchen- zucht wird heute auch bei uns von Stöcker und seinen Anhängern die Freikirche gefordert, wobei freilich naiv genug dem Staate gegenüber immer noch an der Forderung gesetzlichen Schutzes und ausreichender Geldlieferung aufrecht erhalten wird. Wo aber die Lehr- und Sittendisziplin erheblich beschränkt und der indi- viduellen Ueberzeugung und Lebensgestaltung größerer Raum gelassen wurde , da gediehen auch keine großen und schlag- kräftigen religiösen Gemeinwesen, wie die englischen und ameri- kanischen Unitarier zeigen. Gleichwohl haben auch diese klei- nen Gemeinwesen sich behauptet und sehr segensreich gewirkt. Es mag daher die Ansicht derjenigen nicht ohne Berechtigung sein, welche so oder so im Freikirchentum das Ideal der zu- künftigen Form der christlichen Kirchen sehen, das sich in der Zersetzung der Staats- und Landeskirchen, sowie der Kirchen des Lehrzwanges vorbereite.

In diesem großen Zuge stellt sich die Entwickelung der christlichen Kirchenbildung dar. Entscheidend bleibt die grund- legende Kirchenbildung des zweiten Jahrhunderts. Auch der Pro- testantismus ist in dieser Entwickelungslinie geblieben und hat nicht das vorkirchliche und vordogmatische Christentum des Neuen Testamentes wiederhergestellt. Er hat den katholischen Kirchen- begriff tiefgreifend verändert, aber nicht beseitigt und hat seinen so sich ergebenden Kirchenbegriff wie selbstverständlich in das Neue Testament hineingelesen. Er hat die Kirche verinnerlicht und vergeistigt, aber er ist nicht hinter die Kirche selbst zurück- gegangen. Seine schwierigsten Entwickelungsaufgaben und Pro- bleme sind daher solche, die aus dem Verhältnis des Kirchen- begriffes und der innerlichen Geistigkeit, aus dem Streit des mit dem Kirchenbegriff notwendig gegebenen autoritativen Dogmas oder Bekenntnisses mit der modernen geistigen Entwickelung sich ergeben. Allerdings hat es neben diesen Kirchenbildungen auch

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immer andere Gruppenbildungen gegeben, die man als Sekten und freie mystische Vereine, Klöster und Orden, Erweckungs- bewegungen und freie Massenerregungen kennt. Aber diese Grup- pierungen waren immer nur auf kleine Kreise beschränkt oder waren nur vorübergehende. Für eine allgemeine Betrachtung stehen die Kirchen weitaus im Vordergrund"*).

Damit sind wir bei der Gegenwart angelangt und dürfen die Frage erheben, was uns diese Ueberschau über die verschiedenen Kirchenbildungen für das allgemeine Verhältnis von Religion und Kirche und dadurch auch für die gegenwärtige Lage lehre.

Zunächst lehrt sie uns, daß alle universalistischen Religionen in ihrem Glauben an eine alleinige und Allen bestimmte Wahr- heit den natürlichen und unausweichlichen Anlaß zur Kirchen- bildung haben, welche jenen Glauben in seiner Wahrheit aufrecht erhält und ihn den Menschen nach innen und außen in geordneter Weise vermittelt. Das Christentum als die weitaus universali- stischeste Religion hat auch den weitaus stärksten Trieb zu reiner, nur dem religiösen Interesse dienender Kirchenbildung. Propa- ganda und Erziehung, Sicherung und Zusammenfassung der Heils- wahrheit machen die Bildung einer alles das ermöglichenden In- stitution notwendig, und jene Institutionen sind nicht freie Er- zeugnisse einer Art religiösen Gesellschaftsvertrages, sondern haben in der Anerkennung supranaturaler Autoritäten, von Stif- tern und Offenbarern oder deren Worten und Schriften ihren naturgemäßen Ausgangspunkt, an welchen alle weiteren zur Sicherung dieser Autorität vorzunehmenden Maßregeln sich leicht anschließen. Nur die Art und Weise, wie jene Autoritäten selbst sich geben und wie aus ihnen dauernde Ordnungen abgeleitet werden, ist in den verschiedenen christlichen Kirchen verschie- den ; die Tatsache selbst findet überall statt. Dieser in der Natur der Sache liegende Zwang ist zunächst auch ein durch- aus heilsamer und unentbehrlicher. Die Kraft subjektiver reli- giöser Begeisterung, die zuweilen epidemisch hervorbricht, hält doch im allgemeinen in dieser Weise niemals Stand und birgt in sich die Gefahren einer ziellosen Verwilderung. Gegenüber der Trägheit des religiösen Empfindens ist eine beständige Neu- anregung durch die geordnete Gemeinschaft, gegenüber der Zer-

*) Die Bedeutung dieser anderen Gruppen habe ich freilich inzwischen weit höher einschätzen gelernt, wie meine »Soziallehren« zeigen. Die offizielle Theologie denkt viel zu sehr nur an die Kirchen.

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splitterung in einzelne, sich bei sich selbst beruhigende Kreise eine Belebung und Leitung der propagandistischen Kraft, gegen- über den mancherlei unvermeidlichen Trübungen durch fremde Einflüsse eine Reinhaltung des eigenen Gemeingeistes unentbehr- Uch. Selbst die ganz individualistisch gestimmten Sekten mußten sich schließlich bestimmte Ordnungen der Lehre und des Kul- tus geben; andererseits sind die lediglich an der Freiheit des dogmatischen Gedankens interessierten Richtungen in eigentlich religiöser Beziehung, in der Pflege der Gemeinschaft wie in der Arbeit an den Massen, immer ziemHch unfruchtbar geblieben. Insbesondere ist der Mittelpunkt eines gemeinsamen Kultus für alle Religionen unentbehrlich, welche nicht schläfrig ver- dämmern oder phantastisch verwildern, sondern sich aus der Quelle der ihnen strömenden geistigen Kraft beständig neu be- leben wollen. Für alles das ist aber eine geordnete, auf be- stimmten Autoritäten aufgebaute Gemeinschaftsbildung nötig. Aus der Notwendigkeit, diese Autoritäten genauer zu umschreiben und für die Allgemeinheit der vorkommenden Fälle verbindlich zu machen, ergibt sich nun aber die weitere Notwendigkeit eines kirchlichen Rechtes, wie alle Gemeinschaften zur Regelung ihres Bestandes eines Rechtes nicht entbehren können. Allein das Recht der Kirchen ist allerdings ein eigentümliches. Sein Aus- gangspunkt ist, wie alle nicht bloß mit der Darstellung der be- stehenden Kirchenhoheit des Staates beschäftigten d. h. rein staatsrechtlich interessierten Juristen empfunden haben, ein von denjenigen anderer Rechtsbildungen verschiedener. Die Stelle, an welcher die rechtliche Entscheidungsfähigkeit haftet, läßt sich hier nicht wie sonst durch die Begriffe der Okkupation, des ge- wohnheitsmäßigen Besitzes oder des Vertrages konstruieren. Die eigentliche Autorität ist vielmehr eine durch und durch supra- naturale, aus der von den Kirchen rechtlich verbindliche Autori- täten nur mit äußerster Kunst und Gewundenheit oder rücksichts- losester Fiktion abgeleitet worden sind. Die schwer faßbaren supra- naturalen Autoritäten müssen zu dauernden institutionellen, for- malen rationalisiert werden, es müssen ihnen Träger und Ver- treter angefügt oder untergeschoben werden, welche ihnen trotz ihrer inhaltlich religiösen Begründung die Wirkung formal ver- bindlicher rechtlicher Autoritäten, zu sichern geeignet sind. So entsteht überall ein Recht, das zwischen der inhaltlichen supra- naturalen Begründung und der Rationalisierung zu einer juristisch

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begründeten, formalen Autorität schillert. Ein solches Recht entsteht überall, wo Kirchen entstehen, nur in verschiedenem Umfang, in verschiedener Art und von verschiedener Kraft. In der katholischen Kirche hat das Recht die religiöse Autorität fast verschlungen und dadurch ist diese Kirche so stark geworden. In der lutherischen Kirche ist das Recht nicht über die Auf- stellung des Bibelkanons und der sie interpretierenden Symbole hinausgelangt, für deren Autorisierung ihrerseits aber keine rein rechtlichen Instanzen vorhanden sind. Dazu kommt die mit dem Bestand des »Wortes Gottes« gegebene Notwendigkeit, ein ge- ordnetes und d. h. rechtlich fixiertes Amt der Verkündigung auf- zurichten. Das »Wie.?"« dieses Amtes ist freie Sache der Zweck- mäßigkeit, das Vorhandensein des Amtes aber ist geistlich-recht- Hche Notwendigkeit. Die Ausnützung dieser Grundlagen für die Bildung rechtlicher Einrichtungen ist der Staatsgewalt zugeschoben worden. In der reformierten Kirche ist überdies ein eigentliches Kirchenrecht der Gemeindevertretung und der Kirchenzucht in die Offenbarung selbst als Einsetzung Christi zurückdatiert und ist damit ein großer Teil der Rechtsbildung in die Hand der Gemeinde d. h. der ordnungsmäßigen Vertreter gelegt. Damit ist nun aber schon angedeutet, daß überall die Wirkung der rechtlichen Gemeindeorganisation sich nicht nur nach innen auf die Ordnung des Gemeindelebens selbst beschränken kann, sondern sich auch nach außen erstreckt. Zunächst für ihre inneren Zwecke rechtlich organisiert d. h. zu einer schlagkräftigen Macht geworden, müssen die Kirchen ihre Zwecke auch nach außen durchsetzen. Insbesondere der eigentlichsten Machtorganisation, dem Staate, gegenüber müssen sie ein Verhältnis gewinnen, das jede Gefährdung der kirchlichen Zwecke von selten des Staates ausschließt und andrerseits doch den Kirchen einen Mitgenuß des Vorzuges, den die staatliche Macht vor ihnen voraus hat, nämlich der materiellen Exekutivgewalt, irgend- wie sichert. Umgekehrt ist die Staatsgewalt, auch noch ganz abgesehen von der etwaigen Erfüllung ihrer Träger mit religiösen Ideen, schon durch ihr eigenes Wesen darauf angewiesen, in den Kirchen keinen völlig unabhängigen Staat im Staate zu dulden, sondern ihre Kräfte den eigenen Aufgaben des Staates mit dienst- bar zu machen und ihnen dafür irgendwelche Unterstützungen zu- teil werden zu lassen. Sind aber beide Mächte derart aufeinander angewiesen, so kommen sie doch wieder unausweichlich in be- ständigen Gegensatz, da beide sich selbst als letzten Zweck an-

I7A Religion und Kirche.

sehen müssen. Auch die kirchhch gesinnten Regierungen konnten Kämpfe mit der Kirche nie vermeiden. Die Notwendigkeit einer gegenseitigen Begrenzung und Unterstützung beider Mächte ist unweigerhch in der Natur des Kirchentums gegeben : ein völUg irrationales, nur auf der gegenseitigen UnentbehrHchkeit und dem konkurrierenden Machtanspruch begründetes Verhähnis, das sich je nach der tatsächUchen Kraft der beiden Mächte verschieden gestaltet und nur von der hinterdrein kommenden akademischen Theorie rationell konstruiert wird. In diesem Punkte sind katho- lische und protestantische Kirchen trotz ihrer ethisch und religiös verschiedenen Stellung zum Staate doch faktisch einander gleich und unterscheiden sich nur durch den Umfang ihrer Forderungen und das Maß der Kraft, mit der sie diese Forderungen aufzu- zwingen vermögen. Die Genfer Kirche Calvins streifte an römisch- katholische, das Konsistorialregiment der Lutheraner an byzan- tinische Vorbilder. In dem alten Europa, wo auf Grund der früheren Alleinherrschaft Einer Kirche und der vollständigen Ge- bundenheit der Staatsgewalten durch deren religiöse Idee jahr- hundertelang eine fast völlige Vermischung beider geherrscht hat, ist eine so vollständige Verfilzung von Staat und Kirche ein- getreten, daß noch jetzt nach der Trennung und Mischung der Konfessionen und unter der Herrschaft des paritätischen Staats- gedankens die alten Verhältnisse auf Schritt und Tritt nachwirken und das ganze öffentliche und staatliche Leben von bewußten und unbewußten kirchlichen Beeinflussungen durchdrungen ist. So gründ- lich sich die Staats- und kirchenrechtliche Theorie geändert hat, so wenig hat sich das Leben geändert. Den Juristen und Theologen bleibt auch hier nichts anderes übrig, als aus der Not eine Tugend, aus der Verworrenheit ein System zu machen. Aber auch auf dem jungfräulichen Boden der neuen Welt, der den Samen protestantischer und independentistischer Ideen ohne vorausgehende Bearbeitung durch das katholische Gottesreich aufnahm, ist doch die Trennung von Staat und Kirche nur eine sehr relative. Die Ideen des Christentums und die Heilighaltung der protestantischen Bibel werden von ihren Juristen zu einem Bestandteile des gemeinen Rechtes erklärt, am Sonntag ausgestellte Wechsel sind ungültig, die Kirchen sind steuerfrei und ihr Besitz überwacht; die zivil- rechtliche Praxis hat zu einer besonderen Berücksichtigung der kirchlichen Verhältnisse geführt und bildet hier das Mittel, durch welches die Kirchen an der Exekutivgewalt des Staates teilnehmen.

Religion und Kirche. jye

Außerdem ist diese doch beträchtlich begrenzte Trennung nur mögUch, weil die Kirchen bei ihrer ZerspUtterung noch keine ein- zige zu großer durchschlagender Macht haben gelangen lassen und weil die Staatsgewalten einen großen Teil der Kulturauf- gaben noch nicht an sich genommen haben. Es ist sehr die Frage, ob dies immer so bleiben wird. Jedenfalls ist auch Amerika ein Zeugnis dafür, daß die volle Trennung von Staat und Kirche innerlich und faktisch große Schwierigkeiten hat. Die durch die Kirchenbildung zu einer aktionsfähigen Macht gewordene Religion zwingt jede Staatsgewalt zum Kompromiß, und auf jenem so er- zwungenen Kompromiß beruht dann eine Macht der Kirchen, welche weit über den Einfluß hinausgeht, den die Religion ledig- lich als solche haben würde.

Damit sind wir aber auch schon bei der Kehrseite der Sache, bei dem anderen Ergebnis unserer Uebersicht, angelangt. Die Kirchenbildung geht mit- Notwendigkeit aus der religiösen Idee hervor und bedeutet zunächst für sie Schutz und Förderung, aber sie verändert zugleich rückwirkend die religiöse Idee in ihrem Wesen und ihrer Wirksamkeit, und zwar um so mehr, je vollkommener das Kircheninstitut ist. Die Kirchen sind Schalen, welche allmählich den Kern verholzen, den sie schützen. Denn alle Kirchen kommen nur zustande, indem sie den einmal gegebenen und durch die Macht der Tatsachen zur Anerkennung gelangten Bestand, ihre Lehre, ihre Kultordnung, ihre Gemeindeversorgung mit der supra- naturalen Autorität der Religion selbst bekleiden. Sie vergött- lichen und verewigen den augenblicklichen Bestand, indem sie ihn ordnen, formulieren und zum Gesetz machen. Die Prädikate der katholischen Kirche »Einheit, Allgemeinheit und Apostolizität« sind Prädikate aller Kirchen, wenn auch mit etwas anderen Wor- ten und in etwas anderer Meinung. Man könnte dafür auch sagen »Unveränderlichkeit, Intoleranz' und Uebernatürlichkeit«. Nur der Umfang dieses unveräußerlichen Bestandes und die Mittel der Aufrechterhaltung sind verschieden. Aus der Lehreinheit ent- steht fanatischer t2ifer um den rechten Glauben, aus der Kultein- heit geistlose Gesetzlichkeit, aus der Verfassung herrschsüchtige Hierarchie, zwar nicht immer und überall und nicht ohne Milderung durch den fortwirkenden religiösen Untergrund, aber mit der Un- vermeidlichkeit eines übermächtigen Hanges. Dadurch bekommt die Religion bei aller auch hier möglichen Wärme und Innig- keit, doch ein Gepräge herber dogmatischer und institutioneller

j 76 Religion und Kirche.

Gesetzlichkeit, welches das Gegenteil ihres Wesens ist. Die grau- same JHärte, mit der das vatikanische Konzil die Gewissen der dissentierenden Bischöfe gebrochen hat, die kühle Ueberlegenheit, mit der protestantische Generalsuperintendenten und Konsistorien das Shylockrecht der Ordinationsgelübde und Agenden ausnutzen, um die Ehrlichen unter den Anhängern moderner Wissenschaft- lichkeit abzuschrecken, all das ist unter dem kirchlichen Gesichts- punkt unanfechtbar, aber unter dem religiösen entsetzlich. Es ist nur eine unaufrichtige Anbequemung an den Sprachgebrauch des modernen Vereinsrechtes, wenn man sagt, der Glaube selbst stehe gewiß jedem völlig frei, aber es dürfe niemand ein Amt begehren, mit dessen Grundsätzen er nicht harmoniere. So darf eine Kirche nicht reden, die Volkskirche sein will und die Teilnahme des ganzen Volkes beansprucht, die zum größten Teil aus den Steuern des Volkes unterhalten wird und die sich die Kinder von Dissidenten zwangsweise in ihren Unterricht liefern läßt. Ebenso ist es nur eine Anpassung an die augenblicklich bestehenden Verhältnisse, wenn runde Unterwerfung bloß von dem Geistlichen verlangt wird, bei den Laien dagegen schon eine sehr allgemeine und be- dingte Zustimmung genügt. Bei den Laien muß man eben heute froh sein, wenn sie überhaupt »kirchlich« gesinnt sind, und nur dem Geistlichen gegenüber hat man Zwangsmittel in der Hand. Die Kirche, so lange sie echte Kirche bleibt, ist in Wahrheit als Kirche um Gottes willen intolerant gegen alle, und je schroffer sie das bekennt, um so konsequenter ist sie.

Insbesondere sind die Versuche, sich an das wechselnde geistige Leben anzupassen, die sie in der Theologie macht, höchst gefährlich für sie und stehen daher unter peinlicher Kontrolle. Der katholischen Kirche ist es gelungen, ihre Theologie zu voller Harmlosigkeit herabzudrücken; die protestantischen Kirchen haben der persönlichen Ueberzeugung zu viel Spielraum gelassen, um das erreichen zu können. Daher sind sie auch schwer krank an ihrer Theologie und ist die Theologie die Wissenschaft der Schmerzen. Freilich wird in Wirklichkeit sehr vieles durch Kom- promisse gemildert. Aber nur die Extreme lassen sich vermeiden, die Sache selbst nicht. Auch wenn die Behörden der Kirche wirkliche Freiheit des Geistes und der Forschung gestatten woll- ten, so könnten sie doch um der Gemeinden willen nicht, von denen ein beträchtlicher und nicht der schlechteste Teil bei einer bemerkbaren Aenderune der kirchlichen Lehrweise oder

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des Kultus die Gefolgschaft verweigern würde. Für die breiten Massen ist Religion und Kirche eins geworden. Nur neu auf- strebende, noch von der Frische religiöser Kraft erfüllte Religions- gemeinschaften pflegen Gewissensfreiheit zu fordern, zur Herr- schaft gelangte erkennen in dieser Forderung nichts als Unglauben.

Aber nicht das allein ist die bedenkliche Folge der Kirchen- bildung. Als rechtlich organisierte Macht wird die Kirche hinein- gezogen in alle Künste weltlichen Machtkampfes, in alle Ver- hältnisse der Politik. Sie muß sich, auf welche Weise immer, die Exekutivmittel des Staates in irgend einem Grade dienstbar zu machen suchen. Daraus entsteht die harte, weltliche Behandlung der religiösen Dinge und ein ungeistlicher Opportunismus, der das Ansehen der Religion schwer schädigt und sie scheinbar zum Verbündeten der herrschenden Klasse macht. Insbesondere er- gibt sich aus der durch die Macht des Kircheninstituts herbeige- führten Verfilzung von Staat und Kirche eine Herrschaft über Gesetz und Sitte, welche der Kirche zu einer von der Religion völlig unterschiedenen Macht verhilft. Aber diese Macht ist nur allzu leicht eine äußerliche, gewohnheitsmäßige, eine der vielen offiziellen Unwahrheiten. So kann es kommen, daß die Indiffe- renz und Bequemlichkeit, die sich allen diesen Dingen gleich- gültig oder verächtlich fügt, einer der besten Bundesgenossen der Kirchen wird. So kann eine Kirche die äußere Herrschaft über das Volksleben erstreben und erhalten, ohne daß ihr die Seele des Volkes gehört, und, je mehr einseitige Verstandsmenschen ihre Macht unterschätzen, um so besser ist es für sie. In diesen Ursachen hat die häßliche, tief innerliche Unwahrheit unserer gegenwärtigen kirchlichen Verhältnisse ihren Grund, die vielleicht von allen kirchlichen Nöten die schwerste ist, die aber niemals ganz von kirchlichen Institutionen abgetrennt werden kann.

Derart in ihrem innersten Kerne verhärtet und mit allen Fasern in das Gesamtleben verflochten, können die Kirchen nicht aus sich selbst heraus reformiert werden. Alle prinzipiellen Reformbestrebungen müssen, wenn sie lediglich von innen heraus umbilden wollen, die dogmatischen und rechtlichen Grundlagen anerkennen und erlahmen an der Notwendigkeit, die alten Grundlagen künstlich in einem neuen Sinne ausdeuten zu müs- sen. Volle, ungebrochene Begeisterung, die nicht jeden Augen- blick sich und andern erst ihr Recht vorzurechnen braucht, ist nur bei Einstimmigkeit mit den geschichtlichen Grundlagen möglich.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 12

lyg Religion und Kirche.

Wirkliche, tiefgehende Reformen sind daher immer Revokitionen und finden nur unter schweren Kämpfen statt, welche gewöhn- lich gar nicht bloß religiöse Kämpfe sind. Das Schiff der reli- giösen Reform bedarf einer allgemeinen Erregung des Meeres, um flott zu werden. Das hat nicht zum mindesten die Refor- mationsgeschichte bewiesen. Sollte es gelingen, das heute man- chen unter uns vorschwebende Ideal amerikanischer Verhältnisse zu verwirklichen, so würde das sicher nicht ohne eine allge- meine Umwälzung möglich sein. Und wenn dann auch solche freieren Kirchenbildungen sich erhöben, so könnten doch auch sie von den allgemeinen F'olgen der Kirchenbildung nicht ganz frei bleiben und erkauften sie die größere religiöse Beweglichkeit mit einer empfindlichen Einbuße an kirchlicher Kraft.

Es besteht also ein eigentümliches Verhältnis notwendiger Ver- knüpfung und innerlichsten Gegensatzes zwischen Religion und Kirche. Die erste Seite des Verhältnisses pflegt gewöhnlich ein- zuleuchten, die zweite wird nur bei tieferem Nachdenken über das Leben der Kirche empfunden und erkannt. Es ist ein Ver- dienst zweier hervorragender Männer, eines Theologen und eines Juristen, sie scharf beleuchtet zu haben. Richard Rothe ging von der Beobachtung aus, daß die gesonderte Organisation der Religion zu einer eigenen Interessengemeinschaft die Religion aus ihrer innigen Verbundenheit mit dem sittlichen Gesamtleben herausreiße und durch eine selbständige, von bloß kirchlichem Interesse beeinflußte Gestaltung zu dem Gesamtleben in Wider- spruch setze, statt daß sie die einheitliche Grundkraft seiner Be- tätigung bilde. So entstehe der schmerzliche und verhängnisvolle Gegensatz von Religion und Sittlichkeit, während doch das Ideal eine vollständige innere Durchdringung beider, eine rein sittliche Organisation oder Vergeistigung des Gesamtlebens kraft der jeden einzelnen im Innern beseelenden Verbundenheit mit Gott sei. Die Kirchenbildung erkläre sich nur aus der unumgänglichen Dif- ferenzierung der einzelnen menschlichen Anlagen im Entwickelungs- prozeß und sei bestimmt in dem Endresultat aufgehoben zu wer- den, wo die vollkommene Einheit des menschlichen Wesens sich auf Grund der inneren religiösen Kraft und Begeisterung in einer alles umfassenden, sittlichen Organisation des Lebens, d. h. in dem die sittliche Vernunft organisierenden vollendeten Kulturstaat betätigen werde. Es ist das zweifellos eine der tiefsten Einsichten, welche der Theologie unseres Jahrhunderts aufgegangen sind. Sie

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hängt auch eng mit den besten Gedanken unserer klassischen Philosophie zusammen; Hegels Staatsideal und Hegels Religions- philosophie stehen im Hintergrunde dieser Konstruktion. Allein es ist doch nur ein Ideal, das zur Beurteilung unserer Zustände und zum Gegengewicht gegen die Wirkungen der Verkirchlichung der Religion dienen kann, aber nicht zum Programm für eine wirkliche Gestaltung des religiösen Lebens. Die Einheitlichkeit und allseitige Reife des vollendeten Geistes, welche eine Kirche erst völlig entbehrlich macht und die Religion nur als die stille innere, alles hervortreibende Grundkraft kennt, ist dem Menschen ein für allemal versagt und schwebt ihm nur als unerreichbares Ideal vor. Solange die Menschen Menschen bleiben, werden sie aus der Religion Kirchen erzeugen müssen, und die Erkenntnis Rothes mag ihnen dabei nur als Mahnung dienen, die Verkirch- lichung auf das unentbehrlichste Minimum zu beschränken, dem freien Geist persönlicher- Frömmigkeit soviel Raum zu lassen, als um der Gemeinschaft willen irgend geht.

Von einer andern Seite aus hat Rudolf Sohm das Problem angegriffen, der uns mit einer glänzend geschriebenen und höchst lehrreichen Geschichte des Kirchenrechtes beschenkt hat. Er richtet seinen Blick von Anfang an wesentlich auf die Lutherische Umbildung und Spiritualisierung des Kirchenbegriffes, dem er die auch von Luther noch behaupteten objektiv-rechtlichen Elemente des rite zu bildenden Amtes und der Sicherstellung von Wort und Sakrament ausbricht. Sohm ersetzt demgemäß das geistliche Amt durch die charismatische Begabung oder durch die supranatu- rale, von der Gemeinde nur anzuerkennende Berufung unmittelbar durch Gott und die weltlich-rechthche Sicherstellung von Wort und Sakrament durch das gläubige Vertrauen zu Gottes sich immer durchsetzender Wundermacht. Geht er hierin über Luther hinaus, so kann er doch gerade von da aus diejenigen Lutheri- schen Gedanken besonders stark betonen, in denen Luther den Gegensatz von Recht und Glaube, Rechtsgemeinschaft und gott- gewirkter Glaubensgemeinschaft so unvergeßlich stark und groß ausgesprochen hat. Von hier aus bringt dann Sohm seine Emp- findung des Gegensatzes rein religiöser Kraft und Ueberzeugung gegen den rechtlichen Zwang des Kircheninstituts auf den eigen- tümlichen Ausdruck, daß das Wesen der Kirche zu dem Wesen des Kirchenrechtes im Widerspruch stehe. Das ist an und für sich ein durchaus zutreffender Gedanke, um so wertvoller, als

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er hier einmal von einem Juristen ausgesprochen wird. Aber er ist doch sehr künstlich durchgeführt und gegenüber den Bedürf- nissen des realen Lebens nicht zu behaupten. Sohm konstruiert sich eine Vorstellung von der christlichen Kirche, bei der diese nicht stehen bleiben kann, und auch im Luthertum aus guten Gründen nicht stehen geblieben ist. Er denkt sich eine auf der beständigen Wirkung erleuchtender und leitender supra- naturaler Kräfte erbaute Gemeinschaft. Aber gerade in dem Be- dürfnis, diese Kräfte zu umschreiben, zu fixieren und zu sichern, lag seinerzeit die Notwendigkeit und der Keim der Kirchenbil- dung, und dieses Bedürfnis wird sich immer wiederholen. Es ist ein unmöglicher Ueberidealismus, der göttlichen Wunderkraft und ihrer Anerkennung im freien Glauben eine Organisation zuzuschie- ben, die man dem immer sehr menschlichen Recht nicht anvertrauen mag. Andererseits faßt Sohm den Begriff des Rechtes in einer Reinheit, wie sie den Kirchen ganz unmöglich ist. Das Recht der Kirchen enthält immer einen Bodensatz rein supranaturaler und rein religiöser Begründung, es kann niemals rein formaler Apparat und niemals reines Zwangsrecht werden. So hat er einerseits den Gegensatz nicht rein und nicht allgemein genug gefaßt. Es ist nicht der Gegensatz zwischen christlicher Kirche und Kirchen- recht, sondern der allgemeine Gegensatz zwischen Religion und Kirche überhaupt. Andererseits hat er wieder den Gegensatz zu ausschließlich und zu willkürlich formuliert, indem er die von ihm selbst beschriebenen, in der primitiven religiösen Gemeinschaft liegenden Antriebe zur Kirchen- und Rechtsbildung völlig über- sieht und das ganz unmögliche, durch und durch zwitterhafte Idealbild einer rein auf unmittelbaren, von Fall zu Fall erfolgen- den göttlichen Wirkungen erbauten Kirche konstruiert.

Es muß dabei bleiben : das Verhältnis von Religion und Kirche ist ein durch und durch antinomisches. Das zwischen ihnen bestehende Verhältnis notwendiger Verknüpfung und inneren Gegensatzes ist eines der großen historischen Gesetze des mensch- lichen Lebens, das ja mehrere derartige Antinomien in sich ent- hält. Ja man kann sagen : das ganze Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ist überhaupt ein durchaus antinomisches und diese Antinomie kommt bei der Religion, dem innerlichsten und zugleich allgemeinsten Erlebnis des Geistes, nur auf einen beson- ders scharfen Ausdruck. Diese Antinomie ist nun aber doch wiederum nicht ganz so schmerzlich und hoffnungslos, als man

Religion und Kirche. jgj

zunächst unter dem Eindruck der großen Spannungen zu denken geneigt sein mag. Sie trägt und das ist ein weiteres Ergeb- nis unserer Uebersicht ihr Heilmittel in sich selbst. Ueberall nämlich, wo der Gegensatz zwischen der wirklich lebendigen Religion und der Kirche ein unerträglicher geworden ist, wo die Gestalt des Kirchentums sich mit dem inzwischen verwan- delten Gesamtleben völlig entzweit hat, da erfolgt auch der Zusammenbruch eines unwahr gewordenen Kirchentums und die Bildung neuer Gesellschaftsformen. Ob wir heute vor einer sol- chen Katastrophe stehen, ist müßig zu vermuten. Klar ist nur, daß der Gegensatz ein überaus scharfer geworden ist. Würde überall konsequent gedacht, so müßten die Einen den Untergang der Kirchen und die Andern den der Welt erwarten. Diejenigen, welche in der Mitte zwischen beiden an einer Reform der Kirche arbeiten, mögen aus der Geschichte lernen, daß mit etwas liberaler Theologie und etwas Gemeindebelebung dieses Ziel nicht erreicht wird. Kirchen werden nur im heißen Feuer eines allgemeinen Bran- des umgeschmolzen. Damit soll kein Tadel über jene durch die Natur der Dinge uns Theologen aufgenötigten Reformbestrebun- gen ausgesprochen sein. Wir können ja nicht anders. Wer die Kluft zwischen unserer Bildung und den Kirchen überbrücken will und wer die wichtigsten kirchlichen Aufgaben mit zu fördern nicht lassen kann, muß ja solche Wege einschlagen. Wenn heute sämtliche kritische Theologen beseitigt würden, so ständen in zwanzig Jahren, wenn ihre Nachfolger sich in die Wissenschaft eingearbeitet haben würden, wieder ebenso viele kritische Theo- logen da. Ich will nur sagen, daß unsere Arbeit nur eine aus- gleichende und mildernde, ein Kompromiß ist, daß wir aus einer gegebenen unglücklichen Lage mit möglichster Schonung des Be- stehenden möglichst viel Gutes zu machen suchen müssen. Aber unsere Arbeit ist wie jeder Kompromiß eine provisorische, eine vergängliche. Wir fristen nur ein widerspruchsvolles Dasein und schaffen nichts Neues, was die Kraft eigener selbständiger Dauer in sich trüge. Wir tun unsere Pflicht, so gut wir sie verstehen, und arbeiten an der Erhaltung heiliger Güter unter mancherlei, oft schwerer Anfechtung, und mit mutigem Ernst, aber wir wis- sen, daß wir das letzte Wort nicht gesprochen haben. Die neue Kirche, die wir bedürfen, wird von uns nicht geschaffen, weil sie von bloßer Theologie und Wissenschaft überhaupt nicht geschaf- fen werden kann.

jg2 Religion und Kirche.

Im Gegensatz zu dieser etwas resignierten Betrachtung darf ich zum Schluß auf ein letztes Ergebnis unserer Uebersicht auf- merksam machen, das freilich nur für diejenigen Bedeutung hat, welche den christlichen Gedanken für ihre Person anerkennen. Aber ihre Zahl ist im Grunde doch sehr viel größer, als die radi- kalen Stimmführer unserer Literatur uns glauben machen wollen. Zeigen doch die letzten Jahre wieder ein lebhaftes Ansteigen des religiösen Interesses, und die wachsende Reaktion wird dafür sor- gen, daß die Sorge um die schwierige kirchliche und religiöse Lage nicht mehr allein den Theologen überlassen bleibe, welche bis jetzt freilich fast vergeblich auf deren Ernst hingewiesen und ihre schwerste Last getragen haben. Die Vergleichung der Reli- gionen und Kirchenbildungen hat uns gezeigt, daß unter allen Religionen nur die christliche von Hause aus und in ihrem We- sen unabhängig ist von jedem Gedanken kirchlicher Organisation. Sie allein kennt ein Reich Gottes, eine Gemeinschaft der Gläubi- gen, d. h. eine rein geistige Gemeinschaft aller derer, welche rei- nen Herzens sind und Gott schauen wollen. Ohne bestimmte Lehre und ohne bestimmte Organisation umfaßt dieses Reich alle, die vom Geiste Jesu so oder so ergriffen sind. Der Ge- danke an diese Gemeinschaft mag uns trösten über alle Nöte des Kirchentums, und soviel Schmerzen uns die Kirchen machen, dieses Reich muß uns doch bleiben. In diesem Gedanken darf die Betrachtung über das vielverschlungene, alle edlen und alle unedlen Kräfte in Bewegung setzende Schauspiel der Kirchen- bildung ihren Ruhepunkt finden, aus ihm darf insbesondere die viel geschmähte und sorgenreiche Arbeit der Theologen die Ge- wißheit schöpfen, daß sie für eine unvergängliche Wahrheit und ein notwendiges Ziel arbeitet. Wir wissenschaftlichen Theologen brauchen nicht zu verzweifeln, wenn wir auch einen Ausweg aus der unsäglich verworrenen, aber doch im Grunde durch die Ge- setze des religiösen und geistigen Lebens bedingten Lage nicht zu entdecken vermögen. Dieselben Gesetze, die innere Notwen- digkeit der Dinge, müssen unweigerlich einen Ausweg eröffnen, auch wenn wir ihn jetzt noch nicht zu erkennen vermögen. Und wenn auf die Theologen vor allem die Schmerzen einer Krisis drücken, welche in Wahrheit eine Krisis des gesamten Volkslebens ist, von diesem aber in ihrer Bedeutung nur zum kleinsten Teile gewürdigt wird, so tragen sie stellvertretende Lei- den, wie sich das für Theologen gebührt.

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Voraussetzungslose W^issenschaft.

(Aus: Die Christliche Welt, 1897.)

Die Universität Straßburg ist seinerzeit als Mittel »geistiger Eroberung« von dem neuen Deutschen Reich gegründet und im Sinne des damals herrschenden Liberalismus mit den glänzend- sten Gelehrten besetzt worden. Inzwischen hat die Zertrümme- rung des Liberalismus dem Zentrum und den Konservativen zur Herrschaft verhelfen. Dementsprechend scheint nun die Absicht der Reichsregierung, Straßburg zu provinzialisieren und lang- sam zu katholisieren. Jedenfalls hat man die Berufung Spahns, des Sohnes des Zentrumsführers Spahn und selbst eines erklärten Zentrumsmannes so empfunden, wobei der wissenschaftliche Wert der Spahnschen Arbeiten selbst außer Betracht bleiben darf. Denn die Berufung ist von der Reichsregierung sicherlich als eine politische und nicht als eine wissenschaftliche gemeint und wirkt auch als solche. Dieser »Fall Spahn« erfüllt, wie es bei einer solchen Sachlage durchaus begreiflich ist, unsere Zeitungen mit eifrigen Betrachtungen über die Voraussetzungslosigkeit und Frei- heit der Wissenschaft, denen die katholischen Blätter die Tat- sache der Unmöglichkeit einer völlig voraussetzungslosen Wissen- schaft und die Forderung der Freiheit und Duldung auch für ehrlich erworbene und begründete katholische Ueberzeugung ent- gegenhalten. Der greise Führer der deutschen Gelehrtenwelt, Mommsen, hat seine Stimme gegen die Eintragung konfessioneller Gesichtspunkte in die Behandlung der Hochschul-Angelegenheiten als gegen einen neuerdings fressenden Krebsschaden unseres geistigen Lebens erhoben; der gelehrte und scharfsinnige Vor- kämpfer der katholischen Gelehrtenwelt, Freiherr v. Hertling, hat dem entgegnet mit der Forderung der Parität und der Duldung und mit dem Satze, daß keine Wissenschaft der Voraussetzungen völlig entbehren kann, daß insbesondere die katholischen Voraus- setzungen gelten müssen, wenn sie dem Forscher als zurecht be-

j 34 Voraussetzungslose Wissenschaft.

Stehend sich erweisen. Die Einwendung Mommsens hierauf gesteht zu, daß allerdings von einer völligen Voraussetzungslosigkeit nicht die Rede sein könne, und daß selbstverständlich ernste katholische Ueberzeugung bei den Vertretern der Wissenschaft als möglich erachtet werden müsse; was nicht zu dulden sei, das sei nur die rohe offizielle Bindung von Forschern nicht-theologischer Fakultäten an Dogmen und Voraussetzungen eines kirchlichen Institutes.

Mommsen nimmt von der Forderung freier Wissenschaft ausdrücklich die theologischen Fakultäten aus; und, wenn schon die hin- und hergehende Debatte uns an Argumente erinnert, die wir oft vernommen haben bei der Frage nach dem wissen- schaftlichen Charakter der theologischen Fakultäten und ihrer Berechtigung im Organismus der Universitäten, so zeigt uns diese Behandlung unserer Fakultäten noch besonders, daß der »Fall Spahn« nicht bloß politische und kulturelle Bedeutung hat, son- dern, daß er an schwierige Probleme unseres geistigen Lebens überhaupt rührt und auch uns Evangelische zur Besinnung über uns und unsere freie theologische Wissenschaft veranlassen kann.

Die allgemeine Tragweite des Falles wird noch besonders ver- anschaulicht durch die Stellung der sozialistischen Blätter zu ihm. Sie bezeichnen ihrerseits wieder die liberalen Forderungen und Ver- sicherungen voraussetzungsloser Wissenschaft als Unwahrhaftigkeit oder Selbsttäuschung, und finden, daß die offizielle Wissenschaft der heutigen Universitäten nicht so sehr weit entfernt sei von der katho- lischen, insofern auch sie auf bestimmten Voraussetzungen beruhe, den Voraussetzungen des modernen Klassenstaates und der in ihm üblichen Abschätzung der Kulturwerte. Auch er sei, wo es um diese Voraussetzungen sich handle, intolerant und schließe die wahrhaft freie, voraussetzungslose Wissenschaft, die sozialistische, von seinen Kathedern aus. So haben wir drei oder vier Gruppen von W^issenschaft, deren jede der anderen Voraussetzungsgebun- denheit vorwirft. Wo bleibt da die Voraussetzungslosigkeit selbst ?

1 . Betrachten wir den Straßburger Fall und den mit ihm ver- bundenen Streit unbefangen, so ist ganz deutlich, daß er ein politisch-kultureller ist. Es ist ein Fall des uralten, irrationalen Konfliktes von Staat und Kirche, genauer von modernem Staat und katholischer Kirche. Die Berufung Spahns ist eine Konzes- sion an die Ansprüche der katholischen Kirche, sei es nun, daß diese Konzession erfolgt ist, weil mit dem Zentrum ein Handel um bestimmte politische Objekte getrieben wurde, sei es, daß

Voraussetzungslose Wissenschaft. l3c

die Reichsregierung den katholischen Untertanen eine solche Rück- sicht aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit schuldig zu sein glaubte, oder daß sie das Erste mit dem Zweiten vor sich rechtfertigte. Eine solche Konzession ist nun aber in Wahr- heit eine Konzession an ein Prinzip, das dem modernen deut- schen Staat und seiner freien Gesittung feindselig ist. Denn die katholische Kirche ist nicht bloß eine religiöse Gemein- schaft, sondern als solche zugleich ein Kulturprinzip, das dem kirchlichen Gnadeninstitut als dem höchsten Zweck alle andern menschlichen Zwecke unterordnet und einordnet. Dem gegen- über ist der moderne Staat und die moderne Kultur ein Prinzip der selbständigen Entwicklung der einzelnen Kulturzwecke als autonomer , nach ihrem eigenen Wesen und Gesetze zu ge- staltender Selbstzwecke, die mit der Religion sich nach bestem Wissen vertragen mögen, aber nicht kirchlichen Gesichtspunkten untergeordet werden dürfen. Der selbständigen Entfaltung dieser Kulturzwecke dienen vor allem die Universitäten, von denen aus den einzelnen Kulturgebieten die ihnen nötigen Ideen in immer neuer, selbständiger Durcharbeitung zufließen sollen, um die geistig leitende Schicht zu erziehen.

Unter solchen Umständen ist eine solche Berufung ein Attentat auf das Prinzip des modernen Staates und seiner Kultur. Eben damit ist auch klar, wie wir uns zu einem solchen Konflikt zu stellen haben. Bei aller Sympathie für fromme Katholiken und bei aller Würdigung gelehrter katholischer Arbeit müssen wir uns auf die Seite des Staates und der modernen Kultur stellen. Wir halten die katholischen Voraussetzungen für falsch und die des modernen Staats für richtig. Wir würden an dem Aste, worauf wir sitzen, sägen helfen, wenn wir derartiges unterstützen oder für gleich- gültig erklären wollten.

2. So lautet das Urteil im Namen unserer Staatsidee und unserer Kultur, die wir eben dabei als ein höheres Ideal dem katholischen gegenüber betrachten. Ganz anders und viel schwie- riger aber ist die Frage, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Anforderungen der Wissenschaft rein als solcher steht, wenn sie lediglich aus formalen Gründen wissenschaftlicher Methode und wissenschaftlichen Geistes entschieden werden soll. Mommsen drückt sich nicht umsonst hier mit so ungewohnter Vorsicht aus.

Wenn jedermann zugibt, daß die Wissenschaft völlig frei und doch wieder überall an Voraussetzungen irgendwie gebunden

j 36 Voraussetzungslose Wissenschaft.

sein müsse, dann ist die Frage nicht so einfach zu entscheiden. Dann kommt es offenbar darauf an, darüber klar zu sein, in welchem Sinne die unentbehrliche Voraussetzungslosigkeit und in welchem die ebenso unumgängliche Voraussetzungsgebunden- heit zu verstehen ist. Beides kann nun offenbar nur so zusammen gedacht werden, daß es sich um eine voraussetzungslose freie Gewinnung der letzten, unser Denken auf den verschiedenen Ge- bieten jeweils regelnden Voraussetzungen handelt, und daß die so gewonnene Voraussetzung jeden Augenblick durch die weiteren Ergebnisse revidierbar bleibt. Oder anders ausgedrückt; die un- mittelbaren naiven Voraussetzungen unserer anerzogenen Mei- nungen und Urteile, des Augenscheins und der vererbten Wert- schätzungen müssen stets hypothetisch in Frage gestellt werden und so lange mit anderem verglichen und kombiniert werden, bis sie mit diesem zusammenpassen auf Grund eines bei diesen Opera- tionen gewonnenen letzten allgemeinen Begriffes, der dann an Stelle jener naiven Voraussetzungen als wissenschaftliche Voraus- setzung oder als Axiom tritt. So bricht das Denken überall mit den naiven Voraussetzungen und führt zu wissenschaftlich ge- wonnenen letzten Sätzen, die nicht weiter begründet werden, sondern als Axiom gelten, bis sie, als zur Erklärung und Auf- fassung nicht völlig ausreichend, auf Grund neuer Beobachtungen und Einsichten revidiert werden und neuen tiefer begründeten Axiomen Platz machen. Mögen diese Axiome der Mathematik, der Mechanik, der Ethik, der Aesthetik oder der Religionswissen- schaft angehören , immer bleiben sie die letzte entscheidende Instanz, die insbesondere auf dem Gebiete der Geisteswissen- schaften eine persönlich und subjektiv stark bedingte ist. Das Denken entsteht überall erst am Widerspruch und am Erstaunen. Dann verlangt es den Bruch mit der unmittelbar vorgefundenen Wirklichkeit, aber es führt dabei nur zu besser und umfassender begründeten Voraussetzungen, als die unkontrollierten und iso- lierten Voraussetzungen des natürlichen Bewußtseins waren. Und das braucht nicht einmal jeder von neuem zu tun. Es ist in der Hauptsache das Werk der Bahnbrecher. Vom Durchschnitt der Jünger wird nur verlangt, daß sie dieses Verfahren fortsetzen und die von andern festgestellten Voraussetzungen dabei stets von neuem prüfen und revidieren. So liegen den Naturwissen- schaften Axiome über das Wesen der Körper und der Bewegung, der Jurisprudenz solche über den Wert von Staat und Recht,

Voraussetzungslose Wissenschaft. ißv

der Philologie über den Wert des Altertums, der Ethik über die Zwecke des Willens, der Religionswissenschaft über das Wesen der Religion usw. zugrunde. Wer diese Voraussetzungen wieder bestreitet, kann es nur von noch höher gelegenen Axiomen aus tun, und, wer immer weiter bestreitet, endet bei völliger Skepsis und Anarchie, für deren Notwendigkeit aber selber wieder nur letzte axiomatische Annahmen den Beweis liefern können.

Die Wissenschaft ist Wissenschaft von der Wirklichkeit und kann nur von einer einseitig, vorschnell und unklar aufgefaßten Wirklichkeit an eine umsichtiger und begrifflich aufgefaßte, an eine bis auf die letzten Axiome analysierte Wirklichkeit appel- lieren. Zwischen den Axiomen ist der Streit unmittelbar nicht mehr zu entscheiden, am wenigsten bei den der Beurteilung der geistigen Werte angehörenden Axiomen, wo immer rein prak- tische Entscheidungen mitsprechen.

3. Alles das aber ^vürde der katholische Gelehrte sich an- eignen können. Auch er wird sagen, daß er nicht aus blinder Unterwerfung unter kirchliche Dogmen so denke, sondern aus einer vorurteilslosen Gewinnung der letzten Voraussetzung für die Auffassung und Schätzung alles Wirklichen, aus einer ehrlichen Einsicht in die Notwendigkeit und Wirklichkeit der Erlösung und Offenbarung, wie sie in der Kirche vorliegt. Im Gehorsam gegen die Kirche unterwerfe er sich nur der vollkommen frei und voraus- setzungslos gefundenen letzten Voraussetzung alles Denkens, auf die jeder Mensch von Rechts wegen geführt werden müßte. Diese Voraussetzung sei die Erforderlichkeit und Tatsächlichkeit einer supranaturalen Autorität, die ihrerseits wieder keinen Sinn hätte, wäre sie nicht institutionell gesichert und organisations- kräftig. Der Verzicht auf die Freiheit sei das Ergebnis des Frei- heitsgebrauches, die Voraussetzung der unbedingten Geltung des kirchlichen Dogmas das Ergebnis einer voraussetzungslosen Unter- suchung über die Werte der Wirklichkeit. So empfindet die katholische Wissenschaft und nicht selten auch Protestanten, und in dieser Empfindung sind sie sich ihrer wissenschaftlichen Frei- heit und Intaktheit mit aufrichtigem Gewissen bewußt. Und wirft man ihnen diese strenge Gebundenheit an ihre so gewonnene Voraussetzung vor, so berufen sie sich auf die vielen analogen, oft nicht minder tyrannischen Voraussetzungen, unter denen andere Wissenschaften stehen, und die manchesmal schwerer zu recht- fertigen seien, jedenfalls oft blinder hingenommen w^ürden, als

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die ihrigen von ihnen. Und wie bequem werden sie hierin von den radikalen Parteien unterstützt, die gleichfalls die Vorausset- zungen des modernen Staates bestreiten und seine wissenschaft- lichen Anstalten als an diese Voraussetzungen gebunden bezeich- nen ! Die katholische Voraussetzungslosigkeit geht so Arm in Arm mit der ganz andersartigen der Radikalen.

Was sollen wir dazu sagen } Mit der bloßen Begeisterung für freie und voraussetzungslose Wissenschaft kommen wir dem gegenüber nicht aus. Es liegt sehr viel Unanfechtbares in jenem Raisonnement. Vom reinen Standpunkt der formalen Bedingungen und Eigenschaften der Wissenschaft aus können wir lediglich sagen, daß allerdings die unbedingte Voraussetzungslosigkeit ein unmög- licher regressus in infinitum wäre, daß es aber Sophistik sei, mit einem derartigen Gedankengang die Bindung an immer un- revidierbare, nicht durch eigene sachliche Notwendigkeit, sondern durch kirchliche Autorität geltende Axiome zu begründen. Die allerdings unumgänglichen Voraussetzungen und Axiome der wahren wissenschaftlichen Denkweise müssen revidierbar bleiben und können immer nur durch ihre erklärende und deutende Wir- kung, aber nicht durch einen kirchlichen Machtwillen in Geltung erhalten werden. Vor allem können wir darauf hinweisen, daß eine von katholischen Axiomen aus unternommene Philosophie und Historie mit so viel Einsichten und Ergebnissen zusammen- stößt, die von anderen Axiomen aus viel einleuchtender und zwingender gewonnen sind, daß die hartnäckige Ablehnung dieser Einsichten nur einer allem wissenschaftlichen Geiste streng ent- gegengesetzten Verfestigung und Unrevidierbarkeit der Axiome auf ihrer Seite zugeschrieben werden kann.

Mehr kann man nicht sagen, und für viele mag das mit vollem Recht genügen, um die Unzulässigkeit konfessionell gebun- dener Wissenschaft vom Geiste der Wissenschaft aus darzutun. Imn>erhin aber ist es ein etwas feiner und nicht mit vollem Pathos zu verkündender Gegensatz. Man muß dann schon auch sagen, welche Voraussetzungen nun unsererseits als die richtigen wenigstens fürs Ganze und Große gelten sollen. Zudem werden die Vertreter konfessioneller Wissenschaft immerdar uns entgegenhalten, daß bei solcher Gegnerschaft eben die innere, religiöse und sittliche Macht, der zwingende Geistesgehalt der konfessionellen Axiome nicht genügend gefühlt und begriffen sei, daß einem mit Phantasie und Gefühl, mit allen heiligen Erinnerungen und Hoffnungen in diesen

Voraussetzungslose Wissenschaft. I8q

Axiomen wurzelnden Gemüte die Dinge eben anders erscheinen als dem Profanen, der obendrein an Stelle religiöser Axiome nur allzugerne irreligiöse setzt und mit diesen tyrannisch genug das Denken vergewaltigt. Das ist in der Tat die Argumentation, die solchen Angriffen der angeblich Voraussetzungslosen entgegenge- halten wird und die Anhänger konfessioneller Wissenschaft in einem wenigstens bei uns sich verstärkenden Banne hält, die aber auch von besonnenen und umsichtigen Denkern gar nicht so einfach über den Haufen geworfen werden kann.

4. Das aber zeigt uns, wo die Hauptsache und der Kern des Gegensatzes liegt. Er liegt nicht ausschließlich und liegt nicht in letzter Linie in der äußeren Freiheit oder Unfreiheit der Methoden und Ergebnisse, sondern in den beiderseitig leitenden Axiomen. In der ersteren Hinsicht wird der Unterschied immer nur ein gra- dueller bleiben; hier, bei den Axiomen, ist er ein prinzipieller. Der katholische, religiöse und sittliche Gedanke selbst mit seiner moralischen Unfreiheit, mit seiner prinzipiellen Unmündigkeit und seiner Bindung des religiösen Lebens an dingliche, wunderhafte Voraussetzungen göttlicher Kircheninstitute, sakramentaler Wun- der und inspirierter Schriften, das ist der Kern der klerikalen Position, und gegen diese Axiome muß der Kampf eröffnet wer- den durch die Geltendmachung reinerer und innerlicherer religiöser und sittlicher Axiome. Die sophistische Theorie von der freien Selbstbindung an als notwendig und wahr erkannte Kirchendogmen und der bei dieser Bindung eintretende massenhafte und hart- näckige Konflikt mit einleuchtend sicheren Erkenntnissen kann nur als Symptom dafür dienen, daß es dort mit den Axiomen selbst nicht in Ordnung ist. Von diesen Symptomen allein aus aber läßt sich das Uebel nicht kurieren. Es muß zum Sitz der Krankheit vor- gedrungen werden, und der liegt in dem grundlegenden religiös- ethischen Gedanken selbst. Wirkungsvoll bekämpft werden kön- nen daher diese Axiome nur durch reinere, bessere, allseitiger be- gründete, religiös wahrere Axiome. Daß aber die dem entgegen- gestellten anderen Axiome nun ihrerseits richtig sind, das beweist keine Wissenschaft, sondern ist Sache einer unmittelbaren und intuitiven Evidenz. Wenn der Liberalismus mit der freien For- schung gegen den Klerikalismus triumphiert hat, so geschah es nicht bloß durch die einleuchtende Vortrefflichkeit der formalen Wissenschaftsprinzipien, sondern durch die einleuchtende Treff- lichkeit der vom liberalen Denken herausgearbeiteten und ihm

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Vorausseizungslose Wissenschaft.

weiterhin zugrunde liegenden Axiome, Seit das freie Denken von diesen Axiomen vielfach sich befreit hat und zu viel radi- kaleren fortgeschritten ist, seit der Glanz der liberalen Axiome in den Herzen unseres Volkes verblichen ist, seitdem sind auch die Triumphe und das Siegesgefühl des Liberalismus viel geringer geworden. Mit der bloßen formalen Forderung freien Forschens und mit behutsamer Umgehung der inhaltlichen, axiomatischen, religiö- sen Grunddifferenz wird er nicht weit kommen. Der Kampf wird im Mittelpunkt ausgefochten werden müssen, und hier wird sich zeigen, daß falsche religiöse Axiome nicht durch prinziplose, religiöse Indifferenz, sondern nur durch reinere, kräftigere religiöse Axiome besiegt werden können. Aus der Hand der Kulturkämpfer wird der Kampf in die Hand der Verfechter bestimmter religiöser oder philosophischer Positionen übergehen. Es ist noch nicht so weit, aber es wird so kommen, wenn erst einmal das religiöse und das philosophische Denken sich wieder zu lebendiger Produktion und Zuversicht aufrafft. Um das zu hindern, besetzt man ja auch heute gerne die philosophischen Professuren mit jener trefflichen Kombination von Thomisten und Experimentalpsychologen, in der sich Voraussetzungslose und Voraussetzungsvolle so gerne einigen. Aber damit ist der Streit nur verdeckt und schleichend gemacht. Der Kampf um die richtigen Voraussetzungen steht uns noch bevor, und er muß gekämpft werden.

5. Ist denn nun aber eine protestantische Weltanschauung nicht im gleichen Konflikt mit der freien Wissenschaft t Und be- finden sich die zu ihrer Ausgestaltung und Begründung berufenen evangelisch-theologischen P'akultäten insbesondere nicht in gleicher Lage wie die klerikale Wissenschaft r Und ist das apologetische Raisonnement protestantischer Fakultäten dem der katholischen Wissenschaft nicht oft so ähnlich wie ein kleines Ei einem großen ?

Das letztere ist zweifellos oft genug der Fall. Dann aber ist eben eine derartige Sophistik und ihre Folge, die dogmatisch gebundene Unfreiheit gegenüber einleuchtenden und zwingenden Erkenntnissen, auch hier ein Symptom dafür, daß es nicht bei der Freiheit und Voraussetzungslosigkeit in der Gewinnung des Axioms, sondern in dem sittlich-religiösen Kerne des Axioms selber nicht in Ordnvmg ist. Um dieses geht der wahre Kampf, und auch ihm kann nicht ausgewichen werden. Darauf kommt es an, daß das protestantisch-konfessionelle Axiom selbst revidiert und freier gefaßt werden muß, daß seine Gewinnung auf eine

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breitere, allgemeinere Grundlegung zurückgehen und von der unmittelbaren kirchlichen Wirklichkeit sich weit unabhängiger machen muß, daß seine F'assung der historischen Detailforschung und der Auseinandersetzung mit sicheren Ergebnissen der Wis- senschaft freien Raum lassen und beständig aus dieser Arbeit heraus wieder von neuem revidierbar sein muß. Freilich ist dabei die Möglichkeit vorhanden , daß einer schließlich das Christentum als Axiom selber beseitigt ; das macht ja eben den Unterschied der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in unseren Fragen gegenüber der zweiten aus, daß in dieser die Selbst- verständlichkeit der christlichen Idee selbst in ihrem allgemein- sten Sinne eine sehr viel geringere geworden ist. Hier haben Schopenhauer und Nietzsche , der Sozialismus und die ver- gleichende Religionsgeschichte inzwischen eine neue Atmosphäre geschaffen. Kant und Schleiermacher, Goethe und Hegel lebten noch unter dem Einfluß .einer axiomatischen Geltung, die heute so nicht mehr vorhanden ist. Die sogenannte liberale Theologie des Jahrhunderts setzte jene Geltung voraus und bewies nur auf wissenschaftlichem Wege, was dem allgemeinen Gefühl auf axio- matischem Wege schon klar war. Darauf beruhte ihr Eindruck und ihre Wirkung. Mit der Erschütterung jener Axiome erst sieht sie uns heute als etwas Fremdartiges und Gezwungenes an. Da- mit ist denn nun freilich für die protestantische Theologie, sofern sie nicht zum reinen Subjektivismus eines seine Alleinwahrheit selbst beglaubigenden inneren Erlebnisses greifen oder der katho- lischen Konstruktionsweise der richtigen autoritativen Voraus- setzung folgen will, eine neue Lage eingetreten, die von der Auf- klärung längst vorbereitet, aber auch dort mit einer unkritischen Selbstverständlichkeit gewisser christlicher Axiome weithin ver- bunden war. Sie muß sich entschließen, auf die allgemeinste der erreichbaren Voraussetzungen zurückzugehen. Die Aufklärung hat das getan, indem sie auf eine Metaphysik als letzte Instanz zurückging, in welcher der moderne Naturbegriff mit ethischen und religiösen Forderungen des praktischen Menschen spekulativ ausgeglichen war und als Maßstab für die Bildung des religiösen Gottesgedankens dienen konnte. Diese Metaphysik war hier die aus der freien Arbeit des »natürlichen Systems« sich ergebende letzte, wohlbegründete axiomatische Spitze. Sie ist inzwischen gestürzt durch die kritische Philosophie, die die letzten Voraus- setzungen statt in der Metaphysik in der Organisation des Be-

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wußtseins aufzuweisen unternimmt. Damit sind uns die heutigen Voraussetzungen gegeben. Dann aber ist für unseren Fall die letzte erreichbare Voraussetzung die Kritik des religiösen Bewußt- seins und damit die Tatsache des religiösen Lebens selbst in ihrer ganzen reichen historischen Verzweigung. Hier gilt es den festen Halt durch eine allgemeine Theorie der Religion und ihrer ge- schichtlichen Entwicklung zu finden. Diese Theorie selbst aber wird in einer transzendentalen Bewußtseinstheorie ihrerseits wur- zeln müssen, und von diesem letzten Halt aller wissenschaftlichen Orientierung, dieser letzten und richtigen Voraussetzung aus, beide Fragen beantworten müssen : die Frage nach dem Recht der Reli- gion überhaupt und nach dem Wertunterschied ihrer geschicht- lichen Bildungen. Damit ist die Theologie an die Religions- philosophie gewiesen. Von ihr aus wird sie erst Wesen und Geltung des Christentums so konstruieren können, daß damit dem modernen Geiste der Voraussetzungslosigkeit genügt ist. Die letzten Voraussetzungen liegen in der Philosophie des Tran- szendentalismus, und wenn die die einzelnen Lebenskreise oder die großen Wertbildungen regelnden Axiome nur durch eine praktische Entscheidung zustande kommen können, so ist auch diese Eigentümlichkeit von der transzendentalen Philosophie her zu begründen und zu begrenzen. Das ist schließlich der eigent- liche Sinn und die Schwierigkeit des ganzen Streites um die Voraussetzungslosigkeit, daß ein Zeitalter der axiomatischen Gel- tung kirchlicher Autoritäten hinter uns liegt, und daß das neue seine Voraussetzungen nur aus der Philosophie begründen kann, die aber selbst mitbedingt ist durch die im Leben praktisch sich bildenden axiomatischen Gehalte. Die letzte Entscheidung steht daher immer bei einer in all diesen Ueberlegungen sich heraus- bildenden unmittelbaren persönlichen Ueberzeugung ; aber von dieser muß verlangt werden, daß sie mit den übrigen Tatsachen und Erkenntnissen sich zusammenfüge und jedenfalls diese nicht vergewaltige. Weiter ist nicht vorzudringen, und darin besteht die Unmöglichkeit, praktische Lebensanschauungen restlos wissen- schaftlich zu begründen. Es bleibt ein Rest des Unmittelbaren, der nur nicht unkritisch den Ausgangspunkt bilden darf, sondern kritisch als das letzte Ergebnis sich behaupten muß. Er ist das letzte erreichbare Allgemeine und das aus ihm sich ergebende Axiom. Ueber diesen Rest kann nur mehr mit Leidenschaft und Pathos ge- stritten werden, aber hier hört der wissenschaftliche Beweis auf.

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Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologi- schen Wissenschaft.

(Aus: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie LI, 1908.)

Vor fünfzig Jahren hat der verdiente Begründer der »Zeit- schrift für wissenschaftliche Theologie«, Adolf Hilgenfeld, sie mit ei- nem Aufsatz eingeleitet, in dem er einen Rückblick auf die damals letzten zehn Jahre kirchlicher Entwicklungen warf und ihr Ver- hältnis zur Aufgabe der Theologie charakterisierte. Damals han- delte es sich erstens um die mit dem Reichsverfassungsentwurf von 1848 geplante Trennung von Kirche und Staat, d. h. das kirchliche Programm und die Religionspolitik der revolutionären Bewegung. Es handelte sich zweitens um die politische und kirchliche Reaktion, d. h. die Aufrichtung einer selbständigen Kirchenverfassung, die, indem sie das Kirchenregiment in Preußen dem König nicht als konstitutionellem Staatsoberhaupt, sondern als persona praecipua der Kirche übertrug und durch die neue selbständige Behörde des Oberkirchenrats ausüben ließ, beides vereinigte: die Selbständig- keit der Kirche gegenüber einem konfessionell neutralen Staate und die Aufrechterhaltung der Orthodoxie durch die Machtmittel des Königs. Hilgenfeld zeigte, ähnlich wie gleichzeitig Eduard Zeller, die schweren Gefahren des ersten Programms, die eine Erstickung der freien Fortentwicklung des Christentums durch den Sektengeist autonomer Kirchen, die Aufhebung der theo- logischen Fakultäten und damit der Wechselwirkung und Aus- gleichung zwischen Theologie und allgemeiner Wissenschaft zur Folge haben müßte. Er zeigte gegenüber dem zweiten Ereignis die Gefahren und Erfolge der kirchlichen Reaktion, die vor allem in der Beseitigung des durch die Union erreichten Rechtsbodens einer konfessionell ungebundenen Theologie und Lehre bestanden und dem harten dogmatischen Neuluthertum in Preußen und anderwärts die Wege zur Herrschaft öffneten. Er wies schließ- lich — zum Trost in jenen schweren Zeiten auf die Zeichen

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IQ4 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

hin, die ein Nachlassen der Reaktionsflut bedeuteten, vor allem auf das bekannte Programm des Prinzregenten, späteren Kaisers Wil- helms I., mit dem er normale Zeiten wieder anbrechen und wieder Hoffnung für eine rein wissenschaftliche Theologie und moderne Fortschritte der religiösen Lehre aufgehen sah. Von dieser letz- teren aus allein glaubte er die Zukunft des Protestantismus ge- sichert, und für sie hat er mit bewunderungswürdiger Ausdauer und Tapferkeit in seiner Zeitschrift schwere Jahre hindurch ge- stritten.

I. Werfen wir bei einem erneuten Ausgang dieser Zeitschrift unsererseits einen Blick auf die seit jenem Aufsatz verflossene Zeit und die darin erfolgte Weiterbildung der Theologie zurück, so ist im Gegensatz gegen jene Schilderung die erste Eigentüm- lichkeit der Lage das Zurücktreten der kirchlichen Gesichtspunkte im ganzen öffentlichen Leben, vor allem in den Interessen und dem Gesichtskreise des gebildeten Deutschlands und in der ge- samten wissenschaftlichen Arbeit. Die Kirchen sind freilich nicht verschwunden , üben auch noch ganz erheblichen politischen Einfluß ; sie sind abgesehen von der Periode des Liberalismus der siebziger Jahre, die auch auf die Kirche und die Bewegung der Theologie vorübergehend mit einer freieren und moderneren Luft wirkte auch nicht weniger konservativ geworden. Die römische Kirche hat im Kulturkampf gesiegt und eine herrschende Stellung in Deutschland errungen, die protestantische Orthodoxie hat sich liturgisch in uniformierten Agenden und verfassungs- mäßig durch die Behandlung der Synodalwahlen befestigt und drückt in steigendem Maße auf die Schulgesetzgebung und die Schulverwaltung. Aber trotz alledem sind sie kein eigentliches Kampfobjekt. Die allgemeine wissenschaftliche und literarische Arbeit geht an ihnen vorüber und stellt sich ihre Probleme und Aufgaben völlig selbständig. Ja auch die nach den Zeiten un- philosophischer Gedankendürre, nach dem reinen positiven Tat- sachenkultus und der rein spezialistischen Verzettelung historischer Interessen wieder einsetzende religiöse Bewegung verläuft ohne jede besondere Rücksicht auf sie ; nur hin und wieder hört man kulturkämpferische Töne oder das alte Voltairesche Ecrasez l'in- fäme in neuer Häckelscher oder verwandter Uebersetzung. Die Gründe für diese Ignorierung des Kirchlichen mögen sehr ver- schiedenartige und nicht immer die besten und weitsichtigsten sein. Aber an der Tatsache ist nicht zu zweifeln, sie liegt vor

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

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Augen und äußert sich in einer geradezu erstaunlichen Gleich- gültigkeit und Unwissenheit des Publikums über alle kirchlichen Dinge. Was auch Schul-, Konfirmations- und Religionsunter- richt der höheren Schulen arbeiten mögen, die Unwissenheit ist eine gewollte und gründliche, und mit immer erneutem naiven Erstaunen nimmt die gebildete und liberale Welt wahr, daß die so ignorierten und totgesagten kirchlichen Mächte in Wahr- heit unsere innere Politik an allen Ecken und Enden bestim- men. Kirche und Religion ist Privatsache geworden, nicht bloß in der Sozialdemokratie ; sie werden toleriert mit jener Tole- ranz der Gleichgültigkeit und Nachsicht, mit der man unausrott- bare Eigentümlichkeiten der Menschen bestehen läßt statt gegen sie einen ergebnislosen Windmühlenkampf zu führen. Für alle Wissenschaft und Bildung aber gilt der Satz von der Vorausset- zungslosigkeit als etwas völlig Selbstverständliches ; und, wenn man die in diesem Satze liegenden außerordentlich schwierigen und verwickelten Probleme erkennt, dann bleibt doch jedenfalls die eine Selbstverständlichkeit, daß es nicht kirchliche Voraus- setzungen sein können, die unserer Kultur und Wissenschaft zu- grunde liegen, sondern daß die Voraussetzungen selbst immer erst kritisch geprüft und autonom errungen werden müssen. Ein Jahrhundert konfessioneller Mischung der Bevölkerungen, der Ueberdruß an dem immer wieder aufwachenden konfessionellen Kleinkrieg, das unvergessene Grauen vor der Verbindung kirch- licher und politischer Reaktion, die vor aller Augen liegende geistige Verknöcherung des Katholizismus und die apologetischen Advokatenkünste des größten Teiles der protestantischen Theolo- gen: all das hat im Zusammenhang mit einer ungeheuren Entfal- tung der selbständigen wissenschaftlichen Arbeit und einer um die Kirche sich gar nichts kümmernden Entfaltung der sozialen Pro- bleme zu diesem Resultat geführt, das um es zu wiederholen in einem eigentümlichen Kontrast zu dem starken politischen Einfluß kirchlicher Gesichtspunkte und Kräfte in Deutschland steht. Diese geistige Lage aber hat auf die wissenschaft- liche Theologie des ganzen Zeitraums in höchstem Maße eingewirkt. Auch die Theologe ist viel gleichgültiger gegen kirch- liche Probleme geworden. Die besondere Stellung der theologi- schen Fakultäten als Staatsanstalten und als Glieder großer wissenschaftlicher Körperschaften hat ihr eine verhältnismäßige Selbständigkeit gegen kirchliche Einflüsse verliehen, die teils vom

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Staate als dem Interessenten an einer gewissen Ausgleichung der Geister, teils von dem unwiderstehlichen Einfluß der wissenschaft- lichen Umgebung, teils von dem wissenschaftlichen Wahrheits- drange der Theologen selbst ausging und immer von neuem aus- geht. Sie betrachten den Protestantismus als das Prinzip der freien Forschung in religiösen Dingen, oder, wo man den Prote- stantismus historisch nicht in diesem Sinne zu deuten wagt, da geht man auch über den Protestantismus selbst hinaus und be- trachtet die wissenschaftliche Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit als eine religiöse Forderung und folglich auch als eine Forderung des Christentums, soweit es wahrhaft Religion ist. Damit aber hat die theologische Wissenschaft ein neues Gepräge bekommen. Sie ist in Wahrheit konfessionslos, protestantisch nur insofern, als sie die Freiheit der Wissenschaft als protestantische Forderung betrachtet und alle Befreiungen vom historischen Protestantismus keine Annäherungen an den Katholizismus sind. Sie hat die all- gemeinen wissenschaftlichen Methoden der Schwesterfakultäten akzeptiert und arbeitet mit ihnen ohne andere Voraussetzung als die Voraussetzung einer tiefen inneren Bedeutung und Selb- ständigkeit des religiösen Lebens und innerhalb dieses des Chri- stentums insbesondere. Die apologetische Tendenz ist weithin zurückgetreten. Man kann alttestamentliche, neutestamentliche, kirchen- und dogmengeschichtliche Untersuchungen lesen, die nichts wollen als darstellen, wie es gewesen ist oder gewesen sein mag, die jeder apologetischen und dogmatischen Beziehung auf Gegenwartsstellungen ganz entbehren. Die Veränderung, die damit eingetreten ist, empfindet man überall, sobald man auf die ältere Literatur zurückgeht. Ist diese auch in radikalen und liberalen Leistungen immer stark theologisch, apologetisch und polemisch an Bewertungen interessiert, so charakterisiert die heu- tige wissenschaftliche Theologie eine starke Unbekümmertheit um die praktische und dogmatische Tragweite der Resultate, die Abwesenheit besonderer theologischer Voraussetzungen und Me- thoden, der Mangel jedes parteipolitischen Geistes. Man kann die Veränderung auch so ausdrücken : die Theologie ist nicht mehr liberal, sondern wissenschaftlich. Sie kämpft nicht für ein normatives, gegen orthodoxe oder konfessionelle Verderbung her- zustellendes, angeblich reines Verständnis des Christentums, sucht nicht die konservative Christlichkeit als im Unrecht befindlich und die neue wissenschaftliche als mit dem echten Geiste des

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Christentums und den Forderungen der Wissenschaft überein- stimmend zu erweisen. Sie hat nichts zu tun mit kirchlichen Parteien und kirchlichen Reformen, sondern will nur Luft und Freiheit für ihre Arbeit, Existenzmöglichkeit für die Geistlichen, die von ihr lernen, und ein literarisches Durchdringen ihrer Er- gebnisse in der gebildeten Welt. Üb das in jeder Hinsicht ein Fortschritt ist, ist eine andere Frage. Aber es ist Tatsache und zum größten Teil ungewollte und unbewußte Tatsache, die ihren Grund in der allgemeinen wissenschaftlichen Atmosphäre hat, von der die Theologen nicht ausgesperrt werden können und die vor den Theologen nicht haltmacht. Sie ist bis tief in ganz konser- vative Arbeiten hineingedrungen und hat in der wissenschaft- lichen Theologie den Kampf der Meinungen und Richtungen wesentlich anständiger und ruhiger gemacht, eine Uebereinstim- mung üher Methoden und Grundsätze, teilweise auch über die Resultate erzielt, die vor fünfzig Jahren unmöglich schien. Je weiter die Gegenstände von den eigentlichen Hauptdogmen ent- fernt sind, um so mehr hat dieser Geist in allen Lagern gesiegt. Das Alte Testament ist ihm fast ganz preisgegeben und in der Kirchen- und Dogmengeschichte alles bis auf die Geschichte des Urchristentums und der Reformationszeit.

2. Indem freilich nach der einen Seite derart die kirchliche, sei es liberal-reformerische, sei es orthodox-konservative Orien- tierung stark zurückgetreten ist, hat sich auf einer anderen Seite die praktisch-kirchliche Bezogenheit der Theologie wieder um so stärker geltend gemacht. Je mehr man fühlte, wie gleichgültig wenigstens unmittelbar die eigentlich wissenschaftliche Forschung gegen kirchliche Zwecke ist, um so mehr mußte in den hierzu geeigneten Disziplinen doch wieder dem Umstand prinzipiell Rechnung getragen werden, daß die Theologie zugleich eine praktische und das heißt kirchlich orientierte Wissenschaft ist. Sie hat nicht bloß die Erziehungsaufgabe an den jungen Theo- logen, sondern ihre ganze große und breite Existenz begründet sich doch nur darauf, daß die von ihr erforschten Erscheinungen ein wesentlicher Bestandteil unsers praktischen Lebens sind. Ge- rade der unvermeidliche Radikalismus einer wissenschaftlichen Arbeit verschärfte die Empfindung für die besonderen und andersartigen Bedingungen einer praktisch-religiösen Arbeit. Dar- aus hat sich nun freilich großenteils überhaupt eine völlige Entzweiung von Wissenschaft und Praxis ergeben, eine große

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Gleichgültigkeit der ersteren gegen die letztere, wobei der prak- tischen Theologie überlassen bleibt, mit der Wissenschaft so gut oder schlecht fertig zu werden als sie kann, oder eine völlige Verachtung der Wissenschaft bei den Praktikern, die sich durch sie nur gehemmt fühlen und rein mit Bibel, Bekenntnis und in- nerer Missionsarbeit auskommen. Jeder, der die wirklichen Ver- hältnisse kennt, weiß, wie erschreckend groß diese Kluft ist, trotz der vielen in treuester Arbeit wissenschaftlich fortarbeitenden und unter dieser Entwicklung oft schwer leidenden praktischen Geist- lichen. Aber eine derartige Entzweiung ist doch nur ein leicht erklär- liches Ergebnis der Verhältnisse, keineswegs eine notwendige Folge der wissenschaftlichen Theologie an und für sich, jedenfalls kann es von ihr selbst als solche nicht bezeichnet werden, wenn sie sich nicht ihr eigenes Todesurteil als Theologie schreiben will, wie es Franz Overbeck getan hat, der die wissenschaftliche Selbstanschauung für den Tod des Christentums und der Religion überhaupt hielt und seine theologische Professur nur als das Schutzdach ansah, unter dem er sein Zersörungsw'erk in kalter und leidenschaftsloser Abneigung gegen das Christentum um so sicherer vollziehen konnte. Das ist nun freilich eine Singularität. Eine absolute Ausschließlichkeit der Wissenschaft gegen den religiösen Glauben besteht nur für denjenigen, der aus besonderen Gründen eben den religiösen Gedanken in sich hat ersterben lassen oder getötet hat. Wer persönlich im religiösen Leben steht, wird nie so ur- teilen können, sondern wird immer überzeugt sein, daß die ver- schiedenen Erkenntnisquellen irgendwie koinzidieren und harmo- nieren müssen. Bei aller Objektivierung und Verselbständigung der rein historischen Interessen und Methoden bleibt daher dann doch zugleich das praktisch-religiöse Interesse und mit ihm der Charakter der Theologie als einer normative religiöse Erkenntnis suchenden Wissenschaft. Sie mußte und muß daher auch selbst die Frage prinzipiell in Angriff nehmen und unter Anerkennung des zunächst rein wissenschaftlichen, den allgemeinen Methoden unter- worfenen Betriebes doch diejenige Seite an sich herausarbeiten, auf der sie zu der Praxis hinüberweist und auch ihrerseits kirch- liche Bedeutung und Absicht hat. Damit aber ergab sich eine charakteristische Interessenteilung unter den theologischen Wis- senschaften. Ein Teil dient der reinen Wissenschaft und nur in- direkt dem praktisch-religiösen Leben, der andere dient der Kirche und der Praxis und macht sich direkt und prinzipiell eine beson-

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dere Aufgabe daraus, zwischen Wissenschaft und Praxis zu ver- mitteln. Es liegt auf der Hand, daß die erstere Aufgabe den historischen, die zweite den dogmatisch-ethischen Disziplinen zu- fällt. Die Trennung von Historie und Dogmatik, die rein wis- senschaftlich ungebundene Entwicklung der ersteren und die praktisch-vermittelnde, auf streng wissenschaftliche Haltung ver- zichtende Arbeitsweise der letzteren sind das Ergebnis der ver- änderten Situation. Das empfindet jeder Student, der von den historisch-exegetischen Studien zu den dogmatisch-ethischen über- geht; in beiden Gruppen herrscht ein verschiedener Geist. Das zeigt die ganze literarische Entwicklung der theologischen Arbeit die historisch-exegetische Forschung bildet einen immer unge- heuerlicher anschwellenden Strom und wendet sich an das all- gemeine Interesse ; die dogmatischen Arbeiten bilden ein schmales Rinnsal, das nur die speziell theologischen Gefilde tränkt. Die Originalität, Frische und vorwärtsdringende Kraft, der eigentliche wissenschaftliche Akzent liegt auf der ersten ; die praktischen In- teressen, Vermittlungen und Kompromisse liegen bei der zweiten. Die Dogmatik hat sich überall von dem Erweis wissenschaftlich gültiger, allgemeiner Wahrheiten auf persönliche, subjektive, be- kenntnisartige Ueberzeugungen und auf deren möglichste Ver- mittlung' mit der die Kirchen beherrschenden Tradition und Aus- drucksweise zurückgezogen. Es ist zunächst ein ungewolltes und rein tatsächlich entspringendes Ergebnis der Entwicklung, die selbstverständliche Abgrenzung von der rein wissenschaftlich ar- beitenden Historie und die selbstverständliche Zuwendung zu den praktischen Aufgaben. Zugleich steckt darin die allgemeine Er- mattung des philosophischen und metaphysischen Geistes, der gültige Erkenntnisse auf transzendenten Gebieten innerhalb und außerhalb der Theologie zu gewinnen überhaupt nicht mehr wagt und sich mit persönlichen Gewißheiten zufrieden gibt, bei denen es dann auf dogmatische Formulierung und Ausdruck überhaupt so genau nicht mehr ankommt, und wo man in der Unbestimmt- heit und Unsicherheit dogmatischer Sätze schließlich auch die verschiedenen streitenden Richtungen sich einigermaßen nähern kann. Auch der Ueberdruß an dem Kampf der Gruppen und Richtungen, an den theologischen Reibereien, die mehr als irgend etwas anderes die Religion diskreditieren, wirkt in dieser Rich- tung; in theoretischer Unbestimmtheit und praktischer Gemein- samkeit kann man noch am ehesten dieses Uebel überwinden

200 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

3. Was aber so die Verhältnisse von selbst mit sich gebracht haben, das wurde naturgemäß auch zum Prinzip und zur Theorie. Es wäre das alles ja doch nur ein elender Ausweg der Feigheit und der Grundsatzlosigkeit gewesen, wenn sich für diese Ent- wicklung nicht innere Gründe und Notwendigkeiten und trotz dieser Entzweiung nicht eine doch bestehen bleibende innere Beziehung hätte zeigen lassen. Die zunächst von der tat- sächlichen Entwicklung der Dogmatik zugewiesene praktisch- vermittelnde Stellung mußte theoretisch und prinzipiell begrün- det werden. Das geschah, kurz gesagt, durch die »agnostische« Theorie über das Wesen der religiösen Erkenntnis. Diese von den päpstlichen Theologen gegen analoge Bewegungen auf dem katholischen Boden geprägte Formel ist ganz geeignet, den Vorgang und den Zusammenhang zu beleuchten. In prote- stantisch-theologischer Sprache nennt man es die Unterscheidung von Theologie und Religion, und man erblickt in dieser Unter- scheidung den prinzipiellen Unterschied der neueren Theologie gegen die altkirchliche, gegen den Dogmatismus der Orthodoxie wie gegen den Dogmatismus des theologisch-religiösen Rationalis- mus der neueren Richtungen. Dieser dogmatische Agnostizismus bedeutet die Unmöglichkeit exakter und adäquater Erkenntnisse auf. dem religiösen Gebiete, die praktisch-bekenntnisartig-gefühls- mäßige Begründung aller Erkenntnis und die inadäquat-symbo- lische Form aller Aussagen, in denen eine so begründete Er- kenntnis vorgetragen und mitgeteilt wird. Das Wort »Erkennt- nis« wird dabei überhaupt nur mehr in einem uneigentlichen, atheoretischen Sinne gebraucht und bedeutet nur, daß auch in solcher praktisch-symbolischen Haltung ein Zugang zu den wirk- lichen Gründen des Leben möglich sei, ja daß er erst in dieser Form wirklich sich vollziehe. Es war das schon die Position Kants und Herders und in noch viel höherem Grade Schleier- machers ; für die populäre und praktische Religion war es auch die Position der Hegelianer, die sie nur freilich bei ihrer Ver- doppelung der populären Religion durch eine wissenschaftliche praktisch sehr unwirksam machten. Es war also schon bei jenen großen Begründern des modernen theologischen und religionswis- senschaftlichen Denkens die prinzipielle und weit vorausblickende Einsicht, daß nur so unter den neuen Verhältnissen ein religiöses Denken und Erkennen überhaupt lebensfähig sei, daß nur so der doch immer unentbehrliche Anschluß an die Tradition möglich sei,

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die dann nicht als Lehrgesetz und nicht als rationelle Wahrheit, sondern als bildsames und biegsames Material von Ausdrücken für inkommensurable Erlebnisse und Lebensgehalte behandelt und darum dem fortgeschrittenen Denken schonend angepaßt werden kann. Schon damals schied sich das sehr radikale historisch- exegetische Denken von dem dogmatisch-theologischen und be- gründete das letztere seine Bedeutung und seine Wahrheit auf die praktische Notwendigkeit und Leistung, seine Möglichkeit und Kompossibilität mit einer wissenschaftlichen Ideenwelt auf den bloß symbolisch-phantasiemäßigen Charakter der dogmatischen Aussagen. Die Dogmatik wurde auf dieser Grundlage prinzipiell als Voraussetzung der praktischen Theologie aufgefaßt, von Schleier- macher geradezu der praktischen (er selbst sagt freilich »histori- schen«) Theologie zugewiesen und mit der Aufgabe betraut, die Vermittlung und Abgrenzung zwischen wissenschaftlichem Denken und religiöser Verkündigung vorzunehmen. Möglich aber war eine solche Stellung der Aufgabe nur unter der Voraussetzung jenes dogmatischen Agnostizismus, jenes Verzichtes auf zwingende und adäquate Erkenntnis, d. h. unter Voraussetzung einer religiösen Erkenntnistheorie, die die religiöse »Erkenntnis« gegenüber der rationellen verselbständigt durch Zurückführung auf eigene Quellen und zugleich ihr gegenüber kompromißfähig macht durch Ver- zicht auf jede adäquate und die transzendente Welt wirklich sachlich erfassende theoretisch-wissenschaftliche Erkenntnis. So war die Freigebung der allgemeinen Wissenschaft überhaupt, die Frei- gebung der historisch-exegetischen Disziplinen insbesondere, und die praktisch-vermittelnde Richtung der Dogmatik prinzipiell- theoretisch gerechtfertigt. Damit läßt sich die Tradition schonend vereinigen und behandeln und zugleich das religiöse Denken aus- weiten und fortentwickeln. Freilich hatte das die Konsequenz, daß eine solche Dogmatik individuell außerordentlich variieren mußte, daß einer hierauf aufgebauten Theologie kein geistiger Zwangs- kurs verliehen werden konnte, daß die verschiedenen Richtungen im Praktischen sich finden und im Ausdruck sich vertragen mußten, daß an einer so subjektiv begründeteten Erkenntnis auch nur den die subjektiven Voraussetzungen Besitzenden ein Anteil möglich war. Das aber hieß, daß alles Kirchentum auf Frei- willigkeit, auf Verträglichkeit und Duldung verschiedener Gruppen gestellt war. Er war verbunden mit einem neuen Begriff der Kirche, der die Kirche nicht auf die Gemeinsamkeit des Dogmas,

202 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

sondern auf die praktisch-religiöse Einigkeit in der allgemeinen Substanz religiösen, Lebens begründete und dem Dogma eine freie, nur an den gewollten Zusammenhang mit der christlichen Lebenssubstanz gebundene Beweglichkeit verlieh. Das forderte eine Kirche ohne Dogma. Dabei übte dann aber doch diese neue Behandlung der religiösen Vorstellungswelt bei aller formell kon- servativen Haltung eine praktisch tief umwandelnde Wirkung auf die christliche Ideenwelt: Schleiermachers Glaube war die religiöse Deutung der Welt und des Lebens unter der Wirkung der von Jesus ausgehenden religiösen Kraft und sah in der Ueberwindung des Schuldbewußtseins und in der Versöhnung mit dem Weltleid durch den Gottesglauben die Kraft zur Führung eines gottge- einigten Lebens, das im einzelnen sich autonom und individuell seine ethische und theoretische Sondergestalt geben mochte.

Dieses Schleiermachersche Programm ^) war zunächst nicht in Erfüllung gegangen. Die Bewegungen der Zeit hatten den erneuerten pietistisch-orthodoxen Dogmatismus und den sublimier- ten religionsphilosophischen oder metaphysischen Dogmatismus der Hegeischen Schule gebracht. Die angeblich Schleiermachers Tradition fortsetzende Vermittlungstheologie aber hatte die Varia- bilität des dogmatischen Ausdrucks auf ein leises Oszillieren ihrer Aussagen um die biblische Terminologie und auf eine bloß ge- ringere Präzision der dogmatischen Aussagen eingeschränkt. Im übrigen hat sie die Vermittlungsaufgabe als ein sorgfältiges Auf- einanderstimmen einer natürlichen Theologie und einer übernatür- lichen, durch die Sünden- und Erlösungserfahrung garantierten Theologie betrieben, als einen Ausgleich zweier Dogmatismen, die darum nicht weniger Dogmatismen waren, daß beide Seiten möglichst wenig genau gefaßt wurden, und daß im entscheiden- den Moment die »innere Erfahrung« für das biblisch-altkirchliche Dogma eintreten mußte. In diesen Kämpfen siegte um die Mitte des Jahrhunderts innerhalb der Kirche die Orthodoxie und soge- nannte Vermittlungstheologie, die liberale spekulative Dogmatik unterlag; die Laienwelt wendete sich von liberaler und konserva-

^) Ueber das Genauere s. Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleier- macher, 191 1. Hier ist gezeigt, wie tief allerdings Schi, selbst noch die praktischen Voraussetzungen in historische Theologie und Religionsphilosophie hineinwirken ließ, wie aber doch die Trennung an und für sich, d. h. vom rein wissenschaftlichen und nicht mehr kirchlich-theologischen Standpunkt aus, der Sinn der ganzen Gedanken- führung Schl.s ist.

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 203

tiver Dogmatik mit gleicher Abneigung weg und überließ die von der Orthodoxie beherrschte Kirche sich selbst; auch wenn man sie politisch und sozial für notwendig hielt und für konservative Zwecke ausbeutete, kümmerte man sich um ihr inneres Wesen selbst sehr wenig. Aber die wissenschaftliche Theologie baute trotzdem bei ihrer relativen Selbständigkeit gegenüber der Kirche und bei ihrer Zugänglichkeit für die allgemeinen Einflüsse der wissen- schaftlichen Atmosphäre ihre eigentlich und rein wissenschaftlichen Positionen weiter und zwar immer selbständiger aus, d. h. sie wandte sich der exegetisch-historischen Forschung in dem Sinne der allgemeinen wissenschaftlichen Methodik zu. Hier hatte ihr D. F. Strauß das Gewissen geschärft. Die radikale Auslieferung der theologischen Historie an die allgemeinen Grundsätze histori- scher Methodik ist gerade von Straußens entscheidendem Ein- fluß her immer stärker durchgedrungen, auch wenn man dabei auf Strauß sich nicht gern berief und Strauß es der Theologie schwer gemacht hat, ihm die nötige Dankbarkeit zu bezeugen. Auch war er ja nicht der einzige, der in diese Richtung gewiesen hatte ; insbesondere waren die alttestamentlichen Studien auch ohne ihn bereits auf diesem Wege begriffen. Indem dann die Tübinger Schule vor allem diesen Impulsen folgte, ist sie die Trägerin der wissenschaftlichen Fortentwicklung geworden. Frei- lich mußten die dogmatisch-metaphysischen Voraussetzungen dieser Schule erst allmählich zurücktreten, ehe diese Richtung streng verfolgt werden konnte. Aber dann ist auch von ihr jene gewal- tige Belebung des rein historischen Denkens und Forschens auf dem Gebiete der Theologie ausgegangen, die nun als rein historisch- wissenschaftliche in dem oben angegebenen Sinne sich darstellt. Damit aber trat wieder, und zwar bedeutend verstärkt, die Situ- ation ein, in welche Kant und Schleiermacher seinerzeit mit ihrer agnostischen Theologie eingegriffen hatten. Das zunächst rein tatsächliche Bedürfnis nach einer Platzgewinnung für praktisch- vermittelnde Arbeit und die nun tatsächlich eintretende Zuwen- dung der Dogmatik zu mehr praktisch-theologischen Aufgaben wurde von neuem zur Theorie von der Zuweisung der praktischen Interessen an eine agnostisch orientierte, das praktische Leben formulierende und leitende Dogmatik. Es ist die Bedeutung der Ritschlschen Schule, diesen Ausweg aus der Situation eröffnet zu haben. Weil sie einer wirklichen Not damit den theoretisch- prinzipiellen Ausweg gezeigt hat, so ist auch ihr außerordentlicher

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Erfolg zu verstehen. Sie hat durch diese Grundposition und durch die bedeutende Art,- in der sie von ihr aus das praktisch-ethische Wesen des Christentums erfaßte, die dogmatische Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit vollem Rechte beherscht. Es ist eine prinzipiell unphilosophische und antiphilosophische Theologie ''), die nur so viel Philosophie oder Erkenntnistheorie verwendet, als sie nötig hat, um philosophische und metaphysische Konkurrenzen los zu werden. Man berief sich hierfür gerne auf Kant und den in jenen Jahren gleichzeitig aufstrebenden Neukantianismus, der das ja auch von Schleiermacher betonte wesentlich kritische Verhalten zur schroffsten Leugnung aller und jeder Metaphysik zuspitzte. Freilich nahm man davon nur die Herabsetzung der Naturerkennt- nis zu einer lediglich phänomenalen Wissenschaft und die Be- streitung der Metaphysik auf; die positive Religionstheorie Kants und der Neukantianer ignorierte oder bestritt man. Statt dessen wandte man sich zur Geschichte. Aber auch mit der freien wis- senschaftlichen Historie beschäftigt man sich nur so weit, als diese in den großen Zentren der Geschichte des Christentums Nahrung für die religiöse Ideenbildung darbietet und als sie das Recht einer agnostisch-antimetaphysischen Theologie darzutun geeignet ist. Die Bibelforschung soll die praktisch-religiösen Grundideen für den Dogmatiker aus der Bibel, oder besser aus der Predigt Jesu, für welche die übrige Bibel nur Erläuterungsmittel ist, hervorholen; die Dogmengeschichte soll die Bibelwidrigkeit und den Bankrott einer philosophisch-metaphysischen und einer orthodox-dogmati- schen Theologie, die Geschichte des Protestantismus soll die Grund- lagen einer metaph^^sik-freien Theologie in Luthers Denkweise zeigen ; alles übrige kann der Forschung überlassen bleiben zu beliebiger Arbeitsweise. Aehnlich wie Carlyle bei der Unmög- lichkeit philosophischer Entscheidung der großen Lebensfragen sich zur Heroenverehrung flüchtete und den suggestiven Eindruck großer geschichtlicher Bewegungen und Persönlichkeiten wirksam machen wollte, so hält man auch hier sich an die Historie. Nicht ohne Grund beruft man in diesen Kreisen sich gerne auf Carlyle, beschränkt aber dessen Heroenverehrung auf Jesus, Paulus und

®) Höchst charakteristisch ist hier der schulmäßige Niederschlag dieser Theo- rie bei F. Traub »Theologie und Philosophie« 1910; es ist die Austreibung des philosophischen Geistes aus der Theologie, aber nicht mit Hilfe des orthodoxen Wunderglaubens, sondern mit Hilfe einer agnostischen Theorie des religiösen Er- lebnisses oder der religiösen, d. h. freilich nur der christlichen Gewißheit.

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Luther und hebt überdies diese Heroen aus der Gleichartigkeit des profanen Geschehens heraus. So bezieht man sich zwar einer- seits auf den allgemeinen modernen historischen Geist, aber man holt in stillem Einverständnis mit einem biblizistischen Luthertum aus der Historie nur diese christlichen Höhepunkte heraus und läßt sich auch bei diesen durch die von ihnen ausgehenden prak- tisch-religiösen Wirkungen sowohl die Tatsächlichkeit als ihre schlechthin einzigartige religiöse Bedeutung garantieren ''). Das ist dann in Wahrheit die Ueberwindung der Historie durch die Historie, wie die antiphilosophische Grundhaltung die Ueberwin- dung der Philosophie durch die Philosophie ist.

Derartig verselbständigt gegen die eigentliche Historie und ge- gen die Spekulation hat die neue Dogmatik die Aufgabe, sowohl die orthodoxe als die liberale Dogmatik mit ihren Voraussetzungen wirklicher Erkenntnisse ins Grab zu legen und statt dessen eine aus der Predigt Jesu, Pauli und Luthers geschöpfte einheitliche prak- tisch-religiöse Lebensrichtung so zu formulieren, daß sie nicht als Er- kenntnis des Transzendenten, sondern als lediglich religiöse, an der Erfahrungsgewißheit von Jesu erlösender Offenbarungsbedeutung gewonnene Deutung der Dinge und der Welt das praktische Leben zu leiten imstande ist. Es ist in gewissem Sinne die Wiederauf-

') Einen so bedenklichen Satz wie den der Garantierung der Tatsächlichkeit durch den religiösen Eindruck machen natürlich nicht alle Vertreter dieser Auifas- sung mit, z. B. Harnack hat ihn nie vertreten. Hier trennen sich die Historiker der Schule von den Systematikern. Aber auch die Historiker, an deren Spitze ein so bedeutender Forscher wie Harnack steht, behandeln doch die durch das religiöse Werturteil hervorgehobenen Punkte der Geschichte erheblich anders als die son- stige Historie und machen dadurch jene Hauptpunkte zu objektiven religiösen Autoritäten, deren von der religiösen Erfahrung empfundene Wirkung sie als die Stiftung der Erlösung inmitten der unerlösten Menschheit bezeichnen. So ver- fährt auch Weinel in der »Biblischen Theologie des Neuen Testamentes«, 191 1 und hat eben deshalb die nachdrücklichste Zustimmung Harnacks gefunden. Es ist in der Tat die theologisierte historische Methode Carlyles, die sich mit dem meta- physischen Agnostizismus sehr gut verträgt, sich aber von der gewöhnlichen histo- rischen Methode trotz der Ueberlegenheit Carlyle gegenüber in technischer und philologisch-kritischer Hinsicht noch erheblich weiter entfernt als der große Schotte. Aehnliches auch schon bei Schi. s. Köhler, Idee und Persönlichkeit, 1910, S. 81. Wie- viel schärfer die Systematiker den Grenzstreit gegenüber den sonstigen historischen Methoden ziehen, kann man außer bei Herrmann sehr charakteristisch bei Reischle »Christentum und Entwickelungsgedanke« 1898 S. 29 35 und »Der Glaube an Jesus Christus und die geschichtliche Erforschung seines Lebens« 1893 S. 24 ff. sehen.

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nähme der Schleiermacherschen Grundposition, und zwar in noch sehr viel höherem Grade als Ritschi selbst es sich bewußt war. Es ist die Wiederaufnahme des eigentlichen Vermittlungsprinzips auf agnostischer Basis, die Darstellung der religiösen Gedanken als praktisch begründeter und nicht dogmatisch-metaphysisch-adäquater, darum veränderungsfähiger und nur subjektiv verbindlicher, die alle Rücksicht auf die Tradition der Gemeinde und zugleich auf den Stand der wissenschaftlichen Welterkenntnis nehmen können, weil sie keine objektive Erkenntnis zu sein beanspruchen, die aber doch Wahrheit sind oder enthalten, weil sie auf einem praktischen Erlebnis oder auf der durch ein solches begründeten Autori- tät der Predigt Jesu beruhen. Es ist wieder die eigentliche und großzügige Vermittlungsidee, die weiß, daß Vermittlung der Verzicht auf den eigentlich wissenschaftlichen Charakter ist, die aber auch weiß, daß Religion keine Wissenschaft ist und in keine verwandelt werden kann. Sie tritt an Stelle der klein- lichen Harmonistik und salbungsvollen Unpräzision der sich so nennenden und Schleiermachers Namen fälschlich für sich aus- beutenden Vermittlungstheologie. Der Vermittlungs- und praktische Charakter ist zwar weniger bewußt und prinzipiell hervorgehoben als bei Schleiermacher, der die Rücksicht auf die wissenschaft- liche Erkenntnis überall sehr tief in seine theologische Gedanken- bildung hatte einschneiden lassen und der den Anschluß an die kirchliche Sprache und Ueberlieferung absichtlich als Anschluß und schonende Umdeutung charakterisiert hatte. Es ist mehr negativ die Antimetaphysik betont als positiv der symbolisch- phantasiemäßige Charakter der Glaubensvorstellung. Das Kor- relatverhältnis beider Gedanken ist nicht so scharf erkannt wie es bei Schleiermacher der Fall gewesen war, und darum tritt sowohl die Konformierung mit dem modernen Weltbild als die Umdeutung der kirchlichen Tradition weniger bewußt und scharf hervor. Bei Ritschi ist das erste mehr stillschweigend geschehen ; auch er nimmt bei seiner theologischen Gedankenbildung überall Rücksicht auf das Bild eines in sich kontinuierlichen, immanent- kausalen Verlaufs der Wirklichkeit in Natur und Geistesleben. Das zweite ist mehr instinktiv und mit geringerem Bewußtsein um die umdeutende Neuprägung geschehen ; aber auch bei ihm erhalten die biblischen und kirchlichen Ausdrücke wie Reich Gottes, Versöhnung, Rechtfertigung, Erlösung, Weltherrschaft einen völlig neuen, nur in der Form, aber nicht in der Sache konser-

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vativen Sinn. In alledem nimmt er ijberall die formelle Position Schleiermachers in Wahrheit und tatsächlich doch wieder auf. Der wirkliche Unterschied von Schleiermacher liegt nur darin, daß die theologische Gedankenbildung nicht an die Symbolisierung der frommen Erfahrung im gegenwärtigen Subjekt, sondern grund- legend an den von Jesus seiner religiösen Erfahrung bereits gege- benen Symbolausdruck sich anschließt und diesen als wesentlich maßgebend für alles sie nachbildende und an ihm sich aufrichtende rehgiöse Bewußtsein ansieht. Anders ausgedrückt : Ritschi schraubt den Schleiermacherschen Subjektivismus und Spiritualismus mög- lichst wieder auf einen lutherischen Biblizismus zurück; an die Stelle des frommen, aus der Gemeinde herausgebildeten Bewußt- seins tritt die objektive Autorität der paulinisch und lutherisch gedeuteten Predigt Jesu unter Abzug des bloß »zeitgeschichtlichen« und »Unwesentlichen«. Dadurch bekommt das Ganze eine ob- jektivere Haltung, ohne daß darum doch die agnostische Grund- theorie selbst irgend aufgegeben wäre. Weiter unterscheidet sich Ritschi dadurch von Schleiermacher, daß er das wissenschaftliche Weltbild, auf das er sich einrichtet, nicht wie Schleiermacher im Sinne eines identitätsphilosophischen Monismus, sondern ent- schlossen dualistisch in dem Sinne eines die moralische Freiheits- welt über die Natur zum Siege bringenden Theismus versteht. So konnten bei ihm die personalistisch-dualistischen Züge des Christentums lebendiger und ungezwungener hervortreten, die Schleiermacher sehr widerspruchsvoll mit seinem deterministischen Monismus verschmolzen hatte. Ueberdies hat Ritschi in der Fassung des christlichen Gedankens selbst mehr noch als Schleier- macher den Charakter der tätigen ethischen Weltgestaltung be- tont und dadurch die christliche Ethik näher an die prak- tisch-ethischen Probleme des modernen Christentums herangeführt, die Schleiermacher mit der bloßen Kräftigung des reUgiösen Be- wußtseins durch die Lebensgemeinschaft mit Christo erledigt zu haben glaubte, soweit die spezifisch-christliche Ethik in Betracht kam. Aber trotz all dieser Veränderungen ist die ganze Position doch unverkennbar die Schleiermachersche Idee der Dogmatik als grundlegenden Bestandteils der praktisch-kirchlichen Theo- logie, als einer Disziplin, die wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden benutzt und voraussetzt und doch eigentlich nicht selbst eine Wissenschaft ist, sondern etwas Besseres und Höheres, das überhaupt nie in Form supranaturaler oder natürlicher Wissen-

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Schaft übergeführt werden kann. Sie ist ein auf den fortwirken- den Eindruck der Person Jesu begründetes Deuten der ethisch- religiösen Erhebung zu Gott in Bildern von Gott, Welt und Mensch, die keine wissenschaftliche Welterklärung, aber einen ethisch-religiösen Lebenszusammenhang der Gemeinde Christi be- gründen und diesen Zusammenhang aussprechen und fortpflanzen helfen.

Mehr noch als Ritschi hat dann Herrmann, der bedeutendste Fortsetzer der Ritschlschen Dogmatik, den Schleiermacherschen Grundtypus hervortreten lassen. Ihm ist der christliche Glaube ein an den Eindruck der Persönlichkeit Jesu in der Selbstverur- teilung des Bösen und in der Zuversicht zu Gottes Liebesvvillen gewonnenes Vertrauen zu Gott, das sich in allem übrigen völlig frei nach bestem Wissen und Gewissen gestalten und bestätigen mag. Er ist die Autonomisierung des Menschen durch den Schuldbewußtsein und Weltangst überwindenden Glauben an den Vater Jesu Christi und im übrigen ohne alles Lehrgesetz und ohne alles Sittengesetz. Die Dogmatik soll nur zeigen, wie dieser Glaube an Christus entsteht. Er ist von dieser Entstehung her hinreichend an eine entscheidende Grundsubstanz gebunden, um in aller Freiheit der Symbolisierung und der ethischen Aus- wirkung doch ein christlicher zu bleiben.

So trat der altliberalen Theologie, die um die ]\Iitte des Jahrhunderts überhaupt den wissenschaftlichen Geist der Theo- logie dargestellt hatte, neben der antispekulativen Historie auch von Seite der Dogmatik eine neue Richtung gegenüber. Wie die Historie den dialektisch-gesetzlichen Gedanken von der Not- wendigkeit der Entwicklung der christlichen Idee aufgab, so ver- zichtete die Dogmatik auf die Identifikation der christlichen Idee mit der wissenschaftlich-philosophischen Gotteserkenntnis und ver- traute sich der Souveränetät des spezifisch-religiösen Gefühls an. Damit hat sie von rechts und links her die Parteien umgruppiert. Sie ist damit reUgiös lebendiger geworden, aber nicht konservativer. Denn ihr Konservativismus ist nur scheinbar, insbesondere Herr- manns Paradoxien können nachdrücklich belehren über den Radika- lismus, der in einem solchen Verzicht auf feste, adäquate Erkennt- nis steckt. Auf der anderen Seite war ein derartig rein historisch und gefühlsmäßig begründeter Biblizismus doch gegen die allge- mein-historischen Methoden zu wenig gesichert, als daß diese nicht an allen Punkten mit weit radikaleren Konsequenzen herein-

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gebrochen wären. Bei Harnack steht der BibUzismus überall im Begriff, in reine Religionsgeschichte überzugehen.

4. Damit ergeben sich die beiden großen Haupttendenzen der wissenschaftlichen Theologie des letzten halben Jahrhunderts. Auf der einen Seite steht die aus der Einwirkung der Hegel- schen Entwicklungs- und Kontinuierlichkeitsidee geborene, immer mehr von der metaphysischen Grundlage des Panlogismus sich befreiende und kirchlich-praktisch-apologetische Gesichtspunkte immer mehr abstreifende historische Theologie. Die Aufklärer, die Herder - Eichhornsche Schule, dann vor allem Vatke, De Wette, Strauß und die Tübinger Schule haben diese Entwicklung herbeigeführt, und sie entfaltet sich heute in einer ungeheuren Literatur alttestamentlicher, neutestamentlicher und kirchen- und dogmengeschichtlicher Forschung, an der Theologen und Nicht- theologen beteiligt sind und in der dieselben Methoden gelten wie für die Erforschung Buddhas, Mohammeds und Zoroasters oder für die Aufhellung der spätgriechischen synkretistischen Religionswelt. In der Tat hat hier die Mitarbeit der Philologen sehr erhebliche Bedeutung und drängt sie immer erfolgreicher auf die Befreiung von spezifisch theologischen Voraussetzungen. Auf der andern Seite steht die durch erneuten Rekurs auf Schleier- macher gekräftigte agnostische Vermittlungstheologie, d. h. die prinzipiell vermittelnde und kirchlich-praktische Dogmatik der Ritschlschen Schule, die nicht eigentlich die Methaphysik, aber die Philosophie in der religiösen Erkenntnis verwirft und ihre reli- giöse Methaphysik als eine praktisch-gefühlsmäßig garantierte Er- kenntnis auf die Grundgedanken aufbaut, in denen Jesus seiner Gemeinde seinen Gottesglauben symbolisiert hat. Freilich gibt es neben diesen beiden Hauptgruppen noch allerhand andere. Der pietistische Biblizismus und der symbolgemäße Konfessio- nalismus blühen weiter ; auch Reste des spekulativen Rationalis- mus sind noch am Leben. Aber die ersten stehen in bewußtem Gegensatz gegen alle Grundsäte des modernen Denkens und kon- struieren vom irgendwie gesicherten Wunder aus eine dogmatisch- objektive Erkenntnis ; die letzteren haben den Glauben an ihre Spekulation sowohl als den an die Uebereinstimmung ihrer Spe- kulation mit der christlichen Idee für immer kleinere Kreise allein behaupten können. Die großen in der Konsequenz des moder- nen geistigen Lebens liegenden Tendenzen sind und bleiben da- her die beiden erstgenannten, die völlig freie, keine spezifisch-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. I4

2IO Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

christlichen Voraussetzungen der Methode kennende historische Forschung und die- auf wissenschaftUch-dogmatische Erkenntnis verzichtende, agnostisch vermittelnde und subjektiv stark variie- rende systematische Theologie des Schleiermacher-Ritschlschen Typus, dem als Seitenzweig ja auch Lipsius angehört. Sie bildet unter dem Schutze des Agnostizismus die religiöse Vorstellungs- welt sowohl fort, als sie die Kontinuität mit der überlieferten Ideenwelt nach Möglichkeit wahrt. Beide Tendenzen haben sich vielfach befehdet und nicht immer einfach einander gefunden. Aber aufs große und ganze gesehen wirkten sie doch als sich ergänzende Gruppen, die mit ihren besonderen Richtungen und Interessen nebeneinander bestehen können und sich prinzipiell als die beiden Hauptzweige der Theologie betrachten dürfen und müssen. In dieser Hinsicht hat der geniale Entwurf von Schleier- machers Enzyklopädie gesiegt und sich im wesentlichen durch- gesetzt. Die Historie zeigt völlig frei die großen historisch-reli- giösen Gestalten und Persönlichkeiten ; die Dogmatik bearbeitet den in ihnen dargebotenen Lebensgehalt für die Gemeinde nach dem Prinzip schonender Vermittlung und religiöser Glaubens- deutung des historisch Dargebotenen.

Freilich sind nun aber beide Gruppen nicht ohne tiefgreifende Veränderungen und Fortentwicklungen geblieben, und sind in diesen P'ortentwicklungen ihre Gegensätzlichkeiten, die erst ver- deckt und ignoriert oder in kleinen Einzelkämpfen erledigt wur- den, hervorgebrochen, um das neue, große, in diesem Neben- einander liegende Problem zu formulieren und ins Bewußtsein zu heben. Das ist die Aenderung in der Lage, die die beiden letzten Jahrzehnte gebracht haben.

Beide Tendenzen der Theologie hatten im Sinne Schleier- machers friedlich nebeneinander bestehen können, solange die Historie den Satz von der Vollendung des religiösen Bewußtseins im Christentum und die geschichtliche Bedeutung Jesu als der in seiner Gemeinde fortwirkenden Verkörperung des religiösen absoluten Ideals für selbstverständliche Voraussetzungen nehmen konnte, solange andererseils die Dogmatik von der Historie nicht mehr verlangte als das Bild einer produktiven religiösen Zentral- persönlichkeit und ihrer geschichtlichen Wirkungen, woran sie dann ihre dogmatischen Glaubensdeutungen nach eigenem selb- ständigen Bedürfnis als Ausdeutung des im Lebenszusammen- hang mit Jesu religiöser Kräftigkeit subjektiv Erlebten und Er-

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fahrenen anschließen mochte. Aber dabei blieb es weder auf der einen, noch auf der anderen Seite, Schleiermacher hatte noch ein derartiges Gleichgewicht bei dem Stand der historischen Erkennt- nis seiner Zeit behaupten können. Schon Ritschi konnte es nur mit einer gewissen Krampfhaftigkeit festhalten. Während Schleier- macher in seiner Lehre von den Stufen der Religionsgeschichte, in seinem Jesus als den vollendeten religiösen Genius beschreiben- den Leben Jesu und in seinen Grundanschauungen von der Kir- chengeschichte als dem von Jesus ausgehenden und in der je- weiligen Subjektivität diese Wirkung nach Zeit und Umständen aussprechenden Lebenszusammenhang sich die Harmonie seiner Glaubenslehre mit der Geschichte der Religion und des Christen- tums sicherte, mußte Ritschi die viel feinere, viel mehr relati- vierende und zergliedernde, viel skeptischere historische Forschung seiner Epoche in der Hauptsache sich selbst überlassen. Er stellte dafür den Zentralpunkt, die Persönlichkeit Jesu, durch ein Glaubens- und Werturteil aus der übrigen Historie heraus, bezeichnete ihn als ein der sonstigen Historie gegenüberstehendes Offenbarungswunder. So konnte er auch die Dogmatik nicht mehr auf eine freie subjektive Deutung des in Jesus und von Jesus her Empfangenen anweisen, sondern mußte er sie an die äußere Autorität Jesu binden, die bald rein historisch-positiv mit der entscheidenden Bedeutung des Geschichtlich-Tatsächlichen an Stelle des angeblich Rationellen und Allgemeinen, bald mit dem supranaturalen Wunderbegriff begründet wurde, den das »innere Erlebnis an Jesus« sichern sollte. Damit zerriß dann aber auch der Zusammenhang, in dem bei Schleiermacher das Christentum mit der außerchristlichen Entwicklung des religiösen Bewußtseins gestanden hatte. Das Christentum wurde aus der Entwicklung des religiösen Bewußtseins herausgestellt und ohne klare Wunder- begründung, aber mit sichtbarer, allen Zusammenhang aufheben- der Isolierung behandelt. Das war bereits bei Ritschi und seinen nächsten Schülern ein sehr schwieriges und kompliziertes Ver- hältnis, aber die Sache ist seitdem immer schwieriger und kom- plizierter geworden.

Die Historie befreite sich immer mehr von allen besonderen christlichen Voraussetzungen. Sie verwandelte die Kirchenge- schichte in die Geschichte der christlichen Religion und der ver- schiedenen daraus hervorgehenden Kirchenbildungen. Sie ver- wandelte die Dogmengeschichte in die Geschichte der religiösen

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Ideenbewegung, von der ein Teil in kirchliche Fixierungen ein- ging und damit in den verschiedenen Kirchen verschiedene Au- toritätskomplexe schuf, während sich unterhalb dieser Sphäre die freie religiöse Produktion weiter bewegt. Sie verwandelte die Bibelforschung in Literaturgeschichte und die biblische Theologie in israelitisch-jüdische und urchristliche Religionsgeschichte. Sie sah alles in einer unaufhörlichen und vielverzweigten Bewegung, die jedesmal mit den allgemeinen Kulturverhältnissen zusammen- hing, und verflocht so die Geschichte des Christentums in die allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte. Indem sie es aber so in seiner natürlich-geschichtlichen Bewegung erfaßte, mußte sie es hineinstellen in Analogie und Zusammenhang der Religions- geschichte überhaupt, seine Geschichte beleuchten aus allgemei- nen Gesetzen und Tendenzen der Entwicklung des religiösen Be- wußtseins überhaupt. Und nicht bloß die Analogie und Gleich- artigkeit trat so zutage, sondern auch ein überall stattfindender sachlicher Zusammenhang mit anderen religiösen Entwicklungen. Die Religion Israels erleuchtete sich aus ihren Verflechtungen mit alten orientalischen Religionsüberlieferungen ; das Spätjudentum, der Mutterschoß des Christentums, zeigte sich durchdrungen von allerhand Einwirkungen gnostischer, orientalischer und hellenisti- scher Art ; das werdende Urchristentum bekundete überall Ver- wandtschaft und Gegensatz mit den großen synkretistischen Reli- gionsbewegungen des Orientalismus und Hellenismus. Das Problem der Entstehung des Christentums wurde zu einem religionsgeschicht- lichen Problem, zur Frage nach dem Zusammenwirken verschiedener Einflüsse und nach dem Maße der Originalität Jesu und seines großen Hauptapostels. Mit dieser Frage aber traten dann alle alten Quellen- und Ueberlieferungsprobleme unter neue Schwierigkeiten, und das scheinbar schon fertig gelöste synoptische Problem, die Herausschälung der Urkunden und der authentischen Worte Jesu, geriet in neue Bewegung. Die ganze Forschung scheint heute mit neuen F'ragestellungen von neuem zu beginnen. Diese Dinge sind im allgemeinen bekannt genug, und die ganze Lage wird sich mit Sicherheit immer mehr komplizieren, je mehr die Philo- logen an diesem Problem ihre unentbehrliche Mitarbeit betätigen. Hier haben Usener und Paul de Lagarde entscheidende Anre- gungen gegeben. Dazu kommt bei vielen freilich eine mehr oder minder ausgesprochene Animosität gegen das Christentum, die sie alle Abhängigkeiten des Christentums von außen und alle Un-

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Sicherheiten der Ueberlieferung doppelt betonen und zum Ausgangs- punkt kühnster Neuerklärungen machen läßt. Aber auch das hat in Wahrheit die Forschung nur vorwärts getrieben. Die Ein- zelheiten mögen hier auf sich beruhen. Das Entscheidende ist die prinzipielle Tragweite des Ganzen, und die liegt klar genug vor Augen. Man spricht ja auch ohne weiteres von dieser For- schung als von der religionsgeschichtlichen Schule.

Daraus entstanden nun aber zwei ganz außerordentlich schwer auf aller Theologie lastende Folgen.

Die erste ist die historisch-kritische Unsicherheit des Jesus- bildes, die nicht bloß die die älteren Generationen beschäftigende Aufgabe eines Lebensbildes Jesu als unlösbar erscheinen läßt, sondern auch geradezu die ganze Jesusüberlieferung in ihrem religiösen Kern, in den Herrenworten, außerordentlich schwan- kend macht. Die ältere liberale Theologie stellte etwa in der Weise Keims Leben und Charakter Jesu vermeintlich streng historisch dar und gab damit der Dogmatik den Anschluß für eine Glaubensdeutung dieses geschichtlichen Bildes. Seit etwa zwanzig Jahren haben die > Leben Jesu« aufgehört. Die Dogmatiker beziehen sich nicht mehr auf ein solches. Ritschi erklärte die Aufgabe für unlösbar und wollte nur mehr von dem durch die apostolische Deutung gesicherten Glaubenseindruck Jesu sprechen, ein Standpunkt, dessen Konsequenzen Kahler in der völligen Skepsis gegen die geschichtliche Erkenntnis und in der Forderung der Unterwerfung unter die apostolische Christus- lehre klar gemacht hat. Damit ging dann aber erst recht das Problem auf, wie sich der allerdings aus der Ueberlieferung wohl zu erhebende apostolische Christusglaube zu dem wirklichen Je- sus verhalte, wie weit unsere Ueberlieferung auch in den Evan- gelien das Christusdogma der Gemeinde statt des wirklichen Jesus überliefere. Konnten die Dogmatiker sich an den im apo- stolischen Christusdogma ausgesprochenen Christusglauben zu halten meinen, für den Historiker wurde das Hauptproblem die Entstehung des apostolischen, für die Kirche grundlegenden Christusdogmas aus der wirklichen Verkündigung und Tat Jesu. Von hier aus wurde die Ueberlieferuug immer skeptischer be- handelt bis zur Bezweiflung, ob Jesus überhaupt sich als Messias bezeichnet habe, bis zur Erschütterung der Logienüberlieferung und bis zur Wiederbeseitigung des Unterschieds johanneischer und synoptischer Ueberlieferung und damit bis zur Bestreitung

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jeder genaueren und bestimmteren Kenntnis des Historisch-Ge- wesenen. Andererseits wurde die Genesis des apostolischen Christusdogmas und Christuskultes das eigentliche Problem, das der alte Liberalismus aus einer innerchristlichen dialektischen Be- wegung des religiösen Gedankens heraus gelöst hatte, das man aber nun unter Beiziehung der buntesten, fremden Einflüsse, mythischer und gnostischer Art, zu erklären versucht. Der ältere Liberalismus, der hier überall kritisch herauszuschälende authen- tische Ueberlieferung zu finden und den Fortschritt von Jesu Verkündigung zum apostolischen Christusdogma als einen inner- christlichen dialektischen Prozeß zu konstruieren gewußt hatte, der eben damit der Dogmatik den Anschluß an den historischen Kern der Jesusüberlieferung und den dogmatischen Kern des Christusdogmas möglich gemacht hatte, sieht seine Position schwin- den. Er bekommt an dessen Stelle neue, noch ungelöste histori- sche Probleme, die einen Glaubensanschluß an eine so unsichere Wirklichkeit sehr erschweren, oder die gar zu den sensationell- sten und radikalsten Lösungen verführen, denen gemäß die Mei- nung der Kirche über ihre eigene Entstehungsgeschichte voll- kommen falsch und legendarisch und durch die Entdeckung des wirklichen Sachzusammenhangs von dem modernen Kritiker zu ersetzen sei. Bei der Gemeinsamkeit der methodischen Prämissen und bei der Dunkelheit der Ueberlieferung ist es dann hier der wissenschaftlichen Theologie immer schwerer geworden, diese sen- sationellen Konstruktionen siegreich auszuschließen. Wir werden uns hier auf immer schärfere Angriffe gefaßt machen müssen ^). Geht diese erste Hauptwirkung auf die historischen Grund- lagen des Christentums, auf die historisch-religiösen Sätze seiner Glaubenslehre, so erstreckt sich die zweite auf das Ganze des Christentums selbst, auf den Inbegriff seiner religiösen Ideenwelt überhaupt. Nicht nur ihre Entstehung, sondern auch ihre ganze Weiterentwicklung scheint in den Gesamtzusammenhang des histo- rischen Lebens gleichartig verflochten. An allen Punkten schwindet die Isolierung. Hatte der ältere Liberalismus die ganze Geschichte des Christentums aus einer dialektisch-notwendigen Selbstbewegung der christlichen Idee abgeleitet und damit in modernen Formen die alte Selbständigkeit und Isoliertheit des Christentums inner- halb des Gesamtlebens festgehalten, so zeigt es die neuere Kirchen-

8) Man sehe hier nur die Geschichte der Kritik bei Albert Schweitzer »Von Reimarus bis Wrede« 1906 nach.

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und Dogmengeschichte in alle Bewegungen des Gesamtlebens ver- flochten und in wichtigen Punkten nicht von seiner Dialektik, sondern von der Umgebung und der allgemeinen historischen Situation bestimmt. Mit der Uebertragung der sogenannten öko- nomischen oder soziologischen Methode auf die Geschichte des Christentums zeigt sich diese Wechselwirkung unendlich viel stärker als bei einer lediglich dogmengeschichtlichen Methode. Damit ver- schwindet dann auch der diese Dialektik treibende und von ihr lediglich rein herauszustellende Gedankenkern. Das Christentum wird ein überaus verwickeltes und vielfach abhängiges Ganzes, das auch in der Gegenwart und Zukunft ein immer aus dem Gesamt- zusammenhang sich neu bildendes und erst zur Einheit jedesmal sich zusammenlebendes Gebilde sein wird. Mit dieser Verschlin- gung in den allgemeinen Zusammenhang, in die Analogien und in die Realzusammenhänge der Religionsgeschichte, in die Strö- mungen des allgemeinen' praktischen und geistigen Lebens aber wird das Christentum schließlich überhaupt in den Strom des ge- schichtlichen Werdens hineingestellt, und es entsteht die Frage, wie- weit seine religiöse Idee und Kraft überhaupt ein Letztes, Vollkom- menes und Absolutes ist. Der Offenbarungs- und Erlösungsbegriff, den der ältere Liberalismus und auch Schleiermacher zvv^ar nicht in der Form des aller übrigen Geschichte entgegengesetzten Wunders, aber in der Form des Durchbruchs der absoluten Religion be- hauptet hatten, wird von hier aus bedroht und in das wogende Auf und Nieder der Offenbarungen geistigen Lebens überhaupt hineingezogen. Es wird fraglich, wieweit das Christentum über- haupt eine abschließende und alles vollendende religiöse Erschei- nung ist, und damit, wieweit es als Offenbarung und Erlösung im absoluten Sinne zu betrachten ist.

Von beiden Problemen ist meines Erachtens das erste trotz seiner augenblicklichen bedrohlichen Entfaltung das weniger tief- greifende. Schließlich wird hier wie bei anderen Religionen die Sache doch so stehen, daß die Persönlichkeit des grundlegenden Propheten der entscheidende Quellpunkt ist, und^ wenn erst ein- mal die neu aufgeworfenen Probleme durchgearbeitet, die Um- gebungsbestandteile des werdenden Christentums genau erforscht sind, wird das P'euerwerk der sensationellen Hypothesen aufhören und die Selbstanschauung der ältesten Kirche von ihrem Werden im wesentlichen im Recht bleiben. Nicht durch Mißverständnis oder durch einen an einen gewissen Jesus angeknüpften fremden Er-

2i6 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

lösermythus ist das Christentum entstanden, sondern aus dem Leben und der Persönlichkeit seines Helden. Ich zweifle nicht im mindesten daran, daß es dabei bleiben wird trotz des gewiß sehr dringenden Problems, wie und woher das Christusdogma in der Gemeinde entstanden sei. Auch glaube ich bestimmt, daß die Grundzüge der Predigt und der Ueberlieferung hinreichend erkennbar sind, um für jeden, der ihr eine grundlegende religiöse Bedeutung beimißt, einen religiösen Anschlußpunkt auch weiter- hin zu bilden. Die Dinge liegen augenblicklich besonders ver- worren und unklar, aber sie können ja nicht immer so liegen bleiben. Die Forschung wird vorwärts kommen, und, wenn der Staub sich verzogen hat, dann wird im wesentlichen das alte Bild der Dinge insofern bestellen bleiben, als jedenfalls Jesus die Quelle und Kraft des Christusglaubens und damit des Christentums bleiben wird, auch wenn der Historiker als solcher völlig darauf verzichten wird, ihn als »absolute Zentralpersönlichkeit«, als »Er- öffnung einer neuen Stufe der Menschheit«, als »sündlosen und religiös vollkommenen Menschen« zu beschreiben. Die entschei- dende Schwierigkeit liegt vielmehr meines Ermessens bei der Gesamtauffassung und Bewertung der Stellung des Christentums innerhalb der Religionsgeschichte, die von dem neuen Bild der Dinge mit seinem Ineinanderfließen der verschiedenen geschicht- lichen Strömungen her jedenfalls ein neues Problem darbietet. Ich habe es in meiner Arbeit über die »Absolutheit des Christen- tums und die Religionsgeschichte« als Ergebnis der Entwicklung der Theologie zu tormulieren und zu beantworten gesucht •'). Hier liegt die Hauptfrage, und von ihr aus wird im Grunde auch immer die Beurteilung und Bewertung Jesu abhängig sein. Wer im Christentum die bleibende religiöse Höhenlage der Menschheit erkennt, wird eben damit auch in seiner grundlegenden Persön- lichkeit tiefere Kräfte sehen und suchen, als wer in jenem nur eine vorübergehende, aus allerhand zufälligen Strömen zusammen- geflossene Phase der Religionsbildung sieht oder etwa zur Ent- w^ertung dieser Religionsbildung durch Entwurzelung der histo- rischen Grundlagen das Seinige beitragen möchte. Bei solchen wichtigen Hauptpunkten sind nun einmal die historischen Unter-

*) Zweite Auflage 1912. Auch der Unterschied der Auflagen spiegelt die immer weiter fortschreitende Fragestellung. Ich habe kürzlich irgendwo gelesen, es sei das Buch mit der »anerkannt unglücklichen Fragestellung«. »Unbequem« wäre vielleicht richtiger.

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 217

suchungen nicht schlechthin zu trennen von den Imponderabilien der Wertung dessen, was ein solches Faktum in die Welt gebracht hat. Für die Handhabung einer rein historisch-analogischen Methode selbst hat diese Tatsache jedoch keine Bedeutung.

Sind das die aus der historischen und rein wissenschaftlichen Theologie entspringenden Probleme, so hat auch die praktisch- systematische Vermittlungstheologie der Ritschlschen Schule ihrer- seits eine Anzahl tiefer, innerer Schwierigkeiten aus sich hervor- getrieben. Einmal galt es die erkenntnis-theoretisch religions- philosophische Grundlage des von ihr vorausgesetzten Agnostizis- mus weiter durchzubilden, als das bei dem Meister selbst geschehen war, der in diesem Stück sich mit einigen Apergus und einer entschiedenen Willenskundgebung begnügt hatte. Der religiöse Agnostizismus, der Erkenntnis sein will, aber nicht wissenschaft- lich-erklärende, sondern praktisch-religiös die Wirklichkeit deutende, ist keine so einfache Theorie. Die »Erkenntnis in religiösen Wert- urteilen«, wie die Theorie sich nannte, bedurfte vor allem der Heraushebung der objektiven Elemente in diesen Werturteilen und der Charakteristik der religiösen Vorstellungen, in denen sie sich objektiviert, damit des Bild- und Symbolcharakters dieser Erkennt- nis. Das ist zum Teil geschehen durch die sehr bedeutende Pariser Theologenschule, die sogenannten Symbolo-fideisten, außer- dem in Deutschland durch Lipsius und durch die von Ritschi her beständig erfolgenden Wiederbelebungen Schleiermachers. Andere, wie Herrmann, haben das Bedürfnis empfunden, diese agnostisch- gnostische Erkenntnislehre auf einen objektiven Zentralpunkt zu- sammenzuziehen und übrigens im stärksten Anschluß an Kant sie nur als religiöse Deutung der Wirklichkeit im Sinne einer Be- fähigung zur sittlichen Autonomie durch das an Jesus gewonnene Gottvertrauen zu fassen, eine Zusammenziehung und Vereinfachung, die den eigentlichen Erkenntnisgegenstand in der Bejahung des theistischen Gottesglaubens und der davon ausgehenden Auto- nomie sieht, den Vorstellungsausdruck hierfür aber eigentlich nur im Anschluß an die Persönlichkeit Jesu und ihren Gottesglauben sucht, im übrigen ihn den stärksten Variationen anheimstellt. Es liegt also auf der Hand, daß die Theorie der religiösen Erkennt- nis damit immer noch ihre recht bedenklichen Lücken hat und dadurch selbst wieder leicht in Unsicherheit gerät. Eine nicht geringere Unsicherheit zeigt sich dann aber auch noch von einer anderen Seite her. Ritschi selbst hatte die Berücksichtigung des

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modernen Weltbildes, d. h. seines kontinuierlichen Kausalzusam- menhanges und seiner den Anthropozentrismus beseitigenden Un- ermeßlichkeit unter der Hand wohl stark auf seine Gedanken- bildung einwirken lassen, aber doch nur unter der Hand und tatsächlich, indem er die biblischen und dogmengeschichtlichen Begriffe, die er sich aneignete, in diesem Sinne von Hause aus möglichst umdeutete. Aber es stellte sich einerseits immer mehr heraus, daß hier gewaltsame und unhistorische Deutungen vor- lagen, daß in Wahrheit sein Verfahren eine stillschweigende Kon- formierung christlich-traditioneller und modern-wissenschaftlicher oder auch modern-ethischer Ideen war. Andererseits zeigte sich, daß diese Konformierung doch auch nirgends weit genug ging und auf die brennendsten Fragen des modernen religiösen Lebens- kampfes gar keine oder nur Scheinantworten gab. Er fährt z. B. ruhig fort, den Anthropozentrismus, die Schöpfung der Welt um des Menschen willen, zu behaupten und kümmert sich nicht das mindeste um die biologische Entwicklungslehre. Die Aufnahme moderner Erkenntnismotive in die christliche Ideenbildung und damit die Umbildung der letzteren mußte weiter gehen, als das bei dem Meister der Fall gewesen ist, oder umgekehrt der Rückzug von allen Weltanschauungsfragen auf die lediglich religiös-ethische Deutung mußte noch viel weiter zurück gehen und die Weltan- schauung noch viel mehr frei lassen, als das bei ihm der Fall war.

Das erste zeigt sich in all den zahllosen Diskussionen über Apologetik und Metaphysik, die aus der Ritschlschen Schule entstanden sind, und ist in der Dogmatik von H. H. Wendt als Ergebnis der Lage charakteristisch anerkannt. Das letztere ist mit einer immer von neuem persönlich fesselnden Energie von Herrmann geschehen, der die ungeheure Welt in ihrem mecha- nischen Kausalzusammenhang einerseits völlig gelten und auf sich beruhen läßt, dagegen den frommen Menschen durch die Erfah- rung von Gottes Heiligkeit und Liebe im Bilde Jesu nur einfach zur religiös-ethischen Autonomie und einer völligen Gleichgültig- keit gegen die der Wissenschaft zu überlassenden Weltanschauungs- fragen gelangen läßt. Die Dogmatik wird so zu einer psycho- logischen Anweisung, an Jesus diese Erfahrung zu gewinnen, und zur Freigebung aller religiösen und ethischen Gedankenbildungen an das autonome Subjekt, womit dann freilich alle Fragen mehr abgeschnitten als befriedigt sind.

Schließlich ergeben sich dann aber auch und das ist das

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 2 IQ

Wichtigste aus der Entwicklung der Historie, der religionsge- schichtlichen Wendung der historischen Theologie, für diese Dog- matik die schwersten Fragen, und zwar gerade an den beiden vor- her genannten Hauptpunkten, an dem Problem unsres gesicherten historischen Wissens über Jesus und seiner Bedeutung für das entstehende Christentum, und an dem Problem »der Absolutheit des Christentums«. Ich habe bereits hervorgehoben, daß das erste Problem schon für Ritschi ein sehr schwieriges und nur durch Gewaltsprüche gelöstes war. Er ist von den Mitteln, mit denen Schleiermacher dieses Problem gelöst hatte, von einer ent- wicklungsgeschichtlichen Religionsphilosophie mit dem Höhepunkt im Christentum, immer weiter zurückgewichen und auf eine durch Glaubens- und Werturteile zu bewirkende Isolierung der Gottes- reich-Predigt Jesu und des angeblich unmittelbar daraus erwach- senen Christenglaubens Pauli zurückgegangen. Herrmann hat dann vollends jede derartige Religionsphilosophie in Acht und Bann getan und hat das Christentum als einzige Religion allem NichtChristentum als Nichtreligion durch Erfahrung an Jesus ge- genübergestellt. Damit war man freilich die bedenklichen Konse- quenzen einer entwicklungsgeschichtlichen und das Christentum nivellierenden Religionsgeschichte losgeworden, aber im übrigen ist die Sache gerade dadurch immer schwieriger geworden. Der Spiel- raum zwischen Freistellung der rein historischen Forschung und der religiös-ethischen Glaubensdeutung Jesu ist trotz allem Bemühen, die Glaubensaussagen von der Geschichtsforschung unabhängig zu machen, immer kleiner und die letztere immer abhängiger von der ersteren geworden. Unter diesen Umständen hat sich viel- fach ein entschiedener religiöser Subjektivismus eingestellt, der auf die persönlich-religiöse Erfahrung in erster Linie geht und alles Historische nur als Anregung und Wegleitung empfindet, oder ein Traditionalismus, der nicht von der isolierten Person Jesu, sondern von der geschichtlichen Gesamtsubstanz des Christen- tums ausgeht, oder ein Persönlichkeitskult, der allen großen reli- giösen Persönlichkeiten die suggestive Kraft der Erhöhung und Mitteilung zuschreibt und Jesus nur als den zentralen Erzieher würdigt. Besonders interessant ist bei Herrmann der Kampf zwischen Historie und subjektiver Mystik. Er betont steigend die persönliche Selbstgewißheit des religiösen Lebens, die nur als Eigenwahrheit und Eigenerlebnis gefunden werden kann, die aber der historischen Kräftezuleitung und der Darbietung eines

220 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

von außen herankommenden Fundamentes bedarf; daneben aber greift er immer wieder auf einen »Eindruck von Jesus« zurück, den man unabhängig von aller Historie aus dem Evangelium ge- winnen könne, und wo sich der hier seiner Sache gewiß Gewor- dene nicht allzusehr zu kümmern braucht um das, was andere aus historischen Gründen für notwendig halten ; dieser Eindruck aber bedeutet dann eine durch Glaubensurteile festgestellte meta- physische Sonderstellung Jesu. Das sind ganz außerordentlich schwierige Sätze, deren Schwierigkeit in dem Maße sich steigern wird, als man ihren wirklichen Sinn verstehen lernen wird. Legt man dann aber umgekehrt den Schwerpunkt von der Person Jesu auf den sachlichen Inhalt des Christentums an religiösen und ethischen Gedanken, auf das sogenannte Prinzip des Christentums, so sind wieder gerade die letzteren von den soziologischen und sozialgeschichtlichen Forschungen und insbesondere von den prak- tischen sozialen Problemen her in die heftigste Bewegung geraten. Die vom älteren Liberalismus so oft für christlich erklärte Har- monie von Geist und Natur, die Lebenseinheit in Gott mit ihrer stark intellektualistischen und ästhetischen Nebenfärbung, ist so gut wie verschollen und berührt wie tote Phrase. Die von Ritschi erneuerte lutherische Berufs- und Standesethik dagegen hat erst recht die Kluft zwischen dieser konservativen, in den Verhält- nissen sich beruhigenden und sie ständisch auffassenden Ethik gegenüber der totalen sozialen Umschichtung und den völlig neuen Aufgaben der Gegenwart gezeigt, die auch dem Christen- tum die Aufgabe einer völligen Neubesinnung gerade über seine Ethik auferlegen. Hier aber ist alles in den ersten Anfängen, und Gottschicks treffliche Ethik zeigt nur erst das Hereinbrechen der neuen Fragestellungen. Meine eben in der Veröffentlichung begriffenen Untersuchungen über die »Soziallehren der christlichen Kirchen« zeigen die tiefen Wandlungen und Verflochtenheiten der christlichen Ethik, des scheinbar festesten Kernbestandteils des christlichen Prinzips. Vor allem aber streckt, unbekümmert um die dogmatischen Abgrenzungen, die allgemeine Religions- geschichte immer energischer ihre Hände aus nach dem Christen- tum und zieht es in die allgemeine Entwicklungsgeschichte des religiösen Bewußtseins hinein. Und zwar nicht bloß in der Theorie, sondern konkret und im einzelnen. Hier sprechen nun Tatsachen und nicht mehr Theorien. Das Christentum trägt nachweislich Elemente aller umgebenden Religionen in seinem Aufbau und ist

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 221

selbst ein Zusammenfluß der großen Strömungen in dem Zeitalter der Religionswende. Es läßt sich nicht mehr isolieren, es muß in die Kontinuität der Entwicklung hineingestellt werden, auch wenn man sein Eigenes und Neues noch so hoch wertet. Die dogmatischen Schlagbäume und Grenzsteine schrecken den For- scher nicht mehr, und der Dogmatiker kommt immer mehr ins Gedränge durch den Historiker.

So ist die wissenschaftliche Theologie von allen Seiten her in der tiefsten und schwierigsten Gärung, und da es ihr nicht vergönnt ist, im praktisch-kirchlichen, von der konservativen und im günstigsten Falle milden und konniventen Praxis beherrschten Leben sich auszuwirken, so hat sie von daher auch für junge Theologen einen unzweifelhaft fast beängstigenden Charakter an- p-enommen. Das Große, Freie, Vorwärtsstrebende wird kaum mehr empfunden, um so mehr das Belastende und der Konflikt mit kirchlichen Formen und Autoritäten. So dringend nötig ge- rade reich und stark gebildete, freie und zukunftsfrohe Persön- lichkeiten wären, so schwer sind sie für die Theologie zu ge- winnen oder in ihr festzuhalten, und wir gehen sicherlich schweren Zeiten entgegen, so große und hohe Aufgaben gerade die Gegen- wart für ein freies religiöses Leben stellt.

5. Die Folgerungen aus der Lage für die Weiterentwicklung der Theologie zu ziehen, geht über den Rahmen einer solchen Skizze hinaus. Ich will nur das eigentUche Haupt- und Grund- problem hervorheben, das in dem Nebeneinander einer rein wissenschaftlichen historischen Theologie und einer praktisch- vermittelnden Dogmatik liegt. Das eigentliche Problem der Lage kann, wie die Dinge liegen und innerlich beschaffen sind, nicht anders verstanden werden. Jede Historie ist an die allgemeinen historischen Methoden gebunden, und die theologische Schein- historie, die die Auffassung der Dinge hier unter andere Gesetze und Voraussetzungen stellt als auf außerchristlichem Gebiete, ist durch ihre endlosen Ausflüchte und Unwahrheiten für immer gerichtet. Andererseits muß jede denkbare Dogmatik mit der Eigenart der religiösen Erkenntnis rechnen und auf wissenschaft- lich-adäquate Erkenntnis verzichten und die Kräfte der Ueber- lieferung fortführen und benutzen. Das Verhältnis beider, die Möglichkeit eines Zusammenbestehens, das ist die Lebensfrage. In einem trotz seiner offenkundigen Mängel sehr nachdenklich stimmenden Buche »Ueber die kirchliche und wissenschaftliche

222 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

Methode in der Theologie« hat C. A. Bernoulh dieses Problem als das zentrale mit vollem Recht herausgegriffen, und der neueste enzyklopädische Versuch von Paul Wernle bewegt sich im Grunde um das gleiche Problem.

Es ist in der Tat das wesentliche Grundproblem, von dem die ganze Unsicherheit und Mühsal der heutigen wissenschaftlichen Theologie ausstrahlt und das sie ihrer großen Mission nicht recht froh werden läßt. So wie Bernoulli sich die Lösung dachte, als ein Nebeneinander einer völlig voraussetzungslosen und keinerlei Grundpositionen religiöser Art besitzenden historischen Forschung und einer doch gewisse historische Dinge verabsolutierenden praktisch-kirchlichen Dogmatik ohne jeden wissenschaftlichen Wert, ja mit dem Vorbehalt wissenschaftlicher Unrichtigkeit ihrer Positionen, ist die Sache nicht möglich ; Bernoulli hat kon- sequenterweise inzwischen der Theologie gründlichst Valet ge- sagt. Aber den Finger hat er auf den wunden Punkt gelegt. Hier muß Hilfe geschaffen werden, und hier muß alle wissen- schaftliche Theologie sich ein Programm schaffen, durch das sie wissenschaftliche Arbeit an der geschichtlichen Gesamterscheinung des Christentums und zugleich Rückhalt einer lebendigen reli- giösen Predigt sein kann.

Abhilfe und Klarheit sind nur möglich, wenn den beiden auseinanderstrebenden Arbeitszweigen ein gemeinsamer Stamm gegeben wird und damit eine gemeinsame Voraussetzung. Die historische Theologie kann nicht voraussetzungslos in dem Sinne sein, daß sie die geschichtliche Erkennbarkeit Jesu, die völlige Irrtümlichkeit der Selbstanschauung der Kirche von ihrer Geschichte, die außerchristliche Herkunft der apostolischen Lehren, die Gül- tigkeit und Dauer des Christentums überhaupt für ewig offene Fragen, für stets in Rechnung zu ziehende Möglichkeiten hält. Sie muß selbstverständlich solche Fragen aufwerfen, aber sie muß irgendwie einmal mit ihnen zu Ende kommen und muß dann entweder sich und das Christentum selbst auflösen, oder sie darf dann die großen Grundpositionen der Erkennbarkeit Jesu, einer bleibenden religiösen Bedeutung Jesu, der Höchstgeltung des Christentums als ihre allgemeinen Voraussetzungen betrachten. Diese Ergebnisse muß sie erreichen teils aus ihrer eigenen Arbeit, teils aus allgemeinen weitergreifenden Untersuchungen. Ich be- zweifle hier nun nicht, daß sie die Erkennbarkeit Jesu und da- mit die Möglichkeit einer religiösen Würdigung Jesu aus ihrer

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 223

eigenen Arbeit wiederherstellen und sie als völlig legitime, durch ehrliche und unbestochene Arbeit gewonnene Voraussetzungen wiedergewinnen wird. Die religiöse Würdigung selbst gehört ihr ja dann nicht an, sie wird nur einen Tatbestand zu zeigen im- stande sein, der sicher und klar genug ist, daß an ihn eine reli- giöse Würdigung sich anschließen kann. Die Hauptfrage aber nach der Geltung des Christentums selbst ist keine rein historische, sondern eine geschichtsphilosophische oder religionsphilosophische, die in wissenschaftHchem Sinne nur von einer allgemeinen Theorie der Religion und einer Theorie ihrer geschichtsphilosophischen Abstufungen aus angefaßt werden kann. Auch hier handelt es sich nicht um eine durch bloßen Entschluß, durch irgendwie kon- struierte ausschließliche Wundercharakterisierung begründete Be- jahung des Christentums, sondern um eine aus der Anschauung des ganzen historischen Lebens, soweit wir es erkennen können, hervorgehende vergleichende Bewertung. Es gilt auch hier die autonome Erringung der Voraussetzung, nicht eine einfache Unterwerfung. Aber es ist doch eine dann allem Weiteren zu- grunde liegende prinzipielle Auffassung, innerhalb deren dann sich alle historische Forschung völlig frei weiter bewegen kann. Auch hier steht es so, daß diese Voraussetzung entweder errungen wer- den kann oder nicht. Im letzteren Fall ist es natürlich mit einer besonderen christlichen Theologie als normativer Erkenntnis vor- bei; im ersteren aber ist eine grundlegende Wertentscheidung getroffen in voller Freiheit, die allem Weiteren die Basis gibt, und auf der eine besondere und selbständige Erforschung der christlichen Geschichte ihre Bedeutung für die Glaubenslehre haben kann. Der Schwerpunkt hegt dann in dem gegenwärtig le- bendigen religiösen Gehalt, aber dessen historisches Gewordensein ist ebendeshalb dann mehr als eine bloß wissenschaftlich interes- sante Frage. Die historischen Elemente behalten eine innerlich- religiöse Bedeutung für die religiöse Gegenwartstellung ; aber die von dieser aus vorzunehmende Glaubensdeutung der Geschichte muß sich den Ergebnissen der Forschung anpassen.

Nicht minder aber werden wir auf eine derartige allgemeine Religionswissenschaft zurückgewiesen von der Glaubenslehre und Ethik her. Die ganze agnostische Theorie, die Anerkennung religiöser Erkenntnis in symbolisch-inadäquatem Ausdruck reli- giöser Erlebnisse, die Anpassung an das moderne Weltbild und der Anschluß an die geschichtlichen Kräfte : alles das kann nur

224 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

von einer allgemeinen Theorie der religiösen Erkenntnis her ge- wonnen, begründet und in richtige Bahnen gelenkt werden. Soll die Dogmatik nicht ein fauler, alles abstumpfender, im schlech- testen Sinne praktischer Kompromiß werden, sondern soll sie normative Wissenschaft und wirkliche Erkenntnis sein, dann ist das nur von einer sorgfältigen Theorie dieser Art aus zu begründen. Sie wird dann nach der einen Seite alles Traditionelle innerlich würdigen und zugleich doch sich in lebendiger Anpassung und Verschmelzung mit der modernen Erkenntnis selbständig und frei fortentwickeln können. Wie vorhin eine geschichtsphiloso- phische, vom Ganzen des menschlichen religiösen Lebens aus- gehende Betrachtung und Abstufung die Grundlage war, so ist hier eine gleichfalls von der ganzen Fülle der Erscheinungen aus- gehende vergleichende Theorie der psychologischen Beschaffenheit und des Erkenntniswertes des religiösen Bewußtseins die Grundlage. Beide Probleme aber vereinigen sich zu der Aufgabe einer allgemeinen Religionswissenschaft oder Religionsphilosophie, die nicht mit philosophischen Mitteln eine Gotteserkenntnis konstruiert, sondern kritisch-analysierend das religiöse Bewußtsein auf seine allgemeinen Gesetze und seine historischen Wertabstufungen hin untersucht, um von da aus Stellung und Bedeutung des Christen- tums unter den großen Gebilden des religiösen Lebens in voller wissenschaftlicher Freiheit zu bestimmen. Die Möglichkeit einer solchen Religionsphilosophie, die Lösung ihrer Aufgabe im Sinne der Anerkennung der Höchstgeltung des Christentums, das ist die gemeinsame Voraussetzung der rein wissenschaftlichen histo- rischen Theologie und der praktisch-vermittelnden agnostischen Dogmatik. Die reine Wissenschaftlichkeit der ersteren rührt dann her von dem wissenschaftlichen Charakter der historischen Metho- den, die für das geschichtliche Geschehen und seine Erkenntnis erfolgreich ausgebildet worden sind. Der agnostische, nur bedingt wissenschaftliche Charakter der letzteren rührt dann her von dem agnostischen Charakter aller religiösen Erkenntnis überhaupt, der überall in konservativer Fortführung bereits geschaffener Symbole und in der Anpassung an die wachsende Gesamterkenntnis be- steht und daher etwas Frei-Schöpferisches wie Gebunden-Tradi- tionelles ihrem Wesen nach behält. Beide Zweige aber sprossen aus dem gemeinsamen Stamme einer allgemeinen religionsphilo- sophischen Untersuchung, als deren Ergebnis die Höchstgeltung des Christentums nicht immer erst neu bewiesen werden braucht,

Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. 225

sondern als zur Anerkennung gebracht gelten darf. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine Theologie und eine innerlich, nicht bloß opportunistisch, begründete Existenz der theologischen Fa- kultät möglich. Nur dann beruht ihr Dasein nicht bloß auf dem vorübergehenden historischen und geographischen Zufall, daß wir gerade Christen sind, sondern auf der Anerkennung eines beson- deren inneren Wertes des Christentums selbst.

Sehen wir aber genauer zu, so ist die Forderung einer solchen Disziplin auch schon die Forderung Schleiermachers ge- wesen, des Mannes, der mit der Trennung der wissenschaftlich- historischen und der praktisch-vermittelnden Disziplinen die ganze Situation geschaffen und erkannt hat ^°). Die Trennung hatte bei ihm die Voraussetzung einer gemeinsamen Wurzel, die er philo- sophische Theologie nannte und die wir, indem wir ihre Voraus- setzungslosigkeit stärker betonen, Religionsphilosophie nennen. Er hat diese Disziplin nur skizzenweise und in der Glaubenslehre nur indirekt ausgeführt. Aber sein Gedanke im großen, die Grundlegung in der Religionsphilosophie und die Abzweigung der beiden großen Hauptzweige von diesem gemeinsamen Stamme, ist im Grunde nirgends von den Theologen ernsthaft durchgeführt worden. Das haben nur die Theologen der Hegeischen Richtung getan, aber diese haben dann gerade die Religionsphilosophie in einer Weise bearbeitet, die jene Trennung wieder verschieben und die Dogmatik zugleich zum Ausdruck wissenschaftlich er- weisbarer Methaphysik machen sollte. In Schleiermachers eigenem Sinne ist das Programm nie durchgeführt worden. Es ist erst noch zu verwirklichen, und es ist die Aufgabe der heutigen wis- senschaftlichen Theologie, es in voller Freiheit und mit breitester wissenschaftlicher Bildung in Angriff zu nehmen, statt die geist- volle aber höchst fragmentarische Skizze Schleiermachers und noch mehr deren verschleierte Ausführung in der Einleitung der Glaubens- lehre mit immer neuem Gerede zu überschwemmen. Es kann

1") Ueber die freilich sehr aphoristische Ausführung dieser Religionsphilosophie als kritischer Disziplin in der Ethik und über deren Verdeckung durch die in der Voraussetzung doch sehr gebundene »philosophische Theologie« der Encyclopädie s. Süskind. In der Einleitung der Glaubenslehre darf man diese Religionsphilosophie höchstens als latenten Hintergrund suchen. Das alles ist jetzt bei Süskind vortrefflich auseinandergesetzt. Die Verkirchlichung von Schleiermachers Religionstheorie habe ich geschildert in dem Aufsatz »Schleiermacher und die Kirche« in »Schi, der Philosoph des Glaubens« 19 10.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. IC

220 Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft.

von Schleiermachers eigener Lehre kaum ein Stein ganz auf dem andern bleiben, aber sein Programm bleibt das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie und bedarf somit nur der Aus- arbeitung, nicht des Ersatzes durch neue Erfindungen. Und es ist zu hoffen, daß die Eigenbewegung des philosophischen Denkens, das heute auch seinerseits zunehmend vor dem Problem der Religion steht, dieses Problem in ähnlichem Sinne unter Wür- digung des Historischen lösen wird, so daß auch von daher wie- der einiges Verständnis für diese Aufgabe entsteht, statt daß man die Kirche theoretisch und literarisch verachtet und praktisch sich ihrer Herrschaft unterwirft.

Erst so ergibt sich wieder ein Programm der wissenschaft- lichen Theologie und zwar ein solches, das den Vorzug hat, keine neue Erfindung und keine geistreiche Tiftelei, sondern ein alter grundlegender Gedanke unsers großen Meisters und eine organisch aus der Situation erwachsene Forderung zu sein. Da- mit wird dann wieder ein Mittelpunkt für die heute ganz des- orientierten und neuer Vereinigung bedürftigen Gruppen und Richtungen wissenschaftlicher Theologie gegeben sein, in dem die Zwietracht und die falsche Schätzung der Distanzen überwunden werden kann und von dem aus die freieste und reichste indivi- duelle Bewegung und Besonderheit möglich ist. Von da aus wird dann auch wieder das Praktische und Kirchliche zu einem Rechte kommen, das nur ein verstiegener, wirkungsloser Anar- chismus oder eine pessimistische Abneigung gegen die historische Kirche so vergessen kann, wie es heute in unserer wissenschaft- lich gebildeten Welt die Regel ist. Dsmn kann es auch von der Theologie heißen : non scholae sed vitae, und dann kann dies ihr Leben da gefunden werden, wo es allein zu Hause ist, in einer an Zukunft, lebendige Offenbarung, steigende Klarheit und stei- gende Liebe glaubenden Gemeinschaft.

227

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegen- strömungen ^i).

(Aus: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 1894.)

I.

Zur Begründung des christlichen Glaubens geht man gegen- wärtig mit Recht in immer größerer Uebereinstimmung auf die

1*) Die folgenden Aufsätze sind Vorträge , welche der Verfasser bei dem theologischen Ferienkurs zu Bonn im Herbst 1893 gehalten hat. Dieser ältere Aufsatz entspricht natürlich in vielen Punkten meinen heutigen Anschauungen nicht mehr ganz. Aber er enthält die Ausgangspunkte meiner weiteren Ge- dankenbildung und deren Grundansatz so deutlich, daß er sehr wohl zum Verständ- nis dieser dienen kann. Die Aenderungen der späteren Arbeiten liegen, wie ich zur Orientierung des Lesers vielleicht bemerken darf, grob ausgedrückt in einer Ver- schiebung des philosophischen Standpunktes von Dilthey und Lotze zu Windel- ^y band und Rickert , obwohl ich auch in deren erkenntnistheoretisch-logischer Philosophie auf den darin verborgenen , metaphysischen Gehalt stoße und nicht unterlassen kann, auch heute noch, wenn auch in anderer Weise, diesen zu be- tonen. Die zweite Aenderung liegt darin, daß ich die in diesem Aufsatz noch zu- grunde gelegte einfache Glaubensvoraussetzung der völlig einzigartigen Wahrheits- geltung des Christentums, die ich von Schleiermacher und Ritschi übernom- men hatte, gegenüber der Entvdckelung der modernen Religionsgeschichte immer schwieriger fand und dadurch auf religionsphilosophische und geschichtsphiloso- phische Untersuchungen gedrängt wurde. Es ist nur naturgemäß, daß auf diesen Aufsatz der große über die Selbständigkeil der Religion (Z. Th. K. 1895/96) und das Buch über die Absolutheit folgte. Sollte aber jemand aus diesen Angaben folgern, daß mein Interesse von Hause aus mehr allgemein kultur- und religions- kritisch als gerade spezifisch christlich-theologisch gewesen sei, so möchte ich dazu bemerken, daß natürlich dann die Frage ist, was man unter der Theologie und ihrer Aufgabe verstehen will. Als einfache Aufgabe der Weitertradierung und Apologe- tik habe ich sie nie aufgefaßt , sondern stets als Aufgabe der Orientierung im geistigen und religiösen Leben der Gegenwart, woraus eine Neugestaltung des re- ligiösen Gedankens und seiner Institutionen notwendig irgendwann hervorgehen muß. Der eigentlich christlichen Lebenssubstanz selbst habe ich dabei wahrlich die

15*

228 D^^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

christliche Heilserfahrung selbst, auf das Ganze einer religiös- sittlichen Lebensanschauung, zurück. Die Uebereinstimmung des christlichen Glaubens mit den tiefsten Bedürfnissen des Menschen- ^herzens, die Ueberwältigung des Gewissens durch das christliche Sittengebot, die demütigende und erhebende Gewalt des Evan- geliums sind im letzten Grunde die einzigen Beweise seiner Wahr- heit. Die unmittelbare Wirkung in ihrer Selbstbezeugung als gottgewirkte ist der Beweis. Darüber hinaus ist nichts zu er- warten. So hat das jüngst erst J. Köstlin in seiner hübschen zusammenfassenden Schrift »Die Begründung unserer sittlich-reli- giösen Ueberzeugung«- ausgeführt, so verfahren in der Hauptsache übereinstimmend die Theologen verschiedenster Schattierungen, Frank, Kahler, Ritschi, Herrmann, Lipsius, auch das schöne Schrift- chen von Nagel über den »Christlichen Glauben und die mensch- liche Freiheit«, eine wertvolle Betrachtung aus Laienkreisen.

Aber dieser Beweis erledigt doch bei weitem nicht alle zu stellenden Fragen ; vielmehr schließen sich an ihn zwei weitere von höchster Tragweite an.

Erstlich die Frage, die auch Köstlin andeutet, wie weit durch diesen Beweis für das christliche Prinzip auch der geschichtlich überlieferte, kirchlich fixierte Vorstellungsinhalt des christlichen Glaubens gedeckt wird, für den ein Beweis nur so zu führen ist, daß er als logisch notwendige und in der Erfahrung mitge- setzte Voraussetzung oder Folgerung dieses einzigen unmittel- bar überführenden Erlebnisses erwiesen wird. Doch das ist eine die Wahrheit des christlichen Prinzips voraussetzende und nur die innergemeindliche Ausgestaltung desselben betreffende Frage. Sie berührt nicht den christlichen Glauben als geistiges Prinzip, sondern das Schicksal der christlichen Dogmatik und das der Kirchen.

Anders steht es mit der zweiten Frage. Diese führt zur Frage nach der Wahrheit des Prinzips zurück. Nämlich bei aller Unmittelbarkeit und Gewalt jener inneren Erfahrung stellt sich

ernsteste Aufmerksamkeit gewidmet , indem ich mich in deren Wesen möglichst unbefangen hineinzuleben suchte. Die Ergebnisse hiervon liegen in meiner Ge- schichte des Protestantismus (in Kultur d. Gegenwart IV.) und in meinen Sozial- lehren vor. Auen diese Arbeiten stehen allerdings unter allgemeinsten kultur- und reli- gionsgeschichtlichen Gesichtspunkten und nicht unter spezifisch theologisch-dogmati- schen, aber sie wollen, wie schon die vorliegende, erst einmal die Situation klären helfen, deren volles Verständnis nötig ist für eine Neugestaltung unseres religiösen Lebens.

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 22Q

doch notwendig in den weniger intensiven Momenten das Nach- denken ein, wie diese Erfahrung und die mit ihr gesetzte Welt- anschauung sich zu den anderweitig bekannten Tatsachen ver- halte. Wenn hier wirklich große durchgreifende Tatsachengruppen sich fänden, die völlig sicher und doch zugleich in unvereinbarem Widerspruch mit der christlichen Weltanschauung wären, dann würde man doch in die Beweiskraft jener Stimmungen und Erfah- rungen bei all ihrer Macht Mißtrauen setzen und sich fragen müssen, ob es nicht vielleicht andere Lebens- und Weltanschauungen gäbe, die, w^enn man sie erst gründlich kannte, ebenso innerlich überfüh- rend wirkten und doch mit jenen Tatsachen in Uebereinstimmung wären. Ohne eine solche Gewißheit ihrer Zusammenbestehbarkeit mit den Tatsachen und deren wissenschaftlicher Verarbeitung würde die christliche »Erfahrung« ihre Wirkung auf die Dauer nicht behaupten können. Man würde, wie das unter dem Einfluß dieser Einsicht gegenwärtig so viele tun, nach einem anderen Glauben suchen oder sich sehnen müssen. Man würde von die- sem neuen Glauben aus jene Erfahrungen und Stimmungen etwa beurteilen, wie der von Goethes Poesie und Weltbetrachtung ergriffene Mann heute oft seine ernste und aufrichtige jugendliche Ergriffenheit durch Schiller beurteilt.

Diese Zusammenbestehbarkeit nachzuweisen ist immer der Lebensnerv und das eigentliche Geschäft aller Theologie gewesen, ob diese Aufgabe prinzipiell als solche ins Auge gefaßt wurde oder nicht. Ihre Bemühungen haben zu der großen, welthistori- schen Erscheinung des christianisierten Piatonismus und Aristo- telismus, jener merkwürdigen Philosophie der substanziellen For- men und des supranaturalen Dualismus von Natur und Gnade, geführt, welche dem Glauben von i6 Jahrhunderten als wissen- schaftlicher Rückhalt gedient hat und heute noch in dem größten Weltreich^ der römischen Kirche, die gesetzlich vorgeschriebene Wissenschaft ist. In ganz anderem Sinne ist aber jene Aufgabe brennend geworden seit dem Zusammenbruch dieser antik-christ- lichen Wissenschaft, seit dem Aufkommen der neuen europäischen Wissenschaft in Nachwirkung des großen Reformations-, Revo- lutions- und Entdeckungsjahrhunderts. Hier traten, seit die neue Wissenschaft nach dem Ende der Religionskriege die des Glau- bensstreites überdrüssigen Gemüter gewann und die große Kultur- umwälzung des 17. und 18. Jahrhunderts begann, große Strömungen hervor, die ganz neue Tatsachen und Beobachtungen mit sich

270 I-^i^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

führten und die christliche Gläubigkeit vor eine erdrückende Fülle neuer Probleme stellten. Hier beginnt die schmerzenreiche reli- giöse Krisis, in der wir uns mitten inne befinden, ohne sagen zu können, welches Ende sie wohl nehmen wird, von der wir nur mit Paulsen und anderen Forschern sagen können, daß sie auf einen Ausgleich von Wissenschaft und Religion hinarbeitet. Seitdem entbehren wir die Einheitlichkeit unseres geistigen Le- bens, welche die früheren Geschlechter in der von ihnen gestifte- ten Harmonie von Wissenschaft und Glauben genossen und ohne welche eine ruhige beglückende Arbeit an unseren Aufgaben nicht möglich ist.

Um zunächst einen Ueberblick über dieses Wirrsal von Widersprüchen zu gewinnen, seien die nach und nach heraus- getretenen Hauptströmungen kurz herausgehoben und charak- terisiert.

Am durchschlagendsten wirkte die neue Naturwissenschaft. Aus den Nebeln der phantastischen, monistischen Spekulationen der Renaissance und aus den stillen Studierstuben der Mathematiker, Physiker und Astronomen trat allmählich mit klaren, festen Zü- gen die neue mathematisch-mechanische Naturwissenschaft und der erneuerte Atomismus mit dem Begriff des mechanischen Naturgesetzes hervor im schärfsten Gegensatze zu der ganz an- dersartigen Physik und Kausalitätslehre der Philosophie der sub- stantiellen Formen. In Newtons Anschauung von dem durch einheitliche, mathematisch-mechanische Gesetze regierten Weltall fand sie zunächst ihren höchsten, das ganze Jahrhundert tief er- greifenden Ausdruck. Damit war die Gleichartigkeit und der unlösbare gesetzliche Zusammenhang der Natur als grundlegende Erkenntnis gewonnen und dem naiven biblisch-kirchlichen Supra- naturalismus ein schwerer Stoß versetzt. Zugleich traten schon die analogen Betrebungen auf dem geistig-geschichtlichen Ge- biete hervor, welche die gleiche pragmatische Gesetzmäßigkeit durch die menschliche Geschichte hindurch verfolgten und gegen den supranaturalen Dualismus auch in der Geschichte sich wand- ten. Voltaire und Gibbon gaben hier den Ton an. Aber zu- erst überwog noch der überwältigende Eindruck der neuen Na- turauffassung. Die bisher von der Scholastik gepflegte idealisti- sche Philosophie bequemte sich den mathematisch-mechanischen (Gesetzen an und nahm sie in ihren eigenen Zusammenhang auf. So entstanden die großen Systeme von Cartesius, Spinoza,

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 2"^!

Leibniz, von denen namentlich der letztere für Deutschland die ungeheure Bedeutung gewann , Naturwissenschaft und idealen Glauben für mehr als ein halbes Jahrhundert versöhnt zu haben. Vor diesen tiefsinnigen Vereinigungsversuchen machte jedoch die Konsequenz des Gedankens nicht Halt ; sie drängte zur voll- ständigen Zurückführung aller Vorgänge auf mathematisch- mechanische Bewegung und so zu rein empirischen, der Natur- wissenschaft analogen Behandlung auch der psychischen Phäno- mene. So entstand aus ihr unter der Gunst allgemeiner sittlicher und sozialer Verhältnisse in Frankreich der reine Materialismus, der auch das Leben des Geistes auflöst in atomistisch-rnechani- sche Bewegung und auch die Ethik aufbaut auf den angeblich dem Geist mit den Naturelementen gemeinsamen Grundtrieb der Selbstbehauptung. Bei allem Widerspruch gegen die schön- sten und heiligsten Ueberzeugungen ist doch die Konsequenz des Gedankens so einleuchtend und zwingend, daß dieser französisch- englische Materialismus und Sensualismus von da an sich be- hauptete und nach dem Sturze der spekulativen Philosophie in Deutschland angesichts der Triumphe der naturwissenschaftlichen Technik fast allgemeine Herrschaft erlangte. Er versuchte jetzt nur noch die feineren physiologischen und biologischen, sowie psychologischen Vorgänge von seinen Methoden aus zu erklären. In den sechziger Jahren hat F. A. Lange in seiner glänzenden : Geschichte des Materialismus klar und scharf gezeigt, wie seit den Tagen der unvollkommenen Versuche Demokrits und Epi- kurs diese Naturerklärung langsam sich durchgesetzt habe und, soweit es sich um das Verständnis der Naturseite der Welt handle, als die einzig klare, konsequente und einheitliche Erklä- rungsmethode sich unwiderleglich erwiesen habe. Und das ist jedenfalls die Ueberzeugung aller naturwissenschaftlich Gebilde- ten, daß, wie immer es mit der geistigen Welt stehen möge, jeder supranaturale Dualismus auf immer unmöglich sei; und viele setzen dazu, da die Natur doch das einzig gewisse und wahr- nehmbare sei, so sei der Geist überhaupt mindestens etwas sehr /^ Problematisches. In der Tat bildet in den Systemen des sog. psychophysischen Parallelismus, der heute die verbreitetste Lösung des Problems ist, die Naturseite mit ihrem festen, durch das Ge- setz der Erhaltung der Energie geschlossenen Zusammenhange das allein bestimmte und klare Element, während die geistige Parallele bei ihrer Unbestimmtheit im Grunde hierbei doch immer

2^2 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

wieder in Abhängigkeit von dem geschlossenen Naturziisammen- hang gerät. Das \yeiche Element richtet sich unwillkürlich nach dem festen. Darin ist die moderne Neigung zum Naturalismus begründet, die auch bei solchen obwaltet, die jeden Materialismus als rohe Metaphysik verachten.

Eine zweite wichtige Gegenströmung geht von der sog. klassischen deutschen Literatur und deren Uebergreifen auf fremde Literaturgebiete aus, jener wunderbaren Bildungswelt, die uns nicht nur eine Fülle von Bildern und Leidenschaften, von Schöp- fungen reicher Phantasie und poetischer Gestaltungskraft, sondern vor allem ein neues Schönheitsevangelium, eine neue Weltan- schauung und eine neue Ethik gebracht hat oder doch bringen wollte. Sie hängt ihrerseits mit der Antike, dem Humanismus und der Renaissance zusammen und führt daher nicht mit Un- recht den Namen des Neuhumanismus. Diese optimistisch- ästhetisch-immanente Weltanschauung stützt sich vor allem auf die Tatsache des Schönen, insbesondere auf die von Winckelmann wie- der entdeckte oder vielmehr zum Menschheitsideal verklärte Plastik der Hellenen und die Poesie des Homer, sowie auf deren Nach- wirkungen in der Kunst und Kultur der Renaissance. Herder und Goethe sind ihre weitherzigen, die ganze Entwickelung des mensch- lichen Geistes in dem ihren bewegenden Propheten; Schiller hat in energischer Gedankenarbeit ihren Ideengehalt präzisiert und formu- liert und damit in die philosophische Literatur übergeführt. Auf diesem Boden der poetischen Literatur erhob sich dann, das Kan- tische System ganz in sich aufsaugend, das gewaltige System der romantischen Philosophie, deren abschließende Kodifikation in der Riesenarbeit Hegels vorliegt. Der spekulative Gedanke des Schönen als der inneren Einheit von Geist und Natur im lebendigen Or- ganismus versöhnt hier die starren Massen der mechanisch-mathe- matischen Natur mit der inneren Lebendigkeit des Geistes, die unendliche F'ülle des Einzelseins mit der Einheit eines Ganzen. In Benützung Kantischer Gedanken erscheint hier die Natur als der Ausdruck, als die Gegenseite des Geistes, und der ästhetische Blick auf das wirkende Ganze der Natur erkennt überall in ver- schiedener Mischung dieselbe Identität von Geist und Natur wieder, die nur in besonderer Weise uns im menschlichen Wesen erscheint. Das Ganze der Natur ist beseelt und ist ein einheit- licher lebendiger Kosmos, das sich rhythmisch nach dem Gesetze der Schönheit bewegende All, die wirkende Gottnatur. Dabei

Die christliche Weltanschauung und ihre Gesenströmungen.

233

fällt der Nachdruck weniger auf die Eingliederung der mechani- schen Gesetzmäßigkeit der Natur in den lebendigen Kosmos als auf die Nachweisung des einheitlichen, stufenweise sich entfalten- den Geisteslebens in der Geschichte, als in welchem der in der Natur noch schlummernde Geist erst zu vollem Leben erwacht. Ja, die mechanistische Naturanschauung wird überhaupt bekämpft und durch eine poetisch-entwickelungsgeschichtliche Theorie von der Materialisierung des Geistes und der zunehmenden Vergeisti- gung der Materie ersetzt. Das kommt aber vor. allem einer künst- lerischen Anschauung vom Wachstum des menschlichen Geistes zu- gute. Jetzt ergeben sich die unendlich fruchtbaren Ausblicke auf das einheitliche Werden des geistigen Gesamtlebens und die Fort- führung der von Gibbon und Voltaire begonnenen historischen Vergleichung in einer ungleich einschneidenderen Weise. Vor der jetzt eröffneten Einheit des Lebens in allen scheinbar noch so verschiedenen Formen verschwinden die Künste des rationa- listischen Supranaturalismus und supranaturen Rationalismus, in denen der biblisch-kirchliche Supranaturalismus mit jener bloßen Einheit der Naturgesetze akkordiert hatte. Es ist der Gedanke des ästhetischen Monismus. Die Einheit des Seins ist die Einheit von Geist und Natur im Kunstwerk, die Einheit des Werdens ist die Einheit des gesetzmäßig sich entfaltenden Schönheitsgehaltes der Dichtung, insbesondere der Goethischen Dichtung. Die Ge- brüder Schlegel haben diesen Zusammenhang in Prosa und Ver- sen begeistert verkündet. So ist der Einheitsgedanke in seiner stengsten Form mit allem Zauber ästhetischer Stimmung um- geben, mit der Tatsache des Schönen aufs innigste verknüpft und damit die Grundlage einer mächtig auf das Gemüt wirkenden Weltanschauung gegeben. Der Entwickelungsgedanke in dieser seiner ästhetischen Form dient nur dazu, alles als die harmonische Offenbarung des All-Einen zu begreifen. So ist ferner im Zu- sammenhang damit das Ideal einer immanenten, ästhetischen Ethik aufgestellt, wonach das Individuum seinen gegebenen Gehalt und Reichtum aus sich heraus in ruhiger, sicherer, klarer Lebens- freudigkeit harmonisch zu entfalten habe und das schöne Ganze des Lebenskunstwerkes der Zweck und Sinn des Daseins, der Inhalt der sittlichen Aufgabe, sei. Es liegt auf der Hand, wie von hier aus nicht nur der Gegensatz gegen den biblisch-kirch- lichen Supranaturalismus verschärft ist, wie es sich nicht um eine bloße tote Negation alles Religiösen und Christlichen handelt,

2^4 ^^^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

sondern wie hier eine positive, von Grund aus andersartige Lebens- anschauung der christlichen entgegentritt. Entgegen dem christ- lichen Dualismus von Gott und Welt im Glauben, von Weltlich- keit und Uebervveltlichkeit in der Ethik tritt hier der sonnige Glaube an die Einheit der Welt und des Lebens in sich selber, an die Selbstgenügsamkeit der reichen schönen Individualität und die Verbindung der Individuen in der Humanität. An die Stelle des christlichen Kultus des Häßlichen, Elenden und Verkümmerten tritt die Verehrung des klassisch Schönen. Von dem ungeheuren Einfluß dieser Ideen aus erklärt es sich, wenn heute Philosophen wie Paulsen, Volkelt, Wundt u. a. für die Religion der Zukunft den idealistischen Pantheismus als Voraussetzung bezeichnen. Zugleich wirken hierin die beständigen Erinnerungen an das klas- sische Altertum und seine Systeme mit, die unter analogen Ein- flüssen gestanden haben, sowie der Eindruck der pantheistischen Mystik, welche überall als Zersetzung der arischen Naturreligio- nen eintritt.

Freilich beginnt diese Gegenströmung in dem wissenschaft- lichen Denken der Gegenwart von einer dritten abgelöst zu wer- den, für welche gegenüber der grausamen Härte der Natur, dem sozialen Elend und der Verworrenheit des Geschichtslaufes der ästhetische Zauber wirkungslos und die Tatsache der hin und wieder vorkommenden Schönheit in betreff des Welträtsels be-

I langlos geworden ist. Erkenntnis und Beherrschung der positiven

' Tatsachen ist alles. Es ist französische und englische Denkweise, deren Durchsetzung in Deutschland durch die Auflösung des ästhe- J tischen Optimismus vorbereitet wurde. Mit dem Fortfall des ästhe- tischen Optimismus wurde der poetische Monismus zum pessimisti-

I sehen, wie dies bei Schopenhauer und zum Teil bei v. Hartmann ein- getreten ist, oder er fiel, mit der Poesie auch des Glaubens an den Wert des Geistes beraubt, in den Materialismus und Sensualismus zurück, wie Strauß und Feuerbach das als Ergebnis der Hegeischen Spekulation zu enthüllen glaubten. Aber beide Richtungen ver- mochten sich nicht dauernd zu behaupten. Die erste hat ihren romantischen Zauber und ihr tragisches Pathos, die ihr von ihrem Ursprünge her anhafteten, abgestreift und ist in einer praktisch gerichteten Zeit zur trüben Resignation und Beschränkung

I auf einen relativen, praktisch erreichbaren Glückszustand herab- gesunken. Die zweite erlag dem energischen Ansturm der neu- kantischen Erkenntnistheorie , welche die Natur vielmehr zum

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 2'iK

eigentlich Problematischen machte, und ihren bedenklich hervor- tretenden praktischen Konsequenzen, vor denen es den friedlichen Bürger zu grauen anfing. So ist denn der Charakter der Gegen- wart ein erkenntnistheoretisch angehauchter Skeptizismus, der sich in der Natur und dem Geistesleben an die gegebenen Phä- nomene hält und darauf verzichtet, das über diese Bruchstücke hinaus oder ihnen zugrunde liegende Sein zu enthüllen. Es gibt wohl eine einheitliche Lebensenergie, aber niemand kennt sie. Keinesfalls gleicht sie dem christlichen Gott oder dem Hegeischen absoluten Geiste ; Zweckmäßigkeit und Vernünftig- keit ist in ihr wunderbar gemischt mit Ohnmacht, Härte, Grausam- keit und Laune. Der Mensch ist auf die phänomenale Wirklich- keit allein angewiesen, und sie genügt ihm, da er glücklicherweise Kraft und Intelligenz genug hat, seine wichtigsten Bedürfnisse in der Anpassung an sie befriedigen zu können. Die Natur ist zwar in ihrem Wesen ein Problem, aber eine gegebene Tatsache, und wir können damit zufrieden sein, daß wir durch unsere natur- wissenschaftlichen und technischen Methoden von ihr verstehen, was wir zum Leben brauchen, daß wir die Konstruktion ihrer an sich höchst problematischen Gesetze unserer Berechnung der Lebens- zustände sicher zugrunde legen können. Auch im geistigen Leben gilt es, nur an das Gegebene, d. h. an die sinnlich deut- lichen, durch die Natur der Dinge vorgeschriebenen und in ihr tatsächlich erreichbaren Zwecke sich zu halten, anstatt sie zu lähmen und zu verwirren durch Verbindung mit transzendenten Motiven und Zielen, welche nur von der der unerbittlichen Natur- grenzen noch unkundigen Phantasie kindlicher Weltzeiten ersonnen werden konnten. Diese zum Teil heterogenen, nur durch den Begriff des »Gegebenen« vereinigten Gedankenmassen haben ihre Zusammenfassung gefunden in der Denk- und Lebensrichtung des Positivismus, der von der französischen Mathematik und Stati- stik ausgehend, mit der aus dem vorigen Jahrhundert direkt fort- geführten englischen Philosophie sich vereinigend gegenwärtig in dem philosophisch ermüdeten und praktischen Lebensaufgaben zugewendeten Deutschland einen fruchtbaren Boden gefunden hat. Der Neukantianismus beginnt in ihn überzugehen, d^ pessimi- stische Verzicht auf eine sinnvolle Einheit der Welt nimmt in ihm eine andere weniger phantastische Gestalt an, und die großen sozialen Bestrebungen finden an seiner Ethik ihren Bundesgenossen. In seiner Begrenzung auf das Gegebene und seiner Abneigung

236 D'^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

gegen die Ideen ist er oft nur ein »verschämter Naturalismus« und unterscheidet sich von dem Materiahsmus wesentlich nur durch seine Skepsis. Nur zwei energische Grundgedanken be- seelen diese vorsichtige, kühle und resignierte Denkweise ; der Gedanke der Evolution d. h. der kausalen Erklärung alles Wer- dens aus den äußeren Beziehungen und der der Sozialethik d. h. der durch Kenntnis der Natur- und Lebensgesetze herbei- zuführenden möglichsten Steigerung der Gesamtwohlfahrt. In dem ersteren Gedanken lebt ein staunenswerter Mut des Erklärens, der für die sonst geübte Skepsis entschädigt. Was das Sein auch sei, es ist ein endlos Werdendes und dieses Werden vollzieht sich in der kausalen Einwirkung äußerer Beziehungen. Insbeson- dere können so die Geheimnisse des organischen und geschicht- lichen Lebens erklärt werden. Aus den kleinen Elementen von Veränderungen und Anpassungen, zu welchen äußere Beziehungen nötigen, erwächst durch Gewohnheitsaneignung, Summation, Ver- erbung nach und nach der ganze Reichtum des organischen Lebens mit seinen nur scheinbar getrennten, in Wahrheit fließenden Typen, indem der Kampf ums Dasein zu immer erneuerter Anpas- sung nötigt und die Ausscheidung des schlecht Angepaßten besorgt. So entsteht aber auch die ganze geschichtlich-menschliche Welt in Fortsetzung des gleichen Werdegesetzes. Aller scheinbar durch sich selbst geltende Besitz des Geistes ist so von außen entstanden und wird von außen weiter gewandelt werden nach bestimmten Gesetzen der Massenbewegung. Hier haben die bio- logischen Entdeckungen und Methoden Darwins als Impuls ge- wirkt, und man hat diese Erklärungsprinzipien sofort auf alle anderen Lebensgebiete übertragen. Ueberall stößt man auf die Tatsachen der physischen Bedingtheit des psychischen Lebens, auf die Bedeutung der äußeren Verhältnisse, des jetzt sog. Milieu, für die geistige Entwickelung, auf die statistischen Gesetze der sozialen Massenbewegung , die der Vererbung usw. Unsere jüngste Literatur ist sogar auf den wahnwitzigen Gedanken ge- raten, auf diese Dinge die Gesetze der Aesthetik zu gründen und das im gewöhnlichen Leben als Freiheit Erscheinende in ihren Werken lediglich als Abwandlung, erklärbar aus Naturgesetzen, vor- zuführen. Mit alledem ist aber zugleich ein diese Gesetze erken- nender und benützender Geist gesetzt, der ein »Element« von Ver- nünftigkeit in dem großen Chaos bildet, eine in sich zusammenhän- gende, relativ wertvolle Zweckentwicklung erlebt inmitten des Stru-

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 2^7

dels von Werden und Vergehen, durch den alles übrige zum Zufall vergleichgültigt wird. Für diese Intelligenz erwächst die Aufgabe, ihre gegebenen und möglichen Zwecke d. h. den Zweck der mög- lichen Gesamtwohlfahrt unter Benützung dieser Gesetze wissen- schaftlich zu berechnen und mit aller Kraft eines einheitlichen Gattungswillens in kluger Anpassung an die Natur klar, nüchtern und sicher durchzuführen. An dieser Stelle allein kommt eine gewisse Ueberlegenheit der Intelligenz über die Natur zur Geltung, deren Gesetzmäßigkeit die Berechnung des Erreichbaren und der Mittel bei aller Härte doch ermöglicht. Die menschliche Gattungs- vernunft ist das einzig Sinnvolle, der einzige verständliche Punkt in der allgemeinen rastlosen Evolution ; sie tritt an die Stelle des früheren Göttlichen. Es ist die von jeder Religion und dem kate- gorischen Imperativ völlig emanzipierte Ethik des greatest happines principle, welche nur von dem Pathos resignierten Wirklichkeits- sinnes und ernster Richtung auf das Gesamtwohl belebt ist. In sie mündet die den wirtschaftlichen und sozialen Problemen ge- widmete Denkbarkeit aus. In der klaren Erkenntnis innerwelt- licher Gemeinschaftszwecke, deren Erreichung erst den Einzelzweck sichert, wird das »Sittliche« viel fester und reiner begründet sein als in den selbstsüchtigen Träumen einer jenseitigen Glückseligkeit oder den undeutlichen Phantasien eines mystischen Imperativs. Die stete Angespanntheit durch diese Zwecke, die volle Verant- wortlichkeit für die Ausnützung jedes Momentes, das beständige Auf-sich-selbst-Gestelltsein ist erhabener als die Projektion der höchsten Hoffnungen und Ziele in ein Göttliches, das die Ver- säumnisse wieder gut machen und alles Fehlende ergänzen kann. In seiner vortrefflichen Geschichte der Ethik spricht Jodl den Wunsch aus, die Menschheit möchte doch endlich einsehen, daß sie in all diesen Projektionen nur sich selbst anbetet, ihr besseres Selbst, ihre Ideale, ihre Zukunft. Mit klarem liebreichem Ernst und fast erschreckender Kenntnis des Seelenlebens führt George Eliot, die Schülerin Mills, Comtes, Strauß', in ihren wunderbaren Romanen den Gedanken durch, daß die von den selbstischen Täuschungen der Religion freie Sittlichkeit nicht bloß die besser begründete, sondern auch die reinere und intensivere sei.

Hiermit sind die verschiedenen Hauptgegenströmungen ge- kennzeichnet^^). Es versteht sich von selbst, daß sie sich verschie-

^^) Das ist 1894 geschrieben. Inzwischen ist die Lage vielfach verschoben. Es ist die Popularisierung Nietzsches, die Neuromantik und der Neuidealismus, die

2^8 D^^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

deutlich mischen und annähern und daß mancherlei weniger be- deutende Anschauungen daneben hervortreten. Aber auf die Ein- zelheiten kommt es hier nicht an, nur auf die zahlreichen Pro- bleme selbst. Diese aber kehren, wenn auch mit verschiedenen Lösungen, bei den verschiedenen Gruppen und Denkern, immer wieder. Es ist das Naturproblem, das Religions- und Kunstpro- blem, das ethische Problem und schließlich das Problem des Verhältnisses von Sein und Werden. Ebenso ist wohl zu bemer- ken, daß durch alle in mancher Hinsicht ein gemeinsamer Geist trotz aller handgreiflichen Verschiedenheit hindurchgeht. Eucken hat in seinen »Lebensanschauungen der großen Denker« diesen modernsten Geist zu fassen und charakterisieren versucht. Es ist aber immer mißlich, so bunte und von vielfachen Einflüssen bewegte Bildungen auf Ein geistiges Prinzip zurückzuführen. Das als solches herausgehobene wirkt in Wahrheit doch nur als eines unter vielen Motiven. Auch Euckens Darstellung ist der Natur der Sache nach einseitig, undeutlich und viel zu kon- struktiv ausgefallen. So weit von einem solchen Geiste etwas zu fassen ist, soll später noch von ihm die Rede sein. Zunächst ist das wichtigste für uns zu beachten, daß es sich nicht bloß um mehr oder minder verwerfliche Theorien, sondern um eine ungeheure Summe von Tatsachen aus der Natur und dem ge- schichtlichen Leben handelt, welche von ihnen gedeutet werden und die auch für uns vorhanden sind. Zugleich ist hervorzuheben, daß wir es hier nicht mit einzelnen Erzeugnissen gelehrter Schulen, sondern mit allgemeinen Strömungen der Weltliteratur, der Bewe- gung des modernen Lebens selbst, zu tun haben. Die Literaturen der großen modernen Völker sind naturgemäß nichts anderes als die Arbeit an der religiösen und ethischen Frage, welche die Frage der Menschheit überhaupt ist. Mit diesen Literaturen hat die Theologie sich auseinanderzusetzen, und im Vergleich zu dieser Auseinandersetzung ist die Bearbeitung der Probleme des gelehrten theologischen Schulbetriebes ein harmloses Konventikelvergnügen, ein Kinderzank im brennenden Hause.

Philosophie Bergsons und die große Entwickelung der erkenntnistheoretischen Phi- losophie gekommen; s. meinen Aufsatz »Neunzehntes Jahrhundert« in Prot. Real- enzyklopädie 3, Aber immer noch sind die hier geschilderten drei Gruppen die klarsten und verbreitetsten. Am meisten zurückgegangen ist der an zweiter Stelle genannte humanistische Typus. Aber die Mächte, vor denen er zurückweicht, sind nicht etwa die ideellen, sondern die praktischen : Demokratie und Kapitalismus,

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 239

Und zwar kommt hierbei der Gesamtkomplex des Christen- tums, die christliche Weltanschauung als Ganzes in Frage, nicht eine einzelne Lehre. Insbesondere kommt es nicht auf jenen äußerlichen Supranaturalismus der biblisch-kirchlichen Weltan- schauung an, der sie bestenfalls nur begründet, legitimiert und sichert, nachdem sie ihre erste überführende Hauptwirkung an den Gemütern bereits getan hat. Es handelt sich vielmehr um den religiössittlichen Inhalt der christlichen Gesamtanschauung, wie er in dem großen geschichtlichen Phänomen des Christentums hervortritt. Das kommt auch in der anfangs bezeichneten Pro- blemstellung der ganzen neueren Theologie zum Ausdruck, welche von der christlichen Heilserfahrung als einem Ganzen religiös- sittlicher Lebensrichtung ausgeht und die supranaturalen Thesen j -^' nur als hieraus folgend oder hiermit gegeben zu behaupten wagt. Damit hat die Theologie bereits unbewußt unter dem Druck der modernen Weltanschauung die naiven alten biblisch-kirchlichen Ausgangspunkte in die zweite Linie gerückt und das, was einst selbstverständlicher, überwältigender und überzeugender Ausgangs- punkt war, in eine mühsam zu gewinnende Folgerung verwandelt. Wenn aber ein überrealistischer Historiker das Christentum für unablösbar von seiner ersten naiv supranaturalistischen Ausprä- gung erklärt, dann versagt seine Abneigung ihm die Gerechtig- keit, welche seine Sympathie z. B. dem Geiste der hellenischen Kultur in der Regel ohne weiteres zu erweisen gewöhnt ist. So gut wir diesen Geist auch abgelöst von der historischen Besonder- heit der griechischen Mythologie und Privat- und Staatsaltertümer in mächtiger Wirksamkeit wahrnehmen, ebensogut ist der Geist des Christentums auch ohne seine erste geschichtliche Gestaltung verständlich und lebendig. Eine sehr schöne und größtenteils """^ treffende Darstellung des geistigen Gehalts des Christentums hat Eucken in seinem erwähnten Buche gegeben. Ebenso sei an die Ausführungen am Schlüsse von Wellhausens Abriß der Geschichte Israels erinnert.

Es handelt sich also für die Theologie aller Schattierungen darum, ob ihre ethisch-religiöse Gesamtanschauung von Gott, Welt und Mensch mit den in unseren Gesichtskreis gerückten neuen Tatsachengruppen zusammenbestehen könne oder ob die Unvereinbarkeit beider uns zur Gewinnung einer anderen Welt- anschauung, zur Hoffnung auf eine neue Religion forttreiben müsse. Die Beantwortung dieser Frage ist nun freilich nicht in

240 D'^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

der Weise möglich, daß man jede der angegebenen Tatsachen- gruppen und Theorien direkt an der christUchen Weltanschauung mißt. Man kann den christlichen Glauben nicht ohne weiteres mit einem Naturgesetz oder der Entwickelungstheorie auseinander- setzen, wie das die populäre Stegreifapologetik immer wieder versucht. Jener entspringt wie alle Religion aus den eigentüm- lichen Quellen innerster Gemütserregungen und ist an und für sich unvergleichbar mit den theoretischen, auf Grund umfassender Kombinationen gebildeter Weltanschauungen, weshalb auch die das Christentum für ausgelebt erachtenden Denker nur die Rich- tungslinien der Zukunftsreligion bestimmen wollen, diese selbst aber erst von einer neuen Regung des religiösen Genius, von einem neuen Prophetismus erhoffen. Dagegen ist zu erv;arten, daß jene Tatsachengruppen wohl auch andere Deutungen zuge- lassen und hervorgerufen haben w^erden, welche mit der christ- lichen Weltanschauung vielleicht eher harmonieren. Wir haben daher nichts anderes zu tun, als diejenigen Gedanken und Denk- richtungen im modernen wissenschaftlichen Leben aufzusuchen, welche jenen Tatsachen andere Deutungen widerfahren lassen, und zu prüfen, ob diese nicht vielleicht mit den Grundideen des christUchen Glaubens besser übereinstimmen. Wenn anders dieser Glaube tief im menschlichen Wesen begründet ist und der Wahr- heit irgendwie nahe kommt, so ist es wahrscheinlich, daß das menschliche Nachdenken von selbst durch die innere Konsequenz der Sache unter allen mögUchen Irrgängen doch auch zu Deutungen geführt werde, die mit ihm harmonieren. Daß dies der Fall ist und daß auch in der scheinbar so gänzlich veränderten Geistes- und_ Tatsachenwelt der modernen Wissenschaft die alten Daseins- ^agen)und mit ihnen die alte Antworten der christlichen Weltan- schauung ihren Ort behaupten, das ist eine Ueberzeugung, die, wie ich glaube, wohl begründet werden kann und nicht bloß apologetischer Notdurft und Voreingenommenheit entspringt. Ich versuche daher im folgenden nichts anderes als diese vom bisher Geschilderten abweichenden und uns entgegenkommenden Deu- tungen und Theorien eben derselben Tatsachen zusammenzustellen und beanspruche für diese Erwägungen keinen anderen Wert als den der Orientierung über längst Gewußtes. Diese Denkrich- tungen sind, um sie im voraus kurz zu bezeichnen, der meta- physische Idealismus auf erkenntnistheoretischer Basis, die den Gesichtspunkt des Imperativs und des Zweckes einheitlich ver-

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 24. 1

arbeitende idealistische Ethik, der auf das Gesamtphänomen der Religion und dessen Entwickelung begründete Theismus und die vorsichtigen entwickelungstheoretischen Grundsätze unserer deut- schen Geschichtswissenschaft.

II.

Es handelt sich zunächst um die eigentlichste Eroberung der neueren Wissenschaft, durch welche dieselbe von der Antike und dem Mittelalter sich durchgreifend unterscheidet und den Impuls, zu einer vollständigen Umbildung alles wissenschaftlichen Denkens gegeben hat, um die mathematisch-mechanische Natur- wissenschaft und die von derselben aufgewiesene und voraus- gesetzte Gesetzmäßigkeit der Natur. Es ist ihre Tendenz, die ganze Wirklichkeit von den großen Bewegungen der Himmels- körper bis in die minutiösesten physiologischen Vorgänge aus den Gesetzen mechanischer Bewegung mit Stoß und Gegenstoß, Anziehung und Abstoßung zu erklären, in allem vorübergehende Aggregatzustände kleinster Elemente zu erkennen, deren Be- wegungen und Verhältnisse mechanisch berechenbar sind. Sehr klar und scharf hat Du Bois-Reymond das Ideal dieser Wis- senschaft in seinem bekannten Ignorabimus-Vortrage geschildert, ihre wichtigsten und allgemeinsten Gesetzesformulierungen hat jüngst Ernst Häckel in seinem Vortrage über den Monismus xA, populär zusammengestellt. In dieser ungeheuren Maschinentätig- keit der Natur erscheint für jeden, der seinen Ausgangspunkt bei der naiven Anschauung von der Wirklichkeit nimmt, der Geist als eine winzige, widerspenstige Ausnahmsprovinz, und für den Einheitsbetrieb des Denkens ergab sich von hier aus die Forderung, die paar geistigen Erscheinungen als gesetzmäßig ent- stehende und vergehende Wandelungsformen des Stoffes zu ver- stehen, wie man ja auch die Wärme als verwandelte Bewegung | erkannt hat. Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, die in der Natur der Sache liegende JForderimg eines überall lücken- losen mechanischen Zusammenhangs, der durch die kleinste Ein- wirkung von anderswoher sofort total zerstört würde, zwingen mit innerer Notwendigkeit zum Ausschluß des Geistes als einer selbständigen Kraft aus dem streng geschlossenen Ring der Wirk- lichkeit. Das ist die Grundposition und die Stärke des Materia- lismus. Der strenge Materialismus ist, wie Lange sehr schön -^ entwickelt, die unweigerliche Konsequenz der streng durchgeführ-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. l5

242 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

ten naturwissenschaftlichen Prinzipien, das einzige in sich klare, widerspruchslose und vollständig einleuchtende System der Wirk- lichkeit. Seine Betrachtungsweise ist nur Hypothese und zwar eine verschiedene Urdata voraussetzende Hypothese, die nicht entfernt an allen Objekten sich empirisch beweisen läßt, aber sie ist eine aus dem Wesen des Naturerkennens notwendig entsprin- gende Hypothese. Es ist selbstverständlich, daß von hier aus j mit dem selbständigen Wert des Geistes auch alle christliche Sittlichkeit und Frömmigkeit verschwinden muß. Es bleibt nur eine auf die Naturtriebe der »Geist« genannten Erscheinungen be- gründete sensualistische Güterethik, die, wie die Geschichte zeigt, allerdings wohl mit ehrlichem Ernst der Gesinnung vereinbar ist. Hier ist es nun aber sehr leicht, zu zeigen, daß diese mate- rialistische Wertung der naturwissenschaftlichen Tatsachen nicht bloß sehr wohl vermeidbar, sondern total unmöglich ist. Ein Wörtlein kann diesen Gegner fällen, nämlich, daß die Natur mit all ihren Gesetzen, wie wir sie kennen, nur in unserem Geiste existiert und in gewisser Hinsicht geradezu ein Erzeugnis des Geistes, die Vorstellung desselben ist. Der Geist ist unter allen Umständen das prius in aller dem Menschen zu Bewußtsein kom- menden Wirklichkeit, und nicht das ist die Schwierigkeit, von j \ der Natur zum Verständnis des Geistes, sondern vom Geiste zum Verständnis der Natur zu kommen. Dieser Bannspruch, der in seiner wichtigsten Formulierung der kantischen Philosophie ent- stammt, ist daher auch oft genug gebraucht und insbesondere von Theologen kräftig gehandhabt worden. Auch wo man die Theorien des Humeschen Skeptizismus für die konsequenteren und klareren hält, ist das Ergebnis das gleiche. Ihm ist in den wissenschaftlichen Kreisen der Materialismus bereits erlegen.

Aber damit ist die Sache nicht zu Ende. Die eigentlichen Probleme beginnen hier erst, wie sie mit großer Klarheit z. B. E. v. Hartmann in der »kritischen Grundlegung des transzen- dentalen Realismus« dargelegt hat. Es entsteht die Frage nach dem Außer-Ich, der Beziehung zu diesem, dem Wirklichen, den Dingen. Es knüpft sich an diese Abweisung einer dogmatisch- materialistischen Metaphysik des naiven Bewußtseins die nun ver- tiefte Frage nach dem Wesen der Dinge, das Problem der On- tologie oder kritischen Metaphysik, das eine Auffassung der Dinge vom Standpunkt dieses kritischen Bewußtseins aus erstrebt und die Tatsachen der Naturwissenschaft in eine entsprechendere

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Theorie über das Verhältnis von Natur und Geist zu verarbeiten sucht.

Viele, insbesondere die sog. Positivisten, bleiben hier bei der reinen Skepsis stehen und erblicken in der Natur, die sie in ihrem Geiste vorstellen, nichts als ein ungeheures Rätsel, das man ohne viel erkenntnistheoretische und metaphysische Selbstquälerei auf sich beruhen lassen kann, und demgegenüber es genügt, in unserer Vorstellung von Naturgesetzen ein ungefähres, nach Bedürfnis modifizierbares, zum praktischen Hausgebrauch dienendes Werk- zeug der Weltbearbeitung zu besitzen. Diese Meinung von der feinen Subjektivität und praktischen Bedingtheit der Naturgesetze scheitert aber an dem ihnen innerlich einwohnenden Zwang, dem untrennbar begleitenden Bewußtsein um die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit der gesetzlichen Ordnung überhaupt, in der Sprache Kants, an der Apriorität der synthetischen Funktionen, welche die Positivisten und Anhänger Humes vergeblich aus der bio- logischen Anpassungs- und Vererbungslehre zu erklären suchen. Vollends am praktischen Endergebnis des Materialismus ändert diese Denkweise nur wenig, da bei der Beschränkung auf das Gegebene, der prinzipiellen Unklarheit über das Verhältnis von Geist und Natur das geistige Leben nach der gegebenen Natur sich zu richten hat und keine produktive, klare, im Weltzusam- menhang begründete Ueberlegenheit über die Natur besitzt. Von hier aus wird das Naturerkennen nicht bewältigt und wird ins-/ besondere der Eigenwert des Geistes und die Möglichkeit über- weltlicher Ziele nicht ausreichend sicher gestellt, welches letztere nur bei einer klaren Abrechnung mit der Natur möglich ist. Wenn Kaftans Apologetik sich auf diesen skeptischen Stand- punkt gestellt hat, so vermag er ihren Konsequenzen nur durch die etwas plötzliche Einführung der alles sicher stellenden Offen- barung in Christo auszubeugen, ohne daß er die ausschließliche Supranaturalität dieser Offenbarung gegenüber den Offenbarungs- ansprüchen anderer Religionen deutlich begründet und das Wesen dieser Supranaturalität nur überhaupt zu erläutern unternommen hätte. Andere, die strengen Neukantianer, begnügen sich bei der Tatsache der bloßen Phänomenalität und der Tatsache notwendiger Anordnung derselben durch die Bewußtseinsgesetze zu einem gesetzmäßigen Zusammenhang und überlassen die Frage nach dem Außer-Ich sich selbst, um möglichst rasch zu den Fragen der prak- tischen Vernunft d. h. den auf sie zu begründenden übersinnlichen

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Wahrheiten der SittUchkeit und Religion zu gelangen. Aber ganz abgesehen von der logischen Unmöglichkeit, diese so mit innerer Not- wendigkeit sich aufdrängende Gewißheit eines Gegebenen und vom Menschen Unabhängigen außer Ansatz für das weitere Nachdenken zu lassen, ist auch hier und gerade hier gegenüber der als gesetz- mäßiges Ganzes vorliegenden Natur das Wesen und die Selbständig- keit des Geistes nicht genügend fest begründet, um sich ohne weiteres der Idealwelt des Geistes zuwenden zu können. An diesem Punkte ist stets eine Lücke und Zusammenhangslosigkeit im Kantischen System schmerzlich empfunden worden, und Kant selbst hat bekanntlich die Füllung dieser Lücke mit seiner un- vergleichlichen Vorsicht erwogen. Unter den Theologen hat besonders Herrmann diese Abrechnung mit der Natur zur Vor- aussetzung seiner theologischen Arbeit gemacht. Der Frage, was denn nun mit der Natur sei und ob man denn bei der Be- handlung der idealen Fragen sie so einfach im Rücken liegen lassen dürfe wie eine uneroberte Festung, begegnet er mit ethischen Motiven. Die Frage nach der Natur und ihrer Stellung zu Gott entspringe dem ethisch indifferenten naturreligiösen Triebe über- wundener Religionsstufen und sei heidnisch. Aber es ist doch nicht nötig, die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Geist gleich in dem Sinne des monistischen Naturpantheismus zu be- antworten, und wäre dies unweigerlich nötig, ja dann hätten wir eben ein nicht zu beseitigendes Hindernis für den christlichen Glauben, um das auch alle ethische Betrachtungsweise nicht herumkommen könnte. Es ergibt sich also gerade von hier aus die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Natur.

Man braucht unter Metaphysik nicht immer bloß die deduk- tive Ableitung des Seienden von einer Grundeinheit zu verstehen. Das wagt längst fast niemand mehr. Ebensowenig braucht man mit den Kantianern von der Theorie der Sinnlichkeit und des Verstandes d. h. von der Theorie der Entstehung einer Sinnenwelt für den Geist gleich zu den diese Welt zusammenfassenden letzten Vernunftideen einer ihr zugrunde liegenden oder für sie vom Ein- heitstriebe postulierten Einheit aufzusteigen. Das liegt erst am Ende des Weges, während zunächst doch die Fragen nach dem Wesen der einzelnen in dieser sinnlich-verstandesmäßigen Welt wahrge- nommenen Dinge und diese selber wiederum nicht über der Frage nach den Gesetzen ihrer Verknüpfung vergessen werden dürfen. Die Metaphysik kann sich der bescheidenen und vorsichtigen Auf-

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gäbe nicht entziehen, von der Erkenntnistheorie aus die unmittelbar entspringenden und unabweisbaren Fragen nach dem in jedem Ein- zelfall enthaltenen elementaren Verhältnis von Geist und Natur zu beantworten. Von hier aus kann sie dann weitere Ausflüge nach den letzten zusammenfassenden Fragen des Absoluten unternehmen, ein zweifellos sehr unsicheres Gebiet, in dem uns alle sinnlichen Er- fahrungsanalogien verlassen. Aber wegen dieser Fruchtlosigkeit der Bemühungen um die höchste Spitze sind doch die an der Hand der Erfahrung bleibenden elementaren Bemühungen um die Basis nicht zu verwerfen. Vielmehr wird gerade an ihnen das uns interessie- rende Problem wenigstens in den wichtigsten Grundlagen gelöst. Eine solche Lösung dürfte, soweit dies bei solchen Dingen möglich ist, in der Tat bei jener breiten philosophischen Strömung zu finden sein, welche es wagt von der Tatsache des Ineinander von Ich und Außer-Ich aus die Frage nach dem Außer-Ich in seinem Verhältnis zum menschlichen wie zum Prinzip des Geistes über- haupt zu stellen und zu beantworten. Wenn diese Strömung auch gegenwärtig durch den Neukantianismus und den Positivis- mus etwas zurückgedrängt ist, so glaube ich doch mit einer großen Anzahl von Philosophen und Theologen verschiedenster Rich- tungen, daß hierzu eine unabweisbare Notwendigkeit vorliegt und daß wir nur von hier aus eine gesicherte Voraussetzung für den idealen Glauben jeder Richtung gewinnen. Mit derselben Not- wendigkeit, mit der diese Fragen einst an den Kantianismus heran- traten, folgen sie auch wieder dem Neukantianismus nach Er- ledigung seiner ersten Absicht, des Kampfes gegen den Materia- lismus, auf den Fersen. Es kommt an dieser Stelle nun gar nicht weiter in Betracht, auf welche Weise dieses Problem im einzelnen behandelt und gelöst wird, ob mehr mit logischen Nötigungen oder mit dem praktischen Zwange des Geistes, um seiner selbst willen an eine korrespondierende Auffassung einer transsubjektiven Außenwelt zu glauben, oder mit der Ueberführung des Willens durch das entgegenstehende Außer-Ich gearbeitet wird. Wir sind hier dankbare Schüler der Philosophen, welche ein ungemein kompliziertes, an gefährlichen Zirkeln reiches Pro- blem mit der gelehrten Sachkunde ihrer wissenschaftlichen Schu- lung beurteilen. Es kommt für uns nur darauf an, an jene große Reihe tiefgrabender Denker zu erinnern, welche die Realität eines Außer-Ich und die korrespondierende Erfassung desselben durch das Ich behaupten und von hier aus ontologische Folgerungen

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Über das allgemeine Wesen der Dinge gewinnen, die es gestatten, die Natur und ihre Gesetzmäßigkeit dem Leben des Geistes einzuordnen. Insbesondere seien Lotze, Fechner, Wundt und V. Hartmann erwähnt. Darnach ist allerdings die Natur so, wie wir sie wahrnehmen, nur in unserem Geiste und sind die ord- nenden Gesetze im Wesen unseres Geistes begründete Funktionen. Aber dieses Bild entsteht dem Geiste in Wechselwirkung mit transsubjektiven Wirklichkeiten, welche in dieser Wechselwirkung den Geist nötigen, ihre Einwirkung der Gesetzmäßigkeit seines Wesens entsprechend zu beantworten. Die Natur und ihre Ge- setzmäßigkeit ist also in dem uns gegebenen Weltbild nur Vor- stellung des menschlichen Geistes, aber es gibt Dinge außer ihm. Was diese Dinge sind, kann nur indirekt erschlossen werden. Sie sind nur in Analogie des menschlichen Geistes zu begreifen als für sich Seiendes und müssen daher in irgend einem Grade geistigen Lebens für sich seiende Wirkungsmittelpunkte sein. Das klingt phantastisch, aber ohne einige Kühnheit kann es bei solchen Erwägungen nicht abgehen. Es ist der alte Grundge- danke der Monadenlehre, nur mit der Behauptung einer zwischen ^ ihnen stattfindenden Wechselwirkung. Andere Forscher gelangen zu den gleichen Resultaten von der Erforschung der physiolo- gischen Vorgänge in ihrem Verhältnis zu den psychologischen, indem diese zur Theorie des Parallelismus ununterbrochener Seins- reihen, der physikalisch-mechanischen und der psychologisch- geistigen, nötigt und von hier aus die beiden Reihen als zwei Seiten ein und derselben Sache erkennen läßt, wobei sich dann eine Erneuerung der Leibnizischen Monadenlehre ergibt. Diese letzteren Gedankengänge hat Paulsen sehr schön in seiner Einleitung dargelegt. Wieder andere gehen von einer Kritik der Grund- begriffe der mathematisch-mechanischen Naturwissenschaft, dem der Bewegung und des Atoms, aus, die sich als unerklärbare letzte und in sich widerspruchsvolle Daten erweisen, so daß ein Teil der Naturforscher selbst sich zu einer hylozoistischen An- schauung von der Wirklichkeit wandte d. h. auch seinerseits die Monadenlehre bejahte. In allen diesen Fällen ist das Ergebnis der metaphysische Idealismus, welcher die Natur und ihre Ge- setzmäßigkeit als Erscheinung inneren geistigen Lebens und insbesondere unsere menschliche Naturerkenntnis als die Art er- I weist, in welcher unserem Geiste gemäß seiner Organisation die Dinge erscheinen. Die Dinge selbst aber sind geistige Wirkungs-

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Zentren durch alle Grade verschiedenster Intensität hindurch vom unbewußten bis zum bewußten und vielleicht noch andersartigen Geistesleben.

Für uns ist es gleichgültig, daß die meisten Denker bei die- sen elementaren ontologischen Erkenntnissen nicht stehen bleiben, sondern über diese Interpretation der Erfahrung noch hinaus Zu- sammenhänge suchen, die mit keiner Erfahrung mehr etwas zu tun haben. Sie wissen in der Regel selbst, daß hier mit jedem Schritt die Unsicherheit zunimmt. Soweit sie glauben, mit einem absoluten Monismus abschließen zu können oder zu müssen, wer- den wir ihnen im folgenden wieder begegnen. Insbesondere ist daran zu erinnern, daß mit alledem nur eine ganz allgemeine Vorstellung von den Dingen gewonnen ist, daß diese selbst aber in ihrer Unermeßlichkeit nur zum kleinsten Teil dem Menschen überhaupt zur Wahrnehmung kommen, und daß von diesem klei- nen Bruchteile, der Erdoberfläche und den angrenzenden Him- melsräumen, wiederum alles einzelne nur in der engen Begrenzung zwischen der unteren und oberen Reizschwelle ins Bewußtsein tritt, und daß auch dies einzelne schließlich nur stückweise und lücken- haft erkannt und verstanden wird. Für uns kommt nur in Be- tracht, daß in jenen scharfsinnigen philosophischen Leistungen 'v4ie^ Priorität des GeisteFvor der Natur anerkannt und eine Theorie geschaffen ist, welche die Tatsache der Natur mit ihrer scheinbar so toten und tödlichen mechanischen Starrheit dem warmen und bewegten Leben des Geistes selber einverleibt. Der Materialis- mus und die bisweilen an ihn heranstreifenden Konsequenzen des skeptischen Positivismus sind überwunden, indem ihr Recht aner- kannt und in ein größeres Ganzes aufgenommen ist. Damit ist freilich der anthropomorphe bibhsch-kirchliche Supranaturalismus, der ja nur ein Spezialfall der ganzen antiken Natur- und V/elt- anschauung ist, nicht wieder hergestellt, aber der christlichen Weltanschauung selbst mit ihrer Wertung des geistigen und per- sönlichen Lebens und seines unvergänglichen, in der Gottes- gemeinschaft gewonnenen Inhaltes ist Raum zum freien Atmen geschaffen. Die Tatsachen der Naturwissenschaft stehen ihrem Idealismus nicht im Wege. Wenn es nicht andere Dinge sind, die ihr denselben vertreten, um jener willen braucht sie sich nicht zu sorgen.

Freilich darf das hiermit Erreichte auch nicht überschätzt oder unrichtig aufgefaßt werden. Die geschilderten Positionen des

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monadologischen Idealismus, wie sie die Natur mit ihrer Gesetz- mäßigkeit in das Leben des Geistes aufnehmen, sind keine Beweise für die Wahrheit des Christentums. Sie sind auch von ihren Urhebern meistens gar nicht in dieser Absicht aufgestellt worden, sondern dienen vielmehr meistens monistisch-ästhetischen Gesamtanschau- ungen als Ausgangspunkt. Das ist für unsern Zweck ganz gleich- gültig. Wir folgen nicht auf jenen weiteren Flügen ins unbe- kannte metaphysische Land, sondern bleiben bei den elementaren, der Erfahrung sich nahe haltenden Anfängen der Untersuchungen stehen. Nicht um eine durchgeführte Spekulation über das »Ab- solute« handelt es sich, die immer Sache einzelner Denker blei- ben wird, sondern um die allgemeine, durch die neuere Natur- wissenschaft brennend gewordene Frage nach den prinzipiellen Grundbedingungen unserer Weltanschauung, ob »das Geistesleben eine eigene, höhere Art der Wirklichkeit, oder ob es ein Neben- effekt, eine Begleiterscheinung des Naturprozesses ist«. Ohne Verkennung der Schwierigkeiten beantwortet die idealistische Ontologie diese Frage im ersteren Sinne. Darauf allein kommt es an. Wir suchten nach wissenschaftlichen Strömungen, welche die neuen Tatsachen und Methoden der Naturwissenschaft in einem Sinne bearbeiten, bei welchem die christliche Weltanschau- ung bestehen kann. Hier ist diese Denkrichtung, die in den ver- schiedensten Formen durch die ganze moderne Wissenschaft sich breit hindurchzieht und die ihre letzte Gestalt wohl noch nicht gefunden haben wird. Sie schafft dem christlichen Glauben Raum zum Atmen, nicht mehr. Das Atmen muß die Religion selbst besorgen vermöge der ihr innewohnenden selbständigen Kraft und ihres eigentümlichen Ursprunges.

Aber das freilich muß hervorgehoben werden , daß die idealistische Metaphysik und der christliche Glaube innerlich wahlverwandt sind. Wir haben an ihr den Bundesgenossen, den wir bei einer Verständigung über die religiöse Lage nicht entbehren können. Beide sind auch historisch keineswegs unab- hängig voneinander. Jene ist nach den ersten idealistischen Anfängen der griechischen Spekulation auf die volle Höhe erst geführt und zu ihrem ganzen Nachdruck erst gebracht wor- den durch das Bewußtsein unvergänglichen Wertes, idealer gei- stiger Würde und voller Erhabenheit des Geistes über die Natur, welche das werdende Christentum dem über der Welt sich be-

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sinnenden Geiste einstmals einhauchte. Sie decken sich in keiner Weise, aber sie gehören zusammen.

Man könnte nun freiUch der Meinung sein, eine solche mona- dologische Metaphysik stelle gerade den Hauptpunkt noch gar nicht sicher; sie verleibe zwar die Natur dem Geiste ein, aber unterwerfe damit auch den Geist mittelbar der mechanischen Ge- setzlichkeit des Geistes. In Wahrheit komme es vor allem darauf an, die souveräne Eigenkraft des Geistes gegenüber dem bloß natürlichen und darum gesetzlich rationalisierbaren Ablauf der körperlichen und bloß-seelischen Geschehnisse zu behaupten. In Wahrheit liege der Knoten bei dem Freiheitsbegriff. Das ist ge- wiß richtig. Aber dieser Freiheitsbegriff ist nicht aus der bloßen Entgegensetzung von Natur und Geist, sondern erst aus dem Aufweis einer selbständigen Inhaltlichkeit des Geistes zu entwickeln. Er kann nicht abstrakt für sich allein, sondern nur aus einer An- schauung von dem ethischen, ästhetischen und religiösen Gehalt des Geistes entwickelt werden. Insofern sich die folgenden Unter- suchungen auf diese Inhalte beziehen, behandeln sie zugleich das uns an diesem Punkte übrig bleibende Freiheitsproblem ^^).

III.

So sehr bei der bisher dargestellten Ontologie des metaphy- sischen Idealismus logische Erwägungen zu jener Anerkennung der Priorität des Geistes wirksam waren, so war doch auch das praktische Motiv wesentlich mitbeteiligt, das den Geist als das Wertvollere, als das den Sinn der Wirklichkeit erst Empfindende und somit auch Konstituierende anzuerkennen befiehlt. Dadurch erst empfängt der an sich leere Gedanke von der Priorität des Geistes seinen charakteristischen Inhalt ; die Uebertragung der Analogie des menschlichen Geistwesens auf die Dinge, welche dem Vorstellungszwang, für sich seiende Realität nur im Geiste oder Geistähnlichen denken zu können, zunächst entspringt, enthält zu- gleich die praktische Ueberzeugung, daß nur so ein Wert und Zweck der Dinge möglich sei, den ein toter Mechanismus klein- ster Klötzchen völlig ausschließt. Das entspricht nur dem gegen- wärtig im Gegensatz zum früheren reinen Intellektualismus fast allgemein behaupteten Grundsatze, daß über die Auflösung solcher Fragen nicht nur die Nötigung durch logische Beziehungen, sondern

*^) S. hiezu den späteren Aufsatz über den »Begriff der Kontingenz«, der diese Linie fortsetzt.

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auch die durch die ebenso tatsächliche und in bestimmten Gesetzen begründete Wertbeurteilung des Willens zu entscheiden habe. Im bisherigen handelte es sich nun aber doch noch um eine recht allgemeine Vorstellung vom Geiste, welche die verschiedensten In- tensitätsgrade vom Untermenschlichen bis zum Uebermenschlichen umfaßt. Diese These ist naturgemäß zu einem bestimmteren In- halte fortzuführen. »Die Tatsächlichkeit des Geistes hängt aufs engste mit seiner Inhaltlichkeit zusammen«, und der Idealismus hat erst dann einen klaren Sinn und wahre Bedeutung für unsere Betrachtung, wenn ein in sich wertvoller, sein Dasein rechtferti- gender Inhalt des Geistes als in dessen Wesen gelegen erkannt wird. Genauer kennen wir hier aber nur die spezielle Provinz des menschlichen Geistes. Es gilt, sich zu vergewissern, daß dieser einen solchen, den unbedingten Wert des Geistes sicher stellenden Inhalt besitze. Das hängt, wie leicht ersichtlich, an dem selbständigen, durch sich selbst gültigen Werte des Sitt- lichen. Wenigstens ist dies die dem natürlichen Empfinden nahe liegende und von einer Reihe der größten Denker vertretene An- schauung; und sicherlich steht und fällt mit ihr der christliche Idealismus.

Aber gerade hier begegnet das Nachdenken einer Fülle von Schwierigkeiten, welche die moderne Analyse des Sittlichen auf- gehäuft hat, und wodurch dieses Wort für manche zu einem »herrenlosen Gut« geworden ist, das jeder für seine Anschauung beliebig in Beschlag nehmen zu dürfen meint.

Zunächst freilich haben wir hier einen festen Grundstock be- stimmter Anschauungen vorliegen, der vielen das Sittliche als etwas einfach Gegebenes und Klares erscheinen läßt und bei allen Argumentationen über die Fragen übersinnlicher Wahrheiten als sicherer Ausgangspunkt dienen zu können scheint. Es ist der Anschauungskreis, der sich etwa mit der populären Anschauung vom Gewissen deckt, die Ueberzeugung von der Geltung unbe- dingt durch sich selbst verpflichtender Imperative, deren Befol- gung über Wert oder Unwert des menschlichen Lebens ent- scheidet. Die Würde dieser Imperative beruht auf ihrer absoluten Gegebenheit und ihrem Gegensatze gegen die natürlich-sinnlichen Neigungen. Diese Gegebenheit bedeutet entweder Oftenbarung durch göttliche Autorität oder eine Art Angeborenheit und über- sinnliche Anschauung allgemeingültiger Imperative, womit dann die Ueberzeugung von der tatsächlich überall bestehenden Gleich-

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heit und Wirkung auf die Gemüter verbunden ist. In der üblichen christlichen Theologie und praktischen Grundanschauung sind beide Arten der Gegebenheit vereinigt, die göttliche Offenbarung deckt sich mit dem natürlichen Sittengesetz. Auch wo man diese An- schauung schließlich von jeder Heteronomie äußerer Gesetzes- offenbarungen gereinigt hat, behält sie doch überall ein religiöses Element, insofern die Verehrung unbedingt durch sich selbst gel- tender, wertvoller Wahrheiten immer irgendwie religiösen Cha- rakter hat. Diese Imperative beruhen dann auf einer Art innerer Offenbarung Gottes oder doch auf innerer Anschauung höchster sinnvoller Wahrheiten. Unter dem Einfluß der englischen Ter- minologie hat man diese Auffassung des Sittlichen Intuitionismus genannt. Sie beruht auf der empirischen Erfahrung einer nicht abgeleiteten, sondern durch sich selbst wirkenden Geltung von Pflichtvorstellungen ; in ihrer speziellen geschichtlich-wirksamsten Form auf einer Verbindung der stoisch-platonischen Popularphilo- sophie mit christlichen Vorstellungen, wornach die natürliche all- gemeine Geltung gewisser Pflichtgrundsätze als göttliches Gesetz verstanden wird, ein Unterpfand der Wesensverwandtschaft des menschlichen mit dem göttlichen Geiste. Mit der endgültigen Beseitigung aller bloß äußeren, statutarischen ethischen Autorität hat die evangelische Ethik diese Grundgedanken nur verschärft und zu voller Konsequenz entwickelt. Bereits nach ihrer Er- schütterung hat Kants kritische Analyse des menschlichen Gei- stes auch diese Erscheinungen auf einen scharfen, begrifflichen Ausdruck gebracht, indem er, dem allgemeinen Schematismus seiner Analyse entsprechend, sie auf eine apriorische Gesetz- gebung der Vernunft zurückführte und ihren Gehalt in dem Be- griff des Sollens überhaupt oder des Verpflichtseins unter ein im Wesen der Vernunft liegendes Gesetz der Allgemeingültigkeit des Handelns zusammenfaßte. In anderen Zusammenhängen und mit Rücksicht auf den Inhalt des Sollens hat Herbart den- , selben Grundgedanken in seiner Theorie der ethischen Grund- I urteile entwickelt, die in Analogie zu den ästhetischen Utteilen ; Billigungs- und Mißbilligungsurteile über Willensverhältnisse seien. Wie sehr auch bei jeder Abstreifung der Theonomie doch dieser Glaube an ein Sollen als durch sich selbst geltende, letzte Wahr- heit und als den höchsten Gehalt alles geistigen Lebens einen von Grund aus religiösen Charakter trägt, hat insbesondere Fichte gezeigt , der die sittliche Weltordnung direkt an die ■< it

2 £2 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

Stelle des persönlichen Gottes stellte. Viele fassen auch heute noch in ähnlichen Gedanken ihren religiösen und idealen Glauben zusammen. So wird denn auch immer noch insbesondere von Theologen, diese Tatsache der sittlichen Imperative als der Aus-

igangspunkt benützt, an den eine religiöse Anschauung anzu-

1 knüpfen habe.

Gegen diese ganze imperativisch-intuitionistische Fassung des Sittlichen, die in ihm eine absolute Größe erkennen lehrt, hat sich nun aber schon im ly. Jahrhundert unter dem Einflüsse einer das Seelengeschehen kausal erklärenden Psychologie ein sehr lebhafter Gegensatz gebildet, der es aus seiner mystischen Ab- solutheit heraus und in die geschichtliche Relativität und Bedingt- heit hinein stellt. Es ist das zunächst nicht eine Hineintragung bestimmter Systeme und Theorien in die Erklärung des Sitt- lichen, sondern ein Ergebnis der ruhigen und besonnenen, em- pirischen Analyse des Sittlichen selbst. Mit der Befreiung der Wissenschaft von dem kirchlich-theologischen Zwange und der entsprechenden Schulphilosophie wandte sich das Nachdenken auch auf die ethischen und Gesellschaftswissenschaften und ge- langte hier zunächst aus sich selbst zu einer Reihe von Beobach- tungen und Sätzen, deren natürliche Begründung in dem Wesen des Sittlichen schon daraus erhellt, daß sie mit Theorien der alten griechischen Denker sich berühren. Es ist die Entdeckung der Bedeutung des Zweckes für das Sittliche und der tatsäch- lichen, äußerst bunten Verschiedenheit der Imperative. Hier hat insbesondere die psychologische Analyse der Engländer mit ihrer Kritik der angeborenen Ideen eingegriffen, die heute noch über- wiegend die damals eingeschlagene Richtung festhalten und in dieser gerade jetzt einen mächtigen Einfluß auf die kontinentale Wissenschaft ausüben. Aber auch die mit dieser Gedankenwelt fast unbekannte nachkantische Spekulation des deutschen Idealis- mus wurde auf den Gedanken der Güter und des Zweckes ge- führt, der denn auch bei ihr die Imperative fast verschlang oder doch ihres entscheidenden Charakters beraubte. Schon vorher hatte Leibniz die individuelle Selbstvervollkommnung, in der Tu- gend und Glück vereinigt ist, zum Grundbegriff der Ethik und Zweck des Lebens gemacht. Nicht minder hat das in unserer klas- sischen Literatur entfaltete Lebensideal in seinem Protest gegen den Rigorismus Kants und die Konvention des Spießbürger- tums den Zweckgedanken in seiner ästhetischen Form zum Kern

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der Ethik gemacht und die Energie der Imperative zu einer frei von innen heraus wirkenden Bildungskraft herabgesetzt, die in freier Uebereinstimmung mit dem NatürUchen die harmonische Fülle der reichen und gebildeten Individualität als ihren immanen- ten Zweck entfaltet. In Schiller liegt der Uebergang von der Leibnizischen zur ästhetischen, in Schleiermacher der von der xk ästhetischen zur spekulativen Ethik klar zutage. Von hier aus erscheint der Kantische Imperativ nur als Episode.

Es ist eine Mehrzahl verschiedenartiger Beobachtungen und Tatsachen, die hier in Betracht kommt. Einmal zeigt die psycho- logische Analyse, daß zum sittlichen Handeln so gut wie zu jedem anderen eine Motivation d. h. die Vorstellung eines zu erreichen- den erfahrbaren Gutes oder einer Lust oder Daseinserhöhung nötig ist. Ohne eine solche Zweckvorstellung würde der sittliche Imperativ etwas Sinnloses, Unverständliches und Gleichgültiges sein, das niemals auf den Willen zu wirken vermöchte. Ferner zeigt sich, daß das Sittliche in der Tat auch gar nicht lediglich in der formalen Unterstellung unter ein Gesetz um der bloßen Unterstellung willen besteht und sich auch gar nicht mit der Erfahrung einer in dieser Unterstellung liegenden Würde begnügt, d. h. daß es überhaupt nichts bloß Allgemeines und rein Formales ist, son- dern in den weitaus überwiegenden Fällen Herstellung bestimm- ter Zustände von bestimmtem Sinn und Wert für das Einzel- oder Gesamtleben bedeutet. In den von der Imperativischen Ethik sogenannten Pflichtenkollisionen entscheidet jedesmal der höhere und umfassendere Zweck, auch wenn er sich hinter einer angeblichen Hierarchie der Gebote versteckt. So tritt hier der Zweck geradezu als der entscheidende Gesichtspunkt auf. Weiter kommt es nicht auf die einzelnen Gehorsamsakte als einzelne und zusammenhangslose Reaktionen gegen einen jedesmal hervor- tretenden Imperativ an, sondern auf einen sittlichen Gesamtzustand der Persönlichkeit, der einen bestimmiten Wert, eine befriedigende Würde derselben vor sich selbst und andern bedeutet. Sodann zeigt die Erfahrung, daß das Handeln nach jenen Imperativen tatsächlich auch in äußerer Beziehung die Erreichung der Le- benszwecke, Gesundheit, Friede und Ordnung des Gesamtda- seins, erst möglich macht. Das pflegt in der Praxis der letzte Gesichtspunkt zur Verteidigung sittlicher Forderungen zu sein; es ist neben der den Zweck in Form von Lohn und Strafe ver- w^endenden Autorität das Belehrungsmittel in der sittlichen Er-

2 CA ^'^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

Ziehung von Kindern und bildet den Hauptgesichtspunkt der Volks- und Sprichwörtermoral. Man hätte die sittlichen Gebote nicht besser erfinden können, wenn man in ihnen Regeln zur Her- stellung eines möglichst wohlgeordneten Gesamtdaseins hätte auf- stellen wollen. Sie gleichen den für die Mehrzahl der Fälle gül- tigen Durchschnittsregeln auch darin, daß kein sittliches Gebot nach Maßgabe bestimmter Zweckverhältnisse nicht auch Aus- nahmen erlitte, wofür die Situationen von Aerzten und Staats- männern mit Recht als Belege angeführt zu werden pflegen. Schließlich kommt zu alledem noch die Gesamtüberzeugung, daß zwischen dem brennendsten und innerlichsten Triebe des mensch- lichen Herzens, dem Triebe nach Glück und Lebensbefriedigung, und dem Sittlichen eine innere Verbindung bestehen müsse, in welcher beide zu einer Einheit zusammengehen und der Zweck- gesichtspunkt irgendwie der übergeordnete ist. Der Zweck regiert die geistige Welt, wie die Kausalität die der Natur. Neben diese Erwägungen trat dann weiter die durchschlagende, mit jedem Tag sich erweiternde Erkenntnis, daß ein Angeborensein dieser Imperative in keiner Weise zu konstatieren ist. Und dem entspricht dann auch die tatsächliche Verschiedenheit der sitt- lichen Anschauungen verschiedener Räume und Zeiten, im klei- neren Kreise sogar der Individuen. So ging ihm die Würde einer unveränderlichen und vom Geiste unabtrennbaren Wesensaus- stattung verloren. Es galt, andere Mittel zur Erklärung und Sanktion des Sittlichen zu suchen, und da boten sich die Zwecke als Erklärungsmittel von selber an. Das Sittliche ist das Han- deln in der Richtung auf den höchsten Gesamtzweck des Lebens und vollzieht sich in der Ableitung der für das Verhalten gelten- den Durchschnittsmaßregeln aus demselben. Der Imperativische Charakter dieser Maßregeln erklärt sich aus Gewohnheit, Ver- erbung und Autorität. Die Verschiedenheit des Sittlichen erklärt sich aus der Verschiedenheit des Verständnisses der Zwecke. Die Ethik ist die Lehre von den Regeln des Handelns d. h. vom Zweck des Lebens ; sie ist also nur unter dem Gesichtspunkt des Zweckes darzustellen. Die teleologische Ethik leistet alles, was die formalistische Intuitionsethik der Imperative nicht leisten yi^ konnte. Sigwart hat in seinen Vorfragen der Ethik diese Ge- danken klar und schön entwickelt.

Diese verschiedenen Beobachtungen über das SittUche wurden natürlich in den Zusammenhang verschiedener Grundanschauungen

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und Systeme hineingezogen. Sind sie doch mit den modernen Systemen auf demselben Boden des Strebens nach einer neuen einheitUchen Betrachtung der WirkHchkeit erwachsen. Der Ma- terahsmus, der an sich zu einer Ethik überhaupt unfähig ist und in dem sittUchen Leben denselben atomistischen Zufall wie in der Natur behaupten müßte, hat in Benützung derselben eine ethische Theorie zu bilden versucht, indem er als den dem Geiste mit den Naturelementen gemeinsamen Zweck die Selbsterhaltung konstru- ierte und hieraus im Sinne des wohlverstandenen Interesses die sensualistische Güterlehre des Individualeudämonismus ableitete. In ähnlicher Richtung hat der Positivismus das in der Natur und 'durch die Natur zu erreichende höchstmögliche Gesamtwohl, das ja allein auch das höchstmögliche Einzelwohl garantiert, zum Zweckmittelpunkt einer sozialeudämonistischen Ethik gemacht und um diesen zugleich die sozialen und volkswirtschaftlichen Wissenschaften gruppiert. Nur ist in diesem Positivismus mit der Anerkennung der Vernunft als selbständiger und eigentümlichen Zwecken des Gesamtwohls dienender Größe eine bessere Grundlage geschaffen und in der äußersten Anspannung der Idee der Gesamt- heit und des Gattungsorganismus ein größerer und einheitlicherer Charakter erreicht. Von hier stammt das moderne Stichwort der objektiven oder Sozialethik d. h. der Ableitung aller sittlichen Regeln aus dem Gesamtwohl. Die Bildung der sittlichen Imperative und der Fortschritt sittlicher Erkenntnis wird hier in »darwinistischer« Weise aus fortschreitender Anpassung an die äußeren natürlichen und sozialen Verhältnisse und deren Vererbung und Summierung in der Kulturtradition erklärt. Ganz anders hingegen die Güter-Ethik des deutschen Idealismus. Indem sie den Kantischen Formalis- mus durch den Gedanken des Zweckes korrigierte, faßte sie die sittlichen Imperative nicht als aus der Zweckvorstellung entstan- dene Reflexionen, sondern als die Gesetze, in denen der Geist seiner Natur nach sich auswirkt zum Zwecke der Vergeistigung des Natürlichen und der Verwirklichung des Geistigen, des freien schönen Ineinanders von Geist und Natur, so daß die Ableitung der Gesetze aus dem Zweck nicht von den Menschen vollzogen wird, sondern in der Natur des Geistes selbst gegeben ist und von innen heraus selber wirkt. In diesem Sinne hat Schleiermacher die Sittengesetze für Naturgesetze höherer Ord- nung erklärt, hat Hegel das individuelle Gewissen als willkürliche Auflehnung gegen die objektive Vernunft gering geschätzt. In

2 CO Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

diese Anschauung mündete die ästhetische Ethik ein, welche im Kunstwerk der , reichen und harmonischen Individualität den vom Genie kraft eigener Gesetze verwirklichten Endzweck und Wert des Lebens erkannte. Unter den Heroen der klassischen Philosophie begründet die Durchführung dieser Gedanken die eigentümliche Stellung Schleiermachers. In neuerer Zeit haben idealistisch gerichtete Denker wie Paulsen und Wundt die Ab- leitung des sittlichen Erkennens aus Reflexion über das Zweck- mäßige, wie sie der Sensualismus und Positivismus lehrt, mit dem Grundgedanken dieser Spekulation von der gesetzmäßigen Auswirkung der Vernunft und Verwirklichung idealer Güter kombiniert, indem sie die idealen Güter der Vernunft im Laufe der Entwicklung" hervortreten und den Menschen die Verwirk- lichungsnormen für die jeweilig hervorgetretenen Zwecke aus ihnen ableiten lassen. Die Anschauung von dem idealen Wert und der Würde der Güter ist dieselbe, die von dem Wesen und der Be- deutung der Imperative eine andere, mehr psychologisch-relative. Es ist selbstverständlich, daß jene erste Art der Konstruktion des Sittlichen aus Reflexionen über den Wohlfahrtszweck, zu welchen die Naturverhältnisse und der Lebenstrieb der Gattungs- vernunft nötigt und die schließlich nur von der Wissenschaft in völlig umfassender Weise angestellt werden können, einen unbe- dingten Wert des Sollens und eben damit eine vom Individuum unabhängige, durch sich geltende Würde des Guten nicht kennt. Gewiß ist mit solcher Theorie eine sittlich ernste Praxis verein- bar. Aber der sittliche Idealismus selbst ist dabei doch auf einem sehr bescheidenen Niveau festgehalten, und dieses Niveau bildet den schärfsten Gegensatz zu dem Idealismus der christUchen Ethik, der in der Behauptung eines unbedingt heiligen Gebotes und einer aus der Aneignung desselben folgenden unbedingten Würde der Persönlichkeit gipfelt. Es ist jedoch nicht schwer zu zeigen und bereits unzählige Male ausgeführt worden, daß diese Fassung des Sittlichen als Zweckmäßigkeitsreflexion, insbesondere als Ab- j leitung aus dem Wohlfahrtszweck, der sittlichen Wirklichkeit nicht ' entspricht und in sich widerspruchsvoll ist. E. v. Hartmann hat in seiner gedankenreichen »Phänomenologie des sittlichen Bewußt- seins« diesen Widerspruch scharf und klar geltend gemacht; vom Boden der englischen Ethik aus hat der Nationalökonom Sidgwick das Recht des Intuitionismus innerhalb der teleologi- schen Ethik schön herausgestellt. In Wirklichkeit hat das Sitt-

Die christliche Weltanschauung und ihre Gesenströmunsen.

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liehe überwiegend den Charakter des Unabgeleiteten und durch sich selbst Geltenden ; bewußte Zweckreflexionen sind selten. Die Erklärung dieses Charakters aus der Anhäufung der vererbten Gattungserfahrung reicht nicht aus, da gerade im Bruch mit bloßer Gewohnheit und Autorität das spezifisch Sittliche des Sollens am schärfsten hervortritt. Und wenn das Sittliche wirklich so be- schaffen wäre, so würde es doch sich sofort selbst aufheben ; denn die komplizierten Reflexionen auf die aus der Steigerung des Gesamtwohles zu erwartende Quote persönlichen Wohls sind ge- wöhnlich nicht motivationsfähig und würden auch gar nicht eine Schädigung des Gesamtwohls ausschließen, wenn das ohne Ge- fahr des Schädigers geschehen kann. Wenn aber von hier aus, wie dies z. B. in der Zeitschrift für ethische Kultur durchgängig geschieht, der Gedanke des Gesamtwohls bis zur unbedingten Schätzung der selbstverleugnenden Hingabe an das Ganze ange- spannt wird, dann ist die Konsequenz des Prinzips verlassen und die Anerkennung eines, wenn auch sehr einseitigen und etwas dürftigen intuitionistischen Imperativs vollzogen. In Wahrheit wächst die utilitaristische Ethik gar nicht aus der Analyse des Sittlichen, sondern aus einer vorausgesetzten metaphysischen Ueber- I Zeugung heraus, welche in dem naturalistisch verstandenen Uni- versum nur die Wohlfahrt der menschlichen Gattung als das ein- zige relativ Sinnvolle zu behaupten wagt, und die daher auch für das Sittliche natürlich keine andere Ableitungsweise als eine naturalistisch-mystische finden kann.

Ebendeshalb ist es aber auch als Inkonsequenz zu bezeichnen, wenn idealistische Ethiker, wie Paulsen und Wundt, mit einer ganz anderen Ueberzeugung von dem Zweck und Sinn des Le- bens gleichwohl diese Ableitungsweise sich aneignen. Es gilt gegen sie dasselbe, was nur sonst immer gegen den Reflexions- und Ableitungscharakter des Sittlichen gesagt worden ist. Ins- besondere aber ist hervorzuheben , daß diese Ableitungsweise zwar zu jener Beschränkung auf die Wohlfahrt, aber nicht zu der Anerkennung idealer Güter und einer durch sich selbst geltenden Würde der Persönlichkeit paßt. Denn diese Güter können gar nicht erstrebt werden, wenn nicht ein Trieb oder Gebot der Vernunft^joder des Gefühls, sie zu erstreben, schon vor dem reellen Besitz zu ihnen treibt. So gut bei jener natu- ralistischen Konstruktion die Ableitung des Handelns aus dem Wohlfahrtszwecke einen Trieb nach Lust oder ein inneres Gebot

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. ly

2C3 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

der Natur, nach Lust zu streben, voraussetzt, ebenso gut setzt bei diesen die Anerkennung idealer Güter ein Vernunftgebot oder einen Vernunfttrieb, nach solchen Gütern zu streben, vor- aus, der vi'ohl durch die Entwickelung verschieden bestimmt werden mag, der aber immer als ein innerer Antrieb verpflichtenden Sollens empfunden wird. Das Sollen ist nicht aus der Zweck- vorstellung jener Güter abgeleitet, sondern bringt diese erst her- vor und begründet ihren idealen Charakter. Bei Paulsen spielt daher das Sittliche sehr stark in das Naturgesetz des Geistes hinüber, wie wir es aus der spekulativen Ethik des deutschen Idealismus kennen ; Wundt spricht von sittlicher Anlage und lehnt sich zuletzt an die gleiche Spekulation an.

Was nun aber die Grundideen dieser spekulativen Ethik be- trifft, so ist längst und von den verschiedensten Seiten ihre abstrakt allgemeine Fassung des Sittlichen als Handeln oder Auswirkung der »Vernunft« in ihrer Unzulänglichkeit charakterisiert worden. Als spezifisch sittlich erscheint im wirklichen Leben vielmehr ge- rade nur ein Teil der Betätigungen des Geistes, der unter be- stimmten Verpfiichtungsnormen und dem Bewußtsein des Sollens stehende Ausschnitt derselben. Die sittlichen Vernunftwerte kämp- fen sich gegen das Sittlich-Indifferente und gegen das Widersittliche empor ; erst die vollständig versittlichte Persönlichkeit vermöchte ihr ganzes Handeln von solchen Normen aus zu gestalten, was aber immer nur ein vorschwebendes Ideal bleibt. Ferner wohnt dem sittlichen Handeln nicht die Naturnotwendigkeit und Selbst- verständlichkeit bei, die jener am Gesamtphänomen der Vernunft haftende Optimismus annahm, sondern vielmehr ein Kampf mit anderen Strebungen des Geistes, die keinem Einzelleben erspart bleibt. Der Kampf der Freiheit oder souveränen Selbstbestimmung des Geistes gegen die bloße Seelennatur gehört zum Sittlichen. Nur der Bann der ästhetischen Ideen hat zu dieser Anschauung des Sittlichen als der von selbst sich vollziehenden schönen Ge- staltung des Daseins in der inneren Einheit von Form und Stoff zu führen vermocht.

Man kann also auf weitverzweigte wissenschaftliche und prak- tische Strömungen hinweisen, in welchen bei aller Erweiterung der ethischen Analyse doch das Moment der unabgeleiteten und durch sich selbst geltenden Imperative als das spezifisch Sittliche und die ideale Würde des menschlichen Geistes Begründende anerkannt ist und bleibt, nur daß dabei besondere Aufmerksam-

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 2£|Q

keit auf die Motivationskraft derselben gerichtet und daher eine spezifisch moralische Lust, die Empfindung der daseinserhöhenden Würde des Sittlichen, mit eingerechnet werden muß. Aber frei- Hch beginnt damit erst das eigentliche Problem. Denn anderer- seits ist ebenso klar und durch die Entwickelung der wissen- schaftlichen Ethik unbedingt gefordert, daß die Anerkennung des Zweckmomentes in der Ethik sich nicht hierauf beschränken kann, sondern zu der Aufweisung eines objektiven, dem Dasein Gehalt und Sinn verleihenden, das Handeln zum einheitlichen Ziel führenden , letzten Zweckes der Ethik oder zum Begriff des höchsten Gutes führen muß. Dabei besteht dieses höchste Gut nicht nur in der Erreichung eines idealen Persönlichkeits- wertes, sondern auch in der normalen und gesunden Gestaltung des äußeren Lebens. Die Antinomie beider Gedanken macht die ethischen Erwägungen so schwierig und kompliziert. Eine Auf- lösung der Antinomie zwischen letztlich durch sich selbst gelten- den Imperativen und einem von diesen Imperativen doch nur verwirklichten idealen Gesamtzwecke kann nur in einer jenseits oder hinter dem menschlichen Bewußtsein liegenden sinnvollen Einheit der Vernunft gefunden werden. Dazu sind aber meta- physische und religiöse Ueberzeugungen nötig. Die gegenwärtige Abneigung gegen alle über die bloße Skepsis hinausgehende Metaphysik und die kritische Zersetzung der Religion lassen es zu diesem einzig möglichen Auflösungsversuche in größerem Umfange nicht kommen. Um die Verwirrung voll zu machen, strömt noch in diese allgemeine Fragen fortwährend das Nachdenken über bestimmte praktische Probleme ein, wie das in einer Zeit sozialer Umwälzung und der Vorherrschaft volkswirtschaftlicher Probleme nur natürlich ist. Das zieht aber immer wieder den Gedanken sittlicher Zwecke in das Naturalistische und Berechenbare herunter. Die theologische Ethik vollends, die mit diesen Dingen sich ein- dringend beschäftigen müßte, zieht es vor, ihre alten Vexierfragen über das Verhältnis von Glaube und Werken, Gnadenkraft und Selbstkraft, Rechtfertigung und Heiligung stets von neuem zu behandeln. So bildet die Ethik wohl nach und nach, wie Wundt meinte, den Mittelpunkt des philosophischen Denkens, aber sie bietet zugleich ein wunderUch verworrenes, von den verschieden- sten Tendenzen bewegtes Schauspiel, in dem sich nur die Ver- worrenheit unserer praktischen Anschauungen und die Scheu vor durchgreifender prinzipieller d. h. metaphysischer Begründung und

17 *

200 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenstrünnungen.

Abzweckung des Sittlichen widerspiegelt. Nur wenige Denker haben den Mut, den Weg der religiös-metaphysischen Auflösung zu suchen. Hier seien nur die von ganz verschiedenen Grund- gedanken ausgehenden Philosophen v. Hartmann, Sidgwick und wieder besonders Lotze genannt. Hiernach sind allerdings für das Subjekt die Imperative unabgeleitet geltende Größen, aber in der Einheit des Absoluten oder des göttlichen Weltplanes oder wie man sich sonst je nach seinem Standpunkt ausdrücken will, sind sie die das Endziel der Menschheit, den einheitlichen Gesamtzweck ihres Daseins herbeiführenden Verwirklichungsformen , welchen die Menschen zunächst ohne Bewußtsein um diesen Zusammen- hang um ihrer das Dasein erhöhenden Würde willen und entgegen ihren natürlich -sinnlichen Neigungen sich unterstellen, und in deren Befolgung das Ziel eines gesunden und in seinen tiefsten Bedürf- nissen befriedigten Lebens erreicht wird. Hierin ist zugleich der Glaube an die Füreinanderbestimmtheit von Natur und Sittlichkeit mit eingeschlossen, insofern das aus den sittlichen Imperativen hervorgehende Handeln in der Hauptsache zugleich sich als das ein gesundes und normales Leben auch in äußerer Hinsicht Herbei- führende zeigt. Die Entwickelung des Sittlichen vollzieht sich also primär nicht in der Anpassung an äußere Verhältnisse, sondern in einer mit dem geistigen Gesamtfortschritt zugleich sich ergeben- den inneren Entfaltung der sittlichen Vernunft, welche namentlich in den führenden Heroen mit immer neuen und tiefergehenden Forderungen hervortritt. Dabei bleibt der Zweck für die sittliche Pädagogik, die Entscheidung in Einzelfällen und den Versuch wissenschaftlicher Zusammenfassung immer in seiner Geltung. Es bleiben hierbei Schwierigkeiten und Probleme genug über ; insbesondere bietet die Begründung der einzelnen sittlichen Regeln eine Unzahl von Schwierigkeiten dar, sobald man sich von dem Eindruck der allgemeinen Uebereinkunft einmal etwas gelöst hat. Aber wir dürfen in diesen Gedanken doch die treibenden Kräfte der weiteren wissenschaftlichen Entwickelung der Ethik erkennen, auf welche die modernen Analysen und Beobachtungen hindrängen, und die nur augenblicklich bei der Eigentümlichkeit der philoso- phischen, religiösen und sozialen Verhältnisse durch eine auf die elementarsten Gegebenheiten sich beschränkende skeptische Pseu- dometaphysik und eine einseitig praktische Wohlfahrtsethik zu- rückgedrängt sind.

Eine energische und klare Strömung des Denkens konnten

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 261

wir hier freilich nicht aufweisen. Aber in aller Verworrenheit der Meinungen sehen wir doch die Anerkennung verpflichtender und die Würde der Menschheit erst begründender Imperative, sowie den Glauben an ideale Güter von überzeitlichem und über- individuellem Werte als die beiden Hauptgesichtspunkte fest- gehalten und von einer eigentümlichen ethischen Grundanlage aus die sittliche Entwickelung verstanden. Die Entdeckung der historischen Verschiedenheit des Sittlichen beseitigt doch nicht die grundlegende Einheitlichkeit des Phänomens. Die Erkenntnis der Bedeutung des Zweckes läßt doch den idealen Charakter desselben bestehen, der zugleich zu ihm führende ideale Vernunft- gebote voraussetzt. Durch alle wissenschaftlichen Umwälzungen ist die alte Ansicht von der Sache nur modifiziert und geklärt, nicht beseitigt. Sie stellt sich zwar etwas anders dar als für die populäre Anschauung vom Gewissen und als für die theologische Meinung von der Identität des göttlichen und des natürlichen Gesetzes. Aber der Glaube an den idealen Gehalt und Wert des menschlichen Geistes, der ihn über das bloß Sinnliche und Natürliche durch die Freiheit hinaushebt und ihm eine zeitlose Bedeutung verleiht, ist auch in dieser Form gewahrt.

So unabsehbar weit sich die Welt der Dinge intensiv und extensiv über die Erkenntnis der Menschen hinaus erstreckt, so wenig wir von dem Wesen und Zusammenhang des Geistes im allgemeinen wissen können, in dem Bereiche des menschlichen Geistes ist uns dessen innerstes Wesen und höchstes Ziel im allgemeinen deutlich, die Verwirklichung idealer Persönlichkeits- werte in Befolgung eines idealen Sollens. Welcher Art diese Werte seien und wie sich diesem Zwecksystem das einzelne Sollen eingliedere, darüber herrscht freilich große Verschiedenheit der Meinungen. Aber daß es solche gebe, ist doch eine allen Idealisten gemeinsame Ueberzeugung, die auch von den Inkonse- quenzen der Naturalisten bestätigt wird. Innerhalb dieses Rah- mens hat auch der christliche Idealismus ohne besondere Schwie- rigkeiten Platz. Wir wollen nur hervorheben, daß auch die christliche Ethik keineswegs bloß von Imperativen beherrscht ist, sondern daß auch ihr höchster Gesichtspunkt offenkundig je und je "der Zweck gewesen ist. Die Seligkeit der mit Gottes heiligem Liebeswillen geeinten Persönlichkeiten in einem Reiche der Liebe ist der innerste Kern des Evangeliums.^ Nur die Fassung des Zweckes bildet die Eigentümlichkeit des Christen-

202 Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

tums. Wie der metaphysische IdeaHsmus erst durch das Christen- tum seinen vollen Nachdruck erhielt, so erfuhr auch der Glaube an ideale Güter des Geistes in ihm eine merkwürdige Steigerung. Auch die Griechen kannten und schätzten die idealen Güter, die Harmonie, den Frieden und die Würde des Geistes, aber immer in einem gewissen Zusammenhang mit der gegebenen Natur und feststehenden sozialen und politischen Verhältnissen. Dieser Zu- sammenhang zwischen für unabänderlich gehaltenen Verhältnissen und der Eudämonie des gebildeten, vornehmen Geistes erschien ihren größten Denkern unter dem Bilde der ästhetischen Harmo- nie von Form und Stoff, Idee und Sinnlichkeit. Das Christentum geht hinter das alles zurück und über das alles hinaus. Die völ- lige Verinnerlichung des Glaubens an ideale Güter, die Ablösung derselben von der Vergänglichkeit aller äußeren Verhältnisse und die Verlegung derselben in das innerste Heiligtum der Persönlich- keit macht vielleicht die welthistorische Stellung des Christentums aus^*).

IV.

Die meisten idealistischen Denker der bisher geschilderten Richtungen glauben ihre Sätze über Geist und Natur in der Linie eines panpsychistischen Monismus fortführen zu müssen und den religiösen Glauben an Gott in diesem Sinne verstehen oder mit ihrem metaphysischen System verschmelzen zu dürfen. Es ist die allgemeine moderne Tendenz zum »Monismus«;, die hierin zum Ausdruck kommt, und die auch auf dem Boden idealistischer Anschauung bei aller Anerkennung der idealen Lebensmächte der Eigentümlichkeit des christlichen Glaubens doch scharf und emp- findlich entgegensteht. Die Frage ist hierbei, was denn eigent- lich das zum Monismus treibende Motiv sei, und ob dieses Motiv ein unüberwindliches Hindernis für die christliche Weltanschauung, eine ihr schlechthin gegenüberstehende Tatsache sei.

Seine allgemeinste Wurzel ist die Wendung des modernen Lebens und Denkens zur Breite der Wirklichkeit und die Ver- legung der Kräfte in das Innere der Dinge und Menschen. Aber hiermit ist nur eine allgremeine Stimm-ungr bezeichnet, die sehr verschiedener Deutung fähig ist. Aus dieser Wendung würde wohl eine Korrektur des überlieferten Supranaturalismus hervor-

'*) Weitere Fortentwickelungen dieser Auffassung der Ethik und des christ- lichen Ethos innerhalb der allgemeinen ethischen Kategorien bietet der spätere Aufsatz über die »Grundbegriffe der Ethik«.

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 263

gegangen sein, aber der absolute Monismus mit seiner Einheit von Geist und Natur, Gott und Welt, seiner Vereinerleiung von Ideal und Wirklichkeit, Persönlichem und Unpersönlichem würde nicht die notwendige Folge gewesen sein. Ist jene neueröffnete Tatsachen- und Anschauungswelt doch auch von hervorragenden Philosophen in pluralistische Systeme verarbeitet worden. Es sind vielmehr andere Motive, die zu der bloßen veränderten und erweiterten Auffassung des Tatbestandes hinzugetreten sind und diese Tendenz erzeugt haben. Hier treffen wir einmal auf den neuen Naturbegriff und sodann auf die Erneuerung des ästheti- schen Geistes der Antike. In dem einen oder dem andern liegen die wirklichen Motive des Monismus, und zwar schließen sich für jeden schärfer Zusehenden die beiden gegenseitig aus.

Das erstere Motiv führt uns wieder in die Nähe des Materialis- mus zurück, der ebenfalls die monistische Tendenz der Zeitstimmung für sich in Anspruch nimmt. Hier erwächst die spezifisch naturali- stische Gestalt des Monismus, deren Eigentümlichkeit darin be- steht, daß von der Einheit und gesetzlichen Geschlossenheit der Natur ausgegangen wird und in diese alle übrigen Erschei- nungen wohl oder übel eingearbeitet werden. Hier ist der Geist nichts anderes als das Bewußtsein der Naturelemente um ihre naturgesetzliche Bewegung und Bestimmtheit ; die Natur ist das Primäre und der Geist nur Begleiterscheinung. Es ist nicht eigent- licher Materialismus sondern Hylozoismus, und zwar ein solcher, in welchem der geschlossene mechanische Naturzusammenhang die Materie bestimmt und den Geist dadurch zwar nicht mit der Materie identifiziert, aber ihrem Mechanismus Untertan macht. Die hier zugrunde gelegte Naturauffassung ist die in dem Gesetz von der Erhaltung der Energie gipfelnde, mechanische Kausalitäts- idee, der gegenüber sich der Geist überhaupt nur halten kann in Gestalt des psychophysischen Parallelismus. Begegnet sich dieser Naturbegriff mit den pantheistischen Neigungen, die seit der Re- naissancephilosophie ja überall in der Luft liegen, dann entsteht der naturalistische Monismus. Hier beruht dann der Monismus 1 auf der Einarbeitung des Geistes in das Gefüge der Natur- anschauung, wobei der erstere zum Anhang des letzteren werden muß , und ist alles bestimmt durch den Gedanken der einheit-, liehen Substanz und Gesetzmäßigkeit der Natur. Das war schon der Fall in dem merkwürdigen, mathematisch geometrisch orien- tierten System des Spinoza , dessen tiefsinnige und echt reli-

204 ^'^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

giöse Mystik daher auch in scharfem Widerspruch zu den Grund- lagen des Systems steht. Das ist in viel gröberer Weise auch der Fall in der hylozoistischen Gelegenheitsmetaphysik moderner Naturforscher, denen alles nur auf einen geschlossenen Natur- zusammenhang ankommt und ihm gegenüber die Selbständigkeit des Geistes nur geringe Schwierigkeiten macht. Die Gegensätze gegen diese dem Materialismus sich annähernde Form des Monis- mus sind bereits mit dem bisher Entwickelten gegeben. Jede ernst- liche und eindringende Erwägung der suveränen Eigengesetzlichkeit des Geistes, die bei der Anerkennung des Geistes überhaupt dann auch unausbleiblich von der Sache gefordert wird, jede Anerken- nung von naturüberlegenen, in sich selbst wertvollen Gütern des Geistes und der Persönlichkeit, jede Erfassung der Einheit des Geistes in etwas anderem als der bloßen Parallele zur Einheit des mechanischen Gesetzes zersprengt diese Auffassung des Monismus, die nur bei einer bloß scheinbaren Würdigung des Geistes möglich ist. W^o er dem höheren Sinne des Geisteslebens gerecht werden will, macht er daher auch mit plumper Inkonsequenz Anleihen bei anderen Lebensanschauungen, die nur unter ganz anderen Voraus- setzungen möglich sind; insbesondere schiebt sich seiner mechani- schen Einheitsanschauung meistens die sogleich zu besprechende ästhetische unter. Das ist ganz deutlich bei D. F. Strauß und bei dem schon erwähnten Vortrage Häckels der Fall, der seinen Hylo- zoismus mit den berühmten Versen Goethes ästhetisch drapiert. Diese naturalistische Gestalt des Monismus darf also durch das bisherige für erledigt gelten. Es sei nur noch darauf hingewiesen, wie gerade die modernste Gestalt des Naturalismus und der prin- zipielle Anschluß an die Tatsachen im Positivismus vielmehr zu einem runden Verzicht auf jede Geschlossenheit und Einheitlichkeit einer Gesamtanschauung geführt hat und bei aller weltlich imma- nenten Grundstimmung doch nur einzelne, an sich nicht auf ein- ander zurückzuführende Wirklichkeitsgruppen anerkennt. Es ist das I nur ein weiterer Beweis dafür, daß der Monismus nicht mit den Tatsachen selbst, sondern erst mit einem bei deren Deutung hin- ' zutretenden Motiv gegeben ist^^).

'^) Hiezu s. meine Artikel in der Christlichen Welt 1898 »Häckels Welträtsel« und ebendort 1897 »Moderner Halbmaterialismus« über Baumann. Die Aufsätze sind in diesen Band nicht aufgenommen, weil es über diese Themata Literatur ge- nug gibt. Man vergleiche etwa das treffliche Buch Euckens vDie Grundbegriffe der Gegenwart« 1893.

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 26^

Wir haben es hier mit der anderen, viel wichtigeren Erschei- nung, mit dem idealistischen Monismus, zu tun, der in der Natur nur die Verkörperung des Geistes erkennt und seine Grundlage in einer bestimmten Anschauung von der das Ganze dieser Geist- Natur innerlich belebenden und gestaltenden Einheit besitzt. Das hierbei leitende Motiv kann daher nur auf dem Gebiete der Er- fahrungen des Geisteslebens liegen. Der Konsequenz des Den- kens entspricht nur der ganz allgemeine Trieb nach Einheit, die Einheitsformel selbst stammt aus einem selbständigen Erfahrungs- gebiet, dem des Schönen und der Kunst. Das war in der antiken Philosophie der Fall, ebenso verhielt es sich mit dem eigen- tümlichen Piatonismus der Renaissance. Mit vollem Bewußtsein ist aber dieses Motiv erst anerkannt und ausgestaltet worden von der großen Bewegung unserer klassischen Literatur, die eben- deshalb nach Diltheys Ausdruck ein neues Lebensideal schuf und wirkte wie eine neue Philosophie. Wenn sie sich dabei be- sonders an Spinoza anlehnte, so hat sie ihn nachweislich aus ihrem Eigenen umge^deutet und nur einen philosophischen Halt für die in ihr gärenderl^-Gedanken gesucht. In Wahrheit liegen vielmehr leibnizische Gedanken zugrunde, deren schulmäßiger und trockener Theismus durch die ästhetische Einheitsidee poeti- siert und deren spröder monadologischer Individualismus durch den viel reicheren und lebendigeren künstlerischen ersetzt wurde. Lessing, der es als ein Geheimnis mit ins Grab nahm, Herder und Goethe sind die Väter dieses ästhetischen Monismus, dessen Grundgedanken bereits in dem einleitenden Aufsatze dargestellt sind. Hier kommt es nur darauf an, die Eigenart des leitenden Motives klar zu machen, welche bei der allgemeinen Anpreisung des Monismus nur allzu oft übersehen wird ^'').

Jene Literatur läßt gar keinen Zweifel darüber, daß ihr über- wältigender Grundgedanke die Anschauung einer inneren ein- heitlichen Lebendigkeit des Geistes ist, der sich in der sinn- lichen Welt harmonisch entfaltet. Auf ihrer Höhe haben ihre größten Dichter und Denker, Goethe, Schiller und Humboldt als den innersten Kern dieser Anschauung das hellenische Schön- heitsideal erkannt, wie es nicht bloß aus den Schöpfungen der Kunst, sondern auch aus dem Denken und der Lebensführung jenes Volkes einer enthusiastischen Verehrung entgegen zu strahlen

*^) Von diesen Grundgedanken geht dann mein Aufsatz sldealismus, deut- scher« in Prot. Real-Enzyklop.^ aus.

206 I-*i^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

und mit dem ursprünglichen Wollen der Natur identisch zu sein schien. Schelling hat in seiner »intellcktualen Anschauung« diesen Schönheitsgedanken unter dem direkten Einflüsse Goethes und der Romantik geradezu zur prinzipiellen Grundlage aller Philo- sophie gemacht, Hegel hat ihn nur rationalisiert, aber nicht inner- lich verändert. Diese Verehrung des klassischen Schönheitsideals als des Schlüssels zu aller Weltanschauung und Lebensansicht hat sich dann verdichtet zur Verehrung Goethes, dessen Er- scheinung nach Hermann Grimms Meinung auf unser geistiges Leben gewirkt hat wie eine kosmische Veränderung auf die Temperatur des Erdballs. Wenn heute die »Goetheforschung« in ihm nicht bloß den Dichter, sondern vor allem den Denker und das normale Lebensvorbild, den Weisen, verehrt, so gibt sich in alledem immer wesentlich die Macht jenes Einheitsgedankens kund. Die Einheit der Welt und des Lebens ist darnach kurz und bündig unter die Formel zu bringen, daß sich alles Einzelne zum Ganzen verhält wie der Stoff zu der ihn gestaltenden schönen Form. Das Kunstwerk ist nur die konzentrierte und nachge- schaffene Erscheinung der das All gestaltenden Einheit des Sinn- lichen und Geistigen. Das Ganze im Einzelnen und das Einzelne im Ganzen ; der Zweck nicht außerhalb, sondern in der Schön- heit des Ganzen selbst gegeben; ein beständiges Wirken und Schaffen, aber nicht in der Richtung auf ein erst zu Erreichendes, sondern frei aus dem Innern quellende Harmonie der Bewegung : diese im Schönen gegebene Einheit von Ganzem und Teilen, von Zweck und Tätigkeit empfahl sich dem nach Einheit suchenden Denkbedürfnis. Sie schien dann auch den Rhythmus der natur- gesetzlichen Regelmäßigkeit ohne besondere Schwierigkeit in ihren Zusammenhang aufzunehmen und zu erläutern. Zudem und vor allem ergab sich hieraus eine bestimmte, bereits im vorigen Auf- satze gestreifte Auffassung vom Sittlichen, das zur Auswirkung der Individualität unter dem Gesichtspunkt des harmonischen Lebenskunstwerkes wurde und die Formel der Einheit des Alls in dem Ideal des von der schönen Form einheitlich gestalteten sinn- lich-geistigen Lebens des Individuums wiederholte. Darin fand die moderne Wendung zur Diesseitigkeit und innerweltlichen Be- tätigung ihre ästhetische \'erklärung und idealistisch-metaphysische Begründung. Die unbefangene Natürlichkeit und skrupellose Heiterkeit der Antike schien hier mit modernem Individualitäts- bewußtsein und rastlosem Tätigkeitsdrange vereinigt. Es ist nur

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. 207

natürlich, daß von hier aus auch eine Umgestaltung des religiösen Empfindens im Sinne einer ästhetischen Verehrung der alleinen Gott-Natur gefordert werden zu müssen schien. All das zusam- men bildete eine Welt- und Lebensanschauung von bedeutender Kraft und Tiefe, die sich wohl dem metaphysischen Idealismus als Abschluß darbieten konnte und die im Zusammenhange mit der nach Maß und Ordnung verlangenden Steigerung der Leiden- schaften und Gemütsspannungen sich so tief in die Gemüter ein- senken konnte, daß sie vielen Denkern unabtrennbar mit der Weltstellung des modernen Menschen verknüpft zu sein und einen Wendepunkt auch im religiösen Leben herbeiführen zu müssen schien.

Es handelt sich also für uns um eine Auseinandersetzung mit jenem ästhetischen Motiv des Monismus, das für uns nach dem bisherigen allein in Betracht kommen kann, und zwar ins- besondere um die Frage, ob von hier aus eine prinzipielle Um- gestaltung der Religion notwendig und zu erwarten sei.

Hier ergibt nun aber die genauere Erwägung des Wesens der Religion zunächst sofort, daß die Kombination derselben mit dieser Weltanschauung nur sehr locker und nachträglich ist, daß sie im Grunde derselben geradezu widerspricht. Gegenüber einer solchen Deutung der Religion, die weniger auf genauem Studium und Durchleben der Religion als auf einer losen und raschen Mischung des religiösen Triebes, ästhetischer Eindrücke, lebhaften Natur- und VVeltsinnes und metaphysischer Erwägungen begründet ist, können wir natürlich vor allem nur auf das innere Selbst- gefühl aller Religion verweisen, die nicht am Milden und Heite- ren, sondern am Erhabenen und Rätselvollen haftet. Wem das nicht genügt, den kann man überdies auf das gegenwärtige wissenschaftliche Studium der Religion verweisen, das zwar zum Teil noch in seinen Anfängen ist, aber doch über den Gegensatz gegen jene Zurechtlegung bereits keinen Zweifel läßt. Es hat kürzlich eine sehr schöne Zusammenfassung in dem Lehrbuch der Religionsphilosophie von Siebeck gefunden , zu dem eine höchst W'Crtvolle Ergänzung die etwas ältere Religionsphilosophie Rauwenhoffs bietet. Hier treffen wir vor allem überall den einen Grundsatz, daß die Religion ein selbständiges und eigen- artiges, in dem Wesen und der Weltstellung des Menschen be- gründetes Phänomen ist, das seine eigene Entwickelung und seine eigenen Lebensbedingungen für sich hat. Sie besitzt ihre Eigen-

208 ^^^ christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

tümlichkeit und ihre Gesetze in sich selbst und empfängt sie nicht von irgendwo anders her. Bei allen Einflüssen von Seite des wissenschaftlichen Denkens und anderer Kulturgebiete ist ihre innere Kraft und ihre Eigenart doch in ihrem eigenen Wesen gelegen. Sie kann daher von solchen Lebensgebieten her in ihrer Aeußerungsweise wohl modifiziert werden, ja sie kann bei völliger Ueberholung durch geistigen und sittlichen Fortschritt gelähmt und erdrückt werden, aber neue Kraft und innere Umwandelung kann sie nur aus ihren eigenen Quellen erfahren. Schon das macht es sehr unwahrscheinlich, daß von der ästhetischen Seite her eine wesentliche innere Umwandelung der Religion erfolgen, daß dem religiösen Einheitsgedanken sich jemals der ästhetische unterschieben könne. Vollends unüberwindlich aber wird der Gegensatz beider, wenn wir die bestimmte, aus dem Wesen und dem Entwickelungsgange der Religion sich ergebende Grundtendenz derselben mit der hier vorausgesetzten ästhetischen Anschauung vergleichen. Dabei mag hier unerörtert bleiben, ob diese Ent- wickelung sich in geradlinigem Fortschritte vollzieht oder ob in ihr neue, dem bisherigen religiösen Stande entgegenwirkende und ihn von innen heraus verwandelnde Kräfte einströmen. Jedenfalls tritt in diesen Grundgesetzen vermöge der allgemeinen Einheit- lichkeit der religiösen Anlage die allgemeinste Tendenz, das innere Wiesen und Endziel der Religion für unseren Zweck hinreichend deutlich hervor. Hier beobachten wir nämlich auf der einen Seite die immer vollständigere Annäherung und schließliche Ver- schmelzung des Religiösen und des Sittlichen, dessen besondere Verwandtschaft und Füreinanderbestimmtheit näher zu entwickeln hier nicht der Ort ist. Auf der andern Seite zeigt sich die immer durchgreifendere und sich immer mehr verinnerlichende Ausbildung des Erlösungs- und Heilsgedankens, der von Hause aus für die Religion konstitutiv ist und in seiner letzten Konsequenz die über- weltliche Erlösung enthält, die ein über die Relativität der Welt hinaus liegendes und den sinnlichen Gütern überlegenes absolutes Gut gewährt. Aus dem Zusammenhang und der Wechselwirkung beider Tendenzen ergibt sich die allgemeine Richtung auf eine jener ästhetischen Immanenzvorstellung direkt widerstrebende Ge- samthaltung der religiösen Stimmung, auf eine strenge Unter- scheidung Gottes und des religiös-sittlichen Lebensideals von dem tatsächlichen natürlichen Zustande der erfahrungsmäßigen Welt und des Menschen. Es ergibt sich die Tendenz auf eine ethisch-

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religiöse Ueberweltlichkeit, die durch Gegenüberstellung bestimm- ter höherer Inhalte gegen die natürlichen Lebensinhalte sich scharf abgrenzt von einer bloß ästhetischen Durchleuchtung und har- monischen Ordnung des gegebenen Stoffes durch eine ihm von selbst immanente Form.

Bei einem Rückblick von der erreichten Stufe des religiösen Lebens zeigt sich diese Tendenz als im Wesen der Religion ge- legen und in ihrem hier nicht näher zu erklärenden Entwicke- lungsgange bekundet. Man hat die hiermit gegebene Anschau- ung von Gott und Welt mit dem Namen Theismus bezeichnet. Historisch angesehen ist der Theismus in der Tat nichts anderes als der seiner unmittelbaren, lebendigen Bildlichkeit entkleidete und in philosophische Formeln gefaßte Gottesbegriff der höchsten Religionsstufe, des Christentums. Ohne auf die Frage nach der Absolutheit des Christentums hier einzugehen, darf doch gesagt werden, daß jede weitere religiöse Entwickelung in der Rich- tung des Theismus sich zu halten hat und daß lebendige Fröm- migkeit nur in ihr überhaupt denkbar ist. Das ist eine Tat- sache, die heute gerade von der religionsfeindlichen Forschung in aller Schärfe anerkannt ist. Feuerbach stellt auch in dieser Beziehung eine lehrreiche Reaktion gegen den idealistischen Pan- theismus dar. Freilich schärft sich mit der Anerkennung dieses Grundcharakters aller Religion auch das Verständnis für die hierin gelegenen Schwierigkeiten. Dabei ist weniger an den so viel an- gefochtenen Begriff der Persönlichkeit zu denken, der vielmehr kein Begriff, sondern das Symbol eines solchen ist und bei dem richtigen Verständnis der religiösen Vorstellungs- und Bildersprache sich als inadäquater Ausdruck eines sehr wohl verständlichen Erfahrungsgehaltes ausweist. Die Schwierigkeiten liegen vielmehr in dem Problem der Theodicee, das von den Positivisten und Pessimisten als der eigentliche springende Punkt bezeichnet wird. Diese Einwendungen sind für uns deshalb so wichtig und inter- essant, weil sie in der Tat das Verständnis der Religion an den richtigen Punkt leiten und die Verquickung des ästhetischen Optimismus mit dem wahren Wesen der Religion für immer weitere Kreise aufzulösen geeignet sind. Das Problem der Theodicee ist identisch mit dem des Erlösungsglaubens und eben dadurch mit dem der Religion überhaupt. Der Glaube an Gottes Güte und Heiligkeit und die Erkenntnis des Weltleides und mensch- licher Gebrechlichkeit sind gerade in dem Wesen der Religion

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Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

verknüpft, und von hier aus entspringt für die mit dem Sittlichen vereinigte Frömmigkeit die Richtung auf den ^Theismus«. Die hierin Hegenden logischen Schwierigkeiten fechten die wahre und lebendige Frömmigkeit nicht an, da sie gerade die erfahrungs- mäßige Auflösung derselben in der Tatsache eines über die Welt erhabenen inneren Friedens ist. Die Theodicee ist die Verklei- dung der religiösen Grundgewißheit in wissenschaftliche Formeln. Aber sie bezeichnet doch mit ihrer Betonung der Gegensätze und des Rätselhaften das wirkliche Lebensinteresse der Religion. So kommen für uns diese Einwendungen wesentlich unter dem Gesichtspunkt in Betracht, daß sie die Umkehr der wissenschaft- lichen Meinung über die Religion darstellen und die tatsäch- liche Richtung aller echten Religion auf den »Theismus« unwill- kürlich anerkennen. Wenn Paulsen und Volkelt den ästhetischen Pantheismus als Fundament der Zukunftsreligion bezeichnen, so haben sie doch auch hier beide sich genötigt gesehen, die Ver- bindung pessimistischer Elemente, die Tragik eines sich selbst erlösenden Gottes u. a. zugleich irgendwie mit in Aussicht zu nehmen. Damit ist das Ungenügende desselben deutlich einge- standen, ohne daß wir über den geradezu irreligiösen Charakter jener pessimistischen Mythologie irgend ein Wort zu verlieren brauchen. Die Selbstbehauptung der Religion müssen wir ihrer inneren Kraft und Energie überlassen, für welche ja die Erkennt- nis des Weltelends nichts Neues und nichts spezifisch Modernes ist, das sie nötigte, neue Wege einzuschlagen. Hier genügt es, die UnStatthaftigkeit ihrer Vermischung mit dem ästhetischen Monismus dargetan zu haben.

Freilich gibt es Religionsformen, welche jenem ästhetischen Ein- heitsglauben in einiger Beziehung entgegenzukommen scheinen, die der pantheistischen Mystik, welche wenigstens in der vollen Hingabe des Einzelseins an ein unendliches Ganzes mit ihm übereinstimmt. Aber diese Mystik ist immer und überall nur eine Lähmungserschei- nung, ein Zersetzungsprodukt gewesen, wenn alte Religionsformen zu wanken begannen und der religiöse Trieb ohne Mut zu ener- gischer Betätigung sich auf sich selbst, auf sein unbestimmtes und allgemeines Sehnen nach dem Göttlichen zurückzog, wenn er insbesondere gegen den ethischen Charakter des Göttlichen indifferent war oder wurde. Sie ist nicht die Religion der Zu- kunft, sondern die altbekannte und immer wiederkehrende Religion der Zersetzung, die insbesondere in den arischen Naturreligionen

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aufzutreten pflegt und von dort her bis heute mächtig wirkt, zu der sich auch in der gegenwärtigen reHgiösen Krisis viele mit der kirchUchen ReUgion zerfallene Gemüter flüchten. Da aber ist dann zu bedenken, daß alle wesentlich religiöse Mystik erst recht ästhetisch indifferent ist, da sie die Sinnlichkeit zugleich mit dem Einzelleben auslöscht und darum der Askese sich zuwendet. Sie trägt in Wahrheit den schroffsten Dualismus in sich, den Gegen- satz von Scheinwirklichkeit und wahrer, alles Sondersein ver- schlingender Wirklichkeit. Es ist nicht so einfach, diese Mystik mit ästhetischem und innerweltlich-kulturellem Geiste zu erfüllen. Das hat der Neuplatonismus versucht, indem er Zwischenstufen zwischen das Absolute und die empirische Welt einlegte, auf deren unterster sinnlicher Stufe sich die Einheit der Welt ästhetisch darstellt, aber nur, um beim Aufstieg in die höheren Stufen durch die rein mystisch-asketische Einigung überholt und das heißt über- wunden zu werden. Zu alledem ist übrigens auch er ein Produkt des Uebergangs und der Zersetzung, wo die Reste der alten Sinnlichkeitskultur mit dem aufsteigenden Gedanken der Ueber- weltlichkeit verbunden werden. Die Unbestimmtheit und ethische Indifferenz jener Mystik ist dem christlichen Personalismus ge- wichen. Der moderne Neubuddhismus vollends, der mit dem wirk- lichen Buddhismus so wenig gemein hat wie mit der wirklichen Religion, ist nur ein Symptom der bei der heutigen religiösen Zersetzung sich einstellenden geistigen und sittlichen Leere, des Mangels an Kraft und Selbstvertrauen, die Religion der Blasierten. Es darf somit als ein Ergebnis der bisherigen Vergleichung bezeichnet werden, daß der ästhetische Monismus in seinem täuschenden Optimismus und seiner aristokratischen Beschränkung auf die ästhetisch Gebildeten dem innersten Wesen der Religion mit ihrem Leid und Sünde furchtbar streng nehmenden Ernste und ihrer alle Mühseligen und Beladenen tröstenden Milde geradezu zuwiderläuft, daß er weit entfernt, eine neue Entwickelungsstufe der Religion einzuleiten, ihrem eigentlichen Entwickelungszuge viel- mehr hemmend entgegen steht. Alle Versuche, die Religion moni- stisch zu gestalten, sind stets von außen an sie herangetreten. Um- gekehrt sind alle kräftigen religiösen Impulse immer von theisti- scher Frömmigkeit ausgegangen. Die neue Wissenschaft und Welt- erkenntnis hat den alten, naiven biblisch-kirchlichen Supranatura- lismus mit seiner anthropomorphen Trennung von Gott und Welt, seinen Eingriffen in den Weltlauf und seinen zweierlei Kau-

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salitäten für Werktag und Feiertag allerdings in den weitesten Kreisen zerstört, aber das Ergebnis war niemals eine innere Wan- delung der Religion selbst, sondern nur eine Vergeistigung und Verinnerlichung des Supranaturalismus, der gleichviel unter welchen Vorstellungsbildern der Weltanschauung und der Lebensführung den Grundton einer Beziehung auf einen überweltlichen » persön- lichen <' Gott und überzeitliche Güter der sittlichen Persönlichkeit festhält. Es darf hinzugefügt werden, daß diese Tatsache auch der Philosophie keineswegs entgangen ist und die Gruppe der sogenannten theistischen Philosophen z. B. J. H. P'ichte, Weisse und Ulrici, auch Lotze ihr ernstlich Rechnung zu tragen ver- suchten. Insbesondere hat der größte Vertreter jenes Monismus, Goethe selbst, mit zunehmendem Alter die Eigenart der Religion immer schärfer empfunden und erkannt und seinen Naturpantheis- mus durch eine sehr ernste theistische Wendung ergänzt, wie man sich aus seinen Sprüchen, den Briefen und Gesprächen oder aus dem Buche O. Harnacks über »Goethe in der Epoche seiner Vollendung« leicht überzeugen kann. Die heutigen Kommenta- toren haben freilich die Neigung, diese Rückwendung Goethes zu dem christlichen Personalismus zu ignorieren, wegzuerklären oder zu entschuldigen, ähnlich wie man die »Privatmetaphysik« Kants w-egerklärt und entschuldigt. Aber sie bleibt darum doch be- stehen und ist eine überaus wichtige und lehrreiche Tatsache.

Soweit wir überhaupt den Boden der religiösen Weltanschau- ung einnehmen, möchte damit die Sache erledigt scheinen. Man könnte, wie das die meisten Theologen tun, die weiteren Fragen nach der Bedeutung des Aesthetischen sich selbst überlassen. Allein die Macht der hieran anknüpfenden Gedanken über die Gegenwart ist zu groß, als daß es nicht noch einer genaueren Aus- einandersetzung hierüber bedürfte. Es entspringt somit aus dem bisherigen sofort die weitere Frage, was es denn für eine Be- wandtnis habe mit jener so ungeheuer wirksamen Tatsache des Schönen und mit den unleugbar von ihr ausgehenden Antrieben zu einer harmonischen Fassung des Alls und des Lebens, mit der Begründung einer mächtigen und großartigen Weltanschauung auf jenes Erlebnis, wie sie von dem Altertum, der Renaissance und Goethe her auf unsere gesamte Kultur tief einwirkt. Die Aus- einandersetzung mit den an diesem Punkte sich sammelnden Ge- dankenmassen ist in der Tat für uns Epigonen jener großen Literaturepoche ein dringendes Bedürfnis, das wir uns nur allzu-

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sehr aus dem Stegreif zu befriedigen oder mit Phrasen wegzu- reden gewöhnt haben. Die ganze moderne Bewegung des Den- kens und Lebens, die von ihr eröffnete Breite der Natur und des Wirkens, die Verlegung der schaffenden Kräfte in das Innere der WirkUchkeit, all das können wir hoffen von der religiösen Welt- anschauung aus zu bewältigen, wenn wir in jenem nur eine er- weiterte Erkenntnis des Geschehens erblicken und wenn wir diese größer, freier, tiefer und innerlicher gestalten. Aber sobald uns das moderne W^eltbild in dem Lichte jenes idealen ästhetischen Glaubens entgegentritt, wenn wir seine Einheit und seinen idealen Sinn in der ästhetischen Gestaltung durch die einheitliche Har- monie der schönen Form erblicken sollen, dann steht uns ein Gegner gegenüber, mit dem ein Paktieren völlig unmöglich ist. Dann stehen wir dem Heidentum im religiösen Sinne des Wortes gegenüber, d. h. einer Lebensströmung, die gewiß auch ihrerseits tief religiös sein kann, die aber der christlichen Religiosität un- mittelbar entgegengesetzt ist. Wir können zwar darauf hinweisen, daß auch das ein idealer Glaube ist, und nichts logisch Zwingen- des und Beweisbares, etwas, dem keine rationale Notwendigkeit, sondern nur subjektive Geltung zukommt. Aber das überhebt uns der Aufgabe nicht, uns mit dem Tatsachengrunde, aus dem er entspringt, und der Macht, die er für sich beansprucht, aus- einanderzusetzen. Diese Frage wird nur noch dringender, wenn wir ihre ethische Seite beachten : ob nämlich die aus der christ- lichen Grundüberzeugung sich ergebende Richtung auf das Ueber- weltliche und die auf ein ewiges Ziel konzentrierte Lebenshaltung sich vereinigen lasse mit jener Fülle innerweltlicher Strebungen und Aufgaben, mit jenem Reichtum breit auseinanderstrebender Lebens- kraft und Lebenslust, die in der ästhetischen Ethik ein zusammen- haltendes Prinzip und eine innere Harmonie gefunden haben .^ In der letzteren ist zugleich die quaestio facti enthalten, ob denn abgesehen von aller begrifflichen Vereinbarkeit oder Unvereinbar- keit unser tatsächliches Leben auch nur wirklich in jener christ- lichen Richtung sich bewege, ob es angesichts der modernen Welt in ihr sich noch bewegen könne oder ob nicht die modern humanistische Erneuerung der aristotelischen Entelechie auch für die sittliche Selbstbildung den festeren und entsprechenderen Halt gewähre ?

In ersterer Hinsicht erwidern wir, daß jene klassische Auf- fassung des Schönen bereits einen vielseitigen und scharfen

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. l8

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Widerspruch in der auf ihre Anregung hin betriebenen genaueren Analyse des ästhetischen Erlebnisses gefunden hat. Der objektiv- metaphysischen Wertung des Schönen, welche in ihm einen all- gemein vorhandenen, nur an einzelnen Punkten besonders deut- Hch hervortretenden Zusammenhang des Wirklichen wahrzunehmen glaubte, ist mit Erfolg eine mehr subjektiv gerichtete, formalisti- sche und psychologische Deutung entgegengetreten, welche zu- nächst in dem subjektiven Wohlgefallen an bestimmten Beziehungs- elementen und in einer nur vom Subjekt ausgehenden Auffassung der Formen des Wirklichen den Grund jenes Erlebnisses sieht. Besonders schön hat H. Siebeck diese Fragen in seiner Schrift über »das Wesen der ästhetischen Anschauung« behandelt. Dar- nach wird im Schönen die Sinnliches und Geistiges verbindende Form allerdings geschaut, aber dieses Schauen ist nur das Hinein- verlegen der im Subjekt, in der Persönlichkeit, uns bereits gege- benen Einheit in die Außenwelt, wie es nach bestimmten Ge- setzen aus einem Bedürfnis des menschlichen Geistes bei den meisten gegenüber der Natur stattfindet und bei einigen beson- ders nach dieser Seite Begabten zum absichtlichen Bilden der Natur führt. Das Schöne ist das Hineinschauen und Hineinbilden der Sinnliches und Geistiges verknüpfenden Formeinheit, wie sie in dem menschlichen Wesen selbst primär sich darstellt, in die an sich dagegen ungleichartigen Dinge der Wirklichkeit. Es hat in der geistig-sinnlichen Einheit des Menschen seine Quelle und belebt und gestaltet nur die Natur durch die Hineintragung der Form menschlichen Wesens in sie. Es sieht und schafft in der Natur ein »analogon personalitatis«. Nun bleibt ja in dieser Formeinheit des menschlichen W^esens ein objektives Element des Schönen, dessen Uebertragung auf die Welt schließlich nur ein berechtigtes Verständnis der Dinge aus der Analogie des mensch- lichen Wesens sein mag. Allein hier ist nun für uns von Wich- tigkeit, daß jenes klassische Schönheitsideal nur eines unter vielen ist, daß die dogmatische Verherrlichung des griechischen Schön- heitsideals der historischen Erkenntnis der notwendigen Ver- schiedenheit des Schönen in der geschichtlichen Entwickelung gewichen ist. Das Goethe- Winckelmansche Kunstideal ist nur eines unter vielen und zwar ein sehr einseitiges, das bei der möglichsten Natureinigkeit des Geistes stehen bleibt, um sich ganz ausschließlich dem Genüsse der beides noch leicht und ein- fach verbindenden Form zu ergeben, und eben deshalb sich ganz

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vorzugsweise an Homer und die antike Plastik hält, in welchen Erzeugnissen die moderne Entzweiung der sittlichen Persönlich- keit mit der Natur am wenigsten hervortritt. Es ist zweifellos, daß hierbei das Wesen der schönen Form am reinsten erfaßt werden kann, aber auf Kosten der gerade in jenem Gegensatz sich erzeugenden Inhaltlichkeit des Geistes. Demgegenüber hat schon Schiller, der stets mit der Frage nach dem Verhältnisse des Schönen zu den inhaltlichen Werten des Sittlichen rang, auf die der »naiven« gleichberechtigte »sentimentalische« Anschauung des Schönen hingewiesen. Die Romantiker haben auf die ge- schichtlichen Unterschiede in den Kunstidealen und auf die Einseitigkeit des klassischen noch energischer hingewiesen. In feinsinnigster Weise hat Schnaase diese Betrachtungsweise in seinem großen Werke über die bildenden Künste durchgeführt. Seine Beobachtungen fassen sich zusammen in dem Satze, daß »das künstlerische Ideal, das Resultat der praktischen Ideale sei«. Natürlich, denn in der Kunst spiegelt sich die Auffassung, die der Mensch jeweilig von der Formeinheit seines eigenen Wesens hat. So treffen wir in den Schönheitsidealen selbst den Unter- schied der allgemeinen Gemütsstimmungen wieder und erhalten nicht für diese eine feste Norm in einer angeblich kanonischen Wesensoffenbarung des Schönen. Die Kunst des Altertums ent- stammt einer unwiederholbaren, eigentümlichen Periode des mensch- lichen Geistes, in welcher er von der Natur sich noch weniger gelöst hatte. Diejenige der christlichen Völker ist notwendig eine andere als die der mit der Natur noch unbefangen einigen Antike. Der Untergrund der antiken Kunst ist die Naturreligion, die moderne hat überall die christliche Religion mit ihrer Heraus- hebung der naturüberlegenen Persönlichkeit aus der Natur zur Voraussetzung. Soferne wir auch in der Persönlichkeit des mo- dernen, innerUcher erregten und mit selbständigerer Inhaltlichkeit erfüllten Menschen eine tiefe, innere Einheit des Wesens wahr- nehmen und diese Einheit in unseren Kunstschöpfungen wider- spiegeln, mögen auch wir darin die schöne Form erkennen, in welcher die innere Einheit des Alllebens sich kundtut. Aber diese Einheit ist eine andere als die der in der Naturreligion wurzelnden Schönheit. Wir dürfen in dieser nicht das absolute Muster des Schönen verehren und eben damit dürfen wir in ihr auch kein zwingendes Motiv für die Bildung eines ästhetischen Monismus erkennen. Er ist nichts anderes als die künstlerische

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Verherrlichung der NaturreHgion und kann sich der Vertiefung des reUgiösen Lebens nirgends auf die Dauer widersetzen.

Die Goethe-Winckelmannsche Verherrlichung des Altertums ist dementsprechend auch längst von der Altertumswissenschaft als einseitige Verallgemeinerung einiger Charakterzüge der An- tike und unberechtigte Loslösung derselben von einer ganz bestimmten geschichtlichen Lage bezeichnet worden. Die von ihnen bewunderte Schönheit ist noch dazu niemals der all- gemeine Grundzug der griechischen Kultur gewesen, sondern haftet an einigen Erscheinungen, neben welchen im Leben und der Literatur, der Lyrik und Tragödie die übrigen, die Disso- nanzen des Daseins schwer empfindenden Stimmungen, die mora- lische und religiöse Transzendenz mit natürlicher Notwendigkeit hergingen, um schließlich diese ganze Kultur zu zersetzen. Wenn ferner einige die künstlerische Eigentümlichkeit und Begabung ihres Volkes besonders scharf und tief empfindende Denker in der beginnenden Zersetzung ihren idealen Glauben auf die ästhe- tische Anschauung von der Schönheit der Form zu begründen suchten, so ist das nicht die bewußte Aussonderung des Schö- nen als eines besonderen und unveränderlichen Erkenntnismittels, keine für immer grundlegende philosophische Tat, sondern es ist die noch ungetrennte Verschmelzung ästhetisch belebenden Anschauens mit reflektierendem Denken, wie sie bei den ersten großen Bewegungen des philosophischen Denkens begreiflich und durch den ganzen Volkscharakter nahe gelegt war, während sich höhere und andersartige Prinzipien idealer Anschauung im Um- kreis ihrer Kultur nicht fanden. Das Persönliche ist vom Un- persönlichen noch nirgends geschieden, die menschliche Persön- lichkeit ist gegebene Natur, und die Natur ist etwas von gestal- tenden Mächten Beseeltes. So kann die P'orm für alle Erkennt- nisgegenstände, für die Natur wie für das menschliche Leben, der letzte Gehalt zu sein scheinen, so bildete sich ihr Grundbegriff in einer den Unterschied des sachlichen und persönlichen Seins verwischenden Weise aus. Dieser ästhetische Grundcharakter der antiken Philosophie prägt sich daher auch in verschiedenen Konsequenzen aus, die wir weniger zu billigen pflegen, in dem griechischen Augensinn, der sich in der Anschauung der gestal- tenden Formen bewegt und dem mit dem Anschauen und Wir- kenlassen dieser Formen alles erledigt scheint , in dem naiv aristokratischen Grundzug des Lebens, der an der brutalen Härte

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und Not des Daseins vorüberführen konnte, weil er diese auf die von der Natur zu nichts Höherem bestimmte Klasse der Sklaven und Banausen ablud. So hängt der griechische Aesthetizismus mit der damaligen Entwickelungsstufe und den bestimmten geschicht- lichen Verhältnissen jenes Volkes unwiederholbar zusammen und ist keineswegs der reine Ausdruck des Geistes überhaupt. Die moderne Verehrung des Altertums ist oft nichts anderes als die Sehnsucht einer vertieften und vielspältigen Kultur nach der Ge- sundheit, Einfalt und Begrenztheit ihrer Jugend, wobei dann wie gewöhnlich bei solchem Rückblick die Jugend idealisiert wird.

Die Unwiederholbarkeit dieser in der Naturreligion wurzeln- den Weltanschauung zeigt sich auch deutlich in dem ganzen Verlaufe der modernen Renaissance selber. Die breitere und bewußtere Zuwendung zur Natur und zur Welt hat naturgemäß zu einer Annäherung an die Antike geführt, und es mag richtig sein, daß, wie Windelband meint, der Weg zur Natur für uns Moderne immer durch die Antike führt. Aber niemals er- folgte eine vollständige Zurückwendung, und niemals war es möglich, bei ihnen stehen zu bleiben, bei der Natur so wenig wie bei der Antike. In der italienischen Renaissance ist vor allem die größte Gestalt, Michel Angelo, ein Typus dafür, wie voll- ständig der antike Geist sich in der modernen Welt verändert und wie gerade jene naive und heitere Natureinheit uns etwas Unmögliches ist. In der deutschen Renaissance hat Goethe mit seiner Jugenddichtung wie in seinem Alter ganz wesentlich ungriechische Ideale verfolgt, aus denen die moderne Sehnsucht nach überweltlichen Gütern und Wahrheiten des Gemütes deut- lich und ergreifend genug spricht, und auch seine am meisten gräzisierende Periode läßt bei aller ,, Natürlichkeit" der römischen Elegien doch in Iphigenie und Tasso eine Zartheit und Tiefe der Empfindung zur Sprache kommen, die man stets mit Recht in Verbindung zu christlicher Weltanschauung gesetzt hat. Die Ruhe und Konkretheit seiner gräzisierenden Anschauung hat zweifellos reinigend und festigend auf uns gewirkt, aber dabei darf doch nicht der viel tiefere Gehalt seines Gesamtstrebens und ebenso wenig dürfen die besonderen Grenzen und Bedingtheiten seiner Individualität übersehen werden. Die immer mysteriöser sich geberdende Goetheforschung ist in Gefahr, dieselbe Legende vom Normalmenschen zu schaffen, welche Winckelmann zuvor aus der antiken Plastik geschaffen hatte. Statt Goethe immer

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nur in der Stimmung der italienischen Reise und der beiden nächstfolgenden Dezennien zu schildern und aufzufassen, wäre es vielmehr höchst lehrreich, in den Vordergrund zu stellen, wie die Bekanntschaft mit Kant und Schiller, das Eintreten in andere Kunst- und Literaturkreise, die Rückwirkung der Romantik sein Kunstideal und seine Kunsttheorie und damit zugleich seine Weltanschauung und seine ethischen Lebensgrundsätze leise und allmählich veränderten und über die antikisierende Einseitigkeit seiner mittleren Lebensperiode hinausführten. In allen diesen Veränderungen gibt sich nach seinen eigenen Aussagen ein ent- schiedenes Hinausstreben über den ästhetischen Pantheismus kund, wenn dasselbe auch immer an seinem unverwüstlichen Optimis- mus, seiner Verabscheuung des großen Leidens und der großen Kämpfe, der Brüche und Katastrophen, an seiner eigentümlichen, dem Hellenentum verwandten Natur gewisse Grenzen findet. Das Verständnis jenes Strebens aus der Notwendigkeit der Dinge und des modernen, vom Christentum durchtränkten Geisteslebens so- wie das Verständnis dieser Grenzen aus der Individualität Goethes und der übermächtigen Nachwirkung gewisser Grundzüge der Antike wäre viel wichtiger als seinen Entwickelungsgang immer nur unter der Formel der einheitlichen Selbstauswirkung seiner Natur zu beschreiben, alle seine Handlungsweisen aus dieser Naturnotwendigkeit zu rechtfertigen und so in diesem Ganzen des Lebens und Denkens nur die Norm für wahrhaft moderne Weltanschauung und Sittlichkeit zu bewundern. In dieser Hin- sicht hat die Streitschrift Braitmeiers gegen »Goethekult und Goethephilologie« auch von literar-historischer Seite manches Be- herzigenswerte ausgeführt.

Das ästhetische Motiv zum prinzipiellen Monismus ist also nicht in der Tatsache des Schönen und der Kunst überhaupt gegeben, sondern nur in einer ganz bestimmten, mit längst ver- gangenen, unwiederholbaren Kulturverhältnissen zusammenhängen- den Richtung des künstlerischen Schaffens, der Epik und Plastik der Griechen. Wie jede Kunst und alles Schöne Formen eines Inhaltes darstellt, also den Inhalt bereits voraussetzt, so drückt jene Kunst den Lebensinhalt der Naturreligion unter den beson- ders günstigen Verhältnissen einer außerordentlichen künstlerischen Begabung aus. So ist es begreiflich genug, daß in jener Kunst- anschauung ein nie rastendes Motiv zum Monismus liegt. Es ist das fast eine Tautologie oder wenigstens nur eine genauere Ver-

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deutlichung des Inhaltes und der Tragweite jener Kunstanschauung. Wie sie dereinst aus der Gesamtstimmung der NaturreHgion hervor- ging, so erzeugt sie beim vollen Nacherleben und Mitempfinden heute den Monismus, der nur die wissenschaftlich und künstlerisch vertiefte Naturreligion ist, und im Zusammenhang damit auch die entsprechende ethische Lebensanschauung, welche nur einen na- türlich gegebenen, harmonisch zu formenden Lebensstoff kennt und vor allem vollständig innerweltlich gerichtet ist. Es ist aber völlig unmöglich, diese ganze Stimmungs- und Anschauungswelt auf dem Boden der inzwischen erfolgten religiösen Vertiefung fortzusetzen oder zu erneuern. Das Christentum hat die Scheidung der Persönlichkeit vom Unpersönlichen, des Ideals von der Wirk- lichkeit, der geistigsittlichen Werte von der Natur, Gottes von der Welt so durchgreifend und allgemein vollzogen, daß alle Versenkung in das Altertum nie wieder eine völlige Umkehr zu bewirken vermag, daß insbesondere jenes in der antiken Kunst- anschauung enthaltene Motiv zum Monismus ein veraltetes und überholtes geworden ist. Wohl gehen von ihr wohltätige Gegen- wirkungen gegen Ueberspanntheiten und Geschmacklosigkeiten aus, aber eine grundlegende positive Bedeutung hat sie für unser Leben und unsere Weltanschauung nicht. Dem entspricht auch vollständig der Entwickelungsgang der Kunst, welche die antiken Muster benützend doch überall Selbständigkeit suchte, anderen Gattungen sich zuwandte und jede allzugroße Neigung zur Antike sofort mit der Parole zur völligen Abkehr von ihr beantwortete. Wenn das »Charakteristische« im Gegensatze zum »Schönen«, die Farbe im Gegensatze zur Linie, die Stimmung im Gegensatze zum genau umschriebenen Vorwurf Eigentümlichkeiten der mo- dernen Kunst bezeichnen, so prägt sich in alledem nur der Unter- schied des inneren Lebens aus. Am schärfsten drückt er sich in derjenigen Kunst aus, Vv'elche der modernen Zeit allein ange- hört und in welcher sie ihr tiefstes Gemütsleben offenbart, in der Musik.

Damit ist unsere Stellung zu dem ästhetischen Motiv des Monismus hinreichend geklärt. Es ist völlig unmöglich, daß eine der Naturreligion entstammende Kunstanschauung den Schlüssel der Erkenntnis für die auf den Boden einer rein geistig sittlichen Religion Uebergetretenen abgebe. Dazu ist nur noch hinzuzufügen, daß das ästhetische Erlebnis überhaupt nicht als primärer Aus- gangspunkt inhaltlicher Erkenntnisse dienen kann ; es ist stets ab-

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hängig von einer seelischen InhaltUchkeit kompHzierter Art, die es bei der Beseelung der sinnlichen Welt in diese hineinschaut und aus ihr wieder herausbildet. Zugleich ist daran zu erinnern, daß dieses Erlebnis vermöge seiner notwendigen Beziehungen auf die Sinnlichkeit immer an die natürliche Sinnlichkeit gebunden bleibt und daher über die tiefsten Gehalte des Uebersinnlichen selbst nichts auszusagen vermag. Daraus entsteht ein mannig- facher Zwiespalt zwischen der vergeistigenden Tendenz des Chri- stentums und der versinnlichenden der Kunst überhaupt, der aber bei Beachtung der irdisch sinnlichen Grenzen unserer Existenz- form nur den unauflöslichen allgemeineren Gegensatz zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem widerspiegelt.

Schwieriger zu beantworten ist die zweite Frage. Wir müssen zwar die plumpe Behauptung zurückweisen, daß die christliche Jenseitigkeit identisch sei mit einem äußerlich hetero- nomen Dualismus von weltlichem und asketischem Leben oder mit einer egoistischen Drangabe irdischer Freuden um größerer himmlischer willen. Die Jenseitigkeit des Christentums führt nicht notwendig aus der Welt und ist nicht notwendig egoistisch, sondern ist etwas durchaus Innerliches, den gottverwandten Geist zu seiner Lebensquelle in Gott Zurückführendes, mitten in der Welt den Menschen über sie Erhebendes, womit zugleich die Vorwürfe des Egoismus und der Heteronomie erledigt sind. Fer- ner müssen wir auch für die christliche Idee das Recht und die Möglichkeit einer Entwickelung je nach den Weltverhältnissen, einer Vergeistigung und Verinnerlichung, einer Ausbreitung und Assimilation, einer Verbindung und Verschmelzung fordern und dürfen ihre Stellung in der modernen Welt nicht ohne weiteres messen an ihrer Stellung gegenüber der feindlichen alten Heiden- welt. Sie ist ja nur für die Dogmatiker etwas Fertiges und Bestimmtes, das sie für ewig fixieren. Aber die Dogmatiken sind nicht das Christentum, sondern die unlebendige und oft giftige Schlacke, die es an seinem Wege liegen läßt. Aber es bleibt allerdings dabei : der Geist des Christentums, solange er sich selbst treu bleibt, ist ein gegen die weltlichen Aufgaben und Interessen als solche zunächst gleichgültiger, nur auf das höchste und letzte Ziel der Persönlichkeit, die Gemeinschaft mit dem heiligen Gotte, gerichteter. Herzensreinheit, die vor Gott bestehen kann im Gerichte, und Liebe, die das von Gott Erfah- rene den Brüdern tut um Gottes willen, sind die Grundgedanken

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der christlichen Ethik, der Inbegriff ihrer Individual- und Sozial- ethik. Wandeln im Lichte des Ewigen und vor dem Angesichte Gottes, ungestört von dem teilenden und verwirrenden, in sinn- liche Güter und Interessen verstrickenden Treiben der Welt : das ist das Herz des echten strengen Christentums. Dabei ist die Welt nicht böse und nicht zu meiden, denn auch sie ist von Gott, aber sie ist ein Zustand, der eben hingenommen wird als von Gott verordnet und der keinen Wert und keinen Zweck hat in sich selbst. Ihren Aufgaben als Selbstzwecken sich freudig hinzugeben, entfernt von Gott. Im Leiden wird die wahre Erkennt- nis und die wahre Sittlichkeit geboren, denn es führt aus der Buntheit der Welt zu dem Einen, das not tut. Die Ewigkeit im Herzen wirkt der Christ in der Welt sein Tagewerk, wie es seine Pflicht ist und wie Gott ihn hingestellt hat, aber sein Herz ist da, wo sein Schatz ist. Es fehlt jeder prinzipielle Dualismus, aber auch jede Anerkennung des weltlichen Lebens als Selbstzweck. Die Anerkennung der Welt als gottgeschaffener zeigt sich auch darin, daß jene unablässige Selbstbeziehung auf die höchsten und letzten Gesichtspunkte nicht zu quietistischer Kontemplation zu werden braucht, sondern oft genug und insbesondere im Prote- stantismus die energische Wendung zur Durchdringung der Welt und des weltlichen Lebens mit der Kraft des göttlichen Geistes nimmt, daß aus ihr unzählige Aufgaben für die positive Gestal- tung des Lebens entspringen und ein rastloser Kampf gegen die der Welt und ihrem Treiben innewohnende Neigung zur Selbst- befriedigung und Gottentfremdung hervorgeht. Aber diese Welt- verklärung steigert und klärt doch nicht die dem Weltleben im- manenten Kräfte, konzentriert und läutert nicht das Vorhandene, sondern will ein Neues, Göttliches in dem seinem ursprünglichen Sinne Entfremdeten schaffen, will das Eigenleben der Welt brechen und ein Neues, Höheres in sie einführen. Auch Luthers Christentum wird völlig mißverstanden, wenn man in ihm etwas anderes sieht als die Verinnerlichung dieser Ueberweltlichkeit und ihre Verpflanzung aus der Einsamkeit des Klosters in das täg- liche Leben. Er faßt die Selbstbeziehung auf das Ewige nur noch tiefer und allgemeiner, er nimmt den Kampf gegen die Welt nur aus einer größeren und innerlicheren Tiefe und in der vollen Breite des Lebens auf. Wohl ist in seiner Frömmigkeit die beginnende moderne Wendung zur Einheit und Vertiefung des Innenlebens wie zur allgemeinen Umfassung des Weltlebens

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mit enthalten, aber sie äußert sich bei ihm gerade in der voll- ständigen Durchdringung des ganzen Menschen in seinen gege- benen Verhältnissen mit dem überweltlichen Geiste des Christen- tums. Sein erbitterter Vernunfthaß und seine eifrige Herabsetzung des natürlichen Menschen gehen über Augustin womöglich noch hinaus. Daran ändert seine Schätzung praktischen Weltver- standes und sein gelegentlicher gesunder, lebenslustiger Humor so gut wie nichts. Der so viel gerühmte Beruf ist nicht etwas aus eigener Initiative und aus selbständiger Ueberlegung der Welt- zwecke zu Erwählendes, sondern die gegebene Lage, in der ein Christ als seinem gottverordneten Stande getrost und pflichtge- treu verharren soll, in der er ohne besondere, erst aufzusuchende gute Werke ein Herr und Knecht aller Dinge ist durch die Gnade. Von der modernen Schätzung weltlicher Betätigung um ihrer selbst willen war er weit entfernt. Nur in den Revolutions- jahren ist ein leiser Hauch dieses weltlichen Geistes, besonders an seinem Patriotismus, zu verspüren.

Ebensowenig ist zu leugnen, daß dem auf der andern Seite die F'ülle weltlicher Aufgaben und Güter, die Freude an der Be- tätigung und Kraftentfaltung mit der ganzen Stärke einer natür- lichen Notwendigkeit gegenübersteht. Das war tatsächlich immer so und ist auch in der Ethik der christlichen Kirchen immer irgendwie anerkannt worden. In der modernen Welt ist aber das Bewußtsein um diese Tatsache hinzugekommen, die Erfassung derselben als eines wahrhaften sittlichen Prinzips. Die ungeheuere Steigerung der Intensität des Lebens, die Erhöhung des Daseins- gefühls, die Mehrung der Aufgaben und Güter in den neueren Jahr- hunderten haben die innerweltliche Kraftbetätigung über eine bloß natürliche zu einer sittlichen hinausgehoben. Das Dasein in seiner ganzen Breite und Fülle auszuleben und mit mannhafter Freude an dieser Kraftentfaltung in seiner Person und in der Gesamtheit die Lebensenergie aufs höchste zu steigern, ist zu einem sitt- lichen Gebot geworden. Selbst fest und trotzig sich die Zirkel seines Lebens nicht stören zu lassen und ebenso im andern eine nicht anzutastende Individualität zu achten, hat den Beifall sitt- licher Handlungsweise. Auf seiner Ehre bestehen und ebenso dem andern strenge Gerechtigkeit erweisen scheint besser als entsagende Demut und überall sich einmischende Liebe. Lange suchte diese sittliche Auffassung nach einem zusammenfassenden Prinzip und hat sich mit einem pedantischen Ausdruck, der Leib-

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nizischen Vervollkommnung, begnügen müssen, bis sie im Zu- sammenhang mit der ganzen ästhetischen Weltanschauung unsrer Dichtung den ästhetischen Ausdruck der Lebensharmonie, der humanen Bildung fand. Das Sittliche wurde zur künstlerischen Stilisierung, der harmonischen und plastischen Gestaltung der allseitigen Lebensbetätigung. Diese Gedanken berührten sich mit solchen der alten griechischen Ethik und mündeten dann in die Ethik der klassischen Spekulation ein. Auch heute noch stehen sie bei manchem naturalistischen Ethiker unbewußt im Hintergrunde, wie sie denn von unserer klassischen Literatur her stark auf unsere ganze Bildung wirken.

Der Unterschied dieser Ethik von der christlichen liegt klar zutage und wird auch heute in der philosophischen Literatur überall aufs schärfste, oft sogar übertrieben zum Ausdruck gebracht. Nur die theologische Ethik schleppt sich noch mit der alten Behauptung der Identität von christlicher und humaner Ethik und bietet alle Künste ihrer Sophistik auf, den Unterschied zwischen diesen sittlichen Prinzipien zu verwischen. Das Wichtigste aber ist, daß wir auch in unserem Leben beständig zwischen beiden Prinzipien geteilt sind, daß mit Ausnahme weniger Pietisten unser ganzes Denken und Urteilen, Arbeiten und Genießen die humanen Grund- gedanken in sich aufgenommen hat und daß wir gar nicht an- ders können, wenn wir am Gesamtleben irgendwelchen nennens- werten Anteil behalten wollen. Es ist eine der schweren Fragen der Gegenwart, ob wir gegenüber jener Umwälzung im moder- nen sittlichen Leben die Grundlagen der christlichen Sittlichkeit behaupten können oder auch nur faktisch einhalten. Dieser Umstand ist es, der z. B. Th. Ziegler veranlaßt, als Resultat der Geschichte der Ethik die alte Straußsche P'rage ganz besonders auch auf dem Gebiete der Ethik aufzuwerfen: »Sind wir noch Christen.?« Man hat lange Zeit die Ethik für das unangreifbare Kleinod und für den unüberwindlichen, allen einleuchtenden Tat- beweis des Christentums gehalten. Jetzt erscheint gerade seine Ehtik als das Bedenkhche und Unvollkommene, oder doch als das praktisch Gefährliche. Man erinnert sich der schroffen Be- tonung dieses Gegensatzes bei Kierkegaard, der für das christ- liche Ethos Partei nimmt gegen das humane und dabei selbst gesteht, daß er von sich selbst die volle Christlichkeit nicht zu behaupten wage.

Liegt hier nun ein schroffes Entweder-Oder, ein unvermittel-

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barer Gegensatz der Prinzipien vor? Ist es, christlich gesprochen, der Gegensatz zwischen Christus und dem Satan, der GottesUebe und dem Weltsinn, oder, humanistisch gesprochen, der Gegensatz zwischen Geisteskultur und Barbarei, zwischen praktisch mög- lichem, veredelten Realismus und übergeistiger Utopie ? Das christ- liche Ethos stünde damit auf der Seite der Unkultur, und seine tatsächlichen Verbindungen mit der geistigen Kultur wären Ver- leugnungen seines Wesens oder vom Leben erzwungene Selbst- täuschungen. Oder es wäre doch mindestens auf eine Kultur ideenloser Nützlichkeit und bürgerlicher Bravheit eingeschränkt, in der es Raum für seine Ideale und keinen ebenbürtigen Kon- kurrenten gegen seine Gedankenwelt fände ; dagegen gerade von der feineren geistigen und künstlerischen Kultur wäre es ausge- schlossen.

Eine schärfere Vergleichung beider Prinzipien zeigt jedenfalls, daß sie nicht auf gleichem Boden, in gleicher Fläche liegen. Sie entspringen verschiedenen Beziehungen des Lebens. Das eine ent- springt aus unserer Weltstellung, der Stellung der Menschen zu- einander und zu der Natur, aus der Sphäre der Relativität. Ohne Rücksicht auf ein absolutes Ziel ergeben sich die sittlichen Auf- gaben hier aus der Natur der Dinge selbst und richten sich von selbst auf die verschiedenen innerweltlichen Zwecke, welche das gesellschaftliche Leben und die Bearbeitung der Natur in immer wachsendem Umfange darbieten. In diesen Beziehungen des Han- delns machen sich gewisse sittliche Grundregeln geltend, die das zunehmende Kulturleben in ihrer Bedeutung und die w^achsende Versuchung zu Abweichungen in ihrem Ernste immer schärfer erkennen lehrt. Die verschiedenen Imperative stehen, auf einzelne Gebiete bezogen, vereinzelt nebeneinander, die Zwecke sind relativ und vielfach und dulden sich nebeneinander; sie erregen die Tätig- keit nach allen Seiten und damit das Lustgefühl, das jede Kraft- betätigung begleitet. Der Kampf ums Dasein einerseits und die natürlichen Bluts-, Sympathie- und Interessenverbände andererseits sind die ersten Ausgangspunkte. Die darin liegenden Werte zuTugen- den zu ethisieren, und die darin liegenden Gefahren durch ethi- sche Disziplin zu überwinden: das ist die überall wiederkehrende Unterlage jeder höheren ethischen Entwicklung, bei der Menschheit, bei Völkern und bei Individuen. Einfache, mit jenen Zwecken eng zusammenhängende sittliche Grundgebote wie die der Wahrhaftig- keit, der Ehre, der Tapferkeit, der Gerechtigkeit, der Treue, der

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Rücksicht u. a. geben dieser sittlichen Bildung ihren festen Kern. Eine gesteigerte Lebenshaltung und menschenwürdige Daseinsordnung schweben als zusammenfassende Ziele vor. In dem Ganzen be- tätigt und behauptet sich eine von der Natur relativ unterschie- dene Würde des Geistes ; der Reichtum dieser Betätigung in sei- ner einheitlichen Gestaltung und harmonischen Formung gewährt ästhetischen Reiz. Der theoretischen Besinnung auf den idealen Ge- halt dieser Sittlichkeit liegt bei dem Mangel einer einfachen inhalt- lichen Konzentration auf einen höchsten Zweck der Persönlichkeit die Verwendung der ästhetischen Gedanken vom Werte der die sinn- liche Vielheit gestaltenden Form unter günstigen Umständen einer allgemeinen ästhetischen Begabung sehr nahe. Aus ganz anderen Beziehungen entspringt nun aber das christliche Prinzip des sittlichen Handelns und der sittlichen Selbstbeurteilung, aus dem Verhältnis zu dem Ewigen und Unendlichen, dem allen letzten Sinn erst in sich Enthaltenden, aus der Sphäre des Unbedingten, Absoluten und Einfachen, religiös gesprochen aus der Beziehung auf einen heiligen Gott, der wie Quelle und Sinn alles geistig-persönlichen Lebens so auch die höchsten Normen desselben in sich enthält. Wird auch das ganze innerweltliche Leben mit seinen sittlichen Geboten auf ihn zurückgeführt, so entsteht hier doch unter dem höchsten und letzten Gesichtspunkt einer vor Gott geltenden Gerechtigkeit und eines ewigen, einfachen und unbedingten sitt- lichen Gutes eine hiervon scharf unterschiedene eigentümliche Sphäre sittlicher Normen und Werte. Herzensreinheit, lauterer, demütiger, heiliger Lebensernst und unbegrenzte, die gewöhnlichen menschlichen Liebesschranken überwindende Liebe, die das von Gott Erfahrene allen zu erweisen sich verpflichtet fühlt, sind hier die sittlichen Gebote. Die Seligkeit und Sicherheit des in Gott sich geborgen wissenden Gemütes, die demütig freudige Ver- einigung mit dem göttlichen Wesen und die Erhebung aller Menschen zu diesem Reiche der Gottesliebe sind hier das ab- schließende sittliche Gut. Von der Höhe dieser Gesichtspunkte verschwinden dem Bewußtsein leicht und oft jene innerweltlichen Pflichten als Verpflichtungen und Rechte nur zwischen Mensch und Mensch, als bloße von selbst sich regelnde Angelegenheiten der Welt, und jene innerweltlichen Güter als nur relative, dem bloßen Lebensbedürfnis auf Zeit dienende, aber niemals endgültig befriedigende. War dort alles in foro hominis, so ist hier alles in foro aeternitatis. Von hier aus ergibt sich ferner der Kampf

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gegen alles bloß weltliche Wesen und alle bloß weltliche Sitt- lichkeit, die als bloße justitia civilis erscheint; von hier aus ent- steht immer wieder das vom Leben meistens durch Kompromisse gelöste, von dem Nachdenken aber nur schwer zu ergründende Problem, wie jene beiden Sphären des Sittlichen sich verhalten und wie unter ihrer beiderseitigen Einwirkung das wirkliche Leben in der Welt sich gestalten solle. Von hier aus entsteht ins- besondere eine Entzweiung in der innersten Tiefe des mensch- lichen Wesens, die dem ästhetischen Formensinne quälend und unbehaglich ist. Wohl ist auch von hier aus eine auch ästhetisch schöne, einheitliche Gestaltung der Persönlichkeit möglich und denkbar, aber dieselbe ist doch bei der bloß innerweltlichen Sittlichkeit viel leichter erreichbar und anschaulich, so daß jene den Ruhm ästhetischer Gestaltung oft allein in Anspruch nehmen zu können scheint.

Es ist wichtig zu beachten, daß eine solche Doppelheit sitt- licher Motive nicht nur etwa bei der christlichen Weltanschauung sich findet, sondern in ähnlicher Weise bei jeder religiös und metaphysisch gerichteten Ethik überhaupt. Jede Sittlichkeit, die an überzeitlichen, im göttlichen Weltzusammenhang bleibend wert- vollen Zwecken und Wahrheiten orientiert ist, hat den Zug zur Sammlung der ganzen Persönlichkeit auf diesen in letzter Linie allein gültigen Zweck, das Bedürfnis der Unabhängigkeit von der verwirrenden Vielseitigkeit weltlicher Betätigung d. h. sie hat irgend- wie »asketischen« oder besser überweltlichen Charakter. Das tritt in den Religionen, soweit sie das Religiöse und Sittliche innig verschmelzen, überall zutage, wenn auch in sehr verschiedener Weise ; es zeigt sich ebenso, in den religiös-metaphysischen Sy- stemen mit ihrer entsprechenden Ethik, bei Plato , der Stoa und dem Neuplatonismus, aber auch bei Spinoza, Kant und Fichte. Dabei ist freilich die Stellung zu den innerweltlichen Motiven der Sittlichkeit verschieden, die einen verneinen sie voll- ständig, die andern lassen sie auf sich beruhen und erkennen sie in ihrer Sphäre an, wieder andere suchen eine innere Verbin- dung und viele sind sich der Unterschiede nur halb bewußt. Hier in dieser metaphysisch-religiösen Abzweckung und Begrün- dung des Sittlichen wurzelt der überweltliche oder weltflüchtige Charakter der Ethik, den der Diesseitigkeitssinn und der Utili- tarismus der Gegenwart so wenig versteht, daß es gegenwärtig für eine besondere philosophische Aufgabe gilt, die Entstehung

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dieses so merkwürdigen und unbegreiflichen Phänomens zu ent- rätseln. Man erklärt es aus einer geheimen Propaganda des Buddhismus oder aus der Entstehung des Christentums in einer greisenhaften, untergehenden Kultur oder, wie der radikale Anti- christ der Gegenwart, Friedrich Nietzsche, aus einer Verschwö- rung der Sklavenseelen gegen die Kraftmenschen, aus einer Um- schaffung der Not in eine Tugend. Hierher gehört vor allem auch die eigentümliche asketische Form des Christentums, welche auf protestantischem Boden die Gestalt des Pietismus annahm und welche Ritschi nur deshalb auf so mühseligen Umwegen zu erklären versuchte, weil er die scharf ausgeprägte historische Eigentümlichkeit sowohl der humanen als der christlichen Ethik unwillkürlich verkannte und in einem nüchternen Mittleren, der bürgerlichen gottvertrauenden Berufsmoral, den Unterschied aus- löschte. Das ist beste altpreußische Moral, aber weder eigentlich christliche noch humane.-

Es handelt sich hier also um eine Schwierigkeit, die nicht bloß der christlichen, sondern der Ethik überhaupt innewohnt und die in der christlichen Weltanschauung nur auf einen beson- ders scharfen und inhaltlich eigentümlichen Ausdruck gebracht ist, um einen in der Natur der Dinge oder des Menschen liegen- den Zwiespalt der Motive. In der einheitlichen Natur des Men- schen, in seiner Persönlichkeit muß auch die Vereinigung beider gefunden werden können. Im Werden und Reifen der Persön- lichkeit wird eine idealistische Ethik die tatsächliche Auflösung des Widerspruchs finden können. Aus der natürlich-sinnlichen Bestimmtheit reifen zur vollen geistig-sittlichen Persönlichkeit, aus der natürlich-sinnlichen Gemeinschaft zum Reiche der Geister, das sub specie aeternitatis bleibenden Wert hat: das ist insbeson- dere nach christlicher Auffassung der Sinn des Menschenlebens. So wäre dieser Gegensatz der ethischen Motive nur eine Erschei- nung des allgemeineren Gegensatzes, der in der Doppelstellung des Menschen zwischen dem Endlich-Sinnlichen und dem Unend- lich-Uebersinnlichen enthalten ist und der ebenfalls nur im Wer- den der Persönlichkeit überwunden wird. Er erschiene der christ- lichen Ethik nur in einem eigentümlichen Lichte und besäße hier nur eine eigentümliche Energie, die in der christlichen Grund- anschauung von einer der Natur überlegenen Persönlichkeit und der Bestimmung der Menschen zur Gemeinschaft mit dem heiligen Gotte ihre Wurzel hat. Die diesen Gegensatz versöhnende Ein-

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heit kann nicht konstruiert, wohl aber erfahren werden. Sie ist keine begriffliche, allem Erleben vorausgehende, sondern eine tatsächliche, nach und nach in der Zeit und der Erfahrung sich vollziehende. Wie der Mensch sich zunächst als sinnliches, selb- ständiges Einzelwesen erfaßt und erst allmählich in fortschreiten- der religiöser Vertiefung seine absolute Befaßtheit in Gott er- kennt, so beginnt auch die sittliche Arbeit überwiegend mit der Herausarbeitung und Behauptung seines relativen geistigen Wertes gegenüber der Natur und den Mitmenschen, mit der Begründung und Entfaltung seines vollen selbständigen Daseins, sowie mit der Anerkennung und Forderung der gleichen Tatsache bei den Mit- menschen, um von den hierbei leitenden Impulsen der Persönlich- keitsbildung und -anerkennung schließlich immer mehr über die Bedingtheit und Relativität dieser sittlichen Güter auf den blei- benden, endgültig befriedigenden sittlichen Wert der Persönlich- keit vor Gott geführt zu werden und von dieser Stufe aus dann wieder rückwärts die humane Sittlichkeit und deren Lebensord- nungen nicht mehr als Selbstzweck, sondern als Mittel zur höch- sten überweltlichen Sittlichkeit zu behandeln.

Das ist im letzten Ziel spezifisch christlich, aber es liegt doch auch in der Tendenz der sittUchen Anlage überhaupt. Sie ar- beitet auf den höchsten Wert der geistigen Persönlichkeit hin und erreicht diesen erst in der Ueberwindung aller Beschränkung auf das Selbst und aller Selbstsucht, der tierisch-materiellen wie der höheren geistigen, die in dem Stolz der humanen Sittlichkeit sich ausprägt, ein Ziel, das erst in der Hingabe an Gott, in der Selbst- beurteilung nicht vor Menschen, sondern vor seinem Angesicht, in der Erfüllung mit seinem Wesen und Willen erreicht wird. Hieraus folgt die Notwendigkeit einer niemand zu ersparenden, wenn auch meist sehr allmählichen Wendung in der sittlichen Entwickelung. Die humane Sittlichkeit ist die erste Stufe der Versittlichung, indem sie die natürlich sinnliche Bestimmtheit durchbricht und eine auf höhere geistige Motive begründete Lebensgestaltung herbeiführt. Der Trieb zur Betätigung und Selbstentfaltung wird als sittlicher Impuls empfunden, und die Nei- gung, Form und Gesetz dieser Betätigung in der Schönheit ästhe- tischer Harmonie zu finden, liegt nahe. Aber diese immanente Betätigung bleibt doch mit einem Maße von Selbstsucht behaftet, wie das in der Welt, wo ein Selbst dem andern gegenübersteht, nicht anders sein kann, und trägt angesichts der Vielheit und

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Relativität ihrer Zwecke das Gefühl der Unbefriedigtheit und Relativität in sich. So richtet sich der gereifte sittliche Wille auf die bleibende und ewige Geltung vor Gott und die Seligkeit der Gottinnigkeit und erkennt in der humanen Sittlichkeit eine Vorstufe, die ihm nur in der Zeit der ersten Kraftentfaltung und Lebensgründung als Selbstzweck erschien und in deren Neigung zum Selbstgenuß er einen Rest der natürlichen Selbstsucht emp- findet. Beide Stufen folgen nicht bei allen Menschen aufeinander. Lebenslage und Individualität lassen es oft nur zu der Herrschaft des einen Prinzips kommen, sie folgen sich selten in scharfer Begrenzung, sondern entwickeln sich nebeneinander und behaup- ten sich oft noch nebeneinander. Im allgemeinen aber gilt die Erfahrung, daß mit dem Maße der Lebensreife das Verständnis für die religiöse Vertiefung der Sittlichkeit wächst und das Ver- halten sich immer mehr tatsächlich darnach richtet. Die über- weltliche Sittlichkeit ist zwar schon in der Jugend durch die Er- ziehung eine bedeutende Macht, sie wirkt in der Sitte und dem allgemeinen Urteil, sie wirkt in dem innersten Wesen bei jeder Selbstbesinnung und gibt von vornherein dem Leben eine viel tiefere Zartheit und Feinheit des sittlichen Empfindens. Allein sie wirkt in der Regel doch mehr neben her und schneidet hier nur die naheliegenden Irrwege grober Selbstsucht und voller Ver- weltlichung ab. Voll und prinzipiell angeeignet werden kann sie erst von dem, der schon ein Stück Leben, Erfahrung und Ent- täuschung hinter sich hat. Die volle Sittlichkeit kann ohne Lei- den und Läuterung nicht zustande kommen. Es ist der Vorzug der christlichen Religion überhaupt und ihrer Ethik insbesondere, daß sie der allgemeinsten Erscheinung des Lebens, dem Leiden, seine positive fruchtbringende Stellung einräumt, während der ästhetische Monismus hiervor die Augen mögUchst verschließt. Von diesen Erfahrungen aber gehen dann stets wieder aktive Antriebe der Lebensgestaltung aus, die Sitthchkeit wendet sich mit freudiger Energie zur Welt zurück und sucht das Leben und die Ordnungen in ihr, welche die humane Sittlichkeit geschaffen hat, von diesen höchsten Gesichtspunkten aus geistig zu durch- dringen. Dabei ist der Zusammenstoß mit der noch ungebroche- nen Kraft der Weltlichkeit etwas in der Natur der Dinge Begrün- detes und für alle Zukunft mit jeder Generation stets sich neu Wiederholendes. Ebenso tritt dabei immer eine Beschränkung und Verendlichung der sittlichen Ideale ein, welche nur teilweise

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. lo

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an dem widerstrebenden Stoffe durchgeführt werden können und von deren Höhe man dem Widerspruche der auf ihre Gesichts- punkte nicht eingehenden Menschen gegenüber notwendig auf die allgemeinen humanen Lebensordnungen herabgehen muß.

Für Propheten, Apostel, Missionare und Geistliche, welche ihr Leben der Ausbreitung des christlichen Geistes widmen, für spezifisch und einseitig religiöse Naturen mag sich die christliche Ethik mit diesen ihren letzten Gesichtspunkten auch als die ein- zige und ausschließliche darstellen. Für Jesus verband sich mit diesem Radikalismus sehr konsequent auch die Erw'artung des Endes und einer neuen Weltordnung. Auch einzelne kleinere Konventikel mögen sich in diesem Sinne zusammenschließen. Die Welt sorgt ja unterdessen von selbst weiter für ihren Bestand. Das menschliche Geschlecht als Ganzes aber wird sein Leben immer zunächst führen und gestalten aus den sittlichen Trieben seiner humanen Natur. Es wird die Ordnungen der Familie stets von neuem stiften aus Lust am Weibe oder am Manne, sie er- halten aus natüdicher Geschlechts- und Kindesliebe ; es wird die Ordnungen der Gesellschaft und des Staates stets von neuem schaffen aus Drang nach Ordnung und Recht für Eigentum und Leben, sie schirmen mit dem Stolz des Patriotismus und der Freude am Schwert. Es wird in Handel und Wandel, in allen Gütern der Kultur fortfahren, aus eigenem Trieb nach Leben und Genuß des Lebens seinen irdischen Wohnsitz mit einem immer festeren Gefüge menschlicher Einrichtungen und Pflanzungen zu überziehen, und wird hierin seinen Beruf und seine Aufgabe ganz von selbst und ohne jede höhere Abzweckung erkennen. Es wird dabei niemals an einen Beruf im Reiche Gottes denken, sondern an seine irdischen Leiden und Freuden, an den Genuß seiner frischen Kräfte und an die Sorgen des Mißlingens. Der Stolz eigenen Schaffens wird ihm unentbehrlich sein als Antrieb und unüberbietbar als Lohn. Aber schon in dieser Arbeit macht sich überall die tiefere Zartheit und Reinheit, die größere Wärme und Innigkeit christlich erzogener Gemütswelt geltend, und in ihrem Vollzuge lösen die Gemüter sich immer mehr ab von dem ersten Werke ihres natürlichen sittlichen Dranges und der Begrenztheit ihres ersten sittlichen Urteils. In der Arbeit reifend scheidet das menschliche Geschlecht in jeder Generation sich von neuem von seiner Arbeit und zieht sich in das innerste Heiligtum des Wesens zurück, aus dem dann erst der wahre und letzte Sinn des Daseins

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läuternd und vertiefend hervorquillt. Von hier aus bildet sich hinter und über jenem natürlichen Lebenszusammenhang- ein überwelt- lich-geistiger, das Reich der christlichen Liebe, in welchem alle verbunden sind zur Hoffnung auf die Enthüllung der letzten Güter der Persönlichkeit in einem höheren Leben und aus dem vorausnehmenden Besitze dieser Güter heraus den heiligen inner- sten Kern des Lebens zu gestalten suchen. Was für den Radi- kalismus und Heroismus Jesu das allein wahre Gut war und ihn angesichts des erwarteten Endes des natürlichen Weltlaufs gleich- gültig machte gegen alle innerweltlichen Werte, das ist in einer dauernden Welt nur möglich als das allmählich sich vollziehende Ergebnis der persönlichen Lebensentwickelung, kann der Jugend nur als ein vorschwebendes Ziel geschildert werden und kann von der Lebensreife nur immer annähernd und versuchsweise in das immer neu nachtreibende natürliche Leben hineingebildet werden. Einzelne Individuen mögen bei ihrer Art und Lebens- stellung sich dem völlig widmen können und werden damit ein Salz der Erde sein. Aber es wird niemals die ganze Erde selbst zum Salz werden, und man wird es auch nicht wünschen und nicht fordern dürfen.

Wie immer aber auch sich die begriffliche Fassung dieser schwierigen Zusammenhänge gestalten möge, das Eine ist klar, daß insbesondere die rein ästhetische Sittlichkeit dem gegenüber kein Recht auf ausschließliche Geltung hat. Das war einigermaßen anders in der griechischen Philosophie, wo aber auch die allgemei- nen Verhältnisse total anders lagen. Dort war es ein Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis des Sittlichen, die Gewinnung des obersten einheitlichen Gesichtspunktes, wenn die größten Denker und insbesondere der Nationalphilosoph Aristoteles im Gegensatz zu der bunten Gesetzesmasse, der äußerlichen politischen, sozialen und religiösen Heteronomie, zur auflösenden Moralskepsis der Sophistik und zu dem maßlos leidenschaftlichen, überbeweglichen Geiste ihres Volkes den charakteristischen Grundzug hellenischer Anschauung, den Sinn für die schöne Form, auch zur Grundlage der Wissenschaft vom Handeln machten und so mit genialem Griff das allgemeine Prinzip ihrer Anschauung vom Kosmos und von den Dingen auch auf das Sittliche übertrugen. Aber dabei war die bereits oben erwähnte Ungetrenntheit des natürlichen und sittlichen Lebens, die Naivetät einer lediglich die Natur mäßi- genden und harmonisierenden Innerweltlichkeit, vorausgesetzt. Nur

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das gegebene, selbstverständlich in gewissen Bewegungen verlau- fende Leben galt es einheitlich zu regeln zur harmonischen Eudä- monie der sich betätigenden Entelechie. Natürliche und rein sittlich- geistige Güter fließen hier noch zusammen zum Ganzen des normalen Lebens eines relativ gut situierten Bürgers. Dabei war zugleich die natürliche Unveränderlichkeit und Normalität der bestehenden Verhältnisse und Gesittung, der Gesellschafts- und Staatsformen und damit die ganze Fülle inhaltlicher Zwecke und Antriebe des Handelns als von der Natur der Dinge ein für alle mal gegeben vorausgesetzt. Es galt bloß diese gegebene Mannigfaltigkeit der Gefahr schrankenloser Leidenschaft und Selbstsucht zu entziehen, sie als einheitliche Betätigung des Lebens im Kreise geordneter Ge- sellschaft zu erkennen und sie aus dem künstlerischen Prinzip maß- voller und ruhiger Beherrschung der Mannigfaltigkeit durch die schöne Form harmonisch zu gestalten, wobei sich als schönster Lohn der Tugend die Freude an der Selbstbetätigung und der Selbst- genuß der edlen Form von selber einstellen. Aber schon Plato durchbrach teilweise diese Anschauung vom Sittlichen mit dem Verlangen nach einfacherer, bleibenderer und inhaltsvollerer Ab- zweckung, nach einem über und jenseits der Sinnlichkeit gelegenen wesenhafteren sittlichen Gute, und die ganze weitere höchst be- deutende Denkarbeit, welche die sich auflösende antike Kultur dem Moralproblem widmete, hat diese Sehnsucht immer ener- gischer ausgesprochen. Mit dem Christentum vollends ist eine Schätzung der über Natur und Sinnlichkeit erhabenen Persönlich- keit mächtig geworden und eine Aussicht auf ewige, einfache Güter des Gemütes eröffnet worden, welche es für immer unmög- lich macht, die Vollendung des Sittlichen aus der Hand der Natur zu erwarten, die vielmehr für immer mit der zunächst vorgefun- denen Natur entzweit, um erst im Kampfe den höchsten Preis sittlichen Ringens gewinnen zu lassen. So ist also das ästhetische Prinzip der bloßen harmonischen Ordnung der Individualität ein in modernen Verhältnissen unhaltbares, jedenfalls als ausschließ- liches oder wesentliches unmöglich geworden. Zugleich ist diesem Prinzip die inhaltliche Erfüllung mit bestimmten Normen der Sitte verloren gegangen, nachdem eine feststehende Sitte und Volksmoral im alten Sinne nicht mehr vorhanden ist, sondern das sittliche Leben als ein von der Natur gelöstes in der freiesten Bewegung seiner Grundsätze sich befindet. Das ästhetische Prinzip als solches ist unter unseren Verhältnissen vollkommen

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leer und hat in der italienischen wie in der deutschen Renaissance schließlich überall nur zum Libertinismus geführt, während die großen Dichter und Denker sich den Inhalt desselben durch ihre eigentümliche Individualität vorschreiben ließen und damit oft mehr als den bloßen Schein der Selbstsucht erweckten. Es ist höchst lehrreich, daß auch in dieser Beziehung der alte Goethe sich den christlichen Anschauungen wiederum nähert und in den letzten Gütern eines ewigen Lebens den inhaltlichen Abschluß sittlicher Arbeit erkennt. Die gleiche Entwickelung zeigt das schöne Werk Hayms an dem noch charakteristischeren Vertreter der ästhetischen Individualitätsmoral, an Wilh. von Humboldt.

So glauben wir auch die aus der modernen Geistesbildung und Sittlichkeit sich ergebenden ethischen Bedenken gegen die christliche Weltanschauung auflösen zu können. Wenigstens scheint der ästhetische Monismus auch auf dem Gebiet der Ethik kein not- wendiges modernes Prinzip zu sein, mit welchem eine neue Ent- wickelungsstufe des Sittlichen sich eröffne. Dieses Prinzip war vielmehr immer vorhanden und ebenso war neben ihm immer die Sehnsucht nach einem über die Natur hinausführenden sitt- lichen Prinzip vorhanden oder ist wenigstens seit der Erscheinung des Christentums unauslöschlich den Gemütern eingepflanzt. Der Monismus betrügt uns nur durch ein Spiel mit leeren Formen um den besten und bleibenden Inhalt des Lebens. Dieser Inhalt liegt in der Linie der christlichen Ueberweltlichkeit. Damit sind die am Schlüsse des letzten Aufsatzes angedeuteten Eigentümlichkei- ten der christlichen Sittlichkeit, das Wesen ihrer Normen und Güter im Unterschied von jeder andern idealistischen Ethik er- schöpfend und bis in die tiefsten Zusammenhänge charakterisiert ^'').

1^) In diesem Abschnitt ist die innere Auseinandersetzung mit dem Humanis- mus dargestellt, wie sie dem Zögling des humanistischen Gymnasiums, dem Be- wunderer der Antike und der modernen neuhumanistischen Literatur unumgänglich ist. Die Schwierigkeiten der christlichen Ethik gegenüber den realen Lebensbe- dingungen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft lagen damals noch außerhalb meines Horizontes. Ich habe das inzwischen in meinen Soziallehren nachgeholt. Noch etwas anderes war mir damals noch sehr wenig bekannt: Kierkegaard. Nachdem ich ihn inzwischen gründlich kennen gelernt habe, sehe ich, daß er auf seine Weise genau eben dieses Problem behandelt, das ich in diesem Abschnitt be- handelt habe. Freilich kommt er zu einem andern Ergebnis, zu dem schroffen Entweder-Oder, von dem aus er gemäß seiner pietistischen Erziehung und seiner schwermütigen Anlage die christliche Askese bis zur äußersten Uebertreibung steigert, das Christentum zu einer Sache ganz weniger Einzelner und Eigener

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Es handelt sich nur noch darum, worauf der Mut, an solche ethische Güter zu glauben, sich begründe. Die christliche Welt- anschauung antwortet ganz konsequent mit dem Hinweis auf eine göttliche Offenbarung, der diese Erkenntnis der letzten göttlichen und menschlichen Dinge allein entstammen könne. Der Betrach- tung dieses Anspruches, gegen welchen die modernen Weltan- schauungen sich mit konzentrierter Heftigkeit zu wenden pflegen, ist der letzte Aufsatz gewidmet.

V. In der zusammenfassenden Charakteristik der modernen europäischen Geistesbewegung, welche das nun schon mehrfach erwähnte geistvolle Buch Euckens über die Lebensanschau- ungen der großen Denker unternimmt, tritt als der beherrschende Grundzug derselben die Wendung zur Immanenz und dem Begriff endlosen gesetzmäßigen Werdens hervor. Die Anerkennung durch- gängiger, den Dingen und Menschen einwohnender Kräfte und ihnen eigentümlicher gesetzmäßiger Wirkungsformen bildet den bewußten oder unbewußten Hintergrund alles Denkens. Aus ihrem Zusammenwirken entsteht durch die inneren Kräfte des Wirklichen selbst ein sich endlos bewegendes Ganzes von Wirkungen, in

macht und demgemäß das Kompromißinstitut der Kirche in Grund und Boden verurteilt. Auch warnt er geradezu vor derjenigen Lösung des Problems, die ich hier entwickelt habe, nämlich vor der Verteilung der Gegensätze auf die immer neu einsetzende und sich in die Ueberwelt emporläuternde Entwickelung, eine Lösung, die ihm als dem an Hegel geschulten Dialektiker nicht ferne gelegen hätte. Er will aber die schroife Ausschließlichkeit der christlichen Askese, die allerdings nur für ganz wenige sei. Kann man schon in dieser Einschränkung auf die wenigen doch wieder ein Kapitulieren vor dem Leben sehen, so hat er ja doch auch selbst seine ethisch-ästhetische Natur zuerst selbst leidenschaftlich und breit entfaltet und selbst erst dialektisch sich aus ihr heraus entwickelt. Er sagt dann freilich, er habe sich »ausgeleert« und befreit. Aber eine solche Ausleerung und das heißt doch Aus- leerung durch praktische Durchlebung und Entfaltung der Konsequenzen hält er für eine Forderung an jede reichere Natur. Ist nun aber die Voranstellung einer Forderung der »Ausleerung« vom Aesthetischen vor die christliche Forderung nicht schließlich ein sehr ähnlicher Gedanke, wie der von mir entwickelte ? Ist die Aus- leerung schon notwendig, so wird sie doch auch eine positive und emporleitende Bedeutung für die Entwickelung und eine Notwendigkeit für die Jahre der ersten Kräfteentfaltung sein, die auch ihren ethischen Wert und Sinn hat. Freilich hat K. das Aesthetische von einer sehr egoistischen interessant-pikanten Seite genommen. Vgl. Kierkegaards Angriff auf die Christenheit, deutsch von Schrempf, 1896, S. 433 f., 442, 444, 536, bes. 405 f., weniger schroff in > Entweder-Oder .< Band IL

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welchem eines das andere bedingt und an dessen Zusammenhang alles Glück des Daseins und aller Sinn des Handelns eng gebun- den ist. Von hier aus empfing die mathematisch-mechanische Naturwissenschaft den Antrieb zur immer weiteren Ausdehnung ihrer Methoden auf alle Wirkungszentren des Seins zur Ausbil- dung ihrer Begriffe von Stoff und Kraft, ihres eigentümlichen Grundgedankens vom Naturgesetz als innerer Notwendigkeit regel- mäßiger Wirkformen, die in der Natur der Dinge selbst begrün- det sind, und die in ihrer allgemeinsten mathematisch darstellbaren Formel den ganzen Zusammenhang des Seins umfassen. In der gleichen Grundstimmung wurzelt das Bestreben der ethischen Analyse, konstante Gesetze des sittlichen Handelns in der Vernunft des Menschen und der Welt und einleuchtende , sinnvolle Zwecke desselben innerhalb des Weltlebens zu finden. Zugleich ergab sich hieraus der Antrieb für die Phantasie, den Grund des ganzen Seins wie seiner gesetzmäßigen Wandelungen in einer einheitlichen Energie zu finden, welche dies ganze Sein gestaltet und deren Einheitlichkeit auch in der harmonischen Gestaltung des mensch- lichen Lebens sich kundgibt. Seit Giordano Bruno und Shaftes- bury, seit Leibniz und Spinoza ist das Streben des europäischen Gedankens. Das »natürliche System« der Aufklärung gab ihm die erste kulturbeherrschende Gestalt, der > entwicklungsgeschicht- liche Pantheismus« des deutschen Idealismus verflüssigte den Einheitsgedanken zu einem organischen Entwicklungsprinzip. Seitdem sind diesem vorschnellen Abschluß die schwersten kritischen Bedenken auf fast allen Gebieten entgegengetreten, haben sich überwunden oder verbündet geglaubte Mächte älterer und umfassenderer Lebensanschauungen empört, sind ganz neue, von ihm nicht geahnte Probleme aufgetaucht und schwere Krisen aus den von ihm gestifteten Verhältnissen hervorgegangen. So sehr aber jenes Hochgefühl der Aufklärung und ihrer poetischen Vertiefung und Verlebendigung in der deutschen Literatur gegen- wärtig einer skeptischen Stimmung Platz gemacht hat, die Grundgedanken des modernen Denkens sind damit in ihrer Not- wendigkeit und Unvermeidlichkeit nicht beseitigt. So unendlich reich die innerhalb der Aufklärung entstandene Verzweigung des Denkens ist, so mannigfache Deutung und Verwertung unter den verschiedensten Einflüssen sie erfahren haben und so tiefe Probleme aus ihrer erst so evident scheinenden Selbstverständlich- keit und Einfachheit erwachsen sind, sie bilden bis heute die

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Atmosphäre unseres Denkens, und die bisherigen Abhandlungen haben sämüich nur uns willkürHch oder falsch erscheinende Ver- wertungen bekämpft, sie selbst aber auch für unser eigenes Denken vorausgesetzt. Das tritt insbesondere an einem Grundbegriff her- vor, den wir überall mit den Gegenströmungen teilten, der aber ganz besondere Aufmerksamkeit verlangt, an dem Begriffe der Ent Wickelung oder der genetischen Methode. Er liegt den am Ende des vorigen Aufsatzes erwähnten Gegensätzen zugrunde.

Dieser heute so selbstverständliche und allgemein gebrauchte Ausdruck, die mit ihm verbundene, allgemein vorausgesetzte Denk- weise ist nichts weniger als etwas Selbstverständliches und immer Dagewesenes. Er ist das spezifische Erzeugnis der modernen Wendung des Denkens und hängt mit deren eben geschilderten Grundzügen aufs innigste zusammen. In ihm bekundet sich eine neue Auffassung des Verhältnisses des Seins zum Werden, d. h. des Bleibenden, Wahren und unbedingt Wertvollen zum Wech- selnden, Relativen und Vermittelnden, der Idee zur Wirklichkeit. In der Weltanschauung der Antike war alles fertig und gegeben, ein begrenzter Kosmos, ein begrenztes Volkstum, begrenzte Gat- tungen des Seienden. Alles Geschehen in der einmal gegebenen Weltzeit war ihr Auswirkung feststehender, unveränderlicher Typen in der Sinnlichkeit, wo das Vergehen nur auf die gleichgültigen individuellen Beispiele des Typus sich bezog und alle Unvoll- kommenheit auf Rechnung der widerstrebenden sublunarischen Materie kam. Und war die Weltzeit einmal abgelaufen, so wider- holte sich derselbe Ablauf der Dinge in einer neuen Weltzeit und so fort ins Unendliche. In dieser Anschauung der gegebenen Typen wurde das Wahre, Bleibende und Wertvolle des Seins geschaut und wurzelte der im vorigen Aufsatz geschilderte ästhe- tische Charakter der griechischen Weltanschauung. Anders, aber der modernen Fassung des Grundverhältnisses von Sein und Werden nicht weniger widersprechend, ist die christliche. Hier fällt jede Selbständigkeit der Natur überhaupt fort, und wenn die Menschheit zu einer einheitlichen, sinnvollen Geschichte zusam- mengefaßt wird, so geschieht es nicht durch eine Einheit der inneren wirkenden Kräfte, sondern durch die von außen auf sie wirkende Macht des göttlichen Heilsvvillens, der völlig unwandel- bar und einfach das Bleibende und Wahre alles Geschehens ist und sich in der Menschwerdung des Logos ein für allemal er- lösend geoffenbart hat. Die Verschiedenheit und Mehrzahl göttlicher

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Heilstaten selbst hatte ihren Grund schließlich nur in der Sünde der Menschheit. Ganz dementsprechend sind die Dogmen fertige und unwandelbare göttliche Wahrheiten, die nicht geworden sondern offenbart sind. Beide in dem Glauben an ein unver- änderlich beharrendes Sein einige Anschauungen verband dann die Philosophie der Kirche, wobei die Wirkungsweisen der sub- stantiellen Formen als die gewöhnliche Verfahrungsart Gottes galten und wegen des Mangels jeder gesetzlichen Geschlossenheit durch das außerordentliche Verfahren der Gnade leicht von Fall zu Fall suspendiert werden konnten. Immer war das Sein ein bleibendes und unveränderliches Wahres, dem gegenüber das Werden keine selbständige Bedeutung hatte. Alles das wurde ganz anders mit der Verlegung der wirkenden Kräfte in das Innere der Dinge und Menschen selbst, der Verknüpfung der Wirkungsformen mit diesem Inneren als notwendiger Betätigungs- weisen, der Zerlegung der großen, scheinbar feststehenden Typen in ihre Elemente und der Ausbreitung des Wirkungszusammen- hanges dieser Elemente durch das ganze Universum. Wie eng diese Wendung des Denkens mit der allgemeineren Umbildung der europäischen Kultur im l6. und 17. Jahrhundert zusammen- hing, wie in ihr sich die Verbreiterung der Erkenntnisse und die Steigerung der Lebensenergie ihren Ausdruck schufen, zeigen die meisten Geschichten der Philosophie. Insbesondere haben Eucken und Windelband dargetan, wie sich diese Wendung zunächst in den allgemeinen, phantastisch neuplatonisierenden Systemen der Renaissance als Stimmung und Impuls geltend machte, und wie dann hieraus durch Hinzutritt der neuen physikalischen, mathematisch-mechanischen und astronomischen Entdeckungen die Entwicklungsidee in einem präziseren Sinne sich bestimmte. Es dauerte aber noch geraume Zeit, bis diese Idee sich auch der geistig-geschichtlichen Welt bemächtigte. Wohl war die christ- liche supranaturaUstische Transzendenz dem gegenüber nicht zu halten, aber der alles Dasein in den Wirbel endlosen Wechsels hinabziehenden Konsequenzen erwehrten sich die großen Geister der neuen Wissenschaft durch die »rationalistische« Ueberzeugung von einer allgemeinen, über allen Wechsel erhabenen, allen Menschen inhärierenden Wahrheit, die es nur in ihrem der Mathe- matik analogen inneren Zusammenhang und ihrer in allen Gliedern sich gegenseitig bedingenden Notwendigkeit klar und deutlich zu machen gelte. Die Kritik Humes und Kants erschütterte

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dann aber auch dieses Zutrauen zu einer bleibenden Wahrheit. Zu- gleich trug die Begeisterung für alles Lebendige und Individuelle, die Anempfindungsfähigkeit an das relative Recht und die relative Einzigartigkeit aller geschichtlichen Erscheinungen, wie sie in unserer Literatur sich geltend machte, den Entwickelungsgedanken auch in die geistig-geschichtliche Welt hinein, und an Stelle des starren Glaubens der Aufklärung an die allgemeinen apriorischen Wahrheiten der idealen Welt trat die begeisterte und sinnige Anerkennung einer sich leise wandelnden, absichtslos mit innerem Triebe aus den einzelnen Elementen der Wechselwirkung auch die geistige Welt gestaltenden Bildungskraft. Mit der Begeisterung des ersten Entdeckers sprach Herder in seinen Ideen zur Philo- sophie der Geschichte diese Gedanken aus. Der Natur und Ge- schichte ruhig überschauende Denker Goethe und der über den Endzweck der Universalgeschichte sinnende Historiker Schiller, der Sprachphilosoph Humboldt und viele andere gingen die gleichen oder ähnliche Wege. Der Gedanke der Entwickelung hat seitdem und neben dem mannigfache andere Formen ange- nommen, aber er ist doch der eigentliche Schlüssel alles Ver- ständnisses geworden. Die genetische Methode gilt als das Selbst- verständlichste des Selbstverständlichen. Alle Wissenschaften haben sich ihr unterworfen, es gibt »eine kosmologische, eine biologische, eine psychologische, eine sozialhistorische Entwicke- lungslehre«. Ja sogar die Theologie hat dementsprechend ihren Begriff der Kirchengeschichte vollständig verwandelt und hat geradezu die Offenbarung selbst in das Gesetz der Entwickelung hineingezogen, sei es, daß sie in einem religions-philosophischen Unterbau die christliche Offenbarung als den Höhepunkt der religiösen Entwickelung festzulegen versucht, sei es, daß sie den anthropomorphen Supranaturalismus selbst in der »biblischen Heilsgeschichte« eine Entwickelung durchmachen läßt.

Es ist von Wichtigkeit, sich die metaphysischen Konsequenzen und die im Grunde liegende Tendenz dieser Forschungs- und Denkmethoden klar zu machen. Damit ist der innerste Kern des Seins in die Bewegung des Werdens eingegangen, die sich früher nur in der Peripherie zu tun machte. Es gibt kein dem Werden abgeschlossen und fertig gegenüberstehendes oder es unveränderlich von außen leitendes Sein, sondern das Sein selbst ist nur zu fassen in der Lebendigkeit seiner Bewegung; »in seinen Begriff ist der seines Wandelungsgesetzes aufzunehmen«. Die

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Bewegung beschränkt sich nicht mehr auf feststehende Umkreise typischer Gebiete, sondern in der Wechselwirkung der allem zu- grunde liegenden kleinsten kosmischen oder psychischen Elemente entstehen diese Typen selbst erst. Sie ist nicht die Verwirk- lichung voranstehender und fertiger göttlicher Zweckgedanken, denen sie als vorübergehendes Werkzeug zu dienen hätte, sondern die Kräfte und die Zwecke sind in ihr selbst ent- halten und entstehen erst in ihr. Das Wahre, Gute und Schöne ist nicht die von der Sinnlichkeit nur abgebildete fest- stehende Ideenwelt ; die in der Lebensarbeit beruhigende und leitende Wahrheit ist nicht die durch ihre Herkunft aus der oberen Welt als ewig und unwandelbar gesicherte Mitteilung des gött- lichen Willens; all das ist selbst unter mancherlei Einwirkungen in sichtlicher Bewegung, es entwickelt sich. In der ganzen Welt bedingt ein Punkt den andern, und jeder einzelne ist nur zu ver- stehen in seiner Bedingtheit durch die einwirkenden Beziehungen der Umgebung, das Ganze nur in der zusammenhängenden Be- wegung des Einzelnen. Man sieht, es steckt in diesem Gedanken eine ganze Welt von Anschauungen der einschneidendsten Art, ein Gesamtbild des Wirklichen von ungeheurer Tragweite. Aber liegen auch die Wurzeln der Methode in einer mehr oder minder unbestimmten Ahnung dieses geistigen Gesamtgehaltes, so hat doch die wirkliche Aneignung und die allgemeine Herrschaft der- selben nicht sowohl hierin ihren Grund als in ihrer glänzenden Bewährung an den Tatsachen und der Erweiterung und ;Ver- tiefung des Verständnisses der Dinge. Große Gebiete der Wissen- schaft haben von ihr aus ihre kanonische Form erhalten und die Wirklichkeit unvergleichlich tiefer erschlossen, allseitiger be- herrschen gelernt, als das von den früheren Methoden aus mög- lich war. Andere Gebiete suchen sie durchzuführen und haben überall da, wo sie ihn anwandten, die schlagendsten Ergebnisse, die weitesten Durchsichten erreicht. Ihre Tragweite ist längst nicht allen bewußt, aber allen hat sie sich als treffliches Mittel der Forschung bewährt. Sie hat bessere Dienste geleistet als die früheren, und das genügt, um sie als deren »rechtmäßige Nach- folgerin« anzuerkennen.

Für unsere Betrachtung ist noch ein weiteres von Bedeutung, das sich hieran unmittelbar anknüpft. Es mag gleichgültig sein oder ist doch nur von intellektuellem Interesse, die Entwickelungs- formel des Universums zu kennen. Wir sind sogar gegenwärtig

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Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen.

fast alle überzeugt, daß das ganz und gar unmöglich ist. Wohl aber müssen wir um unserer Lebensführung willen den Sinn des geistig-menschlichen Lebens, seinen Wert und sein Ziel kennen. Aber auch dieses ist von der Gesamtanschauung der Entwicke- lung aus. nur im Zusammenhang seines Werdens zu verstehen, und so wird für jede Weltanschauung die Grundlage einer Ge- schichtsphilosophie nötig. Die moderne Welt ist die Zeit der Geschichtsphilosophie. Die Werke von Rocholl und Bernheim zeigen, wie dieser Zweig der Wissenschaft erst aus diesen neuen Verhältnissen des Denkens entstanden ist. Das Altertum bedurfte keiner Geschichtsphilosophie, da es alles hinnahm als immer sich wiederholende Wirkung der Natur. Das Christentum war selbst eine Geschichtsphilosophie, aber eine fertige und von außen gegebene, es bedurfte keiner wissenschaftlichen Konstruk- tion einer solchen aus den beobachteten »Gesetzen« des Werdens. Erst die moderne Zeit hat die Notwendigkeit empfunden, das Bleibende und Wahre am Menschenleben gegen den anscheinend ununterbrochenen Fluß des Geschehens durch eine Geschichts- philosophie zu sichern und aus dem Gesetze der Wandelungen selbst festzustellen. Ihre großen Grundrichtungen haben sich daher auch die entsprechenden geschichtsphilosophischen Systeme geschaffen ; die idealistische hat ihren Ausdruck in den Systemen der deutschen klassischen Philosophie, die naturalistische in den- jenigen Comtes, Buckles und den Uebertragungen der dar- winistischen Methode auf die Geschichte gefunden. Die christ- liche Weltanschauung hat sich also hier mit sehr einschneidenden und sorgsam ausgeführten Systemen der Wirklichkeitsdeutung auseinanderzusetzen, nicht bloß mit einem allgemeinen Wider- willen gegen den transzendenten Dualismus. Sie hat sich selbst auf eine Geschichtsphilosophie zu begründen. So hat Schleier- macher, der Ethiker der klassischen Philosophie, in seiner Ethik geradezu das »Formelbuch« der Geschichte entworfen, zu dem die Geschichte sich verhalte wie das Bilderbuch der Ethik. In diesen Rahmen seiner Geschichtsphilosophie hat er das Christen- tum als Vollendung und abschließende Kräftigung des Wesens der Vernunft in ihrer Gottbezogenheit und ihrer Weltbezogenheit eingetragen. Vom Standpunkt des strengen Luthertums hat Rocholl seiner Kritik der bisherigen Systeme eine positive Dar- stellung der christlichen Geschichtsphilosophie folgen lassen. Von ganz anderem Standpunkt aus hat Kaftan seinen Verzicht auf

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jede metaphysische Rechtfertigung der Wahrheit des Christentums durch den Hinweis auf eine geschichtsphilosophische ergänzt. Mehr oder minder aphoristisch ausgeführt steht hinter allen theo- logischen Systemen heute eine Geschichtsphilosophie oder doch eine Philosophie der Religionsgeschichte, in welcher die modernen Entwickelungsgedanken bewußt oder versteckt wirksam sind. Auch die sonst so spröde abgeschlossene Theologie Ritschis hat dieser Auseinandersetzung sich nicht entziehen können, wie man aus der bekannten Lutherrede entnehmen kann.

Hier erheben sich aber von vornherein aus der allgemeinen Natur des Entwickelungsgedankens die größten Schwierigkeiten, und diese Bedenken sind es, welche in unserem allgemeinen "VVelt- gefühl, wie es aus den Einwirkungen der evolutionistischen Wis- senschaftsbegriffe unter uns sich erzeugt hat, dem christlichen Glauben den zähesten Widerstand entgegensetzen. Begreiflich genug, denn sie erwachsen aus der oben geschilderten allge- meinsten und allen besonderen Unterschieden vorausliegenden Grundstimmung des modernen Denkens. Es betrifft die zwei Punkte, die Bernheim sehr richtig als die beiden Hauptpunkte aller Geschichtsphilosophie herausgehoben hat: die Faktoren und das Wertresultat der Entwicklung. Es gehört zum innersten Wesen des christlichen Prinzips, nicht bloß Produkt menschlicher Entwickelung zu sein, sondern auf einer göttlichen Selbstmitteilung und Lebenserschließung zu beruhen. Es will nicht von unten herausgewachsen, sondern von oben mitgeteilt sein, will nicht auf einer immanenten Entwickelung des religiösen Gedankens, sondern auf göttlicher Offenbarung beruhen. Wohl vermag es anderen Religionen ebenfalls eine Begründung in göttlicher Selbstmitteilung zuzugestehen, aber während es in jenen mancherlei Unvollkom- menheit und eine hemmende Bedingtheit durch Motive der Natur- religion bekämpft, beansprucht es selbst auf einer vollen und ab- soluten Geistesoffenbarung zu beruhen. Damit hängt das zweite eng zusammen. Eben vermöge dieser seiner Begründung in einer absoluten göttlichen Offenbarung beansprucht es absolute und bleibende, für uns Menschen vollkommene und unüberbietbare Wahrheit zu sein. Wohl kann es allerlei Wandlungen seiner Form, seiner vorstellungsmäßigen Symbolisierung, seines Verhältnisses zur Welt und anderen Religionen zugestehen, aber der religiöse Gehalt des Prinzips, die darin gesetzte Anschauung von Gott, Welt und Menschheit kann, wie Lipsius richtig bemerkt, niemals

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vervollkommnet werden. Es ist in der Tat völlig unmöglich, das Christentum festzuhalten und für sich noch in Anspruch zu nehmen, wo von diesen beiden Forderungen gewichen wird. In ihnen liegt seine Kraft und sein Charakter, seine Energie, mit der es als ein von Gott gepflanztes Neues gegen die Welt sich wendet und neues Leben schafft, seine Freudigkeit und seine Zuversicht, mit der es Not und Elend, Reue und Gewissensangst überwindet in der Gewißheit der göttlichen Liebe. Ohne diese Grundstimmung ist ihm der innerste Lebensnerv durchschnitten, ist es ein schwärme- rischer und einseitiger Ausdruck menschlicher Bedürfnisse und Hoffnungen.

Aber gerade an diesen Punkten gerät auch das christ- liche Prinzip in den schärfsten Widerspruch gegen die Grund- richtung des Entwickelungsgedankens. Es ist eine wesentliche Eigentümlichkeit dieses letzteren alles aus dem Zusammenwirken gegebener Faktoren und aus dem inneren Zuge der Entwickelung selbst hervorgehen zu lassen. Von innen heraus und von unten nach oben soll alles wachsen in beständiger Ausbreitung und Vertiefung; eine langsame und kontinuierliche Steigerung, kein plötzlicher Sprung soll in die Höhe führen, alles soll nur die Resultante der eigenen Kraft und der fremden Einwirkungen und damit ein einzelnes Produkt des Gesamtgeschehens sein. Für eine Offenbarung, in welchem Sinne immer man dieses Wort verstehen und bestimmen mag, bleibt hier schlechterdings kein Raum. Nur das Ganze kann eine Offenbarung der Lebens- energie des Ganzen genannt werden, womit gerade jeder religiöse Begriff der Offenbarung aufgehoben ist. Aus demselben Grunde kann es auch an keinem einzelnen Punkte und in keiner Sphäre des Prozesses eine absolute, bleibende und unüberbietbare Wahr- heit geben, höchstens am Ende der Entwickelung, wo sich alles Erreichte zur Summe vereinigt. Der Strom des Geschehens wälzt sich unaufhaltsam fort und kennt nur relative Größen, jede Ent- wickelungshöhe ist nur eine vorübergehende Durchgangsform und gilt nur für einen beschränkten, ihrer Einwirkung unterstehenden Umkreis. Es ist nur allzudeutlich, daß sich eine mit diesen Be- griffen arbeitende Bildung bewußt oder instinktiv von den For- derungen des christlichen Prinzips abgestoßen fühlen muß, daß man in der Anwendung des Entwickelungsbegriffes von Seite der Theologen nur den Strick zu sehen meint, den sie sich selbst drehen und der ihnen über kurz oder lang den Atem nehmen muß.

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Hier ist nun vor allem darauf hinzuweisen, daß dieser schein- bar so einfache Begriff, den viele als einen ganz klaren und sicheren handhaben, ein sehr kompliziertes und vieldeutiges Er- zeugnis verschiedener Motive ist, daß er in der modernen Wissen- schaft grundverschiedene, sich direkt widersprechende Ausprä- gungen erhalten hat, daß die meisten ahnungslos mit diesen ver- schiedenen Formen je nach Bedürfnis wechseln und damit die innere Unklarheit des Begriffes verraten. Er hat selbst seine Entwickelungsgeschichte gehabt und ist selbst nur etwas sehr Be- dingtes und Relatives. In ihm steckt ganz im allgemeinen die moderne Wendung zur Diesseitigkeit und zum Reichtum einer sich immer breiter erschließenden Mannigfaltigkeit, sowie die Steigerung der Lebensenergie und des Tätigkeitstriebes. Das sind allgemeine Stimmungen, von denen begleitet der Entwicke- lungsgedanke so recht zum Ausdruck der modernen Lebens- stimmung geworden ist; aber es sind doch nur sehr unklare, die Phantasie und das Lebensgefühl leitende Impulse, welche die schwersten Probleme in sich schließen. Ferner liegt in ihm die Uebertragung spezieller empirischer Beobachtungen aus Einzel- gebieten, insbesondere aus dem Gebiet der individuellen Ent- wickelung, auf das Ganze, sowie die Anschauung des Fortganges von niederen und einfachen Erscheinungen zu höheren, feineren, komplizierteren, die an bestimmten Erscheinungen z. B. der Sprache, der Sitte, des Rechtes, der Religion u. a. gewonnen worden ist. Das alles gilt aber nur für bestimmte Lebenskreise, von einer ununterbro- chenen Steigerung, einer alles aufsammelnden und weiterführenden Gesamtbewegung kann empirisch nicht die Rede sein. Neben diesen tatsächlichen Beobachtungen spielen einige allgemeine »unver- meidliche Vorurteile« des menschlichen Denkens mit, wie Eucken sehr richtig bemerkt, die Meinung, daß man das Kleine und Ein- fache leichter verstehe als das Große und daß dessen Zusammen- setzung in der Entwickelung eine Erklärung sei, der natürUche Sinn für Kontinuität und Rhythmus, der das nicht nur bisweilen, sondern am Ganzen des Geschehens wahrnehmen möchte, der optimistische Glaube, daß ein endloser Fortschritt zum Höheren und Besseren notwendig in der Natur der Dinge und der Men- schen liege. Schließlich ist der Einfluß nicht zu unterschätzen, den das mit dem sprachlichen Ausdruck »Entwickelung« ver- bundene Bild von dem langsamen organischen Wachstum der Pflanze unwillkürlich, aber doch höchst wirksam ausübt. Mit

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diesem Ausdruck hängt aber weiter ein anderer höchst schillern- der Begriff, der des Bildungsgesetzes, eng zusammen, der ur- sprünglich aus dem rechtlich-moralischen Gebiete stammend dann auf das physische übertragen und hier in einem bestimmten Sinne präzisiert wieder auf das geistige Gebiet rückwärts über- tragen wurde, woraus dann eine Fülle von Schwierigkeiten und Unklarheiten entsteht.

Bei dieser Mannigfaltigkeit der einwirkenden Motive ist es nicht zu verwundern, daß diese allgemeine Stimmung und Denk- richtung sich in sehr verschiedener Weise ausgeprägt hat. Die erste, klarste und anschaulichste, bis heute wirksamste Ausprägung ist unter dem Eindruck der neuen naturwissenschaftlichen Ent- deckungen und der Erneuerung des Atomismus zustande gekom- men. Es sind die großen Grundgedanken der neuen Natur- wissenschaft in ihrer Anwendung auf die Entwickelung des Kosmos die ihren Höhepunkt in dem den ganzen Kosmos umspannen- den Gravitationsgesetz und in der Welttheorie Kant-Laplaces gefunden haben. Hier hat der Entwickelungsbegriff einen ein- fachen und klaren Ausdruck unter Abstreifung alles Mystischen gefunden, er ist zur Erklärung des Kosmos und seiner Wande- lungen aus einer beständigen Trennung und Vereinigung kleinster Teile nach bestimmten Gesetzen geworden. Aber eben damit hat er auch den Kern des Entwickelungsbegriffes eingebüßt, den Begriff einer einheitlichen bildenden und wachsenden Gesamt- kraft, und damit zugleich das Werden und das Subjekt des Werdens höchst problematisch gemacht. Zunächst begnügte man sich mit der Ergänzung durch den deistischen Gottesbegriff, in dessen Zusammenhang diese mechanische Welt der Naturent- wickelung der vorsehungsmäßige Boden der menschlichen Ge- schichte und ihrer sittlichen Werte war. Bald aber hat nament- lich die englische und französische Philosophie und Geschichts- wissenschaft diesen naturalistischen Entwickelungsbegriff auch auf die menschliche Geschichte übertragen und auch hier eine gesetz- mäßige Entwickelung der psychischen Atome in den großen so- zialen Massenbewegungen finden zu müssen geglaubt. Die Sta- tistik sollte analog der naturwissenschaftlichen Beobachtungs- methode hierfür die mathematisch ausdrückbaren Gesetzesformeln liefern. In dieser Richtung hat namentlich Buckles Geschichte der englischen Zivilisation einflußreich gewirkt. In Deutschland hat Du Bois-Reymond mit seinem Vortrage über »Naturwissen-

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Schaft und Kulturgeschichte« ähnUche Gedanken vertreten. Dagegen haben sich aber sofort die bedeutendsten Historiker er- hoben und jede naturaHstische Konstruktion der Gesetze der Ge- schichte abgelehnt. Wohl hat der Begriff der Gesetze auch hier seine Anwendung und Bedeutung, aber Gesetze bedeuten hier auf dem Boden des Individuellen und der Freiheit etwas völlig anderes als in der Anwendung auf die Naturerscheinungen, wie dies übrigens auch von Philosophen wie Lotze, Wundt und Eucken hervorgehoben worden ist. Es handelt sich hier nicht um mecha- nische, sondern um Willensverhältnisse, die gewisse allgemeine Eigenschaften und Tendenzen haben, aber diese nicht in der Ausnahmslosigkeit mathematischer Gesetze ausprägen. Soweit auf geistigem und sozialem Gebiete Gesetze im eigentlichen Sinne vorliegen, sind diese immer nur Betätigungsformen und Bedin- gungen, welche gegenüber dem inhaltlichen geistigen Geschehen selbst nur als Stoffe und Formen in Betracht kommen. Für das letztere aber ist ein Gesetz in irgend einem naturwissenschaft- lichen Sinne nicht zu konstatieren, sondern nur ganz allgemeine Strebungen, die in dem ethischen Wesen des Geistes liegen und die ihre besondere Gestaltung nur in der Arbeit der Individuen finden und nur im Kampfe der Freiheit gegen den Widerstand der Masse sich durchsetzen. Die hier einschlagenden Fragen sind vortrefflich in kurzer, aber lichtvoller Ausführung von Rümelin in seinen viel zitierten Abhandlungen über »den Begriff eines sozialen Gesetzes« und über »Gesetze der Geschichte« behandelt worden. Genau genommen kann man daher die Sache vielmehr umkehren. Jene naturwissenschaftliche Entwickelungslehre ist gar keine Entwickelungs-, sondern bloße Veränderungslehre. Entwicke- lung setzt eine den inneren Zusammenhang festhaltende Konti- nuität des Subjektes voraus, die wir nicht in der Natur, wohl aber in der menschlichen Geschichte erkennen. Sie setzt ein »nieder« und »höher«, d. h. eine Wertbeurteilung voraus, die wiederum nur im menschlichen Geiste für uns vorhanden ist. Daher kann es eine Entwickelung für uns im strengen Sinne nur innerhalb des menschlichen Geistes geben, wo wir das Subjekt der Entwickelung in seiner inneren Triebkraft kennen und wo wir jedes Werden in seinen inneren Zusammenhängen nachemp- finden und nacherleben können. Somit ist der Begriff der Ent- wickelung in der uns hier interessierenden Beziehung überhaupt auf diejenige des menschlichen Geistes oder doch des Organi-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 20

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sehen einzuschiänken. Aber auch in dieser Einschränkung findet er noch die verschiedenste Ausprägung, in welcher die UnmögUch- keit sich zeigt, den Begriff der Entwickelung unbedingt und vor- behaltlos zur Anwendung zu bringen, insbesondere die Antwort auf die letzten Fragen ohne weiteres dem Nachweis der »Entwickelungs- gesetze« zu entnehmen.

Hier treffen wir in erster Linie auf die idealistisch-ästhetische Entwickelungslehre, welche von unserer klassischen Literatur aus- gehend in Herder und Goethe ihre Vertreter gefunden hat. Wie im natürlichen, so sei auch im geistigen Leben das Werden nach Analogie des Organismus zu verstehen, es sei weder auf den mechanischen Zufall, noch auf Eingriffe einer bildenden und lenkenden Intelligenz, sondern auf eine innere harmonische Bil- dungskraft, eine das Geistige und Natürliche in seiner engen Wechselbeziehung verknüpfende und entwickelnde Idee, einen unbewußt zweckmäßigen Gestaltungstrieb der Natur zurückzufüh- ren. Bei Herder liegen die naturalistischen und idealistischen Elemente noch ungeschieden bei einander und stand allein die etwas allgemeine Idee der Humanität, die Entwickelung aller menschlichen Anlagen, hinter dem ganzen Prozeß. Allseitiger durchgeführt und tiefer begründet wird der Gedanke bei Schelling und besonders bei Hegel, dessen Geschichtsphilosophie die un- geheuerste Bewältigung des kausal verständlichen Flusses der Dinge durch einen in diesem Fluß sich durchsetzenden absoluten, vernunftnotwendigen Zweck ist. Der Entwickelungsbegriff trat damit unter den Gesichtspunkt des im vorigen Aufsatz geschilderten ästhetischen Monismus. Die Entwickelung ist die organische Entfaltung der Idee, d. h. die Auswirkung der schönen Form in der Vernatürlichung des Geistigen. Der Inhalt des Geistes und das ist im Grunde der ästhetisch gestimmte menschliche Geist jener Literaturepoche entfaltet sich in ihr nach seiner ganzen Fülle zu diesem Ziel. Alles einzelne ist nur dienendes Glied, nur Durchgangspunkt in der Entfaltung des Ganzen. Wenn Hegel den Abschluß in der Organisation der Vernunft als Staat erblickt, so hat doch dieser Staat mit dem wirklichen Recht- und IMacht- staat wenig zu tun, es ist ein ästhetischer Kulturstaat. Der Sinn des Ganzen ist das Ganze selbst in seinem harmonisch gegliederten Reichtum; die Triebkraft des Ganzen ist der Entwickelungstrieb des Geistes, der seinen Inhalt auseinander zu legen strebt. Die Konse- quenzen des Begriffs sind deutlich. Die Freiheit ist vernichtet, der

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Drang des Individuums nach einem ihm geltenden Sinn und Glück des Daseins ist eine selbstsüchtige Täuschung, den Wert des Ganzen begreift und genießt nur das die ganze Entwickelung überschau- ende Auge Gottes. Ganz abgesehen davon, daß diese Konstruk- tionen der Wirklichkeit oft völlig zuwiderlaufen, daß sie in Wahr- heit die Geschichte der europäischen Kultur zu der der Mensch- heit und damit überdies zu der Gottes machen, sind sie schon dadurch hinfällig, daß wir hier wiederum jene »Verehrung der Formen statt des Inhalts« treffen, die wir bereits im vorigen Aufsatz als höchst un- genügend charakterisiert haben. Die Idee der schönen Selbstentfal- tung des Geistes in der Gesamtheit seiner Betätigungen ist hier für den nach einem Sinn des Menschenlebens Verlangenden erst recht ein Stein statt des Brotes. Wenn Hegel das zum politischen Ethos zu- sammenfaßte und darüber zu allerhöchst die religiöse Selbsterkennt- nis der Vernunft emporhob, so war damit der Zielgedanke freilich schärfer bestimmt und der bloßen Breite der Entwickelung entgegen- gesetzt; aber es erhob sich auch sofort die Frage, an welchem Punkt des Prozesses die Erreichung dieses Zieles fixiert werden könne und ob man wirklich alle Vorstufen nur als Bedingungen für eine letzte ansehen könne. Wollte man das aber nicht, dann war man wieder auf das Ganze als den Zweck des Ganzen angewie- sen und wurde der Weltprozeß zu einem ästhetischen Schauspiel, in welchem die Zwecke des endlichen Individuums nur Mate- rial sind.

Ganz andere Wege geht die positivistische Entwickelungs- theorie, die ihre leitenden Gedanken aus dem französisch-engli- schen politischen und sozialen Leben und aus den positiven Beobach- tungen der Naturwissenschaft und Statistik schöpft, dabeiaberaneine selbständige, nach bestimmten Gesetzen die Dinge gestaltende Intel- ligenz des Menschen und der menschlichen Gattung glaubt. Daher ist hier die sozialeMasse das Subjekt und die befriedigende, die Natur möglichst beherrschende Gestaltung dieser Masse zur organisierten Gesellschaft das Ziel der Entwickelung. Wie bei Schleiermacher die Ethik zur Geschichtsphilosophie auf Grund der allgemeinen humanen undästhetischen Anschauung von der sich verwirklichenden Vernunft, wurde, so wird hier die Ethik zur Geschichtsphilosophie der auf die Kenntnis der Gesetze der Natur und der menschlichen Massenbewe- gungen, der sozialen Statik und Dynamik, aufgebauten Soziologie. Dabei vollzieht sich die Entwickelung aber doch vor allem nicht durch die Aktivität der menschlichen Intelligenz, sondern durch

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die Summation der von außen kommenden kleinen Einwirkungen der Natur, und die- Tätigkeit der Intelligenz besteht wesentlich in der zunehmenden Erkenntnis dieser Verhältnisse und ihrer be- rechneten Einbeziehung in die sozialen Zwecke des Ganzen. Derart sei nach dem religiös-phantastischen Zeitalter das abstrakt- metaphysische eingetreten, welches gegenwärtig unter Führung der Naturwissenschaften und des Sozialismus in das positive, rein wissenschaftliche Zeitalter überzugehen beginne und an dem Auf- bau einer wissenschaftlichen, auf die Gesetze der Natur und des Menschenwesens begründeten Gesellschaftsordnung arbeite. So vollzieht sich die Entwickelung ohne vernünftige Bildungstriebe des Universums lediglich in der Summation äußerer Einwirkungen auf die Menschheit, in der zunehmenden Anpassung derselben an diese Einwirkungen und der Beherrschung dieser Verhältnisse durch die Intelligenz. Der Sinn und das Ziel der Entwickelung, die möglichste Gesamtwohlfahrt, wird das Ende des Fortschritts sein. In ihrer Geringschätzung aller inneren Faktoren, der Aus- schließung aller Zweckmäßigkeit und Beschränkung auf äußere Einwirkungen hat diese Entwickelungslehre eine mächtige Unter- stützung durch die darwinische Biologie gefunden, welche den allgemeinen, bei Goethe und Herder ästhetisch-idealistisch ge- dachten Gedanken der Entwickelung aller organischen Gattungen aus einander naturalistisch und rein mechanisch durchzuführen ver- sucht. Die Summation kleinster Veränderungen und die Auslese der lebensfähigsten Summationen im Kampfe ums Dasein erklärt das Rätsel der Existenz scheinbar geschlossener Gattungstypen inner- halb der rastlosen allgemeinen Entwickelung. Diese in der Zoo- logie schon wieder mannigfach berichtigte Methode ist von hier auf fast alle anderen Wissenschaften übertragen worden und hat hier alle scheinbar feststehenden Größen in vorübergehende nur relativ dauernde Aggregatzustände verwandeln gelehrt und zugleich den Glauben an einen Fortschritt ohne einen teleogischen Sinn der Geschichte gestärkt. Aber von anderen Seiten ist zugleich auf die völlige Unhaltbarkeit und den inneren Widerspruch dieser ganzen Entwickelungsidee hingewiesen worden. Man hat gezeigt, wie sie bei aller Unterschätzung der Selbständigkeit und Eigen- artigkeit des Geistes doch einen zielbewußten Intellekt, einen glücksuchenden Willen voraussetze und wie sie von hier notwen- dig zur weiteren Würdigung der einheimischen Kräfte des Geistes gedrängt werde. In England selbst hat sich namentlich Carlyle

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mit seiner begeisterten Schätzung der Individualität gegen diese »Schweinephilosophie« erhoben. In Deutschland hat die gesamte idealistische Philosophie sich lebhaft entgegengesetzt. Zugleich hat man unter den verschiedensten Gesichtspunkten hervorgehoben, daß auch bei dieser Entwickelungsidee eine teleologische Fürein- anderbestimmtheit der Natur und des Geistes nicht zu umgehen sei und wie diese Anerkennung mit jeder vertieften Schätzung der geistig-persönlichen Werte sich steigern müsse.

So ist es erklärlich, daß unter dem Namen derselben Theorie und Methode doch ganz verschiedenartige und widersprechende Betrachtungsweisen hervortreten. Die Anschauung einer inneren organisch gestaltenden Triebkraft der Gott-Natur oder des abso- luten Geistes und die These einer nur von außen herein, letzlich durch den Zufall bestimmten Auslese, die trostlose Ergebung in einen sinn- und ziellosen fortwährenden Wechsel, in dem nichts besteht als das Gesetz des Wechsels, und der optimistische Glaube an ein letztes Vollkommenheitsziel , in welchem das Mögliche erreicht sein wird; der Apriorismus einer alles Wirkliche nur in der Evolution fassenden Theorie und der Empirismus einer von Fall zu F'all einsetzenden Beobachtung des Fortschrittes von nie- deren zu höheren Bildungen : alles das liegt in dem Begriff der Ent- wickelung verborgen und kommt je nach Bedürfnis zum Ausdruck. Diese Methode ist nur ein Beispiel mehr dafür, daß Methoden unend- lich fruchtbar und grundlegend für den ganzen Charakter einer wissenschaftlichen Epoche und doch in ihrem Wesen und ihrer Tragweite äußerst unklar sein können. Insbesondere führt der Begriff des Entwickelungsgesetzes, soweit es sich um das innere Gesetz und den Sinn des Gesamtprozesses handelt, niemals über die ganz unbestimmte Vorstellung einer zunehmenden Herausar- beitung des Geistigen aus dem Natürlichen heraus, womit über den endgültigen inhaltlichen Wert des Geistes und des Prozesses nichts gesagt ist und woraus sich auch nicht der notwendige Fortgang auf ein bestimmtes Endziel berechnen läßt. Weder das humanistisch ästhetische »Gesetz« der Selbstentfaltung des Geistes, noch das positivistische der Anpassuug und Vererbung gibt über die unweigerlich sich aufdrängenden Grundfragen irgend eine Auskunft. Ist dem aber so, dann werden wir nicht zugestehen dürfen, daß durch einen so durchaus problematischen Begriff bei allen reichen Ergebnissen seiner Anwendung der unaustilgbare Drang des Menschen nach einer bleibenden und dem Leben Ziel

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und Gehalt gebenden Wahrheit zur Resignation verurteilt sei, daß insbesondere der r-eHgiöse Glaube an eine abschließende und vollendende Gottesoffenbarung sinnlos und unmöglich geworden sei. Beachten wir insbesondere die beiden oben erwähnten Haupt- punkte. Macht es der Entwickelungsbegriff in der Tat unmög- lich, an eine Selbsterschließung des göttlichen Wesens und an eine damit gegebene absolute religiöse Wahrheit zu glauben? Schließt die mit ihm gegebene Betrachtung der Faktoren der Geschichte das Einströmen göttlicher Kräfte und die durch ihn bedingte Fassung des Wertresultates die Anerkennung einer bleiben- den und unüberbietbaren religiösen Wahrheit in Christo aus ? Oder mit genauerer Rücksicht auf Art und Umfang des uns interessieren- den Entwickelungsgebietes : kann der metaphysisch-ethische Idea- lismus wie wir ihn bisher als Rückhalt der besonderen religiösen Denkweise festgestellt hatten, seinen Abschluß nur in einer Geschichtsphilosophie finden, welche auf Grund des Entwicke- lungsgedankens beides ausschließen müßte .^ Lotze hat in den be- rühmten geschichtsphilosophischen Kapiteln seines Mikrokosmus diese Fragen behandelt und in bezug auf sie zur äußersten Vor- sicht ermahnt. Auch an die bereits erwähnten Abhandlungen Rümelins ist hier wieder zu erinnern, desgleichen an Euckens Aufsätze über den Begriff des Gesetzes und der Entwickelung. Die wirkenden Kräfte der Geschichte sind die in der gesellschaft- lichen Wechselwirkung stehenden individuell-psychischen Elemente. Es lassen sich gewisse Regelmäßigkeiten ihres Wirkens und Verhal- tens, gewisse Bedingtheiten durch Naturverhältnisse und insbesondere durch die überkommene Kulturlage feststellen. Aber die wirkenden Kräfte selbst, das schaffende Tun der großen Individuen und die neue Werte erzeugende Freiheit bleiben ein Geheimnis nach wie vor. Weder der von den einen vorausgesetzte Rhythmus oder konti- nuierliche Fortschritt, noch die von den andern vorausgesetzte naturalistische Gesetzmäßigkeit und Berechenbarkeit lassen sich in dieser bunt durcheinanderwogenden, in rastlosem Kampfe be- griffenen Welt individueller Geister irgendwie nachweisen. Die Art des Werdens ist uns durch die Anwendung des Entwicke- lungsgedankens in überraschender Weise und in unzähligen Fäl- len deutlicher geworden ; was aber das Werden selbst sei und was das Werdende sei, ob das spätere im Früheren enthalten sei und wie oder ob irgendwie etwas dazukomme und aus dem Früheren etwas anderes werde als es vorher war, all das bleibt

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im allgemeinen wie in jedem besonderen P'all völlig unaiifgehellt. Nur für eine naturalistische Behandlung der Individuen in Ana- logie zu den Atomen der Naturwissenschaft oder für die ästheti- sche Anschauung einer schon vorher fertigen und nur sich ent- faltenden Idee ist hier kein Einströmen neuer Kräfte möglich. Aber die erstere Anschauung widerspricht direkt der Wirklichkeit und die letztere ist durchaus dunkel und unklar.

Der religiöse Glaube fordert seinem Wesen entsprechend eine Selbstmitteilung Gottes, nur in ihr kann er einen festen Ruhepunkt finden. Denn Gott ist ja selbst das Sein, das Zentrum, das Ab- solute in diesem ewigen Fluß und Werden relativ sich bedingen- der Begebnisse und Endlichkeiten. Bricht er überhaupt durch in die Endlichkeit, so muß er in eben dieser absoluten Ganzheit durchbrechen und darum an einem Punkte sich prinzipiell sammeln, um von ihm aus über das Uebrige sein Licht auszubreiten. Es ist nicht abzusehen, wie ein solcher Glaube durch unsere so geringe Ein- sicht in die Faktoren des Werdens unmöglich geworden sein soll. Vielmehr bleiben auch für sie die Subjekte desgeschichtlichen Lebens und die in ihnen zutage tretenden Inhalte des geistigen Lebens reine Tatsachen, die aus der Tiefe des Weltlebens an das Licht treten und in denen die innere Lebendigkeit Gottes sich mit ver- schiedener Intensität kundgeben mag. Ganz ähnlich steht es mit dem Wertresultate. Es muß in allem Wechsel eine beharrende Wahrheit geben. Das ist eine Forderung jedes idealen Glaubens, auf die verzichten auf den Sinn der Welt verzichten heißen würde. Die Arten, wie die idealistischen Philosophen sie zu fixieren suchen in einer Theorie der Erziehung des Menschengeschlechtes des kontinuierlichen, alle Anlagen vollendenden Fortschrittes, der ästhetischen Einheit des Gesamtprozesses in einer dem Ganzen zugrundeliegenden Idee oder in einem göttlichen Gedicht, all das sind völlig undurchführbare, den Tatsachen widersprechende, in sich widerspruchsvolle und unklare Vorstellungen, die zu allem eher führen als zu einem befriedigenden Werte der Geschichte. Wir sehen vielmehr überall nur abgebrochene Anfänge, die Fort- setzung verlangen und diese nur finden können in einer anderen Daseinsform. Soweit aber in dieser irdischen Geschichte eine Gewißheit über den Sinn und die beharrende Wahrheit des Da- seins nicht entbehrt werden kann, sehen wir sie von den Men- schen in der Religion behauptet und erfahren, in dem Glauben an eine ewige Wahrheit, welche sie der Selbstmitteilung Gottes

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ZU verdanken meinen. Ist der Trieb nach einer beharrenden Wahrheit ein so tiefer und mächtiger, gewinnt in ihr aller ideale Glaube erst einen festen Halt und sind alle philosophischen Versuche, eine solche aus der Entwicklung zu konstruieren, hinter ihrem Ziele weit zurückgeblieben, so ist kein irgend zwingender Grund vorhanden, die Behauptung der Religion zurückzuweisen, daß sie die letzte und bleibende Wahrheit des menschlichen Da- seins in sich enthalte und sie aus der innersten Gemeinschaft mit Gott heraus offenbare.

Dann muß freilich in einer partikularen geschichtlichen Strö- mung die absolute religiöse Wahrheit sich offenbaren und den übrigen Erscheinungen als bloß relativen Wahrheiten sich ent- gegensetzen. Der berühmte Einwand Strauß', daß die Idee es nicht liebe, ihre Fülle in ein Individuum auszuschütten, d. h. daß nur das Ganze die Wahrheit sei und kein einzelner Teil des Prozesses sie für sich enthalten könne, wurzelt ebenso wie die Meinung von der bloßen kontinuierlichen Abwandelung be- reits virtuell gegebener Kräfte in dem ästhetischen Pantheismus, dessen Grundbegriffe auch hier nur die Einheit und Kontinuität der Form als den Gehalt und die Wahrheit des Prozesses erken- nen lassen und der daher gerade so oft die Brücke zum Ma- terialismus gebildet hat als er dem letzteren wieder den Schein einer idealen Würde verleihen mußte. Die Anerkennung eines solchen Hervorbrechens der absoluten religiösen Wahrheit in der geschichtlichen Entwickelung steht auch in keinem unlösbaren Widerspruche mit der Tatsache, daß Unzählige derselben nicht teilhaft geworden sind und nicht teilhaftig sein werden. Denn die Geschichte als die Geschichte einheitlich verbundener, aber jedes für sich seine Vollendung verlangender Individuen ist kein nur in sich zusammenhängendes Ganzes, sondern ein Nebenein- ander abgebrochener und stets von neuem aufgenommener An- fänge, die ihren Ursprung und ihr Ziel im Uebersinnlichen haben. »Verflochten in einen viel größeren Zusammenhang kann das, was auf Erden geschieht, schwerlich als ein Ganzes in und aus sich selbst begriffen werden.« Da mag es genügen zu wissen, daß eine Offenbarung der absoluten religiösen Wahrheit nur in der Zeit und unter gewissen Entwickelungsbedingungen möglich ist, daß aber deshalb diejenigen von analoger Erkenntnis vermut- lich nicht ewig ausgeschlossen sind, welche auf Erden nur einer niedrigeren Stufe der Offenbarung teilhaftig werden konnten. Es

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ergäbe sich also der Gedanke einer an einem bestimnnten Punkte der Entwickelung des tellurischen Geistes hervorbrechenden, prinzipiell abschließenden und vollendenden religiösen Offenbarung, die selbst noch manche Entwickelungsstufen ihrer Auswirkung vor sich hat und auf Erden niedrigere Stufen neben sich hat. Indem man den Gedanken des absoluten Zweckes stark betont, dürfte dann der Entwickelungsprozeß in das Jenseits erstreckt und dürfte die Einmündung aller individuellen Besonderungen der telluri- schen Vernunft in diesen höchstem Zweck ihrer selbst erwartet werden. Andernfalls müßte man sich freilich einer Art Prädesti- nations- oder Auslese-Idee zuwenden, die doch ihre großen Här- ten hat.

Erwägungen ähnlicher, in der Vorsicht mit dem oben Aus- geführten übereinstimmender Art werden von derjenigen Wissen- schaft vorgebracht, welche vermöge ihrer reichen Erfahrungen und ihrer ausgebreiteten empirischen Kenntnisse ein Wort zur Behandlung des Entwickelungs- und Geschichtsproblems mitzu- sprechen vor allem berufen ist, von der Geschichtswissenschaft. Und zwar ist es hier besonders die deutsche Geschichtswissen- schaft, welche bei dem Reichtum ihrer Detailarbeit, ihrer rein sachlich-historischen Tendenz und ihrem Ursprünge in wesentlich historisch-kritischen Interessen auf eine selbständige Begründung und Begrenzung ihrer Methode und eine Feststellung des Ent- wickelungsbegrififes von diesem spezifisch historischen Gebiete aus hinarbeitet, während die englische und französische Geschichts- schreibung sich durch das Vorwiegen der sozialpolitischen Inter- essen und naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte von derartiger Selbstbegrenzung mehr zurückhalten läßt^^). Die erwähnte Schrift von Bernheim und das interessante Buch Ottokar Lorenz' -»über die Geschichtswissenschaft in ihren Hauptrichtungen und Aufgaben« geben hier klare und reiche Auskunft. Insbeson- dere kommt hier der große Geschichtsforscher und Geschichts- denker Leopold V. Ranke in Betracht, dessen ruhige und aus-

^®) Ich würde das heute nicht mehr sagen. Die Historie eines Tocqueville und Fustel de Coulange scheint mir mit ihrem Realismus gegenüber der immer noch sehr ideologischen Geschichtsforschung, von der im Texte die Rede ist, manche Vorzüge zu haben. Den wesentlich ideologischen Standpunkt in der Auffassung der Geschichte überhaupt und des Christentums insbesondere habe ich erst viel später überwunden und ergänzt. Es modifiziert sich dadurch manches, was in diesen Abhandlungen vorgetragen ist.

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gebreitete historische Weisheit das Tiefste und Allseitigste enthält, was über diese Dinge gedacht worden ist, und der daher auch für unsere Frage die größten und erleuchtendsten Gesichts- punkte darbietet.

Hier tritt überall der schärfste, auf das wirklich Wißbare sich beschränkende Gegensatz gegen das Ideal einer Gesamt- erkenntnis der menschlichen Entwickelung hervor, welche den ganzen Prozeß zu kennen und aus seinen Gesetzen dessen Fak- toren und Gehalt zu erschließen versucht. Der Plan einer allge- meinen Kulturgeschichte oder >> Geschichte der Zivilisation«, der alles Geschehen als in sich geschlossene und durch sich selbst verständliche Einheit in seiner inneren Verkettung und Notwen- digkeit sowie in seinem Werte aus der Entwickelung der Gattung begreifen will, ist ein niemals zu verwirklichender Traum. Die Geschichte im eigentlichen Sinne kann sich nur auf Zeiträume und Völker mit geschichtlicher Ueberlieferung beziehen, ist also von vornherein auf eine kurze Spanne des zeitlichen Verlaufes und einen kleinen Teil der räumlichen Breite des Geschehens eingeschränkt. Und auch innerhalb dieser Einschränkung vermag sie nicht das Gesamtgeschehen und seinen inneren geistigen Ge- halt zu übersehen, wegen der Unmöglichkeit, alles Einzelne zu wissen und zu reproduzieren, und der weiteren Unmöglichkeit, diese Summe des Einzelnen in seiner inneren geistigen Einheit zu erfassen. Sie muß sich daher auf einige Hauptgebiete des ge- schichtlichen Lebens beschränken, unter denen sich immer als das Wichtigste die Geschichte der großen gesellschaftlichen Ver- bände, d. h. des staatlichen Lebens erwiesen hat. Soviel auch immer zur Erleuchtung desselben aus der allgemeinen Kultur- entwickelung herangezogen werden mag, es geschieht doch immer nur in der Absicht, jene großen, festen Bildungen zu erklären. Neben diesem Hauptzweige der Geschichte haben die Darstellun- gen einzelner anderer Kulturzweige ihr volles Recht, bleiben aber doch immer in ihrer Vereinzelung und können bei dem größeren Mangel an festen, anschaulichen und dauernden Bildungen nicht die Sicherheit der sog. bürgerlichen Geschichte erreichen. Eine Zusammenfassung aller dieser Geschichtsverläufe zu einem ein- heitlichen Prozeß ist menschlicher Fassungskraft unmöglich, die- selbe kann nur die Darstellung eines Gebietes durch die des anderen beleuchten und anregen, aber sie müssen schließlich immer wieder sich sondern, wenn von einiger Sicherheit der Erkenntnis noch die

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Rede sein soll. Dabei bildet sich wohl eine bestimmte Forschungs- methode aus, die auf der Wahrnehmung psychischer Regelmäßig- keiten und wiederkehrender Analogien, der Erkenntnis beständiger Wechselwirkungen des Allgemeinen und Besonderen und dem Auf- suchen der jeweiligen Motive beruht, d. h.eine in sich zusammenhän- gende Entwickelung voraussetzt und hieraus das Gesetz ihrer Methode entnimmt ; aber die letzte Erkenntnis der Faktoren wie der Werte geht aus dieser Kenntnis der Entwicklungen nicht hervor, sie muß »den Naturwissenschaften und der Philosophie« überlassen werden. Die Geschichtswissenschaft umfaßt ein bestimmtes Wis- sensgebiet mit einer eigenartigen, durch ihre Objekte, die in ge- sellschaftlicher Zusammenwirkung stehenden Individuen, bestimm- ten Methode. Sie beschreibt eine Entwickelung, in welcher nur menschliche Kräfte von innen heraus wirksam sind und in welcher nichts vom anderen unbeeinflußt bleibt und nichts unveränderlich beharrt. Innerhalb der - angegebenen Grenzen erforscht sie der- art, »wie die Dinge gewesen sind und wie alles gekommen ist«. Das hat bei Anwendung der genetischen Methode ein neues und viel bewegteres und einheitlicheres Bild der Geschichte ergeben, aber über die letzten Gründe und das Beharrende im Wechsel hat es keinen Aufschluß geben können.

Wenn der greise Ranke seine Lebensarbeit wiederum in eine Weltgeschichte zusammenfaßte, so war das eine vollständige Veränderung des üblichen Begriffes. Er suchte im Gegensatz zu den Konstruktionen Herders, Schellings und Hegels sowie zu den naturalistischen Schematisierungen des Geschichtsprozesses nur die für unseren Kulturkreis wichtigen Erinnerungen des Ge- schlechtes in strengster Anerkennung der Grenzen der Geschichts- wissenschaft und in genauer Beobachtung der ihr eigentümlichen Methode zusammenfassend darzustellen. Er beschränkt sich aus- drücklich auf die Zeit schriftlicher Urkunden und schildert nur den zusammenhängenden Geschichtsverlauf, der aus dem Zusam- mentreffen der vorderasiatischen und europäischen Nationen unsere Völkerwelt mit ihren politisch-kulturellen Bildungen hervorbrachte. Die europäischen Völker in ihrer Verbindung mit der Mensch- heitsreligion scheinen zur Herrschaft über die Erde bestimmt. Dabei tritt ein mit sicherer Methode zu schildernder Verlauf rast- losen Werdens zu Tage : das Letzte, worauf der Historiker hier- bei stößt, sind die die Völker beseelenden und von ihnen erzeugten Ideen und geistigen Tendenzen. Der Entwickelungs-

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gedanke gibt sich in der ganzen Methode und Anschauungsweise kund, »in der Beschränkung der Motive aller Handlungen und Erscheinungen auf das rein Menschliche und auf eine zeitlich begrenzte und periodisch entstehende und vergehende Ideenwelt«. Aber in diesen menschlichen Kräften erkennt er ursprüngliche und produktive Kräfte, Betätigungen der schaffenden Freiheit. !> Vorbereitet durch die vorangegangenen Jahrhunderte erhoben sie sich zu ihrer Zeit, hervorgerufen durch starke und innerlich mächtige Naturen, aus den unerforschten Tiefen des menschlichen Geistes«. Ueber das in diesen Tiefen wirksame göttliche Leben und über die Regel seiner Offenbarungen gibt keine Entwickelungs- lehre Auskunft. Eben deshalb gibt auch die Betrachtung der Ent- wickelung als solche keinen Wertmaßstab an die Hand, gibt es ins- besonderekeinen kontinuierlichen Fortschritt, sondern alle Individuen haben zunächst »ihr eigenes Maß«. Die letzten Gründe des Gesche- hens aber und den höchsten Gehalt desselben zeigt die Historie nicht, sie sind der Religion zu überlassen, welche mit jener allgemeineren und weiteren Verknüpfung der menschlichen Lebensläufe im Uebersinnlichen zu tun hat, deren Erkenntnis die Historie als die »Wissenschaft von der historischen Epoche der Welt und Mensch- heitsentwickelung« aus sich nicht gewinnen kann. Wie Ranke für sich selbst diese Erkenntnisse der Religion entnahm, so ver- legte er auch innerhalb der an ihm dargestellten geschicht- lichen Entwickelung den Besitz dieser Erkenntnisse in die Reli- gionen. Daher stammt die eigentümlich großartige Berücksichti- gung der Religionsgeschichte in seiner wesentlich politisch orientierten »Weltgeschichte«. Das Christentum ist das wichtigste Ereignis derselben und seine Vereinigung mit dem höchsten geistig kulturellen Erwerbe des Altertums der Untergrund der zu erwartenden Erdenherrschaft der europäischen Gesittung.

So hat der allgemeine im Entwickelungsgedanken liegende Antrieb zur rein immanenten und progressiven Auffassung alles Wirklichen bei der philosophischen Durcharbeitung bedeutende Einschränkungen erfahren. Seine Konsequenz wäre die Verwan- delung alles Gehaltes des Wirklichen in Formeln der Entwicke- lungsgesetze und damit in eine Mythologie der Formeln, die viel irreführender und unmöglicher ist als diejenige der platonischen Ideenwelt, weil sie ohne jeden Inhalt ist und der gesamten Ten- denz alles geistigen Lebens, sich mit bleibenden und befriedigen- den Inhalten zu erfüllen, direkt widerspricht. Ebenso ist er von

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den besten Kennern geschichtlichen Werdens, den Forschern auf den Gebieten der urkundUchen Geschichte, auf sehr enge Grenzen zurückgeführt worden. Die alten Fragen nach den lebendigen Quellen alles Geschehens und nach dem bleibenden Werte, das alte Bedürfnis nach einer Offenbarung des göttlichen Lebens- grundes und einer Erschließung des tiefsten Sinnes alles Lebens bleiben in ihrem Rechte und bleiben an die Religion gewiesen. Jede Philosophie, die diese Fragen beantworten will, muß sich die Werte und Maßstäbe aus dem Leben und damit aus dem religiösen Leben selbst erst holen. Wir bleiben also für diese Frage an die Religion gewiesen. In ihr liegt der einzige überhaupt mög- liche Aufschluß über den absoluten Zweck der Entwickelung. In der Tat nicht das ist die Frage, ob eine solche Offenbarung überhaupt mögUch sei. Vielmehr das ist die Frage, ob wir in uns er er Re- ligion diese Offenbarung tatsächlich verehren dürfen. Die alten Stützen dieses Glaubens, der Wunder-, Weissagungs- und Inspirations- beweis sind mit dem alten naiven anthropomorphen Supranatura- lismus unwiderruflich zusammengebrochen. Die geschichtliche Entwickelung zeigt unsere Religion in ihrer Entstehung aus äußer- Uch angesehen »rein menschUchen« Kräften, sie zeigt sie tief ver- wickelt in konkrete geschichtliche Beziehungen und bestimmten Verhältnissen entstammende Gedankenmassen, d. h. bedingt durch eine Mehrzahl zusammenwirkender Einflüsse, sie enthüllt die tiefen inneren Wandelungen, welche das christliche Prinzip im Laufe der großen politisch-kulturellen Ereignisse erlebt hat. Sie macht uns in der vergleichenden Religionsgeschichte aufmerksam auf die zahllosen phänomenologischen Analogien, die zwischen ihr und anderen Religionen bestehen und den vorausgesetzten prinzipiellen Gegensatz zweifelhaft zu machen scheinen. Schließlich scheinen die Konsequenzen des hiermit anerkannten- Entwickelungsgedan- kens wenigstens insoweit bestehen zu bleiben, als der Gedanke an die Möglichkeit einer zukünftigen Ueberbietung und einer erst dann erfolgenden vollen und erschöpfenden Offenbarung sich immer wieder herandrängt.

Auf diese Fragen können wir zunächst freilich nur mit dem Einsatz unserer persönlichen Ueberzeugung, dem Bekenntnis prak- tischer Ueberwältigung durch das christliche Prinzip antworten, kurz mit dem, was die theologische Sprache »innere Erfahrung« zu nennen pflegt. Wir können hinzufügen, daß diese Ueberzeugungen nichts rein Individuelles und Persönliches seien, sondern eine

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geistige Macht, die gerade in ihrer Aneignung durch eine in ihr lebende Gemeinschaft doppelt auf uns wirkt und die Seele alles wahren und höchsten Gemeinschaftslebens ist. Außerdem dürfen wir darauf hinweisen, daß es einen anderen Beweis für eine höchste Wahrheit gar nicht geben kann, daß alle Wunder und alle äußeren Bezeugungen uns erst glaubhaft erscheinen würden auf Grund unserer vorausgegangenen inneren Annahme des geistigen Prinzips, daß die äußere Erscheinung einer göttlichen Offenbarung, die in menschliche Entwickelung und Geschichte eingeht, gar nicht anders als in zeitgeschichtlicher Bedingtheit eingekleidet sein könnte und daß diese Offenbarung ja nur innerhalb der allgemeineren Offenbarung in der Religionsgeschichte, also in Analogie zu allen großen Religionsbildungen, auftreten könnte. Alles das ist von Theologen und Philosophen mannigfach ausge- führt worden. Allein damit ist doch nicht alles erledigt. Wenn auch ein positiver Beweis für den Charakter unserer Religion als absoluter Gottesoffenbarung der Natur der Sache nach nicht ge- führt werden kann und die letzte Entscheidung bei dem praktisch religiösen Verhalten zu ihr steht, so ist doch die damit notwendig verbundene Behauptung ihrer Einzigartigkeit und ihres übersinn- lichen Ursprunges bestimmter zu veranschaulichen und in ihrer Möglichkeit zu verdeutlichen. Hier hilft es freilich nichts, mit einer Anzahl von Theologen aus jener inneren Erfahrung einfach die These ihres schlechthin supranaturalen Ursprunges abzuleiten und auf diesem Umwege den alten anthropomorphen Supranatu- ralismus wieder aufzurichten, den man dann doch an den be- drohtesten Punkten aufgeben und für den man an den andern mit den fadenscheinigsten Auskunftsmitteln sich behelfen muß. Das ist ein Gewaltakt, eine Beeinflussung des Intellekts durch den Willen, zu der nicht-theologische Forscher nur sehr selten sich zu entschließen Anlaß haben, und fordert außerdem in seiner Durchführung ein Vorliebnehmen mit Gründen, welche dieselben Theologen auf anderen Wissenschaftsgebieten nicht anerkennen würden. Es genügt aber auch nicht, das Christentum als den Höhepunkt der religiösen Entwickelung und als die Vollendung aller in der Religion überhaupt angelegten Tendenzen darzutun. Denn einmal ist es eine wesentliche Eigentümlichkeit und der innere Kern des Christentums, sich nicht als höchste Entwicke- lungsstufe anzusehen, sondern mit prinzipieller Entgegensetzung sich der ganzen bisherigen Religion entgegenzustellen als ein

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Neues, das überall aus dem Grunde Neues schaffen und nicht Angefangenes vollenden will. Ferner ist wohl der Nachweis zu führen, daß es im Verhältnis zu anderen Religionen die höchste Religion sei, aber daß es die unüberbietbare Vollendung der Religion sei, ist doch nur dann zu beweisen, wenn man schon zum voraus das allgemeine Wesen der Religion in Absehung auf ihre christliche Endgestalt bestimmt hat. Wir müssen mit be- scheideneren Nachweisen zufrieden sein.

Erstlich können wir in der Tat nur dartun, daß das Christen- tum aller übrigen religiösen Entwickelung im scharfen Gegensatze gegenübersteht. Es ist nicht der Höhepunkt eines kontinuierlichen Fortschrittes, der sich als schließliches Resultat des bisherigen Verlaufes ergibt, sondern steht der Gesamtheit der nicht-christ- lichen Religionen als ein prinzipiell Neues gegenüber. So mannigfach und verschieden jene Religionsbildungen auch sind und so unzweifelhaft ein großer Unterschied in der Reinheit und Tiefe des religiösen Lebens stattfindet, so weit fortgeschritten die Moralisierung dieser von Hause aus ein ethisches Element der Verpflichtung enthaltenden Religionen sein mag und so tief sie sich mit dem ethischen Erwerb des Gemeinschaftslebens verbunden haben mögen, sie behalten doch alle gegenüber dem Christentum einen gemeinsamen Charakterzug, den der Naturreligion. In dieser Beziehung ist es gleichgültig, ob die Naturerscheinungen der physikalischen Welt oder diejenigen der Anthropologie das vor- wiegend die Religion erregende Element sind, ob Mythologie oder Animismus den Ausgangspunkt bilden, ob eine philosophische Vertiefung zum Monismus oder eine ästhetische Humanisierung zum Polytheismus, ob Fetischismus und Zauberwesen oder Staats- kulte und Rechts- und Moralgesetze ihre Form bestimmen, ob sie sich auf Horden und Stämme beschränkt oder einen politisch- religiösen Eroberungszug unternimmt : immer ist die vorgefundene Natur, die Welt wie sie ist und der Mensch wie er ist, ihr Aus- druck und ihr Objekt. Auch wo sie Erlösung sucht, findet sie dieselbe in der Sphäre der Natur; wo sie den Menschen sittlich adelt, adelt sie ihn in seinen natürlichen gesellschaftlichen Be- ziehungen mitsamt seinen gegebenen Verhältnissen. Wo sie sich philosophisch auf ihren letzten Gehalt besinnt, endet sie im Pan- theismus, in dem Menschen und Natur nur die Ausflüsse der Gottheit sind; und wo sie an der Erlösung innerhalb der Natur verzweifelt, führt sie nur aus dem peripherischen Einzelsein in

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dessen Kern, den unbewußten Urgrund der Natur. Beide Ergeb- nisse sind in ihren höchsten Ausläufern, dem Buddhismus und dem Neuplatonismus, in verschiedener, aber in der naturrehgiösen Grundrichtung übereinstimmender Weise ausgebildet worden. Zweifellos liegt diesen Naturreligionen eine Kundgebung und Offenbarung des göttlichen Lebens zugrunde, aber eine Offen- barung, die dem noch nicht von der Natur geschiedenen Wesen des Menschen entspricht und die ebendaher alle Partikularität und Relativität der jeweiligen natürlichen Zustände verewigt und vergöttlicht, die der Trübung und Verweltlichung durch mensch- liche Torheit und Schwäche ungleich mehr und unheilbarer aus- gesetzt ist und es zu einer Universalreligion höchstens in der sich selbst zur Untätigkeit verdammenden quietistischen Mystik bringen kann. Dem gegenüber zeichnet sich das Christentum samt seinem Mutterboden dem hebräischen Prophetismus scharf ab als eine prinzipiell unkosmologische Religion, welche die Welt lediglich hinnimmt als eine Schöpfung des göttlichen Willens, deren innerer Zusammenhang und deren Zweck Gott alleine überlassen bleibt. Gott offenbart sich in der Natur nur als in einem Werke seines Willens, sein wahres Wesen erscheint in der Geschichte und der Lenkung der Völker zu einem höchsten, überweltlichen Ziele. Er ist als Geist und Persönlichkeit scharf unterschieden von der Welt und dementsprechend ist auch das Ideal des ihm wesensver- wandten und zur Gemeinschaft mit ihm bestimmten Menschen streng unterschieden von der Natur und seinem eigenen ersten natürlichen Zustand. An Gott und am Menschen ist das geistig-persönliche Leben des inneren von der Natur unterschiedenen Selbst das Entscheidende. In dieser Sphäre des persönlich-sittlichen Lebens liegen die höchsten Aufgaben und Güter des Christentums, liegt der Sinn und Zweck der Welt, soweit Menschen sich um ihn zu bekümmern haben. Hierin ist die bereits im vorigen Aufsatze geschilderte Ueberweltlichkeit des Christentums begründet, das weder die Natur verstehen lehren, noch unmittelbar soziale Ord- nungen stiften will, sondern zunächst nur mit dem höchsten und letzten Werte der Persönlichkeiten zu tun hat. Hierin ist zugleich seine Bestimmung zur Weltreligion und seine prinzipielle Unab- hängigkeit von allen natürlichen, sozialen und politischen Parti- kularitäten, von der Torheit und Sünde des natürlichen Menschen, seine freudige Energie und sein angreifender Charakter begründet. Diese Gesichtspunkte werden von der Religionswissenschaft heute

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immer schärfer hervorgehoben. Es sei hier nur an die Arbeiten von Wellhausen und Smend zur israelitischen Religionsgeschichte, an die schöne Schrift Kuenens über »Volksreligion und Weltreligion «, sowie an Bernhard Duhms Vortrag über »Kosmologie und Re- ligion« erinnert. Auch Ranke beurteilt von hier aus feinsinnig die Bedeutung des Hebraismus und des Christentums. Das Christen- tum ist im strengen Gegensatz zu all den mannigfaltigen Bildungen der Naturreligion die rein geistig-sittliche Weltreligion, welche die ganze Welt persönlichen, naturüberlegenen Lebens erst geschaffen hat. Hierin tritt seine Einzigartigkeit zutage, wie sie dem Glauben an eine abschließende Offenbarung entspricht; und ver- gegenwärtigen wir uns den Inhalt dieses religiösen Lebens, seine sittlichen Forderungen der Herzensreinheit und Liebe, seine Güter des Friedens und der Gottesgemeinschaft, so werden wir auch jeden Gedanken an eine entwickelnde Ueberbietung für ausge- schlossen halten.

Das zweite ist, daß jede Erforschung der Entstehung des Christentums tief in die Rätsel der übersinnlichen Welt hinein- führt. Es ist freilich nicht zu leugnen, daß das Christentum sich »entwickelt« hat, daß es seinen Mutterboden im prophetischen Hebraismus hat und daß mancherlei andere Einflüsse auf seine Bildung von Einfluß gewesen sind; der Messianismus und der Unsterblichkeitsglaube der nachmakkabäischen Zeit gehören mit zu seinen wesentlichen Wurzeln; der parsistische Dämonen- und Engelglaube, spiritualisierende und humanisierende Einwirkungen des Hellenismus mögen ebenfalls mitgewirkt haben ; seine Kon- sequenzen und sein ganzer Inhalt sind erst in der ersten Genera- tion der Gläubigen herausgetreten und sind fortwährend in immer schärferer Ausprägung und Anwendung begriffen. Aber man mag die Sache ansehen, wie man will, der eigentliche Quellpunkt ist doch immer die wunderbare Persönlichkeit Jesu gewesen. Aber auch hier ist es nicht irgend eine neue Lehre, was als seine Quelle bezeichnet werden kann. Die Predigt Jesu verfährt viel- mehr ganz lose von Fall zu Fall, sie knüpft überall unbefangen an den altisraelitischen Glauben und die prophetische Verkündi- gung sowie an die jüdische Apokalyptik und Moral an, so daß man fast jeden einzelnen Satz irgendwo in der israelitischen und jüdischen Literatur belegen kann. Das Neue liegt in dem An- spruch auf die Vollendung aller bisherigen Gottestaten, in der Gewißheit einer endgültigen Gottesoffenbarung, der Stimmung des

T r o e 1 1 s c h, Gesammelte Schriften II. 21

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Weltendes und des Gerichtes, die mit der Erscheinung des »Mes- sias« verbunden ist, der Unterstellung und Konzentration des Lebens unter diese höchsten und letzten Gesichtspunkte, kurz in dem Ganzen der messianischen Persönlichkeit, in dem tiefen und eigentümlichen Geiste, der die zerstreuten Elemente der bisheri- gen Religion zu einem neuen Ganzen mächtig wirkenden, rein innerlich geistigen Lebens verband und diesem Ganzen durch sein messianisches Bewußtsein um die abschließende Vollendung und das bevorstehende Gericht eine gewaltige Energie und Tiefe verlieh. So liegt gerade in seinem Messianismus als dem Be- wußtsein um die absolute und siegessichere Gottesoffenbarung der eigentliche Schlüssel für die Tiefe und Macht des hier er- schlossenen persönlichen Lebens und für den eigentümlichen, re- ligiös überweltlichen Charakter der hier begründeten Werte des Daseins 1"). Dieser Messianismus aber, dessen jüdische Formen uns oft so merkwürdig berühren, ruht auf einem rein menschli- chen, allen in seiner Einfachheit verständlichen und in seiner Tiefe unerforschlichen Grunde, auf einem eigentümlichen religiö- sen Verhältnis zum Vater, den der Sohn kennet und der sein Vater ist im Unterschiede von dem Verhältnis aller andern zum Vater. Das sind alles nicht Nebendinge und Wunderlichkeiten, welche die Entstehung des Christentums begleiteten , sondern hierin liegt der letzte und schließlich einzige Ouellpunkt des Christentums. Unter diesen Umständen bleibt in der Tat keine

^^) Diese Gesichtspunkte sind ni. E. in den damaligen Verhandlungen über die Eschatologie Jesu viel zu sehr vernachlässigt worden. Durch die Gleichsetzung des »Eschatologischen« mit dem »Jüdischen« ist die ganze Betrachtung unter den schiefen Gesichtspunkt geraten, daß dann das »Originale« und »Bleibende« in der Richtung der innerweltlichen Elemente der Predigt gesucht wurde, oder man hat sich dadurch zu einer höchst irreführenden Preisgebung Jesu an die jüdische poli- tisch-religiöse Schwärmerei bestimmen lassen. Die entscheidenden ethischen und religiösen Gedanken des Evangeliums quellen gerade aus diesen apokalyptisch- idealistischen Gedanken des Gottesreiches. Gerade dadurch wuchsen sie über die bloß immanent-humane Ethik hinaus, und das Problem der späteren Christenheit ist infolgedessen diese der Eschatologie verdankte Vertiefung des Lebens ohne die Erwartung des Weltendes zu behaupten und dementsprechend zu modifizieren. An und für sich genügte hierfür auch die Verkündigung des Gottesreiches durch Jesus. Aber er stellt sich doch zu diesem Gottesreich in einen spezifischen Zusammen- hang. Aus diesem Grunde scheint mir der inzwischen lebhaft gewordene Zweifel daran, daß Jesus sich selbst für den Messias bezeichnet habe, unberechtigt trotz allem Bestechenden, das namentlich in der Ausführung Wredes diese These hat.

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andere Möglichkeit, als religiösen Wahnsinn anzunehmen oder ein uns unerforschliches, in die Formen des jüdischen Messianis- mus sich hüllendes Einströmen der übersinnlichen Welt, eine tat- sächliche, schöpferische und einzigartige Beziehung auf Gott an- zuerkennen. Diese Alternative ist keine künstliche, die man als apologetische Pistole dem Historiker auf die Brust zu setzen such- te, sie ist keine Erfindung der Theologen, welche deshalb, wie einer der modernsten Naturalisten meinte, nur dem raffiniertesten psychologischen Feinschmecker verständlich wären, sie enthält ein unausweichliches, allgemein menschliches Problem, das jeder sich stellen muß, der von der Macht des von Jesus ausgehenden religiösen Lebens irgendwie ergriffen ist.

Die weitere Ausführung der aus diesen Tatbeständen sich ergebenden Voraussetzungen und Folgerungen mag der theolo- gischen Christologie überlassen bleiben. Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, daß auch- innerhalb einer vom Entwickelungsge- danken beherrschten Wissenschaft die Frage nach einer zen- tralen und absoluten Offenbarung Gottes ihren Sinn und ihre Möglich- keit behalten hat. Gerade an diesem Punkte sind freilich die Geister der Gegenwart am wenigsten einig. Um so wichtiger war es auf den inneren Gehalt und die Tragweite des diesem Widerstände zugrunde liegenden Entwickelungsgedankens hinzuweisen und den in seiner wissenschaftlichen Durcharbeitung hervortretenden problematischen Charakter aufzuhellen. Es hat sich dabei gezeigt, wie die gene- tische Methode eine der großen wissenschaftlichen Konzeptionen ist, die an den Tatsachen, aber nicht aus denselben, sondern aus einer ahnungsvollen Vorausnahme ihrer Erklärung durch die Phan- tasie entstanden ist und deren relative Wahrheit sich durch ihre Fruchtbarkeit für das Verständnis des Wirklichen rechtfertigt. Aber zugleich trat zutage, wie der enthusiastische Gebrauch derselben ihre Konsequenzen übertrieben hat und wie die verschiedenen Entwickelungen dieser Konsequenzen sich gegenseitig aufheben. Wir haben zugleich auf die diesem Eifer folgende Reaktion hin- gewiesen, auf die Vorsicht und Skepsis derjenigen, welche in ihrer Wissenschaft wirklich mit dem Werden menschlicher Dinge zu tun haben. So dürfen wir erwarten, daß die Wissenschaft überhaupt, wie auch Eucken fordert, immer allgemeiner auf das Problematische und Unklare dieses Begriffes aufmerksam werde und die Frage nach dem Beharrenden wieder ernster er- wägen werde. Dann wird auch der Offenbarungsanspruch des

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Christentums eine ruhigere Beurteilung finden, als das heute im allgemeinen der Fall ist. Jedenfalls sind die Verhandlungen über ihn noch nicht geschlossen. Denn dieser Anspruch in seiner Verbindung reinster und allgemeinster Menschlichkeit mit tiefster Konzentration auf das Uebersinnliche ist schließlich das Eigen- tümlichste und Wesentlichste am Christentum, von dem aus seine übrigen Eigentümlichkeiten sich erst ergeben und in dem die Wurzel seiner Kraft liegt ^^).

VI.

Die hiermit abgeschlossenen Skizzen umschreiben in kur- zer Zusammenfassung das geistige Schlachtfeld der Gegenwart, auf welchem die großen Weltanschauungen um die Herrschaft über die Gemüter kämpfen. Freilich ist der Kreis , der sich für solche Probleme interessiert , vielleicht nicht allzu groß. Den Männern kirchlicher Macht und Ordnung, den politisch inter- essierten Benutzern kirchlicher Ordnungsmächte, den massiv und leidenschaftlieh Gläubigen und den routinierten Gewohnheits- menschen sind sie gleichgültig. Sie berühren nur unsere religiös ^'^) Diesen damals behaupteten Standpunkt kann ich heute nicht mehr vertreten. Es ist der Standpunkt der Rilschlschen Schule, wie er später von den Ritschli- anern Reischle »Historische und dogmatische Methode der Theologie« (Theol. Rundschau 1900) u. F'ried. Traub, »Die religionsgeschichtliche Methode und die systematische Theologie« (Z.Th.K. 1901) und neuerdings von Mezger »Die Absolut- heit des Christentums und die Religionsgeschichte« 19 12 vertreten und besonders gegen mich geltend gemacht worden ist. Aber ich habe diese Darstellung gelassen, wie sie war, weil sie eine Reihe mir auch heute noch richtig scheinender Sätze enthält und weil sie zeigt, daß es nicht Mangel an Verständnis dieser Position ist, was mich über sie hinausgetrieben hat. Die so behauptete Absolutheit des Christentums ruht auf zu schmalen und zu dünnen Stützen : der Selbstaussage und dem Nachweis, daß der Entwicklungsbegriff als solcher unfähig sei, positive Lebens- inhalte zu begründen. Das letztere ist gewiß wichtig, aber damit sind die feineren Probleme der Entwicklungsidee noch gar nicht gefaßt. Es ist dann eben die Frage, mit welchen Mitteln auch innerhalb solcher unbegrenzter Entwickelung Stellung zu normativen Werten zu gewinnen ist. Das erstere aber ist eint Be- hauptung, die für sich allein ebensowenig beweisen kann wie irgend eine andere Selbstaussage oder irgend ein anderer Anspruch. Auf Skepsis gegen den Ent- wicklungsbegriff, Betonung der Selbstaussagen Jesu und der Kirche, innerer Erfah- rung von dem Recht dieser Selbstaussagen läßt sich kein dem kirchlichen Dogma äquivalenter Offenbarungsglaube begründen. Die Kritik hieran vollziehen teils die folgenden Abhandlungen, teils meine »Absolutheit des Christentums und die Reli- gionsgeschichte« 1901, zweite Auflage 1912.

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suchende Bildungsschicht und insbesondere die Theologen, die durch Gymnasium und Universität in diese Probleme hinein- gestoßen werden. Für diese Kreise aber sind die hier gegebenen Skizzen die Darlegung wesentlicher Lebensfragen, und dadurch berühren sie mittelbar doch auch die Lebensprobleme der ganzen Gesellschaft, für die die Bildungsschicht doch von zentraler Be- deutung in geistiger Hinsicht ist. Sie haben die großen Haupt- stellungen der Gegenwart zu den wissenschaftlichen Grund- problemen gezeichnet und das Verhältnis zu bestimmen versucht, das ihnen gegenüber der christlichen Ideenwelt gegeben werden kann. Sie ist heute tief erschüttert und kämpft um Behauptung und Fortbildung. Der Kampf entspringt nicht bloß aus der Bosheit der natürlichen Vernunft, sondern einfach genug vor allem aus der totalen und allseitigen Veränderung des modernen Denkens seit den letzten zwei Jahrhunderten und dem Gegensatz desselben gegen die Denkweisen und Anschauungen, innerhalb deren das Christentum seiner Zeit entstanden ist und seine kirch- liche Fixierung erhalten hat.

Es ist auffallend, wie regelmäßig man diese sehr einfache und ganz klare Auffassung der Sachlage bei fast allen Schriftstellern und Denkern findet, die sich außerhalb der Theologie mit dieser höchsten Daseinsfrage, der religiösen Frage, beschäftigen, während man in der fachwissenschaftlichen Theologie diese Momente nur beiläufig mit in Anschlag bringt, in der Hauptsache aber doch die ganze Krisis aus dem inneren Entwickelungsgange der Theo- logie selber abzuleiten versucht. Die Bedenkengegen die bisherigen Lehrbildungen sollen alle womöglich von Hause aus schon im Christentum, ja in den Grundlagen der Theologie selbst gelegen haben und die gegenwärtige Krisis soll nur das Durchdringen der »ursprünglichen« und »echten« Tendenzen gegen entwicke- lungsgeschichtlich zu begreifende Verbildungen sein. Ja einer dieser Theologen leitet die ganze Krisis gar aus dem Uebergang der Theologie von der lateinischen Kirchensprache zu den Na- tionalsprachen her, welche noch keine sicher geprägten Begriffe bereit gehabt und dadurch die Verwirrung hervorgerufen hätten! Der Grund dieses Bestrebens ist klar, es soll einmal die Konti- nuität der Entwickelung festgehalten werden und es sollen die Heilmittel aus den Begriffen der bisherigen Theologie selbst ge- wonnen werden und nicht in einem Zugeständnis an den verän- derten wissenschaftlichen Geist. Wenigstens scheut man sich

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dieses Zugeständnis offen und prinzipiell zu machen. Das Recht und die Zweckmäßigkeit dieses Verfahrens für die fachwissen- schaftliche Unterweisung soll nicht bestritten werden, für eine kirchliche Theologie mag es in der Tat unumgänglich sein. Un- sere nächsten praktischen Aufgaben nötigen uns, in der eigent- lichen Theologie vor allem die Kontinuität und den Anschluß an die offizielle und kirchenrechtlich geltende Lehrsubstanz zu suchen.

Doch ist es zuweilen nützlich, hinter diese Fiktion zurück- zugehen und sich daran zu erinnern, daß der eigentliche Kampf nicht innerhalb der engen Mauern der Theologie, sondern auf dem großen freien Felde des allgemeinen wissenschaftlichen Denkens sich abspielt. Nur wenn wir einen ruhigen Ueberblick über die in diesem Kampfe ringenden Mächte, über deren Her- kunft und Kraft besitzen, nur wenn wir auf Grund dieser Muste- rung eine gewisse sichere Ueberzeugung über den Verlauf des- selben gewonnen haben, vermögen wir die Zuversicht zu unserer Arbeit und unserer persönlichen Stellung zu gewinnen oder zu behaupten, welche uns in der Enge der theologischen Fachwissen- schaft oft zu entschwinden droht, und über deren Verlust auch der Beifall der nächsten Parteigemeinschaft nicht hinwegzuhelfen vermag.

Unsere Musterung hat, wie ich glaube, uns einen derartigen Dienst getan. Sie zeigt uns das christliche Prinzip im Kampfe und in der Auseinandersetzung mit den aus der modernen euro- päischen Wissenschaft hervorgegangenen, neuen wissenschaftlichen Grundbegriffen und mit den daher bedingten großen Stimmungs- und Gefühlsstrebungen. Sie nötigt uns hierbei freilich überall zu der Anerkennung, daß eine gründliche Umbildung der Theo- logie unvermeidlich ist und daß der längst eröffnete Krankheits- prozeß, der unsere Kirchen zersetzt, noch lange nicht am Ende ist. Aber auf der andern Seite gibt sie uns die Gewißheit, daß wir nicht mit einem nur von subjektiver Bedürftigkeit und An- hänglichkeit festgehaltenen Gute in einer völlig verwandelten gei- stigen Welt stehen, sondern daß bei aller Erweiterung des Den- kens und Lebens die alten Fragen nach den höchsten und letzten Gütern persönlichen Lebens ihre volle Bedeutung behalten haben. Die christliche Weltanschauung bleibt nach wie vor die an Kraft und Tiefe unübertroffene Antwort auf diese Fragen, und daß diese Antwort unmöglich geworden sei, wagt nur die Kurzsich-

Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen. ^27

ligkeit zu behaupten. Die Entwürfe der Zukunftsreligion, die man uns vorgehalten hat, schwanken stets zwischen poetisierender Mystik, in deren Unbestimmtheit alles sittHch-persönliche Leben untergeht, und metaphysischen Phantasien, zu denen man nicht beten kann. So glauben wir denn mit gutem Grund, daß das Christentum bis heute und für immer die Wahrheit ist, die uns frei macht von dem Leid der Welt und der Not der Sünde.

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Christentum und Religionsgeschichte.

(Aus: Preußische Jahrbücher, 1897.)

Der allgemeinste, jedem erkennbare und sich aufdrängende Charakter der religiösen Lage ist der einer Zersetzung der kirch- Hchen Religion, die trotz aller gelegentlich sehr tief einschneiden- den äußeren Herrschaft in ihrem inneren Gefüge sich bedenklich gelockert hat und das innere Leben der geistig vorwärts streben- den Kreise nicht mehr beherrscht. Das Maß subjektiver Frömmig- keit und religiösen Bedürfens ist vermutlich heute nicht viel geringer als jemals sonst. Es sind nur die äußeren Zwangsmittel und die allgemeine Kirchlichkeit weggefallen, die in den Zeiten stärkerer äußerer Herrschaft der Kirchen und strenger theologischer Ge- bundenheit der Wissenschaft den Schein allgemeiner Gläubigkeit hervorriefen. Wo früher lediglich gleichgültige Unterwerfung oder gemütloser Gewohnheitsglaube stattgefunden hat, da finden wir heute offenen Gegensatz und bewußte Emanzipation oder den gleichen Gewohnheitsglauben an religionsfeindliche Theorien oder die gleiche, nur jetzt prinzipiell gewordene und sich inter- essant oder fortgeschritten dünkende Indifferenz. Der wich- tige Unterschied liegt vielmehr in der Erschütterung des Glaubens auch bei den Gläubigen und Glauben-wollenden selbst, in dem auflösenden Kampfe großer neuer wissenschaftlicher Er- kenntnisse und Methoden gegen die Grundbegriffe und Darlegungs- methoden des bisherigen christlichen Glaubens. Freilich gehen die beirrenden Wirkungen keineswegs bloß von der Wissenschaft aus, sondern ebensosehr von ethischen oder öfter noch unethi- schen Gegenwirkungen gegen die bisherige Moral, von dem Hasten und Treiben einer rein innerweltlich gerichteten Kulturseligkeit, innerhalb deren dem Glauben die stärkende Resonanz im Gesamt- bewußtsein und in einer allgemein verehrten väterlichen Ueber- lieferung fehlt. Aber trotzdem sind bei allen ernsteren und tie- feren Gemütern die Einwirkungen der Wissenschaft die eigent-

Christentum und Religionsgeschichte. '^20

liehen Gründe der unsicheren Lage, wenigstens soweit der Pro- testantismus in Frage kommt. Seit in der Aufklärungsepoche eine völlig neue Grundlegung des wissenschaftlichen Denkens und damit eine neue Gestalt der europäischen Kultur geschaffen wor- den ist, hat der Protestantismus , teils vermöge inneren Ent- gegenkommens, teils infolge seiner geringeren kirchlichen Geschlossenheit einen unauflöslichen Bund mit der Wissenschaft geschlossen, der ihn in ein beständig hin- und herwogendes Ringen mit ihr verflochten hat, wo bald die Einwirkung der neuen Wissenschaft, bald die der Ueberlieferung überwiegt. Der Katho- lizismus hat nach vorübergehenden Beirrungen die neue Wissen- schaft innerhalb seines Machtbereiches vernichtet, und, da auch er natürlich seinen Kompromiß mit der neuen Welt schließen mußte, hat er ihn nicht mit der Wissenschaft, sondern mit den politischen, rechtlichen und sozialen Strömungen der neuen Zeit^ mit den Mächten des allgemeinen Stimmrechtes geschlossen, wäh- rend er unter der Bedingung runder Anerkennung seines Bestan- des den Gebildeten eine sehr verschiedenartige Privatstellung zu seinen Glaubenslehren überläßt. Sein Schicksal hängt in erster Linie an der Entwickelung der Konsequenzen, welche seine in unserem Jahrhundert eingeschlagene Politik aus sich hervortreiben wird. Dagegen hängt das Schicksal des Protestantismus in erster Linie an der Entwicklung der Wirkungen, die sein im achtzehnten Jahrhundert mit der Wissenschaft eingegangenes Bündnis ent- faltet hat und noch entfalten wird. Dabei darf aber nicht ver- gessen werden, daß das Interesse an der religösen Lage heute keineswegs sich deckt mit dem an dem Schicksal der beiden Konfessionen. Wenn auch vorwiegend vom Protestantismus aus- gehend und nur durch ihn möglich, hat sich doch ein weiter Umkreis solcher gebildet, die, weniger irreligiös als unkirchlich, die religiöse Frage rein sachlich in ihrem Verhältnis zu den wissen- schaftlichen Problemen untersuchen und von einem konfessionell völlig neutralen Standpunkte aus die Lage zu entwirren und so- weit möglich zu klären versuchen. Auch wer wie ich fest über- zeugt ist, daß eine Gesundung der religiösen Verhältnisse end- gültig nur von dem Boden der kirchlichen Gemeinschaften aus zu erreichen ist, muß doch zugestehen, daß gegenwärtig der Schwer- punkt aller Verhandlungen über die Religion bei dieser Gruppe liegt und nicht in der zünftigen Theologie. Wer Klarheit über die Lage haben will, muß sie von hier aus suchen. In diesem

rs'Jo Christentum und Religionsgeschichte.

Sinne einer ganz unzünftigen Betrachtung sollen die folgenden Zeilen die Lage von einer Seite beleuchten, deren Wichtigkeit mit jedem Jahre deutlicher werden wird.

Der Grund der kritischen Erschütterung ist nicht die neue mit der Aufklärung entsprungene Spekulation, die an Stelle der aus neuplatonischen, aristotelischen und biblischen Elementen er- bauten Philosophie der Kirche eine neue, die antike Ueberlieferung selbständig aufnehmende und zugleich die Anfänge einer prin- zipiell modernen Natur- und Geschichtswissenschaft verarbeitende Metaphysik setzte. Spekulation und Theologie sind wesensver- wandt. Beide entspringen aus dem Zuge des menschlichen We- sens zum Unendlichen und Uebersinnlichen, das die eine wissen- schaftlich, die andere religiös zu erfassen versucht. Wo ein all- gemeiner Sinn für Spekulaton vorhanden ist, da versteht man, was die Theologie will, und wo ein starkes religiöses Bedürfnis in den Menschen steckt, da ist auch der stärkste Antrieb zur Speku- lation. So sehr beide in ihren Ergebnissen sich entzweien mögen und das namentlich seit der Aufklärung, wo die Spekulation ganz neue, der Antike und der Bibel unbekannte Elemente aufnahm, auch getan haben, so finden sie sich doch immer wieder und verstärken sie sich gegenseitig. Eben weil aus der bisherigen Ueberlieferung das religiöse Interesse als das beherrschende nach- wirkte, hat die Aufklärung mit einer neuen Spekulation eingesetzt, und eben weil Spekulation und Theologie bei allem Gegensatze wahlverwandt sind, hat sie auch zu Friedensschlüssen und Kom- promissen zwischen beiden geführt, die vielen der Besten im achtzehnten Jahrhundert als eine dauernde Lösung des von der Zeit gestellten Problems und als der Beginn einer herrlichen Periode erschienen. Das Zeitalter Schleiermachers und Hegels schien die- sen Friedensschluß nur zu vertiefen und auf eine prinzipiellere Basis zu stellen. Der Hauptertrag der neuen Spekulation, die metaphysische Immanenzierung des Verhältnisses von Gott und Welt und die ethische Ausbreitung des geistigen Gehaltes über den Gesamtumfang des innerweltlichen Lebens, schien neben an- tiken doch auch christlichen Einflüssen sein Wesen zu verdanken und von dem christlichen Prinzip leicht assimiliert werden zu können. Ein glänzendes Feld neuer theologischer und philoso- phischer Untersuchungen schien sich zu eröffnen, an denen, wie die Biographien aus jener Zeit zeigen, Männer aller Berufsarten lebhaften Anteil nahmen.

Christentum und Religionss;eschichte.

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Dieser Friede und dieses Interesse sind längst verschwunden, teils weil die Kirche und VolksreHgion sich einen solchen, im Grunde doch sehr tief einschneidenden Kompromiß nicht gefallen lassen wollte und sich lieber vom wissenschaftlichen Leben iso- lierte, teils aber und vor allem, weil die Spekulation gesprengt wurde von dem selbständigen Wachstum der Elemente, die sie zuerst noch unter sich zu befassen und sich dienstbar zu machen gewußt hatte. Die beiden neuen Schöpfungen der Aufklärung, die mathematisch-mechanische Naturwissenschaft und die kritisch ver- gleichende Geschichtswissenschaft, befreiten sich und erlebten eine ganz außerordentliche, alle Tätigkeit und alles Interesse aufzeh- rende Ausbreitung. Beiden gegenüber konnte die bisherige Spe- kulation sich nicht mehr behaupten. Die Folge davon war, daß in der ohnedies von der erneuerten Orthodoxie abgestoßenen Bildung mit der Spekulation sich auch der Sinn für das von der Religion erlebte und gel-ehrte Uebersinnliche verlor und ein völlig empirisch geschultes Denken sich ihren Problemen überhaupt nicht mehr zu nähern wußte. Noch wichtiger aber war die an- dere Folge, daß jene beiden Wissenschaften eine ungeheure Ver- änderung des Welt- und Geschichtsbildes herbeiführten, die auf Schritt und Tritt die religiösen Begriffe von Gott und Seele zer- stören zu müssen schien und zu gleicher Zeit die geschichtlichen Grundlagen unterwühlte, auf denen die bisherige Anschauung des Christentums von sich selbst beruht hatte. Der Kampf, der so entbrannte, ist viel heftiger und gefährlicher als der mit einer feindlichen, aber doch immer verwandten Spekulation. Es ist der Kampf mit einer veränderten, alle Lebensgebiete durchdrin- genden Kenntnis und Auffassung der Tatsachen. Die von der Lage geforderte Auseinandersetzung ist eine solche mit ihnen. Die Spekulation kommt erst in zweiter Linie.

Von den beiden neuen Wissenschaften erscheint vielen die Naturwissenschaft als der eigentliche Gegner, sie jubeln oder kla- gen über ihre den Glauben täglich mehr zurückdrängenden Tri- umphe. Das ist aber eine der großen Täuschungen, wie sie un- erwartete Erfolge zu begleiten pflegt, die Verallgemeinerung und Uebertragung von Erkenntnissen und Methoden, die auf ihrem Gebiete eine allerdings großartige Leistungsfähigkeit bewährt ha- ben. Zwar hat die von der Naturwissenschaft aufgewiesene Ei- gengesetzlichkeit und Regelmäßigkeit des Naturwirkens die alten anthropomorphen Vorstellungen von dem göttlichen Wirken un-

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Christentum und Religionsgeschichte.

Sinne einer ganz unzünftigen Betrachtung sollen die folgenden Zeilen die Lage von einer Seite beleuchten, deren Wichtigkeit mit jedem Jahre deutlicher werden wird.

Der Grund der kritischen Erschütterung ist nicht die neue mit der Aufklärung entsprungene Spekulation, die an Stelle der aus neuplatonischen, aristotelischen und biblischen Elementen er- bauten Philosophie der Kirche eine neue, die antike Ueberlieferung selbständig aufnehmende und zugleich die Anfänge einer prin- zipiell modernen Natur- und Geschichtswissenschaft verarbeitende Metaphysik setzte. Spekulation und Theologie sind wesensver- wandt. Beide entspringen aus dem Zuge des menschlichen We- sens zum Unendlichen und Uebersinnlichen, das die eine wissen- schaftlich, die andere religiös zu erfassen versucht. Wo ein all- gemeiner Sinn für Spekulaton vorhanden ist, da versteht man, was die Theologie will, und wo ein starkes religiöses Bedürfnis in den Menschen steckt, da ist auch der stärkste Antrieb zur Speku- lation. So sehr beide in ihren Ergebnissen sich entzweien mögen und das namentlich seit der Aufklärung, wo die Spekulation ganz neue, der Antike und der Bibel unbekannte Elemente aufnahm, auch getan haben, so finden sie sich doch immer wieder und verstärken sie sich gegenseitig. Eben weil aus der bisherigen Ueberlieferung das religiöse Interesse als das beherrschende nach- wirkte, hat die Aufklärung mit einer neuen Spekulation eingesetzt, und eben weil Spekulation und Theologie bei allem Gegensatze wahlverwandt sind, hat sie auch zu Friedensschlüssen und Kom- promissen zwischen beiden geführt, die vielen der Besten im achtzehnten Jahrhundert als eine dauernde Lösung des von der Zeit gestellten Problems und als der Beginn einer herrlichen Periode erschienen. Das Zeitalter Schleiermachers und Hegels schien die- sen Friedensschluß nur zu vertiefen und auf eine prinzipiellere Basis zu stellen. Der Hauptertrag der neuen Spekulation, die metaphysische Immanenzierung des Verhältnisses von Gott und Welt und die ethische Ausbreitung des geistigen Gehaltes über den Gesamtumfang des innerweltlichen Lebens, schien neben an- tiken doch auch christlichen Einflüssen sein Wesen zu verdanken und von dem christlichen Prinzip leicht assimiliert werden zu können. Ein glänzendes Feld neuer theologischer und philoso- phischer Untersuchungen schien sich zu eröffnen, an denen, wie die Biographien aus jener Zeit zeigen, Männer aller Berufsarten lebhaften Anteil nahmen.

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Christentum und Religionssreschichte.

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Dieser Friede und dieses Interesse sind längst verschwunden, teils weil die Kirche und Volksreligion sich einen solchen, im Grunde doch sehr tief einschneidenden Kompromiß nicht gefallen lassen wollte und sich lieber vom wissenschaftlichen Leben iso- lierte, teils aber und vor allem, weil die Spekulation gesprengt wurde von dem selbständigen Wachstum der Elemente, die sie zuerst noch unter sich zu befassen und sich dienstbar zu machen gewußt hatte. Die beiden neuen Schöpfungen der Aufklärung, die mathematisch-mechanische Naturwissenschaft und die kritisch ver- gleichende Geschichtswissenschaft, befreiten sich und erlebten eine ganz außerordentliche, alle Tätigkeit und alles Interesse aufzeh- rende Ausbreitung. Beiden gegenüber konnte die bisherige Spe- kulation sich nicht mehr behaupten. Die Folge davon war, daß in der ohnedies von der erneuerten Orthodoxie abgestoßenen Bildung mit der Spekulation sich auch der Sinn für das von der Religion erlebte und gelehrte Uebersinnliche verlor und ein völlig empirisch geschultes Denken sich ihren Problemen überhaupt nicht mehr zu nähern wußte. Noch wichtiger aber war die an- dere Folge, daß jene beiden Wissenschaften eine ungeheure Ver- änderung des Welt- und Geschichtsbildes herbeiführten, die auf Schritt und Tritt die religiösen Begriffe von Gott und Seele zer- stören zu müssen schien und zu gleicher Zeit die geschichtlichen Grundlagen unterwühlte, auf denen die bisherige Anschauung des Christentums von sich selbst beruht hatte. Der Kampf, der so entbrannte, ist viel heftiger und gefährlicher als der mit einer feindlichen, aber doch immer verwandten Spekulation. Es ist der Kampf mit einer veränderten, alle Lebensgebiete durchdrin- genden Kenntnis und Auffassung der Tatsachen. Die von der Lage geforderte Auseinandersetzung ist eine solche mit ihnen. Die Spekulation kommt erst in zweiter Linie.

Von den beiden neuen Wissenschaften erscheint vielen die Naturwissenschaft als der eigentliche Gegner, sie jubeln oder kla- gen über ihre den Glauben täglich mehr zurückdrängenden Tri- umphe. Das ist aber eine der großen Täuschungen, wie sie un- erwartete Erfolge zu begleiten pflegt, die Verallgemeinerung und Uebertragung von Erkenntnissen und Methoden, die auf ihrem Gebiete eine allerdings großartige Leistungsfähigkeit bewährt ha- ben. Zwar hat die von der Naturwissenschaft aufgewiesene Ei- gengesetzlichkeit und Regelmäßigkeit des Naturwirkens die alten anthropomorphen Vorstellungen von dem göttlichen Wirken un-

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'i'7 2 Christentum und Religionsgeschichte.

möglich gemacht. Aber diese VorsteHungen sind auch schon aus anderen und zum Teil gerade aus religiösen Gründen er- schüttert und können einer vertieften Fassung des Gottesbegrififes weichen. Zugleich haben die Versuche, das geistige Leben den Naturgesetzen zu unterwerfen, nur gezeigt, daß jenes ebenfalls seine eigene, aber ganz andersartige, mit der der Natur gar nicht zusammenfallende Gesetzlichkeit und Wirkungsweise hat. Zwar hat die Naturwissenschaft ferner den Eindruck verstärkt, daß die Natur unfühlend nur nach ihren eigenen Gesetzen verfährt und um das geistige Leben, seine Zwecke und Güter sich nichts kümmert, daß sie launisch es bald fördernd vorzubereiten und zu begünstigen, bald aber auch wieder es brutal zu vernichten scheint. Aber dieser Eindruck ist uralt und gerade an ihm vor allem be- lebt sich die religiöse Sehnsucht, sich in dem tiefsten Lebens- grunde des Geistes festzuwurzeln, um von jenen großen Rätseln nicht erdrückt und gegenüber der bloßen Natur frei zu werden. Zugleich hat doch auch jede ernstere Forschung gezeigt, daß so sehr man alle Zusammenhänge als rein mechanische auffassen möge und so sehr jede Abwandelung und Abbiegung für willkür- liche Einzelzwecke ausgeschlossen ist, doch in den Formen die- ses Zusammenhanges organisirende Ideen wirksam sind, daß we- nigstens im organischen Leben der mechanische Zufall nichts er- klärt, daß alle naturgesetzliche Erklärung doch nur das aus der Erfahrung herausgenommene Element allgemeiner Regelmäßig- keiten, aber nicht diese selbst in ihrer konkreten Wirklichkeit be- trifft. Was die wirkliche Welt darbietet, ist in Wahrheit ein Dua- lismus von Vernünftigem und Wertvollem auf der einen, von Un- vernünftigem und rein Tatsächlichem auf der anderen Seite. Die allgemeinen Gesetze und die sinnvollen Inhalte liegen ineinander. Die ersten überziehen alle Wirklichkeit mit einem orientieren- den Netze ihrer Richtlinien, die zweiten sitzen in den Maschen dieses Netzes. Daß eines von beiden Schein oder doch eines allein das wahrhaft Herrschende sei, läßt sich nicht beweisen. Es ist und bleibt immer ein Glaube, sich so oder so zu entschei- den. Daß aber derjenige Glaube, der Natur und Materie alles sein läßt und aus ihr alles andere ableitet, ein unmöglicher ist, zeigt die tatsächUche Selbständigkeit der geistigen Welt. Das allein, ob die geistige Welt mit ihrem Sollen und ihren Kulturwerten der Natur gegenüber etwas Selbständiges und Eigenkräftiges sei, ist daher die Frage, die wir gegenüber der Naturwissenschaft zu

Christentum und Religionsgeschichte. ^^■7

stellen haben, während wir sie im übrigen ruhig ihre Wege gehen lassen können, die doch kein Bearbeiter der Geisteswissenschaf- ten überschauen kann. Die Antwort aller wirklich bedeutenden Forscher hierauf ist eine bejahende, wie verschieden auch ihre ge- naueren Anschauungen über das Verhältnis sein mögen. Für die Naturforschung selbst drängen sich die spezielleren Probleme zusammen in die Fragen nach dem Verhältnis von Gehirn und Seele und nach dem Vorhandensein organisierender teleologischer Ideen in der Naturentwicklung, die die Natur als eine wenigstens im Allgemeinen den Zwecken des Geistes dienende erweisen. Beide Probleme sind nur von Naturforschern und Philosophen vereint zu lösen und, wie jedermann weiß, heute noch ganz außer- ordentlich umstritten. Der Historiker und Erforscher des geisti- gen Lebens aber braucht diese Lösungen nicht abzuwarten. Für ihn steht nicht bloß fest, was gegenwärtig ein Gemeingut gegen- über jeder Art von Materialismus ist, daß nämlich der Geist eine aus der Natur unableitbare selbständige Kraft ist, sondern auch der wichtigere Satz, daß diese selbständige Potenz ihre Eigenkraft nicht lediglich in einer formalen Anpassung an die Natur betä- tigt, vielmehr von Hause aus in sich auch selbständige geistige Inhalte, Anlagen und Triebe enthält, aus denen in Wechselwir- kung mit den Anforderungen der sinnlichen Wirklichkeit die reiche Welt der Geschichte entsteht. Auf seinem Gebiet tritt ihm die dem Naturforscher weniger vertraute Selbständigkeit, Eigengesetz- lichkeit und Schöpferkraft der geistigen Entwickelung in Religion, Moral und Kultur so deutlich entgegen, daß er sich diesem Ge- biete als einem mindestens relativ selbständigen zuwenden kann und seine Probleme als solche der geistigen Welt behandeln darf. Hier auf diesem unserem eigenen Gebiete liegt aber auch erst der eigentliche Schwerpunkt der religiösen Frage. Wie die Religion ein Bestandteil des geschichtlichen Lebens ist, so liegen die Hauptfragen auf dem geschichtlichen Gebiete. Die moderne Geschichtswissenschaft, die über früher ungekannte Zeiten und Breiten sich erstreckt, hat auch den christlichen Glauben vor ganz neue Probleme gestellt, und die Entstehung einer ver- gleichenden Religionsgeschichte ist es, die ihn im Grunde am tiefsten erschüttert hat. Bis zum 18. Jahrhundert kannte die Theologie und die Wissenschaft überhaupt mit geringen und ein- flußlosen Ausnahmen nur die streng supranaturalistische Voraus- setzung der christlichen Welt, daß das Christentum auf einer

'i-iA Christentum und Religionsgeschichte.

Übernatürlich mitgeteilten und durch naturdurchbrechende Wunder legitimierten Offenbarung beruhe. Nur über deren Auslegung, nicht über ihre Tatsächlichkeit, verbreitete sich das wissenschaft- liche Denken. Von nicht-christlichen, konkurrierenden Erschei- nungen kannte man nur die griechisch-römische Mythologie und den Islam. Die erste aber betrachtete man als sündhafte Ver- derbung der Reste paradiesischer Erkenntnis, den anderen als eine Ketzerei des Christentums. Ihre Wunder waren wie die der Ketzer Aeffungen des Teufels. Der Gottesglaube der griechischen Philosophie dagegen bedeutete keine Konkurrenz mit der christ- lichen Offenbarung, sondern stellte den Ertrag »des natürlichen Denkens« dar, das normale und kanonische Erzeugnis des lumen naturale, das sich zur Offenbarung als mehr oder minder freund- lich gewürdigte Analogie und Vorstufe verhielt und das man zur Definierung und Darstellung des Offenbarungsinhaltes selbst nicht entbehren konnte. Diese enge und kleine Welt einfacher^ selbst- verständlicher, historischer Voraussetzungen wurde vom i8. Jahr- hundert zerstört. Zwar war es zuerst die neue Naturwissenschaft und Metaphysik, die das Wunder und den Supranaturalismus in Frage stellte, aber bald ging in immer höherem Maße diese Wirkung von der historischen Forschung aus. Neben das Christentum, die Antike und den Islam stellten sich die anderen großen Re- ligionen der alten Welt mit ihren analogen theologischen Lehren, außerhalb der christlichen Welt eröffnete sich eine unermeßliche »heidnische« Welt in den neu dem Verkehr erschlossenen und von vielbewunderten Reisebeschreibungen dargestellten Erdteilen. Dadurch wurden die analogen Wunder und Uebernatürlichkeiten der jüdischen und christlichen Geschichte und die angebliche Einzigartigkeit des Kirchentums doppelt zweifelhaft. Voltaire und Montesquieu liebten es, durch solche Parallelen christlicher und heidnischer Religion zu wirken. Die Anwendung der neuen pragmatischen und kritischen Methoden, vom Deismus vorbereitet und von den deutschen Theologen des i8. Jahrhunderts energisch vertieft, zeigte an der eigenen Geschichte des Christentums seine Wandelbarkeit, zerstörte die katholische Fiktion, als stelle die Kirche die einfache Fortsetzung des Urchristentums dar, nicht minder als die protestantische, nach der die Reformation die Wiederherstellung desselben sei. Alle Fragestellungen der bis- herigen konfessionellen Geschichtsanschauung wurden aufgehoben und durch neue, die Offenbarungs- und Kirchengeschichte in den

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allgemeinen historischen Pragmatismus hineinziehende ersetzt. Was das i8. Jahrhundert immer noch zögernd und in allem eine unwandelbare Vernunftwahrheit suchend, in aller Religion, be- sonders aber im Christentum, die »natürliche Religion« verehrend begonnen hatte, das setzte das 19. Jahrhundert mit wachsendem. Erfolge und in ganz unermeßlicher Verbreiterung fort. Es hat das Leben der Menschheit in einen rastlosen Strom geschicht- lichen Werdens, beständiger Wandelungen aufgelöst, indem es das uns zugängliche Bruchstück desselben in seiner inneren Be- wegung aufzeigte und für die uns unbekannten Teile, die vor und nach diesem Bruchstücke liegen, der Phantasie das Bild endlos- flutender Veränderungen aufrollte. Vor allem aber bildete es für die einzelnen Gebiete wie für die Gesamtbetrachtung der Geschichte konkrete, philologisch-historische Methoden aus, an Stelle der pragmatischen die genetische Methode, die auf der Voraussetzung" einer kontinuierlichen und. gleichartigen Entwickelung des geistigen Lebens beruht, die Gesetze der Traditionsbildung bei den alten Völkern untersucht und gerade hier zeigt, wie sich aus diesen,, jede Entwickelung und natürliche Bedingtheit verwischenden Tra- ditionen der wirkliche Gang der Dinge deutlich rekonstruieren läßt. In jenem gewaltigen Strome schienen auch die kleinen und großen Religionen, zu denen mit dem Beginn unseres Jahrhunderts auch die neu entdeckte indische Religion samt ihren Nachbar- religionen hinzutrat, nur auf- und niederbrausende Wellen zu sein, endlos verschieden und ohne Bestand. Denn aus der neuen philologischen Methode ging naturgemäß auch eine ganz neue Erforschung der antiken Religionen hervor. Bilden doch die »Religionsaltertümer« in ihrer engen Verbindung mit Recht, Politik, Gesellschaftsgliederung, Kunst und Wissenschaft der alten Völker den Hauptstock der Ueberlieferungen. Mythen und Tra- ditionen, Kulte und religiöse Gesetze wurden nunmehr in ihrem natürlichen Zusammenhang mit dem Gesamtleben erkannt. Dazu kamen schließlich die Forschungen der Ethnologen und Anthro- pologen über die »geschichtslosen« Völker, welche bei diesen eine große Anzahl von Zügen aufwiesen, die sich mit den ältesten Spuren kultureller und religiöser Entwickelung jener Kulturvölker nahe berühren und ein ganz neues Licht auf deren Anfänge warfen. So hat sich aus dem Zusammenwirken von Altertums- forschung, orientalischer Philologie und Ethnologie eine große neue Disziplin, die Religionsgeschichte, erhoben, die zwar noch

•3-35 Christentum und Religionsgeschichte.

sehr unfertig und sehr ungleichmäßig bearbeitet ist, von der aber bereits jetzt direkt und indirekt die stärksten Wirkungen aus- gehen, Ihre Methoden sind tief in die Erforschung der israeliti- schen und christlichen Religion eingedrungen. Niemand be- zweifelte ihre glänzende Wirkung auf dem profanen und außer- christlichen Gebiete, und als man sie grundsätzlich auf das Ganze der christlichen Tradition anwandte, zeigte sich, daß dieser Schlüssel, der überall öffnete, auch hier in das Schlüsselloch paßte. Die Geschichte des Christentums war damit unwiderruf- lich der allgemeinen Religionsgeschichte eingegliedert, so sehr man sich das auch an den wichtigsten Punkten wieder auszureden suchte. Von der anderen Seite nötigte aber auch die prinzipielle Untersuchung über Wesen und Wahrheit religiöser Erkenntnisse, die geschichtliche Mannigfaltigkeit der Religionen im allgemeinen ins Auge zu fassen, Der historisierende Geist des modernen Denkens hat Philosophen wie Theologen auf allen Gebieten zu geschichtlichen Betrachtungen gezwungen und das frühere, einfacher verfahrende, rein logisch-spekulative Verfahren beseitigt. So hat sich von allen Seiten der Ring religionsgeschichtHcher Betrachtung um das Christentum geschlossen.

Die Wirkungen von alledem liegen auf der Hand, sie sind aber bedeutender, als man zunächst annahm und als man noch jetzt oft annimmt. Die nächste Folge war, daß alle Uebernatürlichkeiten und besonderen jüdisch-christlichen Kausalitäten aus der Auffassung der Geschichte des Christentums verschwanden und diese Geschichte .bei voller Festhaltung ihrer bisherigen Bedeutung doch nach der Analogie anderer UeberUeferung untersucht wurde. Damit fiel aber die das Christentum von aller andern Religion unterscheidende übernatürliche Grundlegung dahin, seine Urgeschichte war nur mehr seine Quelle, nicht mehr sein Beweis. Seine geschichtlichen Fundamente, die für seine bisherige Anschauung von sich selbst die beherrschende Rolle gespielt hatten, gerieten ins Wanken und damit veränderte sich sein ganzes bisheriges Wesen. Aber da- durch war im Grunde nicht bloß seine Uebernatürlichkeit, sondern, wie sich bald zeigte, auch seine Einzigartigkeit und sein ausschließ- licher Wahrheitswert bedroht. Es war nur eine der großen Weit- religionen neben Islam und Buddhismus, wie diese aus einer langen Vorgeschichte sich entwickelnd und den Abschluß weitverzweigter geschichtlicher Bildungen vollziehend. Wo blieb da seine Allein- wahrheit oder auch nur sein beherrschender Vorzug, wo blieb da

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vor allem der Glaube an die ausschließliche und alleinige Offen- barung? Die Frage nach der Aechtheit der Ringe wurde noch viel ernster als sie bei Lessings Vernunftreligion gewesen war. Aber die Konsequenz geht noch weiter. Nicht bloß die Geltung und Wahrheit des Christentums, sondern auch die der Religion überhaupt als eines selbständigen und eigentümlichen Lebens- gebietes wird von diesem Strudel geschichtlicher Mannigfaltig- keit fortgerissen. Wie kann überhaupt eine Wahrheit in dem religiösen Gottesglauben sein, der in tausend verschiedenen, deutlich von Lage und Verhältnissen abhängigen Formen sich kundgibt und der auf Offenbarungen zurückgeht, die sich alle für unfehlbar und allgemeingültig oder doch mindestens für ein un- mittelbar übernatürliches Werk der Gottheit ausgeben und zugleich sich vollständig widersprechen.?" Wie kann es bei der unüber- sehbaren Vielheit und den tiefen Unterschieden der Religionen überhaupt noch Religion geben, wenn Religion in Wahrheit Gemeinschaft mit der Gottheit bedeuten soll ? Oder muß es dann nicht wenigstens mit dem bekannten Worte Schillers heißen ?

»Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,

Die Du mir nennst. Und warum keine? Aus Religion.«

Oder mit dem freilich nicht seine ganze und eigentliche An- schauung ausdrückenden Worte Goethes.^

»Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,

Der hat auch Religion.

Wer jene beiden nicht besitzt.

Der habe Religion.«

Es ist eine Geschichte des Wahns und des Aberglaubens, im besten Falle die rohe Vorstufe und der populäre Ersatz der Phi- losophie und Kunst, rein aus menschlichem Denken und Irren ent- sprungen, und nicht ein Werk der Gottheit, wenigstens nicht mehr und nicht anders als irgend ein anderes Geschehen, da die Gott- heit sich mit sich selbst nicht entzweien kann. Aber damit gehen dann freilich die Fragen wieder von vorne an : warum dann diese ungeheuren Umwege durch die Religionen zur Wahrheit der Phi- losophie und Kunst, warum die Notwendigkeit eines populären Ersatzes ? woher die rätselhafte Selbständigkeit und Eigenkraft der Religionen, die bald mit Kunst und Wissenschaft sich vertragen und sie zu höchsten Leistungen inspirieren, bald sie in ihrer Blüte vernichten und sich an ihre Stelle setzen? wozu der eigentümliche, nirgends sonst erlebte und in Kunst und Wissenschaft aus der

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 22

2 2S Christentum und Religionsgeschichte.

Religion nur entlehnte innere Gehalt zwingender, lebendiger Be- ziehungen zur Gottheit ?

Hier liegen in der Tat die eigentlichen Probleme für den, der eingesehen hat, daß die Naturwissenschaft über Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Religion nichts oder doch nur die allge- meinsten Vorfragen entscheiden kann. Sie bilden auch den tief- sten Grund der gegenwärtigen Krisis, wenn auch die Durchschnitts- bildung zunächst dabei beharrt, diesen Fortschritt oder dieses Unglück je nach dem Standpunkt allein der Naturwissen- schaft zuzuschreiben. Wie die gegenwärtig auf allen Gebieten um sich greifende Skepsis ihren Hauptgrund in dem durch die ausgebreiteten historischen Studien bewirkten Relativismus hat, so hat hierin auch bald mehr bewußt, bald mehr unbewußt die wider- spruchsvolle Stellung unserer besseren Bildung zur Religion ihre Wurzel, die zwischen halber Anerkennung und halber Bestreitung hin- und herschwankt, irgendwo und irgendwie in einer so macht- vollen geschichtlichen Erscheinung Wahrheit und Notwendigkeit anerkennt und doch mit keiner ihrer konkreten Gestalten sich ernstlich einläßt.

Allein die großen historischen Krisen pflegen oft wie der Speer Odins die Wunden selbst zu heilen, die sie geschlagen haben. Wie die neue Naturwissenschaft gerade durch ihre folge- richtige Ausbildung zu erkenntnistheoretischen Untersuchungen über Kausalität und Substanz nötigte und dadurch selbst zur Auf- hebung ihres materialistischen und naturalistischen Charakters führte, so hat auch die neue Geschichtswissenschaft uns genötigt, die treibenden und einheitlichen Kräfte der Geschichte in größerer Tiefe zu suchen als bisher. Hatte die Aufklärung noch unter der Nachwirkung des Supranaturalismus eine dauernd gleiche, starre Vernunftwahrheit als den Inhalt der Geschichte angesehen, von dem aus sie alle Abweichungen und Veränderungen aus rein sub- jektiven Gründen erklärte, so ging unsere Geschichtsanschauung unter der Einwirkung der neuen poetischen Ideen der Lessing, Herder, Goethe von den bunten, mannigfachen äußeren Erschei- nungen zurück auf ihnen zugrunde liegende und in ihnen nur ver- körperte geistige Grundtendenzen des menschlichen Wesens und lehrte dann wieder diese Tendenzen in ihrem innern Zusammen- hang als F^ntfaltung der menschlichen Gesamtvernunft erkennen, die im Laufe der Entwickelung wie ein großes Individuum ihren geistigen Gehalt durch die Folge der Geschlechter hindurch ent-

Christentum und Religionsgeschichte.

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faltet. Damit ist die große moderne Geschichtsanschauung, die neue Voraussetzung aller Geisteswissenschaften begründet, die noch schwere Probleme in sich schließt, die sich aber als überaus fruchtbar erwiesen hat. Von ihr aus entstand auch eine neue Anschauung von der Religion und ihrer geschichtlichen Entwick- lung. Auch bei der Religion ging man von den unendlich ver- schiedenen Erscheinungsformen auf einen inneren, überall vor- handenen und mindestens formell identischen Kern zurück, auf innere Erlebnisse des Bewußtseins, die sich zu jenen Erscheinungs- formen erst unter Mitwirkung von mancherlei äußeren Bedingungen verhärten und verzweigen. Dieses Grunderlebnis galt es zu ver- stehen und zu analysieren. Von den ursprünglichen und erobern- den Offenbarungen dieses Grunderlebnisses aus galt es die Bildung von Religionsgruppen zu verstehen, und in der Entstehung immer größerer und umfassenderer Religionsgruppen galt es die Entfal- tung der religiösen Idee zu erkennen. Natürlich gab es sehr ver- schiedene Wege zu solcher Analyse und ist hierbei viel geirrt worden. Natürlich ist für eine solche Untersuchung die gründ- liche Kenntnis der empirischen Religionsgeschichte die Voraus- setzung und kann von einer solchen bis jetzt nur sehr teilweise die Rede sein. Aber im ganzen ist es der mit der Tendenz des wissenschaftlichen Denkens überhaupt übereinstimmende Weg und hat er auch bereits zu vielen wertvollen Erkenntnissen ge- führt. Wir müssen nur lernen die Religion immer liebevoller, immer freier von doktrinären, rationalistischen und systematisie- renden Voraussetzungen zu betrachten und sie immer eingehender gerade an den charakteristischen, auffallenden religiösen Erschei- nungen und Persönlichkeiten statt [am Durchschnittsmenschen zu studieren. Dann enthüllt sich uns als tiefster Kern der religiösen Geschichte der Menschheit ein nicht weiter zu analysierendes Er- lebnis, ein letztes Urphänomen, das ähnlich wie das sittUche Urteil und die künstlerische Anschauung eine einfache letzte Tatsache des Seelenlebens, von beiden aber wieder ganz charakteristisch verschieden ist. Wir erkennen besondere, diesem Lebensgebiete eigentümliche Gesetze der Gedanken- und Normenbildung, der Erzeugung religiöser Symbole und Handlungen, der Ausbreitung, Fortpflanzung und Bearbeitung, der Auseinandersetzung und des Kampfes mit fremden oder entgegengesetzten Mächten, der Ver- äußerlichung und der Vertiefung, der Verflechtung in die anderen Lebenssysteme und der wieder herausführenden Konzentration, der

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Traditions- und Gemeinschaftsbildung und der daneben immer fort- dauernden originellen Produktion, des Verhältnisses von führenden produktiven Geistern zu den ihnen untergeordneten Gläubigen. In allen diesen tausendfach verschiedenen Bildungen lebt doch eine einheitliche Grundwirklichkeit, nämlich die Religion, die un- ableitbare, rein tatsächliche, immer wieder erlebte Berührung mit der Gottheit. Man kann von einer Religion zur andern übergehen, die entgegengesetztesten Religionen können bei einiger Sorgfalt ihre religiöse Sprache verstehen. Es ist ein und dieselbe Wirk- lichkeit, die in verschiedenem Grade und von verschiedenen Seiten erfaßt wird. Aber diese Einheit ist nicht die starre der natür- lichen Religion, wie die Geschichtsauffassung des achtzehnten Jahr- hunderts geglaubt hatte, und beruht nicht auf der Uebereinstimmung bewußter Verstandsoperationen, sondern diese Einheit ist begründet in einer gemeinsamen, verschieden vorwärtsdringenden Bewegungs- tendenz des menschlichen Geistes und vollzieht sich durch die in der unbewußten Tiefe des einheitlichen menschlichen Geistes ge- heimnisvoll wirkende Bewegung des göttlichen. Unfähig, in der kurzen Spanne individuellen Lebens ihr Ziel zu erreichen, vollzieht sich diese Bewegung durch die zusammenwirkende Arbeit zahl- loser Geschlechter, die von dem göttlichen Wirken ergriffen und geführt, sich ihm hingeben und seinen inneren Gehalt immer reicher und tiefer erleben. Diese Bewegung ist eine mannigfach gestörte, aber in allen Störungen sich doch immer wieder her- stellende Entwickelung, die den in dem religiösen Lebenssystem als Möglichkeit und Keim gesetzten Gehalt zur Verwirklichung bringt, die verschiedenen Religionsgruppen in Wechselbeziehung und Stufenfolge zeigt, und im Laufe der Geschichte selbst mit der Gegeneinanderstellung verschiedener Religionen den Beur- teilungsmaßstab hervorbringt. So steigt vor unserem Auge statt des Chaos ein Kosmos von Religionen empor, bei dem nur nicht zu vergessen ist, daß die Stufenfolge nicht bloß ein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander zeigt. Man hat diesen Kosmos freilich oft betrachtet als ein die gemeinsame Grundwirklichkeit nur be- liebig bunt und reich nuancierendes Spiel oder als Zusammen- wirkung verschiedener einseitiger Teilwahrheiten zum schönen Ganzen. Allein diese ästhetische Betrachtungsweise, die die Re- ligionsgeschichte nur zu einem reichen und schönen Schauspiel für die Gottheit machte, widerspricht sowohl dem wahren Sinne des Entwickelungsgedankens als dem wirklichen Wesen der Reli-

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gionen. Der Entwickelungsgedanke, der von den geistigen Er- scheinungen der Bewegung eines einheitlichen Endziels durch ver- schiedene Mittelgedanken hindurch hergenommen ist, drängt durch- aus auf die Erreichung des in alledem angestrebten und wirk- samen Endzieles, und die großen Religionen beruhen, je mehr sie ihr Ziel erfaßt haben, umsoweniger bei sich selbst, sondern streben mit oft verzehrender Leidenschaft nach der ganzen und vollen Wahrheit. Nur wo der Entwickelungsgedanke in jenem seinem vollen Sinne festgehalten wird, wirkt er nicht entnervend und zer- störend, und nur wo die Religionen von dieser Leidenschaft be- seelt sind, entfalten sie innere, vorwärtstreibende Lebendigkeit. Es gilt also zuletzt und vor allem das Ziel oder doch die Ziel- richtung der Religionsgeschichte zu finden, die ihr Ende nicht in den benachbarten Lebenssystemen der Wissenschaft und der Kunst oder in einem aus der Vielzahl der Rehgionen heraus- gebildeten Abstraktum von Religion, sondern nur in einer be- sonders tiefen und mächtigen, besonders stark und rein ausge- prägten konkreten Religiosität finden kann. Diese muß die Wahr- heitsmomente der andern enthalten oder sich aneignen können, muß jedenfalls den in der Entwickelung sich herausbildenden Zentralgedanken lebendig verkörpern. Wie weit sie dabei selbst einheitlich gestaltet sein mag und wie weit sie allgemein durch- dringen mag, das kann kein Postulat zum voraus feststellen. Es ist nur ein aus der religiösen Entwickelung selbst erwachsendes Postulat, daß es eine solche Zielrichtung geben und daß sie sich mindestens in der Anbahnung und Zukunftsrichtung erkennbar herausheben muß.

Damit ist die alte Methode der supranaturalistischen Theo- logie freilich umgekehrt. Sie ging von der selbstverständUchen Voraussetzung aus, daß das Christentum infolge seiner Ueber- natürlichkeit alleinige Wahrheit sei, und bemühte sich nur, die wenigen bekannten übrigen Religionen zu dieser übernatürlichen und allein wahren Religion in ein leidliches Verhältnis zu setzen. Ihre Geschichtsphilosophie knüpfte das Christentum als übernatür- liche Wiederherstellung unmittelbar an den vollkommenen und einfachen Anfang der Menschheit ; die Mannigfaltigkeit der anderen Religionen war ihr ein Erzeugnis der vom Sündenfall ab wirkenden Verfinsterung und die Wahrheitselemente derselben waren ihr Reste der alten Urstandsvollkommenheit. Das Christentum war ihr nicht bloß die höchste und tiefste Erlösung, sondern die

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einzige und die unmittelbar von Gott gewirkte, während alle anderen Religionen aus menschlichem Denken und Irren aliein entstanden und ihr Erlösungsglaube nur Selbsterlösung aus natür- licher Kraft gewesen sein sollte. Die neue Geschichtsforschung nötigt den umgekehrten Weg zu gehen. Sie zeigt, daß dieser Supranaturalismus und diese Form seiner Begründung eine allen höheren Religionen irgendwie gemeinsame Art ist, ihre Ueber- zeugung von ihrer Wahrheit auszusprechen. Sie vernichtet die Vorstellung von einem solchen einfachen übernatürlichen Anfang der Geschichte und sie zeigt die tiefste lebendigste Kraft erlösen- den Glaubens und unmittelbarer Gottesgemeinschaft auch bei den Frommen des Indus und der persischen Gebirge. So geht sie den Weg vom allgemeinen zum besonderen, von der Erforschung der Religion als einer überall stattfindenden eigentümlichen Be- rührung mit Gott zu der der besonderen konkreten Religions- kreise. Indem sie diese in ihrem inneren Verhältnis entwicke- lungsgeschichtlich zu begreifen sucht, sucht sie nach dem höchsten Ertrag dieser Geschichte, geleitet von der freilich unbeweisbaren, vielmehr selbst einen ethisch-religiösen Glauben darstellenden Ueberzeugung, daß die Geschichte nicht ein Spiel endloser Varian- ten, sondern die Entfaltung des tiefsten und einheitlichen Gehaltes des menschlichen Geistes sei. Ihr ist die Religionsgeschichte eine Geschichte Gottes mit den Menschen, eine Erlösungsgeschichte, die die Menschheit und den einzelnen Menschen aus der Gebunden- heit an die bloße sinnliche Natur, an sein bloß naturhaftes Be- dürfen und Streben erhebt in die Gemeinschaft mit Gott und zur Freiheit des Geistes über die Welt und über die bloße, stumpfe TatsächUchkeit des Daseins. Indem die Religionsgeschichte derart in verschiedenem Grade je nach Lage und Verhältnissen die Wahrheit erreicht oder besser verwirklicht, den Menschen mit dem tiefsten Grunde seines Daseins und dem Inbegriff seiner geistigen Güter verbindet, ist ihr auch die Ueberzeugung eingeboren, daß in ihr und in ihr allein ein wirklicher Fortschritt der Geschichte erreicht wird und daß sie ganz anders als die Geschichte der übrigen Lebensgebiete an die Erreichung eines endgültigen und einfachen Zieles glauben darf. Während Moral, Recht, Kultur, Wissenschaft und Kunst es mit der beständig wechselnden Welt- lage zu tun haben und von hier aus beständig unabsehbare neue Anpassungen, zahllose Auflösungen und Neubildungen mit sich bringen müssen, hat es die Religion mit dem immer sich selbst

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gleichen, ewigen Grunde des Lebens zu tun. Indem sie in ihn immer tiefer hineinwächst, darf sie es für möglich halten, das- jenige Maß der Wahrheit und inneren Einigung zu erreichen, das dem Menschen auf Erden überhaupt vergönnt ist, dabei immer- dar in beständig wechselnde Beziehungen zur sich wandelnden Gesamtlage verflochten, mit den entgegengesetzten Mächten der Trägheit, der Sünde, der selbstsüchtigen Veräußerlichung kämpfend und aus der einmal erreichten Wahrheit immer neue und tiefere Lebenskraft schöpfend, aber doch immer in der Gewißheit, den Kern der übersinnlichen Welt erlebt und erfahren zu haben. Das ist ein Postulat, von dem niemand lassen kann, der überhaupt in der Religion ein selbständiges Lebensgebiet erkannt hat. Freilich eröffnen sich von hier aus dann erst recht die letzten und tiefsten Probleme, die Grundfragen der Geschichte überhaupt: weshalb überhaupt Geschichte stattfindet ; weshalb die Menschen überhaupt erst aus dem Banne der Natur und der von ihr über uns ver- hängten Leiden, aus der Trägheit und Selbstsucht durch die Re- ligion herausgehoben und erlöst werden müssen ; weshalb die Bedingungen dieses Prozesses und seine Wirkungen so überaus verschiedene sind und von einer gleichen Möglichkeit aller, an seinem Ertrag teilzimehmen, nicht die Rede sein kann ; weshalb zahllose Generationen und Individuen in ihm verbraucht werden und Stufenunterschiede nach- und nebeneinander immerdar be- stehen bleiben müssen; ob und wie alle diese Ungleichheit etwa ausgeglichen werden möge.? Es sind die letzten und tiefsten Fragen überhaupt, die eine spekulationsmutige Zeit durch eine von den Tatsachen des inneren Lebens ausgehende Spekulation ahnend aufzuhellen suchen würde, in denen eine spekulationsmüde wie die unsrige resigniert die Grenzen alles menschlichen Er- kennens verehrt, die dunkel und abgerissen, aber tiefsinnig und ergreifend durch die Religion selbst beantwortet werden, durch die Lehre von der schaffenden Liebe Gottes und dem Leben nach dem Tode, von der Selbsterlösung Gottes in der Erhebung der endlichen Geisterreiche zur Gemeinschaft mit ihm.

Es sind deshalb nicht diese letzten Fragen, die weiter ver- folgt werden müssen, wenn das durch die religionsgeschichtliche Betrachtung geschaffene Problem aufgelöst werden soll. Auch darum kann es sich nicht handeln, die hierbei vorausgesetzte Grundannahme selbst, daß nämlich die Religion ein selbständiges Lebensgebiet, eine innere Berührung mit der Gottheit sei, gegen

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Einwände zu sichern, die aus der Fülle geschichtlicher Ver- schiedenheiten den Anlaß zu einer illusionistischen, die Religion von anderen Grundtatsachen als sekundäres Folgeerzeugnis ab- leitenden Erklärung entnehmen. Jede solche Erklärung scheitert immer wieder daran, daß die Religion weder aus dem Kausal- denken oder dem philosophischen Triebe noch aus der Phantasie und dem Glücksbedürfnis abzuleiten ist, was man sich besonders an den leitenden religiösen Persönlichkeiten klar machen kann, wo die volle Kraft der Inspiration noch wirkt und die ReUgion noch nicht in Theologie, Ethik oder Kultus über- oder auf- gegangen ist, was aber jeder PVomme auch an sich selbst, an seiner eigenen Erfahrung feststellen kann. Er folgt einem über ihn kommenden Zwange, einem Zuge zu etwas, was aus der Welt sinnlicher Erfahrungen und sinnlicher Bedürfnisse nicht stammt, sondern was schon in dem Gemüte enthalten gewesen sein muß, ehe es erschlossen oder postuliert werden kann. Für eine wirk- lich illusionistische Erklärung bliebe nur die Hypothese übrig, die auch versucht worden ist und die in vieler Hinsicht noch die annehmbarste wäre, die Erklärung aus ansteckendem Wahnsinn, aus den Halluzinationen besessener Schwärmer, die abgeschwächt auf die gewöhnlichen Gläubigen übergegangen wären und dauernd eine rätselhafte Ansteckungskraft behielten. Ueber eine solche Hypothese kann natürlich nicht gestritten werden, sie bedeutet nur die Anerkennung der Tatsache, daß es sich in der Religion um eine der letzten, nicht weiter aufzulösenden, immerdar ge- heimnisvoll und inkommensurabel bleibenden Grunderscheinungen des geistigen Lebens handelt und daß in ihr ein eigenes selb- ständiges Prinzip des Wachstums steckt, das von dem übrigen Leben wohl mitbedingt, aber von ihm allein nicht bewirkt wird. Es darf also im allgemeinen bei der erwähnten Grundanschauung, bei der Geschichtsphilosophie Hegels, Schleiermachers und Hum- boldts bleiben, die in der Religion ein allgemeines Phänomen des geistigen Lebens erkennt und auf seine Geschichte den Entwicke- lungsgedanken anwendet, die nur zu einem immer realistischeren und vorurteilsloseren Studium der spezifisch religiösen Erscheinun- gen fortgeführt und von der auch bei ihr noch herrschenden allzu- engen Verbindung der Religion mit metaphysischen und ästhe- tischen Gesamtanschauungen befreit werden muß. Die PVagen, die sich aus dieser Auffassung ergeben, sind vielmehr solche, die sich ganz eigentlich auf das Verhältnis der geschichtlichen

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Mannigfaltigkeit und Relativität zu der von dem religiösen Glauben zu postulierenden letzten Einheit und Wahrheit seiner selbst be- ziehen. Es entstehen gerade für den in die Fülle der Wirklich- keit sich vertiefenden Historiker immer wieder die Probleme, wie denn von hier aus die tatsächliche Verschiedenheit der religiösen Grundkonzeptionen selbst, die Verschiedenheit der Intensität und Reinheit, die bisweilen ganze Perioden und Völker charakteri- sierende Schwäche des religiösen Lebens zu erklären oder viel- mehr im Verhältnis zu jenem Zug auf das Absolute zu ertragen seien. Die andere noch viel unmittelbarer das allgemeine Inter- esse berührende Frage ist, ob denn wirklich eine der konkreten Religionen, oder, da das Christentum die große historische Re- ligion des europäisch-amerikanischen Kulturkreises, für uns allein praktisch als Höhepunkt der religiösen Entwickelung in Frage kommen kann und sicherlich über Judentum, Islam, Buddhismus und Brahmanismus an religiöser Innerlichkeit und Aktivität hinaus- geht, ob dieses als der Konvergenzpunkt des religiösen Lebens und als die Grundlage aller weiteren Entwickelung tatsächlich angesehen werden dürfe.

Zur Beantwortung der ersten Frage ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Religion mit dem Bisherigen noch sehr un- bestimmt und unvollendet geblieben ist. Die Religionsgeschichte zeigt vielmehr so deutlich wie nur möglich, daß die Religion keine rein innerlich in sich gegen alle übrige Wirklichkeit abge- schlossene, unmittelbare und jedesmal sich ganz spontan neuer- zeugende Einwirkung Gottes auf das Gemüt sein kann. Daß sie das sei, ist überall erst die Theorie der Mystik, jenes eigentüm- lichen Ergebnisses komplizierter religionsgeschichtlicher Entwicke- lungen, das überall da eintritt, wo man an den einzelnen konkre- ten Formen des Gottesglaubens irre geworden, sich auf ein völlig unaussagbares, überall gleiches Wirken Gottes an den Seelen zu- rückzieht, oder wo man jede Aeußerlichkeit und Vermittelung ängst- lich scheuend eine möglichst innerliche und unmittelbare Gottes- gemeinschaft anstrebt. Die Leere und gemeinschaftslose Selbst- beschränkung dieser Frömmigkeit, die künstliche mit Ueberreizung und Ermattung sich strafende Konzentration und Weitabziehung zeigen von vornherein, wie wenig das normale Erscheinungen sind. Eine derartige Theorie übersieht vielmehr Tatsachen von grundlegender Wichtigkeit. Jene Gotteswirkung erfolgt nämlich durchaus nicht in jedem Menschen auf schlechthin neue und selb-

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Ständige Weise und nicht rein innerlich wie eine Art Seelenmagie, sondern durch Vermittelungen von mancherlei Art. Der religiöse Eindruck oder, um ein Bild aus der empirischen Psychologie zu gebrauchen, der religiöse Reiz entsteht immer nur an Ereignissen und Erlebnissen äußerer und innerer Art, in Natur und Geschichte, in Gewissen und Herzen. Für die ungeheure Mehrzahl der Men- schen ist der Vermittler des religiösen Reizes die religiöse Ueber- lieferung, neben der davon unabhängige religiöse Reize nur eine meist geringe Rolle spielen. Es ist das eigentümliche Geheim- nis der individuellen religiösen Entwickelung, zu sehen, wie an den unverstandenen, zunächst fremden und kindlich mißdeuteten Ueberlieferungen allmählich die selbständige, innerliche und per- sönliche Frömmigkeit entsteht, die sich einer inneren Gemein- schaft und Wechselbeziehung mit dem göttlichen Leben wenig- stens auf ihren Höhepunkten bewußt ist. Geht man aber auf die Entstehung solcher mitunter in einander geschachtelten oder sich kreuzenden Ueberlieferungskreise zurück, so trifft man da, wo man überhaupt zu den Anfängen einer Religion kommen kann, auf überwiegend originale Persönlichkeiten, die weniger eng an die Ver- mittelung der Ueberlieferung gebunden aus großen Ereignissen der Natur oder Geschichte, aus individuellen Lebensschicksalen oder aus den Vorgängen ihres Innenlebens den Reiz zu neuen großen Anschauungen empfangen und die übrigen in die Macht ihrer Frömmigkeit und Persönlichkeit hineinziehen. Je tiefer und persönlicher, mit je größeren und bedeutsameren Ereignissen ver- knüpft solche rein tatsächlich auftretende und nicht weiter ab- leitbare Grundkonzeptionen sind, um so mehr erweisen sie sich als Keime großer Lebensinhalte, in der Arbeit vieler Generatio- nen sich entfaltender Prinzipien. Die Seher, Ekstatiker und In- spirierten der alten Religionen, die Propheten, Reformatoren und Heiligen pflegen solche Persönlichkeiten zu sein, und ihr Haupt- charakter ist eine ungeheure, alles andere zurückdrängende Ein- seitigkeit, durch die allein sie diese Wirkung hervorzubringen ver- mögen. Einmal aber von ihnen in dieser bestimmten Weise er- öffnet, schafft die Gemeinschaft mit der Gottheit eine außerordent- liche Erweiterung und Ausbreitung des so gegebenen Grundver- hältnisses. Es wächst fort, so lange es noch unverbrauchte Kraft des Wachsens hat und nicht von mächtigeren Eindrücken über- wunden wird.

Die Tatsache, daß auf dem Gebiete der Religion wie auf

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allen anderen die Anlagen und Fähigkeiten verschieden sind, daß Inhalt und Tragweite eines religiösen Prinzips erst in der aneig- nenden Arbeit vieler Generationen entwickelt werden können, daß das religiöse Erlebnis an verschiedenen Bestandteilen der unendlich mannigfaltigen Wirklichkeit entsteht, daß so die eine Wahrheit in verschiedenen Grundkonzeptionen sehr verschieden erfaßt wird : alles das ist mit dem Rätsel der Geschichte selbst gegeben, die den Gehalt des geistigen Lebens auf die Arbeit von Milliarden verteilt und deren Geheimnis nur Gott selbst bekannt ist. Alles das hebt aber den Glauben nicht auf, daß in dieser Mannigfaltigkeit eine einheitliche Wahrheit erlebt wird. Gehen wir von den durch Ort und Zeit, persönliche und kulturgeschicht- liche Besonderheiten bedingten Unterschieden, von dem Gewirr der Götternamen und Mythologien, von kindischen und rohen oder selbstsüchtigen und frevelhaften Veräußerlichungen und Ver- unstaltungen auf den einheitlichen Kern, so finden wir überall eine nahe verwandte Wahrheit. Wir bemerken den großen Schauer vor dem Geheimnis einer übersinnlichen Welt, die in den Lauf des All- tagslebens hineinspricht und bald schreckend, bald tröstend den Menschen aus dem Schlafe eines rein innerweltlichen Daseins auf- weckt; die Kundgebung göttlich waltender Kräfte in der Natur, aus denen sich eine pantheistische Stimmung schließlich erhebt ; die Autorisierung sittlicher und rechtlicher Normen durch die Gottheit, die sich als eine heilige offenbart und vor allem Rein- heit und Wahrheit, Folgerichtigkeit und Strenge des Handelns will. Insbesondere erheben sich höhere beseligendere Güter über der Sinnenwelt, ein Bleibendes und Ewiges über dem Wechsel des Be- gehrens und Bedürfens, woraus der Erlösungsglaube entsteht, der in der ReUgion überhaupt die Erlösung aus Leid oder Schuld, aus dem Gefängnis der ewig wechselnden Unbefriedigung erkennt. Alles das darf als sachlich zusammengehörend, auf eine einheit- liche Zusammenfassung hindrängend angesehen werden, und die Frage, warum die Individuen nur so ungleichen Anteil an der sachlich zusammengehörenden vollen Wahrheit haben, darf als eine auf Erden ewig unlösbare Frage diese Erkenntnis nicht stören. Aus der gleichen Grundtatsache der Vermittlung aller reli- giösen Erregungen erklären sich aber auch im Verein mit einer zweiten Grundtatsache die weiteren oben erwähnten Erscheinungen, die verschiedenartige Intensität und Richtung des religiösen Inter- esses, die nicht immer nur aus Stumpfheit und Abneigung gegen

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jede ideale Erhebung oder aus bewußtem Widerwillen folgende Schwäche des religiösen Lebens. Von dieser letzteren Bedingt- heit durch Trägheit, Selbstsucht, Roheit und Aeußerlichkeit, von den Wirkungen des beständigen Kampfes der Religion gegen ihr entgegenstehende Hindernisse des Willens soll als von selbstver- ständlichen Dingen hier nicht die Rede sein. Es kommen viel- mehr noch andere Dinge in Betracht. Die Gottesanschauung ist wie kein rein für sich isoliertes, so auch kein passiv hingenom- menes Erlebnis. Sie ist von Hause aus mit bestimmten Zügen poetischer Symbolisierung bekleidet, durch konkrete Hinweise auf bestimmte natürliche oder sittliche Erscheinungsgebiete und durch bestimmte sprachUche Ausdrucksmittel wirksam. Indem sie mit diesem konkreten Inhalt als Reiz auf die Seele wirkt, ruft sie wie jeder andere Reiz zugleich eine Fülle von Reaktionen hervor, so daß sie überhaupt nie rein für sich herausgelöst werden kann, sondern in jedem Moment ihrer Wirksamkeit schon unlösbar mit tausendfachen psychischen Reaktionen verbunden ist. Ja die Ver- bindung ist hier eine engere und verzweigtere als bei irgend einem andern Reize, weil das religiöse Erlebnis das alles beherr- schende, an sich ziehende oder abstoßende ist und weil es mehr als irgend etwas anderes das Gefühl in allen seinen Nuancen er- regt. Es gibt auch eine religiöse »Apperzeption«, infolge deren der religiöse Reiz sofort in den Zusammenhang aller Vorstellungen und Gefühle eintritt, von ihnen in Richtung, Stärke und Umfang beeinflußt wird, aber auch seinerseits wieder dem ganzen Gefüge neue RichtungsUnien und Stimmungen gibt. Es ist bekannt, wie die spezifisch religiösen Naturen alles Nahe und alles Ferne in ihren religiösen Grundgedanken stürmisch verflechten oder alles ihm Widerstrebende, mit ihm nicht unmittelbar Zusammenhängende ablehnen als Dinge der Welt und Sorgen des Tages für den Tag ; ebenso passen solche, die ihren überwiegenden Schwerpunkt in anderen Anlagen haben, die Religion wissenschaftlichen, ethischen, ästhetischen Interessen an, suchen sie mit dem übrigen zu ver- mitteln oder, wo diese Anpassung unmöglich scheint, abzustoßen. In den Bedingungen dieser bei allen Individuen verschiedenen Apperzeption liegt zumeist der Grund der ungeheuren individuel- len Verschiedenheiten innerhalb des einzelnen Religionskreises, der verschiedenen religiösen Vorstellungen und Empfindungen, der verschiedenen Stellung und Kraft des religiösen Reizes inner- halb des seelischen Gesamtinhaltes, der überwiegenden Abhängig-

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keit von Ueberlieferung und Symbol, der überwiegenden Selb- ständigkeit und Gegenwirkung, des verschiedenen Maßes von hinreißender Kraft und überlegender Aneignung. Je höher ent- wickelt und je reicher das geistige Leben ist, um so verwickelter und undurchsichtiger werden die Bedingungen jener Apperzep- tion und um so energischer pflegt die Religion jene Sammlung und stille Aufmerksamkeit auf den religiösen Reiz zu fordern, die man Andacht und Gebet nennt. Dabei ist nicht zu ver- gessen, daß die Individuen nicht allein stehen, sondern in engster Wechselwirkung gewisse Neigungen und Richtungen zu sozial herrschenden Mächten erheben. So gibt es auch in religiöser Hin- sicht überwiegend konservative und überwiegend kritische Epochen, wo bald die Macht der kultisch und kirchlich verfestigten Tradi- tion durch das Gefühl unantastbarer Heiligkeit alles beherrscht, bald eine von allgemeinen Erschütterungen des geistigen Lebens erregte kritische Selbständigkeit sich auflehnt und jeden Gedanken auf Recht und Zusammenhang prüft. So kann es schließlich nach heftigen religiösen Kämpfen eine den weltlichen und leichter fest- zustellenden Dingen zugewandte Periode des Ueberdrusses, unter dem Einfluß großer materieller, politischer und sozialer Bewe- gungen oder unter dem wissenschaftlicher Erkenntnisse eine solche wachsender Abneigung großer Massen gegen die Religion geben, wie z. B. die Kultur der römischen Kaiserzeit, die konfuzianische, nicht religionslose, aber religiös sehr dürftige Moral der höheren Klassen Chinas und moderne Verhältnisse des europäischen Lebens zeigen. Aehnlich sind auch die Schwächezustände des religiösen Lebens mancher Naturvölker zu verstehen, denen andere mit um so lebhafterem und verhältnismäßig reinem Eifer gegenüberstehen. Immer von neuem muß uns auch hierbei natürlich die rätselhafte ungleiche Beteiligung des Individuums an dem letzten Werte des Daseins und die unvermeidliche Einseitigkeit alles Menschlichen befremden; aber die Religion selbst ist und bleibt in alledem wesentlich dieselbe. An ihrer wesentlichen inneren Einheit zu zweifeln haben wir keinen Anlaß. Es ist ein und dieselbe Wahr- heit, die von verschiedenen Seiten und in verschiedenem Verhält- nis zu den übrigen Elementen des geistigen Lebens erreicht wird. Damit stehen wir aber bei der zweiten, oben aufgeworfe- nen Frage, ob es einen Konvergenzpunkt, einen sichtbar her- vorragenden Höhepunkt, dieser verschiedenen teilweisen Erfas- sungen der Wahrheit gibt oder noch genauer, ob das Christen-

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tum, das ein solcher sein will, auch wirklich dafür gelten dürfe. Der Grund, die Frage so bestimmt zu formulieren, ist nicht die Geneigt- heit, die Religion, in der wir geboren und erzogen sind und die uns allein vollkommen vertraut ist, zum Inbegriff der Wahr- heit überhaupt zu verabsolutieren. Denn ihre Herrschaft ist nicht mehr eine so selbstverständliche und naiv unmittelbare , daß wir diesem Triebe zur Verallgemeinerung ohne weiteres unter- liegen müßten. Unter uns wirkt der Optimismus des an der an- tiken Kunst sich immer von neuem darstellenden pantheisierenden Naturgefühls und auf der andern Seite der Eindruck der geheim- nisvollen, pessimistischen Religionen des Orients stark genug, um uns zu völlig bewußter Entscheidung zu nötigen. Es spricht aus dieser Fragestellung auch nicht nur das notwendige Postulat, daß irgendwo die volle Wahrheit der Religion sich offenbaren müsse. Denn an und für sich könnte das vielleicht erst einer fernen Zu- kunft vorbehalten sein. Wenn wir so fragen, so hat das seinen Grund darin, daß das Christentum allein in seiner Entwickelung diesen Anspruch immer schärfer und durchgreifender erhoben und immer prinzipieller aus seinem innersten Wesen abgeleitet hat. Getragen von der ganz innerlichen und persönlichen, aber immer einen Rest des Inkommensurablen in sich enthaltenden Autorität seines Meisters wendet es sich ausschließlich an den inneren Wesenskern des Individuums, an die allgemeinsten, tiefsten und einfachsten Bedürfnisse nach Ruhe und Frieden des Herzens und nach einem positiven, letzten, endgültigen Sinn des Daseins; es wendet sich an jedes Individuum ohne Ausnahme, indem es bei jedem diesen Wesenskern voraussetzt und jedes zu diesen Be- dürfnissen erziehen zu können gewiß ist. Friede der Seele mit Gott und damit Ueberwindung des Weltleides und aller Schmer- zen des Gewissens, aber auch lebendige und tätige Erfüllung mit dem Willen Gottes, das Gebot der Liebe zu den Brüdern, die Brüder sind um des gemeinsamen Vaters willen: das ist sein Evangelium. Daraus entspringt ihm aber auch die festeste und umfassendste Gemeinschaft, indem es den Ursprung des mensch- lichen Wesens ableitet aus dem göttlichen Geiste und es zusam- menfaßt zu dem Ziel der Gemeinschaft mit Gott und den Brüdern, indem es jeden Gläubigen nötigt, an jener Allgemeinheit und dem Ziele der gemeinsamen Vollendung mitzuarbeiten. Es ist daher die einzige Religion, die eine schlechterdings unbedingte Allge- meinheit in Anspruch nimmt, die einzige, die deshalb eine An-

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fang, Mitte und Ende der Menschheitsgeschichte verknüpfende Geschichtsphilosophie aus sich hervorgetrieben hat und in dieser Geschichte eine in sich zusammenhängende, unvviederholbar eigen- tümliche und unbedingt wertvollen Zwecken dienende Wirklich- keit erkennt. Vor allem aber ist das eine nicht bloß tatsächlich behauptete Allgemeingültigkeit, sondern sie fließt für sein Gefühl aus der inneren Wesensnotwendigkeit Gottes selbst, der aus Liebe die W^elt schaffend, seine Geschöpfe aus Welt und h'rtum, Schuld und Mißmut zu sich zurückführen muß. Seine Gnade ist nicht Willkür und seine Gebote sind nicht bloße Satzung, beide fließen aus seinem Wesen und verwirklichen sich von innen heraus durch die Liebe zu Gott, der seine Kinder zuerst geliebt hat. Hier ist die Tendenz der Religion zur Allgemeingültigkeit auf ihren Gipfel gelangt, alles Partikulare, Volkstümliche, weltlich Bedingte aus- getilgt, jede Abhängigkeit von einer bloß gegebenen, immer un- einheitlichen Lage durch die Allgemeinheit eines erst zu errei- chenden, aber in Bestimmung und Wesen begründeten Zieles überwunden.

Wohl zeigt es damit auch die Einseitigkeit des überwiegend religiös bestimmten Lebenstypus. Aber das ist bei dem auch die Religion beherrschenden Gesetz der Herausdifferenzierung des Wesentlichen nichts Ueberraschendes und auch keine Schranke. Nicht einen alles indifferenzierender Monismus der Kulturwerte, son- dern nur eine die einzelnen Strebungen folgerichtig entwickelnde und die entstandenen Spannungen immer neu ausgleichende Gei- stesverfassung wird man sich als das Wesen der höchsten Stufen denken dürfen. Gerade in jener Einseitigkeit erreicht das Chri- stentum erst die volle Innerlichkeit und die rein humane Allge- meinheit. Die damit gesetzte und nun erst recht aufgetane Span- nung gegenüber den innerweltlichen Kulturwerten gibt dem Ganzen erst den Charakter des höheren, nur in lebendig-bewußter Arbeit immer neu vereinheitUchten Geisteslebens. In allen Wandelungen und Verschmelzungen, allen Karrikaturen und Greueln, allen Stag- nationen und Verholzungen bekundete doch das Christentum diesen alles überragenden Zug zum Individuell-Persönlichen, All- gemein-Humanen und Spannungsreich- Totalen. Das bestätigt dann aber doch auch der Blick auf die andern großen Universal- religionen, die allein neben dem Christentum iu Betracht kom- men können. Der Islam, der jüngere, mit dem Christentum ge- meinsam aus dem Judentum entsprossene Bruder, hat diesen Uni-

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versalismus samt der Form der Biichoffenbarung und den Frag- menten seiner Geschichtsphilosophie rein äußerUch von beiden übernommen. Er haftet bei ihm nur an der Einheit seines Gottes und an der einfachen VerständUchkeit seiner wenigen und dürf- tigen Moralgebote, aber er fließt bei ihm nicht aus der inneren Wesensnotwendigkeit seines Gottes, der ein Gott harter, unbe- rechenbarer Willkür ist. Er ist eine Rückbildung aus Juden- und Christentum und hat niemals ganz den Charakter einer national- arabischen Kriegsreligion verdecken können. Der Buddhismus, in mancher Hinsicht eine Parallele des Christentums, ist von Hause aus nur die Religion eines Mönchsordens, dem freilich alle beitreten können und sollen, die die Nichtigkeit des Willens zum Leben erkannt haben, von dem daher auch ein lebhafter Missions- trieb ausgeht. Aber seine Allgemeingültigkeit folgt bloß aus der Allgemeingültigkeit dieser Erkenntnis, nicht aus dem Wesen einer, Alle zum gemeinsamen Ziel berufenden Gottheit, an deren Stelle hier vielmehr lediglich eine unpersönliche Erlösungsordnung ge- treten ist. Der Orden der Erleuchteten setzt immerdar die große Menge der Einsichtslosen und Laien voraus, die dem Mönche den Unterhalt darreichen. Die ungeheuere Mehrzahl kehrt immer wieder im Kreislauf der Seelenwanderung und bildet nur die Masse, aus der die Wissenden sich aussondern und von deren Wohltätigkeit sie leben, bis sie im Nirvana aus dem Seelenumlauf verschwinden. In endlos sich folgenden Weltperioden wiederholt sich ohne Ziel und Zusammenhang dieser Prozeß, immer sondern Erleuchtete sich aus von der Welt des Scheines und immer bleibt die Masse in eben dieser Welt des Scheines befangen. Wie die Welt selbst kein einheitliches positives Ziel hat, so auch das Le- ben und die Frömmigkeit. Man wirbt für den Orden und preist den Frieden der Erlösung, aber keine innere Notwendigkeit zwingt jemals, die gesamte Menschheit in ihm zu versammeln. So sehr in ihm wie im Islam die Allgemeinheit der Religion sich geltend macht und so oder so gefordert wird, der Anspruch beider ist im tatsächlichen Umfang und in der Begründung weniger intensiv als der des Christentums. Es ist die einzige Religion, die aus der eigentlich religiösen Triebkraft heraus sich unbedingt als all- gemeingültige Wahrheit empfindet und durchsetzt und damit tat- sächlich erreicht, was in der Tendenz der Religion überhaupt liegt. Es ist die einzige, die über die Neigung zur dogmatischen und kultischen Verhärtung aus eigenem Lebenstriebe immer wieder

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den Sieg gewinnt, die einzige, die weder im Gesetz erstarrt, noch in der Erfassung des Erlösungsgedankens sich lediglich auf die Verneinung fixiert.

Daß sie das wirklich abschließend und für alle Zukunft we- sentlich unveränderlich sei, läßt sich freilich nicht durch ein- fache geschichtsphilosophische Konstruktion erweisen. So sehr wir überzeugt sein müssen, daß in der Religionsgeschichte ein zusammenhängender Fortschritt erfolgt, der auf der inneren Be- wegung des göttlichen Geistes im menschlichen beruht, so können wir doch nicht einen allgemeinen Begriff der Religion als die Triebkraft dieser Entwickelung aufstellen und das Christentum als dessen notwendige Vollendung erweisen. Jener Begriff könnte auf Grund mangelhafter Erfahrung aufgestellt sein und durch zu- künftige Entwickelungen gründlich verändert werden. Wir können auch nicht im Christentum die tatsächlich erfolgte Konverg-enz der verschiedenen Entwickelungsreihen aufweisen, so sehr wir in ihm die abstrakte Transzendenz des Judentums durch Aufnahme der unentbehrlichen pantheistischen Elemente des Heidentums erweicht und den Gegensatz durch eine höhere Einheit über- wunden finden mögen. Denn der Zusammenschluß der Bewohner unseres Planeten und damit eine Konvergenz der verschiedenen Entwickelungen bahnt sich erst in unseren Tagen an. Die Aus- einandersetzung und die Konvergenz des Christentums mit den Religionen des Ostens gehört noch der Zukunft an und wird vielleicht am Christentum bisher unentwickelt gebliebene Seiten überraschend betonen. Alle derartigen Konstruktionen beruhen auf einer Geschichtsanschauung, die in ihrem Grundgedanken für jede religiöse und idealistische Betrachtungsweise unausweichlich ist, sie reichen aber nicht aus zu einem Beweise. Ein solcher würde erst am Ende der Tage vielleicht möglich sein.

Das Einzige, was unmittelbar für den Selbstanspruch des Christentums geltend gemacht werden kann, ist der Umstand, daß diesem seinem einzigartigen Anspruch auch eine tatsächliche Einzigartigkeit seines Inhalts und Wesens entspricht, die gerade einer religionsgeschichtlichen Forschung deutUch entgegentritt. Allerdings bilden die Religionen eine im Ganzen aufsteigende Einheit und ist eine allgemeine Tendenz erkennbar, die auf zu- nehmende Vergeistigung, Verinnerlichung, Versittlichung und In- dividuaUsierung und damit denn das ist die notwendige Folge auf die Herausbildung eines immer tieferen Erlösungsglaubens

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 23

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gerichtet ist. Das ist oben bereits angedeutet worden. In allen großen Religionen findet die hiermit gekennzeichnete Entwicke- lung statt. Durch Ablösung von den Naturerscheinungen ver- geistigt sie die Gottheiten bis zum Untergang aller Einzelgötter in einem göttlichen Allwesen, in dem sie Formen seines Wirkens sind ; durch Ethisierung einzelner Gottheiten und religiöse Durchdringung der Moral versittlicht sie die Gottheit zum Inbe- griff und Wächter der sittlichen Gesetze und ordnet sie den Seelenglauben dem Götterglauben in einer mehr oder minder ethisch beeinflußten Eschatologie unter, während die in diesen Prozeß nicht eingehenden Gottheiten zu Lokalgöttern, Dämonen und bösen Geistern werden. Indem sie die Götter an Gesinnung und Willen statt bloß an kultischen Gehorsam und zeremoniale Gewissenhaftigkeit sich wenden läßt, bezieht sie die Gottheit auf das Individuum als solches und nicht mehr nur auf Familie, Sippe, Staat und Bundschließung. Mit der Individualisierung endlich beginnt der universalistische Charakter der Religion hervorzu- treten. Eben damit aber erhebt sie Gott über Welt und Natur als ihren tiefsten, hinter aller Endlichkeit und Verworrenheit waltenden Urquell und mit der Gottheit zugleich den Menschen aus der Geteiltheit, Zerstreutheit und Unruhe des Endlichen, so- wie aus Schuld und Verhängnis des Erdenlebens. Je nach dem Maße der Kraft, die von Hause aus in der Grundkonzeption ge- legen hat, schreitet dieser Prozeß mehr oder weniger vorwärts, bleibt er hier früher, dort später stehen. Aber auch wo die Religionen zu voller Höhe und Reife kommen, wo sie in Mystik und Erlösungsglauben ausmünden, wird die in den ursprünglichen Anfängen der Naturverehrung enthaltene Schranke zumeist nicht überwunden. Sie behalten die Spuren ihres partikularistischen und naturreligiösen Ursprungs und schlagen um in phantastische Priesterspekulationen, in monistische Philosophie, akosmistische Mystik oder, wie der Buddhismus, in eine skeptische Erlösungs- methodik. Die bereits erreichte Versittlichung geht in dem Ab- grund des Pantheismus wieder unter und die Volksreligion ver- fällt orgiastischen Spezialkulten oder einem üppig wuchernden synkretistischen Aberglauben, der zum alten Polytheismus zurück- artet. Nur eine Religion hat den Bann der Naturreligion völlig durchbrochen und steht insofern einzigartig da : die Religion Israels und das Christentum. Angesichts des bevorstehenden Untergangs des Volkes hat die Religion Israels sich von ihren

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partikularistischen und naturreligiösen Grundlagen prinzipiell ge- löst, den Glauben an Jahwe geknüpft an die Reinheit des Herzens und an die Gewißheit einer alles auflösenden Entwirrung der Erdenläufe am Ende der Tage. Aus diesem Kerne ist in der Person Jesu das Christentum hervorgebrochen, das, wenn es auch Gott in größerer Nähe am einzelnen Herzen und in unmittelbarerer Wirksamkeit an der Welt empfindet, doch durch diese Grundlage verhindert ist, je wieder in den Pantheismus und die Mystik der vollendeten Naturreligion zu fallen, das wenn es auch dem Herzen Seligkeit und Ruhe in Gott gibt, doch in der Gewißheit der Ver- gänglichkeit des Sinnendaseins einer höheren Welt wart'^t und dadurch jedes rein immanente Untergehen in Gott ausschließt. Indem es nicht bloß vom Leid der Endlichkeit und dem Druck der Natur erlöst, sondern vor allem von dem Trotz und der Ver- zagtheit des menschlichen Herzens, von Schwäche und Schuld- bewußtsein, indem es mit dieser Befriedigung des Herzens und mit der Gewißheit einer die Zeit überwindenden Gottesgemein- schaft zugleich Kraft zum Handeln und Lieben auf Erden ver- leiht, ist es eine Erlösungsreligion höherer Ordnung, die gleich hoch über dem buddhistischen Pessimismus wie über der neu- platonischen Mystik, den beiden letzten Ergebnissen außerchrist- licher Frömmigkeit, steht. Durch diesen prinzipiellen Bruch mit jeder Art von Naturreligion vollendet es allein unter allen Re- Hgionen die Tendenz auf Erlösung, wie es im Zusammenhang damit allein die Tendenz auf rein innerliche Allgemeingültigkeit vollendet hat.

Um dieser tatsächlichen Eigentümlichkeit, um dieser inneren Uebereinstimmung zwischen Forderung und Wesen willen erkennen wir im Prophetismus und Christentum den Höhepunkt, oder besser einen neuen Ausgangspunkt in der Religionsgeschichte, den Auf- gang der Sonne nach der Morgenröte, nicht Abschluß und Ende zur Ruhe, sondern den Beginn eines neuen Welttages mit neuer Arbeit und neuen Kämpfen. Es gilt noch viele dunkle Teile zu erleuchten, es gilt sein eigenes Licht reiner zu erkennen. Eine unermeßliche Arbeit liegt noch vor ihm, und aus seiner inneren Triebkraft wird in der Berührung mit der sich wandelnden Weltlage und mit anderen Religionen ein zum voraus gar nicht zu konstruierendes weiteres Wachstum der Religion sich ergeben. Gerade, daß es das kann, daß es diese Fähigkeit beständiger Verjüngung und Anpassung besitzt, ist eine weitere Folge seiner

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Eigentümlichkeit. Als Religion des Geistes, die im Unterschied von jeder wie immer pantheistisch vertieften oder ethisch ge- färbten Naturreligion, auf den immer lebendigen und tätigen, inneren geistigen und sittlichen Wesenskern der Menschen sich bezieht, hat es die Kraft der Selbstkritik und Reinigung, der Vertiefung und Erneuerung, kann es von mythologischen Hüllen immer wieder auf ihr inneres Wesen zurückgreifen und von den nie ausbleibenden Verschmelzungen mit fremden Gedankenmassen sich immer von neuem reinigen. Es ist nicht an bestimmte Natur- auffassungen und nicht an vergängliche und partikulare Gemein- schaftsbildungen gebunden, es enthält einen Trieb des Strebens, der Tätigkeit und Vervollkommnung, der jeder nur in die ge- gebene Einheit des Universums sich versenkenden Mystik fehlt, es enthält positive Ziele, die der nur am Pessimismus haftende quietistische Buddhismus nicht kennt, und es faßt den universali- stischen Glauben in einer triebkräftigen Tiefe, von der der Islam sich nur die Oberfläche hat aneignen können. Setzen wir z. B. den an sich möglichen Fall, den der Astronom Schiaparelli aus Anlaß der sogenannten Marskanäle für unseren Planeten konstruiert, daß nämlich einmal mit der Erkaltung der Erde und der Ver- ringerung ihrer Existenzmittel eine ähnliche ungeheure Vereinigung menschlicher Arbeit nötig sein möge und nur mehr solche mit äußerster Gesamtanstrengung unternommenen Schutzarbeiten dann noch die Existenz ermöglichen werden, so werden wir uns zu- gleich unendliche Veränderungen in Recht, Moral, Gesellschaft und Staat denken müssen und sicherlich auch in der Religion. Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein solches Unternehmen unter dem Schutze des päpstlichen Segens oder unter dem Antrieb oberkirchenrätlicher Erlasse unternommen oder daß es durch einen Streit um das Apostolikum gestört werden wird. Nichts aber macht uns unmöglich zu denken, daß die zu diesem Werke nötige Kraft des Gemeingeistes aus lebendig-theistischer Frömmig- keit stamme, welche Formen sie immer in solchen Tagen angenom- men haben möge. Es ist, wie gesagt, die tatsächliche Bedeutung des Christentums unter den Religionen, die Herausarbeitung der personalistischen Erlösungsreligion gegenüber aller Naturreligion, die zu dieser Zuversicht veranlaßt, nicht eine abschließende ge- schichtsphilosophische Konstruktion. Man wird daher einer solchen Zuversicht nicht vorwerfen dürfen, daß sie dem Zufall huldige, der gerade über dem uns bekannten kleinen Bruchstück der Geschichte

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wie über einer Insel im endlosen Meere die Sonne der Wahr- heit scheinen lasse. Es handelt sich dabei ja nicht sowohl um eine bestimmte historische Gestalt des Christentums als um die Idee der personalistischen Erlösungsreligion, deren heutige Ge- stalt, so gut wie sie selbst erst geworden ist, sicherlich nichts ewiges ist. Aber in Prophetismus und Christentum ist diese Idee historische Macht geworden und von dieser grundlegenden Gestalt aus wird sie sich weiter entwickeln zu Ergebnissen, die wir heute noch nicht kennen und nicht zu kennen brauchen. Genug, daß sie so, wie sie sind, den Durchbruch in die perso- nalistische Erlösungsreligion bedeuten und daß wir das Ewige in diesem Zeitlichen fühlen können. Wir dürfen wohl anneh- men, daß die Entstehung großer Religionen überhaupt in die Jugend der Menschheit fallen muß, wo das Leben einfacher und die unbedingte Versenkung in die Religion leichter, die Zusammenhänge des Erdendaseins noch weniger verschlungen und die reine Herausbildung religiöser Mächte ungestörter ist. Der Ursprung der NaturreUgionen verläuft in graue unerforsch- liche Urzeiten. Die Religion Israels mit ihren beiden Kindern, dem Christentum und dem Islam, ist eine junge Religion und hat das Thema der Zukunft angeschlagen, aus dem das Christen- tum die entscheidende allgemeine religiöse Wahrheit als Grundlage aller weiteren Entwickelung herausgebildet hat. Dazu kommt ein weiteres. Die Variationen menschlichen Lebens und Denkens sind im Einzelnen unabsehbar, im Großen sehr gering. So wird sich die der Zukunft zugewandte Phantasie auch nicht ein end- loses hin und her wogendes Spiel grundverschiedener geistiger Lebensgehalte, sondern eine immer mühseligere und verschlun- genere, immer ausgebreitetere und verwickeitere Durcharbeitung errungener Grundgedanken vorstellen dürfen. Unter diesen Grund- gedanken aber wird der festeste und stärkste der der christlichen Frömmigkeit sein, weil er allein die Menschheit mit dem dauernden und ewigen Grund des geistigen Lebens auf rein innerlich geistige Weise verknüpft und in dieser Verknüpfung zugleich Not und Leid des Erdendaseins tätig erlösend überwindet.

So lichtet sich das Gewirr der Religionsgeschichte und zeigt sich eine Entwickelungstendenz, in der wir die Richtung der Zu- kunft erkennen dürfen. Zerstreut und vereinzelt, ihr Leben der Natur abkämpfend, von Eindrücken und Ereignissen in Natur, Volksleben und Einzelleben ergriffen, erzeugt die menschliche

5c3 Christentum und Religionsgeschichte.

Urwelt eine Unzahl von äußerlich sehr verschiedenen, innerlich aber sehr nahe verwandten Religionen, von denen die meisten mit dem Leben der betreffenden Horden, Stämme oder Völker selbst sich verhärtet und auf ihre Stufe beschränkt haben. Hier wird Natur und Mensch hingenommen, wie beide sich unmittelbar vorfinden, und gehen aus diesem Zustande religiöse Eindrücke von sehr geringer Entwickelungsfähigkeit hervor. Nur wenige große Völker vollziehen mit dem breiteren nationalen und sprachlichen Zusam- menschluß zugleich die Fortbildung und Vertiefung dieser Re- ligionsstufe, indem die entwickelungsfähigen Grundzüge erweitert und vertieft, die rohe Mythologie und abergläubische Kulte ab- gestoßen oder depotenziert und alle von den neuen Lebens- und Kultureindrücken ausgehenden religiösen Erregungen in die bis- herige Ueberlieferung eingeschmolzen w^erden. Sie münden in Moralitätsreligion, Pantheismus, schließlich Pessimismus und Mystik aus, bleiben aber auch dann noch immer bei der Welt und dem Menschen stehen, wie sie ihn vorfinden, ohne ihm positive, die Natur überwindende Ziele zu zeigen. Nur Sehnsucht und Ahnung weist in ihnen auf solche Ziele hin. Nur eine Religion hat schließlich das mit der Natur unmittelbar verknüpfende Band gelöst und, indem sie einen schaffenden, von der Natur als Geist sich unterscheidenden Gott erkannte, zugleich dem Menschen das Ziel einer positiven Erhebung über die materielle Natur und seine ihm zunächst angeborene Seelennatur gewiesen. Das ist die Re- ligion Israels gewesen, die eine der bedeutendsten Tatsachen inner- halb der uns bekannten Weltgeschichte ist. Als Abschluß der inneren Entwickelung Israels und als Anschluß für den hellenischen philosophischen Monotheismus setzte sich auf dem Trümmerfelde der von den Weltreichen zerschlagenen Nationalreligionen das Christentum fest, während der Prophetismus in Israel selbst zum Judentum einschrumpfte und neben beiden um dürftige Bruchstücke dieser Religionen der Islam auf dem asiatischen und afrikanischen Trümmerfelde seine Bekenner sammelte. Mit dem Auftreten dieser großen, religiösen Prinzipien ist die religiöse Produktion immer mehr eingeengt worden, sie bewegt sich nur mehr in der Schaffung synkretistischer Zwischengebilde oder von Spielarten. Die Zukunft gehört dem Kampfe der großen Religionsgebilde. Unter diesen aber ist das Christentum als der Ausgangspunkt einer prinzipiell neuen Stufe die Kraft, die mit der höchsten Kultur spannungsreich und doch unlöslich verbündet in dem Mittel-

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punkt des großen Weltkampfes steht, nicht als ein fertiges und starres System, sondern als eine lebendige Macht, die den An- schließungspunkt für alle weiteren religiösen Erkenntnisse und Erregungen bildet und nach dem unberechenbaren Gesetze des religiösen Lebens weiterwächst in die Zukunft. Einen großen Teil dieses seines Entwickelungsprozesses, der es bereits sehr erheblich verändert hat, sehen wir schon hinter uns, ein wichtiges Stück desselben, die fortschreitende Differenzierung, die Loslösung von der unmittelbaren bisherigen Verbindung mit Staat und Po- litik, Recht und weltlicher Moral, Wissenschaft und Welterklärung, die Konzentration auf seinen rein religiösen Gehalt und die er- neute Einwirkung dieses Gehaltes auf die Gesamtlage vollzieht sich vor unseren Augen. Es sammelt und wandelt sich zu einer neuen Wirksamkeit. Daran darf uns das kirchliche Elend seiner momentanen Wirklichkeit und die moralische Widerwärtigkeit der klerikalen Kämpfe nicht irr machen. Es handelt sich um die aus ihm immer wieder hervorbrechende Zukunftsrichtung, nicht um seinen heutigen konfessionellen Wirrwarr.

Es liegt auf der Hand, daß wie die ganze bisher zugrunde gelegte Gesamtanschauung von der Geschichte auf unsere klassische Literatur und Philosophie zurückgeht, so insbesondere diese An- schauung von der Religionsgeschichte sich nahe berührt mit den Ideen Lessings, Goethes, Herders, Kants, Hegels, Schleiermachers und anderer verwandter Denker. Sie sucht nur die Auffassung der Religion von der allzugroßen Nähe zu befreien, in die sie diese Männer zu anderen geistigen Mächten gestellt haben. Lessing hat sein evangelium aeternum zu sehr nach Analogie der frei- schwebenden, sich selbst tragenden und durch ihren inneren Zu- sammenhang beweisenden Aufklärungswissenschaft gedacht. Her- der hat die Religion zu nahe an den ethischen Begriff der Hu- manität gerückt und, indem er überall diese Humanität erblickte, zu sehr die Grenzen der Religionen verwischt, Schleiermacher sie zu sehr aufgelöst in einen romantischen Spinozismus, der in den Religionen nur die individuell verschiedenen Arten sah, wie man sich der Immanenz in Gott bewußt ist. Hegel hat gleichfalls die Religion zu sehr dem metaphysischen Monismus konformiert und vor allem ihre Entwickelung zu doktrinär und steif aus der logischen Notwendigkeit der Gedankenbewegung abgeleitet, wodurch die rein ursprüngliche Tatsächlichkeit ihrer verschiedenen Entwicke- lungen und ihre geheimnisvolle Macht beeinträchtigt worden ist.

^go Christentum und Religionsgeschichte.

Auch Goethe, dieser universale Geist, hat die von ihm wohl- gekannte Eigentümlichkeit des Christentums unter den andern Religionen zu sehr an seiner poetischen, organischen Naturauf- fassung gemessen und in seiner künstlerischen Abneigung gegen Brüche und Katastrophen, Spannungen und Kämpfe seine pessi- mistischen Elemente zurücktreten lassen. Gleichwohl enthält seine Altersweisheit eine Reihe tiefer Einsichten, zu denen man aus Gläubigkeit und Ungläubigkeit der Gegenwart stets gerne zu- rückkehrt als zu Andeutungen einer erfreulicheren Entwickelung. Zeugnis hierfür sei, statt vieler andern, das oft angeführte Wort aus den Wanderjahren : »Was gehörte dazu, die Erde nicht allein unter sich liegen zu lassen und sich auf einen höheren Geburtsort zu berufen, sondern auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Ver- achtung, Schmach und Elend, Leiden und Tod als göttlich anzu- erkennen, ja Sünde selbst und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen zu verehren und lieb zu ge- winnen. Hiervon finden sich freilich Spuren durch alle Zeiten ; aber Spur ist nicht Ziel, und da dieses einmal erreicht ist, so kann die Menschheit nicht wieder zurück, und man darf sagen, daß die christliche Religion, da sie einmal erschienen ist, nicht wieder verschwinden kann, da sie sich einmal göttlich verkörpert hat, nicht wieder aufgelöst werden mag.« Seine »Geheimnisse« sollten geradezu ein die Religionsgeschichte symbolisierendes Epos wer- den, das in allem Wesentlichen die hier vorgetragenen Grund- gedanken enthalten sollte und in dem fertigen Bruchstück durch das Symbol des mit Rosen umwundenen Kreuzes das Christentum ebenso als Endziel darstellt, wie die Betrachtungen der Wander- jahre.

Freilich hat die »moderne« Wissenschaft inzwischen von die- sen tiefsten Grundlagen unserer Bildung sich, in der Hauptmasse wenigstens, wieder weit entfernt. Maßgebend für diese Entfer- nung waren weniger wissenschaftliche Konsequenzen, sondern die von den ungeheuren praktischen Umwälzungen unseres Jahrhun- derts ausgehenden Wirkungen äußerer Verhältnisse. Die Alles verwandelnden Leistungen der neuen Technik, die aus ihnen her- vorgegangenen brennenden sozialen Fragen, die Wiedererweckung des nationalen Egoismus, nicht zum mindesten die unter diesen Verhältnissen gesteigerte und besser erhaltene Population haben alles Interesse auf praktische Kulturfragen abgelenkt und das Problem innerweltlichen Glückes in den Mittelpunkt gerückt. Das

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Dogma vom Kulturfortschritt, der Kulturoptimismus, beherrscht die Meinung- des Tages und in seinem Lichte werden alle wissen- schaftlichen Errungenschaften angesehen. Man zieht aus der von unserer großen Epoche eröffneten Periode historisierenden Den- kens eifrig die Konsequenz des Relativismus, aber nur um die bisherigen idealen Mächte und besonders das Christentum, zu entwerten, während man zugleich ruhig an den Fortschritt und ein absolutes Kulturglück der Zukunft glaubt. Man verwendet mit Eifer die Naturwissenschaft zur Unterwerfung alles Daseins und Lebens unter die »Naturgesetze«, aber nur um alle über das innerweltliche Glück hinausgehenden geistigen Werte zu Fabeln zu machen, während man gegenüber derselben Naturgesetzlichkeit dem menschlichen Willen eine ungeheure, sie dem Kulturglück kunstreich unterwerfende Macht zutraut. Man erhebt sich hoch über die phantastischen Träume einer die Verknüpfung der sinn- lichen und übersinnlichen Welt suchenden Metaphysik und kon- struiert aufs sorgloseste den eigenen Zustand als das logische Endziel der Geschichte, indem man der Periode religiöser und dann metaphysischer Welterklärung die rein innerweltlichen prak- tischen Zwecken dienende »positive« gegenüberstellt. Gegen solche Gesamtstimmungen ist direkt nichts auszurichten, am wenigsten durch den Aufweis ihrer Widersprüche. Sie werden ihre prak- tischen Konsequenzen noch deutlicher entfalten müssen, als es bisher geschehen. Die Verödung und Versandung des geistigen Lebens, die fortwährende Abnahme sittlicher Kraft und religiösen Ernstes, die im Genuß immer neu nach Begierde verschmachtende Abstumpfung müssen zeigen, wohin wir auf diese Weise trotz aller äußeren Fortschritte kommen, und daß ein innerweltliches vollendetes Kulturglück das täuschendste von allen Trugbildern ist. Dann wird man auch wieder auf unseren besten geistigen Besitz zurückgreifen und von ihm aus die wissenschaftlichen Fort- schritte zu verwerten wissen. Dann werden auch die schweren Gefahren, die die Historisierung aller Wissenschaft und auch der Religionswissenschaft mit sich bringt, leichter gehoben werden können, als das jetzt der Fall ist.

Wie weit die hier entwickelten Anschauungen auf die offizielle Theologie der Kirchen und P'akultäten einwirken können und dür- fen, ist hier zu untersuchen nicht der Ort. Sie wirken bis jetzt be- reits recht kräftig in Gestalt biblisch-kritischer oder dogmenge- schichtlicher Forschungen, deren Konsequenzen freilich selten

202 Christentum und Religionsgeschichte.

ganz gezogen werden. Dagegen haben sie ihr systematisches Ge- füge mehr angehaucht als wirkUch umgebildet. Aber die Theo- logie von sich aus ist hier in der Tat zu großer Vorsicht genötigt und muß sich eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Sie ist nicht reine, jedenfalls nicht freie Wissenschaft, sondern vielmehr an die rechtlichen Bestimmungen, die tatsächliche Tradition und die vor- liegenden Verhältnisse und Zwecke gebunden, und ist daher mehr Kompromiß mit der Wissenschaft, als eigentliche Wissenschaft. Ihre Aufgaben sind in erster Linie praktische, durch den tatsäch- lichen Bestand des Kircheninstituts gegebene und sie kann wis- senschaftliche Erkenntnisse meist nur indirekt auf ihren Stoff wirk- sam machen, indem sie allzuschroffe Gegensätze beseitigt und im übrigen vermittelt und ausgleicht. Wohl mögen Theologen, soweit sie Gelehrte sind, die großen Fragen bedeutsam fördern; soweit sie kirchlichen Zwecken mit zu dienen haben, sind sie durch die praktischen Aufgaben und Verhältnisse gebunden. In Wirklich- keit sind ja auch bei aller Wichtigkeit der Mitarbeit der Theo- logen die großen wissenschaftlichen Fragen immer außerhalb der Theologie entschieden worden. Die hier getroffenen Entschei- dungen werden dann schon auf die Theologie zurückwirken und eine Art Ausgleich der Temperaturen veranlassen. Der einzelne Theologe wird unter solchen Verhältnissen des Gegensatzes eine exoterische und esoterische Theologie unterscheiden dürfen, so lange er sich bewußt ist, in Wahrheit in beiden den gleichen Zweck zu wollen; den circulus virtiosus aber, daß jede Ab- schließung der Theologie die Abneigung der Wissenschaft und jede Feindseligkeit der Wissenschaft die Abschließung der Theo- logie steigert, wird er nicht durchbrechen können, so lange die außerordentliche Bedeutung der kirchlichen Frage für das Ge- samtleben einer aufgeklärten Indifferenz verborgen bleibt.

Für das allgemeine Interesse kommt es auf ganz andere Dinge an als auf spezifisch theologische Untersuchungen. Es er- fordert, daß der historische Relativismus, der uns auf allen Ge- bieten in Gelehrsamkeit zu ersticken und alle schöpferische Kraft zu lähmen droht, gerade auch auf dem Gebiete der Religion als der gefährlichste Gegner erkannt und überwunden werde. Es mehren sich von allen Seiten die Anzeichen, daß man seiner müde zu werden beginnt. Man versucht ihn durch patriotische Begeisterung, durch das Ideal sozialer Gerechtigkeit, durch Zu- kunftsmusik, durch religionslosen Altruismus zu überwinden, man

Christentum und Religionsgeschichte. ß53

dürstet nach einfachen, absokiten und allgemeingültigen Idealen. Mit alledem wird es nicht getan sein. Aber man wird auf diesem Wege erkennen, daß die eigentliche Heimat aller solcher Ideale die Religion ist, und daß daher in ihr vor allem der sichere und freudige Glaube an ein absolutes Ziel wieder gewonnen werden muß. Das kann freilich nicht dadurch geschehen, daß man die Geschichte plötzlich ignoriert und ihre Methoden abschwört. Aber es kann geschehen, wenn wir die großen Grundideen unserer klassischen Literatur, Philosophie und Geschichtsschreibung wie- der aufnehmen und in der Geschichte die Entfaltung eines ein- heitlichen und im Kerne einfachen geistigen Gehaltes erblicken, wenn wir in der größten und gewaltigsten aller Religionen nicht mehr bloß das interessante geschichtliche Phänomen, sondern den Zusammenhang mit jenem ewigen Kerne des geistigen Lebens suchen. Man wird dann wieder erkennen, daß auch die Reli- gionsgeschichte nicht bloß Glieder hat, sondern auch ein geistiges Band, und daß dieses Band nicht so schwer zu finden ist, wie die vorsichtigen Leute meinen, welche die historische Wahrheit nur dem Spezialstudium zugänglich wähnen. Man wird nicht mehr vor der Möglichkeit erschrecken, daß etwa gar das Ende dieses Bandes in unserer eigenen Hand läge und von uns nur verlangte, schlicht und einfach fortgesponnen zu werden. Ist die Geschichte in der Tat nur der unendlich verwickelte Kampf um die Entfaltung eines einfachen geistigen Gehaltes, wäre es da so wunderbar, wenn wir im Christentum zum Kern dieses Gehaltes vorgedrungen wären und nunmehr von ihm aus und in seiner Kraft unsere Wirklichkeit zu gestalten hätten.? Es würde uns noch Arbeit genug übrig bleiben, um ein Dutzend Jahrtausende damit auszufüllen.

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Empirismus und Piatonismus in der Religions- philosophie.

Zur Erinnerung an William James. Aus: Harvard Theological Review 1912.

Das philosophische Werk William James', das mit manchen Traditionen der angelsächsischen Philosophie enge zusammen- hängt, hat schon zu seinen Lebzeiten auf den europäischen Kon- tinent einen starken, man kann fast sagen, einen aufregenden Eindruck gemacht. Das Erbe des Abgeschiedenen ist nun aber in noch viel höherem Grade durch die Nachrufe und Zusammen- fassungen zum Gegenstande der Beachtung geworden, um so mehr als neben der »pragmatistischen Schule« auch ein so feiner und durchdringender Geist wie Bergson verwandten Bestrebungen die Bahn bricht.

Besonders deutlich hebt sich aus diesem Erbe die Religions- philosophie James' hervor, teils durch ihren Gegensatz gegen die herkömmliche kontinentale Grundform der Religionsphilosophie, teils durch die Fülle neuer und wertvoller Anregungen, die durch eine Reihe eifriger Anhänger vermehrt worden sind. Es ist daher für die Leser der Harvard-Review vielleicht nicht ohne Interesse, wenn ich das Eigentümliche und Neue dieses ersten durchschla- genden amerikanischen Beitrages zur Religionsphilosophie zu charakterisieren versuche. Es handelt sich dabei um zweierlei : erstlich um den Gegensatz gegen die kontinentale Religionsphilo- sophie, zweitens um den Wert, den das darin zutage tretende Neue für unsere Wissenschaft meiner Ansicht nach hat.

Bevor ich aber den Unterschied zu bestimmen suche, muß ich doch das Gemeinsame hervorheben. Dieses Gemeinsame ist bedeutender und umfangreicher als es bei James selbst erscheint. Die Unterschiede bewegen sich innerhalb eines gemeinsamen Rahmens und sind nicht fundamental. Die Einheitlichkeit der

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. '^6>K

wissenschaftlichen Arbeit der heutigen Kulturwelt ist im Grunde vollständig gewahrt. Dieses Gemeinsame besteht darin, daß die Religionsphilosophie von James wirkliche Religionsphil os ophie ist, d. h. nicht eine einseitig konfessionelle oder theologische Be- handlung des Themas. Wie bei uns die Religionsphilosophie sich von der Theologie der Kirchen dadurch unterscheidet, daß sie nicht von einer gegebenen theologischen Normwahrheit aus- geht, sondern von der ganzen Breite der religiösen Phänomene, so ist das auch bei James der Fall. Auch er betrachtet die Religion als einen ungeheuren Kreis allgemein-menschlicher Phä- nomene, innerhalb dessen die Einzelkreise zunächst keinerlei Vor- zug voreinander haben. Wie der Ausgangspunkt, so ist aber weiterhin auch das Ziel durch keinerlei äußere Autorität oder Denominationslehre bestimmt, sondern Vergleichung und Wertung vollzieht sich völlig frei nach einem erst von dem Philosophen selbst zu gewinnenden und zu bestimmenden Maßstab. Das Pro- blem dieses Maßstabes birgt geradezu die eigentlichsten religions- philosophischen Schwierigkeiten in sich, die wir noch kennen lernen werden. Damit ist schließlich das dritte gemeinsame Merkmal gegeben : die Unterscheidung und Wertung arbeitet nicht mit dem kirchlichen Supranaturalismus, mit der Abgrenzung einer jüdisch-christlichen Wunderregion von einer wunderlosen natürlichen Region. Das hervorzuheben ist um so wichtiger, als James selbst sich mehrfach entschieden zum Supranaturalismus und Dualismus bekennt und das Wunder keineswegs ablehnt. Allein dieser Supranaturalismus ist kein exklusiver christlicher, sondern gilt ihm von jeder Religion ; ja es ist überhaupt nur die Bestreitung des gesetzesgläubigen Rationalismus und Monismus. Das Wunder im Sinne von James hat mit den Wundern der christlichen Legende und Dogmatik nichts zu tun. Der Glaube an eine göttliche Weltregierung »bedeutet, sagt er einmal, na- türlich , wunderbares' Eingreifen, aber nicht notwendig von jener groben Art, deren Darstellung unseren Vätern so gut gefiel und die für uns ihren Zauber so ganz verloren hat. Zeichen und Wunder und Erschütterungen des Himmels und der Erde sind nicht die einzigen Mittel, den Widerstand gegen die Pläne eines Gottes unschädlich zu machen, an die wir denken können«. Aus eben diesem Grunde bedeutet ihm die »natürliche Religion« die an der Schönheit und Herrlichkeit der Natur zu machenden religiösen Erfahrungen im Gegensatz zu denen, welche von einem

2g5 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

verborgenen Hintergrunde der Natur ausgehen und die dem Neu- platonismus und Buddhismus ebenso zugehören wie dem Christen- tum; mit der herkömmlichen natürUchen Religion der christlichen Dogmatiker hat das nichts zu tun.

All das aber bedeutet die große Konzeption des religions- philosophischen Gedankens, wie er seit Herder und Schleiermacher, Spinoza und Hume gefaßt worden ist : unter Zurückstellung jedes eigenen Glaubens hält man sich zunächst an die ganze Breite der psychologisch-historischen Wirklichkeit der Religion und strebt erst von ihrer Anschauung und Analyse aus zu normativen Glau- bensbildungen, wobei völlig offen bleibt, ob es solche überhaupt geben könne und wie solche beschaffen sein werden. Die Eman- zipation vom zufällig Angeborenen, die vergleichende Ueberschau über das Ganze der Phänomene, die Herausarbeitung des Sinnes und Gehaltes der religiösen Phänomene durch Analyse, die Aufsuchung der Bedingungen für die Bildung eines Beurteilungsmaßstabes : all das ist auch bei James als die einzig lebendige Voraussetzung oder »working hypothesis« vorausgesetzt, der gegenüber auch für ihn die kirchliche Wunderapologetik, sie mag das äußere oder das innere Wunder bevorzugen, eine »tote Hypothese« ist.

Der eigentümliche Unterschied ist also erst innerhalb dieser gemeinsamen Voraussetzung zu suchen, wobei James nur dadurch sich charakterisiert, daß er in dieser Voraussetzung die heute nun einmal allein lebendige Arbeitshypothese sieht, während man bei uns in ihr die Vernunftforderung sieht, die eintritt, sobald der Zwang des angeborenen Vorurteils aufhört. In diesem Unter- schiede ist zwar bereits der Gegensatz des bisherigen Denkens angedeutet. Aber es ist nur eine Andeutung, und der Unter- schied ist für die Wirkung auf das Ganze des Gedankens zu- nächst gleichgültig. Das Ergebnis ist so oder so das gleiche. Der wirkliche Unterschied ist vielmehr erst an dem Hauptpunkt, an dem Prinzip der psychologischen Analyse und ihrer Folgen, wesentlich klar zu machen. Das aber wird erst möglich sein, wenn wir uns zuvor den Grundzug der kontinentalen Religions- philosophie klar gemacht haben.

Dieser Grundzug läßt sich mit einem Worte als platonisch oder neuplatonisch bezeichnen. Die gesamte kontinentale Philo- sophie und Wissenschaft steht wesentlich unter dem Einfluß des platonischen Rationalismus, der seinerseits den sophistischen Sub- jektivismus und Relativismus voraussetzt und insofern allerdings

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ^57

Überall aus dem Empirismus herauswächst. Aber er will überall zugleich die Ueberwindung des bloß Tatsächlichen durch den Auf- weis eines in ihm waltenden und sich entfaltenden rational-not- wendigen Begriffselementes sein. Der echte Piatonismus hat diese Begriffe nur als vom Denken her entstehende Intuitionen und Abstraktionen des Wahrhaft-Realen verstanden und ihre Realität an sich, ihr Verhältnis zu der sie auswirkenden und in sich ent- haltenden Erfahrung, sowie ihre Ableitung von einem letzten Ver- nunftgrund oder Vernunftgesetz des Universums nie ernstlich auf- gehellt. Diese Fortführung vollzog teils Aristoteles, der die Imma- nenz des begrifflich-gesetzlichen Elementes in der Erfahrung lehrte und jenes aus dem vernünftigen Weltgrund durch die Idee des Zweckes und der organischen, auf den Weltgrund hinzielenden Ent- wickelung herleitete. Der Neuplatonismus hat dann diese Entwicke- lung noch fester an den Weltgrund angeschlossen, indem er dessen Abstieg aus der reinen unfaßbaren überempirischen Idealität durch die Stufen der Ideen hinunter bis zur Erfahrungswelt lehrte und aus ihr dann wieder den Aufstieg und Rückkehr durch zu- nehmende Erkenntnis der begrifflichen Wesenheiten erfolgen ließ. Die Stoa hat trotz ihres ursprünglichen Empirismus sich schließ- lich erkenntnistheoretisch und metaphysisch durch ihre Idee des allgemeinen, Natur und Geist beherrschenden Weltgesetzes auch ihrerseits diesen Gedanken genähert, sodaß sie für die kon- tinentale Philosophie mit den beiden erst genannten zusammen- fließen konnte. Diese Gedankenkombination hat die gesamte mittelalterliche Philosophie und auch die Renaissance beherrscht. Der sophistische Relativismus und die auf die Mannigfaltigkeit des Tatsächlichen sich berufende Skepsis, der ganze radikale Subjektivismus und Empirismus war durch die platonische Schule völlig überwunden; nur im Nominalismus und in der Skepsis der Renaissance kehrten diese Züge gelegentlich und unsicher wieder. Rafaels Schule von Athen bezeichnet die europäische Philosophie, wie sie im Gegenschlage gegen die Sophistik und ihren Relati- vismus geworden ist, die Philosophie der Aufweisung rationaler Gesetze und Begriffe in der Erfahrung und der Herleitung dieser Gesetze aus der göttlichen Weltvernunft. Daran haben auch die in anderer Hinsicht völlig den antiken Horizont überschreitenden modernen Naturwissenschaften nichts geändert. Ihr Sinn bei Kepler und Galilei, Descartes und Newton ist die Aufweisung einer rationalen Notwendigkeit im Naturgeschehen. Man hat

■^68 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

heute mit vollem Recht den Begriff der denk-notwendigen Natur- gesetze in seiner Abkunft vom Piatonismus erkannt. Auch die Kantische Philosophie folgt mit ihrem Versuch, diese Naturgesetze als rationale Notwendigkeiten des Geistes zu konstruieren und sie gegen den reinen Relativismus wie gegen einen die Not- wendigkeit zugleich mit dem Geiste ertötenden Materialismus sicher zu stellen, dem platonischen Grundzuge. Es ist kein Wun- der, daß aus der Kantischen Philosophie mit F'ichte, Schelling, Hegel und Schleiermacher wieder Systeme hervorgegangen sind, die die Analogien zum Aristotelismus und zum Neuplatonismus deutlich kundtun. Auch der darauffolgende Neukantianismus in seiner nüchternsten und positivistisch-agnostischen Gestalt will doch die Rationalität und Notwendigkeit der Gesetze behaupten, indem er sie auf die apriorisch-ordnende Tätigkeit des Subjektes zurückführt.

Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß auch die Religionsphilosophie dem platonischen Typus folgt. Die Religions- philosophie ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Anwendung einer allgemeinen philosophischen Theorie auf das Verständnis und die Beurteilung der Religion. Die Religion an sich ist ohne eigene wissenschaftliche Begriffe und ohne wissenschaftliche Me- thodik. Daher kann aus ihr allein niemals eine völlig selb- ständige, nur durch die Indikationen der Religion selbst be- stimmte Wissenschaft hervorgehen. Es handelt sich immer um Anwendung allgemeiner, vom Boden der Gesamtwissenschaft her bestimmter Prinzipien. So ist die Religionsphilosophie Europas, soweit sie überhaupt neben dem populären religiösen Mythus und neben der autoritativen Theologie sich entfalten und ihr in- filtrieren konnte, durchaus platonischen und neuplatonischen We- sens. Die von Anfang an stark herangezogene, insbesondere für die Ethik bedeutsame Stoa, wurde als vom Piatonismus verschie- den kaum mehr empfunden, sie vertrat nur das mehr einfache popularphilosophische Element. Sobald die aus dem Dunkel der Unterschicht und Mittelschicht auftauchende christliche Gesell- schaft der Wissenschaft bedurfte und eine religionsphilosophische Unterlage für den Gemeindeglauben aufweisen wollte, da stellte sich daher sofort der Piatonismus ein. Die beiden großen Theo- logen der alten Kirche, Origenes und Augustin, bedurften einer solchen Unterlage, und für beide war es der Piatonismus. Das Schauen der ewigen begrifflichen Wesenheiten mit den Augen des Geistes ist für Origenes der Grundgehalt alles Religiösen, und,

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ^ÖQ

und, sofern aus dem wissenschaftlichen Begriff des die Ideen in sich vereinigenden Logos das spezifisch ReUgiöse herausgezogen wird, ist es die in diesem Schauen stattfindende Anähnlichung, Gemein- schaft und Wesenseinheit des göttlichen und des endlichen Geistes. Die christUche Kult- und Lebensgemeinschaft bringt zu dem nur die konkrete Anschaubarkeit der göttlichen Vernunft in dem menschgewordenen Logos, die Sittengesetze des Logos und die von ihm gestifteten Mysterien hinzu. Selbstverständlich scheidet sich damit eine mehr esoterisch -religionsphilosophische Christ- lichkeit von einer mehr exoterisch-mythisch-kultischen. Für Au- gustin ist die die Skepsis überwindende logische Selbstgewißheit des Geistes die elementarste Aeußerung der Religion und von hier aus gelangt er zu den neuplatonischen Sätzen von der Im- manenz des göttlichen Denkens im menschlichen, wo durch die Klärung des Denkens selbst der Aufstieg zur Einheit mit dem hierin wirkenden göttlichen Geiste erfolgt. Volle Sicherheit ver- leiht ihm dann freilich abschließend erst die kirchliche Autorität mit ihrem Dogma, ihren Sakramenten und ihrer Lebensordnung. Von Augustin her ist nun aber dieser religionsphilosophische Untergrund geblieben. Er ist durch den Aristotelismus erweitert, durch den Stoizismus vielfach moralisiert worden ; aber er blieb das religionsphilosophische Fundament, soferne man ein solches be- durfte. Zum klarsten Vorschein kam dieser Untergrund in der so- genannten Mystik, die ihren Drang nach Unmittelbarkeit und Le- bendigkeit des religiösen Vorgangs durch eine unerhört energische Hervorziehung dieser Fundamente befriedigte und das christliche Dogma zu einem bloßen Symbol des Weltprozesses machte, in dem die potentielle Einheit göttlicher und kreatürlicher Vernunft, das allgemeine Weltgesetz, in der Seele durch den Kontakt mit der christlichen Kirchenwahrheit aktualisiert wird. Unter radikaler Abstreifung der christlichen Zusätze treffen wir den gleichen Ge- danken bei dem Mystiker der Renaissance, bei Giordano Bruno; die Mystiker und Spiritualisten des Protestantismus haben natür- lich das christlich-historische Element stärker und mit immer neuen Versuchen hereingezogen. Der religiöse Teil von Spinozas Lehre ist gleichfalls nicht anders zu verstehen und hängt sicherlich mit der gleichzeitigen Mystik eng zusammen. Malebranche und Leibniz sehen im vernunftnotwendigen Denken des Gottesgedan- kens den realen Zusammenhang der Monade mit Gott, ihre Im- manenz im göttlichen Geiste. In der Neuzeit ist unter der Ein-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 34

oyo Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

Wirkung des modernen historischen Entwickelungsgedankens dann das Christentum als Durchgangsstufe oder I löhepunkt in der Her- ausbildung dieser im Wesen des Geistes liegenden Erfassung seiner Einheit mit der göttlichen Vernunft verstanden worden. Hier führt eine ununterbrochene Linie von Leibniz, Lessing und Her- der zu Schelling, Hegel und Schleiermacher und dann zur heu- tigen Religionsphilosophie. Auch die Kantische Lehre, die ja in ihrer allgemeinen Erkenntnistheorie den platonischen Grundge- danken erst recht behauptet, fällt mit ihrer Religionsphilosophie nicht aus diesem Typus heraus. Freilich liegt hier nicht die Selbsterfassung der unmittelbaren Einheit der endlichen und un- endlichen Vernunft zugrunde, sondern ist die Religion an die Ethik als deren Ergänzung angeschlossen. Allein indem das apriori notwendige Gesetz der praktischen Vernunft den end- lichen Geist mit der »Vernunft überhaupt« verknüpft, ist wenig- stens indirekt durch die Vermittelung des Moralischen der pla- tonische Typus behauptet. Seine Religionsphilosophie ist eine Art Aufpfropfung des Stoizismus auf die platonische Theorie und von da aus dann wieder die Rückkehr zur Ideenwelt oder zur intelligibeln Welt. Sofern die neukantische Theologie, die bei Herrmann dem Grafen Zinzendorf viel näher steht als Kant, auch ihrerseits in dem moralischen Gesetz einen allgemein-philosophi- schen Halt für die Unterbauung des Christentums findet, verknüpft auch sie trotz aller Verachtung der Religionsphilosophie ein ganz dünner Faden mit dem Piatonismus und seinen begrifflichen Not- wendigkeiten.

Die Hauptbegriffe, die sich bei einer solchen Religionsphilo- sophie ergaben, sind folgende.

I. Das Bewußtsein als endliche Konkretion des kosmischen Bewußtseins überhaupt ist mit den in ihm a priori und potentiell enthaltenen vernünftigen und vernunftartigen Notwendigkeiten die Quelle der Religion. Sie ist Bewußtseinstatsache, aber nicht bloße Tatsache, sondern Ausfluß einer Bewußtseinsnotwendigkeit, wobei die Notwendigkeit des religiösen Gedankens bald mehr den letzten metaphysischen bald mehr den letzten ethischen Begriffen ange- nähert wird, bald mehr als etwas völlig Eigenartiges, dann aber inhaltlich schwer Definierbares bezeichnet wird. 2. Diese Be- wußtseinsnotwendigkeit oder dieses apriorische Geistesgesetz der Selbstbeziehung auf ein in der Seele gegenwärtiges Absolutes ist der überall identische Kern der religiösen Phänomene trotz aller

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ■2 71

ihrer äußerlichen Verschiedenheiten, ZufäUigkeiten und Trübungen. Es ist das »Wesen der ReHgion«, das in den verschiedenen Er- scheinungen verschieden wirkHch wird, aber nach der reinen Herausstellung seiner selbst drängt, ein echt platonischer Gedanke. 3. Dieses Wesen der Religion erscheint tatsächlich in fortwähren- der Veränderung und Bewegung seiner Erscheinung. Dafür hat man teils den Begriff der empirischen Trübung, teils den der notwendigen Individualisierung, teils den einer auf die Heraus- stellung seiner selbst gerichteten entwickelungsgeschichtlichen Be- wegung. Je nach der Entschlossenheit des grundlegenden Ra- tionalismus begnügt man sich hier mit empirischen Klassifikationen oder versucht man auch diese Bewegung als aus dem Verhältnis des Geistes zur Erfahrungswelt notwendig folgende und in ihren Stufen konstruierbare Entwickelung zu begreifen und zu rationali- sieren. 4. Indem das »Wesen der Religion« niemals völlig rein zutage liegt und die geschichtliche Bewegung auf die reine Herausstellung dieses Wesens gerichtet ist, entsteht die Frage nach der vollen, letzten und damit zugleich begrifflich notwen- digen Realisation dieses »Wesens«, ob eine solche überhaupt möglich ist, ob sie schon eingetreten ist, wann und wie sie etwa von der Zukunft vollzogen werden mag. Es ist das Problem der absoluten Religion, das mit der Anerkennung des Bewußtseins als eines Ausdrucks rationaler Notwendigkeiten und der Auf- nahme der Religion unter diese Notwendigkeiten unmittelbar ge- geben ist. Für die christlichen Theologen entsteht dann die Schwierigkeit, das Christentum als absolute Religion zu konstru- ieren. 5. Alle diese Untersuchungen sind von der Tatsache des Bewußtseins ausgegangen, das aber dabei, wie gesagt, mehr als eine bloße Tatsache, eine Mischung von Notwendigem und Zu- fälligem ist. Den letzten Halt empfängt eine solche Denkweise erst, wenn sie das an sich doch immer zufällige Einzelbewußtsein in dem »Bewußtsein überhaupt« verankert und wenn sie von da aus jene Mischung irgendwie verständlich macht, sodaß in dieser Mischung die Notwendigkeitselemente ihre Herkunft von dem ab- soluten Bewußtsein deutlich aufweisen und die Entwickelungs- richtung als Zielrichtung auf dieses verstanden wird. Es ist das Problem des Zusammenhangs von endlichem und unendlichem Bewußtsein, das hierbei im Hintergrunde steht. Es wird vielfach als unlösbar bezeichnet und dann fällt wie bei Schleiermacher die Metaphysik des Gottesbegriffes weg. Wo man es zu lösen unter-

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^72 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie,

nimmt wie in der Hegeischen Schule, da verschlingt die allge- meine rationale Notwendigkeit das Empirische, Zufällige und Freie, so daß ein pantheistischer und dialektischer Monismus die Kon- sequenz ist, oder es tritt, wie bei dem späteren Schelling und bei Schopenhauer, die rationale Unauflöslichkeit jener Mischung zutage, womit in den Gottesbegriff ein den rationalen Grundge- danken aufzehrendes Element des Irrationalismus eintritt.

Vergegenwärtigt man sich diese Grundbegriffe der kontinen- talen, wesentlich platonischen Religionsphilosophie, so wird der völlig entgegengesetzte Standpunkt von James sofort klar. James ist nicht nur etwa lediglich der Religionspsychologe, der der Religionsphilosophie ein neues Gebiet zugeführt hätte. Er ist, gerade indem er die Religionsphilosophie zur Religionspsychologie macht, der Vertreter eines völHg entgegengesetzten allgemeinen Typus des Denkens überhaupt und darum auch der Religionsphilo- sophie. James bezeichnet sich selbst mit Vorliebe als radikalen Em- piristen. Das heißt in erster Linie : er bezeichnet sich als radikalen Antiplatoniker. Wenn er damit auch einen Gegensatz gegen die noch nicht genügend radikalen Empiristen oder agnostischen Positi- visten meint, so ist das vorläufig Nebensache. Die Hauptsache ist die Opposition gegen jedes Apriori und jeden Gesetzesglauben auf allen Gebieten, gegen die Erkenntnistheorie des Rationalismus und gegen das Vorurteil der Notwendigkeit und der Synthese. Er ist reiner Analytiker und Empiriker, der die Tatsachen ledig- lich als Tatsachen nimmt, ohne in ihnen eine rationale und das eigentliche Wesen erst darstellende oder entfaltende Notwendig- keit und Geltung zu suchen, ohne sie nach rationalen Prinzipien zusammenzusetzen und zu verketten und in dieser Verkettung erst den eigentlichen Gegenstand der Erkenntnis zu finden. Er ist weder metaphysischer, noch kritischer, noch Naturgesetze als Wesenheiten behandelnder Platoniker. Er hält es mit dem Ty- pus, gegen den Piaton sich wandte, mit dem Relativismus der "Sophisten, der auch bei ihm zum Psychologismus naturgemäß wird. Er ähnelt der nominalistischen und skeptischen Opposition, die der Piatonismus immer wieder fand. Seine eigentliche und un- mittelbare Wurzel aber hat er in der angelsächsischen Philosophie des strengen Empirismus, wie sie Locke im Gegensatze gegen Des- cartes, den Vater des modernen naturwissenschaftlichen Platonis- mus, begründet, Hume großartig entfaltet und John Stuart Mill und Auguste Comte zu breiter Herrschaft gebracht haben. Frei-

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ^75

lieh ist er dabei nicht Relativist und Skeptiker geblieben im Sinne der Sophisten. Vielmehr sucht auch er den Weg zu normativen und geltenden Erkenntnissen, aber nicht mit Hilfe des Rationalis- mus der Gesetze und Notwendigkeiten, sondern mit Hilfe des biologischen Evolutionismus und eines idealisierten Utilitarismus. Die in der Arbeit des Erkennens durch den Erfolg bewährten Hypothesen, die das Einzeldenken ersparende üekonomik der logischen Generalisationen, die im Kampf ums Dasein fördernden und veredelnden Grundsätze leisten ihm alles, was dem Platoniker und Kantianer die apriorischen Notwendigkeiten leisten. Sie leisten es provisorisch und mit der Möglichkeit beständiger Ver- besserung, aber sie leisten es. Darin nähert er sich modernen antiplatonischen Denkern des Kontinents wie Mach und Avenarius, Beziehungen, die Goldstein in seinem Buche über die »Wande- lungen der Philosophie der Gegenwart« (191 1) lehrreich hervor- gehoben hat. Das Erkenntnisziel und die Erkenntniszuversicht fehlen ihm nicht und er spielt nicht wie die Sophisten Aber all das ist ihm lediglich durch einen praktischen Glauben verbürgt und durch das Maß praktischer Bewährung bestimmt. Ihm ist das Einzelne alles, und zwar als nur künstlich isolierbares Moment eines kontinuierlichen, alles relativierenden Stromes. Diesen Strom kann man nur analysieren, die Haupterscheinungen empirisch klassifizieren und die in ihm auftauchenden naturwissenschaftlichen, sozialen, ethischen, religiösen, metaphysischen Hypothesen nach dem Maße ihrer praktischen Bedeutung für die Lebensförderung bewerten. Es gibt keinerlei absolute Einheit und keinerlei ab- solute Notwendigkeit. Die Logik ist nur ein Mittel der Arbeits- ersparnis, eine für die Erkenntnis unentbehrliche und aus der Anlage des Geistes sich ergebende Kurzschrift von beliebiger Verbesserungsfähigkeit. Die ethischen und sonstigen Notwendig- keiten, die Werte und Ideale sind mehr oder minder provisorische Verdichtungen von Erfahrungen über das, was das Leben steigert, befestigt und harmonisiert. James selbst nennt diesen Standpunkt Pragmatismus und hat eine große Anzahl von Schülern gefunden, die ihn mit Geist und Eifer vertreten. Auf die rein psycho- logische Analyse, die kein kontemplatives Erkenntnisinteresse der Wahrheit um der Wahrheit willen, wohl aber einen beständigen Verlauf von Reizungen und praktischen Entladungen kennt, ist eine relativistisch-utilitarische Weltanschauung aufgebaut, die das Gehirn in jenen Ablauf mit einer gewissen frei bestimmenden

T.JA Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

Wertung eingreifen läßt und unter diese Werte die geistigen, ethischen, religiösen als Erweiterungen und Steigerungen des menschlichen Wesens aufnimmt. Es sind das durchaus subjektive Schätzungen auf eigene Rechnung und Gefahr des jedesmal Ur- teilenden. Aber sie finden an ihrer beträchtlichen Verbreitung und an ihrer Funktion für die Erweiterung des menschlichen Wesens ein gewisses Maß objektiver Bestätigung. Rein metaphy- sisch genommen bleiben sie ein Abenteuer, das gewagt werden muß und womit man vielleicht das Werk des Weltgeistes unterstützt. Eine Religionsphilosophie, die von diesem Standpunkt aus entworfen ist^ kann von vornherein nichts anderes sein als Re- ligionspsychologie. Sie wird auf die Frage nach Wert, Bedeutung und Zukunftsentwickelung der Religion nicht verzichten, aber sie wird sie mit völlig antirationalistischen Mitteln beantworten. Hier ist nun der Punkt, wo sich der »radikale Empirismus <' James' nicht bloß gegen den mehr oder minder verschleierten platoni- schen Rationalismus wendet, sondern auch gegen den noch nicht hinreichend radikalen Empirismus seiner eigenen Vorgänger und Genossen, gegen den agnostischen Positivismus, der die Religion lediglich als Objekt der Ethnographie und der Psychologie der Primitiven kennt, d. h. gegen Comtes und vor allem Spencers darwinistische Wegerklärung alles Gegenwartswertes der Religion. Haben diese Denker die wirkliche Erfahrung auf die Phänomene der Körperwelt und der sozialen Beziehungen eingeschränkt und allen darüber hinausgehenden Glauben an eine übersinnliche W''elt für Illusion erklärt, so erkennt James auch hierin eine Nachwirkung jenes naturwissenschaftlichen Piatonismus, der nur die Gesetze der Verbindung körperlicher und psychischer Atome kennen will und darum alles, was in diesen »notwendigen« Verbindungen keinen Raum findet, zum alten Eisen romantischer Trävime wirft. Macht man sich von diesem vernunftnotwendigen Naturalismus, dem P>be eines naturalistisch gewendeten Piatonismus, ganz frei, dann ist kein Anlaß, in den religiösen und verwandten Phänomenen nicht wirkliche Erfahrungen zu sehen, die so real sind wie die Erfah- rungen von einem Stein oder Lichtstrahl. Die Erfahrungen der Körperwelt verlieren die tyrannische Ausschließlichkeit, sobald ihr Zusammenhang nicht mehr eine vernunftnotwendige geschlossene Kausalität bedeutet, und es gibt keinen Grund, die heute noch völlig lebendigen religiösen Phänomene nicht als echte Erfahrungen zu behandeln. Das naturalistische antireligiöse Vorurteil der

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. -3 71'

Positivisten ist der letzte böse Rest eines naturwissenschaftlich gewordenen Piatonismus. Fällt es, wie es denn auf diesem Stand- punkt fallen muß, so ist kein Hindernis mehr für eine völlig vorur- teilsfreie Analyse der religiösen Phänomene. Diese Analyse wird eine psychologische sein müssen, aber auch hier nicht im Sinne einer konstruktiven, aus kleinsten Elementen die komplizierten Gebilde nach kausalen Notwendigkeitsbegriffen aufbauenden Psychologie, sondern im Sinne der analytischen Psychologie, wie James' radikaler Empirismus sie geschaffen hat. Als Bestandteile eines kontinuierlichen in Aktion und Reaktion sich bewegenden Stromes des Bewußtseins sind sie herauszuheben, zu analysieren, zu klassifizieren und in ihrer Bedeutung für das Leben zu be- werten. Ihr etwaiger metaphysischer Sinn bildet dann eine letzte und selbständige Frage für sich, die wiederum rein durch Er- fahrungen und nicht durch das Phantom rationaler Notwendig- keiten zu beantworten ist.

So entsteht ein Typus der Religionsphilosophie, der an allen Punkten dem platonischen entgegengesetzt ist, im Ganzen wie im Einzelnen. Es wird lehrreich sein, ihn, nachdem er bisher im Ganzen charakterisiert ist, nun Punkt für Punkt den oben ge- schilderten Hauptsätzen der platonisierenden Religionsphilosophie entgegenzustellen. Dabei wird sich dann auch zeigen, wie jeder der beiden Typen ein in sich geschlossenes Ganzes darstellt und jeder auf seine Weise eine logisch vollkommene Theorie ist. Ja man wird sagen dürfen : es sind die beiden logisch möglichen Haupttypen, jeder von einer eigentümlichen wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit und jeder einer bestimmten Seite des zu be- handelnden Phänomens entsprechend.

Der Gegensatz in den genannten fünf Punkten stellt sich in folgender Weise dar:

I. Auch James geht aus von den Tatsachen des Bewußtseins. Aber das Bewußtsein ist ihm dabei auch für die Religionspsycho- logie ein nirgends zu begrenzender und nirgends zu zerlegender Strom psycho-physischen Geschehens, ein beständig bewegtes Bündel kontinuierlicher Erfahrungen, die von einer physischen Erregung ausgehend durch die geistige Tätigkeit hindurchgehen und in irgend welchem Handeln sich entladen. Es fehlt jede apriorische Einheit des Bewußtseins, jede Verknüpfung des zu- fälligen Einzelbewußtseins mit einem Bewußtsein überhaupt, jede Herleitung einer Gültigkeit von der zentralen Einheit des Bewußt-

"Xy^ Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

seins, jede Entgegensetzung der reinen geistigen Notwendigkeiten gegen die begleitenden oder zugrunde liegenden organischen Prozesse. Kurz, es fehlt alles, was, wie er spöttisch sagt, den »platonischen Psychologen des Kontinents« eigentümlich ist.

2. So ist auch die Charakterisierung der Bewußtseinstatsachen oder Erfahrungen, die er als religiöse mit der gewöhnlichen Sprache bezeichnet, etwas ganz anderes als die Aufsuchung des »Wesens« und typischen Gültigkeitsgehaltes der Religion. James nimmt die religiösen Erfahrungen rein empirisch auf und gibt eine rein empirische, ungefähre Charakteristik, die die Merkmale beliebig häuft und völlig offen läßt, ob die religiösen Erfahrungen über- haupt einheitliche und spezifische Erfahrungen darstellen. Auch für die Bewertung ist diese Unbestimmtheit der Charakteristik ganz gleichgültig, da diese ja nicht an einer angeblichen einheit- lichen und notwendigen Funktion der Religion im System der Gültigkeiten des Bewußtseins hängt, sondern an der praktisch-bio- logischen Leistung für Erweiterung und Stärkung des menschlichen Lebens. Eine solche kann natürlich von einer völlig gemischten Erfahrungsgruppe ebensogut ausgehen wie von einer einfachen. Ebenso bereitet der anzunehmende Zusammenhang der religiösen Erfahrungen mit Nerven- und Gehirnprozessen, insbesondere die offenkundige Beziehung starker Religiosität zu nervösen Ano- malien gar keine Schwierigkeit. Die Geltung und Anerkennung hängt von der praktischen Wirkung, nicht von dem Aufweis irgend eines psychologisch oder noologisch oder ontologisch zu erweisen- den »Ursprungs« ab. So gibt er denn auch in der Tat keinen Be- griff der Religion, sondern eine höchst unbestimmte, verschiedene Merkmale anhäufende relative Charakteristik, die sich noch dazu auf einen besonders herausgegriffenen Teil des an sich unbegrenz- baren Phänomens beschränkt, auf die das Ursprünglichste dar- stellende individuell-persönliche religiöse Stimmungswelt. Als Maßstab für die Heraushebung dieser Charakteristika gelten ihm in Ermangelung jedes in sich geschlossenen und notwendigen Wesens die empirisch konstatierbaren Exzentrizitäten, die Heili- gen, Asketen und Mystiker, in denen die religiösen Phänomene einseitig, ja oft krankhaft hervortreten. Für die praktisch brauch- bare Ermäßigung und Ausgleichung, die von einer praktisch an- erkennungswürdigen Religion verlangt werden müssen, sorgt dann schon das Leben selbst.

3. Sucht die kontinentale Religionsphilosophie von ihrem ein-

Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie. -i^-in

heitlichen »Wesen der Religion« aus die geschichtlichen Entwicke- kmgsstufen als teleologische Entwickelung zu begreifen, so kennt James die Verschiedenheiten nur als psychologische Variationen, die von dem psychischen Gesamtbestand und der nervösen Beschaffen- heit jeweils abhängig sind. Die großen historischen Gruppenbildun- gen sind im ganzen nur zufällige Unterschiede des Namens und des äußeren geschichtlichen Ortes. In Wahrheit gehen die Analogien und die psychisch bedingten Verschiedenheiten durch alle Re- ligionssysteme hindurch. Psychologische und psychophysische Erklärung ist das Mittel zum Verständnis, nicht die Dialektik des sich entwickelnden Gedankens. Daher handelt er auch nur von denjenigen Religionssystemen, aus denen bestimmte Selbstzeug- nisse der religiösen Subjektivität vorliegen. Die Religion der Wilden und Primitiven, die für den gewöhnlichen Positivismus alles ist, läßt er als für uns undurchsichtig und praktisch bedeu- tungslos ebenso bei Seite wie die geschichtsphilosophischen Kon- struktionen einer Entwickelung des religiösen Bewußtseins. So gliedert er die Verschiedenheit lediglich nach den großen psycho- logischen Haupttypen der seelischen Gesamtkonstitution und teilt die religiösen Erfahrungen ein in solche, die dem Typus des healthy mind, der sick soul und des Divided Seif entsprechen. Diese Unter- schiede gehen durch alle historischen Systeme hindurch und hän- gen nicht am Gedanken und seiner Bewegung, sondern an der nervösen Konstitution, wie das dem psychologistischen Zuge seines Denkens und dem stark neurologischen Charakter seiner Psycho- logie entspricht. Der Grundsatz für die Klassifikation der Ver- schiedenheiten liegt also weder in einer Notwendigkeit ideeller Bewegungen noch in den großen historischen Gruppenbildungen, sondern lediglich in den Typen der Nervensysteme, durch welche die jeweilige religiöse Stimmung gefärbt und bestimmt wird. In den großen historischen Systemen kann man höchstens von einem Ueberwiegen dieses oder jenes Typus reden, je nachdem er durch den Stifter und führende Persönlichkeiten maßgebend gemacht worden ist für die Selbstsuggestion seiner Anhänger. Immerhin ist damit kein reiner neurologischer Fatalismus ausgesprochen, da für James die Möglichkeit des freien Willens auf sich etwa darbietende Eindrücke einzugehen, in gewissem Maße besteht. Seine Psychologie ist neurologisch, soweit es sich irgend durch- führen läßt, aber nicht mechanistisch und naturalistisch.

4. So wenig wie die empirische Auffassung des Wesens der

578 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

Religion auf die Anerkennung ihrer praktisch-biologischen Geltung verzichtet, so wenig will James gegenüber diesen Mannigfaltig- keiten der Erfahrung einen Maßstab der Sonderung und Abstufung entbehren. Nur kann dieser Maßstab selbstverständlich keine Messung an einem absoluten und begriffsnotwendigen Ideal der Religion sein, auch nicht eine Annäherung an ein solches Ideal, das wenigstens postuliert und für das letzte Ende in Aussicht genommen werden müßte. Wie es das Absolute und Begriffs- notwendige nirgends gibt, so auch hier nicht. Der Maßstab er- zeugt sich vielmehr selbst in den lebendigen Bewegungen und Ausgleichungen, die die Selbsterhaltung und Selbsterweiterung der Gattung fordert. Hier werden die Einseitigkeiten der exzes- siven Religion heilsam durch Anpassung an die Gesamtheit der Lebensinteressen abgestreift und der mittlere Typus einer ge- mäßigten Religiosität hergestellt. Andererseits treten hier die- jenigen Erfahrungen als die wertvolleren und förderlicheren hervor, die die ganze Komplikation des Seelenlebens umfassen und durch eine einheitliche Kraft überwinden. Sie erweitern, bereichern und kräftigen das Leben, wie das keine andere Funktion der Seele kann. So fällt für seine Schätzung der relative Höchstwert der protestantisch-individualistischen Erlösungsreligiosität oder dem Be- kehrungsglauben mit starker ethischer Betätigung zu, was natürlich nicht ausschließt, daß ähnliche wertvolle Erfahrungen auch außer- halb des Protestantismus und des Christentums vorliegen. Immer- hin ist die Erreichung dieser Höchsterfahrung von der Konstitution der Subjekte abhängig und wird sie niemals etwas Allgemein- Menschliches werden, auch nur von einem die Vereinheitlichung des geteilten Selbst so hoch schätzenden Standpunkt aus derart beurteilt werden. Jedes solche Werturteil ist rein subjektiv ein Wagnis, ein Abenteuer.

5. Mit alledem handelt es sich nur um den biologisch fest- stellbaren Wert der religiösen Erfahrungen oder Bewußtseinsinhalte für das Leben. Dieser Begriff tritt an Stelle der Wahrheit oder Gültigkeit. Allein James ist damit begreiflicherweise nicht zu Ende. Auch er muß doch schließlich die ontologische Frage stellen. Er muß es um so mehr, als sich ihm als Besonderheit der religiösen Zustände im Grunde nur die Färbung der allge- meinen seelischen Vorgänge durch die Beziehung auf ein beson- deres Objekt, die vorgestellte göttliche Macht, ergibt. Zwar wäre es an sich möglich, diese Objektsvorstellung vielleicht neurologisch

Empirismus mid Piatonismus in der Religionsphilosophie. 3/9

ZU erklären und täte eine solche Erklärung dem Werturteil über die Religion keinen Eintrag. Allein solche Erklärungen, wie etwa die sexualpsychologischen der Freudschen Schule, scheinen ihm unzutreffend. So bleibt denn die Frage nach der Entstehung dieser Objektsvorstellung und ihrer möglichen Realitätsbeziehung übrig, und er geht als persönlich offenbar stark religiös empfin- dender Mensch dieser Frage besonders eifrig nach. Aber während der Piatonismus solche ontologische Fragen durch Zurückführung der Idee auf die in ihr selbst tätige und gegenwärtige Selbst- ofifenbarung des Absoluten lösen muß, kann James sie nur auf völlig empirische Weise lösen, wie man auch sonst die Vor- stellung eines Objektes auf Realität zurückführt, indem man die Vorstellung vom Objekt irgendwie als Eindruck gewirkt sein läßt, oder wie der populäre Glaube an Einwirkungen Gottes auf die Seele von Fall zu Fall glaubt. Hiermit kommt James zum ori- ginellsten und persönlichsten Abschnitt seiner Religionsphilosophie. Mit allen seinen empiristischen und positivistischen Genossen kann er im gewöhnlichen Bewußtsein allerdings keinen Ort finden, wo ein solches Hereinwirken der religiösen Macht möglich wäre. Er wendet sich daher zu der modernen Entdeckung des Unterbewußt- seins, das die Einbruchstellen darbieten mag, an denen die gött- Uche Macht die Vorstellung des religiösen Objektes erzeugt. Natürlich kann er eine solche Erklärung nur als ganz persönlichen und lediglich wahrscheinlichen »Overbelief« geben. Auch ist die Verwendung des Unterbewußtseins, das in der sonstigen modernen Psychologie mehr eine Absplitterung vom normalen Bewußtsein ist und der Erklärung scheinbar plötzlicher, besonders patholo- gischer Einbrüche in das Oberbewußtsein dient, hier eine ganz originelle. Er nähert sich hier Myers und der Society of psycho- logical research, die vor allem die mystischen Erscheinungen studiert. Immerhin ist an diesem Overbelief nicht bloß metho- disch lehrreich, wie der antiplatonische Grundgedanke eine andere Lösung unmöglich macht. James hat vielmehr diese Lösung noch mit einem anderen viel bedeutenderen antiplatonischen Gegensatze ausgestattet. Er hebt hervor, daß die platonische Lösung auf den Gedanken eines absoluten Wesens, eines Gesetzes der Gesetze, einer einheitlichen kosmischen Gültigkeit führen müsse und damit notwendig den Pantheismus oder Monismus oder das Block-Uni- versum erzeuge, in welchem es nur eine religiöse Beleuchtung der gesetzlichen Welteinheit aber keinen lebendigen Verkehr mit

380 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

Gott, nur mystische Einhcitsgefühle, aber keine göttliche Errettung und Erlösung, nur allgemeine Begriffe aber keine Kraft des Lebens und keine Entscheidung des Glaubens gebe. Sein Antimonismus, der mit seinem Antirationalismus und Antiplatonismus gegeben ist, werde der wirklichen religiösen Erfahrung gerechter und befreie das religiöse Leben von erstickenden Doktrinen. Er befreit frei- lich auch, wie das vielbesprochene Postskriptum zeigt, den Gottes- gedanken von jeder inneren Einheit und Geschlossenheit und schreckt nicht zurück vor der Konsequenz des Polytheismus, der der eigentlich empiristische Gottesbegriff sei. Bildet der Neu- platonismus, der nur durch seine emanatistischen Zwischenstufen die Brücke zur pluralistischen Endlichkeit schlagen konnte, und der Spinozismus, der an deren Stelle die Attribute Gottes setzte und innerhalb dieser die konkrete Wirklichkeit zu bloßen Modi herab- drückte, den eigentlich konsequenten Ausdruck des Piatonismus, so ist die Behauptung der Geteiltheit Gottes und der gesetzlosen Freiheit seiner Bewegungen das Endergebnis des Empirismus.

Erwägt man all das, so scheint der Widerspruch gegen die kontinentale Religionsphilosophie vollkommen, wie ihn denn James auch bewußt als solchen ausgesprochen hat. Für die Frage nach der Bedeutung von James Religionsphilosophie bliebe dann nur das einfache Entweder-Oder übrig, daß wir zwischen ihr und der kontinentalen zu wählen hätten, wobei freilich beiderseits nur an die Methode im allgemeinen zu denken wäre.

Bevor ich zum Schlüsse noch auf diese P'rage eingehe, ist nun aber eine Bemerkung zu machen, die wenigstens den prak- tischen Unterschied beider Typen wieder als viel geringer er- scheinen läßt. Das Ergebnis in der Auffassung der Religion ist nämlich beiderseits ein vielfach ähnliches. In beiden Phallen ist es ein völliger Rückgang von der Dogmatik, der Kirche, dem Kultus, dem Ritual, dem Sakrament und Kirchenrecht auf das rein persönliche Stimmungselement der Religion. Der Kern der religiösen Phänomene wird beidemale im Sinne der Mystik und des Spiritualismus verstanden, nur ist es bei den Piatonikern überwiegend kontemplative Mystik der Schauung des Absoluten und Ewigen, bei den Empirikern praktische Mystik der Zustands- empfindung der Heiligkeit und Menschenliebe. In beiden Phallen hebt die Theorie die Unmittelbarkeit des religiösen Lebens hervor im Gegensatz gegen geschichtliche Autoritäten und Ueberlieferungen und gegen soziologische Gemeinschaftseinflüsse.

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ^gj

Das Historische sinkt zu Anregungsmitteln herab, und die Er- lösung Hegt in der unmittelbaren Erhebung des Subjekts in die Einheit mit der göttlichen Macht. In beiden Fällen ersetzt die Religionsphilosophie nicht die herrschenden Religionen durch eine »reine Religion -<, sondern begründet und rechtfertigt sie nur das religiöse Leben überhaupt, indem sie zugleich seinen lebendigen Lauf frei läßt und nur für den des Denkens Bedürftigen diesen Lauf reguliert. Daraus ergibt sich naturgemäß beidemale ein Unterschied zwischen der esoterischen Religion des Denkers und der exoteri- schen der Massen. Beidemale bedeutet die Freigebung der Aus- gestaltung der religiösen Kernbestandteile eine radikale Toleranz der religiösen Gruppen nebeneinander und auch der Gläubigen innerhalb einer Gruppe selbst. Eben damit erkennen beide schließlich als höchste oder wertvollste Entwickelungsform zu- meist einen individualisierten und spiritualisierten Protestantismus an, wie er das Ergebnis- eines großen Teiles der protestantischen Geschichte ist und selbst bereits unter dem Einfluß solcher Theorien steht. Der Unterschied liegt immer nur an dem Gegen- satz der inneren Majestät des Absolut-Notwendigen und Gültigen einerseits und der praktischen Lebendigkeit und wissenschaftlosen, einheits- und gesetzesfreien Konkretheit andererseits. Der eine neigt zu Monismus und Pantheismus, der andere zu rastloser Ge- schäftigkeit und zu lebendiger Wechselwirkung von Gott und Seele. Der eine findet seine Evidenz in seiner intuitiven Erfas- sung des Notwendigen und Allgemeingültigen, der andere in der seelischen Macht und Wirkung der Zuständlichkeit selbst. Es ist der Unterschied von Realismus und Nominalismus, in der mittel- alterlichen Sprache geredet. Es ist ein Unterschied wie etwa zwi- schen dem h. Thomas und dem h. Bonaventura. Auch an den Unter- schied von Luther und Calvin kann man denken. Ja, wenn man den Rahmen noch weiter spannen will, so kann man auch den Unterschied von Brahmanismus und Buddhismus in gewissem Sinne heranziehen. In der heutigen deutschen religionsphilosophi- schen Literatur läßt er sich etwa veranschaulichen, an dem Ge- gensatze zwischen Simmel, der mit James' psychologistischem Relativismus viele Aehnlichkeit hat, aber auf das robuste utili- tarische Kriterium und auf die Theologie des Unterbewußtseins verzichtet, und Rudolf Eucken, der im schärfsten Gegensatze ge- gen die psychologische Methode eine noologische anstrebt und darunter die Herleitung der ganzen Idealwelt aus einem geschieht-

■2^2 Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

lieh sich entfaltenden Untergrund allgemeiner Gültigkeiten ver- steht. Bei Simmel haben wir eine Verbindung nominalistisch- psychologistischer Mystik mit sophistischem Relativismus, bei Eucken eine Verbindung von Piaton, Fichte und Hegel. Der Gegensatz ist also offenbar in einer großen Doppelrichtung menschlichen Lebens und Denkens überhaupt begründet, und gerade indem beide Richtungen den zentralen religiösen Vorgang übereinstimmend herausgreifen, unterziehen sie ihn der entgegen- gesetzten Beleuchtung.

Freilich bleibt nun dieser Gegensatz der Beleuchtung und der dadurch bedingten Theorien, einer psychologistisch-positiven und einer erkenntnistheoretisch-absoluten, groß genug, um uns von neuem jenes Entweder-Oder vorzulegen.

Hierüber ist eine ausführliche Auseinandersetzung an diesem Orte unmöglich. Auch beträfe eine solche Auseinandersetzung die allgemeinsten philosophischen Prinzipien und ist sie von vie- len und oftmals bereits versucht worden. Es ist nur möglich, die Stellungnahme in diesen Gegensätzen kurz zu umschreiben. Hier kann ich mich nun nicht anders entscheiden als für die aprio- risch-transzendentale Philosophie. Sie scheint mir mit der Aner- kennung alles Logischen eng verbunden. Auch eine Wertlehre auf dem Gebiete der Ethik und Aesthetik ist ohne den Gedanken eines Unbedingtgültigen, aus dem Wesen des Bewußtseins fließenden Ele- mentes nicht zu konstruieren. Dem religiösen Gefühl schließlich und vollends wird nur eine Theorie gerecht, die in ihm nicht die Wahrheit durch Nützlichkeit und die Gegenwart Gottes im mensch- lichen Geiste durch ein dinghaftes Wirken Gottes im Unterbewußt- sein ersetzt. Hier bedarf es immer der Beziehung auf ein Ganzes, Absolutes und innerlich Notwendiges. Das hat sogar James selbst unwillkürlich empfunden, wenn er unter anderen Charakteristica der Religion von einer »Reaktion auf den Kosmos, auf das Uni- versum«, von einer Selbstbeziehung auf »the fiirst and the last Word of truth«, »the primal truth«, auf »the most primal and en- veloping and deeply true« spricht, wenn er in ihr eine .>sort of happiness in the absolute and everlasting« erkennt. Solche Worte, ernst genommen, sprengen die ganze Theorie James' und erinnern an Plato und Schleiermacher. Demgegenüber halte ich mich meinerseits prinzipiell zum Piatonismus und erhalte inso- ferne die Kritik aufrecht, die ich seinerzeit in dem Vortrag auf dem Kongreß zu St. Louis über »Psychologie und Erkenntnis-

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. ^3"?

theorie in der Religionswissenschaft« an James geübt habe.

Auf der anderen Seite freiUch wächst bei mir der Eindruck der lebendigen, vorurteilsfreien, wirklichkeitsgesättigten Darstel- lung James' fortwährend. Ich erkenne, wie ich in meiner Arbeit über die »Absolutheit des Christentums und die Religionsge- schichte« bereits innerhalb des Rahmens des Transzendentalismus unwillkürlich eine Kritik an dem Begriffe des absoluten Entwicke- lungszieles geübt habe, die derjenigen von James ziemlich nahe kommt, soweit es sich um die Frage eines Beurteilungsmaßstabes für die Religionsgeschichte handelt. So finde ich es heute sehr viel schwieriger als damals, die relative Richtigkeit der Jamesschen Re- ligionsphilosophie in den Rahmen der transzendental-apriorischen Kantisch-Schleiermacherschen Religionsphilosophie einzuverleiben. Es handelt sich eben James gegenüber nicht bloß um Religions- psychologie, sondern um die Religionsphilosophie des Psycholo- gismus überhaupt, bei der eines mit dem anderen untrennbar zusammenhängt, und die dem Transzendentalismus Punkt für Punkt schroff gegenübersteht.

Immerhin aber bleibt bei der grundsätzlichen Entscheidung für den platonischen Grundgedanken nichts anderes übrig als eine Ablösung der Religionspsychologie von den erkenntnis-theo- retischen und metaphysischen Voraussetzungen des Pragmatismus und eine Herübernahme ihres Wahrheitsmomentes in den ersteren.

Das scheint mir auf folgende Weise geschehen zu können, die ich hier freiUch nur kurz andeuten kann. Die transzenden- tale Methode arbeitet von einer zunächst rein psychologischen Analyse her, um den Punkt zu finden, wo das apriorische Be- wußtseinselement sich geltend macht. Eine solche Analyse aber muß noch ohne alle metaphysische und erkenntnistheoretische Voraussetzung gemacht werden. Sie muß rein positiv und em- pirisch verfahren und kann daher provisorisch sehr wohl mit den Grundannahmen des Empirismus und Pragmatismus arbeiten. Das ist dann aber lediglich eine rein provisorische Phänomenologie. Indem James die Vorstellung des religiösen Objektes bei solcher Analyse als gegebenen Rest übrig behalten hat, zeigt er den Punkt, an dem dann die transzendentale Analyse einsetzen und weiter bohren kann. Bei solchem Verfahren werden die Haupt- tugenden James', seine bewunderungswürdige P'rische, Vorurteils- losigkeit und Beobachtungsschärfe, durchaus vorbildlich sein.

Aber auch noch auf einen anderen Punkt erstreckt sich das.

ri^A Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie.

was wir von James lernen können und müssen. Mit vollem Recht weist er auf die, Folgerungen des absoluten transzendentalen Gesetzesglaubens hin, der die Wirklichkeit in eine monistische Gesetzesformel in letzter Konsequenz verwandelt und nur die ge- waltsame Reduktion der Religion auf ein abstraktes Einheitsgefühl oder die Ergänzung eines geschlossenen mechanistischen Univer- sums durch beliebige einflußlose Postulate oder Werturteile übrig läßt. Da bleibt in der Tat nur Spinoza oder Kant, die Religions- philosophie des schroffsten Pantheismus oder die Religionsphilo- sophie des »als ob«. Dem gegenüber verweist er mit Recht dar- auf, daß jede unbefangene und unverbildete religiöse Empfindung einen »piecemeal supernaturalism«, d. h. eine vom Weltgesetz unterschiedene und innerhalb desselben lebendig handelnde Macht voraussetzt, was dann selbstverständlich nicht bloß für das Chri- stentum gilt. Hierin hat er unzweifelhaft Recht. Aber auch hier kann die Abhilfe nicht durch den Pragmatismus erfolgen, der mit seinem »pluralistic universe«, seinem »Multiversum« und seinem Polytheismus doch gegen das ebenso naive Grundgefühl der Religion, jedenfalls aller höheren Religion, verstößt. Es kann sich nur darum handeln, innerhalb des universalen, aus der Gottheit ausgehenden Zusammenhanges der Vielheit, der Irrationalität, der bloßen Tatsächlichkeit, der lebendigen Schöpfer- kraft gerecht zu werden. Ich habe in meinem Artikel über »Kontingenz« in Hastings Encyclopädie -^) auf diese Aufgabe hingewiesen, die trotz ihrer Schwierigkeit und trotz ihrer Ver- werfung durch die Vorurteile des herrschenden Gesetzes-Ratio- nalismus immer die Hauptfrage der Spekulation war und es bis heute geblieben ist. Wenn die Gesetze und das Apriori immer nur erst aus dem Chaos der Wirklichkeit durch Abstraktion und Analyse gefunden werden können, dann muß, wenn man von ihnen wieder zur Wirklichkeit zurückkehrt, alles das bleiben oder wieder zur Geltung kommen, was diese an Irrationalem und rein Tatsächlichem enthalten hatte. Es wird also auch von hier aus immer bei dem gemischten Universum bleiben, von dem James spricht. Ja nur von hier aus kann es zu einer solchen Mischung kommen, während es nach James eigentlich nur zu einer Viel- heit von irrationalen Tatsachen und nie zu einer solchen Mi- schung des Rationalen und Irrationalen kommen kann. Aber diese Mischung ist doch nun gerade der Charakter des Lebens

^') Vgl. weiter unten »Der Begriff der Kontingenz«.

Empirismus und Piatonismus in der Religionsphilosophie. '\S^

und des wirklichen Erfahrungsinhaltes. Diese Mischung war schon das Problem Piatons und des Neuplatonismus, sie ist das Problem Kants und ist im Endergebnis des evolutionistischen Pantheismus vom greisen Schelling wieder betont worden. Nur wo der Apriorismus völlig in einen naturphilosophisch-mechanistischen Monismus unter dem Einfluß der klassischen Naturwissenschaft umgeschlagen ist, da verschwindet das Problem der Mischung und damit freilich auch die Religion. Darauf hat James mit Recht hingewiesen. Nur ist seine eigene Lösung eine so radikale Zer- hauung des Knotens, daß auch er folgerichtig keine Mischung anerkennen dürfte, sondern nur eine reine Irrationalität und Viel- fältigkeit, die gleichfalls die Religion aufhebt und vom agnosti- schen Positivismus konsequenter vertreten wird als von ihm. So- weit er von seinem Standpunkt aus der religiösen »Erfahrung« gerecht wird, mischt doch auch er platonische Elemente in seine Gesamtanschauung ein.

In alledem hat James die Religionsphilosophie ebenso wie die Philosophie überhaupt vor die Aufgabe einer lebendigeren Beachtung der Realitäten gestellt und mit berechtigtem Mißtrauen gegen abstrakte Theorien erfüllt. Aber das Abstrakte ist nun einmal die Domäne der Wissenschaft, und es kann sich nur darum handeln, die Abstraktionen dem Leben anzupassen, nicht sie überhaupt aufzuheben und durch das Chaos der Wirklichkeit zu ersetzen. Soll Religionsphilosophie übeihaupt sein und es ist nicht einzusehen, wie bei dem Mißtrauen gegen allen bloßen Kirchenglauben und alle bloßen enthusiastischen Behauptungen ohne sie durchzukommen ist - dann sind jene Abstraktionen der transzendentalen Methode nicht loszuwerden. Man muß nur ver- suchen sie mit mehr wirklichem Leben zu erfüllen.

Troeltsch, Gesammelte Schriften II. 215

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Was heisst ,, Wesen des Christentums"?

(Aus: Die Christliche Welt, 1903.)

I. Aus der literarischen Diskussion über

Harnacks Wesen des Christentums. Durch Harnacks bekanntes Büchlein --) ist der Ausdruck -> Wesen des Christentums« ein allgemein bekannter und gebrauch- ter geworden. Man kann von Vielen geradezu sagen, sie glauben an das > Wesen des Christentums«, und Harnacks aus der brei- testen und erfolgreichsten historischen Arbeit herausgedachtes Buch zeige ihnen die richtige Auffassung dieses Wesens. Harnack stellt sich die Aufgabe als eine rein historische, will nichts an- deres als einfach »das Wesentliche und Bleibende in den Erschei- nungen auch unter spröden Formen erkennen, es herausheben und verständlich machen«. Man hat es nur mit Tatsachen und Wirklichkeiten zu tun, aus ihnen tritt in der Zusammenschau der bleibende Gehalt des Evangeliums und damit des Christentums jedenfalls dem nächsten Anschein nach einfach und überwältigend entgegen. Nicht irgendwelche Dogmen oder kirchliche Institutio- nen, sondern die Jesus-Predigt ist das Wesen des Christentums. Es gilt also zuerst das Wesen des Evangeliums selbst gegenüber seiner zeitgeschichtlichen Gestalt klar zu machen und dann dieses Wesen des Evangeliums zugleich als das immer festgehaltene und nur unter verschiedenen allgemeinen Lagen verschieden abge- wandelte Wesen der christlichen Geschichte zu zeigen. Es er- weist sich dabei zugleich als der kritische Maßstab zur Ausschei- dung alles Unchristlichen und Unterchristlichen. So ist eine rein historische Darlegung des Wesentlichen zugleich ganz von selbst die beste Darlegung des ewigen Gehaltes und die beste Apolo- getik gegen religiöse und antireligiöse Mißdeutung. Alle das

22) Das Wesen des Christentums 1900, Die Schrift ist 1910 in looooo Exem- plaren — die zahlreichen Uebersetzungen eingerechnet gedruckt gewesen, s. RGG. s. V. Harnack.

Was heißt »Wesen des Christentums« ?

iS7

]\Iißtrauen immer wieder weckenden apologetischen Künste und dogmatischen SubtiUtäten fallen weg, und nur die Sache selber kommt zu ihrer reinen Wirkung auf Phantasie und Gemüt. An Stelle der Dogmatik tritt, unendlich einfacher, wirksamer und überzeugender, die historische Darstellung des Evangeliums und seiner Fortwirkungen als des Wesens des Christentums, und Har- nacks Schrift ist gewissermaßen das symbolische Buch für die historisierende Richtung der Theologie.

Doch hat, was bei einer so wichtigen und mit traditionellen Anschauungen im Konflikt stehenden Gedankenarbeit selbstver- ständlich ist, das Unternehmen auch mannigfachen Widerspruch gefunden. Die erregten Dogmatiker wenden sich überhaupt gegen die Absicht, aus kritischen Untersuchungen allgemein-historischer d. h. in den Methoden der profanen Geschichtsforschung sich be- wegender Art das Christentum erkennen zu wollen, und möchten es lediglich aus der Bibel als der Offenbarung und dem Worte Gottes erkannt wissen. Die andern bestreiten, daß die durch Harnacks hi- storische Darstellung bewirkte Beseitigung traditioneller Kirchen- dogmen von einer historischen Untersuchung in der Tat bewirkt werden könne und dürfe, vielmehr habe deren Anerkennung und Befestigung durch innere religiöse Erfahrung der geschichtlichen Arbeit voranzugehen und ihre Auffassung von sich aus zu bestim- men. Wieder andere meinen, daß gerade eine rein historische Darstellung die Deckung des Christentums mit den kirchlichen Hauptdogmen ergebe und deutlich erweise, wie alles von ihnen sich befreiende Christentum ein Christentum der Halbheit, der Auflösung, des Abfalls sei. Die Aeußerungen dieser Art sind seinerzeit in der »Christlichen Welt« gesammelt und gewürdigt worden ^^). Am interessantesten sind in dieser Hinsicht jeden- falls die von Lepsius erhobenen Einwendungen '^*).

Daneben hat es dann aber auch nicht an ruhigen, rein histo- risch im Sinne Harnacks gerichteten Kritikern gefehlt, welche die Gesamtanschaung und die Aufgabe im ganzen anerkennen, aber

-3) Christi. Welt 1902. Rolfs, Das Wesen des Christentums in pietistischer Beleuchtung S. 653 660; s. auch im gleichen Jahrgang den Aufsatz von J, Kaftan, ■/'Gehört Jesus selbst in das von ihm verkündigte Evangelium hinein? S. 295 29S und die weiteren fünf Aufsätze, die sich daran anschließen ; auch eine Reihe von Artikeln verschiedener Verfasser im Jahrgang 1901.

-*) Lepsius, Reden und Abhandlungen. 2. Adolf Harnacks Wesen des Chri- stentums. Berlin, Reich Christi-Verlag 1902. 92 S,

25*

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Was heißt »Wesen des Christentums«

in der Auffassung der Tatsachen nicht unerhebUch abweichen. Ihr Urteil beruht nicht auf anderen Voraussetzungen, sondern auf anderen Folgerungen aus den gleichen Voraussetzungen. Ihnen ist die Darstellung der Predigt Jesu zu stark an die Ideale einer in modernen Verhältnissen verwendbaren Ethik herangerückt, die Transzendenz der Gottesauffassung, der Reichserwartung und der von hier aus bestimmten weltindifferenten Ethik oder die Askese im allgemeinsten Sinne zu wenig in ihrer Bedeutung erkannt. Das aber bezeichne dann doch eine tiefere Schwierigkeit und ein all- gemeineres Problem. Das »Wesen« müsse in einer von den ein- zelnen Erscheinungen und auch von der Urgestalt verschiedenen, in allen zusammen erst sich ausdrückenden »Idee« gefunden wer- den. Solche Beurteiler fassen das Verhältnis des Urchristentums und der Predigt Jesu zu der späteren Entwicklung des Christen- tums anders, als das Harnack getan hat, und binden die Auf- fassung des »Wesens« weniger eng an die historische Urgestalt. Ja, manche leugnen überhaupt, daß die Entwicklung der Kirche wesentlich durch das Evangelium bestimmt worden sei ; schon bei Paulus seien erheblich andere Gedanken am Werke und die Kirche habe beständig neue PLlemente aufgenommen, habe sich durchaus nicht in erster Linie am Evangelium orientiert ; das »Wesen« sei unter diesen Umständen überhaupt sehr schwer zu bestimmen. Die Bedeutung dieser Einwendungen ist dann frei- lich nicht immer vollständig ausgesprochen worden, vielleicht nicht überall ganz zu Bewußtsein gekommen. Immerhin hat Jü- licher in seiner Rektoratsrede das Problem sehr treffend angedeu- tet, wenn er auf die Schwierigkeit der Gleichsetzung der »wissen- schaftlich rekonstruierten Urform« mit dem »Christentum in seiner reinen Gestalt« und dieser beiden mit der »absoluten und vollkom- menen Religion« hinwies. Noch schärfer haben die Hegelianer Caird, Pfieiderer, Dorner und neuestens Walther Köhler auf diese Schwierig- keiten hingewiesen. Die skeptischen Einwürfe gegen das Wesen überhaupt sind bei Wrede und Gerhard Löschcke ausgesprochen 2^).

2") Jülicher, Moderne Meinungsverschiedenheiten über Methode, Aufgaben und Ziele der Kirchengeschichte 1901. Dorner, Auf welche Weise ist das Wesen des Christentums zu erkennen? Preuß. Jahrbb. 1901. Kühler, Idee und Persönlichkeit in der Kirchengeschichte, 1910, Wrede, Paulus, 1905 und Gerhard Löschcke, Zwei Kirchengeschichtliche Entwürfe, 1913; auch meine »Soziallehren« zeigen große Vorsicht gegenüber einer rein historischen Gewinnung des Begriffs wie gegen dessen Hegeische Gestaltung. Dagegen meint Wobbermin in einem Aufsatz, Das Wesen

Was heißt »Wesen des Christentums« ?

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Besonders lehrreich aber ist die Aeußerung eines katholischen Kritikers ^^). Alfred Loisy, der Führer des französischen Reform- katholizismus, ein Mann von vollständig freier und exakter histo- rischer Bildung, hat die prinzipiell protestantische Voraussetzung Harnacks angegriffen, daß das Wesen vor allem als der dem U r- christentum zu entnehmende Maßstab für die Kritik der ka- tholisch-kirchlichen Entwickelung betrachtet werden müsse. Loisy greift damit den einseitigen protestantischen Biblizismus an, der, vom Standpunkt einer historischen Erforschung des Urchristen- tums aus festgehalten, noch beengender wirke als der alte Inspi- rationsbiblizismus oder zu noch gewaltsameren Umdeutungen führe. Weil Harnack den Katholizismus als unmittelbare Auswirkung des urchristlichen Evangeliums nicht betrachten kann und es von die- ser Wirkung aus nicht interpretieren will, weil er im Protestantis- mus und unter Abstreifung der katholisch-kirchlichen Reste des Protestantismus in der Religiosität der Gegenwart den Schwer- punkt erkennt, darum protestantisiere und modernisiere er das Evangelium. Weil er das Wesen des Christentums nicht in der breit entfalteten kirchlichen Wirklichkeit erkennt und seine Be- deutung nicht an dieser klar machen kann, darum müsse er das Wesen ganz einseitig in der Urgestalt und diese Urgestalt wiederum durchaus in einer neuen und einheitlichen religiösen Idee suchen. Damit komme er dazu, etwas für das Wesen des Evangeliums zu halten, was für die ganz eschatologisch gerichtete Denkweise Jesu nur sekundär war, das Wesen im Neuen zu su- chen, während es für Jesus doch größtenteils gerade in dem mit dem Judentum Gemeinsamen lag, das Wesen als das unveränder- liche Bleiben und Wirken dieser einfachen neuen Idee zu betrach- ten, während doch die Entwickelung der Kirche nirgends etwas Unveränderliches zeigt, sondern ebenso in beständiger Umbildung und Aneignung besteht, wie schon die Predigt Jesu Umbildung und Aneignung gewesen war. Das Evangelium sei von Hause aus eine komplexe Erscheinung, und seine Auswirkung in der Kirche sei komplex, lebendig, wandelungsfähig geblieben, ja auf beständige Neuzeugungen und Anpassungen angewiesen, Harnacks

des Christentums (in »Beiträge zur Weiterentwickelung der christlichen Religion« 1905): »Was kann nach Harnacks herrlichen Vorlesungen über dies Thema noch gesagt werden, das nicht im voraus veraltet, weil überholt wäre?«

2^) Alfred Loisy, L'evangile et l'eglise. Paris, Picard et fils 1902. Das Buch ist heute vergriffen und wird nicht mehr neu aufgelegt.

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Was heißt »Wesen des Christentums« ?

Auffassung sei nicht das historische Bild von der Sache, sondern eine Etappe oder besser radikale Formel des individualistischen, von der Kollektiveinheit der Kirche sich lösenden Protestantismus. Für eine rein historische Betrachtung sei vielmehr das Evange- lium die Wurzel der Kirche, die Kirche die lebendige und uner- schöpfliche Auswirkung des Evangeliums; das Wesen sei die tat- sächliche Geschichte, die in jedem Punkt notwendig aus dem Zu- sammenhang der Umstände hervorging und zur Behauptung des Evangeliums gerade unter diesen Verhältnissen unumgänglich war. Evangelium und Kirche seien nach allen Seiten flüssige und offene Größen. Das unveränderliche Wesen des Christentums sei daher überhaupt nicht konstruierbar, sondern liege lediglich vor in der Totalität der lebendigen Kirche und ihrer Betätigungen.

Das alles zusammengenommen zeigt, daß in dem »Wesen des Christentums < noch schwierige und keineswegs geklärte Probleme enthalten sind. Ich habe hier nicht die Absicht, in den Streit um die sachliche Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Harnackschen Auffassung des Wesens einzutreten. Hier wird das Werk des großen Historikers wohl immer zunächst für sich selbst sprechen, und außerdem ist vorläufig alles gesagt, was vernünftigerweise dazu zu sagen ist. Eine wirklich andere Fassung müßte von Er- weiterungen in der ganzen Auffassung der Geschichte des Christen- tums und des Dogmas ausgehen, die heute, wo Harnacks Dog- mengeschichte mit vollem Recht die Situation beherrscht, über- haupt noch nicht vorhanden sind. Es müßte eine Geschichte des Christentums sein, die noch viel stärker ihren Gegenstand in die allgemeine Kulturgeschichte, in die Geistesgeschichte, aber auch in die der realen und materiellen Voraussetzungen des Geistes, hineinstellte. Davon kann hier nicht die Rede sein. Ich möchte vielmehr hier angesichts der verschiedenen Beurteilungen nur die methodische P"rage aufwerfen: Was heißt überhaupt der Ausdruck »Wesen des Christentums« ? Was schließt das Suchen nach dem Wesen des Christentums für Voraussetzungen ein.^ Was für Mittel sind als selbstverständlich der Lösung dieses Pro- blems dienend betrachtet.'^ Ist Sinn und Ziel dieser Aufgabe über- haupt etwas so Einfaches und Selbstverständliches .- Worin besteht die Aufgabe, wenn sie überhaupt gestellt werden muß und lösbar ist.^ Wie weit ist es wirklich ein rein historisches Problem? Und wenn es das nicht ist, welche Bedeutung kommt dann gerade dem wichtigsten Element in Harnacks so erfolgreichem Versuche, dem

Was heißt »Wesen des Christentums » ? ^QI

historisch-induktiven Ausgangspunkte, zu ? Das sind Fragen, die keineswegs gleichgültige, nur den Fachmann interessierende Neben- dinge sind. An ihrem Verständnis hängt vielmehr die Möglich- keit, zu dem ganzen Problem überhaupt Stellung zu nehmen, und an ihrer Beantwortung hängt zum größten Teil das Urteil über den Wert jeder Leistung, die sich ein solches Ziel setzt. Das schwankende Urteil hat zum großen Teil in unbewußten oder halbklaren Differenzen über diese methodischen Voraussetzungen seinen Grund, und die verschiedenen methodischen Vorausset- zungen bedeuten oft schon selbst eine sachliche Stellungnahme. Ueber diese Dinge ist vor allem Klarheit nötig, wenn auch damit die Bedeutung der rein historisch-empirischen Fragen keineswegs unterschätzt sein soll. Immerhin aber wird die Klarheit über die Voraussetzungen und ihr Recht erst Beruhigung bringen können, und auch der Laie wird erst durch eine solche Klarheit die wirk- liche Bedeutung der Sache erkennen. Es sei mir daher erlaubt, in einigen Artikeln die Geduld der Leser in Anspruch zu nehmen und sie für eine rein methodische Frage interessieren. Die Selbst- besinnung über die Methode unserer Gedanken ist in Fällen ver- wickelter Probleme stets das Mittel, um auch richtig zur Sache zu kommen.

2. Die Voraussetzungen des Wesensbegriffes.

Der ganze Ausdruck »Wesen des Christentums« hängt mit der modernen, kritischen und entwickelungsgeschichtlichen Histo- rie zusammen. Die katholische Theologie würde ihn nie gebraucht haben; sie hätte gesagt »der Glaube der Kirche« und hätte dabei nur die volle, vom Kleriker zu verlangende Kenntnis von der unvollständigen, im Glauben an die Kirche implizierten Kenntnis der Laien unterschieden. Auch der rechtgläubige Protestantismus hätte ihn nie gebraucht; er hätte gesagt »die Offenbarung der Bibel '<, und dabei fundamentale und nichtfundamentale Artikel unterschieden. Ja auch für die Aufklärung hätte dieser Titel keinen Sinn; sie spricht mit Locke von der »Vernünftigkeit des Christentums« und rationalisiert die Bibel, indem sie für alle un- haltbaren, von der modernen Kritik zerstörten Dogmen erst die nachapostolische Kirche verantwortlich macht und von dem reinen biblischen Kern die entstellenden späteren Zutaten unterscheidet. Erst mit Chateaubriands, freilich auf einer sehr verworrenen historisch-empirischen Grundlage beruhendem, Genie du Christia-

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Was heißt NWesen des Christentums« ?

nisme taucht das »Wesen des Christentums« auf und weist uns hierdurch auf seine Quelle in der historischen Anschauung und Kunst der Romantik hin, nachdem Lessing und Herder nach ähnlichen Begriffen gesucht hatten. Die Sache selbst ist also älter und fällt in den Bereich der Aufgaben, die sich die Herder- sche Geschichtsphilosophie stellte. Die Männer des deutschen Idealismus und der deutschen Romantik und seitdem die allg-e- meine Sprache sagen »das Christentum« ; sie meinten damit nicht mehr die Lehre des Neuen Testamentes oder die Lehre Jesu oder die Lehre der Kirche oder die der Bekenntnisse, sondern das in der Fülle seiner historischen Erscheinungen aus einer treiben- den Idee zu verstehende Ganze des christlichen Lebens. Eine den meisten unbewußte und erst von der historischen Abstraktion zu fassende geistige Einheit entwickelt sich nach dieser Auffassung in dem Mannigfaltigen der christlich bestimmten Geschichte, und diese Einheit, emporgehoben in das Bewußtsein, ist das Wesen des Christentums. Dabei ist freilich die empirische Geschichte, das Material der Tatsachen, nicht in dem weichen und bunten Zustand vorausgesetzt, wie es Chateaubriand kannte, sondern ist in der methodischen Arbeit der Quellenfindung und Quellenkritik, der Rekonstruktion und Beziehung der Tatsachen, zu einem der Erforschung anderer Kulturgebiete völlig analogen Geschichtsbild eines kausal verständlichen Erscheinungskomplexes ausgearbeitet. Aus diesem Komplex die bestimmende und treibende religiöse Idee und Kraft herauszufühlen, das ist die Aufgabe einer Dar- stellung des Wesens des Christentums. Die Aufgabe ist daher auch von allen Theologen in Angriff genommen worden, die auf der Voraussetzung des modernen historischen Denkens stehen. Wenn die Entwickelung der wissenschaftlichen Theologie des 19. Jahrhunderts an den Namen Schleiermachers, Baurs, Ritschis und Harnacks klar gemacht werden kann, so entspricht diesen Namen auch der immer erneute Anlauf zur Fixierung des Wesens des Christentums. Schleiermachers eigene Bestimmung ist noch sehr abhängig von der Dogmatik, indem sie den Erlösungsbegriff herausgreift. Erst Baur geht auf das volle geschichtliche Material ein. Ritschi und Harnack gehen wieder mehr auf die Bibel zurück und halten sich an das Bild des geschichtlichen Christus. Immer aber soll mit diesen Bestimmungen die Gesamtheit des christlichen Lebens in ihrer treibenden Kraft erfaßt werden, um

Was heißt »Wesen des Christentums« ?

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erst so der Glaubenslehre das von ihr zu expHzierende Objekt zu geben -').

Der Ausdruck bedeutet also die Anwendung eines metho- dischen Grundgedankens und einer unermeßlich breit bewährten Voraussetzung der modernen allgemeinen Historie : große zusam- menhängende Komplexe geschichtlichen Geschehens sind die Ent- wicklung einer Idee, eines Wertes, eines Gedankenkreises, eines Zweckgedankens, der mit seiner Ausführung wächst und Kon- sequenzen entwickelt, der fremde Stoffe sich angliedert und unter- wirft, der mit beständigen Abirrungen von der Zielrichtung und herandrängenden Gegensätzen kämpft. Das »Wesen« eines solchen Komplexes ist der abstrakte Begriff, die der Historie eigen- tümliche Abstraktion, vermöge dessen der ganze bekannte und im Detail erforschte Umkreis der zusammenhängenden Bil- dungen aus dem treibenden und sich entwickelnden Grundgedanken verstanden wird. Das »Wesen« kann nur gefunden werden aus dem Ueber blick über die Gesamtheit aller mit diesem Gedanken zusammenhängenden Erscheinungen, und seine Auffindung erfordert die Uebung historischer Abstraktion, die Kunst der das Ganze zusammenschauenden Divi- nation, zugleich die Exaktheit und Fülle des metho- disch bearbeiteten Einzelmaterials. In diesem Sinne hat der deutsche Idealismus den Begriff geschaffen, und in diesem Sinne hat ihn mit Ablösung von dessen besonderen philosophi- schen Voraussetzungen die eigentliche Historie fortentwickelt, sofern sie nicht auf solche Abstraktionen als allzuschwierig ver- zichtet. Doch kann sie in Wahrheit nicht darauf verzichten. Denn solche Abstraktionen sind ihre höchsten Ziele und machen diese Wissenschaft erst wertvoll. Nur durch sie, sofern sie im engen Zusammenhang mit der exakten Detailforschung bleiben, ist die Historie das, was sie sein will, die erweiterte Lebens- erfahrung des Menschen, die Orientierung der Lebenden an der Gesamt-Lebenserfahrung des Geschlechtes, soweit ein Bild einer

-') Zu der Geschichte der Wesensbestimmungen in ihrem Zusammenhang mit den jeweiligen theologischen Gesamtanschauungen vgl. die Bonner Rektoratsrede Seils, »Die Entwickelung der wissenschaftlichen Theologie in den letzten 50 Jahren« 19 12 und das ausführliche Buch von W. Adams Brown, »The essence of Christia- nity. A study in the history of definition, Edinburgh 1904. Auch Seils eigene feine Bestimmungen in Preuß. Jahrbb. 1899, »Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Ge- schichte der christlichen Religion« sind hier nicht zu übersehen.

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Was heißt »Wesen des Christentums« ?

solchen noch zu gewinnen ist. Wie Jakob Burckhardt das Wesen der Renaissance, der griechischen Kultur, Ihering den Geist des römischen Rechtes zu ergründen strebte, so muß es das immer neuangestrebte, die Detailforschung immer neu verwertende und befruchtende Ziel der Religionsgeschichte sein, das Wesen der primitiven Religion, das Wesen des Vedismus, das Wesen des Buddhismus, das Wesen des Islam usw. zu erforschen. Keinen anderen Sinn hat aber auch die Erforschung des Wesens des Christentums. In früheren Zeiten, als der Zusammenhang dieser historischen Denkweise mit den ursprünglichen philosophischen Impulsen noch deutlicher war und man sich besonders in der Theologie noch gerne an die Terminologie Hegels band, sprach man vom »Prinzip des Christentums«, vom »Prinzip des Katho- lizismus und Protestantismus« und meinte im Grunde dasselbe, bloß daß man bei der Fassung des Wesens als Prinzip das histo- rische Leben strenger aus einem Grundgedanken wirklich not- wendig ableiten zu können meinte. Das Wesen des Christen- tums aus der Geschichte des Christentums erkennen lernen wollen, das heißt nur in einer realistischeren, durch die Hegeische Fort- schrittsdialektik und Logisierung der Wirklichkeit nicht gebun- denen Weise das organisierende und hervorbringende Prinzip der Fülle von Lebenserscheinungen suchen, die wir das Christentum nennen.

Indem aber so die Methode und der Gedanke der Wesens- bestimmung von der allgemeinen geschichtlichen Methode aus auf das Christentum übertragen wird, bringt er überhaupt die allgemeinen methodischen Voraussetzungen des modernen histo- rischen Denkens mit sich. Er ist aus der unermeßlichen Summe der Einzelforschungen hervorgegangen, hat die methodische Quellen- kritik, die Rekonstruktion der Tatsachen nach Analogie des auch uns bekannten oder doch eines öfter bezeugten Geschehens, schließ- lich die Herstellung eines alle Erscheinungen verbindenden Kau- salzusammenhanges zu seinen Voraussetzungen, die dann durch die Fruchtbarkeit seiner Anwendung, wieder bestätigt werden. Damit ist dann aber gesagt, daß eine Bearbeitung des Christen- tums, die das Wesen des Christentums rein historisch sucht, eine Reihe wi chtigvS te r, schlechthin entscheidender Vor- aussetzungen einschließt, wie wir sie im Zusammenhang mit dem modernen historischen Gedanken überhaupt bejahen. Es ist kurz gesagt der Verzicht auf die bis zum achtzehnten Jahrhundert

Was heißt »Wesen des Christentums«

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geltende dogmatische Methode und der Anschluß an die von der Aufklärung vorbereitete, im deutschen Idealismus prinzipiell er- faßte historische Methode, oder genauer, der Verzicht auf eine dogmatische, fertige Maßstäbe besitzende Historie und der An- schluß an eine ihre Grundbegriffe erst aus sich selbst hervor- bringende Historie. Es ist verzichtet auf den Aufweis einer in der Bibel oder in der Kirche vorliegenden, durch göttliche Auto- risation beglaubigten und an ihr erkennbaren Normwahrheit, die als solche in dieser festen Umgrenzung gegeben wäre. Das Wun- der hört auf, ein Mittel zur Ausscheidung und Bestimmung des Wesens zu sein. Die Tatsächlichkeit der als Wunder bezeichneten Vorgänge kann je nach dem Quellenbefunde hierbei wohl unter Umständen festgehalten werden. Aber das Wunder, sowohl das innere der Bekehrung und Gemütserhebung als das äußere der Natureingriffe, hat aufgehört als Mittel der Herausstellung des Göttlichen und Wesentlichen am Christentum zu gelten; und, wenn das Wunder einmal diese Funktion verloren hat, dann ist ihm der Nerv durchschnitten ; dann wird die Analogie christ- licher und nichtchristlicher Wunder, die Analogie der verschie- denen inneren Erfahrungen, die Kenntnis der Psychologie der Ueberlieferung und Legende den Bereich des Wunders immer enger eingrenzen und an das ohnedies mit dem ganzen Gedanken der historischen Wesensbestimmung verbundene Prinzip einer psychologisch-kausalen Betrachtung ausliefern. Wie weit dann hier eine wirkliche Vergesetzlichung und Rationalisierung durch- führbar ist, das ist eine Frage für sich; für das »Wesen des Christentums« ist sie gleichgültig, da die etwaigen Grenzen der Rationalisierung von allen anderen historischen Bewegungen ebenso gelten würden. Mit dieser Beseitigung des Wunders als Mittel für die Erkenntnis der christlichen Idee schwindet aber auch die normative Geltung der durch das W\mder bisher gedeckten Ueber- lieferung und wird die Kritik aller mit dieser Ueberlieferung ge- gebenen oder aus ihr erwachsenen kirchlichen Dogmen frei, oder vielmehr diese von verschiedenen Seiten her erwachsene Kritik verliert ihren eigentlichsten Gegner; die Aufsuchung des Wesens darf diese, durch nichts mehr mit dem Wesen prinzipiell identi- fizierten, Dogmen historisch-psychologisch aus dem geistigen Pro- zesse erklären, darf Kritik und Auflösung dieser Dogmen selbst als einen Teil der Bewegung des Wesens betrachten, kann Neu- bildungen als Ausflüsse des Wesens charakterisieren, wenn bei

2q6 Was heißt »Wesen des Christentums«?

eindringender Ueberlegung ihr wirklich diese Kritik und diese Neubildungen aus dem Triebe des christlichen Grundgedankens selbst hervorzugehen scheinen. Die Abstraktion des Wesens- begriffes ist so wenig, wie an das Wunder, daher an die Kirche und die Autorität der Kirche gebunden. Aber auch jede Heraus- arbeitung des Wesens durch angebliche Deckung der Idee des Christentums mit einer natürlichen Religionswahrheit oder einem allgemeinen Religionsbegriff oder mit allgemeinen ethisch-religiösen Postulaten fällt weg. Von all diesen Dingen weiß die Historie nichts, und, sofern sie etwas von ihnen weiß, hebt ihr Fluß jeden Versuch zur Feststellung solcher ihr entzogener und ihre Auf- fassung normierender Kontrollen auf. Das Wesentliche am Christentum ist nicht dasjenige an ihm, was sich mit einer allge- meinen auch sonst feststehenden Wahrheit deckt, so daß alles damit sich nicht Deckende zum Unwesentlichen würde. Sondern das Wesentliche ist allein der aus seiner historischen Erscheinung selbst erhellende, seine Entfaltung bewußt und unbewußt be- stimmende, für sein eigenes Denken und Wollen im Mittelpunkt stehende Inbegriff religiöser Grundgedanken, der niemals fertig und abgeschlossen ist, solange er lebendig der Geschichte an- gehört. Ist aber damit gegenüber Bibel-Kanon, Wunder, Kirche und Dogma die Wesensbestimmung unabhängig und auf das im Ganzen sich offenbarende Prinzip gewiesen, ist damit ferner das Prinzip jeder Normierung aus außerchristlichen d. h. philosophi- schen Gedanken entzogen und nur aus der Geschichte des Christentums selbst zu gewinnen, so ist damit doch die Wesens- bestimmung nicht unabhängig von dem Blick auf die außerchrist- liche Welt d. h. dann aber auf die außerchristlichen Religionen. Aber dieser Blick ist wieder rein historisch zu verstehen. Die Kunst solcher historischer Abstraktion muß an einer Mehrzahl von Gebilden geübt werden, um Uebung, Sicherheit und Selbst- kontrolle zu erlangen. Sie muß insbesondere auf verwandten Gebieten vollzogen werden, um in ihrer Vergleichung das Wesent- liche leichter finden zu lassen, um typische und durchgängige Erscheinungen als überall sich wiederholende, unwesentliche For- men zu bezeichnen, um das Auge für die wirklichen geistigen Triebkräfte und für die wirklichen wesentlichen Aeußerungen derselben zu schärten. So hat Schleiermachcr in der Einleitung seiner Glaubenslehre die »eigentümliche Bestimmtheit der christ- lichen Gemütszustände« zu fixieren gesucht. Und noch weiter

Was heißt »Wesen des Christentums« ?

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sind darin die Hegelianer gegangen, die diese Analogien und Unterschiede in einen genetischen zum Christentum hinführen- den Prozeß einreihen und eben damit dieses in seinem Wesen und in seiner Wahrheit zugleich erkennen. Die das Wesen des Christentums ermittelnde Abstraktion bedarf also jedenfalls der vergleichenden Religionsgeschichte und bedarf letztlich der höch- sten Abstraktionen der Kulturgeschichte überhaupt, um historisch verfahren zu können, und sie ermittelt das Wesen des Christen- tums nur, indem sie das Christentum als Glied einer religiösen und kulturellen Gesamtentwickelung denkt, innerhalb deren jede Eigentümlichkeit eines besonderen Gebietes, jedes besondere Wesen, doch nur eine besondere Form des allgemeinen, sich ent- wickelnden Geisteslebens überhaupt ist. In Schleiermachers Ethik sind die Grundzüge eines solchen Verfahrens vorbildlich entwickelt und begründet-^).

Die Bestimmung des Wesens ist allerdings eine rein histo- rische Aufgabe. Aber »rein historisch« bedeutet eine ganze Welt- anschauung. Es ist keine willkürliche oder individuelle Welt- anschauung, sondern es ist die in tausend eindringenden Ueber- legungen gewonnene und in tausend Erfolgen bestätigte moderne Stellung des Menschen zu den Erinnerungen und Berichten der Vergangenheit. Die Bestimmung des Wesens des Christentums beruht, wenn anders dies Wort seinen natürlichen Sinn haben soll, auf diesen Voraussetzungen. Freilich ist es eine Weltan- schauung nur, insofern allgemeine Grundbegriffe der Historie selbst in Betracht kommen. Naturwissenschaftliche und metaphysische Fragen und deren Einwirkung auf die historischen Begriffe stehen noch außer aller Berücksichtigung. Der Kausalitätsgedanke, nach dem die Erscheinungen verknüpft werden, ist der rein historische, der nichts nach der Notwendigkeit, sondern stets nur nach der Anknüpfung einer Erscheinung an vorausgehende fragt, ohne Neuheit und Originalität in jeder neueintretenden zu leugnen. Es ist lediglich die Zusammenfassung alles Historischen zu einer Gesamtentwickelung der Menschheit, die Verknüpfung und Re- konstruktion des Geschehens nach den Prinzipien der auf Ana- logie begründeten Wahrscheinlichkeit, die Kritik aller Ueberliefe- rungen nach diesen Prinzipien und die Zusammenfassung des lebendig fließenden Geschehens zu in ihnen sich auswirkenden Werten, die hierbei als Werte für die sie herausbildenden Ge-

^^) Vgl. Süskind, Christentum und Geschichte bei Schleiermacher 191 1.

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Was heißt »Wesen des Christentums« ?

schlechter in Betracht kommen und mit den persönlichen Wer- tungen und Lebensanschauungen des Darstellers und des Lesers nichts zu tun haben, jedenfalls von ihnen gesondert werden müssen. Das sind die Voraussetzungen des Wesensbegriffes.

Ist aber so die Wesensbestimmung rein historisch, so ist sie das doch nur in dem Sinne, daß sie die allgemeinen Grundsätze der kritischen Historie befolgt und das in ihr unumgängliche Ab- straktionsverfahren mit gesammelter Energie auf das Ganze des Christentums anwendet. Damit aber geht sie schon über die gewöhnliche induktiv-empirische erzählende Geschichte hinaus, die zwar auch solcher Allgemeinbegriffe sich bedient, aber doch nicht deren Aufstellung sich zu der alles andere Interesse zurück- drängenden Aufgabe macht. Die Wesensbestimmung wächst aus Methode und Geist der empirisch-induktiven Geschichtschreibung- heraus, aber sie ist doch eine Aufgabe höherer Ordnung ; sie liegt an dem Punkte des Uebergangs der empirisch-induktiven Geschichte zur Geschichtsphilosophie. Das tritt in Harnacks Werk äußerlich nicht so zutage, wie es das tun müßte, ist aber tat- sächlich doch durchaus der Fall. Er betrachtet das Evangelium oder die Gottesreichpredigt Jesu als das Wesen des Christentums und verarbeitet das Mannigfaltige der Predigt Jesu zu einem Be- griff des Christentums, den er dann aus der weiteren Kirchen- geschichte teils durch Hinweis auf die Abweichungen, teils durch Hervorhebung übereinstimm.ender Fortentwickelungen beleuchtet. Der Widerspruch Loisys gegen Harnack mag Recht haben, wenn er die sachliche Auffassung des Wesens bei Harnack oder die einseitige Abstraktion des Wesens von der Predigt Jesu bekämpft. Ja, er mag das Wesen darin finden, daß das Christentum über- haupt zu komplex und uneinheitlich für eine solche Abstraktion ist. Aber Unrecht hat er, wenn er den Wesensbegriff durch den der Kirche ersetzen will. Darin kommt bei ihm ein Rest un- historischen, katholisch-dogmatischen Denkens zum Vorschein. Die Historie fordert den Fortgang vom Detail der Erzählung zum Wesensbegriff, einerlei wie weit hierbei ein solcher sich wirklich geschlossen ergeben mag. Wollen wir wirklich auf historischem Wege über das Christentum klar werden, so können wir gar nicht anders als die historische Einzelarbeit zu einem Wesensbegriff verarbeiten, wie immer dieser Begriff ausfallen möge. Erst einem solchen Wesen gegenüber können wir dann selbst religiös Stellung nehmen.

Was heißt .-Wesen des Christentums«?

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Unter diesen Umständen sind die Gegner völlig im Recht, wenn sie sagen, Harnacks Wesen sei keine rein empirisch-induk- tive Arbeit, sondern schließe starke geschichts-philosophische Vor- aussetzungen ein und sei tief durch sie beeinflußt. Unrecht haben sie nur, wenn sie den inneren Zusammenhang seines Verfahrens mit den Grundzügen und Grundbegriffen der allgemeinen histo- rischen Methode verkennen und, statt die ganze Frage darauf zuzuspitzen, ob diese oder nicht viel mehr ganz andere Voraussetzungen berechtigt sind, sich einbilden dem an- geblich historisch gedachten »Wesen« Harnacks ein noch histo- rischer gedachtes »Wesen« entgegenzusetzen, das gerade durch die strengere Historizität das kirchliche Dogma oder den pieti- stischen Heilandsglauben als wahres und geltendes Wesen des Christentums erweise. Gingen sie bei einem solchen Beweis wirklich bloß historisch zu Werke und hätten sie Recht, so würden sie ja nur beweisen, daß der Geist des Christentums bloß in den Formen der kirchlichen Weltanschauung, Dogmen und Institutio- nen sich konsequent äußere und mit der Zersetzung der Kirche durch eine von Antike und Mittelalter unabhängige Kultur selbst in der Auflösung begriffen sei. Sie würden zeigen, daß als Tat- sachenmaterial für die Abstraktion des Wesens nur die Kirche und die ihr nahestehenden Bewegungen in Betracht kommen können, daß dagegen alle weitere Entwicklung nicht mehr unter den Begriff des Christentums falle, und würden damit radikalen Gegnern des Christentums, wie David Friedrich Strauß in seiner späteren Epoche oder heute Eduard von Hartmann und seinen Schülern, in die Hände arbeiten. Wenn sie das kirchliche Dogma als geltendes Wesen erweisen und dabei doch nur mit der Geschichte operieren wollen, obwohl das Dogma über die Re- ligion der Gegenwart seine Macht zum großen Teil verloren hat, dann müssen sie im Gegenteil grundsätzlich brechen mit dem Versuch, das Wesen auf dem Wege einer historischen Ab- straktion im Sinne der gewöhnlichen historischen Methode fest- stellen zu wollen. Dann muß der Wesensbegriff auf eine ganz andere Basis gestellt werden und, statt aus der Gesamtheit der christlichen Geistesentwickelung, aus bestimmten und umgrenzten Quellen gewonnen werden, die durch ein bestimmtes Merkmal von aller übrigen Geschichte geschieden sind und sich durch dieses Merkmal als für sich allein gesetzgebende Autorität aus- weisen. Ein solches Merkmal aber kann nur das Wunder sein.

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Was heißt »Wesen des Christentums« ?

sei es das kirchlich-dogmatische Wunder der Bibehnspiration und der Kirche selbst oder das pietistische Wunder der Ueberführung von der Göttlichkeit der Bibel und dem Kern der Dogmen durch die Bekehrung. Der entwicklungsgeschichtlichen, universalen Historie müßte die auf das Wunder begründete, dogmatische und vom festen dogmatischen Zentrum erst die Gesamtheit konstruie- rende Historie entgegengestellt werden. »Von der allgemeinen Historie und ihren Methoden zum Christentum in seiner ganzen Ausbreitung und zur Frage der Geltung des Christentums« oder »von den durch das Wunder festgelegten Normalgedanken der Bibel und des Dogmas zur allgemeinen Historie und ihren profanen Methoden«: das ist die Differenz. Sie wird nur ver- schleiert, wenn in einem nicht genau präzisierten Sinne des Wortes »historisch« uns auf * historische« Weise das Christentum im Sinne des Dogmas bestimmt und zugleich in diesem Sinne als geltend bezeichnet wird. Man sagt dann, das Wesen des Christentums sei es, daß man die Erlösung in der Bibel finde und daher an die Bibel und ihre Grundgedanken glaube, daß man in der Bekehrung der Göttlichkeit Christi und damit der Wahrheit der Bibel gewiß werde. Aber diese Verwendung des Wortes »Wesen« führt nur irre; sie scheint den modernen histo- rischen Gedanken anzuerkennen und tatsächliche Grundzüge der wirklichen Erscheinungen herauszuheben; aber, indem sie diese zu- gleich wegen ihrer Begründung in übernatürlicher Mitteilung zur geltenden Norm macht, macht sie die ganze Arbeit einer histo- rischen Abstraktion überflüssig und kann sie ganz gleichgültig sein gegen die Frage, wie weit das Induktionsmaterial für diese Abstraktion auszudehnen sei. Was diesen so als geltende Wahr- heit fixierten Lehren widerspricht, fällt dann selbstverständlich nicht mehr unter den Begriff des Christentums und kann auch zu dessen Bildung nicht verwendet werden. Das ist eine Benut- zung des Wortes »Wesen«, die es in sein Gegenteil verkehrt. Es ist ähnUch wie die Benutzung des Wortes Schöpfung, wenn Häckel von »natürlicher Schöpfungsgeschichte« spricht.

Je nachdem wir uns in dieser großen Grunddififerenz ver- halten, werden wir uns zu dem Versuche Harnacks stellen. Wem die kirchlichen Dogmen zerbrochen sind und wem die Voraus- setzungen der modernen Historie selbstverständlich sind, der wird in einem solchen Versuche den einzigen Weg sehen, auf dem wir unsere religiöse Ueberzeuifunsf klären und auf dem wir unserer

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Christlichkeit gewiß werden können. Daher kommt auch der große Erfolg des Harnackschen Buches. Es wendet sich an den modernen Menschen mit seinen selbstverständlichen historischen Voraussetzungen und zeigt ihm unter diesen Voraussetzungen den einheitlichen Geist des Christentums, damit er auf Gewissen, Phantasie und Gemüt wirke. Wer nicht bloß Harnacks sachliche Auffassung vom Sinn des Evangeliums, sondern die Preisgebung des Christentums an die Fülle seiner historischen Entwickelungen bestreitet, der muß das entgegengesetzte Prinzip, das dogmatische Wunderprinzip, mit allen seinen Voraussetzungen und Konse- quenzen begründen und verteidigen, und es nicht bloß an einigen Hauptpunkten unter modern klingenden Titeln sich einmischen lassen in eine ihm gänzlich fremde Ideenwelt. Wenn die tradi- tionalistischen Theologen den fortschrittlichen gerne vorwerfen, daß ihre Benützung kirchlicher Termini »Falschmünzerei« sei, so kann umgekehrt der moderne Denker diesen fortwährend die Er- füllung moderner, immanent und historisch gedachter Termini mit einem ganz unmöglichen kirchlich-supranaturalistischem Sinne vor- werfen. Bei ihnen haben alle modern wissenschaftlichen Worte einen ihre Bedeutung wieder aufhebenden Hintersinn. Was ist hier insbesondere mit dem Worte »geschichtlich« für ein furcht- barer sophistischer Unfug getrieben worden !

Es ist hier nicht der Ort, zwischen beiden Prinzipien der Betrachtung sachlich zu entscheiden. Es ist darin ja auch etwas neues gar nicht beizubringen. Ich setze vielmehr voraus, daß die mit der ganzen modernen Geisteswelt aufs innerste zusammen- hängende und in bewährtester Arbeit der Kritik durchgesetzte historische Methode im Recht ist. Sie und sie vor allem ist es, die die Zustimmung zu den oft recht nahe ans Herz gehenden pietistischen und kirchlichen Argumentationen unmöglich macht. Wenn das aber der Fall ist, dann muß das Wesen entschlossen in der Weise des modernen historischen Denkens gesucht werden.

3. Das Wesen als Kritik.

Das Unternehmen der Wesensbestimmung enthält also Vor- aussetzungen fundamentaler Art. Aber es enthält nicht bloß Voraussetzungen, sondern es enthält auch neue Probleme und Schwierigkeiten. Wie jeder große Gedanke nicht erledigt ist durch die Einführung und Durchdenkung seiner Vor- aussetzungen, sondern wie damit erst die neue Arbeit beginnt

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 26

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und neue, diesem Gedankengange eigentümliche Probleme ent- springen, so geht es auch mit der historischen Theologie und ihrer Bestimmung des Wesens des Christentums. Hierüber haben denn auch die Gegner verschiedene sehr richtige Bemerkungen gemacht. Allein Schwierigkeiten machen heißt nicht widerlegen. Nur wenn sie zugleich als unüberwindlich und aus einer falschen Methode stammend erwiesen sind, dienen sie der Widerlegung. Davon aber ist keine Rede. Sie sind vereinzelt und dunkel emp- funden und zu raschem Triumph herbeigerafft. Wer über den Gegensatz der Methoden klar ist, wird erst den eigentlichen Sinn dieser Schwierigkeiten richtig verstehen, und wer in diesem Streite für die historische Methode aufrichtig Partei nimmt, wird sie für lös- bar halten. Andernfalls bliebe überhaupt nichts als radikale Skepsis. Wenn die Wesensbestimmung eine Abstraktion aus dem ge- samten Umfang der historischen Erscheinungen bis zum heutigen Tage ist, und wenn sie hierbei die treibenden Kräfte herauszu- heben und zu formulieren strebt, dann ist die Aufgabe nur unter einer Bedingung leicht lösbar. Das ist dann der Fall, wenn wir die sämtlichen Erscheinungen nach einem in der Grundidee liegenden Trieb oder einem in ihm eingeschlossenen Entwicke- lungsgesetz hervorgehend und auseinanderfolgend denken können. Dann hätten wir eine Gesetzesformel, die zwar etwas ganz an- deres ist als ein Naturgesetz, das die sich wiederholende Regel- mäßigkeit immer gleicher Tatsachen formuliert ; aber wir hätten doch eine Formel, die das Mannigfaltige beherrscht und erklärt und eben damit das Wesen ausspricht. Diese Formel wäre dann ja freilich nicht das Ewige und Bleibende selber, an das wir glau- ben. Aber sie würde uns ermöglichen, im notwendigen Anschluß an die Entwickelung das Ewige und Bleibende so auszusprechen und es derartig als gesetzliches Ergebnis der bisherigen Entwicke- lung zu formulieren, wie es in unserer Lage sich uns darstellen muß. Dann könnte man z. B. die Idee der Gottmenschheit als das Wesen bezeichnen, das erst in der Person Jesu symbolisch- anschaulich erschienen sei, dann sich dogmatisch-religionsphilo- sophisch in Trinitätslehre und Christologie entwickelt habe, aber noch in mythischer Form stecken geblieben sei, schließlich in der modernen Lehre von der Einheit des göttlichen und des end- lichen Geistes und von ihrer Realisation in der Entwickelung des Geistes abschließend verwirklicht habe. So dachte in der Tat die Heselsche Schule. Von diesem großen Gedanken ist Baurs

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kirchengeschichtliche Schule erfüllt, und die modernen Nachzüg- ler dieser Schule sprechen sie als ihre Lehre vom Wesen des Christentums aus. Vielleicht könnte man auch von der Idee des Gottesreiches einen ähnlichen dialektischen Entwickelungsgang von Jesu eschatologischer Predigt durch das Dogma von der Kirche und dem Leibe des Gottmenschen hindurch bis zum mo- dernen Begriff eines Reiches gotteiniger Geister oder zu einer modernen christlich-sozialen Ethik konstruieren, wenn man den biblischen Gottes-Reichs-Gedanken für geeigneter zum Ausdruck des Wesens hält als die Christologie des altkirchlichen Dogmas und des Paulinismus. Das ist wohl im wesentlichen der Gedanke Harnacks und Ritschis, die ja doch, namentUch auf dem Gebiete der Ethik und des Weltbildes, eine Fortentwickelung anerkennen, um die reformatorische Ethik an das Evangelium anschließen und die metaphysisch -dogmatischen Belastungen durch das antike Weltbild der Bibel ausschließen zu können.

Aber läge die Sache so, dann müßte man sämtliche Bil- dungen des Christentums, das Urchristentum, den altkirchlichen, byzantinischen und römischen Katholizismus, den Protestantismus und das Täufertum, die protestantisch-pietistischen Sekten und die moderne christliche Religionsphilosophie als normale, an ihrem Ort notwendige und zwar teleologisch, nicht bloß kausal notwendige, Offenbarungen des Wesens betrachten. Und zwar wären sie solche Offenbarungen nicht bloß in dem Sinne, daß eben nur in der Totalität solcher verschiedener Bildungen zu- sammen und nebeneinander der ganze Reichtum und die Trieb- kraft der christlichen Idee zum Ausdruck käme. Damit wäre ja auf die für die Wesensbestimmung notwendige Voraussetzung verzichtet, daß das Wesen sich nicht in zahllosen, jedesmal nur einen Teilgedanken ausbildende Gestaltungen oder in tausend be- liebige Individualisationen der Idee zersplittere, sondern in all diesen Gestaltungen fortschreitend nur Einseitigkeiten und fremde Beimischungen abstreift, um zu seinem Kern zu kommen und hier sich als ganzes und einheitliches Prinzip erst voll zu er- fassen.

Aber dagegen protestiert nun zunächst und vor allem wenn wir einmal vom rein historischen Denken absehen unsere protestantische Ueberzeugung. Wir können nicht den ganzen Katholizismus als die teleologisch notwendige, organische Entfal- tung betrachten und im Protestantismus nur die Zusammenfassung

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der in der katholischen Durcharbeitung gewonnenen vertieften christlichen Ideen sehen, die dann mit gleicher organischer Not- wendigkeit aus sich den modernen christlichen Humanismus her- vorbrächten. Für Protestanten ist eine solche Auffassung im Ernste unmöglich. Denn bei aller historischen Gerechtigkeit gegen den Katholizismus und bei aller Anerkennung des Umstandes, daß die urchristliche Mission direkt in den Katholizismus ausmündete, daß der Protestantismus den Katholizismus zu seiner Voraussetzung hat, und daß der gesamte Altprotestantismus mit ihm viele wich- tige Merkmale gemeinsam hat, es bleibt im Protestantismus doch die Tatsache eines Bruches mit grundlegenden Ideen des Katho- lizismus und die Begründung dieses Bruches in einer, wenn auch nur relativen, Geltendmachung des Urchristentums. Der Prote- stantismus bleibt unter allen Umständen eine historische Kata- strophe und ein Rückgriff auf verlassene urchristliche Ideen. Wer die protestantische Auffassung des Christentums teilt, kann die organische Evolutionstheorie nicht bedingungslos durchführen. Von dieser letzteren Theorie aus würde der Katholizismus in Wahrheit immer im Vorteil bleiben. Er verfügt allein über eine ver- hältnismäßig ungebrochene Kontinuität, kann in seiner hierarchisch- kultisch-dogmatischen Totalität die organische Entwickelung des Wesens zu sein behaupten und vermag seinerseits den Protestantis- mus als einen einseitigen Nebenschößling der christlichen Entwicke- lung zu bezeichnen, indem er ihm eine relative Existenzberechti- gung als Kritik der Schäden der spätmittelalterlichen Kirche zugesteht. So hat Ehrhard den Zusammenhang konstruiert und noch deutlicher Loisy, indem er sich dabei auf Cairds Hegeische Auffassung von der Entwickelung des Christentums beruft. Wer aber im Protestantismus die reinere und tiefere Fassung der christlichen Idee anzuerkennen sich gezwungen sieht, der kann diese Theorie der notwendigen Entwickelung nicht teilen; son- dern wie er im Protestantismus selbst eine diese ganze Theorie aufhebende Katastrophe erkennt, so muß er auch im Katholizis- mus trotz aller Kontinuität mit der apostolischen Mission und Kirchengründung ebenfalls einen Bruch gegenüber der reinen ur- christlichen Idee des priesterlosen und sakramentslosen ethischen Gottesreiches Jesu erkennen. Der Katholizismus muß sich ihm zu einem guten Teil als Abweichung vom Wesen des Christen- tums darstellen, als Abplattung und Abschwächung, als Vergrö- berung und Versinnlichung, als Veräußerlichung und Verunreini-

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gung. Der ursprüngliche Gedanke wird in ihm auf das Niveau der menschlichen Mittelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit herab- gezogen und mit fremden Elementen der antiken Volksreligion, des sakramentalen Priester- und Opferkultes, der antiken Mystik und der immer den Untergrund bildenden, populären Superstition versetzt. Mag, wie Loisy sagt, auch nur um diesen Preis viel- leicht das Christentum zur Kirchenbildung und Selbstbehauptung fähig geworden sein, der Katholizismus bleibt damit doch ein Abfall vom Wesen und ein Werk der dem Wesen entgegen- gesetzten Tendenzen, wenn anders wir dieses Wesen im Sinne des Protestantismus aufzufassen. berechtigt sind und nicht diesen selbst als Abfall oder als peripherische Spielart des Wesens be- zeichnen müssen. Daß wir dazu aber berechtigt sind, das ist unsere unmittelbare Auffassung und Deutung des Christentums. Damit ist dann aber festgestellt, daß das Wesen nicht einfach aus dem Gesamtverlauf .und der Totalität der Erscheinungen ab- strahiert werden kann, sondern daß innerhalb dieser zwischen solchen Erscheinungen zu unterscheiden ist, die das Wesen aus- sprechen, und solchen, die es verwischen oder gar verkehren, oder die es lediglich individuell nuancieren. Es sind nicht bloß vorübergehende, relative, die Entwicklung bloß vorwärtstreibende Gegensätze, sondern es sind auch innerliche und absolute Gegen- sätze vorhanden, die keine Wesensformel zu überwinden ver- mag und aus deren Verarbeitung keine Wesensformel zu ge- winnen ist.

AehnHche Bedenken gegen die glatte Lösbarkeit der Aufgabe ergeben sich, wenn man von der einseitig kirchlichen Betrachtung des Christentums sich frei macht, wie sie die katholische, aber auch die protestantische Geschichtsschreibung und insbeson- dere auch die Baursche und Harnacksche Kirchengeschichte beherrscht. Jesus, Paulus, alte Kirche, Kathohzismus, Reforma- tionskirchen, moderner kritischer Protestantismus sind hier die Glieder der Entwickelungsreihe. Aber man braucht sich nur ein- mal unbefangen dem Eindruck von Gottfried Arnolds »Kirchen und Ketzerhistorie« hinzugeben, um die außerordentliche Einsei- tigkeit dieser Voraussetzung zu empfinden. Es ist der Standpunkt der beati possidentes. In Wahrheit sind die Sekten und die My- stik Lebensformen der christlichen Idee neben der kirchlichen Lebensform, die ihre eigene Bedeutung und ihre selbständige Anknüpfung an das Evangelium und das Urchristentum haben

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und die jedenfalls eine außerordentliche historische Bedeutung entfaltet haben, vor der die traditionelle Kirchengeschichtschrei- bung nur eben die Augen geflissentlich schließt. Jeder Unbe- fangene sieht aber ohne weiteres, daß der heilige Franz, Kierke- gaard oder Tolstoi der eigentlichen Jesuspredigt jedenfalls näher stehen als die kirchliche Dogmatik, daß der Meister Eckart und Sebastian Frank gewisse christliche Grundelemente tiefer verstehen als das kirchliche Massenchristentum. Der Wesensbegriff muß von hier aus zu einer prinzipiellen Verwerfung der »Kirche« in allen ihren Formen werden und kann die Kirche keineswegs in das Wesen einrechnen. Höchstens kann man, wie Richard Rothe, sie als zu überwindendes Durchgangsstadium konstruieren. Um- gekehrt muß eine auf kirchlichem Standpunkt stehende Geschichts- auffassung die Sekten und die Mystik als wesenswidrig bezeichnen und erweisen, wie das ja in der traditionellen Kirchengeschichte und insbesondere von derjenigen der Ritschlschen Schule aus mit einer gewissen Gereiztheit reichlich geschieht-^).

Der protestantische Standpunkt gegenüber dem katholischen, der kirchliche gegenüber dem individualistischen, der sektenhafte gegenüber dem kirchlichen, die Kirche, Sekte und Mystik zusam- menschauende Synthese : alles das sind als Wesensbegriffe zu- gleich kritische Stellungnahmen und Ausscheidungen des Unwe- sentlichen oder Wesenswidrigen vom Wesentlichen. Es ist immer Kritik von einem bestimmten Standpunkt aus. Aber der Satz im allgemeinen ist doch zugleich auch ein Ergebnis rein histori- scher Erwägungen. Es kann ja auch für die unbefangenste Be- trachtung gar nicht anders sein, wenn man überhaupt den Begriff des Wesens gewinnen will und für möglich hält. Der einheitliche Gedanke des Wesens existiert doch überhaupt nur im Denken des zusammenfassenden Historikers. Die Wirklichkeit zeigt dieses Wesen nirgends als das schlechthin klare, fertige und überzeugende Resultat des Prozesses. Sie zeigt große getrennte Kirchen, in deren keiner man das Wesen realisiert erkennen kann und die auch nicht alle zusammen etwa das Wesen realisieren. Sie zeigt über- dies allerhand Sekten und Gruppen, auch völlig individuelle Fas- sungen der Christlichkeit. In ihnen allen steckt nicht bloß die

^^) Ein Beispiel für die Beurteilung des Wesens von der Selbstverständlichkeit des individualistischen Standpunktes aus ist die ganze Schriftstellerei von Johannes Müller, ein solches für die Voraussetzung der Kirchlichkeit ist Wernles Kritik an meinen Soziallehren ZThK 1913.

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Unvollkommenheit des noch nicht völUg über sich selbst klaren Wesens, sondern zugleich bald mehr, bald weniger eine Fülle positiver Verkehrimgen und Störungen des Wesens. Ihnen allen gegenüber bedeutet der Wesensbegriff zugleich eine Kritik. Er ist nicht bloß Abstraktion aus den Er- scheinungen, sondern zugleich Kritik an den Erscheinungen, und diese Kritik ist nicht bloß Messung des nochUnfertigen an deminihmtrei- bendenldeal, sondernScheidung des demWesen Entsprechenden und des Wesenswidrigen.

Neben dem Begriff des Wesenswidrigen fordert nun aber auch noch der des Zufälligen sein Recht. Nicht bloß Verkeh- rungen, die eine Idee hinabzuziehen, zu übertreiben oder zu fäl- schen streben, sondern auch reine Zufälle enthält die wirkliche Geschichte, eine Fülle von Erscheinungen, die an sich ihrerseits aus einem ganz anderen Zusammenhang stammen, und die mit den gegebenen Verhältnissen an die Entwickelung einer Idee herantreten, sie gelegentlich tief beeinflussen oder durch Umstände mit ihr fest zusammengeschmiedet werden. So stammen aus der Berührung mit der Antike, aus den Verhältnissen des Mittelalters manche Zufälligkeiten, die scheinbar mit dem Wesen zusammen- geflossen sind, und die von der Erkenntnis des Wesens wieder ausgeschieden werden müssen, in denen ledighch die bestimmten Lagen entsprechenden Bemeisterungen durch die christliche Idee gesehen werden müssen, ohne daß diese mit jenen individuellen Sondergestaltungen selbst zusammenfiele. Nicht bloß das We- senswidrige und Unwesentliche muß ausgeschieden werden kön- nen, sondern auch der innere Trieb der Sache von ihrer jeweili- gen, durch die Umstände bedingten Individualisation wieder gelöst werden können. Also auch nach dieser Seite hin ist die Wesens- bestimmung eine Kritik.

Nach welchem Maßstab aber wird diese Kritik vollzogen ? Sie ist eine Kritik historischer Gebilde aus dem ihrem Haupttrieb innewohnenden Ideal. Sie ist das, was man eine immanente Kritik zu nennen pflegt. Sie ist insofern in der Tat rein histo- risch gedacht; denn sie mißt das Historische am Historischen, die Einzelbildung an dem intuitiv und divinatorisch erfaßten Geiste des Ganzen. Damit ist die Mitwirkung unfaßbarer, per- sönlicher Betrachtungen, die schon in dem Gedanken einer so weiten historischen Abstraktion lag, noch gesteigert. Aber es ist

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um deswillen immer noch keine unlösbare Aufgabe. Wo Partei- leidenschaft und persönliche Wünsche zurückgedrängt werden, wo man sich rein dem Eindruck der Sache hingibt und aus dem Ganzen das Einzelne zu erkennen, aus der Idee des Ganzen die Verkehrungen und zufälligen Zusätze oder Einschiebsel zu beur- teilen strebt, da ist eine solche Aufgabe lösbar, wenigstens so- weit lösbar, daß lernbegierige und vorurteilslose Menschen zum Nachfühlen und Begreifen gezwungen oder doch wenigstens in die Hauptrichtung der Auffassung und Beurteilung hinein geleitet werden können. Freilich ist es eine Aufgabe, die zu ihrer Lösung bedeutende wissenschaftliche und seelische Kräfte, eine zugleich exakt-historisch gebildete und religiös-ethisch durchgearbeitete Persönlichkeit verlangt. Auch ist es eine Aufgabe, deren Lösung niemand anbewiesen und aufgezwungen werden kann. Es ist zuviel Persönliches und Subjektives in der Aufgabe und in der Lösung enthalten, als daß jedermann unbedingt überführt wer- den könnte, ganz abgesehen von denen, bei denen Vorurteil oder Leidenschaft ein so ruhiges Abwägen unmöglich machen. Aber es ist im Grunde dieselbe Aufgabe wie die immanente Kritik in der Darstellung irgend einer Staats- und Rechtsentwickelung, irgend eines Wirtschaftsorganismus oder auch nur wie die imma- nente Kritik irgend eines Buches. Solche Aufgaben stellt die Wirklichkeit des Lebens nun einmal, und je wichtiger und um- fassender ein historischer Zusammenhang ist, um so schwieriger wird eine derartige immanente Kritik. Ethische und religiöse Entwickelungen können in einer überhaupt Zusammenschau und Einheit erstrebenden Darstellung einer solchen gar nicht ent- behren, und solche Darstellungen wiederum sind unentbehrlich, wenn die Historie uns das Gewesene zeigen soll, um seine Be- deutung und seinen Sinn für das menschliche Gesamtleben abzu- schätzen. Daß der Historiker wirklich den Hauptzug richtig treffe, wirklich die Verkehrungen und Zufälle scharf erkenne, das hängt lediglich von seiner Vertiefung in die Tatsachen und von der Reife seiner Urteilskraft ab, ist also eine Sache historischer Meisterschaft. Die verschiedenen Meister können sich hier gegen- seitig korrigieren und durch solche Korrektur die Erkenntnis fördern. Die Stümper, die Doktrinäre, die Fanatiker, die Eng- herzigen, die Subalternen und die Spezialisten aber sollen die Hand davon lassen.

Damit gilt vom Wesen des Christentums nichts anderes als

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von jeder anderen historischen Wesensbestimmung auch. Die Aufgabe muß überall nicht bloß im Sinne reiner Abstraktion, sondern auch im Sinne einer immanenten Kritik gestellt werden. Jede Idee, jedes Wertganze weckt entgegenstehende Wertbildun- gen, die, von seinem Standpunkt aus betrachtet, Unwertbildungen sind ; und diese Unwertbildungen sind oft auch ihrerseits konse- quenzenreiche Prinzipien, deren Entwickelung sich in die Ent- wickelung des Wertes einschiebt, sie zu unausgesetztem Kampf nötigt, und sie beeinträchtigt oder unter Umständen gar erstickt. Und dabei kann man mit so neutraler, objektiver Auffassung sich schließlich gar nicht begnügen. Strebt die Geschichte rastlos nach der Verwirklichung von Werten, die eine objektive innere Not- wendigkeithaben, so müssen diese Unwertbildungen schließlich auch als objektiv dem Wert und Ziel der Geschichte feindlich begriffen werden. Sobald man über die rein empirisch-induktive Geschichte hinausgeht und an so hohe Dinge wie die Wesensbestimmungen sich wagt, kann auch der ethisch indifferente Standpunkt des bloßen Begreifens des Zusammenhanges, der bloßen Messung an einem immanenten Entwickelungstriebe nicht mehr festgehalten werden. Man muß anerkennen, daß erfahrungsmäßig allen aus einem Gefühl ihrer Notwendigkeit hervorgehenden Werten überall die Negation, die vereinzelnde, zersplitternde Selbstsucht, die rohen tierisch-sinnlichen Triebe, die nicht über sich selbst hinaus- wollende Trägheit und Bequemlichkeit, der alles verkleinernde und herabziehende Stumpfsinn oder doch mindestens die ver- gröbernde und versinnlichende Mittelmäßigkeit entgegentritt. Wer mit dem Begriff des Wesens in der Historie den Begriff eines aus einer idealen Nötigung stammenden Wertes und Zwecktriebs verbindet, der muß damit zugleich das radikale Böse zugestehen. Jedenfalls kann man bei der Darstellung der großen ethisch-reli- giösen Lebenssysteme davon nicht absehen. Ohne das würde alle Wesensbestimmung auf diesen Gebieten zu einer vielleicht pracht- vollen, aber unendlich verblendenden Schönfärberei. Der bald mehr materialistische, bald mehr spiritualistische Monismus, der auch auf allen anderen Gebieten des Denkens fraglich genug ist, ist auf dem Gebiet der Historie eine unbegreifliche Selbstbelügung, die jedem unbefangenen Eindruck des wirklichen Geschehens widerspricht und sich unmittelbar aus dem Stück Geschichte wider- legen läßt, das jeder kennt, weil er es selbst lebt, aus der eigenen Lebenserfahrung.

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Je mehr die Theologie überzeugt ist, daß sie es im Christen- tum mit dem höchsten ethisch-religiösen Werte der Menschheit zu tun hat, um so weniger wird sie der Notwendigkeit ausweichen können, in der Geschichte des Christentums die aus dem reinen Trieb des Wesens hervorgehenden Erscheinungen abzugrenzen gegen die aus dem radikalen Bösen oder aus einem Kompromiß des Guten und Bösen hervorgehenden Erscheinungen. Die Wesens- bestimmung wird eine Kritik alles dessen sein müssen, was aus dem Stumpfsinn und der Plattheit, der Leidenschaft und der Kurz- sichtigkeit, der Dummheit und der Bosheit, der Indifferenz und der bloßen Weltklugheit hervorgegangen ist. Sie wird den Vor- wurf einer moralisierenden Geschichtsauffassung nicht scheuen dürfen. So sehr eine solche vom Detail fernzuhalten ist und hier der kausalen Erklärung der Zusammenhänge weichen muß, so wenig ist sie doch im ganzen zu vermeiden. Ja die Gesamt- anschauung des Wesens wird doch überhaupt nur gesucht, um ein Urteil über das Wesentliche zu finden, von dem aus nicht bloß des Unv;esentliche ignoriert, sondern auch das Wesenswidrige verurteilt werden kann.

Von hier aus fällt nun noch schließlich ein Licht auf einen die Wesensbestimmung vielfach verwirrenden Begriff, den Begriff des »Notwendigen«. Hier vergißt man nur allzuleicht die Doppel- sinnigkeit des Wortes »notwendig«. Es ist etwas anderes die Notwendigkeit im psychologisch-kausalen Sinne und etwas anderes die Notwendigkeit im teleologischen und ethischen Sinne. Mit der psychologisch-kausalen Notwendigkeit hat es die empirisch- induktive Geschichte zu tun, wobei die Notwendigkeit ja niemals mehr bedeutet als die Anknüpfung eines Ereignisses an die vor- anliegenden Kräfte, die die Untersuchung aufsucht, ohne daß sie damit die Verbindung zwischen der Ursache und der Wirkung anders denn als eine tatsächliche und von analogen bekannten Vorgängen bestätigte Verknüpfung betrachtet. Sie nimmt alles vom Standpunkt des vollzogenen Ereignisses und sucht nur die Anknüpfung des Vorgangs an ein Motiv. Die verschiedenen Möglichkeiten, mit denen der Handelnde rechnet, und die für ihn selbstverständliche Betrachtung der Dinge unter dem Gesichtspunkt des Möglichen fallen für sie weg. Der wirklich eingetretene Effekt wird an die ihn hervorbringenden Motive geknüpft als an die durch den Effekt für die stärksten erwiesenen. Aber diese psychologisch-kausale Notwendigkeit der Erklärung deckt sich

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nicht mit der teleologisch-ethischen Notwendigkeit der Entschei- dung des Denkenden und Handelnden, über das was die inner- lich geforderte Konsequenz einer Idee sein müßte. Nur von dieser letzteren aber ist die Rede, wo von notwendiger Auswirkung und Ausgestaltung des Prinzips gesprochen wird. Und für die Beur- teilung der Notwendigkeit in diesem Sinne ist rein die persönliche Entscheidung und innere Ueberführung maßgebend. Es hat daher für das Wesen gar keine Bedeutung, wenn die Entwickelung der urchristlichen Mission zum Katholizismus und des Katholizismus zum Protestantismus usw. als psychologisch-kausal notwendig er- kannt und beschrieben wird. Das beweist nur, daß jedesmal Motive vorhanden waren, die eine solche Entwückelung tatsächlich nahe legten. Aber das beweist nichts für das, was dem Wesen entsprechend hätte sein sollen und wirklich geworden wäre, wenn das Wesen voll empfunden und gewürdigt worden wäre, was vom Standpunkt des Wesens aus die konsequente und darum teleologisch-notwendige Entwickelung gewesen wäre. Nur mit dieser letzteren aber hat es der Begriff des Wesens zu tun, und darum ist er an ein persönlich-ethisches Urteil über die Korre- spondenz einer Erscheinung der Geschichte mit Idee und Trieb des Christentums gebunden. Eben deshalb sind Loisys Betrach- tungen über die Notwendigkeit des Katholizismus zwar historisch- induktiv interessant und großenteils zutreffend. Aber mit dem Wesen haben sie nichts zu tun. Die Wesensbestimmung erfordert nicht nur die divinatorische Abstraktion, sondern in ihr und mit ihr zugleich eine ethisch-persönlich begründete, die Erscheinungen am Wesen messende Kritik, und darum ist sie nur dem Prote- stantismus möglich, der gerade auf dem Grundsatz beruht, daß die persönliche Einsicht in das Wesentliche am Christentum die Masse der tatsächlichen geschichtUchen Erscheinungen auslesend beurteilt.

4. Das Wesen als Entwicklungsbegriff.

Ist die Wesensbestimmung genötigt, in ihrem Stoff, den histo- rischen Erscheinungen, eine prinzipielle Scheidung vorzunehmen, und bedarf sie vor allem eines Maßstabes dieser Scheidung, so entsteht das weitere Problem, an welchem Punkte sie diese vorzugsweise wichtige Offenbarung des Wesens zu suchen hat, um von ihm aus den Grundge- danken zu finden, der für alles übrige die Richtlinie der Beurteilung

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Was heißt »Wesen des Christentums«?

und den Ausgangspunkt der ideegemäßen Entwickelung bildet.

Hierauf scheint die Antwort zunächst sehr einfach. Die klassische Offenbarung liegt vor in den Ursprüngen, wo die ganze Gedankenwelt noch neu ist in der Frische des Saftes und Schusses, in der von allem Kompromiß freien Reinheit der idealen Forderung. Sie liegt im Urchristentum und hinter dem Urchristentum in Per- son und Predigt Jesu. Darin sind alle einig. Der Katholizismus erkennt es in der Theorie an und macht vor allem die tatsäch- liche Kontinuität mit ihm geltend, der Protestantismus begründet hierauf seine ganze praktische Position und kritisiert von hier aus die bloß tatsächliche Kontinuität.

Aber diese Antwort ist doch in Wahrheit nur ein neues schwieriges Problem. Der Grund, weshalb das Urchristentum und die Predigt Jesu vor allem in Betracht kommt, ist für die Wesens- bestimmung nicht der formell dogmatische einer durch das Wun- der erkennbaren und beglaubigten unbedingten Autorität des Ur- christentums, die, wie diesem selbst, so auch dem aus ihm her- vorgegangenen Schrifttum, das heißt den im Neuen Testament vereinigten altchristlichen Schriften, zukäme. Eine solche Denk- weise führt zu keiner Wesensbestimmung, sondern zur Aufstellung einer supranaturalen Autorität. Daran wird nichts geändert, w'enn man auch, wie die heutige Bibelforschung auch der »Positiven«, das Inspirationsdogma preisgibt und in der Bibel bloß einen menschlichen Bericht über übermenschliche Tatsachen und Wahr- heiten sieht. Es ist bei ihnen ja überall dafür gesorgt, daß die Vermenschlichung oder Historisierung der Bibel sich nicht auf die Historisierung des Inhalts erstreckt. Ob man den Glauben an die Inspiration der Bibel zuerst beweist, um damit die Gött- lichkeit der von ihr bezeugten Geschichte zu beweisen, oder ob man sich der Uebernatürlichkeit der heiligen Geschichte versichert, um von hier aus sich dann auch einer gewissen übernatürlichen Gött- lichkeit der Bibel zu versichern, das macht in Wahrheit für unsere Frage keinen Unterschied. Für die rein historische Denkweise, auf deren Voraussetzung die Wesensbestimmung beruht, ist da- gegen die Urgeschichte des Christentums nach den allgemeinen, historischen Methoden zu erforschen und das Neue Testament eine Schöpfung der Kirche, die durch Auswahl und Apotheose apostolischer oder für apostolisch gehaltener Schriften, sowie durch Befestigung einer absoluten Kluft zwischen der Urzeit und der Folgezeit sich gerade diejenige Autorität verschaffen wollte, die.

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bei rein menschlich-historischer Anschauung von den Anfängen nicht möglich gewesen wäre. Aber diese künstliche, nur unter den Voraussetzungen des populären antiken Supranaturalismus mögliche Autorität ist durch die Aufdeckung der die Entstehung des Neuen Testaments herbeiführenden Vorgänge zerstört, und die Autorität, welche die Urzeit für die Wesensbestimmung in Wahr- heit hat, muß unter diesen Voraussetzungen eine ganz andere sein als die dogmatisch auf das Wunder, das heißt auf die Auf- hebung der gewöhnlichen Historie, begründete.

Es handelt sich also um eine rein historisch begründete Be- deutung des Urchristentums für die Wesensbestimmung. Eine solche ist nun allerdings im vollsten Sinne tatsächlich vorhanden und leicht zu zeigen. Der originale Sinn einer historischen Er- scheinung ist in den Ursprüngen am kräftigsten und reinsten ent- halten ; und wenn ein solcher Satz für zusammengesetzte Kultur- gebilde wie etwa die Renaissance nur bedingt gelten kann, so gilt er doch unbedingt von den prophetisch-ethischen Religionen, die ihr ganzes Leben aus der grundlegenden Persönlichkeit emp- fangen, ihre Gläubigen immer von neuem zur Belebung aus der Urquelle auffordern und daher Namen und Wesen mit diesen Persönlichkeiten aufs engste verbinden ; insbesondere gilt es un- bedingt vom Christentum, das seine Gläubigen strenger als irgend eine Religion an die beständige Nährung ihres religiösen Lebens aus der Berührung mit dem Stifter verweist und in seiner Christus- Mystik eine diesen Sachverhalt besonders deutlich aussprechende, einzigartige Erscheinung hervorgebracht hat. Gewiß ist es richtig, daß bei dieser Zentralstellung Jesu jede Zeit im Grunde ihn an- ders deutet und ihre eigenen Gedanken dabei unter seinen Schutz stellt. Nicht anders geht es mit Paulus und dem Urchristentum. Aber in alledem ist doch tatsächlich die Urzeit anerkannt und wirkt aus dieser Anerkennung doch immer etwas von ihrem eigent- lichen und wahren Sinne auf die jeweilige Christlichkeit. Diese im Neuen Testament niedergelegte Urgeschichte bleibt bei allen Konfessionen, Sekten und Gruppen der Maßstab, der nie ohne innere Wirkungen seines eigentlichen Sinnes gehandhabt wird. So hat denn die Wesensbestimmung selbstverständlich sich vor allem an die Urzeit zu halten und sie als die klassische Zeit zu betrachten. Der Ausdruck »klassisch«, der ja auch sonst die für die Wesensbestimmung einer Kultur besonders bezeichnenden Erscheinungen bedeutet, ist vielleicht gerade das auf dem Boden

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Was heißt > Wesen des Christentums« ?

einer historischen Anschauung sich uns darbietende zutreffendste Wort.

Aber, indem wir so die Urzeit als klassisch betrachten, wer- den wir sofort zu weiteren Fragen geführt. Die Urzeit ist nicht das Neue Testament und überhaupt nicht ohne weiteres ein völ- lig einheitlicher Komplex. Wir müssen fragen : was an der Urzeit enthält das Eigentlich-Klassische.? Fer- ner ist die Urzeit doch eben nur die Keimgestalt, an die die weitere Entwickelung sich anschließt, und, wenn keine absolute Kluft des Wunders zwischen Urzeit und Fortentwickelung besteht, dann wird nach allgemeinen historischen Prinzipien neben der Urzeit doch auch die Fortentwickelung grundlegend wichtig für die Wesensbestimmung.

Aus der urchristlichen Missionsverkündigung, deren bleiben- des Dokument die Schriften des Neuen Testamentes sind, ist nicht das reine Christentum, sondern der Katholizismus hervor- gegangen. Ja, in jenen Schriften ist bereits ein Ansatz zu der katholischen Ersetzung der Geschichte durch das Dogma ent- halten. Die Wesensbestimmung muß daher hinter sie zurück- gehen und muß aus ihnen vor allem die historische Verkündi- gung und Persönlichkeit Jesu rekonstruieren. Das erst ist inner- halb der Urzeit der letzte entscheidende Punkt. Daher stammt die Bedeutung, die das Problem der Predigt Jesu für die mo- derne historische Theologie erlangt hat. Fast die Hälfte des Harnackschen Buches ist diesem Thema gewidmet. Der bekannte Verfasser der »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« hat die Worte Jesu zusammengestellt als Basis für das Verständnis des Christentums. Die historische Arbeit der modernen Bibelforschung gilt den Evangelien und dem aus ihnen zu erhebenden histori- schen Bilde Jesu. Und diese Arbeit ist auch nicht ohne hohen Gewinn für unsere Aufgabe geblieben. Die einfache Größe der christlichen Grundgedanken liegt in den Herrenworten freier, un- befangener und gewaltiger vor als in aller apostolischen Literatur, und aus dieser Evangelienforschung hat sich ein männlicher, starker und freier Geist in die ganze Auffassung des Christentums ergossen. Aber, was wir damit durch alle Unsicherheiten der Ueberlieferung hindurch erkannt haben, ist doch mehr das Wesen der Gottes-Reich-Predigt Jesu und seiner prophetisch-messianischen Selbstempfindung als das des Christentums, das aus seinem Wir- ken hervorging.

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Schon die Lücken und Schwierigkeiten der Evangelienfor- schung machen uns darauf aufmerksam, daß damit das Problem nicht erschöpft ist. Das Bild Jesu liegt nicht unmittelbar in den Quellen vor, sondern vermittelt und beeinflußt durch den Glauben der Gemeinde und vor allem durch den Glauben des großen Apo- stels, den er nicht selbst berufen und ausgerüstet hat, sondern der im Kampf mit seinem eigenen Herzen sich erst zu dem Er- höhten durchgearbeitet und der wie die Urgemeinde das Bild des erhöhten Messias mit den erhabensten göttlichen Prädikaten ausgestattet hat, vermöge deren er anstelle des kommenden Got- tesreiches tritt als der Glaubensgegenstand und Erlöser der ihn kultisch verehrenden Gemeinde. Das ergibt ein neues Christus- bild. Nun wird man gewiß sagen dürfen, daß, wenn auch vieles in diesem Glaubensbilde sicher unhistorisch ist, doch der Geist und Sinn von Jesu Predigt, die Konsequenz und der Trieb seiner Persönlichkeit in diesem Bilde mit zum Ausdruck komme. Nach manchen Seiten beleuchtet sicherlich erst diese Entfaltung das, was die historische Persönlichkeit in Wahrheit gewesen ist ; wir können die apostolische und vor allem die paulinische Verkündigung nicht entbehren zum Verständnis Jesu und damit zum Verständnis des Wesens des Christentums. Aber damit ist nun doch schon ein neues weiteres Moment eingeführt, das zu dem historischen Jesus in keinem völlig klaren Verhältnis steht, sondern nur in der Weise des vierten Evangelisten geheimnisvoll mit ihm verbunden werden kann. Nicht der historische Christus, der Christus nach dem Fleisch, ist nun die Grundlage, sondern der Geist des Christus, der aus der Zerbrechung der irdischen Erscheinung im Tod entbun- den worden ist. Er nimmt alles aus dem historischen Christus, aber er öffnet das geistige Auge, er leitet in alle Wahrheit. Sieht man nun aber genauer zu, dann ist das Neue im apostolischen Glauben, namentlich im Paulus-Evangelium, doch auf diesem Wege allein nicht zu verstehen. Im Zusammenhang mit der Christus- verehrung und der freudigen Erlösungsstimmung erwächst hier ein Gedanke der Menschheitskirche und der freien gesetzlosen, alles Gute hervorbringenden Gnade, der aus der Reichspredigt Jesu allein nicht hergeleitet werden kann. Diese ist wesentlich individualistisch und heroisch- ethisch gerichtet, lebt in der Erlö- sung der Zukunft und bereitet sie durch Forderung und Verhei- ßung vor. Die Pauluspredigt lebt ganz anders in der Gegenwart und im Heilsbesitz, baut den Christusleib der Gemeinde und verlegt

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alles Wesentliche in den Gedanken der Gnade, die freilich eine sündlose Heiligkeit hervorbringen, deren Geltung aber davon nicht abhängig sein soll. Das ist ein inhaltlich neues religiöses Element von höchster Bedeutung. In der Jesuspredigt herrscht ethische Forderung und Verheißung, in der Pauluspredigt Heilsbesitz und Gnadengewißheit vor. So sind schon in den beiden Hauptstücken des Urchristentums verschiedene, wenn auch der Harmonisierung fähige Grundrichtungen, die auch durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch verschieden gewirkt haben. Das Wesen des Christentums hat von Anfang an zwei verschiedene Akzente, wenn nicht geradezu zwei verschiedene Elemente. Das Jesus- evangelium bildet sich schon hier fort zur Entfaltung innerer Fol- gerungen nicht bloß, sondern auch zur Aufnahme neuer Elemente ^^). Diese Beobachtung führt aber unmittelbar zu einem weiteren Punkt und damit zu Gedanken, die die Schätzung der Urzeit als der maßgebenden Epoche überhaupt recht bedeutsam einschrän- ken. Das »Christentum« sind schon im apostolischen Glauben nicht die »Worte Christi«, sondern der Glaube an Christus und an den in diesem Glauben über die Gemeinde ausgehenden und in ihr sich auswirkenden Geist. Dieser Geist aber hat seine Wirkung im paulinischen und johanneischen Evangelium nicht erschöpft. Er hat im Wandel der Zeiten, Verhältnisse und Aufgaben, der wissen- schaftlichen und praktischen Weltzustände sehr verschieden weiter gewirkt und großartige Neubildungen und Umbildungen hervor- gebracht. Er hat Neues und Fremdes sich angeeignet. Aus einer literarisch und wissenschaftlich überhaupt nicht interessierten Schicht aufsteigend und in die höheren Schichten der Bildung und Lite- ratur eindringend hat er in der Berührung mit dem antiken Den- ken seinen Weltanschauungsgehalt und von da ab einen die Welt umfassenden Gedankengehalt entwickelt, der trotz allem Wechsel des spekulativen Denkens ein unveräußerliches Moment seines Wesens bildet. Die Wahrheiten des Piatonismus und der Stoa sind mit ihm so zusammengeflossen, daß das Christentum als Kulturmacht nicht mehr ohne sie gedacht und jene ohne das Christentum nicht mehr praktisch wirksam werden können. In der mittelalterlichen Welt der neuen Staatenbildungen zur geistigen und sozialen Lenkung einer kirchlich zusammengefaßten Kultur berufen,

2'*) Dieses Problem hat inzwischen auch Harnack selbst ausdrücklich anerkannt und behandelt in seinem Vortrag auf dem Weltkongreß 19 lo: Das doppelte Evan- gelium im Neuen Testament.

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hat das Christentum dann weiterhin den Gedanken einer das ge- samte Weltleben umfassenden und mit christlichem Geist durch- dringenden Kultur gebildet, der dem eschatologischen Urchristen- tum ganz fern gelegen hatte und der mit der Beseitigung der un- mittelbaren Enderwartung und der Bildung unfertiger, Erziehung heischender Völker notwendig geworden ist, während die die an- tike Kultur ungebrochen fortsetzende byzantinische Welt eine der- artige christliche Staats- und Kultur-Idee nicht hervorgebracht hat. In der Selbstbesinnung der Reformatoren über die Christ- lichkeit dieser Kultur ist eine Verbindung des erwachenden mo- dernen Individualismus mit dem echt christlichen Geiste der Inner- lichkeit und Persönlichkeit zustande gekommen, die von dem äußerlichen ethischen Dualismus des Katholizismus befreite und die Christlichkeit innerhalb der Ausfüllung der natürlichen Lebens- formen selbst suchen ließ. Hat aber der reformatorische Prote- stantismus Welt und. Kirche, innerweltliche, natürliche Kultur und übernatürliche Bekehrungsethik unlösbar ineinander verschlungen, und dadurch innerhalb der christlichen Gemütsinnerlichkeit selbst einen schwer lösbaren Konflikt begründet, so hat der moderne christliche Humanismus, das heißt die von Aufklärung und deut- schem Idealismus geschaffene Auffassung des Christentums, in ihm die ethischen und religiösen Immanenzgedanken betont, in ihm Gedanken und Kräfte gesehen, die eine gegenwärtige Erlö- sung durch die Umgestaltung des Gemütslebens in der Gottes- erkenntnis bedeuten, und in denen sich mit innerer Notwendigkeit das der Vollendung entgegenreifende Reich Gottes auswirkt. Alles das bedeutet jedesmal die Hervorhebung von Elemen- ten, die in der Urgestalt mit angedeutet waren und von der späteren Entwickelung aus als in ihr enthalten betrachtet werden können, die aber erst später und unter besonderen Umständen hervorgetreten sind und jedenfalls einen eigenen selbständigen Akzent erworben haben. Wir müssen sie als im Wesen des Christentums, wie es geworden ist, enthalten und die Wesensbe- stimmung beeinflussend anerkennen, müssen sie als Wirkungen des Geistes Christi betrachten ; aber in der Urgestalt für sich allein finden wir sie nicht ausgesprochen, ja wir können sie nicht einmal direkt hineindeuten.

Somit ist die Anerkennung unausweichlich, daß die Erkennt- nis des Wesens sich nicht ausschließlich auf die Urzeit und die Predigt Jesu begründen darf. In einer solchen Meinung wäre nur

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 27

^ig Was heißt ; Wesen des Christentums«?

eine Nachwirkung des protestantischen Schriftprinzips enthalten, die nicht den Segen, sondern die Schranken dieses Prinzips fest- hält. Es gilt vielmehr die Urgestalt und die in den Fortentwicke- lungen hervortretenden Offenbarungen des Wesens zusammenzu- fassen. Das Wesen kann, wenn anders von ihm überhaupt die Rede sein soll, nicht eine unveränderliche und ein für allemal in der Lehre Jesu gegebene Idee sein. So hat der Rationalis- mus in der dogmatischen Gewöhnung an unabänderliche Ver- nunftwahrheiten und an das protestantische Schriftprinzip die Sache aufgefaßt. Das Wesen muß aber in Wahrheit vielmehr eine Größe sein, die innere und lebendige Beweglichkeit, pro- duktive Kraft der Fortzeugung und Aneignung in sich enthält. Es kann überhaupt nicht mit einem Wort oder einer Lehre bezeichnet werden, sondern nur mit einem Begriff, der von vornherein Beweglichkeit und Lebensfülle in sich schließt; es muß ein sich entwickelndes ge istiges P rinzip sein, ein germinative principle oder ein Keimgedanke, wie Caird sagt, eine historische Idee im Sinne Rankes, das heißt nicht ein meta- physischer oder dogmatischer Gedanke, sondern eine Lebensziele und -werte in sich enthaltende und in ihrer Konsequenz und Anpassungsfähigkeit entfaltende geistige Triebkraft.

Das ist von Hegelianern und freien Katholiken mit Recht stets von neuem betont worden. Sie behaupten damit ein wich- tiges und unentbehrliches Moment des Wesensbegriffes. Aber damit ist die Sache freilich noch nicht erledigt, sondern damit beginnen wieder neue Probleme, die von den Verfechtern des Entwickelungscharakters des Wesens meist nicht genügend beachtet werden.

Die Sache wäre einfach, wenn die meist sehr summarisch gemachte und schon früher in anderm Zusammenhang berührte Voraussetzung der Verfechter dieser Meinung zuträfe, daß näm- lich die Entwicklung eines solchen Gedankens nach bestimmten allgemeinen Gesetzen der Bewegung des menschlichen oder gött- lichen Geistes stattfände, daß also von vornherein der Entwicke- lungsgang als logisch notwendig konstruiert werden könne und von der tatsächlichen historischen Erfahrung nur illustriert würde. Aber ein solches Gesetz ist in Wahrheit nicht zu finden und schrumpft bei jedem Versuch des Nachweises nur auf den die wirkliche Ent- wickelung gar nicht erschöpfenden allgemeinen Satz zusammen, daß die Entwickelung durch Gegensätze zu neuen Zusammen-

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fassungen sich bewege oder wenigstens sich zu bewegen die Tendenz habe. Damit aber ist für eine wirkliche entwickelungs- geschichtlich notwendige Entfaltung der späteren christlichen Bil- dungen aus der Urgestalt heraus nichts gesagt, und eine objektive Zusammengehörigkeit aller der genannten Momente im Wesen nicht erreicht. Es bleibt vielmehr eine Verbindung objektiv historischer Erwägungen und subjektiv persönlicher Bewertungen und Ent- scheidungen, wenn wir den urchristlichen Christusglauben, die paulinische Gnaden- und Kirchenidee, den idealistisch-teleologi- schen Glauben an die Gottverwandtschaft der Seele, die katho- lische Kulturidee, die protestantische Autonomie, den modern- christlichen Humanismus als Ausdruck des Wesens anerkennen und aus der Urgestalt, aus Predigt und Persönlichkeit Jesu, selbst innerlich herauswachsen fühlen. Wir müssen ein Gefühl für das be- sitzen, was noch christlich ist, und müssen die Fäden zeigen können, durch die ein scheinbar der Urgestalt ferne liegendes und von uns doch als christlich gefühltes Gebilde mit ihr zusammenhängt. Dabei korrigieren wir unser Gefühl durch die Geschichte und leitet uns doch wieder unser Gefühl in der Gruppierung der geschichtlichen Tatsachen. Je nach unserer eigenen inneren Durcharbeitung der christlichen Idee und nach der Gewissenhaftigkeit unserer sachlich- historischen Auffassung werden wir hier zu verschiedenen Auf- fassungen des Entwickelungsganges kommen, und je nach der so gewonnenen Stellung werden wir die Keimfähigkeit der Urgestalt verschieden auffassen. Was für den einen in die Entwicklung des Wesens gehört, sprengt für den andern die Kontinuität. Das sind Unsicherheiten, über die hier nie hinauszukommen ist, solange die zeugende Kraft der christlichen Idee überhaupt noch der Geschichte der Gegenwart angehört. Andererseits aber kann wirkliche historische Meisterschaft, Feinheit in der Aufspürung der Uebergänge, Scharfsinn in der Aufdeckung der Umwand- lungen eine Kontinuität zeigen, die für den groben Beobachter nicht sichtbar war, und kann so die Historie die Einsicht in das Wesen des Christentums aufs ernstlichste fördern. Wieviel ver- danken wir hier Herder, Schleiermacher und Hegel, Baur, Well- hausen und Harnack ! Es gibt kein logisch-notwendiges und konstruierbares dialektisches Gesetz der stufenhaften Hervorbildung des Wesens, sondern nur ein alles durchwaltendes, reiche Entwicke- lungsmöglichkeiten in sich enthaltendes Kontinuum.

Eine Hauptschwierigkeit ist daher die Bestimmung dieses Kon-

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tinuums selbst, der verbindenden Einheit in dieser Mannigfaltig- keit der sich aus der Urgestalt entwickelnden Bildungen. Dieses Kontinuum kann selbstverständlich weder einfach der Predigt Jesu als ihr durch alle Zeiten dauernder Hauptbestandteil entnommen werden, noch kann es in dem abstrakten Gattungsbegriff des allen christlichen Bildungen Gemeinsamen liegen. Dann aber besteht dieses Kontinuum überhaupt nicht in einem kurz formulierbaren Ge- danken, in einer einfachen Haupt-Idee, sondern in einer geistigen Kraft, die an sich von Hause aus mehrere Ideen enthält und nirgends unmittelbar zu einfacher Formulierung bereit liegt, son- dern selbst schon die Tendenz zu mehrfacher Formulierung in sich trägt. Das Wesen als Kontinuum liegt also nirgends einfach zutage. An der Predigt Jesu ist für uns schließlich gerade das wesentlich, was für sie selbst nicht unmittelbar wesentlich gewesen war; nicht das bevorstehende Weltende und kommende Reich, sondern die Bedingungen für den Reichsempfang und die in der Erfüllung dieser Bedingungen erwachsende Gemeinschaft der Geister ist für uns das Wesentliche. Ganz ähnlich geht es mit Katholizismus, Protestantismus und christlichem Humanismus. Nicht das für das jeweilige Bewußtsein im Vordergrund Stehende, sondern das darin eingeschlossene Keim- und VVachstumfähige ist das Wesen und sein Kontinuum. Damit ist aber auch von dieser Seite her bestätigt, wie schwierig und wie stark persönlich- subjektiv die Wesensbestimmung beeinflußt ist. Die Formel für das sich entwickelnde Ganze wird das Prinzip der Umformungen in sich aufnehmen und weit hinter die jeweilige Ausgestaltung auf den in Bewegung begriffenen Grund zurückgehen müssen, eine Aufgabe, die nur für die feinfühligste historische Kunst mög- lich ist und auch da stets verschiedene Lösungen finden wird.

Aber das Problem des Kontinuums in der Entwickelung des Wesens des Christentums ist damit noch nicht erledigt. Die ver- schiedenen Bildungen des christlichen Geistes zeigen eine außer- ordentlich weit auseinandergehende Richtung. Zwischen der welt- indifferenten Enderwartung und Erlösungsverkündigung Jesu, der weltgestaltenden kirchlichen Kultur des Mittelalters, der indivi- dualistischen Autonomie des Protestantismus und dem christlichen Humanismus sind ganz außerordentliche Gegensätze. Wenn sie sämtlich unter das Wesen des Christentums fallen sollen, dann kann dieses Wesen für die das Kontinuum herausstellende Ab- straktion nicht bloß kein einfacher Begriff sein, sondern muß gerade-

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ZU Gegensätze und Spannungen in sich tragen. Es muß in sich eine Oszillation zwischen mehreren Grundgedanken enthalten. Das ist ja auch an sich für eine unbefangen historische Betrachtung nahe- liegend genug. Eine so unendlich folgenreiche und mächtige historische Erscheinung wie das Christentum zieht seinen Gedan- kengehalt von verschiedenen Seiten der vorangehenden Entwicke- lung heran und organisiert sie nur um ein neues geistiges Zen- trum. Eine so reiche und viele Kulturgebiete umfassende Ent- wickelung ist ferner nur möglich, wenn das Christentum starke innere Spannungen in sich trug und je nach der geistigen Lage verschiedene Ideen zu betonen imstande war. Und gerade das ist es auch, was die historische Forschung fast mit jedem Tage mehr bestätigt. In die Predigt Jesu mündet der ethische Mono- theismus Israels mit dem Optimismus seines Schöpfungsglaubens und die Eschatologie des Spätjudentums mit dem Pessimismus des Erlösungsglaubens, aber auch der religiöse und ethische In- dividualismus mit dem Keim des Humanitätsgedankens ein. Alle diese verschiedenen Elemente entwickeln sich unter mannigfachen Spannungen und Gegensätzen; aber auch unter weiterer Heran- ziehung des Verwandten und des Entgegenkommenden. So kann die Formel für das Wesen des Christentums überhaupt nicht ein einfacher Begriff, wie Gotteskindschaft, Geistesreligion oder Per- sönlichkeitsreligion, Gott- Vater-Glaube oder ähnliches sein. Sie kann nur eine komplexe, die besondere christliche Gestalt der in aller Religion vereinigten Grundgedanken von Gott, Welt, Mensch und Erlösung bestimmende Idee sein. Andererseits aber kommt es bei der Anerkennung dieser Kompliziertheit der Formel auch darauf an, in den hier zusammengefaßten Elementen die Spannung zu zeigen, in der vor allem ihre lebendige Triebkraft liegt. Es ist klar, daß die Urgestalt des Christentums zwar nicht mönchisch und asketisch, aber weltindifferent und heroisch gewesen ist, und daß sie völlig beherrscht ist von Gedanken des kommenden Reiches und den Bedingungen für den Empfang dieses Reiches. Aber eben- so ist klar, daß das Christentum aus seinem Gottes- und Schöpfungs- glauben sofort bei den ersten Schritten in die Welt eine imma- nente Ethik zu entwickeln beginnt, und daß mit dem Zurücktreten der Enderwartung eine ganze Fülle ethischer und kultureller Ge- staltungen hervorgehen, die dann dauernd in einer inneren Spannung gegen den religiös transzendenten und eschatologischen Gedanken bleiben. Das Wesen des Christentums enthält also in sich eine

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Polarität und seine Formel muß dualistisch sein. Es gleicht um ein von Ritschi in etwas anderem Sinn gebrauchtes Bild zu verwerten einer Ellipse, die nicht wie der Kreis ein Zentrum, sondern zwei Brennpunkte hat. Das Christentum ist Erlösungs- ethik mit einer Verbindung optimistischer und pessimistischer, transzendenter und immanenter Weltbetrachtung, mit schroffer Entzweiung und innerer Verbindung von Welt und Gott, der prinzipielle und doch in Glaube und Tat immer von neuem auf- gehobene Dualismus. Es ist rein religiöse, den Menschen schroff und einseitig auf die Werte des Innern Lebens sammelnde Ethik, und es ist doch wiederum humane, die Natur gestaltende und verklärende, den Kampf mit ihr durch Liebe versöhnende Ethik, Bald tritt mehr das eine und bald mehr das andere hervor, keines aber darf gänzlich fehlen, wenn der christliche Gedanke gewahrt sein soll. Diese innere Differenzierung drückt sich dann insbesondere auch in seiner soziologischen und kultischen Gestal- tung aus. Als weltumfassende Menschheitskirche und Gnaden- anstalt sucht es die beiden Seiten zu vereinigen durch Aufstellung abgestufter Anforderungen an seine Gläubigen bei grundlegender Bedeutung des Heilsbesitzes. In den immer daneben sich geltend machenden Sekten betont es das heroisch-zukunftsgläubige, aske- tische und weltindifferente Moment als überall gleiche Anforderung an die Individuen und stellt den fertigen Heilsbesitz und den Kul tus zurück. Als religiöse Humanität ward es zu einer bloßen Geistes- und Gesinnungsgemeinschaft. Als mystische Gottverbun- denheit wird es zu einer ganz individuellen Angelegenheit der mit Gott und Welt sich auseinandersetzenden Innerlichkeit.

Der Dualismus dieser Formel führt nun aber schließlich von neuem zu dem schon berührten Problem des Verhältnisses der klassischen Urzeit zur Fortentwickelung. Das Verhältnis kann nach allem bisher ausgeführten und nach dem Ausweis der tat- sächlichen Geschichte nicht das einer einfachen Auswickelung des Keimes sein. Der Keim bleibt immer die einseitig und schroff transzendente Ethik und kann niemals einfach übergehen und sich verwandeln in eine immanente Ethik. Es bleibt in ihm mit seiner Richtung auf das kommende vollkommene Reich, auf das Jenseits der Geschichte, immer ein Ueberschuß, der in aller Entwickelung nicht aufgeht, oder dessen Abstreifung doch die Kontinuität mit dem Christentum aufheben würde. Das Evangelium bleibt immer in aller Schärfe und Klarheit eine Erlösungsverheißung, die von

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Welt, Natur und Sünde, von VVeltleid und Weltirrung zu Gott führt, und in diesem Leben nicht das letzte Wort Gottes ge- sprochen finden kann. So starke Antriebe der Versöhnung dann auch von ihm ausgehen, es geht in ihnen nicht auf, und die Be- deutung der klassischen Urzeit bleibt immer die, die Herzen aus aller Kultur und Immanenz immer wieder zu dem zu rufen, was über beiden ist. Die Ethik des Urchristentums ist weder die Formel für das Wesen des Christentums noch die vollständige urbildliche Verwirklichung, sondern die schroff einseitige Aus- prägung der christlichen Idee, wie das aus der Lage einer geisti- gen Revolution, einer alles opfernden und nur den Gegensatz fühlenden Missions-Propaganda wohl verständlich ist. Insofern ist das Wesen niemals aus ihm allein zu abstrahieren. Aber die Grundrichtung ist hier doch so deutlich angegeben, daß alle weitere Entfaltung des Wesens, alle kulturelle und humane Aus- prägung immer wieder zum Anschluß an den ursprünglichen Ge- danken der Erlösung aufgerufen werden muß. Andrerseits gehören nun aber doch wieder all diese Anpassungen und Aneignungen zu seinem Wesen, wie es heute geworden ist, und wie es allein eine allgemeine Kultur zu tragen vermag. Ohne die Verschmel- zung mit dem Piatonismus ist es wissenschaftlich und religions- philosophisch unhaltbar. Ohne die human-soziale Ethik und das Eingehen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ist es sozial un- fruchtbar und weltfremd. Ohne die Entfaltung einer auf seine Weise die Natur und Sinnlichkeit sich zum Ausdruck machenden Kunst ist es tot für die Phantasie und hilflos gegen die künst- lerischen Lebensmächte einer vielfach differenzierten Kultur. So ist die Wesensformel nicht bloß dualistisch, sondern der Dualismus enthält einen eigentümlichen Zirkel in sich, vermöge dessen die Urzeit immer im Lichte der weiteren Entwickelung, aber diese letztere auch immer wieder von der Urzeit aus betrachtet werden muß. Bald ist das eine wichtiger und bald das andere, aber das Wesen hat man nur in ihrem Zusammenhange, und in ihrem Zu- sammenhange ist die Predigt Jesu das stärkere.

5. Der Wesensbegriff als Idealbegriff.

Haben die bisherigen Betrachtungen gezeigt, daß die Wesens- bestimmung zwar eine in der historisch-empirischen Wissenschaft wurzelnde, aber doch zugleich geschichts-philosophisch prinzipielle Arbeit ist, so führt uns ein weiterer Umstand noch tiefer in das

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Gebiet der Geschichtsphilosophie. Und doch gehört dieser Um- stand untrennbar zu der Frage nach dem Wesen des Christen- tums. Er besteht darin, daß die Antwort sehr verschieden aus- fallen wird, je nachdem man das Christentum für eine noch un- erschöpfte und in die Zukunft weiterwirkende, ja unvergängliche religiöse Kraft hält oder es für eine vorübergehende und bereits im Beginn der Auflösung begriffene Formation des religiösen Lebens hält. Die eigene persönliche Stellung zum Christentum der Gegenwart und die darin gegebene Schätzung des Christen- tums überhaupt wirkt auf die Wesensbestimmung entscheidend mit ein. Wird es als eine noch voll lebendige und reicher Zu- kunft fähige Kraft betrachtet, so geht in die Bestimmung des Wesens unsere Auffassung von der Zukunft und von der in ihr erfolgenden Herausstellung der Grundgedanken des Christentums mit ein. Man appelliert vom vergangenen und gegenwärtigen Verständnis an das zukünftige, das von richtiger Erkenntnis und Versenkung hervorgebracht werden soll, man verwendet die als Ideal vorgestellte Zukunft mit als Induktionsmaterial für die Fest- stellung des sich entwickelnden Wesens. Wer aber etwa bei einem solchen Unternehmen scheiterte und zwischen dem, was er als gegenwärtige und zukünftige Religion empfindet, und dem bisherigen historischen Christentum keine innere Verbindung mehr herstellen könnte, der wird geneigt sein, gerade die fremdartigen oder die überwundenen Elemente in den Vordergrund zu stellen und in den gegenwärtigen Zuständen nicht Fortbildung, sondern Zersetzung zu sehen.

Auch das liegt von Hause aus in der Natur eines Abstrak- tionsbegriffes, wie es der Wesensbegriff ist. Die Berechnung der Zukunft gehört freilich nicht zu den Aufgaben der Historie. Aber sie kann sich doch nirgends, wo es sich um Zusammenfassung eines großen und wichtigen Gebietes unter einheitlichen Begriffen handelt, des Gedankens an die Zukunft, der Verlängerung der Linien in die Zukunft und der Beleuchtung der Gegenwart und Vergangenheit aus dieser vorgestellten Fortsetzung, völlig erwehren. Je nachdem man überhaupt den Wert und damit die gegenwär- tige Bedeutung einer noch lebenden Erscheinung, also etwa der klassischen Bildung, der Renaissance oder des Buddhismus und Islam schätzt, wird die historische Gesamtbetrachtung verschieden ausfallen. Bei positiver Schätzung wird man den darin einge- schlossenen Ideen immer neue Durchschlagskraft, Reinigung und

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Verstärkung zutrauen und darnach die Erscheinung selbst im Lichte der Zukunft anschauen. Bei negativer Schätzung wird man sich immer nur an die vergangene und äußerUch zutage hegende Eigentümhchkeit halten, jede Möglichkeit einer Ideali- sierung durch das Bild einer gereinigten Zukunft ausschließen. Der Sinn der Historie ist ja nirgends der, eine vergangene Welt einfach in der Erinnerung abzubilden. Denn abgesehen davon,^ daß dies nicht möglich wäre, wäre es auch leer und überflüssig. Das Verständnis der Gegenwart aus ihrem Gewordensein, die Uebersicht über die uns noch erreichbare und in ihrem Gesamt- zusammenhange verstandene Erfahrung der Gattung oder doch wenigstens unseres Kulturkreises und Volkes, die daraus erwach- sende historische Erziehung unseres Denkens und die durch sie zu gewinnenden Richtlinien für die Zukunft: das ist der Sinn der Historie. Daher sind auch die fernsten und abgeschlossensten Entwickelungen nicht völlig frei von indirekten Beziehungen zur Gegenwart und Zukunft. Erst wenn wir in ihnen den Pulsschlag unseres alles verbindenden historischen Lebens empfinden, sind sie Geschichte ; ohne das sind sie Antiquitäten und Raritäten, Daher ist bei allen in die Gegenwart hineinreichenden Kultur- gebieten die Auffassung so schwankend ; bald modernisierend und idealisierend, indem man die zukünftige Entwickelung, wie sie sein soll und von uns gestaltet werden muß, hinzudenkt ; bald nüchtern und realistisch, den Gegensatz gegen alles Heutige be- tonend, weil man der historischen Wahrhaftigkeit und Unbefangen- heit durch Fernhaltung aller Zukunftsgedanken dienen will und darüber gerne das zurückstellt, wovon solche Idealisierungen aus- zugehen pflegen, die persönliche Stellung zu den dargestellten und erforschten Gebieten.

So ist auch die Auffassung des Christentums sehr stark mit- bedingt durch die persönliche Stellung zu ihm in der Gegenwart und durch die hierdurch bedingte Auffassung seiner Zukunft. »Mitbedingt« heißt nicht ausschließlich bedingt, und so bleibt der Objektivität der historischen Forschung ihr Recht gewahrt. Aber »mitbedingt« heißt doch eben, daß in der Auffassung des Wesens aus der Historie die persönliche Stellung und die Beurteilung der zukünftigen Gestaltung des Christentums ein Wort mitspricht. Wer für die Mehrzahl seiner Zeitgenossen oder auch nur für sich die Geltung des Christentums abgetan glaubt, für den fällt der Antrieb weg, zum Wesen auch die in der Zukunft selbst erst

420 VJa.s heißt »Wesen des Christentums« ?

herauszuarbeitende, reifere oder reinere Idee zu rechnen, da er einem überwundenen Gedanken eine solche Fortarbeit nicht zu- trauen kann. Wer dagegen das Christentum bejaht und in seiner und seiner Genossen Arbeit dessen lebenskräftige Zukunftsgedanken herauszuarbeiten strebt, der wird das Wesen zugleich im Lichte dieser Gedanken sehen und das betonen, was in der Vergangen- heit dem Zukunftsgedanken entgegenkommt. Zu den Vorbe- dingungen der Wesensbestimmung gehört also schließlich und vor allem auch die persönliche Stellungnahme zu Wert und Wahr- heit des Christentums. Fällt sie verneinend oder überwiegend verneinend aus, so wird ein Mittel der Wesensbestimmung der Kontrast gegen die gegenwärtige und zukünftige religiöse Ent- wicklung sein. Fällt sie zustimmend oder ganz überwiegend zu- stimmend aus, so wird die Wesensbestimmung die von unserer Arbeit zu bewirkende zukünftige Gestaltung oder unser Ideal vom Christentum, wie wir es als lebendige Menschen der Gegenwart verstehen, mit in sich aufnehmen. Die zukünftige Entwickelung wird in das sich entwickelnde Wesen mit eingerechnet werden müssen, und, da die zukünftige Entwickelung von unserer Einsicht in das nach dem Wesen und nach dem Trieb der christlichen Idee Sein-Sollende geleitet wird, so wird das Wesen aus einem Abstraktionsbegriff ganz von selbst zu einem Idealbegriff.

In ähnlicher Weise haben fast alle Wesensbegriffe die Ten- denz, in Idealbegriffe überzugehen, indem die geschehene und nicht mehr abzuändernde Geschichte mit der zukünftigen, von uns zu gestaltenden sich in dem Begriff der Entwicklung des Wesens verbindet. Eben aus diesem Uebergang stammen die so grundverschiedenen Auffassungen des Wesens der Antike, des Mittelalters, des Islams, des Buddhismus usw. Die Tatsachen sind schließlich relativ übereinstimmend feststellbar ; aber der Koeffizient der noch hinzuzudenkenden zukünftigen Tatsachen und der Zusammenhang dieser hinzugedachten zukünftigen Tatsachen mit einem Ideal machen die Deutung des Wesens zu einem logisch überaus komplizierten Vorgang. Nicht bloß die divina- torische Phantasie der Abstraktion, sondern auch die voraus- schauende Phantasie, die eine Weiterentfaltung der Grundgedanken in Aussicht nimmt, treffen im Wesensbegriff zusammen. In einer so wichtigen Sache, wie es das Christentum ist, ist das nur in einem ganz besonderen Maße der Fall, und jede Wesensbe-

Was heißt »Wesen des Christenturas« ?

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Stimmung muß wissen, daß sie dem Zwang dieser Fragestellung nicht entrinnen kann. Die schwierigsten Probleme in der Bestim- mung des Christentums stammen aus diesem hier gar nicht zu ver- meidenden Uebergang des Abstraktionsbegriffes in den Idealbegriff, während bei weniger wichtigen und einschneidenden oder etwa bei vollständig ausgelebten und erledigten Erscheinungen der Idealbe- griff leichter eliminiert oder wenigstens zurückgedrängt werden kann. Die Stellungnahme zum Christentum ist nun aber bei allen begleitenden objektiven Erwägungen geschichtsphilosophischer und metaphysisch-spekulativer Art doch im letzten Grunde eine durch- aus persönliche, durch persönlich religiöse Empfindung und Ein- stellung der christlichen Idee in den lebendigen Zusammenhang der Gegenwart bedingte Sache. Ich habe natürlich nicht die Absicht, diese Stellungnahme hier sachlich zu begründen. Ich setze vielmehr voraus, daß wir im Kampf der Lebensideale und Geistesströmungen für das Christentum uns entscheiden, daß die persönliche Entscheidung für das Christentum im Ver- gleich der verschiedenen Ideale und Religionen der Mensch- heit sich uns nahe legt oder bestätigt, daß uns keine Physik und keine Biologie , keine Psychologie und keine Entwicke- lungslehre den Glauben an eine lebendig schaffende Gottes- vernunft und keine Ateleologie, keine Brutalität und Zufällig- keit der Natur, kein Widerspruch des Idealen und Wirklichen den Glauben an die Erlösung als das Ziel des Weltlebens nehmen kann. Ich hebe nur hervor, daß unter dieser Voraussetzung die Wesensbestimmung trotz allem streng historischen Charakter doch ganz anders ausfallen wird und ausfallen muß als bei den ent- gegengesetzten Voraussetzungen. Absolut vorurteilslos und un- beteiligt ist das Problem bei keiner der möglichen Entscheidungen zu behandeln. Man muß sich nur klar machen, daß eine nega- tive Entscheidung naturgemäß einen strenger historischen Eindruck machen muß, weil sie nur die Vergangenheit ins Auge faßt und die Zukunft nicht in Anschlag bringt, auch bei der Vergangen- heit vor allem das Konkrete, Fremde, dem modernen Menschen nicht Geläufige betonen wird ; dann aber entsteht ein Bild, das vielleicht ganz einseitig gezeichnet ist, das jedenfalls unter dem Einfluß der Zurückdrängung aller derjenigen Gedanken steht, die in Gegenwart und Zukunft aus diesem historischen Ganzen fortwirken. Und ebenso muß man sich klar machen, daß eine positive Ent- scheidung bei der strengsten historischen Gewissenhaftigkeit doch

428 Was heißt »Wesen des Christentums«?

in der Vergangenheit vor allem das mit Gegenwart und Zukunft Gemeinsame hervorheben und die Wesensbestimmung stark unter dem Einfluß des Ideales aufstellen wird, das, aus dem historischen Wesen durch Abstraktion gewonnen, kritisch geläutert und unbe- grenzter Entwicklung fähig, die Zukunft gestalten soll.

So aber ist selbstverständlich, daß gerade bei einer positiven Entscheidung für die Wahrheit des Christentums die Wesensbe- stimmung doppelt und dreifach unter dem Einfluß persönlich subjektiver Voraussetzungen steht, und angesichts dessen drängt sich uns die Frage noch stärker als bisher auf, wie denn der gerade zum Zweck einer objektiven Klärung gesuchte Ausgangs- punkt rein historischer Betrachtung zu dieser Anerkennung der im Ergebnis mitwirkenden stark subjektiven Faktoren sich ver- halte. Hier liegt nun allerdings der eigentliche Knoten des ganzen Problems. Aber dieser Knoten ist auch um die Antwort sofort zu geben überhaupt nicht auflösbar. Er enthält und hier dürfen wir das Bild nur ein- fach fortführen die beiden Hauptfäden, die zu spinnen wir immer genötigt sind, und die eine Verknotung suchen , keine Trennung. Die Verknotung aber kann nie die Theorie bewirken, sondern nur die lebendige Tat, die hier wie überall das Objek- tive und Subjektive trotz seiner theoretischen Unvereinbarkeit verbindet und eine aus reicher objektiver Umschau wie aus tiefer Innerlichkeit gebildete Verknüpfung mit souveräner Selbstgewiß- heit als die allein mögliche Lösung bezeichnen darf. Es kommt nur darauf an, die beiden zu verknüpfenden Fäden in vollster Gewissenhaftigkeit und Umsicht zu spinnen. Die Verknüpfung selbst ist dann eine schöpferische Tat, die nur durch eine einleuchtendere und tiefer befreiende Tat widerlegt oder ergänzt und berichtigt werden kann.

Der Wesensbegriff sucht und hat allerdings in erster Linie ein objektives, historisches Fundament. Er entsteht ja gerade aus der Hingabe an die Breite und Tiefe der Geschichte, aus dem Bedürfnis, eine imponierende und geistig auf uns wirkende Macht in ihrem vollen Umfang, in ihrem Ursprung und Geworden- sein kennen zu lernen. Das ist die Wirkung und die Bedeutung des historischen Denkens, daß es die einseitigen oder flüchtigen gegenwärtigen Eindrücke und Wirkungen durch Zurückverfolgung bis auf die Wurzel, durch Ausbreitung über ihre ganze Wirklich- keit, durch Vergleichung mit anderen historischen Gebilden von

Was heißt »Wesen des Christentums«

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den Einseitigkeiten, Vorurteilen oder Oberflächlichkeiten des ersten Bildes löst, daß es zu viel tieferer, substantieller, den inneren geistigen Trieb des ganzen Komplexes erfassender Erkenntnis drängt. Dadurch können wir entweder neuen Saft aus den Wur- zeln unserer Existenz ziehen oder absterbende Wurzeln beseitigen, um alle Pflege auf die gesunden und fortwachsenden Wurzeln unse- rer zukünftigen Existenz zu richten. Damit ist aber schon gesagt, daß, indem wir so das für die Menschen der Vergangenheit Wesent- liche heraussuchen, wir das doch nur tun, um das Wesentliche uns so anzueignen, wie es weiterwirkendes Prinzip der Zukunft sein soll. Bleiben wir bei einer dauernden oder vorläufigen Schätzung des für die Vergangenheit Wesentlichen stehen, so fassen wir das Wesentliche doch nur so, wie es zugleich unsern Willen und den der zukünftigen Generation leiten soll. Wir suchen nicht bloß eine abstrakte Einheit des Gewesenen, sondern eine Einheit des Gewesenen und des Zukünftigen; und die ab- strakte Einheit soll nicht bloß einen wissenschaftlichen Satz, ein möglichst ruhig aufgefaßtes Tatsachenverhältnis bedeuten, sondern eben damit zugleich eine Regel unseres Willens und durch diese hindurch eine Triebfeder der zukünftigen Geschichte. Indem von Willenswerten und ihren Verhältnissen nicht bloß ein Abbild gesucht wird, sondern indem das das Wesen aussprechende Ur- teil den eigenen Willen bestimmt, bekommt es Anteil an der Willensnatur alles Historischen, es wird eine Tat. Nur der Mut der Tat verknüpft das Vergangene und Zukünftige, indem er das historisch ergriffene Wesen eines Kulturkomplexes für die Gegen- wart so betont, daß aus ihm hervor die Zukunft in der von der Gegenwart geforderten und doch zugleich die Tiefe des historischen Impulses ausschöpfenden Weise hervorgeht. Ist aber so die Wesensbestimmung eine Tat, so ist sie selbst nicht mehr bloß ein Urteil über die Geschichte, sondern geradezu ein Stück der Geschichte. In ihr vollzieht sich der Fortschritt als die Weiter- gestaltung des Historischen für die Zukunft, und die Wesens- bestimmung ist selbst ein Bestandteil der historischen Fortent- wicklung, ja eines der wichtigsten und prinzipiellsten Mittel dieser Fortentwicklung. Soweit sich die Entwicklung nicht durch unbe- wußte oder halbbewußte Entfaltung der Konsequenzen, durch wilde Leidenschaften und Fanatismen, durch den Kampf der kurzsichtigen Tagesmeinungen und den Zwang äußerer Verhält- nisse vollzieht, sofern sie vielmehr in reifer und gewissenhafter

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Was heißt »Wesen des Christentums«:

Ueberlegung und Fortbildung des geistigen Besitzes durch die geistigen Führer eines Volkes oder einer Gemeinschaft stattfindet, ist gerade die Wesensbestimmung ihr eigentlichstes Mittel. Wie Politik und Gesellschaftslehre durch derartige historische Vertiefung in den Kreisen der Denkenden neben den populären Leidenschaften die moderne Entwicklung bewirkt haben, so ist die wissenschaft- Hche Arbeit am Wesen des Christentums der Beitrag, den die Theologie neben denTagesmeinungen und Leidenschaften kirchlicher Kämpfe leistet. Dann aber ist eben darum diese Wesensbestim- mung selbst vor allem eine Tat, ein Zukunftsglaube auf der Grundlage einer historisch-wissenschaftlich erforschten Geschichte. Das ist so und kann nicht anders sein, auch wenn man es sich gerne verbergen möchte. Nach langer und sorgfältiger Ueber- legung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nach Aus- breitung des Blickes über möglichst viel Detail , nach Heran- ziehung aller erreichbaren, das Verständnis fördernden Vergleichs- objekte: es bleibt zuletzt doch nur eine Tat übrig, in der das Rein-Historische der Vergangenheit und das Normative der Zu- kunft im Gegenwartsurteil sich verknüpfen, eine Ueberwindung von Raum und Zeit im Urteil und ein sofortiges Wiederhinein- stellen des Urteils in Raum und Zeit als Mittel der Fortentwick- lung des Ganzen aus der intuitiv und divinatorisch erfaßten, von Raum und Zeit befreiten Idee. Und wenn sich solche Wesens- bestimmung im klaren wissenschaftlichen Bewußtsein vollzieht, so ist das, sofern es zutreffend ist, doch nur die Bewußtwerdung eines inneren Prozesses, der tatsächlich aus den Kräften der Ver- gangenheit die der Zukunft hervortreibt. Nur wenn das wissen- schaftliche Urteil die Erhebung eines solchen Instinktes ins Be- wußtsein ist, spricht es eine wirkliche historische Bewegung aus und formuliert es die große Tat der Zeit. Das wissenschaftliche Bewußtsein fügt die Klarheit und Umsicht in der Beurteilung der Vergangenheit und den Weitblick auf die Forderungen der Lage hinzu, aber es reguliert, klärt und begründet nur einen Vorgang, der in den dunklen Tiefen des Allgemeinbewußtseins sich voll- zieht. Das gehört zu jeder Wesensbestimmung, die nicht eine abgestorbene Vergangenheit analysiert für Gelehrte, sondern eine lebendige historische Macht auf ihren siegreichen Ausdruck des »bleibenden Gehaltes« bringen will. Darnach streben fast alle Bestimmungen des Wesens, die heute vorgenommen werden. Das

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ist auch der Charakter von Harnacks Werk, und darin ist sein Erfolg begründet.

Indem aber so das Wesen hineingreift in die Fortentwicklung, bleibt es schließlich auch nicht mehr ein Abstraktionsbegriff, es ist Abstraktion und neue Verbindung zugleich, Verbindung des herausgefühlten Wesens mit den konkreten Gedanken der Gegen- wart, mit ihrem Weltbild und Geschichtsbild, mit ihren ethischen und ästhetischen Ideen. Es ist kein nacktes Wesen, sondern das Wesen zieht die Gewänder nebensächlicher historischer Gestal- tungen nur aus, um sofort die neuen der Gegenwart und Zukunft anzuziehen. Das Wesen ist ein Idealgedanke, der zugleich die Möglichkeit neuer Verknüpfungen mit dem konkreten Leben der Ge- genwart bildet ; es ist selber eine lebendige, individuelle historische Bildung, die sich an die bisherigen anreiht. Es ist nichts anderes, als die der Gegenwart entsprechende Gestaltung des chrisdichen Gedankens, die sich an frühere Gestaltungen anfügt, indem sie den Wachstrieb frei legt, aber auch ihn sofort in neue Blätter und Blüten schießen läßt.

Wesensbestimmung ist Wesensgestaltung. Sie ist Heraus- arbeitung der wesentlichen Idee des Christentums aus der Ge- schichte so, wie sie der Zukunft leuchten soll, und zugleich eine lebendige Zusammenschau der gegenwärtigen und zukünftigen Welt in diesem Lichte. Die jeweilige Wesensbestimmung ist die jeweilige historische Neugestaltung des Christentums. Dem kann sich niemand entziehen, der das Wesen des Christentums rein historisch sucht und dabei an die fortwirkende Kraft dieses Wesens glaubt. Anders verfahren kann nur, wer es für eine er- schöpfte und überwundene historische Bildung hält, oder wer das Christentum nur als exklusiv supranaturale Kundgebung in der Bibel versteht.

Es steckt in der Wesensbestimmung die lebendige religiöse Produktion der Gegenwart und zwar einer nicht naiv fortbildenden, sondern auf Grund geschichtlicher Einsicht gestaltenden Gegenwart. Auch die Reformatoren haben in instinktiver Empfindung des Geschichtlich- Wesentlichen und des von der Gegenwart Geforder- ten gehandelt. Sie haben sich daher im Grunde auch auf den aus der Schrift sprechenden »Geist« berufen. In der Gegenwart ist dieses instinktive Handeln so nicht mehr möglich, dafür aber auch nicht zu fürchten, daß der »Geist« wieder so schnell an den Bibelbuchstaben gebunden werde wie damals. Die Lage selbst

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Was heißt /Wesen des Christentums«?

ist dieselbe damals wie heute, die Notwendigkeit der Verjüngung aus der Geschichte und der organischen Verbindung mit der Ge- genwart. Es liegt in der Wesensbestimmung die lebendige Neu- schöpfung und Neuanpassung und, da wir es mit der Neuschöpfung der höchsten religiösen Offenbarung zu tun haben, eine neue Er- schließung gegenwärtiger Offenbarung. Das bedeutet nichts anderes als den »Geist« der Reformatoren und der Spiritualisten des Refor- ■mationszeitalters. Das Band mit der Vergangenheit, der naive Tra- ditionalismus, die konventionelle Christlichkeit wird gelockert, um neuer Regung und Bildung Luft zu schaffen. Wir wollen dann die ge- fühlte Kontinuität mit dem Christentum klar machen und deshalb fragen wir nach dem Wesen, das in den historischen Erscheinungen verkörpert ist. Wir wollen aber auch die lebendige Wirklichkeit für uns selbst gestalten, und deshalb deckt sich das Wesen mit keinem der gewesenen Momente. In dem ganzen Wesensbegriff steckt •ein religiöser Subjektivismus, der in der Kontinuität zu bleiben gewiß ist, aber das Kontinuum selbst neu gestaltet.

•6. Subjektivität und Objektivität in der Wesens- bestimmung.

Es wird nunmehr deutlich sein, daß die methodologische Frage aufwerfen nicht umständliche und zwecklose Scholastik treiben heißt, sondern daß ihr Verständis und ihre Beantwortung ebenso entscheidend ist für das Problem wie die wirkliche exakte und quellenkritische Kenntnis der Geschichte des Christentums. Wer dem Buche Harnacks und den verwandten Bemühungen vor- wirft, sie seien unhistorisch, weil sie nicht bei früheren historischen Formen des Christentums bejahend stehen bleiben, sondern auch das Christentum der Gegenwart und Zukunft entwerfen, der sieht vor lauter Wald die Bäume nicht, übersieht die reiche und tiefe historische Welt des Buches über dessen eigener Gestaltung des Wesens aus der Geschichte. Denn es liegt ja doch klar zutage, daß alle diese Ar- beiten aus wirklicher innerer Auseinandersetzung mit der Geschichte geboren sind, daß der Geist solcher Theologie ganz durchdrungen ist von dem Bemühen, aus dem geschichtlichen Objekt zu lernen. Die Ausschaltung persönlicher Meinungen und Wünsche, die ganze Hingebung an das eigentümliche und konkrete Objekt ist ja die eigentliche Leistung unserer historischen Theologie; und, indem sie das tut, will sie ja nur den Geist der Sache selbst erfassen, ihn ganz auf sich wirken lassen und gerade durch das ganz sachlich

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erfaßte Gegebene das eigene religiöse Verständnis ausweiten, ver- tiefen, von Vorurteilen und Begrenztheiten der zufälligen Erziehung und Neigung befreien. Das ist bei uns Allen ein Hauptzug in unseren historischen Studien, und wir Alle können erfahrungsge- mäß sagen, daß unsere Anschauung vom Bleibenden und Wesent- lichen im Christentum durch diese historische Vertiefung, durch diese Erweiterung des Selbstbewußtseins zum Gemeinbewußtsein, der eigenen Erfahrung zur Gesamterfahrung der Christenheit und der religiösen Menschheit, ganz innerlich und grundsätzlich be- dingt und tatsächlich überaus lebendig befruchtet ist. Anderer- seits ist es aber doch auch nur selbstverständlich, daß die Frage der Verwertung dieses historischen Gewinnes durch die allge- meine Klärung über Wert und Bedeutung des Christentums für Gegenwart und Zukunft hindurchmuß, und daß die hierbei zu gebende Wesensbestimmung vor allem das ausspricht, was für Gegenwart und Zukunft . aus der Vergangenheit sich ergibt. Eine Wesensbestimmung, die von der dauernden Lebenskraft des Christentums überzeugt ist und sich dieser Aufgabe entschlägt, wäre völlig sinnlos.

Aber das allerdings ist richtig, daß die Wesensbestimmung ein überaus kompliziertes und vielfach bedingtes Unternehmen ist. Das Wesen ist eine intuitive Abstraktion, eine religiös-ethische Kritik, ein beweglicher Entwicklungsbegriff und das für die ge- staltende und neuverknüpfende Arbeit der Zukunft einzusetzende Ideal. Es ist von allem etwas und im Grunde eine eigene selb- ständige religiöse Idee. Die Wesensbestimmung ist die Krone und zugleich die Selbstaufhebung der historischen Theologie, die Vereinigung des historischen Elementes mit dem normativen oder doch dem Zukunft gestaltenden der Theologie, und das ist nicht zum mindesten der Zauber an dem Harnackschen Buch, daß es die Arbeit des ungewöhnlich erfolgreichen Historikers mit der charaktervollen Auseinandersetzung des Christen gegenüber den verschiedenen Strömungen des religiösen und irreligiösen modernen Gedankens verbindet. Darin hat er das Problem richtig bezeichnet und zu seiner Lösung einen lehrreichen Beitrag ge- liefert, lehrreich, auch wenn man seinerseits das Wesen etwas anders versteht.

Die Kompliziertheit des Problems darf uns nicht befremden. Denn das Problem, mit dem wir es derart zu tun haben, ist kein anderes als das große, allgemeine Problem des Verhältnisses von

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 28

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Historie und Normen überhaupt. Wo Sitte und Ueberlieferung einen Gedanken zu alleiniger Herrschaft gebracht haben, also in den streng nationalen und polytheistischen Kulturen, da fehlt es so gut wie ganz oder ist es mit kleinen rationellen Korrekturen an der Ueberlieferung erledigt. In internationalen und in den auf eine propagandistische Weltreligion aufgebauten Kulturen kann es nicht ausbleiben. Hier sind denn auch von den ersten Konflikten ab die Hauptlösungsversuche ausgearbeitet worden : die rationalistische Lösung, die ein natürliches überall über- einstimmendes Urteil der denkenden Individuen über das, was sein soll, voraussetzt und die Historie als mehr oder minder ge- trübte Ausführung dieses Ideals betrachtet; die supranaturalistische Lösung, welche in einer an der Form ihres Geschehens, das heißt am Wunder, erkennbaren Autorität, an göttlichen Offenbarungen und Institutionen, die normative Wahrheit erkennt, der die Historie nach Kräften nachkommen mag und die der weltlich-sündige Sinn des hochmütigen Menschen gerne verkennt; schließlich die modernste Lösung, die idealistisch-entwicklungsgeschichtliche, die zwar von der Historie ausgeht und aus ihr erst die Normen ge- winnt, aber dies dadurch erreicht, daß sie in der Historie die notwendige Auswirkung einer objektiven, den Individuen über- geordneten und in der Geschichte der Gattung sich stufenweise offenbarenden Vernunft sieht und durch ihre Abstraktion diese Vernunft aus der Historie herausliest. Alle diese Lösungsversuche haben natürlich ihr Korn Wahrheit. Die rationalistische Lösung verlangt mit Recht, daß lediglich eine gegenwärtige innere Ueber- führung von der Wahrheit eines Gedankens entscheidend sein könne; aber sie verkennt die historische Bedingtheit aller Wahr- heiten, denen wir gegenübertreten, und die historische Bedingt- heit der Bedürfnisse und Seelenzustände, in denen wir selber zur Zustimmung uns gedrängt fühlen. Die supranaturalistische Lösung erkennt mit Recht die Gebundenheit des schwachen, irrenden und kurzsichtigen Durchschnittsmenschen an die Autorität großer originaler Hervorbringungen, aber sie vermag eine äußere Ab- grenzung dieser Autorität vom übrigen menschlichen Leben durch das Wunder nicht durchzuführen und die Unveränderlichkeit, die einer solchen göttlichen Wunderwahrheit zukäme, im Leben nicht zu behaupten. Der entwicklungsgeschichtliche Idealismus schließlich strebt bewußt nach dem, worauf es ankommt, nach einer inneren Vereinieung des Historisch-Tatsächlichen und des

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Rational-Notwendigen; aber seine Behauptung, daß diese in der Vernunft der Wirklichkeit vorliege und aus ihr von der Abstrak- tion abgelesen werden könne, ist ein panlogistisches Vorurteil, das weder mit der Torheit, Sünde und Trägheit der Menschen, noch mit der irrationalen schöpferischen Tatsächlichkeit und Verwickelt- heit der historischen Erscheinungen rechnet. Die Unhaltbarkeit dieser Lösungen hat eine Kritik von Jahrhunderten immer von neuem dargetan. Dann aber bleibt keine andere Lösung, als die den bisherigen Betrachtungen zugrunde liegende : die Lehre von einer immer neuen, rein tatsächlichen und irrationalen Verknüp- fung des als notwendig und wahr Erkannten mit der historischen Ueberlieferung und Erfahrung. Jede große Gedanken- und Wert- bildung ist eine individuelle schöpferische Tat, die aus dem Be- sitz und Erwerb der bisherigen Taten hervorgeht, aber diesen Be- sitz nach bestem Wissen und Gewissen so fortbildet, daß in der neuen Wertbildung der Erwerb der Vergangenheit mit der persön- lichen Ueberzeugung, die Notwendigkeit eines in der Entwick- lung treibenden Gedankens mit der persönlichen Erfassung dieses Gedankens, zu einem neuen Ganzen zusammenfließen. Dieses neue Ganze wirkt fort, um dann auch seinerseits derart irgendwann in einer neuen Verknüpfung umgestaltet zu werden. Es handelt sich überall um Hingabe an das bereits Erworbene und um Neu- schöpfung des Zukunftswertes aus einer persönlichen Aneignung des Erworbenen. Das Objektive liegt nicht bereit, um jedesmal einfach aufgenommen zu werden, sondern es wird jedesmal neu geschaffen und hat seine Verbindlichkeit in dem Ineinander des historischen Besitzes und der persönlichen gewissensmäßigen Fort- bildung und Umwandlung. Das Objektive erfordert den Mut des Glaubens an seine Objektivität und besteht in solcher immer neuen Tat. »Im Anfang war die Tat«, wie Faust sagt. Es ist zugleich der »Mut des Denkens«, von dem Hegel spricht, und der im Grunde doch nichts Andres bedeutet als die Zuver- sicht der wohl erwogenen Tat, in ihrer momentanen Gestaltung den notwendigen Vernunftgehalt der Wirklichkeit und des ge- schichtlichen Werdens persönlich zu ergreifen, in den schöpferi- schen Gang des Weltwillens sich mit richtiger Intuition einzu- stellen. Aber solche Taten mit beherrschender Wirkung sind sel- ten, wie die großen heroischen Seelen überhaupt, und für die große Mehrzahl der Menschen bleibt nur ein durch die Aufrich-

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tigkeit innerer Hingebung und leise individuelle Anpassungen ge- milderter Autoritätsglaube. Denn ein Autoritätsglaube bleibt schließlich in zahllosen Fällen auch der Anschluß an eine solche neue Formel vom Wesen des Christentums.

Aber ist das nun nicht in Wahrheit doch ein ganz gefähr- licher Subjektivismus.? Ist das nicht eine Preisgebung des Wesens des Christentums an ganz individuelle und verschiedenartige Deu- tungen, die auf Grund einer solchen Lehre sich alle für richtig halten können.? Und kommt nicht ein solcher Subjektivismus in seiner unheilvollen Wirkung darin zum Ausdruck, daß er die christliche Gemeinschaft aufhebt und ganz individuellen Zurecht- legungen des Christentums preisgibt.? Gibt es bei ihm auch nur überhaupt eine Sicherheit dafür, daß man in seiner Wesens- bestimmung die Gedanken des Christentums festhalte, daß man nicht in Wahrheit bloß eine irgendwie christlich angeregte Reli- gionsphilosophie oder neue Religion verkündet }

Auf diese Fragen ist zum Schluß noch eine Antwort nötig.

Was zunächst den Subjektivismus im allgemeinen anbetrifft, so ist allerdings nicht zu leugnen, daß mit einer solchen Theorie prinzipiell dem Subjektivismus Tür und Tor geöffnet ist. Allein darin ist schwerlich ein Schaden zu finden. Denn die ver- schiedene individuelle Auffassung des Wesens, also die Begrün- dung auf die subjektive Ueberzeugung, ist tatsächlich doch auch da herrschend, wo man ihn in der Theorie trefflich auszuschlies- sen weiß. Alle Versuche, unabänderliche Normen zu begründeni ändern nichts daran, daß in Wahrheit doch jeder die Norm auf eine andere Weise auffaßt. Das ist auf dem Boden des Prote- stantismus bei der Voraussetzung des Rechtes einer Kritik der geschichtlichen Entwicklung gar nicht anders möglich. Was aber so ein unumgänglicher Tatbestand ist, das versucht man besser nicht zu leugnen, sondern erkennt es lieber frei und offen an. Je weniger Arbeit man auf den Selbstbetrug verwendet, mit Hilfe dessen man jenem Subjektivismus theoretisch entrinnen könnte, um so mehr bekommt man die Hände dafür frei, ihn praktisch einzugrenzen und ungefährlich zu machen. Denn es handelt sich ja nicht um den Subjektivismus beliebiger Willkür, der alles für das Wesen halten dürfte, was ihm gerade einleuchtet. Es handelt sich vielmehr um eine Urteilsbildung, die aus dem gewissenhaftesten und umfassendsten historischen Studium, aus dem Streben, von der Realität der Geschichte zu lernen, hervorgeht.

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Diese historische Arbeit liegt in einer zusammenhängenden An- schauung der modernen Geschichtswissenschaft vor, die sich be- ständig in ihren Gegensätzen korrigiert und auf eine überein- stimmende Auffassung der Geschichte hindrängt. Da sind also doch Garantieen vorhanden, daß das Urteil zusammenhängende und übereinstimmende Voraussetzungen hat, und daß die ernste gewissenhafte Absicht, die hieraus für die Gegenwart sich er- gebende Wahrheit zu finden, auch zu übereinstimmenden Resul- taten führen werde. Dazu kommt ja auch, daß, wie schon mehr- fach hervorgehoben, die Wesensbestimmung nicht Sache jedes Beliebigen ist. Die meisten haben nicht entfernt das Zeug dazu. Es sind ganz von selbst nur einige wenige Leitgedanken, die von lebendig religiösen Deutern der Geschichte in das Leben ge- worfen werden und die dann die anderen in ihre Bahn zwingen. Je gewissenhafter und eindringender einer ein Urteil zu ge- winnen versucht hat, um so mehr wird er hoffen dürfen, daß er damit auch eine anderen sich bewährende Erkenntnis ausgespro- chen habe. So ist denn auch in der Tat der Unterschied der einander entgegenstehenden Wesensauffassungen keineswegs all- zugroß. In Wahrheit bleibt der Hauptunterschied doch der, ob einer das Wesen auf Grund von Autorität und Wunder oder aus der gesamten Entwickelungsgeschichte als die leitende geistige Kraft erkennen will. Dieser Gegensatz ist freilich nicht aufzu- heben, obwohl es unter den vielen Künsten der heutigen Theo- logie auch viele Mittelformen zwischen beiden gibt. Aber inner- halb der letzten Gruppe ist wenigstens eine Verständigung über die Haupterscheinungen nicht allzufern. Soweit dabei dann freilich doch ein letzter Rest eines ganz persönlichen Subjektivis- mus bleibt, soweit die Wesensbestimmung immer zugleich Wesens- gestaltung bleibt, so ist das nicht bloß kein Schade, sondern es ist ein Erfordernis der Religion selbst. Die Religion ist nicht Aneignung von Lehren über vergangene Dinge, sondern gegen- wärtiges Innewerden der erlösenden Gegenwart und des heiligen- den Waltens Gottes, alles das vermittelst der Historie, aber doch eine neue Wirklichkeit, die Entstehung eines neuen Lebens, eine Schöpfung in der Gegenwart. Wir müssen lernen, die Autorität mehr in uns, als außer uns zu haben, uns mehr der schöpferischen und Gegenwartsfragen lebendig beantwortenden Kraft der Reli- gion anzuvertrauen. Freilich nicht in dem Sinne, als sollten lediglich die Einfälle eines kurzsichtigen und sündigen Menschen

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neue Wahrheit hervorbringen, aber in dem Sinne, daß wir dem in der Geschichte an uns kommenden Christus die Kraft zur Schaffung neuen Lebens auch in uns zutrauen. Das Prophetische in der Religion gehört nicht bloß der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart an, wie Bonus mit Recht mehrfach ausge- führt hat. Wo wir gewiß sind, daß uns der Geist Christi durch die Geschichte hindurch ein neues Wort sagt, brauchen wir uns nicht schämen einzugestehen, daß es ein neues Wort ist. Ebensowenig hebt ein solcher Subjektivismus die religiöse Gemeinschaft und die Kirche auf. Freilich eines schließt er aus, das ist die Kirche in dem Sinne einer Gemeinschaft des Glaubens an rechtlich verpflichtende unabänderliche Dogmen. Aber diesen Sinn der Kirche hat nicht erst er aufgelöst, sondern die aus viel allgemeineren Gründen erfolgte Auflösung jedes Dogmenzwanges hat umgekehrt erst zu den Bemühungen um die Wesensbestimmung geführt. Die Wesensbestimmung sucht gerade diejenige innere Einigung und Verständigung herbeizuführen, die nach der Zersetzung der Autorität der Dogmen allein möglich ist. Sie baut in einer neuen Weise dasjenige auf, was in der alten Form unmöglich geworden ist. Und sie will es so aufbauen, daß bei der Anerkennung des Wesens, der Hauptsache, recht verschiedene Ansichten im einzelnen und eine recht verschiedene Stellung zum Dogma frei bleiben können. Dem wirklich frommen Menschen bleibt der Anschluß an die Frömmig- keit und die Taten der Väter, die Teilnahme am gemeinsamen Gebet der Gemeinde, die Belebung aus der Stärke eines Ge- meingeistes ein tiefes Bedürfnis. Und da ermöglicht ihm gerade eine tiefe und weitherzige Auffassung des Wesens, das Gemein- same auch in sehr fremden dogmatischen und instutionellen Er- scheinungen zu fühlen, den doktrinären Gegensatz hinter die Einigkeit in Gefühl und Stimmung zurückzustellen, und Erbauung und Stärkung auch in dem zu gewinnen, was zunächst fremd und abstoßend wirkt. Harnack bezeichnet mit Recht sein Büchlein als ein Werk des Friedens und der Einigung. Wenn es auch auf die offizielle Kirche nicht in diesem Sinne gewirkt hat, so hat es doch unter den unklaren und gegen das Theologentum mißtrauischen Christen Tausende geeinigt und der christlichen Gemeinschaft wieder näher gebracht. Es ist gewiß richtig, daß mit einer solchen wissenschaftlichen Anschauung Kirchen nicht gegründet werden. Zur Gründung ist ein einfacher und energi- scher Autoritätsglaube nötig. Aber die Gründungen wachsen in

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die Zeiten der Reflexion und der wissenschaftlichen Auseinander- setzungen hinein, und dann sind sie ohne eine ruhige wissen- schaftliche Arbeit nicht mehr lebensfähig. Die zu ihrem Leben die- nende Arbeit wird dann gerade in der Erkenntnis des Wesens be- stehen, in dessen freier Beweglichkeit eine sehr verschiedene Stellung möglich wird und alle zu gemeinsamer Duldung und gemeinsamem Fortschritt geeinigt werden können. Gerade der relative Subjektivismus der VVesensbestimmung vermag einigend zu wirken, und die bestehende historische Gemeinschaft wird wiederum diesen anschlußbedürftigen Subjektivismus stets an die historischen Kräfte heranholen. Eine Subjektivierung des Kirchentums und seiner Einigungsmittel ist freilich die notwen- dige Folge einer solchen Auffassung vom Wesen. Aber diese ist bereits bei den Laien vorhanden und für den Laien auch durch die Kirche gestattet. Um das amtliche Theologentum aber kümmert sich die geistige und religiöse Entwicklung sehr wenig. Das letzte Bedenken ist, ob mit einem solchen Subjektivis- mus noch irgendwelche Gewähr für die Einhaltung der Konti- nuität des christlichen Gedankens gegeben ist, ob man mit einer solchen Wesensbestimmung nicht unvermerkt aus dem Christen- tum heraus und in eine neue, mit dem. Christentum nur lose zu- sammenhängende Religion hinein geraten könne. Dagegen läßt sich nun freilich von vornherein kein Mittel angeben. Es ist nicht zu verhindern, daß wer sich in Gefahr begibt, auch darin umkomme. Aber wir suchen ja diese Gefahr nicht leichtsinnig, sondern die religiöse Krisis der Gegenwart treibt uns in diesen Kampf. Wer mit einem tiefen inneren Erfahrungseindruck von der Kraft christlicher Erlösungszuversicht und der Reinheit christlicher Sittlichkeit in diesen Kampf der Geister geht, der wird ja auch hoffen, daß in ihm sein Besitz sich befestige und kläre. Und dabei ist eines sicher, daß jeder, der in seine Wesens- bestimmung ein religiöses Zukunftsideal aufnimmt, das mit den Grundideen des historischen Christentums innerlich unverträglich ist, dessen früher oder später inne werden und dann seine neue Auffassung gegen das Christentum abgrenzen und von der christlichen Gemeinde sich zurückziehen wird. Die Menschen, die sich um diese Dinge bemühen, sind bei allen Fehlern, die sie haben mögen, doch wirklich wahrheitsdurstige Menschen, und eine solche innere Unmöglichkeit würde sich ihnen nicht lange verbergen. Wie aber so die Einsicht in die Abbrechung

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Was heißt »Wesen des Christentums« ?

der Kontinuität nur aus der inneren Durchdenkung und Durch- lebung hervorgehen kann, so kann auch die Gewißheit um die Behauptung der Kontinuität nur auf der inneren persönlichen gewissenhaften üeberzeugung beruhen, daß man in seiner Auf- fassung vom Wesen des Christentums dessen echte und wirk- liche Gedanken in sich aufgenommen und für die Gegenwart ge- formt habe. Wem sich diese Gewißheit im dauernden näheren oder ferneren Anschluß an die Gemeinde, im eigenen religiösen Leben, im Gebet und in der sittlichen Arbeit bestätigt, der darf der Einhaltung der Kontinuität sicher sein. Einen zum voraus fertigen Maßstab für die Einhaltung der Kontinuität gibt es nicht. Das ist gerade das Lebendige und Schöpferische an der Religion, daß ihre Kontinuität sich nur in dieser beständigen Neuformung behauptet. Die Christlichkeit ist behauptet, wenn man den Vater Jesu Christi für sein tägliches Kämpfen und Arbeiten, sein Hof- fen und Leiden gegenwärtig hat, wenn man in der Kraft des christlichen Geistes sich auf die große Weltentscheidung, auf den Sieg aller ewigpersönlichen Werte der Seele, rüstet; ob und wie man beides aber gegenwärtig habe, darüber entscheidet nur die eigene Erfahrung und innere Gewißheit, die Art, wie man die Kontinuität der Ueberlieferung selbständig fortbildet oder seine Selbständigkeit aus der Hingabe an die Ueberlieferung begrenzt. Diese Sätze zeigen zugleich unsere Stellung gegen einen der schwersten Angriffe der letzten Zeit auf die Christlichkeit des Wesens des Christentums, wie sie Harnack und seine Freunde und Schüler verstehen und wie sie schließlich doch auch Schleiermacher und Baur einigermaßen ähnlich verstanden hatten. Der Angriff gilt schließlich dem ganzen Neuprotestantismus, der Verlegung des W^esens aus dem autoritativen Dogma der alten katholischen oder protestantischer Orthodoxie in eine neu zu gestaltende Erfassung des christlichen Geistes. Eduard von Hartmann ^^), der schon

3») S. E. V. Hartmann, »Die Selbstzersetzung des Christentums und die Reli- gion der Zukunft« 1874; »Das Christentum d es Neuen Testamentes« 1905 ; »Die Religion des Geistes« 1882. Jesus hat für das so konstruierte Wesen des Christen- tums natürlich keine Bedeutung, da der Sinn der Christologie für v. H. ja eine Welt- metaphysik und nicht eine Erlöserpersönlichkeit ist. Daher hat er Jesus als viel überschätzten beschränkten Fanatiker bezeichnet. Bekanntlich hat sein Schüler A. Drews dann in seiner »Christusmythe« die Existenz Jesu selbst geleugnet. Man muß diese Sensation auf dem Hintergrunde der Hartmannschen Konstruktion des Wesens sehen, um ihren vollen Sinn zu verstehen. Das Wesen ist dann erst recht

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früher die sogenannte liberale Theologie als Selbstzersetzung des Protestantismus bezeichnet hat, will die »Links-Ritschlianer«, also vor allem Harnack und seine Gesinnungsverwandten, nicht mehr als Christen gelten lassen. Ihr Wesen des Christentums sei Preisgebung des Christentums, und ihre Christlichkeit sei ein auf Erziehung und Gefühlsbedürfnisse begründeter Selbstbetrug. Das, was sie als Christentum behaupten, sei ihre moderne religiöse Ueberzeugung, die mit dem wirklichen Geist des Christentums nur noch lose zusammenhänge und sich um so ängstlicher an einzelne zufällige historische Beweisstücke, insbesondere an die uns doch so völlig fremdartige Verkündigung und Persönlichkeit Jesu, anklammere.

Es ist also hier von einem bedeutenden Denker der Satz aufgestellt, daß sich dieser gesamte Neuprotestantismus aus dem wirklichen Christentum hinausentwickelt habe und nur scheinbar und äußerlich noch mit ihm zusammenhänge, ein Satz, für den V. Hartmann auf die Zustimmung der katholischen, protestantisch- traditionellen und pietistischen Gläubigen rechnet. Ein solches Urteil ist nun aber keineswegs ein rein historisch-objektiver Satz, sondern steht auch bei v. Hartmann in einer engen Verbindung mit seiner eigenen Religionslehre, mit dem Versuch, die Entwicklung des

gänzlich in die Gottmenschheit des Weltprozesses verlegt und von jeder Beziehung auf die Person gereinigt, andererseits sind damit die Gegner und Vertreter eines an Jesus in neuer Deutung sich anschließenden freien Christentums gänzlich ins Unrecht gesetzt. Der Hartmannsche Angriff ist hier fortgesetzt und übertrumpft. Freilich so phantastisch wie das hier konstruierte Wesen ist dann auch die Leug- nung der Existenz Jesu und die Erklärung, warum er zu einem an sich seiner gar nicht bedürfenden Wesen oder Prinzip hinzuerfunden geworden sei. Dieser Hintergrund ist in dem Streit der Meinungen dann oft vergessen worden. Für Drews handelt es sich hier im Grunde nur um die Stabilierung der monistisch-pantheistischen Zu- kunftsreligion und um die endgültige Entwaffnung der »liberalen Theologie«, die dem Aufkommen dieser Zukunftsreligion nach seiner Meinung vor allem im Wege steht. Der eigentliche Kampf geht um den religiösen Gedanken von Drews selbst, den nur auch Drews wieder mit jener wunderlichen Konstruktion des Wesens des Christentums als einer ihm relativ entgegenkommenden Idee und mit der Entwur- zelung der liberalen Theologie verquickt. Der Streit selbst hat sich aber von die- sem eigentlichen Gegenstand verschoben, und, indem die Drewssche Sensation allzu ernst genommen wurde, entstand daraus dann unter uns selbst die erneute Diskus- sion über das Verhältnis von Glaube und Geschichte. Eine solche Diskussion kann nur nützlich sein, sie täte aber gut, ihren Ausgangspunkt nicht bei den Drewsschen Einfällen zu nehmen. Dazu war auch schon vorher Anlaß genug. Vgl. oben S. 36 43.

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Christentums in den pessimistisch-evolutionistischen Pantheismus seiner eigenen philosophischen ZukunftsreHgion hinüberzuleiten und gleichzeitig der neuprotestantischen religiösen Entwickelung den Boden zu entziehen. Auch er macht den Wesensbegriff sich dienstbar, aber so, daß er an ihn eine das Christentum auf- hebende Zukunftsreligion anschließen und andererseits die neu- protestantische Christlichkeit von dem Einfluß auf die Zukunfts- richtung ausschließen will. Man sieht, auch er bedingt die Auf- fassung des historischen Wesens durch die Zukunftsrichtungen, die er als aus diesem entspringend imd sich behauptend kraft per- sönlich-religiöser Intuition und philosophischer Weltansicht sich vorstellt. Das wahre geschichtliche Wesen des Christentums ist ihm die kirchliche Orthodoxie ; v. Hartmanns Religionslehre ist die richtige entwickelungsgeschichtliche Fortsetzung des Relativ-Wahren am Christentum; die kritische Theologie ist ein haltloser Zwischen- akt. Dadurch aber werden seine und seiner Anhänger Dar- stellungen einerseits für die hier entwickelte Natur des Wesen- begriffes eine lehrreiche Bestätigung, andrerseits erweist sich sein Ausschluß des Neuprotestantismus als bedingt durch den Wunsch, eine innerlichst antichristliche Zukunftsreligion an die abgelaufene christliche Periode anzuschließen und dem freien Christentum das Lebensrecht zu bestreiten. Es ist der Versuch, eine anti- christliche Religion als nächste Entwicklungsstufe aus dem Chri- stentum hervorgehen zu lassen, dagegen den wirklich als christlich sich empfindenden Neuprotestantismus als zukunftslose Zersetzung und wurzellose Selbsttäuschung zu bezeichnen. Der ganze An- griff der Hartmannianer läuft also darauf hinaus, sich als allein berechtigte Fortsetzung und Erben des erledigten Christentums zu bezeichnen und zu diesem Zweck der anderen Entwickelungs- möghchkeit, dem Neuprotestantismus, das Daseinsrecht zu ent- ziehen. Alles das bewegt sich durchaus auf den bisher ge- schilderten Linien des Gedankens, nur das Ergebnis ist ein entgegengesetztes : das Wesen des Christentums sei erschöpft, aber es zeige wenigstens eine Möglichkeit der Fortbildung zum pessimistischen Pantheismus, während der freie Protestantismus überhaupt keine Möglichkeit, sondern die Einbildung einer solchen darstelle. Es ist klar, daß für die Beurteilung dieses Ergebnisses zu allererst zu fragen ist, ob denn v. Hartmanns Konstruktion des Wesens ihrerseits den historischen Tatsachen entspricht, eine objektive Berechtigung in ihnen hat oder ob das nicht eine völlig

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subjektive Anordnung und Deutung der Geschichte ist. Ist das letztere der Fall, dann kann erst die Frage nach der Christlich- keit des neuprotestantischen Wesens des Christentums unbefangen und ohne fremde fälschende Nebeninteressen gestellt werden. Bei V. Hartmann ist sie ganz offenkundig im Dienst der Empfehlung seiner eigenen Religionslehre und nicht unbefangen für sich gestellt. Nun ist aber ganz unzweifelhaft derjenige Teil des Hartmann- schen Gedankenganges, in welchem er seine eigene Darstellung des Wesens und den Anschluß seiner eigenen antichristlichen Religionslehre an dieses vorträgt, eine höchst gewaltsame und alle wirkliche Geschichte verfälschende Konstruktion. Er sucht das »Wesen« in dem wichtigsten historischen Dogma, in der Gott- menschheitslehre, d. h. in der Christologie und Trinitätslehre. Aber dabei deutet er dieses Dogma in einem völlig neuen und fremden Sinne. Es ist ihm die Lehre von der an sich bestehen- den Einheit des endlichen und unendlichen Geistes, die kurze Formel des Pantheismus, die in der Lehre vom Gottmenschen mythisch ausgedrückt sei. Die Person Jesu selbst ist hierbei völlig gleichgültig und könnte ebenso gut überhaupt nicht existiert haben. Das Wesen des Christentums ist ihm der in der Christo- logie sich darstellende mythische Ausdruck für die Einerleiheit von Gott und Mensch, d. h. für die Einerleiheit von Gott und Welt. Ein besonderes Verdienst des Christentums sei es dabei, daß es diese Einerleiheit pessimistisch-tragisch als Untergang des Endlichen durch Leiden in Gott auffaßt und die Gottmenschheit folglich im Mythos als leidende darstellt. Die Christologie, und zwar die als mythisches Symbol des pessimistischen Pantheismus gedeutete Christologie, ist ihm das Wesen des Christentums und alles übrige, sein ganzer Theismus und Persönlichkeitsgedanke, sein Heils- und Jenseitsglaube, seine Sündenvergebung und sein Gott- vertrauen sind ihm unwesentliche anthropomorphe Schranken. Um dieser von ihm unablösbaren Schranken willen sei es erledigt, aber an den Mythos von der leidenden Gottmenschheit könne der pessi- mistische Pantheismus der Zukunftsreligion anknüpfen, während der freie Protestantismus gerade das Große des Christentums, den chri- stologischen Mythos, verwerfe und sich an die Schranken festhalte oder an die vom christologischen Mythos gelöste, höchst unzu- längliche Persönlichkeit Jesu anklammert. Er habe gerade das Wesentliche verloren und hänge am Unwesentlichen ; er sei daher nicht mehr Christentum.

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Es kann nun aber für keinen Kenner der wirklichen Geschichte zweifelhaft sein, daß diese Konstruktion des Wesens reine Phan- tasie ist. Die Bedeutung der Christologie war in Wirklichkeit niemals die einer bestimmten Metaphysik, sondern die der Festi- gung und Begründung von Jesu Autorität und kultischer Ver- ehrungswürdigkeit, was immer nur Voraussetzung und Mittel für das eigentlich Wesentliche, die Ergreifung des lebendigen, sünden- vergebenden, heiligenden Vaters in Christo, war und ist. Vom Pantheismus, der Einheit des Menschen und gar der Welt an sich mit Gott, war darin nie die Rede, sondern nur von der Einheit des Erlösers mit Gott. Ebenso wenig hat das Leiden des Gottmenschen die Bedeutung des leidenden Gottes und des schmerzenvollen Weltprozesses, sondern die Bedeutung des Opfers des Einen für die Vielen, der Errettung für die Ewigkeit und im Weltgericht. Jene Hartmannsche Wesensbestimmung ist also etwas völlig Subjektiv-Gewaltsames und scheitert gänzlich an der wirk- lichen Geschichte. Ihre wirkliche historische Anknüpfung hat sie am Brahmanismus und Buddhismus und in keiner Weise am Christentum.

Damit fällt aber der eigentliche Hintergrund für die Behaup- tung der Unchristlichkeit des freien Protestantismus völlig weg. Wenn dieser nach v. Hartmann sich an die Schranken und Schalen hält, so ist er auf Grund der objektiven Geschichte gewiß, daß gerade diese Schranken und Schalen, d. h. der personalistische christliche Gottes- und Heilsglaube selbst das Wesentliche sind. Es handelt sich ja nur darum, daß für den neueren Protestantismus das Verhältnis des Gottesglaubens zur Geschichte ein anderes geworden ist und daß die auch von ihm behauptete Ueberweltlichkeit oder Askese des Christentums in ein neues und anderes Verhältnis zu den Kultur- werten gestellt werden muß. Er kann das Verhältnis von Glaube und Geschichte nicht mehr in den Formen der Inkarnations- Christologie deuten und muß das gegenwärtig Erlebbare über die Geschichte stellen. Nur aus diesem Grunde fällt die alte Christo- logie für ihn weg und versucht er das Verhältnis zur Geschichte neu zu formulieren, wobei die einzelnen Lösungen des Problems hier gleichgültig sind. Ebenso kann er die überweltliche Tiefe der Persönlichkeit nicht in der Weise des kulturlosen Urchristen- tums, aber auch nicht in der Doppelstufigkeit der mittelalterlichen Kultur und auch nicht in der bürgerlichen Berufsethik des Alt- protestantismus entfalten, sondern muß nach einer neuen Lösung dieses Grundproblems aller religiösen Ethik suchen. Die Heraus-

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differenzierung der innerweltlichen und überweltlichen Werte zu ihrem vollen Gegensatz und die Ueberspannung dieser Gegensätze durch einen ihnen überlegenen religiösen Gedanken: das ist hier die Aufgabe. Aber mit alledem kann er völlig das Gefühl haben, in der Kontinuität des christlichen Geistes zu stehen und nur dessen Wesen in einer neuen, der Gesamtlage entsprechenden W^eise neuzu- prägen. Er braucht sich nicht im mindesten durch die Hartmannsche Wesenskonstruktion beirren zu lassen, die, indem sie an des jungen Schelling und Strauss'ens pantheisierende Deutung der Christologie anknüpft und ihr aus eigenem noch die pessimistische hinzufügt, ganz deutlich von dem Wunsch der Annäherung an wesentlich außerchristliche, ja antichristliche Religionslehren diktirt ist. Diese Geschichtskonstruktion ist schlechterdings unmöglich, unbeschreib- lich einseitig auslesend und das Ausgelesene völlig sinnwidrig deutend. Sie hat in Wahrheit überhaupt keinen Zusammenhang mit dem Christentum, sondern ist eine Europäisierung des Hin- duismus, wie sie das schon bei Schopenhauer gewesen ist. Da- gegen ist sonnenklar, daß, welche Mängel man auch der freien Theologie zuschreiben mag, sie einen wirklichen Anschluß an die echte Geschichte des Christentums hat und mit ihrer Wesensbe- stimmung die echten und wesentlichen Grundzüge des prophetisch- christlichen Gottesgedankens vertritt. Das wird ihr ja auch durch den Hohn der Hartmannianer über ihren platten Theismus und Anthropomorphismus bescheinigt.

Freilich ist diese Kontinuität nicht exakt-historisch zu be- weisen. Sie lebt im Gefühl und im Willen und kann sich nur auf das ihr Homogene in der Geschichte berufen. Es ist die lebendige religiöse Subjektivität, die sich ihres innerlichen Zusam- menhanges mit den großen Grundtrieben der christlichen Lebens- welt bewußt ist und bei einer gewissenhaften historischen Erfor- schung sich dieses Gefühl bestätigt, wenn auch nie zu leugnen ist, daß Deutung und Gesamtanschauung dieser Geschichte wieder von jener Grundüberzeugung aus mitbedingt ist. Es wäre freilich eine Grenze denkbar, über die hinaus diese Bestätigung nicht mehr möglich wäre und also die gegenwärtige Subjektivität eine Hinaus- entwicklung über das Christentum wäre. Das könnte aber erst eine viel spätere Entwicklungsstufe wirklich feststellen. Unser eigenes Gefühl ist voll berechtigt, unsere Positionen als christlich anzusehen und kann es der Zukunft überlassen zu entscheiden, ob wir damit eine Bewegung über das Christentum hinaus oder

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innerhalb seiner selbst vollziehen. Das sind noch sehr ferne Zukunfts- fragen, und jedenfalls ist ein pessimistischer Monismus niemals als das zukünftige Ergebnis der aus dem Christentum entspringenden religiösen Entwicklung denkbar. Das wäre ja nur eine Wieder- authebung der bereits erreichten Lebenstiefe und Differenzierung, die Wiederverschlingung des besten Erwerbs der Geschichte, des Persönlichkeitsgedankens, durch den Moloch dumpfer Alleinheiten. Was auch immer in moderner Naturwissenschaft und Aesthetik einem solchen Monismus günstig sein mag, der von Prophetismus und Christentum bewirkte Drang nach Freiheit, Weltüberwindung und gerade im persönlichsten Leben erfolgender Gotteinigung, kann dadurch nicht dauernd aufgehalten und verfinstert werden. In dieser Richtung sehen wir die mutmaßHche Zukunft, und eine solche Zukunft wird immer deren Zusammenhang mit Prophetismus und Christentum tatsächlich und vermutlich auch bewußt be- haupten. Jedenfalls bleiben wir so mit der einzigen lebendigen religiösen Macht unserer Welt in engster Verbindung und bleiben wir in dem, was der historische Moment uns als das Wahre im Christentum zeigt. SchließUch handelt es sich ja um die Wahrheit und nicht um das Christentum und sicherlich sind wir noch nicht an dem Punkte, wo es die religiöse Wahrheit jenseits seiner gäbe. Die abstrakte Möglichkeit solcher Zukunfts- entwickelungen braucht uns nicht zu beirren. Wir suchen Gott, wie er in der Gegenwart sich uns zuwendet, und hier ist das, was er uns in Christo und den Propheten sagt, nichts Ueberwundenes, sondern immer noch die einzige Kraft, welche schlichte Gesundheit und lebendige Tiefe, wahrhaftige Ehrfurcht und beseligendes Vertrauen unter uns wirkt. Das mag genügen, und das Nicht- mehr-Christentum und Noch-Christentum kann uns gleichgültig sein. Wohin auch der weitere Weg führen mag, wir sind gewiß, daß in dem pessimistischen Pantheismus keine höhere Warheit liegt, sondern daß diese in der Richtung des religiösen Persona- lismus liegt und Leid und Sünde überwinden muß durch höheres Leben, statt ihnen zu erliegen. Dann aber sind wir sicherlich mit dem Christentum nicht auf dem Irrwege, sondern bleiben mit ihm jedenfalls im Zuge der wahren Entwickelung- von Gottes Offenbarung und brauchen uns darum weder um unsere Christ- lichkeit noch um die Zukunft zu sorgen. Die steht in desselben Gottes Hand, der sich uns in unserem heutigen Christentum zu- kehrt und hier sich finden läßt.

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Auch der Umstand braucht uns nicht irre zu machen, daß das freie Christentum gegenüber dem alten Protestantismus mit der Annahme der ganzen universalen historischen Denkweise allerdings etwas neues bedeutet und von hier aus auch an vielen anderen Punkten das Wesen anders zu bestimmen genötigt ist unter lebendigem Eingehen auf die historischen Mächte des heutigen Tages. Wenn man nicht im Katholizismus das »Wesen«- erblickt und im Protestantismus eine bloße beginnende Zer- setzung des Christentums, wenn man vielmehr im letzteren eine neue Wesensbildung, entsprechend der historischen Gesamtlage und genährt aus der Bibel, sieht, dann wird man in diesen mo- dernen Neubildungen nichts Unerhörtes und das Wesen Zerstören- des sehen können, sondern nur sozusagen den zweiten Akt des Protestantismus, der der total veränderten Gesamtlage entspricht. Wir fallen damit aus dem Wesen nicht heraus, sondern tun nur dasselbe, was der Altprotestantismus tat : wir bilden einen neuen Wesensausdruck. Das hat von unserer Gesamtanschauung aus gar keine Bedenken. Denn daß das Wesen aus der Bibel allein erhoben werden könne, das ist ja ein ganz unmögliches Auskunfts- mittel. Wo so viele Brüche und Neubildungen vorliegen, da ist ein weiterer wohl möglich und braucht uns in keiner Weise aus der Sache selbst herauszuführen. Es handelt sich ja auch nicht um vereinzelte Theologen, sondern um ein Suchen nach einer neuen Wesenserfassung, das mit dem i8. Jahrhundert begann und diese Fragestellung bis heute fortsetzt. Nennt man, wie hier mehrfach geschehen, diese ganze Entwickelung Neuprotestantis- mus, so ist dieser selbst ja nichts anderes als der Versuch einer Neuprägung des Wesens des Christentums. Und es ist kein An- laß an seinem Gelingen zu verzweifeln.

Damit stehen wir ja nun freilich wieder vor der Tatsache, daß die Wesensbestimmung nichts rein Historisches ist, sondern eben jene Synthese von Geschichte und Zukunft, die an allen großen Knotenpunkten geschaffen werden muß und die der Kontinuität schließlich nur in der persönlichen subjektiven Gewißheit völlig sicher sein kann, weil sie sich bewußt ist, aus der lebendig und tief erfaßten Historie selbst herausgewachsen zu sein.

Es ist ein schönes Wort Zinzendorfs, das ich freilich nur im Gedächtnis gemäß einer Erinnerung aus Ritschis Kolleg gegen- wärtig habe: »Zum Glauben gehört Wagnis und viel Treue.« Das gilt vom Glauben im allgemeinen, es gilt insbesondere

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von der Bestimmung des Wesens des Christentums. Viel Treue in der historischen Versenkung- und Hingabe, vor allem in der Hingabe an Jesus, aber auch das Wagnis, aus dem Historischen die lebendige Idee für die Gegenwart hervorzuholen und es mit dem Mut des in Gott gebundenen Gewissens in die Gedanken- welt der Gegenwart hineinzustellen: das macht die Arbeit am Wesen des Christentums aus. Bei dem einen ist vielleicht mehr Treue, bei dem anderen mehr Wagnis, aber die innerste Verbin- dung von Beidem, das ist das Ideal.

7. D as E r g e b n i s.

Mit alledem ist die Frage nach Bedeutung und Sinn des Wesensbegriffes geklärt und die Verknotung der in ihm zusam- mentreffenden Interessen aufgelöst. Es ist seiner Natur nach kein rein historisch-empirischer Begriff, sondern die höchste Lei- stung historischer Abstraktion oder die Bildung historischer All- gemeinbegriffe. Die Bildung dieses Allgemeinbegriffes ist auch bei strengster historischer Sachlichkeit nicht möglich, ohne ihn einem Teil der historischen Tatsachen als kritischen und verur- teilenden Maßstab entgegenzusetzen und ohne die verschiedenen Bildungen durch einen der Wandelungs- und Anpassungsfähigkeit Rechnung tragenden Entwickelungsbegriff zu verbinden. Das eigentliche Interesse am Wesensbegriff tritt aber erst zutage, wo das historisch als wesentlich Empfundene zugleich als der maß- gebende Entwickelungstrieb der Zukunft hervortritt und der syste- matisch-religionsphilosophischen Bearbeitung zur Darstellung des gegenwärtigen christlichen Glaubens übergeben wird. Harnacks Buch versucht all diesen Interessen zugleich zu genügen und ge- rade von der Historie her damit dem Glauben die Unterlage und den Gegenstand zu geben. Es ist schon um deswillen selbstverständ- lich nicht rein historisch, aber es entwickelt die Zukunft aus der reinen Historie.

Harnacks ganze historische Arbeit, insbesondere seine große Dogmengeschichte, die in Wahrheit eine Geschichte des Christen- tums ist, steht auf diesem Hintergrunde. Von da aus empfängt seine Historie den hinreißenden Schwung und die menschliche Bedeutsamkeit. Von da aus empfängt aber auch seine Glaubens- position ihre konkret-lebendige historische Sättigung. Es ist eine historische Arbeit, die mit der Historie die Erarbeitung der nor- mativ religiösen Position verbindet und gerade darin ihre führende Bedeutung hat.

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Erwägt man nun aber die sehr feine Verknüpfung der Inter- essen, die soeben aufgezeigt worden ist, so wird man sich des Gedankens nicht erwehren können, ob nicht vielleicht neben dieser großen Leistung, der übrigens Karl Müllers Kirchengeschichte würdig zur Seite steht, nicht vielleicht auch eine stärkere Sonderung der Aufgaben berechtigt sein mag. Es ist vielleicht gut, das eigentlich historische und das geschichtsphilosophisch-normative Element schärfer zu trennen. Mindestens für die gegenwärtige Lage mag es erwünscht scheinen. Der historische Stoff ist der Harnackschen Darstellung gegenüber inzwischen enorm gewach- sen. Die Verknüpfung und Gruppierung der Tatsachen steht unter teilweise neuen Gesichtspunkten. Insbesondere eine nicht mehr wesentlich ideologische d. h. an der Entwickelung der Glaubensgedanken allein interessierte, sondern soziologische d. h. die ethischen und religiösen Gedanken in ihrem engen Zusammen- hang mit den verschiedenen christlichen Gemeinschaftsbildungen und in Wechselwirkung mit den profanen Gesellschaftsmächten erfassende Darstellung wird das Wesen so einfach nicht mehr formulieren können, wie Harnack es getan hat. Der für die empirische Historie notwendige Wesensbegriff wird noch weit reichere Entwickelungs- und Sonderungsmöglichkeiten in der Ge- schichte der christlichen Idee anzuerkennen haben, wenn er die Erscheinungen als unter einen gemeinsamen Umkreis fallend er- kennen will. Der Begriff der verschiedenen in der christlichen Idee liegenden EntwickelungsmögUchkeiten wird für die rein historische Gewinnung des Allgemeinbegriffes wichtiger sein als der Aufweis eines einfachen Kontinuums oder gar einer dialek- tischen Notwendigkeit der Ideenfolge. Das letztere hat Harnacks reifer und feiner Realismus gegenüber der Tübinger Konstruktion bereits aufgegeben. Aber die einfache Kontinuität des in seinem Wesen zentralisierten, von zeitgeschichtlichen Bedingtheiten be- freiten Jesus-Evangeliums kann doch auch das hier vorliegende Bedürfnis nicht befriedigen. So wird man für die rein empirisch- historische Darstellung auch nach einem die Möglichkeiten und Komplikationen in sich schließenden Wesens- und Entwickelungs- begriff suchen müssen^-).

^^) So habe ich in meinen »Soziallehren« das Wesen des Christentums verstan- den und charakterisiert, vor allem in der Schlußabhandlung. Sie haben eben des- halb auch bewußt keine direkte Beziehung zur Glaubenslehre oder Ethik und mögen manchen dadurch überrealistisch oder skeptisch anmuten. Aber meine ganze übrige Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 20

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Unter diesen Umständen hebt sich dann aber andererseits auch die systematisch-normative Aufgabe der Bestimmung des Wesens als Grundlage der Zukunftsentwickelung und als Stoff der Glaubenslehre von der rein historischen Aufgabe sehr deut- lich ab. Diese rechnet mit verschiedenen Möglichkeiten, in denen das Wesen variiert und mit anderen Mächten der Geschichte zu eigentümlichen Wirkungen sich verbinden kann. Diese Möglich- keiten sind dann als im Prinzip liegend gedacht, enthalten aber dessen Verzweigungen und Verbindungen. Sie streben ausein- ander und nicht zusammen. Sie sind wesentlich kausal verstanden, aber nicht teleologisch als den reinen Begriff verwirklichend. Darum läßt sich auch von diesem VV^esensbegriff aus nicht das einheitliche Ziel der Zukunftsgestaltung, sondern nur das geschicht- liche Verständnis der Tatsachen gewinnen. Der dogmatisch-nor- mative Wesensbegriff geht umgekehrt auf verjüngende Synthe.'^e, auf Auslese und Herausarbeitung des der Gegenwart und Zukunft Entsprechenden, auf neue Verbindung des so Herausgegriffenen mit der praktischen und geistigen Welt der Gegenwart. Er er- greift nicht das dialektisch-notwendige, einzige und alleinige Ent- wickelungsziel, sondern verwirklicht selbst eine der Möglichkeiten und zwar die von der Gegenwart und nächsten Zukunft geforderte. Es bleibt dabei alles in Geltung, was bisher über den Zusammen- hang des Historischen und des Neu-Lebendigen gesagt ist. Aber der dogmatische Wesensbegriff ist doch bei seiner Konzentration auf eine einheitliche und von Tat und Wille erst durchzusetzende Christlichkeit etwas anderes als der historische.

Gewiß ist das eine etwas nüchterne und realistische Auffas-

Arbeit zeigt ja, daß ich davon den dogmatisch-ethischen Wesensbegriff unterscheide und hier wahrlich der historischen Skepsis keine Zugeständnisse mache. Ueber den bei dem historischen Wesensbegriff vorschwebenden Gedanken der »wertfreien Teleologie« s. jetzt die zweite Auflage von Rickeits > Kulturwissenschaft und Natur- wissenschaft« 1910. Der ganze Gedankengang der vorliegenden Studie beruht sehr wesentlich auf dem, was ich von Rickert gelernt habe. Unter diesem Eindruck habe ich mich auch von den Hegel näherstehenden Bestimmungen des Wesens abgewendet, die ich früher vertreten habe; vgl. den Aufsatz »Geschichte und Metaphysik < Z. Th. K. 1896, er ist aus diesem Grunde hier nicht aufgenommen. Im übrigen verweise ich auf meine Kritik dieses Entwickelungsbegriffes in den Anzeigen von A. Dorner, Grundriß der Dogmengeschichte, Göbl. Gel. Anr. 1901 und von Desselben Grundriß der Religionsphilosophie Ebd. 1905, auch von W. Köhlers, Idee und Persönlichkeit, H. Z. 1913; auch auf meinen Artikel History in Hastings' Dictionary.

Was heißt »Wesen des Christenturas«?

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sung der Sachlage. Aber sie entspricht der überall sich durch- setzenden Verselbständigung des Historischen, das gegenüber der Begründung persönlicher Ueberzeugungen und geschichtsphilo- sophischen Bewertungen seine eigene Methode immer strenger für sich fordert. Auch gewinnt dabei wirklich das unbefangen historische Verständnis und mit ihm das Verständnis des wirk- lichen Lebens. Der Gedanke einer »wertfreien Teleologie« d. h. eines Verständnisses historischer Ideenmächte ohne Einmengung unserer eigenen Bewertungen ist hier entscheidend. Auf der anderen Seite wird die systematisch -normative Bildung der Wesensidee damit freier von geschichtlichen Einzelheiten, leben- diger und stärker auf die Verarbeitung des Ganzen und auf die Erkenntnis ihres verantwortungsreichen schaffenden Charakters hingewiesen. Der historische Ballast, der in der heutigen Theo- logie manchmal die Arbeit schwer bedrückt, sinkt nieder, und der Geist der Geschichte kann sich klarer und kräftiger, begeisterter und zusammenfassender als wirklicher Geist, als lebendige Tat, bekunden.

Wie sehr man aber auch hier trennen und scheiden möge, alle solche Trennungen sind allerdings nur provisorische und hypothe- tische. Die Einheit des Lebens und der Erkenntnis wird das Geschiedene wieder zusammenfassen. Wie Geschichte und Ge- schichtsphilosophie nur künstlich und methodisch sich scheiden lassen, in Wahrheit aber schon in der ersteren immer ein Stück der letzteren steckt und diese sich durchaus aufbauen muß auf jener, so wird das Wesen der Geschichte und das Wesen des Glaubens sich immer wieder suchen und finden. In ihrer Einheit besteht die Aufgabe der Theologie, gleichviel ob man die beiden Auf- gaben sorgfältig verteilt und nach Möglichkeit für sich löst, oder ob man sie wieder verbindet zu jener großen Gesamtdarstellung des Christentums, die Geschichte und Glaube zus-leich ist.

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Wesen der Religion und der Religionswissenschaft 3*).

(Aus: Kultur der Gegenwart I, 4, 2. Aufl. 1909.)

Die gegenwärtige Wissenschaft von der Religion steht wie alle Kulturwissenschaften von Hause aus unter der großen

3ä) Literatur. Die Literatur der Religionswissenschaft ist bei der Verzweigt- heit ihrer Interessen und der Unendlichkeit ihres historischen Materials unerschöpf- lich. Ihre wichtigsten prinzipiellen Gedanken sind in der älteren Literatur der großen Hauptsysteme niedergelegt ; die Gegenwart ist auf diesem Gebiet nicht sehr originell und schöpferisch. Nur die antiquarischen und anthropologisch-ethnogra- phischen Studien über die primitiven Religionsformen sind eine eigentümliche und zugleich bedeutende Schöpfung der Gegenwart. Ihr Mittelpunkt sind die beiden Zeitschriften: die »Annales du Musee Guimet« und die von der gleichen Anstalt ausgehende »Revue de l'histoire des religions« (herausgeg. von Reville, Paris), so- wie das deutsche »Archiv für Religionsgeschichte« (herausgeg. von Dieterich, jetzt Wünsch, Leipzig, Teubner). Neben ihnen treten noch psychologische Forschungen originell hervor, an denen allerdings die deutsche Psychologie auffallend wenig beteiligt ist; bei ihr ist, wie überhaupt in der deutschen Philosophie, das Interesse an der Religion sehr schwach; ein Mittelpunkt solcher Studien hofft »The American Journal of religious psychology and education« (herausgeg. von G. Stanley Hall, Clark University Press, Worcester, Mass.) zu werden. Aehnliche Aufgaben stellt sich die deutsche »Zeitschrift für Religionspsychologie« (herausgeg. von Runze und Bresler, Halle, Marhold, seit 1907). Kompendien der Religionswissenschaft, in wel- chen freilich die philosophische Seite sehr zurücktritt, sind: Morris Jastrow, »The study of religion« (London 1901); C. P. Tiele, »Elements of the science of reli- gion« (Edinburgh und London, 1897/99), auch deutsch (Gotha, 1899/1901), der- selbe, »Grundzüge der Religionswissenschaft« (deutsch von Gehrich, Tübingen und Leipzig, 1904). Hier wird überall die Verselbständigung der Religionswissenschaft als Bearbeitung eines ihr eigentümlichen empirischen Materials betont. Stärkere Hervorhebung der philosophischen Seite des Problems zeigt das kantisch gefärbte Lehrbuch von H. Siebeck, »Lehrbuch der Religionsphilosophie« (Freiburg und Leip- zig, 1893), oder die hegelisch gefärbte Einführung von John Caird, »Introduction to the philosophy of religion«- (London, 1889). Den Stand der Forschung auf den verschiedenen Gebieten schildert referierend Troeltsch, »Religionsphilosophie« in »Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer«,

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 4^3

Schwierigkeit, daß die entscheidende Grundvoraussetzung für ihre Behandking gleich am Anfang festgelegt werden muß und daß

2. Aufl. (Heidelberg, 1907), mehr kritisch derselbe in »Die Selbständigkeit der Religion« (Z. f. Theol. u. Kirche 1895/66). Eine ausführliche Auseinander- setzung mit allen modernen Hauptrichtungen gibt Emile Boutroux, * Science et Re- ligion dans la philosophie contemporaine« (Paris, 1908).

S. 463. Naive und wissenschaftliche Religion: Duhm, »Das Geheimnis in der Religion« (Freiburg, 1896); James, »Varieties of religious experience« (London, 1902), deutsch von Wobbermin 1907; Heim, »Das Weltbild der Zukunft« (Berlin, 1904); Vierkandt, »Naturvölker und Kulturvölker« (Leipzig, 1896); A. Bonus »Zur religiösen Krisis« (Jena 191 1 ff.).

S. 479. Kritischer Idealismus : Kant, »Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« (1793); Fichte, »Versuch einer Kritik aller Offenbarung« (1792); derselbe, »Anweisung zum seligen Leben« (1806, neu hg. in Deutsche Bibliothek, 1912); Schleiermacher, »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« (1800); derselbe, »Der christliche Glaube« (1821); Fries, »Wissen Glauben Ahnung« (1805); derselbe, »Handbuch der Religionsphilosophie« (1832); De Wette, »Vorlesungen über die Religion, ihr Wesen und ihre Erscheinungs- formen« (1827); R. Otto, »Kantisch-Fries'sche Religionsphilosophie« (Tübingen 1909); Rauwenhoff, »Wijsbegeerte van den Godsdienst« (Leiden, 1887), deutsch von Hanne (Braunschweig, 1889); A. Sabatier, »Esquisse d'une philosophie de reli- gion« * (Paris, 1897) deutsch v. Baur 1900.

S. 481. Hegeische Lehre: Hegel, »Vorlesungen über die Philosophie der Religion«, herausgeg. von Marheineke (1832); dieselben gekürzt und mit Anmer- kungen versehen von Drews (Jena und Leipzig, 1905); Pfleiderer, »Religionsphilo- sophie auf geschichtlicher Grundlage«^ (Berlin, 1896); Biedermann, »Christliche Dogmatik« (Zürich, 1869; 2. Aufl. Berlin, 1884/85). Mit pessimistischem Einschlag : E. V. Hartmann, »Religionsphilosophie« (1888); Drews, »Religion als Selbstbewußt- sein Gottes« (Jena 1906).

S. 483. Positivistische Lehre : Hume, »The natural history of religion« (i755); Comte, »Cours de philosophie positive« (1830 42); Herbert Spencer, »First prin- ciples« (System of synthetic philosophy, Bd. I, 1863); derselbe, »Principles of sociology« (System Bd. Bd. VIT, VIII, 1876 96); Goblet d'Alviella, »Intro- duction ä l'histoire generale des religions« (1887); derselbe, »L'idee de Dieu« (1892); Feuerbach, »Wesen des Christentums« (1841); Tylor, »Primitive Culture« (1871); derselbe, »The early history of mankind« (1878); Andrew Lang, »Custom and Myth« (London, 1885); derselbe, Art. »Mythology« in »Encyclopaedia Britan- nica«, derselbe, »Myth, ritual and religion«'^ (London, 1899).

S. 485. Theologische Offenbarungslehre: F. H. R. Frank, »Gesch. der neueren Theologie«^ (Erlangen, 1898): Schellmg, »Philosophie und Religion« (1804); der- selbe, »Philosophie der Mythologie« und »Philosophie der Offenbarung« (sämtl. Werke Abt. II, Bd. 1—4); C. Frantz, »Schellings positive Philosophie« (Cöthen, 1879—80); Portig, »Weltgesetz des kleinsten Kraftaufwandes« (Stuttgart, 1903/04);

ACA Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

diese Voraussetzung die ganze Behandlung durch und durch be- herrscht. Es handelt sich um die Frage, wie man die großen

W. Herrmann, Die Religion im VerhäUnis zu Welterkennen und Sittlichkeit« (Halle, 1879); L. Ihmels, >Die christliche Wahrheitsgewißheit« (Leipzig, 1908) ; A. Hunzinger, »Probleme und Aufgaben der gegenwärtigen systematischen Theologie« 1909.

S. 492. Religionspsychologie : James, »The varieties of religious experience< (London, 1902, deutsch und gekürzt von Wobbermin, 1907); Starbuck, »The psycho- logy of religion«'- (London, 1901) ; A. George Coe, »The spiritual life, studies in the science of religion« (New-York, 1900) ; Derselbe, »The religion of the mature mind« (New-York, 1903); Murisier »Les maladies du sentiment religieux« (Paris, 1901); Flournoy, »Les principes de la psychologie religieuse« (Archive de Psychologie, Genf, 1902 u. 1903); Leuba, »Studies in the psychology of religious phenomena« (American Journal of Psychology 1896); E.Koch, »Die Psychologie in der Religionswissenschaft« (Freiburg, 1896); W. Wundt, »Völkerpsychologie« (Leip- zig II 1905 bis 1909); V. Hügel, »The mystical Element of religion sludied in St. Catherine of Genoa and her friends« (London, 1908); Simmel, »Beiträge zur Erkennt- nistheorie der Religion« (Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik, 1902); A. Dieterich, »Mithrasliturgie« (Leipzig, 1904); Höffding, »Religionsphilosophie«, deutsch von Bendixen (Leipzig, 1901); F.W. H. Myers, »Human personality and its survivals of bodily death« (London, 1903); übersetzt und gekürzt von Jankelevitsch, »La personnalite humaine, sa survivance, ses manifestations supranormales« (Paris, 1905).

S. 494. Erkenntnistheorie der Religion; Windelband, »Das Heilige« (in Prä- ludien*, Tübingen, 191 1); Fechner, »Die drei Motive und Gründe des Glaubens« (Leipzig, 1863); Eucken, »Der Wahrheitsgehall der Religion«^ (Leipzig, 1912); Zeller, »Ursprung und Wesen der Religion< (Vorträge I [Leipzig, 1877]): Recejac, »Essais sur les fondements de la connaissance mystique« (Paris, 1897); Troeltsch, »Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft'; (Tübingen, 1905) ; Derselbe, »Das religiöse Apriori« in diesem Bande; James, »The will to believe« (London, 1897); Simmel, »Die Religion« (aus die »Gesellschaft«, herausgeg. von Buber, Frankfurt 2.Aufl. 1912).

S. 495. Geschichtsphilosophie der Religion: Jevons, »Introduction to the history of religion« (London, 1896): Eucken a. a. O. ; Siebeck a. a. O.; Tiele a. a. O. ; Pfleiderer a. a, O.; Wundt a. a. O. ; v. Hartmann, »Religionsphilosophie« (Berhn 1888); E. Caird, »The evolution of religion« (Edinburgh, 1893); Rickert, »Grenzen der naturwissenschaftlichen BegrifFsbildung« (Freiburg, 1896/ 1902); Troeltsch, »Moderne Geschichtsphilosophie« (Theologische Rundschau, 1903 und in diesem Bande) ; derselbe, »Die Absolutheit des Christentums und die Religions- geschichte« (Tübingen 1912); Rickert, »Geschichtsphilosophie« (in Festschrift für Kuno Fischer, 2. Aufl., Heidelberg, 1907).

S. 496. Metaphysik der Religion: Weisse, »Philosophische Dogmatik« (Leip- zig, 1855 62); Teichmüller, »Religionsphilosophie« (Breslau, 1886); Lotze, »Mikro- kosmus«^ (Leipzig, 1896); derselbe, »Grundlage der Religionsphilosophie «^ (Leip- zig, 1884); Glogau, »Vorlesungen über Religionsphilosophie« (Kiel, 1S98) ; J. H.

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. A^^

Kulturschöpfungen des menschlichen Geistes betrachtet, ob man in ihnen selbständige Anlagen und Kräfte des Geistes erkennt, die aus eigener innerer Notwendigkeit eigene Gedanken und Werte gestalten, oder ob man in dem Geiste nichts als die for- melle Kraft sieht, welche möglichst sachlich aufgefaßte, positive Tatsachen zu einem Zusammenhang von Generalisationen gestaltet und diesen Zusammenhang den menschlichen Zwecken der Selbst- erhaltung und Gattungsförderung dienstbar macht. Im ersten Falle haben wir geheimnisvolle, nicht weiter abzuleitende, immer neu sich gestaltende Anlagen und Triebe der Vernunft vor uns, aus deren Spontaneität und Autonomie die großen Kulturbildungen m Familie, Staat, Gesellschaft, Recht, Kunst, Wissenschaft, Reli- gion und Moral hervorgehen ; im andern Falle haben wir vor allem die regelmäßige und gleichartige Verknüpfung der objek- tiven Tatsachen der Außenwelt und in der Innenwelt kein anderes Geheimnis, als daß sie diese Gesetzlichkeit zu erkennen und der Lebenserhaltung der Gattung dienstbar zu machen weiß. Das erste ist die Position des Idealismus, der nicht bloß die Wirklich- keit überhaupt in dem Geiste begründet denkt, sondern den Geist als mit qualitativ schöpferischen Kräften zur Erzeugung spezi- fisch geistiger Werte ausgerüstet betrachtet ; das letztere ist die Position des Positivismus, der in erster Linie nur gesicherte Tat- sachen und deren gesetzliche Verknüpfung anerkennt und dann diese Tatsachen dem Willen zur Bearbeitung übergibt, wobei der einzige Wert die Behauptung und Vervollständigung des mensch- lichen Daseins selber ist. Es ist der uralte Gegensatz des Plato- nismus und des realistischen Empirismus, wobei beide allerdings heute den modernen Naturbegriff jeder auf seine Weise in sich aufgenommen haben. Es ist moderner gesprochen der Gegen- satz zwischen Kant und Hume und, noch mehr der Gegenwart an- gemessen, der Gegensatz des Positivismus aus Comtes und Spencers

Fichte, »Die theistische Weltansicht und ihre Berechtigung« (Leipzig, 1878); Secretan, »La philosophie de la liberte«^ (Paris, 1879); Renouvier, »Essais de cri- tique generale«- (Paris, 1875 9^) '. Volkelt, »Kants Erkenntnistheorie nach ihren Grundprinzipien analysiert« (Leipzig, 1879); Wandt, »System der Philosophie-''« (Leip- zig 1907) ; James, »A pluralistic Universe« (London 1909) ; Eucken, »Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt (Leipzig, 1896) ; Drews, »Die deutsche Spekulation seit Kant mit besonderer Rücksicht auf das Wesen des Absoluten« (Berlin, 1895); Rickert, »Fichte und der Atheismusstreit« (Berlin, 1901). Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Bergson ; »Les donnees immediates de la consciencec ^ »Memoire et matiere«, »L'evolution creatrice«.

456 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Schule gegen Hegels und verwandter Geister Deutung des Geistes- lebens.

Zwar gibt es noch andere prinzipielle Voraussetzungen, die die Religionswissenschaft von Hause aus zu bestimmen bean- spruchen und oft mit Leidenschaft sich in ihr geltend gemacht haben : den auf die Naturphilosophie begründeten Materialismus oder auch den parallelistischen Pantheismus, welch letzterer durchaus idealistisch gewendet werden kann, aber dann durch den naturphilosophischen Gedanken der mathematischen Not- wendigkeit das geistige Leben erst recht seiner qualitativ- schöpferischen und pluralistischen Eigentümlichkeiten beraubt. Vom ersten aus ergibt sich die metaphysische Unmöglichkeit der von der Religion geglaubten Objekte und damit die Aufgabe, die Religion aus psychologischen Motiven als reine Illusion zu erklären. V^om zweiten aus ergibt sich die Forderung, in aller Religion nur den rein pantheistischen Gehalt als Wahrheit anzu- erkennen und alle theistischen und pluralistischen Religionsideen als psychologisch motivierte Illusionen zu erklären. Allein die Absurditäten, in welche beide Theorien die Kulturw-issenschaften verwickeln, und die in solchen Konflikten genährte Abneigung gegen alle Metaphysik haben gerade für die Religionswissen- schaft die Macht solcher Voraussetzungen heute gebrochen. Der Materialismus ist in ihr ganz erledigt, der Pantheismus der gleichen Phantastik verdächtig wie jede andere Religionsidee auch, also jedenfalls keine selbstverständliche wissenschaftliche Voraussetzung mehr. Heute dominiert der Einfluß des Positivis- mus, der auf jede metaphysische Kausalitätstheorie überhaupt und auf jede Metaphysik der Beziehungen von Geist und Materie insbesondere verzichtet, dem naturwissenschaftlichen Interesse der Gegenwart durch P^inschränkung aller Erkenntnis auf geordnete Tatsachenverknüpfung und Ausschluß aller romantisch-nativisti- schen Erkenntnisquellen gerecht wird und andererseits den Kul- turwissenschaften in der Fähigkeit des Geistes, diese Erkenntnisse für die Zwecke des Einzel- und Gesamtwohls zu verarbeiten, eine selbständige Grundlage läßt. Dem steht als klarer Gegensatz nur ein Idealismus gegenüber, der seinen Schwerpunkt nicht in der abstrakten metaphysischen Lehre von der Phänomenalität der Körperwclt, sondern in der konkreten Auffassung des geistigen Lebens als einer jeweils Neues und völlig Eigentümliches hervor- ^ bringenden Kraft hat ; die Kontinuität zwischen diesen Mani-

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

457

festationen des Geistes und deren Zusammenhang mit der Basis der materiellen Natur sind dabei Fragen zweiten Grades. Zwischen beiden Positionen ist bei der heutigen Lage der Problemstellung von Anfang an die Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung wird im wesentlichen entweder eine Sache persönlicher Ueber- zeugung, des sachlichen Eindrucks jener Lebensinhalte und ihrer eigenen Aussagen über sich selbst sein, oder sie wird von dem Grunddogma ausgehen, daß wirkliche Wissenschaft nur die ge- setzliche Verknüpfung" der positiven Tatsachen sei und daß der Autonomie und Spontaneität des Geistes nur so viel übrig ge- lassen werden dürfe, als mit dieser Grundvoraussetzung verträglich sei, während alles darüber Hinausgehende auf das große Toten- feld menschlicher Illusionen zu werfen sei.

Die hier zu gebende Skizze der Religionswissenschaft steht mit aller Entschiedenheit auf dem ersten Standpunkt und verwirft den zweiten, weil der sachliche Eindruck der idealen Kulturinhalte ihm widerspricht, weil sein Grunddogma eine naturalistische Voraus- setzung ohne jede zwingende Begründung ist und schon für die Körperwelt nicht ausschließlich gelten kann, schließlich weil der vom Positivismus beibehaltene Rest geistiger Autonomie und Spontaneität eine Inkonsequenz gegen seine eigene Voraussetzung, unverkenn- bar der nicht völlig totzuschlagende und nur möglichst ausge- hungerte Rest einer viel reicheren geistigen Wirklichkeit ist ^^).

Steht die Sache aber so, dann ist von Hause aus die positi- vistische Religionstheorie abzulehnen, welche in der Religion prin- zipiell nichts anderes sieht als eine Betätigung menschlichen Denkens in der Verknüpfung der Erscheinungen und des mensch- lichen Willens in der Dienstbarmachung dieser Erkenntnis für menschliche Individual- und Gattungszwecke. Darnach wäre die Religion nichts als eine aus der Abwesenheit wissenschaftlich- objektiver Methoden erwachsende Verknüpfung und Deutung der

3*) Wie sich von einem positivistischen Standpunkt aus, der die Spontaneität und selbständige Inhaltsfülle des Geistes höher schätzt und auch bei Comte und Spencer noch eine übermäßige Gebundenheit durch einen ursprünglich rationalistisch- mechanischen Naturbegriff konstatiert, die Aufgabe der Religionsphilosophie gestaltet, habe ich oben in dem Aufsatz über William James gezeigt. James nennt daher seine Lehre nicht mehr Positivismus, sondern Pragmatismus. Ich habe dort ge- zeigt, daß sich auf diese Weise zwar der Abstand gegenüber dem Idealismus ver- ringert, daß aber auch dem gegenüber der Idealismus zu behaupten ist. Zu dieser Frage vgl. Windelband »Der Wille zur Wahrheit« in »Präludien« 191 1.

ACS Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Wirklichkeit und die Verbindung der menschlichen Gattungszwecke mit den VorsteHungen von den so gefundenen Mächten und Kräften der WirkHchkeit. Sie wäre primitive Wissenschaft und daran angelehnte Ethik und Soziallehre der menschlichen Urpsyche, deren alles personifizierendes Denken mit der Geisteridee schließlich auch die Gottesidee hervorbringt und deren naive Verlegung menschlich- persönlicher Zwecke in die außermenschliche Wirklichkeit diese Götter zu Förderern und Garanten der menschlichen Zwecke macht. Unentbehrlich und segensreich, unvermeidlich und natürlich für diese Periode des Denkens, verschwindet sie daher notwendig mit der Wandlung des menschlichen Denkens von der personifizierenden Phantasie zur depersonifizierenden W^issenschaft, von der kosmischen, anthropomorphen Verallgemeinerung der menschlichen Lebenswerte zur Einsicht in die Beschränkung der menschlichen Zwecke auf den Menschen selbst und auf seine durch wissenschaftliche Er- kenntnis zu begründende P"örderung des Gattungswohles. Die ganze Religionswissenschaft wird unter diesen Umständen zur entwicklungsgeschichtlichen Untersuchung über die Denkformen der Urpsyche in ihrem allmählichen Uebergang zur positiven Wissenschaft und darauf begründeten wissenschaftlichen Ethik. Entstehung und Auflösung wird ihr einziges Thema ; ihre Aufgabe ist rein historisch und psychologisch, völkerpsychologisch ; das sachlich-systematische Interesse kann nur darauf gerichtet sein, daß die wichtigen sozialen Funktionen, die diese Schöpfung ausge- übt hat und ohne die sie nicht zu ihrer großen Bedeutung gekommen wäre, mit ihrer Auflösung nicht vernachlässigt, sondern auf die moderne positive Wissenschaft nachdrücklich übernommen werden. Nicht auf eine Widerlegung dieser Theorie kommt es als Ausgangspunkt an, sondern auf die Leugnung der Voraussetzungen, aus denen sie als einzig mögliche hervorzugehen beansprucht. Der Auffassung der Religion muß freier Spielraum bleiben. Sie muß aus sich selbst heraus analysiert werden können, mindestens zunächst als ein völlig selbständiges Phänomen untersucht werden, als das sie sich ja auch gibt. Sie darf nicht von vornherein all- gemeinen Theorien unterstellt werden, die es von Haus aus vor- schreiben, was bei ihr berechtigt sein kann und was nicht. Das ist eine Vergewaltigung der Analyse gleich am Anfang, und eine solche Vergewaltigung ist die positivistische Theorie. Bei ihr weiß man von vornherein, was Religion ist und was sie allein sein kann : ein Denkfehler der Urpsyche, der durch seine große zusammen-

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. AKO

haltende soziale Bedeutung und durch seinen engen Zusammen- hang mit dem Glücksbedürfnis des Menschen sich so lange am Leben erhalten hat. Es gibt für sie überhaupt keine andere geistige Tätig- keit als verknüpfendes Denken und Benützung dieses Denkens durch den Selbstbehauptungswillen der Gattung. Unter diese Vorstellung muß daher auch die Religion fallen, nur daß sie aus den besonderen Bedingungen des urmenschlichen Denkens stammt, das die Stufe der Personifikation noch nicht überwunden und die menschlichen Zwecke von dem gegen sie gleichgültigen Universum noch nicht hat unterscheiden lernen. Wird dieses fertige Vorurteil abgelehnt und die Möglichkeit qualitativ eigentümlicher geistiger Anlagen und Lebensinhalte anerkannt, dann braucht die Religion nicht von vornherein in ihrer Entstehung, Entwicklung und Auflösung ein lediglich historisches, vorübergehendes Problem zu sein, sondern kann in ihrem inneren Wesen und in ihrer Bedeutung für die Kultur ein sachliches und dauerndes bilden. Dann weiß man nicht ohne weiteres, was sie ist, und es muß erst aus ihrer Ana- lyse eine Erkenntnis von dem gewonnen werden, was sie wirklich ist. Und was sie ist, läßt sich dann in erster Linie nur aus ihr selbst erkennen, aus der Erforschung und Vergleichung ihrer eigenen Aussagen über sich selbst, aus dem Verhältnis, das sie sich zu den anderen Kulturinhalten gibt und das ihr von diesen ihrerseits gegeben wird. Man ist dann nicht von vornherein daran gebunden, zu wissen, was sie alles nicht sein kann, daß sie ins- besondere unmöglich sein kann, was sie sein will. Die Analyse ist nicht auf eine fertige Grundanschauung von den Dingen ver- pflichtet, die die ganze Auffassung bereits von festen Grundan- schauungen aus normiert, sondern sie kann dem Gegenstand selbst sein eigenes inneres Wesen entnehmen, wie er jedenfalls zunächst sich selbst empfindet; und es ist erst die zweite Frage, wie dieses eigene Wesen des Gegenstandes sich in die übrige Wirklichkeit einreiht, ob es sich dabei überhaupt zu behaupten vermag, welche Modifikationen es hierbei erleidet oder erleiden muß. Das ungeheure Tatsachenmaterial, das insbesondere der Positivismus zusammengetragen und, soweit es mit den eigentüm- lichen Formen primitiven Denkens zusammenhängt, in der Tat oft überaus sinnreich gedeutet hat, ist dann nur erst Material für die wirkliche Untersuchung. Es handelt sich darum: was ist das Religiöse in diesen im allgemeinen als Religion bezeichneten, sehr bunten und mannigfaltigen Erscheinungen.^ wie kann man des

460 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Religiösen in ihnen habhaft werden, und welche Bedeutung, Ent- wicklungstiefe, Konsequenz hat dieses Religiöse in seiner ge- schichtlichen Entfaltung ? Erst daran können sich dann die weiteren Fragen nach dem Wahrheitsgehalt, nach den Entwicklungsge- setzen und -zielen, nach dem Verhältnis dieses Kulturinhaltes zu den anderen Kulturinhalten schließen.

Andrerseits aber besagt doch auch die hier gemachte all- gemeine Voraussetzung des Idealismus nicht mehr als die Mög- lichkeit, in der Religion eine qualitativ eigentümliche und schöpfe- rische Kraft des seelischen Lebens zu sehen. Sie bedeutet in keiner Weise eine von vornherein festgelegte Deutung der Reli- gion und die Unterschiebung metaphysischer Philosopheme unter die religiösen Ideen. Es hat dem Rationalismus aller Zeiten nahe gelegen, die von ihm als vernunftnotwendig begründeten Begriffe vom Weltgrund in die religiösen Ideen als ihr Wahrheitsmoment hin- einzudeuten, weil der Religion ja bei diesen Voraussetzungen kein anderer Wahrheitsgehalt übrig bleiben konnte, wenn sie überhaupt einen haben sollte. Aber diese Behandlung scheitert teils an der Skepsis, der gerade solche Metaphysik heute begegnet, teils und noch mehr an der Befangenheit und Vergewaltigung, die sich für die Auffassung der Religion hieraus überall ergibt. Der auf das Tatsächliche, Konkrete und Erfahrungsmäßige gerichtete Sinn des neueren Denkens hat die Forschung daher wesentlich auf die Untersuchung der in der historisch-psychologischen Wirklich- keit vorliegenden religiösen Phänomene gelenkt. Die Religions- philosophie ist zur Religionswissenschaft geworden, aus einem Zweige der Metaphysik zu einer selbständigen Untersuchung der Tatsachenwelt des religiösen Bewußtseins, aus der höchsten Generalwissenschaft zu einer neuen Einzelwissenschaft. Sofern der Positivismus auch seinerseits dies gewollt hat, soweit er die metaphysische Religionsphilosophie als wissenschaftliche Verblas- sung der eigentlich triebkräftigen religiösen Ideen bezeichnet hat, ist seine Einwirkung nur eine förderliche gewesen. Es ist nur die aus seiner Voraussetzung erwachsende und alle Auffassung von Grund aus bedingende Deutung abzulehnen. Weder die halbmaterialistische Metaphysik des Positivismus noch eine irgend- wie gestaltete Metaphysik des Idealismus darf die Deutung und Kritik der religiösen Objekte von vornherein unternehmen und damit die Aufgabe der Religionswissenschaft von einer solchen prä- judizierenden Bearbeitung der religiösen Objekte aus festlegen. Nach

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. ^51

beiden Seiten hin handelt es sich daher um eine Verselbständi- gung der religionswissenschaftlichen Forschung, die den religiö- sen Phänomenen weder eine Deutung als Wahrheit noch eine solche als Unwahrheit von Hause aus aufdrängt, sondern nur um die von Hause aus festzuhaltende Möglichkeit und Wahr- scheinlichkeit, daß die Religion eine eigentümliche qualitative Anlage des menschlichen Geisteslebens sei. Ohne Voraussetzung einer solchen Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit wird allerdings die Untersuchung müßig. Und darin, daß die vom religiösen Be- wußtsein selbst ausgesagte Selbständigkeit von einer idealistischen Theorie der geschilderten Art aus möglich ist, liegt die Bedeu- tung der idealistischen Voraussetzung. Ohne sie legt man sich von vornherein auf die Unmöglichkeit eines Wahrheits- und Er- kenntniswertes der Religion fest, mit ihr läßt man die Möglich- keit offen, einen solchen Wert feststellen zu können, ohne doch dem Sinne, in dem das geschehen kann, schon irgendwie zu präjudizieren.

So hat sich in der modernen Wissenschaft allmählich eine Religionswissenschaft als selbständige Einzelwissenschaft heraus- gebildet ähnlich der Logik, Ethik und Aesthetik. Sie ist etwas anderes als die Religionsphilosophie im älteren Sinne, die stets eine philosophische Bearbeitung, Kritik, Deutung oder auch Zer- störung des religiösen Objektes war, von wo aus dann die kon- krete, wirkliche Religion erst als Annex, als mehr oder minder zutreffende Realisierung des philosophischen Gehaltes oder als so oder so zu erklärende Illusion, in Betracht kam. Es handelt sich um Analyse des religiösen Bewußtseins als einer selbständigen und eigentümlichen Form und Richtung der menschlichen Bewußt- seinsschöpfungen und um die Herausarbeitung derjenigen Hin- weise auf Wahrheits- und Erkenntnisgehalt, die dem Phänomen selbst in erster Linie zu entnehmen sind.

Der kritische Idealismus als Lehre von der Hervorbringung aller Lebensinhalte durch das Bewußtsein und als kritische Ab- grenzung qualitativ verschiedener Bewußtseinsschöpfungen neben- einander ist hierfür die allgemeine Voraussetzung wie für alle Wissenschaft und kann innerhalb der Religionswissenschaft so wenig erst entwickelt werden als innerhalb irgendeiner anderen Einzelwissenschaft. Es genügt, daß der von den allgemeinsten und abstraktesten Erwägungen her entstehende Idealismus mit seiner Freilassung der Geltungsmöglichkeit der religiösen Ideen und das innere Selbsto;efühl der Religion um einen ihr innewoh-

Aiß2 Wesen der Religion inid der Religionswissenschaft.

nenden Wahrheitsgehalt in der Ermöglichung eines solchen Wahr- heitsgehaltes zusammentreffen und sich insofern gegenseitig be- stätigen. Alles Uebrige muß offen bleiben.

Setzt so nach der einen Seite die Religionswissenschaft die Philosophie voraus, so mündet sie auf der anderen Seite auch wieder in sie ein, genau wie alle anderen Einzelwissenschaften auch. Wie die Naturwissenschaft letztlich in Naturphilosophie, die Geschichtswissenschaft in Gesffhichtsphilosophie, die Ethik, Logik und Aesthetik in die allgemeine philosophische Betrach- tung einmünden, so auch die Religionswissenschaft. Die von ihr als Wahrheitsgehalt der Religion erwiesene Erkenntnis, wie im- mer sie beschaffen sein mag, tritt in Zusammenhang mit allen übrigen Erkenntnissen, erleidet von ihnen Bestimmungen, die erst bei solcher Zusammenfassung sich ergeben, und wirkt auf sie mit einem besonderen Zusammenfassungsmotiv zurück, das erst von ihm auf das Ganze der Erkenntnis ausgeht ; ihr Wahr- heitsgehalt behauptet und gestaltet sich in seinem allgemeinsten Sinne erst bei einer solchen letzten abschließenden Zusammen- arbeitung. Hier wird dann die Religionswissenschaft zur Religions- philosophie oder, wenn man den Ausdruck nicht im Sinne einer konfessionellen Autoritäts-Dogmatik versteht, zur Theologie.

Zwischen beiden Polen aber liegt ein selbständiges Arbeits- gebiet, eben die Religionswissenschaft in ihrer konkreten Eigen- tümlichkeit. Ihre große Frage ist die nach dem Wesen der reli- giösen Phänomene, nach dem Wahrheits- und Erkenntnisgehalt dieser Phänomene, nach dem Wert und der Bedeutung der gro- ßen historischen Religionsbildungen. Wenn sie dabei in ihrem Resultate glaubt, über alle diese geschichtlichen Bildungen hin- ausschreiten zu müssen, so ist ihr praktisches Ergebnis ein Bei- trag zur Entwurzelung der herrschenden Religionen und zur P"r- zeugung der religiösen Unruhe, in welcher neue religiöse Bil- dungen entstehen, allenfalls die P>rzeugung eines Surrogates für wirkliche Religion. Glaubt sie dagegen bei einer der großen historischen Bildungen als einem geltenden Höhepunkt stehen bleiben zu müssen, dann ist sie die wissenschaftliche Unterlage für die Theologie dieser Religion, die dann ihre eigene Geschichte als Offenbarung der höchsten religiösen Werte zu betrachten und ihre religiöse Gedankenwelt für die praktische Verkündigung durchzuarbeiten als ihre freie und lebendige Aufgabe ansehen muß. Soweit solche Theologie Wissenschaft ist, hat sie dann

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 4.6'?

ihre Unterlage an einer solchen Religionswissenschaft und Reli- gionsphilosophic.

I.Naive und wissenschaftlich bearbeitete Religion. Die Religionswissenschaft bringt also nicht Religion hervor und erzeugt nicht die wahre Religion, sondern analysiert und wertet die gegebene Religiosität. Um in diesem Sinne die Religion wissenschaftlich bearbeiten zu können, ist es vor allem nötig, eine von jeder wissenschaftlichen Deutung und Bearbeitung noch unabhängige Anschauung von der Religion zu gewinnen, wo möglichst ohne jede Einwirkung unserer wissenschaftlichen Einreihungen, Vergleichungen, Erklärungen und Zurückführungen der Gegenstand selbst zur Sprache kommt. Aber nun steht dem freilich die Schwierigkeit entgegen, daß die Religion in ihrem wirklichen Leben mit wissenschaftlichen Vorstellungen, Interessen und Beziehungen reichlich durchwachsen ist und daher gar nicht so ohne weiteres, auch beim besten Willen eigene Deutungen und wissenschaftliche Theorien zurückzuhalten, in ihrem von wissenschaftlichen Beimischungen irgendwelcher Art freien Wesen zu erfassen ist. Die primitive Religion ist vom primitiven wis- senschaftlichen Denken großenteils genau so durchwachsen wie jede Kulturreligion von dem Denken höherer Kulturstufen, von Philosophie und populärer Welterklärung. Zwar ist die Religion auch noch mit einer Fülle andersartiger Interessen, mit ethischen, künstlerischen, rechtlichen, politischen und sozialen, durchzogen ; aber hier ist überall die Scheidung leichter oder jedenfalls uns geläufiger als bei der Verschmelzung der religiösen Funktionen der Gottesidee mit ihren rationalen der Welterklärung und mit ihren ästhetischen der gegenständlichen Ausmalung der Gottesidee. Ist es das Wesen der Wissenschaft, in irgendwelchen Formen zu vergleichen, zu beziehen und zu verknüpfen und da- durch auf allgemeine, das Einzelne beherrschende und beleuch- tende Begriffe zu kommen, so muß es das Wesen der von wis- senschaftlicher Einwirkung freien Religion sein, daß sie naiv ohne Vergleiche und Beziehungen, ohne künstlich gesuchte Zusammen- hänge und allgemeine Vorstellungen dem unmittelbaren Drang der religiösen Inbrunst folgt. Wir haben die Religion in ihren naiven unmittelbaren Aeußerungen zu suchen, wo sie in Verbindungen mit dem übrigen Leben und Denken nicht weiter eingeht, als zur Beherrschung und Beeinflussung des Lebens notwendig ist, wo ihr aber Einheit und Zusammenhang der Wirklichkeit, Selbst-

AßA Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

behauptung durch Vergleich und Apologetik gegenüber andern religiösen Ideen, Befestigung durch Anschluß an allgemeine, ob- jektive Weltbetraditungen völlig ferne liegt oder doch ohne wesent- liches Interesse ist. Naive Religion wird man überall treffen, wo der Sinn für Wissenschaft und allgemeine Zusammenhänge wenig entwickelt ist, wo die alles ausdeutende Phantasie des Mythos sie nicht überflutet hat und wo andererseits doch ein starkes religiöses Empfinden vorhanden ist. Die gewaltige Schöpfung der überall in gewissen Grundzügen analogen religiösen Ideen- welt durch die uns unbekannte Urmenschheit muß aus einem naiven starken Drang hervorgegangen sein, und so wird man vielfach, wo man diese Schöpfung etwa in ihren Ausklängen noch beobachten kann, naive Religion vermuten dürfen. Wirklich pri- mitive Völker und die von Philologen und Archäologen aufge- deckten ältesten erreichbaren Perioden werden daher Zeugnis ablegen von naiver Religion, wobei man nur sich hüten muß, das personifizierende Denken und den Mythos selbst schon über- all für Religion zu nehmen und jedes Vorkommen religiöser Ge- bräuche als wirkliche Religion zu interpretieren. Natürlich sind hier überall die göttlichen oder dämonischen Mächte in der Weise der allgemeinen Weltanschauung gedacht, aber darum sind nicht umgekehrt alle Vorstellungen unsichtbarer und das Geschehen bestimmender Mächte religiös. Religiöse Bedeutung haben sie nur in dem Kult und durch den Kult, und ein Kult findet nur da statt, wo diese Mächte von sich aus eine Offenbarung und Kundgebung von sich gegeben haben, die die Verbindung mit ihnen im Kult eröffnet. An bestimmten Ereignissen und Ein- drücken entsteht erst der religiöse Gedanke, daß die in ihnen kundgegebene Macht religiöse Bedeutung hat und religiösen Ver- kehr, sei es vorübergehend sei es dauernd, will. Nur soweit dieser Offenbarungsglaube und diese kultische Beziehung starke, einfache und unmittelbare Geltung hat, kann von naiver Religion die Rede sein, und wir nähern uns ihr in dem Maße, als wir den Kult und die ihm vorangehenden und ihn begleitenden Gefühle erraten zu können hoffen dürfen. In Kulten, Gebeten und Li- turgieen, sofern sie nicht auch hier zur bloßen Konvention ge- worden sind und als Konvention betrieben werden, steckt der Sinn der primitiven Religionen, der all die großen Kultstätten und Götterideen neben den zahllosen kleineren und wechselnden geschaffen hat. So ist die bloß ethnographische und anthropo-

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 46?

logische Religionsforschimg zwar nur mit Vorsicht als Zeugnis für naive Religion zvi verwenden, kann aber allerdings den Klick für sie in unvergleichlicher Weise schärfen, weil hier das wissen- schaftliche hiteresse und die wissenschaftliche Kunst noch zu wenig ausgebildet sind, um die natürliche Selbstgewißheit und den natürlichen Instinkt der Relgion zu beirren. Wohl ist auch das mythische Denken eine Art Wissenschaft und überdies geneigt zum Uebergang in künstlerische Phantasie, und es hat in beiden Richtungen die Religion oft genug überwuchert. Aber sein Zu- sammenhang ist zu wenig geschlossen, und so ist hier die Durch- brechung durch völlig naive Glaubensbildung leichter.

Des weiteren ist die naive Religion in all den großen, spezifisch religiösen Persönlichkeiten zu finden, die meistens den wissenschaft- lich nicht belasteten Volksschichten entstammen und deren ganzes Leben und Wirken nichts als die völlige Hingabe an die sie durch- aus beherrschende, zweifellose und beweislose religiöse Idee ist. Hier kommen die Stifter und Reformatoren, die Propheten und Seher, die Prediger und Missionare in Betracht, die wohl in ihrer religiösen Selbstvertiefung und in der Dialektik der religiösen Idee mehr oder minder reflektiert sein mögen, die aber in der Religion selbst nur auf den religiösen Gedanken sehen und in ihrer Selbstgewißheit keinerlei oder nur wenig Rückgang auf all- gemeine Wahrheiten und Erkenntnisse bedürfen. Auch hier ist der Gottesgedanke selbst natürlich mannigfach verwandt oder identisch mit überkommenen Vorstellungen und steht im allge- meinen Rahmen der jeweiligen Weltanschauung, aber das Wesent- liche ist doch auch hier jedesmal die Eröffnung des Verkehrs von Seiten der Gottheit, Erleuchtung, Offenbarung, Erfaßtwerden durch ein reales göttliches Sein und infolge davon Prophetie, Gebet, Ver- kehr und Einheit mit dem göttlichen Wesen, Vorgänge, die von eigentümlichen, spezifisch religiösen Gefühlen und Stimmungen begleitet sind.

Ein recht wichtiges Studienmaterial bieten die einseitig oder ausschließHch religiösen Persönlichkeiten, Sekten und Gruppen, in denen wissenschaftliche P^inwirkungen nur lose aufliegen oder völlig abwesend sind, die aber auch nicht etwa durch den Kampf gegen die Wissenschaft ihre religiöse Unschuld verloren haben. Es sind die von der früheren Religionsforschung so völlig ver- achteten und heute schon wieder beinahe überschätzten Enthusias- men und Exzentrizitäten. Man muß bei ihnen sehr unterscheiden

Tr o e 1 1 s c h , Gesammelte Schriften. II. og

^66 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

zwischen einem raffinierten oder auch gewaltsam suggerierten und einem echten Enthusiasmus. Ueberhaupt darf man sich auf dieses gefährhche Material nicht allzutief einlassen, wenn man nicht eine Karikatur zeichnen will. Denn auch bei den reflektiertesten Denkern strömen die Quellen religiöser Empfindung, und, wenn man nur erst einmal bei ihnen zwischen den religiösen Motiven ihres Denkens und den übrigen unterscheiden gelernt hat, dann ist ge- rade bei ihnen über die Eigentümlichkeit des religiösen Vorganges viel zu lernen. Man kann dann die ganze Geschichte der Philo- sophie unter dem Gesichtspunkt sehen, wie in ihr Einwirkungen der großen historischen Religionen oder persönliche religiöse Intuitionen mitspielen, und kann von hier aus gerade den Unter- schied des Religiösen vom rein Intellektuellen feststellen. Hier sind gerade Denker wie Piaton, Plotin, Augustin und Spinoza von der höchsten Bedeutung, indem gerade bei deren Bemühungen um die Erkenntniseinheit die schwer intellektualistisch zu bewäl- tigende Natur des Religiösen zum lehrreichsten Ausdruck kommt.

Schließlich kommen aus der inneren Erfahrung und Selbstbe- obachtung des Darstellers alle die Momente in Betracht, wo er sich bewußt ist, ohne Seitenblicke und Nebeninteressen, vor allem ohne philosophische Spekulation, rein den religiösen Impuls zu empfinden und sich in ihn zu vertiefen. Es gilt etwa, wie in Eorschungen über die Kunst, das Phänomen möglich in seiner instinktsicher- sten Offenbarung zu fassen, eine »reine P^rfahrung« von ihm zu gewinnen, wie die reine Erfahrung im Unterschied von der schon wissenschaftlich gedeuteten überall als Ausgangspunkt für jede neue Orientierung und Gewinnung wissenschaftlicher Deutung gesucht werden muß. Gewiß verdirbt man durch Selbstbeobach- tung leicht die Unmittelbarkeit des Vorgangs. Allein jeder reli- giöse Mensch kennt ja die außerordentliche Verschiedenheit der Intensität in den verschiedenen religiösen Momenten seines Lebens, und es handelt sich hierbei nicht sowohl um die unmittelbare Selbstbeobachtung, sondern um die Erinnerung an diese Abstu- fung und an die Momente höchster Intensität und Unmittelbarkeit. Jedermann weiß, daß diese Momente im Gebet und in der Medi- tation liegen. Ihnen muß eine religionsphilosophische Theorie vor allem Rechnung tragen, die nicht eine verstandesmäßige Me- taphysik, sondern eine Theorie der wirklichen Religion sein will.

In all diesen Erscheinungen liegt das nächste und eigent- lichste Forschungsmaterial. Hält man sich an sie, so hat man

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Aussicht, das Charakteristische und WesentUche dieses Kultur- gebietes zu erfassen. FreiUch kann hierbei fast nie von völH^r reiner Naivität die Rede sein, aber doch von so überwiegender, daß die Untersuchung wenigstens auf die wesentUchen Haupter- scheinungen gelenkt wird. Nur darf dabei diese Unterscheidung der naiven und der wissenschaftlich reflektierten Religion nicht als ein Werturteil genommen werden. Die naive Religion, soweit man ihrer habhaft werden kann, führt auf die wesentlichen Grund- züge des Phänomens; aber sie ist darum nicht etwa die echtere, reinere, wahrere Religion, der gegenüber die wissenschaftlich reflektierte die unechtere, gefälschte, mit fremdem Beisatz ver- mengte wäre. Im Gegenteil, die naive Religion ist bei ihrer meist obwaltenden Fremdheit gegen allen Erwerb der Wissen- schaft an Klarheit und Harmonie meistens einseitig, kulturlos, exaltiert oder geisteseng, unharmonisch und verworren. Nur die wenigen ganz Großen, in denen naive Religiosität mit einer eben- so naiven großen, reinen und klaren Seelenanlage ohne alle Selbstsucht und Rechthaberei verbunden ist, machen davon eine Ausnahme. Ihnen ist die Wissenschaft und ihr Erwerb fremd, und rein wissenschaftliches Denken kann auch ihnen sich nicht schlechthin anschließen, aber sie haben des Siegel des Genius, von dem Schiller spricht : dich kann die Wissenschaft nichts lehren, sie lerne von dir. Ihnen ähnlich sind manche der kleineren Seelen, die rein und unreflektiert dem religiösen Zuge sich hin- geben, aber gerade durch diese Hingabe das übrige Leben, das sie nicht verstehen, sich selbst überlassen und in die Hand ihres Gottes stellen. Im großen und allgemeinen aber ist das mit der naiven Religion nicht der Fall. Sie fordert überall das Korrektiv wissenschaftlicher Bildung und Zucht, Ruhe und Harmonie, sach- licher Weltkenntnis und gerecht abwägender Toleranz, überall die Ausweitung des Blickes auf die übrige Welt und die Har- monisierung mit ihren Inhalten. Ja, das letztere ist die Forderung, die auch von den reinsten und größten religiösen Offenbarungen aus entsteht, wenn sie nicht schließlich doch bei den von ihnen erregten Massen in Unkultur und enges Sektenwesen ausmünden sollen. Das Christentum ist das, was es geworden ist, nur im Bunde mit der Antike geworden, während es bei Kopten und Aethiopen zur reinen Fratze wurde. Auch unter uns neigt das kulturlose Christentum leicht zu pfäffischem Klerikalismus oder kleinlicher Sentimentalität und Wichtigmacherei. Der Islam hat

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seine Ausbildung unter dem Einfluß persischer und griechischer Bil- dung gewonnen und ist unter dem Einfluß der Türken zur zerstören- den Unkultur geworden. Die Unterscheidung der naiven und wissen- schaftlich reflektierten Religion hat daher nur ihre Bedeutung für die Grundlegung einer wissenschaftlichen Untersuchung selbst, die das Wesentliche und Eigentümliche des religiösen Lebens sich klar machen will, um nicht oberflächlich verwischend oder verständnislos zerstörend auf die Religion zu wirken.

Die Religionswissenschaft hat daher wie alle Wissenschaft ihren praktischen Zweck, den Zweck der Ordnung und Klärung des naiv und wild Gewachsenen, der Harmonisierung und Aus- gleichung der einseitigen Lebenstendenzen mit dem übrigen In- halt des Lebens. Sie steigt an Bedeutung mit dem Reich- tum und der Verwickeltheit des allgemeinen Lebens. Sie macht und erfindet dann nicht die wahre ReHgion, aber sie bildet die gegebene fort, sofern sie überhaupt bildungsfähig ist. Der Zweck wissenschaftlicher Arbeit an der Religion ist daher durchaus und notwendig der, auf die Religion selbst zu würken, die, wie jedes andere Kulturgebiet, der Harmonisierung und Ausgleichung mit dem übrigen Leben bedarf, nur so Kern und Schale unterscheiden lernen und ihren Kern in immer neue fruchtbare Verbindung mit den übrigen Kräften des Lebens bringen kann. Die Wissenschaft ist die spätgeborene unter den Kräften der menschlichen Kultur, ihr gehen alle großen Bildungen als Schöpfungen naiver, starker Kräfte voraus. Aber die Wissenschaft erwächst, weil sie not- wendig ist, weil die naive Isolierung nirgends zu behaupten ist und in der Verbindung und Ausgleichung der menschlichen Kul- turinhalte die Aufgabe einer bewußt arbeitenden geistigen Kultur besteht.

Aus den naiven Kräften und ihren Schöpfungen stammt die Frische und Energie aller Lebensinhalte, und nur in der Be- rührung mit ihnen oder der Erneuerung der naiven Kräfte wird die lebendige Fortdauer dieser Kräfte gewonnen; aber aus der Wissenschaft stammt Ordnung, Klarheit, Ruhe, Zusammenhang und gegenseitige Befruchtung. Die wissenschaftliche Regulierung der Kräfte in ihrem Verhältnis zueinander ist so wichtig wie die naive Hervorbringung dieser Kräfte selbst. Daher muß die Wis- senschaft zunächst lernen, sich selbst von den naiven Kräften und ihren Hervorbringungen zu unterscheiden, muß aber dann mit voller Energie und Klarheit auf die vorhandenen Gebilde wirken.

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Daß diese Einwirkung sie nicht unverändert läßt, ist selbstver- ständlich. Die Wissenschaft ist auch in der Religion nicht die Kunst, den Pelz zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Die durch die Einwirkung der Wissenschaft hindurchgegangene Reli- gion wird eine andere werden und muß eine andere werden. Darin sind auch all die schweren unausbleiblichen Kämpfe zwischen Religion und Wissenschaft begründet, der Unterschied der naiven Religion und der Bildungsreligion und eines Mitteldinges zwischen beiden. Es kommt nur darauf an, diese Kämpfe so zu schlichten, daß weder das Eigentümliche und die natürliche Kraft der Reli- gion gebrochen, noch der Segen wissenschaftlicher Ausgleichung, Harmonie, Toleranz und Verständigung verscherzt werde.

IL Die verschiedenen Versuche zu wissen- schaftlicher Bearbeitung der Religion. In diesem Sachverhalt hat es seinen Grund, daß die Versuche zu wissen- schaftlicher Bearbeitung und Beeinflussung der Religion so alt sind wie die Kulturwelt überhaupt. Dabei handelt es sich nicht um die naturwüchsige und unbewußte Verschmelzung der reli- giösen Ideen mit den allgemeinen Bildern von den Dingen, wo- bei bald religiöse Ideen das Denken, bald die Weltanschauung die religiösen Ideen unentwirrbar durchdringen. Das ist selbst- verständlich, sobald der Versuch gemacht wird, die religiöse, den Kult stiftende Ordnung auszudeuten und auszusprechen. Es handelt sich vielmehr um die bewußte Arbeit an der Unifizierung der verschiedenen einander stoßenden Kulte und Göttervorstel- lungen und um die bewußte Ausgleichung und Verbindung der religiösen Idee mit dem sonstigen Weltwissen.

I. Hier stehen für unsere heutige Geschichtskenntnis an erster Stelle die großen Hervorbringungen priesterlicher Spekulation in Indien, Babylonien und Aegypten. Die verschiedenen nebeneinander stehenden oder auch durch politische Eroberung vereinigten Götter- bilder und Kulte werden vereinigt und auf eine Wurzel zurück- geführt. Es wird ein Pantheon geschaffen, in welchem die einzelnen Gottheiten durch Abstammung und Verwandtschaft miteinander verbunden und auf eine oberste Urgottheit zurückgeführt werden. Die Lehre von einer Theogonie, von ursprünglicher Teilung und Spaltung oder von familienhafter Abstammung, schafft Einheit und Zusammenhang, zugleich Vv^erden die Kultmythen systemati- siert, ausgeglichen, umgedeutet und mit dem Mythos überhaupt zu einer Art Theologie redigiert, die freilich Weisheit der Priester

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und Kenner ist und den einzelnen Begehern des Kultus nicht zugemutet wird. Von hier aus schreitet die Spekulation aber noch weiter, sie wird zum spekulativen, den populären Mythos völlig umdeutenden Monotheismus. Die Einzelgötter werden de- potenziert zur bloßen besonderen Manifestation des göttlichen Wesens überhaupt, zu verschiedenen Namen und Offenbarungs- formen der einen Gottheit. Der populäre Polytheismus ver- schwindet nicht, aber über ihm schwebt die priesterliche Deutung, und gelegentlich wird etwa auch ein praktischer Reformversuch in dieser Richtung gemacht, ein monotheistischer Kult eingeführt, der den Urgrund und die Einheit aller Gottheiten unter einem bestimmten Symbol verehrt, eine einzelne oberste Gottheit alle übrigen Götter verschlingen läßt. So ist der berühmte monothei- stische Reformversuch des Aegypters Echnaton zu verstehen. Da- mit verbindet sich dann auch die Einreihung des Weltbildes in die religiöse Idee, teils um auch hier Einheit und Zusammenhang herzu- stellen und damit die Religion in geschlossenem Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit dem Denken darzustellen, teils um Wider- sprüche und Einwürfe zu beseitigen, die von hier aus gegen die religiösen Ideen entstehen können. Von derTheogonie schreitet man daher fort zur Kosmogonie, zur Lehre von dem Hervorgang der Welt aus dem göttlichen Tun und zum Aufweis des göttlichen Waltens in allen Geschehnissen der Wirklichkeit. Es entsteht eine mythische Kosmologie, die Lehre von der oberen göttlichen und unteren menschlichen Welt, von der durchgängigen Entsprechung beider, von der Wiederholung aller Vorgänge der oberen Welt in der unteren, damit die Astrologie und systematisierte Mantik. Der unge- heure Einfluß, den namentlich die babylonische Wissenschaft in diesem Sinne über die alte Welt gewonnen hat, wird heute immer deutlicher, wenn auch das Alter dieser babylonischen Spekulation vielfach überschätzt worden ist. Auch die äFtesten Spekulationen der Griechen gehen diesen Weg, nur sind sie hier nicht in den Händen der Priester, sondern freier Denker und Schreibkundiger. 2. Eine andere Form wissenschaftlicher Ausgleichung verschie- dener Religionen, die durch ihre Verschiedenheiten und Gegensätze zur Vereinheitlichung reizen und nur in solcher Zurückführung auf etwas Allgemeines sich behaupten können, ist der Synkretis- mus. Er tritt überall ein, wo die naive Voraussetzung der Au- tochthonie und völligen Trennung von allen Fremden und Bar- baren gebrochen ist und eine Kultureinheit verschiedener Völker

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entsteht. In ihm werden die verschiedenen Götter verschiedener Völker nur als verschiedene Namen der an sich identischen Gott- heiten angesehen. Eine ausführliche und mühselige Identifikation der verschiedenen Volksgötter mit den entsprechenden fremden, eine Ausgleichung und Vermischung der Mythen tritt ein, und es erscheint alles als dieselbe Religion, die nur immer mit* ver- schiedenen Sprachen in verschiedenen Götternamen sich äußert. Der sogenannte Hellenismus und dann die Verschmelzung grie- chischer und römischer Gottheiten sind die großartigsten Beispiele hierfür. Vereinigt die priesterliche Spekulation Babyloniens und Aegyptens die Gottheiten ihres Herrschaftsbereiches, so vermengt die hellenistisch-römische Göttermischung die Gottheiten der ver- schiedenen Staats- und Kultursysteme. Ist aber einmal die Bahn der Reduktion in dieser Weise betreten, dann liegt auch der Gedanke der Reduktion dieser verschiedenen identifizierten Gott- heiten auf eine gemeinsame Grundlage und die Verbindung mit kosmologischen Spekulationen nahe. Das ist in der Zeit der großen Völker- und Kulturmischung im römischen Weltreiche im größten Stil geschehen. Nachdem die Stoa darin vorausgegangen war, wurde der Gnostizismus ein solcher Versuch, die verschiedenen Gottheiten und Kulte in der Erkenntnis einer grundlegenden Welteinheit und der aus ihr hervorgehenden theogonischen und kosmogonischen Emanationen zu vereinigen. Ohne jede historische Kritik die verschiedenen Mythen benutzend und glaubend und in phantastischer Spekulation stoische und platonische Philosophie verwendend, ist er ein Vorläufer jener Versuche, die in modernen Zeiten mit geklärterer historischer Auffassung und strengerem metaphysischem Denken Hegel und Schelling unternommen haben. 3. Für eine tiefer in das Wesen der Sache eindringende Be- trachtung liegt es am nächsten, sich an den religiösen Mythos zu halten und ihn weiter auszubauen als Theorie der Erklärung der Welt und des Weltgeschehens, ihn anzupassen an die wissenschaft- lichen Welterklärungen und aus ihnen kritisch zu reinigen und die so entstandene Spekulation für den Wahrheitsgehalt der gröberen populären Formen des Glaubens und der Kulttheologie zu erklären. In diesen Fällen wächst die Bedeutung des Mythos über die des Kultes empor, der dabei selbst in seiner populären und staatlich fixierten Gestalt unberührt bleibt. Es ist die Ent- zweiung von Mythos und Kultus, der Beginn der Scheidung einer intellektualisierten Religion von der Volksreligion. In diesem Sinne

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entsprini^t alle Philosophie und Spekulation aus dem Mythos und geht mit ihm so lange zusammen, als nicht die Philosophie eine ganz andere Wertung und Erklärung der Dinge unternimmt und als die Entstehung des religiösen Mythos selbst noch nicht zum Problem gemacht ist, sondern dieser selbstverständlich gilt als all- gemeine Ueberzeugung und Offenbarung. So ist insbesondere die griechische Philosophie aus spekulativen Deutungen des Mythos hervorgewachsen; sie hat daher diesen immer weiter hinter sich gelassen, in allen Hauptformen jedoch immer einen Berührungs- punkt mit ihm übrig behalten, abgesehen von den rein skepti- schen und rein materialistischen Systemen. Noch interessanter ist diese Loslösung bei den Indern, wo die alten Kultlieder der Ve- den durch Exegese und Meditation zu einem Weisheitsbuche des verwegensten Pantheismus wurden und damit die Abscheidung der brahmanischen Theorie von aller Volksreligion und aller Kult- gemeinschaft sich vollzog. So entsteht eine philosophische Religion ohne Kultus, eine Religion rein des Gedankens. Wo sie den Kultus anerkennt, gibt sie ihm mystische und symbolische Deutungen, die den eigentlichen Kultcharakter aufheben. Der Volksreligion gegenüber nimmt sie entweder eine rein gegensätzliche Stellung ein wie die Eleaten, oder sie deutet die Volksreligion allegorisch wie die Stoa und verbindet damit unter Umständen einen Syn- kretismus, der die synkretistischen Identifikationen schließlich über- dies auf metaphysische Begriffe als ihren eigentlichen Wahrheits- kern zurückführt. Die Religionsphilosophie wird zur philosophischen und wissenschaftlich begründeten Religion; freilich darf man dabei nicht verkennen, daß in dieser philosophischen Religion immer Einwirkungen der konkreten positiven Religion mit enthalten blei- ben und nur durch eine Selbsttäuschung ihr als selbstverständliche wissenschaftliche Wahrheiten erscheinen, die in die übrigen wissen- schaftlichen Wahrheiten verschmolzen oder aus ihnen angeblich ge- folgert werden können. Unter diesem Gesichtspunkt stellt die Ge- schichte der Philosophie zum großen Teil sich als eine Reihe von Umbildungen religiöser Motive dar, die in Wahrheit aus der posi- tiven Religion stammen. Aber indem diese Motive in die Sphäre des Begriftlich-Allgemeingültigen und Rationalen erhoben werden, werden sie allerdings in ihrem Wesen verändert und von ihrer geschichtlichen und positiven Grundlage losgerissen, um am Wesen alles Vernünftigen, an der Autonomie und Allgemeingültigkeit der Erkenntnis, teilzunehmen.

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4. In allen diesen Fällen ist der Gegenstand der religionswissen- schaftlichen Bemühungen das fertige Produkt des religiösen Lebens in Mythos und Kultus ; es wird in allgemeine Systeme verbaut und wohl zum Zweck der Einpassung verändert, aber der lebendige innere religiöse Vorgang selbst wird nicht zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht. Dies geschieht in den ganz andersartigen Systemen, die von der Belauschung und Beschreibung, von der Analyse und Technik der religiösen Stimmung und Stimmungser- zeugung ausgehen. Hier steht in erster Linie die indische Mystik, die von gewissen Zweigen des Brahmanentums gepflegt und aus den heiligen Schriften der polytheistischen Volksreligion kunst- voll herausinterpretiert wird. Für sie ist auch nicht die panthei- stische Theorie entscheidend, sondern die praktische Erleuchtung und Bewährung der Theorie an der persönlichen Erfahrung. Hier verschwindet schließlich alle Konkretheit nicht bloß des Kultus, sondern auch die des Mythos und der ihn umbildenden Theorie. Es wird nur der Vorgang der Entstehung und Wirkung der religiösen Stimmung mit ihrer Hingabe an das Göttliche herausgehoben und in der ganzen Tiefe seines Gehaltes be- schrieben. Es ist die erste psychologische Analyse der Reli- gion, für die bei der Verflüchtigung aller konkreten Aeußer- lichkeiten die Religion selbstverständlich etwas zeitlos überall Gleiches wird und jede historische Beziehung auf äußere ge- schichtliche Veranlassung verschwindet. Aber solche Psychologie bedarf dann doch wieder des festen Haltes in einem allgemeinen Weltbild, und so wird aus der mystischen Psychologie der Religion neben der Technik zur Hervorbringung dieser Zustände auch eine Metaphysik entwickelt, welche die bekannten Züge des schroffsten und verwegensten Pantheismus trägt. Das Göttliche ist das allein Wirkliche, und in der religiösen Hingabe wird der Schein der endlichen und einzelnen Sinnenwelt vernichtet. Eine ähnliche Entwicklung geht von der griechischen Mystik aus, wo dann die mystische Erhebung durch Piaton mit der philosophischen Lehre von der Erhebung zu den Ideen als den wahren Grundlagen der Wirklichkeit und durch die Neuplatoniker mit der Metaphysik der verschiedenen Wirklichkeitsstufen und der Rückkehr des denkenden Geistes zum allein wahrhaft wirklichen Weltgrund in Verbindung gebracht wird. Durch die letzteren insbesondere ist die Lehre als psychologische Analyse, als praktische Technik der religiösen Stimulierung und als Zurückführung auf metaphysische,

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allgemeinste Weltgrundlagen zu einer viele Jahrhunderte hindurch wirkenden Macht gebracht worden, an welche auch die Christen, Mohammedaner und Juden sich mit ihrer Analyse und Technik der subjektiven Religiosität angelehnt haben.

5. Von den mit dem religiösen Bewußtsein verwobenen ethischen Elementen geht gleichfalls bereits im griechischen Denken eine einflußreiche Theorie aus, die stoische. Sie zeigt als Wesenskern der religiösen Ideen den Gedanken eines allgemeinen Gesetzes, dem jede Vernunft zu gehorchen habe, wenn sie in ihrer Würde gegenüber Zufall und Sinnlichkeit, Leid und Elend sich behaupten will, und die alle Vernunftwesen untereinander verbindet zu einer von allen Zufälligkeiten der Rasse und des Blutes unabhängigen Vernunftgemeinschaft. Diesem ethischen Gesetz wird dann durch Kontamination mit dem pantheistisch verstandenen allgemeinen Weltgesetz oder dem Gesetz der Natur überhaupt, das sich für den Menschen erst zum ethischen Gesetz spezifiziert, die meta- physische Unterlage gegeben. Die stoische Religionstheorie wird zur Theorie von dem sittlichen Naturgesetz, dem Sittengesetz als Ausfluß des göttlichen Weltgesetzes und der Allnatur, womit wieder in der römischen und späteren Stoa starke Rückwirkungen auf den Gottesbegrifl" in einem ethisch-theistischen Sinne ver- bunden sind. Von Poseidonius geht diese theistisch-moralistische Deutung der Stoa aus und durch Cicero ist sie eine Macht der Jahrhunderte geworden. Die konkreten Religionen, Kulte und Gottheiten w'aren dann nur symbolische Bezeichnungen der Einzel- manifestationen des Weltgesetzes und konnten völlig sykretistisch als verschiedene Namengebungen für jene Manifestationen ge- deutet w^erden. Unter Abstreifung- der synkretistischen Wen- dung ist diese Theorie von der christlichen Theologie angeeignet worden als wissenschaftliche Lehre über die von ihr vorausge- setzte »natürliche« Religion und Ethik, somit als Fundament ihrer eigenen Religionstheorie. Damit hat diese Theorie einen außer- ordentlichen Einfluß erlangt und oft genug auch die theologische Religionstheorie wieder in sich zurückgeschlungen.

6. Eine psychologische Analyse, die gleichfalls die seelischen Motive und Voraussetzungen der religiösen Ideenbildung aufsucht aber von ganz anderen Voraussetzungen, von fertigen, die Reli- gion als Wahrheit ausschließenden metaphysischen Voraussetzungen ausgeht, ist die illusionistische Religionstheorie. Sie geht aus der reifen griechischen Kultur hervor und hat ihre Voraussetzung

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in einer rein mechanistischen Metaphysik, die für die Götter keinen Platz mehr hat, und einem rein immanenten Hedonismus, der für transzendente Werte keinen Sinn mehr hat. Hier kommen für die Analyse nicht sowohl die mystischen Zustände und Ge- fühle als die Götterideen, die religiöse Welterklärung, die kultische Praxis und die Motive von Furcht und Hoffnung in Betracht. Die Religion erscheint als Erzeugnis der unwissenschaftlichen Phantasie, als Produkt von Furcht und Hoffnung, als politisch zweckmäßige Institution und Gründung. Das praktische Ergebnis solcher Religionstheorien soll die Befreiung des Affektlebens von Beunruhigungen durch Uebersinnlichkeiten und Inkommensurabili- täten sein. Aus der Schule Epikurs ging diese Lehre besonders eindrucksvoll hervor ; ihre Mythenerklärung durch Euhemerus hat dem ganzen System den besonderen Namen des Euhemerismus gegeben. Die Lehre ist wiedererweckt worden in der Renaissance und hat in den Kreisen des modernen Materialismus und Positi- vismus aus ähnlichen Gründen eine überaus reiche Fortentwick- lung gefunden.

7. Die letzte der großen Theorien ist die des exklusiven Supra- naturalismus oder der Offenbarungslehre. Sie ist grundlegend vom Judentum ausgebildet, vom Christentum und vom Islam fortentwickelt worden ; wieweit Aehnliches bei Parsismus und Buddhismus der Fall war und ist, kann bei unserer heutigen Kenntnis dieser Religionsgebiete schwer gesagt werden. Jeden- falls hat sie von der jüdischen Wurzel aus eine durchaus eigen- tümliche Entwicklung erlebt. Die Religion Israels ist der einzige populäre, nicht aus Spekulation entsprungene Monotheismus. Er ist ethischer Monotheismus, der seinen letzten Grund in der Ein- heit und Selbständigkeit des ethischen göttlichen Willens hat, daher nicht eine spekulative Hülle über einem verbleibenden Polytheismus, sondern eine aggressive, radikal antipolytheistische religiöse Volksmacht. So eignet ihm die Allgemeingültigkeit und Einheitlichkeit seiner Wahrheit und der Gedanke einer Gottes- offenbarung, neben der alle andern angeblichen Gottesoffen- barungen zu Trug und Schein werden. Die heiligen Schriften, in denen dieser Wille niedergelegt ist, werden zur ausschließlich alleinwahren und -heiligen Erkenntnisquelle und die Geschichte des erwählten Volkes Israel zu einer völlig einzigartigen Offen- barungs- und Wundergeschichte, der gegenüber alle außerjüdischen Wunder Fabel oder dämonische Täuschung sind. Die mit dem

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jüdischen Gottesbegriff eng zusammenhängende VergöttHchung des GeschichtUchen gibt dem ja auch sonst nicht seltenen Ge- danken heiHger inspirierter Schriften eine FoHe und eine Sonder- stellung, vermöge deren sie und die in ihnen bezeugte heilige Geschichte ein allumfassendes und alles beleuchtendes System der Offenbarung und Geschichtsphilosophie bilden: der Wille Gottes mit der Welt ist die Erfüllung seines heiligen Sittenge- botes ; der größte Teil der Menschheit ist abgefallen ; nur dem Volke Israel ist die Erwählung zum Träger der Wahrheit und zum Führer der Umkehr und Rückkehr des Menschen gegeben. Diese Theorie ist dann insbesondere von der werdenden wissen- schaftlichen Theologie der Christen fortgebildet und mit dem Erbe der antiken Kosmologie und Religionsphilosophie verbunden worden. Die Offenbarung ist mehr als bloße Offenbarung, sie ist die seit Anbeginn der Welt wirkende Vorbereitung und die in Christus erfolgte Vollendung der Erlösung, und diese Erlösung besteht in der vollen Erkenntnis Gottes, vollen Einigung mit Gott und vollen Gewißheit ewiger Seligkeit, verbunden mit Tilgung und Vergebung der Sünden. Dieser die jüdische Offenbarungs- idee in sich aufnehmende Erlösungsprozeß wird dann schließlich ein- gesetzt in den allgemeinen Rahmen der spätantiken Metaphysik, in die Lehre von der Emanation und Remanation des Geistes aus der Gottheit zurück in die Gottheit. Im Ausgang aus der Gottheit ist der Geist in Sünde gefallen und dann seinen natürlichen Kräften und dem unverlierbaren Reste der Vernunft überlassen worden. Bei der Zurückführ ung zur Gottheit ist die leitende Kraft die zuerst in den engeren Kreisen der Patriarchen und dann Israels erfolgende Offenbarung und vorbereitende Erlösung durch un- mittelbare wunderbare Eingriffe und Mitteilungen der göttlichen Vernunft, bis diese schließlich in ihrem vollen W'esen durch die Menschwerdung Christi sich vermenschlicht und durch die Stif- tung der Kirche und ihrer Sakramente den Anteil an dieser erlösenden Menschwerdung der Vernunft eröffnet und zur Gott- werdung des Menschen wird. Die allgemein idealistische Meta- physik der Emanation und Remanation, die geschichtsphiloso- phische Lehre von der Spaltung der Menschheit in eine erbsündige und eine erlöste Hälfte, die Anerkennung der profanen Offen- barung in der heidnischen Wissenschaft, die Fixierung der heiligen Volloffenbarung im Gottmenschen, die Konstruktion der Kirche als Organ der Vernunftvollendung und Erlösung: das sind die

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Grundbegriffe dieser Theorie, die zu einer ungeheuren welthisto- rischen Rolle bestimmt war und in ihrer weiteren Entwicklung den zugrunde gelegten Begriff der göttlichen Vernunft mit immer reichlicheren philosophischen Mitteln hat stützen lernen. Der eigentlich entscheidende Beweis für die religiöse Kernwahrheit bleiben freilich die Wunder der Heilsgeschichte, an denen die direkte Offenbarung und Mitteilung Gottes erkannt werden konnte, während alles andere menschliche und darum bestenfalls nur in- direkt göttliche, meistens aber sündig verfinsterte Erkenntnis war. Es änderte daher an dem Aufriß des ganzen Systems nicht viel, wenn die protestantischen Reformatoren den Rahmen neuplatoni- scher Metaphysik zerbrachen und die erlösende Menschwerdung nicht mehr wesentlich als Menschwerdung der mit der Profanoffenba- rung prinzipiell identischen Gottesvernunft betrachteten. Die Theo- rien der Erbsünde und die Erklärung der nichtchristlichen relativen Wahrheiten in Religion und Ethik aus natürlicher Vernunft sowie die Wunderapologetik mit dem Beweis der absoluten Wahrheit aus der direkten, die Natur aufhebenden Gottesmitteilung blieben, und der alte Aufriß kehrte schließlich in vorsichtigerer Form auch bei den protestantischen Theologen und Apologeten bis zu den modernen sogenannten »Positiven« wieder. Es ist die gewalt- same Isolierung der eigenen Religion gegenüber allen fremden Religionen durch den exklusiven Supranaturalismus und die W^iederaufeinanderbeziehung beider durch die Theorie einer natürlichen und übernatürlichen Offenbarung. So sammelt auch diese Theorie schließlich alles unter einen einheitlichen Gesichts- punkt und hat sie zugleich die Bedeutung, unter den tatsäch- lichen Elementen des religiösen Bewußtseins den Offenba- rungs- und Autoritätsgedanken aufs höchste zu steigern. Die von hier ausgehende Religionsphilosophie ist die in irgendeiner Form streng konstruierte supranaturale Autoritätslehre, die bei den Katho- liken auf die Autorität und den Wundercharakter der Kirche, bei den alten Protestanten auf den der Bibel, bei den rechtgläubigen Protestanten der Gegenwart auf das alle übrige Wunder ver- bürgende Bekehrungswunder begründet ist. Es ist Theologie im engeren und technischen Sinne des Wortes, wie bei den Juden und bei den Muhamedanern.

III. Die modernen Hauptsysteme. Gegenüber allen diesen antiken und mittelalterlichen Voraussetzungen und Denkmit- teln hat die moderne Welt in der modernen Naturwissenschaft und

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in der modernen kritisch-entwicklungsgeschichtlichen Historie eine neue Basis des wissenschaftlichen Denkens geschaffen, die zwar mit der antiken Wissenschaft vielfach zusammenhängt, die aber doch eine völlig neue Grundlegung bedeutet. Von diesen Ver- änderungen der wichtigsten Fachwissenschaften aus ist auch das prinzipielle Denken oder die Philosophie auf neue Voraussetzungen gestellt worden und, wie die Philosophie im ganzen, so auch die Religionswissenschaft. Es gilt daher zu deren Verständnis die Hauptsysteme zu charakterisieren, die sich auf diesen neuen Grundlagen gebildet haben. Die Neubildungen treten seit dem 17. Jahrhundert hervor. Zunächst die Versuche der großen Meta- physiker, die Gottesidee wissenschaftlich neu zu begründen und zu gestalten, wobei diese Gottesidee als mit der christlichen Offen- barung bei richtigem Verständnis der letzteren mehr oder minder identisch erscheint: so bei Descartes, Spinoza, Malebranche, Leibniz. Sodann die Bestrebungen, von dem Gewirr der Kon- fessionen und statutarischen Offenbarungen durch psycholo- gische Analyse auf einen aller Religion gemeinsamen Wahrheits- kern zu gelangen, der sich zugleich mit der neuen, auf die Natur- wissenschaften eingerichteten Metaphysik verträgt; man fand ihn in dem sittlichen Bewußtsein und seinen metaphysischen Korre- laten, wobei das Christentum eine Art göttlicher Introduktion dieser natürlichen Wahrheit war : so der Deismus und sein philo- sophischer Mittelpunkt, Locke ; ihm nahe verwandt die schottischen Gefühlsphilosophen und Rousseau. Schließlich der Rückgang auf die mystischen Stimmungselemente der Religion, die sie als Er- fahrung und Empfindung der I^inheit Gottes und der Welt er- scheinen ließen und in denen sie die Entzweiung beider erlösend überwindet, zeitlos und geschichtslos, überall in allen wirklichen Religionen identisch und in einem mystischen Christentum den Sinn aller und jeder Religion erkennend: so der radikale Pietis- mus und Spiritualismus und die erneuerte neuplatonische Mystik. Daneben fehlt es auch nicht an prinzipieller Religionsskepsis, in- dem neben der selbstgenügsamen Natur kein Raum für das Ueber- sinnliche bleibt und die vergleichende historische Kritik alle Reli- gionen unsicher macht: so Humes Lehre und ihn überbietend der französische Radikalismus und dessen Fortsetzung im Posi- tivismus. Doch sind das nur erst die ersten Regungen eines neuen Verständnisses. Die großen Haupttypen der modernen Religionswissenschaft hat erst das neunzehnte Jahrhundert aus

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diesen Bewegungen hervorgebracht. Man wird im großen vier solche zählen dürfen.

I . An erster Stelle steht die Religionsphilosophie des k r i t i- schen Idealismus. Dieser Idealismus ist das Endergebnis der metaphysischen Theorien, die sich bemüht hatten, die neue mathematisch-mechanische Naturphilosophie mit einer idealistisch- teleologischen Weltanschaung zu kombinieren. In der Ueber- zeugung von der Fruchtlosigkeit dieser Versuche verzichtet er radikal auf jede Metaphysik, auf jeden Versuch, aus einer im Den- ken erfaßten Grundrealität die Wirklichkeit mit ihrem Doppel- charakter abzuleiten, und beschränkt sich auf die Analyse der subjektiven menschlichen Vernunft, in der die Wirklichkeit al- lein enthalten ist und aus deren Grundbedingungen sie für uns entsteht. Dabei ist aber die Analyse nicht eine wesentlich psy- chologische, welche den Bewußtseinsinhalt zergliedert und in sei- ner psychologischen Entstehungsweise untersucht, sondern eine erkenntnistheoretische, welche aus dem psychologisch-tatsächlichen Inhalt die autonomen Gültigkeitsgesetze unseres Erkennens her- ausholt. Durch diese Gültigkeitsgesetze kommt diejenige Reali- tätserkenntnis allein zustande, welche der menschlichen Vernunft möglich ist. Unter diesen Gültigkeitsgesetzen befindet sich nun neben den Gesetzen des naturwissenschaftlichen, des moralischen und des ästhetisch-teleologischen Denkens auch das Gesetz der religiösen Ideenbildung. Bei Kant und seinen nächsten Anhängern, unter denen Fries mit seiner Lehre von dem symbolisierend poe- tischen Ausdruck der religiösen Vernunftahnung besonders zu nennen ist, ist dieses Gesetz der religiösen Ideenbildung im engsten Zusammenhang mit der ethischen Begriffsbildung und stellt nur die Hervorbringung derjenigen religiösen Weltanschauung dar, wel- che im moralischen Bewußtsein logisch mitgesetzt ist. Der wesent- lich religiöse Gedanke, daß es in der Religion sich um eine Berührung mit dem Grund der Dinge handelt, ist dabei trotz aller Einschränkung auf die subjektive Vernunft und ihre Ge- setze dadurch gewahrt, daß eben in diesen Gesetzen nicht das zufällige Bewußtsein des Einzelnen, sondern die innere Notwen- digkeit des Bewußtseins überhaupt, also eine den Individuen über- geordnete allgemeingültige Vernunftnotwendigkeit, sich ausspreche. Im Verein mit dem Endergebnis der naturphilosophisch-theore- tischen Begriffsbildung, die für einen absoluten Weltgrund bei dem antinomischen Charakter dieser Begriffe die Möglichkeit sei-

A'ßQ Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

ner Realität übrig läßt, und mit dem der ästhetisch-teleologischen BegrilTsbildung, welche ein mibegreifiiches Ineinander von Natur- notwendigkeit und Zweckfreiheit bedeutet, wächst dieser Begriff der »Vernunft überhaupt« in die Region des Metaphysisch-Reli- giösen, ohne daß freilich umgekehrt eine Deduktion des wirk- lichen Bewußtseins und seiner Inhalte aus diesem metaphysischen Grundbegriff versucht werden dürfte. Ist Kants Religionstheorie dabei unverkennbar in Abhängigkeit von der deistisch-moralisti- schen Religionsanalyse, so unternimmt von denselben Voraus- setzungen aus Schleierrnacher eine erkenntnis-theoretische Ana- lyse der Religion, welche das Gültigkeitsgesetz und Apriori der Religion unabhängig von der Moral in einer spezifisch religiösen Ideenbildung sucht und in diesem Gesetz den Schlußstein und die Zusammenfassung der apriorischen Bewußtseinsgesetze über- haupt aufweist. Das Gültigkeitsgesetz liegt ihm in der aus dem Wesen und der inneren Notwendigkeit des Bewußtseins fließenden Empfindung der Einheit des Endlichen und Unendlichen, einer Empfindung, die an sich ohne jeden begrifflichen oder anschau- lichen Inhalt ist und einen solchen erst durch die poetische Symbo- lisierung der empfundenen Einheit mit den allgemeinen Mitteln der jeweiligen Weltanschauung gewinnt. Schleiermachers Lösung des Problems hängt deutlich mit der mystischen und radikal- pietistischen Religionsanalyse zusammen. Von diesem Apriori und Gültigkeitsgesetz muß dann freilich der W^eg zur psychologi- schen und historischen Wirklichkeit der Religion erst gesucht werden, eine Aufgabe die Kant nur in sehr allgemeinen und dürftigen Umrissen behandelt, die Schleiermacher sich sehr viel prinzipieller gestellt und sehr viel erfolgreicher, aber auch noch sehr schwankend, gelöst hat. Aus dieser zweiten Aufgabe ergibt sich mit Notwendigkeit die dritte, die historisch-psychologische Entwicklung der Religion kritisch zu würdigen, wobei der Maß- stab naturgemäß der ist, daß diejenige Religion die höchst- stehende ist, in der das Apriori der Religion am reinsten zum Ausdruck kommt. Kant und Schleiermacher haben beide diese Stellung dem Christentum zugeschrieben, wobei sie natürlich die christliche Idee kritisch bearbeiteten und aus ihr die dem moder- nen Bewußtsein homogenen Momente heraushoben. Dabei ist unverkennbar, daß bei allen Besonderheiten und aller Orientierung am Christentum die Kantische Religionstheorie der stoischen und die Schleiermachersche der mystischen ähnelt.

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. a^i

2. Die zweite große Gruppe schließt sich an Hegels Lehre an. Hier ist die nexiplatonische Religionstheorie auf moderner Basis erneuert, die Identität des religiösen Bewußtseins mit dem metaphysischen Erkenntnistrieb behauptet und daher die Reduktion des religiösen Bewußtseins auf den in ihn nur populär und an- schaulich verkleideten abstrakten Erkenntnisgehalt der metaphy- sischen Spekulation gefordert. Den Kern- und Ausgangspunkt bildet daher hier die wissenschaftliche Metaphysik, die als sich geschichtlich durchsetzender Wahrheitskern in der Entwicklung des religiösen Bewußtseins das treibende Element ist. Ihr Wesen ist, daß sie den von Kant nur als End- und Grenzbegriff der Bewußtseinsanalyse gewonnenen Begriff der »Vernunft überhaupt« wieder voll entschlossen metaphysisch verwendet : sie deduziert aus der Vernunft überhaupt die Wirklichkeit in Natur und Geistesge- schichte als logisch notwendige Explikation der Vernunft. Um das zu können, nimmt Hegel unter dem Einfluß des modernen histori- schen Denkens in den Begriff der »Vernunft überhaupt« ein neues Merkmal auf, das Merkmal der Bewegung durch den Gegensatz zur Versöhnung des Gegensatzes auf einer höheren Stufe. Der Begriff der »Vernunft überhaupt« wird auch bei ihm durch er- kenntnistheoretische und logische Untersuchung gewonnen, aber es ist eine neue Logik, die sich ihm dabei ergibt, die die Not- wendigkeit des Widerspruchs einschließende und ihn überwindende Logik. Damit ist ein Prinzip der Bewegung und Entwicklung in der Vernunft gewonnen, das sich dem menschlichen Denken als zeitlicher Fortschritt darstellt, das aber an sich nur eine zeit- lose Fülle und Bewegtheit der Vernunft in sich selbst ist. Ein solcher Begriff der Vernunft läßt sich metaphysisch hypostasieren, und aus ihm läßt sich Werden und Bewegung der Wirklichkeit als vernünftig-gesetslich und teleologisch-ideal zugleich konstruieren. So ist die Wirklichkeit in jedem Punkt immer nur die notwendige Vernunft oder die Idee in einem bestimmten Stadium der Ent- wicklung und ist insbesondere der ^, menschliche Geist nur das uns bekannte entwickeltste Stadium der Vernunft, wo sie durch Selbstbesinnung die ganze aut sie hinführende und sie hervor- bringende Entwicklung aus sich heraus analysieren und rekon- struieren kann. Indem die Religion als ein wesentlicher apriori- scher Bestandteil der menschlichen Vernunft erkannt wird, braucht sie doch nicht bei der bloßen Konstatierung ihrer apriorischen Natur stehen zu bleiben, sondern kann sie durch Selbstbesinnung die

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 3 1

A^2 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Notwendigkeit ihres Hervoigehens aus der ;> Vernunft überhaupt« und die Notwendigkeit der bisher durchlaufenen Entwickelunc;s- stadien als eine logische aus sich selbst heraus analysieren. In- dem die Religion der mystische Glaube an die Welteinheit ist, läßt sie sich gerade aus der sich selbst in ihrem Zentrum erfassenden Vernunft verstehen. Sie ist eben gerade das Bewußtwerden der endlichen Vernunft um ihren notwendigen Hervorgang aus der unendlichen komischen Vernunft und dadurch die Wiedergewin- nung der Einheit des gewordenen Endlichen mit dem es hervor- bringenden Unendlichen für das Bewußtsein, P>eilich ist die Religion dieses Bewußtsein um Wesensgehalt und Entwickelungs- ziel der W^eltvernunft nur in Gestalt der Vorstellung, indem sie den dunkel und ahnend erfaßten Vernunftsinn der Welt in an- schaulichen Bildern und Symbolen sich zum Bewußtsein bringt, und bedarf sie erst der Religionsphilosophie, um diesen ihren Gehalt sich in begriffliche Erkenntnis zu übersetzen. Dabei ist aber doch für die populäre Kraft der Religion dieser Vorstellungs- charakter festzuhalten, nur für den Denker übersetzt sich die Vor- stellungsreligion in die Begriffsreligion der Philosophie; die Volks- religion ist nur aus dem philosophischen Verständnis heraus zu regulieren und vor fanatischen oder abergläubischen Abwegen zu bewahren. Diese Hegeische Lehre hatte einen ungeheuren Er- folg, zunächst einen größeren als die Kantische und Schleier- machersche. Ihr Vorzug war unverkennbar, daß sie dem meta- physischen Bedürfnis der Religion nach Realitätsbeziehung näher kam und daß sie für die Entwickelungsgeschichte der Religion eine festere innere Notwendigkeit der Abfolge und Zielrichtung gewährte. Ihr lag das Ziel in der vollen Selbsterfassung der Vernunft, in der Einswerdung göttlicher und menschlicher Ver- nunft aus der von der Entwickelung bewirkten Trennung heraus. Sie hat darum in der Gottmenschheits-Lehre des Christentums das Ziel der Religions- und Vernunftentwickelung gesehen, wobei diese Gottmenschheits-Lehre natürlich als mystisch-religiöse Eini- gung durch die Erkenntnis der Weltvernunft gedacht ist und an die kirchliche Christologie sich nur als Herauslösung der in diesem Vorstellungsdogma enthaltenen Idee anschließt. Freilich haben sehr bald Hegels radikale Nachfolger aus dieser Lehre die Konse- quenzen eines radikalen Progressismus gezogen, das Christentum für eine abwelkende, an theistisch-antropomorphe Vorstellungen ge- bundene Religionsperiode erklärt und einen mehr oder minder

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 48 '^

ästhetischen Pantheismus als Zukunftsreligion in Aussicht ge- nommen, woraus heute bei der Verflüchtigung des ästhetischen Optimismus ein pessimistischer Monismus geworden ist.

3. Schroff steht diesen beiden Typen der dritte Haupttypus gegenüber, die positivistische Religionsphilosophie vorwiegend aus der Schule Co m t es. Sie ist die gegenwärtig mächtigste und einflußreichste und ist daher bereits im Eingang berührt worden, um die Voraussetzungen und grundsätzliche Stellung dieser gan- zen Skizze zu charakterisieren. Bei allen Unterschieden sind die beiden bisher geschilderten Typen doch auf der idealistischen Grundthese erbaut und von der prinzipiellen Denkrichtung ge- leitet, den Grund der Wirklichkeit im Uebersinnlichen zu suchen und zugleich ideale autonome Werte der Vernunft anzuerkennen. Daher nehmen sie auch beide eine bejahende Stellung zur Reli- gion ein. Der Positivismus dagegen ist auf der gegensätzlichen Ueberzeugung und Denkrichtung begründet, auf der Vorausset- zung, daß ein gesetzlicher oder doch regelmäßiger Zusammenhang der sinnlichen Wirklichkeit das einzige wirklich feste Denkelement, das eigentliche Wesen der Wissenschaft, sei und daß dem Ueber- sinnlichen nur verbleiben könne, was damit verträglich ist. Er tut damit deutlich seine Abkunft von den Voraussetzungen des französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts kund, und, wenn er auch, um dessen Schwächen zu vermeiden, jede Metaphysik perhorresziert, auch keine Metaphysik der Naturgesetze aner- kennt, so ist doch sein Prinzip die Einschränkung auf nach Re- geln verknüpfte Erfahrung und daher das Endergebnis dieser skeptischen Haltung gegen die Metaphysik kein sehr viel anderes, als das des Materialismus gewesen ist. So hängt er auch über diese Zwischenglieder des Materialismus des 18. Jahrhunderts hin- über mit der alten epikuräischen Religionstheorie zusammen und hat sein neues und bedeutsames Element nur in den psycholo- gischen Analysen des primitiven religiösen Denkens. Regel- mäßige, von der Erfahrung beobachtete Zusammenhänge treten ihm an Stelle der dogmatischen Naturgesetze, und der geistigen Wirklichkeit wird ihre Verschiedenheit von der Körperwelt zuer- erkannt. Aber das einzig Feste der wissenschaftlichen Erkennt- nis bleiben doch die beobachteten und systematisierten Regel- mäßigkeiten des Naturgeschehens und des Aufbaus der mensch- lichen Gesellschaft; die Selbständigkeit des Geistes besteht nur in der Möglichkeit, diese erkannten Regelmäßigkeiten der Le-

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^g^ Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

bens- und Kxistenzbehauptung dienstbar zu machen. Da bleibt für die Religion als Wahrheit kein Raum, sie muß zur Illusion werden ; und die große Rolle, welche die Religion gespielt hat, muß in etwas anderem ihren Grund haben als in dem, was sie selbst zu sein meinte, in einer ihr bloß nicht bewußten wichtigen Funktion. Diese Funktion ist die der vorwissenschaftlichen Welterklärung und der vorwissenschaftlichen Sozialethik. Von diesen Voraussetzun- gen aus fiel aller Nachdruck auf die Religionen der Primitiven und der Prähistorie. Sie galt es aus dem vorwissenschaftlichen Denken des Urmenschen zu erklären; die Analogien der darwinistischen Entwicklungslehre mit ihrer Theorie von den survivals und revivals, von der Anpassung und Transformation gaben hierzu eine Fülle methodischer Hilfsmittel. So trat der symbolischen Mythenerklärung und Religionsgeschichte der Hegel- schen Schule, welche sich überall nur für den Ideengehalt der religiösen Vorstellung interessiert hatte, eine anthropologisch-eth- nographische Mythenforschung zur Seite, die aus den allgemei- nen Denkformen der Primitiven und aus der Anpassung an die Umwelt das religiöse Denken der Urmenschheit und der Vor- stufen der Kulturwelt aufhellte. An Stelle des Hegeischen Fort- schrittes und des Entwicklungstriebes der Idee traten aus massen- haftem Material abstrahierte Naturgesetze des mythischen Denkens, und die soziale Dynamik war die Theorie von dem Absterben dieses mythischen Denkens in den Spiritualisierungen und Philo- soph emen der Kulturreligion, von dem schließlichen Uebergang in die religionslose Soziallehre der positiven Wissenschaft. Daß bei dieser realistischen Fassung der Religion gegenüber den Hegel- schen Theorien über dem Symbolcharakter der primitiven Reli- gion große P'ortschritte in der Erforschung der alten Religionen gemacht worden sind, darf nicht verkannt werden. Freilich für das Verständnis der höheren spiritualisierten und ethisierten Reli- gionen ist hierbei so gut wie nichts herausgekommen. Nur das von ihnen vorgefundene und verwendete mythische Material hat ein klareres Verständnis gefunden. Daß Comte selbst von hier aus dann doch wieder in der menschlichen Gesamtintelligenz ein überempirisches metaphj^sisches Wesen erkannte und darauf seine »religion de l'humanite« samt einem neuen Kultus begründete, sei nur erwähnt als Zeichen der Unmöglichkeit, dem Religiösen ganz zu entrinnen. Es hat an und für sich religiös und wissen- schaftlich keine Bedeutung gewonnen. Ebensowenig hat die Auf-

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 481^

Pfropfung eines agnostischen Pantheismus auf die Idee des posi- tivistisch und evolutionistisch verstandenen Universums bei Her- bert Spencer eine wesentliche Bedeutung erlangt. Eine solche könnte nur dem von allem Materialismus ganz befreiten Pragma- tismus von James zugeschrieben werden, der die religiösen Er- fahrungen als gleich positive Erfahrung wertet wie alle übrigen. Aber hier ist es dann ganz unmöghch, über das Chaos der reli- giösen Erfahrungen hinauszukommen.

4. Zum Schlüsse ist auch noch der kirchlich -dogmati- schen Offenbarungslehre zu gedenken, wie sie im Zu- sammenhang mit den modernen Umwälzungen der Wissenschaft sich gestaltet hat und vermöge ihres Einflusses auf theologische und kirchliche Kreise noch heute die verbreitetste Gestalt der Religions- wissenschaft ist. Im allgemeinen hat sich die kirchlich einfluß- reiche Theologie in neuerer Zeit überhaupt von der Religions- wissenschaft zurückgezogen und beschränkt sich unter fast völ- liger Ignorierung der nicht-christlichen Religionen auf die Dar- stellung der christlichen Idee als der Offenbarungswahrheit. Aber in dem Aufweis und der Art der Begründung dieser Offenbarungs- wahrheit zeigt sie den Einfluß der modernen Wissenschaft. Sie begründet ihren Offenbarungsbegriff nicht mehr mit dem Wunder- beweis, mit dem Inspirationscharakter der Bibel und der unmittel- baren Naturdurchbrechung in den Wundern der Heilsgeschichte, sondern durch die psychologische Analyse der christlich-religiösen Stimmung ; diese erscheint auf der Folie von der Erfahrung der Sünde und der natürlichen Unkraft als ein inneres göttliches Wun- der und bezeugt so erst auf dem Umweg über dieses innere Wunder auch die dieses Wunder bewirkenden Heilsvermittler, d. h. Kirche, Bibel und Heilsgeschichte, vor allem die die Bibel in sich zu- sammenfassende Gestalt Christi, als Wunder. Auch ist die in diesem inneren Wunder wirksam werdende und sich als göttlich bezeugende Offenbarungswahrheit nicht mehr eine Summe autori- tärer Dogmen, sondern ein einheitlicher, um die Sündenvergebung gruppierter, spezifisch religiös-ethischer Gedanke, der so gehalten ist, daß er den naturwissenschaftlichen und geschichtswissen- schaftlichen Erkenntnissen der Gegenwart möglichst wenig prä- judiziert. Die Wahrheitsmomente und Analogien der nichtchrist- lichen Religionen werden aus der in der natürlichen Vernunft tortdauernden Vernunftanlage des Urmenschen erklärt und als vor- bereitende Gnade gewürdigt. Die ganze Begriffsbildung selbst beruft

^86 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

sich darauf, daß eine wirklich kräftige RcHgion von einem bestimm- ten positiven Offenbarungsglauben ausgehen müsse und daß nur einem solchen Glauben gemeinschaftsbildende Bestimmtheit eigne. Außerdem beruft sie sich mit Vorliebe auf die Unmöglichkeit der Voraussetzungslosigkeit. Die Religionswissenschaft könne da- her nur die Aufgabe haben, den Begriff der christlichen Offen- barung als den der allein eigentlichen, die Erbsünde durch ein inneres Wunder überwindenden, Offenbarung festzustellen, und müsse die Explikation des Erfahrungsinhaltes dieser Offenbarung der spezifisch christlichen Dogmatik überlassen. Es ist eine Theorie der übersinnlichen Erfahrung und zugleich der Erfahrung dieses Christlich-Uebersinnlichen als absolut einzigartig und über- natürlich. Wo man weiter geht in der Spannung des allgemeinen religionswissenschaftlichen Rahmens für die Theologie, da ist oder war es die Lehre des späteren Schelling, die die Mittel lieferte und die in der Tat sehr wichtige Gedanken enthält. Sie ist eine Modifikation der Hegeischen Lehre, die in dem Hegeischen Be- griffe der kosmischen Vernunft dem Alogischen und Irrationalen, dem grundlosen, aus der Notwendigkeit der Idee herausfallenden Willen, einen Platz einräumt. Aus dieser Natur in Gott geht die Entzweiung und Entgegensetzung gegen Gott hervor, die der Welt die nächste Signatur gibt und die in der christlichen Idee des Sündenfalls richtig geahnt ist. Aber diesem sich gegen die Vernunft entgegensetzenden und sich zur Kreatur verendlichenden Willen wirkt die göttliche Vernunft in aufsteigender Offenbarung wieder entgegen. Die nichtchristlichen Religionen sind die vor- bereitenden Manifestationen der Vernunft, die israelitische und christliche Religion dagegen sind ihre Volloffenbarung und da- durch die Versöhnung und Erlösung, die in der ethischen Organi- sation der Menschheit zum Vernunftsorganismus sich auswirken soll. Hier erfährt der Hegeische Rationalismus und Optimismus, auch die angebliche deterministische Fortschrittsnotwendigkeit ihre Korrektur, zugleich wird der Erlösungs- und Versöhnungs- gedanke metaphysisch fester begründet und die historische Po- sitivität stärker gewertet. Die religiöse Entwicklung ist nicht mehr identisch mit dem Geistesprozesse überhaupt, sondern hat ihre besondere Stellung in ihm und geht überall aus von Grund- lagen, die durch Offenbarung gesetzt sind. Das sind freilich sehr kühne Theorien, die die Theologen von heute längst nicht alle mitmachen, deren historische Wirkung aber vermutlich noch nicht

Wesen der Religion und der Relis»ionsvvissenschaft.

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erschöpft ist. Andere begnügen sich damit, nur die Unvergleich- barkeit christhcher und nichtchristUcher ReUgion zu behaupten, jede Befassung beider Gruppen unter einen gemeinsamen Begriff abzulehnen, die christUche Offenbarung als ein allen Voraus- setzungen des profanen Denkens entrücktes, von innerer Erfah- rung bezeugtes Wunder zu konstruieren und die Wahrheitsmo- mente der nichtchristlichen Religionen als Sehnsucht und Ahnung der Offenbarung zu bezeichnen. Dabei wird dann freilich die eigentliche Schwierigkeit einer solchen Festlegung am historischen Wunder des Christentums so gut wie immer ignoriert, die Aus- weitung des historischen Horizontes durch die Einreihung des Menschen in die biologische Entwickelung des Lebens, durch die ungeheuren Zeiträume der Existenz des Menschen, durch den Wechsel von Eiszeiten und Kulturperioden. Die Einflüsse der Naturwissenschaften, die in Biologie, Geologie und Prähistorie unser Thema unmittelbar aufs stärkste berühren, werden hierbei völlig vor übermächtigen momentanen Gefühlseindrücken zurück- geschoben. Der täglich weiter in die Zeitfernen zurückgehen- den urkundlichen Geschichtsforschung glaubt man durch die Lehre gewachsen zu sein, daß alle geistig-religiöse Entwickelung auf das Christentum hin orientiert sei, wobei dann freilich wesent- lich nur an die mittelmeerischen Völker gedacht ist.

IV. Probleme und Gliederung der Religions- wissenschaft von denVoraussetzungen des kriti- schen Idealismus aus. Bei dem schroffen Gegensatz dieser Haupttheorien ist von einem allgemeinen Stand, einem durchschnittlichen Allgemeinbesitz der Religionswissenschaft nicht zu reden. Zwar wird der unbefangene Forscher von allen Gruppen vieles zu lernen imstande sein, aber ihnen allen irgendwie recht zu geben und aus ihnen dann einen Kompromiß zusammenzu- setzen, wäre der verworrenste und feigste Eklektizismus. Es muß notwendig zwischen diesen verschiedenen Theorien Stellung ge- nommen werden. Man muß hier den Mut seiner Meinung haben, darf weder vor scharfer Polemik gegen die prinzipiell entgegen- stehenden Lehren, noch vor dem unvermeidlichen Vorwurf bald der Irreligiosität und bald der Unwissenschaftlichkeit sich scheuen. So kann sich auch die folgende Skizze von dem, was die Reli- gionswissenschaft nach der Meinung des Verfassers sein sollte, nicht neutral halten, sondern ist eine keinen dieser Vorwürfe scheuende Entscheidung zwischen den verschiedenen vorgelegten

488 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Möglichkeiten, nachdem eine neue Grundlegung zu suchen durch die alle Möglichkeiten der Problemstellung erschöpfende bisherige Arbeit ausgeschlossen ist. Man braucht nur zu beachten, daß die modernen Theorien im Grunde nur die bereits von dem griechischen Denken geschaffenen Problemansätze erweitert und vertieft haben, um sich davon zu überzeugen, daß alle großen Hauptfragestellungen erschöpft sind. Es fragt sich nur, welches der richtige Ansatzpunkt ist. Der Verfasser schließt sich im wesentlichen an die Kantisch-Schleiermacherische Methode der Religionswissenschaft an. Sie bedeutet jenen kritischen Idealis- mus, der oben im Gegensatze gegen den Positivismus als die allein mögliche methodische Voraussetzung bezeichnet worden ist. Zwischen diesen beiden philosophischen Grundlegungen kann allein die Entscheidung stattfinden. Die übrigen Schulen sind diesem Gegensatze gegenüber sekundär. Die spekulative Religions- theorie der Hegelianer widerspricht dem erfahrungsmäßigen Wesen der religiösen wie der intellektuellen Vorgänge ; sie ist eine Zu- sammenziehung sehr verschiedener Interessen in einer metaphysi- schen Spekulation, die psychologische Analyse, erkenntnistheo- retische Rechtfertigung, geschichtsphilosophische Entwickelungs- theorie und Beweis für das Dasein Gottes zugleich ist. Sondert man diese Einzelfragen und gibt man jeder ihre volle und freie Entwickelung, so sind sie nicht mehr in dieser panlogistischen Metaphysik zu binden, sondern lediglich von einer transzenden- talen Theorie neben einander zu ordnen. Der exklusive Supra- naturalismus schließlich ist von allem andern abgesehen schon unmöglich gemacht durch die Gleichartigkeit und Verfloch- einheit christlich-religiöser und nichtchristlicher Erscheinungen, die die Entstehungsgeschichte des Christentums ohne alle vorge- faßte Theorie rein aus Dokumenten und Tatsachen unwiderleg- lich zeigt.

Man pflegt diese moderne Religionswissenschaft als Unter- suchung über das Wesen der Religion zu bezeichnen. Der Ausdruck ist richtig und zutreffend, wenn damit die Verschiebung der Methode von einer metaphysischen Feststellung der religiösen Objekte oder des Gottesbegriffes zu einer Untersuchung der Re- ligion als eines Bewußtseins-Phänomens ausgedrückt sein soll. Das ist in der Tat die uns durch den Verlauf aller metaphysischen Bemühungen aufgedrängte und seit Kant grundlegend formulierte Fragestellung. Im übrigen aber ist der Ausdruck »Wesen der

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 489

Religion« wegen seiner Vieldeutigkeit sehr irreführend. Er er- weckt den Anschein, als sei es mögUch, die verschiedenen in ihm zusammengeknüpften Fragen mit ein und derselben Unter- suchung auf einen Schlag zu beantworten. Er bedeutet zunächst die wesentlichen und charakteristischen Eigentümlichkeiten, an denen die religiösen Phänomene als seelische Erscheinungen psy- chologisch erkannt werden können, einen Allgemein- und Gattungs- begriff, der die durchgängigen und besonders charakteristischen Eigentümlichkeiten der psychologischen Erscheinung fixiert. Aber er bedeutet außerdem das wirkliche Wesen im Gegensatz zur bloßen Erscheinung oder den Wahrheitsgehalt der Religion. Das jedoch ist mit einer solchen psychologischen Untersuchung in keiner Weise sichergestellt; es bedarf einer eigenen, völlig anders zu führenden Untersuchung, die man im Gegensatz zur psychologischen als erkenntnistheoretische bezeichnen muß. Aber auch damit ist die Problemstellung nicht zu Ende. Was auch immer eine solche erkenntnistheoretische Untersuchung über Erkenntnis- und Wahrheitsgehalt der Religion ergeben mag, sie bezieht sich stets auf die Gesamterscheinung der Religion, auf das in allen geschichtlichen Formen enthaltene Gemeinsame. Soll jedoch der Begriff des Wesens wirklich auf den Wahrheits- gehalt der Religion gehen, so kann er nicht bei dem Gattungs- begriff der Religion überhaupt stehen bleiben, sondern, wie schon die Religionspsychologie eine außerordentliche historische Ver- schiedenheit der religiösen Bildungen anerkennen mußte, so muß der Begriff des Wesens oder des Wahrheitsgehaltes kritisch auf die verschiedenen Bildungen angewendet werden. Er wird zu einer kritischen Wertabstufung der historischen Religionsbildungen, zu der Frage nach dem Religionsideal und der Zukunftsreligion, wo nun das Besondere der einzelnen Religionen im Vordergrunde steht. So führt der Wesensbegriff zu einer geschichtsphiloso- phischen Untersuchung, welche nicht bei dem gemeinsamen all- gemeinen Wahrheitsgehalt stehen bleiben kann, sondern die innere Bewegung dieses Wahrheitsgehaltes durch die Geschichte hindurch auf ein von unserm Willen zu gestaltendes Ziel zu erkennen streben muß. Und schließlich ist die Frage nach dem Wesen nichts anderes als die Frage, wie es um eine Sache steht, welchen Sinn und welche Bedeutung sie im Ganzen unseres Lebens hat ; sie läßt sich daher nie allein aus der Sache heraus beantworten, sondern muß immer die Um2:ebun2 und verwandte oder zusam-

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Wesen der ReÜHion und der Religionswissenschaft.

menhängende Erscheinungen mit berücksichtigen. So kann die Frage nach dem Wesen der Religion nie gestellt werden, ohne daß sie zugleich die Frage ihres Verhaltens zu unserer übrigen Welterkenntnis und Weltbetrachtung stellte. Mit ihr verbindet sich daher notwendig die Frage nach der Stellung unseres all- gemeinsten und prinzipiellen Weltwissens zu den von der Religion behaupteten Realitäten. Sie geht immer über in die metaphy- sische Frage nach dem Verhältnis der Gottesidee zur Philosophie und der von dieser bewirkten Zusammenfassung unserer Erkennt- nisse in allgemeinsten Begriffen. So nachdrücklich die moderne Entwicklung der Religionswissenschaft dazu geführt hat, die Reli- gion zunächst aus sich selbst zu verstehen, so ist das doch immer nur ein »zunächst«, und die alten Bemühungen der im engeren Sinn sogenannten Religionsphilosophie, die Untersuchungen über die philosophische Begründbarkeit oder Einordnung der religiösen Ideen in das Ganze der Erkenntnis, bleiben in letzter Linie immer zu Recht bestehen.

So löst sich die scheinbar so einheitliche Fragestellung nach dem »Wesen der Religion« auf in eine Anzahl sehr verschiedener, aber unter sich eng zusammenhängender Fragestellungen, deren Beantwortung nur zusammen das darstellt, was wir mit einem vielleicht etwas zu stolzen Worte »Religionswissenschaft« nennen. Die alte Meinung aber, als ließe sich das Wesen der Religion mit einer wissenschaftlichen Definition der Religion bezeichnen und als seien in dieser Definition alle die aufgeworfenen Fragen zusammen zu beantworten, ist irreführend. Die ganze Scholastik, die mit solchen Definitionen heute noch getrieben wird, ist veraltet.

Noch schlimmer steht es mit einer weiteren üblichen Frage- stellung, die gerne mit dem Begriff des Wesens verbunden oder gar als mit ihm identisch angesehen wird, mit dem Begriff »der Entstehung der Religion«. Soll damit die »Entstehung« im eigentlichen Sinne gemeint sein und nach Art und Weise wie nach Grund und Ursache der Entstehung gefragt sein, so kann es nur die Entstehung der Religion in jedem einzelnen heutigen oder früheren uns bekannten religiösen Individuum bedeuten. Allein eine völlige Neuentstehung haben wir hier nie vor uns; die individuelle Religion entsteht immer aus der Ueberlielerung religiöser Gedanken, die Ueberlieferung mag noch so schmal oder die Umbildung der Ueberlieferung mag noch so groß sein. Eine völlige Urzeugung zu beobachten, ist uns versagt, und als Ursache

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 49 1

der Entstehung mag- immer in erster Linie die Fortsetzung und Macht der Tradition angegeben werden. Woher aber die erste Entstehung dieser Tradition selbst stammt, wie die Urentstehung der Religion in den Anfängen der Menschheit sich vollzogen habe und auf welche Ursachen' sie zurückzuführen sei, das ist uns völlig- unbekannt und wird wie bei Moral und Logik uns immer unbe- kannt bleiben. Alle Versuche der Phantasie, eine solche Ent- stehung zu konstruieren, verfahren nach Analogie der heutigen Entstehung, die aber ihrerseits immer schon die Hauptsache, das Vorhandensein religiöser Vorstellungen, voraussetzt. Will man dann aber die Frage der Entstehung nicht als Frage nach der Urzeugung der Religion, sondern als Frage nach den inneren Gründen und Notwendigkeiten ihrer Hervorbringung auffassen, so ist der Entstehungsgrund selbst immer schon in einer Anlage oder inneren Nötigung des Geistes vorausgesetzt, und es handelt sich nur um Wesen und. Recht dieser Anlage ; dann aber stehen wir vor der erkenntnistheoretischen Frage, die nicht eine Ent- stehungs- , sondern eine Gültigkeitsfrage ist. Will man aber schließlich gar nicht die Gründe der Hervorbringung selbst, son- dern nur die Art des Hervorgehens, die Gelegenheitsursachen der Aeußerung und die bedingenden Einflüsse der Ausbildung unter- suchen, so steht man bei der psychologisch-genetischen Frage, welche, sobald man sich über die UnmögUchkeit der Beobachtung einer religiösen Urentstehung klar geworden ist, über die eigent- liche innere Ursache überhaupt nichts auszusagen hat, sondern nur das »Wie« und die Gründe der Aeußerung und der kon- kreten Bildung aus dem psychischen Zusammenhang verdeutHcht. So ist der Begriff der ; Entstehung der Religion« nach allen Seiten hin unbestimmt und wertlos. Er hat nur unter einer Be- dingung Sinn, nämlich wenn man aus andern Gründen bereits gewiß ist, daß die Religion nur ein vorübergehender Nebeneffekt der eigentlich wesentlichen seelischen Tätigkeiten ohne eigene innere Notwendigkeit sei. Dann muß und kann man die »Ent- stehung der ReHgion« als die eines vorübergehenden abgeleiteten psychischen Gebildes untersuchen und wird in dem gelungenen Aufweis dieser Entstehung das Siegel auf die zugrunde gelegte Gesamttheorie erkennen. Das ist dann die Theorie des Positivis- mus, die aber ihren eigentlichen Ausgangspunkt nicht in dem Problem der Entstehung der ReUgion, sondern in der metaphy- sischen Einsicht von der Unmöglichkeit der Wahrheit der Religion

AQ2 Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

hat. Der Begriff der »Entstehung« enthält somit das ganze Pro- blem der Religion überhaupt und muß, wie der des »Wesens«, in seine Einzelprobleme zerlegt werden. Es ^ibt keine formelhafte Antwort darauf, sondern nur die Einzeluntersuchungen, die besser nach den sie charakterisierenden besonderen Problemen benannt werden. Auch hier ist die übliche Scholastik der Entstehung aus intellektuellen, voluntaristischen, ethischen usw. Bedürfnissen veraltet.

Die Aufgabe der Religionswissenschaft oder die P"rage nach dem Wesen der Religion beschränkt sich auf die Analyse des möglichst rein und sachlich aufgefaßten geistigen Phänomens, das wir Religion nennen, unter den vier genannten Gesichtspunkten, die sich bei der Zerlegung der üblichen Begriffe »Wesen und Entstehung der Religion« als darin gebunden und vermischt er- geben: sie zerfällt in Psychologie. PLrkenntnistheorie, Geschichts- philosophie und Metaphysik der Religion. Die Synthese dieser vier Untersuchungen ergibt das erreichbare wissenschaftliche Ver- ständnis der Religion und den Beitrag, den die Wissenschaft zu dem praktischen Leben und der Fortentwicklung der Religion leisten kann. Diese vier gilt es daher in aller Kürze nach ihren Aufgaben zu skizzieren.

I. Die Religions psycholo gi e ist die Grundlage und Vor- aussetzung aller erkenntnistheoretischen Arbeit an der Religion, wie die psychologische Analyse überall die Voraussetzung aller erkenntnistheoretischen Untersuchungen ist. Es gilt das Phäno- men in seiner Tatsächlichkeit und sachlichen Eigentümlichkeit zu kennen, ehe wir nach seinem Geltungswerte fragen können. In der Vernachlässigung dieser Voraussetzung" liegt eine der Schwä- chen von Kants Religionstheorie, und auch Schleiermacher hat bei aller Feinheit psychologischer Beobachtung doch in sie all- zu rasch ontologische und erkenntnistheoretische Sätze eingetragen. Nun ist bei der ungeheuren Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Intimität des Phänomens die Aufgabe der Psychologie hier so reich an Schwierigkeiten als an Möglichkeiten der Anpackung. Die erste Aufgabe wird sein, das Phänomen möglichst in seiner Naivi- tät zu fassen, die > naive <; von wissenschaftlicher Deutung noch unbeeinflußte Erfahrung oder Anschauung von ihm zu gewinnen, wie es oben bereits als Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Bearbeitung fixiert worden ist. Hier, bei dieser Fixierung, setzt die Psychologie ein. So ist die erste Unterscheidung die zen-

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. ^gj

traler und peripherischer Erscheinungen und hat die Psychologie die Aufgabe, die einen wie die anderen in ihren charakteristischen Merkmalen zu schildern. Unter den zentralen erscheint überall der Glaube an eine unter bestimmten Bedingungen zu erlebende Präsenz des Göttlichen, wobei der Gedanke des »Göttlichen« selbst üherall schon vorausgesetzt ist, und die davon bewirkte eigentümliche religiöse Gefühls- und Willensbestimmtheit. Unter den peripherischen erscheinen überall die ethischen und sozialen Elemente der Religion und vor allem der Mythos, der nicht selbst Religion ist, sondern nur eng mit ihr zusammenhängt. Die Unter- suchung kann weiter eine mehr völkerpsychologische oder eine mehr individualpsychologische Richtung nehmen. In der ersten Richtung treten mehr die gleichartigen Massenerscheinungen, die Gleichförmigkeiten und Gesetze der P^ormen des Kultus und des mythischen Denkens hervor ; man kann hier geradezu eine P'ormen- lehre des religiösen Denkens aufstellen. In der zv>?eiten Richtung handelt es sich um die religiöse Gefühlsinnerlichkeit, die ebenfalls überall etwas Gemeinsames hat, die aber doch stets nur in indi- vidueller Besonderheit wirklich ist und nur an den Personen einer individualisierten Zeit mit Nachrichten und Aeußerung über ihr individuell persönliches Innenleben studiert werden kann. In all diesen Fällen handelt es sich um Nachfühlen und Beschreiben von psychischen Zuständen vermöge des eigenen reellen oder wenigstens hypothetischen religiösen Gefühls. Aber man versucht, auch die Methoden der exakten Psychologie anzuwenden, durch ein System von Umfragen und möglichst objektiven Beobachtungen eine Art Statistik der Erscheinungen und ihres Verlaufes zu ge- winnen; ja auch die Psychopathologie wird herangezogen, um aus krankhaften Verläufen Schlüsse auf die normalen zu ziehen. Insofern bei vielen Psychologen die Entdeckung des »unter- schwelligen« Bewußtseins als Schlüssel für zahllose bisher unver- ständliche Erscheinungen gilt, wird auch dieses in weitem Um- fange herbeigezogen. Als F^rgebnis von alledem wird gelten dürfen, daß das Urphänomen aller Religion die Mystik, d. h. der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit ihnen ist. Es ist im wesentlichen eine Bestätigung der mystischen Religionstheorie, nur daß der naiven Religion stets eine konkrete, an Offenbarung oder an Herkommen sich anschließende Vorstellung von Art und Wirkung des Göttlichen zukommt, während diese Vorstellung in

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Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

der mystischen Theorie verflüchtigt und durch die eigentümliche pantheistische, zugleich doch den schroffsten Dualismus ein- schließende Metaphysik ersetzt ist.

2. An die Aufzeigung dieses Urphänomens in seinen verschie- denen Formen und Intensitätsgraden schließt sich die erkennt- nistheoretische Untersuchung nach dem Gültigkeits- oder Wahrheitswert dieser psychischen Vorgänge an. Dabei ist die Frage, wie überhaupt Gültigkeitsurteile aus dem konstatierten Psychologisch-Tatsächlichen gewonnen werden können, eine Grund- frage, die nur im Anschlüsse an die allgemeine Erkenntnistheorie beantwortet werden kann. Ist diese Frage beantwortet, so er- hebt sich die weitere, was überhaupt eine solche Untersuchung des Wahrheitswertes auf dem besonderen Gebiet des religiösen Lebens leisten kann. Sie kann jedenfalls nicht mehr tun, als daß sie ein im Wesen der Vernunft liegendes apriorisches Gesetz der religiösen Ideenbildung aufweist, das seinerseits in einem organi- schen Zusammenhang mit den übrigen Apriori der Vernunft steht. Nur den Beweis der Vernunftnotwendigkeit der religiösen Ideen- bildung, nicht den für eine Existenz des religösen Objektes an sich selbst kann sie zu liefern unternehmen. Die Erkenntnistheorie kennt nur Gewinnung von Gültigkeit und Verbindlichkeit für vor- handene Bewußtseinsinhalte und Unterordnung aller übrigen unter die als gültig erkannten, aber sie kennt keine Existenzbeweise als solche. Der ihr allein mögliche Existenzbeweis ist der Auf- weis einer gültigen Vernunftnotwendigkeit, die auf allen Gebieten, auf dem naturphilosophischen, historischen, ethischen, ästhetischen und religiösen, nach verschiedenen Grundsätzen gewonnen wird ; insbesondere darf der Gültigkeitsbeweis für die religiöse Idee nicht verwechselt werden mit dem Gültigkeitsbeweis für die Er- kenntnis einzelner Objekte, da dieser nur auf dem Nachweis ihres gesetzlichen Zusammenhanges mit andern Objekten beruht, während das religiöse Objekt überhaupt nicht ein Objekt neben andern ist. Die wichtigste Frage ist daher die nach dem Inhalt und Wesen des religiösen Apriori. Es liegt in der aus dem Wesen der Vernunft heraus zu bewirkenden absoluten Substanzbeziehung, vermöge deren alles Wirkliche und insbesondere alle Werte auf eine absolute Substanz als Ausgangspunkt und Maßstab bezogen werden. Damit ist schon gesagt, daß dieses religiöse Apriori auf den Zusammenhang mit den andern Apriori angewiesen ist und ihrer inneren Einheit überhaupt erst den festen Substanzgrund

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. AQ^

gibt. Da unter diesen andern Aprioris für das allgemeine Be- wußtsein das ethische das wichtigste ist und das logische und ästhetische erst in zweiter Linie kommt, so ist die Harmonisierung der Religion mit der Ethik und erst dann mit dem logischen und ästhetischen Leben ein weiteres Kriterium ihrer Gültigkeit oder ihres Wahrheitsgehaltes. Die Gültigkeit "einer religiösen Idee kann größer oder geringer sein, je nachdem sie der Harmonie des Bewußtseins sich einfügt oder etwa gar die Führung in dieser Harmonisierung übernimmt. So ergibt sich von hier aus auch eine innere Beweglichkeit des Gültigkeitskriteriums, das dem ver- schiedenen Maß von Gültigkeit verschiedener Religionsformen gerecht werden kann. Schließlich ist von diesem Gültigkeits- begriff wieder der Weg zur psychologisch-genetischen Wirklichkeit der Religion zu suchen und zu zeigen, wie in den psychologischen Formen diese Richtung auf einen gültigen religiösen Wahrheits- gehalt sich aktualisiert.

3. Damit kehrt die Untersuchung zur historisch-psychologischen Wirklichkeit und Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens zurück, das überall in bestimmten konkreten oder positiv-historischen Bildungen vorliegt. Dabei aber ist die Aufgabe jetzt, diese Man- nigfaltigkeit als eine aus innerer Einheit hervorgehende und in ihrer Abfolge als einem normativen Ziel entgegenstrebende zu begreifen. Das ist die Aufgabe der G es chi cht sp hil os ophie der Religion. Die großartigste Lösung dieser Aufgabe liegt bisher in der Hegeischen Lehre vor. Da aber diese Lehre auf einer in dieser Gestalt und Begründung unhaltbaren rein meta- physischen Konstruktion der Weltvernunft und auf dem ihr im- manenten logischen Gesetz der Vernunftdialektik beruht, so ist das Ziel Hegels zwar festzuhalten, aber seine Erreichung auf anderen logischen und methodischen Wegen zu erreichen. Ohne Metaphysik wird es auch so nicht abgehen, aber es wird eine Metaphysik des Rückschlusses aus den Tatsachen und nicht eine deduktive Metaphysik des Absoluten sein müssen. Insbesondere muß ein Ersatz für Hegels Dialektik, ein teleologisches Entwicke- lungsgesetz, gefunden werden, das unter allen Umständen der letzte und wichtigste Begriff aller Geschichtsphilosophie ist. Damit gehen die Untersuchungen hier in die prinzipiellen der Geschichts- philosophie über, die über Wesen und Sinn des Entwickelungs- begriffes die Entscheidung zu treffen und insbesondere über den Unterschied der Vernunftentwickelung von dem bloßen Fluß und

AQ^ Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Ablauf des Bewußtseins Auskunft zu geben hat. Das hierbei sich ergebende speziell religionswissenschaftliche Problem ist dann die Frage nach dem Ziel der religiösen Entwickelung, ob dieses in einer geschichtslosen allgemeinen Vernunftreligion, in einer syn- kretistischen Summierung aller bisherigen Wahrheitselemente oder in der Entwickelung der positiven Religionen liege, welche Stellung und Bedeutung die gegenwärtigen Hauptreligionen in der reli- giösen Entwickelung einnehmen. Da unter diesen das Christen- tum jedenfalls die entscheidende Religiosität der westlichen Zivili- sation ist, so wird die Endfrage wesentlich die nach der Bedeutung und Zukunft des Christentums und nach seinem Verhältnis zu den Religionen des Ostens sein.

4. Allein die Religion ist nie bloß die seelische Tätigkeit der Hervorbringung und Gestaltung des religiösen Glaubens ; sie ist in alledem zugleich die Behauptung eines realen Objektes ihres Glaubens, der Gottesidee. Die Gottesidee ist nun freilich auf keinem anderen Wege als auf dem des religiösen Glaubens direkt zugänglich. Aber sie behauptet doch einen Sachverhalt, der mit den übrigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang stehen und der von ihnen aus auch in irgendeiner Weise indiziert sein muß, wenn anders die menschliche Vernunft eine innere Einheit ist. So kommt es zu der philosophischen Behandlung der Gottesidee, die freilich nicht auf dem Wege einer de- duktiven Metaphysik mögUch ist, die aber irgendwie mit den metaphysischen Rückschlüssen sich ergibt, die aus der Bearbeitung und Vereinheitlichung der Erfahrung in letzten Begriffen entstehen ; auch eine streng erkenntnistheoretisch angelegte Philosophie wird, wenn sie nicht in Psychologismus und Skepsis stecken bleiben will, in ihren Begriffen der Gültigkeit und der »Vernunft über- haupt» immer die Ansätze zu einer solchen Metaphysik enthalten, bei der nur die Erage ist, wie weit sie führen kann. Damit gehen die Probleme der Religionswissenschaft in die der prinzipiellen Philosophie oder der Metaphysik über. Sie wird zur Religions- philosophie in dem engeren Sinne des Wortes, wo es die philo- sophische Kritik und Einbeziehung des Gottesbegriffes in das Ganze der prinzipiellen Erkenntnis bedeutet, wo aber immer der Gottesbegriff selbst nur Gegenstand, aber nicht l^odukt dieser Religionsphilosophie ist. Das wird dann auch erst die endgültige Rechtfertigung des Ausgangspunktes sein, von dem die ganze Untersuchung mit ihrer Verwerfung des Positivismus ausging.

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 4Q7

Hierbei wird bei der heutigen Lage der Dinge die Hauptaufgabe die Behauptung eines die geistigen Vernunftwerte im Weltgrund verankernden Ideahsmus gegen die alles verschlingenden natur- philosophischen Begriffe sein, die von dem Satze der Erhaltung des Stoffes und der Arbeit als metaphysischen Prinzipien aus dem Idealismus nur übrig lassen w^ollen, was von ihnen aus möglich ist, und das ist bei einer konsequenten Durchführung so gut wie nichts. Des weiteren wird ihr zweites Hauptproblem sein, in dem Verhältnis des Weltgrundes oder absoluten Bewußtseins zu seinen Teilinhalten oder den endlichen Geistern die Möglichkeit beständig neuer Anfänge und Wirklichkeiten zu behaupten, ohne welche alle religiöse Redeweise zur Phrase oder zur unfruchtbaren Mystik wird ; es ist das Problem des Pluralismus und der Freiheit gegen- über dem Monismus, der nur notwendige Entfaltungen der stets mit sich selbst identischen Substanz kennt. Wird aber dieses Ziel erreicht, so ist diese Metaphysik der Religion nicht bloß eine Apologetik, die einer feststehenden Gottesidee Schutz und Deckung verschafft, sondern zugleich eine Umgestaltung der religiösen Gottesidee und eine Konformierung mit dem modernen wissen- schaftlichen Weltbild, die in die herkömmliche Gottesidee tief genug einschneidet, wie sie auch bisher immer in die religiöse Ideenwelt tief hinein gewirkt hat. Die Darstellung dieser Wirk- ungen aber gehört nicht mehr der Religionswissenschaft selbst an, sondern gehört in die Darlegung der auf sie begründeten persönlichen religiösen Lehre.

Die Wirkung und Bedeutung einer solchen Religionswissen- schaft, die sich das Ganze der Religion zu ihrer Aufgabe macht, liegt in der Zurückdrängung des Einflusses der alten kirchlichen Autoritätslehren und in dem Geiste der Toleranz und Abwägung vor, mit dem die religiösen Ideen in der gebildeten Welt behandelt werden. Immerhin ist ihre positiv einigende Wirkung bis jetzt noch ziemlich gering. Man möchte sie zunächst in der Versöh- nung und Ausgleichung der religiösen Differenzen der Kultur- menschheit suchen. Aber was man bis jetzt an internationalen Religionskongressen und religionswissenschaftlichen Kongressen erlebt hat, zeigt davon, außer der Tatsache, daß man sich über- haupt zusammenfindet, nur sehr wenig. Es ist auch sehr wenig wahrscheinlich, daß diese großen Kämpfe durch die Wissenschaft entschieden werden. Hier pflegen elementarere Kräfte zu entscheiden.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 3^

j^qg Wesen der Religion und der Religionswissenschaft.

Die geschilderte Religionswissenschaft ist eben doch ein spezifisches Erzeugnis der europäisch-amerikanischen Kultur und erstreckt daher auch ihre Wirkungen bis jetzt ganz vorzugsweise auf diesen Kulturkreis selbst. Aber auch hier in diesem engeren Kreise ist ihre Wirkung bis jetzt nichts weniger als versöhnend und ausgleichend. Sie bezeichnet mehr die überaus schwierige Lage der Religion in der modernen Welt, als sie eine Ueberwindung dieser Schwierig- keiten ist. Sie bringt mehr die Gespaltenheit des herrschenden Zustandes und seine Abhängigkeit von persönlichen Ueberzeu- gungsstellungen zum Bewußtsein, als sie auf religiöse Einigung und Vertiefung zu wirken imstande ist. Sie hat einerseits der Abwendung eines großen Teils der modernen Welt von aller Religion überhaupt den wissenschaftlichen Rechtstitel und die Propagandamittel gegeben. Sie hat andererseits den mit dem christlichen oder jüdischen Kirchentum zerfallenen Bildungs- menschen eine allgemeine, zeit- und geschichtslose Vernunft- religion eröffnet, die freilich in den einzelnen Individuen und Gruppen wieder sehr verschieden ist und eine starke religiöse Wirkung überhaupt nicht hervorbringt. Sie hat schließlich die christliche Theologie der verschiedenen Konfessionen, vor allem des Protestantismus, in den Bann ihres Einflusses gezogen und hierdurch den fortschrittlichen Bestrebungen des Protestantismus eine wissenschaftUche Basis gegeben, aber eben damit auch die Kluft zwischen seinen verschiedenen Richtungen verstärkt und doch die religiös völlig ermattete moderne Bildungswelt kaum zu ergreifen vermocht. Immerhin hat sie nicht bloß in der Fach- theologie und den kirchlichen Interessenkreisen das moderne Christentum tiefgreifend beeinflußt, so daß man von einer Um- bildung und Neubildung des Christentums auf anderen Grundlagen als den bisherigen spezifisch kirchlichen reden muß. Aber von irgendwelchen greifbaren Ergebnissen ist bei dem Anarchismus dieser modernen Stimmungsreligion nicht zu reden. Von dem Standpunkte aus, daß die Religion ihre volle Kraft nur als posi- tive Religion entfaltet und daß in der europäisch-amerikanischen Welt das Christentum immer noch die einzige wirkliche religiöse Kraft ist, wird man in der Wirkung der Religionswissenschaft auf die Theologie der Konfessionen, auf die freie Theologie des katho- lischen und protestantischen » Modernismus <, den bis jetzt wich- tigsten Einfluß der Religionswissenschaft sehen müssen. Aber durch eben diese Einwirkungen wird die freie Theologie an das

Wesen der Religion und der Religionswissenschaft. 4QQ

allgemeine geistige Leben angeschlossen, das sich längst außer- halb der Kirchen bewegt, und gewinnt sie ihren Anteil an der großen religiösen Bewegung der Gegenwart, die aus den Tiefen unserer Gesellschaft als Gegensatz gegen die naturalistische Entseelung und gegen die kapitalistisch-technische Veräußer- lichung aufsteigt. Was die Zukunft daraus entwickeln wird, ist uns allen noch verborgen. Aber eine Religionswissenschaft, die den religiösen Besitz überschaut und würdigt, die das Recht des religiösen Bewußtseins gegen Skepsis und Naturalismus begründet, kann wenigstens zur Klärung und Orientierung wichtige Hilfe leisten. Das wesentliche wird die innere Macht des religiösen Lebens selbst bewirken, das nach den Zertrümmerungen der alten dogmatischen Kirchen und der damit eintretenden rapiden Ver- weltlichung sich langsam wieder sammelt zu neuer Vertiefung.

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Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule".

(Aus: The American Journal of Theology, 191 3.)

Der Ausdruck »Religionsgeschichtliche ^^) Schule« ist in Deutschland oder besser innerhalb der deutschen Theologie ge- prägt worden, um eine bestimmte Auffassung von den Aufgaben des religiösen Denkens und der dogmatischen Theologie zu be- zeichnen. Der Verfasser dieser Zeilen gilt dabei als der Syste- matiker und Dogmatiker dieser Richtung. Insoferne mag es mir allerdings zukommen, die liebenswürdige Anfrage der Redaktion des »American Journal of Theology« zu beantworten, welchen Sinn eine Dogmatik unter den Voraussetzungen und im Sinne dieser Schule haben könne.

Nun ist freilich vor allem zu sagen, daß die durch diesen Ausdruck bezeichnete Sache weder in irgend einem Sinne etwas spezifisch Deutsches ist, noch etwas wirklich Neues, noch ein ein- deutiger und einheitlicher Grundsatz, auf den sich eine Schule im eigentlichen Sinne des Wortes erbauen könnte. Der Ausdruck be- deutet vielmehr im allgemeinen nichts anderes als die in der ganzen wissenschaftlichen Welt verbreitete Erkenntnis, daß die Religion der Menschheit nur in einer Vielzahl einzelner religiöser Bildungen vorliegt, die sich in vielfacher gegenseitiger Berührung und Beeinflussung entwickeln und zwischen denen nicht mit dem alten dogmatischen Mittel der Unterscheidung einer natürlichen und

^'') Der Ausdruck ist im Englischen nicht vorhanden, wohl aber die Sache. Hier hat man den fatalen Ausdruck comparative Religion geprägt, vgl. Louis Henry Jordan »Comparative religion. Its genesis and growth« Edinburgh 1905 Hier sind freilich die Probleme diesem Standpunktes nur sehr oberflächlich erfaßt, aber es ist eine sehr reiche Literaturübersicht. Auch bei uns vergißt man oft, daß nicht die Religion religionsgeschichtlich sein kann, sondern nur die Religionsphilo- sophie und allenfalls die Theologie.

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«. cq!

Übernatürlichen Offenbarung die Entscheidung getroffen werden kann. Dieses Mittel ist von allen großen monotheistischen Relir gionen, dem Judentum, dem Islam, dem Christentum und in ge- wissem Sinne auch vom Buddhismus, gebraucht. Es reicht aus, so lange man wesentlich nur im Horizont der eigenen herkömm- lichen Religion lebt und ihr daher selbstverständlich eine über- natürlich begründete Alleingeltung zuschreiben kann, ohne durch fremde Ansprüche dementiert zu werden. Es versagt, sobald theoretisch der Horizont sich über die Gesamtheit der mensch- lichen Religionen ausbreitet und sobald praktisch im Kampf der ReUgionen die exklusiven Offenbarungsansprüche aufeinander- stoßen. Ist dieser Zustand der Weltkenntnis, der geistigen Ge- samtverfassung und der praktischen Kämpfe eingetreten, so tritt an die Stelle des von der übernatürlichen Alleinwahrheit der eigenen Religion beherrschten Horizontes der die rivalisierende Mannigfaltigkeit gleichartiger Wahrheitsansprüche umspannende Horizont. Diese Sachlage ist heute nahezu überall eingetreten. Das Verhältnis zum religiösen Leben der Menschheit ist unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt nicht mehr das der supranatu- ralen oder philosophischen Apologetik der eigenen Religion, sondern das einer universalhistorischen Religionsvergleichung. So ungeheuer schwierig die Aufgabe sein mag und so nahe hier oberflächliche Selbsttäuschungen liegen mögen, es ist das doch heute in erster Linie die Art, in der wir uns auf das religiöse Problem einstellen müssen, sobald es sich um wissenschaftliche Behandlung der Dinge handelt.

Eben damit ist aber auch gesagt, daß diese Auffassung nichts Neues ist. Sie ist bereits mit dem Zerfall der einfachen supranaturali- stischen Apologetik der christlichen Konfessionen im i8. Jahr- hundert entstanden. Zunächst war es die Rivalität der sich tödlich bekämpfenden christlichen Konfessionen, dann der Zusammenstoß der supranatural begründeten Theologie mit der verselbständigten rationalen Philosophie der Spät-Renaissance, weiterhin die Aus- weitung des Horizontes der Kolonialvölker über die Mannigfaltig- keit der religiösen Bildungen der Menschheit, schließlich die Idee einer Entwickelung des menschlichen Geistes durch verschiedene Stufen und Formen hindurch, die zu diesem Ergebnis führten. Die englischen Deisten, Locke, Hume und Gibbon, Voltaire, Du- puis und die Ideologen, Herder und die deutsche Theologie des i8. Jahrhunderts, schließlich Lessing, Kant und Hegel, Comte

C02 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

und Herbert Spencer vertraten diese Gedanken, freilich mit sehr verschiedener Beurteilung des religiösen Lebens und seiner Ent- wickelungsergebnisse. Diese Auffassung wurde dann zwar durch die mächtige Gegenbewegung gegen die Aufklärung, die als Me- thodismus, Pietismus, Biblizismus, katholische Reaktion und poli- tische Restauration durch die ganze Welt ging, zurückgedrängt und aus der Theologie, in die sie bereits eingedrungen war, wieder hinausgefegt. Heute ebbt die Gegenbewegung zurück oder zieht sich auf enge Sekten zusammen. Damit ist die alte Problemstellung wieder vorwärts gedrungen und hat sich auch wieder eines großen Teiles der protestantischen Theologie be- mächtigt.

Indem wir es hier mit der religionsgeschichtlichen Denkweise nur in dem Sinne zu tun haben, wie sie von der Theologie an- geeignet worden ist und angeeignet werden konnte, ist schon gesagt, daß wir von ihr hier nur soweit zu sprechen haben, als sie mit einer persönlichen Bejahung des religiösen Lebens und gerade- zu mit einer Bejahung der christlichen Ideenwelt vereinbar ist. Wir scheiden also alle rein skeptischen, positivistischen und illu- sionistischen Theorien aus, die sich das religionsgeschichtliche Denken unterworfen haben, und bejahen dagegen jene Deutungen, die in der Religion die Offenbarung tiefster Wahrheit und in ihrer Entwickelung den Fortschritt zu geläuterter religiöser Erkenntnis sehen. Die Gründe dafür können hier nicht angegeben werden. Aber es versteht sich von selbst, daß die christliche Theologie nur mit einer so gerichteten Deutung der Religionsgeschichte sich einlassen kann. Aber auch so ist das religionsgeschichtliche Denken in der Theologie nichts eindeutiges und gibt es keine ihm gewidmete » Schule <;. Das ist bei der umfassenden und weitausstrahlenden Bedeutung dieses Denkens ja auch gar nicht möglich. Insbesondere zerlegt es sich innerhalb der Theologie sofort in zwei Interessenrichtungen.

Das eine ist die besondere auf die Geschichte des Christen- tums selbst gerichtete historische Forschung. Hier bedeutet reli- gionsgeschichtliches Denken nicht eine allgemeine Religionsphilo- sophie und auch nicht eine bestimmte Dogmatik, sondern die ganz konkrete Erklärung oder Verdeutlichung der Entstehung der biblischen Religion aus Berührung und Gegensatz gegen andere Religionen. Seit man weiß, daß die Urgeschichte der Genesis die israelitische Ursage ist, wie auch andere Völker ihre

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«. ^03

Ursagen haben, und daß das Volk Israel sehr spät erst in den Kreis der uns bekannten orientalischen Geschichte eintrat, ist die Frage der Entstehung der Jahwe-Religion kein Problem mehr, das rein mit den Angaben der Bibel gelöst werden könnte, son- dern muß im Zusammenhang mit der damaUgen Religionsge- schichte und mit Hilfe unserer Kenntnis von der Religion ara- bischer Wüstenvölker gelöst werden. Es ist nicht mehr ein biblisches, sondern ein religionsgeschichtliches Problem. Das gleiche gilt nun aber auch von der weiteren Entwickelung der Jahwereligion zum Prophetismus, zur Gesetzes- und Priesterreli- gion, zum Messianismus und zur Apokalyptik. Insbesondere aber gilt das für die ungeheure Aufgabe einer Erleuchtung der Ent- stehung des Christentums, das schon in der Verkündigung Jesu die eigentümlich verwickelte Religionsgeschichte des Spätjuden- tums voraussetzt und insbesondere bei der Umwandelung des P>angeliums zu der welterobernden Christusreligion und zur sakra- mentalen Kirche nur auf diesem Wege verständUch gemacht werden kann. Ueberflüssig zu sagen, daß für die weitere Ent- wickelung der Kirche und des Dogmas die gleichen methodischen Forderungen gelten. Diese Auffassung erstreckt sich nun aber durch die ganze exegetische und historische Theologie aller Lager überhaupt, soferne sie mit dem Gedanken einer historischen Forschung Ernst macht. Auch sehr konservative Theologen sehen sich genötigt, auf diese Betrachtungsweise einzugehen, der sie dann an irgend einem Punkt allerdings die Spitze abzubrechen pflegen. Bald gelehrter, bald phantasiereicher, bald vorsichtiger, bald kühner, bald folgerichtiger, bald ängstlicher werden diese Me- thoden doch an und für sich in aller noch irgend wissenschaft- lichen Theologie gehandhabt. Die semitischen und klassischen Philologen sind mit in diese Arbeitsbewegung eingetreten und treiben sie energisch vorwärts. In diesem Sinne kann man also gar nicht von einer religionsgeschichtlichen Schule, sondern nur von einer mehr oder minder radikal gehandhabten religionsge- schichtlichen Methode reden. Höchstens die Gelehrten könnte man so bezeichnen, die dabei jeden Rest eines Kernes über- natürlich mitgeteilter Wahrheiten in der Bibel aufgeben und ledig- lich mit den allgemeinen Mitteln der Psychologie und Historie arbeiten. Aber sie bilden auch so keine Schule, und eine gemein- same Dogmatik haben sie erst recht nicht. Es genügt hier an Robertson Smith, Wellhausen, Lagarde und Gunkel, an Weiz-

C04 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule*.

säcker, Wrede, Usener, ' Harnack, Holtzmann und Bousset zu erinnern.

Die zweite von liier ausgehende Interessenrichtung möchte ich die religionsphilosophische oder prinzipiell-theologische nennen. Für sie kommen nicht die konkreten Fragen der Entstehung und Entwickelung der biblischen Religion in Betracht, sondern die große Frage nach der Begründung der Geltung des Christen- tums inmitten des Flusses der allgemeinen religionsgeschichtlichen Entwicklung und gegenüber den ganz verwandten Geltungsan- sprüchen der anderen großen Religionen und der philosophischen Weltanschauungen oder rational-autonomen Religionen. Das ist kein historisches Problem, sondern ein systematisches. Aber in- dem es ein systematisches ist, ist es doch noch kein dogmatisches. Denn es handelt sich hierbei nur um den allgemeinsten Sinn, in wel- chem die christliche Ideen- und Lebenswelt als normativ aner- kannt werden kann, nachdem man diese Anerkennung auf die einfache Inspiriertheit und übernatürliche Offenbartheit der Bibel nicht mehr begründen kann. Ueber die dogmatische Gestaltung des christlich-religiösen Gedankens selbst ist damit noch sehr wenig gesagt. In der Tat unterscheiden sich die hierauf auf- gebauten dogmatischen Systeme sehr, wenn nicht auf dem schwie- rigen Wege zu diesem Ziele der Gestaltungstrieb schon beim ersten allgemeinsten Ergebnis der Geltung des Christentums über- haupt erlahmt und die Dogmatik sich selbst überläßt. Es han- delt sich hier also überall um ein allgemeines religionsphiloso- phisches Problem, das nur von einer Anschauung über das Wesen der Religion und über das der religiösen Entwickelung gelöst werden kann. Naturgemäß sind auch an der Lösung dieses Problems Theologen sehr verschiedener Denkart beteiligt und er- streckt sich seine Stellung bis tief in die Kreise der konserva- tiven Theologen hinein. Insbesondere die Missionare bei gebilde- ten Völkern können nicht um es herumkommen. Ueberdies wir- ken auch an diesem Punkte außertheologische Einflüsse sehr stark mit, indem das Problem der Religion, der religiösen Ent- wickelung und ihrer Ziele von Ethnologen, Anthropologen, Psy- chologen und systematischen Philosophen naturgemäß gleichfalls in Angriff genommen wird und die Theologen hierdurch die ver- schiedensten Anregungen und Anspornungen erhalten. Von einer religionsgeschichtlichen Schule kann also auch in diesem Sinne nicht die Rede sein. Höchstens könnte man diejenigen Theo-

Die Dogmaük der ;>relia;ionsoeschichtlichen Schule«.

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logen so bezeichnen, welche auch hier unter allem Verzicht auf übernatürliche Mitteilungen und Stiftungen rein vom Boden der geschichtlichen Entwickelung aus die Frage zu beantworten suchen, wie das z. B. bei Otto Pfleiderer und bei dem Verfasser dieser Zeilen der Fall ist. Doch zeigt schon die Zusammenstellung die- ser beiden unter sich sehr verschiedenen Beispiele, wie wenig hier von einer Schule die Rede sein kann. Es ist ein moderner wissenschaftlicher Grundgedanke allgemeinster Art und sehr ver- schiedener Gestaltungsfähigkeit, aber keine Schule. Man denke an so verschiedene Forscher wie die Brüder Caird, Hermann Siebeck, Rudolf Eucken, Wilhelm Wundt, Auguste Sabatier.

Aber freilich sobald man von diesen beiden Anwendungen des Grundgedankens auf die Theologie zum eigentlichen Hauptzweck der Theologie, zur Darlegung einer normativen christlich- religiösen Gesamtanschauung oder zur sog. Dog- matik, kommt, dann rücken beide Interessenrichtungen nahe zusammen und geben sie der Dogmatik sehr bestimmte Voraus- setzungen und Richtlinien. Sie sind so bestimmt, daß man hier allerdings von einer religionsgeschichtlich orientierten Dogmatik und damit von einer Schule reden könnte, wenn sich eine solche Dogmatik wirklich schon herausgebildet hätte. In England war der große geistige Beherrscher des 18. Jahrhunderts, John Locke, mit einem solchen Programm vorangegangen. Seine »Reasonna- bleness of Christianity « enthält eine religionsgeschichtlich und religionspsychologisch sehr fein begründete Studie über das Wesen des Evangeliums, das er in der ethischen Gottesreichsidee erkannte und sowohl dem Paulinismus als dem kirchlichen Dogma entgegen- setzte und mit dem Entwickelungszuge der griechischen Ethik ver- band. Das ist die Grundlage der Dogmatik der geistig feineren Aut- klärung. Auch Kant vertrat in Deutschland wesentlich diesen Stand- punkt. Dabei war nun aber doch eine noch sehr unentwickelte Religionsgeschichte vorausgesetzt und daher der Anschluß einer Dogmatik an sie nicht sehr schwer. Darüber hinaus sind aber auch im 19. Jahrhundert nur Ansätze vorhanden. Siegehören dem deut- schen Denken an, während das englische seit dem Methodismus die alten Bahnen wieder einschlug. Der erste Versuch ist der berühm- teste. Es ist nichts Geringeres als die Dogmatik Schleiermachers, die sowohl auf eine allgemeine Religionsphilosophie vergleichenden Cha- rakters als auf eine historisch-kritische und darum religionsgeschicht- liche Erforschung des Christentums aufgebaut war. Sie beruhte auf

COÖ Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

einer Geschichtsphilosophie der Religion, der gemäß die oberste Entwicklungsstufe oder der Monotheismus in den ethischen Theis- mus oder in den quietistischen Monismus zerfällt und von beiden nur der ethische Theismus als höchste Vollendung des religiösen Gedankens gelten kann. Da nun dieser Theismus welthistorisch im Christentum vorliegt, so ist die höchste religiöse Erkenntnis als christliche darzustellen, wobei noch ins Gewicht fällt, daß die- ser Theismus in seiner historischen Verbindung mit der Person Jesu von dem Eindruck dieser Persönlichkeit her eine einzigartige erhebende und erlösende Machtwirkung empfängt. So stellt die Dogmatik die wesentlichen Gedanken des Christentums über Gott, Welt und Mensch, ausstrahlend von der zentralen Persönlichkeit Jesu, als erlösende Geisteskraft dar; sie schließt sich darin um des praktischen Zwecks willen, der in der Regulierung der kirchlichen Predigt und Unterweisung der Protestanten liegt, pietätvoll aber sehr frei an das Vorstellungsmaterial der protestantisch- kirchlichen Ueberlieferung an. Der andere große Versuch einer religionsgeschichtlichen Dogmatik wurde von Hegel ge- macht und von seinen theologischen Schülern, insbesondere der berühmten Tübinger Schule, weiter ausgeführt. Hier war wie die gesamte Geschichtsphilosophie, so auch die der Religion, auf einen festen Begriff der göttlichen Wesenheit und der logi- schen Bewegungsgesetze ihres Lebens zurückgeführt. Es wurde in diesem Sinne die christliche Lebenswelt nicht wie bei Schleier- macher der persönlichen Bejahung und subjektiv freien Gestaltung überlassen, sondern als logisch notw^endiges, die Selbstbewegung des göttlichen Geistes vollendendes Endergebnis der Religionsge- schichte konstruiert. Das Christentum ist die Selbstverwirklichung des göttlichen Geistes in seiner die endlichen Geister zu sich er- lösenden geschichtlichen Bewegung. Die Dogmatik fällt mit der Darstellung des Gottesbegriffes überhaupt zusammen, ist absolute und vollendete Philosophie und Religion zugleich, und ihre Christ- lichkeit beruht auf dem Durchbruch der vollen religiösen Idee ge- rade im Christentum. Der praktische Charakter einer solchen Dog- matik zeigte sich nur darin, daß diese absolute Idee möglichst für die Gemeinde in den traditionellen Formeln als deren Kern und Sinn entwickelt wurde. Beide Ansätze sind nicht durchge- drungen. Schleiermacher wurde wesentlich bei seinen Anpas- sungen an die kirchliche Tradition gefaßt und so in eine kirchlich- biblizistische Dogmatik travestiert. Die Hegeische Schule brach

Die Dogmatik der »religionscreschiclitlichen Schule«

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unter der Auflösung der Hegeischen Metaphysik und unter der kri- tischen Entgegensetzung der absoluten Begriffsreligion gegen das konkret-historische Bild des wirklichen Christentums zusammen. Das allgemeine wissenschaftliche Interesse wandte sich in Deutsch- land überhaupt von Religion und Theologie ab. In den deutschen Kirchen aber triumphierte ein mehr oder minder entschlossener konfessioneller oder pietistisch-biblizistischer Supranaturalismus, der unter Berufung auf die innere Bezeugung des Wundercharakters des Christentums in der Bekehrung die religionsgeschichtlichen Fragen abstieß und sie den Philologen, Ethnologen und Philosophen überließ, um deren Schriften man sich nicht kümmerte. Auch die Schule Ritschis war und ist ein Biblizismus, der zwar historische Kritik an der Bibel zuließ, aber jede vergleichende Religionsge- schichte von sich abstieß.

Inzwischen ist nun freilich innerhalb der wissenschaftlichen Theologie diese Reaktion wieder zurückgetreten. Exegetische und historische Theologie wurden mit der inneren Notwendigkeit der Sache von religionsgeschichtlichen Methoden erfaßt und über- dies von den am gleichen Stoffe arbeitenden Philologen vorwärts gedrängt. Auf der anderen Seite machte sich auch in der Philo- sophie wieder das religionsphilosophische Interesse geltend und warf sich vor allem auf die Konstruktion der entwicklungsge- schichtlichen Stufen der Religion. Beide Bestrebungen vereinig- ten sich naturgemäß. Von jener historischen Forschung aus war schließlich eine Gesamtbetrachtung des Christentums nur mehr möglich im Rahmen der allgemeinen religiösen Entwicklung. Von dieser Entwicklungstheorie aus war umgekehrt nur eine Erfor- schung der Geschichte der biblischen Religion im religionsge- schichtlichen Sinne mögUch. So war die alte Situation der Auf- klärung, Schleiermachers und Hegels wiederhergestellt. Aber es war doch nicht genau dieselbe Situation. Vielmehr war sie in- zwischen ganz ungemein verwickelt und verschärft worden.

Einerseits ist die religionsgeschichtliche Erforschung des Chri- stentums ganz außerordentlich viel weiter getrieben worden und ergibt ein ganz anderes historisch-kritisches Bild, als es Hegel und Schleiermacher vorgelegen hatte. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament erscheint als ein ganz anderes. Der Höhepunkt Israels ist der Prophetismus, die Gesetzes- und Priesterreligion ist ein späteres Ergebnis. Zwischen diesem und der Predigt Jesu aber schiebt sich das Spätjudentum ein mit einer Fülle von

coS Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

großenteils religionsgeschichtlich zu erklärenden Neubildungen, die ihrerseits erst die Voraussetzung des Christentums bilden. Predigt und Geschichte Jesu sind nur aus den Synoptikern zu schöpfen und überhaupt nur in den allgemeinsten Grundzügen er- kennbar, hier aber noch frei von der späteren Christologie und Meta- physik, lediglich aus dem Prophetismus und dem eschatologischen Spätjudentum zu verstehen. Die von Jesu Gottesreichpredigt stark sich abhebende Christusreligion einer neuen Gemeinde und Kirche ist vollends ein viel umstrittenes bis heute nicht gelöstes Problem, an welchem jedenfalls religionsgeschichtliche Erklärungen erheb- lich mitbeteiligt sind. Das ist ein ganz anderes Bild als das des Schleiermacherschen Lebens Jesu und als die Darstellung der Tübinger, die noch an die Möglichkeit einer Geschichte Jesu und an eine rein innerchristliche Herleitung des Gemeindedogmas und Gemeindekultus glaubten. Auf der anderen Seite ist aber auch das allgemeine Bild der universalen religionsgeschichtlichen For- schung ganz ungemein viel deutlicher und umfangreicher, dafür aber auch fruchtbarer an Schwierigkeiten und Fragen geworden. Breit dehnt sich vor uns der unermeßliche Untergrund der primitiven ethnischen Religionen aus, von deren äußerst realistisch-sinnlichen Kulten und Vorstellungen vieles vergeistigt und sublimiert bis in die höchsten Religionen hineinragt und zu denen diese zurückzuarten stets von neuem vielfache Neigung zeigen. Sehr verschieden- artig und durch kein gemeinsames Schema ausdrückbar erscheinen die polytheistischen Kulturreligionen, bestimmten allgemeinen Kulturzuständen untrennbar zugeordnet. Merkwürdig verschlungen in Annäherungen und Gegensätzen sind dann schließlich die großen VVeltreligionen, unter denen die des Ostens immer mehr mit ihren zahlreichen Analogien zum Christentum und mit ihren besonderen ethischen und religiösen Werten sich dem Blicke zeigen und zur praktischen Auseinandersetzung stellen. Unter diesen Umständen erscheinen die Konstruktionen der Entwicke- lung, die Hegel und Schleiermacher wagten, als völlig ver- altete, magere Phantasien. Ja der ganze Gedanke der Konstruk- tion einer historischen Religion als der abschließenden, vollen- denden, alle anderen überwindenden erscheint fraglich und bedenklich.

Unter diesen Umständen kann das Unternehmen, von der Geschichte her eine religiöse Gesamtanschauung und Verkündigung aufzubauen, überhaupt als unmöglich erscheinen. Und es er-

Die Dogmatik der »religionssreschichtlichen Schule^.

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scheint in der Tat heute sehr vielen so. Allein dann könnte einerseits nur eine allgemeine religiöse Skepsis die Folge sein, deren weite Verbreitung nicht zum geringsten in diesen Eindrücken ihren Grund hat. Aber die religiöse Skepsis ist zugleich die Auf- lösung des religiösen Lebens überhaupt und ist für niemand mög- lich, der in all diesen Wirren trotzdem ein wahrhaft religiöses Herz bewahrt hat. Dann bliebe andrerseits die Möglichkeit einer geschichtslosen, aus dem überall gleichen Gehalt aller Religion geschöpften oder von der Philosophie hervorgebrachten Religion übrig. Aber das erste ist ein Wahn, den gerade die Kenntnis der Religionsgeschichte widerlegt, und das zweite ist eine Illusion, die an der Abhängigkeit der religiösen Elemente der Philosophien von den großen historischen Religionen und an der Kraftlosig- keit jeder bloß individuell-intellektuellen Religionsbildung scheitert. So wird man doch wieder auf die Geschichte zurückgeworfen und auf die Notwendigkeit, von ihr her eine für uns normative religiöse Ideenwelt aufzubauen.

Damit ergibt sich aber wieder die Tendenz auf eine Dog- matik und zugleich die erste Aufgabe einer religionsgeschicht- lich orientierten Dogmatik. Diese muß darin bestehen, zunächst von der Religionsvergleichung her geschichtsphilosophisch die prinzipielle und allgemeine Höchstgeltung des Christentums für unseren Kultur- und Lebenskreis zu erweisen. Gewiß kann man es nicht als die ihren Begriff vollendende und für immer reali- sierende Religion oder, in der Sprache Hegels, als absolute Religion konstruieren. Aber man kann es in dem ganzen reichen Gehalt seiner geschichtlichen Entfaltung den anderen Weltreligio- nen gegenüberstellen und sie sämtlich an einem Maßstabe messen, der in dieser Vergleichung selbst sich aus unserem religiösen und sittlichen Gefühl erzeugt. Er ist nicht wissenschaftlich beweisbar, aber er ist auch kein fertig mitgebrachtes Vorurteil oder ein be- liebiger Willkürakt, sondern eine in der Mit- und Nachempfindung dieser Gruppen sich herstellende Entscheidung. Diese Entschei- dung muß für den prophetisch-christlichen Theismus gegen den Quietismus und Pessimismus der östlichen Religionen getroffen werden. Denn was Brahmanismus, Buddhismus und Konfuzianis- mus auch an religiöser Tiefe und ethischer Feinheit enthalten mögen, sie sind nicht bloß bedenklich erstarrt und auf ein äußer- liches Formenwesen zurückgesunken, dem gegenüber das Christen- tum eine viel größere Kraft der Selbstkritik und der Verjüngung

Cjo D'^ Dogmatik der . leligionsgeschichllichen Schule«.

besitzt. Dieses letztere hat insbesondere durch seine Wurzelung in dem im unkosmologischen und ethisch-lebendigen Prophetismus und durch die Aufnahme der platonischen Seelenlehre und eu- ropäisch-griechischen Wissenschaft eine Lebens- und Bewegungs- fülle, die dem Osten fehlt. Indirekt läßt sich dann zeigen, wie eine solche Entscheidung in der Konsequenz der religiösen Idee selbst und in der Zusammenstimmung mit den Forderungen der übrigen Lebensgebiete liegt. Wir haben keinen Anlaß, die christ- lichen Grundlagen der europäisch-amerikanischen Welt zu ver- lassen und müssen unsere religiöse Zukunft aus dieser Grundlage unseres ganzen geistigen Daseins heraus entwickeln ^").

Aber was heißt das: das Christentum. Diese Frage ist die zweite große Hauptfrage, und in ihrer Beantwortung besteht die zweite Aufgabe und Grundlegung der Dogmatik, die wiederum nur in einem religionsgeschichtlich inspirierten Sinne erfolgen kann. Die erste Untersuchung führt nur bis zum Christentum überhaupt, nicht etwa zur Bibel, sondern zum ganzen geschichtlichen Lebens- komplex des Christentums. Das aber ist eine überaus weitschichtige und in ihren verschiedenen Perioden und Gruppen verschieden- artige Lebenswelt. Sie kann nicht ohne weiteres als Grundlage und Gegenstand der Dogmatik gelten. Insbesondere ist gerade ihre Auffassung sehr stark durch das religionsgeschichtliche Den- ken bestimmt, das uns zeigt, wie die biblische Urgestalt mit ganz bestimmten Zeitverhältnissen zusammenhing, wie dann Platonis- mus und Stoizismus bis zur UnUnterscheidbarkeit sich mit ihm verschmolzen haben, wie verschiedene Völkerwelten, politische und soziale Gesamtverfassungen es bestimmt und umgestaltet haben, wie der Protestantismus ihm einen neuen Sinn individua- listischer Ueberzeugungsreligion gegeben hat und wüe die mo- derne Wissenschaft und Humanitätsethik es weiterhin in ihre Atmosphäre gezogen haben. Unter diesen Umständen ist klar, daß das von der Dogmatik darzustellende Christentum aus mehr als einem Grund nicht einfach die Gedankenwelt und Ethik des Neuen Testamentes ist. Jeder einfache Biblizismus ist unmöglich. Was aber ist dann das »Christentum« } So hatten schon Locke und die Aufklärung gefragt. Historisch-kritisches und entwickelungs-

^®) Vgl. mein Buch sDie Absolutheit des Christentums und die Religions- geschichte«. Aehnliche Ansichten entwickelt Burman G. Fester, The Finality of the Christian religion Chicago, 1909; s. auch den späteren Aufsatz über iLogos und Mythos«.

Die Do^matik der »religionsü;eschichtlichen Schule«.

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geschichtliches Denken führte dann weiter dazu, den ganzen Um- kreis der christlichen Lebenswelt als stufenweise Entfaltung einer darin sich offenbarenden Triebkraft oder Grundidee zu betrachten. Diese Idee oder dieses in den Erscheinungen sich entfaltende »Wesen« mochte dann als Gegenstand und Grundlage der Dog- matik erscheinen. Schleiermacher fand es in dem Glauben an eine durch Jesus vollbrachte Erlösung oder besser an die von ihm ausstrahlende erlösende Erhöhung der ethisch-rehgiösen Kräfte, an das hiermit zu bewirkende Gottesreich einer religiösen Huma- nität. Hegel und die Tübinger fanden es in der Idee der Trinität oder der Gottmenschheit, wonach die aus Gott herausgesetzte Kreaturenwelt in der religiösen Erkenntnis zu ihm zurückkehrt und in universaler Humanität zum Gottmenschen oder zur gott- einigen und dadurch in sich selbst geeinigten Menschheit wird. Adolf Harnack, der sich vielfach den religionsgeschichtlichen und religionsphilosophischen Denkern nähert, bestimmte in seinem be- kannten Buch das Wesen im Anschluß an die Gottesreich- predigt Jesu als den Gedanken des Gottesreiches der Bruderliebe, das begründet ist auf das Vertrauen zu Gott als Vater Jesu Christi. Man sieht, im ersten Fall ist es eine Humanisierung der kirchlich-pietistischen Erlösungsidee, im zweiten eine spekulative Deutung der kirchlichen Zentraldogmen von der Trinität und dem Gottmenschen, im dritten eine Kantisch-ethische Deutung der Gottesreichpredigt. In allen Fällen ist es nicht die Idee als die wirkliche Einheit aller ihrer historischen Hervorbringungen. Auf diesem Wege läßt sich daher das Problem nicht lösen. Denn gerade eine wirklich religionsgeschichtliche Betrachtung zeigt die durch keine Idee und Triebkraft zu bewältigende Mannigfaltigkeit von Anpassungen, Formationen und Synthesen. So kann das »Wesen« nur verstanden werden als die jeweils jeder Gesamtlage entspre- chende produktive Neudeutung und Neuanpassung der christlich- geschichtlichen Mächte. Das Wesen ist für jede Epoche ein anderes, aus der Gesamtheit ihrer Einflüsse sich ergebendes. So ist allerdings für die heutige Dogmatil-: das »Wesen« zugrunde zu legen und nicht einfach Bibel oder kirchliches Bekenntnis. Aber dieses Wesen ist gerade die subjektiv-persönliche Deutung und Synthese, die die Gegenwart aus ihrer Gesamtlage heraus an der geschichtlichen Lebensmacht vollzieht und ihrer Zukunfts- arbeit zugrunde legt. Es steckt darin das historische Gemein- gefühl und Verständnis, aber auch die subjektive und produktive

Ci2 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule^;.

Deutung und Gestaltung. So werden die Wesensbestimmungen auch heute nicht völHg untereinander übereinstimmen können, sondern nur durch das Schwergewicht der Geschichte und durch die Gemeinsamkeit der modernen geistigen Athmosphäre einen Zug der nahen Verwandtschaft erhalten. Die Wesensbestimmung, die ich in diesem Sinne meinerseits der Dogmatik zugrunde legen möchte, würde lauten : Der christlich-religiöse Glaube ist der Glaube an die Wieder- und Höhergeburt der in der Welt gottentfremdeten Kreatur durch die Erkenntnis Gottes in Christo und damit ihre Vereinigung mit Gott und unter sich zum Gottesreiche. Eine nähere Begründung dieser Bestimmung kann hier natürlich nicht gegeben werden^").

Sind wir soweit gelangt, dann stehen wir drittens vorder Aufgabe der eigentlichen Dogmatik im engeren Sinne. Sie ist unter diesen Umständen nichts anderes als die Darlegung dieses »Wesens«. Sie entfaltet die in ihm enthaltenen genaueren Vor- stellungen von Gott, Welt, Mensch, Erlösung oder Erhöhung, Ge- meinschaft oder Gottesreich, Hoffnung oder ewigem Leben. Re- ligionsgeschichtlich bedingt ist hieran die ganze Auffassung der Dogmatik als Entfaltung des Wesens und die Zerfällung der im Wesen verbundenen Vorstellungswelt in die angegebenen Haupt- begriffe. Diese sind in dem Wesen jeder höheren oder univer- salen Religion enthalten und bilden das Schema, nach dem auch die christliche Ideenwelt zu gliedern ist. Es gilt, in der christ- lichen Dogmatik nur diese allgemein-religiösen Grundbegriffe in ihrem spezifisch-christlichen Sinne frei und lebendig darzulegen. Damit ist schon ein gewisser Schulcharakter gegeben, der aus der religionsgeschichtlichen Orientierung folgt. Aber die Folgen dieser Orientierung erstrecken sich noch weiter in den formellen Aufbau und damit in den Geist einer solchen Dogmatik hinein. Es liegt auf derHand, daß eine historisch-kritische Denkweise die Persönlich- keiten und Tatsachen der biblischen Geschichte, insbesondere die Person Jesu, in die Relativitäten des Geschehens und in die Unsicher- heiten der Ueberlieferung hineinzieht und sie dadurch unfähig macht das eigentliche und unmittelbare Objekt des Glaubens zu sein, wie denn ohne geschichtlich-kritisches Denken Jesus mit Gott naturgemäß identisch wird, um unmittelbares Glaubensobjekt sein zu können, und umgekehrt bei kritischem Denken der Gott Jesu zum Glaubensobjekte wird und Jesus sich in den geschicht-

^^) Vgl. den Aufsatz )Was heißt Wesen des Christentums?«

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

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liehen Vermittler und Offenbarer verwandelt. Diese Folg-erunp- trat von Anfang an mit der historischen Kritik als ihr natürliches Korrelat hervor. Sie ist inzwischen durch die religionsgeschichtliche Ausweitung des historisch-kritischen Denkens ganz außerordentlich verstärkt worden. Unter diesen Umständen hat die Dogmatik den christlichen Gottesglauben oder die im »Wesen« eingeschlos- senen Begriffe in voller Geschlossenheit darzustellen ohne jede Einmischung historischer Elemente. Sie stellt unseren Glauben an Gott und an die Vereinigung der Kreatur mit Gott als gegen- wärtig zu erlebende und mit jedem Individuum sich erneuernde Erlösung dar. Sie enthält lauter gegenwarts-religiöse oder wenn man das Wort nicht philosophisch mißverstehen will lauter metaphysisch-religiöse Sätze. Aber das ist nun doch bloß die eine Seite der Sache. Diese Gegenwartserlebnisse haben ihre Kraft, Lebendigkeit und Anschaulichkeit, vor allem aber auch ihre Fähigkeit zur Gemeinschaftsbildung an der uns zu Gott führenden geschichtlichen Lebenswelt und innerhalb dieser in ganz besonderer Weise an den Propheten und an Jesus. Ohne diese Kraftquellen und Konzentrationspunkte verarmte und erlahmte die persönliche Fröm- migkeit und besäße die Gemeinschaft kein Zentrum, als welches eine bloße Dogmatik ja nie wirken kann. Auch gäbe es ohne das keinen gemeinsamen Kultus, der doch nicht in theoretischer Be- lehrung, sondern in Vergegenwärtigung der ganz undogmatischen geschichtlichen Lebensquellen bestehen muß. Dann aber bildet die Frage nach der religiösen Bedeutung der geschichtlichen Größen und nach ihrer Behauptung gegenüber einer alles zer- setzenden Kritik eine wesentliche Aufgabe der Dogmatik neben der rein metaphysisch-religiösen. Sie wird also zerfallen müssen in die beiden großen Betrachtungsgruppen, die sich aus der Be- jahung des Wesens ergeben: in historisch-religiöse und in meta- physisch-religiöse Sätze, wobei die Gliederung der letzteren als aus dem psychologischen Charakter der religiösen Vorstellungs- welt überhaupt sich ergebend bereits bezeichnet worden ist. Damit bekommen wir dann allerdings einen charakteristischen Aufriß der Dogmatik einer religionsgeschichtlichen Schule : I. Historisch-religiöse Sätze, in denen die religiöse Bedeutung der historischen Grundlagen der Propheten, Jesu und der Entfal- tung des christlichen Geistes in der Geschichte darzustellen ist und wo insbesondere die Person Jesu in ihrer Bedeutung für die individuelle wie die gemeinsame Frömmigkeit im Vordergrunde

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. -'-^

Ci^. Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

steht; II. Metaphysisch-religiöse Sätze, in denen der Gottes-, Welt- und Seelenbegriff des christlichen Denkens, sodann ihr gegen- seitiges Verhältnis im christlichen Erlösungsbegriff, schließlich die Folge des letzteren in der christlichen Idee der Gemeinschaft und der letzten Dinge darzustellen ist. Die Einzelausführung kann hier natürlich nicht weiter angedeutet werden. Auch die Frage, wie diese Gedanken mit den modernen wissenschaftlichen Er- kenntnissen der Kosmologie, Anthropologie usw. ausgeglichen werden können, gehört nicht hierher, da das mit dem besonderen religionsgeschichtlichen Charakter nichts zu tun hat. Hierüber kann in diesem Zusammenhang nur gesagt werden, daß eine so verstandene Dogmatik hier sehr frei und unbedenklich verfahren kann, indem sie sich ja selbst als ein Stück des religiösen Werdens und Wachsens empfinden darf. Es versteht sich von selbst, daß der religiöse Gedanke von der aus Gott zu gewinnenden, Sünde und Weltleid überwindenden Göttlichkeit der Seele und von dem Bruderreich der gotterfüllten Seelen in den Rahmen der Kos- mologie mit ihrer mutmaßlichen Vielzahl von Geisterreichen und in den der Biologie mit ihrem Aufstieg des Geistes aus der Basis der Seelennatur einzustellen ist. Im übrigen wird eine solche Dogmatik ihre Begriffe weniger von der Philosophie her als von dem Verhältnis zu den anderen großen Universalreligionen be- leuchten ^^).

Hieran reiht sich nun zuletzt ein vierter Punkt, der freilich nicht eine besondere Aufgabe dieser Dogmatik betrifft, sondern den hieraus folgenden Gesamtcharakter beleuchtet. Eine solche Dogmatik setzt wissenschaftliche Kenntnisse und Methoden voraus, ist aber selbst keine Wissenschaft. Sie ist ein Bekenntnis und eine Zergliederung dieses Bekenntnisses als Anleitung für Predigt und Unterricht, die auch ihrerseits nur Bekenntnis sind, aber einer ausgeführten und durchsichtigen Anleitung für ihre Arbeit bedürfen. Auch bedürfen sie des Gefühls, daß ein solches Be-

^*) Hier kann ich in meinen Arbeiten bis jetzt nur auf Beispiele verweisen, auf die dogmatischen Artikel des Lexikons »Religion in Geschichte und Gegen- wart«, Tübingen, Mohr, und auf die kleine Schrift »Die Bedeutung der Geschicht- lichkeit Jesu für den Glauben«, 1911. Die ersteren behandeln Oifenbarung, Er- lösung, Gnade, Glaube, Kirche, Prädestination, Eschatologie. Die letztere ent- wickelt von einem rein praktisch-psychologischen Gesichtspunkt aus die Bedeutung Jesu für die christliche Gemeinschaft und für den Einzelnen, wobei die mannig- fachste konkrete Anwendung im einzelnen frei bleibt.

Die Dogmatik der yieligionsgeschichtlichen Schule«. c j e

kenntnis eine prinzipielle wissenschaftliche Klarstellung zu seinem Hintergrunde hat. Die entscheidende Bejahung der christlichen Lebenswelt ist eine persönliche Stellungnahme. Die Bestimmung des für die Gegenwart geltenden Wesens des Christentums ist nicht minder eine Sache persönlicher Intuition. Auch die Aus- gestaltung der christlichen Glaubensgedanken auf dieser Grund- lage ist überall eine freie, aus dem Leben schöpfende Gedanken- bildung. So haben wir es hier überall mit etwas durch und durch praktisch Lebendigem zu tun , das keiner unveränderlich festen ge- offenbarten aber auch keiner ewig sich gleichen spekulativen Wesen- heit lediglich zur Erläuterung dient. Es ist Gestaltung und Produk- tion aus den Kräften der Geschichte heraus, wie es auf diesem Ge- biete nicht anderes sein kann. So ist die Dogmatik ein Stück der praktischen Theologie und keine eigentliche Wissenschaft. Sie zeigt sich in diesem Lichte noch deutlicher, wenn wir ihren praktischen Zweck erwägen. Dieser liegt in der Unterweisung von Predigern und Lehrern einer Gemeinschaft und will diesen einen Leitfaden christlich-religiöser Gedanken zu freiem Gebrauche darbieten. Der einzelne Laie bedürfte eines solchen nicht, sondern kann sich mit einer etwas prinziplosen Mischung von praktischen Lebenserfahrungen , wissenschaftlichen Theorien und religiösen Aphorismen begnügen, wie er das ja auch in der Regel tut. Aber Predigt und Unterricht einer Gemeinschaft bedürfen einer solchen An- leitung, eines solchen Vorschlages zu geordnetem religiösen Denken, um eine klare Gedankenrichtungund eine zusammenhaltende Gemein- samkeit der Grundlehren zu besitzen. Auch erklärt sich bei diesem Zweck der weitgehende Anschluß an die Formen, Worte und Lehren der Ueberlieferung, die der einzelne Laie für sich nicht nötig hat, die aber für das Ganze die Kontinuität festhalten und die Verständigung mit konservativeren dogmatischen Leitfäden er- mögUchen. So ist die Dogmatik mit der hier nicht näher zu be- sprechenden Ethik zusammen ein Stück der praktischen Theo- logie, und zwar ihr wichtigstes, während Religionsphilosophie und Geschichte des Christentums einen rein wissenschaftlichen Cha- rakter tragen ^^).

So stellt sich in den Hauptzügen das Wesen einer Dogmatik

^ä) Das ist schon der Sinn von Schleicrmachers »Kurze Darstellung des theologischen Studiums« ; s. oben den Aufsatz »Rückblick auf ein halbes Jahr- hundert«. Für die Ethik s. weiter unten die »Grundprobleme der Ethik«.

33*

Cl5 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«,

dar, die aus dem Horizonte religions-geschichtlichen Denkens er- wächst und dadurcli allerdings gewisse Richtlinien empfängt, wenn auch die grundlegende Auffassung vom Wesen des Christen- tums und die ausführende Gestaltung der einzelnen Glaubensge- danken von hier aus noch recht verschiedene Wege gehen kann. Ich brauche nicht hinzuzufügen, daß eine solche Dogmatik zweifel- los sehr ernstes, warmes und tatenfreudiges religiöses Leben in sich bergen kann. Dagegen möchte ich in Kürze noch einigen Einwürfen begegnen, die man gegen eine solche Dogmatik er- heben kann.

Man kann sagen, das sei keine »Dogmatik«, keine Entwickelung feststehender und unveränderlicher Wahrheiten. Das ist richtig, und man kann daher den Namen mit Schleiermacher fallen lassen. Man kann statt Dogmatik »Glaubenslehre« sagen, um den be- kenntnismäßig subjektiven Charakter damit anzudeuten. Das ist lediglich eine Frage der Terminologie, wo das Wort »Dogmatik« gewisse sprachliche Vorteile darbietet und durch das Herkommen gestützt ist. Was aber die Sache anbetrifft, so ist allerdings die Meinung, daß es jene unveränderlich feste Wahrheit in der Tat gar nicht gebe. Sie ist nicht bloß dem Menschen nicht er- kennbar, sondern durch den lebendigen Werdecharakter der Welt überhaupt ausgeschlossen, wo es kein fertiges, lediglich auszu- führendes Programm, sondern nur die immer neue und lebendige Erfassung des sich selbst innerlich bewegenden Weltwesens gibt. Ein reiner Subjektivismus ist aber eine solche Dogmatik schon um deswillen nicht, w-eil sie aus der großen geschichtlichen Offen- barung heraus sich gestaltet und in der Richtung auf das abso- lute Ziel hinzuarbeiten sich bewußt ist.

Man kann sagen, eine solche Dogmatik sei keine Wissenschaft. Das ist mit dem bisherigen ja auch bereits eingeräumt. Aber sie kann dem Wesen der Sache nach keine Wissenschaft sein. Diese ist nur auf das Immer-Gleiche und Gültige gerichtet. Ueber die im Weltwerden auftauchenden Lebenswerte aber entscheidet keine Wissenschaft, sondern die die Lebenswerte fühlende, ergreifende und gestaltende Intuition. Sie sind eben nichts allgemeines und gesetzhches, wie die Objekte der Wissenschaft, sondern die jeweils besonderen Schöpfungen des Lebens. Das bedeutet aber keine Verachtung der Wissenschaft. Schon der Beweis, daß die Sache sich so verhalte, ist eine wissenschaftliche P2insicht. Ferner ist die Einstellung auf das geschichtliche Bild der Dinge ebenso

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«. cjy

wie die hier nicht in Frage kommende Einstellung auf das kos- mologische Bild eine ernste Rücksicht auf die Wissenschaft. Schließlich erfordert die Darstellung der Glaubensgedanken Uebung in wissenschaftlicher Methode und Klarheit. Die Dogmatik ist selbst keine Wissenschaft, aber sie setzt wissenschaftliche Bildung voraus.

Man kann sagen, eine solche Dogmatik sei individualistisch und anarchistisch und eigne sich nicht für eine religiöse Gemeinschaft, für eine kirchliche Predigt. Allein das erstere ist entschieden unrichtig. Sie strebt vielmehr geradezu nach möglichstem An- schluß an die Lebensmacht des geschichtlichen Christentums und kann die zusammenhaltende Bedeutung der Persönlichkeit Jesu so warm und lebendig geltend machen, wie das z. B. Wilhelm Herrmann tut. Auf der anderen Seite setzt sie freilich eine indi- viduelle Mannigfaltigkeit verschiedener Dogmatiken in einer Kirche voraus und entbehrt insoferne der festen Kraft eines gleichen, alle bindenden Dogmas. Allein die Kirchen sind begründet und bedürfen heute nicht mehr der leidenschaftlichen Konformität, die in den Zeiten ihrer Gründung möglich und nötig war. Die heutige Dogmatik soll der heutigen Zeit dienen, die keine Zeit der Kirchen- gründung, sondern der religiösen Unruhe und Krisis, der intel- lektuellen und ethischen Umwälzungen ist. Da müssen die Kirchen, gerade um dem Leben zu genügen, individuelle Freiheit gewähren und kann gerade eine solche Dogmatik vielen Gläubigen entsprechen, während anderen Gruppen andere dogmatische Leit- fäden entsprechen werden. Wenn die Kirchen diese Weitherzig- keit nicht mitmachen wollen und können, so werden sie in den Hintergrund gedrängt werden. Sie müssen begreifen, daß eine neue Epoche des menschlichen Geistes auch in den Kirchen zum Ausdruck kommen muß oder die Kirchen beiseite schiebt. Können sie ihr nicht Rechnung tragen, so sind sie innerlich überwunden und müssen in engen Kreisen eine rückständige Gläubigkeit ge- waltsam pflegen. Das aber wäre ein Unglück für unsere religiöse Zukunft. Die heutige Krisis wird nicht durch kirchliche Neu- gründungen, sondern durch Ausweitung und Beweglichmachung der Kirchen überwunden.

Man kann sagen, eine solche Dogmatik eigne sich nicht für die Mission. Diese fordere ein festes und bestimmtes Dogma und eine sichere Ueberzeugung von der alleinseligmachenden Wahrheit, die man verkündet. Das mag in vieler Hinsicht richtig

ri3 Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

sein. Aber eine solche Dogmatik ist auch nicht für die Bedürf- nisse der Mission sondern für die der alten Christenheit bestimmt, die unzweifelhaft in einer schweren inneren Krisis sich befindet. Für die Mission bleibt durch die großen Massen orthodoxer Gläubigkeit doch immer gesorgt, und sie ist jedenfalls eine völlig andere Aufgabe als die der Gewinnung einer religiösen Klarheit in den Wirren des modernen Lebens. Dessen Probleme fallen bei dem größten Teil der Missionstätigkeit überhaupt ganz weg, so daß die Predigt in dieser ganz bedeutend vereinfacht werden und päda- gogisch verfahren darf. Die Mission aber auf den Gebieten der alten östlichen Religionen und Kulturgebiete, deren gebildete Schichten Fühlung mit der westlichen Bildung haben, wird freilich ähnliche Aufgaben vorfinden wie diese Dogmatik und an ihr nicht einen Feind, sondern eine Hilfe haben. Hier wird mit der direkten christlichen Missionierung, Bekehrung und Aufnahme in abend- ländische Kirchen überhaupt nur sehr bedingt gearbeitet werden können. Vielmehr wird hier eine mittelbare Verständigung ihre Bedeutung haben , die gerade auf reHgionsgeschichtlicher und religionsphilosophischer Basis ruht. Hier wird das nächste Ziel überhaupt nur sein können, daß man sich gegenseitig versteht und würdigt. Alles weitere liegt noch in weitem Felde.

Insbesondere kann man sagen, daß eine solche Dogmatik den gesamten Protestantismus in die größten praktischen Schwie- rigkeiten stürzen müsse, weil seine Predigt und sein Unterricht ganz auf die Bibel erbaut sei und folglich mit einer solchen nicht-bibli- zistischen Dogmatik sich in sich selbst entzweie. Hier liegt in der Tat eine ernste Schwierigkeit, die aber nicht bloß eine solche der Dogmatik, sondern eine solche des modernen religiösen Lebens selber ist. Wenn man die Bibel nicht mehr in ihrer naiven kirchlichen Umdeutung und Anpassung nehmen kann, sondern an ihren eigentlichen Wortsinn, wie ihn historisches Denken zeigt, sich bindet, dann ist mit ihr allein überhaupt nicht durchzukommen. Wenn dann vollends eine historisch-kritische Erforschung und gar eine religionsgeschichtliche Betrachtung hinzukommt, dann ist es freilich ganz unmöglich, sie als einziges Mittel der Gedankenbildung zu behandeln und die Geschichte zwischen ihr und der Gegen- wart zu vergessen. Daraus kann aber nur folgen, daß die Bibel nicht das einzige Instrument der religiösen Gemeinschaft sein kann, sondern daß zu ihr der ganze Reichtum der christlichen Geschichte hinzugenommen werden muß. Sie ist der Kern und

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«. KlQ

der Ausgangspunkt, aber nicht das einzige Mittel zur Veranschau- lichung und Nährung des religiösen Lebens. Das ist ja aber auch längst in der Wirklichkeit so, und nicht erst die Folge einer solchen Dogmatik.

Der letzte Einwurf wäre, daß eine solche Erbauung auf das »Wesen des Christentums« statt auf die Bibel oder das kirchliche Bekenntnis die Christlichkeit einer solchen Dogmatik in Frage stelle. Allein hier ist nur wieder zu verweisen auf die Viel- deutigkeit des Wortes »Christentum« und auf die Unmöglichkeit, es in einer unabänderlichen Grundlehre zu fixieren. Hier ist ja auch die heutige konservative Theologie mitten im Experimen- tieren. So lange das Christentum lebendig istj wMrd man darüber streiten, was es ist und was es sein soll, und wird man es in immer neuen Synthesen mit der Gesamtlage neu deuten und der nächsten Zukunft anpassen. Die geschilderte Dogmatik ist nichts als eine solche Anpassung und Synthese und beruht gerade auf dem Vertrauen zu der Unerschöpflichkeit des Christentums. Im übrigen ist die Christlichkeit auch 'dadurch ganz konkret ge- wahrt, daß diese ganze Lebens- und Gedankenfülle auf das Urbild der Person Jesu bezogen bleibt und an dem Bekenntnis zu ihm das alleinige Bindemittel der Gemeinschaft hat. Sie ist weiterhin dadurch gewahrt, daß in der Bejahung der christlichen Lebens- welt gerade die personalistisch-theistischen Züge, der dualistische Kampf der Sünde und Erlösung, die über die Welt hinausgreifende Zukunftshoffnung als Grundzüge des religiösen Lebens bejaht werden. Das sind aber diejenigen Züge, die in der Weltge- schichte auf die Propheten Israels und auf Jesus zurückgehen. Die wesentliche Christlichkeit einer solchen Dogmatik steht also wohl außer Zweifel, und mehr als eine wesentliche Christlichkeit kann in unserer Welt immer neuer Konzentrationen und Lösungen des geistigen Lebens nicht verlangt werden. Eine unveränder- liche Christlichkeit würde das Ende des Christentums bedeuten. Es hat sie nie gegeben, und würde sie nur geben können, wenn es einmal rein der Geschichte angehörte.

Mehr aber als alle Zurückweisung solcher Einwürfe spricht für eine Glaubenslehre dieser Art der positive Gewinn, die große Erleichterung und Befreiung, die sie für alle modern Denkenden und doch nach einem religiösen Bekenntnis Suchenden bedeutet.

Sie stellt sich nicht von vorneherein oder mit überall durch- brechenden Hintergedanken gegen alle die Gefühle und Instinkte

C20 D'^ Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

der Zeit, die aus dem Einblick in die endlos bewegliche und flüssige Natur unseres geistigen Lebens sich ergeben. Ueberall fühlen wir die Dämme reißen, die durch fertige, ewige, wandel- lose Wahrheiten den Wechsel aufzuhalten suchen. Eleatische, Platonische, Kantische Gedanken vom ewigen Apriori haben ver- geblich den Fluß zu begrenzen versucht und sind schließlich selbst in ihn hineingezogen worden, zu bloßen Strebungen und Annäherungen an das Absolute geworden. Alle vernunftnot- wendigen Staats- und Gesellschaftsideale sind in den Strudel fortgerissen, und auch keinen unveränderlichen Kodex des Ge- wissens gibt es mehr. Die Vernunftnotwendigkeit der klassischen Naturwissenschaft Newtons und seines Zeitalters ist dahin, und selbst an die Mathematik wagt sich die empiristisch-relative Be- trachtung. Vollends auf dem Gebiete der Technik ist jeder Versuch, letzte Möglichkeiten und Abschlüsse zu konstruieren, immer wieder praktisch widerlegt. Wir denken an die unge- heuren prähistorischen Zeitalter, an Eisperioden, Klimawechsel und Polschwankungen, an die mögliche Wiederkehr solcher Zu- stände auf heute noch kultivierten Gebieten, an die mögliche ungeheure Dauer der Menschheit und die darin noch bevor- stehenden Geschehnisse, an das mutmaßliche Ende durch Ver- minderung der Sonnenenergie, von der wir leben, oder durch etwas Aehnliches. In dieser grandiosen Perspektive sehen wir unser eigenes Dasein. Das bedeutet heute freilich längst nicht mehr eine siegesgewisse B'ortschrittstimmung; es ist mehr zu einem Grauen vor der veräußerlichenden und relativierenden Un- begrenzbarkeit der wandelbaren Daseinsbedingungen geworden. In dem gleichen Maße, wie dieses Grauen verstanden wird, wendet sich nun freilich wieder das Denken und der Glaube auf das Absolute. Aber man konstruiert es nicht mehr als das Fertige, sondern als das Ziel, dem wir entgegenwachsen und dessen Ewigkeit auch schon in allen Annäherungen als deren Triebkraft enthalten ist. Wir suchen uns mit Ahnung und Intuition einzu- stellen in den vorwärtsdrängenden Auftrieb des Lebens und sind gewiß, damit in der jeder Lage konkret möglichen Weise am Absoluten Teil zu haben. In eine solche Fassung des Absoluten nun läßt sich die Glaubenslehre, wie sie hier angedeutet wurde, hineinfühlen und hineindenken. Sie wird dem Relativen gerecht und glaubt in ihrer eigenen konkreten ßekenntnisgestaltung die unter uns lebendiere Kraft des schaffenden Absoluten darzustellen.

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«.

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Gerade etwas derartiges ist der absoluten, kirchlich-traditionellen oder biblizistischen Dogmatik unmöglich. Sie macht der Ge- schichte entweder zuviel Zugeständnisse und geht an diesen zu- grunde. Oder sie macht nur Scheinzugeständnisse und erstickt in der Sophistik. Das fertige supranaturale Absolute der alten Dogmatik gehörte in die geistige Atmosphäre fertiger meta- physischer Wahrheiten und ewiger Staats- und Gesellschafts- ideale, In der Atmosphäre der modernen geschichtlichen Relati- vierungen aller Dinge kann sie nicht mehr gesund und unbe- fangen atmen. Von diesen Atembeschwerden und den Versuchen künstlicher Atmung werden wir frei und können uns mit ganzer Seele hineingeben in die Aufgabe des Moments, in dem wir doch die Richtung auf das Ewige ergreifen.

Das zweite ist, daß eine solche Glaubenslehre eine außer- ordentliche Verjüngungs- und Konzentrationsfähigkeit der christ- lichen Lebenswelt bed-eutet. Es wird möglich, ihr Wesen gerade in den Lebenskräften zu sehen, die der gegenwärtige Moment verlangt, und doch wird dadurch keine der früheren Fassungen des Wesens zur bloßen Durchgangsstufe oder Vor- bedingung. Wir bleiben überhaupt frei von dem Wahn, nun erst den Gipfel der Wahrheit erreicht zu haben. Wir wissen, daß jede der großen Zeiten des Christentums ihre eigenen lebendigen Probleme und Antworten gehabt hat, daß spätere Zeiten andere Gedanken in den Mittelpunkt stellen und von ihrem Mittelpunkt aus andere Zusammenhänge entwickeln werden. Aber wir wissen, daß auch in unseren Fragestellungen die Kraft des lebendigen Gottes pulsiert und daß in unseren Antworten die Stimme der Ewigkeit in der uns möglichen Weise ertönt. Einst galt die Sehnsucht dem kommenden Gottesreich, dem neuen Himmel und der neuen Erde, und darin war die Heiligkeit eingeschlossen, die allein das Gottesreich ererben kann. Dann besaß man freudig in Kirche, Sakrament und Dogma die Autorität, die durch die Gefahren einer versinkenden Welt hindurchführte und der jenseitigen Herrlichkeit gewiß machte. Später kannte man ein Reich allgemein menschlicher Gesittung und gesellschaftlicher Ordnung, in denen Natur und Gnade, Individuum und Gemeinschaft seine Stätte fand und einer rohen Welt die Zartheit der Seele eingeflößt wurde. Das reformatorische Zeitalter litt unter dem Fluch einer ver- äußerlichten Autorität, einer komplizierten Ordnung und einer zersplitterten Ethik. So faßte es sich ein Herz zum einfachen

C22 '^'ß Dogmatik der >religionsgeschichtlichen Schule«.

Sinn der Bibel und entwickelte aus der Rechtfertigung durch den Glauben Zuversicht, und Kraft einer schlicht bürgerlichen Ethik. Heute ist unter dem Einfluß der Naturalisierung von Seele und Welt, der Mechanisierung von Gesellschaft und Arbeit die große Lebenssucht der Zeit der Wiedergewinn der Seele, der unend- lichen Tiefen des Innenlebens, und mit ihnen die Wiedereroberung der Gottesgewißheit, die neue Eroberung des Gegensatzes von Natur und Geist, von Gott und Welt, wo erst aus dem Gegen- satz wieder neue Bewegung und Vertiefung des entseelten Lebens möglich wird. Auf diese Wahrheiten vom unendlichen Wert der Seele, von der Rettung des inneren Wertes und der Hoffnung der Zukunft ist heute die Frage und die Antwort eingestellt. So gestaltet sich das Christentum als das Evangelium von der Gewinnung und Behauptung der gotterfüllten Seele. Jesus wird zum Deuter und Wegweiser in den Geheimnissen der Seele. Und eben darin liegt auch die andere große religiöse Frage der Zeit, die Frage nach Zusammenhang und Bindung der Seelen in einer gemeinsamen Lebenssubstanz und einem gemeinsamen Ziele. Das Güttesreich in seinem Unterschied von der Kirche und von dem großen utopischen Zukunftswunder, das Gottesreich als die Ge- meinschaft der Humanität und der Gottesliebe, die innere Eini- gung der Menschheit im Geiste, steigt vor uns als die große Hoff- nung auf gegenüber allem zerbröckelnden Individualismus, aller Selbstvergötterung, aller gemeinschaftslosen Zerfahrenheit und aller bloßer Zwangsverbindung. Das sind die neuen gluterfüllten Fragen, während die alten erkaltet und fremd geworden sind für uns. Wir fragen nicht, wie kriege ich einen gnädigen Gott.? Wir fragen vielmehr, wie finde ich die Seele und die Liebe wieder.-^ Andere Zeiten werden wieder anders fragen. Aber da ist es nun die Möglichkeit einer echten freien Glaubenslehre, die Frage der Gegenwart bewußt zu formulieren und die Antwort als den eigentlichen heutigen Inhalt der Glaubenslehre in der einfachsten und stärksten Konzentration zu geben, statt mühsam einen fremden dogmatischen Traditionsstoff reden zu lassen, als besäße er das Geheimnis, mit der Stimme der Gegenwart zu reden. Wir quälen uns nicht mit Umdeutungen und Zurechtlegungen, sondern gehen entschlossen auf die lebendigen Zentralfragen und hoffen auf die Antwort Gottes, in der die alte Lebenswelt neuen hoffnungsfreudigen Klang gewinnt.

Schließlich werden wir mit einer solchen Glaubenslehre frei

Die Dogmatik der »religionsgeschichtlichen Schule«. C2^

von der Last des Historischen, ohne die Kraft und den Segen der Geschichte zu verUeren. Die zentrale Gewißheit ist eine un- mittelbare Gewißheit des Lebens, die aus der christlichen Lebens- welt heraus sich für uns bildet. Wir brauchen nicht durch das unerläßliche Joch bestimmter Glaubenssätze über geschicht- liche Dinge zu gehen, um in das Land der Freiheit des Geistes zu kommen. Wir müssen nicht bestimmte Beurteilungen Jesu, der Apostel, der Bibel, als den Preis bezahlen, um den allein die köstliche Perle feil ist. Wir vernehmen vielmehr den himmli- schen Vater aus dem lebendigen Gang der Gegenwartsgeschichte, wie sie aus der Vergangenheit heraus geworden ist. Wir be- zahlen nur den Preis der Läuterung und Selbstkritik, der Selbst- besinnung und Hingabe an die ewige Welt, der Brechung des Weltsinnes und der Selbstsucht. Aber indem wir um diesen Preis eingehen in das Reich der Wahrheit, werden uns seine Propheten und Meister lebendig, suchen wir den Halt des Einzelnen und den Zusammenschluß der Gemeinde bei ihnen. Aus dem freien Willen der Pietät und Verehrung, der gläubigen Hingabe und freien Ausdeutung erwächst eine Schätzung des Historischen, die aus dem Zwange geschichtlicher Dogmen nie hätte entstehen können. Die freie Schätzung wird wissen, daß sie Deutung ist und nicht Wissenschaft und nicht Dogma, daß sie lebendig dem inneren Zuge folgen darf und keine Philologie und keine Schola- stik treibt. Von hier aus kann alles gewürdigt, geliebt und ver- standen werden, was der Christenheit unter ihren historischen Erinnerungen heilig ist. Aber alles steht unter dem Gesetz der Freiheit und nicht unter dem des Zwanges. Dann können auch die verschiedenen Deutungen neben einander sich vertragen und kann jede geachtet werden. Es fällt aber jenes Recht der Gläubigen weg, ihre Brüder an Minima oder Maxima unerläß- licher Geschichtsdogmen zu binden, und mit diesem Recht die Giftigkeit, die der »Glaube« bei aller angeblichen christlichen Liebe und Demut oft in einem moralisch und ästhetisch so un- erträglichen Maße an sich hat. Es wäre eine Heilung der Un- einigkeiten möglich, die heute jeden Unbefangenen mit den schwersten Sorgen für die Zukunft des Protestantismus erfüllten. Eine solche Glaubenslehre und ihr Lebensrecht in der Ge- meinde wäre eine Erlösung und Befreiung. Noch ist sie nicht geschaffen. Denn noch fehlt der Zeit Mut und Drang zu ihr, so wie er sein muß, wenn wir wieder wirklichen Glauben haben

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Die Dogmatik der s religionsgeschichtlichen Schule«.

sollen. Das einzige ungefähre Beispiel für sie ist Schleiermachers Glaubenslehre, die_ freilich in vieler Hinsicht schon veraltet ist. Aber vermutlich predigt mancher schlichte Pfarrer schon lange in aller Stille und ohne allen dogmatischen Lärm eine solche Glaubenslehre, und mancher Laie trägt sie kraft eigenen Glaubens in seinem Herzen. Gott segne sie in allen Erdteilen; sie haben ihren Brüdern und Schwestern viel zu sagen und werden nicht darüber zu klagen haben, daß das Wort Gottes leer zurückkommt.

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Atheistische Ethik.

Aus: Preußische Jahrbücher 1895.

Das Oktober-Heft der Preußischen Jahrbücher hat aus der Feder eines älteren Offiziers, der sich ausdrücklich als konserva- tiv bezeichnet, einen Aufsatz über »Atheismus und Idealismus« gebracht, der bei vielen Lesern dieser Zeitschrift Widerspruch hervorgerufen haben wird und eine Erwiderung von der Seite fordert, gegen die sich seine Angriffe und Behauptungen vor allem wenden. Seine Absicht ist gar nicht erst, die Religion im allgemeinen zu widerlegen und zu zeigen, daß nur der konsequente Atheismus übrig bleibe. Er setzt das als selbstverständlich voraus und weist nur gelegentlich darauf als auf eine für die Kreise der höheren Bildung ausgemachte Sache hin. Seine Absicht ist viel- mehr zu zeigen, daß der Atheismus der Kultur der Zukunft als Grundlage dienen und die eigentliche Quelle alles wahren sittlichen Idealismus bilden werde. Er werde leisten, was das religiöse Entwickelungsstadium der Menschheit nur unvollkommen zu leisten vermochte, eine wirklich tragkräftige Unterlage der Ethik. Er befreie die Sittlichkeit von störenden Hemmungen und Durchkreuzungen, von unreinen und fremdartigen Motiven, die mit dem Gottes- und Seelenglauben notwendig verbunden waren; er sei die wahrhaft idealistische Weltanschauung, die die Mensch- heit zum Ziele einer gesunden Kultur erst führen werde. So kann er soweit gehen, den Atheismus geradezu auch als Heil- mittel in den sozialen Wirren der Gegenwart zu empfehlen. Nur die auf dem Grunde des Atheismus aufgebaute reinere Ethik des allgemeinsten Gesellschaftswohles gewähre die Kraft und die Ein- sicht zur Lösung der durch diese Wirren gestellten Probleme ; der stolze Neubau einer vernünftigen Gesellschaftsordnung könne sich nur auf der Grundlage dieses Idealismus erheben.

Es sind das Anschauungen, die keineswegs neu und über-

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Atheistische Ethik,

raschend sind, die vermutlich auch in den Gesellschaftskreisen, aus denen der Verfasser stammt, häufiger sind als man anzunehmen pflegt. So hat ja auch Moltkes berühmtes Testament sich auf einen kühlen Deismus zurückgezogen, der freilich kein Atheismus ist, aber doch auch nur eine metaphysische Stütze für eine an sich religionslose Moral. Die religiöse Krisis geht bis tief in die konservative Welt hinein, kommt hier bloß nicht so zu Wort, wie in der redseligen Literatur der bürgerlichen Intellektuellen. Dieser Bruch mit der Religion, der in vielen Kreisen unserer Gesittung sich vollzogen hat, fordert dann aber ganz von selbst dazu auf zu zeigen, daß der Verlust der Religion kein Verlust, sondern ein Gewinn sei, und zwar ein Gewinn gerade auf demjenigen Gebiete, das man am engsten an die Religion gebunden wähnte, auf dem des ethischen Idealismus. Nur so ist den Bekennern der Religion ihre wichtigste Waffe entwunden und bewährt sich der Atheismus als wirklicher Fortschritt vor demjenigen Forum, das allein ent- scheidende Urteile zu fällen vermag. Schon die epikuräische Ethik hatte seinerzeit einen ähnlichen Weg eingeschlagen, als der politische Zerfall der alten Welt mit den Volksstaaten die Volks- religionen zerschlagen und eine empiristische Wendung der Philo- sophie die philosophischen Umbildungen der Volksreligion wir- kungslos zu machen begonnen hatte. Sie hat sich freilich deshalb von der politischen und sozialen Welt zurückgezogen und es nur bis zu dem Ideal der Vervollkommnung des Individuums, des feinsten und edelsten Lebensgenusses, gebracht. Dann hat der Drang neuer religiöser Bedürfnisse sie verschlungen und kaum das Andenken an die feinen, liebenswürdigen Virtuosen einer atheistischen Individualethik zurückgelassen. Die späteren, der Religion wieder zugewandten Geschlechter haben ihr Bild nur in der Karikatur ihrer Gegner aufbewahrt. Eine ähnliche religiöse Zersetzung und Richtung auf das sinnlich Erfahrbare hat in unserem Jahrhundert eine ähnliche Wirkung hervorgebracht, die ausdrück- liche Begründung der sittlichen Ideale gerade auf die Leugnung der Gottheit und der übersinnlichen Welt. Nur sind es heute nicht einzelne aristokratische Seelen, die sich aus dem Zusammen- bruch von Staat und Staatsreligion in philosophische Vereine eines vernunftgemäßen Lebensgenusses zurückziehen. Staat und Politik, Gesellschaft und Wirtschaftssystem sind vom Christentum unab- hängig geworden, wie denn hier überhaupt nie der enge Zu- sammenhang bestanden hat, den die Antike zwischen Gesellschaft

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und Volksreligion voraussetzte. So bleiben heute beim Zerfall unserer Religion die ethischen Gemeinschaften unerschüttert. Ueberdies hat das Christentum sein Bestes, den Gedanken von der Gleichberechtigung aller Individuen und ihrer Berufung zur Anteilnahme an allen höchsten Gütern, so tief in das ganze Kulturbewußtsein hineingetragen und so gründlich an das poli- tische Leben abgegeben, daß er auch ohne es in einer neuen politisch-sozialen Form sich behaupten kann. So lebt heute auch da, wo die christliche Religion verabschiedet ist, ein mächtiger Gemeinschaftssinn, der das gleiche Recht und die gleiche Pflicht aller gegenüber der Gemeinschaft und ihren Gütern rastlos und unerschrocken fordert. Dazu bedarf es, glaubt man sagen zu dürfen, nicht mehr der Religion. Im Zusammenhang mit diesem politisch-sozialen Streben hat daher gerade die atheistische Ethik der Gegenwart den Gedanken der Gemeinschaft, der vernunftgemäßen Organisation der Gesellschaft, auf ihre Fahne geschrieben. Das verleiht ihr eine ungleich größere Kraft und einen lebensfähigeren Gehalt, als ihn die epikuräischen Philosophenvereine jemals be- saßen. In den Kreisen des englisch-französischen Positivismus, deren Empirismus und Naturwissenschaft die Religion endgültig beseitigt zu haben glaubt, ist von Sozialphilosophen, Ethikern und Politikern dieses ethische Ideal als die Losung der atheistischen Ethik begeistert vertreten worden. In Deutschland hat vor allem die glänzende Geschichte der Ethik von Jodl uns damit vertraut gemacht, nachdem schon David P^iedrich Strauß, Ludwig Feuer- bach und Julius Duboc uns das als P>gebnis der deutschen phi- losophischen Entwickelung dargestellt hatten. Seit einigen Jahren hat die in Amerika aus solchen Kreisen entstandene Gesellschaft für ethische Kultur d. h. für rein kulturelle oder religionslose Ethik auch bei uns ihre bis jetzt freilich noch sehr bescheidene Wirksamkeit begonnen. Am meisten Eindruck machte vielleicht einer der berühmtesten Namen der Romanliteratur. George Eliot, die Uebersetzerin von Strauß und Feuerbach, die P'reundin von John Stuart Mill und Gattin von Lewes, hat mit fast unheimlicher Seelenkunde all die Täuschungen und Trübungen des sittlichen Lebens durch die Religion freundlich und ruhig aufgedeckt und ebenso mild und herzlich uns die Kraft und Reinheit einer auf Gott und die übersinnliche Welt verzichtenden Moral anempfohlen. Auch ein Meisterwerk der deutschen Literatur stellt ein ähnliches Ideal auf. Der grüne Heinrich, der noch als junger Künstler für

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das Dasein Gottes einen Waffengang unternahm, findet das höchste Ideal reiner Weiblichkeit in der freundlichen und sinnigen Atheistin, in Dortchen Schönfund, dem schönen Findelkind, das gerade in der liebevollen Pflege der Gräber die Dankbarkeit für das rein innerirdische Leben ohne Gott und ohne Jenseits betätigt.

Der ernste sittliche Idealismus solcher Kreise ist unbestreitbar. Er ist auch nicht bloße Theorie geblieben. Männer und Frauen haben Opfer dafür gebracht. Versuche eines atheistischen Moral- unterrichts für Kinder, atheistisch-moralische Erbauungsbücher und Predigten zeigen den praktischen Ernst, der nicht bei bloßen Phrasen stehen bleibt. Es ist deshalb durchaus möglich, mit voller sittlicher Achtung und ohne gehässige Leidenschaft sich mit diesem Atheismus auseinanderzusetzen, ganz so, wie der Ver- fasser des in Rede stehenden Aufsatzes es wünscht. Freilich läßt sich dabei nicht verhehlen, daß alle Bekenner religiösen Glaubens in jener Polemik gegen den Glauben nur ein sehr ge- ringes Verständnis der Religion und in dieser Ethik nur eine sehr kümmerliche Reduktion der Sittlichkeit auf einige wenige, ehr- lich und gut gemeinte, aber ärmliche Reste erblicken können. Aber umgekehrt verleugnet ja auch der Verfasser nicht, daß er uns nur für unbelehrbare Schwärmer und hartnäckige Verleugner der Wirklichkeit halten kann. »Der Philosoph« antwortet auf unser Urteil »mit einem Lächeln« und wir auf seines mit dem schmerzlichen Bedauern, daß solche Verständnislosigkeit für Sinn und Wesen der Frömmigkeit so weite Kreise hat ergreifen können. Aber man braucht sich ja das gegenseitig nicht übel zu nehmen. Es gehört zur Sache, und so mag denn jeder das Urteil des andern sich gefallen lassen.

Der grundlegende, am Anfang und am Schluß scharf hervor- tretende Gedanke des Verfassers ist der, daß der Atheismus die Ueberzeugung aller führenden Geister sei und durch den Gang der Dinge als die Macht der Zukunft in Aussicht gestellt werde. Von den verschiedensten Seiten des Gesamtlebens her, aus der wirtschaftlichen, philosophischen, ja auch der religiösen Entwicke- lung ergebe sich der Atheismus als der Ertrag der bisherigen Geschichte und als die Grundlage der vor uns stehenden Zukunft. Stehe uns nun aber erst einmal diese Notwendigkeit recht klar und deutlich vor Augen, dann würden wir auch anzunehmen geneigt sein, daß aus dem Atheismus die idealen Kräfte der Zukunft,

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der Bau ihres Lebens und ihrer Gesellschaft müssen abgeleitet werden können. Dieser Satz mit seinem durchaus optimistischen Fortschrittsglauben ist der eigentliche Sinn der ganzen entwicke- lungsgeschichtlichen Grundlegung. Wie steht es nun aber mit dieser evolutionistischen Grundlegung.? Heute schreibt kaum ein Gelehrter ein Buch oder ein Journalist einen Aufsatz ohne der- artige Einleitung, bei der dann seine oder seiner Meister An- schauung schließlich als notwendiges Ergebnis der bisherigen Ent- wickelung herausspringt; es gibt wohl überhaupt nichts, was nicht auf diese Art schon als Schlußstein der bisherigen und als Grundstein der zukünftigen Entvvickelung bezeichnet worden wäre. Diese Beobachtung macht von Hause aus mißtrauisch gegen derartige Konstruktionen, und das Spiel dieser evolutionistischen Fingerfertigkeit ist in der Tat leicht zu durchschauen. Jeder hebt die Elemente hervor, denen nach seiner Ansicht die Zukunft gehört und sein Hauptbeweis ist eigentlich immer nur die in der Phantasie hinzugedachte zukünftige Entwickelung, von der aus die von ihm gegriffenen Punkte dann freilich in der Richtlinie der Zukunft zu liegen scheinen. Von hier aus beleuchtet er die Sachlage mit größerer oder geringerer Kenntnis. Was dem einen die energische Behauptung des Bestehenden ist, das sind dem andern die letzten Konvulsionen einer untergehenden Bildung; was dem einen ein neues Leben ist, ist dem andern ein Nebenerzeugnis der Fäulnis oder Zersetzung ; was hier als Absenker und Aus- läufer einer Bewegung gilt, erscheint dort als der einsame, vom ersten Morgenrot der neuen Periode erleuchtete Gipfel. Es sind das fast alles optische Beleuchtungskunststücke ; von wirklicher Notwendigkeit ist meistens nicht die Spur dabei.

Nicht viel anders steht es auch mit dem Nachweis, daß der Atheismus das notwendige Endergebnis des Bisherigen und der unvermeidliche Beherrscher der Zukunft sei. Dabei ist Bedeu- tung und Umfang des Atheismus in der Gegenwart außer- ordentlich überschätzt. In der Masse des Volkes findet sich der Atheismus nur bei ganz bestimmt sich aussondernden Teilen, von denen weiter unten noch die Rede sein soll und die auch unser Gegner nur sehr bedingt für seine Konstruktion geltend macht. Die ungeheure Menge des Mittelstandes kennt den philoso- phischen Atheismus nicht, und wer mit dem Leben des Volkes auch nur von ferne vertraut ist, wird sich ein atheistisches Bauerntum nur sehr schwer vorstellen können. Die Religion bedeutet eben für die

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kleinen Leute den wichtigsten Teil des Ausschnittes geistiger Güter, der überhaupt in ihr Leben fällt. Aber auch in den Kreisen der städtischen Kultur, der sogenannten Bildung, der Wissenschaft und Literatur, kann der Atheismus nicht als das Bekenntnis der führenden Geister in Anspruch genommen werden. Allerdings das Christentum ist in diesen Kreisen teils überhaupt teils in seiner kirchlichen Form tief erschüttert, obwohl man auch das nicht nach den Feuilletons der radikalen Zeitungen beurteilen darf. Man mag wohl hin und wieder versucht sein sich zu fragen, ob das Christentum nicht eine in der Auflösung begriffene Religion sei. Das ist durchaus verständlich. Aber von Atheismus ist dabei doch nur wenig die Rede. Die sämtlichen Meister und Führer unserer Natio- nalliteratur sind nicht von ferne Atheisten gewesen. Man braucht nur an Goethe und die reiche Weisheit seines Alters zu denken, um die Meinung unerträglich zu finden, daß die deutsche Bildung in ihrer Hauptrichtung atheistisch sei. Die glänzendsten Vertreter der deutschen Philosophie von Kant und Hegel bis zu den Neu- kantianern und den neuen Anfängen metaphysischer Spekulation in der Gegenwart sind ausdrücklich mit der Umgestaltung oder der Freilegung des Gottesglaubens beschäftigt. Unter den Naturfor- schern ist die Neigung zum Atheismus begreiflicherweise größer. Aber gerade die größten unter ihnen von Kepler und Newton bis Helmholtz und Hertz sind keine Atheisten gewesen. Freilich ist es Nietzsches große Botschaft : Gott ist tot. Und er zieht daraus die Folgerungen, die überhaupt jede überindividuelle Bindung aufheben und in eine ganz ungeheuer dunkle Welt der rein in- dividuellen Wesenssteigerung drängen. Aber gerade das will unser atheistischer Konservativer nicht. Er will die konventionelle Moral des Altruismus und die Religionslosigkeit gerade als Stütze der ersteren. So denken aber in der Tat nur Gelehrte und Literaten zweiten und dritten Ranges oder Naturforscher, die aus ihren Daten eine vorschnelle Naturphilosophie zu entwickeln streben. Wer aber ein Ohr für die Bestrebungen der Gegenwart hat, der hört heraus, daß die nüchterne atheistische Befriedigung an mechanistischer Weltanschauung und an gemeinnütziger Sozial- philosophie schon wieder im Schwinden begriffen ist und einer wunderlichen, sprunghaften, irrationalen Mystik zu weichen an- fängt, die an sich vielleicht kein Gewinn ist, die aber den Ueberdruß an der kahlen atheistischen Vernünftigkeit zum Ausdruck bringt. Ja gerade Nietzsches Atheismus, der aus der allertiefsten Erfas-

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sung der Lebensgegensätze entsprang, ist eben dadurch immer wieder im Begriff, in enthusiastische Gläubigkeit umzuschlagen. Es kann also keine Rede sein von der breiten, vorwärts drängenden Masse atheistischer Ueberzeugungen, die von den her- vorragendsten Geistern geführt sich als die Herrin der Zukunft auswiese. Es steht aber auch in anderer Hinsicht nicht so, wie der Aufsatz uns glauben machen will. Der Atheismus ist kein Ergebnis, in das die verschiedensten Entwicklungslinien aus eige- nem Triebe selbständig einmündeten. Es ist eine mehr als wunder- liche Meinung zu glauben, daß die Religionen von sich aus in den Atheismus übergingen, indem sie gegenseitig ihre verschiedenen metaphysischen Sondermeinungen aneinander zerrieben und nur die bei ihnen allen wesentlich identische Ethik übrig ließen. Die Annahme eines so äußerlichen Verhältnisses zwischen der Metaphysik der Religionen und ihrer Ethik ist ein vollständiger Irrtum, von dem ich später noch zu sprechen haben werde. Hier will ich nur insbesondere die Meinung zurückweisen, als bedeute der Protestantismus den Uebergang zum Atheismus. Es ist nicht richtig, aber doch begreiflich, wenn man sagt, der Protestantis- mus sei zu individualistisch, um sich als starke und geschlossene Religion behaupten zu können, oder er habe moderne Bildungs- und Kultureinflüsse zu tief auf sich einwirken lassen, um die echte, alte christliche Idee festhalten zu können. In diesem Falle würde er aber nur besiegt und erstickt sein, aber nicht von selbst in Atheismus übergehen. Das letzte ist immer nur eine Behaup- tung seiner ultramontanen Feinde gewesen, die man aber nur bei vollständiger Unkenntnis seines Wesens ihnen nachsprechen kann. Nicht minder ist es nur ein Schein, wenn gesagt wird, die sozialistischen Volksmassen entwickelten sich ganz von selbst aus rein wirtschaftlichen Gründen zum Atheismus. Die Beobachtung des schweren wirtschaftlichen Gegensatzes und das Gefühl einer in der Natur des kapitalistischen Systems liegenden Verdammung zum Elend, die kurzsichtige, heute beliebte Verwendung von Religion und Kirche im Dienste des Besitzes und der bestehenden Ordnung mag atheistische Gedanken annehmbarer und glaubhafter machen, als sie ohne die Empfindung einer derartigen Notlage wären ; es mag Zweifel und Bedenken hier und dort hervorrufen und insbesondere sehr ungünstige Bedingungen für die Pflege des religiösen Lebens schaffen. Aber eine prinzipielle atheistische Gesamtanschauung entsteht hieraus allein nicht. Es hat sozialistische und wirtschaft-

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liehe Reformbewegungen ähnlicher Art im engsten Zusammenhang mit der Religion gegeben, und die Forderung gleichen Rechtes und gleicher Anteilnahme an den Gütern des Lebens ist öfter als religiöse Forderung vertreten worden, denn als atheistische. Der Ursprung des atheistischen Charakters, den der moderne Sozia- lismus trägt, liegt ja auch klar zutage. Er liegt genau da, wo der Ursprung des modernen Atheismus überhaupt liegt, in der naturalistischen Philosophie. Die französische Revolution und ihre Nachfolgerinnen hängen mit dem Geiste der Enzyklopädisten, die deutsche Sozialdemokratie durch Karl Marx mit Feuerbach zu- sammen. Der Atheismus der Massen, den unser Offizier als eine ganz selbständige Erscheinung behandelt und den der Konservative als grob materialistischen von dem der Gebildeten prinzipiell unter- schieden wissen will, ist nur die Popularisierung der Theorie, die vorher von den oberen Zehntausend gepflegt worden ist. Er hat nur die etwas derberen und offeneren Formen angenommen, die sich in den Köpfen revolutionär erregter Massen von selbst ver- stehen. Erst dieser Atheismus hat sich die Not und das angeb- liche eherne Gesetz des Hungerlohnes zu Nutzen gemacht und dadurch die Notlage als ein Naturgesetz und den Befreiungs- trieb ebenfalls als eine Naturnotwendigkeit betrachten gelehrt. Seine radikalen und runden Formeln eignen sich heute, wo religiöse P'ormeln viel weniger wirksam wären, am besten zur Zertrümmerung alles Bestehenden und seine naturalistische Ethik zur Entfaltung all der gesunden und ungesunden Selbstsuchtstriebe, die einer zum Bewußtsein ihrer Kraft gelangten Klasse ein Be- dürfnis ist. So wird heute im Namen des Atheismus gefordert, was die Bauernkriege im Namen des Evangeliums gefordert hatten. Der moderne Sozialismus hat ebenfalls religiöse und mystische Formen gehabt. Man denke an Lamennais und St. Simon. Er besitzt sie zum Teil heute noch. Aber bei der allgemeinen Zersetzung der bisherigen Formen des Christentums erwies sich die Verbindung der sozialen Utopien und Reformen mit einem möglichst rücksichtslosen völlig naturalistischen Atheismus als wirksamer. Diese Verbindung beider ist eine durchaus akziden- telle, wie auch die unglückselige Verbindung des geängsteten Besitzes mit der Kirche glücklicherweise nur eine akzidentelle, hoffentlich sich immer mehr lockernde ist.

Der Atheismus hat überall ein und dieselbe bestimmte Quelle und bricht nicht hervor aus allen Brunnen der Tiefe an allen Ecken und

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Enden. Diese Quelle selbst aber ist keineswegs in dem Zentrum der modernen Wissenschaft, sondern nur auf deren Seitenabhang gelegen. Er läßt sich also keineswegs als das Endergebnis der bisherigen Entwicklung konstruieren. Aber das ist ja schließlich für die Hauptfrage gleichgültig. Denn wäre er dies Ergebnis auch in viel höherem Grade als er es tatsächlich ist, so wäre damit über sein Recht und über seine Kraft sittlicher Erneuerung noch gar nichts ausgemacht. Er brauchte ja deshalb noch nicht ein Fortschritt zu sein, er könnte ja auch nur ein weiterer Schritt in der Auflösung der alternden europäischen Kultur sein, in der Zersetzung des faulen Westens, wie die Russen sagen. Die römische Kaiserzeit hat schon einmal einen ähnlichen Atheismus der gebildeten Klassen gezeigt. Da war er aber nur ein Anfang vom Ende und der Vorbote neuer religiöser Bewegungen. Also wir können die Frage nach der entwickelungsgeschichtlichen Not- wendigkeit des Atheismus und das daraus folgende günstige Vor- urteil über seinen idealen Beruf auf sich beruhen lassen. Es handelt sich ja schließlich doch nur darum, ob an und für sich, abgesehen von aller entwicklungsgeschichtlichen Notwendigkeit, der Atheismus als die Quelle eines reineren Idealismus bezeichnet werden könne und müsse. Das muß sich ganz für sich allein ausmachen lassen.

Worin besteht nun die angebliche größere ethische Reinheit, die höhere ideale Kraft des Atheismus ? Er verzichtet vor allem auf jede göttliche Beglaubigung und Autorität des Sittengesetzes und die aus einer solchen Autorität fließende Motivationskraft. Nicht bloß Lohn und Strafe als ganz äußere selbstsüchtige Beweggründe fal- len hier weg, sondern die ganze Beziehung des Sittlichen auf einen heiligen, lebendigen göttlichen Willen. Es wird ganz und gar auf sich selbst gestellt und auf die Mitwirkung solcher Phantasie- bilder runder Verzicht geleistet. Das Gute und das Gemeinwohl der Gattung rein um des Guten und der Liebe willen: das ist sein Wahlspruch, der ihm viel heroischer als die auf fremde Kräfte sich stützende religiöse Sittlichkeit erscheint. Der Atheist ver- zichtet darauf aber nicht nur für sein eigenes gebildetes Selbst, sondern er wagt und hofl"t das Ungeheure, die Massen überhaupt auf eine Stufe der Geistes- und Herzensbildung heben zu können, wo sie alle der religiösen Krücken entbehren und eine rein auf sich selbst gestellte Sittlichkeit der Menschenliebe befolgen werden. Sein Glaube ist daher nicht bloß der heroischere, sondern auch

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der weitaus optimistischere. Der atheistische Glaube an die Würde und die Bestimmung der Menschheit, der durch die Wahr- nehmung des allgemeinen Entwickelungsgesetzes nahe gelegt ist, erscheint als wahrhaft erhabener Optimismus, während die reli- giöse Ethik durch ihre Sündenlehre die Menschen selbst entwür- digt und ihnen nur durch fremde Kräfte und feine selbstsüchtige Anreizungen eine scheinbare Ueberwindung der groben Selbstsucht ermöglicht. Sie zieht den Pessimismus groß und schwächt und verunreinigt zugleich die Kraft zu dessen Ueberwindung. Die wahre Kraft und die volle Konzentration auf die sittlichen Auf- gaben wird erst ermöglicht durch die vollständige Preisgebung der übersinnlichen und jenseitigen Welt. Es gibt keinen Gott, der irgend eine Tat ungeschehen machen, die Folgen des Guten über ihre natürliche Nachwirkung erhöhen, den Fluch des Bösen auf- heben könnte. Es gibt keine Sündenvergebung zum Ruhekissen ängstlicher und träger Gewissen. Was man nicht selbst tut, ge- schieht nicht. Kein Gott nimmt die Verantwortung für Unterlas- sungen auf sich und ersetzt verlorene Zeit und Gelegenheit. Es gibt kein Ausweichen in ein ewiges Leben, in dem Vergebung und Gnade für die Fehler und Heilung für die Wunden des Lebens gefunden werden könnte. Die ununterbrochene Kette des irdischen Lebens, der natürliche Zusammenhang unserer Taten ist der einzige Umkreis und die vernunftgemäße Arbeit innerhalb dieses Umkreises das einzige Ziel des Lebens. Diese Erkenntnis verstärkt mehr als irgend ein Gedanke der religiösen Ethik das Verantwortlichkeitsgefühl, spornt zu rastloser Ausnützung des Lebens, zu höchster sittlicher Energie. Im Gegensatz zu christ- lichen Jenseitigkeiten und christlicher Lebensverachtung ist die heilige Majestät des Lebens hier empfunden, und statt der christ- lichen Abschiebung der Verantwortung auf Gott wird hier vom Menschen die äußerste Anspannung der eigenen Kraft verlangt. Die seelischen Kräfte, die sonst mit nutzlosem Wühlen im eigenen Innern und grundlosen Hoffnungen oder Befürchtungen ver- geudet wurden, werden der innerweltlichen Arbeit gesammelt zu- rückgegeben. Die Einsicht in die naturgesetzliche Bedingtheit des Handelns und die psychologische Verkettung der Taten und ihrer Folgen macht mild und gelassen und setzt an Stelle religiö- ser Verdammung eine freundliche Erziehung. So ist die Ethik des Atheismus frei von der Selbstsucht, der Zersplitterung, dem

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Pessimismus und den Ablenkungen der religiösen Ethik, nach allen Seiten die überlegene Sittlichkeit.

Ich bestreite nicht, daß der Atheismus solche Folgen haben könne und daß eine derartige Beweisführung Eindruck zu machen geeignet sei. Aber ich bestreite durchaus, daß er solche Folgen haben müsse oder auch nur für gewöhnlich haben werde. Wir können in dieser Beziehung doch schon von einigen Er- fahrungen reden. Zugleich behaupte ich, daß mit solchen Zeich- nungen das Wesen der sittlichen Idee des Christentums nicht getroffen ist oder daß sie doch nur an ihren äußeren Formen und ihren Trübungen haften. Es ist eine Karikatur des Christen- tums, die freilich nicht erst von den Positivisten und Atheisten stammt, sondern an der die Theologen selbst vielfach mitge- arbeitet haben.

Wer die Menschen auch nur einigermaßen kennt, wird es für ganz undenkbar halten, daß die göttliche Autorität jemals ohne Schaden für das Sittengesetz wegfallen könnte, daß der überhaupt gröber denkende Durchschnittsmensch auf diesen Zu- schuß zur Motivationskraft des Sittlichen verzichten könne. Die Abstraktion eines durch sich selbst geltenden Gesetzes wird für ihn immer unvollziehbar sein, er wird zum Gesetz immer den Gesetzgeber und Wächter hinzudenken müssen. Er denkt dabei vielleicht ein bißchen grob, aber gar nicht so unvernünftig. Denn auch der Gebildete, der die kindlichen Autoritätsvorstellungen seiner Jugend überwunden hat, kann sich dieses Gesetz nur als Ausfluß einer göttlichen Vernunft denken, deren Göttlichkeit ihm nur erst durch atheistische Reflexionen über Wesen und Per- sönlichkeit Gottes fraglich werden kann. Wo die atheistische Moral in den Massen die göttliche Autorität gestürzt hat, da ist ja auch erfahrungsgemäß nur wenig von der Empfindung jenes Gesetzes übrig geblieben. Ein grimmiger Haß gegen alle Auto- rität und eine maßlose Entfesselung der Selbstsucht als des Selbstverständlichsten der Welt ist hier mit wenig Ausnahmen die logisch sehr wohl begreifliche Folge gewesen. Es hilft nichts, diesen Atheismus der Massen von sich abschütteln zu wollen, er ist historisch und logisch ein Kind des gebildeten Atheismus, dem die feinen Abstraktionen seiner vornehmeren Mutter, die Unterscheidungen eines idealen Sittengesetzes von einer göttlichen, Welt und Menschen beherrschenden Macht, unverständlich sind. Ihm fällt eines mit dem andern, und seine Logik ist hierbei viel-

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leicht besser als die seiner allzusehr durch Bildung beschwerten Mutter. Zugleich beruht die ganze Gegenüberstellung doch auch auf einer sehr äußerlichen Auffassung des Christentums. Die christliche Fassung der Innerlichkeit des göttlichen Gesetzes in dem mit Gott geeinigten Gemüte stellt die Sittlichkeit doch wahr- lich nicht notwendig und ihrem Wesen nach auf äußere Autorität und äußere Beweggründe. Die atheistische Ethik wird durch Leugnung dieser Voraussetzungen nicht reiner und selbst- loser, aber sie verliert den festen Halt und Grund, auf dem das Sittengesetz ruht, indem sie es inmitten einer toten, mechanischen und gleichgültigen Welt wie einen sonderbaren Fremdling auf sich selbst stellt. Aus demselben Grunde ist auch die Erwartung höchst unwahrscheinlich, daß der Atheismus die Energie des sitt- lichen Handelns vermehren werde. Man kann doch auch hier nicht sagen, daß der christliche Glaube an die göttliche Prüfung der Herzen und Taten, an Sündenvergebung und Heilung des verwundeten Gewissens, die Energie und Pünktlichkeit, die Strenge und den Ernst des sittlichen Handelns notwendig und seinem Wesen nach schädigen müsse. Im Gegenteil wird man zu- geben, daß dieser Glaube, wo er rein wäre, durch alle Motive der Ehrfurcht und der Dankbarkeit die Energie wie die Freudig- keit und damit die Kraft des Handelns stärken müßte. Und das geschieht doch auch dann, wenn er nicht so rein ist, wie er sein sollte. Wo man aber, wie der Atheismus tut, nur das unper- sönliche Gattungsgesetz kennt und aus der Würde dieses Ge- setzes sowie aus dem von ihm bewirkten Zweck des Gemeinwohls allein alle Motivationskraft ableiten muß, da muß doch diese rätselhafte Würde und dieser entfernt liegende Zweck in einer Weise angespannt werden, wie es nur in ganz besonderen Fällen möglich ist und nicht leicht bei der Masse der Menschen die Regel werden kann. Wo kein göttliches Auge ist, das Herz des Han- delnden zu sehen, und kein göttliches Gericht, seine Taten zu wägen, wo man über Sinn, Zusammenhang und Grund der Welt überhaupt nichts weiß, sondern lediglich auf sich selbst gestellt ist, da wird man vor allem geneigt sein, die Dinge laufen zu lassen, wie sie laufen, dem dunkel empfundenen Sittengesetz so viel zu gehorchen, daß man sich für einen anständigen Menschen halten kann, aber im übrigen das Unbekannte dem Unbekannten überlassen, da man ja doch über den letzten Sinn und Grund nichts weiß und bei aller Anstrengung nichts wnssen kann. Es

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fallen eine Unzahl sittlicher Antriebe weg, die in der unmittel- baren Gegenwart eines Herzen und Nieren prüfenden und den Gefallenen freundlich aufrichtenden Gottes gelegen hatten, und es stellen sich sehr wenig neue ein. Dem Adel des Sittenge- setzes wird durch äußere Korrektheit und eine gewisse innere Vornehmheit genügt werden. Das wahre und letzte, auf diesem Standpunkt allein die ganze Kraft erregende Ziel des sittlichen Handelns, das Gesamtwohl, ist dagegen ein dem einzelnen so wenig gegenwärtiges und so unübersehbares Gut, daß es als An- trieb des Handelns gewöhnlich hinter den näher liegenden An- trieben zurückstehen wird. Wir haben ja in unserer blasierten, skeptischen Jugend, für die auch der Materialismus eine über- wundene Position ist und die sich für nichts mehr aufregt, einen Atheismus dieser Art gar nicht selten. Aber er hat nicht die Wirkung einer Vermehrung und Konzentration der sittlichen Energie, son- dern die eines selbstzufriedenen Gehenlassens. Von Gott weiß man nichts, und man denkt nicht viel daran; das Sittengesetz empfindet man als soziale Macht und als innere Anforderung und genügt ihm, soweit es unmittelbaren Respekt verlangt ; aber große Gedanken über das Gesamtwohl und die ihm schuldige Energie macht man sich nicht. Ich glaube, das ist eine durchaus ver- ständliche Wirkung, und sie wird immer dieselbe bleiben, wo nicht gar durch die Macht nackter Selbstsucht dieses haltlos ge- wordene Sittengesetz hinweggespült wird. Durch vernünftige Ein- sicht in die Hoffnungslosigkeit jeder Erwartung, daß irgend ein Gott oder eine kosmische Macht das sittliche Leben fördern oder bestimmen könne, daß der Mensch mit seinem Gattungsziel allein stehe in einer toten Welt, wird die sittliche Motivationskraft des Atheismus ganz gewiß nicht gesteigert werden. Diese Erwartung positivistischer Ethiker kann ich nur für eine große Selbst- täuschung halten.

Bei alledem ist aber doch nicht zu leugnen, daß die atheistische Ethik, wie ich sie oben gezeichnet habe, einen gewissen Eindruck sittlicher Größe macht oder machen kann. Woher kommt dieser Eindruck.? Er kommt, wie jedermann leicht nachfühlen kann, von dem Zauber der Ehrlichkeit und Resignation. Es ist etwas Großes oder kann etwas Großes sein, das sittliche Ideal mit feinfühliger und begeisterter Seele zu behaupten, wenn man auch alles aufgegeben hat, worauf sich ein solches Ideal sonst zu stützen pflegte. Man hat die göttliche Autorität und Gegen-

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wart aufgegeben und stellt sich auf sich selbst mit dem deutlichen Gefühl, wie viel schwieriger und dunkler dann die sittliche Welt wird. Man verzichtet auf die Heilung der gebrochenen Gewissen und auf den Lohn göttlicher Liebe und Gemeinschaft. Eine solche Sittlichkeit hat eine gewisse wehmütige Größe, wenn man sie von dieser Seite zu schildern versteht. »Auch Entsagen schwellt das Herz.« Sogar da, wo diese Sittlichkeit mehr mit den Zügen einer philiströsen Gemeinnützigkeit geschildert wird, hat man den Eindruck einer ehrlichen braven Verzichtleistung auf Unmögliches imd um so herzhafterer Schätzung dessen, was dabei noch übrig bleibt. Die Fälle hingegen, wo die atheistische Ethik in die pantheistische hinüberschwankt und die harmonisch schöne Auswirkung aller Lebenstriebe als ihren wesentlichen Vorzug in Anspruch nimmt, gehören in Wahrheit gar nicht auf ihr Gebiet. Sie entstammen einer ästhetisch pantheisierenden Weltanschauung und beruhen durchaus auf einer eigentümlich religiösen Stimmung. So oft die Vermengung beider zugunsten der atheistischen Moral versucht wird, so oft muß sie als unbe- rechtigt bezeichnet werden. Der Atheismus denkt nicht an den immanenten Weltgrund oder will nicht daran denken, noch weniger an die Auswirkung kosmischer Lebenstriebe in der Moral. Er stellt den Menschen inmitten der toten, alles wie ein Fatum lenkenden Naturgesetze und des fürchterlichen Kampfes um das Da- sein rein auf sich selbst, auf seine Einsicht in die Gattungszwecke und den sittlichen Willen, diese Gattungszwecke zu verwirklichen. Von diesem Boden aus sucht er die religiöse Ethik zu überbieten. In der entgötterten Welt wird übrig behalten, was der eigentliche Kern der gottgeleiteten Welt war. Und das wird nicht bloß so beibehalten, sondern das Vorbild der alten religiösen Ethik bleibt auf Schritt und Tritt auch darin wirksam, daß ein ernster Eifer ihre Motivationskraft zu überbieten strebt und sich dadurch ihr gegenüber als der überlegene ausweist. Die atheistische Ethik trägt als ihren stillen Koeffizienten immer den Wettstreit mit der religiösen Ethik in sich, das Bedürfnis, alle ihre Kräfte zu ersetzen und zu übertreffen. Dieser hochherzige Wetteifer, der die idealen Kräfte der Seele viel künstlicher und reflektierter anspannen muß als es die alte Ethik getan, macht nicht mit Un- recht den Eindruck einer gesteigerten und bewundernswerten sittlichen Energie, wie der Verzicht auf die alten Illusionen den der tapferen Ehrlichkeit macht. Insoferne könnte man die Parodoxie

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wagen, daß in solcher atheistischer Ethik gegen ihren Willen die Religion fortlebt und vor Gottes Augen vielleicht oft wohlge- fälliger ist als das karikierte religiöse Ethos.

Daher erklärt sich auch die Eigentümlichkeit des »gebildeten Atheismus«, der immer in Berührung mit der religiösen Ethik und Philosophie bleibt. Nur wenn die atheistische Ethik ihre Forderungen und Leistungen immer an den Idealen der relgiösen Ethik mißt und sie zu übertreffen sucht, nur dann hat sie die Folgen, die ihre begeisterten Anhänger uns schildern. Reiner, nackter Atheismus ohne diese beständige Vergleichung würde solche Folgen niemals haben, und in dem Maße als ihm dieser Vergleichspunkt aus dem Gesicht kommt, verliert auch der athei- stische Idealismus erfahrungsgemäß seinen edlen Charakter. Es ist doch sehr bedeutsam, daß George Eliot nirgends positiv das Idealbild atheistischer Ethik in ihren Gestalten entwickelt, sondern sie immer nur in der Kritik der von ihr geschilderten religiösen Stimmungen und Handlungen durchblicken läßt, indem sie mit scharfem Auge die Unwahrheiten und Trübungen des religiösen Denkens und Empfindens der Menschen aufdeckt. Auch Dortchen Schönfund hebt sich so hell und heiter nur ab auf dem Hinter- grunde der religiösen Grübeleien, die den grünen Heinrich bis dahin verfolgt hatten, und soweit sie positiv ein Ideal darstellen soll, ist sie mir immer als eine der unnatürlichsten und gemach- testen F'rauengestalten Kellers erschienen.

Das Bestechende an der atheistischen Ethik ist da, wo sie überhaupt etwas Bestechendes hat, nur die Resignation. Und zwar besteht diese Resignation nicht sowohl in dem Verzicht auf jeden Glücksertrag des sittlichen Handelns; die Verwirklichung des Gattungswohles im Einzelnen und in der Gesamtheit schwebt auch ihr als Zweck vor und bildet sogar für sie eine sehr ener- gisch angespannte Motivation. Aber sie verzichtet auf jeden Halt und Grund des Sittlichen im Wesen eines alles tragenden und leitenden Gottes und auf all den Zuwachs von Antrieben, der sich von hier aus ergibt. Ist diese Entsagung notwendig.^ Sie soll durch die modernen Naturwissenschaften unumgänglich ge- worden sein. Ich will hierauf an dieser Stelle nicht weiter ein- gehen. Ich will nur hervorheben, daß, wenn diese Entsagung wirklich nötig ist, sie von der »gebildeten« atheistischen Ethik nur sehr ungründlich vollzogen worden ist. Auch unser Gegner insbesondere hat diesen Verzicht nur sehr obenhin und äußerlich

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vollzogen und ist gerade dadurch sehr charakteristisch für den gebildeten Atheismus unserer Tage. Jede Resignation schließt das, was sie aufgibt, als die eigentlich natürliche Voraussetzung ihrer Empfindung ein. Wie alles, was mit A- und Anti- anfängt, so ist auch dieser Atheismus nur vorhanden durch Voraussetzung dessen, was er leugnet. Gerade das, was am »gebildeten« Atheis- mus« Eindruck macht, beruht auf dessen beständiger Selbstver- gleichung mit der religiösen Ethik. Diese Vergleichung ist aber nur möglich, weil er sehr viel beibehalten hat, was der religiösen Ethik eigentümlich ist, und nur in der letzten Spitze, nicht in der Gesamtanschauung sich von ihr unterscheidet. Er behält die Grundanschauung einer idealen, inneren Notwendigkeit des Guten durchaus bei und sucht auch den Inhalt des Guten möglichst ähnlich wie sie zu bestimmen. Er gesteht ausdrücklich, wie das auch Strauß getan hat, daß auch dieser Atheismus ein Glaube, ein Glaube an die Macht und den Fortschritt des Guten, sei. In diesem Glauben sind dann aber eine Reihe metaphysischer Vor- aussetzungen eingeschlossen, die sehr nahe an den religiösen Glauben heranstreifen. Es muß dann einen über die einzelnen Phänomene übergreifenden, vernünftigen Zusammenhang, eine innere Notwendigkeit des Guten für die Vernunft überhaupt, eine mindestens immanente Teleologie des Fortschrittes und der Ent- wickelung geben. Eine Aufeinanderbeziehung des Natürlichen und Geistigen und eine Bestimmung des ersten für das zweite ist hierbei ohne weiteres vorausgesetzt. Eine gesetzmäßige Notwen- digkeit und Vernünftigkeit des Kosmos muß neben aller noch so scharf hervorgehobenen Irrationalität, bei aller scheinbar oder wirklich den Zweck des geistigen Lebens durchkreuzenden Selbst- ständigkeit der Natur angenommen werden. Ja wenn man dem Verhältnis von Geist und Natur auf den Grund gehen will, dann kommt man als auf die letzte und erste Tatsache auf die des menschlichen Bewußtseins, in dem und für das allein beide so da sind, wie wir sie erkennen, und das uns den Geist mit seinen Gesetzen jedenfalls als die Grundvoraussetzung unserer ganzen Wirklichkeit zeigt. Von hier aus entsteht dann aber wieder von neuem die Forderung, daß die Gesetzmäßigkeit und die idealen Werte der menschlichen Vernunft mit dem Kerne der Wirklich- keit irgendwie verwandt sein müssen. Damit sind wir aber dann bei einer Anschauung vom Universum angelangt, die der religiösen sehr nahe steht.

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Mit all diesen Dingen hat es unser Gegner sehr leicht ge- nommen. Er gesteht zu, daß ein solcher idealistischer Atheismus ebenfalls ein Glaube ist, den kein vernünftiges Denken jemals ganz exakt wird beweisen können. Aber um die metaphysischen Voraussetzungen dieses Glaubens macht er sich wenig Sorgen. Etwas Spekulation und sehr viel Erfahrung werden die Sache schon in Ordnung bringen. Dabei sei die materialistische Doktrin auch nicht zu verachten, sie habe nur über das Ziel hinausgeschos- sen. So einfach steht die Sache aber nicht. Vielmehr enhält dieser ethische Idealismus eine entschieden idealistische Metaphy- sik und eine durch und durch teleologische Grundanschauung, und es fragt sich, wie sich eine solche Metaphysik zur Religion verhält. Es steht hier geradeso, wie bei den Leuten, die gerne nur von der Natur reden, ihr aber Kraft, Willen, Ziel, Reich- tum, Leben zuschreiben, wie man das sonst Gott zugeschrieben hat. Das ist dann doch nur ein Euphemismus für Gott. Nur wenn man sich die Bedeutung dieses Sachverhaltes verbirgt und eine ganz oder halb materialistische Denkweise ohne weiteres mit teleologisch-ideaiistischen Voraussetzungen zusammenwirft, kann man diese Anschauung ohne w^eiteres als Atheismus bezeich- nen. Hier hat D. F. Strauß das Problem schärfer formuliert. Er erkennt ein gesetzmäßiges, einheitliches Universum als Urquell der Vernunft, des Guten und der immanenten Teleologie an und bestreitet nur die Persönlichkeit dieses Absoluten. Der Glaube an die Persönlichkeit Gottes trennt diesen Idealismus von der Metaphysik der Religion, sonst nichts. Der gebildete Atheismus ist kein Atheismus, sondern der uns wohlbekannte auf die Per- sönlichkeit Gottes verzichtende Idealismus. Hier erheben sich dann aber auch wieder all die gewichtigen, gegenüber Strauß und schon vorher gegenüber Fichte geltend gemachten Einwürfe gegen ein vernünftiges und gutes Universum oder gegen eine vernünftige Weltordnung ohne Bewußtsein. Die einfache Uebertragung der menschlichen Persönlichkeit auf Gott ist je und ist als ein philo- sophisch unmöglicher und religiös mitunter bedenklicher Anthro- pomorphismus erkannt worden. Aber inwiefern ein Gedanke ohne Denkendes, eine Vernunft ohne Bewußtsein, ein Urquell auch des persönlichen Geistes ohne eigenes Selbst gedacht werden müsse und leichter zu denken sei als eine bewußte Vernunft, das ist mit Recht immer von neuem als unerfindlich bezeichnet worden. Was das rehgiöse Erlebnis von sich selbst aussagt und notwendig

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fordert, einen lebendigen und seiner selbst bewußten Gott, das kann keine metaphysische Spekulation als unmöglich dartun, das muß vielmehr jede auch von sich aus fordern, wenn auch freilich die Vorstellung Gottes selbst eine gänzlich unvollziehbare ist.

Die Ergebnisse der Naturwissenschaften als solche haben auf diese Frage gar keinen Einfluß, sie bestimmen nur die Vor- stellung, die wir uns von der Wirkungsweise der göttlichen Ver- nunft zu machen haben und bedeuten nur das Ende des alten supranaturalistischen Antropomorphismus. Auch in der andern großen Frage, ob diese göttliche Vernunft als eine gütige und ihre Geschöpfe liebende betrachtet werden dürfe, haben die Naturwissenschaften keine neue Situation geschaffen. Daß die Welt voll Not und Elend ist und daß die Natur die Menschen und sonstigen Geschöpfe grauenvoll mißhandelt, eines vom Tod des andern leben läßt, das hat man schon lange gewußt. Die genauere Einsicht in die Regelmäßigkeiten der Naturvor- gänge hat das Elend nicht elender gemacht, außer wo man sich Naturgesetze halb mythologisch wie eine von Gott unabhängige, unerbittlich gleichgültige Macht vorstellt, neben der dann natür- lich Gott keinen Raum hat. Neben dieser Tatsache des verzeh- renden Daseinkampfes stehen aber immer wieder die Tatsachen einer teleologischen Vernünftigkeit und der praktischen Ueberwindung des Weltleides durch die Religion. Auf diese Tatsachen stützt sich der religiöse Glaube an die Liebe Gottes und stellt das Uebrige seiner Weisheit anheim. Gottes Zwecke sind eben nicht unsere Zwecke und unser eudämonistisches Wohl ist nicht der Sinn der Welt. Das Werden des Geistes aus der Natur und sein Auf- stieg zu Gott kann allein der uns zugängliche Sinn der Dinge sein, und dieses Werden des Geistes unterliegt dem Gesetz der Auswahl und Prädestination. Die Liebe Gottes ist nicht die Beförderung aller Kreatur zu deren ersehnten Wohlfahrtszielen, sondern die Emporhebung der erwählten Geister zur Gemeinschaft des göttlichen Geistes, und, wer diesen Zug der Emporentwickelung spürt, der steht in der Erwählung. Dieser Glaube ist gewiß nicht be- weisbar und stößt immer wieder hart an die brutale Wirklichkeit, aber er ist nicht unvernünftiger als der an die blinde, immanente Ent- wickelungsteleologie der atheistischen Ethik. Wenn es unmöglich ist, Gott ohne Bewußtsein zu denken, dann ist es auch unmög- lich, ihn tot und gleichgültig zu denken wie einen dumpfen Trieb.

Unter allen Umständen steht das Eine fest : Jede atheistische

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Ethik, die mit ihren Voraussetzungen, mit der EinheitHchkeit des menschUchen Gesamtgeistes, mit dem Glauben an ein hieraus ent- springendes gemeinsames Gattungsziel und sittliches Gattungsge- setz, mit der Berechenbarkeit und Dienstbarkeit der Natur für den Geist wirklich Ernst macht, wird auf wie immer näher zu bestimmende -- religiöse Grundanschauungen zurückgedrängt. Sie weicht entweder aus in den Pantheismus Spinozas, wie es die etwas dilettantische Philosophie Herbert Spencers getan hat, oder in den des deutschen ästhetischen Idealismus, wie bei Strauß, bei dem durch die großen Löcher des übergeworfenen materialistischen Mantels die Denkweise Hegels und Goethes noch deutlich als Untergrund heraussieht. Oder sie schafft sich einen neuen reli- giösen Ausdruck, wie es Comte, der hervorragendste Vertreter der atheistischen Ethik durch die Schaffung seiner religion de l'humanite getan hat. Hier wird der einheitliche Gesamtgeist der Menschheit angebetet, der die Natur sich unterwerfend, in der sittlichen Verbundenheit der Gattung sich äußernd, in den großen Genien sich offenbarend das Gesamtziel erreichen wird. Eine lebensfähige Religion ist das natürlich nicht, aber ein ernster und deutlicher Beweis dafür, daß die Ethik religiöse Grundlagen nicht entbehren kann. Bei uns in Deutschland begnügt sich die athei- stische Ethik meistens mit der Bekämpfung der christlichen Ethik und mit einem Glauben an die Majestät des Guten und der Näch- stenliebe, der über seine Voraussetzungen sich nicht allzuviel be- sinnt, sondern naturwissenschaftliche und materialistische Lehren mit den Resten des ererbten klassischen Idealismus sorglos ver- bindet. Dem gegenüber gilt aber heute noch, was Renan gegen Feuerbachs erstes^ dem Hegeischen Idealismus noch näherstehen- des religionsphilosophisches Werk bemerkte : Man darf den Deut- schen nie glauben, wenn sie sagen, sie seien Atheisten.

Der religiöse Gottesglaube ist aber nicht bloß ganz im all- gemeinen eine unentbehrliche, von atheistischer Resignation nur abgeschwächte Voraussetzung des Sittlichen, Er und seine be- stimmte Gestalt sind auch von größter Bedeutung für den 1 n- h a 1 1 des Sittlichen. Das kehrt sich gegen die häufige und auch von unserem Gegner vertretene Meinung, als wäre die Ethik der Religionen so leicht und einfach von ihrer Metaphysik abzutrennen und als bestünde die Bedeutung der Religionen für die Ethik lediglich in der göttlichen Autorisation des Sittengesetzes. Man beruft sich mit Vorliebe darauf, daß im Unterschiede von der

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Uebereinstimmung der sittlichen Entwickelung der Menschheit die religiöse so überaus mannigfach und vielspältig sei. Daraus zieht man dann den Schluß, daß die Religionen subjektiv verschiedene Spielarten beliebiger und zufälliger Metaphysik seien, während die Ethik, davon innerlich ganz unabhängig und nur äußerlich sich ihrer Autorität bedienend, dem einheitlichen, objektiv begründeten Entwickelungstrieb der menschlichen Gesellschaft entspringe. Die Religionen mit ihren kindlichen Phantasien fielen von dieser Ent- wickelung ab wie die Samenblätter, und es bleibe dann nur noch die allgemein übereinstimmende Moral über, die zwar einen meta- physischen Hintergrund fordere, aber von jeder positiven Religion unabhängig sei und aus eigener Kraft den Aufbau der mensch- lichen Gesellschaft unter Dach bringe.

Diese Sätze enthalten aber schwere religionsgeschichtliche Irrtümer.

Erstlich kann von einer ganz beliebigen, regellosen Ver- schiedenheit der religiösen Metaphysik nicht die Rede sein und können die innerhalb ihres Gebietes bestehenden Verschieden- heiten schwerlich größer genannt werden als die der Moral. Man darf sich hier nur nicht an die verschiedenen Mythologien und den sinnlichen Ausdruck der einzelnen Göttervorstellungen halten. Diese differieren naturgemäß ganz außerordentlich, aber auch nicht willkürlich, sondern je nach den geographischen, klimati- schen und kulturellen Verhältnissen. Sie sind schon innerhalb einer und derselben Volksreligion sehr verschieden, wie die Bunt- heit der griechischen und ägyptischen Lokalkulte zeigt. Allein hierin liegt auch gar nicht das für die betreffende Religionsstufe Charakteristische. Es sind nur örtlich bedingte Verschiedenheiten der Form. Das Charakteristische liegt vielmehr in den Grundge- danken der religiösen Stimmung und der Kulte, in dem Gehalte der religiösen Idee, die in diesen verschiedenen Ausdrucksmitteln dargestellt wird. Sobald man das beachtet, erscheinen gerade die äußerlich in Mythologie und Ritual so sehr verschiedenen Religionen der mythologischen, animistischen und polytheistischen Stufe als sehr nahe verwandt, ja geradezu als nur verschiedene Formen derselben religiösen Idee, der Natur- und Seelenvergötte- rung. Eine genauere Durchforschung zeigt dann aber auch so- gar innerhalb des mythologischen Vorstellungsmatcrials eine Reihe ganz übereinstimmender Entwickelungsanalogien. Die Bilder der großen und kleinen Naturgötter zeigen in Entstehung und Wände-

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lung weitgehende Gleichartigkeiten ; der Totenglaube und Ahnen- kult und der daraus entstehende Seelenglaube bietet über die ganze Erde hin die überraschendsten Parallelen; die Humanisie- rung und Versittlichung der Naturgottheiten, die Vergöttlichung politischer Ordnungen und sittlicher Regeln erfolgt überall in übereinstimmenden, nur nach Kraft und Reichtum verschiedenen Entwickelungen. Erst die großen, über Volkstum und Natur hinausgehenden geistigeren Religionen zeigen innere und prinzi- pielle Unterschiede in ihrer Metaphysik. Umgekehrt ist aber auch die Moral der niedrigen Religionsstufen nur in ihrer allge- meinsten Idee gleichartig entwickelt. Nur die allgemeinsten Grund- sätze des sozialen Zusammenlebens und der individuellen Selbstbe- urteilung zeigen eine nahe Verwandtschaft, während, ganz wie auf dem religiösen Gebiete, ihre einzelnen Formen je nach Ort und Lage ungeheuer differieren. Dasjenige, worin die Sittlichkeit niedriger Kulturstufen am deutlichsten und am tyrannischesten äußerlich hervortritt, die Sitte, ist von ganz unermeßlicher Ver- schiedenheit. Wo aber aus dieser innerlich wesentlich gleichar- tigen Moralstufe sich höhere und feinere Bildungen der Sittlichkeit erheben, da hängen sie mit den Wandelungen der religiösen Meta- physik eng zusammen und gehen wie diese in innerlich tief ver- schiedene Gruppen auseinander.

Das führt zu dem zweiten Punkt der bei unserer Frage zu erörtern ist. Das Verhältnis des Religiösen zum Sittlichen ist nicht bloß, wie die Positivisten meinen, das der formellen Sank- tion, sondern betrifft auch den Inhalt des Sittlichen. Der Inhalt der Moral nämlich ist keineswegs unabhängig von der religiösen Metaphysik. Auf den Stufen der mehr oder minder ver- edelten Naturreligion dient allerdings die Religion fast nur zur Autorisierung und Ueberwachung der Moral. Dabei liegen aber die Zwecke und Güter des sittlichen Handelns durch- aus in innerweltlichen Gütern des Individuums oder der Gesell- schaft, geradeso wie die göttlichen Mächte in der Welt liegen und nur Teile von ihr sind. Wo jedoch die religiöse Metaphysik eine vergeistigte und verinnerlichte Gottheit darbietet, da wird einmal das Wesen der religiösen Autorität ganz verändert, indem das Sittliche aus einer äußeren Satzung der Gottheit zu einer inneren Notwendigkeit des gottverwandten menschlichen Wesens wird. Damit wird aber auch das Wesen der sittlichen Zwecke und Güter selbst verändert. Sie bestehen nicht mehr in erster Linie in den

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äußeren Gütern des irdischen Lebens, sondern in der Herstellung einer bestimmten Gemeinschaft mit der Gottheit, in einer inneren Gemütsverfassung und in einer Ordnung der menschlichen Be- ziehungen zueinander, die diesem Gemütszustand und seiner Be- zogenheit auf die Gottheit entspricht. Erst von diesem Kerne der Moral aus erfolgt dann auch die Ordnung der äußeren Lebensverhältnisse und Zwecke. Alles kommt hierbei darauf an, wie die Gottheit empfunden wird. Die alte buddhistische Ethik, für die die Weltordnung der Erlösung an die Stelle Gottes tritt, empfindet die sittlichen Forderungen als die durch sich selbst geltende Notwendigkeit des Erlösungsweges und das sittliche Ziel als das Gut der Begehrungslosigkeit und der Versenkung in das jenseitige Nichts, womit sie den Kreislauf des Daseins überwindet. Die platonische und neuplatonische Ethik sieht im Sittengesetz die mystische Anschauung der göttlichen Ideen, welche die in die Materie gebannte Seele zu sich erheben und hierin das eigentliche Ziel der Sittlichkeit verwirklichen. Erst aus diesem Zustand er- gibt sich der richtige Aufbau des Staates, oder wo daran ver- zweifelt wird, die Ueberwindung der materiellen Welt in Askese und Ekstase. Die christliche Ethik erkennt das Sittengebot als den Trieb des Geistes in den Herzen und das sittliche Ziel in der beseligenden Gottesgemeinschaft, von der aus dann auch das Verhältnis zu den Mitmenschen nur das der Liebe sein kann. In ähnlicher Weise lassen sich die Wirkungen der religiösen Me- taphysik auch an der Ethik des Zoroastrismus und des Islams zeigen, deren Metaphysik freilich keine sehr rein und energisch aus- gesprochene ist, die daher auch in ihrer Moral sehr widersprechende Züge aufweisen. Umgekehrt ist Nietzsche der schlagende Beweis für die Folgen der Beseitigung dieses metaphysischen Elementes. Dann bleibt nicht Moral minus Religion, sondern dann erhebt sich die neue Moral jenseits von Gut und Böse, die mit vollem Bewußtsein aus dem neuen Grund auch völlig neue Folgen zieht. Gerade er hat unermüdlich die Leute verhöhnt, die gebildet genug sein wollen, um keine Religion zu haben, aber zugleich denkfaul genug seien, um dann doch eine Moral des Altruismus zu be- halten, die jetzt kein Fundament mehr hat.

Es ist also ganz unmöglich, von den geschichtlichen Religionen ihre Metaphysik abzuschneiden und ihre Ethik an sich zu ziehen, um diese dann für den Atheismus oder einen philosophischen Glauben an ein bloßes ideales Weltgesetz sozusagen einzuheimsen.

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Der Atheismus, wie er auch philosophisch näher bestimmt werde, kann nicht als Rechtsnachfolger der verstorbenen Religionen ein- treten und einfach ihr ethisches Erbe übernehmen. Wenn ein der- artiger Atheismus eine Ethik aufbaut und vertritt, so muß es eine wesentlich andere sein als die Ethik der Religionen, insbesondere als die des Christentums gewesen war. So töricht es ist, dem Atheis- mus bestreiten zu wollen, daß er überhaupt eine Ethik besitzen könne, so irrig ist es, wenn der Atheismus meint, die Ethik der Religion einfach fortzusetzen und nur ihre unhaltbare Metaphysik aufzugeben. Das Sittliche hat allerdings seine selbständigen Wur- zeln in den Nötigungen des menschlichen Zusammenlebens und in der gegenseitigen Beurteilung der Menschen. Seine Verbindung mit der Religion ist anfangs eine äußerliche und vor allem autoritative gewesen. Erst die weitere Entwicke- lung hat das Sittliche mit der Religion innerlich verbunden und einheitlich verschmolzen." Es ist daher wohl möglich diese Ver- bindung wieder aufzulösen und das Sittliche auf sich selbst zu stellen. Aber dieses so verselbständigte Sittliche ist dann etwas ganz anderes als die religiöse Moral. Wohl mag dabei das äußere Handeln in vieler Hinsicht wesentlich gleichartig bleiben, aber die Seele der Moral wird verschieden. In der Tat läßt ja auch die atheistische Ethik gar keinen Zweifel über Ausgangspunkt und Ziel des Sittlichen, wie es sich bei ihr gestaltet. Auch unser Gegner spricht sich darüber deutlich genug aus. Wo Gott als Grund und als Ziel des Sittlichen wegfällt, muß beides anderswo aufgewiesen werden. Es wird auch tatsächlich in dem Wesen und dem Wohlfahrtsziel der menschlichen Gattung genau be- stimmt. Die Verpflichtung des Individuums für die Gattung ist der ideale, durch sich selbst geltende Grund des Sittlichen, und das durch vernünftige Einsicht in ihre Lebensbedingungen be- wirkte möglichste Gesamtwohl ist das Ziel. Das sind zweifellos ernste sittliche Grundsätze, aber ebenso zweifellos ganz andere als die irgend einer religiösen Ethik. Es ist die Moral des Sozial- eudämonismus, die in scharfem Gegensatz gegen die religiöse Ethik seit dem i8. Jahrhundert von bedeutenden Vertretern der Ethik Schritt für Schritt herausgearbeitet worden ist. Die Frage kann nur sein, ob diese Moral eine höhere ist, als die christliche. Ich habe schon gezeigt, daß sie in ihrer Begründung und in dem Aufgebot der Energie nicht höher steht als die christliche, sofern man sich nicht gerade an die mythologischen Hüllen oder an die

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Trübungen der christlichen Moral hält. Es ist also die Frage, ob sie die inhaltlich reichere und tiefere ist. Ich glaube diese Frage beantwortet sich von selbst, jedenfalls ist eine Verhandlung darüber nicht möglich. Man denke nur an Paulus und Augustin, an den heiligen Franz und Thomas von Kempen, an Dante, Mil- ton und Bunyan, an Luther, Kant und Schleiermacher. Welch eine Zartheit und Tiefe des innersten Gemütslebens und welch ein Reichtum persönlicher Lebensziele, welch eine Fülle tiefer sittlicher Güter in der Gottesgemeinschaft der Herzen und welch eine mächtige Wirkung auf das Gemeinschaftsleben der Menschen! Eine Unermeßlichkeit unmittelbar empfundener sittlicher Güter und eine Verbindung der Menschen in den tiefsten und edelsten Regungen ihres Wesens, der Bau einer inneren geistigen Gemein- schaft über dem äußeren sozialen Bau der Gesellschaft und eine Versöhnung der Schmerzen und Leiden, die die Arbeit an jenem Bau mit sich bringt, wie sie nur die Liebe um Gotteswillen bringen kann ! Wie nüchtern und kahl, wie berechnet und auf fernliegende Ziele gerichtet ist dagegen die atheistische Ethik des Gemeinwohls, die den einzelnen vor lauter Gesamtwohl nicht zu sich selber kommen läßt und über den Gütern einer Menschheit um 3000 oder 30 000 die Güter der eigenen Seele zurückzustellen bereit ist. Sie ist allenfalls eine Ethik für Politiker und Sozialreformer und hat auf den Gebieten der äußeren Wohlfahrt auch schon manches Gute geleistet; aber sie ist keine Ethik für den Seel- sorger und für die Einkehr im eigenen Herzen, für die zar- teren und tieferen Bedürfnisse der Seele und für die Sehn- sucht nach einem vollkommenen Gehalt des individuellen Le- bens. Wenn ich eine entwickelungsgeschichtliche Konstruktion wagen darf, so möchte ich sagen : Die atheistische Ethik greift zurück auf die einfache ältere Gestalt der Moral, wo sie noch ganz überwiegend auf ihre ersten und nächstliegenden Zwecke, das Gemeinschaftsleben und den Staat, gerichtet war und mit der Religion nur durch Sitte, Autorität und Beglaubigung verbunden war. Sie läßt dabei diese ältere Verbindung mit der Religion weg und stellt sich ganz auf sich selbst, wobei sie deshalb den Gedanken des Gemeinwohls noch stärker anspannt als jene alte Ethik der polytheistischen Naturreligion. Deshalb ist auch Ari- stoteles ihr erklärter Liebling, bei dem sie nur die allzustarke Zurückziehung des Philosophen vom Gemeinleben bedauert und aus dem politischen Verfall der Zeit erklärt. Die ganze spätere

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Bereicherung, Vertiefung und Verwickelung des Inhalts der Moral durch die innere Verschmelzung mit einer rein geistigen Religion weist sie zurück. Sie ist ein Rückgriff, aber eben deshalb kein Fortschritt.

Freilich wenn wirklich die religiöse Metaphysik des Christen- tums und der Religion überhaupt unhaltbar ist, wenn sie wirklich vor den Naturwissenschaften in nichts versinken muß, dann kann uns das alles nichts helfen. Dann bliebe allerdings nichts anderes übrig als die Resignation und die Notwendigkeit, auf den Trüm- mern der religiösen Ethik eine neue zu errichten, die an Energie und Kraft ihr möglichst gleichkommt und erreichbarere Ziele sich vorsetzt. Aber dagegen muß immer wieder geltend gemacht werden, daß der idealistische Atheismus selbst für seine Ethik so tief einschneidende metaphysische Voraussetzungen macht, wie ich oben gezeigt habe. Er vernachlässigt diese Voraus- setzungen und behandelt sie als selbstverständlich. Dadurch ent- zieht er sich der Untersuchung, ob denn überhaupt sein ideali- stischer Atheismus wirklich Atheismus und nicht bloß ein ver- blaßter Doppelgänger der Religion ist. Sobald einmal die Frage so gestellt ist, kann auch die weitere Untersuchung nicht um- gangen werden, ob das, was dieser Idealismus von der Religion streichen zu müssen glaubt, wirklich gestrichen werden muß oder ob nicht die Sätze der ReUgion die konsequenteren sind.

Meines Erachtens müssen diese Fragen zugunsten der Religion beantwortet werden und ist das, was die moderne Naturwissen- schaft fordert, nur eine Veränderung in der Form der Gottesvor- stellung. Von dem Standpunkte der idealistischen Teleologie, der ja auch angeblich der atheistischen Ethik zugrunde liegt, sind die Sätze der religiösen Metaphysik keine Unmöglichkeiten. Mehr kann eine wissenschaftliche Betrachtung nicht ausmachen und mehr braucht sie nicht zu erreichen. Daß sie Wahrheit und Wirklichkeit sind, das ist Sache persönlichen Glaubens und Erlebens, das niemand anbewiesen werden kann, wie ja auch der idealistische Glaube der atheistischen Ethik selbst nur aus persönlicher Ueberzeugung und aus der Erfahrung von der Majestät des Guten entsprungen ist. Wenn aber dieser Idealismus unter allen Umständen auf religiöse Grund- lagen hinweist, dann kann er auch nicht gleichgültig sein gegen die Inhalte der religiösen Ethik, die von den großen Religionen ausgebildet worden sind. So zeigt denn auch jede genauere Be- trachtung, wie tief die bestimmte Fassung des Gottesbegriffes in

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den Inhalt der sittlichen Gesamtanschauung eingreift, wie viel reicher und inhaltsvoller ihre Ethik ist als der kahle, auf eine verblaßte religiöse Grundlage gestellte Soziaieudämonismus. Ins- besondere die christliche Ethik errichtet über den Lebensformen innerweltlicher Zwecke und Güter eine Individual- und Sozialethik der mit Gottes Heiligkeit und Liebe geeinigten und eben dadurch auch miteinander verbundenen Herzen, die jedem, der sie selbst erlebt hat, als die reinste, einfachste und tiefste Gestalt des Sitt- lichen erscheinen und ihm innerhalb des Weltgetriebes die eigent- liche Heimat und Kraftquelle der Seele bilden wird.

Freilich hat die in dieser Ethik enthaltene Metaphysik nicht bloß die Bedenken gegen den Glauben an den lebendigen Gott der heiligen Liebe zu überwinden, sondern auch noch die gegen einen Glauben, der von der modernen Wissenschaft ungleich mehr bedroht scheint, gegen den Glauben an die Seele und ein Leben der Seele nach dem Tode. Von der christlichen Ethik ist dieser Glaube allerdings schwerlich abzulösen. Nicht Lohn und Strafe oder der Wunsch der Unvergänglichkeit sind hierbei die Gründe, sondern die christliche Ethik beruht ihrem ganzen Wesen nach auf dem Grundsatz, daß die sinnliche und sichtbare Welt nicht alles ist, daß es gilt im Weltleben den Kern für ein höheres Dasein zu bereiten, indem das Recht und die Wahrheit des Glaubens erst voll erlebt wird, der hier doch nur ein vielfach bedrängter Glaube gewesen ist. Das christliche Ethos ist das Ethos der absoluten, d. h. in der Gemeinschaft mit Gott zu gewinnenden Seelenwerte ; dieses Absolute aber gibt es im Erdenleben nur als Ansatz und Verheißung, nirgends als Voll- endung. Das drängt das christliche Ethos aus dem bloßen Dies- seits notwendig in das Jenseits. Wir würden nicht anders handeln ohne diesen Glauben, aber das ganze Wesen der christlichen Ethik trägt ihn in sich selbst. Diesen Glauben wissenschaftlich beweisen zu wollen, ist freilich etwas Unmögliches. Allein ich kann auch hier nicht finden, daß die moderne Wissenschaft, ins- besondere die Naturwissenschaft, ihn ohne weiteres unmöglich gemacht hätte. Wo man nicht materialistischen Dogmen folgt und im Gedächtnis behält, daß der Geist uns verständlicher ist als die Materie, da wird man doch nur die Wahl haben, entweder die durch den Tod freigewordene geistige Energie für neue Per- sonbildung zu verwenden also eine Art Seelenwanderung oder eine weitere Entwickeluno- der im irdischen Leben gewon-

Atheistische Ethik.

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nenen Keime in einer anderen Daseinsform anzunehmen. Im ersteren Falle müßten wir das Persönliche in immerhin rätselhafter Weise verloren gehen lassen, im zweiten Falle haben wir einen Halt an dem allgemeinen Entwickelungsgedanken. Die Art, wie Fechner diesen Gedanken in seinem schönen > Büchlein über das Leben nach dem Tode« ausführt, ist vielleicht nicht viel mehr als ein platonischer Mythos. Aber Geburt und Tod, Entstehen und Ver- gehen des menschlichen Erdenlebens sind doch unergründliche Geheimnisse, die nur eine Phantasie ausdenken kann, welche ihren Ausgangspunkt in den wenigen klaren Tatsachen der äußeren und inneren Erfahrung nimmt und bei aller Kühnheit hinter der unbekannten wundervollen Wirklichkeit gewiß noch weit zurück- bleibt. Die exakte Wissenschaft hat hier überhaupt nur sehr wenig zu entscheiden.

Mit all dem, was hier über die Metaphysik der Religion und des Christentums und ihre Wirkung auf das Ethos gesagt ist, sind nur allbekannte Dinge verdeutlicht. Es kommt hier an dieser Stelle auch nicht auf eine Erledigung dieser Fragen an. Der Aufsatz, gegen den ich mich wende, hat ja auch diese Dinge nur nebenbei berührt. Dagegen ist aber die Hauptthese jenes Aufsatzes, der Satz von der Ueberlegenheit der atheistischen Ethik in Begründung und Gehalt, ein ganz zweifelloser Irrtum. Die atheistische Ethik ist in ihrer formellen Begründung nicht reiner und selbstloser, in ihrer Energie nicht stärker und gesammelter, in ihrem Inhalt nicht reicher, in ihrem Optimismus nicht erhabener als die christliche Ethik. Wäre die christliche Ethik wegen Zer- falles ihrer Metaphysik unmöglich geworden, so wäre die athei- stische jedenfalls ein an Fragen und Widersprüchen mindestens ebenso reicher, an Inhalt aber weit ärmerer Ersatz, und der Streit über das Wesen des Sittlichen würde ganz ebenso weiter- gehen wie bisher. Denn für die Anerkennung bestimmter ethischer Lebensinhalte gibt es keine wissenschaftliche Beweisführung und Nötigung. Der Wert des alle Individuen umfassenden Gesamt- wohls ist so wenig wissenschaftlich zu beweisen wie der Wert der Gotteinigkeit und des Gottesreiches.

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Grundprobleme der Ethik,

Erörtert aus Anlaß von Herrmanns Ethik.

(Aus: Zeitschrift für Theologie u. Kirche, 1902.)

I.

Die Ethik hat in den prinzipiellen wissenschaftlichen Bemü- hungen der Gegenwart einen immer breiteren Raum erobert, weil die Zerfaserung und Aushöhlung allmählich aller überkommenen Kulturwerte aufs dringendste eine Reorganisation unserer ethi- schen Grundbegriffe fordert. Von dieser Nötigung her ist dann auch das Religionsproblem wieder stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung gezogen worden, das mit dem Mißtrauen gegen alle idealistische Metaphysik und Spekulation und mit der Wen- dung der Religionswissenschaft zur rein empirischen Religions- geschichte lange Zeit fast eliminiert zu sein schien. Denn die Ethik als Lehre von den letzten Zielen und Zwecken des mensch- lichen Daseins kann nicht sein ohne Auseinandersetzung mit den großen Weltanschauungen, aus denen sich die Bewertung des Da- seins und des Menschen erst ergibt oder ohne welche eine solche Be- wertung des festen Haltes entbehren würde. Auf der einen Seite regt sich nun freilich dem gegenüber nur um so mehr der alte naturalisti- sche und relativistische Gegensatz gegen jede religiös-metaphysische Denkweise, wobei jedoch, seitdem Nietzsche die radikale Konsequenz der Beseitigung der religiös-idealistischen Grundlage gezeigt hat, die positivistische Ethik des religionslosen Altruismus immer blassere Farben zeigt. Das Werk Nietzsches wird für diese Ethik in im- mer höherem Grade eine auflösende Krisis bedeuten. Denn erst er zeigt die vollen Konsequenzen der Beseitigung Gottes und aller überempirischen und überindividuellen geistigen Ordnungen aus der Welt und damit aus der Ethik. Die alles auflösende Ent- wickelungsidee und die naturalistische Sinnlosigkeit der Dinge läßt hier nur die Steigerung" des Individuums zu einer nur von

Grundprobleme der Ethik, 555

ihm selbst abzuschätzenden Höhe übrig. Daher führt auf der andern Seite die Ethik gerade angesichts solcher Folgerungen aus der Leugnung der Idee zu einer immer stärkeren Heranziehung prinzi- pieller metaphysischer und geschichtsphilosophischerBetrachtungen, mit denen das grundlegende Verhältnis der gegebenen Stofflich- keit und der geistigen Werte, der geschichtUchen Mannigfaltigkeit und des geltenden Ideals festgestellt werden soll; sie enthalten dann naturgemäß immer ein Element der prinzipiell-idealistischen Weltbetrachtung und damit der Religion. Von hier aus wird dann auch die prinzipielle Aufnahme des Religionsproblems sich immer dringender darbieten. Es gibt keine andere Befestigung geltender Werte als in einem Glauben an die Herrschaft der Idee über die Wirklichkeit, und ein solcher Glaube wird sich nicht durchbilden und begründen können ohne Auseinandersetzung mit dem Problem der historischen Religionen. So sind für die nächste Zukunft zweifellos erneute Forschungen und Bemühungen um. die Religion bei allen europäischen Kulturvölkern zu erwarten.

Dieser zukünftige Gang der Dinge mag hier auf sich beruhen. Nicht auf seinen Verlauf, sondern auf die in ihm erwachsende und aus der breitesten Gedankenarbeit hervorgehende Problem- stellung kommt es an. Das Wesen dieser Problemstellung aber ist, daß die Ethik die übergeordnete und prinzi- piellste Wissenschaft ist, in deren Rahmen die Reli- gionswissenschaft sich einfügt. Nicht von einer wie immer gear- teten Metaphysik aus, die selbständig durch ihre Begriffe das Wesen der Welt enthüllte, nähert man sich heute dem Pvcligionsproblem. Vielmehr von dem allgemeinen ethischen Problem der letzten Werte und Ziele menschlichen Lebens und Handelns kommt man zu den darin eingeschlossenen religiös-metaphysischen Gedanken und be- stimmt dann wieder von ihrer Entwickelung aus die genauere ethische Wertung. Psychologische, historische und erkenntnistheoretische Erkenntnisse vereinigen sich zu einer Werttheorie. In dieser Werttheorie werden die metaphysisch-religiösen Grundlagen auf- gedeckt, die in ihr enthalten sind. Diese mögen dann zu etwaigen anderweitig sich ergebenden metaphysischen Ansätzen in Bezie- hung treten, kommen aber jedenfalls in erster Linie nur als Voraus- setzungen und bedingender Inhalt der Wertsetzungen und ihrer Beurteilung in Betracht*").

*") Vgl. Goldstein, Das Kulturproblem der Gegenwart 1899 und Vierkandt, Naturvölker und Kulturvölker 1896.

ct^ Grundprobleme der Ethik.

In dieser Lage tritt naturgemäß das christliche Ethos wieder deutlicher als Problem hervor. Es wird heute oft leidenschaftlich bekämpft und zu diesem Zweck in seiner Eigenart isoliert und histo- risch beleuchtet, während es bis dahin teils mit den ethischen Selbstverständlichkeiten des Lebens zusammengeflossen war, teils um seiner dogmatisch-kirchlichen Beimischungen willen Bausch und Bogen verworfen worden war. Eben dadurch entsteht aber auch für die theologische Ethik eine neue Lage. Sie muß auf die neuen begrifflichen Grundlagen der Ethik überhaupt eingehen und innerhalb dieser das eigentümliche inhaltliche Wesen des christlichen Ethos erst herausarbeiten. Das war bisher so gut wie nirgends geschehen, weil es sich bisher zu sehr mit den sonstigen Voraussetzungen unserer Kultur gedeckt und vermischt hatte. Erst heute wird es zum selbständigen Problem.

Die altchristliche Theologie hat der Ethik begreiflicher- weise nirgends prinzipielle Aufmerksamkeit geschenkt und nirgends eine wissenschaftliche Darstellung versucht, die der der religiösen Metaphysik und den davon bestimmten Dogmen entspräche. Aus der P'eststellung der religiösen Wahrheit flössen die ethischen Konsequenzen von selbst, und die Ethik konnte um so mehr ihrer urwüchsigen P'orm als Sitte und Gewissensurteil überlassen wer- den, als die christliche Ethik mit den naheverwandten stoischen und platonischen Anschauungen im Begriff'e des natürlichen Sit- tengesetzes zusammenfloß und somit als etwas von Natur fest- stehendes betrachtet werden konnte. Hier gab es immer nur ein ziemlich prinziploses Gemisch alttestamentlicher, neutestament- licher, jüdischer und hellenistischer Autoritäten, allerhand sich ausbildende Konventionen und besonders brennende kasuistische Einzelfragen. Das Moralische verstand sich als Forderung und Ideal mehr oder minder von selbst und bedurfte keiner Ableitung und Begründung , keiner Theorie und keiner Einheitlichkeit. So hat es sich für die alte Kirche nur um Feststellungen ein- zelner problematischer Anwendungen oder um erbauliche Seelen- leitung gehandelt. Nur die Satzungen der Orden, die Praxis des Bußwesens und später des Beichtwesens haben eine etwas festere Zusammenfassung ethischer Bestimmungen herbeige- führt. Als dann die katholische Kirche ihre die ge- samte Kultur beherrschenden Ansprüche und ihre die Seelen- leitung bedingenden Grundsätze in ihre großen Systeme zusammen- faßte, da haben diese die gesamte Weltanschauung und Kultur

Grundprobleme der Ethik. CCd

darstellenden Systeme natürlich einer Ethik nicht entbehren kön- nen. Aber sie haben auch hier die Ethik in Identifizierung des sittlichen Naturgesetzes mit der aristotelischen Ethik als eine selbständig gegebene, von der Kirche zu akzeptierende und nur durch ihre höheren Gesichtspunkte zu modifizierende Größe be- trachtet. Eine christliche Ethik aus den christlichen Grundge- danken selbst zu entwickeln, haben sie nirgends beabsichtigt. Die Christlichkeit der Ethik bestand in der Unterordnung aller aus dem natürlichen Sittengesetz entspringenden Zwecksetzungen unter den Endzweck der Kirche, in der Darbietung der sakra- mentalen Gnadenkräfte zur Erfüllung dieser sittlichen Forderungen, in der priesterlichen Gewissensforschung und Seelenleitung, die die richtige Anwendung des Naturgesetzes und die Vermittelung mit besonderen christlichen Pflichten für jeden konkreten Fall lehrte, schließlich in dem Aufweis der besonderen durch die Gnade bewirkten heroisch-asketischen Leistungen. Erst diese letzteren folgten rein und ausschließlich aus dem christlichen Gedanken und nicht aus dem Naturgesetz, vielmehr ergänzten und überboten sie dieses mit asketischen und mystischen, aus der dualistischen Tran- szendenz des eigentlichen ethischen Zieles folgenden Geboten. Wie in der Dogmatik die immanente natürliche Metaphysik und die geoffen- barte übernatürliche, so stehen in der Ethik das natürliche Sitten- gesetz und die besonderen Ratschläge und Gnadenleistungen sich gegenüber, in der sündigen Welt geschieden und daher vom Men- schen unvereinbar, aber in der göttlichen Vernunft beiderseits eins und übereinstimmend. Dabei ist es in der katholischen Ethik bis heute verblieben : eine aus dem Begriff der alles geschöpfliche Maß transzendierenden Uebernatur und Gnade und dem ent- sprechenden Zweck der Teilnahme am Wesen Gottes fließende Ethik der Gnadenversittlichung, der Askese, der Kontemplation, der Karität ist kombiniert mit einer aus dem natürlichen Zweck des geschöpflichen Daseins folgenden natürlich-philosophischen Ethik^ die die weltlichen Interessen des Familienlebens, des Privatlebens, des Staates, der Wirtschaft, der Wissenschaft und allenfalls der Kunst reguliert. Der Dualismus beider Sittlichkeiten hat seinen Grund im Dualismus des göttlichen Wesens selbst, das in der Schöpfungswelt seine Natur und in der Gnadenwelt seine Ueber- natur offenbart ^^).

*^) Vgl. hierzu meine »Vernunft und Offenbarung bei Gerhard und Melanch- thon« 1891, den Artikel der P. R.E., »Moralisten, englische«, die Anzeige von Seebergs

c Grundprobleme der Ethik.

Ist es derart in der katholisch-kirchlichen Theologie zu einer prinzipiellen Ableitung der spezifisch-christlichen Sittlichkeit aus den christlichen religiösen Grundgedanken nicht gekommen, sondern nur zu einer kirchlichen Modifikation und Ueberbauung der als Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes betrachteten Ethik des Aristoteles, so ist das auch bei den Reformatoren nicht geschehen. Allerdings haben sie mit der Zertrümmerung des katholischen Kirchenbegriffes und des ethischen Dualismus, mit der Aufhebung des katholischen Kompromisses von Kirchenlehre und Vernunft und dem Prinzip des reinen Biblizismus, mit der Notwendigkeit durch- greifender Revision und eines reinen, spezifisch christlichen Neubaues der Theologie auch den Antrieb empfunden, aus dem rein biblisch- paulinischen Gedanken ohne alle Anleihen eine spezifisch christliche Ethik, die Ethik der justitia spiritualis oder des vom Glauben erfaßten Geistbesitzes, auszuführen. Der Glaube an den zum Menschen sich herabbeugenden gottmenschlichen Erlöser und an die gerade in dieser Selbstentäußerung sich offenbarende vergebende und ver- söhnende göttliche Gnade versetzt den Menschen durch das Evan- gelium von der Sündenvergebung aus der Sphäre der Angst, des Trotzes, der Sündhaftigkeit und Weltliebe in die Sphäre des freudigen und beseligenden Gottvertrauens , in die trotz aller Sünde unerschütterliche Gewißheit der Gottesgemeinschaft und gibt damit die Kraft zur Gottesliebe und Bruderliebe. So ergibt sich aus dem Glauben eine unbedingte souveräne Freiheit des Gemütes von allen irdischen Zwecken und Ordnungen jeder Art und ebenso eine unbedingte Nötigung zum Liebesdienst an jeder- mann, um welcher Liebe willen allein die Unterordnung unter weltliche Ordnungen und Gewohnheiten gefordert werden kann. Allein bei diesem Programm ist es nicht geblieben und konnte es nicht bleiben. Aus ihm ist keine reine 'und spezifisch christ- liche Ethik entwickelt worden. Man vermochte eben von hier aus keine Stellung zu den Kulturproblemen zu gewinnen, die in

»Dogmengeschichte« Gott. Gel, Anzg. 1901 S. 21 30 und den Essay »Leibniz und die Anfänge des Pietismus« in dem Sammelwerk »Der Protestantismus am Ende des 19. Jahrh.«, jetzt vor allem meine Soziallehren. Eine brauchbare Ge- schichte der christlichen Ethik gibt es noch nicht. Die moderne historische Theo- logie ist erst bis zur Dogmengeschichte durchgedrungen und behandelt diese fast ohne jede Rücksicht auf die Ethik. Die »Geschichten der christlichen Ethik« stehen noch auf dem Standpunkt, auf dem die Dogmengeschichte vor hundert Jahren gestanden hat, d. h. sie sind wesentlich Literaturgeschichte.

Grundpiobleme der Ethik. ccy

der Sphäre der weltlichen Gesellschaft lagen, und die dabei zugleich dem eigentlich christlichen Ethos so ferne standen, daß sie nicht un- mittelbar aus der justitia spiritualis, d. h. aus der sittlichen Idee des Christentums abgeleitet werden konnten. Bei dem wissenschaftUchen Horizont der Spätantike, den der tlumanismus und die Refor- mation mit der Scholastik teilten, blieb nichts anderes übrig, als ebenso wie die Scholastik auf das sittliche Naturgesetz, d. h. auf die stoisch und platonisch interpretierte aristotelische Ethik zurück- zugreifen, in deren Rahmen das ganze politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Leben seit langem eingetragen war. Das gehörte auch noch für die Reformatoren zu den ethischen Selbstverständlichkeiten. Das sittliche Naturgesetz ist auch ihnen die Forderung der Vernunft und identisch mit dem Dekalog, der nur eine kurze Zusammenfassung, ein göttlicher Auszug aus dem Naturgesetz, ist. Es ist das Sittengesetz des Urstandes und das Sittengesetz Christi , der ja nur den Dekalog bestätigt und erneuert hat. In der Gestalt, die es bei den Heiden und Nichtchristen hatte, ermangelte es nur der Einsicht in die Forderung der motus spirituales, d. h. der das Handeln eigent- lich erst gottwohlgefäUig machenden Motive der Glaubensliebe und des Glaubensvertrauens zu Gott. So ist das sittliche Natur- gesetz als der Träger der Ordnungen in Familie, Staat und Ge- sellschaft eine wertvolle externa disciplina, die die Roheit des natürlichen Menschen bricht und ihn für die Gnadensittlichkeit vorbereitet, sowie ein Mittel zur Vorbereitung auf die Sündener- kenntnis und die Bekehrung, indem es schon aus natürlichen Mit- teln die Sündhaftigkeit aufdeckt. Ist der Mensch aber in der Bekehrung zum Glauben gekommen, dann besitzt er durch den heiligen Geist die motus spirituales, die wahrhaft sittlichen Motive freier Gottesliebe, mit denen er die praktischen Forderungen des sittlichen Naturgesetzes in der Tätigkeit seines ihm durch Obrig- keit, Recht. Sitte, Zunft und Stand angewiesenen Berufes beseelt. Auf dieser Grundlage erhebt sich die protestantische Ethik als Ausführung der aus dem Evangelium verstandenen und aus der Kraft des Evangeliums erfüllten lex naturae. Die religiösen Ele- mente werden aus der Glaubenserfahrung abgeleitet und ergeben von sich aus lediglich eine bestimmte Haltung des individuellen Gemütes und eine unbegrenzte um der Gottesliebe willen geübte Liebesgemeinschaft. Aber die hiermit bewirkte Gesinnung setzt als ihren Spielraum voraus die von der lex naturae aus gewor-

ec3 Grundprobleme der Ethik.

denen und zu beurteilenden weltlichen Zwecke, Berufe und Ord- nungen, die hierbei im Sinne des werdenden Beamtenstaates und des Feudal- und Zunftstaates als selbstverständliche, dem Indivi- duum übergeordnete Zustände betrachtet werden. Die durch Ueberlieferung, ethische Theorie und patriarchalische Empfindung festgelegten Lebensverhältnisse erscheinen als Beruf, wie schon in der scholastischen Ethik, und dieser von der modernen, indi- viduellen Freiheit und Beweglichkeit noch völlig unberührte Be- griff des Berufes bildet den Spielraum, den die christliche Ethik als selbstverständliche und von ihr geforderte Voraussetzung be- trachtet, zu dem die protestantische Ethik keine besonderen asketischen Ausnahme-Leistungen hinzufordert. So wird aus der justitia civilis die justitia spiritualis.

Der Dualismus zweier Quellen der Ethik ist also auch hier behauptet, und zwar in der Form, die schon von den ältesten mit der Welt ihren Kompromiß schließenden Theologen, den Apologeten, gewonnen und die von der Scholastik bloß bis zur Umfassung aller Probleme einer Weltkultur ausgeweitet worden war. Trotzdem ist diese Ethik etwas wesentlich anderes, als die katholische. Von dem Dualismus der katholischen Ethik und Weltanschauung unterscheidet sich dieser protestantische durch die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Natur und Uebernatur, durch den ein- heitlichen Gedanken von Gott und dem Zwecke des Menschen, d. h. durch den andersartigen Begriff der Gnade. Der im Glauben an Gottes Gnade aus den motus spirituales handelnde Mensch ist als solcher das Ziel des der irdischen Geschichte zugekehrten göttlichen Willens. Er ist der an sich natürliche, wesenhafte Mensch, wie er im vollkommenen Urständ geschaffen war, und wie ihn die Erlösung wieder herstellt. Nicht eine aus besonderer Gnadenwillkür Gottes entspringende besondere Gnadengabe der das Maß der Kreatur überschreitenden Partizipation am göttlichen Sein, sondern die aus dem Wesen des göttlichen Liebeswillens unmittelbar entspringende Bestimmung des Menschen ist die christliche Sittlichkeit. Daher der Unterschied der katholischen und protestantischen Urstandslehre und der Unterschied der katho- lischen und protestantischen Erlösungs- und Gnadenlehre, l^as Ideal des Menschen ist für die Reformatoren der in den natürlichen Schöpfungsformen sich bewegende Glaube, der die Schöpfungsord- nungen anerkennt und mit seiner Gottesliebe, seinem Gottvertrauen und seiner Nächstenliebe beseelt. Die Gnade ist ihnen die Herstelluns:

Grundprobleme der Ethik. c rg

des Glaubens durch die Offenbarung und Verbürgung der göttlichen Liebes- und Gnadengesinnung gegen den sündigen Menschen. Daher ist die Gnade nicht gebunden an Kircheninstitut und Sa- kramente als materielle Vehikel der Uebernatur, sondern ledig- lich an das Wort, d. h. an die Verkündigung von der Gnade Gottes in Christo. Daher ist auch die Erlösung nicht die Einflößung der Uebernatur, sondern die Herstellung der Natur aus ihrer Verderbnis und Lähmung durch die Sünde. Der Dua- lismus hat hier seinen Grund nicht darin, daß eine normale Be- ziehung Gottes auf die Kreatur und eine außerordentliche Ueberschreitung dieser natürlichen Beziehungen kombiniert werden, sondern lediglich in der Sünde, die die Natur des Menschen und die normale Beziehung Gottes auf ihn zerstört und die Wieder- herstellung der Natur notwendig macht.

So ist der Protestantismus ein starker Schritt zur Immanenz des Sittlichen und Religiösen in den natürlichen Denk- und Lebensformen. Aber wde in der Dogmatik der Dualismus der Offenbarung und der Vernunft, des Spezifisch-Christlichen und des Allgemein- Menschlichen bleibt, so bleibt in der Ethik der Dualismus der Glaubenssittlichkeit und des sittlichen Naturgesetzes, das zugleich Naturrecht, Staatslehre und Wirtschaftslehre umfaßt. Ja, der Dualis- mus zwischen Offenbarung und Vernunft ist so selbstverständ- lich und so beherrschend, daß er seit Melanchthon als Grundlage der Dogmatik überall in erster Linie behauptet wird, und daß von ihm aus die Doppelheit der Quellen der Ethik ohne weiteres folgt, obwohl ein Dualismus natürlicher und übernatürlicher Dogmatik leichter zu ertragen ist als der Dualismus solcher doppelter Motivierung des Handelns. Aber das letztere kommt auch nicht zum Bewußtsein. Die Ethik steht noch vollständig im Schatten der Dogmatik, und ihr Problem wird immer in 'erster Linie von Seite der Dogmatik angefaßt. Ist hier aus der Bibel als einer völlig genügenden und völlig deutlichen Quelle die Grund- anschauung von Gott, Welt, Mensch und Erlösung gewonnen, so ergeben sich von diesem festen Punkte aus die Hauptkonsequenzen für die Auffassung der Ethik in der Lehre von der Bekehrung, der Wiedergeburt und vom letzten sittlichen Ideal der Liebe. Diese Konsequenzen kann dann die Praxis und die Kasuistik auf die Forderungen der natürlichen Ethik anwenden, wie sie im Zusam- menhang ihrer Schultradition von Philosophen und Juristen aus der lex naturae und damit ja auch aus dem göttlichen Willen

cßQ Grundprobleme der Ethik.

entwickelt werden. Der Widerspruch gegenüber der Ethik der reinen WeltQbcrwindung und der auf jeden Widerstand verzichtenden Liebe wurde wohlempfunden. Aber diese streng und eigentlich christlichen Forderungen wurden auf die »Person« d. h. auf das Privatleben beschränkt. Der Christ als Glied des öffentlichen Lebens oder Träger eines aus dem naturrechtlichen Staats- und Wirt- schaftssystem folgenden Amtes hatte hier den P^orderungen des Amtes oder der von Gott mit der Sünde und gegen die Sünde zugelassenen naturrechtlichen Ordnung zu folgen. Konflikte zwi- schen beiden Grundsätzen regeln sich von selbst, indem überall das Amt vorgeht und die Moral der Person sich auf die vom Amt in keinem Sinne erfaßten Lebensbeziehungen einschränkt. Da bleibt für die Moral der Person nicht viel übrig und bedroht sie nirgends die Kulturnotwendigkeiten. Eine bürgerliche Moral des gewissenhaften und treuen Amtsgehorsams und der peinlich eingehaltenen Berufstätigkeit ist davon die Folge. Da sogar die Familienverhältnisse unter Amt und Beruf fallen, so bleibt für die Moral der Bergpredigt überhaupt nicht viel Spielraum übrig. Ueberdies liegen auch die Gefahren eines künstlerisch und wissen- schaftlich inspirierten Ethos, wie es die völlig ignorierte und un- bekannte Renaissance vertritt, noch in weiter Ferne. Die Ethik bietet also keine schwierigen Probleme, weder wissenschaftliche noch praktische. Eben deshalb bedarf es auch keiner eigentlich prinzipiell die Sache behandelnden, selbständigen Ethik, obwohl an sich gerade die Theorie von den zwei Quellen dazu dringend hätte auffordern können. Aber dazu ist noch kein Anlaß, da die Ethik noch dem Gebiet des Subjektiven und der Anwendung, die Religion dagegen noch dem Gebiet des allein schlechthin Objektiven, der autoritären Offenbarung, angehört. Das Problem des Christentums von der Ethik aus anzugreifen hatte unter diesen Umständen keinen Sinn, und niemand ist daher auch auf diesen Gedanken gekommen, außer den Sektierern, die eben deshalb als Verächter der objektiven OlTenbarung, der von der subjektiven Leistung unabhängigen Gnade und der diese Schätze objektiv verwaltenden Kirche mit schroffster Geringschätzung aus- gestoßen wurden.

Dieses Problem mußte aber zur Empfindung kommen, und damit mußte die Ethik zu größerer Selbständigkeit ge- langen. Von den hierbei zur P2mpfindung kommenden Proble- men der Ethik aus mußte dann das ganze Verhältnis von

(jrundpiobleme der Ethik. cQi

Ethik 11 nd Dogmatikunddamit die ganzeAuffas- sung der Theologie verwandelt werden. Es ist aber ein ziemlich verwickelter Gang der Dinge, bis es dahin ge- kommen ist.

Mit dem Schwinden der Selbstverständlichkeit der patriar- - chalischen Lebensformen des konfessionellen Territorialstaates und mit dem freien Anbau einer unabhängigen, neue Wege suchenden Analyse der allgemeinen ethischen Begriffe wurde der Dualismus zum Riß und zum Problem. In erster Hinsicht hat der Pietismus als die Herausstellung der streng christlichen ethischen Ideen gegenüber der verweltlichenden Kultur und der Puritanismus als der Versuch der Aufrichtung eines rein christlichen Gemeinwesens ■die christliche Ethik in ihrer Sprödigkeit gegen die Welt und gegen die Kulturzwecke erwiesen. Der Pietismus ist zwar zu- nächst die Gegenbewegung gegen die orthodoxe Verknöcherung der dogmatischen Theologie und gegen das neue opus operatum der Amts- und Sakramentstheologie. Aber er hängt doch auch •eng mit den Veränderungen des allgemeinen Lebens zusammen, mit der Opposition gegen die zunehmende Säkularisation des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Staat wurde souve- rän und weltlich, militärische Gesichtspunkte und der französische esprit mondain beherrschten die Höfe, die geduldige und selbstver- ständliche P'ügung in die patriarchalischen Ordnungen schwand. Dem gegenüber warf das in großen Krisen und Schicksalen belebte religiöse Gefühl sich ganz auf die Innenwelt und damit auf das Zentrum der christlichen Ethik, auf die Grunderfahrung der Be- kehrung und Wiedergeburt und auf eine ausschließlich von christ- lichen Motiven geleitete Ethik. Das uralte Problem der christ- lichen Ethik, wie die rein religiöse Ethik mit ihrer Konzentration auf Gott und die Gemeinschaft der in Gott Verbundenen sich zu ■den Gütern und Zwecken des Weltlebens, zu Staat und Recht, Krieg und Zwang, Kunst und Wissenschaft verhalle, wachte wieder auf und wurde strenger und ausschließender entschieden, als es die reformatorische Glaubens- und Berufssittlichkeit vermochte und brauchte. Viel dramatischer als auf dem Kontinent war der Verlauf in England, wo der zurückgedrängte, zum Puritanismus gewandelte und mit den täuferischen Sekten sich mischende Calvinismus zu einem Interregnum gelangte, das er zur Aufrichtung eines wesentlich aus christlicher Ethik inspirierten Staates benutzte. Hatte er aber schon hierzu reichliche Anleihen bei dem Alten

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II, ^6

c52 Grundprobleme der P'thik.

Testamente machen müssen, also mit den rein christlichen Prin- zipien nicht auskommen können, so war der Widerspruch zwischen den christlichen Ansprüchen und der tatsächlichen, vom Zwang der weltlichen Dinge erfaßten Politik ein Hauptgrund für die Unmöglichkeit der Behauptung eines solchen Staatswesens. Darin bestand die Tragödie des Cromwellschen Regiments. Der neue Anbau prinzipiell ethischer Untersuchungen, den die englischen Moralisten vornahmen, stand mit dieser Abwendung von dem Experiment eines christlichen Staates und einer rein christlichen Gesellschaft in nahem Zusammenhang. Mandevilles berüchtigte Bienenfabel ist nichts als die Nutzanwendung hiervon ; sie betonte vor allem den Gegensatz der Privatmoral gegen die öffentliche Moral, welche letztere mit den christlichen Tugenden nichts an- fangen \ könne , wie schon Macchiavelli gelehrt hatte. Noch wichtiger als ein solcher kecker Angriff wurde die jetzt hervortre- tende selbständige Neuuntersuchung der ethischen Grundbegriffe, die nicht bloß die theologische Gebundenheit, sondern auch die peri- patetische Schultradition verließ. Den Spuren der Lockeschen Psychologie und Erkenntnistheorie folgend, suchte man im neuen England der glorreichen Revolution und der mit ihr ein- setzenden politischen und wirtschaftlichen Entwickelung eine allgemeine Theorie der Moral. Hier wurde unter Zurück- stellung des kirchlichen supranaturalen Sittengesetzes und der kirchlichen Psychologie einer supranaturalen Versittlichung der Begriff des sittlichen Gesetzes, der sittlichen Einsicht, des sittlichen Gefühls im Sinne empirisch immanenter Psychologie und in der An- wendung auf die gesamte Breite der menschlichen Zwecke untersucht. Mochte man hierbei nun zu intuitionistischen oder eudämonisti- schen Theorien gelangen und mochte man noch so nahe Beziehungen zu der geoffenbarten Sittenlehre suchen, immer handelte es sich um eine selbständige und originale Fortbildung der antiken Ethik, die nicht mehr möglichst rasch in die theologische einmündete. Vielmehr untersuchte sie ohne alle theologisch-dogmatische Vor- aussetzung die Gesetze und Zwecke des Handelns im Kultur- leben auf ihren sittlichen Grund und Charakter und entfernte sich dabei in Wahrheit trotz aller Kompromisse von dem Geiste der kirchlichen Ethik immer weiter. Damit wurde nun aber das Sitt- liche in seinen Grundbegriffen zum Problem^ und es trat die Ethik aus dem Schatten der Dogmatik und religiösen Metaphysik als selbständige Wissenschaft mit verwickelten und folgenreichen

Grundprobleme der Ethik. rß-y

Problemen hervor. Daraus hat sich dann die ganze moderne philosophische Ethik entwickelt.

Aber auch für den theologischen Betrieb der Ethik war diese wissenschaftliche Neubildung von hoher Bedeutung. Die bisher geltende aristotelische Ethik zerfiel und war nicht mehr selbstverständliche Grundlage. Die christliche Sittlichkeit trat in Spannung gegen die psychologische Immanenz der neuen Auf- fassung und gegen die Schätzung weltlicher Güter als unabhängi- ger Selbstzwecke. Nun wurden die ethischen Grundbegriffe zu selbständigen und zunächst für sich zu behandelnden Problemen. Eine ethische Apologetik erhob sich neben der dogmatischen, und mit alledem entstand jetzt erst eine eigentliche Disziplin der theo- logischen Ethik, die eigene Probleme und grundlegende wissen- schaftliche Kontroversen relativ unabhängig von der Dogmatik zu entscheiden hatte, ja die bald die Probleme auch dieser vor ihr eigenes Forum zog.

P'ür die Gestaltung der theologischen Ethik erhob sich nun aber damit noch ein besondere Schwierigkeit. Sie hatte bisher so sehr im Schatten der Dogmatik gestanden, daß sie an eine ge- sonderte und selbständige Behandlung nur ganz ausnahmsweise denken konnte. Aber sie hatte sich zugleich doch auch so ein- fach und durchgreifend von der Dogmatik unterschieden, daß eine gesonderte Behandlung andererseits zur Abgrenzung doch auch gar nicht nötig schien. Behandelte die Dogmatik in dem dog- matisch-intellektualistischen Sinne der Orthodoxie die credenda, die in der inspirierten Bibel ihr eigenes Prinzip hatten und daher ganz selbständig aus dieser entnommen werden konnten, so be- handelte die Ethik die facienda, die ebenfalls in Gestalt des Dekalogs und seiner Näherbestimmungen aus der neutestament- lichen Offenbarung gewonnen wurden. Das konnte alles in der Dogmatik erledigt werden. Die Einzelheiten überließ man dann der theologisch kontrollierten philosophischen Ethik oder be- handelte sie in der Kasuistik. So waren Dogmatik und Ethik auch bei gemeinsamer Behandlung doch leicht an einem sehr handfesten Kennzeichen zu unterscheiden. Das wurde aber anders, nachdem gleichzeitig mit der Analyse der ethischen Grundbegriffe und der Bildung eines neuen Allgemeinbegriffs des Sittlichen, von dem aus die verschiedenen Typen des konkret-historisch Sittlichen erst geprüft werden sollten, auch die Religion in eine ähnliche Analyse hineingezogen worden war,

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r54 Grundprobleme der Ethik.

die auch ihrerseits von dem Streit der Konfessionen und dem religionsgeschichtHch erweiterten Horizont ihre Impulse erhielt und einen allgemeinen, psychologisch begründeten, das Christen- tum einschließenden Religionsbegriff suchte. Dieser Religionsbe- griff fand sein Charakteristikum darin, daß er die Religion als ein wesentlich praktisches Verhalten des menschlichen Geistes bestimmte, das nur als Voraussetzung und Folge gewisse Wahr- heitssätze enthält, das aber seine eigentliche Legitimation in prak- tischen Leistungen aufweist. Diese praktischen Leistungen selbst aber vermochte man im ganzen nur in Verstärkungen und Be- gründungen des Sittlichen zu sehen. Dieses schien jetzt das Ein- fachere und leichter zu Begründende. Damit geriet die Religions- wissenschaft in wachsende Abhängigkeit von der Ethik, ihren Problemstellungen und ihren begrifflichen Lösungen. Das Ergebnis war die engste Verbindung des Moralischen und Religiösen und die Rekonstruktion der erschütterten Dogmatik vom Boden der Ethik aus, wobei es gleichgültig war, ob man mehr von pietistisch- biblizistischenoderrationalistisch-eudämonistischen Voraussetzungen ausging. Das Verhältnis von Ethik und Dogmatik war jetzt vollkom- men umgekehrt. Eine undogmatische oder erst sekundär-dogma- tische Religion als Stütze und Kraft der Moral und die Ethik als die die Dogmatik in sich schließende Fundamentalwissenschaft ist die Konsequenz, die wenigstens von den bedeutenderen Denkern ge- zogen wurde. Shaftesbury und Locke, Rousseau und die Schotten wiesen diesen Weg. Dabei war die Ethik in Fortwirkung der grund- legenden neuen Auffassungen überwiegend subjektiv und indivi- dualistisch gedacht als Lehre von den subjektiven Bestimmungen des handelnden Willens. Den Höhepunkt dieser Betrachtungs- weise bildet die Kantische Ethik, die mit dem gesamten System des großen Denkers auch das Sittliche dem Bann des Naturhaften, Relativen und Zweckmäßigen entreißt, sie als Lehre von den apriorisch notwendigen Bestimmungen des subjektiven Willens darstellt und, indem er so in der Ethik den überempirisch-idealen Charakter hervorhebt, um so entschlossener den religiösen Gedan- ken den Voraussetzungen dieser Ethik unterwirft. So behandeln Kant und die Kantianer die Ethik der notwendigen, aber durch- aus subjektiven Willensbestimmungen durch reine praktische Ver- nunft als die Grundwissenschaft, von der aus sie die Religion als Hinzufügung der metaphysischen Garantien für den Sieg des Sittlichen über die phänomenale Welt und ihre Gesetze begreifen.

Giundprobleme der Ethik. cßC

Das Christentum ist ihnen die Zusammenfassung dieser zugleich ganz begrifflich-notwendigen und doch zugleich ganz subjektiven Moral und die Vollendung dieser Moral durch die in ihr liegen- den und an sie anzuknüpfenden metaphysischen Postulate einer ausgleichenden Gottheit und eines jenseitigen Lebens.

Diese Sachlage wurde zwar verändert durch die neuen Wege, welche die Analyse der Religion weiterhin einschlug. Sie wurde freilich nicht wieder zur autoritativen Üffenbarungsdogmatik, aber sie gewann die Selbständigkeit gegenüber dem Ethischen zurück. Damit mußte dann das Verhältnis beider wieder ein anderes werden. Von Hamann, Herder und Jacobi vorbereitet, er- hob sich die neue epochemachende Bestimmung des Reli- gionsbegriffes bei Schleiermacher, de Wette und Hegel, die die Religion in ihrer Eigentümlichkeit gegenüber der Moral wie gegenüber der Metaphysik als eine zentrale Stellungnahme der ganzen Persönlichkeit zum Sein und Wesen der Wirklichkeit, als erfahrungs- und erlebnismäßiges Innewerden von einem absoluten geistigen Gehalt und Sinn des Daseins, verstanden. Damit wurde dann wieder im Gottesgedanken und im Begriff des religiösen Zweckes einer Erhebung des Gemütes in das göttliche Leben eine selbständige, objektive Bestimmung des Handelns gefunden. Indem aber so der Begriff eines durch den religiösen Zweckge- danken inhaltlich bestimmten und dadurch gegen das sittliche verselbständigten Handelns wieder aufgestellt wurde, veränderte sich gleichzeitig auch der allgemeine Begriff des Sittlichen und der Ethik. Ihre Aufgabe wurde nicht mehr bloß darin ge- sehen, die subjektiven Willensbestimmungen in ihrem ethischen Charakter und Wert zu fassen, sondern darin, die objektiven Werte und Zwecke des Handelns zu bestimmen, deren Erstrebung den Inbegriff eines aus überempirischen vernünftigen Nötigungen hervorgehenden Handelns bildet. Die Ethik nimmt die Wendung zu einer objektiven Bestimmung der großen allgemeingültigen Zwecke des Handelns und zur Zusammenfassung dieser Zwecke im Wesen der Vernunft, aus dem sie als notwendige Vernunft- güter hervorgehen. So wird die Ethik zur Kulturphilosophie unter ethischem Gesichtspunkt, indem sie Notwendigkeit, Vernünftigkeit und Einheitlichkeit der großen sozialen, aber zugleich die Indivi- duen zu eigentümlichem Wert erhebenden objektiven Zwecke zu erweisen strebt. So ergeben sich inhaltliche Zwecke des Staates, der Gesellschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Familie, der

c56 Grundprobleme der Ethik.

Reliq;ion, die als objektive Güter das Handeln bestimmen. Von der Ethik in diesem allgemeinen Sinne als der Lehre von den notwendigen Zwecken und Zielen des Lebens ist so auch die Religion mit befaßt, aber als inhaltlich das Handeln bestimmender Zweckgedanke. Die Religion ist nicht mehr Sanktion und Garantie einer Ethik der Selbstdisziplin und Menschenliebe, sondern ein eigener objektiver Wert neben den anderen objektiven Kultur- werten. Die Frage ist daher nun , wie die vom religiösen Zweck bestimmte christliche Ethik sich unter Einwirkung dieses Zweckes gestalte, und wie sich die aus diesem religiösen Zweck ergehenden Forderungen zu den aus den anderen Zwecken er- gehenden verhalten. Damit ist wiederum die Ethik die prinzipielle und übergeordnete Wissenschaft, aber nun nicht mehr als die subjektive Moral im engeren Sinne, sondern als die Lehre von den das Handeln bestimmenden letzten objektiven Zielen. Von einer so gestalteten Ethik aus wird innerhalb des allgemeinen Rahmens auch Raum für eine besondere, vom objektiven Gehalt der Religion aus bestimmte Orientierung des Handelns. Bildete die formale Ethik des Apriori der praktischen Vernunft mit ihrem Abschluß in einer religiösen sanktionierenden und garantierenden Weltanschauung den Höhepunkt der Ethik und Religionswissenschaft der Aufklärung, so bildet Schleiermachers historisch orientierte Ethik der objektiven Güter den Höhepunkt der Ethik des deutschen Idealismus. Tritt bei jener die Religion als Garantie und Grundlage zu einem überall gleichen, rein rationellen und formalen sittlichen Gebot hinzu, so ist bei dieser trotz aller allgemeinen Unentbehrlichkeit einer religiösen Grundanschauung für alle vernünftige Zwecksetzung überhaupt doch ein besonderer inhaltlicher religiöser Zweck neben den andern von der Vernunft in der Geschichte hervorgebrachten Zwecken behauptet. Dieses Zwecksystem bildet als Ganzes den Gegen- stand der Ethik, wie es Schleiermacher in seiner allgemeinen Ethik dargestellt hat.

Von diesen Grundanschauungen aus hat Schleiermacher auch seine theologische Ethik entworfen und durch sie dieser ganzen Disziplin einen neuen Anstoß gegeben. Aber seine leider nur in Form von Nachschriften hinterlassene und den Anforderungen des üblichen Schematismus theologischer Kollegien angepaßte theologische Ethik entspricht doch nicht von ferne den Konse- quenzen dieser großen Gesamtanschauung. Er entwickelte seine theologische Ethik nicht im Rahmen seiner allgemeinen Ethik,

Grundprobleme der Ethik. cQj

sondern im Anschluß an die durch seine Glaubenslehre erreichte kirchUche Position. Unter dem Einfluß der theologischen Schultra- dition tritt sie wieder in den Schatten der Dogmatik und ist hier etwas blaß und kümmerlich geworden. Hatte er in dieser die Stellung der christlichen Frömmigkeit innerhalb der geschicht- lichen Entwicklung der Religion als Verwirklichung des Ideals der Religion und damit als Pflanzung der völligen Macht des Geistes über das Fleisch konstruiert, so setzt er für seine theo- logische Ethik diese Betrachtung des Christentums einfach voraus. Es ist ihm ohne weiteres die Vollendung der Macht des Geistes durch die Herstellung der vollkommenen Einheit mit Gott und durch die Stiftung der Kirche als des Organismus für die Ausbreitung dieser Macht des Geistes. Daher beschreibt er nun bloß die Art und Weise, wie die Kirche die Macht des Geistes realisiert und wie sie sich bei dieser Realisierung zu den verschiedenen einzelnen Kultur- zwecken, wie Familie, Staat usw., verhalten soll. Auf die allgemeinen Gedanken seiner prinzipiellen Ethik geht er dabei nur insofern ein, als der Geist als Ganzes ja das einheit- liche Prinzip der Vernunftzwecke überhaupt ist und die durch Christus geschehene Vollkräftigung des Geistes eben damit die sämtlichen Zwecke des Geistes kräftigt. Die einzelnen Zwecke sind so sehr in der Einheit des in der Kirche zur Herrschaft und Selbstdarstellung zu bringenden Geistes untergegangen, daß das Problem des Verhältnisses dieser verschiedenen, jedenfalls zunächst relativ selbständigen Einzelzwecke zueinander gar nicht ernstlich diskutiert wird, und daß die Spannung zwischen einem spezifisch christlich-religiös bestimmten Handeln und einem durch die welt- lichen Zwecke bestimmten Handeln gar nicht empfunden wird. Das Christentum ist der Geist, die Vernunft, die Humanität, der Inbegriff der Kultur, durch die Erlösung in Christo gekräftigt und herrschend gemacht. So kommt es nur zu einer an die Dogmatik angelehnten Ethik der Auswirkung des Geistes Christi durch den Organismus seiner Gemeinde, wobei der Geist als In- begriff aller sittlichen Zwecksetzungen gedacht ist und nur durch die von Christus ausgehende Kräftigkeit des Gottesbewußtseins zur Vollkraft gebracht wird. Unter diesen Umständen gibt es natürlich gar kein Problem des Verhältnisses überweltlicher und innerweltlicher Werte, keine Spannung von Christentum und Kultur, von Person und Amt, von Bergpredigt und Lex naturae. Denn das Christentum ist ja selbst die Inkarnation des Geistes, der Vernunft,

cß^ Grundprobleme der Etliik.

der Kultur, des Systems der objektiven Güter. Die reiche Gliederung des Geistes in sich selbst und die relative Selbständigkeit des reli- giösen Zweckes unter den Zwecken des Geistes, wie die allge- meine Ethik sie gelehrt hatte, ist hierbei verloren gegangen. Von ihr ist nur der ganz blasse Begriff des Geistes überhaupt über- geblieben und die allgemeine geschichtsphilosophische Voraus- setzung, nach der im Werden des menschlichen Geistes die Re- ligion eine zentrale Bedeutung hat und im Christentum die Ver- wirklichung ihres Wesens erlebt. An diesen Krweis des Christentums als der Setzung der vollendeten Macht des Geistes knüpft dann die theologische Ethik an. Sie schildert lediglich die Durchsetzung des vollkommenen Gottesbewußtseins als des Prinzips der Kräftigkeit des Geistes durch die kirchliche Gemeinschaft. Nicht mehr das Pro- blem des Wesens einer spezifisch christlichen ethischen Zweck- setzung und das Verhältnis einer solchen Zwecksetzung zu den übrigen beherrscht den Gedanken, sondern das Problem, wie durch die Erlösung durch Christus und in der Kirche als der Gemeinschaft der Erlösung der sittliche Geist die volle Kraft und Reinheit erlange. Es ist trotz der wundervollen philosophischen Ethik Schleiermachers in der theologischen wieder alles wie einst. Der Inhalt des Sittlichen versteht sich von selbst. Einst war es Dekalog, Naturrecht und Evangelium, jetzt ist es der »Geist«, ein überaus blasses Abstraktum. Das Theologische an der Ethik ist nur die übernatürlich-kirchliche Gnadenhilfe in der Durch- setzung dieses selbstverständlichen, mit der Kultur identischen »Geistes«, eine etwas rationalisierte 1-^ortführung des kirchlich- ethischen Problems, das nie im Inhalt, sondern stets in dem Auf- weis des die Versittlichung bewirkenden Wunders bestanden hatte. Die Grundbegriffe von Schleiermachers allgemeiner Ethik sind durch das theologische Schema der Begründung der christ- lichen Ethik auf das Erlösungswunder gekreuzt und die damit ent- stehende Unsicherheit ist in dem ganzen Buche fühlbar. Eben deshalb ist auch die von seiner allgemeinen Ethik aus geforderte Unterordnung und Einordnung der Religionswissenschaft und der religiösen Ethik unter die allgemeinen Begriffe der Ethik nicht durchgeführt; sondern, nachdem die Glaubenslehre durch die Ge- meindeerfahrung das Christentum aus dem Rahmen der allge- meinen Ethik halb herausgenommen hat , ist die theologische Ethik als einfache Fortsetzung und i\uswirkung der religiösen Erlösung oder Kräftigung des Geistes vollends aus diesem

Grundpiobleme der Ethik. SÖQ

Rahmen gelöst und lediglich der Glaubenslehre koordiniert, die ihrerseits wieder nur durch ihre allgemeine Einleitung mit dem allgemeinen Grvmdgedanken der Ethik zusammenhängt. So ist der im Zusammenhang der allgemeinen wissenschafdichen Be- wegung ursprünglich erwachsene Grundgedanke, von der Ethik aus die Religion zu verstehen und in ihren allgemeinen Rahmen die christlich-religiöse Ethik einzutragen, aufgegeben, die Glau- benslehre halb, die theologische Ethik fast vollständig aus diesem Zusammenhang emanzipiert und sind die beiden letzteren schließ- lich in ein Verhältnis schwebender Koordination gebracht. Eben dadurch hat Schleiermachers theologische Ethik mit den leben- digen Problemen der Gegenwart nichts mehr zu tun, so wenig wie die Mehrzahl der heutigen theologischen Ethiken ■*^).

Erwägungen dieser Art haben Richard Rothe bewogen, nicht in der Anknüpfung an Schleiermachers theologische, sondern in Anknüpfung an seine philosophische Ethik den großen und kühnen Plan Schleiermachers durchzuführen. Er hat damit die Konse- quenz Schleiermachers und der gesamten neueren Ethik und Re- ligionswissenschaft für sich. So hat er den Schwebezustand zwischen Glaubenslehre und theologischer Ethik aufgelöst und resolut seine theologische Gesamtauffassung als Ethik dargestellt. Dabei hat er die aus dem Wesen des Geistes erwachsenden ide- alen Zwecksetzungen konstruiert, in ihrer geschichtlichen Entwicke- lung abgeleitet und schließlich in ihrem gegenseitigen Verhältnis bestimmt, wobei der religiöse christliche Zweck die andern Zwecke in sich aufnimmt und von sich aus reinigt und heiligt. Die dabei von Rothe vor allem gelehrte Aufhebung der Kirche in dem christlichen Kulturstaat bedeutet nur die Herstellung eines solchen einheitlichen , die verschiedenen Zwecke zu- sammenfassenden, endgültig humanisierten Christentums. Das Ganze hat er dann schließlich in einen theosophischen Ge- samtzusammenhang gestellt, der im Wesen Gottes und der Schöpfung den notwendigen Grund dieser Herausbildung und geschichtlichen Entwickelung der Vernunftzwecke sowie die Nö- tigung ihrer Vereinigung im religiösen, von der christlichen Er- lösung vollkommen offenbarten höchsten Zwecke aufweist. Der Gedanke der christlichen Humanität, der Vereinigung aller Kultur-

*^) Vgl. meine Anzeige von J. Köstlin, Christliche Ethik, in Gott. Gel. Anz. 1899 und von Th. Häring, Das christliche Leben 1902, ebd. 1903.

CyO Grundf)roblenie der Ethik.

zwecke im christlichen höchsten Gute, hat dabei freilich auch ihm keine Sorgen bereitet. Er lebte noch von den Ideen der Romantik und des christlichen Humanismus.

Das großartige Werk Rothes steht daher trotz aller indivi- duellen Sonderbarkeiten auf der Höhe der ganzen theologischen Entwickelung. Die Ethik oder das System der objektiven Werte ist der Boden, von dem aus die Verständigung über das Wesen des Christentums zu suchen ist und der Rahmen, in dem es allein wissenschaftlich dargestellt werden kann, seit die Religion nicht mehr eine geoffenbarte Lehre, sondern eine m.it der Innerlichkeit persönlicher Religion gesetzte Richtung der letzten Lebensziele ist.

Das Werk Rothes hat in diesem Grundgedanken keinen Nach- folger gefunden. Erst in allerletzter Zeit hat ein an Umfang freilich höchst bescheidenes, an Gehalt und Gedankenschärfe aber über- aus reiches Werk den prinzipiell gleichen Gang versucht^^). Zwar ist hier nicht bloß die theosophische Unterlage weggefallen, die Rothe für den geschichtlichen ethischen Prozeß konstruiert hatte, sondern auch die Fassung der ethischen Grundbegriff'e von der Schleiermacherschen objektiven Güterethik zu der Kantischen for- malen Allgemeingültigkeits-Ethik zurückgekehrt. Aber wie die Kantische und die Schleiermachersche Ethik in Konsequenz der neueren Gesamtanschauung darin übereingestimmt hatten, daß erst vom Boden der prinzipiellen Ethik aus das Religionsproblem angegriffen werden könne, so vertritt auch Herrmann prinzipiell diesen Standpunkt. Eine genaue Untersuchung dieser Ethik ist daher der beste Weg zu einer Diskussion der Grundprobleme der heutigen christlichen Ethik.

II.

Herrmanns Ethik ist eines der reifsten, diuchdachtesten und geistesfreiesten Werke der gegenwärtigen Theologie. Es besitzt die ganze innere Freiheit, die ein spezifisch ethischer Standpunkt in der Weise Kants gewährt, und die ganze feste Gebundenheit an die Realität des Uebersinnlichen, die mit einer solchen ein- fachen Verankerung in der Welt des Notwendig-Guten gegeben ist. Freilich hat es auf der andern Seite auch die Schran- ken einer solchen schroffen formal-dualistischen Auffassung aller ethischen Probleme, die Härte, die alle andersartigen Auffas-

") Herrinann, Elhik 1901 Inzwischen ist 1909 eine vierte Auflage er- schienen.

Grund[irobleme der Ethik. eyi

sungen aus unsittlichen Motiven oder aus Vernachlässigung des sittlichen Interesses ableitet. Bedenklicher noch ist die Gleich- gültigkeit gegen die Bedingtheit aller ethischen und religiösen Probleme durch die jeweilige Lage des objektiven Bewußt- seins, vermöge deren Herrmann seine Position als die ein- fache, immer gestellte Forderung der christlichen und mensch- lichen Sittlichkeit überhaupt darstellt. Hier kehrt der ganze formale Rationalismus Kants wieder. So wird er leicht unge- recht gegen ältere Fassungen der christlich-sittlichen Idee, die auf einer andern Gestaltung des objektiven Bewußtseins be- ruhten, und verbirgt er sich und dem Leser, wie radikal doch auch seine eigene Position von den modernen Veränderungen dieser Gestalt des objektiven Bewußtseins bedingt ist.

Das ist besonders an zwei Punkten der F'all, bei der Stellungnahme zu der modernen Historie und bei der Stellung zu dem psychologischen Problem des Sittlichen, wobei ich von der gründlichen Ablehnung aller Metaphysik gar nicht reden will, die ja auch ein Erzeugnis moderner Verhältnisse ist und der ganzen früheren christlichen Ueberlieferung als etwas Neues gegen- übersteht. Doch ist dieser letztere Punkt bekannt und viel be- sprochen, während die beiden anderen nicht so ohne weiteres zu- tage liegen.

Nichts überrascht vielleicht so sehr an dem Buch, als die radikale Konzentration auf die sittliche Idee einer formalen Not- wendigkeit, die empfunden werden und durch Jesus zur wirksamen Macht in uns werden muß. Diese sittliche Idee und Macht ist für Herrmann in allem Uebrigen völlig frei von jeder Verbindung mit irgendwelchem Ueberlieferungs- und Autoritätsglauben, von Wunder- apologetik und historischen Beweisen, von Erlösungs- und Versöh- nungsdogmen. Ja sie befähigt zu völliger Gemütsruhe auch gegenüber aller historisch-kritischen Erforschung der Urgeschichte des Christen- tums und der Verkündigung Jesu, .sie verlangt nur Ehrfurcht vor der sittlichen Reinheit und Größe Jesu und Vertrauen zu dem darin sich aussprechenden religiösen Innenleben. Diese Gleichgültigkeit aber bezeichnet Herrmann geradezu als eine sittliche Forderung, da der sittliche Glaube sich immer nur auf sittliche Ideen und Kräfte beziehen darf, wie sie im persönlichen Leben uns entgegen- treten. Dagegen dürfe er sich niemals auf Ueberlieferungen beziehen, die vielmehr kritisch zu prüfen und das heißt zugleich unsicher zu machen sittliche Pflicht sei, und niemals auf autoritative Dogmen,

r72 Grundprobleme der Ethik.

deren Zwang als unpersönliche Aeußerlichkeit das gerade Gegenteil der sittlichen Autonomie sei. Alles das ist vortrefflich. Aber es ist doch die Wirkung der historisch-menschlichen Betrachtung der hei- ligen Geschichte. Solange für diese die besondere Wunderkausalität und für die von ihr zeugende Bibel die Inspiration selbstverständ- lich war und die ganze hiermit gegebene Anschauung in Gottes- begriff und Weltbild festen Grund hatte, konnte von einer sitt- lichen Forderung dieser Art nicht die Rede sein, sondern nur von der Forderung einer möglichst inner-persönlichen Aneignung des Objektiv-Gegebenen, wie das die Position der Reformatoren war. Eine sittliche Pflicht der Unabhängigkeit von schwankenden Ueber- lieferungen und von äußeren Autoritäten gibt es erst, seit die Ueberlieferungen schwankend und die Autoritäten äußerlich gewor- den sind. Kant, dem Herrmann in alledem folgt, war sich dar- über völlig klar. Er begründet seine Abwendung von Ueberliefe- rung und Autorität mit der Zufälligkeit, die bei der neueren histori- schen Kritik alle historischen Tatsachen angenommen hätten, und mit der Forderung der Notwendigkeit, die erst in dem inneren persönlichen Erlebnis des kategorischen Imperativs gefunden wer- den könnten. Ganz das gleiche ist aber das letzte Motiv der Po- sition Herrmanns, nur daß es als solches nirgends prinzipiell aus- gesprochen wird. Seine Ethik kann geradezu bezeichnet werden als der Versuch, die Gültigkeit und Kraft des christlichen Ethos gerade bei den Voraussetzungen der modernen historischen Kri- tik zu zeigen, alles zu opfern, was dieser preisgegeben werden muß und dafür um so sicherer das Fundament zu zeigen, das in diesen Unsicherheiten als der tragende Grund sich darstellt, das sittliche Innenleben Jesu und die davon ausgehenden erlösenden Eindrücke. Hat freilich Kant mit seinem formalen Rationalismus die innere Beziehung zur Historie überhaupt ganz aufgegeben, so sucht Herrmann eine Beziehung festzuhalten, die bei aller Aner- kennung des historischen Relativismus noch möglich ist. Das Ob- jektiv-Gegebene hat sich daher für Herrmann verändert und zu- sammengezogen auf das sittliche Charakterbild Jesu. Das aber hat es getan unter den Einwirkungen der modernen historischen Denk- weise. Es ist nur ein Schein, wenn diese Denkweise von vorne- herein als aus ethischen Gründen gefordert erscheint und gerade der Kern des Christlich-Sittlichen als gegen sie völlig selbständig dargestellt wird. Vielmehr ist Herrmanns Position vor allem be- dingt durch die von der Historie bewirkte Zersetzung des früheren

Grundprobleme der Ethik. C/'?

Begriffsapparates der theologischen Ethik. Daher bleibt es auch sein eigenes Hauptproblem , diejenige Verbindung des Sittlich-Not- wendigen mit dem Historisch-Gegebenen, die er im Unterschiede von Kant noch festhält, gegen die Historie zu behaupten. Es ist auch für ihn das alte Problem, nur in der Frontstellung gegen eine neue Historie, und Herrmanns Lösung hat, weit entfernt von einer definitiv erreichten Unabhängigkeit von der Historie, gerade ihr gegenüber den schwersten Stand.

Ist unter diesem Gesichtspunkt Herrmanns Ethik nicht sowohl die endliche Entdeckung der selbständigen Fundamente der christ- lichen Ethik, als eine völlig neue Anpassung der christlichen Ethik an gegebene Zustände des objektiven Bewußtseins und die Recht- fertigung dieser Anpassung aus der in solchem Kampfe erst hervor- tretenden reinen Idee des Sittlichen, so ist das gleiche der Fall mit seiner Forderung, die Gedanken der christlichen Ethik in einem inner- lich notwendigen, einheitlichen Zusammenhang psychologischer Folgerichtigkeit darzustellen. Es soll gezeigt werden, wie aus dem Glauben an die Gnade Gottes in Christus das sittliche Handeln zu Macht und Leben wird. Diese Beorderung ist aber auch nicht eine ein- fache Forderung der christlich-sittlichen Idee als solcher, sondern erst eine Forderung der modernen Psychologie, wie sie als zergliedernde und immanente Zusammenhänge aufweisende Psychologie der Analyse von Religion, Moral und Kunst seit dem 1 8. Jahrhundert zugrunde liegt, wie sie aber der kirchlichen Betrachtungsweise völlig gefehlt hatte. Die antike populäre und größtenteils auch die wissenschaftliche, besonders aber die kirchliche Psychologie kennt den kontinuierlichen, aus einzelnen Erlebnissen sich entwickeln- den Zusammenhang des Bewußtseins nicht. Das Seelenleben ge- währt den verschiedensten Einwirkungen Raum, die jedesmal vom Objekte stammen und vom Willen beliebig behandelt werden kön- nen; insbesondere werden alle ungewöhnlichen ethischen Erhe- bungen, alle plötzlichen Gefühle und Ergriffenheiten als Einwir- kungen höherer Wesen, Gottes und der Engel aufgefaßt, ebenso wie das Böse aus den Einwirkungen der Dämonen hervorgeht. Wo so viele Mächte an der Seele wirkten, war daher auch die Idee dinglich- sakramentaler Wirkungen auf die Seele nichts Un- erhörtes. Der alle Kontinuierlichkeit aufhebende Supranaturalis- mus machte auch in der Psychologie keine Schwierigkeit. Es gab kein psychologisches Denken in unserem Sinn, so wenig wie eine kritische Historie in unserem Sinn. Deshalb ist nicht

Z^JA Grundprobleme der Ethik.

bloß die katholische Ethik auf allerhand Wirkungen göttlicher Kräfte und besonders auf die Anerkennung dinglich-sakramentaler Gnadenwirkungen d. h. auf supranaturale Einflößungen sittlicher Kräfte konzentriert, sondern auch der Gnadenbegriff der Refor- matoren bewegt sich im Rahmen einer solchen Psychologie. Hier genügt es in der Tat, das Wunder des Glaubens und die Wun- der des neuen Lebens als einzelne Geisteswirkungen neben- einanderzustellen , und innerhalb eines solchen Rahmens ist die Innerlichkeit und Persönlichkeit des Sittlichen genügend gewahrt, wenn die bloß dinglich-sakramentale Gnadenversitt- lichung ausgeschlossen wird. Wenn die moderne theologische Ethik eine Analyse des religiösen Erlebnisses und der daraus sich ent- wickelnden sittlichen Antriebe geben will, so folgt sie damit den Forderungen einer zergliedernden und entwickelnden immanenten Psychologie, die mit dem alten Grundbegriffe der christlichen Ethik, dem Begriff der Gnade als einem Prinzip psychologischer Wunder, gebrochen hat. Die Aufgabe Herrmanns ist also von moder- ner Psychologie aus gestellt, vmd ganz konsequent erkennt er da- her erst in Schleiermacher einen Bearbeiter der theologischen Ethik, an den angeknüpft werden kann. Und wenn er selbst in vieler Hinsicht mehr an Kant als an Schleiermacher anknüpft, so besagt das das gleiche. Denn auch Kant hat gerade diese Tendenz mit vollem Bewußtsein ausgesprochen, indem er einerseits den phä- nomenal-kausalen Zusammenhang des Seelenlebens und andrerseits die logische Notwendigkeit der praktischen Vernunft gegen die Schwärmerei und gegen die pietistische Gnadenlehre entgegensetzte. Auch hier hat Kant die Wurzel einer solchen entwickelnden Position in der modernen Psychologie viel schärfer betont als Herrmann. Herrmanns Darstellung von Entstehung und Wirkung des Glau- bens ist in der Tat ein meisterhafter Beitrag zur psychologischen Behandlung der theologischen Probleme und vor allem für den Praktiker überaus wertvoll. Aber auch hier ist diese Behandlung nicht die Konsequenz der sittlichen Ideen rein als solcher, keine l'^orderung der rein verstandenen christlichen Ethik an sich, sondern eine Forderung erst der modernen Lage, und auch hier möchten diese sehr modernen, durch die Lage gestellten Probleme durch die Herrmannsche Behandlung schwerlich erschöpft sein. Die Ueber- nahmedes Kantischen Dualismus zwischen phänomenalem und intel- legiblem Charakter wird meines Erachtens gerade den durch den Gnadengedanken gestellten psychologischen Problemen nicht

Grundprobleine der Ethik. C^C

gerecht, auch wenn die dem phänomenalen Ablauf zugrunde liegende Freiheit als ein erkenntnis-theoretisches Wunder bezeich- net wird.

Doch beide Punkte sind hier Nebensachen. Ich hebe sie nur hervor, um Herrmanns Werk in das rechte Licht zu setzen und von vorneherein zu zeigen, wie es ein überall in ganz modernen Problemstellungen sich bewegendes Buch ist, das nur diesen Charakter geflissentlich verdeckt. Herrmann will durchaus alles ledig- lich der reinen Konsequenz des ethischen Gedankens verdanken, auch das, was er doch in Wahrheit aus Nötigungen der allgemeinen geistigen Lage aufnimmt. Es wird sich das gleiche auch bei der eigentlichen Hauptfrage zeigen.

Diese aber soll uns hier allein beschäftigen, um so mehr, da sie auch für Herrmann mit vollem Bewußtsein im Mittelpunkte steht. Nicht wie die meisten in Schleiermachers Bahn gehenden theologischen Ethiker will er die Auswirkung des einmal gegebenen und mit dem Gemeindezeugnis als normativ vorausgesetzten christ- lichen Glaubens für das Handeln entwickeln, sondern er will zeigen , wie vom allgemeinen Begriff des Sitt- lichen der Weg zum Christlich-Sittlichen ge- funden werden muß und kann. Lediglich auf der Basis einer allgemeinen begrifflichen Untersuchung des Sittlichen können Geltung und Wahrheit der christlichen Sittlichkeit wie des Christen- tums überhaupt erwiesen werden. Damit glaubt Herrmann die eigentlichen vom modernen Menschen an das Christentum und die christliche Ethik gestellten Fragen zu beantworten. Und zwar ist diese ethische Untersuchung im Grunde die Entscheidung über Wesen und Geltung des Christentums überhaupt, die Ethik ist der Höhepunkt der Theologie, und die Gesamtauffassung des Christentums ist in den Rahmen einer prinzipiellen ethischen Theorie zu stellen. Wie ich oben schon hervorgehoben habe, hat Herrmann damit das heutige theologische Problem in der Tat am Nerv gefaßt, und eine eingehende Besprechung dieser Lehre wird den großen Nutzen haben, daß hierbei das Christentum nicht bloß wie gewöhnlich in der spezifisch religionsgeschichtlichen Beleuch- tung erscheint, sondern in der noch prinzipielleren einer Geschichte des sittlichen Geistes überhaupt. Dabei werden manche Ein- seitigkeiten der gewöhnlichen beschränkteren Auffassung weg- fallen und das Grundproblem des Christentums sich noch klarer und schärfer herausstellen, als es bei der rein oder überwiegend

cy^ Gruiidprobleirie der Elliik.

religiösen oder, was meist damit zusammenfällt, doi^men^^eschicht- lichen Betrachtung gewöhnlich der Fall ist.

Es handelt sich also um die von Herrmann diesem Problem gegebene Lösung, und dazu ist vor allem erforderlich, diese seine sachliche Lösung klar und präzis zu formulieren.

Den Ausgangspunkt bildet die Analyse des Begriffs des Sittlichen überhaupt und der Aufweis seines kategori- schen, absoluten und anti-eudämonistischen Charakters im Gegen- satz zu allen, wie immer gearteten, Versuchen einer hypothetischen- relativen und eudämonistischen Sittlichkeit. Die hierbei einge- fiochtenen Bemerkungen über die Geschichte der Ethik und die gelegentlichen Aeußerungen über die philosophischen Ethiker mögen dabei auf sich beruhen. Hier wäre mancher Widerspruch zu erheben, und es wird sich später zeigen, weshalb die platonische Ethik gänzlich ignoriert und die stoische verkannt ist, obwohl beide doch direkte Vorläufer der christlichen Ethik sind und später geradezu zu Ingredienzien derselben geworden sind. Die Hauptsache ist, daß die Reduktion des Problems auf jenes Entweder- Oder beider Fassungen, die Hervorkehrung der Motive beider Fassungen und die Kontrastierung ihrer beiderseitigen Tendenzen, zu den bedeutendsten, kräftigsten und schönsten Darstellungen dieses Problems gehört. Nicht mit Versuchen einer Ableitung des Sittlichen aus zuvor feststehenden allgemeinen kosmischen und anthropologischen Begriffen, sondern nur mit einer Analyse seiner seelischen Wirklichkeit und der darin enthaltenen Gedanken, Voraussetzungen und Konsequenzen soll hier gearbeitet werden. Geschichtliche Anschauung und Selbstbesinnung der sittlichen Ver- nunft sind die der Ethik eigentümlichen Erkenntnismittel. Es handelt sich also um die Vergegenwärtigung der sittlichen Erscheinungen in der Breite der Geschichte, um die psychologischen Tatsachen einerseits und um die erkenntnistheoretische Feststellung ihres Geltungswertes andererseits. P^reilich ist dann von der geschicht- lichen Anschauung nicht mehr viel die Rede, was uns noch zu wichtigen Einwänden Anlaß geben wird. Herrmann hält sich an einen gewissen Durchschnitt der sittlichen Erscheinungen der christlich-europäischen Kultur. Aber er ist doch zu diesem Ver- fahren von seiner Gesamtanschauung aus relativ berechtigt, da es sich bei ihm für die Analyse des Sittlichen nirgends um dessen Beziehung auf Kulturzwecke und inhaltliche Realitäten, sondern immer nur um dessen rein formalen, gegen alle Kulturgedanken

Grundprobleme der Ethik. cyy

und alle Größen der objektiven Welt gleichgültigen Absolutheits- charakter handelt, der, einmal an einem bestimmten Material erkenntnistheoretisch nachgewiesen, natürlich auch für jedes denk- bare andere Material gilt.

Die Untersuchung des Sittlichen gehört der Willenspsychologie und der Werttheorie an. Der Wille ist nichts als die Selbstbe- hauptung, und diese Selbstbehauptung ist durch das Ideal eines abschließenden, das Selbst erst voll verwirklichenden und damit behauptenden Wertes reguliert. Bei der Analyse der Willens- zwecke aber zeigt sich, daß diese Zwecke teils relative und hy- pothetische, von der Lage der Dinge und der menschlichen wech- selnden natürlichen Beziehung abhängige, teils absolute, un- bedingte, in jeder Lage und völlig abgesehen von aller natür- lichen Beschaffenheit geltende sind. Auch die erstem erfordern im Interesse der Selbstbehauptung die Konzentration und Heraus- arbeitung verhältnismäßig dauernder, das Ganze des Lebens fördernder Zwecke, denen Einzelbegehrungen oft geopfert werden müssen. Allein der so hergestellte Inbegriff der Zwecke bleibt doch immer nur ein relativer, von der Lage der Dinge und der Berechnung des Durchschnitts der Lebenserfahrungen abhängiger. Von ihm aus ist das Ideal der Selbstbehauptung daher nicht zu erreichen. Das ist vielmehr nur durch die zweite Gruppe von Zwecken möglich, die wir zunächst in der sittlichen Erziehung und im Vertrauen zu Autoritäten aufnehmen, die aber hierbei unser eigenster, innerster, notwendigster Wesensausdruck werden, und die bei genauer Betrachtung sich überhaupt nur als Ein Zweck, als einheitlicher Wertgedanke rein for- maler Art, als Begriff eines unbedingt und an sich Notwendigen oder eines übe rempirischen absoluten Zweckes erweisen. Daß wir überhaupt einem unbedingten Sollen unterstehen und in jedem Fall sittlichen Handelns das Sittliche dieser Handlung eben im Gehorsam gegen ein empfundenes Sollen erkennen müssen, leitet uns auf dieses rein formale Apriori unseres Willens, in dessen Durchsetzung der wahre Wert und die wahre Würde, die volle Selbständigkeit und Wahrhaftigkeit des Willens gegen sich selbst erst gefunden wird. Ist das Sittliche in diesem Sinne zunächst ein psychologisches Faktum, so ist doch in diesem Faktum ein Apriori des Willens enthalten, das in seinem Wesen und seinen Konsequenzen erst dem Denken über dieses Faktum deutlich wird. Es steht daher

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. ■z>j

pyg Gnindprobleme der Etliik.

mit seiner Einsicht in seine Notwendigkeit und mit seiner Begründung des Gegensatzes gegen das bloß tatsächliche Begehren als Ge- danke oder als sittliches Denken der bloßen Reflexion über die zufälligen Erfahrungswerte gegenüber. Herrmann bezeichnet an der entscheidenden Stelle den sittlichen Gedanken als Gesetz und Gebot, um diesen Gegensatz scharf zu bezeichnen; aber er ersetzt diesen Ausdruck dann später fast überall durch den des absoluten oder des allgemeingültigen Zweckes oder Wertes, welcher Ausdruck in das allgemeine Schema der Willenspsycho- logie und Werttheorie allerdings besser paßt. Denn es handelt sich doch um einen Zweck und Wert, um eine den Willen be- stimmende Lust an diesem Wert, nur daß diese Lust, die Be- friedigung des Bedürfnisses nach persönlicher Würde und Selb- ständigkeit, eine jedermann zuzumutende Lust- oder Wertemp- findung ist. An Stelle des bloß tatsächlich Gefallenden tritt das notwendig Gefallende, und aus dem Zweckgedanken entstehen erst in der Einzelanwendung die Gebote. »Der Zweck, in dem der Wille sich sammelt, hat für den einzelnen den Ausdruck des Gebotes.« Die Art der Umsetzung des Zweckes in Gebote und die Art der Herausbildung des absoluten Zweckes gegenüber den ursprünglichen relativen Zwecksetzungen wären höchst interessante und wichtige, weiter hieran sich anknüpfende Probleme. Aber Herrmann geht ihnen in dieser Skizze nicht weiter nach. Er be- tont nur den Hauptpunkt, das Wesen des sittlichen Denkens mit seinem notwendigen Zweck im Gegensatz gegen die relativen, bloßen Erfahrungszwecke. Insbesondere betont er den in dieser Auffassung des Sittlichen liegenden Dualismus der relativen und der notwendigen Zwecke, den Gegensatz gegen jeden psycholo- gischen und metaphysischen Monismus, der immer wieder auch solche zum Eudämonismus führt, die an sich in rein ethischer Hinsicht ihn ablehnen würden. Damit ist der Hauptpunkt, auf den es in den Diskussionen der modernen Ethik wesentlich an- kommt, mit voller Schärfe getroffen, und es ist auch hier ein Verdienst, die Grundentscheidung in so klarer und präziser Weise begründet zu haben, wenn ich auch die Auflösung dieses in Wahrheit psychologischen und ontologischen Dualismus in einen bloß erkenntnistheoretischen nicht mitzumachen vermag. Aber das sind nicht erst Bedenken gegen Herrmanns, sondern schon gegen Kants Theorie. Die Untersuchung des hiermit bezeichneten Freiheitsproblems ist denn auch bei Herrmann so schwierig wie

Grundprobleme der Ethik. C^q

bei Kant und hier nicht weiter zu besprechen. Um so deutlicher aber ist der in ihr ausgesprochene Grundgedanke, der nichts anderes ist als die prinzipielle Konsequenz dieser Auffassung des Sittlichen für die gesamte theoretische und praktische Weltanschauung. Der Gedanke der gesetzmäßigen Natur ist für den, der dieses Wesen des Sittlichen erfaßt hat, nicht mehr der vollständige Ausdruck der Wirklichkeit. Neben diesem Gedanken erhebt sich vielmehr der einer zweiten und höhern Realität, der Gedanke einer vom Willen aus eigener Selbstgesetzgebung geschaffenen Welt abso- luter Werte und Zwecke. Dieser Dualismus ist der Sinn des Freiheitsproblems und ist mit dem Sittlichen selbst gesetzt, ja sein eigentliches Wesen. Er selbst ist freilich etwas völlig Irra- tionales, und, will man die theologische Sprache anwenden, so ist die Welt der Freiheit als die Welt der höheren, die Natur überbietende Motivation das prinzipielle Wunder. Das sittliche Selbst ist das Wunder und die sittliche Weltanschauung das Be- kenntnis zum Wunder, womit freilich die Mirakel der Ueber- lieferung nichts gemein haben.

Der entscheidende und zentrale Gedanke in diesem Zusam- menhang ist der des rein formalen oder schlechthin kategorischen Charakters des sittlichen Zwek- kes. Herrmann eignet sich diesen viel angefochtenen Gedanken Kants mit schroffster Entschiedenheit an und macht ihn zum Grundstein seiner ganzen Auffassung. Von ihm wird sich auch seine Lehre über das Verhältnis der allgemeinen ethischen Be- griffe zu ihrer besonderen Modfikation in der christlichen Ethik schlechthin beherrscht zeigen. Es sind daher die genaueren Be- stimmungen dieses Begriffes noch besonders hervorzuheben. Eben wegen der völligen Unabhängigkeit von jeder Reflexion auf die Erfahrung und auf die verzweigten und bedingten Folgen des Han- delns kann das Gesetz nur das rein formale eines Sollens überhaupt sein, und zwar kommt diese völlige Unabhängigkeit von allen Erfah- rungszwecken darin zum Ausdruck, daß dieses Gesetz als ein Apriori alles Geistes überhaupt, auch abgesehen von der besonderen Art menschlicher Geister, zu betrachten ist. Der Inhalt des Sitten- gesetzes oder des absoluten Endzweckes ist daher schlechthin unbestimmbar. Seine Anwendung ist in jedem einzelnen Falle eine lediglich aus der Selbstgesetzgebung des Bewußtseins er- folgende, von der nicht eine bestimmte Leistung eines bestimmten Effektes, sondern lediglich die Gesinnung des Gehör-

cgo Grundprobleme der Ethik.

s a m s gegen ein Sollen zu verlangen ist. In diesem Sinne ist die Gesinnung als auf den absoluten Zweck und als nirgends auf relative Zwecke irerichtet das Wesen der subjektiven Sittlichkeit einer Handlung. Es gibt kein objektives Kriterium überhaupt, um eine Handlung als sittlich gut oder sittlich böse zu beurteilen. Jeder steht ihm selber und jeder fällt ihm selber, jeder wird nur nach seinem eigenen Maßstabe gerichtet, insoferne er selbst die Handlung als eine allgemeingültig geforderte betrachtet hat. An dem bloß formalen Charakter dieses Zweckes ändert auch seine Doppelseitigkeit als Individualzweck und als Sozialzweck gar nichts. Vielmehr erhellt das Wesen dieser Doppelseitigkeit erst recht aus dem Verständnis des rein formalen Charakters des sittlichen Zweckes. Denn unter dem sozialen Gesichtspunkt besagt der sittliche Zweck nichts als die Gebunden- heit aller Individuen durch ein gemeinsam anerkanntes Unbe- dingtes und Absolutes. Freilich ergibt sich erst so eine wahrhaft feste und innerliche Gemeinschaft im Gegensatze zu den immer mit Auflösung bedrohten Gemeinschaften, die in gemeinsamer Verfolgung bloß relativer Zwecke bestehen, und ist die sittliche Gesinnungsge- meinschaft die allein wahrhafte und vollendete, weil auf unerschütter- liche Grundlage begründete. Aber dieser Gemeinschaftscharakter kommt gerade nur durch den formalen Charakter des Sittlichen zustande, und die positivistischen Theorien, die den Inhalt des Sittlichen im Altruismus erkennen, sind eben damit in ihrer Ober- flächlichkeit richtig gekennzeichnet. Andrerseits ist das Sittliche auch unter dem individuellen Gesichtspunkt nur der höchste Wert, die höchste Würde der sich selbst setzenden und gesetz- gebenden Persönlichkeit, und, wenn von dem Sittlichen ein solcher höchster Individualzweck unabtrennlich ist, so kommt doch auch dieser nur durch den formalen Charakter des sittlichen Zweckes zustande, womit wiederum die die Individualzwecke gänzlich ver- kennende Ethik des »Altruismus« treffend zurückgewiesen ist. Gemeinschaft von Persönlichkeiten in der Bejahung des die Per- sönlichkeit erst hervorbringenden sittlichen Gesetzes und unver- gängliche Würde der in die Sphäre des Allgemeingültigen er- hobenen, zur Persönlichkeit gewordenen Individualität sind die beiden Seiten, nach denen der sittliche Zweck sich eben durch seinen formalen Charakter auseinander legt. Und auch das richtige natürliche Verhältnis dieser beiden Seiten des Sittlichen ist erst durch diese Betrachtung gegeben. Denn unter dieser Voraus-

Grundprobleme der Ethik. c3l

Setzung ist die soziale Sittlichkeit nicht möglich ohne ihre Wurzel in der sittlichen Gesinnung des Individuums und wiederum die sittHche Gesinnung des Individuums nicht möglich, ohne zugleich als Bejahung eines gänzlich überindividuellen Zweckes in der denkbar festesten Gemeinschaft zu stehen. Individuelle und so- ziale Sittlichkeit setzen sich so gegenseitig voraus und bringen sich gegenseitig hervor. Nur sie zusammen konstituieren daher den sittlichen Zweck überhaupt, der deshalb geradezu als der Zweck der Persönlichkeitsbildung in der Dop- pelrichtung auf die soziale und auf die indivi- duelle Persönlichkeit bezeichnet werden kann. Dieser Zweck der Persönlichkeitsbildung muß nur von dem Mißver- ständnis freigehalten werden, als handle es sich in ihm um irgend welche inhaltliche Güter ; der ganze Begriff_der Persönlichkeit ist rein auf dem Begriff der Autonomie und der Selbstbestimmung durch ein schlechthin formal notwendiges Gesetz aufgebaut. Wird aber der sittliche Zweck derart bestimmt, so ergibt sich gerade aus diesem formalen Charakter noch ein weiteres Grundmerkmal des sittlichen Zweckes: die aus seiner Absolutheit folgende Not- wendigkeit einer endlosen Reihe von Tätigkeiten, die immer nur der Unterwerfung der Erfahrungszwecke unter den absoluten Zweck dienen. Aus dem damit eröffneten höheren Leben entspringt dann ein Vorwärtsstreben undWerden mit bestän- diger Annäherung an einen absolutenZweck. Dieser kann freilich unter irdischen Verhältnissen nie völlig" alle relativen überwinden, weist aber eben damit auf ein Ziel des sittlichen Handelns unter anderen Daseinsbedingungen hin, während eine aus bloßen relativen Zwecken motivierende Ethik zur resig- nierten Sättigung mit bloßen relativen, sich wieder auflösenden Zwecken und damit zum Stillstand oder zur Auflösung führt. Es ist dies einer der wenigen Punkte, wo Herrmann sich der Fichteschen Fortführung der ethischen Analyse nähert , indem er allerdings zugleich dessen unendliche Approximation an das absolute Ziel im Sinn des Gedankens des jenseitigen Zieles um- biegt, eine charakteristische, aber in der Konsequenz der Ge- danken wohlbegründete Ablenkung von Kants eudämonistisch angehauchtem Postulat der Unsterblichkeit. Alles das zusammen- genommen, ist das Sittliche beständige und immer wachsende, von dem ersten Bruch rnit der Seelennatur zu immer umfassen- derer Hingabe an die höhere Welt führende Selbstver-

t82 Grundprobleme der Ethik.

1 e u g n LI n g. Aber diese Verleugnung ist nur die Verleugnung des niederen mitgebrachten, von der Natur bestimmten und in lauter relative Zwecke eingesponnenen Selbst. Sie ist in Wahr- heit die Bejahung des höheren, eigentlichen, wirklich selbstge- setzten Selbst und damit die alleinige wahrhafte Verwirk- lichung des Ideals des Willens, der Selbstbe- hauptung. So kehrt die Analyse zu ihrem Ausgangspunkte zurück, nachdem sie aus der einfachen Entgegensetzung des rela- tiven und des absoluten Zweckes und aus dem formalen Charakter des kategorischen Imperatives diese Welt von Gedanken ge- wonnen hat.

Ist aber das der Zentralgedanke, so bringt das sittliche Den- ken aus ihm noch zwei wichtige Fol ge be griffe hervor, die für den Uebergang von dem allgemeinen Begriff des sittlichen Zwecks zu dessen spezifisch christlicher Modifikation von ent- scheidender Bedeutung sind.

Vom prinzipiell anerkannten Dualismus aus erwächst der Ethik erst die Möglichkeit der ernstlichen Berücksichtigung eines ihrer Grundbegriffe, des Gegenteils des Guten, des Bö- sen und der Schuld, die von der monistisch und eudämonistich begründeten Ethik immer entweder geradezu verkannt oder doch be- denklich abgeschwächt werden müssen. Allerdings ist gerade an die- sem Punkt die Kürze von Herrmanns Darstellung zu bedauern, da hier die Sache in der Tat nicht genügend herausgearbeitet ist. Herr- mann begnügt sich damit, mit der Irrationalität der Freiheit auch die Irrationalität des Bösen zu behaupten und es als Entgegen- setzung gegen den absoluten Zweck in träger und selbstsüchtiger, d. h. den natürlichen Menschen allein bejahender Festhaltung der relativen Zwecke zu bestimmen, womit sich in der Regel die heuch- lerische Rechtfertigung dieses Verfahrens als wirklich geboten und erlaubt und damit die innere Unwahrhaftigkeit und prinzipielle Selbsttäuschung verbinde. Diese Entgegensetzung erfolge aber in dem Alter, wo der Mensch noch ganz überwiegend von relativen Zwecken determiniert sei, und werde daher zu einem allgemeinen Schicksal aller Menschen, die nicht umhin können, diese dem Guten entgegensetzte Determination sich trotzdem als Schuld anzurech- nen, und die daher alle nicht bloß sündig, sondern auch schuldbe- wußt und durch Schuldbewußtsein im sittlichen Aufschwung gelähmt seien. Alle Menschen außerhalb des Erlösungsbereiches Christi seien daher total Böse und müssen dieses Böse sich als

Grundprobleme der Ethik. ry^

total verurteilende Schuld anrechnen. Die allgemeine Ethik wäre also mehr Lehre vom Bösen und vom Schuldbewußtsein als eigentlich vom Guten selbst. Das ist deutlich eine etwas gewalt- same Einführung der kirchlichen Erbsündenlehre, die den ganzen Gedankengang etwas aus dem Geleise bringt. Wer wie Herr- mann so nachdrücklich auf praktisch-sittliches und damit selbst- verständlich auch sittlich erfolgreiches Handeln dringt, um aus dieser Erfahrung erst den sittlichen Gedanken zu deduzieren, kann nicht auf einmal in der allgemeinen Ethik alle Men- schen bloß im Versuch und im Wollen stecken lassen , son- dern muß den Trieb und die Wirklichkeit des Bösen als eine neben dem Trieb und der Wirklichkeit des Guten bestehende an- erkennen. Er muß aber auch die Verbreitung des Triebes zum Bösen anders ableiten als aus der ursprünglichen Determination durch die relativen Zwecke ; denn aus solcher Determination ent- steht kein Schuldgefühl, und eine solche Determination kann wenig- stens eine partielle Kräftigung des Guten nicht ausschließen. Auch ist die Irrationalität des Bösen nicht am eigentlich entscheiden- den Punkte gefaßt ; denn sie besteht darin, daß ein notwendig als absolut zu empfindender Wert tatsächlich doch anderen Werten gegenüber zurückgestellt wird, was ja wiederum nicht auf die kind- liche Anfangs-Determination durch die relativen Zwecke paßt. Hier klappt also Verschiedenes nicht, und es wird sich später zeigen, wie daran großenteils die formale Fassung des Guten und die in den Kantischen Zusammenhang hereingezerrte Apologetik schuld ist. Zunächst genügt es anzuerkennen, daß Herrmann in der Betonung des Bösen und der Schuld in der Tat eine Lücke der üblichen Ethik ausfüllt, daß neben den Mächten des Guten ebenso Mächte des Bösen stehen und als Massenkräfte die einzel- nen in ihren Einfluß hineingeboren werden lassen, daß zu den Problemen der Ethik notwendig auch das Problem einer Ueber- windung des Schuldbewußtseins und der Erhöhung der sittlichen Kräfte im Kampf gegen das Böse gehört. Dem ethischen Pessi- mismus, der resignierten Beugung unter die Durchschnittlichkeit, den Schmerzen des bösen Gewissens zu begegnen und die Kraft des Guten zu befeuern, aus der Tiefe zu holen, zu Hoffnung und Mut zu begeistern, gehört sicherlich mit zu ihren Aufgaben, und die Wiederentdeckung dieser von der Praxis nie zu verleugnenden Fragen für die \\'issenschaftliche Ethik ist ebenfalls ein Verdienst der Opposition gegen den Monismus.

C^A Grundprobleme der Ethik.

Eine weitere, gerade bei der Betonung der sittlichen Tat sich aufdrängende, Folgeerkenntnis ist die metaphysische Wen- dung des G ed a nke ns, die der im sittlichen Kampf praktisch Stehende und dabei an Besiegung des Widerstandes der stump- fen Welt Glaubende notwendig vollziehen muß. Auch hier ent- fernt sich Herrmann charakteristisch und in der Konsequenz des Grundgedankens von Kant. Nicht bloß ein Postulat göttHcher Aus- gleichung zwischen sittlicher Würdigkeit und Glücksanspruch ist ihm das metaphysische Ergebnis des sittlichen Denkens. Vielmehr, ähn- lich wie Fichte, findet er dem sittlichen Handeln eine metaphysische Voraussetzung immanent, läßt er gerade im Handeln diese Voraus- setzung zum Bewußtsein kommen und erkennt er in dieser Vor- aussetzung den theoretischen Abschluß des Gedankens wie die Quelle der Zuversicht und Kraft sittlichen Handelns. In der sittlichen Tat nämlich denkt der Mensch das Gute als > die Macht über die Wirklichkeit«. Der unaufgebliche, durch das Wesen des Denkens und durch den Gedanken letzter Werte geforderte Monismus muß hier als ein Monismus des Zweckes hervortreten, nach- dem er als Monismus der Kausalität undurchführbar gewesen war. Damit bleibt es freilich bei der Unmöglichkeit, den Dualismus der Erfahrungswirklichkeit aufzuheben ; der Monismus des Zweckes ist Postulat, Glaube, notwendige Voraussetzung. »Wir müssen den Mut zu der Annahme fassen können, daß das Unbekannte Grenzenlose, von dem unsere gesamte Existenz tatsächlich abhängt, die verschleierte Gestalt derselben Macht ist, von der wir selbst in freier Einsicht unsere gesamte Existenz ab- hängig machen. < Insofern ist dieser Gedanke überhaupt erst die Vollendung des sittlichen Denkens. Und in diesem Monism.us des Zweckes hat auch die in der Freiheit enthaltene absolute Abhängig- keit vom Guten ihren Platz, der ihr von der Kausalbetrachtung aus überhaupt nicht einzuräumen ist. Dieses letzte Ergebnis des sittHchen Denkens ist nun aber für Herrmann immer noch nicht Religion ; die Verbindung von Religion und Sittlichkeit lasse sich auf jenen Monismus des Zweckes nicht begründen. In einer durch die bloße Konsequenz des Gedankens herbeigeführten Ueberein- stimmung mit Fichte sieht Herrmann in diesem Gedanken vielmehr nichts als den Begriff der allbeherrschenden Ordnung des Guten, die im sittlichen Handeln als solchem enthalten ist, aber keinerlei Be- ziehung auf eine lebendige Gottheit enthält, mit welcher Beziehung vielmehr das das Sittliche charakterisierende Wesen rein immanen-

Grundprobleme der Ethik. Cgc

ter Notwendigkeit aufgehoben wäre. Man erwartet hier, daß damit der Fortschritt zu einer wirkUch metaphysischen Erfassung der Reli- gion gemacht würde, wie ihn Fichte in seiner »Anweisung zum seligen Leben« gemacht hat. Es würde sich dann weiterhin um die Rückwirkung der so für sich selbst erfaßten Religiosität auf das Ethische handeln, die nicht gering sein kann und in allen höheren Religionen tatsächlich vorliegt. Aber gerade das tut Herrmann nicht. Vielmehr bleibt ihm jenes bloße Postulat der sittlichen Weltordnung das Wesen der allgemeinen Ethik. Einen inneren Wesenszusammenhang mit dem Eigentlich -Religiösen kennt nach Herrmann erst die christliche Ethik, und das sei gerade der Punkt, wo die allgemeine Ethik von der christlichen sich unterscheide. In der allgemeinen Ethik sei der Begriff der sittlichen Weltordnung ein aus der sittlichen Erfahrung gefolgerter und postulierter Grenzbegriff. Dieser Grenzbegriff möge wichtige Beziehungen zu den religiösen Gedanken haben ; aber die reli- giösen Gedanken können in ihm nicht aufgehen, wenn die Reli- gion mehr sein solle als ein Gedanke an die die Phänomenalität letztlich beherrschende Macht eines formal und an sich absolut Notwendigen und Guten.

Damit ist also der Uebergang zur Hauptfrage nach der Art der Angliederung der christlichen Ethik an die allgemeine Ethik gemacht. Die beiden Folgebegriffe des sittlichen Denkens, der Begriff des Bösen und der Schuld, sowie der Begriff der Macht des Guten über die Wirklichkeit, bahnen den Weg zur christlichen Sittlichkeit. Das Böse erwies sich als ein in der vorsittlichen Lebens- periode erworbenes Schicksal der durchgängigen Entgegensetzung gegen den sittlichen Zweck, und daher wurde die diese Entgegen- setzung sich zurechnende Schuld als ein allgemeines Verhängnis der nichtchristlichen Menschheit bezeichnet, in dem der böse imd schuldbewußte Mensch vergeblich sich durch die Anforde- rung des Guten aus der Macht von Sünde und Schuld zu befreien versuche und sich durch diese Anforderungen nur immer tiefer in unlöslichen Widerspruch verstricke (S. 64). Noch mehr aber verschärfe nun die metaphysische Wendung des Begriffs des Sitt- lichen diese widerspruchsvolle Situation. In dem Gedanken an eine dem Sittlichen zugrunde liegende Macht des Guten werde die natürliche Unfähigkeit des Nicht-Christen zum Guten nur noch quälender und erschreckender. Denn wie sich mit diesem Ge- danken Majestät und Größe des Sittlichen noch vertiefe, so werde

rgg Grundprobleme der Ethik.

mit ihm der Abstand des Sünders vom Guten noch größer und schrecklicher. Sobald in dem verhüllten Weltwesen die Macht des Guten erfahren werde, sei der eigene Ausschluß von dieser Macht des Guten nur noch widerspruchsvoller und quälender, so daß nur der Ausweg zur Abplattung der sittlichen Forderung in eudämonistisch-evolutionistische ethische Systeme oder die Verzweiflung übrig bleibe (S. 6g.) Freilich kommt diese apolo- getische Wendung hier ebenso überraschend und gewaltsam wie die an den Begriff des Widersittlichen angeschlossene. Wenn eben noch versichert worden war, daß gerade erst im Vollzug des sittlichen Handelns und nicht etwa in der bloßen Theorie über es der metaphysische Grundgedanke des Sittlichen sich un- ausweichlich darbiete, dann ist doch ein solches Handeln als er- folgreich und der Gedanke an die Macht des Guten als tatsäch- liche Kraft und Grundlage behauptet, und es ist sehr befremdlich, sofort die Ausführung des Guten für den Nicht-Christen als un- möglich bezeichnet zu hören und die Macht des Guten auf ein- mal statt als tröstend und stärkend lediglich als niederschmet- ternd und die Verwirrung vollendend betrachten zu müssen. Auch hier würde die bloße Konsequenz der allgemeinen sittlichen Be- griffe nur ein Nebeneinander beider Erscheinungen dargeboten haben und kein gleichartiges Verhängnis aller Nicht-Christen. Aber wenn nun einmal die Sittlichkeit rein in der formalen Idee des Sollens besteht und die christliche Sittlichkeit auch in nichts weiterem und anderem bestehen kann, dann bleibt für die Aus- machung einer spezifisch christlichen Sittlichkeit, die nicht bloß etwa graduell von der nichtchristlichen verschieden sein soll, aller- dings nichts übrig, als eben dieses formale Gute nur im Christen- tum zur Fähigkeit der Verwirklichung kommen zu lassen. Außerhalb des Christentums sinkt das Gute zum verwirklichungs- unfähigen Gedanken und Gebot herab, obwohl doch alle diese Begriffe als allgemeingültige nur aus der allgemeinen sittlichen Erfahrung gewonnen werden können und diese zu solchen Er- kenntnissen nur als positiv erfolgreiche befähigt ist. Dieser Punkt wird uns später noch mehrfach beschäftigen. Ich hebe nur her- vor, daß hier die apologetischen Ansätze Herrmanns ganz deutlich aus dem Geleise der allgemeinen ethischen Begriffe heraustreten. Kant und Fichte hatten nicht umsonst von diesen Vorausset- zungen aus nur einen graduellen Vorzug der christlichen Ethik erreicht.

Grundprobleme der Ethik. C87

Stellen wir nun genauer die hiermit eröffnete Frage nach der Modifikation der allgemeinen ethischen Begriffe in der christ- lichen Ethik, so stehen wir vor sehr schwierigen Konstruktionen, deren Auffassung keineswegs leicht ist und deren Schwierigkeit Herrmann selbst sehr sark empfunden haben muß, da er in sei- nem so überaus knappen Grundriß diese Gedanken immer von neuem zu formulieren und zu klären ansetzt. Bei dieser Schwierigkeit seines Gedankens halte ich mich zunächst an die Hauptsache. Die Hauptsache aber ist die Auffassung der christlichen Sittlichkeit nach ihrem Wesen und Inhalt als Ge- bot der rein formalen Autonomie, Gesinnungsecht- heit und Gewissensfreiheit, als schlechterdings nicht durch irgend einen inhaltlichen Zweck bestimmt und als lediglich durch die geforderte Form der Gesinnung charakterisiert. Herrmann folgt hierin Kant, dem er den Ruhm zuerkennt, das Wesen der christlichen Sittlichkeit mit dieser Auffassung getroffen zu haben. Ja er geht dabei über Kant hinaus, der die christliche Sittlich- keit als eine durch mancherlei Heteronomie entstellte betrachtet hatte und in ihr nur die höchste Annäherung an das rationelle Ideal des Sittlichen gesehen hatte. Herrmann sieht in der christlichen Ethik den vollkommenen, schlechthin erschöpfenden und absolut reinen Ausdruck dieser auch von allgemeinen Erwägungen aus erreichbaren, aber außerhalb der Christenheit doch immer ge- trübten Idee der Sittlichkeit. Das Spezifisch-Christliche der christlichen Ethik besteht also nicht in irgendwelchen Bestimmt- heiten des sittlichen Ideals, sondern dieses deckt sich völlig mit dem rational-sittlichen Ideal. Esbesteht nur in derHilfe zu der Erfüllung des Ide als, in d e r E r 1 ö s u n g s kr a f t, die in der christlichen Gemeinde durch die Beziehung auf die Person Jesu dem Handelnden zuwächst, und die ihm ermöglicht, dem außer der Christenheit überall bestehenden Verhängnis der sitt- lichen Verzweiflung oder des sittlichen Leichtsinns sowie dem Schicksal der sittlichen Unkraft zu entgehen. Die christliche Sitt- lichkeit bringt somit nichts Neues und nichts Eigenes in der Be- stimmung des sittlichen Zweckes selbst; ihre höheren Kräfte fließen nicht aus einem höhern Zweck ; nein, sie inkarniert nur sozusagen den rationalen Zweck in einer schlechthin vollkommenen Konsequenz. Ihr Neues und Eigenes besteht lediglich darin, daß sie die Kräfte zu dessen Erreichung gewährt, die sonst bei Aner- kennung eben dieses Zweckes nicht vorhanden sind und beim

egg Grundprobleme der Ethik.

Verständnis dieses Zweckes immer unkräftiger sich fühlen. Eben deshalb fließen die erlösenden sittlichen Kräfte der christHchen Ethik nicht aus dem hier mit einem höheren Gottesglauben und entsprechenden höheren Zwecken eröffneten höheren Leben selbst, sondern aus der durch eine historische Tatsache erlangten Ge- wißheit über die im Hintergrunde des Sittengesetzes stehende und ihre Verwirklichung sichernde göttliche Macht des Guten so- wie über die Bereitschaft dieser göttlichen Macht, die Sünde zu vergeben.

Der Schwerpunkt dieser Konstruktion liegt also nicht irn Aufweis einer spezifisch-christlichen Idee des sittlichen Zweckes, sondern in dem Aufweis der aus der geschichtlichen Tatsächlich- keit der Person Jesu fließenden Kräfte zur Verwirklichung des allgemeinen rationellen sittlichen Zweckes. Herrmanns Auflassung der Aufgabe geht völlig auf die Kantische ein. Sie biegt aber an dem Punkte ab, wo Kant in der Person Jesu nur das perso- nifizierte Ideal der reinen Autonomie sieht, und sucht zu zeigen, daß die Beziehung der Ethik auf die Person Jesu nicht diese ideelle; sondern eine reale sei: erst Jesus ermögUcht das sitt- liche Handeln überhaupt durch Vergewisserung über Dasein und Wirklichkeit der göttlichen Macht des Guten und über ihre Bereitwilligkeit zur Sündenvergebung. Daher hat Herrmann die von Kant behauptete rationelle und immanente Beziehung des Sitten- gesetzes auf die Religion aufgehoben und an ihrer Stelle nur ein reli- giös indifferentes, metaphysisches Postulat der überindividuellen Weltordnung stehen lassen. Die Verbindung des Sittlichen mit wirk- licher persönlicher Religion als Vertrauen zur lebendigen Macht Gottes wird erst durch Christus hergestellt, und zugleich damit bewirkt Christus auch die Sicherheit gegen die an sich zerstörende und niederschmetternde Gewißheit von Gott, indem er Gott zu- gleich als sündenvergebende Gnade uns verbürgt. Jesus als durch Ueberlieferung uns gegebene historische Erscheinung, die aber in ihrem inneren Leben uns trotz aller historischen Kritik völlig sicher verständlich und wie eine gegenwärtige Realität nahe ist, fügt zum sittlichen Zweckgedanken die Gewißheit über die Wirk- lichkeit Gottes als der Macht des Guten hinzu und zu dieser Ge- wißheit die andere, ohne welche die erste nur zerstören würde, die Gewißheit seiner Liebe und Gnade gegen die Sünder. Außer der Christenheit ist der sittliche Zweck ohne feste Verbindung mit wirklicher Religion denn ohne Christus gibt es keine Ge-

Grundprobleme der Ethik. egg

wißheit von Gott , und außer der Christenheit ist eben deswegen der sittliche Zweckgedanke ohnmächtig, da er ohne feste Bezie- hung auf die Macht des Guten zur Ohnmacht verurteilt ist. Aber wenn Christus der Sittlichkeit sonst nichts hinzufügte, so würde das Evangelium nur die Gewissen zerschmettern, indem er ihnen die Quelle der sittlichen Kraft zeigte, ohne sie doch zu dieser Quelle gelangen zu lassen. Daher ist die erste Wirkung des Evangeliums von Christus diejenige, die mit der Vergewisserung von der Wirklichkeit Gottes gegeben ist, die Zerschmetterung des schuldbeladenen Gewissens und die tiefste Demütigung. Aber indem Christus diesen selben Gott doch zugleich als den sünden- vergebenden, gnadenvollen Vater verbürgt und gewiß macht, erhebt er die im Sündenschmerz gebeugten Gewissen zu voller, unbedingter Freudigkeit des Gottvertrauens, zu heller, lichter Lebenszuversicht und zur schlechthinnigen Hingabe an den göttlichen Zweck, den Zweck des Guten. So entsteht durch die zweifache Vergewisse- rung hindurch in der Abkehr vom außerchristlichen Leben zum Glauben, in dem Wunder der Willensverwandlung durch die Bekeh- rung, und das heißt schließlich im Glauben an den in Christus zu uns sprechenden Gott die freudige, siegessichere sittliche Kraft, die den sittlichen Zweck nun in ihren Willen aufnehmen kann und trotz aller Rückfälle in Sünde und Trotz immer neu durch Versenkung in die von Christus gebotenen Vergewisserungen zu seiner Durchführung fähig wird. Diese zu Freude, Mut und Vertrauen wiedergeborenen Seelen leben durch Christus in Gott, der Macht des Guten, und vermögen durch Christus aus dem Zweck des Guten zu handeln d. h, als Gemeinschaft persönlicher Geister oder als Reich Gottes. Der christliche Glaube ist Lebens- mut und Freudigkeit zum Guten, ' weil er die Kraft zum Guten ist. Die christliche Ethik ist die Ethik der freudigen, sieges- sichern sittlichen Kräfte oder des Gottesreiches, während die unchristliche Ethik die Ethik der verzweifelnden oder durch Aus- flüchte ihr Gewissen beschwichtigenden Ohnmacht, d. h. die Ethik ohne und außer Gott ist.

Es ist wieder, wie in der herkömmlichen protestantischen Schulethik. Das Sittliche versteht sich von selbst. Das Christen- tum hat seine Bedeutung nicht im Sittlichen, sondern in der Wunderkraft, die es zu dessen allgemeinem Begriff als Fähigkeit der Verwirklichung hinzubringt, sowie in der Sündenvergebung, die es über die außerhalb der Erlösungssphäre immer vergeblich

cqO Grundprobleme der Ethik.

jenem Ideal Nachstrebenden ausspricht. Neu ist nur, daß das selbstverständliche Ideal nicht mehr in einer Mischung von aller- hand naturrechtlichen, biblischen und herkömmlichen Inhalten besteht. Es hat überhaupt keinen Inhalt, sondern nur die Form der gewissensmäßigen Unbedingtheit. Neu ist ferner die be- sondere Auffassung von dem die Erfüllung des Ideals ermög- lichenden Wunder ; es ist nicht mehr der stellvertretende Sühne- tod und dessen subjektive Aneignung, auch keine sakramentale Gnadeneinflößung oder das Taufwunder oder das Bekehrungs- wunder, es besteht nur mehr in dem Vertrauen zum sittlichen Charakterbilde Jesu als der lebendigen und einzigen Offenbarung Gottes. Das Christentum ist Realisation der sittlichen Autonomie durch das Vertrauen zu Jesus. Durch den Gedanken der Autonomie aber hängt es mit der allgemeinen Ethik und dadurch mit dem Prinzip des Idealismus als der allgemeinsten wissenschaftlichen Voraussetzung zusammen. Der wissenschaftliche Weg zu ihm führt durch die Ethik des Transzendentalismus, nicht durch eine die Religionen immer nivellierende Religionsphilosophie. Aber auch an die Ethik des Transzendentalismus schließt es sich nur an als das Wunder, das dessen immer nur Postulat bleibendes Ideal erfüllt^*).

**) In dem Vortrag auf dem Ev. -sozialen Kongreß 1903 über »Die sittlichen Weisungen Jesu« hat Herrmann versucht, den Gedanken der formalen sittlichen Autonomie als den alleinigen Sinn der Bergpredigt darzustellen. Im Ethos Jesu komme es nicht auf die einzelnen Aussprüche der Bergpredigt an, die unter dem Einfluß der eschatologischen Erwartung das Kulturleben unterschätzen, sondern auf die persönliche Gesinnung Jesu. Dadurch »ist er unser Führer auf dem Weg der Pflicht« (2. Aufl. 1907 S. 12). Seine Gesinnung ist »Ernst und Freiheit« (S. 13). »Seine Worte binden die Menschen . . Aber sie tuen das, indem sie die dem Willen innewohnende Tendenz zur Selbständigkeit auf den Weg zu ihrem Ziele bringen . . durch sie wird das Notwendige aufgeschlossen« S. 30. »Jesus hält uns die Erwartung entgegen, daß wir uns auf uns selbst besinnen sollen« (S. 34); den »Ernst des Notwendigen« (S. 35), »die im Ewigen ruhende Einheit der Gesinnung« (40), die »Kraft und Einheit seiner Gesinnung« (S. 41), »ein wahrhaftiges in dem Bewußtsein seines ewigen Rechts geeinigtes Wollen« (S. 41), »die innere Wahrhaftigkeit, die Reinheit des Wollens oder des Herzens (S. 41), daß »man in seinem Wollen der eigenen Erkenntnis der Wahrheit folge« (S. 42). Es »ist der Ausdruck des Sittlich-Notwendigen« (S. 57). Diese Richtung »ist nach Jesu Meinung schon angedeutet in der natürlichen Art des Wollens. Wir können nur eines wollen« S. 43. Ja, aus dieser Autonomie versteht sich auch die Liebe. »Unter der Liebe, die Jesus meint, ist die höchste Energie des Wollens zu ver-

Grundprobleme der Ethik. cqj

Das ist eine großartige und einfache Auffassung von der Sache, die auf keinen Leser ohne Wirkung bleiben wird. Der Begriffsapparat der kirchHch-christUchen Ethik ist aufs äußerste vereinfacht. Für das christHch-sittliche Ideal ist durch die Ueber- nahme des Kantischen Begriffs der Autonomie ein einfaches großes Prinzip gewonnen, und die die kirchliche Ethik beherr- schende Lehre von der auf Versöhnungswerk und Heilszueignung begründeten erlösenden Mitteilung sittlicher Kräfte ist auf das einfachste mit diesem Begriffe des Ideals verbunden, indem das erlösende Werk Christi auf die Darbietung der beiden Verge- wisserungen reduziert wird und diese beiden Vergewisserungen wieder aufs innigste mit seiner eigenen Persönlichkeit, mit seinem sittlich religiösen Leben, verbunden sind.

Aber bei dieser Lehre von den auf der greschichtlichen »Tat-

stehen, die reine Macht des Geistes, der weiß, was er will« (S. 48); »ein Wollen, das auf nichts weiter als auf persönliche Gemeinschaft gerichtet ist« (S. 48). »Die in Jesus lebendige und von ihm geforderte Gesinnung wurzelt in der Erkenntnis, daß gut allein der auf Gemeinschaft selbständiger Wesen gerichtete Wille oder Liebe ist«. »Jesus hat uns zu der Erkenntnis bringen wollen, daß wir überhaupt durch kein Wort von außen erfahren können, was gut sei, sondern aus uns selbst die unveränderliche Richtung des Wollens erzeugen müssen« S. 44. »Das ganze Christentum ist das durch Jesus den Menschen erschlossene Leben in Zucht und Freiheit. Was wir an Jesus nicht als siegendes persönliches Leben verstehen können, gehört für uns nicht zum ganzen Christentum. In der inneren Selbständig- keit, die wir gewinnen, wenn das Gute in uns anfängt, werden wir gerade ge- schützt durch die Erkenntnis, wie fern uns die Weltauffassung Jesu in vielen Punkten durch Gottes Führung geworden ist« S. 66. Also, die Kantische Autonomie ist der Sinn der Bergpredigt, und aus dieser Autonomie folgt mit dem Begriff einer Gemeinschaft selbständiger Personen auch die Liebe. Die Liebe ist im Grunde Achtung und Beförderung der geistigen Selbständigkeit des Nächsten. Was die Bergpredigt anderes enthält, das ist veraltet und zeitgeschichtlich. Das' habe auch Luther noch nicht verstanden: »Luther hat den Mißbrauch der sitt- lichen Weisungen Jesu (wie der hl. Franz, die katholische Kirche, Tolstoi, Kierke- gaard u. a.) . . nicht überwunden. Auch er hält es für selbstverständlich, daß der Christ wenigstens jedem ihm überlieferten und nicht ausdrücklich an einen Einzelnen gerichteten Worte Jesu gehorchen müsse. Ein solcher Gehorsam aber ist der ungeheure Mißbrauch der Worte Jesu, der der Christenheit, die in der Welt lebt, schließlich keine andere Wahl läßt als sich in Kleriker und Laien zu spalten, die beide sittlich verkümmern« S. 29. Daraus erkläre sich auch der Pietismus. Diese Befreiung verdanken wir der kritischen Bibelforschung, die die eschatologische Bedingtheit der Kulturbeurteilung Jesu aufgedeckt hat S. 34 f.

1*02 Grundprobleme der Ethik.

Sache« Jesus begründeten beiden Vergewisserungen beginnen freilich auch die Verwickelungen und Schwierigkeiten. Die Schwierigkeiten liegen für einen undogmatisch Denkenden nicht in der Reduktion der Erlösung auf die beiden Vergewisserungen und der darin liegenden Beseitigung der Lehren von der auf Person und Werk des Gottmenschen begründeten Erlösung und von der Zueignung dieser Erlösung durch Schriftwort und kirchliche Gnadenmittel. Herrmann hat anderwärts die Möglichkeit ausge- führt, aus diesem »Grund« des Glaubens die weiteren »Glaubensge- danken« über Christus und sein Werk herzuleiten, die das Wahr- heitsmoment jener Lehren aussprechen. Ueberdies, wenn einer auf diese Folgegedanken verzichten wollte, so würde er mit dem in den beiden Vergewisserungen ausgesprochenen »Grund« des Glaubens ja auch genügend zum Glauben und zu der sittlichen Kraft des Glaubens kommen können. Es könnten sich hieran zwei ver- schiedene Richtungen anschließen, deren eine noch stärker die Dogmatik in die Ethik hereinnimmt, und deren andere bei diesem »Grunde« des Glaubens sich begnügt, wie es ja Herrmanns Ethik selber tut und wie es jedenfalls mir vollkommen genügt.

Die viel peinlichere Schwierigkeit liegt vielmehr in dem Verhältnis der hiermit ausgesprochenen, schlechthinnige Gewiß- heit und damit Erlösung gewährenden Vergewisserungen aus der Person Jesu zu der Bereitwilligkeit, eben diese Person Jesu ohne alle supranaturalen Garantien einer inspirierten biblischen Ueberlieferung oder eines supranatural beglaubigten Gemeinde- zeugnisses oder einer supranaturalen Bestätigung durch innere Erfahrung lediglich mit geschichtlichen Mitteln aus der rein ge- schichtlich betrachteten Ueberlieferung zu gewinnen. Hier be- müht sich Herrmann stets von neuem, der historischen Kritik und historischen Wahrscheinlichkeit alles unbefangen auszuliefern, was wirklich ihr verfallen muß, dagegen den Kern hervorzuheben, der aus der Ueberlieferung als eine schlechthin unbezweifelbare »Tatsache«, als eine gegenwärtige und direkt erfahrbare Realität hervorspringt. Es ist das innere Leben Jesu mit seiner sittlichen Reinheit, seiner absoluten Wahrhaftigkeit, seiner einzigartigen Gottesgemeinschaft und seinem Anspruch auf Darbietung völliger erlösender Gewißheit über Gott und Gottes Ziele mit den Men- schen, welcher Anspruch nur Wahnsinn und Betrug sein kann, wenn er nicht völlige Wahrheit ist. Der Anspruch, das Reich Gottes als die Gemeinschaft in der Anerkennung und Befolgung

Gnmdprobleme der Ethik.

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des göttlichen Zweckes durch Darbietung der beiden Vergewis- serungen zu stiften, das bleibt die Tatsache, zu der wir nach Herr- mann zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen müssen. Das unumgänglich entstehende Vertrauen zu diesem im ganzen Um- kreis unserer historischen Erfahrung schlechthin einzigartigen Fak-' tum gestatte dem sittlich ernsten Menschen nur die Zustimmung und Hingebung. Das innere Leben Jesu habe den Glauben der Jünger, und damit das Reich Gottes, hervorgebracht; erstehe genau ebenso als unmittelbar erfahrbare Realität auch heute noch vor uns und schaffe in uns den Glauben, die Erlösung und das Reich Gottes. Die Wurzel von allem ist also hier das Vertrauen zu Jesus, der Glaube an Gott um Jesu willen, nicht der Glaube, an Jesus um Gottes willen. Erst die Begründung auf das historische Faktum der Persönlichkeit Jesu wirkt die Möglichkeit wahrer Sittlichkeit, weil ohne diese Vergewisserung durch Jesus Gott und das Reich Gottes immer schwankende Chimären blieben.

Die Schwierigkeiten dieser Herrmannschen Lehre liegen zu klar zutage , als daß es nötig wäre , sie hier genauer zu er- örtern. Sie kommen ja überdies in der Ethik nicht für sich selbst, sondern nur in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen der ethischen Anschauung in Betracht. Hierbei ist dann aber der springende Punkt nicht sowohl die Verbindung des Historischen und Ueber- historischen in Herrmanns Christologie als die Reduktion des christlichen Elementes der Ethik auf die von diesem Christus ausgehende Kräftigung zur Erfüllung des sittlichen Gesetzes. Ich verfolge daher jene Gedanken hier nicht weiter, unterlasse es ■auch, die Spannung hervorzuheben, die zwischen dieser das Tran- szendente in der Geschichte ergreifenden Christologie und der neukantischen phänomenal-kausalen Auffassung alles historischen Seelengeschehens besteht. Es kommt vielmehr darauf an, den dritten Hauptbegriff von Herrmanns christlicher Ethik hervorzu- heben, die Ableitung des sittlichen Handelns im modernen Kulturleben aus diesem durch den Eindruck Christi wirksam gemachten absoluten Zwecke der Persönlichkeit und der Gemeinschaft vonPeTsönlichkeiten oder des Reiches Gottes. Das ist angesichts der totalen Umwälzung des modernen Kultur- lebens und seiner ethischen Begründungen, die sich gegenüber Urchristentum, Katholizismus und Altprotestantismus in den letzten Jahrhunderten vollzogen hat, das brennendste Problem

Troeltsch, Gesammelte Schriften. H. SS

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cg4 A Grundpiobleme der Ethik.

jeder heutigen christlichen Ethik. Sehen wir daher, wie I lerrmann diese Frage von seinem Begriff der durch Christus erst reaHsier- baren formalen sittlichen Autonomie aus zu beantworten.unternimnit. Die durch Christus gewonnene, in der sittlichen Autonomie unbedingten Gemeinschaftsdienstes sich auswirkende Hingabe an Gott wirkt nach Herrmann grundlegend als Tätigkeitstrieb und nicht als quietistische Seligkeit. Dieser 1 atigkeitstrieb aber könne nur in dankbarer Hingabe an Gott die göttliche Liebe im eigenen Handeln gegen andere zu betätigen streben. Damit empfange die christliche Ethik die Wendung auf die Welt und die weltiichdn Auf- gaben. Wenn wirklich das Wesen der christlichen Ethik nur die Er- langung der Kraft zur Autonomie ist, dann ist in .dieser Wendung •zur Welt auch gar kein weiteres Problem enthalten. Auch kann es nicht allzuschwer sein, das Verhalten dieser autonomen Sitt- lichkeit aus dem Prinzip einer unbedingten Gemeinschaft sittlich selbständiger Seelen zu regeln. Es kommt nur darauf an, die großen Hauptaufgaben des Lebens zu fixieren und die Folgerungen zu entwickeln, die aus jenem Prinzip sich hierfür ergeben. Da die sittliche Idee lediglich den formalen Zweck der Gemeinschaft in sittlicher Autonomie hat, fällt das schwierige Problem sonstiger christlicher Ethik weg,-' wie aus dem christlich-sittlichen Zweck die weltlichen Zwecke selbst etwa abgeleitet oder, wenn das nicht nicht möglich ist, wie jener mit diesen harmonisiert werden könnte. Es gibt nach der Voraussetzung für Heirmann ül>erhaupt gar keine verscliiedenen und mehrfachen inhaltlichen sittlichen Zwecke, sondern nur die Pflicht der absoluten sittlichen Gemein- schaft und Material für diese Pflicht, an dem sie sich betätigt und das von dem Laufe der sittlich indifferenten, naturgegebenen, relativen Zwecksetzungen geliefert wird. Die Anwendung der Gesinnung reiner Achtung vor dem gewissensmäßig cmplundcnen Gesetz; und die daraus entspringende gegenseitige Verbindung in ilicser Achtung ergeben sich sozusagen von selbst, wenn nur erst eii'.inal im Vertrauen zu Christus diese Gesinnung die Macht über die Sira-lr. gewonnen hat.

]:s i.'^t deshalb hier auch nicht nötig, die christliche Sittlichkeit als Ikuiitigung der Kirche zu schildern und ihr als wesentlichen Charakter ein spezifisch kirchliches Gepräge zu geben, wie Schicicrmacher getan hat, der bei seiner allgemeinen Auffassung der I'^thik für die christliche keine andere Besonderheit kon- struieren konnte als die kirchlich-gemeinschaftliche Auswirkung,

Grundprobleme der Ethik. KQT,

des göttlichen Zweckes durch Darbietung der beiden Vergewis- serungen zu stiften, das bleibt die Tatsache, zu der wir nach Herr- mann zustimmend oder ablehnend Stellung nehmen müssen. Das unumgänglich entstehende Vertrauen zu diesem im ganzen Um- kreis unserer historischen Erfahrung schlechthin einzigartigen Fak- tvim gestatte dem sittlich ernsten Menschen nur die Zustimmung und Hingebung. Das innere Leben Jesu habe den Glauben der Jünger, und damit das Reich Gottes, hervorgebracht; er stehe, genau ebenso als unmittelbar erfahrbare Realität auch heute noch vor uns und sch'^.i'e in uns den Glauben, die Erlösung und das Reich Gottes. Dit(f Wurzel von allem ist also hier das Vertrauen zu Jesus, der Glaube an Gott um Jesu willen, nicht der Glaube an Jesus um Gottes willen. Erst die Begründung auf das historische Faktum der Persönlichkeit Jesu wirkt die Möglichkeit wahrer Sittlichkeit, weil ohne diese Vergewisserung durch Jesus Gott und das Reich Gottes immer schwankende Chimären blieben.

Die Schwierigkeiten dieser Herrmannschen Lehre liegen zu klar zutage , als daß es nötig wäre , sie hier genauer zu er- örtern. Sie kommen ja überdies in der Ethik nicht für sich selbst, sondern nur in ihrem Zusammenhang mit dem Ganzen der ethischen Anschauung in Betracht. Hierbei ist dann aber der springende Punkt nicht sowohl die Verbindung des Historischen und Ueber- historischen in Herrmanns Christologie als die Reduktion des christlichen Elementes der Ethik auf die von diesem Christus ausgehende Kräftigung zur Erfüllung des sittlichen Gesetzes. Ich verfolge daher jene Gedanken hier nicht weiter, unterlasse es auch, die Spannung hervorzuheben, die zwischen dieser das Tran- szendente in der Geschichte ergreifenden Christologie und der neukantischen phänomenal-kausalen Auffassung alles historischen Seelengeschehens besteht. Es kommt vielmehr darauf an, den dritten Hauptbegriff von Herrmanns christlicher Ethik hervorzu- heben, die Ableitung des sittlichen Handelns im modernen Kulturleben aus diesem durch den Eindruck Christi wirksam gemachten absoluten Zwecke der Persönlichkeit und der Gemeinschaft von Persönlichkeiten oder des Reiches Gottes. Das ist angesichts der totalen Umwälzung des modernen Kultur- lebens und seiner ethischen Begründungen, die sich gegenüber Urchristentum, Katholizismus und Altprotestantismus in den letzten Jahrhunderten vollzogen hat, das brennendste Problem

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 38

594 Grundprobleme der Ethik.

jeder heutigen christlichen Ethik. Sehen wir daher, wie Herrmann diese Frage von seinem Begriff der durch Christus erst realisier- baren formalen sittlichen Autonomie aus zu beantworten unternimmt.

Die durch Christus gewonnene, in der sittlichen Autonomie unbedingten Gemeinschaftsdienstes sich auswirkende Hingabe an Gott wirkt nach Herrmann grundlegend als Tätigkeitstrieb und nicht als quietistische Seligkeit. Dieser Tätigkeitstrieb aber könne nur in dankbarer Hingabe an Gott die göttliche Liebe im eigenen Handeln gegen andere zu betätigen streben. Damit empfange die christliche Ethik die Wenduog-aojfjdieJWelt und die \;gltlichen Auf- gaben. Wenn wirklich das Wesen der christlichen Ethij. nur die Er- langung der Kraft zur Autonomie ist, dann ist in dieser Wendung zur Welt auch gar kein weiteres Problem enthalten. Auch kann es nicht allzuschwer sein, das Verhalten dieser autonomen Sitt- lichkeit aus dem Prinzip einer unbedingten Gemeinschaft sittlich selbständiger Seelen zu regeln. Es kommt nur darauf an, die großen Hauptaufgaben des Lebens zu fixieren und die Folgerungen zu entwickeln, die aus jenem Prinzip sich hierfür ergeben. Da die sittliche Idee lediglich den formalen Zweck der Gemeinschaft in sittlicher Autonomie hat, fällt das schwierige Problem sonstiger christlicher Ethik weg, wie aus dem christlich-sittlichen Zweck die weltlichen Zwecke selbst etwa abgeleitet oder, wenn das nicht nicht möglich ist, wie jener mit diesen harmonisiert werden könnte. Es gibt nach der Voraussetzung für Herrmann überhaupt gar keine verschiedenen und mehrfachen inhaltlichen sittlichen Zwecke, sondern nur die Pflicht der absoluten sittlichen Gemein- schaft und Material für diese Pflicht, an dem sie sich betätigt und das von dem Laufe der sittlich indifferenten, naturgegebenen^ relativen Zwecksetzungen geliefert wird. Die Anwendung der Gesinnung reiner Achtung vor dem gewissensmäßig empfundenen Gesetz und die daraus entspringende gegenseitige Verbindung in dieser Achtung ergeben sich sozusagen von selbst, wenn nur erst einmal im Vertrauen zu Christus diese Gesinnung die Macht über die Seele gewonnen hat.

Es ist deshalb hier auch nicht nötig, die christliche Sittlichkeit als Betätigung der Kirche zu schildern und ihr als wesentlichen Charakter ein spezifisch kirchliches Gepräge zu geben, wie Schleiermacher getan hat, der bei seiner allgemeinen Auffassung der Ethik für die christliche keine andere Besonderheit kon- struieren konnte als die kirchlich-gemeinschaftliche Auswirkung^

Grundprobleme der Ethik. CoC

Verstärkung und Reinigung der in der Person Jesu als Anfang eines neuen Gemeinlebens gesetzten Erhöhung des Geistes. Noch weniger findet hier natürlich eine Verkirchlichung der Sitt- lichkeit in katholisierendem Sinne statt, die eine kirchlich nor- mierte und gestützte Kultur mit einer relativ zugelassenen welt- lichen kombiniert und kasuistisch leitet. Für Herrmann kommt die Kirche nur in Betracht als die Darbieterin der Verkündigung von Jesus und damit als die Zuführung der zur Erfüllung des Sittengesetzes befähigenden Kraft, nicht als Organ des christlich- sittlichen Handelns selbst. Sie pflanzt die sittlichen Kräfte der Autonomie durch die Darbietung des erlösenden Bildes vom inneren Leben Christi, aber sie muß eben deshalb die Anwendung dieses Zweckes im konkreten Einzelfall dem Gewissen des einzelnen überlassen. Erst aus diesen in einer religiösen Volkskultur sich sammelnden Gewissensentscheidungen geht die sittliche Regulierung der weltlichen Zwecke,, »der Dienst Gottes in den natürlich be- gründeten menschlichen Gemeinschaften« hervor. Die Ethik Herrmanns ist eine völlig freie, ganz humane und unkirchliche wie bei Rothe, ohne daß aber, wie bei dem letzteren, die Kirche selbst in ihrer Bedeutung bei Seite gesetzt und der Uebergang des christlichen Ethos unmittelbar in die Kulturgemeinschaft des christianisierten Staates erwartet würde. Herrmanns Ethik bleibt vielmehr kirchlich, insoferne sie die Volkskirche als Predigerin des Christusbildes voraussetzt und in dem Gedanken einer objektiven Gnade und Sündenvergebung als Schatz der Kirche die verschiede- nen Reifestufen der individuellen Sittlichkeit und die vielen sündigen Störungen ertragen kann. Die Kirche gibt Kraft und Gewißheit der Sündenvergebung, kann daher alle Menschen umfassen, aber alles Uebrige bewirkt die sittliche Autonomie aus sich selbst heraus. So sind durch diese Zusammendrängung auf den formalen Au- tonomiebegriff von Seiten des christlich-sittlichen Zweckes alle jene Konflikte vermieden, die für ihn so oft mit der Betätigung in der Welt verbunden zu sein schienen, und die dann von einem aske- tischen, weltflüchtigen oder weltindifferenten Charakter des Christentums reden ließen. Aber ebenso sind die Konflikte von Seiten der Welt her vermieden. Das, was man als innerweltliche Zwecke bezeichnen könnte und was für die moderne Ethik überall den Charakter einer objektiven Selbstzwecklichkeit ange- nommen hat, was daher in ihr überall, wo sie nicht in der Be- tonung des rein formalen Charakters des Sittlichen aufgeht, als

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rg5 Grundprobleme der Ethik.

Mehrzahl sittlicher Zwecke gewürdigt wird, d. h. die sittlichen Güter der Ehe, des. Staates, der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Kunst, alles das kommt für Herrmann überhaupt nicht als sittlicher Zweck oder Gut in Betracht. All das ist lediglich Gemeinschaftsform, die aus natürlichen Trieben entsteht. Das Zweckmoment in ihnen hat nur die Bedeutung, zu Gemeinschafts- formen zu führen, die mit einer gewissen Zurückstellung des Egoismus die höhere, sittliche Gemeinschaft präformieren helfen. Sie haben als gegebene, noch natürlich-eudämonistisch begründete Zusammenhänge lediglich die Bedeutung, den Menschen für die Idee der Gemeinschaft überhaupt zu erziehen und damit der sittlichen Idee einer erst in der Anerkennung des kategorischen Im- perativs sich bildenden wahren Gemeinschaft vorzuarbeiten. Sind sie unter diesem Gesichtspunkt vorläufige Erziehungsmittel wie die disciplina der Reformatoren, so sind sie als Folgen natür- licher Bedürfnisse die gegebenen Naturformen, inner- halb deren das sittliche Leben sich bewegt, der Stoff, den es vorfindet und den es gestaltet, eine Naturbedingtheit unserer Lage, die mit der ganzen Welt und Schöpfung hinzunehmen ist als Gottes nun einmal so beschaffene Welt, die uns mit Sommer und Winter, physiologischen Ernährungs- und Fortpflanzungsbe- dingungen auch diese natürlich erwachsenen Gemeinschaftsfor- men als natürliche Voraussetzung des sittlichen Handelns darbietet.

Das scheint der denkbar strengste Rigorismus zu sein. Die innerweltlichen Kulturgüter sind bloße Gemeinschaftsformen, bloße Erzieher für die reine Autonomie. Sie tragen keinen eigenen sittlichen Wert in sich und sind daher nur Stoff für die sittliche Gesinnung. Vorbereitende Brechung des Egoismus und dann Stoff für die eigentliche sittliche Gemeinschaft der auto- nomen Willen : das ist ihr ganzer Sinn.

Sofern nun aber schließlich doch das diese Formen hervor- bringende Zweckmoment mit einer natürlichen Lust verbunden ist, die abzuleugnen Unwahrhaftigkeit und die zu töten Auf- lehnung gegen Gottes Weltordnung wäre, fallen diese Zwecke für Herrmann unter die Kategorie des Erlaubten, das wir wohl genießend hinnehmen dürfen, aber in dessen Genuß wir nicht untergehen dürfen. Wir müssen ihn immer als Gabe Gottes betrachten, dürfen durch ihn nicht träge gemacht werden und müssen ihn jederzeit unbedingt optern, wenn es das Gewissen verlangt. Wenn damit die natürlichen Gemeinschaften doch auch

Grundprobleme der Ethik. ^Q7

als erlaubte, eigenen Wert in sich tragende Güter betrachtet werden dürfen, so ist damit freilich die volle Strenge des christ- lich-sittlichen Gedankens durchbrochen. Bloße Formen des Lebens und bloße Naturgegebenheiten kann er wohl anerkennen, aber solche erlaubte Freude an den diese Formen hervorbringenden »natürlichen« Zwecken durchbricht seine Strin- genz. »Könnte das christliche Leben überhaupt als ein aus der sittlichen Gesinnung erzeugtes Ganzes angesehen werden, so wäre kein Verhalten des Christen bloß erlaubt zu nennen. Alles wäre entweder Erfüllung oder Uebertretung des Gesetzes, das die Ge- sinnung sich selbst vorschreibt« (S. 147). Allein wenn schon die Sittlichkeit Selbstüberwindung und Erhebung in ein höheres Leben sei, dann müsse es etwas geben, was überwunden und ge- opfert werden kann. »Wir können nur opfern, was wir besitzen« (S. 148). Also Vorbereitung und Stoff und dann ein bei gege- benem Anlaß zu opferndes Erlaubtes sind hier die innerwelt- lichen Kulturgüter. Aber auch so betrachtet, sei dieses Erlaubte immer noch eine Störung. »Es ist uns von der Macht, der wir völlig unterworfen sind, nur für eine Weile zugestanden» (S. 145), und »Es ist demütigend für uns, daß es für uns Erlaubtes, und nicht bloß von uns selbst Gesetztes oder Notwendiges gibt. Aber wir demütigen uns unter Gott, wenn wir anerkennen, daß die Hauptmasse (!) unserer Lebensmomente von uns mit dem Bewußtsein durchlebt wird, daß wir uns dabei dem überlassen, was er uns (bloß) erlaubt hat. Der Schutz für die in uns keimende sittliche Freiheit liegt dabei darin, daß wir Gott danken können für das, w^as er uns erlaubt« S. 149.

Dem Eindruck dieser etwas gewundenen Erklärungen ist nur hinzuzufügen, daß gerade in diesen Gewundenheiten das Ein- geständnis eines schwierigen Problems, ja des Zentralproblems, liegt. Es ist deutlich, daß hier wiederum entscheidende Grundge- danken festgestellt sind. Das schwerste Problem der christlichen Ethik ist dadurch überwunden, daß einerseits der christliche Zweck in die auf Autonomie aufgebaute unbedingte Gemeinschaft gesetzt und damit in die Sphäre des Immanenten gezogen ist, und daß andererseits die von der moder- nen Welt als Selbstzwecke und darum als innerweltliche sittliche Güter betrachteten Zwecke der P^amilie, des Staates, der Gesell- schaft, der Wissenschaft und der Kunst teils auf bloße natür- liche Daseinsbedingungen ohne eigene innere Bedeutung, teils

egg Grundprobleme der Ethik.

auf bloß erlaubte vorübergehende Naturgenüsse reduziert sind. Damit ist für Herrmann das große Problem des Verhältnisses von Christentum und Kultur gelöst. Der asketische und weltindifferente Charakter des Christentums ist in den Rigorismus einer immanen- ten Autonomie verwandelt, und die Kulturwerte sind zu bloßen Vor- bereitungen und Stoffen der Autonomie depotenziert. Sofern in den letzteren ein Rest der Selbständigkeit bleibt, werden sie zum Erlaubten, das in allen Konfliktsfällen geopfert werden muß und gerade dadurch wieder zur Folie jenes Rigorismus dient. Wir werden auf diese entscheidenden Gedanken noch zurückkommen. Vorerst folgen wir weiter der Darstellung Herrmanns.

Verhältnismäßig einfach und kurz ist die Anwendung dieses Gedankens auf die ethische Behandlung der natürlichen Daseinsformen. Es kommt nur darauf an, hierbei -durch unser Dasein die Gemeinschaft unter den Menschen auszubreiten und zu vertiefen« S. 145. Daß jedes Einzelleben in diesen Formen sich bewege, wird dabei als natur- notwendig vorausgesetzt. Jeder Mensch, der nicht in diesen Ge- leisen der sittlichen Aufgabe nachgeht, ist eine seltene durch besondere Verhältnisse bedingte Ausnahme oder ein Empörer gegen Gottes natürliche Ordnung und damit auch gegen das christliche Sittengesetz. Die christliche Sittlichkeit verlangt mit dem Glauben an die Erschaffung der Welt durch Gott zugleich den Anschluß an die gewohnten Formen des Daseins und Wirkens. Sie ist gegenüber dem gegebenen Bestände des sozialen Lebens prinzipiell konservativ, was natürlich sittlich erforderliche Reformen im ein- zelnen nicht ausschließt. Die Lebensformen unseres Staates und unserer Kultur sind in den Grundzügen Naturgesetze wie die Schwere und die Erddrehung, an denen kein einzelner Wille etwas ändern kann und die den unabänderlichen Spielraum der sittlichen Betätigung bilden. Jeder soll verheiratet sein und der Obrigkeit des Staates mit vollem Gehorsam, auch mit Fügung in Ungerechtigkeiten, dienen. Revolutionen sind sittlich zulässig nur auf religiösem und kirchlichem Gebiet, weil eben dieses Gebiet allein direkt sittliches Interesse hat, während alle anderen Lebensgebiete nur gottgesetzte Voraussetzungen und Naturformen darbieten. Ja, noch weiter geht die Bedingtheit der sittlichen Aufgaben durch die Naturformen. Die aus der Notwendigkeit der Naturbeherrschung entstehende Kulturgesellschaft bringt als hierzu geeignete Natur- form ein Geflecht von Aufgaben und Zwecken hervor, innerhalb

Grundprobleme der Ethik. 50Q

dessen überall dauernde Arbeitsformen oder Berufe erwachsen, in die jedes Individuum einzutreten hat und vermittels deren jedes seine sittliche Bestimmung erst individualisiert. Einen solchen Beruf muß jeder haben. Besondere geschicht- liche Leistungen , die aus dem Rahmen gewöhnlicher Berufe herausfallen, sind als außerordentliche Berufe zu betrachten, die jeder durch sittliche Autonomie als ihm gegeben erkennt und denen jeder nach eigenem Gewissen restlos zu dienen hat. So ist auch das Werk Jesu die Erfüllung eines solchen außerordent- lichen Berufes gewesen. Die große Masse freilich hat sich einem der gewöhnlichen dauernden Berufe zuzuwenden. Wer das un- terläßt, begeht wie »die Vagabunden und die Rentiers« die ver- werflichste Empörung gegen Gott und die Idee des Sittlichen. Die freie humane Bildung, die Hingabe an wissenschaftHche, künstlerische, politische Ideen um ihrer selbst willen, ist von dieser Ethik ausgeschlossen, wenn sie von ihrem Inhaber nicht etwa unter dem Gesichtspunkt einer gerade ihm verordneten Be- rufsleistung für das Ganze gedacht w^erden muß. Alles sittliche Handeln ist bestimmt durch diese beiden Momente, die gottge- setzten Naturformen einerseits und die Anwendung des allge- meinen Gesetzes der Bildung eines Reichs autonomer Persönlich- keiten auf diese gegebenen Situationen andererseits: »Der Christ soll Nächstenliebe üben und in sittUcher Selbständigkeit wachsen als ein Glied einer bestimmten Familie, als ein eine bestimmte Stelle ausfüllender Mitarbeiter an der Gesellschaft und als ein Bürger eines bestimmten Staates.« Alles, was sich diesem Ideal nicht einfügt, ist von Uebel und Verkennung der sittlichen Idee.

Im einzelnen gliedert sich die Anwendung nach den Natur- formen des Handelns, die in Familie, Kulturgesellschaft und Staat gegeben sind; dabei erscheint die Kulturgesellschaft wesentlich als Organisation des Erwerbes und Besitzes und tritt die »geistige Seite der Kultur«, die »Klärung des Bewußtseins in den Einzelnen« wesentlich in den Dienst der materiellen Seite ; wenigstens ist von jener Seite nur in dieser Beziehung die Rede, und fehlen Wissen- schaft und Kunst völlig in dieser Ethik. Die ganze Renaissance und der ganze Neuhumanismus könnten von diesen ethischen Idealen aus nur rundweef verworfen werden ^^).

**) So hat auch ein Herrmann nahe stehender Theologe, Paul Wernle, neuer- dings den Gegensatz von Renaissance und Reformation gezeichnet. Die letztere ist das ethische Prinzip, die Renaissance nur ein Kulturprinzip, von dem es heißt:

6oO Grundprobleme der Ethik.

Die Anwendung dieser Ideen auf die Familie ist ver- hältnismäßig einfach und leicht, wie ja die monogamische Fami- lie der modernen Welt in der Tat wesentlich ein Erzeugnis der christlichen Schätzung der Persönlichkeit ist. Sehr viel schwie- riger wird freilich die Anwendung auf die Kulturgesell-

seine zauberhafte intellektuelle und ästhetische Bildung, eine grenzenlose sinnliche Roheit und Gemeinheit, und die Kriecherei vor dem Dogma und der kirchlichen Zerimonie«, Renaissance u. Reformation 1912 S. 84. Vgl. dazu auch die Zeich- nung des Gegensatzes in meiner Studie »Ren. u. Ref.« in H. Z. 191 v Die von einer solchen Ethik anzueignende Kultur erscheint überhaupt nur in den Gemein- schaftsformen von Familie, Gesellschaft und Staat d h. im bürgerlichen Leben. Das letztere ist mit einer dauernden Welt gesetzt und ist daher an das Ethos Jesu ohne weiteres anzuschließen, sobald man dieses von seinen zeitgeschichtlichen eschatolo- gischen Schranken befreit hat. Sehr charakteristische Beispiele bietet wieder der Kongreß- Vortrag : »Was für die Jünger Jesu damals (in der Urchristenheit) ein ener- gisches Durchführen ihrer Weltanschauung, also Wahrhaftigkeit, war, wäre für uns ein Selbstbetrug, weil wir uns nicht vor das Ende der Welt, sondern vor eine Unendlichkeit von Aufgaben gestellt sehen, die uns aus ihr entgegenkommen«. »Die Versuche, Jesu in demjenigen nachzufolgen, was an seine besondere Aufgabe in der Welt und an seine uns nicht gegebene Stellung zur W^elt geknüpft war, diese Bemühungen ohne allen Ernst des Notwendigen, haben die Sache Jesu so lange geschädigt, daß unsere Freude sich nicht wird dämpfen lassen, wenn nun endlich wissenschaftliche Arbeit die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens vor Augen stellt«. »Haben wir die Gesinnung verstanden, für die Jesus uns gewinnen will, so sehen wir doch wohl, daß wir ebenso selbständig werden sollen wie er. Aus der Gesinnung heraus, in der wir mit Jesus einig sind, wollen wir den nationalen Staat, dessen Wesen und Aufgabe Jesus noch nicht kannte, und lassen uns dadurch nicht irre machen, wenn manches an diesem Gebilde der menschlichen Natur mit der Lebensführung und Stimmung Jesu in so grellem Widerspruch steht, wie die Waffenrüstung und ihr mutiger Gebrauch« S. 85. »In dem harten Zwang der Verhältnisse (Kampf ums Dasein, wirtschaftliche Konkurrenz) glauben wir die väterliche Fürsorge zu erfahren, die uns in den Wettkampf mit anderen nötigt, damit wir überhaupt etwas Reelles sein und wirken können. Dieser Glaube kann nur dann in uns eine Stätte finden, wenn wir den Willen entwickeln, daß schließlich alles, was in unserer Gewalt ist (also Macht und Besitz), der Liebe dienen, also Menschen in die Höhe bringen und zu herzlicher Gemeinschaft mit uns verbinden soll« S. 69. In den möglichen Konflikten mit diesen Gemeinschafts- formen und ihren Gütern ist die unbedingte Ueberordnung der Liebe zu fordern. Darin besteht dann erst das Berechtigte der »Weltflüchtigkeit« des Christentums- »Durch diese Erkenntnis wird offenbar der Unterschied zwischen dem in der Gegen- wart möglichen Christentum und dem der Anfangszeit ermäßigt S. 63. Dagegen Tolstoi »mißbraucht die Worte Jesu so, wie es uns längst als eine Krankheit am Christentum bekannt ist« S. 37.

Grundprobleme der Ethik. 6oi

s c h a f t, obwohl mit den grundlegenden Gedanken über das Verhältnis der Naturformen und der sittlichen Idee die Haupt- frage schon beantwortet ist. Immerhin aber bleibt doch die Schwierigkeit, den weitabgewandten und scheinbar ganz trans- zendenten Charakter der Ethik Jesu und des Urchristentums mit dieser Anerkennung unserer Gesellschaft auszugleichen und die gegenwärtige sittliche Praxis nicht mit den berühmten Anweisungen der Bergpredigt in Gegensatz zu bringen. Die ab- lehnende Stellung des Evangeliums gegenüber aller Kultur ergibt sich nach Herrmann aus der besonderen Lage und dem beson- deren Berufe Jesu, der daher von den Gläubigen nicht in seinem Inhalte, sondern nur in seiner Form, d. h. in der schlechthin treuen autonomen Berufsgesinnung nachzuahmen sei. In der Ur- gemeinde sodann habe sich diese Haltung aus dem Gegen- satze gegen eine mit dem Heidentum eng verflochtene Kultur er- geben, der allerdings eine positive Stellung zu ihr unmöglich machte, und aus beirrenden Einwirkungen der spätantiken Mystik, die ja auch das Mönchtum erst hervorgebracht habe. Für die gegenwärtige Gemeinde sei daher lediglich die Frage zu stellen, was sie innerhalb einer nunmehr christianisierten Kulturgesellschaft zur weiteren Versittlichung dieser Gemeinschaft aus autonomer Ge- wissensnötigung zu tun für nötig halten muß. Da ist denn aus den schon geschilderten Gründen selbstverständlich, daß der Christ an ihr positiv teilzunehmen und, indem er die Kulturarbeit in den Dienst des sittlichen Endzweckes persönlicher Gemeinschaft stellt, sie als Gottesdienst zu betrachten hat. Er muß nur die damit verbundenen Gefahren des Reichtums und der Ehre schlechthin vermeiden, welche Gefahr aber erst eintritt, wenn der Besitz un- produktiv und ohne Rücksicht auf Steigerung des Gemeinwohls genossen und wenn die erstrebte Ehre vor den Menschen im Herrschen statt im Dienen gesucht wird. Nur an einer in solchem Sinn betriebenen Kulturgesellschaft dürfen wir teilnehmen. Wenn sie nicht so beschaffen ist, so haben wir sie in diesem Sinn zu reformieren, was sich vor allem in der Behandlung der heute sog. sozialen Frage zeigt. Können wir solche Reformen auf le- galem Wege nicht erreichen, so müssen wir, wie die ersten Christen, uns von der Gesellschaft zurückziehen. Dazu aber ist vor- läufig kein Anlaß. Wir haben im Gegenteil alle Hoffnung, gerade durch die sozialistische Bewegung alle ethischen Probleme zu christ- lich-sittlicher Entscheidung gebracht zu sehen. Die von ihr gefor-

^Q2 Grundprobleme der Ethik.

derte Beseitigung des Patriarchalismus ist von dem Prinzip der Per- sönlichkeit aus dur-chaus zu bilHgen, Das ihr vorschwebende Ideal einer Beseitigung des Konkurrenzkampfes ist zwar ein auf Erden nicht zu verwirklichendes Ideal, aber eine Mahnung, die der Ge- sellschaft unentbehrliche Lebensform des Kampfes ums Dasein oder des Konkurrenzkampfes in dem Sinne zu ethisieren, daß der Kampf ums Dasein hier wie in der Natur teleologisch verstanden wird und der natürliche Zwang durch die sittliche Gesinnung in den Willen, die Mittel zum Dienen zu gewinnen, verwandelt wird. Aehnlich bewältigt die christliche Sittlichkeit die aus der dritten Naturform dem Staate sich ergebenden Probleme, obwohl hier mehr noch als in der Kulturgesellschaft scheinbar selbständige sittliche Güter in P>age kommen, die in hartem Gegensatz gegen die christliche Geringschätzung der Ehre vor Menschen und gegen den christlichen Kosmopolitismus stehen. Um so wichtiger ist es auch hier von vorneherein klar zu machen, daß der Staat als solcher kein Erzeugnis sittlicher Arbeit, sondern lediglich »eine Naturerscheinung ist, an der man arbeiten kann, um sie sittlichen Zwecken dienstbar zu machen, an deren Natur aber niemand etwas ändern kann«. Er ist der zur Regulierung und einheitlichen Leitung der Kulturgesellschaft erzeugte Rechtsorganismus, der aus der Abgrenzung der Kulturgesellschaft auf sprachlich, physiolo- gisch und geschichtlich bedingtem Sondergebiete erwächst. Wie der Christ die Kulturgesellschaft als Naturform des Daseins mit Vorbehalten zu akzeptieren hat, so muß er auch den Staat ak- zeptieren »als höchstes Erzeugnis und unentbehrliches Mittel der Kultur«, aber mit dem Vorbehalt, daß dieser Rechts- und Zwangs- organismus immer nur als Naturvoraussetzung des sittlichen Han- delns und niemals als selbständiges sittliches Gut zu betrachten sei. Dieses den Verkehr regelnde und Ordnung sichernde Institut darf immer nur als Mittel des eigentlich sittlichen P^ndzweckes, des Reiches der Persönlichkeiten, des Reiches der Liebe ohne Recht und ohne Zwang, gehandhabt werden. So wird sich der Christ in die Notwendigkeit des Kampfes um das Recht und in den Zwang der kriegerischen Selbstbehauptung des Staates als in ein Naturgesetz fügen, das wir, wie den Konkurrenzkampf der Gesellschaft, teleologisch als naturhafte Vorbereitung und Erziehung des Menschen zur freien Persönlichkeit werten dürfen, an das wir aber niemals Herz und Leidenschaft verlieren dürten. Den Krieg insbesondere muß der Christ als mit dem Staat naturgemäß ver-

Grundprobleme der Ethik. 60^

bunden akzeptieren ; ihn aus christlichen Gründen verwerfen wollen ist Heuchelei, da den Staat akzeptieren und den Krieg verwerfen Widerspruch gegen das Wesen des Staates und damit Verwerfung des Staates überhaupt, d. h. gegen die eigene christliche Ueber- zeugung wäre. Er wird andrerseits die Gestaltung des Staates mit allen Kräften im Sinn des Dienstes für möglichste Steigerung des Gemeinwohls, der persönlichen Freiheit und Unabhängigkeit und der Fürsorge für die Zurückbleibenden betreiben und zu diesem Zweck besonders die Schule dem Staate zur Verfügung stellen. Aber immer wird er die Mitarbeit am Staate nur als Vor- bereitung auf die eigentliche sittliche Freiheit ansehen, und nie- mals wird er die Quelle der eigentlich sittlichen Ideen und Kräfte, die Religion und Kirche, dem Staate ausliefern dürfen. Vielmehr wird er in der strengen Scheidung der Kirche vom Staat, diesen immer daran erinnern, daß er nur eine Naturform ist und besten- falls sittlich als Vorstufe behandelt werden kann, daß er aber die Sphäre des eigentlich Sittlichen als ihm völlig fremd und über- legen zu betrachten hat. Im Sinne der äußeren Trennung von Kirche und Staat oder des Vereinskirchentums ist dieser Satz aber nicht gemeint, sondern im Sinne der lutherischen Scheidung der geistlichen Sphäre vom weltlichen Recht. Es wird ein Ge- danke wie der Sohms sein.

Damit sind die natürlichen Gemeinschaftsformen und die Kulturwerte erledigt. Es ist nachdrücklich zu wiederholen, daß von dem schwierigen Problem der Humanität, der im Künstlerischen steckenden objektiven Werte, der in der Wissenschaft enthaltenen Geistesentfaltung überhaupt nicht die Rede ist. Was einem Kierke- gard und Tolstoi so ungeheure Schwierigkeiten bereitet hat und was ein Nietzsche gegen das Christentum auf dem Herzen hat, was aber auch schon Maccbiavelli und dann der junge Hegel als eigentliches Problem empfunden haben, das ist hier überhaupt gar nicht berührt. Die gegebenen Naturerzeugnisse der Familie, der Gesellschaft und des Staates mit der Gesinnung der Autonomie zu erfüllen und innerhalb ihrer das Reich der in der Achtung vor dem Sittengesetz verbundenen Personen aufzurichten: das ist alles.

Alles in allem ist es die in den Kantischen Geist übersetzte lutherische Ethik, die den christlich-sittlichen Gedanken mit den innerweltlichen Zwecken dadurch ausgleicht, daß sie die letzteren auf die Natur- und Schöpfungsordnung zurückführt und deshalb als feststehende Formen und Rahmen des eigentlich religiös-sitt-

604 Grundprobleme der Ethik.

liehen Lebens ansieht. Diese Formen sind anzuerkennen als gött- lich gesetzte und darum in die christliche Ethik als deren Vor- aussetzung und Stoff einzurechnen. Die vom alten Christentum empfundenen und vom Katholizismus prinzipiell ausgeprägten Widersprüche zwischen beiden werden zurückgeschoben in das Verhältnis von Schöpfungsordnung und Erlösungsordnung, die jedenfalls in der Zurückführung auf denselben Gott identisch sind, und deren für uns hervortretende Reibungen von uns nicht theo- retisch aufgelöst, sondern in einfacher Unterordnung unter die Schöpfungsordnung praktisch nach Vermögen überwunden werden müssen und können. Für die Reibungen trägt die Unvollkommen- heit der bisherigen Sittlichkeit die Verantwortung. Der Christ hat der Welt gegenüber Ergebung in ihre Ordnungen und Formen allein zu betätigen, und soll nicht die voreiligen Fragen erheben, die den ganzen Dualismus selbst zum Problem machen, nicht das, was Naturordnung ist, auf sein sittliches Recht oder Unrecht prüfen, als ob in ihm selbständige und selbstzweckliche sittliche Güter lägen, über deren Wert und Natur und deren Verhältnis zu religiösen Zwecken und Gütern erst eine alles aufwühlende Reflexion Klarheit schaffen könnte. Es ist der berufs gläubige gottergebene Charakter des Luthertums gegen- über der Lex naturae, aber ohne die oftquieti- s tische Mystik des Luthertums, welche letztere durch den klaren und ernsten Geist des von der Autonomie geleiteten Triebes auf unbedingte Willensgemeinschaft ersetzt ist. Von dem letzteren aus ergibt sich daher trotz aller Ergebung in die Naturformen die Aneignung einer Reihe radikaler moderner Forderungen in sozialer und politischer Hinsicht, die dem alten Luthertum un- möglich gewesen wären und in denen sich der aktivere und rigorosere Geist Herrmanns mit dem Calvinismus berührt. Ja, an einem Punkte geht diese Hinnahme der gottgesetzten »Ge- meinschaftsformen und Berufe weit über die Fügsamkeit der altprotestantischen Ethik hinaus. Diese hatte wenigstens die »Gemeinschaftsformen« auf ihre Weise zum Gegenstand einer so- ziologischen Theorie gemacht, bei der auch ihr Gegensatz gegen das eigentliche christliche Ideal zum Ausdruck kam. Sie waren ihr wie der alten christlichen Tradition Erzeugnisse der Sünde, die Gott als Strafe der Sünde und als disziplinierendes Heilmittel zugleich aus der Vernunft nach dem Sündenfall hatte hervor-

Grundprobleme der Ethik. 60"^

gehen lassen. Die Notwendigkeit, sich auf sie einzurichten, stammte aus dem Sündenfall, und in den Reibungen zwischen sittlichem Naturgesetz und christlichem Liebesreich kamen die Bedingungen des Sündenstandes zum Ausdruck '*'^). Bei Herrmann fehlt jede Frage dieser Art. Er nimmt die »Gemeinschaftsformen« ohne weiteres mit der Natur hin. Der Gegensatz von Liebe und Natur- recht ist verschwunden. An Stelle des Reiches der Liebe tritt bei ihm die Autonomie und an Stelle der erst dem Sündenfall entsprungenen Lex naturae das einfache allgemeine kausale Na- turgesetz, das die Gemeinschaftsformen hervorbringt wie Sonne, Mond und Sterne. Der Gegensatz ist für ihn nicht mehr der des relativen Naturgesetzes des Sündenstandes und der be- dingungslosen überweltlichen Liebesgemeinschaft, sondern der Gegensatz von Naturkausalität und Freiheit. Auch hier sind Kantische Kategorien an Stelle der altchristlichen getreten ^^). Daß sich in alledem eindringendes Denken über die sitt-

*^) Die Nachweise hiefür s. in meinen Soziallehren. Im übrigen fühlt Herr- mann selbst, daß er damit die Linien des Altprotestantismus überschritten hat; s. Weisungen S. 22 : »Weder die alte Kirche noch der ältere Protestantismus wußte zu sagen, wie wir alle diesem Führer (Jesus) mit freiem Herzen folgen können ; und auch unter uns treffen die Anfänge der richtigen Erkenntnis auf den heftigsten Widerstand gerade derer, die den größten Ernst in der Nachfolge Jesu laut und eifrig fordern«. Bei den Reformatoren war in dem Gegensatz der Amts- und Berufsmoral gegen die Personenmoral der Bergpredigt die Ueberweltlichkeit des Christentums erhalten geblieben. Bei dem völlig antimystischen Herrmann verschwin- det der Gegensatz und wird zu einer unmittelbaren Bearbeitung der Berufs- und Ge- meinschaftsformen im Sinne eines dabei herzustellenden Reiches autonomer Geister. In der Debatte auf die Ueberweltlichkeit hingewiesen fühlte er das Bedürfnis, ihr gerecht zu werden. Aber sie wrird bei ihm nur zu einem Rigorismus der Liebe, der dann die hemmenden Kulturgüter dem sittlichen Gebote der Liebe opfern soll. »Sie sind Mittel zum Leben, aber die Menschen, die sich darum sorgen, sind immer in Gefahr, über diesen Mitteln das (sittliche) Leben selbst zu verlieren . . . Der Christ soll nicht vergessen, daß die Erfolge seiner Arbeit in Industrie, der Wissen- schaft, der Kunst, dem Staat den Abgrund öffnen, der seine Zukunft zu begraben droht. Rettung gibt es für sein Leben nur, wenn ihm die Gewalt der sitt- lichen Erkenntnis über all diese Herrlichkeit hinwegträgt ^ S. 63. Dann aber fährt doch Herrmann fort: »Aber noch wichtiger ist, daß wir die Bedeutung der Tatsache durchdenken, die in unserer durch die Geschichte verwirklichten Schei- dung von Jesus und seiner Art zu leben vorliegt. Wir können uns zur Welt nicht so stellen wie Jesus; der Vorsatz, es zu tun, erstickt in der Luft, die wir heute atmen« S. 65. Hierin standen die Reformatoren noch Jesus näher, und gerade darin liegt für Herrmann deren Fehler.

5o6 Grundpiobleme der Ethik.

liehen Grundfragen und eine originelle sittliche Kraft offenbart, brauche ich nicht hervorzuheben. Ganz einheitlich aber ist bei der Verschiedenheit der zusammengearbeiteten Motive der Ein- druck doch nicht. Die apologetischen Abbiegungen von den ethi- schen Grundbegriffen, die Ergänzung des kategorischen Impera- tivs durch die beiden Vergewisserungen und schließlich die Zu- sammenarbeitung des sittlichen Endzweckes mit den Anforderungen der Naturformen des Gemeinschaftsleben bedeuten eine Reihe leicht erkennbarer Nähte. Insbesondere liegt im letzten Teil eine erkennbare und den begrifflichen Zusammenhang beunruhigende Verschiebung vor. Die allgemeine Analyse des sittlichen Zweckes hatte diesen in seiner Doppelseitigkeit des Individual- und Sozialzweckes und in der gleichen Bedeutung wie Wechsel- wirkung beider Seiten gezeigt. Schon bei der Schilderung der christlichen Vollendung und Klarstellung des sittlichen Ideals wird aber der Individualzweck ganz bedeutend dem Sozialzweck untergeordnet, alle Auseinandersetzung und aller Kompromiß zwischen beiden Zwecksetzungen verworfen und der Sozialzweck als Reich Gottes oder als Reich der zu schlechthinniger Gemein- schaft verbundenen Geister konstruiert. Vollends bei der sitt- Hchen Beurteilung und Gestaltung der Naturformen kommt nur mehr ganz einseitig der Gemeinschaftszweck zur Geltung, indem bei diesen Kulturgebilden überhaupt nicht von Gütern und daher auch nicht von individuellen, in ihnen beschlossenen Werten die Rede ist, sondern nur von Gemeinschaftsformen, die als Vorstu- fen, Anknüpfungspunkte, Verwirldichungsmittel und Stoff der abso- luten sittlichen Gemeinschaft dienen sollen und nur in diesem Sinne gebraucht werden dürfen. Der kategorische Imperativ ist hier unter der Hand zum Gebot der Nächstenliebe christianisiert und das Gebot der NächstenHebe unter Ablösung von seinen besonde- ren christlich-metaphysischen Gründen zum autonomen, in jedem Einzelfall seiner Realisierung aus eigener Gewissensentscheidung festzustellenden Vernunftgebot rationalisiert.

Damit dürfte der Inhalt von Herrmanns Ethik erschöpfend dargestellt sein. Ich habe bei dieser Darstellung die Einsatz- punkte für die Kritik bereits hervorgehoben, doch ist eine wirk- Hche Kritik gegenüber einem so originellen, selbständigen Werke nicht in Details, sondern nur in der Untersuchung der Grundan- schauung möglich.

Ehe ich zu einer solchen übergehe, möchte ich aber noch

Grundprobleme der Ethik. 607

einmal hervorheben, daß man das Werk vor allem in seiner ge- sammelten Energie unbefangen auf sich wirken lassen muß. Man wird dann von dem reinen und tapfern Geist dieses Buches so lebendig in die Probleme selbst hineingezogen, daß man ganz von selbst in ihnen nicht mehr eine Untersuchung neben anderen sieht, die einem Rezensenten leichtes Brot geben, sondern daß man in ihnen die Grundprobleme der modernen Ethik und nicht bloß die der theologischen empfindet.

III.

Will man die Ethik Herrmanns verstehen, so muß sie natür- lich in Beziehung zu anderen Typen theologischer Ethik oder besser von Gesamtauffassungen des Christentums gestellt werden. Hier ist nun schon mit Recht von Rade'*') der spezifisch protestantische Charakter betont worden, und Herrmann hat das in seiner ausge- zeichneten Schrift : »Römisch-katholische und Evangelische Sitt- lichkeit« *^) prinzipiell ausgeführt und bestätigt. Unter diesem Ge- sichtspunkt möchte daher das Herrmannsche Christentum geradezu als die Aufhebung des katholisch-dinglichen Gnadenbegriffs in jeder Form betrachtet werden, und damit als restlose Auflösung des ding- licheJi.Erl.ö§ungsbegriffes überhaupt. Nicht heilige Sachen, Autori- täten und dunkle mirakulöse Gnadenwirkungen ersetzen die sittliche und religiöse Leistung des klaren Bewußtseins auf eine w'underbare, passiv zu erleidende Weise und schaffen auf eine ebenso dunkle Weise durch bloß tatsächliche Einwirkungen den guten Willen und die sittliche Kraft. Nicht Ersatz des guten Willens, sondern Be- freiung desselben bedeutet die Erlösung. Die Erlösung ist die mit vollem Bewußtsein um ihr Wesen und ihre Gründe erlebte sittliche Befreiung; ihr Hergang ist daher auch vollkommen klar nach- zuerleben und dem um sittliche Kraft kämpfenden Menschen ein- leuchtend zu machen. Wenn sie auch ein Wunder der Umkehr ist, so ist sie das doch nicht in dem Sinne der Einwirkung ding- licher Mittel, sondern nur vom Standpunkt der phänomenal-psycho- logischen Kausalbetrachtung aus. Für den, der sie erlebt hat und den Unterschied der Phänomenalität und der Noumenalität ver- steht, ist sie ein völlig durchsichtiger, innerlich notwendiger, gerade vom Gedanken des Sittlichen aus geforderter Vorgang. Daher ist die Erlösung zu bezeichnen als der Eingriff der auf Jesus

*') Christi. Welt 1910, Sp. 427^ 431; ebenso Jülicher, Der religiöse Wert der Ref. 1913. **) Marburg 1900, zweite Auflage 1901.

5o8 Grundprobleme der Ethik.

unumstößlich begründeten Gewißheit der Sündenvergebung in die innere Not des Menschen und als das Erwachsen der sittlichen Kraft und Freudigkeit aus dem so beruhigten Gewissen. Alle dunklen Wirkungen einer angeblich Gott bestimmenden Stellver- tretung, alle dunklen, bloß tatsächlichen und nicht durch die sitt- liche Einsicht in die Bedeutung der Sündenvergebung bewirkten Gnadenkräfte sind Verlegung der Erlösung in Dinge, in Zauber, in dunkle außerhalb des Willens liegende Objekte, neben denen wohl die erfreuliche tatsächliche Inkonsequenz einer im Grunde doch v/irklich christlich bestimmten Freude und Freiheit bestehen kann, die aber an sich durch ihre Konsequenz den sittlich bewuß- ten, notwendig in sich zusammenhängenden Charakter des geisti- gen Erlebnisses aufheben und dadurch das Christentum in sein Gegenteil verkehren.

Noch in einem anderen Punkte geht Herrmann grundsätzlich mit den Reformatoren, in der Stellung der schlechthin gleichen sittlichen Forderung an alle, in der Aufhebung des Stufenunter- schiedes zwischen der weltlichen Durchschnittsmoral und der as- ketischen Heroen-Moral. Darin sieht er ein Hauptverdienst der Reformation und den Ausdruck sittlicher Wahrhaftigkeit. Aber der Sinn, in dem er dann die für alle gleiche Forderung versteht, ist doch von dem der Reformatoren wieder sehr verschieden. Haben diese den Unterschied zwischen Weltmoral und Bergpredigt doch in der an den Einzelnen zu richtenden Forderung aufrecht erhalten und den moralischen Dualismus nun in jede Persönlichkeit selbst hinein- getragen, so verbannt Herrmann auch diesen Rest des katholischen Dualismus. Darauf ist bereits hingewiesen worden. An diesem Punkt geht Herrmann über die Reformatoren entschieden hinaus. Hier sagt er ausdrücklich, Jesus könne erst heute richtig ver- standen werden und sei durch eine gesetzliche Deutung der Berg- predigt, sowie durch die Verkennung der eschatologischen Bedingt- heit seiner Weisungen bisher mißverstanden worden. Deshalb ist auch bei Herrmann die Beziehung des reformatorischen Berufsbe- griffes auf das sittliche Ideal eine viel unmittelbarere. Der Beruf ist ihm nicht die naturgesetzliche Schichtung der Gesellschalt, in die man als in eine Folge des Sündenfalls hineingeboren wird, sondern die Individualisierung der allgemeinen Aufgabe der Autonomie und der Liebe durch eine bestimmte Lebensarbeit. Auch das ist ein anderer, ein modernerer Gedanke ■*''). Das *") Vgl. »Die sittlichen Gedanken Jesu und das Christenthum« in Deutsche

Grundprobleme der Ethik. 60Q

eigentlich Protestantische seiner Ethik Hegt daher nur bedingt in der Anschauung vom Sittlichen selbst, sondern in der rein geistig innerlichen Anknüpfung an den Eindruck der Person Jesu. Es ist hierin zweifellos die protestantische Fassung des Chri- stentums gegenüber der katholischen Materialisierung der Religion treffend ausgesprochen, und Herrmanns ganze Arbeit ist ein wich- tiger Beit^;ag zum Verständnis des Unterschieds protestantischer und katholischer Christlichkeit. Aus ihr spricht die ganze innere Freiheit und bewußt sittliche Notwendigkeit, mit der die Refor- mation das Christentum als Angelegenheit der Person in ihrem Verhältnis zu Gott und zum Nächsten betrachtet hat. Aber im- merhin geht hierbei doch der Ausdruck dieses Sachverhaltes weit über den von den Reformatoren im Anschluß an die paulinisch- johanneische Idee geprägten hinaus, insofern deren Erbsünden-, Gnaden- und Bekehrungsbegriff, sowie die Beziehung auf Ver- söhnung und Genugtuung durch den Gottmenschen und ihr ganzer biblizistischer Supranaturalismus wegfallen, wie denn ja auch Herrmann ihre eigene Forderung »zu zeigen quomodo bona opera fieri possint« bei ihnen noch nicht befriedigt findet. Herrmann hat den protestantischen Gedanken der Innerlichkeit und Auto- nomie des Glaubens in Wahrheit eben mit ganz anderen Elemen- ten verbunden, indem er sie in dem Rahmen einer immanenten Psychologie sieht und nicht im Rahmen der alten Wunderpsycho- logie, indem er den subjektiven religiösen Wahrheitssinn des nur wahrhaft göttlichen Offenbarungen sich vertrauenden Gewissens mit dem wissenschaftlichen Wahrheitssinn einer modern geschulten Kritik verschmilzt, und indem er alle Wunder außer dem inneren Wunder der P'reiheit und der Bekehrung als äußerliche Stützen und dingliche Vehikel betrachtet, die dem inneren Leben nichts helfen können. Demgemäß ist auch die Heilstat und die Heilsbedeu- tung Jesu von ihm beschränkt auf seine Persönlichkeit und die vom Eindruck dieser Persönlichkeit ausgehenden seelischen Wir- kungen der Vergewisserung über Gott als die Macht der Welt und über die sündenvergebende Liebesbereitschaft dieses Gottes. Zeigt sich schon hieran, daß Herrmann nicht bloß den reli- giös und ethisch verinnerlichten Supranaturalismus der Refor- mation gegen den kirchlich und sakramental materialisierten des Katholizismus geltend macht, sondern auch den ersteren unter die Wirkung moderner Grundanschauungen bringt, so fordert diese Besonderheit noch eine genauere Charakteristik durch Einordnung

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. jq

6lO Grundprobleme der Ethik.

der Herrmannschen Auffassung in die Haupttypen der unter sol- chen Einflüssen stehenden modernen theologischen Theorien.

Hier hat nun Herrmann selbst den Weg gewiesen durch sei- nen prinzipiell erklärten Anschluß an Kant. Das bedeutet aber den Anschluß an die wichtigste und bedeu- tendste Auffassung des Christentums im Sinne derReligions Wissenschaft des 1 8. Jahrhunderts. Mit ihr hat Kant die Religionswissenschaft von der Ethik aus angegriffen und die Identifizierung des Christentums mit der all- gemeinen vernunftnotwen^igen -Moral als Grundlage der Wür- digung des Christentums betrachtet. Und hierbei hat gerade Kant jene Befruchtung der ethischen Analyse durch den Geist der protestantischen Gewissensinnerlichkeit und jene Modernisierung des Protestantismus durch die Reduktion auf die im Zusammenhang einer immanenten Psychologie zu verstehende Gewissens-Autonomie voll- zogen, die ich oben an Herrmann als einen spezifisch, aber zugleich doch auch modern protestantischen Zug hervorgehoben habe ^°). In der weiteren Ausgestaltung der so festgelegten religionswissen- schaftlichen Theorie und Auffassung des Christentums schreitet nun freilich Kant bei seiner resoluten Anerkennung der Relati- vität und Zufälligkeit alles Geschichtlichen zu einer ganz radikalen Auffassung des deistischen^^) Schemas fort, indem er das Christen-

Monatsschrift 1904 S. 187: »Die Gedanken Jesu, in denen die Kraft des persön- lichen Lebens erscheint, seine sittlichen Gedanken, fangen wir jetzt erst an zu ver- stehen«. Die Deutung des Berufsbegriffs als Individualisierung s. Weisungen S. 24: »Das nötigste scheint Luthern zu sein, sich darauf zu besinnen, was uns einfach damit aufgetragen ist. daß wir an dieser bestimmten Stelle der Welt diese eigen- tümlichen Kräfte empfangen haben«.

"") Vgl. meine Anzeige von Paulsens »Kant der Philosoph des Protestantismus« Deutsche L.Z. 1900, Sp. 157 161.

^') Deismus ist hier in der Sprache des 18. Jahrhunderts zu verstehen als der Grundgedanke einer nicht auf die inspirierte Bibel, sondern auf den allgemeinen rationalen Religionsbegriff begründeten Theologie ; die moderne Verengerung dieses Ausdruckes zur Bezeichnung eines extramundanen, mechanischen Gottesbegriifes ist ganz unhistorisch. Im übrigen vgl. mein Buch »Das Historische in Kants Reli- gionsphilosophie«, 1904. Daß dieses deistische Schema nur die Rationalisierung des altorthodoxen ist, habe ich in meinem »Joh. Gerhard und Melanchthon« ge- zeigt. Schon in der Orthodoxie ist das allgemeine Sittengesetz der übergeordnete Begriff. Die aus ihm folgende und durch das »Gesetz« der Bibel vertiefte Sündenerkenntnis begründet das Postulat der Erlösung und Offenbarung. Der Pietismus seinerseits hat dieses Schema nur subjektiv intensiviert, indem er auf

Grundprobleme der Ethik. gj I

tum nur in seiner prinzipiellen Deckung mit der allgemeinen na- türlichen sittlichen Idee würdigt, dagegen dessen historische Be- ziehung auf die Person Jesu als verabsolutierende Personifikation des sittlichen Ideals vom vollkommenen Menschen betrachtet, bei der die historische Beschaffenheit Jesu ziemlich gleichgültig ist. Damit geht er über das gewöhnliche Schema des Deismus weit hinaus, das zu der apologetischen Identifizierung der natürlichen sittlichen Idee mit dem Christentum noch die besondere über- natürliche Introduktion und Bestätigung oder gar Ergänzung der sittlichen Idee durch Jesus hinzuzufügen pflegte. In diesem Ra- dikalismus folgt nun aber Herrmann Kant nicht, sondern, indem er mit Kant die allgemeinen Voraussetzungen des Deismus ak- zeptiert, will er doch die konkrete historische Beziehung des Chri- stentums auf die Erlösung durch Christus energisch festhalten und damit den religiösen Charakter des Christentums ungleich leben- diger betonen. Damit kommt er in die Nähe der konservativeren Handhabung des deistischen Schemas, eignet sich aber dieses Sche- ma nicht in der trockenen und nüchternen Form einer übernatür- lichen Introduktion, Befestigung und Kräftigmachung an, wie es der konservative Deismus des i8. Jahrhunderts tat, sondern in der lebendigeren und tiefsinnigeren Form, in der Schleier- macher dieses Schema in den Gedankengang seiner religions- philosophisch-entwicklungsgeschichtlichen Theologie nicht ohne Kreuzung seiner eigentlichen Grundgedanken aufgenommen hatte. Schleiermacher nämlich hatte zum Erweis der normativen Geltung des Christentums auf den deistischen Grundgedanken einer Reali- sation des Wesens und Begriffs der Religion im Christentum zu- rückgegriffen, das als Vollendung der Schöpfung die Verwirk- lichung der allgemeinen Idee der Religion sei, und hatte von hier aus die Erlöserwürde Christi sowie die historische Gebundenheit des Christentums an ihn dadurch zu erweisen versucht, daß er den Kantischen idealen Christus als reale Verkörperung des Ideals der Religion und dadurch als produktiv wirkendes Urbild der vollkommenen Religiosität konstruierte. So wurde es ihm mög-

Sündenverzweiflung hinarbeitet, um daraus die Sehnsucht nach dem Heiland ent- stehen zu lassen. In dieser Hinsicht nähern sich Herrmann und Schleiermacher vielleicht mehr dem pietistischen als dem deistischen Schema. Allein das ist kein prinzipieller Unterschied. Deismus und Pietismus bilden hier nur die gemein- same orthodoxe Grundlage fort.

39*

gj2 Grundprobleme der Ethik.

lieh, das Christentum als die göttliche Einführung des vollendeten Wesens der Religion zu bezeichnen und es auf die erlösende, ihre absolute religiöse Vollkommenheit auf die Gemeinde über- tragende Persönlichkeit Jesu zu begründen. Damit ist das kon- servativ-deistische Schema in Schleiermachers im übrigen ganz andersartigen Gedankengang hineinverpflanzt und von seiner my- stischen Religionstheorie aus originell belebt. Hierin folgt nun Herrmann Schleiermacher, indem er zwar an Stelle der Schleier- macherschen mystischen Religionstheorie die Kantische ethische beibehält, aber doch das spezifisch Christliche der Ethik in der Begründung der christlichen Sittlichkeit auf eine in Jesus wunder- bar vollzogene Inkarnation des allgemeinen Sittengesetzes und auf die erlösende Mitteilung der Kraft zur Erfüllung dieses Gesetzes sieht. Erst so erkennt er im Christentum eine spezifische und unentbehrliche Modifikation der allgemeinen Sittlichkeit, die in der Darbietung der vollen und reinen Erkenntnis des Sittlichen und vor allem in der erlösenden Darbietung der Kräfte zu der außerhalb des Christentums unmöglichen Erfüllung des Sittenge- setzes bestehe. Die in Jesus gegebene Erlösung muß dann freilich Herrmann entsprechend seinem ethisierenden Religionsbegriff an- ders fassen als Schleiermacher. Er legt den Nachdruck nicht auf die Uebertragung und Mitteilung der vollkommenen mystischen Religiosität, sondern auf die Vergewisserung von der Wirklichkeit Gottes durch Christus und auf die Erweckung der Gewißheit der Sündenvergebung durch Jesus. Aus dieser Gewißheit erhebt sich mit innerer Folgerichtigkeit die Freudigkeit, der helle Mut und das Wagnis der Gottesliebe und des Gottvertrauens, durch das allein sittliches Handeln in dem von Trotz, Verzweiflung und Gottesfeindschaft niedergedrückten Menschen geschaffen werde. Damit sind die grundlegenden Gedanken R i t s c h 1 s aufgenom- men, mit denen dieser bereits die Schleiermachersche Erlösungs- lehre modifiziert hatte.

So ist das Kantische Schema die Grundlage und ist in diese Grundlage zur volleren Behauptung des spezifisch christlichen Charakters der Sittlichkeit eine Modifikation der Schleiermacher- schen Erlösungslehre aufgenommen, durch deren Aufnahme Herr- manns Position sich der des konservativen Deismus oder eines Kantisch vertieften supranaturalen Rationalismus annähert: das Christentum ist die durch die Darbietung der Gewißheit von Gottes Wirklichkeit und von Gottes Sündenvergebung ermöglichte Er-

Grundprobleme der Ethik. 6 1 3

füUung des allgemeinen natürlichen Sittengesetzes in den Formen der weltlichen Berufe.

Aber damit ist die historische Analyse noch nicht zu Ende. Herrmann unterscheidet sich doch nicht bloß in der allgemeinen modernen Temperatur des Gedankens von einem konservativen Kantisierenden Deismus, sondern auch innerUch und grundsätzlich in seiner Religionsauffassung, in seiner Analyse des Sittlichen im Verhältnis zur Religion. Er will die vom deutschen Idealismus und besonders von Schleiermacher erreichte Erkenntnis von der Selbständigkeit der Religion, von ihrem allem Ethischen doch als Neues gegenüberstehenden Charakter als Beziehung auf eine tran- szendente lebendige Realität zur Geltung bringen ; freilich nicht in der Weise und im Gesamtzusammenhang der mystischen und evolutionistischen Denkweise Schleiermachers und Hegels, sondern im Zusammenhang seiner eigenen ausschließlich ethischen Theorie. Hier beginnt die charakteristische Eigentümlichkeit der H e r r- mannschen Position selbst. Zu diesem Zwecke nämlich geschieht es, wenn Herrmann in der erlösenden Einwirkung Christi nicht bloß die Ermöglichung des sittlichen Handelns durch die Gewißheit der Sündenvergebung und die damit bewirkte Herzens- erneuerung, sondern noch mehr die Vergewisserung über die Wirklichkeit und Existenz Gottes als der die Welt dem Guten unterwerfenden Macht betont. Gott ist hierbei nicht bloß wie bei Kant das aus der sittlichen Vernunftidee fließende Postulat oder wie bei Fichte die dem sittlichen Prozeß immanente Vor- aussetzung der ethischen Weltordnung, sondern eine lebendige persönliche Macht, die in Christus uns zum Verkehr mit ihr ein- ladet und uns bald durch ihre unendliche Majestät niederdrückt, bald durch ihre Gnade und Liebe belebt und erhöht. Erst Jesus und nur Jesus mache uns durch den Eindruck seines inneren Lebens und seiner Persönlichkeit dieser Realität Gottes in Angst und Seligkeit gewiß, und erst diese in Jesus erlangte Gewißheit von Leben und Wirklichkeit Gottes gebe der Sittlichkeit ihren festen Grund, ihre Klarheit und Größe, während außer Christus nur matte, zu keinem Handeln befähigende, nicht einmal die Sünd- haftigkeit des Menschen zur Empfindung bringende Postulate und metaphysische Konjekturen hierüber möglich seien. Herrmann geht vom Kantischen Entwurf also nicht bloß insoferne ab, daß er die besondere Beziehuno- der christlichen Sittlichkeit auf eine im historischen Jesus gewährte erlösende Kraft zum Sittlichen

ßlA Grundprobleme der Ethik.

hereinnimmt, sondern vor allem auch dadurch, daß er gerade in diesem Begriff der Erlösung die Beziehung des Religiösen zum Sittlichen ganz anders faßt als Kant. Daher stammt die warme, lebendige religiöse Kraft, die jeden Leser von Herrmanns Schrif- ten bei aller Strenge des ethischen Geistes wie eine verhaltene Glut erfaßt und erhebt, aber auch andererseits die merkwürdige Apologetik und Sonderstellung des Christentums, die jeden Leser verblüfft und meistens wohl auch verwirrt. Um die christliche Sittlichkeit von den allgemeinen ethischen Begriffen aus zu konstruieren und doch zugleich sie als absolut einzigartig zu erweisen, wird eben diese Verbindung des Religiösen und Sittlichen auf das Christentum oder vielmehr auf die erlö- sende Offenbarung in Christus streng isoliert. Nicht etwa andersartige, weniger tiefe und kräftige Verbindungen beider Elemente gibt es außer Christus, sondern außer Christus gibt es nur die allgemeinen ethischen Begriffe und überhaupt keine Religion. An Stelle der letzteren gibt es nur philosophische Konjekturen oder eudämonistisch-selbstsüchtigen Religionswahn, und in Verbindung mit diesen ist sittliches Handeln noch nicht möglich. Daher kann in Anknüpfung an die sittlichen Grundbe- griffe der Mensch zum Christentum geführt werden und kann er ohne diese Zuwendung zum Christentum mit seiner Sittlichkeit nichts anfangen, sondern nur zu Leichtsinn oder Verzweiflung kommen. »Ohne Christus wäre ich Atheist« und »nur als Chri- stus-Gläubiger und Frommer kann ich das Sittliche wirklich ver- stehen und tun«, so ließe sich dieser Gedanke zusammenfassen. Das Christentum ist der vollendete Ausdruck des natürlichen Sittengesetzes, aber es ist überdies die erste und einzige Ver- bindung des natürlichen Sittengesetzes mit der Religion, die durch den vom Eindruck Jesu geweckten Glauben an Gott möglich wird. In Christus wird die vollendete Sittlichkeit gefunden, weil erst in ihm zur Sittlichkeit die Religion hinzukommt und erst mit dem Hinzukommen der Religion die Sittlichkeit Kraft wird.

Damit ist das Schema der deistischen Theologie überschritten durch einen durchaus originellen Gedanken, der sich in seiner Ten- denz dem Geiste der kirchlichen Theologie nähert. Christus voll- endet die natürliche Sittlichkeit und fügt ihr nur die Erlösungskraft hinzu : damit steht Herrmann im deistischen Schema. Aber Chri- stus vollendet nicht mit der natürlichen Sittlichkeit auch die natüi- liche Religion, sondern bringt die Religion zur Sittlichkeit überhaupt

Grundpiobleme der Ethik. 6l^

erst hinzu und macht diese erst dadurch erlösend zur Kraft. Damit geht Herrmann eigene Wege. Es gibt ein allgemeines natürliches Sittengesetz und dieser Begriff ist für die Würdigung des Christen- tums grundlegend. Aber es gibt keine natürliche Religion, kein Wesen der Religion, sondern die Gotteserkenntnis gibt es als Ge- wißheit erst durch Christus, und dieser Begriff vollendet erst die Erkenntnis des Christentums. Bezüglich der Sittlichkeit wird der deistische Rahmen akzeptiert, bezüglich der Religion wird er zu- rückgewiesen. In erster Hinsicht besteht die prinzipielle allge- meine Gleichartigkeit des menschlichen Geistes, die die neuere Geisteswissenschaft und Ethik als Voraussetzung angenommen hat, in der zweiten Hinsicht besteht sie nicht; in erster Hinsicht darf die Theologie von allgemeinen Begriffen aus konstruiert werden, in der zweiten nicht. In dieser zweiten vielmehr gilt die entscheidende Bedeutung und mit ihr die Einzigartigkeit des historischen Christus, der die einzige Tatsache ist in der Welt, die uns von der Existenz Gottes überführt und der durch die keiner Kritik zugänglichen Züge der Ueberlieferung über sein inneres Leben wie eine gegenwärtige unzweifelhafte Tatsache auf uns wirkt. Daher kann man zum Christentum nur auf die Weise kommen, daß man seine sittliche Not empfindet und in ihr sich nach Hilfe umsieht. Stößt man dann auf die einzigartige »Tat- sache Christus«, dann wird man in der gläubigen Unterwerfung unter sie erhoben in Gottesgewißheit, Seligkeit der Sündenver- gebung und Fähigkeit zur Erfüllung des sittlichen Gebotes. In- soferne die Ethik diesen Vorgang klar macht, erst aus ihm die religiösen Glaubensgedanken oder das Dogma gewinnt und zu- gleich das daraus entspringende Leben normiert, ist sie die Zentraldisziplin der Theologie, der Anschluß an die Philosophie und Gesamtwissenschaft, die Trägerin der Dogmatik und die Ge- stalterin des Lebens.

Damit ist die historische Analyse von Herrmanns Theologie vollendet. Es springen bei ihr dieselben vier Hauptpunkte hervor wie bei der sachlichen Darstellung seines ethischen Sy- stems : die Zugrundelegung des allgemeinen ethischen Begriffes im Sinne Kants als Begriffes einer rein formalen, apriorischen Not- wendigkeit; die Identität der christlichen Ethik mit diesem sitt- lichen Grundbegriff, wie sie auch der theologischen Methode des Deismus eigen war, nur daß das Sittliche jetzt im Sinne des Kantischen Formalismus verstanden ist; der Sondercharakter der

ßlß Grundprobleme der Ethik.

christlichen Ethik in der Darbietung einer erlösenden Kraft zum sittlichen Handeln, .die aus der Vergewisserung über die Wirk- lichkeit Gottes in Christo hervorgeht, womit Schleiermachersche, Ritschlsche und neue eigene Gedanken das konservativ deistische Schema modifizieren; schließlich die Anwendung dieser so kräf- tig gemachten Sittlichkeit auf die konkreten Verhältnisse des Lebens, die dem Grundgedanken der lutherischen Glaubens- und Berufssittlichkeit folgt und diese zu einer neuen Regelung des Verhältnisses von Christentum und Kultur ausbaut.

Wenn ich mich nun zu einer Kritik der Herrmannschen Ethik wende, so gilt es, diese vier Hauptpunkte zu beurteilen. Meine Kritik geht freilich von einer wesentlich andern Gesamtanschauung über Sittlichkeit, Religion und Christentum aus, teilt aber doch wesentliche Grundgedanken Herrmanns. Es ist daher auch nicht eine eigentliche Kritik, sondern eine Auseinandersetzung, die le- diglich dem Verständnis der vorliegenden Fragen dienen soll und die daher nirgends korrigieren, sondern nur zum weiteren Nach- denken anregen will.

IV.

Betreffs des ersten Punktes ist kein Zweifel, daß die Ethik mit einer allgemeinen Analyse des Sittlichen zu beginnen hat, und daß bei dieser Analyse sich in erster Linie der rein for- male Begriff eines absoluten, notwendigen, durch sich selbst wert- vollen Zweckes ergibt, der im Gegensatz gegen alle Nützlichkeiten und gegen alle relativen, d. h. verschiedenen Lebenslagen ver- schieden angepaßten Lebensbehauptungen, seinen Wert und seine Kraft in einer apriorischen Notwendigkeit hat, gleichwie er auch eine »Lust« am Notwendigen, d. h. eine ideale Wertempfindung im Menschen voraussetzt. Auch ist ferner klar, daß das Urteil darüber, ob und wie ein Handeln aus solcher Notwendigkeit im einzelnen Fall wirklich hervorgehen müsse, lediglich dem reifen sittlichen Bewußtsein möglich ist in Form einer eben ihm aus seinem geistigen Wesen sich als notwendig darbietenden Beur- teilung, also möglich ist nur als ein völlig autonomes. Eben deshalb ist auch drittens klar, daß das Wesen des Sittlichen nur die sittliche Gesinnung, die persönliche übrigens in umsichtiger Ueberlegung zu gewinnende Ueberzeugung von der Notwen- digkeit und Allgemeingültigkeit der sich aufdrängenden sittlichen Einsicht und das Handeln nach dieser ganz persönlichen inneren

Grundprobleme der Ethik. 6l7

Verpflichtung ist. Es wäre nur zu wünschen, daß das in dieser Betrachtung liegende, von Kant ja auch gelegentlich betonte und von Herrmann deutlich an Stelle des bloßen Gesetzesbegriffes gesetzte Zweckmoment noch stärker betont wäre, und daß aus dem ideal notwendigen Zwecke mit seiner Spaltung in den In- dividual- und Sozialzweck das Begriffsgefüge durchgängig abge- leitet worden wäre. Den diesen Zweck konkret ausdrückenden Begriff hat ja auch Herrmann sachlich deutlich genug hervorge- hoben ; er konnte nur noch mehr in das Zentrum gestellt wer- den. Er ist nichts anderes als der Zweck der Persönlich- keitsbildung, insofern die Persönlichkeit den aus der Unter- werfung unter unbedingt notwendige Zwecke hervorgehenden Kern eines höheren, der bloßen Seelennatur, Individualität und Subjektivität entgegengesetzten und übergeordneten Innenlebens bedeutet. Damit ist zugleich die individuelle und soziale Seite dieses Zweckes entwickelt, indem die erstere nichts als die Pierausar- beitung des eigenen Persönlichkeitswertes und die soziale nichts anderes als gegenseitige Anerkennung und Beförderung des Per- sönlichkeitswertes aneinander bedeutet. Es leuchtet dabei von selbst ein, wie individuelle und soziale Sittlichkeit einander vor- aussetzen und sich gegenseitig bedingen. Von hier aus hätte dann weiter fortgeschritten werden können zur Ableitung der vom populären ethischen Sprachgebrauch herausgebildeten Pflicht- und Tugendbegriffe aus diesem Zweckgedanken d. h. zur wissenschaft- lichen Ableitung und Erklärung der üblichen Wörter und Bestim- mungen. So hätten individuelle Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Ernst, Umsicht, Selbstbeherrschung, Keuschheit, Ord- nung, Gewissenhaftigkeit usw. aus dem sittlichen Individualzweck der Gewinnung der naturüberlegenen Persönlichkeit und ihrer Behauptung in ihrer Identität mit sich selbst und ebenso soziale Tugenden wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Nachsicht, Milde, Dankbarkeit, Pietät, Treue usw. als Anerkennung und Beförderung der fremden Persönlichkeit sowie als Behauptung der zu ihnen eingegangenen sittlichen Verhältnisse in ihrer Identität mit sich konstruiert werden können.

Bis dahin würde ich der Verfolgung der Kantischen Ge- danken völlig zustimmen und in ihnen die unverlierbaren Grund- erkenntnisse der Ethik sehen. Alles weitere dagegen steht m. E. bei Kant unter dem Bann der Parallele mit dem theoretischen Transzendentalismus. Die ethische Analyse für sich allein würde

öl 8 Grundproblcme der Ethik.

sich damit niemals begnügen können ^^). Denn so würde der Be- griff des Sittlichen- lediglich subjektive Zwecksetzungen ein- schließen, die das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und zu dem analogen Verhältnisse anderer zu sich selbst betreffen, und es wäre völlig ausgeschlossen, daß an dem Charakter objek- tiver, formaler Notwendigkeit auch objektive Zwecke teilnehmen können. Es wäre alles schlechthin ethisch gleichgültiger Stoff für die an ihm zu betätigende Selbstgesetzgebung, wobei der sitt- liche Wert immer nur an dem in jedem Fall neu zu fällenden Urteil über die Notwendigkeit des gefordert scheinenden Handelns und niemals an der allgemein anerkannten Notwendigkeit eines Objektes haften könnte. Damit aber würde diese Ethik zu einer wirklich praktischen Regulierung des Handelns ungeeignet; eben daher steht auch die praktische sittliche Urteilsbildung dieser Theo- rie entgegen. Es muß das Verhältnis des das Sittliche konstituierenden apriorischen Merkmals der Not- wendigkeitzur Erfahrung aus diesem Grunde ein anderes und komplizierteres sein, als es die Kantische Ethik mit ihrer ein- fachen Beziehung apriorischer sittlicher Notwendigkeit auf den sittlich indifferenten Erfahrungsstoff konstruiert. In der sittlichen Wirklichkeit unterscheiden wir erfahrungsmäßig die rein aus dem Verhalten des Subjekts zu sich und zu andern Subjekten folgenden subjektiven Regeln der Wahrhaftigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit usw. einerseits, wie des Wohlwollens, der Gerechtigkeit, der Pie- tät usw. andererseits von den Zuniutungen, objektive Werte der Familie, des Staates, der Gesellschaft, der Wissenschaft, der Kunst und der Religion zu schätzen und zu erstreben. Wir erkennen doch auch in diesen Gütern etwas nicht eudämonistisch, sondern ideal und objektiv W^ertvolles, das auch mit den größten Opfern erstrebt werden muß als etwas, wonach zu streben der Mensch verpflichtet ist, und dessen Idee auch nur in beständiger sittlicher Selbstzucht und Selbstüberwindung verwirklicht werden kann. Auch erkennen wir, daß diese objektiven sittlichen Werte in gleicher Weise wie die subjektiven die Doppelseitigkeit des individuellen und sozia- len Wertes haben, insofern in der Hingabe an sie ein Persönlich- keitswert erworben wird, der immer mit der Anerkennung und Förderung der gleichen Güter bei andern auf engste verbunden ist. Es ist also die Analogie der subjektiven und objektiven Zwecksetzungen eine völlig durchgängige, und beide können nur

^-) Vgl. Sigwart, Vorfragen der Ethik. Hegler, Psychologie in Kants Ethik 1891.

Grundprobleme der Ethik. 6 IQ

zusammen die Anwendung der sittlichen Idee eines an sich Not- wendigen auf die Erfahrung darstellen. Diese Idee muß sich einerseits gegenüber dem Erfahrungsstoff als Inbegriff der das Verhalten der Subjekte zu sich und zu andern regelnden Tugend- und Pflichturteile und andererseits in den von physischen und psychologischen Notwendigkeiten sich ablösenden, durch ethische Arbeit zu erwirkenden objektiven Gütern darstellen. Es ist nicht nötig, diese Doppelheit der sittlichen Begriffe aus dem Begriffe des absolut notwendigen Zweckes abzuleiten. Es genügt zu zeigen, daß in seiner Anwendung auf die Erfahrung aus den Beziehungen der Subjekte zu sich selbst und zu einander einerseits und aus den von der Natur zunächst triebartig dargebotenen, aber von der sittlichen Idee zu notwendigen sittlichen Gütern erhobenen objektiven Zwecken andererseits diese Doppelheit entsteht.

Man darf dagegen nicht einwenden, daß jene Güter natur- hafte Erzeugnisse des Handelns seien. Denn soferne sie Natur- prozesse sind, die in physischen Anlagen und Bedürfnissen oder in psychologischen Tatbeständen und Trieben ihren Grund haben, sind sie eine ungeformte Masse, die erst von der sittlichen Idee eines auf dieser Naturgrundlage zu bildenden sittlichen Gutes erfaßt werden muß, um zu irgend bedeutsamen Gestaltungen zu gelangen. Aus dem Geschlechtstrieb bildet die sittliche Idee die Persönlichkeitsgemeinschaft der Familie, aus dem Sozialtrieb die Persönlichkeitsgemeinschaft des Staates, aus dem Nahrungs- und Besitztrieb die Produktions- und Eigentumsordnung, aus den ästhetischen Eindrücken das eine höhere Welt durch die sinn- liche hindurch scheinen lassende Kunstwerk, aus der Neugier und dem Orientierungsbedürfnis die die Wahrheit mit Hintansetzung aller persönlichen Interessen suchende Wissenschaft, aus den reli- giösen Stimmungen und Erregungen die bewußte und gewollte Religiosität eines zusammenhängenden Lebens in und mit Gott. Man darf daher auch nicht einwenden, das seien eben als Güter eudämonistische Lustwerte, die die Befriedigung von Bedürfnissen, wenn auch höheren und idealen Bedürfnissen, bedeuten. Denn einerseits ist das Sittliche genau ebenso nicht denkbar ohne Wert- empfindungen, die dann eben »ideale Lustgefühle« sind und von den bloß relativen und zufälligen Lustwerten sich unterscheiden ; andererseits beruht der Wert und Zwang jener Güter nicht auf dem von ihnen wohl auch gewährten Vergnügen, sondern auf ihrer objektiven Notwendigkeit, vermöge deren auch sie trotz aller

520 Grundprobleme der Ethik.

inhaltlichen Zwecksetzung Teil haben an dem formalen Charakter des Sittlichen, d. h. des an sich Notwendigen. Sie alle bedeuten eine Entgegensetzung gegen den natürlichen Egoismus, die Träg- heit, die Sinnlichkeit, die Gebundenheit an das bloße Gegebene und Tatsächliche, fordern alle zu ihrer Durchführung die ernste Anspannung und Hingabe an das Objekt um des inneren not- wendigen Wertes des Objektes willen. Sie alle entarten, wenn sie bloß als Genüsse oder als Auswirkung des Triebes der Selbst- betätigung, also wenn sie bloß eudämonistisch oder evolutioni- stisch betrachtet werden. Die Familie wird zur bloßen geregelten Geschlechtslust oder zur philisterhaften Bequemlichkeit oder zur vermögensrechtlichen Fiktion, der Staat zum Polizeischutz mate- riellen Gedeihens oder zum Feld des Ehrgeizes, die Produktions- genossenschaft zum Konkurrenzkampf und zur Jagd nach dem Geld, die Kunst zur Unterhaltung und zur Kaprize, die Wissen- schaft zum Zeitvertreib und zur Eitelkeit, die Religion zur Schwel- gerei und Rechthaberei. Gegen diese Entartungen würden die Prin- zipien der subjektiven Moral gar nichts helfen, gegen sie hilft nur die Anerkennung, daß diese Zwecke teilhaben am Charakter des an sich Notwendigen, daß sie als Mittel der Persönlichkeitsbildung und daher als objektive Werte zu bezeichnen sind.

Besonders ist hierbei zu betonen, daß auch das religiöse Lebenselement zunächst zu den lediglich gegebenen Trieben gehört und erst der Ethisierung d. h. der Erhebung in die Sphäre des nicht zu Genießenden und bloß zu Besitzenden, sondern des Ge- sollten und objektiv Notwendigen, bedarf. Das ist entscheidend für das Verständnis des Religiösen und seiner Beziehungen zum Sittlichen. Das Religiöse ist ein selbständiges Lebenselement mit eigenen Seligkeiten und eigenen Schmerzen, eine Erfahrung und eine Stimmvmg, die nicht erzeugt, sondern erlebt wird. Eben darum geht es nicht aus dem Sittlichen hervor, etwa als Erkennt- nis seiner immanenten Voraussetzung oder als Sanktion und Ga- rantie. Sein Verhältnis zum Sittlichen ist vielmehr ein völlig anderes. Es steht zunächst als das Erlebnis, dessen beste, wenn freilich schon abstrakte und die naive Gruppenreligion zerstörende Deutimg die Mystik ist, selbständig für sich, in Kult und Mythos verflochten. Je größer die Macht der Götter wird, um so mehr zieht es auch die rechtlichen und sittlichen Ordnungen unter Macht, Kontrolle und Schutz des Göttlichen. Andererseits aber wird das Streben nach religiösen Gütern, Reinheit, Gottergeben-

Grundprobleme der Ethik. 521

heit, Verähnlichung mit der Gottheit zu einem Imperativ, der das eigentliche und wesentUche Sollen der Religion darstellt. Die Religion wird versittlicht in der doppelten Richtung, daß einer- seits die sittlichen Imperative von ihr attrahiert und damit die Gottheiten ethisiert werden, daß andererseits dem sittlichen Wollen in der Gottesgemeinschaft das höchste Ziel und Gut gesteckt wird. Ueberall vollzieht sich in dieser Richtung die religiös- ethische Entwickelung. Die Unterschiede der höheren Religionen hierbei liegen nur darin, daß die einen ein positives Gut der Willensgemeinschaft mit Gott kennen, die anderen dagegen die negative Auflösung der Seelen in Gott. Es ist die Eigentüm- lichkeit der prophetisch-christlichen Religion sich in der ersteren Richtung zu bewegen ^^).

Die Ethik hat also zwei Hauptgruppen, die der subjektiven und die der objektiven Ethik. Die prinzipielle Analyse kann sich zwar zunächst mit dem Begriff des formal notwendigen absoluten Zweckes begnügen. Sie hat damit den viel verkannten Grund- gedanken des Sittlichen an das Licht gestellt, dessen Verkennung allerdings die ganze Ethik und die sittliche Praxis überhaupt ver- derben würde. Aber sie darf nicht bei der allgemeinen Anweisung

5ä) An diesem Punkt liegt wohl der Hauptunterschied zwischen Herrmann und mir. Ihm ist jede nicht aus dem Sittlichen entsprungene Religion Aberglaube und das Christentum die einzige aus dem Sittlichen hervorgegangene und zu seiner Verwirklichung befähigte Religion, eben deshalb überhaupt allein im wirklichen Sinne Religion. Deswegen gibt es auch keine Religionsphilosophie für ihn, da es nur eine Religion gibt, das Christentum. Von einer solchen handelt daher auch nur eine Wissenschaft, die Theologie. Soferne diese letztere allgemeinen Anschluß sucht, kann sie ihn nur an der Ethik linden, und zwar an einer Ethik, die nur das subjektive Prinzip der Autonomie kennt und dann im Christentum zur bloßen Forde- rung die Erfüllung und Ermöglichung hinzuempfängt. Eben deshalb darf auch das ethische Element im Christentum nur in der subjektiven Autonomie bestehen, zu der es die erlösende Kraft hinzubringt. Deshalb ist auch Jesus der Prediger der sittlichen Autonomie, die Bruderliebe die Konsequenz der Autonomie. Freilich beginnt das erst jetzt erkannt zu werden, nachdem bisher als die große Krankheit des Christen- tums, die überweltliche Deutung aus dem höchsten Gut, geherrscht und die Kultur- beziehungen des Christentums heillos verwirrt hat, auch noch bei Luther, lieber Herrmanns Stellung zur Mystik vgl. die ihn wohl sehr richtig deutende Schrift von Fresenius, Der Versuch einer mystischen Begründung der Religion und die ge- schichtliche Religion, 1912. Ich stehe meinerseits auf Seiten der großen bisherigen Krankheit.

522 Grundprobleme der Ethik.

stehen bleiben, daß nun jeder nach persönlichem Befinden jedes- mal den Gehorsam gegen ein ihm so scheinendes allgemeingültiges Gebot ausübe. Sondern sie muß die in der Erfahrung stattfin- denden Anwendungen verfolgen und auf ihre Hauptklassen und Prinzipien bringen. Aus der geschichtlichen Gesamterfahrung muß sie diese Hauptgruppen gewinnen. Sie wird dann von selbst die subjektive und die objektive Ethik unterscheiden und inner- halb der letzteren wiederum die geschichtlich herausgestellten Hauptzwecke erfassen lernen. Erst hiedurch wird die Ethik aus der Theorie des allerallgemeinsten Grundbegriffes, des apriorisch gültigen, unbedingten und einheitlichen Zweckes, der zwar über den Gesamtcharakter des Sittlichen entscheidet, aber eine prak- tische Regelung noch in keiner Weise ermöglicht, zu einer wirklichen Ethik. Diese wird dann allerdings mit der Beziehung auf die Er- fahrung und auf die in der Erfahrung herausgebildeten Urteile die Sicherheit des Grundbegriffes verlieren und auf die richtige Ab- schätzung des jeweiligen Handelns für den Zweck der Persönlich- keitsbildung angewiesen sein. Sie wird nicht umhin können, die in der populären Sprache niedergelegte durchschnittUche Urteils- bildung wie die Autorität großer sittlicher Charaktere und INIeister zu befragen. Allein die absolute Sicherheit ist eben überhaupt nur im Grundbegriff, aber nicht in der Anwendung möglich, in der ja auch Kant schon sich der subjektiven Urteilsbildung des einzelnen, d. h. einem unberechenbaren Prinzip anvertrauen mußte. Aber diese Unsicherheit entspricht durchaus der sittlichen Wirklichkeit, die überall zuletzt Wagnis und Entschluß ist, be- ruhend auf Umsicht und Ueberlegung. Auch die bloß subjektive Sicherheit des Urteils, die Kant verlangt, wird in zahllosen Fällen nicht zustande kommen. Es bleibt auch ihm oft nur der nach bestem Wissen und Gewissen unternommene Anschluß an sittliche Durchschnittsurteile oder an Autoritäten über, worin der Proba- bilismus sein nicht abzuleugnendes unausrottbares Recht behält. Die Ethik beruht auf einem die Erfahrung erst hervorbringenden apriorischen Gedanken, aber sie kann mit ihm allein nicht arbeiten, sondern sie muß die sittlichen Erfahrungsurteile, die aus ihm her- vorgehen, sammeln, klassifizieren und auf ein System möglichst zu- treffender Abstufung ihrer Richtigkeit bringen, wobei der Maßstab der "jeweils geleistete Beitrag zur Tiefe und Kraft der Persönlich- keitsbildung ist. Dann aber wird die Ethik die subjektive und objektive Sittlichkeit unterscheiden und die in der letzteren her-

Grundprobleme der Ethik. 02^

vortretenden Zwecke geschichtsphilosophisch analysieren und ab- stufen müssen.

Diese Ergänzung der Kantischen Ethik ist nichts anderes als die Zustimmung zu der von Schleiermacher teilweise auch von Hegel an Kant geübten Kritik, die Verbindung von Kants sub- jektiver Ethik mit Schleiermachers objektiver Ethik. Trotz aller konstruktiven Verknüpfung der Schleiermacherschen objektiven Güter mit einem sehr blassen und abstrakten Begriff der Vernunft und trotz aller dialektischen Künstlichkeit der Ableitung der acht Güterbegriffe aus diesem Wesen der Vernunft ist Schleiermachers Kritik an der Kantischen Ethik in ihren Grundzügen vollberechtigt. Es kommt jedoch nicht darauf an, sich mit Schleiermacher in die Regionen der abstrakten Geistesspekulation zu begeben. Es ist vielmehr bei dem Kantischen Ausgangspunkt der Analyse stehen zu bleiben, aus dem Gedanken des autonomen yernunftzweckes| die Gliederung der formalen Gebote herzuleiten und dann weiter- hin die Bestimmung der objektiven Güter einfach empirisch aus der Geschichte zu entnehmen, in der sie erwachsen und in der sie in beständiger Arbeit nach ihrem Notwendigkeitskerne heraus- gearbeitet werden. Damit kommt auch erst die geschichtliche Auffassung des Sittlichen zu ihrem Rechte. Sofern es sich ledig- lich um den Allgemeingültigkeits- und Notwendigkeitscharakter des sittlichen Zweckes und diese ganz allgemeinen Grundbe- dingungen der Persönlichkeitsbildung handelt, ist das Sittliche natürlich prinzipiell geschichtslos und in den Grundzügen über- all identisch. Die Gebote der subjektiven Sittlichkeit, die in diesem allgemeinen Charakter unmittelbar bei der Anwendung auf die Erfahrung enthalten sind, sind daher verhältnismäßig ge- ringen geschichtlichen Schwankungen unterworfen, soferne man sich an die Sittlichkeit innerhalb relativ ausgebildeter Gemein- schaften hält. Von dieser Seite her hat das Sittliche nur Unter- schiede in der Klarheit, Konsequenz und Stärke, aber keine wesentlichen Gegensätze. Anders aber steht es mit den objektiven Gütern, die in der Arbeit der Geschichte erwachsen und die in der »Heterogonie der Zwecke« von Naturformen und eudämoni- stischen Gütern sich ablösen. Hier gilt es die großen Hauptfor- mationen aus der Geschichte zu erkennen : Familie, Staat, Pro- duktionsgemeinschaft, Wissenschaft, Kunst und Religion. Jedes dieser Güter hat seine eigene Entwickelungsgeschichte, in der sich sein Wesen und seine Lebensbedingungen offenbaren. Zu-

524 Grundprobleme der Ethik.

gleich hat das Verhältnis dieser Güter, ihr Streben nach Zusam- menhang und Vereinheitlichung seine Geschichte für sich, die mit der Entwickelung der einzelnen freilich eng zusammenhängt. Das Ziel der Geschichte kann daher überhaupt nicht eine abstrakt einheitliche Idee oder die Vernunft, sondern nur ein konkret ge- gliedertes Gütersystem sein. Die Frage nach der Gliederung dieses Gütersystems wird damit schließlich die Hauptfrage.

Die Hauptprobleme der Ethik liegen daher nicht auf dem Gebiete der subjektiven Ethik, das verhältnismäßig einfach ist, sondern auf dem der objektiven Ethik, das schwierig und ver- wickelt ist. Sie erfordern einen umfassenden geschichtsphiloso- phischen Horizont, einen Einblick in das Werden und Wachsen der Kultur und die Herausbildung sittlicher Güter aus der bloßen Kultur. Sie stellen die Frage nach der Gestaltung jedes einzelnen Zweckes für sich und vor allem die Frage nach der Auffassung des Verhältnisses dieser Güter zueinander ^*). Erst die Harmoni- sierung dieser Güter, wie sie jeweils auf den verschiedenen Stufen sittlicher Bildung sich vollzieht, wird das Wesen der sittlichen Bildung ausmachen und die verschiedenen Perioden ethisch cha- rakterisieren. Dabei aber wird sich unter den sittlichen Gütern ein fundamentaler Unterschied bemerklich machen, und die Ge- staltung dieses Unterschiedes wird vor allem die Hauptforma- tionen charakterisieren. Auf der einen Seite nämlich stehen die

5*) Die Hauptsache ist also, daß ich hier neben der subjektiven Ethik der Autonomie ein zweites und für das Verständnis der religiösen Ethik viel wichtigeres Prinzip einführe, das der objektiven Güter. Dieses Prinzip weist uns dann an die Geschichte, aus der wir allein diese Güter entnehmen können, wenn wir den scho- lastischen Versuch Schleiermachers, sie aus dem Wesen der Vernunft in der Kreu- zung von Organisieren und Symbolisieren mit Universalität und Individualität her- zuleiten, nicht befolgen. Herrmann ist in der Vorrede der dritten Auflage auf meine Untersuchung freundlich eingegangen, versteht sie aber als die bloße For- derung, die historischen Wandelungen der christlichen Sittlichkeit im Verhältnis zur Kultur mehr zu berücksichtigen. Das sei aber nicht seine Sache gewesen. Das seien ja doch nur die wechselnden Lebensformen. »Aber den Gegenstand der Ethik können nicht diese wechselnden Lebensformen selbst bilden. Sie können jederzeit zu Mitteln der Selbstsucht werden; sie können also da vorhanden sein, wo von Sittlichkeit keine Spur ist. Die Ethik soll doch wohl aber die Sittlichkeit darstellen.« Das meine ich natürlich auch ; ich verstehe aber unter Sittlichkeit etwas anderes, nicht bloß die Autonomie, sondern auch die objektiven Güter, und sehe die Bedeutung der Religion für die religiöse Ethik wesentlich in ihrem Cha- rakter als objektives Gut.

Grundprobleme der Ethik. 52 5

innerweltlichen Zwecke, zwar unter sich mannigfach geschieden und vielfach im Konflikt, aber doch verbunden durch die gemein- same Tendenz auf Zwecke, deren (iegenstand und Spielraum die Welt ist. Auf der anderen Seite steht der religiöse Zweck mit seiner Konzentration alles Handelns auf die Zueignung des Indi- viduums und der Gemeinschaft an Gott, mit seiner Sammlung aller Kräfte und Gedanken auf einen einzigen letzten bleibenden und ewigen Zweck, dem gegenüber alle andern vergänglich sind. Diese Spaltung tritt freilich erst bei einer stärkeren selbständigen Ausbildung sämtlicher Zweckgebiete hervor, ergibt sich aber auch mit dieser unmittelbar und notwendig. Daraus werden die höchsten und letzten, aber auch die schwierigsten Probleme der Ethik ent- stehen. Es gibt eine Ethik sub specie temporis und eine sub specie aeternitatis. Bei der Beschränkung auf die rein formale Ethik bemerkt man den Gegensatz nicht oder muß ihn wegdeuten oder falsch erklären. Bei der Beachtung der wirklichen Kompli- kation der ethischen Probleme wird er die wichtigste Tatsache. Beide Richtungen treten oft in schroffe Feindschaft als imma- nente und transzendente Ethik, als Kultur und Askese. Aber beide suchen sich auch immer wieder, da sie jede für sich ver- kümmern und eine die Folie der anderen braucht. Die religiöse Zwecksetzung wird ohne Weltbeziehung das Sittliche verengen und verdüstern oder zur Utopie machen, die innerweltliche Zweck- setzung wird ohne Beziehung auf einen letzten, alles andere in sich befassenden und von sich aus bestimmenden Zweck verflachen und ziellos werden. Die Herstellung des richtigen Gleichge- wichtes zwischen beiden wird die Aufgabe der sittlichen Arbeit und sittlichen Einsicht sein.

Ich habe damit der weiteren Untersuchung bereits vorge- griffen, um die Konsequenz und Bedeutung des Grundgedankens zu zeigen. An diesem Punkte liegt der Hauptgegensatz gegen Herrmanns Auffassung, und von ihm aus erhellen sich auch alle anderen Gegensätze, vor allem auch der Grund, weshalb Herr- mann die Geschichte in seiner Analyse trotz ihrer prinzipiellen Betonung so wenig wirklich verwertet. Aber die w^eiteren Gegen- sätze sind nicht von diesem ersten abgeleitet, sondern ergeben sich jeder selbständig aus der Prüfung der Sache, und die Ueber- einstimmung dieser Ergebnisse betrachte ich als besten Beweis für das Recht, der Herrmannschen Anschauung gegenüber eine andere zu entwickeln.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. ' 40

^20 Grundprobleme der Ethik.

V.

Die zweite Hauptfrage ist die nach dem Recht der Identifizierun^_desj:hnstlich-sittlichexL Ideals mit demi der. formalen Kantischen Gesinnungsethik s^). Die Frage ist eine rein historische und muß ohne alle dogmatischen und apologetischen Seitenblicke, auch ohne jede Rücksicht auf das für richtig erkannte sittliche

55) Vgl. Ehrhardt, Der Grundcharakter der Ethik Jesu im Verhältnis zu den messianischen Hoffnungen seiner Zeit 1895 ; Harnack, Wesen des Christentums

S. 50 79. Ich kann Harnacks Darstellung nicht ganz zustimmen , zu Ehrhard

vgl. die Anzeige von Wrede, Theol. L.Z. 1896, Sp. 75 79. Meine Auffassung der ethischen Predigt Jesu habe ich inzwischen in meinen »Soziallehren« S. 33 48 dargelegt. Harnack (»Das Urchristentum u. die soziale Frage«, Preuß. Jahrbb. 1908 und »Aus Wissenschaft und Leben« II 253 273) hat meine Auffassung der Bruderliebe bestritten und sie in einem mehr christlich-sozialen Sinne gedeutet, ähnlich wie Herrmann, der nur noch überdies diesen christlichen Sozialismus aus dem Autonomie-Begriffe ableitet. Wernle »Vorläufige Anmerkungen« in Z. Th. K. 1912 hat dem lebhaft zugestimmt. Allein ich kann mich von dem Recht eines solchen Einspruchs durchaus nicht überzeugen, glaube vielmehr, daß das Verständnis des Evangeliums und seiner historischen Wirkungen gerade von diesem Punkt aus sich erklärt. Gerade der »asketische« Zug des Evangeliums, der doch so stark vor- herrscht, d. h. die Auslöschung von Ehre, Recht und Leidenschaft in einem höheren, in der Gotteshingebung, spricht dafür; und zweitens spricht der nicht auf praktische Effekte, sondern auf Gesinnungsoffenbarung gerichtete Geist der vom Evangelium geschilderten Liebeserweise dafür. Natürlich steht die Motivierung des alles be- dingenden höchsten Gutes stark unter dem Einfluß der Eschatologie. Mir zuge- stimmt hat F. J. Schmidt in »Gottesliebe und Nächstenliebe«, Preuß. Jahrbb. 1908; auch die feine Abhandlung von A. Zillessen, Die Begründung der sittlichen For- derungen bei Jesus u. Paulus, Theol. Arbeiten des rhein. Predigervereins 1902 be- wegt sich in ähnlicher Richtung. Inzwischen haben auch Naumanns »Briefe über die Religion«, 1903 einen meinen ganzen Ausführungen sehr verwandten Standpunkt vertreten; sie führen nur vielleicht das Ethos Jesu zu sehr auf die Verhältnisse Galiläas zurück ; der eigentlichste Grund liegt doch in der religiösen Innerlichkeit Jesu. Aber allerdings wird man sagen dürfen, daß eine solche Innerlichkeit nur auf dem Boden Galiläas mit solcher Naivität und Ruhe möglich war; auch so aber verlegte Jesus noch das volle Ideal in die Zukunft. Die verschiedenen Motive des Ethos Jesu sind derartig wohl erkennbar. Die Verteilung der Akzente ist freilich Sache des Gefühls, sie läßt sich nicht philologisch beweisen. Aber daß seine Bruderliebe nicht philanthropisch und nicht einfach ethisch, 'sondern religiös ge- meint ist, das geht doch aus dem Ganzen deutlich hervor. Sie wird ja dadurch auch um nichts geringer und bedeutungsloser, sie unterscheidet sich nur eben von »sozialer« Gesinnung.

Grundprobleme der Ethik. 027

Ideal rein aus der Historie beantwortet werden. Dann aber muß diese Identität rundweg bestritten werden. Sie ist rein historisch angesehen eine außerordentliche Verkennung des wirklichen Sinnes und Geistes des Evangeliums und ist bei der gegenwärtig erreichten historischen Auffassung des Neuen Testamentes völlig unmöglich, wie denn ja auch Herrmann den eigentlichen Sinn des Evangeliums, den er sehr als davon verschieden empfindet, den er aber in dieser Gleichung nicht brauchen kann, auf Umwegen schließlich wenigstens in einer wichtigen Hinsicht wieder einführt. Diese Gleichung selbst aber, die seinen ganzen begrifflichen Aufbau beherrscht, ist gänzlich unzutreffend. Sie ist nicht umsonst so- wohl von der kirchlichen Ethik als von den Radikalen, von Thomas a Kempis und Gottfried Arnold bis Renan, Nietzsche und Tolstoi, Kierkegaard und Johannes Müller ausgeschlossen worden und nur in den Kreisen der Kantisierenden Apologetik zu Hause.

Zwar ist sie nicht v.ollständig falsch, sie ist nur überaus ein- seitig; richtig verstanden trifft sie allerdings einen Grundzug des Evangeliums, aber eben nur einen Grundzug und nicht den ent- scheidenden. Das, was sie mit Recht herhorhebt, ist eine Vor- aussetzung der Sittlichkeit des Evangeliums, der Geist der inneren Freiheit und Gesinnungsnotwendigkeit des Handelns, das aus dem erkannten Zwecke mit innerer Freudigkeit und Gewißheit folgen soll, und das das Einzelurteil der jeweiligen Lage entsprechend autonom gewinnen soll. Das ist die Seele des Kampfes Jesu gegen die pharisäische Tugendlehre und gegen die bald ängst- liche bald selbstgerechte Gesetzlichkeit ; der Satz des Paulus, daß alles was nicht aus dem Glauben kommt, Sünde sei, faßt diesen Gedanken völlig zutreffend zusammen. Ja, man kann sagen, daß die Autonomie als vorauszusetzender Grundcharakter des sittlichen Handelns wenigstens bei praktischer Verkündigung nirgends so anschaulich hervorgehoben sei als in der Predigt Jesu. Wer sie als Ganzes in ihrem echten Geiste auf sich wirken läßt, wird die gleichzeitige Hervorhebung des endgültigen göttlichen Lohnes für das gute Handeln nicht als eine Aufhebung oder Einschränkung dieses Geistes empfinden, da der Lohn ja für alle der gleiche des Gottesreiches ist und als das letzte Ziel und Ergebnis der mensch- lichen Geschicke völlig Gottes Gnade anheimgestellt wird.

Aber darin erschöpft sich nun doch das Evangelium nicht. Es hebt nicht lediglich im Gedanken der Autonomie die formalen Kennzeichen des richtigen Handelns hervor; es überläßt nicht

40 *

528 Grundprobleme der Ethik.

einfach jedem mit völliger Freiheit die Anwendung auf den Stoff der Erfahrung, die nur darin bestände, eben in jedem Fall nach dem Maße der eigenen sittlichen Einsicht das notwendig und all- gemeingültig Dünkende zu tun, und die dabei anfangs teils wegen besonderer Berufsnotwendigkeiten, teils wegen des noch heid- nischen Charakters der Kultur gegen den der sog. Kultur ange- hörenden Erfahrungsstoff noch zurückhaltend gewesen sei. Jesus würde damit eine sehr unbrauchbare und sehr matte Moral ver- kündet haben, die jedem die eigentliche sittliche Orientierung erst überläßt und die Hauptsache, was denn eigentlich nun zu tun sei, völlig offen hält. Da würde die stoische Moral, der ja auch die Kantische näher steht als der christlichen, konsequenter sein. Aber dieser rein formale Charakter trifft auf die christliche Ethik gar nicht zu. Ganz im Gegenteil gibt Jesus sehr scharf und mit alles beherrschendem Nachdruck ein konkretes Ziel und Gut an, das in seiner Bejahung ein derartiges frei aus dem Gewissen strö- mendes Handeln hervorbringt, diesem aber zugleich doch auch ein ganz bestimmtes objektives Gut als Ziel vorhält.

Daß es so steht, zeigt schon die Verschiebung, die Herrmann bei der Identifizierung des Kantischen Sittengesetzes mit dem christlichen unter der Hand vornimmt. Die Kantische Autonomie läßt die individuelle und soziale Moral im Gleichgewicht und kon- struiert im Staate den Grundtypus solcher Gemeinschaft als der Ordnung, in der das Zusammenbestehen der Freiheitssphäre jedes einzelnen mit der des andern gesichert ist. Das Reich Gottes, wie er es anerkennt, ist nur die gleiche Idee auf einer höheren Stufe, wo nicht Zwang, Ordnung und Legalität, sondern die freie innere Einsicht das gleiche Ideal der gegenseitigen Würdigung als Selbstzwecke sichert und verwirklicht. Wenn Herrmann sich daran gar nicht kehrt, sondern in der christlichen Sittlichkeit mit Kantisierender Deutung des Reiches Gottes doch die absolute Ueberordnung der Gemeinschaft über das Individuum betont und die restlos und bedingungslos sich aufopfernde Liebe für das Wesen des sittlichen Gesetzes erklärt, dann ist damit bereits ein anderer Gedanke als der der bloßen Autonomie aufgenommen. Denn wie läßt sich diese absolute Ueberordnung der Gemein- schaft aus dem Begriffe der Autonomie ableiten, die doch in Wahrheit das selbständige Individuum zum Ausgangspunkt und Zentrum macht und auch erst von ihm aus die Beziehungen zur Gemeinschaft reselt? Ist eine solche Ueberordnune des Ge-

Grundprobleme der Ethik. 62Q

meinzweckes überhaupt erklärbar ohne konkrete Voraussetzungen über die Geringheit und Flüchtigkeit des Einzelmenschen und über eine große, diese kleinen Existenzen vereinigende, objektive Sache? Ist sie denkbar ohne die Begründung" der sittlichen Forde- rungen aus dem Gedanken eines übergewaltigen Zweckes Gottes, der die Kleinheit der Individuen auflöst in einen großen, aus der Gemeinschaft mit Gott stammenden, ewigen Lebensinhalt, welcher bei der Beziehung Gottes auf das Ganze naturgemäß auch seiner- seits nur als ein ganzes und gemeinsames Ziel der Menschheit erscheinen kann? Die Antwort ist, meine ich, selbstverständlich: in dem Uebergewicht der sozialen Seite äußert sich nichts anderes als die Bestimmtheit der Ethik des Evangeliums durch einen ob- jektiven Zweck und der Zusammenhang dieses Zweckes mit einer metaphysischen oder religiösen Weltbetrachtung, in der die Ge- ringfügigkeit des Geschöpfes gegenüber dem unendlichen Gott vereinigt ist mit dem Gedanken eines dem Ganzen der Welt zu- gekehrten und die Individuen in sich aufnehmenden besonderen göttlichen Zweckes.

Aber in dieser Umbiegung kommt der wirkliche Charakter der christlichen Ethik nur erst andeutend zum Ausdruck ; es ist nur der Gedanke, in den bei Herrmanns einseitigem Ansatz die wirkliche, auch von ihm empfundene Besonderheit der christlichen Ethik sich flüchtet. Der volle Sachverhalt ist damit noch nicht erreicht, ja diese ganze Umbiegung selbst ist eine starke Ueber- treibung, die durch die Notwendigkeit einer Behauptung des Christlichen auf der Grundlage widerstrebender Kategorien her- beigeführt ist. Die viel angeführte Stelle Mt 7, 12 > Alles nun, was ihr wollt, daß Euch die Leute tun, so tut auch ihr ihnen ; denn dies ist das Gesetz und die Propheten« kann unmöglich das Zentrum der Ethik Jesu bilden. Dann wäre sie eine große Trivialität, weshalb sie schon von den Naturrechtslehrern der Scholastik in das Zentrum gestellt wurde und später auch den lebhaften Beifall der Utilitarier und Positivisten gefunden hat. Sie kann nach dem ganzen Geist der Predigt Jesu und nach dem Zusammenhang nur bedeuten: »Seid keine Heuchler, die von anderen Dinge fordern, die sie selbst zu tun nicht bereit sind, die daher beim anderen den Splitter im Auge sehen und bei sich den Balken nicht merken. Gott sieht das Herz und weiß, daß alle die schönen Anforderungen, die ihr an andere stellt, sittlich nichts wert sind, wenn ihr sie nicht zuerst an euch

^^O Grundprobleme der Ethik.

selber stellt.« Die Liebe hat bei Jesus eine ganz andere Be- gründung als diese, nämlich vielmehr den Dank gegen den Herrn, der allen die große Schuld erlassen hat und der daher das Geltend- machen der kleinen Schulden der Menschen untereinander wie einen Hohn auf seine Güte ansieht; die vollkommene Güte des Vaters, der seine Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen läßt und der daher von seinen Kindern die gleiche Güte und Milde fordert ; die Nichtigkeit aller weltlichen Vorteile und Güter gegenüber der gemeinsamen Anerkennung des Einen, was not tut; die Verwandtschaft und Gemeinschaft aller, die an Gott glauben und nach dem Reiche Gottes trachten und die Brüder sind nicht als die Erzeugnisse der gleichen Natur, sondern als berufene Kinder desselben Vaters : d. h. sie hat ihren Grund in der ge- meinsamen Anerkennung des göttlichen Zweckes.

Damit ist aber dann zugleich gesagt, daß in diesen Gemein- schaftszweck ein persönlicher Individualzweck überall eingeschlos- sen ist, wie denn neben dem Gebot der Liebe nichts so deutlich die Ethik Jesu beherrscht als die Botschaft vom unendlichen Wert der Seele, soferne sie durch die Hingabe an Gott sich aus der vergänglichen Welt in die Sphäre ewiger Werte erhebt. Neben dem Gemeinschaftszweck steht in der Ethik Jesu überall der Individualzweck. Wie der erste aus dem objektiven Gute der gemeinsamen Berufung aller zur Teilnahme an Gottes Gnade und Güte hervorgeht, so geht der zweite aus der das natürliche Selbst überwindenden Hingabe an den heiligen Gott und um Gotteswillen an die Brüder, also aus der Gottesliebe und der Bruderliebe, hervor. So entspringen hier aus dem objektiven Gute der in zusammenhängender innerer Arbeit zu erlangenr den und zu behauptenden Gottesgemeinschaft die beiden Seiten des sittlichen Zweckes im engsten Zusammenhang miteinander. Die klassische Hauptstelle für das Ethos Jesu ist die Antwort auf die Frage nach dem großen Gebot Mt. 22, 37: »Du sollst lieben den Herrn deinen Gott mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das Haupt- gebot ersten Ranges. Ein zweites dem ähnliches ist : Du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst. An diesen zweien Geboten hangt das ganze Gesetz und die Propheten.« In der Forderung der Gottesliebe ist in der Sprache der ethischen Kategorien zu reden nichts anderes enthalten, als die Forderung eines Han- delns aus dem Individualzweck des in der Liebe zu Gott und der

Grundprobleme der Ethik. ö'^l

Hingabe an Gott zu gewinnenden Wertes der Seele, und in der Forderung der Nächstenliebe in die gleichen Kategorien über- tragen — nichts anderes als die Forderung des Handelns aus dem Sozialzweck der Herstellung einer Gemeinschaft aller Gottes- kinder. In diese Gemeinschaft gilt es alle durch Erweisung von echtester Liebe und damit durch Hinweis auf die Quelle und das Ziel wahrer Liebe zu sammeln, alle mit der unbegrenzten Brüder- lichkeit einer familienhaften Gemeinschaft zu umfassen.

Aber nicht nur in dieser Stelle, sondern allenthalben tritt in Wort und Sinn der Predigt Jesu diese Paarung der Grundgebote samt ihrer Begründung im objektiven Zweck zutage. Es ist einer- seits die Herzensreinheit, andererseits die Liebe, die die Ver- heißung der Seligpreisungen empfangen. Die Forderung »der Selbstzucht und der Liebe-, »der Askese und der Liebe« als des Inbegriffs aller Moral, nennt es Naumann. Das erste ist die Heiligung der ganzen Person für Gott, und zwar nicht in religiösen und kultischen Handlungen, sondern in der sittlichen Grundhaltung der Persönlichkeit, in der völligen Reinheit vor Gott. Gott schauen wollen in seiner vollen Herrschaft, vor seinem Gericht bestehen und mit einem von jedem fremden Gedanken reinen Herzen nichts wollen als untadelig vor ihm gefunden werden: das ist die be- ständige Richtung des Gemütes auf das Ewige und Bleibende. Fernab von allem Vergänglichen, Sinnlichen, Zerstreuenden im beständigen Bewußtsein ununterbrochener Gemeinschaft mit Gott und mit offen liegenden Gedanken und Begehrungen wandeln vor dem prüfenden Auge Gottes : das ist der wahre Lebenswan- del. Damit sind dann auch alle weiteren Tugenden des From- men gegeben : die vollkommene Lauterkeit und Wahrhaftigkeit, da sein Herz beständig vor den Blicken Gottes liegt ; die Demut, da er beständig vor dem Allmächtigen in seiner Blöße, Schwach- heit und Kleinheit steht; die kindliche Einfalt und Unbefangen- heit, da er nur einfach in allen Stücken Gott vertrauen und an ihn sich hingeben soll; die peinlichste Gewissenhaftigkeit, da er von allen Werken und Worten Rechenschaft ablegen soll vor Gott ; der tiefste Lebensernst, da sein Leben ein von Gott anver- trautes Pfund ist, mit dem e.r wuchern muß, und da er die schmale Straße des Lebens nicht verfehlen, seine Kräfte zum Turmbau nicht überschätzen darf ; die volle Ablösung von allen irdischen Begehrungen, die von Gott abziehen und zerstreuen, ins- besondere von den Genüssen des Reichtums, der sinnlichen Liebe,

632 Grundprobleme der Ethik.

den Lebensfreuden, die er haben soll als hätte er sie nicht ; die Selbständigkeit und Gefaßtheit in Gott, wo der Fromme vermöge seiner Gotteskindschaft allen Reizungen und Verführungen trotzen kann und lieber einäugig zum Leben eingeht als Schaden nimmt an seiner Seele ; die Nüchternheit und Selbstbeherrschung, weil man nur bei voller Wachsamkeit und voller Freiheit vom Rausch der Sinne den höchsten Aufgaben des Seelenheils nachgehen und den Anbruch des Reichs mit Segen erwarten kann ; die tiefste Gemütsinnigkeit, weil die beständige Richtung des Herzens auf Gott die Tiefen des Innenlebens erregt und stets die höchsten und reinsten 'triebe der menschlichen Seele in Spannung erhält, den sonst so leicht verborgenen und vergessenen Grund des Le- bens aufwühlt und ihn zur Klarheit des göttlichen Lichtes zu er- heben drängt; schließHch die Geduld und die Hochschätzung des Leidens als Läuterungs- und Prüfungsmittel, durch das Gott die Seele vom Vergänglichen abzieht und auf das Ewige hinlenkt, um den Weg zum besseren Selbst zu finden, das vor Gott be- stehen kann. Noch deutlicher, weil in Wirkung und Gebot mehr in die Augen fallend und leichter begrifflich zu fassen, tritt das andere Hauptgebot allenthalben zutage. Aber auch hier offen- bart sich der Sinn erst der tiefer dringenden Analyse. Auch hier steht alles unter dem religiösen Gesichtspunkt. Es ist keine Näch- stenliebe in humanitärem Sinne, wenigstens nicht in erster Linie. Die Liebe Gottes, die uns so viel geschenkt hat, ist das Motiv die Liebe gegen die Brüder. In ihnen liebt man nicht den Men- schen schlechthin, sondern den für Gott wertvollen Menschen, der wie wir zum Heil berufen und Gegenstand der Liebe Gottes ist. Man liebt ihn als Bruder in der großen Familie der Frommen, und das unterscheidet diese Liebe von jeder bloßen Sympathie des Freundes, von der Familien- und Geschlechtsliebe, vom Mit- leid und der Gutmütigkeit. Sie ist daher ganz reine selbstlose Herzensgesinnung, die das Gotteskind im Bruder sucht und daher leicht verzichtet auf alle natürlichen Regungen des Ehrgeizes, der Ueberlegenheit, der Vergeltung, des Rechtsstandpunktes. Sie ist eben deshalb nicht bloß Unterlassung des Schädlichen und Bösen, sondern innerste Reinheit der Liebesgesinnung und positive För- derung im Kerne des Wesens. Für sie existieren die in der welt- lichen Sphäre wohlberechtigten Trennungen nicht, weil sie in der überweltlichen Sphäre sich bewegt; es gibt keine Rassen-, Stan- des- und Volksunterschiede. Sie nimmt sich nicht bloß der an-

Grundprobleme der Ethik. 6^^

ziehenden und bewundernswerten Menschen an, sondern gerade und vor allem der kleinen, armseligen, verachteten und dürttigen Existenzen, weil gerade diese vor Gott von ewigem Werte sind und besser die Wahrheit Gottes verstehen als die Weisen und Großen nach dem Fleisch. Aber sie beschränkt sich mit alledem nicht auf den Kreis der Glaubenden und vor Gott Verbundenen, sie hilft allen bei jeder sich bietenden Gelegenheit in innerer und äußerer Not, weil jeder doch ein möglicher und werdender Bruder ist, und weil auch der Fernstehende den warmen Hauch aus der eigentlichen Heimat des Menschen spüren soll, auch wenn er dar- um sich nicht zu Gott kehren sollte. Sie ist bei Jesus nicht, wie sie es später so oft bei eifrigen Christen geworden ist, Be- kehrungsliebe, aber immer eine aus Gott und dem Gedanken des göttlichen Zieles stammende Liebe. So läßt auch Gott selbst regnen über Gerechte und Ungerechte. Ja auch den Feinden und Hassern gegenüber darf diese Liebe nicht erlöschen. Sie muß leisten aus der Kraft Gottes und aus der Einsicht in die Kleinheit aller menschlichen Kämpfe, was dem natürlichen Men- schen in dem alle seine Sorgen so wichtig machenden irdischen Horizont nicht möglich ist, die Ueberwindung des Bösen mit Gutem, die Entwaffnung des Hasses durch Güte oder doch, wo das nichts hilft, die überlegene Ruhe verzeihender Gesinnung, da doch die meisten nicht wissen, was sie tun.

So treten der individuelle und der soziale Zweck mit voller Klarheit als Auswirkung des höchsten Gutes der Gottesgemein- schaft hervor. Freilich überwiegt der soziale Zweck, aber eben nur um des Charakters des objektiven Gutes willen, das den Willen Gottes mit der irdischen Welt ausspricht und daher, wie Gott selbst die Einheit von allem ist, die Einheit aller verlangt. Damit ist aber doch auch hier die Ueberordnung des Sozialzweckes keine absolute, die irrationale Spaltung des menschlichen Bewußt- seins in Individualbewußtsein und Gemeinschaftsbewußtsein bleibt auch hier bestehen. Es fällt dem Evangelium nicht ein, die Ethik in Fürsorge des einen für den andern aufzulösen, statt daß jeder seine eigene Lektion lerne und dafür sorge, daß es zuerst bei ihm wohl stehe. Die Gemeinschaft ist dem Ganzen übergeordnet, aber Konfliktsfälle sind auch hier nicht ausgeschlossen, und ihre Schlich- tung ist jedesmal Sache des Gewissens, d. h. der Einsicht und der Abwägung der Folgen für die höchsten und letzten Ziele des religiösen Lebens. Der Nächste ist, wie das berühmte Sama-

^2A Grundprobleme der Ethik.

ritergleichnis lehrt, jeder der unserer Hilfe bedarf, was umge- kehrt auch besagt, daß da, wo kein Bedürfnis nach Hilfe und Teilnahme vorliegt, der Nächste nicht mit Gewalt zu beglücken ist. Das eigene Selbst überhaupt nicht bloß zugunsten des höheren Selbst und der Gemeinschaft der höheren Selbste, sondern um der fremden Selbste als solcher willen aufzugeben, ist nirgends verlangt. Auch bei Missionaren und berufsmäßig der Linderung des Leidens sich widmenden Frommen ist es doch immer noch ein Dienst um der Sache willen.

Der objektive Charakter dieser Ethik liegt auf der Hand. Es ist die spezifisch religiöse Ethik, der höchste und konsequent vollendeteTypus der religiösen Ethik auf dem Boden des prophetischen Personalismus und Theismus. Zum Ueberfiuß spricht das aber Jesus auch noch aufs allerdeutlichste aus. Das Ziel des Handelns und das Motiv des Handelns ist das Gottesreich. Das Gottesreich aber ist natürlich nicht die Verbindung von Menschen durch gemeinsame Aner- kennung des Gesetzes der Autonomie als eines von Gott in die Brust gelegten Gesetzes, das ist eine moderne Abstraktion, die dem naiven antiken Realismus gänzlich ferne liegt , sondern eine wundervolle Gabe Gottes, etwas durchaus Objektives, die Gemein- schaft der Menschen in völligem Frieden und völliger Liebe, die in uneingeschränkter Hingabe und Beugung unter die vollkommen offenbarte Herrschaft Gottes sich verwirklichen und unter der be- sonderen Leitung und dem Schutze Gottes stehen wird, ein Reich, in dem man Gott schaut und in dem die Barmherzigen Barmherzig- keit erlangen. Wie man immer zu dem Probleme der synoptischen Ueberlieferung stehe, und wie sehr man die Predigt Jesu von dem Messiasglauben der Urgemeinde apokalyptisch und messianisch ge- färbt glauben möge, jedenfalls ist das Gottesreich der von Gott herbeizuführende Idealzustand, in dem die sittliche Arbeit der Hin- gabe des ganzen Menschen an Gott vollendet und von der vollen Offenbarung der göttlichen Macht und Gnade gekrönt sein wird. Der religiöse Charakter dieses objektiven Gutes erhellt auch darin, daß es ausschließlich eine große Gnadentat Gottes ist, die diesen Idealzustand herbeiführt. Die ungeheure Konzentration des ganzen Denkens auf diesen Zweck offenbart sich darin, daß diese Gnaden- tat vor der Türe steht und das Evangelium einfach die Auf- forderung zur Bereitung auf diese Gnadentat ist. Aus der so zu verstehenden Nähe des Ideals und des Gerichtes erklärt sich erst

Giundprobleme der Ethik. ß-i c

die ganze Spannung der Ethik des Evangeliums auf die höchsten und letzten Gesichtspunkte, auf die vor Gott geltende wahre Ge- rechtigkeit und die ganze Beiseitesetzung aller innerweltlichen Rücksichten und Zwecke. Sie werden vergleichgültigt und über- flogen von einer das Ende und die Vollendung schauenden Ethik, die nur auf das höchste und letzte Gut achtet, die in dem Elend eines gedrückten und zertretenen Volkes, vernichteter irdischer Hoffnungen und Ordnungen nur mehr das Höchste und Letzte kennt, was dem Leben als Ziel gesetzt ist. Die Erwartung der Propheten und Apokalyptiker vom messianischen Gottesreich ist zur Ankündigung der Verwirklichung des Ideals, zum Bilde einer vollendeten religiösen Innerlichkeit und Gotteskindschaft und der gegenseitigen Erkennung der Gotteskinder geworden. Dieses Ideal aber steht unmittelbar vor der Türe, wenn auch nur der Vater Tag und Stunde weiß.

Von hier aus tritt erst der bekannte charakteristische Grundzug der Ethik des Evangeliums, seine Gleichgültigkeit gegen die in n e r w e 1 1 1 i ch e n Zwecke, in das richtige Licht. Das wäre durchaus unnatürlich, wenn nur die Autonomie der Selbstentscheidung der Grundge- danke des Evangeliums wäre. Es ist dagegen völlig natürlich, wenn der objektive religiöse Zweck durch den Gedanken seiner bevorstehenden Verwirklichung die alles beherrschende Idee ist. Neben Gott hat nun nichts anderes mehr Platz, und, wenn schon auch alles andere von Gott ist, so wird es doch gleichgültig, wenn die Offenbarung der Herrschaft Gottes und der Seligkeit in ihr unmittelbar bevorsteht. In der nunmehr allseitig anerkannten All- macht des eschatologischen Gedankens über das Evangelium er- kennen wir daher nichts anderes als den grandiosen Ausdruck des alleinigen Wertes des religiösen Zweckes, und in der von der Nähe des Gottesreichs inspirierten Unterwerfung aller Gedanken unter die unmittelbare Herrschaft des letzten Zweckes haben wir den Schlüssel zur Haltung des Evangeliums gegenüber den anderen objektiven Gütern, gegenüber der innerweltlichen Sittlichkeit. Sie wird nicht bekämpft, aber sie wird in den Hintergrund gestellt. An ihr werden nur die Gefahren und Enttäuschungen gesehen. Kunst und Wissenschaft kennt das Judentum der Kreise über- haupt nicht, in denen das Evangelium sich erhebt, wenn man auch die unversiegliche künstlerische Natur des Menschen gerade in Jesu Gleichnissprache ihre naivsten Triumphe feiern sieht, und

5^5 Grundprobleme der Ethik.

wenn auch von dem Gedanken Gottes aus der wissenschaft- liche Einheitstrieb notwendig in Bewegung gesetzt werden muß. Staat und Recht sind im Niedergang. Jesus trennt sich und die Seinen von den Resten dieser Ordnung, wenn er Ergebung in die von Gott zugelassene Fremdherrschaft fordert und die Frommen vor den Gerichten warnt. Es soll Gott gegeben werden, was Gottes ist, und, der auf dem Weg zum letzten Gericht ist, soll sich nicht beim menschlichen Richter aufhalten. Arbeit und Besitz sind gefährlich, wenn sie über die Sorge für den Tag hinausgehen. Der mäßige Gebrauch der Lebensmittel, die ein mildes Klima und eine unkapitalistische Lebensordnung Tag für Tag gewährt , ist mit brüderlicher Hilfsbereitschaft zusammen genügend, die Probleme der Haus- und Volkswirtschaft zu lösen, bis der große Tag kommt. Das Hauptproblem ist das Trachten nach dem Gottesreiche; alles andere wird den Frommen, soweit es nötig ist, von selbst zufallen. Das Evangelium liebt die Ar- men, weil sie die Hilfe besonders nötig haben und daher Liebe zu fühlen geneigter sind als die Satten, gleichwie es die Kranken den sich gesund Dünkenden vorzieht. Aber es stellt und löst keine sozialen Probleme ; denn die Tage der Gesellschaft sind gezählt, und die Tage des Gottesreiches stehen vor der Tür. Daher gilt es die Welt zu haben, als hätte man sie nicht. Diejenigen aber, die als Sendboten dies Evangelium verkünden wollen und damit ganz und gar in den Dienst des kommenden Reiches sich stellen, die eehen noch weiter. Sie sollen sich verschneiden für das Him- melreich und alle ihre Habe für die Armen verkaufen, damit sie frei von jeder Rücksicht und jedem Band als leuchtende Muster der Opferbereitschaft die große Botschaft verkünden durch die Städte Israels, bis daß das Reich komme.

In alledem liegt der Charakter der Predigt Jesu klar zutage. Und eben damit erklären sich auch die Analogien dieser Ethik mit jeder anderen spezifisch religiösen Ethik, die sonst aus dem objektiven religiösen Zweck das Leben bestimmt und damit die innerweltlichen Zwecke zurückdrängt oder gar gleichgültig macht. Die platonische Ethik mit ihrer Anleitung zur Erhebung in die Welt des allein ewig Bleibenden und ewig Gültigen, die stoische Ethik mit ihrer Normierung des sinnlichen dun äußern Menschen aus dem ewigen Gesetz der Natur, d. h. dem Gesetz der Herrschaft des Geistes, die buddhistische Ethik mit ihrem Trachten nach dem wandel- und leidlosen Gute, die

Grundprobleme der Ethik. Ö'^?

mystischen Dualismen mit ihrer Entgegensetzung geheimnisvoller Seelenwonnen gegen die irdische Welt, vor allem natürlich die prophetische Ethik mit ihrem Gute eines inneren Lebens des In- dividuums aus Gott, wovon ja die im großen Gebot Mt. 22, 37 zusammengefaßten Gebote ausgehen : sie alle sind trotz starker Unterschiede nahe verwandt mit der christlichen, weil sie das Handeln aus dem objektiven religiösen Gute normieren und dadurch mit den objektiven Gütern des Lebens in der Welt in Spannung geraten. Sie sind alle asketisch, rigoristisch, überwelt- lich, jenseitig, voll Spannung gegen die weltliche Kultur. Die christliche Ethik unterscheidet sich von ihnen nur, wie sich die christliche religiöse Idee von ihren religiösen Ideen unterscheidet, d. h. dadurch, daß jeder Rest der Naturreligion und damit jede Betrachtung des höchsten Gutes als eines fertig und dinglich seienden aufgehoben ist und alles in die Sphäre eines tätigen, lebendigen, persönlichen Werdens gezogen ist, wo in der Arbeit nicht das wahre Sein angeeignet, sondern hervorgebracht ward. Nicht kontemplative Versenkung in das Seiende und quietistische Willensverneinung, sondern schaffende Hingabe des Willens an eine lebendige, positive Weltzwecke in sich tragende und eine unermeßliche Bewegung eröffnende Gottheit ist das Wesen des christlichen Ethos.

Mit dieser letzten Erkenntnis ist aber auch die letzte Frage beantwortet, die sich aus diesem Wesen des christlichen Ethos er- gibt und in der Theorie und Praxis jeweils die schwersten Pro- bleme gestellt hat. Ist um deswillen die christliche Ethik als as- ketisch und weltflüchtig, als Urform des Klosters zu betrachten, wie Renan meinte, oder als Ertötung der künstlerischen und trieb- gesunden Liebe zur Herrlichkeit des Lebens durch einen finsteren Spiritualismus, wie die Junghegelianer meinten, oder als Ver- knüpfung von strenger Mönchsmoral mit laxerer aber geistlich gelenkter Volksmoral, wie der Katholizismus lehrt, oder als Res- sentiment der Armen," Kleinen, Gedrückten gegen die Stolzen, von der sozialen Auslese emporgetragenen Kraftvollen und Ge- waltigen, wie Nietzsche in der Zusammenfassung seines Hasses gegen Demokratie und Christentum zugleich lehrte ? Diese Fra- gen dürfen trotz ihrer relativen Berechtigung sämtlich v^neint werden. Die geschichtliche Entwickelung des Christentums, die seine ethischen Grundgedanken für die Arbeit der Welt frucht- bar zu machen wußte und eine christlich inspirierte Kultur ge-

g^g Grundprobleme der Ethik.

schaffen hat, hat das Evangelium nicht mißverstanden, wenn auch freilich sie selbst in ihrer Kompliziertheit nicht immer richtig ver- standen worden ist. Gerade das spezifisch-christliche Moment, der nicht mystisch-kontemplative und nicht mystisch-quietistische Cha- rakter, der Personalitätscharakter des Gottesgedankens und der damit trotz alles Dualismus verbundene Optimismus der Weltbe- trachtung, die Herausentwickelung dieser Ideale aus dem Prophe- tismus : all das stellt das göttliche Wirken unter den Gedanken eines auch die Welt befassenden und gestaltenden Zweckes, so- wie die menschliche Arbeit unter die Aufgabe einer die Welt- zwecke heiligenden und dem Gesamtzweck dienstbar machenden Gemeinschaft von Persönlichkeiten. Es ist dazu nur erforderlich, daß der religiöse Zweck die alles andere verflüchtigende Gewalt seiner unmittelbar bevorstehenden Verwirklichung verliere. Er mochte nur unter dieser Bedingung als der höchste und alles beherrschende erkannt w^erden können und mochte nur aus der Eschatologie geboren werden können. Aber er kann bestehen bleiben, auch wenn diese unmittelbare Vergegenwärtigung in die Zukunft rückt. Er belebt sich immer neu aus der Versenkung in das Bild der klassischen Urzeit, wo er als alleiniger mit der Macht der Gegenwart vor dem Herzen stand. Dann aber muß die Welt und ihre Ordnung, die damals nicht verworfen, sondern als von Gott stammend für den Rest der Tage hingenommen wurden, die aber einen eigenen Wert für sich nicht hatten, wie- der in das Licht der Dauer treten und eben damit positive Auf- gaben der Heiligung und Bewältigung stellen. Um des Gottes willen, der der Gott der Schöpfung ist und von dem daher die Welt mit allen Gütern in ihr stammt, ist die Welt, solbald sie ein dauerndes Feld der Arbeit wird, auch positiv zu würdigen und sind ihre Zwecke mit dem letzten von Gott eröffneten Zwecke nach Möglichkeit zu verschmelzen. Diese Verschmelzung hat der Katholizismus in der Doppelstufigkeit der Moral vollzogen. Die für alle gleiche reformatorische Moralforderung trägt sie in sich in der Doppelheit der Forderung als Amtsmoral und Per- sonmoral. Der neuere Protestantismus redet einfach von der Heiligung der Welt. Darin hat die gewöhnliche protestantische Ethik ganz recht. Sie pflegt nur die Spannung zu verkennen, die dann zwischen den aus dem Weltleben herausgebildeten, unabhängig vom Christentum in ihren Zwecksetzungen entstehen- den und sich entwickelnden und in ihrer Sphäre als Selbst-

Grundprobleme der Ethik. 6^Q

zwecke sich empfindenden sittlichen Kulturgütern bestehen muß. Sie kann niemals zur einfachen Einheit, sondern bestenfalls nur zu einer relativen Vereinheitlichung gebracht werden. Das so humanisierte Christentum ist ein anderes als das der Urzeit, wenn es auch aus ihm hervorgehen konnte. Es bleibt immer ein offenes, spannungsreiches Problem des praktischen Lebens, das nie ratio- nell aufgelöst werden kann, dem aber niemand sich entziehen kann, der überhaupt das religiöse Leben in seiner Tiefe und Kon- sequenz kennt und daher auch seine ethischen Konsequenzen hinzunehmen bereit ist. Die verschiedenen Zeitalter haben es jedes auf seine Weise gelöst. Die Gegenwart steht vor der Not- wendigkeit, es auf neue, ihr eigene Weise zu lösen. Davon wird beim vierten Punkte noch mehr die Rede sein müssen.

So ist der objektive religiöse Zweck durchaus der Angel- punkt und die Hauptsache am Evangelium und damit die Herr- mannsche Konstruktion hinfällig. Dieser Zweck läßt sich nur in der reinen Hingebung der Gesinnung erkennen und verwirklichen. Darin ist die relative Bedeutung des Autonomie-Gedankens gegeben. Aber dieser steht nicht an erster Stelle und ist nicht entscheidend. Das eigentlichste Wesen des Ethos Jesu liegt im Inhalt des sitt- lichen Willens und nicht in der Form, und dieser Inhalt ist nichts Selbstverständliches, sondern eine immer neu sich formulierende Aufgabe. Erst das kirchliche Dogma hat daraus eine Selbstver- ständlichkeit gemacht und darum dann auch die Christlichkeit der Moral in die Gnadenhilfen und die Vergebung verlegt.

VI. Damit stehen wir bei der dritten Hauptfrage, ob der unterscheidende und damit der allein entscheidende Charakter der christlichen Ethik in der Darbietung der Kräfte zum sittlichen Handeln durch die Erlösung liegen und sie daher ausschließlich als Ethik der Erlösung betrachtet werden könne, wobei das We- sen aller anderen Ethik wäre, daß sie über diese erlösenden Kräfte nicht verfügen kann und daher den bloßen ohnmächtigen natürlichen Kräften ausgeliefert ist ^'^).

^^) Die Erörterungen zu diesem Punkte sind inzwischen durch die Ergebnisse meiner s Soziallehren« stark modifiziert und geklärt worden. Im übrigen s. auch Wrede »Paulus« 1905 und die die Ethik stark berücksichtigenden Skizzen von Ger- hard Löschcke »Zwei kirchengeschichtliche Entwürfe« 1913. Die von Löschcke aus- gesprochene Meinung, daß der Einfluß Jesu erst bei der neueren Christenheit in der

ßA2 Grundprobleme der Ethik.

für die Zukunft maßgebende Melanchthon. Christlich ist erst die Bewirkung der absoluten Sündenerkenntnis und Verzweiflung, aus der dann die Gnade der Sündenvergebung rettet und die hei- ligende Kraft des Geistes den Glauben als Fähigkeit zum Guten hervorgehen läßt. Zum Allgemein-Menschlichen der sittlichen Idee kommt als christlich die Erlösung als Sündenvergebung und Kraftverleihung hinzu. Ja, an den natürlichen Gottesbegriff mit seiner Begründung des Sittengesetzes läßt sich die ganze christ- liche Lehre anknüpfen, indem sie die wunderbare Erfüllung eines Postulates ist, das außerhalb der Erlösung nur zur Verzweiflung führt. Während bei Luther selbst in der Unterscheidung der Amts- und Personmoral noch der Reflex der Bergpredigt nach- zittert, hat die Orthodoxie in jenem Schema sich immer ein- facher und handfester eingerichtet. Von ihr ist es auf den theo- logischen Rationalismus oder Deismus übergegangen, der die allgemeine menschliche Sittlichkeit durch wunderbare Autorisation und Offenbarung im Christentum verkörpert, durch Sündenver- gebung ergänzt und durch Weckung starker Gefühle befördert sah. Jetzt deutete man die Bergpredigt in unbegreiflicher Ver- blendung als allgemein menschliche Humanität und sah in Mt 7, 12 mit den alten Naturrechtslehrern ihren Kern. Auf der anderen Seite blieb auch der gefühlige und kirchlich gesinnte Pietismus in jenem Schema, indem er es nur subjektivierte und rigoristisch für die Sündenerkenntnis anspannte. Tiefste Sündenerkenntnis und Verzweiflung ist die an der Bibel gesteigerte P^olge der na- türlich-sittlichen Erkenntnis; Sündentrost und Kraft zum Guten ist das Werk des Heilandes und das Geschenk, das sein Tod dem Gläubigen bringt. In der Heilandsgemeinschaft wächst die Kraft zum Guten. Von da fand der Pietismus dann freilich den Weg zum eigentlichen Sinn der Bergpredigt. Aber wer das nicht mitmachen wollte, konnte ihn auch nur als eine gefühlvollere und subjektivere Anwendung des allgemeinen Schemas behandeln. Es ist im theologischen Halbrationalismus oft genug geschehen. Von beiden Richtungen her haben Schleiermacher und Herr- mann es in ihre Theologie überkommen, und sie konnten damit den Zusammenhang mit der gesamten Schultradition zu wahren sich bewußt sein. Kant hat charakteristischervveise nur den streng gefaßten allgemeinen Begriff des Sittlichen übernommen, die Be- ziehung auf sittliche Krafterteilung und Erlösung durch das Heils- werk Christi beseitigt.

Grundprobleme der Ethik. 64^

Dieses Schema ist von der Kirche erzeugt worden und hängt mit ihrem inneren Wesen eng zusammen. Die Volks- und Mas- senkirche kann nicht daran denken, ihre sämtlichen Glieder an das Ethos der Bergpredigt zu binden. Die ganze kultisch-hier- archische Organisation läßt sich wohl auf die Heilsstiftung des Gottmenschen, aber nicht auf jene heroisch-radikalen sittlichen Gebote begründen. So schiebt sich ganz von selbst die Selbst- verständlichkeit des Allgemein-Moralischen unter, und die Christ- lichkeit zieht sich auf die objektive Heilsstiftung zusammen, an der die größten Massen Anteil haben können, weil es nicht auf die subjektiv-persönlichen Leistungen, sondern auf die Hingabe an den objektiven Gnadenschatz ankommt. Wie eng diese Ver- bindung ist, zeigen die anderen Typen christlichen Lebens neben den Kirchen Hier treten seit der Mitte des Mittelalters die Sekten hervor, die gerade die objektive Gnadenanstalt verwerfen und die subjektive Leistung nach den Grundsätzen der Berg- predigt verlangen. Sie verwerfen die Kirche und alle mit dem Kirchentum spezifisch zusammenhängenden Dogmen. Statt dessen betonen sie den Inhalt des christlichen Ethos, die Bergpredigt, in einem freilich meist etwas engen, wörtlich-gesetzlichen Sinne und sammeln sie kleine Freiwilligkeitsgemeinden der Praktisch- Ernsten, die in der Spättaufe sich als solche bekunden. Aus diesem Geiste sind die buntesten Bewegungen hervorgegangen, stille Gemeinden der Heiligen und gewaltsame Reformatoren der gesellschaftlichen Ordnung, feste und exklusive Gemeindebildungen und radikale ethische Individualisten. Aus ihm sind dann in der neueren Zeit so gewaltige Mahner wie Kierkegaard und Tolstoi entsprungen; auch Johannes Müller gehört in mancher Hinsicht hierher, auch die Radikalen unter den Christlich-Sozialen. Einen dritten Typus bedeuten die mystischen Individualisten und ihre freien, ganz persönlich zusammengehaltenen Gruppen. Hier ver- wirft man alles äußere Gesetz und hält sich an den Geist der weltverleugnenden Gotteskindschaft und der weltverzehrenden, Per- son mit Person verbindenden Bruderliebe. Da man in einer dauernden Welt lebt, so ist dieser Geist nicht mehr Vorbereitung und Anbahnung des kommenden, sondern Offenbarung des im Menschen schlummernden und von der Botschaft Christi ge- weckten Gottesreiches ; es ist die objektive Ethik des höchsten Gutes, die angesichts der Dauer der Welt und unter der Einwirkung neuplatonischer Traditionen oft und leicht hinüber gewandelt wird

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^AA Grundprobleme der Ethik.

in einen asketischen Panentheismus. In der römischen Kirche bildet diese Mystik gerne das Gegengewicht und die Ergänzung der übermäßigen kultisclien Objektivität, auf protestantischem Boden hat sie sich frei und selbständig als Spiritualismus entfaltet. Innerlichkeit und Bruderliebe, Indifferenz gegen die Welt und Seligkeit in der Gottes- und Bruderliebe : das sind die Kenn- zeichen ihres Ethos. Unter Abstreifung der Weltindifferenz und mit Neigung zum immanenten Pantheismus ist diese Ausformung des christlichen Ethos heute überaus weit verbreitet und behaup- tet immer wieder ihre Beziehung zur Person und Verkündigimg Jesu. Es mag hier genügen an Maeterlincks mystische Schriften zu erinnern. Unter den seit den letzten Jahrhunderten zuneh- menden Einwirkungen beider Gruppen, deren Einfluß durch die historische Bibelforschung, die Hervorhebung des geschichtlichen Jesus neben dem paulinischen Christus und dem kirchlichen Gottmenschen, noch verstärkt wurde, ist die christliche Ethik in der Neuzeit immer mehr dem Einfluß Jesu an Stelle der kirch- liehen ethischen und dogmatischen Tradition unterstellt worden. Der wirkliche Jesus hat erst spät den entscheidenden Einfluß auf das christliche Ethos gewonnen.

Alle dem gegenüber behauptet nun Herrmann, wie einst Schleiermacher und dann Ritschi, streng den Typus der kirch- lichen Ethik. Die Mystik erkennt sein ethischer Rigorismus über- haupt nicht als Religion an. In der Sekte und dem wörtlichen Verständnis der Bergpredigt sieht er eine das Christentum für ge- sunde Völker unmöglich machende Mißdeutung und Verkennung des wahren Wesens Jesu. Er will die christliche Ethik als Moral großer Volkskulturen verstanden wissen und findet in dem er- lösenden und befreienden Glauben an die Gnade und Sünden- vergebung ein wesentliches religiöses Moment, das vom höchsten inneren Werte ist. Wer den Gnadengedanken religiös ähnlich einschätzt wie Herrmann und wer das christliche Ethos als Mensch- heitsethos unseres Alltagslebens verstehen will, wird ihm im all- gemeinen hierin folgen müssen. Die Frage ist nur, ob bei solcher Zustimmung auch die besondere Art festgehalten werden kann, in der Herrmann das christliche Ethos mit dem Erlösungs- und Gnadengedanken verbindet. Es ist die Art der alten kirchlichen Schulethik trotz aller Neuerungen, die Herrmann vornimmt und die an sich einen sehr tiefen und reichen Gehalt haben.

Darauf wird nach dem Ergebnis der bisherigen Untersuchungen

Grundprobleme der Ethik. 545

ZU sagen sein, daß diese Art nicht festgehalten werden kann. Ist das christUche Ethos nicht das allgemeinmenschUche, zu dem nur Sündenvergebung und Gnadenkraft noch hinzukommen, so können diese beiden nicht an erster und entscheidender Stelle stehen. An erster Stelle muß der eigentümliche Inhalt des christlichen Ethos selber stehen. Der Erlösungsbegriff rückt von hier aus an die zweite Stelle. Er kann nicht ein völlig selbständiger sein, son- dern er muß aus dem grundlegenden und ersten Gedanken, dem Gedanken Gottes und des objek- tiven religiösen Zieles, sich als abgeleiteter ergeben. Und die Frage ist, welches dann unter diesen Ge- sichtspunkten die Bedeutung des Erlösungsbegriffes sei.

Auch hier wende ich mich nur gegen Herrmanns begriffliche Konstruktion und die daraus sich ergebende Gesamtbetrachtung^ nicht gegen den von Herrmann mit großer und im besten Sinne erbaulicher Kraft herausgearbeiteten Tatbestand. Der Fortsetzung des Verfahrens, die Sonderart des Christentums in seinem sittlichen Ideal zu verkennen und sie statt dessen in den Besitz der erlösen- den Kräfte zu setzen, führt bei ihm zu der ganzen Reihe weiterer, erschreckend gewalttätiger und schroffer Behauptungen, zur Leug- nung aller Erlösungskräfte, damit zur Leugnung auch aller wirk- lichen Sittlichkeit und, weil die Erlösung ja lediglich auf der Eröffnung des religiösen Verhältnisses beruht, auch zur Leugnung aller wirklichen Religion außerhalb des Christentums. Alles das ist aber gar nicht notwendig verbunden mit der Art, wie Herr- mann die Erlösung versteht und wie er den Begriff einer univer- salen christlichen Gemeinschaft erfaßt. Es gehörte allerdings zur alten Kirchenlehre. Sie verlegte alle ChristHchkeit in die schlecht- hin supranaturale Autorität, in die Erlösungsanstalt und die durch sie vermittelten Wirkungen des Gottmenschen, in die Teilnahme an einem Komplex absoluter Wunder. In diesen Machtbereich ließ sie jedes Individuum hineingeboren werden und es von der Taufe her an den objektiven Heilsschätzen Anteil gewinnen. Da mußte natürlich die Unmöglichkeit der Erlösung und des sitt- lichen Lebens außerhalb der Christenheit behauptet werden und war die Behauptung dieses Wunderkomplexes viel wichtiger als der Aufweis seines sittUchen Gehaltes. Allein diese Gedanken- welt hat doch Herrmann weit hinter sich gelassen. Für ihn ist die Erlösung in Wahrheit die psychologisch durch den Eindruck Jesu vermittelte Gewißwerdung über Gottes Willen, und die uni-

546 Grundprobleme der Ethik.

versale Christengemeinschaft ist ihm die Auswirkung dieses gei- stigen Besitzes im- Weltleben unter der treibenden Macht des fortwirkenden Geistes Christi. Das aber ist gar nicht mehr der alte Kirchen- und Erlösungsbegriff. Es ist vielmehr ein Gedanke der, wie das heute sehr nahe liegt, die Einflüsse des Sektenideals und der Mystik mit dem Wahrheitsmoment des Kirchengedankens vereinigt. Es ist eine universale Geistesgemeinschaft, aus geistiger Berührung mit Christus geboren und stets von neuem sich er- zeugend, bestimmt den Christusgeist ethisch streng und lebendig auszuwirken, und in alledem begründet auf die objektive von Christus ausstrahlende und jeden erst ergreifende, beseligende und erhöhende Gnadengewißheit. Herrmann steht in der Gesamtan- schauung, ähnlich wie Schleiermacher, dem Grafen Zinzendorf näher als dem alten objektiven Kirchenbegriff. Er sucht diesen ver- innerlicht-pietistischen Gemeinschaftsbegriff auf die religiöse Volks- gemeinschaft auszuweiten. Alles ist hier psychologisiert und sub- jektiviert. Dazu kommt die Anerkennung der historischen Arbeit, die Verlegung des wirksamen Elementes aus dem paulinisch- nizänischen Gottmenschen in die geschichtliche, menschlich an- schauliche Jesus-PersönUchkeit. Dann aber hat die Erlösung nicht mehr den alten kirchlichen Sinn der Schaffung und Aus- rüstung einer geistlichen Gnadenanstalt, die das Elend und den Todesfluch des Sündenfalls wieder aufhebt. Dann hat Herrmanns Behauptung der Erlösung als der Ermöglichung der allgemein- menschlichen Sittlichkeit durch das Vertrauen zu Christus nur mehr den Sinn der rein theoretischen Absolutheits-Apologetik. Er löst dieses Moment aus dem alten Kirchen- und Erlösungsbegriff heraus, den er im übrigen fallen läßt, und will dadurch die absolute Allein- wahrheit und Alleinmöglichkeit des christlichen Ethos garantieren. Sein Gedanke hat also nur einen sehr äußerlichen Zusammenhang mit der alten Lehre : er setzt aus ihr in diesem Begriff nur das Motiv der Absolutheitsapologetik fort. Die Sache ist ihres alten praktischen Sinnes entkleidet und bedeutet nur mehr die Theorie der Allein- wahrheit der christlichen Ethik. Diese aber entwickelt er nicht aus dem Inhalt des christlichen Ethos, sondern aus dessen be- sonderer Durchsetzungs- und VVirkungsmöglichkeit. Sie soll die mit dem Gnaden- und Universalitätsgedanken geforderte Objek- tivität und allen vorgeordnete Gewißheit der Gnade sichern. Ist sie nun aber zu diesem Zwecke wirklich nötig ? und ist sie über- haupt möglich.?

Grundprobleme der Ethik. 047

Einer solchen ausschließenden Absolutheits-Apologetik wird man heute überall die alten Argumente entgegenhalten, daß die nichtchristliche Welt sowohl hohe und ernste, wirklich er- folgreiche Sittlichkeit als auch nicht minder hohe und ernste religiöse Kräfte entwickelt und in ihnen auch ihrerseits von Er- lösung zu sprechen weiß, daß andererseits die christliche Ge- meinschaft trotz des Besitzes der Erlösungskräfte von dem sonstigen menschlichen Schicksal der Unvollkommenheit und Schwäche des Handelns nicht mehr entnommen ist als irgend eine andere reli- giöse Gemeinschaft oder irgend ein sonstiges sittliches Streben. Der Inhalt der Zwecke und Ideale ist verschieden im Zusammen- hang mit der Verschiedenheit des Gottesgedankens und des Glau- bens. Aus höheren Zwecken und höherem Glauben strömen höhere Kräfte, deren Aufgabe aber eben damit auch schwieriger wird. Die christliche Erlösung steht den außerchristlichen Er- lösungsgedanken genau" so gegenüber, wie der christliche Gottes- glaube und das christliche sittliche Ideal dem Glauben und der Sittlichkeit außerchristlicher Frömmigkeit. Niemand, der nicht etwa bei den Nichtchristen den Schatten und bei den Christen das Licht ausschließlich sieht, wird das leugnen können. Es genügt bereits das Studium Piatons, um eine solche Konstruktion zu er- schüttern. Eine ausgebildete historische Denkweise wird gar nichts mehr mit ihr anzufangen wissen. Hier ist Herrmann ganz der harte Dogmatiker und Apologet, der den Wert des Christentums nur um den Preis des Unwertes alles Außerchristlichen glauben kann. Aber nur dieser Teil der Herrmannschen Ausführungen ist unerträglich. Sobald er den christlichen Erlösungsgedanken selbst behandelt und von dieser Apologetik absieht, ist seine Ausführung schön und völlig zutreffend, ja geradezu das lösende Wort für die richtige Auffassung vom Verhältnis des Erlösungsgedankens zum Grundgedanken des Christentums. Denn hier erklärt er mit völliger Deutlichkeit, wie die Erlösungskraft eben aus dem Gottesglauben quelle, wie nicht besondere Vor- nahmen und Tatsachen die Seele erlösen, sondern der Glaube an den Vater Jesu, der uns in Jesus als die Macht des Guten mit einer sonst nirgends fühlbaren Gewalt entgegentrete und in der Lebens- arbeit Jesu uns als der sündenvergebende Vater berühre. Das heißt gar nichts anderes, als daß aus dem christlichen Gottesglauben und der Aneignung des christlich-sittlichen Ideals sich zugleich die spezifisch christliche Erlösungskraft in die Seelen ergießt.

648 Grundprobleme der Ethik.

Der Glaube, und das heißt der Glaube an die christlich-sittliche Grundidee, ist selbst die Erlösung; Bekehrung und Rechtfertigung sind nichts anderes als die Entstehung dieses Glaubens. Dieser Glaube, der in erster Linie auf Gott und das von ihm uns ge- zeigte Ziel gerichtet ist, ist zugleich auf Jesus gerichtet, als auf den, der uns diesen Glauben gebracht und verbürgt hat, und dessen Bild ihn in Schwankungen, Versuchungen und Ermattungen stärker wieder aufrichtet als alle selbstquälerischen Belebungsver- suche, der eben deshalb der Erlöser ist, weil er der Bringer, das Urbild und die Stütze des GlauBens an Gott ist.

Diese Ausführungen Herrmanns sind von außerordentlicher Schönheit; ich habe sie mir stets dankbarst angeeignet. Nur ist in ihnen gerade das Prinzip anerkannt, daß die Erlösung der sekundäre Gedanke ist, der erst aus dem christlichen Gottesglauben fließt. Das notwendige Korrelat hiezu ist dann aber, daß auch dem außerchristlichen Gottesglauben in seiner Weise erlösende Kraft zugestanden wird, weil eben der Glaube selbst in jeder Form und Gestalt Kräfte aus der oberen Welt bringt und min- destens ein Keim der Erlösung ist. Wenn Herrmann unter diesen Umständen eine absolute Sonderstellung des Christentums und der christlichen Ethik konstruieren wollte, so mußte er bei seiner Iden- tifizierung von Gottesglauben, sittlichem Ziel und erlösender Kraft freilich den NichtChristen mit der Erlösung auch den Gottesglauben und die sittliche Kraft überhaupt absprechen und die Welt außer Christus eine Welt ohne Gott nennen. Es ist ein gewaltsamer und paradoxer Radikalismus, den die das gleiche Ziel verfolgende kirchliche Theologie nicht nötig hatte, weil sie eben nicht in der Weise moderner immanenter Psychologie die Erlösung aus dem Gottesglauben und dessen Verbürgung in der Persönlichkeit Jesu, sondern aus der Umstimmung Gottes im Genugtuungstode und aus der Kirchenstiftung abgeleitet hatte. Herrmann wendet die moderne immanent-psychologische Betrachtung auf das Chri- stentum an, behält aber gegenüber dem NichtChristentum die alte supranaturale Apologetik bei und muß daher diesem mit der Er- lösung zugleich auch den Gottesglauben und die sittliche Kraft entschlossen absprechen.

Alle Hindernisse, Herrmann beizustimmen, liegen in der bei- behaltenen Apologetik mit ihrem Versuch, die Geltung des Chri- stentums auf den Aufweis einer absoluten Kluft zwischen Christen- tum und NichtChristentum zu begründen, und dem Erweis dieser

Grundprobleme der Ethik. 64Q

Kluft in der Behauptung der Erlösung als des alleinigen Charak- teristikums des Christentums und der Leugnung der Erlösung bei allen NichtChristen.

Gehört nun aber eine solche Apologetik notwendig zum christlichen Ethos, auch dann noch, wenn dieses nicht mehr als das mysteriöse Kirchenwunder erscheint ?

Die Predigt Jesu enthält die heute übliche Beurteilung des Quellenmaterials vorausgesetzt nichts von einer durch Jesus erst erfolgenden Kräftigung zur Erfüllung des Sittengesetzes. Sie zeigt keine Spur davon, daß das Wesentliche, das er zu bringen hatte, die Darbietung von bisher nicht vorhandenen Kräf- ten zur Erreichung eines bisher bekannten Zieles sei. Von Er- lösung in diesem Sinne ist in der Predigt Jesu überhaupt nicht die Rede. Dagegen ist von der Erlösung überhaupt in ihr aller- dings, und zwar in eindringlichster Weise, die Rede, nur aber in ganz anderem Sinne. Die Erlösung ist eine bevor- stehende; das Kommen des Reichs wird die Erlösung sein, und auf diese Erlösung sollen sich die bereiten, die seine Worte hören und auf einen festen Grund bauen wollen. Das objek- tive sittliche Gut der Gottesgemeinschaft wird mit seinem Kom- men verwirklicht werden. Wie mit ihm Feindschaft imd Sorgen der W^elt, ihre Leiden und Schmerzen wegfallen werden, so wird in ihm auch die Kraft des Guten und die Erfüllung des göttlichen Willens aus der Nähe und Fühlbarkeit der göttlichen Gegenwart fließen. Diese Erlösung ist überhaupt kein rein ethischer Gedanke, sondern ein Gedanke, in dem Ethisches und Kosmisches verbunden sind, Erlösung von der Welt und ihrer Mühsal und Unruhe, ihrem Kampf und ihren Tränen, aber auch Erlösung von Sünde, Unruhe und Unreinheit des Herzens. Es heißt den Gedanken Jesu verkennen, wenn man meint, die Erlösung bringe nur Er- lösung von Sünde und sittlicher Unkraft; sie ist vielmehr die große Erlösung vom Leid der Endlichkeit, die Lösung des Rät- sels des Daseins und eben darum eine zukünftige. Dieser zu- künftigen Erlösung steht eine gegenwärtige nur so gegenüber, wie dem kommenden Gottes reiche das gegenwärtige, d. h. als Stimmung der Hoff- nung und Zuversicht, als erhöhte Kraft derer, die das Ziel vor sich liegen sehen dürfen und bei denen der Bräutigam ist, die da sehen dürfen, was die Alten zu sehen sich sehnten. Es ist ein Aufschwung, eine befreiende Kraft, die von der Per-

ÖCO Grundprobleine der Ethik.

sönlichkeit Jesu und von der Nähe des Gottesreiches, von der Kindlichkeit und Unbesorgtheit wie von der Stärke und Unbeug- samkeit seines Gottesglaubens, ausgeht. Für alles das aber fehlt durchaus das Wort »Erlösung« ; diese ist noch nicht geschehen und steht in der Zukunft. Von gegenwärtiger und geschehener Erlösung kann nur für den späteren Betrachter in diesem Sinne der erhöhten Kraft und Stimmung, die er aus dem Eindruck des Jesusbildes empfängt, die Rede sein. Und nur in diesem Sinne ist der Herrmannsche Gedanke berechtigt, die Erlösung in der Kraft des von Jesus eröffneten und verbürgten Gottesglaubens zu sehen, in der Gewißheit des Zieles und der Ueberwindung der inneren Hemmnisse. Aber auch so ist sie nur das Vorgefühl und die Ahnung der kommenden Erlösung, die erst die eigent- liche Erlösung ist.

In alledem herrscht die Besonderheit des in Jesus lebenden Ethos, zugleich verklärt von der BYeudigkeit und Siegesgewißheit der messianischen Zeit. Das wurde begreiflicherweise anders im Glauben der zum Auferstandenen aufblickenden und im Herren- mahl seine Gegenw'art feiernden Gemeinde, die den Vorblick auf die kommende Erlösung und den Rückblick auf Jesus verband. In diesem Rückblick herrschte der Eindruck des Todes vor, der bei der übermenschlichen Natur des Messias eine besondere Be- deutung haben mußte. Indem sie über das Todesschicksal grübelte und es nur vom Gedanken des Opfers aus verstehen konnte, hat sie im vollbrachten Opfer eine geschehene Erlösung zu erkennen Anlaß gehabt. Vollends seit Paulus die Erkenntnis des Neuen im Christusglauben, die Ablösung von Gesetz und Judentum, an dieses Opfer knüpfen gelernt hatte, wird die in seinem Tod geschehene Erlösung von Judentum und Gesetz, Fleisch, Sünde und Ver- dammlichkeit der Grundgedanke des Evangeliums, in den Paulus den ganzen Tiefsinn seiner Ethik des neuen in Gott gewonnenen Lebens hineinlegte. Die ganze Gedankenwelt des paulinischen und johanneischen Evangeliums bewegte sich so zwischen der ge- schehenen und der kommenden Erlösung hin und her. Die ge- schehene Erlösung trat nun aber noch mehr in den Vordergrund, seit die Ankunft des Reiches in die Ferne rückte und die werdende Kirche sich auf den Grund ihres Rechts und ihrer Vorzüge apo- logetisch besann. Sie gewährte die Wahrheit und das Heil, und sie konnte es nicht sicherer gewähren, als wenn außer ihr keine Erlösung denkbar, wenn nur in ihr Erlösung durch Unterwerfung

Grundprobleme der Ethik. grj

unter ihre Ordnung und ihre Lehre mögUch war. Die Apologetik, die den Alessiasbeweis, den Wunder- und Weissagungsbeweis, den Inspirationsbeweis, die Identität der philosophischen und der Offenbarungserkenntnis, des natürlichen und geoffenbarten Sitten- gesetzes verwertet hatte, fand ihren festesten Anhaltspunkt in diesem Erlösungsgedanken, insoferne die christliche Kirche auf der geschehenen Erlösung beruht, während außerhalb der Kirche keine Erlösung ist. Nur die kirchliche Erlösung durch den Glauben an die kirchliche Wahrheit und den Gebrauch der kirchhchen Sakramente vermag jetzt die Kräfte zum Guten einzuflößen. Das ist dann vollendet worden in der Erbsündenlehre und der Lehre von der alleinigen Gerechtmachung und Erlösung durch die kirch- lichen Gnadenmittel, und vom Katholizismus zu dem großen Sy- stem seiner kirchlichen, asketisch-mystische mit rationell-kulturellen Gedanken verbindenden Ethik ausgebaut worden. Das apolo- getische Bedürfnis, die "Alleinwahrheit des Christentums und die Sonderkraft seiner Ethik zu sichern, verschmolz sich hier mit jener Objektivität des Gnadenwunders, die wir vorhin als Kenn- zeichen des kirchlichen Anstaltsgedankens erkannt haben.

Bei der Auflösung dieses altkirchlichen Entwurfes der Theo- logie im i8. Jahrhundert wurde besonders diese kirchliche exklu- sive Abschließung der christlichen Alleinwahrheit und die ihr als Folie dienende Erbsündenlehre von einer Gesamtanschauung aus bekämpft, die das Christentum mit den andern Religionen auf einen allgemeinen Begrifl" brachte und erst von dem allgemeinen »Wesen der Religion« aus die besondere Stellung und Würde des Chri- stentums festzustellen unternahm. Die so sich erhebende Theologie des Deismus hat von hier aus eine neue Apologetik konstruiert, die aber doch von dem Banne des altkirchlichen Musters und von den ererbten antiken Begrifl^en einer natürlichen Religion und eines na- türlichen Sittengesetzes sich nicht zu lösen vermochte. So hat die Apologethik des radikalen, aber am Christentum selbst fest- haltenden Deismus die Identität des Christentums mit der natür- lichen Religion und dem natürlichen Sittengesetz zum Angelpunkt gemacht, womit der Erlösungsgedanke freilich stark zurückgedrängt und auf eine besondere vorsehungsmäßige göttliche Veranstaltung dieser Identität reduziert oder gar auf die erhebende Kraft des abstrakten Ideals beschränkt war. Der konservativere Zweig hat diesen Gedanken noch ergänzt durch den Begriff einer besonders verherrlichten und dadurch legitimierenden Introduktion und der

652 Grundprobleme der Ethik.

Hinzufügung von besonderen göttlichen Gnadenhilfen, womit frei- lich der Erlösungsgadanke auch verblaßt, aber doch die Anlehnung an die alte Apologetik, die Unterscheidung einer erlösten und un- erlösten, sittlich kräftigen und sittlich unkräftigen Welt, behaup- tet war. Diese Gedanken hat dann Schleiermacher in sein ganz andersartiges, religionsphilosophisch-evolutionistisches System auf- genommen, indem er das Christentum als die erlösende Aktuali- sierung des Wesens der Religion beschrieb und dabei die Erlö- sung allerdings mit einer ganz neuen Wendung, mit einer rein psychologischen Anschauung der Religion, aus der ^Mitteilung des Gottesglaubens durch Jesus an seine Gläubigen, aus der ergreifen- den und erhebenden Macht der Anschauung einer vollendeten religiösen Persönlichkeit, ableitete.

Auf diesem Wege ist Herrmann Schleiermacher gefolgt, nur daß er den ganzen historisch-evolutionistischen Unterbau wieder beseitigte und diese Erlösung nicht aus der höchsten Offenbarung des Glaubens, sondern aus der ersten und einzigen zum natür- lichen Sittengesetz hinzutretenden Offenbarung desselben ablei- tete. Es ist deutlich, wie hierin die moderne psychologische An- schauung den kirchlichen Erlösungsgedanken beseitigt hat und wie doch in dieser Apologethik die Folge- und Begleitsätze der kirchlichen Apologetik stehen geblieben sind. Nur aus der Bei- behaltung dieser Apologetik stammt die befremdliche Behauptung, daß die christliche Ethik die Hinzufügung der Erlösungskräfte zum natürlichen Sittengesetz sei, während in Wahrheit Herrmanns Anschauung die Erlösung aus dem Glauben an Gott psychologisch ableitet als die Erhöhung der sittlichen Kräfte, die aus dem Glau- ben an den lebendigen Gott und seine sündenvergebende Gnade stammt. Diese Auffassung bedarf nur einer kleinen Veränderung, um das Charakteristische der christlichen Ethik in dem spezifisch christlichen Gottesglauben und dem hierin eröffneten objektiven Zweck zu finden und erst hieraus die hievon ausgehende ver- söhnende, Mut und Freudigkeit verleihende Kraft abzuleiten. Hiemit kann dann auch das Wesen der Erlösung voller gefaßt werden, sie ist nicht bloß die fertige und bereits wirkende d. h. die rein ethische der Erhöhung der Kräfte, sondern das Angeld der kommenden eigentlichen Erlösung, die nicht bloß ein ethisches, sondern ein metaphysisches Ereignis sein wird. Und von hier aus kann dann schließlich das Ganze des Christentums in die Ent- wickelung des religiös-ethischen Gedankens überhaupt eingestellt

Grundprobleme der Ethik. 6'^'?

werden, um an Stelle der künstlichen Nachbildung der kirchlichen Apologetik eine geschichtsphilosophische, von der Entwickelungsge- schichte des Geistes aus gewonnene zu stellen. Von hier aus kann dann die Ethik wie die Glaubenslehre in freier Synthese der leben- digen christlichen Kräfte für die Gegenwart geformt werden ^'^).

Mitunter scheint es auch, als ob Herrmann einer derartigen Betrachtung nicht ganz abgeneigt wäre, und als ob er das Ganze der christlichen Frömmigkeit und Sittlichkeit im Zusammenhang der Entwickelung des Geistes überhaupt sähe und seine Apolo- getik darauf beschränkte zu sagen, daß »uns durch Jesus selbst und durch die Menschen, die er an sich fesselt, diese Offenbarung Gottes deutlicher wird als durch alles andere, was uns sonst in der Welt begegnet«, und daß »wir dementsprechend auch ver- pflichtet sind, die höhere Kraft, die wir empfangen haben, zu beweisen« (S. 120). Diese Komparative heben m. E. die Herr- mannsche Apologetik auf und bedeuten eine einfache und schlichte geschichtsphilosophische Anschauung, die in der christlichen Ethik mit dem christlichen Gottesglauben auch die vergleichs- weise höchsten Aufgaben und höchsten Kräfte und darin die inner- lich reichste Ethik unter all den verschiedenen Offenbarungen des sittlichen Geistes erkennt.

VII. Dieser Reichtum bedeutet freilich auch einen Reichtum an inneren Spannungen und so bleibt die vierte und schwie- rigste Hauptfrage: wie das aus dem objektiven religiösen Zweck des Christentums erfolgende Handeln sich zu dem von den innerweltlichen Zwecken aus geleiteten verhalte, und wie hier- bei ein einheitliches Ethos überhaupt zustande kommen könne ^^) ?

5^) Hier ergibt sich für die Ethik dasselbe, was oben S. 500 ff. für die Dogmatik ausgeführt worden ist. Auch die Abhandlung »Was heißt Wesen des Christen- tums« vertritt den gleichen Gedanken.

^^) Vgl. Söderblom, Die Religion und die soziale Entwickelung 1898; Rade, Theologische Randglossen zu Naumanns Demokratie und Kaisertum. Z. Th. K. X ; Overbeck, Die Christlichkeit unserer heutigen Theologie ^ 1903, und meine Ab- handlung »Die Christi. Weltanschauung usw.«, s. oben S. 280 294. Das beste, was heute zu der ganzen Frage gesagt werden kann, enthalten Naumanns »Briefe über die Religion« 1903. Seine Anschauungen stammen aus wahrhaftigster und reifster Erfahrung. Vergleicht man damit, was Herrmann darauf in seinen Wei- sungen erwidert, so bekommt man bei Herrmann, wie bei so vielen theologischen Ethiken, den Eindruck einer völlig weltfernen, papierenen Konstruktion. Im übrigen

ßCA Grundprobleme der Ethik.

Die bisherige Betrachtung setzt uns in den Stand, auch hier die entscheidende Erkenntnis an die Spitze zu stellen : Das Problem liegt" in dem inhaltlichen Charakter der objektiven Zwecke, ist ein Problem der ob- jektiven Sittlichkeit und von der subjektiven aus überhaupt nicht zu lösen. Der Gedanke der Auto- nomie hilft nichts zu seiner Lösung, und auch die patriarchalische Kategorie des Berufes bringt uns keinen Schritt vorwärts. Es handelt sich um ein Verhältnis objektiver Zwecke, die als Objekte zusam- mengedacht und zu möglichster Einheit gebracht werden müssen. Dabei liegt aber dann die Schwierigkeit darin, daß die innerweltlichen Zwecke sittliche Zwecke von dem gleichen strengen Charakter sittlicher Werte sind, Zwecke für sich selbst und not- wendig um ihrer selbst willen bis zur Aufopferung des natür- lichen Glückes, dafi sie aber in der Welt liegen und an histori- schen Gebilden haften, die, aus der physischen und psychischen Naturanlage hervorgehend, den irdischen Horizont beherrschen. Demgegenüber bedeutet der überweltliche Zweck eine völlig andere Orientierung und eine eifersüchtige Spannung gegen die Konkur- renz der weltlichen Zwecke. Diese Sachlage hat von Beginn einer in der Welt sich einrichtenden christlichen Ethik bestanden und in der ältesten Christenheit schwere Krisen hervorgerufen. Die Kämpfe des Montanismus und das Widerstreben gegen die Wissen- schaft sind die deutlichsten Anzeichen dieser Krisen. Dann aber hat sich ein Kompromiß gebildet, der bis auf die Entstehung der freien modernen nationalen Kulturen vorgehalten hat. Seitdem aber ist teils in der Wirkung der von kirchlicher Bevormundung- befreiten Antike, teils aus eigenen und originalen Kämpfen die moderne Gesittung entsprungen. Ihr Wesen ist es, neben dem re- ligiösen Zweck die Selbstzwecklichkeit der innerweltlichen Zwecke zu behaupten. Sie hat darin ihren Reichtum, ihre Weite und Freiheit, aber auch ihre schmerzlichen inneren Spannungen und schwierigen Probleme. Eben deshalb werden heute auch alle diese Güter nicht mehr von der christlichen Ethik abgeleitet. Sie werden auch nicht mehr indirekt auf dem Weg über die Lex na-

ist das Lehrreichste für unsere Frage immer das Studium Kierkegaards und Tolstois, auch Johannes Müllers. Gerade wenn man ihren Standpunkt nicht teilen kann, lernt man die durch sie gestellten großen Probleme des Lebens verstehen, für die die heutige durchschnittliche »theologische« Ethik völlig stumpf und blind ist. Von der Gegenseite her ist jiatürlich Nietzsche enorm lehrreich.

Grundprobleme der Ethik. €)K%

turae mit ihr zusammengefaßt. Vielmehr sind sie alle Gegen- stand ihrer eigenen umfangreichen und selbständigen Wissen- schaften, die, auf Psychologie und Geschichte begründet, ihre Entstehung, ihre Entwickelung und ihre sittliche Bedeutung selb- ständig untersuchen. Staatslehre, Wirtschaftslehre, Sexualethik, Technik, Wissenschaft, Kunst und Aesthetik: sie alle gehen ihre eigenen Wege und konstruieren selbständig ihre eigenen Ideale aus ihren besonderen Lebensbedingungen und geschichtlichen Entwickelungen. Die christliche Ethik findet sie als selbständige Zwecke von eigener Logik und selbstmächtiger Herrschaft über die Wirklichkeit, zugleich als Gegenstände eigener Wissenschaften vor und hat ihnen gegenüber höchstens die Möglichkeit einer Auseinandersetzung und Regulierung, aber nicht die einer selb- ständig von ihr ausgehenden Konstruktion.

Deshalb ist die katholische Lösung des Problems heute un- möglich, die diese Zwecke und ihren Träger, den Staat, aus dem Naturrecht ableitet und durch die Identifizierung der lex naturae und des Sittengesetzes Mosis und Christi diese Bestimmungen in- direkt als christlich erweist. Dabei betrachtet sie doch zugleich die Entwicklung des Naturrechts als durch die Sünde bedingt und in die Formen des Staates, des Rechts und des Eigentums gedrängt, so daß eine beständige Regulierung dieser durch die Sünde modi- fizierten Hervorbringufigen des Naturrechts der Kirche obliegt. So sind die natürlichen Zwecke nach Bedarf bald in ihrer Selbstzweck- lichkeit anerkannt, bald der höheren mystischen und transzendenten Ethik der Kirche untergeordnet. Es ist die Sittlichkeit einer kirch- lichen Weltkultur, die die Regulierung des Kompromisses in die Hand der kirchlichen Autorität legt. Ebensowenig aber ist die lutherische Lösung innerhalb der heutigen Kultur zu behaupten,, die die Zwecksetzungen der innerweltlichen Kultur ganz ebenso aus der Lex naturae herleitet wie der Katholizismus, aber in ihnen den gottgewollten Stoff und Spielraum auch aller geistlichen Sitt- lichkeit sieht. Sie sind hier zwar gut, weil sie von Gott stammen,, bedeuten aber ohne jede Anerkennung eines ihnen zukommenden inneren Selbstzweckes lediglich gottgesetzte Daseinsformen, in die der Fromme bald dankbar, bald leidend und duldend sich ergibt. In ihrer Zusammenfassung in Staat und Sitte leisten sie der christ- lichen Sittlichkeit die Dienste einer disciplina externa und einer philosophischen Reue, im übrigen wird die Handhabung von der Obrigkeit, der Hüterin utriusque tabulae, in einem den kirchlichen.

ßcS Grundprobleme der Ethik.

Anforderungen konformen Sinne garantiert. Es ist die Sittlich- keit des konfessionellen bürgerlich-patriarchalischen Kleinstaates.

Damit ist aber die harmonische Lösung überhaupt als undurch- führbar erkannt, wie schon aus der Analyse der von Herrmann getroffenen Bestimmungen hervorgeht, und wie das Gleiche an Schleiermachers christlicher Sitte sich hätte zeigen lassen. Es zeigt sich hier überall, daß es schlechterdings unmöglich ist, jene Zweck- setzungen als bloße Naturformen des Daseins zu behandeln. Wie in der christlichen Sittlichkeit das Obwalten eines objektiven religiö- sen Zweckes zu erkennen ist, so sind in jenen Kulturzwecken un- umwunden objektive innerweltliche sittliche Zwecke anzuerkennen. Das Problem dreht sich daher um die Frage, wie die spezifisch reli- giöse Abzweckung der Sittlichkeit zu den innerweltlichen Abzwek- kungen sich verhalte, ein Problem, das im Christentum nur in einer besonders scharfen und tiefen Fassung erscheint, das aber ein allgemeines ist und überall entsteht, wo eine rein innerliche und mystische Werte setzende und damit zum Dualismus neigende Frömmigkeit den im praktischen Leben erwachsenen innerwelt- lichen Zwecksetzungen begegnet. Das gleiche Problem ist ja schon das Grundproblem von Piatons Politeia, wo die Moral der Weisen und die der Krieger und der Erwerbsstände in die Har- monie eines gesellschaftlichen Ganzen gesetzt werden soll.

Das Problem ist überhaupt immer nur annähernd zu lösen. Es bedeutet einen der großen immer offen bleibenden Lebensgegen- sätze. Eine annähernde Lösung aber ist möglich bei entschlossener Anerkennung der Tatsache, daß die moderne Welt mit ihrer Be- wegung zwischen dem alles in sich aufzehrenden religiösen Zvv'eck und den innerweltlichen freien sittlichen Kulturzwecken, die sich als Humanität, Staatsgesinnung und wirtschaftlich-technische Ar- beit darstellen, einen neuen Typus des sittlichen Lebens bedeutet, der so noch nicht da war, und der mit seinen besonderen Verhältnissen und Spannungen eine besondere Theorie verlangt. Dabei ist gleichgültig, ob diese Lage dauern oder, wie wahrscheinlich, anderen weichen wird. Sie ist die Lage der Gegenwart und verlangt eine ihr angemessene ethische Ideen- bildung, ein Ethos, das mitten in der Arbeit des imperialistischen Machtstaates, der freien Konkurrenz und des Kapitalismus, der Technik und des Großbetriebes, des Klassenkampfes und Frei- heitsstrebens, der modernen Wissenschaft und Kunst die höchsten Werte der religiösen Innerlichkeit und Liebe nicht vergißt, son-

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dem ihnen einen Raum anzuweisen versteht. Hier an diesem Punkte liegt die eioentUche Krisis des modernen Christentums, neben der die dogmatischen LiberaHsmen nicht allzu bedeutend sind oder von der sie lediglich die Reflexe sind ; sie ist in die konservative Dogmatik ebenso eingedrungen wie in die liberale. Neben der aus dem Evangelium genährten Frömmigkeit Luthers und Bachs steht um auf Verhältnisse der deutschen protestan- tischen Kultur uns zu beschränken die Humanität Goethes, die Staatsgesinnung Bismarcks, die Naturüberwindung der Tech- nik und die Solidarität der Klassengefühle. Es sind das die großen Hauptrepräsentanten moderner ethischer Kräfte. Man braucht sie nur zu nennen, um sowohl den sittlichen Charakter aller dieser Ideale als die Schwierigkeit ihrer Zusammenordnung zu empfinden. Es ist eine große Torheit, um deswillen zu meinen, die christliche Ethik sei im Absterben begriffen, um einer lebens- freudigeren innerw'eltlichen Ethik Platz zu machen. Davor könnten Goethe und Bismarck warnen ; die Lebensfreudigkeit ist mit der Humanität und Staatsgesinnung nicht gewachsen. Auch die Tech- nik und die Klassenkämpfe haben sie nicht gesteigert. Anderer- seits aber ist es auch ein Irrtum zu glauben, die moderne Ethik der Anerkennung der Kulturzwecke als sittlicher Selbstzwecke sei eine ungläubige Verirrung und ein wieder auszuscheidender fremder Einfluß selbstvergötternden Weltsinnes. Da muß man vergessen, daß alle einflußreichen Helden unsers geistigen Lebens gerade für diese Bewegungen gekämpft haben, daß die spezi- fisch geistliche und theologische Ethik daneben eine immer klein- lichere Rolle des Nörgeins und Negierens ohne große eigene Gedanken gespielt hat.

Soll aber aus diesen praktischen und begrifflichen Wirren ein Ausweg gefunden werden, so ist er nur in einer grundlegen- den Erkenntnis zu finden, die dann freilich an jeder Analyse der großen historischen Stilformen des sittlichen Geistes sich bewähren muß. Es ist die Erkenntnis, daß das Sittliche von Hause aus nichts Einheitliches, sondern etwas Vielspältiges ist, daß der Mensch in einer Mehrzahl sittlicher Zwecke heranwächst, deren Vereinheit- lichung erst das Problem und nicht der Ausgangspunkt ist. Ihre Vereinheitlichung ist zudem immer persönlich und individuell verschieden und läßt sich als Durchschnittshaltung erst in dem sich ausgleichenden Zusammenhang eines die verschiedenen Seiten ungleich akzentuierenden Gesamtlebens finden. Diese Vielspäl-

T ro el ts ch, Gesammelte Schriften. Tl. 42

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tigkeit aber läßt sich dann noch genauer bestimmen als die Gegensätzlichkeit zweier im Wesen der Menschen liegenden Pole, von denen die beiden Haupttypen der religiösen und der inner- weltlichen Zwecksetzung ausgehen. Es ist die Polarität der reli- giösen und der humanen Sittlichkeit, von denen keine sittlich ohne Schaden zu entbehren ist und die sich doch nicht auf eine gemeinsame Formel bringen lassen. Auf dieser Polarität beruht der Reichtum unsers Lebens und seine Schwierigkeit ; aus ihr geht aber auch immer von neuem das heiße Bestreben nach Ver- einheitlichung hervor. Das meist mit so bewundernswerter Ge- mütsruhe verhandelte Thema »Christentum und Humanität« hat hierin sein schweres Problem, und nicht alle haben es so tief empfunden wie Kierkegaard, der für die meisten umsonst geredet hat, sowohl für die Kulturseligen als für die christlichen Kultur- freunde und Kulturfeinde.

Alles kommt darauf an, diese Vereinheitlichung so weit her- zustellen, als sie möglich ist. Hier ist nun aber Eines ohne weiteres klar: die Vereinheitlichung wird sich immer v o n d e r r e 1 i gl ÖS - s it 1 1 i c h e n I d e e aus herstellen müssen. Freilich gibt es eine Sittlichkeit, die den religiösen Zweck ausscheidet und nur auf die innerweltlichen Zwecke be- gründet ist, ebendeshalb an Stelle der wirklichen ReUgion sich mit einem bloßen allgemeinen Idealismus des Glaubens an eine die geistigen Zwecke der Natur überordnende Weltordnung be- gnügen kann. Das ist die bekannte moderne Humanitätsethik, die, antieudämonistisch und idealistisch, sich doch auf die inner- weltlichen Zwecke beschränkt. Aber hier ist einmal die Kon- kurrenz dieser Zwecke unter sich selbst durchaus nicht erledigt, sondern erst recht ohne Ziel und ohne Maßstab eröffnet, so daß bald eine politische, bald eine soziale, bald eine künstlerische, bald eine wissenschaftliche Ethik mit hartem Gegensatz gegen die andern Zwecksetzungen hervortritt. Bismarck, Goethe, der Sozialismus, die spinozistische Ethik des reinen Denkens zeigen solche Gegensätze. Insbesondere aber füllen diese Zwecksetzungen das tiefste sittliche Bedürfen der Menschen erfahrungsgemäß nicht aus. Sie stellen sich uns als Selbstzwecke dar, aber sie enthalten nicht das letzte, was endgültig den Trieb nach einem objektiven Werte, nach einem letzten einheitlichen alles befassenden Werte, befriedigt. Sie machen daher entweder oberflächlich in ihrer satten Weltzufriedenheit, womit das sittliche Streben gehemmt und ab-

Grundprobleme der Ethik. 6^0

gebrochen ist, oder resigniert in ihrer Zurückhaltung vor der Frage eines letzten Zweckes bis zur Grenze eines milden Pessi- mismus, oder unruhig in einem nicht aufhörenden Streben nach höheren Zwecken. Ein erschütterndes Beispiel des letzteren ist Nietzsche, ein nicht minder lehrreiches und aufschreckendes Bei- spiel der nirgends haften bleibenden Moralskepsis ist Anatole France.

Ganz das Umgekehrte aber ist beim religiösen Zweck der Fall. Er enthält das, was die innerweltlichen Zwecke vermissen lassen. Sind sie auch Selbstzwecke, so sind sie doch eine Mehr- heit von Zwecken, haften sie mit ihrem Ausgang von natürlichen Notwendigkeiten und Trieben an dem Vergänglichen und sind sie eben darum nicht letzte, zeitlose, ewige Zwecke. Der religiöse Zweck dagegen entspringt aus dem Verhältnis zu dem Ewigen und Unendlichen, dem allen letzten Sinn erst in sich Enthaltenden. Er stammt aus der Sphäre des Unbedingten, Absoluten und Einfachen, in seiner höchsten, christlichen Gestalt aus der Hingabe an einen heiligen lebendigen Gott, der, wie er die Quelle und den Sinn alles geistig-persönlichen Lebens enthält, so auch in der Empor- arbeitung der Persönlichkeit zur Gemeinschaft mit seinem Willen ihr die höchste Aufgabe stellt. Aber eben wegen dieses Aus- gangs von dem schöpferischen, alles umfassenden Gotteswillen kann der religiöse Zweck nicht bloß die Ersetzung und Beseitigung der innerweltlichen Zwecke bedeuten, die ja doch auch von ihm und seinem Leben stammen, und die daher in diesen höchsten Zweck müssen aufgenommen werden können, wenn anders die Welt zugleich als eine dauernde und unabsehbar nach vor uns sich streckende zu betrachten ist. Jesus selbst und das Evange- lium von Galiläa waren noch frei von diesen Notwendigkeiten. Der Zustand der Kultur und die Erwartung des Endes haben ihn von solchen Fragen befreit. So wurde er zum reinen und leuchtenden Bilde des bedingungslosen religiösen Ethos. Aber in einer dauernden und inhaltreichen Welt muß die Synthese immer neu versucht und durchgeführt werden. So muß gerade der christliche Gottesglaube mit seiner positiven Schätzung der von Gott geschaffenen Welt, seinem von Gott ausgehenden An- trieb beständiger Tätigkeit und Arbeit, seiner auch von der bloß physischen und menschlichen Hilfe aus zu Gott führenden Liebe es möglich machen, in den absoluten Zweck der Gottesgemein- schaft die innerweltlichen Zwecke aufzunehmen. Er wird zwar den

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tigkeit aber läßt sich dann noch genauer bestimmen als die Gegensätzlichkeit zweier im Wesen der Menschen liegenden Pole, von denen die beiden Haupttypen der religiösen und der inner- weltlichen Zwecksetzung ausgehen. Es ist die Polarität der reli- giösen und der humanen Sittlichkeit, von denen keine sittlich ohne Schaden zu entbehren ist und die sich doch nicht auf eine gemeinsame Formel bringen lassen. Auf dieser Polarität beruht der Reichtum unsers Lebens und seine Schwierigkeit; aus ihr geht aber auch immer von neuem das heiße Bestreben nach Ver- einheitlichung hervor. Das meist mit so bewundernswerter Ge- mütsruhe verhandelte Thema »Christentum und Humanität« hat hierin sein schweres Problem, und nicht alle haben es so tief empfunden wie Kierkegaard, der für die meisten umsonst geredet hat, sowohl für die Kulturseligen als für die christlichen Kultur- freunde und Kulturfeinde.

Alles kommt darauf an, diese Vereinheitlichung so weit her- zustellen, als sie möglich ist. Hier ist nun aber Eines ohne weiteres klar : die Vereinheitlichung wird sich immer V o n d e r r e 1 i g i ÖS - s it 1 1 i c h e n I d e e aus herstellen müssen. Freilich gibt es eine Sittlichkeit, die den religiösen Zweck ausscheidet und nur auf die innerweltlichen Zwecke be- gründet ist, ebendeshalb an Stelle der wirklichen Religion sich mit einem bloßen allgemeinen Idealismus des Glaubens an eine die geistigen Zwecke der Natur überordnende Weltordnung be- gnügen kann. Das ist die bekannte moderne Humanitätsethik, die, antieudämonistisch und idealistisch, sich doch auf die inner- weltlichen Zwecke beschränkt. Aber hier ist einmal die Kon- kurrenz dieser Zwecke unter sich selbst durchaus nicht erledigt, sondern erst recht ohne Ziel und ohne Maßstab eröffnet, so daß bald eine politische, bald eine soziale, bald eine künstlerische, bald eine wissenschaftliche Ethik mit hartem Gegensatz gegen die andern Zwecksetzungen hervortritt. Bismarck, Goethe, der Sozialismus, die spinozistische Ethik des reinen Denkens zeigen solche Gegensätze. Insbesondere aber füllen diese Zwecksetzungen das tiefste sittliche Bedürfen der Menschen erfahrungsgemäß nicht aus. Sie stellen sich uns als Selbstzwecke dar, aber sie enthalten nicht das letzte, was endgültig den Trieb nach einem objektiven Werte, nach einem letzten einheitlichen alles befassenden Werte, ^befriedigt. Sie machen daher entweder oberflächlich in ihrer satten Weltzufriedenheit, womit das sittliche Streben gehemmt und ab-

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gebrochen ist, oder resigniert in ihrer Zurückhaltung vor der Frage eines letzten Zweckes bis zur Grenze eines milden Pessi- mismus, oder unruhig in einem nicht aufhörenden Streben nach höheren Zwecken. Ein erschütterndes Beispiel des letzteren ist Nietzsche, ein nicht minder lehrreiches und aufschreckendes Bei- spiel der nirgends haften bleibenden Moralskepsis ist Anatole France.

Ganz das Umgekehrte aber ist beim religiösen Zweck der Fall. Er enthält das, was die innerweltlichen Zwecke vermissen lassen. Sind sie auch Selbstzwecke, so sind sie doch eine Mehr- heit von Zwecken, haften sie mit ihrem Ausgang von natürlichen Notwendigkeiten und Trieben an dem Vergänglichen und sind sie eben darum nicht letzte, zeitlose, ewige Zwecke. Der religiöse Zweck dagegen entspringt aus dem Verhältnis zu dem Ewigen und Unendlichen, dem allen letzten Sinn erst in sich Enthaltenden. Er stammt aus der Sphäre des Unbedingten, Absoluten und Einfachen, in seiner höchsten, christlichen Gestalt aus der Hingabe an einen heiligen lebendigen Gott, der, wie er die Quelle und den Sinn alles geistig-persönlichen Lebens enthält, so auch in der Empor- arbeitung der Persönlichkeit zur Gemeinschaft mit seinem Willen ihr die höchste Aufgabe stellt. Aber eben wegen dieses Aus- gangs von dem schöpferischen, alles umfassenden Gotteswillen kann der religiöse Zweck nicht bloß die Ersetzung und Beseitigung der innerweltlichen Zwecke bedeuten, die ja doch auch von ihm und seinem Leben stammen, und die daher in diesen höchsten Zweck müssen aufgenommen werden können, wenn anders die Welt zugleich als eine dauernde und unabsehbar nach vor uns sich streckende zu betrachten ist. Jesus selbst und das Evange- lium von Galiläa waren noch frei von diesen Notwendigkeiten. Der Zustand der Kultur und die Erwartung des Endes haben ihn von solchen Fragen befreit. So wurde er zum reinen und leuchtenden Bilde des bedingungslosen religiösen Ethos. Aber in einer dauernden und inhaltreichen Welt muß die Synthese immer neu versucht und durchgeführt werden. So muß gerade der christliche Gottesglaube mit seiner positiven Schätzung der von Gott geschaffenen Welt, seinem von Gott ausgehenden An- trieb beständiger Tätigkeit und Arbeit, seiner auch von der bloß physischen und menschlichen Hilfe aus zu Gott führenden Liebe es möglich machen, in den absoluten Zweck der Gottesgemein- schaft die innerweltlichen Zwecke aufzunehmen. Er wird zwar den

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Menschen vor die große Entscheidung stellen, wo er über der Welt die wahre und letzte Wirklichkeit bejahen und den Gegen- satz der Zwecke tief empfinden muß. Erst wo er den an diesen Zwecken mit ihrem irdischen Horizont noch haftenden letzten Rest von Selbstsucht und natürlicher Liebe des Menschen zu sich selbst überwindet, geht überhaupt das Verständnis für die reli- giöse Ethik auf. Aber er wird von hier aus die innerweltlichen Zwecke dann aufnehmen in den Zusammenhang des höchsten Zweckes als die Vorschule, an der der Mensch die Brechung des natürlichen Willens und die Hingabe an objektive Werte lernt, als die üebung, in der er für die Erkenntnis eines letzten über- weltlichen Zweckes durch Unterordnung unter ideale, aber nicht letzte Zwecke reift. Sie sind die Vorbedingung und Organisation der Natur, auf deren Grundlage erst das persönlich-innerliche Leben möglich ist, die Gaben, für die er Gottes Güte dankt ohne sein Herz an sie zu verlieren, die großen Vermittelungen, durch die das göttliche Leben in die Welt hineingebildet werden kann. Für sich allein könnte dieses nur den Glauben an das Ende der Dinge und die Absonderung von der Welt hervorbringen. Erst durch Erfüllung von Familie, Staat, Arbeit, Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft mit seinem Gei.ste kann es die dauernde Welt in sich hineinziehen. Und eine solche begriffliche Betrachtung wird bestätigt durch die Geschichte. Die christliche Sittlichkeit konnte nur entstehen aus einem Boden, wo die innerweltlichen Zwecke nicht mehr befriedigten, aus einem zerstörten Volksleben, und sie hat ihren eigentlichen Entwickelungsboden erst gefunden auf dem Boden der alten Kulturwelt, die bereits von sich aus das Ergebnis der Unzureichendheit der weltlichen Zwecke hervorgebracht hatte. Wo sie diese Vorbereitung nicht hatte, ist sie zur Fratze geworden oder wartungsbedürftige Pflanzung der Kirche geblieben, l^mgekehrt haben tatsächlich die weltlichen Zwecke unter der Einwirkung des Christentums eine neue Gestalt gewonnen, die sie trotz der Herabsetzung ihrer Endgültigkeit mit einem mächtigeren und tieferen Leben erfüllt hat, als sie vorher besaßen. Die Idee einer in keiner irdischen Betätigung aufgehenden Persönlichkeit und einer die Menschheit umfassenden, damit alle Naturschranken aufhebenden Persönlichkeitsgemeinschaft hat allen Kulturzwecken ihren Stempel aufgeprägt. Wenn sich die moderne Welt gegen- über diesem Spiritualismus und Theismus oft zu der einfachen, in der Natur aufgehenden Selbstbetätigung des antiken Menschen

Grundprobleme der Ethik. 56 1

zuzückgesehnt hat, so ist das eine Idealisierung des Altertums, die aus den großen Spannungen und Schmerzen dieser Kämpfe erklärlich genug ist, ohne daß damit wirklich ein höheres Ideal ergriffen wäre. Das scheidet uns von Altertum und Heidentum, daß wir die Unschuld der Selbstbegrenzung auf Diesseits und Natur verloren haben und sie niemals wiedergewinnen können. So viel Unwahrhaftigkeit, Künstlichkeit, Heuchelei und Gewalt die christliche Welt erzeugt hat, es ist die Folge des höheren und innerlicheren Maßstabes und läßt sich nicht durch Rückkehr zum Heidentum ersetzen, das dabei aus einer religiösen Selbstverständ- lichkeit zu einer ästhetischen Sektenlehre würde.

So entsteht die Aufgabe einer allseitig durchgeführten Ein- ordnung der humanen Zwecke in den christlich-sittlichen. Aber diese Aufgabe geht nicht glatt auf und kann nicht glatt aufgehen. Es bleibt immer eine bloße Vermittelung zwischen den beiden Polen, sie werden nie zur Deckung gebracht, und die wirkliche Sittlichkeit des Lebens oszilliert daher von dem einen zum andern. Der Grund liegt darin, daß die humanen Zwecke niemals aufgehen als einfaches Mittel der überwelt- lichen, sondern immer zuerst als Selbstzwecke auftreten und erst allmählich hinüberleiten zum höchsten Zwecke. Aber auch dann werden sie niemals restlos in ihrer Gestaltung von der christ- lichen Idee bestimmt werden, sondern im weiten Umfange durch die Notwendigkeiten und Voraussetzungen ihres selbständigen Wesens bedingt bleiben. Sie sind eben immer in erster Linie Selbstzwecke, die erst als solche erkannt werden müssen, um überhaupt zu ihrer sittlich bildenden Kraft zu kommen und die daher dem überweltlichen Zweck nur indirekt vorarbeiten können, indem sie die Brechung des sinnlichen Egoismus und der natür- lichen Trägheit bewirken und in ihrer Durchführung über sich selbst hinausweisen. Andererseits können sie von dem Geiste christlicher Persönlichkeitsschätzung nur soweit reguliert werden, als es ihre eigenen Lebensbedingungen gestatten. Diese muß die Erfahrung und die begriffliche und historische Analyse aus ihrer ursprünglichen selbstzwecklichen Entwicklung überhaupt erst feststellen, und die christliche Ethik kann sie bestenfalls nur in langsamer Arbeit und wohl niemals völlig auf das Maß des von ihr aus Wünschenswerten eingrenzen. So muß die christ- liche Ethik mit dem Staate und der Gesellschaft den Krieg, den Kampf ums Recht, den Konkurrenzkampf in dem Umfange aner-

602 Grundprobleme der Ethik.

kennen, als er aus dem Wesen dieser Zwecke notwendig folgt, und als er die diesen Zwecken eignenden sittlichen Kräfte hervor_ zubringen vermag. Sie muß mit der Wissenschaft die Freiheit und Beweglichkeit der Wissenschaft und damit auch die Bedrohung ihrer selbst gewähren lassen und wollen, weil die Wissenschaft ohne das keinen Sinn hätte und weil die Kräfte der Wissenschaft nur unter dieser Bedingung ihr wirklich zugute kommen können. Sie muß mit der Kunst die Freude an der Sinnlichkeit gewähren lassen und dulden, ohne die auch die geistigste Kunst nicht mög- lich ist und sich darein finden, daß nur seltene Höchstleistungen eine auch religiös und geistig gehaltvolle Kunst erzeugen, während die eigentliche Hauptdomäne die Kunst immer wieder die Ver- herrlichung der Sinnlichkeit sein wird. Sie wird hier bewundern müssen, was sie bekämpft, und den ganzen Trieb nur durch Er- schöpfung seines ersten Elans überwinden können. Nur im Ge- währen- und Ausleben-lassen wird sie an diesem Punkte siegen können. Gerade hier sind die ethischen Probleme am feinsten, tiefsten und schwierigsten.

Im ganzen ist das alles unter neuen begrifflichen Formen und in der Einstellung auf neue praktische Kulturverhältnisse nichts anderes, als was die kirchlich-ethische Tradition seit der ersten Verschmelzung von Naturgesetz und Offenbarungsmoral auch gelehrt hat. Indem die ethischen Kulturwerte auf dem Boden des Sündenfalles stehen, haben sie um der Sünde willen Eigenschaften des Rechtes, des Zwanges, der Selbstversorgung, der geschäftlichen Konkurrenz, der sozialen Abstufung, die dem eigentlich christlichen Geiste widersprechen. Insbesondere in der Moral des öffentlichen Lebens und des Erwerbes sind die christ- lichen Maßstäbe nur bedingt durchführbar. Ihre eigentliche Sphäre war immer das Familienleben und das persönlich private Ver- halten, wo wirklich das Verhältnis von Person zu Person in Be- tracht kommt. Die lutherische Moral hat in diesem Sinne mit gutem Grunde die Amts- und Personmoral unterschieden. In der öffentlichen Moral gilt es, den christlichen Geist soweit als mög- lich durchzusetzen; nur im persönlichen Verhältnis kann an seine volle Verwirklichung gedacht werden ; aber doch auch hier immer mit der Bedingung, daß der andere überhaupt für ein solches Handeln Sinn hat oder zu einem Sinn dafür zu bringen ist. Ueber das hinaus haben Mönche, Pietisten und Mystiker in der Zurückziehung von den allgemeinen Lebensbedingun^jen allein

Grundprobleme der Ethik. 56^

das Evangelium streng einzuhalten unternommen; damit wurde es aber freilich nun doch wieder etwas anderes. Ferner haben solche, die berufsmäßig mit der Pflege oder Ausbreitung des re- ligiösen Lebens beschäftigt sind, eine stärkere Verpflichtung zu ihm empfunden, aber freilich auch eben damit Ausnahmestellungen in der Gesellschaft eingenommen. Alles das ist heute noch ■ebenso. Neu geworden ist nur unsere Betrachtung der objektiven Kulturwerte, die wir nicht mehr aus der Sünde, sondern aus dem Wesen des menschlichen Geistes und seiner Entwickelung be- greifen. Neu geworden ist ferner die Energie, mit der Staat, Recht, Technik, Erwerb und Konkurrenz die Menschen in unge- heuren Institutionen und Leistungen, damit aber auch in schweren Kämpfen und Spannungen, beschäftigen. Neu geworden ist schließ- lich der Einfluß von Wissenschaft und Kunst, in denen das Prin- zip der Immanenz eine ganz ungeheure, den älteren Zeiten unbe- kannte Wirkung entfaltet hat. Wie die ältere christliche P^thik ein Kompromiß, eine Synthese war, so muß es auch heute jede Ordnung unserer sittlichen Begriffe und Schätzungen unter dem beherrschenden Gesichtspunkt des höchsten Wertes der gotteinigen Persönlichkeit und der in Gott vorhandenen Bruderliebe sein. Das hat nur die Aufklärung vergessen, die teilweise unter der Nachwirkung der orthodoxen Gleichung von lex naturae und lex Christi die christliche Moral mit der Humanität und Philan- thropie, mit dem kategorischen Imperativ, mit dem sozialen Sinn oder gar mit der Moral der Vervollkommnung und des wohlver- standenen Interesses vereinerleit hat. Für sie war es eine Zeit- lang möglich, das christliche Dogma für schwierig und kompliziert, die christliche Moral dagegen für einfach und ohne weiteres ein- leuchtend und beglückend zu halten. Aber das ist heute vorbei. Das alte Problem steht wieder vor uns, und wir müssen aus dem lebendigen P'luß des Lebens heraus wieder von neuem die Syn- these schaffen, so gut es möglich ist. Es ist die Synthese, die für die Gegenwart gilt und, da diese durch Forderungen und Hoffnungen sich nicht wegdekretieren läßt, für sie ihre Gedanken bilden muß. Möglich, daß diese Gegenwart christlichem Pfühlen und Handeln besonders ungünstig ist. Aber möglicherweise täuschen wir uns auch darüber und sind wir trotz allem vielleicht christlicher als die byzantinischen Christen und die Christen der Völkerwanderung, als die Ritter, Mönche und Bauern des Mit- telalters, als die Hofprediger und Jesuiten des dreißigjährigen

(504 Grundprobleme der Ethik.

Krieges. Wer kann das wissen ? Auch sie lebten in zwei Welten, und, wie sie wirklich innerlich beide verbanden, können wir aus ihren Theorien nicht erfahren. Genug, daß wir unsere Aufgabe erkennen, die beiden Welten auf unsere Weise in uns zu verbinden. Eine solche Synthese wird sich nicht in Form einer ihre Linien abstrakt festsetzenden Doktrin, sondern in der praktischen Verteilung des Ueberwiegens bald des einen, bald des andern Zweckes je nach den individuellen und natürlichen Anlagen be- kunden, die durch keine ethische Bearbeitung zu vollständiger Gleichheit bestimmt werden können. Je nach der Stärke der na- türlichen Anlage oder der Fügung besonderer Lebensschicksale werden die einen Gruppen mehr dem spezifisch religiösen Zweck einseitig sich widmen im geistlichen Beruf, im Missionsberuf, in der Krankenpflege oder im stillen Grüblertum und der Weltent- sagung. Die andern werden nach Talent, Neigung und Lebens- stellung sich den humanen Zwecken widmen im Dienst des Staates, des Rechts, der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Kunst, wobei der Dienst für die Sache sogar oft Unterordnung persönlicher Christlichkeit unter die Notwendigkeit des Arbeitsgebietes ver- langt wie beim Staatsmann. Die herüber- und hinübergehenden Einwirkungen gleichen für das Ganze die Einseitigkeiten aus und halten jede Gruppe unter der Einwirkung der andern. Ferner wird auch im Einzelleben der Kompromiß keine Doktrin, sondern zumeist eine Verteilung auf die Stufen der Lebensentwickelung sein. Die Jugend, die der Bewältigung der ersten und dringendsten Aufgaben des irdischen Daseins zugewendet und deren Sinn noch auf die Kraft und die SelbstzweckUchkeit des eben eröffneten weltlichen Lebens gerichtet ist, wird in der Regel von den Jahren der Reife ab ihre sittliche Begeisterung auf die humanen Güter richten und sich an ihnen bilden ; das schließt nicht ernste Christlichkeit aus, aber die Christlichkeit wird meistens eine noch unerschlossene und in ihrer Tiefe noch unverstandene sein. Erst ein gewisses Alter, das in Familiengründung, Staatsdienst, Berufsarbeit und mannigfacher Bemühung um die Güter der Humanität seine irdische Aufgabe ge- tan hat, wird das Ziel weiter hinausrücken und sich den Tiefen per- sönlichen Lebens zuwenden, für die alles Bisherige nur Vorschule gewesen ist. Es ist mit Recht oft genug hervorgehoben worden, daß für die meisten Menschen zu wirklicher Christlichkeit ein ge- wisses Maß von Alter und Erfahrung gehöre. Auch ein Kierke- gaard und ein Tolstoi haben erst das Leben in seiner Breite er-

Grundprobleme der Ethik, 55 r

fahren und durchprobt, ehe sie ihre Forderungen aufstellten. Der Grund davon liegt in dem eben Ausgeführten. Dabei wird man auch die Jugend nur lehren können, ihre Kulturpflichten zu er- füllen, in dem übrig bleibenden Spielraum persönlichen Lebens die christliche Innerlichkeit und Liebe zu erstreben und bei alle- dem nach dem letzten Ziele zu trachten, für das erst später ihr das volle Verständnis aufgehen wird. Diejenigen aber, welche an leitenden Stellen auf die Gestaltung der praktischen Sittlichkeit Einfluß ausüben wollen oder müssen oder in theoretischer Arbeit die Richtlinien christlicher Sittlichkeit entwerfen wollen, können nichts anderes tun als den Spielraum für beide Formen derart offen lassen, daß sich aus ihnen immerdar mit möglichster Leich- tigkeit die christHch-sittliche Vertiefung der humanen Zwecke und die Humanisierung des christlichen Zweckes ergebe, daß das Leben innerhalb der Kulturzwecke zugleich ein Gottesdienst sein könne und daß der Gottesdienst zugleich die Welt verkläre. Eine abstrakte Norm werden aber auch sie nicht aufstellen können, sie werden den Kompromiß-Charakter solcher Ethik nicht leug- nen dürfen und werden die Einheit und Lösung der individuellen Zurechtlegung und Lage des Einzelnen überlassen müssen.

Dies ist jedenfalls der tatsächliche Zustand unseres Lebens, eine tatsächliche, im Zwang der Dinge begründete Notwendig- keit. Aber diese Notwendigkeit darf nicht damit in ihrem Cha- rakter verkannt werden, daß sie etwa auf die Sünde und damit auf sündige Verderbung und Verselbständigung der Kulturzwecke zurückgeführt wird. Dieser ganze Dualismus ist nicht erst durch die Sünde verursacht;, das war der allzu bequeme Ausweg der alten kirchlichen Ethik beider Konfessionen. Er ist in Wahrheit vielmehr tief in der metaphysischen Konstitution des Men- schen begründet. Sie stellt ihn zwischen die vergängliche und ewige Welt. Der Gegensatz der ethischen Motive ist nur eine Erscheinung des allgemeinen Gegensatzes, der in der Doppel- stellung des Menschen zwischen dem Endlich-Sinnlichen und dem Unendlich-Uebersinnlichen liegt. Er kann nur im Werden der Ge- schichte und im Werden des Individuums überwunden werden. Die humane Sittlichkeit ist die erste Stufe der Versittlichung, indem sie die natürlich-mitgebrachte Lage und die sinnliche Be- stimmtheit durchbricht und eine auf höhere, objektiv wertvolle Motive begründete Lebensgestaltung herbeiführt. Aber diese immanente Betätigung bleibt doch mit einem Maße von Ver-

666 Grundprobleme der Ethik.

gänglichkeit und einem Rest von Selbstsucht behaftet, wie das in der Welt, wo nur ein Selbst am andern sich mißt und auch die höchsten Güter an die Selbstliebe der Menschheit zu sich selbst gebunden bleiben, nicht anders sein kann. Sie trägt ange- sichts der Vielheit und Vergänglichkeit ihrer Zw'ecke das Gefühl der Unbefriedigtheit und Vergänglichkeit in sich. So richtet sich der gereifte sittliche Wille mit völliger Veränderung des Hori- zontes auf die bleibende und ewige Geltung vor Gott und die Seligkeit der Gottinnigkeit und erkennt in der humanen Sittlich- keit die Vorstufe, die ihm nur in der Zeit der ersten Kraftent- faltung und Lebensgründung als endgültiger Selbstzweck erschien und in deren Neigung zum Selbstgenuß er einen Rest der natür- lichen Selbstsucht erkennt. Von diesen Erfahrungen gehen dann wieder aktive Antriebe der Lebensgestaltung aus, die religiöse Sittlichkeit wendet sich mit freudiger Energie zur Welt zurück. Sie sucht das Leben und die Ordnungen der »Welt«, welche die hu- mane Sittlichkeit geschaffen hat, von diesen Gesichtspunkten aus geistig zu durchdringen, um in der Welt die wahren sittlichen Werte nach Vermögen darzustellen und die Generationen der Werdenden und Kämpfenden auf den rechten Weg zu leiten. In alledem frei- lich wird man dann immer noch die Doppelheit der Motive emp- finden, aber diese Doppelheit wird auf Erden nie theoretisch und nie praktisch überwunden werden. Wie sie einen metaphysischen Grund hat, so kann sie nur eine metaphysische Auflösung finden, und darum steht vor ihr als letzte Lösung der Gedanke eines Lebens jenseits des Todes ^^j.

^^) Eine ähnliche Stellung und Lösung des Problems gibt in Auseinander- setzung mit Herrmann, Naumann und mir Otto Kirn in seinem Univ.-Programm »Grenzfragen der christlichen Ethik>< Leipzig 1906, Er erwartet jedoch von einer modernen prot. Ethik eine wirkliche Vereinheitlichung der ethischen Theorie und beanstandet meinen Satz vom miaufheblichen Oszillieren. Lehrreich und wertvoll ist der allgemeine Gedanke, von dem er ausgeht, daß jede Ethik in den Natur- grundlagen des Daseins und den technischen Notwendigkeiten einen ethisch nicht zu bewältigenden Rest reiner Tatsächlichkeit anerkennen muß. Genau, wie ich, ur- teilt Paulsen in einem mit Herrmanns Kongreß-Vortrag sich beschäftigenden Auf- satz der »Deutschen Monatschrift ^c 1903 über »Die Ethik Jesu und ihr Verhältnis zum modernen Leben.« Den Gedanken einer V^erteilung überwiegend weltlicher und überwiegend überweltlicher Ethik auf verschiedene Individualitäten, der m. E. einer einfachen Tatsache entspricht und einen Vorzug des Katholizismus bildet, spricht eine einst viel besprochene, heute leider vergessene anonyme Schrift aus »Prote- stantisches Mönchtum«, Stuttgart 189S. Die herkömmliche Lehre von einer mög-

Grundprobleme der Ethik. 66?

Man wird sagen können, daß eine solche Lösung des Pro- blems sich in mancher Hinsicht der kathoUschen nähert. Sie be- hält den protestantischen Charakter in der Hauptsache, in der Zurückführung des sittUchen Impulses auf die Innerlichkeit per- sönlicher Gesinnung, in der Knüpfung dieses Impulses an die vom persönlichen Leben Jesu ausgehende Kraft und Gewißheit, in der Unabhängigkeit von Kirche und Sakrament, von Moral- theologie und Kasuistik, von Beichtstuhl und Probabilismus. Aber sie nähert sich jener katholischen Lehre, die auf der Höhe mittel- alterlichen Denkens Natur und Uebernatur, Lex naturae und Gnaden- sittlichkeit als eine Stufenfolge des Werdens anordnete und den endlichen Menschen von der ersten zur zweiten aufsteigen ließ, die überdies die mehr weltliche und die mehr überweltliche Sittlich- keit nach Anlage und Schicksal auf verschiedene Personen ver- teilte. Dadurch gewann und besitzt die katholische Ethik eine Beweglichkeit, Anpassungs- und Nuanzierungsfähigkeit, die die protestantische Ethik bei ihrer Egalisierung der sittlichen Forderung, und bei ihrer bloßen Individualisierung^ durch den bürgerlichen

liehen Vereinheitlichung ist vom Standpunkt des Pfarrers aus, der hier das Leben meist besser kennt als die Professoren, sehr fein entwickelt von Julius Hans, Die sitt- lichen Forderungen Jesu und das Leben der Gegenwart, Augsburg 1907 ; aber gerade hierbei empfindet man auch die Grenzen einer solchen Lehre. Charakteristisch ist, daß die gleiche Kontroverse, wie aus Herrmanns Kongreßvertrag 1903, aus dem spä- teren von Titius von 191 1 : »Wie lassen sich die christlichen Ideale des Evangeliums in das gegenwärtige Leben übertragen? (Protokoll des E. S. C. 191 1) hervorgegangen ist. Auch Titius vollzieht wie Herrmann die Flucht in die Autonomie, setzt an Stelle des »historischen Evangeliums« das »ewige Evangelium« d. h. die Kantische formale Autonomie. Titius begründet die Ersetzung: »Also eine Trennung der beiden Gesichts- punkte, keine Identifizierung des Anfangs, des ersten Keims mit dem, was daraus ge- worden ist; aber auch eine innere Kontinuität der Entwickelung, ein wirklich einheit- liches und mit sich selbst gleiches Prinzip, das durch alle diese Zeiten hindurch wirkend der ersten Periode ebenso ihre Form gegeben hat wie allen späteren und der heutigen : das ist es, was ich behaupten möchte«. Naumann hat in der Debatte sehr richtig hervorgehoben, daß das historische Evangelium von Galiläa keine bloße zeitgeschicht- liche Form für das ewige Evangelium Kants ist, sondern einen eigenen und dauern- den religiös-ethischen Sinn besitzt, der nur mit unserem übrigen Ethos nicht zu einer glatten Einheit zu verarbeiten ist. Das ist gewiß richtig. Auch in der Ethik ist der Unterschied des Jesus-Evangeliums und des Christentums ein sehr großer. Das erstere ist radikal und einfach, das letztere kompliziert, synkretistisch, reich an Kompromissen, dafür aber auch auf eine dauernde Welt und große Volkseinheiten und Massen eingerichtet.

56S Grundprobleine der Ethik.

Beruf nicht besaß. Sie hat dadurch an Strenge und Ernst, an bürgerHcher Leistungsfähigkeit gewonnen, aber sie ist eben da- mit auch etwas nüchtern und ganz überwiegend bürgerhch ge- worden. Sie setzt das geordnete Berufssystem einer ständischen Gesellschaft voraus oder wird zur Moral des gesegneten Geschäfts- fieißes, der die freien Erwerbsformen als von Gott gebotene Chan- cen benützt und im Gewinn den Segen Gottes für gewissenhafte Benützung der Zeit sieht. Wo der Protestantismus über diese bürgerliche Enge hinausgewachsen ist und sich mit Aufklärung und Neuhumanismus verbunden hat, da sind in Wahrheit seine echten ethischen Kategorien verloren gegangen und hatten die neuen keinen Platz für die Spannung zwischen Gott und Welt. j\Ian kann das an Herder, Schleiermacher und Goethe deutlich erkennen. Seitdem hat die Entfaltung des ästhetisch-intellektuellen Lebens und noch mehr die des politisch-sozialen diese Spannung wieder aufgetan. Die protestantische Ethik steht damit vor der Aufgabe einer neuen Erfassung und Formulierung ihrer selbst, die nicht tiftelige Neuanpassung einer alten Theorie , sondern entschlossene Einstellung auf die Gesamtlage der heutigen Kultur sein muß. Sie wird für diesen Moment auch ihre eigentlichsten religiösen Grundlagen und Impulse neu gestalten müssen. Wenn sie hierbei scheinbar dem Katholizismus sich einigermaßen nähert, so ist das im Grunde doch nur ein Schein. Denn dasjenige, dem sie sich nähern würde, ist nicht das Katholische im Katholizismus, sondern das Neuplatonische in ihm. Aus dem Neuplatonismus stammt die Idee der Doppelstufigkeit und des Aufstieges. Er hat an dem gleichen Problem gearbeitet, wie die christliche Ethik. Sein Schema läßt sich auch für das theistisch-christliche Ideal ver- werten, ja für dieses besser als für den echten Neuplatonismus selbst. Damit aber läßt sich dann auch die protestantische Inner- lichkeit und Autonomie, die lediglich psychologisch-historische Anknüpfung an Jesus sehr wohl vereinigen, wie sie Herrmann uns so schön geschildert hat.

Alles das ist nun aber wiederum mehr ein Widerspruch gegen die von Herrmann benützten Kategorien, als gegen seine Auffassung des tatsächlichen Sachverhaltes. Auch Herrmann empfindet die Spannung der beiden Motive. Seine Lehre von der bloßen Erlaubtheit der humanen Güter ist nichts anderes als die Anerkennung, daß die christliche Sittlichkeit für sich allein das Leben nicht regelt und nicht regeln kann. Ja auch das Oszil-

Grundprobleme der Ethik. 56o

lieren zwischen den beiden Polen wird von ihm anerkannt : »Diese Zustände der Abwendung von dem natürUchen Leben und der wiUigen Teilnahme an ihm gehen in der christlichen Sittlichkeit fortwährend in einander über. Wir erleben nie einen Moment, wo beide in der ruhigen Herrschaft der sittlichen Persönlichkeit über ihre Mittel mit einander ausgeglichen wären. Unsere Sitt- lichkeit ist also rastlose Bewegung und Kampf zweier Verhaltungs- weisen, deren Spannung nie ganz aufhört, sondern die eigentümliche Energie des christlichen Lebens ausmacht« (S. 146). Diese Ge- danken hätten Herrmann in die Richtung getrieben, die hier an- gedeutet ist, wenn er nicht die Möglichkeit hiezu durch die Lehre von dem bloß formalen Autonomie-Charakter des Sittlichen sich abgeschnitten hätte oder was wohl richtiger ist sich hätte ausdrücklich abschneiden wollen. Daß er dieses Ziel nicht erreicht hat, spricht nur für die Wahrhaftigkeit und die Kraft seines Wirk- lichkeitssinnes. Aber die Zeugnisse des letztern wiederum sprechen gegen seine Kategorien und f ü r die meinigen, wie die Beant- wortung der vier Hauptfragen Schritt für Schritt dargetan hat.

VIII. Damit sind die Hauptsachen erledigt. Den eigentlichen Ab- schluß könnte die Untersuchung freilich nur finden durch die po- sitive Entwickelung der eigenen Auffassung. Das aber würde nichts Geringeres als eine selbständige Darstellung der Ethik er- fordern, wozu hier natürlich keine Möglichkeit ist. Es kommt aber gegenwärtig überhaupt nicht sowohl auf neue Gesamtdarstellungen an als auf die Entscheidung prinzipieller Grundfragen, von der aus eine langsame Sammlung und Sichtung des Erfahrungsmaterials richtig geleitet werden kann. Ich gehe daher hier zum Schlüsse nur noch auf einen Grundbegriff ein, dessen Behandlung sich aus den bisherigen Erörterungen von selbst ergibt, und der doch häu- fig so überaus unsicher bearbeitet wird : auf das Problem des Verhältnisses von Sittlichkeit und Religion überhaupt. Die Voraussetzungen für seine Auflösung sind mit dem Bisherigen unmittelbar gegeben, und auch hier kann die Auflösung eine weitgehende Uebereinstimmung mit Herrmann festhalten, indem sie doch zugleich sehr andersartige Grundbe- griffe verwenden muß "^').

*"*) Vgl. Meine Abhandlungen > Atheistische Ethik«, u. »Zur Abwehr und Be- richtigung gegen den Verfasser der , religiösen Liquidation' <, Deutsche Revue 1896.

^yo Grundprobleme der Ethik.

Den Gegnern der religiösen Sittlichkeit pflegt entgegenge- halten zu werden, daß ihre eigenen Aufstellungen eine metaphy- sische Voraussetzung einschließen, die Unterordnung des Physischen unter teleologisch-geistige Ordnungen, die Einordnung des bloß Tatsächlichen in das Notwendige und Absolut-Wertvolle, daß sie also damit selbst der religiösen Beziehung des Sittlichen oder, wie man es zu nennen pflegt, der religiösen Sanktion des Sitt- lichen nicht entbehren können. Das ist durchaus richtig. Wo man das Sittliche nicht einfach nach dem Prinzip des survival of the Attest als herangezüchtete Nützlichkeitsregeln betrachtet und eben damit das Sittliche als Sittliches aufhebt, da gibt es gar keine andere Möglichkeit, als das Sittliche als einen Ausfluß der idealen Bestimmung der menschlichen Vernunft anzusehen und diese Vernunft auf eine absolute Vernunft zurückzuführen, die die Quelle alles Notwendigen ist. Das aber heißt das Sittliche religiös begründen und sanktionieren. Wohl können die sittlichen Normen sich allerdings behaupten, auch ohne daß man jene Zu- rückführung bewußt vornimmt, aber sie verlieren damit ihre festen Wurzeln, und jede tiefer gehende Untersuchung über Wesen und Natur des Sittlichen wird diese Wurzeln wieder ins Bewußtsein rufen. So hat auch Herrmann mit Recht gezeigt, wie gerade der formale Charakter des Sittlichen als Gesetz einer apriorischen, formalen Notwendigkeit des Absolut-Wertvollen metaphysische Voraussetzungen impliziert.

Aber das ist nur Eine Beziehung des Sitt- lichen auf das Religiöse und nicht die wichtigste, wenn sie auch für viele zur Rettung einer religiösen Weltan- schauung wichtig genug werden kann. Es ist nur die Vergegen- wärtigung der metaphysischen Voraussetzungen, der immanenten Möglichkeitsbedingungen des Sittlichen, wobei das Sittliche in seinem aller-allgemeinsten Sinn als bloße Form der Entgegen- setzung des Notwendig- Wertvollen gegen das Naturhaft-TatsächUche betrachtet und von jeder konkreten Gestaltung und Anordnung des Sittlichen noch abstrahiert ist. Es steckt darin oft freilich nicht viel mehr als die religiöse Empfindung, die jeden beim Anblick der gro- ßen, das Individuum überragenden kosmischen Ordnungen über- kommt, eine flüchtige religiöse Stimmung oder ein unbestimmtes Gefühl, die gar nicht zu vergleichen sind mit derjenigen Macht des religiösen Lebens, welche aus dem Zusammenhang der positiven Religion und eines in ihr eröffneten Bezuges auf das innere Wesen

Grundprobleme der Ethik. 5? I

und Leben jener Weltordnung im göttlichen Geiste stammt ^^). Wo das Sittliche aber unter dem Einfluß der Religion nicht bloß in diesem Sinn der Garantie oder Sanktion, sondern in dem einer in- neren Richtung des Gefühls auf das religiöse Gut steht, da erfährt es zu dem allgemeinen formalen Notwendigkeitscharakter hin- zu noch eine Bestimmung durch objektive religiöse Güter und Lebensinhalte , die ihm erst die ganz bestimmte spezifisch- religiöse Gestalt gibt. Dies aber ist die andere und wichtigere Seite des Problems. Die Funktion der Religion in bezug auf das Sittliche ist keineswegs bloß die Darlegung oder Hinzufügung einer Autorität und Garantie, viel- mehr werden durch die Verbindung mit ihr bestimmte Verhält- nisse zur Gottheit die Hauptgebote und die Hauptgüter.

Auch das hat Herrmann empfunden und in der Ablösung des christlichen Verhältnisses von Sittlichkeit und Religion von dem Kantischen bloßen Garantie- und Sanktionsverhältnis, das die reli- giösen Postulate zu dem kategorischen Imperativ hinzufügen, ein- drucksvoll und mit tiefer Empfindung für die religiöse Sittlichkeit zum Ausdruck gebracht. Aber er hat das bei der Leugnung eines objektiven religiösen Gutes und bei der prinzipiellen Auf- fassung des Gottesglaubens als der erst durch Jesus gesicherten Hinzufügung der göttlichen Garantie und Sanktion nur mit Mühe aus seinen widerstrebenden Kategorien herausgequält. Er hat es daher nicht im vollen Umfang und der vollen Bedeutung ausführen können. Aus der bloßen absolut einzigartigen Sicherung des Gottesglaubens durch Jesus und der mit ihm zum Gedanken des formalen Sittlichen hinzugefügten religiösen Begründung und Kraft ist die christlich-religiöse Sittlichkeit nicht zu gewinnen, sondern nur ein mühsamer Rest apologetischer Sonderstellung des Christentums. Werden aber diese Anklammerungen an den Rest der alten orthodoxen Absolutheits-Apologetik weggelassen, dann wird auch sofort deutlich, daß die besondere religiöse Sitt- lichkeit, wie sie nicht lediglich durch die von Jesus bewirkte Vergewisserung, sondern durch die inhaltliche Wirkung des reli- giösen Zweckes auf die menschliche Seele zustande kommt, so auch nicht dem Christentum allein eignet. Sie erhebt sich vielmehr in der Religionsgeschichte überall mit der Herausbildung und Vertiefung des religiösen Gedankens zu dem Begriff eines überweltlichen Gutes und Lebens. Die Hauptfrage wird daher

«1) Vgl. Meine »Selbständigkeit der Religion«, ZThK V S. 419 422.

^72 Grundprobleme der Ethik.

die nach der Beurteilung der verschiedenen Arten und Stufen der Verbindung des Religiösen und Sittlichen zu einer überwelt- lich motivierten Lebensführung, und die ethische Bedeutung des Christentums läßt sich nur in diesem größeren Zusammenhange feststellen. Es kommt darauf an, im Zusammenhang einer reli- gionsgeschichtlich-geschichtsphilosophischen Betrachtung die christ- liche Sittlichkeit als die höchste der aus innerer, inhaltlicher Ver- bindung von Religion und Sittlichkeit stammenden Formationen der Ethik zu begreifen, in der Immanentes und Transzendentes, innerweltliche und überweltliche Zwecke dasjenige Gleichgewicht finden, das bei der widerspruchsvollen irdischen Doppelstellung des Menschen überhaupt möglich ist.

. Damit lenkt die Untersuchung in die Bahnen ein, die meine übrigen Arbeiten gehen. Es ist daher eine weitere Verfolgung nicht nötig. Ich benütze nur die Gelegenheit hervorzuheben, daß diese Untersuchungen gerade immer besonders durch derartige ethische Erwägungen bestimmt sind, und daß die Ethik eben- sosehr nötigt wie die Religionswissenschaft, derartige Bahnen zu suchen. Aber auch wenn man solche Wege für prinzipiell richtiger hält, wird man der Herrmannschen Arbeit zu tiefstem Danke verpflichtet bleiben. Denn sie läßt sich in ihren Haupt- punkten in eine derartige andersartige Gesamtauffassung hinüber- nehmen, wenn die Herrmannsche Apologetik abgestreift wird, und ich bin der letzte, der leugnet, daß der so herübergenommene Ertrag der Arbeit Herrmanns vielleicht das innerlich Beste an einer solchen Gesamtanschauung sein würde.

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Moderne Geschichtsphilosophie.

(Aus: Theologische Rundschau VI, I904.)'*2^

I.

Es sind zwei große Froblemgmppen, die für die Theologie stets in irgend einer Form aus der Notwendigkeit der Aus- einandersetzung mit der allgemeinen Erkenntnis- und Begriffswelt erwachsen sind, einerseits die Fixierung ihrer Stellung gegenüber dem wissenschaftlichen Weltbild der Kosmologie, zu welcher Bio- logie und Psychologie als Einreihungen der organisch-seelischen Wesen in das Ganze des allgemeinen Weltgeschehens hinzugehören, andererseits die Fixierung des Rechtes des Glaubens an die christ- lich-religiöse Wahrheit gegenüber andersartigen, ebenfalls histo- risch-positiv begründeten Glaubensweisen und ethischen Lebens- anschauungen. Die Theologie der Patristik hat das erste Problem durch Kombination der biblischen Gedanken mit aristotelischen und neuplatonischen, das zweite durch die Lehre von der über- natürlichen Offenbarung, dem Wundercharakter der Kirche und der Bibel sowie durch die Adoptierung der stoischen Lehre von einer natürlichen Religion und Moral gelöst. Die Neuzeit hat mit der Auflösung der antiken Kosmologie und Metaphysik, mit der Ausbildung der mechanischen Weltanschauung und vor allem mit der Neugestaltung der Biologie und der Psycho-Phy- siologie das erste Problem auf einen völlig neuen Boden gestellt. Sie hat andrerseits mit der Durchführung eines universal-historischen gleichartigen Geschichtszusammenhangs, mit der Ausbildung der historischen Kritik und mit der darin eingeschlossenen Aufhebung

''^) Im Anschluß an eine Anzeige von H. Rickert, Die Grenzen der natur- wissenschaftlichen BegrifFsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. Tübingen, Mohr, 1902. X 743. Inzwischen vergleiche man dazu die Zusammenfassung und Ergänzimg dieser Gedanken in des Verfassers kleinerer Schrift: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 2. Aufl. 1910, und in dem Auf- satze »Geschichtsphilosophie« in der Festschrift für Kuno Fischer ^ 1907. Troeltsch, Gesammelte Schriften. H. 45

^74 Moderne Gebchichtsphilosoj)hie.

des isolierenden Wunders das zweite Problem vor ebenso neue Auf- gaben geführt. In allem Unterschied der Formen bleibt es aber doch immer die eine wesentliche Doppelfrage, die für jede Bildung und Behauptung einer prinzipiellen Lebensanschauung besteht. Jede tritt zwei großen, in der Natur des Denkens und der Wirk- lichkeit begründeten Erkenntnisgruppen gegenüber, dem aus der Bildung allgemeiner, die Gesamtwirklichkeit erklärender Begriffe folgenden Naturbild und dem aus der historischen Orientierung und Anknüpfung sich ergebenden Geschichtsbild. Sofern die Kos- mologie dabei wesentlich mit den aus der Erforschung der Natur sich ergebenden allgemeinen Naturbegriffen arbeitet, und sofern das Geschichtsbild aus den besonderen Eigentümlichkeiten histo- rischen Denkens hervorgeht, ist es erkenntnistheoretisch ge- sprochen — das Problem, das aus dem unvermeidlichen und not- wendigen Nebeneinander naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung sich ergibt. Mit beiden Problemen muß man im Reinen sein, sei es in der Form einer beide Resultate zum Ganzen vereinigenden Metaphysik, sei es in irgend einer andern Form, wenn man Normen des Glaubens und Lebens, die praktisch durch ihre eigene innere Kraft erwachsen und zur Macht gelangt sind, auch wissenschaftlich begründen und gegen die Konkurrenz anderer Normen wie gegen allerhand allgemeine Zweifel wissenschaftlich befestigen will.

In beiden Richtungen hat daher auch die moderne Theo- logie eifrig gearbeitet. Die Auseinandersetzung mit dem ersten Problem hat zunächst im i8. Jahrhundert ihr großes Musterbild an dem noch Kant so teuren physiko-theologischen Beweise New- tons und an Leibnizens naturalistischem Idealismus oder intelli- gibelm Fatalismus gefunden und damit lange Zeit sich befriedigt gefühlt. Dann kam die kantische Moraltheologie, die mitten in einen phänomenalistischen Naturalismus die Paradoxie der aus der Freiheit entspringenden religiösen Postulate hineinstellte. Auf diese folgte der idealistische Evolutionismus, der die Naturkau- salität der dialektischen Bewegung der Idee einverleibte. Seit diese Systeme zerfallen sind oder einer lebendigeren Religiosität nicht mehr genügten, ist die Auseinandersetzung großen Stils zu Ende. Die erneuerte Orthodoxie begründete auf das innere Wun- der der Bekehrung einen so robusten Wunderglauben, dafi ihr die ganze moderne Naturwissenschaft gleichgültig geworden ist. Die freieren Richtungen dagegen wagen es nicht mehr, auf die ganze

Moderne Geschichtsphilosophie. 67 1^

Größe und Weite der Fragestellungen einzugehen und die neue kosmische Wirklichkeitsempfindung in religiöse Stimmung umzu- wandeln. So hat sich die Arbeit in tausend apologetische Detail- fragen und Rettungen zersplittert, und dann, nachdem die natur- wissenschaftliche Begriffsbildung mit ihren Ideen der Einheit und Gesetzlichkeit der Weltsubstanz sich die populäre Metaphysik un- terworfen hatte, den nicht minder verwickelten Kampf gegen den Materialismus und vor allem gegen dessen idealistisches Gegenbild, den pantheistischen Monismus, rein defensiv aufgenommen. Ein ernstliches prinzipielles Ergebnis haben diese Auseinandersetzungen trotz zahlreicher feiner und tiefer Einzelgedanken nicht gehabt. Vielmehr hat der Ueberdruß an dem apologetischen Kleinkram und die instinktive religiöse Abneigung gegen den alles individuelle Leben und damit alle individuelle Beziehung auf Gott auflösenden ]\Ionismus zu einer gewaltsamen Ablehnung und Selbstverschließung gegenüber diesen Problemen geführt. Man hält sie sich möglichst vom Leibe und erklärt sie mit der ganzen Kosmologie als religiös gleichgültig, als intellektualistische Liebhabereien und Einseitig- keiten, die man sich selbst überlassen darf und denen gegenüber man den praktischen, vom Willen geforderten und den Willen be- friedigenden Charakter des religiösen Lebens betont. Die Religion sei praktische Wertung und Deutung der Welt, mit der im übrigen die Intellektualisten anfangen können, was sie wollen und müssen. Sie könnten jedoch diese praktischen Wertungen und Deutungen weder ausrotten noch widerlegen.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß diese Stellungnahme immer dauern wird. Der Ernst der veränderten kosmologisch- biolo- gischen Wirklichkeitsbetrachtung wird sich wohl noch direkten Einfluß auf die Gestaltung des religiösen Gedankens auch bei den Theologen verschaffen. Vorläufig aber hat diese Abwendung den Vorzug gehabt, die Religion reiner und selbständiger in ihrem eigentümlichen Wiesen bei sich selbst zu erfassen und jedenfalls in ihrer relativen Unabhängigkeit von aller Kosmologie zu ver- stehen. Diese Befreiung von den kosmologischen Problemen war aber nur möglich, indem man sich um so energischer an die ge- gebene historische Wirklichkeit und Kraft des Christentums an- schloß. Indem man die Geltung des Christentums auf historische Argumentationen stützte, mußte man dann teils seine geschicht- liche Wirklichkeit in ihrer alle außerchristliche Religion weit über- treffenden Kraft schildern, teils ihren Ursprung in Jesus gegenüber

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(376 Moderne Geschichtsphilosophie.

den schwankenden Anknüpfungen anderer Lebensanschauungen als feste und erlösende historische Verknüpfung mit einem einzig- artigen Faktum erweisen. Dadurch aber näherte man sich genau in dem Maße, als man sich von kosmologischen Problemen ent- lastete, den historischen. Freilich hatte die historische Apologetik ebenfalls von Anfang an gearbeitet. Aber indem jetzt die Historie die ganze Last des Beweises tragen sollte, wurden die historischen Probleme unendlich viel brennender. Die Widersprüche zwi- schen der bei solcher Argumentation vorausgesetzten Geschichts- betrachtung und den aus einer dogmatisch ungebundenen For- schung entspringenden Methoden und Resultaten wurden um so fühlbarer, als die kritische Historie überhaupt auf allen Gebieten in einer mächtigen Entfaltung begriffen war und von hier auf die biblischen und dogmengeschichtlichen Disziplinen immer stärker herüberwirkte. Die Historie erwies sich nur vorübergehend als Stütze. Sie führte, da sie einmal als Beweis für die Wahrheit des Christentums gelten sollte, immer klarer zu der prinzipiellen P'rage, wie überhaupt aus der Historie und ihrem alles Einzelne endlich bedingenden und relativierenden Zusammenhang überhaupt abso- lute Normen gewonnen werden können. Und so ist auch nach dieser Seite hin wieder alles in Frage gestellt.

Dieser Prozeß hat sich freilich nicht bloß in der Theologie vollzogen. Alle Normen unseres geistigen und sittlichen Lebens haben den Weg von einem rationalistisch-metaphysischen Dog- matismus durch die den Rationalismus und die Historie verbindende Entwickelungslehre Hegels hindurch zur rein empirisch-historischen Begründung gemacht und sind damit bei der großen Frage an- gelangt, wie denn überhaupt Normen aus der Historie sich ge- winnen lassen. So ist die Hegeische und die historisch-empirische Begründung der Normen immer seltener geworden, und haben sich auf der einen Seite die naturalistisch-metaphysischen Dok- trinen mit der Verheißung- fester naturgesetzlich begründeter Normen und auf der andern Seite die radikalen Skeptiker, die Individualisten und Anarchisten des geistigen Lebens, erhoben. Die positivistische Soziologie und die Sozialdemokratie einerseits, die Anhängerschaft Nietzsches und Renans andererseits bezeichnen diese Lage. Aber wenn dieses Problem ein allgemeines der Gegen- wart ist, so trifft es doch die Theologie am schwersten, die mit der Möglichkeit des Erweises allgemeiner Normen und Wertmaßstäbe steht und fällt, und die, je berechtigter der Rückgang auf die Hi-

Moderne GeschiclUsphilosophie. 577

storie für ihr Verständnis ist, um so schwerer mit dem Problem des Verhältnisses der Historie zur Gewinnung von Normen kämpft. Dafür wird sie aber auch den Vorzug in Anspruch nehmen dürfen, daft auf ihrem Gebiet die Entscheidungsschlacht geschlagen wird, deren Ausgang auch für das übrige Leben entscheidend ist. Denn ohne Rückgewinnung und Befestigung religiöser Posi- tionen wird auch die Erarbeitung von Normen auf den anderen Gebieten nicht möglich sein. Für den Glauben an Normen und den Gehorsam gegen Normen ist im letzten Grunde die religiöse Stellung zur Welt entscheidend.

Ich habe mich seit langem in verschiedenen Schriften be- müht, diesen Stand des Problems und seine historische, die gegenwärtige Lage beherrschende Genesis zu zeigen, um damit den wichtigsten Einsatzpunkt unserer Arbeit unter den allge- meinsten Gesichtspunkten zu fixieren. Natürlich aber können wir Theologen dieses unser Hauptproblem nicht lösen, ohne die Hilfe der Philosophen, welche die allgemeine Gliederung unseres Er- kennens, die Bedeutung und das Verhältnis der Methoden und die Beziehung der Einzelwissenschaften zu den Fragen der Welt- anschauung bearbeiten. Ich habe daher seit Jahren das mir zu- gängliche Material philosophischer Arbeiten in dieser Hinsicht durchsucht. Freilich ergab sich dabei nicht allzuviel. Gerade diese Aufgabe der Methodenlehre und dieses Problem ist noch nicht tief genug in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen. In der Theologie hilft man sich mit einem irgendwie abgeschwäch- ten Supranaturalismus, der aus der Form der Entstehung des Christentums dessen aller übrigen menschlich-relativen Erkennt- nis entgegengesetzten absoluten Charakter folgert, oder mit einer ihrer strengen metaphysischen Grundlage irgendwie entledigten Fortsetzung der Hegeischen Entwickelungslehre, die den allge- meinen Begriff der Religion im Christentum verwirklicht sein läßt und so aus den zu diesem Ziel führenden Gesetzen der histori- schen Entwicklung die absolute Geltung des Christentums ge- winnt. Außerhalb der Theologie sind beide Methoden fast ganz veraltet. Ansätze zu neuen Bewältigungen des Problems findet man in den logischen und geschichtstheoretischen Untersuchungen von Lotze, Sigwart, Dilthey, Wundt, Vierkandt, Barth u. a. Al- lein es sind immer nur Ansätze, mit denen nicht zum Ziel zu ge- langen ist. Die Ausbeute für unser Problem ist im ganzen gering, wenn man sich nicht an die rein »soziologischen« d. h. Natur-

578 Moderne Geschiclusphilobophie.

gesetze der gesellschaftlichen Entwickelung konstruierenden Theo- reme halten will, die aber durch ihre Voraussetzungen jede Geltung religiöser Normwahfheiten unmöglich machen, und denen gegen- über es gerade ihre naturalistischen Voraussetungen zu bekämp- fen gilt, wenn man wirklich zu Normen gelangen will. Hier herrscht der naturalistische Wahn, daß Naturgesetze Wertideale seien oder wenigstens ersetzen könnten. Hier konstruiert man aus dem aristokratischen Gesetz des Kampfes ums Dasein ein demokratisches Gesellschaftsideal der allgemeinen Wohlfahrt und ähnliches. Es kann nicht lange dauern, und aus diesem Glauben an die Naturgesetze muß Skepsis. Brutalität, Fatalismus sich er- geben, womit der Fehler in der Voraussetzung klar werden wird. Fragt man aber nach anderen Mitteln der Begründung von Wer- ten, so trifft man lediglich Achselzucken. Dilthey hat in einer Rede bei Gelegenheit seines 70. Geburtstages als Ergebnis der großen historischen W^issenschaft seit Grimm, Böckh und Ranke die »Anarchie der Werte« bezeichnet. Das ist das geheime Grundgefühl der Zeit. Ein talentvoller Philosoph, den ich um Auskunft über die dieses Problem betreffende Literatur bat, ant- wortete mir : »Ein Schelm gibt mehr als er hat. Solche Fragen darf man an die Philosophie nicht stellen. Sofern von Normen zur Beurteilung der in der Historie erwachsenden Werte die Rede sein kann, ist nichts anderes möglich, als von der Tatsache des Bewußtseins selbst auszugehen und die verschiedenen historischen Gestaltungen als annäherungsweise Realisationen an der in der Grundtatsache des Bewußtseins enthaltenen Idee zu messen.« Er empfand nicht, dafS hierin das Problem überhaupt erst angedeutet, nicht aber beseitigt ist. Denn was und wo ist diese Idee ? Sie ist ja wieder nur in der Geschichte.

Um so mehr freue ich mich nun, die Leser auf ein Buch hin- weisen zu können, das sich das Problem in vollem Umfange und mit voller Klarheit seiner Bedeutung stellt. Es ist das im Laufe des letzten Jahres vollständig gewordene Werk von Heinr. Rickert: »Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. < Das Buch ist zugleich ausgezeichnet durch bewunderungswürdige Reife und Umsicht, Klarheit und Konsequenz. Es ist in der Sündflut literarischer Ueberproduktion eines der wenigen wirklichen Denk- und Lernbücher, die ernstlich klären und vorwärtsbringen. Es wird ihm freilich bei dem Widerstand eingewurzelter naturalisti-

Moderne Geschichtsphilosophie. 670

scher und metaphysischer Vorurteile schwer fallen, sich durchzu- setzen, aber es ist jedenfalls eines der sich mehrenden Anzeichen, daß die Philosophie sich ihrer wirklichen Aufgaben wieder bewußt wird. Sie beginnt wieder an der Aufrichtung einer idealistischen Lebens- anschauung mitzuarbeiten, und zwar gerade an dem wichtigsten Punkt, wo es sich um das doppelte Problem handelt, die Eigenart der geschichtlichen Welt gegenüber der Natur zu erkennen und dabei dann doch wieder die geschichtliche Welt nicht der Anarchie der Werte auszuliefern, sondern auf ein ideales Wertsystem zu beziehen. Das aber muß eben dadurch zugleich unserer Arbeit zugute kommen.

IL

Das Problem freilich stellt sich Rickert zunächst noch nicht unter dem bisher geschilderten und unser Interesse vor allem bedingenden Gesichtspunkt. Er faßt es sozusagen in einem noch früheren Stadium der Entwickelung, wo es auf die entscheidende Bahn gebracht wird, wo aber seine letzten Fragen noch nicht das eigentliche Untersuchungsziel sind. Die Beziehung der Ge- schichte auf ein Wertsystem ist ein geschichtsphilosophisches Problem. Dieses aber läßt sich nur lösen auf Grund des Ver- ständnisses der Methode und des Wesens der empirischen Ge- schichtsforschung. Die letztere wiederum läßt sich aber nur klä- ren durch Vergleichung und Unterscheidung gegenüber der Natur- forschung. Damit ist der Ideengang des Buches in Kürze ange- deutet und zugleich gesagt, weshalb der Ausgangspunkt eine Charakteristik des Wesens der naturwissenschaftlichen Methode sein muß.

Im allgemeinen wissenschaftlichen Bewußtsein der Gelehrten und der Laienwelt überwiegt gegenwärtig die Meinung, daß die einzige objektive und feste Erkenntnis durch die naturgesetzliche Erforschung der Wirklichkeit hervorgebracht werde. Man meint daher, daß auch die Geschichte zu Ergebnissen nur führen könne, wenn die menschliche Geschichte als Fortsetzung der bio- logischen Evolution in diesen Zusammenhang der Naturgesetze hineingestellt, den das Ganze der Natur beherrschenden Gesetzen untergeordnet und dadurch zum Range einer Wissenschaft erst erhoben würde. Damit scheint dann auch die Gewinnung der Nor- men aus der Geschichte erlangt, nur daß freilich diese Normen nun nicht aus besonderen Eigentümlichkeiten der menschlichen Ge-

58o Moderne Geschichlsphilosophie.

schichte, sondern gerade aus den sie zusammen mit der ganzen übrigen organischen und anorganischen Natur beherrschenden Naturgesetzen gewohnen werden. Sie pflegen dann hinauszulaufen auf das Ideal möglichster Anpassung der Glieder eines sozialen Ganzen aneinander und des Ganzens selbst an die Naturumgebung, durch die es bedingt ist und in die es eingebettet ist.

Einer solchen Lehre gegenüber, welche nicht bloß die Metho- den der bisherigen Geschichtsforschung umzustoßen strebt, sondern auch die meisten der in der bisherigen wirklichen Geschichte er- wachsenen Werte entwurzelt, ist natürlich die Furage geboten, ob eine solche Veränderung der ganzen Lebensanschauung wirklich nötig sei; und da diese mit der Forderung der Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf die Geschichte begründet ist, so ist die nächste und allgemeinste Frage die, ob wirklich die Ge- schichtswissenschaft nach naturwissenschaftlicher Methode behan- delt werden müsse oder auch nur könne. Das ergibt dann eine erkenntnistheoretische Untersuchung der empirischen Geschichts- forschung. Mit der Entscheidung dieser Grundfrage kann dann erst die weitere Frage nach dem Verhältnis der Geschichte zur Bildung von Normen überhaupt in Angriff genommen werden. Deshalb stellt Rickert das Problem zunächst in seiner einfach- sten Gestalt und in seinem einfachsten Stadium : Gibt es einen Unterschied naturwissenschaftlicher und geschicht- licher Methode.? und wenn es ihn gibt, worin ist erbe- gründet, und was folgt aus ihm für die Gestaltung und den Weltanschauungswert jeder dieser Metho- den.?

Zur Stellung der Frage in dieser Form ist aber Rickert nicht nur durch die an Comte und seine englischen Nachfolger angeschlos- sene naturwissenschaftlich-soziologische Geschichtsmethodik und Geschichtsphilosophie bestimmt, sondern auch durch die Aufstel- lungen ihrer Gegner, die in idealistischem Interesse diese Thesen bekämpfen und aus dem Wesen des Seelenlebens im Unterschied von dem körperlichen Geschehen Methodik und Ziele der Geschichts- wissenschaft folgern wollen. Diese Idealisten, unter den Philosophen z. B. Dilthey und Wundt und unter den Fachhistorikern z. B. v. Below, entziehen sich der naturalistischen P'orderung, indem sie die Geltung der mechanistisch-atomi-stischen Metaphysik auf die Kör- perwelt einschränken und ihr eine psychologische I\Ietaphysik ent- gegenstellen, die aus gewissen Grundeigentümlichkeiten des Seelen-

Moderne Geschichtsphilosophie. 58 1

lebens wie Persönlichkeit, Individualität, Freiheit usw. metaphysische Eigentümlichkeiten der Elemente der Geschichte d. h. der mensch- lichen Seelen konstruiert und aus den besonderen Verbindungs- gesetzen dieser Elemente die historischen Gebilde spezifisch hi- storisch erklärt. Die Frage der Gewinnung der Normen aus der Historie bleibt unter diesen Umständen allerdings nicht minder dunkel, oder sie wird mit den idealistischen, dem naturalistischen Entwickelungsbegriff entgegengesetzten, Entwickelungslehren be- antwortet, die aber nicht aus einer solchen Psychologie, sondern nur aus der Hegeischen oder einer ähnlichen Welt-Metaphysik begründet werden könnten. So sehr nun für eine solche Psy- chologie die metaphysische Terminologie vermieden wird , so bleibt das doch psychologische Geschichtsmetaphysik und be- ruht lediglich auf ihrer Begründung die Unterscheidung einer naturwissenschaftlich-mechanischen und einer geschichtlich-teleo- logischen Methode. Steht aber so Metaphysik gegen Metaphy- sik, so gilt es die Widersprüche und Kollisionen beider meta- physischen Begriffsbildungen zu beseitigen, und, da diese Wider- sprüche in der Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Seele, Naturkausalität und Geschichtskausalität am schroffsten aufeinanderstoßen, so bleibt eine solche Theorie mit allen Pro- blemen der Psychophysik und des Kausalitätsbegriffes belastet. Der Versuch, durch den psychophysischen Parallelismus das Problem zu lösen, führt zu nichts, da in diesem Parallelismus der allein feste Bestandteil das körperlich-gesetzliche Geschehen ist und das seelisch-historische Geschehen, zwar in sich selb- ständig, doch nach seiner feststehenden Parallele sich richten muß*^^). So liefert sich eine solche Theorie schließlich selbst doch wieder an den Naturalismus aus und räumt ihm durch die Konzession des psychophysischen Parallelismus den Schlüssel ihrer Stellung ein. Damit steht das Problem wieder an demselben Fleck, auf dem es gegenüber dem Naturalismus auch ohnedies gestanden hatte.

Deshalb faßt Rickert das Problem im rein formalen und methodischen Sinne, indem er zunächst von jedem Unterschied des Materials, von aller Differenz körperlichen und geistigen Geschehens absieht. Er will lediglich die Ziele beider

"3) Vgl. dazu den überaus freien und lehrrreichen Aufsatz Rickerts »Psycho- physische Kausalität und psychophysischer Parallelismus« in »Philos. Abhandlungen. Sigwart gewidmet«. 1900 S. 59 89.

5g2 Moderne Geschichtsphilosophie.

Begiiffsbildungen ins Auge fassen und die aus diesem Ziel logisch sich ergebenden Folgerungen für die Methode feststellen. Ihm ist die Hauptfrage zunächst, Klarheit darüber zu gewinnen, ob zwischen den Zielen beider Forschungen ein wesentlicher und notwendiger logischer Unterschied besteht. Wenn ein solcher be- steht, dann müssen die Gründe eines solchen Unterschieds innerlich in unserm logischen Verhältnis zur Wirklichkeit begründet sein und müssen die so begründeten verschiedenen Ziele verschiedene Me- thoden hervorbringen, das Denken unter entgegengesetzten Ge- sichtspunkten modifizieren. Dann ist der Glaube an eine Universal- methode, an eine einzige Form des Denkens ein Vorurteil und ein Wahn, dann muß sich das Denken in zwei verschiedene Hauptanwendungen gegenüber dem Erfahrungsmhalt besondern. Um darüber Gewißheit zu erlangen, analysiert er zunächst streng das allgemein geübte und logisch bereits vielfach definierte natur- wissenschaftliche Denken auf Ziel und Methode und fragt, ob von einer solchen Begriffsbildung aus überhaupt das Interesse und Ziel der Historie mit ins Auge gefaßt werden könne. Indem sich zeigt, daß davon nicht die Rede sein kann, ist die Einsicht in die logische Sonderstellung des historischen Denkens gewonnen und die Frage nach dem besonderen Ziel und der Methode des- selben auf der Basis eines solchen logischen Gegensatzes zu einer leichteren Beantwortung gebracht.

So mit ausschließlicher Beschränkung auf die logisch-metho- dische Frage und mit völliger Absehung von aller Besonderheit des Erkenntnisstoffes verfahren kann Rickert freilich nur, weil er prinzipiell die Position vertritt, daß der Ausgangspunkt aller phi- losophischen Orientierung die Erkenntnislehre ist, daß der Kern der Philosophie nicht Metaphysik, sondern Wis- senschaftslehre ist. Diese Position ist von Rickert in einer älteren Schrift »Der Gegenstand der Erkenntnis <; 1892 dargestellt worden, die allerdings für das Verständnis des vorliegenden Buches unentbehrlich ist, die aber auch in dieser Kürze eine der besten mir bekannten Darstellungen des Problems ist"*). Es ist entscheidend für alle prinzipielle Auffassung wissenschaftlicher Aufgaben, daß die Wissenschaft nicht eine objektive, vom Be- wußtsein unabhängige Welt abbildet, um dann das Bewußtsein anzuweisen, daß es sich nach dieser wahren und objektiven Welt richte und beurteile. Die Wissenschaft hebt nicht die lu-fahrung

**) Inzwischen stark erweitert in zweiter Auflage erschienen 1904.

Moderne Geschichtsphilosophie. 68^

auf, um eine hinter der Erfahrung Hegende wahrere und wirkUchere Welt zu finden, im Verhältnis zu der die Erfahrung nur Schein oder Erscheinung wäre und auf die der Mensch sich eigentlich zu beziehen hätte statt auf den Schein der Erfahrungswirklich- keit. Gegenstände gibt es nur für das Bewußtsein und zwar als die Fülle der wirklichen erfahrungsmäßigen qualitativen Welt. Der Standpunkt strengster Bewußtseinsimmanenz ist der einzig mögliche Ausgangspunkt prinzipiellen Denkens. Die Wissenschaft kann nichts anderes w^oUen als diesen unermeßlich weiten und mannigfaltigen Bewußtseinsinhalt nach den dem Denken imma- nenten Kategorien und Forderungen ordnen und umformen, da- mit er für das Bewußtsein übersehbar, beherrschbar und nach festen Regeln bewertbar werde. So erzeugt die Wissenschaft nicht ein Bild der wahren Welt, das das Erfahrungsbild der eigentlichen Wirklichkeit ersetzen könnte, sondern sie gibt nur Mittel zur Bewältigung der einzigen wahren Wirklichkeit, nämlich der dem Bewußtsein gegebenen Erfahrungswelt. Es gibt keine Abbilder von an sich bewußtseins-transzendenten Gegenständen, sondern immer nur diese Gegenstände selbst als dem Bewußtsein gegebene. Außerdem gibt es nur Erinnerungsbilder von dieser allein wirklichen Welt und wissenschaftliche Umformungen dieser allein wirklichen Gegenstände zu Begriffen, in denen wir Mittel der Beherrschung, Ordnung und Bewertung des Wirklichen, aber nicht erst das wahrhaft Wirkliche selbst haben. Die metaphy- sische Hypostasierung dieser Begriffe zur eigentlichen wahren Wirklichkeit ist bis auf den letzten Rest auszurotten und der wahre Realismus durchzuführen, der zugleich strengster Idealismus ist, nämlich die Anerkennung, daß es die Gegenstände immer nur als vorgefundenen Bewußtseinsinhalt gibt, und daß keine Wissen- schaft eine wirklichere Wirklichkeit erzeugt als diese, sondern daß alle Begriffe nur Mittel und Abbreviaturen sind, um diese allein wahre und allein wirklich bleibende Wirklichkeit zu bewältigen. Alle Berichtigungen von Schein und Illusion sind nur Berichti- gungen der Erfahrung durch Erfahrung, nicht Korrekturen der Erscheinung durch ihre Interpretation aus der wahren d. h. nicht- erscheinenden Wirklichkeit. Die ganze Atomistik ist nicht die Abbildung des eigentlichen Wirklichkeitsverhaltes, sondern ein Interpretations- und Beherrschungsmittel der allein wahren quali- tativen Wirklichkeit, das ihr gegenüber mit bewußter Einseitig- keit und Ignorierung alles Qualitativen verfährt. Alle historischen

ß^A Moderne Geschichtsphilosophie.

Begriffe von geistigen Bewegungen, Volksgeistern, Tendenzen, Entwickelungszielen offenbaren nicht die eigentliche in der Historie wirkende Kraft, im Verhältnis zu der die individuellen und per- sönlichen Besonderheiten und der wirkliche Verlauf nur Erschei- nungsformen dieser Kräfte wären, sondern sie formen nur die Fülle historischer Erfahrung und Erinnerung zu ]^egriffen, ver- möge deren sie übersichtlich und verständlich wird, ohne daß durch sie die allein wahre Wirklichkeit aufgehoben würde. Daß irgend ein Gegenstand wirklich sei, objektiv existiere, wird daher nicht festgestellt durch seine Vergleichung mit irgend einem be- grifflich gewonnenen Bild einer angeblich vom Bewußtsein unab- hängigen transzendenten Welt, sondern nur durch das mit innerem Zwang sich ergebende Urteil, daß etwas existiert und durch die ethisch-teleologische Grundüberzeugung, daß ein solches Existential- urteil, wie es notwendig aus dem Bewußtsein hervorgeht und den Gegenstand in einen notwendigen Zusammenhang irgend welcher Art einfügt, gefällt werden müsse, um in einer Welt so gefällter und geordneter Existentialurteile den Boden unseres sittlichen Wirkens zu bilden.

Es liegt der Einwurf nahe, eine solche Lehre sei Solipsismus, und in der Tat ist der Solipsismus für viele Leute ein Durch- gangszustand, durch den sie erst zur wirklichen Erfassung der Grundprobleme kommen. Er selbst aber ist nicht bloß praktisch absurd , sondern auch logisch ganz unmöglich und in keiner Weise die Konsequenz einer solchen Position. Vielmehr gehört zu ihr ganz wesentlich die Einsicht, daß ja auch das individuelle Ich selbst ein vorgefundener Bewußtseinsinhalt ist, von dem das Bewußtsein überhaupt sich unterscheidet und den es im Zusammenhang mit der ganzen sonstigen Erfahrungswelt als Ob- jekt vorfindet und zusammenordnet. V.s ist das psychologische vSubjekt, das Stoff und Gegenstand des logischen Bewußtseins in jedem Moment und in jeder Richtung werden kann, von dem erkennt- nistheoretischen Subjekt oder dem Bewußtsein überhaupt streng zu scheiden. Alle Erkenntnistheorie und mit ihr alle grundlegende philosophische Begriffsbildung geht nicht vom erfahrbaren und der Erfahrungswelt angehörenden psychologischen, menschlich- persönlichen Subjekt, sondern von dem mit ihm verbundenen, aber begrifflich abtrennbaren unpersönlichen Bewußtsein überhaupt aus, für das die W'elt war, ehe mein psychologisches .Subjekt ge- boren ward, und für das sie sein wird, wenn es gestorben sein

Moderne Geschichtsphilosophie. (5g r

wird, das wir immer hinzudenken, wenn wir von einer Geschichte der Erde oder des Sonnensystems oder der Gestirnwelt sprechen auch in Zeiten, wo kein menschliches Wesen existiert hat.

Eine solche Position vertritt Rickert als Angehöriger der Gruppe, die in der Fortbildung der Kantischen Lehre die Auf- gabe der Philosophie erblickt, und die dabei die durch die klas- sische Metaphysik abgebrochene Entwickelung der Kantischen Lehre durch Eichte zu ihrem Leitgedanken hat. Die klassische Spekulation, ihre Geschichtsphilosophie und Ethik hat vorschnell die aus der damals mächtig aufblühenden empirischen Geschichte und aus der damit bewirkten Ausweitung und Relativierung der kulturhistorischen Begriffe sich ergebenden Probleme lösen wol- len. Kant selbst hatte seinen Transzendentalismus als Logik der Naturwissenschaften geschaffen und die Psychologie prinzipiell in den gleichen Rahmen gestellt, wenn er auch auf diesem Gebiet nicht vielmehr als Beschreibung für möglich hielt. Eine trans- zendentale Logik der Geschichte lag nicht in seinem Horizont. Die klassische Spekulation hat das Geschichtsproblem dagegen allerdings zentral erfaßt und in die Philosophie einbezogen. Aber sie wollte es nicht auf dem Umweg über eine erst zu schaffende Logik der Geschichte, sondern unmittelbar durch die Metaphysik des Kosmos selbst lösen. Sie verschmähte es, zunächst erst die empirische Geschichte zu logisieren, und historisierte dafür sofort Gott und die Weltvernunft. Was sie wollte, läßt sich jedoch wirklich erreichen nur durch umsichtige Ausbildung der erkennt- nistheoretischen Position. Und zu einer solchen Ausbildung ge- hört vor allem die Entwickelung desjenigen, was Kant und Fichte bei ihren erkenntnistheoretischen und methodologischen Betrach- tungen zurückgestellt hatten, der Logik der Geschichte. Beide hatten die Logik der Geschichte nur gestreift. Zu einer weiteren Fortführung dieser besonders von Fichte entwickelten Ansätze kam es nicht, weil sich auf dieses brennende Problem sofort eben jene Schelling-Hegelsche Metaphysik stürzte und alles In- teresse absorbierte. Nachdem nun aber dieser metaphysische Lösungsversuch aufgegeben ist und in seiner Ermattung nur der Erneuerung der alten naturalistischen Aufklärungstheorien Raum gegeben hat, ist es Zeit, wieder an jene fruchtbarsten Gedanken anzuknüpfen und gerade das auszubilden, was sie vernachlässigt hatten, die Logik der Geschichte '''').

*5) Vgl. auch Rickerts Aufsatz »Ueber die Aufgabe einer Logik der Ge-

586 Moderne Geschichlspliilosophie.

Diese Position beherrscht Geist und Methode des ganzen Bu- ches. Eine Folge aus ihr ist auch der Umstand, der vielleicht gerade solchen Lesern auffällt, die, etwa von Dilthey und VVundt gebildet, die Psychologie als Grundlage einer selbständigen Ge- schichtsforschung und vor allem einer idealistischen Geschichts- deutung ansehen. Solcher wird es gerade unter den Theologen viele geben. Rickert bekämpft nun aber einen solchen Psy- chologismus aufs lebhafteste als völlig unzureichend zu diesem Ziel, und gerade dieser Kampf ist besonders bezeichnend und klärend für die Grundidee des Buches. Auf die Psychologie hat sich die Philosophie zurückgezogen, als die Unzulänglichkeit des Materialismus erkannt war, als man begriffen hatte, daih alle Wirklichkeit im Grunde psychisches Phänomen ist, und daß die Idee einer Außenwelt nur die Betrachtung der sie betreffenden psychischen Erscheinungen ohne Rücksicht auf das sie wahr- nehmende und gestaltende psychologische Subjekt ist. Damit schien im allgemeinen ein fester Grund für eine idealistische Weltbetrachtung gewonnen und schien insbesondere auch eine Grundlage für die Selbständigkeit der Geschichte erreicht, wenn man als deren Elemente die besonderen psychischen Tätigkeiten betrachtete, die das soziale Leben und die Individualisierung des Selbst und dann weiterhin Staat, Recht, Kunst, Wissenschaft und Religion hervorbrachten. So schien die Geschichte als Geisteswis- senschaft der Naturwissenschaft als der Körperwissenschaft selb- ständig gegenübergestellt, und aus dem Wesen der psychischen Grundtätigkeiten schienen sich auch Normen und Ideale für die Beurteilung der geschichtlichen Hervorbringungen irgendwie ergeben zu müssen. Allein auf diesem Wege, zeigt Rickert, ist das an sich höchst erstrebenswerte Ziel niemals zu erreichen. Denn erstens ist auf diesem Wege ein Unterschied zwischen Geist und Körper- welt niemals sicher festzustellen, und soweit er festzustellen ist, niemals so, daß er genügte für die Grundlegung einer besonderen Logik der Geschichte. Auf diesem Standpunkt bleibt ja doch auch die Körperwelt immer nur eine Fülle psychischer Erscheinungen und bleibt der Geist doch immer zugleich der Inhaber der Naturwahr- nehmungen. Dann aber besteht immer noch das Problem des Ver- hältnisses dieser Naturinhalte zu den höheren geschichtsbildenden psychischen Inhalten und damit der Zwang naturalistischer Frage-

schichte-i im Archiv f. syst. Phil. VIII 1902. Ueber Fichte s. die lehrreiche Arbeit von E. Lask, Fichtes Idealismus u. die Geschichte, 1902.

Moderne Geschichtsphilosophie. 687

Stellungen. Und, je mehr eine solche Psychologie wissenschaftlich bearbeitet wird, um so mehr geht sie auf allgemeine psychologische Gesetze aus, denen gerade das entschwindet, was das Wichtigste an der Historie ist, das Einmalige, Besondere und Individuelle. Zweitens und vor allem aber ist es von der Psychologie aus prinzipiell unmöglich, den wesentlichen Inhalt der Historie, die historischen Kulturwerte, wirklich als das zu begreifen, was sie sein wollen, als normgebende Werte und völlig unmöglich das Verhältnis dieser Wertansprüche zu einem letzten höchsten nor- mativen Werte zu regeln. Die Psychologie kennt das Denken nur als psychologisches gesetzmäßiges Produkt und ebenso die Werte nur als Produkte des psychologischen Ablaufes. Der psychologische Ablauf ist aber etwas rein Tatsächliches, das als solches überhaupt gegen alle Normen gleichgültig ist. Kommen die Normen als Normen in Betracht, dann sind sie eben gerade nicht psychologische Produkte oder Resultate der Abläufe in den psychologischen Subjekten, sondern diesen Ablauf zu ihrem Gegen- stand machende völlig eigenständige und autonome Tätigkeiten des Bewußtseins. Weit entfernt, Folgen von Gesetzen des Wirk- lichen zu sein, bringen sie selbst zuerst Idee und Streben nach Gesetzen hervor. Alle Normen und alles Denken gehen eben nicht von dem im Ablauf der Erfahrung eingeschlossenen und selbst Stoff der Betrachtung bildenden psychologischen Subjekt, sondern vom erkenntnistheoretischen Subjekt aus. Die Psychologie be- schäftigt sich nur mit dem psychologischen Subjekt, das gerade wie alle andere Erfahrung eben Erfahrungsinhalt und Stoff des Denkens ist. Die Psychologie selbst ist erst ein Erzeugnis des Denkens; der Sitz des Denkens aber wie aller Normen ist nur das erkenntnistheoretische Subjekt, das Bewußtsein überhaupt, für das alles Tatsächliche Stoff ist imd das aus seinem Apriori über- haupt erst wissenschaftliche Methoden und normative Werte an diesen Inhalt heranbringt. Der Ausgangspunkt für die Logik der Geschichte kann daher nicht das psychologische Subjekt und die Psychologie, sondern nur das erkenntnis-theoretischeSubjekt und das in ihm eingeschlossene logische Apriori sein. Nur die Selbstanalyse des erkenntnistheoretischen Subjektes und nicht die Psychologie kann daher das Problem der zur Bearbeitung des Be- wußtseinsinhaltes dienenden Methoden und damit das Problem des Verhältnisses naturwissenschaftlicher und historischer Logik auflösen.

633 Moderne Geschiclitspliilosophie.

Von diesen Grundlagen aus wird der Gang der mit meister- hafter Umsicht geführten Einzeluntersuchungen verständlich wer- den, die überall nur die logischen Aprioris des wirklichen, in den Einzelwissenschaften bereits vorliegenden Betriebes der Wissen- schaft herausstellen und aus diesem Apriori nun ihren prinzipiellen methodischen Sinn regulieren will.

III.

So kommt es, daß Rickert zuerst das logische Verhalten der Naturwissenschaften untersucht, die in einer Fülle grofi- artiger Untersuchungen ihr Verfahren ja selbst hinreichend ent- wickelt haben. Sie bilden das relativ allgemein anerkannte logi- sche Verfahren, während die Logik der Geschichte erst geschaffen werden muß. Daher ist es natürlich, die letztere erst aus der Auf- deckung ihres Verhaltens zu diesem bekanntesten logischen Ver- fahren zu erhellen. Dadurch wird auch erst die Neigung zur Na- turalisierung der Geschichte wirklich überwunden werden können.

Der Sinn dieses Verfahrens ist überall die Ueberwindung der durch kein Denken unmittelbar zu bewältigenden intensiven und extensiven qualitativen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Sie bildet aus der Konstatierung regelmäßig überall sich wiederholen- der Vorgänge den Begriff eines Geschehens, das durchgehenden Gesetzen gehorcht, und das, an einem einzelnen Punkt der Wirk- lichkeit gesetzmäßig verstanden, auch für jeden beliebigen anderen die gleichen Gesetze als geltend voraussetzen darf. So ist ihr Ideal die Auffassung der gesamten Erfahrungswirklichkeit als eines Ganzen, in dem alle Vorgänge durch allgemeingültige, ein allge- meines Gesetz der Relation nur auswirkende Gesetze schlechthin berechenbar sind. Um dieses Ideal zu erreichen, muß sie freilich in immer höherem Grade von allem Einmaligen, Individuellen, Qualitativen absehen, den ganzen Erfahrungsinhalt in Relationen letzter qualitätsloser Dinge auflösen, in deren geforderter absoluter Einfachheit und Qualitätslosigkeit der eigentliche Charakter des naturwissenschaftlichen Ideals , die völlige Austilgung alles Einmaligen und Besonderen und die völ- lige Reduktion alles Bewußtseinsinhaltes auf etwas Allgemeines, immer und überall Gelten- des, zum charakteristischen Ausdruck kommt. Und zwar er- streckt sich diese Begriffsbildung keineswegs bloß auf die Körper- welt, sondern ebenso auf die psychischen Erscheinungen, weshalb

Moderne Geschichlsphilosophie. 68o

die Psychologie, soweit sie allgemeine Gesetze der Verbindung und Wechselwirkung psychischer Elementarphänomene aufsucht, zu einer Naturwissenschaft zu gestalten ein berechtigtes logisches Ideal ist. Ja, auch die Gebilde der menschlichen Geschichte können einer solchen Betrachtung unterworfen werden und unter den Gesichtspunkt allgemeiner, immer wiederkehrender Vorgänge und Verhältnisse gestellt werden, nur daß dann eben solche Untersuchungen nichts mehr mit dem zu tun haben, was die wirkliche Geschichte interessiert und beschäftigt. Das ist dann die Aufgabe der Völkerpsychologie, Sozialpsychologie, und der Soziologie, soweit sie allgemeine Gesetze der Vergesellschaftung und Wechselwirkung anstrebt. Ueberall handelt es sich dann um Relationsgesetze und mit deren Hilfe um ein allgemeine Begriffe bildendes Verfahren, das die Wirklichkeit bewußt einseitig nur unter dem Zweck der Bildung von überall anwendbaren All- gemeinbegriffen bearbeitet. Mit der »Natur« im gewöhnlichen engeren Sinne des W^ortes, wo es die Körperwelt bedeutet, hat dieses Verfahren daher überhaupt nichts Besonderes zu tun. Es ist nur an der Körperwelt besonders klassisch ausgebildet und führt den Namen nur a potiori. Man kann nur sagen, daß es in der Anwendung auf die Körperwelt lohnendere und zusammen- hängendere Resultate hervorgebracht hat, und daß der Versuch, physische und psychische Erscheinungen derart einem gemein- samen Begriff zu unterstellen, ein bis jetzt noch unverwirklichtes Ideal ist. Fehlt ja auch in der Anwendung auf die Körperwelt selbst noch überaus viel an der Erreichung eines solchen Ideals und sind die allgemeinen Begriffe der Erforschung der Körper- welt heute in einer Revolution begriffen, die an den Gegensatz ptolemäischer und kopernikanischer Theorien erinnert. Es ist daher vielleicht überhaupt zweckmäßiger, diese Methode auch terminologisch gar nicht mit dem vieldeutigen Wort Natur zu verbinden, sondern sie mit Windelband lieber einfach »nomo- thetisch<- zu nennen"'^). Steht aber die Sache so, dann ist ganz klar, daß das Wesen dieser Methode gerade die Ignorierung einer Seite der Erfahrungswelt ist und seinen Zweck eben in der durch diese Ignorierung herbeizuführenden Herausstellung allgemeiner, für alle Fälle geltender Gesetze hat. Das Individuelle und Qua- litative der Erfahrung ist beseitigt und die Erfahrung umgeformt

'*^) S. den Aufsatz Windelbands >Geschichte und Naturwissenschaft«, 1894 ; auch in »Präkidien« 1911.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. aa

5qo Moderne Geschichtsphilosophie.

ZU Begriffen, die nicht die eigentliche, sondern im Gegenteil eine ganz uneigentliche Wirklichkeit ergeben, die überhaupt gar keine Wirklichkeit darstellen, sondern Mittel zu ihrer Ordnung und Be- herrschung sind. Diese Mittel gehen freilich notwendig aus der Struktur des erkennenden Bewußtseins hervor und stellen sich mit dem Zwang innerer Notwendigkeit sobald ein, als das Erkennen sich auf die Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit unter Absehung von den individuellen Besonderheiten der konkreten Erfahrung besinnt. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Wirklichkeit rational d. h, gesetzlich von allgemeinen Begriffen aus übersehbar. Aber von diesem Standpunkt aus ist dann gerade alles Besondere und In- dividuelle irrational, reine, durch Begriffe zu eliminierende, Tat- sache der Erfahrung. Jedes besondere Stück Schwefel, jede be- sondere Lichterscheinung, jeder einzelne Organismus, jede mensch- liche Persönlichkeit oder Gemeinschaftsbildung ist unter diesem Gesichtspunkt etwas Besonderes, das als solches aus chemischen, optischen, psychologischen und soziologischen Theorien nicht ab- geleitet werden kann, das ihnen vielmehr nur insofern zugänglich ist, als in diesem Besonderen und Qualitativen die auch sonst überall konstatierbaren Gesetze wirksam sind. Man darf sich in dieser Erkenntnis auch nicht durch die gewöhnliche Meinung täuschen lassen, die Dubois-Reymond mit seinem bekannten Ideal des »Laplaceschen Geistes« ausgedrückt hat, daß nämlich aus der vollständigen Kenntnis aller letzten Dinge und ihrer Relationsge- setze jede einzelne Erscheinung abgeleitet werden könne. Denn einmal liegt auf der Hand, daß die qualitätslosen letzten Dinge, wenn sie wirklich die alles erklärenden Kombinationselemente der Wirklichkeit wären d. h. wenn ihre Begriffe metaphysisch als Abbild der Wirklichkeit betrachtet würden, niemals erfahrbare, qualitative Wirklichkeit ergeben könnten. Und zweitens steckt in jenem Begriff der Weltformel die Voraussetzung der Kenntnis der tatsächlichen Lagerung und Bewegungsverhältnisse aller Welt- elemente in einem bestimmten Momente , w'elche tatsächliche Lagerung selbst ja nicht wieder aus allgemeinen Begriffen ableit- bar wäre, sondern vielmehr selbst den letzten Rest des Indivi- duellen und Besonderen d. h. des Irrationalen darstellte, der auch bei dem denkbar weitest getriebenen Ideal naturwissenschaftlicher Begriffe übrig bliebe. Wäre also aus der Weltformel das indivi- duelle Geschehen wenigstens idealiter ableitbar was aber aus den vorhin angegebenen Gründen auch idealiter nicht der Fall

Moderne Geschichtsphilosophie. 6oi

ist , SO wäre doch diese Ableitung nur möglich vermöge des in der Weltformel selbst schon mitgesetzten Inbegriffs von rein Irrational-Tatsächlich-Individuellem.

Somit ist deutlich, daß die naturwissenschaftliche oder no- mothetische Begriffsbildung eine Seite der Erfahrungswirklichkeit oder unseres Bewußtseinsinhaltes nicht bloß ignoriert, sondern geradezu ausmerzt. Diese Seite muß aber ebenfalls einer gedank- lichen Bearbeitung zugänglich sein, und es zeigt sich, daß die dieser Seite zugewendete Bearbeitung gerade das historische Denken darstellt. Es handelt sich um gedankliche Bearbeitung des bloß Tatsächlichen, Einmaligen, Besonderen, vom allgemein- gesetzlichen Standpunkt aus Irrationalen. Damit ist schon gesagt daß diese zweite Methode nicht eine einfache Registrierung der unendlichen Mannigfaltigkeiten sein kann. Denn das wäre eben- sosehr unmöghch, als es keine Wissenschaft wäre. Es kommt vielmehr auf eine Urteils- und Begriffsbildung an, die auch hier die unendlichen Mannigfaltigkeiten durch Allgemeinbegriffe über- windet ; aber diese Begriffe müssen hier ihr Wesen darin haben, daß sie das Charakteristische und Interessierende dieser Mannigfaltigkeiten zum Organisations- prinzip haben.

Der Zweck, das Qualitativ-Mannigfaltige unter Gesichtspunkten individueller besonderer Zentren zu organisieren, bedingt die Me- thode des historischen Denkens. Der organisierende Gedanke solcher Allgemeinbegriffe kann aber dann natürlich kein Gesetzes- begriff sein, sondern nur der Begriff desjenigen, was eine Reihe einzelner Vorgänge zu einem einmaligen, individuellen und unteil- baren Ganzen zusammenhält, d. h. der Begriff ihres Wertes, den sie für das jeweils sie realisierende menschliche Bewußtsein haben. Es handelt sich also hier zunächst gar nicht um den Wert, den sie für den Darsteller selbst haben, sondern nur ganz im allgemeinen um den Wert, den einmalige individuelle Gebilde des Kosmos, der Erdentwickelung, der organischen Welt für Entstehung und Dasein des Menschen überhaupt haben, und dann um die verschiedenen tatsächlich wirksamen Wertbeziehungen, die in der menschlichen Geschichte selbst für das Urteil der gewesenen und gegenwärtigen Menschen Wirklichkeitskomplexe zu Wertganzen individualisiert haben. Welche Stellung der Historiker zu diesen tatsächlichen Wertbeziehungen persönlich einnimmt, ist zunächst ganz gleich- gültig; genug, daß die Menschen die historische Wirklichkeit nach

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Beziehungen auf das ihnen jeweils Wichtige oder Wesentliche gliedern, und daß dadurch die historische Wirklichkeit darstellungs- fähig wird, indem die Dinge in ihren abgestuften Beziehungen zu solchen Wertkomplexen zusammentreten und in ihrem Ablauf nach der Hervorbringung und Verschlingung solcher Wertganzen geschildert werden können. An Stelle der Gesetzesbegriffe der Naturwissenschaften treten die Begriffe von individuellen Wert- ganzen. Diese Wertganzen können ausgebreitete Kollektiv-Er- scheinungen sein ; sie können in einzelnen Persönlichkeiten kul- minieren, sie können in ihrem weitesten Zusammenhang und ihrer Wechselwirkung geschildert werden ; sie können auf die kausalen Zusammenhänge ihres Aufbaues hin untersucht werden. Alles das sind die Aufgaben der historischen Wissenschaft, wie sie wirk- lich tätig ist, wenn sie ihr Quellenmaterial kritisch gesichert hat und aus ihm die historische Wirklichkeit rekonstruiert. Immer aber bleibt dabei das organisierende Prinzip ihrer Tätigkeit die Auswahl der besonderen Tatsachen unter dem Gesichtspunkt des Zusammenschlusses zu individuellen einmaligen Wertganzen. Der Historiker muß dabei durchaus unparteilich sein und seine eigenen Wertungen zurückstellen ; er soll nur die Organisation der ge- schichtlichen Einzelheiten zu tatsächlich als solchen empfundenen und darum wirksamen Wertganzen schildern. Es ist eine völlig objektive, rein phänomenologische Teleologie, die mit Metaphysik nichts zu tun hat, sondern nur die Bedeutung hat, die Auslese aus der Unendlichkeit der Tatsachen und damit den »historischen Begriff < zu ermöglichen.

So wird der Historiker nach Erledigung der kritischen Quel- lenforschung, die hier nicht direkt interessiert, seine Darstellung immer um ein Zentrum sammeln müssen, das dabei als wert- bestimmend angesehen wird und von dem aus er das von ihm herausgegriffene Wertganze als eine individuelle Totalität organi- siert. Es sind das z. B. im weitesten Sinne die Menschheit, dann die Kulturmenschheit, dann Völker, Klassen, Gemeinschaften, Per- sonen. Immer handelt es sich dabei um Darstellung der das Handeln und Streben dieser Zentren bestimmenden individuellen Wertganzen in ihrem historischen Zusammenhang, in ihrem Werden, in ihrer Entvvickelung. Herrscht daher in der Naturwissenschaft als letzter Begriff der eines alle Veränderungen gleichmäßig bedingenden Ge- setzes, so herrscht in der Historie als letzter Begriff der einer alle einmaligen Tatsachen zu einer Kette von Wertbildungen zusam-

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menschließenden Entwickelung. Üb diese Entwickelung rein pro- gressiv ist und eine fortwährende Wertsteigerung bedeutet oder nicht, ob sie irgend einmal zu einem absoluten Werte führt oder nichts ist dabei für den Historiker zunächst ganz gleichgültig. Er hat nur den Fluß der einmaligen Ereignisse zu gliedern nach dem objektiv-teleologischen Prinzip des Zusammenschlusses zu immer neuen und immer eigenartig sich verschlingenden Wertganzen, die als solche direkt oder indirekt empfunden werden von dem historischen Zentrum, in Rücksicht auf welches er seine Dar- stellung gibt. Dieser Begriff der Entwickelung schließt dabei vollkommen den kausalen Zusammenhang der Ereignisse ein, nur daß ihm der Aufweis des Kausalzusammenhanges bloß Mittel zur Herstellung historischer Ganzen und niemals Selbstzweck ist, und daß er den Kausalzusammenhang zwischen zwei individuellen Er- fahrungstatsachen mit Rücksicht auf die Besonderheit des Wirken- den und nicht im Sinne des alle Besonderheit ausschließenden naturwissenschaftlichen Kausalbegriffes bilden wird '''). Nach diesen methodischen Grundsätzen verfahren in Wahrheit alle unsere klassischen historischen Darstellungen. Es sind hier nur die in- neren Gründe ihres Verfahrens aufgedeckt. Aber es ist zugleich klar, daß die historische Methode in diesem Sinne gar nicht bloß von der im engeren Sinne sogenannten menschlichen Geschichte gilt. Sie gilt vielmehr von aller begrifflichen Bearbeitung des Individuellen und Besonderen, wo es sich überhaupt in unserem Erfahrungsinhalt finden mag. Nur das, was auf keine mensch- lichen Werte sich beziehen läßt, fällt ganz aus ihrem Bereich, wie z. B. die Astronomie, soweit sie über das Sonnensystem hinaus sich erstreckt. Aber schon die Geschichte des Sonnen- systems ist mit Rücksicht auf die Erde die teleologisch organi- sierte und interessierende Darstellung eines einmaligen indivi- duellen Wertganzen , noch mehr die Erdgeschichte und die Geschichte der organischen Wesen. Unter solchem Gesichtspunkt ist die Darstellung jedesmal nicht naturwissenschaftlich-allgemein, sondern historisch-besonders orientiert. Es ist dann freilich nur selbstverständlich, daß das eigentliche Hauptthema der Geschichte nicht diese kosmisch-tellurischen Vorgangsreihen, sondern die für die Menschen wichtigsten Vorgänge ihrer eigenen Entwickelung

*') Es ist der allerdings schwierige Begriff einer Individualkausalität im Unterschiede vom naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegrifif ; s. Sergius Hessen, In- dividuelle Kausalität. Studien zum transzendentalen Empirismus, 1909.

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sind, und daß daher die Geschichte sich wesenthch mit der Menschheit und innerhalb dieser wieder mit der Kulturmenschheit beschäftigt. Der Name »historische Methode« ist also auch hier nur a potiori begründet, und vielleicht ist auch hier Windelbands Terminologie vorzuziehen, der von idiographischer Methode spricht. Wie aber auch die Namen lauten mögen, das Wesen der Sache ist deutlich. Die historische Methode geht auf das Individuelle und Eigentümliche, weil in diesen einmaligen Vorgängen allein die Werte des Bewußtseins gestaltet und empfunden werden. Sie stellt sich notwendig neben die naturwissenschaftliche Methode, weil das Bewußtsein vermöge innerer Notwendigkeit nicht bloß die Welt begrifflich rationalisieren und übersehbar machen muß, sondern weil es auch Werte hervorbringen muß und seine Orien- tierung über die Werte des Lebens nur durch wissenschaftlich objektive Kenntnis der historischen Entwickelung der mensch- lichen Wertbildungen gewinnen kann. Ja das letztere ist noch wichtiger als das erstere. Denn, welchen Sinn hätte es, die Welt nomothetisch zu überschauen, wenn nicht diese relative Ueber- sehbarkeit und Beherrschbarkeit gerade für die Verwirklichung der Werte des Bewußtseins eine notwendige Voraussetzung wäre? Ueber die dem menschlichen Bewußtsein geltenden Werte aber gewinnen wir Klarheit nur durch historische Orientierung über ihre Entwickelung und durch Zusammenfassung des Historisch- Erworbenen. Das treibt uns zur Geschichte und das organisiert zugleich ihre Methode.

So sind die beiden Methoden prinzipiell herausgearbeitet. Aber in dieser Schärfe sind sie nur begrifflich zu sondern als die beiden notwendigen Pole, zwischen denen sich unser Denkert bewegt. In der wirklichen Ausübung der Wissenschaft gibt es naturgemäß zahllose Kombinationen der nach einer dieser Methoden gedachten Bestandteile miteinander. Und das ist auch in der Natur der Sache selbst begründet. Denn die rein natur- wissenschaftliche und die rein historische Begriffsbildung sind nur die logischen Extreme. Zwischen ihnen gibt es notwendig Ueber gangs- und Mischformen. Die Naturwissenschaft strebt ja nur danach, das Besondere zu eliminieren und kann es nicht einmal in der allgemeinsten Naturwissenschaft, der Mecha- nik, vollständig. Das Streben aber bedingt bloß annähernde Lösung der Aufgabe und Stufen in dem Grade der erreichten Allgemeinheit. Sie gliedert sich geradezu nach dem Grade, in

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dem diese Ausmerzung gelungen ist, und ihre einzelnen Diszi- plinen stehen daher oft stark unter dem Einfluß des Beson- deren. Es gibt bloß relativ naturwissenschaftliche Begriffsbil- dungen, die starke historische Bestandteile enthalten, und deren stärkste Annäherung an die Historie in der Biologie vorliegt. Andererseits setzt dann auch die Historie nicht bloß allgemeine Naturzustände, sondern auch allgemeine psychologische Begriffe imd allgemeine, immer wiederkehrende soziale Vorgänge voraus. Es gibt also umgekehrt auch hier bloß relativ historische Diszi- plinen, die starke naturwissenschaftliche Bestandteile enthalten, wie das vor allem von der Soziologie gilt. Das ist alles voll- kommen in der Ordnung. Es kommt ja nur darauf an, daß die prinzipiellen Gegensätze der Methoden verstanden und die logischen Strukturen der entgegengesetzten Denktendenzen überhaupt erkannt sind. Dann schaden solche Mischformen nicht bloß nichts, son- dern, wie sie notwendig aus der Struktur des Denkens hervorgehen, vermögen auch gerade sie die Wissenschaft zu fördern.

Damit ist das nächste Ziel Rickerts erreicht. Der prinzipielle Unterschied naturwissenschaftlicher und historischer Methode ist erkenntnistheoretisch deduziert, und aus der Differenz der beiden Denkformen heraus sind durch die im Wesen des Bewußtseins gesetzten Ziele die Einzelzüge der Methoden festgelegt, sofern sie Methoden empirischer Wissenschaft, Bearbeitungen des gegebenen Bewußtseinsinhaltes oder der Erfahrung, sind. Allein schon Rickerts Einleitung hob hervor, daß es sich bei dem ganzen Problem nicht bloß um erkenntnistheoretische Sonderung zweier empirischer Wissenschaften und um die Entscheidung der Kämpfe um die »neue Methode« der Historie handelt, durch welche die philoso- phische Unbildung heute die natürliche Fortentwickelung unserer bisherigen mit sicherem Instinkt verfahrenden Historie stört. Es kommt ihm zugleich auch auf die Bedeutung dieser Unter- scheidung für die allgemeinen Fragen der Welt- anschauung, auf die Wirkungen eines wahrhaften historischen Denkens auf die Philosophie als Ganzes, an.

Diese Frage ergibt sich aber auch unmittelbar aus seiner er- kenntnistheoretischen Deduktion der historischen Methode selbst. Das diese Methode hervorbringende, durch die Organisation des Bewußtseins uns gesetzte Ziel ist, die Wirklichkeit auf die in ihr aufkämpfenden und sich zu Lebenszusammenhängen gestaltenden Werte hin zu bearbeiten ; und, da diese Werte nur in konkreten,

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erleb- und erfahrbaren Wirklichkeiten und nicht in abstrakten Begriffen liegen können, so ist diese Wertuntersuchung an das Gebiet des Einmaligen und besonderen d. h. an die Historie ge- wiesen. Da aber ergibt sich von selbst die Frage : wie hängt die Erkenntnis der historischen Wertgestaltungen mit der eigenen gegenwärtigen Wertgestaltung zusammen.^ wie können wir aus erforschten, tatsächlichen, von Wertgedanken organisierten Zu- sammenhängen zur eigenen Organisation eines neuen und mög- lichst richtigen Wertzusammenhangs übergehen ? wie kann uns die Fülle der in der Entwickelung auftauchenden Werte etwas Objektives lehren, nach dem sich unsere eigene Wertbildung als nach objektiv gültigen d. h. notwendigen Maßstäben richten kann? Es scheint in dieser Hinsicht die Geschichte doch hinter der Naturwissenschaft zurückzustehen. Die letztere kommt in der Verfolgung ihres wesentlichen Zieles zu objektiven Ergeb- nissen, d. h. freilich nicht zu einer Abbildung der objektiven Welt, aber zu einer geltenden Ordnung der Welt, auf die wir uns als auf eine notwendige und darum sichere Wahrheit mit Handeln und Denken einrichten können und müssen. Und gerade diese Objektivität wird von den Vertretern der natur- wissenschaftlichen Disziplinen so eifrig gepriesen und der Ge- schichtswissenschaft entgegengehalten, die von ganz subjektiven und schwankenden Beurteilungen der historischen Werte nie frei sein könne. Muß es nicht, wenn die erkenntnistheoretische De- duktion nicht bloß zur Methode der empirischen Geschichtsdar- stellung, sondern mittelst ihrer zu einer geschichtsphilosophischen Begründung der geltenden Werte kommen soll, auch für die Ge- schichte eine analoge ^ Objektivität« geben.? Erreicht sie ihr Ziel, wenn sie ein Bündel schwankend beurteilter historischer Wert- gebilde zur Auswahl vorsetzt? Und hat sie dann, wenn sie das Ziel nicht erreicht, wenn sie mit einem der feinfühltigsten Histo- riker, Renan, sich in den Abgrund des Relativismus und der Skepsis stürzt, überhaupt noch einen Sinn, der es lohnt umständ- lich ihre Methoden zu deduzieren?

Die Geschichte muß objektiv sein ; objektiv nicht bloß in dem Sinn der Unparteilichkeit des Historikers und der Nicht- Einmengung eigener Wertschätzungen in die Darstellung der wirk- lichen Entwickelung, sondern objektiv in demSinne, daß sie die in ihr entstehen den Werte doch auf einen festen Wertmaßstab der persönlichen Stellung

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zu beziehen erlaubt, und daß sie d i e s e n W e r t- m a ß s t a b durch die Erkenntnis ihrer E n t w i c k e- lungen zugleich selbst als einen objektiv d. h. unbedingt gültigen gewinnen lehrt. Es ist deutlich : unter dem Titel der »Objektivität der Geschichte« behandelt Rickert schließlich als letztes Kernproblem dasjenige, von dem ich im Antang dieser Besprechung ausgegangen bin. Es ist das bren- nende Problem des Verhältnisses von Geschichte und Normen, Entvvickelung und Entvvickelungsmaßstab, das Problem, das die Hegeische Philosophie in das Zentrum ihres Denkens gestellt hatte, und das heute ohne die hinfällig gewordenen Hegeischen Voraussetzungen gelöst werden muß. Die Hegeische Lehre hat den Mangel gehabt, daß sie naturwissenschaftliche und historische Begriffe direkt aufeinander reduzieren wollte, daß sie das nomothe- tisch Allgemeine zur hervorbringenden Kraft und zum endgültigen Ziel des idiographisch Besonderen hatte machen wollen. Damit hat sie gerade das Besondere und Einzelne in der Geschichte schließlich wieder geopfert und die ganze Geschichte zur wert- losen Vorstufe der Realisation des allgemeinen Begriffes gemacht, und es hilft nichts nun diesen Begriff wieder einen konkreten zu nennen und von der abstrakten Allgemeinheit zu unterscheiden. Die Frage Hegels aber bleibt allerdings bestehen. Sie muß nur auf einem anderen Wege beantwortet werden. Damit ge- langen wir aus der Methodik der empirischen Geschichtsforschung zu den geschichtsphilosophischen Problemen. Rickert legt Wert darauf zu zeigen, daß diese Probleme direkt aus der empirischen Geschichte entspringen und daß ihre Lösung von den schon bei dieser gebildeten Begriffen aus unternommen werden muß. So faßt sein Buch die Logik der empirischen Geschichte mit dem geschichtsphilosophischen Problem des objektiv-geltenden Wert- systems zusammen; vielleicht zu eng, um der an und für sich schon eine eigene wichtige und fruchtbare Theorie darstellenden Logik des Geschichtsdenkens die volle und selbständige Wirkung zu sichern ; vielleicht auch zu eng, um umgekehrt nun auch das geschichtsphilosophische System geltender Werte in seinem Eigen- interesse und seiner von der Ethik her entspringenden Sondernatur voll zu würdigen. Aber das ist in diesem Zusammenhange gleich- gültig, wo es sich ja nur um die geschichtsphilosophische Bedeutung des Werkes und um die anfangs aufgeworfene Frage handelt *^^).

**) Ueber die von hier aus entspringenden Folgen für das empirische Ge-

6q8 Moderne Geschichtsphilosophie.

IV

Die Hauptmasse von Rickerts Buch handelt von dem histo- risch-methodischen Problem im rein formalen und zugleich rein empirischen Sinne, indem es erkenntnistheoretisch die Voraus- setzung und das Wesen dieser Methode im Gegensatze gegen die naturwissenschaftliche Methode fixiert und damit den alten, seit der Neugestaltung der Historie durch das Aufklärungszeitalter waltenden Streit um die Behandlung der Historie schlichtet. Dieser formal-rationale Empirismus entspricht ganz dem von Rickert festgehaltenen transzendentalen Standpunkt und macht diesen zum Orientierungsmittel auch für die Geschichte, wie er es längst gegenüber den Naturwissenschaften ist.

Seit die alles um die vier Weltreiche und die Kirche grup- pierende und mit göttlichen Lenkungen und Eingriffen operierende Geschichtsschreibung der alten Christenheit gefallen war, galt es neue Voraussetzungen und Begriffe für die Historie zu bilden. Hier hat die Renaissance-Historie die Bresche gebrochen. Dann hat die Aufklärung, die überhaupt unter dem Ideal der naturwis- senschaftlichen Begriffsbildung stand, die Geschichte atomisiert zum Kräftespiel der Individuen und die Ziele dieses Zusammen- wirkens in der Realisierung von allgemeinen Begriffen gesehen, zu der jedes Individuum an sich gleich befähigt ist ^^). Dagegen hat vor allem der deutsche Idealismus reagiert und schließlich aus sich eine empirische Historie hervorgebracht, die, von seinen meta- physischen Voraussetzungen sich scheidend oder sie ignorierend, seine Anregungen zu einer selbständigen , spezifisch historisch denkenden Wissenschaft ausgebaut hat, und die im ganzen die Methode der gegenwärtigen Geschichtsschreibung überhaupt in- stinktiv oder bewußt beherrscht. Aber bei der fortdauernden Macht des naturwissenschaftlichen Ideals fehlte es auch nicht an starken Neubelebungen der Aufklärungshistorie, die dann über das von der alten Aufklärungshistorie eingehaltene Maß der Ver- wendung naturwissenschaftlicher Begriffe noch weit hinausging

Schichtsdenken s. meinen Artikel »History« in Haslings Encyclopädie und die ver- schiedenen Aufsätze Max Webers, die Rickert Fischer-Festschrift S. 422 anführt. '•'■') Hierzu s. jetzt das glänzende Buch von Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, 191 1 und das interessante Buch von Goldstein, Die empirische Ge- schichtsauffassung David Humes, 1903 ; auch Fester, Die Säkularisation der Hi- storie, 1909.

Moderne Geschichtsphilosophie. 6QQ

und die Historie einbettete in das große Naturganze, um von ihm und seinen Gesetzen aus feste Regeln für Auffassung und Beur- teilung der kleinen Insel des Geschehens zu finden, die man Hi- storie nennt. So hat Buckle die Abhängigkeit des Menschen von der Natur als die zentrale Tatsache angesehen, deren Wir- kungen sich gesetzlich fixieren lassen, und den Wert der Geschichte in der Herausarbeitung der Naturerkenntnis und Technik gesehen, die jene gesetzmäßig erkennbaren Abhängigkeiten überwindet, indem sie sich ihnen anpaßt. Aehnlich hat Comte die Geschichte als bloße höhere Komplikation der Naturkräfte betrachtet und ihr die Aufgabe der positiven Naturerkenntnis und einer darauf be- gründeten und zweckmäßigen Gesellschaftsorganisation zugewie- sen, so daß sie nach dem Maß der Lösung dieser Aufgabe in die bekannten drei Stufen gegliedert werden kann. Noch weiter- gehend hat dann der Darwinismus mit den allgemeinen biolo- gischen Naturgesetzen der Anpassung, Auswahl und Vererbung auch die menschliche Geschichte bewältigen zu können gemeint. Dann hat sich die naturwissenschaftliche Psychologie der Aufgabe bemächtigt und das Naturgesetz der aufeinanderfolgenden Ent- wickelungsstufen zu entdecken gesucht. Heute wird unter uns vor allem der Name Lamprechts genannt, der diese Anschauungen für die wissenschaftliche Behandlung der Geschichte verwenden will, und der damit der aus der Schule des deutschen Idealismus erwachsenen Historie entgegentritt. In diesem Streite will Rickert Klärung bringen; und er tut es durch die geschilderte Entgegen- setzung nomothetischer und idiographischer Begriffsbildung, die beide die Erfahrungswirklichkeit wissenschaftlich umbilden, aber das unter verschiedenen Gesichtspunkten und zu verschiedenen Zwecken tun. Daß das Denken so der einen und ungeteilten Erfahrungs Wirklichkeit gegenüber sich zu zwei ganz verschieden- artigen Methoden besondern muß, liegt an dem Wesen dieser Erfahrungswelt und des sie in sich tragenden Bewußtseins. Das Bewußtsein muß, um der unermeßlichen Wirklichkeit Herr zu zu werden, erkenn«^ Erkennen aber heißt vereinfachen oder vereinheitlichen u*- i das geschieht in der doppelten Richtung, daß einerseits das überall Gleiche und sich Wiederholende begrift"- lich gefaßt wird, und daß andrerseits das rastlos sich ändernde Qualitative und Besondere nach seiner einmaligen Bedeutung für den Menschen zergliedert wird. Eine Reduktion beider Methoden aufeinander oder die Aufsuchung einer höheren Einheit, in der

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sie beide enthalten wären, geht über die Kraft des Menschen. Sein letzter Orientierungspunkt ist immer nur das Bewußtsein mit seinem gegebenen Inhalt und seinen Denknötigungen. Das aber bleibt immer ein Mannigfaltiges, und der Monismus bleibt ein leeres Ideal.

Allein die wichtigsten Fragen sind damit noch nicht erledigt, sondern erst gestellt. Die Historie entspringt zwar zunächst rein dem Erkenntnistrieb, der die strömende Mannigfaltigkeit gliedert und ordnet, um sie zu beherrschen. Aber indem er sie nach dem Gesichtspunkt des für die Kultur-Menschheit Wesentlichen oder des Wertes zu einer kontinuierlichen und sich verschlingen- den Reihe von Wertganzen ordnet, zeigt sich als das organisierende Prinzip der Geschichtswissenschaft die Beziehung auf menschliche Werte. Indem wir aber so vor einem Chaos von Wert-1'otalitäten stehen, erhebt sich das Bedürfnis auch hier ein objektives Gesetz zu entdecken, das nicht das Gesetz der bloßen kausalen Abfolge sein kann. Denn erstlich läßt sich diese überhaupt nicht von vornherein konstruieren, sondern immer nur bei jedem Fall durch Rückwärtsverfolgung seiner Genesis besonders aufzeigen. Anderer- seits würde auch im Fall der Aufweisbarkeit eines allgemeinen Gesetzes der Aufeinanderfolge dieses nur die Folge erklären, aber keinen objektiven Wertmaßstab begründen. So entsteht das Be- dürfnis der Beziehung der historischen Bildungen auf ein objek- tives Wertsystem. Dieses selbst aber läßt sich wiederum nur aus der Historie selbst schöpfen. So zeigt sich als eigent- lichstes Geheimnis des historischen Erkenntnistriebes, als der Zweck, zu dem jene Beherrschung der Mannigfaltigkeit notwen- dig ist, die Beziehung der tatsächlichen historischen Werte auf ein gelten sollendes Wertsystem. Der einzelne Historiker kann dies gegenüber seinem begrenzten Thema total ignorieren oder vergessen , indem er sich in die Wertungen vergangener Ge- schlechter vertieft und von ihrem Standpunkt aus das Ge- schehene ordnet und gliedert. Aber daß er überhaupt an eine solche Aufgabe sich macht, dies hat einen Sinn nur, wenn die Kenntnis vergangener und fremder Wertungen überhaupt eine Bedeutung für unsere eigenen Wertungen hat. Vollends eine den Horizont einzelner Völker, Kulturen, Personen, Klassen oder Kulturgren/.en verlassende universale Geschichtsschreibung muß auch bewußt zu diesem Problem Stellung nehmen ; sie muß die Geschichte gliedern und ordnen von dem Gesichtspunkt eines

Moderne Geschichtsphilosophie. 70I

gelten sollenden Wertsystems, Dies gelten sollende Wertsystem selbst aber erzeugt sich uns nun seinerseits wieder erst im Hin- blick auf die Geschichte. In der Versetzung in fremde oder halb- fremde oder vergangene Wertbildungen, im Aufweis des Zusam- menhangs und Gewordenseins gegenwärtiger Wertbildungen steckt ein beständiges Korrektiv unserer eigenen Wertbildungen, eine Ergänzung und Erweiterung unseres zur Verengung neigenden Wesens, eine Auflösung aller naiven Isolierungen und Verab- solutierungen des Gegebenen. Dies Korrektiv aber, dessen Be- dürfnis uns beständig zur Geschichte treibt, hätte seine ideale wissenschaftliche Vollendung erst, wenn es die Fülle historischer Wertbildungen auf ein System gelten sollender Werte in fester wissenschaftlicher Weise zu beziehen erlaubte.

Damit führt das historisch methodische Problem von selbst notwendig zum geschichtsphilosophischen im eigent- lichen Sinne. Der Charakter der Geschichte als Wissenschaft ist erst dann wirklich gewonnen, wenn Geschichte zu treiben wirklich aus innerer wesentlicher Notwendigkeit des Denkens hervorgeht. Diese Notwendigkeit aber liegt in der Nötigung des Bewußtseins, Wertideale zu bilden, weshalb ihm die in der Ge- schichte vorliegenden Wertbildungen nicht gleichgültig sein können, sondern als Realisationen dieser Notwendigkeit betrachtet werden müssen, von denen wir dann natürlich für unsere eigene Wert- bildung zu lernen haben.

Das analoge Problem liegt ja auch bei den nomothetischen Wissenschaften vor. Sie entspringen dem Erkenntnistrieb der Vereinheitlichung; aber indem auch sie bei dieser Vereinheitlichung nicht eine wahre Welt abbilden, sondern nur die Erfahrungswelt vereinfachen, so kann auch ihr Erkenntniswert in letzter Linie nicht Selbstzweck sein. Vielmehr die vereinheitlichende Beherr- schung der Erfahrung muß der Arbeit an der Erfahrung, der Ge- staltung der Erfahrung durch die Idee der höchsten Werte, dienen. Doch ist dieser Gedanke hier nicht weiter zu verfolgen. Es han- delt sich hier nur um das aus der empirischen Geschichtswissen- schaft sich ergebende weitere geschichtsphilosophische Problem.

Hier sind nun von dem Verfasser, der in diesen Abschnitten offenbar zum Schlüsse eilte, zwei Fragen nicht immer ganz deut- lich auseinandergehalten: erstlich die Frage, unter welchen Be- dingungen oder vielmehr durch welche Beziehungen auf absolute Nötigungen des Denkens wird der Charakter der Geschichte als

y02 Moderne Geschichtsphilosophie.

objektiver Wissenschaft definitiv vollendet? und zweitens die Frage, welches wirkliche Verhältnis hat die Philosophie zwischen der em- pirischen Geschichte und dem in ihren Methoden lediglich impli- zierten, ihren wissenschaftlichen Charakter vollendenden, in Wahr- heit aber doch aus der Ethik stammenden Begriff einer Beziehung auf absolute Werte aufzuweisen? Unter dem ersteren Gesichtspunkt begnügt er sich damit zu zeigen, daß das Bewußtsein zur Bildung gelten sollender Werte überhaupt durch sein Wesen nötigt, und daß daher ihm die historische Existenz tatsächlicher, Geltung fordernder Wertbildungen nicht gleichgültig sein kann; es müsse vielmehr diese tatsächlichen Wertbildungen in ihrer Breite und Fülle, wie in ihrer Entwicklung und Kontinuität zu kennen ver- langen. Damit gewinnt Rickert eine erkenntnistheoretische Nöti- gung zur Geschichte, und, indem diese Nötigung mit der erkennt- nistheoretischen Besonderheit der Erfahrung, in ihrem Inhalt aus lauter unableitbaren, einmaligen Tatsächlichkeiten zu bestehen, zu- sammentrifft, den logischen Begriff der Geschichtswissenschaft : die Geschichtswissenschaft bildet individuelle Wertganze, die sie in die Werttotalität der Gesamtkultur einreiht und in denen immer eine Beziehung auf einen absoluten Wert mitgedacht ist. Welches dieser letzte Kulturwert in Wahrheit sei, und welches Verhältnis zwischen ihm und den tatsächlichen historischen Werten obwalte, ist dabei für den Historiker gleichgültig ; genug, daß eine Nötigung des Bewußtseins zur Geschichte treibt und eben diese selbe Nö- tigung die INIethode der Geschichte, idiographische Gliederung unter dem Gesichtspunkte aus einander folgender und sich ver- schlingender Wertganzen, hervorbringt. Daß überhaupt eine solche Beziehung als gefordert ganz allgemein und formal mitgedacht wird, gibt der Geschichte die Objektivität, im Unterschiede z. B. von Renans überall in seinen Gegenstand sich verliebendem Re- lativismus, Aber freilich ist davon die zweite Frage nach dem Verhältnis der konkreten Geschichte zu einem inhaltlich bestimm- ten Wertsystem schwer abtrennbar. Denn nur wenn wir sie in irgend einer Weise uns beantwortet vorstellen, gewinnen jene vorsichtigen, rein formalen Bestimmungen Leben. Diese letzteren könnten die wirkliche Antwort frei geben und sich auf die rein formalen Voraussetzungen beschränken, durch deren Erfüllung die Geschichte überhaupt notwendige Wissenschaft zu sein be- anspruchen darf. Aber das unter diesen Voraussetzungen ge- stellte Problem muß auch gelöst werden, wenn die Geschichte

Moderne Geschichtsphilosophie. 703

nicht bloß eine notwendige Wissenschaft , sondern auch eine wirkliche Erkenntnis des in ihr gesollten Zieles sein soll. Daher hat Rickert immer wieder in die zweite Frage hinübergreifen müssen, wenn sie ihm auch in seine rein methodologische Unter- suchung der empirischen Geschichtsforschung zu sehr Probleme der eigentlichen Philosophie hereinzuziehen schien. Wir dürfen hier bei der Darstellung des Gedankengehaltes des Buches diese wichtigste, für den Verfasser zurücktretende, aber allen Ethikern, Kultur- und Religionsphilosophen das Hauptinteresse darbietende Hauptfrage hervorziehen. Es ist das Endergebnis aller bisherigen Betrachtungen, daß die Geschichte aus wesentlichen Nötigungen des Bewußtseins hervorgeht und die Bilder der historischen Wertganzen auf den Begriff gelten sollender Werte bezieht. Was ist dann aber das Verhältnis zwischen dem gelten sollenden. Ideal und den historischen Wertbildungen .? oder genauer, da das gelten sollende Ideal immer nur formal als Nötigung zur Idealbildung vor uns schwebt : Was helfen uns die historischen Wertbildungen zur inhaltlichen Erzeugung und Gestaltung eines solchen für uns geltenden Ideals, zur inhaltlichen Erfüllung des formalen Begriffs absoluter Werte } Und wie ist dann bei den bisherigen Voraussetzungen dem Zirkel zu entrinnen, daß wir uns von dem Bedürfnis nach Normen aus an die Geschichte wenden mit ihren bloß tatsächlichen und subjektiv empfundenen Wertungen, und daß wir uns von dem Tatsächlichen wieder bloß zu dem in ihm implizierten Begriff des leeren, formalen Norma- tiven überhaupt wenden t

V.

Die Antworten auf dieses schwierige Problem, das bei ähn- lichen kantischen Voraussetzungen eines bloß formalen absoluten Zweckes uns in Herrmanns Ethik so deutlich entgegentritt, und das Schleiermacher etwas inhaltsreicher durch seine Konstruk- tionen des Gütersystems aus dem Verhältnis des Geistes zur Natur zu lösen versucht hat, sind in Rickerts Buch mehr ge- legentlich verstreut. Da aber für uns gerade dieses Problem be- sonders wichtig ist, so möchte ich mir erlauben, diese gelegent- lichen Aeußerungen zu sammeln und das etwa Fehlende aus dem Geiste des Ganzen zu vervollständigen.

Die grundlegende Wissenschaft ist die Erkenntnistheo- r i e mit den aus ihr abgeleiteten logischen Prinzipien. Bei der

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Anerkennung dieser Prinzii'ien ergibt sich an erster Stelle die nomothetische oder naturwissenschaftliche Er- kenn t n i s. Der hierbei unbegrififen bleibende irrationale Rest des Besonderen fordert unter Hinzutritt der erkenntnistheoreti- schen Nötigung zur Wertbildung die idiographischen oder historischenWissen sc haften. Diese weisen durch ihre Gliederung vermöge teleologischer Begriffe auf den Begriff des Wertganzen und durch diesen auf eine dritte Gruppe der Wissen- schaft hin, die Nor mwissensch aften von den Werten und Normen des Geistes. Diese Normbegriffe, in denen sich das bewegende Zentrum des Denkens überhaupt zeigt, kommen aber in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung primär nur zustande durch Rücksicht auf die geschichtlichen Wertbildungen und haben es mit den Naturwissenschaften nur sekundär zu tun, indem diese Spielraum, Bedingungen und auch Schranken der Zielsetzung zeigen. Die Hauptfrage ist daher nicht bloß für die Historie son- dern für ein prinzipielles Denken überhaupt: welche Verbindung besteht zwischen dem bloßen Begriff von geltenden Normen über- haupt, dem Hauptergebnis der Erkenntnistheorie, und den tat- sächlichen historischen Wertbildungen, dem Ergebnis historischer Forschung? Jeder dieser Gedanken fordert den andern, aber sie scheinen sich doch wieder beide als das bloß Tatsächliche oder Einzelne gegen das Sein-soUende oder Allgemeingültige auszu- schließen !

Entsprechend dem überall geübten bedächtigen Verfahren schließt Rickert der Reihe nach die verschiedenen gangbaren Theorien aus, die das Problem mit unzureichenden Mitteln lösen. Dabei ist freilich die verbreitetste populäre Theorie gar nicht be- rücksichtigt, nämlich die theologische, welche die Normen durch geschichtlich streng isolierte göttliche Offenbarung festlegt und dadurch ein festes Programm für die Lösung des Problems gewinnt; die Wissenschaft rechnet mit dieser, gerade durch die kritische Historie aufgelösten Theorie nicht mehr. Rasch besei- tigt ist dann auch wie nach dem Bisherigen selbstverständ- lich — die naturalistische Theorie, die aus naturgesetzlicher Betrachtung der Geschichte im Zusammenhang des Naturge- schehens und vor allem der organischen Evolution »natürliche Werte« ableiten will, welche vermöge dieser ihrer naturgesetzlichen Ableitung angeblich eine der bloß subjektiven, anthropomorphen Wertentscheidung unerreichbare Objektivität besitzen. Wenn es

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das Wesen der Naturwissenschaft ist, gerade ateleologische, gesetz- liche, überall anwendbare Begriffe zu bilden, so kann sie schlech- terdings ihrem Wesen nach keine Wertbegriffe erzeugen, und alle in solchen angeblichen Naturgesetzen der Anpassung, der Evolution, der Differenzierung enthaltenen Werte sind unbewußte Entlehnungen oder Voraussetzungen, die von dem einmaligen Ganzen der menschlichen Kulturentwickelung entnommen sind. Nicht minder ist das Problem unlösbar von der Theorie der rei- nen Erfahrung aus. Zwar kann diese Theorie, wie sie die Naturgesetze nur als empirisch brauchbare Verallgemeinerungen auffassen muß, so auch die tatsächlichen historischen und heute herrschenden Wertungen (oder einen Kompromiß beider) als em- pirisch allgemeine Verfahrungsweisen betrachten und muß den letzteren so viel oder so wenig Geltung zuschreiben wie den ersteren. Ein rein empirischer Betrieb beider Wissenschaften ist von einem solchen Standpunkt aus wohl möglich. Aber, wie eine solche Naturwissenschaft dem Bedürfnis und dem Wesen des Denkens nicht gerecht wird, so wird eine solche Historie, die nur von empirisch auftauchenden Werten aus die historischen Bildungen organisiert und versteht, dem Erkenntnistrieb nicht ge- nügen, der zur Historie treibt. Beide Wissenschaften enthalten viel- mehr überempirische Elemente, notwendige nicht bloß tatsächlich konstatierbare Verfahrungsweisen und deuten daher auf die in ihnen latenten überempirischen Aprioris hin, auf den Begriff des allgemei- nen Gesetzes in den Naturwissenschaften und auf den Begriff des in historischer Individualisation zu verwirklichenden gelten-sollenden Wertes in der Historie. Erst hiermit wird das eigentliche Ziel der Wissenschaft erreicht, Ausschluß der Willkür, des Zufälligen und des bloß Subjektiven, Beziehung auf das Notwendige und darum Objektive. Eine solche Beziehung liegt nun allerdings vor in der metaphysischen Geschichtsphilosophie, wie sie vor allem dem deutschen Idealismus eigentümlich ist, die aber auch überall da gemeint ist, wo man das Agens der Geschichte nicht in den erfahrungsmäßigen Menschen und ihren Gedanken, sondern in einer, hierin nicht aufgehenden, sondern bloß erscheinenden Idee oder Mehrheit von Ideen sieht. Hier wird das Problem dadurch gelöst, daß man dieses Agens als identisch mit dem durch meta- physische Betrachtung selbständig konstruierten Menschheits- oder Weltzweck setzt und zugleich in diesem Agens eine notwendig in ihm begründete Reihenfolge der Stufen der Realisation dieses

Troeltsch, Gesammelte Schriften. 11. ^e

7o6 Moderne Geschichtsphilosophie.

Zweckes annimmt. So kann man jede empirisch konstatierte Wertbildung der Geschichte an den aus dem notwendigen Ent- wickelungsgang der Idee folgenden Ort stellen, somit in einen objektiven, von kurzsichtigen subjektiven Urteilen unabhängigen Zusammenhang einreihen und eben damit zugleich Beurteilung und Stellungnahme ermöglichen, da ja der Ort in der notwen- digen Explikation der Idee über das Maß der Annäherung an die volle Realisation genau Auskunft gibt. Aber eine solche Theorie ist nun doch ganz unmöglich. Zunächst deshalb, weil ein Welt- oder Menschheitszweck nicht metaphysisch konstruiert und dann an die Geschichte herangebracht werden kann, weil vielmehr um- gekehrt jeder solche Zweck in Wahrheit bereits stets aus der wirk- lichen Geschichte entnommen oder abstrahiert ist. Dann aber und vor allem, weil ja auch ganz abgesehen davon das Wesen der wirk- lichen Geschichte durch eine solche Betrachtung geradezu aufge- hoben wird, und zwar gerade an dem entscheidenen Punkt, wo sie, von der Naturwissenschaft sich unterscheidend, ihr Wesent- liches entfaltet. Das Besondere und Individuelle, das Einmalige und Einzigartige und damit das wesentliche Organisationsprinzip der Geschichte wird vernichtet und zu einem Exemplar der Rea- lisationen des allgemeinen Begriffes herabgsetzt, wo das einzelne nur so lange interessant und wesentlich ist als es zur Gewinnung oder Illustrierung des allgemeinen Begriffes dient. Und wollte man, um dem zu entgehen, auf die Bedeutung des Einzelnen als Glied und Durchgangspunkt hinweisen, so ist doch auch hiemit alles Einzelne nur provisorisch bedeutend , wird alles Frühere durch alles Spätere mediatisiert.

Wie aber ist dann unser Problem zu lösen .^ Es ist die Rück- kehr zu dem die ganze Untersuchung leitenden Grundgedanken nötig. Die Erfahrung oder Wirklichkeit ist der Inhalt des er- kenntnistheoretischen Subjektes, und zur Erkenntnis wird diese Erfahrung nie durch Vorstellungen und Begriffe, die eine wahrere Wirklichkeit abzubilden meinen, sondern nur durch Urteile, die, aus der Nötigung des Bewußtseins hervorgehend, etwas als exi- stierend bezeichnen und dieses Existierende in Beziehung zu not- wendig aus dem Bewußtsein fließenden Gedanken setzen, um es dadurch selbst in die Sphäre des Notwendigen zu erheben. Diese so sich ergebenden Beziehungen des Existierenden aber sind zweifach: indem es solche Begriffe des Notwendigen nur gibt als Begriffe vom Allgemeingültigen, zerlegen sie sich in Begriffe

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von Gesetzen und von Werten. Die Erfahrungswirklichkeit v;ird unter dem Gesichtspunkt von Gesetzen bearbeitet und unter die- ser Abstraktion verschwindet alles Besondere, Einmalige, Quali- tative, die wirkliche Welt, in der wir hörend, sehend, tastend, fühlend leben. Oder sie wird betrachtet unter dem Gesichts- punkt von gelten-sollenden Werten und unter diesem Gesichts- punkt verschwindet die abstrakte Gesetzmäßigkeit wie das leere Allgemeine und tritt die individuelle, qualitative Wirklichkeit mit ihren besonderen und einmaligen Zusammenhängen zutage, weil erst an ihr und vor allem an den menschlichen Hervorbringungen die Möglichkeit verschiedener Wertungen und das Bedürfnis nach Entscheidung zwischen ihnen hervortritt. Dabei ist nun freilich beide Male der Begriff des Notwendigen rein formal. Wir kommen an die Erfahrung nicht heran mit einem fertigen Ge- setzesbegriff, sondern nur mit der Nötigung, Gesetze zu suchen und zu bilden; und wir kommen an sie auch nicht mit einem fertigen Werturteil, sondern nur mit der Nötigung, überhaupt alles auf einen letzten Wert zu beziehen.

Indem wir nun aber erkennen, daß schon die Feststellung eines Dings als existierend die Anerkennung des Wertes der Wahrheit voraussetzt, und indem wir wieder erkennen, daß die ganze naturwissenschaftliche Arbeit nur um des Wertes dieser Erkenntnis für die geistige Kultur willen unternommen wird, be- merken wir zugleich, daß überhaupt Werte und aus ihnen abzu- leitende Normen der letzte Halt der Erkenntnis sind. Das Sein-sol- lende ist der Schlüssel zum Sein, die Anerkennung eines absoluten Daseinszweckes das Apriori der Wissenschaft. Diese Zentralstel- lung des wertenden Bew^ußtseins bedeutet aber nicht die Unter- ordnung des Wirklichkeitsverständnisses unter subjektive und zu- fällige Wünsche. Solche gehen nur aus vom psychologischen Subjekt und sind mit ihm Gegenstand der Wissenschaft. Die Notwendigkeit der Beziehung alles Wirklichen auf einen letzten Wert geht vielmehr aus von dem erkenntnistheoretischen Subjekt und hegt im Wesen des »Bewußtseins überhaupt«. Es ist nicht die Erhebung zufälliger und schwankender Wünsche über die ewigen Gesetze des den Menschen mit einem unendlichen Ganzen umfas- senden Seins oder eine anthropomorphe Deutung der Welt unter den Gesichtspunkten vorübergehender und winziger Wesen, wenn wir das Sein aus dem Sollen, die Wirklichkeit aus dem Werte verstehen; es ist vielmehr das Apriori aller Erkenntnis und das

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Zentruiri des erkenntnistheoretischen Subjektes, das nur von hier aus all sein Erkennen organisieren kann. Ist das aber so, dann steht schlechtliin fest, daß es einen letzten Wert auch geben muß. Was so Zentrum alles Krkennens ist, und was so insbesondere allem geschichtlichen Erkennen erst Sinn gibt, das muß auch wirklich sein, das muß realisiert werden können. l^>s ist das frei- lich ein Glaube und insofern ein religiöser Gedanke. Aber diese Seite der Sache ist hier nicht weiter zu verfolgen. Genug, daß überhaupt die Beziehung auf einen sein-sollenden letzten Zweck das Apriori alles Erkennens ist.

In diesem Sinne, als Apriori des erkenntnistheoretischen Sub- jektes überhaupt, bedeutet nun allerdings der letzte Zweck nur die Notwendigkeit einer Beziehung auf etwas Allgemeingültiges, Sein-Sollendes überhaupt, die Umformung des Erfahrungsinhaltes aus einer bloß gegebenen Mannigfaltigkeit in ein durch Unter- werfung unter das Notwendige sich selbst hervorbringendes Ganzes, die Erhebung des psychologischen Subjektes in die Notwendig- keitssphäre des erkenntnistheoretischen Subjektes, die Gestaltung des bloßen natürlichen Seelenlebens zur Persönlichkeit, die Läute- rung des subjektiven Geistes zum objektiven. Damit aber ist noch gar nichts darüber gesagt, welches konkrete Handeln und welche konkrete inhaltliche Zwecksetzung zu diesem Ziele führen. Die Erkenntnistheorie kann das Notwendige nur als formales Ziel deduzieren, nur Formen des Denkens und der Zwecksetzung ent- wickeln. Aller Inhalt des Denkens und der Zwecksetzung stammt aus der Erfahrung und aus dem ))sychologischen Subjekt mit seiner strömenden Mannigfaltigkeit des Wirklichen. So ist die inhaltliche lu'füllung dieser 1^'ormen immer an die Erfahrung, der Begriff absoluter Normen immer an die Geschichte gewiesen. Hier liegen ja auch überall in den bereits fertigen und noch emporstrebenden historischen Wertbildungen mit ihrem Anspruch auf nähere oder fernere J^eziehung zum notwendigen Zweck be- reits Verbindungen der Erfahrung mit dem Normativen vor, die für die von uns zu vollziehende Verbindung Vorarbeiten und Hin- weise sein müssen, konkrete Lösungen des Problems, die aus der uns verborgenen notwendigen l-5eziehung zwischen Empirischem und Ueberempirischem hervorgegangen sind, und in deren Kon- tinuität wir stehen, um an unserem Teil den Gedanken der Be- ziehung der Erfahrungswelt auf einen absoluten Zweck fortzu- bilden.

Moderne Geschichtsphilosophie. 700

Diese Fortbildung kann nun aber nur darin bestehen, daß wir, die bisherigen Wertbildungen der Geschichte unparteiisch er- kennend, übersehend, vergleichend, sie in eine Stufenreihe ordnen, die nicht den Zusammenfall von Zeitfolge und Wertstufen be- deutet, sondern aus einem in dieser Vergleichung spontan sich bildenden, persönlich überzeugenden Maßstabe ausgeht. Dieser Maßstab wird gebildet, indem wir den geschichtlichen Erwerb und die lebendige Gegenwart zu einer neuen Synthese zusammenfassen, indem wir der Geschichte die inhaltlichen Gedanken der Werte des Lebens entnehmen und das hierbei sich unserem Urteil als maßgebend Bekundende unsererseits und auf unsere Weise auf die Idee letzter Werte energisch beziehen '^).

Damit sind wir freilich wieder bei dem oben bezeichneten Zirkel angelangt. Aber, indem wir einsehen, wie dieser Zirkel notwendig aus der Struktur unseres BewufStseins hervorgeht, kann er nun so verstanden werden, daß in ihm die Elemente einer Lösung des Problems liegen. Es ist der Zirkel zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem psychologischen Subjekt überhaupt , das Urrätsel aller Wirklichkeit und alles Mensch- lichen, in dem alle andern Rätsel, die Antinomie des Tatsäch- lichen und des Geltenden, des beständigen Wechsels und der ewigen Einheit, des kausalen tatsächlichen Ablaufes und der sich aus ideeller Notwendigkeit bestimmenden Freiheit, des Pluralis- mus und des Monismus begründet sind. Ist er aber so als Grundtatsache unseres geistigen Lebens festgestellt, so ist seiner Konstatierung zugleich die Gewißheit immanent, daß es eine dem Menschen unbegreifliche Auflösung geben müsse, da der Glaube an eine solche Auflösbarkeit das Apriori der zu seiner Fest- stellung überhaupt führenden Denkarbeit ist. Es ist ein Element religiösen Glaubens an seine Auflösbarkeit in ihm enthalten, das

"') Vgl. oben S. 378 ähnliche Bemerkungen von James über den Maßstab ge- schichtsphilosophischer Beurteilung. Es ist ja überhaupt klar, daß Rickerts er- fahrungsimmanenter Apriorismus manche Berührungen mit dem erfahrungsimmanenten Empirismus und Pragmatismus hat, teils durch den Verzicht auf Metaphysik, teils durch die realistische Tendenz bloßer erkennender Ordnung und Orientierung innerhalb des Erfahrungsmaterials, teils durch die Betonung der Irrationalität des Individuellen und der damit gegebenen Spontaneität. Der Unterschied ist nur die Beziehung all dieser Begriffe auf ein Apriori, das aber bei Rickert sehr viel be- weglicher gefaßt ist als es innerhalb des starren mechanistischen und formal-ethi- sehen Systems Kants der Fall gewesen ist.

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immer von neuem zu seiner Auflösung antreibt, soweit sie über- haupt vom Menschen erreicht werden kann. Für diese Auf- lösungsarbeit sind aber auch in ihm eine Reihe sicherer Punkte festgelegt. Erstlich ist in ihm die unbedingte Nötigung ge- geben, alles Erkennen auf einen letzten Zweck zu beziehen und damit die Sicherheit einer beständigen Annäherung an diesen. Zweitens ist in ihm die Beurteilung aller historischen Wert- bildungen als bisheriger Lösungen des Problems gegeben, die aus einer uns unbekannten Einheit des Wirklichen hervorgehen und Erfahrungsinhalte mit normativen Ideen in einer Weise verbinden, daß diese Verbindungen uns nicht bloß immer wieder auf die Aufgabe hinweisen, sondern immer schon wirkliche Realisationen der Lösung und damit bedeutungsvolle Materialien für unsere eigene Lösung sind. Drittens ist in ihm und der von ihm ge- forderten irrationellen Verbindung des Tatsächlichen und Notwen- digen gerade der Begrifif enthalten, der für die Auffassung der Hi- storie leitend war, der Begrifif des Individuellen. Das ist ja gerade das Wesen des Individuellen an diesem Punkte, daß es eine Be- ziehung der tatsächlich im psychologischen Subjekt gegebenen In- halte auf notwendige Werte darstellt und dadurch Komplexe von Wertganzen schafft, die in der besonderen Lage entstehend die Notwendigkeit ihrer Geltung dem autonomen individuellen Urteil verdanken und, hierin ihre allgemeingültige Notwendigkeit besitzend, doch in der Zusammenfassung besonderer einmaliger Umstände durchaus individuell und unwiederholbar sind. Diese Individualität aller solcher Wertbildungen ist aber deshalb nicht bloß eine Schranke und Mangel, wie Spinozas Meinung »omnis determinatio est ne- gatiof besagt. So erscheint sie nur von der rationalistischen Tyrannei des AUgemeinbegriftes aus, der doch seine Kraft nur in den Naturwissenschaften hat. Sie ist freilich ein Charakteri- stikum des Endlichen und etwas Irrationales, aber in dieser Irra- tionalität liegt zugleich der Vorzug des Lebens und der Wirklich- keit vor der Abs'traktion, liegt der ethische Wert der Tat, die an bestimmtem Ort aus innerer Notwendigkeit etwas Bestimmtes schafft, das so kein anderer leisten kann. Das ist die Wahrheit von Leibnizens Einwendungen gegen Spinoza, und Leibniz ver- tritt hierin die aus der historischen Begriffsbildung zu entnehmende Erkenntnis gegen den naturwissenschaftlichen Rationalismus des Spinoza. Viertens und dieser Gedanke ist bei Rickert am meisten in der bloßen Andeutung stecken geblieben sind

Moderne Geschichtsphilosophie. yn

diese individuellen Wertbildungen nicht beziehungslose, lediglich sich widersprechende Gebilde. Sie vollziehen sich in einem hi- storischen Zusammenhang, der in der Breite des Nebeneinander eine Mehrzahl analoger Bildungen zeigt und in der Sukzession eine Entwickelung, eine vorausgegangene Lösungen fortbildende und immer neu verwertende Fortbildung, darstellt. Um dessen- willen braucht die Entwickelung nicht das Einzelne zu mediati- sieren und braucht sie nicht als kontinuierliche Wertsteigerung angesehen zu werden. Alle besonderen Bildungen behalten ihren unwiederholbaren Wert; die Wertbildungen können unter Um- ständen verflachen und verflauen, unter übermächtige Abhängig- keit von bloß naturhaften Zuständen geraten oder gar durch Unwertbildungen verdrängt werden. Immer aber vermag die uni- versalhistorische Besinnung sich über die von der Historie erar- beiteten Bilder der gewesenen Wertganzen zu erheben und sie nach einem innerlich zusammenhängenden Stufengang zu gliedern, in dessen Begriff unsere eigene Wertbildung sowohl von diesen Beobachtungen abhängig ist als umgekehrt wiederum ihnen zum Gliederungsmaßstab dient. Diese Paradoxie, diese Subjekt-Ob- jektivität oder Synthese von Tatsache und Idee ist aus dem Be- griff des Maßstabes nicht zu entfernen. Er läßt sich nicht in Hegelsch-metaphysischer und nicht in psychologistisch-naturalisti- scher Weise gewinnen als objektives Entwickelungsgesetz. Der Begriff jedes solchen Gesetzes muß die kausale Abfolge und die Wertabstufung unterscheiden; die letztere ist ein nur nach bestem Wissen und Gewissen aus reifster Tatsachenkenntnis und persön- lichster Glaubenseinsetzung heraus zu bildender Begriff^^).

Für diese unsere eigene Wertbildung folgt dann daraus frei- lich, daß, wie alle historischen Wertungen jeweils individuell, un- wiederholbar, einzigartig in ihrer Gestaltung des Wertgedankens waren, so auch jeder heutige Versuch einer wissenschaftlichen Ver-

^1) Es ist der Mangel der von der Völkerpsychologie her arbeitenden An- legung historischer Entwickelungsstufen bei Wundt , daß diese Bedingtheit des Maßstabbegriffes und mit ihm der ganze apriorisch-persönliche Hintergrund all solcher Begriffsbildungen verkannt ist. Das gilt auch von dem überaus feinen und lehrreichen Buche Vierkandts. Die gesuchte Objektivität besteht hier immer in einer Naturalisierung der Idee zu psychologischen Entwickelungsgesetzen. Diese sind aber niemals zugleich Beurteilungsmaßstäbe, außer man hat beide zuvor un- bewußt identifiziert. Dann aber müßte man den psychologistischen Naturalismus durch Hegels Lehre ersetzen.

712 Moderne Geschichtsphilosophie.

hältnisbestimmung zwischen den tatsächlichen Wertungen der Ge- schichte und dem letzten Zwecke ebenfalls eine individuelle Kom- bination des gegebenen Momentes ist. Durch wissenschaftliche Umsicht und Besonnenheit, durch Kenntnis der Breite und der Entwickelung der Geschichte ist diese Abschätzung vor der Zu- fälligkeit der Urteile des bloßen praktischen Lebens , vor der Kurzsichtigkeit, Isolierung und Selbstherrlichkeit des unkontrol- lierten und unverglichenen Urteils geschützt. Aber auch die um- sichtigste Bestimmung bleibt eine individuelle Tat, deren objektive Notwendigkeit letztlich nur in der GewifSheit des Urteilenden liegt, daß er in sorgfältiger Erwägung aller Umstände so zu ur- teilen durch sein Gewissen sich genötigt fühlt. Die Synthese des erkenntnistheoretischen und des psychologischen Subjektes erfolgt jedesmal durch eine individuelle Ueberzeugungstat, und gerade ihr individueller Charakter gehört zu ihrem ethischen Wert. Den bezeichneten Zirkel löst nur die Tat auf, aber die Tat einer ge- wissensmäßigen Urteilsbildung auf Grund gröfkmöglicher wissen- schaftlicher Erkenntnis der Erfahrung. Eine solche Tat erreicht nie die absolute, reine, wandellose, mit keiner historischen Be- sonderheit behaftete Idee der Welt. Vielmehr, indem sie in der Kontinuität und Vergleichung der historischen Werte entscheidet, bildet sie doch stets eine individuelle Tat, die ihren besonderen Wert und ihre besondere Bedeutung hat, wie alle vorausge- gangenen sie hatten und alle folgenden sie haben werden. Das Bemühen, auf breitester Basis zu urteilen, die Kontinuität des bereits Errungenen einzuhalten und auf Grund besonnener Ver- gleichung zu entscheiden, macht den wissenschaftlichen Charakter solcher l^^ntscheidung aus, aber dieser wissenschaftliche Charakter hebt den individuellen nicht auf. Denn alles Historische bleibt trotz aller Beziehung auf absolute Werte irrational und individuell. Das ist Menschenlos und Menschenwürde, und es ist auch kein Jenseits denkbar, in dem das aufhörte : in ihm könnten höchstens Zweifel und Unruhe der vollen Klarheit und Gewißheit weichen, aber auch Klarheit und Gewißheit blieben individuell, bis etwa die Seele wieder in den göttlichen Geist zurückgekehrt ist.

So glaube ich in Rickerts Sinne die Lösung des geschichts- philosophischen Problemes formulieren zu dürfen. Es bleibt die letzte Frage, was wir zu dieser Gedankenarbeit, zur Methodologie der empirischen Geschichtswissenschaft wie zu der geschichts- philosophischen Theorie, zu sagen haben.

Moderne Geschichtsphilosophie. 71^

VI.

Rickerts Lehre stellt sich dasselbe Problem, wie es die Speku- lation des deutschen Idealismus nach der poetischen, romantischen und philologischen Ausweitung und Relativierung der historischen Anschauungen gestellt hatte. Er bringt wie diese die historischen Probleme in enge Verbindung mit der Ethik, indem die Ethik als Lehre von dem System der geltensollenden Werte die Aufgabe der Lösung des historischen Kulturproblems empfängt '-). Unter den damals entstandenen Systemen steht keines der Rickertschen Denkweise näher als das Schleiermachers, wie denn überhaupt Schleiermacher mit der Zeit sich immer mehr als einer der be- sonnensten, reichhaltigsten und lehrreichsten Denker der Zeit darstellen dürfte, je weniger er einseitig theologisch betrachtet wird. Auch Schleiermacher hat die naturwissenschaftliche Begriffs-, bildung nur als Ordnung und Vereinheitlichung eines in der be- wußtseins-immanenten Erfahrung gegebenen Mannigfaltigen ange- sehen und hat ebenso die Historie und die Ethik auf individuelle Wertungen bezogen, in denen die Erfahrung beurteilt und nach denen sie gestaltet wird. Er hat hierbei nur den Pluralismus der Prinzipien, wie ihn Rickert entwickelt nicht als einen end- gültigen hingenommen, sondern gerade mit Hilfe der Religion sie schließlich in einem gefühlsmäßigen Monismus zusammengebogen; ebenso hat er auch vermieden, bei den bloß faktischen Werten der Geschichte stehen zu bleiben, und sie vielmehr aus dem Prin- zip der Vernunft letztlich doch auch inhaltlich, wenn auch mit charakteristischen Vorbehaltungen , zu deduzieren versucht ^^). Der nach den materialistischen Wirren wieder auftauchende Kri- tizismus hat beiden Wünschen entsagt, dem Bedürfnis einer pan- theistischen Religionsdeutung und dem Bedürfnis der inhaltlichen Deduktion absoluter Geisteswerte. Dagegen hat er gerade dem

'-) Vgl. meinen Artikel »Idealismus, deutscher« in PRE 3. VIII. und >Das Historische in Kants Religionsphilosophie« ; auch den vorigen Aufsatz über s Grund- probleme der Ethik«.

'2) Auch hierzu s. Süßkind »Christentum u. Geschichte bei Schi.« S. 54 102. Schi, konstruiert aus der Vernunft die bekannten vier Gütergruppen, deren geschicht- liche Ausfüllung durch individuell-konkrete Realisationen dann Sache des empiri- schen geschichtlichen Verlaufs ist. Apriori sind die großen Cadres der ethischen Zvcecke, empirisch ist die jeweilige Ausfüllung. Der Maßstab liegt im Begriff der Totalität der Vernunft oder des Geistes.

^Id. Moderne Geschichtsphilosophie.

historischen und dem Kulturproblem sich zugewendet, um dieses auf erkenntnistheoretischer Basis sowohl nach der Seite der Me- thode der empirischen Geschichtswissenschaft als nach der Seite der Geschichtsphilosophie zu behandeln. So hat die Rickert-Win- delbandsche Theorie sich gerade dieses Problem als Hauptaufgabe des erneuerten Kritizismus gestellt und es durch Spaltung des Denkens in eine nomothetische und eine idiographische Begriffs- bildung, sowie durch Beziehung der letzteren auf eine zwar for- mal die Idee des letzten Zweckes enthaltende, aber diesen Zweck dann doch inhaltlich erst aus der Geschichte bestimmende Ethik gelöst. Diese Theorie schließt sich dabei weniger an Kant selbst an, bei dem sowohl in der Problemformulierung als in der Pro- blemlösung das Ideal der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung als selbstverständlich einziges und bestimmendes wirkt und bei dem die Ethik lediglich auf den formalen Auto- nomiegedanken begründet ist, sondern mehr an die P^ichtesche Fortbildung der Kantischen Lehre. Das historische Verhältnis der Rickert-Windelbandschen Lehre zu Kant ist in zwei sehr lehrreichen Schriften von Medicus und Lask '*) behandelt. Doch ist diese Seite der Sache hier nicht weiter zu verfolgen. Hervor- zuheben ist nur, daß diese Schule des erneuerten Kritizismus eben dadurch derjenigen schroff entgegensteht, die mit Cohen gerade die an das Ideal der mathematisch-naturwissenschaftlichen Begriffsbildung angelehnten Elemente der Kantischen Lehre zu betonen für ihre Aufgabe ansieht und die damit zweifellos sich viel enger an Kants eigentliche Lehre hält. Hier bleibt die Ge- schichte eine phänomenale Naturwissenschaft im Sinne Kants, beurteilt durch das praktische Postulat der Realisation der Frei- heit, und der Gegensatz ist versöhnt in der unerkennbaren, aber allem zugrunde liegenden Einheit von Freiheit und Natur.

''*) Medicus, Kants Geschichtsphilosophie, Halle 1902. Lask, Fichles Idea- lismus und die Geschichte, Tübingen u. Leipzig 1902. Vergl. meine Anzeige Th. L,-Z. 1903. Ein drittes naheverwandtes Werk aus der gleichen Schule ist ebenfalls sehr wertvoll: Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen. Berlin 1899. Hier wird im Gegensatz gegen die angeblich naturwissenschaftlich-biologischen Gesell- schaftstheorien gezeigt, wie die Gesellschaft den Gegenstand der Sozialpsychologie, einer methodisch relativ-historischen und relativ-naturwissenschaftlichen Disziplin darstellt, und wie die aus der Gesellschaft sich bildenden, auf Normen begrün- deten Gemeinschaften nicht von der Psychologie, sondern von den antipsycholo- gistischen Begriffen der Normen und unbedingten Werte aus ru konstruieren sind.

Moderne Geschichtsphilosophie. ^jC

Eine solche Wiederaufnahme und Weiterbildung des Kriti- zismus ist nun sicherlich von den Bedürfnissen des geistigen Lebens und von der Entwickelung des Denkens dringend gefor- dert. Die Fichtesche Fortbildung, die das Problem des Dings an sich, zum mindesten in der so überaus bedenklichen Kantischen Fassung als eines »affizierenden« Momentes, eliminiert, gibt freien Raum für eine rein logische Behandlung des Kritizismus und nähert ihn dem modernen empirischen Realismus, ohne doch das platonische Motiv des Apriori preiszugeben. Die Unterscheidung des erkenntnistheoretischen und psychologischen Subjektes be- freit, mindestens für die nächsten Bedürfnisse des Systems, von den naheliegenden Einwänden des Psychologismus und Solipsis- mus. Der Gedanke des Apriori selbst ist durch die Scheidung des theoretischen und des atheoretisch-praktischen Apriori sowie durch die Spaltung des ersteren in ein nomothetisches und ein idiographisches in der feuchtbarsten Weise erweitert und biegsam gemacht. Das Wertsystem oder die Ethik tritt an Stelle des Absoluten der Metaphysik und ist gegen die Koinzidenz mit na- turalistischen Entwickelungsbegriffen geschützt. Das naturwissen- schaftliche und das historische Apriori finden ihre Verankerung an ihm, und vor allem zwischen Geschichte und Wertsystem ent- steht eine fruchtbare Wechselbeziehung, wo eines durch das andere befestigt wird und keines mit dem anderen zusammenfällt. Vor allem der letztere Umstand ist von großer Bedeutung. Wer einmal vom Kritizismus aus wirklich historischen Problemen ge- recht zu werden versuchte und hierbei immer an der rein natur- wissenschaftlichen Behandlung des Seelenlebens als einer Reihe kausal verbundener Erscheinungen hängen blieb, konnte es nicht zu einer der wirklichen Historie entsprechenden Methodik und noch weniger zu einer gliedernden, entwickelungsgeschichtlichen und zur Substanz des Geistes vordringenden Geschichtsphiloso- phie bringen. Insbesondere ist daher für diese neue Lehre der Religionsphilosoph wohl disponiert, der ja doch sein Objekt, die Religion, von der Historie aus erfassen muß, und der eben deshalb von einem rein Kantischen Begriff der Historie aus nie zu entwicke- lungsgeschichtlichen Bewertungsmaßstäben und nie zu einer in der Geschichte lebenden Realität gelangen konnte. Die Schwierigkeiten, in welche die vor allem aus Cohens Lehre entwickelte Gesamtpo- sition Herrmanns gerade gegenüber der Historie stets aufs neue führt, sind hierin begründet. Er ist aber auch nicht minder

y l^ Moderne Geschichtsphilosophie.

wohl dazu disponiert, wenn er das dem Kritizismus unlösbare Problem durch Anleihen bei der Ilegelschen Kntwickelungsmeta- physik zu lösen hoffte, da ihn diese Metaphysik immer doch von der empirischen Historie weg zu einem allgemeinen Begriff der Religion führt, der unabhängig von der Historie gewonnen und begründet sein muß und in der wirklichen Historie immer nur unzulängliche Illustrationen erfährt oder sich in immer nur vor- läufigen, mit ihrer Absolvierung überflüssig werdenden Stufen rea- lisiert. In kritischen Ueberlegungen, die beide Methoden ungang- bar fanden und die eben deshalb eine spezifisch historische Logik mit geschichts-philosophischem Abschluß suchten, haben daher auch meine Untersuchungen über die Bedeutung des Historischen und der Entwickelungsgeschichte für die Religion ihre Wurzel. Meine Abhandlungen über die ^ Absolutheit des Christentums« und über den Begriff ^des Wesens des Christentums« haben dem- gemäfi die Geschichtsphilosophie Rickerts und insbesondere den von ihr gelehrten Zusammenhang zwischen empirischer Historie und Geschichtsphilosophie als wichtigstes Mittel zur Lösung schwer empfundener Probleme benützt.

Freilich bezieht sich die Hervorhebung dieser Bedeutung und diese Zustimmung zunächst nur auf die geschichts-philosophische Anwendung von Rickerts Theorie und vernachlässigt damit das unter anderen Gesichtspunkten wichtigere Interesse seines Buches, die Logik der empirischen Geschichte. Aber einerseits ist das Wichtigste an Rickerts Geschichtsphilosophie doch eben der Umstand, wie sie aus seiner Methodik der empirischen Geschichts- wissenschaft unmittelbar hervorwächst und gerade an die Eigen- tümlichkeiten der eigentlichen quellenmäßigen Historie anknüpft. Andererseits sind die Unzulänglichkeiten der veralteten geschichts- philosophischen Theorien gerade in ihrer Unanwendbarkeit auf die empirische Historie begründet. Die leichte Konstruktion, mit der noch Schleiermacher die empirische Historie seiner Theorie einer im Christentum vollendeten Idee der Religion dienstbar machen konnte, sind nicht mehr möglich. Hier hat Strauß in seiner vernichtenden Kritik des Schleiermacherschen »Leben Jesu« ein für immer lehrreiches IMahnzeichen aufgerichtet '^), und die moderne Bibelwissenschaft hat unter der Einwirkung rein histo- rischer Gesichtspunkte diese Wege vollständig verlassen. Aber

'*) Vgl. D. F. Str.Tjß, Der Christus des Glaubens und der Jesus der Ge- schichte. Berlin 1S65.

Moderne Geschichtsphilosophie. 717

auch die Hegeische Dialektik der Entwickelung scheiterte gerade an dem Reichtum der wirklichen Historie. Die totale Abwendung der modernen Kirchen- und Dogmengeschichte von den Tübingern hat hierin ihren Grund; das Wesentliche an den zunächst von Ritschi ausgegangenen neuen Impulsen dieses Forschungsgebietes liegt nicht sowohl in seinem etwas engen und trockenen Moralis- mus als in seinem nüchternen realistischen Sinn für das Irratio- nale der Historie. Insbesondere Adolf Harnacks historische Lei- stung hat ihre Größe in dem Sinn für das Lebendige und Indivi- duelle, in ihrer Verwerfung der ideologischen Dialektik. Die neuesten Versuche Dorners ""'), die Entwicklungsdialektik wieder zu beleben, widerlegen sich durch Dorners eigene historische Leistungen, die aus eben diesem Grunde ganz farblos und schatten- haft geworden sind ; seine Dogmengeschichte ist ein gänzlich un- historisch empfundenes Buch. Gerade auf die Erkenntnis jenes Reichtums und auf die Würdigung der exakten historischen For- schung ist nun aber Rickerts Lehre aufgebaut. Insofern ist daher mit der Zustimmung zu seiner Geschichtsphilosophie auch die zu seiner Methodik der empirischen Geschichtswissenschaft ausge- sprochen.

Um aber auch auf diesen Punkt, dessen Besprechung frei- lich mehr den Historikern und Logikern von Fach zukommt, ein- zugehen, so glaube ich gerade hier sagen zu dürfen, daß die Windelband-Rickertsche Lehre eine Erlösung und Befreiung ist. Sie formuliert ja nur die Prinzipien, nach denen die bedeutend- sten historischen Leistungen bisher mehr oder minder instinktiv verfahren sind. Aber, indem sie diese Prinzipien erkenntnistheo- retisch ableitet und von aller verwirrenden idealistischen Apolo- getik und allen halben Konzessionen an die naturalistische Meta- physik befreit, gibt sie dieser Methode ein festes Rückgrat, das Bewußtsein ihres vollen Rechtes und die Klarheit der Prinzipien samt der Möglichkeit, die gesetzlichen Bearbeitungen des Histori- schen, die relativ historischen Begriffsbildungen der Soziologie usw., anzuerkennen und zu benützen. Die Leitung der historischen Abstraktion durch den Begriff des Wesentlichen, die Bildung von individuellen Feinheiten beliebig großen Umfangs von der Kultur-

'*) Vergl. A. Dorner, lieber den Begriff der Entwicklung in der Geschichte der christlichen Lehrbildungen. Prot. Monatshefte 1901 und »Auf welche Weise ist das Wesen des Christentums zu erkennen?"; Preuü. Jahrb. 1901 ; jetzt auch W. Köhler, Idee und Persönlichkeit, und meine Anzeige HZ. 1913.

yiS Moderne Geschichtsphilosophie.

menschheit bis zum Einzelmenschen, der kausale Zusammenhang all dieses Geschehens im Sinne der kausalen Ungleichung und des neue Kräfte ins Spiel führenden Wirkens, die Gliederung dieses Flusses nach teleologischen Einheiten als einer kontinuierlichen, kausal verständlichen Entwickelung, dabei die fortwährende Rück- sicht auf die Bedingtheit des historischen Lebens durch die Kör- perwelt, die Heranziehung der einer gesetzmäßigen Bearbeitung fähigen allgemeinen Elemente des Historischen, die Beziehung jedes historischen Gebildes zunächst lediglich auf den ihm selbst vorschwebenden Zweck : das alles ist echt historischer Geist und äußerst einfach und sinnreich aus der logischen Grundvoraussetzung entwickelt. Dazu kommt die Vorsicht in der Abstufung dieser Zweckgebilde bei universalhistorischer Betrachtung, wo das histo- rische Zentrum nicht mehr mit der dargestellten Individualität selbst zusammenfallen kann, die Scheidung des Primärhistorischen und des Sekundärhistorischen, die Abgrenzung der historischen Abstraktion des organisierenden Individuellen von den zur Ver- anschaulichung und Schilderung dienenden Details : alles das sind Gedanken von großer Einfachheit und von einleuchtendster Richtigkeit. Damit sind die modernen naturalistischen Geschichts- versuche in dem, was sie Berechtigtes haben, vollständig aner- kannt, aber auch in der Verworrenheit ihres Grundgedankens gründlich entlarvt. Die theologische Historie hat eine derartige Befreiung freilich weniger notwendig, da ihr Objekt bei einer naturalistischen Historie überhaupt sein selbständiges Leben ver- lieren würde und es daher jeden Historiker aus diesem Bann von selbst herauszieht. Immerhin aber kann diese Klärung der Prinzipien auch ihr sehr wohltätig sein, und vor allem kann sie dazu helfen, die Natur des von den Theologen viel umstrittenen Entwickelungsbegriffes verständlich zu machen, den viele und darunter auch solche, die es besser wissen müßten immer noch nicht von dem Evolutionsbegriff des Darwinismus und von der Hegeischen Fortschrittsdialektik unabhängig denken können. Der Gärungszustand, in den die theologisch-historischen Disziplinen gegenwärtig eingetreten sind, und der sich in den vielen metho- dologischen Erörterungen äußert, ist allerdings durch die Einfüh- rung des Entwickelungsbegriffes aus der allgemeinen Historie in die theologische veranlaßt. Aber es ließe sich auch leicht zeigen, wie gerade diese methodologischen Erörterungen überall da, wo sie auf Einmischung naturalistischer, Hegelscher oder supranatu-

Moderne Geschichtsphilosophie. 7 19

raler Metaphysik verzichten, gerade in den Bahnen der Rickert- schen Analyse sich bewegen und hierbei Raum und Luft genug bekommen, in der ReUgionsgeschichte beständige, im Kausal- zusammenhang sich bildende Neuschöpfungen anzuerkennen'').

VII.

So kann ich also zu den Grundgedanken der Arbeit Rickerts nur lebhafte Zustimmung aussprechen. Das schließt aber nicht aus, daß diese Arbeit doch auch große Schwierigkeiten und Pro- bleme zurückläßt, und daß man ihre Betrachtung in mancher Hin- sicht erweitern und ergänzen möchte.

Die Hauptschwierigkeit springt jedem Leser in die Augen und wird von den naturalistischen Gegnern energisch geltend ge- macht werden. Auch, wo man sich durchaus von der rationalisti- schen Metaphysizierung- der naturwissenschaftlichen Abstraktionen frei gemacht hat, wird man doch die Eigenschaft der Erfahrung, vermöge deren sie einer quantifizierenden Betrachtung mit dem Er- gebnis der Kausalgleichung unterworfen und zwar mit größtem Erfolg unterworfen werden kann, mit der andern Eigenschaft in schwierigem Verhältnis finden, vermöge deren ohne jede Rücksicht hierauf die idiographischen Totalitäten im Sinne der Kausalunglei- chung genetisch verstanden werden dürfen. Es ist klar, daß hier ein gewöhnlich als metaphysisches Problem behandelter Widerspruch auf den Gegensatz der Betrachtungsweisen abgeschoben wird. Aber da diese Betrachtungsweisen doch wieder notwendig aus dem Wesen des Bewußtseins hervorgehen sollen, entsteht das Bedürfnis nach einer Ausgleichung. Rickert hat zwar dieses Problem in der bereits erwähnten sehr scharfsinnigen Abhandlung

") Die letzte Zusammenfassung solcher methodologischer Erwägungen ist die Schrift V. V. Schubert »Die heutige Auffassung und Behandlung der Kirchenge- schichte«, 1902. Gerade diese Schrift zeigt, wie viel von Rickert zu lernen gewe- sen wäre. Dann hätte sich auch gezeigt, wie wenig die Formel, daß »nicht das Evangelium, sondern sein Verhältnis zur Welt sich entwickelt«, die Kirchengeschichte und das Christentum dem Entwicklungsbegriff entzieht. Denn das urchristliche Evangelium ist nachweislich ein individuell historisches Gebilde, und in den Ent- wicklungen seiner Arbeit an der Welt entstehen jedesmal neue individuell-historische Gebilde. Es kann sich nicht etwas in seinem Verhältnis zu anderem entwickeln, ohne selbst in seinem Wesen sich zu wandeln. Die Idee oder das Wesen des Christen- tums im Ganzen aber ist eine aus der Ueberschau über all diese individuellen Gebilde erst zu gewinnende historische Abstraktion, deren Sinn genauester Bestimmung be- durft hätte; s. oben »Was heißt W. d. Chr.?« Jetzt vgl. auch W. Köhler a. a. O.

720 Moderne Geschichtsphilosophie.

>Psychophysi.sche Kausalität und psychophysischer Parallelismus« weiter verfolgt. Aber hier ist doch die Frage lange nicht beant- wortet. Meines Erachtens erfordert das Buch ein weiteres spe- zielles Werk über den Kausalitätsbegriff, wenn es wirklich über- zeugend und durchdringend wirken soll. Denn es wird sehr vielen gehen wie mir, daih sie an diesem Punkte und es ist doch ein Hauptpunkt die Rickertschen Andeutungen nicht ganz verstehen und durchschauen. Wie ist es möglich den Erfahrungs- inhalt zugleich nomothetisch nach dem Prinzip der Kausalgleichung und der Erhaltung der Energie und dann doch wieder idiogra- phisch nach dem Prinzip der Individualkausalität oder der Kau- sal-Ungleichung zu verstehen.- Sind das wirklich nur zweierlei Betrachtungsweisen desselben Objektes oder sind das nicht doch Teilungen innerhalb der Objekte, die zum einen Teil dem ersten und zum anderen dem zweiten Erklärungsprinzip unterliegen r Ich kann es mir schwer anders vorstellen. Dann aber kommt doch auf diesem Wege wieder innerhalb des t^rfahrungsinhaltes der Unterschied zwischen körperlicher und geistiger Wirklichkeit zum Vorschein, dann handelt es sich nicht mehr bloß um die Ver- schiedenheiten der Methode, sondern auch um solche der Ob- jekte. Dann mufi' doch wieder der Bereich des Mechanischen gegen den des Geistig-Produktiven abgegrenzt werden, und die Formunterschiede der P2rkenntnis weisen auf Sachunterschiede der Gegenstände hin. Jedenfalls liegt an diesem Punkte eine Schwierig- keit, deren ich mit Rickerts Begriffen nicht Herr zu werden vermag. Es sind die Schwierigkeiten, die mit Rickerts ganzer Behandlung der Psychologie zusammenhängen. Er bezeichnet sie in ihrem heutigen Verstände rein als nomothetische Naturwissenschaft von den Gesetzen des Zusammenhangs der psychischen Grundelemente. Ich glaube aber nicht, dafi die Psychologie darin aufgeht und auf- gehen kann. Vielmehr scheint sie mir eine eigene selbständige philosophische Wissenschaft, die in vieler Hinsicht die Voraussetzung des Transzendentalismus bildet und auch die von der Logik zu bewältigenden Erfahrungselemente von sich aus bereits in einer bestimmten Bearbeitung und Verdeutlichung darbietet, die auf die logische Begriffsbildung ihren EinflufS haben muß. Aber das ge- hört zu den allerschwierigsten und umstrittensten Punkten und kann hier nicht weiter verfolgt werden '^).

") Das ist doch auch der eigentliche Sinn des Einspruches, den Dilthey er- hebt. Dilthey hat in seiner letzten Arbeit »Der Aufbau der geschichtlichen Welt

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Was dagegen die Ergänzung betrifft, so hat eine solche meines Erachtens zunächst an einem Punkte der Metho- dik der empirischen Geschichtswissenschaften einzusetzen. In der Darstellung der Begriffe des historischen Zu- sammenhangs und der Entwickelung vermifk man jede Rücksicht auf das, was Ranke '^) in einem empirischen Sinne die Ideen genannt hat. In Wahrheit geht doch aus diesem Begriff eine Reihe von Grundsätzen der Gliederung und Zusammenfassung der Tat- sachen hervor, die in der wirklichen Historie die größte Rolle spielen. Es handelt sich dabei nicht um die Meinung, als wäre die ganze Historie von Ideen d. h. von bewußt vorgenommenen Zweckzusam- menhängen geleitet; denn Bedingtheit und Durchkreuzung dieser Zweckzusammenhänge durch rein tatsächlich gegebene Zustände und Vorgänge liegen auf der Hand. Auch handelt es sich nicht

in den Geisteswissenschaften« (Abhh. d. Kgl. Preuß. Akademie d. Wiss. 1910), wo seine Arbeiten von der geistvollen »Einleitung in die Geisteswissenschaften« I 1883 ab sämtliche verzeichnet sind, sich Rickert entschieden genähert, indem er nicht von der Psychologie, sondern von der Logik her die Geschichte erkennt- nisiheoretisch konstruiert. Er hält nur seine Behauptung eines engen Zusammen- hanges zwischen den logischen Erkenntniszielen der Geschichte und dem realen geschichtlichen Erleben und die Bedeutung der besonderen geschichtlichen Kausa- lität gegenüber der naturwissenschaftlichen fest. Darin liegt m. E. etwas Richtiges. Aber freilich ist die Einordnung dieses Richtigen in den Rickertschen Gedanken- gang nicht so ganz einfach. In den Spuren Dillheys geht Spranger »Die Grund- lagen der Geschichtswissenschaft« 1905. Auch er hat sich inzwischen in seinem Humboldt der neukantischen Theorie genähert. Die logischen Erkenntnisziele lassen sich eben nur aus den logischen Prinzipien und nicht aus den Tatsachen gewinnen. Der letzlere Gedanke ist treffend erläutert von Arvid Grotenfeld, Die Wertschätzung in der Geschichte, 1903. Noch bedeutend tiefer aber gräbt die Arbeit eines so ausgezeichneten Psychologen wie Simmel, der in seinen »Problemen der Geschichtsphilosophie« ^ 1905 ausdrücklich zeigt, wie die historische Erkennt- nis eine durchdringende Umformung des bloß Erlebten nach den logischen Prin- zipien eines Apriori der Geschichte ist, das dem Apriori der Naturwissenschaft vollkommen parallel ist, und wie diese unsere geschichtswissenschaftliche Stellung gegenüber dem bloß Erlebten sei es das unmittelbar Erlebte oder das in der Phantasie mittelbar Nacherlebte oder »hermeneutisch« Gedeutete im Sinne der das Reale erst nach apriorischem Gesetz erzeugenden Autonomie zu verstehen ist ; darin besteht unsere Erkenntnis der Geschichte und zugleich unsere Freiheit ihr gegenüber. Diese Freiheit kommt bei Dilthey nirgends zu ihrem Recht.

") L. V. Ranke, Ueber die Epochen der neueren Geschichtsschreibung. Leipzig 1888 (auch Weltgeschichte. IX. 2.); dazu jetzt auch das vortreffliche Buch von E. Spranger, W. v. Humboldt imd die Humanitätsidee.

T r o e 1 1 s c h , Gesammelte Schriften II. 46

722 Moderne Geschichtsphilosophie.

um hypostasierte Kräfte, die die eigentliche Wirklichkeit der Hi- storie bildeten außer, vor oder neben den einzelnen Taten und Begebnissen, die bloß erschienen in den wirklichen Betätigungen; vielmehr ist selbstverständlich, daß es sich um Zweckzusammen- hänge handelt, die nur in einzelnen lebenden Individuen auftauchen, wirken und sich zusammenschließen eben durch deren Arbeit. Aber andererseits ist dieser Begriff der Idee doch noch nicht er- schöpft oder ersetzt in dem Rickertschen Begriff des historischen Individuums. Er charakterisiert diesen letzteren Begriff doch noch in einer bestimmten Richtung, insoferne ein solches Individuum gerade durch die in der Durcharbeitung sich äußernde Konse- quenz, durch die Entfaltung der in keimhaften Zwecksetzungen enthaltenen Folgen historisch zusammengehalten ist. Ja, die Ent- wicklung eines solchen Ganzen beruht großenteils auf der Art, wie die Konsequenzen eines solchen Keimgedankens zu Aeuße- rungen durch Umstände gereizt werden oder auch nach eigener innerer Notwendigkeit sich entfalten. Es handelt sich um den Begriff eines Kulturinhaltes, wie ihn Claß phänomenologisch schil- dert und Eucken als Syntagma charakterisiert ^'^). Damit ist aber dann noch eine weitere Anzahl moderner historischer Begriffe ge- geben, die in der wirklichen Historie eine große Rolle spielen, die aber von Rickert beiseite gestellt sind. Freilich ergibt sich aus einer derartigen Entwickelung der im Ansatz enthaltenen Konsequenzen kein streng logisch wirkendes Gesetz, aber es er- geben sich Tendenzen, die, mannigfach abgelenkt und sich beständig neu orientierend, doch in einer durch den Ansatz be- stimmten Weise zu verlaufen und zur vollen Realisation zu ge- langen streben. Indem aber eine Mehrzahl solcher Kulturinhalte

•*") G. Claß, Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des mensch- lichen Geistes. Leipzig 1896 und Eucken, Die Einheit des Geisteslebens in Bewußt- sein und Tat der Menschheit 1888. Die Entstehung dieses äußerst fruchtbaren Begriffes aus der Erweiterung des historischen Horizontes, aus der poetischen An- empfindung an das Unbewußte, aus der Zusammenfassung dieser Elemente durch die Entwickelungsdialektik und schließlich aus der Arbeit der reinen Historiker habe ich in ineinem erwähnten Artikel über den deutschen Idealismus zu zeigen mich bemüht. Er ist ein wesentlicher Grundbegriff der modernen Historie, aber eine logische Verwertung kann ihm freilich erst durch die Einverleibung in eine prinzipielle geschichtslogische Theorie zuteil werden. Auch Dilthey in seiner be- reits erwähnten Abhandlung und insbesondere in seiner hochinteressanten »Jugend- geschichte Hegels«, Abhh. d. Berliner Akad. d. Wiss. 1905 geht diesen wichtigen Grundsätzen in lehrreichster Weise nach.

Moderne Geschichtsphilosophie. 12%

mit entsprechenden Entwickelungstendenzen nebeneinanderstehen, ergeben sich aus der Vergleichung dieser näher oder ferner ver- wandten Gebiete vielfache Analogien in dem Verlauf solcher Tendenzen , die wiederum keine exakt gesetzliche Bestimmung geben, aber für historisches Verständnis überaus wichtig sind. Hierin liegt das relative Wahrheitsmoment der Lamprechtschen Stufentheorien. Mit dem Begriff der Analogien aber ist weiterhin der Begriff des Typus in einem von Rickert nicht beachteten Sinne gegeben, nämlich weder im Sinn des allgemeinen auf alle Erschei- nungen passenden Durchschnitts, noch in dem des Ideals, sondern in dem Sinne, daß er gerade das Charakteristische der deutlicher entwickelten Kulturzusammenhänge in Verläufen und Ergebnis- sen zu einem Mittelbegriffe zusammenfaßt, um den die ein- zelnen wirklichen Erscheinungen oszillieren. So hat Jellinek in seinen methodologischen Untersuchungen den Begriff des Staates gefaßt, und es ist deutlich, wie dieser Begriff des Typus mit dem der Tendenzen und Analogien zusammenhängt. Aehnlich hat Max Weber für die Nationalökonomie von hier aus den Begriff des »Idealtypischen« gebildet, durch den gewisse Zweige der Wirt- schaft wie Handwerk, Grundbesitz usw. oder gewisse Perioden der Gesamtwirtschaft wie Naturalwirtschaft oder KapitaHsmus ge- nerell charakterisiert werden können ^^j. Auch die von Jakob Burckhardt mit so großer Meisterschaft gebildeten historischen All- gemeinbegriffe wie der > Geist der Renaissance«, der »griechische Mensch'.; der verschiedenen Jahrhunderte gehören hierher, da sie nur mit Hilfe eines solchen Gedankens der Tendenz und des Typus zu bilden sind. Wie wichtig diese Begriffe vollends für die Charak- teristik einzelner Religionen und der Entwickelungsstufe innerhalb dieser sind, braucht nur angedeutet zu werden. Der ganze Begriff des > Wesens des Christentums« u. ä. ist allein von hier aus zu verstehen.

Alle diese Begriffe aber wiederum setzen eine Gemein- samkeit und Gleichartigkeit alles Historischen voraus, das den primitiven Dämmerzustand der Prähistorie durch-

^^) G. Jellinek, Das Recht des modernen Staates, B. I: Allgemeine Staats- lehre, Berlin 1900. S. 23 48. Jellinek steht der hier geschilderten philosophischen Schule nahe, und seine geschichtsmethodologischen Ausführungen verdienen ernste Beachtung über juristische Kreise hinaus, vgl. meine Anzeige in Z. f. Privat- u. öffentl. Recht d. Gegenwart 1912. M. Weber hat seine Gedanken entwickelt im »Archiv f. Sozialwissenschaft« XIX 1904 u. XXII 1906.

46*

'?2A Moderne Geschiclilsphilosophie.

bricht und von allen Durchbruchspunkten aus große Aehnlich- keiten des Auftriebes zeigt. Es sind keine Naturgesetze und es ist keine dialektische aus dem Ziel konstruierbare Entwickelung. Aber es ist eine gewisse Einheitlichkeit des Auftriebes. Diese Ein- heitlichkeit ist gerade groß genug um ideell zusammenhängende Entwickelungen, analoge und zuletzt zusammenmündende Ten- denzen, überindividuelle Gesamtzustände des Geistes und Typen hervorzubringen und damit auf gemeinsame Ausgangspunkte und gemeinsame Ziele hinzuweisen. Sie ist aber w'iederum auch w^eit genug von jedem Allgemeinbegriff und von allen Naturge- setzen entfernt, um doch in allen einzelnen Ausgangspunkten, in allen analogen Verläufen und Ergebnissen und auch noch in der Eortwirkung vereinigter Tendenzen jedesmal individuell Eigen- tümliches hervorzubringen. Das Spezifische der historischen Be- griffsbildung und Abstraktion liegt doch nicht bloß in der Einzig- artigkeit und Unteilbarkeit des jeweils herausgegriffenen und zu- sammengeschlossenen einzelnen Wertganzen, sondern auch in jenen Begriffen des Gemeinsamen, die sich als Analogien, Tendenzen und Typen äußern und jene in aller Besonderung doch bestehende Gemeinsamkeit des Kulturlebens aussagen. Hier scheint mir Rickerts Theorie noch manche sehr wichtige F'ragen offen zu lassen, die aber vielleicht bei Beschränkung auf seine rein erfahrungsimma- nent-logischen Voraussetzungen überhaupt nicht beantwortet wer- den können.

Diese Bemerkungen führen dann aber auf einen andern Punkt, der freilich eben diese rein logischen Voraussetzungen d u r c h b r i c h t u n d in die M e f a- physik hinüberspie It, der aber doch auch für den Histo- riker nicht gleichgültig ist, auf einen Unterschied zwischen der dem Naturforscher und der dem Kulturforscher gegebenen Erfahrung, der seine Bedeutung auch dann behält, wenn man zugibt, daß die idiographische Begriffsbildung sich über Körperwelt und Seelen- welt gemeinsam erstreckt. Es ist gewiß zuzugeben, daß gegen- über der Körperwelt nur der Standpunkt der Bewußtseinsimma- nenz möglich ist, und daß es ein Grundirrtum ist, nach einer davon verschiedenen wahreren Wirklichkeit zu suchen, die in unserer Erfahrung nur erschiene. Anders aber steht doch die Sache gegenüber fremdem Geistesleben. Hier ist es nicht mög- lich, dabei stehen zu bleiben, daß man bewußtseinsimmanente Erfahrungen nach Analogie des eigenen Wesens deute und so

Moderne Geschichtsphilosophie. 72 C

sie erst zu einem von uns unterschiedenen, um ein eigenes Zen- trum bewegten Bewußtsein mache. Wir deuten nicht bloß diese Er- fahrungen aus uns, sondern sehr oft umgekehrt uns aus diesen Erfah- rungen, und, so unbegreiflich es auch sein mag, im Verkehr von Mensch zu Mensch wird die Voraussetzung gemacht, daß in der Tat der Eindruck und die Einwirkung vom Andern her Erscheinung einer mit der Erfahrung sich nicht deckenden Größe seien, wird eine Realität anerkannt, die nicht bloß Erfahrung ist, sondern Erscheinung und Wirkung eines nur zu erschließenden geistigen Seins. Damit aber gewinnen wir für die historischen Subjekte den Begriff einer nicht bloß erfahrungsmäßigen, sondern meta- physischen Realität. Das ist ja aber auch von der Gesamtan- schauung aus begreiflich genug. Ist »Existieren« Sein für ein Bewußtsein, so hat bei der Körperwelt die Frage nach ihrem Sein für sich selbst keinen Sinn. Dagegen bei psychophysischen Wesen, in denen durch die unbegreifliche Verbindung des psy- chologischen und erkenntnistheoretischen Subjektes ein Sein für sich selbst zustande kommt, ist selbstverständlich der Begriff des Existierens nicht damit erledigt, daß sie Erfahrungsinhalte eines sie wahrnehmenden Bewußtseins sind. Sie sind für sich selbst auf eine unbegreifliche Weise, und sie wirken als selbständige Kräfte, indem sie einander erscheinen. Diese Einsicht nimmt erst der Historie das Gespenstische, das sie auf dem Standpunkt der reinen Erfahrungsimmanenz auch bei Rickert behält. Ist das aber so, dann gewinnen die vorhin hervorgehobenen Begriffe des Gemeinsamen, der Tendenzen und Analogien, des Entwickelungs- zusammenhangs und des Konvergierens verschiedener Entwicke- lungen ebenfalls eine neue metaphysische Bedeutung, indem sie ein zwar nur in einzelnen Individuen lebendes, aber doch in ihnen als übergreifende und beherrschende Macht wirkendes Prinzip geistigen Lebens bedeuten. Es beruht auf einer gemein- samen Kraft, die aus dem naturhaften Seelenleben erst empor- steigt, und in zwar nicht a priori konstruierbaren, aber a posteriori erkennbaren Zusammenhängen ein innerliches Ganzes geistiger Werte auswirkt.

Damit ist dann freilich bereits das Gebiet der Geschichts- philosophie im älteren, metaphysischen Sinne des Wertes betreten und wir nähern uns Gedanken, wie sie die Geschichtsphilosophie Euckens und seiner Schüler vertritt ^^). Die von der universalen

**) Vgl. Eucken, Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt, Leipzig 1896;

720 Moderne Geschichtsphilosophie.

Beurteilung vollzogene Abstufung der Kulturwerte in ihren Ent- wickclungsstufen ist dann nicht bloß ein subjektives Arrangement zum Zweck besserer Orientierung, sondern, indem sie aus der Ver- tiefung in die Kontinuität der Geschichte hervorgeht, glaubt sie auch einen innerlich begründeten objektiven Zusammenhang zu ergreifen. Ja, die individuelle Tat, in der sich ein solches Urteil vollzieht, ist selbst ein aus dem inneren Triebe des Zusammen- hangs hervorgehendes Glied, in dem dieser Zusammenhang sich fortbildet und vorwärts bewegt. Dieser Denkweise kommt heute der täglich sich steigernde Einfluß Bergsons zu Hilfe, der gleich- falls vom Standtpunkte des erfahrungsimmanenten Realismus aus den mechanistischen Determinismus der Psychologie durchbricht und in dem »Elan vital <-, dem Auftrieb des Lebens, den Durchbruch der metaphysischen Lebenstiefen in den Bereich der räumlich-zeit- lich geordneten Phänomenalität anerkennt. Freilich fehlt diesem Auftrieb Bergsons jedes Apriori eines absoluten Wertsystems und ist der Gedanke einer festen inneren Beziehung des geschicht- lichen Lebens auf ein solches von hieraus nicht zu gewinnen. Darin ist es dann begründet, daß man heute vielfach sich zu Hegel zurückwendet. All das kann hier nicht weiter verfolgt werden. Es muß genügen zu zeigen, daß auch hier ein Punkt ist, wo mit dem rein logischen Transzendentalismus nicht durchzu- kommen ist. Es könnte sich ja doch immer nur um eine Meta- physik handeln, die erst auf der Grundlage der empirischen For- schung und des im Zusammenhang mit ihr gebildeten Wertsystems entsteht.

In diesem Sinne scheint ja doch auch Rickert selbst die Notwendigkeit solcher Ergänzungen anzuerkennen, wenn er sagt: »Es könnte jemand meinen, die bloße Annahme einer notwendigen Beziehung der empirischen Wirklichkeit auf un- bedingt allgemeine Werte, die wir als Voraussetzung einer wissenschaftlichen Notwendigkeit der Geschichte kennen gelernt

Ders., Der Wahrheitsgehalt der Religion^, 1912 und den Aufsatz ^-Philosophie der Geschichte« in Kultur d. Gegenwart I, VI 1907. Goldstein, Kulturproblem der Gegenwart, Leipzig 1899; Scheler, Die transzendentale und die psychologische Me- thode, Leipzig 1900. Von den Arbeiten Bergsons sei hier nur genannt »Essai sur les donntes immediates de la conscience 1889 ; Matiere et memoire, essai sur les relations du corps ä l'esprit 1897, deutsch 1904; L'üvolution crtatrice 1905«, deutsch 1912. lieber die Erneuerung Hegels s. Windelband, Die Erneuerung des Hege- lianismus 19 10

Moderne Geschichtsphilosophie. 72 7

haben, und vollends die Ueberzeugung-, daß alles menschliche Werten auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht als vollkommen gleichgültig angesehen werden darf, schlösse schon eine metaphysische Ueberzeugung ein ; denn das absolut Wert- volle könne zur empirischen Wirklichkeit nur dann eine not- wendige Beziehung haben, wenn auch irgend ein realer Zusammenhang zwischen beiden besteht ; jLmd dieser Zusam- menhang wäre der Erfahrung entzogen, müßte also als meta- physische Realität angesehen werden. Doch wie dem auch sein mag, die Ueberzeugung von der Richtigkeit derartiger Mei- nungen kann immer erst entstehen, wo die Geltung absoluter Werte nicht mehr bezweifelt wird, und muß sich auf die Ueber- zeugung von dieser Geltung stützen. Eine so begründete Meta- physik würde daher niemals geeignet sein, der Geschichte eine Stütze zu bieten, da ja die »Metaphysik« gerade erst die Geltung der Werte feststellen soll. Sie würde überhaupt nicht zu der Art von Metaphysik gehören, die auf eine Rationalisierung des Weltganzen ausgeht, und nur die Wertlosigkeit dieser Art von Metaphysik für die Geschichtswissenschaft hatte uns hier zu be- schäftigen.« (S. 653 f.)

Eine solche Metaphysik der Geschichte ist in der Tat unentbehr- Hch für jede umfassendere historische Vergleichung und Beurtei- lung, und vor allem für die Behandlung des Kulturproblems, für die Ethik und für die Religionsphilosophie, soferne sie philosophische Untersuchung und Wertabstufung der konkreten historischen Reli- gionen ist. Der Unterschied einer solchen Metaphysik der Geschichte von der Hegeischen ist gleichfalls von Rickert zutreffend ange- deutet. Sie ist nicht eine Voraussetzung der Historie, sondern ein Ergebnis der der Historie gegenüber aus inneren Nötigungen geübten Urteile. Sie rationalisiert die Historie nicht zur Exe- kution eines allgemeinen Begriffes, sondern läßt die Irrationali- tät aller individuellen Bildungen bestehen, indem sie den indi- viduellen Charakter jeder solchen Metaphysik selbst anerkennt. Sie wird dadurch dann aber doch nicht zu einer bloß sub- jektiven Meinung, sondern, indem sie aus gewissenhafter Versen- kung in die Historie und aus der Deutung ihres Sinnes hervor- geht, sucht dieses Urteil die Kontinuität und bildet es sie weiter als eine relativ schöpferische Tat^^).

®3) Das ist oben in der Abhandlung über das Wesen d. Chr. ausgeführt. Rickert selbst hat seinen Ersatz für diese Metaphysik als eine Theorie der »Deutung«

728 Moderne Geschichlsphilosophie.

l'üne weitergehende Kritik möchte in Rickerts Gedankenbau wohl noch mehr Elemente der Metaphysik entdecken. Die ein- zelnen Kulturwerte selbst sind mit metaphysischen Aussagen und Voraussetzungen verbunden, denen doch weiter nachzugehen wäre. Ferner ist die Kombination des psychologischen und des erkennt- nistheoretischen Subjektes bei aller vorsichtigen Formulierung in Wahrheit doch ein metaphysisches Problem, wne denn an diesen Punkt und an die Frage nach der Besonderung des 'Bewußtseins überhaupt« zu Einzelbewußtseinen seiner Zeit bei Fichte die Me- taphysik sich anschloß. Ein metaphysischer Sachverhalt ist fer- ner doch auch die Voraussetzung der ganzen transzendentalen Problemstellung selbst, die mit ihrem Apriori und ihrem transzen- dentalen Urteilszentrum eine Tat des Geistes gegenüber dem bloßen Ablauf der seelischen Erscheinungen bedeutet und inso- ferne auf eine metaphysische Grundlage des Geistes hindeutet. Und schließlich wird doch auch das oben bezeichnete Problem, die Frage, wie sich die nomothetische Begriffe erlaubende Eigen- schaft der Erfahrung zu der idiographische erlaubenden verhalte, irgendwie auf metaphysische Gedanken führen.

Die rein transzendentale Theorie läßt also meines Erachtens sowohl psychologische als metaphysische Probleme neben sich unerledigt. Sie gewährt die zentrale Grundlage und den Aus- gangspunkt für die Kulturphilosophie, aber sie kann von sich aus nicht alle hier zu stellenden Fragen erschöpfen und regulieren. Dann aber wäre es das übrig bleibende Hauptinteresse, die Be- deutung festzustellen, die neben ihr sowohl der Psychologie als der Metaphysik zukäme.

Das aber zu verfolgen, liegt nicht im Rahmen dieser Darstel- lung. Sie hat ihre Aufgabe erledigt, wenn sie aus Anlaß dieses Buches die begriffliche Situation der gegenwärtigen Arbeit be- leuchtet und den fruchtbaren Beitrag gezeigt hat, den dieses Buch zur Klärung, insbesondere auch für die Theologen und Religionsphilosophen, gebracht hat.

des Subjekts und seiner Stellung zum geschichtlichen Kulturerwerb ausgeführt in dem Aufsatz »Vom Begriff der Philosophie«, Logos 1910. M. E. ist freilich diese »Deutung« in Wahrheit eine Metaphysik der Freiheit.

729

Ueber historische und dogmatische Methode in der

Theologie.

(Bemerkungen zu dem Aufsatze »Ueber die Absolutheit des Christen- tums« von Niebergall, ursprünglich mit Niebergalls Abhandlung zusam- men veröffentlicht in den »Studien des rheinischen Predigervereins« 1898.)

Der freundlichen Aufforderung des Herrn Niebergall und dem Wunsche der befreundeten Redaktion folgend, erlaube ich mir, dem Aufsatz des genannten Theologen einige Bemerkungen hin- zuzufügen, die die Kontroverse noch deutlicher erleuchten und meine von ihm bekämpfte Meinung und damit meinen ganzen religionsphilosophisch-theologischen Standpunkt aus Anlaß seiner Einwendungen noch näher bestimmen sollen. Da Niebergall hier- bei wesentlich die Gedanken seines Lehrers JuUus Kaftan vertritt, so ist das zugleich ein letztes Wort in meinen Auseinander- setzungen mit dem ausgezeichneten Berliner Theologen und Ober- kirchenratsmitglied ^^). Ein letztes Wort ist es insoferne, als bei der prinzipiellen Natur des Gegensatzes weitere Erörterungen keine Förderung bedeuten können.

Ich spreche ausdrücklich von meiner »theologischen Methode <. Denn um die Methode in genere handelt es sich , nicht um ein einzelnes Problem, nicht um Apologetik, nicht um einen dog- matischen Locus. Das hat Niebergall von seinen Voraussetzungen aus, denen der autoritäre Offenbarungsbegriff selbstverständlich und alles Außerchristliche eo ipso bloß »natürliche Ausstattung« ist, nicht ganz empfunden. Ihm und seinen Gesinnungsgenossen ist die Theologie so wenig im ganzen problematisch, daß sie nur Probleme der Flickarbeit kennen und das gleiche auch bei allen anderen voraussetzen. Ein solcher Standpunkt hat gewiß seine

**) Vgl. meine Aufsätze in ZTliK. -Die Selbständigkeit der Religion« und »Ge- schichte und Metaphysik«, sowie Kaftans Aufsatz »Die Selbständigkeit des Chri- stentums« ; mit der letzteren ist die übernatürliche Geoffenbartheit und Erlösungs- kraft gemeint.

^■JQ Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie,

Verdienste und seine praktische Bedeutung, da viele Menschen gerade einer solchen Art bedürfen. Aber man kann die Sache auch ganz anders von den Prinzipien aus anfassen, und darauf haben mich meine Arbeiten in immer höherem Maße geführt. Ich habe mir nicht von irgend welchen Gelehrten »Gründe gegen unseren Supranaturalismus geholt <^, um jene dann durch meine »Anschauung von der Religionsgeschichte als einer fortschreiten- den Offenbarung« zufrieden zu stellen. Diese Gründe liegen seit 200 Jahren in der Luft und brauchen nicht erst geholt zu werden. Ich habe meinen Ausgangspunkt auch nicht in der tatsächlichen Konkurrenz verschiedener Offenbarungsansprüche genommen oder bei einem »pantheistischen« Entwicklungsbegriff. Alles das bietet sich gleichfalls von selbst dar und ist von der theologischen Apolo- getik, wenigstens äußerlich, vielfach genug behandelt worden. Ich habe vielmehr ausdrücklich auf den viel tiefer liegenden, eigent- lichen Ausgangspunkt der Erschütterung der christlichen Ideen- welt hingewiesen, der zwar mit alledem zusammenhängt, der aber doch für sich allein relativ selbständig und jedenfalls abso- lut entscheidend ist. Ich meine die historische Methode rein als solche, das Problem > Christentum und Geschichte*, wobei freilich unter diesem Problem nicht die Sicherstellung des Christentums gegen einzelne historische Ergebnisse und Be- trachtungsweisen, sondern die Wirkung der modernen histori- schen Methode auf die Auffassung des Christentums überhaupt zu verstehen ist. Die historische Methode, einmal auf die bi- blische Wissenschaft und auf die Kirchengeschichte angewandt, ist ein Sauerteig, der alles verwandelt und der schließlich die ganze bisherige Form theologischer Methoden zersprengt. Ich habe diesen Ausgangspunkt ausdrücklich angegeben und die Auf- fassung der Folgen, die von hier ausgehen, ausführlich begründet. Bezeichnenderweise hat das auf Niebergall gar keinen Eindruck gemacht. Er tut, als ob nach dieser Seite hin gar keine Schwie- rigkeiten bestünden, als ob mit dem Zugeständnis »zeitgeschicht- licher Bedingtheiten« alle Nöte überwunden und die alte dog- matische Methode im Prinzip gerettet wäre. Es ist das eine merkwürdige Abstumpfung gegen das Gefühl der in der histo- rischen Methode liegenden Konsequenzen, dem gegenüber die älteren Apologeten des 18. Jahrhunderts und die wenigen streng supranaturalistischen der Gegenwart leicht als die tiefer Blicken- den sich erweisen dürften. Aber es ist eine in der gegenwärtigen

lieber historische und dogmatische Methode in der Theologie, 7^1

Theologie häufige und sie vielleicht am meisten charakterisierende Gewöhnung. Man sieht nur Einzelprobleme, die aus der Historie erwachsen und die, je nach dem Fall, einzeln zurückgewiesen oder als ungefährlich bezeichnet werden, während man bei prinzipieller Betrachtung des Christentums von aller eigentlichen historisch- kritischen Arbeit absieht und lediglich mit Bedürfnissen, Postula- ten, Ansprüchen, Erkenntnistheorien oder sonstigen ganz allgemei- nen und luftigen Dingen die Aufrechterhaltung des alten auto- ritären Offenbarungsbegriffes begründet und mit seiner Hilfe ein leidliches dogmatisches System zusammenwebt. Die Exegeten und Historiker mögen dann schauen, wie sie gegenüber ihren Forschungsergebnissen jene rein dogmatischen Postulat e bewähren, wie umgekehrt die Historiker ihrerseits sich an die zeitgeschicht- lichen Bedingtheiten zu halten pflegen und für die Prinzipienfrage auf die Dogmatiker verweisen. Man wird in dieser Art von Theo- logie beständig vom Pontius zum Pilatus geschickt.

Dem gegenüber möchte ich nun nachdrücklichst hervorheben, was historische Methode, historische Denkweise und historischer Sinn bedeuten. Dabei ist freilich nicht an die Fragmenten-Historie der älteren Zeit zu denken, die Einzelkritik übte, Belehrung über interessante fremde Gebiete gab oder Aktenstücke sammelte, son- dern an die echte, moderne Historie, die eine bestimmte Stellung zum geistigen Leben überhaupt in sich schließt, eine Methode, Vergangenheit und Gegenwart aufzufassen, darstellt und ebendes- halb außerordentliche Konsequenzen in sich enthält. Hier handelt es sich um drei wesentliche Stücke, um die prinzipielle Gewöhnung an historische Kritik, um die Bedeutung der Analogie und um die zwischen allen historischen Vorgängen stattfindende Korrelation.

Das erste besagt , daß es auf historischem Gebiet nur Wahrscheinlichkeitsurteile gibt, von sehr verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit, vom höchsten bis zum geringsten, und daß jeder Ueberlieferung gegenüber daher erst der Grad der Wahrscheinlichkeit abgemessen werden müsse, der ihr zukommt. Damit ist die ganze Stellung zu dem ungeheuren Erinnerungs- und Traditionsstoff unserer Gesittung prinzipiell verändert, auch da, wo die inhaltliche Auffassung selbst noch gar nicht berichtigt worden ist. Aber auch diese selbst wird durch die Kritik tau- sendfach zersetzt, berichtigt, verändert, und das immer mit dem Ergebnis einer nur wahrscheinlichen Richtigkeit. Es liegt auf der Hand, daß mit der Anwendung historischer Kritik auf die religiöse

722 Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie.

Ueberliefeiung die innere Stellung zu ihr und ihre Auffassung tiefgreifend verändert werden mußte und tatsächlich auch ver- ändert worden ist. Vor allem aber bedeutet auf diesem Gebiet die Anwendung der Kritik die Einbeziehung der religiösen Ueber- lieferung in Wesen und Art aller erst kritisch zu bearbeitenden Ueberlieferungen überhaupt. Die prinzipielle Gleichartigkeit, die so zwischen den Ueberlieferungsweisen hergestellt wird, wird sich dann aber auch von den überlieferten Gegenständen und Ereig- nissen, die ja erst durch Kritik festgestellt werden müssen, schwer- lich fern halten lassen.

Denn das Mittel, wodurch Kritik überhaupt erst möglich wird, ist die Anwendung der Analogie. Die Analogie des vor unseren Augen Geschehenden und in uns sich Begebenden ist der Schlüssel zur Kritik. Täuschungen, Verschiebungen, Mythen- bildungen, Betrug, Parteisucht, die wir vor unseren Augen sehen, sind die Mittel, derartiges auch in dem Ueberlieferten zu er- kennen. Die Uebereinstimmung mit normalen, gewöhnlichen oder doch mehrfach bezeugten Vorgangsweisen und Zuständen, wie wir sie kennen, ist das Kennzeichen der Wahrscheinlichkeit für die Vorgänge, die die Kritik als wirklich geschehen anerkennen oder übrig lassen kann. Die Beobachtung von Analogien zwischen gleichartigen Vorgängen der Vergangenheit gibt die Möglichkeit, ihnen Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben und das Unbekannte des einen aus dem Bekannten des anderen zu deuten. Diese All- macht der Analogie schließt aber die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens ein, die freilich keine Gleichheit ist, sondern den Unterschieden allen möglichen Raum läßt, im übrigen aber jedesmal einen Kern gemeinsamer Gleichartigkeit voraussetzt, von dem aus die Unterschiede begriffen und nach- gefühlt werden können. Die Bedeutung dieser Analogie für die ^Erforschung der Geschichte des Christentums ist daher mit der historischen Kritik von selbst gegeben. Auf der Analogie der Ueberlieferungsweisen, wie alle Reste des Altertums auf uns ge- kommen sind, beruht schon die biblische Kritik selbst. Die von der Kritik angenommenen Tatbestände sind dann ebenfalls in zahllosen Fällen nur durch Aufsuchung von Analogien feststellbar gewesen, l^as schließt aber die Einbeziehung der christlich-jüdi- schen Geschichte in die Analogie aller übrigen Geschichte in sich, und in der Tat ist das Gebiet dessen, was diesen Analogien ent- zogen wird, immer geringer geworden ; viele haben sich bereits

Ueber liistoiische und dogmatische Methode in der Theologie. t-j^

mit dem sittlichen Cliarakterbild Jesu oder mit der Auferstehung Jesu begnügen gelernt.

Ist aber diese alles nivellierende Bedeutung der Analogie nur möglich auf Grund der Gemeinsamkeit und Gleichartigkeit des menschlichen Geistes und seiner geschichtlichen Betätigungen überhaupt, so ist damit der dritte historische Grundbegriff ge- geben, die Wechselwirkung aller Erscheinungen des geistig- geschichtlichen Lebens, wo keine Veränderung an einem Punkte eintreten kann ohne vorausgegangene und folgende Aenderung an einem anderen, so daß alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht und notwendig einen Fluß bilden muß, indem Alles und Jedes zusammenhängt und jeder Vorgang" in Relation zu anderen steht. Damit sind aber die Prinzipien der historischen Erklärung und Auffassung gegeben. An jedem Punkt tritt Eigentümliches und Selbständiges hervor, das schon durch unsere P^ähigkeit der Nachempfindung an sich als zum Gemein-Menschlichen gehörig empfunden wird ; aber diese eigen- tümlichen Kräfte stehen überdies in einem, das Gesamtgeschehen umfassenden korrelativen P'luß und Zusammenhang, der uns alles durcheinander bedingt zeigt, keinen der gegenseitigen Beeinflussung und Verflechtung entzogenen Punkt kennt. Daß hierauf alle Prin- zipien historischer Erklärung aufgebaut sind, bedarf keines Be- weises. Die Kunst der Nachempfindung der originellen Inhalte und die Aufspürung der korrelativen, sich gegenseitig bedingenden Veränderungen ist die Kunst des Historikers. Die letzten Pro- bleme entstehen ihm aus der Frage nach dem Wesen und Grunde des ganzen Zusammenhanges und nach den Wertbeurteilungen gegenüber seinen verschiedenen Gestaltungen. Von hier aus ist daher auch die Bibelforschung in die allgemeine politische, soziale und geistige Geschichte des Altertums hineingezogen und ist schließlich die Erforschung und Beurteilung des Christentums in den Rahmen der Religions- und Kulturgeschichte hineingestellt worden. Ganz von selbst und Schritt für Schritt ist sie genötigt worden, die Anfänge der Religion Israels aus den Analogien der semitischen Volksreligionen zu erleuchten ; die tiefe originale Um- bildung der Jahvereligion mit den allgemeinen Verhältnissen der vorderasiatischen Welt, ihren großen Katastrophen und ihrem allgemeinen geistigen Horizont in Verbindung zu bringen; das Judentum aus den Verhältnissen des Exils und der kirchlichen Reorganisation, sowie seine stark veränderte Vorstellungswelt aus

734 Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie.

den während des Exils aufgenommenen Gedankenmassen zu er- klären ; die Entstehung des Christentums mit der Zersetzung des Judentums, den politischen Bewegungen, den apokalyptischen Ideen in Verbindung zu bringen und die Ausbildung der christ- lichen Kirche aus der Wechselwirkung des Urchristentums mit der umgebenden Welt des römischen Reiches zu erleuchten. Ja eine zusammenfassende Betrachtung kann gar nicht mehr umhin, in der mächtigen Bewegung des Christentums den Endpunkt des Altertums zu sehen, auf den die großen Entwicklungen der vorder- asiatischen wie der westlichen Welt hinarbeiten und in dem sehr verschiedene Entwicklungslinien schließlich konvergieren. Alles das ist aber ausschließlich die Folge der historischen Methode, die, einmal an einem Punkte zugelassen, alles in ihre Konsequenz hineinziehen muß und alles in einen großen Zusammenhang kor- relativer Wirkungen und Veränderungen verflicht. Es bedarf gar nicht des spezifisch Hegelisch gefärbten Gedankens Straußens, daß die Idee es nicht liebe, ihre ganze Fülle in ein einziges Indivi- duum auszuschütten. Es bedarf überhaupt keiner allgemeinen philosophischen Theorien, um zu diesem Ergebnis zu führen. Die historische Methode führt durch Kritik, Analogie und Korre- lation ganz von selbst mit unaufhaltsamer Notwendigkeit zur Her- stellung eines solchen sich gegenseitig bedingenden Geflechtes von Betätigungen des menschlichen Geistes, die an keinem Punkte isoliert und absolut sind, sondern überall in Verbindung stehen und ebendeshalb nur im Zusammenhang eines möglichst alles umfassenden Ganzen verstanden werden können.

Diese Methode ist natürlich in ihrer Entstehung nicht unab- hängig von allgemeinen Theorien gewesen. Das ist bei keiner Me- thode der Fall. Aber das Entscheidende ist die Bewährung und Fruchtbarkeit einer Methode, die Durchbildung im Verkehr mit den Objekten und die Leistung zur Herstellung von Verständnis und Zusammenhang. Niemand kann leugnen, daß sie überall, wo sie angewendet wurde, überraschend erleuchtende Ergebnisse hervor- gebracht hat, und daß überall das Vertrauen sich bewährt hat, noch nicht erleuchtete Partien würden durch sie sich aufklären lassen. Das ist ihr einziger, aber auch ihr völlig ausreichender Beweis. Wer ihr den kleinen Finger gegeben hat, der muß ihr auch die ganze Hand geben. Daher scheint sie auch von einem echt orthodoxen Standpunkt aus eine Art Aehnlichkeit mit dem Teufel zu haben. Sie bedeutet ebenso wie die modernen Na-

Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. 71JC

turwissenschaften gegenüber dem Altertum und Mittelalter eine völlige Revolution unserer Denkweise. Enthalten diese eine neue Stellung zur Natur, so enthält die Historie eine neue Stellung zum menschlichen Geist und zu seinen idealen Hervorbringungen. Ueberall ist die ältere absolute oder dogmatische Betrachtungs- weise, die bestimmte Zustände und Gedanken als selbstver- ständlich betrachtete und daher zu unveränderlichen Normen verabsolutierte , von der historischen verdrängt, die auch das angeblich Selbstverständlichste und die die weitesten Kreise be- herrschenden Mächte als Erzeugnisse des Flusses der Geschichte betrachtet. Recht, Moral, Gesellschaftslehre, Staatslehre, Aes- thetik sind von ihr aufs Tiefste ergriffen und historischen Ge- sichtspunkten und Methoden unterstellt worden. Ob diese Histo- risierung unseres ganzen Denkens als ein Glück zu empfinden ist, das ist hier nicht die Frage. Darüber kann man in Nietzsches glänzender Abhandlung .»Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das handelnde Leben« beherzigenswerte Betrachtungen lesen. Jedenfalls können wir nun einmal nicht mehr ohne und gegen diese Methode denken und müssen wir alle unsere Forschungen über Wesen und Ziele des menschlichen Geistes auf sie aufbauen. Hier bleibt es bei dem die Lage treffend bezeichnenden Worte Goethes :

Wer nicht von dreitausend Jahren Sich weiß Rechenschaft zu geben, Bleib' im Dunkeln, unerfahren, Mag von Tag zu Tage leben.

So hat die historische Methode auch die Theologie ergriffen, erst schüchtern und fragmentarisch mit allerhand Vorbehalten und Einschränkungen, dann immer energischer und umfassender, bis sie auch hier bewirken mußte, was sie überall sonst bewirkt hat, eine prinzipielle Veränderung der gesamten Denkweise und der ganzen Stellung zum Gegenstande. In das allgemeine Bewußtsein sind freilich zunächst meist nur Einzelergebnisse und mit ihnen eine un- behagliche Unsicherheit eingedrungen. Aber ihre prinzipielle Be- deutung v^'irkt doch unbewußt überall mit der Konsequenz einer der Methode immanenten Notwendigkeit. Die Bewährungen der Me- thode im kleinen und einzelnen nötigen zur Ausdehnung auf das Ganze und auf das Prinzip der Betrachtung. Auch hier leitet nicht Theorie und System, sondern der Zwang der Objekte, die, einmal mit historischer Methode angefaßt, sich wunderbar beleben und ver-

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Ständlich machen; dazu kommt die Nichtigkeit der Einwände imd Kautelen, die Schritt für Schritt zum Rückzug genötigt worden sind und als letzten Stützpunkt oft nur mehr die Unsicherheiten hervorholen, welche in dem etwaigen Mangel an Ueberlieferung und Quellen liegen.

Die Einzelauffassungen, welche aus den historischen Behand- lungen der jüdisch-christlichen Ueberlieferung hervorgegangen sind, tun nun aber hier, so wichtig sie sind, gar nicht das Entschei- dende. Es handelt sich um die Konsequenzen der Methode als solcher, und diese liegen der Natur der Sache nach an zwei Punk- ten. Die historische Kritik macht erstlich jede Einzeltatsache unsicher und zeigt uns als sicher nur die mit einem im einzelnen nicht schlechthin aufzuhellenden - historischen Zusammenhang ge- gebenen Wirkungen auf die Gegenwart. Eben damit wird aber der Zusammenhang des religiösen Glaubens mit allen einzelnen Tat- sachen gelockert. Er wird natürlich nicht aufgehoben, aber er wird verändert. Es wird unmöglich, ihn auf eine einzelne Tatsache als solche aufzubauen, er steht immer nur in einer durch große, breite Zusammenhänge vermittelten, d. h. also mittelbaren Verbin- dung mit ihr. Das zweite aber ist, daß dieser auf die Gegenwart ■wirkende Zusammenhang selbst nicht isoliert und unbedingt ist, sondern in engster Korrelation mit einem viel größeren Geschichts- zusammenhange steht, innnerhalb dessen er als ein dem übrigen Ge- schehen gleichartiges Gebilde sich erhebt und aus dem Gesamtzu- sammenhang zu verstehen ist. Damit ist nicht gesagt, daß damit seine Originalität zu leugnen sei. Seine Originalität ist nur analog derjenigen, die auch sonst in diesen Zusammenhängen hervortritt, und nicht weniger oder mehr geheimnisvoll wüe diese. Damit ist fer- ner nicht gesagt, daß hiermit die schaffende Bedeutung der die gro- ßen Lebenskomplexe beherrschenden Persönlichkeiten bestritten werden müsse. Die Persönlichkeiten der jüdisch-christlichen Ge- schichte sind nur ebenso irrational als die Persönlichkeiten der grie- chischen und persischen. Aber eins ist damit gesagt, und das ist überaus wichtig: aus der Gleichartigkeit und dem Gesamtzusammen- hang historischen Werdens folgt, daß jede Würdigung und Beurtei- lung genau ebenso wie die Erklärung und Darstellung vom Gesamt- zusammenhang ausgehen muß. Nicht vom isolierten Urteil und Anspruch der christlichen Gemeinde aus, wie viele Theologen uns immer wieder einreden wollen, sondern nur vom Gesamtzusam- menhanq- aus kann ein Urteil über das Christentum gewonnen

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werden, ebenso wie weder die Selbstbeurteilung der Griechen noch die der Römer unser Urteil über ihren dauernden Beitrag zum menschlichen Geiste ohne Weiteres bestimmen kann.

Das ist die offenkundig vor Augen liegende Wirkung der histo- rischen Methode. Sie relativiert Alles und Jedes, nicht in dem Sinne, daß damit jeder Wertmaßstab ausgeschlossen und ein nihi- listischer Skeptizismus das Endergebnis sein müßte, aber in dem Sinne, daß jeder Moment und jedes Gebilde der Geschichte nur im Zusammenhang mit anderen und schließlich mit dem Ganzen gedacht werden kann, daß jede Bildung von Wertmaßstäben des- halb nicht vom isolierten Einzelnen, sondern nur von der Ueber- schau des Ganzen ausgehen kann. Diese Relativierung und der Blick auf das Ganze gehören zusammen, wie sie denn auch in der prak- tischen Handhabung der Methode immer beisammen sind. Und eben weil dieser Geist historischer Forschung nach und nach in jede Pore der historischen Theologie eingedrungen ist, weil auch das Christentum nur als eine im Zusammenhang des Ganzen befindliche, erklärliche und zu wertende Größe angesehen werden kann, weil nur die von diesem Gedanken inspirierten Untersuchungen wirkliche historische Erkenntnisse ergeben haben, während alle Entgegnungen nur Eindämmungen der Methode oder Berichtigungen einzelner Er- gebnisse, aber kein selbständiges und eigenes Prinzip darstellen: aus allen diesen Gründen ist für den historisch Empfindenden die alte dogmatische Methode ungangbar. Von hier aus und lediglich von hier aus gehen alle Theorien wie die von mir aufgestellten. Die innere Logik der einmal angewendeten Methode zwingt vorwärts, und alle von der Theologie aufgebotenen Gegenmittel, die diese Me- thoden unschädlich machen oder auf ein beschränktes Gebiet ein- zwängen wollen, zerbrechen unter den Händen, je dringender und begieriger man sich von ihrer wirklichen Stichhaltigkeit überzeugen will. Gerade dem Bibelforscher, und diesem gerade bei der kon- kreten Arbeit, müssen diese Konsequenzen kommen. Man braucht nur die Verhandlungen über die Reich-Gottes-Idee oder über das Messiasbewußtsein Jesu zu lesen, um sogar bei etwa völliger Un- möglichkeit, eine der Theorien anzunehmen, doch zu empfinden, daß mit einer Methode, die solche Fragestellungen hervorbringen mußte und gerade durch sie das historische Verständnis gefördert hat, eine Herausschälung irgend eines nicht der Historie angehörenden Kerns unmöglich ist. Oder man braucht umgekehrt nur den ungeheuer komplizierten Apparat zu überschauen, den Zahn aufgebracht hat,

Troeltsch, Gesammelte Scliriften. II. 4^

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um die Ergebnisse der historischen Methode zu annullieren, und man wird empfinden, daß damit teils für das Prinzip gar nichts aus- gemacht ist und nur Ergebnisse gegen Ergebnisse, nicht Methode gegen Methode stehen, teils daß auf eine so verwickelte Deduktion sich schwerlich je das naive, alte und sichere Verhältnis zur Ueber- lieferung aufbauen läßt, das die Voraussetzung der alten dog- matischen Methode gewesen ist.

Wenn die Dinge so liegen, so bleibt nur eine Konsequenz übrig; es muß voller Ernst mit der historischen Methode gemacht werden, nicht bloß indem man die relative Unsicherheit aller historischen Erkenntnisse anerkennt und demgemäß die Bindung des religiösen Glaubens an historische Einzeltatsachen nur als eine mittelbare und relative faßt, nicht bloß indem man rund und entschlossen die christlich-jüdische Geschichte allen Konsequenzen einer rein historischen Methode ohne Angst und Ausbeugen vor den Ergeb- nissen unterwirft, sondern vor allem, indem man die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte beachtet und sich an die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhang der Gesamtgeschichte aus begibt. Die historische Methode muß in der Theologie mit voller, unbefangener Konsequenz durchgeführt werden. Es entsteht also die Forderung eines Auf baus der Theologie auf historischer, universalgeschichtlicher Methode, und da es sich hierbei um das Christentum als Religion und Ethik handelt, auf religionsgeschichtlicher Methode. Diese Idee einer religionsgeschichtlichen Theologie, die schon beim ersten Eindringen historischer Kritik dem Deismus vorschwebte, die dann in ihrer Weise von Lessing, Kant und Herder, von Schleier- macher, de Wette und Hegel, schließlich von Baur und Lagarde vertreten worden ist, habe ich in meinen bisherigen Arbeiten skiz- zieren wollen und dabei ihr diejenige Gestalt zu geben versucht, die gegenwärtig nach Beseitigung des rationalistischen Allgemein- begriffes der Religion und der Hegeischen Dialektik des Absoluten ihr gegeben werden muß. Ich will hier auf das Detail nicht wie- der eingehen. Das muß einem umfassenderen Werke vorbe- halten bleiben. Ich will nur hervorheben, daß bei allem Wert, den ich auch auf viele dieser Einzelausführungen lege, es sich für mich wesentlich um die Methode handelte. Ich zweifle gar nicht, daß auch eine auf solcher religionsgeschichtlicher Methode beru- hende Darstellung der christlichen Lebenswelt atheistische oder religiös-skeptische Menschen nicht überzeugen wird. Darauf kommt

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es aber gar nicht an, sondern nur auf die Befriedigung des Bedürf- nisses nach Konsequenz und EinheitHchkeit der Anschauung. Ich zweifle auch gar nicht, daß ich mit dieser Methode, die freiUch nur in den Details die meinige ist, rechts und links zunächst wenig Weggenossen finden werde. Auch darauf kommt es nicht an. Es muß zunächst genügen, daß sich der Forscher durch seine Darlegung selbst eine eigene feste Ueberzeugung verschafft. Aber ich ver- traue allerdings mit Sicherheit darauf, daß die Konsequenz der historischen Methode ganz von selbst durch die gegenwärtige Verwirrung und Versandung der Bibelforschung hindurch zu einer entschlossenen Durchführung dieser Methode im vollen Um- fange führen wird. Denn erst dann werden die schlimmsten von den gegenwärtigen apologetischen Sorgensteinen von unserem Herzen fallen, und wir werden die Herrlichkeit Gottes in der Geschichte viel unbefangener und freier betrachten können. Das Bedürfnis nach einer Konsequenz, die eine derartige Unbefangen- heit und Freiheit ermöglicht, wird immer mehr Theologen oder wenigstens über die Religion nachdenkende Leute in die ange- gebene Richtung führen. Und folgendes wird dann, wie ich hier wiederholen darf, das einfache Ergebnis sein: :>Alle menschliche Religion wurzelt in religiöser Intuition oder göttlicher Offenbarung, die in spezifisch religiösen Persönüchkeiten gemeinschaftsbildende Kraft gewinnt und von den Gläubigen mit geringerer Originali- tät nacherlebt wird. Der in dieser Intuition enthaltene und auf den Anfangsstufen des naturalistisch gebundenen Bewußtseins in der Naturreligion verhüllte Gottesglaube durchbricht neben mancher- lei parallelen Anläufen diese Schranke endgültig in der Jahvereligion und in der aus ihr sich erhebenden Verkündigung Jesu, um von hier aus eine unendlich reiche, zum voraus nicht zu berechnende Entwickelung zu erleben, in der es sich aber immer um das Leben im Glauben an den lebendigen Gott und um die Deutung der jeweils gegebenen WirkUchkeit aus diesem Glauben handelt.« Das Wesen dieser neuen Methode würde aber nicht genügend gezeichnet sein, wenn ich ihr nicht das der alten in ihrem echten und konsequenten Sinne gegenüberstellte. Das ist auch besonders in bezug auf die Ausführungen Niebergalls und verwandter Theo- logen nötig, die sich zu ihr bekannt und doch ihr eigentliches Wesen nur sehr mangelhaft sich klar gemacht haben, Ist die neue Methode als die religionsgeschichtliche zu bezeichnen, die alle Ueberlieferung erst der Kritik unterwirft und für prinzipielle

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Fragen stets von der Gesamtheit der historischen WirkHchkeit ausgeht, um erst von der Ueberschau über sie die Wertmaß- stäbe zu gewinnen, so ist die alte als die dogmatische zu charakterisieren, die von einem festen, der Historie und ihrer Relativität völlig entrückten Ausgangspunkte ausgeht und von ihm aus unbedingt sichere Sätze gewinnt, die höchstens nach- träglich mit Erkenntnissen und Meinungen des übrigen mensch- lichen Lebens in Verbindung gebracht werden dürfen. Diese Methode ist prinzipiell und absolut der geschichtlichen entgegen- gesetzt. Ihr Wesen ist, daß sie eine Autorität besitzt, die ge- rade dadurch Autorität ist, daß sie dem Gesamtzusammenhang der Historie, der Analogie mit dem übrigen Geschehen und da- mit der alles das in sich einschließenden historischen Kritik und der Unsicherheit ihrer Ergebnisse entrückt ist. Sie will die Men- schen gerade an einzelne Geschichtstatsachen binden, und zwar an die Tatsachen, die den alle historische Analogie zerreißenden Charakter der Autorität bekunden. Sie kann auch diese Bindung bewerkstelligen ; denn ihre Tatsachen sind andere als die der ge- wöhnlichen Geschichte und können daher durch Kritik nicht fest- gestellt und nicht erschüttert werden, sondern sind durch eine wunderbare Ueberlieferung und durch ein inneres Siegel der Be- glaubigung in den Herzen sichergestellt. Eben damit fehlen die- ser Methode alle die Hauptkennzeichen der profanen historischen Methode : Kritik, Analogie und Korrelation. Gerade alles das bekämpft sie auf das äußerste und kann sie allerhöchstens in den gleichgültigsten Details zulassen. Sie kann die Kritik nicht dulden, nicht aus Beschränktheit, sondern weil sie die mit der Kritik verbundene Unsicherheit der Resultate nicht ertragen kann und weil ihre Tatsachen einen Charakter besitzen, der allen Vor- aussetzungen der Kritik und ihrer Möglichkeit widerspricht. Sie kann die Analogien nicht zugeben und nicht verwerten, weil sie dadurch gerade ihr eigenstes Wesen aufgeben würde, das gerade in der Leugnung jeder analogischen Gleichartigkeit des Christen- tums mit andern religiösen Entwickelungen besteht. Sie kann nicht in den Zusammenhang des Gesamtgeschehens eintauchen, w'eil gerade an dem Gegensatz zu diesem, an der ganz anders- artigen, entgegengesetzten Kausalität ihres Bestandes, die Erkenn- barkeit ihrer dogmatischen Alleinwahrheit liegt. Freilich will auch sie auf » Geschichte < beruhen, aber diese Geschichte ist keine gewöhnliche, profane Geschichte, wie die der kritischen Historie.

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Es ist vielmehr Heilsgeschichte und Zusammenhang von Heilstat- sachen, die als solche nur dem gläubigen Auge erkennbar und beweisbar sind und die gerade die entgegengesetzten Merkmale von den Tatsachen haben, welche die profane kritische Ge- schichte nach ihren Maßstäben als geschehen betrachten kann. Es heißt nur im Trüben fischen, wenn die unter uns im Gegen- satz zu rein individuellen Strebungen und Einfällen geläufige profane Wertschätzung geschichtlicher und sozialer Mächte für diese dogmatische Betonung des » geschichtlichen <- Charakters des Christentums apologetisch herangezogen wird. Eine solche Apo- logetik hat in der Theologie bereits Verwirrung genug angestiftet. Man nennt heute alles mögliche »Geschichtlich« und »Tatsache«, was das gerade nicht ist und nicht sein soll, weil es vielmehr umgekehrt ein nur durch den Glauben festzustellendes Wunder ist. Man gibt dem jüdisch-christUchen Wunder gern einen allge- mein klingenden, den Unterschied gegen die profane Welt ver- wischenden Namen und schmuggelt es auf diese Weise ein, um dann, wenn die Grenze in die Theologie hinein glücklich passiert ist, die Täuschungen fallen zu lassen. Auch Niebergall hat dieser Älethode einen reichlichen Tribut gezollt. Aber es liegt auf der Hand, daß der echten Dogmatik mit einer solchen, schließlich doch zufälligen, bloßen »historischen« Macht nicht gedient sein kann. Sie braucht vielmehr eine Geschichte, die gerade durch die Konzentration der notwendigen absoluten Wahrheit an einem Punkte sich von der alle Wahrheiten durch gegenseitige Bedingung relativierenden gewöhnlichen Geschichte unterscheidet. Sie braucht eine offenkundige Auflösung des Zusammenhanges und der Gleich- artigkeit mit dieser, weil sie sonst allen Bedingungen dieser, den gegenseitigen Einschränkungen und dem stets veränderlichen Fluß, verfiele. In all diesen Dingen empfindet die traditionelle dogmati- sche Methode vollkommen konsequent und richtig. Sie will dogma- tische und keine historische Autorität, eine durch sich selbst ohne Vergleich und deshalb ohne Gemeinsamkeit mit dem übrigen histo- rischen Leben feststehende Autorität; keine bloß tatsächlich starke und einflußreiche oder durch Geschichtsphilosophie erst zu wertende geschichtliche Größe, sondern eine in ihrem Wesen der Geschichte entrückte, von Hause aus durch besondere Merkmale der Ueber- natürlichkeit ausgezeichnete Grundlage dogmatischer Wahrheiten. Alles liegt daher an dem evidenten Aufweis der diesen dogma- tischen Charakter begründenden und den historischen aufheben-

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den Uebernatürlichkeit. Man mag dabei mehr die äußere oder mehr die innere betonen ; man muß doch die innere Uebernatür- lichkeit der Gnadenwirkungen immer letztlich als Beweis für die Glaubwürdigkeit der den historischen Charakter erst wirklich auf- hebenden äußeren Uebernatürlichkeit verwerten. Das Wunder ist in Wahrheit entscheidend, und, da das bloß psychologische Wun- der keine sichere Abgrenzung gegen das allgemeine geschichtliche Seelenleben gewährt, so wird das zarte psychologische Wunder doch immer erst brauchbar, wenn man aus ihm das massive physikalische deduzieren kann. An diesem hängt schließlich alles, und man sollte sich lieber ehrlich zu ihm bekennen, als statt dessen von einer > Geschichte < zu reden, die keine Geschichte ist, sondern das Gegenteil.

Erst von diesem Wunderbeweis aus gewinnt die dogmatische Me- thode ihren festen Halt und das Wesen eines methodischen Prinzips. Wie die historische Methode hervorging aus der metaphysischen Annahme eines Gesamtzusammenhangs des Universums und damit auch der Betätigungen des menschlichen Geistes, in ihrer Ausbildung sich verselbständigte und dann aber doch wieder allgemeine Theo- rien über das Wesen der Geschichte und über die Prinzipien ihrer wertenden Beurteilung ausbilden mußte, so hat auch die dogma- tische Methode ein allgemeines metaphysisches Prinzip, das ihr zu- nächst mehr instinktiv zugrunde lag und das im Laufe der Durch- bildung klar und streng entwickelt worden ist. Erst in dem Beweise für die Uebernatürlichkeit der Autorität oder für das Wunder liegt die entscheidende metaphysische Grundlage der dogmatischen Me- thode, ohne welche sie nichts ist als ein Messer ohne Griff und Klinge. Die Scheidung des historischen Lebens in ein wuhderloses, der gewöhnlichen, historisch-kritischen Methode unterliegendes Ge- biet und in ein von Wundern durchwirktes und nach besonderen, auf innere Erfahrungen und demütige Unterwerfung der V^ernunft gegründeten Methoden zu erforschendes Gebiet, das ist die prinzi- pielle Grundlage. Die Konstruktion eines solchen Begriffes von der Geschichte und die Aufstellung der dogmatisch-geschichtlichen oder heilsgeschichtlichen Methoden mit ihren ganz selbständigen Sonder- bedingungen ist die Grundvoraussetzung der dogmatischen Methode der Theologie. Von diesen besonderen heilsgeschichtlichen Me- thoden und von den in ihnen erfolgenden Aufhebungen und Um- biegungen der profanhistorischen INlethode, von den besonderen christlichen Erkenntnistheorien, die entweder im Prinzip des

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kirchlichen Gehorsams oder in der Wiedergeburt und inneren Erfahrung begründet sein sollen, sind daher auch die theologi- schen Untersuchungen der letzten Jahrhunderte voll ; und nur die Uebermüdung durch solche fruchtlose Apologetik kann die wunderliche Gewöhnung heutiger Dogmatiker entschuldigen, die die PYucht ohne den Baum pflücken zu können glauben oder von dem alten Baum sich ein vertrocknendes kleines Reis ge- schnitten haben, an dem sie das Wachstum der Frucht ebenso erwarten zu dürfen meinen.

Schließlich aber ist das Wesen der Sache auch mit dieser großen Unterscheidung der Geschichtsgebiete und der ihnen ent- sprechenden entgegengesetzten Methoden nicht erschöpft, sondern die Doppelheit der Geschichtsgebiete muß auf einen notwendigen Grund im Wesen Gottes und des Menschen zurückgeführt wer- den. Die Doppelheit der Geschichte hängt in letzter Linie mit einer Doppelheit im göttlichen Wesen zusammen, welche Doppel- heit daher von der dogmatischen Methode auch als Ur- und Grundpfeiler ihrer Begriffe betrachtet und hochgehalten wird. Gott ist nicht in den Zusammenhang eines korrelativen, sich überall gegenseitig bedingenden Wirkens und eines jede leben- dige Bewegung nur als Bewegung des Gesamtzusammenhangs schaffenden Zweckwillens eingeschlossen, sondern seiner regel- mäßigen Wirkungsweise gegenüber auch zu außerordentlichen, diesen Zusammenhang aufhebenden und durchbrechenden Wir- kungen fähig. An diesem Gottesbegriff liegt alles. Nicht weniger aber auch am Begriff des Menschen, der das Hervorbrechen einer solchen besonderen göttlichen Wirkungsweise nötig macht, nämlich an dem Begriff des aus der regelmäßigen, normalen, einheitlichen Ordnung gefallenen erbsündigen Menschen, dessen Rettung eine außerordentliche Wiederherstellung der Ordnung nötig macht. Diese dualistischen Begriffe von Gott und vom Menschen sind die unentbehrliche Voraussetzung der dogmatischen Methode mit ihrem Dualismus der zwei geschichtlichen Methoden, der profan- geschichtlichen , kritisch-relativistischen und der heilsgeschicht- lichen, absoluten und apodiktisch sicheren Methode. Auch hier hat der Ueberdruß an den Mühen der Apologetik viele moderne Theologen zum Verzicht oder zur Zurückstellung dieser Theorien bewogen. Besonders die merkwürdige Erfindung von der Gleich- gültigkeit der Metaphysik für die Theologie hat auf den Beweis für diesen Dualismus verzichten lassen, ohne daß man deswegen

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seine Geltung aufgeben wollte oder konnte. Gerade als ob nicht das Wesen einer von jeder Metaphysik sich befreienden Theologie eben die Beseitigung dieses Dualismus und seiner Folgen wäre; damit verwandelt sich ja doch die Theologie in eine phänomeno- logisch-historische Beschäftigung mit der Religion, wobei dann der Wahrheitskern dieser Erscheinung erst herausgeschält werden muß, und damit entsteht dann eine neue begrenztere und vorsichtigere, vor allem auf den Wunder-Dualismus verzichtende, auf moralische Gewißheit oder Gefühl begründete Metaphysik. Für den jungen Theologen ist beim Beginne seiner Studien nichts erstaunlicher, als daß ihm die Gleichgültigkeit der Ausgangspunkte im Gottes-, ür- stands-, Erbsünden- und Wunderbegriff gepredigt wird und dann doch so verfahren wird, also ob alles das mit Ausnahme einiger vermittelnder Zugeständnisse an »zeitgeschichtliche« Auffassung zu Recht bestünde. Man gewöhnt sich an alles und kann aus jeder Not eine Tugend machen. Aber jedem, der Sinn für Klar- heit, Konsequenz und Reinlichkeit hat, kann es bei solcher Tugend nicht wohl werden, und daher werden schließlich doch die meisten zu den alten metaphysischen Grundlagen der dogmatischen Me- thode zurückkehren und von ihren Studien nur den Gewinn mit- nehmen, daß es auf den Beweis dafür nicht so genau ankommt. Auch sie zwingt dabei nur die Konsequenz der Methode ganz von selbst mit innerer Notwendigkeit, genau so, wie die histo- rische Methode mit innerer Notwendigkeit zu einer grundsätzlich religionsgeschichtlichen Theologie nötigt.

Auch dieser INIethode gegenüber will ich hier nicht in das Detail eintreten. Ich wollte sie nur in ihrem Wesen zeichnen und sie der historischen gegenüberstellen. Man könnte die alte die katholische Methode nennen, da sie von der katholischen Theologie geschaffen und klassisch ausgebildet worden ist, und die neue etwa die protestantische , da sie schließlich doch aus der Kritik des Protestantismus an der katholischen Autoritätslehre hervorgewachsen ist. Allein die alte Methode liegt so sehr in der Natur der dogmatistischen Neigungen der Menschen und ist so notwendig das Ergebnis historisch nicht gebildeter Zeitalter, daß es keinen Sinn hätte, sie als spezifisch katholisch zu be- zeichnen. Bedient sich ihrer doch ebenso auch die jüdische und islamische Theologie. Andererseits war die historische Kritik des Protestantismus doch nur partiell und apologetisch gemeint und war auch das Zeitalter der Entstehung des Protestantismus weit

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entfernt von einer prinzipiell historischen Denkweise. Eine prin- zipiell historische Denkweise hat doch erst das Aufklärungszeit- alter angebahnt, dessen angebliche unhistorische Denkweise eine große Legende ist. Es hat sich allerdings zunächst durch Kritik von den geltenden Autoritäten befreit und damit freilich erst alles nivellieren müssen ; aber aus dieser Nivellierungsarbeit erhob sich sofort die Arbeit am Unterscheiden und Abstufen, nur daß alle Größen für diesen Zweck erst in rein historische Größen hatten verwandelt werden müssen. In diesem Uebergangszustande hat es teils den supranaturalen Dogmatismus in einen rationalen verwandelt, teils, wo dieser nicht haltbar war, von der Geschichte her eine neue Weltanschauung erarbeitet, die dann natürlich Hi- storisches und Allgemeingültiges zusammenarbeiten mußte und nur a potiori historisch heißen darf. Aber gerade darin zeigt sich der Unterschied. So bleiben doch nur die Bezeichnungen als dogmatische und historische Methode. Jede hat ihre eigenen Grundlagen und Probleme und jede ist in sich kon- sequent. Auf die Einzelprobleme beider aber kommt es hier nicht an, sondern nur darauf, daß eben wegen ihrer Konsequenz beide nicht vermischt werden können.

Damit ist die eigentliche Absicht dieser Zeilen erschöpft. Ich möchte nur noch meine eigene Stellungnahme in diesem Gegensatze der Methoden gegen einige Einwände Niebergalls verteidigen und andereiseits die Gebrochenheit beleuchten, mit der Niebergall selbst sich zur dogmatischen Methode bekennt.

Niebergall macht gegen meine Methode e r s 1 1 i c h ihre Schwierigkeit und die subjektive Bedingtheit ihrer Durchführung geltend. Es ist selbstverständlich , daß die Herstellung einer Wertskala zwischen den großen Geistestypen der Geschichte von subjektiven Urteilen abhängig ist und niemals streng zwingend sein kann. Das habe ich auch immer ausdrücklich betont. Doch bin ich der Ueberzeugung, daß bei einer scharfen und auf den Kern gehenden Analyse des Wesens dieser Typen sich ein rela- tiv übereinstimmendes Urteil sittlich und religiös ernst denkender Menschen , die nicht spielen und nicht geistreich sein wollen, sondern denen es wirklich um einen Lebensgehalt zu tun ist, erreichen läßt. Es ist das freilich eine Ueberzeugung und be- ruht auf dem religiös-ethischen Glauben, daß schließlich in der prinzipiellen Gleichartigkeit der menschlichen Natur auch die Gemeinsamkeit in der Anerkennuns: höchster Wertmaßstäbe be-

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gründet sei und von hier aus sich durchsetzen werde. Was aber die Schwierigkeiten der Durchführung betrifft, so kann ich nur sagen, daß keine Betonung von Schwierigkeiten einer an sich mögUchen Methode die Anwendung einer an sich unmöghchen empfehlen kann. Wir müssen uns eben nur um so mehr Mühe in gemeinsamer Arbeit geben. Ferner wendet Niebergall ein, daß ich die HersteUung einer solchen Wertskala mit einer Meta- physik der Geschichte verbinde, die aus dem Wesen des mensch- lichen Geistes oder vielmehr aus dem in ihm wirkenden transzen- denten Grunde die Werte in einer logisch fortschreitenden, sich vertiefenden Folge hervorgehen läßt. Hier kann ich nun freilich auf seine Betrachtungen über Intellektualismus und praktische Vernunft, die mir in dieser Form gänzlich unverständlich sind, nicht eingehen. Ich hebe nur hervor, daß allerdings niemand aus der Historie vernünftigerweise eine Wertskala wird gewinnen wollen, der sie für ein reines Chaos hält, sondern daß hierfür der Glaube an eine in der Geschichte waltende und sich fortschreitend offenbarende Vernunft unerläßliche Voraussetzung ist. Auch das ist ein Glaube, der zunächst ethisch-religiösen Ursprungs ist, der aber meines Erachtens von der in der Geschichte stattfindenden beständigen Vertiefung des persönlichen Lebens bestätigt wird. Ein dritter Einwand ist die Gefahr der Selbsttäuschung, der man bei einer derartigen Herstellung der Wertskala ausgesetzt sei. Ich will nicht untersuchen, ob die Gefahr hier größer sei als bei den apologetischen Sonderbedingungen der heilsgeschichtlichen, dogmatischen Methode, wo die Herren vor einer solchen Gefahr zu warnen nicht für nötig halten. Ich will lieber nur betonen, daß ich die Gefahr nicht für gar so unüberwindlich halte. Denn es steht wirklich nicht immer so, wie viele Theologen meinen, die es sich gar nicht anders denken können, als daß man eine vor- gefaßte These mit allen Mitteln des Raffinements und mit mög- lichstem Schein der Unbefangenheit beweisen wolle. In einer viel- verschlungenen, höchst individualistischen Kultur, wie der unsrigen, weiß man in der Tat oft nicht, wo einem der Kopf steht ; und man kann wirklich ohne jede vorgefaßte entscheidende Gunst für das Christentum sich durch eine vergleichende Ueberschau orien- tieren wollen. Wer dabei zu dem Ergebnis der Schätzung des Christentums als der höchsten sittlichen und religiösen Macht kommt, braucht dieses Ergebnis gar nicht vorher schon in der Tasche gehabt zu haben. Auch dann nicht, wenn er wie das

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für einen ernsten Menschen selbstverständlich ist das Christen- tum von Hause aus relativ schätzte. Das Bekenntnis zu ihm als der höchsten religiösen Macht der Geschichte, das sich mir als Ergebnis herausstellt, ist doch immer etwas anderes, als eine solche relative und vorläufige Schätzung, die noch mit dem ernsten Willen verbunden war, sich an ein solches erstes unmittelbares Urteil nicht unbedingt zu binden.

Der letzte Vorwurf ist der der Inkonsequenz, insofern ich von meinem angeblichen historischen Relativismus schließlich doch zu einer für mich ganz unmöglichen Anerkennung der »Absolut- heit« des Christentums kommen soll. Hier kann Niebergall mit Recht auf Schwankungen nicht bloß in der Ausdrucks-, sondern auch in der Denkweise meiner durch mehrere Jahre getrennten Abhandlungen hinweisen. Er hätte hier beobachten können, daß ich in der Tat die Konsequenz der historischen Methode immer strenger gezogen und den Ausdruck Absolutheit schließlich bloß mehr als einen rationalisierten und verkleideten Rest der dogma- tischen Methode bezeichnet habe. Ich glaube in der Tat, daß an diesem Worte nicht allzuviel liegt. Aber es liegt nur deshalb nicht allzuviel an ihm, weil mir auch sein Gegensatz, der vielge- scholtene Relativismus, nicht so wichtig ist, wie es einer dogma- tischen Begriffsbildung scheint. Ja, ich kann geradezu sagen: es ist das Wesen meiner Anschauung, daß sie den historischen Re- lativismus, der nur bei atheistischer oder religiös-skeptischer Stel- lung die Folge der historischen Methode ist, rundweg bestreitet und die Aufhebung dieses Relativismus durch die Auffassung der Geschichte als einer Entfaltung der göttlichen Vernunft verlangt. Hier liegen die unveräußerUchen Verdienste der Hegeischen Lehre, die nur von seiner Metaphysik des Absoluten, seiner Dialektik der Gegensätze und seiner spezifisch logischen Fassung der Re- ligion befreit werden müssen. Gerade darum handelt es sich, daß die Geschichte kein Chaos ist, sondern aus einheitlichen Kräften hervorgehend einem einheitlichen Ziele zustrebt. Für den ethisch und religiös gläubigen Menschen ist sie eine geord- nete Folge, in der die zentrale Wahrheit und Tiefe des mensch- lichen Geisteslebens aus dem transzendenten Grunde des Geistes unter allerhand Kampf und Irrung, aber auch mit der notwendigen Konsequenz einer normal begonnenen Entwickelung emporsteigt. Die Gegensätze sind mehr äußerlich und zufällig; im Wesen und Kern sind die Unterschiede der großen historischen Gebilde

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gar nicht so erheblich, und die wirkHchen Gedanken und Werte in der Welt sind unendlich viel seltener als man meint. Zahllos sind nur ihre Einkleidungen und Verzweigungen. So glaube ich mit den großen Idealisten, daß in diesem scheinbaren Chaos sich doch von verschiedenen Seiten her die göttliche Tiefe des mensch- lichen Geistes offenbart, daß der Gottesglaube in allen Formen, wo er nur überhaupt wirklicher Gottesglaube und nicht selbst- süchtiges Zauberwesen ist, im Kerne identisch ist, daß er aus seiner eigenen Konsequenz, und d. h. aus der in ihm treibenden Kraft Gottes, überall an Energie und Tiefe gewinnt, soweit es die Schranke der ursprünglichen Naturgebundenheit des mensch- lichen Geistes erlaubt. Nur an einem Punkte hat er diese Schranke durchbrochen, aber an einem Punkte, der im Mittelpunkt großer umgebender und entgegenkommender religiöser Entwickelungen liegt, in der Religion der Propheten Israels und in der Person Jesu, wo der naturunterschiedene Gott die naturüberlegene Per- sönlichkeit mit ihren ewig transzendenten Zielen und ihrer gegen die Welt wirkenden Willenskraft hervorbringt. Hierin bezeugt sich eine religiöse Kraft, die dem sie innerlich Nachempfindenden als der Abschluß der übrigen religiösen Bewegungen sich darstellt und den Ausgangspunkt einer neuen Phase der Religionsgeschichte bildet, in der bisher nichts neues und höheres hervorgetreten ist und in der ein solches auch für uns heute nicht denkbar ist, so vielfache neue Formen und Verbindungen dieser rein inner- liche und persönliche Glaube an Gott noch eingehen möge. Das ist nun freilich keine dogmatische Absolutheit, keine Entgegen- setzung des Christentums gegen die Historie und keine Heraus- nahme aus ihrem Fluß, ihrer Bedingtheit und ihrer Veränderlichkeit keit, aber es ist ein Abschlußpunkt, der von einer geschichts- philosophisch-historischen Denkweise aus erreichbar und für den religiösen Menschen genügend ist. Mehr bedürfen wir nicht und mehr können wir nicht leisten. Wir haben in ihm den religiösen Halt unseres Denkens und Lebens, der im Zusammenhang des auf unsere europäische Kultur hinführenden Gesamtlebens als dessen Zentrum herausgebildet wurde und eine bewegliche und entwicke- lungsfähige Macht geblieben ist. Gewiß ist das Verhältnis dieser europäischen Religion zu denen des Ostens noch eine große dunkle Zukunftsfrage. Aber wer gerade in der Naturdurchbrechung, die der Glaube der Propheten ist, und in der aktiv-lebendigen Gottes- und Menschenliebe, die der Glaube Jesu ist, die entscheidenden,

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in die Höhe führenden Kräfte erkennt, kann hier bei unserer alten Religion ungestört verharren und kann die weiteren Entwicke- lungen der Zukunft anheimstellen. Auch hier hat Niebergall mich zu sehr an den ihm selbstverständUchen Bedürfnissen gemessen und sich nicht in eine religiöse Stimmung versetzt, die in solchen Gedanken wirklich ihren Halt und ihre Ruhe hat. Wenn er meint, man fahre bei mir erst durch ein ganz kaltes Land und dann durch einen dunkeln Tunnel in die lachenden Gefilde der Heimat, so ist das ferne Land nicht so kalt, der Tunnel nicht so dunkel und das Ziel nicht so heimatlichlachend wie er meint. Andererseits habe ich nun aber wieder auch sehr erhebliche Einwände gegen die Position Niebergalls zu machen. Auch hier- bei will ich von den erkenntnistheoretischen Ausführungen ab- sehen , mit denen er sie stützt und in deren Fassung er den Hauptunterschied von meiner Position erblicken zu dürfen meint. An ihnen liegt für das ganze Problem sehr wenig. Denn wenn die Frage zu entscheiden ist, ob die Skala der Werte des gei- stigen Lebens durch eine geschichtsphilosophische Abstufung oder durch ein supranaturalistisch begründetes Autoritätsurteil gewon- nen werden soll , dann ist es ganz zwecklos, die Gefühls- und Willenselemente zu betonen , die naturgemäß in jeder Wertung enthalten sind. Auf den praktischen Charakter aller Werte läßt sich der autoritäre Supranaturalismus nie begründen, da ja dieser praktische Charakter den außerchristlichen und außerreligiösen Werten ebenso zukommt. Vielmehr handelt es sich ausschließ- lich um die Begründung der Autorität, die für die dogmatische Methode als Ausgangspunkt verlangt wird. Hier ist gar kein Zweifel, daß Niebergall mit den Intentionen der traditionellen dogmatischen Methode übereinstimmt. Er will die supranatura- listische Autoritätslehre, nicht eine »historische, sondern eine dog- matisch-apologetische Absolutheit«; eine »Absolutheit ohne und gegen die Religionsgeschichte«, d. h. ohne und gegen die histo- risch-kritische Betrachtung überhaupt; ein ^über die Religionsge- schichte hinausliegendes Gebiet«, d. h. ein über die profane Ge- schichte überhaupt hinausliegendes Gebiet; »Absolutheit als un- mittelbare Herleitung von Gott« im Gegensatz zur bloß mittelbaren Herleitung der gewöhnlichen Geschichte von Gott und zur außer- christlichen Religionsgeschichte, die »auf bloß natürlicher Aus- stattung« beruht; die Absolutheit als »Glaube, daß sich an einer Stelle der Geschichte in übernatürlicher Weise absolute Werte

7 CO Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie.

offenbart haben« , d. h. Werte, deren Absolutheit sich an ihrer übernatürlichen Offenbarungsweise primär kundtut. Durch all seine Reden von dem Respekt vor der Geschichte und von der praktischen Motiviertheit alles Glaubens darf man sich darüber nicht täuschen lassen, daß er etwas will, was ohne und gegen die Geschichte ist, was eine Geschichte höherer Ordnung ist, die andere Voraussetzungen hat als die gewöhnliche, und deren Er- eignisse an Merkmalen erkannt werden, die die gewöhnliche Ge- schichte nicht darbietet. Wo er > Selbständigkeit des Christen- tums <; oder »praktische Motiviertheit« und »geschichtlicher Charak- ter« sagt, da ist das alles ein Euphemismus für das Wunder, das solche Theologen nicht gerne bei seinem richtigen Namen nennen. Aber bei diesen Intentionen bleibt es auch. Wie weit ist doch sein Gedankengang von dem entfernt , was er selbst sein will, von »einem baren und blanken Supranaturalismus« ! Von dessen sonstiger und konsequenter Begründung in Gottesbegriff, Urständ, Sündenfall und Erlösung hört man bei Niebergall so gut wie nichts, und von dessen sonstiger Aufzeigung an dem tat- sächlich der Geschichte entnommenen, d. h. wunderhaften Cha- rakter der heiligen Geschichte, nur klägliche Rudimente. Ja die Intention, in der biblischen Offenbarung den durch sich selbst und von vornherein feststehenden, alle Geschichtsbetrachtung erst von sich aus normierenden Ausgangspunkt festzustellen, diese so emphatisch betonte Intention wird beständig gekreuzt durch das entgegengesetzte Verfahren, von der allgemeinen Geschichte aus- zugehen und sie daraufhin abzusuchen, ob sich in ihr nicht et- welche dem menschlichen Bedürfnis entsprechende absolute Werte finden. Der Theologe stellt sich an, als wüßte er nichts vom Christentum und als suchte er aus allgemein menschlichem Postu- lat eine absolute erlösende Offenbarungsveranstaltung. In diesem Zustande entdeckt er die historische > Tatsache« des Christentums und freut sich, in ihr all seine Postulate befriedigt zu finden. Da hat doch die historische Denkweise einen recht tiefen Eindruck gemacht und das, was dem Dogmatiker von Rechts wegen Aus- gangspunkt sein sollte, zu einem Ergebnis der Absuchung der Ge- schichte gemacht, das nicht von vornherein notwendig ist. Anstelle der Deduktion aus Gottesbegriff und Sündenfall ist die Beglaubi- gung durch Bedürfnisse getreten, und es kommt alles auf die Be- rechtigung dieser Bedürfnissse und auf die Tatsächlichkeit ihrer Befriedigung an, die ja doch mit diesen Bedürfnissen so wenig als

Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. yci

mit irgend welchen anderen von selbst gesichert ist. Auf diese Be- dürfnisse selbst, das Bedürfnis der theoretischen, angeblich von Kant bewiesenen Skepsis nach einer übernatürlichen Offenbarung, das Bedürfnis der Äloral nach Autorität, Siegesgarantie und Sünden- vergebung für die Verfehlungen will ich nicht weiter eingehen. Sie mögen berechtigt sein, doch ist jedenfalls nicht zu leugnen, daß sie auch außerhalb des Christentums hervorgetreten und be- friedigt worden sind, daß sie selbst zunächst rein historische Ge- bilde sind, die durch sich selbst über die Historie nicht hinaus- führen. Wichtiger ist die Frage, weshalb die Befriedigung dieser Bedürfnisse im Christentum als auf absolute Weise geschehen be- trachtet werden dürfe. Hier wird wieder nicht auf eine innere Notwendigkeit, die das Christentum allein hierzu befähigte, hin- gewiesen, sondern mit einer in der gegenwärtigen Theologie sehr beliebten scheinbaren Objektivität auf den rein tatsächlich vor- liegenden »Anspruch« des Christentums. Es ist wieder dieselbe dialektische Komödie wie vorhin. Man stößt auf die »historische Tatsache <: eines ungeheuren Ausspruches und stellt sich völlig überrascht durch diese Tatsache, als ob sie etwas ganz Unge- heuerliches und Erschütterndes wäre. Der Anspruch des Christen- tums wird zu seinem Wesen gemacht, und die alte Theologie des Wunders wird zu einer Theologie des Anspruches. Es beansprucht, absolute Wahrheit und Erlösung zu sein. Ohne Anerkennung dieses Anspruches ist es nicht zu haben. Aber so wenig Bedürf- nisse ihre Befriedigung garantieren, so wenig beweisen natürlich Ansprüche das Recht ihres Anspruches, um so weniger als ja in ver- schiedenen Religionen eine Reihe konkurrierender Ansprüche vor- liegt, die durch irgend ein Kriterium entschieden werden müssen. In all diesen Darlegungen ist nur die Scheu vor den eigentlichen Wurzeln der dogmatischen Methode und die äußerliche Anpassung an rein historische Argumentationen wirksam. Tatsächlich vor- liegende Bedürfnisse und tatsächlich vorliegende Ansprüche sollen die Basis der Theorie bilden. Aber an sich sind Bedürfnisse wie Ansprüche Erzeugnisse der Geschichte, aus ihrem Zusammenhang zu verstehen und zu erleuchten und möglicherweise zu berichtigen, wie das mit hundert anderen Bedürfnissen und Ansprüchen auch gegangen ist. Eine der geschichtlichen Relativität und Kritik entrückte höhere Wirklichkeit ist damit keineswegs gegeben.

Alles kommt daher darauf an, daß diese Bedürfnisse nicht bloß durch einen Anspruch, sondern durch eine höhere Wirklich-

752 Ueber historische und dogmalische Methode in der Theologie.

keit befriedigt werden. Darauf kommen daher Niebergalls Dar- legungen aucli schließlicii notwendig hinaus. Aber wie matt und vorsichtig ist diese Behauptung einer höheren übernatürlichen, der profanen Geschichte entgegengesetzten Wirklichkeit und Kau- salität! Er betont die ^Uebernatürlichkeit« und die > Unmittel- barkeit«, die der Offenbarung zukommen, d. h. die die besondere Art des Christentums begründende, der natürlichen und vermittel- ten entgegengesetzte Kausalität. Aber auch das immer nur ganz im allgemeinen. Die Absolutheit fordert, daß »man das Christentum auf eine besondere Offenbarung gründet, die man sich irgend- wie als Offenbarung verständlich machen ward«. Dieses »irgend- wie< ist klassisch für die gegenwärtige Theologie, die in ihrer Vornehmheit sich die Sorgen der alten Apologetik nicht mehr macht, sondern das »irgendwie« erledigt. Sucht man bei Nieber- gall nach Spuren dieses »irgendwie, so findet sich mit Ver- gröberung berühmter Muster ein einziger Versuch, es näher zu bestimmen. Die Persönlichkeit Jesu muß eine Durchbrechung der gewöhnlichen geschichtlichen Kausalität darstellen. Aber auch hier wird zunächst nur von dem geheimnisvollen und unableit- baren Wesen der Persönlichkeit geredet, gerade als ob das nicht von jeder Persönlichkeit überhaupt gälte. »Hier im Grunde der Seele behalten wir eine Lücke im Kausalzusammenhang desto größer ist sie, je eigenartiger und ausgebildeter die Persönlichkeit ist, eine Lücke, die uns vollen Spielraum für das Einwirken einer höheren Macht gewährt. Hier an diesem Punkte, der jeder Ana- lyse widerstrebt, denken wir, daß die Offenbarung einsetzte, die wir glaubend erkennen und verehren. . . . Wir gehen von Jesus aus, dem vom Himmel und irdischen Zuflüssen gespeisten Sam- melbecken der Offenbarung, den Lauf der in ihn einmündenden Bäche aufwärts«. Dazu kommt noch ein anderer Satz: »Wir entscheiden uns dafür, hilfreiche Kräfte, die unserer tiefen Not zugute kommen, auf ein Eingreifen Gottes zurückzuführen, weil wir innerhalb der Welt keinen Ort wissen, w^o sie hätten ent- sprungen sein können. « Was soll man zu solchen Sätzen sagen } Soll man die Bescheidenheit einer Theologie bewundern, die dahin gekommen ist, ihr Fundament schließlich in einer Lücke zu sehen, oder soll man die Unsicherheit hervorheben, mit der auch diese Lücke noch konstatiert wird, indem zwischen den Lücken im Kausalzusammenhang gewöhnlich menschlichen Personlebens und der allein in Betracht kommenden Lücke innerhalb der Person-

Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie. yc-j

lichkeit Jesu nicht einmal ganz sicher unterschieden wird. Ich denke, man kann nichts anderes sagen, als daß eine solche Au- toritäts- und Offenbarungslehre vom Geist historischer Kritik Analogie und Relativität tief angefressen, ja fast zerstört ist und nur noch in pathetischen, ganz allgemeinen Forderungen besteht. Da war die ältere dogmatische Lehre besser und verständlicher. Dies Urteil ist nur vom rein wissenschaftlichen Standpunkte aus gefällt und bezieht sich nur auf die Konsequenz der Gedanken. Praktisch mag eine solche Erweichung und Entzahnung der alten Autoritätslehre recht gut sein. Ohne solche Mittelgruppen ist praktisch nicht auszukommen, und für kirchliche Dinge mögen sie einen sehr wünschenswerten Uebergang bedeuten. So mag denn zum Schluß nach allen Unterscheidungen betont sein, daß sub specie aeternitatis all diese Differenzen recht gleichgültig sein mögen und sie uns daher auch in der irdischen Pilgerschaft nicht allzusehr zu entzweien brauchen.

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 48

754

Zur Frage des religiösen Apriori.

Eine Erwiderung auf die Bemerkungen

von Paul Spieß.

(Aus: Religion und Geisteskultur 1909.)

Herr Paul Spieß hat in der Zeitschrift für Religion und Geistes- kultur meine religionsphilosophischen Theorien und insbesondere meinen Begriff des religiösen Apriori besprochen. Augenblicklich mit ganz andersartigen, rein historischen Studien beschäftigt, kann ich die Gedanken nur in bescheidenstem Maße verfolgen, welche diese scharfsinnige und dankenswerte Kritik anregt. So müssen wenige Worte genügen. Die Art der Einwürfe nötigt mich, dabei von der besonderen Art meiner Arbeit zu sprechen, da deren Ergebnis gerade durch die Kombination verschiedener In- teressenrichtungen bestimmt ist, die für gewöhnlich Systemati- kern und Dogmatikern nicht gleich nahe zu liegen pflegt, die aber doch zugleich mehr als die Zusammenfassung zufälliger persönlicher Neigungen ist. Es ist, ähnlich wie bei meinem Lehrer Dilthey, das Zusammentreffen des historischen und des philosophischen Strebens der Zeit, von wo aus ich aber festere Positionen gewinnen möchte als Dilthey. Dieses Bedürfnis wies mich auf den Transzendentalismus und den Versuch, von ihm aus beide Forderungen zu befriedigen ^°).

Das Wesentliche meiner Arbeit hat von Hause aus in dem Gleichgewicht historischer und systematischer Interessen bestanden, und ich habe stets das eine als durch das andere in hohem Maße gefördert gefunden. Von dem ersten war und ist für mich das Ergebnis die Verwobenheit alles menschlichen Geschehens, des religiösen und des außerreligiösen, des christlichen und des nicht- christlichen. Es ist angesichts des wirklichen Laufes und Zu- sammenhangs der Dinge ganz unmöglich, dem Religiösen eine andere Verwirklichungsweise oder andere Erzeugungsform zuzu-

'*^) Vgl. die Abhandlung über »Moderne Geschichtsphilosophie«.

Zur Frage des religiösen Apriori. ^cc

sprechen als dem unendlich mit ihm verschlungenen geistigen Leben überhaupt. Es ist vor allem ganz ausgeschlossen, am Christentum eine andere Kausalität des Geschehens aufzuweisen als am Nicht- christentum. Dieser Grundpfeiler der Selbstempfindung des bis- herigen Christentums ist rein unter der Wirkung von Dokumenten und philologischen Zeugnissen zerbrochen, auch ohne Mitwirkung aller Spekulation. Andererseits aber ist es für die Charakterbe- stimmtheit, die man unter dem Eindruck des eigenen religiösen Gefühls und unter dem Einfluß der christlichen Umwelt insbe- sondere erfährt, doch wieder unmöglich, dieses ganze Gebiet le- diglich dem Psychologismus zu kausaler Ableitung aus allerhand Schiebungen der psychischen Entwickelung im Zusammenhang mit der Umwelt preiszugeben, um so mehr als man bei Anerkennung dieses Prinzips auch die ethische, ästhetische und wissenschaft- liche Ideenwelt den Assoziationen, Schiebungen und Wandlungen elementarster psychischer Grundeigentümlichkeiten preisgeben müßte. Dagegen protestiert das religiöse Gefühl und die ganze Selbstanschauung der Vernunft mit all ihren idealen Werten, die ja in letzter Linie mit der Religion, d. h. mit der Gewißheit eines absolut vernünftigen Grundes der Dinge, stehen und fallen. So ent- steht die Problemstellung, in dem religiösen Bewußtsein das hi- storisch-psychologisch-kausal bedingte und das aus innerer Not- wendigkeit schöpfende, produktive und gültige Wahrheit erzeugende Element gleichzeitig anzuerkennen, zu unterscheiden und zu ver- binden, wie man ein Gleiches auch bei den übrigen Vernunft- funktionen tun muß.

Das allein ist meine Problemstellung, und das ist zugleich, wie ich meine, die Problemstellung der allgemeinen geistigen Situation von heute, die in der Historisierung, Psychologisierung und Relativierung alles Wirklichen ihre Erkenntnistriumphe erlebt, aber eben damit sich den Zugang zu allem Normativen und Ob- jektiven abschneidet und daher von einer steigenden Sehnsucht nach dem Absoluten, und das heißt eben nach Religion, erfüllt ist. Diese allgemeine Lebensfrage der Gegenwart ist es, die mich beschäftigt; nicht das Bedürfnis, die systematische Theologie an die Methoden der Wissenschaft überhaupt anzuschließen und den anderen Fakultäten ebenbürtig zu machen. Die systematische Theologie von heute hängt mit großen kirchlichen Korporationen, politischen Mächten und Masseninstinkten viel zu sicher zusam- men, als daß sie viel nach wissenschaftlichen Methoden und An-

48*

7^6 Zur Frage des religiösen Apriori.

Schlüssen an das allgemeine Denken zu fragen brauchte, wie man umgekehrt wieder in wissenschaftlichen Kreisen von ihr keine Notiz nimmt. Andererseits ist auch der Anschluß an die »Wissen- schaft« sehr prekär. Denn es gibt hier keine einheitlichen Methoden ; und hat man den Anschluß an die eine Gruppe erreicht, so hat man ihn bei der anderen verloren. Für den reinen Psychologi- sten und Positivisten ist meine Religionstheorie genau so krasser Aberglaube wie die päpstliche Enzyklika. So wird man auch gegen die philosophischen Schulgegensätze immer gleichgültiger und sucht nur überhaupt nach Vermögen den Ausweg aus den drückenden Schwierigkeiten. Nur in einem Punkte ist ein An- schluß an das wissenschaftliche Bewußtsein der Gegenwart not- wendig und möglich, nämlich in betreff der unwiderleglich dar- getanen Einheitlichkeit und Gleichartigkeit des menschlichen Ge- schehens überhaupt. Darin liegt der einzige Anschluß an das wissenschaftliche Bewußtsein der Gegenwart, den ich fordere und den ich als solchen selbst vollziehe.

Im übrigen ist die ganze Problemstellung selbst schon nicht die der »Wissenschaft« überhaupt, sondern derjenigen Gruppe, die innerhalb des modernen Denkens den kausal-psychologischen und produktiv-vernünftigen Elementen gleicher Weise gerecht werden will. Es ist, wie Spieß richtig erkennt, der Anschluß an die Kantische Gruppe. Damit ergibt sich, daß ich die Lösung des Problems in der Richtung einer Auseinandersetzung des Ver- hältnisses von Psychologie und Erkenntnistheorie suche ; und wei- ter ergibt sich, daß ich, da die Erkenntnistheorie gerade im Auf- weis eines nicht psychologisch abzuleitenden, sondern lediglich zu analysierenden produktiven Vermögens der Setzung gültiger Erkenntnisse ihr Wesen hat, damit auch für die Religion auf den Begriff des Apriori geführt werde ^'^). Er kommt dabei in seiner

®®) Vgl. meine beiden Schriften: »Das Historische in Kants Religionsphilo- sophie« 1904 und »Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft« 1905. Auch die in diesem Bande vereinigten Aufsätze arbeiten vielfach mit dem Begriff des religiösen Apriori. Dieser Begriff hat auch sonst Anstoß erregt. So schreibt E. W. Mayer in einer Abhandlung »Ueber den gegenwärtigen Stand der Religionsphilosophie« S. 16: »Das religiöse Apriori: es ist erstaunlich, wie das in dieser Parole zusammengefaßte Programm innerhalb der modernen theologischen Jugend eingeschlagen hat. Das Dämmerlicht übt seinen gefährlichen Reiz aus, und ,das junge Volk erliegt der Wut'. Bis zu einem gewissen Grade ist das durch- aus begreillich. Denn hinter dem neuen Programm steht nicht nur eine so über-

Zur Frage des religiösen Apriori. 7C7,

doppelten Bedeutung in Betracht : einmal der Ausdruck der Selb- ständigkeit der Vernunft zu sein ; sodann das Allgemein-Notwen- dige zu bedeuten, durch das die Vernunft von dem nur psycho- logisch faßbaren Geschiebe des Relativen verschieden ist. Durch das erstere wird er eine Formel für den Dualismus zwischen Vernünftig-Notwendigem und bloß Gegeben-Tatsächlichem. Durch das zweite wird er ein Mittel wissenschaftlicher Verständigung über die Kulturwerte, die durch den Aufweis eines allgemeinen, die Einzelfälle als ihr Apriori durchdringenden und in ihnen ent- haltenen Prinzips bei jedem objektiven Kulturwert vollzogen wird. Das Ergebnis ist dann ein System der objektiven Werte oder der Ethik, das aus der Geschichte heraus den in ihr enthaltenen Drang zum Gültigen und Verpflichtenden zu einem System ent- faltet.

Spieß erkennt nun mit Recht, daß diese Anwendung des Apriori auf das religiöse Bewußtsein etwas anderes ist als die eigentliche grundlegende Anwendung, die dieser Begriff bei Kant findet, wo er für die theoretische, d. h. die die Erfahrung natur- wissenschaftlich begreifende Vernunft, die schon in der Anschauung von Raum und Zeit und dann in der kausalen Verfassung des Wirk- lichen wirksame synthetische Einheitsfunktion des wissenschaftlichen Erkennens bedeutet. Allein das ist doch keineswegs die ausschließ- liche Bedeutung des Apriori bei Kant. Auch in der ethischen, der

aus populäre Theologengestalt wie Ernst Troeltsch, sondern auch ein großer Schatten, der , gepanzerte Schatten' Kants. . . Und so ziehen sie denn heute in langge- streckten Scharen gleichsam mit Stangen und Fackeln aus, das religiöse Apriori zu suchen . . Ich gestehe, ich gehöre zu denjenigen, die wie Häring, Kaftan, Herr- mann, F. Traub, Wobbermin den Exodus nicht ohne Bedenken betrachten. Ich schaue dem am Horizont (wessen ?) verschwindenden Zuge mit den Gefühlen eines Vaters nach, der seine Söhne die solide Alltagsarbeit (das ist die Ritschlsche Dogmatik) verlassen und ausziehen sieht den Stein der Weisen zu suchen.« Von seiner psychologisch-genetischen Theorie aus hat W. Wundt in seinen »Pro- blemen der Völkerpsychologie« 191 1 dagegen Widerspruch erhoben; doch läßt sich dieser Widerspruch in diesem Zusammenhang nicht besprechen, da er eine Auseinandersetzung mit dem genetischen Prinzip erforderte ; vgl. hierzu Thieme »Die genetische Religionspsychologie« Z. f. wiss. Theol. 191 1. Vom Standpunkte der Transzendentalphilosophie selbst hat Albert Lewkowitz in einem Aufsatz, Die Religionsphilosophie des Neukantianismus«, Z. f. Thilos, u. phil. Kritik 191 1 mich angegriffen ; sein Widerspruch bezieht sich vor allem auf den unter 5. ausgespro- chenen Gedanken eines Ineinander und einer realen Verschiedenheit des empirischen und intellegibeln Ich.

7^8 ^^^ Frage des religiösen Apriori.

religiösen und der teleologisch-ästhetischen Vernunft erkennt Kant ein Apriori an, das dann natürlich nicht die synthetische Einheits- funktion des wissenschaftlichen Begreifens, sondern die vernunft- notwendige, aus eigenem Gesetz hervorgehende Beurteilungs- und Betrachtungsweise des Wirklichen unter ethischen, religiösen und teleologisch-ästhetischen Gesichtspunkten bedeutet. Eine syntheti- sche Funktion besitzen diese letzteren Aprioris nicht als Tätigkeiten wissenschaftlichen Begreifens, sondern als Aufbau der einheitlichen, aus einem Vernunftkern des Notwendigen ausstrahlenden Persön- lichkeit. Ich glaube daher ein Recht zu haben, an diese Fassungen des Kantischen Apriori mich anzuschließen und damit auf Kant mich zu berufen, wenn auch nicht zu bestreiten sein mag, daß hier bei Kant selbst eine Verschiebung seines ursprünglichen Begriffs vom Apriori vorliegt. Es ist nur eine naturalistische Einseitigkeit, wenn gewisse Schulen des modernen Neukantianismus nur jenes erste Apriori gelten lassen wollen und dieses zweite als theologi- schen und dualistischen Rest im Kantischen Denken beseitigen. Es ist vielmehr ein wesentlicher Grundgedanke Kants.

Nun gehe ich freilich immerhin auch in dieser zweiten Fas- sung des Apriori über Kant nicht unerheblich hinaus. Indem ich die synthetische Funktion desselben im Aufbau der einheitlichen Persönlichkeit betone und damit diese letztere auf einen hinter dem Ablauf der Seelennatur und ihres Wirkungszusammenhangs liegenden, jene Aprioris ausstrahlenden Vernunftkern zurückführe, gelange ich zu der Metaphysik des noumenalen Charakters. Spieß erkennt hier mit Recht eine Annäherung an Pichte und Schleier- macher ; er könnte auch sagen an Eucken und Siebeck, bei denen die Sache gerade so liegt. Allein eine solche P'ortbildung des Gedankens scheint mir auch unumgänglich notwendig, wenn man nicht in der Vorsicht einer ihre Voraussetzungen und Folgerungen nicht aussprechenden, lediglich der Analyse sich hingeben- den Kritik stecken bleiben will. Kants Kritik konnte das ; sie hat ihr Verdienst darin, in der Begrenzung auf die Analyse das ungeheure in der Vernunft liegende Wunder gezeigt zu haben. Aber schließlich müssen doch auch die darin enthaltenen Vor- aussetzungen und Folgerungen metaphysischer Art zum Vor- schein kommen, die man zurückstellen, aber nicht dauernd igno- rieren kann, die durch die selbständige Erweisung der Apriorität der Vernunft in der Kritik befestigt, aber mit einer bloßen Be- festigung nicht erledigt sind. Die Kantische Lehre hat eine me-

Zur Frage des religiösen Apriori. yt^Q

taphysische Position zum Hintergrund, eine modifizierte Monado- logie, und diese Voraussetzung muß zum Vorschein kommen, wenn es sich nicht mehr bloß um die Theorie der Erfahrung und des kausalen Begreifens, sowie um eine antiutilitaristische Moral, son- dern um die Begründung und Entwickelung der Kulturphilosophie handelt.

Damit ist mein Problemansatz von Spieß richtig bezeichnet. Richtig erkannt sind auch die aus ihm folgenden Schwierigkeiten, wenn auch im einzelnen mit einigen Mißverständnissen und Kon- sequenzmachereien, die ich ablehnen zu dürfen glaube. Aber die Hauptsache ist zuzugeben : es liegen darin von Hause aus wesent- liche und ernste Schwierigkeiten. Allein das schreckt mich nicht ab. Die anderen möglichen Standpunkte haben gleichfalls or- ganische und, wie ich meine, noch größere Schwierigkeiten. Der reine Psychologismus löst jeden Gültigkeitsgedanken in die Schil- derung seiner kausal-notwendigen Entstehung auf, vernichtet damit schließlich jede Gültigkeit und damit das Denken selbst, dem er doch seine eigene Richtigkeit verdanken zu wollen nicht umhin kann. Der dogmatische Supranaturalismus kann die göttliche Ge- offenbartheit seiner Sätze nicht gegen den bloß menschlich-natür- lichen Geistesbesitz abgrenzen und keine Vorstellung von dem Hergang einer göttlichen Mitteilung machen ; er verdirbt überdies durch eine unüberwindliche Zweifel weckende Wunderapologetik die ihm eigentümliche Macht einer unbedingten, weil extramunda- nen und extrahumanen Gewißheit. So ist keine Möglichkeit, diesen beiden anderen Positionen beizutreten; ich lasse mich daher durch die Schwierigkeiten meiner eigenen nicht davon abhalten, meinen Problemansatz weiter zu verfolgen, der mir jedenfalls in seiner gleichmäßigen Anerkennung des Psychologisch-Kausal-Tatsächlich- Gegebenen und des Kritisch- Gültig-Autonom-Notwendigen die richtige, aller wirklichen Erfahrung entsprechende Grundannahme gemacht zu haben scheint. Es geht nicht mit dem Psychologis- mus; er ist im Grunde eine widersinnige Plachheit. Es geht nicht mit dem Supranaturalismus; er ist die durchsichtige Ver- absolutierung eines gegebenen geschichtlichen Elementes. Also muß es mit dem Kritizismus gehen, der wenigstens im Ansatz alle wirklichen Erkenntnisinteressen berücksichtigt.

Spieß hat nun einige der aus diesem Problemansatz ent- springenden Schwierigkeiten formuliert und mir als Kritik ent- gegengehalten. Er scheint die Position Herrmanns als die aus

75o ^UJ" Frage des religiösen Apriori.

diesen Nöten befreiende Theorie anzusehen. Ich will ihnen in möglichst knappen Sätzen Stück für Stück antworten. Die eigent- liche Antwort würde erst eine ausgeführte Religionsphilosophie bringen können.

I. Spieß wirft die Frage auf, wie man vom Psychologisch- Historischen überhaupt zur Herausschälung des Gültig-Normativen kommen könne ? Ich gebe gerne zu, daß das die eigentliche Schwierigkeit des kritischen Problemansatzes ist. Es ist nur eben zugleich die Grundschwierigkeit alles Denkens überhaupt : wann ist ein Gedanke nicht mehr selber etwas bloß Gegebenes, ein Natur- erzeugnis, sondern eine autonome Selbstsetzung aus rein innerer Notwendigkeit? Das ist schon in dem Theoretischen schwer zu sagen, es ist noch schwerer bei den Werten und Inhalten der Kultur. Und doch zweifelt im ersten Falle kein das Logische wirklich Verstehender an der reinen Autonomie des Logischen. So wird man auch bei den Kulturinhalten an dem Prinzip ihres Hervorgangs aus autonomen Selbstgesetzgebungen nicht zweifeln können und dürfen, auch wenn in allen einzelnen Fällen eine von der psychologischen Genese völlig befreite Herausarbeitung des Vernunftgehaltes nicht mit Sicherheit zu geben ist. Es bleibt die Aufgabe, aus dem überschauten Reichtum geschichtlicher Wert- bildungen unter hypothetischer Emanzipation von dem bloß An- erzogenen sich frei die Einsicht in das Gültige und aus dem Apriori der Vernunft Stammende zu verschaffen. Es wird das zunächst nur möglich sein durch den Rekurs auf das eigentümliche, alle end- lich erreichten Einsichten in das Gültige psychologisch begleitende Evidenzgefühl, das freilich der Täuschung unterworfen bleibt und durch seine Haftung an sehr verschiedenartigen Erkenntnissen vom Relativismus bedroht ist. Hier bleibt praktisch nichts übrig, als auf Grund ernsthafter Vergleichung, Besinnung und Versenkung den übereinstimmenden Zug in diesen Bildungen sich klar zu machen, sich in ihn einzustellen und die einzelnen Bildungen als Approxi- mationen an ein nur in der allgemeinen Richtung, aber nicht im Ergebnis bekanntes Ziel zu denken. Es ist eine Tat des Willens, nicht der beliebigen Willkür, aber einer besonnenen Entscheidung, die es darauf wagt, das Richtige getroffen zu haben und die an der Möglichkeit einer Deutung des Lebens von diesem Ziel aus ihre indirekte Bestätigung hat. Das schwierige darin liegende Problem des Absoluten, über das ich seit meinem Buche darüber nachzudenken nicht aufgehört habe, kann dabei hier nicht weiter

Zur Frage des religiösen Apriori. 75 j

auseinandergesetzt werden. Ich meine nur, daß hier auch theo- retisch nichts anderes mögUch ist als das praktisch Geübte. Hier entscheidet der seine erkannte Wahrheit ergreifende Wille, der sich in ihre Bewegung richtig eingestellt zu haben gewiß gewor- den ist. Für das Recht seiner materiellen Ueberzeugung kann er einen theoretischen Beweis nicht mehr führen. Der wäre sonst längst gefunden worden.

2. Spieß meint, das religiöse Phänomen sei nicht so einfach in seiner Besonderheit festzustellen und damit sei die ganze psy- chologische Unterlage des Unternehmens fraglich. Daß auch hier große Schwierigkeiten vorliegen, bezweifle ich nicht im mindesten. Aber will man nicht das religiöse Phänomen in ein aus lauter nicht-religiösen zusammengesetztes auflösen und das »Religiöse« nur in dieser zufälligen Zusammensetzung sehen, wogegen jedes religiöse Gefühl als gegen etwas Unrichtiges sich wehren wird, und will man nicht die Zuflucht zu einer übernatürlichen Kirchenauto- rität nehmen, die wenigstens für das Christentum das Wesentliche darbietet und für alles Nicht-Christliche sich nicht zu interessieren braucht, so wird man doch glauben, daß es der Analyse gelingen müsse, ein allgemeines Charakteristikum des religiösen Bewußt- seinsstandes zu finden. Hier kommt alles auf die konkrete Durch- führung an, die ich hier nicht geben kann.

3. Spieß sagt, daß mit aller Zurückführung des religiösen Phänomens auf ein in ihm wirksames oder enthaltenes Apriori nichts für Wahrheit und Recht des rehgiösen Bewußtseins be- wiesen sei. Das ist gewiß richtig. Es sichert nur gegen eine Auflösung des Religiösen in den Fluß des psychologischen Ge- schiebes, aus dem es lediglich als Produkt und nicht als ein ge- setzgebendes, eigene Notwendigkeiten entfaltendes Prinzip hervor- ginge. Allein beweisen läßt sich weder das Recht des Ethischen noch das des Aesthetischen, ja vielleicht auch nicht das des Lo- gischen. Es genügt, wenn der Wahn abgewehrt wird, als müsse die Wissenschaft diese Funktionen in substanzlose Abhängigkeiten und Produkte des Kampfes ums Dasein und der elementarsten Grundtätigkeiten auflösen und damit zu großen Selbsttäuschungen der Menschheit machen. Ihr eigenes Recht läßt sich nicht be- weisen , weil nicht ableiten von etwas Uebergeordnetem , noch Sichererem ; es läßt sich nur betätigen, verdeutlichen und in seiner Ausübung reinigen. Die Gewißheit ihres Rechtes tragen sie von keiner Wissenschaft zu Lehen ; genug wenn sie vor Ver-

702 Zur Frage des religiösen Apriori.

nichtung durch vermeintliche Konsequenzen der Wissenschaft sich schützen können, indem sie zeigen, daß die Wissenschaft nicht die spontane Schaffenskraft der Vernunft vernichten könne, auf der sie doch selbst beruht.

4. Spieß tadelt die Zusammenfassung des Apriori mit dem Psychologisch-Konkreten zu einer irrationalen Einheit des Lebens. Da unterscheide die Religion sich nicht mehr von ^thos, Kunst und Wissenschaft, in denen gleicherweise eine solche irrationale Verbindung stattfinde. Ich würde das nicht leugnen : in dem formellen Geheimnischarakter unterscheiden sich allerdings diese Gebiete nicht, und in der Tat ihres Zustandekommens ist die Religion kein größeres und kein geringeres Geheimnis als jene anderen Funktionen, die wahrlich geheimnisvoll genug sind und deren Kantische Deutung darum von den reinen Psychologisten und Positivisten für eine wundergläubige und dualistische Roman- tik erklärt wird. Spieß meint nun aber weiterhin, aus dieser zuge- standenen Gleichheit des formellen Geheimnischarakters auch die Gleichheit des Wesens des jedesmal vorliegenden Apriori folgern zu dürfen; und, da er im Apriori nur die eine Erfahrungswissenschaft ermöglichende synthetische Einheitsfunktion sehen will, so folgert er daraus die Koinzidenz des religiösen Apriori mit dem der Wissen- schaft, der Religion mit dem wissenschaftlichen Begreifen, die Auf- hebung jedes spezifischen Sondercharakters des religiösen Bewußt- seins. Allein, das ist eine jener Konsequenzen, die ich ablehnen zu dürfen glaube, da ich bereits oben den Unterschied zwischen dem Apriori der Wissenschaft und dem der ethisch-religiös-ästhe- tischen Weltbeurteilungsweisen betont habe und keineswegs an das lediglich durch die Kritik der theoretischen Vernunft be- stimmte Apriori gebunden bin. Wenn ich es in allen Fällen als »rational« bezeichne, so hat eben auch dieses Wort rational seine nuancierte Bedeutung : es bezeichnet den Charakter einer aus AU- gemeingüligkeit fließenden Ordnung, Bewertung und Hervorbringung des Konkret- Wirklichen; es kann daher in Wissenschaft, Ethos, Religion und Kunst ein sehr verschiedenes sein. Nur sind eben auch die letzteren echte Ausflüsse der Vernunft als der vom Unbeding- ten und Einheitlichen her arbeitenden Kraft im Gegensatz zu dem nur durch Kontinuierlichkeit verbundenen, im übrigen atomistisch und relativistisch zerfallenden psychologischen Geschiebe. Vor dem Wort »rational« habe ich das Grauen so vieler Theologen durchaus nicht. Es bedeutet die autonome Gültigkeit und erlaubt

Zur Frage des religiösen Apriori. 76'^

eine theoretische und atheoretische Gültigkeit zu unterscheiden. 5. Spieß betont mit Recht, daß aus meinen bisherigen Aus- führungen vor allem die Frage nach einer genaueren Verdeut- lichung des Verhältnisses von Apriori und konkret-psychologischer Tatsächlichkeit entspringe. Es ist die Frage, die überhaupt an den Kantischen Problemansatz zu stellen ist und die überall auf das Problem hinausläuft , wie denn die von der Analyse oder Kritik getrennten, aber im Bewußtsein doch immer vorhandenen und sich gegenseitig bestimmenden Elemente wieder zu vereinigen seien. Hierauf ist überhaupt mit bloßer Kritik und Analyse nicht mehr zu antworten, da die Kritik gerade ihr Verdienst in der Scheidung und in der Behauptung des Apriori gegen den bloßen Psychologismus hat. Diese Behauptung ist nur durch Kritik und das heißt durch Scheidung zu erreichen gewesen. Aber gerade als solche Scheidung hat die Theorie ihre wichtigste und erste Wirkung, die Autonomie der Vernunft gegenüber aller bloßen physikalischen und psychologischen Kausalität und gegenüber allem bloß pragmatischen Relativismus darzutun. Da an dieser Scheidung schließlich das kulturgeschichtliche Grundinteresse aller Philosophie liegt, so ist die Kritik auch in dieser durch ihren Begriff bedingten Beschränkung eine entscheidende und grundlegende Tat, deren befreiende Wirkung auch in der Reli- gionsphilosophie gegenüber bloßer Religionsgeschichte und Reli- gionspsychologie gilt. Aber das Problem der Wiederaufeinander- beziehung bleibt freilich bestehen. Kant selbst hat es nur für die theoretische und teleologisch-ästhetische Vernunft energisch gestellt, dagegen für Moral- und Religionsphilosophie, wie ich in meinem Kantbuche gezeigt zu haben meine, geschwankt zwischen der Inangriffnahme dieser Aufgabe, wobei er dann Hegeischen Ideen sich näherte, und der Verwandlung des Apriori in inhalt- liche natürUche Wahrheiten, sei es des Naturrechts, sei es der natürlichen Religion, womit er im Banne der Aufklärung befangen blieb. Daß Kant hier nicht weiter ging, hatte allerdings seine guten Gründe. Sollte die Kritik Kritik bleiben, so war nicht mehr zu tun. Denn Kritik kann wohl regressiv den Bestand des Bewußt- seins zerlegen und die geschiedenen Funktionen in der Ausübung begreifen. Aber sie kann nicht untersuchen , wie es zu diesem Bestände überhaupt kommt und wie mit der Einsicht in dieses Zu- standekommen auch erst das Verständnis des eigentlichen Grund- verhältnisses in Einheit und Geschiedenheit sich ergibt. Damit

yßA Zur Frage des religiösen Apriori.

kommt man vielmehr in das Gebiet der Metaphysik, wie das die nachkantische Spekulation aus sehr guten Gründen getan hat und wie das bis heute unumgänglich ist, wenn man auch das kritische Geschäft zunächst zu isolieren und rein für sich zu betreiben allen Grund hat. Ich bin daher auch in meinen bisherigen Arbeiten über das kritische Geschäft nicht hinausgegangen, habe aber stets anerkannt, daß gerade die Grundfrage nach der Aufeinanderbe- ziehung des produktiv-vernünftigen und des konkret-psychologi- schen Elementes in die Metaphysik führt. Ueber die mir hier vorschwebende Lösung kann ich nur in Kürze andeuten, daß mir die Unbedingtheit alles Apriorischen, die Kontinuität und Folge- richtigkeit der geschichtlichen Vernunftbildungen auf eine han- delnde Gegenwart des absoluten Geistes im endlichen , auf ein Handeln des Universums, wie Schleiermacher sagt, in den indi- viduellen Seeleneinheiten hinzudeuten scheint, das der eigentliche Grund alles Apriori und aller geschichtsphilosophisch zu erfassen- den Bewegung ist, das aber mit dem durch den Naturzusammen- hang bestimmten Handeln des endlichen Geistes nicht ohne weiteres zusammenfällt, sondern die Hingabe des letzteren an den ersteren fordert in der Bildung und Gewinnung der mit absoluten Werten erfüllten Persönlichkeit durch die Freiheit des Willens. Es wäre also eine Trennung im göttlichen Lebensprozesse vorauszusetzen, der sich in das naturgegebene und naturbestimmte Seelenleben einerseits und in die aus ihm heraus sich erfassende und die Per- sönlichkeitsweit erst erbauende Vernunftwelt eines geschichtlichen Kampfes und Werdens zerlegte. Es ist ohne Zusammenfall des kreatürlichen und des göttlichen Lebensprozesses und darum ohne Dialektik die Idee Hegels oder ohne Determinismus und prästabilierte Harmonie die Idee Leibnizens. Der Hinter- grund des Kantischen Denkens ist ein energischer Theismus, und ein solcher ist auch der Hintergrund der Religionsphilosophie. Es ist nur eben bisher eine Unmöglichkeit für alle Philosophie gewesen, dieses Ineinander von Natur und Geist, von kosmischem Ablauf und produktiver Freiheit wirklich begreiflich zu machen, und vermutlich wird das immer unmöglich bleiben und stets nur als dem Leben immanente Voraussetzung bezeichnet werden können, die man zwar in ihre Bestandteile trennen, aber nicht wieder begrifflich zusammensetzen kann.

6. Spieß kontrastiert meine Theorie gegen Herrmann und fordert scharfe Auseinanderhaltung unserer beiderseitigen Theorien, die un-

Zur Frage des religiösen Apriori. j^c

versöhnlich seien. Das kann gerne so sein. Aber über dieses Ver- hältnis und die Art, wie ich mich Herrmann gegenüber zu behaupten meinen kann, möchte ich jedoch hier Heber nicht sprechen. Ich schätze Herrmanns Persönlichkeit aufs höchste und bewundere in seinen Büchern herrliche Stellen. Aber das Ganze habe ich bisher in seinem Zusammenhange noch nicht recht zu begreifen vermocht. Was ich an ihm begreifen kann, ist die Position eines exklusiv- supranaturalen Kirchenglaubens, der auf die wunderbare Ofifen- barungstatsache der Person Christi und auf die durch diese Per- son gestiftete Gnadenanstalt, d. h. auf die in ihr Sündenvergebungs- gewißheit und Erlösungsseligkeit besitzende Gemeinde, begründet ist; dieser Glaube kann daher in seiner lehrhaften Entfaltung nichts als die jeder wissenschaftlichen Beurteilung entrückte Gnadengewiß- heit auf Grund der natürlich nicht erklärbaren Tatsache »Jesus« aussprechen. Wie nun aber das mit den sonstigen Kantisierenden allgemeinen Grundlegungen Herrmanns sich verbindet, habe ich bis jetzt zu verstehen nicht vermocht. Es ist das ja der schärfste Gegen- satz gegen alle Grundtriebe der Kantischen Religionsphilosophie. Nur insoferne besteht hier ein Zusammenhang, als die Religion auf das sittliche Bewußtsein begründet ist. Aber auch hier ist sofort die Abweichung von Kant da, als Herrmann nur dem Christen- tum einen solchen Charakter als sittliche Religion zugesteht und alles NichtChristentum um deswillen gar nicht als Religion aner- kennen will. Es gibt also für Herrmann keinen allgemeinen Re- Hgionsbegriff wie für Kant. Insbesondere seine Behauptung, daß die Religion überdies etwas absolut Individuelles, wissenschaftlich nicht P'aßbares sei, habe ich immer nur als ein weiteres Mittel ansehen können, die Konkurrenz jeder Religionsphilosophie los- zuwerden und die eigene Position lediglich auf die christliche Erfahrungsgewißheit zu gründen. Daneben stört ihn eine rein mechanistisch-phänomenale Wirklichkeitsauffassung nicht, und die Geschichte insbesondere scheint er für keine Wissenschaft zu halten. Es gibt für ihn also vor allem keine Religionsphilosophie, weil die Religion nicht wissenschaftlich faßbar ist und weil es wahre Religion nur im Christentum gibt; dagegen gibt es wohl eine christliche wissenschaftliche Theologie, weil hier Offenbarung und nicht bloß Religion vorliegt und es wohl eine Wissenschaft von der Offenbarung, aber keine von der Religion gibt. Da nun aber wiederum der Inhalt der Offenbarung rein dem Gebiet prak- tischer Werte angehört, so hat hier keine theoretische Wissenschaft

766 2"^ Frage des religiösen Apriori.

hineinzureden und kann der Glaubensinhalt der Offenbarung ledig- lich beschreibend als Inbegriff der im Vertrauen zu Jesus liegen- den Kraft zum Guten dargestellt werden. So verstehe ich Herr- mann vorbehaltlich aller Mißverständnisse. Den Zusammenhang dieser Offenbarungstheorie mit seiner Kantischen Erkenntnistheorie kann ich nicht herstellen und daher auch die Punkte meiner Dif- ferenz wenigstens bis jetzt noch nicht genau angeben.

7. Das ist es, was ich Spieß in der Kürze zu erwidern habe. Nur ein Mißverständnis möchte ich zum Schluß noch berühren. Spieß meint, ich verwerfe den Ausweg des Supranaturalismus, weil »es ihn nicht geben dürfe*. Ich wüßte nicht, warum es ihn nicht geben dürfte. Wäre er erweislich zu kon- statieren, dann hätte man sich eben auf ihn einzurichten. Ich bin nur überzeugt, daß Bibelkritik, Kirchengeschichte und Dog- mengeschichte ihr Objekt in dem Maße dem sonstigen Geschehen eleichgerückt haben, daß in ihm kein anderes Wunder enthalten sein kann, als im sonstigen Geschehen. Es ist die Exklusivität des christlichen Supranaturalismus, die ich bestreite, weil sie nicht beweisbar ist, weder an der inneren Bekehrungserfahrung noch an den biblischen Ueberlieferungen. Und sie ist nicht bloß unbe- weisbar, sondern ihr wird von aller Historie und Psychologie widersprochen. Meine Einwände sind also nicht die Spinozas und die der heutigen populären Naturwissenschaft, sondern die Humes und Kants. Dann aber gibt es überhaupt nur mehr all- gemein wissenschaftliche und nicht mehr spezifisch theologische Begreifungsmittel. Die Eigentümlichkeit der christlichen Theologie liegt dann am Inhalt ihres Gegenstandes, nicht an besonderen theo- logischen Forschungs- und Beweismethoden. Freilich kann man fragen, ob dann das Christentum noch »Christentum« sei und ob dann seine maßgebende Gültigkeit für unser religiöses Bewußtsein noch behauptet werden könne. Das leugnet heute in der Tat ein großer Teil unserer allerdings sehr dünnen intellektuellen Ober- schicht, und die Massen der Revolutionspartei sprechen es ihr nach, indem sie damit das Bestehende überhaupt zu erschüttern hoffen, das sich mit Kirche und Theologie sehr eng verbündet hat. Aber das geschieht nicht um dieser methodischen Bedenken willen, weil eine religiöse Lebenswelt ohne das im Heilstod Christi begründete Erlösungswunder der Kirche nicht mehr Christentum sei, sondern weil den heutigen Menschen der Inhalt dieser Lebenswelt, Gott und die Seele, so vielfach fraglich geworden ist. Werden sie

Zur Frage des religiösen Apriori. 707

erst dessen wieder gewiß oder verspüren sie wieder den Hunger darnach, so wird sich die Unvergänglichkeit und innere Macht dieser Lebenswelt auch bei ihnen wieder geltend machen. Es steckt etwas unserem Leben Unentbehrliches in ihr, wie das all unsere großen idealistischen Denker gefühlt und anerkannt haben, mit Ausnahme der radikalen Pessimisten. Das gilt heute wie vor hundert Jahren. Die alten Begründungsmittel sind dahin, und mit ihnen hat sich auch der Sinn der christlichen Lebens- welt gewandelt. Aber sie enthält heute für ein in Kapitalismus, Determinismus, Relativismus und Historismus verschmachtendes Geschlecht erst recht einen Jungbrunnen der Vereinfachung, der Gesundung und der Kraft. Wir müssen nur versuchen , sie neu zu begründen und neu zu formulieren. Dann aber verlegt sich die Zentralwissenschaft für uns in die Religionsphilosophie mit der geschichtsphilosophischen Bestimmung von Wesen und Bedeutung des Christentums und in die allgemeine Ethik mit der Herausarbeitung der letzten nur religiös zu erfassenden Zweck- bestimmung des Menschen. Dogmatik und Moraltheologie werden dann zu Zweigen der praktischen Theologie im engeren Sinne. So ist jedenfalls der Gesamtplan meiner Arbeit zu verstehen, und weil dieser von unserer idealistischen Philosophie in den Haupt- punkten bereits entworfen ist , pflege ich mich wesentlich auf diese zu berufen. Ich knüpfe wieder an den Problemansatz vor Hengstenberg und vor der Restauration an.

8. Sofern aber bei dem Ganzen praktisch-religiöse Interessen in Frage kommen , so leugne ich natürlich nicht , daß hier der Instinkt und das Gefühl das Richtige finden kann, ohne daß er einer derartigen religionsphilosophischen und ethischen Unter- weisung bedürfte. Eine solche Betrachtung tritt erst ein, wenn wissenschaftliches Bedürfnis nach Klarheit oder praktisches Be- dürfnis nach wissenschaftlicher Schlichtung und Klärung der kämp- fenden Geistesmächte zu solcher Arbeit führt. Dann ist allerdings die Frage , ob von hier aus die mit rein religiösem Instinkt ge- troffene Entscheidung sich behaupten läßt und wieweit sie sich, wenn sie sich behauptet, hierbei etwa unter wissenschaftlichem Einfluß wandelt. Von da aus kann ich die Spieß offenbar am meisten beschäftigende Frage nach meinem Verhältnis zu Herr- mann beantworten, soweit das praktische Verhältnis in Betracht kommt. Hierüber bin ich mir auch klarer als über mein wissen- schaftliches Verhältnis zu ihm. Praktisch kann ich die besondere

7^8 ^^^ Frage des religiösen Apriori.

Fassung des christlichen Heils- und Gottesglaubens, wie sie Herr- mann mit so großer vereinfachender Kraft verträgt , völlig in meinen gedanklichen Rahmen aufnehmen. Herrmanns Glaube ist dann eben eine um die Wissenschaft unbekümmerte, aber von starken und sicheren religiösen Instinkten geleitete Bejahung der christlichen Lebenswelt, zugleich mit einer höchst wirksamen Ver- körperung dieser Welt in dem lebendig gedeuteten und ergriffenen Christus. Von meinem allgemeinen Rahmen her würde freilich vieles andere noch in eine solche Glaubenslehre hereinwirken und daher vieles anders gesagt werden müssen als bei Herrmann. Aber ich kann jedem, der von mir lernt, nur wünschen, daß er das Gelernte bei Herrmann ergänzt und kräftigt. Er ist einer unserer lebendigsten Erbauungsschriftsteller , dessen Wirkung ich mich keinesweges entziehe. Meine praktische Gemeinsamkeit mit ihm möchte ich ausdrücklich betonen, welche Unterschiede auch in der religionsphilosophischen oder nicht-religionsphilosophischen Grundlegung bestehen. Um aber freilich auch in dieser prak- tischen Hinsicht die Sachlage genau zu bezeichnen, so kann ich mir die Ausschließlichkeit der Gewinnung des Glaubens aus dem Eindruck der Person Jesu nicht aneignen und kann ich insbe- sondere der Herrmannschen Entfaltung des ethischen Geistes des Christentums nur bedingt zustimmen. Mir fehlt hier die Anerken- nung des »asketischen« Elementes im Christentum und das Ge- fühl für die verwickelte Beziehung dieses Elementes auf die inner- weltliche, dagegen sehr selbständige Kultur. Doch habe ich hierüber das Nähere in meiner Abhandlung über die »Grundpro- bleme der Ethik« Herrmann gegenüber bereits ausgeführt.

769

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz.

(Aus: »Encyclopedia of Religion and Ethics« hg. v. J. Hastings ^'^).

Es wird heute vielfach die Frage des sogenannten Intellek- tualismus verhandelt und von einer Abstoßung des Intellektua- lismus eine Kräftigung, Verselbständigung und Neuentfaltung des souveränen religiösen Lebens erwartet. Das ist ein außerordent- lich weitschichtiges Problem und betrifft im Grunde die Frage nach dem Verhältnis der Religion zu der Wissenschaft, zur Ge- sellschaft und zur Kultur überhaupt. Aufstrebende religiöse Be- wegungen sind schroff und einseitig religiös und damit anti- intellektualistisch, zugleich aber auch wissenschaftslos, mythisch und auf die engen Kreise beschränkt, die die Träger der spezifisch religiösen Energien sind. Bei der Ausbreitung auf eine große Gesamtheit und der Schaffung umfassender religiöser Organi- sationen tritt in Verfassung, Ethos und Theologie die Ausgleichung mit der Umwelt ein, die auch eine dauernde und durchsichtige Auseinandersetzung der religiösen Idee mit dem logischen Be- dürfnis und mit dem allgemeinen Wissen nicht entbehren kann. Die Kirchen werden daher immer ein Stück Wissenschaft und in diesem Sinne ein Stück Intellektualismus haben; auch wird es neben und in ihnen immer solche geben, welche eine derartige Auseinandersetzung auf andere, noch viel radikaler wissenschaft- liche Weise bewirken als die Kirchen, in denen doch immer Tra- dition und praktische Predigt für die Erhaltung und Sicherung des mythischen Elementes sorgen, wenn wir den wissenschaftsfreien, lebendig plastischen Glaubensausdruck so nennen wollen. Aber ebenso wird es dann immer auch solche Kreise geben, welche das religiöse Leben aus diesen Verschlingungen kirchlicher oder unkirchlicher Wissenschaft wieder befreien wollen. Sie werden damit auf das rein mythologische Denken zurückgedrängt, wie das in vielen pietistischen Kreisen von heute der Fall ist, oder

^^) Mit einigen Veränderungen deutsch in ZThK. 19 10. Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. aq

770 ^'^ Bedeutung des Begriffs der Kontingenz.

sie ziehen sich auf einen mystischen Individualismus zurück, der durch die Unvergleichbarkeit und Souveränetät seiner Maßstäbe sich der Einreihung in einen allgemeinen wissenschaftlichen Zu- sammenhang entzieht oder doch diesen nur in den allerallge- meinsten Berührungen mit den Grundgesetzen des Universums herstellt. Auch hier hat dann die Entlastung von der Wissenschaft den Rückgang auf kleinere und engere persönliche Kreise zur Begleiterscheinung, deren religiöse Energie auf die Einheit mit dem allgemeinen geistigen Leben verzichten kann und an die Wissen- schaft als den Ausdruck allgemeiner und die Gesamtheit bestimmen- der Gedanken daher sich nicht zu binden braucht. Beispiele dafür zeigt die Gegenwart in reicher Fülle von den okkultistischen Grup- pen und den Gemeinschaftsbewegungen bis zu den Sondergruppen^ die Johannes Müllers Predigt hervorbringt.

Hier liegt nun aber die Schwierigkeit und die Schranke der antiintellektualistischen Parole. Sie verzichtet auf das Mittel der Verständigung und Allgemeingültigkeit, das die Wissenschaft dar- bietet, und konzentriert sich auf kleine Kreise, die durch Erregt- heit ersetzen müssen, was ihnen an ruhiger wissenschaftlicher Ver- ständigung abgeht. Das ist aber wohl vorübergehend ein heilsamer Anstoß und Wink, aber unmöglich etwas Dauerndes. Es hat auch nie gedauert und keine große religiöse Gemeinschaft hat ohne die Mithilfe wissenschaftlicher Arbeit bestehen können. Jede ist da- zu gedrängt worden. Aber damit ist nun doch das Problem des Antiintellektualismus nicht erledigt. Denn bei einer solchen wissenschaftlichen Verarbeitung der religiösen Ideenwelt, möge sie einer kirchlichen Gemeinschaft dienen oder eine kirchenfreie objektive Verständigung suchen, kommen gewisse innere Grenzen der Rationalisierung zutage. Daß sie in der praktischen Bedingtheit der hier zu fällenden Urteile liegen, ist oft genug betont worden. Davon soll hier jetzt nicht weiter die Rede sein. Aber sie tre- ten auch im Inhalt der so gebildeten Begriffe und Gedanken über Gott und Welt selbst zutage, die dem wissenschaftlichen Trieb entsprechend mögHchst auf allgemeine Gesetze und Begriffe ge- bracht werden müssen, dabei aber, auch bei der abstraktesten Fas- sung, der vollen Rationalisierung Widerstand leisten. Es handelt sich also darum, innerhalb eines für die Gesamtheit gemeinten und der allgemeinen wissenschaftlichen Verständigungsmittel sich bedienenden religiösen Denkens diejenigen Elemente hervorzu- heben, die ihm gegenüber dem Rationalismus der allgemeinen.

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz. 771

Begriffe und Gesetze eine eigentümliche Stellung geben und es als von diesem allein nicht erfaßbar zeigen. Das ist dann die Aufzeigung der Stellen, wo auch innerhalb eines rein wissen- schaftlichen und durch allgemeine Begriffe das Gesamtdenken beherrschenden und verbindenden Denkens die Einschnürung des religiösen Lebens durch abstrakte allgemeine Notwendigkeiten aufgehoben und die Unmöglichkeit, das Weltleben in rationali- stischen Kategorien zu erschöpfen, erkennbar wird. Das ist dann nicht mehr Anti-Intellektualismus, wo die Wissenschaft als solche abgelehnt oder ferngehalten wird, sondern Anti-Rationalismus, wo innerhalb des wissenschaftlichen Denkens selbst durch den Intellekt die Selbsteinschnürung in nivellierende und lebensfeind- liche Allgemeinheiten aufgehoben wird. Der Anti-Rationalismus in diesem Sinne spielt daher auch von Anfang an eine wichtige Rolle im christlichen Denken. Indem dieses einerseits die Bil- dung der allgemeinen "Begriffe aus der griechischen Philosophie aufnahm und von deren Begriffsrealismus aus die Realität der über- sinnlichen Welt und den Monotheismus gewann, empfand es doch auch schließlich die zum Pantheismus und Antipersonalismus füh- renden Konsequenzen jeder solchen Begriffsbildung. So betonte es demgegenüber wieder das Irrationale und Tatsächliche in der Welt wie in Gott, wozu ja auch die Griechen bereits Vorbilder geliefert hatten. Es ist das, wie die Scholastiker es nannten, das Problem der Kontingenz im Unterschied von dem der allgemein- begrifflichen Notwendigkeit. An diesem Problem vollzieht sich in der Tat eine der wichtigsten Klärungen, die heute noch eben- so wichtig ist wie einst. Stand man in Antike und Mittelalter dem Rationalismus der allgemeinen Begriffe im Sinne des Plato- nismus und des Aristotelismus gegenüber, so heute demselben Rationalismus in naturwissenschaftlicher und spinozistischer Form. Er geht heute nicht mehr von allgemeinen hypostasierten Begriffen, wohl aber von allgemeinen hypostasierten Gesetzen, nicht mehr von der Logik, sondern von der Mathematik und Physik aus. Unter diesen Umständen sind vielleicht folgende Erwägungen über die Kontingenz für manchen von Nutzen, der nicht den naturge- mäß auf kleine Kreise sich beschränkenden Anti-Intellektualismus, sondern den in der Wissenschaft selbst die abstrakten Allgemein- heiten überwindenden Anti-Rationalismus sucht.

Der Ausdruck »Kontingenz« stammt aus der scholastischen Philosophie und bedeutet dort das Tatsächliche und Zufällige im

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772

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz.

Gegensatz zum begrifflich Notwendigen und Gesetzmäßigen. In dieser Bedeutung geht er zurück auf die Problemstellungen der griechischen Philosophie. Diese hatte seit der Erkenntnis der Bedeutung der allgemeinen Begriffe und der von ihnen repräsen- tierten Gesetzmäßigkeit nachdrücklich von der jenen Begriffen ge- horchenden Welt die von ihnen nicht restlos bestimmte Welt unter- schieden. Die erste war ihnen die Gestirnwelt des oberen Him- mels, während in der sublunarischen Welt der Zufall und die Unordnung die strenge Herrschaft des Gesetzes, der Formen und des Begriffes einschränkten. Nur auf materialistischer Basis Demokrit und auf pantheistischer Basis Heraklit, die Eleaten und die Stoa hatten den Rationalismus des allgemeinen Gesetzes durch das ganze Universum hindurchgeführt. Die christliche Kirchenphilosophie hielt sich in metaphysischer Hinsicht nicht an die beiden letztgenannten Schulen, sondern an Aristoteles und den Neuplatonismus. Eben damit übernahm sie auch den Be- griff der Kontingenz, wobei sie bald mit Aristoteles die Unvoll- kommenheit der sublunarischen Welt betonte, bald mit dem Neuplatonismus die Störung der reinen allgemeinen Idee durch Materie und Sinnlichkeit. Ueberdies gewann die Kontingenz hier eine neue Bedeutung durch die Verbindung mit dem jüdisch- christlichen Gottesbegriff des Theismus. Hier wurde sie der Aus- druck der Willensnatur des Schöpfergottes, der nicht gebunden ist durch allgemeine Gesetze, sondern gerade in der Kontingenz des durch sie nicht Begreiflichen sich in seinem tiefsten Wesen kund tut. Indem der Begriffsrealismus empiristische Gegen- strömungen weckte und das Interesse an der Ungebundenheit des göttlichen Willens diese verstärkte, entstanden die verschiedenen Kompromisse der Scholastik zwischen der Geltung des reinen Begriffs und der Anerkennung des rein Tatsächlichen von den spezifisch-aristotelischen Systemen bis zur Mystik und zum No- minalismus. Erst die beginnende moderne Philosophie erneuerte mit den Naturphilosophen der Renaissance den heraklitischen und den stoischen Pantheismus. Indem dann vollends die moderne Naturforschung die Gesetze der siderischen Welt als mit denen der sublunarischen W^elt identisch erwies, erhob sich eine neue Welle des reinen, die Kontingenz ausscheidenden Rationalismus. Die mathematisch-physikalische Weltordnung und auf ihrem Gipfel das System des Spinoza brachten ihn zur Herrschaft. Dem gegen- über reagierte dann freilich wieder um so stärker der Empiris-

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz. 77^

mus mit der Betonung der Kontingenz von Locke und Hume bis Leibniz und Kant, welche letzteren bei allem prinzipiellen Ratio- nalismus doch die verites de fait und die verites de raison oder auch den Rationalismus der Kategorien von der Kontingenz des Erfahrungsstoffes unterschieden. Indem das Problem auf die neue Basis einer universalen Weltgesetzlichkeit gestellt wurde, verschwand die aristotelische Idee der Kontingenz als bloß der sublunarischen Welt angehörig und die neuplatonische Idee der- selben als mit der Ideewidrigkeit von Materie und Sinnlichkeit gegeben. Aber sie erhob sich nun auch ihrerseits mit einer all- gemeinen kosmischen Tendenz in Erkenntnistheorie und Meta- physik, indem sie das Irrationale neben und innerhalb des Ratio- nalen bedeutete und zu den Fragen des Gottesbegriffs in engste Beziehung trat; hier stritten sich der Gedanke des grundlosen Schöpferwillens mit dem der ideellen Notwendigkeit des Aus- gangs der Welt aus der Idee. In diesen Verhandlungen ist erst die volle Bedeutung des Begriffes der Kontingenz erreicht worden. Folgende Punkte kommen hierbei in Betracht:

1. Der Unterschied der begrifflichen Gesetze und Notwendig- keiten von den Tatsachen, die in ihnen verknüpft, vereinheitlicht und beherrscht werden. Diese Tatsachen selbst sind irrational und zufällig. Daß es das oder jenes gibt, ist nicht zu begreifen. Und hat man einzelnes durch Ableitung von anderem begriffen, so bleibt immer jenes andere etwas Kontingentes. Sollte man aber meinen aus der Tatsache der Weltgesamtheit das einzelne sämtlich begrifflich herleiten zu können was tatsächlich bis jetzt nicht entfernt möglich ist und daher bestenfalls ein logisches Postulat ist , so wäre erst recht das Dasein der Welt selbst etwas Irrationales und Kontingentes. Das Unbegreiflichste ist, sagt d'Alembert, daß es überhaupt etwas gibt. Darin liegt der Grund, daß die Metaphysik für die Existenz des Tatsächlichen schließlich immer wieder auf den einfach setzenden Willen Gottes zurück- geht, wie das schon Augustin und der Nominalismus getan haben und wie das in den modernsten Lehren von Schelling und von E. v. Hartmann nur in anderer Form wiederkehrt. Aber auch ein so entschiedener Rationalist wie Descartes hat darauf für die Welt als Ganzes zurückgegriffen.

2. Die Elemente der Kontingenz in den rationell-begrifflichen Notwendigkeiten selbst. Das Weltgesetz, der Weltbegriff, die Welteinheit sind immer nur Phantasien oder Postulate gewesen

774 ^'^ Bedeutung des Begriffs der Kontingenz.

ohne wirkliche Aufweisbarkeit. In Wahrheit gibt es nur eine Mehr- heit von Gesetzen nebeneinander, deren gleichzeitige Anwendung auf das einzelne es immer erst erklärbar macht. Diese Pluralität der Gesetze macht diese selbst gegeneinander und gegenüber dem Ideal des absoluten Weltgesetzes kontingent. Dazu kommt die Schwierigkeit, sich die Art der Herrschaft der Gesetze über die Wirklichkeit vorzustellen. Will man nicht wie das die Mehrzahl der heutigen Gesetzesverehrer instinktiv tut in den Mythos der platonischen Ideenwelt und des scholastischen Rea- lismus verfallen, so kommt man dazu, den Gesetzen in erster Linie eine subjektive Bedeutung der Ordnung, Gestaltung und Uebersichtlichmachung der Wirklichkeit zuzuschreiben, die irgend- wie freilich mit einer gesetzlichen Beschaffenheit der Wirklichkeit selbst zusammenhängen muß, ohne daß man die Art dieses Zu- sammenhanges bestimmen könnte. Dann aber ist in den Begriff etwas höchst Subjektives und Kontingentes aufgenommen. Sucht man aber in der Weise des modernen Kantisch-Fichteschen Idea- lismus jene Uebereinstimmung aus der Erzeugung der W^elt durch das Bewußtsein zu erklären, so bleibt doch die Tatsache, daß die Anwendung der die W^elt ordnenden und als gesetzliche Einheit verstehenden Gesetze jedesmal von einem besonderen Interesse geleitet ist und nie die Gesamtheit der Wirklichkeit rationalisiert wird, sondern immer nur eine durch das jeweilige, einseitige Inter- esse ausgewählte Seite der Wirklichkeit. Es bleibt also auch so in diesem unumgänglichen selektiven Herausgreifen und Isolieren ein Element der Kontingenz,

3. Der Begriff der Individualität. Auch wenn man eine all- gemeine rationelle Gesetzmäßigkeit behaupten wollte, so ist doch jedes innerhalb dieses Netzwerkes sich bildende konkrete einzelne etwas Individuelles, d. h. etwas aus allgemeinen Gesetzen nicht restlos Verständliches, das immer noch etwas aus ihnen nicht resultierendes Besonderes und Unwiederholbares hat. Das gilt von den einfachsten Naturvorgängen bis zu den feinsten seelischen Lebenskomplexen. Ja, schließUch ist das Weltganze selbst und sein Ablauf nicht ein Exemplar eines allgemeinen Begriffes, son- dern eine individuelle Einmaligkeit. Man müßte schon, um für das Weltall die Unterwerfung unter ein allgemeines Gesetz zu retten, zu dem Satz von der ewigen Wiederkehr aller Dinge greifen. Aber die Tatsache einer ewig wiederkehrenden Wirklichkeit wie der immer wiederkehrende Inhalt blieben auch so unbegreiflich

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz. 77 c'

aus einem allgemeinen Gesetz. Das Problem der Individuation ist eben darum identisch mit dem allgemeinen Sinne des Problems der Kontingenz. An ihm scheitert jeder radikale Rationalismus, der eben deshalb das Individuelle zu leugnen, umzudeuten, oder zu übersehen pflegt. Diesen Sinn hatte es, wenn Leibniz Spinoza entgegenhielt, Spinoza hätte recht, wenn es keine Monaden gäbe. Den gleichen Sinn hatte es, wenn Schleiermacher Kants kategori- schem Imperativ mit der P'orderung einer völlig individuellen Moralität gegenübertrat.

4. Das Problem des Neuen. Nach den Prinzipien jedes reinen Rationalismus könnte es in der Wirklichkeit nie die Entstehung von etwas Neuem geben. Alles wäre mit dem Ganzen gesetzt, also in diesem selbst immer schon vorhanden; oder es wäre alles Neue nur eine neue Erscheinungsform und Gestalt der immer in gleichem Betrag vorhandenen Kräfte. Beidemale aber ist das Neue nur durch Erschleichung beseitigt. Im ersten Falle bleibt es als in der Entwickelung hervortretend, als Unterschied des Aktus von der Potenz, im zweiten als Schein und Vorstellung. Ein wirk- lich strenger Rationalismus muß die Bewegung und das Werden leugnen wie die P^leaten. Wird beides aber anerkannt, so steckt in dem damit anerkannten Gedanken der Neuentstehung von et- was, das im vorhergehenden nicht schon enthalten war, ein Ele- ment der Kontingenz. Auch der Rationalismus Hegels hat, indem er den Widerspruch und den ständigen Umschlag in das Gegen- teil in seine Logik des Begriffs aufnahm, in Wahrheit nur das Ir- rationale und die Kontingenz zu rationalisieren versucht. Meta- physisch ausgedrückt ist es der Gedanke der Schöpfung und Setzung, der hier auf das einzelne ebenso angewendet wird wie oben (i) auf das Ganze der Welt. Erkenntnistheoretisch ausge- drückt ist es der Gedanke eines Kausalzusammenhanges der Kausal- Ungleichung im Gegensatz zu dem allein streng rationellen der Kausalgleichung. In der Kausal-Ungleichung wird ein Zusammen- hang anerkannt, der aber zugleich die Entstehung von etwas Neuem einschließt. In der Kausalgleichung wird ein Zusammen- hang anerkannt, der die Identität bei bloßer Veränderung der Form bedeutet. Das erstere ist unser Verfahren bei der Auf- suchung und Darstellung historischer Zusammenhänge, das letztere bei dem Versuch, das Naturgeschehen aus dem Gesetz der Er- haltung der Energie zu verstehen. Das Bestreben, alle Kausal- erkenntnisse auf diese letztere Methode zu reduzieren, ist unmög-

775 -D'^ Bedeutung des Begriffs der Kontingenz.

lieh. Das würde zum absurdesten Materialismus führen und ist in der Tat heute das häufigste Motiv des Materialismus. Wo man aber diesem, durch den psycho-physischen Parallelismus entgehen will, da wird schUeßlich doch auch die psychische Seite den bloßen Umwandlungen der Energien ausgeliefert und damit das Neue auch auf dieser Seite unmöglich. Ein solches aber findet jedenfalls hier trotz aller Kontinuität und alles Zusammenhangs unzweifelhaft statt. Damit steckt im Kausalitätsbegriffe selbst ein Element der Kontingenz.

5. Der Zusammenhang der Freiheit mit der Kontingenz. Die Freiheit als Selbstbestimmung nach gültigen und bejahten Gesetzen im Gegensatz zu dem Zufall der psychologisch herbeigeführten Motivationskausalitäten ist zwar selbst durchaus nichts Kontingentes. Vielmehr im Gegenteil ist sie als moralisches und soziales All- gemeingesetz der Ausgangspunkt des Gesetzesbegriffes überhaupt, der hier zuerst erlebt und erst von hier auf die Allgemeinheiten des Weltverlaufes übertragen wurde. Aber einmal erscheint, von der Notwendigkeit der ideellen Werte aus, das kausale Müssen des Naturablaufs der Dinge als etwas Kontingentes. Enthüllt sich in jenen der eigentliche Sinn des Daseins, so ist nicht zu erkennen, warum jene Werte zu ihrer Verwirklichung gerade diese Kausal- welt oder Natur forderten. Ferner schließt die Freiheit oder die Setzung gültiger Zwecke d. h. die autonome Bejahung und Ver- wirklichung ideeller Notwendigkeiten innerhalb der körperlichen und seelischen Natur, aus der heraus und in die hinein sie handelt, die absolut rationale kausale Geschlossenheit der Natur aus, indem sie von der Gesetzlichkeit der Natur eine Elastizität verlangt, ver- möge deren sie aus ihr auftauchen, in sie eindringen und sie sich dienstbar machen kann. Damit kommt aber auch von dieser Seite her in den Begriff der allgemeinen Naturgesetze etwas Kontingen- tes, eine Vorstellung des rein Tatsächlichen, aber nicht ein Begriff absoluter Geltung. Durchbrochene oder elastische Gesetze sind selbst etwas Kontingentes, gemessen am Ideal der allgemeinen Notwendigkeit. Hier haben alle Künste der Dialektik und alle Verteilungen auf verschiedene Betrachtungsweisen nichts helfen können. An diesem Punkte liegen die Motive, aber auch die Schranken des Determinismus, der immer nur ein aus dem Axiom der absoluten Rationalität sich ergebendes Folgeaxiom, aber nie- mals eine wissenschaftlich erwiesene Tatsache ist.

6. Die Kontingenz in den Ideen der Freiheit. Liegt in den

Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz. 777

Ideen der Freiheit, der absoluten Werte und Gültigkeiten, die letzte erlebbare Wurzel des Gesetzesgedankens und damit der unbedingten Notwendigkeit, so ist doch der Inhalt der ideellen Gesetzgebung selbst nicht als etwas in sich Notwendiges zu er- kennen. Wir kommen immer nur auf eine tatsächliche Herrschaft der so oder so verstandenen Ideen über die Seele, können aber diese Ideen selbst nicht inhaltlich aus einer absoluten Notwendigkeit ab- leiten. Die Form der moralischen Ideen mag die unbedingte Not- wendigkeit sein, ihr Inhalt ist abhängig von den tatsächlichen Be- schaffenheiten des menschlichen Lebens. Darin hat die Kantische Reduktion der Moral zu einer bloßen Form der allgemeingültigen Verpflichtung und die Reduktion des ganzen Weltgesetzes auf die- ses formale oberste W^eltgesetz des Guten ihren Grund ; die Folge ist die Inhaltslosigkeit, ja die Beziehungslosigkeit dieser Moral zum konkreten Leben. Darin hat aber auch die alte scholastische Streitfrage ihren Grund, ob die Moralgebote gut seien, weil Gott sie will, oder ob sie Gott wolle, weil sie gut sind. Hierin zeigt sich, wie die Kontingenz bis in die tiefsten Wurzeln aller Not- wendigkeitsgedanken selbst hineinreicht.

Nach allen diesen Seiten hin enthält also das Problem der Kontingenz in nuce alle philosophischen Probleme, gerade so wie von der umgekehrten Seite her das Problem des Rationalismus sie alle umschließt. Es ist die Frage nach dem Verhältnis des Rationalen zum Irrationalen, des Tatsächlichen zum Begrifflichen, der Schöpfung zur Ewigkeit und Notwendigkeit der Welt. Die Ausgleiche sind unmöglich. Das wirkliche menschliche Denken besteht in der fortwährenden Verbindung beider. Ein absoluter Rationalismus mit der Konsequenz des Pantheismus ist ebenso unmöglich als ein absoluter Irrationalismus mit der Konsequenz der Zufälligkeit und Zusammenhangslosigkeit aller Dinge oder des Polytheismus. Hier stehen Spinoza und William James einander als Gegenpole gegenüber. Die Möglichkeit einer restlosen Inein- anderarbeitung beider ist nicht gegeben. Der größtgedachte Ent- wurf einer Vermittlung ist die Kantische Lehre. Aber eben dar- um ist sie doppeldeutig in mehr als einer Hinsicht. Die einen verstehen sie psychologistisch und genetisch und machen damit die Gesetze zu zufälligen psychologischen Produkten. Die andern verstehen sie rationalistisch und formalistisch und kommen da- durch mit der psychologischen Wirklichkeit in Konflikt. Oder,

778 ^'^ Bedeutung des Begriffs der Kontingcnz.

wenn man sich an die Eigentümlichkeit der transzendentalen Logik, die Zusammenschweißung des Apriori mit dem Erfahrungs- stoff im Erfahrungs-Denken und -Deuten, hält, dann bricht diese Logik nur allzuleicht in ihre beiden Bestandteile auseinander. Hier führt jeder Versuch in letztlich unheilbare Widersprüche, obwohl die Vereinigung immer wieder von neuem versucht wer- den muß.

Religiös ist die Bedeutung des Kontingenzbegriffes, daß er die Lebendigkeit, Vielheit und Freiheit der Welt in Gott, ja die schöpferische Freiheit Gottes selbst enthält, wie umgekehrt der Rationalismus die Einheit der Welt, die Herrschaft des Ueber- „sinnlichen, die Zusammenfassung in einem göttlichen Allgesetz bedeutet. Keines beider Prinzipien ist religiös zu entbehren. Aber jedes führt für sich allein zu religiös unerträglichen Konse- quenzen. Auch hier ist eine Vermittelung begrifflich unmöglich. Ja, hier im Gottesbegriff kommt das ganze Problem ebenso auf seinen Gipfel, wie die Wirklichkeit in ihm auf ihren Grund kommt. Praktisch schaut der jüdisch-christliche Theismus beide Seiten der Dinge zusammen und ist dadurch auch das spekulativ reichste reli- giöse Prinzip. Aber freilich liegen darin auch seine inneren Span- nungen und Widersprüche. Gegen die Kritiker, die sich auf diese Widersprüche stürzen, ist im Grunde nur das anzuführen, daß ähnliche Widersprüche zuletzt auch in jedem Pantheismus und in jedem nominalistischen Empirismus oder Pluralismus unüberwind- lich enthalten sind. Jeder Pantheismus ist ein verschämter Plura- lismus und enthält das Kontingente. Jeder Nominalismus setzt die begriffliche Verständigung zum mindesten über seine eigenen Prin- zipien voraus und damit eine apriorische logische Einheit der Wirk- lichkeit. Es gibt hier keine glatte Lösung des Problems. Damit aber bleibt dem Antirationalismus des religiösen Glaubens an die lebendige, weltunterschiedene, schlechthin unbegreifliche Kraft Got- tes freier Raum, die grundloser Wille und einheitlicher Lebenszu- sammenhang zugleich ist. Alle Aufweisung von rationalen Aprioris setzt den unbegreiflichen Stoff voraus, den sie gestalten und be- werten, und mündet rückwärts in die Setzung alles Geltenden durch den göttlichen Willen. Es ist nur eine Zwischenregion, in der die begriffliche Ordnung möglich ist. Hier aber ist sie auch von der höchsten theoretischen und praktischen Bedeutung.

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Die Mission in der modernen "Welt.

(Aus: Die Christliche Welt 1906) ^8)_

Jede geistige Macht trägt den Ausbreitungs- und Mitteilungs- trieb in sich, sei es mehr auf dem Wege der persönlichen Mit- teilung, sei es auf dem der unpersönlichen, an ein allgemeines Publikum sich wendenden Literatur. Wieder auf anderem Wege wirkt dieser Tieb, wenn die geistige Macht organisiert ist und über die Kräfte eines geordneten Apparates sowie über die jeder Or- ganisation in gewissem Grade eignenden sozialen Einflüsse verfügt. Eine geistige Macht im letzteren Sinne sind die Kirchen, denen bei ihrer Massenbedeutung auch in ungewöhnlichem Maße soziale und politische Einflüsse zur Verfügung stehen. Der in ihnen lebendige Ausbreitungstrieb ist auf den Gebieten ihrer bereits errungenen und seit langem befestigten Herrschaft freilich mehr ein Trieb zur Intensivierung ihrer Wirkung, zur Apologetik und zur Erweisung ihrer praktisch-ethischen Reformkräfte. Zu sol- cher Arbeit haben sie unter den modernen Verhältnissen in steigendem Maße Veranlassung, und schon bezeichnet man diese Tätigkeit als »innere« Mission gegenüber dem modernen Heiden- tum und gegenüber dem geistigen und körperlichen Massen- elend der Großstädte. Aber das wird von den Kirchen, die an die Herrschaft über die mit der Kindertaufe ihnen einverleibten Massen gewöhnt sind, in Wahrheit doch nicht als Ausbreitung, sondern als Selbstbehauptung und soziale Rettungsarbeit empfun- den. Anders steht es gegenüber der außerchristlichen Welt. Hier wird der Ausbreitungstrieb als eigentliche Mission, als göttliche Sendung und Beauftragung zur Bekehrung der Völker, empfun- den und betätigt. Als rettende Mission ist das Christus-Evange-

^^) Gegen diesen Aufsatz hat sich der hochverdiente Missions-Gelehrte Dr. Warneck in der »Allgemeinen Missionszeitschrift« 1906 gewendet. Ich habe darauf in der Z. f. Missionskunde U.Religionswissenschaft 1907 geantwortet. Das Wesent- liche dieser Antwort ist hier in die neue Form des Aufsatzes aufgenommen.

780 ^^^ Mission in der modernen Welt.

liiim und die Christus-Kirche in die Welt getreten. Missions- geschichte ist ihre älteste Geschichte. Von Geist und Bedürfnis der Mission ist ein großer Teil ihrer ältesten Schöpfungen und Einrichtungen hervorgebracht. Mission ist ihre Arbeit an den Germanen und dann an den Slaven gewesen, bis sie ganz Europa mit Ausnahme der Türkei verchristlicht und von Europa aus auch Amerika dem Christentum gewonnen hat. Die Aufgabe und der Trieb dauert heute noch fort, ist aber teils durch die neue Front- stellung der Mission gegenüber der außereuropäischen, die Antike nicht als Wurzel voraussetzende Welt, teils durch die Verände- rungen im eigenen heimischen Bestand unter neue Bedingungen gestellt. Diese neuen Bedingungen der Mission bedeuten aber eine eigentümliche neue Gesamtlage des Christentums überhaupt und die Aufwerfung wichtiger Zukunftsfragen, die für die Betätigung und die Gesamtauffassung unseres religiösen Lebens nicht gleichgültig sind. An dem Missionsproblem gehen alle Probleme des heutigen Chri- stentums^in einer besonders lehrreichen Richtung auf. In ihm steckt die Frage nach der Lebensfähigkeit, Zukunftsentwickelung und produktiven Kraft des Christentums, die Frage nach einer mög- lichen Einheit der Menschheit und vor allem nach der schließ- lichen Verständigung von Ost und West; insbesondere aber auch die Frage nach dem Mittel dieser Verständigung, ob es auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Intelligenz oder der praktisch-reli- giösen Lebensmächte liegt. Die letzte und nicht die unwichtigste Frage ist, wie derjenige Ausgleich von Wissenschaft und prak- tisch-religiösem Leben, den das freie Christentum und die suchende religiöse Neubildung der letzten Jahrhunderte in immer neuem Anlauf herstellt, sich zu diesem Missionsproblem verhalte und sich ihm gegenüber bewähre.

Interessant ist hier nun in erster Linie die Tatsache, daß die Kirche selbst die Mission heute nur noch unternimmt im Katho- lizismus, der alle religiöse Betätigung seiner Glieder überhaupt von einer Zentralstelle aus leitet. Auf dem Gebiete der alten prote- stantischen Staatskirchen ist der Zusammenfall der Kirche mit dem Staatsgebiete so selbstverständlich geworden, daß die Mission als Werk der amtlichen Kirche eine Erweiterung ihrer selbst über das Staatsgebiet hinaus und bei dem Zusammenfall des staatlichen und kirchlichen Regiments ein Eingriff des Staates in fremde Staaten oder Völker wäre. Daher ist hier die Mission Sache freier Vereine, die von den Kirchenbehörden nur unterstützt

Die Mission in der modernen Welt. 78I

werden. Nur auf denq Boden der staatsfreien Denominationen und Sekten findet sich die Mission als Kirchenunternehmung, ähnlich wie beim Katholizismus. Doch überwiegt auch hier das freie Vereinswesen. Man steht also bei der protestantischen Mission wenigstens bei uns nicht vor Tätigkeiten der Kirchen, sondern vor solchen freier Vereine, die alle ihre beson- dere dogmatische und missionstechnische Art haben. Dadurch ist das Interesse an der Ausbreitung des Christentums von vorn- herein auf diese Vereine gerichtet und durch Zustimmung oder Abneigung gegen ihre Art bestimmt. Während nun die heimi- schen Kirchen trotz aller amtlichen Rechtgläubigkeit doch die sehr verschiedenartig gesinnte Bevölkerung und damit die ganze Mannigfaltigkeit der modernen religiösen Standpunkte in sich tragen, sind diese Missionsvereine fast sämtlich mehr oder minder orthodox und halten dadurch die anderen Bevölkerungsgruppen von sich zurück. Sie gelten geradezu als der Ruhmestitel kon- servativer Christlichkeit, die darin zeige, daß sie allein die Kraft zu lebendiger Betätigung besitzt, weil sie an den Missionsbefehl des Herrn glaubt und weil sie noch wie die alte Kirche und die Apostel den Mut hat, die nichtchristlichen Völker als erlösungs- bedürftige und zu bekehrende Verlorene zu betrachten. Damit sind dann aber gerade die freien Christen von diesem Werke aus- geschlossen, jedenfalls des Einflusses auf es beraubt. Auch ist ihre eigene Stellung zur religiösen Ideenwelt mehr eine kämpfende und suchende, für welche die Missionsaufgabe in den Hinter- grund tritt. So ist in ihren Kreisen die Missionsaufgabe eine fragliche und bedenkliche Sache und wendet sich hier der Ausbrei- tungstrieb auf die Beeinflussung der heimischen Christen, auf die Behauptung und Neugestaltung der christlichen Ideenwelt im Bereiche ihrer alten Herrschaftsgebiete, wo sie in eine schwere innere Krisis geraten ist. Das scheint eine sehr natürliche Ar- beitsteilung, Denn zur Heidenmission ist ein selbstgewisser, mit sich selber fertiger nnd unbedingter Glaube jedenfalls im allge- meinen am geeignetsten, während in den inneren Krisen der Heimat sich der Gegensatz gerade gegen diese Fertigkeit richtet und die Anhänger der unvermeidlichen Neubildungen sammelt. Aber es ist das in Wahrheit keine Arbeitsteilung, sondern eine verschiedene sachliche Richtung in der Auffassung des Christen- tums selbst. Beide Richtungen und Aufgaben können auch in Rück- sicht auf die Mission nicht auf die Dauer gleichgültig neben einander

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Die Mission in der modernen Welt.

hergehen. Oder richtiger da ja die orthodoxe Mission keineswegs gleichgültig gegen den Gegensatz ist, sondern die freien Christen aufs lebhafteste bekämpft, ja in ihren Einwirkungen auf die Missions- länder geradezu ein schmerzliches Hindernis findet und verurteilt die freien Christen dürfen sich nicht gleichgültig gegen diese großen Zukunftsfragen und gegen diese Selbstbewährung ihres Glaubens verhalten. Die heimische Neubildung darf die großen Aufgaben der Ausbreitung und Mission nicht vergessen. Andererseits tre- ten auf den Missionsgebieten der höher kultivierten Völker, die unter dem Einfluß des modernen europäischen Geistes stehen^ ähnliche Fragen auf wie bei uns, und, sofern das noch nicht der Fall ist, würde es in einiger Zeit nach der Bildung größerer christlicher Gemeinden sicherlich eintreten. Da gibt es dann auch für unsere Art wichtiges zu tun.

So ist im eigenen Interesse der freien Christen und im all- gemeinen Interesse des religiösen Lebens die Missionsfrage doch nicht einfach ohne weiteres den orthodoxen Missionsgesellschaften zu überlassen. Es ist auch in unseren Kreisen ein Verständnis und eine Verantwortlichkeit dafür zu fordern. Bei der von Hause aus schwierigen Lage unserer Kreise gegenüber dem Missionsproblem ist aber die Erweckung und Begründung, schließlich auch die prak- tische Betätigung eines solchen Interesses eine sehr mühsame Frage, insbesondere wenn man dabei, wie das doch unumgäng- lich ist, sich an die breiten Massen des gebildeten Publikums wenden muß.

Von Mission zu sprechen gehört daher zu den undankbarsten und unpopulärsten Aufgaben, wenn man sich an solche Kreise wendet. Der Gebildete im gewöhnlichen Sinne des Wortes (wo er die die durchschnittliche Bildung besitzende Oberschicht unseres Volkes darstellt) weiß nichts von Mission ; er will von ihr nichts wissen. Auch wenn er sich im allgemeinen für die Aufgaben und Fragen des religiösen Lebens interessiert, so ist ihm doch dabei die Mission das Gleichgültigste und Fraglichste.

Worin liegen die Gründe dieser Erscheinung.? Sie ist nicht ganz selbstverständlich und ist auch keineswegs durch alle Völker gleichmäßig verbreitet. Sieht man auf die Missionsarbeit selbst, so ist das gegenwärtige Zeitalter ein Zeitalter der Mission, wie keines vor ihm. Die protestantische Mission verausgabt gegen- wärtig jährlich 50 Millionen, beschäftigt rund 6000 Missionare und hat rund 17 000 Schulen auf den Missionsgebieten aufgerichtet;.

Die Mission in der modernen Welt. 78 '^

die Leistungen der katholischen Kirche werden dahinter schwer- lich viel zurückbleiben. Diese Zahlen aber bedeuten eine kolos- sale Missionsarbeit, die nicht in dieser Weise blühen würde, wenn sie erfolglos wäre und keinem Bedürfnis begegnete. Dabei liegt der Erfolg gar nicht wesentlich in den Zahlen der neugebildeten Gemeinden und Getauften, sondern in dem Einfluß der europäisch- christlichen Ideen rings über die Erde, der sich zahlenmäßig und statistisch überhaupt nicht fassen läßt. Die moderne Kolonisation, der Imperialismus, der Weltverkehr, das Vordringen der euro- päisch-amerikanischen Zivilisation breitet überall zugleich das Christentum aus.

Das wäre allerdings nicht möglich, wenn die Abneigung gegen die Mission in allen Ländern so verbreitet wäre, wie in Deutschland. In Wahrheit sind die führenden Völker in dieser Ausbreitungsbewe- gung, England und Amerika, lebhaft und aufrichtig an der Mission interessiert. Hier herrscht in allen Volkschichten eine Gläubigkeit, die stark genug ist, um die Männer und Frauen der verschiedensten Lebensstellungen am Missionswerk zu beteiligen und um die Ausbreitung des eigenen religiösen Glaubens als eine Pflicht erscheinen zu lassen. Bei der starken Beteiligung der Laien am kirchlichen und religiösen Leben ist es hier auch keine eng-kirchliche, sondern eine allgemein menschliche Angelegen- heit. So kommt es, daß die Ausbreitungsbewegung dieser Völ- ker von allen Mächten des religiösen Propagandatriebes mit be- lebt wird und daß dem Ostasiaten Christentum und anglo-ameri- kanische Zivilisation identisch erscheint, während der Deutsche nur mit dem Schulmeister, dem Lehrbuch und dem Exerzier- reglement zusammenfällt. Wir pflegen uns in der kurzsichtigen und selbstgerechten Beurteilung angelsächsischer Zustände, die wir uns von einer gewissen Presse haben aufreden lassen, diese Erscheinungen aus Heuchelei zu erklären. Das ist aber für Jeden, der diese Völker in der Nähe gesehen hat, ausgeschlossen. Bei ihnen ist eben überhaupt das religiöse Leben anders geartet als bei uns, und ihre praktische, nicht an Systemen und Spekula- tionen hängende Natur wertet die Kräfte des religiösen Lebens anders, lebendiger und fruchtbarer.

Die Mission ist wirklich eine Großmacht des heutigen Völker- lebens, und auf dem Wege der Mission dringt vor allem angel- sächsischer Geist in die weiten Gebiete der nichtchristlichen Welt. Da ist es nicht bloß eine theologische Liebhaberei kirch-

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Die Mission in der modernen Welt,

lieber Kreise, wenn die Anteilnahme auch Deutschlands am Mis- sionswerk gefordert wird. Mit Schneidigkeit und Wissenschaft allein gewinnen wir keinen wesenhaften Anteil an jenem Leben der neu unserer Kultur zu erschließenden Völker; es wäre zu wünschen, daß etwas vom besten und innerlichsten religiösen Leben Deutschlands mit daran beteiligt wäre. Nicht um poli- tische Ausnutzung der Mission handelt es sich, sondern um An- teil an der Bildung des neuen geistigen Lebens, das der elemen- taren Grundkräfte der Religion nicht entbehren kann und auf das auch auf diesem Wege am stärksten gewirkt wird.

Aber wie kommt es nun bei uns zu dieser Abneigung gegen die Mission, gegen jeden Versuch, die deutsch gefärbte und aus deutschem Geistesleben erwachsene Religiosität in die Welt zu tragen ?

Die Gründe sind mancherlei. Zunächst fehlt es nicht an aller- hand äußerlichen und zufälligen Gegensätzen gegen die Mis- sion, an Reibungen zwischen Mission und Politik, Handelsinter- essen und Missionsinteressen, Kolonialbeamten und Missionaren. Die abschätzigen Aeußerungen Wißmanns und ähnliche zahlreicher Kaufleute über die Mission, und zwar besonders über die prote- stantische, sind allbekannt. Der chinesische Boxeraufstand wird als eine Unannehmlichkeit und Ausgabe bezeichnet, die uns nur die Missionare auf den Hals gezogen hätten. Der nationale Chau- vinismus empört sich, wenn die Missionare nicht mit der koloni- sierenden Macht völlig gemeinsame Partei machen. Er klagt über Humanitätsdusel und Verzärtelung, wenn die Missionare mit Men- schenrechten der Farbigen kommen. So hat sich eine weitver- breitete Mißstimmung erzeugt, welche die Mission lediglich für schädlich erklärt.

Doch wären diese Dinge, die doch auch von anderen ganz anders beurteilt werden, nicht imstande gewesen, die Abneigung hervorzubringen, wenn vorher eine wirkliche Zuneigung vorhanden gewesen wäre. Die Mission ist von Hause aus im protestan- tischen Deutschland nicht beliebt. Der deutsche Protestantismus ist wesentlich lutherischer Herkunft. Das Luthertum aber hatte die strengste Richtung auf Amt und Ordnung in der Kirche und auf das Zusammenfallen von Staat und Kirche. So konnte das Luthertum an Mission überhaupt nicht denken. Die Kirchen missionierten nicht, weil sie außerhalb der Landeskirche und des Bereiches des Landesfürsten nichts zu suchen hatten, und die

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privaten Einzelnen missionierten nicht, weil der Privatmann oder Verein kein göttlich-kirchliches Amt dafür hatte. Das strenge steife Landeskirchentum , der absolute Konservatismus des Lu- thertums hinderten die Mission; ganz charakteristisch sang ein orthodoxer lutherischer Pastor von der Mission :

Vor Zeiten hieß es wohl : Geht hin in alle Welt, Jetzt aber : Bleib allda, wohin dich Gott bestellt.

Diese Erziehung im Geist und Sinn des Luthertums hat über- haupt in Deutschland den Gedanken der Ausbreitung nach außen und die Privat-Initiative gehemmt, und so auch auf dem Gebiet der Mission. Vergeblich hat ein Leibniz die Deutschen gemahnt, an der Erschließung der Welt durch Teilnahme an der Mission sich zu beteiligen. Das ganze Missionswesen ist in Deutschland erst von einer freien Vereinskirche, von der Herrnhutergemeinde, energisch begonnen worden und ist über diesen kleinen Kreis erst am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts unter englischem Antrieb und Vorbild hinausgeschritten. Das Missionswesen ist englisch-reformierter Import bei uns und hat eine wirkliche Popu- larität bis heute nur in den pietistischen Kreisen, die unter dem Einfluß der englisch-methodistischen Bewegung sich in der deut- schen »Erweckung« gebildet haben. Als allgemeines Volksinter- esse wie in England und Amerika ist die Mission in Deutschland nie empfunden worden.

So liegen die Gründe weit zurück in der uralten Formung und Gewöhnung deutschen religiösen Empfindens, das über die Heimat überhaupt nicht hinausdenkt und Verantwortung und Ini- tiative des Einzelnen in solchen Dingen nur wenig kennt. Aber die Gründe, warum heute noch diese Abneigung fortdauert und warum das seit hundert Jahren uns eingeimpfte Missionsinteresse sich wesentlich auf die pietistischen Kreise beschränkt, liegen natürlich anderswo. Die lutherische Gläubigkeit ist ja in der großen Masse wenigstens unserer städtischen Bevölkerung ver- schwunden, und die von ihr eingeflößten Gewöhnungen der Ab- schließung nach außen und Beharrlichkeit nach innen sind längst durch moderne Ideen ersetzt. Der Grund liegt heute in der schweren Krisis unseres religiösen Lebens. Unser Volk ist selbst seines Glaubens nicht mehr sicher und kann nicht daran denken, einen Glauben in die Welt zu tragen, über den man sich in der Heimat nicht einig ist, der unter dem Einfluß der modernen Wissenschaft zersetzt oder doch umgewandelt wird, dessen Zu-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. 5'-*

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kunft bei uns selbst so dunkel und verworren ist. Das ist nun freilich eine Tatsache, die in einem gewissen Sinne von allen modernen Völkern gilt. Aber sie ist doch unter allen überwiegend protestantischen Völkern in Deutschland am meisten zur Geltung gekommen; wo man in Amerika religiös und kirchlich gleichgültige Gelehrte trifft, da sind es meist Zöglinge deutscher Universitäten; und die in Amerika angestellten jungen deutschen Gelehrten pflegen über nichts so zu klagen als über die fürchterlich rückständige Gläu- bigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Es ist die eigentümliche theoretische Veranlagung und Neigung unserer Nation, die sich hierin bemerkbar macht. Intellektuelle Differenzen werden bis ins Letzte verfolgt und werden zu unüberwindlichen Scheidewänden. Der mit dem Dogma zerfallene Engländer weiß die populären re- ligiösen Kräfte in ihrer sozialen und ethischen Bedeutung immer noch zu schätzen und verliert den Gedanken nicht, daß in ver- schiedenen Formen hier gleiche Ziele gewollt werden können. Ein Carlyle kann seiner calvinistisch-bibelgläubigen Mutter immer wieder schreiben, daß sie im Wesen dasselbe wollen ; englische Gelehrte und Studenten können mit Kirchen und Sekten zusam- men arbeiten und sich zu praktischen Aufgaben vereinigen; sogar die Heilsarmee wird als wichtiges Mittel im Kampf mit Elend und Verwahrlosung geschätzt. Bei uns sind derartige Dinge fast un- möglich oder jedenfalls überaus selten. Die Gegensätze gegen das Dogma werden schroff und ausschließend empfunden und sogar möghchst popularisiert, statt zurückgehalten. Unsere ge- bildete Welt überläßt in der Hauptsache die Kirche den Ortho- doxen und Pietisten, die darin herrschen mögen wie sie wollen. Wer von Nichttheologen sich daran beteiligt, setzt sich stets spöttischen Bemerkungen aus und wird dadurch zurückgehalten, auch wenn er gerne sich beteiligen möchte. Gegenüber freige- sinnten Theologen und ihren Nöten und Sorgen herrscht die Meinung, daß ihnen recht geschieht: warum lassen sie sich auf solche Halbheiten ein. Der Doktrinarismus unserer liberalen Bil- dung, der sich bei der radikalen Arbeiterpartei nur fortsetzt und rücksichtsloser äußert, versteht nichts von der populären Kraft der Religion, ihrer tiefen Wurzelung im Volksleben, ihrer notwendig konservativen und massiv-anschaulichen Ideenwelt. Er verwirft das alles rundweg, auch wenn er selbst eine gewisse Religiosität an- erkennt, und will damit nichts zu tun haben. Wenn die von seiner Mitwirkung entblößten und der Orthodoxie ausgelieferten

Die Mission in der modernen Welt.

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Kirchen die populären Mächte wecken und ihnen mit dem Wahl- zettel ein reaktionäres Programm in die Hand drücken, dann er- mahnt man die Regierung zur Festigkeit gegen die Finsterlinge; aber selbst durch regere Mitarbeit an der Kirche hierin etwas zu ändern, daran denken nur ganz wenige. Höchstens, wenn auch die Regierung nicht helfen kann, verlangt man die Trennung von Staat und Kirche, in der Meinung, daß dann die Kirchen von selbst zusammenbrechen würden, und ohne Ahnung davon, daß dann der Kampf um die Macht erst recht entfesselt würde.

Es ist klar, daß unter solchen Umständen von einem Mis- sionsinteresse in der Tat nicht die Rede sein kann. Mission setzt, wo sie nicht unwürdige rein-politische Spekulation ist, ernsthaftes religiöses Interesse und eine sympathische Würdigung der religiösen Organisationen voraus, die nun einmal die Werkzeuge für die Be- tätigung dieses Interesses sind. So ist es kein Wunder, daß die deutschen Missionsgesellschaften in beständiger Finanznot sind und daß die Beiträge der deutschen Protestanten die niedrig- sten sind. In Schweden kommen auf den Kopf der protestan- tischen Bevölkerung 19,6 Pfennige, in Holland 22, in der franzö- sischen Schweiz 24, in Norwegen 41,4, in der deutschen Schweiz 51,6, in Frankreich 120 und in England noch etwas mehr an jährlichem Beitrag ; in ganz Deutschland beträgt der Durchschnitt 16 Pfennige.

Aber die Schwierigkeiten liegen nicht bloß in diesen beson- deren deutschen Verhältnissen und in der Gebrochenheit unseres religiösen Lebens. Sie liegen doch auch in der inneren Natur der Sache selbst. Auch der ernsthafteste religiöse Mensch emp- findet gegenüber den Missionen gewisse Bedenken. Hier steht an erster Stelle unser religiöser Individualismus, unsere Achtung der Gewissensfreiheit und persönlichen Ueberzeugung, unsere For- derung der Toleranz. Seit die moderne protestantische Welt über- haupt den Glaubenszwang und das autoritative Zwangskirchentum verworfen hat, ist als notwendige Folgerung ein weitgehender Relativismus eingetreten. Religion ist Privatsache und Persön- lichkeitssache; wir pflegen darüber kaum miteinander zu sprechen, weil wir fremde Ueberzeugug nicht angreifen und die unsrige nicht verspotten lassen wollen. In der angelsächsischen Welt ist die lähmende Wirkung dieses Individualismus dadurch aufgehoben, daß derselbe Individualismus ein unbegrenztes Vereinsleben freier Assoziationen hervorbringt und diese Vereine und freien Kirchen

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dann für ihre Ueberzeugung arbeiten. Der Uebelstand einer unerträglichen Konkurrenz dieser Vereine untereinander ist dort das fatale Ergebnis eines solchen Individualismus, aber das hindert doch die lebhafte Tätigkeit selbst nicht. Bei uns ist diese praktische Ausgestaltung des religiösen Individualismus überhaupt nicht für das allgemeine Leben entwickelt. Die freie Assoziation unterHegt durchweg großen Hemmungen, und auf dem religiösen Gebiet denken wir am allerwenigsten daran. Das allgemeine öffentliche Leben kennt hier nur die Kirche und das kirchlich beeinflußte Vereinsleben ; es selbst schafft aus sich heraus keinerlei freie religiöse Assoziationen mit lebhaftem Pro- pagandatrieb. Uns beherrscht der Satz: »Religion ist Privatsache des einzelnen Individuums, und jede Ueberzeugung ist heilig zu achten.« Wie soll man da mit der Mission in fremdes Glaubens- leben eindringen , anderen Völkern einen neuen Glauben auf- drängen , den sie gar nicht wollen und der ihnen höchstens zu- gleich die Lasten und Bedürfnisse der europäischen Zivilisation unfreiwillig mitbringt.? Es scheint Mission höchstens da erlaubt, wo man sie sucht und ruft, und das wird bei denen, die nicht von selbst schon unter den Einfluß christlicher Ideen gekommen sind, so gut wie nie der Fall sein. Wie soll man von solchen Voraussetzungen aus den Wilden und Unzivilisierten das Christen- tum aufdrängen, die, sagt man, nicht darnach verlangen und ganz glücklich und zufrieden in ihren Zuständen sind; wie soll man es Mohammedanern, Brahmanen und Buddhisten aufreden, die im Besitz einer hochstehenden Religion sind und, wie man immer wieder hört, sich den Christen ebenbürtig oder überlegen fühlen? Das führt zu dem wichtigsten Punkte, zu unserer heutigen Auffassung der nichtchristlichen Religionen, wie sie uns die mo- derne Religionswissenschaft, die letztgeborene unter den mo- dernen Wissenschaften, lehrt. Darnach fällt die Fiktion weg, als sei der Anfang der Religion eine vollkommene Gotteser- kenntnis gewesen und als sei das »Heidentum«, d. h. die nicht- christlichen Religionen, das Ergebnis des Sündenfalls, die Ver- finsterung der ursprünglichen Erkenntnis und ihre Verderbung zum Götzendienst, die alle Götzendiener ohne das bekehrende Licht des Evangeliums zur ewigen Unseligkeit verdammt. An Stelle dessen tritt ein völlig anderes Bild. Die Anfänge sind uns unbekannt; aber was wir dann später im Lichte der Geschichte erblicken, das ist eine vielgestaltige, im ganzen emporstrebende

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Entwicklung; in ihr fehlt es nicht an furchtbaren Mißbildungen und Entartungen, aber auch nicht an verschiedenen in Sittlich- keit und Frömmigkeit außerordentlich tiefen und reichen Reli- gionen. Wenn wir das Christentum auch als den Höhepunkt dieser Entwicklung betrachten, so ist dabei doch auch die außer- christliche Religion wahres und tiefes religiöses Leben von oft recht großartigen Früchten des inneren Lebens. Es ist keine Rede von der allgemeinen gleich verfinsterten und sündigen Masse der Verlorenen und Verdammten außerhalb der Christen- heit, die aus Mitleid und zur Rettung für die ewige Seligkeit bekehrt werden müßten. Mit dieser Theorie hat dereinst das Christentum sich gepanzert, um theologisch da, wo es schon herrschte, seine Alleinwahrheit und die Notwendigkeit der kirch- lichen Gnadenmittel zu beweisen. Von dieser Theorie ist dann auch die Kreuzzugstimmung und Gewaltbekehrung und später die pietistische Missionstätigkeit geleitet worden. Sie ist heute für den historisch gebildeten Menschen unmöglich. Damit fällt aber auch der einfachste und dringendste Antrieb der Mission, die Pflicht des Mitleids und der Rettung, weg. Es handelt sich nicht um Rettung, sondern um Aufrichtung zu etwas Höherem^ nicht eigentlich um Bekehrung, sondern um Erhebung. Es ist fraglich, ob etwas derartiges überall möglich oder wenigstens schon jetzt möglich ist, ob hier nicht oft die Entscheidungen erst der Zukunft anheimgestellt werden sollen Ja, es ist viel- leicht an manchen Punkten, wie bei hochstehenden Konfuzianern, Brahmanen, Buddhisten gar nicht an Bekehrung oder unmittelbare religiöse Gemeinschaft, sondern nur an gegenseitiges Verständ- nis, an mittelbare Einigung in Achtung und Kenntnisnahme zu denken ; alles weitere müßte sich dann aus solchen Berührungen von selbst und von innen heraus entwickeln; das Wesentliche wäre schon gewonnen, wenn eine gegenseitige Anerkennung der religiösen Grundrichtungen gewonnen wäre. Dann aber muß man sich fragen, ob und wann man ein Recht hat, mit der Mission in fremdes religiöses Leben einzugreifen. Wo es sich selbst ge- nügt und die Kraft einer lebendigen und entwicklungsfähigen Kultur ist, scheint kein Recht zum Eingreifen vorhanden, wie man in solchen Fällen ja auch wenig Aussicht haben würde. Weiter ist die Frage, ob das Christentum überhaupt auf alle Entwicklungsstufen der Zivilisation übertragbar ist, und ob es nicht vielleicht Völker gibt, die zu ihm überhaupt nicht fähig und

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bestimmt sind. Es ist ja schon das Christentum selbst im Zu- sammenhang mit verschiedenen Kulturstufen sehr verschieden geartet und gar nicht überall bei sich selbst auf die gleiche Höhe der Reinheit und sittlichen Kraft zu bringen. Da wird man auch von der Religion der Menschheit erwarten dürfen, daß immer verschiedene Stufen und Arten nebeneinander bestehen bleiben; die bloße Gemeinsamkeit des Namens würde wenig helfen. Es ist also die Missionsaufgabe jedenfalls keine unbe- dingte und überall gleiche. Sie ist von Umständen und Ver- hältnissen abhängig und kann sich schwerlich das Ziel einer unbedingten Christianisierung der ganzen Menschheit stellen.

Die Missionsaufgabe aber als eine bedingte erkennen, heißt das nicht die Missionsaufgabe überhaupt unsicher machen und den Eifer lähmen.? Jedenfalls stellt es die moderne Missionstätigkeit oder, richtiger gesagt, das Interesse der heutigen Menschen an ihr vor ernste Fragen und Schwierigkeiten.

Alle diese Schwierigkeiten zusammengefaßt, wird das Problem in der Tat für den heutigen gebildeten Menschen und noch mehr für den auf die moderne Religionswissenschaft eingehenden Chri- sten ein sehr schweres und ernstes. Es ist kein Wunder, wenn viele Christen den Missionseifer verloren haben, um so mehr, als ja die Heimat gerade Aufgaben genug stellt. Man scheint nicht mit Unrecht zu fordern, wir sollten erst im eigenen Hause alles rein und hell machen und uns nicht den Vorwürfen der Heiden aussetzen, daß bei uns überall die christlichen Grundsätze in schreiendem Widerspruch zu der Praxis des Lebens stehen.

Gleichwohl ergibt sich bei tieferem Nachdenken für den reli- giösen Menschen die Missionspflicht klar und deutlich. Freilich nur für den religiösen oder genauer den in irgend einem Sinne den Glauben an Jesus bekennenden Menschen. Für andere ist von einer Pflicht der Mission selbstverständlich nicht die Rede, und sie aus Gründen der Handels- oder Machtpolitik empfehlen, hat jedenfalls mit dem religiösen Gedankenkreise nichts zu tun, der uns hier allein interessiert, obwohl die übliche Missions- feindschaft auch von einem sehr weltlichen Standpunkte aus nur als blind und unzweckmäßig bezeichnet werden kann. Aber es ist immerhin zu verstehen, wenn von einem religiös indifferenten oder antichristlichen Standpunkt aus die Mission bekämpft wird. Aber ebenso selbstverständlich ist umgekehrt die Pflicht der Aus- breitung für den Bekenner einer umfassenden ethischen und reli-

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giösen Weltanschauung, eines die höchste und wichtigste Wahr- heit besitzenden Glaubens, dem von seinen Ursprüngen her der Trieb zur Bezeugung der Wahrheit und zur Rettung der Seelen eingepflanzt ist. Ein solcher Glaube wäre kein Glaube mehr, wenn er den Mut zur Ausbreitung und Propaganda nicht hätte, wenn es ihn nicht von innen heraus drängte, den eigenen Besitz auch anderen mitzuteilen. Vor allem, da es sich nicht bloß um Weltanschauung und Theorie, sondern um den lebendig empfun- denen Willen Gottes handelt, ist es eine Pflicht gegenüber Gott, ihn zu bekennen und die Mitmenschen zu dessen Anerkennung zu führen. Dem kann die moderne Toleranz und Gewissensfrei- heit, die Schonung und Achtung der individuellen Ueberzeugung auch nicht entgegenstehen. Diese modernen Ideen können doch nur den Verzicht auf jede Gewalt und jeden Zwang in religiösen Dingen und außerdem den Verzicht auf die in diesen Kämpfen verletzendste Waffe, den Spott, bedeuten. Fremde Ueberzeugung mit Achtung und Ernst behandeln auch auf dem Missionsgebiet, den Kampf nur mit den Waffen des Geistes und der praktischen Bewährung führen, das allein kann die Parole der Geistes- und Gewissensfreiheit meinen, aber nicht den Verzicht auf jede ein- heitliche und beherrschende religiöse Weltanschauung überhaupt, auf jede Glaubensbezeugung und Glaubensausbreitung überhaupt. Glaubenskriege und Gewaltbekehrungen sind damit ausgeschlossen, aber in keiner Weise die freie, in die Seelen eindringende Ver- kündigung. Der unbegrenzte Relativismus ist nur eine Ausartung der Toleranzidee. Daß wir diese Ausartung mit in den Kauf nehmen müssen, das ist der Preis, den wir für die Befreiung von der fürchterlichen Geißel des kirchlichen und religiösen Fanatismus bezahlen. Aber dieser Relativismus selbst ist widersinnig, ist eine moderne Krankheit und Glaubensschwäche. Volle und ganze, ungebrochene Menschen gibt es nur mit einer festen Glaubens- überzeugung, und eine solche muß zu Kampf und Ausbreitung, zur Mission führen. Es mag von Umständen und Verhältnissen abhängig sein, wo wir mit dieser Ausbreitung einsetzen dürfen, und die Art der Ausbreitung mag anders und den Gegnern ge- rechter werden müssen, aber die Ausbreitung selbst bleibt eine Pflicht.

Doch es gibt noch einen weiteren Grund, der uns dazu nötigt. Der Kampf und die Ausbreitung sind zu unserer eigenen inneren Entwicklung und Fortentfaltung nötig. Was nicht mehr wächst,

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Stirbt ab. Es stirbt nicht bloß an der Resignation und dem Ver- zicht auf Wachstum, sondern an dem Nichtgebrauch der Kräfte, an Verarmung und Eintrocknung. Die christlichen Völker des europäisch-amerikanischen Kulturkreises besitzen zudem das Chri- stentum in engster Verschmelzung mit allen möglichen historisch gewordenen Eigentümlichkeiten ihrer Zustände, im Zusammenhang eines festen Kirchentums, in der Verschmelzung mit alten und mo- dernen wissenschaftlichen Ideen, mit sozialen und politischen Ver- hältnissen. In diesen Verbindungen stumpft es sich vielfach ab und verdunkelt es seine Grundideen. Wo es in neue Verhältnisse übertragen wird, da muß es sich erst wieder auf sein eigentliches Wesen besinnen, seine volle eigene Kraft entfalten, seinen Zu- sammenhang mit den variabeln Kulturelementen revidieren und den mit den bleibenden fester und innerlicher knüpfen. Es wird in diesem Kampf neue Farbe und Frische gewinnen. Der Spiegel, der uns von den fremden Völkern entgegengehalten wird, zwingt uns zur Einkehr und Selbstprüfung. Aber noch mehr. Das Christentum bedarf des Wachstums und der Lösung aus seinen verrosteten europäischen Formen. Es vollzieht sich aber neues Wachstum nur unter dem Einfluß neuer Reize und Einwirkungen. Das Christentum ist bisher stets gewachsen und mit neuen Ver- hältnissen ein neues geworden und hat nur , indem es dies geworden ist, seine Kräfte entfaltet. Es muß wieder in die Kämpfe neuen Wachstums hinein, und zwar in praktische Kämpfe. Bei uns ist es lehrhaft und theoretisch geworden, in Streitigkeiten gespalten und in größter Verwirrung. Es muß sich sammeln und reinigen in der praktischen Missionsarbeit und seine noch unver- brauchte Gedankenfülle dort weiter entfalten. Es wird in Berüh- rung und Auseinandersetzung mit dem so vielfach verwandten Buddhismus neue Ideen erzeugen; es wird in der Anknüpfung an bisheriges religiöses Leben fremder Völker neue religiöse Tiefe offenbaren, geradeso wie man von einem germanischen Christen- tum gegenüber dem antiken redet. Gerade die Krisis des Chri- stentums in der Heimat muß uns in die Fremde treiben; aus dem bloßen theoretischen Streit unserer intellektualistischen Groß- stadtllteratur wird keine Heilung hervorgehen, aber ein großer Missionserfolg würde praktisch ihm wieder Kraft und Klarheit geben. Benützt es die Missionsergebnisse richtig und mit reli- gionsgeschichtlichem Verständnis, so wird gerade die Mission seiner Weiterentwicklung dienen.

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Alles das gilt nur für den Gläubigen. Ein dritter Grund greift über diese Grenze hinaus. Wir sprachen von einer Ge- meinschaft aller Kulturvölker. Diese Gemeinschaft, soweit sie besteht, beruht auf der Gemeinschaft des geistigen Lebens in erster Linie, nicht auf Handel und Technik. Diese Gemeinsam- keit des geistigen Lebens und die ganze Idee einer geeinigten Menschheit beruht aber historisch auf der Gemeinsamkeit der Religion. Die moderne Welt kennt nicht das Zusammenfallen der Kulturvv^elt und des Weltreiches, wie dies der Antike selbst- verständlich war, wo kein Großstaat einen anderen neben sich dulden konnte. Die moderne Welt hält die Vielheit der Völker und Staaten für selbstverständlich und verbindet sie nur in einer Gemeinsamkeit des Geistes und der Kultur. Dieser Geist aber beruht auf der christlichen Idee der Menschheitsgemeinschaft, die unabhängig ist von den zufälligen Besonderheiten des Einzelnen und der einzelnen Länder, zugleich auf der mit dem Christentum innerlich verschmolzenen Gemeinsamkeit des antiken Bildungs- und Humanitätserbes, Für sich allein wäre das letztere kein hin- reichend festes Band, aber in Verbindung mit der religiösen Idee ist es die zusammenhaltende Kraft unseres Völkersystems. Wenn nun im fernen Osten ein neues Völkersystem auftaucht, das mit Hilfe der übernommenen Technik und äußeren Kultur sich eine Großmachtstellung schafft, und wenn dieses System ein neues Blatt in der Menschheitsgeschichte aufschlägt, so ist die Frage, ob auch dieses System mit dem alten innerlich zusammenwachsen kann, ob die Ideen einer Menschheitsgemeinschaft sich auch hier durchsetzen oder ob ein Rassenkampf ungeheuerlichster Art die Menschheit entzweien soll. Die Einheit mit diesem neuen System kann durch Technik und Naturwissenschaften, Kanonen und Mili- tärinstrukteure, Maschinen und Handelsaustausch nicht geschaffen werden. Sie kann nur durch Gemeinsamkeit der Religion und der innerlichsten geistigen Bildung geschaffen werden. Nur die ethische Menschheitsreligion kann die Rassendifferenzen überwin- den. Nur wenn nicht bloß unsere Technik, sondern auch unsere über allen Gegensätzen und Kämpfen des Lebens, über allen relativen Kulturwerten schwebende und oberhalb ihrerer die Seelen verbindende religiöse Ideengemeinschaft sich dorthin aus- breitet, kann an die schließliche Gewinnung der Einheit der Kultur- menschheit gedacht werden. Der Osten mag sich so selbständig entwickeln als er will, aber in diesen gemeinsamen Besitz muß

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er miteintreten und ihn auf seine Weise gestalten, wenn die Idee von der Einheit der Kulturmenschheit nicht zu einem Traum werden soll. Dazu aber ist die Mission unentbehrlich. Denn ohne das Christentum bleiben die Kiemente des abendländischen Geistes unverständlich und wird die Gemeinschaft mit dem Abend- land innerlich nicht gewonnen werden können. Vor allem aber fehlt die innerste und eigentlichste Verständigungsmöglichkeit, die immer erst in der religiösen Verständigung liegt. Es ist das ein Interesse, das man im Osten lebhaft empfindet, das man aber auch bei uns empfinden und fördern sollte. Denn es handelt sich um die Zukunft der Welt.

Gewiß glauben heute unzählige, daß diese Einheit auf die Wissenschaft und auf den Intellekt zu begründen sei. Aber die .übrigens auch nur sehr relative Einheitlichkeit der Wissenschaft bezieht sich nur auf die exakten Wissenschaften, und auf deren Einheitlichkeit läßt sich nur eine solche der Technik und des Wirtschaftsstiles, der Medizin und Hygiene u. ä. begründen. Aber die einheitliche Philosophie der idealen Lebensanschauung, in der überhaupt erst die Menschen sich verstehen und innerlich finden können, gibt es nicht als reine und beweisbare Wissenschaft. Hier walten die unmittelbaren religiösen Mächte. Wenn es über- haupt eine Einigung gibt, so kann es sie lediglich in ihnen und ihrer Verständigung geben.

So bleibt die Mission in ihrem Recht. Sie ist eine Pflicht der christlichen Völker gegen ihren Glauben, gegen sich selbst, gegen ihre Mitmenschen. Sie ist ein allgemeines Interesse der euro- päisch-amerikanischen Kultur, das auch diejenigen in seiner Be- deutung würdigen müssen , die mit der kirchlichen Form des Christentums gebrochen haben, und das nur diejenigen bekämpfen dürfen, die das Christentum überhaupt für veraltet und über- wunden ansehen. Sie müssen dann die durch den Wegfall der Mission entfallende innere Verständigung und Ausgleichung mit den fremden Völkern durch etwas anderes ersetzen. Es wird nicht so einfach sein, und der Verzicht darauf könnte unsere ganze Kultur in schwere Gefahren bringen.

Dabei ist es nun aber, wie wir uns nicht verbergen dürfen, nur natürlich, daß die Missionsaufgabe vor allem von denen über- nommen wird, die, von einem ungebrochenen traditionellen Glau- ben erfüllt, keine Kraft in den heimischen religiösen Kämpfen zu verbrauchen genötigt sind, ohne intellektuelle und Wissenschaft-

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liehe Umarbeitung alles an das praktische Interesse setzen können, Sie werden nicht nur selbst im Durchschnitt geeigneter sein zur Mission, sondern sie werden in einfachen Verhältnissen und bei den unteren Klassen fremder Völker auch größeren Ein- druck machen, fester auftreten und fester anpacken. Die wissen- schaftliche Verfeinerung und die intellektuelle Anpassung wird sich dann schon von selbst ergeben, wenn erst einmal ein Missionschristentum da ist. Da wird es bei allen gebildeten Völkern dann genau so gehen wie bei uns. Das bedeutet in keiner Weise eine Geringschätzung dieser oft höchst verdienst- vollen und bewährten Männer. Es bedeutet nur die psycholo- gische Tatsache, daß der unbedingteste Anspruch auch der wirk- samste ist. Man kennt das ja bei uns hinreichend aus der Anti- Alkohol-Bewegung. Freilich müssen dann aber die intellektuellen und ethischen Komplikationen der modernen Kultur nicht im Wege sein d. h. es muß sich- um Mission auf den Gebieten der Un- zivilisierten, der Halbkultur oder der Unterschichten der großen östlichen Völker handeln, wie denn ja tatsächlich dort die Mis- sion wesentlich in der Unterschicht arbeitet. Immerhin wird auch so die Mission ganz von selbst dazu führen, die christliche Idee zu vereinfachen, sie von spezifisch europäischem Ballast zu be- freien, sie möglichst praktisch und ethisch zu fassen, die rein dogmatischen Elemente zurückzustellen.

Andererseits bleibt nun aber doch bei Völkern, die teils aus eigener alter Tradition, teils aus der Einwirkung des europäischen Geistes heraus die Religion von vorneherein auch als wissen- schaftliches und philosophisches Problem empfinden, Anlaß und Aufgabe, auch unser modernes, auf historischer Bildung beruhen- des und philosophisch gefärbtes Christentum hinaus zu tragen. Es wird in gebildeten Schichten, die Religion brauchen und mit der eigenen zerfallen sind, ein Ohr finden und seine Aufgaben erfüllen. Der Allgemeine Evangelisch-Protestantische Missions- verein insbesondere stellt sich seit 33 Jahren diese Aufgabe und wirkt in bescheidenen Verhältnissen dafür mit immer wachsen- dem Erfolg. Er kann die Anforderungen gar nicht alle befrie- digen, die an ihn gestellt werden, weil das Unverständnis der Heimat und die religiöse Indifferenz unserer Bildung ihm immer wieder die nötigen Mittel versagen. Auch fehlt ihm meistens die kirchliche Unterstützung, die die orthodoxen Missionsvereine genießen. Insbesondere aber hat hier die freie wissenschaftliche

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Literatur ihre Aufgabe, die jenen Völkern unser religiöses Leben zur Kenntnis und Anschauung bringt und zugleich auf der reli- gionsgeschichtlichen Kenntnis ihrer eigenen Geschichte beruht. Auf die Dauer wird vermutlich gerade dieser Austausch das wich- tigste missionarische Mittel sein, und es wäre sehr am Platze, wenn unsere Weltanschauungslitteratur öfter auch an diese Wir- kung und Aufgabe dächte.

Bleibt derart die Mission, so oder so, auch in der modernen Welt in ihrem Recht, so ist doch ihr Sinn und Geist darin ein an- derer geworden. Und zwar zeigt sich das durch den Zwang der Praxis auch bei den bestehenden orthodoxen Missionsinstituten selbst großenteils. Es ist aber von besonderer Bedeutung für jede Forderung, die wir an das Interesse der freien Christen für Mis- sion stellen wollen. Die moderne Mission, die wir unterstützen sollen und wollen, ist nicht Mission schlechthin, gleichviel mit welchen Mitteln, wie etwa die China-Inland-Mission nur allen schnell das Christentum anbieten will, damit die Chinesen unent- schuldigt seien fürs kommende Gericht. Das heißt nicht Seelen retten, sondern ein Dogma. Solche und ähnlich motivierte und handelnde Mission können wir nicht unterstützen wollen. Wir können sie nur da unterstützen, wo sie in einem Sinne betrieben wird, den man als wirkliche Pflicht und als einen religiösen Fort- schritt anerkennen kann. Es handelt sich also darum, wo und wie das der Fall ist.

Die heutige Mission ist etwas anderes als die altchristliche Mission, die in einer Zeit religiöser Zersetzung und Neubildung eine Wissenschafts- und kulturmüde Welt eroberte gerade durch den Ein- druck ihrer geheimnisvollen alten orientalischen Offenbarungs- grundlagen; sie hat in diesem Geisterkampfe sich durchaus auf die griechisch-römische Welt eingerichtet und in dieser Anpassung die erste kirchliche Gestalt gefunden, das Christentum selbst erst ge- formt und geschaffen. Sie ist auch etwas anderes als die Mission des Mittelalters mit ihrer gewaltsamen Massenbekehrung und ihrer Angliederung der bekehrten Völker an das christliche Imperium und die christliche Kirche. Sie ist schließlich auch etwas anderes als die pietistische Mission, die alle Heiden als verloren und verdammt be- trachtete und Seelen aus der Hölle für den Himmel retten wollte, die in dem Zeitalter des sentimentalen Individualismus sich eben- falls nur individualistische Ziele setzte. Die heutige Mission ist die Ausbreitung der religiösen Ideenwelt Europas und Amerikas im

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engen Zusammenhang mit der Ausbreitung der europäischen Ein- flußsphäre. Sie achtet das fremde religiöse Leben als wirkliches religiöses Leben und knüpft daran fortführend und entwickelnd an. Sie mischt sich nicht überall wahllos in fremdes religiöses Leben ein, das nach dem Christentum keinerlei Bedürfnis hat, und weiß, daß die Christanisierung stets eine gewisse geistige und kulturelle Höhe voraussetzt, wie das Christentum selbst ja erst in der Reife und Ueberreife der antiken Zivilisation möglich war. Da- her verbindet sie mit der Mission vor allem Schule und Unter- richtswesen, bei den Wilden auch die Arbeits- und Kulturer- ziehung. Sie ist ganz von selbst schon nicht mehr bloß Rettung und Bekehrung, sondern Erhebung und Enwickelung, jedenfalls Rettung und Bekehrung nur da, wo Religion und Moral im tief- sten Verfall sind, was keineswegs überall der Fall ist auf heid- nischem Gebiet. Sie arbeitet nicht mit dem kahlen Begriff des Heidentums als einer gleichartigen verfinsterten Masse, sondern mit der religionsgeschichtlichen Anschauung von der verschieden- artigen Höhe und Reinheit religiöser Bildungen, von denen unter Umständen auch sie lernen kann, und wo sie überall den guten religiösen Kern sucht, um ihn zu befruchten und zu entwickeln, rauhe Schalen zu durchbrechen und Entartungen und Verwilde- rungen abzuschneiden. Sie will nicht alle auf die gleiche Höhe heben, sondern weiß, daß Stufenunterschiede immer bleiben und daß die Mission bei Wilden uud Halbwilden andere Ziele hat als bei alten Kulturvölkern. Diese Grundsätze, die in der heutigen Mission von trefflichen Missionsarbeitern schon vielfach mehr oder minder scharf betont oder wenigstens praktisch befolgt werden, müssen wir weiter entwickeln und prinzipiell begründen. Nach der Art, wie die einzelnen Gesellschaften ihnen nahekommen, müssen wir unsere Stellung zu ihnen nehmen bei der Frage praktischer Unterstützung. Man wird Unterschiede machen müssen zwischen den verschiedenen Missionsgesellschaften und von ihnen Auskunft verlangen über Geist und Methode ihrer Arbeit. Will die Mission nicht bloß in pietistischen und spezifisch-kirchlichen Kreisen durch rührende Schilderungen die Opferwilligkeit wecken und durch politischen Druck der Zentrumspartei und der Kon- servativen die Reichsregierung und das Kolonialamt sich dienst- bar machen, so wird sie nicht bloß mit Missionsgottesdienst, Traktätchen und Missionstees arbeiten dürfen, sondern wird mit genauen Angaben über Methoden und Zweck, mit statistischen

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Darstellungen ihrer Erfolge und vor allem mit Klarlegung der auf ihrem Gebiete herrschenden sozialen Verhältnisse sowie ihrer Einstellung auf diese Verhältnisse dem großen Publikum das Ver- ständnis wecken müssen. Sie muß die allgemeine Presse be- nützen lernen und diese muß ihrerseits der Mission entgegen- kommen. Erst dann wird man sich ein Urteil bilden können, und erst dann wird eine Anteilnahme auch freier christlicher Kreise aufrichtig und von Herzen möglich sein*^^).

Damit soll natürlich niemand der Missionseifer verwehrt sein, den sein gläubiges Herz zur Bekehrung der Heiden ohne jede Bedingung und ohne jede religionsgeschichtliche oder religions- philosophische Auffassung der Dinge treibt. Aber vom letzteren Standpunkte aus, den sehr vielen unter uns die eigene heimische Entwicklung des religiösen Lebens aufgenötigt hat, ist die Mis- sion nichts Bedingungsloses. Sie ist dann überall daran gebun- den, die besondere religiöse Lage der Nichtchristen zu beachten, und weniger auf eigentliche Bekehrung als auf Erziehung, wo sie nötig ist, und auf innere Verständigung und Beziehung, wo sie das naturgemäße Ziel ist, gerichtet.

Daraus ergibt sich für uns die wichtige Folgerung, daß die Mission nicht unbedingt überall eingreifen soll, sondern nur da, wo Anlaß und Bedürfnis dazu vorhanden ist, wo die inneren Zu- stände von selbst die Mission herbeirufen. Das wird überall da der Fall sein, wo die europäische Zivilisation und Kolonisation die bisherigen Lebensverhältnisse der einzelnen auflöst, ihnen ihre Sitten und Kultur direkt oder indirekt zerstört und sie den Wirkungen einer Zivilisation aussetzt, die ohne Steigerung ihres moralischen, religiösen und intellektuellen Vermögens für sie zer- störend ist. Hier löst sich altes religiöses Leben auf und ist der Anlaß zur Pflanzung eines neuen. Hier wird der allgemeine Kulturzustand verändert und verlangt diese Aenderung auch nach einer religiösen Hebung. Die Eingeborenen-Politik darf die Ein- geborenen nicht bloß als Ausbeutungsobjekie betrachten, sie muß sie äußerlich und innerlich lieben. Das aber ist ohne Aullösung ihrer alten Religion und ohne neue religiöse Kräfte unmöglich. Zu einer solchen Aufgabe ist niemand geschickt als die Mission, und, was sie auch in diesem überaus schwierigen Werk wirklich

^') Eine diesen Anforderungen entsprechende Darstellung der Missionsarbeit wenigstens in unseren deutschen Kolonien gibt Karl Mirbt, Mission und Kolonial- politik in den deutschen Schutzgebieten, igio.

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oder vermeintlich fehlen mag, ihr Werk ist nur zu bessern, aber nicht zu ersetzen und nicht zu entbehren. Was hier an selbst- loser und entsagender Arbeit von den Missionaren aller Kon- fessionen geleistet wird, das ist außerordentlich und unentbehrlich, wenn nicht unsre ganze Kolonisation als unmoralisch verworfen werden soll. Darauf aber wird nicht verzichtet werden und kann nicht verzichtet werden. Dann aber ist es unsere Pflicht, das zerstörte Leben dieser Völker nach Möglichkeit wieder aufzu- bauen und zu veredeln. Es ist eine langsame und mühselige Arbeit, und sie erreicht vielleicht nicht mehr als eine patriarcha- lische Lenkung und Erziehung, aber sie ist eine religiöse und sittliche Pflicht. Dazu kommt, daß die christliche Mission hier die Aufgabe hat, der mohammedanischen Mission zuvorzukommen, die überall tätig und dem primitiven Wesen der Eingeborenen kongenialer ist, aber dafür auch die schroffste Feindschaft gegen die Europäer schafft und das Zusammenleben erschwert. Mit der zunehmenden europäischen Kolonisation wird diese Art von Missionspflicht in immer zahlreicheren Gebieten sich geltend machen. Es sind heute nur wenige Gebiete auf der Erde, von denen nicht etwas ähnliches gilt.

Ein Anlaß anderer Art findet sich da, wo in alten Kultur- völkern die heimische religiöse Entwicklung aus irgend welchen Gründen zur Auflösung und Zersetzung führt, wie das heute in Japan der Fall ist und aller Wahrscheinlichkeit nach in China bald der Fall sein wird. Da ist das Alte von selbst bereits in seiner Auflösung und tragen wir nicht erst etwa die Entzweiung hinein. Hier gilt es zu bauen und nicht zu zerstören. Ein großes Volk braucht für seine geistige Einheit und Gesundheit die Religion, sie muß die Kraft seiner weiteren Gestaltung sein. Aber Religionen kann man nicht beliebig erfinden, sondern sie müssen wachsen. Und das natürliche Wachstum solcher Völker ist, daß das Christentum mit seiner ganzen geistigen Kultur hier eingreife und hier eine neue Gestalt gewinne. Auch der Import europäischer Philosophie kann hier nicht helfen ; die ist in ihren besten und tiefsinnigsten Erzeugnissen selbst vom Christentum mitbedingt und setzt zu ihrem Verständnis und zu ihrer Wirkung die Christlichkeit der Völker voraus. Sie ist überdies nur für die schmale Oberschicht und kann eine populäre Ueberzeugungs- und Lebenskraft niemals werden. Hier ist also der Ort für Mission und zwar für eine politisch völlig uninteressierte Mission.

3oo ^'ß Mission in der modernen Welt.

Es handelt sich nur darum, jenen Völkern zu einer neuen reli- giösen Grundlage ihrer Existenz zu helfen und die geistige Ge- meinschaft der Kulturmenschheit mit ihnen zu gewinnen. Auch darf in einem solchen Falle nicht die Meinung sein, hierfür die Formen europäischen oder amerikanischen Christentums und Kirchentums einfach zu übertragen. Das muß wohl der Anfang sein. Aber die Religion gewinnt überall in den Zusammenhängen anderer Entwicklungen auch andere Gestalt, und es kann nur die Absicht sein, das Verständnis für die christlichen Ideen und Lebenskräfte überhaupt zu wecken, aus denen ein eigentümliches nationales Christentum hervorgehen wird. Die Mission kann die Entwicklung nur anregen und in Gang bringen und muß sie dann sich selbst überlassen. Für solche Mission aber ist klares Recht und klare Pflicht vorhanden.

Ganz anders freilich stehen die Dinge bei jenen Völker- schaften und Völkern, bei denen ihre natürliche Entwicklung nicht oder noch nicht Reife oder Notwendigkeit für die christliche Mission herbeiführt, Sie stehen auf einem ungestörten Niveau der allgemeinen Kultur, das für die Ideenwelt des Christentums oft noch völlig unempfänglich ist. Da würde die Mission nur einzelne Seelen bekehren können und nur Zwiespalt und Uneinigkeit bringen, ohne den Geretteten Etwas zu geben, was bei ihnen selbständig Wurzel und Kraft werden könnte. Da werden unge- heure Kräfte vergeudet für winzige Ergebnisse und für Ergeb- nisse, die weder jenen Völkern noch den einzelnen Geretteten etwas Erhebliches zu nützen pflegen. Nur etwa als Vorbereitung und Schutz für die doch nicht zu vermeidende und dann so ge- fährliche Berührung mit der europäischen Zivilisation könnte hier die Mission gerechtfertigt werden. Oder wo Völker unter einer besonders grauenhaften Entartung der Religion leiden, mag Menschenliebe und Mitleid zu einem Eingriff und einer Humani- sierung durch das Christentum treiben. Aber im allgemeinen ist die Mission an solchen Völkern schwach in ihren Ergebnissen und von zweifelhaftem Wert für die Gewonnenen. Auch liegt die Gefahr nahe, daß mit sehr äußerlichen Mitteln wenig wert- volle Seelen für einen sehr äußerlichen Glauben gewonnen wer- den. Damit sollen die Missionare und Missionsgesellschaften nicht getadelt sein, die ihr Liebes- und Errettungsdrang zu solchen Völ- kern treibt. Aber das ist dann mehr Privatsache; eine allgemeine Christenpflicht und vor allem ein öffentliches Interesse liegt hier

Die Mission in der modernen Welt. 8oi

niclit vor; vielmehr steckt hierin oft der Irrtum, als müsse allen Bäumen dieselbe Rinde wachsen und als könne man des eigenen Glaubens erst recht sicher werden, wenn Alle ihn wenigstens äußerlich und scheinbar teilen. Jedenfalls kann man hier über Pflicht und Recht der Mission zweifelhaft sein. Möglich, daß eine konkrete Anschauung von den Segnungen christlicher Gesittung bei bekehrten Naturvölkern einem eine andere Meinung hierüber beibringen könnte. Im ganzen ist die Missionsliteratur mit ihren Bekehrungsanekdoten nicht geeignet einem hierfür das Herz sehr warm zu machen.

In noch höherem Grade gilt das von denjenigen Völkern, die eine hochstehende Religion bereits besitzen und gerade in der Kraft dieser Religion gegenüber der christlichen Welt eine un- gebrochene und noch unerschöpfte eigene Entwicklung behaupten. Das ist der Fall mit den islamischen Völkern, die sich als ein unübersteiglicher Wall zwischen das westliche und östliche Kultursystem legen und als die Henker der hellenistisch-römischen Orientkultur die alten blühenden Heimatsgebiete des Christentums sich unterworfen haben. So morsch das türkische Reich sein mag, der Islam ist in voller Kraft, entspricht mit seiner dürftigen, aber einfachen und starken religiösen Idee den Bedürfnissen der Wüstenvölker und treibt selbst eine überaus erfolgreiche Mission, die bei den unzivilisierten Völkern Inner-Afrikas und der Sunda- inseln der christlichen überlegen ist. Gerade wegen seiner rela- tiven Verwandtschaft setzt er dem Christentum einen unüberwind- lichen harten Widerstand entgegen. Ihm gegenüber ist die Mission aussichtslos und zwecklos. Die große Auseinandersetzung mit ihm, die eine der Zukunftsfragen der Menschheit ist, wird nicht durch die Mission, sondern, wenn sie überhaupt gelingt, durch die Waffen und die Kolonisation erfolgen und dann mag vielleicht auch dort die Stunde der Mission schlagen. Auch wäre denkbar, daß der Islam in seinen Kulturzentren eine ähnliche Entwicklung erlebt, wie das christliche Europa, eine wissenschaft- liche und philosophische Befruchtung, die ihm bei der Gemein- samkeit der theistischen Grundlage mit uns in innerliche Be- rührung bringen könnte.

Aehnlich steht es mit dem Judentum, nur daß hier auch jeder Gedanke an zukünftige kriegerische Entscheidungen ausge- schlossen ist. Hier muß sich Alles aus dem Innern des Juden- tums selbst, aus der Assimilation an die christUchen Völker her-

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. c I

gQ2 Die Mission in der modernen Welt.

aus, entwickeln. Auch den Massen des östlichen Judentums wird besser durch ihre fortgeschrittenen Stammes- und Religions- genossen geholfen werden. Sie werden durch sie und nicht durch die Judenmission gehoben werden.

Und wieder ähnlich steht es mit der großen und tiefsinnigen Religion des indischen Ostens, dem Brahmanismus. Auch hier steht eine wahrhaft tiefe religiöse Macht dem Christentum entgegen, die sogar nicht ohne Einwirkung auf die heutige Christen- heit selbst geblieben ist, und auch hier ist alle Mission macht- und ergebnislos, umsomehr, als jene Religionsbildung mit uralten historischen Entwicklungen und den Lebensbedingungen Indiens eng zusammenhängt. Auch hier kann eine Annäherung an das Christentum, wenn sie überhaupt jemals erfolgt, nur von innen heraus aus eigener Entwicklung des Brahmanismus sich ergeben. Es hat an derartigen Versuchen bis jetzt nicht gefehlt. Sie sind indirekte Missionsergebnisse oder durch die europäische Literatur angeregt. Die Hoffnungen auf Verständigungen müssen sich hier- auf mehr begründen als auf direkte Bekehrung.

In allen diesen Fällen kann von eigentlicher Mission nicht wohl die Rede sein. Hier tritt an Stelle der Mission die Ver- ständigung, die gegenseitige Anerkennung, die gemeinsame Ent- wickelung religiöser Grundwahrheiten, die in all diesen Systemen enthalten sind. Erst aus solcher Verständigung kann dann die weitere religiöse Entwickelung hervorgehen, die heute noch nie- mand übersehen kann. Aber es wäre sehr wohl denkbar, daß der jüdische und islamische Theismus in der Zukunftsmenschheit mit dem christlichen sich in wesentlichen Hauptpunkten einig fühlte, daß konfuzianische Sittlichkeit sich mit der christlichen in gemeinsamer Anerkennung der Majestät des Sittlichen begegne, daß brahmanische und buddhistische Erlösungsideen mit den christ- lichen zusammen das Geheimnis der Erlösungssehnsucht würdig- ten und innerhalb eines gemeinsamen Rahmens erst die eigene Position begründen. Das schlösse in keiner Weise die charakter- volle Vertretung der eigenen Positionen aus, führte aber möglicher- weise zur Berührung und relativen Einigung. Wie will man sich doch auch die Zukunftsentwickelung anders denken.^ Die Mission auf indischem, chinesischem und japanischem Gebiete erfaßt bis jetzt wesentlich die Unterschichten. Will man glauben, sie würden, wie in der christlichen Urgeschichte, von da aus die Oberschicht ergreifen, dieselbe Oberschicht, die aus unserer ganzen euro-

Die Mission in der modernen Welt. <So^

päischen Literatur und praktischen Kultur ganz andere Einflüsse erfährt? Das ist doch höchst unwahrscheinlich. Daher haben wir längst neben der Mission die Verständigungsversuche auf Religionskongressen, wie seinerzeit auf dem großen Kongreß zu Chicago, oder wie auf den Kongressen für freies Christentum. Darauf pflegen vor allem die gebildeten Amerikaner zu drängen, denen solche Interessen auch praktisch näher liegen und die von dem Kampfe ihrer Denominationen her an ähnliche freie Verstän- digungen gewöhnt sind. Bei uns pflegt das als Religionsmengerei verhöhnt zu werden. Aber es ist doch praktisch einer der not- wendigen Wege zu einer religiösen Verständigung der Zukunft und neben der eigentlichen Mission nicht gering zu schätzen. Auf chinesischem Boden haben sich die Missionare des Allge- meinen Ev. prot. Missionsvereins zu einem ähnlichen Verfahren gezwungen gesehen, wo sie mit den Chinesen der Oberschicht zu tun hatten. Es ist nicht einzusehen, warum dieses Verfahren nicht sein Recht neben der eigentlichen Bekehrung und kirch- lichen Organisation der Bekehrten haben soll ^°).

Dieses Gewährenlassen fremder Religionen, sofern sie nicht durch die eigene innere Entwicklung oder durch zunächst äußere zivilisatorische Berührungen das Christentum herbeirufen, das Eingreifen bloß in Fällen entgegenkommender Entwicklungen und Nötigungen, das Anknüpfen an die hier überall bereits vorliegen- den ethischen und religiösen Kräfte, die Freigabe neuer nationaler Entwicklungen ist der Charakter der Mission in der modernen Welt, wie wir sie von unserem Standpunkt aus verstehen. Wir haben nicht mehr die Auffassung älterer Geschlechter vom Christentum, daß ihm gegenüber alles Andere Finsternis und Verdammnis sei, daß für religiöse und ethische Entwicklung die

^'*) Recht interessant ist in dieser Hinsicht der Aufsatz, den Hermann Graf Keyserling als Ergebnis seiner Orientreise in der HorneiFerschen »Tat« Januar 1913 veröffentlicht hat: »Ueber die Beziehung zwischen den Kulturproblemen des Orients und des Occidents«. Er ist als Vortrag »The East and the West and their search for the common truth« in Schanghai gehalten und durch chinesische und japanische Zeitungen im ganzen Osten verbreitet worden und beleuchtet vermutlich nicht un- richtig die Stimmung mancher Kreise des Ostens. Bezüglich des Islam bietet mancherlei Interessantes Martin Hartmann, Islam, Mission, Politik. 1912. Auch an die verschiedenen Arbeiten Paul Rohrbachs ist hier zu erinnern. Ein gerade von unten her und von den sozialen Wirkungen aus gesehenes Bild der Missionen bietet das Wanderbuch von Harry Franck, Als Vagabund um die Erde, 1912; es ist nicht sehr vorteilhaft. Ueber das Judentum s. ChW. 19 13 nr. 16.

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3o4 ^^^ Mission in der modernen Welt.

Zustimmung zu christlichen Lehren einzige, unerläßliche Vorbe- dingung sei. Weder Fanatismus noch Mitleid brauchen uns dazu zu treiben, daß wir meinen, wir müßten allen Völkern unsere Religion aufdrängen. Aber wir bleiben der Gewißheit, daß die christliche Religion in ihrer Verbindung mit dem europäisch an- tiken Zivilisationserbe die höchste Form und Kraft geistigen Lebens ist trotz aller Gebrechen, Widersprüche und Unreinheiten unserer Zivilisation. Deshalb fühlen wir uns verpflichtet und be- rechtigt, überall da mit unserem höheren Besitz einzugreifen, wo Höheres und Besseres sich gestalten will oder sich gestalten muß.

Es ist eine Pflicht, die freilich nur innerlich überzeugte Be- kenner des Christentums anerkennen können. Aber es ist darum doch nicht bloß Pflicht und Interesse einzelner privater Kreise. Unser eigenes Dasein beruht in Wahrheit trotz aller Zersetzung der hergebrachten Religion auf der Gemeinsamkeit der religiösen Kräfte, und alle Ideen einer Kultur und Menschheitsgemeinschaft sind Nichts ohne religiösen Untergrund. Wie unsere innere Ent- wicklung in Wahrheit an eine Neubelebung der religiösen Kräfte gebunden bleibt, so bleibt die Menschheitsidee und Menschheits- zukunft an die Einheit in den höchsten religiösen Ideen und Kräften gebunden. Und so bleibt auch die Mission, trotz Allem, was man an ihr auszusetzen haben mag, ein öffentliches Interesse. Bei den Angelsachsen ist das selbstverständlich. Es ist zu hoffen, daß auch wir Deutsche, denen erst allmählich der Welthorizont aufgeht, begreifen, daß die Mission nicht bloß Angelegenheit der Schwärmer und der streng kirchlichen Parteien , sondern ein öffentliches Interesse unseres Volkes ist.

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Logos und Mythos in Theologie und Religions- philosophie.

(Aus: Logos 1913-)

Anderthalb Jahrtausende hat sich die christhche Theologie lediglich an der Philosophie oder der natürlichen Gotteserkenntnis gemessen. Innerhalb des Horizonts, der sie umgab, befand sich nichts anderes als der selbstverständliche Anspruch der Theologie, mit ihren Erkenntnissen auf übernatürlicher göttlicher Offenbarung und Mitteilung zu beruhen , und das philosophisch umgebildete Erbe der antiken Religion, der wissenschaftliche Gottesbegriff des Aristoteles, der Stoa und des Neuplatonismus, die überdies ein- ander stark angeähnlicht und zu einem Ganzen zusammengeflossen waren. In dieser Messung wurde bald die Philosophie als Unter- bau und Ergänzung kraft einer letzten inneren Identität des ge- offenbarten und natürlichen Gottesbegriffes herangezogen; bald wurde sie neben der alleinigen Geltung der Offenbarung be- stritten und geleugnet; bald wurde die Identität beider zu einer religiösen Philosophie oder philosophischen Religion. Die Theo- logie nahm über dem allen begreiflicherweise ein der wissen- schaftlichen objektiven Erkenntnis völlig analoges Gepräge an, und nur gelegentlich brach die vulkanisch-irrationalistische Natur der religiösen Phantasie durch diesen Bann hindurch. Mit dem Zusammenbruch der allbeherrschenden christlichen Kultur ver- schwand auch dieser Horizont. Die Philosophie nahm die mo- derne Naturwissenschaft auf und war seit Giordano Bruno, Des- cartes und Leibniz nicht mehr die alte natürliche Gotteserkenntnis, sondern eine gärende neue Weltanschauung. Die Theologie wurde an ihrer selbstverständlichen Offenbarungsgeltung irre. Die alte gegenseitige Messung war nicht mehr ohne schwere Schäden für beide möglich. Da schuf Kant den Ausweg, die Wissenschaft auf exakte gesetzliche Erkenntnis der physischen und psychischen

8o6 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

Natur, die Philosophie auf die transzendentale Lehre von den die Objektivität und Gültigkeit des Erfahrungserkennens bewirkenden apriorischen Elementen und die religiöse Erkenntnis auf völlig metaphysikfreie Auswirkung der von der Moral her sich ergeben- den Postulate zu beschränken. Das war der Weg ins Freie für die Religion und für die Theologie, und er wurde trotz mancher Rückfälle in die alten Mischungen und Vereinerleiungen doch eifrig beschritten. Die Religion schien souverän, im Wesentlichen und im Kern auf sich selbstgestellt. Damit war der große Grund- gedanke gefunden, auf dem sich im Grunde alle echten Leistungen der Religionswissenschaften, ja auch die religiöse Neubildung des 19. Jahrhunderts selbst, bewegt hat und noch bewegt. Bald nennt man es die Parole einer antiintellektualistischen Theologie mit lediglich moralisch notwendigen Postulaten. Bald faßt man den Antiintellektualismus noch feiner und poetischer und meint damit den Charakter symbolisierender Phantasie oder des Mythos, den jede starke und lebendige Religiosität trägt. Hierin kommt zu Kant der Einfluß Herders und der Romantik, der sich in der Neuromantik unserer Tage erneuert.

Aber die »Religion« war nun doch eben unsere Religion, die alte Religion Europas, das Christentum. Sie war es für Kant in der ihm allein erträglichen Umdeutung; sie war es noch mehr für die Theologen ; sie war es insbesondere für den Mann , der diesen Weg mit besonderer Kraft und Größe des Gedankens be- schritt, für Schleiermacher. So war das Christentum und seine Theologie zwar frei nach der einen Seite. Aber dafür geriet es nun doch nach der andern Seite nur in neue Verhältnisse , Be- ziehungen und Messungen hinein. Denn, war die religiöse Er- kenntnis von der wissenschaftlichen getrennt und wurzelhaft ver- schieden, verlor die christliche Religion ihren auszeichnenden Halt an der Deckung mit der Vernunft und an der göttlichen Mit- teilung wissenschaftsähnlicher Sätze, so rückten nun naturgemäß die verschiedenen historischen Formationen des religiösen Lebens aufeinander, und das um so mehr, je mehr der historische und kulturelle Horizont sich ausweitete auf die großen vor und neben dem Christentum bestehenden Gebilde. An Stelle der Messung der christlichen Theologie an der Philosophie hatte man die der verschiedenen Religionen aneinander.

Gewiß gab und gibt es den Ausweg, diesem Chaos von sich gegenseitig aufhebenden oder doch einschränkenden Formationen

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 807

des religiösen Lebens zu entrinnen ^^). Man konnte in alledem und über alledem die allgemeine natürliche Religion suchen, die aus der überall gleichen Nötigung des Bewußtseins hervorgehende und überall gleiche Gottesidee unwissenschaftlichen, aber praktisch zwingenden Charakters. Man konnte dann damit das Christentum als identisch setzen und so eine christliche Theologie retten, wie die Theologen des Kantianismus, oder doch wenigstens das Chri- stentum als ein bei richtiger Behandlung brauchbares Gefäß dieser praktisch-agnostischen Humanitätsreligion ansehen, wie das wohl Kants eigene Meinung war. Allein diese allgemeine natürliche Humanitätsreligion existierte nicht. Alle konkrete Religion, das Christentum eingeschlossen, enthielt einen äußerst starken Ueber- schuß irrationaler Besonderheiten darüber hinaus. Wollte man aber eine solche Humanitätsreligion wenigstens für die Zukunft schaffen und durchsetzen, so war man für die Durchsetzung eben nicht an die überall übereinstimmende Neigung des praktischen Gefühls, sondern an den wissenschaftlichen Beweis der alleinigen Möglichkeit und der Notwendigkeit solcher Religion gewiesen. Das Vernunftnotwendige in ihr, die Abschließung und Abrundung des Systems durch sie, die logische Gefordertheit durch das sitt- liche Bewußtsein und zuletzt eine wissenschaftliche Theorie über dieses selbst : das mußte die Grundlage einer solchen Religions- stiftung werden. Damit aber geriet diese agnostisch-praktische Religion wieder in bedenkliche Nähe der Wissenschaft und büßte ihre kaum erlangte Souveränität wieder ein. Ueberdies sprach diese moralisch-agnostische Religion nicht zu Phantasie und Ge- müt, schien sie in ihrer moralischen Grundlage nicht wissenschaft- lich bewiesen, sondern nur eine Verdünnung des christlichen Theis- mus, also doch gebunden an den Zufall der unter uns herrschenden positiven Religion und zugleich deren Phantasie- und Lebensfülle nicht erschöpfend. Kurz, man steckte so ziemlich wieder in allen Schwierigkeiten der wissenschaftlichen Religion und der Mes- sung des Christentums an einer nur etwas anders begründeten Metaphysik.

^') Heute ist dieser Ausweg vor allem als Neu-Friesianismus geschätzt, der Kant gegenüber die Symbolik der religiösen Vorstellung und die Unmittelbarkeit des Erlebens stärker betont, vgl. die Auseinandersetzung Boussets mit mir in »Die Kantisch-Friesische Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie <, Theo]. Rundschau 1909. Diesem Rationalismus gegenüber möchte ich in diesem Aufsatz meinen Standpunkt neu beleuchten, indem ich das von Bousset mit Recht herausgehobene irrationale Ingredienz meiner Theorie genauer bestimme.

8o8 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

Auf der andern Seite gab es einen andern Ausweg, wenn man an der praktisch-agnostischen Religion nicht das wissen- schaftsartige Moment der von der Moral her gewonnenen Allge- meingültigkeit, sondern das in der persönlichen Bejahung ent- haltene individuelle, persönliche und irrationale Moment betonte. Dann ist es ein praktisch-persönlicher Entschluß, und weil er völlig persönlich ist, auch ein ganz individueller, an keinen all- gemeinen Maßstäben zu messender Entschluß. So kommt es für die Bejahung einer religiösen Lebenswelt nur auf das persönliche Erlebnis an und braucht sich dieses an keiner Norm irgendwelcher Art messen zu lassen. Wenn nun das unter uns herrschende Christentum behauptet, in seiner Ueberzeugung auf einem solchen völlig unmeßbaren Erlebnis zu ruhen, so gibt es keinen Grund, ihm zu widersprechen, und kann sich der Christlich-Gläubige auf dies sein individuelles Erlebnis und auf den es bezeugenden Ge- meingeist der Christenheit verlassen. Er hat damit ein durch keine Wissenschaft angreifbares Fundament und kann hier aus dem persönlich-frommen Bewußtsein wie aus dem frommen Ge- meingeist heraus die christliche Ideenwelt als rein souverän-reli- giöse — allerdings unter Vermeidung von Zusammenstößen mit Aussagen der objektiven Wissenschaft entwickeln. So hat Schleiermacher nach einigen sehr bedeutenden relativistisch-sub- jektivistischen Schwankungen in seiner kirchlichen Glaubenslehre gedacht. Allein eine derartige Position ist nur so lange möglich, als die christlich-religiöse Stellung im Umkreis unserer Kultur als die so ziemlich einzig mögliche erscheint, die ernst genommen werden kann; und auch so scheint eine solche Position mit einem Hauch bedenklicher romantischer Paradoxie und Eigenwilligkeit umwittert. Aus der Paradoxie haben die gröberen Theologen bitteren Ernst gemacht. Sie haben die persönliche praktische Vergewisserung von dem rein religiösen Geist des Christentums zu einer inneren Erfahrung von der übernatürlich erlösenden Kraft der Bibel gemacht, die um ihrer Individualität willen mit nichts anderem verglichen , auf keinen allgemeinen Begriff gebracht werden dürfe und um ihrer von der Erfahrung bezeugten Ueber- natürlichkeit willen keine romantisch-geistreiche Willkür sei. Wer das hinreichend tiefe Sündengefühl habe, der wisse, daß ein solches Erlebnis im natürlichen Menschen nicht möglich wäre, daß also sein bloßer Bestand seine Uebernatürlichkeit verbürgt. So wird überall die Tiefe des Sündengefühls gefordert , um den

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Sünder auf die Untiefen solcher theologischer Sophismen zu schlep- pen. Damit aber sind wir wieder bei der übernatürlichen Offen- barung und göttlichen Autorität angelangt. Ganz folgerichtig wird auch wieder die christlich-religiöse Ideenwelt wissenschafts- ähnliche objektive Wahrheit, die nur den Vorzug hat, um die eigentliche wirkliche Wissenschaft sich nicht mehr viel kümmern zu müssen. Und schließlich kommt auch wieder das Gegen- stück der natürlich-philosophischen Erkenntnis, samt allen Ver- mittelungen zwischen beiden, zu bescheidenen, aber nicht ein- flußlosen Ehren ^-).

So hat der Kantische Weg ins Freie nur wieder in das alte Gestrüpp geführt. Dessen Wildnis wurde gleichzeitig noch dor- niger und unübersehlicher, da neben alledem unter dem antire- volutionären restaurativen Geiste der Zeit auch der alte klerikale Traditionalismus katholischer, lutherischer und schließlich refor- mierter Art wieder emporwuchs. Daneben führte außerdem der höchste Triumph der religiös gewendeten Spekulation der Ro- mantik die Umwandlung des Dogmas in eine absolute Philoso- phie herbei ; hier wurde Dreieinigkeit und Gottmenschheit als die Formel des logisch-dialektisch bewegten Weltprozesses und damit als Inbegriff religiös-philosophischer Erkenntnis bezeichnet; die Hegeische Religionsphilosophie hatte alle Schwierigkeiten der orthodoxen, der Kantischen und der Schleiermacherschen Theo- logie überwunden und in der mythischen Form des Dogmas den absoluten Begriff entdeckt.

Ob das religiöse Leben in diesen verschlungenen, gewalt- samen und künstlichen Formen und Gehäusen sich befriedigt fühlte, ist schwer zu sagen. Es scheint doch, als ob es nur in einer Art Angst und Unruhe sich in sie geflüchtet hätte, im Ge- fühl der drohenden Ungewitter und Wandelungskräfte, mit denen ringsum die Atmosphäre geladen war. Jedenfalls brach all das bei uns in Deutschland vor dem erneuten Ansturm des französi- schen Aufklärungsgeistes, vor dem auf die Naturwissenschaften

^2) Diese Entwickelung der Theologie ist in mehreren der bisherigen Aufsätze charakterisiert. Das typische Endergebnis habe ich geschildert in der Anzeige von J. Köstlin, »Der Glaube und seine Bedeutung für Erkenntnis, Leben und Kirche« in Gott. Gel. Anz. 1896. Auch die Ritschlianer operieren gerne mit dieser Indi- vidualität alles Religiösen, das den AllgemeinbegriflF der Religion unmöglich mache, und uns nötige, dem angeblich ganz individuellen Anspruch des Christentums auf Absolutheit uns zu unterwerfen.

3lO Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

neu sich begründenden methodischen und sachlichen Naturalis- mus, vor der damit verbundenen liberalen und demokratischen Kirchenfeindschaft, schließlich vor der den Naturalismus mit dem utopischen Enthusiasmus verbindenden Philosophie des Sozialismus zusammen. Auf der andern Seite sammelten sich die großen künst- lerischen und humanistischen Kräfte unserer großen poetischen Zeit, die sich auf die Verherrlichung der Vergangenheit, der An- tike oder auch des Mittelalters, oder auf einen unproduktiven, selbstzufriedenen Goethekult zurückgezogen hatten, zu einer ener- gischen Kulturkritik, die durch Schopenhauers Pessimismus und Idealismus hindurchging und nun den Kampf gegen die Christ- lichkeit unserer Kultur und gegen den demokratischen Rationalis- mus zugleich aufnahm. Nietzsche hat mit seiner außerordentlichen Feinfühligkeit diese dunklen Triebe zusammengefaßt, den Kampf durch eine historisch freilich sehr ungerechtfertigte Vereinerleiung beider vereinfacht und jedenfalls die eine große Wirkung hinter- lassen, das Gefühl, daß die heutige geistige Kultur kein stolzer Höhepunkt, sondern eine dumpfe Erwartung tieferer und edlerer, kräftigerer und originalerer Lebensgestaltung sei. Insbesondere in unserem religiösen Leben witterte er den mächtigen inneren Um- schwung der Seelen, und, wenn er selbst die Irreligion der Höher- entwicklung des Lebens aus seinen eigenen Tiefen ohne Gott für die Zukunft verkündigte, so waren doch diese Tiefen des Lebens so gewaltig empfunden, daß aus ihnen das religiöse Gefühl in neuen unsicheren Versuchen immer wieder hervorbrechen mußte. Gerade sein Irrationalismus, seine Verherrlichung der Souveränetät des Lebens, seine poetisch-mythische Erfassung der Daseinsziele tat dem Vorschub und tut es bis zum Tage. Es wird mit ihm noch gehen, wie mit Spinoza, den seine Zeitgenossen den philosophus atheissimus nannten und den die Romantiker dann als entheissi- mus feierten. Jedenfalls ist unter seiner Einwirkung die alte Kan- tische Scheidung von theoretischer und praktischer Vernunft ungeheuer erweitert, die praktische Vernunft vom Geist der Auf- klärung losgerissen und mit den künstlerisch-symbolischen Mächten des Mythos aufs engste verbunden worden. Daher rührt heute die Verkleidung des Religiösen in das Aesthetische , aber auch ein erneuter Anstoß, das Religiöse in seiner Verschiedenheit von der Wissenschaft und in seinem lebendigen Phantasiecharakter zu verstehen. Damit verbindet sich unter uns die Losreißung der religiösen Ethik von der bürgerlichen Moral und ihr Streben nach

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erhöhter Betonung der irrationalen Persönlichkeit, wobei dann frei- lich das christliche Gewissen sich zugleich der sozialistischen Kul- turkritik nicht verschließen kann.

Unter all diesen Einflüssen, Bedrohungen und Anregungen hat natürlich das religiöse Leben und Denken sich auf neuen Linien wieder gesammelt. Der Katholizismus freilich blieb von alledem unberührt; er hat die Verbindungen mit dem modernen geistigen Leben immer mehr gelöst, dagegen sich auf politische und soziale Aufgaben geworfen, seine Gläubigen immer mehr als Staat im Staate, als Gesellschaft in der Gesellschaft von den Be- rührungen und dem Austausch abgeschlossen und wissenschaftlich nur seine alte Apologetik erneuert und popularisiert, die mit der natürlichen Theologie die Offenbarungsautorität verband und manchen naturalistischen Torheiten dabei erfolgreich nnd scharf- sinnig entgegentrat. Der Protestantismus hat als ein von den Landesfürsten bestimmtes Staatskirchentum bei seiner relativen Lösung vom parlamentarischen Volksstaat sich gleichfalls stark isoliert und uniformiert, soweit der offizielle und kirchliche Prote- stantismus in Frage kommt. Aber bei der dogmatischen Unge- bundenheit seiner Laienmitglieder und bei der Einverleibung seiner theologischen Fakultäten in das Leben der wissenschaftlichen Zen- tralanstalten behielt er Ungebundenheit und Kraft genug, um die religiöse Frage in völliger Freiheit aufzunehmen. Es gibt einen rein geistigen und rein literarischen Protestantismus neben der Kirche, der mit den außerkirchlichen religiösen Strebungen überhaupt ununterscheidbar zusammenschmilzt und daher freilich die ver- schiedenartigsten Nuancen umfaßt. In diesem schwer definier- baren, aber wirksam vorhandenen, rein geistigen und literarischen Protestantismus wird man die vorwärtsdrängenden und entwick- lungskräftigen religiösen Mächte wenigstens der deutschen und angelsächsischen Welt erkennen müssen ^^). Er hält Fühlung mit den großen historischen religiösen Organisationen, quillt aus ihnen immer neu empor, wirkt auf sie immer neu zurück, und ist bei aller wesentlich geistig-literarischen Natur doch von den Lebens-

^^) Daß man auch in Frankreich die Lage vielfach ähnlich ansieht, zeigt das hochinteressante Buch von Gaston Riou, Aux ecoutes de la France, qui vient*, 1913 mit einer sehr platten Vorrede von Emile Faguet. Viel Interessantes auch in der Zeitschrift: Foi et vie, Revue bimensuelle de culture chretienne ; es ist keine theo- logische oder kirchliche, sondern eine ganz allgemeine und sehr einflußreiche Zeit- schrift. Die Herrschaft des Positivismus in der Jugend Frankreichs ist vorbei.

3i2 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

bedingungen einer kultisch-sozial organisierten Volksreligion nicht abgeschnitten.

Selbstverständlich gibt es bei dieser Lage innerhalb der modernen religiösen Strebungen mehrfach auch solche Kräfte, die radikal vom Christentum sich ablösen, fremde und neue reli- giöse Elemente in unser europäisches Leben einführen wollen oder von einer großen neuen Religion träumen, die dem herauf- dämmernden neuen Kulturzeitalter entspreche. Es sind im wesent- lichen immer wieder Schopenhauersche und Nietzschesche Einflüsse, die solchen Erwartungen zugrunde liegen, daneben sozialistische und vor allem rein ästhetische, die aus Piatonismus, Renaissance, Identitätsphilosophie und Sinnlichkeitskultur ein religiöses Neu- heidentum schaffen wollen, hinter dem Goethes reiche, alles ver- knüpfende. Antikes und Christliches verbindende Lebenswelt als ein bloßes Experiment universaler Bildung zurückbleibt. Allein so deutlich die religiöse Unruhe der Zeit sich darin kundgibt, wirkliche Erneuerungen und Emporbildungen kräftigen, volksge- staltenden religiösen Lebens wird darin niemand im Ernste er- blicken können. Der pessimistische Neubuddhismus ist ein fremder Tropfen in unserem Blute, ist Kulturkritik und Wissenschaft, künst- lerische Stimmung und eine aus der lebendigen Bewegung selbst sich herausnehmende Sonderstellung reflektierender Individuen. Das künstlerisch-ethische Neuheidentum ist Literatur für Literaten, eine Welle in dem immer neuer Weltanschauungen und Ethiken be- dürftigen raschen Umschlage großstädtischer Geistesfreiheit. Der mitleidlos hochmütige, aristokratische Ton dieser Literatur be- zeugt schon, wie wenig ihr an den Seelen der Tausende liegt, die im Kampfe mit dem Alltage der Größe eines starken und schlichten Glaubens bedürfen. Vollends die neue Religion ist eben um ihrer bloßen Zukünftigkeit willen eine Religion, die überhaupt noch keine ist. Sie ist aber auch eine, die niemals kommen wird und über deren Erwartung die religiösen Kräfte und Aufgaben übersehen und verloren werden, die vor unseren P'üßen liegen. Wenn man irgend etwas auf diesem Gebiete wird sagen dürfen, so wird man behaupten können, daß aus dem Schöße einer derart reflektierten, verwissenschaftlichten, überbewußten und mit tausend technischen Weltsorgen geplagten Kultur die einfach großen Mächte der Phantasie und des Instinktes, der Lebens- sicherheit und Gewißheit niemals entstehen werden, aus denen eine religiöse Offenbarung entstehen kann. Und würde eine

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solche sich irgendwo in erheblicher Kraft zeigen, so würde die Ueberkritik und der Mangel aller starken Instinkte des Gemein- gefühls sie nirgends zur Durchsetzung und Ausgestaltung kommen lassen. Das ist ja gerade die eigentümliche welthistorische Situa- tion des Christentums, daß es aus einer einfach volksmäßigen Kraft hervorging und auf das Religionsbedürfnis einer ermatten- den Ueberkultur traf. Erst in dieser Verbindung hat es die ihm eigentümliche Durchdringung schlichtester Kraft und Strenge mit sublimster Seelentiefe erlangt. Die Wiederholung einer derartigen weltgeschichtlichen Situation gehört wahrlich nicht in das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten. Die uns verheißenen neuen Religionen würden aller Vermutung nach nur neue Literaten-Offenbarungen sein, wie wir deren genug erlebt haben und noch viele erleben werden, die aber nur die religiöse Unklarheit und Unsicherheit mehren und im übrigen alles beim Alten lassen. Oder es wer- den die Religionsbewegungen sein, die wir gleichfalls längst ken- nen: neue Sekten und Erweckungen, synkretistische Bildungen wie Spiritismus, Theosophie und Christian Science, neue Devo- tionen und Heiligenkulte, in deren Form der Katholizismus die neuen Religionen sich einverleibt. Aber auch das bringt uns nicht wesentlich weiter, sondern ist nur Variation vorhandener religiöser Kräfte. Vom Sozialismus aber wird man am allerwenigsten eine religiöse Erneuerung erwarten dürfen, was man auch etwa sonst von ihm erwarten mag. Er hat seine religiös-schwärmerischen Anfangsstadien, wo er mit den Gottes-Reich-Idealen des christ- lichen Sektentums und der Bibel noch vielfach sich berührte, gründ- lich abgestoßen; er vertraut heute ausschließlich auf die Gunst des naturnotwendigen, blinden Entwickelungsprozesses und auf die menschliche Kraft und Intelligenz, die die günstige Stunde des Prozesses zu erfassen und in rein menschlicher Arbeit und Klug- heit auszunutzen hat. Er sieht so sehr in allem, was außerhalb der proletarischen Zukunftsentwicklung liegt, nur Unverstand, Bos- heit, Selbstsucht und blinde Notwendigkeit, daß an eine Wande- lung dieser Mischung von reinem Selbstvertrauen und naturali- stischem Notwendigkeitsglauben zu religiöser Ehrfurcht und zu religiös begründetem Menschheitsgefühl nicht zu denken ist. Er kann günstigen Falles Religion dulden, wenn sie seinen Zielen sich einfügt, aber niemals wieder selbst Religion werden. Im Falle seines Sieges würde gewiß in der neuen Gesellschaft wieder das religiöse Suchen anheben, aber es würde seine Motive dann

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ebenso gewiß gerade nicht mehr in der eben befriedigten und nun ihre inneren Schwierigkeiten entfaltenden sozialistischen Idee finden, eher im Gegenteil. In dem wahrscheinlicheren Falle aber, daß er nach einer Reihe von Teilerfolgen auf die leidenschaftliche Spannkraft seiner Utopien verzichten müssen wird, werden sich die auf Befreiung des Individuums und kommendes Heil gespann- ten Energien enttäuscht den Sekten und ähnlichen individualisti- schen Religionsgruppen zuwenden, die ja schon heute ganz im Stillen mächtig vorrücken.

Daß in all diesen Versuchen und Hoffnungen neuer Religion viel edles Wollen und auch viel wahrhaft religiöse Sehnsucht stecken mag, soll in keiner Weise bestritten sein. Aber zu bestreiten ist, daß das moderne Religionsbedürfnis, seine Experimente und seine Zukunftsverheißungen über die religiösen Kräfte hinaus- führen werden, die nun einmal die uralten religiösen Kräfte der westlichen Zivilisation sind. Sie liegen für uns unabänderlich im Christentum, das den gewaltigen prophetischen Theismus und die innige christliche Gottesnähe, die Unendlichkeit der Seele und die Brudergemeinschaft der Liebe, die freudige Gottesgewißheit und die heroische Erlösungshoffnung, schließlich die platonisch- stoische Humanität und ihre idealistische Weltdeutung verbindet und damit die Zusammenfassung aller ethisch-religiösen Kräfte unserer Geschichte ist. Eine nüchterne Betrachtung wird keine zweite Religionsbildung in unserem Kulturkreise erwarten, die mit dieser ersten auch nur einigermaßen vergleichbar wäre. Ist sie doch nicht ein zufälliges in ihn hineingreifendes Ereignis, sondern die reife Frucht aller vorangegangenen Entwicklungen der Mittelmeervölker und, soll man einmal die übliche Sprache des Unglaubens reden, die Ideologie, die mit allem weiteren Leben und Schaffen unseres Kulturkreises unlösbar verbunden ist. Wir werden keine zweite Divina commedia und keinen zweiten Faust erleben , die das europäische Lebensproblem von dem Boden einer neuen Religion aus ähnlich beleuchten und durchwirken, wie es die ersten getan haben«*).

**) Ein Beispiel solcher prophetischer Ankündigung neuer Religion ist Alfred Weber, Rehgion und Kultur 1912, oder die aristokratische Religion, die die Jünger Stefan Georges in dem »Jahrbuch für die geistige Bewegung«, hg. von Gundolf u. Wolters, verkünden. Der Zusammenhang dieser Strömungen mit dem Literatentum ist gut geschildert bei Sörgel, Dichtung und Dichter der Zeit, 191 1. Wesentlich mehr die Richtung auf den christlichen Theismus nimmt Hermann Bahr, Inventur

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. §15

Freilich das ist nur die Sprache der persönUchen UnbeteiHgt- heit, der nüchternen Erwägung. Aber solche nüchterne Erwägung zeigt dem Glauben und der persönlichen Ueberzeugung, daß er sich nicht beirren zu lassen braucht, wenn er im Christentum das vieldeutige Wort vorläufig einmal in seinem allgemeinsten Sinne mit allen darin liegenden Mögliclikeiten genommen mehr als das bloße religiöse Schicksal unseres Kulturkreises erkennt. Ganz abgesehen von den Millionen, die in dem festen kirchlichen Glauben ihrer Gemeinschaften leben und ihn mit aller Leidenschaft persönlichster Ueberzeugung und praktischen Bedürfens behaup- ten, diese Gewißheit lebt auch in jenem oben charakterisierten Kreise eines freien Protestantismus. Sie ist überdies getragen von den großen religiösen Schriftstellern, die unabhängig sind von allen Konfessionen, von Kierkegaard, Tolstoi, Maeterlink^, Carlyle, de Lagarde, Matthew Arnold, zu denen wir unter den unsrigen mit den entsprechenden Abständen Friedrich Naumann, Rudolf Eucken, Johannes Müller, Arthur Bonus, Wilhelm Herrmann, Friedrich Rittelmeyer, Hermann Kutter u. a. rechnen dürfen. Hier herrscht überall, wenn auch in sehr verschiedener Weise, die Ueberzeugung, daß das Christentum die höchste Ausgestaltung des religiösen Be- wußtseins überhaupt ist, daß es eine Tiefe der gotteinigen Seele und eine innere Verbundenheit der Menschheit, eine heroische Kraft der Ueberwindung ,von Leid und Schuld und eine höchsten, letzten Lebenszielen zugewandte Zukunftsgewißheit offenbart, die im religiösen Leben der Menschheit ein Höchstes und Letztes sind. Dabei wird als das Entscheidende empfunden, daß es die Seelen nicht untergehen läßt im göttlichen Leben, sondern sie gerade umgekehrt aus dessen immer lebendig bewegter Aktivität wieder zurückweist auf die Tat, die den Ewigkeitsgehalt der Seele umsetzt in Arbeit und die Gottverbundenheit der Menschheit in Liebe und Humanität des praktischen Wirkens. Niemand verkennt, daß auch so noch eine tiefe Spannung besteht gegenüber dem weltlichen Kulturleben, dem Kampf ums Dasein und seinen Tugen- den , den natürlichen Interessenverbänden und ihren ethischen Werten, gegenüber aller bloßen Moral des Pflichtgefühls und aller künstlerischen Empfindung der Schönheitstiefen der Sinnlichkeit. Aber diese Spannung ist die Größe unseres Lebens und wird

1912 und Walther Rathenau, Zur Kritik der Zeit 1912, auch der oben genannte Franzose Riou, der vor allem die buddhistischen und pessimistischen Dekadenz- stimmungen dadurch bekämpft.

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in tausend unvermeidlichen und immer neuen Kompromissen auf- gelöst, in denen sich die feindlichen Gegensätze immer neu be- fruchten, und in denen die strengen radikalen Christen immer auf- ragen als die einsamen Mahner, als das Salz der Erde. Zugleich hat es die Kraft besessen, große populäre Organisationen zu schaffen, in denen das religiöse Leben gepflegt werden kann und doch nicht in Dogma, Ritual und Moral zu ersticken braucht, weil sein eigentliches Zentralsymbol kein Dogma, sondern eine lebendige historische Persönlichkeit ist, die jede Zeit sich neu deuten und jede in den ihr eigentümlichen Zusammenhang ge- schichtlicher Gesamtauffassung einfügen kann. Darum ist es nicht bloß die einzige uns zugängliche religiöse Kraft unseres Lebens- kreises, sondern die große religiöse Menschheitskraft überhaupt. Unbeirrt durch alle Eindrücke der großen fremden Religionssy- steme, unbeirrt durch alle naturalistische oder idealistische Philo- sophie und auch unbeirrt durcli alle Menschlichkeiten der christ- lichen Geschichte glaubt man hier in souveräner Selbstgewißheit, in rein subjektiv-religiöser Entscheidung an die noch unerschöpfte Kraft und Bedeutung der christlichen Lebenswelt. Ihr Ausdruck ist nicht Lehre und Theorie, sondern die künstlerisch-suggestive Geltendmachung ihrer inneren Kraft. Sie wirkt nicht durch Be- weise, sondern durch Vorbild und Erregung der Phantasie. Sie ist der große religiöse Mythos der heutigen Welt, der wie immer und überall dem religiösen Fühlen und Denken erst seinen Aus- druck gibt und der unmerklich mit dem Leben selber wächst und sich wandelt. Solchen Gedanken hat insbesondere Bonus in seinen Essays »Zur religiösen Krisis« einen starken und wirksamen Ausdruck gegeben '''^).

Es ist der religiöse Antiintellektualismus, der hierin überall sich regt und von allem Theologentum und von aller philoso- phischen Religion sich deutlich scheidet, ein Antiintellektualismus, der nicht die Ergebnisse der objektiven Wissenschaft verwirft oder übersieht, der nur die eigentliche Religion selbst vor jeder Umwandlung in objektive Wissenschaft, vor jeder Messung an ihr und ihren Gewißheiten bewahrt sehen will. Er weigert sich nicht,

®^) B. I Zur Germanisierung des Christentums 191 1; er meint im Grunde die von der Lage geforderte Neubildung der Religion. B. III Religiöse Spannungen, 1912. B. IV Vom neuen Mythos. Eine Prognose 191 1. Uiese Bände enthalten sehr viel feines. Der vorliegende Aufsatz ist der Versuch, ihrem Wahrheitsmoment gerecht zu werden.

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 8l7

die Ergebnisse von Kosmologie und Biologie, von Psychologie und Geschichte anzuerkennen, aber er will die Religion selbst nicht zum Ergebnis der Wissenschaft gemacht sehen. Er schätzt die Wissenschaft, aber er ist mißtrauisch gegen die Philosophie, und wo er von dieser Kenntnis nimmt, da läßt er sich den Pragmatismus eines William James oder den Biologismus eines Bergson lieber gefallen als die Systeme der allumfassenden logi- schen Notwendigkeit. An Kants berühmte Scheidung der theo- retischen und praktischen Vernunft knüpfte er gerne an, aber nur um sie völlig umzudeuten, die erste zu einer lediglich prak- tisch wichtigen Ordnung der Erfahrung und die zweite zu einer souveränen Entfaltung des Lebenswillens.

Aber das kann das einzige Wort der religiösen Zukunftsbe- wegungen unmöglich sein. So locker und so lose lassen sich die Beziehungen zur Wissenschaft nicht gestalten. Diese bleibt eine Großmacht unserer heutigen intellektualisierten Welt, und wir können nicht mehr zurück in die Völkerjugend, wo die Religion in dem lebendigen Mythos sich barg und ihre Verkünder als Propheten sprachen. Es bedarf eines festeren und klareren Ver- hältnisses zur Wissenschaft. Wer es persönlich nicht bedarf, braucht sich durch sie nicht stören zu lassen. Aber die Gesamt- heit wird immer wieder eines Anschlusses an die intellektuelle Arbeit bedürfen, die geistige Ehrlichkeit und der Wahrheitssinn wird einen bloßen Enthusiasmus, einen frei schwebenden und unkontrollierten Mythos, nicht lieben können. Wie der christliche Mythos des zweiten Jahrhunderts beim Aufstieg in die höhere Kulturwelt des Anschlusses an den Logos bedurfte, so bedarf er ihn auch heute und in aller Zukunft. Enthielt die Logos-Chri- stologie den Zusammenhang, wie ihn die jugendliche Kirche brauchte, so wird die heutige Religion dieses Zusammenhanges ebensowenig entbehren können. Sie muß ihn nur an anderer Stelle und in anderer Weise suchen. Ohne Logos kann eine große religiöse Lebenswelt ebensowenig bestehen wie ohne Mythos.

Das ist nun aber die Aufgabe der Theologie. Man könnte statt »Theologie« natürlich auch sagen der Religionswissenschaft, wenn man unter dieser nicht, wie heute meist eine über der Vielheit der Religionen schwebende allgemeine Theorie, sondern eine Erarbeitung normativer religiöser Gedanken versteht. Da man aber das letztere in der Regel als Aufgabe der Theologie versteht, so mag es bei dem Worte Theologie bleiben. Es ist

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. ' C2

8l8 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

dann jedenfalls eine Theologie, die an keine Konfession gebunden ist und keine fertigen Wahrheiten zu beweisen hat, sondern die in voller Freiheit arbeitet an der lebendigen Gestaltung der christ- lichen Idee. Sie ist protestantisch nur insoferne, als eine solche Theologie nur auf dem Boden des Protestantismus möglich ist und an dem Wahrheitssinn und Individualismus des Protestantis- mus ihr protestantisches Recht hat. Sie kann von allen Kon- fessionen und Konfessionslosen lernen und ist durch keine Kirch- lichkeit gebunden, wenn sie auch naturgemäß den Kirchen dienen will und muß, will sie anders eine praktische Bedeutung haben und nicht bloß die allgemeine religiöse Unruhe vermehren.

Auf welchen Linien kann sich nun aber eine solche Theo- logie sammeln, nachdem die an Kant sich anschließende Reor- ganisation das oben geschilderte Schicksal hatte.?* Wie kann sie in eine wissenschaftliche Theorie gerade den wissenschaftslosen Antiintellektualismus aufnehmen, der das beste religiöse Pathos der Gegenwart ausspricht, der zum Wesen des Religiösen un- zweifelhaft gehört? Wie kann sie ihn zugleich bejahen und doch begrenzen.?

An diesem Punkte Hegt die Hauptaufgabe einer wissenschaft- lichen Theologie der Gegenwart. Ich will versuchen, diese Frage in strengster Kürze zu beantworten, und die aus dieser Antwort sich ergebenden Konsequenzen zu beleuchten. Ich muß natürlich dabei auf einige in meiner bisherigen Arbeit bereits geäußerte Hauptgedanken zurückgreifen, hoffe aber dabei diese selbst in einer neuen, das Ganze erleuchtenden, Weise zu erläutern.

Die Bejahung der christlichen Lebenswelt beruht bei wissen- schaftlicher Begründung entweder auf der Theorie von dem abso- luten, in ihrer Stiftung erfolgten Wunder, die sie mit allem anderen unvergleichbar macht und ihr eine unmittelbare, darum irrtums- lose göttliche Verursachtheit zuschreibt, oder auf dem Nachweis der Uebereinstimmung der christlichen Idee mit der philosophisch konstruierbaren absoluten Vollendung der wissenschaftlichen Welt- erkenntnis. Die erste Theorie ist unmöglich gemacht durch die Ausdehnung eines bedingungslos historischen Denkens auch auf die christliche Urgeschichte und durch die überzeugende Er- leuchtung, welche diese von daher trotz mancher verbleibenden Dunkelheiten empfangen hat. Wir sind der Ueberzeugung, daß diese Dunkelheiten, wenn sie überhaupt erleuchtet werden können, nur auf dem Wege weiterer echt-historischer Forschung sich be-

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 8 IQ

seitigen lassen werden, daß es unmöglich ist in ihrem Zwielicht wieder besondere übernatürliche, spezifisch christliche Kausali- täten einzuschmuggeln. Die zweite Theorie ist sowohl an dem Protest der christlichen Lebenswelt selbst als an der Unmöglich- keit einer solchen absoluten, die letzte und ewige Wahrheit heraus- konstruierenden Philosophie gescheitert. Aehnlich werden auch die stets wiederholten bescheideneren Versuche, einen philoso- phischen Wahrheitskern aus dem Christentum herauszulösen, ver- sagen, da dieser Kern immer für das wirkliche religiöse Gefühl zu wissenschaftlich-abstrakt und für die Wissenschaft zu sehr der perT sönlich-subjektiven Bejahung bedürftig sein wird. Auch unter dem Begriff vernunftnotwendiger Werte wird sich das Christentum nicht unterbringen lassen, da es wohl eine philosophische Theorie der Vernunftnotwendigkeit des Wertens selbst, aber keine solche der Vernunftgültigkeit bestimmter Inhalte des Wertens gibt.

Somit gibt es keine einfach zu begründende zwingende Vor- aussetzung der Geltung des Christentums. Besteht hier aber keine fertige Voraussetzung, so gilt es von diesem fraglich gewordenen Besonderen die Voraussetzungen zurückzuschieben in das letzte hier erreichbare Allgemeine. Hier lehrt uns die Transzendental- philosophie die letzten und allgemeinsten erreichbaren Voraus- setzungen in den apriorischen, d. h. autonomen oder selbständigen, aus eigener innerer Notwendigkeit sich bildenden, Vernunfttätig- keiten zu finden. Diese sind nun freilich für die rein wissenschaft- liche Ordnung unseres Erfahrungsinhaltes leichter aufzuweisen als für die sogenannten Kulturwerte. Aber ein analoges Apriori d. h. eine selbständige, sich mit innerer Notwendigkeit ent- wickelnde Gültigkeit liegt, wie schon Kant lehrte, auch in diesen. Ein solches liegt auch in der Religion. Wie es näher zu fassen und zu erläutern sei, kann hier auf sich beruhen. Jedenfalls wird jeder Religiöse, er mag über das Christentum insbesondere denken wie er will, das anerkennen und eben um deswillen auch nicht bloß anerkennen, sondern verstehen, daß es sich um etwas anderes als um Wissenschaft oder Moral oder Kunst handelt. Dieser Ein- druck wird sich verstärken, wenn wir beobachten, wie das reli- giöse Denken seine eigene Weise entfaltet, der künstlerischen Phantasie am ähnlichsten in seiner Ergreifung aller Ausdrucks- und Erregungsmittel, aber von ihr geschieden durch den emp- fundenen Zwang übermenschlicher, in alledem sich kundgebender Wirklichkeit. Aller Ausdruck ist mythisch-symbolisch-poetisch,

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aber in diesem Ausdruck wird etwas ergriffen, das seine eigene innere Notwendigkeit und verpflichtende Kraft auf spezifisch re- ligiöse Weise in sich selber trägt. Mit einer solchen Theorie ist erreicht, daß wir von den letzten philosophisch konstruierbaren Vor- aussetzungen ausgehen, daß wir das Religiöse in seiner anderen Vernunftgültigkeiten analogen Gültigkeit und doch zugleich in seiner völlig antiintellektualistischen Eigentümlichkeit verstehen. Nun tritt freilich ein, was ich bereits oben als die Folge des Wegfalls aller Messung an einer objektiv-philosophischen Metaphy- sik bezeichnet habe und woraus die Theologie vom Anfang des Jahrhunderts die Folgerungen nicht oder nur erst sehr schüchtern gezogen hat. Es tritt die verwirrende Fülle der konkreten histo- rischen Religionsbildungen und unter den großen Sammelnamen der historisch-positiven Religionen selbst wieder die Fülle ganz individueller Religiosität zutage. Antüntellektualistisch genug ist diese Anschauung von der Religion, aber dafür stürzt sie auch in das Chaos all dieser Bildungen hinein und nimmt uns jeden intellek- tuell konstruierbaren Maßstab für die Beurteilung und Abstufung dieser Bildungen. Kants »Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft« war immernoch ein wenigstens bedingt rationaler Maßstab. Er hat die Religion rationalisiert und moralisiert. Aber indem das Verständnis der Religion nun von diesen Schranken befreit ist, fällt jeder rationale Maßstab fort. Das ist allerdings die Folge, i^ber sie beweist nicht, daß nun jeder Maßstab über- haupt wegfällt, sondern nur, daß der Maßstab kein rationaler sein kann. Er muß auch seinerseits ein rein religiöser sein. Er muß verzichten, die Religion an objektiven, außerhalb ihrer liegenden und eben darum sie nicht berührenden Normen zu messen, und muß die Entscheidung aus der im Streitfalle sich mit innerer Kraft äußernden Subjektivität entnehmen. Wenn anders über- haupt im Religiösen ein Apriori d, h. ein spezifisch religiöses Gültigkeitsbewußtsein steckt, dann wird dieses auch im Konflikt verschiedener religiöser Bildungen sich regen, so gut wie es dem außerreligiösen, profanen Geiste gegenüber sich regt. Liegt kein Streitfall vor, so braucht nicht geurteilt zu werden und es kann bei der ererbten Gewißheit bleiben. Liegt ein solcher vor, so wird das in der religiösen Subjektivität verborgene und wirkende objektive Element zu entscheiden wissen. Eine solche Entschei- dung ist eine persönliche Tat, eine Uebernahme des Risikos des Irrtums. Der Maßstab ist ein im lebendigen Kampf und Urteil

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sich selbst erst erzeugender und liegt nicht irgendwo fertig und bereit, von woher er nur geholt und angelegt zu werden brauchte. So ist auch eine solche Entscheidung antiintellektualistisch und verschieden von jedem wissenschaftlichen Urteil, das immer bereit liegende oder wenigstens doch vom Allgemeinen her konstruier- bare Maßstäbe kennt und der Religion nur allzuoft den täu- schenden Wunsch nach dem Besitz eines ähnlichen Maßstabes aufdrängt. Aber so antiintellektualistisch die Entscheidung ist, sie ist kein Akt der Willkür oder des bloßen Geschmacks, son- dern geht vermöge jenes in aller Subjektivität wirksamen Gültig- keitselementes mit dem Gefühl einer objektiven Notwendigkeit vor sich. Die Entscheidung hat das Gefühl, sich in die eigentliche Hauptbewegung des Geistes einzustellen, die intuitiv herausgefühlt worden ist.

Und je mehr diese Objektivität als eine spezifisch religiöse ge- fühlt wird, um so mehr wird mit dem Verzicht der Messung an wissenschaftlichen Daten auch der Eingriff in solche verschwinden, das Religiöse sich auf sein eigenstes Gebiet der Innerlichkeit ganz von selbst zurückziehen. Der Antiintellektualismus ist nicht rohe Beiseitesetzung aller wissenschaftlichen Bildung und krude Phan- tastik, sondern vermöge des in der Subjektivität eingeschlossenen objektiv-religiösen Elementes eine Konzentration des religiösen Gefühls auf sich selbst, eine volle Freigabe und Anerkennung der Wissenschaft und die Vermeidung oder der Wegfall der Kol- lisionen mit ihr. Die Wissenschaftsfreiheit der Religion ist nicht Wissenschaftsfeindschaft.

Und noch mehr. Steckt in solchen Entscheidungen ein Ge- fühl der objektiven Notwendigkeit, so kann nicht bestritten wer- den, daß in den verschiedenen früheren religiösen Bildungen gleichfalls ein solches vorhanden war. Dann muß, soll nicht Not- wendigkeit mit Notwendigkeit heillos streiten, von einer zur anderen ein innerer Zusammenhang, ein nachfühlbarer Fortschritt bestehen, der als ansteigende wenn auch oft unterbrochene, gehemmte und angefeindete Entwickelung konstruiert werden kann. Es muß die eigene Entscheidung in die erreichbar größte Weite des Horizontes gestellt und innerhalb dessen als der Höhepunkt der auf sie zustrebenden Entwickelung betrachtet wer- den können. Freilich kann es sich hier nicht um eine Entwicke- lung handeln, deren Auftrieb durch logische Notwendigkeiten be- stimmt und deren Ergebnis ein logisch-theoretischer Satz wäre.

822 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

Der untheoretische oder antiintellektualistische Charakter muß auch in dieser Konstruktion der Entwickelung gewahrt werden, wie er selbstverständHch bei der Entwickeking der Moral und der Kunst auch gewahrt werden muß, ja wie wohl der ganze Be- griff einer Entwickelung und eines Auftriebes des Lebens nicht aus Gesetzen logischer Gedankenbewegung verstanden werden kann und doch ein von inneren Notwendigkeiten und Gültigkeiten erfüllter ist. Es muß eine innere Folge geben, die nicht logisch begründet ist, aber als eine aufsteigende Anstrebung höchster und letzter Ziele und damit als innere Einheit intuitiv erfühlt und be- schrieben werden kann. Der Hegeische Gedanke hat sein un- verlierbares Recht, nur daß er eben nicht mit Hilfe einer rein theoretischen Logik erfaßt werden kann, wie denn ja auch Hegels Logik mit ihrer produktiven Kraft, Gegensätze und Synthesen zu schaffen, schon selbst keine reine Logik mehr war und doch zu sehr Logik blieb, um den Auftrieb in seinem eigenen Wesen zu erfassen. Es muß die Behauptung eines solchen nicht logischen und doch intuitiv als Einheit erfaßbaren Auftriebes das Richtige an Bergsons Entwickelungslehre sein, wobei die ungeheuer schwie- rige Frage nach dem Verhältnis des logischen und des alogischen Einheitsgedankens hier auf sich beruhen mag. Jedenfalls gewin- nen wir bei einer solchen alogischen Fassung des Entwickelungs- triebes die Möglichkeit, auch dem Stagnieren, dem Rückfall, der Fehlentvvickelung, den Seitenbewegungen einen Ort einzuräu- men, was bei der Einstellung der Entwickelung unter das dialek- tisch-panlogistische Schema in Wahrheit nicht möglich war.

Weiterhin gewinnen wir bei einer solchen Auffassung das Recht, die einzelnen Entwickelungsstufen und -punkte nicht bloß für logisch notwendige Durchgangsstellen anzusehen, die von der nächsterreichten sofort »mediatisiert« werden. Mit diesem Worte hat Ranke sich gegen die Hegeische Dialektik gewehrt, ohne doch den Entwickelungsgedanken selbst damit bestreiten zu wollen. Jeder Punkt ist eine individuell lebendige, dem Moment und der Gesamtlage entsprechende schöpferische Gestaltung des dem Ganzen zugrunde liegenden Triebes, ein in sich selbst und für sich selbst wertvolles Moment in dem Fhisse des Wirkens, eine Annäherung an das letzte Ziel, die als individuell geartete An- näherung einen Eigenwert in sich selber trägt und doch ein Stre- ben ist zum dunkel vorschwebenden Absoluten. So hat Ranke mit dem Instinkt des Historikers die Hegeische Lehre durch den

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie, 823

Satz berichtigt, daß jede Epoche unmittelbar ist zu Gott, und hat doch damit den Fluß der Entwickelung und des Werdens nicht aufheben wollen. Es ist die Folge jenes in der rein sub- jektiven Entscheidung steckenden Objektiven, daß jeder tief und lebendig erfühlte Moment sovi^ohl das Bev^^ußtsein seines Eigenrech- tes und seiner Eigenbeziehung auf das Absolute in sich trägt als auch das um eine bloße Annäherung an ein im Werden begriffenes Höchstes und Letztes. So kann auch die in der Gegenwart er- folgende Entscheidung das von ihr ergriffene religiöse Lebens- system nur als das Höchstgeltende, als das Höchsterreichte be- zeichnen und keinerlei wissenschaftliche Gewißheit über dessen ewige Dauer oder über die weitere Zukunftsentwickelung geben. Sie kann nur ihre Annäherung an das Absolute als ihr Eigenrecht und ihre Eigenwahrheit empfinden und zugleich sich vermöge jenes Entwickelungsgedankens als die den anderen Bildungen ver- möge ihres Verhältnisses' zum Grundtrieb der Entwickelung über- legene Kraft konstruieren. Die ganze Konstruktion ist selbst nicht der Beweis ihres Rechtes und der Vollzug ihrer Ueberzeu- gung, sondern erst die Folge und Bewährung ihres im eigent- lichen Sinne religiös-selbständig bereits vollzogenen Urteils. Aber dieses verlangt nach einer solchen Unterbauung und Bestätigung, und gewinnt rückwirkend von da aus eine auch praktisch-religiös wichtige Beleuchtung.

Setzen wir nun den Fall, daß das religiös lebendige Urteil in den Kämpfen der Gegenwart die christliche Lebenswelt bejaht und dieser Bejahung sich der Unterbau einer solchen Entwicke- lungslehre eindrucksvoll unterstellen läßt, so beginnt damit nun freilich eine neue Reihe von Fragen. »Das Christentum« ist, wie bereits angedeutet, ein außerordentlich vieldeutiger Begriff. Seine Vieldeutigkeit ist unmittelbar anschaulich in dem Nebeneinander der großen Konfessionen, die sämtlich ein historisches Recht haben, sich mit ihm zu identifizieren. Sie ist weiterhin anschau- lich in den Versuchen der christlichen Lebenswelt, sich von der antik-mittelalterlichen Fassung zu befreien und aus einer inneren Berührung mit den Lebenstrieben der Gegenwart umzuformen. Diese Versuche machen sich als sogenannter Modernismus, wie sie die häreseologische Sprach- und Denkgewohnheit der katho- lischen und protestantischen Scholastiker bezeichnet, in allen Kon- fessionen geltend, aber sie haben einen festen Halt nur auf dem Boden des Protestantismus, der durch sie vor die Gefahr der

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Spaltung gestellt ist. Diese derart anschaulichen Verschieden- heiten haben nun aber auch ihren inneren Grund im Wesen der Sache. Das »Christentum« ist einerseits eine sehr komplexe historische Bildung und hat andererseits bei seiner Verbindung reinster Innerlichkeit mit starker Aktivität die Kraft sehr starker Wandelungen und Anpassungen. Es ist schon hervorgehoben, wie in ihm die grandiosen und einfachen Kräfte des israelitischen Prophetismus, die spezifische Eigentümlichkeit der Gottes-Reich- Predigt Jesu, die Gnadenreligion des Paulus, die sakramentale Kultreligion der Mysterien, der Christuskult und die Christusmy- stik, die stoisch-platonische Ethik und idealistische Metaphysik enthalten und zu einem lebendig bewegten Ganzen zusammen- gegangen sind. Dazu kommen dann die großen Wandelungen im Zusammenhang mit den allgemeinen Kulturlagen, die breite Ausdehnung zur mittelalterlichen Kultur, die radikale Verpersön- lichung und Individualisierung im Protestantismus, die Amalga- mierungen mit modernem Weltgefühl und praktisch-sozialer Ar- beit in der modernen Welt. Die Bejahung der christlichen Lebenswelt muß also immer zugleich angeben, in welchem Sinne sie gemeint ist. Damit stehen wir wieder vor einer Entscheidung der streitenden Ansprüche, vor dem gleichen Problem im engeren Rahmen, vor dem wir vorhin im weiteren Rahmen gestanden haben. Auch hier hat man versucht, mit rein wissenschaftlichen Mitteln die Entscheidung zu treffen, und auch hier kann dieser Versuch nicht gelingen. Man glaubte hinter der Buntheit der Entwickelungen ein sich immer gleich bleibendes »Wesen des Christentums« konstruieren und auf dieses die Entscheidung richten zu können. Adolf Harnack hat in einem der verbreitetsten Bücher der Gegenwart, das diesen Titel führt, versucht, aus der Jesus- Predigt rein historisch dieses Wesen zu bestimmen. Allein das wurde, wie es gar nicht anders sein konnte, zu einer starken Modernisierung und Kantisierung des Reich-Gottes-Gedankens und tat, wie Loisy treffend zeigte, den weiteren Gehalten des Chri- stentums entschieden unrecht. Die Hegelianer konstruierten das »Wesen des Christentums« als die ihre sämtlichen Erscheinungen in logisch-dialektischer Folge hervorbringende und im Endergeb- nis sich voll explizierende »Idee« des Christentums. Allein das ist der gleiche panlogistisch-dialektische Irrtum, den ich oben als den Fehler ihrer Gesamtkonstruktion der religiösen Entwicke- lung bezeichnete, übertragen auf die Entwickelung der im Chri-

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stentum prinzipiell herausgebildeten »Idee der Religion«. Ueber- dies ist das einheitliche Endergebnis, das darnach erwartet werden müßte, nicht vorhanden; statt seiner herrschen die mannigfaltigsten und gegensatzreichsten Strebungen, und gerade die zukunftskräf- tigsten sind keineswegs eine Vollentfaltung seiner Idee, eine Syn- these all seiner bisher durchlaufenen Stufen, sondern stürmische Anpassungen an eine neue, von der Ursprungszeit des Christen- tums grundverschiedene geistige Gesamtlage. So hilft auch hier die Wissenschaft nichts zur Hauptsache, weder die historische noch die philosophische. Es gibt auch hier nur die antiintellek- tualistische Parole, mit religiösem Feingefühl, mit freier Ver- senkung in die Fülle der historischen Kräfte und mit entschlos- sener Aufnahme der berechtigten Lebenswerte der Gegenwart die Christlichkeit der Gegenwart und Zukunft frei zu gestalten, wie es jede große Zeit getan hat. In der Entscheidung steckt zugleich ein Moment der religiösen Produktion, der neuen gegenwärtigen und lebendigen Offenbarung. Aber das in solcher Entscheidung verborgene objektive Element der inneren Notwendigkeit , des religiösen Gewissens, die Treue und Pietät gegenüber der Ge- schichte, der Wille zur Einstellung in eine innere uns ergreifende Lebensbewegung der Sache selbst: das bewirkt auch hier ein Verpflichtungsgefühl, einen inneren Zwang, der solche Entschei- dung aus dem Bereich der bloßen Willkür und des Zufalls hinaus- hebt. Auch hier ist es deshalb möglich, rückschauend von der spezifisch religiösen Entscheidung her sie zu unterbauen mit einer historischen Anschauung von der Entwickelung des Christentums, von der dann alles wieder gilt, was vorhin über eine solche Ent- wickelungstheorie gesagt worden ist. So kann man jeder Epoche des Christentums gerecht werden, indem man sie mißt an ihrem eigenen Sinne und Willen ohne jede Hineintragung einer vorgeb- lichen Tendenz auf moderne Ergebnisse ; so kann man die eigene Stellung aus der Geschichte nähren und begründen, ohne sich der Geschichte gefangen zu geben. Freilich werden die Aengst- lichen und dogmatisch für oder gegen , das macht meist keinen Unterschied Gebundenen kommen und meinen, damit könne man sich allerdings leicht aus dem Christentum selbst hinaus- entwickeln und es sei dann überhaupt nicht mehr recht gut fest- zustellen, was Christentum ist. Es beginnen die Abwägungen des Noch-Christentums oder Nichtmehr-Christentums, und es wird ein Trumpf der Theologen, jemandem die Mitarbeit zu verbieten, weil

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man sich aus dem Christentum herausgestellt habe, gleich als ob das Christentum ein Verein wäre, der die mit dem Statut nicht mehr übereinstimmende Mitglieder nicht mehr zu dulden brauchte und von solchen Ausgetretenen dann sich die Einmischung in seine Angelegenheiten verbitten dürfte. Nun, es ist wirklich nicht so leicht festzustellen, was Christentum ist und was es nicht ist, so- lange es noch lebendig ist und die Fähigkeit neuer Produktion besitzt. Darüber ob eine religiöse Idee sich als christlich fühlen und bezeichnen darf, wird daher in erster Linie immer diese selbst entscheiden müssen, je nachdem sie sich wirklich aus dem christ- lichen Geiste herausgeboren fühlt oder nicht. Insbesondere kann das Kennzeichen der Christlichkeit in der heutigen Lage nicht darin liegen, ob irgend ein Punkt der christlichen Geschichte als unmittelbarer Glaubensgegenstand behauptet und damit in die Sphäre der zeitlosen Vergöttlichung aus dem geschichtlichen Zu- sammenhang herausgehoben wird. Denn das ist überhaupt der große Wandel der Dinge in dem modernen Geiste, daß für ihn die Geschichte in den Zusammenhang des allgemeinen Geschehens eingereiht ist und daß die unmittelbar religiöse Empfindung in- folgedessen nur auf das Uebergeschichtliche, auf Gott selbst, ge- richtet sein kann. Das ist gar nicht Folge bestimmter wissen- schaftlicher Erkenntnisse, das ist der Gesamtinstinkt des modernen Geistes, der zur Geschichte eine andere Stellung einnimmt als das Mittelalter und die Spätantike. Dann aber tritt für das Kenn- zeichen der Christlichkeit der eigentliche Gottesgedanke selbst, die Lebensempfindung und Weltstellung, das Ethos und der Zu- kunftsglaube in den Vordergrund. Wo der Gegensatz des per- sönlichen Lebens gegen die bloße Natur und Welt, die Auf- gabe der Wiedergeburt und Erhöhung, die Erlösung von Schuld und Leid durch die vertrauende Hingabe an Gott, das Ethos des unendlichen Persönlichkeitswertes und der Humanität, die Hoff- nung auf das Gottesreich der sich in Gott vollendenden Geister, das heißt, wo die ganze Spannung des Personalismus gegen die bloße All- und Weltvergötterung, der Ueberweltlichkeit gegen die Weltseligkeit, behauptet wird : da haben wir christlichen Geist und damit Christentum, Das Historische wird dadurch nicht bedeu- tungslos, es wird zum Mittel der Erziehung und Veranschaulichung, zum Gemeingeist und zur Kontinuität einer großen Lebenseinheit, aber es ist nicht mehr unmittelbar Gegenstand des Glaubens. Welche Stellung und Bedeutung man ihm dann im einzelnen gibt,

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 82 7

das ist nicht mehr Sache der Wissenschaft, sondern der freien reUgiösen Phantasie, von der und von deren Verhältnis zum Wirk- lich-Geschehenen hier weiter nicht die Rede zu sein braucht. Hier interessiert nur die allgemeine Umorientierung in der Stel- lung zum Historischen. Sie ist der wichtigste Charakterzug in der Christlichkeit, die vor unseren Augen sich bildet. Damit treten aber dann die inneren Spannungen und Probleme dieses Gottesglaubens und seines Ethos ganz anders hervor, die starke Spannung gegen das Ethos der Immanenz und des Kampfes ums Dasein zugleich mit der Notwendigkeit, doch auch dieses in das spezifisch religiöse Ethos einzubeziehen. An der Anerkennung und Stellung solcher Aufgaben erkennt man dann aber mit Klarheit die starke christliche Bestimmtheit der Religiosität. Eine solche braucht über ihre Christlichkeit nicht im Zweifel zu sein.

Alles Weitere gehört" dann nicht mehr der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Theologie an. Das mag dann je nach Bedürf- nis, Lage und Individualität sich in einer völlig wissenschaftsfreien Weise aussprechen und dazu die alte christliche Symbolsprache verwenden oder sich eine stark erneuerte und verselbständigte schaffen. Es gehört der Sphäre der praktischen Verkündigung, des Unterrichts, der schriftstellerischen oder der persönlichen Aus- sprache an und mag sich hier seinen eigenen Weg bahnen. Eine Rücksicht mittelbarer Art auf die Wissenschaft wird man freilich von denen erwarten, die Ergebnisse objektiver Forschung zu wür- digen wissen : nämlich daß sie in ihren religiösen Aussagen die Zu- sammenstöße mit dem wissenschaftlichen Bild der Dinge vermeiden und daß sie dieses selbst in religiöse Beleuchtung zu stellen, ihm selbst religiöse Anregung abzugewinnen vermögen. Das Ent- scheidende wird aber hier freilich stets die Macht des inneren Lebens sein, das sich hier ausspricht, und die künstlerische Plastik, in der es sich mitzuteilen versteht.

Auf diesen Linien könnte sich eine wissenschaftliche Theo- logie sammeln und sollte sie sich auch sammeln. Wieweit das die heutige Theologie der theologischen P'akultäten wirklich tut, ist verhältnismäßig gleichgültig. Sie ist ja teilweise historisch-philo- logische Forschung, die mit jenen Hauptfragen gar nichts zu tun hat und ihnen aus dem Wege geht. Hier wird überaus Tüchtiges geleistet und ist nur eine engere Fühlungnahme mit den Philo- logen und Historikern zu wünschen, ein Wunsch, der freilich

828 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

auch in der umgekehrten Richtung gilt. Zum andern Teil ist sie durch die allgemeine Lage der Politik und das Verhältnis der Kronen und der Ministerien zu den parlamentarischen und zu den hinter den Kulissen arbeitenden Parteien bestimmt. Die theologischen Fakultäten sind ein Element im politischen Kräfte- spiel des Staates. Hier darf man also den reinen Ausdruck der geistigen Lage und ihrer Bedürfnisse nur in sehr eingeschränk- ter Weise suchen. Sie müssen sehr vielfachen Ansprüchen ge- nügen, die mit der geistigen und wissenschaftlichen Lage wenig zu tun haben, und können gar nicht einfach an den Forderungen der letzteren gemessen werden. Die Berufung ihrer Mitglieder voll- zieht sich daher auch größtenteils weder nach wissenschaftlichen noch nach religiösen, sondern nach politisch-kirchlichen Gesichts- punkten, und dadurch ist der Durchschnitt ihrer Arbeitsleistung bestimmt. Aber es gibt einen Standpunkt über ihnen, der doch zugleich auch innerhalb ihrer vertreten werden kann und oft genug vertreten wird, den Standpunkt, der oben geschildert wor- den ist und auf dem sich die Freigebung der antiintellektuali- stisch lebendigen Aussprache mit der Anknüpfung an eine wissenschaftliche Theorie der Religion und ihrer Entwickelung verbinden läßt.

Ob das den Ansprüchen der gegenwärtigen überwiegenden Fakultätstheologie genügt, darauf kommt wenig an. Nur das ist die Frage, ob es dem inneren Triebe und Instinkt des Glaubens selbst genügt. Wird aber das gefragt, dann ist allerdings noch ein Bedenken zu erwägen, das von hier aus entspringen kann und das auch oft genug gegen eine solche Auffassung geltend ge- macht worden ist, die ja seit Schleiermachers Reden über die Religion und Herders großem Geschichtsentwurf uns nichts Frem- des ist. Das Ergebnis nämlich der ganzen geschilderten Kon- struktionen geht nicht hinaus über den Satz von der Höchst- geltung der christlichen Lebenswelt innerhalb unseres geschicht- lichen Horizontes. Eine theoretische Garantie für die ewige Dauer des Christentums und für eine schließliche Vereinigung der Gesamtmenschheit in einer auf die Person Jesu sich konzentrie- renden Erfassung des Religiösen: das ist damit nicht gegeben. Es kann damit nicht gegeben werden, da ja auch der Beweis der Höchstgeltung selbst kein theoretisch-logischer ist. Aber nicht bloß das. Es kann natürlich auch die abstrakte Möglich- keit nicht ausgeschlossen werden, daß vielleicht neben dem

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 820

Christentum sich die Religion dauernd auch auf anderen Höhen- lagen hält, was vermutlich übrigens auch bei einer allgemeinen äußeren Christianisierung innerlich der Fall wäre. Auch das kann nicht logisch ausgeschlossen werden, daß unter Umständen einmal die ganze Kontinuität unserer Kultur abreißen könnte und neue Eiszeiten und Rassenbildungen die Menschheit von Grund aus ver- ändern oder in die Barbarei zurückwerfen möchten. Als rein ab- strakte Möglichkeit muß das alles gelten, niemand kann es als undenkbar bezeichnen. Also stünden wir doch eben bei dem Er- gebnis: im unbegrenzbaren Fluß des Werdens ist die christliche Lebenswelt die höchste uns bekannte Gestaltung oder Offenba- rung des religiösen Lebens. Und wenn wir dann weiterhin das Christentum selbst im Fluß und Wandel sehen und in der eigen- tümlichen Christlichkeit jeder großen Epoche eine bloß individuell für diese Gesamtlage gültige Formation zu erkennen haben, so ist auch das von uns zu gestaltende Wesen des Christentums kein letztes Wort und dieses selber in einem Flusse, dem rein theoretisch keine Grenzen zu setzen sind, wie ja schon unsere eigene Entscheidung selbst keine theoretisch begründete war. Ist aber das nun nicht der bedenklichste Subjektivismus, der erklärte Relativismus? Ist das nicht das reine Widerspiel der Richtung auf das Ewige und Zeitlose? Ist es nicht ein für jede einfache Stellungnahme viel zu verwickelter Gedanke, ist es nicht ein unerträgliches Bedingen des Unbedingten?

Solche Einwürfe liegen nahe. Wir wollen dabei zunächst den Subjektivismus ausscheiden, der zugestanden ist und der ein Bewußtsein um innere Notwendigkeit und Gültigkeit nicht aus- schließt, sondern nur den logischen Beweis für beides. Wir wollen auch die Frage nach der Erschwerung der Praxis durch eine solche Theorie zurückstellen, denn es handelt sich ja ge- rade nicht um die Praxis, sondern nur um eine ihr zu unter- bauende Theorie, die nirgends unmittelbar in die Praxis selbst einzugreifen braucht. Gegen eine wissenschaftliche Theorie aber beweist der Vorwurf der Verwickeltheit gar nichts; in ihr ist eine solche vielmehr ganz am Platze, da ja die Wissenschaft durch die Aufwerfung ihrer Fragen die ganze Sachlage notwen- dig verwickelt und auf verwickelte Fragen hier so wenig wie sonst eine einfache, runde Antwort geben kann. Es soll sich ausschUeßlich um den Vorwurf des Relativismus handeln.

Ist das Ganze wirklich Relativismus ? Ja, handelte es sich

S^o Logos und Mythos in Theologie und Rehgionsphilosophie.

nur um den Antiintellektualismus allein, um die Erprobung aller religiösen Kräfte lediglich an dem Maße ihrer Energie und ihrer Verkörperung in suggestiver Phantasie, dann würde freilich bei der Unbegrenzbarkeit der Bildung solcher Kräftesysteme der Relativis- mus die unvermeidliche Eolge sein. Verbündet sich damit noch vollends wie im heutigen Pragmatismus und Biologismus die Be- handlung aller theoretischen Wissenschaft als bloßer praktischer Orientierungstechnik, dann sind wir ihm allerdings rettungslos ver- fallen. Allein der Antiintellektualismus, soweit er hier aufgenom- men ist, ist erstlich und vor allem hineingebaut in eine transzen- dentale Theorie vom Wesen des Geistes. Man mag das Apriori noch so sehr entwickelungsgeschichtlich verflüssigen und noch so sehr seine anthropologische Seite, seine Verbundenheit mit der menschlichen Sinnesorganisation und den menschlichen Mes- sungen von Raum und Zeit, betonen, es bleibt doch immer eine durch innere logische Notwendigkeit sich durchsetzende und auf einen logischen Allzusammenhang hinstrebende Betätigung der Vernunft überhaupt. Der Transzendentalismus ist seinem Wesen nach antirelativistisch. Nun freilich ist die Werttheorie von dieser Theorie der theoretischen Vernunft in Wesen und Begründung verschieden. Aber in Moral, Kunst und Religion wird doch auch jedesmal eine atheoretische Gültigkeit anerkannt, um derenwillen sie mit der der theoretischen Vernunft zur Einheit der Ver- nunft überhaupt zusammengeht. Der Logos ist ein System der Gültigkeiten, das theoretische und atheoretische Gültigkeiten umschließt, eben darum ein schaffendes Leben und keine töd- liche Rationalisierung, aber eben doch auch in allen Stücken auf ein Letztes, Gültiges und Notwendiges gerichtet und kein poetisches Chaos bunter Gestaltungen. Die atheoretische Gültig- keit ist gewiß gleichfalls eine entwickelungsgeschichtlich verflüs- sigte und nirgends in ihren letzten Zielen bereits entliüllte. Aber es ist doch sowohl dem Werden eine Zielrichtung gegeben, als an jedem Punkte des Werdens ein Urteil über die etwa in ihm sich kreuzenden und treffenden Sondergestaltungen möglich. So kann sich ein Hauptstrom der Entwickelung herausbilden, der gegenüber den sich verzettelnden Anhängen und gegenüber den zurückbleibenden Seitenströmen sich als solcher erkennen und empfinden kann. Betrachten wir den aus dem hebräischen Pro- phetismus hervorgegangenen Strom als solchen, so mag hier ja wohl nichts erreicht sein als das Bewußtsein höchster Annäherung

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. g^I

an das gesuchte Ziel. Das Ziel selbst ist doch in dieser An- näherung immer gegenwärtig, und alle unwißbaren Zukunftsmög- lichkeiten können das erreichte Maß nicht entwerten und durch bloße Gespenster einer möglichen Zukunft entwurzeln. Die Gegenwart ist voll erfüllt von der unmittelbaren Nähe Gottes und kann die Frage möglicher anderer Offenbarungen ruhig der Zukunft überlassen. Das ist doch wahrlich kein Relativismus, der vielmehr seinerseits jedem Punkt in seiner Umgebung recht geben müßte und keinen Kampf um Wahrheit und Vertiefung von ihm aus eröffnen könnte. Es ist vielmehr die Behauptung eines gültigen letzten Zieles und seiner immer volleren Gegenwart in jeder Annäherung. Dabei sind dann aber doch die einzelnen Momente nicht zu bloßen Durchgangsstadien und Provisorien her- abgesetzt, die nur den Sinn hätten, das Endziel zu ermöglichen. Das würde zutreffen, wenn es der auf die Menschheitsgeschichte verteilte Prozeß der Herausarbeitung einer logischen Idee wäre. Aber diese atheoretischen Gültigkeiten haben die Eigentümlich- keit, daß sie jedesmal das Ziel in jeder großen Bildung in einer eigentümlichen, wenn auch nur verschieden stark sich annähern- den, aber doch das Ganze in der ihnen möglichen Weise aus- drückenden Kräftigkeit in sich tragen. Sie sind Momente im Werden, aber jeder Moment hat zugleich eine eigene unmittel- bare individuelle Bedeutung, eine ihm eignende Unmittelbarkeit zu Gott für sich. Sie haben eine zeitliche Eigenart und sind doch zugleich Annäherungsgrößen gegenüber dem absoluten Le- ben. Wann und wie dieses sich offenbaren wird und ob allen Ein- zelwesen außer ihrer historisch-individuellen Anteilnahme an ihm zuletzt noch eine solche am vollen Ziel und Sinn beschieden sein wird, darüber wissen wir lediglich nichts. Von solchen Dingen handeln die Eschatologien, die Prädestinationslehre, die Fort- entwickelungs- und Reinkarnationslehre. Aber das ist alles gläu- bige Phantasie, ein Wissen gibt es darüber nicht. Das ist aber auch nicht unentbehrlich. Zur Entwindung aus den Schlingen des Relativismus, der mit der historischen Anschaulichkeit des unbegrenzbaren Flusses, der Würdigung des Individuellen und der Ablehnung jeder rein logisch-dialektischen Konstruktion aller- dings gefährlich naheliegt und die Kehrseite jeder Betonung des Lebens vor dem Denken ist, genügt die Anerkennung einer in alledem sich auswirkenden atheoretischen Gültigkeit, die mit innerer Notwendigkeit jedesmal dem aufmerkenden Gefühl sich

3^2 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

kund tut als spezifisch religiöse Gewißwerdung und Entscheidung.

Das ist nicht Relativismus, sondern Subjektivismus, Verzicht auf die Entscheidung mittelst theoretisch konstruierter Maß- stäbe, ausschließliche Schöpfung der Entscheidung aus dem persönlichen VVahrheitsgefühl. Aber auch mit diesem Subjektivis- mus hat es seine eigene Bewandtnis. Er ist eine Entscheidung zwar durch das Subjekt, aber keineswegs bloß für das Sub- jekt. Er ist ein Ergriffenwerden durch eine Gültigkeit , die zwar nur im persönlichen Gefühl sich durchsetzen kann, die aber eine allgemeine innere Notwendigkeit ist und für jeden gel- ten soll, der sie zu vernehmen und auf seine persönliche Weise zu verwirklichen fähig ist. Dieser Subjektivismus steht auf einem metaphysischen Hintergrunde, der nun wiederum seinerseits nicht mit theoretisch zwingender Logik konstruiert werden kann, sondern, wie er sich nur in persönlichen Stellungnahmen offenbart, so auch nur in solchen ergriffen werden kann. Es ist der Hintergrund einer lebendigen Bewegung der Vernunft überhaupt, die in im- mer neuen Schöpfungen hervorbricht und in deren schafifende Zielrichtung die Seele intuitiv sich versetzen kann, freilich nur mit dem Wagnis, die wahre Zielrichtung erfühlt und ergriffen zu haben ohne jede Möglichkeit einer Rechtfertigung dieses Wagnisses durch spekulative Konstruktionen. Etwas derartiges meint Eucken mit seinem »Geistesleben« und Bergson mit seiner »Intuition«. Es ist hier nicht möglich, diese Begriffe weiter zu verfolgen. Es soll lediglich hervorgehoben sein, daß jener Subjektivismus nur richtig verstanden ist als Ausdruck einer Metaphysik, die freilich selbst nur subjektive Metaphysik ist. In letzter Linie führen diese Ge- danken in die Nähe des Neuplatonismus, des Meister Eckardt, einer das reale Werden und die reale Persönlichkeit einschließen- den Mystik, für die Gott und das Subjekt zwar als real getrennte Größen, aber doch die Subjekte nur als in Gott handelnd, fühlend, denkend erscheinen.

Von einem solchen Standpunkt aus ist die Bejahung der christ- lichen Lebenswelt die Bejahung des großen Hauptergebnisses der religionsgeschichtlichen Entwickelung und ist die Gestaltung dieser Lebenswelt für die Gegenwart eine der großen Fortentwickelungen •des religiösen Bewußtseins. Damit bejahen wir kein Durchgangs- stadium und kein Provisorium, sondern die uns zugewendete und uns allein bekannte Höchstoffenbarung des religiösen Lebens. Was in hunderttausend Jahren sein wird und ob diese Lebenswelt,

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. 3^^

wie sie in sich selbst individuell verschiedene Gebilde hervor- bringt , dauernd vielleicht anders geartete individuelle Offenba- rungen des höchsten personalistischen religiösen Lebens anerkennen muß, das alles mögen wir getrost der Zukunft überlassen. Es genügt zu wissen, daß wir keine Beute des historischen Zufalls und kein Opfer traditionsgebundener Gefühle sind, wenn wir unsere religiöse Zukunft durch die große europäische Religion auf jede absehbare Zeit bestimmt sehen.

Damit ergibt sich dann aber auch schließlich die Stellung zur Praxis. Die Frage eines Verhältnisses zur Praxis bildet frei- lich für die wenigsten heutigen Religionsphilosophen eine Sorge. Sie sorgen um die Klarheit ihres eigenen Gedankens und allenfalls um das Lesepublikum des Buches, dem sie ihre Lehren anver- trauen. Hier herrscht noch die Aera des Liberalismus und des geistigen Manchestertums, wo jeder für seine Gedanken sorgt und im übrigen eine schließliche Uebereinstimmung der Verständigen von selbst sich ergeben läßt. Allein das war richtig und konse- quent nur unter den intellektualistischen Voraussetzungen des indi- vidualistischen Liberalismus. Ihm erlaubte die in allen identische Voraussetzung der Vernunft und ihrer theoretischen Methoden, ein bei allen Denkfähigen übereinstimmendes Resultat, den Aus- gleich in der allgemeinen Zustimmung, zu erwarten. Die Kon- fessionsgrenzen glaubte man überwunden und die Zeit der Ver- nunftreligion gekommen. Davon sind wir nun aber teils wegen des Ausbleibens dieses Resultats, vor allem aber wegen unseres antiintellektualistischen Verständnisses der Welt der Werte und damit der Religion, inzwischen weit abgekommen. Von Ueberein- stimmung und von Erwartung einer Uebereinstimmung ist keine Rede mehr. Wie auf die Aufklärung der romantische Subjektivis- mus folgte und sich für die mangelnde gemeinschaftsbildende Kraft durch souveränes und ironisches Selbstgefühl schädigte, so ist auf den Liberalismus und seine intellektualistischen Ueberein- kömmlichkeiten eine neue Romantik mit den gleichen Eigenschaf- ten gefolgt. Sie wird aus eben diesem Grunde so wenig dauern können wie die alte. Wie Novalis, Friedrich Schlegel, Fichte, Schleiermacher seinerzeit gerade aus dem äußersten Individualis- mus heraus auf die Gemeinschaftsformen, den Staat, die Nation, die Gesellschaft, die Kirche kamen und von der Erneuerung des Mittelalters bis zur sozialistischen Zukunftsgesellschaft alle Mög- lichkeiten solcher durchliefen, so deutet heute wiederum die starke

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II. s.%

334 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

Aufnahme soziologischer Probleme auf eine ähnliche Umkehr des Gedankens. Auch für die Religionstheorie ist es unerläßlich, auf die soziologische Seite ihres Problems zu achten. Sie kann nicht in lauter rein individuellen und persönlichen Konstruktionen oder Stimmungskundgebungen verharren. Sie muß entweder auf die neue Religionsgemeinschaft der Zukunft lossteuern und sie ener- gisch in Polemik und Aufbau vorbereiten oder sie muß den An- schluß an die gegebenen praktischen Organisationen finden. Eine Religionstheorie, wie die hier charakterisierte, kann ihn im Pro- testantismus finden und ist ja zum guten Teil aus ihm selbst herausgewachsen.

Da ist es dann allerdings eine ernste Frage, welcher Art dieser Anschluß sein kann und wie eine solche Theorie auf die geschichtlichen religiösen Gemeinwesen wirken muß. Die Frage ist aber gerade von einer solchen Theorie aus verhältnismäßig leicht und einfach zu beantworten. Das Maß von Antiinteilektua- lismus, von Anerkennung des symbolisch-künstlerischen Sprach- charakters und von spezifisch religiöser Eigengewißheit, wie es in diese Theorie aufgenommen ist, läßt die Praxis im ganzen ge- währen, wie sie will und kann. Sie gibt nur einen allgemeinen theoretischen Hintergrund für die Selbständigkeit von Predigt, Meditation und Unterricht, der nicht selbst gepredigt zu werden braucht, sondern der Predigt sozusagen nur wissenschaftlich den Rücken freihält. Wie die Predigt und darunter ist hier alle praktisch-kultische Betätigung, aller Unterricht und alle persön- liche Aussprache gemeint den christlichen Ideenschatz be- nützt und gestaltet, umbildet und bereichert, vereinfacht oder erweitert, das ist lediglich ihre Sache. Sie muß nur nach einer Verinnerlichung trachten, die den Zusammenstößen mit dem ob- jektiven Welterkennen zum mindesten aus dem Wege geht, und eine persönliche Stärke der Religiosität zugrunde legen, für die alle Formen und Symbole als bloßer Ausdruck gelten können. Hier hört ja überall die eigentliche Wissenschaft auf und gibt es nur eine indirekte Verbindung mit ihr. Hier kann der massivste Offenbarungsglaube und die innerlichste Schau gepredigt werden, wenn man nur mit den Theorien von beidem verschont wird und in alledem wahrhaftes Leben sich ausspricht. Hier hat die Phan- tasie eines armen Kesselflickers wie Bunyan so gut ihr Recht wie die gedankliche Sublimität eines Schleiermacher. Der Anti- intellektualismus geht auf Kraft und Leben und nimmt die Form

Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie. g^c

als Form. So kann allen Bedürfnissen, Geistesarten und sozialen Schichten genügt werden und ist doch dem Ganzen ein Trieb auf Reinigung von groben Widersprüchen gegen die moderne Welt- kenntnis eingepflanzt, eine Neigung zur produktiv-religiösen Deu- tung und Würdigung der neuen Lebenstriebe und Weltbilder mitgegeben. Die grundlegende Theorie stört nirgends, weil sie nirgends unmittelbar eingreift. Sie steigert Lebendigkeit und An- schaulichkeit, aber nur durch Freilegung der schafTenden Quellen, nicht durch direkte Belehrung. Das ist alles, was wir für die Lage brauchen und was ein wirklich religiöses Bedürfnis ver- langen kann.

Nur in einem Punkte äußert sich eine direkte Wirkung der Theorie auf die Organisationen. Sie verlangt von ihnen die Weit- herzigkeit der Freigebung der religiösen Subjektivität innerhalb des gemeinsamen Willens zur Christlichkeit, zur lebendigen Verwertung der Bibel und der christli-chen Geschichte. Das bedeutet Beweg- lichkeit der Verpflichtungen und vor allem der liturgischen For- meln. Das Nähere bedarf hier keiner Erörterung. Ob die pro- testantischen Kirchen praktisch hierauf in einer Weise eingehen werden, die einen wirklichen Fortschritt bedeutet, ist eine hier nicht zu erörternde Frage. Jedenfalls ist die Lösung des Pro- blems, die bei uns nun hundert Jahre lang in Gestalt eines er- mäßigten und noch immer archaistisch uniformierten Staatskirchen- tums geherrscht hat, sicherlich nicht die endgültige. Bei jeder Neuaufnahme des Problems wird es sich dann darum handeln, entweder die großen Organisationen mit einer derartigen weit- herzigen Lebendigkeit zu erfüllen oder sie in lauter Sekten und Gruppen zu zerschlagen. Im letzteren Falle wäre dann freilich eine trübselige und gefährliche Lage geschaffen. Gerade einer solchen aber arbeitet die hier geschilderte Theorie nach Ver- mögen entgegen. Wie weit die Zerspaltung der protestantischen Kirchen sich aufhalten und überwinden läßt, das hängt teils von der Einsicht der Kirchenleiter und politischen Instanzen, teils von der Selbstbegrenzung der dogmatischen Leidenschaften, teils von dem Weitblick und dem Ernst der gebildeten Bevölkerung ab. Eine Zertrümmerung würde die Gefahren verstärken, die vom Katholizismus unserer Kultur drohen, und würde den Einfluß von Kultur und Wissenschaft auf den Protestantismus schwer gefährden. Dabei würde niemand gewinnen als der kulturlose Fanatismus,

Auf der andern Seite bleibt aber hier doch auch die Theorie

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3^6 Logos und Mythos in Theologie und Religionsphilosophie.

selbst wieder unverworren mit den praktischen Fragen. Sie gibt dem Mythos den Logos zum Hintergrund und wird als Theorie sich nicht selbst die Ausbildung und Aussprache des Mythos zur Aufgabe machen. Damit aber bleibt der Unterschied aner- kannt zwischen der praktischen, durch Umstände und Zeitströ- mungen bedingten Aussprache und der reinen wissenschaftlichen Theorie, die dann eben damit auch den Gefahren und Umschlägen des praktischen Lebens weniger ausgesetzt ist. Der Unterschied zwischen einer mehr esoterischen und einer mehr exoterischen Religionslehre ist unaufheblich. Hat die letztere den Vorzug der lebendigeren Wirksamkeit, so hat die erstere den Vorzug des festen Anschlusses an das wissenschaftliche Denken. Darin offen- bart sich nichts anderes als das, was schließlich dieser ganzen Darlegung zugrunde liegt, die Anerkennung der Polarität von Leben und Denken, von Mythos und Logos.

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Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums im Verhältnis zur modernen Philosophie.

(Aus: Logos 19 lo^^).

I.

Alle Philosophie hat eine Doppelaufgabe: einmal die eigent- lich fachwissenschaftliche der Verständigung des Bewußtseins und des Denkens über sich selbst, d. h. Psychologie, Erkenntnistheo- rie, Logik und Methodenlehre; zum anderen die Vereinheitlichung^ und Gestaltung des gesamten Lebensinhaltes einer Epoche zur Weltanschauung, d. h. Metaphysik und Kulturphilosophie. Wie es nun auch um die Möglichkeit und Notwendigkeit der Verbin- dung beider Aufgaben miteinander stehen mag, zu allgemeiner welthistorischer Wirkung kommt die Philosophie nur durch die letztere Leistung, und zu solcher Leistung erhebt sie sich nur, wenn die naturwüchsigen Maßstäbe und Grundanschauungen des Lebens erschüttert sind. So hat die Krisis der griechischen Ge- sellschaft und Volksreligion im fünften Jahrhundert die griechische Spekulation erzeugt, die an Stelle der naturwüchsigen Ethik, Religion und Volksgemeinschaft schließlich die philosophische Humanität erwachsen ließ. So hat nach den anderthalb Jahr- tausenden der Kirchenphilosophie, die an gegebene Autoritäten in Religion, Ethik und Gesellschaft sich anschloß, die Philosophie der Neuzeit ihre revolutionären Wirkungen in alle diese Gebiete hineingetragen. Die Philosophie in diesem Sinne hat daher auch eine religionsgeschichtliche Bedeutung. In der Spätantike hat sie dem Christentum die Grundlagen bereitet und es durch Aus- rüstung mit ihren moral-, religions- und gesellschaftsphilosophischen Ergebnissen erst zu der großen geistigen Macht des kommenden

^®) Der Aufsatz ist eine Erweiterung des Vortrags auf dem >Weltkongreß für freies Christentum« vgl. »Protokoll des 5. Weltkongresses« 1910. Er ist auch selbst- ständig englisch erschienen.

8^3 Di^ Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

Jahrtausends werden lassen. In der Neuzeit hat sie eben dieses selbe Christentum wieder in seinem autoritativen Bestände auf- gelöst, seine Ideen teils in neue Gärung gebracht, teils verwan- delt, teils kritisch vernichtet und durch neue Ideen ersetzt, dabei aber meist auch sich selbst unter dem starken Einfluß irgend- welcher Momente der christlichen Lebenswelt befunden. Das letztere gilt von fast allen großen Namen der neueren Philoso- phie, von Descartes, Spinoza, Malebranche, Leibniz so gut wie von Locke, Berkley, Kant, Fichte, Hegel, Schelling; völlig abseits stehen nur Hume und Comte, sowie die radikalen Pessimisten im Sinne Schopenhauers, von denen ja auch Nietzsche ausgegangen ist.

Die entscheidende Bedeutung kommt nun aber dabei nicht sowohl den einzelnen Systemen als solchen zu, sondern als Ver- arbeitungen und Klärungen großer allgemeiner Denkmotive, die von verschiedenen Einzelwissenschaften und Einzeltatsachen her entstehen und von den philosophischen Systemen sowohl zu ihrer bewußten Klarheit über sich selbst als durch Zusammenarbeitung mit dem übrigen Lebensinhalt zum Bewußtsein ihrer Tragweite und überall hinreichenden Verzweigung gebracht werden. Nicht die einzelnen Systeme verändern oder ersetzen die Religion, aber von ihnen geht eine lebendig anschauliche Wirkung großer neuer Tatsachenerkenntnisse und Gedankenzusammenhänge aus. Die einzelnen im engeren Sinne religiösen Denker orientieren sich durch näheren oder ferneren Anschluß an die in den Systemen vorliegenden Synthesen der Denkmotive und des Realwissens der Zeit. Ja, manche der großen Systeme sind selbst schon wesent- lich vom religiösen Interesse bestimmte Synthesen und gehören fast mehr in die religiöse als in die philosophische Bewegung.

So hat die neuere Philosophie ihre große religionsgeschicht- liche Bedeutung neben derjenigen, die ihr als reiner und abstrakter Philosophie, als eigentlicher Fachwissenschaft, zukommt. Die Frageist: worin besteht diese Bedeutung.? Sie besteht natürlich wesentlich in der Wirkung auf das Christentum, das ja die alte und einzige Religion unserer westlichen Kulturwelt ist und auf das daher fast allein unsere Frage sich bezieht.

Dieses stand dem Anprall der neuen geistigen , die bis- herigen tatsächlichen Veränderungen zu Prinzipien erhebenden Bewegung selbst bereits in einer konfessionellen Zerteilung gegen- über, die ihrerseits aus rein innerreligiösen Entwicklungen hervor- gegangen war, aber doch der neuen Welt in ihren verschiedenen

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 8^0

Gruppen sehr verschiedene Möglichkeiten entgegenbrachte. Die erste Wirkung war bei dem Ueberdruß an dem religiösen Druck des bisherigen konfessionellen Zeitalters und bei der noch über- wiegend christlichen Orientierung der philosophischen Weltan- schauungen ein freudiger und hoffnungsvoller Kompromiß in der Philosophie und Theologie des Aufklärungszeitalters. Der Kom- promiß konnte nicht dauern ; die anfänglich gebundenen Elemente gingen im Verlauf eines Jahrhunderts wieder weit auseinander. Dann aber war die Wirkung die Zurückdrängung der Kirchen auf ihre alten Positionen und die Herausbildung eines scharfen Gegensatzes zwischen ihrer geistigen Welt und der in der Phi- losophie begrifflich ausgedrückten modernen Welt. Der Katho- lizismus griff auf die alte Kirchenphilosophie zurück und schuf sich mit ihrer Hilfe eine eigene geistige Atmosphäre für sich. Der reaktionäre Protestantismus bildete sich in der Lehre von einer spezifisch christlichen, auf der Erfahrung der Wiedergeburt be- ruhenden Erkenntnisweise ein Mittel aus. die aus der Bibel ge- schöpften wesentlichen Offenbarungen gegenüber der modernen, nach profanen Maßstäben verfahrenden Wissenschaft zu behaup- ten, die letztere in ihrer Sphäre gewähren zu lassen und nur alle in die religiöse Sphäre hineinreichenden Folgerungen abzubrechen. Ein großer Teil ganz überwiegend protestantischer Religiosität aber ging auf die neue Ideenwelt positiv ein und gestaltete im Zusammenhang mit ihr die christlichen Lebensmächte theoretisch und praktisch um. Es ist das, was man erst aufgeklärtes, dann hberales, dann modernes Christentum genannt hat und das man, um den Nebensinn all dieser Worte zu vermeiden, vielleicht am besten im Unterschied von dem kirchlich-autoritativen ein »freies Christentum« nennt. In einer verwandten Richtung bewegt sich auch der katholische sogenannte Modernismus, der zwar den kirchlich-autoritativen Apparat beibehält, aber ihn nur als schüt- zende Hülle eines von ihm innerlich unabhängigen religiösen Ge- meingeistes ansieht; dieser Gemeingeist selbst soll in lebendiger Aneignung alles modernen Denkens eine neue Gegenwarts- und Zukunftsentwickelung eröffnen.

Von den kirchlich-autoritativen Rückbildungen soll im folgen- den so wenig die Rede sein als von den radikalen neu-religiösen oder atheistischen Gegenströmungen gegen das Christentum. Es soll sich um diejenige Zukunftsmöglichkeit des Christentums han- deln, die als »freies Christentum« bezeichnet wird. Sein Wesen

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wird man in Kürze mit folgenden zwei Merkmalen bezeichnen können: es ersetzt erstlich die kirchlich-autoritative Bindung durch eine aus der Kraft des überlieferten Gemeingeistes sich frei und individuell bildende Innerlichkeit; es verwandelt zweitens die alte christliche Grundidee einer wunderbaren Heilung der durch die Sünde tödlich infizierten Menschheit in den Gedanken einer er- lösenden Erhebung und Befreiung der Persönlichkeit durch die Gewinnung eines höheren Personlebens aus Gott. Indem dieses freie Christentum die allgemeinen sachlichen und methodischen Voraussetzungen des modernen Denkens teilt, ist es allerdings den Einwirkungen und Zusammenstößen mit ihm sehr viel mehr ausgesetzt als das gerade die methodischen Grundvoraussetzungen aufhebende und durch christlich-autoritative Erkenntnismethoden ersetzende kirchliche Christentum. Auf seinem Gebiete spielt sich daher recht eigentlich der Kampf zwischen alter und neuer Welt innerlich ab. Wenn nach seiner Bedeutung für die Zukunftsmög- lichkeiten des Christentums gefragt wird, dann ist daher im eigent- lichsten Sinne des Wortes die Grundfrage die, ob ein solches auf neue Voraussetzungen und Grundlagen sich stellendes Christentum überhaupt etwas in sich selbst Mögliches sei oder nicht. Nicht das ist die Hauptfrage, die für die Praxis allerdings zunächst im Vordergrunde steht, ob ein solches Christentum in den Kirchen sich einwurzeln und Platz gewinnen könne. Das sind Tages- streitigkeiten und zum großen Teil politisch bedingte Kämpfe. Hier geht es um die Macht und um die Erlangung der Majori- täten, nicht um die Idee. Der schwerste und für die Zukunft entscheidende Ideenkampf vollzieht sich in der eigenen Seele des freien Christentums, in seiner Theologie und Religionsphilosophie. Es steht in der Mitte zwischen alter und neuer Welt, behauptet die religiösen Kräfte der alten und verbindet sie mit den intel- lektuellen und ethisch-sozialen der neuen Welt. An seiner Mög- lichkeit hängt die Versöhnung beider Welten und die Kontinuität des Geistes unserer Kultur. Würde es zertrümmert, so wäre nur eine totale Scheidung möglich und entweder die atheistische Skep- sis oder irgend eine unbekannte neue Zukunftsreligion das geistige Schicksal der Zukunft. Die eigentlichste, innerlichste und schwie- rigste F"rage unserer geistigen Lage ist daher, ob das freie »Christen- tum« an sich selbst etwas Mögliches und Lebensfähiges oder ob es nur der letzte Nachhall einer sich auflösenden Christlichkeit sei. In diesem vollen Ernst muß die Fraee sfestellt werden.

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 84.I

Diese Frage wird sich vermutlich immer stärker als das Er- gebnis unserer geistigen Entwickelung herausstellen, mit ihr dann freilich auch die andere Frage, was denn im Falle ihrer Vernei- nung an die Stelle des Christentums treten und seine Funktionen für die Gesamtheit unseres Lebens ersetzen könnte. Steht man aber erst einmal vor dem vollen Ernst dieser zweiten Frage, so gewinnen die christlichen Lebensmächte gegenüber der Ohnmacht und Leerheit alles dessen, was als völlig selbständige religiöse Leistung der modernen Welt sich darbietet, eine erneute Bedeu- tung und es wird für die religiösen Menschen doppelt bedeutsam, sich über die innere Möglichkeit eines freien Christentums Rechen- schaft zu geben. Stehen wir vor einer Umwandlung des Christen- tums in neue uns noch unbekannte religiöse Bildungen der Zu- kunft, die unserer europäischen Kultur eine neue religiöse Seele einhauchen werden ? Oder dürfen wir eine religionslose Zukunft in Aussicht nehmen, die. nach der Auflösung einer so sublimen Macht, wie das Christentum es ist, sich überhaupt von allen reli- giösen Illusionen und aller Metaphysik abwendet, nachdem das Höchste und Größte mißlungen ist.? Oder bedeutet die Auflösung des religiösen Untergrundes vielleicht die beginnende Auflösung der europäischen Kultur überhaupt, die ein neues religiöses Le- benselement nicht wird bilden können und doch auch ein solches nicht entbehren kann und damit dann dem Gesetz der Selbst- erschöpfung aller Kulturen unterliegt.? Die beiden ersten Möglich- keiten sind sehr wenig wahrscheinlich. Die dritte ist natürlich nicht zu leugnen, aber sie überhebt uns der Aufgabe nicht, die religiösen Kräfte der Gegenwart zu sammeln und gerade durch sie jenen Dämmerungsstimmungen entgegenzutreten mit der Ge- wißheit, daß wir in ihnen die Kraft besitzen, die Zeit an die Ewig- keit zu knüpfen und uns in eine Wahrheit zu erheben, die, was auch kommende Jahrtausende menschlicher Geschichte mit ihren Auf- und Niedergängen bringen mögen, uns doch in die Richtung auf dasjenige versetzt, was immer und überall der letzten Wahr- heit und dem letzten Sinn des Lebens uns entgegenträgt. Eine solche Sammlung der religiösen Kräfte aber wird schwerlich et- was anderes sein können als ein freies Christentum, das neben den älteren Formationen der christlichen Lebenswelt sein eigenes Recht und seine eigene Notwendigkeit in sich trägt, sobald es seiner selber wirklich gewiß ist.

Diese Selbstgewißheit aber hängt an der Gewinnung einer

gj^2 Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

klaren Einsicht in seine innere, gedankliche Möglichkeit inmitten der doch von ihm zugleich geteilten modernen geistigen Welt. Wie es damit steht, das kann am besten die Analyse der wich- tigsten und allgemeinsten Gegensätzlichkeiten zeigen, die hier bestehen oder zu bestehen scheinen.

Die Konfliktsfälle, um deren Untersuchung es sich demgemäß handelt, sind folgende vier: erstlich der Zusammenstoß des israe- litisch-christlichen Theismus und Personalismus mit dem modernen Monismus und Antipersonalismus ; zweitens die Erschwerung der Festknüpfung der christlichen Lebenswelt an die Person Jesu, deren Verehrung als erhöhender und erlösender Gottesoffenbarung doch das alleinige Band einer spezifisch-christlichen Gemeinschaft ist; drittens die Erschwerung der christlichen Wiedergeburts- und Liebesmoral von der modernen Diesseitigkeit her und im Verhält- nis zu den unentbehrlichen, den Kampf ums Dasein regelnden Tugenden der Tapferkeit und Gerechtigkeit; viertens die Ver- flüchtigung jedes gemeinsamen Kultus und jeder Organisation des religiösen Lebens durch den sich auf sich selbst versteifenden unendlich zersplitterten religiösen Individualismus der Gegenwart.

IL

Das erste liegt vor aller Augen. Der sogenannte Monismus mit freilich sehr verschiedenartigen Motiven und sehr verschieden- artigen Folgerungen ist für weite Kreise die Tagesforderung und steckt irgendwie auch in den feinsten Verästelungen des mo- dernen Gedankens. Seine Motive sind einerseits der Rationalismus überhaupt, der wie einst die Eleaten alles begreifliche Wirkliche auf den Satz der Identität zurückführt und darum die Einheit für eine Vernunftforderung erklärt unter Bestreitung jeder Existenz- möglichkeit einer irrationalen Vielheit und Bewegung. Andererseits ist es der Gedanke des Gesetzes, der, von den Naturwissenschaften stark entwickelt, wenigstens die Einheitlichkeit eines alles Viele verknüpfenden Gesetzes für die metaphysische Weltformel hält. Beides läßt sich sowohl idealistisch als materiahstisch deuten, je nach der grundlegenden Lebensstellung zum Ganzen der Dinge. Weiterhin wirkt zugunsten des Monismus eine naturpantheistische Fassung der Kunst, die in dem unbewußten Zusammenfallen der Natur und des bildenden Geistes das Wesen des Schönen und im so verstandenen Schönen das Geheimnis der Weltformel sieht. Schließlich gibt es hier auch ein eigentlich religiöses Motiv, die

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 84^

stimmungsvolle Mystik der Identität, die den religiösen Vorgang als Bewußtwerden der Identität des Einzelwesens mit dem in dem Einzelwesen sich auswirkenden Universum ansieht und sich gerne ihre begrifflichen Stützen in monistischen Einheitsspekulationen sucht. Gleich bunt, wie die Motive, sind die Wirkungen von alle- dem: ein innerweltlicher Utilitarismus, der die Einheit des Gat- tungsbewußtseins realisiert; eine quietistische Mystik; ein ästheti- sierender Naturalismus; ein alles in alles verwandelnder und jedes Einzelding seiner unmittelbaren Beziehung auf das Absolute be- raubender Relativismus ; ein das Streben der Einzelwesen auf- hebender und durch Kultur schließlich das Individuum von sich selbst erlösender Pessimismus.

Diesen verschiedenen Strömungen steht nun der prophetisch- christliche Personalismus gegenüber als der Glaube an erreichbare, ewige und absolute Werte der Persönlichkeit, an den Bestand eines absoluten Maßstabes des Wahren und Guten gegenüber allem Tasten, Suchen und Irren der Kreatur, an die Verankerung der idealen Persönlichkeitswerte in einem ihnen verwandten We- sen der Gottheit, an die Möglichkeit der Vollendung der Persön- lichkeit in der Gemeinschaft mit dem göttlichen Personleben. Es ist der prinzipielle Dualismus, der die Welt der absoluten Wahrheiten und Werte scheidet von der der suchenden und kämpfenden Kreatur und diese als in Arbeit und Kampf zu Gott emporgeführt betrachtet. Es ist der prinzipielle Antirationalismus, dem das Dasein der Dinge ein unbegreifliches Wunder ist, erklär- lich allein aus dem setzenden Willen Gottes, und dem jede ein- zelne Wirklichkeit trotz aller Verknüpfung im Ganzen zugleich eine unbegreifliche neue Schöpfung und Sonderwirklichkeit ist. Eben deshalb ist es zugleich ein zielgläubiger Optimismus, der die ab- soluten Werte als letzten Sinn der Wirklichkeit und ihre Reali- sation durch die in Gottes Schöpfertätigkeit hineingezogene Kreatur als das letzte Ende einer auch die Leibes- und Naturexistenz überdauernden und von ihr sich lösenden Geistesarbeit ansieht. Dabei kann ein solcher Personalismus sich wohl die Anschauung von der Ewigkeit der Schöpfung, von der Unermeßlichkeit der Welt, von der Vielheit der Geisterreiche, von der Verknüpfung aller besonderen Schöpfung mit dem Gesamtzusammenhang, von der Immanenz des göttlichen Schöpferwillens in der ihm entströ- menden Welt aneignen. Aber es ist dann doch immer der Irratio- nalismus der Schöpfung im Großen wie im Kleinen, der Dualismus

844 ^^^ Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

Gottes und der Welt, des Absoluten und des Relativen, der ewigen Lebensziele und der erst durch Freiheit zu ihnen sich er- hebenden Natur. Auch als immanenter Theismus oder Panen- theismus bleibt es der radikale Irrationalismus, Dualismus und Personalismus. Es bleibt das umsomehr, als Leiden und Sünde hierbei nicht bloß unter dem Gesichtspunkt eines kausalverständ- lichen Hervorgehens aus dem Gesamtzusammenhang, sondern als der mit der Welt selbst gewollte Gegensatz gegen die zu er- kämpfenden höchsten Werte betrachtet werden müssen. Das Leiden und die Sünde gehören zur Welt als mit ihr gesetzt und mit ihr gewollt, aber als in jenem Dualismus zu überwindende. Gerade in ihrer vollen Anerkenntnis und in der Gewißheit der Ueberwindung beider durch die erlösende Emporhebung in die Gemeinschaft des göttlichen Geistes ist der stärkste Ausdruck des grundlegenden Dualismus enthalten.

Gegen all das aber enthält das moderne Denken keinen ein- zigen durchschlagenden Gegengrund. Die monistische Folgerung aus dem Rationalismus würde nur dann zurecht bestehen, wenn die Deutung der Welt unter rationalistischen Kategorien die ein- zig erlaubte wäre, oder wenn der Begriff eines einheitlichen all- gemeinen Weltgesetzes ein wirklich klarer und durchführbarer, alle Wirklichkeit erschöpfender wäre. In Wahrheit sind innerhalb des modernen Denkens die irrationalistischen Motive ebenso stark vertreten wie die rationalistischen, und ist der Begrifif des Ge- setzes in seiner Neigung zu mythologischer Hypostasierung über- all erkannt. Daß etwas als wirklich erst unter der Bedingung seiner Rationalisierbarkeit anerkannt werden darf, ist nichts als ein ungeheures Vorurteil, gegen das das Leben selber heute wie immer sich erfolgreich wehrt, und daß die Rationalisierung in der Zurückführung auf den Satz der Identität bestehen müsse, ist eine grobe und einseitige Logik. So bleibt von allem verein- heitlichenden und rationalisierenden Denken nur der Gedanke eines unermeßlichen korrelativen und kontinuierlichen Zusammen- hangs, der aber gleichzeitig in seiner Gesamtexistenz selbst wie in seinen individuellen und jeweils neuen Einzelheiten etwas Ir- rationales ist. Damit aber bleibt auch die Möglichkeit der reli- giösen theistischen und personalistischen Stellung zur Wirklich- keit. Ja diese ist umgekehrt geradezu die unentbehrliche Vor- aussetzung jedes Glaubens an den Bestand absoluter Werte und Maßstäbe und an die Erreichbarkeit absoluter Werte der Person-

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lichkeit. Ihnen ist die anthropomorphe Form, als existierte die- ser Weltgrund wie ein abgegrenztes Subjekt neben der Welt, und ist die anthropomorphe Begrenzung der Ziele, als handelte es sich um die begrenzten Zwecke des rein menschlichen Wohls, abzustreifen. Aber jeder Gedanke einer absoluten Wahrheit und eines absoluten Guten, ja auch der des Schönen und schließlich der des Seins und der Realität überhaupt, fordert einen Wirk- lichkeitsgrund, für den und in dem das alles ist, unterschieden von den Irrungen und Täuschungen der Kreatur. Der prophetisch- christliche Gedanke hängt so wesentlich mit den innersten Lebensüberzeugungen zusammen. Ein bloßer Pessimismus und Relativismus ist nicht wissenschaftlich, sondern durch gewisse Lebensstimmungen praktisch verursacht, hebt sich aber bei vollem Durchdenken jedesmal selber auf, da er selber doch nur durch Mes- sung an den von ihm geleugneten Maßstäben des Absoluten zu- stande kommt. Er kann nur den Glauben an die Objektivität dieser Maßstäbe nicht fassen und bricht daher lieber die Energie des Lebens oder engt das Leben auf Trivialitäten ein, über denen jene hohen Maßstäbe vergessen werden können. Dagegen ver- leiht die Ueberwindung des Leidens, der Sünde und der Rela- tivität unseres Daseins durch den Gedanken einer uns suchen- den, durch den Kampf und das Werden hindurch erziehenden, die Gewissensschmerzen heilenden und die innere Wesensbestim- mung heraushebenden göttlichen Liebe eine unendlich festere Lebensstellung, ohne mit ihren eigenen Voraussetzungen derart in tödlichen Konflikt zu kommen, wie der radikale Pessimismus und Relativismus.

Unter diesen Umständen ist keine Rede davon, daß der pro- phetisch-christliche Gottesgedanke durch das moderne Denken aufgelöst und durch irgendwelche logisch zwingende Systeme ersetzt sei. Er bleibt heute wie immer der Mittelpunkt und Halt für jede Behauptung absoluter persönlicher Lebenswerte. Er ist heute noch wie im Altertum, wo Piatonismus und Stoizismus durch ihre Verschmelzung mit ihm erst ihre volle welthistorische Macht erhielten, der Angliederungspunkt für alle Ansätze und Strebungen zu einem geistigen, über den Fluß der Dinge hinaus- liegenden Lebensgehalt. Wer einen solchen will und ihn zu wollen sich verpflichtet fühlt, für den gibt es nur eine Religion des Personalismus. Die einzige solche aber ist das von den Pro- pheten und von Jesus ausgehende religiöse Leben.

3^6 Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

Die wirklichen Schwierigkeiten Hegen nicht auf dem Gebiete des Denkens, sondern auf dem der praktischen Erfahrungen. Die Naturgebundenheit, das Leiden und die tierische und halb- tierische Stumpfheit von Milliarden menschlicher Wesen , die Torheit, Bosheit und Kurzsichtigkeit der menschlichen Geschöpfe, das sind die eigentlichen uralten Anstöße. Sie überwindet keine Theorie und keine Wissenschaft. Im Gegenteil, soll es über- haupt eine Ueberwindung geben , so ist es ausschließlich der Mut des Glaubens und der praktischen Tat. Mag Prädestination oder Reinkarnation die Geheimnisse lösen , die hinter alledem liegen, wir wissen es nicht. Aber wer überhaupt die höhere Welt des persönlichen Lebens empfindet, ist ihr verpflichtet und kann durch keine Wissenschaft von dieser Pflicht entbunden werden.

III.

Schwieriger liegt die Sache bei dem zweiten Punkt. Hier hat einmal die historische Kritik das kirchliche Glaubensbild, welches Evangelium und Christusdogma zeichnen, vielfach ver- ändert, vermenschlicht und mit zahlreichen Schwierigkeiten der Kritik belastet. Davon aber ist dann überhaupt die allgemeinere Schwierigkeit ausgegangen, in geschichtlichen Tatsachen ewige Wahrheiten zu verankern und sie unmittelbar religiös zu deuten. Ueberdies leidet die ganze Idee des Welterlösers unter dem Ein- druck der Beseitigung des Geozentrismus und Anthropozentrismus. Wo man das Dasein der Menschheit auf der Erde um Jahrhundert- tausende rückwärts und vorwärts verlängert denkt, wo man den Wechsel und Niedergang der großen Geistes- und Kultursysteme vor Augen hat, da ist es unmöglich, eine einzelne Persönlichkeit als Zentrum der ganzen Menschheitsgeschichte überhaupt zu denken. All diese Eindrücke haben die absolute Zentralstellung und die Vergöttlichung Jesu unmöglich gemacht; auf einen ver- menschlichten Jesus aber die kirchlichen Christusprädikate des universalen Welterlösers zu übertragen, wie gerade die liberale Theologie vielfach will oder wollte, ist ganz unmöglich und uner- träglich widerspruchsvoll.

Dem steht nun aber andererseits die Tatsache gegenüber, daß es einen andern Zusammenhalt der christlichen Geistes- gemeinschaft nicht gibt als im gemeinsamen Bekenntnis zu Jesus, daß eine Lebendighaltung des eigentümlich-christlichen Gottes- gedankens nicht möglich ist ohne dessen lebenschafl^ende Ver-

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 847

körperung in Jesus zu sehen, daß alle größten und charakte- ristischesten Gedanken des Christentums von einer uns ergreifen- den und überkommenden Gnade, von einer uns sich darbieten- den Gewißheit und einer überlegenen, uns erhöhenden und überwindenden Kraft an der religiösen Schätzung und Deutung Jesu als Gottesofifenbarung hängen. Den christlichen Gottesglauben in jedem Sinne von der Person Jesu lösen würde heißen, diesen Glauben selbst von allen Wurzeln in der Vergangenheit, von allen Darstellungs- und Veranschaulichungsmitteln, von aller dem Durchschnittsindividuum überlegenen Größe abschneiden und da- mit ihn selber schließlich auflösen.

Allein eine solche Ablösung ist doch auch gar nicht die not- wendige Folge des modernen kosmologischen und geschichtlichen Denkens. Es bleibt doch auch für dieses die Grundtatsache, daß wir bei aller Größe und Weite der Welt doch nur unsere Erde und auf ihr das Menschentum als Gipfel ihrer biologischen Ent- wickelung kennen. Wir müssen uns an die geistigen und ethi- schen Kräfte halten, die in dieser menschlichen Entwickelung für uns und in unserem Gesichtskreise hervortreten. Es bleibt ferner für diese geistige Entwickelung der Menschheit die Grundvor- aussetzung, daß gerade die tiefste und inhaltreichste Religiosität nicht das spontane, sich überall gleich wiederholende Erlebnis jedes beliebigen Subjektes ist. Das könnte höchstens von einer unbestimmten, inhalt- und gestaltlosen Mystik gelten, die aber eben darum unfruchtbar ist. Irgend welche Symbole und Verkörpe- rungen, persönliche Darstellungen und Verwirklichungen überlege- ner religiöser Kraft braucht jede über den primitiven Kult hinaus- gehende Religiosität, und wäre es Plato, die Stoa, Kant oder Fichte oder irgend ein überlegener Mensch, von dem im Ver- kehr die religiöse Kraft ausströmt. Im Grunde steht es doch nicht anders mit der Bedeutung Jesu für das Christentum. Er ist die von den Jahrtausenden immer neue ausgemalte Verkörpe- rung überlegener religiöser Kraft, deren Herzschlag durch die ganze Christenheit hindurchgeht, wie das Vibrieren der Schififs- maschine durch jeden Winkel des ganzen Schiffes fühlbar ist. Um dessen willen wird er stets, wo der prophetisch-christliche Gottes- glaube lebendig ist, auch selber lebendig bleiben; und wird sich der Glaube nur im Aufblick zu einer solchen Persönlichkeit zur vollen Kraft und Gewißheit über die durchschnittliche Schwach- heit und Armut emporheben. Ist das aber so, dann wird mit

3^8 ^^^ Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

jeder Macht des christlichen Gottesglaubens auch das Bild Jesu untrennbar lebendit^: bleiben. Eine Christusmystik, in der jeder Gläubige sich als Ausstrahlung von diesem Zentralpunkt empfindet und die Gläubigen sich immer neu verbinden in der religiösen Deutung und Verehrung Jesu als der uns über uns selbst empor- hebenden und als der durch die Jahrhunderte welthistorischer Wirkung verstärkten Gottesofifenbarung, das wird immer der Kernpunkt aller echten und wahren Christlichkeit bleiben, so lange es eine solche gibt. Ohne das würde auch der personali- stische Gottesglaube selbst verwehen und absterben.

Eine solche Christusmystik oder, einfacher gesprochen, eine solche Jesus-Jüngerschaft ist nun aber doch durchaus nichts un- mögliches. Was soll den Frommen hindern, Jesus, umgeben und gedeutet von dem Chor der Propheten des Alten Testaments und der großen religiösen Persönlichkeiten der Folgezeit, vor seine gläubige Phantasie zu stellen und sich zu ihm als der Quelle unserer religiösen Kräfte und Gewißheiten zu bekennen.? Die kritische Betrachtung der biblischen Quellen kann doch die Hauptzüge der Predigt und Persönlichkeit nicht unsicher machen, und eine Bindung der nacherlebenden religiösen Kräfte an das große und mächtige Urbild ist doch nichts, was dem religiösen Gedanken selbst unerträglich wäre. Im Gegenteil, in allen Religionen steigert sich die Bindung an die großen Urbilder mit der Größe des anzueignenden Lebens, das den Spielraum für neue eigene religiöse Produktion einengt und die Arbeit in der Hingabe und Einfühlung wesentlich aufzehrt. Es ist hier wirklich kein unüberwindliches Hindernis, so schw^ankend und unsicher hier auch die Gefühle des heutigen Menschen geworden sind. Nur auf eines wird man verzichten müssen, Jesus als das Zentrum der Welt oder auch nur als das Zentrum der Menschheitsgeschichte zu konstruieren und gerade darauf seine wesentliche Bedeutung zu begründen. Die Unermeßlichkeit der Welt bringt die An- nahme einer unbegrenzten Vielheit von Geisterreichen mit sich, unter denen das aus der biologischen Entwicklung der Erde sich emporhebende Menschentum nur ein einzelnes ist und sich nur im Zusammenhang eines ungeheuer viel größeren kosmischen Lebens empfinden darf. Von einer kosmischen Stellung und Be- deutung Jesu, wie es der Sinn des kirchlichen Inkarnations- und Erlösungsdogmas ist, kann also nicht die Rede sein. Aber auch der Gedanke ist allerdings schwer vollziehbar, die ganze Mensch-

Die Zukunftsmögliclikeiten des Christentums. 84O

heit in Jesus gipfeln zu lassen und durch die in Jesus erschienenen religiösen Kräfte die gesamte Menschheit schließlich erobern zu lassen. Die übliche »liberale Theologie« pflegt mit einer solchen Lehre die alte Christologie der Kirche zu ersetzen. Aber auch hier liegen die Bedenken nahe genug. Die Ungeheuerlichkeit der Zeiträume der menschlichen Geschichte, die Möglichkeiten eines grandiosen Wechsels und Abbruchs der Entwicklungszu- sammenhänge, die Verschiedenheit in der Beseelungsmöglichkeit für verschiedene Kulturen und Menschengruppen, all das macht es wahrscheinlich, das es neben dem Christentum immer noch andere religiöse Lebenszusammenhänge geben mag, die ihre eigenen Erlöser und Urbilder haben. Auch ist es an sich denk- bar, daß die ganze europäisch -christliche Kulturwelt wieder versänke und daß in irgend welchen kommenden Jahrhundert- tausenden neue große Religionsbildungen entstünden. Dann wäre Jesus eben das religiöse Zentrum der europäisch-christ- lichen Welt, die in dem von den Propheten und ihm ausstrah- lenden und die Ergebnisse der Antike in sich aufnehmenden religiösen Leben das ihr entsprechende und ihr bestimmte reli- giöse Fundament ihres Daseins hätte und mit ihrem eigenen Lebensdrang es in die Welt hinaustrüge, so lange sie fremde Völker und Rassen in ihr Leben hineinzuziehen fähig ist. Dann würde mutmaßlich die Dauer und Gesundheit des europäisch- christlichen Geisteslebens an die Erhaltung seiner alten und wesentlichen religiösen Fundamente gebunden sein und würde umgekehrt vielleicht das Christentum selbst mit jenem absterben. Solche Gedanken sind mögUch, und ihre bloße Möglichkeit schließt jede feste und steife Theorie von einer absoluten Konzentrierung der Menschheit im Christentum und jede absolute Christologie aus. Aber wir fühlen trotzdem in ihm eine ewige innere Wahr- heit, einen Zug zu den einfachsten und stärksten Kräften des Lebens, der sich in allen Zusammenstößen mit den anderen Universalreligionen behauptet. Gegenüber Judentum und Islam ist die prophetische Grundlage innerlicher und entwickelungsfähiger, freier und lebendiger behauptet. Gegenüber den Erlösungsreli- gionen des Ostens ist das Gottesreich der Propheten und Jesu die aktiv-lebendige Kraft. Gegen das Christentum würde daher all das vorhin Angeführte nichts beweisen, wenn wir in ihm wirklich mit Recht unter den vorhandenen religiösen Kräften die innerlichste, .tiefste und tätigste erkennen. Jede Wahrheit, die später käme, müßte

Troeltsch; Gesammelte Schriften. II. 54

gco Die Zukunftsinöglichkeiten des Christentums.

seine Wahrheit mitenthalten. Sie brauchte für solche andere Da- seinskreise nur nicht an die Person Jesu gebunden zu sein, sondern würde dann mit anderen Urbildern und Symbolen sich verbinden. Für uns und unseren Daseinskreis, für unser eigenes Leben und un- seren Ausdehnungsdrang aber bliebe die im Prophetismus und in Jesus verkörperte und veranschaulichte Religiosität, das von ihm ausgehende höhere Menschentum die tiefste und stärkste Quelle des uns möglichen und uns bestimmten Lebens in Gott. Wir würden uns empfinden als vor Gottes Angesicht in dem großen Licht- kreis stehend, der von Jesus ausstrahlt, und würden nur die Auf- gabe haben, Gott auf diesem uns verordneten Wege wahrhaft zu erleben und zu ergreifen, nachdem wir von ihm ergriffen sind. Darin brauchte es uns nicht zu beirren, daß es im großen gött- lichen Weltleben noch andere Lichtkreise mit anderen Lichtquellen geben möchte, oder daß in kommenden Menschheitsperioden, etwa nach neuen Eiszeiten und in völlig neuen Bildungen, sich später neue derartige Lichtkreise einmal aus den Tiefen des göttlichen Lebens herausbilden mögen. Für jeden Kreis und jeden allge- meinen Stand der Dinge hat die ewige göttliche W^ahrheit ihre be- sondere historische Gestalt, und das in dieser besonderen histo- rischen Gestalt Enthaltene kann niemals zur Unwahrheit werden, soweit es wirklich Wahrheit ist. Es wird in jeder kommenden Wahrheit mitenthalten sein, je reifer und tiefer diese selber ist. Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und wir sind unmittelbar zu Gott gerade in unserer Zusammenfassung in dem von Christus ausstrahlenden Lichtkreis. Es ist ein Wahn zu glauben, daß es für eine so tief im Christentum und den verwandten religiösen Kräften der Antike wurzelnden Epoche jemals eine neue Religion werde geben können. Sie wird mit ihrer Religion stehen und fallen. Ihre große Daseinsfrage wird sein, ob sie sich selbst die religiöse ICraft zu bewahren und zugleich mit ihrem ganzen geistigen Besitz auf die großen neu in den Welthorizont eintreten- den Völker zu übertragen vermag. Vom philosophischen Atheis- mus, von Galvanisationen des ihrer christlichen Beimischungen entkleideten Piatonismus und Stoizismus, oder gar von der bloß geistvollen Anarchie der Aphorismen wird sie nicht leben können. So verstanden aber hat die Verknüpfung des christlichen Theismus und Personalismus, des christlichen Glaubens an die Erhöhung und Erlösung zu einem höheren aus Gott geborenen Menschentum, mit einer religiösen Wertung und Deutung der

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 85 I

Persönlichkeit Jesu nichts an sich, was im Zusammenhange mo- dernen Denkens unmögUch wäre. Es ist in keiner Weise mehr das christologische Dogma der Kirche, aber es ist dessen inner- stes Motiv, die Christusmystik einer inneren Verbundenheit mit dem Haupt der Gemeinde, von dem Kraft und Leben den GUedern zuströmt und in dessen Vergegenwärtigung als der Offenbarung und des Symbols Gottes sich der eigentlich christ- liche Kultus vor allem vollzieht. Ohne das wäre ein solcher eigentümlicher christlicher Kultus unmöglich, und eine Religion ohne Kultus wäre eine absterbende Religion. Der christliche Theismus aber ist keine absterbende Religion, sondern der feste Halt alles persönlichen Menschentums. Dann aber bleiben unsere höchsten menschlichen Kräfte und Ueberzeugungen, soweit hin- aus wir zu blicken vermögen, verbunden mit der Hingabe an das von Jesus ausgehende geschichtliche Gesamtleben. Was jen- seits unserer Seh- und Denkmöglichkeit liegt, das braucht uns praktisch nicht zu stören, und theoretisch können wir uns sagen : es wird in dem Maße, als es selber wahr ist, keine heutige Lebensvvahrheit entkräften können, sofern sie wirklich als solche bewährt ist.

IV.

Erscheint derart gerade unter dem praktischen Gesichtspunkt der Behauptung der Tiefe und Festigkeit des persönlichen Lebens das Christentum als der Kernbestandteil auch alles modernen, religiösen Lebens, so ergeben sich nun freilich gerade von der praktischen und ethischen Seite her neue Schwierigkeiten. Es ist der dritte der oben genannten Konfliktsfälle. Die christ- liche Ethik ist eine ganz überwiegend religiöse Ethik, die die Persönlichkeit erst in Gott voll gewinnen läßt und daher die Indi- vidualmoral zu einer Ethik der Selbstheiligung für Gott und die Sozialmoral zu einer Ethik der Verbundenheit aller Gotteskinder in Gott macht. Sie verlegt das letzte Ziel des Einzelhandelns in die mit Ewigkeitsgehalt erfüllte Persönlichkeit und das des Gemein- schaftshandelns in ein überweltliches. Recht, Gewalt und Kampf ums Dasein überwindendes Reich der Gottesliebe. Sie ist darin völlig logisch und konsequent. Denn eine Ueberwindung des irdi- schen Selbst kann es nur im Ueberirdischen und eine gemeinsame Bindung durch etwas allen Uebergeordnetes nur im Medium des Göttlichen geben. Umgekehrt kann aus solchen religiösen Vor-

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352 Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

aussetzungen nur eine Moral wie die christliche hervorgehen. Aber eben damit, werden die Ziele dieses Handelns überirdisch und jenseitig, auch wenn man die überirdische Gottesgemeinschaft schon im Diesseits zu gewinnen und zu besitzen gewiß ist. Auch tritt damit ein solches Handeln in einen fühlbaren Gegensatz zu der innerirdischen, die Natur und Gemeinschaft lediglich veredeln- den und vergeistigenden Humanität. Ebenso aber schreitet diese Moral hinaus über die durchschnittlichen Lebensbedingungen, die nur eine Regelung und Disziplinierung des Kampfes ums Dasein durch Machtorganisationen, zweckmäßige Gemeinschaftsbildungen, Recht und Gerechtigkeit sind, über die durchschnittlichen Lebens- möglichkeiten die vor allem technische, wirtschaftliche und gei- stige Arbeit, Tapferkeit und Mut, siegreiche Kraft und energische Selbstbehauptung fordern. Die christliche Moral widerspricht den Instinkten moderner Diesseitigkeit und moderner Vergöttlichung der Wirklichkeit. Sie scheint überdies eine Utopie, die über ihre Unmöglichkeit nur allzu oft durch pharisäische Selbstgerechtigkeit und Uebertreibung der Allmacht des Bösen sich wegtäuscht.

Das christliche Ethos ist ein Ethos der Ueberwelt. Es stammt nicht aus der Natur und führt über die Natur hinaus. Es quillt aus der Gottesgemeinschaft und führt in das göttliche Leben hinein. Es steht gegen alle Verherrlichung und Vergöttlichung des bloßen Sinnenmenschen, gegen alle bloße Verstandeskultur und alle künstlerische Verherrlichung des Fleisches. Dafür gibt es den Seelen die Unzerbrechbarkeit eines ewigen Lebensgehaltes und die Zartheit einer in Gott alle verbindenden Liebe. Es stiftet ein Reich Gottes über den Reichen der Welt, und dieser Gegensatz ist seine Größe, in ihm überwindet und überbrückt es auch die Gegensätze des Weltlebens. Ein solches Ethos hat eine heroische Härte und eine edle Zartheit. Aber es ist eben darum der Unwahrhaftigkeit und der bloßen Scheinbetätigung mehr aus- gesetzt als andere ethische Lebensmächte und es enthält tiefe Schwierigkeiten und Spannungen gegenüber dem Weltleben.

Die Schwierigkeiten kennt jedermann. Sie werden nicht erst heute empfunden; sie bestanden von Anfang an und wurden immer nur durch Kompromisse überwunden. Aber allerdings kommen sie heute prinzipieller zu Bewußtsein, wo eine unermeß- lich gesteigerte Kulturarbeit die Bedeutung des Diesseits für jeden außerordentlich vermehrt, wo das Bild des gesetzlichen Zusam- menhangs aller Weltinhalte das Diesseits in die Einheit des sott-

Die Zukunftsmöslichkeiten des Christentums.

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liehen Lebens hineinzieht und wo eine künstlerische Sinnenkultur von hoher Feinheit die Welt und die Sinne verklärt. Zugleich zeigt der Zusammenhang des menschlichen Daseins mit dem großen Grundgesetz des Kampfes ums Dasein und der Einblick in die unendlich verwickelten Bedingtheiten der menschlichen Existenz durch die Natur und durch die sozialen Zustände die Abhängigkeit alles Menschenlebens von höchst irdischen Um- ständen, die Unmöglichkeit für den bloßen guten Willen und die Innerlichkeit der Gesinnung, die aus Natur und Gesetzen der sozialen Lebensbewegung folgenden Hemmungen und Nöte zu überwinden.

Das alles ist unzweifelhaft. Aber ebenso unzweifelhaft ist der tiefe Drang der ethischen Persönlichkeit über das bloß Zeit- liche hinaus zu einem zeitlosen und ewigen Lebensgehalt und der Trieb nach einer höchsten rein persönlichen Moral, in der die Menschen von innen her verbunden sind durch eine Recht, Macht , Gewalt und Kampf überbietende Gemeinschaft freien inneren Verständnisses und gegenseitiger Gesinnungsverbindung. In der gleichen Linie liegt ferner auch heute noch der Gedanke einer Fortentwickelung der' Persönlichkeit nach dem Leibestode. Denn, soll es überhaupt die Verwirklichung absoluter Werte jen- seits der bloß relativen Werte des alltäglichen Daseins geben, so ist der Gedanke unvollziehbar ohne Zuhilfenahme des weiteren Ge- dankens einer Fortbildung und Vollendung nach dem Leibestode, wo die Keime und Ansätze einer höheren Existenz, die gewonnen sind aus dem Leben in Gott, vollendet werden durch eine end- gültige Rückkehr in das götthche Leben. Es st-eckt darin nichts anderes als das Problem der absoluten Werte überhaupt, die Ueberwindung des Relativismus. Wenn die Persönlichkeit über- haupt erst zustande kommt durch Aufnahme absoluter Werte in das naturhafte Seelenleben, so liegt darin zugleich das Problem der werdenden und kämpfenden Persönlichkeit, das ohne den Gedanken einer Endvollendung nach dem Leibestode nicht gelöst werden kann, soviel Dunkel und Schwierigkeiten um diesen Punkt sich auch legen mögen. Jede Behauptung eines letzten, absoluten Seins verlangt eine Lehre von den letzten Dingen auch in der zeitlichen Entwickelung des menschlichen Geistes. Jede Behaup- tung eines absoluten Wertes jenseits der relativen Werte verlangt ein Jenseits auch im metaphysischen Sinne. Damit aber nimmt

g CA Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

das menschliche Handeln und der menschliche Lebensaffekt einen Hauch des Ueberweltlichen in sich auf.

Gerade diesen Zug aber hebt die christliche Sittlichkeit heraus, und von ihr ist er am tiefsten in die Seelen hineingestiftet worden. Sie entspricht also der letzten Forderung des praktisch- moralischen Bewußtseins allerdings. Man muß nur anerkennen, daß es die höchste und letzte Forderung ist, die erst nach Er- füllung der nächsten und ersten Forderung sich geltend machen, die also nie allein und erschöpfend die Moral bestimmen kann, sondern immer niedrigere Stufen der Moral unter sich und neben sich voraussetzt. Sie kann ihr Werk erst beginnen, wo die rohen Triebe der Natur, die Instinkte des bloßen Gruppen- zusammenhangs und die "Wirren des Kampfes ums Dasein in Kulturarbeit und Organisation, in Recht und Ordnung, in intel- lektueller und sozialer Zucht gebrochen oder gewandelt und ver- edelt sind. Erst wo überhaupt die Bedingungen einer Erhebung der Persönlichkeit über die bloße Natur geschaffen sind, kann von einer wahrhaften, die Persönlichkeiten in ihrer letzten Tiefe vollendenden und untereinander verbindenden Moral die Rede sein. Sie kann also nur als eine höchste und letzte Stufe der Moralität verstanden werden, die schon in die Vorstufen ihre Gesinnungs- innerlichkeit und Milde hineinleuchten lassen und die erst mit der Ueberwindung der irdischen Lebensbedingungen sich vollenden mag. Sie wird nach ihrem vollen Ideal nur mit denen handeln können, die auch ihrerseits dieses Ideal anerkennen, und wird gegen andere sich der unteren und gröberen Maßstäbe bedienen müssen. Sie wird stets in einen Kompromiß eintreten müssen mit den aus dem Kampf ums Dasein geschaffenen gröberen und robusteren moralischen Kräften und wird als kämpfende und suchende selbst auch von sich aus eine Härte und Strenge, wie eine Unabgeschlossenheit und Beweglichkeit hervorbringen müs- sen, die ihr in ihrem reinsten Verstände fehlen oder überflüssig sind. Sie wird insbesondere die Diesseitigkeit und die Sinnen- kultur in sich aufnehmen können, um aus der Weltarbeit heraus erst den Ueberdruß an der bloßen Weltarbeit zu lernen und um in der Veredelung der Sinne die Vergeistigung der Sinnlichkeit zu gewinnen. Sie wird sich selbst als eine aus ihren Vorstufen sich innerlich heraus entwickelnde betrachten können und müssen und wird zu diesen Vorstufen nie in einen reinen und radikalen Gegensatz zu treten brauchen, wenn sie in ihnen dasjenige an-

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 855

erkennen und verstehen lernt, was zu ihr emporführen kann. Sie wird sich nicht mehr bloß als Bekehrungsbruch mit der Welt empfinden, sondern wird in der Erhebung über die bloße Diesseitigkeit eine durch den Gegensatz hindurchgehende innere Kontinuität empfinden. Die Freiheit und Gesinnungsmäßigkeit einer Moral, die vor allem Entfaltung eines aus Gott geschöpften und in Gott die Seelen verbindenden Lebens sein will, wird dann überdies dafür sorgen, daß jede Individualität auf ihre eigene Weise jene Entwickelung vollziehe und auf ihre eigene Weise im Ergebnis die Synthese von innerweltlichem und überweltlichem Leben gestalte.

Alles das ist möglich und großenteils wirklich. In diesem Sinn hat vor allem Schleiermacher das christliche Ethos in die Stimmungen und Zusammenhänge des modernen Lebens hinüber- geführt und zwischen beiden vermittelt. Daß aber die Moral einer hochgespannten geistigen und materiellen Kultur keine schlecht- hin einfache, sondern eine den Gegensatz der Natur und der Freiheit, des Menschen und Gottes immer neu aufbrechende und dann wieder vermittelnde und ausgleichende sein muß, das liegt in der Natur der Sache. Die in jeder Kultur hervortretende Sonderung höchster religiöser Lebenswerte und einer davon be- stimmten Lebensführung von den innerweltlichen Leistungen und Gütern und einer mit ihr verbundenen innerweltlichen Ethik ist hier nur gesteigert und nach beiden Seiten hin zur letzten, jeden- falls zur letzten bis jetzt erkennbaren Konsequenz geführt. Daraus müssen praktisch Sonderungen einseitig bestimmter Gruppen und unendlich verschiedene Kompromisse individueller Lebensführung hervorgehen. Theoretisch aber muß ein Gedankenzusammenhang gefunden werden, der vom einen zum anderen durch innere Ver- mittelungen und Uebergänge emporführt, ohne doch die Gegen- sätze selber in einen bloßen Begriff immanenter ethischer Ent- wickelung aufzulösen. Der Gegensatz muß bestehen bleiben. Er ist die große Lebensspannung, in der alle Tiefe und Größe des Lebens liegt. Aber er muß zugleich innerlich überbrückt und überwunden werden. Gerade das aber ist der Sinn der Ethik eines freien Christentums.

V.

Nun würde alles das freilich wenig helfen, wenn wirklich der Zusammenhang und die wirkende Kraft der christlichen Kultge-

856

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

meinschaft zerbrochen wäre Eine Religion ohne Kultus und ohne die von ihm ausströmende Verlebendigung der gemeinsamen Le- bensgehalte, ohne die von ihm geschaffene massenpsychologische Verstärkung der Gefühle und Gedanken wäre rettungslos eine absterbende Religion. Damit kommen wir zum vierten Punkt. Und hier liegen in der Tat gerade für ein freies Christentum die Dinge sehr schwierig. Die alten großen Konfessionen haben eine wirksame, wenn auch namentlich im Protestantismus man- nigfach erschütterte Kultgemeinschaft. Aber hier ist die Sachlage die, daß sie eine solche haben, weil sie von Hause aus mehr waren und sind als eine Kultgemeinschaft. Sie waren von Hause aus Heils- und Erlösungsanstalten, die sich darum streiten, die eine und wahre christliche Heilsanstalt zu sein. Sie betrachten das Christentum als eine von Gott durch Christus gestiftete, mit einer absoluten unfehlbaren Wahrheit und mit verordneten Trä- gern dieser Wahrheit ausgestattete übernatürliche Gemeinschafts- stiftung. Dadurch wurde für sie diese Gemeinschaft zum suprana- turalen Kern und Halt aller Gemeinschaftsbildung überhaupt. Sie strebten nach einer Herrschaft über die Gesellschaft überhaupt, sei es, daß sie diese mit Gewalt durchsetzten, sei es, daß sie deren Durchsetzung von der in ihnen waltenden Wunderkraft erwarteten. Jedesmal war das Ergebnis, daß ihrer Herrschaft und ihrem Zusammenhalt die mannigfachsten politischen und sozialen Mittel dienen mußten. Damit aber wuchs der Kultge- meinschaft eine Macht zu, die von dem Gedanken emer absoluten Wahrheit und ihres Berufes zur Herrschaft über das Ganze der Gesellschaft ausging. Sie ist zum Teil bis heute lebendig geblie- ben, zum Teil ist die Selbstverständlichkeit eines gemeinsamen Kultus davon als Nachwirkung übrig und wirksam.

Für einen großen Teil der heutigen Menschen aber ist die Macht dieses soziologischen Gebildes gebrochen. In dieser Rich- tung wirkten die mystischen und schwärmerischen Gemeinschaften von den Täufern bis zu den Pietisten und den modernen Sekten, in denen die Innerlichkeit und Persönlichkeit der religiösen Ge- wißheit eine individuell verschiedene Erleuchtung und die Gemein- schaft eine Assoziation der sich um eine solche Wahrheit scharen- den Genossen wird bis zur letzten Konsequenz einer auf jede Gemeinschaft verzichtenden Innerlichkeit. In der gleichen Rich- tung wirkten die Analogien der wissenschaftlichen Erkenntnis und Gewißheit, die als traditionsfreie autonome Selbstvergewisserung

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 85/

verstanden wurde und bei der engen Verflechtung des religiösen und wissenschaftlichen Denkens auch auf das erstere abfärbte. Da7Ai kam dann die ganze neue Soziologie des naturrechtlichen und individualistischen Zeitalters, das im Gegensatz zu den ob- jektiven und übernatürlichen Stiftungen und Gebundenheiten der früheren Zeit alle Gemeinschaft von dem freiwilligen Zusammen- tritt übereinstimmender Individuen herleitete und damit für den Fall der Nichtübereinstimmung die Freiheit von der Gemeinschaft zur logischen Folge machte. Für die Nichtübereinstimmung mit dem kirchlichen Herkommen sorgte nun aber die ganze Skepsis und Kritik in religiösen Dingen, und für einen innerlichen Gegen- satz gegen alles Kirchentum mit seinen absoluten Wahrheiten sorgte die sich immer weiter verbreitende Empfindung, daß es auch hier nur relative Wahrheit oder nur Annäherungen an eine letzte Wahrheit gebe. Aus all diesen Gründen ist heute ein reli- giöser Subjektivismus und Individualismus entstanden, der die religiösen Gemeinschaften selbst zu Freiwilligkeitsvereinen machen möchte und sich in der Regel die volle Freiheit und Beweglich- keit der persönlichen religiösen Ueberzeugung vorbehält. Libe- ralismus und Sozialdemokratie smd wenigstens in diesem Punkt einig, und die ganze modern denkende Welt ist vom sprödesten Subjektivismus in religiösen Dingen erfüllt. Insbesondere ist es auch die Eigentümlichkeit des freien Christentums, die persönliche Ueberzeugung, den relativen und subjektiven Charakter aller reli- giösen Erkenntnisse, die Verflechtung mit Wissenschaft und Kritik so stark zu empfinden, daß von einer wirklichen Gemeinschaft und einem handlungsfähigen Gemeingeist nicht mehr die Rede ist. Damit verschwindet ihm auch die Kultgemeinschaft, die ohne das erstere nicht bestehen kann und überdies durch ihre Gebunden- heit an die Tradition oder durch ihre spielenden Umdeutungen der Tradition ihre einfache Wirkungskraft heute vielfach verloren hat. Es ist die Lebensfrage für ein freies Christentum, ob diese Folgerung aus der bisherigen Entwickelung unvermeidlich und dauernd ist. Viele meinen das heute, und es möchte in der Tat leicht so scheinen. Aber man wird dem entgegenhalten dürfen, daß die große naturrechtlich-individualistische Welle überhaupt im Verlaufen begriffen ist und daß auf allen Gebieten sich eine neue Soziologie regt, die zwar nicht die alten übernatürlichen Stiftungen und Bindungen erneuert, die aber doch in ihren Be- griffen organischer Gemeinschaftsgebilde die Vorordnung des Gan-

grg Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

zen vor dem Individuum, der Gemeinschaft vor den Gliedern, des Gemeingeistes vor den Subjektivitäten, der Erziehung vor der fertigen Autonomie wieder zur Geltung bringt. Ueberall weicht der Liberalismus dem Sozialismus. Nur auf dem religiösen Ge- biet hat sich der Individualismus des ersteren auch im Sozialis- mus behauptet. Aber wenn der Sozialismus die Religion zur Privatsache erklärt, so tut er es in der Hoffnung, diesen Irrwahn damit zum Aussterben zu bringen, während er für sich selbst eine Metaphysik und Dogmatik von so rücksichtsloser, allum- fassender Geltung predigt, wie es nur je eine Kirche getan hat. Das Wahre daran ist, daß es in der Tat eine starke Gemeinschaft nur bei der Gemeinschaft metaphysischer Ueberzeugungen gibt. Diese Erkenntnis wird auch wieder auf das religiöse Gebiet zu- rückwirken, auf dem sie ihre erste und stärkste Ausbildung seiner- zeit gefunden hat und wo sie nur durch die Reaktion des befreiten Individuums gegen den jahrtausendalten Zwang zerstört worden ist. Auch kann die Autonomie persönlicher und gewissensmäßiger Ueberzeugung hier so wenig als sonstwo die radikale Traditions- losigkeit und die völlig augenblickliche Spontaneität bedeuten. Ueberall handelt es sich doch um überkommenes Erkenntnisgut und um historisch gebildete Lebensmächte, denen gegenüber es nicht Ersetzung durch neue Eigenerkenntnis, sondern nur leben- dige persönliche Aneignung und Fortbildung gilt. Dann aber kann auf dem religiösen Gebiete erst recht nur von einer Durch- arbeitung und Verinnerlichung der historischen Mächte, aber nicht von einer endlos variierenden Eigenerkenntnis und Neubildung die Rede sein. Damit rücken dann aber auch Gemeingeist und Ueberlieferung und das Gefäß beider, die organisierte Gemein- schaft, wieder in ihre Bedeutung ein. Aller Relativismus und aller Subjektivismus kann, wenn sie nicht eine alles auflösende Skepsis bedeuten wollen, doch nur meinen, daß in keiner Kon- fession und Religion das letzte Wort gefunden ist, daß überall die Bewegung auf die absolute Wahrheit erst hinführt, daß es sich überall um Annäherungswerte handelt. Dann aber behalten doch die höchsten Annäherungswerte ihre besondere und zusam- menschließende Bedeutung, tragen dadurch etwas in sich von der Kraft des Absoluten und verbinden, wenn nicht durch die Gleich- heit des fertigen Besitzes, so doch durch die Gleichheit der Stre- bensrichtung und durch die Gemeinsamkeit der Ausgangspunkte. Der radikale Individualismus, der heute auf religiösem Gebiet von

Die Zukunftsmöslichkeiten des Christentums.

859

der individualistisch-rationalistischen Periode her verblieben ist und durch Schwächung des rationalen Selbstvertrauens in Anarchie und Skepsis hinüberzuschwanken droht, muß sich nur erst in seinen Konsequenzen ausleben, muß alle Gemeinschaft in demjenigen aufgelöst haben, was seiner Natur nach am stärksten nach Zu- sammenschluß und gemeinsamer Bindung im Uebermenschlichen drängt, muß den leidenschaftlichen Widerwillen aller naturwüchsig ihren Gemeinschaftstrieb empfindenden Religion geweckt, die alten Kirchen zur heftigen Gegenwehr gesammelt und ihnen alle ge- meinschafts- und anschlußbedürftigen Seelen zugetrieben haben. Er muß die ganze chaotische Zerklüftung des modernen Geistes in allen Tiefen erst einmal aufgedeckt haben. Dann wird er auch seine Widersinnigkeit empfinden und sich wieder um den gemein- samen Besitz zusammenscharen. Dann wird auch ein freies Chri- stentum wieder die Notwendigkeit einer Organisation und eines den Besitz darstellenden und vergegenwärtigenden gemeinsamen Kultus empfinden und die vom Uebermaß des religiösen Indivi- dualismus Uebersättigten und Gequälten an sich ziehen. Und umgekehrt muß der Druck der antiindividualistischen, sozialisti- schen, bureaukratischen und kapitalistischen Ringbildungen erst in der vollen Stärke durchgesetzt und empfunden sein, bis man das freie, religiös und metaphysisch gefestigte Individuum, wie es in einem freien Christentum und seiner Kultgemeinschaft sich ver- stehen muß, in seiner Bedeutung für die Rettung der Freiheit und des Individualismus würdigt, die heute noch billig scheinen wie Brombeeren. Dann erst wird man auch die Organisationen wieder verstehen, in denen allein ein solcher Individualismus wachsen und sich behaupten kann. Man wird wieder empfinden, daß man nicht den Ast absägen darf, auf dem man sitzt.

In welcher Form das sich vollziehen wird oder vollziehen kann, ist schwer vorauszusagen. Das gegenwärtig in Europa vor- herrschende System der privilegierten, paritätisch nebeneinander- stehenden Landeskirchen ist ein Kompromiß des alten Einheits- kirchentums und der modernen Mischung der religiösen Ueber- zeugungen. Es wird schwerlich noch weitere hundert Jahre dauern, und die Neuordnung dieser Dinge wird eine der großen Aufgaben der zukünftigen Staats- und Kirchenleiter werden. Erst eine solche Neuordnung aber wird wieder das religiöse Lebens- problem in lebendigen Fluß und die an ihm Beteiligten in lebendiges Handeln versetzen. Erst dann wird auch die Frage der Einreihung

35o D'^ Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

eines freien Christentums in diese Organisationen voll lebendig werden. Ob es sich eine neue und eigene Gestalt geben wird, oder ob wenigstens die großen protestantischen Kirchen eine ihm ehrlich Raum gebende Freiheit der Gemeindeautonomie werden schaffen können, das alles liegt im Schoß der Zukunft. Im Augenblick ist in Europa an neue Sonderorganisationen nicht zu denken; es kann nur nach Raum und Luft innerhalb der bestehen- den Kirchen getrachtet werden_, mit deren Grundgehalt doch auch das freie Christentum eng zusammenhängt und deren protestan- tische Organisation dem subjektiven religiösen Leben und der Kritik ein Heimatsrecht gegeben hat, das niemand freiwillig gerne wird verlieren wollen. Für absehbare Zeit kann das Ziel nur sein, innerhalb des Protestantismus für ein möglichst freies Chri- stentum Bewegungsmöglichkeit zu gewinnen und doch die großen geschichtlichen Heimatsgefühle gegenüber der Schöpfung der Reformatoren nicht zu verlieren und nicht zu verleugnen.

VI.

Das sind die Hauptfragen und die Antworten, die darauf gegeben werden können von denen, welche trotz allem bereitwil- lig anerkannten Wandel der Dinge doch auf die Kräfte der christ- lichen Lebenswelt nicht glauben verzichten zu dürfen und zu können. Was auch immer die moderne Welt gebracht haben mag, auf dem religiösen Lebensgebiet hat sie wahrhaft Neues nicht geschaffen und kann sie nur den alten Besitz neu gestalten.

Alles in allem handelt es sich in einer solchen Zukunftsge- staltung des Christentums nicht um die einfache Uebernahme mo- derner philosophischer Systeme, sondern um ein selbständiges und eigentümlich religiöses Denken, das nur die großen gedanklichen Motive und die Tatsachenerkenntnisse, wie sie von der modernen Philosophie vorausgesetzt und entwickelt werden, auch seinerseits voraussetzt und verarbeitet. Gerade darauf, daß es diese in sich aufnimmt und doch ein selbständiges religiöses Denken bleibt, beruht vor allem seine innere Möglichkeit. Es wäre um diese geschehen, wenn es mit einem philosophischen System sich deckte, das doch immer nur eine sehr persönliche und mühsam zusammengehaltene Synthese ungeheuer weit ausgreifender Be- trachtungen ist. Indem in einer solchen Neuformung der christ- lichen Lebenswelt das religiöse Denken enger auf seine spezifisch religiösen Ausgangspunkte und Interessen beschränkt bleibt und

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums. 85 1

aus dem allgemeinen philosophischen oder prinzipiellen Denken nur gewisse Grundrichtungen sich aneignet, ist es als Gedanke und Lehre enger und begrenzter, aber auch der Zerbrechlichkeit jener großen anregenden Synthesen entnommen und bei einem sub- stanziellen Lebensinteresse festgehalten. Es ist kein Rivale der Philosophie, sondern eine auf die neue Erkenntniswelt eingestellte Neuformung des spezifisch christlich-religiösen Wiedergeburtsge- dankens und seiner praktischen Lebensbedeutung.

Nur in einer Hinsicht steht die religiöse Ideenwelt einer be- sonderen Gruppe moderner Systeme vorzugsweise nahe. Es ist klar, daß in ihr der Gedanke der Persönlichkeit zugleich mit dem der absoluten Wahrheiten und Werte alles beherrscht. Gerade dieser Gedanke durchdringt aber auch die ganze Gruppe der von Kant ausgehenden Systeme. Ihre im engeren Sinne philosophische Bedeutung ist, daß hier alle Metaphysik und Kulturphilosophie in der strengsten Weise an die eigentliche Fachaufgabe der Philosophie, an die Analyse des Bewußtseins und des Denkens geknüpft ist. Indem aber diese Analyse mit dem rational-apriorischen Prinzip einer Gestaltung und Beurteilung der menschlichen Wirklichkeit nach unbedingten Gesetzen und W^erten des Bewußtseins über^ haupt arbeitet, weisen diese Systeme auch ihrerseits in die Rich- tung einer personalistischen Metaphysik. Sie müssen ausdrück- lich oder implizite mit einem Begriff des »Bewußtseins überhaupt« rechnen, aus dem unbedingte Gültigkeiten fließen und für das diese in einer, von ihrer menschlichen approximativen Verwirklichung unabhängigen Weise vorhanden sind. Das bedeutet eine Meta- physik, für die das Bewußtsein um logisch-Notwendiges und werthaft-Seinsollendes den letzten Grund der Dinge und die Er- hebung der Geister in die Regionen dieser vollendeten Bewußt- seinswerte durch die Freiheit das Ziel des Werdens bildet. Dem stehen heute als wesentliche Gegensätze gegenüber : eine rein psychologisch orientierte Analyse des Bewußtseins, die alles schein- bar Unbedingte, Gültige und Ewig-Wertvolle zu nur relativ dauern- den Erzeugnissen wechselnder Kombinationen macht, und eine dem entsprechende pantheistisch-relativistische Metaphysik, für die alles nur ein Wandelungszustand der einen, in ihren Wandelungen mit sich identischen Substanz ist, sofern nicht überhaupt der Ge- danke der Welteinheit aufgegeben wird. Es ist keine Frage, daß die christliche Ideenwelt den Systemen des Transzendentalismus sehr nahe steht, dagegen zu denen der beiden anderen Gruppen

gg2 Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

sich in tiefem inneren Gegensatz befindet. Man kann vielleicht sagen, daß die rational-apriorische Voraussetzung jener transzendentalen Systeme selbst bereits unter dem Einfluß der christlichen Lebens- welt und ihres Personalismus steht. Das würde nur der Tatsache entsprechen, daß eben das Leben eine untrennbare Einheit ist und in den Voraussetzungen der Philosophie sich ebenso die Axiome der religiösen Lebenswelt geltend machen wie in der Ausgestaltung des religiösen Gedankens die begrifflichen Erkenntnisse der Wis- senschaft. Hier mischt sich die tiefste philosophische Selbst- besinnung mit dem Grundgefühl des religiösen Lebens. Ueber das Recht der so sich dem Transzendentalismus verbindenden religiösen Axiome selbst entscheidet freilich keine Wissenschaft, sondern in letzter Linie die persönliche Grundstellung zum Leben. Aber immerhin spricht für diesen Personalismus auch rein wis- senschaftlich-philosophisch das Zusammentreffen der instinktiven menschlichen Voraussetzung einer absoluten Wirklichkeit und eines absoluten Wertes, die eben nicht bloß von der Religion, sondern auch von allen anderen idealen Lebensgebieten her sich ergibt, mit dem Umstand, daß in der personalistischen Religion jene Grund- überzeugung zu ihrem vollen und klaren religiösen Ausdruck kommt. In diesem, und freilich nur in diesem Sinne, wird man sagen kön- nen, daß für die innere Möglichkeit eines freien Christentums auch sein Verhältnis zu der wichtigsten und tiefsinnigsten Gruppe mo- dern philosophischer Systeme spricht. Nennt man die Zustimmung zu der Grundvoraussetzung dieser Systeme ein Bekenntnis zum Logos und zu seiner Herrschaft über die von ihm gedachte und ge- staltete Welt, dann ist der Glaube an die israelitisch-christliche reli- giöse Lebenswelt zugleich ein Glaube an den Logos; und es wird klar, wie das heutige Christentum sich trotz aller Unterschiede mit dem alten darin verbindet, daß der Glaube an Gott in Christus zusammenschmilzt mit dem Glauben an den Logos in der Welt. Das ist nicht nur ein Wortspiel, sondern das Wesen der Sache, heute wie damals.

863

Namenregister ^).

d'Alembert 773

Aristoteles 291 367 548 556 772

Arnold, Gottfried 405 627

Arnold, Matthew 815

Augustin 368 466

Avenarius 373

Bahr, Hermann 814

Baumann 264

Baur 8 392 402 440

Beaconsfield 88

V. Below 680

Bergson 34 238 455 726 817 822 832

Bernheim 300 301 313

Bernoulli 222

Biedermann 453

Bismarck 4 74 657

Bonus, Arthur 15 f. 438 453 815 816

Bousset 807

Boutroux 453

Braitmeier 278

Brown W. Adams 393

Buckle 300 304 699

Buddha 153 f.

Bunyan 834

Burckhardt, Jakob 394 723

Caird, Eduard 19 388 402 418 452 454

Calvin 168 ff. 174

Carlyle 204 205 308 786 815

Chateaubriand 391 f.

Cheyne 17

Cicero 474

Class 722

Coe, A. George 454

Cohen 715

Comte 300 372 374 453 455 457 483

543 680 699 Cromwell 140 ff. 562

Darwin 6

Demokrit 231 772

Descartes 33 230 372 478

De Wette 209 453 565

Dieterich, A. 454

Dilthey 227 265 678 680 720 722 754

Dorner 388 450 717

Drews, Arthur 36 43 144 440 f. 453

455 Duboc, Julius 527 Dubois-Reymond 241 304 690 Duhm, Bernhard 321 453

Echnaton 470

Eckardt, Meister 406 832

Ehrhard, Albert 404

Ehrhard, Eugen 626

Eliot, George 237 527 539

Epikur 231 475

Eucken, Rudolf 19 29—33 238 239 294

297 303 381 f- 454 455 722 725 758

815 832 Euhemerus 475

Faguet, Emil 811

Fechner 246 454 551

Fester 698

Feuerbach, Ludwig 9 f. 234 269 453

527 532 543 Fichte, J. G. 251 286 453 581 584 586

685 715 728 758 833 Fichte, J. H. 272 455 Flournoy 454 Förster, Erich 106 Foster, B. G. 510 France, Anatole 659 Franck, Harry 803 Franck, Sebastian 114 406 Frank, F. H, R. 453 Frantz 453 Franz v. Assisi 406 Fresenius 621 Fries 453 479 Fueter 698 Fustel de Coulange 313

Galilei 33

George, Stefan 814

Gibbon 230 233

Giordano Bruno 369

Glogau 454

Goblet d'Alviella 453

Goethe 229 232 264 265 266 272 277

^) Das Register verdankt der Leser Herrn Stadtvikar Otto Maag.

864

Namenregister.

278 293 298 306 337 360 657 668

735 812 Goldstein, Julius 372 553 698 726 Gottschick 220 Grimm, Hermann 266 Gundolf 815

Häckel 42 43 97 f. 241 264 400

Hamann 34 565

Hans, Julius 667

Harnack, Adolf 17 205 209 386 451

(Wesen des Christentums) 511 626

640 717 824 Harnack, Otto 272 Hartmann, E. v. 234 242 246 256 260

399 440 ff. 453 454 773 Hartmann, Martin 803 Haym 293 Hegel 5 8 35 179 209 232 255 306 f.

330 344 359 394 435 453 456 47^ 481 f. 495 506 ff. 511 565 603 676 697 711 726 747 763 775 822

Hegler 618

Heim 453

Helmholtz 530

Heraklit 772

Herder 200 209 232 265 298 306 359 392 565 668 805 828

Herrmann, Wilhelm 106 134 205 3o8 217 219 f. 454 517 552 570—672 (Ethik) 715 759 764 ff.

V. Hertling 183

Hertz 530

Hessen, Sergius 693

Hilgenfeld, Adolf 193 f.

Höffding 454

Holtzmann, Heinrich 17

Hügel, Friedrich v. 61 454

V. Humboldt, Wilhelm 265 293 298 344

Hume 242 243 297 372 453 455 478

773 Hunzinger 454

Ihering 454 Ihmels 394

Jakobi, F. H. 34 565

James, William 34 364—385 453 454

455 457 485 709 777 8i7 Jastrow, Morris 452

Jatho 134—145

Jellinek 723

Jenisch, Karl 24 28 44

Jesus 38 ff. 60 loi 137 160 f. 205 210 211 213 f. Ueberlieferung) 215 f. (Per- sönlichkeit) 222 f. (Erkennbarkeit) 290 321 f. (Predigt) 587 ff. 627 ff. (Ethik) 649 f. (Predigt) 659 846 ff. (Zentrum des Christentums)

Jevons 454

Jodl 237 527 Jordan, L. H. 500 Jülicher, Adolf 17 388 607

Kahler 213 228

Kaftan, Julius 243 300 387 729

Kalthoff 103

Kant 33 200 203 204 243 244 251 272 278 286 297 370 384 385 453 455 479 480 492 564 571 ff. 578 581 584 586 588 610 617 623 628 642 674 685 709 714 757 f. 763 ff. 773 775 777 805 f. 817 ff.

Keller, Gottfried 539

Kellermann, Bernhard 68

Kepler 530

Keyserling, Hermann Graf 803

Kierkegaard 14 f. 105 283 293 f. 406 603 627 643 654 657 664 815

Kirn, Otto 666.

Kistiakowski 714

Köhler, Walther 205 388 450 717 719

Köstlin, J. 228 809.

Koch, E. 454

Kuenen i 7 321

Kutter, Hermann 815

Lagarde, Paul de 19 f. 88 148 212 815

Laraennais 532

Lamprecht 699

Lang, Andrew 453

Lange, F. A. 73 231 241 f. 282

Lask 686 714

Leibniz 33 231 246 252 369 478 674

710 763 773 775 Leo XIII 62 f. Lepsius 387.

Lessing 265 337 359 392 Leuba 454 Lewkowitz, A. 757 Lhotzky 1 1 1

Lipsius, R. A. 210 217 228 301 Locke 372 391 478 505 510 564 773 Löschcke, Gerhard 388 639 Loisy 57 59 f. 62 389 398 402 411 824 Lorenz, Ottokar 313 Lotze 227 246 260 272 310 454 Luther 106 f. 128 166 ff. (Kirche) 179

204 281 621 642

Machiavelli 562 603 Mach 373 Maeterlinck 21 815 Malebranche 369 47S Mandeville 562 Marx 97 532 Mayer, E. W. 756 Mayer, Otto 144 Medicus 714 Melanchthon 559 642

Namenregister.

865

Mezger, Paul 324 Michelangelo 277 Mill, John Stuart 372 Mirbt, K. 798 Mohammed 157 fF. Moltke 526

Mommsen 183 184 185 Moses 155 f. Müller, Johannes

654 815 Murisier 454 Myers 379 454

I II 406 627 643

Nagel 228

Naumann, Friedrich 89 626 631 653

667 815 Newmann (Kardinal) 57 Newton 230 530 674 Nibergall 729—753 Nietzsche 97 237 287 530 546 552 603

627 659 810 812 Novalis 833

Otto, Rudolf 453

Origenes 368

Overbeck, Franz 198 653

Paulsen 234 246 256 257 258 270 666

Paulus 38 41 f. 205 415 ff. 640 ff.

Petri 120

Pfleiderer, Otto 19 388 453 454 505

Pius X 63

Plato 286 372 ff. 466 647

Plotin 466

Portig 453

Poseidonius 474

Rade 607 653

Ranke, L. v. 6 313 316 321 418 721

822 Rathenau, Walther 815 Rauwenhoff 267 453 Recejac 454 Reischle 205 324 Renan 10 f. 66 f. 543 627 Reuß, Eduard 17

Rickert 227 450 454 455 673—728 Riou, Gaston 811 815 Ritschi, Albrecht 13 f. 135 206 f. 210 f.

213 217 f. 219 f. 227 287 301 392

402 422 612 Rittelmeyer, Fr. 815 Robertson Smith 17 Rocholl 300 Rohrbach Paul 803 Rolfs 387 Roosevelt 70

Rothe, Richard 178 406 569 f. 595 Rousseau 478 564 Rümelin 305

Troeltsch, Gesammelte Schriften. II.

Sabatier, August 19

Sabatier, Paul 64 453

Scheel, Otto 107 162

Scheler 726

Schell 61

Schelling 5 306 372 385 453

Schiaparelli 356

Schiller 232 253 265 275 278

Schlaf, Johannes 92

Schlegel, Fr. 833

Schleiermacher 125 200 201 204 206 207 209 210 211 225 f. 227 253 255 256 300 359 371 392 396 f. 440 453 505 ff. 511 515 524 565 566 623 652 668 713 716 758 808 828 833 834 855

Schmidt, F. J. 626

Schnaase 275

Schopenhauer 35 234 372 445

Schrempf 294

Schubert, H. v. 719

Schweitzer, Albert 214

Schwenkfeld 114

Secretan 455

Seil 393

Shaftesbury 564

Shaw, Bernhard 70

Sidgwick 256 260

Siebeck, Hermann 267 274 452

Sigwart 618

Simmel 91 f. 381 f. 454 721

Simon, St. 532

Smend, Rudolf 321

Söderblom 653

Sörgel 814

Sohm, Rudolf 88 106 144 162 i

Spahn 183 f.

Spencer, Herbert 374 453 455

Spieß, Paul 754 768

Spinoza 33 230 265'' 286 369 478 543 710 775 777 810

Spranger 721

Starbuck 454

Strauß, D. F. 9 f. 203 209 234 399 527 541 716 734

Süskind 202 225 397 703

471

773

298

337

202

203

217

219

330

344

480

492

ff. 6

II f.

764 775

812

454 75S

79 f- 603

457 543 384 466

264 312

Teichmüller 454

Thieme 757

Thomas a Kempis 627

Tiele, C. P. 452 454

Titius 667

Tocqueville 313

Tolstoi 406 600 603 627 643 654 664

815 Traub, Fr. 204 324 Troeltsch 452 454 Tylor 453 Tyrell 57 f.

55

866

Namenregister.

Ulrici 272 Usener 212

Vatke 17 209 Vierkandt 453 553 711 Volkelt 234 270 455 Voltaire 230 233

Warneck 779 Weber, Alfred 814 Weber, Max 698 723 Weinel 36 205 Weiß, Job. 36 Weisse 272 454 Weizsäcker, Karl 17 Wellhausen, Julius 17 239 321 Wendt, H. H. 218

Wernle, Paul 222 406 599 626

Winckelmann 232

Windelband 227 277 297 454 457 689

694 726 Wißmann 784 Wobbermin 388 453 Wrede, William 322 388 626 639 Wundt, Wilhelm 19 234 246 256 257

258 259 454 455 680 711 757

Zahn, Theodor 737

Zeller, Eduard 454

Ziegler, Theob. 283

Zillesen, A. 626

Zimmern 36

Zinzendorf, Graf v. 370 447 646

Zirkel (Weihbischof) 55

Verlag pon 3. C. B. ITlohr (Paul Siebedj) in Cübingen.

fc^vieb für ta§ ÄanbtPörterbuc^

;,®ic 9^cUgion in ©cfc^ic^tc unb ©egentpart''*)

unter anberem folgenbe Strtüel:

Ulcmter e^rtftt 5t!fommobatiou 3cfu 25crufuttö €oncurfu§ ^btmiä

©•rlöfung, ®ogmatif(^ ©^i^atoloßte, ^ogmatijcf) ©erirfjt (§t)tte§, S)ogmati|d) @cfe^, 9?eIigton§pt)iIojopt)ij(i)

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©nabc (Botte§, 2)ogmatij(i) ©uobcnmittel ^ct(§tatfarf)en Ätrrfjc, ®ogmüti[(i) 9Jaturrcrfjt

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*) Unter 9JIttn)ir!ung oon ^ctmann (Sunf cl unb Q)ttc Scheel herausgegeben oon ^t?ic6t?tc^ VHid^acl 5c^ielc unb C«oj>ot6

@rf(i)ienen finb : ©rfter «anb: 31 bi§ ©Ctttfc^ranb* ^IRit 3 mbilöungen unb 6 Safein.

Sef. 8. 1909. m. 23.-. ^n C)aI&fron3banb Tl. 26.-. ßroeiter 95anb: ®etttf(^mann bi§ Reffen* 'SRit 4 aibbilbungen unb

6 tafeln. Sey. 8. 1910. 3«. 23.—. ^n ^albfran^bonb 3JL 26.—. dritter «anb: .öcftl^uö big fitjttom SJiit 20 Slbbilbungen unb 11 Safein.

Sej. 8. 1912. SR. 27.-. ^n ^al^f^onst'an^ ^- 30— ißierterSBanb: «Olaoftcn big 9litj<ä^l* Söirb im ^uni 1913 »otlftänbig.

®er le^te Jöanb foll big @nbe 1913 erfc^einen. ©efamtpreig beg aBerleg in ber ©ubffription Tl. 120.—, gebunben Tl. 135.—. ®rl)öl)ung beg greife! nad^ DoUftänbigem ©rfc^einen bleibt t)orbet)aIten. ^te 2luggabe erfolgt in Sieferungen, ^reig ber einfacl)en Sieferung Tl. 1.—. H. ©ubffription in 30 Sieferungen ä Tl. 4.—.

Verlag pon 3. Z. B. IH o h r (Paul Siebeck) in üflbingen. Ernst Troeltsch :

Gesammelte Schriften.

Erster Band : Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Grof3 8. 1912. M. 22.—, gebunden M. 26.—. Einbanddecke M. 3.—.

Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik.

Groß 8. 1913. M. 20.—, gebunden M. 24.—. Einbanddecke M. 3.—.

Ein dritter Band (Aufsätze zur Entstehungsgeschichte des modernen

Geistes) ist in Aussicht genommen.

Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben.

Vortrag gehalten vor der Schweizer christlichen Studentenkonferenz in Aarau.

8. 1911. M. 1.—.

Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums.

Enthalten im „Logos", Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Band 1. 1910/11. Heft 2. Einzelpreis des Heftes M. 4.50.

Die Trennung von Staat und Kirche,

der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten. Groß 8. 1907. M. 1 60.

Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft.

Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für

die heutige Religionswissenschaft.

Voi'trag gehalten auf dem internationalen Congress of arts and sciences

in St Louis, M. 8. 1905. M. 1.20.

Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte.

Vortrag gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt

zu Mühlacker am 3. Oktober 1901, erweitert und mit einem Vorwort versehen.

Zweite Auflage. 1912. M. 3.—, geb. M. 4.20.

Die wissenschaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theologie.

8. 1900. M. 1.25.

(Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet

der Theologie und Relieionsgeschichte. Nr. 20.)

Richard Rothe.

Gedächtnisrede gehalten zur Feier des hundertsten Geburtstages in der Aula der Universität Heidelberg.

8. 1899. M. —.80.