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Helene Bohlam Gefammelte Werke

1915

Verlag Ullftein & Eo, Berlin/Wien und Egon Fleifhel & Evo, Berlin

Alle Rechte, insbefonbere das ber Überfegung vorbehalten, Eopyright 1914 Ullftein & Co.

Inhalt

Der Rangierbahnhof, Roman

Das Recht der Mutter, Roman .

. 197

Der Rangierbahnhof

Roman

Gewidmet der Künftlerin Olly Weiß, die es verftand, das zarte Wefen ber Blumen wiederzugeben, wie e8 aus Gottes Hand hervorging.

Erſtes Kapitel

m legten Winkel des Reiches Dort, wo aus dem baprifchen gan die niebrigen Paͤſſe nach Vorarlberg führen, liegt lauflofe Dämmerung. Gewaltige Schneemaffen bebeden dag Hochtal und mitten darin liegt in einer erflarrten Welt, von Schnee halb begraben, ein warmes Neft, das einfame Gehäft Rohrmoos.

Über der weitausgebehnten Felſenmaſſe, die das Hochtal oͤſtlich begrenzt, ſchimmert der erfle Tagesſchein, der vers kuͤndet, baß bier über die Herrgottswaͤnde, die wie ein leichter, grauer Schatten aus dem Dämmerlicht ſich abheben, bie Sonne, wenn ihre Stunde gekommen ift, ſchauen wird. Erde und Himmel weiß, bie ganze Atmofphäre wie aus garten Eistriftallen gewoben.

Die unabfehbaren Schneemaflen, die feſtgewurzelte Kälte, die eifige Dämmerung, all’ diefe kalten, lebensfeindlichen Mächte umgeben das warme Neft mit folch unheimlicher Gewalt, als gelte es, diefen Unterfhlupf von allerlei pul⸗ fierendem Leben aufzuſaugen, jeden Tropfen, der fich dort Biegt, gu erſtarren. Alles aber, was fih auf dem daͤmmerigen Hofe regt, atmet einen Überfluß von Wärme und Leben.

Aus den eisuͤberzogenen Stallfenftern fällt ber rotgelbe Schein ber Laternen, bei deren Licht fchon feit Stunden in den Ställen und draußen auf dem zertretenen, ſtrohunter⸗ mifchten Schnee hantiert wird.

Wird eine Tür geöffnet, fo quillt warmer Dampf in bie Kälte hinaus und mit Ihm die Brummchoͤre bes Viehs.

Yuf der Miſtſtatt dampft ed. Die Pfoften, welche bag Erzeugnis des anfehnlichen Rohrmooſer Viehftandes ums geben, finb duch biefe warmen Dämpfe, die bie großen Schneehauben auf ihnen tanen ließen, mit fußbiden, brauns lichen Eiskruſten übersogen, die In fonderbaren Zapfen her⸗

unterhängen. Aus ber großen Butterfcheune duftet es nah

I

gut eingebrachten Heu, und der Geruch kräftiger Sommer; tage ſtroͤmt in den flarren Wintermorgen binand. Die Maͤgde und Knechte Iaufen Aber den Hof, Blafen in die Hände und firdömen auch warmen Dunft und Dampf aus, der fich ihnen als weißer Neif an Haar und Müpe feftfegt.

Mies was lebt, dampft auf Rohrmoos; die Pferde, bie ein Knecht auſchirrt, blaſen ganze Wollen ang ihren Näftern, huͤllen ſich damit gegenfeitig ein, fo daß ihnen Mähnen, Köpfe und Leiber wie in wogendem Nebel ſtecken.

An den großen, verdeckten Milchgefaͤßen, die aus den Staͤllen in die Molkerei geſchafft werden, dampft das feuchtwarme Holz; jeder feuchte Strohhalm, der von den Knechten und Mägden aus ben Staͤllen hinaus in den Schnee verſchleppt wird, laͤßt ein Weilchen eine zierlich fih ringelnde Ounftfäule wie ein Meines Dpfer empor fteigen.

Alles lebt der großen, mellenweiten Schneewucht zum Trotz doppelt mächtig.

In der einfachen Stube des Wohnhauſes figen vier Vers fonen bei dee Lampe, deren Schein jegt ſchon von ber Tages; Dämmerung gefchwächt wird, die weißbläufich gu ben Breiten Fenſtern des Zimmers eindringt.

Schinken, Eier, frifhe Butter, Schwarzbrot und eine fummende, brodelnde Kaffeemafchine fliehen auf dem weiß⸗ gedeckten Fruͤhſtuͤckstiſch und vier Perſonen fißen daran. Ludwig Gaſtelmeier, einſt Paͤchter, jetzt Beſitzer von Rohr⸗ moos, ſchaut nachdenklich vor ſich hin, waͤhrend er mit einem Fidibus die Pfeife anzuͤndet.

Er iſt ein gedrungener Mann, der in einer maͤchtigen, braungehäfelten Wefte ſteckt. Man denkt unwillkuͤrlich bei feinem Anblick an allerlei Strapazen und Hantierungen, wie fie gu landwirtſchaftlichem Betriebe gehören.

Io

Sein Sohn Friedrich, dee neben ber Mutter und einem jungen, blonden Srauengimmer figt, gleicht ihm. Er ift einen guten Kopf Heiner als ber Vater, Doch auch breit, gedrungen gebaut. Die Augen find die Augen bes Alten, nur bat fich eine fleifchigere Nafe zwiſchen diefelben gefchoben, fo daß fie nicht fo nah zueinander haben räden können, wie bie bes Vaters.

Der Mund hat dieſelbe feuchte Friſche, die auf den Lippen des Alten liegt, und bie dem Seſicht ein merkwuͤrdig lebens; volles Anfehen gibt.

Niemand fpricht etwas Sufammenhängended. Ein Raus fpern, eine kurze Frage, eine kurze Antwort, das Einfchenten des Kaffees in die großen, weiten Taflen unterbricht die Stille.

Der Sohn iſt offenbar im Reiſeanzug.

Sein Pelz hängt an ber Wand swifchen einer Auswahl ſtark angerauchter Pfeifen, zwiſchen Baſtbuͤndeln, Hirſch⸗ geweihen, Leinwandſaͤckchen mit Saͤmereien, was alles im behaglichen Durcheinander ſich darſtellt.

„Da waͤren wir denn ſo weit,“ brummt der Alte, die Pfeife zwiſchen den Zaͤhnen „werden auch gleich die Sonne haben. Allons! mit der Lampe fort!“

„Siehſt du,“ faͤhrt er nach einer Pauſe fort und blaͤſt aus der Pfeife ein hellblaues, beſonders kraͤftiges Gewoͤlk, ſiehſt du, da iſt ſie!“

Der Sohn ſteht jetzt neben Ihm.

Die weißen, eiſigen Nebel wogen maͤchtig an der langen Herrgottswand hin; ein goldpurpurner Funken gluͤht zwiſchen der Wand und dem leuchtenden weißen Himmel, der Schnee verliert das tote Weiß und fchimmert roflg golden. Da war fie heruorgefprungen, bie Sonne. Mit ihe zugleich huͤpfen tiefblane Niefenfchatten Ins Land hinein.

Die große, befchneite Tanne, die ihre Zweige von dem Schnee befchwert an fich gebrädt Hatte, wie ein Soldat die

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Arme, wenn der Vorgefeßte an ihm voruͤbergeht, wirft einen bellblauen, fpiten Schatten dem Haufe gu, und diefer Schatten fieht aus wie der Geift der weißeingehällten und befchwerten Tanne, der von ihr abgefprungen iſt, und fih aug irgendeinem Grunde in den Schnee gelegt hat.

„Sp, da tft fie ſchon wieder in den Nebel gekrochen,“ fagt der alte Saftelmeter, „Der gefaͤllt's auf Rohrmoos nit fann’8 ihr nicht verbenten. Da bat fie gefeben, wie das biß⸗ hen Altſtall da drüben fand und eine Käferel, daß Gott ers barm! da machten wir’8 eine Zeitlang damit, es blieb beim alten dann wurbe gebaut. Sie befam einen Vieh; ſtand zu fehen im Lauf von zwanzig Jahren, wie bier herum feinen zweiten.

Ste kennt den alten Gaftelmeter, bat ihn bier dreißig Jahre jeden Morgen gefeben, bat geſehen, wie er es ſich fauer werben ließ, hat bann fpäter Die Frau geſehen, wie fie fich plagen mußte.

Ste bat auch gefehen, daß die beiben Leute einen Sohn hatten, und wird gebacht haben: Der kann lachen, bie beiden Alten arbeiten für ihn wie die Pferde, ber figt einmal warn bier. Uber proft Mahlzeit! Der läßt den Alten jegt wieder einmal im Stich.”

Der Sohn hatte den Vater ruhig gu Ende fprechen laffen. Das war die Rede, die fam fo oder fo In allerlei Form jedes mal vor dem Abfchled, gerade als wenn der Vater fie fi ausgedacht und einftudiert hätte, Immer fing er an, daß man meinen konnte, diesmal kommt er auf etwas ans deres; aber zsulegt da kam das „Prof Mahlzeit“ dag Ende die Unsufriedenheit, der Stachel, der im Herzen faß.

Nuf des Sohnes treuhersigem Geſicht lag ein Ausdruck der Niedergeſchlagenheit.

„8 auch fo gut, Onkel“, ſagte das junge, blonde Frauen⸗ zimmer, „Er tut halt, was er mag und daß er’s tun

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kann, das habt doch Ihe gemacht!” Dabei legte fie die Hand auf die Schulter der Mutter, die, über ihren Steidfteumpf gebeugt, während ber Rede des Vaters Tränen vergoffen hatte.

„Du tuft die jeßt leicht, Onkel, wenn bu glaubft, der Friedel könnte ebenfogut Hier bleiben wie dort, als wenn ein Menfh tun könnte, was er nicht will, Di bätten’8 feiner Zeit in Münden in bie Alademie fleden tollen Jeſus!“

„D, du!” fagte ber firamme Alte, „Nidel, was weißt denn du!”

„Daß man feine Leut’ In Muh’ laffen foll was kannſt benn du jegt machen? Schimpfen? Das wär’ net übel und die Frau um Meinen bringen. Und alles iſt foweit gut, Er macht fein’ Sach’ brav, und was er wollte, hat er erreicht gerab wie du.”

„So?“ ber Alte ſchwieg und ermwiderte nichts; er war aber nicht mehr fchlecht gelaunt. Ste verſtand es mit ihm, Er ſchaute auch mit einem Blick auf fie, als wollte er fagen: Laß nur, wann du fo red’ft, laßt man fih’8 ſchon gefallen. „Du Almkuh“, fagte er.

„Die Weibsleut in der Stabt, die könnten mir paſſen“, fuhr er fort. „D, du grundguͤtiger Eſel!“ Mit biefen Worten faßte er feinen Sohn am beiden Schultern und fehante ihn mit den fcharfen, Eeiftallhellen Augen an. „Ein junges Weib, das im Juni und Juli beim Kuß nicht nach Erdbeeren und Erdgeruch buftet, nach friſchem Laub und Hen und Winters nicht nach Schnee und Luft und Kälte pfui Teufel fo ein, fo ein muffiges, ungelüfteres Weib, das bring’ du mir einmal nicht! Das wenigſtens nicht! Da, ſchau fie die an du Narr fo auf die Art.”

Er geiste auf das Maͤdchen. Sie ftand jetzt aufgerichter vor dem Kaffeetifch, groß und kräftig, rofig, blond und ruhig.

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„Keinen Stabefhmugfint keinen Stubenrauch, feinen ſolchen parfümterten Scharwenzgel, wenn Ich Bitten darf.”

„Du bift ein ſchoͤner Burſch und die Mädel laufen bir nach, Zunge das fun fie einmal nicht anders. Denk daran: ein Kuß, der nach Erdbeeren ſchmeckt, nach Erbgeruch und Sonne und frifher Luft das iſt, was der Alte von Liebes⸗ ſachen verſteht.“

Der Sohn ſchaute laͤchelnd auf das Mädchen, das ſo gleichmuͤtig daſtand und die Hand der Frau gefaßt hielt.

„Ja, ſieh ſie dir nur an“, meinte der Alte.

Da lachte das Maͤdchen. „Friedel, au ſchau“, bee möcht mich die anpreifen! Sa, du,” wendete fie fich gu Ihrem Dunkel, „fo eine Almkuh, wie du fagft, die iſt nicht jebermannıg Geſchmack. Laß ihn nur ber geht feinen Weg auch ohne dich und ohne ung.“

Die Mutter war, während Ihr Mann mit dem Jungen ſprach, den eigenen Gedanken gefolgt. Sie hatte gebacht, daß er in biefem Zimmer geboren war, an bie Jahre, während denen fein Bett neben dem Ihren geftanden hatte. Sie emp⸗ fand in der Erinnerung ben weichen, frifchen Körper, und wie er zu Ihe jeben Morgen ind Bert gekrochen war, wie fie ganz eins fih mit Ihm gefühlt batte, wie er fie ges lebt Hatte, wie fle fein alles gemweien, wie alles da⸗ bingeht. |

Ste dachte daran, wie fo nah und nach und Doc faſt mit einem Male feine Schultern mager, feine Beine lang und bünn wurden, nur das Haͤlschen blieb weich wie ein Maulwurfsfellchen, noch lange Zeil. Wie er ihe fremd wurde, auch nach und nach, und doch In ber Erinnerung wie mit einem Male; wie fie den geliebkoften Körper gar nicht mehr kannte, gar keinen Teil mehr an ihm hatte, wie feine Augen ihe fremb wurden und auch fein Herz.

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Und wie er ganz aus dem Haufe kam, nur hin und wieder beimfebrte, immer ein andree mit neuen Erlebniffen immer bderfelbe, ihr Friedel, ihr lieber Heiner Friedel, den fie zaghaft an das Her; druͤckte. Ste wußte nicht recht, was an ihm ihre eigen war, und wußte nur bag eine: fle liebte ihn und hätte ihn mit Freuden überfchätten mögen. Sie war ſtolz auf ihn; aber was ihn fo recht freute, fo recht gläds Ich machte, das wußte fie nicht und konnte es ſich nicht vorſtellen.

„Friedel,“ ſagte die Frau mit einer eigentuͤmlich befan⸗ genen, faſt ſchuͤchternen Stimme, die mit ihrer kraͤftigen, ſtarken Erſcheinung nicht in Einklang ſtand, „du gehſt deine eigenen Wege, Gott gibt ja manchen Menſchen eine Gabe, von der man nicht weiß, woher fie gefommen Ift und wohin fie geht. Die ſchoͤnen Arbeiten, die du mir in Münden ges macht, und all bie Blättchen, die bu Früher zuſammengekritzelt haft, hab’ Ih Immer gut aufgehoben und meine Freud / dran g’habt; aber wenn es auch feine Richtigkeit bat,” fuhr fie bes wegt fort, „wie weit fo einem Talent gu frauen If, weiß man doch nicht.

Siehſt du, wenn du einmal fühlen follteft, daß du dich trotz allem getaͤuſcht haft, komm zuruͤckk ohne Scham, Erinnert du bich, wie du als Heiner Bub’ dich auf ber Tanne vor unferm Haufe verfiiegen hatteſt und nicht meiter konnteft, und wie du nicht um Hilfe rufen wollteft, und uns nach bie fuchen Tießeft, bis ber Vater dich endlich entbedte und dich ganz armfelig wie du warft, herunter; holte?"

So etwas Ahnliches fagte auch fie jedesmal beim Abs ſchied.

„Mutter, bis jetzt, fo Gott will, Hab’ ich mich nicht vers fliegen”, fagte er, und er gab ihr die kraͤftige Hand und kuͤßte fie auf den Mund, und die Frau fohlang die Arme ihm um Die Schultern.

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„Keinen Stadtſchmutzfink keinen Stubenrauch, feinen ſolchen parfümterten Scharwenzgel, wenn ich Bitten darf.”

„Du bift ein fchöner Burfch und Die Mädel laufen bie nach, unge das tun fie einmal nicht anders. Denk Daran: ein Kuß, der nach Erdbeeren ſchmeckt, nach Erdgeruh und Sonne und frifcher Luft das If, was der Alte von Liebes⸗ fachen verſteht.“

Der Sohn ſchaute Iächelnd auf das Mädchen, das fo gleihmätig daſtand und die Hand der Brau gefaßt hielt.

„Ja, fieb fle die nur an”, meinte der Alte.

Da lachte das Mädchen. „Friedel, nu ſchau“, ber möcht mich dir anpreifen! Ya, du,” wendete fie ſich zu ihrem Onkel, „Io eine Almkuh, wie du fagft, bie iſt nicht jedermanus Geſchmack. Laß Ihn nur ber geht feinen Weg auch ohne dich und ohne ung.”

Die Mutter war, während Ihe Mann mit dem Jungen fprach, den eigenen Gedanken gefolgt. Sie hatte gebacht, daß er in diefem Zimmer geboren war, an die Jahre, während denen fein Bert neben dem ihren geflanden hatte. Sie emp⸗ fand In der Erinnerung ben weichen, frifchen Körper, und wie er zu Ihe jeden Morgen Ind Bett gekrochen war, wie fie ganz eins fih mie ihm gefühlt hatte, wie er fie ges liebt hatte, wie fie fein alles geweſen, wie alled das hingeht. |

Ste dachte daran, wie fo nah und nah und bo foft mit einem Male feine Schultern mager, feine Beine lang und bünn wurden, nur bas Haͤlschen blieb weich wie ein Maulmurfsfellhen, noch lange Zeit. Wie er ihr fremd wurde, auch nach und nach, und boch in ber Erinnerung wie mit einem Male; wie fie den geltebkoften Körper gar nicht mehr kannte, gar keinen Teil mehr an ihm hatte, wie feine Augen Ihe fremd wurben und auch fein Herz.

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Und wie er gan aus dem Haufe kam, nur bin und wieder beimfebrte, immer ein andrer mit neuen Erlebniffen immer derfelbe, ihe Friedel, ihr licher Heiner Friedel, ben fie zaghaft an das Herz brüdte. Sie wußte nicht recht, was an ihm ihr eigen war, und wußte nur das eine: fie liebte ihn und hätte ihn mit Freuden überfhätten mögen. Ste war ſtolz auf ihn; aber was ihn fo recht freute, fo recht gläds lich machte, das wußte fie nicht und konnte es fih nicht vorſtellen.

„Friedel,“ ſagte Die Frau mit einer eigentuͤmlich befan⸗ genen, faſt ſchuͤchternen Stimme, bie mit ihrer kraͤftigen, ſtarken Erfcheinung nicht In Einflang fand, „bu gehft beine eigenen Wege, Gott gibt ja manchen Menfchen eine Gabe, von ber man nicht weiß, woher fie gekommen iſt und wohin fie gebt. Die fchönen Arbeiten, die du mir in München ges macht, und all Die Blaͤttchen, Die du früher zuſammengekritzelt haft, Hab’ Ich Immer gut aufgehoben und meine Sreud’ dran g’habt; aber wenn es auch feine Nichtigkeit hat,“ fuhr fie bes wegt fort, „wie weit fo einem Talent gu trauen iſt, weiß man Doch nicht.

Stehft du, wenn du einmal fühlen follteft, daß du dich trotz allem getäufcht haft, komm zuruͤck ohne Scham. Erinnerſt du dich, wie du als Heiner Bub’ dich auf ber Tanne vor unferm Haufe verfliegen hatteſt und nicht weiter konnteſt, und wie bu nicht um Hilfe rufen wollteft, und uns nach bie fuchen Tießeft, bis der Vater bich endlich entbedte und dich ganz armiellg wie du warſt, herunter, holte?”

So etwas Ahnliches fagte auch fie jedesmal beim Abs ſchied.

„Mutter, bis jetzt, fo Sort will, hab’ Ich mich nicht vers fliegen”, fagte er, und er gab ihr die kräftige Hand und kuͤßte fie auf den Mund, und bie Frau ſchlang die Arme Ihm um die Schultern.

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Der Vater trat an ihn heran und Hopfte ihn auf ben Ruͤcken. „Laß ihn nun, Alte, ’8 iſt Zeit. Wir mäflen jest wieder allein miteinander auskommen.“ |

Anna war In ihren Pelz gekrochen und hatte den Kopf Inapp mit einem weißen Tuch umhuͤllt. In ihrem Geficht allein war feine Unruhe und Erregung zu bemerfen. „Run, Friedel, wären wie fo weit, ber Schlitten IE vor der Tür und dein Koffer ift auch fon aufgebunden“, fagte fie.

„Dann seh. Mach’ gut”, fagte der Alte. Anna öffnete die Türe und ging voraus. Es lag in dem Weſen des Mädchens etwas Beruhigendes und Wohl tuendes.

Sie trug ein altes Pelzchen mit dunkelviolettem Wollſtoff uͤberzogen. Es ſah aus wie ein Erbſtuͤck, das man ihr gegeben hatte, als ſie groß genug geweſen war, und in das ſie unbe⸗ denklich Winter fuͤr Winter ſchluͤpfte, ohne irgendwelche andere Anforderungen an das Pelzchen zu ſtellen, als daß es ſeine Pflicht, ſie warm zu halten, erfuͤllte. Sie ſtieg in den Schlitten, waͤhrend Friedel noch den letzten Haͤndedruck mit den Eltern tauſchte.

Der alte Gaſtelmeier hielt feine Pfeife feſt zwiſchen dem Zähnen, fchttelte den Kopf kaum merklich und fihante dem Sohn fcheinbar teilnahmslos nach.

Die Leute vom Hof fanden ebenfalls ruhig und ſchwei⸗

end.

Abſchied iſt Immer eine böfe Sache.

In einem großen Bogen fuhr der Schlitten jegt um bie Dungſtatt und an dem mit mächtigen Eiszapfen behangenen fteohumbundenen Brunnen vorüber, auf deſſen Knauf mitten im Schnee ein Tannenbäumchen mit bunten Negen, Roſen und Bändern behangen, geſteckt war, ber einzige bunte Fled rundum,

„Steh, der Weihnachtsbaum”, fagte das Mädchen und

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berührte bie Schulter des Gefährten. Er follte noch einen Blick darauf werfen.

Der alte Sepp vorn auf einem Heubund machte jetzt einen gewaltigen Budel, ſchnalzte mit der Zunge, und wie ein Vogel fuhr der Schlitten die Im Sonnenlicht leuchtende Schneebahn hinaus über die Hochebene hin.

In Rohrmoos ging ein jedes wieder an fein Tage; wert.

Der Schlitten aber fuhr jetzt talab unter einzelnſtehenden, ſchneegebeugten Ebeltannen bin, zwiſchen den hohen, weißen Dämmen, bie ber mächtige Schneebrecher von Rohrmoos aufgefchichtet Hatte.

Die knorrigen Latfchliefern, das Unterholz, das Eichen, geſtruͤppe, die niederen Nadelbaͤumchen, waren ſo vergraben unter ber fhimmernden Laft, daß man nicht ahnen konnte, was unter dem Schnee für fonderbare Seftalten ſteckten. Es war, als hodten uͤberſchneite Bärenfamilien in den tollften Sprüngen erfroren unter dem Schnee, ober naͤrriſche Kerle, die miteinander ſchwatzten, zueinander gebeugt, oder tan⸗ gende Hexen, fpringende Schweine, uufammengelauerte Ge; falten aller Art. Eine ganze Raͤtſelwelt, von ben weißen, leuchtenden Maflen überdedt.

Die Luft war fill, kein Windchen regte fih. Wenn ber alte Sepp durch die heilige Stille Die Peitſche ſchwang, riefelte der Kriftallfiaub von den Bäumen.

Der junge Mann ſaß fchweigend und ruhlg um fi fhauend in den Schlitten zurädgelehnt. Der Drud des Abſchiednehmens war von Ihm gewichen, und er ließ es fih wohl fein. |

Das Stüd Heimat, das da neben Ihm faß, fehlen weder hindernd noch aquälend auf fein Gemuͤt zu wirken.

Des Mädchens Blide waren bin und wieder auf ihn ges richtet, aber nicht dringlich, nicht mit der Aufforderung, irgend etwas gu tun ober gu laffen.

2 Böhlau III. 17

„Sieh, daß du beine Strämpf’ ein Bifferl in Drbnung haltft”, fagte fie nach langem Schweigen.

„Wie denn in Ordnung?“

„Wirſt ſchon willen, was ich meine.” Sie lächelte gut und heiter. „Das ftellt fich fo ein Menfch nicht vor, was für Not man mit ihm bat.”

„Große Not!” fagte er behaglich lachend. „Was bu Not nennſt!“

Sie laͤchelte ein wenig traurig wie in Gedanken.

Dann waren ſie wieder ſtill miteinander und der Schlitten flog immer weiter, weiter wie ein Vogel.

Sie war eine gute Begleiterin, ſie ſtoͤrte ihn wirklich nicht, und er hatte nicht das Gefuͤhl, ſie unterhalten zu muͤſſen.

Es gibt Leute, die das Leben Ihres Nebenmenſchen als ben Hauptſtrom betrachten und fich felbft nur als Bächlein, das dem Strome nichts entzieht, fondern Ihm feine eigenen Wellen leiſe, unmerflich zutraͤgt. Und fo ein Steom bemerkt es kaum, verfolgt feinen Lauf gedankenlos weiter, Möglich, daß er, wenn die flillen Wellen, die Ihn ftärken, einmal ausbleiben, den Verluſt bemerken wird.

„Sag’ einmal, Anne, du koͤnnteſt Doch bald einmal wieber in die Stadt kommen?”

„Ja, wie foll ich denn abkommen?“ Und nach einer Pauſe fragte fie weiter: „Uber du, mit beiner Wohnung, wie iſt denn! da8 gehft bu denn doch wieder in bie alte?“

„Ich den’ ſchon.“

„Nein, du mußt dir eine andere nehmen, ſei nicht ſo faul, Friedel. In der Salzſtraße ſtecken zu bleiben wie kannſt du nur! Wie wir bei dir waren, verging mir Hoͤren und Sehen!“

„Da ſollteſt du einmal nachts da ſein. Das iſt, wenn man nicht wie ein Baͤr ſchlaͤft, zum aus der Haut fahren. Mir, gottlob, macht's nichts nur ein paarmal da wurde ich aber wuͤtend. Wie du gelacht haben wärbeft,

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wenn du nich Hätteft fehen können! Stell Die vor, Ich konnte nicht einfchlafen und hörte die ganze Gefchichte, alles, was fie da treiben was man fonft fo verſchlaͤft. Ein folcher Bahnhof in ber Nacht iſt die Hölle! Stodbunfel und aus der Duntelheit Töne und ein Würgen und Arbeiten, ein Raffeln und Wuͤten, Schreien und Pfeifen. Und in einem fort in einem fort. Nie fängt’ an und nie hoͤrt's auf. Ste werden nie fertig. Es bat fo etwas Verzweifeltes und Immer wie in hoͤchſter Not die Rufe klingen wie Uns glädsfchreie, das Naffeln, als wenn etwas Entſetzliches ges fheben wäre. Das Puffen und Stoßen, ald wenn etwas Lebendiges zerquetſcht würde. Man ftellt fich die graͤßlichſten Dinge vor und alles klingt wie ewige Aufregung, ewiges Überangeftrenstfein erbarmungslos und finnlos. Als wenn Wahnfinnige toben und fchieben und poltern und puffen und heulen und fohreien und braufen und pfeifen. Man kommt in eine Spannung, in eine Wut! Es ift, als wenn man bag fürchterlichfte Fieber Hätte und die draußen wüten fort wüten fort ohne Ende. Jetzt hat's geflappt, gerollt, gepufft, fih eingehängt, gerabe als wenn’s fertig und zufrieden wär” Gott bewahre es geht von neuem los! Da kommt wieder etwas Neues angewuͤtet, anges brauft, angeheult. Große Gefchichte, dachte Ich das erfte Mal das werben wir gleich haben verfiopfte mir die Ohren. Proft Mahlzeit! Und dann wie ein Narr widelte ich mir bie Hofen um den Kopf, fo feft und fo di wie’8 ging. Wie ein Warenballen! Und heiß! Uber durch jebe Ritze Drang das Gewuͤte ſcheußlich! Das war bie erfie Naht damals wollte ich natürlich gleich ausziehen; aber da lachte meine Hauswirtin und ihre Tochter, und beide fagten: „Sa, bie erfte Nacht! Das hat aber gar nichts auf fih. Wir haben uns gang baran gewöhnt. Es iſt noch befler als manches andere. Und fchlteßlih Hört man’s gar nicht mehr, Da kommt's einem vor wie die größte Stille‘.“

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„Das war das lange Mädel, bie das gefagt bat die wir bei dir ſahen?“ fragte Anna.

„Jawohl, bie Fanny.”

„And du bift geblieben ?”

„Du weißt“s ja.”

„Und haft dann gefchlafen ?"

„Sur gewöhnlich, ja. Manchmal nicht, dann hab’ Ich 90 hoͤrig geflucht.“

„Aber biſt geblieben?“

Weshalb fragft du Denn?”

„Ja, weil ich nicht begreife, wie man in einem ſolchen Hoͤl⸗ lenlärm bleiben kann, ohne Grund.”

„Der Grund war, daß ich faul Bin. Außerdem taten bie Leute mir leid. So fortgehen! Und fie verforgten mich auch aut.”

„So! Du, fer nicht 588 anf mich“, fagte das Mädchen langſam und bebächtig und fah Ihm gerade In bie Augen. „Iſt das lange Mädel dein Schag ?”

„Du bift einzig!”

„Weshalb nicht”, fagte fie einfach. „Gefallen tät’ fie mir nicht; aber Geheimniffe haben wir doch nie voreinander gehabt.”

„Übrigens iſt fie nicht mein Schag. Sie möchte wohl, Weißt du, bie Frauenzimmer. Wenn ich dich und die Mutter nicht kennen würde... was man fo von Frauenzim⸗ mern gu fehben bekommt Gott weiß wie foll ich fagen...” Er ſchwieg und fie blickte mie Aufmerkſamkeit aufihn. „Weißt du, man fagt bach fo: das Weib foll rein fein,”

„Sa, fie follen alle gut fein, Die Weiber und die Männer fie follten fie find aber beide gute ober boͤſe Menfchen, ober reine oder ſchmutzige Menſchen fo.”

„Ja na. Was fagft du dazu, wenn ein junges Frauen⸗ zimmer einen auredet, wie ſoll ich fagen... als wenn ſie verliebt waͤre ſo weißt du?“

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„Wie denn, ba wifpert fie bi auf der Straße an oder wie?“

„Jawohl. Nennft du das rein?”

„Wenn bu fo irgend etwas herausgreifft wie foll ie da willen. Da mäßt Ich erſt das Mädel kennen und genau erfahren, wie e8 gekommen iſt, Daß fie dich fo anfpricht. Sie tut e8 doch nicht fo ans heiler Haut, wenn es auch fo aus⸗ fieht, da iſt eine lange Geſchichte vielleicht eine traurige Geſchichte. Uber sieh weg aus der Salzſtraße. Gar, wenn du weißt, Daß das lange Mädel dein Schag fein möchte. Da blieb Ih Hoch nicht, wenn Ih wüßte, ein Mann will mein Schag fein, und Ich mag nicht. Schau, ihre tut euch leicht.”

Ste fprach ruhig und gerade heraus,

„Ja, ja, '8 iſt ſchon recht, Ich sich’ aus”, antwortete er und lachte gutmuͤtig. „Wenn ich aber wirklich einmal einen Schatz habe, muß Ich’8 die Doch ſagen.“

„Abgemacht.“

Er reichte ihr die breite, feſte Hand hin.

„Und umgekehrt?“ fragte er.

Da ſchuͤttelte ſie den Kopf. „Beicht’ bu nur, von mir ers fährft du doch nichts.”

Sp fuhren fie Hin durch die fchneegligernde Pracht.

„Hoͤre, Anna, fuͤhlſt du dich nicht verdammt einfam da oben ?”

„Einfam kann man fih überall fühlen. Weiße du, wenn man zufrieden iſt, fühle man fich nicht einfam.”

„Stmmt”, fagte er.

„Das aber könnteft du tun, fehreiben, wenn es bir gerade paßt alles auch das Kleinfte. Wir leben Immer mit die fort da oben, und die langen Abende weißt du die Mutter fagt bann: Wo er wohl jetzt Ift, was er wohl tut? Sp etwas, Du mußt halt fo ein Biffel deutlicher fchreiben

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und dabei an ung oben denken und am die filllen Abende auf Rohrmoos.“

Er verfprach es.

„Du“, fagte fie nach einer Weile. „Damals, wie wir bei dir in Münden waren, bat mirs nicht befonders gefallen, wie die Männer mit ben Frauen und Mädchen fprechen.“

„Wieſo denn?”

„Munatürlich.”

„Sp.“

„Jawohl.“

„Es iſt ſo etwas dabei, als wenn ſie einen nicht fuͤr voll anſaͤhen.“

„zun fie auch nicht.”

„And das fasft du ſo —“

„Kann Ich was dafür?“

„And dann wieder diefe Höflichkeit und das Getu man kommt fih ganz albern dabei vor. Ich hart’ ihnen Ing Geſicht lachen können und Ich hätte es Ihnen auch fagen mögen.”

„Haͤtteſt du's doch getan.“

„Ja wie denn? Ach dachte immer, daß fih die Mädchen nicht dagegen wehren! aber wie follten fie denn? Eine allein? die hätten fie doch nur ausgelacht. Du, lern’d nur nicht etwa fo.”

„Ste wollen’8 ja aber.”

„3b, seh. Die dummſten Gaͤnſ' vielleicht. Wegen denen muͤſſen wir andern doch net...”

„Das iſt nun einmal fo“, antwortete er wieder ruhig und behaglich.

„Du laͤßt dir auch ein biſſerl viel gefallen, duͤnkt mich“, begann ſie nach einer Weile wieder.

„Oho“, ſagte er.

„Ja, du biſt eben bequem.”

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„Du meinft, ich hab’ gern meine Ruh’? Stimmt aber mit dem ‚Sefallenlaffen‘, nein, da irrſt du dich!”

„Dit deinem Namen das Gern, das läßt du die doch ruhig gefallen... ‚Baftelmeier‘, weshalb nennen fie dich denn fo? und dann ‚Maftelmeter‘ und ‚Bhchfelmeier‘ und was alles hängen fie dir an und ‚Comme il faut-Meier‘ ‚Spedmeier‘ I”

„So na, große Seſchichte das hat alles feine Bes deutung was iſt da weiter man muß Spaß verfiehen. Büchfelmeier, das kommt davon, bu weißt ja Ich lieb⸗ mein Sach’ beieinander. Das Herumfahreulaſſen, das kann ich nicht leiden. Ordnung muß fein. Ich geb’ zu, es gibt reichlich Buͤchſen und Büchfel Bei mir und allerlei Dinge, bie meines Dafürbaltens ein orbentlicher Menſch befiten muß. Auch die Abrigen Namen haben alle ihre Gefchichte; aber weshalb denn nie? Speckmeier, zum Beiſpiel. Der Schlantefte bin Ich nicht und wenn fle’d ausfprechen, was mal ift, da kann ich nicht Laͤrm ſchlagen.“

„Da bift aber nicht fett“, fagte fie.

„Weißt du, die Raſſe iſt gut, die beiden Alten machen mir nicht gerade Furcht, einmal auseinander gu fließen; aber man merkt mir’d fon an, daß ich net ſtuͤrmiſch bin.”

„Das bift bin nicht”, beftätigte fie.

„Ra, vielleicht mal in der Liebe Herrgott noch einmal, bis jege Bin ich ſoweit verſchont geblieben. Unbernfen! Greulich, daß ein jeber es ausprobteren muß alfo abs warten.”

Sie lächelte.

„Du kommſt mie oft jünger vor, als Ich Bin“, fagte fie.

„Das iſt viel geſagt. Duͤmmer meint bu wohl Dante.”

„Du weißr’8 fchon, wie ich's meine.”

So fuhren die beiden jungen Leute plaudernd miteinander bin, dem Ziele zu.

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„Gottlob,“ fagte er, „daß es außer meiner Mutter für mich noch ein Weib gibt und dazu ein junges Weib, mit bem man reden kann, ohne Furcht vor den verdammten Liebes⸗ gefchichten. Daß das euch Weibern fo in den Gliedern ſteckt! Es iſt wirklich greulich.“

Ste erroͤtete bis unter die Haarwurzeln.

„Alſo abgemacht“, ſagte er, als er nach kurzem Auf⸗ und Niedergehen auf dem Perron der kleinen Station in ein leeres Coupe zweiter Klaſſe ſtieg. „Wenn Ich einen Schatz hab’, biſt du Die erfte, die's erfährt, und gefällt er dir nicht, verabfchleden wir ihn.”

„Die Abmahung möcht ihr nicht gefallen, wenn fies wüßte”, fagte das junge Mädchen.

„J was? Übrigens fer ruhig, du fagteft vorhin mit den Steämpfen Ih paß ſchon auf.“

„Du haft diesmal zwei einzelne mitgebracht.”

„zenfel auf. Da find die Mafchweiber fhuld daran. Ich werd’ ihnen fon auf die Singer ſehen. Verlaß dich drauf.“ |

Da lachte fie Aber Ihn. Der Zug kam in Bewegung; es feuchte, bampfte, braufte, pfiff, droͤhnte, laͤutete.

Die Befchreibung vom Rangierbahnhof kam ihr in ben Sinn und fie rief: „Du, mit ber Salzſtraßen, daß du mir das nicht verſaͤumſt!“

„Gleich wird’8 gemacht!” rief er Ihe noch von weiten zu und dann „Grüße, Gruͤße an bie Alten oben” und fort war er.

Das junge Mädchen fah dem Zuge nach, die Augen wurden ihr truͤb. Zwei Tränen rollten bie frifchen, von ber Kälte gerdteten Wangen herab.

„Der tut fich Teiche”, fenfste fie errest. „Das hätt’ er jegt fehen follen! Herr, du mein Gott!”

Ste wifchte ſich die Tränen weg und ging feften Schrittes sum Schlitten.

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„Sepp”, fagte fie. „Beſorg', was du gu beforgen haft, und fomm mir nad.”

- Der Alte nidte und das Mädchen ging vorwärts, leicht; fuͤßig, als wög’ das Herz Ihr nach dem Abſchied fein Quent⸗ den, und fie teng Doch ſchwer daran Abſchiedsſchmerz iſt feine leichte Sache. Das hätte ihre aber einer jet anſehen follen ! Ä

„Mit die, du dummer Bub, werd’ Ich wohl fertig werden |“ faste fie im fchnellen Gehen vor fih hin. „Wär’ nicht Abel.” Und da Hang ein Jodler durch bie frifche Kälte In die Eins famteit hinaus fo ein Jodler, ber alles, was das eins geengte Menſchenherz beſchwert, wie anf großen Fluͤgeln über die ſtillen Berge und Täler trägt. |

Zweites Kapitel

te treffen den Friedel Gaftelmeier in München wieber.

Seinen Handkoffer hat er dem Portier auf dem Zentralbahnhof übergeben und jetzt ſchlendert er in bie Stadt Hinein. Es iſt bei Ihm abgemachte Sache. Das alte Quartier in ber Salzſtraße nimmt er nicht wieder kehrt überhaupt gar nicht mehr dahin zuruͤckk. Weshalb foll er fich der peinlichen Gefchichte ausſetzen, von den beiden Frauenzimmern fih zu vers abſchieden? Und fort muß er, da tft nichts zu machen. Er hat's ihr verfproden. Und wahrbaftis, fie bat recht. Er Hat fih dort verhätfeheln laſſen, es iſt ihm vorteefflih ergangen fie haben Ihm alles an den Augen abgeſehen. Er bat für die Bequemlichkeit den verfluchten Laͤrm in Kauf genommen und noch etwas. Er war fo ein fchlauer Vogel geweſen, ber es vers ftanden hatte, die Lodfpeife zu frefien, ohne fih in ber Schlinge gu fangen.

„Na ja! Was foll man machen bei dieſem Menſchenhandel? Übers Ohr hauen, wie das bei jebem Handel uͤblich if. Scheußlih, wie man in fo etwas hineinkommt“, philo⸗ fophierte er und fchlenderte weiter. „Naja, entweber man läßt ſich ausnuͤtzen oder man nuͤtzt aus. Es ift da gar nichts gu machen. Und diesmal foll mich ber Teufel holen, wenn ich irgendwohin gehe, wo eine Tochter im Hans iſt. Aber wie fie das alles durchfchaut hat, fie, die nie von dba oben berablommt. In Liebesfachen haben die Weiber Eins gebungen.“

So kam er in Cafe Luitpold an, hatte vorher noch einen Dienſtmann in die Salzſtraße geſchickt, um die uͤbrigen Sachen holen zu laſſen, die er als vorſichtiger Mann wohlverpackt hinterlaſſen hatte. Im Cafe Luitpold wurde er an ſeinem Stammtiſch von einigen Kollegen begruͤßt.

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„Spedmeier! Comme il faut-Meier! Buͤchſelmeier, gräß Gore!”

„Da wären wir wieder.” Damit rädte er feinen Stuhl und faßte wohlgemut Poſto.

Er ſtand trotz „Speds und Buͤchſelmeier“ in gutem Anfehen bei feinen Kameraden, die ihn für einen tuͤch⸗ tigen Kerl in jeder Beziehung hielten, und feine Heine Eigenheiten waren auch ein Vorzug, befonders well er durchaus Spaß verfland. Er war ein prächtiger Kerl, darin ſtimmten fie alle uͤberein. Für einen Kuͤnſtler etwas pedantifch, Daher „Buͤchſelmeier“, aber gegen feine Kuͤnſtler⸗ (haft war eigentlich nichts einzuwenden. Er arbeitete fimpel vor fich hin, ohne viel Aufhebens. Und was er fertig brachte, Hatte auch fo etwas Simple, Gutes. Er war Landſchafter, malte fleißig und verkaufte fogar, und dag will viel fagen.

Nur in einem, da verſtand er feinen Spaß. Friedrich Gaftels meter, der brave Burſche, hatte mit feinen achtundzwanzig Jahren es zu einer behaglichen Körperfülle gebracht das war Tatfache, damit hatte er fih abgefunden. Er fand auch, daß diefe Fälle ihn nicht übel Heibete, und hatte recht; aber eine andre Tatfache, die nahm er nicht fo kuͤhl und einfach bin, es hatte fih bei ihm fruͤhzeitig ein sans anfehnliches Glaͤtzchen eingeftellt. Davon wollte er nichts willen. Er ges brauchte allerhand Haarmittel. Man erzählte fih, daß er auch ſchon bei einem Haardoktor geweſen fei alles vers geblich; die Flaͤſchchen, die feine Haarmittel enthielten, ſtanden jeboch nicht mit den Abrigen auf feinem Waſchtiſch aufgepflanzt. Er hielt fie verfchloffen, denn er ſchaͤmte fich ihrer. Was mit dem Glätchen sufammenhing, war fein wunder Punkt. Das hatten bie Kollegen längft weg, denn fie hatten einft auch begonnen, das Glaͤtzchen fpaßhaft gu nehmen, waren aber bei Freund Gaftelmeier übel ans gekommen, ber fein Slaͤtzchen verteibigte wie eine Loͤwin

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ihe Junges. Es war in biefer Beziehung bie größte Vor⸗ fiht geboten,

Und fie waren vorfihtig, nachdem fie in feinen Seelen; zuſtand Einhlid genommen hatten. Diefen guten Menfchen zu Franken, kam thnen nicht Bei, und fie machten unter der Hand Fremde, die in Ihrem Kreife anftauchten, auf Gaftels meiers Eigentuͤmlichkeit aufmerffam, um feine empfindliche Hergensftelle vor unberufenen Fingern gu behüten. Dem Heinen Gaftelmeler erging es allenthalben gut, benn er war gern gefehen.

Heute teilte er feinen Kollegen mit, daß er nicht in fein altes Duartier zuruͤckkehren werde, bat zu gleicher Seit bie Kellnerin um die „Neueſten Nachrichten” und war bald In die Inſerate vertieft.

„Büchfelmeter, aber nun fuche bie bie Bude einmal möglihft nahe bei deinem Atelier, fei fo gut. Das iſt ja ein Unfinn, wie bu bie bie Sache eingerichtet haft”, fagte einer. „Ufo Schellings Barer⸗ Bluͤtenſtraße etwas.”

„Gib einmal Her.“ Gaſtelmeiers Gegenüber ftredte bie Hand nach der Zeitung aus und nahm fie an fih. „So, jetzt paß auf. Werden wir gleich haben.”

Inzwiſchen nahm Gaftelmeier die Einladung eines feiner Kollegen, bis fih etwas gefunden, bei ihm auf der Stube gu wohnen, dankend an.

Ste fuchten jetzt In den Inſeraten und es fand fi etwas.

„Da gehft du Hin zu allererfi. Hoͤr mal: „Zu vers mieten!" alfo: ‚Es wirb vermietet noch einmal! Unprattifche Leute! Alſo: ‚ES wird vermietet ein Zims mer. Suͤdſeite, auf längere oder auch kuͤrzere Zeit, nach Bes lieben, Schaut ganz Ins Grüne‘ In biefer Jahreszeit nicht übel ‚ift originell möbliert‘. Weiter: ‚Preis nach den Verhältniffen des Mieters‘. Was fagft du dazu? Sollte

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man es nicht mit dieſer komiſchen Helligen verfuchen rieflg unpraktiſch!“

„Das hat eine alte, poetiſche Jungfer geſchrieben“, ſagte Buͤchſelmeier. Da waͤre man ja auch vor einer Tochter ſicher.“

„Moͤglich“, ſagte einer.

„Na, wollen ſehen“, meinte Gaſtelmeier. Und ſo ging er noch dieſen Tag in der letzten hellen Nachmittagsſtunde in die Bluͤtenſtraße, um beſagtes Zimmer in Augenſchein zu nehmen.

Drei Treppen hoch flieg er Im Ruͤckgebaͤnde, das frei und Iuftig in einem Garten lag.

„Drei Treppen Rüdgebäude na” brummte er zweifelhaft. Das war nicht fo ganz, was er wollte, aber FIN, ja das fchien es gu fein. Etwas ſteile Stufen. In der Stadt liebte er feine Bequemlichkeit. Es waren Im Haufe meiſt Ateliers, nur im dritten Stod fchien eine Familienwohnung zu fein. Da ließ fich vielleicht mit ber Zeit etwas machen. Er koͤnnte auch fein Atelier Hierher verlegen. „Wollen ſehen.“ Sp flieg er Stufe für Stufe gemaͤchlich hinan und fchellte endlih. Es war eine Klingel, bie kaum einen Laut von fich gab, als wäre fie heifer oder als Hätte man Ihr etwas ums gewidelt, um ihren Klang zu bämpfen.

Diefer Umſtand fiel Gaftelmeier auf, beſonders da er dreimal fih bemerflich gu machen fuchte ohne Erfolg.

„Schließlich liegt da wer krank. Proſt Mahlzeit! Mad daß du fortkommſt, Alter. Sonderbares Bolt erſt ein Sinferat, darauf ummwideln fie das Läutwerl. Dis is nix.“

Mit dieſer tiefſinnigen Bemerkung wollte er eben ſich an⸗ ſchicken, die Treppe unverrichteter Sache wieder hinabzuſteigen, da tat ſich ganz unvermutet die Tuͤr auf und eine ſchmaͤchtige Perſon in mittleren Jahren, mit unruhigen Augen, in einem ſchwarzen, engen Gewand, ſtand vor ihm.

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„Bas wünfchen Sie, mein Herr”, fagte fie auf eine Weiſe, der er im flillen bie Bezeichnung „mabamig” gab. Trotzdem fie eng und fchmächtig gekleidet war, fah er fie im Gelfte vor fih in weiter Krinoline mit einem Kleide, das aus lauter Garniernngen beftand, einem hohen Federhut mit Fächer und einem tärkifchen Schal.

Eine fo gefleibete gesierte Dame hatte er als Kind in einem Bilderbucde kennen gelernt, und die Stallmagb hatte ihm gefagt, daß das eine „Madame“ fei. Seitdem wußte er, was eine „Madame“ war und die da vor ihm fand, war eine „Madame”. Das ftand feſt.

Sie Hatte Abrigens ein eigentämlich vergeiftertes, wenn nicht gar vergeiftigted Geſicht und fah gefcheit und aufgeregt aus.

„Dieſe Perſon kocht ſchlecht,“ dachte Speckmeier, „und naͤhrt ſich ſchlecht. Das werden die alten Fraͤulein wohl ſo an ſich haben.“

„Rein Fraͤulein, Ste haben ein Sinferat ...“

„Jawohl, mein Here”, unterbrach fle ihn mit Granbessa. „Bitte, treten Sie ein.”

„Ich erlaube mir, Sie darauf aufmerkſam gu machen, daß Ihr Laͤutwerk nicht In Drbnung iſt. Da Sie Mieter erwarten, ſcheint mir das nicht ganz praktiſch zu fein”, fagte er, während er ber Dame duch einen dunkeln Korri⸗ dor folgte, und befam zur Antwort, daß es allerdings in Ordnung fel.

„Wie baämpfen bie Glode etwas ab”, faste die Dame, „Das Leben bringt genug Lärm und Unruhe mie ſich.“

„S9”, fagte Gaftelmeier und dachte bei fih: „Was hat denn fo ein altes Fräulein unter Laͤrm und Unruhe gu leiden, wenn es Im Garten, britten Stod Im Hinterhaus, wohnt, und nicht einen Rangierbahnhof gegenüber hat.“

Die unruhigen, großen Augen bee Dame aber fprachen auch nicht von Ruhe und Behagen.

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r-

„So Altlihe Fräulein, Die machen Immer Gefchichten und geben feine Ruhe und könnten es fo gut haben“, philo⸗ fophierte er weiter in dem Thema, über das er nicht viel Erfahrung befaß. Bisher Hatte er fih um Altliche Fräulein herzlich wenig Sorge gemacht.

„Bitte, treten Sie ein, das iſt bag Zimmer.”

Er war bereit, einzutreten; aber bie Tür geigte fih ver⸗ ſchloſſen.

„Herrgott, wer wird nun den Schluͤſſel haben!“ ſagte die Dame ziemlich faſſungslos, als wenn dieſer Schläffel uns wiederbringlich in einen Abgrund geſtuͤrzt waͤre.

„Emil,“ rief ſie laut und ſo, als haͤtte ſie ſchon hundert⸗ tauſendmal auf die gleiche Art „Emil” gerufen.

„Ste hat einen Emil“, dachte Saftelmeter ohne weitere Kritik.

Aber Emil kam nicht.

„Bitte“, ſagte bie Dame wieder ſehr fein, und diesmal follte e8 bedeuten, Daß er etwas gu warten babe.

Sie verfhwand in der gegenäberliegenden Tuͤr und kam eine geraume Weile nicht wieber. Endlich oͤffnete fich Dies felbe Türe, der vergeifligte Kopf kam zum Vorſchein und: „Bttte”, fagte bie Dame fo ausdrucksvoll, daß Gaftelmeier nicht im Zweifel war, daß er in bie eben geöffuete Tuͤr eins zutreten babe.

In dem Zimmer ſaß Emil, ein dicker Burſche von ſechzehn bis ſiebzehn Jahren; nachläffig hodte er auf einem alten Lehnſtuhl und hielt die Zeitung in der Hand.

„Emil, beftinn’ dich doch!“ ſagte bie Dame ganz verängftigt und erregt.

Emil hatte fih bei dem Eintreten des Fremden ers hoben.

„Mama,“ fagte er, „ben haft du dba weiß ich nix.“

„Rama das verwunderte Gaftelmeler doch einiger; maßen. Diefe Unbefangenbeit bes alten Fraͤuleins!

3I

Der bide, blonde Knabe ließ fich, nachdem er feiner Meinung nach genug geſtanden hatte, feufjend wieder nieber und fagte: „Erwin oder Olly könnten ihn auch etwa haben.”

Auch noch einen Erwin und eine Olly!

Schließlich Fam es Gaftelmeter vor, ald wenn es mit dem alten Fräulein eine noch nicht völlig ausgemachte Sache fet. Weshalb follten es nicht auch ganz geordnete Verhaͤltniſſe fein, in die er da geraten war; was man fo geordnete Vers hältniffe in einem gewiflen Sinne nennt.

Die Dame aber bekam deshalb nichts Frauenbafteres für ihn. Ste fuhr immer noch herum und fuchte nach dem Schläßs fel, zog Schubfächer auf, in denen es nicht befonders eins ladend ausfah.

Aus einer Kommode hingen einige Bänder heraus und ein wirrer Klumpen, ben allerhand Faͤden und Schnärchen und Läppchen und Schnigel gebildet hatten, Gewiß ein fehr näßlicher Klumpen, benn es war fo ziemlich alles Darin zu finden, was ein Frauenzimmer gu Flidereien brauchen konnte. Gaſtelmeier vertiefte fich in biefen Anblid und dachte dabei an das SHellistum, das feiner Mutter Naͤhwerkzeuge und Materialien miteinander barfiellten, und es wurde ihm Har, daß das bewußte Inſerat in den „Neueften Nachrichten“ nicht das rechte für ihn fet.

Doch als er fagen wollte, daß ſich bie guäbige Frau nicht weiter bemähen folle, er kaͤme ein andermal wieder, ba fand fich der Schläffel, Ste Hatte ihn in der Taſche. „Siehſt du“, faste Emil, der in aller Gemuͤtsruhe figen geblieben war, weile, während feine Mutter zum größten Arger Gaftels meiers der Schlüfleljagb oblag.

„Schöne Zucht das”, dachte er.

„Das tft das Leben!“ fagte fie. „Ste werben es auch noch kennen lernen, Here...”

„Saftelmeier, mein Name iſt Gaſtelmeier. Verzeihen gnädige Kran, daß ich verfäumte.. . .”

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„Ste find Seihäftsmann?” fragte die Dame. „Kunftmaler, wie wie hier in München fo fchön fagen.” Ein „Bravo !” war ihre Antwort.

„Das fcheint ihe befondere Freude zu machen”, Dachte er.

„Run kommen Ste bitte.”

Jetzt wurde das Zimmer wirklich gezeigt und es war, mit feinem Blick in einen Garten, nicht übel. Suͤdſeite allerbingg nicht. Es lag nach Weſten. Driginell eingerichtet, wie es Im Inſerat hieß: das fiimmte. Es war etwas Angenehmes in dem Raum zu fpären, etwas, das auf verfeinerten Lebeus⸗ genuß hindeutete. Da hing allerhand und lag allerhand, was In gewöhnlichen „möblierten Zimmern” nicht hängt und liegt. Die Möbel fanden fo gewiffermaßen unternehmend da, meift an Stellen, bie wahrhaft fühn gewählt waren. Das Zimmer hatte das, was Gaftelmeler in feinem Atelier gern zuſtande gebracht Hätte, was ihm aber nie geglüdt mar und was er als vernänftiger Mann laͤngſt aufger geben hatte.

Aber er war fich feiner Sache ganz ficher. Hier blieb er nicht, Die Leute waren ihm nicht behaglih. Eine Frau darf nicht wie ein altes Fräulein ausfehen, war feine Anſicht. Eine Stau muß gemärlich ausſehen. Mau muß fih bei Ihrem Anblick allerlei Augenehmes, Seelenberuhigendes vorftellen fönnen, gut zubereitete Lieblingsſpeiſen, einen appetitlichen Waͤſcheſchrank, liebevoll ſauber gehaltene Betten, ungesählte Sutenachtküffe, die fie Ihren Kindern gegeben und von Ihnen bekommen bat, ſoviel Pflege und Liebe, die fie ihr Lebtag ausgeteilt hat: bas muß alles fo von ihr ausſtrahlen, wie dag Licht vom Monde, Er dachte an feine Mutter, an bie einfache Stan.

In feiner Kindheit hatte er das Gefühl gehabt, als hätten bie Mütter und der brennende Chriſtbaum etwas gemein miteinander. Und das hatte er nicht vergeflen. Von einer Frau verlangte er was er felbft nicht in Worte faſſen konnte,

3 Böhlau LI. 33

was ihm aber im Gefühl feft und Har lag. Er, ber fimple Menſch, war ein Schwärmer In bezug auf die Frauen und war darum immer enttäufcht von ihnen,

Er Hatte fih länger im Zimmer verweilt, als es unbebingt nötig geweſen wäre, entfchulbigte ſich, machte einige nichts⸗ fagenbe, unbeflimmte Redensarten und empfahl fih. Ehe er die Tuͤr Hinter fich fchloß, fragte er noch nah dem Preife der Wohnung und wußte felbft nicht, weshalb er das tat, denn er war feſt entichloflen, nicht zuruͤcu⸗ fommen,

„Den Preis?!" Die unruhigen Augen ſahen ihn fragend an, ale wollten fie dieſen Preis von ihm felbft erfahren. „Da hab’ ich wirfiih noch nicht nachgedacht. Sa, ich weiß nicht, die Stube iſt habſch, was gibt man denn fo?”

Ste fprach wie von etwas, was fie gar nichts anging und unter ihrer Wuͤrde lag. Er lächelte und ſagte: „Na, Ich denke, dag wird fih ſchon finden.”

Die Tür ſchloß fih und er hörte noch, wie die feltfame Vers mieterin nach „Emil!“ rief,

„Der wird hören!” dachte Gaſtelmeier „biefen biden, bequemen Froſch Haben Sie fich nett gegogen, verehrte Dame.” Er ftieg die Treppe weiter hinab. Jede Etage hatte eine Tür, von ber aus brei ſchmale Stufen direkt auf die Haupttreppe muͤndeten. In der erflen Etage ging es hinter dieſer Tär fehr munter gu. Lachende Mädchenfiimmen.

„Auch ein Atelier”, Denkt Gaſtelmeier und fieht gerade vor der Tär,

Die tut fih auf und Saftelmeter weiß nicht, wie Ihm geſchieht.

„Auch ein Atelier“, war für eine Welle ſein letzter Harer Gedanke gewefen. Etwas ift aus Der Tür geflürgt, Die Stufen berabgeftolpert, über Ihn hingefallen. Er hat ſich kaum auf den Beinen halten können, iſt gegen das Geländer gepreßt,

—X

ein paar Stufen hinabgewankt mitſamt feiner Lafl, die auf ihn gefallen iſt.

„zante Nebella, Tante Rebella, ums Himmels willen!” ruft e8 aus verfchiebenen Kehlen. Köpfe zeigen ſich an ber Tür. Jetzt kann Saftelmeler auch wieber um fich ſchauen. Er iſt nicht mehr befchwert. Neben ihm flieht ein Mädchen, das ans bunflen Augen Ihn entfeßt anflarrt. Sie flieht noch nicht wieder feſt auf den Füßen der eine hat fich Ihr im Kleide verwidelt und fie Hat ihn noch nicht wieder freibekom⸗ men. Aber in ihrer Rechten hoch erhoben hält fle eine große Palette voller Farben, von der im Fall ein Stuͤck abgebrochen iſt mitſamt den Farben und das Städ liegt ober Hebt vielmehr auf Gaſtelmeiers Schulter. Auch hat bie Palette feine Wange geftzeift.

„Rein Gott”, ſagt das Mädchen. Tränen fiehen Ihr In den Augen, Sie ift dunkelrot vor Schred.

Eins der Mädel kommt jegt aus ber Tuͤr und nimmt ihr bie Palette aus der Hand.

„ante Rebella bat fih bach nichts getan?!” rufen bie andern.

„J bewahre”, fast das Mädel, die ihr die Palette abs genommen und die Kamerabin auf bie Fuͤße gebracht bat.

Gaftelmeler hat feine fünf Sinne noch nicht wieder recht beifammen auch er fühlt fich, gottlob, froß aller Vers wirrung ungerbrochen.

„Das war nun fo ein Eiſenbahnzuſammenſtoß, mein Fraͤulein. Aber mir feheint, wir find mit heiler Haut davon⸗ gekommen.“ |

„a, wie,” meinte das junge Mädchen zaghaft, „aber Ihr Rod, Sehen Sie nur”, dabei zeigte fie mie bedenklichem Ausdruck auf das abgebrochene Stüd Palette, das noch auf Gaſtelmeiers Schulter Hebte, und entfernte es vorfichtig mit fpiten Fingern.

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„Ih glaube,” fagte fie, „Sie muͤſſen su ung mit hinauf; fommen, die Fleden werden Ahnen dann ganz gut abs gewaſchen.“

„Das Geſcheiteſte wär’ e8”, ſagte eine von den Malerinnen, die da herumſtanden.

Und fo fitegen fie miteinander bie fiellen Stufen hinauf, bie Gaſtelmeier eben feft entfchloflen geweſen war, nicht wieber zu erſteigen.

Sie ſchwiegen beide.

„MRebella heißt fie,” dachte er, „alſo die Olly iſt's nicht bie Schwefter von Emil. Alfo auch eine Nebella gibt's da oben!” Denn daß fle gu ber Anferatenfamilie gehörte, war ihm eine ausgemachte Sache. Ste fanden jetzt vor der Tür, bie fich vor kurzem Hinter Gaſtelmeier gefchloflen hatte, und Rebella bearbeitete diefe Tür energifh mit einer zarten, aber feften, Heinen Fauſt. „Mama liebt die Klingelel nicht”, fagte fie zur Erflärung.

Das wußte er bereits.

Jetzt aber hatte er Muße, bie Heine Here zu betrachten; weder Mama noch Emil erfchienen, und bie Teommelverfuche wurden eine geraume Zeit lang fortgefebt.

Rebella war eine Tiebliche und zugleich eigentämlide Er⸗ ſcheinung. Bluͤtenjung zierlich faſt ſchmaͤchtig ein feines, blaſſes Geſicht, dunkles, lockiges Haar, das nachlaͤſſig in einen Knoten geſchlungen war, und dunkle, heiße lebhafte Augen, ſie erinnerten ihn ein wenig an die der Mutter deren Augen aber waren blau und nicht warm, nur unruhig. Ihre Geſichtsform fiel ihm beſonders auf. Breite Stirn und dazu ein zierliches, ausgeprägtes Kinn, fo daß die Kon⸗ turen fich von ber Stirn gegen das Kinn Hin fchnell rundeten.

Ein Goetheſcher Vers fiel ihm ein:

Boll Loden kraus ein Haupt fo rund.

„Der alte Goethe hat für alles geforgt, auch für dieſen

Heinen Balg.“

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Er kannte auch bie Fortfegung des Verſes, benn er ſtaud mit feinem Goethe auf einem guten Fuß; aber Hier wendete er feine Kenntnis nicht weiter an. Sie war Ihm gu unfriflert, und außerdem hatten Ihre Lödchen mit der Palette nähere Belanntihaft gemacht. Dben auf dem Scheitel waren fie ihr farbig zuſammengeklebt, zwar nur ein paar Floͤckchen und an ber zierlichen Nafenipite ſaß ihr ein gelber Fled, als hätte fle unvorfihtig an einer Lille gerochen, Er fühlte fih gewiffermaßen gezwungen, die Heine Schweigfame zu betrachten, nicht nur weil er mäßig Daftand. Ste hatte etwag nicht Alltägliches, etwas Überrafchendes, gehörte zu ben Raſſe⸗ menſchen mit den beweglichen NRafenflügeln, den elaftiichen Muskeln, dem zarten, feſten Knochenbau.

Die Tür wurde geöffnet, natärlich von Madame, nicht von Emil, der ſaß jedenfalls über feiner Zeitung.

„Mein Gott, laßt ihe mich lange Hopfen”, fagte dag Maͤd⸗ den mit etwas erregter Stimme.

„Und Ste, mein Here?” fragte die Äffnende.

„Ich Hatte das Gluͤck, von Ahrer Fräulein Tochter die Treppe binabgeworfen zu werben.“

Ein unruhiger, vollkommen fafjungslofer Blick heftete fich auf die Tochter.

n Olly ja

Alſo war es doch Olly.

„Ja,“ ſagte fie, „ich bin auf dem Treppenabſatz vor ber Tür hinuntergeftolpert und habe ihn mit hinabgeriſſen.“

„Beruhigen Ste fih, guäbige Frau, es iſt ihr nichts ges ſchehen. Ste hat den Moment fehr Hug gewählt.”

„sa, aber der Herr tft mit Farbe vollgefchmiert und bie Palette ift mir gerbrochen.”

Diefe beiden Unglädsfälle berichtete das Mäbchen auf eine teodene, ſachgemaͤße Weiſe, fo DaB Saftelmeier, der einiger; maßen empfindlicher Natur war, fich nicht beſonders geſchmei⸗ chelt fühlte.

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Der Here ift vollgeſchmiert, die Palette gerbrochen. Das Argerte ihn wirklich.

Jetzt fagte die Dame, daß dieſer Vorfall kein gutes Zeichen fet für die Mieter eines Zimmers.

„Oho“, meinte Gaftelmeier.

„Ste haben das Zimmer gemietet?" fagte das junge Mid; chen wieder froden. „So, dann wunbert mich nichts, bei ung gehr’8 Immer ſchief.“

„Emil!“ rief fie jetzt und o Wunder, Emil kam auf den erften Ruf.

„Fuͤhre den Heren in fein Simmer und bringe dann alles, um die Hlfleden auszuwaſchen.“ Auf Emils verwunderte Augen hin berichtete bag junge Mäbchen mit Gleichguͤltigkeit den Vorfall noch einmal in aller Kürge,

„In fein Zimmer” hatte fie geſagt. Sie hielt ihn alfo (don für den rechtmäßigen Eigentümer. Höchft unangenehm. Emil, ber dicke Burſche, flüfterte Ihe etwas gu und kicherte Dabei wie ein Schulbube, der heimlich einen Streih ers zaͤhlt.

„So“, ſagte das Mädchen und wendete ſich au Gaſtel⸗ meier. „Das war alſo ein Mißverſtaͤndnis; ich glaubte, Sie waͤren der Mieter unſres Zimmers. Verzeihung.“

Sie ſah ihn mit den dunkeln, großen Augen einfach und vornehm an, daß es ihm nicht recht geheuer zumute wurde und er nicht wußte, was er des Zimmers wegen ſagen ſollte. Und es war ihm, als wenn der Teufel ſeine Zunge einſtweilen in Beſchlag genommen haͤtte, als wenn ſie ganz ohne ſein eigenes Dazutun die bedenkliche Unter⸗ haltung fuͤhrte.

„Doch, mein Fraͤulein,“ ſagte ſeine Zunge aus eigenem Antrieb, „es war allerdings mein Vorhaben, das Zimmer zu mieten, wenn Sie keinen beſſeren Mieter dafuͤr wiſſen.“

Ohne ſein eigenes Zutun druͤckte ſich dieſe Zunge ſehr fad und vorlaut aus, kam ihm zuvor und hatte ihn nun gehoͤrig

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bineingeritten. Das war ja fo gut wie gemietet. Teufel auch!

Jetzt ſtanden fie in „ſeinem“ Zimmer. Emil kam mit einem alten Brötchen und einer Flafche Terpentin, bie Mutter war nad) einem Lappen fortgeflürgt, und nach geraumer Zeit waren die drei Perfonen, die Mutter, Emil und Olly, ges nannt Tante Rebella, mit feiner Perfon und Ihren Flecken befchäftigt.

„Rubig Blut”, faste Emil einmal übers andre. „Erf mit dem alten Brötchen orbentlih abfchaben und troden reiben, dann erft mit dem Lappen, fonft verfchmiert ihr’g.”

Er machte bei biefer Prozedur einen recht verfrauenerwedens den Eindrud, „Ruhig Blut, ruhig Blut!” aber mußte er einmal Abers andre fagen, denn dem Temperament ber beiden Damen fehlen das Terpentindl und ber Lappen weit mehr zuzuſagen als das trodene Brötchen. Während biefer Prozedur fühlte ſich Saftelmeier Immer mehr und mehr zur Familie gehörig. Er erfuhr ihren Namen. Ste hießen Kovalski. Das heißt: Frau und Tochter und Emil hießen fo, ber Sohn aus erfler Ehe teng ben Namen Del. Der zweite Gatte der Dame war ein polnifcher Maler geweſen, der kurz nach der Geburt bes dicken Emil dag geitliche gefegnet hatte. Olly mar zwanzig und der Juͤngſte wurde ſiebzehn.

Gaſtelmeier mußte fogar den Rod ausziehen, weil Emil verficherte, anders wäre es gar nicht möglich.

„Snäbige Frau“, unterbrach jener das eifrige Treiben. „Run erbarmen Sie ſich auch der Haare und des Naͤschens ihres Fräulein Tochter.”

Mit demfelben Lappen wie er wurde num auch Die Ühels tAterin gerieben und gepußt. Und bie Verbindung zwiſchen Gaſtelmeier und Kovalskis ward Immer enger. Es fchien in besug auf das Zimmer anfländigerweife gar nicht mehr zu entrinnen möglich zu fein.

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„Verzeihen Ste”, fagte Gaftelmeier zu Fräulein Olly, während er von Emild kurzen, berben Faͤuſten bearbeitet wurde. „Als wir auf dem Treppenabfag vorhin vom Schickſal durcheinander gefchättelt wurden,” feine Zunge, fo fam es ihm vor, fprach immer noch aus eigenem Antriebe „rief man Sie Rebella, und wenn ich nicht irre, Tante Rebella?“

Da hielt Emil ploͤtzlich mit dem Reiben inne, ſchlug ſich mit der Hand auf feinen Heinen, fetten Schenkel und rief im ſchnellſten Tempo: „Verflucht! verflucht! verflucht!“ als ob er fih außerordentlich amuͤſiere.

Gaftelmeter ſah fih erſtaunt nach dem Gefuͤhlsausbruch Hinter feiner Schulter um und blidte in ein Geficht, das einem wohlgenährten Heinen Faun anzugehoͤren ſchien.

„Weshalb amüfieren Ste fih benn fo?” fragte er den ausgelaffenen Juͤngling. Es wurde Ihm unter Emil Haͤnden unbehaglich.

„Ih dachte mie nur fo”, antwortete Emil und fah uns glaublich ſpoͤttiſch aus. |

„Das tft einmal Emils Art fo“, fagte refigniert die Mutter.

„ine fonderbare Art”, dachte Gaftelmeier. Ä

„Emil,“ fagte das junge Mädchen, „fei nicht albern und betrag’ dich vernünftig.”

„Betrag’ du dich“, war die Antwort. £

„Du haft wieder fo ein Geſicht gemacht, daß man glaubt, du mofterft dich Aber bie ganze Welt“, fuhr fie fort, ohne ſich im geringften um bie Anwefenheit bed Mieters zu fümmern. „Du wirft einmal von irgendwem eine Obrfeige befommen.“

„So“, war bie gemütliche Antwort.

„Ro viel ſchlimmer,“ fagte fie, „die Menfchen werben Dich nicht leiden koͤnnen.“

„Die Menſchen? Pfeif'“ ich drauf!”

„Du fagft mir, weshalb du das Gefiht gemacht haft.“

„Eben fo.”

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„Rein, ih will's willen.” Sie ſprach feſt und rubig. „Glaubſt du, ich laſſe mir irgend etwas bieten? Du?!“

„Einfach Ich flellte mir vor, wer in unferm haus iſt oder bleibt, wird mit ber Zeit ſchon erfahren, weshalb du Tante Rebella genannt wirſt.“

„Weiter war’ wieder nichts?” fragte fie ruhig.

„Rein.“

„Iant de bruit pour une omelette,“ fagte fie auf eine vornehm fühle Weiſe.

„Sonderbar”, dachte Saftelmeier, „daß bei dieſem ener⸗ giſchen Verfahren der eigentuͤmliche Juͤngling feine Eigens heiten fo gut konſervieren konnte.”

Zur Erklaͤrung biefes Umſtandes erfuhr er bald darauf, daß Rebella zwei Jahre bei einer Tante verlebt hatte und feit kurzem zuruͤckgekehrt fei. Während ihrer Abweſenheit war Emil ind Kraut gefchoffen.

Saftelmeier lernte auch noch In bdiefer Stunde Erwin fennen, den Sohn ans der Delfchen Ehe. Diefer ſtellte fich ihm als Schriftftellee vor und er ftellte fih nicht nur vor, fondern produzierte ſich gewiflermaßen damit, daß er vor feinem Einteite ins Zimmer laut nah Din und Mama rief, und gleich darauf, ohne deren Antwort abzuwarten, in die Tür polterte: „Da haben wir die Beicherung, bat mir auch diefer Efel den Roman surhdgefchidt hab’ ich’8 nicht gefagt? Aber da hieß es immer: Schick nur fhid’ nur —“

Nah diefem Monolog trat ein langer, fparriger Menfch von ſechs⸗ bis ſiebenundzwanzig Jahren, aufgeregt, rot im Geſicht, ins Zimmer, ſah einen Fremden, war außerordents lich verbläfft, fah feine Mutter, die ein wahrhaft tragifches Geſicht aufgeſetzt hatte und bleih und nervoͤs fih auf einen Stuhl niederließ.

Emils altiinges: „Verflucht! verflucht! verflucht!“ ertönte,

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„Um Gottes willen, Erwin, anal’ dich nicht fo“, ſagte die Dame in nerodfer Erregung und fügte noch allerlei hinzu, ohne fo recht ſelbſt zu wiflen, was fie ſprach, entſchuldigte ſich vor Gaſtelmeier und ftellte dieſem fchließlich Ihren Sohn vor, der weiſe in Gegenwart des Fremden feinen Ürger zu unters brüden fuchte,

Er hatte einen gut gefchnittenen Kopf, war voͤllig bartlog, hatte ein ſtark vorgeſchobenes Kinn, fo daß die Lippen feines Heinen Mundes wie gefpannt zwiſchen Wangen und Kinn lagen. Seine Bewegungen waren edis und haſtig. „Se geht’8, mein Herr”, fagte er in ſcherzhaftem Ton. „Sie haben foeben den Dichter auf dornenvollem Pfad gefehen. Er hat auch feine guten Stunden.“

Das kam etwas geſchraubt heraus, als fagte es ein ſchon berühmter Menſch.

Gaftelmeter war jet ſoweit wieber äußerlich bergeftellt, daß er diefer gewaltfem umnterbrädten Familienfjene ents fliehen fonnte; aber mit bem Bewußtſein, unabweisbar ber techtmäßige Here des „originell möblierten Zimmers” ges worden zu fein.

Die Mutter des geprüften Schriftftellers befand fih in hochgradiger Aufregung. Mit fchwacher Stimme wandte fie fih an ben fih Empfehlenden:

„Mein Herr, glauben Sie mir, Mutter von drei Kunfts befliffenen gu fein, iſt feine Kleinigfeit. Dazu gehören Nerven Nerven und wieder Nerven

„Rami”, fagte das junge Mäbchen, welches bisher ſchein⸗ bar teilnamslos dem ganzen Vorgang gefolgt war: „hr erwartet eben alle gu viel. Arbeiten auf Tod und Leben. Das if!’ 8 weiter nichts fürs erſte“, und die Dunkeln Augen leuchteten von einem Innern Feuer. Gaftelmeter blidte ges fpannt auf das Mäbchen. Sie war in diefem Augenblick voll Schönheit und Entichloffenbeit.

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Die Lente beingfligten Ihn und taten Ihm leid, und um fie ein wenig auf andre Gedanken zu bringen, erzählte er ihnen von feiner vorigen Wohnung, beichrieb Ihnen den naͤcht⸗ lihen Rangierbahnhof, die Unruhe, den Laͤrm, ber ihn eigentlich gar nicht fo fehr geftärt hatte, das Gewuͤhle und Gewuͤrge, und wie fie nie fertig werden, in aller Ewigkeit nicht, auch wenn es manchmal fo ſcheint, als wäre alles zufrieden⸗ geftellt und eingehalt; wie e8 immer von nenem, Immer von neuem angeht, unaufhoͤrlich. Er ersäblte es fo, wie er es Annele auf ber Fahrt von Rohrmoos nach der Station bes fchrieben hatte, und fügte Hinzu, Daß ihm deshalb ein Zimmer, dag in einen filllen Garten blide, im Ruͤckgebaͤude läge, fo behage; er brachte fich ſelbſt auf dieſe Weife in eine kuͤnſt⸗ lihe Zufriedenheit mit feinem unfreiwillig erworbenen Bes ſitztum.

Als er gerade inmitten feiner eifrigſten Rangierbahnhofs⸗ beichreibung war, ließ Emil fein altkluges: „Verflucht! ver; flucht! verflucht! verflucht 1" los und fchnitt ein fo fonderbar teonifches Geficht, Daß es Gaſtelmeier außerorbentlih un; behaglich wurbe, und er herzlich gern einige väterlich gemeinte Worte an den Juͤngling gerichtet hätte, wenn es ihm nicht geratener erfchlenen wäre, die Samilie mit nichts gu bes unruhigen. Sie fam ihm vor wie ber verwunfchene Teich, vor dem die Buben gewarnt werden, bamit fie nicht etwa mit Steinen bineinwerfen, weil es fonft im See wild zu tofen und gu toben beginnt auf eine Weife, die feinem Sterblichen gut tut. Uber er hätte Doch gern gewußt, weshalb Emil, bet der Befchreibung, bie er ber Samilte zuliebe gemacht, feine ironiſche Maske aufgeſetzt hatte.

Fran Kovalski Ind ihn zum Familientee ein, ber feit ges ranmer Zeit im Wohnzimmer fland und ihr plößlich wieder in bie Erinnerung gefommen war. Man hatte ihn über bie verſchiedenen raſch aufeinander folgenden Ungluͤcksfaͤlle vergeſſen. Olly war ja vorhin ſo uͤbereilig aus der Atelier⸗

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tür geſtuͤrzt, weil fie die Teeftunde um ein Beträchtliches verfaumt hatte und bie Verſaͤnmnis duch ein paar Sprünge gut machen wollte, Elle aber iſt des Teufels Merk.

Gaſtelmeier lehnte dankend den Mitgenuß des Tees, ber jedenfalls ſtark gesogen hatte, ab und verabfchiebete fich end, gültig. Er hätte fchon heute nacht in dem originell eingerich, teten Zimmer fehlafen können. Diefer Gedanke aber hatte etwas fo Befremdliches für ihn, daß er fich durchaus nicht auf ihn einließ.

Drittes Kapitel

riedrich Gaſtelmeier fchwieg wohlweislich daruͤber, wie er

sn dem „originell moͤblierten“ Zimmer eigentlich gekom⸗ men war, als er an jenem Abend mit feinen Kollegen zuſam⸗ mentraf. Andern Tags zog er mit Sad und Pad in feine neue Wohnung.

Das Laͤutwerk war auch an dieſem Tage, an dem fie Doch feine Ankunft beſtimmt gu erwarten hatten, vollfiänbig heifer, fo daß wieder eine geraume Zeit verging, bis fie Ihn famt dem fchimpfenden Dienſtmann, ber ben Koffer trug, einfließen. Er wie ber Dienfimann hatten längere Zeit vor dem Öffnen und zwiſchen den verfchledenften Laͤutverſuchen gehört, wie jemand Immer an ber Tür herumwirtſchaftete, und als ſchließlich geöffnet wurde, war es Emil, der öffnete. Gleich darauf hörte Gaftelmeler die nervoͤſe Stimme ber Mutter aus einem der Wohnräume: „Emil!”

Emil bewegte ſich bebächtig bis in das Wohnzimmer, und Gaſtelmeier konnte hören, wie er in die Nebenftube hinein⸗ fagte: „Ruhig Blut, 8 iſt nur der Maler.” Und ein bes friedigtes „So“ konnte er auch hören, dann kam Emil wieder. Noch che Gaftelmeter bis in fein Zimmer gelangt war und den Dienfimann verabfehlebet hatte, lautete e8 wieder unters druͤckt und heifer.

„Berflucht I verflucht 1" murmelte Emil, das weitere „vers flucht“ ſchenkte er fich dieſes Mal sugunften eines „Bſt!“ als der Dienfimann Miene machte, ſich in Bewegung gu fegen „Bſt!“ Er ſchlich an die Tür, ſchielte vorfichtig durch bie Ritzen und das Guckloch, welches mit einem burchbeochenen Meffingblättchen überbedt war.

Der Dienfimann begriff die Situation augenfcheinlich und ſchmunzelte, auch Gaſtelmeier ſtand und ruͤhrte fich nicht, war aber von dem: Empfang beim Einzug in feine neue Wohnung nicht befonders erbant.

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Das war nichts für Comme il faut-Meier, Die heifere Klingel wurde wütend und mwütenber, Niemand regte fi. Die drei verharrten fo fleif wie gefrorene Schellfiſche. Emil fuchte die andern mit feinem Blick gu befchwören, ruhig zu Bleiben, bis dag heifere Laͤutwerk ſich ausgetobt hätte, und ed gelang ihm,

Nachdem der Störenfried drangen ſich endlich genug getan und zuletzt noch in feiner Wut der Türe einen tüchtigen Tritt verfegt hatte, fagte der Dienfimann: „Doͤs wär g’fchehn, ’8 könnt halt ber Metzger g’weien fein mit fan Kaͤlbergriff.“ Damit ging er.

Die vergeiftiste Dame rief wieder nah Emil, und Emil ſchlug fih auf die Eurgen, ftrammen Schenkel und murmelte: „Miſtjauche nichts als Miſtjauche.“

Diefer etwas eigentämlich gewählte Ausdruck kam Ihm, wie es fehlen, ans tieffler Seele. Gaftelmeier hörte es noch gerade, ehe er die Tür des originell möblierten Zimmers hinter fich ſchloß. Darauf begann er fih einzurichten mit nicht ganz leichtem Herzen.

Ruhig sing es in dieſem Haufe nicht zu da war etwas etwas, was er felbft noch nicht Har im Bewußtſein hatte, etwas Beaͤngſtigendes, Dudlendes, und das lag in der Luft, die ganze Wohnung war voll davon. Es war ihm nicht bes haglich und er padte nur das Notwendigfte von feinen Sachen aus, um in Fürgefter Friſt wieder auszuziehen.

Nachmittags um ſechs Uhr ließ er fih buch die Auf⸗ wärterin bei feiner Hauswirtin melden, um ihe ben offls stellen Beſuch zu machen, den er ihr fchulbig zu fein glaubte. Er traf die Dame und Emil wieder, bie uͤbrigen waren nicht daheim. Emil faß verdroffen am Tiſch und zeichnete. Die Lampe hatte er fih nahegerüdt, fie war bededt mit einem Lampenſchirm, der in finnreicher Welle aus einer alten Zeitung irgendwie sufammengefledt war. Emil machte einen Buckel und ſah unbefchreiblich fchlaff und unluſtig aus. Die

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Mama ſaß auf dem Sofa und hatte ihr Kopffifien ang dem Best fich hinter den Ruͤcken geftopft. Sie erhob fich matt.

„Sie find leidend, gnaͤdige Fran?“ ſagte Gaſtelmeier.

„Sie waren Zeuge geſtern von einer ber tauſend Auf⸗ regungen“, erwiderte fie matt, Doch in verbindlichem Ton. „Es iſt immer, als ſchluͤge ber Vlig neben ung ein, man kommt mit dem Leben davon, aber wenn die Sache fich fortwährend wiederholt, beſteht man fchließlich nur noch aus alterierten Nerven. Nun, Sie werben es felbft wiflen, da auch Gie Künftler find.“

Gaftelmeier wußte nicht recht, wovon die Dame ſprach, ſchließlich fiel Ihm die Gefchichte mit dem Ro⸗ man ein.

„Das werden Ste doch nicht fo tragifch nehmen, gnaͤdige Braun. Um Gottes willen, wenn alle Romane, bie von jungen Leuten gefchrieben werben, auch gebeudt wuͤrden davor möge ung der Himmel bewahren!”

„Sa, wenn das Leben aber davon abhängt”, fagte bie Dame und blidte truͤb vor fih bin.

„Das follte e8 freilich nicht,” erwiderte Gaſtelmeier, „bag Leben von einem Roman!”

Sie verficherte mäbe und abgefpannt, baß dies bei ihrem Sohne Erwin der Fall fei. „Er if, wie wie alle, auf fein Talent angemwiefen”, fagte fie wehmuͤtig.

Worin das Talent ber Dame befand, war Gaftelmeier nicht Har. Er hatte das Bedürfnis, gegen biefe mit Kiffen geftägte, leibhaftige Neruofität Fräftig vorzugehen; aber er beswang fi.

Emil hatte laͤngſt aufgehört zu zeichnen und rekelte fich im Stuhl, Er befand fih in den fchönften Flegeliahren und ges noß Die Freiheiten diefes Alters, wie es fchlen, aufs aus⸗ stebigfte. Gaſtelmeier ſchaute mit einem Blick auf feine Zeich⸗ nung und bemerkte, Daß der junge Mann bie eigene Heine

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fette Fauſt als Modell vor ſich gehabt habe, Sie war ſechs⸗ bis fiebenmal in verfchledenen Wendungen nebeneinander anf dem Papier zu ſehen.

„Aha!“ fagte Gaſtelmeier. Emil nahm keine Notiz davon,

„Emil,“ fagte die Mama, „Olly komme gleich, ſei fleißig.” Emil aͤchzte, machte wieder die Mobdellfauft und begann laͤſſig nnd aufs hoͤchſte gelangweilt weiter zu arbeiten.

„Iſt das Ihre eigene Idee?“ fragte Gaſtelmeier und zeigte auf die Fauſt.

„Re,“ tagte Emil, „Olly.“

Goftelmeter wußte nicht mehr recht, was er weiter fagen follte. Die Leute waren verſtimmt und einfilbig. Er fuchte nad einem Unterhaltungsftoff.

„Emil,” fagte die Dame, „weißt du, wo Erwin hin it? Er hat den ganzen Tag Kopfſchmerz gehabt, der arme Junge. Er iſt Immer aufs tieffle von einem Mißerfolg erfehüttert”, wendete fie fih an Gaftelmeler.

„Yuf’n Friedhof wirb er "sangen fein”, fagte Emil muͤr⸗

Die Dame feufite und fagte nach einer Welle: „Sehen Sie, mein Herr, eine Seele von einem Menfchen, ein echter Dichter man muß ihn gewähren laſſen. Wenn es fo im Leben, wie es oft der Fall ift, Drunter und brüber geht, ba macht er fih in der Dämmerung, nun fchon feit feiner Kinds heit, auf und gebt auf ben Friedhof und ſchaut fich die aus⸗ geftellten Leichen an. Das tft fo fein Mittel da wirb er ruhig. Es ift ja in München nun einmal fo gebräuchlich, daß die Leichen offen ausgeftellt find. In den andern Städten, wo wir gelebt haben, war das nicht fo, aber Ihm tut's wohl. Es hat eben alles auch fein Gutes. Mich braͤchte keiner bin”, ſchloß die Dame und widelte ſich fefler in ihren Schal,

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Draußen pochte es jet energiſch. „Olly“, fagte Emil.

Es war Olly. Ste kam lebendig und frifch herein, etwas haflig. Sie kam vom Aktzeichnen und wollte Tee trinken. Im erſten Augendlid bemerkte fie Gaſtelmeier nicht und dann begrüßte fie Ihn fo einfach und gleihmätig, als wäre er laͤngſt bier Familienmitglied.

Gaftelmeter fand, daß fie nicht befonders viel Federleſens machte. Ehe fie fich Ihren Tee einfchenkte, beuste fie fih über Emils Zeichnung, nahm Ihm den Bleiſtift aus der Hand und, ohne etwas zu fagen, padte fie die Modellfauſt, rüdte fie wie es ihre paßte, unb Aber Emil Schulter hinweg arbeitete fie mit feften ſichern Streichen in feine Zeichnung hinein, Sie hatte ihr Kaͤppchen noch auf und an der linken Hand noch den Handſchuh. Sie war kalt und frifch und firdmte Schneeluft aus,

„Olly, du ſollſt nicht fo eifig Ind Simmer kommen, bu fälteft ed ganz aus.”

Olly hörte, wie es ſchien, nicht. Die fefte, Heine Hand korri⸗ gierte eiftig weiter.

„Und bei bem Wetter! Du wirft dich felbft wieder einmal erfälten, dann haben wir’d.” Die Dame feufste.

Gaſtelmeier empfand auch ben Strom von Frifche, ber von Olly anssing, und er dachte unwillkuͤrlich an bie Abſchieds⸗ worte feines Vaters. Er ſchaute ihr gu, wie fie arbeitete, gan verfunfen und in der unbequemen Stellung über Emils Kopf hinweg. Der hatte es ihr allerdings leicht gemacht; den biden Kopf mit dem dichten, blonden Haarfilz auf bie Tiſchkante gelegt, fo daß er nicht fehen konnte, wie feine Zeichnung ſich unter Ollys flinten Händen veränderte, ſo bodte er vor ihr.

Saftelmeter ſchaute ihre unverwandt su. Das war Talent das ſaß. Und fie zeichnete und zeichnete und vergaß alles um fich her, ben dicken Kopf und den Tee, und den Fremden.

4 Böhlau III. 49

„Emil“, rief fie mit einem Male heftig: „Sieh her!“

Emil geunste und begudte fih die Sache.

„Weshalb hatteſt du denn fo gepakt? Saul faul faul! Das iſt's. Wie figt du denn? Wie kann ein Menſch fo arbeiten? Mama, bu haft Ihn wieder krumm wie einen Engerling dahaͤngen laſſen.“

„Engerling iſt gut“, dachte Gaſtelmeier. Er iſt wirklich ſo ein weißer, dicker Burſche ohne Slieder; es haͤngt alles an ihm herab, die Arme, die Beine, der Kopf. Zu ſeiner Verwunderung ſagte jetzt auch Emil: „Bravo! Engerling! Sehr gut! Faltiger Elefant Wachskerzen Spitaler und fo weiter. Du haͤtteſt Unteroffizier werden ſollen.“

„Ja, ich wollte,” ſagte fie, „es kam’ einer Aber dich, fo ein rechter Teufel.”

Olly ſchenkte ſich Tee ein, fette fich auf die aͤußerſte Stuhl⸗ fante und nahm fih ein Brötchen. Das Mäbchen war von einer unglanbliden Lebendigkeit im Blick und in der Bewegung. Sie fehlen immer volllommen munter und aufgeweckt zu fein. Gaftelmeier ſah fie fih mit Ders gnuͤgen an.

„Sp ein Pferd“, fagte Emil gu Ihr.

„Bitte,“ antwortete fie Ihm kuͤhl, „wen meinten du?“

„Ra das iſt auch gerecht. Die ſchimpft, wie's ihr paßt, fie felber will aber mit Sammetpfsten angefaßt werden.“

„Allerdings“, fagte Olly. „Das will ih auch!“

„Ra, ja ih meine ja auch mit dem Pferde nur: am Morgen rennft du um acht Uhr ins Atelier und bleibft Big Mittag, dann geht's wieder los und dazwiſchen galoppierſt du mit Kreuz⸗ und GSeitenfprängen. wie in der Manege, dann Läufft du zum Mtzeichnen, und nun wandte er fi an Saftelmeier „wenn fie heimkommt, iſt fie fo fiel wie ber Teufel und ich muß es ausbaden. Dann kommt fie Aber mich. u

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Gaſtelmeier erfuhr anf feine Frage, daß Olly Ihren Bruder für die Alabemie vorbereite aus Erfparnis. „Es iſt fein Eifer in ihm“, ſchloß fie Ihre Mitteilung.

Gaftelmeler fragte, weshalb er gerade bie Malerei zum Beruf gewählt habe.

Kuͤnſtler iſt das einzig Menſchenwuͤrdige“, fagte die Dame sum erfien Male etwas lebhafter.

Emil tänfperte fih: „Maler? ebenfo, wie einer Juriſt wird.”

„Emil, ums Himmels willen, das iſt doch nicht fo bei die?“ rief Olly.

„Wer bat’ denn behaupte?” meinte Emil gemuͤts⸗ ruhig.

N ſagſt du's dann?“ Eben ſo.“

——* was ſollte mein Sohn denn waͤhlen?“ (eg die Mutter wieder ein. „Die Künftllerfchaft Test Ihm im Blute. Fuͤr was andres bat er auch Feine Begabung. Aus dem Gymnaſium haben wir Ihn genommen ſobald als tunlih. Er braucht nicht gu dienen, er iſt nicht deutſcher Untertan.”

„Brillant fürs Leben geftellt”, fagte Emil troden und alt Aug und feste feine ironiſche Maske auf.

„Mein zweiter Gatte war Maler, wie Sie wiſſen?“

„39, Sie fagten es fon, gnaͤdige Frau,“

„Kennen Sie fein Schickſal?“ fragte fie. „Willen Gie, daß er zweiundzwanzig Jahre in den ſibiriſchen Bergwerken geweien if?" Das fagte fie gewiſſermaßen mit Genuss tunng, wobei fie den Kopf bob, als wollte fie fich die Aberraſchung beſchauen, die ihre Worte dem Fremden verurſachten.

Gaſtelmeier, der mit dem Schickſal eines nach Sibirien Berbaunten keine feſte Borftellung verband, entiprach nur ungenügend der Erwartung.

4 51

„Miſtjauche“, brummte Emil, „Um nichts beſſer als Mifts jauche find die Menſchen.“ Er war aufgeflanden und ging mit kurzen firammen Schritthen im Zimmer auf und nieder.

Die Tür tat fih auf und Erwin, der Sohn aus Delfcher Ehe, trat ein. Er fab auffallend elend und hager ang, etwa wie ein Menfch, der vom Zahnausziehen komme. Es tut nicht mehr weh, aber e8 bat weh getan. Man fieht’8 Ihm noch an.

„Biſt du ruhiger, mein Sohn?” fagte die Mutter zärtlich. „Wir leiden beide immer gleich das muß dich troͤſten. Jedes Ja im Leben iſt ein Gluͤck und jebes Nein ein Ungläd, O bie zartbeſaiteten Naturen I”

„Sewin,” fagte Emil, „wir fprachen eben von Papa.”

Erwin feßte fih und ſchwieg.

„Ja, meinen zweiten Gatten bat das Schichſal ſchwer ges troffen; al8 junger Menſch von zwanzig Jahren iſt er als polttifcher Verbrecher in die Bergwerke gefommen, nach einem von den vielen polnifchen Aufſtaͤnden wohin boch gleich zuerſt?“ Die Dame hatte ben Namen vergeflen.

„Rah Semiretſchinsk“, fagte Emil ungebuldig. „Heres gott, Mama, weißt bu denn das noch Immer nicht?”

„Mund, denken Ste fih, Papa bat,” fuhr er fort, „ehe er nach Semiretſchinsk kam, ganz genau geträumt, wie e8 Dort ausſah ein langes Blodhaus und noch ein elendes Haus und ein ewig langer Zaun und eine verfräppelte Birke und ein niedrigere Schuppen und nichts weiter. Weit und breit Schnee, nur Schnee und Schnee, und ber Himmel auch ſchnee⸗ weiß. Und wie fie dahin gekommen find, hat er’s nach feinem Traum erfannt und hat laut aufgeweint.” Das erzählte Emil lebhaft, viel lebhafter als es Gaſtelmeier ihm haͤtte zutrauen koͤnnen.

„Spaͤter iſt er dann,“ fuhr die Dame zu erzaͤhlen fort, „von da weggekommen nad...” Hier fehlte bie nähere Bes zeichnung wieder.

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“.»

Aber Emil Half auch diesmal, gewilfermaßen ent räftet, aus. „Nah Werne Kolimsk“, fagte er und ging an ein Heines Pult, in dem alles, im Gegenſatz zu den übrigen Dingen im Zimmer, ziemlich ordentlich Tag. Aus diefem Pult nahm er eine Landkarte, ſchob Taſſen und Teller auf dem Tifch eifrig beifeite und breitete Die Karte aus.

„See war Papa“, fagte er, „neun und ein halbes Jahr lang, dann fam er dahin foäter hierher.” Emil zeigte alle Orte auf der Karte. Zweiundzwanzig Jahre lang hat’s gebauert, dann haben fie ihn freigelaflen und er konnte ends lich nach Dentichland ziehen, mohin er unterwegs war, als man Ihn gefangen nahm. Denken Sie fih, damals bes gleitete ihn bereits ein Empfehlungsbrief an einen bekannten Müncener Maler; diefen Brief hat er zweiundzwanzig Sabre aufgehoben und hat ihn dann dem Sohne des Malers uͤber⸗ geben, der Vater war inzwiſchen geftorben. Papa hatte früher (don gemalt und iſt bier als dlterer Mann noch auf bie Alademie gegangen. Er hatte nur wenig Gelb und war krauk; aber er hat Hoch mit feiner Malerei verdient. Sehen Sie, da iſt etwas von Papa.” Emil ging wieber an fein Pult⸗ den und brachte eine Mappe mit Skizzen. „Das find Bilder ans dem Elend”, fagte er eifrig. „Das find alles Gefangene und Verbannte mit Ketten, wie fie im Schnee fliehen. Das bier iſt ein Grensftein, da nehmen fie Abfchieb voneinander. Die einen gehen dahin, die andern dorthin fie werfen fih anf den Schnee und weinen und fchreien und jams mern,”

Emil war ganz bewegt. Das Skizzenbuch war fein Eigen, tum, Olly blidte hinein und faste: „Schade, daß Papa ſich nicht hat beſſer ausbilden koͤnnen, er hätte etwas erreicht. In den Figuren liegt Talent.”

„Geh“, fagte Emil. „Wie er's gemacht hat, fo Hat er’s gemacht, da iſt nichts zu Fritifieren.”

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. „Mein Sohn Emil,” fagte die Mutter, auch jetzt mit matter Stimme, „hängt mit Zärtlichkeit an feinem Vater, obgleich er ihn nie gefannt hat.”

03 wo, kannte oder nicht kannte, meinen Bater, ben kenn’ ih”, plate er patzig heraus in feinem Eifer. „Du kannteſt ihn bach und weißt nicht einmal, wo er im Elend geftedt hat. Jedesmal muß ich dir’s fagen. Alſo wo hat er gefledt? Zus erſt in —? Na?

Emil ſchaute fragend nach feiner Mutter, Hopfte mit dem Bleiſtift auf den Tiſch und wartete auf bie Antwort.

„Wieder nicht”, fagte er. „Nun erfährft du's aber fo bald nicht wieder von mir.” Er Happte das Skizzenheft zu und ſchloß es wieder ein. „Selb hat er keins gehabt,” fuhr der dicke Burfche fort, „und krank ift er geweſen. Hätte er Mama nicht gefunden, wär's ihm noch übler gegangen. Aber in feiner langen Krankheit If auch Mamas Gelb weniger ges worden, von tanfend Geſchichten Miftfauche! Wenn die Menfchen nicht fo elend geweſen wären und ihm nicht bei jeder Gelegenheit mehr abgenommen hätten, als recht war, fäßen wir jegt anders da.”

„Jawohl“, fagte Olly wieber und ſchaute enträflet auf ihren Bender; „Selb! Gelb! und Wohlleben, wie euch und befonbers dir das im Blute ſteckt! Gottlob, daß kein Gelb da iſt, fonft wuͤrdeſt bu verfanlen bei lebendigem Leibe. Wir follen arbeiten. Arbeiten auf Leben und Tod das iſt's!“ Diele Beteuerungsformel fehlen das junge Geſchoͤpf zu lteben, Sie bediente fich ihrer bei jeder Gelegenheit. „Und die Menfchen! Schimpf nur nicht immer auf die Menfchen. Biſt du etwa Feiner? Wie Ich das nicht Hören kann! Das iſt entfeglih grün von bie. Woher meinft du denn, daß fie ſo abſcheulich find? Well es Papa fchlecht ging und ung auch nicht beſonders? Natuͤrlich deshalb. Sie follen dir etwas ind Hans tragen, du willft gehätfchelt und gefuttert werben. Wofür denn? Ja, das werben fie aber bleiben laffen. Mit

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Recht. Ich gerade finde, daß bie Menfchen gut find; viel beffer, als fie gu fein brauchten. Meinft du etwa, die Natur wäre nicht graufam? Du? Eins frißt das andre immerzu und überall. Und es gibt Doch Menfchen, die wollen wenigſtens die andern nicht freſſen. Das tft erfchredlih viel und dente doch, wie's ihnen geht. Gefragt wird keins, ob es leben will ober nicht und dann kommt es in das Elend hinein, fo dumm, fo hilflos und arm, und muß mit allen Kräften arbeiten, um nicht gu verhungern, und bie Krankheiten und die Kälte, und der Winter, daß er fündigen muß und geftraft wird, und tauſend Nöte und Qualen unb das Blindſein und das Alter und der Tod was für gräßliched Zeug! Und es gibt doch Menſchen, bie über alles hinaus gut find. Was meinft du, ein Gott hat es Teicht, aut fein, aber ein Menſch Emil, weißt du, ein Menſch!“

Das ſagte ſie ſo liebevoll und faßte in ihrem Eifer die Hand ihres Bruders, gewiſſermaßen, um ihn auch koͤrperlich zu ſich hinuͤberzuziehen.

„Ihr ſeid wieder von dem bißchen Pech mit Erwin ganz zuſammengekrochen. Herrgott, wie man ſo wenig frei fein kann! Und di, du dicker Sad, geht's doch gar nichts an, Dachte’ ich.”

„Oho“, fagte Emil, „Sad iſt wieder gut.”

„Jeſus,“ meinte Olly, „wenn ein Kuͤnſtler nicht Zigeuner iſt! Ihr feld alle wie Kaufleute. Iſt fein Geſchaͤft gemacht, laßt ihr die Köpfe Hängen. Sie find aber doch bei fo einer Art Zigeuner”, wenbete fie fich jetzt zum erfien Male an Gaftelmeler, der ganz verfunten dem jungen Gefchöpfe zus gehört hatte.

„J wo, bei Zigeunern”, fagte Emil pfiffig und ſetzte bie ſchlimmſte Maske auf, deren fein bewegliches, ſleiſchiges Ge⸗ ſicht faͤhig war.

„Doch“, ſagte Olly ſtreng.

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„Behuͤte“, antwortete der Bruder. „San wo an⸗ ders.“

„Wo denn alſo?“ fragte Gaſtelmeier, amuͤſiert über das wunderliche Geſchwiſterpaar.

„Wiſſen Sie noch, weshalb Sie aus Ihrer fruͤheren Woh⸗ nung ausgezogen find?”

„Jawohl,“ fagte Gaftelmeter, „ich Habe es Ihnen ja, daͤcht ih, erzähle.”

„Wegen des Rangierbahnhofs; weil Ste dem Rangier⸗ bahnhof gegenüber wohnten, wegen ber fchauderhaften Un⸗ ruhe gelt? Wegen bes ewigen Getriebs und Gezerrg, des ganzen Spektakels?“

„Ja“, faste Saftelmeler.

„Alſo. Und der Unterfchled Hier, der IE? Na? Dein flatt draußen. Das hab’ Ich gleich geftern, als Sie's erzählten, gedacht.“

„Sp“, fagte Saftelmeter, ber nicht recht wußte, was er von all diefen Dingen eigentlich denken follte. Es war ihm unbehaglih zumute und Doch blieb er fiten und betrachtete mit MWohlgefallen das lebhafte junge Mädchen, das jebt wieder eifrig an ber Fauſt korrigierte. Diefe Art Mädel war ihm noch nie vorgekommen.

Das heifere Laͤutwerk erflang von neuem. Auf alle Ges fihter trat Spannung.

„Verflucht! verflucht I verflucht 1” brummte Emil und fchlug fih auf bie Heinen firammen Schenkel,

Man ließ es zweimal laͤuten. Olly fagte: „Das iſt Tante Zaͤnglein.“

„Ihre Stunde iſt's allerdings“, meinte bie Mama. „Geb, mach auf, Emil,” Ste erhob ſich nicht ſelbſt. Erwins zuruͤck⸗ geſchickter Roman hatte fie zu ſehr angegriffen; ihre Schwäche aber fam Emils Ersiehung, wie es fchlen, zugute. Er ging beummend hinaus,

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Draußen erhob ſich Fur; darauf ein munteres Altweibers lachen und eine fcharfe, junge Männerfiimme rebete drein.

„Da bringt fie den fparrigen Kerl wieder mit”, fagte Olly.

„O Gott!“ ſeufzte die Mama.

Die Tür ging auf und ein flinfes, zierliches Perſoͤnchen trat ein, ein allerliehftes, altes Weibchen, gefolgt von einem baumlangen Burſchen Im Lodenrock. Er fah wie ein Bergfer aus, trotzdem er bie vollſtaͤndige Montur, Kniehoſen, Nagels ſchuhe, nicht teug und auch nicht in bloßen Knien ging. Er batte ein hageres, langes, von der Natur nicht recht zus fammengeftelltes Geſicht, und eine vorfiehende, fehr beweg⸗ liche Unterlippe.

„Fraͤulein Zänglein, unfre Tante,” fiellte die Frau bes Hanfes bie Eingetretene vor, „und: Herr Kaufmann, ein Kollege meines Sohnes.”

„Dantes Erbſchleicher“, brummte Emil Gaftelmeier ing Ohr. Er begeiste Gaſtelmeier überhaupt einiges Vertrauen, das hatte die Gefchichte mit dem Rangierbahnhofe ſchon bes wiefen. Ein folcher Burſch wie Emil iſt für gewöhnlich works farg und fledt voll verſchluckter und zu ſpaͤt ausgebräteter Bemerkungen.

„Su’n Tag, Genie!“ fagte der fparrige Menſch zu Erwin gewendet, während er fih auf einen Stuhl nieberließ. „Wie fieht’8 mit unferm Roman? He?”

Die Dame machte eine abwehrende Hanbbewegung, bie ſoviel heißen follte als: ‚Schonen Sie Ihn. Es iſt nichts Damit!’

Erwin Del beftätigte ebenfalls ſtumm dieſe mimiſche Mits teilung.

„Donnerwetter!” rief der Junge Waldmenſch teilnahms⸗ vol, „iſt das eine Zucht! Das Belle, was hervorgebracht wird, das fleden bie Herren natürlich in den Papierkorb. Ehe etwas nicht altbaden genug iſt für Ihre ſchwachen Mägen,

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verbauen fie’s nicht. Immer gefällisft nach alten Muſtern. Nur nichts Neues!” Er zog ein ſchiefes Maul, als ob es ihm eine ſchwere, unfichtbare Tabatepfeife herunterzöge, und ſchob bie Unterlippe fonberbar vor.

„Aha!“ dachte Saftelmater. „Erwin Del iſt alfo einer von den Neueften.” Gaftelmeier gehörte, wie ſchon gefagt, zu denen, bie ftill vor ſich hin arbeiten, ohne Schlagworte und Geſchrei.

Als wollte ſie ſeine Gedanken beſtaͤtigen, nahm die ver⸗ geiſtigte Dame das Wort: „Es iſt wirklich eine wertvolle Arbeit, gewiſſermaßen eine Prophetie, ein Ruf an die Menſch⸗ heit zur Umkehr.“

Gaſtelmeier ſchaute ſich Erwin mit erneutem Intereſſe an, wie demnach einer ausſieht, ber einen Ruf an bie Menſchheit ergehen läßt. Ein grüner Junge! In Gaftelmeler flebete es, diefe Mutter war ein Verhängnis für ihre Kinder. Er fonnte etwas Verrädtes an einem Weibe nicht leiden. Die jungen Hühner, bie hier fo verfehroben ausgebrätet wurden, taten Ihm leid. „Na!“ fagte er zu Emil, „feid ihr denn fo mobern ?” ,

Emil zuckte auf eine ſchaͤndlich blaſierte Weiſe die Achſeln, ſetzte ſein ironiſches Geſicht auf und brummte etwas, was ſoviel heißen ſollte wie: Miſtjauche! Wenn“s aber noch etwas Ertraͤglicheres gibt, fo iſts das Moderne. „Übrigens“, ſagte er laut, „was heißt mobern ?” u

„Sagen Sie einmal, mein Sohn, wie alt find Ste eigent; ch?"

Emil lachte wie ein Faun; fein „Verflucht! Verflucht! Vers flucht!“ kam an die Reihe und er ſchlug ſich aufs Schen⸗ kelchen.

„Iſt das eine Zucht!“ dachte jetzt Gaſtelmeier ganz wuͤtend.

„Die ſpinnen“, ſagte ein Stimmchen neben ihm, und als er ſich nach der Urheberin des Stimmchens umdrehte, ſah er

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in ein paar ſchelmiſch blickende Altweiberaͤuglein. Tante Zänglein hatte fich Leife wie ein Fledermäuschen zu ihm hin gemacht. Sie hatte auch ein Gefichtchen wie eine Fledermaus, fo zierlich und niedlich, und die blintenden, Heinen, flernens Haren Augen. „Die ſpinnen“, fagte fie noch einmal,

„Herr Gaſtelmeier,“ rief der fparrige Jüngling, „ich hab’ Sie mit meinem alten Schatz aus Salzburg noch nicht bes fannt gemacht!”

„Ste ungezogener Menſch, Ste”, lachte das alte Weibchen.

Wie fie aber zu lachen verfiand! Mein Gott, die Heine Alte

lachte gern und fchlen jeden Winbhauch su benften, um -

ihre Lachgloͤckchen Hlingen zu laſſen, fo auch jetzt. Gaſtelmeier ſah ſich das keine, alte Fraͤulein naͤher an. Es war allerliebſt gekleidet, mit Geſchmack und Wohlgefallen an netten Dingen. Gaſtelmeiers Herz hatte ſie gleich gewonnen.

„Ah, das ſind Leut'“, ſagte ſie. „Jetzt haben ſie ſich geſtern geaͤrgert, mein Gott, es verlohnt ſich nicht der Muͤhe; heute find fie alle außer Rand und Band. Aber, was ſagen Sie, nit wahr, den Erwin nahmen auch Ste nicht mit nach Italien? Ich geh’ nämlich nächfter Zeit Hin“, fuhr fie lebhaft fort. Irgendwen muß ich mitnehmen. J wo, fo allein geh’ Ich nicht wieder, wie’& legte Mal; aber fo eine Trauers meiden, wie den Erwin und dazu fo ein Pulverfaß von Mes volutionaͤr, wie er iſt fo etwas möcht’ ich net mitnehmen. Deshalb find fie alle boͤs. Der lange Burſch da foll mit.” Sie zwinkerte nach ihrem Begleiter bin, der mit Erwin, Olly und deren Mutter in ein hitziges Gefpräch über Kunſt⸗ fragen geraten war. „Mein Gott, fo ein alt’ Weiberl muß Halt nehmen, was fich bietet. Und was Junges muß es fein. Wiſſen Ste, Altes Hab’ ich felbft genug. Und außerdem: er iſt ein armer Teufel, Ich wohne bier gerade gegenüber in der Schellingfiraße. Mein Garten geht denen hier big unter bie Benfter. Das find Leut'“, beteuerte fie noch einmal und zwinkerte mit den Augelchen. „Mir macht's eine Hexenfreud',

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Gun. Des tiumen Die Vier wicht keiben- dert binen Ei zur, uud fie winter Saben, über mad fie da micher in Eile geratn.

„Aber die Augen, feine Fiſchaugen, was machen wie mit denen?” rief Emil firablend.

„Solche Fiſchaugen find zu nichts zu brauchen, das iſt Abfall!”

„Bravo !” fagt die Dame bes Haufes und konnte fih vor Lachen kaum aufrecht erhalten.

Gaſtelmeier war enträftet. So ein fanatifhes Weib! Er fonnte auch den Wig von der Sache nicht einſehen. Eine Roheit nichts anbres! Und Olly, das junge Mädel, lachte mit. Er wendete fih zu ihr und fragte: „Weshalb lachen Sie eigentlich ?

„Weil es komiſch IE”, befam er zur Antwort.

„Komiſch? Na!“ fagte Gaſtelmeier.

„Ein Menſch, der fo ſchreibt, verdient's nicht anders. In der Kunſt follte fireng gerichtet werben, firenger als bei einem Werbrechen”, fagte fie fell und mit leuchtenden Augen.

„Die Olly iſt ein recht gutes Mädchen,” wilperte das Alt⸗ weiberfiimmchen wieder neben ihm, „aber ſpinnen tut fie auch. Kunftferen finb fie eben alle miteinander. Jammerſchade. Und Ich feh’ ſchon, mein Kraftmenſch iſt auch net viel befler. So dummes Zeug aufzubringen. Na, wart’, den lang’ ich mir, den nehm’ Ich mie mal auf die Seite und mach’ ihm die Sache Kar, dann follen Ste fehen, ber wird fo zahm, daß er aus der Hand frißt. Jodeln follen Ste Ihn aber einmal bören. Herr Kaufmann, jobeln Sie doch einmal.”

„Isa, mein Schatz“, fagte er, „in Befehl!” machte wieber ein ſchiefes Maul, ſchob die Unterlippe vor und fammelte ſich, wie es fchten. Darauf begann er zu jobeln, daß die Scheiben flirten, Er jobelte vortrefflih, gan, ausnahmsweiſe gut fabelhaft.

„Sehen Ste,” wifperte das alte Weibchen, „das Ift mein Genuß. Das ift für mich fchöner als ber ſchoͤnſte Gefang. Das iſt eine Kraft, an der man fich aufrichten kann.“ Sie

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zwinkerte mit den Auglein. „Deffentwegen, wegen dem Jos dein nehm’ ich ihn mit.”

Gaſtelmeier fand an dem alten, Heinen Fräulein Immer mehr Gefallen, aber das reijende Gefchäpf, die Olly, hatte ihn verſtimmt. Freilich mußte er immer auf fie fchauen. Er verfiand fie nicht. Olly war eine neue Welt für ihn.

Wie fie ſoweit friedlich beieinander faßen, geſchah mit einem Male ein Krach, ein Donner, ein Geklirr und Gepolter, daß alle zuſammenfuhren.

„Jeſſes Maria!” rief das alte Weibchen entfegt. „Was tft denn das? Wer fehlt denn hier? Emil.”

Diefe prattifche, wie es fehlen, vielgenbte Umfchau hatte das alte Weibchen mit geoßer Geiſtesgegenwart fofort unters nommen. Emil fehlte wirklich,

„Ah Gott!“ rief bie jet ganz entgeifterte Mabame, „er hat nah Butter gefucht und hat ben ganzen Rauchfang Aber dem Herb heruntergeriffen. Großer, allmaͤchtiger Gott! mit allen Sachen. Was andres kann es nicht fein!”

„J wo”, fagte der fparrige Juͤngling, dem bie Erflärung unglaublih vorzukommen fchien.

„Sab’ Ich’8 nicht Immer gefagt, das komme von ber Fexe⸗ rei”, rief Tante Zänglein. „So ein unfinniges, altmobifches, mobernes Ding über einem Herb zu haben, das kann auch nur euch paffieren. Die ganze Simpelei hing an einem Draht.” |

Während dies und noch verfchlebenes andre geäußert wurde, ſtuͤrzte die ganze Gefellichaft Hinaus, durch ben Korridor in die Küche. Dort fand man ein Bild der Zerfid; rung vor, das jeder Befchreibung ſpottete. Es war wirklich der kuͤnſtliche Rauchfang, den irgend ein mittelalterlich ges finnter Stilbaufer über dem modernen Sparherde finnreich angebracht hatte, herabgeſtuͤrzt. Der Rauchfang hatte fich Aber den Herb geftülpt und alles, was auf bem Herb war, überdedt und dba war etwas, man roch es noch, etwas

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Gebratenes, Gezwiebeltes, und alles, was auf dem Borb

bes Rauchfangs fand, war mit beruntergepoltert und lag

zerbrochen und gerauetfcht umher. Was irgend an der Wand

Bing, war berabgeftreift, ein Chaos, und Emil war nicht zu benerien

Die entſetzte Mutter lehnte, unfaͤhig, irgend etwas Ver⸗ nuͤnftiges zu tun ober zu ſagen, an dem Tuͤrpfoſten.

Olly rief: „Emil!“

„Der Emil wird doch nicht drunter gekommen fein?“ meint Tante Zänglein.

„J wo”, fagte der ſparrige Juͤngling und rättelte mit Erwin, Gaſtelmeier und Olly an dem Ungluͤcksrauchfang; aber es war keine Möglichkeit, ihn in die Höhe zu bringen. Es war alles mit dem Herd feft verteilt.

„Da bat er fich über euer Abendbrot geftälpt,“ ſagte Tante Zanglein und fchnäffelte mit dem Näschen, „vorhin roch es fo gut nach Swiebel, Was hattet Ihe denn Feines? Das geht ja hoch Her!”

„Lieber Himmel”, fagte Beau Kovalski tragiſch. „Das waren die Beefſteaks, bie follten ung wieber etwas zu Kräften bringen, die find nun auch verloren! Wo iſt denn Franziska bingelaufen? Weshalb hat fie fie nicht vordem anfges tragen?”

„3a, al8 ob man bei euch irgend etwas vorher wiſſen fönnte!” fagte Tante Zänglein.

Olly rief: „Gottlob, daß Emil wenisfiens nicht drun⸗ ter iſt.“

„Sud, Guck, der hat fih aus dem Staub gemacht, ber Lump“, lachte Tante Zänglein. Sie war laͤngſt wieder Dabei, ſich zu vergnügen. Die Hausfrau aber fehlen mehr Mühe als andre Sterbliche zu gebrauchen, ihre fünf Sinne in einem foldden Falle wieder beifammen gu bekommen. Sie war ganz auseinander und es arbeitete in ihrem Geficht, als wollte ein Traͤuenſtrom hervorbrechen.

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Was war denn aber das? Ein fonderbares Zifhen und Wuͤten, ganz am Ende bes Korribors, das man in der Aufs tegung erft jebt bemerkte. Alle fpisten bie Ohren.

Mitten zwiſchen diefen Geräufchen, bie mit dem Lärm, ben ausftrömender Dampf zu machen pflegt, eine große Ahn⸗ lichkeit hatten, rief jegt Emils Stimme: „Erwin, du Ejel! Erwin!” Das Hang wütend und angſtvoll und wie in hoͤchſter Gefahr.

„Allmaͤchtiger, mein Bad!” fchrie Erwin. „Das hab’ ich vergeflen !”

Jetzt flürzte er durch den engen Korribor und alle ihm nach an bie zweite Ungluͤcksſtelle. Die fah auch nicht übel aus, Der Babeofen, sum Zerplatzen überheist, Daß der Dampf wuͤtend aus den Ventilen ziſchte. Und der Kran fürs kalte Waſſer offen, bag mit Vehemenz in eine Badewanne flürste, die ihren Überfchwall Aber die Diele laufen ließ.

„Erwin, ber Kran geht nicht zu!” jammerte Emil mit wütender, mweinerlicder Stimme.

Wo iſt denn die Zange, ohne die Zange geht's ja nit mehr!” rief Erwin.

„Ja, wo haſt's denn?” gab Emil zuruͤck. „Wegen ber iſt ja ſchon ber Rauchfang herunter. Wer zum Teufel hat fie denn wieder verfchleppe !”

Erwin ſtand ratlos und unbeweglich.

Emil arbeitete Immer noch mit feinen Heinen feſten Fäuften daran, den Kran umzudrehen, und war In heißen Dampf eingehuͤllt wie ein Pofannenengel in Wollen. Da [hob ends lich der Kraftmenſch die verzweifelte Sefellichaft auseinander und würgte in den Dampfwolken herum und, wie es ſchien, mit Erfolg, denn das Hineinfchleßen des Waflers in bie übers tinnende Badewanne hörte auf. Er brachte bann bie Ges ſchichte ſo weit in Ordnung, daß wenigſtens einer weiteren Aberſchwemmung und einer Dampffeffelerplofion vorgebengt war.

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„Herr, mein Gott! Diefer unfelige Roman!” rief Fran Kovalski. Sie war nun von dem drohenden Weinkrampf, der fich bei dem Anblid der Küchenverwäftung angekuͤndigt hatte, wirklich gepadt und fuchte an Erwin Halt, ber felber faſſungslos daſtand.

„Ein Ungluͤck bringt zehn andere mit ſich“, ſchluchzte ſie.

Tante Zaͤnglein amuͤſierte ſich ſchon wieder. „Das kommt wirklich alles vom Roman”, ſagte fie eifrig zu Gaſtelmeier und zwinkerte pfiffig mit den Auglein. „Ich kenn’ das fchon. Nach fo einem Mißerfolg find fie gedankenlos wie die Hühner.”

Saftelmeter ging heute ganz überwältigt zu Bette und mit dem feften Entſchluß, fo bald als tunlich fih aus bem Staube ju machen. Da war ihm fein veritabler Rangierbahnhof mit ber guten Verpflegung doch Tleber als biefer, der auf geiftigem Gebiet versehnfachten Spektakel machte. Da war gar Fein Zweifel, von hier mußte und wollte er fort.

5 Böhlau III. 65

Bioerted Kapitel

yRnttundpeebiendtan in Muͤnchen.

Lie Marrenwelle, bie das Lebensmeer jedes Jahr breit er die Stadt hinſpuͤlen laͤßt, ſpuͤlt auch dieſes Jahr bei ſchürlidendem Maͤrzwind durch die Straßen und führt allerlei wunderlich aufgeputztes, aufgeregtes Bolt mit fih, dem der eljtge Wind um bie Mafe fireicht, ober die Teichenhaft ſtarren Kurven lüfter, bie bunten Sumpen um ben Kopf ſchlaͤgt und ben Spaß Im Freien einigermaßen verdirbt. Teokbem war den ganzen Tag ein Gelauf und Gerenne geweſen. Der Humor war von ber Kälte etwas ungelenf und froſtig geworben, mußte erſt die ſtarren Glieder reden, und von biefer Unſtrengung wurde er dann etwas geob und uuerfreulich. Es war notwendig, Daß man Ihn sum Aufs tauen brachte, Das fühlten alle und deshalb war ein ges waltiged Drängen nach den Eafes und Wirtshäufern und Blerkellern.

Es war auch ſchon laͤngſt dunkel auf den Straßen, und die Verkappten, Vermummten und Ausſtaffierten draͤngten zum Licht wie die Muͤckenſchwaͤrme. Sie wollten ſich ſehen laſſen und wollten ſehen. Und was draußen in der Kaͤlte und bem ſchneidenden Wind eingefroren war, das begann in ben beißen, mie Tabaksrauch und Menfchendunft ers fallten Raͤumen ſich auszubreiten: das wurde kuͤhn und unternehmend.

An den hellen, reichen Räumen des Café Luitpold ſitzen an ben runden Marmortiſchen Pärchen aller Art und ſchauluſtige Leute, bie ben Menfchenftrom an fich voruͤberrauſchen laſſen, ber buch das Eafe flutet, zur einen Tür herein, zur andern wieber hinaus. In einer Ede haben drei Perſonen Platz gefunden, ein junger Mann, dem die ganz naive Verliebtheit unbefangen aus ben Augen fieht. Ein armer, verliebter Menſch, ein Menſch, der ung nicht unbekannt iſt, den wir bis⸗

ber als ſehr vernünftig unb reipektabel kennen lernten, als durchaus comme il faut. Comme il faut-Meier! Seine beiden Nachbarinnen tragen ſchwarzſeidene Läruchen. Die eine iſt in einem braunen, foliden Wollenfleid gefommen, die andre In einem ſchwarzſeidenen Faͤhnchen, das fo reizvoll und eigenartig bie junge Geftalt umfchließt, fo reizvoll, daß Gaftelmeler das Perſoͤnchen wie durch einen leichten Nebel ſieht. Es iſt ihm ſelbſt nicht recht gehener,. Er wird Ihn nicht (08, diefen Anblid, ob er ihn vor Augen hat oder nicht. Der arme Saftelmeter iſt bisher fo gut durchs Leben gelommen und es fcheint Ihm auch, daß er jeßt noch gut Damit aus⸗ fommt, fogar befonders gut. Sein Lebtag war es Ihm Kar, daß e8 mit dem Verlieben eine faule Sefchichte iſt. Jetzt denkt er nicht daran.

„Da tft niemand, bee mich kennt, Ich tu’ das Maskerl einen Moment ab“, fagt das junge Geſchoͤpf Im ſchwarzſeidenen Faͤhnchen. Gaſtelmeier blickt traumverloren auf fie, er will den erften Blick In das enthällte Geficht tun.

Ste knuͤpft an Ihrem Läruchen. Es hängt Ihe noch mit dem einen Gummiband, an dem das Knoͤpfchen Ift, im Haar fe. Das Geficht iſt frei. Lebensvolle, brennende Augen ſchauen in das Getämmel, ganz verfunfen und benommen.

Im Janunar war es, als Gaſtelmeier nach jenem etwas lebhaften Abend feſt entſchloſſen war, den geiſtigen Rangier⸗ bahnhof ſo bald als tunlich zu verlaſſen, und jetzt iſt's Maͤrz und er ſteckt immer noch dort. Er iſt Hausfreund geworden. Das Mädel iſt Ihm anvertraut.

Seine Kameraden haben die Sache laͤngſt durchs (haut, haben anfangs gefchiwiegen, ſpaͤter gelächelt, noch fpäter, zu ſpaͤt, freundfchaftlich gewarnt, dann wieder ges lächelt und die Achfeln gegudt. Dem Gaftelmeier war nicht mehr zu helfen, er hatte fih fürs erfte in der Schlinge gefangen.

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verdauen fie’8 nicht. Immer gefällisft nach alten Muftern, Nur nichts Neues!” Er zog ein fchlefed Maul, als ob es Ihm eine fchwere, unfihtbare Tabatspfeife herunterzöge, und ſchob die Unterlippe fonberbar vor. |

„Aha!“ dachte Gaſtelmaier. „Erwin Del ift alfo einer von den Neueften.” Gaftelmeler gehörte, wie ſchon gefagt, zu denen, die ſtill vor fich Hin arbeiten, ohne Schlagworte und Geſchrei.

Als wollte ſie ſeine Gedanken beſtaͤtigen, nahm die ver⸗ geiſtigte Dame das Wort: „Es iſt wirklich eine wertvolle Arbeit, gewiſſermaßen eine Prophetie, ein Ruf an die Menſch⸗ heit zur Umkehr.“

Gaſtelmeier ſchaute ſich Erwin mit erneutem Intereſſe an, wie demnach einer ausſieht, ber einen Ruf an die Menſchheit ergehen läßt. Ein grüner Junge! In Gaftelmeter fledete es, biefe Mutter war ein Verhängnis für Ihre Kinder. Er fonnte etwas Verrädtes an einem Weibe nicht leiden. Die jungen Huͤhner, bie bier fo verſchroben ausgebrütet wurben, taten ihm leid. „Na!“ fagte er zu Emil, „feld Ihe denn fo modern ?”

Emil zuckte auf eine fi händlich blaflerte Weiſe die Achfeln, feste fein tronifches Gefiht auf und brummte etwas, was ſoviel heißen follte wie: Miſtjauche! Wenn’s aber noch etwas Erträglicheres gibt, fo iſt das Moderne. „Mörigens”, fagte er laut, „was heiße modern?”

„Sagen Ste einmal, mein Sohn, wie alt find Sie eigent; ih?”

Emil lachte wie ein Faun; fein „Verflucht! Verflucht! Vers flucht!“ kam an bie Reihe und er ſchlug fih aufs Schens felchen.

„Iſt das eine Bucht I" dachte jet Gaftelmeier ganz wütend,

„Die ſpinnen“, fagte ein Stimmchen neben ihm, und als ee ſich nach ber Ucheberin des Stimmchens umdrehte, fah er

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in ein paar ſchelmiſch blickende Mitweiberäuglein. Tante Zaͤnglein hatte fich Tetfe wie ein Fledermaͤuschen gu ihm bin gemacht. Sie hatte auch ein Gefichtchen wie eine Fledermaus, fo zierlich und niedlich, und bie blintenden, Heinen, ſternen⸗ Haren Angen. „Die fpinnen”, fagte fie noch einmal,

„Here Gaſtelmeier,“ rief ber fparrige Juͤngling, „ich hab’ Sie mit meinem alten Schatz aus Salzburg noch nicht Bes fannt gemacht!”

„Ste ungegogener Menſch, Ste”, lachte das alte Weibchen.

Wie fie aber zu lachen verſtand! Mein Gott, die Heine Alte lachte gern und fchlen jeden Windhauch gu benägen, um - ihre Lachgloͤckchen klingen zu laſſen, fo auch jetzt. Gaſtelmeier ſah fich das keine, alte Fräulein näher an. Es war allerliebft gekleidet, mit Geſchmack und Wohlgefallen an netten Dingen. Gaſtelmeiers Herz hatte fie gleich gewonnen.

„Ah, das find Leut'“, fagte fie. „Jetzt haben ſie fich geſtern geärgert, mein Gott, e8 verlohnt fich nicht der Mühe; heute find fie alle außer Rand und Band. Aber, was fagen Sie, nicht wahr, den Erwin nahmen auch Ste nicht. mit nach Halten? Ich geh’ nämlich nächfter Zeit hin”, fuhr fie lebhaft fort. Irgendwen muß ich mitnehmen. J wo, fo allein. geh’ Ich nicht wieder, wie's letzte Mal; aber fo eine Trauer; weiden, wie ben Erwin und dazu fo ein Pulverfaß von Mes volutionaͤr, wie er iſt fo etwas möcht’ ich net mitnehmen. Deshalb find fie alle boͤs. Der lange Burfch da foll mit.” Ste zwinkerte nach ihrem Begleiter hin, der mit Erwin, Olly und deren Mutter in ein hitziges Geſpraͤch Aber Knnuſt⸗ fragen geraten war. „Mein Gott, fo ein alt’& Weiber! muß halt nehmen, was fich bietet. Und was Junges muß es fein. Wiſſen Sie, Altes Hab’ Ich felbft genug. Und außerdem: er ift ein armer Teufel. Ich wohne hier gerade gegenüber in der Schellinsftraße. Mein Garten geht denen hier big unter die Benfter. Das find Lent’”, betenerte fie noch einmal und zwinkerte mit ben Augelchen. „Mir macht’8 eine Herenfreud’,

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susufchauen, wie geſchickt die fih das Leben verderben. So ein Unfinn. Nein! Gott fich’ ihnen beit Ach hab’ mir das meine huͤbſch eingerichtet, willen Sie, fo ganz nach meinem Guſto. Das können die hier nicht leiden. Jetzt hören Sie nur, was fie wieder haben, über was fie ba wieder in Eifer geraten. Hören Ste nur!”

Die Heine Alte ſetzte fih in Poſitur, als wenn fie in Ges maͤchlichkeit ein Schaufpiel betrachten wollte.

Ste hatten ſich alle während des wätenbsliterarifchen Ges ſpraͤchs erhigt. Naturalismus, modern, altbaden, neue Werte und fo weiter. Das alles war wie Schneebälle bei einer Schneeballſchlacht hin⸗ und hergeflogen mit ſchwindelerregen⸗ der Schnelligkeit. Erwin Dels nicht anzubringender Roman fehlen immer noch die Urſache diefer Erhitzung zu fein.

„Klimpern gehört sum Handwerk”, fagte das Altchen vers gnuͤgt. Sie amäflerte ſich.

Die Fran vom Haufe, Ihr Erwin und der fparrige Menfch waren über den Roman eines befannten Schriftfiellees her; gefallen, der fie alle drei eutruͤſtete. Gaſtelmeier kannte ihn auch, es war nichts Ermähnenswertes baranz aber der Autor war berähmt. Eine Höchft einfache Tatfache, die aber die drei Eifrigen in die größte Wut verfeßte, fo daß fie nach allen Regeln der Kunft zuerſt das Machwerf gründlich abfcehlachteten, und, als da nichts mehr gu tun übrig blieb, ihr großer Zorn aber noch nicht geftillt war, fich über den Autor felbft her⸗ machten.

Erwins Kollege hatte das aufgebracht. Sie begannen den Autor felbft zu fchlachten. Und diefer Autor war ein wohls beleibter, foignierter Lebemann, ein vornehmer Menfch, dem es im Leben vortrefflih erging. Das amuͤſierte die drei anßerordentlich. Sie gerteilten Ihn in Städe und beſtimmten diefe zu verfchledenen Gerichten. Emil lachte aus vollem Halfe, auch Olly amuͤſierte fih. „Er verdient’ nicht anders, wahrhaftig, er verdiene’ nicht anders”, fagte fie.

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„Aber die Augen, feine Fiſchaugen, was maden wir mit denen?” rief Emil ſtrahlend.

„Solche Fiſchaugen find zu nichts zu brauchen, das iſt Abfall!“

„Bravo!“ fagt die Dame des Hauſes und fonnte fi vor Lachen kaum aufrecht erhalten.

Gaſtelmeier war enträfter. So ein fanatifches Weib! Er fonnte auch den Wis von der Sache nicht einfehen. Eine Roheit nichts andres! Und Olly, das junge Mädel, lachte mit, Er wendete fich zu ihr und fragte: „Weshalb lachen Sie eigentlich ?”

„Weil es komiſch iſt“, befam er sur Antwort.

„Komiſch? Ra!” fagte Gaſtelmeier.

„Ein Menfch, der fo fehreibt, verdient's nicht anders. In der Kunft follte fireng gerichtet werben, firenger als bei einem Berbrechen”, faste fie fett und mit leuchtenden Augen.

„Die Olly iſt ein recht gutes Mädchen,” wifperte das Alts weiberſtimmchen wieder neben ihm, „aber fpinnen tut fie auch. Kunftferen find fie eben alle miteinander, Jammerſchade. Und ich feh’ fchon, mein Kraftmenfch iſt auch net viel beffer. Sp dummes Zeug aufzubringen. Na, warf’, ben lang’ Ich mir, den nehm’ ich mir mal auf die Seite und mad’ Ihm die Sache Har, dann follen Ste fehen, der wird fo zahm, daß er ans der Hand frißt. Jodeln follen Sie ihn aber einmal hören. Herr Kaufmann, jodeln Sie doch einmal.”

„Sa, mein Schat”, fagte er, „su Befehl!“ machte wieder ein ſchiefes Maul, ſchob bie Uinterlippe vor und fammelte fich, wie e8 ſchien. Darauf begann er zu jodeln, daß die Scheiben flierten, Er jodelte vortrefflih, ganz ausnahmsweiſe gut fabelbaft.

„Sehen Ste,” wifperte das alte Weibchen, „das iſt mein Genuß. Das ift für mich fhöner als der fchönfte Geſang. Das iſt eine Kraft, an der man fich anfrichten kann.” Sie

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swinferte mit den Auglein. „Deflentivegen, wegen bem Jo⸗ dein nehm’ Ich ihn mit.”

Saftelmeler fand an dem alten, Heinen Fräulein immer mehr Gefallen, aber das reisende Gefchöpf, die Olly, hatte ihn verſtimmt. Freilich mußte er immer auf fie ſchauen. Er verftand fie nicht. Olly war eine neue Welt für ihn.

Wie fie ſoweit friedlich beieinander faßen, geſchah mit einem Male ein Krach, ein Donner, ein Geklirr und Gepolter, daß alle sufammenfuhren.

„Jeſſes Maria!” rief das alte Weibchen entfegt. „Was tft denn das? Wer fehlt denn hier?! Emil,”

Diefe praktifche, wie es ſchien, vielgeuͤbte Umſchau hatte das alte Weibchen mit großer Geiſtesgegenwart fofort unters nommen. Emil fehlte wirklich.

„Ach Sort!” rief die jeßt ganz entgeifterte Madame, „er hat nach Butter gefucht und hat den ganzen Rauchfang über dem Herb heruntergerifien. Großer, allmächtiger Gott! mit allen Sachen. Was andres kann es nicht fein!“

„J wo”, fagte der fparrige Juͤngling, dem die Erklaͤrung unglaublich vorzukommen fehlen.

„Hab/ ich’8 nicht Immer gefagt, das komme von ber Fexe⸗ rei”, rief Tante Zänglein. „So ein unfinniges, altmodiſches, modernes Ding über einem Herd gu haben, das kann auch nur euch paffleren, Die ganze Simpelei hing an einem Draht.” |

Während dies und noch verfchlebeneds andre geäußert wurde, ftürzte die ganze Gefellfhaft hinaus, durch den Korridor in die Küche. Dort fand man ein Bild ber Zerftds rung vor, das jeder Befchreibung ſpottete. Es war wirklich der kuͤnſtliche Rauchfang, ben irgend ein mittelalterlich ges finnter Stilbaufer über dem modernen Sparherde finnreich angebracht hatte, herabgeſtuͤrzt. Der Rauchfang hatte fich über den Herd geftälpt und alles, was auf dem Herd war, überdedt und da war etwas, man roch es noch, etwas

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Gebratenes, Gezwiebeltes, und alles, was auf dem Bord des Rauchfangs fand, war mit heruntergepoltert und lag zerbrochen und gerauetfcht umber. Was irgend an der Wand Bing, war herabgeftreift, ein Chaos, und Emil war nicht zu bemerfen.

Die entfebte Mutter lehnte, unfähig, irgend etwas Ders nünftiges zu tum oder gu fagen, an dem Türpfoften.

Olly rief: „Emil!“

„Dee Emil wird doch nicht drunter gefommen fein?” meint Tante Zänglein.

„J wo“, fagte der ſparrige Juͤngling und rüttelte mit Erwin, Gaſtelmeier und Dily an dem Unglüdsrauchfang; aber es war feine Möglichkeit, ihn in die Höhe zu bringen. Es war alles mit bem Herb feft verteilt.

„Da bat er fich über ener Abendbrot geftälpt,” fagte Tante Zanglein und ſchnuͤffelte mit dem Nischen, „vorhin roch es fo gut nah Zwiebel, Was hattet Ihe denn Feines? Das geht ja hoch her!“

„Lieber Himmel”, fagte Frau Kovalski trasifh. „Das waren die Beefſteaks, die follten ung wieder etwas zu Kräften bringen, die find nun auch verloren! Wo iſt denn Franziska bingelaufen? Weshalb hat fie fie nicht vordem aufger fragen?”

„a, als ob man bei euch irgend etwas vorher wiſſen koͤnnte!“ ſagte Tante Zaͤnglein.

Olly rief: „Gottlob, daß Emil wenigſtens nicht drun⸗ ter iſt.“

„Guck, Sud, der hat ſich aus dem Staub gemacht, der Lump“, lachte Tante Zänglein. Sie war längft wieber dabei, fih zu vergnägen. Die Hausfrau aber fehlen mehr Mühe als andre Sterblide zu gebrauden, ihre fünf Sinne in einem folden Falle wieder beifammen gu befommen. Ste war ganz auseinander und ed arbeitete in ihrem &eficht, als wollte ein Traͤnenſtrom hervorbrechen.

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zwinkerte mit den Auglein. „Deffentwegen, wegen dem Jos dein nehm’ ich ihn mit.“

Saftelmeier fand an dem alten, Heinen Fräulein Immer mehr Gefallen, aber das reigende Geſchoͤpf, die Olly, Hatte ihn verſtimmt. Freilich mußte er Immer auf fie ſchauen. Er verftand fie nicht. Olly war eine neue Welt für ihn.

Wie fie ſoweit friedlich beieinander faßen, gefhah mit einem Male ein Krach, ein Donner, ein Geklirr und Sepolter, daß alle sufammenfuhren.

„Jeſſes Marta!” rief das alte Weibchen entſetzt. „Was ift denn das? Wer fehlt denn hier?! Emil.”

Diefe praktifche, wie es fehlen, vielgeuͤbte Umſchau hatte das alte Weibchen mit großer Geiftesgegenwart fofort unters nommen. Emil fehlte wirklich.

„ah Gott!“ rief die jet ganz entgeifterte Mabame, „er hat nach Butter gefucht und hat den ganzen Rauchfang über dem Herb heruntergeriſſen. Großer, allmächtiger Gott! mit allen Sachen. Was andres kann es nicht fein!“

„J wo”, fagte ber fparrige Juͤngling, dem bie Erklaͤrung unglaublich vorzukommen fehlen.

„Hab' ich’E nicht immer gefagt, das kommt von ber Feres rei”, rief Tante Zänglein. „So ein unfinniges, altmobifches, modernes Ding Aber einem Herd zu haben, das kann auch nur euch paſſieren. Die ganze Simpelei hing an einem Draht.”

Während dies und noch verfchiebened andre geäußert wurde, ſtuͤrzte die ganze Gefellfchaft hinaus, durch den Korribor in die Küche. Dort fand man ein Bild der Zerſtoͤ⸗ rung vor, das jeder Befchreibung fpoftete. Es war wirklich der kuͤnſtliche Rauchfang, den irgend ein mittelalterlich ges finnter Stilbaufer über dem modernen Sparherbe finnreich angebracht hatte, herabgeftürst. Der Rauchfang hatte ſich über den Herb geftülpt und alles, was auf dem Herd war, überdbedt und da war etwas, man roch es noch, etwas

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Gebratenes, Gezwiebeltes, und alles, was auf dem Bord

des Rauchfangs fand, war mit beruntergepoltert und lag

zerbrochen und gerauetfcht umher. Was irgend an der Wand

Bing, war herabgeftreift, ein Chaos, und Emil war nicht zu bemerfen.

Die entfegte Mutter lehnte, unfähig, irgend etwas Ders nuͤnftiges zu tum oder gu fagen, an dem Tärpfoften.

Olly rief: „Emil!“

„Der Emil wird doch nicht drunter gekommen fein?“ meint Tante Zänglein.

„I wo”, fagte der ſparrige Juͤngling und rättelte mit Erwin, Saftelmeier und Dlly an dem Ungluͤcksrauchfang; aber e8 war feine Möglichkeit, ihn in die Höhe zu bringen. Es war alles mit dem Herb feft verteilt.

„Da bat er fich über euer Abendbrot geftälpt,” fagte Tante Zaͤnglein und fchnüffelte mit dem Naͤschen, „vorhin roch es fo gut nach Zwiebel. Was hattet Ihr deun Feines? Das geht ja Hoch her!“

„ueber Himmel”, fagte Frau Kovalski tragiſch. „Das waren die Beefſteaks, die follten ung wieder etwas zu Kräften bringen, die find num auch verloren! Wo iſt denn Franuziska bingelaufen? Weshalb hat fie fie nicht vordem aufges fragen ?”

„sa, als ob man bei euch irgend etwas vorher willen koͤnnte!“ fagte Tante Zänglein.

Olly rief: „Sortlob, daB Emil wenigſtens nicht drun⸗ ter iſt.“

„Guck, Sud, dee hat fih aus dem Staub gemacht, der Lump“, lachte Tante Zänglein. Ste war laͤngſt wieder dabei, fih zu vergnägen. Die Hausfrau aber fchlen mehr Mühe als andre Sterbliche zu gebrauchen, ihre fünf Sinne in einem folchen Falle wieder beiſammen zu bekommen. Ste war ganz auseinander und es arbeitete in ihrem Geficht, als wollte ein Traͤnenſtrom hervorbrechen.

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Was war denn aber das? Ein fonderbares Ziſchen und Wuͤten, ganı am Enbe des Korridors, das man in ber Auf⸗ tegung erft jegt bemerkte. Alle fpisten die Ohren.

Mitten zwiſchen diefen Geräufchen, die mit bem Laͤrm, den ausftedömender Dampf zu machen pflegt, eine große Ahn⸗ lichkeit Hatten, rief jegt Emild Stimme: „Erwin, du Efel! Erwin!” Das Hang wütend und angſtvoll und wie in hoͤchſter Gefahr.

„Allmaͤchtiger, mein Bad I” fchrie Erwin. „Das hab’ Ich vergeflen I“

Jetzt ſtuͤrzte er durch den engen Korribor und alle Ihm nach an die zweite Ungluͤcksſtelle. Die ſah auch nicht übel aus. Der Badesfen, zum Zerplaten überheist, daß der Dampf witend aus den Ventilen ziſchte. Und der Kran fürs kalte Waſſer offen, das mit Vehemenz in eine Badewanne fiürzte, die ihren Äberſchwall Aber die Diele laufen Tief.

„Erin, der Kran geht nicht zu!” jammerte Emil mit wuͤtender, weinerlicher Stimme. Wo iſt denn die Zange, ohne die Zange geht's ja nicht mehr!” rief Erwin.

„a, wo haſt's denn?” gab Emil zuräd. „Wegen ber iſt ja ſchon der Rauchfang herunter. Wer zum Teufel hat fie denn wieder verfchleppt !”

Erwin ſtand ratlos und unbeweglich.

Emil arbeitete Immer noch mit feinen Heinen feſten Faͤuſten Daran, den Kran umzudrehen, und war in heißen Dampf eingehällt wie ein Poſaunenengel in Wollen. Da ſchob ends fih der Kraftmenfch die verzweifelte Gefellfchaft auseinander und wärgte in ben Dampfwolten herum und, wie es fehlen, mit Erfolg, denn das Hneinfchteßen des Waſſers in die übers einnende Badewanne hörte auf. Er brachte dann die Ges fhichte fo weit in Drdnung, daß wenigſtens einer weiteren Aberſchwemmung und einer Dampfteffelerploflon vorgebeugt War.

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„Herr, mein Gott! Diefer unfelige Roman!” rief Frau Kovalski. Ste war nun von dem drohenden Weintrampf, der ſich bei dem Anblid ber Kuͤchenverwuͤſtung angekündigt hatte, wirklich gepadt und fuchte an Erwin Halt, der felber faſſungslos daftand.

„Ein Ungläd bringt gehn andere mit ſich“, ſchluchzte fie.

Tante Zänglein amäflerte fich fchon wieder. „Das kommt wirklich alles vom Roman”, fagte fie eifrig gu Gaſtelmeier und zwinkerte pfiffig mit den Auglein. „Ich kenn’ das ſchon. Nach fo einem Mißerfolg find fie gedankenlos wie die Hühner.”

Gaſtelmeier ging heute ganı überwältigt zu Bette und mit dem feften Entfchluß, fo bald als tunlich fih aus dem Staube zu machen. Da war ihm fein veritabler Rangierbahnhof mit der guten Verpflegung doch lieber als diefer, ber auf geiftigem Gebiet versehnfachten Spektakel machte. Da war gar Fein Zweifel, von bier mußte und wollte er fort. |

5 Böhlau IL. 65

Biertes Kapitel

ao Tnahebiensing in Münden.

Die Narrenwelle, bie das Lebensmeer jedes Jahr breit über die Stadt hinfpälen laßt, ſpuͤlt auch diefes Jahr bei fchneibendem Maͤrzwind duch die Straßen und führt allerlei wunderlich aufgeputztes, aufgeregtes Volk mit fih, dem ber eifige Wind um die Nafe freicht, oder die leichenhaft ſtarren Larven Lüfter, bie bunten Lumpen um ben Kopf fchlägt und den Spaß im Freien einigermaßen verdirbt. Trotzdem war den ganzen Tag ein Gelauf und Gerenne gewefen. Der Humor war von der Kälte etwas ungelenf und froftig geworben, mußte erft die fiarren Glieder reden, und von diefer Anflrengung wurde er dann etwas grob und unerfreulih. Es war notwendig, daß man ihn zum Aufs fauen brachte. Das fühlten alle und deshalb war ein ges waltiges Drängen nah den Eafes und Wirtshaͤuſern und Bierkellern.

Es war auch ſchon laͤngſt dunkel auf den Straßen, und die Verkappten, Vermummten und Ausſtaffierten drängten zum Licht wie die Muͤckenſchwaͤrme. Sie wollten ſich ſehen laſſen und wollten ſehen. Und was draußen in der Kaͤlte und dem ſchneidenden Wind eingefroren war, das begann in den heißen, mit Tabaksrauch und Menſchendunſt er⸗ fuͤllten Raͤumen ſich auszubreiten: das wurde kuͤhn und unternehmend.

In den hellen, reichen Raͤumen des Café Luitpold ſitzen an den runden Marmortiſchen Paͤrchen aller Art und ſchauluſtige Leute, die den Menſchenſtrom an ſich voruͤberrauſchen laſſen, der durch das Cafe flutet, zur einen Tür herein, zur andern wieder hinaus. An einer Ede haben drei Perfonen Platz gefunden, ein junger Mann, dem bie ganz naive Verliebtheit unbefangen aus den Augen fieht. Ein armer, verliebter Menſch, ein Menfch, der ung nicht unbelannt Ift, ben wir Big,

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ber als fehr vernünftig und refpeftabel kennen lernten, als durchaus comme il faut. Comme il faut-Meter! Seine beiden Nachbarinnen tragen fehwarsfeidene Laͤrvchen. Die eine iſt In einem braunen, foliden Wollenkleid gefommen, die andre in einem fchwarsfeibenen Faͤhnchen, das fo reizvoll und eigenartig die junge Geftalt umfchließt, fo reizvoll, daß Saftelmeier das Perſoͤnchen wie durch einen leichten Nebel fieht. Es iſt ihm ſelbſt nicht recht gehener. Er wird ihn nicht 198, diefen Anblid, ob er Ihn vor Augen hat oder nicht. Der arme Gaftelmeler ift Bisher fo gut durchs Leben gekommen und es fcheint Ihm auch, daß er jet noch gut damit aus⸗ kommt, fogar befonders gut. Sein Lebtag war es ihm Har, daß es mit dem Verlieben eine faule Gefchichte iſt. Jetzt denkt er nicht daran.

„Da iſt niemand, der mich fennt, Ich tu’ das Master! einen Moment ab”, fagt das junge Geſchoͤpf im ſchwarzſeidenen Bahnen. Gaſtelmeier blidt traumverloren auf fie, er will den erfien Bli in das enthällte Geſicht tun.

Sie knuͤpft an Ihrem Laͤrvchen. Es hängt ihr noch mit dem einen Summiband, an dem das Knoͤpfchen iſt, im Haar fell. Das Geſicht iſt frei. Lebensvolle, brennende Augen ſchauen in das Getämmel, ganz verfunfen und benommen.

Im Januar war es, als Gaftelmeier nach jenem etwas lebhaften Abend feft entichloffen war, den geiftigen Ranglers bahnhof fo bald als tunlich zu verlaflen, und jegt iſt's Maͤrz und er ſteckt Immer noch dort. Er ift Hausfreund geworden, Das Mädel iſt ihm anvertraut.

Seine Kameraden haben bie Sache laͤngſt durch⸗ (haut, haben anfangs gefchwiegen, fpäter gelächelt, noch fpäter, su ſpaͤt, freundfchaftlih gewarnt, dann wieder ges lächelt und die Achſeln gesunde. Dem Gaftelmeler war nicht mehr zu helfen, er hatte fich fürs erſte in der Schlinge gefangen.

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„Schau, Sriedel, mich kennt erſt recht fein Menfch bier, da tu’ ich's auch ab. Mich erſtickt's Halt.”

„Wenn du meinft“, fagte Gaſtelmeier, und bag zweite Laͤrvchen fiel auch.

Das war die Anna aus Rohrmoos. Gaſtelmeier aber ſah nicht nach ihr. Seine Blicke hingen wie gebannt an dem eigenartig ſchoͤnen Geſchoͤpf neben ihm, das nur Augen fuͤr das Treiben um ſich her zu haben ſchien. Aune ſah mit einem langen Blick auf ihren guten Kameraden, mit ſo einem klaren, feſten Blick, in dem deutlich das Bewußtſein zu leſen ſtand: „Fuͤr dich iſt alles zu Ende.“

Die roſigen Wangen wurden bleicher, und ſie ſah nun auch auf das ſchoͤne Maͤdchen.

„So großartig brauchſt dich auch nicht zu verhalten, daß du Ihn da ſitzen läßt wie einen Narren, du”, dachte Anne. Er vergab fih etwas In Ihren Augen, daß er fich fo verliebt geigte. „She tut's euch leicht, ihr Mannsleut“, dachte fie wieder und lächelte. Ein Seufjer

Jetzt, da niemand auf fie achtete und fie fo einſam und verlaſſen neben dem Kameraden ſaß, den ſie ihr Lebtag als von ſich untrennbar betrachtet hatte als einen, dem fie nie einen Namen gegeben hatte, ber für das elternloſe Maͤd⸗ hen Bender und Freund war, an den alle fhönen Erinnes rungen ſich Enüpften, da konnten ihre! Gedanken in dem engen erflidenden Saal nicht mehr bleiben, Sie flogen bins aus in bie ftille Nacht, weit über die Stadt! hinaus In das ftille, dunkle Rohrmoos. Da würde es ihre wohler und weher.

Jetzt kannte ſie die Einſamkeit mit einem Male. Die ſchwere, herzbedruͤckende Einſamkeit. Sie fuͤrchtete ſich, in ihr altes Heim zuruͤckzukehren, und hier wollte ſie auch fort, je eher je lieber das nein das tat bis in den Grund der Seele weh, das mit anzuſehen das war menſchen⸗

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unmöglich. Es war ihr gerade, als wenn ihr jemand alle Lichter, die Ihre Welt erleuchteten, vor ben Augen ausbliefe. Es wurde dunkler und dunkler und oͤder und oͤder und für Immer und ewig. Unter dem runden Marmortifche faltete fie die Hände und ſaß fill und gebengt, vom Ungtäd ger troffen da.

Einem übermätigen Menfchen, der an Ihrem Stuhl vors Aberging, gefiel das blonde Mädehen, und in der Mastens laune legte er den Arm um ihre Schulter und verfuchte fie gu kuͤſſen.

Da fprang fie mit einem Schredenslaut auf und fah ganz entfegt um fih ber. „Herr, mein Gott!” rief fie.

Der Übermätige lachte laut und verſchwand mit einem Sat in der Menge, denn Gaſtelmeier feßte ein ſehr wuͤrdiges und ernſtes &efiht auf.

„Ach du, gehen wir”, fagfe Anna.

„Deswegen ?” flüfterte ihre Gaſtelmeier Tächelnd zu. „Wart' nur, ich paß befler auf dich auf.“

Gleich darauf fprach er mit Olly, die von einem wahren Eifer belebt war, alles zu fehen und alles zu hören was es irgend gab.

„Sehen Ste dahin, ach, fehen Sie dahin Herr Gaftels meter, bittel” So rief fie alle Augenblide. Nun fagte fie: „Wie gut von Ihnen, Daß Sie mich mitgenommen haben! Sagen Ste felbft, wann ficht ein Mädchen, wie die Mens ſchen fih eigentlich bewegen; an den Modellen doch wohl nicht 2”

„Iſt Ihnen denn das wirklich fo eine Freude?” fagte Saftelmeier.

„Freude? Nein, Freude nicht. Notwendigkeit! Glaus ben Sie mir, Ich bin nach ſolchen Dingen verſchmachtet.“

„So ein Meines, vergnägungsfüchtiges Fräulein!”

Da wurde das fchöne Maͤdchen ganz erregt, die Dunkeln

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Augen firahlten. Man fühlte, fie fonnte nicht recht su Worte fommen.

„Rein —!“ fagte fie „da haben Sie mich mißverfianden. In Ihrem Sinne macht mir fein Vergnügen, anders! Ich fehe die Dinge und lerne und lerne, willen Sie, fo mit ganzer Seele! Ich fühle dann: fo kann man etwas leiften, fo mitten im Leben, nie wie bei ung Frauen, wir ſtehen Immer abſeits. Was kann man dba... Sch will fehen, wie bie Menfchen leben. Verfiehen Ste mich doch.” Ste legte im Eifer ihre Hand anf die feine, wie um an feinem Verſtaͤndnis zu rätteln. Iſt denn das fo ſchwer su begreifen? Ich bin Künftler wie Sie Künftler find. Und Sie glauben nicht, wie eine Frau nach dem Leben und der Wahrheit hafchen muß. Ste befommt nie die Wahrheit gu ſehen!“

Olly machte Aufſehen. Allerlei Masten fammelten ſich um den Tiſch und banden mit ihr an. Gaſtelmeier wollte bei jeder Gelegenheit ritterlich ſeiner Dame beiſtehen.

„Laſſen Sie, laſſen Sie!“ bat ſie und legte ihre Hand auf ſeinen Arm, gewiſſermaßen, um ihn zu verhindern, auf⸗ zuſtehen. Dann plauderte und lachte ſie weiter mit den andern und ging auf alle Scherze ein.

Ein Paar ließ ſich neben ihr nieder, wie es ſchien, ein Akademiker als Koͤchin verkleidet und ein zweiter als Ge⸗ richtsvollzieher. Der letztere fragte ſie, wer ſie ſei.

„Ein Malermadel“, antwortete fie.

„Das Madel von ein Maler, oder malft felbft ?“

„Ich mal’ ſchon ſelbſt.“

„Da iſt net viel bei dir gu holen! Malermadl? U vers ſchmierte Leinwand, an Zahnbürfchtel, wanns eins haft, a Malſchuͤrzen und a ſchlecht's Gwandl dein beſt's haft an, net?”

„&eltens”, fagte Olly mit lachenden, firahlendben Augen. „Morgen kommt ſchon einer su ung, wenn auch du net.” Sie wandte fih vom Pſeudo⸗Gerichtsvollzieher lachend zu

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Gaſtelmeier. „Es kommt wirklich einer, komiſch.“ Gaſtel⸗ meier ſah ſie ganz verbluͤfft an. |

„Sp“, fagte die Maske. „Da nimm dich In acht, daß er dich nicht mitnimmt, du mit beinen unfinnigen Augen, wann Ich fan’, das wär’ das erſte.“

„Seltens,” fagte Olly wieder, „Das follte dir aber net übel bekommen.“

„Sehr einfach,” meinte die Maske zu feinem Genoflen ges wendet, „da muͤſſen wir zu biefem Heinen Teufel unfern dreffierten Löwen mitbringen.” Darüber lachte Olly wieder unbändig, Ste lachte über alles.

„Laſſen Sie doch diefe Leute”, flüfterte Gaſtelmeier ihr ers regt zu. „Schließlich, angenehm Tann e8 Ihnen doch nicht fein, wenn der Kerl zudringlich wird.”

„Aber gleichgültig. Sehen Ste nur, der eine flieht ganz wie eine Gans aus, wenn er die Augen fo verliebt verdreht. Nicht Hier iſt Maskerade, fonbern die ganze Zeit draußen iſt Maskerade. Heut find bie Leute, wie es ihnen bequem iſt und paßt, und das find erſt Bewegungen, was man bier fieht, alles andre iſt Martonette. Wie ich Ihnen danke, daß Sie mich mitgenommen haben!“

„3% glaube, Fräulein Olly,“ fagte Gaſtelmeier unwirſch, „Ste findterten noch, wenn fo ein Kerl Ihnen einen Kuß geben würde?”

„Freilich!“ fagte fie. „Mich ginge ber Kuß ja nichts an.”

„Na“, meinte Gaftelmeter, der am liebflen das Mädchen am Arm genommen und aus bem Saal geführt hätte.

„Hat Sie ein Hund fon getäßt?” fragte Olly, „fo was man von einem Hund Füllen nennt. Das iſt unangenehm und man ſieht zu, daß es nicht gefchleht.” Ihre Augen hatten ſchon wieder etwas in der Menge entdedt, was Ihre Aufs merkſamkeit ganz, in Anfpeuch nahm. „Nein,“ fagte fie wie zu fich ſelbſt, „wie foll man Künftler fein, wenn man das Leben nicht kennt!“

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Gaftelmeier wendete fih an Anne und fagte leife: „Den nicht fchlecht von ihr. Du follteft fie einmal gu Haufe fehen, fo ein braves Mädel. Ste iſt nicht wie die meiften andern, und fie malt wirklich brillant, da könnte fich jeder Mann ftenen, wenn er’s fo fertig brachte. Aber weißt du: es iſt Doch fhad’ an einem Mädel.”

„Schad’?" fragte Annele. „Ich mein’, ich verfieh’ fie, beffer als du fogar. Das tft nicht fchad’. Ste iſt ein mutiges Mädchen.”

Das fagte Annele und das Herz fat ihr babet weh, als wollte e8 gerbrehen aber fie mußte es fagen.

„Du, das wundert mich von die. Ich dachte, die Art müßte dir mißfallen”, erwiderte er darauf.

Annele brach das Geſpraͤch ab und fchaute in das Ges tümmel hinein, als wenn fie etwas fähe; fie fah aber nichts, was um fie vorging, nur immer bie eine einzige Ode, in der fie von nun an, wie es ihr fehlen, für Immer zu leben hätte,

„Wie iſt Denn das mit dem Gerichtsvollzieher?“ fragte fie nach einer Weile leiſe.

„Was meinft du denn?” fläfterte Gaſtelmeier.

„Ste fagte doch, e8 Fame morgen einer gu Ihnen. War dag ein Spaß?”

„Unmoͤglich“, meinte Gaſtelmeier; bei ſich aber dachte er: „Weshalb nicht. Bei ung gefchleht ja allerlei derartiges.”

„Fraͤulein Olly,“ wenbete er fich wieder leife an dieſe, die eben eine Pauſe im Plaudern gemacht hatte, „was war denn das vorhin mit dem Gerichtsvollzieher ?“

„Was denn? Daß morgen einer zu uns kommt? Im Ernſt. Sr holt nur ein paar Sachen”, fagte Olly feelens ruhig. „Wegen der Mebgerrechnung. Der Menfch will nicht länger warten.”

„Ach fo”, meinte Saftelmeler mit nicht ganz natürlicher Seelenruhe.

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„Diefe volllommene Wurſchtigkeit“, wie er in feinem Innern. fih ansbrädte, Argerte ihn und doch hatte er wieder ein fonderbares Gefühl ber Bewunderung, wenn er an ben Niefenfleiß des Maͤdchens Dachte und an Erwin, ben guten Jungen, ber wie ein Raſender weiter fomponierte an Dingen, die ihm nie ein Buchhändler abnehmen wärbe, Der Rufe aller Art an bie Menfchheit zur Umkehr in petto hatte, der fih in: Romanen empoͤrte, empörte über Dinge, mit denen alle Welt zufrieden war; und mit all dem Fleiß und all dem Heben konnten fie nicht ihe ruhiges Städchen Brot verdienen und zogen wie in eine Sluͤchſeligkeit in biefes furchtloſe Treiben auch noch Emil, den armen Burſchen, mit hinein. Ollys Talent war auch durchaus nicht brav und den Menfchen wohlgefaͤllig. Es war eigenartig, nicht einſchmeichelnd.

„Armes Ding”, dachte GSaſtelmeier. Er haͤtte das (höne, zarte Geſchoͤpf In feine Arme nehmen und fie ang dem feelenvergehrenden Treiben hinanstragen mögen, Er fühlte ſich fo ganz als ben flarfen Mann und ſah In ihr das ſchwache Weib. Wohin follte der jeßige Zuſtand fuͤh⸗ ren? Er fah fie in Not und Elend, den garten Körper ges brochen von Überarbeitung, Hunger und Elend und er fonnte fie fih Doch nicht mutlos vorftellen, und nicht ohne Feuer und Lebenskraft. Er fab fie in allen Lagen, und er fonnte fie fich nicht gebantenlos und nicht fchlecht vorſtellen und auch nicht versagt. Noch nie hatte ein Weib ihn fo ers regt, noch nie hatte er über ein Weib fo nachgebacht, das Geiftige fo empfunden. Bisher hatte nur Frifche der Jugend auf Ihn gewirkt. Aber bier ja, bie Jugend liebte er auch hier; aber dieſer junge, ſchoͤne Körper fehlen die leichte Hülle von etwas Ihm Unbelannten zu fein, das hier für ihn sum erflen Male das Körperliche durchleuchtete.

Ya, zum erfien Male. Bisher waren für ihn alle Weiber Körper mit etwas Herz gewefen, mit fo viel Herz, als gerade

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notwendig und dies Herz war ihm als etwas unfäglich Langs weiliges erfehlenen. Und nur das ganı junge Weib war für ihn Weib; wo er Diefe Jugend nicht mehr antraf, war für ihn auch das Weib nicht mehr vorhanden, etwas andres war an deflen Stelle getreten, etwas Unerfreuliches. Seine Mut ter hatte er geliebt, weil fie eben feine Mutter war. Annele war ihm lieb, weil fie zu ihm gehörte. Ein fremdes Volk waren fie Ihm alle gewefen, eine unter ihm ſtehende Menſchen⸗ fafte, etwas, was ihn vorderhand gottlob nichts anging, von dem er fich aber Ideale zu machen liebte, an bie er felbft nicht recht glaubte. Und das deal, dag er fih gemacht hatte, pfeopfte er allen auf, mit Denen er in Berührung fam. Auch bier bei Olly wollte er es verſuchen, aber er wußte nicht recht damit fertig gu werben.

Übrigens hatte er fich dieſen Abend anders vorgeftellt. Das Mädchen hatte nur Augen für das, was um fie her vorging, und er hätte fih gerade vor Annele gern geigen wollen. Daß Dlly Ihm ſoweit gut gefinnt war, wußte er, und fo ein Abend war eigentlich die Gelegenheit, feinem freundlichen Verhältnis gu ihr eine etwas andre Richtung gu geben, eine Nichtung, die er ſehnlichſt herbeimänfchte. Als fie beieinander faßen und der Steom immer neuer Mass fen fih an ihnen ooräberwälste, wendete fih Olly zu ihm, nachdem fie längere Zeit flillgefeflen, und fagte: „Sch babe eine große Bitte an Sie, Herr Gaſtelmeier.“

„Ran ?" fragte Saftelmeier gefpannt. Er war wie elekteifch geladen, jede Verbindung mit Olly ließ ihn Funken fprähen, die Ihm das Herz für einen Augenblid erleichterten.

„Fuͤhren Sie ung in die Zentralfäle. Ich muß das auch feben.”

Da war es ihm aber, als habe er einen Schlag Ins Geſicht befommen. Das hätte fein Ideal, das er fih vom Weibe ges macht hatte, nie gefagt. Sein Ideal hätte Aberhaupt nichts davon gewußt, daß Zentralfäle eriftieren, wenigfiens von

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jenen Bafchingsbällen hätte es nichts gewußt, und hätte es etwas gewußt, fo hätte es dies doch nie und nimmermehr einem männliden Wefen eingeftanden.

Aber Olly kuͤmmerte fih um fein Ideal, wie es fehlen, nicht im geringfien. „Kommen Sie”, fagte fie eifrig.

„Nein, Fräulein Olly, das geht nicht,” antwortete er, nach⸗ dem er fih von ‘feinem Schred erholt hatte, „und Ih muß mich wundern, wie Sie Aberhaupt auf diefe Idee kommen.” Er fette eine gewiffermaßen väterlih wuͤrdige Miene auf.

„Ste find etwas begriffsftutig, mein Herr!” faste Olly komiſch und ungeduldig.‘ „Ich möchte wiſſen, wie oft Ich es Ahnen erfiären muß.”

„Ach ſo“, meinte Gaſtelmeier, der die Künftlerfchaft Ollys Immer vergaß. Diesmal fah er es, mochte es num fein wie es wollte, für feine Pflicht an, Ollys Wunfch nicht gu erfüllen. Das war ja überhaupt kein Wunſch, der gu berädfichtigen wäre. Ins Geſicht Hätte er ſich fchlagen mäflen, wenn er ein junges, unfchuldiges Mädchen aus anftändiger Familie su einem folhen Ball hätte führen wollen, er, Gaſtel⸗ meier |

Im Laufe einer halben Stunde befanden fie ſich alle drei einmätig miteinander auf dem Weg nach den Zentralfälen. Die Mädchen hatten ihre Läruchen wieder vorgebunden, den Ausſchlag zu diefem Entfchluß hatte Annele gegeben, Saftels meiers gutes, einfaches Annele. „Sehen wir doch”, Hatte fie gefagt, „wenn fie es will, weshalb benn nicht wenn fie’s zu ihrer Malerei braucht ? Ich kann mich nicht anders ansbräden,“ fuhr fie ruhig und bebächtig fort, „wenn ich eine Kuh malen fönnte, würde ich fie auch nicht während ber Stallfätterung malen, ſondern wenn fie auf der Weide iſt.“

„So,“ fagte Saftelmeter, „bie Weiber halten immer zus einander.”

„Was anders wie im Luirpold wird’8 ja doch wohl auch nicht fein,” fagte fie. „Rechte Kälber find’d. Jedes macht

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fo feine Sprünge. Ein biffel Freiheit dann iſt's bei Menſch und Vieh das Gleiche,

Olly und Annerl fanden fih ganz gut zueinander. Und Unnerl war tapfer. Gerade weil Dily es war, durch die ihe fo meh geſchah, gerade deshalb mußte fie ihr beiſtehen.

„Ich halt’ mich feſt an bie”, ſagte Aunerl zu Gaſtelmeier, als ſie die ſteile, ſteinere Treppe zu den Zentralſaͤlen hinauf⸗ ſtiegen.

„Tu' das nur, und Ste auch, Fraͤulein Olly.“

Die ganze Treppe entlang ſtanden truͤbſelig alte verdorrte Tannen, die hatten ſchon den ganzen Winter als Schmuck gedient und verloren jetzt die braunen Nadeln. In ben Korridoren, wo die Menfchen eng an den Zweigen vorüber; ftreiften, waren bie trodenen Bäume zu Beſen geworben, Zwiſchen dieſem elenden Feſtſchmuck drangte die Menfchens menge ein und aus, Männer und Frauen, lauter junge Frauen in meift ſchwarzen, eleganten Kleidern mit bloßen Armen und Schultern. Faft alle hatten ihr fchwarsfeidenes Laͤrvchen vor und eine fondberbare Kopfbedeckung. Unſere drei hatten fchon genug derlei Geftalten im Cafe Luitpold gefehen.

Annele hielt fih eng an Saftelmeier feſt. „Nicht bu, du nimmft mir’s net übel, wenn Ich mich feſt halt?” fagte fie noch einmal. Und es lag etwas in dieſer Frage, Das jedem andern aufgefallen wäre, nur Gaſtelmeier nicht, der bes unruhigt und erregt mit feinen beiben Schußbefohlenen vor; waͤrts firebte,

„Alſo the wollt wirklich?” fragte er noch einmal,

Annele antwortete nicht, aber Olly fagte ruhig und bes fimmt: „Ja.“

Jetzt fraten fie ein. Es war gerade Tanzpauſe und Die Paare gingen, wie auf jedem andern Ball, in langem Zug durch den Saal und plauderten. Auch Hier waren die Wände

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mit hohen, verboreten, zum Teil kahlen Tannen jaͤmmerlich verunziert. Annele hielt Gaftelmeier weniger fe. Es war fo wie Aberall, fogar In Dbersdorf im großen Wirtsfaal: wenn fie da im Winter ein paarmal tanzen ließen, war’ auch nicht anders, Die Frauenzimmer hier hingen fih zwar etwas fehr zutunlich den Herren an den Arm; das hatten fie im „Luitpolb” auch getan. Ihre Toilette war freilich anders wie die der Homoratiorendamen In Obersdorf. Wie ihnen alles ſaß und fland, welche Grazie, welche Vornehmheit, oder Doch fo etwas ähnliches wie Vornehmheit! Anna mußte einigen von ihnen ganz bewundernd nachbliden. Andre ſahen wieder unerfreulich aus, In lumpigen, kurz geſchuͤrzten Mass kenkleidern.

Alle drei waren ganz ruhig miteinander gegangen. Jetzt kam ihnen ein armſeliger Buͤrgersmaun entgegen, ein krank und verkommen ausſehender Meuſch, ein Handwerker im Sonntagsſtaat; der sing auf Olly zu, bob ihr den Schleier vom Laͤrvchen und wollte ihr einen duͤrren Tannenzweig, den er zwiſchen den Fingern hielt, in den Mund fchleben: „Da friß!“ ſagte er.

Gaſtelmeier riß das Maͤdchen naͤher an ſich.

„Gelt, das magſt net!“ rief der armſelige Menſch und wollte vor Lachen plagen. „Brauchen & denn alle zwei? Ver⸗ gunnen S’ mir net den Käfer?”

Gaſtelmeier zog feine beiden Mädchen mit fih. Da bes gann die Muſik, einen Walzer, und der Tanz ging los. Die Daare fchmiesten fich zärtlich aneinander,

„Iſt das ein ſchwuͤles Treiben hier“, ſagte Annele.

„Wollt ihre was trinken?“ fragte Gaftelmeter.

„Hier nicht um die Welt”, erwiberte fie. „Sie auch niche 2”

Olly ſchuͤttelte den Kopf. Ste hatte nicht Zeit gu antworten, fie fchaute angeſtrengt, fpeach nichts und ſah nur ganz verſunken. |

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Bevor eine Duadrille begann, ſtanden fie alle drei In einer ziemlich flillen Ede, die aber bald von allerlei Pärchen über, ſchwemmt war, daß fich Die Drei in Der größten Enge befanden. Olly Hatte für einen Augenblid Gaftelmeierd Arm los⸗ gelafien. Das hatte ein fehr erhigter Herr, dem ber Zy⸗ Iinder faſt im Naden faß, benügt, fie mit affektierter Höflichkeit und einem lächerlich tiefen Bädling sum Tanz zu holen.

„Mignon“, ſagte er wie zu einer Katze, und auch er ver⸗ ſuchte das Schleierchen uͤber Ollys Lippen zu luͤften. Da legte Olly den Arm in den feinen und ließ ſich zum Tanz führen.

Annele hatte es früher als Saftelmeter gefehen und ſtieß einen Heinen Schredenslaut aus.

. „ft das die soeur?” fragte der Herr und meigte fi vertraulich zu Olly, fpiste bie Finger und warf Aunele eine Kußhand zu zum Troſt gewiſſermaßen.

Er Hatte aufgeworfene Lippen, glänzend braune Knopf⸗ augen und war fehr echauffiert. Er führte Olly an Ihren Platz und bie Mufif begann,

War der Walzer fchon zaͤrtlicher Natur geweſen, fo war es die Quadrille erft recht. Die Pärchen druͤckten und kuͤßten fich untereinander, daß es nur fo eine Urt hatte, und in weiße Schultern und Arme wurde gefniffen, daß die roten Male zu fehen waren.

Olly gegenüber biß ein junges Ding mit den glänzend weißen Perlenzaͤhnchen ihren Tänger in die fette Wange Olly ſchuͤttelte ſich vor Ekel.

„Ruͤhren Sie mich nicht an,“ fluͤſterte ſie ihrem Taͤnzer empoͤrt zu, als auch er Miene machte, vertraulich zu werden, und „ruͤhren Sie mich nicht au“, fluͤſterte ſie wild und zornig wieder und wieder.

Das ſchien den feinen Herrn außerordentlich zu amuͤſieren, er tat wenigſtens ſo, behandelte ſeine Dame mit affektierter

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Höflichkeit und Hochachtung. Und Olly fab die erhitten Gefichter, die finnlich ſtieren Augen, die leibenfchaftlichen Be; wegungen, hörte das Johlen und Auftreifchen; zuletzt ſah fie eine unglaubliche Umwandlung, es war ihre, ale fei fie nicht mehr unter Menfchen, fondern unter einer Horbe wilder, wütender Affen.

Saum war fie frei, fo bahnte fie fih den Weg zu Gaftels meter und Annele. Und als fie vor Gaftelmeier fand, war deſſen gutmätiges, rofiges Geſicht fahl und er fah fie mit einem flarren Ausdruck an. |

„sat er Ste gekuͤßt?“ fragte Annele. Olly ſchuͤttelte den Kopf.

„Das hätte er gebäßt”, fagte ihr Beſchuͤtzer verbiſſen.

Olly zitterte vor Exrfchöpfung, ihr fchwinbelte und fie faßte Anneles Arm, denn Gaftelmeier machte keinerlei Miene, ihr den feinigen zu bieten.

„Ich glaub’, du meint ſchon wieder, fie haͤtt's zum Ders gnuͤgen getan?” fagte Annele. „Net wahr?“

„Auf to komplizierte Gefchichten,” fagte Gaſtelmeier kuͤhl, „bin ich nicht eingerichtet.“

Olly hob jetzt den Kopf, ſie hatte bisher auf Gaſtelmeier ſcheinbar nicht geachtet und war ganz befangen geweſen.

„Ihnen iſt es unangenehm, daß ich da mitgetanzt habe“, ſagte fie ruhig, „und Ste haben mir Ihren Arm deshalb nicht gegeben? Sagen Sie mal, haben Sie Freunde, die bier öfters die Zeit verbringen ?“

Gaſtelmeier tat, als überhörte er die Frage.

„Sagen Sie’8 doch”, wiederholte fie.

„Freunde? Jawohl?“ erwiderte er kurs.

„Denen geben Sie dann auch nicht die Hand?“

„Rein Gott”, fagte Gaſtelmeier. „Das If natärlich etwas Andres.”

„Natuͤrlich“, fagte Olly. „Kommen die Freunde zu ihrem Vergnuͤgen hierher ?“

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„ebenfalls.“

„Und oft?“

„Oho, was iſt denn das für ein Verhoͤr?“

„Ich möchte willen, wie oft etwa”, fuhr fie ruhig zu fragen fort.

„Wenn es ihnen paßt und ſie nichts andres zu tun haben, kommen ſie in der Faſchingszeit wahrſcheinlich oft hierher“, erwiderte er. |

„Womdglich alle Abende, fo lang es dauert jahre⸗ lang?”

„Meinetwegen,“ fagte Gaſtelmeier, „was geht's mich an?”

„Die Hand wuͤrde ich Ihnen dann allerdings nicht geben, und ihre Kleider würden mich efeln, und fie felbft würde ich verachten willen Ste, verachten das iſt's.“

„J wo”, fagte Gaſtelmeier. „Es können die beiten Bur⸗ fchen fein; danach darf man nicht gehen bei einem Manne.“

„Auch dann nicht, wenn fie fich hier wirklich und wahrhaftig vergnügen, wenn fie fih hier im Schmutz gemälst haben, auch Dann nicht? Und wenn es ein Mädchen auch nur gefehen hat, ohne jeden andern Anteil ber Seele als Ekel und Vers achtung, dann glauben Sie, fie fei ſchmutzig geworden, es fet etwas hängen geblieben? Sie wagen es, Ihr die Hand zu entziehen? Ich Habe es wohl bemerkt.“

Dlly hatte bebend gefprochen. „Sehen Sie gehen Sie fo einen ungerechten Schug brauch’ ich nicht. Ich bin mir wahrlih Schu genug. Was ich fehen wollte, hab’ Ich ges fehen. Willen Ste, wir Frauen werden, wenn wir Figuren⸗ maler find, leicht ſuͤß ein Wunder!” Sie zuckte bie Achſel. „Wie anfländigen Frauen bekommen das Leben fo füß vorgemalt fo füß und harmlos, Es ift alles fo wunder⸗ bar in Ordnung, es find alles folhe wuͤrdevolle Mufters männer, fo vorfrefflihe Verlobte und Ehemänner, fanft wie die Laͤmmer. Wir befommen bie Leute nur immer gu fehen, wie der Direktor feine Schuͤler beim Examen. Meinetiwegen

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De En TEE

aber in der Kunft will ich nicht fHB werben. Ich will nicht. Wahrheit will ih! Und wenn Ste mich drum verachten, vers achten Sie mich! Und wenn Sie Ihren Arm einziehen, sieben Ste ihn ein! Ich Branch” ihn nicht!“

Damit war fie auf und davon gegangen buch dag Ges dränge und Im Gebränge verſchwunden. Gaftelmeler und Annele eilten ihr nad.

„Da durch die Tuͤr iſt fie nausgefchloffen”, rief Annele. Ste bahnten fih durch die tanzenden Paare den Weg und fanden draußen, vor ber fielen, fleinernen Treppe.

„Da iſt fie nicht mehr!” faste Annele.

„In der Garderobe”, meinte Gaftelmeler ganz faſſungslos.

„J wo, die iſt fort!” erflärte Annele beſtimmt. „Gehn wir g’fchwind in die Garderob’ und holen wir die Sachen!“

Gaftelmeier fiärgte fort und Fam bald mit den Sachen für alle drei zuruͤck.

„Dte Haft du wenisftens fchnell derwiſcht“, meinte fie, and nun liefen fie miteinander die fteile, mie Steaßenfchmug bededte Treppe hinab, an den vertrodneten Bänmen vor⸗ über, hinaus Ins Freie.

Saftelmeier nahm einen Wagen, half Annele hinein, gab dem Kutſcher Anweiſung, und nun ging's vorwärts, während jedes der zwei gu einem Benfter hinausſchaute. So mußten fie das ſchoͤne gekraͤnkte Gefchöpf auf feinem Heimmeg eins bolen und entbeden. Der eifige Maͤrzwind hatte Schnee ges bracht und fptelte mit den Flocken, trieb fie vor fich her, wehte fie von den Dächern herab, türmte fie an ben Straßeneden

anf, Hebte fie an die Haͤuſerwaͤnde wie eine dichte Dede und

trieb staufenberlei Unfug mit feinem Spielzeug. Und in diefes Treiben war das arme, zarte Ding bineingeraten. „Richt zu ſchnell fahren,” rief Annele dem Kutfcher zu, „damit wie fie nicht uͤberſehen.“ „Sie wird doch auch den Weg nach Hanfe gu gegangen fein?” fragte Saftelmeier ſchuͤchtern.

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„Freilich“, fagte Annele. Und als fie Aber ben Odeons⸗ plas fuhren, fah fie einen Heinen, fchwargen Schatten an dem Hofgartentor.

„Da if fie!” rief fie dem Kutfcher gu, und kaum baß fie gebalten hatten, ſprang fie hinaus.

„Gelt, du bleibft dein, fonft erſchrickt fie”, fläfterte fie ihm zu und fiapfte gleich Darauf Durch ben Schnee.

Der Heine Schatten verſchwand nicht.

„Da haben wir Ste doch eingeholt”, fagte Annele und legte ihr den Mantel um bie Schulter, Sie fühlte dabei, wie der zarte Körper zitterte,

Ally fprach fein Wort. Die beiden Mädchen gingen mit einander dem Wagen gu und auf biefem Wege fagte Annele gu ihrer Begleiterin: „Seien Ste nicht boͤs auf ihn. Feuer im Herzen, Rauch im Kopf. So ſteht's, glaub’ ich, mie ihm,”

Olly erwiderte nichts, aber fie zuckte leicht zuſammen. Bon Mama und Tante Zänglein hatte fie fchon manche Anfpies Iung hören muͤſſen. Sie hatten Ihe von Gaftelmeiers ſoliden Verhaͤltniſſen gefprochen, von dem Gluͤck für die Familie. Die Mama hatte bei biefen Andentungen geflrahlt. Sie batten Olly damit gereist unb erregt. „Geld Ind Haus! Geld Ins Haus! Das iſt's Im Grunde doch, was fie alle wollen. Das allein!” Hatte fie sornig gedacht. „Wie wenig ernft iſt es Ihnen allen mit der Kunft, und Mama am we; nigften, trog ihrer vielen Worte, frogbem fie uns hinein, gehetzt hat!“ „Und du wirft ruhig bei ihm Künftlerin bleiben dürfen das tft auch zu bedenken”, hatten fie ihr gefagt. „Geld iſt genug dazu da, Verliebtheit auch. So etwas trifft fich nicht leicht wieder.” Das war Tante Zängs leins Stimme, bie das gefagt hatte.

Als fie in den Wagen flieg, half ihr eine Hand, die fie zart uud fchüchtern berührte, fo zart und vorſichtig, als wenn fie eine Puppe oder ein Heiligtum wäre, und der zarte Geiff dDiefer Hand tat Ihe wohl, trotzdem fie noch voller Zorn

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war, Ste fühlte fih mit einem Male fo geborgen wie nie in Ihrem Leben.

„Bring’ fie nur hinauf”, fagte Annele, ald der Wagen in der Bluͤtenſtraße hielt. „Mich führt der Kuticher ganz fiher nah Haus.”

Und als bie Haustuͤr hinter ben zweien fich gefchloffen hatte, fuhr die dritte einfam dahin mit einem Herzen, das zum Zerfpringen voll Leib war, und ging dann eine finftere Treppe hinauf und in das Gaftftäbchen Ihrer alten Tante, bei der fie bie legten Faſchingstage einloglert war, und In diefem Stäbchen verbrachte fie eine Bittere, fchwere Nacht.

ine Nacht, anders wie jede andere Nacht ihres Lebens,

verbrachte auch Olly, eine Nacht des Aberlegens und For⸗ ſchens, des Erwägend. Das kam diefem Kopf befremdlich vor, Aber Lebensfragen zu brüten.

„Er verfteht mich nicht”, fagte fie fih und lag mit welt offenen Augen im Bette. „Aber er ift gut und hat mich lieb, Es ſcheint, die Menfchen verftehen einander Aberbaupt gar nicht. Mama verſteht die mich etwa, oder Erwin oder Emil? Zante Zänglein? Das darf man fcheint’8 nicht erwarten, das Verfichen. Möchte willen, wer einanber verſteht.“

Seine Stimme hatte fie von Anfang an gern gehabt. Und wie er fie heute angefaßt hatte, um ihr In ben Wagen zu helfen, Das hat ihr tiefen Eindrud gemacht, wie zart, wie freundlich, wie. . . ja, wie denn? Niemand hatte fie noch fo berührt, da lag alles darin in biefer Berührung, auch bie Bitte um Verzeihung und eine große Liebe, und daß fie für ihn etwas Wertvolles fe, fa, ganz wie fie zuerſt gedacht hatte, daß fie für ihn ein Heiligeum ſei. Wie ihre dag ben ganzen Körper wie mit Wohlbehagen ducchriefelte: Je⸗ mandes Heiligtum fein!

Er wärbe auf den Knien vor ihr fliegen nein dag würde er nicht tun gewiß nicht. Wie lächerlich muͤßte

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das auch ausfehen! Sie wärbe Ihm dann gerade auf feine Glatze fehen.

Als er mit ihe bie Treppe binaufgegangen war, hatte er Ihr mit einem Male beide Hände gekuͤßt, mitten auf der Treppe. So ein verliebter Mann iſt komiſch. Aber das mißfiel ihr nicht an ihm. Es war fo angenehm komiſch. Sie ſah Ihm gern zu.

„3a, wenn ee mich bei meiner Arbeit läßt, wenn es fo bleibt, wie es iſt beinah fo dann... ja dann. Von Daheim fort? D ja, weshalb nicht?” dachte fie.

Sie fühlte, daß es ihr nicht ſchwer wäre. Sie wuͤrden miteinander nach Parts reifen, und fie würde eine Zeitlang dort lernen. Herrgott, das hatte fie Immer fo brennend gewuͤnſcht. Dort konnte fie finden, was ihr noch fehlte. Schade, baß bie zu Haufe es gar zu gern wollten ſchade.

Meshalb dies fchabe fet, war Ihe nicht ganz Har, aber es war ſchade. Es war ihre, ald wenn ein Reiz fehlte, und fie fuchte diefen Mangel darin, daß fie mit ihrem „Ja“ Wuͤnſche der Familie erfüllte, die ihr felbft nicht aus der Seele ges fprochen waren, Mo etwas herausfchaut das iſt Immer das beſte. Geld ind Haus! Das lag verbedt von großen Worten über allem, was fie leifteten und taten. Das war bie Triebfeder für das hetzende Treiben im ganzen Haufe, der Grund des literariſchen Martyriums von Erwin, ber Grund, weshalb Emil mit in das Elend gesogen wurde, weshalb die Mutter Olly ihr Lebtag gefteigert und sum Fleiß angefeuert hatte. Noch immer das leichtefte, nobelfte Mittel, Geld zu ver, dienen, fah die Mama in der Kunſt. Der Gelberwerb war's; fie Hofften, mit all der Dual Gelb gu verdienen !

Das hatte Olly ſchon laͤngſt herausgefühlt, das war’s, mag fie empörte, was fie den Ihrigen entfrembete. Ihr war karg leben fein quälender Gedanke, gar nicht. Den Ihrigen war er entieglich.

Ste fah das firahlende Geſicht der Mutter bei einer ges wiffen Nachricht und fühlte einen zornigen Arger.

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Fänftes Kapitel

lles war nun ſchon voruͤber, alles Erwarten, unendliche

Naivetaͤten und Torheiten, ein gut Teil Kaͤmpfe, Ent⸗ taͤuſchungen, Braut⸗ und Braͤutigamsſtimmung. Sie hatten im Mai, zur groͤßten Zufriedenheit der Familie in der Bluͤten⸗ ſtraße, geheiratet und nun war es ſchon Weihnachten, der Sommer war voruͤber und mit dieſer Wandlung waren allerhand menſchliche Wandlungen vorgegangen.

Wie einen Traum hatte fie Verliebtheit, Verlobung und die Hochzeit über fich ergeben laffen. Es hatten ihre Betrach⸗ tungen gefehlt, die ein ganz in gefunden Verhaͤltniſſen fiehendes Mädchen gemacht haben würde, es hatten Ihr auch die ſuͤßbraͤutlichen, daͤmmerhaften Gefühle gefehlt. Sie hatte bisher eine Sehnſucht nach Liebe kaum empfunden. Ihre Seele war immer ausgefüllt geweſen, fo ganz und voll aus⸗ gefüllt, Diefe „Lebesgefchichte”, wie fie ſich in Ihren Ges danken ausbrädte, war eigentlich etwas Unnoͤtiges. Sie fand kaum Platz in ihr.

Während ber ganzen Zeit Ihrer Verlobung war fie einen Oruck, der über ihrem Gemäte lag, nie ganz losgeworden, ſo einen etwas bangen Drud, wie fie ihn früher wohl aͤhnlich nach einem Aberellten Kauf empfunden hatte. Dies Gefühl war ihr befannt genug, denn folange fie denken konnte, war jedesmal, ſowie fie Geld hatte, etwas gekauft worden, für daß fie eigentlich Feine Verwendung fand.

Während ber Zeit ihrer Verlobung hatte fie auch öfter einen Traum gehabt, den fie bin und wieder träumte, immer, wenn ein Befiß fie bebrädte: Räume voll Sachen, voll lauter Sachen und Lumpen. Alles vollgepfeopft, von oben bis unten beaͤngſtigende Maflen, und alles ihr gehörig, und fie follte e8 unterbringen und orbnen. Die Sachen quollen und quollen und wurden mehr und mehr. Ste mußten fich nicht zu raten und zu helfen. Die Lumpenmaflen wuchfen um fie ber und

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verbauten ihr Licht und Luft, e8 wurde enger und enger, fie erdruͤckten fie.

Das war ein Traum, ber bie Heine Tagesempfindung ing Niefenhafte verzerrte. Und fie erwachte nach dieſem Traum immer feelenbedrädt und erfchättert von einem unbeſtimmten Grauen. Es fiel ihre auf, Daß fie diefen Traum während ihrer Berlobungszeit öfters hatte; aber fie dachte nicht darüber nad, Sie war eben noch gar nicht dahingekommen, über das Leben nachzudenken. Es kam, wie es Ihe ſchien, alles von felbft, und machte fih alles von felbft, es lebte fi von ſelbſt. Ihre Gedanken gehörten alle ihrer Kunft; da waren fie gefchäftig wie die Ameiſen, da bauten und bohrten fie und arbeiteten und kämpften. Hatte fie dieſe Verlobung erſtrebt? Niet Und fie Hatte fi gemacht.

Es waren alle möglichen Annehmlichkeiten gefommen. Olly war mit einem Male wie in eine leichtere beitere Luft verfegt. Blumen überall Blumen für fie. Jedermann war mit ihre, ale wäre fie neugeboren, ganz anders als mit der unverlobten Olly. Man hörte mehr auf fie. Auf ihre Wuͤnſche wurde Nüdficht genommen, fo wie früher, wenn fie ihren Namenstag hatte, Und er? Daß ein Menſch fo ununterbrochen gut und glüdfelig fein konnte, fo ein Menſch mit einer lage! und wegen ihre! Großer Gott, wegen ihr?

Sie traͤumte das Leben. Es war noch Fein Leben aus Fleiſch und Blut. Während ber ganzen Verlobungszett blieb fie bei ihren feften Arbeitsſtunden und bulbete auch nicht, Daß Gaſtelmeier früher aus feinem Atelier kam, um ganz füll und artig hinter Ihrem Stuhl gu ſitzen und ihr bei ber Arbeit zuzuſchauen. Ste wollte das nicht,

„Keine Eingriffe, nein, nein, keine Eingriffe in mein Recht!“ faste fie ihm dann lachend. „Du weißt es ja bie Bes dingung: wir heiraten einander bu weißt Doch, unter wels

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her Bedingung?” Dann ſah fie fragendb und geſpannt auf ihn. „Daß ich bei bir arbeiten darf?”

Sie wollte ihre Antwort.

Und er ſchloß fie in feine Arme und bebedte fie mit Kuͤſſen. „Freilich, freilich, mein Schag”, fagte er und dachte wohls gelaumt und leichten Herzens: „Laß nur erft einmal alles fommen, was fommen wird.”

Er dachte an ihr erfied Kindchen und ſah ein Bild vor fich, fo unbefchreiblich entzädend für ihn, daß er das Mädchen gar nicht aus den Armen ließ. Er fah im Geifte, wie warm, wie möätterlich biefe jungen, Dunkeln Augen einmal glänzen würden. Er wollte ein Heim haben! ein Heim! fo warm, fo fiher fo ganz nach feinem Sinn. Er wollte fie verpflangen, diefes blumenhafte Wefen. Sie follte gedeihen in einer beſſeren Luft, in gefunden Verhältniffen, bei ihm, im Schuge feiner Liebe.

Er wollte fie einer versehrenden Zukunft entreißen. Er dachte: „Wenn Ich fie nicht heiratete was würde wohl aus ihr? Sande fich einer, der ben Mut hätte, ſich mit diefen Leuten, dem Mädel sulieb, gu verfhwägern? Und wenn fih feiner fände, würde wirklich diefe Kunſt fie beglüden können, diefe wätende Kunft, wie fie fie auffaßt, die keinen Srieden und kein Genüge kennt? Und wenn die Arbeit mit bem Er; folg in keinem Einklang ſtuͤnde? Wuͤrdeſt du die Kraft haben, armes Gefchöpfchen?” dachte er zärtlich, „und Entbehrung und ewige Kargheit?“

D, fie follte e8 gut Haben und er wollte es gut haben. Die sn Haufe follten wahrlich nicht recht behalten mit ihrer Uns ufriebenheit. Wenn ihm Annele nicht beigeflanden hätte, er wäre mit feinem guten Alten wegen dieſer Verlobung in Unfrieden gekommen.

So aber war der alte Frieden halbwegs erhalten ge⸗ blieben.

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m Hochzeitstag während der Trauungsrebe als ihr ber

Geiftliche mit ernften, ſchweren Worten kam, mit Worten, bie fo fchroff und feft wie Felfen fanden, fo däfter und fremd, die fie mit dem heitern, harmloſen Wefen, das die ganze Sache bisher für fie gehabt Hatte, gar nicht in Einklang bringen konnte da war fie innerlich erflarrt vor Schred und Grauen. Was hatte fie eigentlich getan? Was für ein furchtbarer Schritt war das? Weshalb Hatte man nicht früher mit ihr fo gefprochen, als es noch Zeit war? Weshalb nicht?

Eine unnennbare nervoͤſe Angft hatte fie gepackt. Ahr ſchwindelte; durch den weißen, duftigen Schleier, der ihr halb übers Geſicht fiel, fah fie wie durch einen weißen Nebel die GSeftalten der Hochzeitsgaͤſte, fah Ihre Mutter faſſungslos in Tränen aufgelöft, fo haltlos wie Immer; das verblüffte Geſicht Emils und Erwins Geficht, diefes kraftloſe Geſicht, und Tante Zaͤnglein, die ſich immer amuͤſierte und die fremden Verwandten.

Kuͤhle Geſichter. Annele war die einzige, die ſie nicht ſehen konnte. Da war kein Geſicht, das ihr geſagt haͤtte: Komm her zu mir, ich will dich erquicken, ich will dir helfen, keins.

Der Mann neben Ihr? Das war ja das Schreckliche! Wie ſtanden fie zueinander? Unzertrennlich! Er gehörte zu ihr für ewig und fie zu Ihm und noch nie war er ihr fo fremd erfchlenen. Sie erfehauerte und sitterte und wollte ſich ſtuͤtzen, aber nicht auf Ihn, auf ſich ſelbſt und fie hielt fich fer und krampfhaft mit eigenen Kräften. „Rein, Ich will mein eigen fein”, fläfterte fie unhörbar, unbewußt und er zog fie zu fich heran, weil er mit Schreden ihre tiefe Bläffe gewahrte, und wieder war es die fanfte, liebevolle Urt fie gu halten, die ihr dabei Troſt gewährte. Aber er hielt fie nun doch als fein Eigentum, ſo oder fo.

Eine unnennbare Furcht hatte fich Ihrer bemächtigt, eine Furcht vor allem, was kommen follte und ein Zorn dar⸗ über, wie man fie hatte hinleben laſſen bisher, wahrhaftig ohne ein einziges, vernünftiges Wort! Nie den Kern berähtt, immer gedankenlos! Und nun famen diefe Gebanten, diefe nie berährten Gedanken, diefe dunkeln Ahnungen, diefe Furcht, dieſes Bangen, durch dDüftere frembe Worte gewedt. Auf Drgeltönen kamen fie heran, ſchwer, mächtig, erdruͤdend, in wuͤſtem Durdeinander und ſchwollen an wie Waſſer⸗ wogen, und fliegen ihr bis ans Her; und höher und höher, bis sum Erſticken.

Dann war Stille. Die Feier war su Ende, Kuͤſſe und Tränen, feierliche, fachgemäße und gerührte Gefichter, ein Weinkrampf ber Mama, fo ein Durcheinander von ums Maren Außerungen aufgeregter Gefühle und fie Bing am Arm Ihres Mannes, der diefen Arm feſt an fih gedruͤckt hielt. &8 war alles wie ein wirrer Traum, fo Bang, fo we⸗ ſenlos. |

Sie aber wollte eine Gewißheit, eine einzige Gewißheit in dieſem Gefühlsäberfchwall, und fie neigte fih zum Ohr des ttefbewegfen Mannes und flüfterte ihm erregt gu: „Eins fag mir nur das eine: Laͤßt du mich arbeiten? Bleibt's dabei?" Sie fragte fo angſtvoll.

„Olly,“ Hatte er ganz erflaunt gefläftert, „Kind! Weißt du jetzt nichts andres; weißt du wirklich jet nichts andres?“

„Nein, antworte”, bat fie flehentlich.

„Arbeite“, fagte er, „Io viel du will, weshalb nicht ?

Es war nicht, was fie hören wollte. Das rechte Wort war e8 nicht. Aber was war bag rechte Wort? Ste hätte es felbft nicht gewußt. Ste wollte Lebensklarheit und Lebens, Harbeit war ihr nur dag eine, Ihre Kunſt. Ein Weg, den fie

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geben konnte, der fie ihrer Kunft näher und näher führte und was hatte fie getan! Hinderniſſe über Hinderniffe fich felbft aufgefürmt, In einem Rauſch bes Wohlbehagens. Es Hatte Ihr das „Geliebtſein“ wohlgetan. Die herbe Luft um ſie her war mit einem Male fruͤhlingsweich geworden; ihr war zumute geweſen, als waͤre ſie durch ſeine Liebe etwas Beſſeres geworden, etwas Zarteres, und das alles, ohne daß ſie ſelbſt dieſe Liebe recht erwidert hatte. Sie hatte ſie geduldet, ſie war ihr angenehm.

Und nun, welche Verantwortung, welcher Schritt! Wie ein Schleier war es ihr von den Augen gefallen. Dumpf, in Gedanken verſunken, ſaß ſie damals neben ihm im Wagen, der ſie von der Kirche in die Bluͤtenſtraße zu den Gaͤſten zuruͤck⸗ fuͤhrte dumpf und gruͤbelnd, ohne jenes braͤutlich⸗ſuͤße Gluͤck, das ihr junger Gatte in ihrem Schweigen vermutete und anbetete.

Die ſonderbare Frage nach der Trauung lag ihm aber trotzdem ſchwer im Sinn. „Was ſollte das ſein?“ dachte er bei ſich. „Weshalb fragte fie gerade das und nichts andres? Was dachte fie fich wohl dabei?” Forſchend blickte er auf das fchöne, bleiche Geſchoͤpf neben fich, dag In feinem weißen Kleide, wie es Ihm fehlen, fehen und gaghaft in den Wagens fiffen lehnte.

Er ſelbſt hatte ihr den Stoff zu diefem weißen Kleide ges ſchenkt und fie, die Heine Perfon, Hatte ihn fich felbft zu⸗ gefhnitten, diefen koſtbaren Stoff! Und die flinfen, vers wegenen Hände hatten etwas zuſtande gebracht, was fo wenig einem ehrbaren flelfsiungfräulichen, weiß⸗atlaſſenen Brauts Heide gleichſah etwas fo wundervoll Reisuolles, etwas fo leichtmätig Lebensfrohes, was fih dem jungen Körper wie zu ihm gehoͤrig anfchmiegte: weite Armel, die im Rüden zuruͤckkgenommen waren, die Taille lofe wie nur umgeſteckt, aber das Ganze von einer reizenden Eleganz und Lebens,

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freudigkeit alles, nur kein Brautkleid. Und wie es genäht war! Annele hatte fih darüber etwas ausgelaſſen. Kein Menſch außer Olly hätte es tragen Finnen. Tante Zänglein hatte ſich Aber ben Lumpen“, als fie es liegen fab, totlachen wollen, wie e8 Olly aber trug, fagte fies „Alle Achtung! Aber aber aber aber.” Weiter hatte fih Tante Zaͤng⸗ lein über dieſen Fall nicht vernehmen laſſen. Sie hatte bes deutungsvoll das Näschen Frans gezogen, mit den Auglein gezwinkert, wie fie ed Immer fat, wenn etwas fie alterierte und! zugleich amuͤſierte.

: Später aber hatte fie ſich doch nicht enthalten koͤnnen, ihrem Freund Gaſtelmeier bei Gelegenheit gu fagen: „Haben Ste fih Ollys Brautkleid angefhaut? Da flieht eine ganze Geſchichte dadrin und darum und daran. Leſen Sie nur: fünftlerifch. Wenn’s gut geht, wirb’8 ein fehr Infliger Haus⸗ halt! und eine Frau, ein Engel von einer Frau, leichts lebig, lieb, voller Einfälle, ganz koͤſtlich! Wenn’s Ihnen glädt, verliebt, und wie verliebt! a, ſolche Frauen, wenn fie erft erwacht find, verſtehen Sie? Aber, aber Temperament iſt in dem Kleid. Gluͤcksſehnſucht zum Naͤrriſchwerden kuͤnſtleriſch das iſt bag erſte. AU diefe Inftigen Dinge miteinander verbrennen bie Suppe, und Gott gnade ber ganzen Gefchichtel So geht's, wenn’s Inftig geht und Geld da iſt; aber der Himmel behuͤt Sie, wenn’s nicht Inflig geht. Willen Sie, ich habe fhon manche Brautkleider geſehen.“ Sie zwinkerte mit dem Augelchen und zog das Näschen Frans. „Aber fo eins |"

Saftelmeier hatte noch nie fo ein allerliebfies altes Ges fchöpfchen gekannt. Er ließ fie Immer plaudern, ohne fie ernſt zu nehmen. Ihr langer Neifegefährte, der mit ihr nach Ita⸗ ften gehen follte, um ihr vorzujodeln, nannte fie das alte Nirerl, Das gefiel Gaſtelmeier.

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amals, als Dlly in Ihrem Mäbchenftäbchen das Braut,

Heid ablegte, um fich für die Hochzeitsreife anzukleiden, hatte fie die Tür Hinter fich gefchloffen. Es war In der Stunde der erfien Mai⸗Abenddaͤmmerung. Ganz gelafien rüdte fie ihren Totlettefpiegel zur Hand, ließ fih auf einen Stuhl davor nieder und nahm lansfam Kran; und Schleier aus dem Haar. Ein Spigenfragen lag reich gefaltet um Ihren Hals und ließ den Anſatz dieſes ſchoͤnen Hälscheng frei, Sie faltete die Hände ineinander und fah ihr Spiegelbild an. Das Licht war weich und golden.

„Doch ein herrliches Geſchoͤpf!“ faste fie und war In den eigenen Anblid ganz verfunfen. „Schade das iſt's ſchade.“ Site träumte und grübelte und fah unverwandt fih ſelbſt im Spiegel an. Sie hatte das früher oft fchon ges tan und immer in aller Gemächlichkeit, einfach ohne alles Verſtecken. Sie lebte ihr Geſicht, ihre Geſtalt, ihre Haͤnde. Es war Ihr das alles ſympathiſch und fie hatte fich dankbar ihrer Schönheit gefreut. Diefe Schönheit war ihr Eigens tum. Sie kannte fie und wußte fie gu beurteilen. Wie ein Kunſtwerk betrachtete fie fich ſelbſt. Für dieſes Geficht hatte fie in ſtillen Stunden alles Slüd der Erde zuſammen⸗ geträumt.

Ruhm das war das erſte. Wie fie danach duͤrſtete! ie würden diefe Augen bliden, dann, wenn das Große gefchehen fein würde, wenn Ruhm und Ehre ihr erft zuge⸗ fallen waren! Ruhm, das, was man Ruhm nennt: von ben Menfchen gekannt und bewundert zu fein! Den einzigen Lohn für das heiße Streben! Und weshalb nicht? Was waren fie alle, die mit ihe arbeiteten, die mit Ihre begonnen hatten, gegen fie! Ste war Ihnen allen voraus, weit voraus, Aber man lebt wie im Traum, die Dinge verwandeln fich einem vor den Augen wie im Traum und wie in einem folchen Traum war e8 gefchehen, daß fie neugierig und leicht, finnig hatte verfuchen wollen, wie das Geliebtwerden ber

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armen Seele tut das Geliebtwerden! Und fo war fie dumpf diefem Wunſche gefolgt, Schritt für Schritt, und es war alles in fchönfter Ordnung vor fih gegangen und doch alles im tiefften Traum.

Die dumpfen Drgeltöne, die ſchwerwiegenden Worte brauften Ihe Immer noch im Kopfe. Die Verantwortung lag auf ihre, die war nicht abzuſchuͤtteln ber nüchterne Mann mit der Slate, den glädftrablenden Augen, den fidelen Bes wegungen, der war nicht mehr von Ihr fortzudenken. Sie war nicht mehr allein. Schrecklich! Wie es fie durchriefelte !

Ste ſchaute unverwandt ihr Spiegelbild an. Wie blaß fie war! Einen gefpannten Zug um die Lippen, die Augen fo weich und groß, wie nach Hilfe ausfchauend. Ste beobachtete Diefen Ausdruck wie etwas Fremdes.

Wie unverantwortlich hatte fie gehandelt, wie toͤricht! Welche Laft hatte fie auf fih genommen, und weshalb?

Es war der Herzenszug nach Zärtlichkeit geweſen, der fie Dazu getrieben auch dumpf kaum bewußt.

Sie liebte eine füße, ruhige Zärtlichkeit. Niemand von den Shrigen hatte es verftanden, ihr die gu gewähren. Hätte fie jemand gu Haufe in der Daͤmmerſtunde an fich gesogen und fie zart geliebkoft, wie man ein Käßchen auf den Schoß nimmt und ftreichelt, dann wäre das Sonderbare nicht gefchehen vielleicht nicht gefchehen, DaB bes Heinen Mannes weicher Handedrud, das Bonsihmsberührtswerben, als wäre fie ein Heiligtum, Ihe das Herz geſchmolzen hätte.

Aber diefe Heiligtumszaͤrtlichkeit hatte fie an ihm während shres Brautſtandes vermißt, diefe ſchuͤtzende, ſchirmende Zärtlichkeit. Heiße Küffe, ſtuͤrmiſche Liebe, das war es nicht, wonach Ihe Her; verlangte, nein, jener weiche Hauch der Zärtlichkeit, der faft geiftig if, der Leib und Seele verflärt.

„Mnbegreiflih 1” fagte fie zu fich ſelbſt. Und jetzt fah fie ein Aufleuchten In Ihren Augen. Das Innere Seelenfeuer, Das fie wohl kannte, bei deflen Sladern fie ſich gluͤcklich,

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groß und flark gefühlte hatte. Durch alles und Aber alles hinaus ang Ziel! Iſt die Laft des Lebens größer geworben, dann foll e8 auch die Anſtrengung werden, der Kampf auf Leben und Tod.

„Es nuͤtzt die nichts, du guter Menfch,” fagte fie, „daß wir jegt nicht nach Paris gehen; du willft eine echte, rechte Hochzeitsreife, und fürchteft dich, daß eine gewiſſe Dly... Sowohl, wir fennen dich! Das mit Paris verfprachft du und haſt's gebrochen, das heißt, du haſt's verfchoben, du Anger Menſch!“ Sie lächelte. „Das hilft dir alles nichts. Nah Parts kommen wir noch, und glaub’ ja nicht, daß Ich von meinem eigenfien Weg abweiche nein, nein, mein unge!”

Da ftand fie auf und legte langfam Städ für Städ ihres Brautſchmucks ab. Lächelnd fah fie die sufammengebeftete Taille an, die großen weiten Stiche. „Stimmt,” faste fie, „leichtfinnig zuſammengeflickt. Rieſig leichtfinnig!" Sie feste die Taille achtlos beiſeite. „Aber fchlecht Bin Ich nicht,” faste fie nach einer Weile ernft, „was ich tun kann, tue Ich. Du weißt nicht, was bu die geheiratet haft, du guter Menſch; aber fo fchlimm, wie’S werden könnte, ſoll's weiß Gott nicht werden, das fchwär’ ich dir, Hier mie mir allein ſchwoͤr ich dir das.“

Das ſagte fie ernſt und rädte Ihren Spiegel beifelte, um in dem engen Zimmer mehr Plag sum Ankleiden gu bekommen,

te ſchon gefagt, feierliche und törichte Stunden, Stim⸗ mungen aller Art, zärtliche und wehmuͤtige Flitter⸗ wochenfiimmungen, Verdruß und Verföhnung, auch Langer weile und Kummer, alles, was ein junges Daar in ber erſten Zeit ber Ehe durchzuleben bat, lag mit dem erfien Sommer threr Ehe Hinter ihnen. Ste Hatten Erlebniſſe aller Urt Hinter ſich. Gaſtelmeier meinte, in ſechs Jahren fet bei ihm Bisher nicht fo viel paſſiert,

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wie in ben ſechs Monaten felt feiner Verheiratung, lächers lich viel!

Auf der Hochzeitsreife hatte er fich vorgeftellt, daß er nach Herzensiuft Bummeln wärde und fie mit ihm; er hatte fich aber geiret. Sie hatte angeftrengt gearbeitet von früh Big sum Abend, Tag für Tag, unermäblid. Sie waren mit; einander am, Morgen mit ihren Malgerätfchaften ausgeruͤckt, und er batte sum erflen Male im Leben Gelegenheit, den beduͤrfnisloſen, ungerreißbaren Fleiß gemwifler Srauennaturen zu beobachten, ihr Nichtsrechtssundslinksstchauen bei der Ars beit. Freilich, lieber hätte er diefe Beobachtung nicht gerade jest an feinem eigenen jungen Weibe gemacht. Unendlich viel lieber wäre er mit ihre bergauf und bergab vogelfrei in die ſchoͤne Welt gezogen; aber ba war etwas, das feinen Willen brach, etwas Unbeswingliches. Ein paarmal hatte er e8 durch⸗ gefegt: fie waren miteinander gewanbert, aber e8 war nicht die rechte Freudigkeit dabei geweſen. Sie war auch nicht bes fonders gut gu Buß, ermuͤdete ſchnell und fehlen bei allem, was fie (ah, praͤokkupiert zu fein. Ste genoß die Natur nicht naiv und einfach, verarbeitete Im Geiſte immer, was fie ſah, und war immer von dem Triebe erregt, wie fie wiedergeben würde, was fie ſah. Sie Faunte fein Ausfpannen, fein Ber, geffen. Wenn ein Weib fih einer Sache wirklich hingibt, gibt fie fich grenzenlos hin, Das liegt in der Natur des Weibes: fie gibt fich der Kunft hin, wie ſie ſich der Liebe hin⸗ gibt, auf Tod und Leben!

Er hatte es ſich nicht vorſtellen koͤnnen, daß Olly dieſe Arbeits⸗ kraft hatte, und doch, wenn er ſah, wie ſie vorgeſchritten war in ihrer Kunſt bei ihrer ruͤhrenden Jugend, ſo mußte er an heiße Arbeitsſtunden, an einen heiligen Eifer glauben. Wie hatte er ſelbſt mit zwanzig Jahren ſich behaglich an das Stu⸗ dieren gemacht! Was war er mit zwanzig Jahren geweſen, was hatte er gekonnt? Mein Gott, wenn er ſich mit Olly verglich! Er hatte arbeiten, aber auch das Leben genießen

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geoß und ſtark gefühlt Hatte. Durch alles und Aber alles hinaus ans Ziel! Iſt die Laſt des Lebens größer geworden, dann foll es auch die Anftrengung werden, der Kampf auf Leben und Tod,

„Es nägt die nichts, du guter Menſch,“ fagte fie, „daß wir jetzt nicht nach Paris gehen; du wiliſt eine echte, rechte Hochleitsreiſe, und fuͤrchteſt dich, daß eine gewiſſe Dlly... Jawohl, wir kennen dich! Das mit Paris verfprachft du und haſt's gebrochen, das heißt, du haſt's verfchoben, du Anger Menfg!“ Sie lachelte. „Das bilft die alles nichts. Nach Paris von meine Junge!“

Da flant Brautfhm Zaille an, mielchefiunig legte die T fagte fie x Du weißt ı aber fo ſchl werben, da die das.“

Das fagı dem engen

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mun wochenſtim weile und⸗ Zeit der ihrer Ehe | Sie hatı meinte, in |

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wie in den ſechs Monaten feit feiner Verheiratung Mıfen:

Ti) sieht > uf ber Hodueissreife hatte er fi vorgefel, fr aus Heriensiuft Bummeln würde und fie mit ihm, er jun üb aber geirrt. Sie hatte angefitengt gearbeitet son fib Fe: um hend, Tag für Tag, unermädlig, Cie num um einander am, Morgen mit Ihren Malgerätfgefien mie:

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War immer von dem Tricke Uee— tirde, was fie ſah. Gie fauzır kin Saba Bar seffen. Wenn ein Weib fi cin Zeile Amir.

[3

uneitterlich, die Lebensfreudigkeit wird ihnen ansgeblafen. Sie haben das befiere Leben in den Reſtaurants während ihre® SJunggefellentums kennen gelernt und koͤnnen ver; gleichen.

Olly Hatte ſich eine Köchin gemietet, ohne viel Federleſens gu machen. Sie ahnte gar nicht, welch wichtiges Gefchöpf die Köchin im Grunde iſt. Die Köchin aber ahnte fehr bald, daß das Schtäfal fie wohl gebetter hatte, daß fie Herrin auf ihrem Gebiete war, und daß das Heine Weſen neben Ihr im Haushalt nicht viel su bedeuten hatte.

Dlly arbeitete von frah bis zum Abend, nachmittags bes fuchte fie einen Aktkurſus, zwiſchendurch griff fie pflichttren im Haushalt mit zu, aber wie im Dunkeln und ganz planlos. Ste verfuchte zum Abendeſſen etwas zu Kochen, weil die Köchin um diefe Stunde gewöhnlich ihren eigenen Intereſſen nachging. Ste hatte eine Idee, fie wollte ein Ges richt zuſtande bringen, das ihr vorfchwebte. Da fehlten die Eier, Mein Gott, und die Köchin war nicht da! Sie kam auf etwas andres, da fehlte dag Mehl.

Sie war müde, abgearbeitet. Es hätte alles behaglich fuͤr ſie beſorgt ſein muͤſſen, nun mußte ſie ſelbſt ſorgen. Und ſie wußte ſich nicht zu helfen, es wirbelte ihr im Kopf; was ſie anfaßte, war nicht in Ordnung. Sie begann zu kochen mit dem, was ſie vorfand, ein Phantaſiegericht, das ſich zu⸗ erſt ganz gut anließ, ſchließlich verkleiſterte oder zuſammen⸗ raun und eine Ahnlichkeit mit Palettenſchaͤbs bekam, der von allen übriggebliebenen Farben, wenn fie auf der Palette zu: fammengefragt werben, fich bilbet; trotz aller fchönen Eons leuren, aus benen er beftebt, immer ein unerfreuliches, ſchmutziggraues Gemenge.

Ganz fo ließen fich ihre Milch⸗, Fleiſch⸗, Mehls, Kartoffel; und Gemuͤſegehaͤckſel an, die fie in Abweſenheit Ihrer leicht⸗ finnigen Köchin bereitete, und die fie manchmal in Schred und Beſchaͤmung, nachdem fie traurige Erfahrungen damit

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gemacht hatte, von der Pfanne ab Ins Feuer ſchob, wo ihr Gericht als trauriger Klumpen verlohlte, während Ihr Gatte im Zimmer auf und nieder ging, und fie einen höhnifch pruͤ⸗ fenden Blid der Köchin aushalten mußte, ber ihr den Mut benahm, die pflichtuergeffene Perſon auszuſchelten. Sie fagte dann nur zaghaft im Gefühl ihrer Unſicherheit: „Ach, bitte, wären Sie fo gut und liefen ſchnell zum Metger, aber Bitte recht ſchnell!“ Ste wagte fih dann nicht Ins Zimmer hinein, bis irgend etwas Eßbares im Haufe war. Und dabei war fie fo müde.

Bon ihrem breisehnten Jahre an hatte fie angeftrengte Arbeit gefannt. Bon dieſer Zeit an hatte man fie findieren laſſen; ein Freund Ihres Vaters, ein befannter Maler, der das Talent des Kindes entbedt, hatte fie ſelbſt ausgebildet. So war Ihr das Leben des jungen Mädchens völlig fremd geblieben. In ihrem Gefühlsieben war fie Kind geblieben und Künftler geworden, rein und leidenſchaftlich.

Das Leben und feine Anforderungen vermwirrten fie; fie batte in nichts einen Überblid, denn fe trug die Dinge, die außerhalb Ihrer Kunft fanden, nicht mit fih in den Ge⸗ danken. Ste fprangen Immer wie aus einem Nebel hervor, wenn fie dicht vor ihnen fland, und erfchredten fie. Da war dag Mittageflen, das Immer beranfam, wie ein Schred; gefpenft. „Herr Gott, ſchon fo ſpaͤt!“ Was war gefchehen, was nicht gefchehen, was hatte fie mit ber Köchin ausgemacht, was nicht? Was gab’8? Wie hatte fie'd gemacht?! Was hatte fie alles vergeſſen? Da war ja noch fo aut wie gar nichts! Was nun? Hundert Fragen und jebe Frage ein Schred und mitten aus der Arbeit herausgeriffen! Und ide Mann? Hatte er nicht ſchon nach der Uhr gefehen? Wes⸗ halb Hatte er nichts gefagt? Sie fragteihn: „Weshalb fagteft du nicht, daß es ſchon fo ſpaͤt iſt?“ Ä

„Weil ich das unfinnige Auffahren nicht leiden kann.” Er war boͤſe. Und alles in Unordnung.

4 s F} 2 J u’. nd 25 ® ;

Die Wäfche! Das Mirtfhaftsbuch, die Zimmer reinigen! Das Geldansgeben! Die Zeiteinteilung! Das Helgen! Die unendlich vielen Mahlzeiten! All das waren Gefpenfter, die ans dem Nebel fprangen und fie immer von neuem entfegten.

Und wie fie fih mühte und quältel Dabei malte fie ihr erſtes Bild nach einem besahlten Modell, rannte abends in den Aktkurſus und war voller Hangen und Bangen, teäumte von Ruhm und Süd und ging wie In der Luft vor innerer glüädfeliger Arbeitserregung. Emil, ihren Bruder, unters richtete fie auch noch und Meß Ihn nicht aus den Augen. Sie war bie Peitſche für feine Faulheit und ermuͤdete nicht und blieb bei Laune und betete, Daß es Gott ihr doch erleichtern möchte mit Emil, daß er Eifer und Pflichtgefähl In Ihm ers weden möchte, Ihm fo viel Kraft geben möge, daß wenigfteng etwas zuſtande kaͤme.

Ja, das waren bewegte Zeiten und kein Wunder, daß Gaſtelmeier nach Ruhe ausſchaute.

nd da war etwas, das In Ollys Seele als unſaͤgliche Bangigkeit aufftieg, das wie eine dunkle Furcht nachte über ihr lag, wie ein geheimnisvolles Grauen, das fie fih ang den Gedanken fortarbeitete am Tag, das fie im Geber zu ihrem Gott trieb. „Mein Gott, mein Gott! Nein nein, noch nicht!” Und heiße Tränen floffen deshalb, Heiße, verftedte Tränen. Niemand follte fragen dürfen. Schweigen, ſchweigen. Ste arbeitete doppelt angeftrengt. „Wie ein sum Tode Bernrteilter”, dachte Gaſtelmeier wieder. Sa, fie arbeitete in Angft und Bangen. Gaftelmeter felbft mußte fich geſtehen, vors trefflich, überrafchend. Uber er geftand es fich fchweren Herz eng, halb unmillig, und Olly empfand, Daß er nicht mit Ihr lebte. Das freilich hatte fie noch nie von einem Menfchen verlangt. Ihr Gluͤck, ihr eigentliches Leben lag in ber Zukunft.

100 :':“.

Dann, wenn der Ruhm kam, dann, dann dann wollte fie leben, |

Aber jet da war nur ein Gedanke und ber erbrüdkte ihe die Seele. Sie fuͤrchtete glaubte ahnte und es wurde ihre mehr und mehr zur Gewißheit.

nd e8 kam ein Abend, da faßen fie miteinander im noch

nicht erhellten Zimmer. Das Feuer Inifterte im Dfen. Dranßen ſchneite e8, und fie hockte zuſammengekauert In der Sofaede. Sie war aus der Stabt gelommen durch Schnee; geftöber, aus dem Aktkurſus. Wie atemlog fie gearbeitet hatte und wie müde fie war! Kalt, durch und durch alt, die Füße naß, und fie hatte nicht die Kraft Struͤmpfe und Schuhe zn wechfeln. Ste fühlte fih Frank und ganz unter dem Drud einer Bangigfeit, die fie nicht beswingen konnte. Gaftels meter faß am Fenfter.

„Olly, Haft du deine Schuhe gewechfelt ?” fragte er,

„Rein.“

„Weshalb nicht?“

„Ich bin fo müde”, fagte fie und fing gu weinen an,

Da war er bei ihr. „Was iſt denn, mein armes Kind?” fragte er und Fniete vor ihre nieder.

Ja, jetzt Iniete er, wie fie es fich einmal vorgeftellt hatte, und fie fab gerade auf feine Slate, die im Daͤmmerlicht glaͤnzte; das kam ihr komiſch und Sde und langweilig vor troſtlos mit einem Male.

Er faßte Ihre Füße an. „Wie naß!“ fagte er, „Komm, Ich sieh’ dir deine Schuhe ang.”

Sie ruͤhrte ſich nicht und er Endpfte ungeſchickt die Stiefe⸗ lettchen auf, zog Ihr die naffen Strümpfe von den Füßen und befühlte Die eiskalten Füße, Er rieb fie, holte eine Dede und widelte die Füßchen hinein. „Komm, leg dich doch bes quemer“, faste er.

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Er blieb vor ihr Enien und fireichelte fie, und es war, als wenn er fprechen wollte. Er fagte aber nichts und es verging eine Weile, während der es ganz ſtill im Zimmer war, nur das Steinfohlenfeuer kniſterte leiſe. Endlich fehlen er zu dem, was er fagen wollte, gefommen zu fein. Er bog fih gan über fie hin, ganz gu ihrem Ohr. „Olly, Heine Stan,” fagte er, „verfehtweigft du mir etwas etwas Dlly, etwas?“

Er war fehr bewegt und hielt fie wie damals fo liebevoll und zart, als wäre fie ein Heiligtum, Er fläfterte Ihr wieder ins Ohr. Da brach ein Tränenfttom aus Ollys Augen, fo sewaltfem und heiß und fehmerzuoll, und er befam feine Antwort; ihr ganzer Körper war erſchuͤttert, und er faßte ihre Hande und fragte noch einmal biefelbe Frage und befam eine ſtumme Antwort, die Ihn ganz verwandelte.

„Olly,“ rief er glädfelig, „nun wird alles gut!“ Er ſtrahlte, wie dag gewöhnlich iſt bei dem erften Wunder, und hielt fie in feinen Armen an fich gedrädt, ohne darauf zu achten, daß das Gefchöpf, das ihn eben mit einem Kopfniden fo beglüdt hatte, fih in Jammer und Angft und Lebensverwirrung Leib und Seele zerquaͤlte.

Wie follte e8 werden? Ste fühlte ſich fo hilflos, fo machts los. Die ſchweren, erdrüdenden Worte am Traualtar brauſten ihr wieder wie Drgeltöne durch den Kopf. Es übers flieg alles ihre Kräfte. Jetzt ſchon! Das Leben drängte fih fo übermächtig ein und trieb fie in die Enge, aus Ihrem Paradies, aus der Luft, in der fie allein leben konnte. Ste ſah nur Unglüd und Troftlofigfeit, Kampf und Dual und Gaftelmeier war glüdfelig, ſchwatzte auf fie ein und war freusfidel. Sie wendete fih ab. Er tat ihre leid und kam ihr fo komiſch vor. Er mißfiel ihre. Dann dachte fie wieder: „Er ift ein armer Menfch !”

Sie dachte das alles In einer unfinnigen Erregung. Und diefe felbe Nacht erkrankte fie ſchwer.

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Sechſtes Kapitel

ar te Seele bes Geſchoͤpfchens, das fih dem irdiſchen Sammertale hatte zuwenden wollen, war zuruͤckge⸗ ſchauert und vor ihrer Erbenwanderung bebätet worben.

Olly Tag frank und matt In ihren Kiffen. In der erfien Zeit hatte fie das bumpfe, beüdenbe Gefühl, als hätte fie bag Dafein dem Gefchöpfchen nicht gegönnt. Sie war dabei, fih in fohmerzliche, nutzloſe Gefühle krampfhaft hineinzu⸗ rötteln. Aber nein, nein, Das follte nicht Macht über fie bes fommen. Die Gedanken wurben wieber frei und ruhig. Es war gut fo.

Es ftand ihr Har vor ber Seele, wie fie von ber bangen Er; wartung zu Boden gebrädt war, wie fie fich fo ſchwach, fo hilflos, fo unfähig gefühlt hatte, wie ihr die Anforberungen bes Lebens wie Waflerwogen über den Kopf zuſammen⸗ zuſtuͤrzen gebroht hätten. Sie empfand, wie alles elendes Städwerk geworben wäre alles.

Jetzt hatte ihe das Schickſal Zeit gegönnt, Wie wollte fie diefe ausnäten! Ehrlich und ernft in allen Dingen, und er follte auch nicht fo viel Grund haben, über fie zu Hagen, nein, fie wollte lernen. Und ihre Arbeit? Welches Feuer, welche Steubigfeit, welche Sehnſucht lebte doch in Ihr! Sie war fo ganz erfüllt und ganz Ungebuld, wieder zu beginnen. Er, der gute Menich, war niebergebrüdt, er hatte fich fo gefreut, und konnte fich nicht genug fun, zu troͤſten und Immer wieder zu tröften, war voller Aufmerkſamkeit und Ruͤckſicht und Zartheit. Olly nahm ben Troſt wortlos Hin, fie fühlte, er fonnte fie nicht verftehen, wenn fie ibm fagen würde, wie fie empfand. Weshalb follte er fie denn auch verfiehen? Gie verlangte bag von feinem Menfchen. Ste war noch immer ganz davon überzeugt, Daß einer ben andern eben nicht vers fteht, Daß jeder Menfh im Grunde einfam lebt. Sp litt fie nicht unter dieſem Schweigen und Verfchweigen.

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groß und ſtark gefühlte hatte. Durch alles und über alles hinaus and Ziel! Iſt die Laft bes Lebens größer geworben, dann foll es auch die Anflrengung werben, der Kampf auf Leben und Tod,

„Es nuͤtzt dir nichts, bu guter Menſch,“ fagte fie, „baß wir jetzt nicht nach Paris gehen; bu willſt eine echte, rechte Hochzeitsreife, und fürchteft dich, daß eine gewiſſe Dlly... Jawohl, wir kennen dich! Das mit Paris verſprachſt du

und haſt's gebrochen, dag heißt, du haſt's verfchoben, du

Anger Menſch!“ Sie lächelte. „Das hilft dir alles nichts, Nach Paris kommen wir noch, und glaub’ ja nicht, daß Ich von meinem eigenflen Weg abweiche nein, nein, mein unge!"

Da fland fie auf und legte langfam Städ für Städ ihres Brautſchmucks ab, Lächeln fah fie bie zuſammengeheftete Tatlle an, die großen weiten Stiche, „Stimmt,” fagte fie, „leihtfinnig zuſammengeflickt. Rieſig Teichtfinnig!” Sie legte bie Taille achtlos beiſeite. „Uber ſchlecht Bin Ich nicht,” fagte fie nach einer Weile ernft, „was ich tun kann, tue Ich. Du weißt nicht, was bu bir geheiratet haft, du guter Menſch; aber fo ſchlimm, wie's werben könnte, ſoll's weiß Sort nicht werben, das fchwär’ ich dir, hier mie mir allein fhwör’ ich dir das.“

Das fagte fie ernft und rädte ihren Spiegel beifelte, um in dem engen Zimmer mehr Plag zum Ankleiben gu bekommen.

ie ſchon gefagt, feierliche und törichte Stunden, Stim; mungen aller Art, särtliche und wehmuͤtige Flitter⸗ wochenfimmungen, Verdruß und Verföhnung, auch Langes weile und Kummer, alles, was ein junges Paar In ber erſten Zeit der Ehe durchzuleben bat, lag mit dem erſten Sommer threr Ehe Hinter ihnen. Sie hatten Erlebniffe aller Art Hinter ſich. Gaftelmeler meinte, in ſechs Jahren fei bei ihm bisher nicht fo viel paffiert,

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wie in den ſechs Monaten feit feiner Verheiratung, lächers lich viel!

Auf der Hochzeitsreiſe hatte er fich vorgeftellt, daß er nach Herzensiuft Bummeln würde und fie mit ihm; er hatte fich aber geirrt. Ste hatte angeftrengt gearbeitet von früh big sum Abend, Tas für Tag, unermäblid. Ste waren mit; einander am, Morgen mit ihren Malgerätfchaften ausgeruͤckt, und er hatte zum erflen Male im Leben Gelegenheit, den bedürfnislofen, ungerreißbaren Fleiß gewiller Frauennaturen zu beobachten, ihr Nichtsrechtesundslinkssfhauen bei der Ars beit. Freilich, lieber hätte er biefe Beobachtung nicht gerade jest an feinem eigenen jungen Weibe gemacht. Unendlich viel lieber wäre er mit ihre bergauf und bergab vogelfrei in die ſchoͤne Welt gezogen; aber ba war etwas, bag feinen Willen brach, etwas Unbeswingliches. Ein paarmal hatte er es durch⸗ gefett: fie waren miteinander gewanbert, aber e8 war nicht bie rechte Freudigkeit dabei geweſen. Sie war auch nicht bes fonders gut zu Fuß, ermuͤdete fehnell und fchten bei allem, was fie fah, praͤokkupiert zu fein. Ste genoß die Natur nicht naiv und einfach, verarbeitete im Geifte immer, was fie ſah, und war Immer von bem Triebe erregt, wie fie wiebergeben würde, was fie ſah. Sie kaunte fein Ausfpannen, fein Vers geſſen. Wenn ein Weib fi einer Sache wirklich hingibt, gibt fie fih grenzenlos hin. Das liegt in ber Natur bes Weibes: fie gibt ſich der Kunft hin, wie fie fich der Liebe hin⸗ gibt, auf Tod und Leben!

Er hatte es fich nicht vorftellen koͤnnen, Daß Olly dieſe Arbeits⸗ kraft hatte, und doch, wenn er ſah, wie ſie vorgeſchritten war tin ihrer Kunſt bei ihrer ruͤhrenden Jugend, fo mußte er an heiße Arbeitsftunden, an einen heiligen Eifer glauben, Wie hatte er ſelbſt mit zwanzig Jahren fich behaslich an dag Stu; bieren gemacht! Was war er mit zwanzig Jahren geweſen, was hatte er gefonnt? Mein Gott, wenn er fih mit Olly verglich! Er hatte arbeiten, aber auch das Leben genießen

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wollen. Das ganze Leben lag damals vor ihm. Er konnte wie ein Verſchwender Damit umgehen und hatte es gründlich getan und hier bei biefem jungen Weibe war ihm zumute, als arbeite fie wie ein zum Tode Verurteilter, der ein großes Merk noch zu guter Legt mit Hansen und Bangen zuflande bringen will, 3a, fo war es; er hatte diefen peinigenden Eins drud von ihrer Art zu arbeiten. Dabei war fie liebenswuͤrdig, geduldig, war fein füßes, Meines Weib. Er fühlte fih im feiner Weife enttaͤuſcht. Er hatte ihr nichts vorzumerfen. Doch! Sie war ihm gewiffermaßen fremd geblieben. Er ges wöhnte fich nicht an fie. Sie erregte ihn. Ste war das Weib nicht, das in ber Perfon Ihres Mannes aufgeht.

In der erften Zeit Ihrer Ehe fagte er manchmal zu ihr: „Wenn ich dich doch einmal ganz hätte beine ganze Seele and deine Gedanken! Du bift nicht wie eine verheiratete Fran, fondern wie ein leichtfinniges Mädchen, die im Arme des einen an ben andern denkt. Diefer andre iſt beine Kunſt.“

„Du wußteft es ja”, erwiderte fie ihm darauf,

In München hatten fie fich ein Neft eingerichtet, ein Atelier und ein paar Zimmerchen. Sie wollten Beibe in bemfelben Atelier arbeiten fo lange, bie einmal die Einnahmen reichlicher flöffen. Vor der Hochzeit war das Nötigfte beforgt worben, aber erft nach ihrer Zurädkunft von der Reiſe machten fie ſich Daran, das neue Heim behaslich auszuſtaffieren. Olly ſchien dies wirklich Vergnügen zu machen. Sie föberte alle moͤg⸗ lichen Dinge auf, die andre Leute nie finden, sahlte auch nicht unvernuͤnftig, und Gaftelmeier war glädfelig, wie Aug fie fih der Sache annahm; aber eilig geſchah alles, fie wirt⸗ ſchaftete von früh bis abends, rannte zu ben Antiquaren, es war fein Halten. Es laͤutete alle Nafenlang, und Dienfts männer brachten etwas angefchleppt; es polterte, haͤmmerte unaufhoͤrlich, als wäre fein Augenblid Zeit zu verlieren.

„Sag einmal, mein Schaß, weshalb denn fo eilig?” fragte Gaſtelmeier.

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„Sa, was meinft bu, wientel Zeit fol Ich damit verlieren ?” antwortete fie.

Als aber alles ſoweit fertig fehlen und Gaftelmeler ganz Bereit war, nun behaglih aufzuatmen, kam er nicht dazu. Er hatte auf volllommene Winpftille gerechnet und wollte es fih nun in feinen vier Wänden wirklich gemütlich machen; aber, was es nur war, mit diefem „fih gemütlich machen“ fehlen er Immer noch warten su muͤſſen.

Ste hatten noch Fein einziges Mal, fo lange fie nun daheim waren, etwas wirklich Vernänftiges gegeflen. Während der Wirtſchaftstage ſchien dies Gaftelmeler ganz erklaͤrlich, trotzdem er ſich nicht gerade wohl dabei befand. Er war in ſeinem Reſtaurant, in dem er als Junggeſelle geſpeiſt hatte, verwoͤhnt worden. Man hatte fuͤr ihn und einige ſeiner Kol⸗ legen taͤglich ein beſtimmtes Fleiſchſtuͤck auf eine beſondere Weiſe als Vorſpeiſe, wie er es daheim gewoͤhnt war, zubereitet. Er war etwas Gourmet auf feine Weiſe und hatte ſich mit der Wirtin auf guten Fuß gu feßen gewußt, fo daß er wird, lich wohlverforgt gewefen und gut gebiehen war. Seine Zunge war anßerordentlih empfindlich und bei dem gerinsften Vers ſehen hatte er fich bort ganz gehörig beflagt. Diefer Mittags; tiſch, dem er präfibierte, hatte während feines Regiments einen guten Ruf erlangt.

Olly in Ihrer Beduͤrfnisloſigkeit hatte die Küchenfrage fehr naiv genommen. Zu Hanfe war fie auch an nichts beſonders Ausgekluͤgeltes und MWohlsubereitetes gewöhnt. Sie hatten es über fo eine Art „Schlangenfraß”, wie fie in München fagen, nie hinansgebracht, eine Art, fih su nähren, wie fie in den Familien üblich ift, in denen bie Fran feinen Sinn für Küche und Haushaltung hat. Die meiften Menfchen fönnen bei einem fo gleichgültigen, langweiligen, feelenlofen Sich⸗vvoll⸗fuͤllen⸗ muͤſſen gebeihen; aber junge Männer, die beim Eintritt in die Ehe fich zu folch einer traurigen Ernaͤh⸗ rungsweiſe verurteilt fehen, werben mißmutig, ärgerlich,

7 Böhlau TIL 97

unritterlih, Die Lebensfreudigkeit wirb ihnen ausgeblafen. Sie haben das befiere Leben in ben Reſtaurauts während ihres Sunggefellentums kennen gelernt und koͤnnen ver, gleichen.

Olly hatte fich eine Köchin gemietet, ohne viel Feberlefeng zu machen. Sie ahnute gar nicht, welch wichtiges Geſchoͤpf die Köchin im Grunde iſt. Die Köchin aber ahnte fehr bald, daß das Schiäfal fie wohl gebettet hatte, Daß fie Herrin auf ihrem Gebiete war, und daß bag Heine Weſen neben ihr im Haushalt nicht viel zu bedeuten hatte.

Olly arbeitete von früh bis sum Abend, nachmittags bes fuchte fie einen Aktkurſus, zwiſchendurch griff fie pflichttreu im Haushalt mit zu, aber wie im Dunkeln und gan planlos. Sie verfuchte zum Abendeſſen etwas su kochen, weil die Köchin um biefe Stunde gewöhnlich ihren eigenen Sinterefien nachging. Ste hatte eine bee, fie wollte ein Ges richt zuſtande bringen, das Ihr vorſchwebte. Da fehlten bie Eier, Mein Gott, und die Köchin war nicht da! Sie kam auf etwas andres, da fehlte das Mehl.

Sie war müde, abgearbeitet. Es hätte alles behaglich für fie beforgt fein muͤſſen, nun mußte fie felbft forgen. Und fie wußte fich nicht gu helfen, es wirbelte ihr im Kopf; was fie anfaßte, war nicht in Drbnung. Sie begann zu kochen mit dem, was fie vorfand, ein Phantafiegericht, das fich zus erft ganz gut anließ, fchließlich verkleifterte oder zuſammen⸗ tan und eine Ähnlichkeit mit Palettenfchäbs befam, der von allen übriggebliebenen Sarben, wenn fie auf der Palette zus fommengefragt werben, fich bilder; troß aller fchönen Cou⸗ leuren, aus denen er beſteht, Immer ein unerfreulicheg, ſchmutziggraues Gemenge.

Ganz fo ließen fich ihre Milch⸗ Fleiſch⸗, Mehl⸗, Kartoffels und Gemüfegehädfel an, bie fie in Abweſenheit ihrer leicht; finnigen Köchin bereitete, und die fie manchmal in Schred und Beſchaͤmung, nachdem fie traurige Erfahrungen bamit

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gemacht hatte, von ber Pfanne ab ind Feuer ſchob, wo Ihr Gericht als trauriger Klumpen verfohlte, während Ihe Gatte im Zimmer auf und nieber ging, und fie einen hoͤhniſch prüs fenden Blid der Köchin aushalten mußte, ber ihe den Mut benahm, die pflichtuergeflene Perſon auszuſchelten. Sie fagte dann nur zaghaft im Gefühl ihrer Linficherheit: „Ach, bitte, wären Sie fo gut und Itefen ſchnell zum Metzger, aber Bitte recht ſchnell!“ Sie wagte fih dann nicht Ins Zimmer hinein, big irgend etwas Eßbares im Haufe war. Und dabei war fie fo mäbe.

Bon ihrem dreisehnten Jahre an hatte fie angeſtrengte Arbeit gekannt. Bon biefer Zeit an hatte man fie ſtudieren laflen; ein Freund ihres Vaters, ein befannter Maler, der das Talent des Kindes entbedt, hatte fie felbft ausgebildet. So war ihr das Leben bes jungen Mäbcheng völlig fremd geblieben. In Ihrem Gefühlsleben war fie Kind geblieben und Künftler geworben, rein und leidenſchaftlich.

Das Leben und feine Anforberungen vermwirrten fie; fie hatte in nichts einen Überblid, denn fie trug die Dinge, die außerhalb ihrer Kunſt fanden, nicht mit fih In ben Ge danken. Ste fprangen immer wie aus einem Nebel hervor, wenn fie dicht vor ihnen ſtand, und erfchredten fie. Da war dag Mittageflen, das immer herankam, wie ein Schreds gefpenft. „Here Gott, ſchon fo ſpaͤt!“ Was war gefchehen, was nicht gefchehen, was hatte fie mit der Köchin ausgemacht, was nicht? Was gab’8? Wie hatte fie'd gemacht?! Was hatte fie alles vergeflen? Da war ja noch fo gut wie gar nichts! Was nun? Hundert Fragen und jede Frage ein Schred und mitten aus der Arbeit herausgerifien! Und ihr Mann? Hatte er nicht ſchon nach der Uhr gefehen? Mes; halb Hatte er nichts gefagt? Sie fragte ihn: „Weshalb fagteft du nicht, daß es ſchon fo [par iſt?“ Ä

„Beil ich das unfinnige Auffahren nicht leiden kann.” Er war böfe. Und alles in Unordnung.

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unritterlich, die Lebensfreudigkeit wird ihnen ausgeblafen. Ste haben das beſſere Leben in den Neflaurants während ihres Sunggefellentums kennen gelernt und koͤnnen vers gleichen.

Olly Hatte fich eine Köchin gemietet, ohne viel Feberlefens su machen. Ste ahnte gar nicht, welch wichtiges Gefchöpf die Köchin im Grunde iſt. Die Köchin aber ahnte fehr bald, daß das Schidfal fie wohl gebettet Hatte, daß fie Herrin auf ihrem Gebiete war, und daß bag Heine Weſen neben ihr im Haushalt nicht viel zu bebeuten hatte.

Olly arbeitete von frah bis zum Abend, nachmittags bes fuchte fie einen Aktkurſus, zwiſchendurch geiff fie pflichttreu im Haushalt mit gu, aber wie im Dunkeln und ganz planlog. Ste verfuchte zum Abenbeſſen etwas zu kochen, weil die Köchin um diefe Stunde gewöhnlich ihren eigenen Intereſſen nachsing. Ste hatte eine dee, fie wollte ein Ges richt zuſtande bringen, bag ihr vorſchwebte. Da fehlten die Eier, Mein Gott, und bie Köchin war nicht da! Sie kam auf etwas andres, da fehlte das Mehl.

Sie war mäde, abgearbeitet. Es hätte alles behaglich fuͤr ſie beſorgt ſein muͤſſen, nun mußte ſie ſelbſt ſorgen. Und ſie wußte ſich nicht zu helfen, es wirbelte ihr im Kopf; was ſie anfaßte, war nicht in Ordnung. Sie begann zu kochen mit dem, was ſie vorfand, ein Phantaſiegericht, das ſich zu⸗ erſt ganz gut anließ, ſchließlich verkleiſterte oder zuſammen⸗ rann und eine Ahnlichkeit mit Palettenſchaͤbs bekam, der von allen uͤbriggebliebenen Farben, wenn ſie auf der Palette zu⸗ ſammengekratzt werden, ſich bildet; trotz aller ſchoͤnen Cou⸗ leuren, aus denen er beſteht, immer ein unerfreuliches, ſchmutziggraues Gemenge.

Ganz ſo ließen ſich ihre Milch⸗, Fleiſch⸗, Mehl⸗, Kartoffel⸗ und Gemuͤſegehaͤckſel an, die ſie in Abweſenheit ihrer leicht⸗ ſinnigen Köchin bereitete, und die fie manchmal in Schreck und Beſchaͤmung, nachdem fie traurige Erfahrungen damit

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gemacht hatte, von ber Pfanne ab ins Feuer fchob, wo Ihr Gericht als trauriger Klumpen verlohlte, während ihr Gatte im Zimmer auf und nieder ging, und fie einen hoͤhniſch pruͤ⸗ fenden Blick ber Köchin aushalten mußte, der Ihr ben Mut benahm, bie pflichtuergeflene Perfon auszuſchelten. Sie fagte Dann nur gaghaft im Gefühl Ihrer Unficherheit: „Ach, bitte, wären Sie fo gut und liefen fchnell zum Metzger, aber Bitte recht ſchnell!“ Ste wagte fih dann nicht Ins Zimmer hinein, big irgend etwas Eßbares im Haufe war, Und dabei war fie fo müde.

Bon ihrem dreischnten Jahre an hatte file angeſtrengte Arbeit gefannt. Von diefer Zeit an hatte man fie findieren lafien; ein Freund ihres Vaters, ein befannter Maler, ber das Talent des Kindes entbedt, hatte fie felbft ausgebildet. So war Ihr dag Leben bes jungen Mädchens völlig fremd geblieben. In Ihrem Gefuͤhlsleben war fie Kind geblieben und Künftler geworben, rein und leidenſchaftlich.

Das Leben und feine Anforderungen verwirrten fie; fie hatte in nichts einen Überblid, denn fie trug die Dinge, die außerhalb ihrer Kunft fanden, nicht mit fih in ben Ges danken. Sie fprangen immer wie aus einem Nebel hervor, wenn fie dicht vor ihnen ſtand, und erfchredten fie. Da war dag Mittagellen, das Immer heranfam, wie ein Schreds gefpenft. „Here Gott, ſchon fo ſpaͤt!“ Was war gefchehen, was nicht gefchehen, was hatte fie mit der Köchin ausgemacht, was nicht? Was gab’8? Wie Hatte fies gemacht? Was hatte fie alles vergeflen? Da war ja noch fo gut wie gar nichts! Was nun? Hundert Fragen und jede Frage ein Schred und mitten ans der Arbeit heransgerifien! Und ihre Mann? Hatte er nicht ſchon nach der Uhr gefehen? Wes⸗ halb hatte er nichts gefagt? Sie fragte Ihn: „Weshalb fagteft du nicht, daß es ſchon fo ſpaͤt iſt?“

„Bell ich das unfinnige Auffahren nicht leiden kann.” Er war boͤſe. Und alles in Unordnung,

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Die Waͤſche! Das Wirtſchaftsbuch, bie Zimmer reinigen! Das Seldausgeben! Die Zeiteinteilung! Das Helzen! Die unendlich vielen Mahlzeiten! All das waren Gefpenfter, bie aus bem Nebel fprangen und fie Immer von neuem entfeßten.

Und wie fie fih mühte und quältel Dabei malte fie ihr erfied Bild nach einem bezahlten Modell, raunte abends in den Aktkurſus und war voller Hangen und Bangen, räumte von Ruhm und Gluͤck und ging wie in ber Luft vor Innerer glüdfeliger Arbeitserregung. Emil, ihren Bruder, unters richtete fie auch noch und ließ Ihn nicht aus ben Augen. Sie war die Peitfche für feine Faulheit und ermuͤdete nicht und blieb bei Laune und betete, baß es Gott Ihre bach erleichtern möchte mit Emil, baß er Eifer und Pflichtgefühl in ihm ers weden möchte, ihm fo viel Kraft geben möge, daß wenigſtens etwas zuftande kaͤme.

Sa, das waren bewegte Zeiten und fein Wunder, daß Gaftelmeter nah Ruhe ausſchaute.

nd da war etwas, das in Ollys Seele als unfägliche Bangigkeit aufſtieg, das wie eine bunfle Furcht nachts über ihr lag, wie ein geheimnisvolles Grauen, dag fie fih aus den Gedanken fortarbeitete am Tag, bas fie im Gebet gu ihrem Gott tried. „Mein Gott, mein Gott! Nein nein, noch nicht!” Und heiße Tränen flofien deshalb, heiße, verfiedte Tränen. Niemand follte fragen dürfen. Schweigen, ſchweigen. Sie arbeitete boppelt angeſtrengt. „Wie ein zum Tode Berurteilter”, dachte Gaſtelmeier wieder. Sa, fie arbeitete in Ansft und Bangen. Gaftelmeler felbft mußte fich geftehen, vor⸗ teefflich, überrafchend. Aber er gefland es fich ſchweren Her⸗ zens, halb unwillig, und Olly empfand, daß er nicht mit Ihr lebte. Das freilich Hatte fie noch nie von einem Menfchen verlangt. Ihr Gluͤck, ihr eigentliches Leben lag in der Zukunft.

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Dann, wenn der Ruhm kam, dann, dann dann wollte fie leben,

Aber jest da war nur ein Gedanke und ber erdrädte ihr die Seele. Sie fürdhtete glaubte ahnte und es wurde ihr mehr und mehr zur Gewißhelt,

nd es fam ein Abend, da faßen fie miteinander im noch

nicht erhellten Zimmer. Das Feuer Fnifterte im Dfen. Draußen fchneite es, und fie hodte zuſammengekauert in der Sofaede, Sie war aus der Stadt gefommen durch Schnees geftöber, aus dem Aktkurſus. Wie atemlos fie gearbeitet hatte und wie müde fie war! Kalt, durch und durch Falt, die Füße naß, und fie hatte nicht bie Kraft Strümpfe und Schuhe zu wechfeln. Ste fühlte fih krank und gang unter dem Drud einer Bangigkeit, die. fie nicht bezwingen konnte. Gaftels meier ſaß am Fenfter.

„Olly, haft du deine Schuhe gewechlelt ?” fragte er.

„Nein.“

„Weshalb nicht?”

„Ih Bin fo müde”, fagte fie und fing gu weinen an.

Da war er bei ihr. „Was Ift denn, mein armes Kind?” fragte er und kniete vor ihr nieder.

Ya, jetzt kniete er, wie fie es ſich einmal vorgeftellt hatte, und fie fah gerade auf feine Glage, die im Dämmerlicht glänste; das fam ihr komiſch und oͤde und langweilig vor troſtlos mit einem Male,

Er faßte Ihre Füße an. „Wie naß!“ fagte er. „Komm, ich jieh’ dir deine Schuhe aus.”

Ste rührte fich nicht und er knoͤpfte ungefchidt Die Stiefes lettchen auf, zog ihr die naflen Steämpfe von den Füßen und befühlte die eistalten Füße. Er rieb fie, holte eine Dede und widelte die Fuͤßchen hinein, „Komm, leg dich Doch bes auemer”, fagte er.

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Er blieb vor ihr knien und flreichelte fie, und es war, als wenn er fprechen wollte. Er fagte aber nichts und eg verging eine Meile, während ber e8 ganz fill im Zimmer war, nur das Steinkohlenfener Fnifterte leife. Endlich fehlen er zu dem, was er jagen wollte, gefommen zu fein. Er bog fih ganz über fie bin, ganz gu ihrem Ohr. „Dlly, Heine Frau,“ fagte er, „verſchweigſt du mir etwas etwas Dlly, etwas?”

Er war fehr bewegt und hielt fie wie Damals fo liebevoll und zart, als wäre fie ein Heiligtum. Er fläfterte Ihe wieder ins Ohr. Da brach ein Tränenftrom aus Ollys Augen, fo gewaltfam und heiß und ſchmerzvoll, und er befam Heine Antwort; ihre ganzer Körper war erfchättert, und er faßte ihre Hände und fragte noch einmal diefelbe Frage und befam eine fiumme Antwort, die ihn ganz verwandelte,

„Olly,“ rief er glüdfelts, „nun wird alles gut!” Er ſtrahlte, wie das gewöhnlich iſt bei dem erfien Wunder, und hielt fie in feinen Armen an ſich gedrädkt, ohne Darauf gu achten, daß das Geſchoͤpf, das ihn eben mit einem Kopfniden fo beglüdk hatte, fih in Sammer und Angſt und Lebensverwirrung Leib und Geele jerquälte,

Wie follte e8 werben? Sie fühlte fich fo hilflos, fo macht; 108, Die fchweren, erbrüdenden Worte am Tranaltar brauften ihre wieder wie Drgeltöne durch den Kopf. Es übers flieg alles ihre Kräfte. Jetzt ſchon! Das Leben drängte fich fo übermächtig ein und trieb fie in die Enge, aus ihrem Paradies, aus ber Luft, in der fie allein leben konnte, Sie ſah nur Ungluͤck und Teoftlofigkeit, Kampf und Dual und Gaftelmeter war glüdfelig, ſchwatzte auf fie ein und war kreuzfidel. Sie wendete fih ab, Er tat ihr leid und kam ihr fo fomifch vor. Er mißftel ihr. Dann dachte fie wieder: „Er if ein armer Menſch!“

Sie dachte das alles in einer unfinnigen Erregung. Und diefe felbe Nacht erkrankte fie ſchwer.

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Sehftes Kapitel

S te Seele bes Geſchoͤpfchens, das fih dem irdiſchen Sammertale hatte zuwenden wollen, war zuruͤckge⸗ ſchauert und vor ihrer Erdenwanderung behütet worden.

Olly lag frank und matt in Ihren Kiffen. In ber erfien Zeit hatte fie das dumpfe, drüdenbe Gefühl, als hätte fie dag Dafein dem Gefchöpfchen nicht gegönnt. Ste war babei, fih in ſchmerzliche, nutzloſe Gefühle krampfhaft hineinzu⸗ ruͤtteln. Aber nein, nein, das ſollte nicht Macht uͤber ſie be⸗ kommen. Die Gedanken wurden wieder frei und ruhig. Es war gut ſo.

Es ſtand ihre Mar vor ber Seele, wie fie von ber bangen Er⸗ wartung gu Boden gebrädt war, wie fie fih fo ſchwach, fo hilflos, fo unfähig gefühlt hatte, wie ihe bie Anforberungen Des Lebens wie Waſſerwogen über den Kopf zuſammen⸗ zuſtuͤrzen gebroht hätten, Sie empfand, wie alles elendes Städwerf geworben wäre alles.

Lett hatte Ihe dag Schickſal Zeit gegönnt. Wie wollte fie biefe ausnägen! Ehrlih und ernft in allen Dingen, und er follte auch nicht fo viel Grund haben, über fie zu Magen, nein, fie wollte lernen, Und Ihre Arbeit? Welches Feuer, welche Freudigkeit, welche Sehnfucht lebte doch in Ihe! Sie war ſo ganz erfüllt und ganz Ungebulb, wieder gu beginnen. Cr, der gute Menfch, war niedergebrüdt, er hatte fich fo gefreut, und konnte fich nicht genug fun, zu teöften und Immer wieder zu tröften, war vollee Aufmerkſamkeit und Rädficht und Zartheit. Olly nahm ben Troft wortlos hin, fie fühlte, er fonnte fie nicht verfichen, wenn fie ihm fagen wuͤrde, wie fie empfand. Weshalb follte er fie benn auch verſtehen? Gie verlangte bag von keinem Menfchen. Ste war noch immer ganz Davon uͤberzeugt, baß einer den andern eben nicht vers fteht, daß jeber Menſch Im Grunde einfam lebt. So litt fie nicht unter dieſem Schweigen und Verfchweigen.

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Sie gehörte noch nicht zu den Unverfiandenen, bie ſich herumquaͤlen und die nörgeln, weil fie wollen, baß andre volls fommen bie Wichtigkeit ihrer Seelenzuſtaͤnde mitempfinden. Ste war noch kein fo armfeliges Toͤpfchen, dag glaubt, Die ganze Welt müfle es befchauen wie einen fpeienden Krater, und das enttänfcht und wütend Ift, wenn es ganz unbemerkt über feinem Feuerchen sifcht und brobelt. Sie war wie ein Bach, ber noch nie über feine Ufer getreten iſt.

In ihrem Verfchweigen aber lag noch etwas andres: Sie hatte das beitimmte Gefühl, daß, wenn fie ihm alles fagen wollte, er fie für fchlecht halten würde und fie ihm nicht bes greiflich machen könnte, daß dem nicht fo ſei.

Annele war während Ollys Krankſein gefommen, um bie Mirtfchaft zu führen. Gaftelmeier hatte fie darum gebeten. Es war behaglih und friedlich, als wäre ein guter Geiſt im Haus. Gaftelmeier wurde wieder ganz vergnügt, es ſchmeckte ihm gut. Annele Iochte heimatliche Gerichte, Gaftelmeier fprach mit ihr wie mit einem guten Freund, er ſchuͤttete Ihr fein Herz aus. Er fprach über Olly, wie es fo oft unbehaglich bet ihnen fet, wie fie für nichts als für Ihre Malerei Stun habe und eigentlich gar. nichts andres verftände.

„and ſiehſt du, Annele, ih hab’ auch geglaubt, baß fie jegt viel frauriger fein würde.”

YAnnele hatte ihn ruhig und ernft angehört. Sie flanden miteinander Im Atelier in der Dämmerfiunde. Ollys Stafs felei war beifeite gefchoben und Saftelmeier hatte eine feiner fimpeln Heinen Lanbfchaften auf der feinigen fliehen, eine jener Landfchaften, bie er immer ungefähre ahnlich wiederholte und, für die er Immer Abnehmer fand.

„Friedel“, fagte Annele. „Wie haft du dir denn nur alles gedacht, was meinft benn? Was für ein Wunder foll eigent⸗ lich ein Frauenzimmer fein?”

„Na, wie benn ?” fragte er. „Was verlang’ Ich denn ? Ein Wunder ?”

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„Du haft ia gewußt, daß fie Malerin iſt, und du warft felbft ganz erflaunt darüber, was fie konnte. Da, mit zwanzig Fahren, warft denn du fo weit?“ 3 Su wo”, fagte Saftelmeier. „Olly ift fleißig wie eine Vers zweifelte. Wahrhaftig, man fommt außer Atem, wenn man ihe nur zuſchaut.“

„Wenn bu mit zwanzig Jahren fo weit wie Olly haͤtteſt fein jollen, unterbrach fie ihn, „und dann noch eine gute Köchin und ein Haus in Ordnung halten und den!’ doch in allen Städen fir und fertig ftell dir's vor. Und fett jammerft du noch, daß fie nicht traurig genug iſt! Geh mir! Aberleg/ doch. Kinder gibt's genug, aber net viel Eltern. Mein Gott, was wärt denn Ihe für Eltern fürs erſte?“

„Friedel, ſei vernünftig!” fuhr Annele fort, „ſchau, ung oben In Rohrmoos waͤr's hart, wenn bu net gluͤcklich waͤrſt, aber ein biſſel Klugheit gehört dazu, ganz aus Heiler Haut fann eins net glädlich fein.”

„Jetzt kommt's wieder brauf hinaus, daß du mich für einen Eſel haͤltſt“, fagte Gaſtelmeier.

„Ah geh!” meinte Annele; „aber ich weiß ſchon, uͤber ung denkt ihr Mannsleut einfach nicht nach. Ein Frauenzimmer muß immer etwas Fertigeg fein, weißt du; daß es halt nach und nach wird, wie ihr auch, fallt euch net ein.”

„Bas du da fast, iſt fo ohne nicht”, war Gaſtelmeiers Antwort. „Du bift ein geſcheites Maͤdel, Annele, aber ich mein’ fchon, ernft bift du geworben, bu bift der Fratz von ehedem nicht mehr.“

„Du, Friedel, ein Fratz war ich nie. Sch bin Immer fehr ruhig gewefen, ſoviel Ich weiß.”

„Rubig, ja, aber heiterer, fo wie die fchönen, ſtillen Tage in Rohrmoos.“

„Gerade fo wahrſcheinlich,“ fagte fie, „denn ich bin ein Städ von Rohrmoos geworden. Man wird fo, wie die Um⸗ gebung ift, in bee man lebt.”

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„Mein Gott,” fagte Saftelmeier, „Da werde ich mit ber Zeit ein Heiner Privatrangierbahnhof werben,” Er erzählte Annele, wie Emil, fein Schwager, Ollys Familie getauft hatte, und fragte fie, ob fie fich erinnerte, wie er ihr den Rangierbahnhof, neben dem er gewohnt, damals befchrieben habe.

„Ja“, fagte fie ernft, „Sch felbft Hab’ dich Damals gebeten, fortzugiehen.”

„Jawohl. Siehſt du, fo einen Heinen Rangierbahnhof machen wir ung hier wieder zurecht, fo einen Ableger von dem aus der Bluͤtenſtraße. Bei ung gibt es, gerade wie in der Bluͤtenſtraße, immer etwas gu bereden und gu rangieren. Da gehen wir im Simmer auf und ab, gerade wie bie feelens volle Mama und Ihe Erwin und Emil und Olly früher das heim und rangieren. Das heißt: bereden und befchließen, das Leben von vorn anzufangen, ober wir bereben und trans gieren eine wundervolle Zeiteinteilung, bie nie eingehalten wird; immer faffen wie allerhand Entfchläffe und befchließen, alles anders gu machen wie bisher, und find gang gerührt und voller Hoffnung, wollen zu allererft immer die Köchin fortfohiden. Bon allen Dingen aber gefchieht nichts, als daß wir eben rangieren Immer wieder rangieren und weißt du, ganz wie in der Bluͤtenſtraße. Ich kann es fon ganz gut ſcheußlich!

„Weißt du, wenn wie Gelb genug hätten und bie arme Olly könnte im langen, weißen Kleid hier ftehen und malen, und ich könnte ihr ben Arm geben und fie zur Zeit gu Tiſche führen, und der Diener fände da und riß die Flügeltüren vor ung auf Olly koͤnnte wie fo ein ſchoͤner Engel ganz im Senfeits leben, weißt du, fo wie es fich eigentlich für fo ein Gefchöpf gehört. Herr Gott im Himmel, dag wäre mit ihr ein Leben! Du ahnſt gar nicht, wie reigend fie tft.

„Weißt du, zwei fo lange, weiße Kleider hat fie fih machen laffen, fie wollte daheim immer weiß gehen. Haben wir aber wegen biefen Kleidern rangiert! Sie kam nie damit sus

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flande. Sie waren Immer beide ſchmutzig. Die Köchtn wuſch fie ihe nie zur Zeit und benahm fich überhaupt immer, als wäre e8 eine Srechheit von ung, zu verlangen, daß bie langen Kleider gebügelt und gewafchen fein follten. Sie tat es eins fach nicht, vergaß es abfihtlih. Dann haben wir verfucht, fie bet einer Wäfcherin wafchen zu laflen, das wurbe gu teuer; dann find wir noch auf hemifche Wäfche gefommen, das erft! Es ging auf feine Weiſe. Jetzt liegen fie irgendwo. Ich hätte es ihr gar zu gern gegönnt, Daß es ung gelungen wäre. Wenn fie fo neben mir im Atelier fiand, fo weiß und zart, und ars beitete, weißt bu, mit einem Eifer, da war mir’8 immer zu; mute, als follte ich aufftehen und ihe den Kleiderfaum kuͤſſen oder die Lodenfpischen. Es hat mir gar Feine Ruhe gelafien, es war etwas zu ungewohnt Süßes.”

Annele hörte ihm ftill gu, Dann fagte fie: „Was ich euch helfen kann, das tu ich gern, Eh’ ich geh’, muß Ich euch wenigſtens eine andre Köchin finden.”

„Uns Gehen denkſt du doch noch nicht, Annele?“

„Bald“, fagte fie. „Ste brauchen mich oben.” Ein leichter Senfjer bewegte ihre Bruft, fo ein Seufjer, der aus einem ftarken, ftillen, wehen Herzen kommt.

„Schade,“ fagte Saftelmeter, „Ichade.”

Auu⸗⸗ hatte wirklich die kleine Wirtſchaft der beiden in eine einfache, gute Ordnung gebracht, ganz ſtill und unmerk⸗ lich, hatte eine neue Koͤchin eingeſetzt, Olly Ausgabebuͤcher eingerichtet, ihren Waͤſcheſchrank aufgeraͤumt, die Speiſe⸗ kammer bequem hergerichtet, die Schluͤſſel fuͤr die ver⸗ ſchiedenen Schraͤnke mit Heinen Etiketten verſehen und an einen Ring angeretht. Ste hatte ihr eine Tafel zum Wätches aufichreiben auf den Schreibtiſch gelegt, den Griffel daran gebunden. Sa, fie hatte ihr einen Speifezettel für den ganzen Monat gemacht, den fie immer nur bis auf einige Änderungen

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umzukehren brauchte, und fie hatte der Köchtn ausführlich Anmeifungen gegeben, Olly war ihre fo dankbar und vers fprach ihr, alles heilig gu halten.

„zu das, Olly,“ Hatte das Mädchen zu ihr gefagt. „Mach ihn gluͤcklich. Er ift ein guter, guter Menfch.” Sie hatte bag fo weich und ernft gefagt, daß Olly ihre unwillkürlich in die Augen blidte; die waren aber ruhig und Har, wenn auch feine frohe Augen. Sie waren fo verftänbig.

Und erft in der Einfamtkeit, als fie im fortrollenden Coupe faß, wurden diefe verftändigen Augen unverfländig, wie das arme Herz es wollte, und meinten heiße Tränen unter fremden Leuten.

8 ſchien wirklich, als wäre ein guter Geiſt im Haufe geweſen und hätte Segen gebracht. Es war etwas mehr Fries den, alles ging glatter und ruhiger. Olly war gut und liebeng; würdig wie ein Kind. Wie fie zum erfien Male wieder an ihre Staffelet rat und Ihe Modell in bie Stellung gebracht hatte, wie vor einigen Wochen, hatte fie die Augen voller Tränen. Ste wußte felbft nicht, weshalb eigentlich, fie war fo froh, wieder zu beginnen, fo ergriffen, und dag Gefühl, mit ganzer Kraft weitergehen zu bürfen, dem Ziele zu, erfchäts terte fie. Doch fie fühlte fich noch immer nicht recht wohl. So kam Weihnachten heran. Ste hatte eine Woche vor Meihnachten ihre Arbeit wieder besonnen, und in dieſer Woche war ein Porträt, vielmehr eine Studie von ihr, in den Kunftverein gefchickt, zum erfien Male Tante Zaͤng⸗ lein hatte ihr dazu Modell gefeflen. Ein altes Weibchen im daͤmmerigen Zimmer am Senfter. Tante Sänglein kehrte dem Fenfter den Rüden zu und das Licht floß am ihr gemiflers maßen voräber, fie nur flreifend. Das Geficht lag zu ihrem großen Ürger ganz im Schatten. Außerdem waren noch ein paar Heinere Arbeiten von Olly bingefchiett, die fie auf der Reiſe im Freien gemacht hatte

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und von denen ihr alter Lehrer gewünfcht hatte, daß fie fie ausftellen follte. Er war ſehr zufrieden bamit gemwefen.

Olly war bie ganze Zeit über In Innerfier Aufregung. Es war das erfiemal, die erfie Verbindung zwifchen ihr und der Welt. Sie wollte diefe Erregung nicht geigen, aber fie klopfte ihr in ben Adern, fie ließ ihr feine Ruhe, fie fand feinen Frieden bei ber Arbeit. Sie war ganz ruhelos und machte fich allerlei im Haufe gu fun.

Gaftelmeier beobachtete fie und fagte fih: „Jetzt bat fie Ansft und quält fih, bag arme Ding.” Zu ihr fagte er: „Weißt bu, fiel’ die nur net vor, daß mit dieſer Ausſtellerei jegt irgend etwas herauskommt, bag iſt grenzenlos wurſcht, ob einer davon kraͤht ober nicht kraͤht, ob er gut kraͤht ober da fchlecht kraͤht.“

„Gewiß“, fagte Dlly, aber fie ſagte es nur. Sie haßte fich felbft, daß fie ſo albern war. Ste fühlte fih unfinnig erregt.

„Erzaͤhl' mir, was deine Freunde von den Sachen meinen”, fagte fie einmal wieber.

„Weißt du, wenn wir sufammenfommen, fimpeln wir srundfäglich nicht Kunſt“, antwortete Gaftelmeier., „Und ehe fie fich um die Arbeit von einem Frauenzimmer kümmern, ja, das ftellft du bie ganz anders vor. Wenn einer uͤber⸗ haupt was fagt, iſt's hoͤchſtens: ‚Gaftelmeter, die Dinger von deiner Frau find net Abel! das iſt viel, fehr viel fogar! Ich glaub nicht, daß das einer fagt, aber mögs lich iſt's.“

llyging am Morgen des heiligen Abends mit Emil aus. Sie wollten miteinander einen Weihnachtstarpfen kaufen und fie ging hauptſaͤchlich, um fich gu zerſtreuen. Sie kauften einen wundervollen Golbfarpfen, groß und ſchwer, und trugen ihn in einem Marktnetz nach Haufe, dene fie hatten nicht gewollt, daß der Fiicher vor ihren Augen das Tier

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tötete, Emil trug ihn und der Karpfen fchnidte bin und wieder ganz gewaltig, immer unvermutet. Gewöhnlich lag er fill und gekruͤmmt in feinem Neb.

Auf dem Marienplag fanden die Weihnachtsbaͤume auf; gereiht, ein ganzer Wald. Weihnachtshuft, eilende Menfchen, Schnee auf ben Dächern.

„Olly, jest machft du auch Gefchichten, su Weihnachten auszuſtellen, das hätteft du auch nicht gebraucht; aber bu biſt wenigſtens nicht wie Erwin und Mama”, fagte Emil auf feine brummige Meile. „Heut’ find fie daheim wie des Kududs, feit fie am Morgen in ben ‚Neneften‘ über dich das gelefen haben. Gottlob, daß du nicht wie bie andern biſt. Die ſcheint's wenigſtens wurfcht zu fein.”

„Was denn?” fagte Dlly wie erſtickt. Sie hatte heute nad

der Zeitung gefragt, aber ihr Mann hatte ihre gefagt, daß fie nicht gefommen wäre. Er wußte alfo er hatte es Ihr verheimlicht. Da war e8 gelommen. „Weißt du's gar net?” fragte Emil und fah feine Schwefter an, der die Dual, die fie Iitt, in den Augen gefchrieben ſtand. „J wo, bu wirft wohl außer dir fein wegen fo einer Lum⸗ perei! Gar net.”

Olly war ftehen geblieben, ihr fchwindelte, fie fagte fein Wort, fie fragte nicht, fie ging unwillkuͤrlich weiter. Wes⸗ halb follte fie fragen ?

Wie ihr auf einmal die Kälte bis Ins innerſte Mark ging! Wie troſtlos war alles fo winterlich, fo tot, das Heben der Leute, der Laͤrm auf ber Straße alles haͤßlich! Und wie fie fror!

Am Karlstor fagte fie, nachdem fie bisher ganz ſtumm gegangen war: „Wir wollen einen Wagen nehmen.“

„Meinetwegen, wenn du ſo uͤppig ſein willſt.“ Und ſie ſtiegen mit ihrem Fiſch ein.

„Deine Lippen ſind ganz weiß“, ſagte Emil.

„Albern.“

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„Dog.“

„Nein,“ fagte Olly, „es iſt mir ganz gleichgültig. Mögen fie fagen, was fie wollen, meinetwegen. Haͤßlich iſt's oft genug, was ich mache, abftoßend, aber es lebt ja es lebt eben, da mögen fie fagen, was fie wollen.”

„Affektiert‘, ‚gemacht‘ fagen fie”, brummte Emil,

Da fuhr Olly auf und dide Tränen ſtanden Ihr in den Augen. „Das iſt's nicht!” rief fie. „Ste werben es ſchon fehen ! das, dag iſt's nicht! Aber die Gänfe im Atelier Haben e8 auch gelefen. Die werben eine Freude haben bie... .! Die gönnen’s mir.”

„Verflucht! Verflucht! Verflucht! Verflucht!“ plaste jest Emil heraus und er fchlug fich mit der einen Hand aufs Schenkelchen, mit der andern hielt er den Fifch im Nee feft. Er dachte, daß Gaſtelmeier nicht fehr erbaut fein würde, baß er Olly die Gefchichte verraten hatte und die Gaͤnſe im Atelier Argerten auch ihn.

„Weißt bu, ein andermal gelingf’8 beſſer. Na na ich meine, gelingt's befler, du weißt fchon, dem Efel, der kritiſiert hat! Es kommt vielleicht ein andrer dran. Erwin hat heute morgen in der erfien Wut hinſtuͤrzen wollen, ich weiß nicht, er wollte Skandal machen. Mama wollte auch hin, fie wollte auch Skandal machen. Ste waren gan befperat verrädt. Ich Habe Immer dazwiſchen ſchreien muͤſſen. Sie ſind uͤbrigens nicht dort geweſen. Sie wußten nicht wohin und ſo aufs Geratewohl auf die Straße laufen. Na und Tante Zaͤnglein kam auch dazu und hat ſich uͤber die ganze Wirtſchaft wieder einmal amuͤſiert und ſagte immer: ‚Das kommt davon, weshalb hat fie mein Geſicht nicht mit gemacht! Das tft freilich gefucht, einen Menfchen zu malen und mein Geficht ins Dunkel gu fteden, gerade als wenn Ich mich fchämte, mein Geſicht fehen zu laſſen. Ein nettes Portraͤt ohne Geſicht. Meine Belannten, denen ich gefagt hatte, ich wäre auf der Kunſtausſtellung gu fehen, haben fich

III

auch gar nicht genug verwunbern Finnen!‘ Tante Zängs lein war ganz aufgebracht.”

Emil erzählte die komiſche Seite von ber Gefchichte. Er wußte, wie fehr Olly das Komiſche liebte. Aber ift einmal die Wunde gefchlagen, fo iſt fie gefchlagen, da tft nichts zu machen; auch wenn man den Schmerz verbeißt und lächelt er ift einmal da, und die Bewegungen find fehmerzbeladen, und es tft nicht wie fonfl.

Es war nicht gutzumachen, bag fühlte auch Emil, als er feine Schwefter anſah. „Verflucht! Verflucht! Verflucht! Verflucht!“ Sie ſah ſo elend aus, ſo zart, ſo arm. Erwin und Mama hatten ihm eigentlich noch nie recht leid getan, wenn ſie bei einem Mißerfolg Geſchrei machten, aber hier, das ſtumme Weh, ging ihm zu Herzen.

„Na da halt Ruh”, ſagte er zu feinem Fiſch, weil er ſonſt nichts zu ſagen wußte.

Daheim erzaͤhlte er Gaſtelmeier, was er angerichtet, und er zeigte ihm auch den Fiſch.

„Da weiß fie’s alſo, und grad zu Weihnachten! Verflucht! Verflucht!“

Er hatte dieſen ſchoͤnen Gefuͤhlsausdruck Emil unwill⸗ kuͤrlich abgelernt und gebrauchte ihn im ſelben Augenblid, als auch Emil ſich wieder feiner bedienen wollte. Beide fahen fich verſtaͤndnisvoll an. Diele Schwäger famen überhaupt gut miteinander aus,

„Wir reden nicht mehr Davon, wenn fie nicht anfängt”, fagte Gaſtelmeier.

Ste fing nicht an, benahm fich, als wäre nichts gefchehen. Den Fiſch ließen fie in einem großen Waflerfchaff ſchwimmen, in dem es ihm fehr wohl gu fein fehlen. Auch fah er wunder⸗ huͤbſch darin aus,

ME die Köchin ihn abfchlachten wollte, verbot Olly dies. „Rein, ee foll leben“, fagte fie.

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„Ra und?” fragte die Köchin und lachte und bachte bei fich: „Dte fpinnt einmal wieder!”

„Nimm grüne Heringe, das find auch Stiche”, fagte Emil, der in der Küche gerade beim Karpfen war.

„Ufo dringen Sie grüne Heringe“, fagte Olly.

„Da heißt's aber laufen, Köchin,” meinte Emil, „die kriegt man fpäter nicht mehr, ich weiß fchon, wir haben fie immer gewollt, aber nie bekommen. Laufen Sie fhnell!” Er fprigte fie mit dem Karpfenwaſſer gewiflermaßen zur Küche hinaus.

Emil war fehr familiär und flegelhaft mit jeder Köchin, die fie daheim gehabt hatten. Das machte, er war immer der Kamerab ber Köchin geweſen, er als ber Wirtfchaftlichfte im Haus, und dann fah er in ben Köchinnen Geſchoͤpfe, die zu feinem Saudium dba waren. Er fpielte ihnen allerhand Streiche, fpriste fie mit Waſſer, warf ihnen die Aſche in bie Küche, bie Kohlen die Treppe herab, wenn fie ben Kohlen, faften den halben Tag vor der Korridortäre fiehen ließen, fohrieb ihnen Ungezogenheiten mit Kreide anf den Küchen; tiſch, rahmte langbewährte Elerfleden auf Töpfen und Taflen mit Tinte ein und fihrieb das Datum, an dem fo ein Fled entfianden war, darunter. Oder er legte einen großen Zettel unter fchlecht abgewafchene Taffen, Schüffeln oder Töpfe und ſchrieb darauf: „Diefe Töpfe find ungebraucht!!!“ Dars unter fchrieb er: „Neinlichletel!”" dick unterfieihen, und: „Laſſen Sie den Zettel liegen, den brauch’ ich doch noch ein paarmal.“

Er war der Gefuͤrchtete bei den Koͤchinnen geweſen, ohne ihn waͤre die Wirtſchaft in der Bluͤtenſtraße voͤllig in ſich zuſammengefallen.

Auch jetzt brachte die Koͤchin richtig die gruͤnen Heringe zum heiligen Abend. Sie war aber ſehr ſchlechter Laune. „Was iſt das fuͤr ein Weihnachten“, ſagte ſie zur Koͤchin von der untern Etage. „Meine Gnaͤdige ſcheint an nix zu glauben.

3 Böhlau III. 113

Baden bat f’ net laſſen, für die ganze Weihnachten net. Grüne Heringe haben wir am Abend, fonft nie.” Einen Weib; nachtsbaum Hatten fie, den zählte die Köchin nicht mit, und Olly puste ihn am Nachmittag fill und gleichgültig auf.

Sa, wenn man den Schmerz verbeißt, den eine Wunde ung macht und wenn man auch lächelt und fpricht, die Bewe⸗ gungen bleiben gehemmt und ſchmerzen faft und es iſt nicht wie ſonſt. Welche Mühe hatte fie, das Baͤumchen zu putzen, wie ſchwer wurbe es ihr, wie lang dauerte es und tie müde wie müde! Es lag ihre wie Blei in den Gliedern.

Eine Redensart ihrer Mutter kam Ihe nicht aus dem Kopf. Jedes Nein iſt Ungläd, jedes Ja iſt Gluͤck. Sie hatte bag nie leiden können, Doc war es fü. Wie hatte fie diefes Niebergebrüdtfein, dieſes Verzweifeltſein daheim gehaßt, wie erbärmlich war's ihr erfchlenen! Nun lag es auch ihre in den Sliedern, wie ein Fluch.

So ein böfer Anfang sum Ruhm. Wie hatte fie fih immer frei und ſtolz gefühlt, fo unantaftbar! Mißerfolge, mein Gott, die waren natürlich. Ste hatte immer Damit gerechnet, Ste hatte die andern verurteilt, Die fich einen voruͤber⸗ gehenden Erfolg oder Mißerfolg fo su Herjen nahmen, daß fie Blind und taub für alles um fich her wurden, und num war fie gerade fo, beim erftenmal gleich! Sie war wie in einen grauen Nebel geraten. Jawohl, über etwas von oben herab urteilen und felbit darin fleden, das find zweierlei Dinge. Sie fhämte fich ihrer Härte, wenn fie an früher Dachte. Alle ihre Gedanken kamen ihr wie gebrandbmarft vor, Es waren die Gedanken einer Blamierten. Alles war ihr an fich felbft veislog geworben, armfelig, bedeutungslos, nicht berechtigt gu eriftieren. Und warum? Weil irgendein Unbefannter über ihre Sachen etwas Ungünfliges ge⸗ fehrieben hatte, was fie noch nicht einmal recht wußte, Wie und was er gefchrieben, war ihr gleich. Und ein erfolgiofer Künftler, der niemand hat, der an ihn glaubt, als fich ſelbſt,

II4

was iſt dag für eine armfelige Kreatur; einer, ber auf fchlechte Kritiken fchimpft, fich reinwaſchen will, erklären will, wie recht er hat, wie vortrefflich alles iſt, was er fchafft, und wie dumm die find, bie es nicht begreifen!

So etwas werben zu koͤnnen!

Nein, jeden Schlag ftumm hinnehmen, nie Hagen, nie fi verteidigen nicht einmal an fih felbft ſtumm glauben wollte fie, um ficher zu fein, nie eine Taktloſigkeit zu begeben, wie bie daheim, Totſchlagen laſſen wollte fie ſich Seele und Körper ohne zu zucken.

Der Fluch der Kunft, ber die Schwachen beugt, lag auf ihr. Sa, fie ſteckte plöglich wie mitten im grauen Nebel, und diefer umgab nicht nur fie, Von ihr aus verbreitete er fich Im gauzen Haus, Iöfchte die Weihnachtsfreude aus, legte fih dem ehr, lichen Saftelmeier wie eine ſchwere Laft aufs Her. Es waren die erſten Meihnachten, die er nicht daheim In Rohrmoos feierte.

Meihnachten auf Rohrmoos! In der Heiligenabends Dämmerung flieg ihm das fehnfuchtsonlle Bild auf. Welch ein Treiben welch ein Duft; Weihnachtskuchen! Weihnachts, bier! Weihnachtslarpfen! Weihnachtsgehäd aller Art, feines und grobes, alles in Haufen, alles Duft ausfieömend, das Nennen und Lanfen auf dem Hof, bag hurtige Arbeiten in den von Laternen erhellten Ställen, um fertig zu werden und das Felertagsgewand anzulegen! Und im Wohn; simmer bie gute Mutter, mit ber großen, weißen Schürge, die den Leuten bie Befcherung herrichtete und in wollenen Soden, Joppen, Roͤcken, Pfefferfuchen und Nuͤſſen und Apfeln faft begraben war, und Annele, die jegt auch gerade den Chriſtbaum pugt, zufällig gue felben Zeit wie Olly. Er wußte dag, die Zeiteinteilung am heiligen Abend war uns verrädbar, ein Jahr wie das andre, und ber Vater, der fih an feinem Sekretär mit den Gelbpädchen zu fchaffen machte, auf jebes ein Siegel drädte und ben Namen des

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Empfängers mit ber fleifen, ungeuͤbten Schrift darauf fchrieb: Das war ein Weihnachten ! Draußen der tiefe, weiße Schnee und die fillen Berge, drinnen im Haus die rührige Feſt⸗ freude. Und bier Bei ihm? Wenn alles noch fo geweſen wäre, wie vor wenigen Wochen, fo hätte er fich auf nächfte Meihnachten gefreut und mit diefen vorlieb genommen; aber fo wie es jet war, fam es ihm trübfelig vor.

Der Arzt hatte nicht erlaubt, Daß er mit Olly nah Rohr⸗ moos reifte. Hätten fie nur nicht gefragt! Das arme, ſtille, gedruͤckte Geſchoͤpf am Ehrifibaum, war denn das Diy feine liebreizende Olly?

Er ſah ihr bange zu. Sollte er mit ihr von der dummen Geſchichte reden, die ſie ſich ſo ſehr zu Herzen nahm? Er wagte es nicht, er hatte Furcht davor und meinte auch, daß es beſſer ſei, zu ſchweigen, als daran zu rühren. So ſtanden ſie, ſich gegenſeitig ganz fremd, vor dem Chriſtbaum und ſchauten ihn ſich miteinander an. Er war nur mit blaßroſa Roſen Beftedt, ſehr fchön, aber fein eigentlicher Weihnachtsbaum. Gaftelmeier hatte noch nie fo einen gefehen.

„Du haft ja gar nichts daran gehängt, Olly. Annele machte immer bunte Nee und ftedte allerlei hinein, und es hing alles did voll Gebaͤck, das die Mutter mit uralten Holzfoͤrm⸗ chen felbft gebaden hatte.“

Olly ſah Ihn ganz verwundert an. Sie fühlte fih auch etwas gefränft, Daß er ihren Weihnachtsbaum nicht fchön zu finden ſchien; fo hatte fie ihn Jahr für Jahr als ganz Meines Mädel daheim aufgepugt und hatte früher gemeint, Daß es fo etwas Schönes wie ihren Baum nicht mehr geben könnte, einen Bufch fo voll Rofen, wie man ihn nur im Traume fehen konnte. Aber das war ganz gleichgültig jest. Sie fühlte es nur fo nebenbei. Es kam ihr vor, als hätte fie gar feine Berechtigung mehr zu fühlen, als wäre fie vernichtet, Und geradeio nebenbei dachte fie, daß er auch feinen Weihnachts;

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Baum liebe, wie er ihn gewohnt war, und es fat Ihr leid, daß fie ihn nicht Darum gefragt hatte.

Aber wie dumpf war alles, was fie dachte. So alfo ftellte fie fih an, wenn ihr etwas In die Quere gegangen war? Sp? Schlimmer als die andern? a, aber es war ihr nicht irgend etwas Beliebiges in die Duere gegangen, fondern fie war mit dem erften Schritt ius wahre, einzige Leben in einen Abgrund geſtuͤrzt und lag num tief unten, wie zerſchmettert. Wie fie fo ins Maßloſe hineinfühltel Sie empfand dag felbft; aber fie war num einmal fortgeriffen.

Goftelmeter hing feinen fehnfüchtigen und trüben Ges Danfen weiter nah. Der Arzt hatte mit ihm über Olly ges fprochen. Er hatte gefragt, an was Ollys Vater geftorben fei: „Wie jeber dritte Pole wohl an der Schwindfucht”, hatte er geantwortet, fo er hörte ſich noch, es lag darin die ganze Gleichguͤltigkeit, die er für Ollys Familie hatte. An was er geftorben war, wußte er nicht. Es war ihm dem Arzte gegenüber unangenehm, daß er fih fo hatte gehen laſſen, und er hatte von der Tür aus In Ollys Zimmer, wo biefe im Bette lag hineingernfen: „Olly, an was iſt dein Vater eigentlich geftorben ?”

„Bſt“, Hatte der Arzt gemacht, um ihn zurüdsuhalten. Es war zu ſpaͤt. Wie dumm, fie an ſo etwas zu ers inneren!

Olly aber antwortete ruhig und matt, er hörte fie noch, wie fie es fagte: „Papa farb an einer Kehlkopfkrankheit.“

Sie hatte es fo leife gefagt, Daß es nur Gaſtelmeier hatte hören können. Das referierte er dem Arzt: „An einer Kehls kopfkrankheit.“

„So ſo“, hatte der geſagt und war, nachdem er noch einige Anordnungen gegeben, fortgegangen.

Wie Fam er jetzt daranf, ganz unvermittelt? Er hatte ſich damals dumm benommen, das war Ihm fatal, jebt noch und was war es denn weiter? Eine Gedantenlofigkeit!

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Empfängers mit ber fleifen, ungeäbten Schrift darauf ſchrieb. Das war ein Weihnachten ! Draußen der tiefe, weiße Schnee und bie ſtillen Berge, drinnen im Haus die rührige Feſt⸗ freude. Und bier bei ihm? Wenn alles noch fo geweſen wäre, wie vor wenigen Wochen, fo hätte er fih auf nächte Meihnachten gefreut und mit biefen uorlieb genommen; aber fo wie e8 jetzt war, fam es ihm trübfelig vor.

Der Arzt hatte nicht erlaubt, daß er mit Olly nah Rohr⸗ moos reifte. Hätten fie nur nicht gefragt! Das arme, ftille, gedrädte Gefchöpf am Chrifibaum, war denn das Diy feine liebreizende Olly?

Er ſah ihr bange zu. Sollte er mit ihr von der dummen Geſchichte reden, die ſie ſich ſo ſehr zu Herzen nahm? Er wagte es nicht, er hatte Furcht davor und meinte auch, daß es beſſer ſei, zu ſchweigen, als daran zu ruͤhren. So ſtanden ſie, ſich gegenſeitig ganz fremd, vor dem Chriſtbaum und ſchauten ihn ſich miteinander an. Er war nur mit blaßroſa Roſen beſteckt, ſehr fchön, aber Fein eigentlicher Weihnachtsbaum. Gaftelmeier hatte noch nie fo einen gefehen.

„Du haft ja gar nichts Daran gehängt, Olly. Annele machte immer bunte Netze und ftedte allerlei hinein, und es hing alles did voll Gebaͤck, dag die Mutter mit uralten Holsförms chen felbft gebaden hatte.”

Olly fah ihn ganz verwundert an. Ste fühlte fih auch etwas gekraͤnkt, daß er ihren Weihnachtsbaum nicht ſchoͤn zu finden ſchien; fo hatte fie ihn Jahr für Jahr als ganz Heines Mädel daheim aufgepugt und hatte früher gemeint, daß es fo etwas Schönes wie ihren Baum nicht mehr geben koͤnnte, einen Bufch fo voll Rofen, wie man ihn nur im Traume fehen fonnte. Uber das war ganz gleichsültig jegt. Sie fühlte es nur fo nebenbei. Es Fam ihr vor, als hätte fie gar Feine Berehtisung mehr zu fühlen, als wäre fie vernichtet. Und gerabefo nebenbei dachte fie, daß er auch feinen Weihnachts⸗

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baum liebe, wie er ihn gewohnt war, und es tat Ihr leid, daß fie Ihn nicht darum gefragt hatte.

Aber wie dumpf war alles, was fie Dachte. So alſo ftellte fie fih an, wenn Ihr etwas in bie Duere gegangen war? Sp? Schlimmer als die andern? Sa, aber e8 war ihre nicht irgend etwas Beliebiges in die Duere gegangen, ſondern fie war mit dem erſten Schritt Ind wahre, einzige Leben in einen Abgrund geſtuͤrzt und lag nun tief unten, wie jerfchmettert. Wie fie fo Ins Maßloſe Hineinfühltel Sie empfand dag felbft; aber fie war nun einmal fortgeriffen.

Gaſtelmeier hing feinen fehnfüchtigen und trüben Ges danfen weiter nach. Der Arzt hatte mit ihm über Olly ges ſprochen. Er hatte gefragt, an was Ollys Vater geftorben fei: „Wie jeder dritte Pole wohl au dee Schwindſucht“, Hatte er geantwortet, fo er hörte fih noch, es lag darin die ganze Gleichguͤltigkeit, die er für Ollys Familie hatte. An was er geftorben war, wußte er nicht. Es war ihm dem Arzte gegenüber unangenehm, daß er fich fo hatte geben laffen, und er hatte von der Tür aus in Ollys Zimmer, wo biefe im Bette lag bineingernfen: „Dlly, an was ift dein Vater eigentlich geftorben ?”

„Bft“, hatte der Arzt gemacht, um ihn zuruͤckzuhalten. Es war zu ſpaͤt. Wie dumm, fie an fo etwas gu ers Innern!

Olly aber antwortete ruhig und matt, er hörte fie noch, wie fie es fagte: „Papa ſtarb an einer Kehlkopfkrankheit.“

Ste hatte es fo leiſe gefagt, daß es nur Gaſtelmeier hatte hören können, Das referterte er dem Arzt: „Un einer Kebls kopfkrankheit.“

„So ſo“, hatte der geſagt und war, nachdem er noch einige Anordnungen gegeben, fortgegangen.

Wie kam er jetzt darauf, ganz unvermittelt? Er hatte ſich damals dumm benommen, das war ihm fatal, jetzt noch und was war es denn weiter? Eine Gedankenloſigkeit!

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Außerdem war etwas Trübfeliges in biefer Erinnerung, in Ollys Stimme, in allem. Wie fie dag fo gefagt hatte, felbft frank, Es wollten feine frohen Gedanken fommen, fo eine bleierne Stimmung, feine Freudigkeit, nicht einmal zu Meihnachten, und fie Itebten ſich und es hätte fo fchön fein können!

Aus der Küche kamen auch feine verlodenden feftliden Ger ruͤche. „Karpfen haben wir doch?” fagte Gaſtelmeier und fog einen fonderbaren, unvermuteten Duft ein, ber mit ber Köchin eben ing Simmer gefommen war.

„Der Fi iſt fo ſchoͤn,“ fagte Olly befangen, „ih wollte nicht draußen Im Waſſer ſchwimmt er. Grüne Heringe find auch Fiſche. Nicht wahr, Ste baden fie gut?” wendete fie fich fragend und bittend an die Köchin.

„Na,“ fagte Gaſtelmeier, „Das iſt auch dag erftemal! Diefe Ausſicht hatte ihm vollends alle Laune verdorben und noch eine andre: Die vergeifligte Mama, Erwin, Emil, Tante Zänglein und der lange, fparrige Menfch kamen natürlich, um Meihnacht mitzufelern, um die grünen Heringe mit effen zu helfen, ber ganze Rangierbahnhof! Das war ein Meihnachten, ohne Saft und Kraft, ganz ohne Herz!

Und fie kamen, fo gebrädt und wehleidig. Es war bag erftemal, daß fie wieder feit Ollys Krankheit alle beifammen waren. Die vergeiftigte Madame erfchlen ganz in der Rolle der mirfühlenden Mutter. Ste hatte jegt zwei, um die fie hangen und bangen fonnte. Erwin hatte ihr Fürzlich erſt wieder den Genuß bereitet, nach Herzensluft jammern und die Nerven flrapazieren zu können. Es gelang ihm fo gut wie nichts oder wenigſtens fehr wenig. Ste führte, während der Weihnachtsbaum brannte, mit Erwin und dem fparrigen Menfchen ein Iiterarifches Geſpraͤch, und fo Härten und fahen fie nichts.

„Ra, komm“, fagte Tante Zänglein zu Olly. „Du Pech⸗ prinzeß, fallt denn bei euch Feines einmal aus der Rolle erſt

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dag eine, dann das andre, in etwas follte der Menfch doch Städ haben. Da haft du wenigſtens etwas für den Arger“, und fie gab Dlly ein Heines Paͤckchen in die Hand; darauf fiand in der sierlichen Schrift des Weibchen: „Fuͤr das Pors frät ohne Seficht.” Und wie ed nun kam!? Don diefem Augenblid an ſchlug Ollys Stimmung um.

„Kein Süd?" fagte fie lachend, „Tante Zänglein, fo? Denkſt du, Daß ich mich audle? Gar nit. Kein Gluͤck? Gluͤck fage ich dir, die Hülle und Fülle, wart’ nur! Aber kein fo miferables Stud wird es fein, da einmal, dort einmal fo im großen Zug, verftehft du? Mit einem Schlag iſt mir’g, als würde eg fo, wie Ich will. Arbeiten und dann der Lohn, und einen Lohn, wie ich Ihn mir denke. Am Arbeiten foll’8 nicht fehlen! Und wenn ich dann bin, wo ich fein will, dann heißt es fich oben halten,” Tachte fie, „und jemand haben, ben man liebt!” Das war bie alte Olly, das freie, ſtolze Maͤd⸗ hen, das an fich und feine Schönheit und feine Kraft und fein Können glaubte. „Weißt du, Tante Zänglein, wie ich arbeiten kaun? Herrgott, wenn du das wuͤßteſt!“

„Schau“, fagte das Heine Weibchen, „fo eine Frau, fo ein Mädel! Das tft einmal etwas! So gefällft du mir. Endlich eine! Die Truͤbſal fprigen, das find fcheußliche Leute, denen gluͤckt auch nichts.“

Mie umgewandelt war die Stimmung mit einem Male, Olly wurde fo übermätig, daß die andern auch aufſchauten. Saftelmeier war vergnügt, fo konnte fi fein Weihnachten im eigenen Heim doch auch fehen laſſen und branchte fich nicht zu verfriechen vor dem, was er „Weihnachten“ nannte,

Die grünen Heringe fchmedten ganz gut; Gaftelmeler fpendierte ein paar Flaſchen guten Weißwein, den er von Daheim gefehidt befommen hatte, und ber Rangierbahnhof feierte wirklich Weihnachten und hielt einmal Ruhe.

Und draußen In der Küche ſchwamm der Goldkarpfen,

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das ſchoͤne MWeihnachtstier, und freute fich feines Lebens im Waſſerſchaff.

„Ich danke dir, kleine Olly“, ſagte Gaſtelmeier zaͤrtlich und umarmte ſeine junge Frau in ganz fideler Stimmung.

„Iſt nichts zu danken“, erwiderte ſie ihm ehrlich. „Ich kann nichts dafuͤr.“

„Deſto beſſer“, meinte er.

„Mimm, mein armes Juͤngelchen,“ ſo nannte ſie ihn, und fie drüdte ihr Geſicht an feinen Hals, „es iſt ein großes Uns gluͤck für dich, daß du mich geheiratet haſt.“

„Dummes Zeug!” fagte er.

„Sans gewiß bu tuſt mir leid.“ Ste fagte das zärtlich und wie überlegen zu ihm, fo einfach, baß es ihm einen wun⸗ derlichen Eindrud machte. Es war, ald wenn wieder eine dunkle Wolke über die Sonne, die eben erft aus dem Nebel gekrochen, hingezogen wäre.

„Du biſt ſo heiß und ſo erregt, Olly“, ſagte er beſorgt.

„Ein biſſel erkaͤltet.“

Das hatte die vergeiſtigte Madame aufgefangen. „Olly, dein Hals,“ ſagte ſie wie außer ſich, „du ſprichſt ja wieder ganz heiſer! Mo haſt bu dir das geholt?“

Die Vergeiftigte war jett in ihr Fahrwaſſer hineingekom⸗ men und fo Angftlih und aufgeregt, wie nur gu wuͤnſchen. Ste machte ein großes Aufheben von Ollys Heiferkeit.

„Ihr tolle fehen, das wird fie biefen Winter nicht wieber (08, das iſt die alte Halsgefchichte. Und bei dem dummen Fiſchkauf hat fie fih dag geholt. Und nicht einmal zu eflen befommen haben wir Ihn! Was foll der Fiſch draußen im Waſſer?“

„Leben, nur leben“, ſagte Olly ruhig.

Siebentegs Kapitel

ritter Weihnachtsfeiertag. Olly iſt nicht wohl, die Ers

faltung vom heiligen Abend bat fich gefteigert; aber unbefümmert barum, arbeitet fie im Atelier. Sie hat ein Modell. Ein vierfchrötiges Bauernmäbchen halt das Kinn in bie Hand, den Arm auf das Knie geftügt, und blidt vor fih bin, fo fchläfrig und flumpf, wie nur ein Modell, bag ftundenlang fih fchon ruhig hält, bliden kann.

Auf Ollys Bid figt ein Mädchen unter einem Apfelbaum, ber hie und da noch blüht. Es iſt ſchon zu Ende mit ber Bluͤte⸗ zeit. Das Laub iſt ausgebrochen, und die abgeblühten Blu⸗ menblätter geben den Zweigen etwas Braͤunliches, Verbliches nes, Olly hat von Ihrer Meile Studien zu diefem Baume mitgebracht und auch die Idee zu dem Bilde. Ein blaſſer, nebliger Maiabend, feucht und kuͤhl. Der Baum flieht auf dem Felde, auf dem das Mädchen hart gearbeitet bat. Heden, Wiefenfläche, Weiden, Abendnebel. Das Mädchen figt muͤd und mattgearbeiter. Es tft, als hörte fie auf einen Vogel, der im Baum fingt, oder auf von fern berüberklingenbe Abendglocken. In der Haltung foll fih die Ermattung eines kräftigen Menſchen und ein ſtilles Beobachten und Umſich⸗ (hauen ausprägen, fo ein fchläfriges, gleichgültiges, zufrie⸗ denes Beobachten von irgend etwas, ein Sihausfpannen nach ber Arbeit.

Und Olly war gluͤcklich, das Modell zu dem Bilde gefunden gu haben. Die flarten Glieder des Mäbchens fanfen, wenn es eine Weile gefeflen hatte, fo zuſammen, als hätte es die bärtefte Arbeit hinter ſich. Sie bekamen trog ihrer Kraft etwas Meiches, Unbehilfliches, wie e8 die Glieder eines fchläfrigen Kindes haben,

Saftelmeier kam nah Haufe. Olly winkte ihn zu ſich beran und fläfterte ihm gu: „Mimm, es liegt eine Poefle in ihr.“

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„Na, weißt du,” fagte Gaſtelmeier, „ich bin nu mal für diefe Art muffliche Poeſie nicht beſonders eingenommen, Aber ganz gut fehr gut. Naja! Übrigens, es hat wirklich einer, wie ich dir's vorher gefast habe, mich wegen deines Bildes angefprohen. Wenn du dich's erinnerft? „Gaſtel⸗ meier, die Dinger von deiner Frau find net übel.‘ Weißt du noch?” Olly nidte, ganz in ihre Arbeit vertieft. „Srab’ von dem iſt's das reine Wunder, du kannſt dir's hoch anrechnen. Es iſt der Koͤppert!“

„Ach nein!“ rief Olly, wie von einem maͤrchenhaften Gluͤck ganz uͤberwaͤltigt, und legte ihre Palette aus der Hand.

„Na, er hat es halt, wie er ſo iſt, auf ſeine Weiſe in den Bart gebrummt. Das wär’ mir uͤbrigens nicht ber Rechte.”

„Wie kannſt bu das fagen, Mimm!“

„Kennſt du ihn?” fragte er.

„Perfönlich nicht; aber feine Arbeiten. Solang Ich weiß, waren die Immer das, was ich liebe. Eigentlich der einzige in Deutfchland, ber ganz dag Ift, was ich fürs Beſte halte.” Olly war tief erregt, ihre Wangen glühten. „Mimm, If es auch wahrhaftig wahr?” fragte fle noch einmal und ſah ges fpannt auf ihn, „Wars Spaß?”

„Mein, Herrgott noch einmal! Was iſt denn dba fo Ertrag dran? Er hat's einfach geſagt.“

„Siehſt du, er iſt der einzige, der dag Leben fo ganı nimmt, wie es tft fo nur die Wahrheit, ohne alles Dazutun, und fo tief. Wie habe ich den Menfchen immer beneidet!“ Gie fiel ihrem Mann mit einer heftigen Bewegung um den Hals. „Alſo er hat's wirklich gefagt ?” Sie mußte huften und richtete fih auf, „Neulich war ich in der Pinakothek bei den alten Sachen. Wie Hab’ ich fie viele davon Immer angebetet, was hab’ ich da für Stunden verlebt und wie eu’ ich's noch! Aber weißt du, bei den wundervollen, braunen Schwarten war mir’8 auf einmal, als Ich an Köpperts einfache Menfchen mit dem alltäglichen tiefen Menfchenausbrud, an feine matte

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Sonne, an feine graue Luft dachte, ald wenn Ich in einem engen, vornehmen Zimmer atmen müßte, barin eingefperrt wär’ und Köppert, der hatte die reine frifche Luft und bie Sreiheit.”

„Olly,“ fagte Saftelmeier, „mußt du denn Immer gleich oben hinaus? Du armes Hafcherl machſt dich Frank.“

„I wo! Daß du Ihn nicht fo verftehft, wie Ich Ihn verſtehe, Mimm, wie ſchade!“

„Weißt du, liebes Kind, Ich Bin etwas ruhiger und vers nänftiger in biefer Beziehung als du. Er felbft wird ſich einfach mit ber Zeit ändern. Was er jeßt iſt, bleibt er nicht.“

„Doch doch, Mimm, fo wahr ich lebe du mußt ihn um Gottes willen nicht unter die gemachten Leute zählen, die modern fein wollen und gar nicht willen, um was es fi handelt, die die Mode mitmachen und die Mode wechſeln. Daß ich dir das fagen muß! Er ift golbecht.”

„Bon dem Goͤtzendienſt mußt’ Ich ia gar nichts.”

„Mimm, aͤrgere mich nicht.”

„Argern?“ lachte er. „Uber du haft mich nicht ausreben lafien. Er kommt heute nachmittag und will ung befuchen und fich deine Sachen anſehen.“

Olly erſchrak offenbar, fie griff nach der Palette und war ganz verwirrt. Ste ſchwieg, wollte wieder zu arbeiten ans fangen die Hand zitterte ihr. Gaſtelmeier fah auf fie hin. Sie legte die Palette wieder nieber. Jetzt geht's nicht”, fagte fie.

„Es iſt auch hohe Zeit zum Eſſen“, meinte Gaſtelmeier ſeelenruhig.

„Das iſt doch net moͤglich“, ſagte ſie.

„Wo iſt denn deine Uhr, Olly? Die ſollte doch immer neben dir liegen, damit du zeitig vor dem Eſſen aufhoͤrſt.“

„Wo iſt ſie denn?“ fragte Olly geiſtesabweſend. „Gar net aufgezogen, ich weiß. Sie iſt hinters Bett gefallen vor ein paar Tagen.“

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„Da Haft du fie liegen laſſen?“

„Beil ich keinen Stod hatte, fie liegt ganz zu hinterſt.“

„Das iſt ja recht nett.”

„Mimm, brumme nicht,” bat fie.

Gaftelmeler ahnte und wußte, daß e8 mit dem Efien noch einige Zeit Dauern werbe. Er warf fih auf feine Ehaifelongue und nahm ein Buch sur Hand. Din Ichidte das Modell fort, rief nach heißem Mafler und Seife zum Pinſelwaſchen, und als die Köchin damit hereinkam, fagte fie: „Bitte, eilen Sie fich Doch heute etwas mit dem Eſſen; was gibt’8 denn eigents ich? Bitte, recht raſch.“

„Eine nette Hausfrau,” Dachte Gaftelmeier, bee zugehoͤrt hatte. Er fühlte fich nicht befonderg guter Laune, war hungrig, hatte Appetit auf etwas Extras und wußte Im voraus, daß diefer Appetit unbefriedigt bleiben wuͤrde.

Als endlich das Effen aufgetragen wurde und die Köchin die Liebenswuͤrdigkeit hatte, dieſes Gefchäft in der ſchmutzigen Kuͤchenſchuͤrze gu beforgen, hob Gaftelmeier den Dedel von einer Schäffel; „Wiſſen möcht i, was 's heut für ein Schlans genfraß iſt!“ fagfe er gereist. Olly achtete nicht darauf. „Na, was für ein Schlangenfraß iſt's denn?” fragte er noch einmal,

„Weiß net, Mimm.” Sie war immer noch in einer wunder⸗ lichen Erregung und rührte vom Effen kaum etwas an. „Mimm, wann kommt er denn?“

„Herrgott noch einmall Da iſt ja eine nette Bombe ins Haus gefallen! Olly, nimm bich zuſammen. Diefe ewigen Aufregereien, wohin follen die führen? Du ißt nix. Und mit fo einem Huſten. Helfer biſt du! Ins Bett gehörft du! Weißt du, ich beftell’ ihn ab der kann auch ein ander; mal fommen.”

„Nein nein”, fagte fie erregt. „Wenn nun einmal ein Gluͤck kommt! Mimm, wie kannſt du? Das tuſt du nicht!” Sie fand anf und fah ihn angſtvoll an.

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„Das iſt ja sum Teufel holen, Kleine, fo ein Laͤrm um nir. Mag er kommen. Aber fag einmal, iſt denn der Karpf noch Immer draußen im MWaflerfhaff? Wie lang foll er denn eigentlich dableiben? Ich dachte, der täte beſſer daran, flatt diefes ſcheußlichen Hammelfleifches zu ung huͤbſch blau ges fotten hereinzulommen.” Gaftelmeier lief das Waſſer im Munde zuſammen, während er fich feinen Karpfen, wie er Ihn ftebte, vorftellte. „Zum Belfpiel: von mir gar net zu reden, die täte fo ein Stuͤck Karpfen jet wirflih gut.”

„Nein, nein, Nimm,” proteftierte fie, „Damit wirb’8 nichts; ich weiß fhon, du willft Ihm ans Leben dag leid’ Ich aber nicht. Er iſt ſchon ganz zahm.“

„Sp. Meinft du, daß er dann weniger gut ſchmedt?“

„Sa, th könnte feinen Biffen von Ihm eſſen.“

„Mie aber macht feine Zahmheit nichts aus liebe Olly, Ich bächte, unfer Menu wär’ nicht fo reichhaltig, daß wir es mit anzufehen brauchten, wie das beſte Stüd vom ganzen Jahr finns und zwecklos fih In der Küche amuͤſiert.“

„Du Ranbtier”, fagte Olly.

„Ah was, Raubtier bei der Efferei! Du kannſt darauf fhwören, wenn’s niemand tut, koch ich mir den frechen Bur⸗ ſchen felbft.”

„Mimm nein!” fagte Olly, legte Ihren Kopf an feinen Hals und flreichelte Ihm die Slate, den wunden Punkt feiner Perſoͤnlichkeit. Das liebte fie gu fun, er aber liebte es durchaus nicht. „Laß ihn mir. Du, laß den Karpfen in Ruh!“

„3a, wenn du dafür forgft, daß Ich was Anftändiges zu efien befomme; nach noch fo einem Schlangenfraß, wie wir heut’ einen hatten, geht's ihm ficher ang Leben.”

„Beim erften? Beim beitten, Mimm! Drei mäflen eg immer fein, bei allen Dingen.”

„Meinetwegen, aber dann auch auf bie Minute, alfo mor⸗ gen, übermorgen und noch einmal dann.”

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Die Köchin kam herein. „Ste muͤſſen jetzt fehr aut kochen”, fagte Olly. „Wenn dreimal fo fehlechtes Eſſen tft wie heute, dann will der Herr fih den Karpfen felbft kochen. Alſo bitte, paflen Ste auf. Sehr gut muß alles fein. Hören Sie?”

„Jawohl“, fagte die Köchin und lachte. Sie amuͤſierte fi töftlich Hier Im Haus. Auch diefe Köchin fat wieder volls fommen, was ihr bellebte.

Nah Tiſche legte Gaſtelmeier fich zu einem Nachmittags; ſchlaͤfchen Hin. Olly warnte ihn und fagte: „Zu’s nicht, Mimm, du wirft zu fett.”

„Was geht's dich an?” erwiberte er, „ba werd’ Ich we⸗ nigftens vom Schlafen fett vom Eſſen fchwerlich.”

„Ja, willſt du denn durchaus fett werben?”

„Ja“, beällte Saftelmeier im tiefften Bruſtton. „Ich will mein Behagen !”

„Die Spedfelten mit fich herumtragen, als wenn das Ber hagen wäre!”

„Freilich iſt's das!"

„Aber ich will keinen fetten Mann!“

Sie nahm ihn an einem Fuß und wollte ihn vom Sofa herunterziehen.

„Verdammte Kroͤte!“ ſchrie er. „Halt Ruh!”

Sie wirtſchaftete mit ihm herum, verſuchte auf alle Art ihn vom Sofa zu werfen, huſtete dabei und ihre Stimme hatte einen eigentuͤmlich heiſeren Klang. Ihre Wangen gluͤhten.

„Du biſt ja krank, Olly, halt Ruh!” ſagte er. Ste war aber wie ein Kind, zudringlich und ausgelaflen und riß und jerrte an ihm herum, „Du Faß!” fagte fie.

„Pfui, Ollyi⸗

„Meinſt du etwa nicht?“

Es war ihm ſchaͤndlich unbequem, dieſe Unvernunft nach Tiſche; aber dieſes reizende, maͤdchenhafte Frauchen ſein eigen! Sie kam auf die tollſten Ideen und ſchwatzte und ſpek⸗

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takelte mit ihm. „Put, deine Stimme,” fagte er, „beifer wie ein Rabe!”

„Wirklich?“ meinte fie ganz betreten. Mimm, iſt's fo ſchlimm? Kann Ich mich fehen laſſen?“

„Aha! Soll ih ihn abbeftellen ?”

„Nein, nein, Mimm! Das Stud muß man halten. Aber dumm iſt's, Mimm, daß Ich fo eine Stimme heute haben muß fo dumm. In allen Dingen Ungläd! Immer das; felbe. Das war von jeher fo; immer, wenn Ich mich freute, kam etwas dazwiſchen, immer ein Schnupfen, eine Heifers keit oder fo was. Gibt's denn nichts dafür?“

„3a, halt Ruh! das ift dag beſte!“

„Nein, nein, dann roftet bie Stimme ein und Ih kann auch gar nicht!”

„Herrgott, fo ein Frauenzimmer!“

„Bart, Mimm, Ich weiß was!” Fort war fie und kam mit einer Palette und Pinfeln wieder. Sie ftellte ſich Hinter ihn, „So, fie ſcheint wieder arbeiten zu wollen und hat fih aus⸗ getobt”, dachte Saftelmeter und redte fih behaglich zurecht. Da fühlte er auf feiner Slate ein eigentümliches, ganz ans genehmes Streichen und Kiteln. Was aber wäre ihm auf feiner Platte angenehm geweſen, außer ein neuer Haar⸗ wuchs? „Olly, was treibft du?” fragte er.

„Ich mal bir Haare”, fagte fie, „wunderbare Haare!”

Sept riß Ihm die Geduld. „Dir ift nichts heilig”, brummte er, fand auf und ging aus dem Zimmer; Din aber lief ihm nad. Er wollte fih grollend auf fein Bett legen. Sie ließ ihm aber feine Ruhe. „Lieber, lieber Mimm, fei wieder gut.” Ste fchmeichelte fo lange und bat und verſprach, bis er ihr endlich verzieh.

„Aber Mimm, es ſind noch von den Haaren welche oben!“

„Olly!“ fuhr er ſie boͤſe an.

„Mimm, er iſt doch eigentlich der einzige Menſch in Muͤn⸗ chen, der ein Geſicht hat.“

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„Ber?“

„Koͤppert!“

„So, und was hab’ Ich denn da gefaͤlligſt,“ fragte Gaſtel⸗ meier, „wenn nur er ein Geficht har?“

„Eine Kartoffel, Mimm.“

„Raum’ etwas auf”, fagte er, „und geh num.” Set war er wirklich boͤſe. Diesmal aber bemerkte fie es nicht. Sie Dachte daran, fih umsulleiden. Das erſchien ihe aber dumm und weibifh und fie wollte wahr fein, nicht für ihn vor⸗ bereitet. Ste war deſſen auch ficher, Daß fie nichts trug, was fie nicht Heidete. Etwas, was nicht zu Ihr gehörte, konnte fie nicht einen Tag an fih dulden, Alles mußte leicht fein, ans ſchmiegend, fo eine Art Haut.

nd Köppert kam um vier Uhr, puͤnktlich wie er gefagt

hatte. Als er eingetreten war und beide begrüßt hatte, fagte er: „Saftelmeier, was meinft du, darf ich meinen Hund mit bereinnehmen, den Aſtralhund?“

„Freilich!“

Er ging hinaus mit großen, leichten Schritten und kam mit ſeinem Hund, einer gelben, ſtruppigen iſtriſchen Bracke, wieder herein. Der Hund ſchaute auf ihn hin mit ſo einem großen Blick, in dem eine tiefe Freundſchaft lag. Sie ſchienen im beſten Einvernehmen miteinander zu ſein.

„Aſtralhund?“ fragte Olly laͤchelnd und ſtrich dem Hund uͤber den Ruͤcken.

„Schauen Sie uns an“, ſagte Koͤppert.

Es war etwas Ahnliches zwiſchen den beiden. Beide hager, energiſch, aufmerkſam; auch er hatte den Blick, den die Bracken haben.

„Verſtehen Sies?“

„Ja, ich weiß nicht“, ſagte Olly. „Ein Aſtralkoͤrper; ſoll das nicht ſo unſer zweiter Koͤrper ſein, der uͤberall mit uns geht?”

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„Stimmt“, fagte Koͤppert. „Kuh, druͤch dich.”

Ste famen bald miteinander tief Ind Geſpraͤch. Köppert ließ fih Ollys Acheiten zeigen und lobte vieled, Bon einem Kopfe fagte er: „Meife, gute Arbeit und wie alt können Sie denn fein? Zwanzig, zweiundzwanzig?“

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„Und ich alter Menſch bin fechsunddreißig und hätte den Kopf net beſſer machen können. Bei wem haben Sie ges lernt ?”

Olly fagte es. Ste war fo glüdfelig. Jetzt kam es ja, das Gluͤck. Bon wen auf der Welt wäre fie lieber gelobt worden als gerade von Köppert. Und fo wahr und ehrlich, wie er ed tat! Sie durfte ihm glauben. Sie felbft fprach wenig, Das Wenige aber ganz verflärt.

„Ste find etwas heifer”, fagte Köppert.

„Leider.“ Ste wurde dunkelrot, e8 bedrüdte und beſchaͤmte fie, diefe Stimme. Mit einmal war's ihre wie ein Unglüd, daß fie fo gehemmt ſprach. Sie fühlte ſich gequält, krank mitten in Ihrem Jubel,

Köppert merkte Ihre Verſtimmung. Roheit,“ fagte er, „ich babe Sie jetzt daran erinnert. Na, ſo etwas vergeht. Sie find ein ganz glüdliches Gefchöpf, fehe ich, ein gutes Talent, einen guten Mann und ganz jung.” Für fi Dachte er: und fo ein rührendes Hühnchen, fo ein huͤbſcher, netter Kerl.

Ste waren im beften Geſpraͤch, da Hingelte es. Ollys Muts ter, Erwin und Emil kamen. Über Ollys Geficht ging es wie ein Schatten, Die Stunde war geftdrt.

Die Neuangefommenen kannten Köppert dem Namen nach fehr wohl. Seine Werke waren fchon oft bei ihnen Gegenſtand fhöngeiftiger Unterhaltung geweſen. Sie hatten ihn ſchon nach allen Richtungen hin Fritifiert, waren felnets wegen öfters hart aneinander gefommen, denn Ihre Haupt⸗

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leidenſchaft war nun eben, literariſch und kuͤnſtleriſch zu kannegießern. Frau Kovalsti war hochbefriedigt, bei ihrem Schwiegerſohne einen fo intereſſanten Mann zu treffen. Und fie ſtellte ſich mit ihm ſogleich auf einen gewiſſermaßen kollegialiſchen Fuß, ſprach mit ihm in Kunſtausdruͤcken die neuen Worte ſchwirrten auf Koͤppert zu, wie Fliegen, deren er ſich vorderhand nicht erwehren konnte. Sie wollte ihm imponieren und außerdem betrach⸗ tete ſie ihn als einen der Ihrigen. Sie hatte ſogar das dunkle Gefuͤhl, als haͤtte ſie ihn gewiſſermaßen mit ceieren“ helfen. Alles, was Kunſt war, und was ſich gar moderne Kunſt nannte, war ihr Departement. Bon alles dem wußte er aber nichts und Dachte nur: „Was iſt denn dag für ein Huhn?”

Ste fingen jest im Ehor an, über bie Werfolgung, bie bie moderne Kunft zu erdulden babe, zu Iamentieren, alle Die! = Emil auch mit, „Verflucht! Verflucht! Verflucht! er find Miſtjauche! um nichts beſſer als sit jauche !"

„Stlanben Sie!” fagte Köppert und wenbete fih nach bes harrlichem Stillſchweigen an die Mutter des vorlauten Juͤng⸗ Tings, „erfiens kenne Ich eine moderne Kunft gar nicht. Ich weiß nicht, was Sie darunter verſtehen. Zweitens: ein Menſch, wie ich, verſteht von Kunſt überhaupt nichts; Sie koͤnnen mich totſchlagen, Ich wüßte nichts daruͤber zu fagen. Ich bin erflaunt, was Ste alles willen, guädige Frau. Und drittens! Was iſt das für ein ungebadenes Brötchen, was da hinten fit und mitfpricht ?”

„Wie denn?” fragte fie.

„Das Halbgebadene Brot da, an einer Seite angebrannt und an der andern noch Teig.”

Die vergeifligte Dame, Erwin und Emil ſchauten gan verbiäfft drein, es ergab fich aber, DaB Köppert Emil meinte,

„Wie alt find Sie, mein Sohn?” fragte er.

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„Er iſt fichjehn, mein. Herr,“ erwiderte bie Dame, „für fein Alter merkwürdig entwickelt.

„D weh!” ſagte Koͤppert. „Das I ein Zeichen her Zeit. Wer fagt das do: die Kinder find. euft jet erfunden worden ?: Früher wußte man gar nichts non Ihnen, man hoͤrte fie unter Erwachſenen nicht. Wie lange zahle Ihr Herr Sohn fhon unter bie Menſchen und: tut fo ausgezeichnete Aus⸗ ſpruͤche? Und iſt Weltveraͤchtar? Verzaihen Sie, gudbige Frau, die Freiheit, die ich mir nehme. Bei ſolcher Gelegen⸗ beit ſetze ich nämlich wie ber Uhn mein Federohr auf. Warten Sie, mein Soͤhnchen,“ fuhr er fort, „wie wär's, wenn Ste ein Biffel unter meine Fuchtel kaͤmen? Was wollen wir bene. werden ?

Maler“, antwortete Emil Heinlaus.

„Se Proſte Mahlzeit, und werben vorerſt Kunſtenaͤzen uud Kunſtkritiker? O, du heiliges unausgebackenes Brot! Weiß Gott, ich würde bie Knute einfuͤhren!“

„Könpert, Köppert!“ ſagte Gaſtelmeier mie ermahnend.

Da lachte Koͤppert kurz auf. „Run werde ich mich heute abend wieder ohrfeigen koͤnnen; fo eine Art Teufel ſollte immer bie Hände gebunden haben. Ein Uhn mit dem Febderohr!“ Dabei flocht er feine mageren, energiſchen Finger ineinander.

„Mein, Sie follen reden“, fagte Ollys leifes, heiſeres Stimmen.

„So,“ lachte Koͤppert wieder; „aber gan, manierlich und: liebenswuͤrdig. Haben Ste ſich nicht uͤber mich ges Argert ?”

„Rein“, erwiderte Olly.

„Bravo.“

„Ste ſind alſo gegen bie Erziehung, die bie Kinder wie Menfchen behandelt? Menſch zum. Menſchen?“ fragte bie vergeifigte Dame höflich und gewählt, wie man einen groben, berühmten Mann immer fragen muß.

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„Was Menſchen?“ fuhr Köppere wieder auf, „Sind’8 denn Menfchen? Gefällisft ? Einen Menfchen, bee noch keiner ift, als Menfchen behandeln, Ift das Mittel, daß er nie einer wird, Punktum totfchießen !”

„Ja freilich“, fagte die vergeiftigte Dame. Es wurde Ihr ſchwer, der ſprunghaften, zerſtuͤckten Unterhaltung des viel⸗ beſprochenen Koͤppert zu folgen. Er ſprach undeutlich und murmelte alles in den dichten Schnurrbart hinein; ſo ging ihr zum Gluͤck das meiſte verloren, ſie kam aber auch nicht zur Erkenntnis, daß Koͤppert ſehr wenig Neigung hatte, ſich mit ihr ſchoͤngeiſtig zu unterhalten. Sie ließ ihn nicht los. Endlich wendete er ſich von ihr ab und Olly zu, und die beiden ſprachen miteinander leiſe und fuͤr die andern un⸗ deutlich. Er ſprach mit ihr von ihrer Kunſt, und ihre Augen ſtrahlten in einem fieberhaften, ſeligen Feuer. Er bog ſich zu ihr hin, um ihr das Sprechen zu erleichtern.

Es war bie Stunde, in der zum erſtenmal ein Menſch mit ihe ſprach, von bem fie fühlte, Daß er fle verftand. Weshalb eigentlih? Ste wußte es felbft nicht zu fagen. Seine Worte waren für fie lebendig und in Ihren Worten, biefen armen, heiſern Worten, lag auch ein Leben, dag er In ihr erweckt hatte. Sie ſprach zum erflen Male nicht ind Leere hinein. So war es: fie fühlte, daß fie bisher das, was ihr am heiligſten war, immer ind Leere gefprochen hatte, wie in eine große Einfams keit hinein. Und jegt auf einmal ein Widerhall zum erſten Male. Fruͤher hatte fie gedacht: die Menfchen find eben eins fam, jeder Ift im Grunde einfam und nun doch nicht, niche alle, nicht Immer. Und war fie denn Immer wirklich einfam gewefen? Bewahre Nur bis gu einem Punkt ihrer Seele war nie ein Menfchenwort gebrungen. Und dann war es auch der Erfolg, daß er fie gelobt hatte, die Anerkennung. Hätte er fie getabelt, wäre fie wie vernichtet geweſen, fo ers ſchien e8 ihr; aber jegt, welches Leben, welche Lebenshoffuung !

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Wie eine weite Sonnenbahn lag mit einem Male alles vor ihr. Das war eine Stunde!

Sie fah zwar fo alltäglich aus, wie irgendeine andre. Emil ſaß da und brummte; er war wütend auf Koͤppert. Erwin und bie Mutter führten ein literariſches Geſpraͤch frogig allein. Es war ihnen unmöglich, wenn fie in Gefells (haft ſaßen, fich nicht fchöngeiftig zu befätigen. Sie taten dann gewiflermaßen, als wären fie nicht Mutter und Sohn, fie taten fremb miteinander.

Saftelmeier feste feinen Säften Wein vor, nahm fein Zigarrenetui aus der Bruſttaſche und reichte es Koͤppert. „Bitte, Köppert, bedtene dich, Euhwarme Zigarren.”

„So ein Menſch!“ fagte Köppert zu Gaſtelmeier, „wo nimmſt du eigentlich den Mut zu dergleichen her? Und außers dem?” Er blingelte auf Olly Hin. „Natürlich, ein Ehemann eine Rothaut.“

Das Mädchen kam In das baämmerige Zimmer herein, gefchlichen und meldete den Doktor an.

„Kommt der benn Immer noch zu euch?” fragte Fran Kovalski.

„Er hat mich heute auf der Straße nach Olly ge⸗ fragt, da habe ich ihm von ihrer Heiſerkeit geſagt und ſo weiter, daß ſie bei ihrem Fieber arbeitet“, ſagte Gaſtel⸗ meier.

Der alte Doktor trat ein. „Nun, Frauchen“, begrüßte er Olly. Gaſtelmeier rüdte ihm einen Stuhl zurecht.

Olly war tief erregt. Das Gluͤck, das Köppert ihr gebracht hatte, ließ Ihe das Blut durch die Adern ſtuͤrmen; ihr war, als wenn von ben Füßen ber Flammen durch ihren ganzen Körper fchlügen, freudige, erregte Flammen. Da war nun das Slüd, und es ſchien Ihr, als wäre es nicht leicht gu ertragen. Es beengte Ihr die Bruſt, trieb Ihr das Blut gu Kopf. Ste war fo beunruhigt und wendete fih wieder gu Köppert und fagte: „War es Ihnen auch fo, als der erfte

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Menſch, wiſſen Ste, einer, ben Sie ganz vertnauen, Ihnen fagte, daß Sie haben mir Doch gefagt, daß meine Ar⸗ beiten gut find?” unterbrach fie fi und ſchaute mit großen Augen. auf ihm.

„Ja, gut mehr als das“, antwortete Köppert und blickte teilnahmvoll auf fie hin.

„Bar es Ihnen da auch fo beinah qualvoll gluͤchſelig zumute?“

„J wo,” ſagte Koͤppert, „laſſen Ste die Eſel reden, was fie wollen, einen wie ben andern! Was geht Sie das eigentlich an? Aber laſſen Sie's. gut fein, ich verfteh’ fchon, wir find nun einmal folde Narren, daß wir und von andern bag Lebenslicht aubrennen und. ausblafen laſſen. Wenn: ung: bie verdammte Kunft hat, gehören wie den andern, nicht mehr ung felbft, die können machen mit ung, was fie wollen; das tft fo eine Einrichtung. Aber das darf nicht fein! So ein Hundes und Sklavenleben! Ich habe die Frechheit, an mich felbft zu glauben, ich bin mir felbft die Hauptſache. Da fagt doch, was Ihe wollt Ihr —! Denken Sie fo. Einfach: die andern gehen Sie nichts an. So allein iſt die Kunſt ges fund, und wie kann man fonft ein anftändiger Kerl. bleiben ? Auf fich ſelbſt Hören, auf niemand anders, das tft die einsige Rettung.”

„Ja,“ erwiderte Dip treuhersig; „aber zwiſchen dieſes ruhige uͤberlegen kommen Stuͤrme und werfen alles durch⸗ einander.“

„Stuͤrme im Waſchbecken“, brummte Koͤppert. Wir nehmen uns viel zu wichtig. Überſetzen wir uns in Raupen und Inſekten. Was ſind wir denn anders? Stellen Sie ſich ſo ein Inſekt vor und den Summs darin komiſch! Und was meinen Sie der da oben,“ Koͤppert zwinkerte zur Decke hinauf, „kennt ſich zwiſchen einer Handvoll Raͤupchen und einer Handvoll Leut' laͤngſt net mehr recht ang.”

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Olly ſah ihn ernft an. „Sa, wahrfgeintich iſt ed gut, fo gu denken,“ fagte fie; „aber man mäßte es erſt lernen.“

Sie hatten beide leiſe miteinander gefpeochen. Köppert immer noch zu ihre hingeneigt, damit fie fih beim Sprechen nicht auſtrengen follte.

„Run, Brauchen,” fagte ber Doktor, „wie haben auch ein Wort miteinander gu reden.“ Er bot ihr wie im Shen feinen Arm, und fie gingen miteinander in das Reben, immer.

dppert und ber Arzt verabſchiedeten ſich miteinander. Der Arzt fagte vorher gu Olly: „Brauchen, morgen, wenn Sie huͤbſch ruhig find, muß ich ſchon noch einmal kommen was? Wir mäflen das Hälschen uns ordentlich anfchen.” Dann gingen fie.

„So eine Yet Seelchen bat der Saftelmeler erwifcht,” fagte Köppert zum Arzt, als fie in die Winterlälte hinaustraten, „ig babe feine Frau zum erfienmal heut gefehen.”

„Frau?“ erwiberte ber alte Doktor, der mit Köppert gut befannt war, „Frau iſt das nicht das hat nichts von ‚Brau‘.”

„Ein armes Seelen”, meinte Köppert. „Wie kommt ber Goftelmeter eigentlich zu ihr und fie gu Ihm?“

„Sie Hi Todestandibatin”, fagte der Arzt troden.

„Wie, das Seelchen?“ fragte Köppert.

„Im Vertrauen, ja. Es ift mir herausgerutſcht bie oben wiſſen von gar nichts noch alfo unter und. Mir iſt's ſchon laͤngſt klar; eine abſchließende Unterſuchung iſt war noch nicht vorgenommen, aber es wird nicht viel anders aus⸗ ſehen, als ich jetzt annehmen muß.“

„Sy ein ahnungsloſes Geſchoͤpf“, ſagte Koͤppert.

„Soll's auch bleiben, fo lange als moͤglich. Die wird ihrem Mann noch genug zu raten aufgeben Hertgott noch einmal! Ich habe das Geficht geſehen, als es vor ein paar

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Wochen bieß, fie brauchte vorderhand nicht mehr zu bes fürchten, Mutter gu werben, das heißt, ich fagte Damals nicht ‚befürchten‘, fondern teilte es ihre ſchonend mit, wie man dag fo nennt. Dies Geſicht! Die volllommene Erloͤſung! Nur einen Augenblid war der Ausdruck ganz Har. Ach habe ihn nie ähnlich bei einer Frau gefehen. Ste hat nichts als ihre verdammte Kunft im Kopf. Es hat ihr davor gegraut, daß fie ihre Kraft nicht mehr für fich ganz allein haben ſollt und nun das wird eine nette Gefchichte werben. Mir tut ber Mann leid. Allo, ganz unter ung.”

Sie trennten fih, und jeder ging feines Weges,

Dben bei Gaſtelmeiers wurde indes von Köppert ges fpeochen,

„Driginell, fehe originell,” fagte Frau Kovalsti, „aber etwas abfpringend, und fpricht fo undeutlich.“

„Ein feecher Menfch”, fagte Emil, Sie fagten alle etwas. Din ſchwieg. Für fie war er ein gottgeſandter Menſch. „Ihren Meſſias“ Hatte Mimm ihn vorher fpoftend genannt. Sa, ihr Meſſias. Mimm batte ganz recht gehabt. Ste hatte jest jemand, für den fie arbeitete. Der Ruhm, ber geftaltlofe Ruhm, hatte fürs erſte Köpperts Geſicht bekommen.

Ehe ihre Mutter und die Brüder fich heute verabfchlebeten, nahm Olly Emil beifeite und fagte: „Morgen wollen wir beide miteinander ben Karpfen in die Har tragen, Komm fo früh du kannſt. Wenn wirs nicht tun, holt Mimm ihn doch.“

„Du follft ja aber nicht ausgehen”, fagte Emil.

„J wo! Weißt du, wir fahren. Du beforgft die Deofchke, und wir fleden ben Karpfen wieber in fein Netz. Du mußt fommen, wenn Mimm gu feinen Schülern geht, von neun bis gehn.”

„Ra, mir iſt's recht. Ich könnte ihn ja auch allein fort⸗ bringen.“

„Nein, ich will mit, ich will's ſehen.“

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nd wie bie beiden es verabredet hatten, fo geſchah es.

Es war ein fonnenflarer, windiger Januartag, kriſtallhell, da fuhren fie mit ihrem Fiſch der far gu. Niemand wußte davon. Olly hatte auch die Köchin aus dem Haufe gefchidk, damit fie den Karpfen in aller Ruhe aus dem Schaff in fein Net ſtecken konnten. est hielt fie ihn unter ihrem Winters mantel verborgen. Wie feſt und gefund er war und wie er fhnidtel Im Wagen gab fie ihn Emil wieder gu halten. Sie fuhren bis über die Marimiltansbräde, fliegen dann aus und bogen in bie Haranlagen ein.

Es mar bitterkalt und ber Wind ſchneidig. Olly ſchuͤttelte fih vor Froſt die Zähne Aapperten ihr. „Wie du frierſt“, ſagte Emil, „ES war am Ende doch dumm, daß wir ges sangen find. Ach lauf’ voraus und fled’ ihn raſch Ins Waſſer.“

„Nein, laß mich’8 fehen.”

So gingen fie miteinander weiter. Olly war plöglich muͤde. Sie famen nur langfam vorwärts. „ch weiß nicht, was mir tft”, meinte fie. „Es iſt wieder die bleierne Müdigkeit. So mit einem Mal.”

„Ra, das kam ja immer fohon früher,” ſagte Emil, „Das bat wohl nichts gu fagen. Komm nur.”

Jetzt fanden fie miteinander unten an ber Sfar. Die floß fo Aare und buchfihtig und eiftgfalt vor ihren Füßen bin, und ber Wind firih daruͤber und drang ihnen durch bie Kleider. Der Fiſch ſchnickte ganz gewaltig, es war, ald wenn er bie Freiheit witterte.

„Db’8 ihm nun gerade bier in der Iſar behagt?“ fagte Emil, „Ah glaube, da unten fließt das Waſſer ruhiger, dba kann er fich beffer aufhalten, das tft fo wie eine Art Teich. Weißt du, ein Karpf liebt dag Ruhige und Sumpfige.”

Ste gingen miteinander dem Wind entgegen. Dlly war ganz Fraftlos und hielt fih an Emils Rockaͤrmel. Emil wirt fchaftete im Netz mit beiden Händen an dem Karpfen herum. „Jetzt haben wir ihn”, fagte er. Der Karpfen glaͤnzte in ber

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Sonne und unter dem blauen Himmel wie ein großes Stuͤd Solid.

„Set! Paß auf!“ Emil bog ſich weit vor, und Olly ſah, wie der Fiſch wie ein Pfeil, goldglaͤnzend, in das Waſſer ſchoß. Ein Heiner Wirbel ein Huſchen ein glaͤnzender Streif und er war verſchwunden.

„Da faͤhrt er hin“, ſagte Emil.

„Der iſt nun frei”, meinte Olly, „und geſund.“

„Jawohl,“ beftätigte Emil, „bem fehlt nie.”

Set mußte der Weg wieder erfliegen werden. Verflucht! Verflucht! Verflucht! Du Bift aber nett müde.” Ä

Ste kamen gar nicht vorwärts. „Wir mäffen uns ein bißchen fegen“, fagte fie. „Ich weiß nicht, was iſt deun bad nur?”

So brauchten fie längere Zeit. Olly konnte kaum ſprechen vor Heiſerkeit. Und Emil Tief jegt nach einer Droſchke voraus. „Bas iſt denn mis Ihe?” dachte er unterwegs.

Als fie miteinander in der Deofchle faßen, wurde Olly von einem Inneren Froſt gefchättelt, und Emil ſchaute Ihr ganz verblüfft su. „Das iſt eine dumme Geſchichte“, Dachte er.

Daheim legte fie fih auf Ihe Sofa, Wangen und Kopf gluͤhten. Emil biteb bei ihr, trotzdem fie Immer von neuem fagte: „So geh Doch, bummer Junge. Du mußt an deine Achelt Faulpelz! Run waͤrſt du wieber einmal frob, für drei Pfennig Urſach zu haben zum Bummeln.”

„Nein, nein, wir hätten nicht gehen follen, Olly“, meinte Emil ganz bedruͤckt. „Ich wollte, Mimm hätte den Karpfen im Magen. Das wär’ befier gewefen. Du fannft das Sen; timentale doch nicht leiden. Die Karpfengefchichte iſt aber (handlich fentimental.”

„Rein“, fagte Diy. „Gar nicht.”

An biefem felben Tage kam der Doktor, wie er gefagt hatte, und nahm die erfte eingehende Unterfuhung vor. Gaſtelmeier ſtand betroffen dabei, Als er Olly unter ben

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Händen des Arztes fah, fo hilflos unter einer fremden Macht da legte ſich es ihm wie eine dunkle Wolle Aber die Seele. Was war beun bad? Es drängte fich etwas bei ihnen ein, etwas Ounkles, Unerwartetes, etwas, auf das nicht ges rechnet war.

Der Arzt fagte, daß alles, was jetzt nicht fo ganz tn Orb⸗ nung fe, füh geben werbe. Er ſprach von Ruhe und Pflege, ſchimpfte über den Unfinn, daß Olly bei dem Winde heute ausgefahren war. Sie follte jetzt daheim bleiben wochen⸗ lang, jedenfalls ohne aͤrztliche Erlaubnis nicht ausgehen.

„Na, was iſt's denn?” fragte Gaſtelmeier hart, um feine Sorge gu verbergen.

„Bas wirb’8 denn fein?” fagte ber Arzt. „Wir haben ba ein fehr zartes Frauchen, das eine Weile noch gepflegt werben muß. Wenn fie veraänftig ift, macht fih alles gut.” Er hieß Olly fih ruhig auf das Sofa legen. Emil breitete ihr eine Dede Aber die Kniee. „So, mein Kind, fo werben Sie jet ganz ruhig und friedlich Bleiben. Sie haben Sieber, und ich follte Ste eigentlich gu Bett fchiden; aber ich weiß, wir Haben e8 mit einem unruhigen Geift gu tun.”

Olly äußerte fich in keiner Weife. Sie lag fill und matt da und ſchien fih na ber Anftrengung bes Tages bach recht unwohl zu fühlen. In der Dämmerfiunde aber kam Köppert unerwartet. Als das Mädchen ihn melbete, flog es wie ein Sonnenftrahl über Ollys Geſicht, und auch Saftelmeler kam er wie gerufen.

Olly wollte fih erheben, aber Köppert ging auf fie gu und druͤckte fie zart und freundlich wie ein krankes Kind in die Kiffen zuruͤck, fo einfach und natärlih und ohne ein Wort Dabei zu fagen. Er legte ihr auch die Dede wieber über die Kniee gefchidt und ſorgſam. Es war feine Spur von Fremds beit bei ihm gu ſpuͤren: dann feßte er fich neben Ollys Lager und erzählte dies und jenes, und kam auch wieder auf ihre Bilder zu fprechen und machte ihr allerlei Vorfchläge. Er

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fprach zu ihr wie gu feinesgleichen, ohne alles Goͤnnertum, wie ber Künftler sum Künftler.

„Sonderbar,“ fagte Olly, „weshalb find Ste fo gut zu mir? Halten Ste mich wirklich für etwas etwas ich weiß nicht darf ich’8 nennen?”

„Ja“, fagte Köppert.

„Fuͤr ein Talent?” Wie Hang die arme Stimme tonlog, zaghaft und heiſer.

„Ja“, ſagte Koͤppert.

„Und deshalb ſind Sie wieder gekommen, um es mir noch einmal zu ſagen?“

„Ne ja.“

„Run heißt e8 raſch gefund werden!” fagte fie, und bie Yugen leuchteten ihe in einem fieberhaften Gluͤck.

„Ruhig ruhig! Ste willen doch noch. Erinnern Ste fid Inſekt‘. Erinnern Sie fih’8 7“

„Ja, ja“, fläfterte Dily. „Man muß es erft lernen, fo gu denken.“

Koͤppert wohnte bei feiner alten Mutter und hatte Ihr, anf die Frage, wohin er ginge, gefagt: „Zu einem armen Seelchen.“

„Na, was das nun heißen ſoll? Da wird er wieder ſo etwas aufgetrieben haben,“ hatte die alte Frau gedacht, „irgendeinen Unſinn.“

Achtes Kapitel

n einer Nacht erwachte Olly in tiefer Dunkelheit. Sie

hatten ihre das Bett auf dem Schlafſofa im geheizten Zimmer gemacht. Es war eine ungewohnte Art zu liegen für fie und ein ungewohnter Raum, Sie erwachte voll fommen verwirrt und wußte fich nicht zurecht gu finden. Wo lag fie? In weldem Zimmer? Sie flarrte vor ſich bin, ratlos und angſtvoll, wollte nach ben Streichhälgern an ihrem Bett fuchen, kam nicht Damit zurecht. Das Blut ſtieg ihre zu Kopf, das Herz ſchlug ihr, Hände und Füße brannten. Im Hals empfand fie, was fie ſchon lange empfunden, etwas Fremdes.

Es war da etwas, was nicht fein follte, etwas Unertraͤg⸗ liches, ein Körper, ein Splitter, etwas, das heraus mußte, etwas, das Ihr Angſt machte. Es war ihr, ald müßte fie in biefer Verwirrung erfliden. Ste ertaftete bie Wand, und mit einem Rund war alles in Drönung.

Sept ſah fie auch die Fenſter. Es fchimmerte von draußen ein kaum merfliches, mattes Licht herein. Sie atmete auf; aber die Laft, die fich während der Verwirrung ihr auf bie Bruſt gewälst hatte, blieb. Die dunkeln Gebanfen kamen, die Gedanken, bie vom &cht verſcheucht werben, bie aber in ber Nacht fih wie Raubvoͤgel auf bie ſtuͤrzen, bie der Schlaf flieht, Mit ihren großen, dunkeln Flügeln kommen fie herans geflogen, mächtig, lautlos, und fenten fih auf bie arme Seele nieder, bie fih wie ein Haſe sufammendudt, wenn ber Uhn Aber ihm iſt.

So fauern taufend und abertanfenb armer Seelen fchlafs 108 in dunkler Nacht, und irgendein Entfegen hat bie Krallen in fie eingedruͤckt und fchlägt mit den Niefenflügeln brauſend und betäubend Aber ihnen. Und Scharen folcher urmelts licher Niefennachtudgel gibt ed. Scharen, die feit Anbeginn nachts ihre Jagd auf die Menſchen machen,

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Sie zögern mit dem Todesſtreich. Die Herzensangſt, die fie unter ſich gappeln fühlen, macht ihnen Spaß. Sie weiden ſich an der Todesangft ihrer Opfer und fie vergnügen ſich Daran, bis das Tageslicht fie verſcheucht. Aber fie tommen wieder und immer wieber.

Über der Heinen, armen Haſenſeele in der dunkeln Stube ſchwebte jetzt der grauenhafteſte Unhold und amälte fein Opfer.

„Mimm!“ rief Din in Todesangſt, mit einer ganz herz⸗ zerriſſenen Stimme und fo heiſer und krank und zitternd. „Mimm!“ noch einmal, Er hörte nicht. Er lag in der Neben; finde ud ſchlief fo feſt.

„Mimm!“ Hang es wieder, und jetzt mit einer Bangigkeit, daß fie fih ſelbſt vor ihrer Stimme fuͤrchtete.

„Was beun, Dip?“ rief er ſchlaftrunken.

„Bitte, Mimm, being’ Licht.“

Es dauerte eine geraume Weile, bis er in feinem grauen, fteifen Schlafrod und mit einem Licht eintrat. „Was Hi denn los, Olly ? |

Sie lag ſtumm da, ohne zu antworten. Der Mann im Schlafrock fühlte ein Paar große, Angfiiiche Augen anf ſich gerichtet. Was fallt ihre denn nur ein? Es war Das erfiemal in feinem Leben, baß feine Nachtruhe durch bie Dual eines anbern geſtoͤrt wurde. Das war unbequem. ber er nahm fih zuſammen und fprach ſehr freundlich und ſchlaͤfrig wit he,

„Ra, was iſt denn, mein Syergblatt?”

„Mimm,“ fagte fie, „Mimm.” Weiter kam fle nicht. Aber er ſah, wie ihr zwei große Traͤnen über die Wangen rollten. „mm, I. being’s zu nichts es wird nichts mit allem.”

„Herrgott, in beine Hände!” dachte Baftelmeier. „est fangt das Rangieren auch nachts an. Natürlich nachts, bag ift ja das Eigentliche. Himmliſche Chriſtine!“

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Er ſtand ſtumm da, denn außer zu dieſem eben berichteten Gedankengang war er zu nichts fähig. Sie tat ihm fehr leid, daß fie nicht fehlafen konnte und fih, wie es fchien, nicht wohl fühlte; aber was follte er dabei tun?

„Rimm, ich Bin fehr krauk.“

„Dummes eng”, fagte er. Bis heute If bie das doch nicht eingefallen, nun mit einem. Mal, Diefer verdammte Menſch, der Doktor, das haben wie von feiner Unterfucherel.”

„Aa, mit dem Hals. Papa iſt auch daran geſtorben“, ſagte Olly eigentämlich kuͤhl.

„Na, und da meinſt du, weil du ein biſſerl Hals⸗ ſchmerz haſt, es geht auch gleich zu Ende. Du kleiner Narr.“ Er taͤtſchelte ihr die Wange; aber es war ihm nicht behaglich zumute. Iſt es bie denn ſehr ſchlecht ?“ fragte er.

„Rein, nur fo angſt.“ „Unfinn.“ | „Mimm, ob bu eine nung haft, was mir meine Arbeit iſt ?“ fragte fie.

„Das dacht’ ich, müßt’ ich wiſſen, du.”

„Du weißt nichts. Ich moͤchte noch ein paar Jahre leben.”

„Ra, das wirft du ja doch auch”, lachte er.

„Haft du gehört, was Köppert von mir fagt?”

„Das laßt dich nicht ſchlafen, du Eitelkeit ?“

„Mein“, fagte fie.

„Scham dich.”

„Wenn ich einmal berühmt bie, werb’ ich unenbli ges duldig fein. aber bis dahin

„Werben wir rangieren”, fügte Gaſtelmeier hinzu.

„Was meinft du damit?“

„Gar nichts.”

„Ach, Mimm!“

„Seb, ſchlaf nun.” Er wollte ſich wieder aufmachen, in fein Zimmer zu geben.

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„Bleib noch“, bat Olly angſtvoll.

„Was ift denn nur?” fragte er. „Das kaunſt bu mir ja, dacht’ ich, alles morgen fagen.”

Wieder fah er Tränen Aber ihre Wangen rollen. Er war

gu barfch gewefen. Uber das mußte fie ſich abgewöhnen. Mahrhaftig, er kam fih wie eine Kindermuhme vor. Das mar nichts für ihn. Nachts auch fo eine Wirtfchaft, und wenn er fich nicht etwas auf die Hinterbeine flellte, gewöhnt fie fich womoͤglich diefe nächtlichen Interhaltungen an. „Alſo Ichlaf jetzt“, fagte er kurz. „Mimm, weißt du noch, ald du mir Damals in den Wagen halfft, war beine Heine, bide Pfote fo fanft und forgfam. Lach’ mich nicht aus; aber damals haft du eigentlich mein Herz gewonnen.”

„So“, fagte Gaſtelmeier. Er wußte nicht recht, was er darauf erwidern ſollte. Er war rieſig ſchlaͤfrig. „Weißt du, Olly, das iſt wirflih nur möglich In der allererfien Vers liebtheit.“

„Schade,“ ſagte ſie, „es war ſo huͤbſch. Sag wenigſtens noch etwas Gutes.“

„Ra, was denn?”

„Irgend etwas. Sag’, daß alles gut wird.”

„Ra, ja, es tft ja ſchon alles gut.” Er klopfte ihe auf die Wange und wollte nun endlich geben.

„Laß das Licht hier brennen”, bat fie ihn.

„Mach's aber aus, Olly, vergiß nicht.”

„Ich vergeß nicht. Morgen möcht’ ich aber ein Nachtlicht haben.“

„Dann beforg’8 dir, mein Kind.” Damit fchlärfte er ab. Ste hörte das Bett Frachen, als er fich ſchwer und halb ſchon wieder im Schlaf hineinwarf. Sie aber fand auf und holte aus einem Schiebkaſten, ben fie behutfam aufjog, ein Spiegels ben und ſchaute mit blinzelnden Augen und geöffnetem

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Mund den armen Hals an, in dem das Fremde fledte. „Das mie geht's nicht”, dachte fie. „Er hat ja auch ein Extra⸗ fplegelchen gehabt.”

Matt und muͤde legte fie fich wieder und (ante Ins Licht und wagte nicht, es zu Idfchen, weil fie fich vor der Dunkelheit fürchtete und vor neuer Angſt und Dual.

Aber endlig wurden die Augen wieder ſchwer, das Uns bedagen bumpfer. Sie loͤſchte das Licht mit deu Fingers fpiten, um fich nicht bewegen gu muͤſſen, und fchlief ein, fo ſchnell, daß der uralte Vogel, der die fehlaflofen Kranken nachts befucht und aͤngſtigt, nicht Zeit hatte, fich auf fie nieder⸗ zulaſſen.

m andern Morgen kleidete ſie ſich haſtig an und blieb

den ganzen Vormittag ſtumm uͤber ihrer Arbeit. Sie ar⸗ beitete mit heißen Wangen und feuchter Stirn. Ihre Hand war nicht ficher, fie zitterte, und ed machte ihr Mühe, die Palette zu halten. Das war die ganze lebte Zeit fhon fo gewefen, heute aber war es bebeutungsvoller als ſonſt. Ste fühlte e8 mehr, fie war darauf aufs merfam gemacht worden. Dennoch arbeitete fie ans baltender als ſonſt. Es war aber Fein frohes Arbeiten wie früher, fonbern ein Kampf gegen einen Rieſen, der unfihtbar, wie im grauen Mebel fledte, deſſen Fauſt aber ſchwer auf ihr Ing.

Sie hatte feit Ihrer Krankheit fon oͤfters während bes Malens eine fonderbare Schwäche gefühlt. Die Haut wurde feucht, wie übergoffen. Jeder Lufthauch machte fie dann ers ſchauern, durch das gefchloffene Atelterfenfter fehlen ihr ein eifiger Iug gu bringen. Und fie hatte fich nicht anders helfen fönnen, als damit, daß fie ſich umzog und haſtig einfeuerte. Hente kam e8 wieder ſchlimmer als je. Die Arbeitswut und ber Eifer aber, ber fie gepadt hatte, war ſtaͤrker als alles. Ste ſtemmte ſich gegen die Schwäche, gegen bie feuchte Kälte.

so Böhlau III, 145

Sie fühlte bei jeder Bewegung, wie ihre das Leinen an ber Sant Hebte. Das Haar lag ihre auch feucht auf der Stien: aber fie hielt nicht Inne, biß die Zähne aufeinander und ars Beitete weiter.

Und während fie arbeitete, hörte fie Köppert fprechen, fo deutlich, als wäre er Im Zimmer, Er fprach von ihrer Arbeit. Er lobte, er fagte alles noch einmal, was er ihr ſchon gefagt hatte. Das Bild hatte ihm gefallen. Die Haltung bed Mäbds chens hielt er für volllommen gut, bie ſprach aus, was fie ausfpeechen follte: das Dumpfe, das Müdgearbeitete, das Ausenhen, das Menſchliche, das Einfache. Er hatte es ganz verfianden.

Und wie fie das Menfchliche, das Einfache, das Tiefwahre liebte! Mit welcher Leidenfchaftlichkeie, mit welchem Jubel gab fie es wieder! Und mit welchem Jubel fühlte fie ih verflanden, und von dem verſtanden, ber Ihr der Meifter war, ber fie buch feine Werke diefen tiefinnerlihen Weg hatte finden laſſen!

„So redet doch von Schönheit, redet doch und ſucht fie über den Menfchen und Aber den Wollen und ſtolpert dar⸗ über. Und uͤberall iſt fie und fo rährend und fo geheim; nisvoll, fo ganz fürs Herz! Ya, man fieht einen Menſchen und benft gar nichts Dabei. Von dem, was ſchoͤn iſt, iſt er weit entfernt. Und mit einem Mal, wenn mas ſich in ihn hineindenkt, iſt er fo fchön, fo unnachahmlich, fo voller Ausdruck, fo ganz Menſch, ganz Sefchichte feines Daſeins.“

So hatte er geſprochen. Und fie dachte jedes feiner Worte

wieder gu erhafchen. Sie tauchten vor Ihe auf wie bie frühen

Sterne am bämmerigen Abenbhimmel, ein Stern nach dem andern. Einer dann noch einer, daunn wieder einer. Und mehr und mehr. Den Worten nachlagen, bie ein Menſch gefprochen, mit einer Wonne nachlagen, daß ihrer Feind vers loren ging ja, das war Leben, Und zum allererfienmal!

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Haste fie fih je ans innigſtem Beduͤrfnis ein Wort zuruͤd⸗ gerufen, das irgendein Menfch gefprochen? Nie. Und jest mit weicher Luft, welcher Tollheit, als wenn es Perlen wären, die Ihe davonrollen wollten. Und fie wurde nicht müde und arbeitete dabei mit einer Haft, einer Inbeunft, einem Jubel, Wie unbeimlih! Es raun ihr Hber die Stirn ein Zeopfen an der Shläfe herab, fo, als wäre fie im Sommerhite einen Berg hinaufgellommen und es war Winter, und im Atelier war's kühl, Das innere Feuer ließ nah, und wie ein kranukes Kind, das vom Spid ermädet iſt, legte fie fich nieder, das Geflcht in bie Arme vergraben.

„Sol ich gehen ?” fragte das Modell,

„Rein, bleiben.” Und es dauert nicht lange, ba war fie wieder an ber Arbeit, Hatte fih aber ein dices Tuch umgelegt und es wie eine Kapuze über ben Kopf gezogen.

Am Nachmittag kam Koͤppert wieder. Er traf ſie noch bei der Arbeit. Sie hatte ſie nur unterbrochen, um haſtig zu Mittag u eſſen.

„Nun, gottlob!“ ſagte Gaſtelmeier, „nun wird ja wohl endlich Ruhe werden.“ Und es wurde Ruhe. Koͤppert be⸗ ſtand darauf, daß Olly ſich auf das Sofa legte, und er und Gaſtelmeier ſetzten ſich zu ihr.

Wie ſie geborgen war, und wie in einer Feſtfreude! Das Gluͤck kam wahr und wahrhaftig!

„Deine Frau iſt zu fleißig, Saftelmeier.”

„Jawohl“, ſagte ber arme, geprüfte Ehemann, „Da iſt eine Lokomotive eher aufzuhalten als ſo ein Frauenzimmer. Das verſuch/ mal einer,”

„Was Toll benn fo ein Hähnchen, fo ſchwer —“

„J wo, Hähnchen”, unterbrach ihn Gaftelmeler. „Nein, wahrhaftig, Köppert, red’ gefälligft von ben Frauenzimmern gar nicht mit. Wart’ erſt!“

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„O du!” fagte Olly gu ihrem Mann, „was weißt denn du, fleinee Mimm.”

„Ich? na, weißt bu, Olly reden wir nicht Davon.”

„Ich weiß, ich bin eine ungemuͤtliche Perſon“, fagte Olly und firih Mimm über ben Rockaͤrmel. „Nimm müßte eine ganz andre haben, er ift fo gemuͤtlich. Herrgott, und daß ich jetzt Frank bin! Weshalb hat mich das num gerad’ ges feoffen, gerad’ jegt!”

„Sagen Ste mal,” fragte Köppert, „haben Sie jemals gehört, daß einer fagt, wenn etwas Gutes kommt: Herr⸗ gott, weshalb trifft mich’8 gerade? Haben Sie dag?"

„Mein“, fagte Olly, „nie!”

„Aber wenn etwas Boͤſes kommt, ſagt's jeder. Weshalb trifft mich’d nun gerade? Verſtehen Sie? ich meine —“

„Das wär’ fo eine Frage für beine Mama, Olly,“ warf Gaſtelmeier dazwiſchen, „bie wuͤrde bifputieren, Herr du meine Güte, ih hör’ fie ordentlih: Kant fagt und fo weiter,”

„Gut, daß niemand ba iſt, verjeihen Sie, jemand, der nichts andreg weiß, ald: Kant ſagt Schopenhauer ſagt und fo weiter. Zumsaussbershautsfahren! Zum Beiſpiel, Kant iſt einfach ein Julklapp, man muß ihn nur fennen, dieſen Menfchen”, fagte Köppert.

„Oho!“ fagte Gaftelmeier, etwas von oben herab. Er kannte feinen Goethe, wie wie wiflen, und von Schopens hauer wußte er, wie alle gebildeten Leute, daß er in einem Kapitel großartig Aber die Weiber losgezogen war. „Wiefo iſt Kant ein Julklapp? Weiße du, Köppert, es gibt Dinge, an die wagt man ſich meines Dafürhalteng nicht ſo ohne weiteres heran.“

„Moͤcht' wiſſen, weshalb nicht, Kant iſt und bleibe ein Julklapp, da hilft ihm gar nichts. Jeder halbwegs Ders vänftige muß das einfehen.”

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„Wiſſen Ste“, wendete er fih an Olly, die nicht recht vers fand, was er mit dem Wort fagen wollte, „die Weihnachts; geſchichte? Zulllapp das iſt ein Gebrauch fo im Norden droben Irgendwo. Es wird eine große Kifte zum Fenſter bereingefchoben, die wird mit unfinniger Müh’ aufgemacht, da iſt ein Sad in der Kifte, und in bem Sad wieder ein Sad, und in dem Sad wieder ein Sad und fo fort bis in bie Unendlichkeit; und im legten Sad iſt ein Bündel, und in dem Bündel wieber ein Bündel, und im legten Bündel Lappen, und in den Lappen Papiere, und in den Papieren wieder Papiere, und in den Papieren eine Schachtel, und in der Schachtel Schachteln, immer eine Heiner als bie andre, und in dem allerallerlegten Schächtelden: Na? was tft da drin gefälligfi? Gar nichts fo ein Zettelchen, und da ſteht was drauf und man denkt Gott weiß was und was iſt's? ‚Sräß Gott!‘ fo etwas, was jeder ſchon weiß. So iſt Kant, genau fo. Kennen Sie Kant?”

„Nein“, fagte Olly und lachte.

„Ra alfa? Es iſt mein voller Ernfl, Wenn ich nur von ben fogenannten großen Tieren nichts mehr zu hören brauchte! Die verdummen fchließlich mit ihrem bißchen Weisheit Die ganze Welt. Kein Menfch denkt mehr, fondern jeder fagt: Kant fagt Schopenhauer fagt, und fo weiter die reine Det! Die paar Firmenfchilder, die fih die Menfchheit ans geheftet, Damit foll der gange Sums gemacht fein. Die follen alles tun und sum Dahinterverfriechen find fie auch famos. Schade, daß Ihr feine Freßgenies gehabt habt, die Jahrtauſende vordem euch ſchon alles vorgekaut haben, Das möcht’ euch paflen? He? Proſte Mahlzeit, bie wuͤrde gefälligft niemand zitieren. Selber eſſen macht fett.”

„Gewiß“, fagte Olly lachend,

„Jetzt möcht! ich wirklich willen,” fuhr Köppert lebhaft fort, „ſowie einer im lieben Deutſchlaud für drei Pfennig Bildung, das heißt, fo viel wie nötig Firmenſchilder aus⸗

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gehängt hat, daß man moͤglichſt von feiner Perfon nichts mehr zu fehen befommt; ob ber noch ein vernünftiges, nicht geftohlenes Wort ſpricht? Gott bewahre. Wenn er fpas zieren geht, und er will irgend jemand mittellen, daß er ſich son dem Anblid der Natur angenehm gekitzelt fühle, fo wett’ Ih, daß er fast: Sieh’ mal fo etwas ber reine Miktet, oder der reine DagmansDBonveret, ober der veine Boͤcklin! Er wird irgendwer zitieren einen Ramen, verſteht ih —“

„Ru, fag mal, Köppert,” fragte Gaftelmeler, „weshalb eigentlich haft du dich jeßk ereifert? Kein Menfch hat irgend etwas gefagt.” |

„Nein,“ erwiderte Köppert, „niemand. Über fich Dich ges falfigft einmal im Zimmer um, eine gewiſſe Heine Perfon hat ihren Spaß daran gehabt fieh doch. Als ob es nichts wäre, wenn fo ein Seelchen sum Lachen kommt. Dber etwa nicht 2" Er fuhr fih durch den Haarfchopf. „Meinft du, es ift verbienftlicher, eine Kanone abzuſchießen? Oder es iſt vers Dienftlicher, eine Vorlefung zu halten, oder vor fünfhundert Efeln das hohe C zu fingen, oder auf dem Seil zu sangen? Was iſt eigentlich vernünftiger? Weiße du, Gaftelmeier, wenn du beine Frau vergnügen twillft, fei Fein zu großer Biedermann. Das iſt nichts für Weiber!”

„Oho,“ meinte Gaftelmeter, „ich ſagte die ſchon, Köppert, was weißt denn bu von ben Weibern? Heirate eine, wenn du’8 willen willft vorher reb’ net.”

„Weiß er’8 denn?” fragte Köppert und kniff die Angen zuſammen.

„Er weiß gar nichts”, lachte Olly. „Oie‘ Weiber, das iſt überhaupt ein ſehr komiſcher Sammelname”, fuhr fie fort. „Ber ‚die‘ Weiber fehr gut zu Tennen glaubt, Fennt ‚bag‘ Weib gewiß nicht. Jawohl, Mimm. Und wiffen Sie, no etwas —”

„Ra?“ fagte Köppert.

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„Es gibt jet etwas, Das bat es noch nie gegeben, fo wie ich s meine: das moderne Weib, und bas iſt Immer in ber Einzahl, Verſtehen Sie?”

„Nein nein, das hab’ ich noch nicht verfianden.“ Er fuhr fich mic feinem energifch geformten Zeigefinger über die Stien bis zur Naſenwurzel. „Ste follen es mir auch nicht erllaͤren nicht viel reden. Paſſen Ste auf, ob ich's hab’. Natuͤrlich iſt's das Weib, das die Hände nach Dingen aus⸗ ſtreckt, die wir Scheufäler ihm jahrtauſendelang vorenthalten haben.”

Er murmelte immer, man verſtand ihn nicht leicht, dazu fprach er undeutlich aus.

„So, was fih ‚moderne Frau‘ nennt, meinen Sie? Sie fagten doch ‚moderne Frau‘? Da, ftell’ Ich mir vor, If ein Hunger, ein Verſchmachten nach: fagen wir gan feoden fie will Selbſtaͤndigkeit und Heraustreten aus ben Maflen. Da kocht es in den Heinen Toͤpfchen, als brodelte Genie Darin, mag auch hie und da vorhanden fein; weshalb nicht? Im ganzen aber wirft die Natur Blaſen auf, es will etwas werben. Natürlich kocht ed überall. Wir Maunsbilder wer; den Gott weiß was, Maler, Medisiner, alles mögliche. Da gibt es Feine Hinderniſſe, da iſt Windftille, alles in Ord⸗ nung.”

Köppert fuhr fich wieder über bie Stirn bis. zur Nafens wurzel; man hätte meinen follen, er hatte fich ſchon im Lauf der Fahre eine förmliche Rinne gegraben. „Das Weib aber, das Weib in der Einzahl,” murmelte er, „ba ift die Sache anders. Es greift nach etwas, sitternd vor Kraft und Wollen, Es ifi eine Heldin, e8 kämpft und bat keinen Boden unter den Süßen, muß erſt jede Handbreit Boden erlämpfen. Das tft eine Unmöglichkeit, ſcheint es, aber fie macht's möglich, natürlich mit wunderlichen Sprüngen. Lacht nur über fie. Ste rechnet auch mit dem Lachen. Aber aufhalten! Teufel auch, das lann fie nicht vertragen. Sie will eben vorwärts.

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Punktum. Iſt das fo ungefähr der Sums? Sie wird ein Damon, wenn fie aufgehalten wird!”

„Wahrhaftig”, fagte Olly. „Und willen Sie noch etwas. Sie hat Durſt nach Ruhm. Ich kann es nicht anders ſagen. Es graut ihr davor, wie ein Hund zu ſterben. Tauſende von Männern haben Ruhm errungen; fie will die Wonne auch haben, und Ihr Ruhmdurſt iſt fürs erſte größer als eurer. Ste will's natürlich für fich erreichen; aber doch nicht nur für ſich. Mit dem, was ich erreicht habe, able ich euch alle. Ihr hättet es auch gekonnt, viele von euh und beffer.

Verſtehen Ste mich auch?” fragte fie heifer. Und wunder⸗ licherweiſe ſtanden Ihr Tränen in den Augen.

Sie war vom Sofa aufgeflanden und sing im Zimmer auf und nieder. „Ja,“ fagte fie mit zitternder Stimme, „alles Aufbalten iſt Dual. Ste haben ganz reiht. Und frank fein! Wiſſen Sie, frank fein, das iſt's.“

„And fo was”, meinte Saftelmeier im Scherz, „fo was bat man geheiratet. Sa, fiehft du, Koͤppert.“

„Armer Mann”, faste Olly erregt und mie glühenden Wangen. „Du bift an etwas Schönes gelommen.”

„Ruhig, ruhig“, brummte Koͤppert. „Inſekt einfach Inſekt erinnern Sie fih’8 noch? Der da oben kennt ſich laͤngſt nicht mehr zwiſchen einer Handvoll Leuten und einer Handvoll Raͤupchen aus. Alfo wozu ber Sums? Na, wozu? Zrauerfpiele aufführen hat keinen Sinn, abſolut nicht. Hören wir endlich damit auf, dem Schickſal Immer wieder den Gefallen zu tun. Nicht wahr? Na, alfo.” Er fuhr fi duch den Haarſchopf. „Neulih sing Ich nachts an ber Zürkenfafern’ vorüber, da fanden zwei befoffene Kerle, der eine droſch auf ben andern, hob ben Arm, um auszuholen, und brummte: ‚Sag bu noch einmal Lallenſtedt du!‘ Na, und der andre fagte: ‚Lallenfledt‘ ganz gehorfam. Bums, da hatte er’d. ‚Sag noch einmal Lallenftebt, bul' ‚Na Lallenftedt‘ fagte der andre. Bums, da hatte er’8 wieder.

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Und noch einmal, und fo ging’s fort, e8 war immer dass felbe, gerad’ wie zwiſchen ung und dem Schickſal. Es will, wir follen ‚Lallenftebf‘ fagen und wir fagen ‚Lallenftedt‘, fo oft e8 von ung verlangt wird, und werben jebesmal ges bauen. Weshalb machen wir ibm eigentlih immer den Spaß? Wenn wird Maul hielten, würde es ſchon märb werben und ung in Ruhe laflen. Maul halten, das tft auch eine Art Erloͤſungswerk für die Menfchheit.”

„Ich verfteh” Ste”, fagte Dlly immer noch tief erregt. „ber Sie find gefund. Sie haben gut reden.”

„And was denn! Sie werben auch wieder geſund“, fagte Köppert.

„Vielleicht vielleicht auch nicht. Weshalb foll mic gerade das Boͤſe nicht treffen? Sagten Sie’s nicht?”

„Ss, da8 hab’ ih dumm gemadt, fo ein Schafskopf“, erwiderte Köppert und fchlug fih vor die Stirn. „Uber wie Ste auch auf alles hereinfallen!" Das unregelmäßige Ges fiht mit den gefcheiten Zügen nahm einen wunderlich weichen, jungen Ausdrud an. „So ein Teufel! Komme her, um Sie auf frohe Gedanken zu bringen, und hetze Sie, Gott weiß wie

„Ra, Kinder, gebt Ruh jetzt“, fagte Gaſtelmeier.

„Sefühlsflohtagd I" brummte Köppert vor ſich hin und war mit feinen Gedanken irgendwo.

„Weißt du, Köppert,” fagte Gaſtelmeier, als Dlly in das Nebensimmer gegangen war, „meine Frau iſt jet in einer unglaublichen Stimmung, ich verſteh/ gar nicht, was iſt denn eigendlich 108?

Olly!“ rief er. Ste kam.

„Den? dir, was fie mit einem Weihnachtstarpfen gemacht bat. Weißt du’3? Erſt für teures Geld gekauft und dann in die far gelaflen !”

„Marlitt?“ fragte Köppert freundlich ſchlau Tächelnd und kniff dabei die Augen sufammen. „Das iſt Marlitt, fo etwas.

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Herrgott, wozu? Machen Sie damit die Welt beffer? Eins fach Gefuͤhlsflohjagd. Macht euch doch das Leben nicht fo unfinnig ſchwer, Inſekten! Gnaͤdige Frau, der Karpfen iſt zum Eſſen da. Punktum. Nächften Sommer wollten wir miteinander fifchen gehen. Das Raubtier In ung muß hin und wieder etwas zu tun befommen, dag Alttängferliche im uns muß fort. Das fett fih fonft an und frißt fih ein. Se wird nie ein gemwiegtes Huhn aus ung. Wiffen Sie, wie ein ſchoͤner, ſtrammer, lebensluſtiger Karpfen fich erwifchen laͤßt ?“

„Nein“, ſagte Olly.

„Alſo, fo ein Karpfen iſt auch ein gewiegtes Huhn. An einem warmen, trüben Tag wirft man die Angel aus. Ein Teich; breite, gräne Blätterflsden ſchwimmen brauf, welche die Säßlichkeitspoeten ung eben fo verefelt haben, daß ein anftändiger Menfch ſie nicht mehr zu nennen wagt. Na alfo Seeroſen.“ Köppert fuhr fih zum Zeitvertreib einmal wieder duch den Haarſchopf. „Die find gut für den Karpfen, wie ein Dach liegen fie über dem Waſſer und halten Die Sonne ab. Er iſt Sybarit. Jetzt kommt er, friſch und vergnägt und denkt fich irgend was. Er bummelt oder Gott weiß, wag er treiben will, Er iſt im fchönften Lebensalter, übermätig, unternehmend, ein Prachtkerl! Jetzt merkt er was. ‚Halt ſtill, denkt er, ‚was ift denn das? Aha! Nun fchant er fi die Geſchichte an und flreicht unter den großen Blättern bin und her, Er traut nicht und möchte doch. Er iſt rieſig aufgeregt und tanzt und ſchnalzt und fährt mit dem Schnaͤuz⸗ hen an bie Luft. Und immer die netten Schnalstöne. Sp ein Prachtkerl, friſch wie's Leben! Er wird ganz des Kuckucks und überlegt. Er hat gerade einen Appetit auf fo etwas und iſt fo fidel, fo zufrieden. Ein Fruͤhſtuͤckchen könnte nicht fhaben. Es iſt Ihm immer vortrefflih ergangen. Schließ⸗ lich, wie das Ding fich fo durchaus vertrauenswärdig verhält, meinte er, daß man es verfuchen follte. Er ſchnappt, und ber Haken figt fell. Das hat er nun davon.

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Und jetzt geht der Tanz los. ‚ui Teufel!‘ denkt er und ſtuͤrzt wie ein Pfeil mitſamt dem Haken in bie Tiefe und vers gräbt fih In den Schlamm. Die Verzweiflung hat ihn mit einem Schlag gepadt. Er wählt ſich fo tief hinein, als er kan. Das kennt man fchon, er macht's immer fo. Die Angel iſt darauf eingerichtet. Im Schlamm hält er ſich gaus ſtill und gebuldig und verbeißt den Schmerz. Denn ber oben zuckt und gerrt und quält Ihe auf alle Art. Er folk Bald heraus. Aber er liegt wie ein Held. und ruͤhrt ſich nicht. Der Übermut ift ihm freilich vergangen; aber ein Städ Kraft und Seelenftärke ift in ihm, um die man Ihn beneiden könnte, Das gebt unbegreiflich lang fo fort. Der oben immer gezuckt und gezerrt, und der unten Immer ganz fill abgewartet und. ausgehalten und den Schmerz verbiflen.

Jetzt mit einem Male tut er einen Schlag auf Tod und Leben, einen Rieſenſchlag. Er iſt ganz Muskel, ganz Willen, ganz Verzweiflung. Auf diefen Schlag bat der oben Immer ganz fühl gewartet. Der keunt das ſchon. Sie nennen den Augen, verzweifelten Streich den. Karpfenfchlag. Dft genug gelingt’8 auch, Die Schnur reißt, und er hat fich frei gemacht. Gelingt's nicht, reißt die Schnur nicht, fo war's umſonſt, dann iſt er mit einem Mal ganz geduldig und weiſe und laͤßt ſich heraufziehen wie ein Lamm. Er hat dann alles aufs gegeben und fügt fih. Um. nichts fchlechter macht ers wie bie großartisfte Menfchenfeele. Alle Hochachtung I”

Olly hatte Köppert gefpannt zugehoͤrt. „Nun. freut mich’E erſt recht,” meinte fie, „daß Ich meinen dicken Freund In Frei⸗ beit gefegt Habe, troß dem Karpfenfchlag gefchehen noch uns erwartete Dinge für alle Geſchoͤpfe. Daß wir Sie kennen lernten, war auch unerwartet.”

„Olly iſt koͤſtlich!“ rief Gaſtelmeier. Ja, Köppert, bu weißt nicht, wir muͤſſen uns naͤchſtens ſo eine Art Tempel fuͤr dich einrichten. Du haſt hier eine fanatiſche Anhaͤngerin.“

„Und wenn Sie wuͤßten, wie ich Sie beneide“, ſagte Olly.

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„Ste ftehen fo fühl ba, als wenn nichts auf der Welt Ihnen etwas anhaben könnte und fo gefund, wie Sie ausſehen, fo feſt und Teiche. Ste find gewiß fehr ſtark.“

„Weshalb nicht? Glauben Ste, ich war in Ihrem Alter fo weit wie Sie? Ich bin ein alter Kerl jetzt. Schauen Sie Efelsfarbe. Wir gewiegten Hühner bummeln koloſſal.“

„3a, aber Sie leben! Ste fohauen ganz anders ing Leben hinein. Das merk ich.”

„Ra, warten Ste, wir gehen naͤchſtes Fruͤhjahr miteinander Karpfen fiſchen. Sie follen das alles felbft erleben, wie er fo feifh und feelenvergnägt und jung daherkommt, bag Schnäuschen redet die netten Schnalstöne und wie er ſich endlich im Hafen fängt, wie er verzweifelt In den Schlamm ſtuͤrzt und ſich vergräbt, den Schmerz verbeißt, bie brave Heldenfeele, wie er gequält wird, und dann ben Karpfens ſchlag die Hnffnungslofigkelt und Weisheit und Er⸗ gebung. Großartig! Das muͤſſen Sie felbft erleben.”

Da fah Köppert in ein Paar große, zornige, teänenerfüllte Augen. „Selbft erleben Ich fürchte auch”, fagte Olly zitternd erregt. „Glauben Sie, daß es mich nach biefer Hoffnungs⸗ Iofigfeit und Weisheit und Ergebung verlangt? Glauben Sie?”

Sie ſchluchzte auf. Er fah einen Augenblick in ein ganz verzweifeltes Geſicht. Dann ſtuͤrzte fie fort und warf die Türe hinter ſich zu.

Und im andern Zimmer lag fie auf den Knien und weinte wild und zornig und verzweifelt.

Neuntes Kapttel

wei Tage waren vergangen, und Köppert war nicht in der

Daͤmmerſtunde gefommen. Site hatte auf ihn gewartet von Minute gu Minute, gewartet, wie fie nie irgend etwas zuvor erwartet hatte. Den erfien Tag hatte fie bis zu der Stunde, bie ihn Bringen follte, krampfhaft gearbeitet. Den weiten Tag war ihr das nicht möglich geweſen. Ste ließ das Modell zu Mittag gehen und hodte fih mit einem Buch in ihre Sofaede.

Ste fühlte fich nicht wohl, eine elende Schwäche lag über the und die Erwartung wie ein Fieber, das ihre jeden Nero sittern und beben Meß. Kommt er? Kommt er nicht? Das war alles, was Ihre Gedanken befhäftigte. Nicht einen Augen; blick wurde fie frei von der Dual.

Mimm kam von Zeit zu Zeit aus bem Atelier von feiner Arbeit, um nach ihre zu fehen. Er fragte fie jedesmal, wie es ihr ginge, und machte ein fo komiſches Geſicht dazu. Es war ihm gang neu, fih um jemand su forgen, und fein Kommen tat Olly jedesmal weh. Es war Ihe immer, als riffe er fie ans einem tiefen Schlaf. Sie bebte In jedem Empfinden und blieb ganz ſtumm, um dem armen Mimm nicht gereist zu antworten,

Statt Köppert fam am zweiten Nachmittag in ber Daͤmmerſtunde ber Arzt. Auch er foheuchte fie aus einem tiefen, teaumähnlichen Zufland auf. Ste hatte im Gelft fortwährend mit Köppert geſprochen. Was hatte fie ihm alles erzähle? Ste Hat ihm ihr Kranukſein geflagt; aber nicht verzweifelt, nicht Bang ganı fühl, Es war nichts Erfchrediendes, wenn fie mit ihm daruͤber ſprach. Sie Hatte Ihm von Ihrer Arbeit vorgeplandert und von Nimm und von ihrer Kindheit. Keine Gefchichten, bie fie wahrfeheinlich nie gewagt hätte, ihm wirklich gu ers zaͤhlen.

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Da war eine, Aber die lachten fie in Ollys Vorſtellung beide miteinander. Als fie bei ihrer alten Tante wohnte und zu Weihnachten und Oſtern nach Hauſe reifte, fuhr fie jedes, mal. berfelbe alte Kutfcher nach der Bahn und brachte nach einiger Zeit feine Nechnung, auf dee fand regelmäßig. zu lefen: „Eine Furie nach ber Bahn“.

Sie erzählte Ihm von Ihrer Verlobung, von Daheim, Wie in einem Bilderbuch Blätterte fie in ihrem Leben und alles follte er erfahren, mitſehen. Es war ein fonberbares fieberhafteg, inniges Sichmitteilen.

Vom Arzt wurde ſie daraus aufgeſcheucht.

„Ich weiß ſchon“, ſagte Olly zu ihm in ihrer erregten Weiſe. „Mit mir ſteht“s ſchlecht.“

„Oho“, lachte der alte Doktor behaglich.

„Ooch. Laffen Sie's nur. Gebt kommen eine Menge fhöne Redensarten, Ich weiß fchon. Wenn man fo etwas im Hals Hat wie Ich, das iſt Immer eine dumme Gefchichte. Wie war's mit Papa? Sans dasſelbe.“

Ste fagte das lauernd, bis aufs aͤußerſte gefpannt, aber Außerlih volllommen kühl und wie im Scherz. Es war ihr eben eingefallen, im Angenblid erſt, es fo zu machen.

„Was, dumme Geſchichte!“ fagte der Doktor, „Wenn Sie fih gut halten und alle Vorfchriften befolgen und vernünftig find, da mache fi alles —“

„3a, aber es ift doch wie bei Papa“, erwiberte fie, wieder ruhig und ſachgemaͤß und ale wäre für fie fein Zweifel mehr.

„Ra, und warum? Das wär’ net übel, wenn alles fo ausgeben müßte wie bei Ihrem Herrn Papa.”

„So, alfo es tft basfelbe ?” fagte fie überwältigt faſſungs⸗ 108. Ihre Stimme konnte ben Gefählsausbrud nicht vers bergen, und bie Frage Hang fchreiend heifer. Es kamen Töne, über bie fie Feine Macht hatte.

158

Ste war vom Sofa aufgefianden und flarrte den Arzt an. Die Hände hielt fie ineinander gepreßt.

„Brauchen! Ruhig Blut”, brummte ber Doktor und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Was ift denn nu? Ra? Gar nichts. So jung wie Sie find. Und Ich ſag's ja, wenn Sie vernünftig find und fih gut halten und mir folgen Sie follen fehen 1”

Olly hatte ſich wieder In Ihre Sofaede gefanert und fchäts telte gu allem, was ber Doktor ihr sum Troft vorbrachte, den Kopf.

„Außerdem“, fagte fie, nachdem fie eine Welle ſtumm das gefeflen Hatte, „Bin ich nicht vernünftig. Damit rechnen Ste bei mir nicht. Wie lange denken Ste, daß ich noch arbeiten kann?“ Ste fragte es mit zudendem Mund. Im ihren Yugen lag ein unbändiger, verzweiflungsvoller Trotz.

„Ste follen vernänftisg und maßvoll arbeiten, mein Kind. Haben Sie je einen Menfchen gefehen, der gewußt hätte, wie lange er noch arbeiten oder fonft irgend etwas tun darf? Wie?“

„Redensarten find auch eine Mebisin, lieber Doktor; aber Bitte, geben Ste mir die nicht.” Ihr Seſicht war ganz von Tränen überflutet, und fie faßte bie Hände bes alten Herrn.

„Alſo: die Hauptſache iſt, ſich ruhig halten. Vergeſſen Sie das nicht. Sind Ste denn fo ganz allein? Wo iſt denn Ihr Mann?"

„Im Atelier“, fagte fie. „Er arbeitet!” Das war wieder fo ein heiſerer Aufichrei. „Er arbeiter.”

„Ruhig, ruhig, mein Kind“, fagte ber Arzt wieder. „Gut, Sie Halten es für Medensart, dafür kann Ich nichts; aber ich fag’8 Ihnen, allein In Ihrer Gemuͤtsruhe und Heiters keit liegt Ihre Heilung. Ste haben ben guten, lieben Mann, die vergnägte Seele, laffen Ste fih von dem helfen und helfen Ste Ihm.”

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Da war eine, über bie lachten fie in Ollys Borftellung beide miteinander. Als fie bei ihrer alten Tante wohnte und u Weihnachten und Oſtern nach Haufe reifte, fuhr fie jedes, mal, berfelbe alte Kutſcher nach der Bahn und brachte nach einiger Zeit feine Nechnung, auf der ſtand regelmäßig. zu lefen: „Eine Furie nach der Bahn“.

Sie erzählte ihm von Ihrer Verlobung, von Daheim. Wie in einem Bilderbuch blätterte fle in Ihrem Leben und alles follte er erfahren, mitfehen. Es war ein ſonderbares fieberhaftes, inniges Sichmitteilen.

Vom Arzt wurde ſie daraus aufgeſcheucht.

„Ich weiß ſchon“, ſagte Olly zu ihm in ihrer erregten Weiſe. „Mit mir fiehr’s ſchlecht.“

„Oho“, lachte der alte Doktor behaglich.

„Doch. Laſſen Ste’d nur. Jetzt kommen eine Menge ſchoͤne Redensarten, Ich weiß ſchon. Wenn man fo etwas im Hals Hat wie ich, das iſt Immer eine dumme Gefchichte. Wie war's mit Papa? Sans dagfelbe.”

Ste fagte das lauernd, bis aufs Außerfie gefpannt, aber Außerlih vollkommen kuͤhl und mie im Scheer, Es war ihr eben eingefallen, im Angenblid erfi, es fo zu machen.

„Bas, dumme Gefchichte!” fagte ber Doktor. „Wenn Sie ſich gut halten und alle Vorſchriften befolgen und vernünftig find, da macht fi alles —“

„sa, aber es tft doch wie bei Papa“, erwiderte fie, wieder ruhig und ſachgemaͤß und ald wäre für fie fein Zweifel mehr.

„Ra, und warum? Das wär’ net übel, wenn alles fo ausgehen müßte wie bei Ihrem Heren Papa.“

„So, alfo e8 tft dasſelbe ?” fagte fie überwältigt faſſungs⸗ 108. Ihre Stimme fonnte ben Gefuͤhlsausdruck nicht vers bergen, und bie Frage Hang fihreiend heifer. Es kamen Töne, über die fie feine Macht hatte.

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Sie war vom Sofa anfgefianden und ſtarrte den Arzt an. Die Hände hielt fie ineinander gepreßt.

„Brauchen! Ruhig Blue”, brummte ber Doktor und legte ihr die Hand auf bie Schulter, „Was iſt denn nu? Ra? Gar nichts. So jung wie Sie find. Und ih fag’s ja, wenn Ste vernünftig find und fih gut halten und mir folgen Sie follen fehen !”

Olly hatte ſich wieder in ihre Sofaede gekauert und ſchuͤt⸗ telte su allem, was ber Doktor ihr sum Zroft vorbrachte, den Kopf.

„Außerdem“, fagte ſie, nachdem fie eine Welle ſtumm das gefeflen Hatte, „Bin Ich nicht vernünftig. Damit rechnen Ste bei mir nicht. Wie lange denken Ste, daß Ih noch arbeiten kann?“ Sie fragte es mit sudendem Mund. In ihren Augen lag ein unbändiger, verzweiflungsvoller Trotz.

„Ste follen vernänftig und maßvoll arbeiten, mein Kind. Haben Sie je einen Menfchen gefehen, der gewußt hätte, wie lange er noch arbeiten ober fonft irgend etwas fun barf? Wie?“

„Redensarten find auch eine Medizin, lieber Doktor; aber bitte, geben Ste mie die nicht.” Ihr GSeſicht war ganz von Tränen Aberfinter, und fie faßte die Hände des alten Heren.

„Alſo: die Hauptfache iſt, fich ruhig Halten. Vergeſſen Sie das nicht. Sind Sie denn fo ganz allein? Wo iſt denn Ihr Mann ?”

„Im Atelier”, fagte fie. „Er arbeiter!” Das war wieder fo ein heiſerer Aufſchrei. „Er arbeiter.”

„Ruhig, ruhig, mein Kind”, fagte ber Arzt wieder. „Gut, Sie Halten es für Mebensart, bafür kann Ich nichts; aber ich fag’8 Ihnen, allein in Ihrer Gemuͤtsruhe und Heiters keit liegt Ihre Hellung. Ste haben ben guten, lieben Mann, die vergnägte Seele, laſſen Ste fih von bem helfen und helfen Sie ihm.”

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Da war eine, über bie lachten fie in Ollys Vorſtellung beide miteinander, Als fie bei ihrer alten Tante wohnte und su Weihnachten und Oſtern nach Hauſe reifte, fuhr fie jedes⸗ mal. derfelbe alte Kutfcher nach der Bahn und brachte nach einiger Zeit feine Rechnung, auf der fland regelmäßig. zu lefen: „Eine Furie nach ber Bahn“.

Sie erzählte ihm von ihrer Verlobung, von daheim. Wie in einem Bilderbuch blaͤtterte fie in ihrem Lehen und alles follte er erfahren, mitſehen. Es war ein ſonderbares fieberhaftes, inniges Sichmitteilen.

Vom Arzt wurde fie daraus aufgefcheucht.

„Ich weiß ſchon“, fagte Olly zu ihm in ihrer erregten Weile. „Mit mie ftehr’s ſchlecht.“

„269“, lachte der alte Doktor behaglich.

„Do. Laſſen Sies nur. Jetzt kommen eine Menge ſchoͤne Rebensarten, ich weiß ſchon. Wenn man fo etwas Im Hals Hat wie Ich, das ift Immer eine Dumme Gefchichte. Wie war’8 mit Papa? Gans dasſelbe.“

Sie fagte das lauernd, bis aufs Außerfte gefpanne, aber Außerlih vollkommen kuͤhl und wie im Scher, Es war ihr eben eingefallen, im Augenblid erſt, es fo zu machen.

„Bas, dumme Geſchichte!“ fagte bee Doktor. „Wenn Sie fih gut halten und alle Vorfchriften befolgen und vernünftig find, da macht fi alles —”

„Ja, aber es tft doch wie bei Papa“, erwiberte fie, wieder ruhig und ſachgemaͤß und als wäre für fie fein Zweifel mehr.

„Ra, und warum? Das wär’ net übel, wenn alles fo ausgehen müßte wie bei Ihrem Herren Papa.”

„So, alfo es tft dasſelbe ?” fagte ſie überwältigt faſſungs⸗ 108. Ihre Stimme konnte den Gefühlsausdrud nicht vers bergen, und die Frage Hang ſchreiend heifer. Es famen Töne, über bie fie feine Macht hatte,

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Sie war vom Sofa aufgeſtanden und flarete den Arzt an. Die Hände bielt fie ineinander gepreßt.

„Brauchen! Ruhig Blut”, brummte der Doktor und legte ihr die Hand auf die Schulter, „Was iſt denn nu? Ra? Gar nichts, So jung wie Sie find. Und ich ſag's ja, wenn Sie vernünftig find und ih gut halten und mir folgen Sie follen fehen !”

Olly hatte ſich wieder in ihre Sofaede gekauert und ſchuͤt⸗ telte zu allem, was der Doktor ihr zum Troſt vorbrachte, den Kopf.

„Anßerdem”, fagte fie, nachdem fie eine Welle ſtumm das gefeflen Hatte, „Bin Ich nicht vernünftig. Damit rechnen Ste bei mir nicht. Wie Iange denken Sie, baß Ich noch arbeiten kann?“ Sie fragte es mit gudendem Mund. In Ihren Augen lag ein unbändiger, verzweiflungsuoller Trotz.

„Ste follen vernänftig und maßvoll arbeiten, mein Kind, Haben Ste je einen Menfchen gefehen, ber gewußt hätte, wie lange er noch arbeiten oder fonft irgend etwas tun darf? Wie?“

„Redensarten find auch eine Medizin, lieber Doktor; aber Bitte, geben Ste mie die nicht.” Ihr Geſicht war ganz von Tränen Aberfintet, und fie faßte die Hände des alten Seren.

„Mia: die Hauptfache ift, fih ruhig Halten. Vergeſſen Ste das nicht. Sind Sie denn fo ganz allein? Wo iſt denn Ihr Mann?”

„Im Atelier”, fagte fie. „Er arbeiter!” Das war wieder fo ein heiſerer Aufſchrei. „Sr arbeiter.”

„Ruhig, ruhig, mein Kind“, fagte der Arzt wieder. „Gut, Ste halten es für Medensart, dafür kann Ih nichts; aber ich fag’8 Ihnen, allein in Ihrer Gemuͤtsruhe und Heiters keit liegt Ihre Hellung. Sie haben den guten, lieben Mann, die vergnuͤgte Seele, laſſen Ste fih von dem helfen und helfen Sie ihm.”

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Ste blickte vor fih hin, wie In einen gleichmäßigen dichten Nebel, ber mit einem Schlag ihr alles Leben überbedt hatte. Der Arzt fprach lange noch auf fie ein. Ste hörte nicht mehr auf ihn.

„Leben Sie wohl einftweilen, Heine Stan, Ich ſchicke Ihnen Ihren Mann,”

Olly ruͤhrte fih nicht. Ste hatte gang mechanifch dem Arzt die Hand gereicht. Jetzt blieb fie eine ganze Welle allein. Sie dachte an ben Karpfen. Wie ber Angelhaken feftfigt, wie ber Karpfen fich in den Schlamm vergräbt. Ja tief hinein. Über ihm der Schlamm und über dem Schlamm das Waſſer fo ſchwer liegt das Ungluͤck, das ihn traf, über ihm. Über dem Maffer feheint die helle Sonne, bie geht ihn nichts an.

Als Saftelmeter zu ihe hereinfam, war er fehr freundlich und ſehr bewegt. „Ahnlich wie nach der Trauung”, dachte Olly. Ste beobachtete ihn ganz kühl. Niemand ging fie eigents lich mehr etwas an. Sie mußte mit fich allein fertig werben. Der Karpfen faß unten im Schlamm, mußte tauſend Schmers gen verbeißen, der oben riß an ihm und quaͤlte ihn und zuckte an ber Schnur. Die übrigen Karpfen ſchwammen luſtig und guter Dinge weiter und ließen fich’8 wohl fein. Der im Schlamm war ein gang andres Tier ald die Kameraden ges worden. Sie verflanden ihn nicht mehr und er verfiand fie nicht mehr.

In biefer Nacht fchlief fie keinen Augenblid, rief aber auch nicht nah Mimm. Wozu?

Ste flarrte in gleichmäßigen, dicken Nebel, bee fich ihr noch mit feiner Geftalt belebte. Er war fo bicht, daß fie die Hand nicht vor ben Augen fehen fonnte. Der Nebel aber war bie vollfommene Hoffuungslofigfeit, bie mit einem Mal über fie hergefallen war. Die hatte etwas Einfchläfernbeg, etwas Erftarrendes; ohne den wahren Schlaf zu bringen, brachte fie fo ein dumpfes, lebenabgewandtes Brüten.

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Am andern Morgen fam Rimm und fragte, wie fie ges

ſchlafen hätte. 2 „Ganz gut”, fagte fie. Da freute ee fich.

Ste hatte, wie es ihr fehlen, gar nicht das Bedürfnis, fich mitsutellen. Darüber verwunderte fie fich ſelbſt. Es war gut fo ganz gleichgültig Im Grunde. „DB das anhalten würde?” fragte fie ſich.

Sie arbeitete, und es ging fogar etwas befler wie geftern. „Wenigſtens“, Dachte fie, „werde Ich zu ben Menfchen gehören, die Franf fortarbeiten.” Ste bachte an allerlei Leute, von denen fie wußte, baß fie beruͤhmt wurden, trogbem fie krank waren.

Das war ein Troſt mehr als Troſt, das war ein Ans feuern der Kräfte, Das hatte etwas Begeifterndes. Ja, fie wollte fampfen, und fie arbeitete bis zur Atemloſigkeit. Und heufe ganz unverhofft kam Köppert. „Weshalb eigentlih follte er kommen?” hatte fie tagsüber gedacht. Dreimal war er dageweſen, unverhofft, dann war er weg⸗ geblieben, wahrſcheinlich für Immer. Sie hatte ihm außers dem eine Szene gemacht. Wahrſcheinlich fürchtefe er fh vor ihr. Kein Wunder. Das feelenverzehrenbe Warten war wie von Ihr genommen. Aus dem bichten Nebel, der fie fett gefleen umgab, war bisher nichts aufs getaucht als ein: fie wollte arbeiten, arbeiten, vor allen Dingen arbeiten.

ME das Mädchen aber Herrn Köppert meldete, konnte fie fih vor freudigem Schred nicht auf den Füßen halten. Es Durchsitterte ihr den ganzen Körper.

„Mimm,“ vief fie, „Here Köppert komme!”

„Was?“ rief Saftelmeier aus dem Nebensimmer. Da war Köppert aber ſchon eingetreten.

Ste firedte ihm beide Hände entgegen. Das war ihre Art nicht, die Leute su empfangen. Aber hier war es ganz natürlih. Es war eben der Gruß für Köppert,

ız Böhlau ILL. 161

für niemand ſonſt. Sie begräßte ihn fo unverfiellt gluͤck⸗ felig, wie ihn bisher eigentlich nur fein Hund begrüßt hatte,

„Armes Seelen!” bachte er und faßte die fchlanten, heißen Hände fo zart an und führte das bewegte, kranke Geſchoͤpf zu einem Pla zum Ruben und fühlte, wie er Ihr mwohltat. Er hatte fein Lebtag viel mit Tieren fih gu tum gemacht und verfiand ſich daher auf unverfiellte Gefühle; ausbräce. Seine jüngeren Brüder, wie er fie nannte, hatten ihn nie in Ungewißheit gelaffen. Das Seelchen hatte eine belle Freude, wenn er fam.

„Willen Sie,” fagte ihm Olly, „Daß ich fehr krank bin?“

„Nein“, fagte er. „Was heißt fehr Franf? Wir find alle fehr Frank, Das Leben tft eine lange Krankheit. Wir glauben nur, daß wir gefund find.”

„Bitte,“ fagte Olly, „mit mir muͤſſen Ste wenigftend ganz einfach fprechen. Ich weiß, es wird jeder reden, als wenn gar nichts wäre, tun Ste das nicht.”

Gaſtelmeier trat ein: „Grüß Gott, Köppert.”

„Ad, Nimm,” fagte fie, „Mimm!” und lachte,

Sie faßen nun wieder alle drei beieinander, und es kam eine ruhige, gute Stimmung. Emil fand fih auch ein.

„Ah, das einfeltig gebadene Brötchen”, fagte Köppert lachend, als er eintrat.

„Laſſen Sie ihn, er iſt fo gut,” meinte Olly, „nur fo ein Faulpelz, denken Sie, gefund und kräftig; aber ohne allen Eifer, Ich weiß nicht, follte es noch fommen? Sie glauben nicht, wie mir’d am Herzen liegt. Was foll aus ihm werben ?

„Ra, ee if ein bißchen ſchwammig“, fagte Köppert. „Hat er Knochen?“

„Ich glaube nicht viele”, meinte Olly.

„Sehnen natürlich auch nicht?”

„Die gar nicht.”

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„Dann laſſen Ste ihn ums Himmels willen nicht Maler werben. Er fieht ans, ald wenn er gegen ein Sinekuͤrchen nicht abgeneigt wär’, Das möcht Ihm paflen. Er fchriebe dann alle Tage ober alle vierzehn Tage zwei Zeilen, die von ber böfen Welt handeln.”

„Freilich“, meinte Olly und fagte dazu: „Berfluht! Verflucht! Verflucht!“

„Zu ſonſt was hat er nicht Luft?”

„gu gar nichts, Maler will er werben, weil er meint, er kann dann fo Daherhoden mit dem Bleiſtift in der Hand und das bißchen Eſſen wärbe fon von irgendwoher kom⸗ men.“

„Geht er kneipen ?"

„Bewahre, er denkt, das Kofler Geld. Nicht leichtſinnig fein! Je weniger du brauchſt, um fo weniger mußt du dich anflrengen. Wenn Sie wäßten, er bat mich ſchon manchmal bis zur Tobſucht gebracht aber er iſt fo gut.” Ä

Emil beſorgte das Abenbeflen, trieb draußen die Köchin an auf feine Weiſe, fpritte fie mit Waſſer zur Küche hinaus und zur Treppe hinab, wenn fie etwas holen follte, und drohte, ihr die Haare mit Aſche zu bewerfen, wenn fie nicht zur Seit fertig wäre. In das Simmer fam er möglichft wenig, benn er hatte einen großartigen Ärger auf Köpperr.

Den ganzen Abend lag ein ruhlges Behagen über ber Geſellſchaft. Das Abendeſſen war gut und puͤnktlich beforgt.

„Schau, ſchau“, fagte Gaſtelmeier. „Emil! Na, Olly, dein Bender, wie kommt denn der mit unferm Drachen aug, und wir net?”

„Das verfieht er,” fagte Olly „und wie!”

Sie war fo friedlich, fo gleichmäßig geſtimmt. Köppert erzählte allerhand Jagd⸗ und Tiergefchichten, lebendig und friſch, und fie hörte andaͤchtig gu, wie ein Kind, dem Mär,

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hen erzählt werben. Die ganze Welt war für fie nicht mehr vorhanden, nur einzig bie Auge Stimme. Gaftelmeter bes gleitete Köppert biefen Abend, fie wollten noch ein Glas Bier miteinander teinfen. Emil ging nah Haufe. Das Maͤdchen machte das Bett auf dem Schlaflofa zurecht und Olly blieb ganz allein,

Sie wanderte im immer auf und nieder. Nah dem muntern Reden, ber leichten Stimmung fehlen ihr die Eins ſamkeit ganz eigentümlich bebrüdend. Der dide Nebel ber Hoffuungslofigkeit lag mit einem Mal wieder über ihr. Das Fieber, das jeben Abend fich einftellte, brannte ihr wieder in Füßen und Händen und mehr ald das brannte die Sehnfucht nach Köppert in Ihrer Seele. Er hatte alles mit fich genommen, Ihre Ruhe, ihre Faſſung, ihre Vertrauen auf eine Arbeitskraft, bie Krankheit und Schwäche überwindet alles. Es war Ihr zumute, als follte fie ohne ihn vers ſchmachten, als hätte er ihr auch Luft und Licht mitgenommen,

Ganz atemlog lehnte fie fich an den geoßen, weißen Kachels ofen und preßte ben Kopf mit beiden Händen. Es war ihr zumute, als ftände ihr ganzes Weſen in Flammen. Und wie war e8 gelommen, wie denn? „Herrgott Ich liebe tin!” fagte fie heftig. Dann war fie ganz fill und bes wegungslos.

Wie eingebrannt war Koͤpperts Bild in Ihrer Seele. Das unregelmäßige Geficht, bie lebendigen grauen Augen, in denen unverfiedt die Gefühle zu leſen waren, die leichte, fehnige Geſtalt. Man fah an jeder Bewegung, daß er ges ſcheit war. Der Körper war ihm von feinem geiftigen Wefen kraͤftig durchdrungen. Ja, fie hatte fchon früher gefagt, als fie ihn nur vom Sehen fannte: „Er iſt ber einzige Menfch hier, der ein Geſicht bat.”

Jetzt ſah fie Ihn vor fih, fo ganz wie er war. Sie fog durſtig feine Süge, feine Stimme ein. Sie hielt ihn an den Handen, und es war, als wenn fie zu Ihm fagte: „Verlaß

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mich nicht, bleib.” Das erfchätterte fie bis Ins Tiefſte. Und Mimm? Sie konnte faum atmen. Wie unnobel wie ſcheußlich, fih von Mimm füttern zu laflen, Mimm su quälen, ihm fchlecht gu verforgen, feine Liebhabereien nicht zu beachten, feinen Lieblingsfpeifen nicht nachzufragen, alles von ihm anzunehmen, ihn gleichgültig beifette laffen, Immer nur an ſich denken einem andern mit jebem Gedanken nach⸗ hängen! War das nicht gemeine Betrügerei ?

Das war ein elendes Gefchäft, was Mimm gemacht hatte. Sie hatte es bisher nie fo gefühlt! aber mit einem Male überfah fie, Daß er gar kein Behagen an ihrer Seite gefunden. Wie rährend war es, baf er fich heute Abend über Emile gutgelungenes Nachteilen fo gefreut hatte und wie liebens⸗ würdig war er in dem ganzen Durcheinander, das fie ihm gebracht! Was für Sorgen hatte er fih aufgeladen und für wen?

Dlly brannte in Fieber und Erregung. Sie follte fort von Mimm gehen irgendwohin und arbeiten, nichts als ars beiten, das wäre das einzige das rechte. Entweder: an ſich ſelbſt denken und für fich felbft leben ober: an andre denfen und für andre leben. So eine gemeine Seele, bie betruͤgt! Sie hatte nie darüber nachgedacht, heute zum allererfien Mal, Ja, fie hatte mie Mimm einen ganz bes truͤgeriſchen Handel gefchloffen. Alles genommen und nichts gegeben gar nichts gegeben, fondern nur immer von neuem genommen und genommen, mit einer Roheit und Gedantenlofigfeit bie hätte fie nie in fich gefucht. Mit welcher Angſt, mit welcher Verzweiflung hatte fie gefürchtet, Mutter gu werden. Sie hatte nur und einzig an fich dabei gedacht, nicht an Mimm und nicht an bag Kindehen. Gie batte fich Immer noch für Ihren eigenen Heren gehalten, und das war fie nicht mehr. Ihre Arbeit, ber Weg zum Ruhm war ihr die Hauptſache. Mimm war bag fehr gleichgültig, der wollte eine gute Frau, und bie hatte er nicht.

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Und nun? Jetzt gerade hörte biefe Blindheit auf, jet, mo fie jede Kraft, jeden Hauch von Kraft an ihre Kunft wenden wollte, jegt, wo fie jebe Minute ausnuͤtzen wollte, brängten fih taufend Dinge ein.

So ſtand fie mit gefalteten Händen und mit gefenftem Kopf ganz faſſungslos, ganz erbrädt. Der Nebel, ber über fie gefallen war, ber dichte, troſtloſe Nebel, beliebte fih nun mit Seftalten, bie fie bis aufs Blut ängfligten. Ihre Arbeit, der lange Weg zum Ruhm, die unerfüllten Pflichten, der falfhe Handel, ven ſie unbewußt eingegangen und Köppert und Mimm und das Krankſein und das frühe Sterben, das geftaltlos, aber grauenhaft unfichtbar in dem ſchweren Nebel lauert.

„Das tft zuviel, Herr, mein Gott!” jammerte fie auf. Und dur allen Jammer hindurch und über allen peinigenden Gedanken und Erlebniffen die Sehnfucht nach Köppert. Sie ſah Ihn Immer vor fi, und immer firedte fie beide Hände nach Ihm aus. Er war der einzige, ber fie retten fonnte, ber einzige, ber Ihe Ruhe gab. Er war dag Leben und fie wollte leben!

Teogig fprang fie auf und ging durchs Zimmer, und die bittere, verzehrende Lebensfehnfucht derer, Die um dag Leben betrogen find, wählte ihr im Herzen. Wenn fie dachte, daß fie ihn nicht mehr fehen und hören follte nie mehr! Und auch die Arbeit aufgeben, und das heiße, lebendige Streben und nur ben Kaufpreis abverdienen, ben Mimm für fie ges geben, da fuhr eine folche verzweiflungsvolle Empörung durch ihr ganzes Wefen, daß fie an ihren Haaren riß, das Taſchentuch, das naß von Tränen war, in Streifen riß, fi auf den Boden niederwarf und heißer ſchuchzte und fchrie. Worte fand fie nicht mehr, Gedanken auch nicht nur eine fieberhafte Empdrung, eine finnlofe Wut, wie ein wildes ‚Tier, das gegen feine Käftsftäbe ſchlaͤgt.

Und dann fam wieder ber bittere Kampf, das Mitleiben,

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das fie Mimms wegen fühlte, das Bewußtſein des Bes trugs, ja Betrugs, wie follte man es anders nennen, und das drüdte fich Ihe wie ein Brandmal in bie Seele.

Mimm kam fpit nach Haufe und fand feine Frau In einem Zuftand der tiefften Erfehöpfung. Sie fauerte noch auf dem Boden, als er eintrat.

„Olly!“ rief er ganz beftürgt und kniete gu ihre nieder und richtete fie auf und da fühlte fie wieder ‚die forgfame Dfote‘, die ihr Herz gewonnen hatte. Und da fie in ihrer Er; regtheit wie ein Menfch ohne Haut war, bem alles bie innerſten Nerven trifft, wurde fie bavon fo bewegt, Daß fie von neuem in heiße Tränen ausbrach und fich bitterlih vor Mimm an; Hagte, ganz vernichtet, und vor ihm bemiütigte.

Mimm war ganz glädlih und freudig erregt, wie es eine findliche Seele iſt, die an eines Menfchen plögliche Umkehr

‚glaubt. Er fröftete fie und fuchte fie zu beruhigen. „Siehft

du, Dliychen, num wird alles gut”, fagte er einmal übers andremal.

Das Argerte fie aber, und fie fagte bitter: „Du meinft alfo, Das ih das Malen laſſe?“

„Ra na, bewahre, einfchränten, ein biffel einfchränten. Das wird die nur gut fein.”

Seine Ruhe und Zufriebenheit quälte fie. Nach der haftigen, fiundenlangen Erregung ſchuͤttelte fie jeßt da8 Fieber, Mimm half ihr beim Entfleiden und behandelte fie fo ſorgſam wie

ein Meines Kind; aber das Her; war ihm ſchwer. Was der

Doftor ihm von Ollys Geſundheitszuſtand gefagt hatte, lag büfter auf ihm. Es war fo etwas Feierliches, Traurigeg, Unbegreifliches. Eine ganz gefunbe, frifhe Frau wuͤrde er tie wieder an ihre haben, fo eine Häuslichkeit, von ber er ges traͤumt hatte, war für immer verloren. Wenn fich die arme Olly auch Mühe geben wärbe, wie könnte es denn werben? Eine Frau muß gefund fein, dag ift das erſte. Und dag wii; tende Arbeiten, wobei fie nicht hörte und ſah!

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Wie rührend, wie gut fie eben war, fie wollte das Beſte, wie ihn das beglädt hatte! Jetzt lag fie in ihren Kiffen, fteblich, aber wie eine Pflanze, die mitten im Aufblähen vom Froſt berührt iſt. Die Kraft, bie Strammheit war hin, etwas Leidendes, Mattes war über fie gefommen, unmerflich faſt; aber e8 war da. Die glänzenden, verweinten Augen ſchauten fo unftet, fo ohne Ermuͤdung. Gaftelmeier atmete ſchwer auf, Er dachte an den Abſchied von daheim, Weihnachten vor einem Jahr, an bag, was fein Alter daheim von Liebes⸗ fachen verfiand, und e8 wurde ihm ſchwer und fchwerer ums Herz.

Olly klagte wegen allerlei Beſchwerden. Sie fuͤhlte ſich ſehr unwohl, war ſo beunruhigt und gequaͤlt; und immer hatte ſie es mit dem Karpfen zu tun, der ſich mit ſeiner Qual in den Schlamm verkrochen hat.

„Laß das doch“, ſagte Gaſtelmeier, dem es dabei nicht wohl zumute wurde. Da ſchwieg ſie.

„Geh ſchlafen, Mimm“, ſagte ſie nach einer Weile.

Sie lag ruhig, mit offenen Augen, und wußte nun ſchon, was ihr die Nacht bevorſtand. Qualen! Die Wiederholung alles deſſen, was ſie eben erſt durchkaͤmpft hatte.

Die großen Rieſenvoͤgel ſchlugen ſchon mit den Fittichen. Lautlos und maͤchtig ſchwebten ſie uͤber ihr. Sie kaͤmpften noch miteinander, wer auf die arme Haſenſeele ſich herab⸗ ſtuͤrzen ſollte.

Der Rieſendaͤmon war ſchon mit den Krallen auf ihrer Bruſt und wollte den gemaͤchlichen Tanz beginnen, da ge⸗ ſellte ſich zu ihm ein zweiter, der die bittere Erkenntnis, vom Leben betrogen zu ſein, brachte, und noch einer, der mit ſeinen Klauen die Stelle aufriß, wo der verzehrende Ehrgeiz ſaß, und wieder einer, der an verſaͤumte Pflichten mahnte.

Es war eine ganze Schar, die auf ſie herabſtuͤrzte, Rieſen⸗ unholde, daß man meinen ſollte, ſie waͤren erſchaffen, um auf irgendeinem gewaltigen Stern gewaltige Kreaturen zu

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quälen und zu befämpfen, und hätten fih auf unfre Heine Erbe nur verirrt, um nun ihre baämonifchen Kräfte an ung lächerlich Heinen Seelen zu verfchwenden.

Olly lag wie erſtarrt, ließ alles über fich ergehen. Durch dag entfegliche Chaos aber, dem fie preißgegeben war, fah ein untegelmäßiges, gefcheites Gefiht auf fie nieder, ein Geſicht, das fie Zug für Zug mit aller Kraft feftzuhalten fuchte, auf dag fie hinblickte wie auf eine Seligkeit, mitten im Elend, Das Geſicht war Ihe Halt, ihre Rettung. Es ſtrahlte von Ihm Kraft ansfzum Widerfichen, Kraft zu fiegen und gu übers winden. Und diefes Himmelsgefchenf, dag wie ein Licht über all dem Überwältigenden, Unheimlichen, das file umgab, aufs ftieg, follte fie von fich weifen? So ſinnlos fo unfrei fo niedrig! Nein danken! danken! danken!

Es wurde ihr licht. Gott hatte ihn geſchickt, Ihr gutes Schick⸗ fal. Sie follte nicht ganz verzweifeln,

Und fie firedte ihm wieder die Arme entgegen In ihrer Not, und wie hellfehend, als fchaute und fühlte fie ein wirk⸗ fihes Begebnis, empfand fie, wie er dieſe hilfefuchenden Hände hielt und fie felbft an ſich zog. Und fie ſchmiegte fich fett feft an feine Bruſt, und er fprach gu ihr als Menfch sum Menfchen. Da war es ihr wohl, und als der erfte blaſſe Schimmer des Morgens am Fenſter aufbämmerte, Fam auch der Schlaf, der langerfehnte.

a8 Leben ſpann fich weiter.

In dem jungen Haushalt war die Freudigkeit ausges loͤſcht. Der Arzt kam alle zwei, Drei Tage und fchaute nach feiner Patientin. Ste war den ganzen Winter über nicht aus dem Haus gelommen. Gaftelmeier hatte unruhige Nächte nach freudlofen Tagen kennen gelernt. Eine ungeheure Ent; taͤuſchung lag über ihm und es war Ihm nicht wohl in feiner Haut. Die Eindruͤcke, die Olly ihm nachts brachte, Tagen wie

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Zentnerſchwere über ihm. Sie litt oft an qualvollem Luft⸗ mangel, Beängftigungen famen über fie, Die Todesangſt in ihrer furchtbarften Geſtalt; dann hielt fie den armen Mimm umklammert und wand fich in feinen Armen und mit weit aufgeriffenen Augen fchaute fie ihn an und er mußte aus⸗ halten und den Sammer anfehen und anhören.

„Mimm, mein Bild!“ rang es ſich mähfells in folchen Stunden von Ihren Lippen.

„Ra, laß doch, laß doch!” fagte er dann.

„Sa, laß doch, laß doch!” flüfterte fie Heifer, erſtickt, voller Trotz und Verzweiflung.

„Ach, Mimm, du Armer!“

Er fand das rechte Wort nie.

Uy arbeitete an einem Bilde, das zur internationalen

Ausſtellung fertig werden ſollte. Das Maͤdchen unter dem verbluͤhten Apfelbaum hatte ſie verkauft. Reproduktionen waren danach gemacht, es war beſprochen worden. Koͤppert hatte die erſte Beſprechung ins Haus gebracht.

Gaſtelmeier erinnerte ſich, wie er ſie ihr damals in die Hand druͤckte, ſo von ungefaͤhr, ohne ein Wort zu ſagen; aber mit einem Ausdruck von froher Teilnahme. Er er⸗ innerte ſich, wie Olly las, wie das Geſicht aufſtrahlte, wie ſie Koͤppert anblickte mit großen, ausdrucksvollen Augen. Koͤppert, nicht ihn, hatte fie angeſehen. Er erinnerte ſich, wie fie mit einem Male auflebte. Ein Wunder! Die Krank, heit war: wie von Ihr fortgeweht. Sie lebte auf, fie war die alte Olly.

Ein glädlicher Tag! Wie entzädend fie ausfah! Übers muͤtig, vom Gluͤck berauſcht.

Und Koͤppert, der gute, wunderliche Menſch! Er hatte ihn immer fuͤr einen ſonderbaren Kauz gehalten und fuͤr einen Biedermann durch und durch, hatte einen gehoͤrigen Reſpekt

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vor ihm gehabt, vor feinem Können; aber er war ihm ein ungemäflicher Burſche geblieben, borſtig, ftreitfüchtig, felbfts bewußt nun batte er Ihn ganz anders fennen gelernt.

Weiß Gott, das brachte Mimm nicht fertig, fo ganz eins sugehen auf bie Wünfche bes kranken Geſchoͤpfchens, fo ſich ihr widmen! Sabelhaft, wie Köppert ihr, wenn er neben ihr vor ber Staffelei fand, mit ein paar Worten helfen konnte! Immer traf er ben Nagel auf den Kopf. Und wie fie ihn vers fand! So eine Art, zu arbeiten und zu lehren, hatte Gaftels meter noch nicht gefehen. Was er vom Lehren wußte, war ein befchwerliches Kriechen, fortwährendes Mißverfiandens werben, gleichgältiges Eingreifen. Die beiden arbeiten mit einer Spannung, einem volllommenen Wachfeln, fo nervoͤs wie zwei Vollblutpferde. Und wie kam fie vorwärts! Ganz erſtaunlich.

„Halt' ſie doch lieber zuruͤck, fie uͤbernimmt ſich“, hatte Gaſtelmeier ihm ein paarmal geſagt.

„Weshalb?“ Hatte Koͤppert gefragt. Und In dieſem „Wess halb“ Tag alles. Es Tag ihr Todesurtell darin und sugleich: „Goͤnuſt du“s ihr nicht?“

Ruͤhrend war es anzuſehen, wie Olly ſich in dieſer Zeit der Wirtſchaft auf ihre Weiſe annahm, kindiſch und unbeholfen zwar; aber ſie zeigte den beſten Willen. Sie verſtand, ſo eine Art kleine Kuchen aus Eierſchaum zu backen; auf einen Bogen Papier wurde der Schaum getropft und im Ofenrohr gebacken. Dieſes Backwerk richtete fie im Zimmer mit ber größten Umſtaͤndlichkeit her. Ein einziges Mal brachte fie es wirklich zuſtande und war ganz glädlich Darüber und fagte im Eifer: „Nichte wahr, Mimm, das gefällt dir, fo magſt du’? Alles im Haus gebaden, das iſt fo behaglich. So warft du’8 auch daheim gewöhnt, alter Mimm.“

Mimm fuͤrchtete bie Faſſung zu verlieren, nidte Olly zu und ging zur Tür hinaus, fo ein trauriges, fabes Eier; ſchaumkuͤchlein, das Symbol feiner Enttaͤuſchung, noch

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zwifchen den Zähnen. Sie hatte ihm eins nach bem andern in den Mund geflopft. Er griff nach Hut und Überzieher, es litt ihm nicht mehr im Haufe,

Mas hatte er für ein Heim, fo etwas Lächerliches, Vers rüdtes, Troſtloſes!

Bm ganzen und großen ging es aber ganz leidlich und as befler als vordem.

In der Kuͤche wirtſchaftete ſeit Wochen ſchon Emil auf ſeine vortreffliche Weiſe; er nahm auch das Haushaltungsbuch an ſich und führte es pflichttreu. Er wohnte dann ganz bei feiner Schwefter, damit diefe feine Zeichenftubien beſſer Aberwachen fonnte, und faß, wenn er nicht draußen in der Küche fein Weſen trieb, in Ollys Wohnzimmer und zeichnete muffig und ungufrieden. Wenn Olly matt, mit fliegendem Atem, im vollen Fieber aus dem Atelier kam und gearbeitet hatte big auf die legten Kräfte und fih nun nieberlegen mußte, da ruhten ihre Slide auf Emil, der in feinem behaglien Fett fo träg und indolent daſaß, und eine wahre Wut packte fie da. Einmal erfaßte der Zorn fie dermaßen, daß fie wantend, mit Tränen in den Augen, aufftand und Emil eine unvermutete Ohrfeige gab.

„Prof“, fagte Emil und gudte ganz verbläfft auf, „Na, weißt, Dlly, mit beinen Kräften ſteht's gottlob net Abel,”

Da ſtand fie ganz beſchaͤmt vor feiner Gutmuͤtigkeit. „Wärft du doch nicht fo faul”, fagte fie heifer. Su gleicher Zeit aber fühlte fie mit einer jammervollen Verzweiflung, daß Emil fie ſchon aufgegeben hatte. Sie gehörte nicht mehr zu ben Lebenden. Sie durfte beleidigen und beleidigfe nicht mehr. Eine Nöte ſchoß Ihr ins Geficht, gleich daranf wurde fie bleih und wankend, das Haar feucht, eine fehredliche Schwäche Aberfam fie.

Emil ſchaute auf fie hin, legte Ihe den Arm um die Schuls tern und führte fie sum Sofa, fauerte vor fie nieder und fie

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fühlte ein verhaltenes Zucken. Er weinte, verftedt an Ihrer Bruſt, wie um eine Tote.

Sie ließ ihn weinen, ohne fich gu rühren, ein entfetliches Grauſen ducchriefelte fie. War es denn fo nah?

Nein, nein, e8 war ja erft ber erſte Anfang ber Krankheit. Man fah fie Ihe noch kaum an. Ste war nicht abgemagert. Sa, Dual war da; aber doch, es war erft der Anfang. Der Anfang von was? Von entfeglihen Dingen und dann und dann?

Es war ihr, als ſchnuͤrte fih ihr die Bruſt zuſammen. „Wann kommt Köppert?” fragte fie. „Iſt es noch nicht fo weit ?”

zwiſchen den Zähnen. Sie hatte ihm eins nach dem andern in den Mund geftopft. Er griff nach Hut und Überzieher, es litt ihn nicht mehr im Haufe.

Was hatte er für ein Heim, fo etwas Lächerliches, Vers rüdtes, Troſtloſes!

Bm ganzen und großen ging es aber ganz leiblich und as befler als vordem.

In der Kuͤche wirtſchaftete ſeit Wochen ſchon Emil auf ſeine vortreffliche Weiſe; er nahm auch das Haushaltungsbuch an ſich und führte es pflichttreu. Er wohnte dann ganz bei feiner Schwefter, bamit diefe feine Zeichenftublen befler uͤberwachen fonnte, und faß, wenn er nicht draußen in der Küche fein Weſen trieb, in Ollys Wohnzimmer und zeichnete muffig und unzufrieden. Wenn Olly matt, mit fliegendem Atem, im vollen Fieber aus dem Atelier kam und gearbeitet hatte big auf bie legten Kräfte und fich num niederlegen mußte, da ruhten ihre Blicke auf Emil, der in feinem behaglichen Fett fo träg und indolent daſaß, und eine wahre Wut padte fie da. Einmal erfaßte ber Zorn fie dermaßen, daß fie wankend, mit Traͤnen in ben Augen, auffland und Emil eine unvermutete Ohrfeige gab.

„Proſt“, fagte Emil und gudte ganz verbläfft auf. „Na, weißt, Dlly, mit deinen Kräften ſteht's gottlob net Abel.”

Da fand fie ganz beſchaͤmt vor feiner Gutmuͤtigkeit. „Waͤrſt du doch nicht fo faul”, fagte fie heifer. Zu gleicher Zeit aber fühlte fie mit einer jammervollen Verzweiflung, daß Emil fie ſchon aufgegeben hatte. Sie gehörte nicht mehr zu ben Lebenden. Ste burfte beleidigen und beleidigte nicht mehr. Eine Nöte ſchoß Ihr Ins Geficht, gleich darauf wurde fie bleih und wankend, das Haar feucht, eine ſchrecliche Schwäche uͤberkam fie.

Emil ſchaute auf fie hin, legte ihr den Arm um bie Schuls tern und führte fie zum Sofa, fauerte vor fie nieder und fie

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fühlte ein verhaltenes Zucken. Er weinte, verftedt an ihrer Bruſt, wie um eine Tote,

Sie ließ Ihn weinen, ohne fih zu rühren, ein entfeßliches Grauſen durchriefelte fie. War es denn fo nah?

Nein, nein, e8 war ja erft der erfle Anfang der Krankheit. Man fah fie Ihe noch faum an. Sie war nicht abgemagert. Sa, Dual war das aber Doch, e8 war erft ber Anfang. Der Anfang von was? Von entfetlichen Dingen und dann und dann?

Es war ihre, als fchnärte fih Ihr die Bruſt sufammen. „Bann kommt Köppert?” fragte fie. „Iſt es noch nicht fo weit ?”

Behntes Kapitel

in feuchtes, rauhes Fruͤhjahr iſt gefommen und von ben

knoſpenden, regentriefenden Bäumen herab, unter grauem Himmel, tönt dag Amfellied, diefe Seelentöne, die Erinne⸗ eung und Sehnſucht bringen, die am Herzen rütteln und den Kinderſeelen Fruͤhlingswonne fchaffen. Diele urwelt⸗ Iihen Stimmchen, die uns erfaflen und ung In dag Neu⸗ erwachen mit hineinreißen, auch dann, wenn wir todmatt ſind, wenn wir der Weltverjuͤngung entfliehen moͤchten, weil nur der Jammer in uns wieder jung wird. Das Fruͤhlingsamſellied unter grauem Himmel von knoſpen⸗ den, regentriefenden Baͤumen herab, reißt erbarmungslos alles, was lebt, was Ohren zu hoͤren und ein Herz hat, mitzuempfinden, in den Verjuͤngungsſtrom hinein. Denen aber, die um ihr Leben betrogen ſind, tut es weh zum Aufſchreien.

Olly hat mit Mimm und Emil in den Iſarauen die erſte Ausfahrt gemacht. Aufs aͤußerſte erſchoͤpft, iſt ſie daheim wieder angelangt, liegt auf dem Sofa und ſieht mit großen Augen ſtarr vor ſich hin.

Emil deckt den Teetiſch, ſtellt einen großen Strauß Himmel⸗ ſchluͤſſel darauf und ſcheint die erſte Ausfahrt feiern zu wollen.

Mimm ſetzt ſich auch zum Tee; aber die Feier will nicht in Gang kommen. Olly liegt teilnahmslos, und nur durch ein Zeichen gibt ſie zu verſtehen, daß man ihr Ruhe laſſen ſoll.

Der junge Duft der friſchen Himmelsſchluͤſſel dringt kaum merklich durchs Zimmer. Sie empfindet ihn und er tut ihr weh, weh, wie alles und jedes.

Mimm macht ſich zum Ausgehen fertig. Ehe er geht, ſtreicht er Olly über das Haar, „Geht's denn beſſer?“

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Wie dies unnötige Fragen Ihe an ber Seele reißt! Sept iſt fie allein, Sie regt fih nicht. In ihr kaͤmpft und bebt e8; der große Fruͤhlingsſchmerz liegt Aber Ihe, der in den Verlorenen, in denen, die das Leben ausgeftoßen hat, wählt und zerrt.

Es fell. Emil kommt ind Zimmer geſchlichen. „Olly, Köppert iſt da. Willſt du Ihn fehen?” Sie nidt.

„Darf ich?” fragt Köppert, che er eintritt.

Ein heiferes, kaum hörbares „Ya.“

Er fett fi Ihrem Sofa gegenüber. Beide find ſtill. Ollys Yugen ruhen auf ihm. „Mir tft bang”, fagte fie völlig ſtimmlos. Es klingt gleihgältig und ohne Ausbrud.

Köppert kann nicht ruhig bleiben. Er iſt Bleicher geworben, feine hagere Geftalt dehnt und dreht fih gewillermaßen. Diefe ausdrucksloſe Verzweiflung hat es Ihm angetan. „Sch habe Ihnen da was mitgebracht,” fagte er „au ein Seelchen etwas, was Sie nicht kennen wetten?!” Er zieht ein Pappſchaͤchtelchen aus feiner Taſche, halt es vorfihtig in der Hand. In bie Pappe find Löcher gebohrt.

„Lebendig?“ fragt Olly. Er nidk.

„Ein Vogel?“

„Beinab. Paflen Sie auf, ob Sie’s kennen.” Vorſichtig öffnet er die Schachtel und nimmt ein In ein Leinwand; läppchen gewickeltes graues Weſen herang.

„Ein Fledermaͤuschen“, fluͤſterte Olly.

„Jawohl. Zuſammengelegt wie ein Regenſchirm. Sehen Sie ſich's nur an.” Er Hält es auf der flachen Hand und zeigt ihr's hin. „Jeder Efel meint, er kennt fo ein Seelchen ins und auswendig. Gott bewahre, das Fünnt’ jeder fagen. Der Heine, zart pulfierende Schatten mit bem wunbervollen Elfengefichtchen, [hauen Sie nur bie Ebelfteinaugen ! Diefe Zartheit im Näschen und Im Schnäuschen, die winzigen Zähne und die großartigen Kiefenohren! Nichte? ſchaut

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fie nicht aus wie eine Heine Pfrändnerin in der Haube? Nicht wahr, nen? Das kannten wir noch nicht?” Er lachte etwas auf.

Es redte die Flügel ein wenig. Olly befühlte es. „Ein Hauch“, meinte fie.

„Nun, und wie ſteht's mit der Kunſt?“ fagte Köppert. „Ich meine: wir, wie Neuen, wie foll ich fagen, wir kennen das Fledermäuschen! Zum Beifpiel: Ste und ih etwa wir burchgeglühten Seelen. Wir malen’s, mwollen’s wenig; ſtens malen, big in bie feinften Geheimniſſe, wie es pulſiert. Es ficht nicht aus wie eine Fledermaus, fagen die andern, die eine Fledermaus hoͤchſtens aus Bilderbuͤchern kennen, eher wie ein sufammengeflappter Regenſchirm. Affektiert. Wo ſieht's fo aus? Niemals. Jawohl, kennt ihr“s denn? Wer wird eine Fledermans nicht kennen? fagen fie. Punktum. Ich aber fage: Die Fledermaus Ift Ihnen ganz Geheimnis. Gerad’ wie der Menfh auch. Sagen Sie felbft, wann flieht je einer fo niedertraͤchtig ſuperklar ba, wie die Leute Ihn gemalt haben wollen und wie fie ihn ges malt befommen? Immer geheimnisuoll, Lichter, Schatz ten, Fleiſch, Fett, alles unbeſtimmt ineinander zitternd dort wieber wie in Fels gehauen, hier wie im Nebel, jetzt ſtrahlend, jegt verfhwommen aufs und niederwogend. Grau. Blendend. In allen Farben. Fahl. Eine wilde Jagd.

Jetzt ſchauen wir ganz ruhig und warten’s ab, und halt fill habens aber in einem Moment, ber fo in; tim, fo erhafcht, fo uͤberrumpelt ift, daß die andern ihn übers haupt nie gefehen haben, fowenig, wie fie das Fledermaͤus⸗ chen je fahen, baum fag ih: Wir erfaffen das Fledermaͤus⸗ hen, wir lehren euch die wunderliche Erde wie nen fennen, an ber ihr vorbeilauft und davon rebet, als fenntet ihe fie.

„Darf ich's zum Fenfter hinaustun?“

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Er hatte das Tierchen, waͤhrend er ſprach, immer zart in den hohlen Haͤnden gehalten, damit ſie ſich das Koͤpfchen beſchauen konnte. Er oͤffnete das Fenſter ein wenig. Das Tierchen ſaß ihm auf der Hand, krabbelte hin und her, ganz vertraulich. „Schlimm haft du’s nicht mit mir gemacht“, Dachte es vielleicht. Ein pfelfendes, piependes Tänchen und fort war es.

„Auch ein Fruͤhlingsbote“, fagte er und ſchloß bag Fenſter. „Es ift mie ins Atelier geflogen. Übrigens, weil wir gerad’ Dabei find. Es tft fabelhaft, was für Fortfchritte Ste gemacht haben, feit wir ung kennen rein fabelhaft! Ja, mir hat’ was Unbegreifliches. Dffen gefagt: Ih hab's einem Weibe nicht zugetraut. Eine Feuerſeele! Sie werben eine große Känftlerin. Sie find eine. Bel ung iſt feine Schmeichelel, Sie dringen unglaublich fein ein fo was Ich fagte in die Geheimnifie, die andre nicht fehen.”

Er Hatte nicht auf Olly geſchaut, als er ſprach, fondern irgendwohin, nach der Dede oder auf den Fußboden, wie dag feine Art war, wenn er etwas Gutes zu fagen hatte. Jetzt hob er den Blick und fah ein Geficht vor ſich voller Gluͤck⸗ feligleit. Das arme, ſchmerzbeladene, kranke Geficht von vorher war mit einem Schlag verändert. Hoffnungsloſig⸗ feit, verbiffene Dual, fortwährendes gehetztes Überange⸗ ſtrengtſein, alles hatte fich verfeochen, wie die Nacht vor ber Sonne.

Das GSluͤck war da, rein und groß. Ste hob die Hände und faßte die feinigen und fagte wie er vorhin, aber bebend vor Bewegung: „Auch ein Frählingsbotel Wie foll ich Ihnen danken!”

Köppert wußte wieber nicht, was er fagen follte, fuhr ſich duch den Haarſchopf, zog die Schultern in bie Höhe, „Mir danken? oho hohe.”

Er war ganz erfhättert, baß fie in Ihrem Elend fo uns geheuer glüdlih war. Und er brummte allerlei gerhadtes

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Zeug vor fih bin, aus dem kein Menfch Hug werden konnte. Und e8 war ihm, als fähe er es, wie eine Rieſenfauſt über den Berg geiff und roh und gleichgültig das herrliche Ges ſchoͤpf mit der Feuerſeele zerquetſchte vor feinen Augen. „Und fo ſcheußlich muß fie mir zugrunde gehen!”

Er wendete fi ab, redte und ftredte fih, machte bie ſonder⸗ barfien Grimaſſen und atmete tief auf, um die Bruſt frei gu bekommen.

„Wie Ste turnen?” fagte Olly tonlos und mähfelig und lächelte ihn Immer noch firahlend an. Da machte der uns ruhige Geift noch einen legten, energiſchen Schlenker mit dem Arm. „Diele Hühner, die Weiber”, fagte er. „Sie willen ja, wie ich denke. Ewig Heinlich, am Geringfügisften Heben, enghersig, ſchlau, berechnend. Ah! nie ein reines euer, was Ihnen einmal durch die Seele führe und alles nieder; brennte, alle Lumperei, nie und nimmer! Eine ewige Dumpfheit.

„Ih weiß fchon, ich weiß ſchon, ereifern Ste ſich nicht“, wehrte er ab, als Olly fprechen wollte. „Sie Sie na Ausnahmsweib. Einfach guter Kamerad mit einer Helbens feele. Anfangs glaubte ih Damon.” Er lehnte fich wieder in den Stuhl zuruͤck. „Gottlob, nein.” Er fuhr fih Aber den Haarfchopf. „Ja,“ fagte er, „fo wundervoll in einem Weibe ftehen, fo ganz fimpel Menſch sum Menfchen und nicht Raubtier. Diefe Hühner, fie koͤnntenſs haben, wenn fie wollten, weshalb nicht? Aber nein! Mit dem bißchen Weibsfein muß herumgeprahlt werden, als wenn fie ein Königreih an den Mann su bringen hätten.”

Er fhaute wieder zur Dede, denn er ſtand mwahrfcheinlich im Begriff, etwas Sonderbares zu fagen. „So einen Ka; meraben gu haben, wie ich jegt,” murmelte er, „ia, das koͤnnt ein jeber wollen, wär’ net übel das iſt für Auserwaͤhlte. Verfiehen Sie, bag iſt eine Belohnung, die eben nicht für jeden tft.”

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Er Hatte die Beine übereinander gefchlagen, bewegte bie Fußſpitze Hin und her und betrachtete dieſe ſehr aufmerffam.

„Ich hab’ einmal die ganze Nacht auf einem Stoppelfeld zugebracht. Wiffen Ste das Ift fehr leicht geſagt. Teufliſch! eine Art Lager, um tobſuͤchtig zu werben. Glauben Sie, daß es möglich iſt, die Stacheln mie fo 65 Kilo niederzu⸗ druͤcken? Kein Gedanke, biefe vegetabilifhen Borften ſtehen fergengerabe und bohren und fragen und fliehen find eins fach unbezwinglich, rauh, roh, rapauzig wie ’8 Leben und eine lange Nacht und immer von einer Seite zur andern.”

„Als Soldat?” fragte Olly.

„a8 ganz gewöhnlicher Menfch”, erwiberte er. „So um fünf Uhr morgens, da war's genug. Ich kann etwas vers fragen eigentlich. Endlich neruds wie ein Vollblutpferd, einfach wütend. Ich geh hinunter zum Strand, es war an der See. Ein grauer Morgen. Ich warf die Kleider ab und nun hinein ganz langſam. Nach den rapanzigen Borſten diefe Weichheit! Herrgott noch einmal! Dabel war’8 kalt; aber eine Weichheit! weich wie mit Mutters handen ſtrich mir’d am Körper bin fo wie Mutterhände eigentlich fein ſollten!“ Er reckte fich wie im Arger „ja follten!!

So tft mir’d nach den Borſten, auf denen man fich fein Lebtag zu waͤlzen hat, wenn wir beide miteinander find. Eine Weichheit! Da ift nichts, was flicht und reibt. Ich vers gefle, daß ich Raubtier bin keine Reue, feine Wut gan einfach Kameradſchaft. Worte!” brummte er, „das iſt auch nicht das rechte Wort”, und er ſchaute immer noch nach ſeiner Fußſpitze.

Ollys Blick aber hatte aufmerkſam und tiefbewegt an ihm gehangen. „Ach, geben Ste mir die Hand”, ſagte fie.

Und er faßte ihre beiben heißen, durchſichtigen Hände und ſah ihr gerade in die Augen,

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„Weshalb fagen Ste das zu mir? Um mich glädlih zu machen ?”

„Man fagt einander viel zu wenig Gutes”, meinte er.

Sie hatte etwas ganz Verklärtes. Ein Friede lag über. dem Geficht, der Köppert feltfam beruͤhrte, und fie behielt feine Hand in den ihrigen.

„Ich dankte Ihnen“, fagte fie leiſe. „Iſt das eine wunderbare Sache, daß Sie gu uns gefommen find! Mimm fagte ben erfien Tag, ald Sie famen: ‚Dein Meſſias kommt. Ihre Werke waren mir DOffenbarungen das wiffen Sie. Und nun nun!” Sie konnte nicht weiter fprechen, fah ihn aber an mit einem Aus; drud, als läge fie vor Ihm auf den Knien und kuͤßte ihm die Hände.

Sie waren beide jegt fill. Emil brachte die Lampe herein. „Er iſt fo gut“, fläfterte fie.

„Jawohl,“ fagte Köppert, „er bat fo etwas wie Herz. Deshalb iſt er aber doch faul und ein halbgebadenes Broͤt⸗ den, wenn er über Dinge fpricht, die Ihn nichts angehen.” Er lachte Emil zu.

„Oho“, fagte Emil, fchlug fich aufs Knie und ging wieder sur Tür hinaus,

„Morgen kommt der Doktor, um wieder eine Unterfuchung gu machen. Gott weiß, was er da findet! Kommen Sie, bitte, nachmittags.” Ste fagte das bebend. Köppert mußte fih ganz zu Ihr Hinneigen, um fie gu verfiehen.

Ste machte eine Paufe, dann fuhr fie fort: „Es wär’ gut, wenn Sie kaͤmen. Mimm verliert immer ganz den Kopf. Und Mama! mein Gott, wenn Mama doch nicht Fame! Aber fie find immer alle da, die befte iſt noch Tante Zaͤng⸗ fein, aber die ift fo ein Heiner Irrwiſch. Ste ſchaut ſich alles an ich weiß nicht wie fo fühl, Ach bin grenzenlos allein, wenn fie alle aufgeregt find. Niemand denkt an mich, jedes an fih. Wie man das fpärt, wenn man fo franf iſt!

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Diefe Einſamkeit! Emil Emil iſt gut. Alſo Sie kom⸗ men?”

ME Köppert ging, dankte fie ihm noch einmal mit einem Ausdruck, ben er fein Lebtag nicht vergeflen follte.

Ste war wieder allein und lag ſtill und unbemweglich wie vorbem, ehe Köppert gelommen war; aber ben großen Fruͤh⸗ lingsſchmerz Hatte er von ihr genommen und Ihr etwas Dafür gegeben: Herzensfrieden und das fichere, warme Sommers gläd der Gegenwart. Die Sehnſucht, dag Werdenwollen, das Andlen und Ringen und Kämpfen, das bie Freude an dem, was fhon tft, erſtickt, hatte er Ihre gurüdgebämmt, und fie ſah, vielleicht auch nur auf Augenblide, daß fchon etwas geworden war, von den Dingen, bie fie fo Heiß erftrebte.

Gaftelmeier kam zuruͤck. „Nun, wie geht's, Frauchen?“ fragte er.

Da ſchlang fie den Arm um feinen Hals und fagte tonlog und heifer: „Mimm, Hörft du, Köppert iſt mein Kamerad. Er Hat mir’8 eben gefagt.”

„Ra, Köppert iſt ein guter Menſch“, erwiderte Mimm.

48 war alles geichehen und durchgekaͤmpft, als Köppert am andern Tage kam!

Er verfuchte zu Mingeln. Die Klingel gab keinen Laut von fih, Ste hatte Ihn gebeten zu fommen und er war ges fommen und ging nicht wieder. Sollte fie umfonft warten ?

Er Hopft. Niemand hört. Er laufcht, Hopft wieder da in der Küche wurde geflappt und gewirtſchaftet. Er Hopft von neuem. Yet kommt jemand. Die Köchin oͤffnet und (haut ihn verbläfft an.

„Was foll das?“ fragt er.

„3 mein’ fhon, Here Köppert, daß Sie heut' net herein fönnen. Die Nacht iſt's fo viel fhlimm gegangen. Der Doktor Hat ſie ſchneiden mäffen ja. Weiß net, was dag

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noch werden mag. An filberns Roͤhrel hat er Ihe in ’n Hals geftedt. Reden kann f” nimmer. Der Emil fast: ‚Dauern kann f’ noch lang.‘ ber i mein’ fchon, a Freud’ wird f’ nimmer viel dran hab’n.”

Köppert fand regungslos.

„J mein’ fchon“, fing die Köchin wieder an und ſah auf den hageren, flarren Menfchen.

„Gehen Sie, fagen Sie, daß Ich da Bin.”

Er dachte an ihre rährenden, hilfeſuchenden Worte,

„Sa, aber,” meinte die Köchin, „beinnen find f’ ganz auseinand.”

„Sehen Sie.”

ME er in das ihm fo befannte Zimmer trat, in dem fein Kamerad ihn feit Monaten ehrlich beglüde empfangen hatte, war es ihm zumute, als öffnete er die Zur gu einem Garten, den er am Abend unberührt und voller Blüten und Kräuter verlafien hatte und am Morgen ift alles zerfreten und zerſtampft, als hätten Dämonen darin gehauft.

Bleich trat er ein; bie hagere Geftalt wie zugeſpitzt von innerer Erregung, bie fehnigen Hände ineinander gekrampft, die Augen ſpaͤhend. Zerfidrung, wohin er ſieht. Die Anmut des Raumes fortgewifcht. Jeder Stuhl, der Im Weg fteht, jeugt von verzweifelten, vom Ungläd gepadten Menfchen. Eine riefige Unordnung im Zimmer Sachen, Sachen und wieder Sachen, ſinnlos hingeworfene Sachen.

Gaftelmeier ſteht am Fenſter, flarrt auf die Steaße hin; aus, dreht fich nicht um, als er die Tuͤr gehen hört. Ollys Mutter fit auf dem Sofa. Sie flieht gersauft aus, fo ums mütterlich wie möglich, keine Zroftbringerin, eine Troſt⸗ bettlerin; neben ihr Erwin zuſammengekauert.

Wie fiten diefe Leute da!

Auf dem Sofa, auf dem irgendwer bie Nacht gefchlafen haben muß, liegt noch das Bertlafen ausgebreitet. Auf der

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Erbe flieht ein Waſchgeſchirr, auf einem Stuhl das Früh; ftädszeug noch. Eine Taſſe iſt umgeſtuͤrzt, der Inhalt hat fih auf den Fußboden ergoffen: auf allen Gegenfländen Staub, vor dem Dfen Aſche und Kohlen durcheinander. Dort Verbandgeng, auf dem Tiſch eine Schale mit blutigem Waſſer, blutbefleckte Tücher, Wafler, Flaſchen.

Koͤppert erroͤtet, es tut ihm weh. Wenn das Seelchen das wuͤßte! Seine Augen bohren ſich wahrhaft in die nervoͤs verzaufte Mutter. „Auf, alte Naͤrrin!“ fagen dieſe heftigen Blicke. „Was bift du denn? Erwirb die endlich das Recht zu leben areif an! Was geben beine Nerven dich an, laß fie meinetwegen an dir herumhaͤngen aber tu beine Pflicht!“

Er war ſinulos wuͤtend, Koͤppert. Wie zugeſpitzt er aus⸗ ſah! Er hatte den Sumpf, aus dem das Seelchen ſtammte, laͤngſt kennen gelernt, dieſe Menſchen, die die ſchwachen, er⸗ baͤrmlichen Arme nach der Kunſt ausſtreckten, die Kunſt als noblen Broterwerb betrachteten, dieſe Schwaͤchlinge, die nicht wußten, wie ſie mit dem Leben auch nur auf die elendſte Weiſe fertig werden ſollten, und mit dem Martyrium der Kunſt ſpielten. Aus dieſem Sumpf, der nur Blaſen aufwirft, war dennoch eine Heldenſeele aufgeſtiegen, eine Prachtſeele, die bis sum Tod voller Schaffenskraft und Feuer war, bie alles überwand. Und dieſe Seele lag jest verſtuͤmmelt, biutend gugerichtet, aufgegeben, und die Blaſen machten fich wichtig und blieſen fih auf bis zum Platzen.

Die ihm fo verhaßte Dame wollte ihn wehmntsunll ans reden und begann etwas Hochtrabendes. Er wendete fich ab. „Run nun num“, fagte er gu Gaſtelmeier und ruͤhrte ihn an der Schulter an.

„Das iſt ein Leben. Wenn du wuͤßteſt,“ murmelte ber, „eine Hölle!”

„Tun Ste die Tücher fort und die Waſſerſchale“, fagte Köppert ruhig zu Frau Kovalski.

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„Wozu ?" ſagte Gaftelmeier, „laßt nur alles fiehen und legen, wie e8 liegt in biefem Ungluͤckshaus; überhaupt, wozu bier etwas anrähren ?“

„Berlier’ ben Kopf nicht,” fagte Köppert, „armer Kerl!”

„a, das iſt's, was ich vom Leben erhofft habe!”

Gaſtelmeier preßte den Kopf an die Glasſcheibe. Er ſtand verzweifelt und verbittert ba. Seiner behaglichen Perſon ging’s ſchlecht, ihm war alles verpfufcht, ihm geſchah das Entfeglihe über fich felbft Fam er nicht hinaus, und fein Schmerz war daher Bitter, bitter wie Galle und von dem Mitleid für andre unverdünnt. Freilich hatte er Mitleid mit ber Armen aber daß er Mitleid haben mußte, dag war’s, was ihm weher tat, als das Mitleiden felbft. Er ſah drollig aus. Seine Beinfleider hatten eine Art und Weiſe gu fißen, die durchaus nicht gu ber vergmweifelten Stimmung paßte. Der Sitzteil dieſer weiten Beinkleider hatte bie Eigen; tuͤmlichkeit, wie eine Art Schmetterlingsneg an feiner ges fnidten Geftalt herabsuhängen.

„Dtefe Hölle heut nacht, Köppert, fo etwas geht über bie Kräfte, die einem Menſchen zur Verfügung geftellt find.“ Er murmelte unverftändlih. Beide Hände hatte er in den Hoſentaſchen. Er fah wie breitgedrädt vom Schickſal aus. „Es iſt Hoffnung, daß fie noch leben kann, aber Köppert fiehft du ganz ohne Stimme weißt du? uud gefund? Nie wieder eine gefunde Fran.”

Die Augen fianden Ihm voll Tränen, er hatte ſchon viel geweint und fchnüffelte etwas. „Seit wir verheiratet find, eine ewige Unruhe nie Frieden. So reizend, fo Iteb, wie fie war und doch nicht, wie es hätte fein Finnen. Und num dag!“

Er mußte fprechen. Er konnte feine Gedanken nicht mehr zuruͤckhalten und ging neben bem langen, hageren Köppert, der feinen eigenen Gebanten, wie es fihlen, nachging, auf und nieber,

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„Wenn ich denfe, ich 409 Damals wegen dem Rangierbahn⸗ hof aus der Salzſtraße; aber was iſt ein Rangierbahnhof gegen das Leben, wenn nicht alles iſt, wie es fein follte! Siehft du, Köppert und es war nicht alles, wie es fein follte,” fagte er in feiner Bewegung wieder, „ed war nicht alles, wie e8 fein follte., Schon in der Bluͤtenſtraße fing’s an. Da rangierten fie und kamen mit nichts zurecht. Ich weiß nicht, wie fie’8 machten. Es war ein ewiges, geiftiges Gepolter im Haus, ein ewiges Raſſeln und Schnaufen und MWürgen, feine Seelenruhe. Sie waren immer geheist wie die Lokomotiven. Sieht du, bie Kunfl, Köppert, Ic hab’ immer gemeint, daß fie etwas ganz Harmlofes wäre, eine ſtille Beichäftigung, aber das iſt fie ja gar nicht oder fie iſt's nicht mehr, ich weiß nicht. Eine Iärmende Mas feine, die Unfrieden und Unbehagen Ins Haus bringt. Und wenn das Hang nicht groß genug iſt und bie Kräfte, die die Maſchine leiten, nicht ſtark genug und nicht geübt genug und die Mafchine kommt Ins Nennen und bie Schrauben halten nicht, wie fie ſollten fo rennt fie alles Aber ben Haufen und wuͤtet Das ganze Hans zuſammen. Es gehört Miefenkeaft dazu, um mit biefer Tenfelsmafchine jet aus⸗ zukommen. Die Schwachen follten fich nicht Daran vergreifen.”

In Gaſtelmeiers Hrn hatte fih der Vergleich, den Emil einmal gebraucht hatte, mit der Zeit eingeaͤtzt. Sr hatte Im fluͤſternden Ton unaufhaltfam gefprochen, hatte nicht auf feine Schwiegermutter und den Schwager geachtet und nicht auf Köppert; e8 war ihm gleihgältig, wer zugegen war. Was er fagte, mußte er fagen und er hätte fo viel mehr fagen koͤnnen. Aber ſchon das Wenige war eine Erleichtes rung. „Und“, fuhr er fort, wobei wieder zwei große Tränen über die behaglichen Wangen liefen, „was iſt hier rangiert worden hier Köppert, bei aller Liebe! Glaub mir, rangiert von fruͤh Big in die Nacht und nachts nachts! Diele Nächte! Da bat Olly die Teufelsmafchine geheist und

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überheist, Ste wollte ang Ziel, fie mußte auf Leben und Top! Das mit anzufehen! Wahrhaftis, ich habe nicht geglaubt, daß man mit einer Frau fo etwas erleben kann. Man hält die Srauen auch für fo harmlos?! Ich wenigſtens tat dag; aber fie find es nicht.”

„Nein,“ fagte Köppert, „Das find fie nicht. Wo liegt deine Stan?”

„Ja, wirklich, ich weiß nicht, ob du fie fehen kannſt, fie legt natärlih gu Bett”, fagte Gaftelmeier unfiher. „Ich weiß nicht.”

„Sag's ihr, daß Ich da bin. Mer if bei ihr?” fragte Koͤppert.

„Jetzt Emil, ſpaͤter bekommen wir eine Rote⸗Kreuz⸗Schweſter. Weißt du, da ſind Dinge mit dem Verband zu machen.“ Er ging ungeſchickt vorſichtig in ſeinen weiten, geſtickten Haus⸗ ſchuhen voraus in das Nebenzimmer.

Als Koͤppert bei Olly in Gaſtelmeiers Begleitung eintrat, ſtand Emil, der neben ihrem Bett geſeſſen hatte, auf und fluͤſterte ſeinem Schwager ins Ohr: „Komm, es iſt gut, wenn Koͤppert mit ihr ſpricht.“

„Jawohl“, ſagte Gaſtelmeier.

Koͤppert ſah, daß zwei bleiche Hände ſich Ihm entgegen; ſtreckten hilfeſuchend, als laͤge der arme Kamerad nicht in ſeinen Kiſſen, ſondern als triebe er in einem reißenden Strome von ihm ab.

Er faßte die hilfeſuchenden Haͤnde. Da machte ſie die eine Hand los und zeigte nach ihrem Hals. Die Augen bohrten ſich verzweifelnd in Koͤpperts Augen. Sie wollte ſprechen. Es war, als packte den ganzen Koͤrper ein Krampf. Solch eine Unruhe! Solch ein Verlangen! Sie wollte ſich mit⸗ teilen. Sie mußte ſich mitteilen, es war ſo unendlich viel geſchehen. Sie war nun ganz zum Kruͤppel geworden ſtumm zerſchnitten! Und das Leben⸗wollen! Und der Lebensjammer!

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„Rubig ruhig”, fagte Köppert und legte ben em um ihre Schulter. Sie (ag etwas aufgerichtet,

So hielt er fie. Das tat Ihe wohl für einen Augenblid. Daun zog ber Jammer wieder uͤber das Geſicht wie ein Regenſchauer.

„Ich weiß alles, was Sie denken“, ſagte Koͤppert. Sehen Sie mir nur in die Augen.“

Und fie ſah ihn folgſam an, ſtarr unverwandt, und er hielt ihren Blick aus und las den ganzen bittern Kampf, bag ganze Elend, wie in den Augen eiues flerbenden Tieres.

Eine große, ſtumme Beichte. Ihr Körper zitterte, ihre Bruſt hob fih im Kampf. So faßen fie lange unverändert.

Set Samen bie heißen, heißen Tränen, das ganze Geficht war gebadet. Und er hielt fie und Härte die ſtumme, ernſte Beichte weiter. Sein Geſicht war fo geipannt, er war fo ganz ihr Hingegeben, baß fie in Wahrheit mie ihm gu fprechen glauben konnte. Ihr Sammer floß wortlos ganz in feine Seele über und er fühlte jeden Schauer, ber fie durchfuhr.

Ganz offen und ehrlich und ohne alles Mitsfichstelbfts Vers fteden (pielen ... . das war das Weib, das er liebte.

Zermartert, ſeeliſch und koͤrperlich, zu Tode verwundet, ganz aufgegeben und aus bem Leben geftoßen, fo lag ſie in feinen Armen und nicht einmal fein eigen. Armſelig und ſtumm, wie ein ſterbendes Tier. So mußte er lieben lernen,

Naffiniert! Teufliſch! Wenn er das hinfterbende, junge Weib nicht hätte In ihrer Angſt und Dual ſtuͤtzen und halten möflen, er wäre aufgefprungen und hätte die Hände inein⸗ ander gekrampft, wäre im Zimmer bin und her geraft im lächerlichen Kampf gegen das Schickſal. Das Schtäfal und er hätten es genau miteinander gemacht wie Die beiden Kerle an der Tärkenkaferne in München: „Sag’ Lallenſtedt.“ „Lallenfiedt” darauf prompt der Schlag. Köppert aber fagte nicht Lallenftedt, trotz aller Aufforberungen bes Schickſals nicht, und hielt feinen armen Kameraden behut⸗

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fam, ftäßte ihn, damit er befler aufrecht fiten konnte. Er verbiß feine Dual,

„Ich weiß alles ich weiß alles alles”, fläfterte er ihr wieder zu in einem Ton, al fpräche er mit feinem todkranken, freuen Hund, von bem er Feine Antwort erwarten bürfte und ben er mit jedem Hauch feiner Stimme tröften wollte. Sp innig, fo naiv fo ganz Ihm zugewendet, wie ber Menfch zum Menfhen den Ton kaum fliimmen kann. „Du willft leben bu willfi e8 haben, wie die andern und beſſer jawohl beſſer größer und weiter! Du dachteſt bie bein Leben wundervoll? Nicht wahr?”

Ste hörte mit großen Augen zu. Er hatte gefühlt, wie fie bei der Anrede sufammengefchredt war und wie ein reiner Gluͤcksſtrahl über ihr Geſicht Hufchte, für einen Augenblid die Todesbangigkeit verfcheuchte.

Dies „Du“! Dies Einandersmahrsgerädtsfein!

Jetzt hingen ihre Blide an Ihm wie gebannt.

„Du meinft, es iſt jeßt alles aus, kommſt dir entſetzlich beteogen vor? Sehr begreiflih. Bon ſolchen Gedanken laßt du dich gerreißen ?”

„Ja ja”, fasten die armen Augen.

„Hör mich,” fagte er leiſe, „vielleicht Haft du mehr gelebt, als irgendeine andre, und lebſt mehr, als irgendeine. Denke allein fett wie ung kennen: Da iſt fo ein Menfch gekommen, Tag für Tag, ber hat vor dir ausgepadt, was er nur aus⸗ supaden Hatte, und wie haben wir einander verſtanden! Meinft du, fo etwas gibt es oft in dieſer Welt, da laufen fie aneinander vorüber wie bie Tiere, beummen fich etwas zu vom Futter, vom Wetter, von Ihrem Befinden! von ben beften Weideplaͤtzen und aus iſt's. Wir aber! Denf doch!

Und wie verftehen wir ung in Dingen, für bie man eigents lich feinen Gefährten findet! Und denf’, wie bu gewachfen bift, Ich fag’ dir's. Erſtaunlich. Du biſt eine ſo feine, feine

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Kreatur. Küänftler buch und durch. Stell’ bie vor, wie fie wöürgen und beten, und wie fleifleinen es iſt, was bie meiften sumege bringen. Den?’ nur. Und wie wundervoll wir mits einander gearbeitet haben. Denf’ an all bag und daß bu einen Kameraden haft, wenn bu alles wuͤßteſt! dem du außer feiner Arbeit das erſte menſchliche Sur bifl. Stell’ die den rapanzigen Waldmenfhen vor und wie gut er’s mit bie meint. Na, als wenn das alles nichts wäre.”

Er fprach weiter und weiter. Mit jedem Wort wollte er ihre Troſt bringen, vergaß fich felbft, wie eine Mutter, bie ihr krankes Kind einwiegen will, ber eigenen Müdigkeit vers gißt. Er fprach ganz einfach ohne alle Sprünge und Sonders barfeiten und Dachte nur einzig: Sie foll in ihrem Sammer die weiche Hand fpären.

Und fie fpürte fie. Mit großen Augen nahm fie feine Worte auf, wie eine verburftete Pflanze ben Regen. Sie fühlte fich ficher bei Ihm; wie oft hatte er ſchon Dual und Sammer von ihr verfcheucht, nur Damit, Daß er ba war und mit ihe von Gott weiß was ſprach! Und heute, wo er mit feiner heilenden Hand die furchtbare Wunde berährte!

Ste machte ihre Hand jet laugſam von Ihm los und zeigte nach dem Tifch vor Ihrem Bett. Da hatte Emil weiße Zettel hingelegt und einen wundervoll gefpisten Bleiſtift. Köppert reichte ihr, wag fie verlangte, und gab ihr auch den Pappbedel, ber als Schreibunterlage nebenbei lag.

Olly hielt bie matte Hand lange ruhig, Dann ſchrieb fie mir sitternden Fingern: „Weißt bu noch, mein Kamerad, ber Karpfenfchlag? Heute nacht und heute morgen das war mein Karpfenfchlag tief im tiefften Grund und Schlamm ganz einſam vielleiht kommt auch bei mir num bie Weisheit, und daß Ich gebuldig werde.”

Köppert nahm ihr den Settel aus ber Hand und las ihn und in den Augen fanden Ihm bie nicht mehr zuruͤckzuhal⸗ tenden Tränen, Und er fiel vor ihrem Bett auf bie Knie

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und kuͤßte Ihr die Haͤnde und preßte fie wieder und wieder an die Lippen. Dabei konnte er nicht Herr feiner Tränen werben.

„Ss ein Efel,” fagte er, „fo ein großer Efell” Und verbarg feinen Kopf in den Kiffen. Aber er riß ſich aus ber Dual und fagte: „Wenn du fo gut und Aug biſt, wird alles gut werden.”

Ste fihättelte den Kopf und nahm wieber ben Stift in die Hand und fchrieb kaum leferlich: „Keine Hoffnung weden um GSotteswillen nicht.”

Er las, legte beide Zettel in feine Brieftaſche. „Nein,“ fagte er, „keine Hoffnung und feine Hoffnungsloſigkeit. Wir wollen uns an die Gegenwart halten.”

Er fegte fih wieber zu Ihe und fie gab ihm beide Hände.

Es wird bammerig. Der Senfterflügel fieht ein wenig ge; öffnet und unter bem feuchten, grauen Himmel Hingt Draußen, ans einem Garten herauf, das Amſellied, das bie Herzen in den großen Verjüngunssfirom einzutauchen ladet. Sie hören e8 beide halten fih an den Händen und hängen mit ben Blicken feft aneinander.

Jetzt Feigelte fie wieber auf einen Zettel: „Ein Släd ohne Men’ alles burch dich, mein Kamerab.”

Er ſtrich ihe über die Hand. Ste folle ruhig, ganz ruhig fein. Die Amfel draußen brach ab feßte wieder an die urmeltlichen, garten Töne wurden leife, wie traͤumeriſch, ſchwollen an, fehnfüchtiger, banger ſeelenbeklemmend. Das wonnenolle Fruͤhlingsweh lag über ber Erbe.

Die beiden Im ſtillen Simmer hielten einander immer noch bei den Hunden, und fie fuchte feine Blicke. Ste lebte von feinen Bliden.

Dann frigelte fie wieder; aber die eine Hand des Kameraden behielt fie in ber Ihren und klammerte fich feft daran, während fie ſchrieb fo feſt und bang, als fürchtete fie, daß er gehen würde.

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Ja und er fühlte auch, er burfte nicht gehen. Er mußte num bleiben. Set es, wie es wolle, Er dachte, Dachte dumpf, wie er es am beften einrichten könnte, er wollte mit Mimm fprechen. Er durfte fie jetzt nicht verlaſſen. Inzwiſchen frigelte fie, Iangfam, immer ausruhend.

Wenn er nicht bei ihe wäre, wie wuͤrde fie nach feinem Troſt fuchen in ihrer Seeleneinſamkeit! Sie fürchtete fich ohne ihn. Es graufte ihr bei dem Gebanten, daß er geben würde. Das wußte er er mußte bleiben.

Ste kritzelte langſam, langſam draußen das Amſel⸗ lied.

Sie ſchaute ihn an, er ſolle den Zettel leſen.

„Nehmt das Entſetzen von mir, bie ſchwere, naſſe Erbe den engen Sarg das Grauſen bie tote Einſamkeit. Begrabt mich nicht!!! Das euer iſt beſſer. Verbrennt all das, was fo viel fein wollte fo viel! Das unbefchreiblich Lebendige das Ruhmſuͤchtige das Tärichte, Das was fo gern fo unausſprechlich gern gelebt hätte.”

Er Hat gelefen und fieht fie an, freu und fehl. Ste kann fih auf ihn verlafien.

Set greift fie nach einem Flaͤſchchen, das neben ihr ſteht.

„Willſt du einnehmen?“

Sie nickt.

„Soll ich's dir geben? Haft du Fein Löffelchen ?”

Ste hat es ſchon aus dem Flaͤſchchen getrunken. Jetzt liegt fie ſtill. Köppert wundert fi, daß niemand kommt. Aber es ift gut fo.

Die Dammerung finkt tiefer und tiefer. Olly wird uns ruhig, wirft fih hin und ber, ihr Blick wirb fo bang, fo un; endlich bang. Sie fühlt fich gequält.

Dann wird fie ruhig und der Ausdrud, wie es ihm fcheint, faft heiter. Wieder greift fie nach dem Stift und er reicht ihr einen Zettel hin. Sie kritzelt im Halblicht: „Und weißt

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du felbft nach dem Karpfenfchlag, mein Kamerad, auch wenn ber Karpfen ganz ergeben iſt, kann doch noch Unver⸗ hofftes gefchehen. Unſer bider Freund, ber Soldkarpfen, hatte alles aufgegeben, feinen Karpfenfchlag gemacht war gebuldig geworben und bie Freiheit kam! Ich feh’ ihn noch wie ein Goldftreif, huſch, ins freie Waſſer fort war er, und froh und gefund.”

Er Tieft den Zettel, legt Ihn zu ben andern In bie Brief; tafhe und wendet fih ab. Die Tür öffnet fih, Emil kommt leiſe herein und bringt Licht.

Er ſchleicht an Ollys Bett. „Dllychen, was haft bu denn?" fragt er fonderbar und ftellt die verhängte Lampe auf den Tiſch.

„Ollychen?“ Er fragt ganz ruhig und doch angſtvoll.

Jetzt blickt Koͤppert auf ſie hin. Es iſt eine Veraͤnderung mit ihr vorgegangen. Die Augen ſind halb geſchloſſen, es liegt etwas Schweres auf ihr wie eine ungeheure Schlaͤf⸗ rigkeit.

„Ollychen, was haſt du denn?“ fragte Emil wieder.

Sie winkt ſchwer mit der Hand.

Auf ihrem Bette liegt noch das Flaͤſchchen. Emil greift danach. Er haͤlt es haͤlt es und ſchaut darauf hin. „Es wird ihr Doch nicht ſchaden“, ſagte er flüfternd. „Sie hat da aus dem falſchen Flaͤſchchen genommen und gewiß wieder getrunken. Das macht ſie immer mit aller Medizin. Ihr Schlafmittel und iſt leer.“

Er gibt Koͤppert das Flaͤſchchen. Der ſieht kuͤhl darauf hin dann mit einem langen Blick auf ſeinen Kameraden und beugt ſich uͤber ſie und ſieht in das Geſicht, uͤber dem der ſchwere, tiefe Schlaf ſchon liegt und ſieht auf das, was das Schickſal ihm bisher an Menſchengluͤck geboten in welcher Geſtalt!

Mit Dual beladen und doch wochen⸗, monatelang hatte ihm die Gluͤcksflamme gebrannt. Immer gefährdet,

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erftidt gu werden, wie eine Flamme, über bie giftige Nebel fich legen. Uber fie hatte gebrannt. Es war das echte Feuer gewefen.

Die Rieſenfauſt hatte über den Berg gelangt und druͤckte den göttlihen Funken aus. Da war nichts gu machen.

Er erhob fih aus ber tiefgebuͤckten Stellung. Und noch ein langer, tiefer Blick auf das Geficht In den weißen Kiffen, für Ihn das Geſicht ber Geſichter.

In ben tiefen Schlaf hat fie das Bild vom geretteten Gold⸗ farpfen mitgenommen, den hufchenden Goldſtreifen Im freien Waſſer. Die unverhoffte Freiheit die Hoffuung. Das war gut ſo

„Merkwuͤrdig, barmherzig!“ dachte er.

„Ich werde zum Arzt gehen“, ſagte Koͤppert und ging leiſe hinaus.

Da ſaß Freund Gaſtelmeier vor dem Tiſch, die Arme auf⸗ geſtuͤtzt, den Kopf in den Armen vergraben und war ein⸗ geſchlafen.

Koͤppert ſchlich an ihm voruͤber.

s war alles vorbei, der Tod und das erſte Entſetzen, die ſchreckliche Kiſte mit dem Zinnſarg, die Reiſe alles. Über Ollys armen Mimm waren die Wogen zuſammen⸗ geſchlagen, und Koͤppert ſaß zu Hauſe mit ſeiner Mutter allein. Die alte Frau ſtrickte.

„Ich erfahr ba,” ſagte fie, „bu biſt bei einer Verbrennung mit Dabei geweſen? Durch fremde Leute natärlich erfahr’ ichs. u

Köppert faß müde gearbeitet, fumm, und fchnigelte ges dankenlos an einem Stuͤckchen Holz. Das fahle, ſtarke Haar, Das fein Kamerad geliebt hatte, das untegelmäßige Geficht, die Augen, grauen Augen, bie fefte, leichte Geſtalt bie Arbeitskraft von fruͤh bis abend alles wie zuvor aber eine Verdroffenheit eine fo ſchwere Verdroſſenheit.

13 Böhlau IIL 193

„Du,“ fagte bie alte Fran, weil fie keine Antwort bes fam, noch einmal, „wie wars denn? Es foll ja greulich fe in.”

„Bar nicht”, fagte er kurz.

„Du ſollſt ja alles gemacht haben, alles, und wie fie bie Kifte zum Bahnhof gebracht Haben. Alſo eine wirkliche Kifte, da warft bu auch Dabei. Wie kommſt bu denn dazu?“

„Einfach“... Er ſprach nicht aus, ging im Zimmer auf und nieder, fuhr ſich durch den Haarfchopf und zuckte mit den Schultern.

„Wie iſt e8 Denn?” fragte bie alte Frau weiter und ſtrickte, „wie ift denn das mit ber Aſche? Wie fieht benn bag aus? Du —? Du erzählft einem auch gar nichts.“

„Wie das ausſieht?“ fuhr Köppert auf und fland vor . feiner Mutter, die Finger ineinander geframpft, grau, hager, fo zugeſpitzt, fonberbar, fo in fich felbft verfeochen.

Die alte Frau firidte weiter, zählte ab und merkte nicht anf ihren Sohn. „Sa, wie iſt's denn?” fragte fie noch eins mal behaglich unter dem Zählen und ſteckte fih eine Strick⸗ nadel buch die Haube. „Iſt's denn eine Blechbuͤchſe ih hab’ fo gehört. Wie eine Blechbuͤchſe?“

„Run ja, Mutter eine Blechbuͤchſe veridtet - ganz wie Bohnen das iſt das Ende.”

Bm leuten Winkel des Reiches, dort, wo ans dem bay⸗ as eifhen Algaͤu die niebrigen Paͤſſe in die benachbarte Schweiz; führen, liegt ein Hochtal. Die goldene Frählingsabends ſtunde leuchtet daräber hin. Die Herrgottswände ftrahlen das Licht ber untergehenden Sonne zuruͤck. Frählingswonne in jedem Gras, In jedem Kraut, in jeder Blume, im Moos, in jedem Laut, in jedem Duft. Wie Dantopfer fieigt ber Odem bes neuen Lebens zum Himmel. Die Luft fonnens durchleuchtet. Alles ſtrahlend, funtelnd, jauchzend lebendig.

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Dafeinswonne für jede Kreatur. Der Winter vergeflen, der Tod vergeffen! Leben über Leben!

Es quillt, es ſtroͤmt, es ſproßt und breiter fih aus. Die Gebirgswaͤſſer pendeln und £ofen. Die grünen, ſchwer⸗ belaubten Wipfel wiegen die neue Laſt. Die ſchwarze Erbe ſchickt ungesählte Bunte, duftende Geftalten sum Tageslicht. Die Welt ift nen das Leben ift neu. Jeder Atemzug Ges fundheit und Freube.

Am Weg, der zum einſamen Gehöft Rohrmoos führt, ſteht ein Mädchen, blond, roſig ernft, aber ald wären . Srühlingsträfte auch über fie ausgegoſſen. Ste erwartet jemanden. Den Weg herauf muß er fommen. Und er fommt.

Endlich!

Ste hat lange gewartet, lang anusgefhaut. Zwei Wans derer find an ber Wegbiegung aufgetaucht. Jetzt geht fie ihnen langfam und ruhig entgegen.

„Friedel“, fagt fie im warmen Herzenston, als fie bei ihm if, Helle Tränen ſtehen ihr in den Augen,

Der Mann finder Fein Willkommenswort, er reicht ihr ſtumm die Hand.

„Friedel“, fagt fie wieder. „Friedel“, fo tröftend, fo warm: er tft ja heimgelommen |

Set hebt er ben Kopf und faßt feinen Begleiter bei ber Hand und fagt: „Emil bleibt ganz bei ung oben, ber hat auch die Kunft über Borb geworfen.”

Das Mädchen druͤckt auch biefem bie Hand.

Und fie gehen alle drei wortlos durch bie Iebensmächtigen Fruͤhlingsgewalten, die alle gefunden Kreaturen Winter und Tod vergeffen laffen.

DaB Recht der Mutter

Roman

Erſtes Bud

Erſtes Kapitel

oh als grüner Burſche ſchrieb Ker, das heißt der Student Dmitri Alexaͤndrowitſch Ker⸗Aſowsky in fein Tagebuch: St. Petersburg, ben 2./14. April. -

Ich feße feinen Fuß mehr in die Untverfität. Was bekomme ich dort zu hören? Es iſt wahrlich nicht bes Hingehens wert. Tag für Tag entfetlich wichtige Mienen, aber die Weisheit der Herren fließt tropfenweiſe. Tagtäglih ein fparfam zus gemeſſenes Tröpfchen, ba, wo Ich in vollen Zügen teinfen möchte. Und wie fie vortragen! wie fie vortragen! Semefter für Semefter immer diefelben Wige an berfelben Stelle, die älteren Studenten kennen die Wite alle im voraus. Man denkt unmwillfürlich: morgen kommt es! ja morgen! immer derfelbe Duatih. Und bag nennen die Herren Philoſophie! Entweder willen fie nichts mehr gu fagen, oder fie wagen es nicht. Das iſt nur bei ung in Rußland moͤglich. Dazu der ewige Winter, wir haben April, In Deutſchland tft eg voller Frühling,

Was foll ich Hier?

Sch gehe nach Deutſchland.

Wenn es mir einmal beſtimmt war, über biefen Planeten als Menſch zu wandern, fo will ich es nicht getan haben, ohne dag Höchfte kennen zu lernen, was die Erde uns Menfchen bietet.

Wanderer find wir alle; ich will fehend wandern.

ı2./23. April.

Mein lieber Schwager und Vormund Sıtipann Sztipanno⸗

witſch iſt ganz einverfianben. Er hat fehe liebenswuͤrdig sus

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geſtimmt, Hat fofort die nötigen Mittel angewielen und hat mich laͤchelnd ermahnt, nicht gar zu fparfam zu fein, und dag würde ja wohl die paar Monate bis zu meiner Muͤndigkeits⸗ erklärung reihen; dann Könnte ich ja Aber das Ganze felbft verfügen.

Ich weiß nicht, was Ich gegen ihn babe. Er iſt Immer liebenswuͤrdig und höflich gegen mich, aber Ich mag Ihn nicht. Man fagt Ihm nach, daß er die Bauern fehinde. Auch mein Bender, ber General im Kaukaſus, ift, fo lang wie ich benfen fan, mit Ihm verzankt.

Meine Schwefter Auna Alexaͤndrowna umarmte und füßte nich und konnte fich nicht enthalten zu fagen: „Papa war fehr liebenswuͤrdig gegen dich, obgleih du doch von feiner dritten Frau bift, und kein Menfch dachte Daran, Daß er ſich noch einmal verheiraten wuͤrde. Freifraͤulein von Luͤtzerode⸗ Stefanig, Stiftsdame aus Waitenbah ober Hammelburg bei Schweinfurt... reihsunmittelbar... und allen res gterenden Hänfern ebenbärfig! Warum bat fie Denn nicht einen beutfchen König geheiratet, flatt unferen armen Papa?”

Aber, liebe Unna, fage ich, das fcheint mir doch gauz und gar Papas Sache gewefen zu fein.

„Run natürlich! Warum bift du denn gleich fo empfinds ih? Wie ein echter Deutſcher; du haft ja eine deutſche Mama und eine deutfhe Kindermuhme gehabt. Alles deutfch. Unfer armer Papa. Ich fage ja gar nichts, und du biſt ja felbft bald mändig. Aber du weißt doch, daß deine Mama gar nichts gehabt hat, nur Diplome, Diplome, Diplome ih glaube auch gar Gouvernantendiplome. Geh doch lieber nah Paris. Ein junger Mann muß austoben. Aber wie du willſt. Wenn bu durchaus findieren willft, nun gut, fo geh nach Jena oder wie es heißt, und ſtudiere. Offizier willft du ja nicht werben. Adieu, mein lieber Zunge! Du kannſt dort tun, was du willft, nur bitte, frinfe fein Bier das iſt fo, wie fol ich fagen unfein. Man friegt ſo eine deutſche

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Geſtalt fo did. Man hat mir gefagt, alle Deutſchen fehen aus wie Kartoffeln. Ste laufen alle herum ohne Taille, wie Billardkugeln. Adien, mein lieber Omitri! und fauf’ bir ein huͤbſches Reitpferd. Ich weiß gar nicht, ob es in Deutfchs land huͤbſche Pferde gibt, alles Bierfaß!“

Mas für frifche lebendige Kinder find doch meine Nichten und Neffen: Daaſcha, Szaaſcha, Maaſcha, Paaſcha, Jaaſcha! Sie klettern alle an mir herum. Alle in ruſſiſchen, weiß⸗ ſeidenen Hemden, roten Hoſen und roten Guͤrteln. Jede will etwas haben, ich ſoll jedem was mitbringen, die Alteſte will durchaus noch ein Bruͤderchen. Ja, haſt du denn noch nicht genug? Nein, ſagt ſie, die hauen mich alle! So? und da willſt du wohl einen ſolchen haben, ben du hauen kaunnſt? Ja, anttwortet fie und lacht.

Ich nehme niemand von den Leuten mit, ich gehe ganz

©

An Bord der „Schönen Louiſe“. 14./26. April, 8 iſt das erſte Schiff, das abgeht. Uber trotz aller Uns | bequemlichleiten iſt es mir bier lieber als im Waggon. Die Newa iſt zwar feit einigen Tagen eisftei, aber wir haben noch vollen Winter. Alles weiß.

Schöne Gefchichten, mit Jermaͤk, dem Kutfcher!

Sollte er recht haben mit Sztipaun Sztipannowitſch? Es wird nicht fo ſchlimm werben!

Auf dem Weg vom Gut hierher lag ich behaglich verwahrt und halb traͤumend im Schlitten und blinzelte durch die bereiften Augenwimpern, bald nach dem bampfenden Dreis gefpann, bald rechts und links ins luſtige Schneegeftöber und dachte an ben Frühling In Deutfchland.

„Baarin, Here!” begann bee Kutfcher.

„Run ?”

„He, du Schimmel, munter, munter!“

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„Was willft bu?”

„Du gehft ins Ausland, Herr, nicht? Nach Germanten, In dag Land, wo fie nicht Ruſſiſch forechen ?”

„Freilich, was weiter ?”

„Se, du Steauchbieb, glaubft wohl, man kennt Dich nicht!” und er hieb auf das Hanbpferd ein.

„Laß nur gut fein, laß fie verſchnaufen.“

„Das weiß ich beffer, Herr. Der Schimmel da iſt ein Gauner, ein Hebräer, eine Hundefeele, blingelt Immer zuruͤck, ob ich vielleicht einmal einnide. Wartet nur, Bruͤderchen, ich kenn’ euch alle!” Und er hieb von neuem auf bie Pferde ein, fo daß wir pfeilfchnell Aber die friſche Schneebahn hin⸗ flogen.

„Gerade fo habe Ich deine Schweiter gefahren, Herr.”

„Ben, fasft du?“

„Je nun, beine ältefte Schwerter Jekatirina Alexaͤndrowna. Es iſt freilich Iange ber, und Ich war noch ein rüftiger Kerl. Du wirft nichts davon willen, Herr, denn bu warft ja kaum auf der Welt. Herrgott, Herrgott, wie bie Zeit vergeht! Jekatirina Alexaͤndrowna! Wo mag fie jegt fein? Glaub’ mir, Herr, das war ein herrliches Mädchen. Eine Schönheit, Herr, glaub’ mir, ein Engeldangefiht. Ste bat mir einen Pelz gefchentt, bee Pope könnte auf ſolch einen Pels flo; fein und ih Hund, ich habe ihn verfoffen.“

„Was ersählft du da für Geſchichten? Schweig bo lieber.“

„Wahrheit, Herr!“

„Deine Schweſter ging auch ins Ausland wie du, Herr, und hatte ein Buͤbchen mit, ein Puͤppchen, fo Hein Ih fage die, nicht größer als meine Fauſthandſchuhe und ein Geſichtchen! wie von Wachs, das reine Wachs, und das quäfte fo jaͤmmerlich ich habe laut weinen muͤſſen, wie ich beine Schwerter fuhr. Wir find namlich heimlich ausgeriſſen, mußt du willen, Herr. In ber Nacht. Und dein Bruder

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hat mich hinterher gehörig prügeln laffen. Ach du lieber Gott, was tuen Pruͤgel? Nichts, rein gar nichts. Jekatirina Alexaͤndrowna war fort. Sie hatte e8 mir befohlen, fie nach Petersburg zu fahren, zum Schiff, Warum iſt fie denn nicht wieber gefommen ? Sag’ mal, Herr, kennſt bu beine Schwefter Jekatirina Alexaͤndrowna?“

Es war mir hoͤchſt peinlich, den Alten ſo reden zu hoͤren. Er ſprach mit baͤuriſcher Offenheit von einer Schmach in unſerer Familie. Ich erinnere mich: Ich hatte als Knabe auf dem Boden des Schloſſes ein Paſtellbild aufgeſtoͤbert ein junges Moaͤdchen In Bauerntracht verſtaubt, mit gebroche⸗ nem Rahmen und zerſplittertem Glas, unter einem Haufen Geruͤmpel halb vergraben. Als ich es aber triumphierend der Schweſter Anna brachte, befahl fie mir, es augenblicklich wieder dahin zu fchaffen, wo Ich’8 herhaͤtte. Aber ich ließ das Bild nicht aus den Augen und erfuhr von den Dienfls leuten, daß es meine Altefte Schweſter fei, Jekatirina, daß fie verftoßen fet, und daß fie in Dentihland wohne. Sie fel dort noch weiter gefallen, hieß es und hätte unter Ihrem Stande, einen Herrn Müller, geheiratet, worauf fie dann abgefunden worden fel. Was bei uns mit peinlichſtem Zartgefuͤhl auch nur mit einer Silbe anzudenten vermieden wurde fo lange Fahre, wovon ich felbft foniel wie gar nichts wußte, das ers frechte fih der Alte geradeaus mir ins Geficht zu erzählen. Ich ahnte laͤngſt, daß fich an den Namen der Alteften Schwefter eine ſchwere Schmach unferer Familie knuͤpfte. Jetzt, als Ich die Beſtaͤtigung aus dem Munde des Alten hoͤrte, durchfuhr es mich wie ein Schlag, und ich rief ihm voll tiefen Ver⸗ druſſes zu:

„Halts Maul, Alter!”

Der Alte ſchwieg wir flogen nur fo über die ſchneeige Flache, dann nach einer Weile zügelte er die Pferde, ließ fie im Schritt verfchnaufen, feste fich bequem zurecht und wandte mir fein baͤrtiges, weißbereiftes Geſicht gu.

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„Was willſt du?”

„Du gehft Ins Ausland, Herr, nicht? Nah Germanten, in das Land, wo fie nicht Ruſſiſch ſprechen?“

„Freilich, was weiter?”

„He, du Strauchbieb, glaubft wohl, man kennt dich nicht!” und er hieb auf das Hanbpferd ein.

„Laß nur gut fein, laß fie verſchnaufen.“

„Das weiß ich beſſer, Herr. Der Schimmel da iſt ein Gauner, ein Hebräer, eine Hunbefeele, blingelt immer suräd, ob ich vielleicht einmal einnide. Wartet nur, Brüberchen, ich kenn’ euch alle!” Und er hieb von neuem auf bie Pferde ein, fo daß wir pfeilſchnell über die friſche Schneebahn hin⸗ flogen.

„Gerade fo habe Ich deine Schwefter gefahren, Herr.”

„Ben, ſagſt du?”

„Je nun, beine Altefte Schwefter Jekatirina Alexaͤndrowna. Es iſt freilich Iange her, und Ich war noch ein ruͤſtiger Kerl. Du wirft nichts davon willen, Herr, denn du warft ja kaum auf der Welt. Herrgott, Herrgott, wie bie Zeit vergeht! Jekatirina Alexaͤndrowna! Wo mag fie jet fein? Glaub’ mir, Here, das war ein herrliches Maͤdchen. Eine Schönhelt, Herr, glaub’ mir, ein Engelsangeficht. Ste hat mir einen Pelz geichenkt, ver Pope könnte auf folch einen Pelz fol; fein und Ih Hund, Ich habe ihn verfoffen.“

„Was erzählt du da für Geſchichten? Schweig doch lieber.“

„Wahrheit, Herr!“

„Deine Schweſter ging auch ins Ausland wie du, Herr, und hatte ein Buͤbchen mit, ein Puͤppchen, ſo klein ich ſage dir, nicht groͤßer als meine Fauſthandſchuhe und ein Geſichtchen! wie von Wachs, das reine Wachs, und das quaͤkte ſo jaͤmmerlich ich habe laut weinen muͤſſen, wie ich deine Schweſter fuhr. Wir ſind naͤmlich heimlich ausgeriſſen, mußt du wiſſen, Herr. In der Nacht. Und dein Bruder

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hat mich hinterher gehörig prügeln laffen. Ach du lieber Gott, was tuen Prügel? Nichts, rein gar nichts. Jekatirina Merändromna war fort. Sie hatte e8 mir befohlen, fie nach Petersburg zu fahren, zum Schiff. Warum ift fie denn nicht wieder gefommen ? Sag’ mal, Herr, kennft bu beine Schwefter Jekatirina Alexaͤndrowna?“

Es war mir hoͤchſt peinlich, den Alten ſo reden zu hoͤren. Er ſprach mit baͤuriſcher Offenheit von einer Schmach in unſerer Familie. Ich erinnere mich: Ich hatte als Knabe auf dem Boden des Schloſſes ein Paſtellbild aufgeſtoͤbert ein junges Mädchen in Bauerutracht verſtaubt, mit gebroche⸗ nem Rahmen und zerſplittertem Glas, unter einem Haufen Geruͤmpel halb vergraben. Als ich es aber triumphierend der Schweſter Anna brachte, befahl fie mie, es augenblicklich wieder dahin zu fchaffen, wo Ich’ herhaͤtte. Aber ich ließ das Bild nicht aus den Augen und erfuhr von den Dienſt⸗ leuten, daß es meine Altefte Schwefter fei, Jekatirina, daß fie verftoßen fei, und daß fie in Dentichland wohne. Sie ſei dort noch weiter gefallen, hieß e8 und hätte unter Ihrem Stande, einen Herrn Müller, geheiratet, worauf fie dann abgefunden worden fei. Was bei uns mit peinlichflem Sartgefühl auch nur mit einer Silbe anzudeuten vermieden wurde ſo lange Sahre, wovon ich ſelbſt foniel wie gar nichts wußte, das ers frechte fich der Alte geradeaus mir Ins Geſicht gu erzählen. Ich ahnte laͤngſt, daß fich an den Namen ber älteften Schweſter eine ſchwere Schmach unferer Familie knuͤpfte. Jetzt, ale Ich die Beftätigung aus dem Munde des Alten hörte, ducchfuhr es mich wie ein Schlag, und Ich rief Ihm voll tiefen Vers druſſes gu:

„Halt's Maul, Alter!”

Der Alte ſchwieg wir flogen nur fo über die fchneeige Flaͤche, dann nach einer Weile zügelte er die Pferde, ließ fie im Schrist verfchnaufen, feßte fih bequem zurecht und wandte mir fein bärtiges, weißbereiftes Geficht gu.

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„Was willft du?”

„Du gehft Ins Ausland, Herr, nicht? Nah Germanen, in das Land, wo fie nicht Ruſſiſch ſprechen ?“

„Freilich, was weiter?”

„He, du Strauchdieb, glaubft wohl, man kenne dich nicht 1” und er hieb auf das Handpferd ein.

„Rap nur aut fein, laß fie verſchnaufen.“

„Das weiß ich befler, Herr. Der Schimmel da iſt ein Gauner, ein Hebräer, eine Hundeſeele, blingelt Immer zuruͤck, ob ich vielleicht einmal einnide. Wartet nur, Brüderchen, ich kenn’ euch alle!” Und er bieb von neuem auf die Pferde ein, fo daß wir pfeilſchnell über die friſche Schneebahn hin⸗ flogen.

„Serabe fo habe ich deine Schwefter gefahren, Herr.”

„Wen, fagft du?”

„Je nun, beine ältefte Schwerter Jekatirina Alexaͤndrowna. Es ift freilich lange her, und Ich war noch ein rüfliger Kerl. Du wirft nichts davon willen, Herr, denn du warft ja kaum auf der Welt. Herrgott, Heregott, wie die Zeit vergeht! Jekatirina Alexaͤndrowna! Wo mag fie jet fein? Glaub’ mir, Herr, das war ein herrliches Mädchen. Eine Schönheit, Herr, glaub’ mir, ein Engeldangefiht. Ste hat mir einen Pelz geſchenkt, der Pope könnte auf folh einen Pe fol fein und Ih Hund, Ich habe ihn verſoffen.“

„Was erzählt du da für Geſchichten? Schweig doch lieber.“

„Wahrheit, Herr!“

„Deine Schweſter ging auch ins Ausland wie du, Herr, und hatte ein Buͤbchen mit, ein Puͤppchen, ſo klein ich ſage dir, nicht groͤßer als meine Fauſthandſchuhe und ein Geſichtchen! wie von Wachs, das reine Wachs, und das quaͤkte ſo jaͤmmerlich ich habe laut weinen muͤſſen, wie ich deine Schweſter fuhr. Wir ſind naͤmlich heimlich ausgeriſſen, mußt du wiſſen, Herr. In der Nacht. Und dein Bruder

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hat mich hinterher gehdrig prügeln laſſen. Ach du lieber Gott, was tuen Prügel? Nichts, rein gar nichts. Jekatirina Alexaͤndrowna war fort. Sie hatte e8 mir befohlen, fie nach Petersburg zu fahren, sum Schiff. Warum iſt fie benn nicht wieder gelommen? Sag’ mal, Herr, kennſt du deine Schwefter Jekatirina Alexaͤndrowna?“

Es war mir hoͤchſt peinlich, den Alten ſo reden zu hoͤren. Er ſprach mit baͤuriſcher Offenheit von einer Schmach in unſerer Familie. Ich erinnere mich: Ich hatte als Knabe auf dem Boden des Schloſſes ein Paſtellbild aufgeſtoͤbert ein junges Mädchen In Bauerntracht verſtaubt, mit gebroche⸗ nem Rahmen und zerſplittertem Glas, unter einem Haufen Geruͤmpel halb vergraben. Als ich es aber triumphierend der Schweſter Anna brachte, befahl fie mir, es augenblidlich wieder dahin gu fchaffen, wo Ich’8 herhaͤtte. Aber ich ließ das Bid nicht aus den Augen und erfuhr von den Dienfts leuten, daß es meine ältefte Schwefter fei, Jekatirina, daß fie verftoßen fet, und daß fie in Dentfchland wohne. Sie ſei dort noch weiter gefallen, hieß e8 und hätte unter Ihrem Stande, einen Heren Müller, geheiratet, worauf fie daun abgefunden worden ſei. Was bei uns mit peinlichſtem Zartgefühl auch nur mit einer Silbe anzudenten vermieden wurde ſo lange Sabre, wovon Ich felbft fontel wie gar nichts wußte, das ers frechte fich der Alte geradeaus mie Ins Geſicht zu erzaͤhlen. Sch ahnte laͤngſt, daß fih an den Namen ber aͤlteſten Schwefter eine ſchwere Schmach unferer Familie knuͤpfte. Jetzt, als Ich die Beftätigung aus dem Munde des Alten hörte, durchfuhr es mich wie ein Schlag, und Ich rief Ihm voll tiefen Vers druſſes zu:

„Hall Maul, Alter!”

Der Alte ſchwieg wir flogen nur fo über die fchneeige Fläche, dann nach einer Weile zügelte er die Pferde, ließ fie im Schritt verfehnaufen, feßte fih bequem zurecht und wandte mir fein bärtiges, weißbereiftes Geficht gu.

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„Steh mal hin, Herr, dort geht ein Jude.”

Der Jude, ein riefiger Kerl mit bufchigen Brauen, zog die Muͤtze und grüßte demuͤtig. Der Alte ſchmunzelte über das ganze Geficht, fuhr mit der Hand herunter, holte die Ede feines Kaftans hervor, formte in aller Geſchwindigkeit aus dem Sipfel ein Ding, bag ein Schweinsohr darftellen follte, und fuchtelte Damit gegen den Juden.

„Hebraͤer!“ fchrie er, „be Schweinsohr, Schweinsohr, Schweinsohrl” und lenkte die Pferde fo plöglich zur Seite, daß der Jude mit einem jähen Sag vom Wege in den tiefen Schnee ausweichen mußte.

„Laß doch deine Poſſen“, rief ich dem Alten gu.

„Was willft du, Here?” entgegnete er gelaflen, „ich hab’ es immer fo gehalten, e8 war ja ein Zube! Haft du gefehen, Herr, wie er fpringen mußte? Wie ein Hafe!“

Nah geraumer Weile fprach er weiter:

„Sp was wäre gewiß nicht bei den Juden geſchehen. Glaubſt du nicht, Herr?”

„Was denn?”

„Sewißlich nicht, das find andere Leute, diefe Juden!” „Was willſt du denn mit deinen Juden?”

„Andere Leute als wir. Alle ordentlich, Feine Säufer. Und hängen wie Kletten aneinander, und einer verläßt den andern nicht, und verlaffen auch ihre Kinder nicht. Sa, andere Leute, als wie wir.”

„Seit wann lobft du denn die Juden?”

„Alles, was recht iſt, Herr. Ich bin ein rechtgläubiger Chriſt und Hab’ alle Sonntag meinen Juben verhauen. Ich hab’ immer welche erwiſcht. Jet tuen e8 die jungen Burſchen, und mein Sohn Ift auch dabei. Und der iſt doch auch fein Juͤngling mehr, und dann werben es meine Enkel tun. Und das muß auch fo fein, denn die Juden haben den Erloͤſer ges frensist. Und meinen Sohn bat doch deine Schweſter Jekatirina Alexaͤndrowna aus der Taufe gehoben, und war

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doch ſelbſt noch ein halbes Kind. Das weißt du doch, gnaͤdiger Here?” Ich ließ ben Alten ſchwatzen, er war ja doch nicht zu

n. „Du lieber Gott, das iſt ſchon lange her, wer will denn das genau wiſſen, aber dreißig Jahre ſind es her. Wie geſagt, Herr, deine Schweſter war ſelbſt noch ein halbes Kind, aber klug war ſie und ſchoͤn, wahrhaft ein wahres Engelsangeſicht. Und was ſie ſagte, das blieb geſagt, und was ſie tat, das war getan. Sie konnte alles. Du haͤtteſt ſie nur ſehen ſollen, wie fie ſolch ein Dreisefpann meiſterte! Wie nichts! Und es hatte fie doch niemand gelehrt. Es war ein richtig ruſſiſches Kind! Immer luſtig und guter Dinge, lachte und fang ben ganzen Tag,

Sp gingen die Jahre Hin auch du wirft es erleben, Omitri Alexaͤndrowitſch!

Da kam eines Fruͤhjahrs zu Oſtern ſolch ein Petersburger Fant, ſchnauzbaͤrtig und ein Krauskopf, auch nicht ganz jung, der malte alle die Herrſchaften, ber malte überhaupt alles, den ganzen Tag, und fihrieb alle Haͤuſer und Bäume ab. Nur Heiligenbilder fonnte er nicht malen, denn er war ein Jude, fo wahr Gott lebt, ein Jude, ober ein Deutſcher, oder ein Katholil. Nun haͤtteſt du aber die Herrin fehen follen, die war gleich ganz weg von Ihm, und lafen ben ganzen Tag, oder malten und ritten, und Jekatirina Alexaͤndrowna war wie umgewandelt, hing an feinem Munde, umd allerlei Dummheiten brachte er ihe bei. Ste mußte rings in die Dörfer und mußte die Bauern lefen lehren und Tag und Nacht zu armen Kranken laufen und berfei mehr! Als ob fih das für eine Herrſchaft ſchickte.

Und als er fortsing, Herr, da war unfere Sefatirina Alexraͤndrowna wie sufammengebrochen . . . wie hin, das war ein Sammer: Wenn ich ſpaͤt abends ang der Schenfe Fam und alles war ſchon totenſtill, da fand meine Herrin am offenen

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„Steh mal hin, Herr, dort geht ein Jude.”

Der Jude, ein viefiger Kerl mit bufchigen Brauen, 309 die Muͤtze und grüßte demuͤtig. Der Alte ſchmunzelte über das ganze Geficht, fuhr mit der Hand herunter, holte die Ede feines Kaftans hervor, formte in aller Geſchwindigkeit aus dem Sipfel ein Ding, das ein Schweinsohr barftellen follte, und fuchtelte Damit gegen den Juden.

„Hebraͤer!“ fchrie er, „he Schweinsohr, Schweinsohr, Schweinsohe!” und lenkte die Pferde fo plöglich zur Seite, daß der Jude mit einem jähen Sat vom Wege in den tiefen Schnee ausweichen mußte,

„Laß doch deine Pollen”, rief ich dem Alten gu.

„Was willft du, Here?” entgegnete er gelaflen, „ich hab’ es immer fo gehalten, e8 war ja ein Jude! Haft du gefehen, Herr, wie er fpringen mußte? Wie ein Hafe!”

Nah geraumer Welle fprach er weiter:

„So was wäre gewiß nicht bei ben Juden geſchehen. Glaubſt du nicht, Herr?”

„Was denn?”

„Gewißlich nicht, das find andere Leute, diefe Inden!” „Was willſt du denn mit beinen Juden ?”

„Andere Leute als wir. Alle ordentlich, Feine Säufer. Und hängen wie Kletten aneinander, und einer verläßt den andern nicht, und verlaffen auch Ihre Kinder nicht. Sa, andere Leute, als wie wir.”

„Seit wann lobſt du denn die Juden?”

„les, was recht iſt, Herr. Ich bin ein rechtgläubiger Ehrift und hab’ alle Sonntag meinen Juden verbauen. Ich hab’ immer welche erwifcht. Jetzt tuen es die jungen Burſchen, und mein Sohn iſt auch dabei. Und der iſt doch auch Fein Juͤngling mehr, und dann werden e8 meine Enkel tun. Und das muß auch fo fein, denn die Juden haben den Erldfer ges kreuzigt. Und meinen Sohn hat doch beine Schwefter Jekatirina Merandromma aus der Taufe gehoben, und war

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Doch ſelbſt noch ein halbes Kind. Das weißt du doch, gnaͤdiger Herr zu

Ich ließ ben Alten ſchwatzen, er war ja doch nicht gu halten.

„Du lieber Gott, das tft ſchon Tange her, wer will denn das genau willen, aber dreißig Jahre find es her. Wie gefagt, Herr, beine Schwefter war felbft noch ein halbes Kind, aber Aug war fie und ſchoͤn, wahrhaft ein wahres Engelsangeficht. Und was fie fagte, das blieb gefagt, und was fie tat, das war getan. Sie fonnte alles. Du haͤtteſt fie nur fehen follen, wie fie folch ein Dreigefpann meifterte! Wie nichts! Und es hatte fie doch niemand gelehrt. Es war ein richtig ruſſiſches Kind! Immer Inflig und guter Dinge, lachte und fang den ganzen Tag, |

So gingen die Jahre Hin auch du wirft es erleben, Dmitri Alexaͤndrowitſch!

Da kam eines Fruͤhjahrs zu Dftern folch ein Petersburger Sant, ſchnauzbaͤrtig und ein Krauskopf, auch nicht gan jung, der malte alle bie Herrfchaften, der malte uͤberhaupt alles, den ganzen Tag, und fihrieb alle Häufer und Bäume ab. Nur Helligenbilder konnte er nicht malen, denn er war ein Jude, fo wahr Gott lebt, ein Jude, ober ein Denticher, oder ein Katholik. Nun hätteft du aber die Herrin fehen follen, die war gleich ganz weg von ihm, und lafen ben ganzen Tag, oder malten und ritten, und Selatieina Alexaͤndrowna war wie umgewandelt, hing an feinem Munde, und allerlei Dummbheiten brachte er ihr bei. Sie mußte rings in bie Dörfer und mußte die Bauern lefen lehren und Tag und Nacht gu armen Kranken laufen und berfei mehr! Als ob fih das für eine Herrichaft ſchickte.

Und als er fortging, Herr, da war unfere Jekatirina Alexaͤndrowna wie sufammengebrochen . . . wie bin, bag war ein Sammer: Wenn ich ſpaͤt abends ans der Schenfe kam und alles war fchon totenſtill, da ſtand meine Herrin am offenen

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Senfter und weinte und fehluchste, daß mir das Herz im Leibe gerreißen wollte. Oder fie fchlih am Waſſer auf und ab. Da hab’ ich fie nach Haufe gebracht und hab’ fo manche Nacht wie ein Hund vor Ihrem Fenſter auf bloßer Erde ges ſchlafen.

.... Na, es kam der Winter und verging.... Jekatirina Alexaͤndrowna war nach Petersburg gegangen. So, gegen das Fruͤhjahr wie heute kam ſie aufs Gut zuruͤck und brachte ein Kindchen mit und ſagte, es wäre nicht ihr’g, und wollte fo friedlich weiterleben, als ob gar nichts gefchehen wäre. Sa, wenn bein Vater gelebt hätte, ber würde das Kinds chen wohl aufgenommen haben, ben aber hatten fie gerade in den Sarg gelegt und Ihn ber Erbe und ber Auferfiehung übergeben. Du, Dmitri Alexaͤndrowiſch, haͤtteſt auch nicht geduldet, daß deiner leiblichen Schweſter Unrecht gefchehe. Aber du warft felbft Faum geboren, warft felbft noch ein zartes Kind, ſechs Wochen alt und noch bei der Amme und ber Deuts fhen Kindermuhme. Unerforſchliche Wege Gottes! deine Brüder verftießen die Schwefter und fasten fih von ihr los; und es war fein Mitleid bei ihnen zu finden,

Da find wir denn in der Nacht fort; gerade wie Ich dich heute fahre, Herr, fo hab’ ich beine Schwefter und dag Kindlein gefahren. Die wollte auch Ing Ausland grad’ wie bu. Da Hab’ ich Ihe gugerebet und geſagt: Jekatirina Alexaͤndrowna, sehe nicht von uud. ‚Ich will fort, dahin, mo beffere Mens fchen find.‘ Gehe nicht, mein Tächterchen, gehe nicht! Ih kann ja nicht anders, Jermaͤk, antwortete fie und weinte, ‚bier will mich ja niemand mehr‘ Ah, bu heis fige Mutter Gottes, fie Hatte recht. Es Hat ihr niemand geholfen und niemand ein guted Wort gegeben, was fonnte fie un?

Dort im Walde habe ich gehalten, denn das Kindchen fchrie. Da baben wir es beide gefüttert. Da fagte die Herrin zu mir: ‚es lacht ja gar nicht, Jermäl.‘ Da hab’ ich fie getroͤſtet und

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hab’ ihr gefagt: Warte nur ein Hein wenig, Jekatirina Merändrowna, Bald wird das Wuͤrmchen dich kennen und bald lachen; warte nur ein Hein wenig, meine liebe Herrin.

Dann mußte ich fie ans Schiff fahren, am Newaufer, gerade wie ich dich heute hinfahren werbe. Damals gab es noch feine Bahnen. ME fie aber ausſtieg, da hab’ ich mich nochmals vor ihr auf die Erde geworfen, hab’ ihr die Füße gekuͤßt und hab’ ihr gefast: Gehe nicht von uns, Selatirina Alexaͤndrowna, Mütterchen, gehe nicht von uns, mein blaues Taͤubchen, du wirft Elend erbulben in der Frembe, mein Engel, Bleib bei uns und ersieh das Kind rechtgläubig. Aber fie weinte und fagte nur: Ich gehe zu befleren Mens

ſchen.

So ging ſie und hatte nicht einmal einen Pelz mit, nur ein Koͤrbchen ſo groß und nichts mehr. Aber ich habe dem Kinde ein Bildnis der kaſaniſchen Gottesgebaͤrerin mit⸗ gegeben.

Acht Tage bin ich nicht nach Hauſe gekehrt und habe mich mit den Pferden in Petersburg herumgetrieben. Da iſt denn der Pelz, den mir Jekatirina Alexaͤndrowna geſchenkt hat, drauf gegangen, und dein Bruder hat mich pruͤgeln laſſen. Herrgott! was ſind Pruͤgel?“

Nach einer Weile begann der Alte wieder:

„Es war unrecht von dir, Herr, daß du mir vorhin den Mund verbotſt. Solch ein junger Herr, wie du biſt, ſoll gar nicht mitreden uͤber Dinge, die er nicht verſteht. Solange wir jung ſind, ſind wir alle dumm. Erſt das Alter macht klug, Herr, und vor Gott ſind wir alle gleich, Herren und Diener, Suͤnder und Gerechte, und es ſoll ſich niemand uͤber⸗ heben. Es iſt freilich eine große Schande, wenn ein Maͤd⸗ chen ein Kind hat und dazu bei ſo vornehmen Leuten, wie ihr ſeid. Aber chriſtlich iſt es nicht, die Seinen zu verlaſſen, wenn

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fie in Not find, wie Ihr es getan habt mit Jekatirina Alers aͤndrowna.“

Ich ſagte kurz: „Es geſchieht jedem, was recht iſt und was er ver⸗ dient.”

„Berfündige dich nicht, Omitri Alexaͤndrowitſch, denn es ſteht gefchrieben: ‚ber Menfch foll fein Tier fein, und nur dag Schwein frißt fein eigenes Fleiſch und Blut‘, und darum dürfen auch die Inden Fein Schwein anrühren, wir aber, wir Ehriftenmenfchen, was tun wie?... Es iſt freilich eine große Schande, wenn ein Mädchen ein Kind hat eine große Schande —, vor den Menfchen, aber nicht vor Gott. Und was Gott unläßt, das will er... Ich weiß wohl, was die Leute fagen, aber das find gotflofe Leute, Neider. Gute Menfchen reben gut, und Gott haßt nicht den armen Sünder. Und felbft wenn e8 in heiligen Schriften gefchrieben ſtuͤnde, es ift nicht wahr! Das iſt Menfchenfatung, Gottes Wille iſt anders. Und die Popen willen gar nichts zu fagen, fie wollen Bloß das große Wort behalten und wollen ihre Ges buͤhren; fie tragen ihre Haare lang, aber lange Haare, kurzer Verſtand.

Hoͤre mich einmal an, Dmitri Alexaͤndrowitſch:

Wenn einmal von dir ein Maͤdchen, was Gott verhuͤten möge, ein Kindchen haben ſollte ſag mal, Here wuͤrdeſt du ihr darum gram ſein? Oder wuͤrdeſt du ſagen koͤnnen, ih bin nicht ſchuld, nur das Maͤdchen allein iſt ſchuld? .... und wenn du's täteft, wirft du da nicht ein Hund? .... Und wenn du das Mädchen verließeft, wärft du's nicht wert, daß man dir Ins Angeficht ſpie? ber die neidifchen Menfchen fallen gleih über das Mädchen her, wie bie Wölfe Aber ein geſtuͤrztes Pferd, und zgerreißen es mit ihren Zähnen.

Hat uns Chriften der heilige Joſeph nicht felbft ein Bei⸗ fpiel gegeben? und iſt die heilige Mutter Gottes nicht eine

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MEERE a

Jungfrau? Und ber Erldfer felbft hatte feinen Vater auf Erden.

Gottes Barmherzigkeit tft groß, fonft hätte Gott die Mens ſchen fhon alle vom Erdboden verfilgt, weil fie fein Beiſpiel nicht achten; und verdrehen e8 und verberben es. Und wenn e8 ein Geſetz tft, fo iſt es ein fehlechtes Geſetz. Alle Geſetze find menfchlich, fie fommen und gehen und wechfeln, wie bie Menſchen. Der alte Pope ſtirbt, und es kommt ein neuer, und der prebigt anders als ber alte. Gottes Allmacht ruft den Zaren ab, und es kommt ein junger Zar, ein herrlicher Zar, der übt größere Barmherzigkeit und gibt mildere Ges fege, und bie alten Geſetze gelten nicht mehr.

Dies alles iſt Wahrheit, wahrhaftige Wahrheit und wenn dies nicht Wahrheit ift, nicht wahrhaftige Wahrheit, fo wider⸗ fprich mir, Herr, und unterrichte mich und belehre mich und berichtige mich.

O Menfhen, Menſchen, böfe Menfchen! .. .

Sag’ mal an, Herr, wo wohnt benn eigentlich beine Schweiter? Lebt fie in Berlin? oder in Paris? oder in Deutfchland? oder in Germanien? Nun, du wirft es ſchon willen, wo fie lebt, du wirft fie fchon finden.

Aber antworte mir, Herr, du wirft doch deine Schweiter im Elend aufjuchen ?

Wenn du bei ihr bift, fo fage zu Ihe: Der alte Sermäf lebt noch und läßt dich demuͤtig grüßen, Herrin; und fieh zu, ob dag Heine Wuͤrmchen gedeiht, und ob fie es hat taufen laſſen, rechtglaͤubig, und ob es das heilige Gottesbild noch trägt, das Ich Ihm mitgegeben habe, das Bildnis von ber heiligen Mutter Gottes von Kaſan! Und bring fie wieder hierher, zu uns nad Rußland. Wir wollen fie empfangen wie eine Zarin und wollen ein Feſt im Dorf veranftalten und ein Gelage, da foll keiner nüchtern bleiben! und wollen ihe Wohl teinten nicht in gemeinem Branntwein, nein, in gereinigtem Brannut⸗ wein, und alt und jung foll Dabei fein. Kommt alle beide

14 Böhlau III. 209

im Winter wieber gu ung zuräd, wenn bei uns in Rußland der Schnee wieder fällt, deun draußen, da follen fie im Winter feinen Schnee haben. Was tft ein Winter ohne Schnee ? Und wie kann dag ein Menich aushalten ?

Nun weiß ich aber nicht, ob ich dir frauen foll, Herr, oder nicht. Wenn. du nach deinen Brüdern gerätft, fo wirft du auch fchlecht und wirft deine Schwefter verlaflen wie fie; denn th habe es ihnen allen beiden gefagt, wie ich es bie heute fage, und keiner von ben beiden hat Jekatirina Alexaͤndrowna wiebergebracht. Ste waren fchlecht, und der eine lebt noch! Sztipann Sztipannowitſch, dein Vormund, wird dich um Haus und Hof bringen, ehe du muͤndig biſt.

Nun, tw’ ferner nach deinem Willen, Herr, ber Wille iſt dein, und wir Elenden vermögen nichts, unb was der Arme redet, Ift in den Wind gefprochen, und Gottes Auge If überall!

Schau einmal Hin, Herr, dort über den Nebel da fiehft du fhon Petersburg, da blinken fchon die Kuppeln des heiligen Zempels Saat, und die Sonne ſcheint darauf!

Heba, meine Pferdchen, greift ang!

Herr Sort im Himmel! wie iſt Doch Rußland fo groß und fo weit, Viele Tage kannſt du fahren, immer gerade aus, oder nach rechts oder nach links, und es hat nie ein Ende. Und Immer wechfeln ab dunkle Wälder und grüne Wieſen und goldene Roggenfelder, du fährft durch Heine Bäche mitten hindurch und kommſt an mächtige Ströme und über weite Ebenen und hohe Berge. Aus einem Heinen Doͤrfchen faͤhrſt du aus, und ſchon blinken bie in ber Ferne goldene Kuppeln. Zaufend goldene Kuppeln von Mechangelst bis Kafan und taufend bis Nowgorod, und taufend find in Moskau, dem Mütterchen, allein!. ... Rings herum draußen, ba wohnen die Türken und Schweben und alle die Verworfenen, Uns gläubige und Heiden, und auch ſchwarze Völker, ſchwarz wie ber Teufel. Aber niemand wird bir je etwas anhaben

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fönnen, du mein heiliges Rußland! Weber bie Franzoſen, noch die Engländer! Du haft fie alle gefchlagen. Vor ung haben Helden gelebt und nach ung werden Helden kommen, dich allezeit zu verteidigen.

Horche Hin!

Aus allen Kuppeln, da lauten die Glocken zur Ehre Gottes, des Höchften! Alles bat Gott Rußland verliehen, Gold und Silber und Roggenfelder, und über alles herrfcht ein rechts gläubiger Zar! Gott erhalte ihn!

Hurrah, ihe meine ruſſiſchen Pferdchen!“

1. Mai, 8 Uhr, an Bord der „Schönen Louiſe.“ Swinemuͤnde, Deutfhland in Sicher!

Zweites Kapitel

Sena, 4. Mal.

iee Tage hatte und die Oſtſee geſchaukelt, als wir in dag

enge Fahrwaſſer der Swine einlenften und vor Swines münde anlegten. Ach betrat deutſchen Boden. Das Wetter hatte fich in biefen Tagen allmählich freundlicher geftalter. Am blauen Himmel sogen leichte Woͤlkchen, und ein milder Wind firich über die in vollem Lenzesſchmuck prangende Lands (haft. Niedrige befcheidene Häuschen, von wilden Wein umrankt, Obſtbaͤume in voller Blüte, Deutich redende Mens ſchen. Was mir als Knabe vorgeſchwebt, war zur Wirklichkeit geworden. Deutfchland! Das Land der Dichter und Denker, der tiefen Liebe und Treue. Das Land des umfaflenden Wiſſens, ehrlicher Arbeit, da8 Land ber Biederkeit und Redlichkeit! Goethes Land! Ich empfand alles wie ein Wunder.

Gegen Abend langten wir in Stettin an, und noch in ders felben Nacht war Ich In Berlin und ſah auf die menfchens leere Straße ‚Unter den Linden‘. In den Tagen auf ber See waren mir die Worte des alten Jermaͤk immer wieder von neuem duch den Kopf gegangen und hatten In mir den Entſchluß gezeitigt, die Schwefter aufzuſuchen. Und zwar gleich. Ehe der Zug mich tags darauf weiter führte, hatte Ich nur wenig Zeit, mich umzuſehen. So kurz mein Blid war, ben ich auf Berlin werfen konnte, er genügte mir, die Übers jeugung zu geben, daß ich eine neue Wels betreten hatte, und Ih fagte mir mit Verwunderung, daß hier jeder Stein intelligent liege.

Es war meiner Mutter Heimatland, burch das ich fuhr ih ſtand ihm nahe.

Sefatirina Alexaͤndrowna, meine dltefle Stiefichweiter, von ber Jermaͤk fo wunberlich gefprochen, lebt auch in Deutſch⸗ land, das wußte Ich, aber wo In Deutfchland? Man ſprach

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ſpoͤttiſch von ihre, daß fie ‚findierte‘ in einem verlorenen Banernneft, einer fogenannten Univerſitaͤtsſtadt. Gut! Viel⸗ leicht iſt es Jena.

Den erſten Abend, als Ich in dem winzigen Neſt, das ſo angenehm zwiſchen fonderbar geformten Bergen liegt, im Gaſthof zum Bären faß und es mie wohl fein ließ das Neft geflel mir, heimelte mich an es war fo deutſch genau fo wie ich „deutſch“ mie vorgeftellt Hatte da kam mir ein bünnes, abgegriffenes Heft In die Hand, dag auf dem Tiſch im GSpeifesimmer lag, das Adreßbuch, ich ſah Hinein und erfuhr fo, gleich eine Halbe Stunde nach meiner Ans kunft, am allererfien Abend, daß meine Schwefler wirklich biee gerade hier lebte. Unter den zwei Dugend, Namens Müller, war richtig eine Katharina, verwitwete Müller, und jedermann wußte von ihr, daß fie eine ruſſiſche Fuͤrſtin ſei.

Jermaͤk, der ernſte Jermaͤk würde ſagen: „Wunderbare Fuͤgung Gottes.“

Und ich machte mich ohne Zoͤgern auf.

Ich marſchierte durch die Straͤßchen, ſchoͤne alte Baͤume, alte Mauern, alte Haͤuſer alles im Fruͤhlingsſchmuck die Luft weich, das Leben heiter, ſo etwas wie zwanglos, alles laͤcherlich richtig deutſch“. Auf dem Marktplatz ſaßen Studenten am Tiſche, im Freien, tranken und ſangen.

Meine Schweſter wohnte ein Stuͤck draußen vor der Stadt.

Ich fand mich ganz gut zurecht. Das Haus lag in einer Seitenſtraße der alten Chauſſee nach Weimar.

Bald ſtand ich vor dem Hauſe dies mußte es ſein mitten in einem Garten lag es. Wie ich bei dem ſternen⸗ hellen Himmel ſehen konnte, war es ein einfaches Landhaus mit einem hohen Ziegeldach. An dem Gartentor taſtete ich nach einer Glocke.

Aus einem großen Ausbau uͤber dem Dach ſchimmerte ein

Lichtſchein.

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Es blieb lange alles fill. Niemand kam, mir gu öffnen.

Endlich tat fih Im erſten Stod ein Fenfter auf und eine harte, angenehme Stimme rief deutſch, Doch unverkennbar in unferem ruſſiſchen Deutfch:

„Wer tft da bitte gu fagen.”

Mir Hopfte das Herz, und Ich wußte nicht recht, was Ich antworten follte.

„Run ?” rief es noch einmal,

„Dein Bender!” rief Ich.

„Bellen Bender ?”

„Nun, bein Bruder ans Petersburg.”

„Seh’ nur wieder fort, ich hab’ keinen Bruder.“

Das Fenſter ſchloß fih heftig, und es währte eine ganze Welle, da hörte ich, wie das Fenſter wieder geoͤff⸗ net wurde.

„Jekatirina Alexaͤndrowna“, rief ich.

„Run, wer iſt es denn?”

„Omitri.“

„Was fuͤr ein Omitri?“

„Von Papas dritter Frau.“

„Der Deutſchen?“

„Ja, der Deutſchen.“

„Alſo das Baby der Stiftsdame?“

„Ja, ja!“

„Das Tier ſchlaͤft ſchon.“

„Welches Tier?“

„Ich kann dir das Tor nicht aufmachen!“

„Ich ſteige über, wart!”

Dabei ſchwang ich mich auf den Zaun zum Überſteigen und ſaß rittlings auf dem Torpfoſten und ſchaute ſehr bedenk⸗ lich nach allerlei Spitzen und Stacheln, die das Tor mit teufliſcher Raffinerie flankierten.

„DOmitri?“ rief es noch einmal fragend.

„Ja wohl, Dmitri!“

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Es folgte eine lange Paufe.

„Jekatirina Alexaͤndrowna!“ rief ich ungebulbig. „ch bitte, entfchließe dich, ob du mich überhaupt hereinläßt. Ich fige Höchft unbequem auf deinem verbammten Stachels zaun... Gut alfo, Ich werde morgen in aller Form um eine Audienz nachfuchen. Meine Empfehlung!”

„Run, fo komme aus Haus, ich will aufichließen !”

Ich ſtieg aͤußerſt behutfam in ben Garten herunter.

„Scheußliches Frauenzimmer“, fagte ich halblaut, als ih trotz aller Borficht wieder in einen Stachel gegriffen hatte.

Ein Lichtfchein fiel durch den Ritz unter der Tür. Der Schläffel drehte ſich langſam Im Schloß.

Ich feat ein. In der aͤußerſten Ede des Vorſaals fand eine mittelhohe Geſtalt in ſchwarzem Kleide und auf dem ers grauten Haar ein ſchwarzes Spitzentuch, in ber Linken einen Stod und in der Rechten ein blitzendes Ding, wahrhaftig! ein Revolver! Sie fland vor ber Portiere einer halbgeoͤff⸗ neten Tür, offenbar um fich unter Umſtaͤnden den Ruͤckzug zu fichern,

Dies follte nun fehr gefährlich ausſehen, aber ein Pudel, ein wunderſchoͤnes braungefchedtes Tier, der fi bis dahin gang fill verhalten hatte und wie auf etwas Befonderes gewartet zu haben fehlen, war offenbar Aber die Situation ganz anderer Meinung als feine Herrin und nahm alles für einen ganz außerorbentlihen Spaß. Er fprang bin und ber, webdelte aus Leibesträften, warf ſich auf die Vorderpfoten und blaͤffte feine Herrin kreuz⸗ fidel an.

„Couche-toi! canaille!“

Dann wendete fie fich zu mir mic herrifcher Stimme:

„Nimm das Licht und geh die Treppe voran. Geh nur voran!” wiederholte fie haſtig, als ich gögerte, „Du biſt doch auch ein Spiebube wie alle andern!”

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Ich gehorchte lachend, und die Schwefter Humpelte hinter; drein, bei jedem Schritt ben Stod ſchwer auflegend.

„Halt!“ rief fie auf Halber Treppe und blieb ſchwer atmend fieben. „Ich babe dich Ins Haus gelaffen unter der Bes dingung, daß ich nichts von dort höre! Ich meine unfer Rußland. Keine Silbe! Nichts von den Brüdern Nichts von der Schwefter, nichts vom Schwager, nichts von der sangen Sippfehaft! Ich will nichts von ihnen hören, nichts von Rußland, nichts von Petersburg, nichts vom Sur! Nichts vom Geld, oder Erbfchaft, oder Verföhnung! Will nichts willen, hören Kanallle! Alles Kanaille! Ich kann nicht, ich will nicht! Ich Hab’ genug!” „Gott ſei gelobt,” fegte fie etwas ruhiger hinzu, „ich bin zwanzig Jahr ohne euch ausgefommen.” Auf dem Treppenabfob fand fie wieder ftill.

„Warte mal,” fagte fie aufatmend, „du wirft doch gerabe fol ein Narr fein wie alle anderen und willen wollen, wie e8 mit dem Kinde iſt. Gut, So iſt ed: dag Kind iſt nicht mein,

Ich fag” das dir, wie ich's deinen Brüdern fagte es geht niemand etwas an, und wenn Ich gehn Kinder hätte. Ob ihr es glaubt oder nicht glaubt gleichgültig abs getan.”

Jekatirina tappte die Treppe weiter in die Höhe,

„Wohl aus der Art gefchlasen heh? Wäre nicht Abel beutfches Blut alfo dann nimm dich nur In acht du hoͤrſt du!”

Ich wendete mich um: „Bor wem in acht? Vor dir in acht?”

„Nein,“ ſagte Selatirina, „vor deinen lieben Verwandten in Rußland.”

Wir harten den erſten Stod erreicht.

„Höher hinauf!” fagte Jekatirina, blieb aber wieder ſtehen. „Mbrigens, um alles abgetan zu haben, das Kind iſt ſchon

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zwanzig Sahre tot oder dreißig, Ich weiß nicht, Zeit iſt nichts, und gehört wirft du haben, daß ich hier in Deutichland verheiratet war diefe Heirat iſt wie Ablich, das heißt ums glädiich, ausgefallen. Gottlob! Ich habe ein ſchnelles Ende gemacht. Nun iſt auch er laͤngſt tot. Ach bin allein und das tft gut fo iſt mie recht fehr recht. Ich heiße Stau Müller, nicht wahr, huͤbſch?“

Jetzt waren wir im zweiten Stod, ber mir eine Art aus⸗ gebauter Bodenraum zu fein fehlen. .

Meine Schwefter Iffnete eine Tür, und wir ſtanden in einem hohen turmarfigen Raum, mit Bticherregalen an ben Wänden, mit Oberlicht, eine große Offnung, durch welche die Sterne hereinblidten und die frifche Luft einftrömte, ein mächtiges Glasfenſter mar zuruͤckgeſchlagen

Und unter der Öffnung, da fland ein prachtoolles, aſtro⸗ nomifches Fernrohr und blinkte und ſchimmerte und war aufs gerichtet und geftellt

„Stell’ dich fo ſo fo fage Ih!" Meine Schweiter führe mich ungeduldig an.

„Richt anruͤhren nicht verräden.”

Und ich beugte mich ein wenig und fah Mar und

dentlih auf tieffhwargem Grunde den bligenden Jupiter und feine vier Moͤudchen zum erflienmal in meinem Leben. „Dabei haft du mich vorhin geftört”, fagte meine Schwefter. „Jetzt feß’ dich.” Wir fpeachen dann ruhiger miteinander und ich ſchaute mich In dem flillen Naume um. Die Sterne biidten gu ung hernieder. Es brannte eine Lampe, dicht vers dedt, mit großem, geänem Schirm. Meine Schwefter ſaß zuruͤckgelehnt auf einer Ehatfelongue, und ich ging im Raum auf und nieder und wußte nicht recht, wovon Ich reden follte.

„Du gehoͤrſt alfo zu den Menfchen, die im Zimmer bin und. herlaufen fo fo!” fagte fie.

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Ste ſaß zurädgelehnt, faft Ilegend, und ſah auf mid, Innigkeit, Bedauern und Mitleid im Blide, dann erhob fie ſich fchwer, feat an ben Tiſch, ſchlug den Dedel eines Buches zuräd und wies mit dem Finger auf das vorgeheftete Bildnis eines Mannes mit großer Stirne, von fpärlichen Haaren affenartig eingerahme, mit Hugblidenden Augen und riefigem Maul,

„Kennſt bu den?” fragte fie und ſah mich eigentuͤm⸗ lich an.

Sch las: „Arthur Schoppenhauer.”

„Nicht Schoppenhauer, Schopenhauer“, fagte fie.

„Rein, Ich kenne Ihn nicht, was iſt's mit dem?“

„Bas mit dem iſt? nun, wenig und viel, wie man es nimmt! Ein alter Mann, ber fih und andern das Leben fauer gemacht bat. Ein deutfcher Bär von klaſſiſcher Grob⸗ heit. Ein Zänfer, der In jebermann feinen Feind wittert, immer bereit, um fich zu hauen und jeben zu Boden zu ſchla⸗ gen, der anderer Meinung fein will als er. Immer in Angſt und auf ber Wehr, halb Hafe, halb biffiger Köter. Einer, der fih wie Preistämpfer sum Fauſtkampf fein Lebelang zur Philoſophie trainiert hat. Weißt du, ein Einfiedler, der die Menfchen nicht entbehren kann. Einer, der ſehr folk darauf ift, Daß er Spaniſch kann, denn Latein und Griechiſch fönnen andere auch; ein Deuticher, der fich ſcheut, deutſch su fein, und prahlt, von Niederländern abzuſtammen, ein Menſch, wie andere auch, der in Ermangelung von etwas Beſſerem Bücher fehreibt, der feine Kapitelchen mit Übers ſchriften aus allen Sprachen verfleht, der andere niebers donnert und fich uͤberhebt, der fih krank ärgert, daß Ihn alle Melt links liegen läßt und daß ſich kaum einer findet, ber in ihm, wofür er fich felbft halt, bag Liche ber Wels erblidt. Ein Menfchenfeind, der feinen Pudel Höher wert halt als die beiten Steunde, ber jede Dummheit unbarmbersig an ben Pranger ftellt, der nur ein Ziel hat, feine Weisheit ficherguftellen, der

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zu kurz trifft ober übers Ziel hinaus und nur hin und wieder Ins Schwarze, groß auf einem Gebiet, auf anderem Heinlich, kurzſichtig, albern bis zur Kinderei.

Auf einen Gedanken verfeflen, wird er blind und taub gegen alles andere, was ihm nicht in den Kram paßt. Ein Dhilofoph, der feine Ader eines Meilen an fich hat.”

„Nun und weiter?”

„— Weiter! Du wirft dich ja ſchon etwas unter ben Alten umgetan haben. Und wenn es dir fo ergangen iſt wie mir, da wirft du dich erfchredt haben, daß die größten unter ihnen voll find von ſchoͤnen Redensarten, voll von Irrtuͤmern, baltiofen Vorausfegungen, falſchen Schläffen, leerem Ges ſchwaͤtz, und daß nur hin und wieder ein Gedanke die Nacht erhellt wie ein Blitz, ein Gedanke, wie von einem Gott eins gegeben, der dich im Innerſten padt der dir ben Bid öffnet in eine Welt, die nicht die unfere iſt, dann fommen wieder andere, bie erflären ſolche Gebanten, loben ober widerfprechen, zwaͤngen fle in ein Syſtem und treten fie breit und ruhen nicht eher, bis alles Leben daraus gewichen iſt. Du fiehft mie Staunen, wie dann an ſolchen Wechfelbälgen fih die ganze Menfchheit erbaut und Jahrtauſende an miß⸗ verfiandenem, verlogenem Unfinn widerkaͤut.

Mühfelig drängt fih dann hier und dort bie Wahrheit ans Tageslicht, und ein neues Körnchen kommt wohl auch dazu. So baut es fich unendlich langſam weiter. Die Duelle fließt unendlich ſpaͤrlich; wen es nach Weisheit bürftet, ber muß fich mie wenig Tropfen begnügen. Was von Plato, Heiftoteles Bis auf Kant vom tiefften menſchlichen Willen geſchrieben worden, iſt verſteh mich recht vom höchften Standpunkt bis auf wenige Ausnahmen, nicht ber Rebe wert. Diele geiftreihe Einfälle und viele tiefe Gedanken, viel Gruͤbelei, wenig lichtuolle Klarheit.

Nun, fieh mal, biefer Alte bier, Schopenhauer, bat es unternommen, alles Gedachte sufammensufaffen, das Märfel

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der Welt zu Iöfen, iſt ihm näher gefommen als irgendein anderer.” So fprach fie noch vielerlei aber Ih war fehr müde.

Mermak langweilt mid, Wie mag er meine Abreffe bes

fommen haben? Er will durchaus willen, wie es meiner Schweſter Kaatya, dem Engelsangeficht, geht und wie es mit dem Wuͤrmchen fieht. Nun, das Wuͤrmchen iſt tot, aber von dem Engelsangeficht will ich ihm fchreiben, um ihn loszuwerden.

eine Schweſter, Daß ich's ſage, hat ganz mein Herz ges wonnen. Ich sehe tagtäglich zu ihr, tagtäglich. Ste iſt immer von derfelben Liebenswärbigkeit, Immer von derfelben göttlichen Grobheit und Überhebung. Wir werben nicht müde, bald Schopenhauer und Kant, bald einen der alten Philos fophen durchzuhecheln und ung gegenfeitig gu beweifen, was für dumme 2eute, bei aller wunderbaren Tiefe ihrer Ges danken, fie doch im Grunde geweſen. Wo wir beide felbft hin; gehören, darüber find wir uns offenbar noch nicht recht far. Vollends mit unbefchreiblich hoheitsvoller, ſouveraͤner Verachtung wird alles Lebende behandelt, Hartmann, Nietzſche ufw. Sunt pueri, pueri, pueri, puerilia tractant! Es find Kinder, Kinder, Kinder und treiben Kindereien. Das fage nicht ich, meine Schwefter. Im Herbſt gehe Ich nach Paris,

Nah einem Jahr Wieder Jena. 1. Mat. teder mal Frühling. Wieder mal Mal. Bon Paris will ich gar nichts fagen, jeder Efel weiß was Kluges darüber zu ſchwatzen ober gu fehreiben. Aber ich weiß, wenn Ich das naͤchſtemal wieber von Jena gebe, fo gehe ich

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weit fort, fort ans Europa! Es iſt nichts bier Ich wenig;

fiens finde nichts. Wenn es auf Erden Weisheit gibe, fo

iſt es in Uraſien! Buddha, bie Veden! Ceylon, Indien, Tibet! Jetzt heißt es: Sanskrit!

2. Mai. kam wie gewoͤhnlich zu Mittag zu ihr und wie ge⸗ Re kam fie mir mit ihrem Stod entgegen geholpert, reichte mir die Hand und fagte: „Dmitri, ich freute mich, dich zu ſehen. Wie fiehr 8? Wann wird fih bie Beſtialitaͤt gar herrlich offenbaren ?”

„An went?”

„Run an bie?“

„Noch nicht, Kaatya noch nicht noch Immer nicht.“

Ich kannte ihre Frage ſchon.

Und ſie fragt nicht aus Scherz. Sie erwartet Gott weiß was von mir ſie iſt verbittert, die Arme nein, nicht verbittert es iſt etwas anderes ich bin mir ſelbſt noch immer nicht klar daruͤber.

Diesmal ſetzte ſie zu ihrer Frage noch hinzu:

„Hoͤre, Dmitri wenn du mich zehnmal auf einer Gemein⸗ heit ertappſt, ſo fordere ich von dir ſo viel Vertrauen, daß du den eigenen Augen weniger trauſt als meinem Wort wir werden uns mit der Zeit ſchon verſtehen.“

„Gut,“ antwortete ich, „aber ich verſtehe dich ſchon

„So,“ jetzt lachte fie „bu verſtehſt mich ſchon? da muͤßteſt bu erflaunt fein, wenn du wirklich folch einen Mens ſchen gefunden haͤtteſt! Wenn diefer Menfch ein altes Weib wäre auch bann Aber fo iſt's, mein grüner Omitri.“ (Meine liebe Schwefter Jekatirina bleibt bet ihrer mäßigen Grobheit.) „Zwiſchen dem: Ich verfteh’s fon‘ bem ſchulmaͤßigen ‚tapteren‘ und dem Selbftserleben iſt eine ges waltige Kluft. Wirft es ſchon fpäter begreifen.”

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Als wir einander bei Tifch gegenüberfaßen und die Haus, bälterin, die fie „das Tier” nennt, fernierte, nahm Jekatirina ihren Stod in die Hand, Hopfte mit bem breiten filbernen Knopf dreimal auf den Tiſch.

„Aufmerken,“ fagte fie, „damit du dich morgen nicht irgendwie verfagft, morgen gibt's die zu Ehren ein Feſt hier bei mie da werbe ich dich mir ber Menagerie, die hier ges zuͤchtet wird, befannt machen. Es ift fo eine Marime von mir, bie Nebenbeftien, bie mich etwas angehen, bes Jahres hin und wieder bei mir eſſen gu laſſen lieber laß ich fie meine Safanen freilen, als daß fie mich felbft auffreffen abfüttern nennt man das. Ich hab’8 den ganzen Winter ſchon vers faumt und muß e8 nachholen, fonft nehmen fie mir's übel, Man muß das tun, wenn man es irgend kann, um Ruh’ zu haben und dftimiert zu werden. Auf feine Krippe iſt ein jedes Tier leidlich zu fprechen, und mit gutem Sutter kommt man jeder Kreatur bei.”

„Wahrhaftig, Kaatya,“ fagte ich Ihe, „bu follteft Dich Doch ſchaͤmen, folche Anfichten gu haben.” Es entfuhr mir dies fo, als Ich mir vorftellte, während fie fprach, baß fie trotz ihres Alters und Ihres außerordentlich gealterten Ausſehens meine Schwefter fe, und Ich als Bruder das Hecht habe, mit ihre familiäre zu reden, was wohl melft etwas weniger höflich heißen mag; aber es gab mir eine Befriedigung, bies zu verfuchen e8 war mir ein nie gekoſtetes Vergnügen.

„Oho“, fagte fie und ſah mich an und lachte wieder ſo herzlich, wie Ich nicht dachte, daß diefe verbitterte Fran es su Wege bringen könnte und da fah Ich, wie ſchoͤn meine alte Schwefter war was für gute Maffe, eine vornehme Perſon in jeder Bewegung biefe Frau Müller. Ihre ſtarken Medensarten, bie fie gu lieben ſcheint, verunftalten fie nicht, ziehen fie nicht herab. Ich freute mich, als ich dies wahrnahm benn Ich muß geftehen, meine alte Schwefter Kaatya flieht meinem Herzen nah.

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Und wunderbar, auch in Ihe mochte bei meiner unböflichen Anrede ein ähnliches Gefühl auftauchen wie bei mir. Gie lehnte fih in ben Stuhl zuruͤck und fagte: „Es iſt fonder; bar, ich denke jetzt an einen alten Menſchen, ber fagte, als feine Mutter geftorben war: Das iſt dag traurigſte, num lebt fein Menfch auf Erden mehr, der mich alten Kerl einmal ‚Du Efel‘ nennen könnte. Ja, das Einſamſtehen auf Erben will ertragen fein!‘ Siehſt du, Ich erzähl” bir immer fo dumme beutfche Anekdoten. Uber was meinteft du eigentlih damit, daß ich mich ſchaͤmen follte, Dmitri, Weil ih die Wahrheit ſagte?“

„— Das mit dem Freſſen? Wie fannft du das ehren; rührig finden Weißt bu denn nicht, auf was die ganze Melt beruht? Auf freien und gefreffen werden, Die Natur hat keine erhifchen Momente alles iſt freſſen alles tft gefreflen werben.

Eine wunderfhöne Welt, Brüberhen! Denkt man an irgendein lebendes Wefen, fo muß man denken, was frißr’8? von welchen Nebengefchöpfen mäfter fih’8? und von wem wird’8 wieder gefreffen? und fo denke Ich auch bei meinen Dberlandesgerichtöräten und ben SProfefloren und ders gleichen was freffen fie? was dinieren fie? was ſoupieren fie? was für Mitgefchöpfe feße Ich ihnen vor? Das macht mir eben Spaß: Nun möcht’ ich doch willen, hat unfere liebe Erde, unfere gefesnete Natur ein Gott oder ein Teufel ges ſchaffen? Da tft befonders einer unter meiner Geſellſchaft, ein berähmter Dichter, der fich bemüht, feine Bärenhaftigfeit abs suftreifen, und ein außerordentlich feiner Menſch geworden if. So etwas, deſſen Wäfche englifch iſt, allerlei an Ihm franzoͤſiſch, das Schuhwerk wieber englifh, Zahnbuͤrſte und dergleichen auch engliſch das Ganze iſt, glaub’ Ich, aus Hamburg, aber feine Frau aus Finnland, Die find hierher zu ung übergeflebelt, als du in Paris warſt. Siehft du, Das hängt alles fo ein bißchen mit Rußland zuſammen. Er hat

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es in Eleganz und Feinheit weiter gebracht als je ein Deutſcher vor ihm ein Menſch, der mir außerordentlichen Spaß macht, du wicht ja fehen, fo ein Dichter. Im Auslande find bie Deutſchen übrigens viel harmloſer als in der Heimat. Die Deutſchen im Auslande find angenehme Leute, ſehr anges nehme Leute. Das weißt du ja!“

„Aber Kaatya, bein Gaſt zu fein iſt doch eine zweifelhafte Ehre!”

„Freilich,“ fagte meine Schwefter, „ich lade fie ja and nur zu meinem Vergnügen ein; Dafür befommen fie ihr Sutter bu wirſt ja fehen übrigens mein Tier kocht vors süglih, man ißt gut bei mir. Und jeßt geb, lies etwas; ich will mich eine Weile fchlafen legen.”

Sie erhob fich ſchwer, ſtuͤtzte fih auf ihren ſchwarzen Stod, reichte mir die Hand, eine ſchlanke Hand, die ich kuͤßte. Und ich dachte dabei, daß Jekatirina Alexaͤndrowna eine raͤtſelhafte Frau ſei aber ich fühlte mich bei ihr fo ficher, wie noch nirgends, folange Ich lebe. Und es macht mir Freude, daß wir zueinander gehören. Ja, und wie ich ſchon erwähnte, ihr felbft ſcheint es Lich zu fein, wieder einmal einen Menfchen im Haus zu haben, der fie etwas angeht. Schabe, daß fie von Rußland nichts hören will Ich möchte Ihe von Jermäf erzählen, der bat nämlich wieder gefchrieben ſchon vor ein paar Wochen.

Ein unverfhämter Brief!

„Seltebter Herr Omitei Alexaͤndrowitſch!

Als Du noch ganz Hein warf, da bift Du einmal in ben Graben gefallen, ber vor unferm Dorfteich abfließe. Du bift felbft wieder herausgekrochen aber da haͤtteſt Du Di einmal anfehen follen: Dein ſchoͤnes weißes Hemd und ber rotſeidene Gürtel über und über beſchmutzt! Und die Stulpen, ftiefel voll Schlamm und die Haare und Augen ganz vers Heiftert voll Kot.

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Sept mer’ Dir's: fo beſchmutzt kommt Ihr mir alle vor, trogdem daß Ihr Edelleute feid, darum weil Ihr Eure Schwefter in Stich laßt.

Hab’ ich es Dir nicht auf die Seele gebunden, baß Du Deine Schwefter auffuchen follteft und fie wieder mit ihrem Wuͤrmchen zu uns zuruͤckbringen.

Herr Gott, Here Gott! Was für Menfchen! Verfolgen fih, ſtatt fih gu lieben, und fagen: Das iſt gefeglich.

Ich bin nur ein armer Bauer und ein Säufer Gott hat es fo gewollt ih Bin nicht gelehrt, und das Schreiben wird mir fauer.

Wenn ich ein großer Herr wäre und ein Zar, ich würde bie Melt von oberft zu unterſt kehren. Alle Popen fort, denn die lügen und machen ung bag Leben voll Sram und hegen ung gegeneinander und nur Gott im Himmel foll herrſchen.

Gott bewahre uns vor Ihnen! In geiſtlichem Gewande und im Tempel Sottes, ba ſehen fie ja recht gut aus.

Ob fie wohl überall fo find, oder nur bei ung Im heiligen Rußland?

Ich kenne auch Tataren, die müflen ſich den Kopf fcheren, damit fie keine Läufe haben, und muͤſſen ſich alle Tage fünf; mal wafchen, und alles muß an ihnen rein fein. Sie glauben auch an Jeſus Chriſtus, den Heiland, aber noch mehr an Muhamed, der hat noch größere Wunder verrichtet, fagen fie. Wem foll man nun glauben?

Sie dürfen auch viele Weiber haben; aber Wein kommt nicht über ihre Lippen, und e8 gibt feine Säufer unter ihnen. Du bift jetzt lange fort, weit in der Welt, um alles gu willen und zu lernen, Du haft ein ehrliches Herz, das weiß ih. Und wenn Du dann wiederfommft und haft alles gefehn und ges lernt, dann mußt Du mir fagen, wer recht hat und wo die Wahrheit iſt. j

Men könnte ich hier fragen? Ste lügen alle.

15 Böhlen ILL, 225

Dann kaunſt Du mir auch fagen, ob es in Germanien auch ſo iſt.

Oder kaunſt Du mie fagen, ob es ſonſt auf der Welt einen led gibt, wo Gerechtigkeit If?

Ob Du mich gleich nicht achteft, weil ich ein Bauer bin und alt und ungelehrt.

Sch verbleibe Dein unterwärfiger Diener

Ä Jermaͤt.

4. Mai.

Mekatirina hat ihre Geſellſchaft gegeben. Es war wirklich erbanich Draußen ein ſiarmiſcher Abend, Die Luft mild und weih der Sturm fam in vollen Stößen Aber bie weiten Bergrüden ber, und als wollte er fich in feiner ganzen Breite buch die engen alten Steäßchen zwaͤngen, fo fubr er hinein, füllte fie aus von unten bis an bie Giebel rannte an jeden Vorfprung an, rüttelte an den Dachrinnen, riß und ſchleuderte, gerrte an allem und jedem, Happte und wirtſchaftete. Ich Bin, Bis Ich gu Schwefter Kaatya heranfs gehen mußte, auf und nieder durch Gaſſen und Gaͤßchen ges fliegen. So gefällt mir die Heine Stadt, fo dachte ich mir’ von jeher ſo gefällt mir Deutfchland: eng und heimlich, fo träumt man fich’8, fo iſt's echt nicht anders Hleins bürgerlich. Ich babe den Leuten in die Senfter gefhaut Bädergefellen fah Ich mit Meifter und Meifterin, mit Kind und Kegel beim Abendmahl fißen. Alle weiß eingeftäubt und ducchwärmt, gefund und rot duch bie Fenfterrigen roch es nah warmem Mehl.

Hier im alten Neft fieden an 600 Stubenten in jedem Giebelhaus find ein halbes Dutzend einguartiert. Alles ſteckt vol. Man merkt's faft der Luft im alten Städtchen an, es ift eine luſtige Luft. Entfernt finge und johlt es ununter; beochen beinah’” Tag und Nacht die Töne Hingen vom Stueme zerriffen hin und wieder durch bie Straͤßchen. Die.

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hellen Fenſter fehen alle einladenb aus, wie erleuchtete Senfter in einem Bilberbuche.

Wäre jet ein gewiſſer guter Menfch hier! wäre ber Peter Fuhlks hier dann würde Ich einen wundervollen Abendgang mit ihm gemacht haben. Der Fuhls wäre ganz verrädt ges weſen. Sch feh’ und höre ihn im Geiſte. Er hätte ein Ges ſchrei gemacht über alles und jedes! Ich fehe Ihn mir feinen langen Armen und Beinen umberflanfieren die unfinnige Sehnfucht, die er hat, nach Deutfchland zu kommen! Es wäre ein Freudenfeſt für ihn geweſen Ich hätte meine Not mie ihm gehabt. Und ich wollte, er wäre ba.

Welch ein Stäbrhen! Das Leben fiehe fih von hier aus fo harmlos an fo, als könnte e8 feiner Kreatur etwas zus leide tun. Alle meine Unfichten vom Leben kommen mir hier übertrieben vor. Das Bild des Elends von Millionen und Millionen, das in meiner Seele wie eingebrannt gu fein fchten, ſieht unmahrfcheinlih aus wie ein Traum. Ich fuͤhl's, hier vergißt man die Welt. Man follte die Feuer⸗ koͤpfe nicht nach Sibirten ſchicken beſſer viel beffer nach Heinen deutſchen Städtchen, da würden fie ausheilen, ba würden fie ungefährlich.

gehn Jahr In diefen Gäßchen, zwiſchen diefen heitern Bergen, bei bee Unmaſſe Bier und den vielen Profefforen, in engen, geordneten Verhältniffen, engen Gedanken und Lehr⸗Tretmuͤhlen wahrhaftig, feine Safer wäre von dem mehr in mir, was mir jegt noch einzig wert zu leben fheint einzig und allein ber Opfermut, ber den Mißhandelten helfen möchte, ben Unterdrädten helfen, ber feine Tugend if. Das würde fih bier Bald legen Ich wuͤrde mich ſchaͤmen, ich würde alles von obenher belächeln !

Ein Hoch auf Kaatya, mein Schwefterchen bie if ſtaͤrker als alle ftärker als ich fein wuͤrde da iſt nichts verblaßt da tft nichts beeinflußt da iſt Natur geblieben. Und wie lang ftedt fie num hier!

Ich kann Ihe von mir, meinen Plänen, meinen Gedanken noch nicht reden erft dann, wenn fie Grund hat, mir ganz gu vertrauen.

Als ich zu meinem Schwefterchen berauflam, war fie fchon mitten unter ihren Gaͤſten.

Ste wanderte mit ihrem Stode von Gruppe gu Gruppe.

Was foll ich von dieſer Geſellſchaft Tagen ?

Komifche Leute!

Statt des „Tieres“ gingen weißbaummollene Handfchuhe, auf plumpe Burfchen geftedt, ein und aus und frugen Er⸗ friſchungen.

Meine Schweſter Kaatya ſchien ſich wirklich auf die Be⸗ wirtung der Gaͤſte zu verſtehen, wenn ich von der Auswahl von Likoͤren und Delikateſſen auf die bevorſtehende Mahl⸗ zeit ſchließe.

Kaatya nahm mich an der Hand und wir ſtanden gleich darauf vor einer kleinen, haͤßlichen, auffallend magern Frau.

Neben ihr ein unterſetzter blonder Mann mit rotem Ges ficht, ihr Gatte.

Meine Schwefter ftellte mich vor:

„Du haft hier die Ehre, die Eltern ber zwoͤlf Apoftel kennen zu lernen, Nicht wahr?” wendete fie fih an die gelbe magere Frau.

„Bitte, bitte, Durchlaucht, gu viel Ehre, fo hoch haben wir ung denn Doch noch nicht verftiegen”, fagte der Mann mit bem roten Geſicht außerordendich höflich.

Kaatya ſagte fehr liebenswuͤrdig:

„Ste innen ſich die Durchlaucht ſparen, lieber Herr Pros feſſor, ‚Grau Müller‘ genügt vollkommen.“

„O, weshalb, Ehre dem Ehre gebührt, es mache fich fo huͤbſch“, erwiberte die Heine Dame flatt des Gatten mit uns heimlicher, jugendlicher Schalkhaftigkeit.

„Eine Heine, Huge Frau“, fagte meine Schwefter.

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„Und wenn du die Ehre haben wirft, Heren und Frau Profeſſor Majunke kennen zu lernen, wirft bu ein Raͤtſel gelöft finden: wahre Froͤmmigkeit und heiterer Lebensgenuß. Man teifft das nicht oft beieinander. Ich made mein Kompliment.”

„D bitte bitte”, fagte Frau Profeſſor Majunke.

„And nicht wahr, Ste werden auch gleich Ihr Ziegenlied fingen jetzt ſchon, flatt erft um Mitternaht kommen Ste das iſt fo huͤbſch, und Dmitri muß es hören, er wird in Petersburg davon erzählen.”

Das Ehepaar fland ſchon während ber ganzen Zeit vor bem geöffneten Flügel. Jetzt fchlug die Frau ein paar Akkorde und begann nach dem Takte einer Melodie zu medern wie eine Siege, und zwar bie erſte Stimme, und bee Gatte fiel mit der zweiten ein und fo mederten fie wirklich meifter; haft. Und Selatirina legte ihren Arm in ben meinigen und hörte befriedigt gu:

„Stehft du hoͤrſt du” fagte fie einigemal, und nicht nur fie allein hörte zu, alle miteinander hatten im Mu bag Inſtrument umbrängt, es herrfchte begeiftertes Schweigen, - and die beiden mederten nach Herzensluſt der Gatte ſtieß mit dem Kopfe, und bie Gattin preßte bie Augen hervor, machte einen langen, dünnen Hald. Die Herren lachten, daß Ihnen die Tränen herabrollten, und die Damen mochten insgeſamt bedauern, nicht etwas ähnliches Teiften gu koͤnnen, denn die magere Fran gewann die Herzen tm Sturm und hatte fie wohl ſchon oft auf diefe Weile gewonnen.

„Koͤſtlich! koͤſtlich!“ Härte man von allen Seiten. „Bei fo vorteefflichen Leuten biefe Heiterkeit!“

Der dünnen, gelben Frau und dem Gatten fchien feine diefer Lobeserhebungen verloren zu gehen.

Sie hörten alles.

Es wurde wirklich ganz ausgezeichnet lebhaft... Meine Schwefter Kaatya horchte Hier und dort bie Unterhals

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oder für einen Affen iſt das alles mögliche. Mir iſt's gleich, gültig, ich ftehe über dem ganzen Trödel, gebt mich nichts an bin ein altes, gufriedenes Weib und ein alter freier Menſch. Uber die jungen Weiber für die Feuerſeelen die gibt's ja doch auch Hier hie und da, trotzdem alles ges fchehen If, um fie völlig auszuroden für die iſt's ſchwer.

Gehen mich aber auch nichts an. Hol’ alles der Teufel, mie iſt's gleichgültig, Ich ſchau zu.

Verſtehſt du, weshalb fie alle Dptimiften find?

Ich fage dir: alle Achtung vor ben Pelfimiften ich meine nicht im gewöhnlichen Sinn, daß fie unzufriedene muͤrriſche Leute find wie man von ihnen fagt. Ich Iobe fie deshalb, weil fie es find, in denen das Mitleid ſteckt. Ste fiehen auf der Seite ber Opfer, fie fühlen mit denen, die gefreflen werben fie leiden mit ihnen.

Die andern aber koͤnnen fih aus dem Baun bes Vorteils, ihre Nebengefhöpfe nach Luft freien zu dürfen, nicht frei machen. Wer, glaubft du, hat das Gute auf Erden anges ſtrebt und gefchaffen? Die auf ber Seite der Freſſer ober die anderen?”

„Die andern, Kaatya und zu welchen, glaubſt but, daß ich zum Beiſpiel gehöre?”

„Das muß fich geigen, mein Junge.”

„Es Toll fich zeigen”, fagte Ich ihr und reichte ihe meine

and

„Bravo! Wollen fehen.”

Es iſt von Jekatirinas Geſellſchaft wirklich nicht viel mehr zu erwähnen und Ich habe diefe Geſchichten eigenslich nur su dem Zwede In mein Buch eingefchrieben, um mir bag Bid meiner Schwefter feſtzuhalten.

Ich glaube ficher, fie iſt ein Driginal,

Die Stan des berühmten Dichters, des Henneberg, ſo ſchoͤn fie if, behagt mir wenig. Das einzige, DaB man mit the über Rußland plaudern kann.

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Ihre Samilte will sum Sommer biecher nach Jena kom⸗ men. Der Bater iſt fchwer frank und hofft Heilung von den

biefigen Berühmtheiten. Es find Deutfhe in Finnland Wiborg, glaub’ Ich.

Wieder ein Brief. Sena, ben 8. Werꝛm haft Du, geltebter Here Dmitri Alexaͤndrowitſch, bis heute Dein Berfprechen nicht erfüllt, mir von Deiner Schweſter Jekatirina Alexaͤndrowna zu berichten? Barum haft Du fie nicht zuruͤckgebracht mit ihrem Kinds fein, hierher in unfer Dorf, gu ung auf Dein Stammgut? Was hält Dich ab, Deine Pflicht zu tun, jest, da doch Dein legter Bender Alexander Wlerändromwirfh, ber General, tot tft, nun Du doch alleiniger Herr biſt und alleiniger Erbe ber Herrſchaft Deines Vaters? der Herrſchaft Hier bei St. Peters⸗ Burg, die Dörfer Murino und Malinowka und Dein Landhaus am Pargolowſchen See und die Dörfer auf ber ſchwarzen Erde und am Prut und an ber Matuſchka Wolga und wo Ihr fonfl noch im heiligen Rußland Häufer und Dörfer und Suͤter habt. Mir biiden alle auf zu Die, und Du vergißt ung Walfen. Und laßt Sztipann Sztipannowitſch für Dich fchalten und walten

Der Miſchka, mein Schwefterfohn, iſt wiedergefommen, der zwanzig Jahr im Kaukaſus unter Deinem Bruder ges dient hat. Der bat mir berichtet, warum Dein Bender ge⸗ ftorben If, denn von Sztipaun Sztipannowitſch erfahren wir gar nichts, nur daß er im Januar nach Tiflis gereift war.

Es Hat auch In den Zeitungen geftanden, wie Dein Bruder beim Mandver bei Derbent vom Pferde gefchoffen worden iſt.

Ich weiß etwas anderes, denn er bat alle, Dffigiere und Soldaten, Tfcherkeflen und Mechtglänbige, gefchunden. Wir laſſen ung alles gefallen, aber eine Tſcherkeſſenkugel fehle nicht.

232

Ich war auch Im Kaukaſus, da find unendlich hohe Berge, alles Fels und Geftein, das fälle immer wieber herunter, und reißende Bäche fchaffen es Immer weiter fort ins flache Land. Ach weiß es nicht, ob es fo iſt: aber einmal, einmal wird alles Geſtein heruntergefallen fein, und alle Täler wer⸗ den ausgefüllt fein, und wo bie Berge geftanden find, wirb alles ſchoͤnes, ebenes Sruchtland fein; aber ob die Menſchen beflee werden, das weiß ich nicht.

Alexander Werändrowirih iſt in hohen Ehren begraben worden. Ale Drben find Ihm vorgefragen worben. Aber nachgeweint bat ihm niemand,

Sztipann Sitipannowitſch iſt auch Hingelommen, hat das Hans verkaufen laſſen und bat alle auseinandergejagt, denn Alerander Alexaͤndrowitſch hat kein Weib und kein Kind hinter; laſſen. Da iſt denn auch Miſchka, mein Schwefterfohn, fort gejagt worden und iſt hierher wiebergelommen, und noch zwei find mie ihm gefommen und baben mie alles ers zahle. Jetzt komm’ Du zu uns guräd, Dein Erbe zu vers walten.

Der alte Starofia ift geftorben. Gott im Himmel hab’ Ihn felig. Es war meiner toten Frau Bender und noch nicht einer von ben ſchlimmſten. Jetzt bat Sztipaun Sztipannowitſch einen jungen Faut eingeſetzt, den haben wie wählen muͤſſen.

Dem unreinen verfoffenen Hund, unferem Popen, find alle Kirchenbücher verbrannt. Sztipann Sttipannowitſch fagt, wir Bauern hätten e8 getan. Warum hätten wir es tun tollen? Vielleicht wollte er es felbft fo.

Sztipann Sitipannowitſch fehindet uns Bauern fehe,

Geſchieht dies mit Deinem Wiffen uud Willen ?

Jetzt komm ber, Dein Erbe gu verwalten. Und wenn Du sicht kommſt, Dein Erbe zu verwalten, fo wirft Du betteln gehen.

Dein unterwürfiger Diener Jermaͤk.“

233

Im Januar war Sytipann Sztipannowitſch In Tiflis? Alſo iſt Alexander im Januar geftorben und Ich erfahre bis heute, in vier Monaten, nichts? Entweder iſt es eine Phantas fie des alten Jermaͤk ober

Ich will gleich jegt an Sztipann Sztipannowitſch fchreiben und mir in aller Form Aufflärung erbitten.

15. Mat,

Acht Tage Fein Brief, kein Telegramm.

16. Mat.

Ein langes Schreiben. Alexander iſt im Januar In Derbent gefiorben. Sonft nur Ausflüchte und Entichuldigungen und dabei allerlei dumme Redensarten, als singe mich die gane Sache nichts an, Sonderbarer Kumpan, mein Herr Schwager. Zut, als ob alles auch ohne mich getan werben könnte. Er beantwortet nicht eine einzige von meinen Fragen, fpricht nicht von ‚meinem Bruder, fondern vom General, feinem Schwager; fpricht von der großen Arbeitslaft, die Ihm durch den betruͤbenden Fall in der Familie gugefallen iſt, und über die Schwierigkeiten der Verwaltung, und wie fehr fih Anna Alexaͤndrowna den Tod zu Herzen genommen hat, und von mie iſt mit feinem Wort die Rede nur legt er, wie einem Bettler, einen Iumpigen MWechfel auf Menbelsfohn, Berlin, ‚bei, da Ich vermutlich Gelb brauche!!

Dem General wird ein Denkmal In der Familtengruft auf Wolkowa geſetzt. Schön! Ich habe nichts gegen bag Dentmal, Ich habe den Bruder nie gefannt, und gehört babe Ich nur, daß er ſtark trinke und fehr luſtig lebe, daß er fehr gegen bie dritte Heirat Papas mit meiner Mutter war und mit Papa fih volllommen brouillierte.

Damals war er mit Sztipann Sztipannowitſch ein Herz und eine Seele, dann Haben fie ſich verzankt, und darum iſt er auch nach Papas Tode, glaube Ich, nie nach Petersburg gekommen, wenigftens nicht zu Sztipann Sztipannowitſch.

Sp viel Ich mich erinnere, Habe Ich Ihn noch als Knabe nur eins

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mal sufällig geſehen. Ach habe nichts gegen das Denkmal, aber man hätte mich doch fragen können.

Sztipann Sztipannowitſch tut aber fo, ald wenn er zu ents feheiben hätte, Ja, wer iſt denn Papas Erbe? GSytipann Sztipannowitſch ober ich? Ich weiß nicht, warum Ich Ihn nie ges gemocht habe? Er ift mir Immer verbächtig vorgelommen, und ich könnte ihm allerlei zutrauen.

Sch fchreibe noch einmal und verlange Hare Antwort. In⸗ defien mache ich mich gefaßt.

23. Mal.

Ade, [höner Mat! Ude, mein Jena! Ih muß nad Petersburg.

Drittes Kapitel

Sankt Petersburg, ben 16./28. Mai, ztipann Sztipannowitſch weicht mie aus, es iſt gar kein Zweifel, Er iſt unwohl beichäftigt oder ſonſt was, und wenn er mir Rede fteben foll, läßt er ſich abrufen.

Ich will ben Mat Jermaͤks befolgen und will morgen, Sonntag aufs nt bort kann er mir nicht ausweichen.

18./30. Mat.

Es iſt alſo Har: Sztipaun Sztipannowitſch will ben Vers ſuch machen, mich beiſeite zu ſchieben. Es iſt eine komplette Spitzbuͤberei; aber ſie ſoll ihm nicht gelingen.

Kuͤhl ein ſchoͤner Morgen, heute fruͤh, als wir fuhren! Die Sonne ſchon hoch am Himmel, und nachdem wir aus dem Gerafiel der Stadt heraus find, alles friedlich und ſtill. Lerchengefang und Glodengeläute,

Mein Jermaͤk, wider feine Gewohnheit, ganz fill.

Wie wir ducch die Doppelallee von Balfampappeln, über den Damm, ber mitten durch ben See führt, hinfahren, geist er plöglich mie der Peitſche gegen das Schloß.

„Schau mal hin, Omitri Alexandrowitſch das wußt ih fie haben uns bemerkt. Da reitet er fort mie Mikolka, feinem Koſaken. Mag er nur reiten, wohin er will! Mir foll ee nicht entgehen!”

Meine Schwefter, Unna Alexaͤndrowna, empfängt mich auf der Veranda, Die ganze Schar der Nichten und Neffen hat fih mir angehängt. Nur die Amme mit dem Juͤngſten läßt fih von Jermaͤk langſam ſpazieren fahren, und der Alteſte fehlt, vielleicht weil er für irgendeine Schlingelei im Kas dettenkorps ben Sonntagsurlaub nicht bekommen hat.

Aber Anna Wlerändrowna fchidt alle miteinander mit Gouvernaute und Kindermäbchen In den Park,

„Run, Dmitri,” fast fie gu mie, „fe dich dahin, Ich weiß (don, weshalb du gekommen biſt.“

236

„Willſt du Tee?” und läßt fervieren. Meine Schwefter lest auf der Chatfelongue in grauer Seide und im Pelz⸗ jaͤckchen von Zobel. Ste tft wirklich noch eine fchöne Frau,

„Barum machſt du denn folhe Dummheiten?“ ſagt fie,

„Bas für Dummheiten?“

„Run, kommſt ber und willft allerlei.”

„sa, was will ich denn?“

„Run, Sztipann Sztipannowitſch wird fchon alles eins richten. Warum teinfft du deinen Tee nicht? Sa, Sztipann Sztipannowitſch wird ſchon alles einrichten.”

„Warum habt ihr mir denn nicht gefchrieben, daß Alex⸗ ander geftorben If!" |

„Ad, mein Gott, dag tft fehe ſchade fehr ſchade, ber arme Alexander. Weißt du, man fagt, ein Tfcherkefie hat ihn erſchoſſen. Weißt du, er bat ſolche Gefchichten ges macht ber arme Wlerander. Das Denkmal wird fehr ſchoͤn, in voller Generalsuniform; ich Habe es ſchon gefehen, von weißem Marmor. Weißt du, e8 macht der berühmte Petroff.“

„Schoͤn,“ ſagte ich „aber ihr haͤttet mich doch benach⸗ richtigen ſollen.“

„Ach, lieber Junge, das war gar nicht noͤtig. Du ſollſt doch ſtudieren. Und Sztipann Sztipannowitſch ſchickt dir ſo viel du willſt.“

„Das tft ſehr huͤbſch von Sztipann Sztipannowitſch; aber ich bin muͤndig.“

„Ach was muͤndig, laß doch nur Sztipaun Sıtipans nowitſch machen.“

„Aber ich bin gerade hier hergekommen, um es ſelbſt zu machen.“

„Ach, aber das iſt komiſch von die.”

„Komiſch?“

„Sztipann Sztipannowitſch wird alles einrichten und dir Geld ſchicken.“

237

„Weißt du, liebe Anna, fo kommen wir nicht weiter. Ich will e8 die ruhig fagen. Ich bin nach Petersburg gefommen, um das Erbe gu übernehmen und felbft su verwalten.”

„Ja, mein lieber Junge, ich weiß noch gar nicht, wieviel du kriegſt.“

„Du weißt e8 vielleicht nicht; aber das Teflament weiß eg."

„Das Teftament iſt gar nicht guͤltig, ſagt Sztipann Sitis

pannowitſch.“

„Nicht guͤltig? Warum denn nicht?“

„Ja, weißt du, weil deine Mama die dritte Frau war.“

„Was weiter?“

„Und die dritte Frau iſt bei uns gar nicht guͤltig, und Papa war ſchon ſo alt. Und deine Mama hatte ja auch nichts. Weißt du, nur ſo ein bißchen deutſchen Schmuck. Und die dritte Frau das iſt komiſch. Bei den Danilewſtlis war es eben⸗ ſo, da haben die Kinder der dritten Frau auch nichts be⸗ kommen.“

„Wo iſt das Teſtament?“

„Das weiß ich nicht, dag weiß Sztipaun Sztipannowitſch ... ih glaube, er iſt gar nicht da.”

„Du meinft alfo, die Che mit Mama iſt gar nicht gültig?" „ch weiß gar nicht, was Ich fagen foll. Aber alle fagen fo.” „Und das Teftament, meinft dus, iſt gar nicht mehr da?

Aber da werden ja wohl die Kirchenbuͤcher da fein und die Zeugen bei ber Trauung.”

Schwefter Unna ſchweigt.

„Dder glaubft dus, daß fie auch nicht mehr zu finden find?”

„Brag’ doch felbft nach”, fast Unna und wird rot.

Die Heine Maaſcha tft der Gouvernante entfprungen, kommt bereingefchlüpft und ſchmiegt fih an die Mama.

Draußen haben die Kinder bie Ponies anfchirren laſſen und jagen über den Raſen.

Ich muß doch endlich meinen Tee austrinken, er ſchmeckt ganz komiſch nach gar nichts.

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„Du meinft alfo, liebe Anna, daß Ich am vernünftigften täte, auf die Erbſchaft gu verzichten ?”

„As, mein lieber Junge, das tft nett von die. Sch habe dich immer ſo lieb gehabt. Weiße du, wir haben furchrbare Ausgaben, und alles iſt fo feuer. Hier das Gut umd bie Haͤuſer in Petersburg und bie andern Sachen und ber sweite Sohn muß Ins Kadettenkorps und der dltefte wird jetzt Leutnant. Sıtipann Sztipannowitſch kommt gar nicht aus.

Er bat ja felbft kein Vergnügen, nur die bumme Gage und dann hat er noch Schulden Ich weiß gar nicht, wo er die her bat, ich glaube, von früher, oder er hat geſpielt; Ich weiß gar nicht, wo er das Geld gelaffen hat. Siehſt du, mein lteber Junge, du biſt jung und gelehrt. Mle fagen, es tft nur gut, wenn du arbeiteft und Sıtipann Sztipannowitſch gibt bie, fo viel du brauchſt. Und du kannſt alles behalten, die Equipage und das Neitpferd, und du kannſt auch hierher fommen, fooft du willſt.“

Ich fand auf,

„Du meinft alfo, daß ich Bettler werben foll, damit Sytipann Sztipannowitſch feine Schulden bezahlen kann?“

„Ach was, Bettler keine Idee Bettler!“

„Run, ich meine ſo ein unterflüßter Bettler!

Und su dem Zwed hat Sytipann Sztipannowitſch bag Zeftament verfehwinden laſſen? Und die andern Papiere werben auch nicht gu finden fein? Und eigentlich nenne Ich mich auch mit Unrecht nach dem Bater ? nicht wahr? Und was Ich bekomme, bekomme Ich aus Gnade und Barmherzig⸗ keit? Von Sztipann Sztipannowitſch, der fo edel an mir handelt! Und deshalb Habt Ihr mich den Tod von Alexander nicht wiſſen lafien? Und das hat Sıtipann Sztipannowitſch alles ſo eingerichtet? Und du hilfſt ihm gu alledem? Und weißt bu denn, wie man das alles nennt? Das iſt gemeiner Betrug!“

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Schwefter Anna ſieht mich firafend an; dann fpricht fie:

„Stehft du, nun wirft du unartig nun kannſt du gehen. Mach doch nicht ſolche Dummheiten! Man kann ja Sıtipann Sztipannowitſch nicht verflagen und du haft ja auch gar - nicht das Gelb dazu.“

Die Heine Maaſcha, bie merkt, daß etwas vorgeht, weint leiſe in ſich hinein.

„Komm, liebe Heine Maaſcha,“ fag’ ich zu ihr, „komm, begleite mich sum Wagen.”

Schwefter Anna wird doch unruhig.

„Dmitri!“ euft fie, „mach’ doch nicht ſolche Dummheiten . . . . Das find ja Dummheiten, Dmitri. Dmitri, ſet doch ver⸗ nuͤuftig!“

„Leb/ wohl.”

ein Jermaͤk und Ich find von Haus zu Haus im Dorf gefahren.

Der Staroft IfE tot. Der alte Pope ftumpffinnig. Der Spigbube, der Diakon, weiß fih an nichts gu erinnern. Die Kirchenbücher find feit dem letzten Brand im Schloß fort, verbrannt und Feine Kopien vorhanden,

Jermaͤt ſchlaͤgt mie vor, Sitipaun Sztipaunnowitſch zu ers ſchlagen.

16. Juni.

Es iſt zum vercädt werben. Ich fahre tagtäglich von einem sum andern. Feder macht Ausflüchte. Keiner will was mit Sztipann Sztipannowitſch zu tun haben,

Ich Habe ihm zum drittenmal gefchrieben natürlich feine Antwort.

22. Juni.

Nichts! Nichts! Wunderbare Tage draußen, bier im Hans entfeglich. Ich will fort, um gu Vernunft gu kommen.

Und was alles über mich gefpeochen wird!

Ich will die Familie unglüdlih machen !!

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2. Juli.

Ich laufe ſeit einem Monat ganz vergeblich herum. Es find lauter feige Schufte. Kaum wird es klar, daß es gegen Sztipannowitſch geht, fo stehen fie ſich zuruͤck, verfiedt oder grob. Es wagt niemand zu mir gu fiehen! „Es fehlen Bes weite!” „Es iſt nicht möglich!“

Geftern zum erftenmal bat mich einer angehört, ber Advokat, uns gegenüber. Aber heute hab’ ich das fichere Gefühl, daß er mich nur aushorchen wollte, der Herr Franzoſe!

Ich bin am Ende meiner Weisheit; ich finde niemanden.

Sch will den gusen Nat Jermaͤks befolgen und Perer Fuhls aufſuchen. Sein Vater iſt Winkeladvokat.

3. Juli, mein Geburtstag.

Peter Fuhks wohnt In der Rieſenkaſerne an ber Polizei⸗ brüde. Ich trete ins Tor; niemand zu fehen, der mir Aus⸗ funft geben könnte. Im Hof wird Hol; ausgeladen. Eine ganze Reihe ſtraffhaariger Kerle In bunten Hemden und Balls ſchuhen führen die Birkenſcheite auf Heinen Schubfarren vom Holzkahne ein. Der Eigentümer vermietet die achtzig Wohnungen feines Riefenhaufes mit freiem Hol. Da if sun offenbar die erfte Holsbarke eingetroffen, und der Winters vorrat foll im Hof aufgeflapelt und je nach dem Mietsind fehr gerecht verteilt werden.

Aber die Hauseinwohner find aus früheren Jahren ges witzigt. Schon feit Wochen iſt die Holsbarte fignalifiers, und achtzig Parteien find heute entfchloffen, fich ihre Anrecht auf Holz mit Lift oder Gewalt gu fihern. Da hat fich denn eine ganz regelrechte Schlacht entwidelt. Die kurzen Scheite fliegen hinüber und herüber. Uber was vermöchten acht tatarifhe Hausknechte gegen hundert. ruſſiſche Burſchen, Köche, Kutſcher und Diener und Weiber! Im Nu find bie Tataren an die Wand gebrädt, biodiert, kampfunfaͤhig ges

16 Böhlau II. 241

macht, und der Hof von jebem Splitter Holz gefäubert. Dort in der Ede des Hofes hat fich die mit ſchweren Eiſen⸗ platten befchlagene Tür aufgetan, und ein feifter Miele in blauem Kaftan, bochfchulterig, mit ſchwammigem Geficht, Ingt vorſichtig heraus. Es iſt ber Hausherr. Er iſt ganz bleich vor Aufregung, ſchlottert in den Knien und atmet ſchwer.

„Hundeſoͤhne, Hundeſoͤhne! Gott ſei mir gnaͤdig“, iſt alles, was er zu ſagen vermag. Ich trete an ihn heran und frage nach Peter Fuhks. Der Rieſe zieht ehrerbietig die fette Muͤtze und ſagt mit piepender Stimme: „Belieben Ste näher gu treten”, und nötige mich in ein Heineg, finſteres Loch. Er, der Befiger dieſes Rieſenhauſes, in der denkbar günfligften Lage St. Petersburgs, Wechfler und Millionär, hat fein Wechſelſtuͤbchen unter der Treppe eingerichtet! Das einzige Licht dringt durch die Offnung über bem Ladentifch. Die Hffnung führt nach der Straße, dem Nemfti Proſpekt. Rechts und links hängen über der Lade vergitterte Glasſchraͤnkchen, und dein glänzen als Lodipeife Geldrollen und neue Hunderts Rubel, Scheine, mit Silber und Gold gefüllte Holsfchalen. Hinter dem Ladentilche fit ein hochaufgeſchoſſener Jüngling mit firaffen, gerad’ befchnittenen Haaren, mit großen, abs fiehenben Fledermausohren unter der did wattierten Müße und mit auffallend bloͤdem Ausdruck im knochigen Geſicht; auf feinem Schoß fchläft ein Kater. Der Wechfler bietet mir ben einzigen Stuhl, „Piore Petroͤwwitſch Fuhks“, fagt er. „Sehe wohl...” Es iſt bier, trotz ber druͤckenden Hitze draußen, feuchtkalt wie In einem Keller, kahl, ſchmutzig und dunkel wie in einem Gefängnis. Eiſerne Kiften mit mächtigen Schlöffern davor, ein Tiih, darauf dicke Bücher mit serfioßenen Eden, daneben ber dampfende Sſamowar. Gegenüber ein Sofa mit ſchwarzem, zerſchliſſenem, ang Roßhaar geflochtenem Bezug, offenbar zugleich fein Schlafs lager, denn zu Füßen besfelben liegt ein wirrer Haufen

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geflidter Wartbeden, und ein efelhafter Dunft fleigt von ihnen auf. |

„Bote Petroͤwwitſch Fuhks! Meinen Ener Hochgeboren Pose Petroͤwwitſch Fuhkls, den Hlteren, den Winkeladvo⸗ faten, oder Potr Petroͤwwitſch Fuhks, den Jüngeren? Kann Ich Euer Hochgeboren dienfibar fein? Bitte fich nur zu äußern.” „Hundeſoͤhne!“ fügte er hinzu, „es iſt teodenes, wunder; ſchoͤnes Birkenholz, kommt ben Wuoren herunter, von Imatra, Here! Ach Hab’ dort meine Walbungen, herrliche Walbungen, alles Ichlagbares Holz, alles hundertjaͤhrig. Die Hälfte iſt mir fchon unterwegs gefiohlen, Herr! Und bier fallen alle wie die Naben darüber ber. Nun frag’ ich Bloß, iſt das ans ſtaͤndig? Wie kann da unfereing auf die Koften kommen? Ehrlichkeit bringt durch die Welt, Here, aber die jungen Leute denken immer, das Gelb käme einem nur fo zugeflogen! Vrtellen Sie felbft, gnädiger Herr, das Geld verdienen iſt eine ſchwierige Sache, und es gelingt nicht jebem. Ja, la, es ges lingt nicht jedem. Darf Ich Euer Hochgeboren mit einer Kleinigkeit aushelfen? Taufend Rubel vielleiht? Wieviel befehlen Euer Gnaden? Bitte untertänigft, bier iſt Geld wie Yen!“

Glaͤnzendes Behagen fpiegelte fih auf dem breiten Geficht bes Wechflers. Er wählte mit der Linken in der goldgefüllten Holzſchale und ſtrich ſich dann wohlgefällig über den kahlen Kopf und das kahle Kinn, Es gibt doch wohl noch glädliche Menſchen auf der Welt.

„Ich wuͤnſche Wohnung von Motr Petroͤwwitſch gu willen. Wohnt er noch im Haufe?“

„Piste Petroͤwwitſch iſt £ot, gu dienen, gnädiger Herr. Borigen Winter, Er ift mie die Miete ſchuldig geblieben. Miete für Wohnung und Hol. Er iſt erfroren, fagen die Leute, aber das ſchadet nichts. Ich habe die Sachen zuruͤck⸗ behalten, Iumpige Sachen! Nur ber Junge iſt ausgeriſſen und hat feine Geige mitgenommen. Er ift fort, der Teufel

16° 243

60% ihn! mag er feinen Lanbslenten, den Finnen, geigen! Die Wohnung fteht noch leer, die einzige im ganzen Haufe. Über das (abet nichts. Urteilen Sie felber, gnaͤdiger Herr. Ich komme ſchon auf meine Koften. Eine ſchoͤne Wohnung, Zimmer und Küche, mit Wafler und Heizung. Etwas hoc, fünfte Etage.

„Freilich nichts fhr Sie, guädiger Here, aber darf ich Ener Gnaden mit taufenb Rubel dienen? Eins, zwei, drei, sehn. Erweiſen Sie mir die Ehre.” Er fahr mie dem Daumen in den Mund und zählte mir die fchmierigen, zerriſſenen Hundertenbelfcheine vor.

Der alte Fuhls tor! Alſo damit wäre es wieber nichts,

fuhr e8 mir duch den Kopf.

„Sie zahlen wieder, ganz, wann es Ihnen paßt hat gar Feine Eile,”

„Dante. Alſo wohin Ift Piotr Petroͤwwitſch ber Jüngere, meine ich?”

„Zu den Sinnen, onäbiger Herr, weiß Gott, wohin, hol’ ihn der Teufel! Mag der den Finnen geigen, der Lump! Hier foll er fich nicht wieber blicken laſſen, oder Ich ſchlage Ihm die Zähne ein, dem Windhund.”

Er verzog den Mund gu einem Lächeln.

„Tauſend Rubel”, fagte er fich verneigend. „Bitte felbft zu urteilen”, und ſchob mir ben ſchmierigen Haufen über den Tiſch zu.

„Dante, danke, ih brauche nichts.”

„Erweiſen Ste mie die Ehre. Oder zwei⸗, breitaufend ? Wieviel Befehlen Ste? Bitte untertänigft, erweifen Ste mie die Ehre. Euer Hochgeboren haben gewißlih die Gnade, nich Ihrem Herrn Schwager zu + empfehlen; nur ein Heines Woͤrtchen.“

„Meinem Schwager ?”

„Shrem Seren Schwager Sztipann Sitipannowitſch, Erzellenz 1"

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„Ja kennen Ste mich denn?”

„Gott fei mie gnaͤdig! Ach follte Euer Hochgeboren nicht fennen? Omitri Alexaͤndrowitſch? Ihr Here Vater hat mir oft bie Ehre erwieſen. Ein vortreffliher Mann und gar nicht ſtolz. Und Ihre Frau Mama! Eine liebe Dame. Eine Dentiche, aber eine fehr vornehme Dame. Bon oben bis unten ſchwarz angesogen, nur einen Schleier hatte fie und einen geänen Kranz, und weinte gar nicht, wie boch unfere Mäds chen immer bei der Hochzeit tun.”

„Bei der Hochzeit? Waren Sie denn bei der Hoch⸗ zeit?“

„Freilich war ich dabei, Ener Gnaden. Erlauben Ener Gnaden, wie lang’ Ift es ber? Es find jetzt...“ Ach fühlte das Her; im Halſe Ichlagen.

„Ich bente, Die Hochzeit war auf bem Gute?“

„Freilich war fie auf dem Gute, Euer Gnaden. Ihr Herr Vater hatte mir die Ehre erwielen, und da bin ich ſelbſt binausgefahren und babe Ihm das Geld gebracht. Eins hundertdreißigtaufend Rubel. Und da bat mir Ahr Herr Bater bie Ehre erwiefen und hat mir erlaubt, dem Gottes; dienfte beizuwohnen.“

„Sie waren alfo bei ber Trauung meines Vaters mit meiner Mutter zugegen? Ste waren felbft da und haben es ſelbſt gefehen ?

„Mein Wort iſt Gold, gnaͤdiger Herr, gerade wie ich es ſage.“

„Koͤnnen Sie das bezeugen?“

„Auf die Hoſtie will ich es beſchwoͤren. Ich war dabei! Es iſt alles ins Kirchenbuch eingetragen worden, und meine Wenigkeit hat auch unterzeichnen duͤrfen. Ich verſtehe wohl, es iſt eine große Ehre fuͤr mich. Aber urteilen Sie ſelbſt: Einhundertdreißigtauſend Rubel iſt auch kein Spaß, und es ſtanden ſchon andere Gelber darauf, und wer kaun wiſſen, wieviel fo ein Gut wert iſt?“

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Bon der fonnigen Steaße draußen flatterte unvermutet ein Schmetterling durch die Offnung über der Lade in unfer finftereß Loch. Wer weiß, welchem eingebildeten Gluͤck er bier nachjagt, vielleicht flüchtet er nur aus dem betäubenden Geraſſel der Straße; er taumelte vor ber fetten Muͤtze des Buben sum Tintenfaß, vom Tintenfaß zum Golbhäufchen in ber Holzſchale, flatterte der Katze um die Ohren und ent ſchloß fich, offenbar unbefrledigt, den Ausweg wieder In dag Freie durch das vergitterte Hoffenfler gu nehmen. Er faltete die prächtigen Flügel auseinander und wieber zuſammen, weißgelblih geftäubt, ſchwarz geränbert, durchſichtig und ſchimmernd, wie ein Edelſtein und tänzelte an dee Scheibe auf und nieder. Das war fein Anblick für unfern Wechfler; mit dem verfnällten, ſchmierigen Tafchentuch wilchte er den luſtigen Gefellen vom Fenfter und zerdrädte ihn mit dem Daumen. Was für ein mörberifches Tier iſt Doch der Menich !

„Ungesiefer! guädiger Herr,“ fagte der Wechſler, „es gibt fehr viel Ungeziefer bei ung in Rußland.”

Das Schickſal meint e8 gut mie mie, es will mich befreien. Jetzt erſt fühle ich, wie ſchwer ed anf mir gelaftet. Ich atme auf. Es gibt mir den Weg frei und Ich will Ihn gehen. Ich darf mir felbft eben. Ich Hab’ niemanden zu fragen, mich nach niemandem zu richten. Wie fühl’ ich mich erhaben Aber all die Heinlichen Seelen, die nichts vor Augen haben als ihre bißchen Stellung und Gehalt. Ach erfirebe mehr und werde es erreichen. Ich will Lehrer, Leiter, Weller einem ganzen Volke werben, der ganzen Menfchheitl...

Welch fchöner Sommertag iſt Draußen! Welch ein Ge⸗ woge von Menfchen und Wagen bin und her! D, es iſt ſchoͤn auf der Welt!... Und wenn ich diefen Menfchen, da gegenüber mir, nicht gefunden hätte, was wär’ aus mir ges worden, was wär’ mir übriggeblieben ? Knechtſchaft, elende Knechtſchaft um das tägliche Brot, elende Knechtſchaft ein ganzes Leben lang.

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Mein Gegenüber hatte weiter gefchwagt, was von aufs gelanfenen Zinfen, von Hypotheken und von Sztipann Sztipannowitſch, und Ich möchte ein gutes Wort einlegen, aber Ich Härte und verfland nur das eine: Hier war ein lebender Zeuge der Trauung meiner Mutter!

„Wollen Ste mir einen Gefallen erweiſen?“

„Mit dem größten Vergnügen. Das ift meine Schuldigs fett.”

„Schreiben Ste mir mal das auf, was Sie da fagten.”

„Befehlen Ste gleich?”

„Ja, gleich Hier, ich meine das, was Sie von der Hochzeit fagten.”

„am, von dee Hochzeit?”

„a, wer war benn noch dabei?“

„Run, der alte Pope und der Diakon, der Staroft und meine MWenigfeit waren die Zeugen. Sonft niemand, das heißt die deutiche Dame, die Kammerfrau von Euer Hochgeboren Mutter, die fpäter Euer Snaden Kindermäbchen wurde ſo eine Heine Perfon, fie sing nachher nach Deutſch⸗ land zuruͤck. Euer Gnaden muß wiflen, es war den Kindern gar nicht genehm, daß Ahr Herr Papa sum drittenmal hei⸗ tatete. Da waren fie denn alle ausgeblieben, und die Hochs seit wurde in aller Stille In der Gutskapelle gefeiert. Nies mand war fonft zugegen.“

„Alſo bitte, fchreiben Sie.”

„Was befehlen Ste?” |

Nun alſo: Der Endesunterzeichnete, Ilja Petroͤwwitſch Kotomin, Hausbeſitzer, Ehrenbürger, Kaufmann zweiter Gilde, beſcheinigt duch vorliegende Schrift, daß er am ſo⸗ undfontelten Datum uſw. ufw., gang ausführlich, am ſo⸗ undſovielten bee Hochzeit des Fürften Alexander Alexaͤndro⸗ witſch Ker⸗Aſowsky mit der Freiin Marie von Luͤtzerode als Zeuge beigewohnt habe. So wahr mir Gott helfe uſw. uſw....“

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Er ſchien zögern gu wollen.

„Ja, erlauben Ste wohl,” fagte er, „ich verfiebe nicht. Das fteht ja alles im Kirchenbuch ?“

„Das Kirchenbuch iſt nicht gu finden, es foll verbrannt fein.“

„Verbrannt? Aber da iſt ja noch der Staroft?“

„Der Staroft iſt tot.“

„And der alte Pope?“

„Der Pope tft fEumpffinnig vor Alter, dazu Immer bes foffen.”

„und der Diakon?”

„Der Diakon iſt ein Spigbube, der tut, ald wüßte er von nichts mehr.”

„Aber da muß ja noch ein Traufchein fein; den kann Ihnen ja Sztipann Sztipannowitſch am beften beforgen.”

„Schreiben Ste nur! Sztipann Sztipannowitſch iſt es ja gerade, der alles fo eingerichtet hat. Er will mich um mein Erbe bringen.”

Der Wechfler ſchnitt ein Geficht, fpiste den Mund und pfiff.

„Und die deutſche Kindermuhme iſt wohl in Deutſchland verſchwunden hui fort? Nicht zu finden? Ah das ſind ſchoͤne Geſchichten.“

„Alſo ſchreiben Sie nur. Sie ſehen ja, Sie erweiſen mir einen großen Gefallen.“

„And da ſoll ich gegen Sztipann Sztipannowitſch aufs treten? Sieh mal an! Wie ſchlau! Ener Hochgeboren, fagt man, war in Deutihland? Haben dort findiert ?”

„Wen gebt es was an?”

„Ih meine nur fo. Ja, da wird man Hug, da lernt man folche Geſchichten. Steh mal an, wie ſchlau! Nichts weiß ih, gar nichts von der ganzen Gefchichtel Nichte, nichts! Sch Hab’ gar nichts gefehen! Gott foll mich bes

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wahren, ich weiß nichts von der Hochzeit, gar nichts. Wo folfe! ich denn meine Wiflenfchaft her haben? Das find mir Gefchihten! Das HE Raub! Raub! Man will mich berauben! Da muß man die Polizei holen. Dan kennt en !”

„Will ich dich etwa berauben?“

„Man kennt euch! Man kennt euch! Man kennt euch! Komme da fo ein Here von Habenichts von Deutfchland, bräftet fih mit ben fieben Haaren am Kinn! Höflid immer höflich! Here Sort! nimmt bare taufend Ru⸗ bei.” Er hatte die ausgefpreiste Hand auf bie Geldfcheine gelegt und ſtrich fie mie einem Rud in das Schubfach dar⸗ unter. „Das iſt Raub! Raub! Wir find Hier nicht bei Kehlabſchneidern! Das iſt Überfall! Man will mich beranben ! Nihiliſten! Man muß die Polizei Holen!” Er ging von Kifte zu Kifte und fchlug bie eifenbefchlagenen Dedel droͤhnend ins Schloß.

„Nein, mein Vögelchen, fo geht das nicht. Nein, mein Huͤhnchen, da mußt bu früher auffiehen!”

„Speichft du zu deinem Hausknecht? Halunke!“

Er Hielt einen Agenblid inne.

„Es nuͤtzt die alles nichts,” fuhr ich ruhiger fort, „du haft es deutlich ausgefprochen und wirft e8 vor Gericht bekennen muͤſſen. Ych bin es nicht allein, der e8 gehört hat, es waren auch andere dabei, Zeugen, der dort”, und Ich wie auf den Zweiten in dem Loch, ben Jungen, ber noch immer regungslos vor ber Tifchlade ſaß, „ber dort hat Wort für Wort verſtanden und ich werde euch beide nicht laſſen.“

Der alte Rieſe fuhr wie ein Raubvogel auf den Buben los und ſtieß ihn mit der Fauſt in den Nacken, daß ihm die Muͤtze hintenuͤberflog.

„Urteilen Sie ſelber,“ ſchrie er, „der iſt mein Neffe, mein Erbe, mein einziger Erbe! Der iſt taubſtumm! Der guͤtige

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Sort mag ihn lange warten lafien! Taubſtumm vom Mutterleibe an! Haba Taubitumm!”

Er Hatte die Teemaſchine umgerifien. Die glühenden Kohlen Eollerten aus dem Rohr und ziſchten im kochenden Waſſer; Rauch und Dampf füllten den Raum. Er fchien fich noch nicht fiher genug zu fühlen. Wahrſcheinlich flieg Ihm der Gebanfe in den Kopf, wie gut es Ihm bei Sztipann Sztipannowitſch angefchrieben würde, wenn er mich in eine Geſchichte braͤchte. Er griff nach der mie Goldſtuͤcken ges füllten Holsfchale, ſchuͤttete das Geld vorfichtig auf ben Boden, feste fich dann auf das Sofa, beide Arme auf die Knie ges ſtemmt und den Oberkörper vornüber gebogen, und ſchrie überlaut:

„Ka—ra— ull! Die Wache! Zu Hilfe, zu Hilfe! Nihi⸗ liſten! Nihiliſten! —”

Ich blieb mit gekreuzten Armen vor dem jaͤmmerlichen Gauner ſtehen. Daß bei ſolch einem Ehrenmann nichts zu erreichen ſei, war mir klar. Was blieb mir gu tun übrig? Ich wandte mich langſam, ſtieß den Kater, der fich wieder bes haglich zuſammengerollt hatte, von der Tiſchlade, oͤffnete die Klappe und trat aus der Höhle ins Sonnenlicht heraus ...

Verſpielt! Verſpielt!....

Welch ein Laͤrm und Gewuͤhl iſt auf der Straße! Gerade vor der Tuͤr floͤtet ein Leierkaſten und wimmert durch all den Laͤrm bie Arie aus „La Traviata“: Qual cor perdisti, qual cor tradisti ein prächtiger ſchwarzlockiger Burſche in famtenem Rod und weiten Hofen.

Ein Poltgetfoldat fpagiert mit gemeflenem Schritt vorbei. Er gruͤßt hoͤflich.

„Ei, Bruͤderchen,“ fag’ ich zu ihm, „edler Wächter bes Ge⸗ feßes, geh’ da hinein, man bedarf deiner, da gibt ed Spigs Buben! Geh hinein. Es gibt viel Ungesiefer in Rußland,“

Wieder etwas abgetan. Nach Peter Fuhks brauch ich hier nicht mehr gu fuchen, er iſt fort.

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Sch trete zu meinem Pferbchen, Hopfte ihm auf ben Hals wie lang werd’ ich dich noch behalten? und fieige ein. „Rah Haufe, Here?” fragt mein Kutſcher. „Rah Haufe, Jermaͤk! Nichts ausgerichtet!“

ein Burſch und der Hausknecht, bie einzigen Wefen im

verlaſſenen Haufe, empfingen ung. Mir fiel auf, daß die Paradetreppe aufgefchloffen war, und ich erfundigte mich, ob jemand nach mir gefragt habe.

„Das nicht, Omitri Alexandrowitſch,“ antwortete ber Hausknecht, „aber Sztipaun Sztipannowitſch waren hier.“

„Sztipann Sztipannowitſch? Was wollte er?”

„Das iſt nicht bekannt. Aber es war noch jemand mit ihm, ſo ein langer Herr mit Brillen und mit einem Baͤrtchen ‚auf franzöfifch‘. Ich glaube, es war das Advokaͤtchen von da drüben. Aus dem Nihiliſtenprozeß ber Rechtsverdreher, aus dem Hans da drüben.“

„Ss, ſo. Das iſt ja recht nett.”

„Dte Herrfchaften waren auch beim Ober⸗Polizeimeiſter Borgefahren

„Woher weißt du e8 denn?”

„Der Kutſcher von Sıtipann Sztipannowitſch hat es mir erzähle.“

„Beim DbersPoltzeimeifter ?”

„Genau richtig, Dmitri Aleran drowitſch. Hier im Hauſe war auch von Ihnen die Rede —“

„Run, was fagten benn die Herren?”

„Das iſt nicht befannt. Aber die Herren find auch in Ihrem immer gewefen, Omitri Alexandrowitſch

„In meinem Zimmer? Was haben ſie dort gu ſuchen?“

„Das iſt nicht bekannt, Omitri Alexandrowitſch. Aber ſie haben ſich umgeſehen und haben gelacht.”

„Gelacht ?“

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„Genau richtig, Omitri Alexandrowitſch. Es find nämlich Briefe an Sie gekommen.“

„Gut, gib her.

„Die Briefe ſind oben auf dem Tiſche, in Ihrem Zimmer, Omitri Alexandrowitſch.“

„Auf meinem Zimmer, gut.“

Ich flieg hinauf. Sztipann Sztipannowitſch alſo und der Spitzbube, ber franzoͤſiſch frifierte Advokatl Der bat es mit aller feiner firengen Ehrenhaftigfeit zuwege gebracht, gleich nachdem Ich bei ihm geweſen, zu Sztipann Sytipannos witſch su lanfen. Und jetzt beraten bie beiden Eblen mits einander. So eine Heine Nihiliſtengeſchichte Ift bald zuſtande gebracht: Stubent Jena unzweifelhaft ein Ungeheuer. Und fist man erſt einmal auf ber Feſtung und ein paar Jahr in Sibirien nun, da mag man sufehen, wie man wieder herauskommt. Wirklich, recht erbaulich! Sibirien iſt nicht gar ſo weit! Und nicht jedem begegnet ber Zar. Ein paar Jahr Sibirien und das Leben iſt vorbei!

Wahrhaftig! Haustnechte, Diener, Kuticher find jetzt meine Freunde, fonft niemand.

Wie ſcheußlich oͤde iſt es Im Hanfel Die Teppiche zu⸗ ſammengerollt, die Pflanzen entfernt, die Möbel verdeckt, Bilder und Spiegel verhängt. Einfame Fliegen fioßen fich an den mit Kreide beweißten Scheiben su Tode. Dider Staub über allem. Dazu das ewige bumpfe Geraflel von der Steaße und die erſtickende Schwäle in den Sälen. Troſtlos und dde, wie in einem weiten Sarg!

Zwei Briefe liegen auf meinem Schreibtiſch. Der eine gewichtig, geoß, mit dem Kronſiegel gefchlofien, befagt mir, daß Ih zum Beamten in befonderer Miffion im Dis nifterium des Äußeren ernannt bin, daß Ich mich Montag, den 9. dieſes Monats, in Wiborg dem Kommandanten Maſorow an Bord S. M. Schiff Wladiwoſtok vorzuſtellen und weitere Befehle zu erwarten habe Equipierungs⸗

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gelber uſw. uſw. und daß die gefamte Miffion, Gegenſtand, Ziel und Richtung der Neife im ganzen, wie in allen Einzels heiten, auf meinen gu leiftenben Amtseid als Staatsgeheimnis gu bewahren fel. Angefügt ein fehr fchmeichelhaftes Billett vom Minifter felbft.

Sonderbar! Gerade jetzt? Es iſt fchon früher von etwas ähnlichem bie Rede geweſen ganz beiläufig aber ic habe mich gar nicht beworben Ich dachte auch gar nicht, daß es der Minifter im Ernft meinte und fegt fo ſchnell, in wenigen Tagen! Ich muß fofort zum Minifter vorfahren. Es iſt mie unmöglich, jeßt anzunehmen.

Der zweite Brief Ift aus Wiborg und lauter fo:

„Dein lieber Kerl

Sch habe gehoͤrt, Daß Du ſchon ſeit einiger Zeit wieder nach Petersburg zuruͤckgekehrt biſt, und ba tut es mir wahr; haftig ſehr leid, daß Ich Dich nicht gleich aufſuchen kann. Mein fteber Ker! Ich muß Dir berichten, daß mein Papa diefen Winter am 2ıflen März um drei Uhr morgens geftorben tft. Wir waren unferm Wirt die Miete fchuldig geblieben, da mein Papa während feiner Krankheit nichts verdienen fonnte und ich auch nichts. Mein lieber Ker, es war ſchrecklich. Der Wirt Hatte uns Waller und Holz fperren laſſen. Ich babe Möbel verheizt, alles, was von Holz war, aber die grimmige Kälte Hielt an, und mein armer Papa Ift buchftäblich er; feoren. Es war wirklich fehr ſchredlich, mein Tieber Kerl Der Wirt hatte auch alle unfere Sachen surädbehalten und hat mich hinansgejagt, kahl wie eine Kirhenmaus. Um meinen Heinen Krimskrams, für ihn ganz wertloſe Sachen, tut es mir furchtbar leid. Was tun? Er ift gefeglich volllommen in feinem echt, aber es gibt Doch fchrediihe Menſchen, mein lieber Ker! Ich Habe gar nichts retten können als meine Geige und das Bärenfell; auch nicht Deine ‚Sulanieh‘, die Du mie aus Jena gefchidt haft.

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Mein lieber Ker! Ach glaube es feſt und ſchwoͤre darauf, daß unfer Judeulied, die ‚Sulamith‘, gut iſt. Glaube es mir, mein lieber Ker! Ich könnte es Die mie guten Gründen bes legen. Ich kenne es auswendig. Sch babe das ganze Mas terial durchgearbeitet. Uber fage nur ſelbſt! Es ſtinkt sum Himmel, was Gelehrte und Ungelehrte, Berufene und Uns berufene, was Chriften und Juden ſich an diefem herrlichen Liebesliede verfündigt Haben. Zweihundert Bearbeiter, Aus⸗ leger, Deuter und Umdichter diefer uralten Judengeſchichte. Zweihundert! Und folder Bloͤdſinn darunter, Es könnte einem wirklich ganz angſt und bange werden. Und Du haſt die alte Streitfrage, ob Lied oder Drama oder ſonſt was, fo einfach geloſt.

Mein lieber Ker! Was bift Du doch für ein beneidens⸗ werter Menſch! Dir iſt alles zugefallen, was es bier auf Erden von Gluͤck gibt. Du biſt Fuͤrſt, reich und Dichter! Wenn Ich Dich nur wieberfehen und Dir die Hand fchätteln könnte, mein lieber Ker!

fo, wie gefagt, mein lieber Ker, e8 war eine fchrediche Zeit, und ich wollte mich umbringen. Da hat mir Viktor Alexandrowitſch Schröter durchgeholfen, bei dem wir früher wohnten, nicht wie ein Bruder, nein, denn Brüder helfen einander fchlecht, fondern wie ein Menſch! Der hat mich alſo durchgefuͤttert, hat fich um mich bemäht und hat mir auch bie Stellung hier in Wiborg verſchafft.

Ich bin jetzt drei Wochen bier, und ſehr gluͤcklich! Bei Heinrich Ahrenfee, ein reicher Reeder, und eigentlich ſo⸗ gar ein Verwandter von mie habe nichts zu un, oder fo gut wie nichts, ein paar Briefe täglich, fonft nichts. Ich ſchaͤme mich ordentlich, das Geld einzufteden, aber alle find fehr liebenswuͤrdig gegen mich. Schade nur, daß die ganze Herrlichkeit fo bald wieder gu Ende geht. Er iſt namlich krank, immer krank und will nach Deutſchland. Wie ein

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Traum kommt mie manchmal bee Gedanke, daß er mic mitnimmt, Deutschland gu fehen! Doc das wäre gu viel Gluͤck für Deinen 9. $. Valel Vale! Vale!“

Peter Fuhks! da hätte ih dich ja In Wiborg. Du treue Seele! Heute abend fährt das Dampfboot. Ich ſchickte dir deinen Krimskrams. Ich ſuch ‘dich auf, fobald ich kann. Was fuͤr ein großes Gluͤck iſt doch ein freundliches Wort, und dazu ein ſo lieber Kerl und ich habe ihn ſo ſehr vernachlaͤſſigt, habe nur an mich gedacht!

Orei Uhr.

Gott ſei Danf! Es iſt, als wenn Ich wieder aufatmen koͤnnte. Es ſcheint ſich alles zu machen. Ich habe meine ganze Angelegenheit dem Miniſter vorgetragen; alles von Sztipaun Sztipannowitſch ganz genau: vom Brand in ber Outstapelle, und daß nichts aufzufinden, vom Diakon, ber fo tut, als wüßte er von gar nichts, baß der Staroft tot iſt, der Pope finmpf vor Alter, die Kinderfrau irgendwo vers ſchollen, vieleicht auch tot. Endlich die ganze Geſchichte vom Mechfler, und daß man ben doch vielleicht zum Zeugnis zwingen koͤnnte. Ich hab’ ihm auch erzählt, wie ich vergeblich von Advokat zu Advokat gelaufen bin, und daß ich niemanden, gar niemanben habe, der mir beiffünde und dem Ich mich vertrauen koͤnnte, auch die ganze lächerliche Geſchichte, daß eine dritte Ehe nicht gültig fein foll und fo weiter!

Er war wirklich ſehr liebenswärdig. Er iſt ganz erflaunt über die Gefchichte von Sztipann Sztipannowitſch und hält fie für ganz unglaublih. Er will felbft perfönlich eingreifen und noͤtigenfalls ohne Rüdficht vorgehen. Sch foll ruhig reifen. Er nimmt indeſſen meine Angelegenheiten in bie Hand.

Gott fei Dank! endlich ein Menſch!

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Eben knecht

F ri

Die . Ein eiſernes Bettgeftell, yerrifiene Matraben und Deden, eine offene Kife mit Roten, Büchern, Schreibereien, ein Bundel jaͤmmerlicher, abgetragener Keider, enblih ein Korb mit leeren Flaſchen, Scherben, Stroh. Es war mir bis heute nie Mar geworden, in welch peinlicher Armut ber gute Kerl ſtekte. Und an dieſen Sachen hing feine Sede; doch wer weiß, was mir bevorfieht!

wettergebräunte, ſtaͤmmige Finnlaͤnder.

Um Jermaͤk tut es mir leid, daß ich gehe, ſonſt um nie⸗ mand. Der gute Kerl war ganz flarr.

Wir find aus dem Gewuͤhl ber Dampfer und Kähne hinaus und gleiten, vom mächtigen Steom und ber kraͤnklichen Mas ſchine getrieben, an den dden Ufern von Waſſili⸗Oſtrow vor; über. Die dicht aneinander gedrängten, riefigen Lagerhäufer

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find verfhwunden und haben einzeln fiehenden Huͤtten Pat gemacht. Der weite Friedhof von Wolkowa taucht auf. Ein Wald von Kreuzen! Wieviel Tanfende liegen dort ganz friedlich nebeneinander, Schulter an Schulter! Es iſt nur gut, daß ihnen mie dem bißchen Prunk, ben fie mit fich ing Grab genommen, auch Kraft und Macht vermobert iſt, den Nächten zu beneiben und gu befämpfen. Sie alle haben fich im Leben nach Herzensluſt verachtet und befeinder, und jetzt fol ein frommer Spruch auf einem Städchen Holz; oder Eifen, gu ihren Hänpten angebracht, alles wieder gutmachen. Einige wenige mögen ſich auch geliebt Haben und jetzt haben alle Liebe und Haß vergeſſen! Wozu iſt alle Dual anf Erden?

Auch mein Vater ruht dort in einer Gruft mit feinen drei Frauen. Sch habe es oft erzählen hören, wie fehr er meine Mutter geliebt hat, wie er ihr bald nachgeftorben iſt, und wie er mich, ben Juͤngſten, vor allen reichlich bedacht bat. Auf dem Totenbette hatten ihm bie Alteren Geſchwiſter ſchwoͤren muͤſſen, mich nicht gu verlaffen. Um Mitternacht verlangte er nach mir und ließ mich nicht mehr von feiner Seite. Gegen Morgen waren wir beide fanft eingeichlafen.

Mer weiß, was mich trifft.

r find an der Mänbung der Newa, im freien Waſſer. Die Sonne geht unter. Allmählich fleigen die Schatten höher, und Sankt Petersburg verfinkt im abendlichen Dunſt. Nur die goldene Kuppel des heiligen Iſaakiſchen Tempels blitzt noch im Sonnenlicht. Es iſt friedlich und ruhig auf dem Wafler, ein paar Boote, Mömwen, ein Dampfer in der Berne, und weit im Norden am flachen, finnländifchen Ufer die mächtigen Feuer der Lachsfifcher und das Licht des Leuchtturms. Kronſtadt. Rieſentuͤrme, niedere, granitene Waͤlle, und aus finſtern Scharten: Geſchuͤtz an Geſchuͤtz. So fletſcht

17 voblau IIL. 257

gegen bie für eis

je ET}

14*

moͤglich.

Ich will auf alle Faͤlle Peter Fuhls meine Vollmacht hinterlaſſen. Er iſt ein braver Kerl; er kennt von ſeinem Vater her die Advokatenſchliche, und wenn es noͤtig iſt, ſo greift er ein, vielleicht gefchidter als Ich. Jedenfalls ſchreibt er mir, wie es fieht. Und ich kehre nötigenfalls von Suez zuruͤck defertiere denn wollte ih mit dem Schiff ben Befiimmungsort erreihen und vom Amur aus in aller Drbnung um Urlaub nachfuchen, fo könnte leicht ein Jahr vergehen, ehe nur bie Antwort aus Petersburg ankoͤmmt.

& bin Abermäber, abgefpaunt; dennoch laſſen die Ges danken keinen Schlaf auffommen.

Ehe ich mich ihrer erwehren kann, flürmen Hoffnung und

Verzweiflung in wilden Durcheinander auf mich ein. Soll

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ih mich dem frechen Haube fügen? Soll ich Stellung, Vers mögen und Namen willig aufgeben ? Nimmermehr! Nimmermehr !

o weit wär’ ich nun! Ich fuche Philoſophie und finde nur

geiftreiche Spitzfindigkeit; Ich fehne mich nach Freunden und vergefie den beften, ben ich habe; Ich dichte über Liebe und habe fein Weib gefunden, fein Weib berahtt. Ich bin Fuͤrſt und Bettler!

fahren in dichtem Nebel, Wiborg kann nicht mehr weit ſein. Es iſt bald drei Uhr. Die Sonne muß aufgehen. | |

3weite8 Bud

Erſtes Kapitel

“1er dem Strande bei Wiborg liegt dichter Nebel. Milch weiß, nach Fräftigem Meeresodem und frifchem Birken⸗ laub und bluͤhendem Grafe duftend, verbedt er die Dächer und Giebel, den Hafen, die alten Mauern und Türme, die Landhäunfer inmitten ihrer Gärten, bie Jerblöde und Birken, gebüfche, die vollen Wiefen und leichten Hügel bes norbifchen Staͤdtchens.

Es iſt fruͤheſter Morgen, die Luft, jeder Ton, jede Lebens⸗ regung ſteht ſtill. Der feuchte, ſchwere Nebel haͤlt alles im Bann und quillt und wogt.

In einem Hauſe, das dieſer Nebel wie alles fuͤr alle Welt verborgen hat, und ſo verſteckt haͤlt, als ſtaͤnde es auf Meeres⸗ grund, ſchlaͤft noch alles!

In dem hohen, weitlaͤufigen Vorraum tickt eine Uhr in ihrem geſchnitzten, von der Diele bis zur Decke reichenden Gehaͤuſe.

Altersbraune, kunſtvoll geſchnitzte Schraͤnke ſtehen an den Waͤnden, ehrwuͤrdige Geſtalten, an denen unſere wander⸗ luſtige Zeit voruͤbergezogen iſt, ohne daß ſie dieſelben von der Stelle bewegt haͤtte. |

Eine breite, ſchoͤn geſchwungene Treppe, mit ſammet⸗ weichem Läufer belegt, führt in ben oberen Stod, ein ſchweres Geländer aus berben, Birfenen Säulen gibt biefer Treppe Wucht und Kraft.

Neben der Treppe zu ebener Erde führt eine Fluͤgeltuͤr, ein altes Kunſtwerk an Einlage und Schuibarbeit, in ein immer.

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Es iſt ein hoher Raum. An die Senfter legt fich ber Nebel, der draußen alles verhällt, undurchſichtig an, wie eine Milch, glasſcheibe. | In den vier Eden des Zimmers fiehen in großen Kuͤbeln frifche Fichten mie bellgrünen Trieben, in der Mitte bes Zimmers ein geöffneter Flügel.

Bon der Dede herab, gerade über dem Flügel, hängt das Modell eines weißen, ſchlanken Bootes mit Flagge und Segeln, ein langer, blauer Wimpel an dem Mafte.

Zierliche Möbel aus ſchwarzpoliertem Hole mit feinen Kanten und Linten aus Perimutter eingelegt.

Eine ſchoͤne Kopie der Madonna bella Sedia. Das Zimmer tft liebevoll gepflest.

Eine Glastuͤr führt hinaus auf die Veranda. Und an der breiten, nur von der Eingangstär unterbrochenen Wand ſteht ein gierliches Bett, ein wahres Schmuckkaͤſtchen. Wie bie übrigen Möbel iſt e8 reich mie Perlmutter ausgelest. Vier hohe Pfeller tragen einen Himmel, von dem ein weiches, jartfarbiges Gewebe nieberfällt. Das junge Geſchoͤpf, das hier im Morgenfhlummer liegt, fledt im Bettchen wohlig eingehälft, bie diden Zöpfe ſchmiegen fi ihr an Arm und Hals, goldig ſchimmernd. Die Haͤnde liegen ſchlafesmatt auf der Dede, ein wenig geballt gu weichen, runden Faͤuſtchen, braͤunlich von Luft und Sonne gefärbt, Wetterhänbe, die ein noch kindiſches Treiben draußen am Meeresfirand, in Garten und Wald verraten.

Sie hat fich bewegt, der Kopf ift Ihr jetzt gang zuruͤd⸗ gefunfen.

So liegt es fich nicht gut, fo kommen boͤſe Träume, auch am hellen Morgen!

Und richtig, ba graͤbt fich eine alte zwiſchen den Brauen, die Stien wird trans, die Lippen öffnen ſich, Unruhe sieht über das fchlafende Gefiht, ein angſtvoller Atemzug, ein zuckendes Auffahren!

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Sie iſt jegt wach, mie Aopfendem Herzen.

Es war ihr, als wäre fie bie breite Treppe im Haufe herab, gefallen fo fehnell fo tief. Nein, die Treppe war es nicht, es war etwas anderes gewefen, enblos, dunkel und unbekannt.

Es iſt ſchon heller Morgen.

Verſchlafene, noch ganz verwirrte Augen richten ſich nach den Benftern, an bie ber undurchdringliche Nebel noch feucht anliegt.

Da sieht es lebenbig Aber das Geſicht; das Mädchen ſchluͤpft aus dem Bert, wankt noch fchlafbefangen, öffnet das Fenſter, unb ber Nebel sicht ein, legt fich Ihe kuͤhl und feucht an bie warmen Wangen, burchdringt das leichte Nachthemb. Wie fie ſchaut! Nichts zu fehen!

Die alte, fhwachbelaubte Birke, Die fo nahe fteht, daß ihre Sweige auf dem Dach ruhen, flieht fie nicht nichts alles Nebel!

Kein Ton, Augenblickllich nicht. Die Voͤgel ſchlafen noch oder wagen fich in dee weißleuchtenden Dämmerung nicht hervor.

Und doch! Jetzt ruft ein Kuckuck und wieder einer, und wieder einer, feen und nah. Sie rufen wie aus Wollen heraus,

Das Hingt geheimnisvoll und fremdartig! Nur Kudude, fonft nichts.

Langfam geht das junge Mädchen zu Ihrem Bett zuräd, ſinkt davor auf die Knie nieber, legt das rofige Geſicht in die Kiffen, faltet die Hände und blickt friedlich vor fih Hin. -

„Lieber, guter Bott”, fagt fie, und fpricht In ruhiger Ges wohnheit leife ihr Morgengebet.

„Laß uns alle, die wir ung lieben, lange beieinander, bleiben.

. Meinen Bater mache mir gefund, dann iſt alles gut.

Ich möchte niemandem auf Erben ein Leib Bringen, Ich

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möchte, daß alle mich Immer Tiebten und baß es bliebe, wie es jegt if. Wenn es doch anginge, daß wir nicht nach Deutſchland reiften !“

Ste ſchweigt, ſchaut noch Halb fchläfrig vor fich Hin, ohne fih gu regen.

„Lieber, guter Gott, bebüt ung alle Amen.”

Dann fchlüpft fie im Nu in ihre Kleider, fo eilig, fo flink, als wäre ihr ein guter Gedanke gekommen.

Die Zoͤpfe ſteckt fie Haftig um den Kopf, und zwar tut fie dies mit goldenen Haarnadeln, die fie auf dem Tiſch vor Ihrem Bette eifrig zuſammenſucht. Ein Kommodenfach ſchiebt fie auf, und entnimmt diefem ein weißes, zuſammen⸗ gefaltetes Tuch, hängt es fich über den Arm, und oͤffnet fo ausgeräftet vorfichtig die Tür Ihres Zimmers, hält erſt Um⸗ (hau, ehe fie ben Fuß über die Schwelle ſetzt.

Es iſt noch ſtill, fie fchlafen alle noch. Die Uhr tickt gleich, mäßig mit vollem Pendelfchlag, gerad’ über Ihrem Zimmer fchläft der Vater. Ste ſchluͤpft hinauf, Bleibt vor feiner Tür fiehen und ftreicht wie liebkoſend darüber hin, dann wendet fie fich wieder, fchleicht wieder herunter, ganz leiſe, aber die alten Treppenſtufen Inarren doch.

Die Haustuͤr iſt noch gefchloffen.

Ste verfucht ein paarmal feſter auf die Klinke zu brüden, das Anbert aber nichts. Die Tür gibt nicht nach.

Jetzt halt fie Umſchau.

„Annuſchka!“ ruft fie mit gebämpfter Stimme. „Ans nuſchka! da liegt fie ja!“

Sie ſchleicht ein paar Schritt vorwaͤrts auf ein unent⸗ wirrbares Buͤndel von Kleidern, Lappen und Decken zu, das in einem Verſchlag, den einer der alten Schraͤnke mit einem Mauervorſprung bildet, liegt.

„Aunuſchka, Aunuſchka!“ fluͤſtert ſie, als ſie vor dem Buͤndel ſteht und zwiſchen den Kleidern und Lappen etwas zu ruͤtteln verſucht, um es zu wecen.

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„Annuſchka, Annuſchka!“

Ein Grunzen und Dehnen gibt Antwort.

Die Kleider und Deden bewegen fi, und der Kopf eines ſchwarzhaarigen Frauenzimmers arbeitet fih daraus hervor und ſchaut verbläfft um fich.

„Wo iſt denn der Schläffel, Annuſchka ?“ ruft fie und wieder; Holt es, als feine Antwort kommt.

„Ede Hänge.”

Kriftine (haut um ſich.

„89 denn?“

„Ede hängt.”

Annuſchka gaͤhnt wieber.

„sn welcher Ede, Annuſchka?“

Wo immer hängt.”

Kriſtine Bleibt nichts übrig, als die Ede, wo Annufchla ben

Schläffel untergebracht hat, gu fuchen.

Annuſchka bleibe waͤhrenddem in einer beobachtenden Stellung fauern.

„Dumm fein!” brummt fie, als Kriſtine die Ede und ben Schluͤſſel durchaus nicht finden kann, erhebt fich endlich, langt hinter ben Schrank, au bem fie fchlief, und nimmt ben riefigen Schluͤſſel daſelbſt hervor.

Kriſtine will ungeduldig danach greifen.

Annuſchka aber laͤßt das nicht zu, macht ſich ſelbſt auf die Beine, um aufjnfchließen,

Die Heine, unterfegte, firuppige Aunuſchla gebt wie auf Stummeln, als wären ihr die Füße abgefihnitten, und diefer fonberbare Gang foll offenbar eine Art auf ben Fußſpitzen ſchleichen vorftellen.

Annuſchka iſt Mm endipesoon und will ihre Herrſchaft nicht su fruͤhreitig weden

„Weshalb erans? Weshalb Leute weden?” fragt fie uns sufrieden, Haus ſchlaͤft.“

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Jetzt öffnet Annuſchka die Haustuͤr, der Nebel wogt dicht und weich und lau. Man teitt wie auf ben Boden bes Meeres hinaus,

„Immer bummes Zeig!” fagt Aunuſchka.

Kriſtine iſt mitten Im Nebel dein. Die Tür ſchließt fich hinter ihre,

Da fteht fie, umgeben von gleichmäßig weißem Dunft, durch ben, wie fie e8 vorhin vom Fenſter aus hörte, bie Kuckude rufen von nah und fern.

Kriſtine bleibe eine Welle ruhig, ba vaflelt etwas, kliert, Happert, bewegt fih, da kommt etwas angefprungen, da ſchimmert e8 dunkel. Ste erfchridt, ba rennt es haarig, naß, mit Iufiigem Stoß an fie an. Das iſt der Kettenhund, der große Schlingel.

Sein mächtiger Kopf, feine naffe Nafe ſchnuͤffelt und ſtoͤßt. Er hebt die braune Pfote, fein Schwanz, feine Hinterbeine wirtfchaften im Nebel, und fo begräßt er bie junge Herrin, die beinah befangen und beflommen in dem Duuſte ſteht.

Jetzt geht fie langſam weiter.

Wie fremd erfcheint Ihe alles! Der bleiche, feine Seefand, der die Wege bedeckt, iſt In feiner oberen Schicht feucht und fefter geworben, bei jebem Schritt aber quillt e8 hervor, teoden und hell. Es hat nicht geregnet, und alles iſt nur vom Nebel feucht durchſogen.

Seht ragt der mächtige, grün bemooſte Grauitblock vor ihr auf, um ben fiehen bichte MWacholberbäfche, einer jener erratifchen Bloͤcke, die zu Taufenden über das Land verſtreut legen, von ber finnländiichen Kuͤſte au bis tief hinein In das Herz Deutſchlands.

Er erfcheint ihe fo mächtig, fo unbekannt.

Einfam fuͤhlt fie fich, die ganze Welt verfunfen, in Nebel gehuͤllt nur der Bellen, und tropfenber, ſtarrer Wacholder.

Wenn jet ein Wolf ame! fährt es ihre durch den Kopf, wenn der fo anftauchte wie vorhin ber Hund. Ja wenn es

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Winter wäre, da kommt es ſchon vor, Daß die Wölfe fich Bis hierher wagen. Bon der Gartenmauer aus hatten die Wis borger Vettern noch letzten Winter auf Wölfe gefchollen, aber jeßt im Sommer!

Es war wohl auch anderes, das fie fuͤrchtete, das fie bes Hommen machte, Unbeſtimmtes, Rärfelhaftes. Auf bie Lange wirkte das unfichere Wandeln in bem gleichmäßigen Mebel bedruͤdend gefpenftifceh, und der unaufhörlich wiederholte Ruf des Kuckucks ans ber Ferne machte ihre das Herz klopfen.

Am Hauſe ſchlaͤft noch alles.

Wenn doch ber Vater, geht es ihre wieder durch ben Kopf, eines Tages ganz gefund auftwachen möchte!

Weshalb denn nicht? Alles kann geſchehen.

Das morgenfrifhe Maͤdchen geht, nachdem der Schauer, den das ungewohnte Gefühl der Vereinfamung, des Abs geſchiedenſeins Aber ihre Seele hingezogen tft, in frifcher Lebensluſt weiter; fie läuft jetzt in den Nebel hinein.

Der weiche, ſandige Weg führt abwärts. Hier und ba funtelt e8 in weiteſter Berne wie Sonne auf, Die Nebels maflen werden lanbeinwärts lichter und Ballen ſich über der See.

Die Baumfpiten fchimmern bier und dba wie aus weißen, dichten Schleiern. Es leuchtet auf.

Aber auf der See liegt es noch weiß und ſchwer, nur die erfien gligernden Wellen, die zu der fchöngefchwungenen Bucht lautlos gleiten, bligen ſchon von Sonnenlichtern auf. Ein weicher Wind läßt das Schilf, das am Strand bis In die feihten Wellen hineinwaͤchſt, leife aneinanderfieeichen, baß es wifpert und fcharftönend rauſcht. Das Waller iſt Hier ohne Salsgehalt, Teicht wie das eines Binnenſees. Die Wellen haben ben feuchten Strand entlang eine dunkle Linie aus Schifftäden, Mufcheln und dunkeln Holsteilen gebildet, bie fih ihrem Immer wiederkehrenden, leuchtenden Bogen ans ſchmiegt.

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Scharen. Heiner Steandläufer filegen auf, verſchwinden in Nebelfchleieen. Andere laſſen fich wieder nieder, um ſich bald wieder zu erheben und nah am Boden und ben flachen Wellen hinzuſtreichen, bald im Dunſt verſchwindend, bald auftauchend. Sonnenblige fchteßen durch weiße Nebelfetzen. Jetzt kommt das Mädchen dem Strande immer näher,

Ste hat mit Laufen innegehalten, aber ihr Gang laͤßt ſich nicht fogleich zur Wernunfe bringen, er hat etwas Häpfendes, Eaſtiſches.

Der Weg fuͤhrt eine Duͤne hinab.

Da gleitet ſie beinahe wie von ſelbſt in dem feinen nach⸗ giebigen Sande. Das weiße Tuch, das ſie uͤber die Schulter gelegt hat, ſchleift ihr nach.

Ein Brett iſt in das Waſſer hineingehaut, um die Boote bequem zu landen, und einige Boote liegen bier verankert, jedes zweimal, an der Spike und bem Steuer, Sie ſteht auf dem Brett und ſchaut um fich.

Das Schilf wifpert, die filberhellen Wellchen Audien an die eingerammten Pfähle, die Boote fchanteln kaum merk lich von einer Seite zur andern, ſchlupp fchlapp. An eines ber Boote ſtoͤßt ſie mie dem Fuß, daß es Ins Schaukeln kommt, ftößt es an wie einen guten Kameraden.

Kylliki ſteht vorn auf dem weißen Stern. Es iſt ihr Eigens tum, fie hat es felbft getauft nach ber Helbin des finnifchen Epos.

Jetzt nimmt ſie das Tuch von der Schulter, geht auf dem Brette zuruͤck, auf einen der Granitbloͤcke zu, deſſen Kuppe von ſcharfem, dunkelm Gras ganz uͤberwachſen iſt dor⸗ legt ſie ihr Tuch nieder.

Nicht weit von dieſem Blocke, in das Waſſer hinaus⸗ gebaut, nahe dem Stege, ſteht ein Heines Badehaus. Sie ſchluͤpft aber hier aus dem Kleide, zieht Schuh und Struͤmpfe von den Füßen, ſchluͤpft aus dem Rock, dem Hemd fo flink, wie ſie vordem hineingekrochen und flieht da am Meeres⸗

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ſtrande, umwogt von Nebel wie die uralte Göttin, jung und herrlich

Ruhig und fchlanf aufgerichtet, das Haar im Gehen fefter um den Kopf windend, wandelt fie dem Waſſer gu, die Luft umfpielt fie feucht und warm. Sie tritt ins Aare Wafler, und ein koͤſtlicher Friede liegt auf dem Geficht des wunder; vollen Geſchoͤpfes.

Sie fühle fih wohl. Sonne und Nebel kaͤmpfen um fie ber. Die volle Iugend iſt Aber fie ausgebreitet, deren ganze Kraft und Friſche und Leichtigkeit.

Sie geht weiter unb weiter, bie Haren Wellen reichen ihr Bis an die Bruſt.

Ste fühle fich Hier ficher wie in ihrem Element, kenut jeden Stein zu ihren Füßen, jede Yntiefe iſt Ihe vertraut. Jetzt laßt fie die Füße fih vom Grunde erheben und ſchwebt leicht gelaffen Aber der Tiefe,

In der ſtillen Bucht iſt die obere Waflerfchicht warn, wie lauer Tee fo weich, fptelt fie an Hals und Lippen an, und tiefer iſt das Waſſer herzhaft feifch.

Wieder völlige Stille und Einſamkeit am Steande, bie Boote fchluppen langſam von einer Seite zur andern, die Strandlänfer ſchwaͤrmen ungeſtoͤrt. Die junge Göttin, die bier dem Waller zuwandelte, in ben Haren Wellen hinſank, ift weit hinaus Ins Meer, und dichte Nebelfchleier liegen über ihr.

en wanbert buch den Garten eine zweite Geftalt,

noch jugendlich ſtramm, eine häbfche Perfon in einem

fraubfarbenen, prall anfchließenden Kleid. Ste hat einen feften energiſchen Schritt,

Das iſt Mathilde Swenfen, eine Verwandte aus Deutſch⸗ land, bie hier gu Beſuch if. Ste Hält wenig Umſchau und geht einem beftimmten Siele zu.

Mehr und mehr iſt der Nebel sefunfen, Birken, nichts als Birken, wohin man fieht, und hohes bluͤhendes Gras.

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Der Garten mochte in einem Birkengehoͤlz angelegt wor⸗ den fein,

Bequeme breite Wege, auch wohl ein SKieferchen, eine Fichtengruppe, Eichengebüfch, breite Raſenflaͤchen.

Um bie Finblingsblöde, die der See zu in großer Zahl liegen, iſt Wacholder gewuchert und das fefte firaffe Gras.

Ein paar Beete mit Blumen vor dem Haufe abgerechnet, ift der parkartige Garten fich ziemlich ſelbſt überlaflen ges blieben, wie die Natur ihn gefchaffen, nur die Wege find forsfältig Infiandgehalten.

„Tina!“ ruft Mathilde Swenfen. „Tina! Um Gottes willen, Tina!“

„Was für ein Gefchreil” murmeln zwei feuchte Lippen ärgerlich während des Schwimmens, und in dem golds funtelnden Wafferftreif nach dem Steande taucht ein blonder Kopf auf, glänzende Schultern, eine roſige junge Bruſt.

„Tina! Tina!” ruft Mathilde Swenfen wieder.

„Kriſtine Heiß” ich”, antwortete das nafle, friſche Ges ſchoͤpf ärgerlich aus dem Waſſer heraus.

Jetzt find fie fich beide einander gegenüber, bie Stanbfarbene und ber rofige Fiſch, der im feichten Wafler auf dem ſeiden⸗ weichen Sand liegt, mit ben Armen aufgeſtuͤtzt. An bie eunden Schultern pläticheen bie durchleuchteten Wellchen an.

„Aber Tina!” ſagt Mathilde, „fo fruͤh zu baden!“

„Keiftine Heiß’ Ich, hoͤrſt du denn nicht? Wirſt du dir's endlich merlen? Gib mie mein Badetuch.“

Mathilde geht, um es zu holen. Als fie damit zuruͤckkehrt, ſteht Kriſtine nur mit einem Fuße noch im Waſſer und ſtreckt die Haͤnde gelaſſen nach dem Tuche aus.

„Mein Gott, wie biſt du ſchoͤn!“ ſagt Mathilde Swenſen in einem eigentuͤmlichen Ton.

„Das geht keinen Menſchen etwas an, wie ich bin“.

„Meinetiwegen geht“s feinen Menfchen etwas an, wie du biſt, ausgenommen beinen Zukuͤnftigen!“

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Da teifft fie ein erflannter Blic aus zwei llaren, blauen

en.

„Ran muß fo nicht ſprechen“, ſagt die feuchte Kreatur auf eine unbeholfene Weiſe.

Mathilde Swenſen lacht.

„Ach, Keiftine, was bift bu für ein Kind, ihr ſeid Hier alle hundert Jahr zuruͤck.“

„Oho!“ ſagt Kriſtine. „Ganz etwas Neues! Abrigens weiß mein Vater, daß ich ihn nie und nimmer verlaſſe mein Vater glaubt an mich und Mama ebenſo —.“

Mathilde lächelt. „Und nie und nimmer verlafie! Das fagen alle Mädchen. Alſo Immer Fräulein Tina?”

Keiftine iſt inzwiſchen in ihren Rod gefchläpft und wirft das Kleib Aber.

„Kriſtine!“ ruft fie ungebuldig.

„Was tft denn bag?“

„Freiſel Kriftine”, wiederholte das Junge Mädchen ruhig. „Verſtehſt du, ‚Breifel‘ heißt's,, Freiſeel muͤßt⸗/es eigentlich beißen, fuͤr die dummen Leute, daß fie's verſtehn aber fie breauchen’8 nicht zu verſtehen. Frei⸗Seele heißt es, weißt du, in zwei Worten; aber im Gebrauch iſt's, Freiſel Kriſtine.“

„Und was foll’8 denn damit?”

„Ra, was ſoll's damit ?“

„Was du für Ideen haft?“

Mathilde Swenfen will. Kriſtinen aus dem Buche vor⸗ lefen, das fie auf ihrem Morgenfpastergang begleitet hat. Dantes Hölle; aber Kriſtine wuͤuſcht das nicht. Ste meint, daß es dazu viel gu fruͤh jetzt fei.

„Du mußt fie lieben lernen,” ruft Mathilde nach einer Meile, „das iſt wahre Philoſophie!“

„Geh,“ fagt Kriftine, „ich Habe Hineingefehen. Sole Bücher machen die Menfchen boͤs und dumm; wenn bie Menichen

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lefen, daß Gott fo graufam und bis iſt fo werben fie denken: Weshalb follen wir beſſer als er fein?”

„Das ſchlimmſte iſt,“ fagt fie nach einer Welle, „wenn das Dumme und Boͤſe prachtvoll gefagt iſt.“

Kriſtine geht vor Mathilden her, dem Garten wieder zu.

Als fie unter die Birken tritt, bleibe fie fieben, wendet fich um und blickt ruhig hinaus auf das jet Aar leuchtende Meer. |

Ein Dampfichiff sieht In der Berne über bie fplegelglatte Flaͤche und läßt einen langen, ſchmalen Rauchftreifen Hinter

ſich. „Iqh glaube,“ Inst griſtine, „s iſt Das Sqhiff aus Peters— urg.“ Jetzt gehen ſie dem Hauſe zu.

Ihnen entgegen kommt ein leicht gebeugt gehender Mann.

„Papachen!“ ruft Kriſtine, wirft Mathilden das Badetuch zu und laͤuft.

„Guten Morgen, mein Herz, guten Morgen“, ſagt er, als er ſie in den Armen aufgefangen hat.

Sein Haar iſt ergraut, das hagere Geſicht macht einen leidenden Eindruck.

„Gut geſchlafen? Sag’ mie, wie es bir gebt?” fragt fie; „aber fage es auch”, fragt fie dringlich, als er nicht augen, blicklich anf ihr ſtuͤrmiſches Fragen antwortet. |

„Ja, mein Herz, recht gut.”

Er begrüßt fih mie Mathilden.

Keiftine aber bleibt waͤhrenddem ruhig an feinem Halſe hängen.

Ihr Kopf lehnt an des Vaters Bruſt, der ihre Zärts lichkeit mit dem ficheren Gefühl, das die Gewohnheit gibt,

duldet.

„Ich bin heute gehoͤrig weit hinausgeſchwommen, Papa⸗ chen“, ſagt ſie. „Sei vorſichtig, nicht gedankenlos, daunn iſt's ſchon aut.”

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Mathilde Swenfen fchättelte den Kopf daruͤber, daß ber Bater es nicht für angemeflen hält, Ihe das Baden In offener See zu unterfagen.

„Habt Ihe denn ſchon Tee getrunken?“

„Gott bewahre!“

„Alſo geht, ich komme mit euch.”

„Die iſt es alfo beſſer“, fagt Kriſtine und ſchmiegt ſich enger an den Vater an, legt den Arm, waͤhrend ſie gehen, um ihn.

„Die iſt's gut?“ Ihre Fragen haben etwas uͤberſprudelnd Zaͤrtliches.

„Ja“, ſagt er mit einem leichten, wehmuͤtigen Lächeln.

„Alſo, ja!" ruft Keifiine, und beginnt, am Arm ihres Vaters hängend, in die blaue Luft hinaussufingen, babei teitt fie, im Takt wie ein junges Füllen flampfend, auf und

fingt: Haus und Feld und reihe Herden, Unermeßlich weite Wälber Gibt mein Vater mir zur Mitgift. Ich bin reich und ſchoͤn und acht’ mich Einer Königstochter gleich ! | Ebenbärtig will ich meinen Gatten!“

„Laß deine Kylliki in Ruh’ 1” fagt Heinrich Ahrenſee, „fruͤh⸗ Ka er.“

Zweites Kapitel

F ie Familie ſitzt auf der Veranda vor dem Wohnzimmer, der Teetiſch iſt wieder gededt. Der Samowar ſummt. Es iſt nachmittags fuͤnf Uhr.

Frau Ahrenſee haͤlt die ſilberne Kanne unter den kochenden Waſſerſtrahl.

Das zarte Aroma des Tees, auf den das Waſſer nieder⸗ dampft, erfuͤllt die Luft.

Zu dieſer Stunde tritt Peter Fuhks ein.

Peter Fuhks iſt ein weitlaͤufiger Vetter ber Ahrenſees und Privatſekretaͤr ſeines reichen Verwandten.

Here Ahrenſee bat die ererbte Reederei, bie ſchon fein Vater, ein eingewanderter Deutſcher, begruͤndete, kuͤrzlich aufgegeben und hat ſich ganz auf ſeinen Landſitz zuruͤck⸗ gezogen und verwaltet ſeinen weitlaͤufigen Grundbeſitz.

„Run, lieber Fuhks, was bringen Ste?“

Peter Fuhks verbeugt fich fürs erſte außerordentlich achtungsvoll gegen die Damen, gibt einen Brief ab und faͤhrt ſich gedankenvoll mit der Hand uͤber den Mund.

Frau Ahrenſee bietet ihm eine Taſſe Tee au.

„Wiſſen Ste,” ſagt Peter Fuhks auf eine etwas unge⸗ ſchickte, ungelenke Weiſe zu Frau Ahrenſee gewendet: „Es iſt heute jemand augekommen. Ich bin ſehr uͤberraſcht und erfreut. Ich haͤtte ihn gleich mitgebracht, aber er hatte zu ſchreiben, zu tun hatte er, zu tun.“

„Wer denn?“ fragt Kriſtine.

„Hab“ ich es nicht geſagt?“ ſagt Fuhlks leicht verlegen „mein lieber Ker iſt gekommen.“

„Ihr lieber Ker?“ rufen Kriſtine und Mathilde zugleich. Und Mathilde laͤchelt ein Hein wenig erhaben.

„Iſt er denn aus ben Wolten gefallen?” fragt Kriſtine.

„Jetzt lernen wir Ihr Wunder alfo kennen ?” fett Mathilde hinzu.

18 Boblan III. 273

„Ein Wunder tft er nicht, mein Freund Ser, ich Habe bie nie gefagt, ſoviel ich weiß. Ach möchte Ihm nie fchaden, man ſchadet bamit, wenn man einen Menfchen Aber bie Ges buͤhr lobt.“

Peter Fuhks fuhr ſich mit der Hand wieder uͤber den Mund. Das war ſo ſeine Angewohnheit, das tat er nach jeder einiger⸗ maßen auffaͤlligen Rede, die er zuſtande brachte.

„Er iſt mir vollkommen uͤberraſchend gekommen voll⸗ kommen uͤberraſchend. Er iſt mit dem Schiff aus Petersburg gekommen. Schade, daß ich ihn nicht bringen konnte.“

„Wie iſt denn Ihr Freund?“ frug Kriſtine. Wie ſoll ich ſagen?“ ſie zoͤgerte, „ift er fo wie Ste?“

„Mein, nein,“ fagte Fuhls eifrig, „nicht wie I, gar nicht fo.“ |

„Schade, daß er niche komme, ich glaube, er iſt eigens finnig.” Diefe Worte begleitete Peter Fuhls mit einem wahr⸗ haft träbfeligen Geficht.

„sh hätte ihn fo außerordentlich gern mit Ihnen befannt gemacht.“

„Fuͤr meinen Briefmechfel mit ihm wäre mir das von größtem Vorteil gewefen.”

Frau Ahrenfee Tächelte.

„Nun, iſt es Ihnen denn nicht möglich, ihn au bes wegen ?”

Peter Fuhks aber erſchien wahrhaft verflimme und mochte nur gekommen fein, um feinem Herzen Luft gu machen.

Man ſprach Peter Fuhks zuliebe tellnehmend von biefem Thema weiter,

„Er kommt aus Deutichland, von ber Univerfität Jena”, wendete er fih an Frau Ahrenſee. „Er kenne Ihre Fran Tochter.”

„Und komme nicht?” frug fie verwundert.

„Nein“, fagte Fuhks ſchwermuͤtig.

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„Aus Jena?” rief Mathilde, „Ja, da mäßte Ich ihn doch fennen? Ihr Wunder? Ker? nicht wahr? Ker? fagten Ste. MWuͤßte nicht...”

„Dmitri Ker⸗Aſowsky.“

„Was?“ rief Fräulein Mathilde, „bee ‚Yücft‘? der reiche Student? Freilich Hab’ Ich von dem gehört! Meine Freundin bat mie von Ihm gefchrieben. Er foll ja ſchauderhaften Auf⸗ wand teriben. Zwei Reitpferde! Und bee foll Ihr Freund fein ?”

„Ja, mein Sreund! mein Schulfreund“, fagte Peter Fuhts und ſtrahlte vor Stolz. „Aber“, fügte er, wie für fich fprechend, hinzu, „ich glaube, er ift etwas krank. Er fpriche nicht, er iſt fo ſtill.“

„Das tft doch merfwärbig, ihm hier gu begegnen“, meinte Mathilde,

„Eigentlich wohl: nicht begegnen”, fagte Braun Ahrenſee, auf Peter Fuhls blidenb.

„Iſt für mich etwas gu erledigen?” frug er dienfibereit, die Haͤnde reibend, Indem er auf Heren Ahrenfee blickte.

„Rein, mein Lieber, folange Ste Ihren Freund bei ſich haben, follen Ste vollends frei fein.“

„Bewahre,“ fagte Fuhks, „bewahre, ich werbe mich immer einfinden. Er hat ja zu tun, er bat gu tun.”

„Run,“ meinte Here Uhrenfee, „follte er aber einmal nichts zu tun haben, fo vergeflen Ste nicht, daß ich keinerlei Ans ſpruͤche an Ste made.”

Peter Fuhks verbeugte fih abermals, „Ste find fehr guͤtig“, erwiberte er laugſam, verbeugte ſich wieder und empfahl fich.

ME er gegangen war, fagte Ahrenfee: „Der gute Burfche wollte ung feine Not Hagen; er war wie verwirrt vor Freude, als er mir heute morgen ſchon antündigte, daß fein lieber Ker gelommen iſt unb nun fiheint es ihm in allen Eden nicht recht zu fein.”

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„Wie kann ber liebe Ker”, fagte Mathilde, „Breundfchaft für dieſen Menfchen gefaßt Haben? Unbegreiflich!“

„Nichts auf meinen Fuhks, Mathilde”, fagte Ahrenſee. „Ihr kennt ihn nicht. Er gib ſich anders als er iſt. Er iſt ver⸗ legen und unbeholfen.“

„Das ſchadet nichts“, ſagte Kriſtine.

„Hör einmal,” begann Mathilde lebhaft, „du ſollteſt dich eigentlich revanchieren, du haſt ihm neulich ſeinen dummen Spatz fortfliegen laſſen —“

„Mathilde!“ unterbrach fie Kriſtine beinahe ſchmerzlich, „das war kein Spatz. Das war eine Lerche, ein Maͤnnchen, und konnte ſingen, und er hatte ſie ſich gekauft, der arme Menſch, und brachte ſie voller Freude; aber ich kann es nicht ſehen, wenn ſo ein armes Geſchoͤpf im Kaͤfig ſitzt.“

„Spatz oder nicht Spatz“, ſagte Mathilde lachend. „Ih bin in der Naturgeſchichte nicht bewandert. Goethe kannte auch keine Lerchen. Was meinſt du, wenn wir ſelbſt Fuhlks mit feinem lieben Ker hierher holten.“

„Willſt du das wirklich Fuhks zuliebe tun?” fagte Kriſtine wie erſtaunt.

„Sollen wir's?“ wendete fie ſich an Ihren Vater.

„Wenn ihr meint, ja. Fragt nur unten im alten Waren⸗ lager nach Fuhks, er wird in ſeinem Turme ſitzen, oder ruht, er wird euch ſchon hoͤren.“

Drittes Kapitel

ndeflen hatte Peter Fuhls feinen Freund wieder aufges

ſucht. Er Hatte die Türe vorſichtig geöffnet und war zaghaft eingetreten, als wäre das Zimmer nicht mehr fein eigenes. Ker hatte den Mod ausgesogen, faß am offenen Fenſter und kratzte auf Suhffens Geige.

„Wie befindeft du dich?“ frug Fuhks in feiner langſamen foͤrmlichen Weiſe.

„Ich habe dir hier deinen Krimskrams mitgebracht“, ſaste Ker, ohne von ber Geige aufsubliden.

Sie hatten mittlerweile das ſonderbare Reiſegepaͤck, F aus alten Koͤrben, die mit allerlei Hausratwuſt gefuͤllt waren, aus dem Schiffe heraufgebracht.

Fuhls ſtuͤrzte darauf zu. „Wahrhaftig,“ rief er, „ba find bie Sachen.“ Und er begann ſogleich zu kramen und richtete eine große Wählerei an. Alte Kleider quollen unter feinen emfigen Fingern aus alten Buͤndeln. Ein verfhabtes Hands beschen fiel auf den Boden. Fuhlks hob es gleich auf und blickte es nachdenklich von allen Seiten an. „Ich weiß gar nicht,” fagte er, „ob das auch wirklich bag unfrige iſt. Ich meine, das hätte keinen roͤtlichen Steeif um den Rand

habt.”

Ker blickte laͤchelnd auf feinen Freund, Da polterten Flaſchen, In granes, verfiaubtes Stroh gehällt, aus einem gerfchliffenen Korbe, verroftete Blechbuͤchſen kommen sum Vor⸗ fein, ein paar abgeftoßene Teller, ein Salsfaß, zwei Taſſen ohne Henkel, ein verworrenes Knaͤuel ſchmutziger Fäden,

„Mein Gott,” fagte Fuhks, „was bedarf der Menich alles sum Leben!“

Es roch jegt im Zimmer nach fenchtgeweienem alten Staub.

„Rein, daB du den Krimskrams mie mitgebracht haft! Als wenn du wäßteft, daß mein Herz Daran haͤngt, an dem

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alten Zeug, ald wenn du das verfiehen koͤnnteſt, daß ber alte Plunder mir fo teuer iſt wie meine Heimat! Ja daß er eigendlich meine einzige wahre Heimat iſt! Vaterhaus und alles!”

Buhts fprach diefen armfeligen Begriff, ben ee von Heimat und Vaterhaus hatte, Außerft heiter aus,

„Wo tft denn aber —!“ rief ee mit einem Male aus, „ich hatte doch das Beſte ganz nach unten geſtedt?“

Fuhks taftete zwiſchen ben Sachen, wühlte wie ein Mauls wurf und förderte ein paar vergriffene Bände zutage. „Uber weißt bu, biefer Hauswirt!“ rief er außer fich,

„iſt ein Schwein, fogufagen, es fehle ihm Aberbaupt alles Herr. Es iſt gar nicht Aber Ihn zu reben. Er liegt außerhalb von alledem, worüber ein anftändiger Menſch reden darf! Rein! wenn Ich die fage: da hat er bein Judenlied bes halten! natärlich Ker!“ Fuhls ſchaute ganz verwirrt. „Rein! doch nichel Gottlob!”

Fuhks hatte wätend gewählt, war ganz In Stanb gehälle.

„Da iſt's!“ rief er gluͤckſelig. Ker, unfer Beſtes! Das Iudenlied. Unſer Hohes Lied. Weißt du, in deiner runden, herrlichen Stube Haft bu es mir vorgelefen weißt bu noch ?

Unb du fannft denten, wie Ich gerannt bin, um dag wenigftens heraussnbefommen von ber Hundeſeele. Ja was denkſt du, ausgefpudt bat ee ber

Nichts heransgegeben bat er.”

Fuhks ſchlug die Heine Mappe auf und brummte unges ſchickt und bewegt vor fih Hin:

„Wer iſt e8, bie hervorſchimmert unter den Roſenbuͤſchen,

ſchoͤn wie die Morgenröte

und wie das erfie Licht des Tages unter ben Palmen im Tal?

Ach, Ker, was biſt bu doch für ein gluͤclicher Menſch!“

Er hatte In feinem Eifer gar nicht auf ben Freund geachtet, der in ſich verfunten faß, Immer noch ®eige unb Bogen haltend, und der fich jet Haftig erhob unb mit von innerem Kampf verzogenen Lippen fagte:

„Laß das! Gluͤcklich ſagſt du? Ich bin Bettler!"

Fuhls flarete Ihn ganz verbläfft an.

Er machte keine Anftalten, fein Mienenſpiel gu aͤndern.

„Ste haben mich beteogen,” fagte Ker weiter, „ich babe nichts mehr. Fuhls, e8 kann fein, daß du mir helfen mußt es wird fo fein.”

Ker ſuchte in feiner Bruſttaſche, nahm ein zuſammen⸗ gefaltetes Papier auseinander und legte ed auf ben Tiſch.

„Lies dies! Es iſt eine Vollmacht, bie bir das Recht gibt, mich in meiner Sache gu vertreten. Sch felbft muß fort hab’ mich fchon verkauft. Mit allem, was ich wollte, iſt's zu Ende für Immer zu Ende. Du wirft mich ſchon bes greifen.”

Ker ſprach mit ſchwer erregter Stimme in abgerifienen

t. ber Fuhls begriff nichts, ſondern flartte ben Freund

an.

„Hier iſt, was Ich noch an Geld habe es iſt ziemlich viel. Ich brauche jetzt nichts, ich Habe ja Gehalt!” rief Ker hoͤhnend, „und wenn es nicht genug iſt, ben Prozeß zu führen, verkauf alles hier und in Jena. Ich Habe dort Pferde, bie Einrichtung, bie Bibliothek und die Yachten, Boote, meine Sammlungen, was du herausbelommen kannſt, Kleider, Pelze, auch noch einigen Schmuck von Mama, alles, alles! Du lebft davon, ſoviel du brauchſt. Vielleicht iſt alles nicht genug. Ich hätte gern beinen Vater gehört.

Er iſt jammerlich zugrunde gegangen,” fuhr er fort, „du haft Ihm und die nicht helfen Können! Das Schiäfal laͤßt fich nicht Ins Handwerk pfufchen. Es kann mideibige Helfer nicht

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leiden laͤßt fie arm fein ober macht fie arm. Wie dich armen Kerl, und jetzt auch mich. Mit dem Geld iſt mir meine Kraft genommen und meine Ziele; nicht das Freſſen und Saufen, fo viel werde Ich ſchon finden, um mich fart su machen. Das iſt es nicht, was mich Angflige, wahr, haftig nicht!“

Fuhks hatte wie verwirrt ſeinen Freund reden gehoͤrt. „Lieber, lieber Ker“, rief er jetzt und legte ſeinem Freund beide Haͤnde auf die Schultern, „Du kommſt, um bei mie Droſt zu fuchen für etwas, was bie gefchehen iſt. Ach, mein lieber Ker, wie glüdlih und unglädlich Bin Ich daruͤber. Ja, du haft recht, die Leute, die fo recht von ganzem Herzen helfen möchten, bie find Immer arm und elend wenigſtens arm, wie ich, denn elend bin Ich nicht mir geht's recht wohl; aber bie, mein lieber Ker, was iſt die gefehehn? Sprich mit mir, fag’ mir alles und jedes und am Helfenwollen foll’8 nicht fehlen, das weißt du. Aber was foll ich tun?” frug er aͤngſtlich.

Ker druͤckte ihm beide Haͤnde.

Und nun erzaͤhlte Ker erregt alles, was ihm in den letzten Tagen widerfahren war.

Peter Fuhks war ſeinem Freunde aufmerkſam gefolgt, weit mehr als aufmerkſam, ganz hingebend.

Peter Fuhks konnte zuhoͤren, wenn ein anderer von ſich ſprach ganz unſelbſtſuͤchtig zuhören.

Einem Neuling im Leben ſcheint das nicht viel ‚zuhören‘ | als wenn das helfen oder tröften könnte! gubdren! ald wenn das irgend etwas bebeutete!

Nicht etwa ein Zuhören, wie man es wohl findet, wo Hoͤf⸗ fichkeit geuͤbt wird und ein jeder abgerichtet Ift, ein aufmerk⸗ fames Geficht gu ziehen.

Nein, anders mit ganzer Seele, fich felbft vergeflend, aufgebend In den andern, bie eigene Machtlofigkeit vers wänfchend, ganz hilfebereit und opferbereit, gang Mitgefühl.

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Solch einen Zuhörer hatte Kor. Was Wunder, baß er in der böfen Lage, in der er fih befand, zu dieſem Freund gereift war, Unzählige Male fuhr fich Peter Fuhks über den Mund, mitfählend, ober bebanernd, ober veraͤchtlich, ober überein, flimmend, ober Im ebelften Zorn, in ber Erkenntnis, wie übel man feinem lieben Ker mitgeſpielt.

Und er wußte nicht zu helfen, er wußte nicht.

Ratlos hatte er in dem aͤrmlichen Stäbchen Umſchau ges halten, feine Blicke hatten au bem eingefeflenen, zerfchliffenen Sofachen gehangen, deſſen halbes Bolfter auf ber Erbe auflag.

Die Blicke blieben an dem Büchergeftell Hängen, bag er fich ſelbſt aus einem Brett und Bindfaden sufammengefnüpft hatte; an den kahlen Rohrſeſſeln, dem Tiſch mit grünem Wachstuch überzogen, an feinem wundervollen Bärenfell, Das er mitſamt der Geige als einziges Beſitztum aus dem Zuſammenſturz feines früheren Heims fich gerettet hatte. Und während feine Blide auf dem Bärenfell ruhten, ging mit biefem eine Wandlung vor, Es war mit einem Male nicht mehr Peter Fuhkſens Bärenfell, Fuhls Hatte es feinem Ker foeben in feinen Gedanken feierlich geſchenkt. Ker follte e8 Haben follte e8 mitnehmen.

Das war das einzige, was er jegt für Ihn tun konnte.

Ker wußte von diefer liebevollen Schenkung freilich noch nichts, Aber er hatte dennoch ſoeben bag einzige wertvolle Eigentum eines armen Menfchen geſchenkt erhalten.

Fuhks ſaß vorgeneigt auf einem ſtrohgeflochtenen Seflel. Sein firaffes Haar fiel Ihm wie Immer, wenn er gebüde ſaß, in zuſammenhaͤngenden Steähnen Aber die Ohren. Und diefe Ohren wurden bei jeder Gemärsbewegung rot, und wenn fein Gemüt bewegt war, hielt er fih immer gebüdt.

Und jeßt war er tief bewegt und rotohrig und in fich zu; fammengefunten. Wenig Vertrauen erwedend für einen

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Menſchen, ber energiſch handeln fall, ber feinem Freund, wie Peter Fuhlks es eben getan, verfprochen hat, alles daran gu feßen, um eine fchwere Sache ducchzuführen.

Während er fich mit aller Kraft und Liebe, ganz heiß im Geficht, Hineinbachte, wie der arme Ker wieder gu dem GSeinigen gelangen könnte, waren bie Gedanken Ihm fachte, unmerflih aus feiner freunblichen Seele entwiſcht und ihre eigenen Wege gegangen zu Ihrer Erholung.

Peter Fuhkſens Gedanken alſo waren unverſehens auf bie von allen Lebenbigen betretene Straße gelangt, die sum Siele bat, bie eigene Perfon, nur die eigene Perfon gu Gluͤck und Wohlergehen, zur Erfüllung aller Wänfche gu führen.

Deter Fuhks ſah Im Geiſte ein paar Augen auf fich gerichter, ach, unbeſchreiblich fchöne Augen.

Über Peter Fuhkſens Säge glitt es wie Sonnenſchein, das Blut wallte Ihm sum Herzen.

Er fiand auf und fuhr fih Iangfam mit bee Hand über ben Rund.

„Ker,“ fagte er, „wir kommen fchon duch. Der Minifter bat die ja auch gu helfen verfpeochen.”

Das fagte der gute Fuhls freundlich befchtwichtigend, und wollte Doch felbft nicht fo recht daran glanben.

„Er tft Freund von Sztipann Sztipannowitſch. Vergiß das nicht. Leere Worte. Nichts wie eine Kalle bie Stellung und alles. Und ih ich gehe mit offenen Augen in bie Falle!“

„Aber warum denn?”

„Ih kann nicht anders, ich habe fchon zugeſagt. Am 9. geht das Schiff. Noch zwei Tage, Ich Habe mich verkauft.”

Durch das offene Fenſter Hangen helle Stimmen und jugendliches Lachen. Peter Fuhks fuhr mit dem Kopfe in die Höhe, fo daß feine fleifen Haarſtraͤhnen die roten Ohren freiließen.

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Seine Augen, die am Munbe bes Freundes hingen, bes famen einen erfchrediten Ausbrud, Er erhob fih und machte fih am Tiſche etwas zu tum.

„Fuhks! Herr Fuhks! Fuhks!“ Hang es umter

+

Fuhks, ber gute Menfch, der feines eigenen Herzens Angft unb rende wie etwas Ungehöriges vor aller Welt Augen gu verbergen ftrebte, dem gerade flanden feine Herzens, empfindungen in für alle Welt Ieferlicher Schrift auf Stien und Wangen, rote Flaͤmmchen begannen gu glähen, bie Ohren brannten, und ba war fein Empfinden fo rein und groß, fo verfchwiegen und heilig, wenn es fein Herz gu erregen begann, fo glähten die Ohren. Und jegt lachte und rief es unten wieder.

„Was tft die, Fuhks?“ frug Ker.

„Du,” fagte Fuhks, „Das find die Mädchen von Ahrenſees, die wollen irgend etwas.” Er fagte es auf bie gleichgältigfte Meile von ber Welt

„Herr Fuhks!“ rief es, „Fuhks“ und kam die breite, daͤmmerige Treppe, die die Freunde herabgingen, herauf, langfam, zoͤgernd. |

„Ja, das find fie”, fagte Fuhks ſtotternd.

Jetzt ſtand man ſich gegenuͤber.

Fuhks ſtellte ganz verwirrt ſeinen Freund den beiden Maͤdchen vor.

Mathilde wendete ſich an Ker und begruͤßte ihn als alten Bekannten aus Jena. Ker war im erſten Augenblick bes teoffen, ſchien fih Mathildens nicht fogleih erinnern gu fönnen, begrüßte fie aber ſehr höflich. Kriſtine war etwas befangen und fagte nach einer Welle: „Wir famen, weil wir dem Better Fuhls eine Freude machen wollten. Er wuͤnſcht fo fehr, daß Ste ung kennen lernen, da wollten wir Ste bitten, mit Ihm gu ung gu kommen.”

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Wie gehoben fand er jegt neben feinem fchönen Freund, Ja fa, fein Tieber Ker Hatte fich doch nicht am einen ganz

Unmhrdigen gewendet. Kehr mußte fühlen, daß Peter Fuhks hier geachtet wurde, daß er etwas galt. Und wenn er das Mädchen erſt fennen würde, das hierher kam, um ihm, dem armen unbeholfenen Fuhls, folch eine Freude zu bereiten !

Ker aber fchien weder die Freundlichkeit ber Familie Ahrenfee gegen feinen Freund noch das Mädchen gu beachten. Er war zerſtreut und ſtill und hatte nur mit einer zuſtimmen⸗ den Verbengung auf die Einladung geantwortet.

„Herr Fuhks, wenn Ste doch ein vernünftiges Boot bes forgen könnten, da brauchten wie den flaubigen Weg nicht surädzugehben”, fagte Mathilde fehr unternehmend. Sie waren Inzwilchen and dem alten Warenfpeicher, in dem Fuhks fein Stäbchen hatte, hinausgetreten.

Die frifche Seeluft begräßte fie, die Aber das Gewuͤhl der Schiffe und Boote im Hafen ſtrich.

Fuhks fagte mit einer an Ihm unbelannten „Beeilih Haben wir ein Boot, meinen Walfiſch!“

„Buhts Sie werden doch nicht? lebt denn der Wals fiſch noch? Ste haben Ihn doch als Brennholz; gekauft, fagten Ste“, rief Keiftine.

„Ja, fagte ich!” erwiderte Fuhks mit einem Anflug von Ülbermut, der ihn fremd Heibete. „Er ift aber in gutem Stand jet. Leber Ker, ein Boot für zwei Rubel, was meinft du? eine Schaluppe. Das Pech und Blech narärlich niche mies gerechnet.”

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Ker erwiberte nichts.

„Kommen Ste, bitte, kommen Stel” rief Fuhks. „Dder warten Ste, ich bringe noch etwas!” und in großen Säten war er auf und bavon und kam nach einer Welle mis feinem Bärenfell beladen zuruͤck.

Seine Freudigkeit und Lebhaftigkeit hatte etwas von einem Heinen Wagen an fi, der lange nicht gefchmiert wurde, und deſſen Räder ſich holprig um die teodenen Achſen drehen.

Er führte feine Säfte durch einen Heinen, bäftern Hof, dann durch einen langen, kahlen Hausflur, duch ein Gaͤrt⸗ hen, in dem ein paar Birken fanden und Kohl gepflanzt mar und Beerenfträuche wuchſen, und über eine Heine, vers fandete Bleibe, auf der blaue Schuͤrzen sum Trodnen lagen.

Der Sarten führte zum Hafen hinab, und an feinen Mauern pläticherte das Waſſer.

Allerlei Boote lagen hier angekettet.

„Man bat mir geſtattet,“ ſagte Fuhkls, „meinen Walfiſch bier aufzubewahren.“

Die Maͤdchen lachten. |

Da lag der Walfiſch, wahrhaftig eine Schaluppe, breit und lang, weitbauchig, fo groß, daß man barin hätte tanzen fönnen, ein fehwerfälliges Ding, Innen und außen did mit Teer verſtrichen und mit Blech vernagelt, geflidt wie ein alter Steumpf. Nur bier und da kam ein unverfirichenes Stuͤck des vermorſchten Eichenholzes zutage.

„Ich habe ihn ſelbſt hergerichtet, er iſt ganz ſicher“, ſagte Fuhls mit Stolz und ſah uͤbergluͤcklich und wuͤrdig aus. „Wir koͤnnen ihn benutzen, ich vertrete es, was ich ſage. Er iſt auch ganz rein, er ſieht nur ſchmutzig aus.“

Peter Fuhlks war wie vertanfcht heute.

„Steigen Sie ein! Steigen Sie ein!” rief er lebensluſtig und breitete ſein Baͤrenfell im Walfiſch aus.

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„Re und nimmermehr!“ rief Mathilde,

„A geh,” meinte Kriſtine, „wenn Fuhls fagt, daß er fiher iſt, fo iſt's gut. Natürlich fahren wir. Es liegt ſich praͤchtig auf dem Baͤrenfell! Komm, Mathilde.”

Mathilde ließ fih von Ker und Fuhls hineinhelfen und fieauchelte, als fie auf der Bank fland, fo daß Keiftine fie lachend auffing.

Fuhls trug an feiner Uhrſchnur den Rieſenſchluͤſſel, der das Boot Iosläfen ſollte. Es war aber eine beängfligende Dperation, ehe bies zuſtande kam. Fuhlſens Uhr ſchwebte beſorgniserregend uͤber dem Waſſer, und ſeine Haͤnde zitterten vor Erregung.

„Ihre Uhr, Fuhls,“ rief Kriſtine, ſchauen Ste mal meinen Schluͤſſel an!“ Sie zog ihn aus der Taſche und ſchuͤttelte damit, „der iſt an einem Gummiball, ſehen Sie! der kann nicht unterſinken.“

Fuhls und Ker holten unter den Baͤnken die Ruder vor, Das Boot ging leichter, als es ſich vermuten ließ, und Krifline war fehr vergnägt, kuͤmmerte fih um feinen bee Inſaſſen, hatte fich weit Abergebogen, ben Armel etwas zuruͤckgeſtreift und ließ die Hand im Waller nachziehen.

Sie trug ein weißes Heid, das fich Ihrer Seftalt anfchmiegte. In dem blonden Haar fpielte bee Wind, den Hut hatte fie abgelegt.

Ker war vom Rudern endlich wach geruͤttelt. Die Gegen, wart hatte ihn erfaßt. Der Seewind trieb bie duͤſtern, ſchweren Gedanken wie einen Traum auf ben Grund feiner Seele zuruͤck.

Halb unbewußt blickte er auf die dem Waſſer zugeneigte, von Ihrem weißen Kleid behaglich umhuͤllte Seſtalt.

Wie angenehm es war, daß niemand ſprach, daß die huͤbſche Geſtalt ſich nicht regte.

Ein Meines, unbedeutendes Zwiſchenſpiel, das den ſchweren Ernſt des Lebens für einige Augenblide vergeſſen ließ.

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Der weiche Wind, der friſche Waffergeruch, das fanfte Schlagen der Ruder, bie fohimmernden Waflerteopfen, bie Wirbel im Wafler von den Ruderfchlägen und der Anblid bes jungen Mädchens.

Es war ihm, als läge etwas unansiprechlich Zartes In dem hingeneigten Geſchoͤpfe, als Eofte ihre Hand mit dem Wafler, als fchmeichelten die weichen Falten bem jungen Körper.

Man date ihn beraubt, betrogen, das alles hatte ihn ganz unsorbereites getroffen.

Er war noch fo jung.

Seine Natur wollte fih mit aller Kraft von dem Ver⸗ jerrten, Verworrenen, Wöüften abwenden; aber wohin wenden ?

„Wer feuert?” feug Keiftine ohne aufjufehen.

„Niemand“, erwiderte Fuhks gutgelaunt. „Steuer haben wir gar nicht.”

„Da wird’8 fchwer fein, zwiſchen den Bloͤcken durchzu⸗ fommen.” |

Mathilde wurde uneuhig: Iſt es gefährlich ?”

„Ja, aber wie werben wir landen? Der Walfiich gebt zu tief.“

Oho“, lachte Peter Fuhls auf.

Keiftine blickte ihn forfchend an. „Ich glaube,” fagte fie gu Ker gewendet, „Here Fuhls iſt fehr froh, daß wir Sie überredet haben, mit ung au kommen,” Mittlerweile waren fie wieder ein gut Städ dem flachen Ufer zu gefahren, da gab es einen Ruck, es knirſchte, und der Walfifch ſaß wirklich fett, und die Wellchen gludften an feinen Planen.

Kriſtine lachte. „Stoßt nur mit ben Rudern, wie muͤſſen zuruͤck, ba wird es vielleicht Beffer geben! Uber ich glaube nicht.“

Das war leichter gefagt, Fuhkls und Ker taten Ihe moͤg⸗ lichſtes, um den Walfifch wieder flott gu machen, vers gebens.

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„Was nun!” fagte Fuhks. „Da iſt gar nichts zu machen.”

Mathilde war außer fi.

Ehe fie fich gu einer Rede recht befonnen, ſtand Ker im MWafler; er hatte bie Schuhe ausgesogen, bie Beinkleiber aufgeftreift und arbeitete fo Im flachen Wafler am Wals fiſch.

Peter Fuhlks folgte zaghaft und verlegen feinem Beiſpiel.

„Es gebt nicht, fo nicht! Nutzt auch nichts! Das Ufer ift überall flach”, fagte Ker zu Kriftine, „Bitte legen Sie mie den Arm um bie Schulter!”

Kriſtine tat es und er bob fie aus dem Boote.

Fuhks blidte feinem Freunde erfiaunt zu und wenn fie in dem Boote hätten verhungern mäffen, er hätte fich faum dazu entfchloflen, su wagen, was fein Freund fo ganz unauffällig, ohne jedes Bedenken tat: aber freilich, was follte anderes geichehen ?

Sp mußte auch er fih ein Herz fallen und Mathilden hinuͤbertragen.

Ker hielt das ſchoͤne, heitere Maͤdchen feſt und behutſam im Arm.

„Ich bin ſchwer?“ ſagte ſie leicht befangen.

Es war ihm wunderlich zumute, dies fremde, warme, ſchoͤne Geſchoͤpf fo zu empfinden, war es doch, als wenn Ihr ganzes Weſen ihn durchſtroͤmte.

Er laͤchelte nachtraͤglich uͤber ihre Frage und ſchuͤttelte kaum merklich den Kopf, trug ſie weit hinauf aufs Land. Dann ließ er fie auf den feinen, teodenen Sand nieder⸗ gleiten, und wieder wie vorhin durchſtroͤmte es Ihn übers maͤchtig.

Unterdeſſen war auch Peter Fuhks mie Mathilden auf das Trockene gelangt. Fuhks hatte beim Gehen ſehr gefprist, und Mathilden ungefchidt gehalten, da er nicht recht gewußt, wie er fih in ſolchen Faͤllen zu benehbmen habe, und fo war feine Lafl gehörig naß ges

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worden; und um allem die Krone aufjufegen, bafte er fie, flatt auf dem trodenen Boden ein ganz Hein wenig zu fruͤh ind Waſſer niebergelaflen. Natärlih mar dies nicht abſichtlich, ſondern aus reinfter Werlegenheit ges ſchehen, vielleicht auch, weil Mathilde fich gar zu tugendhaft fpreiste.

Der Walfifch wurde alsdaun noch enersifch heraufgezogen und verankert.

Jetzt wanderten die vier, Mathilde ungnädig und mit durchnaͤßten Stiefelchen, Fuhks reuevoll und Kriſtine ganz ausgelaſſen, durch den Birkengarten. Das hohe, dichte Gras duftete, und die ſilberblinkenden Staͤmme ſtanden wie darin verſunken.

„Wir find geſtrandet,“ rief Kriſtine von weitem, „Mathilde iſt ganz naß geworben!”

Als ſie vor dem Hauſe angelangt waren, begruͤßte Frau Ahrenſee, von der Veranda aus, ihre Gaͤſte.

„Run, iſt es euch gelungen?” rief fie den Eintretenden freundlich entgegen, „es freut mich unferes Fuhkſens Freund fennen gu lernen. Fuhks fagt mir, daß Sie mir Grüße von meiner Tochter zu überbringen haben.”

Jetzt erſt dachte Ker daran, daß Keiftine die Schwefter der reizenden Frau des folgnierten Profeſſors fet, die er in Jena fennen gelernt hatte.

Er ſprach mit Frau Ahrenfee, konnte fih aber aus dem wunderbaren Traumsuftand, In den er geſunken war, nicht recht befreien.

Kriſtinens Vater trat ein. Ein heimifches, friedliches Bes hagen verbreitete fih. Sie fprachen über bie bevorſtehende Abreiſe nach Deutſchland. Ste erbaten fih Nat, da Ker ja eben aus Deutschland kam.

Als man in befter Unterhaltung war, tat fih bie Tr auf, und eine unterfeßte, magere Perfon in wirrem Haar und

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aufgeftreiften Armeln, in einer. Schürze ohne Lag und im dunkeln Wolleod ftoiperte ins Zimmer.

„Annuſchka, was willft du?” frug Frau Ahrenfee und blickte laͤchelnd, wie fich entfchuldigend, auf Mathilde,

Die Perfon kam näher, fie hatte wieder wie heut morgen, als wir ihre Belanntfchaft machten, das ſehr ruͤckſichtsvolle Borhaben, zu fehleichen und ging wie auf Stummeln. Sie näherte fich Ker und ſchaute ihn fich mit einer naiven Neu⸗ gier an, ſtemmte die Arme in bie Seiten und war ganz verfunfen in feinen Anblid und, wie es ſchien, bes friedigt.

„Annuſchka,“ frug Frau Ahrenſee, „willſt du etwas?“

„Katze⸗Teifel hier?“ ſagte dieſe und hob die Decke, die uͤber einem Tiſch hing, und benahm ſich aͤußerſt kaltbluͤtig bei ihrer improviſierten oder wohlvorbereiteten Luͤge.

„Schaͤm' dich, Annuſchka!“ fluͤſterte Kriſtine Ihr zu.

„Kind, ungezogen fein!” antwortete Annuſchka in der Art, wie Dienerinnen einem ganz Heinen Maͤdchen zu antworten gewohnt find.

Man ließ fie gewähren.

Ste fuchte noch einige Zeit, ohne die mindefle Schen ober Beflerung zu verraten. Und zur Verftärkung, als Frau Ahrenfee ihe ein nicht mißzuverſtehendes Zeichen gemacht hatte, fich endlich zu entfernen, fagte fie: „Gut.“ Dabei gudte fie die Schultern, was wohl heißen mochte: ‚Annufchla waͤſcht ihre Hände in Unſchuld.“

ME fie hinausſtolperte, fagte fie laut und deuflich und erregte dadurch ein herzliches Gelächter: „Schönes Menſch Schönes Menſch!“

„Das iſt unfere Annufchla!” fagte Frau Ahrenfee. „Man bat fih an Annufchla fo gewöhnt, Annufchla muß Im Haufe fein. Sie singe auch nicht”. „Was fie hier treibt, weiß ich wirklich nicht. Sie iſt aber feft Davon überzeugt, daß fie gang unentbehrlich iſt.

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„Solche unnüge Gefchöpfe, von denen man ſich unmöglich befreien kann, hat man gottlob bei ung in Deutfchland nicht mehr”, fagte Mathilde referiert.

„Slaub’8 wohl”, meinte Heinrich Ahrenſee.

Es fanden ſich jegt noch einige Säfte ein. Der Diener meldete, daß ferviert fei.

Fuhls war es während dieſes Abendeſſens fo angenehm wie noch nie zumute.

Er hörte feinen Ker eifrig ſprechen und fein Ker gefiel allen. Beſonders Heinrich Ahrenfee und Ker fchlenen einander su finden. Sie hatten fih In ein philoſophiſches Thema vers tieft, und Fuhks hörte beiden andäcdhtig gu. Das war ein Feld, auf dem er ſich nicht zu Haufe fühlte. Nur Fräulein Mathilde benahm fich einigermaßen erhaben und von oben herab, das war num einmal ihre Art fo; aber Fräulein Mathilde war ja im Grunde ebenfo ſtudiert wie Ker. Es sing die Sage, daß fie ihr Gouvernanteneramen brillant beftanden habe. Konnte Ker das von fih fagen? Nein Ker fonnte das nicht von fih fagen.

Wahrend Peter Fuhks dies auf eine wunderlich vers ſchwommene Welle dachte, empfand er etwas wie einen leichten Schleier vor feinen Augen. Er hatte an biefem einen gläds feligen Abend den Wein etwas zu haftig getrunken.

Den leichten Schleier vor feinen Augen empfand er als etwas wunderbar Angenehmes. Ihm war es, als breitete fih diefer Schleier allmählich Aber die ganze Welt aus, und e8 war augenblidiich nur Peter Fuhks und die große Gluͤck⸗ feligleit von Peter Fuhks Abriggeblieben, und nur was auf Deter Fuhks Bezug hatte. Er fah Keiftineng fchönen, blonden Kopf neben fi, und Kriftine Hatte ihm heute die Frende ges macht, daß er feinen Freund hier haben konnte.

Er beobachtete Kriſtinens Augen. Sie hat fo wunder ſchoͤne Augen, Dachte er wieder und fah diefe Augen auf feinen Sreund gerichtet und freute ſich.

19° 291

Ja, meinte er für fich, Peter Fuhks iſt niche fo ein Elender wie du denkſt. Er kann fich fehen laflen, es gibt Menfchen, und was für Menfchen! die ertea zu ihm ber reifen, um ihn gu fehen eigentlich, faste er fih, gibt es nur einen einzigen Menfchen, ber dies tut aber was für einen Mens fen!

Deter Fuhks erhob fih, nahm fein Glas mit fih, ging zu Ker und ſtieß mit biefem an.

„Lieber Ker,” fläfterte er, „ich habe etwas des Guten zus viel getan, fieht man es mir an?”

„Du?“ feug Ker, „nein.”

„Defto beſſer!“ fagte Fuhks, „mir iſt es auch durchaus nicht unangenehm zumute.“

„Iſt es die auch fo wohl?” frug er leiſe.

Ker nidte lächelnd, und Suhl bemerkte einen Ausdruck in feines Freundes Zügen, fo weltuergeffener Art er hatte Ker wirklich noch nie fo gefehen, wie biefen einen Augenblid.

Fuhks ging wahrhaft fells auf feinen Platz suräd

„Run ‚Sreifel‘?” rief Mathilde unvermittele und mit einem Anflug von Spott über den Tiſch, Kriftinen gu, bie ft und aufmerffam Ker zuhoͤrte, der mit Ihrem Water ſprach. |

„Wiſſen Sie auch, was ‚Freifel‘ oder ‚Sreifeel‘ bedeutet?“ fing Mathilde und wendete fich zu Ker.

„Mathilde \” fläfterte Kriftine erregt, „das iſt verraͤteriſch.

„Nun, was denn?” frug Ker.

Es war das erfie Wort, das er während bes Soupers an fie richtete, und er richtete es an fie in einer wundervollen Erregung.

Keiftine fchüttelte leicht laͤchelnd den Kopf.

„Ich will Ahnen etwas anderes fagen”, begann fie ein wenig verlegen, aber in vertrauensvollem Ton gu ihm ges neigt.

„Kennen Sie unfer uraltes finnifches Epos?“

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„D je!” fagte Mathilde, die ihre Ohren Kberall hatte und überall breinredete, „jet kommt fie mit ihrer Kylliki.“

Und Kriſtine, die ihm nur die erfien Zellen vorfagen wollte, fam duch Mathilde in Erregung und fprach lebhaft, ers griffen und unfchuldig die Lieblingsſtelle in ihrer Kylliki von Anfang bis Enbe:

„Haus und Hof und reiche Herden, Unermeßlich weite Wälder

Gibt mein Vater mie zur Mitgift. Ich bin reich und ſchoͤn und acht’ mich Einer Koͤnigstochter gleich.

Ebenbürtig will Ich meinen Gatten, Ebenbuͤrtig meinem Reichtum, Meiner Klugheit ebenbürtig, Ebenbärtig meiner Schönheit, Ebenbürtig meinem jungen Leibe!

Glaubſt du, daß ich folgfam wie ein Heines Mäbchen Diefen oder jenen nehme,

Den mein Vater mir beſtimmte? Nimmermehr! und eher wollt’ ich

Mich mit eignem Haar erdroſſeln;

Oder, glaubft du, der bezwaͤng mic,

Welcher, roher Kraft vertrauend,

Raubend mich sum Weibe nahme? Nimmermehr! denn wie die Woͤlfin

Braͤche ich aus feinem Lager!

Solchem aber, den Ich felber wählte Aus der Schar der jungen Männer Barde und zugleich ein Krieger Solchem wollt’ ich willig folgen,

Über Ströme, über weite Sämpfe,

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Über Seen, über hohe Berge,

Barfuß, jeder Muͤhſal trotzend,

Bis zum fernen, fernen Meere

Sers denn, daß er mich verſtieße Willig folgen bis zum Tode!“

Jetzt ſchaute Kriſtine auf und frug Ker: „Wer kann fo etwas jetzt dichten ?”

Das Hatte nun wieder Fuhks aufgefangen und fagte: „Weshalb nicht, auch ber Ker kann bag.”

Und Fuhks, der immer noch mitten In angenehm ſchwanken⸗ ben Gedanken und Gefühlen fledte, tat etwas fehr Bes fonderes, was durchaus nicht zu dem Gebaren des guten Fuhks paßte: Er fand mit einem Male, ohne fich recht bewußt su werben, wie e8 geicheben, hinter feinem eigenen Stuhl. Seine beiden Hände lagen ungeſchickt auf ber Lehne des Seſſels, und er ſchaute auf diefe Hände herab und grübelte,

ler Augen waren mit Erfiaunen auf den befcheidenen Fuhks gerichtet.

Und mit einem Male begann er ganz unvermittelt und mit einem unerwarteten Pathos und doch nicht ganz übel gu beflamieren:

„Bas tft e8, das herauf von der Wuͤſte ſteigt ie eine Säule feurigen Rauchs,

Und wälst fih heran wie Staub

Und wie eine Wolke Aber die Ebene, Myrrhe wehend und Opferbuft ?”

Deter Fuhks ging es wie Keiftine, er war von feiner Sache ganz hingertfien und bemerkte bie lächelnden Blicke nicht, die auf ihn gerichtet waren, und fprach weiter:

„Wer iſt fie, die hervorſchimmert Wie die Morgenroͤte fo ſchoͤn,

Schön wie der Mond,

Wie Sonnenfteahlen fo rein,

Und glädfellg wie bie Heeresfcharen Jehovas ? Wer ift fie, die herauf von Jeruſalem ſteigt, Aufgelehnt auf den Inniggeliebten ?

Mächtiger iſt bie Liebe als der Tod, Feſt wie die Hölle, Unbeswinglich wie das Niederreich. Waſſerwogen Iöfchen die Liebe nicht, Steöme erftiden fie nimmer, Ihre Stuten Feuersgluten, &odernde Flammen Jehovas, Wahrlich! Um Kronen nicht und nicht um Welten Liebe iſt nimmer feil!“

„Fuhks,“ rief Ker lachend, „was faͤllt die denn ein! Fuhls 1”

Da errötete Fuhls fehr tief und nahm wieder feinen Platz ein.

Ale achten; aber Kriſtine ärgerte fich, daß fie lachten.

„Das war ſchoͤn,“ ſagte fie su Fuhks, „geht es noch weiter ?”

„Natuͤrlich,“ antwortete Fuhks, „das ift ja von Ker. Das ift ja aus Kers Judenlied. Willen Ste? das Hohe Lied der Liebe Wilfen Ste? Ste glauben nicht, wie fchön es if.”

„Fuhks! Fuhks!“ fagte Ker wieder lachend su ihm, „Was fallt dir denn eigentlich ein?“

Fuhls aber richtete feine Worte weiter an Kriſtine und wendete fih, während er fprach, nach allen Seiten hin, alg hielte er eine Predigt.

„Ob es ſchoͤn iſt!“ fagte er. „Das iſt gewiß, ja, es iſt ſchoͤn; aber das iſt noch nicht alles. Der Ker hat da eine Ents bedung gemacht, eine ganz merkwürdige Entbedung.”

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Fuhks war ganz In Eifer geraten.

„Zweihundertundvierzig bekannte hochgelehrte Herren, bie alle das Judenlied haben ergruͤnden wollen nichts haben ſie entdeckt. Ker aber hat gefunden, daß das Lied aus acht ganz gleichen Liedern beſteht. Es hat einer wahrſcheinlich einmal dieſe beinah gleichartigen Lieder geſammelt, und mit der Zeit ſind alle dieſe acht Lieder zuſammengeſchuͤttelt, alles durcheinander immer von neuem alles durcheinander.

„Sie ſollten einmal die Rieſentabelle ſehen, die daheim bei Ker haͤngt: da ſtehen die acht Lieder darauf nebeneinander geordnet und es hat feine Richtigkeit... Es braucht nur ein Menſch einen Blick auf dieſe Tabelle zu tun und er iſt uͤberzeugt. Kein Drama, keine Liederſammlung, ſondern achtmal ein und dasſelbe Lied, nur mit kleinen Variationen! Ganz offenbar, unwiderſprechlich: achtmal dasſelbe Lied!

Nun aber ſollten Sie hoͤren, wie herrlich dies Hohe Lied iſt wie es jetzt mein Freund neu geſchaffen hat. Ja, es iſt ein Lied, ein Wunder von einem Lied eigentlich kein Lied, ſondern ...“

„Fuhks!“ unterbrach Ker wieder lachend, „was für ein fonderbarer Miffionar biſt du? Glaubſt du, weil das Juden⸗ fteb ung beiden einmal fo, in biefer Form gefiel, es ginge aller Welt fo?” |

„Sa,“ fagte Fuhks überzeugt, „ja, das glaub’ ih. So gib es doch heraus, Ker! Veroͤffentliche es doch! Weshalb verftedft du e8? Und denen Sie,” ſagte Fuhls unbeirrt gu Keiftine gewendet, „deutſch hat er’8 gefchrieben. Er iſt deutſch wie feine Mutter. Er ift im tiefften Grund feiner Seele deutſch. Jawohl.“

Fuhkſens Augen richteten fie fampfbereit auf Ker, ale wenn er hoffte, baß fein Freund etwas gegen biefe Behauptung einwenden würde.

Ker aber ſchien dies alles peinlich zu fein. Er unterhielt fih mit feiner Nachbarin Mathilde, die, wie alle andern,

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außer Ahrenſee und Keifline, auf Fuhlſens Vortrag einigers maßen kühl und teilnahmslos gehört hatte.

Was war diefer Fuhks für ein fonderbarer Heiliger.

„Daß ich es nicht vergefle,“ fuhr er Immer zu Keiftine ge; wendet fort, „das iſt eine merkwuͤrdige Gefchichte mit biefem Judenlied. Es iſt nämlich gar Fein Judenlied, fonbern ein uralt indiſches Bed, eine Hymne, und heißt: Vavana und Nurvady.“

„Fragen Sie nur Ker, der weiß alles, der hat's heraus⸗ gefunden und reden Ste Ihm zu, daß er's veroͤffentlicht. Er verſteckt alles —”

Er wendete ſich jetzt leiſe eifrig zu Kriſtine: Reden Ste Ihm zu, Daß er's tut. Er muß es tun, es iſt notwendig für ihn.“

„Weshalb lieben Sie bie Verfe, die Sie vorhin fprachen ?” feng Ker und bog fih zu Kriſtine hinuͤber.

Keiftine blickte fragend zu Ihm hin. Weshalb fie dieſe Verfe liebte, das wußte fie nicht recht gu fagen.

„Ste find nicht traurig,” meinte fie nach einer Welle, „auch nicht beſonders heiter, Sie find wie fo ein frifcher Wind, man wird Iuflig davon.”

Ste fprach leiſe zu ihm hingewendet.

Kers Augen ruhten auf ihr; alles Gute, alles Liebens⸗ werte, alles Zaͤrtliche und Friſche ſchien ihm von dieſer weißen Geſtalt auszugehen. Und Kriſtine empfand es, wie ſeine Augen auf ihr ruhten!

Es waͤhrte nicht lange, da erhob man ſich vom Tiſch und trat auf die Veranda heraus.

Der lange nordiſche Sommertag war noch kaum im Er⸗ ſterben.

Eine weiche Klarheit lag über der Gegend. Über dem Meer ſchimmerte e8 wie zarter Dunſt. Der Vollmond fland am Himmel in bleicher Scheibe. Man trat von der Veranda hinaus In den Garten. Marhilde befand fich fofort an Kers Seite und beflürmte diefen mit allerlei wiſſenſchaftlichen

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Itterarifchen Fragen, verficherte, daß man hier in diefer Eins dde wahrhaft verbürfiere und verbungerte nach geiſtiger Speife,

Inzwiſchen hatte Fuhlks fih Kriſtinen angefchloffen und wandelte mit Ihe im Garten auf und nieder.

Daß fie fo fill mie Ihm ging, tat ihm wohl und war Ihm wie eine langerfehnte Erfüllung uubewußter Wünfche.

Keiftine erfchlen ihm wie eben in biefee weichen, hellen Nacht erbläht, fo nen, als wäre fie wirklich eben erſt ent⸗ fanden. Ste kam ihm fo jung wie nichts fonft auf der Welt vor. Er dachte über mancherlei nach, und nichts fchlen ihm unentweiht und friſch genug, um es mit Ihe zu vers gleichen.

Ya, ohne Frage, er lebte den beften Tag feines Lebens.

Nach langem Schweigen fagte er: „Der Ker follte Hoch mit uns geben, Ich verfiehe nicht, weshalb er nicht kommt. Ich wollte, Ste wärben meinen Ker kennen!”

Keiftine antiwortete nicht, ſondern blidte Ihn nur mit großen feagenden Augen an, in benen deutlich zu leſen fland: Med’ weiter.

Fuhls aber freute fich diefer fchönen, von ihm fo fehr ges flebten Augen und verftand fie nicht.

Die beiden Spaziergaͤnger ſchienen jest völlig verſtummt, Keiftine Hatte die Augen gefentt fo tief, Daß es ausſah, als wandelte fie mit gefchloffenen Lidern und fo trafen die beiden Schweisfamen auf einen dritten, gerade als fie am großen erratifchen Blod voruͤberkamen, in deſſen Nähe es Kriftinen heut am früheften Morgen Im Nebel fo bes Hommen zumute geworben war, Diefer Dritte wanderte auch ganz verfunfen, fah und hörte nicht, und wäre vielleicht an feinem Freund und deſſen Gefährtin voruͤbergegangen, wäre Fuhls ihm nicht mit ausgebreiteten Armen entgegens getreten, in die auch Ker einlief, als in ben ficherfien Hafen, den fein Lebensichifflein bisher gefunden.

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Fuhkſens Freund, Ker, blickte überrafcht und erregt auf.

„Du wirft fchon fehen, man verfchnauft immer ein biß⸗ hen,” rief Fuhlks ſeelenvergnuͤgt, „das iſt ja das Herrliche, mein Ker! Du mußt das nur verfiehen! Ja, dir iſt's bisher zu gut gegangen, mein armer Ker. Nun gehörft du zu uns Burfchen, die bu in Deinem Zorn und deiner Ungebuld bent morgen geläftert Haft Sa, was meinft bu denn, wie find fo elend nicht, wie bu denkſt fo dämlich find wir nicht! Wohl laſſen wir's ung fein bei jeder Gelegenheit, und zwar ganz anders wohl, als Ihe Reichen es verſteht fo aug voller Seele weil nichts zu verlieren und wenig su hoffen tft. Aber wie machen’s ſchon mit die, wart’ nur! du ſollſt nur eine Heine Welle gu uns verfchlagen fein warf’ nur, wie macen’s ſchon! Wir verfchaffen die ſchon bein Recht!“

Ker lächelte. Seine Blicke ruhten, während Fuhks ſprach, mit einem wahrhaft ſtrahlenden Ausdruck auf Kriſtinen. „Mein Fuhkls“, fagte er zu ihr gewendet, „iſt heute fo gut⸗ gelaunt, wie Ich ihn noch nie ſah.“

„Unſer Fuhks iſt immer gut,” fagte Keiftine, „auch Immer gutgelaunt.”

„Das follten Sie nicht von mir fagen, Fräulein griſtine, das verdiene ich gewiß nicht. Ich weiß nicht, ich bin ſo ein gedankenloſer Menſch die boͤſen Dinge ſehe ich auf Erden gar nicht nur einzig allein die guten da iſt's kein Kunſt⸗ fäd, bei Laune zu fein!”

„Freilich,“ fagte Ker, „darum bin ich auch zu Ihm ges fommen, um mir von ihm helfen zu laſſen. Fuhls verliert den Mut nicht.” -

„Ja, wahrhaftig!” rief Fuhks mit einer komiſchen Lebs haftigkeit, „ehe Ich etwas verloren gebe, das hat gute Weile und gar sum Beifpiel den liebften, beften Menfchen! Ho ho!” rief Fuhks mit einer Stimme, bie fo wenig feiner gewoͤhn⸗ lichen Stimmlage angepaßt war, daß er felbft ganz erfchredt

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die Gefährten anblidte Ihm war eg, als hätte er gebrällt; aber fo fhlimm mußte es nicht ausgefallen fein; ja fie fhienen e8 beide kaum bemerkt zu haben. Unbegreiflich, Dachte Fuhks, wie ich ſoviel Wein babe trinken können, es ift wirklich abſcheulich; aber man muß es doch einmal vers ſuchen.

So bemerkte Fuhls in feiner wunderlichen Stimmung nicht, daß neben ihm zwei junge Herzen, die beſten, liebſten Herzen, die er auf Erden kannte, in ahnungsvoller, banger Seligkeit ſich einander im Geſpraͤche, in Laͤcheln und Schweigen, zu⸗ neigten. Er bemerkte nicht das wundervolle Strahlen der Augen, das nur in erſter unſchuldigſter Jugend in heiligſten Stunden auf dem Antlitz der Menſchen liegt. Die weiche Daͤmmerung verhuͤllte es ihm vollends, und die wenigen Worte, bie gewechſelt wurden, trugen kein Zeichen an ſich von dem uralten Wunder, bag fich in zwei Seelen vollzogen hatte, ja diefe beiden Menfchen felbft ahnten nicht, daß fie ſchon vereinigt waren, und jedes von Ihnen fürchtete, während eins ganz in das Weſen des andern verfenft war, daß es allein nur diefe ahnungsvolle Seligleit empfaͤnde. Wenn er fie anrebete, fo durchzitterte es fie; wenn er bie Augen auf fie richtete, wollte ihre das Herz in ber Bruſt gerfpringen; als er neben ihr ging und wie zufällig feine Hand die Ihrige ſtreifte, war’8 ihre, als hätte ein Feuer fie getroffen.

Jetzt Iangten bie brei am Haufe wieder an und kamen dazu, wie bie Säfte fich empfahlen. Fuhlks, der es natürlich in der Ordnung fand, daß auch fie beide nun gingen, nahm einen ſehr formvollen Abſchied von ber Fran des Hauſes, und biefe lud beide Freunde auf das liebenswuͤrdigſte ein, zu fommen, wann es Ihnen gefiele.

Ms Fuhls und Ker miteinander der See zugingen, um den Walfifch wieder flott zur Abfahrt zu machen, ſchaute die Familie Ahrenfee ben beiden langen Menfchen freundl nad. |

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„Hoͤre, mein lieber Ker, was meinft bu, wie es mir hier ergeht?” frug Fuhks. „Ach, wollte Gott, bu hätteft Grund, fo ruhig und gufrieben wie ich gu fein.”

Jetzt ftanden fie miteinander vor einer jungen Birke,

Deter Fuhls blieb vor dem Eräftig garten Baͤumchen ſtehen, befien ſchlanker Stamm wie reines Silber durch dag frifche Gran glänzte, und fagte langſam:

„Siehſt du, mein Ker, ald Ich heute mis Keiftine auf und nieder ging, dachte ich: So fung, fo frifch, wie eben erſt ers ftanden, kenne ich nichts, wie Keiftine. Ich dachte nach, ob mir boch etwas beifallen möchte, was ihr gliche, Ich Fam aber auf nichts. Jetzt, wie ich dieſe Birke fehe, iſt mir’s, als hatt’ ich’8 gefunden. Sie gleichen einander bu mußt mich nicht auslachen Ich meine wirklich. —“

Fuhks machte fih eifrig gurecht, um gu feinem Walfiſch zu waten, am beflen Schidfal er heut abend ein paarmal Sorge empfunden hatte und den er jeßt mit großer Freude wohlbehalten vor fich liegen fah. Ker ging nachläffig, ſchein⸗ Bar ziellos ein Städ Wegs zuruͤck, ohne daß Fuhks In feinem Eifer deſſen gewahr wurde. In der Nähe der fchönen, jungen Birke wurden feine Schritte haſtiger. Er ſtuͤrzte vor diefer Birke auf die Knie, preßte das frifche, duftende, feuchte Laub leidenſchaftlich an feine Lippen, vergrub feine Stirn darin einen Augenblid, und mit Hopfendem Herzen erhob er fich wieder. Das Laub fchten gelebt, duftig geatmet, empfunden zu haben. Es war ihm, als wären Dämonen bei ihm eingezogen, die ihm bie Sinne verwirrten, das Herz beſtuͤrmten, bie Ihn Unbelanntem, noch nie Empfunbenem entgegentrieben.

In wahrer Haft beeilte er fih, Fuhkſen, ber fih am Wal; fiſch abarbeitete und nichts hörte und ſah, beizuſtehen. Sie ließen aber bald ab davon, das Waller war gefallen, bag unfdrmliche Boot fo feftgerannt, daß es ruhig liegen bleiben

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konnte. So gingen fie miteinander nach Fuhlſens Turm und ließen auch das Bärenfell im Walfifch liegen.

Als fie in Fuhkſens Behauſung angelangt waren, bereitete Fuhls feinem Freund aus Deden und feinen eigenen Kiffen und allem Möglichen und Unmöglichen ein Lager mit ſolchem Eifer und folder Hingebung, daß es undenkbar war, dem guten Menfchen Irgendwie Einhalt zu fun. Er ruhte auch nicht, bis fein Freund fich fogleich zur Ruhe legte, und freute fih, als fein armer Ker bald in einen tiefen Schlaf verfiel, dann firedite auch er fich zufrieden und gluͤcklich auf dem Sofa aus und war im Handumdrehen aus ber ihm fo lieben be; wußten Gegenwart in eine andere, unbewußte Welt enträdk.

Viertes Kapitel

an ſprach von Kers Abreife in dem ruhigen Ton, mit dem man von ber Abreiſe eines Gaſtes ſpricht, der für wenige Tage vorübergehend im Haufe fih aufhält. Keiftinen aber blidte Hilfefuchend su Ihrem Vater, ging gu ihm, ſchmiegte fih an feine Bruſt, und hielt ihn angſtvoll umfchlungen. Da frug er fie lachend: „Was iſt die, mein 2u

Sie antwortete nicht.

„Wenn du heut abend Luft haft, komm ich In bein Zimmer, und du ſingſt mir beine neuen Lieder vor. Geftern wollteft du es, und da haben wir es beide vergeflen.”

Keiftine nickte Ihm zu und lächelte; aber ihr Lächeln verriet, wie tief bewegt fie war.

Ahrenfee fah ihr, als fie von Ihm gegangen war, forgens vol nach. Er dachte: was für ein zartes, bewegliches Herz bat meine Heine Kriftel.

„Armes Kind!” und er Härte fie im Geift ihr Kylliki fingen.

„Wie fie alles erfaßt! Was hat fie an dem närrifchen Lied? Wenn fie fo ein Engelsfind behalten und mitnehmen koͤnnte.“

Fuhks, dem mehr als allen anderen Kriſtinens Ver⸗ ſtummen aufgefallen war, wanderte mit Ker im Garten auf und nieber, bis fie auf Keiftine trafen.

Und Ker faßt Keiflinens Hand und ſagt: „Morgen feah geht das Schiff. Wer weiß, ob wir uns wiebers ſehn.“

Kriſtine ſieht ihn traurig fragend an, darauf trennt man ſich wieder, und Fuhks ſchuͤttelt im Weitergehen ben Kopf und wendet ſich zu Ker.

„Run möcht ich willen, Ker, was das bedeutet?“

303

m Abend gingen Kriftine und Ihe Vater miteinander

die ung wohlbelannte, teppichbelegte Treppe hinab, über beten niebere, breite Stufen es fich fo behaglich fchreiten ließ. In Kriſtinens Zimmer angelangt, lehnte ſich Ahrenfee dicht am Flügel in einen Seflel zuruͤck, und Keiftine fegte fih. Ohne ein Wort gu reden fing fie leife zu ſpielen und noch leiſer gu fingen an.

„Werde du mie nur Fein teauriger Narr, Kriſtel. Es ift bö8, dies ewige Krankfein, ich fuͤhl's, ich werde märrifch und alt alt alt und da mußt du mir helfen. Sch lebe von beiner Heiterkeit. Was war die denn heute, mein Kind?”

„Nichts!“ rief Keiftel lebhaft und flog ihrem Vater um den Hals. „Nichts gar nichts”, rief fie noch einmal leidenfchaftlich und innig machte fih von ihm los, fo aber, daß ihre Hande noch auf feinen Schultern lagen und Blidte ihm in die Augen. Da kam er ihr in Wahrheit krank und abgemagert, leibend und alt alt vor, daß ein unfagbares Weh fie ergriff. Seine Bitte, ihm zu helfen, Ihn gu ers heitern, durchſchnitt ihr das Her. Zum erftenmal erfchlen ihe ihr Vater, ber für fie nichts war als eben „ihr Vater” und mit niemandem anders vergleichbar, als alternder, franfer, armer Menſch, wie deren ungesählte in ber Welt umberlaufen. Das war Ihre fo über alles Maß bejammerns⸗ wert, daß fie ihn in die Arme ſchloß, ſchuͤtzend wie eine Mutter ihr armes Kind, und als fie wieder ſprach, da waren es Worte ber sarteften, ſchmerzlich bewegteften Liebe, die tröften wollten, die Hoffnung und alles Gute, was dag Schidfal Bietet, fo überreihlih aufdrängten, wie nur ein umfchuldiges, junges Menſchenherz Worte findet, dag noch wähnt, mit feiner Liebe könnte ed Berge verfegen und das Schiefal bezwingen. Und Heineih Ahrens fee unterbrach feinen Liebling nicht; er hörte aufihre füßen Liebes; und Hoffnungsworte, wie ein Schwerkranfer den

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weichen, erften Fruͤhlingsſtuͤrmen laufcht, die an ihm vors überziehen.

Nicht lange, dba gingen fie beibe in das Familienzimmer, und beide wußten einmal wieder, was fie aneinander hatten.

uhls war mit feinem Freunde Ker eine Stunde am Abend noch dageweſen, um Abfchied gu nehmen.

Ker und Kriſtine Hatten fih die Hand gereicht und ſtumm Lebewohl gefagt.

Ker hatte ihr eine Heine sränfafflane Mappe gegeben und ihe gefagt: „Behalten Sie ed. Heben Ste mir’s auf.“

Und Kriſtine wußte, das war das Hohe Lied ber Liebe, und hielt e8 zaghaft In ben Händen.

Sp kam fie am ſpaͤten Abend mie weichem Herzen In Ihr ſtilles Simmer zuruͤck. Mle im Haus waren zur Ruhe ges sangen. Die Slügeltür, die von ihrem Zimmer auf die Veranda binausführte, fand weit geöffnet, und die belle Nordlandsnacht Drang weich und feucht In ben daͤmmernden, heimifchen Raum.

Kriſtine lehnte fich in die offene Tür und ſchaute hinaus in den Garten. Derſelbe ſtarke Seenebel wie vor wenigen Tagen lag wieder uͤber Wiborg, dem ganzen Lande, den zarten Birken, den mit grauem Moos uͤberwucherten Irr⸗ blöden, den Wacholderbuͤſchen, dem feuchten, duftenden Gras, dem Meere.

Kriſtine ſchlug die gruͤne Mappe mit bebenden Haͤnden auf, blaͤtterte darin und blickte auf die Schriftzuͤge.

Da wurbe es ihre fo weit und weh ums Herd. Er war ihr fo nah und fo fern zu gleicher Zeit. Ihre Seele kam Ihr fo groß, fo unendlich vor und erfüllt von einem ungelannten eben.

Sie preßte die Heine Fauſt feſt auf ihr Herz, als wollte fie es zuruͤckhalten, fo zu fühlen.

Ihre Blicke aber fuchten in Kers Schriftgägen.

20 Böhlau II. 305

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Sie ſtand und regte ſich nicht und doch, ohne daß ſie es wußte, loͤſten ſich ihre Arme von dem Holzwerk, das ſie umſchlungen hatten, und preßten ſich gefaltet ihr aufs Herz. „Herr, mein guter Gott“, fluͤſterte ſie wie uns bewußt.

Und jest ſchlug ein Ton an ihr Ohr Ihe Name, Ihr eigener unfchuldiger Name! Daß er aber jegt ausgefprochen wurde und von Ihm das ſchien ihr wunderbarer als Sonne, Mond und Sterne und der Jubelton, den vorhin die Lippen noch zuruͤckgehalten, drang ihre and bem Herzen wie der erfte Ton dee auffteigenden Lerche im Fruͤhjahr. Und da flimmerte es ihre unfäglich vor den Augen da fhien der Nebel zu wogen, und Himmel und Erbe und alles, was fie kannte, wußte, wollte, gu verfchlingen, zu vers bergen ba war es ihre, als wollte eine ganze Welt fich ihre

. ans Her; drangen.

Wie im Todesfchred Hält fie die Arme vor fich ausgeſtreckt und fühle Ihre Hände erfaßt und heiße Lippen, die fich darauf preflen, fühlt fich Hingegogen und ihr Haar berührt von einer baftigen Hand. Und ale fie auffeufjen will im Drange der übergeoßen Bewegung, da iſt ihr Mund von Kuͤſſen ges ſchloſſen.

Es vergehen ihr die Sinne, und wieder verſinkt alles, was ſie je erlebt, jede Stunde, jede Minute, jede Erinnerung in dieſem Augenblick in den tiefen, leuchtenden Nebel, der beide umgibt.

„Meine heilige, meine weiße Kriſtine!“ ruft Ker außer ſich. Liebſt du mich?“

Er fluͤſtert in Erregung, die ihm die Stimme und die Sinne raubt, die uͤber ihm zuſammenſchlaͤgt wie die Meeres⸗ wellen uͤber den Ertrinkenden.

Das junge Seſchoͤpf lächelt wie im Traum, erbebt unter den Kuͤſſen.

„Run Fülle mich auch! Hall’ mich!”

20° 307

Und Kriſtine fchlingt die Arme um Ihn und kuͤßt ihn lang und innig und voll fellgen Vertrauens auf den Mund, „Run gehören wir wahrhaftig zueinander. Ach bin bein und du biſt mein!” fast fie. Er faßt ihren blonden Kopf mit beiden Händen und halt fie im filbernen Nebellicht fo von ſich ab, wie ein glädlicher Menih, der etwas Koͤſtliches gefunden und dies im Hochs gefühl des Beſitzes befchaut. „Was ift fo ein Mäbchen für ein herrliches Geſchoͤpf!“ Sso' haͤlten fie einander feft umfchlungen, und ber helle

Mebel finkt dichter und dichter auf die ſtille Erde herab, vers birgt alles und jedes, und bie beiben fliehen in dem wogenden Dunfte, als ſtaͤnden fie auf dem Meeresboden, tief unter ben Wellen ganz allein und fläfterten.

„Sag’ mir,” fragt Kriſtine, „weißt du, nun mußt du mir alles ſagen. Weshalb biſt du denn fo gequdlt hierher, gefommen ?”

„Ich bin arm, ganz arm geworden.”

„Run, was tut dag?”

Und nun fließt feine fchwere Erregung in ihre Seele über.

Sie. Hört mit großen, weit offenen Augen von dem Treiben der Menfchen, von ihrer Ungerechtigkeit, vom ihrem Haften nach Süd und Wohlleben und von großem Unrecht. |

„And das alles Hat man die getan!” rief fie zitternd und Itegt in feinen Armen und iſt gan Begeiflerung und Innig⸗ keit.

„Nun biſt du aber ſchon nicht mehr verlaſſen. Nun helfen wir dir, mein Vater und ich! Nun gehoͤrſt du zu uns! Mein Vater iſt wahrhaftig gut und iſt auch reich. Du haſt nun wieder, was dir gehoͤrt.“

„Laß das!“ ſagt er hart. „Glaubſt du, daß ich mich be⸗

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ſchimpft in deine Familie eindrängen will? Ich will kaͤmpfen auf Tod und Leben! Dann fliehen wir gueinander dann fommt das Gluͤck!“

Ein leiſer Seufjer entringt fih dem gang in Liebe vers ſunkenen Geſchoͤpf.

„Ich fteh’ die bei bis zum Tob“, ſagt fie leiſe.

„Herr, mein Gott, weshalb muß ich jetzt in Not und Qual ſtecken! Verzeih mir! Verzeih mir!“ ruft er erſchuͤttert und preßt fie an ſich. „Du biſt mein!”

Und er hebt die weiche, weiße Seftalt auf feinen Arm.

„So teug Ich dich ſchon einmal fo Haft du mir's ans getan!”

„O du! du!” fluͤſterte fie verwirrt in traͤumeriſcher junger Lelbenfchaft.

Kriftinens und Kers Haar iſt feucht, an Wangen und Stirn legt fih ihnen der Nebel.

Jetzt bleibt Ker fiehen und ſchoͤpft tief Atem. Kriſtine gleitet zur Erde hinab und fragt leife, von diefen Augenbliden ganz verwirrt:

„Wo find wir nun eigentlich?” und ſchmiegt fich feſt an ihn; befangen, ohne ihn loszulaſſen, ſchaut fie um fich.

Eng aneinanbergepreßt gehen fie, als wollten fie gu einem Körper verſchmelzen. In junger, geoßer Leidenſchaft ſuchen ſich ihre Haͤnde und krampfen ſich ſelig verzweifelt ineinander. Ihre Blicke ſuchen ſich. Alles draͤugt zueinander brennend in vollen Flammen der nahe drohende Abſchied das Entſetzen, ſich ſo bald verlieren zu muͤſſen das ungeheure, ſchwindelerregende Gluͤck der Naͤhe. Dieſe wogende Selig⸗ keit, die Sonne tanzen laͤßt, die Himmel und Erde ver; ſchmilzt, die Koͤrper zu Seele und Seele zu Koͤrper geſtal⸗ tet; bie Feuerzaͤrtlichkeit, die Beruͤhrungen zu leuchtenden Blammen made!

Zei, bie fchwer und jauchzend an dem hochheiligen Wuns

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der tragen, gehen dem In großen Zuͤgen atmenden naͤchtlichen Meere zu.

Jetzt liegt es vor ihnen, ſchimmert ſilbern durch weiße Schleier

Die Luft jubelt ihnen! Das Waſſer jauchzt ihnen! Ihr Blut ſingt ihnen in den Adern. egpelise Hochnacht der jungen Koͤrper, der jungen

Ein dunkler, formloſer Fleck liegt auf den Wellen, ganz nah’ dem Strande, von Dunſt faſt ganz verhuͤllt, vielleicht ein Boot, vielleicht ein angeſchwemmter Baumſtamm, Suhffens Walfiſch.

Ker umfaßt bag weiße bebende Mädchen.

Die friſchen Wellen fpälen in weiten Bogen sum flachen Ufer Hin.

Er Hält Kriſtine umklammert in wilder, flarfer Leidens

(Haft.

Sie find fo goͤttlich einſam und haben alles vergeflen!

Waſſer, Nebel und Nacht find auf der Welt und fie ſelbſt fonft nichts.

Sie find die einzige Macht.

Die beiden verwirrten, jungen Gefchöpfe hat der weiße Dunſt ganz in fih aufgenommen. Kein Auge ber Welt folgt ihnen das Schickſal allein, dem wir nie und nirgends enteinnen, und wollten wir ung in ben Himmelsräumen und in den Schoß der Erbe verbergen.

er Fink fchlug leiſe, halb im Traume, fein lebensfrohes

pink, pink, pink dem frühen Tag entgegen, und feine Freunde und Nachbarn antworten. Aber fie erwachen heut alle nicht zu warmem Sonnenfchein, es troff ihnen gegen Morgen auf das Gefieder, es teoff auf die Tannen und Birken.

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Der Nebel, der felt drei Tagen bes Nachts über der See gelegen, hatte jetzt Negen gebracht, grauen Landregen, ber fein, ſpruͤhend, eben niebersufinfen begann.

Einmal ſchien es, als ob die Sonne fih durchkaͤmpfen wollte, es biiste hin und wieder auf und glaͤnzte in friſchem Gruͤn, aber die Woltenmaflen auf der weiten See fchoben fih mehr und mehr zuſammen.

Unter ben Birken und Tannen, nahe am Haus, flieht eine weiße Geſtalt. Der Regen riefelt auf fie nieber. Sie ſteht fl und unbeweglich und ſchaut auf das Haus, in bem noch alle in tiefem Schlummer liegen. Jetzt geht fie lansfam vor; waͤrts. Groß, offen fleben ihre Augen im bleichen Geſicht wie ins Leere flarrend, wie auf eine Schuld fiarrend, auf etwas unbegreiflich Geſchehenes, auf etwas Raͤtſelhaftes. Das find die armen, betroffenen Augen bes jungen Weibeg, die das große Dpfer brachte, das fie im Taumel finnver; wirrenden erfien Liebesleibes brachte. Das find die Augen, die fo vernichtet Bliden und voll glimmenden Lebens ſo umgewandelt. Die paar Stufen zur Veranda fleigt bie muͤde Geſtalt langſam hinan, geht ebenfo gleichmäßig langſam In Ihe Zimmer gu ihrem Bett, fallt davor nieder auf die Knie und ſinkt mit dem Kopf auf die Dede. So bleibt fie un; beweglih. Draußen riefelt der Negen ſtark und gleichmäßig nieder, ſchwere große Teopfen fallen vom Dach der Veranda, die Tür ſteht noch Immer auf, Regenluft, graues Licht bringt ein, und ein feuchter Morgenwind flreicht an der Tre vor; über,

Jetzt hebt fie Ihren Kopf vom Bett in die Höhe, ſchaut um fi wie nah einem langen, fihweren Schlaf, und ein feltfamer Schmergenssug bat fih um den jungen Mund gegraben,

Ohne fich zu erheben, auf ben Knien, kehrt fie fich dem Fenſter zu, die Hände preßt fie gefalter auf die Bruſt und fpricht langfam und matt:

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„Du biſt fo gut, mein Gott Sonne und Mond, bie ganze Welt, und die Menfhen, und Gläd und Leib haft bu geſchaffen, und Jeſus Chriſtus Hat ſich für und geopfert. Und alles kannſt du, und nichts iſt die unmoͤglich. Daß die legten Stunden ein Traum waren, das bit’ ih von die das allen ganz allen hoͤrſt du, mein So!"

Ihre Stimme zsitterte, und Tränen drangen in die groß offenen Augen.

Sie fluͤſterte leidenſchaftlich:

„und ich vertan” Ich ſchwoͤre dir's Ich verſpreche dirs ich werde nicht ein einziges Mal traurig fein ich werbe e8 meinem Herzen nicht erlauben ich ſchwoͤre die 8 ich werd’ mich nicht fehnen. Kein Menfch fol’8 ahnen, ich will froh fein und alle im Haus froh machen und allen helfen helfen, wie ih kann. Meinem guten, lieben Vater.” Sie blieb noch lange auf ben Knien liegen und blidte hinauf in den grauen Regenhimmel, in dem fie ihren Sort zu finden glaubte.

Dann fland fie auf das Schwere, Langſame in ihren Bewesungen war etwas. von Ihr gewichen. Sie ſtrich fich mit der Hand über die Stien, richtete fich fer auf: „Kein Schmerz, fein Hoffen nichts” fagte fie ruhig. Darauf sing fie, ſchloß die Tür, entkleidete fih und legte fih zur Ruhe.

Und matt und müde mußte fie fein, denn bald ſanken die Liber gu, und flatt bes ſchmerzlich verwirrten Aus⸗ druckes in ihren Zügen trat auf diefe Züge ein traͤumeriſch braͤutliches Lächeln, und im Hinſinken zum unbewußten Schlaf am Städesausdrud zutage, ruhte auf Dem fchlafenden Geſicht und wurbe von keinen Gedanken, feiner Verwirrung mehr verſcheucht.

Als ſie nach wenigen Stunden erwachte, konnte ſie nicht mehr ruhig liegen bleiben, trotz fruͤher Morgenſtunde. Sie

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erhob fih, Heidete ſich langſam an. Ihre Bewegungen waren ruhig, fo völlig anders, wie an jenem Morgen, als fie an das Fenſter trat und ben Nebel fah.

te geht die Treppe hinauf, nah dem Familienzimmer,

wendet fich im Sehen unverfeheng um und gewahrt Ans nuſchka, Die den Kopf zwifchen die ein wenig geöffnete Haustür geftedt bat und ihn fo genau Im bie ſchmale Lüde eingepreßt halt, daß es ben Unfchein bat, als wollte fie ihn wie eine Nuß zerknacken.

Jetzt zieht ſie den Kopf ein, ſchuͤttelt ihn und ſagt zu ſich ſelbſt in ihrem vortrefflichen Deutſch, auf dag fie ſtolz iſt und das ſie mit eitler Vorliebe anwendet: |

„Schönes Menfch da ſteht fremdes Menſch.“

Keiftinens Hände fahren zum Herzen, fie ftebt Rarr und unbeweglich.

Annuſchkas Kopf zwaͤngt ſich wieder in die enge Tuͤr⸗ fpalte, ziehe ſich wieder zuruͤck: „Fremdes Menſch draußen, will was fremdes Menſch im Regen.“

Jetzt gewahrt Annufchla Kriſtinen.

„Kind,“ ruft fie und winkt ihr, Kind ſehen was fremdes Menſch will Kind!“

Kriſtine kommt die Stufen wieder herab, wie im Traum und bleich.

Aunuſchka oͤffnet die Tür, und Kriſtine tritt hinaus

Da wandelt eine GSeftalt im dichten Regen ihr ganz nah.

Ihr dunkelt's vor den Augen, ein namenlofer Schmer dringt ihr zum Herzen. Die Geftalt kommt auf fie su. Da hebt Keiftine beide Arme in die Höhe und wie gu Tode ges teoffen, alles vergeflend, ruft fie: „Bleib! Bleib!” und fihest Ihm entgegen. Ein Schred fährt ihr durch bie Glieder fie ſtarrt die Geſtalt an, die jetzt vor Ihr ſteht, ebenfo bleich faft wie fie, mit einem ebenfolch mächtigen Schred in ben Zügen.

313

m Abend gingen Krifline und Ihe Vater miteinander

die ung wohlbefannte, teppichbelegte Treppe hinab, über beren niedere, breite Stufen es fich fo behaglich fchreiten Tieß. In Kriſtinens Zimmer angelangt, lehnte fich Ahrenfee dicht am Flügel in einen Seflel zuruͤck und Kriſtine feßte fih. Ohne ein Wort gu reden fing fie leife zu fpielen und noch leiſer zu fingen an.

„Werde du mie nur Fein trauriger Narr, Kriſtel. Es iſt boͤs, dies ewige Kranken, ich fuͤhl's, ich werde märrifch und alt alt alt und da mußt du mir helfen. Ich lebe von beiner Heiterkeit. Was war die benn heute, mein Kind?“

„Nichts!“ rief Kriftel lebhaft und flog Ihrem Vater um den Hals. „Nichts gar nichts“, rief fie noch einmal leidenfchaftlih und innig machte fi von Ihm los, ſo aber, daß ihre Hände noch auf feinen Schultern lagen und blickte ihm in die Augen. Da kam er Ihe in Wahrheit krank und abgemagert, leidend und alt alt vor, daß ein unfagbares Weh fie ergriff. Seine Bitte, ihm zu helfen, Ihn zu er; heitern, durchſchnitt ihr das Herz. Zum erftenmal erſchien ihr Ihe Vater, ber für fie nichts war als eben „Ihe Vater” und mit niemandem anders vergleichbar, als alternber, franfer, armer Menſch, wie deren ungesählte in ber Welt umberlaufen. Das war Ihr fo über alles Maß bejammerns⸗ wert, daß fie ihn in die Arme fchloß, ſchuͤtzend wie eine Mutter ihr armes Kind, und als fie wieder ſprach, da waren ed Worte der zarteften, ſchmerzlich bewegteſten Liebe, die teöften wollten, die Hoffnung und alles Gute, was das Schickſal bietet, fo überreihlih aufdrängten, wie nur ein unfchuldiges, junges Menſchenherz Worte findet, dag noch wähnt, mit feiner Liche könnte es Berge verfeßen und das Schiefal bezwingen. Und Heinrich Ahrens fee unterbrach feinen Liebling nicht; er hörte auf ihre füßen Liebes; und Hoffnungsworte, wie ein Schwerkranter ben

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weichen, erſten Fruͤhlingsſtuͤrmen laufcht, die an Ihm vor; überziehen,

Nicht lange, da gingen fie beide in das Familienzimmer, und beide wußten einmal wieder, was fie aneinander haften.

uhkls war mit feinem Freunde Ker eine Stunde am Abend noch dageweſen, um Abfchled gu nehmen.

Ker und Kriftine Hatten fich die Hand gereicht und ſtumm Lebewohl gefagt.

Ker hatte ihr eine Heine gruͤnſaffiane Mappe gegeben und ihre gefagt: „Behalten Sie es. Heben Sie mir’s auf.”

Und Keiftine wußte, das war das Hohe Lieb der Liebe, und hielt e8 zaghaft In den Händen.

Sp fam fie am ſpaͤten Abend mit weichem Herzen in Ihe ftilles Simmer zuruͤck. Alle im Haus waren zur Ruhe ges gangen. Die FSlügeltür, die von Ihrem Simmer auf die Veranda hinausführte, Rand weit geöffnet, und bie belle Nordlandsnacht drang weich und feucht In ben daͤmmernden, heimifchen Raum.

Keiftine lehnte fich in die offene Tür und ſchaute hinaus in den Garten. Derſelbe ſtarke Seenebel wie vor wenigen Tagen lag wieder uͤber Wiborg, dem ganzen Lande, den zarten Birken, den mit grauem Moos uͤberwucherten Irr⸗ blöden, den Wacholderbuͤſchen, dem feuchten, duftenden Gras, dem Meere.

Keiftine ſchlug die grüne Mappe mit bebenden Händen auf, blätterte darin und blickte auf bie Schriftzuͤge.

Da wurde es ihr fo weite und weh ums Herz Er war ihe fo nah und fo fern zu gleicher Zeit. Ihre Seele kam ihr ſo groß, fo unendlich vor und erfüllt von einem ungelannten

Ste preßte die Heine Fauſt feft auf Ihe Herz, als wollte fie es zuruͤckhalten, fo gu fühlen.

Ihre Blicke aber fuchten in Kers Schriftzuͤgen.

20 Böhlau III. 305

D, wer ed mir doch gewähren koͤnnte, Daß du mein Bruder feift,

Genährt an der gleichen Mutterbeuft; Daß ich dich kuͤſſen duͤrfte,

Traͤf ich dich draußen,

Und niemand hoͤhnte mich darum. Dann breächt‘ ich dich, ich führte dich In meiner Mutter Haus.

Dort füllen Edelfruͤchte unfere Huͤrden, Alte und neue, Geliebter, für dich; Du lehrteſt mich, Ich labte di Mit dem Safte ber Granate

Und mit wuͤrzigem Wein.

D, wer es mir doch gewähren koͤnnte, Daß du mein Bruder ſeiſt.

Sie trat auf die Veranda hinaus, ſchlang die Arme um eine der Stuͤtzen, die das Dach des kleinen Vorbaues trugen, und verſank ſo in Traͤumerei, in ein Meer banger Welt⸗ vergeſſenheit, in das vor ihr ſchon ungezaͤhlte Tauſende und aber Tauſende in ſchimmernder Nacht geſunken waren, ſo⸗ lange die alte Welt ſteht. So ſtand Kriſtine und blickte mit ubervollem Herzen und Traͤnen in ben Augen hinans in den Nebel. Da ſchien es ihr, als tauchte eine dunkle Seftalt auf, und wie ein Wunder war e8 ihr fie wußte, daß die Geftalt, die fie ahnte, kannte, bis in die innerſte Seele ſchauervoll empfand, baß diefe Geftalt die Augen auf fie ges richtee hatte. Wie Feuer durchrann es fie. Einen Jubels ſchrei hielten die jungen Lippen zuruͤck.

Kreiftine, das jungfraͤuliche Kind, das ſtark und gefund und froh im Schuhe der Kindheit gelebt und noch nicht über diefe hinaus gefühlt hatte, fand jegt vor dem Geheimnis, das ihr eigenes Herz barg, unvermittelt überrafcht bem großen Einen gegenüber, das wir Liebe nennen.

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Sie fand und regte fih nicht und Doch, ohne daß fie es wußte, Iöften ſich ihre Arme von dem Holzwerk, das fie umfhlungen hatten, und preßten fich gefaltet ihr aufs Herz „Herr, mein guter Gott“, fläfterte fie wie uns bewußt.

Und jetzt fchlug ein Ton an ihr Ohr Ihe Name, Ihr eigener unſchuldiger Name! Daß er aber jegt ausgeſprochen wurde und von Ihm das Ichien Ihr wunderbarer als Sonne, Mond und Sterne und ber Jubelton, ben vorhin die Lippen noch gurüdgehalten, Drang ihr aus bem Herzen wie der erfte Ton ber auffteigenden Lerche im Frühjahr. Und da flinnmerte es Ihr unfäglich vor den Augen ba {dien der Nebel zu mwogen, und Himmel und Erde und alles, was fie fannte, wußte, wollte, gu verfchlingen, zu vers bergen da war es ihr, als wollte eine ganze Welt fich ihr aus Herz drangen.

Wie im Todesfchred Hält fie bie Arme vor fich ausgeſtreckt und fühlt ihre Hände erfaßt und heiße Lippen, bie fich darauf preflen, fühlt fih Hingesogen und ihre Haar berührt von einer haftigen Hand. Und als fie aufſeufzen will im Drange ber übergroßen Bewegung, da tft ihr Mund von Kuͤſſen ges ſchloſſen.

Es vergehen ihr die Sinne, und wieder verſinkt alles, was ſie je erlebt, jede Stunde, jede Minute, jede Erinnerung in dieſem Augenblick in den tiefen, leuchtenden Nebel, der beide umgibt.

„Meine heilige, meine weiße Kriſtine!“ ruft Ker außer ſich. Liebſt du mich?“

Er fluͤſtert in Erregung, die ihm die Stimme und die Sinne raubt, die uͤber ihm zuſammenſchlaͤgt wie die Meeres⸗ wellen uͤber den Ertrinkenden.

Das junge Gefchöpf lächelt wie im Traum, erbebt unter den Kuͤſſen.

„Run kuͤſſe mich auch! Fall’ mich!”

20° 307

Und Kriſtine fchlingt die Arme um Ihn und kuͤßt ihn lang und innig und voll feligen Vertrauens auf ben Mund,

„Run gehören wie wahrhaftig gueinander. Ich bin bein und du bift mein!” fagt fie.

Er faßt ihren blonden Kopf mit beiden Händen und hält fie im filbernen Nebellicht fo von fich ab, wie ein glädlicher Menſch, ber etwas Köftliches gefunden und dies im Hochs gefühl des Beſitzes beſchaut.

„Was ift fo ein Mädchen für ein herrliches Geſchoͤpf!“

Sp halten fie einander feft umfchlungen, und ber belle Mebel finkt dichter und dichter auf die ſtille Erbe herab, vers Birgt alles und jedes, und bie beiden fichen In bem wogenben Dunfte, als Händen fie auf dem Meeresbobden, tief unter den Wellen ganz allein und fläfterten.

„Sag’ mie,” fragt Keiftine, „weißt bu, nun mußt du mir alles fagen. Weshalb biſt du denn fo gequält biechers gelommen ?”

„Ib bin arm, ganz arm geworben,“

„Run, was tut dag?“

Und num fließt feine ſchwere Erregung in ihre Seele über.

Sie. Hört mit großen, weit offenen Augen von dem Treiben der Menſchen, von ihrer Ungerechtigkeit, vom ihrem Haſten nach Gluͤck und Wohlleben und von großem Unrecht.

„Und das alles bat man dir getan!” rief fie zitternd und liegt in feinen Armen und iſt ganz Begeifterung und Innig⸗ feit,

„Run bift du aber fchon nicht mehr verlaffen. Nun helfen wir bir, mein Vater und ih! Nun gehoͤrſt du zu uns! Mein Vater ift wahrhaftig gut und iſt auch reich. Du haft nun wieder, was bir gehdrt.”

„Laß das!“ ſagt er hart. „Glaubſt du, daß Ich mich bes

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ſchimpft in deine Familie eindrängen will? Ich will fampfen auf Tod und Leben! Dann ſtehen wie gueinander dann fommt das Sad!"

Ein leiſer Seufzer entringt fih dem ganz In Liebe vers funtenen Sefchöpf.

„Ich fteh’ die bei bis zum Tod“, fagt fie leiſe.

„Here, mein Gott, weshalb muß ich jet in Not und Dual fieden! Verzeih mie! Verzeih mir!” ruft er erſchuͤttert und preßt fie an fih. Du biſt mein!“

Und er hebt die weiche, weiße Geftalt auf feinen Arm.

„So trug Ich dich ſchon einmal fo haft du mir’s ans getan!”

„D du! du!” fluͤſterte fie verwirrt In teäumerifcher junger Leidenfchaft.

Keiftineng und Kers Haar iſt feucht, an Wangen und Stirn legt fih Ihnen der Nebel.

Sept bleibt Ker fiehen und Ichöpft tief Atem. Keiftine gleitet zur Erde hinab und fragt leife, von diefen Augenbliden ganz verwirrt:

„Wo find wir nun eigentlich?” und ſchmiegt fich feſt an ihn; befangen, ohne ihn loszulaſſen, ſchaut fie um fich.

Eng aneinandergepreßt gehen fie, als wollten fie gu einem Körper verſchmelzen. In junger, großer Leidenſchaft fuchen fich ihre Hände und krampfen fich felig verzweifelt ineinander. Ihre Blide fuchen ſich. Alles draͤngt gueinander brennend in vollen Flammen ber nahe drohende Abſchied das Entfegen, fich fo bald verlieren gu müflen das ungeheure, ſchwindelerregende Gluͤck der Nähe, Diefe wogende Seligs fett, die Sonne tanzen läßt, die Himmel und Erbe ver; ſchmilzt, die Körper gu Seele und Seele gu Körper geſtal⸗ tet; die Feuerzaͤrtlichkeit, die Berährungen su leuchtenden Flammen macht!

Zwei, bie ſchwer und jauchzend an dem hochheiligen Wun⸗

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der tragen, gehen bem in großen Zügen atmenben nächtlichen Meere zu.

Jetzt liegt e8 vor ihnen, ſchimmert filbern durch weiße Schleier.

Die Luft jubelt ihnen! Das Waſſer jauchzt ihnen! Ihr Blut fingt ihnen in den Abern.

Hochheilige Hochnacht der jungen Körper, der jungen Seelen!

Ein dunkler, formlofer Fleck liegt auf den Wellen, ganz nah” dem Steande, von Dunft faſt gang verhällt, vielleicht ein Boot, vielleicht ein augeſchwemmter Baumſtamm, Fuhkſens Walfiſch.

Ker umfaßt das weiße bebende Maͤdchen.

Die friſchen Wellen ſpuͤlen in weiten Bogen zum flachen Ufer hin.

Er haͤlt Kriſtine umklammert in wilder, ſtarker Leiden⸗ ſchaft.

Sie ſind ſo goͤttlich einſam und haben alles vergeſſen!

Waſſer, Nebel und Nacht ſind auf der Welt und ſie ſelbſt ſonſt nichts.

Sie ſind die einzige Macht.

Die beiden verwirrten, jungen Geſchoͤpfe hat der weiße Dunſt ganz in ſich aufgenommen. Kein Auge der Welt folgt ihnen das Schickſal allein, dem wir nie und nirgends enfeinnen, und wollten wir uns In ben Himmelsraͤumen und in den Schoß der Erde verbergen.

FYer Fink ſchlug leiſe, halb im Traume, ſein lebensfrohes

pink, pink, pink dem fruͤhen Tag eutgegen, und ſeine Freunde und Nachbarn autworten. Aber ſie erwachen heut alle nicht zu warmem Sonnenſchein, es troff ihnen gegen Morgen auf das Gefieder, es troff auf die Tannen und Birken.

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Der Nebel, der ſeit drei Tagen des Nachts über der See gelegen, hatte jetzt Regen gebracht, grauen Lanbregen, ber fein, fprähend, eben niedersufinfen begann.

Einmal ſchien es, als ob bie Sonne fih durchkaͤmpfen wollte, es bliste hin und wieber auf und glänzte in friſchem Gran, aber die Wolkenmaſſen auf der weiten See fchoben fih mehr und mehr zuſammen.

Unter den Birken und Tannen, nahe am Haus, ſteht eine weiße Geftalt. Der Regen riefelt auf fie nieder. Sie ſteht fl und unbeweglih und [haut auf das Haus, In dem noch alle in tiefem Schlummer liegen. Jetzt geht fie lansfam vor⸗ waͤrts. Groß, offen ftehen ihre Augen im bleichen Geficht wie ins Leere flarrend, wie auf eine Schuld flarrend, auf etwas umbegreiflich Geſchehenes, auf etwas Mätfelhaftes. Das find die armen, betroffenen Augen des jungen Weibes, bie das geoße Opfer brachte, das fie im Taumel finnver; wirrenden erften Liebesleides brachte. Das find die Augen, die fo vernichtet bliden und voll glimmenden Lebens fo umgewandelt. Die paar Stufen zur Veranda ſteigt die müde Geſtalt langſam hinan, geht ebenfo gleichmäßig langſam in ihr Zimmer gu ihrem Bett, fällt davor nieder auf bie Knie und finkt mie dem Kopf auf die Dede. So Bleibt fie un; beweglih, Draußen riefelt ber Regen ſtark und gleichmäßig nieder, ſchwere große Tropfen fallen vom Dach der Veranda, bie Tür ſteht noch immer auf, Negenluft, graues Licht deingt ein, und ein feuchter Morgenwind fireicht an der Tuͤre vor⸗ über,

Jetzt hebt fie ihren Kopf vom Bett in die Höhe, ſchaut um fich wie nach einem langen, ſchweren Schlaf, und ein feltfamer Schmerzenszug hat fih um ben jungen Mund gegraben.

Ohne fich gu erheben, auf den Knien, kehrt fie fih dem Fenſter zu, bie Hände preßt fie gefaltet auf die Bruft und fpricht langfam und matt:

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„Du biſt fo gut, mein Sort Sonne und Mond, bie ganze Welt, und die Menfchen, und Sluͤck und Leid haft bu gefchaffen, und Jeſus Chriſtus Has fi für und geopfert. Und alles kannſt du, und nichts iſt die unmöglich. Daß die legten Stunden ein Traum waren, bag bitt’ ich von die das allen ganz allein hoͤrſt du, mein Gott!“

Ihre Stimme zsitterte, und Tränen drangen in die groß offenen Augen.

Sie fläfterte leidenſchaftlich:

„And ich vertan” Ich ſchwoͤre dir's Ich verſpreche dies Ih werde nicht ein einziges Mal traurig fein ich werde es meinem Herzen nicht erlauben Ich ſchwoͤre dir's Ich werd’ mich nicht ſehnen. Kein Menſch ſoll's ahnen, ich will froh fein und alle im Haug froh machen und allen helfen helfen, wie Ich kann, Meinem guten, lieben Vater.” Ste blieb noch lange auf ben Knien ftegen und blidte hinauf in den grauen Regenhimmel, in dem fie ihren Gott gu finden glaubte,

Dann fiand fie auf das Schwere, Lansfame in ihren Bewegungen war etwas: von Ihe gewichen. Sie firich ſich mit der Hand Aber die Stien, richtete fich feſt auf: „Kein Schmerz, fein Hoffen nichts” fagte fie ruhig. Darauf sing fie, ſchloß die Tr, entkleibete fih und legte fich zur Ruhe.

Und matt und mäbe mußte fie fein, denn bald fanfen die Liber gu, und flatt bes ſchmerzlich verwirrten Auss druckes in Ihren Zügen frat auf diefe Züge ein träumerifch braͤutliches Lächeln, und im Hinſinken sum unbewußten Schlaf kam Gluͤcesausdruck zutage, ruhte auf dem fchlafenden Geſicht und wurde von feinen Gedanken, feiner Verwirrung mehr verfcheucht.

ME fie nach wenigen Stunden erwachte, konnte fie nicht mehr ruhig liegen bleiben, trotz früher Morgenflunde, Sie

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erhob fich, kleidete fih langſam an. Ihre Bewegungen waren rubig, fo völlig anders, wie an jenem Morgen, als fie an das Fenſter trat und den Mebel ſah.

te geht die Treppe hinauf, nach dem Familienzimmer,

wendet fih im Sehen unverſehens um und gewahrt Ans unſchka, bie den Kopf zwifchen bie ein wenig geöffnete Haustuͤr geftedt bat und ihn fo genau in die ſchmale Lüde eingepreßt hält, daß es ben Unfchein hat, als wollte fie ihn wie eine Nuß zerknacken.

Jetzt zieht fie ben Kopf ein, ſchuͤttelt ihn und fagt gu fich felbft in ihrem vortrefflichen Deutſch, auf das fie ſtolz iſt und das ſie mit eitler Vorliebe anwendet:

„Schönes Menſch da ſteht fremdes Menſch.“

Kriſtinens Haͤnde fahren zum Herzen, ſie ſteht ſtarr und unbeweglich.

Annuſchkas Kopf zwaͤngt ſich wieder in die enge Tuͤr⸗ ſpalte, ziehe ſich wieder zuruͤck: Fremdes Menſch draußen, will was fremdes Menſch im Regen.“

Jetzt gewahrt Annuſchka Kriſtinen.

„Kind,“ ruft ſie und winkt ihr, „Kind ſehen was fremdes Menſch will Kind!“

Kriſtine kommt die Stufen wieder herab, wie im Traum und bleich.

Annuſchka öffnet die Tür, und Kriftine teitt hinaus

Da wandelt eine GSeftalt im dichten Regen the ganz nah.

Ihr dunkelt's vor ben Augen, ein namenlofer Schmerz dringt Ihe zum Herzen. Die Geftalt kommt auf fie su. Da bebt Kreiftine beide Arme in die Höhe und wie su Tode ges teoffen, alles vergeflend, ruft fie: „Bleib! Bleib!" und ſtuͤrzt ihm entgegen. Ein Schred fährt Ihe durch die Glieder fie flarrt die Geſtalt an, die jet vor Ihe fleht, ebenfo bleich faft wie fie, mit einem ebenfolh mächtigen Schred in den Zügen.

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Er iſt es nicht! Fuhkls iſt's, in Kers triefenden Regen⸗ mantel gehällt,

Fuhks hat einen Brief für Seiflinen in ber Hand; aber er kann die Hand nicht regen.

Und feins kann ein Wort heruorbringen, und beide gehen auseinander.

Keiftine rettet fih, von Schmer; und Dual bebrängt, in ihr Zimmer gucäd, ſchließt fich ein und wirft ſich auf die Erbe,

Und Fuhls geht mie langen Schritten weiter, hinunter su den Birken, von denen aus man den Strand und das Meer fieht.

Da lehnt er den Kopf an einen naſſen Birkenſtamm und meinte,

In weiter Berne zieht über dem Meer ein dunkler Streifen Rauch am Horizonte hin als letter Gruß.

In Fuhkſens Her; draͤngt fich ein bitteres, bitteres Gefühl ein, etwas wie Haß will fih In diefem Herzen einniften. Da aber wirb’8 ihm fo jaͤmmerlich zumute fo augſt ſo gottverlaſſen, daß er dem dunkeln Gafte verzweifelt bie Türe weift.

Welchen Morgen hat er Hinter fich, welche bange Nacht! Und wie iſt fein Ker abgereiſt! bleib verſtoͤrt ges best; er wollte nicht und doch war's nicht anderd mög, lich und wollte zuruͤckkehren von Kopenhagen, ſchwor's und beteuerte es, wollte arbeiten, kaͤmpfen Unmögliches möglich machen, war voller Pläne voller Hoffnungen wie im Sieber. Fuhls hat ihm tauſendmal verfprochen, feine Sache zu führen, und Ker hat baräber gelacht und boch ihm in Haft und Dual immer wieder von neuem alles Har ges legt, in alles eingeweiht und ihn gebeten gebeten zu helfen wie er könne. Er hat ihm Geld aufgebrängt für alle Fälle Fuhls fühlt die Brieftaſche feines Freundes, fein Herz fchlägt dagegen. Und unfer Fuhkls ficht jetzt im Geiſte das erregte, bleiche Geficht feines Ker, wie fich diefer Aber ihn

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gebeugt bat, als er, Fuhlks, ſchon die Schiffstreppe wieder herabsing, und wie Ker ihm einen Brief in die Hand ges druͤckt ‚gleich aber gleich‘, hatte er dazu geflüftert und ihm feinen eigenen Regenmantel um bie Schultern ges worfen. Und dann war Ker verſchwunden Fuhls hat ihn nicht wiebergefehen und das Bärenfell, dag er dem Ker nicht mitgegeben das Bärenfell lag noch im Walfiſch und der Brief? ben halt Fuhks in der Hand auf die Bruſt gepreßt er hat ihn nicht abgegeben hat es nicht ges konnt und ſteht immer noch mit dem Kopf an dem naffen Birkenſtamm geftügt und flieht ben dunkeln Rauchſtreifen am Horizont vergehen. So enden die ſchoͤnen Tage auf Erden.

Drittes Bud

Erſtes Kapitel

ere und Frau Profeſſor Henneberg lebten fo, wie es nicht

anders zu erwarten ſtand, machten ihre Viſiten, wurden eingeladen und gaben hin und wieder ein vortreffliches Diner, taten alles, was mit der allgemeinen Meinung in volls kommenem Einklang ſtand, waren in jeder Beziehung muſter⸗ haft vornehm, unauffällig und gebiegen. Sie häften auf einer Austellung, weiche bie Entwidelung der Menfchheit vom rohen Wilden bis zur Eultivierteften, zioilifierteften Menfchenfpestes zu zeigen fich die Aufgabe geftellt haͤtte, biefe legte Stufe ſamt Ihrer Villa mie gutem Gewiflen vers treten können und wären ficher geweſen, von ber ſtrengſten Jury einſtimmig prämtiert gu werden.

Alles war in befter Ordnung.

Trotz alledem aber follte auch Hier in der Villa ein Ereignis eintreten, das den Frieden flören mußte, Das erfte Kind wurde erwartet.

Alles war auch in diefer Zeit durchaus comme il faut, die Sotletten wie bie Erfcheinung der jungen Frau, bie Eins tellung ihres Tages, Ihre Ausfahrten und Spaziergänge, ihre Diät, ihre Befchäftigungen, der Trouſſeau bes künftigen MWeltbürgers, alles und jebes. Profeſſor Henneberg verzieh feiner Frau gern eine mehr oder weniger leichte Gereizt⸗ heit, die hin und wieder hervorbrach und bie er verſtaͤndnis⸗ voll ihrem Zuftand sufchrieb und als vällig in der Ordnung empfand. Man muß ber Natur ihre Nechte belaflen, ober: alles verfiehen heißt alles verzeihen.

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Er war volllommen damit einverfianden, baß feine Frau Mutter und Schwefter gu dieſer Zeit erwartete, weniger, daß auch fein Schwiegervater, mit bem er fich nicht beſonders ſtand, die beiden begleitete, ein Fränklicher Menfch, der hier in Jena einen Spestaliften fonfultieren wollte. Die Mutter follte im Haufe der Tochter wohnen für Vater und Schwefter war eine Wohnung in einem nahen Haufe gemietet worden. So war alles sum Empfang ber Säfte georbnet; und als ber Tag kam, ber die Erwarteten bringen follte, machte ſich Herr Drofeflor Henneberg auf, feine Verwandten auf dem Bahn⸗ hof gu empfangen. Er verabfchiebete fich von feiner Frau und druͤckte ihr einen Kuß auf bie Stirn.

[8 die Verwandten Profeflor Hennebergs fich anfchidten,

das Kupee gu verlaffen, half er feiner Schwiegermutter höflich und herzlich beim Ausſteigen und druͤckte Ihe einen Kuß auf die Hand.

„und Diga? Dlga?” feug diefe beſtuͤrzt, „warum iſt fie nicht hier? fie iſt doch wohl?”

„Bolllommen ausgezeichnet. Wir find angens blicklich bei the.“ |

Set begrüßte er feine Schwägerin Kriftine und feinen Schwiegervater, der fih auf Kriſtine ſtuͤtzte.

„Du biſt etwas von ber Reife ermäbet, lieber Papa,” fagte Profeſſor Henneberg, „nun, das wird fich hier in ber fhönen Luft Bald geben.” So führte er die Gaͤſte feinem Magen zu, fah mie Wohlgefallen auf die Schwägerin, bie fih, feit er fie nicht gefehen, vom wilden Kinde zum jungen Maͤdchen entwidelt hatte, begrüßte Ahrenſees Reiſegefaͤhrtin, Mathilde Swenfen, die fih in Miederfehensfreude in bie Arme einer mageren, gelben, Heinen Dame geftürst hatte, an deren Kleidereod ein fchreiender, dickkoͤpfiger Junge hing, dem bie Strämpfe von den Beinen gerutſcht waren.

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Nachdem bie beiden Damen nach der freubigen Um⸗ armung Luft gefchöpft hatten, ſtuͤrzte Mathilde Swenfen, an der Hand Ihrer Freundin, bie den fchreienden Jungen nachzog, mitten unter bie Ahrenſees.

„Das iſt meine Freundin, Frau Profeflorin Majunke, von ber ich euch fo viel gefprochen Habe und das find meine Verwandten aus Finnland.”

Damit war die swanglofe freubige Vorſtellung erledigt. Stan Abrenfee reichte Frau Profeſſor Majunfe ihre Hand, bie ihrerſeits diefe Höflichkeit erwiderte und fih durchaus nicht dadurch bedruͤckt fühlte, daß ihre Hand In einem etwas fragwuͤrdigen ſchwarzen Handſchuh ftedte, befien Finger wie die Schalen von aufgeſprungenen Bohnenſchoten aus⸗ einanderklafften.

„Nun,“ rief Frau Majunke laut, um ihren ſchreienden Sproͤßling gu übertäuben, „wir werden uns ja wohl öfters feben, da Herr Gemahl und Fräulein Tochter in unferem Haufe gemietet haben ein altes Haus aber oben bei Ahnen recht huͤbſch.“

Profeſſor Henneberg hatte durch ben Diener dag Gepäd beforgen laffen, und es fehlen, als fände dem Weiterkommen jet nichts mehr im Wege ba flürzte ein Weſen, dem bie braunen Haare zottig um den Kopf fanden, dem ber oberſte Rockbund weit herabgerutfcht war, fo daß der Nod an ber Seite fchleifte und der unglüdlichen Perſon bei jebem Schritt zwiſchen die Füße Fam, auf die Sefellihaft zu. „Kind“ rief fie „Kind! Maͤtuſchka! Frau! Warten! Laufen nicht! Verloren geben ih!” Den Regenſchirm hatte fie an ber Spige gefaßt und fuchtelte mit Dem Griff in ber Luft herum.

„Wer iſt denn das?” frug Profeſſor Henneberg, „gehört die gu euch?“

„Das tft ja Annufchla”, fagte Krifline und war babei, das außer fich geratene Gefchöpf zu befänftigen. Sie band

318

the den Rockbund hinauf und kehrte ihre den Regenſchirm um. „Geh uns nach,” faste fie, „wir laufen nicht Davon.”

„Das iſt ja ein fürchterliches Weſen“, bemerkte ber Pros feſſor.

„Sie wollte durchaus mit, es war nichts mit ihr zu machen, ſie waͤre zugrunde gegangen, haͤtten wir ſie nicht mitge⸗ nommen”, antwortete ihm Frau Ahrenſee etwas verlegen,

„Annuſchka iſt uns von der Meile fo auseinander ges fommen,” ergänzte Kriſtine, „und wird fich ſchon wieder beruhigen.”

„Eine allerliehfte Kammerfrau, das muß ich fagen!”

Profeſſor Henneberg war es unbehaglich zumute.

„Ich muß geftehen, baß mir, wie die Dinge augenblidlich liegen, das einigermaßen bedenklich erfcheint: ich möchte die aufgeregte Perſon meiner Frau jet nicht unter die Augen bringen.”

„Annuſchka wohnt bei ung”, fagte Kriſtine.

„Mein Gott,” rief Frau Ahrenfee, „glaubſt du, daß Olga das fchaden koͤnnte? Was follen wir un? Wir find an Annuſchka fo gewöhnt, daß fie uns gar nicht mehr fo fonder; bar erfcheint.”

In demfelben Augenblid traten Mathilde und Grau Majunke Arm in Arm wieder aus dem Bahnhofsgebände, Keiftine ging auf fle zu, und es währte ein paar Augenblide, da teabte Aunuſchka haſtig Eopfichättelnd, von Kriftine fo weit beichwichtigt, ben beiben Damen nach, die miteinander dem Städtchen zugingen.

Keiftine faßte die Hand Ihres Vaters, der Ihe im Wagen gegenüber faß, mit beiden Händen und fah ihn an und über ihr Geficht zog ein fremder, tiefbewegter Zug für einen Augenblid,

„Olga wird fich wundern, wenn fie dich flieht, Heine Schwäges rin. Was tft in fo kurzer Zeit aus bem wilden Kinde ges worden! Ihr feid gewohnt, fie su ſehen euch fällt nichts

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auf. Sie iſt viel ruhiger geworden und hat gehalten, was fie verſprach.“

„Sie tft viel ruhiger geworden —” Hang Profeſſor Hennes bergs Stimme in Uhrenfees Ohren nah und wahrhaft, er mochte vecht haben, ihre Heiterkeit fchten ihm wicht mehr ſo ſonnig wie früher gu fein. „Ihre Guͤte iſt rührenber, wie bewußter geworben,” bachte ee „Das muß nun fo ein Fremder eher bemerfen als ber eigene Vater.”

Jetzt hielt der Wagen, Sie singen duch den Garten in das Hans, und oben an der Treppe ſtand Diga. Die Mutter ſchloß fie in bie Arme, fo zart, als wäre fie ein gerbrechliches Puͤppchen, fah ihr forſchend, weinend und voller mütterlicher Liebe in die Augen, und kuͤßte fie, hielt fie umfangen und wollte fie, wie es fchlen, niemandem gönnen.

Ein liebevoll beforgtes Leben entfaltete fih in der Villa. Aus der Heinen wohldrefflierten Frau war mit einemmal wieder das Kind zaͤrtlicher Eltern geworden.

Mit einer gewiſſen Schen betrachtete Frau Ahrenſee die Tochter in ihrer untadelhaften Umgebung. Ste erſchien ihr wie eine Meifterin in den Dingen, in denen fie felbft es nie sur geahnten Vollendung hatte bringen fönnen. So behag⸗ lich e8 auch bei Ahrenfee daheim zuging, fo war Immer etwas Urwuͤchſiges, Naives, Ländliches im Haufe zu fpüren.

Gegend Abend empfing Mathilde Swenfen ihre Vers wandten in der gemieteten Wohnung auf das angeregtefte; fie ſchien im Wohlgefühl zu ſchwelgen. Hier wurde fie einmal wieder ganz verfianden! Ihre flaubfarbene Taille war aus⸗ gefuͤllter als je, faß rund und prall und fchlug nirgends ein Faͤltchen. An der Bruſt ftedte ihr ein Blumenſtrauß; ihre Atem duftete nach allerlei Süßem, nach Torte und Wein: fie war ſchon in ber Elle gefeiert worden. „Was find die Majunkes für herrlihe Menfchen!” rief fie. Annuſchka hatte fie auch mitgebracht, bie lehnte wie betäubt in dem großen breifenfteigen Salon, ber mit feinen fleifen Mahagonis

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möbeln einen ehrbaren altbürgerlichen Eindeud machte, Er war daͤmmerig und tief, war ein Raum, dem man anfühlte, daß er viel Leben ſchon umfchloffen hatte; durch die Dede zog fih ein gewaltiger Ballen.

Heinrich Ahrenfee fehlen fein neuer Aufenthalt gu Inter, effieren, er ging auf und nieder, befchaute fich die Stahls und Kupferfliche, bie altvaͤteriſchen, frifch anfpollerten, paras dierenden Möbel,

Waͤhrenddem fand Annuſchka noch immer fielf und un; beweglich,

Keiftine, die inzwiſchen die andern Zimmer fich angefehen hatte, fagte, als ihr bie fleife Aunuſchka jetzt auffiel:

„Das Reifen hat jegt ein Ende,”

Annuſchka ſchuͤttelte ungläubig den Kopf.

„Denke nur an bie Koffer, an nichts weiter. Pad ang.”

Mathilde lachte: „Da habt Ihe euch wirklich einen Tanz⸗ baren aufgehalſt. Onkel, warum biſt du eigentlich nicht energifch Dagegen aufgetreten? Es iſt ja ſchreclich.“

Ich halte es für fein Ungläd“, fagte Ahrenſee ruhig.

„Nun, ein Ungläd nicht gerade; aber eine Unannehmlichs feit PER / |

„Sie wird ihre Sache ſchon beforgen, laß fie und Kriftine nur miteinander fertig werden. Mir tft Aunuſchka ganz recht, fo ein Stuͤck Heimat!”

„Aber ein unkultiviertes.“

„Gottlob“, ſagte Ahrenſee. „Du weißt ja, Ich bin auch unkultiviert.“

In dieſem Augenblick erſcholl die Treppe herauf ein gleich⸗ maͤßiges Geſchrei, kam naͤher und naͤher tief, eintoͤnig, klagend ein Geſchrei, dem wir in dieſem Kapitel ſchon ein⸗ mal begegnet ſind.

„Bimm bimm!“ ſagte Mathilde frohlockend, ging zur Tuͤr, öffnete fie das Geſchrei drang gewaltig herein,

sr Böhlau III. 321

und draußen fland Fran Majunke mie Bimm Bimm, der ihe am Rode Bing und biefen auf das firafffie fpannte, denn Bimm Bimm beabfichtigte offenbar, nicht näher gu freten.

Frau Majunke begrhßte mit einem füßen Lächeln Heren Ahrenfee und wendete dann ihre volle Aufmerffamfeit auf Mathilde: „Engelskind,“ fagte fie zaͤrtlich, „komm jest gu ung herunter. Verzeiben Sie”, wenbete fie fih hoͤflich an Heinrich Ahrenſee duch die Tuͤrſpalte weiter kam ſie nicht, Bimm Bimm zog aus Leibeskraͤften am Rock.

„Ja, Teuerſte, Beſte, augenblicklich“, ſagte Mathilde liebe⸗ voll und mit ſo warmem Herzenston, wie Heinrich Ahrenſee ihn noch nicht an ihr vernommen hatte. Bald darauf waren Mathilde und Frau Majunke miteinander verſchwunden. Das Geſchrei entfernte ſich, tief, eintoͤnig und klagend. Schließ⸗ lich hoͤrte man nur hin und wieder noch einen entfernten, langgezogenen Ton und manchmal etwas etwas ganz Eigentuͤmliches eine Art Geheul, nicht recht Erklaͤrliches; aber dumpf, ganz dumpf.

Ahrenſee ging in Gedanken auf und nieder. Es war ihm nicht wohl, er fühlte fich erregt und abgelpannt, die Reiſe Hatte ihm nicht gut getan. Kriſtine ftellte zwei brennende Lichter auf den Tiſch, weil das immer troß ber Lampe däfter ausſah, und wollte eben wieder geichäftig aus ber Zür gehen.

„Bleib/ doch hier”, fagte Ihe Vater, und gleich baranf lag Keiftinens blonder Kopf an feiner Bruſt.

„Einem alten Menfchen wird dag Meilen fauer, die Fremde tft nichts mehr für Ihn. Wir wollen ung hier eine Heimats⸗ ede machen wir beibe!”

„Ja,“ fagte Krifline „hätten wir nur unfer Boot und die See, und den Garten, und alles miteinander auch gleich bier.“

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„Siag’ mie etwas Sing’ deine Kylliki.“

Sie faßen jet miteinander auf dem fteiflehnigen Sofa.

„Nun ?” Feng Ahrenfee. SKriftine fah ihn mir großen, ers ſchreckten Augen an.

„Deine alte Kylliki.“

„Etwas anderes

„Bas du will, Aber was haft du denn gegen die Kylliki?“

Kriſtine ſchuͤttelte den Kopf leicht und machte ſich von ihrem Vater los ſaß eine Weile ganz ſtill. Mit einemmal begann ſie ein Liedchen mit halber Stimme zu ſingen, faſt fluͤſternd leiſe wie ein Vogel, der ſich ſelbſt in Schlaf fingt. |

„Was tft dag?” feng fie und brach mitten im Liede ab. Es hatte wieder dumpf und fonderbar lang anhaltend viel, fiimmig geheult. „Da muß etwas gefchehen fein”, fagte fie aͤngſtlich. „Es iſt fchon Hfters fo geweſen. Haft du’8 noch nicht gehoͤrt? Es klingt fo angſtvoll.“ Und mit einems mal begann fie gu weinen, ihr ganzer Körper wurde von biefem Weinen burchzittert.

Ihr Vater zog fie an fich, hielt ihren Kopf gwifchen feinen Händen, aber fie wendete fih von Ihm ab.

„Bas iſt die? Biſt du müde? Haft du dich erfhrede? Sei ruhig!” fagte und frug er bewegt. „Es tft ja nichts, Unten wohnt die fonderbare Perfon. Gott weiß, was fie treiben! Es find viele Kinder da denke nur, wie ber eine einzige fchrie!”

„Jawohl“, erwiderte Kriftine unter Tränen lächelnd,. „Aber es Hingt fo augſtvoll fo” Kriftine ſchuͤttelte den Kopf und verbarg das Geſicht in den Händen.

Da erfholl e8 eben wieder dumpf und droͤhnend das Gehen! kroch wie an den Wänden herauf, Türen wurden gefhlagen, Benfler geöffnet. Das Geheul Hang jest ans ben offenen Fenſtern ing Freie In bie Nachtluft

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hinaus. Es ſchien vom Hof ober Garten herzukommen. Ein Trappen, Rufen, Treten auf der Treppe, eine befehlende Männerfiimme, eine fehr hohe Stimme das War Frau Majunkes Stimme und wieber das Geheul. Es ſchien, als ſollte Ahrenſee gleich am erſten Abend in die Geheimniſſe des Najunkeſchen Hauſes eingeweiht werden.

Jetzt kam Annuſchka aus dem Nebenzimmer geſtuͤrzt, dentete mit beiden Haͤnden auf bie Diele und rief:

„Was tft das? Teifel unten fchreien Teifel! Kind nicht erſchrecken. Alles verrädt hier. Anders wie zu Haus. Warum fort fein! zu Haufe fehr gut Haben geweien fein ! Leute in Säden sum Feuſter beransgefchafft worden feind, geſchaut haben ich.“

„Seh, Annuſchka“, ſagte Ahrenſee.

„Was! Kind weint?“ rief Annuſchka, laut und drohend, „Kind noch nie geweint haben, nur bei verfluchte Teifel, hier im Haus!“

In dieſem Augenblick Hopfte es aͤußerſt ſittſam an die Zimmertuͤr.

Vor der Tuͤr ſtand ein langer Junge von fuͤnfzehn Jahren, ſchmaͤchtig und gelb.

„Eine ſchoͤne Empfehlung von Mama und Papa,” ſagte er verlegen, „und Ste möchten entfchuldigen, wenn es nicht ganz ruhig war, aber wir werben gerettet.“

„Bas werdet Ihe?“ frug Abrenfee.

Da ſchaute der Junge ihn verbläfft an und ermwiderte, indem er die Augen feft auf feine Schuhfpigen bannte:

„Wir werben Sonnabendbs alle vierzehn Tage gerettet, ober alle vier Wochen, wegen dem euer, damit wir’s eins mal können.”

„sch verfich’8 zwar nicht, aber das ſcheint Ihr ja gu können”, fagte Ahrenfee. „Komm einmal her, Kriftel, und fieh die einen von den Schreihälfen an.“

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Keiftel fand ſchon neben ihm. Ste war bleih und fah müde aus,

Feſte Schritte kamen eilig bie Treppe herauf.

Mathilde Swenfen war es.

„Johannes!“ rief fie. „Ste find alfo noch auf. Ich wollte euch fragen, ob ihr einen Augenblid mit hinunter kaͤmt, es iſt zu intereſſant. Vor Majunkes braucht ihre euch nicht zu genteren, das find die zwangloſeſten Menfchen, die man fi benten kann. Es werden unten Feuerwehruͤbungen gemacht. Das Habt ihr auch noch nicht gefehen. Die Kinder find noch alle auf.

Nicht wahr, Johannes, alter Junge?” frug fie und legte um die Schulter des fchmächtigen Knaben ihren prallen, ftaubfarbenen Arm.

„Uber bitte, fommt, gerade werben wieder welche im Sad aus dem Fenfter gelafien!

Mathilde Swenfen war auf das jugendlichſte eifrig im Gegenſatz sn dem ſchmaͤchtigen Johannes, der Die ganze Ges ſchichte truͤbſelig aufzufaſſen fehlen.

Mathilde ruhte nicht, bis ſie im Verein mit Johannes, Ahrenſee und Kriſtine die Treppe zu Majunkes hinabzog.

Ihnen nach ſchluͤpfte Annuſchka, geraͤuſchlos und geduckt wie eine ſchwarze Katze.

Es war ein gehoͤriger Laͤrm, und bei jeder Stufe, die ſie hinabſtiegen, verſanken ſie gewiſſermaßen tiefer darin.

Als ſie unten augekommen waren, befanden ſie ſich in einem Wirbel von Stimmen und Gepolter. Alle Tuͤren ſtanden auf.

Alles lief durcheinander, und ſie waren, ehe ſie es ſich verſahen, in einem großen duͤſtern Zimmer angelangt, in dem es hin und her Kufchte, in dem gefchrien und ges rufen wurde, wie jedenfall in allen andern Zimmern bei Majunkes auch.

Bon der Dede herab Bing bie Urform einer einfachen

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Blehhängelampe, die ein fehr mäßiges, verräuchertes Licht um fich ber verbreitete. Eine ganze Anzahl von fihmalen Betten ſtand in diefem Raum, hoͤlzerne und eiferne.

Die Bettücher waren in Unordnung geraten, hingen und sipfelten an allen Eden und fahen nichts weniger als bläten; weiß aus. Mit den mißfarbigen Bettdecken fchienen fich bie Majunkeſchen Kinder geworfen gu haben.

Mathilde führte die Säfte in das Wohnzimmer; mitten darin fand Herr Profeſſor Majunke in Hemdaͤrmeln, eifrig befchäftigt, einen Knaben in einen Sad zu fieden, drei andere Sprößlinge hielten den Sad offen, nach Herzensluſt Rufe, Schreie und Töne aller Art ausftoßend. Der Sad war an einer Leine befeftigt und wurde mitſamt feinen Inſaſſen auf das Fenfterbrett gehoben und von ba in ben Garten, nicht allzuhoch, herabgelaſſen. Indeſſen flürsten welche von den Nangen mit Bligesfchnelle die Treppe hinab, um den aus dem Fenſter Befdrderten unten in Empfang zu nehmen.

Jetzt erſt begruͤßten Herr und Frau Profeſſor Majunke noch ganz erhitzt die Eintretenden.

Frau Majunke ſagte ſehr artig: „Wiſſen Sie, mein Mann hat fo großes Intereſſe an der Feuerwehr, des⸗ h alb ya

Diesmal hing Bimm Bimm nicht wie gewöhnlich am Node feiner Mutter und bruͤllte; es fland aber etwas Uns beftimmtes, Unbegreifliches mitten Im Zimmer und tat dag, was Bimm Bimm unter allen Verhältniffen tun mußte, bies Unbeftimmbare, Unbegreifliche brüllte, und zwar ganz in Bimm Bimms Manier.

Es war ein Sack, der in Hoſenbeine verfief, das heißt, in zwei von allen Seiten gefihloffene Säde, in denen ein paar Beine zu fleden fihienen. Dben war der Sad zugefchnärt und bildete eine handliche Duafte Ein Städ umter diefer Quaſte waren ein paar runde Löcher gefchnitten, wie bie

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Yugenlöcher in einer Bemrichtersfappes und ans biefen Löchern im Sade bligten auch wirffich ein paar Augen wütend heraus, und unter der Sadauafte bewegte fih ein runder Kopf, und alles übrige war von einem flämmigen Körpers hen ausgefüllt.

„Darin ftedt Bimm Bimm“, fagt Herr Profeſſor Mas junfe, nahm den Sad an ber Quaſte und hielt ihn Hoch, während Bimm Bimm wütend zappelte und fehnidte und ſchrie.

„Dieſe Einrichtung habe ich ſeit kurzem getroffen, und wir find beide eingenommen dafür” das heißt nicht Bimm Bimm und Herr Majunke, fondern Herr Majunfe und Frau Majunke.

„Bricht ein Feuer aus, wird ſolch ein Kind einfach in einen derartigen Sack geſteckt. Ein jeder kann es ſo auf das leichteſte an der Quaſte transportieren, ohne es zu erkaͤlten; ſelbſt einem Kind wäre dies möglich, und follte der Sad während des Transported verloren ober vergeflen werben, fo kann es fich vortrefflich weiter helfen.

„Petrus!“ rief Majunke, „ſchaff Bimm Bimm fort!”

Sogleich ſprang ein duͤnnes Juͤngelchen vor, einen halben Kopf groͤßer als Bimm Bimm, das faßte ohne weiteres den Sack an der Quaſte, ſchleifte ihn mit Anſtrengung, aber unaufhaltſam, trotz Bimm Bimms Gebruͤll zur Tuͤr hinaus wohin, das blieb unaufgeklaͤrt, doch nach geraumer Zeit ſtand derſelbe Sack mit demſelben Inhalt wieder mitten im Zimmer und bruͤllte immer noch aus Leibeskraͤften und ſchrie Immer dasſelbe: „NIE mis anlangen! NIE mis ans langen !”

Here Ahrenfee erfundigte fich, weshalb Bimm Bimm nur allein fo gluͤcklich fet, folch einen Sad zu beſitzen.

„Zufall“, fagte Frau Profeſſor Majunke eifrig. „Ste follten alle ſolche Säde haben, bie Geduld aber reichte nicht aus. Vielleicht kommts noch.”

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In diefem Augenblid kamen zwei Knaben herein, gelb, müde, uͤbernaͤchtig, rüdten jeder einen Stuhl an den Tiich, legten Bücher und Hefte Iäffig auf, und ber eine ſchnappte an dem Dedel eines Tafchentintenfäßchens gedankenvoll und tenbfelig auf und nieder.

„Run, wird/s bald?” fagte Herr Majunke.

Da faßen die beiden armſeligen Burfchen mitten im Spektakel, verftopften fih mie ben Fingern bie Ohren und fiedten die blaffen Nafen in die Bücher.

Das alles fpielte fich in wenigen Augenbliden ab.

Müde und abgefpannt famen Vater und Tochter nah diefem Genuß in ihrer fillen Wohnung an.

Die Lampen waren indeſſen wieder angezündet, und es ſah leidlich wohnlich aus, wenn man einen Vergleih mit Majunkes Etage anftellte,

Ahrenfee kuͤßte fein Kind, che er es entließ, und fchättelte lächelnd den Kopf.

„Geh,“ fagte er, „morgen erzahlen wir uns einander von dieſen Kaͤuzen.“

Bald war im ganzen Hauſe tiefſte Stille.

Nur eine Haͤngelampe brannte trüb über zwei muͤden ungen, die wegen ber Feuerwehräbung ihre Schularbeiten in fpäter Nachtſtunde nachholen mußten.

Sie faßen überbürber und truͤbſelig und ſchauten mit den bleichen Nafen mißmutig in ihre serarbeiteten Schuls bücher.

Und dag Treiben bei Profeflor Majunfes fette fich aben⸗ teuerlich und ſpukhaft in den erſten Träumen ber Neuange⸗ fommenen fort.

Ben der Villa wurde der neue Weltbürger mit taufend as Sorgen erwartet.

Frau Uhrenfee sing oftmals finnend im Haufe umher; es war Ihr darum zu fun, etwas su finden, was fie hätte in

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Ordnung bringen können. Sie hatte fih vorgenommen, auf allen Gängen Teppiche legen zu laſſen, aber fand feinen Fußbreit im ganzen Haufe, der nicht nen und weich bededt geweſen wäre. Sie hatte fih vorgenommen, Tuͤren und Schlöffer auf dag forgfältigfte oͤlen zu laſſen, fand aber gu ihrem Verdruß, daß keine Tür, fein Schubs fah auch nur ben allerfeifeften Ton von fih gab; fie verfuchte und Horchte, fand aber nicht das geringfte zu ändern und zu beflern. Das machte Sean Ahrenfee ganz nervös und verſtaͤrkte ihre forgenvolle Erregung, die duch nichts abgeleitet wurde, fo daß fie bei hellem Tag Ges fpenfter aller Art (ab, fih mie Befuͤrchtungen quaͤlte, auf Vorahnungen lauſchte und es ihr mitunter ſchwer wurbe, ber Tochter ein unbefangenes, heiteres Geſicht gu zeigen.

So fam ber Tag, an welchem Frau Ahrenfee auf einen Augenblid zu Ihrem Mann kam, gerade nur auf einen Augenblick, bee ſoviel Zeit gab, ein paar Worte tiefbewegt zu flüftern, die Hand zu druͤcken, eine beforgte Entgegnung su hören, und wieder davonzueilen.

In das hohe Giebelhaus, in dem Heinrich Ahrenſee und Kriftine wohnten, hatte der ſchwuͤle Auguſttag die Sorge und das Ausfchauen um Nachricht eine fehwere Stimmung gebracht. Stunden auf Stunden vergingen.

Heinrich Ahrenfee wanderte ſchweigſam in feinem Zimmer auf und ab.

Er trat an das Fenfter und fchaute dem Gewitter ent; gegen, das fih über den Bergen dunkel sufammenzog. Annuſchka war eben Dagemwefen, und er hatte von ihr erfahren, Daß es noch immer nicht gut ſtaͤnde.

Gern wäre er felbft nach der Villa gegangen, fühlte fich aber zu krank. Die Reiſe Hatte ihm nicht wohl getan, feit Wochen konnte er fich nicht Davon erholen, empfand fein Leiden heftiger und ununterbrochener denn je.

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Der berühmte Arzt, den ee hier konfultierte, hatte ihn ſofort mit großer Sicherheit ben lateinifchen Namen feines Leidens genannt und Ihm damit bie Gewißheit der Uns beilbarteit und des nahen Todes gegeben, ein einziges Wort, Das er fehe wohl kannte und das Ihm oft in fchlafs loſen Nächten beaͤngſtigend vorgeſchwebt. Bon num an hatte das Morgenlicht und die hellfte Sonne nicht die Mache, diefes Wort aus dem bedrüdten Herzen aussuldfchen.

Er wußte, daß er noch eine Heine Welle gequält und Immer gequälter leben wärbe. Er wußte aber auch, daß irgendeine Kleinigkeit genügte, das gefürchtete und doch erfehnte Ende raſch herbeisuführen.

So ſchaute er zu, wie ſich die Gewitterwolken ballten, hörte ben fernen Donner, und ſchwuͤl umgab ihn die Atmoſphaͤre feines Zimmers.

„Arme Menfchen,” fagte er vor fih Hin, „arme Men; (hen! Arme angefreffene Menfchen. Nun wirb wieder ein folder Narr geboren mit Dualen, um in Dualen zu leben und zu fterben.”

Bor Ahrenfees Augen sog das Leben vorüber in dunkeln, fihweren Zügen. Das Gewitter kam näher, bie Wolfen wälsten fih maffig über die Gipfel der Berge hin.

Bolle, warme Windftöße fuhren gegen das Haus und drangen bis in das dumpfe Gemach.

Er fah bie Leute auf ber Straße eilen. Jedes wollte vor Ausbruch des Wetters ans Ziel kommen.

„Ss fehen fie ganz wohl aus, als wär's in befter Ordnung mit ihnen!” dachte Ahrenfee.

„Iſt auch in beſter Drbnung. Jeder trägt ben Todes; keim in fich, wie ſich's gehdrt, denn in einer kurzen Spanne Zeit iſt mit ihnen allen gründlich aufgeräumt. Bis dahin muͤſſen die, die jeßt hier laufen und alle Millionen ber Erde zerfreſſen, germartert, zermalmt fein, jeder auf feine Weiſe.

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Arme Menfchen! arme Menfchen!

Und nicht genug, baß die Natur an ihnen frißt und jeher, fie hinſchmelzen läßt unter Qualen; fie tun’8 ber Natur nach, fehen es Ihr ab, quälen einander, einer ben andern und fo geht's fort ohne Aufhären, ohne Ende.”

Die ſchwuͤlen Windftöße fuhren ins dumpfe immer hinein und ber Donner rollte. Die Wolten ftürmten Immer noch dahin, ohne Megen zu bringen.

Heinrich Ahrenfee blidte mie dem ruhigen Gebanten in das Sturms und Woltentreiben, daß er bald von biefer Erde fcheiden muͤſſe.

Er (Haute in das Nebenzimmer nach Kriftine aus, ihn verlangte nach ihr. Ste waren fich in diefen ftillen Wochen, in denen fie mehr als je aufeinander angewiefen fein mußten, noch weit näher gekommen. Keiftine ſchien ihm unentbehrlich geworden zu fein. Ein heiteres, hoffnungsvolles Lächeln von ihr, die von dem Urteil des Arztes nichts wußte wie auch niemand fonft außer ibm ſelbſt tat ihm wohl.

Bisher war fie ihm das Kind gewefen, fein liebes Kind. Er hatte fie fich nicht anders als harmlos frob denken können. Fett, wie er fie faft ununterbrochen um fich hatte, empfand er, fie Harte fich in etwas noch viel Lieblicheres umgewandelt: in etwas Tröftliches für Kranke, in etwas Verfländiges, Ruhiges für Leute, die verfianden fein wollten, in etwas Helfendes für alle, die Ihrer bedurften. Ihrer Heiterkeit war ein fremder, ſtiller Zug beigemifcht es war nicht mehr die alte Kinderheiterkeit, Die ibn fo ſehr an ihr entzuͤckt hatte. Heinrich Ahrenſee konnte dieſen Schmergenssug, ber hin und wieder zutage feat, nicht recht erflären. War es das ahnungs⸗ volle Erkennen feines nahen Todes? war es Mitleiden mit ihm? er wußte e8 nicht. Diefer Zug In Ihrem Weſen mochte wohl auch nur für ein forgendes Auge wahrzunehmen fein. Er drängte fih nicht vor. Kaum war ein Augenblid am

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Tage, daß fie nicht bei ihrem Water, bei Mutter und Schwefler und da unten in dem armieligen Durcheinander helfend bes fhäftige war. Dort mochte fie wohl der erfte helle, ruhige Stern fein, der diefen Gefchöpfen aufging.

Und auch jetzt waren die Kinder wieder bei ihr.

Das Gewitter hatte fich inzwiſchen kraͤftig entwickelt, die Windftöße waren naß und kuͤhl geworben. Die Blige sudten, der Donner rollte und der Regen troff mächtig nieder.

Als der Kranke in Kriſtinens Zimmer eintrat, fand er fie mitten unter ben Kindern; Bimm Bimm faß auf ihrem Schoß und hatte ben Kopf an Ihren Hals verfiedt, aus Sucht vor den Blitzen.

Keiftine erzählte ihm und ben andern. Die drei größten Buben waren ihren Schularbeiten entlaufen, um mit sus subören, und hielten Buch und Seberhalter in den tintigen Fingern.

Annuſchka kam angeſchlichen und melbete Frau Müller, Sefatieina Alexaͤndrowna —, die eben troß des Gewitterg vorgefahren war.

Jekatirina Alexaͤndrowna begrüßte Heinrich Ahrenſee auf eine weiche Art. Sie wußte, baß er ein aufgegebener Mann fe. Bet Profeſſor Henneberg waren fie einander begegnet und ſchienen fich gegenfeitig ſympathiſch zu fein.

Jekatirina Alexaͤndrowna ſtrich Kriſtine, die ben einges ſchlafenen Bimm Bimm auf den Armen hielt, uͤber das Haar und ſagte zu Heinrich Ahrenſee gewendet: „So ein Blondkopf! Es iſt etwas Eigenes um dieſe Blondkoͤpfe; wenn ſie die rechte Art ſind, ſo hat man mit ihnen einen Sonnen⸗ ſtrahl im Zimmer. Aber es muͤſſen die rechten ſein.“

„Sie iſt ein rechter“, ſagte Heinrich Ahrenſee.

Kriſtinens Augen aber hingen geſpaunt durchdringend, angſtvoll, forſchend an Jekatirina Alexaͤndrownas Zuͤgen. Sie wußte es ja, weſſen Schweſter dieſe gealterte Frau war.

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Sie hätte Ihr mit einem Aufichrei an die Beuft finken mögen, Sie hätte vor Ihr hinknien mögen und bitten: „Sag’ mir von ihm! Sprich mir von Ihm! Wo iſt ee um Himmels willen ?”

Aber ber tapfere Blondkopf wurbe ber fie Abermwältigenden Erregung Herr. Es war nur ein Augenblid, dann ſchauten ihre Augen wieder ruhig.

Jekatirina Alexaͤndrowna blickte nachdenklich auf dag junge Mädchen, als hätte fie den eigentämlich angſtvollen Bd, der auf fie gerichtet war, bemerkt. Als fie fih nach der jungen Frau erfundigt hatte, fagte fie gu Heinrich Ahrenfee gewendet:

„Wir beiden alten Weltverächter fehen ber Geburt von f9 einer armen Eintagsfliege mit größerem Mitleid ent, gegen als die allermenſchenfreundlichſten Herzen. Nicht wahr? Es foll nur vernünftig fein und nichts Beſonderes werben. Solche Leute kommen buch die Welt. Wozu foll man einem Kinde Dinge mwünfchen, die für biefe Welt ver; berblich find, etwa ein weiches Herz, oder ein tiefes Gemuͤt, oder einen großen Hang zur Wahrhaftigkeit oder dergleichen. Blinde, die fo etwas Ihren Kindern wänfchen Finnen oder fih freuen, wenn fie dergleichen entdeden! Arme Kinder, euer Meich iſt nicht von biefer Welt, und fie follen doch bier gerade Fuß fallen.”

Keiftine blidte Jekatirina Alexaͤnbdrowna mit großen Augen an. Es war sum erfienmal, daß fie einen Menfchen fagen hörte, es wäre befler, nicht wahr zu fein, es wäre befler, fein weiches Herz zu haben. Und die es fagte, war Kers Schwefter. Und Kers Schwefter hatte dies mit folch warmer Stimme ges fagt, fo ruhig umd einfach, daß man hätte meinen koͤnnen, fie hätte gerade vom Gegenteil gefpeochen,

Und Ihe Vater hatte su dem, was Jekatirina Alexaͤndrowna meinte, genickt, ihe eigener Vater!

Die Stimme aber, mit ber Selatirina Alexaͤndrowna Die

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neue Botfchaft verkündete, hatte es Kriſtine angetan. Er⸗ innerte diefe Stimme fie an Kers Stimme?

Kriſtine lauſchte mit angehaltenem Atem, und ihre war, als verfänfe fie rettungslos in ein Meer von Sehufucht. Aber nein, nein, nein! Sie wollte nicht verfinten, fie durfte nicht, und wieder kaͤmpfte fie ſtark und tapfer und fiegte wieder über ſich ſelbſt.

Heinrich Ahrenfee hatte den erſtaunten, fragenden Aus⸗ druck feines Kindes bemerkt und ſagte zu Jekatirina Alex⸗ ändrowma:

„Wir haben ba eine Zuhoͤrerin, die fich jet Aber ung ihre Gedanten macht. Nicht wahr, Keiftel?”

„Ja,“ fagte fie leiſe, „ih glaubte, Wahrheit wäre das Beſte.“

„Fuͤr Engel“, unterbrach ſie Jekatirina Alexaͤndrowna.

Jekatirina Alexaͤndrowna faßte Kriſtinens Hand.

„Armes, kleines Lamm“, ſagte fie.

In dieſem Augenblick trat wie durch einen Zauber vor ihre Seele das Bild Ihres Bruders Dmitri, und fie erinnerte ſich, daß er bei Ahrenſees ein paar Tage geſteckt haben follte. Bon ihm felbft hatte fie, feit er von Jena fort war, nichts mehr gehört. Und wie Dmitris Bild in ihrem Herzen aufs tauchte, war’8 Ihr zumute, ald müßte ber junge Blondkopf auf Ihren Bruder Eindrud gemacht haben. Sie erinnerte fih, daß er fhon von der Schönheit der Schwefter gefprochen hatte, ber naͤrriſche Schwärmer, trunken ohne Wein und vers liebt ohne Mädchen, diefer Woltenläufer! fo dachte fie. Wenn bag Leben ihn einmal gu paden bekommt! Möchte willen, ob er fich bewäber.

„Wie tft e8 denn,” feug Jekatirina Alexaͤndrowna, „ber unge, ber Omitei, war bei Ihnen und ging nach Peters⸗ burg zuruͤck? Ich verfiehe nicht, er hat mir nicht gefchrieben, die ganze Zeit nicht —“

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„Nicht nach Petersburg zuruͤck,“ entgesnete Ahrenfee, „nein, er hatte eine Meife vor fih um die halbe Welt, zum Amur. Ich glaube, ee ging ale Gehilfe des Gouverneurs oder im befonberen Auftrag. Ein wichtiger Poften für einen fo jungen Mann.”

„So weit?” fragte Jekatirina Alexaͤndrowna.

„Se blieb nur zwei Tage, glaube ich, und mußte dann an Bord. Das Kriegefchiff, mit dem er ging, hatte bei ung angelegt.”

„Se bat Ahnen nicht gefchrieben?” frug Keiftine kaum hörbar, während fie Bimm Bimm, der erwacht war, von ihrem Schoß gleiten ließ. Sie war erbleicht.

Was iſt da vorgegangen? dachte Jekatirina Mleräns drowna und fchaute vor ſich hin.

„Iſt er, wie foll ich fagen zufrieden gegangen ?”

„Das ſchien mie ſo“, antwortete Heinrich Ahrenſee. „Er fagte mir, daß er hinaus in die Melt wolle, baß er ars beiten wolle, ald er Ablchied nahm. Deshalb Habe er die Stellung, die fih ihm bot, faſt ohne Beſinnen ans genommen.”

„Dhne Befinnen”, faste Jekatirina Merändrowna lang fam und blidte auf Kriftine, als wollte fie von ber das Wahre erfahren.

Keiftine aber ſchwieg. Was fie wußte, war in ihrem Herzen begraben, und fie dachte, Ker werbe feinen Grund haben, weshalb er nicht ſchrieb. Uber es zog fie mächtig hin gu feiner Schwefter, fie hätte ihr die Hände küflen, ben Kopf an bie Beuft ber ernften Frau legen und fich Ihr vertrauen mögen.

In diefem Augenblid tat fih die Tür auf, und Frau Ahrenfee feat mit rotgeweinten Augen, ben Hut nicht mit der an ihr gewohnten Sorgfalt gebunden, eilig ein. Heinrich Ahrenfee fuhr merklich sufammen und wurde bei dem Ans blicke feiner Frau bleich.

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„Es iſt ein Tächterchen!” fagte Frau Ahrenſee. „Es ift alles viel befler gegangen, als wir bachten.” Damit fant fie mit beiden Armen ihrem Mann um den Hals. „Aber wie foll man fih Aber ein Geſchoͤpf frenen, das mit folhem Sammer auf die Welt gebracht wird? Die arme Dlga, wie werben fie noch lange, lange frank haben.” Damit brach Frau Ahrenſee in heftiges Weinen aus, die Erregung, die Angſt des sangen Tages machten ſich jest bei ihr

eltend

g .

Heinrich Ahrenſee Tieß fie fih ausweinen.

„Die Kinder leiden zu ſehen, das iſt doch das härtefte auf Erden!” fagte Frau Ahrenfee mit von Tränen gebrochener Stimme und ftrich Kriſtine, während fie das fagte, zaͤrtlich über die Wangen, fo muͤtterlich ſchuͤtzend.

„Sicht wahr, meine Keiftel, du bleibſt bei ung ? du Herzens⸗ ind” ſchluchzte fie.

Zweites Kapitel

Nr der Billa war nach ſchweren Krankheitstagen und as Wochen endlich wieder Genefung eingelehrt. Der Eins druck, daß der Tod nahe daran gewefen war, über bie polierte, teppichbelegte Treppe zu fchreiten, begann fich ſchon wieder zu verwifchen. Das Leben blähte zart in ber eleganten Kinbers ſtube, wo im zierlichſten Behälter unter Spigen und febers leichten Bettchen ein winziges, warmes Körperchen lag, das den hellen, reihen Raum, ber unbewußte Tage behütete, mit jenem füßen, warmen Dufte gart erfüllte, ben ein reines, wohlgepflestes Menſchenknoͤſpchen ausſtroͤmt.

Dies winzige Dingelchen, ſo winzig es war, beherrſchte ſchon das Haus. Sein Stimmchen war Befehl fuͤr alle Welt, ſetzte die dicke Amme in Trab, ließ alle, vom geheiligten Studierzimmer bes Schriftſtellers aus und vom Boudoir der jungen Mutter, von der Kuͤche und vom Keller aus auf⸗ horchen. Wie von einem Zaubermantel durch bie Luft ges tragen war die Großmutter Ahrenfee beim allererfien Laute Immer fchon zur Stelle, wenn man fie firaßenweit vom Hanfe glaubte. Ste hatte dem Enkelkindchen laͤngſt ſchon vers geben, daß es ihrem eigenen Kinde fo ſchwere Not gebracht Hatte. Ihr Geſicht war von einer mätterlichsgeoßmätterlichen Zärtlichkeit wahrhaft verflärt, wenn man Ihre das zarte Ding ein wenig ließ, das weiße Bündel mie dem wunderweichen, warmpulfierenden Köpfchen, dem fenchten, Heinen Maul, den taufrifchen, flinfen Augen.

Es gelang Immerhin für Frau Ahrenfees fehnfüchtiges Herz felten genug, das Heine Geſchoͤpf zu erhafchen, denn da war bie Kinderfran, eine ungeheuer würdige Perſon, ein wahrer Feldherr von Kinberfrau, gegen die Frau Ahrenfee mit ihrer langſamen Sprechweife nichts ausrichten konnte, ja e8 gar nicht verfuchte; fie hielt es nach ihrer Art von vorne berein für unmoͤglich. Und da war die Amme, die Perl;

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von einer Amme, bie in der Billa ein Leben führte, Halb wie eine Prinzeß und Halb wie ein Maſtſchwein, und buch diefe Berbindung zweier gebeiblicher Lebensweifen auf alle Art ins Bett ſchoß.

Here und Frau Profeſſor Henneberg hielten fie beide für unbezahlbar, denn das Keine gedieh au ihrer Bruſt, wie man es fi nicht beflee wänfchen konnte.

Die Amme nahm alle Liebenswuͤrdigkeit fühl entgegen, das Kuhhafte ihrer huͤbſchen drallen Perfönlichkeit ließ nicht suche Teiühiöhußerung zutage freien als ein guäbiges Se—

Auf Gran Ahrenſee lag es zu manden Stunden ſchwer, ige ſchien es oft, als befaͤnde fich Ihe Mann weniger gut als Daheim, er fah leidend aus und gealtert, kam felten, bie legte Zeit faft nie in die Billa. Er wollte Ruhe haben. Er gefiel ihr gar nicht, fie Hatte fi den Erfolg der Neife, bie Bes handlung der beruͤhmten Arzte ganz anders gedacht. Bon dem Ergebnis ber erfien Konfultstion wußte fie nichts. Es war ihr wie allen auf ben ausdruͤcklichen Wunfch Ahrenfees verfchtwiegen worden.

In Profeſſor Henneberg regte ſich jetzt das Gefühl, Daß es an ber Zeit fet, einige Diners und Sonpers zu geben, ges wiffermaßen als Dantopfer für die Teilnahme, bie man ihm und feiner Fran in letter Zeit entgegengebracht hatte.

Die Reihe diefer Feſtlichkeiten eröffnete die Tauffeler, die Profeſſor Henneberg in großem Stil gehalten haben wollte, Er hielt dies allerdings für etwas altvaͤteriſch, aber gut in den Rahmen des Stäbtchens paflend.

Bei dem Taufakt, der unter Palmen und erotiichen Ges wächfen aus dem Treibhaus des Botaniſchen Gartens flatts fand, in dem von Blumen durchdufteten, mit allen Weihen umgebenen Saal waren bie Profeſſor Majunkes und Mas thilde Swenfen ganz am Platz; holten, als alle Säfte ſich vers fammelt hatten, mit dem Hausherrn ben Paflor auf ber

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Treppe ein und geleiteten ihn mit unnachahmlich feierlicher Miene, genau mit dem dazu paflenden Ausdrud in dag ges ſchmuͤckte Zimmer bis an das Taufbeden, und als bie Rede begann, die Gebete gefprochen wurden, während ber ganzen heiligen Handlung, da hatten unfere drei Die Sache fo im Griff, vom Haͤndehalten big zum Umherreichen des Taͤuf⸗ lings, vom Nieberfchlagen der Augen bis gu jedem Schritt und Teitt, daß die Sache ohne die Mafunfes und Mathilde Swenfen, troß allen Pruntes und allen Reichtums, hoͤchſt dilettantifch ausgefallen wäre.

Profeſſor Henneberg hatte im Taufzimmer ein Heines filbernes Raͤucherwerk aufgeftellt, das feine zarten Düfte zwiſchen ben koſtbaren Palmmwebeln verbreitete. Das war Frau Profeſſor Majunke ein Dorn im Auge und hatte ihr, wie fie fpäter ausſprach, die ganze Handlung verbittert. Fran Majunke war eine fanatifche Feindin alles Katholifchen, und dies Heine Raͤucherwerk hatte fo etwas an fih, was Ihre proteſtantiſche Nafe irritierte, trotzdem Profeſſor Henneberg nicht Weihrauch, ſondern ein zartes Veilchenparfuͤm zu feiner Näucherung verwendete.

Im übrigen war Frau Majunke von der Tauffeler fehr befriedigt. Die Einfegnung der Mutter mit dem Kinde nad ber Taufe war Ihe ein gang beionders lieber Augenblid ges wefen. Die junge Frau hatte fih fo ganz ſcharmant bes nommen, befcheiden und Doch vornehm, ganz von religisfem Gefuͤhl durchdrungen und dabei fo volllommen comme il faut gerade fo viel Ruͤhrung, tote fich zu dieſem Akt gehört, nicht mehr, nicht weniger. Sie ſchwaͤrmten beide, Frau Majunke und Mathilde Swenfen, für Heren und Frau Pros feſſor Henneberg.

Während der Tauffeier und des ganzen Feſtes war aber außer der jungen Mutter, bem Säugling, der Amme und dem Paſtor famt feiner Predigt noch eine Perſon, über bie ſich reben ließ, Kriſtine. Es war heute sum erftenmal, baß fie

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in Jena in größere Geſellſchaft kam, und Profeſſor Hennes berg konnte mit feiner Heinen Schwägerin volllommen zus frieden fein; fie machte feinem Haufe alle Ehre. Me und jung war entzuͤckt von ihr. Die jungen Leute, die man zur Taufe mitgebeten hatte, waren burch das blonde, ſchoͤne Mädchen im weißen Kleid und bichtem Roſenkranz in eine ganz uns vermutet begeifterte Stimmung geraten. In Keiftine trat ihnen eine fo frifehe roſige Schönheit entgegen, ein warmes, ruhiges Benehmen finderhaft gleichmäßig, nie verlegen und saghaft und auch nicht Abermätig und vorlaut. Es war f9 eine ganz ruhige und Hare rt, die ihe Benehmen aus⸗ geichnete, und es ſtand ihr alles, was fie auch fagte und Lat.

Profeſſor Henneberg fagte zu feiner Schwiegermutter:

„Wirklich, Eure Kriſtine iſt ein ganz herrliches Mädchen ges worden, fo ein reines Nordlandskind.“

Was fih Profeſſor Henneberg gerade unter biefem Aus⸗ fpeuch vorfiellte, war nicht recht Harz; aber er fagfe es in ftebenswärdiger Weinſtimmung.

Frau Ahrenſee nidte gu bem, was Ihe Schwiegeriohn bes merkte: „Ja,“ meinte fie, „fe ifE noch ein Kind, noch ein Kind Im Herzen, und das iſt's, was fie fo liebenswuͤrdig macht. Es kommt kein unwahres Wort Aber ihre Lippen.

Während ber Tafel wurde viel getoaftet. Auf den Heinen Meltbürger, auf bie junge Mutter, auf den Vater des Kindeg, auf den Geiftlichen, auf die Paten, und Profeſſor Henneberg gedachte in einer wohlgefesten, Heinen Rede feines teuern Schwiegervaters, der leider buch ein Unwohlfein, das ſchon einige Zeit andaure, an ber Mitfeier dieſes Tages verhindert fei und er forderte Die Anweſenden auf, mit ihm auf dag Wohl und die baldige Wieberherftellung dieſes vortrefflichen Mannes anzuftoßen. |

Diefer Aufforderung wurde auf das bereitwilligfte und verbinblichfte nachgefommen. Man erhob fih allgemein und es besann ein Wandeln und Steömen und Kleiderranfchen

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den: Pläben ber Familienglieder zu. Zuletzt fand man fi bei Keiftine ein und fprach ihr allgemein das Bebauern aus, Daß der Herr Papa gerade heute leidend fein mäfle, und gab die gang und gäben Troftworte, von vorzuͤglicher Wirkung der Luft, baldiger Bellerung und dergleichen ab.

Die jungen Leute legten in ihre Fragen und Außerungen beſonders viel Anteil und Aufmerkiamteit.

Keiftine beantwortete alle Fragen ruhig und liebens⸗ würdig; zuletzt aber sitterte ihre Stimme und fie hob bie Augen nicht mehr. Als fih alle wieder gefegt und Das ges woͤhnliche ans und abfchwellende Murmeln der Stimmen, da8 wie ein fließender Strom über einer größeren Geſell⸗ (haft Tiegt, wieder gleihmäßig in Gang gefommen war, ba traf Frau Ahrenfee ein langer fragender Blick Ihres Kindes. Frau Ahrenfee winkte Keiftine gu fich heran, und bie fläfterte ihr ins Ohr, daß fie zum Water möchte,

„Gut, mein Kind, geh’,” fagte Frau Ahrenfee leiſe „es ift mir auch Tieb, wenn du's tuſt, und er wird nicht boͤs fein, denke ich, trotzdem er fagte, ich follte dich nicht früher fortlaffen, als die andern gehen. Es ift ihm ja auch heute ſo viel, viel beſſer viel beffer. Gruͤß Ihn und fag’ Ihm, daß ich Ihn ſehr Hierher wuͤnſchte. Geh’ mein gutes Kind.“

Stan Ahrenſee ſprach wie fich felbft beichwichtigend, wie jemand, deffen Herz zweien Herren dienen muß und nicht weiß, weichem es fich zuwenden foll, Keiftine ging leiſe, unbemerkt fort. Draußen war es ſchon dunkel, ſcharfer Herbftbuft lag in der feuchten Atmofphäre, Nebel sogen über die Saale hin und verbreiteten ſich auf ben tiefgelegenen Wieſen. Die fahlen Blätter hingen feucht und ſchwer an den Bäumen, der Mond fchimmerte durch eine weiße Wolkendecke, und farbs 108, hinfterbend, mübe neigte alles, mas noch lebte von Blatt und Kraut, Gras und Srucht, fih der Erde su. Alles, was im Sommer grün und frifch gen Himmel geſtrebt hatte, lag nun, eine mobernde Dede, aus erlofchenem Leben gebildet.

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Keiftine war unbemerkt gegangen, was ihr auch leicht gelingen konnte, da alle im Haufe vollauf beichäftigt waren.

fiber ihren Roſenkranz hatte fie ein leichtes Tuch geworfen und ihre Geftalt umhuͤllte ein weicher Mantel, So ging fie langfam und wie ermattet ben filllen, herbſtfeuchten Weg, der von ber Billa zur Stabt führte,

Da hielt fie ihre Hände mie einem Male feft zuſammen⸗ gefaltet an das Kinn gepreßt, eine Bewegung, bie tiefes Weh ratloſes Angfigefühl ausdruͤckte. Wäre jemand Kriſtine begegnet, fo hätte der nimmermehr geglaubt, daß dieſes in fih verfuntene Mäbchen aus jenem heil erleuchteten Hans fomme, daß fie die um alle freundlich beforgte, aufmerk⸗ fame Tochter des Hanfes fet, das ruhige Mädchen, an deren fiillee Anmut aller Augen gebangen.

Mit einem Male blieb fie ftehen, hob den Kopf, und ihre ‚unge Geftalt richtete ſich fer auf.

„Herr, mein Gott. Ich tue, was ich kann!“ fagte fie. „Ich tue, was ich verfprah! Auch weiter auch länger. Mir iſt fo angft fo angft!” fläfterte fie mit unterbrüdter Stimme und biidte hinauf nach dem bleihen Himmel als müßte von da aus ein guter Freund, der bie Hände über fie breitete, ihr antworten, ein Freund, der ihren Kummer, ihre Sehnfucht, ihre angftuollen, dunkeln Gedanken fannte, Und diefen Freund fuchte fie mit großen, weit offenen Augen über fih und über ben Kalten, bleichen Herbſtnebeln.

Muͤde ging fie weiter.

Jetzt war fie an dem alten hochgiebeligen Haufe angelangt, in dem fie und ihre Vater nun fchon viele Wochen wohnten, und ging die Treppe hinauf. Bei Profeſſor Majunkes fehlen ein gewaltiges Durcheinander zu herrichen, ähnlich wie vor kurzem bei ben Feuerwehruͤbungen, nur mit bem Unters fchlede, daß der Fenerwehrläem unter dem Einfluß hoher Autorität eingenbt wurbe, und baß der heutige Speftafel

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ein nicht ordnungsgemäßer Spektalel war und dazu ein völlig unbeauffichtigter.

Keiftine blieb einen Augenblick zögernd fiehen. Sie ent ſchloß fih .aber und zog an der Schelle; man oͤffnete nicht. Sie konnten im Zimmer vor lauter Laͤrm und Gefchrei nichts hören. Kriſtine unterfhled genau Bimm Bimms tiefe Stimme. Man fehlen ihn auf irgendeine Weile unangenehm su bearbeiten. Außerbem. aber unterfihieb Keiftine noch ver; ſchiedene flöhnende, jammernde Stimmen und Stampfen, Duften und Keuchen. „Du Verbammter, Verfluchter, Vers maledeiter!” Hang eine fiharfe, uͤberſchnappende Knaben; ſtimme aus dem Chaos deutlich heraus.

Kriftine überfiel eine ſchwere Angſt, die fih mit Ihren eigenen, dunklen, bangen Gefühlen ihrer Sehnſucht ihrer Seeleneinſamkeit gu etwas Herz und Sinnebedruͤcken⸗ dem verband.

Das Geſchrei der Majunkeſchen Kinder Hang ihr erſchuͤtternd, fam ihr fo elend und fo bejammernswert vor. Sie hatte draußen vor der Tür genan den Eindruck des häßlichen, uns freundlichen Raumes, in dem bie Kinder fiedten, und daß irgendein befonberes Unglüd hereingebrochen wäre.

Sie fhellte heftiger und noch einmal und noch eins mal. Endlich harten fie gehört. Sie ſtuͤrzten heraus, und als fie Keiftine erblidten im Roſenkranz und weißen Kleid, fchrien fie durcheinander:

„Wir fpielen wir fptelen Juͤngſtes Gericht. Ein Engel! Komm nur, wir brauchen gerade einen Engel! Wir fpielen wunderſchoͤn!“

Sie zogen Kriſtine ſtuͤrmiſch mit ſich und ſie befand ſich mit einem Male in einem wahren Wirbelwind von Ge⸗ ſchrei aller Art.

„Ruhig —“ ſagte ſie immer wieder, „ruhig. Seid doch ruhig. —“ Das half aber nichts. Sie war umringt und wie von einem Polypen feftgehalten. Einige fuhren mit fpigen

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Fingern in ihre Kleidertaſche: „Mitgebraht was mits gebracht?” fchrie das ganze Knaͤuel. „Nein, jet nicht,” fagte Kriftine, „aber ihr befommt etwas. Morgen befommt the alles mögliche.”

„Hui!“ ſchrie es in den verfchledenflen Tonarten „mor⸗ gen. Heute iſt Juͤngſtes Gericht bei und. Komm nur, du mußt mitfpielen!” Keiftine wurde es angft und bange. Sie ſchaute ſich um, fie ſchaute Die Matunfefchen Kinder an, in die fie hineingeraten war, wie in ein bichtes Dornengefträpp, aus dem fie fich nicht freimachen konnte. Hatte fie einen Zipfel los befommen, hingen fie an einem andern boppelt feft und verwickelt.

Es war alles träb und troſtlos bier, ungepflegt, unzu⸗ reichend an allen Enden. Und fie fpielten Juͤngſtes Gericht zwiſchen den heransgeriffenen, gerfiampften Betten und unter ber trüben, bampfenden Hängelampe. Die unfauberen, ewwig feuchten Dielen, die befchmierten Tapeten, ber uns angenehme Dunft im Zimmer alles fo armfelig, ver; braucht.

„Zacharias!“ riefen fie, und zwei von Ihnen gaben Zacharias Nippenftöße. „Zacharias iſt der Teufel, ber fist oben auf dem Schrank und dann geht's log!”

„Alſo eins, zwei, drei! auf den Schrauk!“

Zacharias kroch wie eine Iangbeinige Spinne vom Stuhl auf den Tiſch, vom Tiſch auf den Schrank.

Als er oben faß, rief er in das Gemufel unter ihm: „Du Verdammter! Werfluchter! Wermalebdeiter! Wer iſt denn jest dran?”

„guerft bie Wollen!” rief Bimm Bimm.

„Ja 10”, fagte Zacharias auf dem Schrant, und fie fopfeen ihm mit Hallo ein paar Kopfkiſſen unter,

„Jetzt geht's Ing!”

„Bimm Bimm iſt wieder dran!“ ſchrien einige, und ſchon war Bimm Bimm gepackt und vor den Schrank geſchleift

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und gegerrt, wobet die, die Ihn zerrten, bie Zähne fletichten, fpeudelten, pufteten, Krallen machten und fi ganz fürdhters lich gebärdeten.

„Was hat er getan, den Ihr da herbringt, meine Teufel?“

„Er hat die Suppe mit Willen umgegoflen und bineins geſpuckt.“

„Haſt du das getan, du Verdammter, Verfluchter, Ver⸗ maledeiter?“ frug bee Teufel vom Schrauk herab aus ben Molten.

„Ja“, wollte Bimm Bimm rufen, aber er brachte nur einen gurgelnden Laut suftande, weil ein Teufel gerade Bimm Bimms Bauch mit den Füßen behandelte.

„— Du haft es alfo getan! dann wirft du verbrannt, und zwar gleich. Teufel! verbrennt ihn aber raſch, daß wieder ein anderer drankommen kann.”

„Wo tft denn der fromme Mann bin, der bier am Schranf ftehen muß?”

„Den brauchen wie nicht”, antworteten einige, die ſich Darüber hermachten, Bimm Bimm zu verbrennen. Es wurden Holzſtuͤce unter ihn gefchoben. „Den will feiner machen!” fehrie Johannes. „Jawohl, fo daſtehen und bie Hände falten und die Augen verdrehen, das tft fcheuglich langweilig! Wir wollen alle Teufel fein!“

Jetzt fprangen fie wütend um Bimm Bimm herum, ber fih die Augen zuhielt. Sie fadelten mit den Armen in der Luft, ſchlugen mit den Beinen aus, flediten die Zunge heraus, ziſchten und fpudten, und waren Flammen und Teufel zus glei, die Bimm Bimm verbrannten, und taten es mit folder Wut und Leidenſchaft und Hingebung, daß fie nichts mehr hörten und ſahen. Der Teufel rief vom Schrant herab: „Stoßt Ihn! Neiße ihm die Augen aus! Werft ihn tiefer ins Feuer!”

„Sp, luſtig darauf los! Die Zunge herausreißen!“ Dabei teampelte ber oben auf dem Schrank mit den Fuͤßen

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an die Schranktür, und alle johlten und hohnlachten, bis es Bimm Bimm wirklich zuviel des Guten wurde,

Mie fommen fie denn auf ſolche Greuel, diefe Kinder? Vielleicht Hatten fie ſchon ihre boͤſen Erfahrungen gemacht; vielleicht waren fie im Herzen wütend über dies und jeneg, vielleicht fühlten fieeinen ingrimmigen Efel vor ben ſchmutzigen Betten, der alten efelhaften Diele, dem alten Kaffetopf, der Unordnung im Haushalt und ben hochtrabenden Reden, den fintengefledten, gerwürgten Schulbüchern, dem ewigen Ars beiten und Überbürdetfein, dem Strafen und Zanken. Viel⸗ leicht wollten fie es anders.

Vielleicht waren fie giftig, gehörten fchon zu denen, beren Worte, beren Gedanken vom Gift durchſeucht find, von dem Gift, das Unzufriedenheit, Freudloſigkeit, Kraftloſigkeit, der große hoffnungsloſe Druck des Lebens aus uns heraus⸗ preſſen kann.

Kriſtine war es zumute, als wohnte ſie einem wirklichen Autodafé bei; Ihre arme Seele war belaſtet, ihr Herz uns ruhig, und fo kehrte alles Düftere, Schwere, was fonft uns gekannt an ihr vorubergesogen war, bet ihr ein.

Und wie fie fo in dies Teibenfchaftliche Treiben der Drofefior Majunkeſchen Kinder ſah, dba legte es fich ihr eiſig⸗ kalt ums Herz, und ein Srauen überlief fie. Solches Übers maß an Wut, folche Luft zu verderben und gu firafen!

Bor Keiftinens Seele ſtieg alles auf, was fie früher ges hört hatte, von Scheiterhaufen, Inquiſition, Herenprogeflen, von den tauſend Sachſen, die Karl der Große hatte bins ſchlachten laffen. Alles, was in ihrer Erinnerung haften ges blieben war, lauter Bilder, bie ihe nichts geweien waren als weienlofe Begebenheiten. Ste hatte nie etwas babei ges dacht. Diefe Bilder befamen mit einem Male in ber wuͤſten Kinderſtube fchrediiches Leben. Diefe fürchterlihen Dinge rüdten auf das arme, weiße Mädchen, das in feinem Nofens

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franz mitten in bem tollen Tenfelsteeiben ſtand, ein, ſanken auf ihr Herz wie ein Albdruck.

Keiftine fand mit sufammengefalteten Händen und angfts vollen Augen ba.

Die Teufel hatten ſchon laͤngſt auf alle Weife einen Vers dammten nach dem andern auf ben Befehl vom Schranfe herab verbrannt, zerſtampft, gerftädt, geſchlachtet, gefpießt, und hatten ein bewunderungswertes Talent entwidelt, dieſe Dinge auſchaulich zu machen. Bimm Bimm mochte etwas ſehr Wichtiges zu tun haben, konnte nicht gleich ablommen und rief aus ber Nebenftube fortwährend: „Ach komme gleich, ih bin ber aͤrgſte Teufel!” Und darauf kam er angetobt, gluͤhend rot vor Eifer, und flürgte auf ben augenblicklich Ver⸗ dammıten los, ihn gu malträtieren.

Der Teufel rief vom Schrante: „Zwickt nur tuͤchtig! Zwickt ärger! Kneift ihn mit glühenden Zangen! Strafe muß fein.”

Da lief Kriftine mitten in das tolle, wuͤtende, ſchnaufende Knaͤuel hinein, breitete die Arme aus und ſchob die wätenden Kinber kräftig auseinander.

„Gott iſt gut, Ihe Kinder”, rief fie erregt. „So etwas muͤßt ihre nicht fptelen !”

Der Teufel aber vergaß feine Rolle und ſtreckte ihr bie Zunge heraus.

„Feiges Maͤdchenvoltk,“ rief er, „vor jedem £ Dred farchten fie fig!"

Er fam aber herunter.

„Da,“ rief er und zeigte auf einen alten Kupferſtich an ber Wand, ber das Juͤngſte Gericht darftellte, „wenn einer fo mas malen koͤnnte, tät er’S ſchon auch, aber gute Leute, die fill; fieben, find eben leichter au malen als Teufel, die fpeingen . .. Frag’ Vatern, Vater fagt: So wird's einmal. Mutter ſagt's auch. Hör’ mal, wenn du dich jetzt ſchon fo gefuͤrchtet haft, möcht’ ich doch willen, wie du's aushältft, wenn fie einmal Aber dich kommen. Du, was denkſt du denn, bu? Die kann's

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auch paffieren, in die Hölle kann ein jeder fommen Im Um⸗ ſehen.“

„Freilich!“ fagte einer. „Wenn es mit dem Lernen bei ung allen nicht befier wird, kann von ung allein eine ganze Fuhre hineinfommen. Meinettvegen,” ſetzte er reſigniert dazu, „mir iſt ſchon alles gleich.“

Keiftine ftreichelte den dünnen, fpärlihen Jungen, deflen tenbfinnige Philoſophie ihr aus Herz griff.

„Wißt ihr,” fagte fie, um in biefer Kinberfinbe etwas Frohes zu fagen: „Morgen wirb’8 gewiß ein fehöner Tag, da follt ihre auf die Berge gehen, wir geben euch etwas Gutes sum Nafchen mit.”

„Wied nichts!” fagte einer von ihnen. „Drei muͤſſen morgen von uns nachfigen, wiſſens fchon, morgen kommen die lateiniſchen Aufgaben zurüd, ba ſetzt's allemal was.“

„Dann foll euch Annuſchka heuf’ gleich von meiner Schweſter einen rechten Haufen Kuchen holen!”

Da erſcholl ein durchdringendes, wuͤtendes Freudengeheul, und Bimm Bimm biß Kriſtine vor Wonne in die Finger.

Sie bat die Kinder, jetzt ruhig zu ſein, ließ ſie die ſchlimmſte Wuͤſtenei etwas ordnen, fand unter einem Bett ein Taſchen⸗ tuͤchelchen und putzte Bimm Bimm die Naſe, erkundigte ſich, wo das Dienſtmaͤdchen geblieben ſei, und ob ſie bald wegen des Abendbrotes komme. Als ſie daruͤber leidlich Auskunft erhalten, verſprach ſie noch einmal auf allgemeines, dringen⸗ des Erinnern, Annufchle nah dem Kuchen zu ſchicken, und wurbe unter ſtuͤrmiſchen Umarmungen und Liebkoſungen soon Bimm Bimm und den Kleinen entlaffen.

Die gedßeren riefen ihr noch nach: „Aber heute bift du fein, Keiftine! Wunderſchoͤn!“

Als fie oben angelangt war und Annufchla ihr geöffner hatte, mußte fie eine Weile ftebenbleiben, nach Atem ringen. Sie war unfäglich bedrädt. Die Majunkeſchen Kinder hatten fie durch ihr Spiel erſchuͤttert. Alles fah fie fo fremd und uns

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heimlich an und fie fühlte fich nicht wohl, nicht frei, nicht fo wie fonft, fo anders wie fonft, matt und ſchwer. Und fett gerade kamen bie bunfeln, bumpfen Angfigefühle wieder, bie fie auf dem Wege überfallen hatten, die fie mit rührender Gewalt von fih abgehalten, die fie nicht kennen, nicht ahnen wollte! Und diefe dunklen Gefühle ruhten nicht, ließen fich nicht abweiſen und wollten Geſtalt annehmen, famen immer wieder feit geraumer Zeit, zu allen Tags und Nachtfiunden, und raubten den Schlaf und jeden Frieden.

Und es mochte etwas Ungeheures für fie fein, was fo auf Scheitt und Tritt trotz allen Kampfes und aller Gegenwehr, aller Selbſtbeherrſchung fih ihr jet In das Bewußtſein

drängen wollte,

Und wieder richtete fie fich feſt und frei auf, wie fonft, wenn fie im Garten am Steande fand und der Wind ihr ins Haar fuhr und ihr die Geftalt ummehte, und fie fich fo frei, fo eins mit allem Friſchen, Lebensvollen fühlte, fo ſtark und leicht zugleich, als könnte fie fliegen.

Sie dachte leidenfchaftlih an jene heimatlichen Gefuͤhle, während fie feft und jngenbiräftig jegt im dunkeln Vor⸗ zimmer fland, und fie Dachte, daß fie ja diefelbe Kriſtine noch fet, ganz, ganz diefelbe, und das ließ fie aufatmen!

Aber auch diesmal ſanken biefe mutigen, jungen Arme matt herab, und Krifline ging langſam nach Ihres Vaters immer, öffnete die nur angelehnte Tür. Das Zimmer war dunkel und fie fah im Mondlicht ihren Vater, der ihr leifes Kommen nicht gehört hatte, am Feuſter figen, ganz in fi verfunfen, unfäglih einfam. Im hellen Monblicht fah fein Geſicht ſo eingefallen aus, die ganze Geftalt zuſammen⸗ gefunten. Das graue Haar hatte er fich wire gewählt. Er hielt auch noch die eine Hand darin vergraben und fiügte ben Kopf auf den Arm.

Kriſtine wagte fih nicht zu vegen. Sie fürdhtete Ihn gu erfchreden. Ihre Blicke hingen an dem einfamen, kranken

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Mann, ber im Dunkeln feinen Gedanken nachhing. Ihr wollte bei dem Anblid das Herz zerſpringen. Sie wäre am liebſten auf ihn zugeſtuͤrzt und hätte Ihe armes Her; an fein armes Herz gelegt, aber fie hielt ſich aufrecht, ſchlich leiſe zuruͤk und feng Annuſchka, weshalb Ihe Bater ohne Licht fet.

„Here wollen nicht haben”, erhlelt fie gur Antwort. Darauf zuͤndete Annuſchka die Lampe für ihre junge Herrin an. Kriſtine nahm fie ihe ab, um fie. felbft gu ihrem Vater zu bringen.

Da fiellte Annuſchka fih vor fie hin.

„Hier nicht gut iſt“, fagte fie heftig. „Arme Herr fehr krank. Kind auch nicht gefallt mie, Kind fchlaft nicht in Naht weiß! Wolln fort.”

„Bald“, fagte Kriſtine.

Annuſchka ging holpernd und kopfſchuͤttelnd, nachdem ſie ihr Herz freigemacht, wieder in ihre Ecke, wo ſie ſich auf die Erbe ſetzte und bei einem Lichtſtuͤmpfchen herumhantierte. Kriſtine fiel es ein, was ſie den Kindern unten verſprochen hatte, ſchrieb in Eile ein paar Worte und hieß Annuſchka das Zettelchen forttragen.

Sie rief ſchon vor der Tuͤr, um ihren Vater aus ſeinen Gedanken zu wecken:

„Ich bin ſchon da, ich komme zu dir!“

„Du, ſchon?“ rief es aus der dunkeln Stube freundlich erſtaunt.

Und wie Kriſtine eintrat im weißen Kleid, mit dem Roſen⸗ franz und mit der brennenden Lampe in der Hand, blickte ber Franke Dann aus feiner Verfunkenheit vollends auf. „Meine gute, liebe Sonne kommt!“ fagte er.

Keiftine fette die Lampe auf den Tifch, kniete vor ihrem Bater nieder, umſchlang Ihn, und auch er legte feine Arme um fie. Und fo, ohne Haft, ohne Erregung war fie nun bei ihm, ohne ihn erfchredt zu Haben, und konnte ihr armes Herz an fein armes Herz legen. Und fie fprachen fein Wort miteinander,

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Da war es Kriftinen, als würde fie von der Dunkeln Angſt von ihrem Vater geriflen. Sie ftand haſtig auf. Möte flieg ihr ins Geftcht, das Herz ſchlug Ihe fie war in grenzenlofer Berwirrung. Sie, die nie etwas zwiſchen fih und ihrem Vater empfunden hatte, bie immer volle unſchulbige Wahr⸗ heit Hatte zeigen Finnen und nichrs ald Wahrheit von ihm erfahren hatte, die nicht imſtande geweſen wäre, auch nur die Heinfte Lüge über bie Lippen gu bringen, war jest ganz Lüge. Wie war fie nur hineingelommen in dieſes Elend? Es war ja nicht nur das Verſchweigen. Daß fie fich froh und harmlos zeigte und im tiefften Herzen nicht frob und harm⸗ (08 war, fonbern voller Sehnfucht nach einem Menfchen, an dem ihr ganzes Herr hing, dem fie mit Leib und Seele ans gehörte und an ben niemand mehr dachte. Das Vers ſchweigen ihres Leides hätte fie tapfer tragen wollen und teug es tapfer, ohne Klage. Das war es nicht, was zwiſchen ihr und Ihrem Vater find das nicht! etwas anderes, etwas Ihe ganz Unfaßliches, Undenfbares lag zwiſchen ihm und ihr, Eine Ahnung, fo dunkel angſtvoll daß der Tod diefer Ahnung gegenüber alle Schreden vetlor, daß fie es nicht länger in Ihres Vaters Nähe litt und fie im anderen Zim⸗ mer fich sitternd an einen Vorhang ſchmiegte und Ins Dunkle

Und in ſolchem Erfiarren blieb fie lange am Fenfter ftehen, während ihe Vater im Nebensimmer auf und niederwandelte. Es mochte ihm nicht gut zumute fein.

m Morgen nach der Taufe, ald Fran Ahrenfee zu Ihrem Manne kam, fand fie Ihn ſehr ſchwach. Er war zum erſten⸗

mal nicht aufgeftanden und beſchloß, auch liegen zu bleiben, bis er fich wieder mehr bei Kraft fühlen würde. Der Arzt kam. Und auf Frau Ahrenfee machte es eine beruhigende Wir; fung, daß biefer berühmte Profeſſor das Befinden ihres Mannes als etwas durchaus nicht Überrafchendes anſah.

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Gottlob, dachte fie bei fich felbft, er macht nichts daraus. Ste, die immer gefunde Frau, hatte für Kranke fein rechtes Berftändnis, war an dag ewige Kränteln ihres Mannes ges wöhnt und konnte fich troß Ihrer Herzensguͤte des Verbachtes nicht erwehren, daß Leute, denen immer etwas fehlt, allerlei Einbildungen haben. Sie machte ſich vorderhand nicht Aber, mäßig Sorge, nur bin und wieber kam es Ihe dumpf sum Bewußtfein, als wäre ihrem Mann bie Reife nicht sum beften angeflagen. An die Ruͤckreiſe konnte man nicht eher benten, Bis wirklich ein fihtbarer Erfolg durch die Behandlung der berühmten Arıte eingetreten fei.

Iber die Ahrenfees fagte man den Hennebergs überall das Angenehmfte und bebauerte unendlich, daß Here Ahrens

fee immer leibend war und an der Gefelligfete nicht teils nehmen konnte. Seine Frau und Tochter gewannen alle Herzen. Die blonde Frau Ahrenſee in ihrem weichen, regels rechten Benehmen mit ber langfamen Art zu fprechen gefiel allen, Sie hatte trotz ihrer Eräftigen, vollen Geftalt etwas Hilfloſes, Schutzſuchendes Im Benehmen, was in ber fremden Umgebung beutlicher heruorteat. Schug und eine gewiſſe Bevormundung hatte fie an ihrer Eoufine Mathilde Swenſen gefunden, und auch Frau Profeſſor Majunke widmete fich der weltfrembden Frau, wie fie Frau Ahrenſee nannte, eifrig. Schon während Marhilde Swenſens Beſuchszeit bei Ahrens fees hatte Mathilde ihre Energie tief in ben nachgiebigen Charakter ihrer Eoufine, bie fie aber vorgog Tante gu nennen, eingebrädt. Schon damals war dies Frau Ahrenfee nicht ganz bequem geweien. In Mathildens ſtrammer Gegens wart war es Frau Uhrenfee immer, als wäre ihr eigener Geſchmack und ihre eigene Meinung gar fein Geſchmack und feine Meinung. Sie wagte ſich auch nicht damit fo recht her⸗ vor, hörte lieber gelaflen zu, was Mathilde ſagte. Trotzdem aber war Mathilde Smwenfen ihr nicht gerade ſympathiſch;

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fie fühlte fih von Ihe bebrädt, und nun war fie auch noch unter das Protektorat ber Frau Profeflor Majunfe geraten.

Und dieſe beiden Damen führten die unfchuldige Frau Ahrenſee in allerlei Dinge ein, um bie fie fich fonft nie ges kuͤmmert hatte. Auch wegen der Behandlung ihres kraulen Mannes erhielt ſie ſtrenge Anweiſungen.

„Ja, beſte Tante,” ſagte Mathilde gu ihr, „wenn bu aber Onkel Heinrich auch in allen Dingen gewähren läßt, wie kannſt du da irgendeinen wirffamen Einfluß der AÄrzte er; warten? Hat er Luft, tagelang im Bett gu liegen, gut, du laßt ihn ruhig liegen; hat er Luft, nicht gu eflen, bu läßt ihn fo wenig ober fo viel eflen, als er will; gefällt es ihm, wie eben jett, fih gar nicht mehr zu beichäftigen, du denkſt nicht daran, Ihn anzuregen. Sage einmal felbft, ob das die rechte Auffaffung der Ehe tft!” Ä

Aber zum Wohl Heinrich Ahrenſees machte Frau Ahrenſee von Ihrem aufgerüttelten Selbftbewußtfein keinen Gebrauch. Sie hätte wirklich gar nicht gewußt, wie fie das anfangen follte.

Fyer Arzt kam in dieſer Zeit regelmaͤßig jeden Tag zu

Heinrich Ahrenſee, der ſich von feiner großen Schwäche nicht erholen konnte. Es waren manche Anzeichen eingetreten, die einem lebenserfahrenen Menfchen als beunruhigend aufs gefallen fein müßten. Frau Abrenfee aber hatte immer ſo glüädlich gelebt, e8 war vor ihrer fanften, weichen Perſon alles Unglüd ausgewichen, daß fie deflen Antlitz und Vor⸗ boten nicht kennen gelernt hatte. Wohl erfchredte fie das Ausſehen ihres Mannes bin und wieder, bie augenfällige Schwäche, bie fillle Stimmung, bie ungemeine Weichheit in feinen Gefühlsänßerungen; aber, teöftete fie fich, er war ja immer ein fo guter Menſch und hatte feine eigenen Ge⸗ danken; folche Leute Hängen ben Kopf leicht, wenn Ihnen etwas fehlt.

23 Böhlau III. 353

Der Art blieb auch ruͤckſichtsvoll der Weiſung Heinrich Ahrenfees getreu, ber ben Seinen den beforgniserregenben Zuftand feiner Krankheit verfchweigen wollte. Abrenfee fürchtete ſich vor der ergwungen heiteren Umgebung, vor ben Ausbrächen von Haltlofigkeit feiner Frau, vor Kriſtinens traurigen Augen. Nein, er wollte es nicht, fie follten es nicht erfahren, nicht deutlich ausgeſprochen erfahren.

Mie fah Ihn das Mädchen manchmal an! mit fo ver wirrtem, truͤbem Blick, als wenn fie lange nicht Ruhe ges funden hätte. Wenn er fie an fich ziehen wollte, fchien es ihm, als wiche fie ihm aus. Dabei war fie rührend gut, fat alles, was fie ihm an den Augen abfehen konnte, war immer beforgt um alles und jedes. Keine Speife befam er, deren Bereitung Kriftine nicht behutſam überwacht hätte. Wenn er oft tagelang zu Bette lag, war es wunberlich, wie fie jeben feiner Wünfche wie hellſehend errier. Fuͤhlte er fih unbe⸗ haglich, fo legte Keiftine ihm Die Kiffen zurecht, ehe er ſich felbft recht Har wurbe, woran die Unbehaglichkeit lag. Sein Buch reichte fie ihm zum Lefen, gerade wenn es ihm angenehm geweſen wäre zu lefen, und alles tat fie fo ſtill und frieblich, ſo ganz verfunten, su helfen und zu erleichtern.

Hätte er fein Kind belaufchen können, wie fie nachts im ihrem Bette faß, ben Kopf an die Falte Wand gepreßt, mit feft ineinander verfchlungenen Händen und einem Ausdruck in dem flarren Geficht, als Taufchte fie, als hätte fie etwas Schreckliches nicht recht verfianden! Wenn fie fo faß und vor fih hinblickte, fürchtete fie ſich vor ſich ſelbſt. Wenn ihe Blick an ihrem weißen Nachthemd berabglitt, erfchraf fie vor ihrem eigenen Körper wie er ihr geheimnisvoll erſchien, fo hersbebrüdend geheimnisvoll! Vor ihren Händen felbft erſchrak fie, e8 waren ja biefelben Hände wie früher ihre Hände und wie fie ſich erinnerte, wie feft biefe Hände und Arme beim Schwimmen das Waffer geteilt hatten, wie ſchoͤn das war! wie ſchoͤn alles war! und wie biefe Hände

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Ker feſt um den Hals gelegen hatten, wie fie ihn gehalten, wie fie ihn beſchworen hatte, fie nie im Leben gu vergeflen und nun iſt fie in dieſer Todesangſt allein !

Das, was fie Big jetzt quält, IfE namenlofe Angft und Sorge; aber doch Immer noch dumpf, ganı bumpf das Bewußtfein ſtraͤubt fih noch. Es tauchen wohl Bilder auf, die fie bis Ins Herz hinein erflarren laſſen: aber das Un⸗

ſchuldige, Kinderhafte in ihrem Wefen will nicht verfichen

und falten fo atmet fie immer wieber einmal auf und dann möchte fie ihren Lieben mit heißen Tränen um ben Hals fallen; aber kaum, daß ein wenig Ruhe iſt, kommt es wieder wie über fie hingewogt das Ungläd die Gewißheit; und Zeit auf Zeit vergeht ohne Ziel, Was foll denn wer⸗ den? Nachts fahrt fie auf und denkt, fie will gehen, foweit fie die Füße tragen, weiter, immer weiter, nie zuruͤckkehren, und weit, weit von bier tot zuſammenſinken. Aber ihr Bater! In feinem ſchweren Leiden jetzt! und bie Henne; bergs und ihre gute, liebe Mutter und alle Menfchen. Was wird denn gefhehen um Gottes willen? wie ein wilder Tanz sieben Ereigniffe, entſetzte Gefichter, unklare, ſpoͤttiſche, verächrliche Mienen ber freundlichen Leute an ber armen Seele vorüber.

Sie denkt jener bangen, wunberreichen Nacht, nach welcher fie am frühen Morgen im triefenden Regen ftand bleich⸗ getäßt, todesmatt vor Web, betroffen und ſchuldbeladen, fo verlaflen, fo dem Schickſal anheimgegeben.

Wie war denn das Unmögliche möglich geworben? Sie, die Stolge, Freie, Ruhige, die Haustochter, das gute Kind ihrer Eltern fo entartet! Wie war denn biefe unfägliche Liebe über fie gelommen, über fie, die von Liebe nichts wußte! Und diefe Wonne, dieſer Überfchwall von Gluͤck und Weh?!

Und wie fie dann vor Gott auf ben Knien gelegen hatte, und gebetet, baß er fie von der Erinnerung an bie ſchreckvoll

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heilige, verzweifelte Liebesftunde erlöfen möchte! Und er hatte fie nicht erloͤſt! Nein nein nein nicht erlöft!

Jet noch fühlte fie Kers Kuͤſſe, die ganze, große, wilde junge Liebe über fich herftürgen und firdömen und fühlte es jauchzend und verzweifelt zugleich.

Feſt und ſtolz mitten in Ihrer Angſt und Ratloſigkeit, richtete Kriſtine fi auf und fagte zu fih in Ihrem alten, lebendigen Ton: „Nein nein nein!” und darauf ftärgte fie in wilden Tränen nieder. Nach biefen wilden Traͤnen war ihr's, ale zoͤge es ihr fremd Ind Her, ale flüge ed warm und freudig, wenn fie an ihr Kind dachte Ihe Kind und fein Kind als wollte alle Angft und Verwirrung vor diefer frählinghaften Vorſtellung aufs tauen; und fie verfant in das ahnungsvolle Empfinden Des jungen Weibeg, das weichen, reinen Herzens dem erften Mutterglüd entgegenfieht. Ihr müder Geift trank biefen Srieden ein.

Und wieder ging ber wäfle Taumel an, Todesangſt, Vers wirrung und Verzweiflung und fie ſtuͤrzte in dieſes Atem und Sinn raubende Gewoge, völlig widerſtandslos. Was follte fie denn erfämpfen, was denn? Gläd für ſich etwa? wo alle andern aber fie verzweifeln wuͤrden?

m. Wn

DR

Drittes Kapitel

Hem Ahrenſee liegt den ganzen Tag matt und gequaͤlt auf ſeinem Ruhebett.

Die Augen aber leuchteten ihm jedesmal auf, wenn ſein Kind eintritt. Er liebt es, ihre Hand in der ſeinen zu halten, und ſo ſitzt ſie oft ſtill bei ihm, oder er bittet ſie von Hauſe zu plaudern, von ihren Bootfahrten, fragte nach kleinen Einzelheiten beſtimmter Ausfahrten, die ſie mit⸗ einander gemacht haben.

So ſitzen ſie auch an einem ſtuͤrmiſchen Spaͤtnachmittag beieinander, Ahrenſee und Kriſtine.

Die Daͤmmerung bricht herein, die erſten Novemberflocken ſinken dicht in großen Fetzen nieder. Die Windſtoͤße, die dies fruͤhe Schneewetter gebracht hatten, fahren gegen die Scheiben. Heinrich Ahrenſee ſagt:

„Nun ſchneien wir hier ganz ein. Wenn das Fruͤhjahr da iſt, fo Gott will, geht's zuruͤck.“

Da faͤhrt es ſeinem armen Kind wie ein Meſſer durchs Herz und ſie ſtarrt bleich auf ihren Vater, der aber blickt nicht auf und ſieht wie in Erinnerung vor ſich hin.

Jetzt iſt das Maß voll. Sie kann nicht mehr ihr Elend ver⸗ bergen ihr Vater ruͤhrt und zerreißt ihr die Seele; wie jammervoll ſieht er aus! wie gut iſt er, wie ruͤhrend. Und ſie fuͤhlt in dieſem Augenblick, wie ein Leben ſich in ihr regt; es verraͤt ſeine Gegenwart ſo unabweisbar herzbedruͤckend! da ſchreit fie in ihrer Augſt dumpf unterdruͤckt auf, macht fih von Ihrem Vater los, der erfchredt auf fie blickt, und ſtuͤrzt hinaus, greift wie unbewußt gemohnbeitsgemäß nad ihrem Mantel und läuft die Treppe hinab, duch bie enge Seitengaffe, big fie einfam unter hoben Bäumen ſteht.

Die weichen Floden riefeln auf ihe Haar, dee Schnee und die Dunkelheit haben alles fanft eingehällt, kein harter Laut, die Uhren fchlagen gedämpft, wie fie bei dichtem Schnees

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fall fchlagen ganz in ber Ferne Mufif, wie von weichen Flügeln getragen, Hundegebell, faft klanglos und ber Schneefall ftarf und dicht —.

Hinter den Bäumen fließt Die Saale dunkel, und die Wells hen am niedern Ufer gindien leiſe.

Keiftine will fih aufraffen und will überlegen, weshalb fie hierhergekommen tft aber fie kann nicht denen; ber weiche Schneefall und das leiſe Plätfcheen ber Uferwellchen halle ihe alles Denten ein; und wie das dunkle Waſſer bie weißen Flocen einfangt, bag ſieht fich fo einfchläfernd an. Sie lebt nicht mehr wie ein wacher Menſch fie träumt. Ihr Elend if nun fo Hoch geftiegen, daß fie es nicht mehr fallen kann. Ste iſt ganz erfällt und umlagert davon. Es trägt fie wie ein Meer, wirft fie hin und her, verſchlingt fie, laßt fie wieder auftauchen, wieder finten, wieder tauchen, und jet hat das Elend fie unter biefe dunkeln Bäume ges worfen, an den fließenden Steom, ber die weichen Floden lautlos einfaugt, fo lautlos und weich und fchmeichelnd, daß fie immer darauf durch ben Schneetanz bliden muß. Der breite, dunkle Streif mitten im Schnee! Und manchmal glaͤnzt, flimmert es barin auf, und bie lautlos fließenden Waſſermaſſen fchieben weiter, gleichmäßig, geheimnisunl! und die Floden fallen immer dichter, Immer dichter und vers loͤſchen im ſchwarzen Waſſer. Und biefem Anstöfchen, Vers ſchwinden zuzuſehen, tut ihre gut. Es iſt ſtill und ungeſtoͤrt hier. Durch den Flockentanz dringt nach kurzen Pauſen immer wieder ferne Muſik auf weichen Fluͤgeln und das arme Ge⸗ ſchoͤpf geht tief befangen von allem Leib und aller Augſt, bie über dem Kopf zuſammengeſchlagen ift, Dem dunkeln Strome näher und näher.

Kriſtine weiß jegt, was fie hier fucht Frieden. Ihre Seele Halt nicht mehe fand. Es graue ihr vor biefem Fries den ganz entſetzlich graut es ihr; aber die Angſt, das Ent fegen vor tanfend Dingen, die über fie herfallen werben,

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vor bekannten und unbekannten Geſichtern, treiben ſie dieſem Grauen zu

Wie einſam, wie fuͤrchterlich wird ihr Tod ſein! Dann wird fie vom Fluß hinuntergeſchwemmt, dann wird fie an eine flache Stelle gefpält. So wird man fie finden! Ihr Körper iſt fremden Augen preisgegeben! Was niemand weiß, muß offenbar werben und bie Ihrigen greäßlich treffen!

Ihren Lippen entführt ein bumpfer Schrei! Es dreht fich ihe fo wild im Kopfe, Sie ſtarrt um fich her. Gibt es denn fein Mittel auf Erben, folde Dual su wenden ?

Gehen, Sehen Gehen in Hunger, Durft und Froſt ohne Ende, und tot zuſammenſtuͤrzen, ba wo niemand fie fennt

Hüfefuchend, mit Todesangſt in ben Zügen, blickt fie um fih her nicht hinauf in die Wollen. Ihr guter Herrgott war ihr jegt fern, unfäglich fern. Er hatte fie verurteilt. Das Spiel der Majunkeſchen Kinder vom Juͤngſten Gericht ſteht ihr mit einem Male grell und unvermittelt vor ber Seele, „Ja,“ fast fie halblaut und leidenſchaftlich: „Ste werden gemartert, die Menfchen!”

Mieder tert ihe Bi wire umher. Da bleiben ihre Augen wie gebannt an einem Licht hängen.

Ste weiß ſehr wohl, was diefes Licht bedeutet. Das belle Senfter ihres Vaters iſt's, das big hin sum Ufer herüberblidk. Und mit einem Male breitet das arme Gefchöpf die Hände ans wie in grenzenlofer Sehnſucht und eilt zuräd, unaufs haltfam. Sie tritt in das Zimmer ihres Vaters mit bleichem, von furchtbarer Erregung entſtelltem Geficht, mit wild herab⸗ hangendem Haar, in bem der Schnee fefihängt und tauend niederriefelt. Sie fieht mit großen, verzweifelten Augen vor ihm und ſieht in fein fierbensfranfes Geſicht.

„Kriſtine!“ ruft er, als er fie fo ftehen flieht, „was tft bie? wo warſt du?” und er erhebt fich mähfelig von feinem Ruhe⸗

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bett, kommt Ihe entgegen, breitet die Arme aus und zieht fein Kind zitternd an fid.

AKriſtine, fafle Dich, Herzenskind bein Vater kann nicht bei die Bleiben, er kann nicht. Er hat auch ganz abges ſchloſſen.

So ſchrecklich dir das ſcheint, jetzt im Augenblick, du wirſt's verwinden! Denk doch, die Blaͤtter fallen im Herbſte, es muß ſo ſein es iſt gut ſo —. Dies Leben iſt eine ſo zweifel⸗ hafte Sache, daß einer, der daruͤberſtehen und alles uͤber⸗ ſchauen koͤnnte, laͤcheln wuͤrde, wenn er ſaͤhe, wie wir uns au dieſes Leben Hammern.”

Er ift auf den Lehnfeflel vor feinem Bette gefunfen und halt die Hände feines Kindes, das ihn immer noch mit dens felben verzweifelten Augen anblidt, und er ſucht fich zu faflen; er verſteht biefe jammervollen Augen in ihrem wirren, uns fieten Ausdruck nicht.

„Rah mir’d nicht fo ſchwer, mein Herzenskind. Hör mich an, fei ruhig mir iſt's ja eine Erleichterung. Was denkſt du denn, fo ohne Abſchied von feinem Kinde gu geben, iſt nicht gut. Wir können ruhig beide darüber reden, wie über andere Dinge auch komm, mein Herz! und du wirft feben, wie dann ber Tod eines kranken, alten Menſchen fich dir ganz anders zeigt, als du jest glaubſt. Es handele fich nur Immerhin um ein kurzes Stuͤckchen Erdenbewußtſein dann kommt's auch an bie Zurhdgebliebenen. Und wer weiß, wozu uns das Schidfal gebraucht, was es aus ung machen will. Da hat noch fein Menich den Schleier gelüfter, da gibt es Raum für mancherlei Hoffnung.”

Mit einer Stimme, über bie fie feine Gewalt mehr Bat, bie allen Jammer wie einen einzigen Todesſchrei ausſpricht, euft fie: „Nimm mich mit, auch Ih muß ſterben!“ und vor ihres Vaters Füßen bricht fie zuſammen.

Ahrenſee umklammert mit einer Hand krampfhaft die Stuhllehne, und ſieht ihre in die jammervollen Augen, bie

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zu Ihm in ſtummer Verzweiflung aufbliden! „Was Ift die gefchehen, Kriſtine?“ Ein krampfhaftes Zittern fahrt durch ihren Körper, fie faßt feine Hand, preßt fle an ihre Lippen und druͤckt Käffe darauf, mit einer demuͤtig leidenichaftlichen Liebe; von ihrem Haar fallen die getauten Tropfen herab, und fo wie fie sufammengefunten ift, bleibt fie vor ihrem Vater Tiegen.

Die verzweifelten Augen ändern ihren Ausdruck nicht und wie es fcheint, verfucht fie gu fprechen und kann nicht blickt Hilfefuchend, Ichweigt und ringt wieder nach Worten and wieder und wieder, aber Worte finden fich für biefen Sammer nicht —. |

Ste blickt auf Ihren Vater, und ba iſt es Ihe, als werde ihr das Herz gertreten, als ſtuͤrzte von allen Seiten Entfeßen auf fie ein. Und wieder fährt es ihr durch die Seele, wie die Majunkeſchen Kinder an jenem Abend gefpielt haben, und in Ihrem wirren Kopf ift es, als hätten fie gar nicht ges fptelt, fonbern ihr eine Wahrheit vorgeführt, die fie damals noch nicht kannte.

„Vater, Vater,” fläftert fie mie einer faſſungsloſen Stimme „lieber heiliger Sort behür’ ihn behuͤt ihn!” „Vater!“ ruft fie flebend noch einmal, und dann preßt fie die Hände wie bittend Aber ihrem Kopf zuſammen —:

„Ich bin Mutter.”

Über Ahrenfees Geficht geht es wie eine Totenbläffe, feine Augen bliden einen Moment ganz verwirrt und faſſungslos. Während Keiftine ſprachlos vor ihm Liegt, ziehen Schreckens⸗ bilder über Schredensbilder an ihm vorüber. Da, als wäre er bellfehend geworden, ift auch das Bild bes jungen Ker, feines Gaftes, vor ihm aufgetaucht, und eg ift ihm, als wenn feine Kriftine diefen Ker die ganze Zeit her geliebt harte mit der ganzen Tiefe ihrer Seele und als müßte diefem Ker etwas Entfegliches begesnet fein.

Sest nimmt er wortlog ihren Kopf, legt ihn an fein Herz,

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ſchlingt die Arme feſt um fie und hält fie fo. Seine Augen biiden über fie binans wie in die ferne Zukunft.

Und dem armen Mädchen, das fo in ihrer Ratloſigkeit und Angſt einen fihern Hafen in den Armen ihres Vaters gefunden hat, dringen unbeswingbar heiße Tränen aus den Augen, Tränen, bie längft ſchon in übergroßem Jammer erflaret waren.

Und er läßt fie weinen. Nur ber leife Dreud feiner Arme zeigt ihr, daß er fie liebe, nach wie vor: das iſt, wie er glaubt, die geößte Wohltat, bie er ihr jegt fun fan. Aber was dann?

Der todfrante Mann, der fo in aller Stille, ohne irgend⸗ einen Menfchen zu beläftigen, mit bem Leben ganz nad feiner Weife abgefchloflen und fich für den nahen Tod vor⸗ bereitet hat, fieht mit einem Male wieder wie mitten im Stuem des Dafeins, und ſieht das Liebfte, was er beſitzt, ſchrecklich bedroht.

Das weiß er jegt, daß fein Leben noch dazu ausreichen muß, um ihr beisuftehen !

Er weiß das er fühlt bie Kraft In fich, fein Leben zuruͤck⸗ suhalten, big fie gefichert iſt.

Er hebt ihren Kopf von feiner Bruſt. Es iſt ihm, als mößte er erftiden. Wie follte er fest, in letter Stunde für fein unglüdliches Kind gegen eine Welt kämpfen!

Mie follte er fie retten?

Keiftine blicke ihn angſtvoll an fie fühle feinen liebes vollen Arm nicht mehr.

Mie die traurigen Augen eines ſterbenden Tieres erfcheinen ihm bie Augen feines Kindes.

„Rein, mein armes Gefchöpf, ich fu’ dir nichts” fagt er tief erregt, „ich will Dich ſchuͤtzen.“

„Bater, Vater”, fluͤſtert Kriftine leife, wie eine arme, erlöfte Seele. Papachen“, ſchluchzt fie noch einmal, dann ſtuͤrzen bie Tränen wieder unaufhaltſam.

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Die Welt iſt ausgefchloffen aus dieſer flillen Stube, draußen fallt wieber der Schnee In bichten, wirbelnden Sloden, der Wind ſtoͤßt gegen bie Fenſter, heult im Schornftein, brauſt buch die Wipfel der gewaltigen Bäume unten am bunfeln Ufer der Saale, in deren ſchwarzes, nächfliches Waſſer wieder die Sloden finfen nach wie vor.

Heute kommt auch Frau Ahrenfee nicht; bei dieſem Wetter bleibt fie bei dem Enkelchen. Ste weiß ja, wie gut Ihr Mann und ihre Kind miteinander haufen, und daß ihr Mann wohl aufgehoben tft.

Kriſtine liegt Immer noch ganz aufgelöft in Tränen vor

ihrem Vater, und diefer verfieht ganz, was biefe Tränen für fie bedeuten. k „Wir bleiben beieinander, Keiftine, du biſt nicht mehr allein —“ fagt er, nachdem eine Zeit verfieichen iſt. „Wir reifen miteinander fort von bier bald, Wenn du heute ſchlafen gehſt, armes Kind, benfe an deinen Vater und ſchlaf/ ruhiger.”

Keiftine macht ihm noch auf dee Heinen Spirituslampe feine Taſſe Milch und Wafler zurecht, die er des Abends jest Immer trinkt, und bie er auch heute gebuldig entgegen⸗ nimmt mit einem Gefühl, das fich deutlich in feinen Zügen widerfpiegelt, er will nichts unterlaflen, will feinem Körper nicht das geringfie entziehen oder zumuten, denn diefee Körper, den er ſchon völlig aufgegeben, foll weiters leben ber Menich, der ſchon abgeichloffen hatte, foll auf der Tobesfchwelle wieber umkehren.

Als Heinrich Ahrenſee feinem Kinde Gute Nacht fast, ſchlingt er beide Arme um ihren Naden. „Das iſt mein uns gluͤckliches Kind,” denkt er „und su dem fiehe Ich, folang ein Atemzug in mir if, Durch mich iſt fie ing Leben ges rufen, und wer in allee Welt follte ihr in dieſer Not beis fieben, wenn nicht ich? die mir, folang fie lebt, nichts als Gluͤck und Freude brachte ganz unverdient und nun,

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das erftemal, wo fie ganz unglädfelig if, und wie die Welt es nennt, mit Schande beladen ba follte ih an mid denfen, damit ja das, was bie Welt Schande nennt, mic nicht freifen kann?" Er preßt fein Kind an ſich. „Seh nur geh nur!” fagt er bewegt.

Und fie geht.

Erlöfung! Ein Menfchenher; hat die Macht, ein anderes zu erlöfen! Das iſt eine wundervolle Macht !

So liegt Kriſtine unfäglich dankbaren Herzens und fieht dem Schlaf faft friedlich entgegen.

Sie iſt ja dag elende Geſchoͤpf nicht mehr, die Verbrecherin, die vor der Entdeckung ihres Verbrechens zittert.

Ste iſt nicht mehr verurteilt!

Bon diefem Augenblid an gehören fie und Ihr Kind zu⸗ einander, und in ihrem Herzen taucht ein freies, ſtarkes Ges fühl auf:

Wie ein Lichte in tiefer Dunkelheit leuchtet bie Gefühl. Und sum erfienmal feit Ianger Zeit sieht auch Har und rief bei ihr ein, was ganz von Angſt und Seelenbrud erftide war: die Sehnſucht nach dem Geliebten und das Vertrauen zu ihm. Verlaſſen hat er fie nicht!

Verlaſſen nicht, das weiß fie, und fo ſchlaͤft fie ein, ein junges Weib, das um den, den es liebt und dem es vertraut, bangt, und das auf ihn hofft.

Seit ihres Vaters Blick fo gut auf ihre geruht, ohne Zorn, ift Ihe alles Entiegliche einfacher und ruhiger geworben.

Biertes Kapitel

En diefer Nacht tobte der Sturm über weite Laͤnderſtrecken J hin, entwurzelte Baͤume, kaͤmpfte und ruͤttelte und haͤtte alles zerreißen und zerſtaͤuben moͤgen, was ihm im Wege ſtand.

Es war ein Winterſturm, der von den Meereskuͤſten tief in die Binnenlaͤnder hinein wuͤtete, ein Sturm, der Hunderte von Meilen mit gleicher Wucht uͤber die Erde fuhr.

Geſunde Leute lagen zufrieden in ihren Betten und hatten ein angenehmes Gefuͤhl von Geſichertſein unter ihren warmen Decken.

Kranken tat der harte Sturm weh, er ruͤttelte ihnen an den Nerven und aͤngſtigte ſie, und die Seelen, die dieſe Nacht die große Reiſe antraten, gelangten auf Sturmesfluͤgeln in das unbelannte Land.

Und. es traten ein guter Teil bie Reife an, wie jede Nacht, und ber Stuem machte ihnen das Sterben nicht leichter.

Er nahm auch gar manchen auf feinen fchweren Flügeln mit fich, der vielleicht erft künftige Nacht oder fünftigen Tag fih bereit gemacht hätte und am Morgen hatten fi manche freie Pfleger in Trauernde verwandelt.

Am Morgen wurde Heinrich Ahrenfee £ot in feinem Bette gefunden. Auf die weiße Seite des Buches, das vor ihm auf dem Dedbett lag, hatte er unleferlih mis faft erfiorbenen Fingern noch etwas fchreiben wollen und war nicht gu Ende damit gefommen. Der Tod hatte ihn plößlich gepadt. Der erſtarrte Ausdruck in des Verftorbenen Geficht war ein unfägs lich angſtvoller.

Annuſchka war es, bie ihn zuerſt fo gefehen hatte; als fie, um zu beisen, in fein Zimmer gefchlichen kam, fand fie die brennende Lampe vom Abend ber und von ber Lampe bes ſtrahlt das erflarrte Geficht Ihres Herren. Wie eine Nacht; wandlerin war Annuſchka aus bem Zimmer geftolpert, an der tief ſchlafenden Kriftine vorüber, hinaus, die Treppe hinab

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und ſo zum Arzt, und hatte dort fo wild und unfinnig ges läutet, daß fein Zögern möglich gewefen war; wie ein Dämon war fie eingedrungen, ungesägelt, und hatte ben berühmten Arzt fo fchnell mobil gemacht, wie es dem fein Lebtag noch nicht gefchehen fein mochte.

Und wie er mit ihr anf der morgenbämmernden Straße ging, durch die der Sturm noch ganz gewaltig branfte, ba tief fie dem Arzte wie etwa einem Pferde gu: „Schneller! Laufen ! Nicht fo langſam! Laufen Fort! Schnell!" Sy kamen fie miteinander an das alte Giebelhaus und fliegen miteinander die Treppe hinauf. Und als fie vor Ahrenfees Wohnung angelangt waren, da beohte Annuſchka dem berühmten Arzte mit der Zauft, um ihm wahrſcheinlich ganz deutlich zu machen, was fie wollte: „Schleihen!” faste fie wie gu einem Blödfinnigen, ben fie einfchüchtern wollte „Kind ſchlafen! Kind nicht Schred machen!” und fo fehlichen fie miteinander hinein zu dem Toten. Und als der Arzt fich ſachgemaͤß vom völligen Einteitt des Todes übersengt hatte, und feine Hand mie einem zuſtimmenden Niden über die Magengegend bes Toten mit leichtem Drucke gleiten Tieß, und Annuſchka breit und mißtrauiſch daſtand, jeder Bewegung des Arztes mie den Blicken folgend ba tut fih die Tür auf, und Kriſtine fritt ein, um nach Ihrem Vater zu fehen und ihr Blick falle auf die flarren, ents ftellten Züge des Toten.

Kein Jammerton wie hingeflürst iſt fie beim Bett ihres Vaters in die Knie gefunten und verbirgt ihr Geficht in bie herabhängende Bettbede.

„Se iſt fanft entichlafen!” fagt ber Arzt, „es iſt gelommen, wie ich ihm gefagt babe, ganz plöglih mußte fo kommen. Saflen Ste fih, Fräulein Kriſtine! —“

Kriſtine aber Hört nichts, das Entſetzen iſt über ihre zus ſammengeſchlagen und ſtumpf, fuͤhllos wieeine Ertrinkende ſinkt ſie tiefer und tiefer wie in ſchwarzes, naͤchtliches Waſſer hinab.

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Annuſchka tappt ihe leicht auf die Schultern und fast unter heftigen Traͤnenſtroͤmen: „Kind Kind Kind! —“

Aber kein Laut, feine Träne ringe fih von dieſem furchtbar gefchlagenen Herzen los.

Man läßt fie gewähren, man hat feine Zeit für fie. Der Tod bringt fo viel düfteres Schaffen Ing Hans und das Drama muß fih unaufhaltfam abfpielen. Jeder muß fehen, wie er es trägt. Frau Ahreniee mußte vorbereitet werben und die Hennebergs.

Und wie fie famen, eine Flut von Sammer und Schreden ! Stan Ahrenſee ſchluchzend, fhon über die Straße war fie fchluchgend gelaufen. Profeſſor Henneberg hatte in aller Eile und Haft anfpannen laflen wollen, um mit Stau und Mutter an das Trauerhaus zu fahren; aber den beiden rauen war jede Vergögerung unmöglich gu ertragen, fie mußten dahin gelangen, fo fehnell wie möglich, dahin, wo fie nichts mehr helfen konnten und fo Tiefen fie, ganz aufgelöft vor Schred und Trauer, vor Profeſſor Henneberg her, und diefer hörte die Mutter feiner Frau auf ber Straße laut ſchluchzen.

Frau Ahrenfee hätte gewiß ihren Sammer zu besähmen gefucht, wäre es ihr möglich geweſen.

F as alte Giebelhaus hatte fo manchen Toten ſchon bes

herbergt. Bor dreihundert Jahren war es erbaut wor; den Zeit genug, daß Generationen darin geboren werben und augfterben konnten, von deren Dafeln fein Menfch mehr etwas ahnt. Die ſtarken, feflen Mauern hatten Todes⸗ fampf und Totenklage fhon fo oft umfchloffen. Was waren da alles für Leute geftorben! Und das alte Haus hielt Immer noch ang machte bei jedem Toten basfelbe wuͤrdige, fteinerne Gefiht. Immer war es von dieſen Eintassfliegen bewohnt geweſen, die ſich fo viel zu fein duͤnken, bie fich fo wichtig vorkommen, die Feine Vernunft annehmen wollen.

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Und jeder Schub diefer Eintagsfliegen meint, er wäre der Alleinberechtigte und hätte vor ihm und nach ihm nichts Gleiches.

Dem alten Hauſe war es nachgerade langweilig geworden, das truͤbſelige Schauſpiel wieder und immer wieder zu be⸗ herbergen. Die oberſte Giebelſpitze hatte es laͤngſt ſachte nach vorn geneigt, als waͤre es ſchlaͤfrig, und nun wurden ſeine alten, morſchen Rippen wieder einmal durchzittert von den Jammertoͤnen und den Seufjern und dem Herzensſchrei der armen Eintagsmenſchen, und biefe Seufjer, diefe Jammer⸗ töne fuhren dem alten Haufe jedesmal wie lebendiges Gift in die hölgernen Adern, sitterten bie Wände hinauf und taten dem alten Haus größeren Schaden als der wildefte Sturm⸗ wind. Diefe Töne hatten eine geheimnisunlle Kraft wie aus einer anderen Welt. Das alte Haus war wie eine viel ges ſpielte Geige geworden. Die Töne hatten fich eingesraben big in bie feinfte Safer.

MWieniel Tote hatten im alten Hans ſchon gelegen in fteifen Staatskleidern mit Handſchuhen an den flarten Singern? Die Toten hatten fo und fo gelegen und die Trauer; feterlichkeiten waren fo und fo vor ſich gegangen. Leichen⸗ mahle und ſtundenlange, nächtlihe Gebete und alle Arten ewiger Lichter und Aufftellungen von allerlei rührenden und däfteren Dingen. Der Schmerz aber, bie Dual, wenn ber Tod das Furchtbare getan und die Leute, die zueinander ges hörten, auseinandergeriſſen hatte, bag war fich immer gleichs geblieben. Das hatte feine Mode geändert.

Viele hatten geweint, wie Frau Ahrenſee weinte, als follten die Augen auslaufen, oder wie die Profefforin auf eine semäßigtere Weiſe. Manche waren vielleicht wie Profeflor Henneberg tiefernſt im Zimmer geflanden und haften über die Yufbahrung der Leiche nachgebacht: ob es beſſer fei, in diefem Zimmer ober in jenem und fo weiter, und was alles zu tun ſei.

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Der Profeſſor füßte feiner Schwiegermutter ehrerbietig die Hand.

Annuſchka fand breitbeinig und weinte aus Leibeskräften. Und voor dem Bette, wo fie zuerſt hingeſtuͤrzt war, da lag Kriſtine noch, den Kopf in die herabhängende Bettdece ver; graben.

Sie hatte fih noch nicht geregt und nicht bemerkt, wie alle verfuchten, fie aus Ihrer Erſtarrung zu reißen. Die Mutter war ihe mit der zitternden Hand über. die Schultern gefteichen, aber fie lag flare, immer noch ohne Tränen.

Die Profefforin Hatte Ihe mit weicher, von Tränen ver; fhleterter Stimme, zugerebet, Annuſchka war zu ihr Hinz geftolpert und hatte gefchluchze: „Weinen foll Kind! Meinen Kind! Muß weinen jegt, armes Kind!” und fie hatte fie etwas gerüttelt und auf den Rüden geflopft. Auch Pros feſſor Henneberg hatte fih um fie bemüht, ihre fchlaff herab; hängende Hand gefaßt und gefast: „Du treues Kind du warſt des guten Vaters Stern bein Lebenlang!”

Alle fühlten Schen vor dem Schmerz dieſes Kindes. Annuſchka ſchaute unverwandt durch Ihre diden Tränen auf das Kind ihres guten Heren, das Ihr das allerliebfte im Leben war und daß es jeßt nicht weinen konnte, das ſchien dem törichten treuen Weibsbild ungeheuerlih. Ste ließ fie nicht ans den Augen. Und als fie fah, wie der Kopf bee armen Kindes fich immer tiefer neigte, ba ſtolperte Annuſchka wieber gu ihr, padte fie an den Schultern und zog fie in bie Höhe alles fo flin wie im Umſehen hob fie auf, ſtuͤtzte fie und führte fie hinaus; Kriftine ließ es ruhig mir fich ges ſchehen.

Annuſchka fuͤhrte ſie in ihr Zimmer, ließ ſie ſich nieder⸗ ſetzen, machte ihr das Bett, raͤumte wie ein Wirbelwind im Zimmer auf, damit das Kind es gut habe, und dann packte fie fie wieder und führte fie zum Bette,

Sie begann fie aussusiehen, ba ſah fie mit einemmal,

24 Böhlen III. 369

wie eine Totenbläffe ihrem Kinde über das Geficht glitt und wie es bewußtlos umſank.

„Meine Taube! meine Taube! Kind, meine Taube!“ ſchreit fie. „Kind nicht auch tot fein!“

Sie oͤffnet ihr das Kleid, hebt fie mit ihren fehnigen Armen und entkleidet fie da mit einemmal fällt Annufchla wie ein Paket fo ſchwer vor dem Bette in die Knie; fie ſtoͤhnt wie ein verwunbetes Tier, und fpringt auf, verriegelt bie Tuͤr und fällt wieder vor dem Bette nieder. Dann bricht fie im ein wuͤtendes Schluchgen aus und legt ihre beiden feſten Hände auf ihren Liebling, der tosenbleich Immer noch bes wußtlos vor ihr liegt.

„Annuſchka nun weiß, was mit Kind iſt!“ fluͤſtert fie leidenſchaftlich. Die Tränen rollen ihe die knochigen Wangen herab.

„Ber hat Kind das getan! Kleinem guten Kind!“

Mit den Händen fährt fie fich wie eine Wilde in das ſchwarze Haar und ſchluchzt laut und wütend. „Heilige Mutter von Kaſan du auch Kind gehabt Haben! beten zu die Ruſſen gut mit die find auch mie mein Kind gut fein follen! Kind nichts tun follen!” Und da wirft fie fih auf die Erbe und ruft einmal um das andere Mal: „Heilige Mutter von Kafan mad’ das! Menfchen gut mit Kind fein follen! wie mit die auch gut find!” Annuſchka iſt ſtolz auf ihr Deutſch und fpricht mit ihrer Herefchaft, folang fie denten kann, dag, was fie „Deitſch“ nennt, fo auch mit der heiligen Mutter Gottes zu Kafan, trotzdem fie diefe Doch nichts angeht, ba Annuſchka Finnländerin und gut proteſtantiſch iſt. Jetzt ſteht ſie auf und ſtolpert nach dem Waſchtiſch, waͤſcht ihrem Liebling das Geſicht und trocknet es ihm wieder wie einem ganz kleinen Kinde ab. Fuͤr ſie war und blieb das arme Ge⸗ ſchoͤpf ein ganz kleines Kindchen.

„Ich alles Frau ſage ich ſelbſt ſage“, murmelt ſie vor ſich hin; und als Kriſtine die Augen wieder aufſchlaͤgt und

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diefe Augen fo groß und unglädfelig auf Annuſchka richtet,

da ſchluchzt Annuſchka wieder fo laut und wild, daß fie nichts hört und nichts fieht, Dabei aber halle fie ihe Kind feft in bie Deden ein und fläftert haſtig: „Kind ruhig fein. Weinen Kind. Nun weinen! Das muß! Weinen!" 1: TE

Und das fläftert fie fo herzbrechend und unfinnig. Kriſtine ſtarrt mit einem Schreckensausdruck auf Annuſchka. Da fallt die vor ihre nieber und Füße die Hände Ihres armen Pflegs lings und kramt ihre die Füße aus den Deden. Sie küßt ihr wieder die Füße und ſchluchzt fort und fort. Und dabei hilft fie Kriſtine wieber in die Keider und fhättelt den Kopf, daß ihr die Tränen herabfliegen. Sie hat einen fo großen Vorrat von Tränen, weit mehr ald andere Leuette.

Annuſchka iſt aus dem Zimmer gegangen. |

Kriftine bleibe ſtarr und unbeweglih auf ihrem Bett rand ſitzen.

Sie braucht nicht aufzuſtehen, um bei ihrem Vater zu fein. Sie ſieht ihn vor ſich, ſieht fein Antlitz, auf dem eine tiefe Angſt erſtarrt liegt.

Sie ſieht nichts anderes als ihn. Und dieſer Anblick iſt zugleich ihr einziger Gedanke.

Alles andere ſteht ſtill und ſie ſitzt und ſchaut, ohne ſich zu regen, wie in ſchwarzen Nebel hinein.

Da tut ſich die Tuͤr auf und ihre Mutter tritt ein.

Kriſtine hebt die Augen.

Ste ſieht ein Weib mit ganz entſtellten Sägen. Die heißen Tränen, bie fie an ber Leiche ihres guten Mannes vergoflen, find vertroknet. Das Geficht fieht gefurcht aus und ums faglih gefpannt im Ausdruck. Die volle Geftalt ift wie zu⸗ fammengefunten, plötlich alt geworben. Der Mund halb offen wie fragend, bie Augen wie ganz verwirrt.

AKriſtine!“ ringt es fich heifer und ſchwer aus dem Mund diefer Frau und fie ſinkt auf dem Stuhl vor Kriſtinens Bert nieder.

24° 371

Und das unglädlide Mädchen fieht alles, verfieht alles und flaret wie in einen Abgrund!

„Iſt dad das Unmoͤgliche wahr, Keifline?” Das war eine Stage, berausgeftoßen in Todesangft, Hilfloſigkeit und Berwirrung und traf in das Herz derer, bie auf diefe Frage antworten follte.

„Ja“ das klingt fo feft und fo verzweifelt!

Da fährt ein Schrei durch das Zimmer, durch das ganze Hans, fo wild und laut und fchrill, als ſtieße Ihn ein Raubtier and. Und nach dem Schrei tauchen bie entfeßten fragenden Gefichter von. Profeſſor Henneberg und feiner Frau auf, und noch zwei weitere Gefichter, die fich inzwiſchen einge; funden haben.

„Bott im Himmel!” euft Frau Profeflor Henneberg, „was iſt geſchehen ?

„Mutter! Mutter! Mutter!“ ruft die Profeſſorin entſetzt, als ſie Frau Ahrenſee ſo ſieht.

Und ſie fragen und blicken geſpannt auf Frau Ahrenſee. Die preßt die Haͤnde vors Geſicht und ſtreckt mit einemmal beide Arme ſtraff von ſich, weiſt auf Kriſtine und ſagt etwas etwas ſo Unwahrſcheinliches.

Dann faͤngt ſie an zu lachen zu lachen zu lachen und ſinkt von dem Stuhl herab und birgt das Geſicht auf den Kiſſen des Stuhles und lacht, und lacht, und windet ſich vor Lachen. Und alle Geſichter in der Tuͤr bleiben ſtarr auf Kriſtine und Frau Ahrenſee gerichtet, und es ſpricht ſich in einigen dieſer Geſichter ganz deutlich die Befuͤrchtung aus, als hielten ſie Frau Ahrenſee fuͤr irre.

„Der Schreck das hat ber Schreck gemacht!“ ſagt Frau Majunke, die hinter ber Profeſſorin ſich In die Höhe reckt.

Kriſtine aber ſteht jetzt aufrecht da und haͤlt die Lande er⸗ hoben und gefaltet.

So vergehen Augenblicke.

Die Tuͤr zu dem Sterbezimmer ſteht weit offen; dort liegt

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der Tote noch mit bem angſtvollen Zug im Geficht, ber jedoch mehr und mehr fihwinder und jenem tiefen Frieden Plag macht, der mit dem Leben nichts mehr gemein bat.

Da liegt der, der fein Kind hatte fihügen wollen. Sein Kind ſteht wie ein gejagtes Tier, zitternd, hoffnungslos, vor Grauen ſinnlos.

Die ſo wild lachte das war ihr liebes, gutes Muͤtterchen, und die ſtarren Geſichter in der Tuͤr, die auf ſie blickten, wie auf einen tollen Hund, mit einem Entſetzen im Ausdruck, das ſie ſtumm und ſteif macht, das ſind Geſichter, die ſich das ungluͤckliche Geſchoͤpf nicht im Fieber ſo haͤtte vorſtellen koͤnnen, wie ſie ſie jetzt in Wirklichkeit ſieht ganz wild ver⸗ wirrte Geſichter!

Und als es losbricht, das Entſetzliche, ſich zu Worten und Gebärden geſtaltet, da iſt es, als laͤuteten große, tiefllingende Glocken vor Kriſtinens Ohren, ganz nah ſie verliert die Sinne nicht; aber es laͤutet und laͤutet und laͤutet fo ſchwer und hart und fürchterlich Ihr in ben Ohren, im Kopf, erfüllt das ganze Zimmer und läutet und läutet. Dazwiſchen hört fie Worte, die ihe das Herz ſtill ſtehen laflen, und fieht, wie ihre arme Mutter fih nun in Tränenficömen auf der Erde minder.

Es Hat fih das Juͤngſte Gericht jetzt vor ihr aufgetan, wie es in den Köpfen der Menfchen ſpukt, wie es die Kinder Ihr däfter vorgefpielt fie iſt die Verbammte, die Zertretene, die Verfluchte, die mit Worten flatt mit Feuersflammen und Zangen zerriffen werden fol.

Und diefe Worte, diefe Beichuldigungen, wie fie von den Lippen ſtuͤrzen, ſo drohend, fo vernichtend, wie Tropfen Gift fallen fie auf das ungluͤckſelige Herz, das fich felbft harte auslöfchen mögen, um bie andern von dem Sammer und der Verwirrung, in die fie durch fie geſtuͤrzt find, zu bes freien.

„ein Gott, wär’ ich ans dem Leben gegangen, wie ich

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wollte!” fagte Kriftine leife mit gebrochener Stimme, im Abermaß allen Jammers.

„So!“ rief Frau Majunke und ſtand vor ihr wie ein Engel des Gerichts, der fich mir voller Selbſtloſigkeit auch in die frembdeften Angelegenheiten mifcht.

„Auch Selbſtmoͤrderin!“ fchrie die Meine Fran.

Da fühlt fie den Atem Ihres Schwagers vor Ihrem Ge⸗ fiht und hört wieder Worte Worte Worte und dazwiſchen laͤutet es ihr wieder vor ben Ohren, ſchwer und dumpf und dröhnend, und draußen tobt der Sturm und ruͤttelt am Fenſter.

Und vor Kriſtinens verwirrten Augen blitzt die wohl⸗ gepflegte Hand, die ſchneeweiße Manſchette ihres Schwagers auf und ſie fuͤhlt einen Schlag im Geſicht. Dieſe hoͤfliche, wohlgepflegte Hand, die ſie vorhin ſo wuͤrdig und liebevoll geſtreichelt, hat fie Ins Geſicht geſchlagen und fie hört und fieht, wie Ihre Mutter fich auf die Knie aufrichtet und jammernd ruft: „Nicht ſchlagen!“

Wie Wahnſinn packt es Kriſtine. Sie ſtarzt vorwaͤrts

„Vater! Vater!“ ſchreit ſie laut und jammervoll, und mit ausgeſtreckten Armen will ſie hinein zu dem Toten ſtuͤrzen. Aber in der Tuͤr wird ſie prall aufgehalten. Mathilde Swenſen ſteht da und vertritt ihr den Weg.

„Rein da hinein nicht!“ ruft Mathilde. „Zu dieſem Heiligen wahrlich nicht! Die Lebenden koͤnnen wir vor dir nicht mehr ſchuͤtzen aber die Toten!“

Mathilde haͤlt ein Buch in der Haud das Buch, auf deſſen erſte weiße Seite Heinrich Ahrenſee mit ſterbender Hand ſein Kind der Barmherzigkeit und Weisheit hatte empfehlen wollen, aber nur noch unleſerlich hatte kritzeln koͤnnen. Mathilde Swenſen aber hat herausgeleſen, daß er Kriſtine ihrer Mutter und ihren Verwandten ans Herz legte. Sie haͤlt das Buch aufgeſchlagen in die Hoͤhe und ſagt mit bewegter, von Traͤnen erſtickter Stimme:

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„Ih erfehe daraus, daß mein geliebter Onkel zur rechten Zeit durch Gottes Güte ſtarb.“

Mathilde Swenſen wie Frau Majunke verfianden es, wie sefagt, mufterhaft, fremder Leute Schmerz chriſtlich gu fragen. Mathilde Swenfen hält das Buch Profeffor Henneberg hin: „Hier,“ ſagt fie laut, „Keifline zur Seite ſtehen das fieht deutlich da und hier behüten das kann man leſen mein Kind ſchuͤtzen! Was er noch fehreiben wollte, iſt nicht su leſen —!”

Kriſtinens Hände aber haben fih sufammengefaltet, als Mathilde Swenfen die legten Schriftgäge des Toten laut entziffert.

Sie hat die Arme nicht umfonft in Ihrer jaͤmmerlichen Lage nach Ihres guten Vaters Hilfe ausgebreitet. Ein fefter, klarer Zug tritt in diefem Augenblid in Kriſtinens entſetzte Züge.

Ste bleibt mit gefalteten Händen fliehen; dann ſinkt fie auf die Knie vor Ihrer Mutter nieder, bie Immer noch Hilflog auf der Erde weint und jegt das Geficht feſt In die Hände preßt, als fie Keiftine neben ſich kauern ſieht.

Set aber treten auch Kriftine die erfien heißen Tränen in die ſchrecensſtarren Augen.

Ste faßt mit beiden Händen das Kleid ihrer Mutter fo, als fafle fie ihre Hände, mit folch unfäglich liebevoll ruͤhrender Gebaͤrde. Ihre Mama felbft gu berühren, würde fie jetzt nicht gewagt haben fie hätte geglaubt, Ihr damit wehe zu tun aber wie fie das Kleid halt! Einen Stein hätte es erweichen fönnen! Frau Abrenfee ſieht die Bewegung ihrer unglüds fihen Tochter nicht. Ste hat in Ihrer Ratloſigkeit die Augen feſt geſchloſſen.

„Mama!“ ſchluchzt Kriſtine, „nur einzig deinetwegen! Glaub nicht, daß ich ſoviel ſchlechter Bin als fruͤher glaub’ das nicht, ich bitte dich, glaub’ das nicht!“

Frau Ahrenſee hoͤrte die Worte ihres Kindes, ſie ſind ihr

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bedeutungslos. Ja, was follten diefe Worte wohl bedeuten, der entfeßlichen Tatſache gegenüber, ben vernichtenben, ver; sweifelnden, richtenden Gefichtern gegenüber ?

Die Worte Ihres Kindes aber dringen ihe dennoch wie eine dunkle, unbefimmte Offenbarung, die fie erhalten, die fie ans Sucht, verhöhnt zu werben, nie darf laut werden laffen, tief ins Herz, ald wollten fie fih dort eingraben. :

Um Kriſtine aber beginnt von biefer Stunde an die Vers einfamung ihre Kreife zu stehen.

Als alle Schredensworte, bie gefagt werben mußten, ges fagt find, als alles an Zorn, Verzweiflung, Haß und Wut, Strafe und Vernichtung über die arme Kreatur hingeſtuͤrmt tft, ohne irgend etwas an bee Sache gu ändern, teitt eine große Stilfe und Abfpannung ein.

Mathilde Swenſen und Frau Profeffor Majunke weichen ihrer teueren Freundin nicht von ber Seite. Mathilde Swenfen liegt der armen Frau zu Füßen. „Solchen Schmerz,“ fagt fie und kuͤßt der Ungluͤcklichen die Hände, „ſolchen Schmerz; foll man anbeten.”

Das iſt Frau Profeſſor Majunke wie aus der Seele ges fprochen, und fie drängt fih fo nah und feſt an Frau Ahrenfee, umfaßt fie fo feft, ald müßten diefer armen Frau Reifen ums Her; gelegt werben.

ie aßen miteinander gu Mittag, der Form wegen, denn

niemand hatte den Mut, einen Biſſen anzuruͤhren. Kriſtine, die Unglüdfelige, mit in dieſes Schuß; und Trutz⸗ buͤndnis aufzunehmen, fiel feinem ein fie war es ja, bie alle fo in Entſetzen sufammengetrieben hatte.

Ste fiand einfam ganz einfam.

Profeſſor Henneberg lag es ob, die notwendigen Schritte zu tun, bie umerbitelich getan werben mußten, und ebenfo lag es ihm ob, den Weg gu finden, den er feiner Schwägerin su gehen vorfehreiben wollte,

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mu-

Kriſtine aber ſaß in Ihrem Zimmer und ſchrieb mit fliegen; der Hand an Ihre Mutter, Und als alle in der Dämmerung im Wohnzimmer verfammelet waren und Mathilde Swenfen den Tee bereitete, da ging Kriſtine ruhig und feft zu ihrem Vater, ſank vor ihm auf die Knie und ſah Ihm burch flim⸗ mernde Tränen an.

In ihrem Zimmer riegelte fie fih ein, fuchte unter ihren Sachen und legte dies und jenes, eine Heine grüne Saffian⸗ mappe, ihren Schmud, alles, was leicht gu fragen war und wenig Raum einnahm, sufammen; fie tat bieg unter heißen Tränen, aber nicht haſtig. In ihrer Seele lebte ber Gedanke: „Wie mich mein Vater nicht verlaffen bat, werb’ ich dag Kindchen nicht verlaflen.” Das allein ſtand feft, fonft wogte alles in Schmerz, Dual und Verwirrung. Das Bild ihrer verzweifelten Mutter war wie eingebrannt in ihr.

Es wurde leife verfucht, die gefchloflene Tür gu öffnen. Kriſtine fuhr zuſammen, verbarg mit zitternder Hand bie sufammengefuchten Sachen in ihrem Bert und öffnete. Annuſchka war es, bie Ihrem Kinde, an deffen Wohl niemand mehr dachte, Tee brachte.

Annuſchkas Augen waren did verfchwollen. „Armes Mürterchen muß trinken“, fagte fie mit verweinter, rauher Stimme. „Armes Möütterchen gefchlagen worden iſt! Nies mand helfen!” Annuſchka fagte das wild und sitternd und ſtrich Kriſtine mis Ihren flinfen Händen über bie gefchlagene Wange, „Ah ah gut’ Menichen auch böf’ Menfchen haben gewefen fein!” ſchluchzte Aunuſchka und hielt den Atem jetzt an, als „das Kind” ihr an die Bruſt ſank und das arme ges ſchlagene Geſicht in Ihrem Kleibe barg. Sa, da hielt Annuſchka maͤuschenſtille „Gute arme Here das nicht hätte leiden ges fan, Nie nein!”

„Annuſchka! Annuſchka!“ ſchluchzte Kriſtine und klammerte ſich an ſie an in ihrer Angſt. Und indeſſen ſie einſam und ver⸗ laſſen den ganzen langen Tag, von niemanden als Annuſchka

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aufgefucht, in ihrem Zimmer faß, das Annuſchka Ihr warm und behaglich geheizt hatte, da mußte ihre arme Mutter e8 lernen, ſich firengen Bliden zu fügen. Als fie fich erhoben hatte, um zaghaft zu ihrer unglüdlichen Kriſtine su gehen, da war es das erfiemal geweſen, daß diefe firengen Blicke fie getroffen hatten.

„Richt bach, befte Mutter,” hatte Profeflor Henneberg fcharf gefagt, „wohin foll das führen? Sch Bitte dich: Blei”. Ich werde dich ben Weg leiten, den du zu gehen haft.”

Profeſſor Henneberg ließ fih duch das jaͤmmerliche Aufs ſchluchzen der armen Frau nicht beirren. „Liebfte Mutter,” fagte er ruhig, „ich bin jeßt derjenige, der Im Namen unferes teneren, unantaftbaren Verfiorbenen su handeln hat, und ich denke in feinem Sinne zu handeln. Wie wärde er, biefer reine, eble Mann, einen Fled auf feiner Ehre ertragen haben?” feug der Profeſſor mit ernfter, fefter Stimme. „I frage did, teure Mutter, wie wuͤrde er es ertragen haben ?”

Statt dem Profeffor zu antworten, fanten Frau Pros fefioe Majunke und Mathilde wieder über Frau Ahrenfee ber, um fie mit Troſt und Liebe und heiliger Übergengungss freue gu beden.

Als es dunkel wurde, ſchwankten große Lorbeerbäume und dicht verhällte Palmen, diefelben, die Profeſſor Henneberg sure Taufe gefchldt worden waren, von polternden Leuten getragen, bie Treppen des alten Hanfes herauf, und bie Majunkeſchen Kinder flanden unten an ber Tür und ſchauten und fuchten von den Bäumen im Boräberfireifen Zweige zu ſtibitzen; und bei Ahrenfees oben begann ein geraͤuſchvoll gebämpftes Treiben; Menfchen Tiefen fläfternb Hin und her. Ein büfteres, herzbewegtes Heimlichtun breitete ſich wieder einmal im alten Hauſe aus.

Und als es ganz dunkel und ſtill auf der Treppe geworden war und alles Leben ſich ins Sterbezimmer gezogen hatte, da ſchluͤpfte Aber dieſe Treppe eine aͤngſtliche Geſtalt, in dichten

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Pelz gehuͤllt, hinaus in die dunkle Winternacht, in den dichten Schneefall und ging durch bie dunkelſten, engften Gaͤßchen und dann unten an ber Saale entlang, wo ber Schnee weiß und unberährt lag. Da ſchaute dieſe Geftalt wie eine arme, verftoßene Seele nach dem hellen Licht, das fie geftern behütet hatte, nach dem erleuchteten Zimmer, deſſen Fenſter über bie Gärten blidten, in dem jeßt fremde Menfchen Ihren Vater unter geäne Lorbeerbänme betteten,

Auf den wenig betretenen, noch fehneefrifhen Wegen, die an Hinterhäufern und Armlichen Hätten voruͤberfuͤhrten, traf fie vor einem der legten Häuschen einen Heinen Buben, ber im tiefen Schnee vor einem hellen Fenſterchen fland und weinte. Auf feine Wollmäge mit Ohrenflappen hatte fich der Schnee wie ein weißes Pelschen gelegt. Das Buͤbchen weinte ganz herzbrechend und fehlen völlig einfam zu fein, feine Seele außer Ihm auf ber laͤndlichen Straße, fo weit man fehen konnte.

Kriftine bileb vor dem Buͤbchen fiehen und fragte: „Wes⸗ halb weinft du denn?” Und. es fat Ihr wunberlich wohl, ihre eigene Stimme gu hören, ganz fo, wie früher fo ruhig, ganz fo, als wäre nichts gefchehen, als follte nichts geſchehen. Und das Buͤbchen ſchaute fie groß und erflaunt an, ſchnappte nach Luft, ganz wie Bimm Bimm es fat, wenn er befondere heftig geheult und gefchrieen hatte.

DDaͤrf nich ham,“ ſchluchzte es und die Stimme blieb ihm ans, „hab mei Vater das Bier verſchuͤtt.“ Und wieder meinte das Buͤbchen nach Herzenskraͤften. „Darf nich ham.”

„Du darfſt nicht heim,” wieberholte Kriſtine und hätte fih neben dem Buͤbchen hinknien und Ihren Kopf an bes Buͤbchens Kopf legen mögen, um mit ihm sufammen zu

Und fhon wogte es in Ihrer Bruft und ſchnuͤrte Ihe den Hals zu, als wollten Tränenfteöme ans ihrer flarren Ders zweiflung hervorbrechen aber fie ließ es nicht gu, fie bes

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die Glieder; fie wagte nicht, in das Licht gu treten, Daran hatte fie nicht gedachte. Sie wollte ein Billett loͤſen wohin? Nur fort fort und fo fland fie in einer bunfeln Ede und überlegte und fann in ihrer Herjensangft und wie ſchwer wurde es ihr, gu denken! Wie hatte der Weg fie ermattet und aller Sammer, der fie getroffen. Wann mochte denn ein Zug kommen?

. Und wie krank, wie tobesmatt fühlte fie fih! Beſchwerden, die fie bisher nicht zu fühlen, nicht zu beachten gewagt hatte, traten nun, nachdem alles verloren, in ihr Necht, quälten und aͤngſtigten fie und brachten ihr erfehredend in das Bewußt⸗ fein, was ihr bevorſtand.

Und da trat in dieſer eifigen Ede, in die der dichte Schnees wirbel bineinwehte, in die der Wind den lofen Schnee Ihr über die Füße feste, das Bild ihrer. Schwefter. Sie fah fie vor fih, ehe das Kind geboren war. Mit welcher Sorge wurbe jeder Schritt, jeder Wunſch, jebe Bewegung von ihr beob- achtet. Wie ſtand alles ihre gu Dienften! Ach ein einzig hartes Wort wäre allen als Verbrechen erfehienen! Und

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Ihe und ihre! Sie fühlte den ſchmachvollen Schlag wieder auf ihrer Wange brennen ſank wieder in die entfeßliche Stunde suräd, die eifern ſchwer Ihe überd Herz gegangen.

Die Nacht war lang, fie wollte warten warten warten, bis ihr ein Gedante käme, dem fie folgen fonnte. Und fo weinte fie letfe vor fich hin, meinte, big fie muͤder und immer muͤder wurde.

So verftrich eine geraume Zeit, ohne daß fih Leben auf dem Bahnhof geregt hätte; ein Gepädträger war langſam und fehwerfällig in ihrer Nähe vorübergefchlurft, langweilige Stimmen drangen durch das Schneegeftöber bis zu Ihe, und ein Bauersmann kam mit einem Wägelchen angefahren, Keiftine hörte, wie das Pferd fih den Schnee hin und wieder von den Dhren ſchuͤttelte und wie die Sloden beim Schätteln heil Hangen. Der Bauer war in den Bahnhof hineinges treten.

Es mochte wieder ein gut Teil Zeit vergangen fein, da famen eifige Schritte, bie elaftifchen Schritte eines vornehmen, intelligenten Menfchen; fie kamen näher und näher; ber Schnee fiel jet weniger Dicht und der gefallene Schnee leuchtete

fahl. Jetzt erkannte fie eine ſchlanke Männergeftalt, die bem

Bahnhof Haftig zuſchritt und diefe Geftalt näherte fich Ihr mehr und mehr. Sie fühlte, fie wußte, wer es war!

Ihr Schwager war es.

Das. Herz fand Ihr vor Todesangft fill, feſt druͤcte fie fih in ihre Ede hinein, preßte fih an bie eifige Mauer. Da blieb er ftehen, deſſen Bewegungen fie mit Versmeiflung ver; folgte wenige Schritte von Ihr blieb er fiehen. Sie hielt den Atem an. Sie preßte die Hande auf ihr Herz.

Ihr Schwager fuhr fih mit dem Tafchentuch über. die Stirn; er fehlen gelaufen zu fein.

Welches Entfeßen fie vor diefem Manne fühltel Er ſchien unſchluͤſſig zu fein, was er tun follte, ging ein paar Schritte and blieb wieder fliehen. Auf dem Bahnhof regte fih jetzt

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mehr Leben. Ein paar Hotelmagen fuhren an, der Gepaͤck⸗ träger fchlurfte fehneller, ein paar Leute kamen gegangen; der Bauer fah nach feinem Pferd. Einige Gasflammen wurden heller gedreht. Profeſſor Henneberg ſchritt jetzt ziel⸗ bewußt ber Treppe zu, bie in das Bahnhofsgebaͤude führte. Set wurde das erfte Signal geläutet ber Gepaͤckwagen fette fih in Bewegung und polterte auf ben Perron hinaus.

Kriftine wußte num, daß Ihe Schwager fie Hier zu finden glaubte. Man hatte fie vermißt; der Gedanke an Ihre arme Mutter ſchmerzte fie koͤrperlich, grub fich Ihe ſcharf ins Herr, und Ihe arme Mutter hatte wohl auch fchon ben Brief gelefen, den fie ihre gefchrieben. Ihre arme, arme Mama! Man hörte ben Zug heranbrauſen, immer näher und näher fam es und mit einemmal wie unvermittelt mächtig unb rollend. Jetzt gellte der Pfiff ein eiliges Treiben Keiner fonnte nur nach den Geräufchen, ben Rufen, dem Laufen und Poltern den Gang der Dinge verfolgen. Aber jebt ging der Iug fhon wieder und nun mußte fie erwarten, daß Ihr Schwager an ihr voruͤberkommen wuͤrde.

Sie wagte nicht zu fliehen. Sie ſtand totenftill, fie ſah nichts, fie empfand feine Nähe, er sing ganz dicht an Ihe vorüber, er ging zur Stabt zuruͤck. Die leiſen Schritte vers hallten fie öffnete die Augen; fie atmete wieber.

Nun aber wußte fie, Daß fie fich nimmermehr su dem Billetts ſchalter wagen würde aber was follte fie tun, wohin fich wenden?

Der Gedante, daß Ihre Schwager fie entbeden und über fie verfügen würde, erflarrte ihr Herz. Und wollte fie fich jebt aufmachen und geben, fo weit fie bie Füße truͤgen, wie weit würde fie fommen in dem hohen Schnee, fo unſaͤglich matt, wie fie fih fühlte? Da kam ber Bauer aus dem Bahnhofsgebaͤude und lud ein Faͤßchen auf feinen Wagen. Die Gasflammen wurden wieder Hein geſchraubt, der Ges padteäger und die Bahnbebienfteten fielen wieder in ihren

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mn .—. N ——

ſchlurfenden Schritt zuruͤck, eine Art, ſich vorwaͤrts zu be⸗ wegen, ſo zwecklos und gelangweilt, wie ſie einzig auf den oͤden Bahnhoͤfen kleiner Staͤdte im Gebrauch iſt.

Der Gepaͤcktraͤger ſchlurfte an den Wagen, unterhielt ſich mit dem Bauer, half ihm das Faͤßchen auf ben Korbwagen binden und Hopfte dem Pferd auf die Naſe. „Was is en in Rode lus?“

„Niſcht, das ich wuͤßte.“

Und ohne ſich zu beſinnen, wie im Traume, trat Kriſtine zu dem Bauer an den Wagen und ſagte:

„Wollen Sie mich mitnehmen? Ich will auch nach Rode.“ k Kriſtine ſagte das alles ſtandhaft und ruhig. Ste hatte nach allem Sammer, ber über fie hereingebrochen war, den feften Entſchluß jegt vor Augen, gu leben für ihre und fein Kind zu leben; und wollte fie bag, fo mußte fie feſt und ruhig fein.

„Die wärfch recht, wenn Se merfch zahlen. Zwei Mark koſt/s“, fagte ber Bauer.

„36“, antwortete Kriſtine.

„Haben Se Gepaͤck?“ feug er.

„Rue das“, und Kriftine bob ihre Reiſetaſche in die Höhe.

Der Mann nahm fie Ihe ab, legte fie in ben Wagen, rüdte auf dem Sig die Dede zurecht, ſchob das Buͤndel Stroh beffer vor, daß es ſeinem Fahrgaſt bie Füße waͤrmen konnte, half Kriſtinen In den Wagen, nahm vom Pferdehen bie wollene Dede, ſchuͤttelte fie, ſchwang fih in den Wagen und breitete die Dede über fih und feine Nachbarin. Das Pferbihen zog an. Die Schellen erlangen, und unter bichtem Schneefall sing es in die Nacht hinaus,

Viertes Brucch

Erſtes Kapitel

ps einem milden Vorfrähling, dee fehon alle Knofpen und Keime berührt hatte, daß file feucht in jenem lebens digen röflihen Braun fchimmerten, war ein harter Nachwinter hereingebrochen. Der Märzgenwind, ber ſchon fo lind ‚ges weſen, daß er in Heinen Blumenhaͤuptchen gefpielt, daß er den zarten, weichen Veilchenduft von ben Hecken hergeweht hatte, war umgeſchlagen, und bie Härte und Schärfe, bie auch verftedt in feinem wärmfien Hauche liegt, hatte die Ober⸗ hand gewonnen und Regen und Schneewolten vor ſich her⸗ getrieben, '

Yuf die ungeduldigen Keime, die bie Knoſpen fprengen wollten, war Schnee gefallen und ihr Eifer wurde abgekühlt; die Veilchen, die fich unter ber Falten Dede sufammendudten, hatten ihren Duft verloren. Die Stare pfiffen Häglih auf böchften Baumgipfeln Ihe Abendlied im Schnee und bem erfehnten Frühling war ein kurzer Einhalt getan.

Auf einen Waldweg, der unter jungen Buchen hinführte, war in gligernden Keiftallen ber hartkeuftige Schnee gefallen, der fich wie ein Eisuͤberzug um bie Zweige gelegt hatte. Die Sonne hatte ihn ermweicht und sum Schmelsen gebracht. Dann war wieder mit Sonnenuntergang ber eifige Maͤrz⸗ wind gefommen, und fo war er wieder erhärtel. Nun um die Mittagsfiunde fprang er von den Zweigen ab und riefelte auf dag geftorene, bürre Laub, dag leicht mit Schnee ges mifcht war, und auf ben fohmalen Weg.

Seit Stunden mochte niemand dieſen Weg befchritten

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haben, Heine Fußfpur war in das zarte Eisgeflimmer eins gebrädt. Es war ein rechter Märzentag, feharf und friſch, für einen forglofen Menfchen ganz angenehm; aber für Tauſende und aber Tauſende, die das Leben bedrädt und ges ſchaͤdigt hat, ſchwerer erträglich als eine ehrliche Winterfälte. Die fchrägfallenden, fcharfen, blendenden Sonnenftrahlen, der beißende Wind, die grelle Beleuchtung, alles ſo erregend und durchdringend.

Der Weg führt über Hügel und durch Täler, Ausläufer des Thüringer Waldes, durch eine freundliche lichte Gegend.

Jungholz, ſchlanke Buchenſtaͤmme, an die fih Hin und wieder Fichtenunterholg fehmiegt. Leichtes Auf und Nieder der Wege und Pfade, drüben auf dem Hügel dichter Fichten; wald. Auf dem Wege unter ben jungen Buchen hin geht das menfchliche Wefen, dag dem unberührten Pfad die erften Fußſpuren aufbrüdt, ein junges Weib in einen warmen Delz gehuͤllt, eine Reifetafche und ein Heines, feft sufammens gefhnärtes Bündel in der Hand. Ste geht langfam. Ihre Geſtalt und Ihe Gang verraten, wie muͤhſelig ihe bag lange Wandern fällt, jett, fo vereinfamt Im eifigen Maͤrzwind, bergauf und ab. Wohin mag fie wollen?!

Wohin? Das iſt die Frage für ungesählte Ungluͤckliche. Wohin? Da würden fie ung mit ihren trüben, gleichgültigen Augen anfehen, wie aus einem ſchweren Traum aufgewedt. Wohin? Ya wohin? Wohin?! Wohin denn? Wir mwiflen’s nicht, wir werden getrieben: Wohtn? Vom Slüde, vom Mohlergehen ab, immer weiter ab von Freunden und folchen Herzen, bie ung verfiehen, bie es gut mit ung meinten, treibt es ung in bie Vereinfamung, die für die Elenden und Ver; laffenen immer bereit if. Gott weiß wohin! Fragt dag duͤrre Laub, das der wilde Herbftfturm vor fich hertreibt, wohin es will. Es gibt euch genau diefelbe Antwort. Es wird getrieben und laͤßt fich treiben.

Bom legten Zufluchtsort hat fie ein frecher Blid ver⸗

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trieben, eine freche Frage, Die Tobesangft, entdeckt zu werden, ihrem Schwager überliefert zu werben, biefe Angſt, bie Ihe Tag und Nacht nicht Ruhe läßt, die fie Immer wieber ans treibt, aufjagt.

Sie will den Ihren nicht in bie Haͤnde fallen!

Sort fort fort immer wieder fort!

So war fie jet wieber auf und Davon, wie im Fieberwahn.

Ste wollte nah Blankenhain, einem Heinen Neſt, von dem fie nicht mehr als ben Namen wußte; nur nicht bleiben, wo fie war! nur das nicht!

Sie Hatte ſich erft einen Wagen nehmen wollen aber das koſtete gu viel, das war fo befchwerlich einzurichten.

Und niemand follte wiſſen, wohin fie gegangen, feine Menichenfeele.

Und es follte nicht weit fein, Ste wollte Iangfam hin⸗ gehen immer wie im Fieber Immer in Angſt wie ein verfolgtes Wild. |

Sie ift jet in hohen Fichtentwald getreten.

Da rauſchen die Baummipfel, ba tft Das Licht nicht fo grell, da iſt tiefe Einſamkeit wie in einer leeren, Falten Kirche.

Das Grün der alten Tannen nach all dem hellen Liche!

Da ſinkt das arme Geſchoͤpf in Verzweiflung hin, als wäre bier ihr Biel. " |

Sie kann nicht mehr weiter! Ein Gefühl, das fie erſtarren laßt, das ihr dag Herz ſtillſtehen laͤßt, ift über fie gelommen.

Ste liegt unter einem Baum, den Kopf auf dem Arm.

In ihren Zügen Verzweiflung und Angft.

Herr Gott wäre fie nicht gegangen!

Da war e8 das Bange Angſtvolle das Schreck⸗ liche.

„Mamachen! Mamachen!“ fchreit fie auf, als wäre ihr ein Todesſtoß gegeben.

Aber die verzweifelte, einfame Stimme verklingt, bie alten Tannen raufchen vor fich hin, wie in tiefen Gebanfen. Die

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Erde ift kalt und hart, die Luft ſcharf und durchdringend. Sie iſt allein und hilflos, in ber ſchweren Stunde alles Bei⸗ ſtands bar.

Und „Ker!” und „Ker!“ jammert bie unglädliche Kreatur,

Das Raufchen im Walde wirb dumpfer, verhaucht, ſchwillt wieder. an. Ein Vogel pfeift in der Falten Luft fein Lieb: duͤ duͤ bi,

Da unter ihm auf dem grünen Moos traͤgt ein junges Weib ein gewaltig Städ des Leidens dieſer Welt, das große Leiden des Weibes, und wird wie von einem Meer von Qualen bins unb hergeworfen, von Dualen zerrillen und von Herzensjammer gepadt. Stunden vergehen, langfam, langſam, langfam und feelenerdbrädend, wie Emigfeiten.

Die Dual fleigt und fleigt, wird unerhoͤrt. Das geheimnis⸗ volle Ereignis des Lebens fchreitet erbarmungslos Aber dag arme Gefchöpf, als wollte es fie germalmen und vernichten. Der gemartete Körper zuckt und ringe. Ste hört ihre eigene Stimme und grauft fih vor diefer Stimme diefer jaͤmmer⸗ lichen, gemarterten Stimme.

Die Abendſonne ſcheint jetzt roſig auf die Fichtenſtaͤmme, die Schatten werden laͤnger.

Waͤhrend fie mit Schmerz und Angft Fampft, zieht durch ihre Seele eine Flut von Bildern ihr ganzes Leben ruhige, heitere Bilder aus ihrer Heimat, Erlebniſſe mit ihren

Eltern, alles fo behaglich, fo reich, fo liebevoll. Wie diefe

Bilder weh tun! Wie vergiftet fie find! Und dann bie ſchreck⸗ fihen Stimmen und Blide, bie fie ftrafen, die fle In die fremde Welt hHinausgejagt haben, bie fie noch immer jagen.

Ste fieht im Geift bie wohlgepflegte Hand Ihres Schwagerg, die glänzende Manſchette und fühle ben Schlag auf Ihrer Wange, diefen Schlag, ben fie bis and Lebensende fühlen wird,

Da ſchreit fie wild auf.

Es if kein Traum.

25°

Sie hat ja alles mit erlebe! MI dieſe Sorge diefe Um⸗ ſicht biefes Bangen biefes Helfen das Haͤtſcheln und Tröften,

« Sie faßt die Möglichkeit der Gegenwart nicht mehr.

Die Gedanken verwirren fih ihre, Ste leidet graͤßlich.

„Wie ein Tier! Wie ein Tier!” fchreit fie wieder.

Ihr Geſicht iſt verzerrt.

Und die Abendſonnenſchatten werden immer laͤnger das Rauſchen ber Taunenwipfel wie ſchlaftrunken.

Das leiſe Piepen der Voͤgel.

Alles neigt ſich der Nacht zu.

Die geheimnisvolle Abendſtille ſinkt auf den Wald nieder und bringt jenes Schweigen, jenen urweltlichen Frieden, der im dichten Tannenwald zur Daͤmmerſtunde wie ein Traum aus der uralten Erde jungen Tagen aufſteigt. Und die Tannen rauſchen die gewaltige Melodie dazu.

n der Waldesdaͤmmerung liegt ein zermartetes, zerriſſenes, blutendes Tier mit irrem, wildem Blick und was es kut, wie es ſich hilft, tut es in dumpfer Raſerei.

Men Kindchen! Mein Kindchen Mein armes, armes Kindchen!“

Das iſt eine Stimme, eine ſo unſaͤglich ruͤhrende Stimme, wie aus einer andern Welt; ſo treu, ſo uͤbermenſchlich gut, ſo hinſterbend.

Das heißeſte erſte Liebeswort iſt kalt dagegen.

Und das zerriſſene, verlaſſene Geſchoͤpf drüdt etwas an ihre Bruſt, warm angeſchmiegt, unter ihrem Pelz ganz eingehuͤllt und die armen, zitternden, ſchwachen Haͤnde halten es, ſo bang, als ſollte es ihr genommen werden.

Sie denkt nicht an die Nacht, die hereinbrechen wird an nichts an nichts auf der Welt nicht was ſie tun

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ſoll nicht was fie tun kann, nicht was ihrer in der Falten,

dunkeln, einfamen Nacht wartet nicht an den Tod an nichts. Eine unfäglide Schwäche iſt aber fie gefommen, eine Todesmattigkeit nichts weiß und ſieht fie mehr wie ein weißer Dunſt iſt es über fie gefallen, nur das winsige Weſen an Ihrer Bruſt empfindet fie wärme fie jede, auch die leifefte Bewegung von ihm durchſtroͤmt fie, wie etwas Ungeahntes, Unwahrſcheinliches, und fie ſinkt tiefer, tiefer in den weißen Nebel, ber über fie gefallen IE und ift fo matt, fo unausſprechlich matt. Es liegt fo ſchwer auf ihren Augen. Die Augen fallen Ihe gu. Aber fie will nicht einſchlafen, ſie will wachen.

Da liegt ſie in der Nacht, der ſchrecklichen, heiligen Nacht. Da hoͤrt ſie eben Kers Stimme. Sie ſieht ihn noch nicht aber ſie hoͤrt die Stimme! Sie iſt froh, die Stimme zu hoͤren, und jetzt fuͤhlt ſie das leiſe Sichregen an ihrer Bruſt da denkt fie träumt fie. Sie weiß, was fie im Arm halt weiß es nicht fie hält es auch noch ein wenig fefter, es foll gang warm an der Bruſt liegen. Sie hört einen ganz feinen, feinen Atem unter ihrem weichen Pelz. Uber bie leuchtende Nacht liegt doch auf Ihren Augen und dag ferne Meeresranfchen hört fie auch. Über ſich? Liegt fie denn auf den Meeresgrund ? Sind die Wellen fo weiß und leuchtend, die über fie hingehen? Und wie fie fie einfchläfern! fo wie nichts auf ber Welt und wie fie ihr ſchwer auf die Augen dbrüden. Und jetzt hört fie wieder Kerd Stimme und fie denkt, daß fie ihm alles alles alles erzählen will alles alles alles.

Sie hört feine Schritte nun wird fie Ihn fehen bald. Sie möchte aufftehen. Ste will gu ihm gehen. Ste kann aber nicht. Ihre Hand Halt den Pelz auf der Bruſt zus fammen, damit das Keine nicht von der Falten Luft ges teoffen werden kann. Es bewegt fich jeßt ganz leife. Sie fühlt fo ein winziges Händchen ober ein Füßchen ganz deut;

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lich. Das durchſchauert fie, und wieber wogt es Aber fie und legt fich ihr zentnerſchwer auf das Herz. Ste hört Schritte, ihr find es Kers Schritte. Da war es ihr, als wenn fie felbft gerufen hätte fo wie ein Schmerzensſchrei war es geweien. Sie wollte nach Ker rufen; aber es ging nicht. Sie rief nicht. Sie konnte ben Namen nicht rufen, die Zunge war Ihr fo ſchwer.

Aber die Schritte die Schritte Immer bie Schritte, und jest rafchelt e8 um fie herum.

Da hält fie Ihe Kindehen enger an ſich und kaͤmpft, fie will die ſchwere, wogende Dede von ben Augen haben und fie ſtoͤhnt dabei Teife das hört fie, als ſtoͤhnte eine andere und endlich endlich Bringt fie bie verwirrten Augen auf. Wie ſchwer das war! Da flieht fie tiefe Dämmerung um ſich her. Den erſten Augenblick fcheint es Ihr ganz dunkel gu fein, aber nach und nach erkennt fie alles um fich her. Da ſteht eine Geftalt vor ihre, ein altes Weib mit einem Reiſigbuͤndel auf dem Rüden, bie Arme eingeftemmt. Wie fam denn bie ber? Und das alte Weib ſchaut fo auf fie bin, fo wie auf etwas, was fie gefunden und was fie betrachtet, fo wie auf ein Wild etwa. Da fährt es Kriftine augſtvoll durch den Kopf, Daß dag Weib wohl wieder gehen könne.

iftine hatte bie Augen jegt weit offen aber fie war fo ſinnlos, daß fie fih nicht fallen konnte, Sie wollte etwas fagen; aber fie konnte nicht,

Da fchlug fie ein ganz Hein wenig den Pelz auseinander, und aus der Heinen Lüde Im Pelz ba sappelten winzige Fingerchen hervor,

Da ſchuͤttelte das Weib mürrifch den Kopf und brummte etwas und fland und fchaute Immer noch, ganz fo, als Hätte fie ein Wild gefunden, fo Betrachtend, als wäre, was fie ges funden, nicht ihresgleihen und Keiftine fielen bie Augen wieder zu.

3%

Das alte Weib fpeach zu fich ſelbſt: „Die mäflen wie nun (don mitnehmen jo jo jo das muͤſſen wie das mäffen wir mitnehmen. Jo und ſchlafen das wir mer jetzt das Rechte.” Damit rüttelte fie Kriftine ein wenig. „Sa fhlafen! Jo jo fo!”

Jetzt ſetzte fie das Reiſigbuͤndel ab,

„Gehen Se her —“ murmelte das Weib und griff nad dem Buͤndelchen, das neben Kriftinen aufgefnäpft lag.

„Windelhen! Windeln o jel” Da ficherte bag alte Weib ganz eigen, ganz fonderbar, als hätte fie bei einem jungen Rehkalb Windeln gefunden und mit ungefchidten Fingern biele fie Keiftine allerlei aus dem Bündel hin,

„Run geht's ſchon nun geht's ſchon, das wideln wir ums Kind dann geht's ſchon, dann gehts ſchon.“

Kreiftine tat, wie bie Frau fagte, mit übermenfchlicher Anftrengung; ganz ſchwindelnd, im Traum tat fie’d, aber ohne daß das Kleine aus dem warmen Pelz herausgeſchaut hätte. Dann wollte die Alte Kriſtinen das Kind abnehmen da.

Da kam einer. Ein Holzhauer war's, der heimging. Kriſtine hörte die Alte mie ihm murmeln dann fühlte fie fi emporgehoben und getragen.

„Iſt noch nicht wieder bei Verſtand“, erläuterte fich die Alte ſelbſt. „Uber daß alles fo abgelaufen iſt, wie s abgelaufen iſt jo jo, wenn eins verzweifelt 18 jo jo jo war ſcho efters do.

Nur immer Achtchen geben tut fi ſchon gleich fin mer da, nur Immer langſam langfam langem ſachtchen nur immer fachtchen.

So, da hätten wir wieder ein Widellindb mehr auf Erden” murmelte die Alte „mir is recht, wenn’s ihm auch recht is. Nur immer su. Unfereins würde fich befinnen, noch einmal zu kommen. Nice um ein paar hundert Mark taͤt's unfereing,

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Is mer erfcht unterm Rafen, da weiß mer, was mer bat jo jo.“

Die Alte nidte vor fih bin und murmelte:

„Sachtchen ſachtchen nur immer fachtchen”, und murmelte weiter.

„And gar fo unter bie vornehmen Leite neingeraten,“ meinte ber Holshader, „wenn’s einen nich wollen uh je! uh je! Ja, wenn f’es wegblafen keunten! dann ſchon dann ſchon!

Was wird denn Notpläß aber fagen ?”

Die Alte blieb ftehen. „Set is er ſchon daheim, der wird gude ei du mein Gott wird ber gude! Gelle ja? Mein Bett trägt er mir gleich in die Kammer. In der Küche, das is nichts, die Hühner dag is nichts.” So fummte und brummte die te ihre Gedanten laut weiter, wußte es felbft nicht, und Kriftine hörte und fah

nichts,

„Langſam ganz langſam. Sachtchen, nur fachtchen”, brummte die Mte „Immer fachtchen, fachtchen !

Tee den mach’ ich ihr, folang der Rotplaͤtz das Bett aufftelt ErdbeerblattsTee das warf. Die kaun lade Erbbeerblatt-Tee ber wird’8 ſchmecke.

Die Kleie in der Kammer, die tut kei Menfchen was, bie fol der Rotplaͤtz mir ja liege lafle, der Tauſendſakermen⸗ ter das Fenfter foll er aber verfiopfen, und feuern einfenern tu ih das macht das Maunnsvolk ewig nich recht das bringt man dem Mannsvolk ni bei Rotplaͤtzen ſchon gar nich. Zahlen tut fie mir ſchon mein’ fon.” Die Alte fah prüfend auf Kriftine.

„Fuͤrs Kleine da nehmen wie den alten Wafchlorb, und Heu finde fih auch.

Sie wird mich ſchon zahlen fie wird's ſchon.

Zubeden kann fie fich gleich mit ihrem Pelz.

Na, da wären wir ja, richtig, Rotplaͤtz hat ſchon

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Licht das ſchon dann is er auch daheim, na, ber muß mir gleich daran, ber wird den Kinern jetzt bag Abends brot kochen.“

Sin der tiefen Dammerung, keine fünfzig Schritt von dem led, auf dem die Alte das Mäbchen gefunden, fah man ein einftödiges, einfames Haus mit hohem Dach und hohen Senftern, auf das fie gugingen, ein ganz einfames Hang, es mochte ein alter Landfig fein; aber felbft in der Dämmerung machte es einen verlaflenen, verfallenen Eindrud; gan, am Waldrand fland es, und ein breiter Weg, mit uralten Kirſch⸗ baumen bepflanzt, führte auf das Haus zu, und Im Erd; geſchoß war ein erleuchtetes Fenſter zu ſehen; die Hälfte der Scheiben war aber mit Brettern vernagelt. Der Holsbader legte feine Laft in der Küche auf die Bank am Ofen, um Gottes Lohn.

Und wie die Alte vor fih hingemurmelt hatte, fo geſchah alles. Rotplaͤtz wunderte fih Rotplaͤtz trug das Bett aus der Küche in bie Kammer, in ber die Kleie lag.

Rotplaͤtz war ein langer, Inochiger Menfch in einer kurzen Sade und lehmfarbigen Hoſen. Er Hatte ein freundliches Geſicht und ſchob ben Kopf vor wie eine Schildkroͤte und machte feine Bewegung, ohne daß zwei Heine Buben hinter ihm drein waren.

Kriſtine lag mit dem Kindchen in der Heinen lauen Küche, auf der Bank am Dfen, ohne fih zu regen, ganz ſtumpf; und um fie her wirtſchafteten die Alte und Roftplaͤtz.

An der Nebenftube arbeiteten fie an einem elfernen Öfchen, man hörte fie puften und blafen und murmeln und hörte das Feuer prafieln, und Waſſer festen fie auf.

Und nicht lange dauerte es, da lag Kriſtine in dem Bert der Men in einer Stube, die nach Kleie roch; der Heine Dfen gluͤhte; Rotplaͤtz hatte auch ein Nachtlicht, das in einem zer; brochenen Kaffeelännchen ſtill brannte, hingeſetzt; „aus ber Fabrik“ Hatte er gefagt und auf das Kännchen gewiefen.

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Kriſtine Hatte auch ErbbeerblattsTee bekommen und jest lag fie ganz ruhig. Die Wände des Zimmers, das eins mal beflere Tage vor langer Zeit gefehen hatte, waren ſonder⸗ bar bemalt. An einer Wand ein fehr zerkratzter und vers ſchabter, feuerfpeiender Berg, der mit feinen Funken und Flammen und einer fürchterlihen Dampfwolte bie ganze Höhe und Breite ber Wand einnahm, bie er feit langer Zeit wohl hmäden mochte; und die anderen Wänbe waren ges siert mit lebensgroßen Jaͤgersleuten, die teils die Haͤnde in Muffen hielten, teil nicht, unb denen im Lauf der Zeit übel mitgeſpielt worden war. Sie hatten Nägel in den Nafen, den Augen, Ragellöcher in bee Bruſt, es fehlten Ihnen Arme und Beine, manchen fehlte ber Leib, manden der Kopf aber im großen und ganzen waren fie doch alle noch ba und nahmen fih merkwürdig aus.

Die Alte brömmelte in der Küche vor fih hin, Happerte und wirtichaftete. Sie hatten auch das Kindchen in einem alten Backtrog gebabet. Jetzt ſchaute die Alte sur Tür herein und fah nach Kriftinen, und wie fie die fo ſtill fand, ba ſchloß fie leiſe die Tuͤr. Kriſtine fah noch eine Welle vor fih Hin und neben Ihr aus dem Waſchkorb, aus dem Heu, da Drang fo ein feines, feines, frühlinghaftes, wunderzartes, Meines Stimmen, und diefe Tönchen drängten fih ihr and Her; und durchſchauerten Ihe Seele und Körper, Die ganze Welt alles alles verſank, nichts hielt dieſen kaum vernehmbaren winzigen Lauten fand. Alles Leid nicht, alle Todesqual nicht, keine Erinnerung, und bald fchltef auch Keiftine neben dem Kindchen tief und ruhig.

ur Stunde, als Keiftine und das Kind gebettet waren, das eiferne Ofchen fauchte, Die Wipfel der Tannen vor dem alten, verlaflenen Landhauſe nächtlih raufchten, das Nachtlicht in der gerbrochenen Kaffeelanne fladerte, und das Kleine fo ruhig und fein in feinem Heubett fiebte, und

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Kriſtine In tiefen Schlaf gefunfen war, der Duft des Erd⸗ beerblättersTees noch zart die Heine ſchwarze Küche durchzog und im Zimmer ſich mit dem Kleiegeruch verband, lebten fie in Jena im ungewiſſen über Kriſtinens Schidfal.

Mathilde Swenfen und Fran Profeſſor Majunke waren Frau Uhrenfee unerbittlich gur Seite in jedem Augenblid,

Die arme, aus dem Sluͤck vertriebene, rofige Frau fland ratlos zwiſchen ihnen und ihrem Schwiegerfohn und ihrer Tochter Dlga und wußte nicht ein und nicht aus, Sie war wie ein Vogel, den der Sturmwind aus dem Neft gefchlendert hatte. Wohin er fie gefchleudert, das war ihr fo fremd, ſo undegreiflih. Ste hatte nur ihr Neft gefannt, von ber samen weiten Welt nichts als ihr Neft und alle, bie darin eins und ausflogen, hatte fie fo fehr geliebt und war fo gläds lich mit ihnen geweſen. Und nun alles fort, lauter fremde Leute! Olga da war auch fo etwas Fremdes dabei, und was fie zuerſt im Gluͤcke bewundert, Digas Sicherheit in allen Dingen, bie Sehlerloftgkele im Hausſtande, die Eles ganz, bie Volllommenheit in allen Dingen, bei all dem wurde ihr jetzt fo Bitter weh, es legte fich Ihr alles fo fremd wie ein eifiger Reif ums Herz. Ihe Heim, Ihe guter Mann, ihr armes Kind, von dem fie nicht wußte, wohin es fich ges wendet das war ihre Welt, in der fie ſcheu in Erinnerung und in Angſt und Bangen lebte.

Die ruhige, glüädliche Frau Uhrenfee, bie ihr Lebtag feinen Kummer kannte, bie ihrem Hausweſen frieblich und frei und ſtolz vorgeftanden hatte, bie nichts Schöneres, nichts Beſſeres mußte als ihre Familie, die Hatte fo etwas Verängftigtes bekommen, ihre hohe, weiche Geftalt hielt ſich nachläffig vor⸗ gebeugt, ihr immer huͤbſch frifiertes blondes, welliges Haar war nur fo zur Not gleichgültig ein wenig zuſammengeſteckt. Sie erſchrak bei jedem Türgehen, bei jebem Geräufch, ers rötete wie ſchuldbewußt, wenn Ihe Schwiegerfohn fie ans redete, geübelte vor fih hin, ohne zu wagen, mit irgendeiner

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Seele offen zu reden und ſich aussufprechen, und führte in allem Behagen ein jämmerliches Leben feit dem Tode Ihres Mannes und feit dem Tode Kriſtinens. Sie wagte felbft nicht anders von Ihr zu fprechen, wenn fle mit Ihrem Schwiegers fohn und Profeſſor Majunkes und Mathilde zuſammen war, als von einer Toten fie wagte es nicht anders; und mit fremden Leuten da mußte ſie ganz gleichgültig von Ihr fprechen, von einer Reife, von einer Verwandten, fo etwas, fie wußte ſelbſt nicht recht was. Es mußte fo fein. In ihrem armen Kopf fah es verwirrt aus, und das Her; wollte ihr vor Jammer oft brechen.

Wie ein furchtbares Urteil, wie ein Todesurteil ſah fie es über Kriſtinen Tiegen, und fein Menfch konnte dies Ueteil aͤndern; es lag nun einmal unerbittlich auf ihre. Ste brauchte nur die Blicke, unter beren Bann fle lebte, fich zu vergegens wärtigen, da war fein Erbarmen, da war fein Abweichen von dem, was fie wollten, da war alles ehern und unbengs fam. Sa, und all diefe Blide, die das Todesurteil in fich teugen, konnten lächeln, ganz unſchuldig und höflich lächeln, mit fremden Menfchen Tächeln, konnten fo harmlos bliden. Kreiftine war aus dem Kreife ber Lebenden geftrichen, war ausgewiſcht, fie blickten fchon Aber fle hinweg. Annuſchka war nah Finnland zurädgefchide Man hatte von ihr bes fürchtet, daß fie in ihrer wilden Aufregung, in ihrer wätenden Sehnfucht nach Kriftine alles verraten könnte.

Sie hatte nachts vor Frau Ahrenfees Bert gelegen, und Frau Ahrenfee hatte fie heiß ſchluchzen hören, fo in die Kiffen hinein, fo verftedt, Nacht für Nacht. Sie meinte auch, wie man nur Aber eine Tote weinen kann.

„zu Kind mäflen Frau gehen; wo fein Kind?” hatte fie Frau Ahrenfee in jeber Nacht zugefluͤſtert. „Bald muͤſſen Stau gehen gu unfer armes Kind; mich mitgehen!“

Annuſchka hatte Frau AUhrenfee tief erregt Durch ihr nächts liches Schluchzen und durch jedes Wort, was fle ba fprach.

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Annufchla hatte an Ihr gegerrt, wie an einer Pflanze, die fie aus dem Boden reißen wollte. Ya, Annufchla begriff nicht, wie die Menfchen ganz wie Pflanzen fefigewachfen find. Sie fah Frau Ahrenfee völlig frei umhergehen. Sie brauchte ja nur gu laufen, dann wäre fie da, wo fie fein follte.

„Barum Frau nicht gehen? Warum Frau nicht gehen ?” batte fie wie gu einer Verruͤckten Nacht für Nacht geiammert, und hatte ihre die Hände gefüßt, und immer wieder geküßt, und hatte ben tollen Kopf gefchüttelt und wütend gefchluchzt, fo faſſungslos, fo unfinnig, daß man fie nicht Sänger bes halten konnte. Sie hätte das ganze Haus rebellifch gemacht.

Und der Abſchied von Annuſchka, wie war ber Frau Ahrenfee bitter ſchwer geworden. Ste erfchraf faft vor fi felbft, wie heftig fie an ber unfinnigen Annufchla hing, an einem fo weit unter ihr fiehenden Weſen ; aber es war, wie es war: Annuſchka fand Ihrer Seele jebt näher als alle miteinander und war ihre nun auch genommen. Und als Annuſchka fo ſtumpf und ſtarr mit ihrer Neifebegleitung, bie fih für fie gefunden hatte, fortgefchafft wurde, da ſchnuͤrte es Stau Ahrenfee die Kehle zu. Nur Mathilde jetzt nicht fehen, dachte fie damals, Mathilde, die Annufchka nie leiden konnte, und bie es für notwendig gehalten hatte, Annuſchka nah Hanfe zu fchiden.

Stan Ahrenſee wurde von ihren Angehörigen mit außers ordentlicher, gewiffermaßen weihevoller Achtung behandelt, fo etwa, als harten fie unter fich eine Maͤrtyrerin und Heilige, aber diefe Ehrfurcht vor ihrem geoßen Schmerz, diefe Achtung und dieſe Weihe beengten ihe das Herz wie dide Weihrauch⸗ nebel. Es legte fich alles wie ſchwere Feſſeln auf fie. Und biefe Ordnung, diefe vollendete Lebensführung, die Eleganz, die Vortrefflichkeit, Vornehmheit Ihrer Umgebung, die mit jedem Opfer erhalten werden mußte wie fie das alles fürchtete !

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nb mit ber Seit, ba fiderte ein Gerücht burch, wo man

Kriftine zu fuchen habe, erft ganz ungewiß, unglaublich, Doch nahm es mehr und mehr Geftalt an. Und als eine Schidung Gottes konnte man es anfehen, daß dies Gerücht gerabe in die Billa fiderte und nirgends anders bin,

Durch die ausgezeichnete Amme kam es auf, die aus ber Gegend war, in der fih Kriſtinens jammervollſte Zeit abs gefptelt hatte.

Sean Ahrenfee erfuhr von biefem Gerächte, feinem Aufs tauchen, feinem Deutlicherwerden nichts, alles fpielte ſich zwiſchen dem Profeſſor, Frau Profeſſor Majunke und Mas tbilden ab, und e8 wurde befchloffen, daß diefe zu Kriftinen reifen follten.

Zweites Kapitel

Men lieber Ker, ich bin ganz allein, ſie haben mich alle vergeſſen, auch mein armes Mamachen alle, alle —! Ich kann nicht ſchlafen, weil ſie mich ſo ganz und gar vergeſſen haben, es iſt, als fehlte die Luft zum Atmen. Mich will es oft erſticken, daß die Menſchen boͤſe auf mich ſind daß ſie ſo ſchlecht von mir denken!“ So ſchrieb Kriſtine in einer Fruͤh⸗ lingsnacht in das Unbeſtimmte hinein. Sie ſaß in ihrer Stube im Reisberghaus; das flackernde Nachtlicht im Kaffeekaͤnnchen warf ſeinen Schein auf die Wand mit dem verſchabten, feuerſpeienden Berg und auf die dicke Rauchwolke, die dieſem Berg entquoll, und Kriftine ſchrieb In ein blaues Schulheft. Das Kindchen fehlief in feinem Heukorb. Ste hatte es ganz neben fich gerüde, neben ihre ſchmale Kuͤchenbank, auf ber fie faß, und neben den alten Heinen Tiſch, dem Rorplaͤtz wieder zu zwei neuen Beinen aus Fichtenflämmchen vers bolfen hatte, damit das „Kretur” doch fiehen könne,

„Ss lebt es fich auf dem Grund des Meeres —“ ſchrieb Kriſtine wieder, nachdem fie lange, lange mit verweinten Augen vor ſich hingeblickt hatte, ganz in Gedanken verloren „Sein Menfch kann den Weg dahinunter finden und wer dba unten iſt, den haben fie verloren gegeben, ber iſt tot, der If nicht mehr; und wenn er dennoch wäre, da fäh’ er die Welt duch das Wafler wie einen Schein und das Waſſer geht über ihn bin, niemand kümmert fich meht um ihn, niemand ahnt etwas von ihm. Wie iſt ed ihm angft und bange! Wie hebt er bie Haͤnde wie fehnt er fih und niemand weiß etwas davon. —”

Kriftine weinte heftig, und durch Ihre Tränen ſah fie alles wie einen Schein, und fie bachte, daß es fo wäre, als ob fie durch tiefes Wafler hinauf ins Helle ſchaue.

Da rührte fih das Kleine in feinem Korb und ein Stimmihen wedte Kriſtine ans ihrer Verſunkenheit, ein

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Stimmchen noch Halb im Schlaf, fo leiſe quaͤkend, fo weich wie feuchte Fruͤhlingstoͤne. Da neiste fie fich Aber ben Korb und fah in blingende Augen; fie ſah zwei winzige feuchte Säuftchen, die in einen Heinen, fhimmernden Mund fi zwaͤngen wollten, baräber fingen die Tönchen an und gurgelten wie ans einer Wafferpfeife und Abergurgelten fi und quaͤkten wieder, fo zart, fo Hilflos, fo jaͤmmerlich. Kriftine nahm den warmen Heinen Kerl in die Höhe; da fehnaufte er ein wenig, fihnellte mit ben Beinchen und dem winzigen Körper, und Keiftine hielt ihn am fich gebrädt wie einen Bogel und ſchmiegte Ihre Lippen an das weiche Köpfchen, in dem das Leben fchnell und warm pulflerte und das einen fo knoſpenhaft zarten Duft ausſtroͤmte. Dann mwurbe das Kerlchen ruhig, ganz unverſchaͤmt zufrieden und lag an der jungen Beuft, und mwurbe fo warm gehalten, fo muͤtter⸗ lich und ſchnaufte und manchmal kam ein komiſch tiefer Atemzug aus ber zarten Kreatur ba hatte es fi ein wenig verfchludt und wieber ausgeruht, und dann war es wieder fo eifrig.

Kriftine hielt es wie ein Wunder, dag ihre Immer noch nicht ganz glaublich fehlen, mit behutſamer, leidenfchaftlicher Liebe. Und draußen war dunkelfeuchte Mainacht. Es sogen Wollen über den Himmel, und die Tannen raufchten. In der rauchigen feinen Küche lag die alte Stau in tiefem Schlaf, und Aber dem Zimmer von Keiftinen und dem Kindchen lag Rotplaͤtz mit feinen drei Kindern. Ste fchliefen auch alle vier feft und ruhig. Es war fo fill, fo nächtlih, daß Keiftine Ihr Her hätte fchlagen hören können, und fie faß In dieſer Stille der Mainacht, die zu dem halbgeöffneten Fenſter eindrang, fo ſorglich ruhig wie ein Madonnenbild in einer Kapelle.

: Wenn folch ein mütterliches Bid, vor dem bie Leute knien und es anbeten, feine Gedanken und Gefühle Außern könnte, fo würden es bie fehmerzlich leidenſchaftlich füßen fein, Die die Seele bes.jungen Weibes in ber einfamen Kammer bewegten.

400

30. Mat. Men guter, lieber Vater iſt noch immer mit mir alle anderen ſchweigen. Du und mein Vater! euch höre ich, ſonſt niemand. Und wie du In der lebten Nacht, che du gingſt, mit mir fpeachft, mein Ker, das wird mir num lebendiger. Was war mie damals das Elend ber Menfchen! Ein Wort! ein andaͤchtiges Wort. Unb daß bu bein Leben opfern wollteſt zu helfen, und daß bu mit den Elenden, ben Ver; laflenen, den Zertretenen ſtehen twollteft, für fie kämpfen wollteft, das fehlen mir fehr Ichön und gut von bir. Aber, mein Ker wenn bu zuruͤckkehrſt, da findeft du num eine, die e8 ans tiefſtem Herzen empfunden hat viele Tage, viele Nächte lang, verlaffen im Elend, befehimpft und verachtet, und die jetzt anfängt zu ahnen, daß es auf Erben undent; bares Leib gibt.

I. Juni.

fieber Ker, ich bin fo einfam, und wenn Ich mir vorfielle, daß alle Menfchen, die mich kannten, jetzt

wie von einem fchlechten Geſchoͤpf von mir reden, und daß ih überall ausgeftoßen bin, wenn ich an die entfelichen Blicke denfe, und daran, wie Er mich gefehlagen hat, gan ſinnlos vor Abfchen und Entfegen! Und wie mein Mamachen auf dem Boden lag und lachte und fchrie und weinte da faßt mich fo eine wilde Angft und Ich komme mir vor wie ein ſtummes Tier, das zu den Menfchen fprechen möchte.

Bt du, Ker, wie unfer Kindchen heiße? Peregrin, fo, wie bu einmal fagteft, daß die Menfchen heißen müßten, und wie das Bäbchen hieß, dem Ich im Schneegeftöber bes gegnete und das nicht heim durfte und dem ich ein wenig Gutes tat. Der Name legte fih mir damals ans Her, fo weich und ſchmerzlich und nun beißt unfer Kindchen fo.

26 Böhlen III. 401

as Rotplaͤtz für ein fonderbarer Menſch IH! Die

meiften Leute würben es komiſch finden, Aber Rotplaͤtz überhaupt nachzudenken. Wenn er fo gebädt geht, als fchöbe er einen Schubfarren, fo fieht er gang fonderbar aus, und .. vollends wenn er abends von der Fabrik nach Haufe kommt. Er hat fünfotertel Stunden laufen muͤſſen und macht Schritte, wie ich fie noch bei feinem Menfchen geliehen babe, und feine Reifen, harten Stiefel, die droͤhnen ganz dumpf, fo ungefähr wie fleife, Iederne Glocken. Man hört ihn von weitem ſchon. Wenn er feine geoßen Stiefel an hat, ba könnte er mit dem beften Willen nicht leife gehen; und wenn er ficht, daß unfer Kindchen In feinem Korbe vor dem Haufe fchläft, da fängt er an zu fchleihen das flieht aus, ald wenn er im Sumpf bis an die Knie ginge und nur mit ber größten Ans firengung feine Beine mit ben großen Stiefeln herausziehen fönnte; und wenn dann feine zwei Heinen Buben ihm ent gegenlaufen und die Buben ihren Poſten hinter den großen Stiefeln einnehmen fie find da immer, fowie der Vater ſich fehen laͤßt da fängt Rotpläg zu ziſchen an: Bft, Bft, bſt, fo laut er nur kann, damit feine Buben unfer Kindchen nicht anfweden; und wenn es fih dann regt, dann ſchaut er fi nach den Zungen hinter feinen Stiefeln um und brummt: „DaB die Rangen nicht Ruh geben können!” Es gelingt ihm aber nicht oft, ein böfes Geficht zu machen. Es iſt fo lang fein Geſicht, mit lauter Heinen Faͤltchen um die Augen und den Mund, und iſt immer fo sum Erbboden gewendet mit einer Freundlichkeit, wie der liebe Abendhimmel. Er iſt ein guter Menſch. Kaum iſt er sn Haus, fo fängt er am zu fochen. Sein Minchen, fein Heines Mäbchen, hat das Feuer ſchon gemacht und die Kartoffeln aufgefet, und dann kochen fie fih eine Suppe. Manchmal hat er auch ein Stud Fleiſch in feiner Taſche and Blankenhain mitgebraht da iſt bie Fabrik. Dann find fie alle ganz aufgeregt, und die alte Frau Birnſtingel läuft auch hinüber und ſchaut in ben Topf.

402

Frau Birnſtingel wollte unſer Kinbehen durchaus ans melden, wie fie fagte, und es follte raſch getauft werden; aber Rotplaͤtz iſt immer nicht gegangen, fo oft bie Alte auch gezankt und den Rotpläg eine Schlafhaube genannt hat. Als fie es ihn das erſtemal geheißen, war er zu mir herans gefcehlichen, Ich ſaß gerade vor dem Haus, und Peregrin fhlief bei mir da bat er gefragt: „Soll's angemeld’t warn?” und dabei auf Peregrin geblinzelt. Da wurde mir ſo angſt, und ich fragte, ob es denn durchaus fein müßte, „Muß fchonn,” fagte er, „aber muß vieles was. Nach ung hier draußen fragen fie nicht viel werben ſchon mal anges laufen kommen, die Gockel.“

Und nun iſt er Immer noch nicht gegangen. Wenn Rot⸗ pläß unfer Kindchen herumtraͤgt, fo redet er ed immer an mit „Pfannenſtiel“. Ich babe ihn jegt einmal gefragt, wes⸗ halb er es fo nennt, da fagte er: „Weil wir's noch nicht getauft haben, ſo lang heißen die Kinder hierorts Pfannens 6. Juni. e gut, mein lieber Ker, daß ich den ganzen Tag zu ats beiten babe, fonft wüßte ich nicht, was Ich alles er; tragen follte; aber Peregrin braucht mich den ganzen Tag von fruͤh bis In die Nacht, und er braucht fo viele Dinge.

Ich wafche auch für ihn dann gibt es allerlei zu nähen für ihn und für mich, dann wird etwas gekocht, dann will er getragen fein. Er gibt gar feine Ruh, und unter aller Arbeit da iſt mir's oft, als hinge eine fchwere, ſchwarze Wolfe über mir aus lauter Schnfucht und Erwartung und Verzweiflung. Aber folange ich arbeite, bald dag, bald jenes, unb immer jeden Augenblick nach Peregrin fehen muß, fo lange ſchwebt die ſchwarze Wolfe nur über mir, und erft nachts, da finkt fie auf mich herab und Halle mich ganz ein und tft fo dicht und ſchwarz und traurig, baß Ich nicht weiß, wo Ich den Mut zum Weiterleben finden foll. Wir

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brauchen bier ſeht, fehe wenig zum Leben. Bein Gelb reicht ſchon noch eine Weile. Deinen Pelz; foll Rotplaͤtz vers fanfen und bie Heinen huͤbſchen Schmudfachen auch nad und nach und dann wirft du ja kommen, mein Ker und mein Mamachen wieb auch kommen. Ich fuͤhl's an meinen: Heryen, wie es immer wartet und wartet, und tie ed immer unenbig if, auch wenn ich nicht gerade an alles benfe und mitten in der Arbeit bin, es liegt immer wie auf der Lauer. Wie oft hau’ ich eilig einmal zum Fenſter hinaus, man faun den Weg fo weit hinabſehen.

Und ich ſtehe ba auch oft mit Peregrin am Weg, ber Weg tft gepflaftert, aber wie eine Wieſe mit Gruͤn überwachen, und da ift mir’, ald wenn biefer Weg mich mit der Welt verbänbe, und ale ob auf ihm alle, nach denen ich mich fehne, fommen müßten.

Rotplaͤtz ging einmal voräber, als er mich mit Peregrin fo fliehen und fehnfüchtig ausſchauen fah.

„Wied ſchon fommen wird ſchon kommen”, fagte er und tätfhelte wit feinen großen Fingern gang jaet und fein Peregrind Geſichtchen.

Und als ich nachts lag und Beregrinchen ſchlafen hörte, da war es das, was Notpläg gefagt hatte: „Wird ſchon fommen wird fchon fommen“, was mich fo troͤſtend eins ſchlaͤferte. Er hatte ganz das Rechte gefagt. „Wird ſchon kommen.“ Du wirſt ſchon kommen, mein lieber Ker. Das war das erſte, lebendige Wort.

10. Juni.

eregrinchen gedeiht recht gut. Er wird alle Morgen

in Frau Bienflingels altem Backtrog gebabet wie er da zappelt und ſprudelt! Da halte Ich ihn am Köpfchen, und ber Heine Körper wird vom Waffer getragen, und feine winzigen Beine sappeln fo wild und er ſieht fo roflg aus, und geflern bat er zum erftenmal, wie er im Waſſer fiedte, fein Mäulchen aufgefperrt, und feine Zunge lag wie aufgerollt darin, ganz

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hoch und da hat er mit ſo hellen, ſuͤßen Toͤnen gekraͤht, ſo ſilbernhell und dann geſprudelt, ganz wie ein ver⸗ gnuͤgtes Waſſerpfeifchen, ſo daß ich gar nicht gewagt habe, ihm ſein Maͤulchen auszuwaſchen, weil er immer dabei ſchreit und vor Zorn krebsrot wird und Ich habe Ihm ganz ans daͤchtig zugehört, dem Heinen Menfhen und wie Ich Ihn angezogen hab’, da find wir miteinander hinausgegangen in ben wunderfhönen Morgen, da hat er neben mie gelegen im Wald in der Morgenfonne und hat geſtrampelt und mit feinen Haren Augen in den Himmel gefchaut, und ich hab’ gefeflen und genäht und immer halb auf ihn und halb auf die Arbeit gefehen. Und wie gerade über ung eine Amſel pfiff, da hat fein ganzes Körperchen vor Vergnügen gefchnidt. Er hat's gehört.

Mein lieber, guter Ker das fieht alles fo aus, als müßte es fo fein. Unſer Kind fühle fich fo wohl auf ber Welt es tut gerade, als wäre alles ganz und gar in Drbnung, doch aus welcher Verwirrung entfland ed. Welches Weh und Unrecht Inden wir auf und und auf. Peregrin, auf alle, die ich Tiebte, und welches Weh trifft ung! Nein nein Du dürfteft nicht da fein, Du geliebtes Geſchoͤpf. Und wenn Ich daran bene, wie fie Peregrind arme Mutter in der allergrößten Dual wie ein armes Tier verlaffen haben und wie fie fih voll Augſt und Schreden und Vergmweiflung berumgetrieben bat fo elend, mein Ker fo über alles Map elend —! und wie fie alles überfianden hat und num neben ihrem Kindchen fist da wieder benfe Ich, wenn bie Menfchen alles wuͤßten und mir Ind Herz fehen könnten, fein Winkel follte ihnen verborgen bleiben, fie müßten mich wieder liebhaben, müßten gut von mie und von Peres gein denfen. Aber es ift Schande, namenlofe Schande für alle daß Peregrin und ich am Leben blieben.

Mein lieber, guter Ker, komm du nur! Du findeft jest ftatt einem Herzen zwei, die dich erwarten! Dies Wunder,

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Ker! Ich kann es immer noch nicht fallen! So ein fchwer errungenes Wunder! Was wirft bu denn nur fagen, Ker? Wie oft denke Ich mir’ aus, wenn bu kommen und Peregrin finden wirft.

enige Tage, nachdem Kriſtine diefe Zeilen in ihre Tages buch gefchrieben hatte, war ein Sonntag beranges fommen, ein heller, fommerlicher Sonntag.

Stau Birnfiingel ſaß auf ihrer Tuͤrſchwelle und firidte an einem alten Strumpf; bie fchwargen Hühner gaderten um Das Hans, ſcharrten und badten, wie es Ihnen von Gottes und Rechts wegen zukommt, ein Räuplein auf, zerpflüdten ganz unfehuldig einen dicken Maikaͤfer, ſchlangen Wuͤrmchen aller Art und ſtoͤrten mit ihrem moͤrderiſchen Behagen keineswegs den Frieden der jungen, friſchen Junipracht, denn wo ſich irgend etwas noch ſo harmlos regte, regte es ſich, um irgend einen lieben Naͤchſten zu verſpeiſen oder vor einem lieben Naͤchſten in Todesangſt zu fliehen. Das iſt die Ordnung ſo, und deshalb war es doch ein ſchoͤner, friedlicher Juniſonntag.

Kriſtine war mit Peregrin hinter das Haus gegangen, wo Peregrins Windeln zum Trocknen ausgebreitet auf dem Raſen lagen.

Da hörte fie ſchnelle Schritte, das konnte niemand anders als Rotplaͤtz fein, deshalb achtete fie auf diefe Schritte auch nicht. Nur, als ihr auffiel, daß fie fo beſonders und fo haſtig und fo lebhaft Iäuteten, fehlurften und bröhnten, wendete fie fih Halb um, und richtig, da bug Notpläg eben um bie Hausede und fadelte mit den langen Armen und wies auf Keiftinen —: „Ste kommen fie kommen!” vief er ges daͤmpft, mit vor den Mund gehaltenen Händen und jeßt war er ſchon bei Ihe und fah In ein ganz totenbleiches Geficht, und fah ein paar Augen auf fich gerichter, wie er noch nie einen Menfchen hatte blicken feben.

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„Gleich werben fie dba fein; ben Wagen haben fie unten am Kirſchweg fliehen laflen und kommen zu Fuß herauf nur fachthen fachtchen!” Rotplaͤtz war aufgeregt und ſchaute ganz fonberbar auf Kreiftine und das Kind.

„Meine Mutter?” fagte Kriſtine mit einem rührenden, angftvollen Ausdruck, fragend und doch ſchon beftätigend.

„Es find ihrer zwei“, meinte Ropplaͤtz.

Und jegt ging Kriftine vorwärts und hielt ihe Kindchen mit beiden Armen feſt an fich gebrüdt, wie unbewußt zur Abwehr.

Set war bie Stunde gefommen die Stunde, ber fie fo bang und fehnfüchtig gewartet hatte. Kriffine fühlte nicht, daß fie ging, fah und hörte nichts, und nur, daß fie jet wieder bei Ihrem Mamachen fein würde, das empfand fie wie im Traum. Und wie fie um das Haus bog da ſtand fie vor Frau Profeſſor Majunfe und Mathilde Swenfen.

„Es find ihrer zwei”, hatte Rotplaͤtz geſagt, und fo fah fie fih hoffnungslos nicht weiter nach der um, die fie fo fehr erwartet hatte.

Ihr Herz aber zog fich wie in einem Krampf sufammen, und fie fand da, feſt aufgerichter, Ihr Kind im Arm, den Kopf erhoben, und blidte fragend auf die beiden Reiſe⸗ gefährten, und diefe fahen wie verwirrt auf fie. Sie mochten ein ganz anderes Bild zu fehen erwartet haben.

Ste fahen fich beide an und bemerften, daß eine fo erſtaunt war wie bie andere.

Mathilde Swenfen war die erfle, die dag Wort fand.

„Du ftehft ung fehr erſtaunt, Kriſtine, ſehr erſtaunt.“

Kriftine aber verzog noch immer feine Miene. Rorplaͤtz und Sean Birnſtingel ſchauten ber Sache wie einem Schaus fpiel zu. Frau Birnſtingel ſaß noch Immer auf der Haustuͤr⸗ fehwelle, die Arme und der alte Steumpf waren ihr auf ben Schoß gefunfen.

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„Here, mein Gott, wie iſt das möglich?” rief Frau Pros feſſor Majunke, „man teägt doch nicht feine Schaude am hellen Tag herum!” Damit zeigte fie auf Peregrin, ber feine Armchen hob und luſtig kraͤhte. „So gut wie wir hätte auch wer anders fommen und dich ſehen können!” ergänzte Mathilde,

Kriſtine fand aber immer noch ftumm und hielt Peregrin

noch fefter und ficherer. „Ihr Schwager,” begann jegt Frau Profeſſor Majunke feierlich wie eine Kirchenglode, „hat bie Sroßmut, als Ober; haupt der Familie, Ste wieder mit Ihrer Mutter vereinen zu wollen.”

In Kriftinens Augen leuchtete es auf.

„Sr felbft will und kann Ste nicht wiederfehen, was wir ihm gewiß hoch anrechnen mäflen, da er ein Ehrenmann duch und duch iſt. Sie follen“, fuhr Frau Profeſſor Mas junke feierlich fort, „von hier fo bald als möglich abreifen an einen Det, ben wie Ihnen beftimmen, und dort Ihre uns städliche Mutter erwarten

„Mama?“ rief Kriſtine erfchredt, „was iſt Mama ges ſchehen?!“ Das war dag erfie Wort, das fie fprechen fonnte, und fie ſtieß es angſtvoll, wie verzweifelt heraus.

Frau Profeſſor Majunke war e8 gelungen, das Wort „uns gluͤcklich“ ganz befonders unheimlich zu betonen.

„Deiner Mutter?” feug Mathilde, als traute fie ihren Ohren nicht, „Deiner Mutter? Und da fragft du noch?”

„Ihre Mutter?" ſagte Fran Profeſſor Majunfe, „wenn Ihnen das ganz nen iſt, werde Ich mir erlauben, e8 Ihnen gu fagen. Ihre Mutter hat Ihe Kind verloren ſchlimmer, als durch den Tod verloren und Sie fragen no, was Ihrer unglüdlihen Mutter gefchehen ift?“

Frau Profeſſor Majunke war mit ihrer Ausdrucksweiſe zufrieden. Kriſtine blickte ganz verwirrt mit weit offenen

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Augen, bie Worte tanzten fo unheimlich von Frau Profeffor Majunkes Lippen.

Da war fie ja wieder, die fchredliche Szene, bie ih am Sterbebette ihres Vaters abgefpiele hatte! Da laͤuteten wieder die wuͤſten Gloden und wieder trafen giftige Blicke wie Blige, und es wurden wieber Dinge gefagt, Worte gebraucht, die den Boden unter ben Füßen forteiffen.

Kriftine legte den Arm immer ſchuͤtzeuder um ihre Kind, legte die eine Hand ausgeſpreizt auf fein Köpfchen. Niemand follte e8 fchlagen und treffen können.

Und jegt ſah fie in Wirklichkeit Frau Profeſſor Majunkes Hand im fteifen, ſchwarzledernen Handſchuh, und diefe Hand legte fie auf Peregrins Körperchen.

In Kriſtinens Seele flieg es wie eine Ahnung auf.

„Bort von Ihm!” fagte Kriftine feft.

Frau Profeſſor Majunte aber war volllommen vorbes reitet auf einigen Widerfiand, fie hatte fih mie Mathilde ſchon darüber auf der Fahrt ausgefprochen.

„Was denken Sie denn?! Sie follen und auf den Knien Danfen, daß wie gefommen find, daß wir für das Kind forgen wollen und retten wollen, was an Ihrem verlorenen Leben noch gu retten iſt.“

„Gib es ihr doch”, fagte Mathilde mit fanfter, übers tedender Stimme. „Gib Ihr das Kind, es iſt für alles fo gut geforgt, Rriffine,“

Frau Profeflor Majunke fiel ihrer Freundin in die Rebe, Ste war fehr aufgeregt. „Kind fasft du? Das iſt fein Kind, meine Liebe, biefen heiligen Ausdruck bitte ich nicht gu miß⸗ brauchen.”

k Keiffine fland ruhig, Ihre Augen ſtrahlten vor Erregung und Schmerz.

„Stan Profeſſor Majunke,“ fagte fie eruſt, „ich verſtehe alles. Ich will Ihnen ein einziges Wort fagen: Es iſt mein

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Kind! Ich werde mich von meinem Kinde nie frennen, nie! Der bleibt bei mir!” rief fie erregt. „Mein Bater hat mich auch nicht verlaflen, und Hatte fein boͤſes Wort für mic, und feinen Zorn, und nur Biebe, und in feinem Namen handle ich. Ich weiß, was ich allen für Web beachte. Ih weiß und ſehe alles; aber ber bleibt bei mir.“

„Damit will du Doch nicht fagen, daß unfer ebler Ver⸗ fiorbener von deiner Schmach etwas ahnte?“

„Ich habe ihm alles gefagt”, antwortete Kriſtine und neigte fih über Ihe Kind, das unruhig wurde,

„Das ift nicht möglich, du luͤgſt!“ rief Mathilde. „Du lügft ſchamlos einen Toten im Grab gu beſchimpfen!“

Da hob Kriſtine den Kopf hoch.

„Here mein Gott, folch einen Narren trug bie Welt nicht, wenn dag wirklich wahr fein fol!” rief Mathilde. „Ich Hab’ es immer gefagt, Ontel Ahrenſee hat bie Kriſtine mie feinen unreifen Gedanken verrädt gemacht!”

„Mein Vater!” Keiftine war außer fih und ging mit fliegendem Atem auf Mathilde gu. Sie war big in bie Lippen bleich geworden.

„Ker!“ rief Keiftine laut, faßt unbewußt. Ker, verlaß mich nicht!“

„Ker?“ ſagte Frau Profeſſor Majunke ſtutzend.

„Ker,“ ſagte Mathilde „ja Ker! Das brauchſt du uns nicht zu ſagen. Wir wiſſen alles. Aber Ker, ich meine, dieſer ſaubere Ker hat recht lange nichts von ſich hoͤren laſſen dieſer Elende, den wir alle haſſen!“

Statt Ker aber, den Kriſtine in ihrem Jammer angerufen, kam von ſeinem Poſten Rotplaͤtz angeſchlurft und ſtellte ſich neben Kriſtine.

„Nun und Ihre Mutter und Ihr Schwager und Ihre Schweſter die moͤgen es tragen, wie ſie wollen,“ rief Frau Profeſſor Majunke aufgebracht, „um die kuͤmmern Sie

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fih fein Haar ob bie In Verachtung und Elend verfinfen, das iſt Ihnen gleichgültig, wenn nur dies unfinnige, unnoͤtige Geſchoͤpf da gedeiht!“ Frau Profeffor Majunke wies auf Peregrin mit einer Gebärbe des Abſcheus.

„Mein Schwager unb meine Schwefter find ihre eigenen Herren”, fagte Kriſtine wieder feft „und meine Mutter da rannen Ihr bie heißen Tränen herab, und fie konnte nicht fprechen, fie preßte ihr Geficht an Peregrins warmes Körpers hen, ber bie ganze Zeit ſehr geduldig und verftändig ges weſen war, nur manchmal hatte er gezappelt vor Vergnügen, gerabe, wenn Frau Profeffor Majunke fih auf Kriftine und ihn zu bewegte.

„Du gibſt und das Kind alfo nicht mit und willſt deine Mutter nicht auffuchen und mit ihr wie ein anfländiges Mädchen weiter leben, wie es fich gehört? Noch weiß kein Menſch außer uns von der ganzen efelhaften Sache bes finne dich, was du uf! Gib ung eine ernſte, ruhige Aut⸗ wort.”

„Nie!“ rief Keiftine heftig in feftefter Entfchloffenheit.

Rotplaͤtz fette jegt einen Fuß vor den andern und ſchob vorgeneigt, wie er immer ging, auf bie beiden Damen zu.

Für jemand, der Rotplaͤtz kannte, hatte bag burchaug nichts Schredenerregendes. Aber Frau Profeſſor Majunke und Mathilde wichen Angftlich zuruͤck.

„Seh mer geh mer nu!” fagte Rotpläg und rädte immer näher.

Mieber fuchtelte er mit den Yemen und machte allerlei geheimnisvolle Zeichen, was bie Neifegefährtinnen außer; orbentlich beunruhigte. Es fuhr ihnen duch ben Kopf, daß er feine Spießgefellen fo anlodte. Sriftine fam ihnen auch fo verwildert vor, wie fie fo fonberbar ruhig daftand, fo blaß mit den Haren, blauen Augen, die wie im Fieber glänzten, wie fie das Kind an ſich Hielt mit einer fo unſinnigen Leidens

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ſchaft wie ein Tier, das fein Junges nicht hergeben will, fo hienverbrannt, wo doch bie einfache menſchliche Vernunft hätte ſprechen mäffen! Sie fam ihnen vor, als wäre fie zu allem imſtande, eine ganz Verzweifelte, vor der man fid in acht nehmen muß. Und bie Damen retirierten mehr und mehr.

Rotplaͤtz, als er bemerkte, daß ſeine geheimnisvollen Zeichen nichts fruchteten, rief brummend nach dem Kutſcher, immer auf den Boden ſchauend, wie das ſeine Art war: „Brav ſchon brav das is andere Art bei uns. Bei ung gemeine Leite da is nich fo Dinge. Wir machen’d ſchonn durch mit den Kindern wir machen’s ſchonn durch fo oder fo. Aberſch,“ ſagte Rotplaͤtz, als die Gefährtinnen duch fein unwiderſtehliches Vorwaͤrtsſchlurfen dem Wagen, der inzwiſchen gewendet hatte, gugetrieben waren, „baß ich's nich vergeß, das richt” aus, daß fie dem Mädchen,” Not: pläg machte eine nit mißzuverfiehenbe Gefle, (diden follen umfonft tut's Mutter Birnftingel freilich nid. Noch hammer ſchonn noch Hammer ſchonn das ſchonn das tut's ſchonn noch. Aber nich vergeflen he?” fagte er und ſchante wieder auf die beiden mit feinem sutmätigen Lächeln. „Nich vergeflen Sie?

Und wenn das Mäbchen ihre Leute daheim hat, da fagt ihnen von mir aus, Daß ihr Mädchen im Walde geboren hat wie ein verlaufenes Schaf die Birnſtingel har’g gefunden daß Gott erbarm Vergeß das oh nid. Ihr beide werd, fcheint’8 mir, Sungfern fein na da muß mer Ihnen manches nachfehen was fo Jungfer id.

Na, abjeh, nichts für ungut.”

Frau Profeſſor Majunfe machte auf den Rüden des Kut⸗ ſchers mit dem Sonnenſchirmknauf nicht mißzuverſtehende Zeichen, daß er Iosfahren follte,

Sie war.fo aufgeregt, daß ihr das Sprechen unmöglich

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war. Der Wagen feßte fih in Bewegung bie Näber knirſch⸗ ten letfe auf dem weichen Sandboden.

Keiftine fand Immer noch auf demſelben Fled und flarrte flumpf auf den Wagen, folange er zu fehen war; dann hob fih ihre Bruſt, und ein Traͤnenſtrom flärzte ihr aus den Augen, und Peregrins Köpfchen wurbe ganz naß von Tränen. Und ohne einen Schritt vor⸗ ober rüdwärts zu tun, fant fie auf der Stelle zuſammen, wo fie während der ganzen Zeit wie eine Bildſaͤule geflanden hatte, und kauerte fich hin und weinte und meinte und ſchluchzte und Peregrin fpielte mit feinen fpigen Fingern in ihrem naffen Geficht.

Frau Birnftingel auf der Tuͤrſchwelle hatte ihren alten Steidfteumpf wieder in Gang gebracht und brummte allerlei vor fih Hin. Rotplaͤtz ſchaͤlte bei offener Tär Kartoffeln, und feine Beiden Heinen Jungen flanden und fchauten in aller Gemuͤtsruhe Kriftinen gu, wie fie meinte.

n dieſem Abend ging noch Rotpläg mit einem Brief in

der geoßen Fauſt nach Blantenhain und ſteckte biefen Brief vorfichtig in die Spalte bes Blankenhainer Poſtkaſtens, fuhr mit dem großen, breiten Zeigefinger bebächtig Aber dieſe Spalte Hin, um auch zu fpären, baß der Brief wirflih und wahrhaftig unten Im Kaften angelangt war, und fchlteßlich kehrte er noch einmal um und befchaute fih den alten Blech⸗ faften von allen Seiten, ob auch alles in Drbnung ſei, und ob er feine Sache, wie es fich gehörte, ausgerichtet haͤtte.

Sp gut und vorfihtig Rotplaͤtz auch das feinige In biefer Sache getan hatte, und unter fo heißen Tränen auch diefer Brief gefchrieben war, fo tft er dennoch nie an feine Bes fimmung gelangt.

Der Brief kam in die Hände von Profeffor Henneberg, der dachte an alles mögliche und bebachte alles mögliche, und wenn die Menfhen nicht aus tieffter Seele unwider⸗ ftehlih handeln, entſteht Mißgedeutetes, Mißverfiandenes.

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Er gab dieſen Brief nicht an Fran Ahrenſee ab.

Zuerft Iag er monatelang bei ihm im Schreibpult, ber Herr Profeſſor wartete ben geeigneten Moment ab, um ihn feiner Schwiegermutter zu übergeben.

Nach einiger Zeit aber war ber geeignete Moment vergangen.

Da ging ber Brief in Rauch auf, wurde Afche wie alles auf Erden; aber hatte das nicht ausgerichtet, was er hätte ausrichten follen.

„Rein Mamachen“, batte Keiftine in der bunfeln Stunde gefchrieben. „Ich leide fo bitterlich um Dich. Ich fehe Die immer vor Augen.

Mein armes, armed Mamachen!

Biſt Du denn viel allein?

Ich kann nicht atmen, wenn Du meinetwegen leideſt. Es drüdt mir wie ein großer Stein das Herz ein.

Mamachen! Mamachen! fie wollten mir heute das Kindchen nehmen.

Ich follte wieder zu Dir kommen und wir ſollten beide luͤgen ohne Ende luͤgen!

Damit waͤre doch nichts gut geworden? Damit waͤre die Schuld doch nicht geſuͤhnt.

Wir koͤnnten uns ja dann gar nicht mehr in die Augen ſeheu. Sie haben mir geſagt, daß es mir gleichguͤltig ſei, ob du litteſt. Wenn doch die Menſchen einander ind Herz fehen könnten! Aber das können fie nicht.

Was toll man tun?

Ich weiß es nicht.

Wenn Das gefcheben iſt, was nicht geſchehen follte, ift dag einzige: ſchweigen ſchweigen und tun, was man tum muß, denn wie will man Aber bag große Wafler, das ung von den Menfchen feheidet, mit Worten hinüberrufen? Wenn nur Du mich hörteft!

Wer will mich von meinem Kinde reißen? Ich fühle es, da iſt fein Geſetz und Fein Wille flarf genug auf Erben,

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Und wenn ih um Dich leide Tag und Naht und Immer Dein armes Geſicht vor mir ſehe, muß ic doch bei meinem Kinde bleiben.

Es iſt alles ſo herzzerreißend.

Wenn Du wuͤßteſt, was ich durchgemacht habe, welches Grauſen!

Fuͤr ſo eine Schuld, wie ſie auf mir liegt, gibt es denn da Vergebung?

Bringt da keine Qual und kein Entſetzen Vergebung? Nimm den ſchweren, großen Stein, der mich totdruͤckt, mir vom Herzen.

Deine arme Kriſtine.

Ich weiß gar nichts von Dir, nicht wo Du biſt und mit wem Du biſt. Niemand hat es mir geſagt. Ich weiß gar nichts.”

Und Kriftine mußte es hinnehmen, daß draußen in der Melt feit jener Neife der beiden Freundinnen eine gefpenftige Perſon unter ben Leuten ſich umbertrieb, von der man fagte, Daß es Kriftine fei. Es war ein fo bejammernswertes Ges fpenft, fo gefunten, fo verwahrloft, eine Perfon mit einem fleinen Kind, das fie ſchamlos wie ihre eigene Schande berumteng, ohne jebe Schen, eine Perfon, die ihre Mutter, ihre Verwandten verhöhnte, eine Perfon, ber jedes anfländige Gefühl abhanden gelommen war, eine Perfon, die Geld ers preßte buch Drohung. Und dies Gefpenft fiteg wie ein giffiger Hauch aus der Lente Mäulern auf, ballte fih sufammen und wurde immer efelhafter, immer elender und verächtlicher und giftiger, und folch ein Gefpenft, das Kriſtinens Doppels ganger hieß, das mußte fie draußen umberfchleichen laſſen, da konnte fie nichts tun, konnte fich nicht davor ſchuͤtzen, denn e8 war mächtiger geworden als fie felbft.

Und dies Gefpenft erfiidte das Mitleid, das fich hie und da hervorgewagt hätte, verbarb Ihr alles und jedes. Und ihre arme Mutter, der fih das entfegliche Geſpenſt der eigenen

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Tochter auch gezeigt hatte, die machte es finnlos; dieſes Gefpenft ſtuͤrzte fie fo in Verzweiflung, daß fie nicht aus noch ein wußte; fie wurde fo hilflos und rährend, daß fie bie Menſchen erbarmte.

Und es war doch in ihr immer dieſelbe Liebe zu dem ent⸗ arteten Kinde, immer dieſelbe weiche Liebe, die ſie im Gluͤck zu ihm hatte. Eine Liebe, die fo unſaͤglich ungluͤcklich macht, denn es war bie Liebe, die nur im Släd, im Behagen, in fanfter Ruhe gedeiht, nicht die Liebe, Die im Sturm feſtſteht, im Unglüd mädtig wird, im Elend göttlich Ift, die Menfchens furcht nicht kennt.

Und ſolch arme Herzen, die ſo und nicht anders lieben, die ſind, wenn das Ungluͤck kommt, wie Sommervoͤgel im Herbſte. Habt ihr einmal eine zuruͤckgebliebene Schwalbe im Novemberſturm ſich herumaͤngſtigen ſehen? Habt ihr bemerkt, wie ſie flattert, wie ſie verzweifelt hin und her ſauſt? So, gerade ſo machen es ſolch arme Herzen in der Men⸗ ſchenbruſt.

ls die Sache nun doch einmal unter die Leute gekommen

war, da hielt es Frau Profeſſor Majunke nun auch nicht länger aus, fie mußte gu Jekatirina Alexaͤndrowna, gu Frau Müller gehen, um von ihr Rechenfchaft Aber ihren Bruder su fordern, denn ſeit Kriftinens Ausruf bei der Begegnung am Reisberghaus war jeder Zweifel gehoben. Frau Pros feſſor Majunte mußte jetzt Jekatirina Alexaͤndrowna zur Rede ſetzen, trotzdem ſie wußte, daß dieſe ſchwer krank war und uͤber ihres Bruders Verbleiben ſo wenig etwas erfahren hatte wie ſonſt irgend jemand, und daß ſie damals, als Heinrich Ahrenſee noch lebte, dieſen um Rat gefragt hatte, welche Wege ſie einſchlagen muͤſſe, um uͤber ihren Bruder Nachricht zu erhalten, aber nichts erfahren hatte. Das alles war Nebenſache. Die Hauptſache aber, daß Frau Profeſſor Majunke durchaus ihrem Herzen Luft machen mußte. Und

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f9 begab fie fih auf den Weg gu dem von der Stadt abfeits und einfam gelegenen Haus.

Sie mußte lange, ehe ihr geöffnet wurde, Hopfen und an der Tür rüsteln, denn das Laͤutewerk war abgeftellt und gab feinen Ton von ſich, und fo hatte fie Muße, gu betrachten, wie fehr Jekatirina Alexaͤndrowna beftrebt war, fih von der Außenwelt abzufchließen; ber kunſtvoll in die lebendige Hecke verflochtene Stachelbraht, Drähte aller Art, der nichts weniger als Vertrauen erwedende Hofhund, einladende Tafeln, auf denen in dicken Lettern auf das freundlichfte auf Selbftfchäffe und Fußangeln aufmerffam gemacht wurde. Das alles Argerte fie außerordentlich. So eine Naͤrrin, dachte fie.

Stan Profeſſor Majunke war ſeit Menfchengedenten nicht zur hellen Tageszeit bei Jekatirina Alexaͤndrowna gemwefen.

Ste Hopfte und rüttelte von Zeit gu Zeit energifch, denn fie war durchaus nicht willens, unverrichteter Sache wieder abzuziehen, Endlich wurde Ihr von der Haushälterin, bie Jekatirina Alexaͤndrowna „bag Tier” nannte, geöffnet. Da erfuhr fie, was fie fchon wußte, daß Frau Müller felt Tagen ſchon ſchwer frank liege, an einem alten Herzuͤbel, und für niemand gu fprechen ſei.

Dadurch aber ließ Frau Profeſſor Majunke, die mit ihrem vollften Eifer gewappnet war, fih durchaus nicht abſchrecken. „Gehen Ste nur,” fagte fie, „ſagen Sie, ih kaͤme in einer fehr wichtigen Angelegenheit.” Die Hanshälterin tat nad einem fiummen Kampfe mit fich felbft, was Frau Profeſſor Majunke fie geheißen hatte, fie blickte fie fonderbar an, fchloß die TAr vor Frau Profeffor Majunkes Nafe, was diefe bes greiflicherweife empärte, und begab fich hinauf gu ihrer

„Wied Frau Müller ſehr angenehm ſein“, ſagte ſie, als ſie zuruͤckkehrte.

Frau Profeſſor Majunke folgte ihr ſtumm und entſchloſſen.

Frau Profeſſor Majunke fand Jekatirina Alexaͤndrowna mit ganz ſonderbar ſtarren Augen in ſchwerer Atemnot

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wachsbleih im Bette liegend, in einem aͤußerſt behaglichen Schlafjimmer. Es war das Schlafjimmer einer vornehmen Stau. Sie hatte es noch nie betreten und war von ber uns beabfichtisten Elegany nicht angenehm berührt e8 mochten ihr allerlei Erinnerungen und Vergleiche auffteigen.

In dem offenen Kamin brannte, weil ed draußen gerade grau und regnerifh war, ein leichtes Holsfeuer.

Geräufhlos nahm das „Tier” die Nefte eines minimalen Krankenfruͤhſtuͤks vom Tiſche und trug fie hinaus.

„Diefe Perfon”, dachte Frau Profeſſor Majunfe, „ift vors trefflich bedient und lebt wie eine große Dame.“

Sole Beobachtungen mwährten wenige Sekunden. Da war Frau Profeflor Majunfe wieder im vollen ungeteilten Eifer ganz fie ſelbſt ging auf Jekatirina Alexaͤndrowna zu, die wirklich erfchredend gelb in ihren Kiffen lag und mit der Hand eine angenehm begräßende Bewegung machte, während fie nach Luft rang. „Was führt Sie zu mir, Fran Profeſſor Majunke?“ fagte fie, „ich bin fehr Fran.”

Stau Profeflor Majunke hielt eine Entgegnung nicht für nötig, fondern machte ungefäumt Ihrem Herzen Luft.

„Ich komme in fehr befonderer Angelegenheit, ich wuͤnſche Ahnen aufrichtig Süd gu einem fo ausgezeichneten Bruder.”

„Sprechen Sie von meinem Bruder? Was hat man von ihm gehört?” frug Jekatirina Merändrowna lebhaft und beforgt.

„Run”, fagte Frau Profeſſor Majunke erregt. Es fehlen ihr, als wuͤßte Sekatirina wirklich noch nichts. Das goß Ol ind Feuer. „Ste willen alfo nichts?“ frug fie mit ber Stimme eines Nichters, ber fein unglädliches Opfer fchon völlig in den Klauen hat.

„Nein“, fagte die Kranke. Die Bruft bob fi ſchwer. Sie ſah unfäglich geqnält aus,

„Bitte“, fagte Jekatirina Alexaͤndrowna und blidte mit ihren großen, Maren Augen durchdringend auf bie Heine Frau,

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die vor Erregung, endlih zum Sprechen gu kommen, sitterte. |

„Ste wiffen wohl nicht, weshalb Keiftine Uhrenfee eigents lich ohne weiteres verſchwunden Ift, gleich nach Dem Tode ihres Vaters?“ frug Frau Profeſſor Majunke, die nicht wußte, bei welchem Zipfel fie die Sache zuerſt anpaden follte. Daß Jekatirina Alexaͤndrowna noch gar nichts wußte, gar nichts, wie es fchien, das hatte fie nicht in Erwägung gesogen; Daß man fo etwas überhaupt noch gar nicht willen konnte, bes frembete fie aufs Außerfte, und fo kam es, daß fie nicht mit der vollen Wucht, wie fie fih vorgenommen, auf Jekatirina Alexaͤndrowna einſtuͤrzen konnte.

„Alſo weshalb denn? Weshalb denn?“ rief Frau Pro⸗ feſſor Majunke entruͤſtet.

„Ich weiß es ja nicht!“ ſagte die Kranke ungeduldig. „Iſt irgendeine Verbindung zwiſchen meinem Bruder und Kriſtine Ahrenſee?“

Das war das rechte Wort fuͤr Frau Profeſſor Majunke, jetzt war ſie mitten drin. Und nun kam es, nun fand Frau Profeſſor Majunke auch die rechten Worte.

„So ftebt es?“ fagte die Kranke kaum hörbar, fehr ernſt, und war noch tiefer erbleicht. Es lagen tiefe Schatten unter ihren Augen und fie flarrte auf Frau Profeſſor Majunke, die fih mit beiden Händen an ben Bettpfoften hielt.

„Tun Sie, Bitte, die Hände weg, das ſchmerzt mich“, rang es fich Jekatirina Alexaͤndrowna von den Lippen. Jekatirina lag wie eine Tote, geftredit und ſtarr vor Dual.

„Iſt das Kind ſchon geboren ?”

Frau Profeffor Majunke flarrte der Kranken ins Geficht. „Das find doch Feine Ausdruͤcke! Alles am rechten Pla. So fpriht man doch nicht fo wie von einer ehr; lichen, ehelihen Srau und von einem ehrlichen, ehelichen Kinde!“

„Wie denn? Was ſagte ih denn? Ach frage: iſt das Kind

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fon geboren? Wie foll ich denn fragen? Haben Sie da andere Ausbräde ?”

„Leider nicht andere.”

„Ss 10”, fagte Sekatirina Alexaͤndrowna.

„a, e8 iſt geboren”, fagte Frau Profeſſor Majunke.

„Das arme junge Geſchoͤpf fo dumm fo unfchuldig nit wahr? Herszerreißend ganz berizerreißend.”

Frau Profeſſor Majunke fand wie hypnotiſiert, fteif, und hörte und wollte antworten und konnte nicht.

„And zu Haufe ift fie nicht, fagten Sie das nicht?”

Jekatirina Alexaͤndrowna ballte die wächlernen Hände, um einen Atemzug gu tum.

„Wo ift fie denn? Freilich freilich die Mutter iſt ja bei ihr! Wie hat fie die erfte Tochter gepflegt, wie ein Koͤnigskind es nicht befler Haben kann und die arme Aleine Berlafiene da wird fie tröften müflen ohne Ende. Es wird es foll ſchon gut werben e8 wird es wird ges wiß! Dunkle Schiäfalswege, armer Blondkopf“, fagte Se; Fatirina Alexaͤndrowna erregt wie zu fich felbft.

„And wo tft e8 denn geboren, das Kindchen?“

Stau Profeſſor Majunke hatte fich erholt. Sie fand das Wort wieder und teilte Jekatirina mit, was fie wußte.

„Über Gottes Strafgericht find wir nicht hinaus, guädige Frau.“

Frau Profeſſor Majunke warf ſich in die Bruſt.

„Sie hätten’8 vielleicht anders gewuͤnſcht, wie mir fcheint, meine gnaͤdige Frau. Nein, fie hatte Feine Hilfe, gar keine Hilfe. Und vordem, da hat fie fih umbergetrieben in ihrem Zuſtand ſchamlos, von Wirtshaus gu Wirtshaus, tft auch davongelaufen ohne zu zahlen das haben wir unterwegs gehört”, fagte Frau Profeſſor Majunke kühl „Gottes Mühlen mahlen noch immer recht ficher, verehrte Stan.”

„So —", fagte Jekatirina Alexaͤndrowna. Sie hatte den

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Kopf erhoben und Frau Profeſſor Majunke, während diefe ſprach, keuchend wie eine Erfcheinung angeftarrt, die Ihr vor dem Bette aufgetaucht war.

„Da habt ihr fie wohl in Angft gebracht, daß fie fort; gelaufen ift?”

„Run und die Mutter die Mutter! Die Mutter iſt Doch bei ihre? Und wo iſt Kriftine denn ? wo iſt fie denn?”

„Die Mutter iſt nicht bei ihre, und Kriſtine iſt in einer Spelunfe bei Berka, im Reisberghaus, wenn Sie“s zu wiſſen wänfchen, meine Gnaͤdigſte.“

Jekatirina Alexaͤndrowna blidte immer noch mit großen, ſtarren Augen auf bie winzige, sappelige, Heine Frau.

„Mund die Mutter, fragen Sie die Mutter die Mutter ?” fagfe Frau Majunke hoͤhniſch. „rau Ahrenſee iſt beſchuͤtzt worden, und man kann ſagen Tag und Nacht, bis dieſe haltloſe Frau endlich zu Verſtand kam. Glauben Sie mir, meiner Freundin und mir iſt das nicht leichte Amt zugefallen, dieſe Frau auf die Hoͤhe der Moral zu ſtellen.“

„So?“ ſagte Jekatirina Alexaͤndrowna und ſchaute ganz ſonderbar.

„Nun, und da iſt ſie doch nicht etwa allein mit dem Kinde?“

„Allein, freilich, was denn ſonſt? Sie ſteckt uͤbrigens bei allerlei Leuten.“ |

„Und wer ift denn bei ihr gewefen, woher willen Sie denn alles ?“

„Mathilde und Ih und Ich kann Ihnen fagen, gnädige Stau daß fih Gottes Gericht an Ihr ſehr Ichnell vollzieht. Wir fanden fie gefunten in jeder Weiſe patzig verkom⸗ men, ein Ritter hatte fih auch fchon gefunden. Es war alles, wie bet einer von Gott Gegeichneten.”

„Weiter! und was wollten Sie denn bei ihr?”

„Wie fragen Ste denn, verehrte Fran? Mich duͤnkt, es iſt nicht gerade am Platz, daß Ste das große Wort führen. Erlauben Ste mie!“

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„Beiter., Weiter! Was wollten Sie von ihre?“ ſchrie Jekatirina auf. „Wollten Sie ihr das Kind abnehmen ?” Wollte Gott, e8 wäre nicht gefchehen, das Eutſetzliche. Aber da e8 num einmal gefcheben.

„Sie feinen es ja zu willen, was wir wollten.”

„Das Kind fo einer armen, Heinen, verlaflenen Butter abnehmen! aber freilich freilig! Hat fie denn zu leben, tft deun geforgt für fie?“

„Ste hat ſchon dafür geforgt, verehrte Grau, feien Sie verſichert,“ fagte Gran Profeffor Majunke Höhnend, „fie Hat vorforglih ihren ganzen Schmud mitgehen laſſen.

„Das Kind wollten Sie ihr alfo wirklich abnehmen? Und dann follte wohl Kriſtine wieder Fräulein Kriſtine Ahrenfee in aller Unſchuld und Seligfeit weiter [pielen? 3a?”

„Run fehen Sie,” fagte Frau Profefior Majunke auf ihre alte, fpaßige Art, die fo beliebt war, „auch in Ihnen, verehrte Stau, ift noch einiger gefunder Menfchenverfiand und etwas Gottesfurcht ſozuſagen.“

„Nun und weiter da iſt ſie wohl gleich auf alles ein⸗ gegangen?“ frug Jekatirina Alexaͤndrowna geſpannt.

Sie war in tiefſter Erſchoͤpfuug zurüdgefunten. In ihren Augen aber lag unheimliches Leuchten.

„Ste hat euch das Kind nicht gegeben! Bravo! Bravo!” rief Jekatirina Alexaͤndrowna, feuchend im Kampf um Luft. „Wißt ihe denn auch, was das heißt? Sie will dad Keine gegen eine ganze Welt verteidigen, fo grenzenlos verlaflen wie fie iſt! o, fie weiß ed nun ganz gut was fie tut fie weiß es! Ein Leben voll Verachtung, ausgeftoßen, verfemt, arm, elend, verworfen, wenn fie ihre heilige Pflicht tut und bes Unrecht Folgen mutig trägt und gu Gnaden aufgenommen, wenn fie ſchmachvoll Ingt, das Heiligfie, was das Leben Ihr gab, vers leugnet und verläßt.” .

„Wenn dich bein Auge ärgert, fo veiß es aus und wirf es

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von dir!” fagte Frau Profeffor Majunke drohend. „Soll denn etwa die Familie mittun ?”

„Sa, ja”, fagte die Kranke ſchwer, und dann weiter ganz euhig: „Liebe Frau Profeſſor Majunke, Bitte haben Sie eins mal die Güte, mir den Stod dort hergugeben, den Stod mit der filbernen Kruͤce diefen ja danke. Ich merkte ſchon, wer su allem geholfen hat. Das iſt Ihr Werk, nicht wahr, Frau Profeſſor Majunke?“

„Moral ſagten Ste vorhin, daͤchte ih, Frau Müller?” rief Sran Profeſſor Majunke wie zu einer Harthoͤrigen, als fie den Stod überreichte.

„a, Moral!” wiederholte Jekatirina Alexaͤndrowna und ſtuͤtzte ſich im Bette mit dem einen Arm auf und hob den Kruͤckenſtock mit der Rechten drohend, daß Frau Profeſſor Majunke wie vor einer Beſeſſenen zuruͤckkwwich.

„Moral iſt Mitleid nur Mitleid nichts weiter, du infames Weib!” rief Jekatirina Alexaͤndrowna.

Frau Profeſſor Majunke ſtand verbluͤfft. |

„Ah verrädt find Sie! Verrädt alſo!“ rang es fich leiſe, aber heftig von den Lippen ber Heinen, abgemergels ten Fran.

Jekatirina aber fah nicht wie verruͤckt aus, fonbern mie eine Tote, bie von Haß getrieben aus dem Grab aufers ſtanden iſt.

„Bleiben Sie!“ ſchrie die Kranke herriſch, „bleiben Sie!“ Sie hielt ihren Stock, als waͤre ſie bereit, auszuholen.

„So laͤuft die Peſt umher, ſo wie Sie. Verpeſten, alles verpeſten! Das iſt ihr Werk das iſt's, zehntauſendmal verflucht das, was ſolch eine Beſtie Moral nennt!“

Frau Profeſſor Majunke ſah ſich aͤngſtlich nach der Tuͤr um.

„Bleiben Sie!“ ſchrie Jekatirina Alexaͤndrowna wieder.

„Nicht wahr, ſtrafen, richten, laͤſtern, verunglimpfen, Geſchrei machen, zertreten, weil etwas nicht iſt, wie

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the wollt, erwärgen, verwuͤſten, verſtoßen, ver; lafien, das iſt, was Sie Moral nennen, verehrte Fran Profeſſor Majunke, nicht wahr? Ste hat euch das Kind nicht gegeben euch Ihren wütenden Feinden nicht? Das iſt freilich ſchamlos freilich!”

Jekatirina Alexaͤndrowna richtete ihre großen, Haren, feften Augen auf Frau Profeffor Majunke, und der war es, als hielten dieſe Augen, die aus dem totenbleichen Geficht leuch⸗ teten, fefter als zwei Faͤuſte. Ste fland und konnte nicht, wie fie wollte das war dag erſtemal in ihrem Leben.

Frau Profeſſor Majunke machte einen Verſuch, fich ftolz aufjurichten, und wendete fi ber Tür zu, als wollte fie hoheitsvoll verſchwinden.

„Bleiben Sie, ich bin noch nicht fertig!“ rief Jekatirina Alexaͤndrowna, und Frau Profeſſor Majunke blieb halbwegs ſtehen, ohne ihres Willens Herr zu ſein.

„Dieſer Blondkopf, die Kriſtine, hat ihr Kind Ihnen alſo wirklich nicht gegeben?“ fragte Jekatirina Alexaͤndrowna noch einmal mit eigentuͤmlich weicher Stimme. „Aus Scham⸗ loſigkeit? Nicht wahr, aus Schamloſigkeit?“

„Was weiß ich,” antwortete Fran Profeffor Majunke, „ich dachte, einer ehrbaren Frau und Mutter flände es nicht befonder8 an, über dergleichen unzuͤchtige Dinge nachzu⸗ denken und fi damit abzugeben und Darauf zu antworten.“

„Ehrbar?“ rief die Kranke jebt wieder In vollem Zorn, der Aber jebe Krankheit Herr war. „Ehrbar, Frau! Ehrbar? Wollen Ste damit fagen, daß Ste ehrbarer als ber Blond⸗ kopf find? He! Wollen Ste das vielleicht fagen ?”

Frau Profeſſor Majunke ſchickte fih an, gu ermwidern und Kraft zu ſammeln.

„Still jege! Nicht ein Wort!” rief Jekatirina Alexaͤu⸗ drowna ihre herrifch zu und ſchwang den ſchwarzen Ebenholz⸗ fiod, „Sch. denke an Ihre Kinder, Frau Profeſſor Majunke, ih denke an Ihre armieligen Kinder!” rief fie außer fich,

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m. WM: DE 3 5

„au Ihre armfeligen, elenden Kinder! An alle Berwahrs loſung! An allen Unſinn! An allen erbaͤrmlichen Leichtfinn ! An die ganze verrädte Wirtfchaft bei Ahnen zu Haufe! Ja, ja, regen Site fih nur, wagen Sie es nur, fpringen Sie mir an den Hals! Ach fchlage Ste! Gewiß, ich fchlage Sie! Kom; men Sie nur, fpreden Sie nur!

Mas meinen Sie benn eigentlih? Glanben Sie, Sie dürfen In aller Ehrbarkeit Kinder auf die Welt feßen, ing Elend hinein, wie es Ihnen behagt? Kinder, bie fo einem erbärmlichen, Franken, armfeligen Leben entgegenfehen, Denen die Kindheit in Unordnung, Ungepflestheit, Verkommenheit bingeht, Kinder, die Sie nicht imſtande find, gu erziehen und su ernähren, denen Sie nicht einmal fo viel Geſundheit und Lebenskraft mitgeben konnten, um das Dafeln und die Armut tapfer gu ertragen? Solche eleube, verlaffene Kreaturen! So ſchlecht bei Kraft! So neruds und ſchwach geraten, fo gelb und sappelig und fo en masse und fo erbärmlich erzogen, fo doppelt fchlechte Fabrikware!

Gehen Sie mir, Ste ehrbare Frau, Ste ehrbare Mutter! Gehen Ste mir mit Ihrem Zettel, der Ihnen fo etwas ges ftattet hat, folh ein himmelſchreiendes Unrecht, fo einen ſchmaͤhlichen Leichtfinn, den Generationen nun ausbaden muͤſſen! Und Sie, Sie wagen von dem armen, tapferen Blondkopf in verächtlicden Ausdruͤcken gu fprechen, in folcher lächerlichen Überhebung! Naiv und frech!

Gibt es denn eine größere Verfolgung und Verachtung, als bie, ber ein Weib ausgeſetzt Ift, die nicht nach Verforgung, nicht nach Vorteil fragt, nach nichts Verbrieftem und Ges fiegeltem, fondern die der großen Liebe einzig und allein folgte?

Und wer find die, die fol ein Weib am härteften vers folgen, am wuͤtendſten auf fie lostreten, fie am unfinnisften verachten? Die Weiber felbfl, diefe verrüdten Geſchoͤpfe!“

Jekatirina Alexaͤndrowna ſchwang heftig ihren Stod, „D du

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infames Weib!" Ihre bligenden Augen waren geifterhaft auf Frau Profeffor Majunke gerichtet.

„Ss, jest bin ich fertig —“, fagte Jekatirina Aleraͤndrowna keuchend. Sie zeigte mit ihrem Stod nad der Tuͤr. „So jegt gehen Sie!”

Frau Majunke ging ganz willenlos vorwärts, ſchaute nicht rechts und links und wollte hinaus, atmete ſchwer und machte eine Gebärbe, als wollte fie fagen: Ich werbe bie (don einmal dienen, wenn auch jetzt nicht!

Da ſchrie die Alte kreiſchend auf: „Halt, nehmen Sie Ihren Regenſchirm mit dort in ber Ede! Ich will nichts von Ihnen bei mie haben nichts fort fort!”

Im Augenblid, ald Frau Profefior Majunfe die Tür hinter fich geichloffen hatte, drüdte Jekatirina Alexaͤndrowna auf ihre Klingel und ſchrie nach ihrer Haushälterin, die fie das ‚Tier‘ nannte,

Und Fran Profeffor Majunke hörte Hinter ſich ber eine fhauerliche, keuchende Stimme, bie fie num fehr wohl kannte: „ziert Tier! Tier!” rufen.

ME die Haushälterin bei ihrer Herrin eingetreten war, fand fie diefe aufrecht, an allen Gliedern fchlotternd, mit von Krampf verzerrien Zügen im Bette ſitzen.

„Reisberghaus bei Blantenhain. Wir reifen! Wir reifen jetzt!“ fagte Selatirina Alexaͤndrowna zu ber verbläfften Dienerin. „Wir muͤſſen gleich fort.“

Die Haushälterin fchüttelte ganz bebenflih den Kopf. Selatirina Alexaͤndrowna aber hieß fie fofort einen Wagen beftellen und fchnitt alle weiteren Einwände kurz ab.

Und ehe eine Stunde vergangen war, fuhr eine Schwers franfe, die wachsbleich in Ihren Kiſſen zurüdgelehnt faß, laugſam zur Stadt hinaus.

Sie fuhren ben Weg nah Blankenhain gu.

Die Haushälterin faß oben auf Dem Bock bei dem Kutfcher und wußte nicht, was fie von der ganzen Sache denken follte.

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Es war ihre unheimlich dabei zumute und fie fchaute alle Augenblide fragend auf ihre Herrin. Sefatirina Alexaͤndrowna litt entfeglih an Atemnot. Aber: „Weiter weiter weiter I” war bie einzige Ants wort, bie fie dem ‚Tier‘ gab, wenn bie gutmätige Perfon fie ängftlih bat, umzukehren.

De es kam anders, als Jekatirina Alexaͤndrowna ges wollt hatte...

Spät abends fuhr unter dem hochgewoͤlbten Sternen, himmel hin, den Weg, den Kriftine einft in größter Lebens; not ging, ein gefchloffener Wagen langſam im Schritt. Er fuhr der Richtung nach Jena wieder zu; buch junges Buchen, holz, dann durch Selber, bie im Nachtwind leife ſchwelten und wogten und würzig nach Brot dufteten, zur Korns bluͤtenzeit.

Und außen auf dem Wagen, auf dem Kutſcherſitz, da faßen zwei, eng aneinanbergebrädt; kein Liebespaar, ein paar Furchthaſen, Denen es graufte, zuruͤckzuſchauen, und bie ben Pferden auf bie Köpfe fahen, um nicht rechts und links su fehen.

Sie hatten eine Leiche hinter fih, bie beiden, eine in bie Magenede weit surüdgelehnte Leihe und Das auf naͤcht⸗ lichem Feldwege in herzsbeflemmender Einfamfeit.

Jekatirina Alexaͤndrowna war plöglih am Herzſchlag ges fiorben, ehe fie Ihe Erlöfungswerk begonnen hatte.

Der Tod hatte Kriſtinen zum zweiten Male Barmherzigkeit und Hilfe verfagt. Das Leben komponiert feine Gefchichten wunderlich, nicht immer zur Zufriedenheit weiſer Kunftrichter, ganz nach eigener Laune.

Sp fam es, daß Keiftine allein blieb, für Jahre allein.

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Drittes Kapitel

8 iſt der Winter darauf. Kriſtine fchreibt in ihre blaues Heft:

Bor unferem Fenfler da hängt eine tote Amfel in ben fablen Zweigen am alten Kirfhbaum bie iſt das erſte, was wir am Morgen fehen. Peregrin hat fie zuerſt bemerkt und kraͤht und greift Danach, wenn fie im Winde hin; und ber; geſchaukelt wird, und wenn ich fo auf die zerzauſte tote Amfel ſehe, da wird e8 mir fo weh ums Her; fo weltverlaffen. Da halt’ ich Peregrin an mich und fühl’ fein kleines Herz ſchlagen und feh’ in feine Augelchen. Ker es find wirklich und wahrhaftig deine Augen, und wenn ich ihn fo halte und draußen der Schnee fallt und alles gleichmäßig einhuͤllt Weg und Steg dann iſt's mir, als wären wir zwei Mänfe, die unter einer Erdfcholle in einer weiten, weiten Einoͤde überwintern und an die niemand von allen lebendigen Weſen denkt. Und der Schnee fällt, der dichte, hohe Schnee, und vergräbt fie ganz; aber fie haben ed warm in ihrem Neft und figen ganz aneinandergefhmiest und weit, weit von ihnen, ba leben die Menfhen. Wir haben es auch warm, unfer eifernes Ofchen puftet und gluͤht und faucht manchmal, fo daß mir Rotpläg ein Heines Gitter ans Fichtenſtaͤmmchen darum gemacht hat, Damit Peregrin nicht zu nahe fommt, wenn er zu riechen anfängt. Unfer Sfchen ift ſehr wadlig, und Rotplaͤtz hat es gehörig ausfliden muͤſſen. Aber wenn e8 in ber Dämmerung glüht und puftet, Da iſt es unfere allergrößte Freude, unfer Schaufpiel, unfere beſte Ges ſellſchaft; da fegen wir ung beide gang nah, Peregrin und ich, und Peregrin firampelt und fehreit vor Vergnügen und quiekt und kraͤht und drüdt fein Köpfchen an meine Wange, und da laufen mir bie Tränen herab, denn es iſt gerade fo, als wenn er mich ſchon recht lieb hätte. Juͤngelchen, Juͤngel⸗ chen !riefich ganz glüdlich und brüdte Ihn an mich und dann

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kraͤht er noch luſtiger und ſchlaͤgt mit feinen weichen Hands hen mir ing Geſicht und legt fich wieder fo zärtlich, fo zartlih an mich. Sch bin nicht mehr allein!

Frau Birnſtingels Hühner gadern in ber Küche, und fie ſchlurft herum und fpricht mit fich felbft. Es kann fich nie, mand vorftellen, wie einfam es bier iſt fo recht ein Plag für Verlaſſene fo wirflih ganz verlafien.

nd hier in diefer verfchnelten, vergeflenen Ede, in dem

von aller Welt vergeffenen alten Haus, mitten im Schnee, da fchlagen zwei Herzen und brennen wie zwei Feuer für dich, mein Ker.

Zwei Winter fpäter. ch habe einen Gelbbrief aus Stalten befommen von meinem Mamachen, bie iſt bort mit Mathilde den habe ih aufgehoben für die Zukunft, Ker für Peregrin und dich, wenn du noch unter ben Lebenden Bift? Ich felbft vers diene mir hier etwas Geld, beinahe ſchon genug für mein Süngelden und mi und das iſt fo sugegangen. Rotplaͤtz Fam von der Fabrik nach Haus, und Ich faß gerade mit Peregrin unten bei feinen Kindern und hatte meine Arbeit mitgenommen. Er hilft mir und ich heif’ ihm manch⸗ mal und geb’ auf feine Kinder acht und lehre fein Heines Mädchen die Stube orbentlich halten und lehre fie die Suppe anfegen, damit, wenn ber Vater heimkommt, er nicht fo lange erft kochen muß. Und als Notpläs diesmal heim; fam, da zog er aus feinem Sad einen Teller und brummte: „Wenn Ich das hinbraͤchte da ſullt's beſſer fleden aberſcht aberfht! Das wird mer nifcht wären enen Gockel nee!” Und Rotpläb fah das Im Brand ges fprungene Tellerchen ganz trübfelig an. Es war wirklich ein Sodel darauf gemalt.

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Sch hab’ es mir auch angefehen und es ſchien mir gar nicht fo fehr ſchwer.

„Rotpläg,” fagte ich, „Ich glaube, das könnte ich Ihnen geigen, aber freilich, einäben müßte ich es erſt auch.“

Da hat mich Rotpläg ganz fonberbar angefehen.

Und ich habe mich gleich oben in meiner Stube darüber gemacht und ben Godel abgegeichnet; und hab’ es immer wieder verfucht, Bis wirfiih der Gockel herauskam, ganz ſchoͤn, und Rotplaͤtz hat mir dann Farben für ben Godel gebracht. Seitdem malen Rotpläg und ih Godel I bie Gockel, Rotpläg die Ränder denn mit erfchredlich vieler Mühe, Sonntags und Werktag abends, hab’ ich Ihm nicht den Godel beigebracht. Mir bringt er immer In einem Tragkorb einen ganzen Stoß Teller mit, und ich male auch fhon Karpfen, Spagen, Hühner auf große und Heine Teller na einem alten Mufter, und auch Schmetterlinge, und fo verdiene ich mir Geld, Das Schidfal forgt für mich und Peregrin hat jetzt eine Mama, die Ihm fein Breichen felbft faufen kann und auch feine Roͤckchen. Nun hat er alles von mir, fein Meines, füßes Leben, und alle Pflege und alle Liebe. Es iſt mein Kind mein Kind!

Die eine Welt, an der mein Herz hängt, nach der ich mich fehne, ift verfunten: du Ker, mein Vater, mein Mamachen, alle Liebe, alle Sreundfchaft, alle Achtung, alles Vertrauen, alles Verfiehen und meine Muſik, mein liebes, ſchoͤnes Zimmer der Garten das Meer das Boot alles verfunten Aber ein Heiner, neuer Stern iſt in ber geoßen, traurigen Ode aufgegangen.

Woern du mie zuruͤckkehrſt, wenn das Wunder geſchieht! in dieſer Hoffnung ſchreibe ich fuͤr dich fuͤr mich uͤber Peregrin nieder, was ich gern in der Erinnerung behalten moͤchte, wie es auch Mamachen getan hat, als Olga und ich Kinder waren und ba fihreib’ ich jetzt gleich für ung

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beide, für dich und mid und fo Gott will, auch für unfern Heinen Peregrin daß er jetzt in feinem dritten Jahre noch recht brollig fpricht, mit einem fo lieben Stimm; den es iſt feine dünne Stimme, rund und voll iſt fie, und doch weich, ganz wie er felbft iſt. Er ift ein braunes Kerl; hen, feft und firamm, mit großen, dunkeln, ernflen Augen, die ſehr fchelmifch ausſehen koͤnnen, und fo voll Liebe!l Mir ift oft bange, Ker, um die große, große Liebe, bie ich für Peregrin habe, fo eine angſtvolle Liebe, fo eine Liebe, als ftände fogleich der Abſchied vor ber Tür, als follte er mir ges nommen werben und dann, Ker! dann! Kann benn ein Herz alles ertragen? Auch wenn Das Lebte genommen wird auch das? Sag’ mir! Gibt es denn fein Ers barmen auf Erden?

eregrin fpricht Eomifch, und wie er etwag einmal benannt bat, dabei bleibt er.

Sein Roͤckchen, das nennt er ‚mein Zubind‘, und meine Korallenkette, die er immer Sonntags um fein Hälschen bes fommt, bie nennt er ‚Das Umbind‘,

Und geftern am Abend, als ich im Zimmer fige und nähe, und draußen iſt ſchoͤner Fruͤhlingstag, ba tut fich die Tür auf, und Peregrin gudt durch die Spalte.

„Na“, fag’ ih da kommt er angelaufen und fälle mir um ben Hals, und blinzelt dabei mit feinen biden Augen⸗ wimpern an meiner Wange:

„Piep piep piep Ich hab’ dich lieb!“

Wo er dag her hat, weiß ich gar nicht!

Mir hat es noch Im Herzen lange, lange nachgeflungen.

it Notplägen feinen zwei Jüngelchen, dem Zwillings⸗ paͤrchen, ſpielt und tollt er den ganzen Tag. Sie liegen wie die jungen Bären in ber Sonne, und überpurzeln ſich, und laſſen fich von Peregrin gehörig saufen, und felt Peregrin

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läuft, hat Rotpläß, wenn er im Hofe herumfchlürft, hinter feinen Stiefeln gar drei Juͤngelchen!

Srlseriei fehrieb der gute, tapfere Blondkopf in feiner Einſamkeit in das blaue, dicke Schulheft, all bie lieben, unfäglich herzerquickenden und bewegenden Dinge, bie eine junge Mutter mit ihrem Kinde erlebt bie frahlingshaften Geſchichten die erfien Keime des Bewußtſeins bie warmen Stürme, die in ben Heinen Kerlen toben, die fie fieampfen und wuͤten laffen, und die aus ber Knoſpe den fünftigen Charakter weden.

Dies ganze Früählingstreiben fchrieb fie nieder freu und innig und in rührender Hoffnung.

Es mögen in füller Hut ungezählte folche Tiebevollen Aufs zeichnungen von Mutterhänden ruhen.

ir hatten heute ein rechtes Gewitter, und Peregrin faß mit

Frau Birnſtingel auf der Tuͤrſchwelle. Ich mußte eifrig Zeller malen, und faß in der Küche hinter den beiden, und fah, wie er fi eng, ganz eng an Frau Birnſtingel rädte. Er if ein armer Furchthaſe und bei Gewitter iſt ee fonft Immer ſehr Angftlich, und zittert und weint. Ich fchante auf ihn Hin, denn er faß auffallend ſtill und griff fih nur manchmal an bie Ohrchen.

Frau Birnſtingel mußte bie auch bemerft haben. Sie fagte ganz kurz: „Na, es wachfen noch feine; halt Ruh, aber wann's bus dich noch länger fo fuͤrchtſt daun wärb’g fo, wie ich dir immer fag’, dann macht bir der liebe Herrgott lange Haſenohren“ und da faß er wieder ganz fillle und gebudt und fraß die Angſt in fih hinein fo ein armes Herz! fo ein geängfligtes Seelchen !

Und da habe ih ihn an mich gebrädt er war ganz bleich und hab’ ihn auf dem Schoß behalten, ba bat er feine Arme um meinen Hals gefhhlungen und fein Geficht

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an mich gepreßt! Ich fühlte fein Herz angfivoll pochen. Aber tapfer und brav iſt er Doch, Daß er froß feiner Angſt fo ſtill faß.

Und fei nur ruhig, mein Kind, durch mich follft du feinen Tropfen mehr Angſt fchluden muͤſſen, als das Leben, ohne daß ich’8 wehren kann, bie ſowieſo bringe und ber Birn⸗ ſtingel Hab’ ich es verboten, je wieder meinem Kind fo dummes Zeug beisubringen.

We hat Peregrin mich heute erſchreckt! Ich bin den ganzen Tag umhergegangen voller Sorge. Er war mir unheim⸗ lich, der Heine Junge und Ich habe Ihn gefragt und gefragt und immer wieber gefragt, als mäßte Ich fein Herz ergründen und er fah mich mit ben ernften, geheimnisvollen Augen an, die mich durchſchauern, die er manchmal macht, fo, als hätte er eine tiefe Seele ober gar feine, fo unergruͤndlich. Deregrin hat mit Rotplaͤtzens Jungen geſpielt. Ich fab fie wirtfchaften und rief zum Senfter hinab: „Peregein, was macht ihr denn da?” und Ich mußte immer wieder rufen, fie hörten nicht, fie hatten alle drei die Köpfe zuſammenge⸗ ſteckt und wirtfchafteten. ME Peregrin aber endlich Härte, kam er angelaufen und fland unter dem Senfter, ganz ers hist und rot und ſchmutzig.

„Was habt ihr denn da?”

„Einen Froſch feßnitten”, rief er leidenſchaftlich und eifrig. Ich rief ihn herauf und er kam angetrappt.

Und dann fragte Ich Ihn und fragte ihn, ganz angfluoll; immer wieber, aber er blieb immer gleichmütig, befchrieb, tie fie den Froſch zerſchnitten hätten mit einem ‚Siefer‘, das iſt ein Schleferftein, und Dabei hatte er immer bie tiefen, geheimnisvollen Augen und befam fo etwas Troßigeg, Feſtes in feinen Antworten, etwas fo Gleichmuͤtiges, daß ich gar nicht wußte, was ich aus Ihm machen follte.

„Hat er die denn gar nicht leid getan, ber Froſch?“

28 Böhlau III. 433

„Rein.“

„Saat er denn nicht gefchrien ?”

„Ja.“

„Und da haſt du's bach trotzdem tun koͤnnen?“ Mir waren bie Tränen in den

„So etwas, wie krr hat ber Broich gefagt.”

Wir haben den ganzen Tag nicht wieder von ber Sache

gefpeochen, weil ich es nicht wagte; aber ich Habe ihn mehr noch als fonft bei mie behalten. Am andern Tage gingen wir miteinander hinunter in unfer Gärtchen, das find zwei Beete, da sieben wir allerlei Gemäfe und auch Blumen. Ach babe mir die Beete für Peregrin und mich von Rotpläg herrichten laſſen. Ein paar Mofenftöde bat er mie auch gefauft, bie bluͤhen dies Jahr (don, und wir gingen miteinander und beſchauten alles und begoffen das Gemuͤſe, und ich fchnitt eine Roſe ab, um fie an mein Fenfter in das Glas zu fiellen. Da ſah Peregrin mich ganz befrembet an und fagte langſam mit feiner vollen Stimme: „Mama, hat denn die Rofe nis auch krr gefagt, wenn bu fie fnitteft?“

Ich konnte es nicht Aber das Herz bringen zu fagen: „Die fühle nichts.” Es kam mir fo bumm vor. Ich war fo froh, daß Ich ihn wegen des Froſches nicht geſcholten hatte. So ein Heiner Peregrin iſt nicht fo leicht gu verfiehen! Da hört oft alle Weisheit und alle Klugheit der großen Leute auf.

Spass ſteht Beregrin manchmal auf und fommt an mein Bett gefchlichen und fährt mir mit feiner weichen, runden Hand Aber das Geficht und wenn ich dann aufwache und ihn in feinem Hemdchen fliehen fehe beim fladernden Nachts lichtſchein, da weiß ich ſchon, was er will.

„Mamachen, haft bu mich auch lieb?” fragt er dann fo himmliſch zärtlich, daß mir bie heißen Tränen manchmal in die Augen fommen und ich gar nicht weiß, wo ich mit meiner

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großen Liebe zu Peregrin bin fol. Dann fehlüpft er in mein Bett und fchlägt die Armchen um meinen Hals, und ich halte ihn wie eine Welt voll Gluͤck an mich gepreßt und wenn Ich ihn mir dann tot vorftelle, das braune, herrliche Körperchen, die lieben Augen, den frogigen, zaͤrtlichen Mund da erflarrt mir das Her; das iſt ein Augenblid, den alles Gluͤck nicht aufwiegt.

Und wenn er mich meinen fieht, da iſt er fo gut, da fchleicht er auf ben Zehen, ba ftreichelt er mir Die Wangen, da frodnet er mit feinem ſchmutzigen Tuͤchelchen mir die Augen, und da fagt er jedesmal, daß bald bald bald fein liebes Papas chen kommen wirb und jeben Abend beten wir miteinander für ihn da halten wir ung ganz eng umfaßf und Beten für dich, Ker.

Geſern iſt der kleine Junge kniend in ſeinem Bettchen eingeſchlafen, er war ſo muͤde das ſah ſo ruͤhrend aus das arme Kindchen!

Ich habe immer vergeſſen aufzuſchreiben, daß Peregrin laͤngſt ein kleines Bett bekommen hat, ein wunderhuͤbſches Bett, das der Schreiner in Berka ihm gemacht hat. Die Birn⸗ ſtingel und ich, wir haben die Kiſſen genaͤht und den Sack mit Hen und Moos geſtopft, und ein Matratzchen mit Schaf⸗ wolle gefüllt. Abgenaͤht Haben wir fie, und als bag Ganze fertig war, und Peregrin bie erfte Nacht in feinem Bette ſchlief, ba war es ein großes Felt, da haben ihn alle ſchlafen gelegt, Rotplät und die Birnſtingel, und bie zwei Juͤngel⸗ hen, und das Heine Mädchen von Rotplaͤtz und Peregrin lag wie ein Prinz in feinen Kiffen und nidte allen su und blinzelte und freute fich.

eregrin fehläft oft des Nachts nicht da tut er mir immer fo leid fo ſtill mit großen, offenen Augen liegt er dann in feinem Bett, wenn Ich nachts aufwache und mich

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über ihn beuge, da fehe ich gerade in diefe großen, offenen Augen hinein, die fo ernft und ruhig fehauen, und dann lächelt er übers ganze Geſicht und fchlingt die Arme mir um den Hals und wenn ich ihn frage, weshalb er mich denn nicht ruft, wenn er gar nicht fchlafen kaun, ba fagte er neulich: „Ich brauch’ dich nicht, Mamachen, fchlaf nur!”

Das fagte er wie ein alter Menich, fo ernſt ach er weiß es ſchon, daß fein Mamachen nicht helfen kann. Dies lange, geduldige Wachliegen bei Peregrin macht mir oft Angft, es tft fo rährend, und es dauert nun ſchon lange an.

Neulich finde Ih Ihn wieder wach, mit großen Augen; aber diesmal lächelt er nicht, als er mich fieht, ſondern ſeufit tief auf und ſagt:

„Ach Mamachen, leg’ doch ein Laͤppchen vor die Haustuͤr und leg’ mich drauf, dann feh’ Ich die Sterne von Gott und denke, ich bin bein Händchen und bewach” dich, ich fchlaf” doch nich!“

Das klang ſo traurig, ſo verlaſſen, und ſchnitt mir ins Herz, und ich mußte vor ihm verbergen, daß mir die Traͤnen uͤber die Wangen liefen. Mein armes Kindchen hat ſo einen ruͤhrenden Zug in ſeinem Weſen, fuͤr ſeine Mutter etwas Herzzerreißendes ich kann es nicht genau nennen, ich weiß nicht, was es iſt und wenn er nicht ein ſo kraͤftiges Kind waͤre und ſo tollte und jagte und ſo ungezogen ſein koͤnnte, ſo heftig und zornig, ſo wuͤrde er mir noch weit mehr Angſt machen.

Ich erzaͤhle ihm ſo viel von daheim, von der Großmama, von meinem lieben Vater, von unſerem Haus, vom großen Meer, von meinem Boot, und da hoͤrt er ſo verſtaͤndig zu und fragt nach ſeiner Großmama und nach allen. Und ſeinen Papa erwartet er immerwaͤhrend, ganz wie ſeine arme, arme Mama es auch tut, und wenn wir ſpazieren gehen, da ftellt er fih breit vor mich hin und fagt mit einem fo wichtigen, fieahlenden Geſicht: „Und rar’ einmal, wenn

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wir um die Ede find, da fommt, da komme” und dann ſtuͤrzt er mit aller Wucht in meine Arme und fagt mir ing Ohr, fo weich und voller Liebe „Papachen !”

a8 wird denn nur aus meinem Kinde werben? Nies

manden hat’8 als feine arme, Dumme Mama. Wie foll die denn ihm helfen ein Brauer, Muger Menfch werben, der Gutes im Leben fchaffen kann? Wie foll die das? Mein Gott, wie foll ſie's denn ?: Sie kennt ja das Leben gar nicht und in diefer Einfamkeit, da wird fie immer duͤmmer und dumpfer und vergißt alles. Wenn ich denke, wie einfach geht mein Tag hin; ein wenig Geld verdienen, die Heine Mirtfhaft und Peregrin. Trauer um VBerlornes, und Sehnfuht nach guten Menfchen und Liebe, tiefe, tiefe Liebe zu meinem Kinde, Wer mich kannte, wer von mir weiß, fpricht Doch wie von einer Verworfenen. Ich bin doch mit Schmach beladen! ih und das Kind unausloͤſchlich! Wie dag niederdrüdt! Wie eine Laſt liegt es auf ber Seele.

Nachts, wenn die alten Tannen raufchen, biefe Einſamkeit, diefe Verlaffenheit!

Unmoͤglich, ſich verſtaͤndlich zu machen, unmöglich !

Was ſoll daraus werden?

Wir koͤnnen ja nicht ewig hier bleiben und ins Leben hinaus? da werden uns die Blicke treffen, dieſe verachtungs⸗ vollen, eiſigen Blicke.

Werd’ ich denn Kraft haben?

Sal

Aber Feine Stunde früher, als es fein muß, geben wir hinaus in die Welt, mein Peregrin, feine Stunde früher.

Und bie Zeit in der Einſamkeit hier ſoll nicht verloren fein, gewiß nicht.

Deine Mama muß eine große, ſchwere Arbeit suftanbe bringen, bamit du ruhig leben kannſt, Peregrin, damit du Boden unter beine Füße bekommſt.

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Wenn fie haltlos fih hinauswagte, ba würden fle ihr das Herz yertreten, da whrben wir beibe ein Leben führen, wie auf einem untergebenden Schiffe.

Sie muß die Menſchenfurcht verlernen, lernen muß fie Har und tapfer gu denken und feft gu fein. Sie muß erſtarken und lernen, ihre Recht vor aller Welt offen gu wahren Aber Du? Du?

Bon dem Tag an, als Rotplaͤtz mein Kind angemeldet bat als ben unehelichen Sohn ber Krifline Ahrenfee, von dem Tag an babe ich den Kampf gegen bie Menfchenfurcht begonnen den Kampf um mein heiliges Recht, das heilige Recht der Mutter, heiliger als alle Menfchenfagung. Mein Kind iſt's, mein liches, gutes Kind.

Damals, als Mathilde und Fran Profeſſor Majunke ges gangen waren, da bat Rotplaͤtz geſagt: „Run muͤſſen wir’s tun. Nun muͤſſen wir ihn melden und taufen auch”, und als er mich aͤngſtlich fah, da fagte er und fchaute mich fo mit feinem gutmütigen Gefihte an, und die vielen Fältchen um feine Augen und feinen Mund lächelten: „Ehelich oder uns ebelich, je, je, das iss nicht! Das macht nifcht, das laſſen Sie gut fein, das ſchonn. Und das follen Sie aber tun! Gott banken, daß ’8 Kind fo brav is und gebeiht, und daß mirfh hamm. Wären’s ſchon merken, waͤren's ſchon merfen. Alſo geh mer, gelle ja?”

Viertes Kapitel

n unſerm fillen Leben iſt etwas gefchehen etwas

Trauriges ich kann es gar nicht fallen. Rotplaͤtz iſt vor Gericht gekommen. Es waren ſo Wilderergeſchichten, und Rotplaͤtz wurde als Zeuge gegen einen Arbeiter, der mit ihm in der Fabrik iſt, geladen.

Er hat aber nichts ausgeſagt, obwohl er ſehr wohl alles wußte, und ſo iſt er als Hehler verurteilt worden zu vier Monaten Gefaͤngnis.

Der Rotplaͤtz iſt ein guter Menſch, wenn auch keine Seele in der Welt etwas davon weiß, und er ſelber auch nichts.

Seine großen Stiefel ſchlurfen und droͤhnen viel zu laut, als Haß irgend jemand noch etwas weiter von Rorplaͤtz denkt, wenn er ihn gehen flieht, ale baß eben feine Stiefel fchlurfen, und daß feine alte, kurze Jade auf ihm fit, wie der Sattel auf ber Kuh, und Daß er fih wie ein Sprenkel halt und ein langes Fabrikarbeitersgeſicht hat mit vielen Faͤltchen.

Mir, Birnſtingel und ich, muͤſſen num für die Kinder einfts weilen forgen.

Aber in der Fabrik ſoll er, gottlob, dann wieder eins treten.

Seit Rotplaͤtz fort iſt, da iſt's noch einmal fo ſtill bei ung,

eine Mutter bat mir gefchrieben, ſchon oͤfter, und Ich ſchrieb ihr wieder, aber noch verftehen wir einander gar gar nicht mein armes armes Mamachen. Wie allein biſt du! Und wie würden wir dich lieben, wenn du zu ung kaͤmſt. Peregrin wird nun ſchon zwei Sommer lang In dem Bach, der vor unferm Hauſe duch die Wiefen fließt, gebabet an jedem guten Tag, und das Ift ein großes Vergnügen, wenn der Heine, fehöne, braune Kerl in dem Haren, fließenden Waſſer ſteht zwiſchen den Wiefenufern da iſt er grenzen⸗

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108 Inflig, da fpeigt er und wirtſchaftet, und ganz befonderes Bergnügen macht es ihm, vom Waffer aus Blumen iu pfiäden.

Sole bummen Verschen lernt er fo leicht. Und vor dem Bad, daß ich es nicht vergefle, da fpielt er gefliefelten Kater und läuft nadt in der Wieſe umber und bat nur feine Stiefels den an, und ift fo feelenvergnägt, wie ein junges Tier.

eut bracht ich Peregrin gu Bett und betete mit ihm unfer altes Gebet, das wir immer eng aneinandergeſchmiegt beten. Als er in feinem Bette lag, fah er mich mitgroßen Augen an und fagte: „Du Mama, iſt's denn mit dem lieben Gott auch fo wie mit dem Niklas? Iſt der auch nur für Kinder?" Rotplaͤtz bat in diefem Jahr den Nikllas bei ung gemacht, bat Räffe und Üpfel gebracht, feine Kinder angebrummt, und Peregrin bat ihn gleich erkannt.

eregrin grübelt und denkt immer und fragt ohne Ende,

und wenn er einer Sache ganz ficher fein will, muß ich ihm bie rechte Hand Darauf geben, baß es fo und nicht andere if. Da kommen Gefchichten Aber Gefchichten. Bor ein paar Tagen ſtellt er fich in feinem Bette auf und fällt mie um ben Hals und fieht mich ernuſthaft an: „Mamachen, fag’ mir, ich will dich etwas fragen: bringt Der Storch wirklich Die Kinder? Der tft doch ein gang gewöhnlicher Vogel die liegen doch niche im Teih? Gib mir deine rechte Hand.” Da fagte Ic: „Man fagt das nur fo; Sort ſchickt die Kinder.“

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Da fiel ee mie noch fefleer um den Hals: „Dann weiß ich's,“ rief er, „die Engel bringen fie ba Bin ich froh! Ich mochte es nicht gern, daß ber Storch fie angefchleppt brachte.”

Herr hat Peregrin ſich mit einem Jungen vom Rotplaͤtz wuͤtend gezankt und gehauen, und ich ſagte ihnen, das duͤrften ſie nicht, ſie muͤßten ſich lieb haben. „Ach,“ meinte Peregrin, „man hat nur lieb, was mer ſelbſt ausgebrätet hat, und den hab’ ich nich” ausgebruͤtet.“

ies und mehr fehrieb Keiftine In ihr Kinderbuch; aber es

fam eine Zeit, da ſchrieb fie lange nicht. Peregrin war erfrantt. An einem Herbfinachmittag, als die Kinder draußen getollt und gefchrien hatten, fam er fo müde nach Haufe, ſetzte fich feinem Mamachen auf den Schoß und legte feinen Kopf an ihre Schulter, faß ganz fill und fchwer, und feufite manchmal tief auf.

Sein Atem, der Kriſtinens Hals traf, war fo heiß; Keifline fühlte fein Köpfchen an, das glühte und brannte, ba faßte fie das boͤſe, verzweifelte Erſtarren, baß fie fich nicht vom Stuhle erheben konnte.

„Run iſt e8 da nun iſt ed da das Ungläd!” Sie preßte ihn an fich und fah hinauf gen Himmel, wie ein ver; wundetes Tier, ohne Gedanken, ohne Gebet, nur In Tobesangft. |

Und nach diefem erftien Schreden kamen Nächte und Nächte, Tage und Tage, ſchwer und erbrädend, während beren ihre Yugen an einem gluͤhenden Gefichtchen hingen, während deren ihre Hände ein wildes, heißes Körperchen Immer von neuem einhällten, während deren fie fo ſchmerz⸗ liche Seufjer Härte von ben lieben Lippen; Peregring Augen waren in diefer Krankheit von Fieber befangen, und jetzt erft ſchienen fie ihr geheimnisvoll, wenn er ſtill und ruhig

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vor fih hinſah und die Heinen Pulfe flogen und der Atem fo ſchnell ging. Da lag fie auf den Knien vor dem Bettchen und blidte in biefe Augen, wie ein verzweifelter Menſch in tiefes, dunkles Waſſer. „Werb’ Ich jetzt zermacht?“ frug Pere⸗ grin in einer dunkeln, troſtloſen Nacht. Da ſtand ihr das Herz ſtill. Wer lehrte ihm die furchtbaren Worte ſo zu ſetzen? Bewußt und unbewußt fluͤſterten ihre Lippen immer das gleiche, immer vor ſich hin: „Wenn bu ihn mir nimmſt, dann nimm mi auch!“ Das Hang fo hart, fo wild, fo troſtlos; und immer wieder, immer wieber.

Und dann dachte fie, wenn fie num boch leben blieb, und wenn in Jahr und Tag Ker kaͤme, was fie da fagen wuͤrde; wie fie von Peregrin ſprechen würde, wie von etwas Vers sangenem. Da Tiefen Ihe die heißen, troſtloſen Tränen über die Wangen.

Manchmal rief fie auch nach Ihrem Mamachen, jammervoll hilfeſuchend.

Das erſte Aare Wort ihres Kindes, das zerſprengte Ihr faſt Das Her; vor Freude.

In der Zeit der Genefung, da hielt fie Peregrin wie ein Heiligtum; wenn fie ihn berährte, dankte fie immer Gott tn ihrem Herzen, und wenn Peregrin unvermutet fie etwas fragte, da kamen ihr die Tränen in bie Augen.

Wie er aber bie Krankheit abfehättelte und friiher und fräftiger wurbe, als vorbem, kam auch das Gefühl ins alte Geleiſe, und auf ein leeres Blatt in Ihrem Buche fehrieb fie: „Peregrin war fchwer frank.” Mehr konnte und wollte fie nicht fchreiben.

Rerlaen⸗ Steafzeit lief ab und er wurde zuruͤckerwartet. Und eines fhönen Morgens kam der Bote aus Berka, der zwifchen Berka und Blantenhain gebt, und brachte eine Poſtkarte.

„Motag aben kumm beim, Rorplaͤtz.“

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Eifrig ging es da im Reisberghaus gu. Frau Birnftingel mußte ſcheuern und fegen, e8 wurden aller Art Vorberei⸗ tungen getroffen.

Fran Birnflingel wurde ausgefchidt, Einkäufe gu machen zu einem Nachteflen, und fie war es, die auf ben Gedanken verfiel, am Abend zur Feier Lotto gu fpielen. Ste befaß fo ein altes Lotto, aber da fehlten Nummern und Glasſcherben sum Sablenbebeden. Das alles wurbe wieder inſtand ges feßt von Kriſtine und Rotplaͤtzens Kinbern. Aber bie Ges winne! Die wurden auch beforgt, bie brachte Frau Birn⸗ fiingel mit aus ber Stadt. Zuderwaren aller Art und Tabat, den immer Rotpläß gewinnen follte, und Zwirn und Nadeln, was bie Srauenzimmer gewinnen follten.

Und Frau Birnflingel verfuchte es vorforglich, Peregrin Mar zu machen, daß, wenn er den Tabak und ben Zwirn ges wönne, er ihn nicht behalten, ſondern eintaufchen müßte. Im Reisberghaus wurbe gebraten und gebaden, Frau Birnſtingel hatte für die Kinder einen Kuchen zuſtande ges bracht.

Und gegen Abend waren fie alle auf der Lauer und gingen Notpläßen entgegen.

Das war ein Wiederfehen, fo harmlos, als Fame Rotplaͤtz von einer Badereiſe heim. Rotplaͤtz mußte erzählen, und Keiftine und Frau Biruſtingel erzählten ihrerſeits; und dann das wunderſchoͤne Eſſen und bie glädfeligen Kinder und das Lottofpielen, und die Gewinne! An biefem Abend faßen in der Stube bei Rotpläß nicht Philoſophen beiſammen, Gott bewahre, die allereinfachften Leute von ber Welt. Aber Lottofpielen, wenn ber Vater aus dem Zuchthaus kommt, und braten und baden? Ja, wäre Rotpläß ein gebilbeter, vornehmer Mann, fo hätte er, um fih und feinen Kindern die Ehre wieder zu geben, Grund genug gehabt, fich eine Kugel durch den Kopf zu ſchießen. Uber er gehört gu denen, bie nicht viel gu verlieren haben. Und das junge ſchuld⸗

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belabene Weib mit ihrem Kind, welche Zuflucht hat fie hier gefunden !

Da figen fie in ber elenden Stube fo ruhig beieinander und fpielen Lotto, und freuen ſich über das magere Fefteflen und die ganze Feier.

fine ſchreibt:

Nun iſt's wieder einmal Winter, wieder dichter Schnee. Nun kommt Weihnachten wieder heran das einſame Weihnachten, das das Herz in Sehnſucht vergehen laͤßt und in Hoffnungsloſigkeit.

Und gerade zu Weihnachten, da darf ich nicht trauern.

Mein armes Kind ſoll eine ſchoͤne, liebe Erinnerung fuͤrs Leben haben.

Er ſoll nicht fuͤhlen, was fuͤr abgeriſſene Blaͤtter wir beide ſind. Gewißlich nicht. Ach, daß es dies nie zu fuͤhlen haͤtte!

Seit zwei Weihnachten ſind nun auch die Hennebergs aus Jena fort. Mit meinem Mamachen wohnen ſie in Heidel⸗ berg zuſammen. Sie haben ihr Haus verkauft. Mamachen ſchrieb mir: Es war ihm unmoͤglich, laͤnger in Jena zu bleiben. Er fuͤhlte ſich dort wie gebrandmarkt. Alles um meinetwillen. Wie fie noch in Jena waren hab’ ih am Meihnachtsabend ganz ſtill zum Fenſter hinausgeſchaut, ber Gegend zu, wo Jena liegt und babe fo ein Gefühl gehabt, als wäre Ich Doch noch nicht ganz allein und verlaflen.

Mein Mamachen ſchrieb mir, daß Jekatirina Alexaͤndrowna geſtorben iſt ſchon vor drei Jahren und ich habe es num erſt vor wenigen Wochen erfahren! Ich hab’ oft an fie gedacht und mir war immer, wenn jemand kommen würde, fo müßte fie es fein. Ja, Ih babe auch auf fie gewartet.

Und zu Weihnachten, wie habe ich ba Immer vom Fenfter aus den verfchneiten Weg hinabgefehen, bis Ich müde wurbe,

Der lange, bange Weg.

Ach Weihnachten!

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Und wie er fich freut, mein guter, Heiner junge. Die Lichter am Baum, die Nuüffe, dee Pfefferkuchen, die bunten, feinen Sachen, bie erfüllten feinen Geift.

Das Chriftfind liebt er fehr. Wenn er abends durchs Senfter fchaut, dem Walde zu über ben Schnee, hat er mid oft fehon herbeigerufen „est iſt's in den Wald gefchlupft, ich hab's gefehen! Baͤumchen holf’8!”" Dann fragt er wieber, ob e8 denn eigentlich ein Midelfind ift.

„Nama,“ fagt er, „beten wir denn su einem Wickelkind eigentlich ? das mag Ich nicht, fo ein großer Junge wie ih. eb hab’ ich's aber beten?”

Ich habe ihm erzählt, daß aus dem Widelfind ein herr; licher, guter Menfch geworben Ift, der fo gut war, wie nie einer vor Ihm und nie einer nach ihm und daß er alle Menfchen geliebt habe.

Das bat Peregrin fehr gefallen und er fragt mancher; let noch daruͤber und wir figen abends wieber vor unferm Ofchen und hören zu, wie es puſtet und faucht, und freuen ung, wenn es gläht, und erzählen ung allerlei. Peregrin mir und ich ihm.

eregrin,” fagte Ich zu Ihm, „will du zu Weihnachten bein Mamachen fehr fehr lieb Haben?“

„Ja“, fagte er und blinzelte mit feinen Augenwimpern mir an ber Wange, bag tut er Immer noch, wenn er fehr zärtlich iſt.

„Du haft es gut,” fagte Ih „bu haft ein Mamachen; aber ich hab’ keins! Ach! Ich Hab’ kein Mamachen! kein Mamachen!“ Wie hat er fih da an mich gebrädt, der Heine, gute Junge und hat mich geftreichelt und iſt nicht von meiner Seite gegangen und war fo gut fo gut, Daß ich nicht anders konnte, Ich mußte mich bitterlich aus; weinen; über ihn, Aber mich und über alles alles,

Etwas iſt mir in die Einſamkeit gefolgt, etwas, das mit

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mie fpricht! etwas, das meine Seele ganz erfüllt, das mir fagt: „Was Haft du erlebt, bu glädfeliges Sefhöpf! Du kennſt fie, die große, große heilige Liebe!

„Maͤchtiger iſt bie Liebe als der Tod,

Feſt wie die Hölle,

Unbeswinglich wie das Riederreich.

Ihre Stuten find Feuergluten

Wie Jehovahs Iodbernde Flammen,

Waſſerwogen loͤſchen bie Liebe nicht,

Und Steöme erfliden fie nimmer.“

Etwas, was ich in beiliger Stunde an mein Herz drüäde ift bein Lied, Ker!

Dein Hohes Led! Dein Judenlied, wie du fagteft bein Lied, was du in meine Hände legteft! Dein lebendiges Lied!

In filller, troftlofer Nacht if e8 von brennenden Augen gelefen. Gebetet und geweint iſt darüber.

Die Sehnfucht hat fih in die Worte tief tief ein; gegraben, bat deine Stimme hören wollen, bat nach bir gefammert und gerufen und gefchrien, hat in jedem Bilde, jedem Worte dich erfannt! Hat bie Arme nach dir ausges ſtreckt und bat auf dich gehofft! gehofft! gehofft!

Zu deinem Liebe komme ich, wenn Ich leben will! Da breite ich die Arme Danach aus, da druͤcke Ich ed an mic, da liebe ich es, wie ich bie ganze, für mich verfunfene Welt liebe.

Auch diefe Weihnachten, wenn alles fchläft, foll es wieder gu mir fprechen,

Auch ich will meine heilige Stunde haben !

Ich Gluͤcliche! Ich Arme!

Fänftes Kapttel

erlin !

Ein Strolch geht eben duch die Dranienfiraße; lang, hager, wettergebräunt, ben Hut über dem fieuppigen Haar tief Aber die Stirne gebrädt, in armfelig ſchaͤbigem Rock, ein fadenfcheiniges Tuch um bie Schultern. Es iſt ſchon fpät abends, bie Läden und Haustüren gefchloffen und ein Des gemberwetter, daß fih Gott erbarm. Der Wind heult um die Streaßeneden und fegt auf ben Steg bie Eisnabeln wirbelnd vor fih her. Die Gaslaternen, dick mit Schnee belegt, fladern und drohen gu verlöfchen. Wer bei foldem Wetter über die Straße muß, hat fich vorforglih von oben bis unten zugeknoͤpft, den Hals bis über die Ohren einges widele und halt den Schirm gegen ben elfigen Wind dicht vor das Geſicht.

Der Steolh geht langſam, zögernd, unſicher weiter, er fucht offenbar die Nummern an den Haͤuſern gu enträtfeln und die verfchneiten Firmenſchilder gu leſen.

Jetzt fcheint er das Gefuchte gefunden zu haben, denn er bleibt fliehen und fpäht vor dem verfchloffenen Laden nad einem durchſchimmernden Lichtſtrahl. Er ſtreicht fih buch die naflen Haare und Hopft zaghaft an.

Über dem Laden fleht mit großen, goldenen Buchſtaben:

„P. Fuhks. Sortiments Buchhandlung und Leihbibliothek.“

Ein Schugmann, der auf dem Nachbaufeweg noch einmal die Straße abpateonilliert, bat den verbächtigen Gefellen alsbald aufs Korn genommen; verdächtig ohne Zweifel und auf verdaͤchtigen Wegen, weil er in gerriffenen Schuhen prangt und ein fparriged Bündel forgfältig zu fohäten ober wer weiß zu verbergen ſucht. Im Schuemann fihwillt das Pflichtgefuͤhl. Er wendet die Schritte gegen fein Opfer. Schon will er den fleifgefrorenen Arm mobil machen, um feinem Bang mit dem gehörigen Rachdrud in ben Naden

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zu fahren da treibt Ihm ein kraͤftiger Windſtoß eine volle Ladung naflen Schnees in ben Raden und Abt fichrlich eine abfählende Wirkung auf feinen Dienfleifer. Er fiülpe ſich mit den dicken Handſchuhen die Pidelhaube feſter auf den Kopf, macht unwillig Kehrt und läßt Sauner Gauner fein. Es gibt ihrer fo viele.

Indeſſen diefed im Hundewetter braußen vorgeht, ſitzt hinter dem gefchloffenen Laden der Buchhändler Peter Fuhlks mit feinem jungen Weibe am Dfen und denkt au nicht Boͤſes.

Der weite Raum iſt durch ein paar große, ſchwarzlackierte Bücherregale geteilt. Born, nach der Straße zu, find bie Schraͤnke von oben bie unten voll von wunderſchoͤnen Büchern. Jetzt iſt dieſe Pracht in tiefes Dunkel gehuͤllt. Im Rüden der Schränke flieht auf einfachen Brettern die vielbegehrte, bie fehr unanfehnliche, ſehr gerfchliffene und vergilßte Lumpen⸗ geſellſchaft ber Leihbibliothek; dazu Haufen von Makulatur, leere und unansgepadte Kiften und friſchduftende Büchers ftöße durcheinander, und noch weiter im Hintergrunde dba blinkt das einzige Fenfter ded Raumes, Das aus ben Zeiten, als der Hof noch nicht ansgebaut war, eine ſchwache Er; innerung an Sonnenfchein und Tageslicht bewahrt bat.

Um biefes Fenfler num iſt eine ganz gemuͤtliche Ede hergerichtet, ein gruͤn uͤberzogenes Sofa, ein Tiſch, Darauf ein Petroleumlaͤmpchen von milchweißem Glas, vier Stähle, ein Schrant, eine Kommode, alles nagelnen und blitz⸗ blank und endlich ein eifernes Ofchen, Das iſt ganz rot vor Anfleengung, den weiten Raum und all bie Herclihr feiten zu erwärmen.

Da fitt nun Peter Fuhls und hat bie Beine übereinander, geſchlagen und ſchaukelt unermüdlich den rotgeblämten Dans toffel. Er bat bie Buchhandlung noch nicht allzu lange, hat noch feine Illuſionen und baut fih gewiß noch Luftſchloͤſſer ans den Mengen von „Stalpjägern” und „Robinfong” und

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den allermobdernfien Prachtwerken, bie er zu Weihnachten, und aus ben Andachts⸗ und Schulbädern, bie er gu Oſtern abfegen will. Aber es gehen ihm auch andere Gedanken durch den Kopf: Wie lange ift es jegt her, daß er von „ihm“ nichts gehört hat!

Die junge Frau figt ihm gegenüber und näht.

„Maͤunchen,“ fagt fie, „warum biſt bu denn heute fo ſtill ?“

„Mir kommt ber ‚Ker‘ gar nicht aus den Sinn”, entgegnet er und ſchaukelt weiter,

„Der Ker?— Ah fo, dein Freund in Rußland ?“

„a,“ fagte er, „ber war ein prächtiger Menfch.”

„Erzähl mie Doch, Männchen!” :

Das Männchen will antworten, ba ertönt aus ber Kammer nebenan ein leiſes Stimmen, ein Stimmchen, fo zart, ſo unſchuldig quaͤkend, fo verlaffen und hilfsbeduͤrftig, fo wunderbar füß, wie ed nur ein Erdenwuͤrmchen von ſechs Bogen suftande bringt.

MW 1 1 à ih!"

Beim erften Laut iſt bie Mutter aufgefpeungen und fort.

Fuhls ſchaukelt weiter; dann flieht er auf, fritt an bag magere, langbeinige Stehpult, fließt ein Fach auf, ſtoͤbert unter alten Papieren, ſchaut fih aͤngſtlich um und hole einen alten, geſchloſſenen Brief heraus und zierliche, glänzende Dinge, die man, wenn es nicht gar zu romanhaft wäre, für goldene Haarnadeln Halten koͤnnte.

Er wendet ben geſchloſſenen Brief bin und her. Er tft ohne Auffchrift. Er Halt Ihn gegen das Acht und barin liegt beuflih das befchriebene Papier wenige Zellen.

Das Wuͤrmchen dort in ber Kammer iſt fill und die Mutter fommt wieder zuruͤck.

Peter Fuhls fledt beides, Brief und Nadeln, etwas haſtig und ungeſchickt in die Weſtentaſche.

„Bar er nicht ſehr reich?” fragt Luischen.

„Freilich war er reich und dazu ein guter Junge!”

29 Böhlau IIL 449

„Wie war’ mit Ihm, erzähl’ doch, Männchen.”

Deter Fuhks will anheben

„u aͤh,“ ſchreit das Wuͤrmchen und ſchon iſt Die Mutter wieder fort.

„Ich weiß gar nicht,“ ſagt ſie wiederkommend, „ob es die Berliner Milch iſt, daß unſer Kind fo unruhig ſchlaͤft. Aber du wollteſt erzaͤhlen? erzähl” doch, ich Hör’ dich fo gern erzählen, mein liebes Männchen.”

„39, wenn Ich’8 wüßte,” ſagt das Männchen, „er tft fo lange fort und Ich Habe nichts, gar nichts erfahren. Unfere ganzen Herrlichleiten find ja von ibm”, und er weiſt auf bie blank ladierten Stähle, auf bie hohen Buͤcherſchraͤnke und anf die Kiften und Kaften babinter im Daͤmmerlicht.

Mer weiß, wo Ich jetzt wäre ohne das, was wir von Ihm haben? ich hätte mich nicht einrichten Können, ich hätte dich nicht und wir hätten unfer Kindchen nicht.”

„u 46“, fchreit das Kindchen.

„Am Gotteswillen“, fagt die junge Mutter und volle Bes forgnis malt fih in Ihren Zügen. „Wir werben ausziehen muͤſſen, weil das Kind fo ſehr fihreit. Der Hauswirt wird ung kündigen. Wo follen wir nur bin? Ja, mein Päpps hen, ich komme ſchon.“

Und nach einiger Zeit aus bee Kammer:

„Ich leg’ mich gleich zu Bert, Maͤunchen! Das Kind hat es fo kalt, du kommſt Doch Bald, Männchen ?“

Draußen pocht e8 ganz vernehmlich am Laden, aber Peter Fuhlks hört es nicht, denn das Schredbilb ber Kündigung iſt auch Ihm in die Glieder gefahren.

„Ausziehen! um Gottes willen, wenn wir hier forts müßten das wäre ja ſchrecklich. Jetzt, wo fich endlich ein paar Kunden eingewöhnt haben. Ich glaube, es pocht am Laden. irgendein Betrunkener. Laß ihn pochen. Und zu Dftern wird bie höhere Toͤchterſchule auch hierher verlegt die Oranienſtraße hat fo viel für ſich. Es iſt

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wirklich menfchenunwärdig, daß unfer ganzes Los von einem Hausherren abhängt. Es iſt gang entfeglih! wenn Ih noch einmal von vorne anfangen mäßte darüber gehen wir gugeundel Es hört nicht auf gu Hopfen, Ich muß nachſehen.“

Er ſteigt zwiſchen den Kiſten hindurch in das daͤmmerige Verkaufslokal und nimmt ſich unterwegs vor, den naͤcht⸗ lichen Ruheſtoͤrer gehoͤrig, das heißt, ſo gut es der zahme Peter Fuhks kann, anzufahren. Er ſchiebt den Riegel von der Tuͤr zuruͤck, ſchließt auf und oͤffnet vorſichtig.

Da ſteht draußen im Schnee ein Kerl, lang, hager wie er ſelbſt, mit ſtruppigem Bart und Haar, mit großen, glaͤnzen⸗ den Augen im braunen, abgemagerten Geſicht.

„Was foll’8 2?” will Fuhks ausrufen, aber die Worte bleiben ihm in der Kehle fleden; er tritt unwillkuͤrlich einen Schritt zuruͤck und flarrt ben Fremden ſprachlos an

„Erkennſt bu mich nicht?” fragt ber.

„Herr Sott im Himmel!” ruft Peter Fuhls und taumelt rädlings an ben Ladentifch.

„Ker! Ker! um Gottes willen, wo kommſt du her?”

Erft als der Fremde eingetreten iſt und bie Labentär forgs fam Hinter fich gefchloffen hat, eemannt fich Peter Fuhls und ruft:

„Komm herein, komm herein. Es iſt ja eine ſchrecdliche Kälte draußen. Wart’ nur, ich will Licht holen.”

„Ich ſehe fon.“

„Bitte, geh mir nach, es iſt ſehr dunkel, ſtoß dich nicht.“

Und er führt den Gaſt ſorgſam um ben Labentifch, durch die grüne Gardine, zwiſchen ben herrlichen Bücherfchränfen, an den bochaufgeftapelten Kiffen vorbei, bis sum hellen Fleckchen am Dfen, und fieht fich fortwährend um und wiebers holt immer:

„Stoß dich nicht, Ker ſtoß dich nicht.”

Sein Gaft ftelle ſich ſtumm an den Dfen.

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Deter Fuhks fleige unruhig hin und ber, ruͤckt an ben blanken Stühlen, Hopft den Frennd auf bie Schultern und ſcheint fich gar nicht faflen zu können.

„Ich kann bie gar nichts Gutes fagen, mein lieber Ker gar nichts wir haben verloren, Wir haben unfern Pros zeß verloren In beiden Inflangen. Der Senat hat bie Reviſion gurüdgemwiefen. Der Minifter hat gar nichts ges tan er bat gegen uns gehalten nicht für und. Es iſt gar nichts gu machen, mein lieber Ker.”

„But, gut.”

„Wie kannſt du das nur fagen, mein lieber Ker? Es iſt ja bie ſcheußlichſte Ungerechtigkeit

Nach einer Weile ſpricht Fuhks weiter: „Sztipann Sztipan⸗ nowitſch iſt tot; das weißt du wohl?“

„Ich weiß von nichts.“

„Er tft ſeit einem Jahre tot, und deine Schweſter Anna Alexaͤndrowna bat wieder geheiratet, einen Generaladju⸗ tanten des Zaren. Es iſt gar nichts zu machen.

Jermaͤk iſt auch tot gehenkt, weißt du. Er hat einen Brief an dich geſchrieben willſt du ihn leſen?

Die deutſche Kindermuhme iſt nicht aufzuſinden ſie wird wohl auch tot ſein freilich, wenn wir die gefunden haͤtten. Unmoͤglich iſt's nicht, daß wir ſie noch finden. Nein, nicht unmoͤglich.

Es iſt wirklich nichts zu machen. Es iſt alles verloren —.“

Ker ſchweigt, und Peter Fuhls ſchweigt auch und ruͤckt leiſe an ſeinem Stuhl. Als er aber einen Blick auf die Jammer⸗ geſtalt ſeines Freundes wirft, der noch immer unbeweglich an der Wand lehnt, durchkaͤltet, abgemagert, mit einge⸗ fallenen Wangen, in Kleidern, das ſich Gott erbarm, ein Bild bes Elendes, derſelbe, den er in voller Iugendkraft, im Übermaß von Gluͤck und Reichtum gefannt hat, da ruͤckt er den Stuhl haſtig beiſeite, tritt eilig fiolpernd auf ihn su, legte ihm beide Hände auf bie Schultern und ſagt innig:

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„Mein lieber Ker, wir wollen uns burchhelfen, bu Bleibft bei ung. Es iſt ja ohnehin alles bein, alle bie Herrlichketten bier! Kann Ich nicht etwas für dich tun? Willſt du nicht Tee ?“

„Es tft ſehr kalt Hier”, fagt Ker und ſteht dicht am Ofen.

Peter Fuhks fchättet den ganzen Vorrat Kohlen in ben Dfen, vergißt Weib und Kind in ber Kammer nebenan, vers gißt auch ben böfen Hausherrn und rüttelt am Dfenfchleber, Daß es durchs ganze Haus droͤhnt.

„Maͤnnchen!“ erfchallt es ganz ſchlaͤfrig Durch die ges

ſchloſſene Tür aus der Kammer, „Männchen, was haft du denn heute? Du kommſt ja gar nicht!” „Luischen!“ ruft Peter Fuhks mit freudiger Stimme und weicht nicht von feinem Freund, „Luischen, ſteh fehnell auf und fomm’ ber. Unfer Ker iſt dal Der Ker iſt gu ung ges fommen !”

Ker ſteht mit gefreuzten Armen und ſtarrt vor ſich bin. Deter Fuhks figt wieder auf der Seitenlehne des Sofas und laßt den Freund nicht aud den Augen. Der Dfen faucht, ale wollte er gerfpringen, und Draußen im engen Hof fängt fih der Stuem wie In einer Effe und druͤckt gegen das vers ſchneite Fenſter. |

Richtig, e8 Dauert auch gar nicht lange, Da wird bie Kammer; tür etwas zaghaft geöffnet, und Luischen erfcheint im Haͤub⸗ hen und niedlichen Morgenkleid; im Arm, zaͤrtlich an ben vollen Bufen der Mutter gebrädt, das Kindchen, ganz In weiße Wolle gewidelt, das Muͤtzchen ſchief und mit großen, wachen Augen.

Sie tritt auf Ker zu und fagt, ein glüdliches Lächeln im Gefiht: „Seien Sie uns willlommen!” und dann mit dem ganzen Stolz einer jungen Mutter: „Und dies hier, das If unfer Kindchen!“

Ker grüßt ganz ernfihaft, tritt Dann etwas vor, fireicht mit ben braunen, magern Fingern über bie weichen, runden

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Waͤngelchen bes Kindchens und mwenbet fi ab, bleich wie der Tod,

Deter Fuhks muß das Kind halten. Er ftellt fich fehr uns geſchickt dazu an und geht Augfilich trippelnd und tängelnd auf und ab; aber fiehe da, das Kind fchläft ſofort.

Die Mutter bat auf einem Heinen Tiſch In der Ede bie breiten Flammen bes Petroleumkochers angezündet, hat bag Waſſer sum Tee gefett, und es brodelt ſchon ganz behaglich.

„Haft du nicht Kognak?“ fragt fie Ihren Mann ganz ernſt⸗ haft, „ober Rum?“

„Ich? Rum? Wo foll ih Rum haben?” antwortet Fuhks Hleinlaut,

„Nun, das tus nichts“, fagt Luischen und braut weiter.

Das Kind iſt zu Bett gelegt, Fuhls fißt wieder auf ber Sofalehne, der Tiſch wird gebedt und der Tee aufgetragen.

Ker bat endlich feinen Hut abgenommen. Der Dfen bat wirklich fein möglichfted getan. Es iſt Ihm auch ums Herz wärmer geworden. Er bat ben erfien Eindruck verwunden und fängt an zu ſprechen. Er erzähle lebendig und tief erregt, was er gelitten, wie er gefangen war und von aller Berbindung abgefehnitten am Ende ber Welt, am Amur! Lange Jahre!

Deter Fuhks iſt ganz Ange und Ohr, möchte Immer eifrig dreinreden und fchweigt doc ſtill.

Das Kindehen in bee Kammer ſchreit mit folch wütender Energie, daß die beforgte Mutter eilig Abſchied nimmt und in der Kammer verſchwindet.

Die beiden Freunde find wieber allein.

„Bitte, gib mir den Brief von Jermaͤk“, fagt Ker. Da lieſt er:

„Ruhm fei Die, o Gott! | Geliebter Herr Dmitri Alexaͤndrowitſch!

Morgen in ber Früh, wenn bie liebe Sonne aufgeht, da

werde ich gehenkt. Darum haben fie mir erlaubt, Daß ich Dir

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fhreibe, geliebter Here Omitri Alexaͤndrowitſch. Aber fo dumm bin ich nicht, Daß Ich ihnen ben Brief aushänbige, Ich weiß fchon meine Wege, wie er an Dich kommen foll, wenn Du noch lebſt, Omitri Alexaͤndrowitſch.

Orumm dumm! Hoch einmal, fo haͤmmern fie an dem Galgen auf dem Feftungshof, als ob fie mir bange machen wollten.

Ste Haben uns alle nah Sankt Petersburg gebracht. Vierzehn Mann.

Ale in Ketten, ald ob wir wilde Tiere wären. Unfere Weiber find mit ung gelaufen; viel Volt war ba.

Was, Ihe Verworfenen, ihre habt euern Gutsherrn ers ſchlagen! Euern Wohltäter! Ihr Ungläubigen! Ihr Heiden!‘

Was fluhft bu ung, Muͤtterchen! Wir baben es tun muͤſſen. |

‚„Vierundzwanzig Stunden bat er noch gelebt!‘

Da fage Ich: ‚Vierundzwanzig Stunden? Was find wohl vierundzwanzig Stunden? Vierundzwanzig Jahre hat er uns gequält!‘

Einer hat gerufen: ‚Recht fo, ſchlagt fie alle tor! Es muß alles anders werben!‘ Aber die meiſten waren milbtäfig und haben uns Gelb gegeben, ganze Säde voll Kupfergeld. Die mögen wohl gedacht haben: ‚Das find Gerichtete und in Ketten, Unglädliche find es, aber nicht fchlechte Menfchen.‘

Bor dem Richter, da wurbe ed mir leid. Da bemütigte ich mich und warf mich vor Ihm auf bie Knie und küßte vor ihm ben Boden.

Ich Din ſchuldig,‘ fagte ich, ‚ich Bin ſchuldig, Herr. Ver⸗ geih” mir, gnaͤdiger Here, vergeih’” mir! Wir find allzumal Suͤnder. Wir Menfchen find alle Sünder und follen einander verzeihen,‘

Ste haben uns eingefperrt, alle einzeln. Und haben ung hungern und durften laffen.

‚Wie heißt but

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und fo, Herr. Bo bi du her?‘ ‚Aus dem Kijewſchen Gonvernement, Here.‘ ‚Wie alt biſt du? Und weil er mich fo dumm buch die Brillen angeſchaut bat, ba fagte id ihm: ‚Alter als du, Herr‘, fagte ich. mal

De Pa 2 fehen follen, wie der aufgefahren if; als ob er mich frefien wollte. Aber ich wußte fhon, was mir geſchehen würde.

Ich foll die ganze Sache erzählen.

Gut. Wer hat auf Erden recht? Gott oder die Mens ſchen? Gott!

Die Menſchen find Tiere. Schlimmer wie bie Tiere; benn der Hund ift treu. Bei Gott iſt die Gerechtigkeit, nicht bei den Menfchen.

Er Hat uns gefunden, er beträgt feinen Schwager, unferen Heren. Er betruͤgt ung alle, alt und jung, Männer und Weiber. Er if ein ungerechter Menfch. Ungerechte Menſchen muß man vertilgen.

„Wir wollen ihn in St. Petersburg verflagen‘, fagt einer.

‚Sieh mal her,‘ fag’ Ich, ‚weißt du, was das hier iſt? und zeige ein Scheit Birkenholz.

‚3a,‘ fagt er, ‚das ift ein Scheit Holz.

‚Gut,‘ fag, ich, ‚das Scheit Holz; iſt Aäger wie du. Die Froͤſche follen wohl bei ben Enten Hagen?‘

‚Bir wollen ihn beim Zaren verklagen‘, fagt er.

‚Sa, wie wollen ihn beim Zaren verklagen‘, fagen alle.

„Eh! Ihr Milhbärte, Säuglinge ihr! Weiſe mir einer den Weg! Zum Zaren führt feine Bruͤcke!

Sagt da ein anderer: ‚Wir wollen ben deutſchen Ders walter erfehlagen !“

‚Nein,‘ fage ich, ‚wir wollen ihn felbft erfchlagen ! Syipanz Sztipannowitſch wollen wir erfihlagen.‘

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‚Sa,‘ fagen alle, ‚wir wollen ihn erfchlagen !“

‚Heute iſt ee da, wer weiß, wann er wiederkommt.

Da befreusigten wir ung alle und gingen.

Unterwegs, da fpielten die Kinder auf der Wieſe. Was für ein herrliches Wetter! Die Sonne fiheint einem in bie Seele, und die Vögel pfeifen.

Da kommt mein jüngftes Enkelchen gelaufen, faßt mich am Singer und hält mich feft.

‚Großvater,‘ fagt fie, ‚ich will auch mit.‘

‚Mein Taubchen,‘ fagte ich, ‚ſpiel auf der Wieſe, da sit e8 Blumen.‘

Da meinte fie.

‚Gut,‘ fage ich, komm mit, du follft es mit anfehen‘, und nehme fie auf den Arm.

Bor dem Schloß, dba war e8 ganz leer, kein berefchaftlicher Diener hielt ung auf, Alles wie ansgeftorben, obgleich doch fonft Petersburger Schlingel genug da waren. Alles fort, wie die Tauben vor dem Habicht. Sie merften alle, was ba vorging.

Sztipann Sztipannowitſch ſitzt im blauſeidenen Schlafrock vor dem Teetiſch, lieſt Zeitungen und fuͤttert feinen Kauarien⸗ vogel mit Zucker. Alle Fenfter find auf, und die Sonne ſcheint herein,

Sztipann Sztipannowitſch,“ ſage ich, „gnaͤdiger Here!‘ und buͤcke mich. Aber die Kleine auf meinem Arm fuͤrchtet ſich und weint.

Was willſt du?‘ ſagt Sztipann Sztipannowitſch, ‚geh nur, wie bu gekommen bift‘, und zuͤndet ſich fo ein Zigarett⸗ lein an.

‚Sitipann Sıtipannomwitfh,‘ fage Ich, ‚gnädiger Herr! Verzeih’ mir, aber wir find gekommen, bich zu erfchlagen.‘

Was,‘ fagt er, ‚bu Bift wohl Befoffen? Hinaus mit die‘

‚Mein,‘ fage Ich, ‚das iſt wahrhaftig Wahrheit!‘

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‚He! Nikita! ruft Sztipaun Sztipannowitſch feinen Diener, aber ber war gleich fort, fo wie er ung fommen ſah.

Hinaus mit bie, du verfoffener Teufel! Fort! Hund, bu verrädter! Fort! Nilita! und wurbe ganz gruͤn vor Ärger.

Aber es regte ſich gar nichts.

‚Sungeng,‘ fagte ich zur Tür hinaus, kommt doch herein und nehme mir das Kinb ab, e8 weint.‘

Da wurbe er ganz wachsbleich und wollte hinaus, und ſtieß den Tiſch um, aber ich padte ihn.

‚gu Hilfe!“ fchrie er. ‚Nikita!‘

‚Spaß,‘ fagte Ich, ‚was fchreift Du? Es Hilft Die Doch nichts. Und wenn du ber erfle nach bem Zaren wärfl.‘ Und bielt ihn feft und ließ ihn nicht los.

Ei, dba wurbe er gefprächis, ber ſtolze Sztipann Sztipanuno⸗ witſch.

Jermaͤk, fagte er gu mir, ‚licher Jermaͤk, Batjuſchka, Vaͤterchen, was willft bu? Ich hab’ die fa gar nichts zus leide getan!‘

‚Mir nicht, aber du haft die andern gefchunden.‘

‚Sermäl, Vaͤterchen! Tue es nicht; warum tuſt bu dies?

‚Das tun wir für unfere Kinder, nicht für ung.‘

‚Bäterchen,‘ fast er, ‚laß mich einen Augenblid los. Ich gebe dir, was du will mein ganzes Vermögen mein ganzes Vermögen!‘

‚Es iſt nicht dein,“ fage ich, ‚bu Haft alles geftohlen, bu Raͤuber! Du haft es Dmitri Alexaͤndrowitſch seftohlen !‘

‚gu Hilfe! Zu Hllfe!‘

Wohin Haft du deinen Schwager fortgefhafft? Dmitri Alexaͤndrowitſch? Unfern Gutsheren, unfern wahren Heren! Wohin? Gefteh es, du Mörber!‘

‚gu Hilfe! Zu Hllfe!‘

‚Wohin? geſteh's! Nah Sibirien? du Auswurf? Was? Zum Amur? Gemorbet haft du Ihn, du Antichriſt! Unfern Liebling !‘

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„Vaͤterchen Jermaͤk... wenn du mich... toͤteſt ... wird es bir das Leben Ffoften !‘

‚Das weiß ih. Das weiß ih

‚Mein Gott! Mein Gott! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Nis kita!...

Da waren alle zuſammengelaufen. Erſt Anna Alexaͤn⸗ drowna, deine Schweſter. Aber die fiel gleich um wie tot. Dann, Gott weiß wer: der franzoͤſiſche Haushofmeiſter im Frack, die Gouvernante und die Kinder, und die Amme mit dem Juͤngſten auf dem Arm, die faͤhrt mir gleich in den Bart und ſchreit: Raͤuber! und der Junge ſchlaͤgt mit beiden Faͤuſten auf mich ein. Alle weinen und ſchreien, und der Kanarienvogel ſchmettert, daß einem ganz dumpf im Kopf wird.

‚Kinder,‘ rief ich, ‚halter mir doch einmal die Amme vom Leib und nehmt ben Jungen, baß ich ihm nicht weh tu’ !‘

Sztipann Sztipannowitſch ſchlaͤgt um fih wie ein Bes feffener, ich aber Halte ihn mit beiden Fäuften fell. Das Beil, das fiharfgefchliffene, fledte mir hinten im Gürtel, ‚Mifche,‘ rufe ich, ‚Täubchen, gib mir mal das Beil aus dem Gürtel, das fcharfgefchliffene.‘

Da quollen ihm die Augen aus dem Kopf vor Angfl.

Zu was noch zaubern! Er fagt uns doch nicht, wohin er Dmitri Alexaͤndrowitſch gefchafft hat...

hut! Da ſaß Ihm das Beil im Schädel feft, wie in einer harzigen Wurzel, und das rote Blut Tief ihm ein wenig über den feibenen Schlafrod.

„Och, och, oc‘, ſtoͤhnte er, waͤlzte fih und legte fich Hin, um zu flerben, nicht anders als ein gefchlagener Stier.

Ich aber wiſchte mich ab, bekreuzigte mich und fagte zu Anna Alexaͤndrowna, beiner Schwefter:

‚Unna Alexaͤndrowna, fagte ich, ‚erziche deine Kinder gut.‘ . Dann sogen wir alle miteinander barhaupt in ben Tempel, Gott zu Ioben, und haben dem Bilde der Gottesgebärerin vierzehn Wachslichter geweiht. EE war Sonntag Morgen.

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So hat fih das alles zugetragen.

‚Nihiift‘, fagt ber Nichter gu feinem Spießgefellen.

Nihiliſt? Ich Bin noch einer von den Alten, ich habe die Leibeigenfchaft gefoftet, Doch da war es befler in Rußland.

‚Er hat eingeflanden‘, fagte ber Nichter. ‚Das ersählft bu fo offen, du heilloſer Schurke ?

‚Sch hab’ es offen getan und fag’ es offen! Nicht gu bir, du Franzoſe! Was ſtierſt du mich an, bu mit dem frans söftfchen Bart? Augen hat dir Gott gegeben, du aber trägft Brillen! Jetzt rebe Ih! Du Wolf! Wenn ich gehenkt bin, dann magft bu reden und fchreiben, was bu willſt. Schweig! Einen Edelmann nennft du dich? Da haft bu recht! Denn du biſt ein Schurke aus ſchurkiſchem Geſchlecht. Du Sohn eines eblen Schurken. Du Enkel eines Schurken, du Schurfe ſelbſt! Und wirft Schurfen zeugen wie Sand am Meer. Immerzu, je mehr, befto beſſer! Mile betreßt und mit Orden auf der Bruſt. Morgen wird dir der Zar einen Drben um den Hals tun und mir einen Strid. Das kommt daber, daß er nicht weiß, wie treu Ich Ihm gebient habe und wie arg du Ihn betruͤgſt.

Das alles habe ich gefagt und noch mehr, aber e8 hat nichts geholfen.

Ich habe lange genug gelebt, ich weiß, wie es auf ber Welt if. Alles Trug. Der Helland refte ung!

Sp nehme ih von Die Abfchied, geliebter Herr Dmitri Alexaͤndrowitſch. Lieber flerben, als auf diefer Welt, mit den Menfchen, wie fie find, weiterleben. Jeder fliehlt, wo er kann. Und je ſchlimmer einer iſt, befto mehr beruft er fich auf Gott und auf das Gefeg. Und fe beffer einer ift, defto eher wird er gefmechtet und gefchunben, und es Ift ein Wunder wenn ein Schaf unter biefer Herde von Wölfen noch nicht zer⸗ riſſen iſt. Das Geſetz iſt nur, um die Schlechten zu ſchuͤtzen. Das Geſetz tft ihr Ruͤckhalt, ba ſtecken fie wie in einer Höhle und fallen aus, ung zu berauben.

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Das tft gefeglich, ſchreien ſie, wenn fie ung ſchinden.

Was hat Sztipann Sztipannowitſch getan? Miles ges ſetzlich!

Aber jetzt habe ich vergeſſen, daß ich morgen in aller Fruͤhe, mit den erſten Strahlen der Sonne, die unſer aller Muͤtter⸗ chen iſt, hier auf dem Hofe der St. Pauls⸗Feſtung in St. Petersburg gehenkt werde. Nun, vielleicht begnadigen ſie mich noch unter dem Galgen.

geb’ wohl, geliebter Herr Omitri Alexaͤndrowitſch. Ich habe Dir Dein Gut nicht retten koͤnnen. Wer Dich ſchuͤtzen kann, iſt Gott allein, denn der Menſch vermag gar nichts.

Jermaͤk | Dein unterwärfiger Diener,”

Ker tritt an das verfchneite Fenſter und druͤckt die heiße Stirn an bie Scheibe. |

Peter Fuhks iſt ganz Gefühl und Hingebung, boch fo tief er auch empfindet, weiß er doch nicht beſſer zu teöften als andere Leute auch. Er legt dem Freunde bie Hand auf bie Schulter und fagt nur:

„Mein lieber Ker.”

Diefer ſpricht anfcheinendb ruhig:

„Anterwegs, auf der See, ich ‚hatte mich hierher alg Matroſe verdungen, verloren wir einen Mann. Er war über Bord gefallen und wurde erft am andern Morgen ver; mißt. Bei Nacht über Bord! Du tauchft wieber auf, Hola! jeder Hllferuf verhallt. Blitzſchnell wird es bir far, wie es um bich fieht daß die Kräfte nicht erlahmen, ehe fie das Schiff beilegen ehe fie das Boot ausfegen! aber nichts an Bord deutet darauf, Der dunkle Koloß feßt unbeiert feinen Weg fort. Es hat bich niemand bes merk. Niemand vermißt dich! Schon verbeden bie nächften Wogenkaͤmme das Schiff. Was hilft alle Kraft? Dual ohne Hoffnung! Ein Kampf ohne Steg! No wenige Minuten und dein Los heißt untergehen.”

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Ad,” denkt Fuhls, „wo iſt denn unfer Ker hin, unfer energifcher, Iufliger Ker?” Das denkt er und ſagt es un⸗ willkuͤrlich halblaut.

Langſam wendet ſich ſein Freund vom Fenſter und reicht ihm die Hand.

„Mein lieber Ker, weißt du den Morgen als du von Wiborg abreiſteſt da anf der Schiffstreppe, Ker es regnete großer Gott damals!

Ker, das war ein Morgen!

Und kein Wort ſeitdem wieder!”

„Du weißt es jegt, ich war gefangen zuerſt in rn lichſter Form, verbindlich, unter allerlei Vorwaͤnden legt brutal. Ich verfuchte jedes Mittel. Der Sommandant machte fih ben Spaß und ließ mich wegen Fluchtverſuchs und Bedrohung zum Tobe verurteilen und führte bie Kos moͤdie beinahe buch. Dem Generalgouvernene wurde ich in Ketten übergeben. Ich weiß nicht, warum fie mich nicht kurzerhand umgebracht haben, Gelegenheit dazu war genug Da: ich bin viermal wie ein Räuber ausgebrochen. Es gelang mie, wie du fiehft, gelang mir doch. Ich habe erfi unterwegs ſchreiben können, babe auch gefchrieben, an dich nad Wiborg. Daß du Hier In Berlin warft, habe ich wie durch ein Wunder erfahren; ich bin vorgeftern in Trieft gelandet. Ich habe noch eins gu tun. Ich muß Gewißheit haben, ich will weiter,”

Er wendet fih zum Gehen und zoͤgert.

„Wie ſpaͤt iſt eg?”

Er hat noch eine Frage auf dem Herzen, aber er wagt ſie nicht uͤber die Lippen zu bringen, er fuͤrchtet die Beſtaͤtigung alles deſſen, was ſeit Jahren ſein Herz und Hirn zermartert.

„Wie ſpaͤt iſt es? Bitte ſieh nach.” Peter Fuhls fährt heftig in die Taſche und zieht die Uhr hervor und mit der Uhr den geſchloſſenen Brief und die goldenen Nadeln. Die fallen leiſe klirrend auf den Boden zu den Füßen feines

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Freundes. Der ſtarrt hin, als könne er es nicht faflen, und ber legte Tropfen Bluts weicht ihm aus dem Bleichen Geſicht.

Fuhhtks iſt Aber und uͤber erroͤtet, buͤckt ſich eilig und hebt Brief und Nabeln auf.

„Ich Habe —“ fiofterte er, „den Brief nicht abgegeben, ich fie ich konnte nicht —“

„Lebt fie noch?” fragt Ker, und jebes Wort ringt fih ihm aus ber Seele.

„Gewiß! ja! das heißt, fo viel ih weiß Ich hätte es doch erfahren. Aber fie find von Jena fort der Vater tft geftorben nach Italien glaub’ ih. In Jena werben fie e8 genauer wiffen. Ich habe nichts mehr gehoͤrt —“

„Gut, fo geh’ ih bin Ich’ wohl.”

Ker rafft fein Tuch auf aber ber gute Fuhls, ber fo vieles verfchludt Hat, was er noch feinem Freunde an Troft und Hoffnung gu fagen hätte, kann es gar nicht glauben, daß er geht.

„Du willſt doch nicht fort? Aber fo kannſt du ja gar nicht. Du mußt Geld mitnehmen ich Hab’ fchon welches lieber Ker, e8 gehört ja bir. —”

Ker Schaut feinem Freund in die Augen, ſchuͤttelt Ihm bie Hand.

„Ich danke bie”, fagt er und geht,

„Ker!“ ruft Fuhks ganz erſtarrt. „Nimm boch wenigſtens deinen Mantel, deinen eigenen Mantel, den du mir in Wiborg ließeſt.“ Er wartet gar nicht Kers Antwort ab, hat ben Mans tel eilig geholt und feinem Freund um die Schultern gelegt.

„Willſt du denn wirklich fort?” Da fährt es Ihm buch den Kopf:

„Ker!“ ruft er, „bu kommſt doch wieder, Ker?“

Ker nidte kaum merklich und tritt hinaus,

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Sechſtes Kapttel

en, das Thüringer Städtchen, liegt ganz In Schnee ges bettet. Es iſt Weihnachtshelligerabend, und auf der Straße hufchen die Leute eilig Hin und her. Alles duftet nad Weihnachtsſtollen. Hoͤkerweiber mit Pfefferkuchen, Apfeln und Nuͤſſen figen in ihren Buden and halten die Hände Aber ihre Kohlenpfannen. Ste können ſich das ſchon gönnen, denn bie Käufer find feltener geworden; bie Hausfrauen haben ihren Bedarf eingeheimft, und in ben Häufern ba iſt jetzt ein Treis ben, ein Duften nach Tannenzweigen und Badwerk, ein Hufchen und Ellen, ein Braten und Brauen, ein Schleppen und Fluͤſtern, und das aͤrmſte Weib wirtfchaftet heute aus dem Vollen.

Bei dem Krämer am Markt iſt gewaltig aufgeräumt, ber hat kaum zwei, drei Padchen Wachslichter für nächftes Jahr, und die legten Pfefferkuchenhergen, mit Verſen überlebt, haben ihm ein paar Maͤgde davongetragen, und Zitronat und Roſinen und Mandeln und Sirup hat er genau fo viel vers fauft wie alle Jahre, eher noch etwas mehr. Wohin man fieht, find bie Geſichter gufrieden und lebendiger als fonft. Die Leute auf ber Straße rufen einander im Voräberlaufen su, reden einander an mehr als an gewöhnlichen Tagen. Aus dem Hans des Pfarrers und des Doftors find Kinder von der AUrmenleutebefherung ſchon zuruͤckgekommen mit Paketen, aus denen wollene Soden, Muͤtzen, Schützen, Röds den, ein Hampelmann, ein hoͤlzernes Pferdchen heraus; ſehen und derlei Dinge.

Bom Turm wird ein Choral geblafen. Und eben iſt der Zug auf der Straßenbahn von Weimar angekommen. Der Doftkarren iſt dazu hinausgefahren und noch zwei Interims⸗ farren, denn jetzt gibt's noch Pakete und weiß Gott wag, die ſchwere Menge, und Botenweiber und Botenmänner warten auf ber Poft, um allerlei noch in Empfang zu nehmen und heimzutragen.

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Mit dem Zug iſt ein Fremder gelommen, ein junger, bagerer Menfh.

Er kennt fih nicht aus in dem Städtchen, blickt um fi und hat etwas Sonberbares, Auffälliges an ſich, daß bie Leute ihm nachfehen.

Ein Fremder am heiligen Abend, um bdiefe Stunde, ber in ben Straßen umherfucht, das iſt auffällig.

Er hat auch fo etwas NHafliges, Erregtes. Betrunken meinen bie Leute fie fommen in der Eile nicht gleich auf etwas anderes.

Er fragt einen Buben, ber geht ein Städ mir ihm und weift ihm den Weg nach Blantenhain zu, den Fußweg.

Da wird sum zweiten Male vom Turm geblafen, und die Töne sieben fo rein Aber die bichtbefchneiten Dächer hin und dringen in bie Herzen ein und flimmen fie weicher; und bie fhon weih und bang geflimmten Herzen, bie laſſen biefe Zöne hinſchmelzen.

Auf dem Poſtamt fragt er im Voräbergehen nach einem Brief. Welches Treiben in dem Poſtamt! Ja! zwei Briefe, zwei Briefe mit berfelben Handſchrift.

Und draußen beim letzten Tagesfchimmer, im Vorwaͤrts⸗ gehen, ba Tieft er diefe Briefe:

„Sott fei gedankt, mein lieber Ker, daß Du mir von Jena ans gefchrieben Haft! Was ich Dir fchreiben foll, das weiß Ich gar nicht mir iſt das Herz fo uͤbervoll. Ich hab’ ja von allem nichts geahnt und gewußt! Mein lieber Ker. Mir will’8 nicht ans dem Kopf! Sch kann mie das gar nicht vorfiellen. Und deine Schwefter Jekatirina Alexaͤndrowna iſt auch geftorben. Ich kannte ſie nicht. Dir war ſie aber lieb. Alles was Dich betrifft, fuͤhle ich mit Dir, und daß du nun durch den Tod Deiner armen Schweſter doch aus der Not geriſſen biſt, damit iſt mir ein Stein vom Herzen gefallen, und wer weiß, mein lieber Ker, unfere boͤſe Geſchichte geht doch auch

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„Und wahrhaftig, mein leber Ker fie iſt bei Berka, auf dem Reißberg. Ih hab/s erfahren. Du weißt es ja sun fon, aber Ich mußte es Die doch fehreiben.

Dein alter, treuer Fuhls.

Und fo geht der einfame Wanderer weiter, haͤlt bie Briefe

in, feinen Freund dahts an Die Ladertit geflopft

Er if noch fo Hager und abgearbeitet wie in Berlin, aber umgewandelt, voller Hoffnung und Kraft, das Herz ſchlaͤgt ihm, ber Atem verfagt ihm.

Bor fi fieht er das Bild jenes weichen, hellen Geſchoͤpfes, wie fie fo feelenruhig, als er fie das erflemal fab, vor ihm im Boot gefeffen; ficht, wie der Wind in den blonden Loden fpielte, wie er fie in feinen Armen durch das flache Waſſer traͤgt.

Ein Schauer durchrinnt ihn. Eine dunkle Laſt waͤlzt ſich anf ihn! Alle Dual, bie über das ruhige Maͤdchen gekom⸗ men if.

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Und er fchreitet durch bie Ode der winterlichen Landfchaft, wie durch die Ode, die jenes Geſchoͤpf über fich hat ergehen laſſen muͤſſen.

Ja, er ſollte ſie in tiefſter Verlaſſenheit finden, alle Wege, die zu ihr fuͤhren, verſchneit! Alle Wege unbetreten!

Wie ihm das ans Herz greift!

Fern von allen Menſchen, ausgeſtoßen, verachtet, von allen verleugnet, da wird er ſie finden, ſie und das Kind.

Welch ruͤhrender Heldenmut gegen eine Welt voll Haß und Verachtung!

Wie könnte er je ihr diefe Jahre wieber gut machen? Auch mit voller Kraft nicht auch mit aller Liebe nicht!

Te dem einfamen Neisberghaus, dba faßen fie alle im erſten Daͤmmerlicht beieinander, Rotpläg und bie Kinder und bie Bienflingel, und Peregrin, während fein Mamachen oben in der Stube alles herrichtete und das Baͤumchen ſchmuͤckte. Und als das Baͤumchen im Lichterglanz ſtrahlte, waren fie alle miteinander hereingelommen, und Rotplaͤtzens Kinder hatten mit Peregrin gefungen.

Keiftine war im Zimmer bin und her gegangen nad dieſem und jenem und hatte Peregrin und bie Kinder umter den Weihnachtsbaum geführt umd ber zerkratzte, feuer⸗ fpeiende Berg, ber die ganze Wand, vor welcher ber Ehrifts baum fland, einnahm, war ganz erfchredenb heil erleuchtet, und die Jaͤgerslente mit Ihren Muffen und ihren gernagelten Gefichtern und den Nägeln in Bruft und Magen und den abgeſchabten Nafen, bie fanden und fihauten ernft zu.

Keiftine und Peregrin, bie Inieten miteinander vor einem bölgernen Pferdchen und Rorplaͤtz fippte Peregrin auf die Schulter, e8 war ganz Rotplaͤtzens Geſchmack; und feine beiden Juͤngelchen, bie hatten Fauſthandſchuhe und Wolls muͤtzen von Keiftine befommen; das Heine Mädchen, bag fand gang befhamt mit einer Schürze und einem neuen

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Kochtopf. Und Tabak gab’8 für Rotplaͤtz, und Kaffee für Frau Birnftingel, und Apfel und Näffe und Pfefferkuchen.

Und die Kinder fingen, nachdem das erſte heilige Staunen über den leuchtenden Chrifibaum überwunden war, an Iuftig gu werben und nafchten von Ihren Pfefferkuchen und fhauten alle miteinander bie Bilderbogen an. Und in ber Küche wurde dann Tee getrunfen und Fran Birnflingelg MWeihnachtsftollen dazu gegeflen.

Dann gingen Rotpläg und die Kinder wieder hinunter und Fran Birnſtingel mit ihnen. Kriftine war mit ihrem Kind allein. Peresrin hodte neben feinem Heinen Pferd und ſchwatzte vor fih Hin, und Kriſtine Endpfte ihm feine Kleidchen auf, um Ihn zu Bette gu legen; aber er wollte nicht und ſchlang die Armchen um feine Mama und wollte noch ein bißchen auf bleiben. Am Chriſtbaum entbedte er, baß ein Licht noch unverfehrt war, und bann faß er gang fill neben bem Pferd, im Hemdchen, in bie Bettbede einges widelt, und ſah dem Licht zu, wie es einfam am Baume niederbrannte. Kriſtine ſtand am Fenſter wie alle Sabre und ſchaute ben langen, verfchneiten Weg hinab wie alle Jahre ...

Da kamen die Schatten der Erinnerung uͤber ſie.

Der einſame verſchneite Weg, der vom Walde herfuͤhrte das war Ihr vergebliches Hoffen bie ganze Hoffnungs⸗ Iofigfeit !

Solang aber Peregrin machte, wollte fie nicht weinen. Er faß fo ruhig und wurbe nun müde.

Draußen bie fahle Bläffe über dem Schnee. Die Sterne funteln, und ber Wald fteht fo ſtarr und ſchwarz.

Kein Laut, ber bis gu dem einfamen Hans gebrungen wäre,

Weit weit weit über dem Wald und über dem Schnee tiefe Stille,

Keiftine blickt wieder ben Weg entlang.

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Und wie fie fo verloren hinſchaut, da war's, als wenn ein Schatten vom Wald fich abtrennte und Aber den Weg glitt.

Ein Schatten! und wie fie mehr und mehr fhaut eine Geſtalt! Wahrhaftig eine Geftalt Heute? Um diefe Stunde? Auf diefem Weg eine Geftalt?

Ein Grauen durchfaͤhrt fie wie Gefpenfterfurcht.

Sie fließt die Augen.

Ste öffnet fie wieder

Sa, eine Geftalt und näher und näher, unaufhaltfam näher,

Ein Mantel fliegt im Wind um die Geftalt.

Das Grauen verläßt fie nicht padt fie mächtiger,

Sie ſtuͤrzt zitteend, bebend vom Fenfter zu Ihrem Kind, nimmt es auf, hält eg im Arm totenbleich.

So fieht fie, und Peregrin legt ſich ſchlaͤfrig an ihre Schuls tee; und fo bleibt fie wie feftgebannt mit großen, flarren Yugen.

Jetzt fteht e8 vor ihrer Tuͤr.

Hat fie denn die Schritte uͤberhoͤr? Das Grauen überflutet fie... raubt ihr den Atem.

Und als die Tür fih auftut, da Bleibt fie unbeweglich, ſtarrt und fieht auf die Erfüllung ihrer langen, bangen Hoff⸗ nung mit großen, unglänbigen Augen.

Sie flieht vor Peregrins Bert und lest ihn fanft hinein. Und dann ſinken fih Zwei in die Yeme ganz lautlos und ohne ein Wort gefunden gu haben, zieht fie ihn gu dem Bett ihres Kindes, beugt ſich daruͤber und fagt mit heißen, feligen Tränen:

„Er beißt Peregrin.”

Anhang

Kers Judenlied Das Hohelied Sulamith

Bon Omar al Raſchid Bey

er rter Sefanyg

Sulamiths Sehnſucht

„Wer iſt ſie, die hervorſchimmert Unter den Roſenbuͤſchen, Schön wie die Morgeuroͤte Und wie das erfte Licht des Tages Unter den Palmen im Tal?“

%

Sulamitb: In den Hain hinab will Ich gehn, Zu ſchaun nach den Blumen Im Tal, Shaun, ob ber Olbaum ſchon ſproſſet, Ob die Knoſpen fich oͤffnen, Und ob die Granate ſchon bluͤht.

Einer iſt's, den meine Seele liebt.... Wer fagte mir doch, wo du weileft, Und wohin bu deine Herben getrieben, Wo du zu Mittage ruhſt Daß Ich Hinfchauen dürfte über die Berge, Daß ich dich ſuchte, daß Ich dich fände.

Duntel bin Ich, fonnengebräunt, Wie der Kedarener Hirtenzelte, Wie die Eftrichdeden Salomog;

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Ounkelgebraͤunt, aber ſchoͤn .... Euch vertrau ichſs, ihr Roſen und Lilien, Ihr Toͤchter unſeres Tals!

O wer es mir doch gewaͤhren koͤnnte, Daß du mein Bruder feift, Genaͤhrt an derfelben Mutterbruft; Daß ich dich kuͤſſen dürfte, Teäf’ ich dich draußen, Und niemand höhnte mich darum. Dann brächte ich dich, Ich führte dich In meiner Mutter Haus. Dort füllen Edelfrächte unfere Hürden, Alte und neue, Gellebter, für dic. Dun lehrteſt mich, Ich labte Dich Me dem Saft der Granate Und mit wärsigem Wein.

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Ich beſchwoͤr/ euch, ihr Töchter Jeruſalems, Bei den Gazellen und den Hindinnen unferer Fluren, Wenn ihr ihn findet, den Inniggeliebten, Sagt ihm, daß ich krank bin vor Liebe!

zweiter Gefang

Sulamiths Inniggeliebter

„Wer iſt es, der herabſeigt von den Hoͤhen Und eilt über die zerkluͤfteten Berge, Der Gazelle gleich fpringend, Und wie ein Hirſch ſetzt Über Felſenkluͤfte ?

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Sulamith:

Siehe, e8 iſt der Geliebte! Ah, unter Taufenden einer! Wie die Zypreſſe fein Wuchs, Duntelgelodt fein Haupt, Und feiner Augen Blide voll Feuer. Herrlich iſt alles an Ihm! Bildnerwerk von reinem Golde! Das tft mein Lieber! Das iſt mein Teurer!

Erwache, 0 Nord, erhebe dich, Suͤd! Auf, durchwehet meinen Garten, Daß mit Wohlgerüchen ſich fülle Und daß Balfam atme die Luft! Daß den Geliebten umfließe Ein Meer von wuͤrzigem Dufte!

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Das ift mein Lieber,

Das iſt mein Teurer!

Schon naht er meinem Zelte Und flieht an meiner Hütten, Er beginnt und redet gu mir!

Der Hirt:

Auf, du meine Lebe, du meine Schöne, und komm! Steh, der Winter iſt vorüber, Hingegangen iſt der Regen, iſt dahin. Blumen fproffen aus ber Erbe,

Bolle Bluͤtenknoſpen brechen, Und es naht bie Zeit der Lieder. Schon erweicht bie Felge ihre Früchte, Und die Reben hauchen Bluͤtenduͤfte, Zurteltauben gieren auf ben Feldern. Yuf, du meine Liebe, du meine Schöne, und fomm! Sieh, e8 naht bie Zeit der Liebe: Laß dein Antlitz mich ſchauen, Laß deine Stimme mich hoͤren, Suͤß iſt dein Laut und koͤſtlich deine Wohlgeſtalt!

Sulamith:

Mein biſt du, Geliebter, biſt mein! Wie die Zypreſſe ragt uͤber dem Gipfel, Alſo ragſt du uͤber die Bruͤder,

Und alles iſt herrlich an dir Ich ſelbſt bin nur eine Lilie Zu deinen Fuͤßen im Tal.

Der Hirt:

Wie unter Dornenbuͤſchen die Roſe, Sp meine Teure unter den Maͤdchen!

Du haft, o Traute, mich ind Herz getroffen Mit den Bliden deiner Taubenaugen,

Mit den Dunkeln Purpurloden.

Wie entzüdt, o Braut, mich beine Liebe, Ste erhebt mich zu Jehovas Chen!

Deine Augen Taubenaugen

Unter dichtem Lodengeringel;

Deine Lippen wie Korallenbecher,

Der von Honig reichlich überfließt.

Deine Wangen find ein Paradieg,

Wo Granaten unter Ebelfrüchten,

Wo bei Aloen bie Myrrhe blüht,

Bei der Myrrhe jeder Hochgeruch.

Und bie Gewande ummehen Dich,

Und bie Loden umfließen dich,

Wie die Bäche Mare Quellen

Hoch vom Libanon ergießen.

Wahrlich ſchoͤn bift du wie bie Roſe,

Und alles iſt Reis an dir!

Auf, du meine Liebe, du meine Schöne, und komm! Dort find Zedern unferes Hauſes Dede, Und die Säulen unferer Hütte find Zypreſſen, Duftige Blumen unfer Lager... .

Sulamith: Zur Abendſtunde,

Wenn der Tag fich neigt

Und die Schatten herab fich ſenken Dort, wo die Blumen fproffen Im Tal, Sm Lenzesfhmud die Granate prangt, Wo Myrrhenbüfche Düfte ergießen .... Leg’ deine Linfe mie unter das Haupt Und beine Rechte umfaffe mic.

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Der Hirt: Zu mir, zu mie! du meine Schwefter, bu meine Braut!

Sulamitb: Yuf, mein Geltebter, und flieh! Er ertönt in der Ferne! Eine Schar zieht heran! Auf, Geltebter, und flieh! Flieh wie ein Hirſch über die Berge Und wie die Gazelle Im duftenden Tal

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Ich beſchwoͤre euch, ihre Töchter Jeruſalems,

Bei den Blumen und ben Hindinnen unferer Sluren, Wenn ihr ihn ſchaut ben Inniggeliebten,

Sagt ihm, wie glädlich Ich ſei.

Dritter GSGefang

Sulamiths Leid

„Was iſt es, das herauf von ber Wuͤſte ſteigt Wie eine Saͤule feurigen Rauchs, Und waͤlzt ſich heran wie Staub Und wie eine Wolke uͤber die Ebene, Myrrhe wehend und Ofterbuft ?”

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Die Leibwache Salomos: „Siehe, es iſt Salomos Wagen, Ganz umringt von feinen Helden, Helden aus Iſrael! Jeder zwiefach bewehrt, An der Huͤfte das Schwert, Daß er fieh” und fechte Gegen das Staunen ber Nächte.

Sulamith Im Wagen Salomos: Weh mir! Geliebter! wo weilft du? Zeuch mich die nach! Daß wir zuſammen enteilen!

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Die Leibwache Salomos: Helden aus Iſtael! Jeder bewehrt, An der Huͤfte das Schwert, Den Koͤnig zu ſchuͤtzen, Den Koͤnig von Iſrael! Ihn! und ſeines Lagers Genoſſin! Preiſe dich gluͤdlich, Tochter aus Sulem!

Sulamith,

Im Wagen Salomos: Unfelige ich!

Volk: Tretet heraus, ihr Toͤchter von Zion,

| Salomos Wagen zu ſchauen!

Aus Libanons Zedern iſt er gezimmert, Silbern ſind ſeine Saͤulen,

Golden hanget die Dede daruͤber

Und die Polſter von dunkelem Purpur. Schaut die Schoͤnſte der Schoͤnen, Ihm zur Seite die Sulamith!

Zur Seite des Koͤnigs von Iſrael!

Salomos Gemahlinnen:

Siehe, lieben muß man dich, Salomo, Und die Jungfrauen begehren dich. Suͤßer als Wein ſind deine Liebkoſungen, Und beine Kuͤſſe koͤſtlicher als Balſam. Wohlgeruͤche ſtroͤmen von dir, o Koͤnig, Und ein Duft iſt deines Namens Hauch.

Wahrlich unſere Freude gilt dir, o Herrſcher,

Dir allein unfer Seohloden!

on

Sulamith, Im Palofle Salomos ruhend:

Ich ſchlafe doch wachet mein Herz. Wie die Gazelle bangt an des Amanas Gipfel, Auf des Senirs und des Hermon Spitzen, Der Loͤwen Gebiet und des Tigers Felſenlager Alſo bangt meine Seele und ruhet nicht. Es naht mir im Schlafe die Stimme des Lieben: „Tue auf, meine Liebe, meine Taube, Meine Schweſter, o du voll Unſchuld, tu’ auf. Sieh, e8 lagern tiefe Abendfchatten, Und die Nacht hat fich herabgeſenkt. Feucht vom Taue iſt mein Haupt Und meine Loden vom nächtlichen Dufte.“ Mein Herz erbebte bei feinem Nahen: „Abgetan hab’ Ich bie Gewande, Wie? foll ich fie wieder umtun? Gebadet habe ich die Füße, Wie? foll ich in ben Staub wieber treten ?” Da erbuftete Myrrhe und Aloe Da fand Ich auf, dem Gellebten gu öffnen. ... Und da Ich aufgetan hatte meinem Freunde, War er fort und hingegangen. Es ſchwanden die Sinne mie, Und meine Seele entwich Ihm nach. Ich fuchte und fand ihn nicht. Ich rief, und er antwortete nicht. Auf muß ich, Die Stabt durcheilen Duch nachtbunfele Gaflen und Straßen, Suden Ihn, den meine Seele liebt. Ich fuchte und fand ihn nicht .... Mich trafen die Wächter, Melde rings die Stabt umgehen,

Böhlau III. 481

ae aa, Sainnen mich hart,

Ich ſchwoͤre euch, ihe Töchter Jeruſalems, Bei den Gazellen und den Lilien unferer Fluren, ihn findet, den Inniggeliebten, ich leide um ihn.

Vierter SGefang

Sulamichb und Salomo

„Wer ift es, der dort erhaben thront Im Prunkſaal, gekrönt mit der Krone, Bon Zymbeln und Harfen umflungen, Umeaufcht vom Schall der Pofaunen, Herrlich wie ein Gefalbter bes Herrn?”

Die Semahlinnen: Siehe, e8 iſt der König! Iſt Salomo! Alſo kroͤnte ihn feine Mutter Am Tage feiner Hochzeit, Am Tage feiner Wonnen, Zur Stunde feiner Herzensfreude! \

Salomo;

Goldgeſchirrten Roffen an Pharaos Wagen Vergleiche Ich dich, du Schöne aus Sulem, Schön wie Thirza Und voll Anmut wie Serufalem,

Lieblihe du aus dem Palmenhain.

Deine Wange gleicht ber geöffneten Granate, Unter deines Schleier Schatten

Blicken ſtrahlend beine Augen,

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Sprich! Liebliche du, Nirtin aus Sulem.

Sulamitb: Wende beine Blide von mir, o Herr. Dunkel bin ich, fonnengebräunt, Wie der Kadarener Hirtenzelte, Wie deine Eftrihbeden, Salomo .. Dunfel gebräunt nicht ſchoͤn D wer ed mir doch gewähren könnte,

Daß ich fern ſei vom hier, Bei euch, ihr Rofen, Narziſſen und Lilien,

Daß ich hinſchauen dürfte über bie Berge

Salome: Schön biſt du, wahrlich, bu biſt ſchoͤn.

Und dein Odem füß wie Balſam. Siehe, Königinnen dienen mir, Und Gemahlinnen,

Und der Jungfrauen keine Zahl.

Du ſollſt auserwaͤhlt fein vor allen.

Bewunbern follen dich die Mädchen,

Königinnen werben bich glädlich preifen,

Und erheben wird dich meiner Gemahlinnen Lied!

Sulamitb:

Einer iſt's, den meine Seele ſucht! Ach, unter Taufenden einer! Wie bie Zypreſſe fein Wuchg, Dunkelgelockt fein Haupt, Seiner Augen Blide voller Feuer. Herrlich iſt alles an Ihm! Bildnerwerk von reinem Golde! Das iſt mein Leber, Das iſt mein Teurer! Ihm zu eigen bin ich, und er IfE mein

Salomo:

Erwache, Hirtin aus Sulem! Blicke wie von einer Warte Zinnen, Und wie vom Haupte des Karmel, Hebe dein Auge auf und ſchau:

Was du ſchauſt iſt mein.

Zaufende zittern vor meinem Winke, Zaufende bangen an meinen Brauen, Zanfende len’ ich mit diefem Schwerte, Ich gebiete im Lande,

Din der Gefalbte bes Herrn

Und König in Iſrael!

Sulamith; Ich beſchwoͤre dich, König von Iſrael, Bei dem Goft unferer Väter, Und bei Jehovas Feuer befchwär’ ich dich:

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Der Herr wird den Arm ausreden wider Dich, Und wird Ungläd erweden in eigenem Haug, Iſrael geben in bie Hand deiner Feinde,

Und werben füllen das Land, fo weit wie es iſt Es fet, du entläffert mich denn

Fliehen werben dich Freuden,

Und Haß wird fein die Saat, die aufgeht,

Und wirft büßen wie David

Es ſei, du entläffeft mich denn.

Fuünfter Gefang

Sulamiths Steg

„Wer tft fie, bie hervorſchimmert

Wie die Morgenröte fo ſchoͤn,

Schön wie ber Mond,

Wie Sonnenfitahlen fo rein,

Gluͤckſelig wie Heeresfcharen Jehovas ? Wer ift fie, bie herauf von Jerufalem fteigt,

Aufgelehnt auf den Inniggeliebten ?”

Gefährten Sulamirhs: Seht, es iſt Sulamith, unfere Gefährtin, Ins Tal kehrt fie, gu ung zuruͤck! Wende dich hierher zu den Deinen! Siehe, Hier ift deiner Mutter Haug, Da du das Licht des Tages erfahft. Hier deiner Herden Weide, Eh du von uns genommen wardſt. Laß uns dein Antlitz ſchauen, Laß deine Stimme uns hören.

Sulamitb: Geprieſen fei Jehova!

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Gefährten Sulamiths: Geprieſen fei Jehova!

Jehova! Der das Band um das Meer gelegt hat, Und die Feſten der Erde geſetzt. Geprieſen ſei ſein Name! Denn er wandte dein Unheil Und wandelte deine Klage in Reigen, Und nahm von dir die Trauer Und umguͤrtete dich mit Freuden. Siehe! er wandte bed Koͤnigs Herz, Und der König entließ dich!

Sulamith: Heil ihm, denn er entließ mich!

Der Hirt: Der Herr hat dich mir gegeben, Und deine Mutter hat dich mir anvertraut.

Sulamith: Nun lege mich wie ein Siegel an dein Herz Und wie eine Spange um deinen Arm!

Der Hirt:

Ich fuͤhre dich ein in das Haus, Und meine Rechte umfaſſet dich! Geſegnet ſei unſer Eingang,

Und das Panier uͤber uns ſei Liebe!

Mächtiger iſt die Uebe als ber Tod, Feſt wie die Hölle, Und unbeswinglich wie das Niederreich. Ihre Gluten find Feuersgluten,